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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58219 ***
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+ Grote'sche Sammlung von Werken zeitgenössischer Schriftsteller Band 133:
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+ Das große Jagen
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+ Roman aus dem 18. Jahrhundert
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+ von
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+ Ludwig Ganghofer
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+ [Illustration]
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+ Zweiunddreißigstes Tausend
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+ G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung
+ Berlin 1918
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+Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in andere Sprachen,
+vorbehalten. Copyright by G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin
+1918. Initialen und Einbandzeichnung von Friedrich Felger. Druck von
+Fischer & Wittig in Leipzig
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+Das große Jagen
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+Kapitel I
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+
+Am zweiten Februar des Jahres 1733, am Lichtmeßabend, peitschte der
+stürmische Westwind ein dickwirbelndes Schneetreiben durch die Gassen
+von Berchtesgaden. An den Häusern waren alle Flurtüren versperrt,
+alle Fensterläden geschlossen. Obwohl die Polizeistunde noch nicht
+geschlagen hatte, war auf der Marktgasse kein Mensch mehr zu sehen.
+
+Das dunkle Häuserschweigen in dem weißen Gewirbel hatte trotz allem
+Lärm des Sturmwindes etwas Friedliches. Dieser Friede erzählte von
+sorglosen Menschen in gemütlichen Stuben. Eine grauenvolle Lüge! In
+Erregung, in Zorn und Sehnsucht pochten hinter den verriegelten Türen
+Hunderte von verstörten Herzen. Zwischen den stillen Wänden wohnte
+die Ratlosigkeit neben Haß und Angst, feiges Mißtrauen neben dem Mut,
+duldende Stärke neben der hämischen Bosheit, nicht immer geschieden
+durch Tür und Mauer. Kampf und Erbitterung schwelte, wie zwischen
+Nachbar und Nachbar, auch zwischen Mann und Weib, zwischen Bruder und
+Schwester, zwischen Vater und Sohn.
+
+An allem Fürchterlichen, das sich einsperrte in die Stuben, brauste der
+wirbelnde Schnee vorüber.
+
+Auf den Türmen des Stiftes und der Franziskanerkirche schlugen die
+Glocken im Sturm die neunte Stunde. Unter dem Rauschen des Windes
+war es ein milder Hall. Wie eine warme Gottesstimme sprach er zu dem
+frierenden Leben, das nur lauschte auf den eigenen Zorn und die eigene
+Sehnsucht. Dann wieder die stumme Gassentrauer unter dem wehenden
+Flockenfall.
+
+Aus dem Häusergewinkel, das die nördliche Stiftsmauer umzog, kämpfte
+sich ein schwarzgekleideter Mensch heraus, den Kopf mit der Pelzkappe
+gegen den Wind geschoben, die Arme unter dem Radmantel. Immer dicht
+an den Häusern hin und rasch in eine Gasse. Ein Pfiff, wie der
+Schlag einer Amsel. An einem schmalen Steingebäude, das sich von den
+Nachbarhäusern auffällig unterschied, öffnete sich die Tür ein bißchen
+und eine greise Stimme fragte im Hausdunkel: »Hochwürden?«
+
+»Komm!« Auch diese Stimme klang nimmer jung.
+
+Eine kleine Mannsgestalt in zottigem Fuchspelz mit dicker Kapuze
+huschte aus dem Haus und schloß die Türe, die von innen verriegelt
+wurde. Wortlos, der Kleine neben dem anderen, der groß und hager war,
+schritten die beiden quer über das Ende der Marktgasse, vorüber am
+neuen Pflegeramt, vorüber an den Stallungen des alten Leuthauses. In
+der halb bebauten Straße, die zur Franziskanerkirche führte, traten sie
+in einen mit hohen Bretterplanken umzäunten Garten. Auch hier öffnete
+sich die Haustür wie von selbst. Aus der Finsternis des Flures sprach
+eine Mädchenstimme: »Gelobt sei Jesus Christus und die heilige Mutter
+Marie!«
+
+Der Kleine im Fuchspelz antwortete zaghaft: »Von nun an bis in
+Ewigkeit, Amen!« Und der andere sagte, als er in das Dunkel hineintrat:
+»Schau nur, Luisa, wie gut du den Bekenntnisgruß zu brauchen weißt!«
+Seine Stimme hatte einen heiteren Ton: »Jetzt hast du wieder dreißig
+Wochen Ablaß gut! Tust du denn in deinem jungen Leben des Bösen so
+viel, daß du deine künftige Fegfeuerzeit so fleißig verkürzen mußt?«
+
+»Hochwürden, ich mag das nit, wenn Ihr so redet!« Das junge Mädchen
+verriegelte die Haustür. »Ein geweihter Priester sollt ernst nehmen,
+was heilig ist.«
+
+»Luisichen! Oft wohnt von allem Ernst der tiefste hinter einem
+hilfreichen Lachen.«
+
+Der Kleine hatte den Pelz abgelegt. Jetzt nahm auch der Geistliche den
+Mantel herunter, und da quoll ein Lichtschein auf, als hätte Luisa die
+Blechmaske an einer Blendlaterne gehoben. Der helle Strahl überglänzte
+die beiden Männer. Der Kleine trug das Berchtesgadnische Bürgerkleid
+mit der Bundhose über den weißen Strümpfen und mit dem braunen
+Faltenkittel, über dessen Kragen sich die weiße Hemdkrause herauslegte.
+Ein scharf geschnittener Judenkopf mit blassem Gesicht. Der Spitzbart
+so weiß wie die hohe Stirn. Unter dem Lederkäppchen quollen graue
+Locken heraus. Zwei stille, heißglänzende Augen. Das war der aus
+Salzburg nach Berchtesgaden zugesiedelte Arzt und Handelsmann Simeon
+Lewitter, der vor fünfzehn Jahren bei einem Judenkrawall das Weib und
+seine zwei Kinder verloren und in der Verstörtheit dieser Gräuelnacht
+die Taufe empfangen hatte. Für die Bauern galt er noch immer als
+der Jud, genoß aber als Leibarzt des Fürstpropstes zu Berchtesgaden
+leidliche Sicherheit. Nur die Trauer seiner Augen erzählte von den
+Schmerzen einer vergangenen Zeit. Der schmale Mund unter dem weißen
+Barte hatte das Lächeln einer steingewordenen Geduld.
+
+Neben diesem scheuen Greise sah der katholische Priester, der seit
+sieben Jahren emeritierte Stiftspfarrer Ludwig, fast wie heitere Jugend
+aus, die sich als Alter vermummte. Schon ein bißchen gebeugt, war
+doch in seinem sehnigen Körper noch lebhafte Beweglichkeit. Er machte
+auch eine gute Figur in dem geflügelten Schwarzrock mit den weißen
+Bäffchen, in der seidenen Bundhose mit Strümpfen und Schnallenschuhen.
+Den geschnörkelten Lockenbau, der bei den Herren Mode geworden,
+verschmähte er. Glattsträhnig hingen die aschfarbenen Haare um das
+rasierte Gesicht, in dessen Fältchen ein Spiel von freundlicher
+Spottlust zwinkerte. Er hatte zwei braune haarborstige Warzen, die
+halb entstellend wirkten und halb wie eine drollige Parodie auf die
+Schönheitspflästerchen der vornehmen Damen waren: eine kleine auf
+dem linken Nasenflügel, auf der rechten Wange eine große, die sich
+sonderbar verschob, so oft der Pfarrer lachte. Wenn er ernst war, bekam
+sein Gesicht durch diese Warzen etwas Grausames und Hexenmeisterhaftes.
+Das verschwand aber gleich, sobald seine Augen heiter wurden, diese
+hellblauen Augen, die im Gesicht des Siebzigjährigen noch wie die Augen
+eines lebensgläubigen Jünglings glänzten.
+
+»Luisichen?« fragte er munter. »Warum beleuchtest du mich so scharf?
+Magst du nit lieber dich selber illuminieren? Zum Erquicken unserer
+müden Männerseelen?« Lachend nahm er die Blendlaterne aus Luisas Hand
+und richtete den Lichtkegel auf ihr Gesicht.
+
+Eine Achtzehnjährige von herber Schönheit, über ihr Alter gereift
+in einer Zeit, in der die Redlichen ein härteres Leben hatten als
+die Gewissenlosen. Braunblonde Zöpfe lagen gleich einem schweren
+Seilgeflecht um die Stirne. Der Mund war wie ein strenges
+Siegel dieses jungen, schon geprüften Lebens und zeigte doch das
+Rot einer Kirsche, die reifen will. In den dunklen Augen war
+ein fast ekstatischer Glanz. Oder kam das vom Widerschein des
+blendenden Lichtstrahls? Der zeigte auch das rote, mit Silberblumen
+bestickte Mieder, aus dem sich die weißen Glocken der Spitzenärmel
+herausbauschten. Eine zarte Gestalt, in der sich das junge Weib zu
+formen begann.
+
+Auf der Wange des Pfarrers hüpfte die große Warze. »Luisichen? Hast
+du dich für uns zwei Alten so wohlgefällig gemacht? Oder hat dein
+schmucker Abend einem Jüngeren gegolten?«
+
+In Unmut zog das Mädchen die Brauen zusammen: »Ob jung oder alt, das
+frag ich nit. Mir gilt: getreu oder schlecht, Christ oder Gottesfeind.
+Und heut am Morgen hab ich den heiligen Leib genossen. Da trag ich
+mein bestes Gewand, bis ich schlafen geh. Man muß sich innen und außen
+unterscheiden von den Gottlosen.«
+
+Der Pfarrer blieb stumm. Aus seinen Augen sprach Erbarmen mit dieser
+freudlosen, von aller Härte der Zeit gegeißelten Mädchenseele.
+
+Droben ein Schritt. Licht fiel über die Stiege herunter. »Seid ihr's?«
+fragte eine erregte Stimme. »Ich hab schon geforchten, ihr könntet
+ausbleiben, wegen des schiechen Wetters.«
+
+»Meister, da kennt Ihr uns schlecht.« Der Pfarrer lachte, nicht ganz so
+froh, wie eine Minute früher. »Wir kommen zu unserem lieben Abend, da
+kann es schneien oder lenzen, Mistgabeln oder Kapuziner regnen.«
+
+Die beiden wurden droben von einem Fünfundvierzigjährigen empfangen,
+der ähnlich gekleidet war wie Lewitter. Ein mähniger Kopf mit langem
+Bart, dessen helles Braun schon Silberstriche hatte. Unter den
+Brauenbogen fieberten zwei dunkle Augen mit dem Trauerblick einer
+gequälten Menschenseele. Es waren die gleichen Augen, wie die Tochter
+sie hatte, das einzige Kind des Bildhauers Nikolaus Zechmeister.
+Die Nähe der Gäste ließ den Hausherrn aufatmen, als käme jetzt eine
+bessere Stunde seines Lebens. Und es war ein seltsamer Gruß, den die
+drei einander zuflüsterten: »Mensch bleiben!« Den Händedruck mußte
+Meister Niklaus mit der Linken erledigen. Vor siebzehn Jahren hatte
+man ihm zu Hallein die Schwurhand auf dem Block vom Arm geschlagen,
+weil er gegen seinen Untertaneneid zwei evangelischen Inkulpaten,
+hinter denen die Soldaten Gottes her waren, zur Flucht verholfen hatte.
+Sein Weib war gestorben vom Schreck. Und das Kind hatte man dem der
+Irrlehre Verdächtigen weggenommen und zu gutchristlicher Erziehung
+in ein Kloster gegeben. Erst seit dem verwichenen Herbste war Luisa
+wieder daheim -- als Wächterin des Vaters, um ihn zu behüten vor einem
+Rückfall in den evangelischen Wahn.
+
+Am rechten Arm trug Meister Niklaus in braunem Lederhandschuh eine
+künstliche Holzhand, die er durch einen sinnreichen Mechanismus zur
+Mithilfe bei seiner Arbeit belebt hatte. Zwölf Jahre lang, bis die
+linke Hand sich zu schulen begann, war er seinem Beruf entzogen. Um
+Arbeit zu haben, hatte er in dieser Zeit für die Schnitzereien der
+Berchtesgadnischen Heimarbeiter ein Verlegergeschäft begründet, bei dem
+er, ein wohlhabender Mann, für die Notstillung seiner Dienstgesellen
+oft mehr verbrauchte, als er von ihrer Ware für sich selbst gewann.
+Seit fünf Jahren gehörte Meister Niklaus wieder seiner Werkstätte,
+in der sich Kunst und Handwerk miteinander verschwisterten. Aber so
+fröhlich, wie er als junger Mann gewesen, wurde er nimmer. Und seit der
+Heimkehr seiner Tochter schien er ernster, als er es je in der Zeit
+seines Leidens war.
+
+Während Lewitter in die helle Stube trat, rief Niklaus über das
+Stiegengeländer hinunter: »Gelt, Luisa, bring uns nur gleich den warmen
+Trunk!«
+
+»Wohl, Vater!«
+
+Der Meister blieb über das Geländer gebeugt, als hätte er Sehnsucht,
+noch ein Wort seines Kindes zu hören. Da legte ihm Pfarrer Ludwig die
+Hand auf die Schulter: »Niklaus? Wird's besser mit euch beiden?«
+
+Der andere schüttelte den Kopf. »Sie glaubt nit, daß ich glaub.«
+
+Der Pfarrer bekam das grausame Gesicht. »Viel Ding im Leben hab ich
+verstanden. Eins versteh ich nimmer: wie der Herrgott es dulden kann,
+daß man in seinem Namen die Seelen der Menschen frieren macht? Kann
+sein, daß Gott sein heißt: in alle Ewigkeit für uns Menschen ein Rätsel
+bleiben.«
+
+Ein bitteres Lächeln zuckte um den Mund des Meisters: »Hätt mein Mädel
+das gehört, so tät sie nach dem Klosterbüchl ausrechnen, wieviel
+Jahrhundert Fegfeuer das wieder kostet.«
+
+Die beiden traten in die Stube. Als die Tür geschlossen war, legte
+Pfarrer Ludwig herzlich den Arm um die Schultern des Hausherrn: »Du?«
+Wenn die drei allein waren, duzten sie einander. »Glaubst du, daß ich
+die Menschen kenn?«
+
+»Aus dem Beichtstuhl hast du tief hinuntergeschaut in ihre Seelen.«
+
+»Noch tiefer in der Sonn, die ich außerhalb der Kirch gefunden. Und ich
+sag dir das voraus: in deinem Mädel wird das rechte Leben noch blühen,
+wie am Johannistag die Rosen in deinem Garten.«
+
+»Gott soll's geben!«
+
+»Was für einer?« Die große Warze tänzelte. »Der meinige, der deinige,
+der seinige?« Bei diesem letzten Worte deutete Pfarrer Ludwig auf
+Lewitter, der die Brust an den warmen Kachelofen preßte und dieses
+Kunstwerk des hilfreichen Menschengeistes mit den Armen umschlang,
+schauernd vom Gassenfrost, frierend in der Kälte seines alten, einsamen
+Lebens.
+
+Unter dem reichbesteckten Kerzenrade stand auf rundem Tisch ein
+Schachbrett und daneben ein Körbchen mit den geschnitzten Beinfiguren.
+Während der Meister das Spiel zu stellen begann, warf er lauschend
+einen Blick zur Tür und fragte flüsternd: »Hast du Botschaft aus
+Salzburg?«
+
+Der Pfarrer nickte. »Seit das große Jagen begonnen hat, sind's nach der
+letzten Zählung dreißig Tausend und sieben Hundert, die man aus dem
+Land getrieben.«
+
+»Ist das nit Irrsinn?« stammelte Niklaus.
+
+»Nein, Bruder!« Die große Warze kam in Bewegung. »Wie mehr man die Zahl
+der Fresser mindert in einem Land, um so fetter werden die Erben. Das
+ist die fromme Rechnung unserer Zeit. Wie länger ich das mit anseh, um
+so lustiger macht es mich.«
+
+»Mensch! Wie kann man das heiter nehmen?«
+
+»Anders tät man den üblen Brocken nit schlucken. Die Zeit ist
+so schaudervoll, daß man sie nur als eine Narretei des Lebens
+beschauen kann. Wollt einer sie ernst nehmen, so müßt er an der
+Menschheit verzweifeln. Wie mehr man lacht über ein böses Ding, um so
+ungefährlicher wird es.«
+
+»Still!« mahnte Lewitter. »Das liebe Mädel kommt.« In seiner Art, zu
+sprechen, war kein jüdischer Klang. Er sprach, wie Herren reden, die
+unter Bauern wohnen. Hastig trat er auf den Tisch zu, stellte die
+letzten Schachfiguren und sagte: »Heut seid ihr beide am Spiel. Da hab
+ich für euch einen Anfang ausgesonnen --«
+
+Luisa trat in die Stube. Auf einer Zinnplatte brachte sie drei Becher,
+in denen der Würzwein dampfte.
+
+»So! Und so!« sagte Lewitter. Er machte von jeder Seite des Spiels fünf
+Züge. »Wie gefällt euch das?«
+
+Meister Niklaus, seine Erregung verbergend, nickte: »Das ist neu.«
+
+»Aber schön!« Der Pfarrer ließ sich lachend auf den Sessel nieder. »Was
+man nit allweil behaupten kann von Dingen, die neu sind.«
+
+Luisa hatte die Becher ausgeteilt. »Gott soll's den Herren gesegnen.«
+
+Lewitter antwortete: »Gott soll dir's danken, lieb Kind.« Und der
+Pfarrer redete fröhlich weiter: »Wie fein das duftet! Hast du das im
+Kloster gelernt?«
+
+Ein Zornblick. »Die frommen Schwestern haben Wasser getrunken.«
+
+»Wenn du dabeigewesen bist. Was haben sie geschluckt, wenn du's nit
+gesehen hast?«
+
+Niklaus, der ein strenges Wort seiner Tochter zu befürchten schien,
+sagte rasch: »Ich dank dir, Kind! Weiter brauchen wir nichts. Tu dich
+schlafen legen!«
+
+»Ich muß noch schaffen.« Sie maß den Vater mit einem Sorgenblick. »Auch
+beten muß ich. Heut mehr als sonst.« Ihre Augen glitten über die beiden
+anderen hin. Dann ging sie.
+
+Lewitter flüsterte: »Sie hat Mißtrauen gegen uns.«
+
+»So? Meinst du?« Der Pfarrer schmunzelte. »Dann hat sie ein Näsl, das
+so fein ist wie nett.«
+
+Ein bißchen unwillig sagte der Meister: »Warum tust du sie auch allweil
+reizen?«
+
+»Weil's hilfreich ist. Wie soll ein stilles Wässerlein sich bewegen,
+wenn man keinen Stein hineinwirft? Aber komm, da steht ein schöner
+Gedanke auf dem Schachbrett. Wir wollen uns freuen dran! Was Leben und
+Welt heißt, soll uns weit sein bis um Mitternacht.« Der Pfarrer faßte
+den Becher. »Her da! Wärmet den Herzfleck! Laßt uns anstoßen als treue
+Bundesbrüder des duldsamen Glaubens! Auf alles Gesunde in den Menschen!
+Aller dürstenden Hoffnung zum Trost! Auf den Glauben an die gute Zeit!
+Auf das totgeschlagene und noch allweil nit wiedergeborene Deutschland!
+Auf das kommende Reich, das neu und schön sein wird!«
+
+Die drei Becher klirrten über den Schachfiguren gegen einander und
+Niklaus sagte: »Wann wird das kommen, daß unser Volk und Reich den
+ersten Schrei seines neuen Lebens tut?«
+
+Simeon verlor das steinerne Lächeln. »Am Erlösungsmorgen nach einer
+harten, tiefen und gewaltigen Not.«
+
+Der Meister nickte. »Dann haben wir Hoffnung, daß wir es noch erleben.
+Härter und tiefer ist nie eine Not gewesen als die von heut!«
+
+»Hart und tief!« Die Warze im Gesicht des Pfarrers bewegte sich
+munter. »Bloß das Gewaltige fehlt. Wohin man schaut, alles läppisch
+und erbärmlich. Das neue Reich erleben wir nimmer. Komm, laß uns Freud
+haben am schönen Spiel der Stunde! Du, Nicki, mit den Weißen hast den
+ersten Zug!«
+
+Niklaus rückte eine Figur. »So, mein' ich, wär's am besten.«
+
+Die beiden vertieften sich in das Bild des Schachbrettes. Und Simeon
+verfolgte aufmerksam die Züge. Als Pfarrer Ludwig eine Wendung fand,
+die den Sieg zu seinen Gunsten vorbereitete, nickte Simeon und erhob
+sich. Beim Geschirrkasten füllte er zwei langstielige Tonpfeifen
+mit Tabak, brannte sie an einer Kerze an und brachte sie den beiden
+Spielern. Er selber rauchte nicht. Um außerhalb des Qualmes zu bleiben,
+den die beiden Spieler hinbliesen über die Schachfiguren, rückte er
+ein Stück vom Tische weg. Und als das Spiel dem Ende zuging, streifte
+er einen Schuh herunter und zog unter der eingelegten Filzsohle ein
+dünnes, eng beschriebenes Blatt hervor.
+
+»Was Gutes?« fragte der Pfarrer.
+
+»Seit langem hab ich Tieferes nit gelesen. Ich hab mir auch schon
+überlegt, wie ich's für euch übersetzen muß.«
+
+»Hebräisch? Aus deinem Talmud?«
+
+»Was Besseres.«
+
+»Wenn *du* das sagst, so muß es eine neue Offenbarung sein.« Pfarrer
+Ludwig schob das Schachbrett beiseite.
+
+»Neu? Was in dem Brief da steht, ist bald an die hundert Jahr alt. Mir
+ist's neu gewesen. Das Gute in der Welt hat einen langsamen Weg.«
+
+»Wer hat's geschrieben?«
+
+»Erst mußt du es hören. Man soll nit den Namen vor das Werk setzen,
+sondern das Werk vor den Namen.« Lewitter begann mit leiser Stimme
+zu lesen, während auch Meister Niklaus etwas Heimliches aus dem
+Unterfutter seines Kittels herausholte. Nach einer Weile schlug die
+alte Kastenuhr die zehnte Stunde. Sie hatte einen tiefen, dröhnenden
+Ton. Dabei überhörten die drei, daß an der Haustür jemand pochte, nicht
+laut, doch ungeduldig.
+
+Luisa und die Magd, beim Spinnen in der Küche drunten, vernahmen das
+Pochen.
+
+Die Magd erschrak. Es war ein dreißigjähriges, weißblondes Mädel,
+das einen wohlgeformten Körper und träumende Augen hatte, doch kein
+frohes Gesicht. Mit dreizehn Jahren, bei Luisas Geburt, war die Sus als
+Kindsmädel in des Meisters Haus gekommen. Nach dem Tode seiner Frau,
+als ihm die Tochter um des reinen Glaubens willen genommen wurde, hatte
+die Sus getreu bei dem Einsamen ausgehalten und hatte um seinetwillen
+ihre Jugend versäumt, sich zerschlagen mit Eltern und Geschwistern, die
+es ihr nie verziehen, daß sie atmete unter dem Dach eines Verdächtigen.
+
+Beim Hall der pochenden Schläge war sie bleich geworden und hatte vor
+Schreck das Spinnrädl umgeworfen.
+
+»Bleib, Sus! Ich geh schon!« sagte Luisa. »In dir ist Angst, in mir ist
+Gott. Drum hab ich nit Ursach, mich zu fürchten.«
+
+Der da draußen mußte die Stimme des Mädchens vernommen haben. Das
+ungeduldige Pochen wurde still.
+
+»Jesus!« stammelte Sus. »Ob's nit die Schergen sind?«
+
+»Die kommen zu schlechten Menschen, nit zu uns.« Luisa entzündete die
+Blendlaterne. »Mag sein, man holt den Lewitter zum gnädigsten Herrn.
+Dem ist zuweilen in der Nacht nit gut. Die ihn verleumden, sagen:
+vom vielen Wein. Ich sag: von seiner schlaflosen Sorg um den reinen
+Glauben.« Sie ging zur Haustür und schob den Riegel zurück.
+
+Der da draußen wollte hastig eintreten. Weil die Tür noch an einer
+Kette hing, öffnete sie sich nur um einen schmalen Spalt. Während
+die Schneeflocken hereinwehten, flüsterte in der Nacht eine erregte
+Jünglingsstimme: »Lieb Mädel! So tu doch auf!«
+
+Obwohl sie die Stimme gleich erkannte, fragte sie: »Wer pocht so spät
+in der Nacht an meines Vaters Haus?« Es klang wie Zorn aus ihren leisen
+Worten.
+
+»Einer, der es gut mit deinem Vater meint.«
+
+»Mein Vater kann bauen auf Gottes Hilf. Menschenhilf braucht er nit.«
+
+Der da draußen schien die Geduld zu verlieren. »Sei doch verständig,
+Mädel! Ich will deinen Vater warnen.«
+
+»Der ist kein Treuloser und Unsichtbarer.«
+
+»Bei Christi Leiden. Da steh ich in der Nacht und spiel um mein Leben,
+weil er dein Vater ist!«
+
+»Kannst du spielen um dein Leben, so wird es so viel nit wert sein.«
+
+Ein zerbissener Laut der Sorge. Dann ein wunderlich wehes Auflachen.
+»Tust du dich fürchten? Vor mir?«
+
+»Fürchten? Weil auf heiligem Kirchgang deine Augen mich beschimpft
+haben? So bist du. Fürchten tu ich dich nit.« Die Türkette klirrte, und
+Luisa trat in die Nacht hinaus. Mit der Linken hielt sie die Türe fest,
+damit der Schnee nicht hineinwehen möchte in den Flur, mit der Rechten
+hob sie die Laterne.
+
+Das Licht umglänzte einen Sechsundzwanzigjährigen in verschneiter
+Jägertracht. Ein junger blonder Bart umkrauste das feste, kühne
+Gesicht, das so braun von der Sommersonne war, daß drei Wintermonate
+diese Wangen nicht hatten bleichen können. Wie hundert kleine silberne
+Mücken flogen die beglänzten Schneeflocken um sein im Winde wehendes
+Haar und um die weitgeöffneten Augen, in denen Sorge und Sehnsucht
+brannten.
+
+Die beiden schwiegen eine Sekunde lang. Dann die strenge Mädchenstimme:
+»Du bist das Licht nit wert. Es hilft dir lügen und macht dich anders
+als du bist! Man hat mir gesagt, du wärst ein Unsichtbarer, wenn die
+Sonn am Himmel scheint. Da bleib du auch unsichtbar in der Finsternis!«
+
+Das Licht erlosch; nur noch ein schwarzer Schatten stand in dem weißen
+Gestöber, und die ernste Jünglingsstimme klagte: »Bist du ein lebiges
+Ding mit warmem Blut? Du bist wie zur Winterszeit ein kalter Stein
+in deiner Kirch!« Ohne zu antworten, wollte Luisa zurücktreten in
+den Flur. Da sprang er auf sie zu, umklammerte mit seiner Stahlfaust
+ihren Arm, hielt sie fest, wie heftig sie sich auch wehrte, zog sie
+so dicht an seine Brust heran, daß sie seinen heißen Atem empfand,
+und flüsterte: »Willst du deinem Vater die Hausruh wahren, so sag
+ihm: >Es ist ein heilig Ding, da wird ein Messer durchgestoßen, noch
+heut in der Nacht!<« Er drehte das Gesicht, als hätte er ein Geräusch
+gehört. Da draußen, im Dunkel, beim Leuthaus drüben, glomm es wie
+ein matter, gaukelnder Lichtschein auf; kaum erkennbar war es; doch
+die nachtgewohnten Augen des Jägers erkannten, was da kam. »Hinauf!
+Zu deinem Vater!« Mit Sätzen, wie ein gehetzter Hirsch sie macht,
+verschwand er.
+
+Luisa stand im weißen Gewirbel. Nun war die Sus bei ihr und zog sie in
+den Flur zurück, verriegelte die Tür, gebärdete sich wie eine Verstörte
+und bettelte: »Tu nit Zeit verlieren! Das mußt du dem guten Herren
+sagen! Und tust du's nit, so spring ich selber hinauf --«
+
+Die Stimme der Magd war so laut geworden, daß man sie droben vernommen
+hatte. Niklaus kam aus der Tür gesprungen und rief über das Geländer:
+»Was ist da drunten?«
+
+»Ich komm, Vater!« Luisa huschte über die Treppe hinauf. »Einer hat
+gepocht an der Haustür --« Ein kurzes Zögern. »Ich mein', es ist von
+den Söhnen des Mälzmeisters Raurisser der älteste gewesen, der Leupolt.«
+
+»Sag's doch!« klang die angstvolle Stimme der Magd. »So sag's doch dem
+guten Herrn!«
+
+Der Name, den Luisa genannt hatte, und die Mahnworte der Magd schienen
+den Meister in Sorge zu versetzen. Er zog die Tochter über die
+Stubenschwelle und verschloß die Tür. Auch im Blick der beiden andern
+war Unruh. »So red doch, Kind! Was ist mit dem Leupolt?«
+
+»Das ist ein sündhafter und schlechter Mensch.«
+
+»Der Leupolt?« fragte Pfarrer Ludwig verwundert. »Den prächtigen Buben
+kenn ich seit den Kinderschuhen.«
+
+»Er hat gottferne Augen und hat unsittig zu mir geredet.«
+
+Niklaus wurde ungeduldig. »Red doch, Kind! Was hat er gesagt?« Er
+meinte: jetzt, an der Haustür.
+
+Luisa dachte an den sündhaft gewordenen Dreikönigstag. »Auf heiligem
+Kirchgang hat er zu mir gesagt: ich tät ihm gefallen.«
+
+Aus Simeons Gesicht verschwand die Ängstlichkeit, und Pfarrer Ludwig
+begann zu lachen. »Was für eine Zeit ist das! Ein junges Mädel! Und
+hält es für gottwidrig, wenn sie einem festen Buben gefällt! Alle Natur
+verdreht sich in Unvernunft. Jedes Wörtl wird überspreizt. Keiner redet
+mehr, wie es menschlich wär und wie Herz und Blut es begehren müßten.
+Alles wird aufgeblasen. Jeder lustige Erdenfloh muß sich verwandeln in
+einen Höllendrachen.«
+
+Auch Meister Niklaus schien aufzuatmen. »Und da ist der junge Raurisser
+zur Haustür gekommen? Weil er gern mit dir einen Heimgart gehalten
+hätt?«
+
+Ein Zornblick funkelte in Luisas Augen. »Das nit. Ich hätt es ihm auch
+nit verstattet. Er hat sich frech und unnütz aufgespielt. Du bist, wie
+du bist, Vater! Da braucht nit einer warnen. Und braucht nit sagen:
+>Für deinen Vater spiel ich um mein Leben.< Und muß nit sagen: >Es ist
+ein heilig Ding, da wird ein Messer durchgestoßen, noch heut in der
+Nacht.<«
+
+Über die Stirn des Meisters ging ein Erblassen, und Lewitter machte
+eine erschrockene Handbewegung gegen das Schachbrett hin, während
+Niklaus stammelte: »Kind! Warum hast du denn das nit gleich gesagt?«
+
+Luisas Stimme kam einen fremden Klang. »Vater? Ist dein Gewissen nit
+rein vor Gott?«
+
+Zur Antwort blieb dem Meister keine Zeit mehr. Lärmende Rufe im Sturm
+der Nacht, dröhnende Schläge an der Haustür, ein dumpfes Krachen,
+Gesplitter von Holz und das gellende Angstgeschrei der Magd. Als der
+Meister die Stubentür aufriß, hörte man im Flur befehlen: »Ein Vigilant
+zur Haustür! Einer _in loco hujus_ vor das Kuchlmensch! Einer hat
+Vigilanz bei der Stieg! Die drei anderen mit mir! _Citissime_!«
+
+Heiter tätschelte Pfarrer Ludwig die Schulter des vor Schreck wie zu
+Stein gewordenen Mädchens: »Fein, Luisichen! Kindlich über alle Maßen!
+Den Vater ins Rattenloch bringen! So hat's dein heiliger Gott den
+Kindern befohlen! Viertes Gebot!«
+
+Mit erwürgtem Aufschrei jagte Luisa zur Stubentür. Kaum hatte sie dem
+Tisch den Rücken gewandt, da riß Lewitter unter dem Schachbrett das
+hebräisch beschriebene Blatt und ein anderes hervor, das zwischen
+enger Schrift einen Holzschnitt zeigte -- ein Blatt aus dem Nürnberger
+Sendschreiben des vor achtundvierzig Jahren aus Berchtesgaden
+ausgetriebenen evangelischen Bergmannes Josef Schaitberger. Hurtig
+quetschte Simeon die Blätter in zwei kleine Knäuel zusammen, die er
+verschlingen wollte.
+
+»Halt, Bruderherz!« Pfarrer Ludwig riß ihm die Knäuel vom Munde
+weg. »Papier ist untauglich für einen Menschenmagen. Gib her! Ich
+hab ein gutkatholisches Versteck.« Während die große Warze tanzte,
+zerrte der Pfarrer die Bäffchen vom mageren Halse weg und ließ hinter
+ihnen die zwei Papierknäuel verschwinden. »So! Gleich mit dem ersten
+Ruck ist dein Spinoza und des Niklaus Schaitbergischer Sendbrief
+hinuntergerutscht bis in die Magengrub. Außerhalb der Gedärm ist's
+weniger ungesund.«
+
+Zu diesen heiteren Flüsterworten klangen vom Stiegenflur die
+aufgeregten Fragen des Meisters, das Weinen der Magd, die Stimmen und
+das Schrittgetrampel der Soldaten Gottes.
+
+
+
+
+Kapitel II
+
+
+Der Feldwebel des Pflegeramtes, Nikodemus Muckenfüßl, war ein
+wohlgenährter, gutmütig dreinschauender Mensch, der seiner biersanften
+Natur die Unerbittlichkeit des Polizeitones immer gewaltsam abringen
+mußte. Als er, den dünn abgezogenen Schnurrbart um den Finger
+kräuselnd, mit Meister Niklaus und den drei boshaft umherspähenden
+Musketieren lärmvoll in die Stube trat, saß Pfarrer Ludwig mit
+Simeon Lewitter beim Schachspiel und sagte: »Ich weiß nit, warum das
+Schachbrett allweil wackelt? Es steht doch kerzengrad auf dem blanken
+Tisch!« Er hob das Brett in die Höhe und guckte drunter. Niklaus
+verstand diesen Wink und atmete erleichtert auf. Und während Luisa sich
+verstört an die getäfelte Stubenmauer preßte, fragte der Pfarrer sehr
+erstaunt: »Mein lieber Feldwebel? Seid Ihr so ein leidenschaftlicher
+Freund des Schachspiels, daß Ihr aus Ungeduld, ein gutes Spiel zu
+sehen, gleich die Haustür eines redlichen Mannes einschlagt?«
+
+Nikodemus Muckenfüßl machte verdutzte Augen. Das Bild, das er in der
+Stube vorfand, schien seinen Erwartungen nicht zu entsprechen. Seine
+obrigkeitliche Geistesgegenwart versagte für einige Sekunden. Nun fand
+er die strenge Dienstmiene und sagte in dem Polizeideutsch, an das er
+sich in der Pflegerkanzlei gewöhnt hatte: »Vor Reverende prästiere
+ich in christschuldigem _respecto_. Aber Spaßettibus wider die von
+Gott instituierte Obrigkeit sind denen Subjekten nit permittiert. Ich
+inquirirre _sub loco hujus_ in Amtibus.«
+
+»Muckenfüßl,« staunte der Pfarrer, »Ihr redet beinah so gut Latein, wie
+der Kirchenvater Augustinus.«
+
+»_Silentium!_« brüllte der Feldwebel gereizt. Der Scherz des Pfarrers
+bekehrte ihn nicht zu einer reinlicheren Sprache. In diesem Punkte
+gehorchte er nur seiner Frau, die zuhause, wenn ihr Nikodämerl so
+unverständlich kanzleielte, immer sagte: »Red deutsch, du Rindvieh!« In
+dem Schweigen, das sein Befehl erzeugt hatte, erklärte er würdevoll:
+»Es ist der wachsamen Obrigkeit _ad aures_ arriviert, daß _in loco
+hujus_ des _in specie_ verdächtigen Nikolaus Zechmeister verbotene
+_conventicula_ stattfindlich sind, mit _abuso_ ketzerischer _libellis_
+und _pamphletica_. Ich bin von Amtibus ordiniert, die Namen der
+Präsenten _ad notam_ zu rapportieren, _in quasi_ eine Orts- und
+Leibesvisitationem _legaliter_ fürzunehmen.«
+
+Pfarrer Ludwig erhob sich. »So viel Arbeit? Weil wir drei einen Becher
+Würzwein schlucken und Schach spielen: Meister Niklaus unter seinem
+eigenen Dach, als Hausgäste der Leibmedikus Seiner Hochfürstlichen
+Gnaden und ich, von dem Ihr wissen solltet, daß ich ein gutkatholischer
+Priester bin?«
+
+»Der Erzschelm Luther,« rief einer von den Soldaten Gottes, »ist ehnder
+auch einmal ein katholischer Klosterbruder gewesen.«
+
+»Riebeißel,« gebot der Feldwebel, »du tust das Maul tenieren. Der
+Öberste, der kommandieret, bin _ego ipsus_.«
+
+»Also?« fragte der Pfarrer. »Muß ich vorn aufknöpfen oder hinten die
+Hos herunterlassen?«
+
+Muckenfüßl überhörte zartfühlend diesen derben Scherz. »Reverende
+steht _sub_ geistlicher _judicatura_. Ich hab mich nur zu occupieren
+mit denen weltlichen Personibus.«
+
+Da rief ein schwarzbärtiger Musketier, der keinen Blick von der
+Haustochter verwandt hatte: »Vor allem müßt man die Weibsleut
+visitieren. Die sind am flinksten mit dem Verstecken und haben die
+Plätz dazu, wo leicht zum suchen, aber hart zum finden ist.« Er
+streckte schon die Fäuste, um Luisa zu fassen.
+
+Hatte sie bei der wachsamen Obrigkeit einen treubesorgten Schutzengel?
+Der Feldwebel befahl mit gedämpfter Strenge: »Lasset die frommgläubige
+Jungfer in Fried! Visitieret die Mannsleut!«
+
+Luisa stammelte: »Ich bürg mit Seel und Leben für den Vater. Auch für
+die Sus.«
+
+»Für uns zwei nit?« fragte der Pfarrer lachend und wandte sich zu
+Lewitter, von dem ein Musketier den Kittel herunterschälte. »Das müßt
+Ihr leiden, guter Simeon Lewitter! Jeden Kranken untersucht Ihr bis auf
+die Nieren. Da dürft Ihr nit klagen, wenn's _vice-versa_ Euch selber
+einmal geschieht.« Er guckte zur Tür hinüber. »Luisichen! Jetzt wirst
+du aus der Stub gehen müssen. Sonst könnten deine frommen Augen einen
+unheiligen Anblick haben. Ein getaufter alter Jud ist als nackichter
+Adam auch nit schöner, als ein alter, katholisch geborener Christ. Und
+schau, Luisichen, du könntest uns zur Begütigung des Schrecks noch
+einen Becher Würzwein kochen? Oder gleich ein Dutzend! Die tapferen
+Soldaten Gottes sind wohl auch in der kalten Winternacht einem heißen
+Schluck nit abhold.«
+
+Er brachte, während Luisa stumm aus der Stube ging, sein Pfeiflein
+wieder in Brand, ließ sich auf den Sessel nieder und begleitete die
+ernste Amtshandlung mit freundlichen Reden, die spöttisch unterfüttert
+waren.
+
+Zwei Soldaten entkleideten und visitierten den Hausherrn und den
+fürstlichen Leibarzt. Der Musketier, der sich sehr mißtrauisch
+mit Simeon beschäftigte, fand auch in den Schuhen die eingelegten
+Filzsohlen, lüftete sie und stocherte mit dem Finger drunter.
+
+»Ja, Mensch,« sagte der Pfarrer, »das mußt du genau nehmen! Wer weiß,
+ob unter dem Pantoffelfilz nit ein Eimerfäßl ketzerischen Seelenweines
+verborgen ist.«
+
+Während der Visitation der beiden Männer schnüffelten Muckenfüßl und
+Riebeißl in der Stube nach verbotenen Schriften. Sie öffneten jeden
+Kasten und jede Truhe, rissen jede Schublade heraus und drehten das
+Unterste zu oberst. Auf den Knien rutschten sie über die Dielen,
+klopften die Bretter ab und fühlten nach verdächtigen Fugen. Der
+Pfarrer guckte ihnen lustig zu. Plötzlich scheuerte er heftig seine
+Nabelgegend und sagte lachend: »Feldwebel, Ihr müßt einen hungrigen
+Kanzleifloh mitgebracht haben! Der ist hergehupft auf mich, und jetzt
+beißt er mich in der Magengrub.«
+
+Muckenfüßl brummte was Unverständliches und begann die braune
+Vertäfelung der Mauer nach Geheimfächern abzuklopfen. Die drei Männer
+-- der eine im schwarzen Priesterkleid und die beiden anderen, die
+irdisch enthäutet in der Stube standen -- sahen nicht nach der
+Mauerstelle hin, die der Feldwebel mit besonderer Sorgfalt abhämmerte.
+Aber während sie ruhig miteinander redeten, funkelte ein gespanntes
+Lauschen in ihren Augen, und alle drei tauschten einen frohen Blick,
+als Muckenfüßl seine obrigkeitliche, den reinen Gottesglauben
+behütende Tätigkeit weiter gegen die Tür hin verschob.
+
+Die zwei gründlich Visitierten durften wieder in ihre Kleider schlüpfen.
+
+Luisa und die weißblonde Magd, die einen verzweifelten Sorgenblick auf
+den Meister heftete, brachten die sieben dampfenden Würzweinbecher.
+Muckenfüßls Amtsmiene milderte sich beträchtlich. Doch bevor er sich
+völlig zurückverwandelte in ein wohlwollendes Menschenkind, mußte er
+noch die wirksamste seiner Künste zur Anwendung bringen und sagte mit
+inquisitorischem Ton: »Gelobt sei Jesus Christus und seine heilige
+Mutter Maria?«
+
+Meister Niklaus, der Pfarrer, Simeon, Sus und Luisa antworteten: »Von
+nun an bis in Ewigkeit, Amen.«
+
+Jetzt nickte Muckenfüßl. »Alles _in ordine_ befunden. Will's der
+Obrigkeit _ad notam_ rapportieren, daß der Angeber ein füreiliges
+_rhinozerum_ gewesen ist.« Lachend griff er nach einem Würzweinbecher.
+»Zur Salutation, ihr ehrenwerten Monsiörs!«
+
+Man stieß miteinander an und schwatzte heiter, als wäre nicht das
+Geringste geschehen in dieser Stunde, die mit der Freiheit dreier
+Männer gespielt hatte und vorüberging wie eine Fastnachtsposse.
+
+Als der Feldwebel und die Soldaten Gottes ihre Becher geleert hatten,
+sagte Niklaus zu den beiden Mädchen: »Sind die Leut aus dem Haus, so
+müßt ihr die beschädigte Tür verstopfen, daß der Schnee nit hereinweht.
+Dann legt euch schlafen.«
+
+Wortlos umklammerte Luisa den Arm des Vaters. Dann verließ sie mit
+jagendem Schritt die Stube. Und Muckenfüßl sagte: »Ich muß die Herren
+noch _specialiter_ monieren _in respecto_ der Polizeistund.«
+
+»Ja, lieber Feldwebel!« lachte der Pfarrer. »Da machet nur, daß Ihr
+mit Euren christlichen Gottesstreitern flink in die Federn kommt! Ihr
+seid die einzigen, die sich gegen das obrigkeitliche Gebot versündigen.
+Meister Niklaus ist in seinem eigenen Haus, ich als Kapitelfähiger des
+Stiftes steh außerhalb des Polizeigesetzes, und Lewitter als Medikus
+hat Freipaß bei Tag und Nacht.«
+
+»Als Medikus! Ich observier aber nit, daß einer von den Monsiöribus
+marod ist?«
+
+»Doch! Mir bremselt's in den unteren Gründen. Da hab ich den Medikus
+nötig. Oder wollet *Ihr* mich davon erlösen?«
+
+»So ein alter Senior! Und allweil Spaßettibus!« Den Kopf schüttelnd,
+ging Muckenfüßl zur Türe. »Daß die Menschheit doch nie zu Verstand
+arriviert.«
+
+Während die Schritte der Musketiere über die Stiege hinunterpolterten,
+standen die drei Männer ernst um den Tisch herum. Als wäre in jedem der
+gleiche Gedanke, reichten sie einander die Hände. Und Niklaus murmelte
+durch die Zähne: »Wär man kein Rebell, sie täten einen machen dazu!«
+
+»Ist schon wahr,« nickte der Pfarrer, »einen Aufruhr hat nie das
+Volk gemacht. Allweil fabriziert ihn die Obrigkeit. Jedes sinnlose
+Polizeiverbot ist Mist für den Acker, auf dem was Widerspenstiges
+aufgeht.«
+
+Simeon schwieg. Meister Niklaus nahm den Kopf zwischen die Hände: »Was
+für eine Zeit ist das! Sie stellt die Lumpen als Wächter vor jedes
+Ding, das wahr und heilig ist.« Er lauschte. Im Haus kein fremder Laut
+mehr; nur ein Brettergerappel drunten im Flur.
+
+Pfarrer Ludwigs braune Warze tanzte zwischen seinen Wangenfalten.
+»So! Jetzt können die heimlichen Gewissensflöh wieder aushupfen.« Er
+löste die Knieschnalle und schlenkerte das Bein. Ein Papierknäuel
+rutschte aus der seidenen Finsternis heraus. »Guck! Einer ist schon da.
+Allweil sag ich's: der ewige Menschendrang zum Licht!« Er dröselte den
+Knäuel auseinander. »Wo bleibt der hebräische Philosoph? Das ist der
+evangelische Dorfapostel Josef Schaitberger. Ein Ketzer.« Lachend hob
+er das Blatt zum Kerzenreif hinauf. Niklaus machte eine Bewegung, als
+möchte er hindern, was der Pfarrer tat. Da züngelte schon die rasche
+Flamme. »Laß brennen, Herzbruder! Dein Haus wird ärmer um eine Gefahr.«
+Die Papierflamme war klein geworden, war herabgebrannt bis zu den
+Fingerspitzen des Pfarrers. Nun blies er kräftig. In vielen Flocken,
+von denen ein paar noch glühten, schwamm die Asche in die Luft hinaus.
+Wieder schüttelte Pfarrer Ludwig die schwarze Seide seiner Hose. »Guck,
+Simmi! Ist *auch* schon da! Dein neufärbiger Philosoph! Ein gefährliche
+Mannsbild! Weil er am tiefsten ist in seiner Weisheit. Gelesen haben
+wir sie. Mich rührt's nit an. Dem Niklaus ist sie gleichgiltig.
+Du, Simmi, hast sie im Köpfl. Besser, wir lassen das Amsterdamer
+Tulpenknöspel verschwinden. >Feuer ist allweil hilfreich!< sagten vor
+anno Towack die Hexenrichter, wenn sie die alten Weiblen verbronnen
+haben.« Wieder eine Flamme. Wieder das Auseinanderschwimmen der Asche.
+
+Nun saßen die drei am Tisch. Der Pfarrer faßte Lewitters Hand. »Erzähl
+uns von ihm! Wann ist er gestorben?«
+
+»Vor 56 Jahren, an der Schwindsucht.«
+
+»Weisheit, die Tausende begnaden kann, verbrennt die Seelen, in denen
+sie wächst.«
+
+»Er hat den Tod in der Werkstatt eingesogen, als Glasschleifer. Die
+jüdische Synagoge von Amsterdam hat ihn ausgestoßen als Verfluchten.
+Und er ist von den wärmsten Menschen einer gewesen, ein Erdenkind mit
+dem ewigen Gottesfunken in der Seel, mit dem Durst nach Wahrheit in
+Blut und Gehirn.«
+
+Die Augen glänzend von einem kummervollen Träumen, sah Niklaus ins
+Leere. »Wann wird das kommen, daß jeder leben darf nach seiner Farb?
+Die Zeit, wo jeder spürt, daß er mit gleichen Rechten ein Bruder des
+andern ist? Mensch neben Mensch?«
+
+Die alte Kastenuhr mit den tiefen Glockentönen schlug Mitternacht.
+Pfarrer Ludwig erhob sich. »Die Zeit geht auf den Morgen zu. Lasset uns
+beten als Brüder, die dem Licht entgegenharren.«
+
+Die beiden anderen standen schweigend auf, und Meister Niklaus ging
+der Wandstelle zu, die der Feldwebel des Pflegeramtes mit erhöhter
+Aufmerksamkeit abgepocht hatte. Er drückte auf einen Nagelstift,
+der verborgen in der Täfelung saß. Die mit einer dicken Gipsmasse
+unterlegte Wandverschalung öffnete sich doppeltürig und zeigte in
+der Mauergrotte ein geschnitztes Bild, das einer mittelalterlichen
+Weihnachtskrippe glich und von kleinen farbigen Lämpchen mystisch
+erleuchtet war -- ein Werk, in dem sich innige Kunst und kindliche
+Einfalt miteinander verwoben.
+
+Eine plastische, durch Farben belebte Berglandschaft unter blauem
+Himmel. Der höchste Gipfel hatte die gebrochene Zahngestalt des
+Wazmann. Auf den Höhen noch der Winter, im Tal der Frühling mit
+Blumen, mit grünen Wiesen und belaubten Wäldchen. Kleine Dörfer mit
+zierlichen Hütten, in deren aus Glassplittern gebildeten Fenstern
+das Licht der bunten Ämpelchen schimmerte, als wär's ein Morgen um
+die Stunde, in der die Sonne kommt. Die Herden auf der Weide. Viele
+winzige Menschenfigürchen dazwischen: Bauern und Sennleute, Köhler und
+Holzfäller, ein Jäger mit Büchse und Hifthorn, ein Floß mit Flößern auf
+den Glasbuckeln des Baches, am Ufer des Wassers ein Fischer mit der
+Angelrute, auf der Straße ein Trupp Musketiere im Marsch. Über grüner
+Anhöhe ein Kirchlein, aus dessen Tor eine Prozession mit vielen Fahnen
+herausschreitet. Ganz vorn zur Linken ein Häuschen, in dessen Stube
+man hineinsieht; es ist die Werkstätte eines Spielzeugschnitzers, der
+mit seinem Weib und vielen Kindern bei der Heimarbeit am Tische sitzt.
+Und zur Rechten eine offene Scheune, in welcher alte und junge Leute
+andächtig um einen Greis herumknien, der aus einem Buche vorliest.
+Zwischen diesen Gruppen ist die Erde geöffnet, und man sieht hinunter
+in die Schachttiefen des Salzwerkes, sieht die Salzhäuer bei der
+Arbeit, sieht die Förderung mit den rollenden Hunden.
+
+Dieses Kleine, Feine und Zierliche war nur ein Rahmen für den größeren
+Mittelpunkt des Bildes. Da stand auf blumigem Hügel ein Kreuz
+errichtet, mit der Gestalt des leidenden Erlösers. Unter dem Kreuze
+beugt die Heilandsmutter, gestützt von den Armen des Johannes, sich
+zärtlich nieder und umschützt mit ihrem blauen, sternbestickten Mantel
+drei kleinere Figuren: einen katholischen Priester mit der Stola, den
+Moses mit den Gesetztafeln und einen evangelischen Prediger mit dem
+Kelch.
+
+Ein leises Knistern war in den Ampelflämmchen, und der dünne Rauch, der
+sich in der Grotte gesammelt hatte, quoll wie Nebel um die Schneegipfel
+der Berge und begann hinaufzuströmen gegen die Stubendecke.
+
+Stumm, die Herzen erfüllt von träumender Inbrunst, standen die drei
+Männer vor dem Bilde, das so ergreifend wie kindlich, so tiefsinnig
+wie voll Einfalt war. Und dieses Schweigen war das verbrüderte Gebet
+ihres duldsamen Glaubens, war das ungesungene Lied ihrer gemeinsamen
+Hoffnung auf einen Menschenmorgen, von dem sie wußten, daß er kommen
+muß -- bald, meinte der eine; nach Jahrzehnten, glaubte der andere;
+nach Jahrhunderten, hoffte der dritte. Und nicht die Farben und
+Figürchen, nicht die Lichter und Dämmerungen des Bildes weckten die
+Andacht in ihren Herzen. Ihr andächtiger Glaube war es, der ihnen das
+tote Gestaltengewimmel belebte und seine flimmernde Enge weitete zum
+lichtdurchfluteten Bilde einer werdenden Welt.
+
+Da hob der Pfarrer lauschend den Kopf. »Niklaus! Ich hör was.«
+
+Der Meister tat einen schweren Atemzug. »Hinter der Mauer ist meines
+Mädels Kammer. Da liegt der arme Klosterspatz auf den Knien und
+litaneiet in Höllenangst um unsere drei verlorenen Seelen.«
+
+War der Sturm erloschen? Außerhalb der Wände kein Rauschen und Sausen
+mehr. Draußen die stummgewordene Nacht. Auch Stille im Haus. Nur immer
+dieser eine gleiche Laut, diese stammelnde Mädchenstimme.
+
+Eine weiße Kammer, freundlich anzusehen. Man merkte an ihrem Gerät, wie
+zärtlich dieser Raum bereitet war von der Liebe eines Vaters, der sein
+Kind in Sehnsucht erwartet hatte nach Jahren des Leidens.
+
+Die Kerze flackerte auf dem Gesimse des von schweren Läden
+verschlossenen Fensters, neben dem weißverhangenen Kastenbett.
+Schon entkleidet, lag Luisa auf den Knien vor einer Truhe, die
+ineinandergekrampften Hände hingerückt gegen ein Altärchen, das
+zwischen Leuchtern und künstlichen Blumen unter schimmerndem Glassturz
+eine von Goldflittern glitzernde Madonna mit dem wächsernen Jesuskinde
+zeigte. Fünf Ave Maria, die Litanei zur Gottesgebärerin, wieder das
+Ave Maria, immer mit der gleichen bebenden Stimme, die wie ein leises
+Schreien aus angstvoller Seele klang. Und so lange betete Luisa, bis
+der Glaube an die Hilfe wieder leuchtend in ihrem Herzen war. Sie
+bekreuzte die Stirne, den Mund und die knospende Brust, beugte sich
+vor und küßte das kalte Glas, das sich behauchte von ihrem Atem.
+Dann trat sie auf den nackten Sohlen zum Kastenbett und begann die
+braunblonden Flechten zu lösen. Gleich einem schimmernden Mantel
+fiel ihr das Haar um Nacken und Schultern. Mit der Linken streifte
+sie die linde Woge über den rechten Arm zurück und wollte die Hände
+heben, um das Haar zu knüpfen. Da weiteten sich ihre Augen. Regungslos
+betrachtete sie den weißen Arm. Der hatte zwischen Schulter und
+Ellenbogen vier blaue, strichförmige Male. Lange verstand sie das
+nicht. Nun eine Schreckbewegung, ein Erstarren ihres Gesichtes. Es
+waren die Denkzeichen jener stählernen Jägerfaust, die bei der Haustür
+im Schneegestöber ihren Arm umklammert hatte. Und ihr war, als klänge
+wieder die erregte Jünglingsstimme: »Es ist ein heilig Ding, da wird
+ein Messer durchgestoßen, noch heut in der Nacht!« Wie eine Sinnlose
+sprang sie auf das kupferne Weihwasserkesselchen zu, tauchte die ganze
+Hand hinein und wusch die blauen Male, immer fröstelnd, als berühre
+sie etwas Häßliches. Dann blies sie die Kerze aus und betete in der
+Finsternis mit flehendem Laut: »Hilf mir, heilige Mutter Marie! Tu mich
+reinigen an Leib und Seel!«
+
+Das Kastenbett krachte ein bißchen, als es die leichte Last einer
+zarten Jugend empfing.
+
+Luisa lag unbeweglich. Ihr Atem ging schwer. Hatte ihr Arm eine Wunde?
+Von der Stelle der blauen Male rann es ihr wie Feuer ins Blut. Und
+immer sah sie ein Bild in der Finsternis: wehendes Blondhaar, eine
+braune Stirn und zwei stahlblaue, sehnsüchtige Jünglingsaugen, die von
+hundert silbernen Mücken umflogen waren.
+
+Die Hände über der Brust verflechtend, fing sie zu beten an. Das
+unheilige Bild verschwand nicht. Sie setzte sich in den Kissen auf
+und hob die gefalteten Hände. Die Heiligen, die sie herbeischrie,
+halfen nicht und wollten das unreine Bild nicht auslöschen, wollten
+den Unsichtbaren, der sich sichtbar machte, nicht zurückstoßen in die
+Finsternis.
+
+Mit klagendem Wehlaut hob Luisa sich auf die Knie, beugte sich über
+das Fußgestell des Bettes und riß die Tür auf, die in die anstoßende
+Kammer führte. »Gute Sus? Du tust noch allweil nit schlafen, gelt?«
+
+Eine müde Stimme: »Mögen tät ich. Mein Schlaf ist, ich weiß nit, wo.«
+
+»Ich tu dich bitten, komm ein bißl zu mir!«
+
+»Kind, was ist dir?« Etwas Graues huschte lautlos aus dem Dunkel
+heraus. »Du bist doch nit krank?«
+
+»Krank nit. Ich tu mich sorgen, daß ich sündig bin, weil ich höllische
+Gespenster seh!«
+
+»Geh, du Närrle!«
+
+»Tu mich halsen, Sus! Noch fester! Jetzt ist mir wohl. Und alles ist
+wieder schwarz. Komm, Sus, tu beten mit mir.«
+
+Leis erwiderte das Mädel: »Beten kann ich nit. Allweil muß ich an die
+Soldaten Gottes denken, und was dem guten Herren hätt drohen können.«
+
+Es wurde laut im Haus. Eine Türe ging. Schritte und Stimmen; am
+deutlichsten die Stimme des Meisters.
+
+Da tauchte plötzlich die Sus das Gesicht gegen den Schoß der
+Haustochter und brach in erwürgtes Schluchzen aus.
+
+»Sus? Du Liebe! Was hast du denn?«
+
+»Mir ist so weh, ich kann's nit sagen. Es bringt mich noch um.«
+
+»Das sind die Soldaten nit. Das ist der Vater, den der Himmel jetzt
+erlöst -- von den anderen zwei, die ich nit leiden mag. Gott tut mich
+warnen vor ihnen. Die bet ich noch fort aus unserem Haus. Sei still,
+liebe Sus! Da mußt du nit Angst haben.«
+
+»Es ist nit Angst. Es ist die Zeit. Die liegt auf jedem als wie ein
+Stein.«
+
+»Die Zeit muß keiner fürchten, der gläubig ist. Komm, Sus, du frierst.
+Ich spür, wie du zitterst. Laß dich zudecken! Einen Menschen haben, ist
+gut.«
+
+Die drei Männer, die draußen hinunter gingen über die Stiege,
+hatten eine Weile im Flur zu schaffen, bis sie die mit Brettern und
+Holzscheiten verbarrikadierte Türe frei bekamen.
+
+Durch die Klüfte der zerschlagenen Haustür wehte kein Schnee
+mehr herein. Das Gestöber war versiegt. Draußen eine schweigsame
+Winternacht, durch deren ziehendes Gewölk der Vollmond herunterglänzte.
+
+Während Meister Niklaus im Flur die Barrikade wieder baute, schritten
+Pfarrer Ludwig und Simeon Lewitter lautlos durch den Schnee.
+
+Hunde schlugen an, bald nah, bald ferne, mit Stimmen, die halb
+erloschen im Rauschen der Ache.
+
+Simeon flüsterte: »Die Nacht ist wieder ohne Ruh.«
+
+»Es wandern die Unsichtbaren.«
+
+Die beiden folgten der Straße. Da faßte der Pfarrer den Arm des
+Freundes und deutete über eine verschneite Wiese hinaus. »Dort! Siehst
+du's?«
+
+Etwas Wunderliches war zu sehen: ein im Mondschein gleitender
+Menschenschatten, ohne daß man einen Menschen sah.
+
+Rasch watete Pfarrer Ludwig in die Wiese hinaus und stand vor einer
+Gestalt, die bis zu den Füßen in Leinwand gekleidet war, so weiß wie
+der Schnee, über dem Kopf eine Kapuze mit Löchern für die Augen, in
+denen es funkelte gleich geschliffenen Gläsern. »Wer bist du?« Keine
+Antwort. Der Pfarrer lachte ein bißchen. »Ich bin nit gefährlich. Nur
+neugierig wie Kinder und alte Leut. Gehst du zum Toten Mann? Oder
+kommst du von ihm?« Keine Antwort. Nur das Strömen eines schweren
+Atems. »Leupolt? Bist du's?«
+
+»Wohl.«
+
+»Was suchst du noch?«
+
+»In Sorg bin ich gewesen. Um den Meister. Jetzt weiß ich, wer bei ihm
+gewesen ist. Da bin ich ledig aller Sorg.«
+
+»Heut hast du ihm viel zulieb getan. Wie hast du wissen können, daß die
+Soldaten Gottes bei ihm einkehren?«
+
+»Der Vater hat's heimgebracht vom Pflegeramt und hat mit der Mutter
+geredet. Ich hab's gehört.«
+
+»So? Und da bist du weggesprungen über Vater und Mutter! Und hast dem
+anderen geholfen? Warum?«
+
+»Weil ich's tun hab müssen.«
+
+»Als sein Bruder in Gott? Gelt, ja? Und sonst aus keinem anderen
+Grund!« Wieder lachte der Pfarrer. »Geh schlafen, lieber Bub! Die
+Gefahr ist vorbei. Steig nur nit gar zu fleißig auf den Toten Mann!
+Dir vergönn ich ein lebendiges Glück. Will auch helfen dazu, so gut
+ich's versteh. Zwei Herrgötter sollen dich hüten, der deine und der
+meine. Doppelt genäht hält allweil besser.« Der Pfarrer stapfte durch
+den Schnee zur Straße zurück. Als er das Gesicht wandte, sah er keine
+Gestalt mehr, nur noch den unbeweglichen Menschenschatten.
+
+
+
+
+Kapitel III
+
+
+In den Schneekrystallen funkelte der Mondschein mit farbigen Blitzen.
+
+Lewitter stellte keine Frage, als der Pfarrer wieder an seiner Seite
+war. Wortlos wanderten die beiden gegen den Markt hinüber und kamen an
+einem neuen, zierlichen Bau vorbei, der hinter hoher Mauer in einem
+Garten stand. Ein feiner, zirpender Spinettklang war zu vernehmen.
+»Hörst du?« flüsterte Pfarrer Ludwig. »Die Allergnädigste ist noch
+munter.«
+
+Simeon schwieg.
+
+Als sie an der Mauer vorüber waren, murrte der Pfarrer: »Hast
+du beim Tor die frischen Fußstapfen im Schnee gesehen? Süße
+Mitternachtsfährten! Und der Allergnädigste trägt die Unkosten.
+_Maîtresse en titre_ heißen sie das in der fürnehmen Welt. Es gibt
+keine Ferkelei, für die man jetzt nit einen parisischen Namen findet,
+der allen Lebensdreck in eine höfische Fineß verwandelt. Wer's
+von den Herren nit mitmacht, glaubt nit Fürst zu sein. Er wär ein
+Minderwertiger unter seinen Standesbrüdern, wenn er dem französischen
+Hof nit alles nachschustert: die Sittenverderbnis, das Schuldenmachen,
+die Karossen und Läufer, die Peruckenfasnacht, die gestutzte Gärtnerei,
+den ganzen Jägerschwindel _à la mode_ und das >Große Jagen< auf die
+haufenweis zusammengehetzte Kreatur -- Mensch oder Vieh!« Der Pfarrer
+verstummte nicht, obwohl ihn Simeon beschwichtigend am Mantel zupfte.
+»Ach, Bruder, die Zeit ist ein übles Kehrichtfaß voll Heuchelei und
+Sinnenbrodel, voll Grausamkeit und verwesenden Dingen. Man sollt die
+ganze Schweinerei verbrennen, um aus der Asche was Neues wachsen zu
+lassen. Ob der Mann schon geboren ist, der das fertig bringt auf dem
+deutschen Acker?«
+
+Lewitter atmete auf, weil der andere schwieg, und machte flinkere
+Schritte.
+
+Ein bißchen lachend, zürnte der Pfarrer: »Allweil bist du wie eine
+Maus. So scheu, so flink, so lautlos.«
+
+Simeons Stimme war wie ein Hauch. »Der Schnee verschärft jeden Laut.
+Und wie stiller eine Mauer ist, um so offener sind ihre Ohren.«
+
+»Recht hast du! Siebzig Jahr! Und noch allweil bin ich der gleiche
+Hammelskopf, der sich die Hörner nit abgestoßen hat.«
+
+Sie gingen in der Marktgasse schweigend an der Häuserzeile entlang,
+die im schwarzen Mondschatten lag. Außerhalb des Dunkels funkelte der
+Schnee im bleichen Licht, und die weißen Mauern der anderen Häuserseite
+sahen unter den dicken Winterkappen aus wie blasse Riesengesichter mit
+vielen finsteren Augen. Bei der Gasse, wo die Wege der beiden sich
+schieden, reichten sie einander die Hände. Jeder flüsterte die zwei
+gleichen Worte: »Mensch bleiben!« Dann der Pfarrer: »Das wird mich nit
+schlafen lassen heut.«
+
+»Die Sorg um den Niklaus?«
+
+»Auch. Und was du uns fürgelesen hast.«
+
+Nun lächelte Lewitter. »Du hast doch gesagt, dich rührt's nit an.«
+
+»Ob das allweil so ist? Bei den neuen, tiefen Gedanken? Es ist wie
+ein Funken, den man nit fallen spürt in sich. Und gählings wärmt er
+und wird ein Feuer, das leuchtet! -- Ich will mir's heut in der Nacht
+noch aufschreiben. Guten Morgen, mein Simmi!« Lautlos ging der Pfarrer
+durch den funkelnden Schnee davon. Lewitter zappelte in die enge Gasse
+hinein, in der nur die Giebel noch Mondschein hatten. Nun schrak das
+Männchen heftig zusammen, weil es auf der Steinschwelle seiner Haustür
+ein zusammengekrümmtes Mannsbild sitzen sah. »Wer bist du? Gelobt sei
+Jesus Christus und die heilige Mutter Maria!«
+
+Der junge Bauer antwortete, vor Frost mit den Zähnen schnatternd: »Von
+nun an bis in Ewigkeit, Amen! Der Christl Haynacher bin ich.«
+
+Lewitter schien aufzuatmen. »Kommst du wegen deines Weibes?«
+
+»Wohl, Herr! Tut mir die Lieb und kommt zu meiner Martle! Ich bin beim
+Feldscheer gewesen. Der hat nit raus mögen aus dem warmen Bett. Aber
+das Weibl kreistet, es ist zum Erbarmen.«
+
+»Ich komme gleich.« Als Lewitter sich gegen die Schwelle wandte, pfiff
+er leis, und die Tür öffnete sich. Er trat in einen finsteren Flur,
+in dem ein angenehmer Duft war, wie gemischt aus den Gerüchen einer
+Apotheke und eines Gewürzlagers. Hinter ihm wurde die Tür verriegelt.
+»Eil dich, Lena,« flüsterte Simeon in das Dunkel, »hol mir die braune
+Tasch!« Während er über eine steile Stiege hinaufhastete, glänzte ein
+matter Lichtschimmer im Hausflur. Vor einer Türe schob Lewitter die
+Füße in zwei große Filzpantoffel, um den Schnee nicht hineinzutragen in
+diese Stube, die das Heiligtum seines einsam gewordenen Lebens war.
+
+Ein großer Raum mit vielen Teppichen. Die zwei Fenster mit dicken
+Innenläden verschlossen, durch Eisenstangen verwahrt. Von der Decke
+hing eine alte Silberampel herunter, deren Licht von einer roten
+Glastulpe umhüllt war. Zierliche Stühlchen und ein Tisch, an dem die
+eingelegte Perlmutter wie Rubine funkelte. Allerlei Frauengerät,
+Haubenstöcke und Kochgeschirr, ein Spinnrädchen und ein Garnhaspel,
+ein kleiner Webstuhl und ein Gewürzmörser. An den Wänden waren hohe
+Gestelle mit Spielzeug in solcher Menge angeräumt, daß die Stube fast
+aussah wie ein Kramladen der Kinderfreude.
+
+Während Lewitter in dem roten Lampenlichte huschend umherging und
+alles Nahe mit zärtlicher Hand berührte, brannte in seinen Augen eine
+dürstende Sehnsucht. Sein Gesicht hatte die steinerne Glätte verloren
+und war durchwühlt von einer schmerzenden Erschütterung. So oft er
+diese Stube betrat, seit fünfzehn Jahren, immer war es so. Immer wurde
+das Glück in ihm lebendig, das er verloren hatte, und immer mußte er
+jener grauenvollen Stunde denken, in der er wie ein Irrsinniger an den
+Leichen seines Weibes und seiner Kinder vorübergetaumelt war und unter
+den Fäusten wahnwitziger Menschen geschrien hatte: »Ich glaube, ich
+glaube, ich laß mich taufen!«
+
+Müd und zitternd, fiel er auf eines der kleinen Stühlchen hin, bedeckte
+das Gesicht mit den Händen, saß unbeweglich und fuhr erschrocken auf,
+wie geweckt und gerüttelt von einer Pflicht seines Lebens. Seufzend
+ließ er die Augen hingleiten über das verstaubte Spielzeug, hatte
+wieder das steinerne Gesicht, das geduldige Lächeln, murmelte ein
+Segenswort seines unverlorenen Väterglaubens und verließ die Stube. Als
+er die Treppe hinunterstieg, erlosch das Licht im Flur. »Hast du die
+braune Tasch?« Er fühlte sie vor seinen Händen und trat in den Schnee
+hinaus. »Komm, Christl!«
+
+»Der Himmel soll's Euch lohnen, guter Herr!«
+
+Simeon lächelte. »Heut sagst du: >Guter Herr!< Am Weihnachtsabend,
+wie ich auf vereistem Weg an dich angestoßen bin, da hast du >Saujud<
+gesagt.«
+
+Verlegen stammelte der junge Bauer: »Ein Mensch im Ärger ist dumm. Mein
+armes Weibl wird's nit entgelten müssen. Selbigsmal, am heiligen Abend,
+hab ich einen schiechen Verdruß hinunterschlucken müssen. Ein Mensch,
+der Unrecht leidet, wird allweil ein Lümmel.«
+
+Die beiden überschritten den Marktplatz, um hinunterzuwandern ins Tal
+der Ache. Das Bauernlehen des Haynacher lag da drunten, hinter der
+Saline Frauenreuth. Vor dem Tor des Stiftes sprang ihnen die Schildwach
+entgegen. Die beiden mußten ihre Namen nennen, ehe sie weiter durften.
+Der junge Bauer, ärgerlich über den Aufenthalt, knirschte zornig vor
+sich hin: »Gescheiter, er tät den Unsichtbaren nachspringen, eh daß er
+einem Gutgläubigen den Weg verstellt. Wie ich heraufgelaufen bin, ist
+überall die Nacht lebendig gewesen. Die im Stift da droben haben noch
+allweil blinde Augen.«
+
+»Die brauchst du ihnen nit zu öffnen, Christl! Sag mir lieber, was ist
+mit deinem Weib? An Weihnachten hab ich gesehen, daß sie gesegnet ist.
+Wär's an der Zeit mit ihr? Hat dich die Hebmutter geschickt?«
+
+Der junge Bauer schüttelte den Kopf. »Ich bin selber gelaufen, aber ich
+weiß nimmer, was das ist. Die Hasenknopfin --«
+
+Lewitter wiederholte rasch: »Die Hasenknopfin?«
+
+Zögernd sagte der junge Bauer: »Wohl! Die Hebmutter von Unterstein.«
+
+»Dein Lehen gehört zum Markt. Warum mußt du die Hebmutter von
+Unterstein haben?«
+
+»Die vom Markt,« erwiderte Christl scheu, »die mag mein Weib nit. Es
+ist ein Kreuz, Herr!«
+
+Mehr brauchte Simeon nicht zu hören. Nun wußte er, daß die Haynacherin
+eine Unsichtbare war, die ihren Leib von einer katholischen Wehmutter
+nicht berühren ließ. »Dein Weib muß leiden?«
+
+»Heut nach der zehnten Stund, da hat sie zu schreien angehoben und ist
+wie unsinnig gewesen.«
+
+»Ein natürlich Ding, Christl!«
+
+Wieder schüttelte der junge Haynacher den Kopf. »Vor anderthalb Jahren
+hat mir meine Martle ein Bübl geboren. Sie sagt, da wär's anders
+gewesen. Und die Hasenknopfin kennt sich nimmer aus. Sie meint, es wär
+schon drei Wochen über die Zeit. In mir ist eine Angst --«
+
+»Die Hasenknopfin wird falsch gerechnet haben. Hast du Feuer daheim?«
+
+»Der Ofen ist warm, der Herd ist kalt.«
+
+»So spring voraus, mach Feuer auf dem Herd, daß du kochendes Wasser
+hast, bis ich komme.«
+
+Der Bauer fing zu rennen an, daß ihm der schnellste Läufer des
+Fürstpropstes nicht nachgekommen wäre. Diese straffe, gesunde Gestalt,
+die noch was Jünglingshaftes hatte, schien Sehnen von Stahl zu
+besitzen. Der graue Lodenmantel wehte dem Christl vom Halse weg, und
+das harte Gesicht mit dem kurzen Braunbart war nach vorne gestreckt.
+So rannte er durch den Mondschein wie ein vom Tod Gehetzter. Der
+gutgläubige Christl Haynacher mußte seine Martle, obwohl sie eine
+Unsichtbare war, von Herzen lieb haben. Er rannte keuchend durch die
+Dampfwolken, die das Frauenreuther Salinenhaus umdunsteten. Über eine
+Holzbrücke hinüber, durch ein kleines Gärtl und in das niedere Haus.
+»Tu dich getrösten, Martle!« rief er atemlos in die Schlafkammer, in
+der das stöhnende Weib die Hände nach ihm streckte. »Gleich kommt der
+Jud. Der ist geschickter als der Feldscheer. Jetzt muß ich zum Herd.
+Der Jud will haben, daß ich Wasser sied.« Er sprang zur Küche.
+
+Bei allen Schmerzen wurde das junge Weib von der Sorge geplagt, daß der
+Mann eine falsche Pfanne nehmen könnte. Angstvoll schrie sie ihm nach:
+»Nit das neue Kupferpfändl. Das müssen wir aufheben fürs Kind. Nimm den
+alten Blechhafen!«
+
+Christl dachte: >Sie sieht nit, was ich nimm.< Er haßte das kommende
+Kind, das sein Weib so schreien machte in Schmerzen, und für seine
+Martle war ihm die neue Kupferpfanne gerade gut genug. Wär' eine
+silberne im Haus gewesen, der Christl hätte sie genommen. Eine Minute,
+und das Feuer züngelte auf dem offenen Herd, die Kupferpfanne hing
+darüber und rauchte. Jetzt konnte Christl zum Bett seines Weibes
+springen. Am Türpfosten zwischen den beiden Wohnräumen hing eine
+qualmende Specklampe und beleuchtete die Stube und die Kammer. In der
+Stube stand neben dem warmen Feuersteinofen die Wiege, in der das
+Bübchen schlief; es hatte rote Wangen und schien den braunen Krausbart
+des Vaters als Perücke zu tragen. Christl warf einen zärtlichen Blick
+auf das kleine Bürschl, das er jetzt doppelt lieb hatte, weil es vor
+seinem ersten Tag die Mutter nicht so grausam geplagt hatte, wie dieses
+neue kommende Leidwesen, das er haßte. Als er hineinsprang in die
+kleine Kammer, die nicht viel größer war als das plumpe Doppelbett, kam
+er gerade recht, um dem jungen Weib, das sich in Schmerzen wand, die
+verkrampften Hände zu lösen. Seine Nähe schien sie ruhiger zu machen.
+Er lag vor dem Bett auf den Knien, und Martle, ihre Pein verbeißend,
+umklammerte seine braunen Fäuste. Ihr hübsches Gesicht war entstellt,
+und das wirre Blondhaar hing um die von Schweiß überglitzerten Wangen.
+Kaum verständlich stöhnte sie: »Mann, ach Mann, ich tu nit gebären, ich
+glaub, daß ich sterben muß.«
+
+Er bettelte: »Herzweibl, magst du nit ein bißl christliche Besinnung
+haben? Magst du nit einen frommen Notschrei tun zu den vierzehn ewigen
+Helfern?«
+
+Heftig wehrte das Weib: »Sterben, wenn's sein muß. Nit lügen! Täten
+die Soldaten Gottes kommen, jetzt tät ich es sagen, daß ich eine
+Unsichtbare bin.«
+
+Er klagte in Gram und Zorn: »Der Himmel tut dich büßen. Not und Elend
+will kommen über uns, weil du weit bist von meinem Herrgott und dich
+versündigst am rechten Glauben.«
+
+»Elend und Not kommt über mich, weil du fern bist von meiner Seligkeit.
+Du bist so weit von mir -- schier sehen dich meine Augen nimmer.« Nach
+diesen Worten ein gellender Schrei ihrer Qual.
+
+Nicht dieser Schrei erschütterte ihn. Was ihm das Herz bedrückte, war
+der Blick der Liebe, der nach ihm dürstete aus ihren verstörten Augen.
+Wie ein Wahnwitziger keuchte er: »Schick mich den Höllenweg! Ich tu's,
+Martle, nur daß ich dich nimmer leiden seh! Soll ich dir einen holen
+von den Deinigen? Daß er dich tröstet?«
+
+Sie zog seine Hände an ihren Hals. »Mein Vater und meine Mutter haben
+mich verlassen, haben mich verstoßen. Von den anderen, die meine
+Geschwister sind in Gott, därf ich keinen beim Namen nennen. Magst du
+mir was zulieb tun, so hol mir mein Paradiesgärtl und tu mir's unter
+das Kissen legen. Dann ist mir leichter.«
+
+Christl sagte wie ein Gefesselter: »Ich tu mich versündigen für alle
+Ewigkeit. Wo hast du das Büchl?«
+
+Sie spähte gegen die Stubentür und lauschte. Dann zog sie ihn an
+sich und flüsterte an seinem Ohr: »In der Milchkammer steht die
+Kleienkist. Tief mußt du unter die Klei hinuntergreifen. Ganz unten ist
+das Mehlsäckel versteckt. Im Mehl, da findest du einen Pack. Sieben
+Lodenfleck sind drumgewickelt.« Ihre Augen begannen zu glänzen. »Da
+drinnen ist das heilige Büchl.«
+
+»Martle, ich muß es bringen.« Er sah ihr in die glücklichen Augen. So
+hatte sie ihn angesehen vor drei Jahren, am Hochzeitstag, als er nach
+dem Kirchenritt die junge Frau heruntergehoben hatte vom rotgesattelten
+Brautschimmel. Und während er hinaustaumelte durch die Stube, raunte
+er wie ein Verzweifelter: »Im Mehlsäckl! Jetzt hat sie's im Mehlsäckl.
+Und hundertmal hab ich das ganze Haus schon ausgesucht nach dem
+gottverfluchten Teufelsgut!«
+
+Als er das Buch -- das evangelische Paradiesgärtlein des Johann Arndt
+-- gefunden und aus den mehligen Lappen herausgewickelt hatte, mußte
+er draufspeien in seinem frommen Christenzorn. Erschrocken wischte er
+den Speichel wieder fort und hatte, als er in die Schlafkammer trat und
+sein Weib in Freude die Hände strecken sah, das quälende Gefühl: daß
+er nicht hätte beschimpfen sollen, was seinem Weibe heilig war. Sie
+selber schob das Buch unter das vom Schweiß ihrer Schmerzen durchnäßte
+Kissen. Nun streckte sie sich aus, faltete die Hände und sprach mit
+lächelnder Innigkeit die leisen Worte: »Vergeltsgott, du Lieber! So
+viel wohl ist mir jetzt. Gott verlaßt die Seinen nit, die zu ihm stehen
+in Treu und Redlichkeit.« Während Christl stumm sein lächelndes Weib
+betrachtete, als geschähe an ihr ein Wunder, klang ein hartes Pochen
+durch das stille Haus: Lewitter klopfte an der Schwelle den Schnee von
+den Schuhen. In Freude stammelte der junge Bauer: »Martle! Die Hilf ist
+da!« Er rannte in den Flur und wollte fast verzweifeln, weil Lewitter
+so lange brauchte, um sich aus dem Pelz herauszuschälen und auf dem
+Herd die Hände in heißem Wasser zu waschen.
+
+Mit der braunen Tasche ging Simeon in die Kammer und zündete, während
+er freundlich zu der Leidenden redete, eine hellbrennende Kerze an.
+Dann schloß er die Türe. Christl mußte in der Stube bleiben. In
+qualvoller Erwartung saß er auf der Ofenbank. Um einen Trost für sein
+hämmerndes Herz zu haben, nahm er sein Büberl aus der Wiege und sang
+mit erwürgter Stimme ein Schlummerlied, obwohl der Kleine aus dem
+festen Kinderschlafe gar nicht erwacht war. Zwischen den Strophen des
+Liedes stammelte er seine Stoßgebete, immer eines, mit dem er die
+Heiligen um Hilfe anbettelte für sein leidendes Weib, dann eines, mit
+dem er Gott um Verzeihung bat für die Todsünde, die er durch Förderung
+der Gottwidrigkeit einer Unsichtbaren begangen hatte. Da öffnete
+Lewitter die Kammertür. Er schien erregt zu sein. »Ich hab deinem
+Weib was geben können, was die Schmerzen lindert. Aber man muß die
+Hasenknopfin holen. Allein möcht ich auch nit bleiben. Kannst du nit
+einen Nachbar drum anreden, daß er zur Wehmutter geht?«
+
+»Wohl!« Christl preßte die Wange an das schlafheiße Gesicht seines
+Bübchens und legte das Kind in die Wiege. »Ich spring, was ich springen
+kann.« Durch den Schnee und über den Zaun hinüber. In dem Haus, an dem
+er pochte, wollte niemand erwachen. Oder war niemand daheim? Waren das
+*auch* solche, die sich unsichtbar machen in der Schneenacht? Über die
+Straße zum nächsten Haus. Hier wurde der alte Bauer wach und murrte
+in der Fensterluke: »Aus dem Markt will ich die Hebmutter holen. Der
+Hasenknopfin geh ich nit ums Leben ins Haus.«
+
+»Jesus, Jesus, ich brauch aber die Hasenknopfin.«
+
+»So mußt du selber nach Unterstein. Gelobt sei Jesus Christus und die
+heilige Mutter Marie.« Der alte Bauer schloß das Fenster und sagte
+in der Stube zu seinem Weib: »Jetzt muß der Haynacher auch nimmer
+rechtgläubig sein. Er hat den Fegfeuergruß versagt.« Christl hatte der
+gutkatholischen Antwort nur aus Schreck vergessen. Und während er sich
+besann, zu welchem Haus er nun rennen sollte, sah er von der Saline her
+einen Menschen durch die Mondhelle kommen. Im Schneelicht erkannte
+Christl den Jäger Leupolt Raurisser, mit der Feuersteinflinte unter dem
+Radmantel. »Jesus, Christbruder, was hast du für einen Weg?«
+
+»Zum Königssee.«
+
+»Gott sei Lob und Dank. Da mußt du durch Unterstein. Magst du nit der
+Hasenknopfin ausrichten, sie soll zur Haynacherin kommen, gleich! Magst
+du es tun?«
+
+»Gern, Bauer!«
+
+»Vergeltsgott tausendmal!« Das sagte Christl, während er schon
+davonsprang. Dann fiel ihm ein, daß er den Ablaßgruß vergessen hatte.
+Im Springen schrie er über die Schulter: »Gelobt sei Jesus Christus und
+die heilige Mutter Marie!«
+
+Leupolt gab keine Antwort. Rasch, mit federnden Schritten, wanderte er
+durch den Mondschein, aufwärts an der Ache. Der Schnee knirschte unter
+seinen eisenbeschlagenen Schuhen. Als er den Wald erreichte, fuhr ein
+Wildschweinrudel, das von den Untersteiner Sümpfen kam, an ihm vorüber
+und brach mit Knacken und Rauschen durch den Wald. Nun kam er wieder
+zu offenem Feld, kam zu den ersten Häusern von Unterstein. Das Haus
+der Hasenknopfin lag mitten im Dorf, an der Straße. Leupolt pochte.
+Es rührte sich was in der Stube, das Fenster wurde geöffnet, und eine
+leise Mädchenstimme fragte: »Was willst du?«
+
+»Die Hasenknopfin soll zur Haynacherin kommen.«
+
+Ein mißtrauische Zögern. »Die Mutter ist auswärts.«
+
+»Ich will zu ihr hinlaufen. Wo ist sie?«
+
+Das Mädel schwieg, weil es den Jäger im dunklen Mondschatten nicht
+erkannte. Da beugte Leupolt sich vor und flüsterte: »Es ist ein heilig
+Ding. Ist deins und meins. Tu reden, Schwester!«
+
+»Die Mutter ist bei der Kripp, in der das heilige Kindl hat liegen
+müssen.«
+
+Leupolt sprang über die Straße, hastete den verschneiten Wiesenhang
+hinauf und erreichte den Wald. Im schwarzen Schatten unter den Bäumen
+nahm er den Mantel ab, zog aus dem Bergsack ein weißes Leinenbündel
+heraus, schlüpfte in das Schneekleid der Unsichtbaren und verwahrte
+den Sack, das Hütl und die Flinte in den Stauden. Durch den Wald
+emporsteigend, kam er zu einer Lichtung. Zwischen den letzten Bäumen
+vernahm er das Schnalzen eines Eichhörnchens -- das Wächterzeichen.
+Leupolt antwortete mit dem gleichen Laut. Wie hier, so war es in
+dieser weißen Nacht an vielen Orten des Berchtesgadnischen Landes, auf
+der Gern, zu Bischofswiesen und Ilsank, auf dem Toten Mann, in der
+Ramsau, am Taubensee und auf dem Schwarzeneck. Überall wanderten die
+Unsichtbaren, um Gottes Wort zu hören.
+
+Die geschulte Jägerei des Stiftes zählte in ihren Bezirken jedes
+hauende Schwein, jeden jagdbaren Hirsch und jede Gemse. Doch unter
+den fürstpröpstlichen Jägern wußte nur Leupolt Raurisser, wie viele
+Eichhörnchen in den Berchtesgadnischen Wäldern schnalzten.
+
+
+
+
+Kapitel IV
+
+
+Auf der Waldlichtung lag ein Bauerngehöfte, still, mit schwarzen
+Balkenmauern unter dem weißen Schnee. Kein Laut, keine Spur von Leben.
+Viele Schrittfährten waren durch den frischgefallenen Schnee getreten,
+gegen das Gehöfte hin. Leupolt klopfte an der Haustür, dreimal und
+einmal. Die Tür wurde lautlos aufgetan; eine Hand faßte im finstern
+Flur den Jäger am Arm und zog ihn durch ein enges Gängelchen. Warmer
+Stallgeruch quoll ihm entgegen, und als er die feuchte Holztür öffnete,
+war ihm ein Dunst vor den Augen, als träte er in eine Waschküche
+mit dampfendem Kessel. Das matte Licht einer trüben Laterne. Damit
+auch von dieser schwachen Helle kein Schimmer hinausfiele ins Freie,
+waren die zwei kleinen Fenster dick angestopft mit Heu. Die Hennen
+glucksten leise in ihrer Steige, zwei Ferkelchen quieksten in einer
+Bretterkiste, und drei Kühe und zwei Kälber, die enggedrängt an der
+Futterkrippe standen, rasselten mit ihren Ketten, drehten die Köpfe
+hin und her und schnaubten. Aller übrige Raum des Stalles war Schulter
+an Schulter angefüllt mit Leuten, die entlang der Mauer standen oder
+auf Strohgarben saßen. Alle waren in das gleiche weiße Schneekleid
+eingehüllt, wie es Leupolt trug, alle hatten die Kapuzen mit den
+dunklen Augenlöchern über den Köpfen. Inmitten des heiß atmenden
+Menschenknäuels saß auf dem Melkschemel eine gebeugte Mannsgestalt,
+unter deren Kapuze ein weißgrauer Bart herausquoll. Das war der
+Fürsager, der Älteste der versammelten Gemeinde, die noch nie einen
+Prediger ihres Glaubens gehört hatte. Auf den Knien hielt der Alte
+das heilige Buch, das der Erwecker ihrer Seelen war, die Quelle ihrer
+Sehnsucht und die Stillung ihres Zweifels.
+
+Bei Leupolts Eintritt war Schweigen im Stall. Nur die Raschelgeräusche
+der Tiere. Und alle dunklen Augenlöcher der weißen Kapuzen drehten sich
+gegen den Jäger hin. »'s Gotts Willkommen!« grüßte der Fürsager, als
+die Tür wieder geschlossen war. »Bringst du Botschaft, Bruder?«
+
+Leupolt erhob die Hand. »Ist eine unter euch, die man nötig hat
+zwischen Wehbett und Wieg? Sie muß zur Schwester Martle kommen, gleich.«
+
+Von den weißen Gestalten erhob sich eine, küßte fromm das heilige
+Buch, das der Fürsager auf den Knien liegen hatte, und verließ den
+Stall. Wieder das Schweigen, bis die Tür sich geschlossen hatte. Dann
+sagte der Alte mit seiner sanften Stimme: »Ein Kindl will eintreten
+ins Elend der Zeit. Lasset uns hoffen, daß ihm der Heiland den rechten
+Lebenstrost hineinhaucht ins auflebende Herzl.« Alle Köpfe senkten
+sich, jedes Händepaar klammerte sich vor der Brust ineinander. »Jetzt
+redet weiter, Leut! Wer ein Unrecht erfahren hat, soll's fürbringen vor
+dem heiligen Buch. Wissen, daß wir alle leiden müssen ums Himmelreich,
+das kräftet die Wehleider und die Schwachmütigen!«
+
+Einer, mit heißer Erbitterung in der Stimme, rief aus dem Kreis heraus:
+»Weil ich verdächtig bin und bei einer gutkatholischen Näherin ein
+Hemmed hab nähen lassen, bin ich gestraft worden um vier Gulden, därf
+kein Hemmed mehr am Leib haben und muß nackig unter dem Kittel gehen.«
+
+Ein Weib knirschte zwischen den Zähnen: »Ich bin ums Betläuten in
+der Kuch gesessen und hab Butter gerührt. Da braucht man zwei Händ
+dazu. Ein Musketier ist gekommen: >Weibsbild, warum hast du nit den
+Rosenkranz in der Hand?< Ich sag: >Weil ich bloß zwei Händ hab, nit
+drei.< Da hat er mich viermal ins Gesicht geschlagen. Der Unchrist!«
+
+Mühsam erhob sich ein alter Mann: »Mich hat einer angezeigt, ich weiß
+nit wegen was. Man hat mich ins Loch geschmissen, daß ich nimmer Sonn
+und Mond gesehen hab. Am neunten Morgen haben sie mich auslassen.
+Und wie ich gefragt hab, was ich verbrochen hätt, da hat mich der
+Bußknecht aus dem Stiftshof hinausgestoßen und hat mir nachgebrüllt: Du
+Schafskopf, bist du neugieriger, als *wir* sind?«
+
+Mit Tränen in der Stimme sagte eine Frau, die Wittib war: »Am Sonntag
+hat meine Kuh gekälbert. Drum hab ich die Predigt versäumen müssen.
+Das hat fünf Gulden gekostet. Sieben Kreuzer sind mir auf Brot für die
+Kinder geblieben.«
+
+»Mein Nachbar,« sagte einer, »hat dem Pfleger verraten, ich hätt das
+evangelische Paradiesgärtl bei mir versteckt. Die Soldaten haben
+umgewühlt in meinem Haus wie die Säu. Einer hat gemeint, ich könnt das
+Buch unter dem Fußboden haben, und da hat der Schweinkerl in meiner
+sauberen Stub sein Wasser abgeschlagen, daß es hineingeronnen ist in
+die Bretterklumsen. Wär das heilige Büchl da versteckt gewesen, so hätt
+ich dreinschlagen müssen in meinem Zorn und wär ins Eisen gekommen.«
+
+Eine gellende Mädchenstimme, die sich anhörte wie der Aufschrei einer
+Fieberkranken: »Sie haben in der Weihnächtswoch den Schaitbergischen
+Sendbrief in meinem Bett gefunden. Bis gestern bin ich im Bußloch
+gelegen.« Mit zuckenden Händen riß das Mädel am Hals den Latz
+des Mieders auseinander, daß man die blutunterlaufenen Male der
+Faustschläge sehen konnte. »Leut! Schauet mein junges Brüstl an! So
+haben die Soldaten Gottes mich zugerichtet.«
+
+Unter der zornknirschenden Bewegung, die über die weißverhüllten Köpfe
+hinging, bedeckte der Fürsager mit dem heiligen Buch die mißhandelte
+Blöße des Mädchens. »Im hohen Lied des Königs Salomo steht: Wie schön
+sind deine Brüstlen, sie sind wie Elfenbein! -- Tu nit schreien,
+liebe Schwester! Augen, die aufschauen zum Heiland, müssen sein wie
+Taubenaugen!« Er ging zurück zu seinem Schemel. »Wer muß noch klagen?«
+
+Schrillend rief eine Stimme. »Wär's noch allweil nit genug? Gibt's
+keinen Helfer auf Erden? Hilft da der deutsche Kaiser nit?«
+
+Ein hartes Mannslachen. »Die Salzburger haben Hilf gesucht beim Kaiser.
+Da hat er dem Bischof wider die Evangelischen sechstausend Soldaten als
+Helfer geschickt.«
+
+Wieder jene gellende Mädchenstimme: »Du Kaiser im Untersberg! Steh auf!
+Laß deinen Bart nit länger wachsen! Ist lang genug! Steh auf und hilf!
+Es ist so weit, daß die deutsche Welt verzweifelt.«
+
+»Schwester, tu nit die Ruh verlieren!« mahnte der Fürsager. »Uns helfen
+die Fürsten nit, uns hilft nit das alte Märlein von der guten Zeit,
+die im Untersberg versunken ist. Uns hilft nur Einer. Der hat mir ein
+gutes Sprüchl eingegeben:
+
+ Ich trau auf Jesu Huld,
+ So wird sich's finden.
+ Stillhalten und Geduld
+ Kann alls verwinden.«
+
+Da konnte Leupolt nicht länger schweigen. »Fürsager, du redest, wie's
+den Müden um die Seel ist. Wir Jungen spüren es anders. Geduld ist
+ein heiligs Wörtl. Aber Stillhalten ist ein unmännliches Ding. Mit
+Stillhalten findet kein Menschenfuß zu gutem Weg, mit Stillhalten
+geht der beste Wagen nit fürwärts, mit Stillhalten bringen wir die
+unsichtbare Kirch der Freiheit nit entgegen. Es muß einmal ein End
+haben mit dem Ducken und Schweigen, das dem Glauben an Gottes Wahrheit
+zuwider ist.« Viele Stimmen, mit Beifall oder Abwehr, fuhren ihm in die
+Rede. Er reckte sich im weißen Schneekleid, und immer wärmer klangen
+seine Worte: »Leut! Mit unserem mutigen Glauben ist die mutlose Furcht
+gemenget, wie im Müllersieb das Mehl mit den Kleien. Muß nit bald der
+Schüttler kommen, daß die Kleien im Sieb bleiben und das Mehl in den
+Kasten fallt? Hat nit jeder von uns Unsichtbaren schon gespürt in
+seiner Seel, daß er Unrecht tut? Den Rosenkranz um die Hand wickeln,
+die Faust in den Weihbrunnkessel tunken, unredlich im Beichtstuhl
+reden, sich begnügen mit Christi Leib und sein heilig Blut entbehren,
+niederfallen vor einem hölzernen Bildstöckl, das uns nit heilig ist --
+alles, was wir tun, um die Seel vor Musketier und Kaplan zu verstecken
+-- ist das ehrlich und evangelisch, Leut? Ich mag da nimmer mittun.
+Ich bin dafür, daß sich die Unsichtbaren sichtbar machen. Die Wahrheit
+ist ein grüner Stecken, an dem ein jeder sich aufrichten kann. Und in
+der letzten Neumondnacht hat uns der Fürsager auf dem Toten Mann das
+Heilandswort gelesen: Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will
+ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.«
+
+Tiefe Erregung erfaßte die Herzen der anderen. Unter lärmendem
+Wortgewirre drängten alle Weißverhüllten gegen den einen hin, der so
+geredet hatte.
+
+»Es ist nit so, daß ich euch was einreden möcht,« sprach Leupolt
+weiter, »ich sag halt, was ich mir denk. Ich kann's nimmer mitmachen.
+Jetzt geht es ins vierte Jahr, daß die Unsichtbaren leiden unter der
+Seelenprob, die der römische Bischof Benedikt erfunden hat. Grüßen muß
+man: Gelobt sei Jesus Christus und die heilige Mutter Marie! Und sagen
+muß man drauf: Von nun an bis in Ewigkeit Amen.«
+
+Einer lachte zornig: »Jesus Christus, die Heilandsmutter und das ewige
+Leben? Sind das nit heilige Wörtlen? Warum soll man söllene Wörtlen nit
+sagen können?«
+
+»Weil der römische Bischof einen Sündenablaß auf seinen
+Scheidwassergruß gesetzt hat: daß jeder, der so grüßt, um 30 Wochen
+früher aus dem Fegfeuer käm! Das geht wider unseren Glauben. Ein
+Fegfeuer gibt's nit. Jeder von uns, der so grüßt, befleckt seine
+redliche Seel mit einer gottswidrigen Lug. Und es ist nit das allein.
+Der Gruß ist ein Grausen worden für jeden Rechtschaffenen. Das ist
+ein Gruß, der Tag für Tag geschändt und verschumpfen wird. Kommt ein
+Kartenbruder ins Leuthaus: Gelobt sei Jesus Christus! Jeder Besoffene
+hebt seinen Krug mit dem Wörtl: Gelobt sei Jesus Christus! Packt ein
+Schmierfink ein Mädel bei der Kittelfalten, so tut er's mit Gelobt sei
+Jesus Christus!«
+
+Jene gellende Mädchenstimme: »Jedes Blutmal auf meinem Brüstl ist ein
+Gelobt sei Jesuchrist gewesen!«
+
+In dem schweratmenden Schweigen, das diesem Zornschrei eines
+gemarterten Lebens folgte, sprach der Jäger mit ernster Ruhe: »Schon
+seit dem Sommer hat das Gewissen in mir geredet. Ich kann nimmer lügen.
+Es geht mir gegen den Herzfrieden. Soll's kommen, wie's mag. Glück
+oder Elend, von heut an will ich den Gruß nimmer sagen, und grüßt mich
+einer, so geb ich die Antwort nit.« Leupolt legte die rechte Hand auf
+das heilige Buch. »Ich tu's geloben.«
+
+Viele weiße Arme streckten sich nach ihm. Ein Verhüllter schrie
+dazwischen: »Nit, nit, ums Himmels willen, ihr Leut! So haben's vor
+dritthalb Jahr die Salzburger angehoben. Dreißigtausend hat der Bischof
+aus seinem Ländl hinausgeschmissen. Das beste Höfl, das drei, vier
+Tausend wert ist, hat man aufgeschrieben mit fünf, sechs Hundert, eine
+milchende Kuh mit vierthalb Gulden, ein jähriges Kalb mit 40 Kreuzer.
+So hat man die evangelischen Wanderleut betrogen um Gut und Blut, hat
+zwischen Mann und Weib eine Mauer geschoben, hat dem Vater oder der
+Mutter die Kinder von der Seel gerissen!« Mit beiden Fäusten packte der
+Aufgeregte seine Brust. »Mein gutes Weibl ist römisch blieben, man tät
+mir die Kinder nehmen. Die laß ich nit. Mein Haus und Acker ist mir
+als wie mein Herzfleck. Müßt ich hinunter zum luthrischen Sand und tät
+keinen Berg mehr sehen, ich wüßt nimmer, wie ich noch schnaufen könnt.
+Es geht nit, Leut! Fürsichtig bleiben ist besser.«
+
+Leupolt legte ihm die Hand auf die Schulter. »Meinst du, das wär
+schlechter: sich aufrecken zur Redlichkeit?«
+
+»Tu mich auslassen!« Der Erregte schüttelte in Zorn die Hand des
+anderen von sich ab. »Hast du Weib und Kind? Hast du Acker und Haus?
+Wieviel verlierst denn du mit der Redlichkeit? Bist du ein Naderer[A],
+der die Fürsichtigen verhetzen will?« Manche von den Unsichtbaren
+hatten den Leupolt Raurisser an der Stimme erkannt. Sie schalten den
+aufgeregten Widersacher um des bösen Wortes willen. Aber andere, die
+nicht wußten, daß es der Leupolt war, wurden mißtrauisch: »Was bist
+denn du für einer? Wer reden will wie du, muß sichtbar sein!«
+
+[A] Polizeispion.
+
+Leupolt streifte die weiße Kapuze über den Scheitel zurück: »Meine
+Brüder im Heiland! Arg evangelisch habt ihr jetzt nit geredt.
+Evangelisch sein, heißt glauben und trauen.«
+
+Jetzt schrien ihm alle freudig zu. Und die Jungen, ob Buben oder
+Mädchen, zerrten die weißen Kappen von ihren Köpfen und zeigten die
+erhitzten Gesichter mit den blitzenden Augen. Was der Leupolt tat, das
+konnte man nachmachen ohne Sorge. Auch der Aufgeregte wurde ruhiger. Er
+enthüllte wohl die Augen nicht, streckte aber dem Jäger die Hand hin
+und sagte herzlich: »Tust du mir mein fürschnelles Wort verzeihen?«
+
+»Gern.« Leupolt faßte die Hand des anderen. »Jetzt
+
+weißt du, wer ich bin. Ich hab nit Haus und Acker, nit Weib und Kind,
+nit Kälbl und Kuh. Aber Vater, Mutter und Brüder hab ich. Da wird eine
+Mauer wachsen, die nimmer fallt. Was Berg und Heimat heißt, das ist
+mir tiefer im Herzen als Blut und Leben.« Der Blick seiner glänzenden
+Blauaugen irrte ins Leere. »Auch hat ein schönes Glück vor meiner Seel
+gehangen. Das muß ich verlieren. Um der Wahrheit wegen, an die ich
+glaub.«
+
+Noch tiefer als der Sinn dieser Worte griff der Klang seiner Stimme
+in die Herzen der anderen. Ein schweres Schweigen. Dann mahnte der
+Fürsager: »Was uns der Leupolt hat raten müssen, das reden wir heut nit
+aus. Da muß man in der Neumondnacht auf dem Toten Mann die Alten hören.
+Und jetzt zum Heimweg soll Einer reden, der's besser kann als ich.«
+Er hob das Buch in die trübe Laternenhelle und las in seiner sanften
+langsamen Art die Worte der Bergpredigt. Alle Köpfe waren geneigt, jede
+Seele lauschte in dürstender Sehnsucht. Die Hennen glucksten in der
+Gattersteige, die Kühe schnaubten an der Krippe und rasselten mit den
+Ketten. Dann fingen die Sichtbaren und die Unsichtbaren mit versunkenen
+Stimmen zu singen an:
+
+ »Ein feste Burg ist unser Gott,
+ Ein gute Wehr und Waffen --«
+
+Als das Lied zu Ende war, griff der Fürsager in ein Faß, das an der
+Mauer stand, schöpfte mit der Hand von dem roten Viehsalz und hob es
+den Schweigenden hin. »Zum Zeichen, daß wir alle eines Herzens und
+Glaubens sind.« Eines ums andere tauchte den an der Zunge benetzten
+Finger in das Salz und nahm die bitteren Körner zwischen die Lippen.
+»Bleibet beständig und befehlt euer Leidwesen dem gütigen Heiland! Geht
+heim und seid mit der Zeit zufrieden, wie sie ist. Es wird noch ärger
+kommen.« Wer das Salz gekostet hatte, verließ den Stall. Eine von den
+Kühen brüllte der frischen Luft entgegen, die hereinwehte durch die
+offene Tür.
+
+Als Leupolt vom Waldsaum über das weiße Gehäng hinuntersprang
+zur Straße, trug er wieder das dunkle Jägerkleid und hatte die
+Feuersteinflinte unter dem gespreizten Radmäntelchen. Hastig schritt er
+neben der rauschenden Ache hin, deren Wasser heraussprudelte aus dem
+gefrorenen Königssee.
+
+Das beschneite Eis der Seefläche war von Sprüngen durchzogen, und
+immer, wenn eine von diesen Frageln weitersprang, war ein schwebender
+Ton zu hören, als hätte man an eine große Glocke geschlagen.
+
+Aus dem Dunkel einer Schiffhütte holte Leupolt den Beinschlitten
+heraus, stellte sich auf das Brett und begann mit dem langen
+Stachelstock den Schlitten zu treiben. Eine sausende Fahrt, vorüber an
+der Insel Christlieger, dann in den Schatten der Falkensteiner Wand
+hinein. Hier hatte das Eis nur wenige Risse, und sie waren so schmal,
+daß der sausende Schlitten drüber wegsprang wie über eine ungefährliche
+Schnur. Nun aus dem Schatten wieder hinaus in das funkelnde Mondlicht,
+hinein in den ruhelos klingenden Weitsee. Und da wurde die Fahrt immer
+langsamer. Jetzt stand der Schlitten, und die schlanke Gestalt des
+Jägers blieb unbeweglich.
+
+Was da schimmernd vor seinen Augen lag, das hatte er schon hundertmal
+gesehen, aber noch nie so zauberschön wie in dieser klaren Mondnacht.
+Oder steigerte ihm das eigene Denken und Gefühl den Schönheitstraum
+der Erde ins Überirdische? Während der Fahrt, bei der die scharfe
+Zugluft seine Wangen wie mit spitzen Nadeln gestochen hatte, waren
+ihm in Sinn und Seele zwei Gedanken gewesen, von denen der eine den
+anderen peitschte: der Gedanke an das Sichtbarwerden der Unsichtbaren,
+an das mutige Bekennen des verschleierten Glaubens -- und der Gedanke
+an ein strengschönes, dunkeläugiges Mädchengesicht, um dessen Stirn
+wie ein schweres Seilgeflecht die braunblonden Zöpfe lagen. Daß er ein
+Unsichtbarer war, das wußte sie. Von ihrem Vater? Nein. Der Meister
+Niklaus schwatzte nicht. Da muß es ihr wohl die Sus gesagt haben, die
+im vergangenen Winter manchmal mit dem Meister im Schneekleid die
+heilige Fürsagung besucht hatte. Jetzt kam sie nimmer. Weil auch der
+Meister nimmer kam, seit Luisa wieder im Haus war. Gleich am ersten
+Tag nach ihrer Heimkehr aus dem Kloster hatte Leupolt sie gesehen,
+in der Marktgasse, und hatte immer an diese Augen denken müssen, die
+nicht Mensch, nicht Mauer zu gewahren schienen, nur immer so heilig
+ins Leere glänzten. Noch siebenmal war er an ihr vorübergegangen. Von
+jeder Begegnung wußte er den Tag, die Stunde, und ob Sonnschein oder
+trüb Wetter gewesen. Am Dreikönigstag, als sie mit der Sus von der
+Kirche kam, hatte er das Hütl gezogen und hatte ihr's grad in die Augen
+gesagt: »Du tust mir gefallen, ich bin dir gut, tätest du zürnen --« Er
+hatte sagen wollen: Wenn ich werben möcht bei deinem Vater? Das hatte
+sie ihn nimmer zu Ende reden lassen. Ihr Zornblick war ihm ins Herz
+gegangen wie ein Messerstoß.
+
+Ihr Zorn? Warum dieser Zorn? »Hab ich's mit dem ersten redlichen Wörtl
+unschickig angestellt?« Oder hat sie -- die jeden Morgen zur Messe
+und oft zu ihrem Beichtiger ging -- schon damals gewußt, daß er ein
+Bruder der Unsichtbaren war? Er herüben und sie da drüben, und zwischen
+ihm und ihr ein Wasser ohne Steg! Eine, die meint, sie tät dem Himmel
+gehören, wird nicht die liebe Hand nach einem strecken, von dem sie
+glauben muß, er wär' verloren auf ewig. Mit harten Fäusten hatte er
+sein Herz gepackt, hatte sich gezwungen, dieses Hoffnungslose in seinem
+Blut zu ersticken. Und da war der Abend gekommen, an dem es der Vater
+heimbrachte vom Pflegeramt: »Heut kommt der Muckenfüßl über den Meister
+Niklaus; Gott soll's verhüten, daß der Meister verbotene Schriften
+im Haus hat.« Weder die Mutter, noch der Vater hatte dem Leupolt
+was angemerkt. Und aus der Kammer zum Fenster hinaus! Barmherziger
+Herrgott, was für eine irrsinnige Sorgennacht war das gewesen, bis ihm
+der Pfarrer die Angst vom Herzen herunternahm! Und immer, während der
+ganzen sausenden Fahrt über die schwarzen Frageln, die wie Glocken
+läuteten, immer hatte er Luisas Stimme gehört, hatte immer wieder das
+Wort vernommen, das sie im Schneegewirbel zu ihm gesprochen: »Du bist
+das Licht nit wert, es hilft dir lügen und macht dich anders, als du
+bist!« Das hatte er nicht verstanden. Weil ihm die Ruhe fehlte, um zu
+hören? Weil ihm die Angst um sie und ihren Vater die Sinne verstörte?
+Oder weil er empfunden hatte, wie fern sie von ihm war? Auch noch an
+seiner Brust? An der Brust des Unsichtbaren? Und wenn er sichtbar
+wird, und Schimpf und Verfolgung, Buß und Schergen kommen über ihn?
+Dann wird das Wasser zwischen ihm und ihr so tief sein, wie der
+Königssee. Ob's nicht am besten wär', hinunterzusausen durch eine von
+den Frageln, aus denen das schwarze Wasser herausquoll über den weißen
+Schnee? Das war gedacht und schon verworfen als eine feige Sünde. »Wer
+Gottes ist, muß leben und tragen, muß ein fester Stecken sein für die
+Schwächeren! Es zählen die anderen, Mensch, nit du!« Und da war ihm,
+als er herausglitt aus dem Schatten, diese silberfunkelnde, klingende
+Erdenschönheit in die Seele gesprungen.
+
+Er stieg vom Schlitten, stemmte schräg den Stachelstock vor sich hin
+und staunte stumm hinein in das flimmerweiße, läutende Mondnachtwunder.
+Der weite Bogen der hohen Berge war durchwürfelt von Schimmerlicht
+und tiefen Schatten. Fern, am Fuß der gleißenden Wände, lagen drei
+schwarze Punkte im Weiß, die beschattete Kirche, der Jägerkobel und das
+Herrenschlößl von St. Bartholomä. Dahinter stieg das leuchtende Märchen
+empor. Zwischen den schillernden Eiskaskaden der in Tropfsteinformen
+gefrorenen Sturzbäche lagen seltsam gezeichnete Schattengebilde,
+bald wie schwarze Riesentiere, bald wie finstere Männerköpfe und
+Frauengestalten. Droben in der höchsten Höhe mußte Föhnsturm wehen.
+Wie silberne Bänder, wie duftige Schleier, wie weiße Mäntel, gesäumt
+mit Regenbogenschimmer, flog der aufgewirbelte Staubschnee von den
+Bergspitzen gegen den leuchtenden Himmel hinauf, an dem die Sterne wie
+winzige Nadelspitzen glänzten und fast verschwanden neben dem Vollmond.
+Der war anzusehen wie ein rundes Funkelfenster, in dem ein Mann und
+ein Weib einander küßten mit unersättlicher Inbrunst. Ruhelos tönten
+und sangen dazu mit tiefen und hohen Glockenstimmen die vielen Frageln,
+die an hundert Stellen das vom schwellenden Seewasser emporgedrängte
+Eis entzweirissen -- ein klingendes, dröhnendes Andachtsläuten der
+Natur, die ihren Schöpfer lobte. »Herrgott im Himmel, wie mächtig und
+groß bist du!« Diese Worte stammelnd, klammerte Leupolt die Fäuste
+ineinander. Er betete: »Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer
+nach Himmel und Welt. Auch wenn mir Leben und Seel verschmachten,
+bleibst du mein Heil und meines Herzens Trost!« So hatte in der letzten
+Neumondnacht auf dem Toten Mann ein Salzburger gebetet, der aus dem
+Brandenburgischen gekommen war und Botschaft brachte von den in
+Ostpreußen angesiedelten Exulanten. Und der Salzburger hatte erzählt:
+so hätte er den preußischen Königsprinzen Friedrich beten hören, der
+ihnen Hand und Hilf geboten wie ein Bruder den Brüdern.
+
+Noch lange stand Leupolt unbeweglich im Schnee. Plötzlich quoll ihm
+ein heißer Laut aus der Kehle. War's ein erwürgtes Schluchzen, oder
+ein erstickter Schrei der Sehnsucht in seinem Blut? Nach einer Weile
+das leise Wort: »Ach, Mädel, wie hab ich dich lieb! Wo ich hinschau,
+überall bist du!«
+
+Ihm war im Schnee und im knirschenden Winterfrost so schwül, daß er an
+der Brust seinen Jägerkittel aufreißen mußte. -- --
+
+-- Und um die gleiche Stunde, in einer von zwei Kerzen erhellten
+weißen Stube, in deren Feuerloch die Kohlen noch glühten, fror ein
+Schlafloser, daß ihm beim Schreiben die Zähne schnatterten. Der Pfarrer
+Ludwig.
+
+Er hatte den Mantel um Hals und Brust geschlungen, daß unter dem
+schwarzen Saum nur die Fingerspitzen mit der Kielfeder hervorguckten.
+Leib und Beine waren noch in eine wollene Decke gewickelt. Die Feder
+raschelte und spritzte ein bißchen, während sie in lateinischer Sprache
+ein Buchstäbchen ums andere hinmalte auf das gelbliche Papier. Was
+Pfarrer Ludwig in seinem Kirchenlatein vom Inhalt des hebräischen
+Briefes, der sich in Asche verwandelt hatte, für seine einsamen
+Stubenstunden festzuhalten versuchte, das hätte in deutscher Sprache
+gelautet:
+
+»Alles Wissen und Geschehen muß dem Leben dienen, damit der Lebende
+des ihm möglichen Glückes teilhaftig wird. Als Anfang mußt du erkennen,
+Mensch, daß alles ein Einziges ist. Der Vater hat viele Kinder. Sie
+kommen und gehen. Er ist der Einzige, der immer gewesen ist und immer
+sein wird. Ob du Gott sagst oder Natur, Geist oder Körper, immer nennst
+du das Gleiche. Das Ewige ist in sich geschlossen und muß vollkommen
+sein. Da Gott nicht begehren kann, was er nicht schon hätte, kann er
+ein Werdendes nicht wollen um eines neuen Zweckes willen. Alles ewig
+Werdende ist ein ewig Gewesenes. Gott ist Bewegung und Ruhe, ewiges
+Wirken und ewige Zufriedenheit. Das fühlst du, Mensch, wie ein Tropfen
+fühlt, daß er ein Teil des Meeres ist. In jedem Körper ist Geist vom
+Geiste. Fühle dich als Gottes Kind, als Blutstropfen des Ewigen,
+als Körnchen im Berge von Gottes Größe. Weil du als Teil das Ganze
+nicht sehen kannst, drum siehst du immer ein Unzulängliches. Sei ein
+Suchender, und du näherst dich der ewigen Wahrheit! In jedem Ding
+ist Trieb nach der Heimat, in jedem Wesen ein Trieb zu Gott. Jeder
+Schritt, dem Vollkommenen entgegen, erhöht deine Kraft. Wende dich ab
+vom Zug des Ewigen, und Furcht und Reue werden dich erfüllen. Du bist
+nicht schuldig deiner selbst, nur schuldig deiner irrenden Straße. Vom
+Guten und Schlechten hast du ein ewiges Wissen in dir: die Sehnsucht
+und den Ekel. Gott leitet und warnt dich nicht, alle Stimmen deiner
+Wege sind in dir selbst. Schau in die eigene Seele und in das eigene
+Blut; je tiefer du schaust, so deutlicher sprechen die Weiser deines
+Weges. Jedes Rasten ist Verlieren. Der willig Schreitende ist ein
+Wachsender an Macht und Freude. Willst du zu Gott, so wirst du bei ihm
+sein. In seinen Armen bist du ein Freier, ferne von ihm ein Knecht ohne
+Hände.«
+
+Pfarrer Ludwig legte die Feder fort, und während ihn immer wieder ein
+Frostschauer rüttelte, überlas er, was er geschrieben hatte. »Ob ich es
+richtig verstanden hab?« sprach er leise vor sich hin. Der Ernst seiner
+Augen begann sich aufzuhellen. »Man muß da halt *auch* wieder glauben!«
+
+Mit einem wunderlich frohen Lächeln, das seinem Warzengesicht einen
+kindhaften Ausdruck gab, ließ er aus der dicken Platte seines
+Schreibtisches ein nur fingertiefes Lädchen herausspringen, verwahrte
+die beschriebenen Blätter und drückte das Geheimfach wieder zu.
+
+Hurtig, immer ein bißchen mit den Zähnen schnatternd, wickelte er den
+Mantel von sich herunter und begann sich zu entkleiden. Als er schon
+barfüßig war und nur noch das Hemd und die Bundhose trug, fiel ihm der
+schöne, fast lebensgroße Crucifixus in die Augen, der, ein Jugendwerk
+des Meister Niklaus, an der weißen Mauer hing.
+
+Sinnend blickte Pfarrer Ludwig zu dem von Dornen gekrönten, gütig
+lächelnden Antlitz empor. »Mir scheint, ich weiß ein bißl, was du jetzt
+denkst von mir!« Er höhlte die Hände um die Füße des Gekreuzigten. »Du
+Fröhlicher! Verzeih's deinem alten treuen Narrenschüppel, weil er um
+so sehnsüchtiger ein Mensch sein möcht, je näher ihm das kommt, daß er
+einer gewesen ist!« Zärtlich küßte er den eisernen Nagel, der durch die
+Füße des Erlösers getrieben war.
+
+
+
+
+Kapitel V
+
+
+Seit drei Tagen hatte bei klarem Himmel der Föhn über die Berge
+hingeblasen und hatte schon an sonnseitigen Gehängen den Schnee
+zusammengebissen zu einer dünnen Kruste. Gegen den vierten Morgen
+begann man den lauen Südwind auch im frostigen Tal zu fühlen.
+
+Bei Tageserwachen, ein Freitag war's, beschlugen sich die Spitzen
+der Berge mit dem Goldglanz der kommenden Sonne. Dennoch hatte der
+Morgen keinen reinen Himmel. Von den Zahnspitzen des Wazmann strebten
+kleinzerstückelte Wolkenstreifen gegen Norden. Die waren anzusehen wie
+endlose Züge kleiner Weißgestalten, die von Süden emporstiegen und da
+droben hinwanderten über blaublühende Leinfelder.
+
+Dieser Gedanke kam dem Meister Niklaus, als er durch das große,
+schwervergitterte Fenster seiner Werkstätte zum Himmel hinaufsah.
+Er mußte an die Tausendscharen der Salzburgischen Exulanten denken,
+die aus der Heimat nach dem Norden gezogen waren. Der Freiheit, dem
+ungehinderten Glauben entgegen? Oder zu neuer Not, zu noch tieferem
+Elend? War den Stimmen zu trauen, die aus dem Pflegeramt herauskamen
+und sich überall im Lande lautmachten, so hatten die Salzburger ein
+hartes Los gefunden. Zu Hunderten waren sie auf ihren Wanderwegen
+siech geworden und gestorben, und jene, die den Frost und die Not des
+Hungers überstanden, bekamen Spott und Schimpf zu erdulden, Unrecht
+und Mißhandlung. Man hatte den Emigranten ihre Kühe und Pferde
+weggenommen, hatte ihre Wagen und Karren zerschlagen, ihre Schiffe
+mit Steinen versenkt, hatte die Dörfer und Städte vor ihnen versperrt
+und die um Erbarmen Flehenden mit Steinhagel und Flintenschüssen
+davongetrieben. Den Wenigen, so hieß es, die zu einem Ziel gekommen,
+hätte man ungesundes Sumpfgeländ oder dürren Sandboden zugewiesen, ohne
+Gerät und Bauholz, ohne Vieh und Zehrpfennig, ohne Beistand und Hilfe.
+
+Jene von den Unsichtbaren, die im Berchtesgadener Lande schon ans
+Wandern dachten, waren vor solchen Warnerstimmen so stutzig geworden,
+daß sie das müde Dulden in der Heimat dem härteren Elend in der
+Fremde vorzogen. Dann war in der letzten Neumondnacht ein heimlicher
+Botschaftsträger der Salzburger zum Toten Mann gekommen, hatte das üble
+Gerede vom Schicksal der Exulanten widerlegt, hatte alles Schwarze
+in schönes Weiß verwandelt und die gelästerte Wanderschaftshölle
+geschildert als einen freundlichen Himmel brüderlichen Erbarmens.
+Was war da Lüge, was Wahrheit? Die Widersprüche waren so schwer, daß
+auch die Vertrauensvollsten zur Vorsicht rieten. Man durfte, sei es
+im Guten oder Bösen, nicht jeder umlaufenden Botschaft glauben, mußte
+die eigenen Augen auftun. Zwei von den Verläßlichsten hatten sich
+zur verbotenen Wanderschaft gemeldet, der Mann der Hasenknopfin von
+Unterstein und der Christoph Raschp von der Wies: sie wollten ihr Leben
+dransetzen, um die Wahrheit zu erfragen. An der Grenze hatte man die
+beiden nicht gefaßt; sonst wären sie auf offenem Markt schon längst am
+Schandbalken gehangen. Nun waren sie schon in die dritte Woche auf der
+Wanderschaft, auf dem Wege zur Wahrheit. Was werden sie bringen? Den
+Trost einer neuen Hoffnung? Oder das hoffnungslose Sichbeugenmüssen?
+Diese Frage brannte in den Gedanken des Mannes mit der hölzernen
+Hand, während er hinaufsah zu den im Blau des Himmels wandernden
+Weißgestalten. Fröstelnd zog er den mit Pelz besetzten Hauskittel enger
+um die Brust und wollte die Arbeit beginnen. Weil er die Tür gehen
+hörte, drehte er das Gesicht über die Schulter.
+
+Die Sus brachte zwischen den Armen einen festen Pack Buchenscheite und
+ging zum Ofen.
+
+Der Meister lächelte. »Als hättst du erraten, daß mir kalt ist! Allweil
+spür ich deine treue Fürsorg.«
+
+Schweigend kniete das schlanke Mädchen beim Ofen nieder und schob ein
+Scheit ums andere in die rote Glut. Leuchtende Schimmerlinien säumten
+ihre Wange, das weißblonde Haar, die Schulter, den runden Arm und die
+Hüfte.
+
+»Wie fein das ist, wenn dich die Glut so anstrahlt! Könnt ich nur auch
+das Holz so schneiden, wie das Feuer den lebigen Körper nachzeichnet!«
+Er rückte einen hohen, dreibeinigen Stuhl, der etwas Verhülltes trug,
+in das Fensterlicht. »Ist das Kind noch droben?«
+
+Das Mädel, schon bei der Türe, schüttelte den Kopf. »Ums Tagwerden ist
+sie zur Frühmeß fort.«
+
+Es zuckte um den bärtigen Mund des Meisters. »Statt besser, wird's
+allweil ärger. So blaß und seltsam, wie in den letzten Tagen, ist sie
+noch nie herumgegangen.«
+
+Sus nickte. »Es muß was geschehen sein in ihr. Die halben Nächt lang
+hör ich sie beten. Oft ruft sie mich in der Finsternis, weil sie
+fürchtet, es täten böse Gespenster umgehen.«
+
+»Gespenster? Freilich, die gehen um. Bei Tag und bei Nacht. In allen
+Köpfen. Kein Wunder, daß jeder Mensch nach Trost und Beistand dürstet.
+Ich verdenk dem Kind den ruhlosen Kirchweg nit. Es sieht so aus, als
+könnt sie den Schreck nit vergessen, den uns der Muckenfüßl ins Haus
+geschmissen. Da wird sie von ihrer Seel den Zorn über den schlechten
+Nachbar wegbeten wollen, der uns im Pflegeramt vernadert hat.« Wieder
+das müde Lächeln. »Ist sie im richtigen Beten, so haben wir ein
+Stündl Zeit. Seit dem Sonntag ist's mit meinem Figürl nimmer aufwärts
+gegangen. Ich brauch dich wieder. Magst du das Wollkleid antun und
+kommen?«
+
+Mit einem Aufleuchten in den Augen ging das Mädel davon. Der Meister
+hob das grüne Tuch von seiner Arbeit und betrachtete das fast
+vollendete Werk. Auf ovaler Holzplatte war in doppelter Spannenlänge
+aus rotem Wachs ein Hochrelief herausgebildet: die Verkündigung, die
+Gottes Engel der Maria bringt. Aus den Lüften niederschwebend, reicht
+er der Auflauschenden die Rose über die Schulter herab. Zwischen den
+Flügeln, die straff gespreitet sind -- so, wie Falken die Flügel
+stellen, wenn sie nach steilem Stoßflug sich niederlassen auf einen
+Baumwipfel -- neigt sich der von Locken umfallene Engelskopf heraus,
+an dessen Antlitz der Meister die strenge Schönheit seines Kindes
+nachgebildet hatte, mit einem keuschen Zug ins Knabenhafte. Nur der
+Kopf, die Arme und Schultern des Engels mit den Schwingen wachsen
+plastisch aus der Holzplatte; von den Flügeln nach abwärts wird die
+Gestalt immer unkörperlicher und verschwindet unter dem Faltengewoge
+des Gewandes, das im Sturme zu flattern scheint und überrollt ist an
+allen Säumen. Im Gegensatz zu diesem Auslöschen alles Körperlichen
+hebt sich der schlanke, schwellende Mädchenleib der auflauschenden
+Jungfrau um so irdischer aus dem Bilde. Neben dem Webstuhl, von ihm
+abgewendet, sitzt Maria auf einem Schemel, die linke Hand noch am
+Weberschifflein, die rechte in Ergebung ausgestreckt zu einer innigen
+Geste des Empfangens. Dieser Körper lebte, hatte Atem, hatte Blut und
+Fleisch. Die schmiegsamen Falten des zarten Gewandes verrieten ihn
+mehr, als sie ihn verhüllten. Dazu ein fremdartig berührendes, kühl
+stilisierte Köpfchen, wie herausgenommen aus einem anderen Bilde und
+auf diesen Hals gesetzt, zu dem es nicht gehörte. Beim Beginn der
+Arbeit hatte Niklaus im Antlitz der Maria die Erinnerung an die Züge
+seines Weibes nachzubilden versucht, das vor Jahren aus Schreck über
+den verstümmelten Arm ihres Mannes gestorben war. Als Luisa das neue
+Werk des Vaters zum erstenmal betrachtete, sagte sie in ihrer strengen
+Weise: »Vater, das Gesichtl der Gottesmutter schaut nit himmlisch
+genug.«
+
+»So ist der Blick und das gute Lächeln deiner Mutter gewesen.«
+
+»Wie das gewesen ist, das weiß ich nit. Ich weiß nur, das Gesichtl der
+Gottesmutter ist unheilig. Das darfst du nit dreinschauen lassen wie
+beim Heimgart im Ofenwinkel. Du mußt es schauen lassen wie in seliger
+Gottesnäh.«
+
+Dem Kind zuliebe hatte der Meister geändert und verhimmelt, bis das
+Köpfchen verdorben war. Der strengen Prüferin gefiel es jetzt, für
+den Meister war es ein Makel, der ihm die Freude an seinem Werk
+verbitterte. Er war in die unzufriedene Musterung so versunken, daß er
+die Tür nicht gehen hörte. Die Schritte der Sus waren lautlos, ihre
+Füße nackt. Anstelle ihres Magdgewandes trug sie ein langes, lind
+gegürtetes Kuttenkleid von weißblauem Wollstoff, der sich ihrem Körper
+anschmiegte wie ein Schleier. Erst als sie den Schemel auf den Antritt
+stellte, sah der Meister auf. »Ich dank dir, gute Sus! Versuchen wir
+halt, ob's besser wird!«
+
+Das Mädel ließ sich wortlos auf den Schemel nieder und ordnete das
+linde Gewand. Von jedem Fältchen schien sie zu wissen, wie es liegen
+mußte. Schweigend begann der Meister die Arbeit, bei der seine Linke
+sich bewegte, als wäre sie fast so geschickt geworden, wie seine Rechte
+gewesen, die man ihm abgeschlagen hatte. Damals, wenn auch schon
+berührt von den Seelenkeimen der Zeit, war er doch immer noch gewesen,
+was man einen Katholiken hätte nennen können. Erst der Niklaus mit der
+hölzernen Hand war ein Unsichtbarer geworden.
+
+Immer rascher ging ihm die Arbeit vonstatten. An seinen glänzenden
+Augen war es zu merken, daß beim Schaffen die Freude wieder in ihm
+erwachte, der Glaube an sein Werk. Der Wahrheit des Lebens gegenüber
+wurde der junge Frauenkörper, den er formte, immer wärmer und
+wahrhafter. Einmal murrte der Meister im Eifer der Arbeit vor sich hin:
+»Ach Gott, mein Pfötl, mein dummes! Ich seh, wie ich's machen muß! Aber
+die unschickigen Finger erzwingen es nit!«
+
+Der unbeweglichen Sus rollten zwei große Tränen über den Mund. Sie
+schwieg. Weil sie wußte, daß es ihm die Arbeit entzweiriß, wenn sie
+sprach. Und immer müder wurde sie, immer schwerer ging ihr Atem.
+
+Als er Bild und Leben wieder einmal mit prüfendem Blick verglich, ging
+er plötzlich auf das Mädel zu und sagte: »Der Gürtel ist ein bißl
+gerutscht.« Er schob ihn um eine Fingerbreite höher gegen ihre Brust.
+
+Sie bekam ein glühendes Gesicht und fing zu zittern an.
+
+Eine Furche grub sich zwischen seine Brauen. »Geh, Mädel!« Das Wort
+hatte einen herzlich mahnenden Klang. »Tu verständig sein!« Nach einer
+Weile, als er wieder bei der Arbeit stand, sagte er zögernd: »Man muß
+sich gedulden.« Er sah die Sus nimmer an, und seine Hand war nimmer so
+flink wie zuvor. »Das wird nit ausbleiben, daß mein Kind sein Glück
+findet. Und daß ich wieder ein Einschichtiger bin, der auf niemand zu
+achten braucht.«
+
+Da fuhr die Sus erschrocken vom Schemel auf. »Sie kommt.« Hastig schob
+sie den Antritt gegen die Mauer und war schon zur Tür hinausgehuscht,
+bevor der Meister das Gesicht vom Fenster abwandte. Draußen im weißen
+Garten kam Luisa mit gesenkten Augen durch den Schnee gegangen,
+eingehüllt in einen dunkelgrünen Mantel. Als wäre sie die Bringerin
+einer helleren Zeit, so glitt bei ihrem Eintritt in die Werkstatt der
+erste Sonnenschein des Morgens durch die Fensterscheiben. Von der
+Frühkälte waren Luisas Wangen wie Pfirsiche vor der Reife. Über den
+Zöpfen trug sie ein mit weißem Federtuff bestecktes spanisches Hütl,
+das noch aus der Mädchenzeit ihrer Mutter stammte. Der dunkelgrüne, an
+den Schultern aufgepuffte Radmantel verhüllte strahlig die schlanke
+Gestalt. Vorne guckten zwischen den Mantelsäumen die Spitzen der
+Handschuhe heraus, die Perlen des Rosenkranzes und ein blaues Gebetbuch
+mit schöner Silberschließe. »Gelobt sei Jesus Christus und die heilige
+Mutter Marie!«
+
+»Von nun an bis in Ewigkeit Amen!« Der Meister lächelte ein bißchen,
+nicht heiter. »Kind, du sagst den Ablaßgruß so oft, daß du aus dem
+Fegfeuer schon herauskommen mußt, noch eh' du drin bist.«
+
+Ein Zucken ihrer Augenbrauen bewies, wie sehr sie die unfromme Rede
+mißbilligte. Schweigend nahm sie das Hütl ab und trat an die Seite des
+Vaters. Als sie sein Werk betrachtete, schien ihr Unmut sich noch zu
+steigern. »Du hast das noch allweil nit geändert? Daß ihr der Engl ein
+Rösl bringt. Das geht nit, Vater! Es müssen die unschuldigen Lilgen
+sein.«
+
+Der Meister sagte geduldig: »Ich muß das wächserne Fürbild formen
+für das Holz. Aus dem spleißigen Holz ist ein Lilgenstengel nit
+herauszuschneiden, ohne daß er nit ausschaut, als wär's ein Besen. So
+eine Staud? Die tät mir doch jedes Verhältnis stören. Es ist ein Gesetz
+in aller Kunst --«
+
+»Die Kunst muß sich bescheiden vor dem Heiligen. Irdische Rosen hätt
+die Gottesmutter bei der Verkündigung nit genommen.«
+
+»So? Wer hat dir denn das gesagt? Dem kannst du ausrichten, er soll
+mich mein Holz schneiden lassen, wie ich glaub, daß es sein muß. Ich
+schwefel ihm auch nichts drein, wie er reden soll mit einem Beichtkind!
+So, wie mit dir? So nit! Aber ich red' ihm nichts drein.« Immer
+schärfer klang die Stimme des Meisters. »Obwohl ich als Vater verlangen
+könnt, daß mein Kind, wenn es heimkommt aus der Gottesnäh, für mich ein
+menschliches Wörtl findet und einen guten Blick. Von einem Lachen will
+ich schon nimmer reden. Das ist versunken in meinem Haus.«
+
+Luisa schien nicht zu hören, was der Vater sprach. Während sie sein
+Werk betrachtete, fingen ihre Wangen in Zorn zu brennen an. Gleich
+einer Verzweifelten sah sie auf und stammelte: »Vater! Gott verzeih dir
+die Sünd, was hast du denn da getan?«
+
+»Getan? Und Sünd? Ich weiß nit, was du meinst?«
+
+Ihre Lippen zuckten, als wäre ihr das Weinen nahe. »Es muß so sein, daß
+die Höll mit ihren bösen Mächten durch unser gutgläubige Haus gegangen
+ist. Ich hab von mir die Versuchung fortgebetet, wie sie gegriffen
+hat nach meinem Arm. Du, Vater, bist dem sündhaften Geist erlegen. Er
+hat den Segen von deiner Hand genommen, so daß du dein frommes Werk
+entheiligt und verdorben hast.«
+
+Erschrocken sah Niklaus in die fieberhaft glänzenden Augen seines
+Kindes. »Mädel, mein liebes? Bist du krank?«
+
+»Vater? Siehst du es nit?« Mit der zitternden Hand, um deren Finger die
+Perlenschnur des Rosenkranzes gewickelt war, deutete Luisa auf das rote
+Wachsfigürchen der Maria. »Das ist die reine, züchtige Gottesmutter
+nimmer, die ich allweil an deinem Werk gesehen hab. Was heilig
+gewesen, hast du verwandelt in ein sündhaftes Weib. Tät es über den
+Marktplatz laufen, so wär gleich einer da, der sagen möcht: >Du tust
+mir gefallen!<« Aus ihren Augen fielen die Tränen. »Du mußt das wieder
+auslöschen. Oder dein Bildwerk ist verdorben. Es ist nichts Gutes mehr
+an ihm, als nur das fromme Köpfl der heiligen Mutter. Alles andere ist
+schlecht.«
+
+In Erregung griff der Meister nach dem Wachsmesser. Hätte er dem ersten
+Zorngedanken nachgegeben, so hätte er das leblos himmelnde Köpfchen
+der Marienfigur vom Halse geschnitten und gesagt: »Das ist das einzig
+Schlechte an meinem Werk. Alles andere ist gut.« Ein Blick in die
+angstvollen Augen seines Kindes machte ihn ruhiger. Er legte das Messer
+fort. »Komm, liebes Mädel! Du hast in der kalten Kirch gefroren. Wir
+wollen uns neben dem warmen Ofen auf das Bänkl setzen.«
+
+Sie entzog sich seinen Händen. »Tust du mir versprechen, daß du die
+Gottesmutter wieder heilig machen willst?«
+
+Er sagte unter klagendem Lächeln: »Ja, Kind! So heilig, als ich es
+fertig bring mit meiner hölzernen Hand.« Da duldete sie, daß er
+ihr das Mäntelchen von den Schultern nahm, das Gebetbuch aus ihrer
+Hand herauswand, die Perlenschnur von den Fingern wickelte und die
+Handschuhe von ihren Händen zog. Während er alles beiseite legte, ging
+sie schweigend zu dem braunen Bänkl, das neben dem wärmestrahlenden
+Ofen an der weißen Mauer stand und überglänzt war von einem Lichtband
+der Morgensonne. Er betrachtete sie. Trotz der kämpfenden Bitterkeit,
+die ihn erfüllte, hatte er seine Freude an ihrem schmucken Bild.
+Sie trug das Mädchenkleid ihrer Mutter aus einer Zeit, in der die
+französische Mode den spanischen Schnitt noch nicht verdrängt hatte.
+Die gelben Lederstiefelchen verschwanden unter den Falten des braunen
+Röckls, und zwischen den abstehenden Schoßzacken des Leibchens lugte
+der rote Miedersaum hervor. Gleich einer großen weißen Blume lag die
+gestickte Leinenkrause um den schlanken Hals, und auf dem jungen Busen
+hob und senkte sich das kleine Elfenbeinkreuz der Klosterschülerin. Sie
+hielt im Schoß die schlanken weißen Hände übereinander gelegt und sah
+mit den dunklen Augen, die einen heißen Schimmer hatten und voll Sorge
+waren, in Erwartung zum Vater auf.
+
+»Ach, Kind, wie lieb bist du anzuschauen!« sagte er herzlich. »Und
+wie viel Vaterfreuden könntest du mir schenken unter meinem Dach!« Er
+nahm ihre Hand und ließ sich neben ihr nieder. Weil er den Arm um ihre
+Schultern legen wollte, rückte sie von ihm fort. Da war auf seinen
+Lippen wieder das bittere Lächeln, in seinen Augen die Trauer. »Wir
+wachsen nit aneinander als Vater und Kind. Jeder Tag und jedes Stündl
+baut an der Mauer zwischen uns.«
+
+»Das ist nit meine Schuld.«
+
+»Wahr, Kindl! Was zwischen uns liegt, das hast du aus dem Kloster mit
+heimgebracht.«
+
+»Wider das Kloster darfst du nit schelten, Vater!«
+
+»Das tu ich nit. Ich mein' nur, die Zeit, in der wir uns nimmer gesehen
+haben, ist zu lang gewesen. Da hast du den Vater vergessen. Und das
+Denken an deine Mutter hat man in dir erlöschen lassen.«
+
+»So ist das nit. Es ist im Kloster kein Tag gewesen, an dem ich nit
+dreimal für dich gebetet, nit fünfmal zu meiner seligen Mutter gerufen
+hab um ihren Beistand.« Luisas Augen irrten gegen die Sonne hin. »Ich
+muß ihr den Himmel neiden. Im Himmel ist's besser als in der Tief, in
+der wir leiden.«
+
+Meister Niklaus verlor seine Ruhe. »Himmel! Und allweil Himmel! Nie
+ein Bröselein Welt! Das ist Elend! Man hat dir im Kloster mehr vom
+Himmel gesagt, als gut ist, und weniger von der Welt, als nötig wär.
+Wir alle, Kind, sind Menschen und müssen Wärm und Sonn, einen Trost
+und Freuden haben, wenn wir schnaufen sollen und nit ersticken.« Die
+Stimme zerbrach ihm fast. »Bist du denn nit mein Blut? Spürst du denn
+nit, daß ich dein Vater bin? Schau mich an! Bin ich nit schon ein halb
+Erwürgter? Willst du mir nit das bißl Sonnschein geben, das ich zum
+Schaffen brauch? Tu mich anlachen, nur ein einzigesmal! Oder ich muß
+verhungern, muß verfaulen bei lebendigem Leib!«
+
+Erschrocken sah sie ihn an und erhob sich. Heiße Glut übergoß ihre
+Wangen, um sich wieder zu verwandeln in wächserne Blässe. »Warum tust
+du nie so inbrünstig hinaufschreien zu Gott? Warum tust du ihm nit dein
+Herz hinbieten auf frommen Händen? Warum tust du nit abschütteln von
+dir, was dich wegzieht aus seiner Näh? Tät ich's machen wie du, ich wär
+verloren gewesen in einer sündhaften Nacht. Mein Gebet hat mich erlöst.
+Höll und Menschen haben nimmer Gewalt über mich.« Sie hob die Hände,
+und ein träumendes Lächeln irrte um ihren Mund -- ein Lächeln, das sich
+ansah wie die Verzückung einer gequälten Seele.
+
+Mühsam atmend ließ Meister Niklaus seine Fäuste auf die Bank fallen --
+die Holzhand schlug wie ein Hammer auf. Ohne die Morgensonne zu spüren,
+die ihn umleuchtete, sah er stumm seine Tochter an. Nun stand er auf.
+»Streng bist du allweil gewesen, seit deiner Heimkehr in mein Haus.« Er
+zwang sich zu ruhigen Worten. »Seit drei, vier Tagen ist was Neues in
+dir. Das macht dich reden, daß ich es nimmer versteh.« Da mußte er an
+die Soldaten Gottes denken, und fast heiter konnte er fragen: »Kind?
+Bist du denn neulich in der Nacht so arg erschrocken --«
+
+Unter seinem Worte zuckend wie unter einem Nadelstich, drehte sie das
+erglühende Gesicht zu ihm und stammelte: »Ich wüßt nit, über was ich
+erschrecken müßt.«
+
+»Ich hab's doch selber gesehen, daß du um alle Ruh gekommen bist, wie
+uns der Muckenfüßl die Haustür eingeschlagen hat!«
+
+»Deswegen bin ich nit erschrocken.« Ihre Stimme hatte wieder den
+strengen Klang. »Daß die Soldaten einmal kommen, hab ich lang
+geforchten. Du hast Menschen lieb, die deinem kranken Glauben zum
+Schaden sind. Allweil hat mich mein Herz vor ihnen gewarnt. Ich
+hab auch Warnungen hören müssen, wo ich Rat gesucht hab in meiner
+Seelenangst.«
+
+Ein Erblassen ging über das Gesicht des Meisters. Dann fuhr ihm
+wieder das dunkle Blut in die Stirn. Seinen Augen war's anzusehen,
+daß martervolle Gedanken sich unter seiner Stirne jagten. Mit rauhem
+Auflachen trat er auf das sonnige Fenster zu und streckte die Arme, als
+möchte er hinausgreifen durch die leuchtenden Scheiben. »Nachbarsleut!
+Ihr guten, schuldlosen Nachbarsleut! Verzeiht mir die schlechten
+Gedanken! Es ist mein Kind gewesen! Mein eigenes Kind!« Eine Sorge, die
+ihn ganz verstörte, riß ihn vom Fenster weg. Die Schulter des Mädchens
+mit der Faust umklammernd, keuchte er: »Hast du auch heut wieder
+solchen Rat gesucht?«
+
+»Wie es sein hat müssen. Ich bin seit der bösen Nacht des Trostes
+bedürftig gewesen an Leib und Seel.«
+
+»Und da hast du ihm alles gesagt, deinem Tröster? Alles?«
+
+»Ich tu nit lügen, Vater! Ich hab gesagt, was ich sagen hab müssen.«
+
+»Und da hast du auch -- Gott soll's verhüten, daß es wahr ist -- --«
+Er konnte nicht weitersprechen, mußte um Atem ringen. »Kind! Du hast
+doch ums Himmelswillen nit den Namen des guten Buben verraten, der mich
+gewarnt hat?«
+
+Sie schwieg, erschüttert durch die Sorge, die heiß aus ihm
+herausbrannte.
+
+Er las die Antwort in ihren Augen und sagte mit schwerer Trauer:
+»Armseliger Star! Wüßt ich nit, daß du in deiner weltfremden Jugend
+törig bist ohne Maß, so müßt ich sagen: du bist so schlecht, wie nur
+der Zwist um Himmel und Glauben die Menschen machen kann!« Immer
+mit der Holzhand an seinem Halse, ging er durch die Werkstatt hin
+und her, und während Erregung und Sorge in ihm wühlten, stieß er
+mit heiserer Stimme vor sich hin: »Ein guter und redlicher Bub! Und
+bietet dir auf ehrlicher Hand sein Glück und Herz! Und wirft um
+deinetwegen sein junges Leben vor meine Haustür hin! Und du in deinem
+gutgläubigen Seelengezappel verklamperst den Buben! Und lieferst ihn
+an den Schandpfahl! Und da droben in den Lüften da ist niemand, der's
+verhindert, kein Engel mit dem Lilgenstengl und keine hilfreiche
+Mutter in Züchtigkeit!« Ein zorniges Auflachen. »Wahr ist's, Mädel!
+So was Heiliges darf man nit irdisch formen! Das muß man himmlisch
+machen, grausam und ohne Erbarmen!« Wieder lachend, faßte er einen
+schweren Hammer und hob ihn zum Schlag. Aufschreiend versuchte Luisa
+den Arm des Vaters zu fangen. Da fuhr der zornige Streich schon auf
+das Bildwerk nieder. In Strahlen spritzte unter dem Hammerschlag das
+rote Wachs auseinander, und was auf der Holzplatte noch verblieb, war
+eine formlose Masse. Schweigend warf der Meister Niklaus den Hammer
+fort und umklammerte die Stirne mit der linken Hand. So stand er ein
+paar Sekunden. Dann sprang er zur Tür der Werkstätte. Draußen seine
+schreiende Stimme: »Sus! Den Hut! Den Mantel!«
+
+Luisa stand in der Sonne wie eine steinerne Säule, die langsam zu
+menschlichem Atem erwacht und beim ersten Blick ins Leben geschüttelt
+wird von Angst und Grauen. Die Arme streckend, trat sie auf das
+vernichtete Werk ihres Vaters zu, beugte das Gesicht und küßte die rote
+Masse des zerquetschten Wachses. Ihre Stimme, die verwandelt war zu
+den dünnen Lauten eines verängsteten Kindes, bettelte ins Leere: »Tu
+ihm verzeihen, hilfreiche Mutter! Ich -- will büßen -- für seine Sünd
+--« Mit den Bewegungen einer Schlafwandlerin ging sie umher, fand ihr
+Mäntelchen, den Hut, das blaue Gebetbuch und den Rosenkranz, wickelte
+die Perlenschnur um ihre zitternden Finger und verließ die Werkstatt.
+
+Während sie mit irrendem Blick zu ihrer Kammer hinaufstieg, klang
+aus dem verschneiten Garten die angstvolle Stimme der Sus durch die
+offene, wieder geflickte Haustür in den Flur herein: »Um Gottes
+Barmherzigkeit! Meister! Was ist denn geschehen?« Luisa hörte keinen
+Laut dieser von Sorge zerrissenen Mädchenstimme. Sie lauschte nur in
+die eigene Seele. Was sie da klagen hörte, entstellte ihr Gesicht.
+
+Als sie in ihrer Kammer die Tür verriegelt hatte, stand sie
+unbeweglich. Immer sah sie das weißverhüllte Bett an, und immer
+sah sie, was sie in jener Nacht gesehen hatte: diese stahlblauen,
+dürstenden Jünglingsaugen, die von hundert silberweißen Mücken umflogen
+waren -- und sah das zerquetschte Wachs, sah die Martergestalt einer
+heiligen Frau, die rot war und zu bluten schien aus tausend Wunden.
+
+Langsam, immer wieder die Augen schließend, hängte sie das Mäntelchen
+in den Kasten, verwahrte das Gebetbuch, den Rosenkranz, die Handschuhe
+und das Hütl. Sie schnürte die gelben Stiefelchen von den Füßen,
+nestelte den Spenser herunter und legte ihn gefaltet in die Lade.
+»Büßen -- büßen --« lispelte sie mit entfärbten Lippen vor sich hin.
+»Für den Vater büßen -- alle erlösen, die schuldig sind.« Welche von
+den Sündenstrafen, die sie im Kloster gesehen hatte, war die härteste?
+Hungern müssen am Mittagstische? Zehn Vaterunser lang auf einem
+scharfkantigen Holzscheit knien? Sieben Rosenkränze beten, mit den
+nackten Füßen im Schnee? Sie sann und sann. Und da erwachte in ihr die
+Erinnerung an ein Bild, vor dem sie zitternd gestanden, als sie es zu
+warnender Abschreckung im Kloster hatte betrachten müssen. Wie man jene
+junge, sündhafte Schülerin bestrafte, die in der Messe ein verstecktes
+Spiegelchen aus dem Ärmel herausgezogen hatte -- das war von allen
+Klosterstrafen die quälendste gewesen.
+
+Ihre Augen glitten über die Mauer hin. Höher, als sie mit den Händen
+reichen konnte, war an der weißen Wand ein festes Zapfenbrett, aus den
+Jahren, in denen Meister Niklaus diese Kammer bewohnt hatte -- bei der
+Heimkehr seines Kindes hatte er die Stube geräumt, weil sie in seinem
+Haus die sonnigste war. Wie eine Träumende, verriegelte Luisa auch die
+andere Tür, die hinausführte in die Kammer der Sus. Aus der Truhe nahm
+sie zwei weiße Tüchelchen, knüpfte aus jedem eine Schlinge und schob
+sie über das Handgelenk. Sich bekreuzend, ging sie zum Bette, tauchte
+die Finger in das Weihbrunnkesselchen und besprengte das Gesicht.
+Ihre Bewegungen wurden rascher, etwas Frohes schien in ihren irrenden
+Gedanken zu erwachen. Sie rückte unter dem Zapfenbrett einen Schemel
+an die Wand und stieg hinauf. Mit dem Rücken sich gegen die Mauer
+pressend, schob sie die Schlingen, die an ihren Handgelenken waren,
+über die zwei äußersten Holzzapfen des Brettes und stieß den Schemel
+fort. Mit den Fußspitzen eine Spannenbreite über dem Boden, hing sie
+an den ausgereckten Armen und begann mit einer Stimme, die bei aller
+Innigkeit wie das Stammeln einer Betrunkenen klang, die Litanei zur
+heiligen Jungfrau Maria zu beten -- nur daß sie nicht betete: »Bitt für
+mich!«, sondern immer betete: »Bitt für *ihn*!«
+
+Solange sie noch bei Kräften war, hielt sie den Kopf an die Mauer
+gepreßt und sah mit heißglänzenden Augen zur Höhe. Bald sank ihr die
+Wange gegen die rechte, bald gegen die linke Schulter hin. Als sie in
+beginnender Pein das Gesicht zu drehen versuchte, sah sie an ihrem
+Arm, von dem der weiße Ärmel zurückgefallen war, die vier gelblich
+gewordenen Male, die vom Griff jener stählernen Jägerfaust geblieben
+waren. Zusammenzuckend, schloß die Büßende die Augen, ließ das Gesicht
+vornüberfallen, und ihre betende Stimme wurde zu einem versunkenen
+Schreien. In Schmerzen begann der stammelnde Mädchenmund zu lächeln,
+und auf dem glühenden Gesicht erschien ein Ausdruck der Entrückung.
+Nicht die härteste der Klosterstrafen hatte sie ausgesucht, sondern die
+süßeste und heiligste -- eine fromme Marter, die durchzittert war von
+dem Seligkeitsgefühl: zu leiden, wie der Heiland gelitten hatte für
+die Menschen, die er liebte. Während sie lächelte in Qual, begann ihre
+Stimme sich zu verwirren, verlor die frommen Anrufungen der Litanei und
+behielt nur noch die drei innigen Flüsterworte: »Bitt für ihn -- bitt
+für ihn -- bitt für ihn --«
+
+Gleich einer goldenen, immer breiter wachsenden Säule schob sich das
+leuchtende Band der Morgensonne über die Mauer hin und umschimmerte die
+in Süßigkeit und Schmerzen Betende, die für Andacht und Buße hielt, was
+ein noch Unsichtbares in ihrem Herzen war, ein Unbewußtes in ihrem Blut.
+
+
+
+
+Kapitel VI
+
+
+Der Föhn brauste über die Schornsteine von Berchtesgaden und verbündete
+sich mit der steigenden Sonne. Von allen Kanten der Hausdächer fielen
+Tropfen, die wie Goldkörner funkelten. In der Gasse war kein allzu
+emsiges Leben. Die Frauen, die aus den Kaufläden kamen, huschten flink
+an den Häusern hin, und Mannsleute waren nicht viele zu sehen. Oft
+lenkte einer plötzlich schräg über die Gasse hinüber. Immer war's wie
+der Wunsch, einem andern nicht Gesicht in Gesicht zu begegnen. Und
+grüßte der andere spöttisch: »Gelobt sei Jesus Christus und die heilige
+Mutter Marie!« -- dann guckte der Ausweichende über die Schulter und
+antwortete noch viel lauter: »Von nun an bis in Ewigkeit Amen!« Man
+konnte, bevor man in der Marktgasse vom Pflegeramte bis zum Brunnen
+kam, ein paar Jährchen Fegfeuer von seiner Seele ablösen.
+
+Meister Niklaus, in der Erregung, die ihn durchwühlte, vergaß ein
+paarmal des vorgeschriebenen Grußes. Er wollte schon in das Gässelchen
+hinter der Stiftsmauer einbiegen. Da kam aus dem Stiftstor eine
+heiter schwatzende Gesellschaft. Vier von den jungen, adeligen
+Domizellaren, in weltlicher Tracht, umflattert von den pelzverbrämten
+Seidenmänteln, mit dreispitzigen Hütchen über den gepuderten Frisuren,
+begleiteten unter französischem Scherzgeplänkel eine junge Dame, die
+zwischen den behandschuhten Händen ein winziges Gebetbuch hielt. Auf
+hochgestöckelten Schuhen trippelte sie zierlich durch den Schnee. Der
+Föhnwind blähte den himmelblauen Samtmantel auseinander und bewegte
+den reichgebänderten Steifrock wie eine Glocke. Mit einem Busch von
+Reiherfedern saß ein Pelzkäppl schief über dem großen Lockenbau,
+von dem der Puder davonstäubte. Das reizvolle Grübchengesicht hatte
+ein rosiges Kreuzermäulchen, hatte schwarzgezeichnete Brauenbogen
+über den Veilchenaugen und trug zwei neckisch angebrachte
+Schönheitspflästerchen, das eine neben dem linken Mundwinkel, das
+andere hoch auf der rechten Wange. Vor dieser Dame salutierten
+die Musketiere mit den langen Feuersteinflinten. Das fröhliche
+Fräulein, dem sie diese fürstliche Ehre erwiesen, war die Nichte des
+Berchtesgadnischen Pflegers und Kanzlers v. Grusdorf, war Aurore de
+Neuenstein, die »Allergnädigste«, des Fürstpropstes standesgemäße
+Freundin _en titre_.
+
+Neben der französisch aufgeputzten Gesellschaft erschienen die
+Bürgersleute in ihrer veralteten Tracht wie das Volk einer Zeit, die
+sich verspätet hat um ein halbes Jahrhundert. Die Allergnädigste
+achtete bei ihrem heiteren Gezwitscher aufmerksam darauf, ob auch jeder
+Vorübergehende mit genügender Ehrerbietung grüßte und jede Bürgersfrau
+und jedes Mädchen bis zu pflichtschuldiger Tiefe hinunterknickste.
+Meister Niklaus weckte bei der jungen Dame ein munteres Verwundern.
+Hinter ihm herdeutend, zirpte sie mit ihrem Kinderstimmchen in
+französischer Sprache: »Schon wieder von den Rebellen einer, die ohne
+Ehrfurcht sind vor Gott und Obrigkeit!«
+
+Der Meister strebte flink in die enge Gasse hinein. Als er atemlos in
+die weiße Stube des Pfarrers trat, saß der Hochwürdige beim Frühstück
+und tunkte die gerösteten Weißbrotschnitten in die Milch. »Herzbruder?
+Sturm unter dem Haardach?«
+
+Niklaus sah die Türen an. »Hört uns niemand?«
+
+»Bei mir kannst du schreien wie ein Jochgeier. Jeder Backofen ist
+feinhöriger als meine Schwester.«
+
+»Weißt du, wer uns den Muckenfüßl ins Haus geladen hat?«
+
+»Das merkst du erst heut?« Der Pfarrer lachte. »Die übermäßig Frommen
+sind im Leben wie ein Pulverfäßl. Nie weiß man, wann die Bescherung in
+die Luft geht.«
+
+Kummervoll nickte der Meister. »Mein töriges Mädel hat heut den Namen
+des Leupolt ausgeschwatzt.«
+
+Der Pfarrer fuhr vom Sessel auf. »Das ist hart.« Dann fragte er, als
+wäre das eine Hoffnung: »Meinst du, sie war im Beichtstuhl?«
+
+»Das weiß ich nit.«
+
+Pfarrer Ludwig riß eine Tür auf und brüllte: »Franziskaaa!« Er kam
+zurück. »Meine Schwester wird's wissen. Jeden Morgen geht sie beichten.
+Um mich unverdächtiger vor Gott und den Chorkaplänen zu machen. Bei
+Gott gelingt es ihr, bei den Kaplänen nit.«
+
+Eine sechzigjährige Frau, halb Bäuerin, halb bürgerlich, kam in
+die Stube. Ein bißchen mißtrauisch grüßte sie den Meister und sah
+erwartungsvoll ihren hochwürdigen Bruder an. Durch die Muschel der
+Hände fragte der Pfarrer, ob das Luisichen heut wieder gebeichtet
+hätte? Franziska schüttelte den Kopf. »Heut nit. Heut nach der Frühmeß
+ist sie zum Chorkaplan Jesunder in die Wohnung gegangen. Des Jesunders
+alte Mutter hat am Fenster genäht. Gählings ist sie vom Fenster weg.
+Und wie das Kind aus dem Haus war, hat des Jesunders Mutter flink einen
+Weg gemacht. Zum Pfleger.« Eine tiefe Glocke schallte durch das Haus,
+so laut, daß es auch die Schwester Franziska hörte. Erst guckte sie
+flink in der Stube herum, ob da nicht irgend was Verdächtiges läge,
+dann ging sie, um die Flurtür zu öffnen.
+
+»Wenn's beim lieben Herrgott einmal auslaßt mit der Allwissenheit,«
+sagte der Pfarrer, »da braucht er nur meine Schwester fragen.«
+
+In Unruh stammelte der Meister: »Man muß dem Buben ein Wörtl schicken,
+daß er sich fürsieht.«
+
+»Das wird nit helfen. Der Leupolt ist von den Graden einer, die vor
+Wasser und Feuer nit ausweichen. Sonst könnt man ihm beibringen:
+er soll sich ausreden auf sein Wohlgefallen an deinem Mädel, soll
+sagen, er hätt die Warnung ausgesonnen, um einen Weg zum Luisichen zu
+finden. Aber der Bub wird das Eisenköpfl schütteln und die Wahrheit
+sagen. Verschweigt er was, so tut er es nur, um dich nit auch noch
+einzutunken. So oder so, man muß versuchen, ihm beizuspringen.«
+
+Da kam Franziska. »Der Hochwürdige soll zum Fürsten hinüber, gleich!«
+
+Der Pfarrer tat einen leisen Pfiff. »Herzbruder, die Kanon ist
+geladen.« Während er den Mantel nahm, schwatzte er lustig, um den
+Schreck der Schwester zu beruhigen. Draußen auf der Stiege zischelte
+er: »Spring hinüber zum Mälzmeisterhaus! Red mit des Leupolts Mutter!«
+
+»Das ist doch eine gut Katholische?«
+
+»Eben drum! Weil sie eine gute ist, drum hat sie das Herz auf dem
+rechten Fleck. Aller Zwist im Glauben kommt von den Halben und Falschen
+her. Ob Heid oder Jud, ob römisch oder evangelisch, was einer ganz und
+redlich ist, das macht in ihm den Menschen besser und aufrechter. Dem
+braven, gottesfrommen Weibl kannst du dich anvertrauen ohne Scheu. Dann
+such mich wieder auf!« Der Pfarrer umfaßte mit festem Druck die Hand
+des Freundes. »Mensch bleiben! Und denk an den Amsterdamer Singvogel!
+Man ist nit schuldig seiner selbst, nur schuldig seines falschen Wegs.
+Laß uns den rechten suchen!«
+
+Mit hämmerndem Herzen sprang der Meister hinter den Häusern in das
+Staudenwerk der Berglehne. Hier konnte er gedeckt zum Garten des
+Mälzmeisterhauses kommen, das an der Salzburger Straße lag. Die
+Hintertür stand offen, und als der Meister in die Küche trat, fand er
+die kleine, rundliche Frau Agnes beim Backofen beschäftigt. »Gelobt sei
+Jesus Christus und die heilige Mutter Marie!«
+
+»In Ewigkeit Amen!« antwortete die Mälzmeisterin, ohne sich umzugucken.
+Auf flacher Holzschaufel zog sie ein großes Zopfgebäck aus dem
+Backofen, bestrich es mit Eierklar, ließ es wieder in der duftenden
+Backhöhle verschwinden und schob das kupferne, von Blankheit spiegelnde
+Türchen zu. Auch alles andere Metall an den Wänden funkelte. Dieser
+Küche entsprach die Hausfrau in dem reinlichen Braungewand und der
+blauen Glockenschürze. Aus dem weißen Häubchen lugte das freundliche
+Frauengesicht heraus wie ein heiteres Nonnenantlitz. Trotz der fünfzig
+Jahre sah man in den zwei blonden Haarsicheln, die sich unter dem
+Häubchen hervorschwangen, noch keinen grauen Faden. Ihre Augen
+waren ganz die Augen des Sohnes, nur sanfter. »Soooo!« sagte sie und
+wandte sich. »Ooh, der Meister Niklaus!« Ein leises Lächeln. »Durchs
+Hintertürl?«
+
+»Deine muntere Stimm hören, tut wohl. Und da muß ich dir als unguten
+Dank eine Sorg bringen.«
+
+Ganz ruhig blieb sie. »Kram nur aus! Mit den Krabbelkäfern, die man
+Sorgen heißt, bin ich noch allweil fertig geworden.«
+
+»Ist einer von deinen Mannsleuten daheim?«
+
+»Keiner. Der meinige mit den zwei Jungbuben ist im Bräuhaus, und der
+Leupi ist am Königssee, in Barthelmä.«
+
+Niklaus atmete auf. Das gab Sicherheit für einen Tag. Solang die Sonne
+schien, war der See nicht befahrbar, erst in der Nacht, wenn der Frost
+das Eis wieder härtete. »Gott sei Dank!« Er zog die Gartentüre zu,
+schloß auch die Tür zum Flur und wollte den Riegel vorschieben.
+
+»Das nit!« wehrte Mutter Agnes. »Die Magd ist in der Tenn beim
+Bohnenklauben. Gute Ohren hat sie freilich. Müssen wir halt ein
+bißl Lärm machen.« Im Glutloch des Backofens entzündete sie ein
+Reisigbündel, legte die aufknisternde Flamme auf den offenen Herd
+und schichtete Latschenäste drüber. Nun krachte das züngelnde Feuer,
+als würde in der Küche der Mutter Agnes ein Musketenscharmützel
+ausgefochten. »Da ist ein Bänkl. Tu dich hersetzen! Und red!«
+
+Mit den Lippen an ihrem Ohr, erzählte er, was Leupolt getan. »Mein
+verstörtes Mädel ist beim Jesunder gewesen und hat's ausgeredet in
+ihrer frommen Angst. Des Jesunders Mutter ist zum Pfleger gelaufen,
+den Pfarrer hat man zum Fürsten geholt, und jetzt brennt in mir die
+Sorg um deinen guten Buben.«
+
+Mutter Agnes schwieg. Trotz aller Seelenstärke, die sie aus ihrem
+vertrauensvollen, vom Zeithader unberührten Glauben schöpfte, war ein
+Erblassen über ihr Gesicht geronnen. Vom Feuer angeflackert, saß sie
+auf dem Bänkl, die verklammerten Hände im Schoß. Ihr Blick hing an
+den sternschönen Lichtfunken, die jagend hinauffuhren in den großen
+Rauchtrichter des Schornsteins. Wie dieser glühende Funkenzug, so flog
+ein Gebet ihres Herzens hinauf zu dem Hilfreichen, an den sie glaubte.
+Sie wußte: das Ausschwatzen eines Amtsbefehls in Glaubenssachen wurde
+so streng gebüßt wie versuchter Landsverrat. Den Kopf beugend, preßte
+sie die Hände an ihre Schläfen. »Wir armen Weibsleut! Wo wir hinfallen,
+ist allweil steiniger Boden. Wird eine nit gesegnet, so verschrumpfelt
+sie freudlos am Lebensbaum. Ist man Mutter, so bröckelt man sein Leben
+in die Kindersupp.«
+
+Niklaus legte den Arm um ihre Schultern. »Weißt du einen Rat?«
+
+Sie trocknete mit den Handballen die Augen. »In der Nacht geht ein
+Bierschlitten über den See. Da können wir dem Buben einen Zettel
+schicken. Den will ich hineinbacken in einen süßen Krapfen, mit einem
+Kränzl aus Zwibeben drauf. Da merkt der Leupi: es ist eine Botschaft
+drin. Nur daß er weiß, was ihm zusteht. Helfen kann bloß der Einzige,
+der wissen muß, daß es der Bub nit schlecht gemeint hat. Daß er's tun
+hat müssen, begreif ich.«
+
+»Weißt du, warum?«
+
+»Ich müßt keine Mutter sein, wenn ich's nit lang schon gemerkt hätt.
+Aber ich sorg, es ist eine Mauer zwischen den beiden.« Mutter Agnes hob
+die flehenden Augen. »Sag mir's!«
+
+»Was, Mutter?«
+
+»Ist mein Bub --« Ihre Stimme brach. »Ist der Leupi schon ganz da
+drüben?« Sie wollte sagen: »Auf der falschen Seit!« Weil sie fürchtete,
+daß es den Meister kränken könnte, sagte sie: »Wo die anderen sind,
+die man nit sieht.« Er schwieg. Da griff sie nach seiner Rechten,
+fühlte unter dem Handschuh das Holz und erschrak, als hätte sie etwas
+Glühendes berührt. »Sag mir's! Es soll verschlossen bleiben in mir.«
+
+»Mit Sicherheit weiß ich es nit. Und wenn ich es wüßt, ich dürft es nit
+sagen.«
+
+Aus ihren Augen fielen zwei Tränen, die im Rotschein des Feuers wie
+rinnendes Blut erschienen. »Der Bub ist aufgewachsen zwischen meinen
+Händen. Sein erstes Betsprüchl hat er mir nachgeredet mit seiner
+Kinderstimm. Ist fromm und gläubig gewesen sein ganzes Leben lang.
+Ist ein redlicher Bub geblieben. Und ist doch ein anderer worden, ich
+weiß nit, wie, und ich weiß nit, wann! Wie kann das kommen über einen
+Menschen?«
+
+»Wie dort die Funken fliegen auf deinem Herd. Im Schornstein droben
+verlöschen sie. In eines Menschen Herz ist Boden, wo sie weiterbrennen.
+Das geht am leichtesten in einer Menschenseel, die kein Unrecht sehen
+kann oder Unrecht leiden muß.« Er hob seine hölzerne Hand vor die Augen
+der Mälzmeisterin hin.
+
+»Das hat nit der getan, der die Händ erschaffen hat.«
+
+»Ist dir alles recht, was sie tun und predigen?«
+
+»Es gibt auch Schuster, die schlechte Sohlen machen. Deswegen hab ich
+noch nie den richtigen Weg verloren.«
+
+»Die den besseren suchen? Verwirfst du die?«
+
+Sie sah ihn mit großen Augen an. »Soll ich mein Kind verwerfen? Ich?
+Die Mutter? Allweil sinn ich drüber und versteh's nit. Wie ich bin, so
+muß ich bleiben. Von meinem Buben weiß ich, er ist ein guter Mensch.
+Das bleibt er auch auf dem anderen Weg. Und die ihm als Brüder und
+Schwestern gelten, können nit schlecht sein. Sonst tät's mein Bub nit
+halten mit ihnen.«
+
+Der Meister nahm ihre Hand. »Täten alle denken wie du, so wär nit
+Streit und Hader um jeden Gottesweg. Wir zwei, Mutter, helfen zusammen,
+gelt? Hast du eine Bleifeder? So schreib ich den Zettel, derweil du den
+Teig für den Krapfen rührst.«
+
+»Wahr ist's: helfen ist besser als reden.« Frau Agnes sprang zur
+Flurtür und verschwand. Gleich war sie wieder da, mit Blatt und
+Bleifeder. »Kannst du denn schreiben mit deiner Linken?«
+
+»Muß einer, so lernt er's.«
+
+Sie rückte einen kleinen Tisch vor den Meister hin, und während er
+die steifen Buchstaben zu kritzeln begann, rührte Frau Agnes in einer
+hölzernen Schüssel den Teig. Plötzlich stammelte sie erschrocken:
+»Ach, du barmherziger --« Sie riß das kupferne Türchen des Backofens
+auf und zog den vergessenen Zopf heraus. Der roch sehr übel und war so
+schwarz wie Kohle. Kummervoll sagte sie: »Der erste, der mir verbronnen
+ist!« Frau Agnes lächelte ein bißchen. »Bin ich jetzt eine schlechte
+Hausfrau? Jede Nachbarin tät's glauben.« Sie schob das verdorbene
+Gebäck ins Herdfeuer, in dem es zu rauchen und zu glühen begann. »Man
+darf die Leut nit einschätzen nach den Zöpfen, die sie verbrennen
+lassen.« Wie das gute Holz verwandelte sich auch das verdorbene
+Backwerk in fliegende Feuerfunken. »So geht's mit *einem* Backofen! Und
+jedes Menschenkind hat drei: einen im Blut, einen in der Seel und einen
+im Hirnkästl. Ach, der liebe Herrgott! Auf wie *viel* verbronnene Zöpf
+muß er herunterschauen! Und nie noch hat er die Geduld verloren. Bloß
+auf der Welt verliert man sie allweil, und am ungeduldigsten sind die
+Bäcken, die das Brot versalzen und die meisten Wecken verrußen lassen!«
+Sie setzte sich auf die Bank, nahm die hölzerne Teigschüssel zwischen
+die Knie und begann mit beiden Händen hurtig zu rühren.
+
+Meister Niklaus grübelte, um des Pfarrers Ausrede in Worte zu bringen,
+die nichts verrieten und für den Leupolt doch verständlich waren.
+Während er kritzelte, mußte er immer an den Hochwürdigen denken.
+Der hatte wohl jetzt im Fürstenzimmer des Stiftes eine gefährliche
+Viertelstunde zu übertauchen? Was Meister Niklaus da vermutete, war
+ein Irrtum. Und ein Irrtum war es auch, wenn Mutter Agnes ihren Buben
+in der düsteren Jägerstube sitzen sah, bedrückt von Gewissenspein und
+Sorge. --
+
+Leupolt war um diese Stunde von Sonne umglänzt, von blendendem
+Weiß umfunkelt. Und Ruhe war in seinem braunen Gesicht, in seinen
+stahlblauen Augen. Er stand auf dem Beinschlitten, hinter einem großen
+Sack, in dem er gedörrte Rüben für das hungernde Hochwild zu dem Ufer
+bringen mußte, das der Fischmeisterei von Bartholomä gegenüber lag.
+Da hinüber war's nur ein kurzer Weg, und dennoch mußte Leupolt einen
+langen machen, um den durch das Eis gerissenen Frageln auszuweichen,
+aus denen das geschwellte Seewasser mit Gesprudel herausquoll. Alle
+Kraft des Jägers gehörte dazu, um gegen den Föhnsturm aufzukommen.
+Jetzt mit einer flinken Wendung ans Land, den Sack auf die Schulter und
+über die weiße Böschung hinauf. Von zahlreichen Hochwildfährten war
+der Schnee zertreten zu einem brösligen Wirrwarr. Gleißende Lichter
+und blaue Schatten. Das beschneite Gezweig der Buchen war wie ein
+wundervolles Silbergespinst, das der Goldschmied Gott verziert hatte
+mit Millionen farbigblitzender Edelsteine. Auf vierzig Schritte standen
+im weißen Walde schon die Muttertiere mit ihren Kälbern und warteten.
+Ein paar geringe Hirsche bei ihnen, und schlanke, feinbewegliche
+Jüngferchen. Von den Gutgeweihten, die Leupolt zählen mußte, war noch
+keiner zu sehen. Scheu waren auch sie nicht; die Not des Winters zähmt
+die Wildesten; aber weil sie die Starken waren, konnten sie geduldig
+sein und der Schwäche den Vortritt lassen.
+
+In flinker Arbeit schleppte Leupolt die Heubündel aus der Scheune,
+füllte die Raufen und schüttete das Kernfutter in die langen Tröge.
+Dann schlüpfte er am Ufer unter den kleinen verschneiten Hegerschirm,
+der einen doppelten Ausguck hatte. Die eine Luke guckte nach Bartholomä
+und zeigte ein von Sonne umflimmertes Bildchen. Die kleine Kirche, halb
+weiß und halb im Blauschatten; daneben der altersgraue Jägerkobel, ein
+Balkenhaus, das unten Schiffhütte war und im Oberstock die Stuben der
+Jäger und Fischer enthielt; dahinter das langgestreckte Jagdschlößchen
+der Stiftsherren, umgeben von den Silbergestalten der verschneiten
+Bäume, als Hintergrund die Kletterwände des Wazmann mit dem blauen
+Himmelsdach. Die andere Luke des Hegerschirmes war gegen die Wildraufen
+gerichtet. Hier blieb's noch eine Weile still. Wo die Sonne glänzte,
+blitzten viele von den farbig funkelnden Edelsteinen durch die Luft
+herunter und versanken im Schnee. Nun sicherte langsam ein Muttertier
+mit dem Kalb heran. Dann erschien ein Spießerchen im spanischen Tritt
+und blieb noch eine Weile mutlos. Zwei Jungfern kamen herbeigetrippelt,
+und als diese ersten mit den Äsern in die Futtertröge fuhren,
+galoppierte das Kahlwild mit Geprassel von allen Seiten gegen die
+Raufen hin. Lächelnd sah Leupolt diesem grau durcheinanderdrängenden
+Gewimmel zu und konnte beim Schauen seine Gedanken wandern lassen.
+Sie gingen auch heute den gleichen Weg, wie seit der Schneezeit an
+jedem Wintermorgen. >Der Kirchgang ist lang vorbei. Jetzt muß sie
+schon wieder daheim sein.< Er hat sie noch nie im Haus und bei der
+Arbeit gesehen; und hätte sich das gerne ausgedacht; doch immer sieht
+er sie mit dem Federhütl und in dem dunkelgrünen Mantel, aus dem die
+Rosenkranzperlen hervorgucken. Ihre Augen sind gesenkt. Leupolt sieht
+in dem feinen Gesichtl nur den roten Mund, das zarte Näschen, die
+weißen Lider und die Sicheln der Wimpern. Und wenn sie die Augen hebt,
+so sieht er den Zorn in ihnen funkeln, die Verdammung des Unsichtbaren.
+Wie wunderlich das ist: so oft er sie in Wirklichkeit so gesehen hat,
+war's immer ein Schmerz für ihn, eine quälende Hoffnungslosigkeit. Und
+hier, im weißen Wald, bei diesem stillen Träumen wird alles für ihn zu
+einem frohen und zärtlichen Glück.
+
+>Ob sie nit spüren muß, wie oft ich denk an sie? Bei Tag und Nacht!<
+Mit dürstender Sehnsucht ist die Frage in seinem Herzen: >Denkt sie
+wohl auch an mich?< Ob sie nicht betet für ihn? Für seine Seele, die
+sie für eine verlorene hält? Gibt es Frömmigkeit, die nicht barmherzig
+wäre? Frömmigkeit, die nicht beten müßte für jeden, den sie für einen
+Irrenden hält? Und wenn sie hinaufruft zu einem ihrer vielen Heiligen?
+Flüstert sie da nicht manchmal ein leises »Bitt für ihn?« Wie eine
+Süßigkeit klingt es in seinem Ohr, in seiner Seele: »Bitt für ihn --
+bitt für ihn --« Dabei sieht er sie in der kalten Kirche knien, ein
+bißchen frierend, mit dem braunen Hütl über dem schönen Haar, in dem
+dunkelgrünen Mantel, aus dem die Fingerspitzen der gefalteten Hände
+hervorlugen.
+
+Tausend Gedanken denkt die Menschenseele in jeder Stunde. Einer ist
+halbe Wahrheit. Die anderen sind Irrtum.
+
+
+
+
+Kapitel VII
+
+
+Pfarrer Ludwig mußte im Korridor vor dem Fürstenzimmer noch immer auf
+seine Vorlassung warten, weil der Haarkräusler beim Allergnädigsten
+war. Die hundert Locken einer fürstlichen Perücke verlangen ihre
+Zeit. In einer hohen Fensternische an den Kreuzstock gelehnt, zeigte
+der Hochwürdige ein ruhiges Gesicht. Je heißer in ihm die Sorge
+wühlte, um so gleichmütiger sah er über die Wände hin, an denen
+zwischen Hirschgeweihen, Heiligenbildern, großen Jagdgemälden und
+pröpstlichen Bildnissen zwei weltgeschichtliche Kriegstrophäen hingen:
+die Eisenhüte, Brustpanzer, Schwerter, Terzerole und Schärpen zweier
+schwedischer Kürassiere. Was da rostend und verstaubt an der Mauer
+hing, das war fast die einzige Welle gewesen, die der dreißigjährige
+Krieg aus dem verwüsteten Deutschen Reich hereingespült hatte in die
+Stille des Berchtesgadnischen Landes.
+
+Blut, Hunger, Verarmung, Seuchen und Brandschatzung; die Hälfte der
+Deutschen erschlagen, versunken und verfault; Handel und Wohlstand
+vernichtet; alle Bande des Reiches gelockert und zerfetzt; eine
+Kluft des Mißtrauens und des Hasses zwischen Nord und Süd; ein für
+ewige Zeiten unlösbar erscheinender Zwiespalt zwischen deutschem
+Katholizismus und deutschem Lutheranertum; ein entzweigekeiltes, an
+Sitte und Leben verpestetes, in hilflose Fetzen zerfallenes Volk,
+das seine nationale Erneuerung wieder beginnen mußte, wie ein Kind
+nach dem Windelschmutze seine Menschwerdung anfängt in den ersten
+Schuhen -- und als einziges Erinnerungszeichen dieses grauenvollen
+Geschehens hingen im Fürstenkorridor zu Berchtesgaden zwei schwedische
+Kürasse. Die hatte man in der Ramsau zwei verirrten und von den Bauern
+erschlagenen Botschaftsreitern vom blutenden Leib geschält.
+
+Nur ein einzigesmal in jenen dreißig Jahren hatte Berchtesgaden
+für wenige Winterwochen eine Einquartierung erlebt. Während die
+deutsche Welt in Jammer und Elend sank, hätte das >Ländl< in seiner
+Abgeschlossenheit gedeihen können, wenn ihm, angesteckt durch
+Seuchenkeime der Zeit, die Zermürbung nicht im kleinen erwachsen wäre,
+wie draußen dem Volk der Deutschen im großen.
+
+Aus dem Fürstenzimmer huschte ein spitznäsiges Männchen heraus, der
+Perückenmeister, den man aus Paris verschrieben hatte. Ein deutscher
+Bartscheer brachte doch so was Himmlisches nicht fertig, wie es jetzt
+die Herren auf ihren Köpfen trugen. Pfarrer Ludwig tat einen tiefen
+Atemzug und ging zur Tür. Bevor er sie erreichte, vollzog sich ein
+Ereignis, das störend in den Gang der Berchtesgadnischen Regierung
+eingriff. Am Pfarrer rannte einer vorüber und ihm voraus, der auf
+der Schwelle des Fürstenzimmers den Vortritt sogar vor den fremden
+Gesandten hatte. Der Wildmeister. Er brachte die aufregende Nachricht,
+daß die Stiftsjägerei bei den Untersteiner Sümpfen drei kapitale
+hauende Schweine bestätigt hatte. Die Keiler lagen unentrinnbar fest,
+und die Netze waren schon gezogen, nicht zu einem >Großen Jagen<, nur
+zu einem kleinen >Eingestellten Treiben<, das flink zu erledigen
+war. Bei solcher Sachlage hatten die Wildschweine den Vorrang vor
+dem Landswohl und der Fürsorge für den unverfälschten Glauben. In
+den Korridoren sprangen Lakaien und Jägerknechte hin und her, im
+Stiftshofe wurden vier zierliche Schlitten aus den Remisen gezogen,
+und zwei buntgekleidete Läufer, mit weißen Straußenfedern auf den
+grünen Samtkappen, surrten unter dem Brausen des Föhnwindes durch
+die Marktgasse, um die edle Aurore de Neuenstein und den Kanzler von
+Grusdorf zum Eingestellten Treiben zu laden. Der Onkel Kanzler mußte
+zur Wahrung der guten Sitte immer den Regierungstisch verlassen,
+wenn die allergnädigste Nichte sich beteiligte an den winterlichen
+Weidmannsfreuden ihres _maître adoré_.
+
+Pfarrer Ludwig, der sonst auf das neumodische Jagdgepränge nicht gut zu
+sprechen war, segnete an diesem Tag zum erstenmal den >französischen
+Schwindel<. Aufatmend um des Zeitgewinnes willen, eilte er heim und
+brüllte der Schwester ins Ohr: »Kommt der Niklaus, so sag ihm, daß
+ich vorausgegangen bin zu seinem Haus!« Dann schoß er davon, um zwei
+nötige Dinge zu erledigen. Er mußte das fromme Klostervögelchen zum
+Singen bereden, mußte zu erfragen suchen, was Luisa dem Chorkaplan
+Jesunder gesagt hatte. Und mit Lewitter, den er seit dem gestörten
+Schachspielabend nicht mehr gesehen, mußte er das gemeinsame Verhalten
+vor dem Fürsten bereden. Ungeduldig trommelte er mit dem Klöppel an
+Lewitters Haustür. In dem dunklen Flur, in dem die Gewürze dufteten,
+kam für den Pfarrer eine schwierige Unterhaltung mit der alten Lena,
+deren Zeichensprache er nur halb verstand. »Gut sind wir aufgerichtet,
+der Simmi und ich! Die meine hört nit, und die seine kann nit reden!«
+Dem wahren Gott zuliebe hatte man der Magd vor fünfzehn Jahren in
+Salzburg die Zunge kürzer gemacht, weil sie die Obrigkeit belogen
+hatte, um Weib und Kinder ihres Herrn zu retten. Nur mit den Händen
+konnte sie noch reden.
+
+Ungefähr verstand der Pfarrer, daß Simeon nicht daheim wäre; man hätte
+ihn am verwichenen Abend wieder zu einem kranken Weib geholt, das
+seit drei Tagen in den Wehen läge und nicht gebären könne; Lewitter
+wäre wieder die ganze Nacht außer Haus gewesen und auch am Morgen
+nicht heimgekommen. »Ach, das Leben! Könnt ein Gärtl des lieben Gottes
+sein und wird ein Saustall des Teufels! Und da plagt sich jetzt der
+hilfreiche Simmi, um einem neuen Leidgesellen der Menschheit den
+Eintritt ins Leben zu erleichtern!« Den Kopf gegen den Südwind bohrend,
+eilte Pfarrer Ludwig dem Haus des Freundes entgegen, immer grübelnd:
+»Wie muß ich es machen, daß ich das Mädel zu Verstand bring? Zu einem
+Herzschlag, der menschlich ist?«
+
+Ein Weiberschrei voll Sorge machte ihn aufblicken. Vom Zauntor kaum die
+Sus gelaufen: »Wo bleibt der Meister? Ist was geschehen?«
+
+»Nichts, gute Sus! Wo ist das Luisichen?«
+
+»Die Haustochter hab ich nimmer gesehen, seit sie heimgekommen ist
+von der Frühmeß. Der Meister ist ganz von Sinnen gewesen. Und da bin
+ich allweil beim Zaun gestanden, hab gewartet und bin nur ein paarmal
+hineingesprungen zum Herd, daß mir das Fleisch nit aus dem Sieden
+kommt.«
+
+»Recht so, liebe Sus! Dein Herr und dein Herd!« Der Pfarrer sagte
+scherzend: »Gelt, Mädel? Dich plagen keine Seelenzweifel und
+Glaubenskämpf?«
+
+»Mich nit!« antwortete sie ehrlich. »Ob des lieben Herrgotts Kittel
+grün oder rot ist, das ist mir eins. Kittel her oder hin, der Herrgott
+ist drin. Mir ist das Leben recht, so lang der Meister seine Ruh hat
+und schaffen kann. Und weil man schon nimmer weiß, wie man beten muß,
+drum bet ich am Morgen katholisch, am Abend evangelisch. Eins muß dem
+Meister allweil nutzen.«
+
+»Betest du nit auch für dich?«
+
+Sus schüttelte den Kopf und trat in den Flur. »Ich zähl doch nit.« Als
+sie dem Pfarrer den Mantel abnahm, sagte sie: »Eh der Meister fort
+hat müssen, ist die Haustochter bei ihm gewesen.« Sie öffnete die Tür
+der Werkstatt. »Kindl? Bist du noch da?« Auch der Pfarrer war über
+die Schwelle getreten. Nun sahen die beiden im gleichen Augenblick
+die Holzplatte mit dem formlos auseinandergequetschten Wachs. Die
+Sus bekam ein Gesicht, so weiß wie Kalk. Und der Pfarrer stammelte:
+»Gotts Not! Das hat doch der Meister nit selber getan! Mädel? Ist ein
+Chorkaplan im Haus gewesen?« Sus hörte nicht. Immer sah sie die Reste
+des vernichteten Werkes an, als wäre das der Untergang einer kostbaren
+Welt. Den Mund von Tränen überkollert, lispelte sie: »Wie heilig und
+schön ist das gewesen!« Unbeweglich blieb sie vor dem Gewirr des roten
+Wachses stehen, als Pfarrer Ludwig hinaussprang in den Flur.
+
+»Luisichen!« rief er, während er hinaufhastete über die Treppe.
+»Luisichen!« Er stieß die Wohnstube vor sich auf. »Luisichen!
+Luisichen!« Er rüttelte an des Mädels verschlossener Kammertür. »Aber
+Kind! So tu doch reden! Bist du da drin?« Er vernahm einen Laut. War's
+ein lallendes Beten? Ein Stöhnen in Schmerz? Mit aller Kraft seiner
+Sorge warf sich der Greis gegen die Tür. Der Riegel klirrte in die
+Stube hinein, Pfarrer Ludwig taumelte über die Schwelle und tat im
+ersten Schreck einen heiseren Schrei. Erstarrt hing Luisa vor ihm an
+der weißen Mauer, wie eine Gekreuzigte, umwoben von der Sonne. Ihre
+Arme, von denen die leinenen Ärmel zurückgefallen waren, hatten eine
+gedunsene Form und waren so rot wie das Mieder, unter dem die junge
+Mädchenbrust in heftigen Stößen atmete. Oberhalb der schnürenden
+Tuchschlingen waren die Hände dunkelblau, mit gespreizten, leblosen
+Fingern. Und der Kopf mit den schweren Haarflechten hing entkräftet
+vornüber. Ein paar lallende Laute noch. Dann schien eine Ohnmacht die
+Sinne der Büßerin zu umschatten.
+
+Pfarrer Ludwig schrie den Namen der Sus, sprang auf Luisa zu, riß das
+Messer heraus, das er wie ein Bauer an der Hüfte trug, umklammerte die
+Bewußtlose mit dem linken Arm und schnitt die gestrafften Tuchschlingen
+von den Holzzapfen. »Da möcht man doch verzweifeln an der Menschheit!«
+keuchte er und trug die Ohnmächtige hinüber zum Bett. Als er die
+Sus kommen hörte, befahl er: »Lauf, was du laufen kannst, und bring
+einen Becher Kirschwasser!« Er zerrte die Tuchschlingen von Luisas
+Handgelenken, begann ihre starren Arme zu kneten und rieb ihre Hände,
+bis die blaue Färbung verschwand und der Blutlauf wieder in Gang
+geriet. Nun brachte die Sus den Becher und stammelte: »Was ist denn
+geschehen?«
+
+»Nit viel!« Er konnte lachen. »Ein bißl Dummheit geht um in den
+Menschenköpfen. Wer weiß, wozu es gut ist! Ein Holländer hat mir
+neulich gesagt: >Kein Ding, das dem Leben nit dienen könnt, auf daß
+die Menschenkinder teilhaftig werden des Glückes!<« Mit dem Becher
+beugte der Pfarrer sich über das Bett und flößte einen festen Guß des
+Kirschwassers in Luisas Mund. Sie schluckte. »Soooo, Kindl! Gelt, das
+ist gut!« Er stellte den Becher fort und rückte den Fußteil des Bettes
+von der Mauer weg. »Flink, Sus! Auf die ander Seit hinüber! Mach dem
+Mädel das Mieder und den Rockbund auf. Wir müssen schauen, daß wir sie
+unter die Deck bringen.« Hurtig rieb er die Hand der Ohnmächtigen.
+»Dann nimm ihren anderen Arm und tu mir alles nachmachen, fest und
+flink!«
+
+»Was ist denn, Hochwürden?«
+
+»Ach, so dumme Mädelgeschichten! Da ist sie ein bißl krämpfig worden.«
+
+Während Sus das rote Miederchen der Haustochter aufnestelte, klagte sie
+vor sich hin: »Um Gottes willen!«
+
+»Nein, gute Sus! Gott ist da nit dabei. Nur Überfluß an jungem Blut und
+ein bißl Mangel an gesundem Verstand.«
+
+Unter den vier kräftigen Fäusten wurden die zwei starren Mädchenarme
+heiß und beweglich. Auch das verschluckte Kirschwasser wirkte mit, um
+das junge Blut seinen vernünftigen Weg wieder finden zu lassen. Luisa
+öffnete die Lider wie eine Schlaftrunkene. In schwimmendem Glanze
+glitten unter den langen Wimpern die langsamen Augen. »Guck!« Der
+Pfarrer ließ auf seiner Wange die große Warze tanzen. »Wie munter das
+liebe Kindl schon wieder ins Leben blinzelt! Lauf, gute Sus! Und spring
+hinüber zu mir! Da wartest du auf den Meister. Kommt er, so bring ihn
+heim und sag ihm: das Kindl hätt einen Purzelbaum gemacht. Aber sag's
+nit so, daß der Meister erschrecken muß. Sag's lieber so, daß er lachen
+kann.« Die Sus, aufatmend, surrte in den Flur hinaus. Aller Schreck
+der verwichenen Minuten erlosch ihr in dem Gedanken, daß sie hinlaufen
+durfte, wo der Meister war. »So, Luisichen, komm, jetzt nimm zur
+Aufmunterung noch ein kleines Schlückl!« Pfarrer Ludwig schob den Arm
+unter Luisas Nacken und führte den Becher an ihren Mund.
+
+Gehorsam, wenn auch noch immer ein bißchen duselig, öffnete sie die
+Lippen und trank. Nach dem ersten Schluck erweiterten sich ihre Augen
+wie in Entsetzen. Mit beiden Händen versuchte sie sich zu wehren und
+lallte: »Jesu mein, Ihr gießet mir ja die Höll ins Leben!«
+
+»Umgekehrt! Ich lösch in dir die unsinnige Höll mit einem nötigen
+Lebenstrunk! Tu schlucken! Fest!« Er hob und goß, bis der Becher leer
+war. Weil sie nicht schlucken wollte, preßte er die linke Hand auf
+ihren Mund, faßte mit der rechten den feinen Mädchenhals und rüttelte
+die widerspenstige Kehle. »Schluck, mein Luisichen! Schluck!« Ob Luisa
+wollte oder nicht, sie mußte schlucken. Die brennende Kirschwasserhölle
+war drunten. Daraus ergab sich eine sehr sonderbare Wirkung. Obwohl von
+Zorn und Ekel die Tränen in Luisas Augen traten, konnte sie die kühlen
+Greisenfinger an ihrem Halse nicht ertragen, mußte aufkreischen, mußte
+lachen wider Willen. »Ooooh, Luisichen?« Der Pfarrer wurde lustig. »Muß
+man dich kitzeln, damit du das menschliche Lachen lernst? Das kann ich
+besorgen. Lach, mein Luisichen, lach! Wie mehr, so gesünder ist es!« In
+der Art, in der man schäkert mit einem zappelnden Buben, begann er sie
+am Hals zu kitzeln, am Kinn, an den Ohren, an den Ellbogen und unter
+den Armen.
+
+Sie wollte sich wehren und wurde hilflos, wand sich und kreischte,
+schüttelte die sich lösenden Zöpfe von ihrer Stirn herunter und schrie
+und lachte. Immer wollte sie betteln: »Hör auf, hör auf!« Und konnte
+nicht reden, weil sie lachen mußte, immer lachen und lachen.
+
+»Brav, mein Kindl! Netter bist du noch nie gewesen, als jetzt in deinem
+zappligen Übermut! Gelt, ich hab recht? Bloß ein Lachender merkt, wie
+munter und kostbar das irdische Leben ist!«
+
+Es gelang ihr, sich seinen Händen zu entwinden. Halb noch lachend, halb
+von Jähzorn befallen, faßte sie eines von den zwei weißen Kissen ihres
+Bettes und warf es dem Pfarrer Ludwig an den Kopf.
+
+Er haschte das linde Geschoß, umschlang es an seiner Brust und sagte
+fröhlich: »Gott sei Dank! Eine menschliche Regung! Kindl, jetzt kann
+man bei dir auf Genesung hoffen!«
+
+Zitternd fiel sie zurück und preßte den Arm über die Augen. Der
+Pfarrer setzte sich auf den Bettrand hin, behielt das weiße Kissen auf
+seinem schwarzen Schoß und betrachtete unter freundlichem Lächeln das
+stumme, glühende, um Atem ringende Menschenkind, das die Augen vor ihm
+versteckte. Einmal versuchte Luisa den Arm zu heben, ließ ihn wieder
+auf die Augen fallen und lispelte: »Ich weiß nit, was das ist -- alles
+tut sich drehen um mich herum.«
+
+»Kindl,« sagte der Pfarrer vergnügt, »da hast du einen Schwips. Vom
+Kirschwasser. Ja, Luisichen, wer anderthalb Jahrzehnt das kühle
+Brunnenwasser im Kloster genossen hat, vertragt was Wärmeres nit
+aufs erstemal.« Er lächelte. »Lernen brauchst du das nit: daß du
+Kirschwasser vertragen kannst wie Geißmilch. Heut ist's nötig gewesen.
+Sorgen brauchst du dir wegen des kleinen Räuschls nit zu machen. Das
+verschlafst du wieder!« Seine Stimme bekam einen zärtlichen Klang.
+»Auch ist das so: daß alles Schönste im Leben mit einem Räuschl
+anfangt, sei es im Hirnkästl oder sei es im jungen Blut.« Luisa
+blieb stumm. Während die Morgensonne herglänzte über das weiße Bett,
+ging ein schmerzvolles Zucken um den heißroten Mädchenmund. Manchmal
+überrieselte noch ein Nachschauer des Lachens den zierlichen Körper,
+und unter dem Arm, der die Augen verhüllte, quollen die Tränen hervor,
+kollerten über die glühenden Wangen und versanken im braunblonden
+Schimmerkissen der gelösten Zöpfe. Sich vorbeugend, sagte der Pfarrer
+langsam: »Kindl, wie bist du lieb und schön! Was tät der Leupolt geben
+drum, wenn er an meinem Plätzl sitzen dürft. Und morgen oder übermorgen
+muß er am Schandpfahl hängen. Der redliche Bub!« Ein knirschender
+Laut; Luisa warf sich herum und vergrub das Gesicht in die Fülle ihres
+Haares. So lag sie lautlos, während ein heftiges Schüttern ihren Nacken
+und ihre Schultern befiel. Als sie ruhiger wurde, gab sie Antwort auf
+jede Frage. Alles sagte sie, ehrlich und ohne Rückhalt.
+
+Der Pfarrer fröstelte ein bißchen. Obwohl die Sonne durchs Fenster
+hereinfiel und draußen der laue Föhnsturm brauste, war es mehr als kühl
+in der ungeheizten Stube. Und Pfarrer Ludwig hatte schwitzen müssen.
+Als er vom Garten herauf die Stimme des Meisters hörte, erhob er sich,
+legte das Kissen über Luisas Füße und zog ihr die wollene Decke bis an
+das Kinn. »Versuch zu schlafen! Die heilige Mutter Marie, an der wir
+hängen in treuem Glauben, du und ich, die soll dich erwachen lassen zu
+einem wärmeren Leben! Von dem kindischen Narrenstückl, das ich sehen
+hab müssen, soll dein Vater nichts erfahren. Der tät das nit so gut
+verstehen, wie ich alter Pfarrer.« Er strich mit der Hand über den
+Scheitel der lautlos Zuckenden. »Was ich erfahren hab müssen, das ist
+gebeichtet, gelt? Ich, Kindl, ich schweig in heiliger Pflicht. Wärst
+du am Morgen in deiner Herzensnot zu mir gekommen, so hätt die Mutter
+Jesunder dich nit umtragen müssen im Tratschkörbl, und der Pfleger hätt
+nichts erfahren vom Leupolt.« Er hob die zwei zerschnittenen Tüchelchen
+von den Dielen auf, löste die Schlingen, die noch am Zapfenbrette
+hingen, und schob sie schmunzelnd in die Tasche. Forschend guckte er
+über die Schulter nach dem Bett, verließ die Stube und schloß hinter
+sich die verbogene Tür, so gut sich das noch erledigen ließ.
+
+Da kam der Meister über die Stiege heraufgehastet, Sorge in den Augen.
+»Was ist denn mit dem Kind?«
+
+»Nichts, lieber Nick! Oder doch nichts Böses. Im Gegenteil. Dein Kind
+hat einen Sprung aus dem Kalten ins Warme getan. Das geht nit ab ohne
+festen Beutler. Jetzt müssen wir dem kleinen Weibl ein bißl Ruh
+vergönnen und müssen sie schlafen lassen.«
+
+In den Augen des Meisters wollte die Sorge nicht erlöschen. »Schlafen?«
+
+»Aufs erste Kirschwasser schlaft man allweil. In späteren Jahren
+mindert sich die gute Wirkung. Komm! Wir gehen hinunter in die
+Werkstatt!« Er wurde ernst. »Da hab ich gesehen, was mir arg mißfallen
+hat. Mensch bleiben, heißt bauen und schaffen, nit in Scherben
+schlagen.«
+
+Drunten im Flur stand die Sus mit seitwärts gespreiteten Armen an der
+Mauer, zitternd, im Blick den Ausdruck einer qualvollen Angst. Etwas
+Tierisches und dennoch etwas Schönes war in ihren Augen. Der Pfarrer
+ging an der Magd vorüber, ohne sie zu gewahren. Meister Niklaus blieb
+stehen und sah sie an, verwundert, als sähe er etwas an ihr, was er
+noch nie gesehen hatte. »Sus!« Sie neigte vor seinem Blick die Stirn:
+»Jetzt muß ich zum Herd. Das Wasser wird eingesotten sein und das
+Fleisch wird schlecht.« Ein müdes Lächeln. Dann ging sie davon. Er sah
+ihr nach und blieb noch immer stehen, obwohl die Sus in der Küche schon
+verschwunden war.
+
+Der Pfarrer stand in der Werkstätte vor dem roten zerquetschten
+Wachsklumpen. »Herzbruder Nick? Was hast du denn da getan?«
+
+»Fast weiß ich es selber nit.« Meister Niklaus faßte erregt ein breites
+Messer und schnitt die formlose Wachsmasse von der hölzernen Platte.
+»Es ist mir, als hätt ich's im Zorn getan.« Mit der Linken knüllte
+er das Wachs zu einem Ballen. »Oft ist's wie ein Fremdes, was man
+tut. Kann sein, ich hab Platz machen müssen für ein Ding, das besser
+ist.« Er wurde ruhig. Und während er mit dem Pfarrer sprach -- von
+Luisas Heimkehr am Morgen, von seinem jähzornigen Hammerstreich, von
+der Mutter Agnes, vom Eis auf dem Königssee und von dem süßen Krapfen
+-- preßte er eine Wachsflocke um die andere auf das Holz, schnitt mit
+dem Daumennagel und formte mit den Fingern. Und plötzlich, die Arbeit
+unterbrechend, sah er den Pfarrer an. »So sag mir doch die Wahrheit!
+Was ist mit dem Kind?«
+
+»Das ist schnell gesagt. Sie hat den Leupolt gern und weiß es noch nit.
+Da rumort das Neue ein bißl hitzig in ihrem kühlen Klosterstübl.«
+
+Aufatmend flüsterte Niklaus: »Das wär ein Glück! Da tät's wieder heller
+werden in meinem Haus.«
+
+Ein Summen an den Fensterscheiben. Man hörte rasch nacheinander aus
+weiter Ferne her den Hall und das Echo von fünf Gewehrschüssen. »Hörst
+du?« lachte der Pfarrer ingrimmig. »Derweil die Herzensnot der Menschen
+umlauft im ganzen Ländl, erlustigt sich die Allergnädigste an den
+Untersteiner Wildsauen. Ein Gutes hat auch das. Die Sorg um den Leupolt
+ist aufgeschoben. >Tod ist Tod,< sagt meine Schwester allweil, >aber
+besser morgen als heut.< Dein Mädel tu schlafen lassen, bis es von
+selber aufwacht. Nach dem Quantum Kirschwasser, das ich dem blinden
+Klosterspatzen eingegossen hab, wird's lang dauern, bis er wieder
+piepsen kann. Und du bleib bei der Arbeit, Nick! Sie ist von allem
+Lebenstrost der beste.«
+
+
+
+
+Kapitel VIII
+
+
+Im Wehen des Föhns, bei blitzendem Tropfenfall und in Sonne,
+schmetterten vier Hifthörner die Sautodweise durch den Untersteiner
+Wald. Auf rotfleckigem Schnee, zwischen der grünmaskierten
+Fürstenkanzel und dem mannshohen Stellnetz, lagen die drei zur Strecke
+gebrachten hauenden Schweine, festlich aufgeheitert, mit Fichtengrün
+bekränzt, mit kirschroten Seidenmaschen an den Lusern und an den
+zottigen Schwänzen. Die graulivrierte Stiftsjägerei war in Reihe
+gestellt, und rings um die erlegten Keiler gaben die weiß und braun
+getigerten Saurüden in ihren dick unterfütterten Barchentpanzern
+Standlaut. Nach einer vierstimmigen Fermate schwiegen die Hörner, um
+gleich darauf die sanfte Dianenweise zu beginnen, die zu Ehren der
+edlen Aurore de Neuenstein geblasen wurde. Mit Grazie kam der Hofzug
+durch den Schnee geschritten, voraus der Fürstpropst Anton Cajetan
+mit der Allergnädigsten _en titre_. Nach französischer Vorschrift für
+ein Eingestelltes Treiben auf Wildschweine trug er ein hechtgraues,
+reich mit Silber besticktes Jägerkleid, an dem zwei kleine Bäffchen
+den Priester unvordringlich andeuteten, und darüber einen offenen,
+kostbaren Pelz, der durch den degenförmigen Hirschfänger vom Körper
+abgespreitet wurde. Unter dem silberbetreßten Dreispitz quoll ein
+geschnörkelter Lockenbau hervor. Zwischen den Haarschnecken spitzte
+sich ein weißes, tadellos rasiertes, schon greisenhaftes Schmalgesicht
+heraus, launig lächelnd, ein bißchen spöttisch und nicht ohne Energie.
+
+Ehe Herr Anton Cajetan im vergangenen Jahr von den sieben Stiftsherren
+zum Fürstpropst gewählt wurde, war er durch zwei Jahrzehnte als
+Dekan des Stiftes ein geschäftiger Vorkämpfer der Kapitularen um
+ihre Selbständigkeit gewesen, um ihre Loslösung von der mönchischen
+Regel, um ihre Verwandlung in freie Chorherren mit allen weltlichen
+Vorrechten edler Geburt. Da hatte er scharfe Worte, nicht nur gegen
+die begründeten Ansprüche des wohlmeinenden Churfürsten von Bayern,
+auch gegen den Papst geredet und geschrieben. Im Streite gegen die
+>evangelischen Rebellen< hatte er eine aus Vorsicht und Konsequenz
+gebildete Faust erwiesen. Während aus dem Salzburgischen die
+>gottsfeindlichen Landsverräter< zu vielen Tausendscharen ausgewiesen
+wurden, statuierte Herr Anton Cajetan als Dekan und Propst nur ein
+paar abschreckende Exempel und hatte, wie er noch immer glaubte, seine
+Stiftslande frei erhalten von einem staatsgefährlichen Anwachsen
+des Schwarmgeistes. Seit Beginn des evangelischen Aufruhrs im
+Salzburgischen hatte der Fürst, um alle aufreizenden Nachrichten von
+außen abzusperren, jede Straße durch einen Grenzriegel von Musketieren
+verschlossen. Daß dadurch der Wohlstand im Lande sank, aller Handel
+unterbunden war und die Steuerkraft der Bauern, Handwerker und
+Kaufleute vermindert wurde, das zählte nicht. Wenn nur die Landsruh
+und der reine Glaube erhalten blieb! Bis wieder bessere Zeiten kamen,
+konnte man borgen. Aber wo? Die Schulddokumente des Stiftes füllten
+schon viele Schränke, erschreckend wuchsen von Jahr zu Jahr die Kosten
+der höfischen, aus Standesrücksichten unerläßlichen Pariserei, und
+immer bedrohlicher begannen die hilfreichen Brunnen zu versiegen, um
+so mehr, je übler es der Berchtesgadnische Hof mit dem Churfürsten von
+Bayern verschüttet hatte, der früher dem Berchtesgadnischen Land ein
+hilfsbereiter Schutzfreund gewesen war. Die Frage, wo neue goldene
+Hilfsquellen zu erschließen wären, verursachte Herrn Anton Cajetan
+schlummerlose Nächte. Das Bauerngerede, daß der Allergnädigste nicht
+schlafen könne, weil ihm der allzuviele Wein den Magen versäuere, war
+eine Verleumdung. Im Gegenteil: Herr Anton Cajetan bedurfte reichlich
+der spiritualen Beruhigung, weil ihm die gähnende Kassensorge den
+Schlummer verwehrte.
+
+Diesen Regierungsgram hatte er nicht zur Wildschweinhetze mitgenommen.
+Er blickte heiter in die Sonne, und das leise Spottzucken seiner
+Mundwinkel war feingalantes Vergnügen an der Tatsache, daß seine
+hübsche Freundin _en titre_ sich gläubig einen weidmännischen Erfolg
+hatte aufschwatzen lassen, den sie nur dem korrigierenden Beistand
+der Domizellaren verdankte. Die zerschmetterte Wirbelsäule des einen
+Keilers war einwandfrei ein Werk ihrer kleinen Dianenhände. Die
+Blattschüsse der beiden anderen Keiler waren höfische Nachhilfe, die
+von allen Schützen mit den heiligsten Eiden verleugnet wurde. Aurore de
+Neuenstein war so geartet, daß sie an Männerschwüren niemals zweifelte.
+Bei der grünen Fürstenkanzel hatte sich nach den fünf Flintenschüssen
+ein galantes weidmännisches Gerichtsverfahren abgespielt, das den
+Glauben der Allergnädigsten an die Unfehlbarkeit ihrer Geschosse
+befestigt und Herrn Anton Cajetan sarkastisch erheitert hatte. Da er
+seiner standesgemäßen Freundin gegenüber in anderer Weise nicht ganz
+auf seine hohen Kosten kommen konnte, hielt er sich zuweilen dadurch
+schadlos, daß er sich innerlich um so mehr über sie lustig machte, je
+liebenswürdiger er sie äußerlich behandelte.
+
+Unter den Klängen der Dianenweise führte er sie an hoch erhobener Hand
+zur Strecke. Der Wind zauste ihre hechtgraue Pelzglocke und blies
+den Puder aus ihren Locken. Glücklich und stolz, den geschminkten
+Kreuzermund mit dem Schönheitspflästerchen vorgeschoben, stelzte
+sie durch den zerwühlten, mit roten Flecken übersprenkelten Schnee,
+in der Rechten das buntgebänderte Jagdspießchen führend, das einer
+für Kinderhände berechneten Schäferschippe ähnlicher sah als einer
+Saufeder. Dem hohen Paare folgte der Kapitular Graf Saur mit dem
+Kanzler von Grusdorf, der die Regierungssorgen *nicht* zu Hause
+gelassen hatte und zwischen den Lockenschnörkeln gallig in die Sonne
+blinzelte. Seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Allergnädigsten
+verdankte er die bevorzugte Stellung am Hofe; doch weil er an Podagra
+litt, verurteilte er weniger aus moralischen, als aus sanitären Gründen
+diese häufigen Elefantenfahrten, die ihm kalte Füße verursachten. Den
+Zug beschlossen die Domizellaren in hechtgrauer Junkertracht: die
+drei Barone von Hausen, Stutzing und Kulmer, und der bildhübsche,
+zwanzigjährige Graf Tige, der seit dem Weihnachtsspiel, in dem er als
+Partner der Allergnädigsten den heilbringenden Engel dargestellt hatte,
+ihr bevorzugter Günstling war.
+
+Die Hörner schwiegen, der Wildmeister sagte in einer Sprache, die er
+nicht verstand, seinen gereimten Spruch auf -- französische, *sehr*
+galante Verse, die Graf Tige verfaßt und dem Wildmeister eingelernt
+hatte wie einem Papagei. Dann nahm Herr Anton Cajetan die drei
+grünen Brüche, die ihm der Wildmeister auf dem Dreispitz hinbot, und
+befestigte sie am Busen der holdselig lächelnden Diana. Das vollzog
+sich auf eine Weise, daß es auch bei einer _Chasse royale_ im Parke
+zu Fontainebleau nicht graziöser hätte geschehen können. Unter dem
+schmachtenden Rondo der Dianenweise schloß sich an dieses stilgemäße
+Jagddrama noch ein improvisiertes Satyrspiel. Einer der erlegten Keiler
+hatte im Verenden unter Todesqual noch eine letzte irdische Verrichtung
+vollzogen. Was dabei aus dem Leib des Tieres umfangreich in die Sonne
+getreten war, faßte Graf Tige lachend auf eine Fichtenborke, beugte
+elegant das Knie, hob die nach dem Weidmannsgeschmacke der Zeit mehr
+bewundernswerte als anrüchige Sache bis vor das zarte Näschen der etwas
+erschrockenen Diana und zitierte aus dem »_Livre de la chasse du Grand
+Seneschal_« die berühmten Verse:
+
+ »_En la saluant humblement
+ Mes fumées lui presentay.
+ Elle me respond doulcement:
+ Et à vous! dont me contentay._«[B]
+
+[B]
+
+ Ich bot ihr ehrfurchtsvolle Grüße
+ Mit meinen Weidmannsdüften hin --
+ »Dank Euch,« so sprach zu mir die Süße,
+ »Von dem ich sehr befriedigt bin!«
+
+Der Doppelsinn dieser Reime im Zusammenhang mit den galanten
+Beziehungen, die zwischen Graf Tige und der Allergnädigsten _en
+titre_ bestanden, weckte heiteres Gelächter. Auch Herr Anton Cajetan
+schmunzelte. Ein bißchen boshaft. Und Aurore de Neuenstein, halb
+verlegen, halb geärgert, schmollte mit ihrem Zwitscherstimmchen:
+»_Ingrat! Vous parlez trop par métaphores!_«
+
+Scherzend senkte sie die Klinge des von Bändern flatternden
+Jagdspießchens gegen die Herzstelle des knieenden Junkers und mimte den
+Todesstoß einer zürnenden Göttin. Lächelnd erhob Herr Anton Cajetan die
+wehrende Hand: »_Ma chérie! Vous changez les rôles contrairement à la
+nature des vos enfantillages._«
+
+Neues Gelächter. Unter den Klängen des Herrengrußes kamen die
+Schlitten vorgefahren. Die Heimreise begann in munterer Laune und
+mit schicklicher Platzverteilung: der Fürstpropst nahm den Grafen
+Saur zu sich in den Schlitten, und Aurore de Neuenstein schmiegte
+sich wieder an ihren frierenden Elefanten. Weil Herr von Grusdorf das
+Französische nur mangelhaft beherrschte, mußte die Allergnädigste bei
+dieser Klingelfahrt sich ihrer heimatlichen Sprache bedienen. Geboren
+in der Gegend von Dillingen, schwäbelte sie ein bißchen. Das klang sehr
+niedlich. Doch plötzlich verstummte ihr Gezwitscher, und verwundert
+sah sie die alte Bäuerin an, die aus kleinem Gehöft einen plumpen, mit
+rauchendem Kuhmist beladenen Hörnerschlitten herauszog. Kindlich fragte
+Aurore: »Warum schaut denn dees Weible so bös?«
+
+Herr von Grusdorf erwachte aus seinen Regierungssorgen. »So schauen
+sie hier alle. Die Untersteiner sind von unseren Subjekten die
+Obstinatesten. Ich besorge, daß sich da wieder ein evangelischer
+Provokativus remarkabel macht. Wir haben Suspizien auf einen _vulgo_
+Hasenknopf.« Das edle Fräulein lachte über den sonderbaren Namen und
+zirpte: »Laß ihne doch alle die Köpf runterschlage! Da habe mer Rueh,
+und der Glaube bleibt rein erhalte.«
+
+Bei den letzten Häusern von Unterstein stockte die Schlittenzeile.
+Herr Anton Cajetan sprach mit einem Musketier, der aufgeregt dem
+Fürsten entgegengelaufen war. Auch der Landesherr schien in Erregung zu
+geraten. »Grusdorf! Da bringt man uns eine höchst mirakulöse Nachricht.
+Die Bäuerin im Haynacherlehen soll ein Mißgeschöpf geboren haben, das
+zur Hälfte weiß ist und zur Hälfte schwarz.« Aurore de Neuenstein in
+ihrer holden Unschuld erfaßte sofort den Humor der sonderbaren Sache
+und erklärte eine solche Farbenmischung für _complètement incroyable_,
+da doch kein Neger im Lande wäre.
+
+Flink begannen die vier Klingelkisten zu jagen. Man unterhielt sich
+lustig und rief graziöse Späße von Schlitten zu Schlitten, ohne zu
+ahnen, daß man Scherz trieb mit dem Schicksal eines Menschen, dessen
+junges Hausglück sich verwandelt hatte in etwas Grauenhaftes.
+
+Ehe die Hofschlitten das Haynacherlehen erreichten, hatten in Christls
+Gehöft schon viele Menschen sich angesammelt. Die Bauern, Weiber und
+Kinder der Nachbarlehen standen in Gruppen beisammen, und vom Sudhaus
+waren die Pfannenknechte herübergesprungen. Was in dem kleinen Haus
+geschehen war -- an sich eine natürliche Sache, nur mißraten unter
+einem seltenen Irrtum der Natur -- verwandelte sich für die schwer
+erschrockenen Leute zu einem ungeheuerlichen Ding, das die Gehirne
+verwirrte und die Gemüter verstörte. Weil die Haustür verriegelt war,
+drängten die Leute sich klumpenweis um die drei kleinen Fenster. In
+der Stube sahen sie die Wiege mit dem weinenden Bübchen, sahen auf dem
+Tisch was liegen, bedeckt mit einem rotfleckigen Leilach, und sahen
+die blasse Hasenknopfin hin und her laufen, immer mit einer irdenen
+Wasserschüssel zwischen den Händen. Am Kammerfenster war nichts zu
+erspähen. Man hatte innen das rote Vorhängelchen zugezogen. Nur vier
+Stimmen waren zu hören: das Gestammel der Hasenknopfin, die ängstliche
+Stimme Lewitters, die Klagelaute des jungen Bauern und eine ruhige
+Frauenstimme, die mit gläubiger Inbrunst zu beten schien. Leute, die
+am Fenster lauschten, verstanden einzelne Worte der Haynacherin. Einer
+fragte: »Was betet denn die?« Andere erkannten die Worte, die sie
+heimlich schon oft gelesen hatten -- im verbotenen Paradiesgärtl --
+und diese anderen schwiegen, Ergriffenheit in den harten Gesichtern.
+Sie wußten: daß die unsichtbare Haynacherin in ihrer Todesstunde eine
+Sichtbare wurde.
+
+Ein klobiges Mannsbild, einer von den fürstpröpstlichen
+Pfannenknechten, schrie: »Der Tod bringt's an den Tag. Die Haynacherin
+ist irr im Glauben. Der Christl hat's geduldet in seiner verruckten
+Lieb. Jetzt hat ihn der Herrgott gestraft.« Und ein aufgeregtes Mädel
+kreischte: »Die Hälft am Kindl hat christliche Unschuldsfarb! Der
+Haynacherin ihren Halbteil hat die Höll verschwärzt.« Ein alter Bauer
+mit grauem Bart -- der Fürsager aus dem Stall der Unsichtbaren von
+Unterstein -- sah die beiden Schreier mit zornfunkelnden Augen an:
+»Ihr zwei? Ihr tut euch Christen schimpfen? Ja? Und hundertmal sagen
+im Tag: von nun an bis in Ewigkeit? Ja?« Der Pfannenknecht brüllte:
+»Bist du auch einer, du?« Er sprang auf den Alten zu und packte ihn an
+der Schulter. Gleich drängten sich Fünfe, Sechse zwischen die beiden
+und deckten den alten Mann. Auch der Knecht fand Kameraden, und es
+wäre zu einem üblen Handel gekommen, wenn nicht am Stubenfenster ein
+Kinderstimmchen gerufen hätte: »Jetzt kommt der Jud!« Die Leute guckten.
+
+Simeon Lewitter, mit der Ledertasche in der Linken, eingehüllt in
+seinen dicken Fuchspelz, trat aus der Haustür, die hinter ihm von
+der Hasenknopfin wieder verriegelt wurde. In seinem erschöpften,
+kreidebleichen Gesichte mischte sich scheue Ängstlichkeit mit Zorn
+und Trauer. »Seid doch verständig, Leut, und geht zu euren Dächern.
+In des braven Christls Haus ist das Unglück eingekehrt. Vergönnt ihm
+aus Erbarmen den Frieden, den er nötig hat!« Zwanzig, dreißig Stimmen
+redeten durcheinander und verstummten plötzlich. Ein Peitschenknall,
+ein heitertönendes Schellengeklingel. In der rotwerdenden
+Nachmittagssonne kamen die vier Hofschlitten angefahren. Der Vorreiter
+sprengte durch das Zauntor: »Platz für den allergnädigsten Herrn!« Das
+Gehöft war leer. Die Leute rannten hinter den Schuppen, kletterten über
+den Zaun, wateten durch den schlammigen Ackerschnee und verschwanden
+hinter den Hecken.
+
+Simeon Lewitter blieb. Nicht gerne. Er nahm das Käppchen von seinem
+weißen Haar und täppelte zögernd dem ersten Schlitten entgegen.
+Sorge wühlte in ihm. Was er in dem kleinen Haus getan, das hatte er
+tun müssen aus Barmherzigkeit für den verstörten, von Grauen und
+Verzweiflung zerbrochenen Christl. Aber er fühlte: was er tun hatte
+müssen, konnte sich für ihn selbst in eine Gefahr verwandeln. »Wär ich
+nur schon daheim in meiner Kinderstub!« Da hielt der Schlitten des
+Fürsten. Der zweite Schlitten fuhr dicht an den ersten heran, weil
+Aurore de Neuenstein hören *wollte* und der Kanzler von Amtswegen
+hören *mußte*. Aus den zwei andern Schlitten sprangen die Domizellaren
+heraus und wateten lachend durch den Schnee. Lewitter verbeugte sich
+tief.
+
+»Simeon? Du?« Der Fürstbischof schmunzelte ein bißchen. »Ist das wahr?
+Daß die Haynacherin ein Kind geboren hat, halb weiß, halb schwarz?«
+
+Der kleine Mann schüttelte kummervoll den Kopf. »Es ist noch ärger,
+gnädigster Herr! Nur mit den Farben stimmt es. Das eine Kind ist weiß
+wie ein Rösl. Das andere ist schwarz -- vom Brand.«
+
+Das letzte Wort überhörend, fragte der Fürst verwundert. »*Zwei*
+Kinder?«
+
+Lewitter nickte. Dann sagte er's in kurzen Worten: daß es mit der
+Haynacherin drei Wochen über die Zeit gewesen wäre. Seit vier Nächten
+hatte sie unter furchtbaren Wehen gelitten. Und vor einer Stunde gebar
+sie zwei Mädelchen, ganz natürlich entwickelt, mit allen Gliedmaßen,
+doch von der Schulter bis zur Hüfte aneinander gewachsen -- das eine
+tot, schon erloschen unter dem Herzen der Mutter, während das andere
+nach der Geburt noch Spuren von Leben gezeigt, noch offene Augen und
+ein schlagendes Herz besessen hatte -- Leben, unlösbar mit dem Tod
+verwachsen.
+
+»_Quelle chose effroyable!_« lispelte Aurore de Neuenstein erblassend
+und vergaß ihrer pariserischen Bildung. »Dees ischt ja doch nit zum
+glaube!« Und der Fürstpropst fragte erschrocken: »Gibt es das?«
+
+»Ein seltenes Ding!« sagte Lewitter mit schwankender Stimme. »Ich weiß
+nur noch von einem einzigen Fall. Er hat sich zu Regensburg ereignet,
+vor vierhundert Jahren. Ganz der gleiche Vorgang war es. Auch damals
+mußten Kinder und Mutter sterben.«
+
+Der Fürstpropst beugte sich vor. »Sterben? Auch die Mutter?«
+
+»Als ich das Haus verließ, begann sie zu erlöschen. Keine Hilfe mehr.
+Ich habe den Schmerz des Mannes nimmer sehen können. Drum bin ich
+gegangen. Der Mensch, wenn er hilflos ist, hat feige Stunden. Und was
+ich getan habe, das hat den Mann nicht getröstet.« Lewitters Blick war
+ängstlich. »Ich meinte, daß es ihn aufrichten würde in seinem Schmerz,
+wenn sein weißes Kindlein christlich würde, solange noch Leben in ihm
+war. Drum hab ich ihm die Nottaufe gegeben.«
+
+»Lewitter!« murrte Herr von Grusdorf erschrocken. »Wie konnte er sich
+verleiten lassen zu einer solchen Inkompetenz? Die _causa_ des Leupolt
+Raurisser hätte ihn vorsichtiger machen sollen.« Auch der Fürstpropst
+schien unbehaglich berührt: »Simeon! Das hättest du besser unterlassen!«
+
+»Herr!« Immer ruhiger wurde Lewitter. »Das Erbarmen kann ein Riese
+werden, der uns zwingt.«
+
+»Mag sein! Aber --« Herr Anton Cajetan stieg aus dem Schlitten, und der
+Kanzler tat rasch das gleiche. »Warum hat nicht der Kindsvater das Kind
+getauft?«
+
+»Weil er die schwarzweiße Mißform seiner verlorenen Kinder nicht mehr
+ansehen konnte, ohne daß ihn der Kummer halb erwürgte. Und weil er
+immer wieder in die Kammer sprang zu seinem erlöschenden Weib.« Der
+Körper des kleinen Mannes streckte sich, und etwas Schönes war in
+seinem Blick. »Schon vielen Menschen hab ich beigestanden in ihrer
+letzten Stunde. Aber nie noch hab ich ein Menschenkind so voll
+Gottvertrauen versinken sehen, wie dieses arme, leidende Weib.«
+
+»_Mais donc_ --« Herr Anton Cajetan wurde ungeduldig. »Warum hat nicht
+die Hebmutter die Nottaufe an der noch lebenden Hälfte exekutiert?«
+
+Den Grund -- daß Christl sein Kind durch eine Unsichtbare nicht taufen
+ließ -- wollte Lewitter nicht bekennen. Er sagte: »Die Frau war um das
+sterbende Weib beschäftigt.«
+
+Im Kanzler erwachte ein Verdacht. »War es, um methodisch vorzugehen,
+die Hebmutter des Marktes?«
+
+Jetzt gab es kein Verschweigen mehr. »Es war die Hasenknopfin von
+Unterstein.«
+
+Der Fürst und Herr von Grusdorf tauschten einen Blick. Anton Cajetan
+machte einen Schritt gegen das Haus hin, wandte das ernste Gesicht
+und sagte zu dem hübschen hechtgrauen Junker: »_Mon cher Tigue! La
+Neuenstein désire fort d'être chez soi!_« Bei der Vermutung, daß seine
+Freundin _en titre_ sich einem nervenquälenden Anblick zu entziehen
+wünsche, hatte er nicht mit der Gruselsucht der holden Dame gerechnet.
+»_Non, non, non_,« sie schlüpfte hastig aus dem Schlitten, »_je veux
+voir ça, moi!_ So ebbes Seltsames versäumt me doch nit.« Die Schultern
+zuckend, ging der Fürst auf die Haustür zu. Die anderen hinter ihm
+her. Simeon Lewitter blieb bei den leeren Schlitten stehen. Weil sich
+niemand um ihn kümmerte, wurde ihm die Entscheidung leicht. Nur erst
+daheim sein! Keuchend zappelte er durch den Schnee davon.
+
+Der Kanzler mußte mehrmals an der Haustür des Christl Haynacher pochen.
+Aus dem Innern des Hauses klang ein verzweiflungsvoller Laut, nicht
+wie menschliche Stimme, wie der Schrei eines Tieres. Den hatte der
+junge Bauer ausgestoßen, als er im Gesicht seiner Martle das blasse
+Sterben erkannte. Immer ungeduldiger pochte Herr von Grusdorf, und
+mehrmals beteuerte Aurore de Neuenstein, daß jeder Nerv in ihr vor
+Spannung und Erbarmen fiebere. Endlich öffnete die Hasenknopfin.
+Zitternd stand sie im Dunkel des Flurs. »Gelobt sei --« Weiter kam sie
+nicht, weil die hechtgraue Diana gleich die Frage zwitscherte: wo die
+unglaubliche Sache zu sehen wäre? Schweigend wies die Hasenknopfin zur
+Stube, neben deren Ofen das kleine Bübchen in seiner Wiege weinte, und
+deutete auf den Tisch, auf das weiße, dunkelgefleckte Leilach, das den
+neugeborenen Jammer des Christl Haynacher barmherzig verhüllte.
+
+In der kleinen Stube begann es grau zu werden. Draußen flimmerte wohl
+die Sonne noch auf dem schwindenden Schnee, doch über den Fenstern lag
+schon der Schatten des vorspringenden Daches.
+
+Mit beiden Händchen die steife Glocke ihres Dianenkleides
+zusammenpressend, schmiegte sich Aurore de Neuenstein durch die
+schmale Stubentür, den ovalen Rocktrichter flink voranschiebend. Das
+weinende Bübchen, als es diese seltsame Glocke mit den zwei weißen
+Spitzenschwengeln erscheinen sah, wurde stumm vor Schreck. Und während
+aus der Kammer das erwürgte Schluchzen des jungen Bauern zu hören war,
+trippelte die Neuenstein in der schaukelnden Kleidglocke dem Tisch
+entgegen, faßte mit den Fingerspitzen zu und hob einen Zipfel des
+Leilachs. Jähes Grauen rüttelte ihre feinen Schultern. »_Mon dieu!
+Quelle chose affreuse!_« Als hätte sie sich die behandschuhten Finger
+verbrannt, so hastig ließ sie den Leilachzipfel fallen, stieß einen
+zarten Schrei aus und bot den Anblick einer Dame, die in Ohnmacht zu
+fallen wünscht. »_Eh bien, la voilà!_« sagte Herr Anton Cajetan halb
+nachsichtig, halb ärgerlich. Er deutete auf die mit beiden Händchen
+Rudernde, die das Niederfallen auf den grauen Bretterboden noch
+verzögerte, und sagte zum Grafen Tige: »_Remplissez donc votre devoir
+d'un bon camarade!_« Der hübsche Junker mit den winzigen Bäffchen
+umschlang die pelzverbrämte Diana, wobei sie die Augen schloß und
+schlaffe Arme bekam.
+
+Unter Mithilfe des Domizellaren von Stutzing, der im Türschacht die
+Kleidglocke ovalisieren mußte, beförderte Graf Tige das edle Fräulein
+auf seinen Armen aus der Stube, aus dem Haus und über das Gehöft zum
+Schlitten. Eine zornscharfe Mädchenstimme -- jene gleiche Stimme,
+die im Stall der Unsichtbaren geschrien hatte: »Schauet mein junges
+Brüstl an, so haben die Soldaten Gottes mich zugerichtet!« -- diese
+zornscharfe Mädchenstimme schrillte hinter einer nahen Hecke: »Leut!
+Das bablische Laster zappelt drieköpfig in der Sonn umeinander! Tät's
+ein Wunder sein, wenn der Ewige dreinschlagt mit Zeichen und Ruten!«
+Stutzing und Tige waren so fürsorglich um die in der frischen Luft sehr
+rasch erwachende Diana beschäftigt, daß sie anderer Dinge nicht zu
+achten vermochten. Sie überhörten die schrillende Mädchenstimme. Und
+als sie das zierliche Persönchen im Schlitten und die winzigen Füßchen
+im Fußsack hatten, schwang Graf Tige sich opferfreudig an die Seite der
+Neuenstein und befahl dem Kutscher: »Schnell! Nach Haus!«
+
+Munter tingelten die Schlittenschellen, und die zwei guten Kameraden
+rutschten über den knirschenden Straßengrund. Noch ein bißchen zitternd
+vom überstandenen Grauen, klammerte Aurore de Neuenstein sich an ihren
+Ritter, schlug die unschuldsvollen Augen auf und lispelte: »Alles,
+Liebster! Alles -- --« Nein! Deutsch konnte sie das nicht sagen. Sie
+mußte sich der Feinheit ihrer Bildung besinnen und hauchte dem Junker
+flehend ins Ohr: »_Tout, mon ami! Tout ce que vouz voulez! Mais jamais
+un enfant!_«
+
+Der Domizellar von Stutzing kehrte in das Haus des Christl Haynacher
+zurück. Als er die Stube betrat, war schon wieder mit dem Leilach
+bedeckt, was auf dem Tische lag. Auch das Verhör der Hasenknopfin
+war beendet. Bleich, einen harten Zug um die farblosen Lippen, stand
+das Weib vor dem Kanzler. Während der Fürstpropst und Graf Saur in
+französischer Sprache diesen schwerbegreiflichen Irrtum der Natur
+erörterten, sah Herr von Grusdorf immer die Hasenknopfin an und sagte
+schließlich: »Man wird ihr befehlen, wann sie sich für weiteres Zeugnis
+vor der Obrigkeit zu präsentieren hat. Dann wird sie sich der Wahrheit
+besinnen. Wird auch wissen, wo ihr Mann sich befindet. Heute wird sie
+_recte_ erfüllen, was ihres Amtes ist. Um rebellische Rumore und den
+Zulauf kuriöser Leute zu verhindern, wird sie die Haustür verschlossen
+halten bis zur Dunkelheit. Was tot auf dem Tische liegt, das bringt
+sie nach Anbruch der Nacht in notwendiger Heimlichkeit dort hin, wohin
+es gehört. Man wird das in der Finsternis bestatten. Über alles hat
+sie strengstes Stillschweigen zu observieren. Befehl der Obrigkeit:
+ein totgeborenes Kind, nicht weiß und nicht schwarz, ein Kind, wie
+Kinder zu sein pflegen. Weiteres ist ihr nicht bekannt. Für jedes
+böswillige Leutgerede ist sie haftbar. Versteht sie?« Er machte mit dem
+Stock eine Bewegung, als möchte er das Weib von sich fortschieben, und
+wandte sich gegen die Kammer, aus der kein Laut mehr zu hören war. Die
+Hasenknopfin tat mit entstelltem Gesicht einen schweren Atemzug, nahm
+das schlucksende Bübchen aus der Wiege und rettete sich mit ihm in den
+dämmerigen Ofenwinkel. Während sie das Kind an ihrem Herzen schaukelte,
+spuckte sie immer aus, als könnte sie die Lügen, die sie aus Angst
+geredet hatte, wieder fortspeien von ihrer Zunge.
+
+Herr von Grusdorf hatte die Kammertür vor sich aufgeschoben. Im
+gleichen Augenblick machte er eine abwehrende Bewegung, wie in Sorge,
+daß sein gnädigster Herr ihm folgen könnte. Was er sehen mußte, war
+kein Anblick für fürstliche Augen. Die kleine Kammer war erfüllt von
+einem rötlichen Schein. Ihr Fensterchen lag gegen Westen, und die
+untergehende Sonne verwandelte den kleinen Lichtwinkel in ein glühendes
+Viereck. Das Ehebett des Christl Haynacher und seiner seliggewordenen
+Martle glich dem rotfleckigen und zerwühlten Schnee, in dem die
+hauenden Schweine mit den kirschfarbenen Seidenmaschen gelegen hatten.
+Nur lagen hier, in diesem Rotschimmer, zwei andere Dinge: der ruhige,
+schöne Tod und der besinnungslose Jammer, ein unbeweglicher und ein
+noch zuckender Rest zweier Menschen, in denen die Liebe war und mit der
+Liebe zugleich das Mißtrauen, der Zorn und die Glaubensfeindschaft.
+Lebendig war nur die Liebe noch. Was Feindschaft, Zorn und Mißtrauen
+gewesen, war erlegt von einem Schützen, der so sicher traf, daß man
+ihm Jagderfolge nicht aufzulügen brauchte, war zur Strecke gebracht
+ohne Hifthörner, ohne hechtgraue Jägergala, ohne französische Verse und
+galante Reimsprüche.
+
+In dem engen Gängelchen neben dem Bett auf den Dielen kniend, lag
+Christl mit gestreckten Armen hingeworfen über den Schoß seines
+Weibes, lautlos, zitternd am ganzen Leibe, einem Menschen gleich, der
+durchschüttert wird von jähem Frostschauer. Mit den braunen, groben
+Händen machte er suchende Bewegungen, wie um sein Weib bei den Händen
+zu fassen, die ineinandergeklammert waren nach Art einer Betenden.
+Diese Hände lagen im Schatten von Christls Schulter und waren weiß.
+Das Gesicht, das wie Wachs geworden war, bekam von der Sonnenfarbe
+zur Hälfte ein leuchtendes Rosenrot, zur Hälfte einen violetten
+Schatten. Ein schmuckes Mädel und Weib war die Martle immer gewesen,
+aber in keiner Stunde ihres Lebens so schön, wie jetzt im Tode.
+Eine heilige Ruhe war ausgegossen über das schmale Schimmergesicht.
+Den stillen Mund, der keinen Zug des Leidens mehr erkennen ließ,
+umgab ein träumendes Lächeln. Und unter den vom Lichte in poliertes
+Gold verwandelten Flechten hatten die noch offenen Augen einen
+unbeweglichen, fast überirdischen Glanz.
+
+Erschrocken, in wachsendem Staunen, betrachtete Herr von Grusdorf
+das tote Weib. Wo waren an dieser Abtrünnigen die Spuren ihres
+Seelenkampfes mit dem Teufel? Hatten die Gerüchte gelogen, die seit
+dem Herbste über die Haynacherin umherliefen? Hatte die Hasenknopfin
+die Wahrheit gesprochen, als sie sagte: daß die Martle unter den
+obrigkeitlich vorgeschriebenen Gebeten wie eine rechte Christin
+gestorben wäre? Wider Willen fühlte der Kanzler eine Regung des
+Erbarmens. Aus den früheren Jahren seiner Richterzeit war er gewöhnt
+an die Bilder der Folterstube. Was er in dieser Kammer sah, zerbrach
+ihm den Panzer der Gewohnheit und faßte ihn an einem Muskel seines
+Menschentums. Er legte die Hand auf die Schulter des zuckenden Bauern
+und sagte freundlich: »Ermanne er sich, Haynacher! Gott hat gegeben --«
+Da verstummte er in Zorn und Empörung. Er sah nicht den zerbrochenen
+Menschen, der sich mühsam aufzurichten versuchte; sah nicht diese
+irrenden Verzweiflungsaugen und dieses entstellte Gesicht. Er sah nur
+das abgegriffene Buch, das neben den Fäusten, mit denen Christl vom
+Bett sich aufstemmte, unter dem Kopfkissen der entseelten Haynacherin
+hervorglitt. Gleich erkannte er's. Von diesem Buche hatte er an die
+zwanzig konfiszierte Exemplare in seinem Aktenschrank. Wie ein Falk den
+Vogel faßt, so griff er über den Kopf des Bauern hinüber, packte das
+Paradiesgärtl des Johann Arndt und rief entsetzt: »Das _crimen_ ist
+notifiziert.«
+
+Christl, wie jäh belebt, war an der Mauer in die Höhe gefahren, tappte
+mit den Händen und schrie: »Das Büchl tust du ihr lassen, du! Das Büchl
+ist ihre Seligkeit gewesen und ihr heiliger Tod!«
+
+Der Kanzler war schon bei der Tür und kreischte in die Stube hinaus:
+»_Reverendissime!_ Quittieren Euer Liebden schleunigst dieses
+verfluchte Domizilium der Ketzerei! Hier ist kein Fundament für
+allergnädigste Sohlen.« Man hörte französische Worte, hörte den flinken
+Schritt der Herrenstiefel, die sich entfernten. Und der Kanzler
+betrachtete mit flammenden Augen den Christl Haynacher: »Er verlorener
+Mensch! Ist er beteiligt an dieser unverzeihlichen Todsünde?« Der Bauer
+schüttelte den Kopf und wehrte kraftlos mit den Händen. »Um seiner
+Seligkeit willen hoffe ich, daß seine Deklarazion sich als Wahrheit
+erweist.« Der Kanzler deutete mit dem Krückstock gegen das Bett. »Was
+mit dem Kadaver zu geschehen hat, das weiß die Hasenknopfin.« Er wollte
+gehen.
+
+»Herr!« keuchte Christl und streckte in Verzweiflung die Hände. »Alles!
+Herr! Nur lasset mein gutes Weibl in christlichen Boden tun! Man muß
+doch wissen, wo man sich findet einmal. Und schauet, Herr, so schauet
+das Weibl doch an! Man sieht's noch allweil, gnädiger Herr -- mein
+Weibl ist so fromm und heilig gestorben -- schöner könnt auch der Papst
+nit sterben!«
+
+Der Kanzler erledigte in sich einen schweren Kampf seines privaten
+Mitleids mit dem Amtsgewissen. »_Bene!_ Um seinetwillen! Wir wissen,
+daß er immer ein verläßlicher Sohn der reinen Kirche war. Drum soll
+ihm konzediert sein, dieses Weib, statt auf dem Freimannsanger, auf
+seinem eigenen Acker zu verscharren.« Nach diesen Worten menschlicher
+Barmherzigkeit verließ der Kanzler die rote Kammer.
+
+
+
+
+Kapitel IX
+
+
+Regungslos, mit schlaffhängenden Armen, stand Christl wie an die Mauer
+genagelt. Nur seine Augen, die trocken geworden, bewegten sich. So
+betrachtete er sein Weib, als könnte er die Wahrheit dieser Stunde
+noch nicht begreifen. Dabei hörte er draußen im Flur den Kanzler mit
+erregter Stimme sagen: »_Reverendissime!_ Das Fürchterlichste an dieser
+_chose effroyable_ haben wir noch gar nicht diskutiert. Ein getauftes
+Kind und ein ungetauftes! Entsetzlich! Die Erbsünde angewachsen an
+die Erlösung! Der Himmel mit der Hölle verknorpelt! Wie soll man
+diese unmögliche Kopulation begraben? Hier erwachsen theologische
+Diffizilitäten von inkommensurablen Konsequenzen!«
+
+Christl Haynacher in der roten Kammer begriff den Sinn dieser Worte
+nicht. Er verstand nur: daß sein Glück zerschlagen, sein Leben
+zerbrochen, sein Herz zerrissen war. Und aller Jammer, der in ihm
+wühlte, rann immer dem unerträglichen Gedanken zu: daß seine Martle,
+die so heilig gestorben war, nicht in christlichen Boden kommen,
+sondern ewig ruhelos liegen sollte in ungeweihter Erde. Immer, wenn's
+einem anderen geschehen war, hatte Christl das als guter Katholik für
+gerecht erkannt. Jetzt zum erstenmal begriff er es nicht, weil es ihm
+widerfuhr in seinem eigenen Kummer. Und sind die Herren im Unrecht bei
+seiner Martle, so waren sie auch bei den anderen nie im Recht, die sie
+auf dem Freimannsanger, im Wald oder auf ungeweihtem Acker verscharren
+ließen. »Wenn die Herren Unrecht haben, darf man dawider handeln.« Daß
+die Martle in geweihten Boden kommt, da braucht der Christl keinen
+Chorkaplan. Nicht der Kaplan macht es, sondern das geweihte Wasser
+und der Segen Gottes. Einem braven Weibl, das gestorben ist wie seine
+Martle, kann Gottes Segen nicht fehlen. Und geweihtes Wasser hat
+der Christl im Haus. Wie oft es die Martle auch ausschüttete, der
+Christl hat immer wieder neues heimgetragen. Und wie die Martle ihr
+Paradiesgärtl unter den Kleien versteckte, so hat der Christl unter
+dem Heu den Gutter mit dem Weihwasser verhuschelt. Jetzt wird es den
+Acker heilig machen, in dem die Martle ihre Ruhstatt findet. Tät es
+ein Unrecht sein, so kann es der Christl beichten. Keinem Chorkaplan
+im Markt. Da wird er über den Lattenberg hinüber steigen müssen ins
+Bayrische, wo die Pfarrherren gutmütiger und drum auch christlicher und
+geduldsamer sind. So wollte er's machen. Dabei glaubte er ein guter
+Katholik zu sein und wußte nicht, daß es genau so bei jedem anderen
+begonnen hatte, der ein Unsichtbarer geworden, weil er Unrecht leiden
+oder Unrecht sehen mußte. Nicht die Zweifler machen den neuen Glauben,
+die Unduldsamen im alten säen ihn aus, und die Geplagten in ihrer
+Sehnsucht ernten ihn.
+
+Auf den Boden hinfallend, klammerte Christl die Arme um den Kopf
+seines Weibes und lallte an ihr kaltes Ohr: »Dein Wasen wird heilig
+sein. Das Büchl hab ich ihm lassen müssen, ein Herr ist stärker als
+hundert Bauren.« Die Augen eingepreßt in das feuchte Kissen, lag er
+unbeweglich, bis der rote Schein sich verwandelte in graue Dämmerung.
+Die Hasenknopfin kam und sagte: »Ich hab gekocht, jetzt mußt du dem
+Bübl das Mus geben. Von mir nimmt es nit.« Weil der Christl sich nicht
+rührte, half sie ihm, sich aufzurichten. »Auch die Küh brüllen schon
+die ganze Weil. Die mußt du melchen.« Während sie ihn hinausführte,
+warf er einen scheuen Blick auf den Stubentisch. Da war nichts mehr.
+Er fragte nicht: Wo ist es? -- atmete nur auf, weil das Fürchterliche
+nimmer da war, das seiner Martle das Leben zerrissen hatte.
+
+Beim Ofen brannte die rußende Specklampe. Das Bübl war schläfrig,
+öffnete aber gleich das Mäulchen, als es den warmen Holzlöffel an den
+Lippen fühlte. »Kindl, wie hast du's gut! Du tust nichts wissen.«
+
+Die Hasenknopfin arbeitete in der Küche. Manchmal hörte Christl ein
+Gemurmel von Stimmen, ein Pochen an den Fenstern, ein Klopfen an
+der Haustür. Alles war ihm, als käm' es aus weiter Ferne und gälte
+irgend einem, nicht ihm. Er legte das sattgewordene Bübchen in die
+Kissen, blieb auf der Ofenbank und schaukelte mit dem Fuß den schweren
+Wiegenkasten. Draußen war es finster geworden. Auch still. Da kam die
+Hasenknopfin halb zur Tür herein und sagte: »Christl, ich geh.«
+
+»Wohl!« Er nickte. »Vergeltsgott, Weibl! Mit der Zahlung mußt du mir
+Zeit lassen bis morgen.«
+
+»Nit nötig, Christl! Für die Schwester Martle ist alles umsonst.« Es
+schien, als möchte sie noch etwas sagen. Aber sie schwieg und ging und
+zog hinter sich die Tür zu.
+
+Den kleinen weißen Pack auf ihren Armen hatte Christl nicht gewahrt.
+Er dachte immer nur dieses Eine: >Jetzt muß ich es tun!< Als das
+Bübchen schlief, machte er den Docht der Specklampe klein, zündete eine
+Laterne an, ging in den Stall, molk und fütterte die Kühe und goß in
+der Steinkammer die Milch in die hölzernen Rainen. Beim Heuholen hatte
+er auch gleich den Gutter mit dem versteckten Weihwasser vom Dachboden
+mit heruntergebracht. Aus dem Stiegenwinkel kramte er die Spitzhaue und
+den Spaten hervor, löschte die Laterne und verließ das Haus. Der Föhn
+war stumm geworden. In der Nachtkühle begann der Schnee zu gefrieren.
+Sterne funkelten am Himmel. Der abnehmende Mond war über die Seeberge
+noch nicht heraufgestiegen, strahlte wohl schon die Zacken des Wazmann
+an, ließ aber das Tal noch finster. Gegen den Untersberg sah man die
+erleuchteten Fenster des Stiftes glänzen, als hätte die Erde viel
+größere Sterne, als der Himmel sie hat.
+
+Gleich außerhalb der Hecke lag der Gerstenacker des Christl. Das Feld
+hatte schon einen schneefreien Fleck -- es war die gleiche Stelle,
+an der im Sommer immer so viele Blumen im Getreide blühen. Muß da
+der Boden nicht wärmer sein als anderswo? Hier begann der Christl zu
+graben. Und grub und grub. Dann sprengte er die Hälfte des Weihwassers
+über das Grab, betete ein Vaterunser, streckte die verkrampften Fäuste
+zum Himmel hinauf und bettelte: »Gelt, tu den Ackerboden segnen,
+Herrgott, in den ich das Martle hineintun muß!« Das alles war leicht
+gewesen. Jetzt kam das Schwere. Er ging zurück ins Haus. Da trat ihm
+aus dem Nachtschatten der Hecke jemand entgegen: »Nachbar? Brauchst du
+nit einen, der dir tragen hilft?«
+
+Christl mußte um Atem ringen, bevor er antworten konnte: »Wohl, Mensch!
+Ich zahl dich gut.«
+
+»Nit nötig!« erwiderte der andere. »Für die Schwester Martle ist alles
+umsonst.«
+
+Erst in der Stube erkannte Christl in dem Mann einen alten graubärtigen
+Bauer von Unterstein. Im Leilach trugen sie die Martle zum Acker.
+Als sie zur Grube kamen, standen fünfe oder sechse neben dem Hügel.
+Alle halfen, um die Martle sanft hinunterzulegen. Noch andere kamen
+aus der Nacht herausgeschritten, Männer und Weibsleute. Christl hatte
+keine Tränen, kein Wort. Immer knirschten ihm die Zähne. Er haßte und
+verfluchte sie alle, die zum Grab seines Weibes kamen, und war doch
+einem jeden dankbar.
+
+Als die Martle drunten lag, nahm Christl den Krug und wollte geweihtes
+Wasser auf den weißen Schimmer hinuntersprengen. Da faßte ein Weib
+erschrocken seinen Arm und flüsterte: »Nit, du! Das ist falschgläubig!«
+Schon wollte Christl im Zorn erwidern. Da schob der alte, bärtige Bauer
+das Weib beiseite und sagte leis: »Laß du den Christl tun, wie er
+meint, daß es gut ist! Magst du nit duldig sein, wie willst du hoffen,
+es sollen die anderen duldig werden gegen dich und uns?« Er faßte den
+Spaten und legte die ersten Schollen sacht in die Grube. Eines ums
+andere nahm die Schaufel. Der weiße Schimmer da drunten verschwand,
+die Erde wuchs aus der Tiefe herauf. Und während Christl auf den Knien
+lag, das Gesicht in die Hände vergraben, zuckend und schauernd, fing
+der alte Fürsager der Unsichtbaren von Unterstein mit leiser Stimme zu
+reden an.
+
+Auf der nahen Straße kam ein Klirren und Klingeln aus der Nacht
+heraus, kam immer näher. Erschrocken fuhr Christl auf: »Die Herren!«
+
+»Nit!« flüsterte ein Mädel. »Es ist der Bräuschlitten. Der geht zum
+Königssee.«
+
+Man sah ihn gleiten, schwarz vor dem weißen Schnee, wie sonst beladen
+mit den zehn, zwölf kleinen Fässern. Nur ein Ding war anders als sonst:
+hinter den zwei dampfenden, klingeligen Pferden saß der Bräuknecht
+nicht allein auf dem Bockbrett. Neben ihm, dick eingewickelt in Mantel
+und Kapuze, kauerte eine kleine rundliche Frau. Die Mutter Agnes. Sie
+war der Meinung gewesen, daß sie ihrem Buben noch besser ins Herz
+zu reden verstünde, als es der süße Krapfen mit dem Zwibebenkränzl
+fertig brächte. So hatte sie ihrem verstörten Mann diese Nachtfahrt
+abgetrutzt. Und während sie vor sich hinsah in den Dampf, der von
+den klirrenden Pferden aufging, überlegte sie die Mahnworte, die sie
+ihrem Buben sagen wollte, um ihn wieder auf die rechte Glaubensstraße
+heraufzuziehen.
+
+Bei den Untersteiner Häusern, zwischen denen es wunderlich lebendig
+war, kam der Schlitten in den Mondschein. Nach einer Weile hielt er am
+See. Zwei Lehrburschen des Bartholomäer Fischmeisters erwarteten ihn
+am Ufer. »Du,« sagte der eine zum anderen, »du bringst den Bierkasten
+allein übers Eis. Ich nimm die Mutter Agnes auf den Beinschlitten. Da
+geht's flinker. Aber Schneid mußt du haben, Weibl! Heut ist ein ungutes
+Fahren. Der Föhn hat die Frageln bös ausgebissen.«
+
+»Das tut nichts!« sagte Mutter Agnes und trippelte über das Eis
+hinaus. »Wer redlich schnauft, steht allweil in Gottes Hut. Fahr
+los!« Der junge Knecht stellte sich hinter ihr auf das Brett und
+brachte den Beinschlitten in sausende Fahrt, weil es, je flinker, um
+so ungefährlicher war. Manchmal zischte der Schlitten durch breite
+Wasserflächen, von denen sprühende Tropfenfahnen in die Luft rauschten.
+Ein paarmal ging es über Frageln hinüber, die schon so sehr erweitert
+waren, daß der Beinschlitten einen bedrohlichen Hupf machte. Frau Agnes
+mußte sich tüchtig anklammern. Seufzend dachte sie: >Mein Leupi tät
+mich sänftlicher fahren!< Auch heut dröhnte das Eis, doch das Licht des
+Mondes war matt, und Dunst umschleierte die Bergwände. Ein paar hundert
+Schritte vom Ufer lag eine schwarze Wasserfläche. Der junge Fischer
+mahnte: »Obacht, Meisterin!« Die Warnung kam zu spät. Der Beinschlitten
+machte einen tischhohen Sprung, und als er niederklatschte, löste sich
+Frau Agnes vom Brett und kollerte durch das handtiefe Wasser. Das
+Erbarmen des jungen Knechtes bestand darin, daß er fürchterlich lachen
+mußte. »Aber, aber,« schmollte Mutter Agnes, während sie sich heraushob
+aus der dunklen Wassersuppe, »wozu so viel überflüssige Müh, ich bin
+doch schon getauft.« Es rieselte von ihr. Und so kalt war's, daß sie zu
+schnattern begann.
+
+Jetzt verging dem Buben das Lachen. »Gelt, tust mir die Lustigkeit nit
+verübeln, Frau?«
+
+»Gott bewahr! Lach, wie du magst! Das Lachen erlöst von der Zeit!«
+
+Um die Zitternde noch ungefroren ans Ufer zu bringen, stachelte der
+junge Fischer wie verrückt und schrie dabei mit gellender Stimme:
+»Leupi! Leupi! Leupi!« Weil man zu Bartholomä den Bierschlitten
+erwartete, waren die Mannsleute und auch die Fischmeisterin noch wach.
+Sie kamen gelaufen. Neben der weißen Kirche fuhr der Beinschlitten
+ans Ufer, und Leupolt erkannte die Mutter. »Herr Jesus!« lachte er in
+seiner Freude. Als er ihre starren Hände und den hartgefrorenen Mantel
+fühlte, wurden ihm die zwei gleichen Worte zu einem Schreckenslaut:
+»Herr Jesus!« Er schlang die Arme um die Mutter und hob sie vom Boden
+auf.
+
+»Geh!« wehrte sie erschrocken. »Du wirst mich ja doch nit tragen
+wollen! So ein Endstrumm Weiberleut!«
+
+»Ich trag einen Zwölferhirsch vom Berg herunter. Schwerer wie ein
+liebes Muttertierl bist du nit!« In Sorge rief er: »Fischmeisterin!
+Trückene Wäsch für die Mutter! Und heiße Weinsupp einen ganzen Hafen
+voll!« Er sprang zum Jägerkobel, über die Freistiege hinauf und flink
+in seine Stube, in der die Lampe brannte und der Ofen noch schöne Wärme
+hatte. Bis er die Mutter aus dem gefrorenen Mantel schälte und die
+Schuhe von ihren Füßen brachte, kam die Fischmeisterin mit Bettzeug und
+Wäsche. Leupolt hängte Mantel und Schuhwerk über das Ofengestäng und
+schob die langen Buchenscheite so reichlich in die Glut wie ein Bäcker,
+wenn er backen muß vor einem großen Feiertag. Dann verließ er die
+Stube. Draußen stand er auf dem schmalen Söller. Aus der Stube hörte er
+den Sorgenjammer der Fischmeisterin und die munteren Antworten seiner
+Mutter. Er wußte, daß sie sich am heitersten zu geben verstand, wenn
+sie verbergen wollte, daß ein Schweres auf ihrem Leben lag.
+
+Warum kam sie?
+
+Die Fischmeisterin trat aus der Stube. »Die Mutter liegt schon. Den
+Glühwein bring ich gleich.« Sie faßte den Jäger am Arm und sagte leis:
+»Ich mach mir ein bißl Sorg.«
+
+Leupolt erschrak. »Meinst du, sie hätt sich verkühlt?«
+
+»Das nit. Aber du weißt doch: wenn's morgen föhnt, und es gibt einen
+linden Tag, so druckt er das Eis noch ganz in Scherben. Und das Weibl
+kann sitzen müssen in Barthelmä, wer weiß, wie lang.« Das war so. Er
+selber hatte schon dran gedacht. Dennoch wär' es ihm lieber gewesen,
+wenn die Fischmeisterin das nicht gesagt hätte. Sie und ihr Mann, ihr
+Mädel, ihre zwei Buben, die drei Fischerknechte und der Platzjäger,
+alle waren sie evangelisch, von den Unsichtbaren des Berchtesgadnischen
+Landes die Ungestörtesten. So lange Frau Agnes im Hause war, mußten die
+Neun sich hüten, konnten am Abend nicht Frag und Antwort geben nach dem
+Spangenbergischen Katechismus, nicht vorlesen aus dem heiligen Buch.
+
+Aus der Stube klang es ungeduldig: »Bub? Wo bleibst du?«
+
+»Ja, Mutter!« Zur Fischmeisterin sagte er hart: »Ich will's überlegen.«
+Es verdroß ihn, daß es Menschen gab, denen seine Mutter nicht
+willkommen war. Er trat in die Stube. Frau Agnes, angetan mit einem
+weißen Kittelchen, das zu eng war, saß in dem klobigen Jägerbett wie
+ein Hühnchen im Metzenkorb. Lächelnd streckte sie ihrem Sohn die Hände
+entgegen: »Bub! Jetzt wird's aber gleich einen Streit geben!«
+
+»Zwischen dir und mir?« Er setzte sich auf den Bettrand. »Wär das
+erstmal im Leben!«
+
+»Doch, Bub! Wenn ich dir sag, warum ich gekommen bin, so glaubst du's
+nit.«
+
+»Dir glaub ich alles.«
+
+Sie nahm dieses Wort wie eine Hoffnung. »Bub, ich bin übers Eis
+gefahren, bloß daß ich dir einen süßen Krapfen bring.« Das glaubte er
+nun wirklich nicht. Frau Agnes nickte. »Wohl! Greif nur hinein in den
+Mantel! Da steckt er. Hoffentlich ist er nit auch getauft worden.«
+
+Leupolt ging zum Ofen. Richtig! Aus dem Mantel kam ein
+zusammengeknüpftes Tüchelchen zum Vorschein. Der Inhalt duftete so
+fein, daß man seine Wesensart auch ohne Jägernase gewittert hätte.
+»Aber Mutter!« Leupolt lachte, und Frau Agnes bekam zwischen den
+Brauen eine Falte, als hätte sein sorgloses Lachen ihr wehgetan. Er
+ging zum Tisch, knüpfte das Tüchelchen auseinander und wickelte den
+goldgelben Krapfen heraus. Schon wollte er hineinbeißen. Da sah er
+das Zwibebenkränzl, wurde ernst und drehte rasch das Gesicht über die
+Schulter. »Mutter?«
+
+»Ja, Bub! Den hab ich keinem anderen nit anvertraut.«
+
+Er brach das Backwerk ruhig entzwei, fand das kleine Schilfröhrchen und
+nahm den dünn zusammengerollten Zettel heraus. Als er die Schrift sah,
+fragte er verwundert: »Das ist doch Vaters Hand nit?«
+
+»Derweil ich den Teig gerührt hab, hat der Meister den Zettel
+geschrieben.«
+
+Seine Augen wurden groß. »*Wer*, Mutter?«
+
+»Ihr Vater. Der Meister Niklaus.«
+
+Heiß schoß ihm das Blut in die Stirn. Die Hand zitterte ihm ein
+bißchen, während er die Lampe von der Mauer herunternahm, um besseres
+Licht beim Lesen zu haben. In Sorge betrachtete ihn die Mutter und
+begriff nicht, daß er so ruhig bleiben konnte. Als er gelesen hatte,
+ging ein Lächeln um seinen Mund. Eine Weile sah er stumm vor sich
+hin. Dann sagte er: »Mutter, jetzt muß ich was Ungutes verlangen von
+dir. Gibt's morgen einen föhnigen Tag, so wüßt man auf Wochen nimmer,
+wie man hinauskäm. Ich muß dich, eh der Nachtfrost auslaßt, auf den
+Schlitten setzen. Sorg mußt du nit haben. Ich weiß den trockenen Weg
+und bring dich gut wieder heim. Am Morgen muß ich draußen sein. Ich mag
+mich nit suchen lassen. Ich will mich stellen.«
+
+Frau Agnes entfärbte sich, versuchte aber doch, ein heiteres Wort zu
+finden. »So! Jetzt bin ich umsonst ins Wasser gekugelt. Freilich,
+tiefer als bis aufs Häutl ist's nit geronnen. Altes Leder ist
+wasserdicht.« Sie wollte lachen, streckte aber plötzlich die Hand und
+flüsterte: »Leupi? Muß das sein?«
+
+»Was anderes weiß ich nimmer.«
+
+Sie wollte fragen: Weißt du, was dir bevorsteht? Aber das verschwieg
+sie. »Bub? Alles Grobe wird linder, wenn man ihm Zeit laßt. Wer weiß,
+wie die Herren denken über drei Wochen? Wenn du vor Tag hinaufsteigen
+tätst zum Hegerhäusl am Fundensee? Und tätst dich bis über Ostern
+einwehen lassen im sicheren Hüttl?«
+
+Er kam zum Bett und nahm ihre Hand. »Da tät der Wildmeister sagen:
+ich wär ein schlechter Jäger, der nit weiß, daß vor der Osterzeit da
+droben kein Wild nit steht. Die Steinböck, die das Tal nit mögen, sind
+ausgestorben.« Er winkte gegen den Zettel hinüber. »Weißt du alles?«
+
+»Von ihrem Vater.«
+
+»Tust du mir's verdenken?«
+
+»Was?«
+
+Er wußte nicht, wie er es sagen sollte. Da fiel ihm das Wort ein, das
+Pfarrer Ludwig zu ihm gesprochen hatte: »Daß ich wegspringen hab müssen
+über dich und den Vater?«
+
+»Geh, du Närrle! Das zählt doch nit. Jetzt geht's um *dich*!« Sie zog
+ihn näher zu sich heran. »Den guten Rat, den der Meister gegeben hat?
+Magst du den nit ein bißl nutzen?«
+
+»Lügen?« Er schüttelte den Kopf. »Tätst du das christlich heißen?«
+Seine Stimme wurde leis. »Und an das Mädel mich anhängen mit einer
+Falschheit? Mutter, das geht nit. Da ist sie mir viel zu gut dazu!«
+
+»Die?« Frau Agnes verlor die Ruhe. »Die dich hineinstoßt in Eisen und
+Not!«
+
+»So ist das nit. Einer geht über den Berg und muß hintreten auf einen
+Stein, der ins Laufen kommt. Da kann man nit wissen, daß der Stein
+einem Bäuml ins Leben schlagt. Wie fromm sie ist, das weißt du doch.
+Schau, da hat ihr halt eine Stimm in der Seel geboten: Red!« Er
+lächelte, fast wie ein Glücklicher. »Jetzt weiß ich doch, daß sie an
+mich hat denken müssen.«
+
+Erschrocken sah Frau Agnes ihren Buben an. »So lieb hast du sie?«
+
+Seine Augen glänzten. »Lieber als mein Leben. Ich bin so, daß ich mir
+auf der Welt bloß ein einziges Glück weiß. Sonst kein anderes. Da
+heißt's halt: finden oder dran vorbeirutschen.«
+
+Sie klammerte den Arm um seinen Hals. »Wenn du sie so lieb hast? Wär's
+da nit denkbar, daß sie dich wieder hinüberzieht --« Sie stockte. »Auf
+den alten und guten Glaubensweg?«
+
+Leupolt blieb unbeweglich und stumm.
+
+»So tu doch reden, Bub!«
+
+Da sagte er schwer und langsam: »Wenn's für einen so kommt, daß Blut
+und Glück ein ander Ding werden als Seel und Wahrheit? Mutter, das ist
+hart. Aber wie man da gehen muß, da ist kein Zweifel nit. Gott, um die
+Menschheit zu erlösen, hat den eigenen Sohn gegeben. Muß da nit der
+Mensch die Kraft haben, um Gottes Willen zu geben, was ihm lieber ist
+als Sonn und Freud?« Er fühlte ihre heißen Tränen an seinem Hals und
+umschlang sie. »Einmal müssen wir reden drüber. Nit jetzt. Lieber auf
+dem Heimweg. Die Stub hat hölzerne Wänd. Ich mag nit, daß dir einer in
+Spott oder Unmut nachredet, was du mir sagen mußt. Da drüben in der
+anderen Kammer --« Er verstummte, riß sich aus dem Arm der Mutter,
+sprang hinüber zum Ofen und warf das Schilfröhrchen und den heimlichen
+Zettel ins Feuer. Das war geschehen, bevor Frau Agnes fragen konnte:
+»Was ist denn?«
+
+»Die Hausmutter kommt.«
+
+Nach einer Weile klangen die Schritte der Fischmeisterin auf der
+Freistiege. Sie kam mit dem dampfenden Glühweinkrug und brachte einen
+Brotwecken und geräucherte Saiblinge. »Sooooo!« Die Frau warf einen
+spähenden Blick auf Leupolt. Er sagte ruhig: »Grad reden wir drüber,
+daß die Mutter vor Tag hinaus muß übers Eis. Morgen könnt harter Weg
+sein. Aufstehen braucht keiner im Haus. Ich mach schon alles.«
+
+Da war die Fischmeisterin verwandelt in ein gefälliges Weibl, schwatzte
+immer zu, putzte die Saiblinge, schnitt das Brot und ließ den heißen
+Becher nicht leer werden. Frau Agnes mußte reichlicher schlucken, als
+sie wollte. Wenn das Zureden der Fischmeisterin nimmer nützte, sagte
+Leupolt: »Trink nur, Mutter! Da kriegst du einen festen Schlaf.« Er saß
+auf der Ofenbank, verzehrte den Krapfen und griff immer wieder in die
+Höhe, um zu fühlen, ob die auf den Stangen hängenden Kleider trocken
+würden. Der Glühwein, die heiteren Worte, mit denen Mutter Agnes ihre
+Sorge verschleierte, und die drolligen Scherzreden der Fischmeisterin
+machten die Nachtstunde in der kleinen Stube so lustig, daß ein fremdes
+Ohr auf drei Menschen hätte raten können, die ferne waren von allem
+Zeitkummer. Als die Fischmeisterin endlich nach einem letzten Spaß die
+Stube verließ, sagte sie das »Gelobt sei Jesus Christus!« wie eine gute
+Katholikin. Sie und ihre Leute verstanden sich aufs Unsichtbarmachen.
+Bei den häufigen Besuchen der Chorherren, die das Schlößl zu Bartholomä
+nicht nur zum Jagen besuchten, auch häufig in Begleitung, um _à la
+mode_ ein bißchen Pariserei zu treiben -- bei diesen Besuchen hatten
+es die Fischmeisterleute gelernt, ihren Seelenwandel unverdächtig zu
+machen. Sie wußten geschickt von einander zu trennen, was Religion und
+Brotkorb hieß. Die Fischmeisterei zu Bartholomä war eine einträgliche
+Stellung, für die man schon einige Rosenkranzperlen bewegen konnte.
+
+Leupolt schien anders zu denken. Während die Fischmeisterin sich
+gutgläubig entfernte, blitzte der Zorn in seinen Augen. Stumm erhob er
+sich und drehte auf der Ofenstange den Mantel der Mutter um. Frau Agnes
+nahm den glühenden Kopf zwischen die Hände und versuchte zu lachen.
+»Bub, ich hab ein Quartl zu viel verschluckt. Die Hitzen fahren mir
+auf, als wär der Teufel zu unterst in mir.«
+
+»Oft sagt man Teufel. Und da ist's die beste von aller Lebenswärm.
+Jetzt muß ich mich nimmer sorgen, daß du dich verkühlt hast. Gut
+schlafen wirst du auch.« Sie tat einen schweren Atemzug. Mit dem Beten
+wartete sie um seinetwillen, bis er die Lampe ausgeblasen hatte. In
+der Finsternis sagte Leupolt: »Gut Nacht, Mutter! Ich weck schon, wenn
+es sein muß.« Er streifte die schweren Schuhe von den Füßen, zog den
+Kittel aus, legte ihn als Kissen auf die Ofenbank und streckte sich
+hin. Flüsternd wiederholte Mutter Agnes: »Wenn es sein muß?« Bei diesen
+vier Worten sah sie den Kanzler, den Richter, den Pfahl mit dem Eisen
+und das kommende Leiden ihres Sohnes. »Bub?« Gleich erhob er sich und
+ging auf den Strümpfen zu ihrem Bett. Sie suchte im Dunkel seine Hand.
+»Sag mir, Leupi, tust du denn nimmer beten?«
+
+»Wohl, Mutter! Fleißiger, wie sonst.«
+
+»Was betest du?« fragte sie in Angst.
+
+»Jetzt bet ich allweil --« Er schwieg. Dann sagte er mit völlig anderer
+Stimme: »Ich bet: >Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer nach
+Himmel und Welt; und täten mir Leben und Seel verschmachten, du bleibst
+mein Heil und meines Lebens Trost!<«
+
+Ein Laut wie in heißer Freude. Frau Agnes hatte nicht nur die Worte
+des Sohnes gehört, auch das Klingen seiner Seele, das Herzgeläut
+seines tiefen Glaubens. »Jesus, Jesus,« stammelte sie im Glück des
+Augenblickes, »betet einer so, da kann's doch so weit nit fehlen.«
+
+»Nein, Mutter, es fehlt nit!«
+
+Sie zog ihn zu sich herab, umschlang seinen Hals und preßte das heiße
+Gesicht an seine Wange. »Jetzt bin ich ruhiger. Da brauchen wir auch
+nimmer reden mit einander. Wer betet wie du, ist nie verlassen. Was
+hätt das Reden für einen Sinn? Mir redest du nichts ein, und dir,
+das merk' ich, ist nimmer auszureden, was dir wie Eisen in Herz und
+Seel ist. Begreifen kann ich's nit, aber es ist so. Müssen wir's halt
+nehmen, wie's ist. Und was kommt, das müssen wir tragen als Mutter und
+Kind. Zwischen uns sollen Zeit und Herren nie einen Graben aufreißen.
+Gelt nein?«
+
+»Nie, Mutter! Vergeltsgott! Jetzt hast du mir's leicht gemacht.« Wie
+wohlig seine Worte klangen! Dann ging er zu seiner harten Bank. Frau
+Agnes lag unbeweglich und lauschte immer zu ihm hinüber. Ihre Augen
+schlossen sich nicht, obwohl der Glühwein die Gedanken ihrer Sorge und
+ihres Trostes ein bißchen durcheinander wirbelte. Auch Leupolt sah mit
+offenen Augen in die Nacht. Sein Atem ging so ruhig, daß die Mutter
+immer glaubte: jetzt schläft er. Gegen drei Uhr morgens erhob er sich
+und schob ein paar Buchenscheite in die Ofenglut, damit die Kleider und
+Schuhe der Mutter völlig trocknen möchten. So leise tat er es, daß kein
+Mäuschen hätte erwachen können. Als er sich lautlos wieder hinstreckte
+auf die Bank, sagte Frau Agnes: »Vergeltsgott!«
+
+»Ich tu's doch gern. Schlaf nur! Es ist noch Zeit.«
+
+Wieder die stillen, wachenden Stunden. Aus der Nebenkammer hörte
+man das Schnarchen des Platzjägers. Und draußen im Zwinger schlugen
+die Hunde an. Da kam wohl hungerndes Hochwild über den Gartenzaun
+gesprungen, um an den Obstbäumen zu beißen. Die schwindende Mondhelle
+verriet dem Jäger, wie weit es an der Zeit war. Gegen die fünfte
+Frühstunde erhob er sich. Gleich sagte die Mutter: »Guten Morgen, Bub!«
+
+»Du hast doch ein bißl geschlafen? Nit?«
+
+»Die ganze Nacht. Und gut.«
+
+»Gott sei Dank!« Er stellte den Rest der Weinsuppe zum Aufwärmen in die
+Ofenröhre. »Dein Zeug ist trocken!« sagte er, nahm die Kleider von den
+Stangen und legte sie auf das Bett. »Draußen putz ich deine Schuh. Da
+kannst du dich gewanden derweil.«
+
+Als sie wegfertig waren, tranken sie den warmen Wein und aßen einen
+Bissen Brot dazu.
+
+Die Feuersteinflinte mit dem Riemen um die Brust, hinter den Schultern
+den Bergsack, auf dem Arm das Radmäntelchen und zwei wollene
+Bettdecken, blieb er auf der Schwelle stehen und warf noch einen
+Blick in die dunkle Stube, in der die Lampe schon ausgeblasen war.
+Draußen sagte er: »Da mußt du Obacht geben, Mutter! Das Treppl ist ein
+bißl vereist.« Auf dem Beinschlitten hüllte er sie fest in die zwei
+Bettdecken und wickelte ihr auch den eigenen Mantel noch um Kopf und
+Hals. Alles ließ sie schweigend geschehen, sah nur immer mit großen,
+nassen Augen zu ihm auf. Bevor er hinter der Mutter auf den Schlitten
+stieg, drehte er das Gesicht und ließ die Augen langsam hingleiten
+über den grauen Jägerkobel, über das schmucke Herrenschlößl und über
+den weiten Bogen der von schwarzem Schatten umwobenen Berge. Ob er das
+im Leben noch einmal sehen würde? Wortlos stieg er auf das Brett und
+begann den Schlitten zu treiben. Mit jagender Eile glitten die beiden
+in die Nacht hinaus, ihrem Schicksal entgegen.
+
+Manchmal klang das Dröhnen einer Eisfragel, die entzweisprengte, was
+aneinandergewachsen war. Und immer hörte sich das an, als hätte man
+stark an eine große Glocke geschlagen, irgendwo, in der Tiefe oder hoch
+in der Luft.
+
+
+
+
+Kapitel X
+
+
+Bald nach Anbruch des Nachtschweigens war zu Berchtesgaden am Hause
+des Chorkaplans Jesunder die Torglocke mit erschreckender Heftigkeit
+gezogen worden. Jesunders alte Mutter Apollonia streckte den Kopf
+mit der großen Nachthaube zum Fenster hinaus, gewahrte aber keinen
+Menschen und war gewohnheitsmäßig der Meinung, daß wieder einmal ein
+gottverlorener Heimtücker eine unverzeihliche Büberei gegen die Kirche
+verübt hätte. Alles, was Frau Apollonia zu Leide geschah, empfand sie
+als eine Verunglimpfung des Himmels.
+
+Hatte sich auch die Kühle der Nacht an ihr versündigt? Frau Apollonia
+hielt es für notwendig, einen Beruhigungstrank aus Kamillenblüten
+zu bereiten. Als sie, innerlich aufgewärmt, wieder zur Ruhe gehen
+wollte, vernahm sie vor dem Haustor eine Männerstimme, die sehr
+sonderbare Worte schrie. Trotz aller Neugier wagte Frau Apollonia
+sich nicht mehr ans Fenster, bevor sie nicht drei Unterröcke, die
+wollene Jacke und einen armdicken Schlips in mehrfacher Windung am
+Leibe fühlte. Bis diese Wandlung vom Kühlen ins Warme vollzogen war,
+hatte die Zeterstimme vor dem Haustor sich ausgewachsen zu einem
+Gewirre aufgeregter Menschenlaute. Und noch immer kamen Musketiere,
+Stiftslakaien, Jägerknechte und Stallwärter von allen Seiten
+herbeigelaufen. In sorgenvoller Ahnung kreischte Frau Apollonia auf
+das Gewühl hinunter: »Was ist denn, was ist denn?« Eine verständliche
+Antwort bekam sie nicht. Sie hörte nur die vier dunklen Worte: Kind
+und Teufel, weiß und schwarz.
+
+Das Amtsgeheimnis, das Herr von Grusdorf der Hasenknopfin auf die
+Hebmutterseele gebunden hatte, wurde innerhalb weniger Minuten zum
+Geschrei von hundert Menschen. Was auf Befehl der Obrigkeit *ein*
+Kind gewesen war, nicht schwarz, nicht weiß, ein Kind, wie eben
+Kinder sind, das waren nun doch *zwei* Kinderchen, weiß und schwarz,
+entseelt, von den Schultern bis zu den Hüften aneinandergewachsen.
+Es war ein unverzeihliches Verbrechen von seiten der Wahrheit, sich
+einem obrigkeitlichen Befehl zuwider so unvertuschelbar in die
+breiteste Öffentlichkeit zu begeben. Alles, was durch die Klugheit
+des Kanzlers hätte vermieden werden sollen: der Zusammenlauf kuriöser
+Leute und die Entstehung rebellischer Rumore -- alles war vorhanden,
+dazu noch in kunstvoll gehobener Entwicklung. Herr von Grusdorf
+erlebte eine verzweiflungsvolle Mitternachtsstunde und verwünschte die
+staatsgefährliche Subjektin, die den Gram des Christl Haynacher nicht
+mit heimlicher Vorsicht in die Armeseelenkammer getragen, sondern
+rachsüchtig dem Chorkaplan Jesunder auf die Hausschwelle gelegt und
+mit fürchterlichem Gebimmel die Lärmglocke gezogen hatte. Das sollte
+die vulgo Hasenknopfin büßen! Zu diesem Zwecke arbeiteten Herr von
+Grusdorf und der kanzleideutsche Muckenfüßl mit solcher Beschleunigung,
+daß die Hasenknopfin, als sie gegen die dritte Morgenstunde ausgehoben
+werden sollte, schon seit vielen Stunden verschwunden war. *Ganz*
+verschwunden! Nicht nur mit ihrem Mädel und aller tragbaren Habe.
+Auch die Hausgeräte waren unsichtbar geworden, Kalb und Kühe
+davongetrieben, die Hennen in unauffindbare Nester gesetzt. Doch
+Muckenfüßl brachte von seinem zwecklosen Dunkelheitsmarsche wenigstens
+*ein* polizeilich verwertbares Gerstenkörnchen in die Kanzlei. Nach
+eindringlicher Bemühung der Soldaten Gottes hatte es eine Nachbarin
+der Hebmutter unter Nasenbluten ausgeschwatzt, daß der Hasenknopf
+vor 18 Tagen heimlich ins Preußische ausgewandert wäre, um sich vom
+Schicksal der Salzburger Exulanten zu überzeugen. »Ins Preußische!«
+Muckenfüßl hob den Zeigefinger der Polizei. »Jetzt weiß der _ego
+ipsus_, was das zwiefärbige _miraculum_ als Gottesstraf _in loco hujus_
+bedeutet! Die preußischen _coloribus_ sind schwarz und weiß. _Ergo_,
+wo die Hasenknopfischen sich betätigen, muß sich alles ins Preußische
+permutieren. Jaaa, der Himmel laßt mit dergleichen Materien keine
+Spassettibus nit machen.«
+
+Dieser Beweisführung, obwohl sie einleuchtend war, wagte Herr
+von Grusdorf sich nicht völlig anzuschließen. Doch besaß er so
+viel politischen Verstand, um einzusehen, daß die Ausstreuung des
+Muckenfüßl'schen Gedankenganges sich eher nützlich als schädlich zu
+erweisen vermöchte. Solch ein Zusammenhang der göttlichen Strafe
+mit der Hasenknopfin mußte die Subjekte zur Einsicht und Reue
+mahnen und auf ihre Gemüter ähnlich wirken wie ein Kriegskomet mit
+schreckenerregendem Feuerschweif. So bekam der Feldwebel eine Belobung
+für seine Geistesschärfe und dazu den obrigkeitlichen Befehl, den
+Wechselwirkungen zwischen Himmel und Hebamme eine segensreiche
+Publizität zu prokurieren. Mit diesem staatsmännischen Weisheitsblitze
+waren die Amtshandlungen des Kanzlers in dieser ereignisvollen
+Hornungsnacht noch nicht erledigt. Die Forschungsreise des Hasenknopf
+ins Preußische gab ihm so viel zu denken, daß sein Gehirn ein bißchen
+kongestiv und die unteren Extremitäten desto blutleerer wurden. Um die
+Regierungsgeschäfte weiterführen zu können, mußte er ein Schaff mit
+heißem Wasser bringen lassen und die schmerzenden Zehen hineinstecken.
+Weil das Wasserschaff unter dem Schreibtisch stand und die grauen
+Dunstwolken zur Linken und Rechten des Regierungssitzes emporquollen,
+bot der rotbefrackte, um den reinen Glauben bemühte Kanzler mit dem
+perückenlosen Kahlkopf einen geradezu satanischen Anblick. Man wurde
+an die Walpurgisnacht erinnert, nur daß es an einem verführerischen
+Hexchen mangelte. Aurore de Neuenstein hatte wohl ebenfalls eine
+schlaflose Nacht, doch statt sich an den kummervollen Amtsgeschäften
+ihres Onkels zu beteiligen, zog sie es vor, sich gemeinsam mit dem
+Grafen Tige der Lektüre eines Pariser Schäferromans zu widmen und die
+Kapitelpausen durch zärtliches Spinettspiel auszufüllen.
+
+Zwischen den quirlenden Dampfwolken reihte die Logik des Herrn von
+Grusdorf alle Indizien unerbittlich aneinander, um Klarheit über die
+fürchterliche Tatsache zu gewinnen, daß die evangelischen Schwärmer
+im Lande augenscheinlich zahlreicher waren, als die Regierung bei
+aller gewohnten Umsicht vermutet hatte. Auf eigene Rechnung war der
+_vulgo_ Hasenknopf doch sicher nicht ins Preußische gewandert. Da
+hatten viele zusammengesteuert. Eine ganze Rotte! Herr von Grusdorf
+überschlug die Kosten der weiten Reise, nahm hypothetisch einen
+erst noch auszuforschenden Begleiter an und brachte eine Ziffer von
+Unsichtbaren heraus, die ihn mit Beklemmungen erfüllte. Es mußten an
+die zehn, zwölf Dutzende sein. Er fing zu schwitzen an. Nicht nur aus
+Ursach des heißen Wassers, noch mehr aus quälender Regierungsangst.
+Nur für das Nötigste diktierte er um die fünfte Morgenstunde eine
+_ordre_ auf Haussuchung unter allen Dächern von Unterstein, eine
+_ordre_ auf Verhaftung des Jägers Leupolt wegen Verrates polizeilicher
+Amtsgeheimnisse, eine _ordre_ auf Dingfestmachung der beiden
+Hasenknopfischen Menscher und eine _ordre_ an alle Grenzwachen: weder
+Mensch noch Vieh aus der Landmark hinauszulassen, insbesonders aber auf
+das Erscheinen des aus dem Preußischen heimkehrenden Hasenknopf samt
+hypothetischem Begleiter ein wachsames Auge zu dirigieren. Nach diesem
+reichlichen Papierverbrauche konnte Herr von Grusdorf die sonderbar
+gestalteten Zehen aus dem heißen Wasser ziehen und des Glaubens
+sein, daß er von allen Berchtesgadnischen Regierungssäulen in dieser
+Hornungsnacht die härteste Geistesarbeit geliefert hatte. Er irrte sich.
+
+Eine noch viel grausamere Nacht erlebte Frau Apollonia in ihrer
+explosiven Fröstelsorge um den hochwürdigen Sohn, zu dem sie aufblickte
+wie zu einem Heiligen auf Erden. Zum Teil verdiente er das. Er hielt
+sich von französischen Anflügen ferne, war ein ruhelos im Dienste
+des Himmels wirkender Priester, ein Vierzigjähriger von tadelloser
+Sittenstrenge, hart gegen sich selbst wie gegen andere. Dazu in
+theologischen Dingen ein großer Gelehrter. Für seine Doktorschrift
+hatte er sich das Problem gestellt: »Wird eine Stück Erde mit einer
+Mauer umzogen und weiht man dieses Grundstück zu einem Gottesacker,
+wie weit dringt dann die Weihe durch Mörtel und Ziegelsteine in das
+Innere der Umfassungsmauer ein? Genau bis zur Mitte? Oder weiter nach
+außen?« Über diese schwierige Frage hatte er ein lateinisches Werk von
+763 Folioseiten mit unzählbaren Zitaten verfaßt und klar bewiesen, daß
+diese Frage mit Sicherheit nicht zu entscheiden wäre -- verläßlich
+ließe sich nur behaupten, daß die Innenseite des Gemäuers der Weihe
+teilhaftig würde, die Außenseite aber logischerweise *nicht*. Es gab
+nur wenige Menschen, die dieses bedeutende Werk studiert hatten. Aber
+man rühmte allgemein den Chorkaplan Jesunder als einen Theologen von
+fabelhafter Belesenheit. Noch herrlicher sah ihn die Mutter. Und nun
+widerfuhr ihm *das*! Undank der bösen, niederträchtigen Welt!
+
+Nicht nur Frau Apollonia, jeder im Lande wußte das: war eine Jungfrau
+entehrt oder eine Frau genötigt worden und gebar sie ein totes Kind,
+so ließ sie dem Menschen, der schlecht an ihr gehandelt hatte,
+den kleinen, klagenden Leichnam zu öffentlicher Verfemung auf die
+Haustürschwelle legen. Und das geschah ihrem schuldlosen Sohn! Welch
+ein Geschrei würde das geben! Und gar noch -- so was Sinnloses --
+wegen der Haynacherin, die er verabscheute als eine des Irrglaubens
+Verdächtige! Und die er am Weihnachtsabend mit pflichtschuldiger
+Strenge aus der Kirche gestoßen hatte, weil sie die unchristliche
+Hand nicht in den Weihbrunnkessel tauchte. Ach, was ist Gerechtigkeit
+auf Erden! Als Jesunder in der Nacht hatte sehen müssen, was man
+gottesfeindlich an seiner Haustürschwelle verübte, war er, die
+Zorntränen der beleidigten Schuldlosigkeit an den Wimpern, in seiner
+Stube so lange betend auf den Knien gelegen, bis man ihn hinüberholte
+zur nächtlichen Kapitelsitzung. Nun dämmerte der Morgen schon, und noch
+immer wollte der Sohn nicht heimkehren zu seiner verzweifelten Mutter,
+die in dieser mehrfach gestörten Sorgennacht den heißen Kamillenabsud
+reichlicher schlürfen mußte als eine genesende Wöchnerin.
+
+Das große gotische Rosettenfenster des Kapitelsaales glänzte wie ein
+entzündetes Riesenauge in das kalte Morgengrau. Und die Nachtsorgen
+des gedünsteten Kanzlers, die Seelenqualen der Frau Apollonia? Was
+waren sie gegen den geistigen Kampf, der hier, unter niedergebrannten
+Kerzen, noch immer kein befriedigendes Ende finden wollte, nach einer
+siebenstündigen, zu heißer Erbitterung emporgewachsenen Sitzung!
+Wahrhaftig, Herr von Grusdorf hatte sich als verblüffender Prophet
+erwiesen, da er auf der Schwelle des Haynacherlehens erschrocken
+den Ausbruch »theologischer Diffizilitäten von inkommensurablen
+Konsequenzen« vermutet hatte. Man stand vor einem Rätsel, dessen Lösung
+eine völlig undenkbare Sache war. Zwei Kinder, das eine getauft, das
+andere ungetauft. Das erstere besaß ein geheiligtes Recht auf geweihten
+Boden, das andere, als unentsühnter Sprößling einer Irrgläubigen, war
+dem Freimannsanger verfallen, auf dem Gnadenwege einem Grübchen in
+ungeweihter Erde. Und das eine Kindchen angewachsen an das andere,
+die Hölle ineinandergemengt mit dem Himmel, das Heidnische und
+Christliche unlösbar verschwistert, oder, wie es Herr von Grusdorf
+äußerst charakteristisch bezeichnet hatte: verknorpelt. Schrecklich!
+Wo war da ein Ausweg? Nicht einmal das Exempel des gordischen Knotens
+vermochte die Schwierigkeit zu lösen. War ein Schnitt denkbar, der vom
+Ungetauften nichts hinüberschnipfelte zum Getauften, vom Getauften kein
+Fäserchen hängen ließ am Ungetauften? Und konnte man dem christlichen
+Feldscheer zumuten, das Heidnische zu operieren? Durfte man es dem
+Freimann gestatten, sich an christlicher Schuldlosigkeit zu vergreifen?
+Chorkaplan Jesunder meinte: vielleicht ginge es mit einem Chirurgen,
+der wohl halb ein Christ, aber auch halb ein Nichtchrist wäre?
+
+Da redete Pfarrer Ludwig, der bislange schweigend auf seinem
+Kapitelstuhl ausgehalten hatte, das erste Wort und gleich ein sehr
+heftiges: »Denkt Ihr an den Simeon Lewitter? Wollt Ihr solches
+Metzgerwerk einem _medico_ zumuten, in dessen Händen die Obhut für
+das Lebenswohl unseres Fürsten liegt?« Bevor eine andere Stimme sich
+äußern konnte, entschied Herr Anton Cajetan, der jetzt das schwarze
+Hofkleid eines gefürsteten Priesters trug: »_C'est juste, révérend!_
+Das geht nicht. Meinetwegen könnt ihr den Wildmeistersknecht mit der
+Sache betrauen. Er ist geschickt im Zerwirken. Mein Leibarzt hat
+außer Spiel zu bleiben.« Dennoch sah auch der Fürstpropst ein, daß es
+klärend zu wirken vermöchte, wenn der Arzt als Zeuge des Vorganges im
+Haynacherlehen vernommen würde, um seine fachmännische Ansicht über
+die anatomischen Schwierigkeiten darzulegen. Simeon Lewitter wurde
+aus dem Bett geholt. Er hatte nicht das steinerne Lächeln wie sonst.
+In kurzen Worten schilderte er, mit welcher Geduld und Tapferkeit die
+fromme Haynacherin das grauenvolle Leiden dieser vier Tage und Nächte
+überstanden hätte.
+
+»Fromm?« wiederholte Jesunder. »Habt Ihr denn nicht gemerkt, daß
+dieses Weib eine Irrgläubige ist?«
+
+»Nein. Im Gegenteil. Sie erschien mir im Sterben als eine Christin von
+seltenen Herzenskräften.«
+
+»Für solche Unterscheidungen gebricht es Euch an der angeborenen
+Fähigkeit. Wie beurteilt Ihr die Sache als Medicus?«
+
+Die Verwachsung der beiden Kinder wäre ein Irrtum der Natur _ab
+ovo_ gewesen. Doch alle beide hätten leben können. Der vorzeitige
+Tod des einen Kindes wäre einer äußerlichen Ursache zuzuschreiben,
+einem Stoß, den die Haynacherin bekommen hätte, oder einer schweren
+Kränkung. »Der junge Bauer erzählte mir, daß es mit seiner Martle seit
+der Weihnacht nimmer richtig gewesen wäre.« In dem Schweigen, das
+dieser Bemerkung folgte -- ein Schweigen, bei dem sich viele Augen
+auf Jesunder hefteten -- sprach Lewitter nur noch wenige Worte. Sie
+hatten den Klang einer tiefen Menschlichkeit. Und plötzlich, nach
+allem spitzfindigen Debattengewoge, stand klagend und erschütternd das
+Erlöschen zweier armer Seelchen, der heilige Tod eines leidenden Weibes
+und das zerschlagene Lebensglück eines redlichen Menschen zwischen den
+stummgewordenen Herren.
+
+Jesunder sagte heiser: »Kommt zur Sache! Schließlich seid auch Ihr es
+gewesen, der uns in diese Schwierigkeit versetzte. Nun zeigt auch einen
+Weg, wie wir da herauskommen. Ihr haltet doch als geschickter Chirurgus
+eine Trennung der feindlichen Gebiete ohne Grenzverletzung für möglich?
+*Ja?*« Dieses letzte Wort war nachdrücklich betont. Verstand Lewitter
+nicht, daß man von seinem Ja eine Erleichterung der Sachlage erhoffte?
+Er schüttelte den Kopf, blieb als Arzt bei den Tatsachen, sprach
+von der Verwachsung der zarten Knöchelchen, von der Verwebung der
+Muskeln und machte so, um der wissenschaftlichen Wahrheit willen, die
+verzweiflungsvolle Streitfrage noch unlösbarer. Als man ihn ungnädig
+und nicht ohne warnenden Hinweis auf die Bedenklichkeit seiner Lage
+entlassen hatte, ging der Wirbeltanz der widersprechenden Meinungen in
+gesteigertem Grade los. Herr Anton Cajetan, der schon mehrmals hinter
+der schlanken Hand gegähnt hatte, übertrug dem Kapitular Graf Saur den
+Vorsitz und sagte: »Von dem Beschlusse, den die Herren fassen, bitte
+ich mich am Morgen zu verständigen.« Nach der Entfernung des Fürsten
+gestaltete sich der Sitzungsverlauf noch aufgeregter. Man hatte sich
+früher wenigstens im Ton gemäßigt. Jetzt wurden die Köpfe heiß, die
+Kehlen rauh.
+
+Schweigend sah Pfarrer Ludwig in den wirren, wachsenden Lärm hinein.
+Was er da erlebte? Wie war das menschenmöglich? Und wer trug die Schuld
+daran? Keiner von diesen erhitzten Schreiern! Sie alle, mit kleinen
+Einschränkungen, waren ehrenhafte, wohlmeinende Männer. Da glaubte
+jeder seine Pflicht zu erfüllen, den Gesetzen der Kirche und dem
+Himmel zu dienen. Was will der Himmel? Was die Kirche? Nur immer das
+Veraltete und Überlebte? Wenn das die Kirche zu wollen scheint? Kann
+auch der Himmel das wollen? Der Schöpfer eines ewig sich erneuernden
+Frühlings? Der Vernichter des Morschgewordenen, der rastlose Erwecker
+neuer Blüte? Bei diesem Gedanken mußte Pfarrer Ludwig umherblicken in
+dem alten gotischen Kapitelsaal. Der ganze Bau des Stiftes, draußen
+der Markt, alle Gassen und Häuser, die Dörfer im Tal, alle Bilder
+des Lebens, sogar die Formen der steinernen Berge hatten im Laufe der
+Jahrhunderte sich geändert, sich gewandelt zum Neuen und Besseren. Nur
+dieser alte Saal der Entschlüsse -- ein Gleichnis der Dinge, die in ihm
+geschahen -- war seit länger als einem halben Jahrtausend immer der
+gleiche geblieben. Und da wunderten sich die Lakaien des Alten in ihren
+verblichenen Tressen, daß zwischen den Rippen der Sehnsuchtsvollen
+immer ein Neues wuchs und sein Recht begehrte! Freilich, der Wert alles
+Neuen ist schwer zu erkennen. Aber ist es nicht schon das Bessere, nur
+*weil* es das Jugendliche ist, das Kräfteschenkende, das Strebende? Wie
+sagte einer zu Amsterdam, den sie verfluchten? »Sei ein Suchender, und
+du näherst dich mit jedem Schritte der ewigen Wahrheit!«
+
+Die freudige Zustimmung, die ein Vorschlag des Grafen Saur gefunden
+hatte, weckte den Pfarrer Ludwig aus den Gedanken, in die er versunken
+war. Der Vorschlag hatte was Bestechendes. Man sollte unterhalb der
+Umwallungssteine des Friedhofes ein Grab ausheben, senkrecht unter der
+Mauermitte, mit der einen Hälfte hinausreichend in die ungeweihte Erde,
+mit der anderen Hälfte hereingreifend in den geweihten Boden. In diesem
+heidnischchristlichen Grabe sollte man das schwarzweiße Doppeltödchen
+bestatten, die schwarze Erbsünde nach außen, das weiße Heil nach innen.
+Dann sollte man, scharf an der Grenze des Weißen und Schwarzen, aus
+Gipsguß eine Scheidewand verfertigen und draußen die ungeweihte Erde
+einfüllen, innen die geweihte.
+
+Alle Herren klatschten dem Grafen Saur den verdienten Beifall zu. Nur
+Jesunder machte eine wehrende Handbewegung. Der Vorschlag berührte
+sein Doktorwerk über die Penetrabilität einer Mauer für die Weihe. Da
+*mußte* er sich äußern. »Meine hochedlen Herren! Ein scharfsinniger
+Fürschlag! Gewiß! Aber Diffizilitäten seh ich auch hier. Es soll
+vorerst noch unentschieden bleiben, ob die gipserne Scheidewand
+genau unter der *Mitte* der Mauer anzubringen wäre. Ich verweise
+auf meine Dissertation. Aber kann denn unter der dicken Mauer ein
+Grab mit solcher Genauigkeit ausgehoben werden, daß die geweihten
+und ungeweihten Schollen nicht durcheinander kollern? Und wenn man
+dagegen ein Mittel fände? Wird da nicht späterhin das unterirdische
+Larvengewimmel eine Grenzüberschreitung begehen, die verhindert werden
+*muß*? Unter allen Umständen! Aber wie?« Die Debatte war von neuem
+entfesselt. Man kämpfte, bis die Morgenglocken läuteten. Und nicht
+die Klärung der Ansichten löste den leidenschaftlichen Streit, nur
+die Ermüdung, nur der begreifliche Wunsch nach dem dringend nötigen
+Frühstück. Ehe man die Sitzung ergebnislos vertagte, versuchte man es
+noch mit einer Abstimmung. Es schien nun doch zur Lösung des Dilemmas
+nichts anderes übrig zu bleiben, als die unvereinbaren Gegensätze
+des Schwarzen und Weißen durch einen operativen Eingriff voneinander
+zu scheiden. Graf Saur, der als erster seine Stimme abzugeben hatte,
+zuckte die Achseln: »Ich bin ratlos, _parfaitement_!« Sein Beispiel
+beeinflußte die anderen, keiner wagte Nein oder Ja zu sagen. Pfarrer
+Ludwig, als er zur Abstimmung aufgerufen wurde, ließ zwischen den
+Wangenfalten die große Warze tanzen. »Auseinanderschneiden? Was
+Besseres findet ihr nit? Also gut! Schneidet!«
+
+»Doch wenn vom Getauften was hängen bleibt am Ungetauften. Da wird sich
+der Himmel kränken.«
+
+»Soweit ich den Himmel kenne, ist das nit wahrscheinlich. Doch wenn
+ihr's vermutet, muß es vermieden werden.«
+
+»Wenn aber vom Ungetauften was hinüberschleicht ins Geweihte? Da wird
+sich in Bosheit die Hölle freuen!«
+
+»Gotts Not und Leiden!« Pfarrer Ludwig verlor die Geduld. »*Soll*
+sich die Höll halt freuen! Vergönnt ihr doch in so schauderhaften
+Zeitläuften ein bißl Vergnügen! Amen. Ich leg mich ins Bett.« Ohne des
+empörten Lärms zu achten, der sich hinter ihm erhob, verließ er den
+Kapitelsaal.
+
+Drei Viertelstunden später vertagte man die ergebnislose Sitzung bis
+zum Abend.
+
+In der grauen, kalten Armeseelenkammer lag auf der langen Totenbank
+ein kleines, weißes Bündel mit noch unentschiedenem Schicksal -- ruhte
+hinter vergittertem Fenster und versperrter Türe, deren Schlüssel beim
+Chorkaplan Jesunder in Verwahrung blieb.
+
+Und im Tal der Ache, die durch den erwachenden Morgen rauschte, saß ein
+Gebrochener neben der Wiege seines schlafenden Bübchens und schnitzte
+an einem hölzernen Kreuz, das er auf den geweihten Grabhügel der Martle
+stecken wollte, noch ehe die Sonne käme.
+
+Eine Nachbarin erbot sich, für den Christl die Morgensuppe zu kochen.
+Er nickte dankbar, ohne ein Wort zu finden. Als auf dem Herd das Feuer
+prasselte, setzte er sich in die Wärme, und während seine zitternden
+Hände an dem kleinen Kreuze schnitzelten, erzählte er mit leiser,
+wunderlich versunkener Stimme, wie fromm und gottergeben seine Martle
+gestorben wäre. Eine Weile sah er schweigend in die Flamme. Nun hob er
+das entstellte Gesicht. »Nachbarin?«
+
+»Was, guter Christl?«
+
+»So heilig sterben können, das ist nit irrgläubig.« Er tat einen
+schweren Atemzug. »Gott verzeih mir die Sünd: ich tu drauf schwören,
+daß meine Martle droben ist in der Seligkeit.« Seine Augen hingen am
+flackernden Feuer. »Schier mein' ich, es kommt auf Kittel und Farb
+nit an, bloß allweil aufs Ehrliche in der Seel und auf den redlichen
+Menschenweg.« Die Nachbarin, die eine Gutgläubige war, blieb stumm.
+Barmherzig war sie gerne, aber auf solche Reden wollte sie sich nicht
+einlassen. Da faßte Christl die Frau am Arm. »Du? Hast du nit gehört,
+was sie da droben machen im Herrenstift?«
+
+Was er meinte, verstand sie gleich. Mit dem Kochlöffel in der Pfanne
+rührend, schüttelte sie den Kopf.
+
+Er stellte das vollendete Kreuz in den Herdwinkel, legte das Messer
+fort und nahm die Stirn zwischen die Hände. »Jesus, Jesus, jetzt muß
+ich mein Herz auseinanderreißen in vier Viertelen! Eins für mein
+Bübl in der Wieg, eins für die Martle auf dem Gerstenacker. Und
+zwei Viertelen -- ich weiß nit, wohin ich die schmeißen muß!« Mit
+den Bewegungen eines schwer Betrunkenen taumelte er hinaus in den
+erwachenden Tag.
+
+
+
+
+Kapitel XI
+
+
+Die Dinge der vergangenen Nacht bekamen laufende Füße. Ehe der Morgen
+hell wurde, erörterte man schon in allen Stuben von Berchtesgaden
+die ungeheuerliche Sache. Für die Unsichtbaren war's eine bange
+Beklommenheit, für die Treugebliebenen gab das schwarzweiße
+Himmelszeichen Anlaß zu abergläubischem Schreck oder zu zorniger
+Erbitterung gegen die evangelische, will sagen preußische Gefahr, auf
+die der Herrgott mit strafendem Finger hingewiesen hatte.
+
+Es war an diesem Morgen der Kirchweg reichlicher bevölkert als sonst.
+Zwischen den aufgeregten Leutgruppen wanderten zwei Menschenkinder,
+die sich nirgends verhielten und mit niemand sprachen -- Luisa und
+Sus. Dem Sorgenblick der Magd war es anzumerken, daß sie von der
+schwarzweißen Gotteswarnung schon Kenntnis hatte. Sie schwieg nur, weil
+der Meister ihr geboten: »Red nit drüber mit dem Kind!« Um der Sache
+selbst willen machte sie sich keine schweren Gedanken. Eine Verirrung
+der Natur und das Unglück eines braven Menschen. Was anderes war es
+nicht für die grade, verständige Sus. Aber ruhelose Sorge wühlte in
+ihr, weil des Meisters Freund in die Sache verwickelt war, und weil
+sie früh im Morgengrau den Muckenfüßl mit vier Gottessoldaten hatte
+hinausmarschieren sehen zum Mälzmeisterhaus. Unbeschwichtigt zitterte
+in ihr auch noch der Kummer über das zerstörte Bildwerk, das nach
+ihrer Meinung seit Erschaffung des Paradieses das Schönste von allem
+Schönen gewesen war.
+
+Blaß und schweigend, mit gesenkten Augen, ging Luisa neben der blonden
+Magd. Aus den Glockenfalten des grünen Mantels lugte wie immer der
+Rosenkranz hervor, dessen Zittern nicht nur herrührte von der Bewegung
+des Schreitens. An Luisas schmerzhaft zusammengezogenen Brauen war es
+zu sehen, daß peinvolle Gedanken in ihr kämpften. Erst beim Eintritt in
+die Kirche, aus deren Dämmerung die brennenden Wachskerzen wie schöne
+Geheimnisse herausflimmerten, löste sich die irrende Qual in ihrem
+Gesicht. Sie war bei Gott, und bei Gott ist Wahrheit. Gerechtigkeit
+geht von ihm aus, um alle Menschentorheit gütig zu vergeben, alle
+leidenden Seelen zu erfüllen mit reiner Kraft. Unbeweglich kniete
+sie in ihrem Kirchstuhl und hielt unter inbrünstigem Gebet die Stirn
+auf ihre verklammerten Hände gepreßt. Als die Schellen zur Wandlung
+klingelten, hob sie das ruhiggewordene Gesicht. Der Glanz eines
+neugestärkten Glaubens leuchtete wieder in den klaren Mädchenaugen.
+Während Luisa sich bekreuzte, sprach ihre Seele: »Gott weiß, was in den
+Menschen ist, allweil kennt er die Seinen; auch gegen die anderen, die
+wider ihn trutzen, bleibt er gerecht und wird durch einen irdischen
+Richter nit bestrafen lassen, was guter und redlicher Wille war.« Diese
+Zuversicht blieb in ihr, als sie neben der blonden Magd die Kirche
+verließ. Mit einer seltsamen Freudigkeit sagte sie: »Geh heim, gute
+Sus! Daß der liebe Vater auf sein Frühmahl nit warten muß. Ich hab
+einen Weg, den ich nit verschieben darf.« Von dem, was Luisa sagte,
+schien Sus nur die drei Worte >der liebe Vater< gehört zu haben. Eine
+Blutwelle schoß ihr in die Wangen, und sie rannte, um so flink wie
+möglich dem Meister zuschreien zu können: »Heut hat sie gesagt: der
+*liebe* Vater. Meister, es wird heller in deinem Haus!«
+
+Unter dem Strom der Leute ging Luisa hinüber zur Wohnung des
+Chorkaplans. Als sie die Glocke ziehen wollte, kam Mutter Jesunder aus
+der Sakristei. Die alte Frau war so dick in warme Dinge gewickelt,
+daß man glauben konnte, ihre Magerkeit hätte während dieser
+aufregungsvollen Nacht das Sorgenfett in kugeliger Fülle angesetzt.
+Auch roch sie auffällig nach Kamillen. Bei Luisas Anblick versuchte
+sie einen zärtlichen Augenaufschlag. »Ei guck, da ist ja unser frommes
+Kindl schon wieder --«
+
+»Mutter Jesunder?« Das klang so ernst, daß die nachtschwache Frau
+sofort ein heftiges Mißtrauen empfand. Streng betrachtete Luisa
+das jähverwandelte Runzelgesicht. »Was ich in meiner Herzensnot
+dem hochwürdigen Herrn hab anvertrauen müssen? Ist es wahr, Mutter
+Jesunder, daß du das in deinem Marktkörbl zum Pfleger getragen hast?«
+
+»Aber Kindl,« begann die Frau zu klagen, »wie kannst du nur so was
+denken von mir --«
+
+Schweigend wandte Luisa sich ab. Die Verlegenheitsglut, die der alten
+Frau mit Pfingstrosenfarbe ins Gesicht gefahren war, hatte deutlich
+gesprochen. Unter erschrockenem Wortgesprudel rannte die Jesunderin
+dem Mädchen nach und beschwor ihre Schuldlosigkeit. Luisa ging
+davon, ohne das Gesicht zu drehen. Da erkannte Frau Apollonia die
+Zwecklosigkeit ihrer Zungenmühe, schickte dem Mädchen einen Wutblick
+nach und murrte: »So eine unverschämte Gans! Die will ich ankreiden bei
+unserem Herrgott!« Diese Drohung war so ernsthaft gemeint, wie Frau
+Jesunder überzeugt war, daß Gott Vater das Menschengeschlecht nach
+ihren Ratschlägen regiere. Das schloß aber die betrübliche Wahrheit
+nicht aus, daß Frau Apollonia in dem nassen Schneequatsch kalte Füße
+bekam, einen Rückfall ihres nächtlichen Leidens befürchtete und mit
+Beschleunigung ihrer Haustür zustreben mußte. So wurde sie an der
+Beobachtung der sonderbaren Tatsache verhindert, daß Luisa die Richtung
+nach dem Hause eines zwar nicht vor Gottes Allwissenheit, aber doch vor
+dem Scharfblick der Frau Apollonia höchst verdächtigen Mannes einschlug.
+
+Pfarrer Ludwig, als er das zaghafte Pochen an seiner Stubentür vernahm,
+ließ die große Warze in ein vergnügtes Schmunzeln hinübergleiten. »Nur
+allweil herein!« Beim Anblick seines Gastes zeigte er den Ausdruck
+einer erstaunten Menschenseele. »Liebes Kind? Was suchst du bei *mir*?«
+
+Die Art, wie der Pfarrer das letzte Wörtchen betonte, erzwang von Luisa
+die zornige Antwort: »Zum Jesunder geh ich nimmer.«
+
+»Oh! Ooh! Oooh!« Mißbilligend schüttelte Herr Ludwig den weißen Kopf.
+Ein Diplomat schien er nicht zu sein. Statt Luisa zu beruhigen, wie
+es doch vermutlich seine Absicht war, blies er durch sein Verhalten
+kräftig in das Feuer ihrer Erregung.
+
+»Zum Jesunder geh ich nimmer!« wiederholte sie unerbittlich. »Ich tu's
+nit, und müßt ich auch verzichten auf jede Seelentröstung.«
+
+»Kind! Was hast du gegen den Jesunder?«
+
+»Hochwürden?« Sie sah erschrocken zu ihm auf. »Wisset Ihr nimmer, was
+Ihr in meiner Kammer geredet habt zu mir?«
+
+Da sagte er mit ernstem Vorwurf: »Was ich an junger Narretei hab sehen
+müssen in deiner Kammer und was wir geredet haben, das war gebeichtet.
+Nit? Und da liegt für mich ein Schleier des Vergessens drauf, den keine
+Menschenhand nimmer hebt. Genau so heilig wie der Beichtstuhl ist
+jedes menschliche Vertrauen. Eh' man da einem redlichen Priester ein
+Wörtl entreißen könnt, da tät er sich lieber die Knochen aus dem Leib
+herausbrechen lassen. Du tust dem Jesunder unrecht! Daß seine Mutter
+nit so schwerhörig ist, wie meine Schwester, dafür kann der Jesunder
+nichts. Oder -- -- Kind? Du wirst doch nit glauben, daß *ich* was
+ausgeredet hätt? Vor deinem Vater?« Ohne das heftige Kopfschütteln des
+Mädchens zu bemerken, sprach der Pfarrer in Erregung weiter: »Nein,
+liebes Kind! Dein Vater ist der wahrhafteste von allen Mannsleuten. Da
+müßt er im Leben zum erstenmal ein unwahres Wörtl geredet haben! Nein,
+nein, nein! Das kann ich nit glauben von einem so redlichen Menschen!«
+
+Sie hatte in Hast das Gebetbuch und den Rosenkranz auf den Tisch
+gelegt. »So ist das nit. Daß der Vater von meiner so sündhaften wie
+törigen Narretei kein Fäserlein erfahren hat, das hab ich gut gemerkt.
+Der Vater --« Sie stockte. Und ihre Wangen fingen zu brennen an. »Der
+Vater glaubt was anderes von mir.«
+
+»Was anderes?« fragte der Hochwürdige überrascht.
+
+»Der Vater glaubt, ich hätt so einen hilflosen Wirbel im Köpfl, weil
+ich --«
+
+»Weil du?« half Herr Ludwig nach.
+
+»Weil ich dem Leupolt gutgeworden wär.« Sie fügte stammelnd hinzu: »Aus
+Sorg und Barmherzigkeit, meint der Vater.«
+
+»Um Gotteswillen!« Der Pfarrer schlug die langen Hände zusammen. »Wie
+kann denn so ein gescheites Mannsbild so was Unmögliches denken!« Nach
+diesen Worten blieb es in der weißen Stube still, und Herr Ludwig
+guckte verwundert drein, ganz ehrlich verwundert. Er schien eine
+Antwort erwartet zu haben. Sie kam nicht. Den Kopf mit dem spanischen
+Federhütl in den Nacken gepreßt, stand Luisa unbeweglich und sah durch
+das Fenster hinauf zu einem blauen Himmelsfleck. Diesen Moment der
+Ablenkung benützte Pfarrer Ludwig zu einigem Nachdenken. Dann nickte
+er: »Das ist merkwürdig --«
+
+Rasch wandte Luisa die Augen. »Was, Hochwürden?«
+
+»Daß einem das unsinnigste Ding um so glaubhafter fürkommt, je länger
+man drüber studiert. Es könnt wohl sein, Kindl, daß dein gescheiter
+Vater recht hat. Einem sonst so redlichen Buben gut werden? Ja, ja!
+Aber -- *nur* aus Barmherzigkeit? Das begreif ich nit. Allweil bin ich
+des Glaubens gewesen: man liebt aus Herz und Seel, aus Blut und Jugend.
+Freilich, was versteh ich altes Pfarrle von solchen Sachen! Ich weiß
+nur, du hast zu barmherziger Sorg um den armen Buben einen Grund. Und
+weil du deine heilige Barmherzigkeit nit vereinen kannst mit deiner
+Treu im Glauben? Und dem Buben doch gutsein *mußt*? Deswegen bist du
+zu mir gekommen? Um Hilf und Rat?«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Hochwürden!« In ihrer Stimme war wieder
+die alte Strenge. »Zwischen mir und dem anderen ist kein Weg. Da darf
+ich mir einen Rat nit geben lassen.«
+
+»Gut also! Soll der Bub in sein Elend rennen. Dein unverdächtiger
+Vater darf sich nur warnen lassen von einem Gutgläubigen. Tut's ein
+anderer, der muß ins Eisen, darf Sonn und Mond nimmer schauen. So ist
+es christlich. Aber gekommen *bist* du doch zu mir? Da muß ich fragen:
+warum?«
+
+»Schier weiß ich es selber nit.« Luisas Gesicht, aus dem jede Spur
+von Farbe verschwunden war, bekam den Ausdruck einer qualvollen
+Verzweiflung. »Es hat mich halt hergetrieben in meiner Not. Mir ist so
+weh ums Herz, ich weiß nit, wie. Alles verdreht sich in mir.«
+
+»Sooo? *Des*wegen willst du einen Trost von mir? Für dich allein?«
+
+Sie stand wie betäubt. Dann nickte sie müde.
+
+»Kind! Bevor ich dich trösten kann, muß ich wissen, ob du Vertrauen
+hast zu mir? Es ist mir so fürgekommen, daß du nit nur ein
+unbegründetes Mißtrauen gegen deinen redlichen Vater hast, sondern daß
+deine frommgläubige Seel auch mich für einen Verdächtigen nimmt?«
+
+Sie senkte das erglühende Gesicht.
+
+»Kindl? Ist das so oder nit?« Da nickte sie ehrlich und war in diesem
+schamvollen Bekennen so hold und liebenswert, daß der alte Pfarrer die
+Arme streckte, als möchte er das brennende Mädchengesicht zwischen
+seine Hände nehmen und zärtlich diese flehenden Augen küssen. Doch er
+wurde ernst und fragte: »Kind? Wer ist nach deinem Glauben unter allen,
+die gelebt und gelitten haben, der Wahrhafteste und der Gerechteste
+gewesen?«
+
+Sie lispelte: »Unser heiliger Herr Jesus Christ.«
+
+»Da denkst du, wie ich.« Er legte den Arm um Luisas Schulter. »Komm!
+Und schau ihn an! Da hängt er an der Mauer, so schön, wie ihn dein
+gläubiger Vater herausgeschnitten hat aus dem Holz! Das ist länger her,
+als du lebst. Ja, Kindl, damals hat dein Vater die geschickte Hand noch
+gehabt, die ihm ein ungerechtes Urteil hat wegschlagen lassen. Warum?
+Weil dein Vater barmherzig gewesen ist. Weil er in seiner Güt nit
+unterschieden hat zwischen römisch und evangelisch, zwischen weiß und
+schwarz. Und weil er denken hat müssen: Mensch ist Mensch, und wo einer
+leidet, da muß man helfen.« Während der Pfarrer langsam diese Worte
+sprach, betrachtete er Luisas Gesicht mit forschender Aufmerksamkeit.
+Und plötzlich fragte er verwundert: »Kind? Was tut dich erschrecken?«
+
+Luisas erweiterte Augen waren in Pein und Hilflosigkeit auf das
+Kreuzbild gerichtet. Gleich einer frommen Opfergabe hingen da zwei
+weiße, zerschnittene Tüchelchen an dem eisernen Nagel, von dem die
+blutenden Füße des Erlösers durchbohrt waren.
+
+Pfarrer Ludwig schien von einem heißen Verlegenheitskummer befallen zu
+werden. »Ach, Gott, ich bin aber doch ein grausamer Esel!« Er sprang
+auf das Kreuzbild zu, packte die zwei Tüchelchen, stopfte sie in die
+Hosentasche und sagte betrübt: »So wenig hab ich mir denken können,
+daß *du* zu *mir* kommst! Sonst hätt ich doch nit die zwei weißen
+Fähnlein deiner Torheit aufgesteckt, wo du sie sehen hast müssen auf
+den ersten Blick. Das ist mir leid.«
+
+Stumm, unter Tränen, schüttelte Luisa den Kopf.
+
+»Aber ich seh doch, es hat dir weh getan, daß die Tüchlen dich erinnert
+haben an deine gottferne Narretei. Wie ich heimgekommen bin aus deiner
+Kammer, hab ich sie da hergehangen und hab zum Allgütigen gesagt:
+Gelt, tu dem jungen Kindl nit verdenken, was ausgesehen hat wie ein
+Kinderspott auf dein heiliges Leiden, sie hat es nit so gemeint, ihre
+Seel ist fromm.«
+
+»Nit, Hochwürden,« unterbrach sie ihn leise, »ganz verdreht bin ich
+gewesen. Und die zwei Tüchlen sehen müssen, das ist mir gewesen jetzt
+wie eine verdiente Straf.«
+
+»Jetzt sind sie doch nimmer da. Und wo sie gewesen sind -- schau, Kind,
+da leg ich, um dein Vertrauen zu verdienen, meine Hand jetzt hin und
+sag: Ich bin im Glauben geblieben, der ich allweil gewesen bin. Wie ich
+gelebt hab, so will ich sterben: als Christ und getreuer Mensch. Ich
+glaub an Gottes Güt und Gerechtigkeit, glaub an sein ewiges Walten.
+Ich glaub an den Himmel und glaub an das Recht der Menschen auf Gottes
+Gnad, glaub an die Pflicht der Menschen zu redlichem Leben und zu
+hilfreicher Barmherzigkeit gegen Freund und Feind. Ob einer getreu ist
+oder da drüben steht, ich weiß nit, wo -- ein leidender Mensch, da
+muß man helfen. Ja, lieb Kind, das hab ich gelernt von deinem Vater.«
+Nach diesen ernsten Worten fragte der Pfarrer lächelnd: »Ist das ein
+Christentum, das dir verdächtig erscheint?«
+
+Sie schüttelte den Kopf. Dann streckte sie die zitternde Hand und bat:
+»Hochwürdiger Herr! Tu mir verzeihen in christlicher Güt!«
+
+»Verzeihen?« Er streichelte ihr schönes Haar. »Dir bin ich doch nie
+nit harb gewesen. Allweil hab ich verstanden, wie wertvoll deine liebe
+Jugend ist. Und komm, jetzt setzen wir uns zum Fenster hin!« Er führte
+sie in die helle Mauernische und stellte für sie einen Stuhl ganz nah
+an die Scheiben. Da konnte sie alles gewahren, was da drunten geschah,
+in dem von weißen Schneeresten übersprenkelten Hof, der zwischen der
+Kirche und dem Gerichtsgebäude lag. Aber Luisa wandte keinen Blick
+zum Fenster; in dürstendem Erwarten sah sie zum erregten Gesicht des
+Pfarrers auf, der schwarz an der weißen Mauer stand und in den Hof
+hinunterspähte, als müßte da drunten was geschehen, was er mit Ungeduld
+erwartete. »Schau, Kindl, eh wir reden können von dem Trost, den du
+suchst für dich allein, müssen wir ein bißl reden von einem anderen.«
+Er sah das jähe Erglühen ihres Gesichtes und lächelte. »Von deinem
+Vater.« Sie atmete erleichtert auf. »Wie kommt es, Kindl, daß du so
+mißträulich gegen deinen Vater bist?«
+
+»Man hat mir viel von ihm gesagt, worüber ich hab erschrecken müssen.«
+
+»Sooo? Freilich, die Graden reden grad, die Krummen krumm. Einmal, am
+Königssee, der ein Stündl von Berchtesgaden liegt, hat ein kleines Bübl
+mich gefragt: >Was ist das für ein buckliges Häufl da draußen?< Weißt
+du, was das Bübl gemeint hat? Den großmächtigen Untersberg. So sehen
+deinen Vater die Leut, die sein mannhaftes Herz nie gesehen haben in
+der Näh!«
+
+»Oft redet der Vater, wie man als Christ nit reden sollt.«
+
+»Sooo? Da hab ich nie was gehört davon.«
+
+»So hab ich ihn reden hören mit dem Lewitter.« Scheu fügte sie hinzu:
+»Und oft mit Euch.«
+
+Der Pfarrer lachte, als hätte dieses Wort ihn freundlich erheitert.
+»Mit mir? Und deswegen bin ich verdächtig worden für dich? Aber schau,
+ich versteh noch allweil nit. Was reden wir?«
+
+»Lewitter und mein Vater nehmen Gottes Wort nit, wie es verkündet
+steht. Sie machen was anderes draus, sie deuten es um.«
+
+»Tust du denn das nit auch?«
+
+Erschrocken stammelte sie: »Um aller Seligkeit willen, das tu ich nit.
+Das wär eine arge Sünd. Was Gott geredet hat, steht geschrieben. Das
+muß man glauben, wie Gott es gesagt hat.«
+
+Wortlos betrachtete der Pfarrer eine Weile ihr heißes Gesicht. Dann
+sagte er leis: »Wie seltsam!« Wieder warf er einen raschen Blick durch
+das Fenster.
+
+»Hochwürden? Was ist seltsam?«
+
+»Daß die anderen, die man die Unsichtbaren schimpft, genau so predigen
+wie du. Die legen die Hand auf das heilige Buch und sagen: >Was Gott
+geredet hat, steht geschrieben, das muß man glauben, wie Gott es
+gesagt hat.< Ja, Kind! Und *du* bist doch nit irrgläubig?« Der Pfarrer
+schmunzelte. »Da mußt du mir jetzt erzählen, was im Paradies geschehen
+ist, beim Apfelbaum, bevor Frau Eva, die Mutter von uns allen, sich
+versündigt hat zum erstenmal.«
+
+»Sie wär gehorsam geblieben, wenn nit vom Baum herunter der höllische
+Verführer zu ihr geredet hätt.«
+
+»Wer?« fragte Pfarrer Ludwig.
+
+»Der höllische Verführer.«
+
+»Ooooh?« Der Pfarrer griff zu seinem Schreibtisch hinüber, nahm ein
+kleines dickes Buch, schlug es auf, spähte durch das Fenster, las mit
+lauter Stimme den lateinischen Text des Sündenfalles und schüttelte den
+Kopf. »Kind, auf mein Latein versteh ich mich. Da find ich kein Wörtl
+vom höllischen Verführer. Da steht: die *Schlange*.«
+
+»Das ist er ja doch gewesen!«
+
+»Wer?«
+
+»Der höllische Feind!«
+
+»In Gottes Wort, da heißt es: die *Schlange*! Aber schau, lieb Kind,
+ich denk wie du. Wir zwei, wir wissen, daß Schlangen nit reden können.
+Drum deuten wir das Gleichnis der Falschheit um, machen was anderes
+draus, was wir verstehen, und sagen: der höllische Feind und Verführer.
+Aber was wir selber tun, mein Kind, das dürfen wir doch den anderen nit
+zum Fürwurf machen?« Plötzlich, wie von Kummer befallen, sah Pfarrer
+Ludwig durch das Fenster hinaus und flüsterte: »Ach, Gott! Der gute,
+schuldlose Bub!«
+
+Erblassend, von einem Taumel der Verstörung befallen, sprang Luisa zum
+Fenster hin. Der Pfarrer streckte erschrocken die Arme: »Vom Fenster
+weg! Das sollst du nit sehen! Das tät dich schmerzen.«
+
+Sie klammerte die Hände um den Fensterriegel, preßte die Stirn an das
+geriefelte Glas und atmete schwer. Was da drunten geschah, war deutlich
+zu erkennen, obwohl es verkrümmt wurde durch die Rippen des Glases:
+zwischen einem lärmenden Leuthaufen führten zwei Fronknechte den Jäger
+Leupolt Raurisser vom Gerichtsgebäude zum Gefängnis hinüber. Er trug
+die gekreuzten Fäuste hinter dem Rücken. Nun verschwand der lärmende
+Schwarm, und der Hof da drunten war wieder leer.
+
+Luisa wandte sich langsam vom Fenster ab und tastete gegen den Pfarrer
+hin. »Das darf man doch nit geschehen lassen! Das tät ein Unrecht sein!«
+
+»Unrecht!« klagte der Pfarrer und schritt mit seinen langen Beinen
+aufgeregt durch die Stube. »Unrecht! Freilich ein Unrecht! So deutest
+du es aus mit deinem guten Herzen. Aber da ist der Muckenfüßl! So ein
+Rindvieh und Kummer Gottes! Und der Landrichter mit der Sauermilch im
+Gehirn. Der macht aus einer redlichen Sach das Gegenteil und wirft den
+schuldlosen Buben in Schand und Eisen. Und sagt: dem muß man den jungen
+und schmucken Leib zermartern! Den muß man zerbrechen an Herz und Seel!
+Bloß weil er als Mensch barmherzig gewesen ist und nit leiden hat
+mögen, daß man ein Unrecht verübt an deinem schuldlosen Vater. Tu mich
+nit falsch verstehen, Kind! Mich erbarmt der Leupolt nit.« Er sah den
+Zorn auf ihrer Stirn und beteuerte: »Was geht mich der Leupolt an? Der
+steht da drüben. Ich denk wie du, lieb Kind! Aber Unrecht ist allweil
+ein Ding, das den Gütigen am Kreuz da droben traurig macht.«
+
+Der zarte Körper des Mädchens schien zu wachsen und ihre Stimme bekam
+einen schrillen Klang. »Man darf so ein Unrecht nit geschehen lassen.
+Da muß man helfen!«
+
+»Helfen? Wer denn? Du vielleicht? Geh, sei verständig, Kind! Du willst
+doch nit gar hinüberlaufen zum Richter? Du? Ein verzagtes und mutloses
+Mädel? Das tät ich verhindern müssen. Und schau, was tätst du dem
+Richter sagen? Ich wüßt nit, was.«
+
+Jetzt wurde ihre Stimme ruhig und rein. »Ich tät ihm sagen, was wahr
+ist! Daß der Leupolt den Vater nit gewarnt hat aus Ungehorsam wider die
+Obrigkeit.«
+
+»So? Nit? Und warum denn sonst?«
+
+»Er hat's getan --«
+
+»So sag's doch! Sag's!«
+
+»Bloß weil er mich lieb hat.«
+
+»Aber Kind, tu töriges! Wahr ist's freilich, tausendmal wahr! Der hat
+dich lieber als Vater und Mutter, lieber als Augen und Leben. Aber
+daß er da drüben steht bei den Verdächtigen? Das darf man doch nit
+vergessen.«
+
+Mit erregter Strenge sagte sie: »Ein Mensch ist allweil ein Mensch.«
+
+»Freilich, freilich, aber ich weiß doch, wie so ein dummes Mädel ist!
+Da könnt der beste von allen Buben um ihretwegen versterben müssen --
+von Liebhaben und süßer Vertraulichkeit, vom Heimgart, zu dem er hätt
+kommen mögen, von Spinnrädl und Haustür, von so was redet doch ein
+Mädel nit vor dem Richter. Auch nit das redlichste und tapferste. Da
+muß man rot werden, verlegen und geschämig sein! Da muß man --«
+
+»Hochwürden!« In Luisas Augen war ein Glanz, wie in den Stunden, in
+denen sie betete. »Da kennt Ihr die redlichen Mädlen schlecht.« Sie
+nahm ihr Buch und den Rosenkranz. Bei der Türe wandte sie das Gesicht.
+»Den Trost, um den ich gekommen bin für mich allein, den hol ich ein
+andermal. Jetzt muß ich zum Richter.« Ruhig wehrte sie mit der Hand,
+weil der Pfarrer eine Bewegung machte, als möchte er sie festhalten.
+»Das muß ich tun. Gelobt sei Jesus Christus und die heilige Mutter
+Marie!«
+
+»In Ewigkeit Amen!« antwortete Pfarrer Ludwig mit einer Stimme voll
+inniger Zärtlichkeit. Er sah die Tür an, lachte vor sich hin und kam
+überraschenderweise zu einem ähnlichen Urteil, wie es Frau Apollonia
+Jesunder über Luisa abgesprochen hatte. Nur der Klang war ein anderer.
+»Du liebes Gänsl! Lauf nur! Und lauf durch Schmerzen hinein in dein
+junges Glück!«
+
+Aus der anderen Tür der Stube schob Schwester Franziska den Kopf
+heraus, mit Sorge in den Augen. Der Pfarrer sah sie an und sagte
+heiter: »Schwester! Wärst du nit taub wie ein Ofenloch, so tätst du
+mich jetzt für einen argen Komödianten halten, nach einem Stündl, in
+dem ich für ein leidendes Menschenkind ein hilfreicher Priester war.«
+Franziska verstand nicht, aber sie atmete auf, weil sie den Bruder
+lachen sah. Er trat auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter
+und schrie ihr ins Ohr: »Vor sieben Jahr, wie wir ausgezogen sind aus
+der Stiftspfarrei? Ist da nit ein kleines Kistl dagewesen, mit alten
+Schlüsseln?« Geschäftig nickte die Schwester, lief davon und war von
+einer Sorge befreit, ohne zu ahnen, daß sie zur Mithelferin einer
+Heimlichkeit wurde, bei der ihr hochwürdiger Bruder, weil er menschlich
+empfand, um Ehre und Freiheit spielen mußte.
+
+
+
+
+Kapitel XII
+
+
+Im großen frostigen Flur des Richterhauses standen viele Leute, die
+ihrem Verhör entgegenbangten. Alle Verwandten der Hasenknopfin waren
+da, Bauern und Weiber von Unterstein und von der Wies. Simeon Lewitter
+stand blaß in einer Fensternische. Nun wurde er vorgerufen. Während
+er sich zur Richterstube hinzappelte, trat Meister Niklaus heraus.
+Der hatte eine rote Stirn, aber ruhige Augen; ohne ein Wort zu sagen,
+tröstete er den Freund durch ein aufmunterndes Blinzeln und durch das
+verabredete Zeichen dafür, daß Leupolt kein Wort gesprochen hatte, das
+die Freunde belastete. Pfarrer Ludwig hatte das richtig vorausgesagt:
+»Auf uns wird sich der grade Bub nit ausreden. Wird nur sagen: er hat
+uns für schuldlose Leut gehalten, und drum hat er uns warnen müssen.
+Über das Mädel schnauft er keinen Laut. Nur über sich selber wird er
+die Wahrheit sagen, die ihn verläßlich ins Eisen bringt. Bei jedem
+redlichen Wörtl wird die Sauermilch auf dem Richterstuhl glauben: Das
+ist gelogen! -- _Sancta justizia!_«
+
+Simeon Lewitter trat in die Richterstube, und Meister Niklaus schritt
+durch den langen Flur der Haustür zu, ohne der aufgeregten Männergruppe
+zu achten, in deren Mitte eine halb von Schmerz erwürgte, halb
+wunderlich verzückte Stimme zu hören war. Die Zeugen, die über das
+schwarzweiße Doppeltödchen auf der Schwelle des Chorkaplans Jesunder
+etwas auszusagen hatten, die Musketiere, Lakaien und Jägerknechte
+standen um den Christl Haynacher herum, der immer vom heiligen Sterben
+seines Weibes erzählte. Das war in ihm zu einem Rad geworden, das
+mit eisernen Zähnen die verstörte Seele des Christl gefaßt hatte und
+nimmer losließ. Die aufgeregte Leutgruppe, die ihm zuhörte, schied sich
+deutlich in zwei Parteien: in eine solche, die sich über den Christl
+ärgerte oder über ihn lachte, und in eine solche, die schweigend
+lauschte, mit heißem Glanz in den Augen. »Allweil bin ich ein
+Gutgläubiger gewesen!« klang die bebende, von einem fast unheimlichen
+Unterton durchfieberte Stimme des Christl. »Nie hab ich mich arg
+versündigt, Leut, und trotzdem bin ich elend worden an Leib und Seel.
+Und muß mein Herz auseinanderreißen in vier Viertelen, in eins für mein
+gottseligs Martle --«
+
+»Gottselig?« unterbrach ihn von den Musketieren einer. »Als
+Gutgläubiger mußt du sagen: verflucht auf ewig. Hat man nit das
+verbotene Teufelsbuch gefunden in ihrem Bett?«
+
+Christl Haynacher hob die Arme. »Wahr ist's, Leut! Aber ein Weibl, das
+so gottselig gestorben ist, wär wieder rechtgläubig worden, wenn's noch
+leben hätt dürfen! Da glaub ich dran, so fest, wie ich glaub, daß mein
+Weibl im Himmel ist.«
+
+Eine Stimme lachte: »Im Himmel, ja, wo man die Leberwurst mit Schwefel
+schmälzt!« Viele von den anderen, die bisher schweigsam geblieben,
+schalten den groben Spötter. Und Christl Haynacher mahnte: »Nit
+streiten, Leut! Auf der Welt muß Fried werden. Gütigkeit muß mithelfen,
+daß die verloffenen Seelen wieder heimfinden zur heiligen Mutter.
+Freilich, da därf man die Leut nit an Weihnächten aus der Kirch
+jagen. Und hätt man nit meiner Martle auf ihren gesegneten Leib einen
+Stoß gegeben, daß eins von ihren lieben Kinderlen hat schwarz werden
+müssen unter ihrem gottseligen Herzl --« Seine Trauer erwürgte, was
+er sagen wollte. Geleitet vom Feldwebel Muckenfüßl kam Lewitter aus
+der Richterstube, huschte flink wie ein Wiesel davon und war schon
+verschwunden, noch ehe Christl Haynacher die verlorene Stimme wieder
+fand. »Meine Martle hat leiden müssen, ärger als ein vergrabenes Leben
+unter hausgroßen Steinbrocken. Aber nit ein einziges Zornwörtl hat sie
+dawider gehabt, daß man sie gepeinigt hat bis auf den Tod. Und wie sie
+sterben hat können, ihr guten Leut, das ist gewesen wie ein schönes
+Wunder. Allweil ist Gott ein Trost für die Seinen, hat sie gesagt.
+Und wie der Schnee im Frühling wegrutscht von den Berghalden, so ist
+der Wehdam abgefallen von ihrem gemarterten Leib. In den Augen hat
+ihr ein Glanz gebronnen, so heilig, als tät sie das Himmelreich offen
+sehen. Glaubet mir, Leut, so fromm und schön ist nie noch ein Bischof
+und Papst gestorben. Wär das Martle nit droben im Himmel, so wär der
+Tag nimmer Tag. Der Singvogel müßt ein Käfer in der Mistgrub sein. Und
+einer wie ich, so ein Elendsbröckl, ich wär ein vergnügtes Mannsbild
+mit drei gutgetauften lebendigen Kinderlen und einem lustigen Weibl,
+das tanzen geht, hoppsa und huiserla --« Der Christl nahm den Kopf
+zwischen die Fäuste und brach in Schluchzen aus.
+
+In dem Schweigen, das ihn umgab, klang es streng von der Richterstube
+her: »Was ist denn das _in loco hujus_ für ein fürlauter Subjektivus?«
+
+»Schauet, ihr christlichen Leut, mein gottseliges Martle --«
+
+»Not und Sakeramentum!« Muckenfüßl stieß den Säbel auf die
+Steinfliesen. »Wird der Subjektivus bald _silentium_ observieren und
+das Maul halten?«
+
+Christl Haynacher guckte drein wie ein aus frommen Träumen zu bösem
+Leben Erweckter. Er nahm die Kappe herunter. »Guter Herr, ich tu
+doch bloß von meiner Martle erzählen! Das kann mir doch keiner nit
+verbieten. Von christgläubigen Sachen muß man doch reden dürfen?«
+
+Gegenüber diesem unerwarteten Widerstand versagte dem Feldwebel die
+Kanzleisprache. Kummervoll erklärte er in makellosem Deutsch: »Da
+muß man einschreiten!« und trat in die Richterstube. Das war ein
+weißgetünchter, von Spitzbogen überwölbter Raum mit braunem Holzgerät.
+Früher hatte die weiße Mauer ein großes Gemälde des Jüngsten Gerichtes
+getragen. Der neue Landrichter hatte das Bild übertünchen lassen,
+weil er der Meinung war, daß es die Schuldlosen verzagt mache und die
+verlogene Vorsicht der Verbrecher schärfe.
+
+Auf der Zeugenbank, neben der blassen Mutter Agnes, saß der Mälzmeister
+Raurisser, ein festgezimmertes Mannsbild, das angenehm nach der
+Bierpfanne roch und das Aktengemuffel der Richterstube durch einen
+Duft von gerösteter Gerste milderte. In dem braunen Gesichte waren die
+Zornadern an den Schläfen merklich verdickt. Aber trotz aller Sorge um
+den zu Pfahl und Eisen verurteilten Sohn schien der Mälzmeister vor
+dem Richter und der ihm innewohnenden Gefährlichkeit einen scheuen
+Respekt zu haben. Unbeweglich saß er auf der Bank und hielt mit der
+Linken die rechte Hand der Frau Agnes umklammert, die in Tapferkeit
+und Erbitterung um den Sohn gekämpft hatte. So oft sie sich rührte,
+klammerte der Mälzmeister die Faust noch fester um ihre Hand, wie in
+Sorge, daß sie wieder etwas Aufreizendes sagen möchte. Augenscheinlich
+war er kein Menschenkenner, auch gegenüber seinem Weibe nicht, mit
+dem er seit einem Vierteljahrhundert im gleichen Bette schlief. Frau
+Agnes bot nicht den Anblick, als wäre sie zu weiterem Widerspruch
+entschlossen. Freilich sah sie den Richter unablässig an, aber nicht
+mehr in Angst, sondern auf eine Art, als wäre dieser würdevolle,
+schwarzgewandete und weißgelöckelte Herr für sie etwas völlig
+Unbegreifliches und ein Gegenstand des tiefsten Ekels geworden.
+
+Hinter erhöhtem Tische, auf dem zu beiden Seiten eines Kruzifixes viele
+dickbäuchige Bücher lagen, saß der Richter in würdiger Haltung neben
+dem Schreiber, dem er mit großem Aufwand lateinischer und französischer
+Worte den Schluß eines Protokolls diktierte. Zwischen den gepuderten
+Haarschnörkeln der umständlich gedrechselten Roßhaarperücke stach
+ein hageres Gesicht heraus, mit runden, kleinen, schwarzglänzenden
+Spitzmausaugen. Die Zahl der Jahre, die dieser Richter auf seinen
+schmalen Schultern trug, war schwer zu erraten. Er hatte was Kindliches
+und dennoch etwas Greisenhaftes, in jener rätselvollen Mischung,
+die stets in der innigen Ehe eines unbegründeten Selbstbewußtseins
+mit beklagenswerter Geistesarmut erzeugt wird. Das war der neue
+Landrichter, für die Leute zu Berchtesgaden eine halb beklemmende, halb
+lächerliche Person, die von Amts wegen das unverantwortliche Recht
+besaß, jede Wahrheit als Lüge, jede Lüge als Wahrheit zu erkennen und
+ihre tägliche Unheilsration zum Schaden der Menschheit anzustiften.
+In seinem Privatleben ein harmloser, vielleicht sogar ein ehrenwerter
+Mensch, wurde er in Ausübung seines Berufes eine um so gefährlichere
+Amtsbestie, je mehr er von der Unfehlbarkeit seiner richterlichen
+Entscheidungen überzeugt war. Ein Gleichnis für seine Justizmethode war
+die Form, zu der er seinen winzigen Namen aufblies. Jeder vernünftige
+Mensch des gleichen Namens hätte sich >Ring< geschrieben. Der
+Landrichter _Dr._ Willibald hatte dazu vier überflüssige Buchstaben
+nötig und schrieb sich >Hringghh<. In gleicher Weise formte er seine
+Urteile. Gewiß, er suchte die Wahrheit mit Beflissenheit. Aber er fand
+sie nicht. Für seinen Scharfblick verwandelten sich alle Dinge ins
+Gegenteil ihres Wesens.
+
+Bei dem verstaubten Gerichtsformalismus einer Zeit, die den _Dr._
+Willibald Hringghh als juridische Mißgeburt erzeugte, leider als
+eine nach der Geburt lebendig gebliebene, konnte ein Irrtum zuweilen
+auch einem guten Richter widerfahren. Unter dem Heiligenschein der
+Daumschrauben erschien vor dem Richtertische nichts so unwahrscheinlich
+als die Wahrheit, nichts so glaubwürdig als ein mit Ruhe geschworener
+Meineid. Aber bei guten Richtern wurden die Fehlgriffe zu Ausnahmen,
+bei _Dr._ Willibald mit den vier überflüssigen Buchstaben -- bei
+diesem würdigen Enkel der Hexenrichter, die ein unmündiges Mädelchen
+stundenlang über das _Semen frigidum_ des Teufels inquirieren konnten
+-- trat der Irrtum als beängstigende Regel auf. Wer vor seinen
+Richterstuhl berufen wurde, dem konnte man voraussagen: »Du sprichst
+die Wahrheit, dein Fall ist klar, du bist im Recht, also wirst du
+verurteilt werden.« Die Herren des Stiftes kannten ihn. Immer nannte
+ihn der Fürstpropst mit lächelnder Gnade: »Unser getreues Justizkamel!«
+Und ließ ihn weiter amtieren. Diese Duldung seiner Oberen war das
+größere Verbrechen als die bedauerliche Sünde, die eine unbegreifliche
+Schicksalsfügung dadurch beging, daß sie dem Lande Berchtesgaden dieses
+richterliche Käsgehirn als schädliche Laus in die Lebenswolle setzte.
+
+Neben diesem Richter stand als ein ihn geistig überragender Gehilfe
+der Feldwebel Muckenfüßl und schnaufte sehr aufgeregt. Solange der
+Landrichter diktierte, mußte Muckenfüßl schweigen. Als der Streusand
+rieselte, fing der Feldwebel gleich zu kanzleieln an: »Euer Hoch-Ehren!
+Rapportiere subordinaliter, daß da draußen _in loco hujus_ ein
+Subjektivus befindlich ist, der _vulgo_ Haynacher, der das schwarzweiße
+Monstrum hat produzieren helfen, und deß nit genug, reißt er
+impertinalimentisch den Brotladen auf, räsonnieret wider den Papst und
+macht mit landsverräterischen Rumoribus die Population im Glauben irr.
+Das hat mein eigener _ego ipsus in loco hujus_ observieren müssen.«
+
+Der magere Hals des Landrichters verlängerte sich, und weißer Puder
+nebelte ihm auf die schwarzen Schultern herunter. Er machte eine
+winkende Handbewegung und wollte sprechen. Da klang eine erregte
+Mädchenstimme im Flur, die Tür wurde aufgerissen, und Luisa im grünen
+Mantel, den der Luftzug auseinanderwehte, stand atemlos auf der
+Schwelle der Richterstube.
+
+Ein leiser Laut, halb Schreck und halb Freude, fuhr über die Lippen der
+Mutter Agnes.
+
+Erstaunt und unwillig betrachteten die kleinen Spitzmausaugen des
+Richters das junge Mädchen, das nach Atem rang. Was aus Luisas
+angstvollen und dennoch wundersam frohen Augen redete, aus der
+wechselnden Glut und Blässe ihres Gesichtes und aus dem Zittern ihrer
+Hände, von denen die eine das kleine Gebetbuch und die andere den
+Rosenkranz an der kämpfenden Brust umklammert hielt, war menschlich
+so klar und leichtverständlich, daß es der Richter mit den vier
+überflüssigen Buchstaben mißverstehen *mußte*. Nach seiner Meinung
+war der Schuldlose immer ruhig, immer mit der Fähigkeit begnadet,
+sich zu beherrschen. Jede Erregung erschien ihm als verdächtig, als
+Zeichen eines befleckten Gewissens. Er machte den Hals noch länger,
+und deutlich war es an der Runzelbildung seiner niederen Stirn zu
+verfolgen, wie sich im Lakrizentopf seines Unverstandes die Umwandlung
+des ersten Staunens zur Ahnung einer verbotenen Sache vollzog. Mit
+strenger Würde richtete er an Muckenfüßl die Frage: »Wer hat diese
+verdächtig aufgeregte Jungfer citiert?«
+
+Ehe der Feldwebel antworten konnte, trat Luisa an den Tisch und
+stammelte: »Herr Richter! Ich hab gesehen, daß man den schuldlosen
+Leupolt zum Eisen führt. Da muß ich Zeugschaft geben für ihn --«
+
+Eine erledigende Handbewegung. Fein lächelten die überflüssigen
+Buchstaben und ließen nur die eine Silbe vernehmen: »Ssssso?«
+
+Die hoheitsvolle Kälte dieses Lautes schien wie Eiswasser über Luisa
+hinzuströmen. »Herr Richter --«
+
+Wieder jene Handbewegung, etwas kräftiger. »Augenblicklich besitze ich
+für formwidrige Dinge kein Ohr. Die aufgeregte Jungfer wird deponieren,
+wenn man sie zitieren und inquirieren sollte.«
+
+»Herr Richter?« flehte Luisa verstört. »Ist es für die Wahrheit nit
+allweil Zeit?«
+
+»Nein. Jedes Ding _secundum juris regulam_. Nach der dubiosen Weisheit
+uncitierter Zeugen, auch wenn sie in Kenntnis irgendwelcher Wahrheit
+sich befinden sollten, wird nicht entschieden vor Gericht. Vor allem
+müssen die Formalitäten des Prozeßverfahrens observiert werden.«
+
+»Herr Richter?« Luisas erschrockene Augen erweiterten sich. »Steht die
+Unschuld eines Menschen nit höher --«
+
+»Nein!« unterbrach er sie. »Deshalb wird die Jungfer sich jetzt
+entfernen. Ich erkenne ihre unzulässige Voreingenommenheit für den
+Inkulpaten und bezweifle, ob man sie überhaupt zur Zeugnislegung
+berufen wird.«
+
+Sie stammelte: »Aber guter Herr Richter! Da muß doch ein Irrtum --«
+
+»Irrtümer vonseite der Gerechtigkeit, der ich diene, sind
+ausgeschlossen.« _Dr._ Willibald wollte die Feder in die Tinte tauchen,
+irrte sich und fuhr mit dem Kiel in die Streusandbüchse.
+
+»Aber Herr! Ich bin's doch gewesen, mit der in selbiger Nacht der
+Leupolt geredet hat! Ich bin doch die einzige, die weiß --«
+
+Wieder unterbrach er sie: Ȇber den Glauben, der einem Zeugen zu
+schenken ist, entscheidet weder die Tatsächlichkeit der Ereignisse,
+noch die persönliche Qualität des zeugenden Subjekts, sondern einzig
+und allein meine richterliche Räson. Punktum!« Zu diesem Worte
+des Richters machte Feldwebel Muckenfüßl erfreut die Bewegung des
+Streusandschüttens. Die dünne Stimme des _Dr._ Willibald verschärfte
+sich: »Sollte sich die Jungfer nach dieser Aufklärung nicht entfernen,
+so werde ich sie durch eine Amtsperson zur Tür expedieren lassen.« Er
+vertiefte sich in die Durchsicht des Protokolls, das er vor einer Weile
+dem Schreiber diktiert hatte.
+
+Luisa stand wie betäubt und sah den Tisch der Gerechtigkeit so ratlos
+an, als wäre sie in eine unverständliche Welt geraten, die ihr so
+schreckhaft wie unmöglich erschien. Da legte sich ein Arm um ihre
+Schultern, und als sie aufblickte, sah sie das blasse Gesicht und die
+guten Augen der Mutter Agnes. »Geh, lieb Kind!« sagte die Mälzmeisterin
+leise. »Der liebe Gott wird wissen, warum er's duldet. Ich will meinem
+Buben sagen lassen, daß du reden hättst mögen für ihn. Da wird es ihm
+leichter werden, wenn er leiden muß. Gott ist mit uns, lieb Kind, drum
+dürfen wir nit verzagen.«
+
+Das Mädchen sah erschrocken den Feldwebel Muckenfüßl an, der nach einem
+Wink des Richters auf sie zutrat. »Jesus --« Mit der Hand, die den
+Rosenkranz zwischen den zitternden Fingern hatte, tastete Luisa ins
+Leere. Dann verließ sie bleich und wortlos die Richterstube. Menschen
+und Mauer, Licht und Dunkel, alles schwamm ihr vor den Augen. Wie
+im eintönigen Geräusch des Regens das Hämmern einer Traufe klingt,
+so hörte sie in dem schwirrenden Lärm eine fiebernde Stimme rufen:
+»Da gibt's kein Verbieten nit! Was wahr ist, muß einer sagen dürfen.
+Und tät mein gottseligs Weibl nit im Himmel sein, so tät ich einen
+Misthaufen heißen, was Gerechtigkeit ist. Mein Weibl ist so heilig und
+fromm gestorben --«
+
+Die Stimme erlosch. Ein schweres Keuchen, ein hartes Klappern
+genagelter Schuhsohlen. Dann die gemütlich klingende Rede: »Gelt, du
+Subjektissimus, jetzt kannst du _silentium_ observieren!«
+
+Luisa trat in die Morgensonne und preßte den Arm über die vom
+Himmelslicht geblendeten Augen. Dann schritt sie gegen die Marktgasse
+hinüber, immer schneller, und schließlich fing sie zu laufen an, daß
+ihr ein paar Leute verwundert nachsahen. Nicht viele. Obwohl es in der
+Marktgasse von Menschen wimmelte. In aufgeregten Gruppen standen Weiber
+und Männer beisammen. Überall war lauter Zank oder scheues Gewisper,
+grollendes Wortknirschen oder erbitterte Schimpferei. Überall klangen
+die gleichen Worte: schwarz und weiß, Heil und Verdammnis. Und immer
+wieder die vier Namen: Haynacher, Hasenknopfin, Lewitter und Leupolt.
+
+Als Luisa ihres Vaters Haus erreichte, glich sie einem Menschenkind,
+das völlig von Sinnen ist. Sie hörte nicht den Sorgenschrei der Sus. An
+der blonden Magd vorüber, tastete sie gegen die Werkstatt ihres Vaters
+hin.
+
+Meister Niklaus stand bei seiner neuen Arbeit und legte, als er sein
+Kind so kommen sah, erschrocken die beinerne Spachtel fort, mit der er
+gebosselt hatte an dem roten Wachs. »Um Gotteswillen! Kind? Was hast
+du?«
+
+Sie sah nicht die schöne Morgensonne in dem großen Raum, sah nicht die
+werdende Arbeit ihres Vaters: diese schlanke von Schmerz und Sehnsucht
+bewegte Gestalt eines jungen, arm gekleideten Weibes, das mit seitwärts
+gebreiteten Armen wie angeschmiedet an einer halb zertrümmerten Mauer
+steht und den dürstenden Blick nach oben richtet. Nur das Gesicht des
+Vaters schien Luisa zu sehen, nur seine Augen. Und als er das spanische
+Hütl von ihrem Scheitel nahm und den Rosenkranz aus ihren zuckenden
+Fingern löste, fragte sie mit erwürgter Stimme: »Vater, was ist
+Gerechtigkeit?«
+
+Eine Weile sah er sie prüfend an. Dann antwortete er mit ruhigem Ernst:
+»Das kann ich dir nit sagen, Kind. Allweil hab ich an sie geglaubt,
+allweil hab ich sie gesucht auf Erden. Schau her, was ich gefunden
+hab.« Er streckte den Arm mit der hölzernen Hand.
+
+Ihre Augen wurden groß. So stand sie zitternd. Und plötzlich mußte
+sie schreien in ihrem Schmerz. Und sah, wie ihr Vater erschrak. Unter
+rinnenden Tränen stammelte sie: »Du bist gut!« Schluchzend hing sie an
+seinen Hals geklammert. »So viel mißträulich bin ich gewesen! Tu mir
+verzeihen, Vater! Ich will dein treues Kind sein. Wie du auch deutest
+und redest, ich glaub an dich und ich hab dich lieb.« Ihre Stimme
+erlosch, und eine Schwäche schien sie zu befallen.
+
+Er hob sie auf seine Arme. Glück und Sorge wirrten sich im Klang seiner
+Worte durcheinander: »Sus! Sie muß verkrankt sein in der eisigen Kirch.
+Am Morgen hat sie kein Brösl gegessen. Schnell, liebe Sus! Das Kindl
+muß gleich was Kräftiges haben.« Er trug sie über die Treppe hinauf, in
+ihre Kammer.
+
+Die Sus rannte wie verrückt in die Küche, schürte das Feuer und
+schaffte, als möchte sie jede Minute zur Sekunde machen. Und wie ein
+Husch mit dem dampfenden Schüsselchen über die Stiege hinauf. Unter
+der Kammertüre nahm ihr der Meister die Suppe ab und sagte fröhlich:
+»Vergeltsgott, gute Sus! Das ist gegangen als wie gezaubert.« Er sah
+nicht das glückliche Leuchten in den Augen der Magd, sah nur das
+zinnerne Schüsselchen an und trug es auf vorgestreckten Händen zum
+Bett seines Kindes. »So, liebs Weibli, jetzt komm und iß.«
+
+Luisa richtete sich in den Kissen auf. Noch brannten ihre Augen vom
+Weinen, noch schimmerte die Feuchtigkeit der Tränen auf ihren Lippen.
+Aber ruhig war sie, ganz ruhig. Und als sie das qualmende Schüsselchen
+auf dem Schoß hatte, sah sie mit einem wunderlich verträumten Blick
+zu ihrem Vater auf. »Es ist dir in den Augen, wie freudig du sinnest
+an deiner Arbeit. Das tust du mir jetzt zu lieb, gelt ja, und tust um
+meinetwegen nimmer Zeit verlieren?«
+
+Er beugte sich zu ihr nieder, küßte ihr Haar, und als wär' sie eine
+Schlafende, ging er auf den Fußspitzen aus der Kammer. In der Werkstatt
+stand er lange unbeweglich. Immer lächelte er und betrachtete sein
+Werk. Sich reckend, rief er über die Schulter: »Sus!«
+
+Gleich war sie da. »Soll ich den lichtblauen Kittel antun?«
+
+»Nit nötig! Wie irdischer du bleibst, so besser. Stell dich dort an
+die sonnige Mauer hin! Schau her da, so!« Er deutete auf das rote
+Wachsfigürchen.
+
+In scheuer Freude betrachtete Sus das neue Werk und wußte nicht, daß
+sie schon einmal an der Wand gestanden. So! Fast eine Stunde hielt sie
+unbeweglich aus. Und Meister Niklaus arbeitete so leicht und flink,
+als wäre seine hölzerne Hand wieder Bein und Blut geworden. Man sah
+es ihm an, wie ihn nach der glücklichen Wandlung, die er an seinem
+Kinde wahrgenommen, nun auch die Freude an seinem werdenden Werke neu
+belebte. Plötzlich machte Sus eine erschrockene Bewegung, hob lauschend
+den Kopf, sprang zum Ofen hin und warf sich auf die Knie, als müßte
+sie das niedergebrannte Feuer schüren. Auch Meister Niklaus hatte den
+Schritt seines Kindes vernommen und sagte leis: »Da mußt du nimmer
+erschrecken, Sus! Dem Kindl gehen die Augen fürs Leben auf. Da wird sie
+begreifen, was sie gestern noch nit verstanden hätt.« Er dachte bei
+diesen Worten nur an seine Arbeit, die des lebenden Vorbildes nicht
+entbehren konnte. Daß die Maria der Verkündigung nach dem Körper der
+Magd gebildet war, das hatte er vor Luisa immer verheimlichen müssen;
+sie hätte ihm das in ihrem Klosterglauben als schwere Versündigung
+angerechnet. Doch Sus schien aus den Worten des Meisters etwas anderes
+herausgehört zu haben. In ihren Zügen war der Ausdruck einer müden
+Qual, und heftig schüttelte sie den Kopf, wie um zu sagen: das wird sie
+nie verzeihen.
+
+Luisa trat ein. Sie trug ein ziegelfarbenes Hauskleid, das sich lind an
+ihren Körper schmiegte. Als sie die Magd beim Ofen sah, ging sie rasch
+zu ihr hin und sagte mit warmer Herzlichkeit: »Laß *mich* das tun,
+liebe Sus! Alles, was dem Vater freundlich ist, will ich schaffen.«
+Stumm erhob sich die Magd und verließ die Werkstatt. Achtsam legte
+Luisa die Scheite in den Ofen. Ein Krachen und Prasseln, das Rauschen
+der erwachenden Flamme. »Jetzt wirst du nimmer kalt haben, Vater!« Er
+sah in Freude zu ihr hinüber. Sie trat an seine Seite und betrachtete
+das neue Werk. Eine seltsame Erschütterung befiel sie, und etwas tief
+Innerliches war in ihrer leisen Stimme, als sie sagte: »Das redet mir
+heilig in die Seel. Schaut man es an, so möcht man weinen und muß sich
+doch freuen dran.«
+
+Ein frohes Aufatmen ihres Vaters. »Dann wird es, wie es sein muß.«
+
+Sie hob die Augen. »Aber da ist kein Engel nit?«
+
+»Eine Verkündigung soll das nit werden.«
+
+»Eine christliche Blutzeugin?«
+
+»Auch nit.«
+
+»Eine Heilige?«
+
+»Kann sein.« Ein Lächeln huschte um seinen Mund. »Es gibt doch eine
+heilige Kümmernis? Da kann's auch eine heilige Sehnsucht geben.
+Vielleicht auch eine heilige Menschheit. Was ich da machen hab müssen,
+das ist mir ein Bild des irdischen Lebens, das allweil leidet, allweil
+glaubt und in Sehnsucht allweil auf Erlösung hofft. Lang muß man
+harren. Einmal kommt sie.«
+
+Luisa sah den Vater an, als hätte sie den Sinn seiner Worte nicht ganz
+verstanden. Wieder betrachtete sie das rote Wachs, diese von Qual und
+Erwartung durchglühte Frauengestalt. Wie eine Träumende flüsterte sie:
+»Ja, Vater, das ist wahr! Die Erlösung ist vom Kreuz zu den Menschen
+heruntergestiegen. Und allweil wieder kommt sie. Sonst tät man nimmer
+glauben können.« Ein leises Aufatmen. »Ich glaub, daß der gnädigste
+Fürst gerecht ist und einen Schuldlosen begnaden muß.« Sie schlang die
+Hände ineinander und stand unbeweglich.
+
+Bei der Stille, die in der sonnigen Werkstatt war, hörte man von ferne
+her ein rasselndes Geräusch -- den Hall der Polizeitrommel.
+
+
+
+
+Kapitel XIII
+
+
+Wo der Platz vor dem Leuthaus sich hinüberbog in die Marktgasse,
+war ein schweigsames Leutgedränge. Frauen und Mädchen guckten aus
+allen Fenstern heraus. Die Trommel rasselte. Und der Feldwebel des
+Pflegeramtes, begleitet von vier Soldaten Gottes, verkündete den
+Lauschenden: Zum ersten, daß jeder Untertan, so vom Aufenthalt der
+Hasenknopfischen Menscher, wie von der verbotenen Außerlandsfahrt des
+irrgläubigen Hasenknopf in geringster Kenntnis wäre, dies unversäumt,
+zur Vermeidung geziemender Straf, der Obrigkeit bekanntgeben müsse.
+Zum anderen, daß die Untertanen, ausgenommen den sonntäglichen
+Kirchgang, jede Rottierung auf der Straße, wie jedes Herumtragen von
+Unruh erzeugenden Redereien unter Androhung dreitägiger Inhaftierung
+zu vermeiden hätten. Zum dritten, daß nach gerechtem Spruch der Jäger
+Leupolt Raurisser wegen Ausschwätzung eines geheimen Amtsbefehls
+zu Pfahl und Eisen gesprochen wäre und kommenden Sonntags nach dem
+Hochamt seine schuldige Buß _in loco hujus_ vor aller Leut Augen und
+zu wohlmeinender Warnung der Population erleiden würde. Die Trommel
+rasselte. Und die fürsorgliche Obrigkeit bewegte sich weiter. Das
+Leutgedränge rann auseinander. Die Mannsleute blieben stumm. Man sah
+nur manchmal ein müdes Lächeln oder einen zornfunkelnden Blick. Von
+den Fenstern verschwanden die Frauenhauben und die Mädchenschöpfe, die
+Straße wurde fast leer von Erwachsenen und blieb nur ein Spielplatz
+der heiteren Kinder. Berchtesgaden war an diesem kühlsonnigen
+Hornungstage anzusehen, wie die Heimat des schönsten Landfriedens.
+Dennoch sprangen Mißmut und Erbitterung, Aberglaube und Geflüster,
+Klatsch und Anklage, Scheu und Hoffnung von Haus zu Haus.
+
+Für die wachsamen Augen der Obrigkeit blieb alles ein Unsichtbares.
+Bewegung, die ihr sichtbar wurde, herrschte nur im Hausflur des
+Landgerichts. _Dr._ Willibald Hringghh war sehr beschäftigt. Ruhelos
+hatte er Protokolle zu diktieren und Streusand zu bewegen. Um vor dem
+gefährlichen Richter als dienstwillig zu erscheinen, kamen viele,
+die von den Hasenknopfischen was zu wissen glaubten. Jene, die etwas
+wußten, blieben aus. Als der Landrichter gegen Abend das Ergebnis der
+aufgenommenen Protokolle revidierte, trat der seltene Fall ein, daß er
+scharf eine Wahrheit erkannte: »Schier sechzig Bogen! Und nichts steht
+drin.« Zur Beendigung seines staatsbeschützenden Tagewerkes erteilte er
+noch die menschlich angehauchte Ordre: den Christl Haynacher aus der
+Verwarnungshaft zu entlassen.
+
+Seit dem Morgen hatte der stummgewordene Verkünder vom heiligen
+Absterben seines Weibes jene billige Wohnung genossen, in der nicht
+Mond, noch Sonne scheint. Als ihm nun in Milde gestattet wurde, das
+schwindende Abendlicht zu erblicken, begriff er das ebenso wenig, wie
+er verstand, daß jedes Wort über den frommen Tod seiner gutgläubigen
+Martle ein Verbrechen wäre, für das er, wenn er es nur ein einzigesmal
+noch beginge, so schwer wie für Diebstahl oder Brandstiftung zu büßen
+hätte. Sein Gesicht war bleich und sonderbar verändert, in seinem
+unruhigen Blick war eine Mischung von Zorn und Trauer, von Angst
+und Wirrsinn. Obwohl er fürchtete, daß sein Bübl in der Wiege seit
+dem Morgen hatte hungern müssen, schlug er nicht den geraden Weg zu
+seinem Lehen ein, sondern machte einen Umweg und spähte suchend über
+die Mauer des Gottesackers: ob da nicht irgendwo ein frischgehügeltes
+Doppelgräbchen zu sehen wäre? Nichts! Nur zertretener Schnee, nur große
+Gräber mit dem vergilbten Rasen des vergangenen Herbstes.
+
+Immer den Kopf schüttelnd, ging Christl Haynacher davon. Als er
+heimkam, fand er sein Bübl zufrieden und gesättigt, fand alle Arbeit
+im Stall getan und die Milch in den Rainen aufgesetzt. Dankbar lief
+er zur Nachbarin hinüber. Die mußte ihm verlegen sagen, daß sie den
+ganzen Tag nicht Zeit gefunden hätte, nach seinem Bübl zu schauen. Als
+Christl durch die farbige Dämmerung zurückwanderte zu seiner Haustür,
+murmelte er wie ein Träumender: »Die Unsichtbaren sind barmherzige
+Leut! Was wahr ist, müßt einer sagen dürfen.« Er trat ins Dunkel
+seines Hauses. Für sich zu kochen, das brachte Christl nicht fertig.
+Er hob das schläfrige Bübl aus der Wiege, wickelte das Kind in einen
+Lodenmantel und ging mit ihm hinüber zum Gerstenacker. Als er sah,
+daß vom schwarzen Grabhügel seines Weibes das Kreuz verschwunden
+war -- irgend ein Strenggläubiger oder ein Gottesmusketier hatte es
+herausgerissen und verworfen -- da knirschten ihm zuerst die Zähne.
+Zitternd setzte er sich auf die kalte Erde hin, hielt sein Kind
+umklammert und erzählte dem schlafenden Bübchen leise vom gottseligen
+Tod der >lieben, herzguten Mutter<. Während er so flüsterte, spähte
+er immer in der sinkenden Dämmerung umher, ob nicht einer erlauschen
+könnte, daß der Christl Haynacher erzählen mußte, was ihm bei schwerer
+Strafe zu erzählen verboten war. Als er das Bübl heimgetragen hatte,
+wurde er auch in der finsteren Stube nicht stumm, schaukelte die Wiege
+und redete immer ins Dunkle hinein, bis er von einer Übligkeit befallen
+wurde. Das kam wohl nur von der Leere seines Magens. Wo nicht Mond und
+Sonne leuchtet, gibt es auch keine Dinge, die den Menschen stärken.
+Immerhin war es möglich, daß der Zustand, der den Christl Haynacher
+befiel, etwas Seuchenartiges hatte. Unter ähnlichen Erscheinungen
+erkrankten am gleichen Abend auch noch andere Leute.
+
+Simeon Lewitter, der in der Marktgasse immer wieder das gleiche Wort
+hatte hören müssen: »Der Jud!« -- häufig auch in der Zusammensetzung
+mit einer unreinlichen Silbe -- wagte sich nimmer auf die Straße,
+schützte seine Haustür und in der leeren Kinderstube auch alle Fenster
+durch eiserne Stangen, wurde ruhelos gepeinigt von der Erinnerung
+an den roten Tauftag vor fünfzehn Jahren, bekam vor Aufregung einen
+Fieberanfall und legte sich ins Bett. Das letztere tat an diesem
+Abend auch Pfarrer Ludwig, obwohl noch eine Minute früher nicht das
+geringste Zeichen von Kränklichkeit an ihm zu bemerken war. Vor
+Anbruch des Dunkels ließ er sich wegen Unpäßlichkeit von der auf die
+siebente Abendstunde anberaumten Kapitelsitzung entschuldigen. Als
+die Hausglocke gezogen wurde und Chorkaplan Jesunder in Begleitung
+der vier überflüssigen Buchstaben bei dem Patienten erschien, den
+man im Verdacht hatte, daß er aus bedenklichen Gründen die über die
+schwarzweiße Gefahr entscheidende Kapitelsitzung schwänzen möchte,
+schlürfte Pfarrer Ludwig gerade den schmerzstillenden Glühwein, dessen
+lieblicher Zimtgeruch die Stube frühlingsähnlich durchduftete. Seine
+Pein verbeißend, machte der Pfarrer den Versuch, die eintretenden
+Herren freundlich zu begrüßen. Ehe sie sein Bett erreichten, entstellte
+sich in schreckhafter Weise sein unheimliches Warzengesicht, und
+angstvoll brüllte er die taube Schwester an: »Franziskaaa! Schnell! Es
+kommt schon wieder -- _salva venia_, Ihr guten Herren --« Er fuhr mit
+den langen mageren Beinen aus dem Bett.
+
+Fluchtartig verließen Jesunder und _Dr._ Willibald Hringghh die
+gefährliche Krankenstube. Kaum sie verschwunden waren, sprang der
+Pfarrer vollends aus dem Bett, schob die erschrockene Schwester zur
+anderen Tür hinaus, kleidete sich hastig an, öffnete einen Schrank und
+zerrte einen Mantel hervor, der nicht priesterlich schwarz, sondern
+gebändert und farbig war wie weltliche Herrentracht. Unter dem Kissen
+seines Krankenbettes holte er einen großen, von Rost zerfressenen
+Schlüssel hervor, blies die brennende Kerze aus und sprang mit den
+Bewegungen eines völlig genesenen Mannes zum Fenster. Hier stand er an
+die Mauer gedrückt und spähte hinaus.
+
+In dem milden Glimmlicht, das aus vielen erleuchteten Fenstern
+durch den Abend glänzte, schritt der Kaplan in Begleitung der vier
+überflüssigen Buchstaben über den weiten Hof zum Stift hinüber.
+Jesunder war von Pfarrer Ludwigs bedauerlichem Zustand nicht völlig
+überzeugt, war noch immer mißtrauisch. Doch unter dem Barett des
+Landrichters vollzog die fettfleckige Hirnsubstanz einen Gärungsprozeß
+zur Ausbutterung der mit Scharfsinn erkannten Wahrheit. »Nein,
+_Reverende_,« sagte er, »in diesem Falle tut Ihr ihm unrecht. _In
+contrario naturae_ versagt jeder Versuch einer Simulation. Hier
+arbeitet das _organon humanum_ ganz nach eigenem Gutdünken. Nein,
+Reverend, ich irre mich nicht, er ist wirklich ein schwer Leidender.«
+Barmherzig fügte er bei: »Ob es nicht die rote Ruhr ist? Armer,
+verlorener Mann!«
+
+Als die beiden den Kapitelsaal erreichten, war die erneute Debatte
+über die Diffizilitäten der ungetauftgetauften Mißliebigkeit schon in
+leidenschaftlichem Gange. Die Sache verwirrte sich immer mehr. Der
+Fürst war abwesend, um bei der Allergnädigsten zu speisen. Von Stunde
+zu Stunde ließ er sich Botschaft über den Verlauf der Debatte senden.
+Nach der dritten hoffnungslosen Nachricht, um die 10. Nachtstunde,
+schickte er den Grafen Tige mit dem Befehl: die Kapitularen müßten
+bis um elf zu einer Entscheidung kommen, damit alles Nötige noch vor
+Mitternacht erledigt werden könnte und der anbrechende Sonntag nicht
+bedroht wäre durch eine Entweihung. Man empfand den Befehl des Fürsten
+als eine hilfreiche Zwangslage. Doch jeder Versuch einer Abstimmung
+mißglückte. Schließlich blieb den erregten Herren kein anderer Ausweg,
+als die verschiedenen Vorschläge auf Zettel zu schreiben und den Grafen
+Tige als Vertreter des zarteren Alters, als eine Art von Waisenkind,
+das Los erküren zu lassen. Immer spricht bekanntlich der Himmel durch
+den Mund der Unschuld. Graf Tige fischte in graziösester Form den
+Schicksalsspruch aus der Urne und las: »Anatomische Trennung, Begräbnis
+der weißen Heilhälfte in geweihter Erde, Verscharrung des schwarzen,
+ewigverlorenen Abschnitzels auf dem Freimannsanger.« In Wahrheit sagte
+dieses durch die Wirkung der Unschuld verkündete Gottesurteil keinem
+der Kapitularen zu. Aber es war die unwiderrufliche Entscheidung. Man
+mußte sich mit ihr versöhnen. Rasch. Es fehlten nur noch wenige Minuten
+bis elf.
+
+Man ließ den Freimann holen, dazu den Wildmeisterknecht, der sich
+aufs Zerwirken verstand. Jesunder wurde zum theologischen Kommissär,
+der Landrichter zum Protokollisten _ad usum juris_ ernannt, zwei
+Kapitularen hatten als Zeugen zu fungieren, und wer nicht schläfrig
+war, schloß sich dem weltgeschichtlichen Vorgang als neugieriges
+Publikum an. Unter Voraustritt einiger Fackelträger bewegte sich der
+würdevolle Zug durch das Nachtschweigen auf die Armeseelenkammer zu.
+Jesunder, der den Schlüssel in Verwahrung hatte, wollte das Türschloß
+aufsperren. Dabei hatte er nicht mit dem gewissenhaften Formalismus
+der vier zwecklosen Buchstaben gerechnet. _Dr._ Willibald Hringghh
+verlangte eine peinlich genaue Untersuchung darüber: daß erstens nur
+ein einziger, in Verwahrung des Chorkaplans Jesunder befindlicher
+Schlüssel vorhanden sei; daß zweitens jede Möglichkeit eines Mißbrauchs
+dieses Instrumentes als absurd zu gelten hätte, und drittens die
+Türe noch ordnungsgemäß versperrt, das Fenster noch undurchdringlich
+vergittert und somit die Tatsache, daß kein menschlicher Fuß die
+Armeseelenkammer betreten haben konnte, als unanfechtbare Wahrheit
+festgestellt wäre.
+
+Alle Punkte wurden mit gründlichster Genauigkeit erforscht und
+zu Protokoll genommen. »Jetzt!« sagte _Dr._ Willibald gnädig zum
+Chorkaplan. Jesunder öffnete die versperrte Tür, wißbegierig
+drängten die Herren heran, die Fackelträger traten voraus in den
+finsteren, sonderbarerweise ein bißchen nach Zimt duftenden Raum, und
+da erhob sich nach stummer Verblüffung ein fürchterliches Geschrei
+des abergläubischen Schrecks, ein wirres Durcheinanderlallen der
+fassungslosesten Gemütszustände. Sogar der wahrheitsfeindliche Mann mit
+den vier entbehrlichen Schriftzeichen mußte als unbestreitbares Faktum
+erkennen: daß jener arme kleine schwarzweiße Doppeltod, der so viel
+gefährliche _rumores_ erregt und so viel ratlose Verlegenheit erzeugt
+hatte, völlig unsichtbar geworden und spurlos aus der vergitterten,
+festverschlossenen Armeseelenkammer verschwunden war. Man suchte auf
+und unter dem Totenbrett, suchte in der Fensternische, suchte in jedem
+Winkel, und der Freimann mußte sogar auf Befehl des Landrichters mit
+einem eisernen Schürhaken in alle Mauslöcher hineinstochern.
+
+Nichts.
+
+Der Wildmeisterknecht und die Fackelträger flüsterten gleich von einem
+Höllenstreich. Ein paar Verständige unter den Kapitularen nahmen
+das Unbegreifliche heiter und brachen, ein bißchen schadenfroh, in
+Gelächter aus. Der Chorkaplan stand vor dem leeren Totenschragen,
+als wäre ihm ein kalter Blitzstrahl durch alle Gelenke gefahren,
+und unter sämtlichen Augenzeugen des unerklärlichen Rätsels befand
+sich nur ein einziges, restlos glückliches Menschenkind: der _Dr._
+Willibald Hringghh. Der segnete seine Weisheit, weil er in unbewußter
+Ahnung aller Möglichkeiten keine Formalität versäumt hatte und außer
+_obligo_ war. Da gab es kein Deuten und Rütteln. Alles war formaliter
+erwiesen. Alles stand auf dem Papier. Nur die Wahrheit nicht. Um sie
+zu erforschen, begann er sich augenblicklich ans Werk zu machen, begann
+zu verhören, zu untersuchen, zu protokollieren. »Da bin ich neugierig,
+was unser justiziarisches Rhinozeros herauskitzelt!« flüsterte Graf
+Saur einem der Herren zu. »Glauben wir dann das Gegenteil, so sind wir
+der Wahrheit am nächsten.«
+
+Den Fürstpropst konnte man aus höflichen Gründen im Verlaufe dieser
+Nacht von dem Vorgefallenen nicht mehr unterrichten. Aber der Kanzler
+von Grusdorf wurde nach Mitternacht unbarmherzig aus den Federn
+herausgeläutet. Als er keuchend, in dickem Pelz, mit hohen Filztöpfen
+über den Gichtzehen, die von Menschen umwimmelte Armeseelenkammer
+erreichte und sofort ein polizeiliches Schweigverbot erließ, war das
+unerklärliche Wunder, nein, dieses gottverwünschte Teufelswerk schon
+ausgeschrien bei allen Lakaien, Jägerknechten und Musketieren. Wie
+Flugfeuer hinhüpft über trockenes Heu, so sprang die Erregung noch
+während der Nachtstunden von Fenster zu Fenster. In welchem Grade dabei
+der Respekt vor den Regierungsgewalten flöten ging, das mußte _Dr._
+Willibald an sich selbst erfahren. Er fand vor seiner Haustür unter dem
+schönen Frühgeläut ein Gedränge von Menschen vor, die, in auffälligem
+Gegensatze zur Zeitstimmung, nicht in zwei erbitterte Parteien
+gespaltet waren, sondern in einträchtiger Heiterkeit sich erlustigten.
+Als Ursache ihres Vergnügens erwies sich ein großer gelblicher
+Papierbogen, der an der Haustür des Landrichters befestigt war und in
+plumpen, fast kindlichen Schriftzügen die Verse trug:
+
+ »Ein Richter, so ein falsches Urtl fällt,
+ Ist eine Mißgeburt auf Gottes Welt,
+ Halb Leben, halb Tod,
+ Halb Lachen, halb Not,
+ Halb weiß, halb schwarz,
+ Halb Kot, halb Farz,
+ Halb Skorpion und halb ein bös Kamel,
+ Doch sunst ein Menschenkindl ohne Fehl!«
+
+Während das Hringghhische Perückenantlitz immer länger wurde, quirlte
+im Morgengrau ein fröhliches Leutgekicher. *Alle* lachten. Ohne
+Ausnahme. Jeder von diesen wohltuend Erheiterten, ob gutgläubig
+oder unsichtbar, hatte schon irgend einmal die schmerzhafte
+Wahrheitsforschung der weißgelöckelten Sauermilch am eigenen Leib
+erfahren.
+
+_Dr._ Willibald löste mit blassen, etwas tintenfleckigen Fingerspitzen
+das kleine Volkslied von der Türe, ohne die Wahrheit zu erkennen, die
+ihm da schwarz auf gelb übermittelt wurde. So leicht man an die Einfalt
+der anderen glaubt, so schwierig ist es, sich von der eigenen Dummheit
+zu überzeugen.
+
+Als der Landrichter im Haus verschwand, erhob sich auf der Gasse ein
+schadenfrohes Gelächter, ein lärmendes Durcheinanderschwatzen. Immer
+größer wurde im wachsenden Frühschimmer das Leutgedräng. Noch ehe
+die Glocken zum Hochamt riefen, waren die Stiftshöfe und alle Gassen
+von Berchtesgaden mit einem Menschengewimmel angefüllt, das an die
+viertausend Köpfe zählte. In der Sonne, die über das Dächergezack
+herunterglänzte, blitzten die Messingknöpfe auf den schwarzen Gewändern
+der Salzknappen, leuchteten die Farben der ländlichen Trachten und
+schimmerten die Silberschnüre der Bauernhüte und das zinnerne
+Schaugeschmeid der Weiber. Die vielen roten Joppen der jungen Burschen
+und die kirschfarbenen oder gelben Mädchenmieder erschienen wie tausend
+leuchtende Feuertupfen. Unter den kurzen, nur handbreit über das Knie
+reichenden Sonntagsröcken der Bäuerinnen waren die weißen Wadenstrümpfe
+wie rührsame Schneeflecken. Das bunte Gewühl dieser straffgewachsenen,
+festgefügten Menschengestalten, dieser gesunden Jugend und dieses noch
+kraftvollen Alters mit den von Sonne und Schnee gebräunten Gesichtern
+wäre ein herzerfreuender Anblick gewesen, wenn nicht die Zeitsorge, die
+Erregung der Stunde, das spähende Mißtrauen und die gereizte Heiterkeit
+einen Fieberglanz der Unruh in allen Augen erweckt und dem ganzen Bilde
+etwas Beängstigendes gegeben hätte. Dieses Leutgewoge war anzusehen wie
+ein Menschenhauf in jenen Augenblicken, die eine Masse von Tausenden
+emporreißen zu schöner Begeisterung oder sie verführen zu sinnlosen,
+verbrecherischen Dingen.
+
+Es gärte seit langer Zeit in diesen Bedrückten. In ihnen brannte
+das wühlende Erbe aus Jahrhunderten des Leidens, die gallige
+Unzufriedenheit über geistliche und weltliche Unerträglichkeiten, die
+dürstende Hoffnung auf Hilfe und das fiebernde Suchen nach dem Neuen
+und Besseren. Was sich formte in ihnen, hatte ein kindliches Gesicht.
+Zu gutmütig, um sich in Aufrührer zu verwandeln, wurden sie Träumer
+und Schwärmer. Das hatte unerstickbar in ihnen geglommen, schon lange,
+und war in den beiden letzten Jahren, seit dem großen Auspeitschen
+der Dreißigtausend aus Salzburg, als ein Unsichtbares hinter
+ihren Stirnen gewachsen. Die Behörden waren blind. Und an diesem
+bedrohlichen Sonntagsmorgen, an dem es aussah, als würde von der Seele
+des Volkes ein Schleier fortgezogen, konnte die Obrigkeit warnende
+Wahrnehmungen nicht machen, weil sie die zwecklos versäumte Nachtruhe
+bei Sonnenaufgang nachholen mußte. Sogar der einzige Musketier, der
+vor dem Stiftstor auf Wache war, hatte die Augen geschlossen. Mit der
+ungeladenen Feuersteinflinte zwischen den Knien saß er schlummernd
+auf dem sonnbeschienenen Wächterbänkl, ohne geweckt zu werden von dem
+wachsenden Stimmenlärm.
+
+Schon manchmal, wenn Schreck und Unruh durch das kleine Land geronnen
+waren, hatte das Bild des sonntäglichen Kirchgangs einer heißen
+Suppe geglichen, in der man rührt mit einem groben Löffel. So, wie
+an diesem Hornungsmorgen, war es noch nie gewesen. Hatten die Zeiten
+der stumm ertragenen Pein, die Klagstimmen in den Andachtsnächten
+der Unsichtbaren, Leupolts Mahnung bei der Untersteiner Krippe, das
+schwarzweiße Unglück im Haynacherlehen und die Ungerechtigkeiten, die
+viele gerade in diesen letzten Tagen erfahren mußten, die leidende
+Geduld des Volkes bis zum äußersten gespannt? Und sollte nun die mit
+Schreck oder Aberglauben, mit frommer Scheu oder schweigendem Staunen
+vernommene Kunde von dem unerklärlichen Mirakel der Armeseelenkammer
+zum letzten Anstoß werden, der das vollgeschüttete Geduldfaß zum
+Bersten und Überlaufen brachte?
+
+In der Morgensonne, die um alle Dächer, um das weite schöne Tal und um
+die weißen Berge einen mit tiefem Blau verbrämten, silberglitzernden
+Mantel wob, fingen auf drei Kirchtürmen die sieben Glocken zu läuten
+an, deren hallende Stimmen sich melodisch ineinander woben. Das
+lärmende Gewühl der Menschen begann sich zu schieben und strömte nach
+drei Richtungen. Inmitten dieser Menschenwoge war nur ein Einziger,
+der allem Aufruhr dieses Morgens entzogen blieb. Das war gerade der
+Hauptbeteiligte, der von seinem dunkelgrünen Bauernhut drei schwarze
+Trauerbänder herunterhängen hatte. Wäre Christl Haynacher nicht das
+unglückseligste Mannsbild der Welt gewesen, so hätte er sich an diesem
+Morgen beinah als einen Glücklichen fühlen können. Beim ersten Wort,
+das er vom Mirakel in der Armeseelenkammer vernommen hatte, war es für
+ihn eine ausgemachte Sache, daß sein gottseliges Martle mit treuen
+Mutterhänden aus dem Himmel heruntergegriffen, ihr liebes Pärl aller
+irdischen Pein entzogen und die zwei kleinen, unzertrennlichen Seelchen
+hinaufgehoben hatte in den ewigen Glanz. Und *das* zu erzählen, das
+war ihm polizeilich *nicht* verboten. Jedem Menschen, mit dem er auf
+dem Kirchgang Seite an Seite geriet, verkündete er das gottschöne
+Wunder seiner in die Seligkeit emporgeflogenen Kinder. »Gelt, so was
+Heiliges macht die Mutlosen wieder gutgläubig! Schau, jetzt bin ich
+nach allem Elend wieder ein aufrechtes Mannsbild! Und daß ich kein
+Wörtl nit geredet hab von meinem gottseligen Weibl, nit von ihrem
+Erlösungswunder, nit von ihrem schönen und heiligen Tod? Gelt, Mensch,
+das kannst du bezeugen und tät's einen kreuzweis geschworenen Eid vor
+dem selbigen kosten, der alles Gute verbietet.«
+
+Während Christl so redete, hatte er immer einen nassen Schimmer in
+den Augen, hatte immer ein Lachen des Glückes um den von Schmerzen
+zuckenden Mund. Und als er zwischen tausend anderen in der Kirche war
+und unter dem Rauschen der Orgel in seinem Betstuhl tiefgebeugt auf den
+Knien kauerte, fühlte er sich in seinem Herzen als einen so treuen und
+dankbaren Katholiken, wie er's in seinem ganzen Leben noch nie gewesen.
+Und für die schwere Sünde, die er gleich nach dem Hochamt begehen
+mußte, bat er den lieben Herrgott im voraus um Vergebung. Anstelle des
+ausgerissenen Kreuzes ein neues auf das Grab seiner Martle zu stecken?
+Freilich, das war nicht gutgläubig und war verboten. Aber der Christl
+mußte das tun. Und wenn der liebe Herrgott da droben die Martle mit
+ihren zwei seligen Kinderlen ansieht, dann versteht er es schon und muß
+es verzeihen.
+
+Alle Kirchen waren schon dicht gefüllt, Schulter an Schulter, und noch
+immer strömten lange Menschenzüge heran, die nimmer Einlaß fanden und
+vor den Toren sich anstauten zu großen Gruppen, in denen die letzten
+Nachzügler nur noch das Orgelspiel und die Klingeltöne, aber nimmer die
+Worte der Predigt vernehmen konnten.
+
+Der Brunnenplatz und die Marktgasse waren still und leer, alle
+Haustüren versperrt, alle Fenster geschlossen und verhängt. Auch der
+Musketier vor dem Stiftstor war verschwunden, war aufgewacht und
+frühstückte in der Torstube seine Bratwurst. Nur die zerfließenden
+Schneeflecken, die Sonne und der Schatten waren noch da. Und das
+Brunnenrauschen.
+
+In dieser schweigsamen Öde erschien am Ende der Marktgasse ein
+Stiftslakai, spähte an den Häusern hin und verduftete wieder. Nach
+einer kurzen Weile kehrte er zurück und schritt einer reich mit Silber
+verschnörkelten Sänfte voran, die von zwei Jägerknechten getragen wurde
+und zugezogene Gardinen hatte.
+
+Als die Sänfte durch die Torhalle des Stiftes gaukelte, trat die Wache
+nicht ans Gewehr, und man trommelte nicht. Mit Rücksicht auf die
+Kirchenzeit.
+
+Wenige Minuten später, unter der Brennschere und Puderquaste des
+parisischen Perückenmeisters, mußte Herr Anton Cajetan, welcher
+gutausgeschlafene Augen hatte, die Kunde des Mirakels vernehmen, das in
+der Nacht geschehen war. Nach dem ersten Staunen sagte er mit gerechtem
+Ärger, aber in bestem Deutsch:
+
+»Welcher Schafskopf hat mir denn *das* schon wieder angerichtet?«
+
+
+
+
+Kapitel XIV
+
+
+In der schönen, frühlingskühlen Sonnenstille läuteten die Glocken zur
+Wandlung. Als ihre letzten Klänge mit Gesumm verhallten, wurde es in
+der schlummerfriedlichen Torhalle des Stiftes ein bißchen lebendig.
+Unter Führung des Wildmeisters erschienen acht Jägerknechte mit
+vier großen, zweirädrigen Karren. Drei von diesen sanftholpernden
+Fahrzeugen waren mit Jagdnetzen, Stellstangen, Pflöcken und Seilen
+beladen. Auf dem vierten Karren befanden sich zwischen zwei großen
+Klappkisten die drei kleineren Kastenfallen mit den sechs Füchsen, die
+vor der Mittagsstunde >geprellt< werden sollten, um der edlen Aurore
+de Neuenstein und ihrem galanten Hofstaat ein Sonntagsvergnügen zu
+bereiten. Der Wildmeister schmunzelte immer, wie in Erwartung eines
+ganz besonders fröhlichen Ereignisses. Auch die Jäger befanden sich
+in guter Laune. Sie waren Mitverschworene bei dem vom Grafen Tige
+ersonnenen Knalleffekt, der das Fuchsprellen zur Überraschung der
+Demoisellen lustig beschließen sollte. Munter kuderten die Jäger, als
+der Wildmeister befahl: »Nur langsam über den Straßgraben, daß sich die
+vier lieben Kostbarkeiten in den großen Kästen nit überpurzeln. Wenn
+die einander die Bäuch aufreißen, wär der ganze feine Jux beim Teufel!«
+
+Der Karrenzug ging eine Strecke über die zum Tal der Ache führende
+Straße hinunter und dann hinauf zu der großen, noch von dünnem
+Schnee bedeckten Wiese, die sich an den gestutzten Hofgarten
+anschloß. Was man den >Hofgarten< nannte, bot nicht den Anblick eines
+fürstlichen Parkes. Es war nur ein großes, umzäuntes Gemüsefeld,
+jetzt schneefleckig, mit entblätterten Beerstauden und Obstbäumen,
+die man der Zeitmode zulieb ein bißchen versaillisiert und mit der
+Schere höchst sonderbar in Form von Bechern, Leiern und Pyramiden
+zugestutzt hatte -- ein halb komisches, halb trauriges Gleichnis für
+die Mißgeburten der modischen Pariserei, für das Wollen und Nichtkönnen
+der kleinen, durch sinnlose Verschwendung überschuldeten Höfe.
+
+Auf der freien Wiese, die neben diesem fürstpröpstlichen Hofgarten
+lag, wurden die Netze für die galante Festivität des Fuchsprellens
+aufgestellt. Sonst war es nicht üblich, die Population an den
+Erlustigungen des Hofes teilnehmen zu lassen. Das niedere Volk
+in seinem Unverständnis war immer rasch bereit, die graziöseste
+Galanterie als Schweinerei zu verschreien. Drum pflegte man sonst
+den Festraum solcher Ergötzlichkeiten mit hohen, undurchsichtigen
+Jagdtüchern zu umschließen. Doch für das muntere Fuchsprellen hatte
+man, einem staatsweisen Rate des Herrn von Grusdorf entsprechend, die
+durchsichtigen Netze gewählt. Der Kanzler war der Meinung, daß der
+gnädig bewilligte Mitgenuß bei solch einem heiteren Spektakel eine
+wünschenswerte Beruhigung der bedenklich erregten Subjekte inaugurieren
+würde.
+
+Der Schaulust des Volkes wurde an diesem sonnleuchtenden Hornungsmorgen
+auch noch auf andere Weise gedient. Während auf der Hofwiese die
+Netze für das Fuchsprellen gespannt wurden, brachten zwei Bußknechte
+aus der Torhalle den langen, schweren, mit festen Eisenklammern
+versehenen Schandbalken herausgetragen. Seine Farbe -- er war von dem
+vielen eingetrockneten Blut beinahe schwarz geworden -- konnte davon
+erzählen, daß die Schaustellung an diesem Holz der Unehr nicht nur
+eine qualvolle, auch eine lebensbedrohliche Sache war. Die robustesten
+Inkulpaten hielten das Hängen in diesen schneidenden, Haut und Muskeln
+zerreißenden Eisenklammern nicht länger als zehn Stunden aus, ohne
+der Erschöpfung und dem Blutverlust zu erliegen. Die meisten der
+Verurteilten wurden schon gleich zu Beginn der Marter ohnmächtig, und
+löste man sie vom Balken, so krankten sie Wochen und Monate an den
+schwärenden Wunden.
+
+Dieses häufig benötigte _instrumentum justitiae_ aufzurichten,
+verursachte geringe Arbeit. Man brauchte nur aus dem dicht am Brunnen
+befindlichen Mauerloch den deckenden Holzstöpsel herauszuziehen und
+den Balkenfuß hineinzusenken. »Lupp auf!« Die zwei Freimannsleute
+hoben mit den Schultern. Ein kollerndes Gepolter, und nun stand der
+hohe Balken aufrecht, ähnlich einem Galgen ohne Querholz. Eine kleine
+Leiter wurde angelehnt, und alle Vorbereitungen für diese Sonntagsgabe
+der Hringghhischen Wahrheitsforschung waren erledigt, gerade in dem
+Augenblick, als alle Kirchenglocken den Segen des Hochamtes melodisch
+auszuläuten begannen. Aus dem Schattendunkel des Tores kam ein kleiner
+Zug heraus: zwei Musketiere, hinter ihnen der gutwillige und deshalb
+ungefesselte Verbrecher zwischen dem Freimann und seinem Knechte,
+dann wieder zwei wachsame Soldaten Gottes und als Beschluß der etwas
+schläfrige Feldwebel Muckenfüßl, der, um seinem staatserhaltenden Amte
+zu genügen, von seiner Christenpflicht ein kleines, für den lieben
+Gott gewiß nicht belangreiches Zipfelchen hatte abzwicken müssen.
+
+Leupolt Raurisser ging aufrecht, mit festem Schritt. Er hatte keine
+Spur von Scham oder Zorn im Gesicht. Der Blick seiner glänzenden
+Stahlaugen war so still, als wäre für ihn, was hier geschah, eine
+fremde Sache. Die sinnende Ruhe, mit der er hinauf sah ins leuchtende
+Blau, war fast ein heiteres Lächeln. Der Schein der Morgensonne glänzte
+auf seiner Stirn und auf den Strähnen seines dichten Blondhaars.
+Meister Raurisser hatte das beim Pflegeramt erbettelt: daß man seinem
+Buben den Kopf nicht schor wie einem Ehrlosen. Man hatte dem Vater
+diese unverdiente Gnade aus Klugheit bewilligt, weil der Mälzmeister
+die Güte des Bieres, das er für die Herren braute, leicht durch eine
+unerweisbare Bosheit zu mißliebigen Wirkungen permutieren konnte.
+
+Am Schandpfahl durfte Leupolt das fürstpröpstliche Jägerkleid nicht
+tragen; man hatte ihm die Uniform jenes Aufenthalts verliehen, in dem
+es nicht Mond noch Sonne gibt: einen langen Kittel aus grauem Zwilch,
+dessen schlappe Falten einen zutreffenden Schluß auf die Feuchtigkeit
+der Mauern gestatteten, zwischen denen Leupolt seit seiner Heimkehr
+vom Königssee viele dunkle und doch von einem Stern durchleuchtete
+Stunden verbracht hatte. Pfarrer Ludwig, wenn er den Leupolt so
+gesehen hätte, würde vielleicht im Sinne Spinozas wieder gesagt haben,
+daß kein Ding auf Erden so bös ist, um sich nicht irgendwie in ein
+Gutes für die Menschen verwandeln zu können. In keiner Jägertracht,
+auch nicht in der Weidmannsgala mit den Silbertressen und den hohen
+Knöpfelgamaschen war es so deutlich wie in diesem schmiegsamen, von
+Sickerwasser durchtränkten Sträflingskittel zu erkennen gewesen, welch
+einen schönen, stracken, prachtvoll gebauten Jünglingskörper der
+Leupolt Raurisser von Mutter und Vater, von Gott und Natur empfangen
+hatte. Schade, daß Pfarrer Ludwig, der schöne Menschen immer mit Freude
+sah, diese Wahrnehmung nicht machen konnte; von seiner Unpäßlichkeit
+gepeinigt, lag er noch immer zu Bett und litt so schwer, daß er seit
+dem vergangenen Abend den Bader schon viermal hatte holen lassen.
+
+Als die Karawane der Gerechtigkeit zum Brunnen kam, sagte Muckenfüßl
+mit einem sanften Unterton von Barmherzigkeit: »Jetzt tu nit obstinat
+sein, junger Inkulpatant! Und mach dem Freimann _in loco hujus_
+keine Schwulitäten nit!« Der Feldwebel brauchte nicht weiterzureden.
+Die Leiter verschmähend und mit einem Sprung, so flink, daß die
+erschrockenen Soldaten Gottes einen Fluchtversuch vermuteten, schwang
+sich Leupolt auf den marmornen Brunnenrand, stieg auf den kleinen
+Fußblock des Balkens, drehte hurtig den Körper, preßte den Rücken
+gegen den Pfahl, verschlang hinter ihm die Arme und sagte: »So! Ich
+steh. Jetzt haket die Eisen ein!« Gleich war der Freimannsknecht auf
+der Leiter, und Muckenfüßl, der für menschliche Werte nicht so völlig
+blind war wie der gelöckelte Rechtsbalbierer, sagte anerkennend: »Tät
+sich jeder Inkulpatant so kommoditätisch wie du traktieren, da wär
+die justiziarische Mühsamkeit für meinen _ego ipsus_ ein sanftmütiges
+Knödelschlucken. So! Jetzt tu schön pazientisch aushalten. Acht
+Stündlen bis zum Betläuten am Abend ist eine gnädige Tempora für so
+eine schwere Crimination.« Gähnend schritt der Feldwebel davon, um
+sich ein Stündl aufs obrigkeitliche Ohr zu legen. Die vier Musketiere
+blieben als Wache zurück, und der Freimannsknecht erledigte seine
+klirrende Arbeit.
+
+Leupolt stand unbeweglich am Pfahl und zog nur die Brauen ein bißchen
+zusammen, als die schweren, rostrauhen und scharfkantigen Eisenbänder
+seine Fußknöchel, seine Handgelenke und seinen Hals umklammerten. Der
+körperliche Schmerz war keine Pein für ihn. Sein Leiden begann erst,
+als nach den letzten Glockenschlägen des Segengeläuts der bunte Schwarm
+der Kirchgänger heranströmte. Von vieren hoffte Leupolt, daß sie nicht
+kommen würden; seiner Mutter, dem Vater und den Brüdern hätte er an
+diesem Tag nicht gern in die Augen gesehen; durch einen Bußknecht,
+der sich ihm freundlich erwies, hatte er die viere bitten lassen, den
+Marktplatz nicht zu betreten. Und gerne hätte er das auch einer anderen
+noch sagen lassen. Alle, alle sollten kommen. Nur diese Einzige nicht!
+Die barmherzig für ihn hatte reden wollen vor dem Richter! Die sollte
+ihn nicht hängen sehen am Holz der Unehr. Und nicht um seinetwegen,
+um ihrer selbst willen sollte sie das nicht sehen müssen. Er wußte:
+weil sie gerecht war, würde sie leiden bei seinem Anblick. Dieser
+Gedanke wurde ihm zu einer Qual. Dennoch war in dieser Marter auch eine
+Süßigkeit, die ihm schön durch die Seele und durch jeden Blutstropfen
+rieselte.
+
+Schon begann sich ein Schwarm von Kindern um den Brunnen zu sammeln,
+Burschen und Mädchen blieben stehen, Männer und Weiber. Erst war's
+nur ein scheues Flüstern, dann ein erregtes Durcheinanderreden,
+ein wirrer Lärm. Immer dichter sammelten sich die Menschen, schon
+waren es Hunderte, ein Paar Tausend jetzt, ein Gewühl von Schultern
+und Köpfen, und Leupolt wußte, nun würde das kommen, wie es immer
+kam, wenn ein zum Eisen Gesprochener am Balken hing: das höhnende
+Geschrei, der grausame Spott, das Wasserspritzen und Kittelzupfen.
+Sich im Eisen streckend, hob er die Augen zum Blau und sprach mit
+lauter Stimme das Gebet des preußischen Königsprinzen: »Herr, wenn ich
+Dich nur hab, so frag ich nimmer nach Himmel und Welt; auch wenn mir
+Leben und Seel verschmachten, bleibst Du mein Heil und meines Herzens
+Trost!« Hell, wie der Klang eines stählernen Hammers tönte seine feste
+Jünglingsstimme über den weiten Brunnenplatz. Eine seltsame Bewegung
+ging über die Menschenmenge. Wie ein Rauschen war es, so, wie jenes
+dumpfe, wunderliche Sausen ist, wenn in der Stille vor einem Gewitter
+der erste Sturmstoß in die belaubten Bäume fährt. Leupolt sah das nicht
+und hörte keinen Laut. Das Gesicht emporgerichtet, hatte er die Augen
+geschlossen, weil die Sonne ihn blendete. In dem purpurnen Schein,
+der ihm kreisend hinschwamm über die geschlossenen Lider, standen
+plötzlich, gleich einer wirklichgewordenen Erinnerung, die Linien eines
+Holzschnittes, den er im Winter beim Wildmeister gesehen hatte: wie der
+Küstriner Henker dem Leutnant Katte das Haupt herunterschlägt, und wie
+an einem Festungsfenster der kleine, magere Kronprinz Friedrich von
+zwei Offizieren an den Armen festgehalten wird, um nach seines Vaters
+Willen das Grauenvolle mit eigenen Augen anzuschauen.
+
+Noch immer die Lider geschlossen haltend, flüsterte Leupolt: »Was ist
+mein Leiden dagegen? Ein Stäubl.« Seine Brust hob sich unter einem
+tiefen Atemzug. »Ob der Königssohn wohl so gebetet hat in jener harten
+und blutigen Stund? Und hat das Gebet ihn hinübergelupft in die
+friedsame Ruh? Da wird es auch mich hinüberlupfen über das bißl Weh.
+Über so einen leichten Tag! Zum ruhsamen Stündl nach der Betläutzeit!«
+
+War sie schon da? Diese stille Stunde? Langsam öffnete Leupolt die
+Augen, und während ihm an Hals und Händen schon das Blut unter dem
+scheuernden Eisen herauströpfelte, sah er wie ein Träumender über die
+zusammengestaute Menschenmenge hin, die schon angewachsen war auf drei,
+vier Tausende. Nur ein dumpfes Gesumm, kein lautes Wort, keine höhnende
+Rede, kein Kittelzupfen und kein Wasserschütten. Alle Gesichter waren
+ihm zugewendet, alle Augen waren auf ihn gerichtet, und in jedem Aug,
+auf das er hinuntersah, war Erregung und Verstörtheit oder Trauer und
+Erbarmen.
+
+Daß alle, die da standen, hart umpeitscht waren von der Woge der
+Zeit; daß jeder zu tragen hatte an einer Pein des Lebens; daß alle
+Gemüter und Gehirne an diesem Morgen durchwirbelt waren vom Mirakel
+der Armeseelenkammer; daß die Unsichtbaren fühlten: dieser Gequälte
+ist der Unsere, der für uns duldet und mit dem wir leiden; und daß
+die Gutgläubigen wußten: das ist der Leupolt Raurisser, von unseren
+Buben der redlichste, der Sohn der frömmsten, treuesten und gütigsten
+Bürgerin im Land -- das war es nicht allein, was aus diesen tausend
+trauernden oder funkelnden Augen redete. Es war in ihrem Blick noch
+etwas anderes, etwas Tieferes und Stärkeres, etwas Dunkelschönes
+und Unnennbares. Das sah und fühlte der Blutende am ehrlosen Holz.
+Und zwischen dem Schwarm der Kinder, die stumm und scheu zu ihm
+hinaufblickten, stand eine engzusammengepreßte Gruppe von sieben
+alten, graubärtigen Männern. Der vorderste am Brunnen, das war der
+greise Fürsager von der Untersteiner Krippe, und neben ihm stand der
+bejahrte Fürsager von Bischofswies, der von Ilsank, von der Ramsau, vom
+Taubensee, vom Schwarzeneck und von der Gern. Und der Untersteiner,
+der zwei andere an den Armen umklammert hielt, streckte dem Leupolt
+das Gesicht mit vorstechendem Bart entgegen und flüsterte immer mit
+langsamen Lippen, wie man redet zu einem Taubgewordenen, damit er
+lesen soll aus den Zeichen des Mundes. Leupolt erfaßte keinen Laut;
+den blutenden Hals im Eisen reckend, spähte er immer auf diese welken
+Lippen hinunter, mit dem gleichen bohrenden Jägerblick, mit dem er
+droben über den Wänden den Flug eines kreisenden Adlers zu verfolgen
+pflegte -- und plötzlich verstand er, nickte dem Alten lächelnd zu
+und begann mit lauter Stimme die Worte der Bergpredigt vor sich
+hinzusagen. Wieder ging jenes seltsame Rauschen über die tausend Köpfe
+und Gesichter. Von den Musketieren tuschelte einer seinem Kameraden zu:
+»Flink zum Muckenfüßl! Mir gefallen die Leut nit. So sind sie noch nie
+gewesen.«
+
+Irgendwo ein Gewirr von lauten Rufen. Eine wachsende Unruh. Da drüben
+war's, wo hinter der Stiftsmauer das enge Gässel herausmündete. Und
+jetzt eine scharfe, in Erregung schreiende Frauenstimme: »Lasset mich
+durch, ihr Leut! Eine Mutter muß allweil einen Weg zu ihrem Buben
+haben!« Leupolt erblaßte. Er versuchte hinüber zu sehen, konnte aber
+den Kopf im Eisen so weit nicht wenden. Es rannen ihm nur am Hals die
+Blutfäden dicker unter den Zwilchkittel. Und da war schon im Gedräng
+eine schmale Gasse offen, und Frau Agnes, mit einem Körbl zwischen den
+zitternden Händen, kam zum Brunnen her. Ihr Gesicht war fast so weiß
+wie ihre Haube. »Bub!« sagte sie. »Schau, deine Mutter ist da!« Es
+wurde so still, daß man im leisen Brunnengeplätscher jedes ihrer Worte
+bis zu den Häusern hinüber verstehen konnte. »Deine Brüder hab ich
+eingeriegelt im Haus. Die täten Dummheiten machen. Ich tu, was recht
+ist, nit mehr. Und alles hab ich bei mir, was du brauchst. Tut dich
+hungern? Ich hab's im Körbl.«
+
+»Frau!« murrte ein Musketier. »Das ist verboten.«
+
+Die Mälzmeisterin hörte das nicht. Sie sprach zu ihrem Buben hinauf:
+»Tut dich dürsten? Ich hab's in der Flasch.« Gleich wollte sie
+auspacken.
+
+Er sah in Freude und Kummer zu ihr hinunter. »Mutter! Du Gute! Was tust
+du mir!«
+
+Sie hörte nicht seine Zärtlichkeit, nur seinen Vorwurf. »Ich tu, was
+ich gelernt hab von der heiligsten aller Mütter. Ist die nit auch
+als Mutter unter dem blutigen Holz gestanden? Soll ich daheimbleiben
+und Krapfen backen? Da tät mich die heiligste Mutter im Leben nimmer
+anschauen mit ihren gütigen Augen.« Nun sah sie das Blut über seine
+Hände rinnen und mußte aufschreien, zerrte das weiße Tuch von ihrem
+Hals, fuhr damit in den Brunnen und wollte die Hände ihres Buben
+kühlen. Ein Musketier schob seine Feuersteinflinte zwischen Frau Agnes
+und den Balken. »Das ist verboten, du!« Die Augen der Mälzmeisterin
+funkelten. Aber sie blieb verständig, zog nur ein bißchen mit der Hand
+aus, in der sie das triefende Tuch umklammert hielt. »Verboten oder
+nit, ich tu's! Und tätst du's wehren, so schlag ich dir das nasse
+Tüchl ums Maul, daß du von deinem Weib noch nie eine festere Schell
+gekriegt hast.«
+
+Ein heißes Auflachen von tausend Menschen. Auch das hörte die
+Mutter Raurisser nicht. Während ihr die Tränen über das Kinn
+herunterkollerten, streckte sie sich am Holz der Unehr hinauf und
+hob die Arme. Der Musketier wollte sie fassen, doch einer von seinen
+buntgelitzten Kameraden packte ihn am Arm, wurde bleich und knirschte:
+»Die Frau tust du in Ruh lassen. Gelt!« Das hörte und sah von den
+Tausenden niemand, alle sahen nur die Mutter Agnes an, die mit dem
+nassen Tuch die blutenden Hände ihres Buben wusch. Und aus dem
+Menschengewühl flog über den Brunnen her eine grillende Mädchenstimme:
+»Recht so, Mutter!« Es war das Untersteiner Mädel mit den zerschlagenen
+Brüsten. »Recht so, Mutter! Und gelt, da tust du nit grüßen: Gelobt
+sei Herr Jesuchrist!« Die letzten Worte gingen unter in dem einmütigen
+Aufschrei der Tausende: »Recht so, Mutter! Recht so!« Der Zorn einer
+erbitterten Menschenseele hatte den Tausenden das Wort der Stunde
+gegeben. Dann ein verblüfftes Schweigen und Schauen.
+
+Aus der Halle des Stiftstores klang eine heitere Hifthornweise heraus,
+fein harmonisch ineinander geblasen. Tausend Menschen drehten die
+Gesichter und streckten die Hälse. Aber was in diesen Augen blitzte,
+war nicht die Neugier, nicht die Lachlust derer, die der deutschferne
+Wortschatz des Pflegeramtes als Subjekte zu bezeichnen pflegte. Herr
+von Grusdorf hatte sich in seinen staatsmännischen Kalkulationen
+wieder einmal geirrt. Sehr verhängnisvoll. Der bunte, nach Pariser
+Grazie strebende Zug der Fuchsprellerpaare hätte in keinem Augenblick
+erscheinen können, so falsch gewählt, wie dieser.
+
+Vorerst aber sahen die Hunderte, die vor den Stäben der Läufer
+auseinander wichen, dieses unnatürliche Schritthüpfen und gezierte
+Steifrockschwenken mit schweigendem Staunen an, den Zorn nur in den
+Augen.
+
+Voraus die drei betreßten Jäger mit den in der Sonne blitzenden
+Hifthörnern, dann die Pagen, an deren gebänderten Stäben die
+Fuchsschwänze baumelten, dann die sechs Prellerpaare, als erstes Graf
+Tige mit der Allergnädigsten in grüner Seide und wehenden Pelzflocken,
+dann die fünf anderen Domizellaren mit den hübschen Beamtentöchtern,
+deren geschmacklos zusammengestoppelter Aufputz genau so Pariser
+Mode war, wie der gestutzte Hofgarten ein Park von Versailles. Die
+Festlaune der sechs Pärchen war überaus munter. Immer gab's da was zu
+kichern über galante Scherze, über unzulängliches und komisch wirkendes
+Französisch. Unter den schmelzenden Hifthornklängen, umtänzelt von den
+Pagen, die mit ihren Fuchsschwänzen die Demoisellen an den Hälsen und
+Nasen kitzelten, hüpften und menuettierten die Prellerpaare an den
+Bürgern und Bauern vorüber, in deren Gedräng es laut zu werden begann.
+Aurore de Neuenstein, die wohl lieblich zwitscherte, aber nicht ganz
+so pflaumenzart, nicht ganz so unschuldsvoll und kindlich aussah wie
+sonst, wurde plötzlich überraschend ernst, sah fast erschrocken in das
+lärmende Gewühl hinein, wollte sagen: »_Qu'est-ce que c'est que le
+peuple_« -- vergaß wie vor dem Haynacherlehen ihrer modischen Bildung
+und stotterte: »Was hawe denn die dumme Leit?« Graf Tige schien das
+Bedrohliche der Situation zu empfinden, und befahl den Hornbläsern:
+»_Vite! En avant!_« Er zog das Händchen der Allergnädigsten, die er
+zierlich an erhobenen Fingerspitzen geleitet hatte, schutzfreudig unter
+seinen Arm und machte den anderen Pärchen jene flinke, sehr natürliche
+Gangart vor, die man vor Ausbruch eines Gewitterregens einzuschlagen
+pflegt. So gelang es ihm, den faschingsbunten Zug zur Hofwiese
+hinüberzubringen, bevor die erregten Subjekte ihren mißverständlichen
+Zorn in polizeilich unzulässigen Formen zu äußern begannen.
+
+Es sah in dieser Stunde mit der Schaulust und Lachfreudigkeit der
+niederen Population sehr mager aus. Nur ein Häuflein Kinder zappelte
+dem hohen Netz entgegen, das den höfischen Festplatz umspannte,
+und außer einigen vorsichtigen Mannsleuten, denen es auf dem
+Brunnenplatze nimmer geheuer erschien, bestand das dankbare Publikum
+des beginnenden Fuchsmartyriums fast nur aus den Müttern, Schwestern
+und spöttischen Basen der fünf bürgerlichen Demoisellen, die man der
+hohen Ehre, an solchem Hofspektakel teilzunehmen, als würdig erfunden
+hatte. Unbekümmert um Gunst oder Mißgunst derer von da unten, fand
+die Prellgesellschaft innerhalb des Netzes rasch ihre vergnügte
+Laune wieder, und Aurore de Neuenstein zwitscherte mit entzückender
+Kindlichkeit die politische Meinung aus, man müsse da bald einmal
+»rechtschaffe dezimiere«, um wieder erquickliche Ruh ins Ländle zu
+bringen.
+
+Vor der Mündung des langen, durch eng aneinander gesteckte Rutenbogen
+gebildeten >Fuchslaufes< stellten sich die Paare erwartungsvoll in
+bunte Reihe, Schulter neben Schulter. Jeder Demoiselle stand ihr
+Monsieur, jedem Monsieur seine Demoiselle gegenüber. Zwischen jedem
+Pärchen im _vis-à-vis_ lag quer vor dem Fuchslauf die spannenbreite
+und drei Ellen lange Prellgurte auf dem Schnee, mit festen Holzgriffen
+für die Hände an den Enden. »_Attention, mesdames et messieurs!_«
+kommandierte der Wildmeister, der kein Französisch verstand und es
+aussprach, wie man Haselnüsse knackt. »_Exit le premier renard!_«
+Die Hifthörner bliesen eine Gavotte, die erste Kastenfalle wurde
+geöffnet, und gleich einer langgestreckten roten Flamme sauste der in
+der Falle mit einem Schwefelfaden gebrannte Fuchs durch den langen
+Laufgang der Rutenbogen. Im Gesichtchen der Allergnädigsten zeigte
+sich der Ausdruck einer fiebernden Spannung. Jetzt fuhr der Fuchs,
+dem die Sonne grün in den Augen funkelte, aus den Rutenbogen heraus.
+»Huppla!« schrie Aurore de Neuenstein mit einer von süßer Grausamkeit
+durchzitterten Freude ihrem Partner zu. Ein Zuck der in weißem
+Ziegenleder steckenden Händchen, die Prellgurte schnellte wie der Blitz
+in die Höhe, und der Fuchs, von dem heftigen Netzschlag an der Weiche
+gefaßt, flog ein Dutzend Ellen hoch in die blauen, hornungskühlen
+Sonnenlüfte hinauf. Heiter lachte Graf Tige: »_Le voilà!_« Alle die
+jungen, blitzenden Augen waren auf den fliegenden Fuchs gerichtet, der
+bei seiner Luftreise drollig zappelte, elegante Kapriolen machte und
+absonderliche Purzelbäume schlug. Vom Schusse seines Laufes im Fluge
+noch weitergetrieben, fiel er in das dritte Prellnetz. »Huppla!« Von
+kräftigeren Fäusten aufgeprellt, sauste er noch höher in die Luft,
+überschlug sich wie ein hurtiges Feuerrad mit wehendem Kometenschwänzl,
+fiel in das vierte Prellnetz, sauste wieder in die Höhe, und als
+er nach dem letzten Sonnenfluge außerhalb der glitzerbunten Reihe
+dieser lieblichen Jugend wie ein kleiner roter Sandsack schwer
+herunterplumpste in den weißen Schnee, hatte er, mit rotem Schaum vor
+den gefletschten Zähnen, seine irdische Ruh gefunden und war entseelt.
+
+Die Hifthörner bliesen die melancholische Fuchstodweise. Ein
+Beifallklatschen -- nur innerhalb des Netzes -- ein seliges
+Durcheinanderzwitschern; der erlöste Fuchs, der blutbefeuernde Reiz
+der Stunde, der rotfleckige Schnee, die Sonne, der Himmel, das
+silberne Bild der Berge, alles war »_Superbe!_« war »_Magnifique!_«
+und »_Très délicat!_« Nur nach dem Brunnenplatz verirrte sich kein
+Blick der seligblitzenden Unschuldsaugen. »_Attention, mesdames et
+messieurs! Exit le second renard!_« Die Hörner gavottierten, die rote
+Flamme sauste durch die Rutenbogen -- »Huppla!« -- und während das
+zweite Opfer dieser graziösesten aller Menschenfreuden gegen die Sonne
+wirbelte, schien es plötzlich, als wäre da drüben auf dem Brunnenplatze
+aller Lärm versunken in ein lautloses Schweigen.
+
+Nein! Da drüben war es nicht völlig still geworden. Es übertönten nur
+die Hörner das beklommene Gesumm. Alle, die in der Nähe des Brunnens
+waren, hatten gesehen, daß der Blutende, den die Kraft schon verlassen
+wollte, sich plötzlich in den Eisen reckte und mit Schreck und Freude
+über das Gewoge der Köpfe nach einer Gassenstelle spähte. Viele drehten
+die Gesichter nach dieser Richtung und suchten mit den Augen. Und viele
+sahen und hörten das: wie Leupolt Raurisser an allen schmerzenden
+Gliedern entkräftet in sich versank, in den schneidenden Klammern hing,
+sich lächelnd wieder aufreckte, kraftvoll am Balkan stand, verklärte,
+heißglänzende Augen bekam und zu Frau Agnes hinuntersagte: »Mutter,
+jetzt kommt das Härteste und Schönste!« Viele sahen, wie er gewaltsam
+seine aufrechte Kraft erzwingen wollte, wieder zu sinken begann und
+mit der Kehle an den Kanten des rotgewordenen Eisens hing. Und während
+Leupolts erloschene Stimme wieder zu beten anfing: »Herr, wenn ich
+Dich nur habe --«, kam ein Stoßen und Armwühlen von den Häusern durch
+die gestaute Menschenmenge herüber, viele Leute redeten aufgeregt
+durcheinander, und immer schrie eine bange, von Sorge umklammerte
+Mädchenstimme: »Meister, Meister --«
+
+Den dreien, die da kamen, wurde Platz gemacht. Hundert Stimmen wirrten
+sich durcheinander, und dennoch hörte man das Betteln der Sus: »Ach
+Meister, ich tu Euch bitten, kommet mit heim! Habt Ihr nit Sorg um
+Euretwillen, so schauet doch Eurem Kind in die Augen!«
+
+Wie halb von Sinnen, blaß und zitternd, mit verstörtem und dennoch
+gierig suchendem Blick, hing Luisa an den Vater geklammert, der sie mit
+dem rechten Arm umschlungen hielt und mit dem linken immer weiteren
+Raum in dem aufgeregten Menschengewühl erzwang. Als die flehende Magd
+sich vor ihn hindrängte, schob er sie aus seinem Weg und sagte durch
+die Zähne: »Geh, Sus! Das wirst du nit hindern. Ich tu, was ich muß.«
+Sie bettelte: »Meister, um aller Seligkeit willen --« Da preßte Luisa
+die Hand auf den Mund der Magd: »Sei nit so mutlos! Was du haben willst
+vom Vater, ist unbarmherzig. Wenn Gerechtigkeit nimmer bei den Richtern
+ist, so muß sie bei uns anderen sein.«
+
+Meister Niklaus drängte vorwärts, und die blonde Magd, obwohl sie sich
+verzweifelt wehrte, wurde zurückgerissen in das lärmende Gewühl. Nun
+standen die beiden vor dem Brunnen, Hand in Hand. Luisa mußte die Augen
+schließen und preßte zitternd den Arm vor das entstellte Gesicht.
+Ihr Vater, die Stirn überronnen von einer kalkigen Blässe, sah zu
+dem Blutenden am Balken hinauf, und seine Stimme, nach einem ersten
+Schwanken, wurde fest und laut: »Mich hast du behüten wollen vor einem
+harten Ding. Um meintwegen mußt du büßen. Helfen kann ich dir nit, Gott
+sei's geklagt. Aber wo du leidest, da ist mein Platz.«
+
+Leupolt lächelte. Dann schien ihm zu entrinnen, was noch an Kraft in
+seinen zuckenden Gliedern war. Den Kopf im Eisen nach vorne pressend,
+daß ihm ein roter Sickerstrich herunterging über den grauen Kittel,
+sagte er mühsam: »Vergeltsgott! Aber gelt, jetzt tust du wieder
+heimgehen.« In den Eisen sinkend, schloß er die Augen. »Wie das liebe
+Mädel zittert -- Meister, das kann ich nit sehen.« Seine Stimme erlosch.
+
+»Barmherziger!« schrie Mutter Agnes. »Mein Bub verscheint!« Aus
+einer Flasche füllte sie einen Zinnbecher und wollte auf den Brunnen
+steigen. Da faßte ein Musketier die Frau am Kittel. »Es därf nit sein,
+Meisterin!« Sie kreischte wie von Sinnen: »Hat nit ein römischer
+Musketier dem Erlöser am Kreuz einen Kühltrunk hinaufgehoben? Steht
+das im Urtl, daß wir gutkatholischen Christen unbarmherziger sein
+müssen, als die Heiden gewesen sind?« Die Erregung der Tausende war
+wie wachsendes Sturmrauschen. Und der Musketier machte ratlose Augen.
+»Steht das im Urtl?« schrie die Mälzmeisterin. Nein. Es stand nicht
+drin. _Dr_. Halbundhalb hatte vergessen, dieses Wesentliche seinem
+die Wahrheit bekämpfenden Dokumente einzuverleiben. Und Mutter Agnes
+in ihrer Seelenangst entschied: »Was nit verboten ist, muß erlaubt
+sein!« Sie wollte klettern. Da war ein Kleiderwehen neben ihr, und
+ein tausendfacher Zuruf der erregten, näherdrängenden Menschen. »Nit,
+Mutter Agnes,« hatte Luisa aufgeschrien, »laß *mich* das tun!« Und
+hatte der Mälzmeisterin den Becher aus der Hand genommen und stand
+schon droben auf dem Gesims des Brunnens. Um zu helfen, umklammerte
+Frau Agnes die Knie des Mädchens: »Streck dich, Kindl, ich laß nit
+aus, du tust nit fallen!« Sich hinaufreckend am Holz der Unehr, schob
+Luisa die linke Hand hinter Leupolts Nacken und hob den Becher an
+seine bläulichen Lippen. »Komm! Tu trinken, du guter Mensch!« Ein
+wunderliches Geschrei der Tausende. Es klang wie Zorn, wie Aufruhr,
+hatte etwas Erschreckendes und war doch Freude, war aufatmendes
+Erbarmen.
+
+Leupolt hatte die Augen geöffnet.
+
+Wieder sagte sie: »Komm! Tu trinken!« Und das Geschrei der drängenden
+Menschen verstummte plötzlich und wurde ein Staunen und Lauschen.
+
+Er lächelte, schien nicht zu hören, was sie sagte, und sah nur in ihre
+Augen. Der Glanz seines Blickes und das Fadengerinne seines Blutes
+machten sie so verstört, daß sie heftig zu zittern begann. Sie drohte
+umzusinken. Während ihr alle Sinne taumelten, hörte sie wie aus einem
+kreisenden Brunnen herauf die bettelnde Mutterstimme: »Du tust nit
+fallen! Streck dich, Kindl, ich laß nit aus!« Da wurde es wieder hell
+vor ihrem Blick, sie konnte das Blut des Büßenden und seine Augen
+sehen, streckte sich an dem Lächelnden hinauf, und weil sie nicht
+sprechen konnte, streichelte sie nur sein Haar und hob zwischen seinen
+Lippen den Becher. Als er am Kinn die rinnenden Fäden des Trunkes
+fühlte, verstand er, konnte die verbissenen Zähne öffnen und trank.
+Luisa reichte den geleerten Becher hinunter und schrie: »Gib, Mutter!
+Gib! Er dürstet noch allweil!« Solang ihre Hand ohne Hilfe war, hatte
+sie nicht den Mut, zu ihm aufzublicken, auch dann nicht, als er leis
+ihren Namen sagte: »Luisli?« Sie sah sein Lächeln nicht, doch sie hörte
+es aus dem Klang seiner Stimme und senkte das Gesicht noch tiefer. Erst
+als sie den gefüllten Becher umklammerte, wagte sie die Augen wieder
+aufzurichten, hob den Trunk zu ihm hinauf und flüsterte: »So komm!«
+
+Er trank und leerte den Becher.
+
+Wieder schrie sie zur Mälzmeisterin hinunter: »Gib! Er dürstet!«
+Lächelnd schüttelte Leupolt den Kopf: »Nit, du Gütige! Es ist genug.«
+Aus jedem Laut seiner Stimme war es zu hören, wie die erschöpften
+Kräfte neu erwachten in ihm. »So heilig ist mir noch nie ein Trunk in
+die Seel gegangen, derzeit ich leb. Ich sag dir Vergeltsgott, Luisli!«
+Seine Augen flehten. »Und gelt, jetzt tust du mir was zulieb?«
+
+Ihr blasses Gesicht erglühte. »Alles -- was nit wider Gott ist.«
+
+»So tu ich dich bitten, geh heim! Du tust es mir leichter machen.
+Willst du?«
+
+Sie nickte, wandte sich von ihm ab wie ein folgsames Kind, sah nicht,
+wie blutig ihr Kleid und ihre Hände geworden waren, ließ sich von
+Mutter Agnes und vom Meister hinunterheben und sagte: »Komm, Vater, wir
+gehen heim. Der Leupi will's haben. So muß es sein.«
+
+Während die beiden einen Weg durch die Mauer der Menschen suchten,
+hörte man, wie in der halben Stille, die noch immer herrschte, die
+zittrige Stimme eines alten Mannes zur Sonne hinaufschrie: »Sei
+gesegnet, du heilige Barmherzigkeit!«
+
+Diesen Schrei hatte Leupolt nicht vernommen. Immer sah er den beiden
+nach, die verschwanden, wieder auftauchten und dann nimmer zu sehen
+waren. Er erwachte erst aus seiner lächelnden Versunkenheit, als
+tausend Arme sich erhoben und tausend Stimmen das Wort des alten Mannes
+wiederholten: »Sei gesegnet, du heilige Barmherzigkeit!« Dann wieder
+ein halbes Schweigen in der funkelnden Sonne, und Frau Agnes stammelte
+klagend zum Holz der Unehr hinauf: »Ach, Bub, dein liebes, dein junges
+Leben!« Mit dem Blick eines Glücklichen sagte er: »Man muß das Leben
+nit lieb haben um des Lebens willen, nur um der heiligen Stündlen
+wegen, die's einem schenken kann.« Noch tiefere Stille. Und plötzlich,
+nahe dem Brunnen, klang eine schrillende Weiberstimme, wie völlig
+sinnlos, ähnlich dem Verzweiflungsschrei einer Wahnwitzigen: »Gott?
+Unser Herr und Gott? Warum hast Du uns verlassen?« Da reckte sich der
+Blutende in den roten Eisen. Er straffte sich an allen Gliedern, seine
+Augen glänzten über die tausend wogenden Köpfe hin, und seine rufende
+Stimme wurde wie Stahl: »Weil wir lügen und heucheln. Gottes Hilf ist
+bei den Mutigen, die wahrhaft sind!«
+
+»Jesus!« stammelte Mutter Agnes erschrocken und streckte wehrend die
+Hände zu ihrem Sohn hinauf. Und ein Musketier stieß den Kolben seiner
+Flinte gegen Leupolts Füße: »Kerl, du! Willst du nach aller Gnädigkeit
+das Maul aufreißen und die Leut verhetzen? Du?« Inmitten eines jähen
+Verstummens der Tausende gab Leupolt die klingende Antwort: »Gott
+ist mir gnädig! Soll's jeder halten, wie er meint und muß. Ich will
+bei der Wahrheit bleiben.« Er hob den Kopf aus dem Eisen, daß die
+rote Scheuerwunde an seiner Kehle sich entblößte, und seine Stimme
+wurde wie der frohe Schrei eines beseeligten Menschen. »Jetzt bin
+ich kein Unsichtbarer nimmer. Leut! Ob Leben oder Tod, ich bin ein
+evangelischer Christ.« Der Mutter Agnes brachen die Knie. Sie fiel auf
+die Brunnenstufen hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und mußte
+weinen.
+
+Die Musketiere kreischten: »Jesus, Jesus, wo bleibt der Muckenfüßl?«
+Im gleichen Augenblick zappelte aus dem Stiftstor der Kamerad heraus,
+der fortgelaufen war, um die kanzleideutsche Obrigkeit zu ermuntern.
+Ein Dutzend Soldaten hatte er aus ihren Stuben herausschreien können.
+Von den Herren hatte er keinen gesehen. Wie der Müde _in loco hujus_,
+so schlummerte der vom Verbieten erschöpfte Kanzler, so schnarchte der
+gekränkte Wahrheitsmörder Halbundhalb, so träumte Jesunder aufgeregt
+von dem unerklärlichen Armeseelenkammerrätsel, und so duselten alle,
+die wach geblieben waren in der vergangenen Mirakelnacht. Nur die als
+Sukkurs gerufenen Musketiere klapperten diensteifrig aus dem Tor heraus
+und hörten das erregte Stimmengewoge hinrauschen über den Brunnenplatz.
+Was die Tausende durcheinanderschrien? War es Abwehr oder Zustimmung,
+Zorn oder Hoffnung? Es war alles zugleich und wuchs zu einem tosenden
+Lärm. »Gotts Not! Was ist denn da los?« Der Musketier, der neben dem
+Balken der Unehr stand, gab Antwort: »Der da droben am Schandholz hat
+sich ausgeschrien als Evangelischen. Und verhetzt das gutmütige Volk.
+Dem luthrischen Narren sollt man alle Knochen in Scherben schlagen!«
+Weil er mit dem Flintenkolben eine Bewegung machte, faßte die
+Mälzmeisterin gleich einer Wahnwitzigen den Mann an der Säbelkoppel:
+»Unmensch, du!«
+
+»Unmensch? So?« Er schüttelte die Frau von sich ab. »Und du? Eine
+Gutkatholische? Du weißt wohl nit, was für eine Straf die evangelischen
+Ketzer verdienen?«
+
+Noch ehe Frau Agnes antworten konnte, stand zwischen den beiden die
+Moidi von Unterstein, jenes Mädel, dem der alte Fürsager die blauen
+Faustmale der Brüste mit dem heiligen Buche bedeckt hatte. Das Gesicht
+des jungen Geschöpfes war so wächsern wie das Antlitz einer Sterbenden,
+doch in den weitgeöffneten Braunaugen glänzte etwas Freudiges und
+Schönes. So streckte sie sich an dem schweren Soldaten Gottes hinauf
+und fragte mit heller Stimme: »Was verdienen die? So sag's doch! Sag's!«
+
+»Die verdienen, daß sie all zusammen auf den Scheiterhaufen kommen.«
+
+Da breitete das kleine hagere Mädel mit einem leisen, wunderlich frohen
+Schrei die Arme auseinander und rief: »So mußt du mich auch verbrennen.
+Ich bin eine evangelische Christin. Schon ins vierte Jahr.«
+
+Ein knirschender Soldatenfluch. »Packet das unverschämte Mensch!« Drei,
+vier Musketiere fielen über das Mädel her, und während sie ihm die Arme
+hinter den Rücken preßten, drängte sich aus dem schreienden Gewühl der
+Menschen ein alter Bauer heraus, der Fürsager von Unterstein, kreuzte
+selber die Hände und streckte sie den Soldaten hin: »Nehmet mich
+auch gleich mit! Ich bin ein Evangelischer. Ich bin's, derzeit ich
+denken hab können. Und meine Buben und Töchter, meine Schwieger und
+meine sechzehn Enkelen, wir alle sind evangelisch.« Wie ein fröhlich
+Betrunkener drehte er den grauen Bart über die Schulter und schrie
+mit der Stimme eines jungen Menschen: »Kinderlen! Her zu mir! Unser
+Christenherz will maien! Jetzt geht es ins Himmelreich!« Erschrocken
+guckten die Musketiere die vielen Kinder des Alten an, die sich
+herdrängten von allen Seiten, Männer und Greise, Bürger und Bauern,
+Weiber, Kinder, hochstämmige Burschen und halbwüchsige Mädchen. An die
+vierzig, an die fünfzig und sechzig waren es, und mit jeder Sekunde
+wuchs ihre Zahl, und sie alle waren Kinder vom Geiste dieses Alten,
+auch wenn sie einen anderen Namen trugen, als er.
+
+Erschrocken sah Frau Agnes in das jauchzende Gewühl der haufenweis
+herbeiströmenden Bekenner hinein und griff sich mit beiden Händen an
+die Schläfe, daß ihr die weiße Haube zurückfiel in den Nacken. Zitternd
+taumelte sie gegen das Holz der Unehr hin und umklammerte die rot
+übersickerten Füße ihres Sohnes: »Mein Bub! Mein Blut und Fleisch! Was
+hast du verschuldet!«
+
+»Nichts, Mutter!« Der Klang seiner Stimme war ruhig. »In meines Lebens
+heiligstem Stündl hab ich ein Wegweis der redlichen Wahrheit werden
+müssen.«
+
+Sein Wort ging unter in dem wachsenden Stimmengebraus der Hunderte, die
+sich herandrängten, um das Schneekleid ihrer Seelen abzustreifen und
+Sichtbare zu werden. Fast alle, wenn sie die Hände hinboten, hatten
+das gleiche Wort: »Mich auch! Wie schön ist die Wahrheit! Jetzt geht
+es ins Himmelreich!« Immer vier oder fünfe wurden von den Musketieren
+in die Torhalle hineingeführt, und doppelt so viele folgten aus freiem
+Willen, bis die Soldaten Gottes müde wurden des Verhaftens. Nur drei
+von ihnen blieben beharrlich. Und da faßten sie im Gedräng einen
+Bauer. Der wehrte sich wie irrsinnig und kreischte: »Lasset mich aus!
+Ich bin ein Gutgläubiger. Mein Weibl ist römisch und meine Kinder
+sind's. Die laß ich nit. Gelobt sei Jesus Christus, ich glaub ans
+Fegfeuer, in Ewigkeit Amen. Und wie mein Herzfleck ist mir mein Haus
+und Acker. Und müßt ich zum luthrischen Sand hinunter, ich wüßt nimmer,
+wie ich noch schnaufen könnt. So lasset mich doch aus, ihr Herren!
+Vor Weihbrunnkessel und Meßbuch will ich's beschwören: Ich bin ein
+Gutgläubiger!«
+
+Der Blutende am Holz der Unehr wandte das Gesicht im Eisen. Er hatte
+seinen Widersacher von der Untersteiner Krippe erkannt. Mit einer
+Stimme, so hell und stark, daß sie allen Lärm übertönte, rief er hinaus
+in die Sonne: »Lügen heißt leiden. Und einer, an den wir glauben,
+hat gesagt: >Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich auch
+verleugnen vor meinem himmlischen Vater.<«
+
+Der Bauer, den die Musketiere schon freigegeben hatten, blieb stehen
+wie ein Gelähmter. Langsam wandte er die Augen und sah zum Balken
+hinauf. Ein Erblassen rann ihm über das verstörte Gesicht. Nun tat
+er einen tiefen Atemzug, ging auf einen der Musketiere zu und bot
+ihm die gekreuzten Hände hin: »Mich auch! Alles verlieren! Nur nit
+die Seligkeit. Ich bin evangelisch.« Der Soldat verhaftete ihn
+nicht, sondern sah den Bauer mit erweiterten Augen an, warf die
+Feuersteinflinte in den Brunnen, riß den Dreispitz und die Säbelkoppel
+herunter, schleuderte alles wie in Ekel von sich und sagte: »Da tu ich
+nimmer mit. Komm, Bruder, wir gehen selbander ins Himmelreich!« Er
+legte den Arm um den Hals des Bauern, küßte ihn auf die Wange und trat
+mit ihm in den Schatten der Torhalle.
+
+Ein unversiegendes Herandrängen von allen Seiten. Jetzt irgendwo eine
+jauchzende Stimme: »Leut! Ihr lieben Leut! So schön, wie der Frühling
+der Wahrheit ist, so gottschön ist kein Blumenwuchs auf der besten
+Alm!« Das Wort des Einen wurde zum frohen Seelenschrei von Hunderten:
+»Frühling der Wahrheit! Frühling der Wahrheit!« In dem brausenden
+Bekennergewimmel, das schon den Hof des Stiftes zu füllen begann, fing
+einer mit klingender Kehle zu singen an. Viele Stimmen wuchsen mit
+freudigen Kräften hinzu. Aus Tor und Halle schwoll das Lied um den
+Brunnen her, sprang hinüber zu den Türen, zu den Fenstern, und rauschte
+über die Gasse hin:
+
+ »Nun freut euch, liebe Christengmein,
+ Und laßt uns fröhlich springen --«
+
+Alle, die so sangen in dieser Frühlingsstunde ihrer Seelen, sangen das
+Lied in ihrem Leben zum erstenmal mit lauten und unverschüchterten
+Stimmen. Fast war es nicht wie Gesang. Es war wie ein unersättliches,
+nicht enden wollendes Aufjauchzen der Freiheit und Erlösung.
+
+
+
+
+Kapitel XV
+
+
+Der Hall des tausendstimmigen Liedes, das emporschwoll über die
+Dächer des Stiftes, klang auch hinüber zu der galanten Jugend, die
+sich _à la Versailles_ amüsierte und kaum einen Laut dieser über
+alles Irdische emporgehobenen Menschenfreude vernahm. Es erging den
+graziös Erheiterten, wie es einem leichtsinnigen Träumer geschieht,
+der beim Rauschen eines fröhlichen Baches den Donner des aufsteigenden
+Gewitters überhört. Auf der Hofwiese gavottierten die Hifthörner in
+rasendem Tempo, obwohl sie die klagende Fuchstodweise hätten blasen
+müssen. Der letzte Prellfuchs war schon seit geraumer Weile entseelt.
+Er zappelte nimmer, während er flog, sauste aber immer wieder hinauf
+ins schöne Blau. Die Allergnädigste schien sich des blutspritzenden
+Spiels nicht ersättigen zu können, und so wurde der leblose Tierklumpen
+zu einer Kostbarkeit, um die sich alle Prellerpaare in ausgelassener
+Heiterkeit zu raufen begannen. Nun fing auch die Zuschauermenge vor dem
+Netz zu wachsen an. Viele, die den Marktplatz erschrocken verlassen
+hatten, wurden festgehalten durch das farbige Flatterbild, doch nicht
+in Schaulust, sondern in Zorn. Inmitten einer erregten Frauengruppe
+deutete ein mauerblasses Weib auf den fliegenden Fuchs und schrie:
+»So prellen sie unsere Seelen, unser Gut und Leben, bis uns allen der
+Schnaufer vergeht. Die sollt der Teufel einmal reiten! Kreuzweis!«
+
+Hatten die Dunklen der Unterwelt diesen Segenswunsch erhört? Aus
+zwei großen Kästen, die auf einen heimlichen Wink des Grafen Tige
+auseinanderfielen, sausten vier schwarzborstige Unholde mit Grunzen
+heraus, prallten gegen die gespannten Netze, rasten blind nach einer
+anderen Richtung, spritzten im Lauf den blutigen Schnee auseinander,
+wurden wie besessen und überrannten jedes lebendige Hindernis. Diesen
+Vorgang begleitete ein sechsstimmiges Damengeschrei, das sich aus
+toller Heiterkeit sehr flink verwandelte in schrilles Angstgezeter.
+Gleich zu Beginn des Scherzes merkte Graf Tige, daß der graziöse
+Knalleffekt ein übles Ende zu nehmen drohte. Erschrocken befahl er dem
+Wildmeister und den Jägern: »Abfangen! Abfangen!« Es war zu spät. Mit
+gehobenen Röcken, grillend wie geängstigte Kinder, jagten die unter
+Schminke und Schönheitspflästerchen entfärbten Demoisellen sinnlos
+zwischen den Netzen hin und her, um den jungen, sausenden Wildschweinen
+zu entrinnen. Keiner gelang es. Jede wurde von solch einem
+blindsurrenden Borstenklotz zu Boden geworfen. Hinter den Schweinen,
+halb noch lachend, halb schon in Sorge, sprangen die Domizellaren und
+Jäger mit den blanken Hirschfängern einher.
+
+Bevor man das erste der rasenden Schweinchen zu Boden bringen konnte,
+waren die sechs Demoisellen schon zum Erbarmen zugerichtet, mit
+zerrauften Frisuren, mit zerfetzten Kleidern, beschmutzt, vom Schnee
+durchnäßt, an Gesichtern und Händen mit roten Flecken gesprenkelt,
+die vom Abklatsch des überall ausgespritzten Fuchsblutes herrührten.
+Das zweite und dritte Wildschwein wurden in den Netzen erstochen.
+Den letzten Überläufer mußte man, bevor er den Todesstoß empfangen
+konnte, an den Hinterläufen unter dem tonnenartigen Steifrock
+der Allergnädigsten hervorzerren. Aurore de Neuenstein lag mit
+ausgespreizten Armen im Schnee und zeterte ununterbrochen die beiden
+Worte: »_Mon Dieu! Mon Dieu! Mon Dieu!_« -- in einem wesentlich
+anderen Ton, als Damen zu kichern pflegen, wenn sie charmant
+kascholiert werden. Und während dieses weidmännische Accouchement unter
+beträchtlicher Kränkung zarter Prinzipien vollzogen wurde, ließ sich
+ein zorniges Spottgelächter vernehmen. Drei der Demoisellen huschten
+durch die Leierbüsche des gestutzten Hofgartens davon, um dem Hohn der
+Subjekte zu entrinnen. Und Aurore de Neuenstein war anzusehen wie eine
+Nachtwandlerin mit geöffneten Augen.
+
+Das ungraziöse Überraschungsspiel der bösen Schweinchen schien sich
+bei ihr mit einer sinnverwirrenden Entdeckung zu komplizieren. Als
+aller Schreck schon längst überstanden war, wurde die Allergnädigste
+plötzlich von einer befremdenden Erschütterung der Verdauungsorgane
+befallen -- ein Symptom, über das Graf Tige nicht minder erschrak, als
+Aurore de Neuenstein. Zu einer Erörterung der unliebsamen Katastrophe
+verblieb den beiden vorerst keine Zeit. Atemlos erschien auf der
+Hofwiese der aus seinem Sonntagsschläfchen aufgestörte Muckenfüßl,
+schlotterbackig, ohne Säbel, und kreischte: »Ihr Herren und Jäger!
+Jesus, Jesus! Die Welt geht unter _in loco hujus_! Unsere Bauern
+rebellieren wider Himmel und Gott! Wir brauchen Hilf! Alles hinüber
+zum gnädigsten Fürsten!« Der Wildmeister, alle Domizellaren --
+ausgenommen den Grafen Tige -- die Pagen und Hifthornbläser sprangen
+mit dem stotternden Feldwebel durch den Schloßgraben zum Stift hinüber,
+aus dessen Höfen das Lied der tausend Bekennerstimmen in die Sonne
+schwoll. Sechs von den Jägern zerrten die abgestochenen Wildschweine
+hinter sich her.
+
+Auf der Straße war ein ruheloses Durcheinander. Leute rannten
+schreiend gegen den Markt hinauf, und viele, denen die Seele angstvoll
+geworden, strebten hastig ihren Höfen zu: die noch Unentschlossenen,
+die nicht sichtbar werden wollten, und die Gutgläubigen, denen das
+Bekennungswunder dieses Morgens die frommen Gemüter mit Trauer und
+Schreck erfüllt hatte. Inmitten eines Schwarmes dieser Heimläufer
+kreischte ein Aufgeregter: »Mich haben die Musketierer dreimal
+gepackt. Allweil hab ich mich ausweisen können mit polizeimäßigen
+Glaubenswörtlen. Wer tät denn gutgläubig sein, wenn's ich nit bin?
+Hättst du das Erlösungswunder meiner Martle gesehen, so tätst du
+glauben, Mensch! Erzählen darf ich es nit. Aber für's Martle tu ich ein
+neues Kreuzl schneiden. Sie hat's verdient! Wenn eins heruntergreift
+aus dem Himmel und meine Kinderlen hinaufholt in die Ewigkeit -- so
+eine Gottselige wird wohl ein Kreuzl verdienen? Nit? Und müßt auch
+ihr Leichnam in heidnischen Boden kommen wie eine ungetaufte Katz,
+bevor sie stinkig wird.« Der Haynacher betrachtete unter verzerrtem
+Lächeln das erstochene, in Schneegebrösel und Blutklumpen eingewickelte
+Wildschwein, das von zwei Jägern in den Schloßgraben hinuntergezogen
+wurde. Mit dem Finger deutend, kicherte Christl: »Auch ein Ungetauftes!
+Findt aber doch eine christliche Ruhstatt. Weil's die geistlichen
+Herren hinunterschlucken in ihre geweihten Mägen!«
+
+Da kam einer aus dem Tal herauf. »Christl? Jeder Redliche lauft der
+Wahrheit zu. Und *du* gehst *heim*?«
+
+»Wohl, Mensch!« Der Haynacher lächelte schlau. »Mich haben sie wieder
+auslassen müssen. Weil ich so gutgläubig bin, wie mein Martle und
+jedes von meinen getauften Kinderlen gewesen ist.« Der andere, halb
+in Zorn und halb in Erbarmen, machte eine Handbewegung und ging
+vorüber. Christl Haynacher keuchte in die Sonne hinaus: »Kann sein,
+mir ist ein unheiliger Zweifel durchs Hirndächl gelaufen, ich weiß
+nit, wann. Aber wie das Wunder mit meinen Kinderlen geschehen ist,
+da bin ich gutgläubig worden. Wenn aus der Seligkeit zwei liebe Händ
+heruntergreifen zur irdischen Not! Und lupfen das unschuldsweiße Pärl
+aus dem amtsmäßigen Riegel heraus! Und allweil höher hinauf zum ewigen
+Gottesglanz! Schau, Mensch, da mußt du doch selber sagen --« Er merkte,
+daß er allein stand. »So so?« Dem Christl liefen zwei Tränen über die
+Feuerflecken seiner Backen. »Schau, von meinen gottseligen Kinderlen
+will kein Mensch mehr ein Wörtl wissen!«
+
+Diese Weisheit glich einem der wahrheitsfernen Irrtümer, wie sie der
+lyrisch verherrlichte _Dr._ Halbundhalb zu fabrizieren pflegte. Gerade
+in dem Augenblick, in welchem Christl seine falsche Rechnung aussprach,
+erwachte die Erinnerung an das Haynacher'sche Zwillingspaar in einer
+Menschenseele, der man ein so treues Gedenken gar nicht zugetraut hätte
+-- in der Seele der allergnädigsten Aurore de Neuenstein. Von dem
+verwüsteten Fuchsprellplatze hatte Graf Tige den leidenden Engel in
+zerrupftem Zustand hinübergeleitet zu einem Salettchen des gestutzten
+Hofgartens. Hier saß die Neuenstein auf einem Holzbänkl. Graf Tige
+lag vor den Knitterbrüchen des Steifrockes auf den Knien, labte die
+schwache Demoiselle mit Biskuitstückelchen -- und da wiederholte sich
+plötzlich jene befremdende Erschütterung ihres innersten Wesens. Es
+wurde der Allergnädigsten in beklagenswertem Grade übel, und dieses
+war der Augenblick, in dem Aurore de Neuenstein sich jener _chose
+effroyable_ erinnern mußte, die sie auf dem Stubentische des Christl
+Haynacher hatte liegen sehen. Aber statt von menschlichem Erbarmen
+bewegt zu werden, geriet sie in einen schwer erklärlichen Jähzorn, und
+-- billeripatsch -- versetzte die Allerungnädigste dem Grafen Tige
+eine schallende Ohrfeige, viel kräftiger, als man es diesem zartesten
+aller Händchen hätte zutrauen mögen. In Tränen ausbrechend, entzog sie
+sich flink durch eine Ohnmacht jeder weiteren Konversation. Graf Tige
+mit der brennenden Wange eilte durch den gestutzten Hofgarten davon,
+um Hilfe für Aurore de Neuenstein herbeizurufen. Als er die sekrete
+Gartenmauer erreichte, hörte er das Stimmengebraus der Marktgasse und
+den mächtig wachsenden Klang eines verbotenen Liedes, das von Tausenden
+gesungen wurde. Ratlos guckte er in die Sonne und wurde von zwei
+Menschen, die es eilig hatten, aus dem Weg gestoßen.
+
+Neben einem blonden, sich wie irrsinnig gebärdenden Mädel, sprang der
+lange Stiftspfarrer Ludwig in dünnen Hausschuhen durch Schnee und
+Pfützen. Der schwer erkrankte Mann konnte plötzlich so hurtig rennen
+wie der gesündeste Bauernbub. Über die Wasserlachen vor dem Garten
+des Meister Niklaus machte Pfarrer Ludwig Sprünge wie ein Wettläufer
+vor dem Ziel. Er wollte atemlos in die Werkstatt treten, fand die Tür
+verschlossen und schrie: »Ums Himmels willen, Nicki, so tu doch auf!«
+Hinter der Tür eine zornbebende Stimme: »Man hat mich eingesperrt.«
+Die Sus stammelte: »Da ist der Schlüssel!« Nun mußte der Pfarrer
+lachen. »Du hast ihn eingekastelt?« Dem Mädel kollerten die Tränen über
+das angstvolle Gesicht. »Was hätt ich denn tun sollen? Der Meister
+ist stärker als ich. Wie ich heimgekommen bin und hab erzählt, daß
+die Evangelischen hundertweis bekennen, hat der Meister gleich zum
+Bekenntnis laufen wollen. Da bin ich in meiner Seelenangst aus der Tür
+gerumpelt, hab zugesperrt und bin zu Euch gesprungen.«
+
+»Und das Luisichen?« fragte der Pfarrer sorgenvoll. »Weiß sie, was der
+Meister hat tun wollen?« Sus schüttelte den Kopf: »Die hab ich droben
+eingesperrt in ihrem Stübl. Gar nit gemerkt hat sie's. So durstig hat
+sie gebetet vor dem Jesukind.« Der Pfarrer atmete auf: »Dich sollt man
+zum Kanzler von Berchtesgaden machen. Du bist die Gescheiteste von uns
+allen. Jetzt tu das Mädel behüten, derweil ich red mit dem Meister.«
+Während dieser Worte des Pfarrers rüttelte der Eingesperrte immer an
+der Tür: »Gotts Not, so machet doch auf!«
+
+»Ja, guter Nick! Erst muß ich das Schlüsselloch finden. Ich bin ein
+Kranker, mir zittern die Händ.« Dieser unanfechtbaren Wahrheit zum
+Trotze wußte der Pfarrer, als er die Tür geöffnet hatte und über die
+Schwelle gesprungen war, sehr flink wieder auf der Innenseite den
+Schlüssel ins Schloß zu bringen und umzudrehen.
+
+Meister Niklaus bekam eine dunkelrote Stirne. »Pfarrer! Meinen Weg gib
+frei!«
+
+»Gleich, Herzbruder! Nur ein Wörtl!«
+
+»Gewissen und Wahrheit vertragen kein Biegen nit.«
+
+Der Pfarrer sah, daß das Fenster offen stand und das schwere Gitter
+verbogen war. »Gewissen und Wahrheit sind wie eiserne Stangen. Ein bißl
+Biegen, wenn es vernünftig ist, vertragen sie schon. Nur gegen die
+Unvernunft sind sie bockbeinig. Und da ist's ein Glück, daß es noch
+allweil Schlosser gibt, die verläßliche Arbeit machen.«
+
+»Pfarrer?« Meister Niklaus streckte sich. »Willst du mich hindern, als
+Christ meine Pflicht zu tun?«
+
+»Ganz im Gegenteil! Ich will dich in deiner Pflicht bestärken.« Weil
+der Meister den Pfarrer beiseite drängen und die Schwelle gewinnen
+wollte, stemmte der Greis sich gegen das Türschloß, in dem noch der
+Schlüssel stak. »Aber Herzbruder! Tu nit so grob mit mir! Seit gestern
+bin ich ein todkranker Mensch.« Dem Meister fielen kraftlos die Arme
+hinunter. Und der Pfarrer, nachdem er den Türschlüssel abgezogen hatte,
+sagte ruhig: »Schau, Nick! Ein Christ sein, ist ein wundervolles Ding.
+Aber *jede* Pflicht verlangt vom Menschen ein bißl Treu. Von deiner
+Kunst will ich nit reden. Die ist durch deine Redlichkeit eh' schon zu
+kurz gekommen um eine geschickte Hand. Aber willst du vergessen, daß
+du auch ein pflichttreuer Vater sein mußt? Willst du das Gute, das in
+deinem Mädel gewachsen ist, wieder in Scherben schlagen? Willst du dein
+Kind in Tod und Verzweiflung treiben?« Das Gesicht in die beiden Hände
+pressend, von denen nur die hölzerne nicht zitterte, stand der Meister
+wortlos am offenen Fenster, überglänzt von einem steilen Strahlenbündel
+der Mittagssonne. »Komm, Herzbruder! Setz dich zu mir aufs Bänkl her!
+Da wollen wir reden miteinander.«
+
+In der friedsamen Stille, die diesen Worten folgte, richtete draußen
+vor der Türe die Sus sich auf und bekreuzte unter einem Atemzug der
+Erquickung das blasse Gesicht. Heißen Blickes emporschauend nach der
+Richtung, in der sie den Wohnsitz Gottes vermutete, sprach sie mit
+jagender Flüsterstimme zwei Gebete, zuerst ein evangelisches, dann
+ein gutkatholisches. Und flink über die Stiege hinauf, um abermals
+zu lauschen -- an Luisas Tür. Deutlich konnte sie die inbrünstigen
+Stammellaute einer Litanei vernehmen. Leis drehte Sus den Schlüssel
+und trat in die weiße, sonnige Mädchenstube. Vor dem flimmernden
+Jesuschrein lag Luisa auf den Knien, die blutfleckigen Hände ineinander
+gekrampft. Sie hörte nicht, daß jemand den flehenden Hilfeschrei der
+Litanei zur heiligen Gottesmutter andächtig mitsprach: »Bitt für ihn
+-- bitt für ihn --« Als Luisa wieder ein Ave Maria beginnen wollte,
+sagte die blonde Magd mit lauter Stimme das Amen, faßte die Haustochter
+unter den Armen und hob sie vom Boden auf. »Komm, Kindl! So fromm hast
+du gebetet, daß die heiligste Mutter ihm helfen *muß*! Und schau, du
+mußt doch das blutfleckige Kleidl heruntertun! Mußt dir die roten
+Händlen waschen!« Lautlos bewegte Luisa die Lippen, umklammerte den
+Hals der Magd und preßte das Gesicht an ihre Schulter. Nach heiteren
+Worten suchend, führte Sus die Haustochter zu einem Sessel, begann
+sie zu entkleiden und stellte das Waschbecken zurecht. Dabei lauschte
+sie immer in den Flur hinunter. Es dauerte lang, bis drunten das
+Klappen der schweren Tür an des Meisters Werkstätte zu hören war.
+Kein Schritt. Die Sus atmete erleichtert auf. Sie wußte gleich: der
+Meister ist daheim geblieben, und nur der Pfarrer in seinen lautlosen
+Filzschuhen ist davongegangen. Als sie zum Fenster hinhuschte, sah sie
+den Hochwürdigen auf die Straße treten. Jetzt sprang der lange Pfarrer
+nimmer. Sehr achtsam umging er die Wasserlachen.
+
+Ein Menschengerenne hin und her. Trotz des wogenden Lärms, der die
+Marktgasse füllte, war nicht das geringste Zeichen von Rebellion zu
+erkennen. Das flutende Leutgedränge hatte was Festliches. Und während
+der Klang des evangelischen Liedes herscholl von den Stiftshöfen, ragte
+auf dem Brunnenplatz der leergewordene Schandbalken über das Gewühl
+der Köpfe hinaus. Man hatte den Büßenden aus Staatsräson begnadigt,
+um die Aufregung der Subjekte zu mildern. Dieser notwendig gewordene
+Gnadenakt hatte die Regierungsseele des Herrn von Grusdorf bedenklich
+aus dem Gleichgewichte gebracht. Das stand unter verschobenem Lockenbau
+auf seinem Katzenjammergesicht zu lesen, als er, von sechs Musketieren
+flankiert, hinüberwatete zum Sanssouci der Allergnädigsten, die ihn
+durch ein geheimnisvolles Eilbriefchen zu sich berufen hatte. Sein
+Prophetengeist war so verwirrt, daß er nicht ahnen konnte, welcher
+familiären Bestürzung er mit seinen Gichtzehen entgegenzappelte.
+
+Unter munteren Worten bohrte sich der Pfarrer durch das wogende
+Leutgewühl zu dem Hause seines Freundes Lewitter. In dem dunklen Flur,
+in dem es nach Gewürzen duftete, fragte er die stumme Lena: »Ist dein
+Herr daheim?« Da hörte er aus dem Oberstock den leisen Gesang einer
+müden Greisenstimme. Es war nicht das erstemal, daß Pfarrer Ludwig
+in Lewitters Haus diese alte, schwermütige, wunderlich verzierte
+Tempelweise vernahm. Er hastete über die steile Treppe hinauf und
+hämmerte mit dem Fingerknöchel gegen die Türe. »Simmi! Tu auf! Ich
+bin's! Ein Mensch!« Eiserne Stangen klirrten, und zwei Schlüssel
+drehten sich in den schweren Schlössern. Simeon Lewitter schlüpfte
+durch einen schmalen Spalt und fragte tonlos: »Ist Gefahr?« Der Pfarrer
+schüttelte den Kopf. »Die Leut von heut sind ungefährlicher als die
+von gestern. In ihnen ist Freud und Hoffnung. Bloß die Regierung hat
+Magenweh. Und ich bin gestern marod geworden. Der Bader hat seine Not
+mit mir gehabt.«
+
+»Den Bader hast du holen lassen?« Simeons Augen wurden groß. »Warum
+denn mich nit?«
+
+»Du bist der bessere Doktor. Aber der Bader schwefelt vor unserem
+Justizkamel das glaubhaftere Zeugnis.«
+
+Erschrocken fragte Lewitter: »Wirst du's nötig haben?«
+
+Der Pfarrer lachte. »Wenn dem Willibald ein Tröpfl Verstand lebendig
+wird in der Stöckelmilch! Wahrscheinlich ist's *nit*. Aber allweil noch
+so möglich, wie daß der Gockel eine Henn wird, wenn man ihm freundlich
+zuredet. Und da sollst du außer Spiel bleiben, Simmi! Aber weil mir der
+Bader nit geholfen hat, drum bin ich in den Filzpatschen hergelaufen zu
+dir. Und du hast mir ein feines Medikament verzapft. Gelt ja?«
+
+Ohne zu antworten, huschte Lewitter davon, brachte eine haselnußgroße
+Pille und schob sie dem Pfarrer zwischen die Lippen. »Jetzt brauch ich
+nit lügen.«
+
+»Und ich brauch nimmer im Bett liegen. Da ist uns beiden geholfen.«
+
+»Eine seltsame Krankheit! So glaubhaft --« Lewitters Stimme wurde leis,
+»wie das Mirakel der Armeseelenkammer.«
+
+Schmunzelnd beugte sich der Pfarrer gegen das Gesicht des Freundes
+hin. »Gott sei Dank, Simmi, daß *du* nit der Landrichter bist.« Ein
+heiteres Lachen. In der Stille, die ihm folgte, klang der Hall des
+tausendstimmigen Bekennerliedes wie das ferne Rauschen einer Mühle.
+Herr Ludwig wurde ernst und fragte flüsternd: »Weißt du, was geschieht
+da drunten?«
+
+Lewitter wehrte mit beiden Händen und schlüpfte in seine leere
+Kinderstube. Drinnen klirrten die eisernen Stangen. Vor sich
+hinnickend, stapfte der Pfarrer die Treppe hinunter. In das Gewühl der
+Marktgasse wagte er sich nimmer. Hinter den Häusern watete er durch
+die Traufenbäche und begann, bevor er seine Wohnung erreichte, heftig
+zu niesen. Die Folgen seiner Verkühlung in den nassen Filzpantoffeln
+entwickelten sich mit der Schnelligkeit eines fürstpröpstlichen
+Läufers. Dem Jammer seiner Schwester konnte Pfarrer Ludwig das
+tröstende Wort entgegenhalten: »Gott bleibt allweil barmherzig. Wie
+nötiger ein Leiden ist, um so flinker schickt er's.«
+
+Brausend klang von den Stiftshöfen herauf das fromme Lied. »Tät die
+Regierung nit sagen, das ist Rebellion, so möcht man glauben, das
+ist schöner Gottesdienst.« Der Pfarrer ließ sich den Lehnstuhl ans
+Fenster rücken. Hier saß er, in wollene Decken gewickelt, sich immer
+schnäuzend, und blickte hinunter auf das Menschengewühl, das sich in
+dem weiten Hof mit jeder Minute vergrößerte.
+
+Nicht nur Bauern und arme Handwerker standen da drunten, um auf die
+Eintragung in die Ketzerliste zu warten, auch wohlhabende Bürger des
+Marktes, die man noch nie als Unsichtbare verdächtigt hatte, zahlreiche
+Salzknappen und viele Dienstleute des Stiftes. Die fassungslose
+Regierung mußte die Wahrnehmung machen, daß sie seit Jahren von
+>Abtrünnigen< umgeben war bis zu den vergoldeten Füßen ihres Thrönchens.
+
+Nichts von Aufruhr. Kein Schimpfen und Spektakulieren. Das Verhalten
+der Bekenner war ruhig, war durchglänzt von einem freudigen Glück. In
+dichten Gruppen standen sie beisammen, und immer wieder fing einer
+zu singen an, und hundert und tausend fielen ein, daß ihr froher
+Gesang wie das Osterlied einer Orgel war. »Christen? Ketzer?« Pfarrer
+Ludwig sah zum Geheimfach seines Schreibtisches hinüber. »Hat der
+Amsterdamer Singvogel recht, so sind es tausend Gotteskinder, näher dem
+Himmel als der Welt. Weil sie vorwärts drängen und Wahrheit suchen.«
+Sinnend betrachtete er die lange Menschenkette, die sich gegen das
+Gerichtsgebäude hinüberschob. Bei aller friedsamen Bürgerruhe, die da
+drunten herrschte, gab es doch auch erregte Szenen. Es kamen gutgläubig
+gebliebene Frauen, verstört und weinend, um ihre evangelischen Männer
+und Söhne zu reuevoller Umkehr zu beschwören. Es kamen zornige Männer,
+die ihre >verführten< Weiber und Töchter herausreißen wollten aus
+der Bekennerschar. Doch immer ruhiger wurden diese Wortkämpfe, je
+deutlicher die Regierung eine Hilflosigkeit bekundete, von der man
+Gefahren für Gut oder Leben nimmer zu besorgen brauchte. Wie man den
+Leupolt Raurisser vom Holz der Unehr heruntergenommen hatte, ließ man
+auch alle Verhafteten wieder frei. Die gesetzliche Macht beschränkte
+sich darauf, zur Festlegung der Bekennernamen ein Tribunal zu
+errichten, dessen Vorsitz der Kanzler von Grusdorf übernehmen sollte.
+Leider mußte man auf seine Mitwirkung verzichten; er war von dem Besuch
+bei seiner unpäßlichen Nichte Aurore de Neuenstein in einem Zustand
+heimgekehrt, der einem Schlagfluß ähnelte. So mußte den Vorsitz des
+Tribunals der aus dem Schlaf gerüttelte _Dr._ Halbundhalb übernehmen.
+Als er in gespensterhafter Blässe zur dienstlichen Mißhandlung der
+Wahrheit antrat, richtete Herr Anton Cajetan diese Rede an ihn:
+»Willibald! Daß du ein Esel bist, hab ich immer gewußt. Aber so
+deutlich wie in diesen Tagen hast du es noch nie bewiesen. Ich möchte
+weinen über die Arbeit, die du fabriziert hast. Daß du die Ehrlichen
+als Verbrecher erkennst und die Lumpen für Apostel der Wahrheit nimmst,
+das ist noch lange nicht die übelste von deinen Schädigungen des
+Staates. Du wirkst wie ein Fäulniskeim. In allen Redlichen erschütterst
+du den Glauben an die Gerechtigkeit, und den geheiligten Richterstand
+machst du verächtlich vor allen Subjekten. _Mais, que Dieu nous soit en
+aide_, die böse Stunde läßt dich unentbehrlich erscheinen -- ich habe
+kein Rechtskamel, das kleiner ist. Setze dich hinauf, laß die andern
+amten, suche würdevoll auszusehen und halte das Maul! Besser kannst
+du mir nicht dienen.« Als Beisitzer gab ihm Herr Anton Cajetan vier
+Kapitelherren, die beiden Chorkapläne und fünf Domizellaren. Graf Tige
+war nicht aufzufinden.
+
+Die Moidi von Unterstein, die man zuerst verhaftet hatte, wurde
+auch zuerst verhört. Als Graf Saur die Frage an sie richtete: »Was
+glaubst du?«, öffnete sie das Mieder, zeigte die schwärenden Male der
+Faustschläge und sagte: »Ich glaub, daß es Gottes Willen nit ist, ein
+Menschenkind so zuzurichten.« Die Herren waren ein bißchen betreten,
+und der Richter mit den verriegelten Zähnen klappte wie eine Eule
+die Augendeckel zu, weil der unsittliche Anblick seinen Prinzipien
+zuwiderlief. Dabei ließ er sich zu zwei verbotenen Worten hinreißen:
+»Du Schwein!« In Zorn antwortete das Mädel: »Auf den Hintern haben mich
+die Soldaten Gottes nit gehauen. Sonst hätt ich Euch *den* gezeigt. Und
+mir hätt's weniger weh getan.« Graf Saur beruhigte die Empörte. Dann
+wurde sie drei Stunden lang über alle Glaubenssätze vernommen.
+
+Als Zweiten wollte man den Fürsager von Unterstein citieren.
+Da polterte ein Ungerufener in die Amtsstube: der Mälzmeister
+Raurisser. Er hatte die von seiner Frau versperrte Haustür in Fetzen
+geschlagen, um sich als evangelisch zu bekennen. Unter allem, was er
+zähneknirschend vor sich hinbiß, hatten nur die Worte Verstand, die
+er über die >unchristliche Peinigung< seines Sohnes sagte; doch sein
+Glaubensbekenntnis war so verworren, daß man mit Sicherheit nicht
+unterscheiden konnte, ob der alte Raurisser schon evangelisch oder
+noch gutkatholisch wäre. Dieses Dilemma wurde von Graf Saur durch die
+salomonischen Worte entschieden: »Mein lieber Mälzmeister! Geh er
+wieder heim, glaub er, was er wolle, und brau er uns auch fürderhin
+eine so bekömmliche Biersorte wie bisher.«
+
+Nun wurde der Alte von Unterstein vorgerufen. Sein Verhör entwickelte
+sich für die beiden Chorkapläne zu einem erbitterten Wortgefecht.
+Der Greis in seiner unerschütterlichen Ruhe, in seiner graden und
+schlichten Einfalt, blieb ihnen keine Antwort schuldig und übertraf
+an Bibelfestigkeit die zwei Theologen bei weitem. Sie hätten seine
+Nierenprüfung ausgedehnt bis in die Nacht, wenn Graf Saur nicht
+festgestellt hätte, daß mit drei Verhören fünf kostbare Stunden
+vertrödelt wurden. »Protokollieren wir so weiter, dann müssen wir ein
+halbes Jahr lang durch Tag und Nacht verhören und sind im Herbst,
+wenn schon die Hirsche röhren, noch immer nicht fertig.« Es war
+dringend notwendig, die Tribunalpraxis in ein summarisches Verfahren
+zu verwandeln. Es wurden sechs Tische aufgestellt. An jedem zwei
+Schreiber. Und nun wanderten die endlosen Reihen der Bekenner an den
+sich immer länger füllenden Listen vorüber. Man schrieb nur Namen,
+Alter, Lehen und Gnotschaft auf. Dann weiter um eine Nummer. Erst gegen
+die zweite Morgenstunde wurden die Stiftshöfe leer. Und als man an den
+Tischen des Ketzertribunals summierte, ergab sich die erschreckende
+Ziffer 2714.
+
+Schon früh am Morgen begann die Zuwanderung der Bekenner aufs neue.
+Am Abend standen 4372 Namen verzeichnet. In der Dämmerung des dritten
+Abends waren es 5816, und als in den Nachmittagsstunden des folgenden
+Mittwochs der Strom der Subjekte, die sich als evangelisch bekannten,
+endlich versiegte, konnte die Regierung ihre Hände über der Ziffer 6394
+zusammenschlagen. Mehr als zwei Drittel der gesamten Einwohnerzahl des
+gefürsteten Landes von Berchtesgaden! Herr Anton Cajetan stand ratlos
+und erschüttert vor dieser ungeahnten Katastrophe. Er hatte schlaflose
+Nächte, Herr von Grusdorf entsetzliche Tage. Der Kanzler fühlte die
+Last der Verantwortung, wagte sich nimmer ins Stift und maskierte
+seine chronische Absenz durch einen schweren Anfall von Podagra. Auch
+jeden Besuch bei der Allergnädigsten unterließ er. Wurde ihr Name vor
+ihm genannt, so bekam er einen Gallenkrampf.
+
+An Jesunder waren Zeichen einer Melancholie zu entdecken, die in
+Geistesstörung überzugehen drohte. Er zankte sich ununterbrochen mit
+seiner verehrten Frau Mutter, versagte bei jedem Bekehrungsversuch
+und konnte durch Tag und Finsternis an nichts anderes denken, als nur
+an das ungelöste Rätsel der Armeseelenkammer. Immer hängte sich sein
+ganzes Sinnen und Grübeln an diesen *einen* Verdacht: der Pfarrer
+Ludwig! Um dem Chorkaplan diese aberwitzige Vorstellung aus dem Gehirn
+herauszubeweisen, verschwendete _Dr._ Willibald alle Schärfe seines
+Geistes. Zu Dutzendmalen sagte er: »Aber Bester! Endlich *muß* man sich
+doch von einer notorischen Wahrheit überzeugen lassen!« Im Bewußtsein,
+etwas justiziarisch Zweckloses zu unternehmen, nur, um den gequälten
+Jesunder von dieser Wahnvorstellung abzubringen, überraschte er den
+Pfarrer durch einen inquisitorischen Besuch. Der Verdächtige war jetzt
+wirklich krank, litt an einem Schnupfen von gewalttätigen Symptomen.
+Weil die Sache unbestreitbar war, begann der Landrichter an ihr zu
+zweifeln und sagte zu Jesunder: »Nun erkenne ich, daß Ihr nicht völlig
+unrecht habt.« Er mußte die infizierte Nase putzen. »Der Pfarrer
+simuliert.«
+
+Während solche Gedankenblitze unter den gepuderten Roßhaarwickeln
+des Landrichters wetterleuchteten, ging ein hoffnungsvolles Aufatmen
+durch das Berchtesgadnische Land. In allen Häusern und Hütten der
+Bekenner war's wie ein stiller, schöner Ostermorgen der Wahrheit. Die
+Freude glänzte in den Augen der Evangelischen. Doch nirgends hörte man
+lauten Jubel, nie ein übermütiges Wort. Diese Sechstausend schienen
+wie erneut in ihrem Leben, wie erhoben und geläutert an allen Kräften
+ihres Herzens. Am Tage gingen sie fleißig ihrer Arbeit nach. Am Abend
+versammelten sie sich zur Fürsage und hörten das Wort Gottes. Und im
+ganzen Ländl erwies es sich, daß es für die Bekenner verschiedenen
+Glaubens kein Ding der Unmöglichkeit ist, verträglich Seite an Seite
+zu leben. In den Gutgläubigen, die treu an ihrem alten Himmel hingen,
+zitterte wohl der Schreck und die Trauer. Auch der Zorn. Aber in diesem
+gesunden, prächtigen Volksschlag gab es viele Verständige, die sich
+gut darauf verstanden, den Nebenmenschen nicht nach der Kittelfarbe
+einzuschätzen, sondern nach Herz und Leben. Auch waren die Unterschiede
+in den Glaubenssätzen nicht so beträchtlich, daß ein nachbarliches
+Brückenschlagen nicht möglich gewesen wäre für Menschen, die sich nicht
+leiten ließen von blindem Haß. Es standen auf katholischer Seite viele
+Männer und Frauen, die wesensverwandt mit dem Pfarrer Ludwig und der
+tapferen Frau Agnes waren, jeden aufbrennenden Hader besänftigten und
+immer sagten: »Ist unser Erlöser nit der gleiche? Sind wir nit geboren
+auf gleichem Boden? Sind wir nit deutsche Leut, die zusammengehören in
+Freud und Pein?«
+
+Auch in den Häusern, in denen ein >tiefer Graben< ausgeschaufelt
+war zwischen Mann und Weib, zwischen Eltern und Kindern, begann es
+friedsamer zu werden, seit man nimmer zu besorgen hatte, daß man
+auseinandergerissen würde. Zwei Drittel der Einwohner eines Landes
+kann man nicht um Dach und Heimat bringen und über die Grenze jagen.
+Die Herren müssen zur Einsicht kommen, sie haben schon den Anfang
+gemacht, haben den Leupolt nach der vierten Stund am roten Balken
+begnadigt, haben keinen Bekenner ins Eisen geschmissen, werden sich
+verständigen mit den Evangelischen, wie's der Westfälische Frieden
+allen Deutschen vermeint hat, und müssen den Leuten ein ruhsames
+Nebeneinanderhausen vergönnen. Not und Elend ist aus dem Ländl
+hinausgeblasen, alles Böse wird linder sein, und die >gute Zeit< wird
+kommen, auf die man in Schmerzen gewartet hat seit hundert Jahren und
+länger. Wie eine feste, heiße und schöne Freude war dieser Glaube in
+allen.
+
+Der Fürsager von Unterstein schickte an die verschwundene, drüben im
+Bayerischen versteckte Hasenknopfin die Botschaft: »Komm wieder heim
+mit deinem Mädel! Im Ländl ist lieber Gottfrieden.« Die Hasenknopfin
+konnte ihr Mißtrauen nicht überwinden, wollte die Heimkehr ihres Mannes
+aus dem Preußischen außerhalb der Grenze abwarten, blieb unsichtbar für
+die Berchtesgadnische Regierung und fühlte sich wohl auf bayerischem
+Boden.
+
+Sie war eine weise Frau.
+
+
+
+
+Kapitel XVI
+
+
+In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag schlug das Wetter um. Früh
+am Morgen fing es zu schneien an, still, ohne das leiseste Windwehen.
+Senkrecht fielen die großen Flocken aus der Luft herunter.
+
+Im schwarzwollenen Hauskittel stand Pfarrer Ludwig am Fenster. Er
+hatte eine rotverschwollene Nase zwischen entzündeten Augen und mußte
+noch manchmal niesen. Im Widerspruch zu diesem Leiden war seine Laune
+überraschend heiter und wurde noch immer fröhlicher, je dichter
+da draußen die Flocken fielen. »Nur schön herunter mit dem weißen
+Leintüchl! Dann such, du justiziarisches Dromedar!«
+
+Sehr heftig rasselte die Hausglocke. Schwester Franziska, mit
+erweiterten Angstaugen, trat in die Stube: »Der Hochwürdige soll
+hinüberkommen zum Fürsten.«
+
+Pfarrer Ludwig schrie mit seiner vom Schnupfen noch heiseren Stimme:
+»Die hohen Stiefel! Flink!« Als er allein war, runzelte er die Stirne
+wie unter angestrengter Gedankenarbeit. Er sprang zum Kasten, zerrte
+einen Mantel heraus, der farbig und gebändert war wie weltliche
+Herrentracht, ballte ihn zu einem Knäuel zusammen und schob ihn hastig
+ins Ofenloch. Das gab ein hurtiges Feuer. »Es stinkt ein bißl, aber
+hilfreich ist es.« Pfarrer Ludwig lachte. »Der Schlüssel im tiefsten
+Brunnen! Der Totengräbermantel in der schönsten Glut!« Nun flink
+hinüber zum Schreibtisch. Er ließ das Geheimfach aufspringen, zerriß
+drei lateinisch beschriebene Blätter in kleine Stücke und beförderte
+sie ebenfalls in die Flamme. »Früher hat man die Klugen selber
+verbronnen, jetzt röstet man nur noch ihren Verstand. Allweil duldsamer
+wird die Menschheit.« Aus einer Lade nahm er zehn Guldenstücke und
+zwanzig Sechser, legte die Münzen schön geordnet in das Geheimfach,
+ließ die Feder wieder zuschnappen, zog in der Stube alle Schlüssel ab
+und schob sie in die Tasche. Als ihm die Schwester die Stiefel brachte,
+fuhr er mit den Füßen hurtig in die Schäfte. »Nach Rosenwasser riechen
+sie nit. Der Gnädigste wird das Näsl verziehen.« Er nahm den Radmantel
+um und stülpte schmunzelnd die schwarze Pelzkappe übers weiße Haar.
+»So, Schwester, tu mir das Haus schön hüten! Und kriegst du Besuch, so
+unterhalt dich gut!«
+
+Bevor er hinaustrat in den jungen Schnee, spähte er nach den Fenstern
+des Chorkaplans Jesunder und konnte gewahren, wie Frau Apollonia
+zurückfuhr von ihrem Lauerposten. »So so?« Er schlug den Radmantel
+um die Schultern, wanderte gegen das Stift, blieb wieder stehen und
+blickte heiter dem flinken Menschenkind entgegen, das herankam durch
+den Vorhang der weißen Himmelsfäden. Flaumig hing der Schnee am
+Federtuff des spanischen Hütls. Schultern und Ärmel des grünen Mantels
+waren versilbert. Kein Gebetbuch, kein Rosenkranz. Zwischen den Händen,
+die aus den Mantelsäumen herauslugten, zitterte ein braunes Tiegelchen,
+das mit einem Schweinsblasenfleck überbunden war. »Guten Morgen, Kind!
+Wohin denn im tiefen Winter?«
+
+»Zur Mutter Agnes.«
+
+Der Hochwürdige schien zu erschrecken. »Ich kann doch nit denken, daß
+dein besonnener Vater dich schickt?«
+
+»Ich geh von selber.« Sie atmete schwer. »Die Mutter Agnes ist eine
+Gutgläubige.«
+
+»Freilich! Aber in ihrem Haus, da liegt doch einer, der zur bösen Lawin
+der Siebenthalbtausend den ersten Schneeballen hat laufen lassen?«
+
+»Wie alles ist, weiß bloß ein Einziger.« Sie hob das vergrämte Gesicht
+zur weißverschleierten Höhe.
+
+»Kind? Warum hast du Tränen in den Augen?«
+
+»Weil ich allweil denken muß --«
+
+»An den Leupi und seine Schmerzen?«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »An den Kummer Gottes.«
+
+»Freilich!« Der Pfarrer nickte. »Gott muß sorgenvolle Zeiten haben.
+Erschafft einen prächtigen Buben, hat seine Freud an ihm, und jetzt
+liegt er in Blut und Schwären.« Er legte die Hand auf ihren Arm. »Ich
+hätt dir den heutigen Weg gern ausgeredet. Aber ich merk, du tust dich
+da nimmer halten lassen. Was christliche Barmherzigkeit ist, versteh
+ich doch auch. Jeder gütige Menschenweg bleibt allweil ein Sträßl
+Gottes. Und was ich dir neulich gesagt hab über deinen Vater? Also?
+*Ist* er jetzt einer von den Siebenthalbtausend?«
+
+»Wär's gekommen, wie ich geforchten hab, ich hätt's nit überlebt.« In
+ihren großen nassen Augen erwachte ein froher Glanz, als wäre das die
+einzige Freude dieser harten Zeit: »Jetzt glaub ich, daß der Vater
+glaubt.«
+
+»Siehst du! Hat man nit grad vier überflüssige Buchstaben im Hirn, so
+kommt man schließlich im Leben hinter jede Wahrheit. Geh mit Gott,
+mein Luisichen!« Lächelnd segelte der Hochwürdige in den langen
+Schmierstiefeln über die weiße Welt, aufmerksam begleitet vom
+Späherblick der Mutter Apollonia. Frau Jesunder leistete dabei eine
+zwecklose Arbeit. Daß Pfarrer Ludwig zum Fürsten berufen war, das wußte
+sie schon, wußte sogar noch mehr, hätte aber auch gerne gewußt, welche
+Richtung das grüne Mäntelchen einschlug. Doch bis die neugierige Mutter
+Apollonia in ihrer Behausung zu einem winzigen Hinterfenster sprang,
+durch das sie die Welt nur in notwendigen Ausnahmefällen zu betrachten
+pflegte, war Luisa nimmer zu entdecken.
+
+Sie hatte bereits das Mälzmeisterlehen betreten. Zitternd stand sie da
+im Flur und betrachtete ratlos die drei geschlossenen Türen. Ach, wie
+viel Herzklopfen verursachen die Wege der christlichen Barmherzigkeit!
+
+In dem kleinen Flur war nichts Katholisches, nichts Evangelisches zu
+gewahren. Ein bißchen roch es nach Seife und lauem Wasserdampf. Doch
+mehr nach Frühling. Hopfenproben und geröstete Gerste duften kräftiger
+als manche Blumen.
+
+Von den drei Türen war es die nach der Gartenseite, zu der man das
+größte Vertrauen haben konnte. Die Küchentür. Als Luisa sie öffnete,
+sah sie zwei Wasserbottiche mit blutfleckiger Bettwäsche und sah eine
+schlafende Frau. Wahrhaftig, man konnte glauben, daß Mutter Agnes
+schlief. So unbeweglich saß sie auf dem spreizbeinigen Bänkl über das
+Gesims des Gartenfensters hingesunken, vor dem der Fall der Schneefäden
+herunterging, und hielt das Gesicht in den Armen vergraben. Über den
+entblößten Scheitel rieselte ein schauerndes Zucken. Frau Agnes hörte
+nicht, daß jemand gekommen war. Erst diese lispelnde Stimme weckte sie:
+»Liebe Meisterin --« Da fuhr sie auf, als sähe sie ein Wunder. »Kindl?
+Du?« Luisa nickte: »Schau, da hab ich ein wehstillendes Sälbl gekocht
+und hab's in lindem Feuer viermal geläutert. Gestern, wie noch heller
+Himmel gewesen, hab ich es klären können in der Sonn. Und heißer hab
+ich gebetet dabei, als je im Leben.« In den zitternden Händen hielt sie
+ihr das braune, mit Schweinsblase verschlossene Tiegelchen hin. »Magst
+du es haben?« Mutter Agnes versuchte zu lächeln, blieb stumm und beugte
+den Kopf. »Jesus!« stammelte Luisa. Erst jetzt gewahrte sie dieses
+Erschreckende. Die Mälzmeisterin, deren Scheitel am Sonntag vor dem
+Holz der Unehr noch blond gewesen, war in fünf Nächten grau geworden.
+
+In der stillen Küche knisterte das Herdfeuer, und das siedende Wasser
+brodelte. Das war wie eine verträumte Stimme, die gerne singen möchte,
+aber nur die Weise findet und kein Wort dazu.
+
+Frau Agnes erhob sich und legte den Arm um Luisas Schultern. »Komm!«
+Sie führte das Mädchen in den Flur und vor eine Tür, die sie öffnete.
+»Da, schau!« Es war seine Kammer. An einem Zapfenbrette hingen allerlei
+Jagdgeräte, die Schneereifen und Steigeisen, der Bergsack, die
+stählernen Schlagfallen für den Fuchsfang, die neue Feuersteinflinte
+und eine Armbrust aus Urgroßvaters Zeiten. Eine schmale weiße Stube,
+ohne Ofen, mit spärlichem Gerät, so alt, wie die Armbrust war. An
+der Mauer ein kleines Kruzifix. In der Ecke, dem tief in der Mauer
+sitzenden Fenster gegenüber, stand das plumpe Bett, mit einer grauen
+Wildschur und mit Kissen, von denen der Überzug heruntergenommen war.
+
+Luisa entfärbte sich.
+
+»Schau, da hat er noch gestern gelegen, so klaglos und gottsfreudig
+wie einer von den Heiligen, die sie gemartert haben.« Frau Agnes
+streichelte ein Kissen, das feuchte Flecken hatte. »In der Nacht ist
+der Wildmeister gekommen, mit zwei Jägerknechten. Die haben ihn im
+blutigen Verband auf ein Rößl gehoben und haben ihn fortgeführt, ich
+weiß nit, wohin.«
+
+Wie eine Erlöste atmete Luisa auf.
+
+Da sah die Mälzmeisterin sie an. »Ach, Kindl, wie tust du zittern!
+Komm, setz dich ein bißl daher!« Sie zog die Widerstrebende auf das
+leere Bett ihres Sohnes. »Mein Alter meint, die Herren hätten den Buben
+bloß fortgeschafft, daß er den Leuten aus den Augen wär. Krieg ich
+Botschaft, wo er ist, so schick ich ihm gleich dein Tiegerl, gelt!« Sie
+konnte lächeln. »Ob's heilsam ist oder nit, es wird ihm wohltun. Darf
+ich es ihm sagen?«
+
+»Was, Meisterin?«
+
+»Daß es von dir ist.«
+
+Sie nickte.
+
+»Und daß du ihm gut bist?«
+
+»Ja, Mutter!«
+
+»Und daß ihr zwei, wenn die verständigen Zeiten wieder einkehren --«
+
+Luisa bekam das strenge Klostergesicht. »Das nit! Eine Hoffnung tät
+Sünd werden. Er ist drüben, ich bin, wo ich sein muß. Da ist kein Weg
+nimmer.«
+
+»Eins von euch beiden muß doch fügsam werden. Wie soll's denn enden?«
+
+Ein Lächeln. »Mit einem einsamen Tod.«
+
+Das ging der Mälzmeisterin gegen die gesunde Natur. »Ach geh, du
+Schäfle! Tät ich vom Sterben reden, so hätt's Verstand. Bei dir ist's
+Narretei. Das mach ich dir nit zum Fürwurf. Ist doch die halbe Welt
+verdreht!« Der Zorn war in dieser ausgeglichenen Frau eine seltene
+Sache. Jetzt wurde er wach. »Tät unser Herrgott doch endlich einmal
+einen Stecken nehmen und die ganze hirnkranke Menschheit so lang
+karbatschen, bis sie alle betteln: Hör auf, wir wollen verstandsam
+bleiben!« Sie wurde ruhiger und klagte: »Er tut's halt nit. Der muß
+einen Geduldfaden haben, daß man ihn auf der Weltkugel nit aufknäulen
+könnt in hunderttausend Jahr. Freilich, unser Herrgott hat Zeit zum
+warten. Wir Menschen nit. Komm, Kindl! Wir wollen ein Wörtl reden mit
+ihm. Eine schmerzhafte Mutter und von allen Jüngferlen das frömmste. Da
+*muß* er doch hören! Meinst du nit auch?«
+
+»Ja, Mutter Agnes!«
+
+»Aber das Tiegerl mußt du auslassen. Schau nur, was du für glühheiße
+Händlen hast! Was Heilsams muß allweil kühl haben.« Sie stellte den
+kleinen braunen Tiegel an das Fenster, dessen Scheiben mit Schnee
+behangen waren. »So, Kindl!«
+
+Nun knieten die beiden vor dem Kruzifix auf die frischgescheuerten
+Dielen nieder und falteten die Hände. Aus aller Frömmigkeit ihres
+Herzens sprach Mutter Agnes den >Notschrei der wahren Christen im
+tiefsten Elend<. Und Luisa, mit einer von Süßigkeit durchfieberten
+Inbrunst, betete die Worte: »Hilf uns, o Herr! Hilf uns, Du Gütiger und
+Gerechter, Du Allbarmherziger! Hilf uns, Du ewiger Vater!« Das hatte
+sie schon hundertmal gebetet, mit einer Seele, die nur glauben konnte,
+nicht denken. Jetzt zum erstenmal zuckte ihr durch die Verzückung des
+Gebets ein menschlicher Gedanke: »Christen sind sie doch auch! Die von
+da drüben! Sie glauben an Gott und Erlöser. Da sind sie doch keine
+Heiden nit!« Sie mußte zittern, beschuldigte sich einer schweren Sünde
+und empfand doch eine Freude, die den Klang ihrer betenden Worte noch
+heißer und inniger machte. --
+
+-- Um die gleiche Stunde betete auch ein anderer, nur in taumelnder
+Seele, mit stummen Lippen, die sich so matt bewegten wie der Mund eines
+Verschmachtenden. Sein Gesicht glühte, seine Augen waren geschlossen,
+sein Körper wurde geschüttelt vom Wundfieber. Im Hallturmer Jägerhaus,
+das nur einen Büchsenschuß von der bayerischen Grenze entfernt stand --
+in einem Bodenraum, über dem die Lücken des Schindeldaches verkrustet
+waren mit angewehten Schneeklumpen -- lag er ausgestreckt auf dem
+Heu, in seinem Bergjägerkleid, mit nackten Füßen. Rotgesprenkelte
+Wundverbände umwanden die Fußknöchel, die Handgelenke und den Hals.
+
+Nun zuckten seine Glieder. Der wachsende Schmerz hatte ihn aus dem
+Fiebertaumel gerüttelt. Halb sich aufrichtend, ließ er die heißen Augen
+hingleiten über die niedere Balkenwand und über die Schneekrusten, die
+zwischen den Schindeln hingen. Undeutlich hörte er aus dem Unterstock
+des Hauses eine fluchende Stimme heraufklingen. Und sein Blick fragte:
+Wo bin ich? Er schloß die Augen wieder. »Herr, wenn ich Dich nur hab
+--« Die Worte des Gebetes flüsternd, fiel er zurück aufs Heu. Sein
+zerrissenes Erinnern mischte sich mit jagenden Fieberbildern. Er hörte
+die Mutter reden, sah ein Gewoge von Köpfen und Schultern, fühlte den
+schmerzenden Druck der Eisenbänder, die zu glühen schienen, vernahm
+das schöne Brausen des evangelischen Bekennerliedes, sah zwei Augen,
+die er mehr als sein Leben liebte, spürte einen Becher an den Lippen
+und hörte eine zärtliche Stimme: »Komm, tu trinken.« Er lächelte, und
+mit diesem Lächeln schlief er ein.
+
+Es knarrte auf der hölzernen Treppe. Aus dem offenen Stiegenloch
+tauchte ein geselchtes Mannsbild heraus, lang und dürr, mit einem
+weißen Schnauzer in dem mageren, wettergebräunten Gesicht, mit
+wasserblauen, mißmutigen Augen. Das war der fürstpröpstliche Grenzjäger
+Matthias Schneck. Der staatsmännische Auftrag, den ihm der Wildmeister
+hinterlassen hatte, war ihm ungemütlich. »Kreuzteufel und Elend!«
+knirschte er vor sich hin, während er aufmerksam den Schlafenden im
+Heu betrachtete. Ein guter und fester Jäger war der Leupolt, von der
+ganzen Berchtesgadnischen Jägerei der beste, freilich, aber halt
+auch ein Ketzer, ein ewig verfluchter! So was hat ein guter Katholik
+wie der Hiesel Schneck nicht gern unter Dach. »Teufel, Teufel, eine
+abgestochene Sau wär mir lieber im Haus.« Nach diesem Weisheitsspruche
+zog der Alte den Schnauzer zurück, tappte über die steile Stiegenleiter
+in die Herdstube hinunter, zog über seinem Kopf die Bodenklappe zu und
+schimpfte: »Kreuzteufel und narrischer Himmelhund! Allweil und allweil
+schlaft er!«
+
+»So?« erwiderte ein kleines, abgearbeitetes Weibl mit versunkenen
+Kinderaugen in einem weißen Runzelgesicht. Weil sie das kurze, nur
+wenig über die Knie reichende Röckl trug, sah sie noch kleiner aus,
+als sie war, und glich einem braunen Borkenstöpsel, der auf zwei
+weißbeinernen Stricknadeln steht. Auch schien es ihr an häuslichem
+Verstand zu mangeln. Sie kochte was in einer kleinen Pfanne, für die
+ein winziges Feuer ausgereicht hätte; aber auf dem Herdstein rauschte
+eine große Flamme, von der eine sengende Hitze ausging. Und noch immer
+legte das Weibl einen Ast um den anderen dazu. Und sagte: »Du! Schneck!
+Wann's dir nit recht ist, daß er schlaft, so hättst ihn ja wecken
+können.«
+
+»Wecken? Wecken?« Ganz rasend wurde der Hiesel. »Du Gans ohne Federn!
+So was tut man doch nit.«
+
+Das Weibl schmunzelte. »Warum denn nit?«
+
+»Höll, Himmel und Haberstroh! Hast nit ein *bißl* Verstand unter dem
+Hafendeckel? Ein einzigsmal seit der Ewigkeit hat unser grundgütiger
+Herrgott ein boshaftes Stündl verspürt, und da hat er ihm so ein
+Weiberleut ausstudiert! Kreuz Teufel, enk sollt man hauen den ganzen
+Tag. Der hat vierundzwanzig Stündlen. Wann sie nit reichen, könnt man
+die Nacht noch hernehmen dazu! Verstehst?«
+
+»Ja ja, Schneck, versteh schon!«
+
+»Also, in Gotts Namen!« Er setzte sich auf die Mauerbank und begann
+für einen Schneemarsch die Filzgamaschen um die Waden zu schnüren.
+So oft der Riemen nicht in die Haftel schlüpfen wollte, gab's einen
+fürchterlichen Fluch. Das Fluchen ist ein verhölltes Ding, und wo
+sich der Teufel rührt, wird's finster. Wohl möglich, daß die alten
+Balkenmauern in den fünfunddreißig Jahren, seit der Schneck und die
+Schneckin zwischen ihnen hausten, vom vielen Fluchen des Hiesel so
+schwarz wurden. Augenblicklich waren diese teufelsfarbenen Wände auch
+noch angeglüht von der großen Flamme. Alles in der Stube funkelte,
+der ganze Herd mit der Rauchmuschel darüber, in der anderen Ecke das
+zweischläfrige Bett mit den hochgetürmten Kissen, in der dritten
+Ecke der Tisch, in der vierten der alte Geschirrkasten und die
+Geweihstangen, die als Kleiderrechen an die Balken genagelt waren. Kaum
+merkte man inmitten dieser Funkelglut, daß es draußen Tag war. Auch
+sonst hatte die Stube noch was Höllisches. Neben der Tür, die ins Freie
+führte, ging ein niederes Türchen in den Geißstall. Da trug man an den
+Sohlen immer was über die Schwelle. Drum roch es beim Hiesel Schneck
+-- außer nach Ruß, nach Rauchtabak und geschmierten Bergschuhen --
+auch sehr heftig nach Ziegenpillen und Bockmist. Dennoch merkte man es
+der Stube an, daß sie behütet wurde von zwei fleißigen Frauenhänden.
+Gegen den Stallgeruch konnte die Schneckin nicht aufkommen, weil sie
+sich seit dreißig Jahren an ihn gewöhnt hatte und nur selten merkte,
+daß er da war. Die Ziegen hatten alle paar Jährchen gewechselt, der
+Geruch war der gleiche geblieben. Auch der Hiesel Schneck. Der hatte
+schon vor fünfunddreißig Jahren, in der ersten Woche nach der Hochzeit
+so lästerlich geflucht. Das war der jungen Schneckin hart auf die
+Seele gefallen. Und eines Tages hatte sie gebettelt: »Tu dich doch
+nit allweil so versündigen, Mann!« Da hatte er in Zorn gebrüllt:
+»Kreuzteufel, Himmelhund und Höllement! Wer sagt denn, daß ich mich
+versündig? Wie denn? Wann denn? Wo denn?« Seit damals wußte die
+Schneckin, daß das Sakermentieren am Hiesel nur eine Haut war, wie am
+Fichtenbaum die Borke. Die ist rauh, das Holz ist gut. So gewöhnte sich
+die Schneckin an die höllmentischen Borsten ihres Schneck, wie sie
+sich um der guten Geißmilch willen an die Düfte des Bockmistes gewöhnen
+mußte. Länger als ein Vierteljahrhundert hatte sie der Schneckischen
+Flüche nimmer geachtet. Erst im vergangenen Herbste hatte sie wieder
+Ohren dafür bekommen. Das ließ sie den Hiesel aus triftigen Gründen
+nicht merken.
+
+Als er die Filzgamaschen prall an seine Waden hingeflucht hatte,
+nahm er Branntwein und Ziegenkäs in den Bergsack, hängte die
+Feuersteinflinte hinter die Schultern, warf den Wettermantel drüber und
+sagte leis: »Paß auf, Schneckin! Das Süppl, Kreuzteufel, das muß er
+haben! Aber ordentlich versalzen mußt du's. Verstehst?«
+
+»Wohl, Schneck, versteh schon. Ich salz, daß der Bub verdursten muß
+über Nacht.«
+
+»Höllement und Himmelhund, verstehst du denn nit, du Schaf ohne Woll!
+Nit gar so fest! Bloß daß er merkt, wie gut er's überall haben könnt,
+viel besser als wie bei uns. Verstehst?«
+
+»Ja ja, Schneck, gut versteh ich.«
+
+»Daß er frieren muß da droben, wie die Feldmaus an Weihnächten, das
+wird mithelfen. Und du mußt ihm halt allweil fürreden, daß er keine
+hundert Sprüng nit braucht bis zur bayrischen Grenz. Verstehst?«
+
+»Ja, Schneck, versteh schon. Allweil stell ich mich ans Bodenfenster
+und sag: ja guck nur, guck, wie gut man von da den Grenzbaum sieht!«
+
+»No also! Endlich verstehst ein bißl! Und wirst wohl wissen,
+wie's der Wildmeister haben will. Kein Wörtl von der luthrischen
+Narretei. Tu fürsichtig das Maul halten! Wir zwei sind gute Christen.
+Kreuzhöllement! Unser Herrgott ist unser Brot. Verstehst? Wie flinker
+er nüberspringt ins Bayrische, um so lieber ist es den Herren.
+Verstehst?«
+
+»Wohl, Schneck, versteh schon! Wenn's nächtet, ist der Bub nimmer
+droben am Heuboden.«
+
+»Gott soll's geben!« Der Hiesel ging zur Türe. »Gelobt sei Jesus
+Christus und die heilige Mutter Marie.«
+
+Ruhig sagte das kleine Weibl am Herd: »Von nun an bis in Ewigkeit
+Amen!« Und legte drei schwere Holzprügel in die große, rauschende
+Flamme.
+
+»Höll, Himmelhund und narrische Fasnacht, was tust du denn so unsinnig
+feuern, Weib?«
+
+»Daß ich nit frieren muß.« Dabei rannen der Schneckin die Schweißperlen
+über das von der Hitze halb gebratene Gesicht. »Verstehst?« Nein,
+das verstand der Hiesel nicht. Er fing über die Dummheit der Weiber
+wie ein Wilder zu fluchen an und schlug die Türe hinter sich zu. Man
+hörte noch immer seine wütenden Himmelhunde bellen, als seine Schritte
+schon versunken waren im tiefgewordenen Schnee. Kaum er draußen war,
+sprang die Schneckin zur Treppe hinüber und lupfte die Bodenklappe, daß
+die Wärme hinaufströmen konnte. Und wieder zum Herd, und wieder ein
+paar feste Prügel ins Feuer. Sie kostete, was sie gekocht hatte, und
+weil die Milchsuppe ein bißchen nach dem Geißstall bitterte, rührte
+die Schneckin ein Löffelchen Honig hinein. Daß einer im Wundfieber
+nichts Heißes trinken soll, das wußte sie auch. Drum sprang sie in den
+weißen Flockenfall hinaus, um das Blechschüsselchen mit der dampfenden
+Suppe im Schnee zu kühlen. Wieder kostete sie und nickte zufrieden.
+In der Art, wie die Schneckin das alles tat, war etwas Mutterhaftes.
+Sieben Kinder hatte sie ihrem Höllementshiesel geboren, alle in
+dieser schwarzen Stube, und keines hatte sie behalten. Drei waren
+an den Blattern gestorben, die zwei ältesten Buben dienten bei der
+Schellenberger Saline, der dritte war Soldat bei der Reichsarmee, und
+das jüngste von ihren Kindern, ihr liebes Mädel, hatte im vergangenen
+Sommer einen Halleiner Knappen geheiratet. Bei der Schneckin waren nur
+der Hiesel, seine Himmelhunde und der Bockmist geblieben.
+
+Achtsam trug sie das kühle Schüsselchen über die steile Treppe hinauf,
+huschelte sich neben dem Schlafenden ins Heu, betrachtete sein
+glühendes Gesicht und streichelte den Wundverband an seinem Handgelenk.
+Dann saß sie unbeweglich, bis der Schlummernde zu erwachen schien. Sie
+schob ihm sacht die Hand unter den Nacken. Als er die Augen öffnete,
+hob sie das Schüsselchen und sagte freundlich: »So komm, tu trinken!«
+
+Mit einem erstickten Laut riß Leupolt den Kopf in die Höhe, sah
+verstört in die Augen der alten Frau, schob die Schüssel von sich fort
+und fiel zurück.
+
+»Bub? Tust du mir leicht nit trauen?«
+
+Leupolt schwieg.
+
+Da neigte die Schneckin den Mund zu seinem Ohr. »Es ist ein heilig
+Ding, ist deins und meins. Komm, lieber Bruder in Christ, tu trinken!«
+
+Noch während sie sprach, umklammerte er mit zuckenden Händen ihren Arm
+und fragte: »Bist du am Sonntag auf dem Markt gewesen?«
+
+»Wohl, Bub, da hab ich dich leiden sehen.«
+
+»Hast du gesehen, daß eine mich trinken hat lassen aus ihrem Becher?«
+
+»Ja, Bub!«
+
+»So hab ich es nit geträumt?« Aufatmend nahm er das Schüsselchen
+aus ihren Händen, trank mit gierigen Zügen und sagte lächelnd:
+»Vergeltsgott, gute Schwester!« Er schloß die Augen, noch immer
+lächelnd. Nach einer Weile fragte er leis: »Wer bist du?«
+
+»Die Schneckin, Bub! Kennst du mich nit?«
+
+»Das Weib des Jägers an der Grenz? Und bist du am Sonntag auch den Weg
+der Wahrheit gegangen?« Die Frau blieb stumm und verfärbte sich ein
+bißchen. Leupolt öffnete die Augen. »Warum nit, Schwester?«
+
+Ruhig sagte sie: »Den Schneck tät's umbringen.«
+
+Er nickte. »Jeder, wie er meint, daß es recht ist.« Seine Brauen zogen
+sich zusammen. »Drunten in der Herdstub hab ich einen schelten hören.
+Ist das der Schneck gewesen?«
+
+»Wohl, Bub! So tut er allweil.«
+
+»Weil du evangelisch bist?«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß er nit.«
+
+»Kann's ein Mannsbild geben, das nit Augen hat für die Seel in seinem
+Weib?«
+
+Ein bißchen lächelte sie. »So ist der Schneck. Tät die Himmelsglock
+herunterfallen auf die Welt, da müßt ich dem Meinigen sagen: Du,
+Schneck, paß auf! Sonst merkt er es nit.« Sie sah, daß Leupolt die
+Zähne übereinanderbiß. Erschrocken fragte sie: »Hast du Schmerzen?«
+
+»Nit arg.«
+
+»Ich will dich pflegen. Drunten in der Herdstub hätt ich's leichter.
+Meinst du, daß du hinunterkommst?«
+
+Mit ihrer Hilfe hob er sich aus dem Heu. Die Füße trugen ihn nicht.
+»Mußt mich halt noch ein Stündl liegen lassen. Dein guter Trunk wird
+helfen, daß ich zu Kräften komm.« Er hielt mit seinen glühenden Fingern
+die Hand der Schneckin umspannt. »Weiß meine Mutter, wo man mich
+hingeführt hat?«
+
+»Bub, da bin ich überfragt.«
+
+»Magst du ihr Botschaft geben?«
+
+Das hatte der Wildmeister über Auftrag der Regierung streng verboten.
+»Ja, Bub,« sagte die Schneckin, »das wird sich schon machen lassen. Ich
+hab am Ellbogen ein Überbein und red dem Meinigen ein, daß es blutet.
+Verstehst, ein Überbein blutet doch nie. Und da lauft der Meinige
+gleich zum Jud um ein Pflaster. So ein Jud ist allweil schlau. Und
+lügen kann er halt nit, der Schneck, verstehst? Da redet er allweil so
+dumm daher, daß man alles merkt. Und der Jud wird's dem Pfarrer sagen,
+und der Pfarrer tragt's deiner Mutter zu. Ja, Bub, die Wahrheit geht
+allweil den kürzesten Weg.«
+
+»So ist alles gut.«
+
+Schweigend lag er und atmete ruhig, bis der Fieberschlaf ihn wieder
+befiel.
+
+Unter dem verschneiten Dache war es warm geworden. Zwischen den
+Schindeln begannen die Schneeklumpen zu schmelzen, und die Tropfen
+fielen so reichlich von den Balken, wie sie im tauenden Frühling von
+den Bäumen fallen.
+
+
+
+
+Kapitel XVII
+
+
+Pfarrer Ludwig trat in das Fürstenzimmer, aus dem die verschnörkelte
+Pariserei allen deutschen Hausrat verdrängt hatte.
+
+Herr Anton Cajetan, in einem Hofkleid aus schwarzem Atlas, unter
+frischgepudertem Lockenbau, schlürfte seine Morgenschokolade. Er
+hatte unausgeschlafene Augen. Spinettspiel und Cyperwein hatten
+sich wirkungsloser erwiesen als sonst. Zehntausend Untertanen und
+siebentausend Abtrünnige! Und die innersten Regierungsstätten ein
+Tummelplatz erschreckender Mirakel -- die gereizten Seelenzustände der
+schönen Freundin _en titre_ noch gar nicht in Rechnung gezogen -- wie
+soll man da schlafen können als Fürst? Mit einem Augenwink schickte
+Herr Anton Cajetan den Lakai aus dem Zimmer und trat erregt auf den
+Pfarrer zu. »Was sagst du zu dieser konsternierenden Sache! Fast
+siebentausend!« Da sah er die verschwollene Nase des Pfarrers und wich
+zurück. »Es scheint, daß du *wirklich* katarrhalisch bist?«
+
+»Haben Euer Liebden daran gezweifelt? Aber es wird schon besser. Und im
+Abflauen ist eine Krankheit nimmer ansteckend.«
+
+»Immerhin wollen wir vorsichtig sein und den Tisch _entre nous_
+postieren. Nimm Platz -- da drüben!« Forschend betrachtete Herr Anton
+Cajetan den Greis. »Ich will deine Meinung hören. Man muß zu einer
+Dezision kommen, was man tun soll. Der Salzburger Hof, an den ich einen
+Kurier detaschiert habe, schweigt sich aus. Und die Gehirne meiner
+eigenen Kanzleikamele befinden sich in einer desolaten Konstitution.«
+
+»Wenn man nur merkt, wie man dran ist mit ihnen. Da schadet's minder.«
+
+»Weißt du mir einen Rat?«
+
+Dem Pfarrer stieg das Blut ins Gesicht. Er hatte sich nichts Gutes von
+dieser Stunde erwartet. Nun fühlte er ihre Verantwortung. War es nicht
+denkbar, daß diese Stunde auch Segen bringen konnte? »Einen Rat?« Er
+atmete tief und nickte. »Es geht da um unser Ländl und Volk. Kann sein,
+um *mehr*! Um ein notwendiges Ding im Reich --«
+
+»Was, Reich!« lehnte Anton Cajetan verdrießlich ab. »Laß
+Nebensächliches _à part_! Was soll ich tun in dieser desperaten
+Fatalität?« Der Fürst tauchte ein Biskuit in die Schokolade.
+
+Pfarrer Ludwig zog die Brauen zusammen. »Man kann von zehntausend
+Untertanen nit siebentausend über die Grenz jagen. An verläßlichen
+Stiftsleuten bringen Euer Liebden kein halbes Hundert nimmer auf.
+Fünfzig wider siebentausend, das ist so siegreich wie ein Frosch wider
+einen Ochsen.« Zur Bekräftigung dieser Wahrheit mußte der Pfarrer
+niesen.
+
+Anton Cajetan streckte mißmutig die Hand. »Rück weiter vom Tische!«
+Seufzend schob er das lindgeweichte Biskuit an seinen Bestimmungsort.
+»Du meinst also?«
+
+»Daß Euer Gnaden sich mit den Siebentausend in Güt verständigen müssen.«
+
+»Ganz meine Meinung.«
+
+»Ja, Herr?« fuhr es dem Pfarrer mit freudigem Laut heraus.
+
+»Wie denkst du dir die Bekehrungsmethode?«
+
+»Bekehrung?« Dem Enttäuschten wurden die Augen groß. »Freilich, wenn es
+an den Brotkorb geht, werden viele umfallen. Alle Schwachmütigen. Zu
+Eurem Nutzen wär es, Euch die Tüchtigen zu erhalten. Oder Euer Ländl
+wird blutarm werden wie ein junges Weib, dem der Mann genommen ist.«
+
+»Ludwig, du bist opulent an unpriesterlichen Bildern. Oder --« Anton
+Cajetan richtete einen mißtrauischen Blick auf den Pfarrer. »Bist du
+vielleicht deines eigenen Glaubens nicht mehr sicher?«
+
+»Doch, Herr!« Die große Warze des Pfarrers zuckte ein bißchen. »Aber
+ich spür, daß viele von diesen Abtrünnigen die besseren Menschen sind,
+als manche von den Treugebliebenen.«
+
+Zornig fuhr der Fürst vom Sessel auf und bespritzte die schimmernde
+Hose mit Schokolade. Auf das weiße Fenster zutretend, tupfte er mit dem
+Spitzentuch die Flecken vom schwarzen Atlas. Dann lachte er kurz und
+murrte: »Die besseren Menschen! Diese Treulosen an ihrem Fürsten und
+Gott!«
+
+»Alles Neue faßt am tiefsten die Menschen an, in deren Seelen der
+fruchtbarste Boden ist. Was blüht in einer sehnsüchtigen Seel, erhebt
+den Menschen, macht ihn stärker und schöner in allen Kräften, zündet in
+seinem Blut und Herzen ein lauteres Feuer an. Und *das* sind die Leut,
+die Ihr nit verjagen dürft. Bekehren? Nein, Herr! Und hält man sie nit
+zurück, so wird das Land seine fleißigsten Händ verlieren.«
+
+Etwas ruhiger geworden, kehrte Anton Cajetan zum Tisch zurück und
+setzte sich wieder zu seiner Schokolade. »Man darf doch diese
+üblen Dinge nicht laufen lassen, wie sie laufen? Wenn sich auch ein
+hilfreicher Weg im Augenblick nicht präsentiert, so hat man als Fürst
+doch seine Verpflichtungen. Wer Herr heißt, trägt das Schwert nicht
+umsonst. Man muß die Rädelsführer zu fassen suchen, muß aus dem Weg
+räumen, was der Ordnung _contre coeur_ ist. Ein Fürst, der es
+unterließe, wäre ein Erwürger seiner eigenen Herrschaft.«
+
+Der Pfarrer bekam eine rote Stirn. »So sprachen wohl auch die römischen
+Cäsaren, als sie das Christentum zu verfolgen begannen. Haben sie es
+ausgerottet?«
+
+Anton Cajetan verlor seine gebesserte Laune wieder. »Christentum und
+evangelische Narretei sind verschiedene Dinge.«
+
+»Für Euch als Priester. Nit für Euch als Fürst. Ist das deutsche Blut
+im Schwedenkrieg umsonst geflossen? Sind die Protestanten nach den
+Satzungen des Westfälischen Friedens nit privilegiert im ganzen Reich?«
+
+Der Fürstpropst, vom Sessel aufspringend, vergaß seiner Würde so weit,
+daß er mit der Faust wie ein Bauer losdrosch auf die Tischplatte.
+»Diese siebentausend Rebellen meines Landes *sind* keine Protestanten.
+Das sind hirnverdrehte Schwarmgeister, die ihren Wahn herausspinnen aus
+besoffenen Gehirnen. Diese verrückten Kujons haben doch niemals noch
+einen Prediger ihres Glaubens gehört.«
+
+»Vielleicht ist eben deswegen ihr Glauben so fest!«
+
+»Oh? Pamphletierst du gegen den eigenen Stand?«
+
+»Das nit! Ich glaub, daß für die Menschen nichts nötiger ist als eine
+hilfreiche Seelenweisung. Aber es kann die Schwachgewordenen nit arg
+im Glauben festen, wenn neben dem Priester allweil der Muckenfüßl mit
+seinem gefährlichen Notizbuch steht: Brauchst du das Weihwasser und den
+Rosenkranz? Glaubst du ans Fegfeuer? Und wenn du nit glauben magst, so
+mußt du zahlen!«
+
+Der Fürstpropst wurde nachdenklich.
+
+Das sah der Pfarrer und sagte mit herzlicher Mahnung: »Ihr spürt es
+doch in Euch selber, daß da endlich ein Wandel kommen muß. Lieber Herr!
+Schauet das Leben doch an! Sonst überall ist Wahl und Freiheit. Was tät
+man sagen, wenn der Muckenfüßl austrommeln wollt: >Subjekt, du darfst
+nur den schwarzen Rettich essen, nit den weißen!< Oft vertragt einer
+halt den schwarzen nit, weil er so raß ist.«
+
+Empört fuhr Anton Cajetan auf: »Vergleichst du die Religion mit einem
+Rettichschwanz?«
+
+»Ach, Herr, so ein kleines, unverdauliche Schwänzl hat *jedes* Ding auf
+der Welt.«
+
+»Das sind Parabeln, auf die ich mich nicht einlassen kann.« Heißer
+Unmut begann im Fürsten zu wühlen. »Das Volk ist undankbar. Es sollte
+kapieren, daß es heute besser dran ist, als in vergangenen Zeiten.«
+
+»Besser?« Der Blick des Pfarrers war wie ein Rückschauen in grauenvolle
+Bilder. »Wahr ist's, der Henker hat ein bißl weniger Arbeit heut, als
+vor hundert Jahren. Da hat man dem deutschen Land durch Ketzerbrennen,
+Ersäufen und Köpfen eine schauderhafte Zahl von rechtschaffenen Leuten
+entzogen. Und hat für die Kirch nichts anderes zustand gebracht als
+üblen Geruch.«
+
+»Sie hat ihren Schaden observiert und hat es abgestellt.«
+
+»Um ihre widerspenstigen Kinder leben zu lassen und sie lieber so lang
+zu peinigen, bis sie die Rute küssen.«
+
+Der Fürst machte echauffiert einen Gang durch das Zimmer und sagte
+gereizt: »Rom könnte nicht mehr bleiben, was es ist, wenn es aufhören
+wollte, die Widersacher zu bestrafen. In solchen Dingen muß man
+konsequent sein.«
+
+»Was hat's geholfen, Herr? Aus lauter römischer Konsequenz ist das
+halbe deutsche Reich schon lutherisch. Und haben die justiziarischen
+Seifenschläger bei uns nit ausposaunt: das Land ist rein, und wollt
+man suchen mit des Diogenes Latern, es wär kein Evangelischer nimmer
+zu finden. Und jetzt? Siebentausend bei uns! Und in Salzburg waren es
+über die Dreißigtausend! Gefahr und Ketten, Not und Armut haben die
+Salzburger lieber ertragen wollen, als untreu werden ihrem Seelentrost.
+Man hat die Weiber aus den Armen der Männer gerissen, Tausende von
+Kindern hat man ihnen weggenommen --«
+
+»Ludwig?« unterbrach Herr Anton Cajetan. »Hast du geheime Verbindung
+mit Salzburg? Da müßte ich deiner Neugier einen Riegel vorschieben.«
+
+»Mich wird er nit drucken, Herr!« Der Pfarrer zog den Atem rückwärts,
+um nicht niesen zu müssen. »Drucken und einengen wird er nur Euch.
+Verschließt alle Grenzen mit eisernen Mauern und tausend Musketieren
+-- die Botschaft, die Euer Völkl hören *will*, wird allweil einen
+Weg zu seinem Herzen finden.« Er streckte die Hände. In seiner
+Erregung fiel es ihm nicht auf, wie schnell der Allergnädigste vor
+der Infektionsgefahr retirierte. »Herr! Ich bitt Euch, laßt Euch
+raten von mir! Rühren Euch die Kanzleischöpse einen bösen Brei in den
+fürstlichen Topf, so seid doch Ihr es, der ihn austunken muß. Was in
+den Siebentausend zu heißem Leben geboren ist, das macht der Muckenfüßl
+nimmer zum Kadaver. Das ist in ihnen wie gesundes Frühlingsholz.
+Versenkt es in Eurem Königssee bis auf den Grund, beschwert es mit
+Steinen, laßt eine Eisdeck drüberwachsen! Das Eis wird springen, die
+Felsbrocken werden zerfallen, und das gute Holz steigt wieder in die
+Höh. Es wird aus der schmerzhaften Tief heraufbrausen mit einem Stoß
+und Auftrieb -- -- das könnt Euch umschmeißen, Herr!«
+
+Der Fürst war bleich geworden, ging hastig zur Tür und schrie in den
+Flur hinaus: »Ist dieser gottverlassene Filou noch immer nicht zurück?«
+Man hörte die verneinende Antwort eines Lakaien.
+
+Stumm betrachtete Pfarrer Ludwig den Fürsten, jäh herausgerissen aus
+aller keimenden Hoffnung. Der Ausdruck schweren Kummers sprach aus
+seinem verschwollenen Gesicht, aus den vom Schnupfen tränenden Augen.
+
+Anton Cajetan hatte die Türe krachend ins Schloß geworfen, wanderte
+hilflos durch die prunkvolle Stube und sagte ein paarmal flink
+hintereinander: »Das muß man überlegen! Das muß man sich doch
+überlegen!«
+
+»Ja, Herr! Ein füreiliger Entschluß könnt Euch ein böses Sträßl in die
+Zukunft bauen.« Die Stimme des Pfarrers klang so hart, daß der Fürst
+verwundert aufsah. Ganz still war's einen Augenblick in dem großen
+Raum. »Zu End müssen wir das allweil reden, Herr! Ich tu's und wenn's
+um den Hals geht.«
+
+»Eine anrüchige Einleitung! Was willst du sagen?«
+
+»Ich mein', es handelt sich da nit *nur* um Gott und Himmel. Es kommt
+mir so für, als tät hinter dem unverträglichen Eigensinn, mit dem die
+Katholiken und Evangelischen gegeneinander hadern, noch was anderes
+stecken. Römisch? Evangelisch? Das liegt doch nit so weit überzwerch,
+daß man sich unter deutschen Nachbarsleuten nit verstehen könnt.«
+
+Verdrossen murrte der Fürst: »Gott muß sich schön was denken, wenn er
+dich als katholischen Priester so räsonnieren hört!«
+
+»Da glaub ich erstens, daß Gott was Gescheiteres zu tun hat, als auf
+mich aufzupassen. Und zweitens mein' ich, daß es ihm gleich ist, ob
+die Menschen von rechts oder von links zu ihm kommen. Wenn sie nur
+nit ausbleiben. Und schauet, Herr, zwischen einem Katholiken, wenn es
+kein schlechter, und einem Evangelischen, wenn es ein rechter ist, wär
+allweil ein ruhvolles Nebeneinanderleben möglich. Nit zwischen den
+Hetzern und Streithammeln. Da ist Krieg, bis ihnen die bösen Kräft
+entrinnen. Ich will hoffen auf den Sieg des Guten. Hoffnung muß das
+ewige Laster aller Menschheit bleiben. Und da glaub ich, Herr, daß
+der Hader um die Religion in Deutschland nur halb herausgewachsen ist
+aus dem Kirchboden. Das geht noch auf was anderes zurück, als auf die
+sprenkligen Glaubensfarben und auf das dreißigjährige Morden im Reich.
+Das Ding ist älter. Der Gegensatz im Glauben hat's nur erneut und
+aufgeblasen zu gefährlicher Unform.«
+
+»Ich verstehe nicht. Was meinst du damit?«
+
+»Den bockbeinigen Eigensinn und die händelsüchtige Rechthaberei der
+Deutschen! Der tiefe Graben, der überall aufgerissen ist zwischen
+allen deutschen Stämmen, will ein Sumpfloch werden, in dem das Beste
+der deutschen Kraft versinkt. Sonst ist die unglückselige Torheit nur
+daheimgewesen in den Herbergen und Studentenbursen, auf den Märkten
+und Kirchweihen. Jetzt hängen sich die landsmännischen Galläpfel an
+alles Große und Wichtige im Reich. Ein verzweifeltes Elend! Überall die
+gleiche Narretei und Unvernunft: daß man den anderen, weil er anders
+redet, in anderem Hut oder Kittel geht, allweil minder einwertet als
+sich selber.«
+
+Ungeduldig sagte Herr Anton Cajetan: »Das war so, seit es Deutsche
+gibt. Und es wird so bleiben.«
+
+»Dann werden die Deutschen dran zu Grund gehen.«
+
+»Ach, Torheit! Und hat es sich seit zwei Jahrhunderten immer mehr
+verschärft -- wer ist der Schuldige?«
+
+Der Pfarrer nickte. »Wahr ist's, er hat uns Römischen eine bittere
+Mahlzeit eingebrockt. Aber wer weiß, ob das Ding mit ihm so weit
+gegangen wär, wenn man auf unserer Seit ein bißl einsichtsvoller hätt
+sein können, ein bißl menschlicher und -- weniger konsequent.«
+
+»Ludwig?« fiel Herr Anton Cajetan dem Pfarrer zornig in die Rede.
+»Willst du nicht lieber gleich hinübergehen zur Ketzerliste und dich
+inskribieren?«
+
+Der Pfarrer lächelte. »Ich? Nein, Herr! Ich mein' nur, eine Sonn, die
+sticht, bleibt allweil auch eine Sonn, die geleuchtet hat.« Etwas
+Heißes und Bestürmendes kam in den Klang seiner Worte, obwohl sie
+leiser wurden. »Herr? Habt Ihr nie seine Bibel gelesen? Nur um der
+Sprach willen? Als deutsches Buch?«
+
+Anton Cajetan machte mit den Schultern eine graziöse Bewegung.
+»Deutsch!«
+
+»Ein kurzes Wörtl! Aber die kürzesten, Herr, sind allweil die tiefsten
+-- wie Gott und Herz, wie Glück und Not.« Noch leiser wurde die von
+Erregung bebende Stimme des Pfarrers. »Herr! Des Luthers Bibel, und
+wär's nur um ihrer kraftvollen und neugeborenen Sprach willen, ist
+ein Gesundbrunnen, eine heimatliche Erweckung für uns Deutsche. Wie
+der Heiland gesprochen hat zur Tochter des Jairus, so spricht jedes
+Blatt dieses Buches zum deutschen Volk: Steh auf und rede! Und *das*,
+Herr, *das* vor allem ist der geheimnisvolle Zauber, den dieses
+Buch auf unsere deutschen Bürger und Bauern übt! Da verstehen sie,
+wenn sie lesen. Und spüren, daß sie dem vaterländischen Boden noch
+nit entwachsen, noch nit pariserisch oder spanisch geworden sind,
+sondern allweil noch mit Blut und Herz an der Heimat hängen.« Die
+hagere Gestalt des Greises streckte sich, und in seinem Blick war
+ein Hoffnungsglanz, wie in den Augen eines Jünglings, der von den
+Heiligkeiten seiner Liebe spricht. »Besinnen sich die Herren ihrer
+Pflicht und Herkunft nit, ihres nötigen Rückwegs in die Heimat, so wird
+das deutsche Bürgertum und das Volk der deutschen Bauern dem kranken
+Reich einen Weg zu gesundem Heil und zu neuer Zukunft bauen -- auch
+*ohne* die Herren!« Pfarrer Ludwig vermochte nicht weiter zu sprechen,
+weil er heftig niesen mußte, so unerwartet, daß er sich nimmer völlig
+beiseite wenden konnte.
+
+Der Fürstpropst war in aufmerksamer Spannung nähergetreten. Jetzt wich
+er fluchtartig zurück, brachte sein Spitzentüchelchen und das goldene
+Riechsalzfläschl in flinke Tätigkeit und klagte erbittert: »_Eh bien_,
+nun hast du mir auch noch mitten in die Physiognomie hineingenossen.«
+
+Der Pfarrer tat einen schweren Atemzug. »Das ist traurig, Herr: denken
+müssen, daß ich Euch vielleicht beredet hätt zu einem verständigen
+Entschluß -- wenn ich nit katarrhalisch wär. Ja, ja: die kleinen
+Ursächlen und die betrübsamen Wirkungen!« Er versuchte sich seiner
+Erregung durch ein heiteres Wort zu entwinden. »Vielleicht wär auch die
+Welt nit erschaffen worden, wenn sich der liebe Gott vor dem ersten
+Schöpfungstag im kühlen Chaos ein Tropfnäsl geholt hätt.«
+
+»_Mon cher!_ Du beginnst impertinent zu werden. Es war nicht nur
+gesundheitsgefährlich, heute mit dir zu konferieren, ich muß auch
+die Wahrnehmung machen, daß ich mich gründlich in dir getäuscht
+habe. Inkommodiere mich nicht mehr mit deinem Volk! Wo tauber Same
+in morastigem Acker fault, da siehst du Frühlingssaat. Dein Volk ist
+widerspenstig und voll Eigennutz. Dein Volk ist dumm. Dein Volk ist
+schlecht.«
+
+Das Gesicht des Pfarrers bekam so grimmige Züge, daß es mit seinen
+häßlichen Warzen dem Antlitz eines mehr als verdächtigen Menschen
+glich. »Nein, Herr! Das Volk ist weder gut noch bös, ist weder weiß
+noch schwarz. Das Volk ist grau, wie sein Elend ist. So hat man das
+Volk mit Seelenzwang, mit Jammer und Not gefärbt. Und nit zu verkennen
+ist das, Euer Liebden, daß in geistlichen Fürstentümern das Volk weit
+elender ist, als unter weltlichen Herren. Die geistlichen Fürsten
+sagen: Selig sind die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich. Und weil
+sie als Priester wollen müssen, daß jeder selig wird, drum sorgen sie
+als Fürsten dafür, daß jedermann arm ist.«
+
+In Zorn machte Herr Anton Cajetan eine Bewegung, als möchte er auf den
+Pfarrer zuschreiten. Doch er hielt sich ferne. »Mein langer Ludovice!
+Du bist entweder ein großer Mensch, oder ein ganz erstaunlicher Narr.«
+
+»Wofür entscheiden sich Euer Liebden?«
+
+»Für das letztere.«
+
+»Da werde ich mit dem Ratschlag, den ich noch geben muß, kaum Glück
+haben. Aber geben muß ich ihn. Und daß ich vom fürstlichen Priester hab
+reden müssen, ist schon eine Staffel gewesen. Den Entschluß, den die
+Not Eures Lands und die Sorg um das Reich von Euch fordern, könnt Ihr
+niemals finden als Priester. *Nur* als Fürst. In Euch selber könnt Ihr
+Euch nit auseinander schneiden. So müßt Ihr den Schnitt zwischen Euch
+und Eurem Ländl machen.«
+
+»Oh?« Herr Anton Cajetan schien sich sehr zu amüsieren. »Abdanken,
+meinst du?«
+
+»Wär nit genug.«
+
+»Wie anspruchsvoll!«
+
+Je mehr im Fürsten die Heiterkeit erwachte, um so ernster wurde der
+Pfarrer. »Schauet das Reich doch an! Wie ist da alles zerstückelt
+und zerrissen! Festen Halt hat nur das groß und stark aneinander
+Geschmiedete. Es gibt Stimmen, die sagen, es wär die einzige Genesung
+der Deutschen: *ein* Volk, *ein* Reich, *ein* Herr! So sag ich nit. Die
+Stammverschiedenheit ist wie gute Hefengärung im schweren deutschen
+Teig. Nur fest aneinanderschlingen müßt man sich. Und müßt das wüst
+ins Unkraut schießende Spötteln, das sinnlose, hochmütige, blitzdumme
+Aufmucken unterlassen, bei denen im Süden wider die im Norden, bei den
+Schwaben gegen die Sachsen, bei denen im Norden wider die im Süden.
+Ist denn das um Herrgottswillen so ein schweres Kunststück, von einem
+Bruder zu sagen: So ist er, und wie er ist, so müssen wir ihn nehmen
+und nutzen!«
+
+»Laß das!« unterbrach der Fürst. »Was geht das *mich* an! Ich bin
+kuriös auf dein Rezept.«
+
+»Wollt Ihr handeln als deutscher Fürst, so müßt Ihr aus der Landsnot,
+die Euch bedrückt, einen Nutzen heraushämmern für das Reich. Müßt
+helfen dazu, ein Fürbild der Verträglichkeit zu geben. Müßt helfen
+dazu, daß ein gewichtiger Teil im Reich noch standhafter ins Wachsen
+kommt.«
+
+»Ich verstehe deine sibyllinische Weisheit nicht.« Der sarkastische
+Ton verriet, daß Herr Anton Cajetan doch schon ein bißchen was zu
+ahnen begann. Es gewitterte sehr merklich in seinen schwarzgefärbten
+Augenbrauen.
+
+»Beugt sich in Euch der Fürst vor dem Priester, so macht Ihr unser
+Völkl elend, und Euer Land verblutet. Stellt Ihr den Fürsten *über* den
+Priester, laßt Ihr Euch das Landwohl nit verpanschen von der berühmten
+Konsequenz und macht Ihr Frieden mit den Siebentausend, so fallt Ihr in
+Streit und Hader mit allen Hitzköpfen unseres geweihten Standes. Herr!
+Da gibt's nur einen einzigen Ausweg.«
+
+Die bleichen Lippen des Fürsten wurden schmal. »Und welchen?«
+
+»Erlöst Euch selber und Euer Land aus allem Zwist, stärket durch Euer
+Bröckl Fürstenherrlichkeit ein gesundes Land im Reich und bindet den
+Berchtesgadnischen Sehnsuchtswinkel an das feste Bayern. Da seid Ihr
+als Fürst, wie als Priester, ledig aller Not und habt den Ärger und die
+giftigen Schulden los. Der neue Landsherr wird mit reichen Mitteln den
+stockenden Blutsaft unseres Völkls wieder in Gang bringen und wird sich
+als weltlicher Fürst mit den Siebentausend so leicht verständigen, wie
+es für Euch als fürstlichen Priester unmöglich ist.«
+
+Anton Cajetan legte die Hände hinter den Rücken. »Du? Bist du ein
+bezahlter Emissär des bayrischen Churfürsten?«
+
+»Herr!« Es dauerte eine Weile, ehe der Pfarrer weitersprach. »Das muß
+ich heiter nehmen. Wär' es ernst, so müßt ich mit Kummer fragen: Was
+ist siebzigjährige Treu eines Untertan gegen sein Land und seinen
+Fürsten? Und die Antwort tät lauten: Eine schauderhafte Dummheit!«
+
+Es war dem Fürsten anzumerken, daß Zorn und Verstand, Stolz und
+Hilflosigkeit einen harten Kampf in ihm ausfochten. Er begann
+französisch zu sprechen und kehrte wieder zu seinem ungeliebten Deutsch
+zurück: »Mag sein, daß ich mich im Wort vergriffen habe. Aber ich
+kapiere noch immer nicht, wie du dich einer solchen Kühnheit vermessen
+kannst.«
+
+»Kühnheit? Das ist nur ein schmerzhaftes Rechenexempel. Handel und
+Steuern gehen rückwärts, die Schuldzinsen fressen bei Butz und
+Stingel auf, was eingeht, und das Borgen wird allweil hoffnungsloser.
+Lang wird's ohnehin nimmer dauern mit der Stiftsherrlichkeit zu
+Berchtesgaden. Und Eure Landsnot mit entschlossenem Mut verwandeln
+in einen deutschen Hilfswillen? Herr? Wär das nit schöner als der
+fürstpröpstliche Bankerott und das Elend der Siebentausend, die heut
+noch an Seelenfreiheit und Erlösung glauben?«
+
+Ratlos faßte Herr Anton Cajetan seine gepuderten Locken zwischen die
+schönberingten Hände. »Wenn's nicht so wahr wäre! Zum Verzweifeln ist
+das!« Er fiel auf einen Sessel und sagte kleinlaut: »Du meinst also?«
+
+Im Pfarrer schien eine neue Hoffnung zu erwachen. Doch beim ersten
+Schritt, den er machte, um seinem verzagten Fürsten näher zu sein,
+wehrte Anton Cajetan erschrocken: »Nein! Bleibe, wo du stehst! Ich
+fühle bereits, daß ich niesen muß.« Ein paar französische Jammersätze.
+Dann ein deutscher Ausbruch seines verstörten Zornes. »Glaubst du denn,
+man legt einen Fürstenhut ab, wie man eine Perücke zum Frisieren gibt?
+Und die vielen, die da in Mitleidenschaft geraten!« Anton Cajetan
+sprach im Plural, obwohl er nur an ein Persönchen im Singular dachte.
+»Aber ich muß gestehen, die Dinge liegen so desperat -- ich werde nicht
+umhin können, meiner fürstlichen Seele diese schwere Dezision --« Das
+Zeitwort blieb ungesprochen. Lauschend hatte der Fürst die weißen
+Locken erhoben. Bevor er den Sessel noch verlassen konnte, kam der
+Lakai mit einem gesiegelten Schreiben auf silbernem Teller. »_Ah, ah,
+bienvenu, mon cher!_« Halb noch zitternd, halb schon wieder lächelnd,
+brach der Fürst mit ungeduldigen Fingern das große rote Siegel auf,
+schickte gnädig den Lakai aus dem Zimmer und begann zu lesen. Je
+mehr sein blasses Antlitz während des Lesens sich aufheiterte, um so
+bleicher wurde der Pfarrer. Als er sah, wie fröhlich der Fürst das
+Schreiben in seinem Frack verwahrte, sagte er ruhig: »Ich schätz die
+Salzburger Hilf auf fünf-, sechshundert Musketier und ein Dutzend
+Kapuziner. Hätten Euer Liebden Geld oder einen deutschen Rat verlangt,
+so wär die Antwort magerer ausgefallen.«
+
+Mit halbem Lachen fragte der Fürst: »Hast du mir, während ich las, über
+die Schulter geguckt?«
+
+»Nein, Herr! Ich hab mein katarrhalisches Bannfleckl nit verlassen. Aber
+die Gradschauenden kommen allweil in den Verdacht, daß sie um die Mauer
+blinzeln.«
+
+»Du solltest dich hüten, irgendwie in Verdacht zu geraten. Da wär es
+möglich, daß du mißliebige Experienzen machen mußt.«
+
+»Soll's kommen, wie's mag, ich kann noch allweil von Glück sagen. Wär
+ich vor hundert Jahren geboren worden, mit meinen zwei grauslichen
+Warzen im Gesicht, so hätt' ich als Teufelsbündler auf den
+Scheiterhaufen müssen.« Ein versunkenes Lachen. »Es ist unverkennbar,
+Zeit und Menschen gehen nach aufwärts.«
+
+Herr Anton Cajetan wurde überaus liebenswürdig. »Mein guter Pfarrer! Du
+hast die Warzen nicht nur im Gesicht, auch im Gehirn und an der Seele.
+Das kann lebensgefährlich werden.«
+
+»Vielleicht! Aber schauet, Herr, ich bin von den Glücklichen einer,
+denen nichts mehr geschehen kann. Mein Gott ist mein Gott. Jeder Tag
+bringt mich vorwärts auf dem Weg zu ihm.«
+
+Der Fürst lachte munter. »So muß ich dich, wenn du strafbar werden
+solltest, zu einem langen Leben verdammen.« Ein Handwink, und Pfarrer
+Ludwig war entlassen. Schon stand er bei der Tür. Da klang es hinter
+ihm mit spöttischem Laut: »_À propos, mon cher!_ Ich höre, man
+beschuldigt dich einer üblen Sache.«
+
+»Soooo?« Der Pfarrer schmunzelte. »Vielleicht einer Menschlichkeit? Die
+wär von allen Zeitverbrechen das größte.«
+
+Anton Cajetan schien sich zu ärgern. »Man hat dich in Verdacht, daß
+*du* der Wundertäter warst, der das Mirakel in der Armeseelenkammer
+wirkte und die schwarzweiße Gefahr verschwinden ließ in die ewige Ruhe?«
+
+Behaglich wiegte Pfarrer Ludwig den grauen Kopf. »Schau! Was für ein
+netter Einfall! Hätt ich ihn gehabt, ich tät mich um seinetwegen nit
+schämen.«
+
+Ein paar heftige Schritte des Fürsten. Und ein Ton wie aus Wolkenhöhe.
+»Ludwig? Lügst du?«
+
+»Mein gütiger Herr!« antwortete der Greis mit Seelenruhe. »Die
+redlichsten Wahrheiten schauen allweil einer Lug so zum Verwechseln
+ähnlich, wie ein Rattenschweif dem Schnauzer des Muckenfüßl.«
+
+Der Fürst verhehlte seinen Mißmut nimmer. »Weil du so gern diesen
+diensteifrigen Mann citierst, wirst du vielleicht Gelegenheit finden,
+dich eingehend mit ihm zu okkupieren.« Noch über die Schulter die
+strenge Mahnung: »Daß es Dienstgeheimnisse gibt, das weißt du.« Herr
+Anton Cajetan verzog das Gesicht, als ob er niesen müßte, und zerrte
+das Riechfläschl aus der Atlasweste.
+
+Das konnte der Pfarrer noch sehen. Halb belustigt, halb mit dem Groll
+seines wühlenden Kummers, murrte er in Gedanken vor sich hin: »Meinen
+Schnupfen *hat* er! Jetzt kriegt ihn die allergnädigste Aurore de
+Neuenstein. Und der vergönn ich ihn.« Er grüßte freundlich die Lakaien
+im Korridor. Als er durch den reichlich fallenden Schnee hinüberschritt
+zu seinem Hause, war er nicht ärmer um eine Hoffnung. Die Stunde mit
+dem Fürsten war so gewesen, wie er befürchtet hatte, daß sie sein
+würde. Und war für Augenblicke ein irrender Hoffnungsgedanke in ihm
+erwacht, so war's geschehen wider Verstand und besseres Wissen. »Er
+ist, wie er ist. So bleibt er bis zu seiner letzten Schlittenfahrt, und
+so muß man ihn nehmen. Nur daß er mich *jetzt* grad rufen hat lassen
+-- das vergrämt mich ein bißl.« Bei diesem Gedanken spähte er zu den
+Fenstern des Chorkaplans Jesunder hinüber. Frau Apollonia, obwohl keine
+Evangelische, war unsichtbar. »Da haben sie also nichts gefunden.
+Sonst tät sie vergnügt aus dem Fenster grinsen.« Nein, es war für den
+emeritierten Stiftspfarrer Ludwig *keine* Überraschung, als er seine
+Haustür eingedrückt, alle Schränke und den Schreibtisch erbrochen fand.
+Von dem Silbergeld im aufgemeißelten Geheimfach fehlte kein Sechser.
+Unleugbar, die Polizei war ehrlich.
+
+Eine Überraschung war der Besuch des Feldwebels Muckenfüßl und der
+Soldaten Gottes nur für die Schwester Franziska gewesen. Eine ganz
+fürchterliche. Sie weinte, daß es zum Herzzerbrechen war. Der Pfarrer
+legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern und schrie ihr ins Ohr.
+»Geh, sei gescheit und trink ein Schnäpsle! Das richtet dich wieder
+auf.«
+
+Es blieb unentschieden, ob sie das verstanden hatte. Unter Tränen sah
+sie den Bruder an und klagte: »Ach, Gott, wie *viel* haben sie gefragt!
+Aber weißt du, ich hab allweil falsch gehört.«
+
+»Ja ja, Schwester! Wenn der Mensch nur immer weiß, wie er seine
+mangelhaften Instrumente gebrauchen muß.« Der Pfarrer nahm den
+Radmantel ab, zog die Schmierstiefel aus und begann in der übel
+zugerichteten Stube wieder Ordnung zu machen.
+
+
+
+
+Kapitel XVIII
+
+
+Die folgenden Tage waren im Lande Berchtesgaden reich an
+Überraschungen. Nachdem es einen Tag und eine Nacht lang tüchtig
+geschneit hatte, kam blauer Himmel mit klarer Sonne. Die Welt sah
+aus, wie neu vom lieben Herrgott versilbert. Und am Samstag, in
+den Morgenstunden, wurde zu Berchtesgaden ausgetrommelt, daß der
+allergnädigste Herr Fürst, um wieder einmal inmitten seiner getreuen
+Landskinder zu weilen, für den folgenden Sonntag im Schützenhaus ein
+fröhliches Fastnachtsschießen angeordnet hätte, mit vielen Preisen
+und Aufmunterungen für die besten Schützen des Landes. Nicht nur die
+Mitglieder der hochehrenwerten Schützengesellschaft vom heiligen Martin
+wären eingeladen, sondern alle Mannsleute, so eine Schußwaffe besäßen.
+Die Austrommlung endete mit dem munteren Vers:
+
+ »Wie mehrer die Gäst,
+ So schöner das Fest,
+ So froher der Fürst,
+ 's gibt Freibier und Würst!«
+
+Unter den vielen, die das zu Berchtesgaden austrommeln hörten, befand
+sich auch der Hiesel Schneck, der bei dem Juden ein Pflaster für das
+Überbein seiner Schneckin hatte holen müssen. Das Schützenfest schien
+ihm keine Freude zu bereiten. Die unzählbaren Himmelhunde, die er
+hinaufknurren ließ zur Sonne, bewiesen, daß der Hiesel Schneck in übler
+Laune war. Ihn quälte der Ärger darüber, daß so ein Jud wieder einmal
+schlauer gewesen war, als der redlichste von allen Christen. Hiesel
+hatte geschwiegen wie ein luthrisches Grab, auf dem kein Hügel und
+kein Kreuzl ist. Dennoch hatte Lewitter plötzlich ganz genau gewußt,
+wo Leupolt Raurisser versteckt war, und hatte dem Hiesel nicht nur
+die Quetschbehandlung eines Überbeins auseinandergesetzt, sondern
+hatte ihm auch Verbandzeug, ein fieberstillendes Mittel und etwas zum
+Waschen für schwärende Wunden mitgegeben, obwohl sich der gewissenhafte
+Schneck wie ein Rasender dagegen gewehrt hatte. Man trägt als treuer
+Christ in seinem Bergsack nicht gern eine obrigkeitlich verbotene
+Sache, die für einen Luthrischen wohltätig ist. Unter grimmigen Flüchen
+fühlte er mit seiner braunen Tatze immer wieder nach hinten: ob das
+verdächtige Päckl nicht gottsgnädigerweis so spurlos verschwinden
+möchte, wie die preußische Gefahr aus der Armeseelenkammer. Aber wenn
+im Menschengedräng einer gegen ihn hinpuffte, brüllte er gleich:
+»Blitzhimmelsausen und Höllementshund, gib doch Obacht, ich hab was
+Gläsernes auf'm Buckl.«
+
+Bei dieser angstvollen Fürsorge war er nicht in der Laune, sehr
+aufmerksam auf die Muckenfüßl'sche Überraschung zu horchen. Auch hatte
+der Hiesel Schneck in diesen Tagen eine viel größere Überraschung schon
+erlebt. Damals, als es zu schneien anfing. Da war er spät am Abend
+heimgekehrt, in der sicheren Erwartung, daß der unbequeme, vermaledeite
+Ketzer schon über die bayrische Grenze gesprungen wäre und nimmer
+droben läge auf dem Heuboden. Teilweise war auch eingetroffen, was
+die Schneckin ihrem Schneck versprochen hatte: Leupolt lag nimmer auf
+der Heuschütt, sondern herunten neben dem Herdfeuer im Ehebett des
+Hiesel. Und die Schneckin hockte im Ofenwinkel auf einem Strohsack,
+den sie so breit gemacht hatte, daß er zwieschläfrig zu benutzen war.
+Hiesel ließ die wildesten Höllemente los, wenn auch -- weil Leupolt
+schlief -- mit gedämpfter Stimme. Da mochte die Schneckin hundertmal
+flüstern: »Verstehst?« -- der Schneck verstand nicht und war verbohrt
+in die unzutreffende Meinung: daß es die Schneckin »aber schon *ganz*
+saudumm« angestellt haben müßte. »Soll den Kerl über die Grenz hatzen
+und laßt ihn ins Bett hupfen! Kreuzhimmel, Bluthöllement und Bratwürst
+übereinander!« Grollend saß er auf dem Herdrand. Schließlich, wenn er
+in dieser Schneenacht neben seiner Schneckin liegen wollte, blieb ihm
+nichts anderes übrig, als mit dem Strohsack vorlieb zu nehmen. Bis
+lange nach Mitternacht bellten seine gedämpften Himmelhunde. Am Morgen,
+freilich, da sah auch der Hiesel das ein: daß man mit einem Fieber, in
+dem »alle Knöchelen scheppern«, nicht ins Bayrische hinüberlaufen kann.
+Und jetzt, unter den Rasselklängen der Muckenfüßl'schen Austrommlung,
+erzeugte der Schneck in seinem langsamen Gehirn den Trostgedanken:
+»Wenn ich dem Buben das jüdische Päckl zutrag, daß er bald über die
+Grenz hupfen kann, so tu ich bloß, was die Herren haben wollen.
+Verstehst?« Die vielen Himmelhundsmonologe, die er mit sich führte,
+verhinderten ihn, auf dem Marktplatz und während des Heimweges der
+freudigen Bewegung zu achten, die der Feldwebel Muckenfüßl mit seiner
+sonst so gefürchteten Trommel in der Bevölkerung erweckt hatte.
+
+So splendid und wohlwollend hatte sich der Landesfürst schon lange
+nicht mehr erwiesen. War in der Verkündigung auch nicht deutlich
+ausgesprochen, was sie bezweckte, so war doch ihr schöner Sinn so
+klar, wie die alte Sonne über dem jungen Schnee. Die Gutgläubigen
+nahmen die Ansage des Festes als deutliche Mahnung zur Verträglichkeit,
+die Evangelischen empfanden sie als Friedensverheißung, als
+Wegweis zu naher Verständigung und zur Freiheit ihrer Seelen. Seit
+Menschengedenken war zu Berchtesgaden nimmer so gut und herzlich von
+der Obrigkeit gesprochen worden, wie es an diesem silbernen Samstage
+tausendstimmig geschah. In allen Häusern wurde gesungen und gelacht,
+aus allen Truhen wurde das Feiertagsgewand und versteckter Schmuck
+herausgenestelt. Überall an den Fenstern saßen die Mannsleute und
+putzten ihre Schießgewehre. In der Mittagsstunde böllerten durch das
+sonnfunkelnde Tal die Probeschüsse. Einer sagte: »Wie wenn beim größten
+von allen Bauern eine Hochzeit wär!« Und bekam die lachende Antwort:
+»Das wird wohl ein Metzensäckl Pulver wert sein, wenn der gnädigste
+Herr Fürst mit seinem Völkl Versöhnung feiert!«
+
+Den ganzen Nachmittag umstanden Scharen von Mädchen und Kindern
+das Schützenhaus, um den gewaltigen Vorbereitungen zuzuschauen,
+die für das Fest getroffen wurden. Die Mannsleute, die man sonst
+nur zähe zur Fronarbeit herbeibrachte, boten sich ungerufen zur
+Hilfeleistung. Von der großen Festwiese neben dem Schützenhaus
+wurde der Schnee fortgeschaufelt, und Lachen, frohes Geschrei und
+dröhnendes Hammerklopfen begleitete den flinken Bau des »Mahlsaales«,
+einer mächtigen Bretterbude, die ein paar tausend Schützenbrüder
+fassen konnte, um in Verträglichkeit und Frohsinn bei Freibier und
+Speckwürsten mit den gütigen Herren beisammenzusitzen. Man arbeitete
+noch bei Fackelschein bis gegen Mitternacht.
+
+Der große Morgen kam. Die Tausende auf Berchtesgadnischer Erde waren
+willig zur Freude. Nur der liebe Gott schien an diesem Versöhnungstage
+kein rechtes Wohlgefallen zu haben und steckte die Sonne in einen
+mächtigen Wolkensack. Feine Eiskrystalle rieselten aus dem Grau
+herunter, scharf wie Nadelspitzen. Das verdarb keinem Fröhlichen die
+Laune.
+
+Als man zum Kirchgang läutete, war die Zuwanderung der Andächtigen
+ein bißchen schütter. Die Erlösung von allem Gewissenszwang
+vorausgenießend, hielten die Evangelischen den Gottesdienst dieses
+Freudentages daheim in ihren Stuben ab oder besuchten eine Fürsagung,
+ohne Schneekleid, völlig sichtbar. Erst nach dem Hochamt, während
+mit allen Glocken der Gottesfriede dieses Sonntages verkündet wurde,
+begannen die Marktgasse, der Brunnenplatz und die Stiftshöfe sich zu
+füllen mit einem farbenbunten und fröhlich gestimmten Menschengewühl.
+Obwohl es immer nebelte, sah die lärmende Bewegung der farbigen
+Menge sich an wie ein jubelndes Lebensfest. Die Frauen und Mädchen
+hatten sich aufgeputzt und waren durch Jugend, Gesundheit, Freude und
+hoffendes Vertrauen noch schmucker geziert, als durch die feuerfarbenen
+Mieder, durch das leuchtende Bänderwerk und die mattfunkelnden
+Schaumünzen. Stolz trugen die Mannsleute ihre klobigen Schießgewehre,
+und fast jeder hatte auf seinem gebänderten Hütl ein paar von den
+Blumen stecken, die bei frierendem Winter blühen in den warmen
+Bauernstuben. Dem wirbelnden Frohsinn dieses Bildes tat es keinen
+Eintrag, daß im Gewühl der Leute keiner von den Herren zu sehen war.
+Es tauchte nur der Feldwebel Muckenfüßl auf, dem ein paar Musketiere
+bei der Ordnung des tausendköpfigen Schützenzuges behilflich waren.
+Als die Hifthörner der fürstlichen Jägerei den Festruf bliesen und die
+Trompeten und Klarinetten der Salzknappen mit ihrer lustig dudelnden
+Marschmusik einfielen, erhoben die Tausende dieser fröhlichen, von
+harter Zeit erlösten Menschen ein Jauchzen, daß ihr Freudenspektakel
+alles Blechgeschmetter übertönte.
+
+Wie ein vom Glück dieses Tages Ausgeschlossener, mit unfrohen Augen,
+Zorn und trauernde Erbitterung in dem blassen Warzengesicht, saß
+Pfarrer Ludwig am Fenster seiner Stube und blickte hinunter auf das
+fröhliche Gepräng des Schützenzuges. »Ob in Sonn oder unter Wolken --
+gibt's auf der Welt ein schöneres Ding, als die vertrauensselige Freud
+eines hoffenden Volkes? Und gibt's auf Erden ein übleres, als dieser
+Tag es bringen wird?« Immer wieder brannte in ihm der Gedanke: Reiß
+das Fenster auf, schrei diesen Jauchzenden eine Warnung zu! Nicht die
+fürstliche Mahnung an das Dienstgeheimnis hielt ihn zurück, nur die
+Erkenntnis, daß seine Warnung das Schicksal dieses Tages nicht wenden,
+sondern Aufruhr und Totschlag heraufbeschwören würde.
+
+Der weite Hof unter dem Fenster des Pfarrers war leer und still
+geworden. Immer ferner tönten die fröhlichen Jauchzer, das
+Klarinettenquieksen und der Trompetenklang. Nun das donnerähnliche
+Dröhnen eines Böllerschlages. Dann knatterten die Stutzenschüsse
+durcheinander, als hätten hundert Heinzelmännchen zu dreschen
+begonnen. Das ging zwei Stunden lang so weiter. Dann läuteten die
+Mittagsglocken. Auf der Festwiese verstummten die Schüsse. Und nebelnde
+Stille lag über den Dächern des Stiftes. Jetzt der Hufschlag eines
+Pferdes. Von der Salzburger Straße kam ein erzbischöflicher Dragoner
+über den Hof geritten und verschwand im Stiftstor. Pfarrer Ludwig
+nickte. »Die Konsequenz! Sechs Füß hat sie! Und hat zwei Köpf, von
+denen jeder was anderes denkt.« Wenige Minuten später mußte er zu
+der beschämenden Einsicht gelangen, daß er die Salzburgische Hilfe
+militärisch unterboten, katechetisch überschätzt hatte: nicht ein
+volles Dutzend Kapuziner, nur neune; aber statt der fünfhundert
+Soldaten, auf die er geraten hatte, kamen achthundert Musketiere,
+scharf bewaffnet, dazu ein halbes Tausend Dragoner, hoch zu Roß. »Guck
+nur!« knirschte der Pfarrer vor sich hin. »Neben der Gotteshilf macht
+Salzburg noch ein gutes Geschäft! Den ganzen Heerwurm müssen ihm unsere
+Bauern füttern, wer weiß, wie lang!«
+
+Es litt ihn nimmer in der Stube. Flink in die hohen Schmierstiefel,
+aus dem Haus und hinunter zur Festwiese. Auf einem Fußsteig, der über
+die verschneiten Wiesengehänge kletterte, blieb er erschrocken stehen
+und spähte zur Fahrstraße hinüber. Unter den vielen Leuten, die nach
+der Festwiese strebten, sah er den Meister Niklaus und Luisa. Der
+Pfarrer schrie den Namen des Freundes und watete durch den tiefen
+Schnee. Als er die Straße erreichte, war er so atemlos, daß er kaum zu
+sprechen vermochte: »Kehr um, Nicki! Führ dein Mädel heim und laß dich
+einsperren von der Sus!«
+
+»Hochwürden?« stammelte Luisa. Und der Meister fragte erblassend: »Um
+Gottswillen, was ist denn los?«
+
+»Getroffen, Nicki!« Der Pfarrer lachte grell. »Um *Gotts* willen ist
+was los! Und da wirst du dir denken können, wie es ausschaut.« Er faßte
+Luisas Arm und flüsterte: »Mädel! Wenn du deinen redlichen Vater nit
+auch noch verlieren willst, so schau, daß du ihn heimbringst in die
+Werkstatt und zu seiner Arbeit! Geh, Nicki, sei verständig! Noch ein
+letztesmal! Ich tät's nit raten, wenn es nit sein müßt. Und du, Mädel,
+tu beten vor deinem Jesuschrein! Andächtiger als je!« Die Stimme des
+Pfarrers bekam einen harten Zornklang. »Heut wird deine fromme Seel
+noch was umzudeuten kriegen. Die heilige Mutter soll dir's geben, daß
+du eine Deutung findest, die deinen standhaften Glauben nit verdächtig
+macht vor den Konsequenten.«
+
+Luisa, deren Gesicht sich entfärbt hatte, umklammerte stumm die lebende
+Hand des Vaters. Und Niklaus stammelte: »Mensch! Was ist denn?«
+
+Heiser lachend deutete Pfarrer Ludwig mit dem Hakenstock gegen die
+Wolken. »Guck doch in die Höh! Da mußt du doch merken, daß heut ein Tag
+ist, an dem unser Herrgott sich in seinen ewigen Mantel wickelt und um
+die Menschen trauert.« Er sagte mit heißer Mahnung: »Geh heim, Nicki!
+Deinem Kind zulieb!«
+
+»Und du?«
+
+»Ich bin doch ein Priester, nit? So einer ist allweil auf dem Weg zu
+den Hoffnungslosen. Wie heut, so neugierig bin ich noch nie gewesen:
+ob der Amsterdamer recht hat, wenn er sagt, es wär kein Ding auf Erden
+so schlecht, daß es nit ein Gutes werden könnt für die Menschen.«
+War's noch vom Schnupfen, oder hatte es einen neuen Grund, daß dem
+Pfarrer das Wasser in die Augen trat? Dann sagte er zu Luisa: »Laß den
+Vater nimmer aus! Mädlen, die tapfere Kinder sind, werden die besten
+Frauen.« Er wandte sich ab und eilte die Straße hinunter. Das Gesumm
+einer großen Volksmenge klang ihm durch den ziehenden Nebel entgegen.
+Hunderte von Frauen, Mädchen und Kindern umstanden in heiterer Laune
+die große Bretterbude des Mahlsaales, in dem die Trompeten und
+Klarinetten der Salzknappen eine lustige Tanzweise spielten. Fast
+alle Mannsleute waren schon im Saal versammelt. Nur ein paar Burschen
+wimmelten in ihren roten Joppen noch vergnügt umher, schäkerten mit
+der weiblichen Jugend oder machten harmlose Späße über die Bratwürste,
+die noch immer nicht duften wollten, und über die geduldigen Mägen
+der Herren, die noch unsichtbarer wären, als es die Evangelischen vor
+dem Bekennertag gewesen. Unter Muckenfüßls kanzleideutschem Kommando
+drängten sich Lakaien und Musketiere im Frauengewühl umher, faßten
+die rotjoppigen Buben ab und schoben sie in den Saal, immer unter
+der gleichen Mahnung: »Flink! Nur flink! Die Bräuknecht haben schon
+angezapft!« Nun schoben sie den letzten von den Burschen durch die enge
+Tür hinein, die aussah wie ein Festungsschlupf. Und durch den Türspalt
+leuchtete das rote Flackerlicht der Kienfackeln heraus, die man in der
+fensterlosen Bretterbude angezündet hatte, um sie hell zu machen.
+
+Die Weibsleute guckten ein bißchen verwundert drein, weil an die
+zwanzig, mit Flinten und Terzerolen bewaffnete Musketiere vor der
+Saaltür aufzogen wie eine kriegsmäßige Wache. Als Muckenfüßl mit den
+Lakaien und Jägerknechten das Schützenhaus besetzte, in dessen Halle
+die Schießgewehre der Bauern verwahrt standen, kam Pfarrer Ludwig
+in Hast von der Straße herübergeschritten. Er spähte mit blitzenden
+Augen, sprang auf die Saaltür zu und wollte eintreten. Zwei Musketiere
+kreuzten vor seiner Brust die Flinten. »Ruckwärts, Hochwürden! Niemand
+darf passieren. Befehl des gnädigsten Herrn!«
+
+»Aber Leut!« Der Pfarrer lachte. »Ich will doch auch meine Freimaß
+haben und mein Würstl! Geh, seid doch nit gar so neidisch!« Er hatte
+die beiden Flinten beiseite geschoben und drückte die Saaltür vor
+sich auf. Ein Musketier faßte ihn am Radmantel. »Wirst du auslassen?«
+Mit einem zornigen Fauststreich machte der Pfarrer sich frei und
+trat in den von einem wogenden Mannsgewühl, von dudelnder Musik,
+von Flackerschein und Fackelqualm, von Lärm und Gelächter erfüllten
+Brettersaal. An langen, leeren Tischen saßen die Bürger und Bauern, die
+Handwerker und Salzknappen auf hochbeinigen Holzbänken. In den schmalen
+Gassen drängten sich Hunderte umher, die noch keinen Platz gefunden.
+Die roten Joppen leuchteten wie Blutflecken, und die Gesichter, die
+schmutzig wurden vom Fackelruß, schienen in der trüben Flackerhelle
+verzerrt zu einem ruhelosen Grinsen. Und doch war Freude in allen
+Gesichtern, fröhliche Erwartung in allen Augen. Freilich, derbe Späße
+gab es in Hülle und Fülle, weil man schon wartete seit einer halben
+Stunde und noch immer den Duft keiner Bratwurst witterte. Doch in jedem
+Scherz war heitere Geduld, war noch immer ehrfürchtige Dankbarkeit für
+den allergnädigsten Wirt dieses freudenreichen Versöhnungstages. Nur in
+der hintersten Saalecke, wo die rotjoppigen Burschen dick beisammen
+saßen, begann es ein bißchen übermütig zu werden; da trommelten sie mit
+den Fäusten auf die Tische und begannen kleine Spottlieder zu singen,
+wie der Augenblick sie gebar.
+
+Als der Pfarrer, noch in den Radmantel gewickelt, von der Türschwelle
+stumm hineinsah in dieses heiter lärmende Männergewühl, war sein
+Gesicht entstellt, daß ihn die Leute nicht gleich erkannten. Es mußte
+erst ein Fröhlicher schreien: »Herr Jöi! Unser gütiges Pfarrherrle!«
+Und einer brüllte über alle Tische: »Leut! Jetzt geht's aber an! Der
+erste von unseren Herren ist da!« Während der Lärm sich ein bißchen
+dämpfte, drängten viele gegen den Pfarrer Ludwig hin, zu einem Gruß,
+zu einem Händedruck. Von einer nahen Bank erhob sich einer, der ein
+kleines Bübl auf dem Arm hatte. In seinen Augen war ein verstörter
+Blick, doch unter dem Braunbart lachte sein blasser Mund, als wäre er
+der Fröhlichste unter diesen tausend Festfrohen. Rittlings über der
+Bank stehend, winkte er mit dem Arm und kreischte: »Hochwürden! Zu mir
+her! Euch geb ich mein Plätzl. Ich muß nit sitzen. Mich halten Herz und
+Seel in der Höh.« Der Christl Haynacher lachte wie ein Glücklicher und
+preßte das scheuguckende Bübchen an seine Brust. »Jetzt, Hochwürden,
+ist alles am Tag! Gelt ja? *Mir* müssen die Leut Vergeltsgott sagen.
+Wär mein Weibl nit so heilig und fromm gestorben, und hätt mein Weibl
+nit hilfreich aus dem ewigen Glanz heruntergegriffen zur kreistenden
+Menschennot? Da täten wir trauern und seufzen müssen, gelt! Jetzt
+können wir Freud haben und wieder glauben. Alle Herzviertelen sind
+wieder schön beisammen. Und Fried und Brüderschaft ist überall auf der
+gottschönen Welt. Die guten Herren! Die soll unser Herrgott segnen für
+den heutigen Tag.« Während Christl Haynacher so redete, mit umkippenden
+Tönen, schrien es die anderen von Tisch zu Tisch, daß von den Herren
+der erste gekommen wäre. Die dudelnde Knappenmusik geriet außer Takt
+und verstummte. Aller Lärm versickerte, es wurde immer stiller im Saal.
+Und da streckte sich der Pfarrer, hob die beiden Hände aus dem Mantel
+und rief: »Ihr guten Leut! Laßt mich ein brüderlichs Wörtl reden mit
+euch!«
+
+Überall ein Gucken und Hälsestrecken, von allen Bänken erhoben
+sich die Männer und Burschen, einer der schlechtgezimmerten Tische
+knickte krachend zusammen, ein Gelächter, dann viele Stimmen, die
+zum Schweigen mahnten. Jetzt war die Ruhe da. Nur noch das Rauschen
+der Fackelflammen, das schwere Atmen der vielen Hunderte in dem
+qualmigen Raum. Und da lauschten sie alle -- nicht auf den Pfarrer,
+der mit zerdrückter Stimme zu reden begann. Sie lauschten auf das
+Unerklärliche, das von draußen hereinklang durch die fensterlosen
+Bretterwände. Es war ein aufwirbelndes Geschrei von vielen Weibern und
+Kindern. Wie gellende Angst war es anzuhören. Und es mußte doch Freude
+sein? Kamen die Herren? Fragende Rufe schwirrten von Tisch zu Tisch.
+Und einer kreischte mit Lachen: »Hört ihr die Mädlen juchzen? Jetzt
+kommt der gnädigste Herr Fürst! Höi, Trompeter! Blaset den Herrengruß!«
+Ein fröhliches Blechgeschmetter. Niemand hörte mehr auf den Pfarrer.
+Seine Stimme versank im lärmenden Festjubel dieser treuen, beglückten
+Untertanen.
+
+Vor der Saaltür ein Gepolter und ein aufgeregtes Stimmengewirr. Immer
+deutlicher hob sich aus ihm die schrillende Stimme eines Mädels heraus.
+Es war wie das Zetergeschrei einer Irrsinnigen. Ein Gerüttel an der
+kleinen Tür. Jetzt patschte da draußen ein Pistolenschuß -- nicht wie
+ein Pulverknall, nur wie das Klatschen einer festen Peitsche -- und
+über die Schwelle der aufgedrückten Türe stürzte schreiend ein junges
+Geschöpf herein, jenes Untersteiner Mädel, das unter dem Holz der
+Unehr, am Bekennersonntag, als erste mit verzückter Freude gerufen
+hatte: »So müßt ihr mich auch verbrennen! Ich bin eine evangelische
+Christin!«
+
+Was sie schrie und lallte, während sie hintaumelte gegen die erste
+Bank, war im aufrauschenden Lärm des Saales nicht zu verstehen. Immer
+schreiend, stieg sie neben dem stummgewordenen Christl Haynacher
+auf die Bank, sprang auf die Tischplatte und stand da droben, mit
+aufgereckten Armen, einer Verzückten ähnlich, oder einer Wahnwitzigen.
+Immer lallte und schrie das Mädel, die Augen erweitert, das Gesicht
+wie Kalk so weiß. Im versinkenden Lärm des Saales klang vom Tisch der
+Salzknappen eine verzweifelte Bubenstimme: »Barmherziger Herrgott!
+Moidi! Du blutest!« Sie drehte das Gesicht gegen die Stelle hin,
+von der die Stimme kam, lächelte ein bißchen, reckte sich und rief:
+»Ihr lieben Brüder! Haltet fest am Gütigen, der für uns gestorben
+ist am Kreuz! Hilf ist nur im Himmel noch. Hilf ist nimmer auf der
+Welt. Gewalt ist über uns! Zehntausend heidnische Dragoner reiten
+über das Schneefeld her!« Das Mädel wankte, straffte sich wieder an
+allen Gliedern, wollte reden, hatte keinen Laut mehr und preßte die
+zitternden Fäuste gegen das Mieder. In der Stille, die plötzlich im
+Saal entstand, hörte man sie mit leiser und froher Stimme sagen: »Herr
+Jesu, dir leb ich -- Herr Jesu, dir sterb ich --« Viele Hände streckten
+sich nach der Sinkenden, Pfarrer Ludwig fing die Erloschene in seinen
+Armen auf, und Christl Haynacher, dessen Bübl das Gesicht am Hals des
+Vaters versteckte und zu greinen begann, brüllte plötzlich wie ein
+Betrunkener: »Herrgott! Herrgott! Ist's noch allweil nit genug?«
+
+Ein tausendstimmiger Laut im Saal, wie das Aufstöhnen eines gewaltigen
+Tieres, dem das mordende Eisen ins Leben fährt. Nun ein dumpfes Gewühl,
+ein Zusammenkrachen aller Tische und Bänke -- und jetzt ein mahnender
+Männerschrei, so kraftvoll und gebietend, daß er die tausend Verstörten
+beherrschte und zum Lauschen zwang. »Ihr Leut! Ihr guten Leut!« Pfarrer
+Ludwig war heiser geworden von diesem Schrei. »Schauet her! Ich hab
+den Tod auf den Armen. Drum muß ich ein Wörtl sagen für euer Leben.
+Heut geht Gewalt vor Recht. Die Zeit wird kommen, in der sich's wendet.
+Seid besonnen, ihr guten Leut! Oder ihr stoßt euch alle, eure Weiber
+und Kinder ins hilflose Elend! Christ sein, heißt nit: zuschlagen mit
+Fäusten und Tischfüßen, einander würgen und niedertrampeln. Christ
+sein, heißt noch allweil, ein Mensch unter Menschen bleiben und
+sein Leidwesen dem gütigen Heiland in die Hand legen. Der wird uns
+aufrichten. Der wird uns helfen!« Man hörte von draußen den Schritt
+einer marschierenden Truppe, hörte die Trommel, die schon nah bei
+der Tür war. Pfarrer Ludwig, dem die Arme unter der Last zu zittern
+begannen, die sie trugen, sagte ruhig: »Drei evangelische Brüder sollen
+mir helfen. Wir wollen das fromme Christenkind, das in Gottes Reich
+gegangen, heimtragen zu seiner Mutter.«
+
+»Nachbar!« keuchte der Haynacher. »Nimm mein Bübl ein bißl! Da muß man
+helfen.« Er sprang an die Seite des Pfarrers und raunte auf eine Art,
+wie die Fieberkranken reden: »Gelobt sei Jesuchrist und die heilige
+Mutter Marie.« Jetzt kamen die Salzburgischen Gottesmusketiere unter
+Trommelschlag in den Saal marschiert, zu vieren dicht aneinander
+gedrängt, die Gewehrläufe vorgestreckt, den Finger am Bügel. Außer dem
+Schrittklappen und den soldatischen Befehlsworten war kaum ein Laut im
+Saal. Die Leute wichen vor dem immer breiter werdenden Soldatengürtel
+zurück, die einen scheu und mit blassen Gesichtern, die anderen mit dem
+stummen Zorn auf der Stirn und in den Augen. Den ersten aufwühlenden
+Sturm in ihnen hatte das Wort des Pfarrers bezwungen. Nun lähmte sie
+der Schreck, das betäubende Bewußtsein ihrer Wehrlosigkeit und noch ein
+Härteres: die Bitterkeit der Enttäuschten, die Trauer über den Betrug,
+der da begangen wurde an ihrem frohen, gläubigen Vertrauen.
+
+Hinter der Kette der Musketiere stehend, verkündete Muckenfüßl das
+pröpstliche Edikt auf Konfiskation aller Schützengewehre. Jedem
+reumütigen Subjekte sei die Gnade des Fürsten zugesagt, jedem
+Widerspenstigen das strengste Gericht. Zur Ermahnung der Seelen sei
+von einer fürsorglichen Obrigkeit beschlossen worden, jede Gnotschaft
+des Landes mit achtzig Musketieren und fünfzig Dragonern samt Rößl
+zu belegen, für deren Bedarf an Zehrung und Trank die Gnotschaft
+aufzukommen hätte, insolang, als eine Besserung des rebellischen
+Geistes nicht in glaubhaftem Ausmaß sichtbar würde. Nach dieser
+Verkündigung formierten die Musketiere eine Gasse durch den ganzen
+Saal. Eine Gnotschaft nach der anderen wurde aufgerufen. Wenn die
+Männer, die zur gleichen Gnotschaft gehörten, alle beisammen waren,
+wurden sie paarweis abgeführt. Einige Burschen, die sich unehrerbietig
+zu äußern wagten, wurden verhaftet. Auch einen von den vier Trägern der
+»schön und gottselig gestorbenen« Moidi von Unterstein -- den Christl
+Haynacher -- mußte man festnehmen. Bei seiner Verhaftung gebärdete
+sich der hirnverdrehte Suspiziosus, wie Muckenfüßl ihn nannte, so
+rebellisch, daß die Anwendung von eisernen Handschellen nötig wurde.
+
+Draußen im Schnee, zwischen Mahlsaal und Schützenhalle, standen,
+gleichmäßig abgezählt und in militärischer Ordnung ausgerichtet, für
+jede Gnotschaft die achtzig Musketiere und die fünfzig berittenen
+Dragoner parat. Bei jedem Trupp -- gleich einem Leutnant neben seiner
+Kompagnie -- befand sich ein Kapuziner.
+
+Die Abwanderung der Gnotschaftsleute mit ihrer militärischen Bedeckung
+dauerte bis in die Dunkelheit. Und die Soldaten, die ihr Quartier zu
+Berchtesgaden bekamen, bewiesen noch vor Anbruch der Nacht, daß sie
+nicht nur dem Himmel, sondern auch der Kunst zu dienen vermochten.
+Mit großen Töpfen und langen Tüncherpinseln wanderten sie durch die
+Gassen und bemalten an jedem Haus, in welchem ein der Ketzerliste
+Einverleibter wohnte, die Türen und Fensterstöcke mit knallroter Farbe.
+
+
+
+
+Kapitel XIX
+
+
+Spät am Abend wurde an der Haustür des Meisters Niklaus gepocht, so
+leise, daß es die drei, die in der Werkstatt waren, nicht gleich
+vernahmen. Der Meister, um ruhig zu bleiben, hatte sich zu seiner
+Arbeit gestellt. Und Luisa und Sus waren mit ihren Spinnrädern aus der
+Küche zu ihm in die Werkstatt gekommen. Helle Kerzen brannten auf dem
+eisernen Reif. An dem großen Fenster war der Laden geschlossen. Nur
+das Schnurren der Spinnräder und manchmal der Schritt des Meisters,
+wenn er zurücktrat, um sein Werk zu betrachten. Da hörte Luisa das
+kaum vernehmliche Klopfen. Ihre Augen vergrößerten sich, als sie
+stammelte: »Vater! Es pochet.« Die Sus wollte zur Türe. »Bleib!« sagte
+der Meister. »Ich selber geh.« Er brauchte keine Frage zu tun; beim
+Hall seiner Schritte klang es draußen in der Nacht: »Tu auf, Nicki! Ein
+Mensch!«
+
+»Gott sei gelobt!« Aufatmend stieß der Meister den Riegel zurück und
+hob den Sperrbalken aus dem Mauerloch, während Sus und Luisa wortlos
+aus der Werkstatt gesprungen kamen. Der Pfarrer trat in den Flur, und
+Sus verwahrte die Türe wieder. »Gotts Gruß zum traurigen Abend! Weil
+ich nur bei euch bin. Aufatmen tu ich.« Pfarrer Ludwig hängte den
+Radmantel an das Zapfenbrett und fragte die Sus: »Hast du noch warmes
+Wasser? Ich muß mich waschen. 's ist eine Zeit, in der man rot wird,
+vor Zorn oder von was anderem.« An seinem schwarzen Gewande sah man
+die eingetrockneten Blutflecken nicht, nur an den Händen. »Jesus?«
+stammelte Luisa. »Ist's *Euer* Blut?«
+
+Er schüttelte den Kopf. »Das tät ich lieber sehen. Es wär um meine paar
+letzten Tröpflen minder schad.«
+
+Die Sus war in die Küche gesprungen, in der ein mattes Ölflämmchen
+glomm, und schöpfte Wasser aus der kupfernen Herdkufe. Nun kamen die
+anderen drei zu ihr, und der Pfarrer wusch die zitternden Hände. Schwer
+atmend fragte er über die Schulter: »Wißt ihr schon, was geschehen
+ist?« Die beiden Mädchen schwiegen. Der Meister nickte. »Da brauchen
+wir nimmer reden drüber.« Pfarrer Ludwig griff nach dem Handtuch und
+schob die Sus von sich, die vor ihm auf die Dielen hinkniete, um sein
+Gewand zu säubern. »Das nit! Mannsbilderhosen sind leichter waschen,
+wenn man sie nit am Leib hat.« Er legte den Arm um die Schulter des
+Meisters. »Nick? Weißt du, was eine Mutter ist?«
+
+»Das weiß man, glaub ich.«
+
+»Was meinst du, daß eine Mutter sagt, wenn ihr liebes Kind am Morgen
+lachend aus dem Haus gegangen ist, und man bringt es ihr am Abend heim,
+wie ich das Moidi hab bringen müssen?«
+
+Mühsam antwortete der Meister. »Ich wüßt nit, was ich schreien tät.«
+
+»In Unterstein hat eine Mutter ihres toten Mädels Kopf zwischen die
+Händ genommen und in freudiger Ruh gesagt: Mein Kindl, dich muß
+der Heiland lieb haben, uns anderen ist er feind, drum müssen wir
+weiterschnaufen in der irdischen Not!« Mit beiden Händen rüttelte der
+Pfarrer die Schultern des Meisters. »Mensch! Kann's einer besser sagen,
+wie die Zeit ist?« Dann wandte er sich an die Sus: »Tätst du dich
+trauen, daß du zum Simmi hinüberspringst?«
+
+»Ich trau mich alles, wenn's für den Meister ist.«
+
+»Für den ist's auch. Heut möcht' ich, daß wir beisammen sind. Traut
+der Lewitter sich nit aus dem Haus, so sag ihm, daß ich krank wär. Da
+kommt er. Gelogen ist's nit. Alles leidet in mir, was Leben heißt. Aber
+fürsichtig mußt du sein. Sonst packen dich die Soldaten Gottes mit
+Gelobt sei Jesuchrist!«
+
+»Soll mich nur einer anrühren!« Das weißblonde Mädel sprang zur
+Haustür. Der Meister ging mit ihr, und als er im dunklen Flur den
+Riegel aufstieß, sagte er leis: »Vergeltsgott, du Treue!«
+
+In der Küche legte Pfarrer Ludwig die Hand auf Luisas Scheitel. »Also?
+Hast du die fromme Deutung für den heutigen Versöhnungstag schon
+gefunden?«
+
+Sie sah verstört zu ihm auf. »Hochwürden! Ich weiß nimmer, wo die
+Christen sind.«
+
+»Christen sind überall. Nur finden muß man sie können. Und selber muß
+man einer sein.«
+
+Die Tränen fielen über ihr blasses Gesicht. »Ich seh keinen Weg nimmer.
+Überall ist Wirrnis und Sünd. Dürft ich nit morgen kommen um einen
+Seelentrost?«
+
+»Ja, komm nur!« Er streichelte ihr schönes Haar. »Ich will dich
+trösten.« Die Stimme dämpfend, beugte er sich zu ihrem Ohr. »Seit dem
+Morgen weiß Mutter Agnes, wo der Leupolt ist. Beim Hiesel Schneck.«
+
+Sie fing zu zittern an. »Wo hauset der?«
+
+An der Flurtür klapperte der Sperrbalken. Und draußen, in der nebligen
+Dunkelheit, huschte die Sus um die Bretterplanke des Gartens. Als
+sie hinüberkam zum Leuthaus, mußte sie in einen finsteren Schuppen
+springen. Hufschläge klapperten über das Pflaster her, und mit dem
+Lärm, den die vielen genagelten Bauernsohlen machten, vermischte sich
+das Marschgeklirre der Soldaten Gottes. Es waren die Bischofswiesener,
+an die siebenhundert Männer und Burschen, mit ihren achtzig Musketieren
+und fünfzig berittenen Dragonern, von denen jeder den blanken Säbel in
+der Faust hatte.
+
+Am Schwänzl des Zuges ging der Hiesel Schneck. Er hatte sich
+angeschlossen, weil er den weiten Weg nicht einsam wandern wollte, und
+weil er als Gutgläubiger sich verpflichtet hielt, dem Pater Kapuziner
+während des langen Nachtmarsches ein bißl Gesellschaft zu leisten.
+»Ja, ja, verstehst?« Er fluchte aus Rücksicht auf den geweihten
+Wandergesellen überraschend wenig, war aber doch in verdrießlicher
+Laune, weil er schon wieder was Verbotenes im Rucksack tragen mußte.
+Freilich, immer noch lieber als das gläserne Judenfläschl war ihm das
+irdene Tiegelchen. Sollte er's auch einem ewig Verfluchten zutragen,
+so kam's doch von der Mälzmeisterin, von einem rechtschaffenen
+Christenweibl.
+
+Die Bauern wanderten schweigend zwischen den Soldatenreihen. Ihre
+Gestalten waren schwarz in der frostigen Nacht, die der Schnee nur
+wenig aufhellte. Kein Stern war da, um einen Glanz in ihren Augen zu
+wecken. Dennoch hoben sie immer wieder die Gesichter zum Himmel. Und
+während sie paarweis gingen, hielten viele sich bei den Händen gefaßt,
+wie Blinde und Sehende, die einander führen.
+
+Hinter Bischofswiesen, wo unter Weibergeschrei und Hundegebell die
+Austeilung der Soldatenquartiere begann, mußte Hiesel Schneck seinen
+Nachtweg in Einsamkeit erledigen. Jetzt, da ihn der Kapuziner nimmer
+hörte, konnte er fluchen nach Bedarf. Er fluchte, so oft ihm der
+Strohsack einfiel. Manchmal sakermentierte er und wußte selber nicht
+recht, warum. Auch dem Hiesel Schneck, so eisentreu er an seinem
+Fürsten hing, hatte der Versöhnungstag mißfallen. Kein Gedanke verriet
+ihm diese Wahrheit; sie war nur in seinem Blut, in seinen Flüchen.
+Und ohne daß er es merkte, verwandelte sie diesen Höllementskünstler
+so folgenschwer, daß er die neue Überraschung, der seine Nagelflöße
+entgegenwanderten, wesentlich anders aufnahm, als es geschehen wäre,
+wenn er das leutselige Schützenfest nicht erlebt, das Blut der Moidi
+von Unterstein nicht hätte rinnen sehen.
+
+Als er vor dem Hallturm in das waldige Seitentälchen ablenkte, konnte
+er gewahren, daß in seinem Herdstübl noch die Specklampe brannte.
+Obwohl er kein Übersparsamer war und eigentlich gar nicht verstand,
+warum ihn diese leuchtende Sache so fürchterlich erboste, fing er ein
+Himmelhundstreiben an, daß der Schnee davon knirschte. Immer schlug er
+mit der Faust in die Luft und nannte seine Schneckin einen Kindsschädel
+ohne Hirn, ein Grillenei ohne Dotter, sogar eine Sau ohne Speck, was
+doch sicher eine unmögliche Sache ist. Die Wut, die in ihm rasselte,
+beeinträchtigte die getrübten Verstandeskräfte des Hiesel Schneck bis
+zu völliger Urteilslosigkeit. Fluchend und schnaubend tappte er durch
+den Schnee. Nah bei der Haustür wurde er festgehalten vom Anblick
+einer Schneefährte, die er sich, ein so geschulter Weidmann er war,
+durchaus nicht erklären konnte. Es waren große, kreisrunde, tief in
+den Schnee gesenkte Tapper. Welch ein ungeheuerliches Nachtvieh
+mochte das Haus des Hiesel Schneck umwandert haben? Auch nicht der
+beste fürstpröpstliche Hirsch trat solche Fährten aus! Es blieb
+dem Hiesel keine andere Lösung, als diese Schneelöcher -- die das
+Blechschüsselchen der Schneckin schmolz, wenn sie die Mahlzeit des
+Fieberkranken kühlte -- für Huftritte des Teufels zu halten, der sich
+nach dem Verbleib der ihm zustehenden Ketzerseele ein bißchen erkundigt
+hatte. »Also, da haben wir's!« Das Gruseln kannte der Hiesel nicht.
+Für ihn als redlichen Christenmenschen war der Teufel eine Sache, so
+ungefährlich wie ein Eichkätzl. Aber dem strohdummen Weibl, diesem Igel
+ohne Borsten, gedachte er ein paar schmerzhafte Stacheln einzusetzen.
+Schon drehte er sich gegen die Haustür. Da hielt ihn der Klang der
+beiden Stimmen fest, die aus der Herdstube heraustönten. Unter einem
+knirschenden Himmelhündchen beugte er sich gegen das Fenster hin und
+guckte in den milden Schein.
+
+Eine flackernde Lampe, auf dem Herd noch eine rote Glut. Leupolt lag
+aufgestützt im Bette, den Fieberbrand auf den Wangen. Sein Hals und die
+Handgelenke waren frisch verbunden. Jetzt wusch ihm das Schneckenweibl,
+das auf dem Lehmboden kniete, mit zärtlicher Vorsicht die breite Wunde,
+die den Knöchel des rechten Fußes umzog. Dabei redeten die beiden
+mit ruhigen Stimmen, und es machte den Hiesel Schneck ein bißchen
+perplex, weil die zwei zu einander Bruder und Schwester sagten. Diese
+Verwandtschaft war was völlig Neues für ihn.
+
+»Seit der Herbstzeit?« fragte Leupolt.
+
+»Wohl, Bruder!« Die Schneckin begann die lange, weiße Binde zu wickeln.
+
+»Wie ist das gekommen, Schwester, daß deine Seel sich erhoben hat? Hast
+du ein Unrecht erfahren müssen?«
+
+Sie schüttelte den grauen Kopf. »Mein liebes Mädl, verstehst, die ist
+verheuert an einen Knappen in Hallein. Und im Herbst, wie die Hirsch
+geröhrt haben und mein Schneck allweil draußen hat sein müssen im Holz,
+da ist sie über einen Sonntag bei mir auf Besuch gewesen. Allweil
+hat mich das Mädl angeschaut so scheu und verzagt, und allweil hab
+ich fragen müssen: Was ist denn? Sie hat nit rausrucken wollen mit
+der Farb. Ich frag: Gelt ja, jetzt flucht halt der Deinige auch? Und
+das Mädl -- jetzt ist sie ein Weibl und bald ein Mutterl, aber noch
+allweil muß ich halt Mädl sagen -- und das Mädl beutelt ihr Köpfl. Ich
+frag: Herr Jesus, er wird dich doch ums Himmelswillen nit prügeln, der
+Deinig? Und das Mädl sagt: Der Meinig ist von allen der beste, grad wie
+der Vater Schneck! Und tut mich halsen wie irrsinnig und heult mir ins
+Ohr: Mein Hansl ist evangelisch und ich bin's auch, gelt, tu's nur dem
+Vater nit sagen, der tät versterben dran!«
+
+Der Hiesel Schneck verstarb nicht, stand nur im Schnee, wie verwandelt
+zu einer hölzernen Säule.
+
+»Erst hab ich gemeint vor Schreck, es tät mir das Blut gerinnen!« sagte
+die Schneckin. »Aber wenn's schon wahr sein muß, daß ihr Hansl verhöllt
+ist, wird doch sein Weibl nit einschichtig aufs Himmelreich trachten?
+Verstehst? Beisammen sein, ist allweil das Best, ob in Kält oder Glut.
+Und schau, da hat mir mein Mädl was fürgelesen von einem luthrischen
+Blättl. Schöner und fester hab ich nie noch ein deutsches Mannsbild
+reden hören. Das ist einem eingegangen, ich kann's nit sagen. Alles
+hat mir das Kindl verzählt: wie ihr der Hansl das Evangelische allweil
+fürgeredet hat, verstehst? Und gählings ist es in mir gewesen.« Die
+Schneckin guckte den Leupolt an. »Wenn einem sein liebes Mädl so was
+sagt? Verstehst? Da *muß* man doch glauben.«
+
+»Nit allweil!«
+
+Diese beiden Worte waren so leis gesprochen, daß der Hiesel sie
+nicht verstand. Aber deutlich hörte er das wehe Klagen seines
+Schneckenweibls: »Schau, und so ist's halt, wie es ist. Und die junge,
+evangelische Gottesfreud wär so schön in meiner Seel! Bloß eins ist
+hart: daß ich herüben bin, und mein Schneck ist drüben. Und kommt er
+drauf -- im ganzen Leben hat mir der gute Kerl noch nie ein Streichl
+gegeben, verstehst -- aber muß er merken, daß er eine evangelische
+Schneckin hat, da haut er mir alle Knöchelen im Leib auf Scherben.«
+
+Das tat der Hiesel nicht, obwohl er was gemerkt hatte, wenn auch
+ein bißchen langsam. Unbeweglich stand er im Schnee und hörte den
+Leupolt sagen: »Dein Schneck ist ein redliches Mannsbild. Und heut ist
+Versöhnungstag gewesen. Fried und Seelenfreiheit wird hausen im Ländl.
+Schwester, wie gottsfreudig müssen heut alle Leut gewesen sein!« Der
+Fiebernde ließ sich hinfallen auf das Kissen. »Von allen Schmerzen, die
+mich angefallen haben, ist das der härteste: daß ich heut nit sehen
+hab dürfen, wie Herren und Leut einander die Hand bieten auf Glück und
+Treu!«
+
+Da taumelte der Hiesel Schneck vom Fenster zurück, als hätte ihm dieses
+gläubige Wort einen Stoß vor die Brust gegeben. Er fand keinen Fluch,
+ließ nicht den kleinsten seiner Himmelhunde bellen. Weglos stapfte
+er in den Schnee hinaus, irrte hin und her wie ein Tier, das von der
+Drehkrankheit befallen ist, und als er den Waldsaum fand, er wußte
+nicht, wie, da ließ er sich hinfallen und keuchte in die Nacht hinaus:
+»Die Herren! Was die Herren alles treiben! Ach Jesus, Jesus!« Schauernd
+an allen Knochen, grub er das Gesicht zwischen die Fäuste und begann
+zu weinen wie ein kleines Kind. Das war eine Beschäftigung, die er
+schon sechzig Jahre lang nimmer getrieben hatte. Drum zerriß ihm ihre
+ungewohnte Übung fast die Rippen.
+
+War eine Stunde oder mehr vergangen? Vom Schneckenhäusl klang ein
+sorgenvoller Erkundungsschrei in die Nacht hinaus: »Schneeeheeeeck!«
+Nach einer Weile wieder. Die Schneckin sorgte sich, obwohl sie wußte,
+daß ihr Schneck Augen an den Schuhsohlen hatte. Und wo sich glückhafte
+Leute versöhnen, wird das Sitzleder dauerhaft. »Die haben ihn halt
+nit fortlassen vom Freibierbänkl.« Sie verkürzte den Docht der Lampe
+und raschelte sich in die Strohsackmulde. »Gut Nacht, Leupi!« Der
+Fiebernde schlief bereits. Auch die Schneckin brauchte nicht lang, um
+einzutunken. Sie erwachte erst, als der Hiesel Schneck sich wortlos
+hinlegte auf den Strohsack. »Gott sei Lob und Dank,« sagte sie, »weil
+du nur daheim bist. Ist's lustig gewesen?«
+
+»In Ruh laß mich!« knurrte er durch die Zähne.
+
+»No, no, geh, verzähl doch ein bißl was!«
+
+Da gab der Hiesel eine stumme Antwort. Sonst pflegte er so zu liegen,
+daß die Schneckin ihr graues Köpfl an seine Schulter lehnen konnte, und
+da waren ihr am Morgen immer die Falten seines Hemdärmels in die Wange
+gedrückt. Jetzt drehte er sich heftig auf die Seite hinüber. Ganz und
+gar.
+
+»Schneck! Jesus! Wirst doch nit krank sein?«
+
+»Was Gescheiteres fallt dir nimmer ein? Du --« Nein, der Schneck
+brachte es nicht fertig, zu seiner Schneckin zu sagen: »Du Christin
+ohne Herrgott!«
+
+Verwundert sann das Weibl in der Finsternis über die unerklärliche
+Tatsache nach, daß der Hiesel nicht fluchte. Da *mußte* ihm doch was
+weh tun, wie einem Baum, der im Frühling nicht grünen will. Bei diesem
+Schweigen stöhnte plötzlich der Hiesel: »Ganz schauderhaft ist so was!«
+
+»Was denn?« fragte das Weibl erschrocken.
+
+»Wie heut der Bockmist stinkt!«
+
+»Schneck, da mußt du dich verkühlt haben! Beim Kathari hat einer
+allweil so ein empfindsams Naserl.« Sie setzte sich auf. »Wart, da koch
+ich dir gleich ein heißes Weinsüppl mit Nagerlblüten.«
+
+Jetzt fluchte der Hiesel, und zwar so fürchterlich, daß die Schneckin
+rasch zur Einsicht gelangte: »Krank ist er nit!« Nach vielen
+stichelhärigen Himmelhunden murrte er: »Jetzt wirst du mich aber doch
+bald schlafen lassen, verstehst? Rumpel dich auf'n Strohsack hin, du
+Wagen ohne Deichsel!« Weiter gab er keine Antwort mehr und tat so, als
+ob er schliefe. Seine Augen blieben offen, bis der Morgen graute. Ohne
+auf die Geißmilchsuppe zu warten, stapfte er, von seinen kummervollen
+Himmelhunden begleitet, in das Schneegeriesel des Morgens hinaus.
+
+Die Schneckin sah ihm in ratloser Sorge nach. Was war denn nur
+mit ihrem Hiesel? Hatte er beim Schützenfest was Unverständiges
+angerichtet? Sie lief hinüber zum Hallturm. Ob da nicht von den
+Soldaten was zu erfahren wäre? Ja, die wußten was! Sehr viel. Wenn
+auch nichts vom Hiesel. Und als die Schneckin heimkam, merkte es
+Leupolt gleich an ihrem blassen Gesicht, daß etwas Hartes geschehen
+war. Schweigend hörte er an, was sie vom Versöhnungstag erzählte. Dann
+nahm er ihre Hand. »Nit trauern, Schwester! Soll man uns jede Bruck
+zerbrechen. Es ist ein Baumeister, der einen neuen Weg für uns auftut.«
+
+»Ja, Bub, da muß man glauben dran. Sonst tät man verzagen.«
+Nachdenklich sah die Schneckin vor sich hin. »Jetzt weiß ich, warum
+der Schneck heut nacht so gewesen ist. Falschheiten vertragt er nit.
+So ist er! Jetzt kommt's auf, wo er den Bockmist hat schmecken müssen.
+Verstehst?« Für alle Fälle wollte die Schneckin dafür sorgen, daß die
+empfindsam gewordene Nase des Hiesel wenigstens unter dem eigenen Dache
+nimmer gekränkt würde. Drum leistete sie an diesem Tag im Geißstall
+eine Arbeit, daß sie an den König Augias hätte denken können, wenn sie
+was von ihm gewußt hätte.
+
+Zur Mahlzeit kam der Schneck nicht heim. Erst am Abend. Der Schneckin,
+die gleich zum Herd sprang, um sein Essen aufzuwärmen, vergönnte er
+keinen Blick. Er ging zum Bett und griff in den Rucksack. »Heut in der
+Nacht, verstehst, da hab ich vergessen, daß mir die Mälzmeisterin was
+mitgegeben hat für dich.«
+
+»Die Mutter?« fuhr Leupolt in Freude auf.
+
+»Ob's deine Mutter ist, weiß ich nit,« sagte der Hiesel gallig, »auf
+der Welt gibt's allerlei Verwandtschaften. Himmelkreuzbluthöllement, es
+könnt am End gar noch aufkommen, daß du mein Schwager bist.«
+
+Der Sinn dieser Worte war für die Schneckin eine dunkle Sache. Und
+Leupolt hörte nicht, was der Hiesel redete; langsam, weil seine
+entzündeten Hände noch nicht gehorchen wollten, wickelte er das Päckl
+auf und schälte das braune Tiegelchen aus der Leinwand. Eine Salbe?
+Sonst nichts? Kein Gruß, keine Nachricht? Endlich fand er das kleine,
+versteckte Blättl und las bei der Feuerhelle des Herdes die winzig
+zusammengedrängte Schrift: »Mein herzlieber Bub! Die Sorg ist linder,
+seit ich weiß, wo du bist. Es wird sich schon geben, daß ich schicken
+kann, was du nötig hast. Kommen darf ich nit. Tu mir bald gesunden, tu
+allweil hoffen, Bub, Hoffnung ist eine so feste Sach wie Gott, der sie
+uns armen Menschen gegeben hat. Das Sälbl ist vom Luisli. Sie hat's
+selber gebracht, das liebe Kind, hat's in der Sonn geläutert und hat
+dich lieb. Alles ander müssen wir in Gott befehlen. Ich tu dich grüßen.
+Bleib, wie du bist, mein Bub, da bist du kein schlechter nit. Das weiß
+ich, deine Mutter in Treu.«
+
+Hätten der Schneck und die Schneckin jetzt hinübergeguckt zu ihrem
+zwieschläfrigen Bett, so hätten sie sehen können, wie die Augen eines
+Glücklichen leuchten. Aber die Schneckin mußte auf die Schüssel achten,
+die sie zum Tische trug, und der Hiesel starrte kummervoll in den
+Herrgottswinkel. Das Schneckweibl hielt es für nötig, zu fragen: »Wie
+hat's denn die Mälzmeisterin erfahren, daß der Leupi bei uns ist?«
+
+»Was weiß denn ich?« brüllte der Hiesel.
+»Kreuzhimmelhundblutshöllement, es gibt halt söllene Fensterln, wo
+einer was auskundschaften kann, wenn er ausputzte Luser hat!« Wie
+sonderbar, daß der Hiesel jetzt so unverständliche Sachen redete!
+Sonst pflegte er nur Dinge zu sagen, die jedes Kind verstand. Seufzend
+ging die Schneckin zum Herd. Und Leupolt sagte wie ein Träumender: »In
+der tiefsten Freud wird auch die höchste Not ein Lindes. Magst du mir
+nit erzählen, Schneck, wie's gestern gewesen ist?« Der Hiesel beutelte
+wütend den Kopf, schob die Schüssel fort, riß den Tabakbeutel vom
+Gürtel und begann die Holzpfeife zu stopfen. »So was ist schauderhaft!
+Ganz schauderhaft!« Das bezog die Schneckin natürlich auf den Bockmist
+und sagte gekränkt: »Schau hinaus ins Geißstallerl! Ob's nit so sauber
+ist, daß man am Sonntag vom Stallboden essen könnt.« Mit Tränen in den
+Augen zündete sie einen Kienbrand an und verließ die Stube, um draußen
+noch ein bißchen nachzufegen. Da wurde plötzlich der Hiesel Schneck ein
+völlig anderer. Alle Wut erlosch in ihm. Schweigend sah er die kleine
+Stalltür an, in den kreisrunden Augen einen so hilflosen Kummer, daß
+sein weißschnauziges Gesicht etwas Kindhaftes bekam. Wie zerschlagen an
+allen Knochen trat er zum Herd, um ein glühendes Kohlenbröckl in die
+Pfeife zu legen.
+
+»Schneck!« sagte Leupolt. »Weil das gute Weibl draußen ist, wollen
+wir's ausreden als grade Menschen. Ich spring nit hinüber zum
+Grenzbaum, tu nit flüchten. Vergönn mir das Plätzl in deinem Haus! Ich
+will's vergelten. Sobald die Füß mich tragen, leg ich mich hinauf ins
+Heu. Kann ich wieder laufen, so mußt du mich helfen lassen bei deinem
+harten Dienst. Daß du's leichter hast. Ich versprech dir, daß ich
+nichts tu, was dir Ungelegenheiten macht. Ich will nit konventikeln und
+heimlichen Weg laufen. Will sein, wie du wollen mußt, daß ich bin. Ist
+dir's recht so?« Er streckte die Hand.
+
+»Meintwegen!« murrte der Hiesel, ohne die Hand zu fassen. »Stapfen wir
+selbander durchs Holz, so kannst du mir auseinanderkletzeln, was denn
+eigentlich dran ist -- an der luthrischen Narretei? Daß in der besten
+Menschenseel so ein Unsinn zündet! Es ist halt, weil einer verstehn
+will, was er nit versteht. Verstehst?«
+
+»Fragst du, so geb ich Antwort.« Wieder streckte Leupolt die Hand.
+»Magst du nit einschlagen? Wir sind doch Gesellen, wo Verlaß ist auf
+einander. Nit?«
+
+Der Hiesel bewies, daß er trotz aller Bescheidenheit seines Verstandes
+klüger sein konnte als andere Menschen. »Mannderl,« sagte er, »wenn
+ich dein verschwollenes Pratzl drucken tät, möchtest du einen
+schönen Brüller machen!« Er guckte über die Schulter, weil er aus
+dem Geißstall ein heftiges Wassergeplätscher vernahm. »So was ist
+schauderhaft! Ganz schauderhaft!« Er sprang zur Stalltür hinüber. »Du!
+Kreuzhimmelhundshöllement und christgläubiges Elend! Wirst du nit bald
+auf'n Strohsack rutschen? Verkühlst dich ja draußen! Du Zeiserl ohne
+Kröpfl!« Keinen Kropf zu haben, ist eigentlich eine schöne Sache. Aber
+der Hiesel dachte bei diesem wütenden Kosenamen an einen Vogel, dem
+Gott wohl keinen Gesang gegeben hatte, dafür aber Federn, mit denen man
+schreiben kann.
+
+Die gekränkte Schneckin plätscherte noch eine Stunde lang. Als sie
+endlich die Ruhe suchte, lag ihr Schneck schon hinübergedreht nach der
+feindseligen Seite. »So,« sagte sie, »jetzt wirst du ihn aber nimmer
+schmecken!« Das stimmte. Gegen den Knasterqualm, den der Hiesel in die
+Stube geblasen hatte, kam der Geißstall nicht merklich auf. Dennoch
+knurrte der Unversöhnliche in die Nacht: »Ganz schauderhaft ist so
+was! Schauderhaft!« Da drehte sich auch die Schneckin beleidigt auf
+die andere Seite, und während ihre Tränen kollerten, hielt der Hiesel
+verzweifelt seinen brennenden Schädel zwischen den Fäusten. Die Stube
+des Grenzjägers beim Hallturm war in dieser Nacht eine Parabel des
+Lebens, in welchem Trostlosigkeit und Hoffnung, Glück und Not, Zorn und
+Liebe in unvereinbarem Widerspruche bei einander wohnen.
+
+Leupolt sah mit offenen Augen ins Dunkel, das braune Tiegelchen
+zwischen den Händen. Wie in der klingenden Mondnacht auf dem Königssee,
+so waren wieder in ihm zwei kämpfende Gedanken, die einander hart
+bedrängten. Seine Trauer über das üble Herrenwerk des Versöhnungstages
+und seine Sorgen um die leidenden Brüder umschatteten die blühende
+Botschaft der Mutter: »Sie hat dich lieb.« Aus dieser Zwiesprach
+seines Kummers und seiner Träume riß ihn ein Himmelsköter des Hiesel
+Schneck, der wütend in die Finsternis hineinbellte: »Wie, du -- jetzt
+hätt ich vor lauter Schauderei schiergar vergessen! Hörst oder nit? Du
+Haubenstock ohne Mascherl! Wirst du dich bald umdrehen, ja? Und den
+überbeinigen Ellbogen gib her! Verstehst?« Der Hiesel mochte schneller
+zugegriffen haben, als die Schneckin zu geben bereit war. Sie ließ ein
+so wehleidiges Quieksen vernehmen, daß Leupolt erschrocken fragte:
+»Schneck? Was tust du denn deinem Weibl?«
+
+»Nit mehr, als was mir der Jud zur Schuldigkeit auftragen hat,
+verstehst? Soll die saumäßige Zeitnot ausschauen, wie sie mag, ein
+Überbein ist allweil ein Überbein.« In der Finsternis bügelte der
+Hiesel Schneck das neugewachsene Ellbogenknöcherl seiner Schneckin.
+Weil sie wieder ein bißchen wimmerte, brüllte er: »Ja, pfeif nur,
+pfeif, du Spinnrädl ohne Schmier! Wenn's dir wohltät, gelt, da
+könnt ich rippeln bis vierzehn Täg nach der Ewigkeit.« Nun ließ das
+Schneckenweibl keinen Laut mehr vernehmen. Als der Hiesel mit dem
+Knochenbügeln endlich Feierabend machte, konnte die Schneckin nicht in
+Abrede stellen, daß ihr Überbein sich merklich verkleinert hatte. Sie
+beobachtete auch noch eine andere Wirkung der gewalttätigen Kur: ihr
+Schneck war von der >jüdischen Dokterei< so müde geworden, daß er vor
+dem Einschlafen vergaß, sich auf die feindselige Seite hinüberzudrehen.
+Mit Vorsicht rückte die Schneckin auf der Raschelmatratze ein bißchen
+näher, fand das Kissen wieder, an das sie seit fünfunddreißig Jahren
+gewöhnt war, und schloß als zufriedenes Menschenkind die Augen.
+
+
+
+
+Kapitel XX
+
+
+Am Morgen, als der Hiesel mit seinem verschwiegenen Christenkummer sich
+wieder hinausfluchte in die tröstende Waldeinsamkeit und sein Weib
+von den Schneckischen Hemdärmelfalten auf der Wange eine Zeichnung
+hatte, ähnlich den Eisblumen am Fenster, fühlte sich Leupolt Raurisser,
+obwohl ihm vom Wundfieber noch immer die Pulse hämmerten, so weit bei
+Kräften, daß er hinüberhumpeln konnte zur Fensterbank. Und da wurde er
+sein eigener Arzt -- weil er das kostbare braune Tiegelchen von keiner
+anderen Hand berühren ließ.
+
+Zwischen wechselndem Schneegestöber blinzelte manchmal die Sonne durch
+das verschneite Fenster, während Leupolt vor dem Zinnspiegelchen
+der Schneckin saß, wie einer, der sich selbst rasieren muß. Ein
+feingeglätteter Holzspan diente ihm als ärztliches Messer, mit dem er
+die Halswunde so sauber schabte, daß die Schneckin gestehen mußte:
+»*Viel* besser schaut's aus!« Mit zärtlicher Achtsamkeit verteilte er
+die in der Morgensonne der Liebe geläuterte Wundsalbe über den frischen
+Leinwandstreif. »So!« sagte er, als alles Rote am Hals bedeckt und
+die lange Binde darumgewickelt war. Dabei glänzten ihm die Augen, wie
+sie nur einem Menschen glänzen können, der ein unsagbares Wohlgefühl
+empfindet. Und immer schüttelte er lächelnd den Kopf, so oft die
+Schneckin barmherzig klagte: »Jesus, Jesus, es muß dir ja grausam
+wehtun!« Mit den Fußknöcheln hatte er leichtere Arbeit. Auch beim
+Verbinden der Handgelenke durfte ihm die Schneckin nicht beispringen;
+er nahm die Zähne zu Hilfe. Und gleich, mit dem Bergstecken des Hiesel,
+versuchte er's, in der Stube auf und ab zu schreiten. Immer besser
+ging's. Freilich, der braune Tiegel war ausgeräumt bis auf das letzte
+Glitzerbröselchen. »Da muß mein Schneck halt wieder ein Sälbl holen,
+verstehst?«
+
+»Mehr braucht's nit. Das hilft aufs erstemal. Ich spür's.«
+
+Die Schneckin mußte zu ihren Geißen. Als sie wieder in die Stube
+kam, war Leupolt umgezogen, saß hinter dem Herd auf dem kummervollen
+Strohsack des Hiesel und las den kleinen Zettel der Mutter, las so
+lange, als wäre das winzige Stück Papier ein Buch ohne Ende.
+
+Hundertmal im Verlauf des Tages sagte das Schneckenweibl: »Heut am
+Abend freut er sich, mein Schneck! Weil er sein Bett wieder hat,
+verstehst?« Aber am Abend freute sich der Hiesel gar nicht. Auch
+während der folgenden Tage, unter wehendem Schneegestöber, blieb er so
+mürrisch, so verdrossen, so rätselhaft traurig, daß in der Schneckin
+der beklommene Verdacht erwachte: der Hiesel hat was gemerkt von ihrem
+evangelischen Geheimnis. Aber nein! »Da tät er doch dreinschlagen
+mit dem Bergstecken, tät umfallen vor lauter Kümmernis und tot sein!
+Verstehst?« Stundenlang, wenn der Schneck mit den Fuchseisen draußen
+im Gestöber war, beredete sie's mit Leupolt. Der sagte: »Es ist was
+anderes. Grausen tut ihm. Was er sehen hat müssen beim Schützenfest,
+das verwindt er nimmer. Nit viel im Leben ist härter, als übel von
+einem Herren denken müssen, dem man zugeschworen ist in Treu und
+Ehrfurcht.«
+
+Die Schneckin tat einen Seufzer: »Ach, lieber Herr Jesus! Was für eine
+schieche Zeit ist das!« Von den schrecklichen Dingen, die im Land
+geschahen, wußte sie nur wenig. Die hohen Schneewächten legten um das
+einsame Haus einen schützenden Riegel. Und was die Schneckin drüben im
+Hallturm von der eindringlichen Bekehrung hörte, die mit Musketieren
+und Kapuzinern betrieben wurde, mit Strafgeldern, Angebereien,
+Ausstoßungen aus den Handwerksgilden, Haussuchungen und Polizeichikanen
+-- das verschwieg sie vor Leupolt. Einen Wundkranken darf man nicht
+aufregen. Auch sonst hatte das Schneckenweibl ihre Not mit ihm. Immer
+wollte er arbeiten, sich nützlich machen. Jede Pflege wies er ab. Sie
+schalt: »So geht's nit weiter, Bub! Du mußt dich wieder verbinden
+lassen.« Er streichelte lächelnd ihre Hand: »Nit, Weibl! Ich spür schon
+das Heiljucken. Nachhelfen muß man bloß bei schwachen und mühsamen
+Dingen. Den starken und guten Sachen muß man ihr Sträßl lassen und muß
+ihnen Zeit vergunnen. Komm! Es nächtet. Tu für den Schneck das Mus
+kochen! Wenn das Feuer scheint, ist liebe Stund. Da sag ich dir wieder
+ein Lied.« Als die Flamme züngelte und die schwarze Stube rotscheinig
+wurde, sang er leis in die flackernde Feuerhelle:
+
+ »Herz, laß dich nie nichts dauern mit Trauern! Sei stille!
+ Wie Gott es fügt, so sei's vergnügt dein Wille.
+ Bleib nur in allem Handel ohn' Wandel! Steh feste!
+ Wie's Gott verleiht, ist's allzeit das Beste.
+ Du sollst nit heut dich sorgen ums Morgen! Der Eine
+ Steht allem für und gibt auch dir das Deine.«
+
+Das Schneckenweibl brach in Tränen aus wie ein armseliges Häuflein
+Elend und klagte: »Bub! Tät's unser Herrgott allweil aufs beste
+richten, so könnt der Schneck nit im Ländl bleiben, wenn's so kommen
+tät, daß ich auf Wanderschaft müßt. Verstehst?« Wie die Schneckin es
+meinte, so verstand es Leupolt nicht. Sie hatte es nicht übers Herz
+gebracht, ihm zu sagen, was drüben im Hallturm zu hören war: daß man
+zu Berchtesgaden zwischen Judica und Palmarum das Exulations-Edikt
+wider alle Verstockten anschlagen würde, die vor dem Karfreitag
+nicht reumütig zurückgekehrt wären zum alten, allein seligmachenden
+Glauben. Leupolt verstand nur, daß Kummer und Verstörtheit dem alten
+Schneckenweibl fast die Seele zerdrückten. Er streckte die Hand, deren
+Gelenk umwulstet war von dem starrgewordenen Verband, legte sie auf den
+Arm der Weinenden und wiederholte mit tröstender Herzlichkeit den Vers:
+
+ »Du sollst nit heut dich sorgen ums Morgen! Der Eine
+ Steht allem für und gibt auch dir das Deine!«
+
+Draußen vor der Haustür pochte Hiesel Schneck den Schnee von den
+Schuhen. Als er eintrat, versuchte er zu lachen und warf unter dem
+fröhlich tuenden Gebell eines kleinen Himmelhundes zwei schöne Füchse,
+die er aus den Fallen genommen, vor die Herdmauer. »Also! Hat der
+Mensch auch wieder einmal ein bißl Freud! Verstehst? Für d' Füchslen,
+freilich, war 's Vergnügen minder.« Mit seinem gereizten Lachen mischte
+sich ein wühlender Zornklang. »Was müssen die Rindviecher hinschnufeln
+zum eisernen Fensterl! Da kann einer allweil was hören! Verstehst?«
+Er drehte sich gegen die Balkenwand, um sein von Schnee umwickeltes
+Zeug an die Geweihzacken zu hängen. »Freilich, was Guts ist allweil
+dabei. Wird halt die Meinige jetzt ein ofenwarms Pelzkragerl auf
+ihren Kirchenmantel kriegen!« Dieses zärtliche Versprechen hatte eine
+sonderbare Wirkung. Heftig zusammenzuckend, ließ die Schneckin den
+Kochlöffel ins Mus fallen, fuhr mit den Fäusten nach den Augen und
+bekam einen Schreikrampf, der sich zu hilflosem Schluchzen löste. Eine
+Weile stand der Hiesel wie versteinert. Dann fing er mit gesteigertem
+Höllementsreichtum zu fluchen an und brüllte: »Du Wiedehupfin ohne
+Schöpfl! Warum flennst du denn jetzt?«
+
+»Weil -- weil ich merk --«
+
+»Was?« fragte der Hiesel erschrocken.
+
+»Daß du mir -- eine Freud machen willst -- und grad für'n Kirchenmantel
+-- Jesus, Jesus, für'n Kirchenmantel!« Unter den Tränenstürzen ihrer
+Verstörtheit vergaß sie völlig, daß sie das Mus für ihren Schneck
+gekocht hatte, war der Meinung, es wäre die Kost des Fieberkranken,
+und trug das Schüsselchen in die Dunkelheit hinaus, um es im Schnee
+zu kühlen. Bei dieser Gelegenheit konnte der Hiesel Schneck die
+überraschende Entdeckung machen, daß nicht der ketzergierige Satan,
+sondern die menschliche Barmherzigkeit seiner Schneckin die »unsinnigen
+Tapper« in den Neuschnee hineingefährtet hatte. Nachdenklich
+wiederholte er das Kummerwort seiner letzten Nächte: »Ganz schauderhaft
+ist so was!« Dann fluchte er unter heftigem Faustgefuchtel so
+entsetzlich nach allen Windrichtungen, daß die schwarze Stube sich
+noch dunkler zu schwärzen schien. Leupolt sagte lächelnd: »So was ist
+seltsam.«
+
+»Was?« brüllte der rasende Schneck.
+
+»Wie die Lieb oft herausredet aus der Menschenseel.«
+
+Dieses Wort machte den Hiesel zuerst bestürzt. Dann schrie er: »Wann
+ich raufen muß mit der Meinigen, da tu dich nit einmischen! Schau
+lieber, daß du bald mit mir auf ein rechtschaffens Waldstraßl kommst.
+Daß man reden kann miteinander. Oder verstehst nit, du luthrischer
+Narrenkasten ohne Riegel, daß einer verstehn will, was er nit versteht?
+Verstehst?«
+
+Leupolt gab keine Antwort. Er lächelte nur. --
+
+In dem kleinen Jägerhaus kamen stille Tage. Keine schönen. Es stöberte,
+daß der Schnee vor der Hausmauer immer höher wuchs. Manchmal in den
+Nächten krachte das alte Dach unter der weißen Last. Dann plötzlich,
+von einem Tag auf den anderen, setzte der Föhnsturm ein, mit Brausen
+und Toben, mit klatschenden Regengüssen.
+
+Die Herren zu Berchtesgaden schienen den Jäger Leupolt Raurisser
+entweder vergessen zu haben, oder sie erwarteten von ihm noch immer,
+daß er seinem fürstlichen Herrn die Gefälligkeit erweisen möchte,
+jenseits der bayerischen Grenze zu verschwinden. Es kam vom Stifte
+keine Nachricht, kein Befehl. Alle paar Tage brachte das Schneckenweibl
+ein Bündel, das jemand im Hallturm für den Hiesel abgegeben hatte.
+Immer war's eine Sendung der Mutter Agnes für ihren Sohn. Schließlich
+hatte Leupolt alles beisammen, was ein Jäger braucht -- ausgenommen
+die Flinte. Am Tage nach dem Versöhnungsfest hatte die Polizei seine
+Waffen konfisziert. Bei jeder Sendung war ein verstecktes Zettelchen
+der Mutter, die sich um die Gesundheit ihres Buben sorgte. Über die
+Dinge, die zu Berchtesgaden geschahen, schrieb sie kein Wort. Es hieß
+nur immer: »Ach, das Leben ist nimmer schön!« -- »Bub, man weiß bald
+nimmer, was man denken und glauben soll!« -- »Ach, Bub, sei froh, daß
+du weit bist vom Marktbrunnen! Der Schandpfahl hat nimmer Feierabend.«
+Nie ein Wort über Luisa, nie ein Gruß von ihr. Nur einmal, als sich
+schon die ersten Frühlingszeichen an den sonnseitigen Gehängen
+entdecken ließen, schrieb Mutter Agnes: »Hab gestern ein liebes Veigerl
+gesehen, das nimmer blühen mag. Da hilft kein Wörtl nit. Man muß an
+die Sonn glauben, die dem armen Blüml das Köpfl wieder aufrichtet.«
+Als Leupolt dieses Zettelchen gelesen hatte, trat er zum Fenster, sah
+in den rauschenden Regen hinaus und sagte: »Die Sonn ist bloß hinter
+Wolken. Da ist sie allweil. Komm, Schneck, nimm den Mantel, ich geh mit
+dir hinaus ins Holz. Wo die Bäum wachsen, wohnt der Herrgott.«
+
+»Wohl!« brummte Hiesel. »Aber was für einer?«
+
+Draußen wurde dem langen Schneck die Nässe ungemütlich. Er wußte eine
+Holzerhütte zu finden, brachte ein Feuerchen in Brand, stopfte seine
+Holzpfeife und fing wieder zu fragen an, wie immer, wenn er mit Leupolt
+allein war. Dabei schien er nur die Worte des anderen zu hören, nicht
+den Herzklang, von dem sie erfüllt waren, nicht die ruhige Festigkeit,
+die in ihnen glänzte. Wieder schüttelte er nach stundenlangem Lauschen
+den grauen Kopf: »Da kann mir einer sagen, was er will, ich versteh's
+halt nit!« Etwas Verzweiflungsvolles brannte ihm in den kummervollen
+Augen. »Aber was soll denn einer machen, wenn er muß?« Das war wieder
+eine von den dunklen Reden, die der Hiesel sich angewöhnt hatte seit
+dem Versöhnungsfest.
+
+»Schneck? Magst du mir nit sagen, was dich druckt?«
+
+Der Alte erhob sich vom Feuer. »Der Verstand druckt mich nit. Sonst tät
+ich's verstehn. Verstehst?«
+
+Je näher es auf die Osterwoche ging, umso wortkarger wurde der
+Hiesel Schneck, ersann immer seltsamere Flüche und fand für sein
+Schneckenweibl immer wunderlichere Vergleiche, denen das Nötigste
+fehlte. Er nannte sie ein Wasser ohne Brunnenrohr, ein Mühlrad ohne
+Mehl, ein Bänkl ohne Füß, ein Zöpfl ohne Haar, sogar eine arme Seel
+ohne Fegfeuer. Mit Menschen zusammenzukommen, das schien der Hiesel zu
+fürchten, wie ein Gebrannter das Feuer. Die angstvolle Schneckin quälte
+ihn eines Tages mit hundert verwirrten Fragen. Der Hiesel schwieg sich
+aus, beteuerte ein Dutzendmal, daß so was schauderhaft wäre, ganz
+schauderhaft, nahm die Feuersteinflinte und ließ seine Himmelhunde
+hinausknurren in den nassen Frühlingswald. Die Schneckin, völlig
+verdreht, wollte ihm nachlaufen. Leupolt hielt sie zurück und sagte:
+»Laß ihn, Weibl! Im Holz draußen findt er die Ruh schon wieder. Ein
+guter Mensch ist er. Und was er hören und sehen muß, das geht ihm über
+den Herzfrieden.« Wenn Leupolt auch wenig wußte von den Dingen im Land,
+so wußte er doch so viel, daß er sein Versprechen, keinen heimlichen
+Weg zu machen, wie eine Kette zu empfinden begann. Einmal sagte er zur
+Schneckin: »Nit helfen können, ist das Härteste.«
+
+Es war in diesen Wochen im Lande Berchtesgaden ein neuer Gruß erfunden
+worden, nicht von der Polizei, sondern von denen, die ihn verschwiegen
+vor ihr. Begegnete einer dem anderen, und hatten sie mit den Augen
+geblinzelt, so sagte der eine: »Schieche Zeit, Bruder!« Und der andere
+knirschte zwischen den Zähnen: »Gott soll's geben, daß der Helfer
+kommt!«
+
+Der Weg zu den Stiftsgefängnissen wurde in dieser Zeit das belebteste
+Sträßl im Land. Um der jungen Mädchen willen gab es blutige
+Schlägereien zwischen den Burschen und Musketieren. Die Soldaten und
+ihre Rosse fraßen die evangelischen Bauern arm. Was in den Seelen der
+Bedrückten noch übrig blieb an Hoffnungsfestigkeit, das wurde gebeizt
+und gesotten bei den stundenlangen Hauspredigten der Kapuziner. Von
+ihrem schwitzenden Eifer kam ein Sprichwort in Umlauf: »Der tröpfelt
+wie ein Bußprediger.« Und was diese emsige Seelsorge, was die Muketiere
+und ihre fressenden Gäule, die Polizeiverhöre und die Herbergsstunden
+ohne Mond und Sonne nicht fertig brachten, das vollendete die
+Verhetzung innerhalb der evangelischen Familien, die Behinderung eines
+jeden Erwerbs, der Frondienst und die Geldbuße, die Viehpfändung,
+der Entzug des Hauslehens und noch eine andere dunkle Sache, die im
+ganzen Lande wie ein drückender Alp auf allen Menschen lag. Es schien,
+als ginge in den Häusern einer umher, der nicht zu sehen, nicht zu
+hören und nicht zu greifen war, jedes Wort erschnappte, jede Rede
+verdrehte, jeden Gedanken herauskitzelte und denunzierte. Dank diesem
+emsigen Lauschergeiste war der Landrichter Willibald Halbundhalb
+durch die gesteigerten Geschäfte seiner Wahrheitsforschung so grausam
+überbürdet, daß man ihm vier Assessoren zur Hilfe beigeben mußte.
+Weil der Herbergsraum ohne Mond und Sonne stets überfüllt war, wurde,
+um Platz zu sparen und die Einkünfte des Stiftes zu erhöhen, alles
+minder Gravierende durch hohe Geldbußen erledigt. Das hatte einen
+doppelten Erfolg: zum erstenmal seit Jahren konnte die Rechnungskammer
+des Stiftes die an Ostern fälligen Schuldzinsen glatt begleichen, und
+noch vor dem Palmsonntag konnte man amtlich registrieren, daß von den
+Siebenthalbtausend der jubelnden Bekennertage schon mehr als die Hälfte
+bußbereit wieder heimkehrte zum »fürstpröpstlichen Glauben«. Gegen
+die dreitausend noch Verstockten wurde das Exulations-Edikt an allen
+Kirchtoren von Berchtesgaden angeschlagen.
+
+Wie schweres Nebelgewölk, so lag die dumpfe Herztrauer der Wehrlosen
+über dem ganzen Land. Aber auch *diese* Zeit, so unerträglich sie war,
+konnte den Witz des gesunden Volkes nicht völlig ersticken. Unter das
+Polizeigebot, das neben dem Exulations-Edikte angenagelt war und jeden
+»Befund dreier gleichzeitiger Personen auf der Straße« mit schwerer
+Strafe bedrohte, hatte einer die Frage geschrieben: »Wie ist das bei
+einer schwangeren Mutter, die mit Zwillingen geht? Das sind doch
+auch drei Gleichzeitige? Muß da der Muckenfüßl vor dem Grillenhäusl
+auf die Überzähligen passen? Oder muß er die Haustür einschlagen?«
+Der Wahrheitsforscher mit den vier überflüssigen Federstrichen,
+der den Dichter des Volksliedes vom _Dr._ Halbundhalb noch immer
+nicht ausgeforscht hatte, mußte sich mit einem neuen Geheimnis der
+Schriftenkunde befassen, um es *nicht* zu lösen.
+
+Die Sonne begann zu lachen und machte die Tage vor dem Osterfeste lind
+und schön. Auf den Talwiesen begann das erste Grün zu spitzen, an den
+Bächen kätzelten die Weidenstauden und auf den Berghängen schrumpfte
+der Schnee immer weiter durch die Wälder empor.
+
+Am Morgen des Karfreitags wanderte Hiesel Schneck mit seiner Schneckin
+nach Bischofswiesen, um das heilige Grab zu besuchen -- der Hiesel
+trotz der himmelschönen Frühlingsfrühe verdrossener als je, das
+Schneckenweibl bei aller Seelenangst viel freudenreicher als seit
+Wochen. Wie warm die Sonne heizte, das schien die Schneckin nicht zu
+bemerken; sonst hätte sie nicht das dickgefütterte Wintermäntelchen mit
+dem neuen Fuchspelzkragen spazierengeschleppt. Jedem Menschen, dem die
+beiden begegneten, sah die Schneckin fragend in die Augen. Dann bekam
+der andere einen scheuen Blick und dachte: »Der bin ich verdächtig!«
+Die Schneckin aber schmunzelte stolz: »Dem gefallt mein Fuchspelzl
+auch!«
+
+Um für Hiesel einen freien Morgen zu machen, hatte Leupolt den
+Hegerdienst übernommen. Seine Karfreitagsandacht hielt er im Bergwald.
+Nur der Gott, an den er glaubte, sah den Leupolt Raurisser zwischen
+den ersten Frühlingsblumen des Waldes knien, mit gefalteten Händen,
+mit entblößtem Scheitel, mit klingender Menschenseele, mit hoffendem
+Glanz in den Augen. Wie aus Holz geschnitten sah er aus, in dem
+verwitterten Bergjägerkleid, mit den starr und grau gewordenen
+Wundverbänden um den Hals, um Fußknöchel und Handgelenke. Das Rauschen
+der Frühlingswässer und leises Vogelgezwitscher war um ihn her, und
+durch das kahle Gezweig der Buchen, an denen die Knospen zu schwellen
+begannen, spann die Morgensonne ihre funkelnden Fäden. Als er heim
+kam ins stille Jägerhaus, brannte er auf dem Herd ein Feuer an und
+hängte den kupfernen Wasserkessel drüber. Mit dem warmen Wasser
+weichte er die zusammengekrusteten Verbände auf. Die Wunden waren
+geheilt. Die erneute Haut umzog den braunen Hals wie ein weißes Band.
+Ebenso war's an den Fußknöcheln und Handgelenken. Lächelnd flüsterte
+Leupolt vor sich hin: »Vergeltsgott, Luisli!« Und weil er's nicht
+übers Herz brachte, die Verbandlappen fortzuwerfen, verbrannte er
+sie im Herdfeuer. Aus der Flamme quoll ein feiner Harzduft heraus,
+der an den Wohlgeruch des keimenden Waldes erinnerte. Leupolt wusch
+sich und zog die Feiertagskleider an, die seine Mutter ihm geschickt
+hatte. Im Herrgottswinkel aß er die Geißmilchsuppe. Dann setzte er
+sich vor der Haustür auf das sonnige Bänkl. Wie still und schön war
+diese heilige Frühe! Jedes Gefühl in ihm verwandelte sich in dankbare
+Andacht, die schmerzend umschleiert war von den Gedanken an die
+leidenden Glaubensbrüder. Wie mochte es aussehen in den Herzen der
+Schwachgewordenen, die unter Gewalt und Pein die Wahrheit ihrer Seelen
+verleugnet hatten? Wie in den Herzen der aufrecht Gebliebenen, die
+keinem Zwang sich beugten und doch der Stunde entgegenzitterten, in der
+sie, verarmt und schutzlos, zum Exulantenstecken greifen und die Heimat
+verlassen mußten, um einem ungewissen Schicksal entgegen zu wandern.
+
+»Gott soll dich hüten, mein liebes Glück! Ich geh mit der ersten Schar.«
+
+Ruhigen Auges hinausblickend in den Glanz der Morgensonne, überlegte
+er, wie er den Wandernden nützen könnte, welchen Weg sie nehmen,
+wohin sie sich wenden sollten auf der Suche nach einer neuen Heimat?
+Übers Wasser nach England oder Amerika? Auf Landwegen nach Holland
+oder Dänemark? Solchen Weg hatten viele von den Salzburgern genommen.
+Leupolt schüttelte den Kopf. »Sind wir nit deutsche Leut? Wir gehören
+auf deutschen Boden!« Da gab's nur einen einzigen Weg: über den Main
+und über die Elbe hinunter, ins preußische Land. Aber wie für die weite
+Wanderung alle nötigen Mittel finden, Zehrung für die Verarmten, Pflege
+für die Erkrankten, neues Heimatland, Boden für den Hausbau, Balken
+und Kalk, Hausrat und Ackerzeug? Wer wird da brüderlich und barmherzig
+sein? Wer wird helfen? Leupolt hob das Gesicht zur Sonne. »Einer,
+der allweil hilft!« Da fiel ihm etwas zwischen die Hände, die er auf
+den Knien liegen hatte. Wie der Schauer eines heiligen Geheimnisse
+durchrieselte es ihn, als er das goldgelbe Aurikelsträußchen
+betrachtete, das ihm zugeflogen war, als wär' es heruntergefallen vom
+Himmel. Ein heißer Glücksgedanke durchzuckte sein Herz. Gleich verwarf
+er ihn wieder. An das Luisli zu denken, war Torheit, war Irrsinn!
+
+Jetzt hörte er hinter der Hausecke die Sprünge eines flinken Fußes
+über kiesigen Grund. Er lief zur Hauskante hinüber und sah ein
+blondschopfiges Mädel zwischen den Fichtenstauden verschwinden. War
+das nicht die Tochter der Hasenknopfin? Dann war der Hasenknopf von
+seiner Wanderung ins Preußische heimgekommen! Und in dem Sträußl war
+eine Botschaft! Leupolt suchte zwischen den Blüten. Unter den grünen
+Stengeln knisterte was: ein kleiner Zettel, eng beschrieben mit
+verstellter Schrift, in der Ecke ein Kreis mit vier Punkten -- das nur
+den Verläßlichsten bekannte Namenszeichen des Hasenknopf. Leupolt las:
+»Es ist ein heilig Ding, ist deins und meins. Dem mußt du dienen. Vor
+dem Neumond, am Abend um die fünfte Stund, da kommen von Reichenhall
+zwei Auslandrische geritten, ein evangelischer Herr mit seinem Diener.
+Die mußt du erwarten, wo man die verbronnene Plaienburg sieht. Tu dich
+ausweisen mit deinen Wundmalen. Du mußt um Christi willen gehorsamen,
+auch wenn es so ausschauen tät, als wär's gegen Treu und Eid. Es ist
+nit so, ist alles zu christlicher Hilf. Es wollen die zwo in der
+Neumondnacht zu einem, der nimmer lebt und ewig lebendig bleibt. Da
+mußt du sie umsichtig führen und gut behüten. In Jesu leb ich, in Jesu
+sterb ich. Den Zettel mußt du verbrennen. Gleich.« Ein zweitesmal las
+er, ein drittesmal. Dann ging er ins Haus, legte den Zettel auf die
+glühenden Kohlen und sah ihn zu Asche werden.
+
+»Ein Helfer kommt!«
+
+Die Freude machte ihm das Blut in den Adern heiß, machte ihm das Herz
+gegen die Rippen hämmern. Den Helfer führen? Zu einem, der nimmer lebt?
+Das war der Tote Mann, der Ramsauer Waldberg, auf dem die Evangelischen
+in der Neumondnacht sich versammelten.
+
+Stunde um Stunde wartete Leupolt mit Ungeduld auf den Hiesel Schneck.
+Der mußte ihm das Versprechen zurückgeben: keinen heimlichen Weg zu
+machen. Die Mittagsstunde ging vorüber, ohne daß die Hausleute kamen.
+Erst gegen Abend zappelte das Schneckenweibl über die Wiese her,
+schwitzend unter dem Fuchspelz ihres Kirchenmantels. Von weitem rief
+sie dem Leupolt, der wartend vor der Haustür stand, die Frage zu: ob
+der Schneck schon daheim wäre? Als Leupolt den Kopf schüttelte, fing
+die Schneckin in seltsamer Verstörtheit zu klagen an: sie hätte eine
+Besorgung gehabt; die hätte ein bißl lang gedauert; und als sie wieder
+zurückgekommen wäre ins Wirtshaus, wäre der Hiesel nimmer dagewesen;
+sie hätte ihn überall gesucht, nirgends gefunden und hätte gemeint,
+er wäre schon heimgelaufen. »Und jetzt ist er nit da! Jesus, Jesus,
+ich muß ihm was sagen!« Sie lief zur Straße zurück, guckte und schrie,
+kam heim, begann die Fastenspeise zu kochen und rannte wieder vor die
+Haustür, um nach dem Hiesel auszuschauen. Endlich, da es schon zu
+dämmern anfing, sah sie ihn kommen.
+
+Ganz langsam ging er, merklich gebeugt, als wäre er seit dem Morgen
+um ein paar drückende Jährchen älter geworden. Als er sein Weibl so
+aufgeregt schwatzen hörte, blieb er stumm, tat einen schweren Atemzug
+und guckte zum Himmel hinauf. Plötzlich machte er einen raschen Griff,
+faßte mit der groben Pranke die Hand seines Weibes und sagte wunderlich
+zart und leise: »Schneckin! Paß auf! Jetzt muß ich dir was sagen.
+*Dir* z'lieb, verstehst? Heut hab ich mich einschreiben lassen als
+luthrischer Exulant.« Das Schneckenweibl stand wie zu Stein erstarrt.
+Ihre Tränen begannen zu rinnen, bevor sie sich rühren konnte. Von einem
+Schreikrampf befallen, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und
+klagte in den sternschönen Frühlingsabend hinaus: »O Jesus, Jesus!
+*So* ein Unglück! Und ich, bloß daß ich nit fort hätt müssen von dir,
+verstehst, ich hab mich heut wieder bekehren lassen vom Kapuziner!«
+
+Es gab zu dieser Stunde im trauervollen Lande Berchtesgaden nicht viele
+Menschen, die so unglücklich waren, wie der evangelische Hiesel Schneck
+und seine neukatholische Schneckin.
+
+
+
+
+Kapitel XXI
+
+
+Nach Ostern, am Vormittage vor der Neumondnacht im April, fuhr ein
+Leiterwägelchen, das von Berchtesgaden kam, durch Bischofswiesen gegen
+den Hallturm. Die Sus kutschierte. Hinter ihr saßen zwei Paare, die
+nicht zu einander gehörten und sich doch bei den Händen gefaßt hielten:
+Meister Niklaus und Mutter Agnes auf dem ersten Brett, Pfarrer Ludwig
+und das Luisli auf dem anderen. Ihre Gesichter und Augen erzählten von
+harten Tagen. Während der Fahrt durch Bischofswiesen redete keins von
+den Fünfen ein Wort. Und die Sus schlenkerte immer die Zügel und trieb
+das Gäulchen, als könnte sie das kaum erwarten: zum letzten Hause des
+erschreckenden Dorfes zu kommen.
+
+Ein Frühlingsmorgen, voll Sonne, duftend von allem Reiz des neu
+Erstehenden in der Natur. Was dieser Morgenglanz an Leben umschimmerte,
+war Trauer, Menschenelend und Verwüstung. Viele Häuser standen leer
+und hatten rot angestrichene Türen und Fensterstöcke. Die Leute, die
+man aus ihren Lehen getrieben hatte, wohnten hinter den Hausgärten
+in Bretterschuppen. Mit dem eng übereinander gestellten Hausrat
+sahen diese Zufluchtsstätten aus wie Trödlerbuden eines unfröhlichen
+Jahrmarktes. Nur wenige Häuser waren gegen früher völlig unverändert.
+Dazwischen lagen bewohnte Lehen, deren gewaschene Fensterstöcke
+und Türen nur noch einen matten, rötlichen Schiller hatten -- das
+Zeichen der Heimkehr zum fürstpröpstlichen Glauben. Wer sich aus der
+Bekennerliste streichen ließ, bekam mit der Anwartschaft auf die ewige
+Seligkeit auch ein Fläschl Terpentin, um Türen und Fensterstöcke wieder
+gutgläubig zu machen.
+
+Lenzfreude und munteres Leben ließ sich auch an den Häusern nicht
+entdecken, die noch bewohnt waren. Alte Weibsleute hockten stumm in
+den Höfen; an den Fenstern sah man verschüchterte Kindergesichter;
+bejahrte Männer waren beim Umgraben der Gärten. Durch offene Türen
+sah man in leere Ställe. Das Vieh war davongetrieben. Den Bußfertigen
+hatte man reichlich des Himmels Gnade zugesagt, aber die Rinder nicht
+mehr zurückgegeben. Die waren von der Salzburgischen Soldateska schon
+aufgefressen, bevor im Bauer die christliche Reu erwachte. Neben
+einem geplünderten Hause war ein Feld überstreut mit den Holzscherben
+zerschlagener Kästen und Bettstellen; es erinnerte an des Haynachers
+Gerstenacker, auf dem die Holzfetzen der Kreuze umherlagen, die der
+Christl unermüdlich, mit einem an Wahnwitz grenzenden Eigensinn auf
+das Grab seiner Martle steckte, und die von gutgläubigen Händen immer
+wieder zertrümmert wurden. Dann kam in der Dorfgasse ein grau und
+schwarz gesprenkeltes Loch, die Brandstätte dreier Höfe. Überall fingen
+die Bäume und Hecken zu grünen an; die Obstbäume der niedergebrannten
+Höfe trieben keine Knospe mehr; sie waren von der Feuerhitze versengt,
+waren fuchsig rot wie verschmachtete Wacholderbüsche.
+
+Nur die spielenden oder brünstig trabenden Hunde, die den Frühling in
+sich verspürten, und die gackernden Hennen schienen zu Bischofswiesen
+noch beweisen zu wollen, daß die Freuden des Lebens nie ganz erlöschen.
+Hörte man fröhliche Menschenstimmen, so kam's von den Soldaten Gottes,
+die in der Sonne auf Bänken saßen und mit dem Knöchelbecher einander
+das Plündergut und die Bekehrungsgroschen abnahmen. Im Gärtl des
+Wirtshauses war eine halbe Kompagnie beisammen. Als die Soldaten das
+Leiterwägelchen kommen sahen, reckten sie die Köpfe, und ein Lustiger
+rief: »Ihr tapferen Eisenbeißer! Zum Sturm! Da rutschen zwei saubere
+Weibsleut her!« Gleich kam das ganze buntgelitzte Rudel herangesaust.
+Die Sus bekam ein zorniges Gesicht, Luisa wurde bleich, und Mutter
+Agnes schrie der blonden Magd über die Schulter zu: »Tu doch das Rößl
+treiben!« Das Gäulchen war schon umstellt und festgehalten.
+
+Da zuckte Pfarrer Ludwig vom Sitzbrett auf. In seiner schwarzen
+hageren Länge sah er wunderlich aus, verblüffend durch sein grimmiges
+Warzengesicht mit dem wehenden Weißhaar. Die Soldaten stutzten
+und wurden unschlüssig. Weil der Pfarrer das merkte, konnte er
+einen heiteren Ton finden: »Die sturmfreudigen Herren haben sich
+umsonst bemüht. Mutter Mälzmeisterin, zeig den gütigen Kindlen
+Seiner apostolischen Majestät den Passierschein der Pflegerkanzlei!
+Die vier Leut da sind vom gnädigsten Herrn Fürsten meinem Schutz
+vertraut. Ich bin Kapitelherr des Stiftes.« Diese beiden letzten Sätze
+waren eine anderthalbfache Lüge. Auf einem Spaziergang war Pfarrer
+Ludwig dem Wägelchen begegnet; in seiner Sorge um den Freund war er
+aufgesprungen und mitgefahren, ohne zu wissen, wohin. Und seit dem
+Versöhnungsschießen stand Pfarrer Ludwig auf der schwarzen Tafel, was
+bedeutete: daß man ihm an Pfingsten zu Ehren des heiligen Geistes die
+Kapitelfähigkeit herunterkratzen würde. Er schien der Meinung zu sein,
+daß er die kurze Zeit seiner stiftsherrlichen Unverletzlichkeit noch
+ausnützen müßte, stieg über das Vorderbrett, nahm der Sus die Zügel
+aus der Hand, klatschte dem Gaul eins über den runden Hinterbacken und
+lachte unter dem Geholper des flinkwerdenden Wagens: »Wenn der Mensch
+nur allweil bei der Wahrheit bleibt! Da findet er überall offenen Weg.«
+Hinter dem Rädergerassel verklangen die Späße der Musketiere.
+
+Meister Niklaus drehte mit zornfunkelnden Augen das blasse Gesicht
+und ließ die Feder seines Stockdegens, den er gelockert hatte, wieder
+einschnappen. »Alles um Gottes wegen!«
+
+»Nit, Vater!« Luisa legte die zitternde Hand auf seinen Arm. »Tu nit
+lästern! Das wär kein Segen für den heutigen Weg. Gott ist fern von
+den bösen Dingen, die jetzt geschehen auf der Welt. Warum er sie nit
+hindert, das versteh ich nimmer.«
+
+»Ach, Kindl!« seufzte die Mälzmeisterin. »Beim Anblick der irdischen
+Narretei wird sich der Allgütige halt denken: ich muß die blinden
+Schermäus einmal wursteln lassen, bis sie einsehen, wie schafköpfig und
+strohdumm sie sind.«
+
+»Ganz so wird's wohl nit sein.« Im Gesicht des Pfarrers tänzelte
+die große Warze. Er gab der Sus die Zügel und kletterte zu seinem
+Brett zurück. »Ein solches Experiment deines Allgütigen wär für die
+Menschheit ein bißl zu kostspielig.«
+
+»Allmächtig ist er aber doch? Warum also laßt er so viel Zwidrigkeiten
+zu?«
+
+»Lang dauert's nimmer, bis ich hinaufkomm zu ihm. Da will ich ihn
+fragen. Dann schreib ich dir ein Wolkenbrieferl und schick's mit dem
+Weihnachtsengel.«
+
+Halb erheitert, schüttelte die Mälzmeisterin den graugewordenen Kopf.
+»Und allweil noch ein Späßl!«
+
+»Ist's nit hilfreicher als der Jammer, als der Zweifel und die
+Schimpferei?«
+
+Von diesem Wortwechsel hatte Meister Niklaus nicht viel gehört. Immer
+hatte er zurückschauen müssen zu dem verwüsteten Dorf. »Wie schön ist
+das Örtl gewesen! Und jetzt!«
+
+»Ja, Nicki! Kein Wunder, wenn einem die Wanderlust in die Sohlen fahrt.
+Gestern hat sich als Exulant einer einschreiben lassen, von dem ich es
+nie erwartet hätt. Der Christl Haynacher.«
+
+Erregt, eine irrende Verstörtheit in den Augen, sagte Niklaus: »Sogar
+*der* bekennt!«
+
+»Das nit! Der exuliert als Katholik. Augen kriegt er, aus denen was
+Schreckhaftes herausschaut. Und allweil ist das seine Klag: daß die
+undankbare Menschheit sein schwarzweißes Pärl schon völlig verschwitzt
+hat.« Der Pfarrer nickte. »Wahr ist's! Außer dem Christl und meinem
+hochverehrten Herrn Amtsbruder Jesunder denkt an das traurige
+Doppeltödl nur noch ein einziger! Bei Tag und bei Nacht!«
+
+Ernst fragte der Meister: »*Wer*, Ludwig?«
+
+»Das Justizkamel!« Der Pfarrer lächelte. »Er bohrt und bohrt und
+bringt es halt nit heraus. Und den Christl -- den einzigen, der ihm
+sagen hätt können, wie das Wunder geschehen ist -- den hat er gestern
+hinauswerfen lassen aus der Kanzlei. Da ist der Christl geraden Wegs
+zum Exulantentischl gelaufen.«
+
+Der Meister knirschte erbittert vor sich hin: »Es wühlt in jedem.« Was
+war an diesem kleinen Wort? Die Sus bekam erweiterte Augen, und Luisa
+erschrak, daß ihre Züge sich veränderten. »Vater?« Die angstvolle
+Frage blieb ohne Antwort. Zwei Grenzmusketiere, die auf der Straße
+marschierten, hatten das Wägelchen kommen sehen und verstellten ihm den
+Weg. Der eine, ein altgedienter Soldat, faßte den Gaul am Zaum. »Wohin,
+ihr Leut?«
+
+»Zum Hallturm hinaus.«
+
+»Da lasset uns aufsitzen, wir haben einen pressanten Dienstweg. Sonst
+müßt ich das Wägl in Beschlag nehmen.«
+
+»Es geht schon!« sagte die Mälzmeisterin flink. »Komm, Sus, gib das
+Bockbrettl her! Du hast noch Platz zwischen dem Meister und mir.«
+Während die Musketiere aufkletterten, flüsterte der jüngere dem älteren
+zu: »Tu sie ausfragen!« Dieser Musketier schien die Aufmerksamkeit des
+Pfarrers zu erwecken. Er gab seinem Freunde einen Stupps und zwinkerte
+gegen den Soldaten hin. Der war auch dem Meister schon aufgefallen,
+wegen des schwarzen Bartgestrüpps, das ein bißchen an den Fasching
+erinnerte. Seine Bewegungen waren nicht sehr militärisch. Der ältere
+Musketier fragte so unermüdlich, daß schließlich nur Mutter Agnes noch
+Antwort gab. Der Junge mit dem sonderbaren Bart sprach keine Silbe
+mehr. Als das Wägelchen in der Nähe des Hallturmes vor der Herberg
+hielt, glitt er flink vom Wagen herunter, salutierte faschingsmäßig und
+ging rasch davon. »Ein wüster Kerl, ein grauslicher!« murrte die Sus,
+während sie dem Rößl das Zaumzeug über die Ohren zog.
+
+Der Pfarrer nahm den Meister beiseite. »Ich laß mir einen Finger
+abschneiden, wenn das nit ein Polizeispion gewesen ist. Was er beim
+Hallturm sucht, das kann ich mir denken.« Seine Stimme wurde noch
+leiser. »Heut in der Nacht ist Neumond.« Er sah zum weißen Schneegrat
+des Toten Mannes hinauf. »Verstehst du, Nick?«
+
+Der Meister atmete in schwüler Unruh. Und drüben beim Wägelchen nahm
+Mutter Agnes Luisas Gesicht, das in Glut und Blässe wechselte, zwischen
+zärtliche Hände. »Nit aufregen, Kind! Es wird schon alles gut gehen.
+Fest beispringen mußt du mir halt!« Luisa nickte, und ihre suchenden
+Augen füllten sich mit Tränen. »Nit, Kindl! Du gehst einem Lachen
+entgegen, keinem Leid. Wär ich ein Bub, so tät ich sieben glückselige
+Sprüng machen um dich.« Frau Agnes schmiegte die Wange an Luisas Haar.
+»Alles in dir ist Sehnsucht worden. Sonst hab ich allweil gehofft auf
+meinen Herrgott, heut hoff ich auf dich. Mein Bub hat doch Augen. Nit?«
+
+Der Pfarrer kam. »Also, wir machen es, wie's beredet ist?«
+
+Mutter Agnes bettelte: »Wär's nit doch am besten, ich tät gleich
+hinüberlaufen zu ihm?«
+
+»Bei den Schneckischen hättst du ein hartes Reden. Komm, die
+Herbergmutter wird schon wen haben, der ihn holen kann. Derweil
+bestellen wir für unser Sechse eine feste Mahlzeit.«
+
+Frau Agnes und Luisa sagten das gleiche Wort: »Ich kann nit essen.«
+
+»Das muß man können.« Der Pfarrer legte den beiden die Arme um die
+Schultern. »Ach, ihr Weiberleutlen! Ob Freud oder Weh, allweil hängt
+ihr zuerst den Magen an den Bindfaden.«
+
+Niklaus stand noch immer auf der Straße, spähte zum Toten Mann hinauf
+und wieder hinüber gegen die Büsche, hinter denen der Musketier mit dem
+sonderbaren Bart verschwunden war. Nun ging der Meister zur Herberg
+hinüber. Da kam die Sus gelaufen, mit großgeöffneten Sorgenaugen:
+»Meister? Was ist das für ein Wörtl gewesen? Daß es wühlt in jedem?«
+
+Den Kopf beugend, fragte er in Trauer: »Verstehst du das nit?« Eine
+Weile stand sie unbeweglich, dann nickte sie stumm. Ganz leis wurde
+seine Stimme. »Wenn's so kommen müßt? Was tätst du, Sus?«
+
+Mit einem Lächeln, aus dem alle treue Tiefe ihres aufgeopferten Lebens
+herausglänzte, sagte sie: »Bleibt der Meister, so bleib ich. Geht der
+Meister, so geh ich.«
+
+An den beiden surrte ein junger Bub vorbei. Der sprang hinüber zum
+Schneckenhäusl. Nach einer Weile brachte er die Botschaft: »Der Jäger
+Raurisser ist nit daheim, ist droben am Berg. Am Nachmittag, hat die
+Schneckin gesagt, gegen die vierte Stund muß er heimkommen.« Das
+wurde nun eine qualvolle Zeit des Wartens. Alle paar Minuten guckte
+Frau Agnes nach der Sonnenuhr, die über der Herbergstür an der Mauer
+war. »Heut muß die Sonn langsamer laufen, wie sonst.« Noch ehe der
+Schattenstrich hinrückte gegen die Vier, verlor die Mälzmeisterin ihre
+letzte Geduld. Sie umklammerte die heiße Hand des Mädchens. »Komm!
+Jetzt springen wir ihm entgegen, den Berg hinauf, und schreien uns
+die Seelen aus dem Hals. Darf der Kuckuck schreien im Frühling, warum
+sollen die Menschen nit schreien dürfen?« Sie riß das wortlose Mädchen
+mit sich fort. Zum Haus des Hiesel Schneck hinüber war es nicht weit.
+In dem engen Wiesentälchen konnte man den Weg nicht verfehlen. Auch
+war der Pfad gut ausgetreten von den Schneckischen Nagelflößen. Drei
+schwarze Ziegen trotteten mit kleinen Bimmelschellen und klunkernden
+Eutern über den Weg, man hörte die müde Stimme des Schneckenweibls
+locken, und durch die Stauden schimmerte in der Sonne die alte
+Balkenmauer.
+
+Ein erstickter Laut. Mutter Agnes fing an allen Gliedern zu zittern
+an. »Mein Bub! Da kommt er!« Nun ein leises Betteln: »Kindl? Gelt?
+Das erste Wörtl tust du der Mutter lassen!« Nur nicken konnte Luisa
+und sprang in den knospenden Buchenwald hinein. Mutter Agnes, immer
+fröhlicher atmend, hing mit leuchtendem Blick an der festen Gestalt
+des Sohnes, den das Gewirr der Stauden noch umschleierte. Er war ohne
+Waffe, trug den Bergsack auf dem Rücken, den langen Griesstecken in
+der Faust. Gleich sah die Mutter: der ist gesund, gesünder als je!
+Huschend glitt vor ihren Gedanken ein Bild vorüber: der Marktplatz
+zu Berchtesgaden, der Brunnen mit den Musketieren, das erregte
+Menschengewühl und der Blutende am Holz der Unehr.
+
+Leupolt, langsamer schreitend, blickte nicht auf den Pfad, sah und
+lauschte immer gegen den Hallturm hinüber. Und plötzlich sprang er auf
+die Stauden zu, wandte sich gegen die bayrische Grenze und verschwand
+hinter brechendem Gezweig.
+
+»Leupi!« schrie die Mutter mit erdrosseltem Laut.
+
+Ein Rauschen im Gebüsch. Nun tauchte er aus den Stauden heraus, Schreck
+und Hoffnung in den Augen. Ein heißer, glückseliger Schrei: »Herr
+Jesus! Mutter!« Hätte sie es noch nie gewußt, wie er hing an ihr, mit
+jeder Faser seines Lebens, mit jedem Blutstropfen seines Herzens,
+so hätte ihr's dieser Schrei gesagt, dieses glückliche Aufglänzen
+seiner Augen. Lachend wie ein Kind, stieß er den Griesstecken in den
+Wiesgrund, warf das Hütl dazu und sprang ihr entgegen: »Mutter! Mutter!
+Mutter!« Verstummend riß er sie an sich, und sie hing an seinen Hals
+geklammert, in Freude stöhnend unter dem Druck seiner stählernen Arme.
+
+Nicht weit von den beiden stand eine Zitternde im Schatten des Waldes
+und preßte das Gesicht in die Hände. Noch in keiner träumenden
+Sonnenstunde, noch in keinem Blutschauer ihres jungen Leibes, in keiner
+von den schlaflosen, mit wirrem Gebet durchstammelten Nächten hatte sie
+so brennend den Durst nach dem Augenblick empfunden, in dem seine Arme
+sie umklammern würden, wie er jetzt die Mutter umschlungen hielt.
+
+Er hob das Gesicht. Weil die Haube seiner Mutter zurückgefallen war
+in den Nacken, sah er das graugewordene Haar. Schweigend küßte er den
+entfärbten Scheitel, preßte die Mutter noch fester an sich, erschrak --
+und fragte: »Hab ich dir weh getan?«
+
+Mit feuchten Augen lachte sie an ihm hinauf. »Das ist doch einer
+Mutter liebste Freud, wenn sie merkt, wie stark ihre Buben sind. Jetzt
+ist mir's mit blauen Flecken auf den Leib geschrieben, wie gesund du
+wieder bist.« Sie sah die weiße Narbe an seinem Hals und strich mit den
+Fingerspitzen drüber. »Du, das ist schön geheilt.«
+
+Er nickte. »Was du mir geschickt hast von ihr, ist wie ein Wunder
+gewesen. Sag ihr ein Vergeltsgott von mir! Sag ihr: mir ist gewesen wie
+einem Baum, wenn ihm der Frühling die Eisrind forthaucht! Mutter, wie
+lebt sie? Wann hast du sie das letztmal gesehen?«
+
+Ein Erglühen ging ihr über das Gesicht. »Nit lang ist's her.«
+
+»Das mußt du mir alles erzählen -- einmal -- nit jetzt.« Er warf
+einen forschenden Blick nach dem Stand der Sonne. »Heut haben wir nit
+viel Zeit. Ich muß einen Weg machen, den ich nit versäumen darf. Aber
+allweil reicht's noch ein paar Vaterunser lang. Muß ich halt nachher
+doppelt springen.« Er sah nicht, wie sie erblaßte. »Da drüben, komm,
+wo der Baum liegt, können wir uns niedersetzen.« Die Wange an ihr
+Haar schmiegend, führte er sie über den Weg hinüber. Als sie auf dem
+Baumblock saßen, nahm er ihre Hände. »Wie geht's dem Vater und den
+Brüdern?«
+
+Alle Freude war zerdrückt in ihr. »Wie's einem halt gehen kann in
+heutiger Zeit. Keiner hat mehr ein richtiges Lachen.«
+
+Da sagte er froh und fest: »Die Zeit wird besser. Tu dich gedulden.«
+Eine Sorge schien ihn zu befallen. »Mutter? Daß du bei mir bist, so?
+Wirst du das nit ungut zahlen müssen?«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab Verlaub.«
+
+Zögernd wiederholte er dieses Wort. »Verlaub?« Sein Blick wurde
+schärfer. »Von wem?«
+
+»Vom gnädigen Herrn.« Sie sah, wie sein Körper sich streckte. Angstvoll
+umklammerte sie seine Hand und brachte kaum einen klaren Laut heraus.
+»Gestern -- da hat er mich rufen lassen -- und hat mich in aller Güt
+gefragt, ob mich nit bangen tät nach dir --«
+
+»Güt?« Er machte mit der Hand eine Bewegung. »Nein, Mutter! Güt ist
+ein ander Ding. Rechtschaffene Güt vergönnt jeder Menschenseel, was
+ihr heilig ist, will nit ausbrennen, was tief im Leben sitzt. Du
+sollst mir die Botschaft des Fürsten nit ausrichten. Da bist du mir
+zu gut dafür. Verstanden hab ich schon.« Eine Sekunde schwieg er. »Am
+Osterdienstag hat mir der Wildmeister einen Deuter geschickt. Heut
+schicken sie mir die Mutter. Weil sie meinen, was meinem Herzen das
+Wärmste ist, das tät mich umschmeißen! -- Mutter? Hast du dir nit
+gesagt: das ist mein Leupi?«
+
+»Allweil und allweil hab ich mir's fürgesagt. Und bin halt doch
+gesprungen in Freud und Zutrauen. Tust du mir das verdenken, Bub?«
+
+Er zog sie an sich, streichelte mit schwerer Hand ihr erloschenes Haar
+und sagte ruhig: »Ich soll mich bußfertig erweisen? Gelt? Soll den
+Glauben niederdrucken, soll lügen wider Gott und gegen mich selber? Und
+alles, was sie Untreu heißen, tät mir verziehen sein? Weil sie meinen:
+die Dritthalbtausend, die noch standhalten, die sich nit haben umwerfen
+lassen von Kapuziner und Musketier, von Geldbuß und Hausbrand, von Not
+und Elend, von Kinderaugen und Landslieb -- die soll mein Beispiel
+wacklig machen und umreißen? Gelt?«
+
+Sie zitterte. »Ach, Bub --«
+
+»Ich will nit reden von der Wahrheit in mir, von Ehr und Treu. Keiner,
+Mutter, ist um seiner selbst willen auf der Welt. Jeder ist um der
+anderen wegen da. Und ein Wegweiser darf nit Brennholz werden. Ein
+Sturm kann ihn werfen, und faul kann er werden im Balken. Da müßt ihn
+aber erst das Alter dürr machen. Ich bin jung, mich wirft der Sturm
+nit, und was Faulkrankes ist mir nit in der Seel. Die Brüder und
+Schwestern, die in Not und Verzweiflung nach einem Helfer dürsten
+--« Verstummend, von einem Schreck befallen, hob er das Gesicht gegen
+die Sonne und stammelte: »Jesus! Mutter, du gute! Jetzt muß ich fort.
+Ich muß!« Mit hetzenden Sprüngen jagte er über den Weg hinüber, riß
+den Griesstecken aus der Erde, raffte das Hütl vom Boden auf, kam
+zurückgesprungen und schlang den Arm um den Hals der Mutter. »Sag's dem
+gnädigen Herrn! Ein anderes Wörtl hab ich nit. Daß ich dich sehen hab
+dürfen, das soll dir unser Herrgott in Güt vergelten.«
+
+Eine letzte Hoffnung in den Augen, flehte sie zu ihm hinauf: »Der
+*unsere*?«
+
+Um seinen Mund ging ein schmerzendes Lächeln. »Muß ich halt sagen: der
+deine und der meinige. Tu mir den meinen nit schelten, und ich will
+den deinigen in Ehren halten. Wir zwei, Mutter, haben uns noch allweil
+verstanden. Täten es uns die anderen nachmachen, so wär der Weltboden
+ein Frühlingsacker. Tu mir den Vater grüßen, gelt! Jetzt muß ich --«
+
+Sie hielt seinen Arm umklammert, und ihre Stimme schrillte: »Luisli!
+Luisli! Allgütiger, so hilf mir doch!«
+
+Leupolt, sich verfärbend, stand einen Augenblick wie zu Stein
+verwandelt. Das traf ihn, als wär's ein Balkenstoß gegen seine Kehle,
+und wurde binnen drei Herzschlägen für ihn eine trinkende Freude, ein
+Rausch seiner Liebe. Die sein Gedanke und seine Sehnsucht war bei Traum
+und Wachen, die Seele seiner Seele, das Blut seines Blutes, der süßeste
+Inhalt seines Lebens -- da stand sie vor ihm, hold und liebenswert,
+eine zur Blume entbronnene Knospe, ein weibgewordenes Gebet, die Hände
+nach ihm gestreckt, die nassen Augen glänzend und bekennend. Alle Welt
+versank ihm, er sah die Mutter nimmer, sah nicht den Meister und den
+Hochwürdigen, die inmitten des ergrünenden Tälchens standen. »Luisli!«
+Ein Sprung, der wie ein Aufjauchzen seines jungen Körpers war.
+
+Erschrocken stieß sie die Arme vor sich hin, wie um ihn fernzuhalten.
+Oder wollte sie seine Hände fassen, seine Brust berühren, seinen Hals
+umwinden? Und versagte ihr nur die Kraft? Ihre Arme fielen. Halb einer
+Ohnmacht nahe, stand sie vor ihm. Alles Blut war aus ihren Wangen
+entflohen. Nur ihre Augen lebten und hatten Glanz, waren voll Scham und
+Sehnsucht, voll Zweifel und Hoffnung. »Leupi?« Das war ein Laut, als
+spräche nicht ihr Mund, nur ihre Seele. »Magst du dich nit besinnen?
+Tust du es nit mir zulieb? Um deiner Seel wegen hat mir der liebe Gott
+befohlen, daß ich die Wahrheit reden muß. Derzeit du am Holz gehangen,
+ist alles Kühle und Fromme in mir ein anderes worden. Tu ich beten, so
+kann ich nimmer an die Heiligen denken, muß allweil denken an dich.
+Jede Nacht ist mir ein einziges Träumen von dir. Jeder neue Morgen hat
+mir den Glauben in die Seel geschrien: heut kommt der Leupi. Ich hab
+geharret den ganzen Tag. Am Abend ums Betläuten hab ich in Trauer sagen
+müssen: heut wieder nit! Und hab in der Nacht aus Sünd und Seligkeit
+tausendmal die Händ gehoben -- nach meinem Herrgott oder nach dir, ich
+weiß nit recht -- so lieb bist du mir worden, ich kann's nit sagen --«
+Verstummend preßte sie das erglühende Gesicht in die Hände, und ihr
+feines, schmuckes Körperchen krümmte sich tief zusammen.
+
+Frau Agnes, zwischen Hoffnung und Sorge, nickte immer wieder ihrem
+Buben zu und machte mit den Händen nachhelfende Bewegungen. Und neben
+dem Meister Niklaus, der in Unruh die zwei jungen Menschen betrachtete,
+als würde hier nicht nur das Lebensglück seines Kindes, auch noch etwas
+anderes entschieden -- neben diesem erregten Manne stand der lange
+Pfarrer, hielt den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schlenkerte
+seinen Hakenstock, guckte mißmutig drein und murrte: »Da wird's halt
+wieder aufkommen, daß Manndl und Weibl schwerer wiegen, als Himmel und
+Höll!«
+
+Leupolt schwieg noch immer, unbeweglich, den Bergstecken vor sich
+hingestemmt, einen frohen, heiligen Glanz in den Augen, ein Lächeln
+seiner tiefen Freude um die stummen Lippen. Nun beugte er sich langsam
+gegen das Mädchen hin und sagte leis: »So heb doch das Köpfl, Luisli!
+Schau mich an! Ein rechtes Vergeltsgott muß man einem in die Augen
+sagen. Du hast mich zum reichsten Mannsbild auf der Welt gemacht.
+Jetzt ist mir alles ein Maigarten und Sonnenweg. Vergeltsgott, du
+Liebe!« Er streckte die Hand und ließ sie zärtlich hingleiten über
+ihr schimmerndes Haar. Als hätte diese Berührung seine feste Ruhe
+verwandelt in einen Sturm seines Durstes nach ihr, so klammerte er
+plötzlich den Arm um ihren Nacken und preßte den Mund auf ihren
+Scheitel. »Daß ich dein bin und keiner anderen nimmer? Gelt, Luisli,
+das weißt du?«
+
+In Freude stammelte Frau Agnes: »Gott sei Lob und Dank!« Und Luisa,
+unter glückseligem Auflachen, verschönt, erglühend, nahm sein Gesicht
+zwischen die zitternden Hände: »Gelt, jetzt gehst du mit uns?«
+
+Er schüttelte den Kopf. »Heut nit. Das kann nit sein, Herzliebe!« Ein
+rascher Blick nach der Sonne. »Heut hab ich einen Weg. Da darf mir auch
+das Glück und alle Herzfreud keinen Riegel nit drüberschieben.«
+
+Meister Niklaus bekam ein brennendes Gesicht, und die mißmutige Laune,
+die in dem Warzengesicht des Pfarrers gewittert hatte, schien sich
+merklich zu bessern.
+
+Erschrocken bettelte Luisa: »Schau, je flinker du bereuen tust, so
+gottsfreudiger machst du deinen Weg.«
+
+»Bereuen?« Er richtete sich auf. Sein Lächeln blieb. »Ich wüßt nit, was
+ich bereuen müßt. Mein Weg ist ein anderer, als du meinst. Das ist ein
+Festes. Ich geh mit der ersten Exulantenschar. Aber kommen tu ich noch.
+Zu dir. Und frag dich, ob du mitgehst.«
+
+Sie wehrte mit den Händen.
+
+»Nit so! Das mußt du dir in Ruh überlegen. Kannst du es tun, so sollst
+du auf jedem Weg meine Händ unter deinen Füßlen spüren. Mußt du Nein
+sagen, so bleib ich allweil -- ich weiß nit wo -- der deinige bis
+zum letzten Schnaufer.« Ein tiefer Atemzug. »Jetzt muß ich fort. Die
+Sonn will über den Berg hinüber.« Seine Hand umschloß die ihre. »Du
+Liebe! Alle Gütigen im Himmel sollen dich hüten! -- Und dich, Mutter!«
+Ein paar flinke Sprünge, und er war schon drüben bei den Stauden. Da
+verstellte ihm einer den Weg. Betroffen wandte Leupolt das Gesicht und
+sah in die leuchtenden Augen des Meister Niklaus.
+
+Ein leises, fröhliches Wort. »Bub, du hast es mir leicht gemacht. Ich
+will bekennen.«
+
+In heißer Freude klammerte Leupolt die Hand um die Schulter des
+Meisters. Ein Zögern, ein kurzer Kampf, nun ein rasches, lachendes
+Flüstern: »Tu dich aufrichten! Ein Helfer kommt.« Dann sprang er in die
+Stauden und war verschwunden. Wie ein Träumender sah Niklaus zu seinem
+Kind hinüber, das schluchzend am Hals der Mutter Agnes hing.
+
+Pfarrer Ludwig kam auf den Meister zugegangen, viel größer, als er vor
+einer Minute ausgesehen hatte. »Nick? Was sagst du?« Er deutete mit
+dem Hakenstock gegen die Stauden hin, die hinter dem Verschwundenen
+noch schwankten. »Wie der Bub davongesprungen ist, da hab ich mir was
+denken müssen.« Seine Stimme bekam einen jungen Klang. »Römisch oder
+evangelisch? Das ist die Frag nit. Zwei feste Geschwister, die Zeit
+und der Menschenverstand, die werden Brücken bauen. Die Frag für uns
+ist: deutsch oder undeutsch! Laß den deutschen Boden verkuhwedelt sein,
+pariserisiert und versaut, wie er mag --« Wieder deutete er gegen die
+Stauden hin: »*Die* Rass' schlagt allweil wieder durch. Wie der Bub
+da, sind Tausend und Hunderttausend im Reich. Sie wissen es nit. Und
+hegen es doch in sich wie ein heiliges Feuer. *Wann* das Aufwachen
+kommt? *Wann* dem blauen Untersberg da draußen die schläfrigen Riegel
+springen? Ob morgen oder in hundert Jahr, ich weiß nit, wann -- -- ich
+weiß nur: *es kommt*!« Er legte dem Freunde lächelnd den Arm um die
+Schultern und deutete gegen die Buchen, in deren Wipfelgezweig eine
+Ringdrossel flötete. »Lus, Nicki! Ein deutsches Lied! Ist's nit noch
+schöner, als wie der Amsterdamer Vogel singt?«
+
+In das leise Lachen des Pfarrers schnitt ein klagender Mädchenlaut
+hinein. Luisa taumelte auf den Vater zu und weinte: »Tu mich wieder
+zu den frommen Schwestern ins Kloster! Alles in mir ist Sünd, die mich
+verbrennt. Beten kann ich nimmer, wenn ich nit bet' für ihn. Und jedes
+Gebet für ihn ist Frevel wider Gott. So kann ich nimmer leben. Alles
+ist Trauer, alles ist Elend! Wo ist die Ruh?« Aufschreiend lief sie mit
+flatterndem Kleid durch das leuchtende Tälchen. Und die Mälzmeisterin
+zappelte erschrocken der verzweifelten Mädchenseele nach, klagend,
+bettelnd, mit beruhigenden Worten, schließlich ein bißchen scheltend.
+Auch Meister Niklaus wollte springen. Der Pfarrer hielt ihn am Ärmel
+fest. »Nur nit verlieren, was die Neuenstein als Kontenanz bezeichnet.
+Laß das kleine Weibl sich ausheulen. Ein Wasser oder ein tiefer Graben
+ist nit in der Näh. Und daß sie wie ein Eichkätzl auf einen Baum
+hinaufkraxelt und herunterspringt, ist mehr als zweifelhaft!«
+
+Während die beiden Männer davonschritten durch die Nachmittagssonne,
+hörte man die Sorgenstimme der Schneckin und das Schellengebimmel der
+Ziegen, die aus ihrem reinlichen Ställchen mit erleichterten Eutern
+wieder hinaustrabten zu ihrer duftenden Frühlingsweide.
+
+
+
+
+Kapitel XXII
+
+
+Über dem tiefen Reichenhaller Talbecken glänzte der milde Nachmittag.
+Alle Wiesen grün, mit den blassen Kelchen der Herbstzeitlosen, mit
+Himmelsschlüsseln, Margariten und Steinnelken. In der Talsohle sproßten
+bereits die Hecken, und der Fichtenwald war schneefrei bis hinauf zur
+halben Höhe. Alle Bergspitzen stachen weiß wie funkelnde Silberstufen
+in das Blau des Himmels. Taubenschwärme und Viehherden waren auf den
+Feldern, und viele Drosseln huschten bei der Käferjagd an den Hecken
+hin.
+
+Über die harte Straße, die von Reichenhall emporführte zu den Ruinen
+der Plaienburg und gegen den Hallturm, klapperten die Hufe von sechs
+Pferden. Voran ein Reitknecht in bürgerlicher Reisetracht und ein
+hochgestiefelter, steifzopfiger Soldat. Jeder führte am Zügel ein mit
+Mantelsäcken und Ledertaschen beladenes Packpferd. Dann kamen zwei
+Reiter, die sich in französischer Sprache unterhielten. Zur Linken
+ritt ein bejahrter Herr in vornehmer Reisekleidung aus braunem Tuch,
+mit offenem Mantelkragen. Aus der weißen Perücke sah ein freundliches
+Gesicht heraus. Das war der preußische Geheimrat von Danckelmann, der
+Präsident des zu Regensburg amtierenden _Corpus evangelicorum_, dem
+die Wahrung der durch den Westfälischen Frieden gewährleisteten Rechte
+der Protestanten im deutschen Süden übertragen war. Während des großen
+Jagens, das die Scharen der Salzburger in die Fremde trieb, hatte
+Danckelmann viele Tausendzüge der Exulanten ins Brandenburgische und
+nach dem schwachbevölkerten Ostpreußen geleitet. Jetzt ritt er zu Herrn
+Anton Cajetan, als Gesandter des Königs von Preußen, dessen Hilfe die
+Berchtesgadnischen Bekenner in ihrer Verzweiflung angerufen hatten. Der
+mit der Bärentatze geschriebene Auftrag des Königs an Danckelmann hatte
+gelautet: »Betrachte dir die Petenten genau. Ist es zweifelhaftes Volk,
+so laß die Hände davon. Faulpelze, Gotteskomödianten und Mauldrescher
+können wir auf unserem mageren Boden nich gebrauchen, haben schon genug
+davon, so des Wegräumens bedarf. Seind es tüchtige Leute, insonderheit
+Protestanten bis auf die Knochen, so nimm ihrer, so viele du erwischen
+kannst. Aller Beistand soll ihnen bewilliget sein. Bei gutem
+Menschenkauf muß der Sparmeister ein Verschwender werden. Oder er wäre
+als Fürst ein gottverlorener Esel. Wär auch kein Preuße nich. Preußen
+muß sich helfen, wie es kann. Mach er seine Sache gut!«
+
+Am Abend vor Danckelmanns Abreise von Regensburg hatte sich
+unangemeldet ein Begleiter bei ihm eingestellt, der auf abgehetztem
+Pferde über Ansbach gekommen war. In der Art, wie der Geheimrat mit
+diesem jungen Reisekameraden sprach, den er zur Rechten reiten ließ,
+war bei aller Höflichkeit eine stete Fürsorge, bald für den jungen
+Reiter selbst, bald für seinen glanzhaarigen Fuchs, der mit der
+schlanken, zart erscheinenden Hand, von der er gelenkt wurde, nicht
+einverstanden schien und schäumend an der Stange kaute.
+
+Im Gespräch der beiden war keine Rede vom Zweck ihrer Reise. In hurtig
+gleitendem Französisch, das der Jüngere besser beherrschte als der
+Geheimrat, sprachen sie von der Herrlichkeit der Natur, von der
+zaubervollen Keuschheit der Frühlingslandschaft und von der Schönheit
+der Berge, deren Anblick den staunenden Jüngling heiß erregte.
+Immer sprach er. Sprach mit einer klangvollen, ungemein melodischen
+Stimme. Warf er manchmal zwischen das Französische einen kurzen
+deutschen Satz hinein, so war das ein sonderbares, unbehilfliches
+Gemisch aus Fremdwörtern, altmodischer Beamtensprache, pommerischem
+Platt und Berliner Vulgärdialekt. Und hurtig kehrte er wieder zum
+Französischen zurück, in dem er mit Geist und Klarheit auszusprechen
+vermochte, was Glut in ihm war. Für sein leidenschaftliches Entzücken
+fand er Worte, wie ein von Schönheit berauschter Poet sie findet in
+schwärmender Ekstase. Plötzlich ein kühles Ernstwerden des altklugen
+Knabengesichtes. »Danckelmann! Sehen Sie doch! Diese schwarze,
+fruchtbare Erde! Das ist ein Boden, auf dem nur gesunde, feste Kerle
+wachsen können. Wär' es anders, so wär's eine Pflichtwidrigkeit der
+Natur, eine Gewissenlosigkeit Gottes. Aber Gott muß doch höchste
+Verantwortung sein, Natur ist ewiggewordene Pflicht.« Da machte,
+an steil abfallender Wegstelle, das Pferd des jungen Reiters einen
+scheuenden Seitensprung. Erschrocken suchte der Geheimrat den Zügel
+des steigenden Gaules zu haschen. Das war überflüssig. Das Pferd hatte
+sich schon beruhigt und gehorchte. Der schlanke Reiter streifte seinen
+Begleiter mit einem halb mißmutigen, halb ironischen Blick. »Ich kann
+reiten, lieber Danckelmann! Auch wenn es manchmal so aussieht, als
+hätt' ich es nicht gelernt.«
+
+Der alte Herr schien seinen Schreck noch nicht überwunden zu haben und
+glich einem sorgenvollen Pädagogen, der sich verantwortlich fühlt für
+einen zu unberechenbaren Streichen geneigten Schützling. Und dieser
+Schützling, ein Einundzwanzigjähriger von feiner Zierlichkeit, war
+Soldat und trug die Offiziersuniform eines preußischen Regiments, mit
+dem Rangzeichen des Obristen. In seiner Erscheinung war etwas seltsam
+Gegensätzliches. Körperliche Schwäche schien vereinigt zu sein mit
+innerlicher Kraft. Er hatte als Soldat eine schlechte Haltung. Dennoch
+konnte man sich keine Tracht denken, die besser für ihn gepaßt hätte
+als dieser dunkelblaue Soldatenrock mit den roten Aufschlägen. Der saß
+nicht sonderlich straff und militärisch an der zarten Jünglingsgestalt,
+die manchmal so gebeugt und haltlos erschien, als möchte die gelbe
+Hose mit dem ganzen zierlichen Figürchen schlapp hineinsinken in die
+braunen Reitstiefel. Doch wenn ein neuer Ausblick zwischen den Kulissen
+der Landschaft den jungen Reiter entzückte, straffte das Feuer seines
+Innern auch den versunkenen Körper. Dann schien er ein anderer zu
+werden. Seine Bewegungen waren flink und zugleich bedachtsam; es war in
+ihnen eine Mischung von feurigem Vorwärtstrieb und einer zähen Kunst
+des Sichruhigverhaltens, eine Mischung aus Seele und Willen, aus der
+Kraft eines ehrgeizigen Jünglings und der Ruhe eines klugen Greises.
+
+Er trug nicht den soldatischen Zopf. Hinter dem betreßten Dreispitz war
+das braune Haar von einer schwarzen Bandmasche locker zusammengefaßt.
+Zwischen gelösten Haarwischen, mit denen der milde Bergwind spielte,
+schob sich hager ein ovales Gesicht hervor, nicht schön, doch scharf
+und edel geschnitten, Stirn und Nasenrücken eine gerade Linie, bei der
+man zugleich an einen Widderkopf und an griechischen Profilschnitt
+denken mußte -- ein Gesicht, das einer sanften Mutter gleichen wollte
+und ähnlicher einem strengen Vater war. Wie große strahlenflinke Sterne
+glänzten aus diesem Gesichte zwei feuchte, enthusiastische Augen
+heraus, in der Gier des unermüdlichen Spähens ein bißchen vorgequollen
+-- Augen, die etwas seelisch Verzücktes hatten und etwas von der
+Trauer eines gequälten Tieres. Es war Leidenschaft und dennoch Stille
+in diesem ruhelos gleitenden Blick, ein Gemenge aus Spottlust und
+jugendlichem Frohsinn, aus allem Zartgefühl und allen tiefgründigen
+Wildheiten einer rätselvollen Menschenseele. Abstoßend und anziehend
+war dieser Blick, mißtrauisch und gläubig, befremdend und erstaunlich,
+überredend und bezwingend. Und diese Augen waren jetzt durchleuchtet,
+dieses Gesicht durchglüht von der Freude an allem Frühlingsreiz der
+aufblühenden Bergnatur. Bei unersättlichem Schauen verhielt der junge
+Oberst plötzlich mit einem kaum sichtbaren Zügelruck das Pferd,
+daß es unbeweglich stand. In den Bügeln sich hebend, reckte er den
+schmächtigen Körper, tat einen wohligen Atemzug und sagte in der Art
+eines Berauschten: »Danckelmann! In dieser Stunde ist ein Gefühl in
+mir, das mich nicht mehr verlassen wird bis zu meiner Todesstunde.«
+
+Wie erlöst von seiner Sorge fragte der Geheimrat: »Das Gefühl der
+erneuten Freude am Leben?«
+
+»Nein. Das Gefühl der Freiheit. Nie in meinem Leben genoß ich eine
+freie Stunde. Jetzt trinke ich Freiheit. Sie ist das Beste im
+Menschen.« Ein heiteres Auflachen. Und jäh ein Umschlag ins Müde und
+Gallige. »Gute Dinge verlangen ihren Preis. Ich habe die Freiheit
+dieser Tage teuer bezahlt.« Er gab dem Pferd, das nach einer grünen
+Staude haschte, einen unwilligen Sporendruck, und weil es den saftigen
+Zweig nicht lassen wollte, schlug er ihm jähzornig die Reitpeitsche
+zwischen die Ohren. Mit jagenden Sprüngen nahm der erschrockene Gaul
+die steile Weghöhe; droben, wo die Straße sich wieder abwärts senkte,
+durfte das Pferd in ruhigen Schritt fallen. Als Danckelmann mit
+bekümmertem Antlitz nachgeträppelt kam, fragte der junge Oberst auf
+sonderbare Art über die Schulter: »Ganz offen, unter uns, was redet man
+über meine Braut?«
+
+Nach kurzem Schweigen der Verlegenheit sagte der Geheimrat: »Man
+erzählt, sie wäre eine überaus gottesfürchtige Dame.«
+
+Der junge Oberst schien erheitert zu sein. »Da hat man unter ihren
+unerquicklichen Eigenschaften die übelste herausgefischt.« Ein
+Lippenzucken, fast hochmütig und verächtlich. »Welch ein geistiges
+Armutszeugnis ist die Gottesfurcht! Gott ist groß und gerecht. Größe
+ist nie ohne Güte. Und was Gerechtigkeit ist, das brauchen nur die
+Schelme zu fürchten. Gott lieben und ihm vertrauen, jeder nach seiner
+Art, das ist besser, als Gott fürchten.« Gebeugt im Sattel, die großen
+runden Augen ins Leere gerichtet, sagte er langsam: »Wenn einer, wie
+ich, in bösen Nächten eine herzzerdrückende Angst vor dem Ewigen
+fühlt, so hat das seine Ursachen. Solch ein verzweifelt sündenloses
+Frauenzimmer hat keinen Anlaß, vor dem Himmel zu zittern.« Ein wehes
+Lächeln, das sich zum Spott erheben wollte und Trauer blieb. »Nun
+ist's entschieden. Wie das Mensch ist, das man wählte für mich, so muß
+ich es lieben. Ich will's erzwingen. Noch ist sie mir widerlich. Ihr
+verschlucktes Kichern ist etwas Entsetzliches. Ich liebe das Lachen und
+die Heiterkeit. Nur müssen sie aus Herz und Gehirn kommen, nicht aus
+den Gedärmen. Unter allen, die in Wahl kamen, hat man die ledernste für
+mich ausgesucht. Und das mein Freudenbissen für ein ganzes Leben!«
+
+Tiefe Schwermut umschleierte alles Schöne in seinen Augen. Was der
+Geheimrat mit vorsichtiger Mahnung zu ihm redete, schien er nicht zu
+hören. Plötzlich, wie ein Erwachender, streckte er sich, weil er den
+flötenden Schlag einer Ringdrossel vernommen hatte. Mit stillen Augen
+sah er umher, war ruhig und sagte ernst: »Es ist wohl so, weil es so
+sein muß. Damit ich lerne, unter dem meschanten Gesindel für mich
+allein zu bleiben. Würde der Olympier eine Olympierin finden, das gäbe
+Söhne, die diese miserable Welt übern Haufen schmeißen, um aus den
+Scherben eine neue zu machen, die besser ist.« Über dieses Wort befiel
+ihn selbst ein Verwundern, das sich vor dem seltsamen Blick seines
+Begleiters verwandelte in einen knabenhaften Schreck. Sein verjüngtes
+Gesicht war glühend vor Scham, seine flüsternde Stimme hatte fast den
+Klang einer ängstlichen Bitte: »Danckelmann! Sie werden vergessen,
+was ich da sagte in meiner Torheit.« Nach einer Weile, die Zügel des
+Gaules kräftiger fassend, sprach er hart vor sich hin: »Es ist meines
+Vaters Wille. Da gibt es keine Antwort als Gehorsam. Ich darf und
+will den Vater durch Stützigkeit nicht mehr irre machen, seit er mit
+Überraschung zu der Ansicht kam, daß etwas in mir steckt. Es gab eine
+rote Stunde, in der ich ihn für einen Tollhäusler hielt. Nun weiß ich,
+daß sein Verstand um so tiefer ist, je langsamer er sich offenbart.
+Ich muß mich strecken nach seiner Größe. Wenn später alles drunter und
+drüber ginge, würde er im sicheren Steinsarg über mich lachen. Das wäre
+noch übler, als sein grober Stock gewesen. Besser, ein um eigene Schuld
+Geprügelter zu sein, als fühlen, daß man verachtet wird.«
+
+Er deutete mit der Reitgerte nach den blühenden Erikastauden, die den
+südwärts blickenden Straßenrain überwucherten. »Wie schön! Was Frühling
+heißt, ist der einzige überzeugende Gottesbeweis.« Er lächelte. »Bei
+uns daheim in der Haide sind sie noch schöner.« Das Pferd verhaltend,
+sah er in die nördliche Ferne. »Heimat? Ich sehe Moor und Sand.
+Sehe den Rauch der schmacklosen Abendsuppen von Zorndorf, sehe den
+schlammigen Fluß, armselige Dörfer und schläfrige Menschen.« Ein
+Aufzucken des schmächtigen Körpers. »Sie sollen erwachen.« Er trieb das
+Pferd, hatte enggereihte Falten auf der jungen Stirn und lachte. Ein
+Blick in das von einem weißen Bach durchsprudelte Waldtal, über dessen
+Wipfel der Hügel mit den Ruinen der Plaienburg hervortauchte, entriß
+ihm einen Ausruf des Entzückens. Alle Freude des Schauens sprudelte
+jugendlich aus ihm heraus. Immer deutete seine Hand mit der Reitgerte.
+Immer sprach er, immer fröhlicher und erregter, in enthusiastischen
+Ausdrücken, in französischen Verzückungen, die sich anhörten wie Verse.
+Plötzlich ein müder Blick auf den Begleiter. Dazu in deutscher Sprache
+die halb verdrießliche, halb ironische Frage: »Wat, Geheimrat? Ick
+quazle wohl wieder etwas kopiösemang?«
+
+Danckelmann antwortete lächelnd: »Kein Wort, das ich nicht gerne gehört
+hätte.«
+
+Der junge Oberst, wieder französisch, sagte mit irrendem Blick: »Wenn
+man seine Fehler nur einsieht. Da ist Hoffnung vorhanden, daß ich noch
+der Einsilbigste aller Deutschen werde.« Verstummend trieb er das
+Pferd. Die Straße führte auf ebener Strecke in einen hochstämmigen
+Wald, der verwüstet war vom Bergwinter. Wirr hingen Hunderte von
+Bäumen durcheinander, die unter dem Schneedruck niedergebrochen waren.
+»Hier sieht es aus wie im verunheiligten Deutschen Reich.« Kühler
+Abendschatten fiel über die beiden Reiter herab. Die Pferde trabten.
+Danckelmann schaukelte sich gewandt im Sattel. Sein Begleiter bockelte
+mit losen Ellenbogen, zeichnete schlaffen Körpers jede Unebenheit des
+Bodens nach, schien das alles nicht zu fühlen und war in Gedanken
+versunken. Da kam eine Lawinengasse, die der stürzende Schnee von der
+Berghöhe hinuntergebrochen hatte bis in die Bachtiefe. Die Straße war
+überworfen von einem breiten Buckel festgestampfter Schneemassen,
+aus denen zersplitterte Äste und zerquetschte Wipfel hervorlugten.
+Danckelmann hielt: »Wie bringen wir da die Pferde hinüber?«
+
+Drüben stand der Soldat. Er hatte seine beiden Gäule dem Reitknecht des
+Geheimrats übergeben und wollte über die Schneewulsten herüberklettern,
+um das Pferd seines Vorgesetzten zu führen. Der rief ihm ärgerlich zu:
+»Bleib, wo de bist!« Die Reitgerte zischte. Ein Dutzend wilder, hin und
+her schwankender Sätze, und der glanzhaarige Fuchs mit seinem Reiter
+war drüben. Der junge Oberst lachte. Die Sache schien ihm Spaß gemacht
+zu haben. Nun sah er verwundert den Soldaten an. »Kerl? Wat machste da?
+'n Cavalerist des Königs von Preußen jehört mit seinen Arsch in den
+Sattel. Nich mit den Stiebeln in die Drecksuppe.« Erschrocken rannte
+der Soldat in seinen plumpen Klapperschäften davon, daß der steife Zopf
+hinter seinem Nacken pendelte. Erst jetzt erinnerte sich der Oberst
+seines Begleiters. »Ach --« Er wandte das Pferd. Da fiel ihm ein Bild
+von hinreißender Schönheit in die Augen. Zwischen den schwarzgrünen
+Baumwänden der Lawinengasse sah man einen Ausschnitt des Reichenhaller
+Tales. Die winzigen Dächer, die Herden auf der Weide, die Wiesen,
+die Brachfelder und Hecken, die Bäche und Wäldchen, alles funkelte
+vom Glanz der Abendsonne, nicht wie etwas Irdisches, sondern wie ein
+märchenhaftes Spielzeug, in Schimmer herausgeschnitten aus blankem
+Kupfer. Und hinter diesem frohen Geglitzer stand ernst und schön,
+in tiefes Blau getaucht, die steile Schattenwand des Hohen Staufen.
+Der Berg mit seiner weißen, von Glanz umzüngelten Höhe war anzusehen
+wie ein Riesenfürst auf seinem Thron, wie ein kaiserlicher Greis im
+wallenden Weißhaar, unbeweglich, mit schlummernden Augen, auf der
+hohen, reinen Stirn die strahlenzuckende Krone.
+
+»Danckelmann!« Das klang wie der atemlose Schrei eines von Freude
+verwirrten Kindes. »Kommen Sie! Das müssen Sie sehen! Gibt es denn
+solche Dinge auf der Welt? Geheimrat! So kommen Sie doch endlich! Das
+Herrliche beginnt zu erlöschen.«
+
+Eben kletterte Danckelmann mit seinem Falben vorsichtig über den
+Lawinenschnee herunter. Was er noch zu sehen bekam, war verdämmernde
+Schönheit.
+
+Der junge Oberst saß unbeweglich im Sattel, das scharfgeschnittene
+Gesicht zur Höhe gehoben. Als die letzte Strahlenflamme des weißen,
+sich blau umschleiernden Berghauptes zu schwinden begann und nur noch
+eine dünne Feuerlinie die steilen Schneegrate säumte, trank er einen
+tiefen Atemzug in seine schmale Brust und sagte langsam: »Ich habe
+gesehen, was noch keiner sah.«
+
+Danckelmann, ein bißchen verstimmt, betrachtete ihn verwundert, eine
+Frage nur in den Augen.
+
+»Ich sah das Gewesene und sah das Kommende.« Ein Lächeln von heiliger
+Innerlichkeit. Ruhig wandte er das Pferd und ritt in den stillen,
+dunkelnden Wald hinein. Blitze flammten in seinen herrlichen,
+stahlblauen, weitgeöffneten Augen. Jäh beugte er sich aus dem Sattel
+und legte seine Hand auf den Arm des Begleiters. »Nein! Ich habe nicht
+zu teuer bezahlt. Um einen Hauch Freiheit zu atmen, kann man kuschen
+wie ein Hund. So stark ist keiner, daß ihn Gemeinheiten, die er
+erleben muß, nicht schwach machen. Man muß hinunter, Danckelmann, tief
+hinunter, um die Wege zur Höhe zu finden.« Er zog die bartlosen Lippen
+von den Zähnen. »Im Mai oder Juni sperren sie mich in das Grillenhaus
+einer fürchterlichen Ehe. Ich genieße die ersten und letzten Tage
+meiner Freiheit. Was kommt, ist Pflicht. Sie wird hart sein.« Der Ernst
+dieses Wortes schlug über in einen klagenden Laut. »Wer hilft mir?«
+Dann sagte er deutsch: »Ick bin ein egariertes Schaf des Lebens, habe
+keen Menschenskind, das mich zu wat nütze is, habe nur mir selbst,
+den dubiosesten von allen Wegweisern.« Das Gesicht, das der Geheimrat
+zu diesen Worten machte, schien dem jungen Oberst die verlorene
+Heiterkeit zurückzugeben. Lustig tippte er mit der Reitgerte nach
+seinem Begleiter, als möchte er vom Mantelkragen des würdigen Herrn
+eine Fliege fortkitzeln, und fragte französisch: »Ist das nicht wie ein
+spaßhaftes Wunder? Daß ich da so lakaienfern und unbeschnüffelt reite
+wie in einem Märchenwald und noch immer auf meinen Schultern einen Kopf
+habe.«
+
+Erst erschrak der Geheimrat. Dann sagte er aufatmend: »Ein Glück, daß
+man diesen jungen Kopf nicht abhauen ließ, wie es der Kaiser erwartete.«
+
+Froher Spott umzuckte den feinen Mund des anderen. »Weil er's zu
+erwarten schien, begann ich zu begreifen, wie steif ich diesen Kopf
+aufsetzen muß.«
+
+Eine Lichtwoge strömte in das Düster des Waldes herein. Die Straße
+öffnete sich gegen einen Wiesenhang von smaragdenem Frühlingsgrün, noch
+überhaucht von einem letzten Sonnenschimmer, der durch tiefgeschnittene
+Bergschatten herfunkelte aus der westlichen Ferne. Der Reitknecht des
+Geheimrats kam den Herren entgegen getrabt und meldete: »Der Jäger
+ist da. Auch das Mädchen für die Weisung zur Herberg.« Die Reiter
+lenkten von der Straße weg in ein Seitentälchen, das umhuschelt war von
+knospenden Erlenstauden. Überall Finkenschlag, Meisengezwitscher und
+immer aufs neue der melodische Lockruf einer Ringdrossel. Das Tälchen
+schon tief umschattet, und über ihm das zitronenfarbene Leuchten
+des reinen Abendhimmels. Bei den zwei Packpferden, die zu grasen
+begannen, stand mit scheuem Blick die Tochter der Hasenknopfin; neben
+ihr, aufrecht und äußerlich ruhig, der Jäger Leupolt Raurisser im
+grauverwitterten Bergzeug, in der Hand den langen Griesstecken, hinter
+dem Rücken den Waldsack. Auf seiner Stirne brannte noch die Nachglut
+seiner Begegnung mit Luisa und der Mutter. Als er die zwei Herren
+kommen sah, erwachte ein dürstendes Forschen in seinem Blick. Welcher
+von den beiden war der Helfer für seiner Brüder verzweiflungsvolle
+Seelennot? Welcher hatte die starke Hand des ersehnten Retters? Das
+junge, windige Soldätl? Das schlapp herunterrutschte vom Gaul? Den Hut
+ziehend, hoffenden Glanz in den Augen, trat Leupolt auf den Geheimrat
+zu: »Gottslieben Gruß in meiner notvollen Heimat. Es ist ein heilig
+Ding, ist Euers und meins. Ich bin geboten zu Eurem Dienst. Viel gute
+Herzen harren auf Euch in Drangnus und Sorgen.«
+
+Noch im Sattel fragte Danckelmann: »Kann er sich ausweisen?«
+
+Leupolt, wie es ihm der Zettel des Hasenknopf befohlen hatte, entblößte
+die breite weiße Narbe an seinem braunen Hals. Da fühlte er, daß ein
+Arm sich um seine Schulter legte. Neben ihm stand das Soldätl, hatte
+einen glänzenden Blick und sagte ernst: »So invulnerabel is sein
+Glaube? Daß ihn keen Eisen lädieren kann?«
+
+Verwirrt vom Leuchten dieser stahlblauen Augen, antwortete Leupolt
+verlegen: »Herr, ich versteh nit.« Sich dem Arm des Offiziers
+entwindend, sah er zu Danckelmann auf: »Lang dürfen wir uns nit
+verhalten. Es geht über mürben Schnee, und der Weg ist weit. Wir müssen
+vor Nacht im Hüttl sein. Da können wir rasten. Wer geht außer Euch noch
+mit?«
+
+»Wir alle, sobald die Pferde versorgt sind.«
+
+»Vier Leut?« Der Jäger schüttelte den Kopf. »Mir ist geboten: du führst
+einen Herrn und seinen Diener. Es geht um heilige Sachen. Da muß man es
+machen, wie's recht ist.«
+
+Danckelmann wollte ärgerlich erwidern. Da wehrte der junge Offizier
+französisch: »Das ist ein gewissenhafter Mensch. Was er haben will,
+muß geschehen.« Mit Wohlgefallen betrachtete er den Jäger und sagte
+deutsch: »Er führt uns beede. Det is der Herr, ick bin der Diener.«
+Er ging auf den Soldaten zu. »Hänne! Meine Grammatik!« Der Mann riß
+hurtig ein kleines Buch aus der Satteltasche, reichte es seinem Herrn
+und salutierte so wunderlich eckig, daß Leupolt schmunzeln mußte. Der
+Offizier schob das Buch in die Rocktasche. »Weiter, Hänne! Versorg man
+die Gäule gut! Gieß er nich zu viel hinter de Binde und molestier er
+die Menscher nich. Man kann es missen. Uff morjen!«
+
+Als der Soldat und der Bediente hinter dem Mädel, das sie zur Herberg
+führen sollte, davonritten, rief Leupolt: »He! Wo ist denn das Zeug für
+die Herren?«
+
+»Unsere Mäntel haben wir!« sagte Danckelmann. »Was noch? Ist Zehrung
+nötig?«
+
+»Das nit. Mit Zehrung hat die Schneckin das Hüttl gut versorgt.«
+
+»Wer?« staunte der junge Offizier.
+
+»Die Schneckin.« Leupolt war auf den Bedienten zugegangen. »Wo sind die
+Hemmeder? Jeder von den Herren muß ein Hemmed haben.«
+
+Neugierig fragte das feine Soldätl: »Wat is det: ein Himmat?«
+
+Danckelmann verdolmetschte: »_Je crois qu'il veut dire une chemise._«
+
+»_Mais voilà_ --« der junge Oberst zog in heiterer Laune den
+Soldatenrock auseinander, »ick habe bereits ein Himmat.«
+
+Leupolt blieb ernst. »Durch den Schnee hinauf wird's schwitzen heißen.
+Und droben geht ein schneidiger Luft. Da müssen die Herrn in trückene
+Wäsch kommen.«
+
+»Danckelmann, det is 'n fürsorglicher Mensch.« Der junge Oberst rief
+dem Soldaten zu: »Flink, Hänne, raus mit 'n Himmat!« Und wieder zu
+Danckelmann, französisch: »Ich beginne Deutsch zu lernen.«
+
+Als Leupolt das zusammengewickelte Päckl mit den zwei Hemden erhielt,
+fragte er: »Und die Bergschuh?«
+
+Der Geheimrat wurde ungeduldig. »Er sieht doch, daß wir tüchtig
+gestiefelt sind.«
+
+»Ja, Herr, das sind grad die richtigen Rutschkarren. Die bleiben Euch
+stecken im Schnee, wie das Mäusl in einem Mehlsack.«
+
+»Wat anderes als meine königlich preußischen Kommißkanonen hab ick
+nich!« lachte der Oberst. »Die muß ick ooch heil wieder heimbringen.
+Sonst kreiden se mich beim Regiment den außerdienstlichen Schaden an.«
+
+Auch Danckelmann wurde heiter. »Soll ich vielleicht die Lackschuhe
+meiner Gesandtengala auspacken?«
+
+Leupolt verstand, daß da nichts zu wollen war, und sagte zu der Tochter
+der Hasenknopfin: »Weißt, fremde Leut, die sich bei uns nit auskennen!
+Sind die Rößlen versorgt, so spring zum Hiesel Schneck. Er soll meine
+neuen Schuh zum Holzerhüttl hinaufbringen. Die passen dem gnädigen
+Herrn. Und für das Soldätl, das Füßlen hat wie ein Weiberleut, muß
+die Schneckin ihre Sonntagstäpperlen hergeben. Und feste Söckeln. Und
+Schneegamaschen. Wenn der Schneck sich tummelt, kann er droben sein im
+Hüttl, bis wir kommen. Unser Umweg um die Grenz ist weit. Und im Hüttl
+soll der Schneck gut feuern. Daß die Herren nit frieren müssen. Gelt?«
+Das Mädel sprang den Gäulen voraus. Leupolt gab das Hemdenpäckl mit dem
+Kragen des Geheimrats in seinen Rucksack und schob den Militärmantel
+des Obersten hinter die Tragriemen. »So, Ihr Herren! Los!« Bei der
+ersten Haselnußstaude zog er das Messer.
+
+»Wat macht er da?«
+
+»Für die Herren schneid ich einen guten Stecken.«
+
+»Ick will keenen Stock!« sagte das junge Soldätl mit seltsamer
+Heftigkeit.
+
+»Muß ich den Stecken halt tragen derweil, bis der Herr ihn nimmt.«
+Leupolt reichte dem Geheimrat den eigenen Bergstock. »Der ist minder
+schwer, weil er dürr ist.« Im Weiterschreiten säuberte er die zwei
+geschnittenen Stöcke von den Zweigen.
+
+Durch das von Stauden eingedeckte Tälchen lief ein Fußpfad hinauf, der
+unter dem Widerschein des leuchtenden Himmels wie Messing glänzte.
+Der junge Oberst war immer voraus. Er schien die Wanderung in der
+Abendkühle und in der reinen Höhenluft wie eine sein ganzes Wesen
+belebende Erfrischung zu genießen. Einmal blieb er stehen, breitete die
+Arme, als möchte er alle Schönheit des Abends in seine Seele reißen,
+und deklamierte französische Verse mit dem Pathos eines verzückten
+Schauspielers. Häufig glitt er aus, kam aber nie zu Fall, rettete sich
+jedesmal mit einem kecken Sprung auf sicheren Boden und lachte.
+
+Danckelmann begann mit dem Jäger zu reden, fragte nach den
+Berchtesgadnischen Bekennern, nach ihrer Not, nach ihren Plänen.
+Leupolt, während er antwortete, hob immer lauschend den Kopf. Endlich
+merkte er, daß dieses leise Klirren, das ihn an Grenzmusketiere denken
+ließ, von den Sporen der Herren kam. »Die müssen weg. Da könnt's im
+Holz einen Purzelbaum geben.« Erst schnallte er dem Geheimrat die
+Riemen von den Füßen, dann holte er mit flinken Sprüngen den anderen
+ein, kniete vor ihm nieder, löste seine Sporen und band im kreuzweis
+eine feste Schnur um jede Stiefelsohle. »Da rutschet Ihr minder.«
+
+»Sieh mal,« lachte das Soldätl, »sonne Strippe, richtig appliziert,
+kann zu allerlei nützlichen Dingen servieren. Zum Hängen und zum fest
+uff die Beene stellen.«
+
+»So, Herr!« Leupolt erhob sich. »Und nit so hitzig beim Steigen. Da
+verliert man fürzeitig den Schnaufer. Bei uns, wo steiler Bergweg ist,
+da grüßt man allweil: Zeit lassen.«
+
+»'n gutes Wort!« Die blitzenden Stahlaugen träumten ins Weite. »Zeit
+lassen?« Freundlich legte der junge Oberst dem Jäger die Hand auf
+die Schulter. »Also, her mit 'n Stock! _En avant_, voran! Von 'nem
+Verständjen läßt man sich jerne dirigieren.«
+
+Sie stiegen der von schwarzen Wäldern umflossenen, von tausend
+Schneeflecken durchwürfelten Höhe zu. Das Rauschen der Wildwässer hing
+wie das Lied eines Unsichtbaren in der schimmernden Abendluft.
+
+
+
+
+Kapitel XXIII
+
+
+Vor der letzten Dämmerung raffelte Hiesel Schneck durch den Bergwald
+hinauf, begleitet von einem Ringelspiel seiner wütenden Himmelhunde.
+Zeitlebens war ihm vieltausendmal die Galle übergelaufen. Aber bei so
+schlechtem Humor wie seit Ostern war er noch selten gewesen. Seine
+verzweifelte Schneckin mußte unablässig heulen. Freilich, wie hätte
+ein >Neuevangelikaner<, gleich dem Hiesel Schneck, sich friedsam
+vertragen können mit so einem >rekatholizierten Weiberleut<! Und noch
+viel rasender machte ihn dieses andere: daß man in der Wildmeisterei
+sein mutiges Bekennertum so wenig ernst nahm! Ganz fürchterlich hatten
+sie über ihn gelacht, als er am Osterdienstag in der Jagdkanzlei
+erschienen war. Der Wildmeister hatte ihn angeböllert: »Mach, daß du
+heimkommst, du Kalbskopf, du überzwercher! Und eh du den evangelischen
+Rausch nit verschlafen hast, kommst du mir nimmer zum Rapport!« Diese
+Unterschätzung seiner heiligsten Gefühle hatte dem Hiesel Schneck den
+evangelischen Eigensinn wie mit großen glühenden Nägeln hineingehämmert
+in das kleine Kindergehirn. »Jetzt grad mit Fleiß! Kreuzteufelsausen
+und Höllementsnot in der Sauwelt übereinand!« Er guckte zum Himmel
+hinauf, nicht um den Wohnort seines neuen Gottes zu suchen, sondern
+weil er den knurrenden Falzlaut einer streichenden Schnepfe vernommen
+hatte. Wie ein graues Pudelköpfl mit langen Wackelohren kam sie in der
+Dämmerung über die Birkenwipfel hergeschwommen. »Wart, du!« Hiesel riß
+die Feuersteinflinte vom Buckel und pulverte. Die Schnepfe fiel nicht.
+Sie ließ nur etwas fallen. Die Wut über diesen Hohn erzeugte im Hiesel
+Schneck den langschwänzigsten aller Himmelhunde, die seinem Gemüt noch
+jemals entronnen waren. »Mir vergunnt halt mein luthrischer Herrgott
+kein Faserl nimmer, seit ihm die Schneckin wieder kündigt hat.«
+
+Den Kopf in die Dämmerung bohrend, fluchte er sich über den
+steilen Hang hinauf. Was Graues klunkerte ihm auf dem Rücken: die
+zwei Paar Schneegamaschen. Und was Schwarzes klingelte vor seinem
+betrübten Herzen: die neuen Bergschuhe des Leupolt und die netten
+Sonntagstäpperlen des Schneckenweibls. Das Raurisserische Schuhwerk
+und die Gamaschen waren für den Hiesel eine erklärliche Sache. Wozu
+man aber beim evangelischen Weltumsturz die Feiertagshäferln seiner
+Schneckin benötigte? Das verstand er nicht. Trotz allem Nachdenken kam
+er nicht drauf. Er hatte die Botschaft der Hasenknopfischen Tochter nur
+ausgeführt, weil er dunkel hoffte, daß es irgend eine Feindseligkeit
+gegen den wildmeisterischen Glauben wäre.
+
+Bei Anbruch der Finsternis erreichte er die Holzerhütte. Tisch, Bänkl
+oder Sessel gab's da nicht. Nur eine große Stangentruhe mit Heu zur
+Liegerstatt, ein bißchen Geschirr und im schwarzberußten Balkenwinkel
+ein niederes Sitzmäuerchen um die Aschengrube. Hiesel schürte im
+Herdloch ein Feuer an, daß es waberte, und machte verdutzte Augen,
+als er das Wandkästl mit allerlei schmackhaften Dingen angeräumt
+fand. Da waren Speckwürste und ein Krug mit Milch, Weißbrot und
+geselchtes Wildpret, ein paar Dutzend Eier und frische Butter. Die
+Schneckische Seelenverzweiflung begann sich zu mildern. Gleich fing
+er zu knuspern an und hätte alles, was man für Seine Exzellenz den
+Gesandten des Königs von Preußen eingewirtschaftet hatte, ratzenkahl
+aufgefressen, wenn nicht Leupolt auf der Hüttenschwelle erschienen
+wäre: »Barmherziger Herrgott, Hiesel, das ist doch die Zehrung für
+meine Herrenleut!« Der Evangelikaner riß das Butterbrot, das er
+zwischen den Zähnen hatte, erschrocken aus dem Rachen und warf es ins
+Feuer. »Nit schlecht!« Hinter diesen zwei dunkelsinnigen Worten ließ er
+ein Himmelhündchen einherschwänzeln.
+
+Auf dem letzten Hang vor der Hütte, als man den wegweisenden
+Feuerschein sehen konnte, war Leupolt den Herren vorausgesprungen, um
+ein Wort mit dem Hiesel zu reden. Er nahm den Schneck nicht gerne mit
+hinauf zur heiligen Fürsagung in der Neumondnacht. Aber es mußte sein.
+Ohne Hilfe hätte Leupolt den Geheimrat nimmer über den schweren Schnee
+der Höhe gebracht. »Kaum, daß ich ihn herlupfen hab können bis zum
+Hüttl. Drunten hab ich gemeint, es fallt mir zuerst das klebere Soldätl
+um. Aber wie mühsamer der Weg, um so lebfrischer ist das Männdl worden.
+Alles freut ihn, jeden Vortl hat er flink heraus. Sein Herr, der Alte,
+ist ein fürnehmes Mannsbild. Aber das feine Soldätl -- es muß schon
+wahr sein, daß die niederen Leut oft die besseren sind als wie die
+Gottsöbersten. Jetzt gib mir die Hand her, Schneck! Tu mir versprechen,
+daß du den Schnabel halten willst über die heutige Nacht. Es geht um
+unser Not und Erlösung, Mensch! Gelt, du machst mir nit Schand und
+Unehr?«
+
+Hiesel streckte die braune Tatze und brummte: »Ich bin doch ein
+Evangelischer.«
+
+»Ja, Schneck, aber was für einer!« sagte Leupolt bekümmert. Weil er
+Stimmen hörte, zerrte er den Bergsack herunter, packte die zwei Hemden
+aus, riß ein brennendes Scheit aus dem Feuer und sprang in die Nacht:
+»Höi huuup!« Als er die Herren in die Herdhelle der Hüttentür brachte,
+ging von den erhitzten Bergsteigern in der Nachtkühle der Dampf auf,
+wie von Pferden bei einer Schlittenfahrt. »Nur gleich herein ins Hüttl!
+Mein Kamerad, der Schneck, hat warm gemacht.«
+
+»_Ah, je comprends_,« lachte der junge Oberst, nahm den Dreispitz ab
+und schüttelte den Schweiß von der Stirne, »_c'est le Cheneque de la
+Chenequine_!« Er spähte vergnügt in die vom Feuerschein durchzüngelte
+Hütte.
+
+»Ist sein Kamerad ein vertrauenswürdiger Mann?« fragte der Geheimrat
+halblaut, zwischen hurtigem Atempumpen. »Ein Protestant?«
+
+»Verträulich ist er, der Schneck, ah ja! Kann auch sein, er wird noch
+richtig ein Evangelischer. Glauben tu ich es nit.«
+
+Von dieser leisen Zwiesprach hatte der Hiesel keinen Laut vernommen.
+Nur die französischen Worte hatte er gehört, dabei sehr deutlich
+die Worte Schneck und Schneckin. Daraus zog er den Schluß, daß das
+feinbeinlete Soldätl das Französische nicht gut verstand; wenn die
+Kapitelherren auf der Jagd parisisch redeten, hieß Schneck immer
+»Tätewoh«. Ein bißchen wunderte sich der Hiesel darüber, daß man auch
+drunten im lutherischen Sand von ihm und seiner Schneckin was wußte.
+Aber die Sache machte ihn auch mißtrauisch. Was konnte man in einer
+Sprache, die ihm fremd war, nicht alles über ihn reden! Er begann
+den heiteren Soldaten sehr unfreundlich zu betrachten. Der war doch
+auch in jener Gegend daheim, aus der das luthrische Elend gekommen
+war, das seit dem Versöhnungsschießen dem Hiesel Schneck das Köpfl
+so schauderhaft zerwirbelte. Bocksteif, ohne zu grüßen, stand er mit
+seinem rotangestrahlten Schädel neben dem wabernden Feuer, bis ihn
+Leupolt mit dem Eimer zum Brunnen um Waschwasser schickte. Kaum war
+er draußen in der Nacht, da himmelhündelte er so wütend in den Ganter
+hinein, daß das Blech davon einen summenden Widerhall bekam. Noch ein
+zweitesmal mußte er um Wasser laufen und schimpfte: »Sauberkeit laß
+ich mir gefallen! Aber *so* waschen! So was Weiberleutigs paßt doch
+nit für ein Mannsbild. Freilich, ausschauen tut er eh, wie die magere
+Schwester vom Lazarus!« Und als nun der Hiesel gar zum drittenmal mit
+dem Eimer springen mußte, gewann er über das kühlungsbedürftige Soldätl
+die Meinung: »Das ist kein Mensch nit! Wie er pritschelt und fludert im
+Wasser! Mit seine mageren Flügerln! Da laß ich mich köpfen: das muß ein
+verwunschener Eisvogel sein!« Endlich gab es für den Hiesel Raum und
+Rast in der Hütte. Leupolt scheuerte die Pfanne und klapperte die Eier
+hinein. Die zerfließende Butter begann angenehm zu duften.
+
+Der hohen, vom nassen Schnee durchweichten Reitstiefel ledig, staken
+die Füße der Herren in den hölzernen Hüttenpantoffeln der beiden Jäger.
+Der blaue Soldatenrock mit den roten Aufschlägen, der schokoladfarbene
+Reitfrack des Geheimrates und die zwei dampfenden Hemden hingen auf
+den Herdstangen. Danckelmann, mit etwas konfus gewordener Perücke,
+drehte sich vor dem Feuer hin und her. Der junge Oberst, hemdärmelig
+in seinen Militärmantel gewickelt, hatte sich auf das Herdmäuerchen
+niedergelassen. Erfrischt, das Antlitz brennend, saß er gegen die
+Balkenwand gelehnt und blickte mit vorgeschobener Nase in den
+Funkenflug, der viele glitzerige Sternchen hinwehte an die berußte
+Sparrendecke. Plötzlich, wie ein Erwachender, schien er etwas zu
+suchen, fand das kleine Buch, rückte näher ans Feuer und fing zu lesen
+an, alles um sich her vergessend. Danckelmann schien das nicht gerne zu
+sehen. Unter einem Seufzer fragte er: »Schon wieder Voltaire?«
+
+»Nein!« Der junge Oberst hob dem Geheimrat das kleine Buch vor die
+Nase. Es war eine Taschenausgabe der Luther'schen Bibel.
+
+In Verblüffung sagte der alte Herr: »So fromm?«
+
+»Auch das nicht. Ich studiere diese deutsche Grammatik, um mein
+Kutscherdeutsch nach Möglichkeit zu verbessern.«
+
+Der Hiesel, weil die Herren französisch redeten, brannte wütend seine
+Pfeife an und blies Wolken vor sich hin, daß er völlig eingewickelt
+wurde von diesem grauen Vorhang. Ein paarmal fuchtelte der junge Oberst
+mit der Hand den beizenden Knasterqualm vor seiner Nase weg. Halb in
+Zorn und halb erheitert rief er zu Danckelmann hinüber: »Der fehlt
+noch in der Tabagie. Er würde zu hohen Ehren kommen.« Leupolt, als
+sein mahnendes Augenblinzeln beim Hiesel kein Verständnis fand, sprang
+von der Pfanne weg, zog dem Schneck die Pfeife aus den Zähnen und
+öffnete die Hüttentür. Jetzt kapierte der Hiesel Schneck und brummelte
+gallig: »Ah, freilich, die Preißen! Die rauchen bloß Muskatblütln und
+Pomeranzen! Was?« Erschrocken sah Leupolt zu den Herren hinüber. Die
+schienen von der Weisheit des Hiesel Schneck keinen Laut vernommen zu
+haben. Danckelmann hatte sich auf die Heutruhe gesetzt und schien ein
+Nickerchen zu machen. Der andere war in das Buch versunken, war seltsam
+erregt, wie befallen von einem wühlenden Seelensturm. Im Rauschen der
+Herdflamme eine lautwerdende, von innerem Aufruhr bebende Stimme. Den
+Rücken gebeugt, das Gesicht fast niedergetaucht auf das kleine Buch,
+las der junge Oberst: »Absalom sprach zu Joab: Warum bin ich von Gessur
+kommen? Es wäre mir besser, daß ich noch da wäre. So laß mich nun das
+Angesicht des Königs sehen! Ist aber eine Missetat an mir, so töte
+mich!«
+
+Leupolt, der die Stelle aus dem zweiten Buche Samuelis erkannte,
+lauschte mit glänzenden Augen. Nun sah er betroffen auf das schreckhaft
+verwandelte Gesicht des jungen Soldaten. Der las zwischen knirschenden
+Zähnen, die verzerrten Wangen von Tränen überglitzert, fast in der Art
+eines Menschen, der an der hinfallenden Krankheit leidet und einen Stoß
+seines Übels zu empfinden scheint: »Und Joab ging hinein zum Könige
+und sagte es ihm an. Und er rief dem Absalom, daß er hinein zum Könige
+kam, und er fiel nieder vor dem Könige, auf sein Antlitz zur Erde.
+Und der König küßte Absalom.« Verstummend preßte er das Gesicht auf
+die Blätter. War das ein Schluchzen? Oder war es ein Lachen? Nun ein
+jähes Aufzucken des vom Haar umwirrten Gesichtes. Und ein kreischender
+Laut, zu Danckelmann hinüber, in französischer Sprache: »Absalom starb
+an der Eiche. Wo sterbe ich?« Ein jähes Erlöschen alles seelischen
+Aufruhrs, ein ruhiges Lächeln, ein heiterer Klang in der melodischen
+Stimme: »Wenn's auf dem Boden eines deutschen Sieges wäre, sollt' es
+mir recht sein in jeder Stunde.«
+
+Danckelmann, der aus seinem Müdigkeitsdusel noch nicht völlig ermuntert
+war, sah ratlos drein. Und Leupolt fragte in Sorge: »Ist dem jungen
+Herrn übel?«
+
+»_Mais non!_« Der Oberst lachte. »Mich is wohler denn je. Det war nur
+Rebelljon der Jedärme. Mir hungert.«
+
+Kopfschüttelnd verließ der Hiesel Schneck die Hütte, stolperte in die
+Nacht hinaus und klagte: »So was! Und söllene Leut möchten die deutsche
+Welt verbessern und den alten Herrgott umnageln. Ich versteh's nit!
+Kreuzhimmelhöllementshundsviecherei!« Zur Beruhigung seiner verärgerten
+Seele hatte er die Pfeife mit heraus genommen. Er schlug Feuer, daß die
+Funken stoben, wühlte den stinkenden Schwamm unter die Tabaksasche, und
+als die Pfeife festen Zug hatte, blies er einen dicken Rauchfaden durch
+ein Astloch der Hüttentür. »So, schmeck's, du Preiß, du abzirkelter!«
+Er fühlte sein Gemüt erleichtert, trat auf einen Felsschnacken
+hinaus und spähte in die schwarze, von schönen Sternen überfunkelte
+Neumondnacht. Zu den strahlenden Lichtern der Ewigkeit zog es den Blick
+des Hiesel nicht empor. Immer guckte er hinunter auf das dustere Loch
+einer kleinen Talmulde und mummelte melancholisch: »Ob wohl jetzt das
+liebe alte Radl ohne Wagen rekatholisch träumt oder evangelikanisch?«
+
+In der Hütte klapperten die irdenen Teller. Flinkes Französisch.
+Immer wieder das heitere Lachen des Soldätleins. Dann ein lebhafter
+Wortwechsel, der von energischem Deutsch unterbrochen wurde: »Denk
+er an seine fumfzich Jahre, Danckelmann! Leg er sich hin uffs Heu!
+_Sans façon!_ Ick will 's.« Merkwürdig, dachte der Hiesel Schneck,
+wie im Preußischen ein Knechtl reden darf mit seinem Herrn! Dann
+guckte er wieder in die Tiefe. Da draußen, gegen Bischofswiesen zu,
+gaukelte was durch den schwarzen Wald gegen den Gratsattel hinter dem
+Toten Mann hinauf wie ein winziges Sternchen. »Was ist denn da los?«
+So viel wußte der Hiesel schon: daß von den Evangelischen keiner
+mit einer Latern zur heimlichen Fürsagung wandert. Die machen sich
+seit dem Versöhnungsschießen unsichtbarer als je. Was war da los?
+Um an eine Gefahr für die Brüder in Christ zu denken, dazu war die
+Bekennerseele des Hiesel noch nicht evangelisch genug. Er fand für das
+gaukelnde Laternenrätsel nur die Lösung: daß da einer von der Jägerei
+zu Berg stiege, um für den Fürsten oder für die -- »Sagen wir halt:
+Allergnädigste!« -- einen Auerhahn zu verlusen. Diese Vorstellung,
+statt sein Jägerherz zu erfreuen, machte den Hiesel so traurig, daß er
+sich auf den Schnee hinsetzen und das Gesicht in die Fäuste drücken
+mußte. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Komm, Schneck, und
+schlaf ein Stündl! Wir müssen uns heut noch plagen in der Nacht.«
+
+In der Hütte kein Feuer mehr. Doch zwischen der Asche lag noch eine
+große Kohlenglut und strahlte ihren roten Schimmer in den stillen
+Raum. Der Geheimrat, mit seinem Mantelkragen zugedeckt, lag im Heu
+und schnarchte ein bißchen. Auf dem Sitzmäuerchen, gegen die Balken
+gelehnt, schlief der junge Oberst, das Gesicht vom Haar überhangen,
+klein zusammengehuschelt in dem dunklen Militärmantel. »Was einer
+ist als Mensch, das sieht man allweil am besten im Schlaf!« so
+philosophierte der Hiesel Schneck. »Dahocken tut das Preißerl wie ein
+Häufl Elend.« Freilich, eine Minute später hockte dieser lange Weise
+nicht viel anders in seinem Winkel. Der Schlaf ist einer von den
+Gleichmachern des Lebens. Tod, Notdurft und Wollust heißen die anderen.
+
+Leupolt hatte sich lautlos zum Sitzmäuerchen hingeschlichen. Seine
+Augen blieben offen. Manchmal schob er sacht einen Holzstorren unter
+die Kohlen, damit die Glut nicht völlig ohne Nahrung bliebe und die
+schlafenden Herren nicht frieren müßten. Fing das Holz unter den
+Kohlen zu glosten an, so pufften fahle Rauchfäden aus der Asche
+heraus, und kleine bläuliche Flammen tanzten über der Glut, wie
+Frühlingsschmetterlinge um eine rote Blume gaukeln. Sinnend blickte
+Leupolt in das Spiel der kleinen Feuerseelen, sah zwei heiße, von
+Tränen umflossene, in Scham und Sehnsucht bekennende Mädchenaugen und
+hörte eine leise, von Erregung fiebernde Stimme flüstern: »Du bist mir
+so lieb geworden, ich kann's nit sagen.« Da weckte ihn ein stöhnender
+Laut aus seinem gläubigen Sinnen. Der junge Soldat schien böse Träume
+zu haben; sein gebeugter Jünglingskörper zuckte unter den Falten des
+Militärmantels. Halblaute Worte, deutsch und französisch, wirrten sich
+durcheinander. Die Hände begannen zu stoßen, als möchten sie sich einer
+Fessel entwinden, und plötzlich streckten sie sich mit gespreizten
+Fingern, wie zur Abwehr eines grauenvollen Bildes. Die Augen des
+Träumers waren starr geöffnet, hatten den Blick eines verzweifelten
+Menschen, und eine von Zorn und Angst durchrüttelte Knabenstimme
+bettelte: »Nich schlagen, Vater! Alles, was du willst! Nur nich
+schlagen!«
+
+»Junger Herr!« Leupolt faßte den Mantel des Traumverstörten und zupfte.
+»Ihr träumet ungut. Da muß man Euch wecken.«
+
+Ein stumm gleitender Blick des Erwachens, ein staunendes Beschauen
+des von Rotglut durchschimmerten Raumes. Fester gegen die Balkenmauer
+rückend, hüllte sich der junge Oberst wieder in seinen Mantel, schloß
+die Augen und sagte mißmutig: »Weck er mich, wenn es Zeit is. Nich
+früher.«
+
+Wieder die rotflimmernde Stille, das schwere Atemziehen des Geheimrates
+und das Duselgebrumm des Hiesel Schneck. Leupolt saß unbeweglich,
+beugte nur manchmal den Kopf, um durch das kleine Fenster nach dem
+Stand der Sterne zu schauen. Als es auf Mitternacht zuging, legte
+er Kienspäne über die Glut, gab ein paar kleine Scheite in die sich
+ermunternde Flamme, goß die Geißmilch in die Kupferpfanne und stellte
+sie über den Feuerbock. Nun weckte er den jungen Schläfer am Herd.
+»Herr! Zeit ist's!« Der Oberst fuhr in die Höhe, straffte sich nach
+militärischer Art und sprach ins Leere: »_Me voilà! Je ne dors plus!_
+Befehlen Sie, Vater! Ick will gehorchen.« Da hörte er das freundliche
+Herdgeprassel, schien völlig zu erwachen, streifte mit einem prüfenden
+Blick den Jäger und sagte ruhig: »An jedem Morgen soll man sich
+erinnern, daß man Gottes is. Sprech' er ein Gebet!«
+
+Leupolt kniete auf das Herdmäuerchen hin, verschlang die Hände vor der
+Brust und betete: »Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer nach
+Himmel und Welt. Auch wenn mir Leben und Seel verschmachten, du bleibst
+mein Heil und meines Herzens Trost.« Gleich bei den ersten Worten des
+Gebetes hatte der junge Oberst blitzschnell das Gesicht gegen den
+Jäger gedreht. In seinen Augen war eine Verblüffung, die sich in Zorn
+zu verwandeln drohte. Leupolts Anblick schien den Erregten wieder zu
+beruhigen. Mehr neugierig als unmutig fragte er: »Wie kommt er zu
+diesem Gebet?«
+
+»So hat uns auf dem Toten Mann ein Salzburger fürgebetet, der uns
+Botschaft gebracht hat aus dem Preußischen. Er hat erzählt: so hätt
+er den preußischen Königsprinzen beten hören, der den Exulanten
+beigesprungen ist mit hilfreicher Güt. Jetzt bet ich allweil so. Die
+schönen, gottsfreudigen Wörtlen haben mich hinübergehoben über viel
+Hartes.«
+
+Der junge Oberst legte die Hand auf Leupolts Arm. »Det Gebet for
+sich alleene macht es nich. Gott is am willigsten, den Starken zu
+sekourieren, der sich _spontanément_ zu helfen weiß.« Lächelnd ging er
+zur Heutruhe, weckte den Geheimrat, indem er ihn mit einem Halm an der
+Nase kitzelte, brach über Danckelmanns Ermunterungsseufzer in Lachen
+aus und begann mit ihm in französischer Sprache ein hurtiges Geplauder.
+Dabei rasselte sich auch der Hiesel Schneck aus seinem letzten
+Schnarcher heraus, schien nicht zu wissen, wessen Gottes er war, und
+begrüßte die Mitternachtsstunde mit einem gegen die Haare gebürsteten
+Himmelhund.
+
+Nach der Geißmilchsuppe brachte die Schuhprobe ein paar muntere
+Minuten. Dem Geheimrat saßen die neuen Schuhe des Leupolt wie
+angemessen. Die Sonntagstäpperlen des Schneckenweibls mußten, um für
+das schlanke >Weiberleutsfüßl< des Soldätleins zu passen, zwischen
+Leder und Söckeln noch ein bißchen mit Heu gepolstert werden. Die
+Schneegamaschen, die darüberkamen, hielten alles verläßlich zusammen.
+Und nun hinaus in die kühle, schwarze, von großen, strahlenschießenden
+Sternen durchfunkelte Neumondfrühe. Ein schönes Rauschen ging über
+die finsteren Wipfel hin. Alle paar Schritte stehen bleibend, spähte
+der junge Oberst unersättlich in diesen wundersamen Nachtzauber. Mit
+enthusiastischen Worten stammelte er sein Entzücken vor sich hin und
+sagte französisch zu Danckelmann: »So groß und weit und herrlich
+sind die Nächte in der Tiefe nicht. Auf der Höhe zu wandeln, hat
+seine kostbaren Reize.« Er tappte bis an die Hüften in ein Schneeloch
+hinunter, zog sich lachend heraus und scherzte: »_Tiens, voilà mon
+sort_, auf herrlicher Höhe gibt es auch Löcher, um sich die Knochen
+zu brechen -- eine Erfahrung, die mir nicht neu ist, obwohl ich zum
+erstenmal im Leben einen rechtschaffenen Berg besteige.« Hiesel, der
+sich über das viele Französisch ärgerte, knurrte spöttisch: »Gelt ja,
+sterngucken und bergkraxeln passen nit gut zu einander! Verstehst?
+Mit'm Nasenspitzl in der Höh geht's allweil abwärts, nie nit aufwärts.«
+Kopfschüttelnd tappte er davon. »Und söllene Kniespatzen möchten die
+christliche Welt umschustern.« Der junge Oberst, der den Sinn dieser
+Worte nur halb, aber zureichend die Grobheit ihres Tones verstanden
+hatte, rief erheitert zu Danckelmann zurück: »'n agreabler deutscher
+Bruder!«
+
+Da mahnte Leupolt, der den Geheimrat am Henkel hatte: »Schneck! Mach
+langsame und feste Tapper, daß der Herr hinter dir in gute Stapfen
+kommt.« Nun wanderten sie schweigend hintereinander. Manchmal trug die
+gefrorene Schneedecke, dann kamen wieder mürbe Stellen, an denen man
+hinunterbrach bis übers Knie. Schon nach einer Viertelstunde fragte
+Danckelmann in Erschöpfung: »Haben wir noch weit?«
+
+»Nit, Herr! Ein paar hundert Vaterunser. Sonst ist die Fürsagung
+allweil ganz da draußen gewesen auf dem Toten Mann. Heut ist sie ein
+Stündl herwärts. Daß die Herren nit gar so weit steigen müssen, bloß
+ein Katzensprüngl.« Seufzend machte der Geheimrat die Bemerkung:
+»Die Katzen von Berchtesgaden, nach ihren Sprüngen zu schließen,
+scheinen Tiger zu sein.« Aus dem geschlossenen Walde ging es hinaus
+auf eine freie, steile Schneelehne, an die hundert Schritte breit.
+Schneck und der junge Oberst hatten den weißen Steilhang schon zur
+Hälfte überquert, als ihn Leupolt mit dem Geheimrat erreichte. »Jetzt
+ein bißl Fürsicht, Herr! Der Schnee könnt rutschen.« Leupolt hatte
+kaum gesprochen, als sich über die Lehne her ein leiser, lachender
+Schrei vernehmen ließ. Mit dem jungen Oberst war eine stubengroße
+Schneescholle ins Gleiten geraten. Und je mehr der Lachende sich
+plagte, um aus der rutschenden Masse herauszukommen, desto tiefer
+sank er in den gleitenden Teig. »Jesus!« brüllte der Hiesel Schneck.
+Er dachte an die Wände, die da drunten waren, und machte Sprünge wie
+ein irrsinniger Wolf. Und von der anderen Seite der Lehne kam Leupolt
+schief heruntergesaust und überholte die rutschende Scholle. Zwischen
+zwei Felszacken eingestemmt, warf er seine Brust dem gleitenden Schnee
+entgegen. Er wurde weiß überschüttet. Die fahrende Masse stockte einen
+Augenblick, und da sprang der Hiesel über die Wulsten her, riß das
+halb versunkene Soldätl, das noch immer lachte, aus dem Schnee heraus,
+umklammerte den schlanken Körper unter den Armen und steuerte mit
+wilden Sprüngen, die der andere gelehrig mitmachte, gegen den festen
+Waldgrund hinüber. »Hiesel?« schrie Leupolt aus der Nacht heraus. »Hast
+du ihn?«
+
+»Wohl!«
+
+Von droben klang die aufgeregte Stimme des Geheimrates: »Ist etwas
+geschehen?«
+
+»Nit sorgen, Herr!« antwortete Leupolt. »Ist alles gut! Ich komm schon.«
+
+Drüben am Waldsaum, neben einer Fichte, die von den Frühlingslawinen
+schiefgebogen war, schüttelte der junge Offizier die Schneebrocken von
+seiner Uniform, während der Hiesel Schneck mit Lachen sagte: »Gott
+sei Lob und Dank!« Man vernahm aus der Tiefe herauf einen schweren,
+krachenden Plumps. Wieder lachte der Hiesel. »Hörst es, Preißerl!«
+
+»Wat war 'n det?«
+
+»Der Schnee. Verstehst? Wär der Leupi nit gewesen, so täten wir jetzt
+da drunt liegen! Kreuzsausen und Himmelhund! Und 's Schneckenweibl
+könnt ihre Sonntagstäpperlen suchen, sie weiß nit, wo!«
+
+Da legte der junge Oberst dem Hiesel Schneck die Hand auf den Arm.
+»Ick hab ihn for 'nen Rüpel jehalten und merke, daß er 'n janz famoser
+Patron is.« Ein feines, herzliches Auflachen. »Die Haut scheint bei
+uns deutschen Brüdern nich det Wesentliche zu sein. Man muß hinter
+'s Leder kieken. Geb er mich seine Hand!« Der Hiesel rührte seine
+Tatze nicht, weil er lauschend den weißen Schädel strecken mußte. »Du,
+da!« sagte er scheu und leise. »Lus!« Er deutete gegen die Höhe, über
+der die großen Sterne des Berghimmels funkelten. Hatte das summende
+Rauschen des Waldes einen geheimnisvollen Mitsänger gefunden? Wie
+das Klingen einer fernen und sanften Glocke war es, war wie das
+rhythmische Murmeln eines ruhig fließenden Baches, hatte dennoch einen
+leidenschaftlichen, von Leid und banger Sehnsucht durchzitterten
+Unterton, verstärkte sich und sank, wurde vernehmlicher und schmolz
+aufs neue zusammen mit dem Rauschen der Bäume, daß es nimmer von ihm zu
+scheiden war.
+
+»Wat is 'n det?«
+
+»Ich hab als Evangelikaner noch ein bißl junge Ohrwascheln. Aber
+täusch ich mich nit, so singen da droben hinter dem Bergsattel die
+Unsichtbaren.« Ein lauer, föhniger Windhauch, der dem Morgen voranging,
+wehte über den Hang herunter, und der Liedklang vieler menschlicher
+Stimmen wurde deutlich. Der junge Offizier erkannte das Lutherlied. In
+einer Erregung, die ihn schüttelte wie einen Fieberkranken, riß er den
+Dreispitz herunter, preßte ihn mit den Fäusten gegen die Brust, sah
+unbeweglich zu den strahlenden Sternen hinauf und sprach die Worte der
+letzten Liedstrophe, die da droben gesungen wurde, mit lauter Stimme in
+die Nacht:
+
+ »Nehmen sie den Leib,
+ Gut, Ehr, Kind und Weib,
+ Laß fahren hin,
+ Sie haben's kein Gewinn,
+ Das Reich muß uns doch bleiben.«
+
+Nur noch das Rauschen im Wald und der schweigende Sternglanz, von
+dessen Widerschein die Schneekrystalle an den Felszacken feine,
+farbige Lichterchen bekamen. Der junge Oberst drückte den Dreispitz
+über den Scheitel und begann mit ungeduldiger Hast das steile Gehäng
+hinaufzuklettern. »Komm er!« Bei einer Wende des Waldsaumes trafen
+die zwei mit den beiden anderen zusammen, und atemlos begann der
+Geheimrat ein französisches Gewirbel seiner Sorge herauszustammeln.
+Der junge Oberst machte eine unmutige Handbewegung und sagte deutsch,
+mit einer soldatisch harten Stimme: »Laß er, Danckelmann! Wir haben
+kostbare Minuten verläppert. Dort oben seind unsere neuen Kinder.
+Eenen, der leidet, darf man nich warten lassen. Hinauf!« Er kletterte,
+als hätte dieses Wort ihm Kräfte gegeben, die alles Zarte seines
+Körpers verwandelten zu stählernem Willen. Leupolt Raurisser, von
+einer schweren Erschütterung befallen, tastete nach der Schulter
+des Grenzjägers. »Hies!« Die Stimme wollte leise sein und war doch
+ein glückheißes Jauchzen. »Ich bin ein Blinder gewesen.« Seine Hand
+deutete hinter dem Steigenden her, den die Dunkelheit zu umschleiern
+begann. »*Der* ist der Helfer!« Ein frohes Aufatmen. Dann ein heiteres
+Flüstern: »Komm! Der braucht uns nit. Wir müssen das alte Knechtl
+hinter ihm herlupfen.« Jetzt ging es flink nach aufwärts, ohne daß der
+Geheimrat sich plagen mußte. Ein Eichhörnchen schnalzte. Ein zweites.
+Leupolt gab Antwort mit dem gleichen Laut. Und Danckelmann fragte: »Was
+ist das?«
+
+»Es sind die Wächter.« Wie graue Steinblöcke, in den Kitteln der
+Unsichtbaren, standen die Wächter im Schnee, der eine am Waldsaum, der
+andere draußen auf dem freien Hang. Als die Aufwärtssteigenden schon
+verschwunden waren, klang auf dem Schneefeld eine leise Knabenstimme:
+»Vater? Meinst du, er ist dabeigewesen?« Aus der Finsternis des Waldes
+antwortete die Stimme eines alten Mannes, so voll Inbrunst wie die
+Stimme eines Betenden in tiefstem Leide: »Gott soll's geben, Bübl, daß
+der Helfer kommen ist. Oder es müßt die deutsche Welt verzweifeln.«
+
+Nach stummer Weile ein flehender Laut: »Mir banget, Vater! Darf ich
+hinüber zu dir?«
+
+»Jetzt nit. Dort ist dein Plätzl. Da hat man dich hingestellt. Da mußt
+du bleiben, bis der Morgen kommt. Ein Hoffender muß verlässig sein.«
+
+Nur noch das Rauschen der schwarzen Wipfel. Und manchmal sprang eine
+kleine Schneescholle lautlos über den weißen Hang in die schwarze Tiefe
+hinunter.
+
+
+
+
+Kapitel XXIV
+
+
+Unter dem Gewimmel der Sterne, die groß und glanzvoll am schwarzblauen
+Himmel funkelten, erreichten die vier Männer einen steinigen Grat,
+von dem die Frühlingssonne den Schnee schon fortgeschmolzen hatte.
+Wie eine große Muschel wölbte sich die Felsmauer, auf deren Höhe sie
+standen, um einen halbgerodeten Waldfleck, dessen wenige Bäume finster
+emporstachen aus einer grauweißen, absonderlich gewellten Fläche. Man
+hörte undeutlich den Klang einer greisen Stimme und sah einen matten
+Glutschein, der übriggeblieben war von einem erloschenen Feuer. Leupolt
+trat auf den jungen Oberst zu, der suchend in das Zwielicht spähte.
+»Schauet, gnädiger Herr, da ist die heilige Fürsagung.«
+
+»Ick sehe niemand. Wo seind die Leute?«
+
+»Grad vor uns. Mehr als tausend müssen es sein.«
+
+Vor dem Glutschein da drunten bewegte sich ein graublauer Schatten.
+»Eenen seh ick,« sagte der junge Offizier, »nee, viele seind es,
+viele!« Der Platz unter der Felswand, auf dem die Evangelischen
+knieten, standen oder saßen, eng aneinander gedrängt, mit ihren weißen
+Kitteln und Kapuzen, im Halbkreis um den Glutschein herum, glich einem
+Gewirre mehlgrauer Maulwurfshügel, die mit schwachen Schimmerlinien
+gesäumt waren und sich immer hoben und senkten. Es war ein Bild, das
+ergreifend und geheimnisvoll berührte, aber auch befremdend war,
+so sehr, daß es auf die mangelhaft entwickelte Evangelikanerseele
+des Hiesel Schneck belustigend wirkte. Er buckelte sich zusammen,
+hämmerte mit der Faust aufs Knie und ließ ein halbverschlucktes Lachen
+vernehmen: »Ho ho hohohooo!« Das Gesicht des jungen Obersten fuhr nach
+ihm herum, und die zornscharfe Stimme sagte: »Wat hat er? Ick finde an
+diesen Menschen nichts Lächerlichs.«
+
+»Gotts Not und Elend,« stotterte Hiesel erschrocken, »ich versteh's
+halt nit, verstehst?«
+
+Leupolt legte zuerst dem jungen Offizier, dann dem Geheimrat den
+Mantel um die Schultern. »Es weht ein schneidiger Luft, wenn's auf
+den Morgen zugeht. Die Herren müssen sich gut einwickeln. Ich steig
+derweil zu den Alten hinunter und red mit ihnen.« Lautlos verschwand er
+hinter den Schrofen in der Finsternis. Während er über das Felsgezack
+hinunterstieg, hörte er immer deutlicher die Stimme des Fürsagers von
+Unterstein: »Die Törigen nahmen ihre Lampen; aber sie nahmen nit Öl mit
+sich. Die Klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da
+nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und entschliefen.
+Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam
+kommt, gehet aus, ihm entgegen!« Die sanfte Stimme des Alten wurde
+unterbrochen durch einen verzückten Knabenschrei: »Da steigt einer aus
+dem Berg heraus! Ein Lichtschein ist um ihn her!«
+
+Aus tausend Kehlen ein wunderlicher Laut. Alle weißen Gestalten
+zuckten auf. Einer, der gegen die Felswand hingesprungen war, erkannte
+den Jäger und rief: »Der Leupi!« Von Mund zu Mund ging es, wie ein
+frohes Rauschen, wie ein Aufatmen der Hoffnung: »Der Leupi Raurisser
+ist kommen!« Viele drängten ihm entgegen. Er stand wie eine graue
+Säule im Schnee und rief über das Gewühl der ihm entgegendrängenden
+Weißgestalten hin: »Ein jeder soll bleiben an seinem Platz. Jeder soll
+Ruh halten. Ich bring den Morgen unserer Not. Nur einen Schnaufer
+Geduld noch, ihr guten Leut! Erst muß ich reden mit den Alten.« Das
+Gedräng der Weißgestalten wich auseinander. Wieder bildete sich der
+Halbkreis, wie er zuvor gewesen. Ein erregtes Stimmengewirr. Man hörte
+seltsames Aufkichern, hörte leise, fast krankhaft klingende Schreie,
+hörte das Fiebergestammel einer Verzweiflung, die in Freude verwandelt
+war, und hörte lallende Laute, wie Betrunkene sie ausstoßen, die lachen
+möchten und näher dem Weinen sind.
+
+Droben auf der schwarzen Felsmauer sagte einer, dem die Stimme kaum
+gehorchen wollte: »Danckelmann, das ist erschütternd! Was müssen diese
+Menschen gelitten haben!«
+
+Auf der weißen Rodung, rings um den roten Glutschein, war Stille.
+Von der alten Fichte, die sich schwarz neben der Kohlenglut erhob,
+sprangen elf Weißverhüllte auf Leupolt zu, die Fürsager der neun
+berchtesgadnischen Gnotschaften, bei ihnen der Mann der Hasenknopfin
+von Unterstein und der Christoph Raschp von der Wies, die in der
+Osterwoche heimgekehrt waren aus dem Preußischen. Alle streckten
+die Hände nach dem Jäger, alle stammelten die gleiche Frage: »Ist
+er kommen?« Leupolt deutete gegen die Höhe. Etwas wundersam Frohes
+war in seiner Stimme: »Da droben steht er. Ihr sehet ihn nit in der
+Finsternis. Und er ist doch unser Licht, ist unser Helfer in aller
+Not!« Einer von den Alten schrie wie ein Entrückter: »Holz in die
+Glut! Leut, es taget über unseren Seelen!« Viele sprangen gegen den
+Glutschein hin. Die Scheite klapperten und klirrten. Ein Knistern
+und Geprassel. Schwarze Rauchwolken umwirbelten die alte Fichte. Ein
+Leuchten, ein wechselndes Lichtgezitter. Schön und lodernd stieg die
+wachsende Flamme gegen die Sterne hinauf. Die knorrigen Wetterbäume
+schienen funkelnde Blüten zu tragen, der Schneegrund war überwoben von
+blitzendem Glanz und violettem Schatten, alle nahen Felswände begannen
+zu glimmen, und die tausend Weißgestalten standen angestrahlt, als
+wären ihre Leinwandkittel verwandelt in purpurne Gewänder. »Zündet die
+Kienbränd!« rief der Alte von Unterstein. »Wir Fürsager, alle neun, wir
+steigen hinauf und holen den Helfer zum Feuer!«
+
+»Ihr müßt den Umweg machen über den Karrensteig!« sagte Leupolt. »Unser
+Helfer tät auch herkommen über das Wändl. Der zwingt jeden Weg. Aber es
+ist ein Müder bei ihm. Der muß ein linderes Sträßl haben. Und eh wir
+den Helfer holen, müssen wir sicher sein, daß sich kein Unbeschaffener
+nit eingeschlichen hat durch die Wächterzeil.« Er hob die Arme:
+»Die Gnotschaftsmeister! Zu mir!« Neun Männer kamen gesprungen, von
+verschiedenen Stellen her. Zu ihnen sagte Leupolt: »Das Feuer ist hell.
+Jeder zu seiner Gnotschaft! Schauet jedem unter die Kapp, jedem in
+die Augen! Wär einer dabei, dem ihr nit trauet auf Stein und Bein, so
+müßt ihr ihn ausweisen aus der Wächterzeil.« Er ließ einen Kienbrand
+aufflammen am Feuerstoß. »Kommet, Fürsager, ich führ euch.« Während im
+Ring der rotbestrahlten Weißgestalten die Gnotschaften sich voneinander
+sonderten, ging der Zug der Kienbrandträger gegen den dichteren Wald
+hinüber. Hinter den Bäumen verschwanden die Lichter halb und gaukelten
+mit rauchigem Schein. Bei den Gnotschaftsplätzen, wo einer um den
+andern sich gegen das Feuer wenden und die Kapuze heben mußte, schrie
+plötzlich eine Knabenstimme: »Wir Bischofswiesener sind hundertfünfe,
+da sind zwei Überzählige.« Ein zorniges Hindrängen. Aus den Reihen der
+Männer wühlten sich zwei Weißverhüllte mit schlagenden Armen heraus und
+sprangen in wilden Sätzen hinunter gegen den tieferen Wald der Ramsauer
+Talseite. Die Verfolger jagten sie über die Wächterzeile hinaus. Ein
+flinker Bub vermochte den einen noch zu haschen, riß ihm die Kapuze
+herunter, bekam einen Faustschlag ins Gesicht, taumelte über den Schnee
+und behielt zwischen seinen Fingern die schwarzen Zotten eines falschen
+Bartes.
+
+»Ich bin nit schuld, Leut!« sagte der Gnotschaftsmeister. »Jeder von
+den Meinen hat mir die heilige Losung sagen müssen. Daß bei uns die
+Polizeischnufler umschliefen wie die Mäus in der Mehlkammer, das spüren
+wir lang.« Aus der Unruh der anderen rief der Hasenknopf heraus: »Wie
+härter die Prüfung, so fester unsere Seelen. Bloß um den Leupi muß ich
+mich sorgen. Der ist sichtbar gewesen. Da blüht es ihm morgen, daß er
+Sonn und Mond nimmer sieht.«
+
+»Dem Leupi wird einer beistehen, der stark in ihm gewesen ist am
+Bekennertag. Sell droben -- schauet, Leut! -- da bringen die Fürsager
+den Morgen unserer Not vom sternscheinigen Himmel her! Machet die Augen
+sichtbar! Alle! Vor dem Helfer dürfen wir uns nit verstecken.« Der
+Gnotschaftsmeister streifte die weiße Kapuze in den Nacken zurück. Bei
+der Feuerhelle sah man ein hageres Gesicht, in dem zwei sehnsüchtige
+Augen brannten. Wie dieser eine, so taten alle. Tausend Gesichter
+enthüllten sich, junge und graubärtige, und alle waren einander
+ähnlich, hatten den gleichen dürstenden Hoffnungsglanz in den Augen,
+das gleiche stumme Leiden, das sie standhaft ertragen hatten um ihres
+Glaubens willen. Alle diese heißfunkelnden deutschen Bauernaugen
+waren emporgerichtet zur Höhe der Felsmauer, über deren Saum die von
+rotem Licht umzitterten Kienbrandträger mit den zwei fremden Herren
+herunterkamen.
+
+Der Hallturmer Grenzjäger war nicht bei ihnen. Der war in der
+Finsternis zurückgeblieben. Was er sah, dieses Wunderliche, zum
+Lachen Reizende und doch Ergreifende, bedrängte ihm hart das langsame
+Kindergehirn und machte ihn völlig hilflos. Mit dem Kopf zwischen
+den Fäusten, stand er wie ein Holzklotz, guckte dem Gaukelzug der
+Kienbrände nach, getraute sich nimmer zu lachen und klagte in das
+Nachtschweigen: »Herr Jesu mein, ich versteh's nit! Und ich versteh's
+halt nit!«
+
+Die Kienbrände qualmten im schwarzen Wald. Nun kamen sie auf die
+Rodung. Deutlich sahen die Tausend beim Feuerschein den alten würdigen
+Herrn im braunen Mantelkragen; er ging entblößten Hauptes, und seine
+weiße Perücke war im Flammenschein wie ein aus Kupfer gebuckelter Helm.
+An seiner Seite schritt ein anderer, klein, mager, gebeugt; das eckig
+vorgeschobene Jünglingsgesicht zwischen den losen Haarwischen ging
+immer hin und her; immer spähten seine Augen; der dunkle Soldatenmantel
+war von roten Feuerlinien umzeichnet, und die Tressen glitzerten an
+seinem Dreispitz wie die Juwelen eines Diadems. Das stumme Schauen
+der Tausend verwandelte sich in unruhiges Stimmengesumm: »Ein Soldat!
+Da kommt ein Soldat!« Schreck und Sorge klangen aus diesen Lauten.
+Die Leiden der vergangenen Wochen wirkten nach in den Seelen der
+Evangelischen. Manchen durchfieberte noch das zornvolle Grauen,
+das er davongetragen hatte vom Versöhnungsschießen, und alle waren
+sie eingedenk der Mißhandlungen, die sie erlitten hatten von den
+Musketieren und Dragonern. »Ein Soldat! Da kommt nichts Gutes. Ein
+Soldat hat allweil den Teufel am Bändel.«
+
+Der Hasenknopf versuchte die Aufgeregten zu beschwichtigen. »Ohne Sorg,
+Leut! Bei den Preußen ist's allweil so: ob was Irdisches oder Heiliges,
+überall ist ein Soldat dabei. Das sind nit solche Landschäden wie die
+unseren. Ein Soldat des Königs von Preußen ist voll rechtschaffener
+Zucht, ist allweil eine Landshilf und ein Leutfreund.« Das klang
+so unwahrscheinlich, daß es nicht beruhigend wirkte. Die Hände
+erhebend, mahnte der Hasenknopf: »Aber Brüder! Ich bin doch gewesen im
+Preußischen, hab's doch selber gesehen, wie da auf jedem Bodenfleck
+der Menschenfleiß und das Recht hausen. Was ich euch erzählt hab von
+des Königs Güt und vom Hilfswillen der evangelischen Leut? Ist das
+alles gählings verschwitzt? Bloß weil an einem Soldatenhütl die Litzen
+glanzen? Was geht der Soldat euch an? Der ist halt mitgeritten zur
+Sicherheit für den Herrn. Für uns ist *der* die Hauptsach. Als Fürstand
+des evangelischen Korpus von Regensburg ist er für die Salzburger
+Exulanten ein Baum und Schild gewesen.« Das Mißtrauen der Leute schien
+nicht völlig zu schwinden, aber sie wurden ruhiger und sahen dem Zug
+der Kienbrandträger mit schweratmender Erwartung entgegen.
+
+Eine Stille, in der nur das Rauschen der großen Flamme noch zu hören
+war, das Fauchen des Morgenwindes, der immer schärfer blies, und das
+hurtige Summen der fernen Talbäche. Die Fürsager kamen mit den beiden
+Herren zum Feuerstoß und warfen auf eine schweigsame, festliche Art
+die Kienbrände in die Flamme. Danckelmann trat gegen den Halbkreis
+hin und schwenkte freundlich und dennoch würdevoll die Reisemütze
+gegen die tausend Männer: »Grüß Gott, ihr lieben Leute! Ihr habt um
+Hilfe nachgesucht, ich bringe sie im Namen meines allergnädigsten
+Herrn, des Königs von Preußen, des Treuesten und Väterlichsten aller
+Evangelischen.« Schüchtern antworteten viele Stimmen: »Grüß Gott! Grüß
+Gott!« Und alle Augen hingen an dem würdigen alten Herrn, zu dem man
+Vertrauen haben konnte. Nur ein einziger, Leupolt Raurisser, sah in
+erregter Erwartung immer den anderen an. Der war bescheiden hinter
+dem Geheimrat zurückgeblieben, hatte ein bißchen geschmunzelt, als
+Danckelmann vom Väterlichsten aller Evangelischen sprach, war auf das
+Feuer zugeschritten und hielt nun, während seine Augen neugierig über
+die vielen Gesichter huschten, die kleinen Hände wie ein Frierender nah
+an die Flamme. Im Schatten der Helle war seine zierliche Gestalt eine
+schwarze Fläche, in der sich nichts unterscheiden ließ, und war nicht
+wie der Umriß eines Jünglings, sondern wie die Silhouette eines müden
+Greises. Rote Glutlinien umschimmerten den schwarzen Riß und drängten
+ihn noch dünner zusammen.
+
+»Ist der Mann anwesend,« fragte Danckelmann, »der zu Regensburg im
+Auftrag der Evangelischen von Berchtesgaden bei mir war?«
+
+»Wohl, Herr!« Der Hasenknopf trat vor und machte, obwohl er keinen Hut
+hatte, eine Handbewegung, als müßte er den Kopf entblößen.
+
+»Hat er den Leuten alles aufrichtig erzählt, was er auf seiner Reise
+durchs Preußische wahrgenommen?«
+
+»Wohl, Herr! Von allem Guten hab ich verzählt, vom evangelischen
+Hilfswillen und von der festen Ordnung im Land. Von der Sicherheit,
+in der jeder Bürger und Bauer lebt. Und von der Glaubensfreiheit, von
+den unbedrückten Seelen, von den evangelischen Gotteshäusern, von den
+Kanzelherren, die so gottfest predigen, und von den Pfarrhöfen, in
+denen gütige Frauen hausen, mit einem Häufl von lieben Kindern.« Bei
+dieser Feststellung fiel dem Hasenknopf eine wichtige Sache ein, die er
+den Leuten noch nicht erzählt hatte. Er wandte sich gegen den Halbkreis
+der Gnotschaften. »Wahr ist's, Leut, in der Gegend von Jüterbog« --
+man kicherte ein bißchen bei diesem wunderlichen Namen -- »da bin ich
+in einem winzigen Pfarrhöfl gewesen. Leut, da hat's gewummelt als wie
+im Immenkorb. Sind erst fufzehn Jährlen verheuert gewesen, das Pfarrle
+und die Pfarrfrau, und haben siebzehn Kinderlen gehabt, das achtzehnte
+schon unterwegs.« Im Ring der Leute prasselte ein heiteres Lachen
+auf, und man hörte eine Bubenstimme: »Sakrawolt, wie gottfest muß das
+preußische Pfarrmänndle gepredigt haben!« Wieder ein hundertstimmiges
+Lachen. Das klang so froh, als wär' es für diese bedrückten Herzen
+ein wohltuende Erlösungswunder: daß sie nach Monaten des Leidens
+das ausgehungerte Zwerchfell ein bißchen bewegen durften. Während
+das Gelächter hinknatterte über die vielen Köpfe, rief das magere
+Schwarzfigürchen vom Feuerstoß französisch zu Danckelmann hinüber: »Das
+ist die wirksamste Pastorenpredigt, von der ich noch je vernommen habe.
+Sie hat tausend betrübte Christen im Handumdrehen fröhlich gemacht. Der
+fähige Gottesmann muß Konsistorialrat werden.«
+
+Es blieb auch in der Stimme des Hasenknopf ein munterer Klang zurück.
+»Wie von allem Guten, Herr, so hab ich den Leuten auch redlich verzählt
+von allem Harten. Daß die Steuern nit linder sind, als bei uns.
+Freilich, die schlupfen wieder fürs Leutwohl ins Land hinein und gehen
+nit für Schuldzinsen und parisische Kebsföhlen drauf. Muß der Bauer im
+Preußischen zahlen, so kriegt er auch was. Arg plagen muß er sich. Der
+Boden ist mühsam. Da muß man tief hinunterackern, muß driefach misten,
+und schwitzen muß man um Halm und Frucht. Aber die Leut sind riegelsam,
+und der Wuchs ist überall gut. Die Küh haben Euter wie Metzenkörb,
+und die Ross' haben Flachsen wie Eisen. Die Arbeit muß einer gern
+haben im Preußischen. Sonst wär die Freud am Leben ein bißl mager.
+Die Gegnet schaut aus, als hätt sie der Höllische eben geklopft mit
+seiner Ofenschaufel. Kein Berg und kein Bergl nit. Alles Wasser lauft
+sandig und langsam. Nirgends ein lustiger Bach. Der Wind muß die Mühlen
+treiben, sonst tät die Halbscheid der Preußen kein Mehl nit haben.
+Aber lebfreudig sind sie doch allweil und lachen gern. Sind standhafte
+Leut. Wie man sagt bei uns: >Herr Jesu, dir leb ich, dir sterb ich!< --
+so sagen's die Preußen bei aller Gottslieb von ihrem Land und König.
+Aber wie die Leut da drunten reden! Man lust und lust und versteht's
+nit recht. Da müssen wir im Deutschen ein bißl umlernen, wenn wir ins
+Preußische kommen. Bei uns im Wirtshäusl schafft einer an: >Gelt,
+Marianndl, bist so gut und bringst mir ein paar Schweinshaxln!< Im
+Preußischen muß einer kommandieren: >He! 'n Eisbein! Wuppdich!<« Wieder
+prasselte ein Lachen über die tausend Köpfe hin. »Wahr ist's, Leut, die
+Preußischen reden kurzzipflet und flink. Oft tut's unsereinem weh in
+den Ohrwascheln, ich weiß nit warum. Im Anfang hat's mich schier aus
+dem Häusl gebracht. Da kommt so ein Preuß und sagt was. Du meinst, daß
+er beißen möcht. Hörst du aber ein bißl gutwillig hin, so kommt's dir
+für, als möcht er ganz freundlich Grüßgott sagen. Er kann's halt nit
+anders. Sein Maulofen hat nit die richtig Wärm. Ist schad drum. Täten
+die Preußischen mit unsereinem reden, wie sie schaffen und einwendig
+sind -- wahr ist's, Leut, die müßt man gern haben.«
+
+»Jedes Land hat seinen Boden, jedes Volk seine Art,« fiel Danckelmann
+ein, »man muß das nehmen, wie es ist. Bei euch im Süden ist auch
+nicht alles, wie es den Preußen zusagt.« Er schien gegenüber den
+Weisheiten der Hasenknopfischen Preußenforschung die Geduld ein bißchen
+verloren zu haben. Hinter ihm, beim Feuerstoß, klang ein herzliches
+Knabenlachen. Dann halblaut das französische Wort: »Dieser ehrliche
+Mann hat recht, mein lieber Geheimrat! Wir sollten versuchen, etwas
+Wärme hinter das Klappergebiß zu bringen.« Wieder lachend, drehte der
+junge Oberst die Brust gegen die Flamme, breitete die mageren Ärmchen
+und sperrte, ein bißchen in parodistischer Art, die Zähne auseinander,
+um den heißen Hauch des Feuerstoßes reichlich in seine Brust zu saugen.
+Da fand auch Danckelmann seine freundliche Ruhe wieder. Er sagte: die
+Evangelischen dürften aller zureichenden Hilfe gewärtig sein; doch
+läge es dem König von Preußen fern, dem Lande Berchtesgaden einen
+Untertan abwendig zu machen; Hilfe hätten nur jene zu erwarten, die
+als Exulanten eingeschrieben, also von ihrem Fürsten innerlich schon
+gelöst wären und sich einwandfrei als Protestanten erkennen ließen;
+deshalb wäre, ehe man von der Hilfe sprechen dürfte, eine Prüfung ihrer
+Glaubenssätze unerläßlich; man könnte nicht tausend Menschen auf ihren
+Glauben befragen; so möchten die Evangelischen einen aus ihrer Mitte
+wählen, der die notwendigen Fragen für sie alle zu beantworten hätte.
+Gleich riefen Hunderte von Stimmen: »Der Leupi Raurisser.« Danckelmann
+sagte: »Das scheint die Majorität zu sein. Wer dagegen wäre, daß dieser
+Mann für eure Seelen Zeugnis gibt, soll die Hand ausstrecken.« Keine
+Hand erhob sich.
+
+Dem Jäger war eine heiße Verlegenheitsglut über das Gesicht
+geflogen. Jetzt nahm er im Feuerschein den grünen Hut vor die Brust.
+»Vergeltsgott, meine Brüder! Das ist mir Ehr, die ich als heilig spür.«
+Er ging auf den jungen Oberst zu: »Fraget, gütiger Herr! Ich will alles
+ehrlich sagen, was mir in Herz und Seel ist.« Das feurig angestrahlte
+Soldätl machte verdutzte Augen und sagte, fast erschrocken: »Vor mich?
+Nee!« Höflich komplimentierend deutete er auf Danckelmann. Der fragte
+schon mit würdevollem Ernst: »Was glaubt er von Gott, vom Geiste, von
+Gottes Sohn und vom Werke der Erlösung?« Ein praktisch erfahrener
+Katechet schien Danckelmann nicht zu sein; was er fragte, war für den
+ersten Anhieb reichlich viel. Der junge Oberst, ohne eine Miene zu
+verziehen, flüsterte dem Geheimrat französisch zu: »Milder! Milder!
+Ich wäre schon in Verlegenheit!« Auch Leupolt mußte sich eine Weile
+besinnen, um die vier Antworten verständig zusammenzubinden. Dann
+sprach er mit der Ruhe eines reifen Menschen, mit der Inbrunst eines
+gläubigen Herzens und doch mit der Einfalt eines Kindes. Alles sagte
+er, daß jedes Wort zu erweisen war durch eine Stelle der Bibel. Und
+als der Geheimrat mit lauter Stimme fragte: »Glaubt ihr das alle so?«
+-- da fuhren die paar tausend weißen Arme in die Höhe, und die tausend
+Stimmen riefen wie aus einer einzigen, andachtsvollen Seele heraus:
+»Wir glauben!« Das war im sternfunkelnden Nachtschweigen, beim Rauschen
+des Feuers und in der Traumstille des zwischen Winter und Frühling
+kämpfenden Waldes ein so wundervoller Laut, daß der junge Oberst vor
+tiefer Erschütterung bleich wurde bis in die schmalen, hart aufeinander
+gepreßten Lippen. Vorgebeugt, das spitz herausgeschobene Gesicht
+scharf abgehoben von der Feuerhelle, die übereinander gepreßten Hände
+auf den Degenknauf gestützt wie auf einen Krückstock, sah er mit groß
+erweiterten Augen den Jäger an und spähte über alle Gesichter hin, über
+das rötliche Glimmbild der wunderlich gestalteten Felsen und über das
+Funkelgewölbe des schwarzblauen Himmels, den fern im Osten schon eine
+matte Lichtahnung des kommenden Morgens überschlich.
+
+Auch Danckelmann schien unter dem Eindruck dieses Augenblicks zu
+stehen. Seine Stimme klang unsicher, als er fragte: »Was glaubt er
+von der Taufe, von der Sündenvergebung und vom heiligen Abendmahl?«
+Da brauchte Leupolt sich nicht zu besinnen. Was er sagte, riß die
+Tausend wieder zu dem frohen Schrei empor: »Wir glauben!« Dennoch
+schien der Geheimrat nicht völlig zufriedengestellt. Diese fromme
+evangelische Seelenmusik erschien ihm nicht völlig frei von Klängen,
+die ein strenger Protestant als halb katholisch empfinden konnte. Eine
+Einwendung erhob er nicht, sondern fragte weiter: »Was glaubt er von
+Himmel und Hölle?«
+
+»Himmel ist überall, wo der Herrgott ist. Und allweil bei Gott und in
+ewiger Freud ist die Wohnstatt der Guten, wenn sie verschnauft haben
+als redliche Christen. Zu jeder sauberen Seel in ihrer Todesstund
+sagt Jesuchrist: Noch heute wirst du bei mir im Paradiese sein! --
+Überall, wo Gott nit weilen mag, ist Höll und ewige Pein. Da hausen die
+Unverbesserlichen im Bösen.«
+
+»Glaubt ihr das alle so?«
+
+»Wir glauben!«
+
+»So sag er mir --«
+
+Der junge Oberst legte wehrend die Hand auf den Arm des Geheimrats. Der
+merkte das in seinem Eifer nicht und fragte: »Sag er mir, was glaubt er
+vom sogenannten Fegefeuer?«
+
+»Ans Fegfeuer glaub ich nit.«
+
+»Warum nicht?«
+
+»Weil Gottes Weisheit das Nutzlose nit erschafft und ein zweckloses
+Ding zwischen Himmel und Höll nit dulden kann. Die im unsauberen
+Laster und in der Sünd Verstockten kommen aus dem Feuer nimmer heraus.
+Da reicht die Höll. Die redlichen Willens sind, die sündigen nit
+unverzeihlich und kommen nit hinein ins Feuer. Da reicht der Himmel.
+Ohne Schuld auf Erden ist bloß ein einziger gewesen. Der Menschensohn.
+Was sonst noch lebt, und tät es der Beste sein, ist alles wie ein
+Hälml, das sich biegt unter hartem Wind und sich wieder aufrichtet in
+guter Stund. Wozu ein Fegfeuer? Redliche Reu hebt jede schwachgewordene
+Seel dem Herrgott entgegen. Da ist siebenfache Freud in der Höh. So
+steht's geschrieben. So ist es.«
+
+Noch ehe Danckelmann eine Frage an die Tausend richtete, riefen schon
+alle Stimmen: »Ans Fegfeuer glauben wir nit.«
+
+»Was hält er von jenen, die anderen Glaubens sind als er?«
+
+Leupolt schwieg, seine Brauen zogen sich zusammen.
+
+»Warum unterläßt er es, zu antworten?«
+
+Da wandte der Jäger die trauernden Augen von dem würdigen Manne ab, sah
+den jungen Oberst an und sagte ruhig: »Herr! Meine Mutter, von allen
+Müttern die beste, ist eine gutkatholische Frau.«
+
+»Will er damit sagen --« fiel Danckelmann ein. Weiter kam er nicht.
+Neben ihm klang eine leise, scharfe Stimme: »_Assez!_« Wieder legte
+sich die schlanke weiße Jünglingshand auf seinen Arm. Dann ein flinkes
+Gewirbel französischer Worte, halb ernst, halb mit spöttischem Klang:
+»Wir wollen da Schluß machen. Wer katechisieren will, soll's besser
+verstehen als der andere. Jeder von diesen Christen, mein lieber
+Danckelmann, glaubt hundertmal mehr als Sie. Von mir nicht zu reden.
+Ich stehe nackt und frierend vor diesen warm umwickelten Seelen.« Er
+trat erregt auf Leupolt zu, betrachtete ihn mit einem freundlich
+forschenden Blick und fragte mit leiser Zärtlichkeit, die seine Stimme
+völlig veränderte: »Hat er ooch 'ne Schwester?«
+
+Der Jäger schüttelte stumm den Kopf.
+
+»Schade!« Und langsam, fast schleppend -- als wär' es für ihn eine
+Gedankenarbeit, die reindeutschen Worte zu finden -- sprach der kleine,
+zierliche Offizier zu dem glühenden Gesicht des Jägers hinauf: »Mutter
+is der Name alles Gütigen uff Erden. Det Treueste und Wärmste heißt
+Schwester. Er hätte verdient, 'ne Schwester zu haben.« Seine weiße
+schlanke Hand faßte eine Falte an Leupolts Kittel. Der zärtliche Klang
+war erloschen, die Stimme verwandelt zu harter Strenge. »Er is so 'n
+reinlicher Christ, wie 'n wohljeschaffener Mensch. Wird er ooch 'n
+ebenso beschaffener Bürger werden?« Ein huschendes Lächeln. »Wat hält
+er von der weltlichen Obrigkeit?«
+
+»Daß sie so nötig ist, wie die hilfreiche Sonn über dem Boden und wie
+die Feuchtigkeit im Acker. Wenn's die richtige ist, die allweil im Land
+das Gute und Rechte will, das Leben nit nötet, die Seelen nit zwängt,
+so muß man ihr gehorsamen auf Schnaufer und Sterben.«
+
+»So? Meint er?« Wieder dieses flinkverschwindende Lächeln. »Und welche
+is unter solcher Obrigkeit die notwendigste Tugend eines guten Bürgers?«
+
+»Die Treu.«
+
+»Ooch. Es gibt 'ne bessere.«
+
+»Mutige Tapferkeit wider jeden Landsfeind.«
+
+»Ooch. Es gibt 'ne bessere.«
+
+Leupolt schwieg, verwirrt durch den funkelnden Stahlglanz dieser
+strengen Jünglingsaugen.
+
+»Ick will 's ihm sagen: *die Pflicht*. Det is der Hammer for alle
+steinernen Nüsse des Lebens. Un weeß er ooch, wat for'n Unterschied is
+zwischen Fürst und Bürger? Ick will's ihm sagen. Ein guter Fürst und
+'n pflichtvergessener Bürger, da is der Fürst der höhere. Ein guter
+Bürger und 'n pflichtvergessener Fürst, da is der Bürger der bessere.
+Ein pflichtgetreuer Fürst und ein pflichtgetreuer Bürger, da is keen
+Unterschied nich. Jeder ein Diener seines Volkes.« Nun das leise,
+feinspielende Lächeln wieder. »Nna? Kann er det ooch glauben?«
+
+»Wohl, Herr!« Mit zitternden Fäusten preßte Leupolt den Hut an die
+Brust. »Jetzt steht das für mich geschrieben. So ist es. Da glaub ich
+dran.«
+
+»Denn soll 'r seinen Glauben den anderen predigen. So fleißig und
+gottfest, wie der Paster von Jüterbog das Predigen verstund. Und
+Preußen wird Wachstum haben. Jeb er mich seine Hand! Will er _dans cet
+esprit_ der Unsere werden, denn bin ick der Seine. Und nu ruf er die
+anderen her. Denen will ick sagen, wie der König von Preußen ihnen
+helfen wird. Besser sollen sie's _naturellement_ nich haben als unsere
+Preußen. Aber ooch nich schlechter.«
+
+In einem Sturm von Glück und Freude schrie Leupolts klingende Stimme
+in das schöne kalte Nachtschweigen: »Her zu unserem Herrn, ihr
+Brüder in Christ! Der Helfer will reden zu euch!« Wie eine große,
+rauschende, weißgraue Woge strömte neben dem Feuerstoß der Halbkreis
+der Gnotschaften gegen den Jäger hin und schloß sich um die beiden
+Herren und die Fürsager zu einem engen Ring. Die Vordersten warfen sich
+auf die Knie und kauerten sich auf den Boden, damit die hinter ihnen
+Stehenden sehen und hören könnten. In diesem Ring von vorgestreckten
+Köpfen, von glanzäugigen, zwischen grellem Feuerschein und schwarzem
+Schatten wechselnden Gesichtern klang die langsame, nach deutschem
+Ausdruck ringende, scharfgepreßte und dennoch wohllautende Stimme des
+Sprechenden. Bei der atemlosen Stille, mit der sie lauschten, vernahmen
+die Tausend jedes Wort.
+
+Nur ein einziger verstand nicht; der einsame Hiesel Schneck auf der
+rotglimmenden Felswand droben. Über die Wand hinunterzusteigen und
+hinüberzuspringen zum Ring der Lauschenden -- auf diesen Einfall
+konnte er nicht kommen. So erfindungsreich und beweglich war sein
+sechzigjähriges Kindergehirnchen nicht. Gewissenhaft blieb der
+Hiesel, wo man ihn hatte stehen lassen. Obwohl er sich mit dem halben
+Leib hinaushängte über den Steinrand und die braunen Tatzen wie
+Suppenschüsseln um die Ohrmuscheln wölbte, konnte er nur manchmal
+ein Wort erschnappen. Da drunten wurde alles beredet: die Lösung von
+der Leibeigenschaft auf Kosten des Königs von Preußen; das Reisegeld
+für die völlig Unbemittelten, die alles verloren hatten; Führung und
+Fürsorge, Verpflegung und Unterkunft für die Dauer der weiten Wanderung
+bis ins Brandenburgische und nach Ostpreußen; die Zuteilung von
+gutem Ackerboden in fruchtbarer Gegend; zwanzig Morgen Feld für den
+einzelnen Mann, zwanzig bis dreißig Morgen für kinderreiche Familien;
+Bauholz, Steine, Kalk und Arbeitshilfe für Errichtung von Wohnstätten;
+Begabung mit Rindern, Pferden und Ackergerät; unbedrückende, auf
+viele Jahre verteilte Rückzahlung der empfangenen Werte; zehnjährige
+Steuerfreiheit für das neue Dach; Einteilung in die Seelsorge; freier
+Gottesdienst und Freiheit der Seelen.
+
+Daß da drunten beim Feuerstoß der Schnapsgutter oder ein Weinkrug
+reichlich herumgereicht worden wäre, davon hatte der Hiesel Schneck
+trotz seiner ruhelos spähenden Luchsaugen nicht das Geringste gewahren
+können. Drum blieb es ihm auch völlig unverständlich, daß die Tausend
+beim lodernden Feuerstoß und in ihren grellbeleuchteten Schneekitteln
+sich zu gebärden begannen wie froh und selig Betrunkene. Alle
+drängten sie jubelnd gegen die fremden Herren hin, jeder wollte einen
+Händedruck des Helfers erhaschen, und die freudigen Jauchzer schrillten
+durcheinander, als würde da drunten nicht eine polizeilich verbotene
+Trutzversammlung abgehalten, sondern eine heilige, das Blut und die
+Seelen durchleuchtende Sonnwendfeier. Aus dem freudetrunkenen Gewirbel
+der tausend Seligkeitslaute hörte der verdutzte Hiesel Schneck eine
+verzückte Bubenstimme herausschrillen: »Du Kaiser im Untersberg! Schlaf
+weiter, so lang wie du magst! Da ist ein Lebendiger, der uns auflupft
+aus aller deutschen Not!« Dann eine Greisenstimme mit trunkenem Schrei
+und voll junggewordener Kraft: »Du Schneekittel, du mutloser und
+trauriger! Ich brauch dich nimmer. Gucket, Brüder, wie lustig mein
+Lugenröckl brennt!« Wie dieser eine tat, so taten hundert, so taten
+alle. Gleich großen weißen Vögeln flogen die Kittel und Kapuzen der
+Sichtbargewordenen ins Feuer. Die lodernde Flamme wuchs und schlug noch
+höher empor, als die Wipfel der höchsten Bäume standen.
+
+Mit großen Augen guckte der Hiesel Schneck hinunter auf diese
+märchenhafte Sache, die er nicht begriff. Das verrückte
+Durcheinandergewirr und das jubelnde Geschrei erschien ihm als etwas
+Lächerliches und stimmte ihn doch so sonderbar traurig, daß er am
+liebsten wieder heulen hätte mögen wie damals in jener Schneenacht,
+die ihm die evangelikanischen Heimlichkeiten seines Schneckenweibls
+verraten hatte. Um sich dieser unbehaglichen Gefühlsbedrückung zu
+entreißen, rührte er mit den Fäusten in der Luft herum und knurrte
+gallig hinauf zum sternschönen Himmel: »Mar' und Josef, ich versteh's
+nit, kreuzikruzisaxundfixige Weltsnoterei und Höllementshund du
+verteufelter, und ich versteh's halt nit!«
+
+Wie der heilige Georg mit seiner Lanze losgestochen hatte auf den
+menschenfressenden Giftdrachen, so stieß der Hiesel den Eisenspitz
+seines Bergsteckens zwischen die Steinrippen der unbegreiflichen Welt
+und sauste mit wütenden Sprüngen über den steilen Hang hinunter zur
+Holzerhütte, um in der Herdgrube ein Feuer anzuschüren, wie es Leupolt
+ihm aufgetragen hatte. Seine Pflicht und Schuldigkeit tat der Hiesel
+unter allen Umständen, auch wenn er nicht verstand, wozu es nötig war.
+In dieser Hinsicht konnte man den Schneck mit einem guten Preußen
+vergleichen, freilich unter dem Risiko, daß der sonst so gutmütige
+Hiesel mit seinem Bergstecken unbarmherzig auf jeden losdreschen würde,
+der so was Schauderhaftes über ihn aussprach.
+
+
+
+
+Kapitel XXV
+
+
+Um die Dächer von Berchtesgaden blaute die Morgenfrühe, die nach der
+Neumondnacht zu leuchten begann. Die höchsten, noch weißen Bergzinnen
+waren schon rosig angestrahlt, die Täler noch umsponnen von grauem
+Frühschatten. Auf drei Türmen läuteten die Glocken. Frauen und Mädchen
+wanderten schweigsam zur Messe. Sie trugen das Gebetbuch und den
+Rosenkranz zwischen vorgestreckten Händen. Neben den vielen Musketieren
+waren nur wenige Mannsleute und Burschen zu sehen, selten einer mit
+frohen Augen.
+
+Nicht nur die müden Menschengesichter, auch die Häuser und ihre Mauern
+erzählten von den erbitterten Glaubenskämpfen der vergangenen Wochen.
+Viele Kaufgewölbe waren geschlossen. Zwischen Häusern mit grünen
+Fensterläden und Flurpfosten stand immer wieder eines, dessen Türen
+und Kreuzstöcke mit Mohnfarbe angestrichen waren. Dadurch hatte die
+Marktgasse unleugbar an malerischem Reiz gewonnen. Das prächtige,
+reichlich verschwendete Rot und das saftige Frühlingsgrün stimmte gut
+mit dem silbernen Weiß der Mauern zusammen, das freilich der früher
+üblichen Reinheit ein bißchen entbehrte. Mit Kohle oder schwarzer
+Wagenschmiere, sogar mit einer Farbe, die man sonst bei künstlerischer
+Betätigung nicht zu verwenden pflegt, waren auf den weißen Mauern
+phantasievolle Teufelsgestalten mit schweinsartig geringelten
+Schwänzchen angemalt. Diese Zeugnisse einer naiven Volkskunst waren
+textlich belebt durch Stoßseufzer der christlichen Nächstenliebe,
+gegen die man den Vorwurf einer gewissen Eintönigkeit erheben mußte.
+Auf jeder Mauer wiederholten sich die gleichen Geistesblitze:
+»Luthrischer Siach!«, »Du Salzlecker!«, »Verhöllter Saukerl!«,
+»Schwarzweißer Preiß!«, »Evangelischer Teufelsbraten!« Von dieser,
+seit dem Versöhnungsschießen epidemisch gewordenen Volkskunst waren
+auch die Mauern der Gutgläubigen nicht verschont geblieben. Es erwies
+sich wieder einmal das Sprichwort: »Schrei hinein in den Wald und so
+hallte heraus.« Man hatte die Wände der Treugebliebenen geziert durch
+Mönchsköpfe mit Ablaßzetteln als ausgestreckte Zungen, durch Heilige
+mit Geldsäcken unter den Armen, durch Kapuziner mit Säbel, Muskete
+und Bratwurstkränzl. Diese Bilder waren aber nur noch fragmentarisch
+vorhanden, weil man sie wieder heruntergekratzt hatte. Das war
+polizeilich erlaubt: an ketzerischen Mauern war jedes Erlösungswerk
+verboten; hier hieß es: »Volksstimme, Gottesstimme.«
+
+Häufig waren Häuser zu sehen, deren Türen und Fensterstöcke nach
+ausgiebiger Terpentintaufe nur noch einen blaßroten Schimmer
+hatten. Man durfte da nicht immer auf eine reumütige Heimkehr zum
+fürstpröpstlichen Glauben schließen. Gleich in den ersten Nächten
+nach dem Versöhnungsschießen hatten »evangelikanische Inkulpatanten«,
+wie Muckenfüßl rapportierte, zu heimtückischem Ausgleich auch die
+Fensterstöcke und Haustüren gutgläubiger Nachbarn mit roter Farbe
+bestrichen. Viel Terpentin war nötig. Die Preise der erlösenden
+Flüssigkeit stiegen. Weil man schließlich -- helfe, was helfen kann
+-- die fälschlich verketzerten Haustüren mit Kirschwasser, mit
+Zwetschkengeist und doppelt gebranntem Enzian waschen mußte, ergab
+es sich, daß alles, was unter die Bezeichnung Spiritus fiel, im Lande
+Berchtesgaden eine schwer erschwingliche Sache wurde. Der Rausch
+war ein seltenes Ding, man sah auch an Sonn- und Feiertagen keinen
+Betrunkenen mehr, und Pfarrer Ludwig konnte heiter zu Lewitter sagen:
+»Er hat doch recht, der Amsterdamer! Keine Sach des Lebens ist so
+kotzmiserablig, daß sie nit irgendwie zur moralischen Besserung der
+Menschheit dienen könnt.«
+
+Wie fast alle Häuser der Marktgasse, so hatten auch die großen,
+altersdunklen Torflügel des Stiftes ein neuzeitliches Aussehen.
+An ihnen waren die vier großen, engbedruckten Papierbogen mit den
+vielen Paragraphen des Exulationsediktes angeschlagen; der Mann
+mit den entbehrlichen Schriftzeichen hatte hier die zwecklose
+Buchstabenverschwendung zu einer Orgie ausgestaltet. Und wie ein
+Herrscher sich umgeben sieht von seinen Generälen und Soldaten, so
+war das große Papierquartett der Landsverweisung aller Evangelischen
+im Ring umnagelt mit allen Polizeiverboten, die aus dem Schoß der
+Bekehrungswochen herausgesprungen waren. An diesen weißen Zetteln
+ging der stille Strom der Kirchgänger vorüber. Und ging vorüber an
+einem wunderlich blickenden Menschen, der auf den Marmorstufen des
+Marktbrunnens hockte, zwischen den Armen ein schlummerndes Bübchen,
+auf dem Bauernhut drei von Sonne und Regen verblichene Trauerbänder.
+Jedesmal, wenn zwischen den Weibsleuten ein Mannsbild an ihm
+vorüberging, rief er mit erwürgter Stimme die gleichen Worte: »Höi!
+Luset! Kauft nit einer meinen Hausrat, meine Küh und meine Geißen,
+mein Feld und mein Futter? Ich geb's um den halben Preis. Bloß der
+Gerstenacker muß mein bleiben für den gottsfreien Blumenwuchs. Da soll
+man nit misten und mähen. Das ander alles kann einer haben um den
+halben Preis.« Ein sonderbares Lächeln. »Jeder kann's kaufen. Alles ist
+gutkatholische War.« Die Leute sahen den Christl Haynacher in Erbarmen
+an oder schüttelten die Köpfe. Manche erkannten ihn nimmer. Er hatte
+sich verändert. Sehr.
+
+Nach der Woche ohne Mond und Sonne, die ihm das Versöhnungsschießen
+eingetragen hatte, war Christl Haynacher ein geduldiger Mann geworden.
+Er versorgte seine Kühe und Geißen, kochte für sein Bübl das Mus,
+richtete unverdrossen auf dem Grabhügel seiner Martle ein neues Kreuz
+wieder auf, wenn das andere verschwunden war, schreinerte schließlich
+die nötigen Kreuze im Vorrat für eine ganze Woche, und verschwieg
+gehorsam die polizeilich verbotene Geschichte vom gottseligen Absterben
+seines Weibes. Nur von dem heiligen Mirakel erzählte er, das seine
+zwei »Preußenkinderlen« aus der Armeseelenkammer in den Glanz des
+Himmels hinaufgehoben hatte. So blieb er, bis der Kanzler von Grusdorf
+aus Gründen der Staatsräson in der geduldigen Ergebung des Christl
+Haynacher einen Wandel hervorrief. Unter Androhung vierzehntägiger
+Haftstrafe verbot man dem Christl, etwas »Kreuzähnliches« auf das
+Grab seiner Martle zu stecken, und zwei Dutzend Stockstreiche sollten
+ihm gewährleistet sein, wenn er nur einem einzigen Menschen noch die
+Himmelfahrtsgeschichte seines ungetauftgetauften Zwillingspärchens
+vorschwindle. »So so?« sagte Christl, als ihm Muckenfüßl diese
+Regierungsverlautbarung aus dem gefährlichen Notizbuch vorgelesen
+hatte. Das Grab seines Weibes blieb ohne Kreuz, und um das Schweigen
+leichter zu erlernen, vermied es Christl, mit Menschen beisammen zu
+sein, wurde erschreckend mager und bekam die Augen eines wilden Tieres.
+
+Vor zwei Tagen hatte man ihn zum Landgericht befohlen. Der Mutter
+Jesunder war es aufgefallen, daß der Haynacher immer häufiger in der
+Kirche fehlte. Nun sollte er die schwarze Seele weißwaschen. Während
+seine verstörten Augen über den Tisch der Gerechtigkeit glitten,
+sagte er ruhig: »Mein Bübl muß sein Mus haben. Eine Magd kann ich nit
+bezahlen. Soll ich fleißig die Meß besuchen, so müssen mir die Herren
+eine Kindsmagd stellen.« Trotz andauernden Kopfschüttelns wollte sich
+aus dem justiziarischen Sauermilchgehirn keine verwertbare Butter
+absondern. Bezahlte man dem Haynacher eine Magd, so mußte doch wieder
+das Mädel die Kirche versäumen. Das war also gehupft wie gesprungen.
+Und dem Stifte kam es billiger zu stehen, wenn der Himmel nur um das
+Kirchengebet des Christl Haynacher verkürzt wurde. Man mußte die Sache
+auf sich beruhen lassen. Damit aber das Verhör nicht völlig ohne
+Resultat bliebe, stellte der Landrichter _in miraculi sororum geminarum
+causa_ an den Christl allerlei schwerbegreifliche Fragen. Der wortkarge
+Haynacher, als er merkte, daß ihm das Reden nicht nur gestattet, sogar
+befohlen war, wurde überaus gesprächig, bekam einen heilig entrückten
+Blick und schilderte das gottschöne Wunder seiner Martle so genau,
+als wäre er selbst dabei gewesen. »Und schauet, lieber Herr, da
+ist's in der Finsternis allweil heller worden. Wie die Sonn an einem
+Frühlingsmorgen, so ist der lichtscheinige Himmelsglanz hergefallen
+über das gottsliebe Pärl. Zwei treue Mutterhändlen haben herausgelangt
+aus der Höh --«
+
+»Ssssssso?« Der Landrichter ließ den Puder seiner Wuckelperücke
+nebeln. »Feldwebel! Schmeiß er das besoffene Schwein aus meiner
+Kanzlei!« Das geschah. Und *wie* es geschah, in einem so gottsheiligen
+Augenblick, das richtete im Verstand des Christl Haynacher eine so
+verheerende Wirkung an, daß er wie ein Verrückter hinüberlief zur
+Exulationskommission und sich einschrieb in die Liste der evangelischen
+Emigranten, mit der ausdrücklichen Beifügung: »als gutkatholischer
+Christ«. So ganz verstört war er, daß ihm bei der Eintragung sein
+Bübchen nicht einfiel. Und nun bot er schon den zweiten Tag seine Habe
+zum Verkauf: »Ich geb's um den halben Preis! Bloß der Gerstenacker
+soll bleiben für den gottsfreien Blumenwuchs. Da soll man nit misten
+und mähen.« Immer dünner wurde der Zug der Kirchgänger. Jetzt öffnete
+sich die Tür eines nahen Hauses, und würdevoll erschienen die vier
+entbehrlichen Federstriche, mit großer Aktenmappe, mit tadellos
+überpudertem Gehirnpelz. Mißmutig musterten die kleinen Mausaugen
+die frischgeweißte Hauswand. Sei es, daß man die tünchende Schicht
+zu dünn genommen, sei es, daß die Feuchtigkeit der Morgenluft den
+Kalk transparent machte, so oder so, das vierzeilige Lied, das ein
+unerforschbarer Missetäter mit roter Farbe auf diese Mauer geschrieben
+hatte, leuchtete deutlich durch:
+
+ »Du Christenschnufler, du Gottsentdecker,
+ Tust du als fleißiger Seelenschmecker
+ Dem Inkulpaten durch's Nasenloch gucken?
+ Oder mußt du dich tiefer bucken?«
+
+In Anbetracht der Gedankenspiele, die das doppelhöckerige Justizgehirn
+des Landrichters durchkribbeln mußten, konnte man, als sein Scharfblick
+von der getünchten Mauer hinüberglitt zum Christl Haynacher, eine
+Besserung seiner Laune kaum erhoffen. Dennoch kam sie. Mit einem fast
+heiteren Lächeln blieb er vor dem Bauer stehen. »Nun? Er hat sich ja,
+wie ich höre, inskribieren lassen als Exulant?«
+
+»Wohl, Herr!« Langsam hob der Christl die tiefliegenden Augen. »Aber
+nit als Evangelischer. Ich und mein Bübl, wir bleiben gutkatholische
+Christen bis zur erlösenden Sterbstund.«
+
+Das Lächeln des Landrichters wurde noch fröhlicher. »Ich observiere
+mit Satisfaktion, daß er seinen Deszendenten ausdrücklich als
+katholisch nominiert und will es _ad notam_ nehmen.« Dieses Deutsch
+verstand der Christl nicht. Er guckte stumm. »Aber meint er nicht,
+mein guter Haynacher, daß es, wenn, auch außerdienstlich, ein hoher
+Gerichtsbeamter mit ihm spricht, generaliter empfehlenswürdig wäre,
+sich vom Sitzfleisch zu erheben?«
+
+»Das geht nit, Herr, mein Bübl schlaft. Es hat nit schlafen können die
+ganze Nacht. Ein bißl Ruh, Herr, muß man einer Menschenseel vergönnen.«
+
+»Ja. Gut! Bleib er also sitzen! Aber hat diese Schlafsucht seines
+Kindes nicht eine andere Ursache? Man hat mir rapportiert, daß er viel
+mit seinem Bübchen redet, auf eine sonderbare Weise.«
+
+»So so?« Der Bauer legte den Hut mit den Trauerbändern auf die
+Marmorstufe und strich sich mit der Hand übers Haar, das hinter dem
+rechten Ohr einen weißlichen Fleck bekam, vom vielen Kratzen.
+
+Im Blick des Landrichters glänzte die Freude eines inquisitorischen
+Fundes. »Da erzählt er wohl jetzt seinem *Kinde*, was den Leuten zu
+erzählen ihm verboten ist?«
+
+»Gott bewahr!« Christls Augen funkelten wie Wolfslichter. »Ich tu
+allweil gehorsamen, Herr!«
+
+»Was schwatzt er dann immer mit seinem Kind?«
+
+»Ich tu nit schwatzen, Herr! Ich tu dem Bübl, wenn es nit schlafen
+kann, ein Liedl singen.«
+
+»Man rapportiert mir aber, das wäre geredet, nicht gesungen.«
+
+Ein hartes Lachen irrte um Christls aschgraue Lippen. »Jeder singt,
+wie er's kann. Und wie man ihn laßt.« Der Haynacher erhob sich,
+schmiegte das wachgewordene Bübl an seine Brust und sagte fromm:
+»Gelobt sei Jesuchrist und die heilige Mutter Marie, drietausendmal
+in Ewigkeit Amen!« Ehe die vier überflüssigen Buchstaben denkfähig
+wurden, war der Haynacher schon davongegangen. Erst nach einer Weile
+vermochte Doktor Halbundhalb die Wahrheit zu ergründen: es handle
+sich da um einen schwachsinnigen Menschen, der, als Inskribierter,
+nicht im klaren war über die politische Zuständigkeit seines
+eingestandenermaßen katholischen Deszendenten. »Man kann das Kind einem
+solchen Narren nicht länger überlassen. Das wäre unmenschlich.« In
+diesem Gedankengange wurde der Landrichter durch einen jungen, schon
+zu körperlicher Rundung neigenden Klosterbruder unterbrochen, der aus
+dem Stiftshof herauskam und auf ihn zutrat. Obwohl er glatt rasiert
+war, erinnerte er merklich an den Grenzmusketier mit dem zottigen
+Faschingsbart. Das gedunsene Gesicht sah ein bißchen ermüdet aus, ein
+bißchen abgehetzt. Die Hände in die Kuttenärmel geschoben, verneigte
+er sich demütig und sprach ein paar leise Worte -- nicht: »Gelobt sei
+Jesus Christus!« -- er sagte was anderes und flüsterte vom Leupolt
+Raurisser. Doktor Willibald stutzte. Rasch verschwanden die beiden in
+der Torhalle des Stiftes.
+
+Eine Viertelstunde später trabten auf flinken Gäulen zwei Dragoner
+und ein berittener fürstpröpstlicher Jäger gegen die zum Hallturm
+führende Straße hinaus, vorüber am aufblühenden Freudengärtl der
+allergnädigsten Aurore de Neuenstein, die eben aus ihrem Schlafzimmer
+auf das zierlich verschnörkelte Altänchen heraustrat, um in der
+milden Sonne des schönen Lenzmorgens ihre Schokolade einzunehmen.
+Trotz der frühen Stunde trug das kindhafte Fräulein kein bequemes
+_Deshabillé_, sondern war schon geschnürt, wenn auch nicht völlig
+zur zarten Wespentaille wie sonst. Frisiert war sie noch nicht, aber
+schon geschminkt und schönbepflastert. Sehr reichlich. Sonst hatte
+sie nur immer zwei Schönheitspflästerchen neckisch verwendet. Jetzt
+trug sie ein halbes Dutzend. Das hatte unliebsame Ursachen. Ihr holdes
+Unschuldsgesichtchen war seit einiger Zeit ein bißchen verpustelt,
+als wäre sie eine Liebhaberin heftig gewürzter Speisen geworden. Auch
+schien sie von dem Familienübel derer von Grusdorf befallen zu sein:
+von der Gicht. Täglich nahm sie ein gesalzenes Bad, so heiß, wie es
+eine zarte Menschenhaut nur mit Aufwand größter Tapferkeit zu ertragen
+vermag. Auch an seelischen Depressionen krankte sie und wurde häufig
+von Weinkrämpfen befallen, wie ein den weißen Mäuschen zuneigender
+Zechbruder sie im besoffenen Elend zu bekommen pflegt. Doch an jedem
+Abend, wenn der Landesherr sich mit seiner Freundin _en titre_ zur
+gemeinsamen Mahlzeit setzte, wurde Aurore de Neuenstein überraschend
+liebenswürdig, sprühte von Heiterkeit und wußte ihren _maître adoré_ in
+eine Stimmung zu versetzen, die ihn seiner vielen abtrünnigen Subjekte
+völlig vergessen ließ. In solch einer gutgelaunten, für köstlichen
+Nachtschlaf sorgenden Stunde äußerte er einmal die anerkennende
+Meinung: einer reizvolleren Freundin könne sich auch der König von
+Polen nicht erfreuen, dem doch bekanntlich die größte Auswahl zur
+Verfügung stünde.
+
+Dankbar für ein so ehrenvolles Kompliment, überbot sich Aurore de
+Neuenstein in entzückenden Munterkeiten, die ihr um so leichter
+gelangen, weil Graf Tige, an langwieriger Verkühlung leidend, sich
+chronisch von der intimen Tafel der Allergnädigsten exkusieren ließ.
+Das nannte Herr Anton Cajetan »so verwunderlich wie das unerforschbare
+Rätsel der Armeseelenkammer«. Nicht ganz begreiflich war ihm auch der
+Zustand andauernder Feindseligkeit, der zwischen seiner niedlichen
+Freundin und ihrem morosen Onkel von Grusdorf zu bestehen schien. Bei
+einer Diskussion dieses erstaunlichen Familienzwistes vergaß Aurore de
+Neuenstein wieder einmal ihrer feinen Pariser Bildung und schwäbelte in
+bebendem Zorn: »E rechts Kameel isch'r. Wo was schief geht im Ländle,
+isch'r ratlos und weiß koi Mittel nit.« Sie selbst erschrak über diesen
+heimatlichen Ausbruch ihrer dunkelsten Unruhe. Herr Anton Cajetan aber
+hatte nur eine politische Wahrheit herausgehört, die ihn nachdenklich
+klagen ließ: »Ein großer, in allen Relationen versierter Staatsmann
+ist so selten, wie ein reiner Engel auf Erden.« Er küßte galant das
+Händchen seiner verblüfften Freundin, die erleichtert aufatmete. Über
+solch jähes Erschrecken, wie über das ruhelose Mißtrauen, von dem sie
+stets erfüllt schien, konnte sie nie einen völlig hüllenden Schleier
+ziehen. Wenn die harmloseste Sache geschah, wenn der Klopfer an ihrem
+Gartentor gerührt wurde, wenn ein Lakai erschien, wurde sie immer
+zuerst von einer heftigen Konfusion befallen, bevor sie ihre Kontenanz
+und ihr unschuldsvolles Lächeln wieder fand. Und als sie auf ihrem
+Altänchen das Hufgeklapper hörte und die beiden Dragoner in Begleitung
+eines fürstpröpstlichen Jägers so hurtig traben sah, erschrak sie _à
+tel point_, daß sie unter der rosigen Schminke erblaßte. Allerdings,
+diesmal entbehrte ihr Schreck auch einer realen Beziehung nicht.
+Vor einigen Tagen hatte sie, für alle unvorhergesehenen Fälle, ihre
+kostbarsten Schmuckstücke, die Mehrzahl ihrer Pariser Toiletten,
+ihre feinste brabantische Spitzenwäsche und zwei schwere Kassetten
+mit klug ersparten Dukaten nach Reichenhall geschickt, über die
+berchtesgadnische Grenze. Just *dieser* Grenze trabten die zwei
+Dragoner und der fürstpröpstliche Jäger entgegen, mit einer Eile,
+als hätten sie auf amtlichen Befehl was flüchtig Gewordenes wieder
+einzufangen. In der ersten Bestürzung zeterte Aurore de Neuenstein:
+»Soldate! Soldate! Was isch denn? Halt! Ihr saudumme Kerle, höret ihr
+denn nit?«
+
+Sie hörten nicht. Und die Allergnädigste verbrachte eine qualvolle
+Stunde, bis ihre Zofe aus der Pflegerkanzlei die beruhigende Nachricht
+brachte, daß die Drei nur davongeritten wären, um den Leupolt Raurisser
+wegen Teilnahme an einer nächtlichen Fürsagung dem Aufenthalt ohne
+Mond und Sonne entgegenzuführen. Zur Beruhigung des überstandenen
+Nervensturmes nahm Aurore de Neuenstein ein dampfendes Salzbad,
+ungefähr um die gleiche Stunde, in der die drei Berittenen die
+Grenzwache beim Hallturm erreichten. Hier gab's einen Aufenthalt.
+Vornehme Gäste wurden feierlich empfangen, der Gesandte des Königs
+von Preußen mit seinem Geleitsoffizier, dem Obristen von Berg. Eine
+Eilstafette mußte absausen, um dem fürstpröpstlichen Hof die Ankunft
+des Gesandten zu melden. Erst, als die beiden Herren im Schritt
+davonritten, hinter einer Ehreneskorte von sechs Dragonern, fanden die
+Drei, die zum Hiesel Schneck wollten, einen Führer.
+
+Das kleine Jägerhaus lag schweigsam, mit verschlossener Tür. Im
+offenen Geißstall plätscherte was. Als die Soldaten durch den niederen
+Einschlupf guckten, erschrak das Schneckenweibl fürchterlich. Die
+Drei sprangen auf die Stubentür zu und fanden den Hiesel schnarchend
+im Bett. »Kerl, was liegst du am lichten Tag in den Federn? Das ist
+verdächtig.« Mit einer an ihm seltenen Beweglichkeit des Geistes
+antwortete Schneck: »Heut in der Nacht bin ich beim Hahnverlusen
+gewesen. Verstehst?« Der fürstpröpstliche Jäger bestätigte: »Allweil
+schlaft man nach dem Hahnverlusen.« Er wandte sich an Hiesel:
+»Deintwegen kommen wir nit. Wo ist der Raurisser?«
+
+Schneck, dem das Blut in die Stirn fuhr, nahm seine Zuflucht zu einem
+gesunden Himmelhund: »Kreuzteufel und Höllementsnoterei, was weiß denn
+ich?« Damit der Schläfer auf dem Heuboden erwachen und durch eine
+Dachluke entspringen möchte, schrie er aus Leibeskräften: »Ich bin doch
+nit dem Leupi seine Kindsmagd! Wird halt draußen im Wald sein. Das
+hat er nit schmecken können, der Leupi, daß die *Dragoner* kommen.«
+Das Wort war wie ein Trompetenstoß. Droben über der Stubendecke ein
+leichtes Gepolter. »Gott sei Dank,« dachte Hiesel, »jetzt fahrt er
+davon!« Dabei tat er, um jedes Geräusch da droben zu übertönen, einen
+brüllenden Fluch um den andern und strampelte mit den Beinen gegen
+die Bettlade. Er war ein prächtiges Mannsbild, der Schneck, nur kein
+Menschenkenner. An der Decke wurde die Stiegenklappe gehoben, und
+man hörte eine ruhige Stimme sagen: »Ich bin daheim. Und komm schon.
+Gleich.« Die Schneckin heulte in ihre Schürze, und Hiesel knirschte
+wütend gegen die Wand: »So ein Rindviech, so ein ehrenhafts!«
+
+Leupolt kam über die Stiege herunter, in dem verwitterten
+Bergjägerkleid, das er in der Nacht getragen hatte. »Was soll's, ihr
+Leut?«
+
+»Du mußt mit uns. Befehl der Stiftskanzlei.«
+
+»Gut!« Seine Augen glänzten. Als ihn die Dragoner packten, ihm die
+Hände hinter den Rücken zogen und den Strick um die Gelenke schnürten,
+sagte er lächelnd: »Das wär nit nötig. Ich geh gutwillig. Jetzt ist
+kein Weg nimmer, der nit der Erlösung zulauft.« Er drehte das Gesicht.
+»Vergeltsgott, Mutter Schneckin! Für alles. Und Vergeltsgott, Hies! Dir
+bleib ich gut.« Er trat hinaus in die Sonne, die drei anderen hinter
+ihm. Mit einem fürchterlich gestichelten Himmelsköter sprang Hiesel
+Schneck aus dem Bett heraus, im Hemd. Das war seit vierzig Jahren,
+trotz seltener Wäsche, ein bißchen eingegangen und kurz geworden.
+Man sah, was man nicht sehen wollte. Der Hiesel hatte magergeselchte
+Beine, fast so haarig wie Ziegenläufe. Gar nicht appetitlich sah er
+aus. Dennoch war etwas Schönes an ihm, als er die schüttelnden Arme
+hob und hinaufklagte zur schwarzen Stubendecke: »Herrgott, Herrgott,
+was für eine Welt ist das, verstehst! Wo der Redlichste nimmer sicher
+ist seiner Haut und Seel!« Eine knirschende Wut befiel ihn. »Her da,
+Schneckin! Her zu mir!« Er machte mit dem Zeigefinger eine Bewegung,
+wie schlechte Hundepädagogen sie zu machen pflegen, wenn sie einen
+widerspenstigen Teckel heranbefehlen. Als er das schluchzende Weibl
+umklammert hielt, brüllte er in seinem ehrlichen Menschenzorn: »Jetzt,
+Schneckin, verstehst, jetzt hat der christliche Hafen bei mir ein Loch.
+Heut in der Nacht, verstehst, da bin ich noch allweil kein richtiger
+Evangelikaner gewesen. Jetzt bin ich einer. Gottsherrgottsakerment, ich
+exulier, ich exulier und ich exulier, jetzt grad mit Fleiß! Verstehst,
+Alte?«
+
+»Wohl, Schneck, versteh schon!« weinte sie. »Aber ehnder du exulieren
+kannst, mußt du allweil ins Hösl schlupfen! Verstehst?« Der Hiesel
+verstand nicht. Er sprang unter einem Himmelhund, der so lang wurde
+wie eine Wagendeichsel, zum kleinen Fenster hin und legte sich, um
+hinauszugucken, mit beiden Armen in die Nische. Dadurch wurde das
+kurze Hemd noch kürzer. Auch die Stimme des Schneck erinnerte an
+ein klagendes Kind: »Herr Jesus, Jesus, Schneckin, jetzt binden die
+Saubrüder, die gottverfluchten, den Buben an die Rösser an!« So
+schrecklich, wie es für den Hiesel aussah, war es in Wirklichkeit
+nicht. Als die zwei Dragoner aufgestiegen waren, knüpfte jeder ein Ende
+des Strickes, mit dem sie Leupolt gefesselt hatten, an den Sattelknauf.
+Und fort. Der Jäger zwischen den beiden Gäulen. Die hatten keinen
+allzulangen Schritt. Da war schon mitzukommen. Aber sobald die Reiter
+auf der breiten Straße waren, fingen sie zu traben an, weniger aus
+Diensteifer als aus Neugier; sie wollten den Einzug des preußischen
+Gesandten zu Berchtesgaden nicht versäumen. Leupolt mußte springen,
+verlor den Hut und sagte: »Leut! Mein Hütl! Haltet ein bißl!«
+
+Ein Dragoner lachte: »Wo du hinkommst, brauchst du kein Hütl nimmer.
+Sei froh, wenn du den Kopf behaltst.« Und weil er sah, wie flink der
+Leupolt Raurisser zu springen verstand, begann er den Gaul zu spornen,
+als wäre er neugierig, welcher von beiden der bessere Springer wäre,
+der Jäger oder das Roß. Die gefesselten Hände hinter dem Rücken, den
+Kopf in den Nacken zurückgelegt, das Gesicht umweht von den feuchten
+Strähnen des Blondhaars, die Brust nach vorne geschoben, mit ruhig
+pumpenden Atemzügen, so sprang der Jäger und war nicht langsamer als
+die Gäule. In seinen Augen schwamm ein heißer und froher Glanz, in
+seiner Seele der Gedanke: »Dort, wo ich hinspring, ist der Helfer
+und mein Glück.« Die Dragoner, die für ihre Gäule ehrgeizig wurden,
+begannen zu galoppieren. Leupolt sprang, ein Lächeln um den halb
+offenen, durstig atmenden Mund. Der junge schlanke, stahlsehnige Jäger,
+der das Beste seiner Kraft herausholte aus den beschwingten Gliedern,
+bot einen Anblick, daß der Herrgott, hätte er auf ihn heruntergeschaut,
+in Stolz und Freude hätte sagen müssen: »Wie schön und kraftvoll ist
+der Mensch, den ich erschuf!«
+
+Schon tauchten die Dächer und der Kirchturm von Bischofswiesen über
+die Hügel. Auf der harten Kalksteinstraße war der hämmernde Hufschlag
+weit zu hören. Nahe den ersten Häusern ritten im Schritt die sechs
+Dragoner, die man dem preußischen Gesandten als Ehreneskorte gegeben
+hatte. Der junge Oberst, mitten im französischen Geplauder, drehte
+das Gesicht nach Art eines wachsamen Soldaten, sah den springenden
+Menschen zwischen den beiden hetzenden Gäulen, erkannte den Jäger,
+riß unter einem kurzen Laut das Pferd herum und jagte den Dragonern
+entgegen. Ein Dutzend Schritte vor ihnen verhielt er den Fuchs und
+streckte die Reitpeitsche seitwärts, als wär's eine Schranke, über die
+es kein Hinüber gab. »_Ne bougez pas! Gredins!_« Seine Augen blitzten.
+In der Gewohnheit der Sprache, die ihm geläufiger war als die Sprache
+der Heimat, quirlten die jähzornigen Worte aus ihm heraus: »_Hé! Vous!
+Êtes-vous des soldats allemands ou des bourreaux? Rendez la liberté à
+cet homme!_ Wollt ihr? _Hein?_ Gebt den Mann da frei!« Danckelmann, mit
+Sorge in den Augen, kam herangetrabt und wisperte französische Worte.
+»Ach wat!« Ein unwilliges Kopfschütteln. »Det duld ick nich. Sei es uff
+preußischem Sand oder fremdem Boden.« Der junge Oberst gab dem Fuchs
+einen Sporendruck und trieb ihn gegen die beiden Dragoner hin. »Wat
+hat der Mann da verbrochen?« Die Dragoner, ohne zu antworten, machten
+verdutzte Köpfe, und Leupolt, zwischen den schnaufenden Gäulen, stand
+aufrecht, mit glanzvollen Augen, so kraftvoll atmend, daß ihm die
+Schultern und der Brustkorb auf und nieder gingen. »Habt ihr Wolle in
+den Ohren? Ick frage, wat der da verbrochen hat.«
+
+Verdrossen murrte einer von den Dragonern: »So ein luthrischer Siach
+ist er.«
+
+»Wat?« Eine rasche Wendung gegen den Geheimrat: »_Est-ce que vous avez
+compris? Moi pas._«
+
+Danckelmann verdolmetschte: »_Il prétend que le chasseur est un de ces
+infâmes luthériens._«
+
+»Oh?« Der junge Oberst lächelte. »Sonst hat er nischt verschuldet?«
+
+»Nit um ein Härlhaar!« sagte der Fürstpröpstliche. »Ist allweil der
+Beste von unserer Jägerei gewesen.«
+
+Gegen den linken Dragoner hinreitend, befahl der junge Oberst: »Er! Vom
+Gaul herunter!« Weil der Dragoner zögerte, wurde die Stimme schärfer.
+»Kennt er keenen Offizier nich? Runter vom Gaul! Den Mann da vom
+Strick!« Jetzt stieg der Dragoner aus dem Sattel; während er den Strick
+vom Gaul und von Leupolts Händen nestelte, brummte er immer vor sich
+hin, nicht freundlich. Der junge Oberst lachte. »Na, Kerl, er kann sich
+seinem Herrgott rekompensieren, daß er keen Preuße nich is. Sonst säß
+er morgen im verdienten Loch.«
+
+Als Leupolt frei war, hob er die leuchtenden Augen. »Vergeltsgott,
+Herr! Man spürt, daß der Helfer kommen ist.«
+
+»Zeig er mich seine Hände!« Sich niederbeugend, betrachtete der Oberst
+neugierig die weißen Narbenbänder, die sich um Leupolts Handgelenke
+zogen. Man sah nur die eingewürgten Striemen, kein Blut. Wieder ein
+heiteres Lachen: »Det luthrische Leder is dauerhaft. Kann er reiten? So
+steig er uff den leeren Gaul! Und komm er an meine Seite.« Der junge
+Offizier in der Mitte, Danckelmann zur Rechten, der hutlose Leupolt
+Raurisser zur Linken, so ritten die Drei davon. Immer schwatzte der
+Oberst mit dem Geheimrat. Plötzlich wandte er das fröhliche Gesicht dem
+Jäger zu: »Wie lange hat er so springen jemußt?«
+
+»Vom Hallturm bis zu Euch, Herr!«
+
+»_Parbleu!_« Ein drolliges Staunen war in den großen Stahlaugen. »Mir
+jeht die Puste aus, wenn ick hundert Sprünge mache. Wat muß er Luft in
+die Lungen haben und Schmalz in die Beene.« Französisch zu Danckelmann:
+»Das wird ein Preuße, um den der Ritt sich gelohnt hat.« Der Lachende
+verstummte, seine Augen glitten staunend ins Weite. Hinter dem
+Untersberg und seinen vorgelagerten Waldnasen hatte der hohe Göhl sich
+hervorgeschoben, die ganze herrliche Silberkette bis zum Steinernen
+Meer. Und ihr zu Füßen der keimende Frühling. »Wie schön ist das!« In
+enthusiastischem Entzücken, mit einem Wirbelsturm von Worten, schüttete
+der Begeisterte alle Freude einer andächtigen Knabenseele aus sich
+heraus. Und griff hinüber zum Arm des Jägers, mit einem Ton, der etwas
+Beleidigendes hatte: »Kerl, sonne Heimat verläßt er?«
+
+Leupolts Stirne wurde heiß. Dann tat er einen tiefen Atemzug und sagte
+ruhig: »Man tut's nur um Gottes wegen.«
+
+Der junge Oberst blieb stumm, war nachdenklich, saß gebeugt im Sattel
+und blickte immer vor sich hin. Jetzt ein Aufzucken, ein ernster Blick
+auf den Geheimrat. »Danckelmann!« Nach diesem deutschen Namen die
+französischen Worte: »Nun beginne ich die Menschen erst zu begreifen,
+die wir gesehen haben in dieser Nacht. Welch ein gottverlorener Esel
+muß ein Fürst sein, der solche Untertanen über die Grenze jagt.
+Von diesen Christen soll Preußen noch Gewinn haben. Und ich will
+sorgen dafür, daß sie Gewinn haben von Preußen.« Sie hatten die
+ersten Häuser von Bischofswiesen erreicht. Es kamen die Brandstätten,
+die geplünderten Ställe. Der schweigsam gewordene Offizier, mit
+vorgeschobenem Gesicht, ließ immer die Augen gleiten. Er schien nur
+das Bild der Verwüstung zu sehen, nicht die Musketiere, die neben der
+Straße salutierten, nicht die Männer und Burschen, die zu den Zäunen
+gesprungen kamen, ein hoffendes Erkennen im Blick. Mit einem Laut
+des Ekels wandte er sich von einer Wiese ab, die überstreut war mit
+zertrümmertem Hausgerät, und sagte französisch zu Danckelmann: »Trab!
+Dieser Lieblichkeit muß man entrinnen. Wir Deutsche mögen viel Gutes
+haben. Witz und Geist besitzen die Franzosen. Nur *ihre* Sprache konnte
+das aktuelle Wortspiel ersinnen: _chrétien, crétinisme_.« Er ritt, mit
+gebeugtem Kopf, ritt immer schneller, hielt die Augen halb geschlossen
+und hatte was Greisenhaftes in dem jungen Gesicht. Schon lange war
+das verwüstete Dorf hinter grünenden Hügeln verschwunden, als Leupolt
+sagte: »Da kommen die berchtesgadnischen Herren.«
+
+Der Oberst straffte ruckartig den Körper, ließ den Geheimrat
+vorausreiten, war verwandelt in einen anderen Menschen, war jung,
+war liebenswürdig, aufmerksam auf jedes Wort, und machte, während
+Danckelmann den Obristen von Berg als seinen Begleitoffizier den
+zwei Kapitelherren vorstellte, so graziöse Komplimente, als hätte
+die erfahrenste Dame der großen Welt sie ihm einstudiert. Graf Tige
+begann über dieses zierliche Wesen zu schmunzeln und flüsterte dem
+Domizellaren von Stutzing in die Perücke: »Der? Ein Soldat? Ach nein!
+Das ist ein markierter Tanzmeister.« Besser schien der junge preußische
+Offizier dem Grafen Saur zu gefallen. Der Kapitular fand während des
+Weiterrittes Vergnügen an dem eleganten Französisch, das gespickt
+war mit prickelnden Wortspielen, mit enthusiastischen Hymnen auf die
+Schönheit des berchtesgadnischen Landes. Mitten im heitersten Geplauder
+wurde der junge Oberst ernst: »_Cher comte!_ Eine Angelegenheit, die
+mir dringlich erscheint! Ein Mann wurde entgegen den Reichsgesetzen in
+brutaler Weise wie ein Verbrecher mißhandelt, nur weil er Protestant
+ist. Ich habe den Schuldlosen unter meinen Schutz genommen und stelle
+die Bitte, daß mir dieser Landkundige für die Dauer meines Aufenthaltes
+zugeteilt werde zu meinem persönlichen Dienst.«
+
+»Ich glaube das zusagen zu können, auch ohne Rücksprache mit meinem
+Allergnädigsten. Wer ist der Mann?«
+
+»Der da hinten auf dem Dragonergaul, der junge Mensch ohne Hut.«
+
+Graf Saur wandte die Augen und schien sehr unliebsam berührt zu sein;
+doch höflich sagte er: »Ihr Wunsch, Herr Oberst, ist bewilligt. Seine
+Liebden der Fürstpropst werden meiner Ansicht beistimmen.«
+
+Das Wohlgefallen, das Graf Saur an dem preußischen Offizier gefunden
+hatte, schien erloschen zu sein; er wandte sich im Gespräch fast nur an
+Danckelmann.
+
+Lächelnd und schweigsam, mit ruhelos gleitenden Augen, ritt der junge
+Oberst neben den beiden her.
+
+
+
+
+Kapitel XXVI
+
+
+Vor dem Leuthaus zu Berchtesgaden war eine Ehrenwache aufgezogen. Die
+drei Gesandtenzimmer waren in Bereitschaft gesetzt, im Salon war zum
+Imbiß gedeckt, die Betten hatte man mit Pariser Essenzen parfümiert,
+und ein Lakai vom persönlichen Dienst Seiner Liebden überwachte alle
+Vorbereitungen. Weil es trotz der heftig duftenden Blumenwässer in den
+lange nicht mehr benützten Zimmern noch immer sehr merklich muffelte,
+hatte man zur Lüftung alle Fenster aufgerissen. Freundlich schimmerte
+die Frühlingssonne des milden Nachmittages auf den Gesimsen, und
+durch die offenen Fenster quoll ein gedämpftes Stimmengesumm. Der
+ganze Hof des Leuthauses -- ausgenommen eine von den Polizeisoldaten
+freigehaltene Gasse -- war angefüllt mit einer gestauten Menschenmenge.
+Immer hörte man die kanzleideutschen Befehle Muckenfüßls, der überaus
+aufgeregt war und ungeachtet des ihm innewohnenden Begriffsvermögens in
+eine Eigenschaft des Hiesel Schneck verfiel: er verstand etwas nicht.
+Seit Wochen war es zu Berchtesgaden eine Rarität gewesen, wenn man ein
+Mannsbild auf der Gasse sah. Nun plötzlich wimmelte es von Männern und
+Burschen. Muckenfüßl erkannte die meisten von ihnen als Inskribierte.
+»Die Sach ist perplexierend!« sagte er zum Kommandanten der Ehrenwache.
+»Wir von der Polizei, wir haben doch _in loco hujus_ nit ausgeratscht,
+wer da von Reichenhall her adveniert? Und doch muß jeder evangelische
+Floh schon einen Schmeck davon haben! Dem landsverrätrischen Gesindel
+sticht die Freud wie Schneckenhörndln _per oculos_ heraus!« Diese
+Muckenfüßl'sche Beobachtung war kein Irrtum. Den paarhundert Männern
+und Burschen, die sich außerhalb des Polizeispaliers mit entblößten
+Köpfen Schulter an Schulter drängten, glänzte in den abgezehrten
+Gesichtern der Hoffnungstrost, den sie in der Morgendämmerung
+heimgetragen hatten vom Toten Mann.
+
+Als die Herren geritten kamen, ließ sich kein Zuruf und kein Gruß
+vernehmen; außer dem Pferdegetrappel und dem Gewehrklappern der
+salutierenden Musketiere kaum ein Laut. Jene, die nur aus Neugier
+zusammengelaufen waren, guckten stumm, und die anderen, die das
+Erlösungsfeuer der Neumondnacht gesehen hatten, grüßten nur mit einem
+Augenleuchten, mit einem lächelnden Aufatmen. In der Stille, die den
+Empfang der fremden Herren umringte, gab es an der Ecke des Leuthauses
+plötzlich ein Gedräng. Ein aufgeregtes Mädel wollte sich aus dem Gewühl
+heranarbeiten und bettelte immer: »Lasset mich doch hinaus, ich muß
+zum Meister heim!« Es war die Sus. Sie kämpfte mit Ellenbogen und
+Fäusten. Als sie sich endlich freien Weg erstritten hatte, rannte sie,
+daß ihr Rock wie eine Fahne flatterte. Vor der Haustür preßte sie die
+Fäuste auf die Brust, als möchte sie gewaltsam still machen, was in ihr
+hämmerte. Aus der Werkstatt klangen gleichmäßige Meißelschläge, und im
+Gesicht der Sus verriet sich eine grübelnde Gedankenarbeit. Wie sollte
+sie das machen: daß der Meister nicht herausgerissen würde aus seiner
+schönen Arbeit, und daß Luisa doch erfuhr, welchen hutlosen Reiter die
+Sus auf einem Dragonergaul hatte sitzen sehen? Ruhig trat sie in die
+Werkstatt des Meisters. Er hämmerte mit festen Streichen vor dem roten
+Wachsmodell an der lebensgroßen Holzstatue der >heiligen Menschheit<.
+Neben dem Ofen saß Luisa hinter dem Spinnrad, mit gesenkten Augen.
+Der Meister, ohne die Arbeit zu unterbrechen, fragte: »Was ist los im
+Markt?«
+
+»Zwei Fremde sind eingeritten, ein fürnehmes Mannsbild und ein junger
+Soldat. Die Stiftsherren haben die Gäst zum Leuthaus komplimentiert.«
+
+Der Meister hämmerte weiter. Es war ihm nicht aufgefallen, daß die
+Stimme der Sus anders klang wie sonst. Aber Luisa, unter raschem
+Handgriff nach dem Rädl, hob das Gesicht und sah die Augen der Magd in
+stummer Sprache auf sich gerichtet. Dann wandte sich die Sus und ging.
+Die Wangen überhaucht von einer fieberhaften Röte, erhob sich Luisa.
+»Kind?« fragte Niklaus unter den hallenden Hammerschlägen. »Wohin?«
+
+»Ich muß die Sus was fragen.«
+
+Seit Wochen war es der Meister so gewöhnt, daß Luisa immer bei ihm
+blieb, wenn er arbeitete. Es fehlte ihm was, sobald er das Spinnrad
+nicht schnurren hörte. »Kommst du wieder?«
+
+»Gleich, Vater!« Draußen im Flur fand Luisa die Magd, die schon
+wartete. »Sus?« Das war keine Stimme, nur ein Hauch. »Was Ungutes?«
+
+Sus faßte die Haustochter bei der Hand, zog sie in die Küche, schlang
+den Arm um ihre Schultern und flüsterte: »Mit den Herren ist der
+Leupolt eingeritten.«
+
+Ein Erblassen rann über Luisas Stirn: »Gefangen?«
+
+»Frei und wie von den Herren einer ist er auf gesatteltem Gaul
+gesessen. Das tät nit sein können, wenn ihn der Fürst nit begnadigt
+hätt.«
+
+Luisa stand mit geschlossenen Augen. »Begnadigt?«
+
+»Er wird halt reumütig geworden sein, eurem Glück zulieb!« Ein heißes
+Drängen kam in die Stimme der Sus. »Kindl, jetzt sei gescheit! Ich seh
+doch, wie du vor Sehnsucht schier versterben mußt. Denk nit an Höll
+oder Himmel, denk an dein Glück! Unter allem Heiligen ist Glück und
+Freud das Heiligste in der Menschenseel.«
+
+Noch immer zitterte Luisa in der Erschütterung, von der sie befallen
+war. »Begnadigt? Das muß man der Mutter Agnes zu wissen tun.« Sie riß
+sich aus den Armen der Sus und sprang zur Haustür hinaus, ohne Hut
+und Tuch, in dem ziegelfarbenen Hauskleid, angetan mit der grünen
+Spinnschürze. Wie wunderlich die Leute auf der Gasse sie ansahen,
+das merkte sie nicht. Vor dem Leuthaus war, so gierig auch Luisas
+Augen suchten, kein gesattelter Gaul und kein begnadigter Reiter
+zu gewahren, nur die Schildwach vor der Tür und ein Schwarm von
+Burschen, die in freudiger Erregung mit einander flüsterten. Wußten
+die es auch schon, daß der Leupolt begnadigt war? Und zwei Herren
+kamen feierlich zum Leuthaus gegangen, festlich gekleidet und frisch
+gepudert, der Stiftsdekan mit dem abgemagerten, gichtisch knaxenden
+Kanzler von Grusdorf. Beriefen die beiden den Leupolt zum Fürsten? Und
+die leere Sänfte, die ihr in der Marktgasse begegnete, voraus zwei
+Läufer, auf deren blauen Seidenkappen die Straußenfedern so zufriedene
+Bewegungen machten? Holte die Sänfte den Leupolt? Zum Vergelt für
+die ungerechten Leiden? In Luisa wurde alles zu einem Märchen, zu
+einem Kindertraum, und war doch nichts anderes als der glühende,
+sinnverwirrende Blutschauer eines liebenden Weibes. Sie war so ganz in
+das Glück dieser Stunde verloren, daß sie eine Frau nicht erkannte, an
+der sie doch sonst nicht blind vorüberging. Hatte dieser gnadenreiche
+Tag alle Menschen so verdreht gemacht, wie Luisa war? Auch Mutter
+Jesunder zappelte an dem Mädchen vorbei, als hätten ihre Augen das
+Sehen verlernt. Was aus dem verstörten Runzelgesicht der Frau Apollonia
+herausblinkerte, war keine Gnadenfreude. Sie machte in ihrer Sorge um
+den leidenden Sohn einen Weg, den sie in ihrem Leben noch nie gegangen
+war.
+
+Die rätselvolle Seelenkrankheit, an welcher Jesunder litt, hatte
+sich in der vergangenen Nacht zu einer schrecklichen Traumkrise
+angewachsen. Die auf ewig verdammte Marta Haynacherin war ihm
+erschienen als grauenhafte Feuergestalt, war an sein weißes Bett
+getreten und hatte in fehlerfreiem Latein zu ihm gesprochen: »Gib
+mir meine Kinder wieder, das schwarze und das weiße!« Unter kaltem
+Angstschweiß hatte er geantwortet, ebenfalls im besten, ciceronischen
+Idiom: »Ich habe sie nicht, ich möchte doch selber wissen, wo sie
+sind.« Und die entsetzliche, unerbittliche Haynacherin: »Du hast sie,
+gib sie mir wieder! Ich weiß, du verschlucktest sie, wie ein Wolf das
+schwarze und weiße Lämmlein!« Etwas Ähnliches hatte er selbst schon
+in Augenblicken geistiger Verwirrung höchst unmedizinisch vermutet,
+wenn er auch angenommen hatte, daß das unzertrennliche Pärchen nur in
+seinen Gehirnwindungen eingekapselt wäre, nicht in seinem Unterleib.
+Verzweifelt schrie er, mit einer Stimme, die nicht traumhaft blieb,
+sondern so laut wurde, daß man sie vernehmen konnte im ganzen Haus:
+»So nimm sie dir, schneide sie mir aus dem Bauch heraus, ich muß es
+dulden in christlicher Ergebung!« Das war der Moment gewesen, in dem
+die Mutter Jesunder ungemein real, mit weißer Nachthaube und rotem
+Unterrock bekleidet, in den mystischen Traumvorgang hereingesprungen
+war. Zitternd und unter Tränen hatte der wachgewordene Sohn am Hals
+der Mutter gehangen und jedes Bekenntnis verweigert. Erst im Verlauf
+des Vormittages, noch immer in den schwülen Wöchnerkissen liegend,
+hatte er soviel Tapferkeit gefunden, um seiner kummervollen Mutter
+den lateinischen Traum ins Deutsche zu übersetzen. Frau Jesunder
+rannte im ersten Schreck zum Bader. Der scheuerte sich ratlos
+hinter den Ohren. Sie lief zum Stiftsphysikus. Der lachte in einer
+Anwandlung von Gemütsroheit, sprach von _vaporibus obstinatis_ und
+empfahl die schattenseitige Applizierung von lauwarmer Sole, sanft
+gemildert durch Olivenöl. Unmöglich! Wie hätte sich Mutter Jesunder
+ihrem hochwürdigsten Herrn Sohn gegenüber zur Anwendung solch einer
+unpriesterlichen Maßregel entschließen können? Und da wußte sie
+schließlich in ihrer Verzweiflung keine andere Hilfe mehr, nur diesen
+von ihr noch nie betretenen, mit den glühenden Steinen christlicher
+Vorwürfe gepflasterten Weg: zum getauften Juden Simeon Lewitter.
+
+Als sie scheu in das enge Gässelchen hineinsurrte, erreichte Luisa in
+entgegengesetzter Richtung das schattige Häusergewinkel hinter der
+nördlichen Stiftsmauer. Vor der Hintertür von Pfarrer Ludwigs Wohnung
+stockte für einen Augenblick ihr jagender Fuß. Einen Rat holen? Dieser
+Gedanke, kaum geboren, war schon wieder verworfen. Das zitternde
+Jubelklingen in ihrem Herzen? War das nicht von allen Ratgebern der
+verläßlichste? Weiter mit wehendem Rock und fliegender Schürze! Auf der
+Schwelle des Mälzmeisterhauses ein Stoßgebet und ohne Besinnen hinein
+in die Stube. Wie freundlich diese schmucke, schimmerblanke Stube war!
+Hinter dem weißgescheuerten Tisch, im sonnigen Herrgottswinkel, saß
+Mutter Agnes und schneiderte. Die große Schere fiel ihr klappernd aus
+der Hand.
+
+»Mutter!« War das der Hilfeschrei einer versinkenden Menschenseele oder
+der scheue, atemlose Jauchzer eines auferstandenen Herzens? »Mutter!
+Mutter! Unser Leupi ist da!« Bevor Frau Agnes noch herauskam aus der
+Bank, hing Luisa schon an ihren Hals geklammert. Eine Weile hielten
+sich die beiden schweigend umschlungen, und man hörte in dieser Stille
+das scharfe Tacken einer großen Pendeluhr. Das klang wie eine stählerne
+Mahnung der unerbittlich schwindenden Zeit und sagte immer die gleiche,
+befehlende Silbe: »Tu's! -- Tu's! -- Tu's! --« Die Mälzmeisterin fand
+zwischen Weinen und Lachen zuerst die Sprache. »So red doch, Kind! Um
+Christi Barmherzigkeit! Wo ist denn mein Bub?«
+
+»Mit den Herren ist er eingeritten im Leuthaus. Und ist begnadigt vom
+gütigen Fürsten.«
+
+Aller Aufruhr in Mutter Agnes beschwichtigte sich. »Siehst du, Kind!
+Hab ich's nit allweil gesagt!« Lächelnd hob sie die nassen Augen zu
+dem mit Palmzweigen geschmückten Kreuz im Herrgottswinkel. »Auf den da
+droben ist Verlaß! Tät der ganze Weltkäfig ein schecketes Narrenhaus
+werden, beim Ewigen bleibt allweil der glashelle Verstand daheim.« Sie
+fühlte, wie der schlanke Mädchenkörper in ihren Armen bebte. »Komm,
+liebes Kind! Tu dich hersetzen zu mir! Und sag, wo hast du denn unseren
+Buben gesehen? Beim Leuthaus drüben? Da ist er doch nimmer weit von
+uns? Da muß er doch kommen? Bald!« Nun fuhr der Mälzmeisterin eine
+Hausfrauensorge durch das Mutterglück. »O du heiliger Schnee, jetzt
+kommt der Bub, und sein Stübl ist nit parat! Ist noch allweil, wie's
+gewesen ist nach dem roten Tag. Das müssen wir richten. Komm, Kindl,
+und hilf! Wir zwei, wir betten unseren Buben, daß er in seinem Nest
+ein Träumen haben soll wie ein Schwalbenmänndl im Mai!« Sie lachte
+aus fröhlichem Herzen. »Ach, Mädel, da brauchst du nit so sorgenvoll
+dreingucken! Er tut's nit allein. Da kannst du dich verlassen drauf.
+Aber flink, Weible, jetzt müssen wir schaffen!«
+
+Schlüssel klapperten, Schubladen quieksten, Kastentüren flogen auf
+und zu. Und immer dieses glückliche Stammeln und Schwatzen. Es blieb
+aber doch in aller lachenden Freude noch immer ein leiser Sorgenklang.
+Leupolt? Als ein Reumütiger heimkehrend zum fürstpröpstlichen Glauben?
+Luisa konnte das hoffen, Mutter Agnes nicht. Während sie schaffte und
+die Kissen schüttelte, wurde jedes Wort in ihr lebendig, das ihr Sohn
+im Jägerkobel zu Bartholomä und da draußen im Buchenwald beim Haus des
+Hiesel Schneck zu ihr gesprochen hatte. Die Sonne macht Tag um Tag
+ihren Wandel durch, geht unter und morgen wieder auf. Der Leupi färbelt
+nicht. Der bleibt, wie er war. Aber gekommen ist er doch! Ist frei! Und
+da muß er doch auch begnadigt sein! Das freudige Wunder ist geschehen.
+Wie? Der Herrgott wird's wissen. Es ist von aller unnötigen Arbeit
+die dümmste: daß sich die verdrehten Menschen bei ihrem Seelengezappel
+allweil den Kopf des Ewigen zerbrechen. Wie's Gott macht, ist es
+wohlgetan. Allweil! Und um so größer und schöner sind seine treuen
+Wunder, je minder so ein armseliger Menschenverstand sie begreift. Als
+Mutter Agnes zu diesem Schlußgedanken kam, wurde ihr Lachen so frei,
+daß auch Luisa immer froher und gläubiger wurde. In Leupis kleinem
+Stübl lagen die Kissen frisch bezogen auf dem weißen Bett. Da fragte
+Luisa mit glühendem Gesicht: »Meinst du nit, man tät ein paar Blümlen
+finden?«
+
+»Freilich, liebs Weible, spring nur! Draußen im Gärtl, wo viel
+Sonn gewesen, da blüht schon was!« Während Luisa durch die Küche
+davonhuschte, sprang die Mälzmeisterin in die Wohnstube hinüber, um
+Weihwasser zu holen und die Kammer ihres heimkehrenden Buben zu segnen.
+Schon hob sie die Hände, um das zinnerne Kesselchen vom Türpfosten
+herunterzunehmen. Da sanken ihr die Arme wieder. »Er tät's nit haben
+wollen. So darf ich's nit tun.« Den Kopf beugend, preßte sie das
+Gesicht in die Hände. Ein Schatten glitt über das sonnige Fenster,
+und auf der Pflasterung vor der Haustür klang ein fester Schritt.
+Den kannte Mutter Agnes, wie die Sterne ihren Weg am Himmel kennen;
+aber das freudige Erschrecken fuhr ihr so lähmend in alle Glieder,
+daß sie nicht von der Stelle kam. War's eine Ewigkeit, war's eine
+Sekunde -- Leupolt stand schon auf der Stubenschwelle, mit dem frohen
+Lachen eines Glücklichen, brauchte keinen Hut herunterzunehmen, weil
+er keinen hatte, riß die Mutter an sich und hielt sie umschlungen.
+Erst weinte sich Frau Agnes an seiner Schulter tüchtig aus, um die
+Unsicherheit ihres Glückes loszuwerden. Immer streichelte Leupolt ihr
+grau gewordenes Haar, bis sie ruhiger wurde und fragen konnte: »Darfst
+du jetzt bleiben? Daheim?«
+
+»Den Abend und die Nacht. Ja, Mutter! Morgen muß ich bei meinem neuen
+Herrn zum Dienst antreten.«
+
+»Bei --« Die Sprache versagte ihr. »Dein neuer Herr? Wer ist das?«
+
+»Der starke Helfer in unserer Not. Ach, Mutter, wie schön ist das
+Leben, wenn es Trost und Hoffnung hat und einen graden, sauberen Weg.«
+
+Sie wollte was sagen, mußte aber immer ihren Buben ansehen. So
+aufrecht, mit so festem Gesicht und so leuchtenden Augen hatte sie ihn
+noch nie gesehen. War das an ihres lieben Herrgotts schwerbegreiflichem
+Wunder das Beste? Oder wußte der Leupi schon, daß sein Luisli im
+Haus war? Jesus, das Luisli! Auf das kleine Weibl, das um die Blumen
+gelaufen war, hatte die Mälzmeisterin ganz vergessen. Und da klingelte
+draußen im Hausflur schon das winzige Schuhwerk über die Dielen. »Bub,
+da ist wer!« stammelte Frau Agnes. »Tu dich gedulden einen Schnaufer
+lang!« Sie glitt aus der Stube, zog die Türe hinter sich zu und haschte
+auf der Kammerschwelle das Mädel. Zwischen den Händen hielt Luisa einen
+rund und hübsch gebundenen Strauß von roten Aurikeln, der aussah wie
+ein großer reifer Apfel mit festem Stiel. Dieser Vergleich mußte der
+Mälzmeisterin eingefallen sein, weil sie sagte: »Komm, du Everl du
+liebs, deine paradeisischen Blümlen sollen gleich an das Plätzl kommen,
+für das der gescheite Herrgott sie erschaffen hat.« Zärtlich schob sie
+das Mädel in die Stube, klinkte hurtig die Türe wieder zu und flüsterte
+in einer wirbligen Mischung von Glück und Trauer: »Finden und hergeben!
+Zwei Wörtlen! Und alles ist gesagt, was Freud einer Mutter heißt.« Von
+der mütterlichen Klugheit sprach sie nicht, handelte aber doch nach
+ihrem Gebot, drehte leis im Schloß der Stubentüre den Schlüssel um,
+zog ihn ab und schob ihn in die Schürzentasche. »So!« Jetzt sollten
+ihr die beiden nimmer aus der Stube kommen, bevor sie nicht eins
+miteinander wären. Draußen im offenen Buchenwald an der bayrischen
+Grenze, wo die Welt wohl einen Schlagbaum hat und doch nicht vernagelt
+ist mit Brettern, da konnten zwei verrückte Menschenkinder rennen,
+Gott weiß wohin. Zwischen vier festen Mauern mußten sie aushalten,
+bis der gefrorene Verstand ihnen ausschlug zu verheißungsvollen
+Frühlingsknospen.
+
+Diese menschliche Logik war so fehlerlos, wie das Traumlatein des
+Chorkaplans Jesunder. Dennoch hatte sie einen Haken. Vorerst, als die
+Mälzmeisterin an der Türe lauschte, schien tiefster Friede in der Stube
+zu herrschen. Man konnte nur hören, wie die alte Pendeluhr das mahnende
+Knack und Tack der schmelzenden Zeit verkündete. Da war es für Mutter
+Agnes eine ausgemachte Sache: die zwei jungen Leut mit ihren brennenden
+Herzen hatten kürzeren Prozeß gemacht, als ihn der Landrichter
+Halbundhalb mit Tinte, Streusandbüchse und zahllosen Überflüssigkeiten
+zu machen pflegte, hatten sich herzhaft um den Hals genommen und hingen
+Schnabel an Schnabel.
+
+So war es nicht. Es war viel schöner. Luisa stand mit dem Rücken
+gegen die heimtückisch verschlossene Tür gelehnt, ohne zu ahnen,
+welche Gewalttätigkeit sich da vollzogen hatte, hielt den runden
+Apfel der roten Aurikeln zwischen den fiebernden Händen und sah in
+Glut, mit Bangen und doch in sehnsüchtigem Hoffen zu diesem stummen,
+prachtvollen Menschen hinauf, den die Staubwolken der Reichenhaller
+Straße bis über die Hüften so weiß überpulvert hatten, als hätte er
+durch eine Mehlkiste springen müssen. Er stand ein paar Schritte vor
+ihr, sah sie immer an und konnte nicht reden, konnte nur lächeln in
+seiner Freude. Neben Gott und Ehre war sie ihm stets das Schönste des
+Lebens gewesen; aber so reizvoll wie in dieser Stunde hatte er sie
+noch nie gesehen, auch nicht im Hallturmer Buchenwald; da draußen war
+die Pflicht zwischen ihr und ihm gestanden; jetzt stand das Glück bei
+ihnen und übergoß für ihn die Geliebte mit einem Zauber ohnegleichen.
+Ihr ziegelfarbenes Hauskleid brannte wie Mohn in der Sonne, und vor
+der grünen Spinnschürze, an der noch viele glitzernde Fäden hingen,
+flackerte beim Zittern ihrer Hände der rote Aurikelbuschen. Aber
+schöner und feiner blühten noch die Farben ihrer selbst, der rosige
+Bluthauch und die blaßblauen Adern ihres schlanken Halses, die Glut
+auf ihren Wangen, die dunkle Tiefe der glänzenden Augen und der sanfte
+Schimmer des reichen Haars. Es war in seinem dürstenden Blick: daß er
+sie gern in der ersten Freude an sich gerissen hätte, um sie nimmer
+zu lassen. Und die alte Pendeluhr, als wäre sie der Pfarrer Ludwig,
+mahnte immer: »Tu's! Tu's! Tu's!« Er überwand es. Luisa war ihm viel zu
+lieb und zu kostbar, als daß er sie hätte berühren mögen mit seinen
+verstaubten, von der Zügelschwärze beschmutzten Händen. Auch lag noch
+immer zwischen ihnen ein tiefer Graben, den die Liebe erst überbrücken
+mußte; doch er fühlte, daß das Glück der gegenwärtigen Stunde diese
+Brücke bauen würde. »Deine Blumen, Luisli?« sagte er und deutete nur
+ein bißchen mit der Hand. »Sind die für mich?«
+
+In ihrer Verwirrung schien sie nicht recht zu wissen, welche Antwort
+sie gab. Es war ein Wort, das den innersten Schatz ihres Herzens vor
+ihm entschleierte. Mit glücklichen Augen zu ihm aufblickend, sagte sie:
+»Für dich ist alles.«
+
+Da nahm er die roten Blumen. »Vergeltsgott, du Meine! Daß ich nit lüg,
+das weißt du. Deine Blumen, auch wenn sie dürr geworden, sollen mir
+allweil das Beste sein, was der Frühling verschenken kann. Und komm!
+Wir wissen, was wir einander gelten. Da wollen wir alles nach Pflicht
+und Treu bereden.« Sie mußte sich am Tisch zu dem Fenster setzen, durch
+das die Sonne hereinglänzte. Willig tat sie, was er haben wollte.
+Er saß ihr gegenüber. An seinem Kittel wischte er den Staub und die
+Riemenschwärze von den Fingern, wölbte zärtlich die Hände um Luisas
+roten Blütenapfel, sah ihr in die Augen und beugte sich über die
+Tischplatte zu ihr hinüber. »Schau, ich frag dich gleich mit dem ersten
+Wörtl: Gehst du mit mir?«
+
+Sie erschrak, daß ihr Gesicht sich veränderte. Dennoch war es nicht
+mehr der gleiche verstörende Schreck, wie draußen im Hallturmer
+Buchenwald. Was aus ihren erloschenen Worten herauszitterte, war mehr
+Sorge als Angst: »Ach, Jesus! Gehst du denn wirklich?«
+
+»Ja, Luisli! Von morgen den fünften Tag. Ich führ den ersten Zug. Das
+sind die Ärmsten. Die führ ich. Unser Weg geht über Reichenhall, über
+Ingolstadt, Bayreuth und Wittenberg hinunter ins Brandenburgische und
+auf Ostpreußen zu.«
+
+Sie wollte sprechen und brachte keinen Laut heraus.
+
+Leupolt sah, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Die roten Blumen
+an seinen weißnarbigen Hals pressend, beugte er sich noch näher zu ihr
+hin und flüsterte aus aller Glut seines Herzens: »Gehst du mit mir? Ich
+mein', dein guter Vater tät uns das Glück nit wehren. Dich hat er lieb.
+Kann sein, daß er hinzieht, wo wir hausen werden. Sorg mußt du nit
+haben. Ich krieg einen Herrn, der mir gütig ist. Von Vater und Mutter
+hab ich ein bißl was, versteh mich auf mein Sach und bin ein richtiger
+Schaffer. Verschwören kann es der Redlichste nit, was kommt. Aber ich
+trau mir's zu, daß ich dir und mir ein Glück bau, fest fürs Leben wie
+eine eiserne Mauer. -- Luisli? Kommst du mit?«
+
+Sie wehrte mit schwachen Händen und klagte: »Es geht nit, geht nit,
+Leupi! Alles in mir ist dein. Und schelten kann ich es nimmer, daß du
+da drüben bist. Aber hinüber zu dir?« Den Mut, ihn anzusehen, hatte
+sie nicht. Sie sprach ins Leere hinaus. »Das wär' wider Gott und die
+Seligkeit. Ich kann nit verlassen, was mir heilig und ewig ist.«
+
+»Das müßt nit sein. Deswegen könnten wir allweil in Treu und Glück
+miteinander leben. Mußt du nit schelten, was ich glaub, so will ich
+allweil in Ehren halten, was dir heilig ist. Geh, schau mir doch ein
+bißl in die Augen, Liebe! Ich tät mich viel leichter reden.« Er legte
+seine Hand auf die ihre. »Kannst du es tun, so gibst du mir Leben und
+Glück. Mußt du es wehren, so legst du mir das einschichtige Elend auf
+Leib und Seel. Verzweifeln werd ich nit müssen. Bloß allweil dürsten
+nach dir. Und im Dürsten muß ich mich ausstrecken, geh meinen graden
+Weg und tu meine Pflicht als Mensch und Christ. Ich kann nit anders.
+-- Luisli!« Hoffender Jubel klang aus diesem Namen. Er sah, wie ihre
+heißen Augen sich ihm zuwandten und wie sie hingen an ihm. Und sah,
+wie alles Wirre und Hilflose in ihrem lieben Gesicht sich zu mildern
+und zu lösen begann. »Luisli? Meinst du nit, wir zwei, die uns so lieb
+gewonnen, könnten für Tausend, die an der gleichen Irrnis leiden, ein
+gutes Fürbild sein? Daß man nit hadern und streiten muß um Himmel und
+Herrgott? Und daß man als deutsche Leut in Glück und Fried miteinander
+hausen könnt? Herrgott bei Herrgott, Glauben bei Glauben und Herz neben
+Herz.«
+
+Zitternd faßte sie ihren Kopf mit den Händen, schüttelte immer das
+stumme Nein und konnte doch mit ihrem Blick seine Augen nimmer lassen.
+Ein Schwimmen und Gleiten kam ihr in die Sinne, ein Brausen und Klingen
+war in ihren Ohren, in ihrem Blut. Sie verstand seine Worte nimmer,
+hörte und fühlte nur die Zärtlichkeit und die zwingende Macht seiner
+Stimme. Alle Sehnsuchtsbilder schlafloser Nächte wurden wach in ihr.
+Was so rein und freudig in ihrem Herzen zu glühen begann? Konnte das
+Sünde sein? Dürfte das in ihr lebendig werden, wenn nicht Gott es in
+ihre Seele gegeben hätte, wie er den Aurikelblüten das leuchtende Blut,
+dem Himmel das keusche Blau und der Sonne die linde Frühlingswärme
+gab? Dieser Glaube wuchs ihr fest in die Seele, immer ruhiger und
+froher wurde sie, und je länger und tiefer sie in Leupolts glänzende
+Augen sah, um so heißer fühlte sie, daß sie das grausame Nein nimmer
+sagen konnte.
+
+Bei aller Redlichkeit war Leupolt doch auch ein guter, flinkschauender
+Jäger. Gleich merkte er den erlösenden Umschwung, der sich in Luisa
+vollzog, huschte mit glückseligem Auflachen zu ihr hinüber, saß an
+ihrer Seite, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sie
+wehrte sich nimmer, drängte sich aufatmend an seine Brust und schmiegte
+unter frohem Lächeln die Wange an seinen Hals. Er neigte in seiner
+brennenden Freude schon das Gesicht, um sie zu küssen. Und immer sagte
+die Uhr an der Mauer: »Tu's! Tu's! Tu's!« Aber der alte Räderkasten
+kannte den jungen Leupolt nicht. Der war zu gewissenhaft. Dem hatte die
+Neumondnacht ein eisernes Wort ins Leben gegossen: Pflicht! »Schau,
+Luisli,« sagte er an ihrem Ohr, »ich spür doch, wie sich alles in dir
+zum Guten wendet. Nehmen darf ich dich nit, du mußt dich geben, frei
+und unberedet! Luisli? Gehst du mit mir?«
+
+Schon wollte sie nicken, schon hob sie die Arme zu seinem Hals. Da
+fiel ihr plötzlich etwas Steinernes in das erblassende Gesicht. Und
+erschrocken starrten ihre erweiterten Augen auf eine schreckliche Sache
+-- auf diese unerbittliche Uhr an der weißen Mauer. So freundlich klang
+ihre tackende Stimme und war doch ein höhnender Mord an dem blühenden
+Glück dieser Stunde. Nicht wie der hilfreiche Pfarrer Ludwig war diese
+Uhr. Sie war wie der Chorkaplan Jesunder, der eine gläubige Seele bei
+schönem Orgelrauschen hinausgestoßen hatte aus dem Gotteshaus.
+
+Ein altes Meisterstück. Geschaffen von einem grüblerischen Handwerker,
+dem Gedanken unter dem Haardach wuchsen. Der hatte sich gesagt:
+»Die laufende Zeit ist Gottes Kind, der sein Geschöpf bewacht in
+jeder Sekunde und die schwachen Menschen mit jedem Pendelschlag vor
+dem Bösen warnt und sie ermahnt zum Guten.« Aus solchem Gedanken
+hatte der geschickte Mann diese verhängnisvolle Uhr geschaffen. Ein
+silbernes Zifferblatt mit geschnörkelten Zeigern. Über dem Kreis
+der Stundenzahlen wachte das Auge Gottes, nicht gemalt, sondern
+plastisch und lebendig. Inmitten eines von Flammen umloderten Dreiecks
+funkelte das dunkle Auge mit weißen Winkeln. Durch einen unsichtbaren
+Mechanismus -- wie die ewige Vorsehung unter Schleiern waltet -- war
+das ruhelose Auge mit dem Pendelgang verbunden. Tackte der Pendel hin
+und her, so glitt das wachende Auge her und hin. Sah es nach rechts,
+so war es freundlich, und seitwärts aus dem Uhrgehäuse hob sich mit
+winkendem Palmzweig ein weißbeschwingter Engel hervor. Sah es nach
+links, so war es zornig, und ein schwarzgeflügelter Teufel fischte mit
+dem Höllenzagel nach einer ewig verdammten Seele.
+
+Leupolt, ungeduldig auf eine Antwort harrend, fragte in Herzlichkeit:
+»Luisli? Gehst du mit mir?«
+
+Das Weiße des gleitenden Auges flimmerte zornig nach links, und der
+Höllische kicherte boshaft: »Tu's!«
+
+Wie eine Fiebernde stammelte Luisa: »Ich kann's nit sagen. Das muß ich
+erst mit Gott bereden in der Kirch.«
+
+Freundlich glänzte das dunkle Auge nach rechts, und der unschuldweiße
+Engel mahnte: »Tu's!«
+
+»Mein alles bist du! Mein Glück und Leben! Du kannst mich doch nit
+verlassen? Schau mir doch in die Augen! Nimm mich um den Hals! Gelt ja,
+du bleibst die Meine?«
+
+Bevor der huschende Warnerblick das Weiße schrecklich nach links
+hin drehen und der ewige Widersacher alles Menschenglückes die
+scheinheilige Verführungssilbe schmunzeln konnte, riß sich Luisa mit
+erloschenem Schrei aus Leupolts Armen, kämpfte sich aus der Bank
+heraus, deutete verstört auf das Auge Gottes und preßte zitternd das
+Gesicht in die Hände. Die Uhr an der Mauer sagte: »Tu's!« Und Luisa
+wußte nimmer, ob da der Engel oder der Höllische geredet hatte. Wie
+eine Irrsinnige sprang sie zur Tür hinüber, fand sie verschlossen
+und wurde von einem grauenvollen Entsetzen befallen. Als Leupolt,
+bleich und bestürzt, dem Mädel nachgesprungen kam, stieß ihn Luisa
+mit den Fäusten von sich, tastete nach der Klinke, riß und rüttelte
+an der Tür und fing zu schreien an wie ein angstvolles Kind in den
+Gichtern. Mit Leupolts stammelnden Worten mischte sich draußen im Flur
+das erschrockene Klagen der Mutter Agnes. Der Schlüssel klapperte
+im Schloß, die Tür sprang auf, und Luisa jagte an der ratlosen
+Mälzmeisterin vorüber, durch den Flur, hinaus in die Sonne.
+
+»Bub? Herr Jesus, was ist denn da?«
+
+»Ich weiß nit, Mutter, was da geschehen ist. Weiß nur, mein Glück und
+Leben und alles ist in Scherben!«
+
+Diesen von Gram zerdrückten Schrei konnte Luisa noch hören. Ein
+verständiges Besinnen schien sie zu überkommen, weil sie die
+fürchterliche Uhr nimmer sah. Aber da klang das verführerische
+Teufelskichern, so nah, als wär' es versteckt in ihren Zöpfen: »Tu's!«
+Die Hände über die Ohren pressend, huschte sie in ihrem ziegelroten
+Kleid wie eine wehende Flamme hinüber zum Stiftshof und dem Tor der
+Kirche zu.
+
+Das war gerade der Augenblick, in welchem Simeon Lewitter, nach
+gründlicher Untersuchung der ciceronischen Traumzustände des
+Chorkaplans Jesunder, sehr nachdenklich heraustrat aus der Pfarrei.
+Er sah das Mädel vorüberflattern und in der Kirche verschwinden. »Was
+ist nur da schon wieder? Mir scheint, die ganze Welt hat scheckige
+Zwillingskinder im Gehirn.« Seufzend täppelte er seiner heiligen
+Kinderstube zu, kehrte wieder um, spähte zu den Fenstern seines
+langen Freundes Ludwig hinauf und trat nach einigem Zögern in das
+Gerichtsgebäude.
+
+Die vier überflüssigen Buchstaben waren sehr beschäftigt und verzogen
+sich zu einer mißtrauischen Grimasse, als Lewitter schüchtern sagte:
+»Ich hätt ein Wörtl zu reden. Unter vier Augen.« Er mußte erst noch
+beifügen, daß es sich um Leben und Verstand eines wackeren Mannes
+handle, ehe Doktor Halbundhalb sich entschließen konnte, seine
+Gehirnlatwerge vom Formaljustiziarischen loszureißen, den Schreiber
+aus der Stube zu schicken und sich einzulassen auf eine sekrete
+Konversation.
+
+»Also?«
+
+Lewitter faßte sich kurz: seit dem Verschwinden des Haynacher'schen
+Zwillingspärchens aus der Armeseelenkammer wäre der Chorkaplan von
+Wahnvorstellungen befallen, die seinen Verstand bedrohen. Jetzt bilde
+er sich ein --
+
+»Mir schon bekannt!« unterbrach der Allwissende unter der mehligen
+Roßhaarperücke. »Zuerst die sinnlose Annahme, daß Pfarrer Ludwig der
+Schuldige wäre -- eine Hypothese, die sich bei aller Plausibilität als
+verfehlt _in nuce_ erwies -- und nun dieser neue beklagenswerte Wahn!
+Der Mann erbarmt mich. Hoffentlich findet Ihr ein rettendes Remedium?«
+
+»Es gibt nur ein einziges. Man muß dem Jesunder über den Verbleib des
+Pärleins die Wahrheit mitteilen.«
+
+»Ausgeschlossen!« sagte der Landrichter mit Energie und mit einer das
+Thema erledigenden Handbewegung.
+
+Lewitter schmunzelte, kaum merklich. »Ist denn die Wahrheit Euer
+Gestreng bekannt?«
+
+Der Landrichter schob den Hals der Gerechtigkeit lang aus der Krause
+heraus. Wie der Himmel dunstet, wenn er in unmutige Laune gerät, so
+senkte sich aus den weißen Lockenschnecken ein nebliger Niederschlag.
+»Vermutet Ihr, daß es jemals eine Wahrheit gab, die ich *nicht*
+erforschte?«
+
+»Da dürft Ihr sie dem armen Jesunder nit vorenthalten. Seid barmherzig,
+Herr!«
+
+»Unmöglich.«
+
+»Dann sitzt der leidende Chorkaplan an Pfingsten im Narrenturm. Das
+wird für die Regierung kein erquicklicher Fürgang sein. Und könnte
+traurige Folgen haben. Der Bevölkerung dürfte das wie eine offenkundige
+Gottesstraf erscheinen, und es wär nit undenkbar, daß es zu neuem
+Aufruhr kommt, der die Exulantenliste wieder um viele hundert Namen
+vermehrt. Was wird der Allergnädigste Herr da sagen? Und mir, Gestreng,
+wird es nit zu verübeln sein, daß ich mich dem Fürsten gegenüber
+salvieren muß, nachdem mein nützlicher Rat das verdiente Gehör nit
+gefunden hat.«
+
+Herr Willibald Hringghh, einem folgenschweren Dilemma gegenübergestellt
+und in Erinnerung der Standrede seines Allergnädigsten, begann vor
+Aufregung und Ratlosigkeit so heftig zu transpirieren, daß seine
+niedere Stirn wie übersät erschien mit zahllosen Glassplitterchen.
+Gerade, um seinem Allergnädigsten eine schmerzende Unerquicklichkeit zu
+ersparen, hatte er unter heftigen Seelenkämpfen mit seinem Amtsgewissen
+jede weitere Untersuchung in Sachen des an der Armenseelenkammer
+begangenen Raubes niedergeschlagen. Es war ihm vor Wochen ein Gerede
+zu Ohren gekommen. Dem hatte er mit wahrheitsschädlicher Emsigkeit
+nachgeforscht und hatte einen Zeugen eruiert, der unter Eid bekundete:
+er wäre in der Mirakelnacht am Gottesacker vorbeigekommen und
+hätte deutlich gesehen, daß ein junger schlanker Mensch in einem
+hellfarbigen, gebänderten und gemäschelten Herrenmantel hurtig mit
+einer Schaufel ein Loch in den Boden grübe; dabei hätte der Zeuge
+sich nur gedacht, daß wohl einer von den lustigen Domizellaren wieder
+einmal einen übermütigen Streich verüben möchte; mehr wisse er nicht.
+Schon vierundzwanzig Stunden nach der Streubesandung dieses Protokolles
+wußte Willibald, der Wahrheitsforscher, wesentlich mehr und hatte
+den geheimnisvollen Totengräber verläßlich ausgeforscht: den Grafen
+Tige. Mit justiziarischer Schlingensicherheit war nachzuweisen, daß
+-- nicht in der zweiten, wohl aber in der ersten Kapitelnacht, es lag
+hier einer von jenen häufigen Irrtümern vor, wie sie einem Zeugen bei
+Zeitbestimmungen leicht zu widerfahren pflegen -- daß der leichtsinnige
+und frivole Junker in jener Nacht das Bett seiner Domizellarenstube
+nicht berührt, nach anzunehmender Friedhofsschändung die restlichen
+Nachtstunden in den innersten Gemächern der allergnädigsten Aurore
+de Neuenstein verbracht und so den Leichenschmack gewissenlos in das
+Freudengärtlein des vertrauensseligen Landesfürsten transferiert
+hatte. Durch diesen Sachbefund war nicht nur die fleckenlose Unschuld
+des widersinnig verdächtigten Pfarrers zur Evidenz erwiesen; es
+hatte sich auch die betrübsame Angelegenheit für die vier zu Tod
+erschrockenen Entbehrlichkeitslettern in eine _res sacra_ verwandelt,
+vor der die Gerechtigkeit ihre Augen doppelt verbinden mußte. Und
+drum hatte das >getreue Justizkamel< den für die Herzensruhe des
+Landesfürsten gefährlichen Akt mit submissester Ergebenheit in dem
+durch Riegel und Vorhangschlösser gesicherten Geheimarchiv seiner
+Kanzlei verschwinden lassen. Wie hätte man nun dem verrückten Jesunder,
+der sogar seine Träume hinausbrüllte in die Welt, solch eine delikate
+Wahrheit anvertrauen dürfen? »Unmöglich!« Aber diese neue Gefahr nun!
+Gottesstrafe, Aufruhr, Wachstum der Exulantenliste und Verderb des
+ganzen, bisher so glücklich geratenen Bekehrungswerkes! In dieser
+desperaten Lage fand der schwitzende Wahrheitsgräber keinen anderen
+Ausweg, als sich dem klugen Simeon Lewitter ohne Rückhalt zu eröffnen.
+
+»Freilich,« nickte Simmi unter leisem Lächeln, »*das* kann man dem
+armen Jesunder nit preisgeben!«
+
+»Was aber soll man tun?«
+
+»Man wird -- die Wahrheit in allen Ehren -- zur Rettung des
+beklagenswerten Mannes einen barmherzigen Schwindel ersinnen müssen.«
+
+»Glaubt Ihr damit zu reüssieren?«
+
+»Vielleicht. Wenn Euer Gestreng mir hilfreich beistehen wollen?«
+
+»Mit Freuden!« Die weißen Perückenschnecken des Landrichters machten,
+weil die vier Überflüssigen einen tiefen Atemzug der Erleichterung aus
+sich herausbliesen, eine sonderbare Nickbewegung. »Seid meines Dankes
+gewiß für alle Fälle. Und weil wir schon von getrübten Gehirnen reden
+-- habt Ihr nicht in letzter Zeit dem Christl Haynacher Eure Beachtung
+als Arzt gewidmet?«
+
+»Warum?« fragte Lewitter ernst.
+
+»Der gute Mann scheint völlig schwachsinnig geworden zu sein. Wir
+sorgen uns um seinen katholischen Deszendenten. Auch Muckenfüßl ist der
+Meinung, daß man da einschreiten müßte. Bald.«
+
+»Euer Gestreng!« Simeons Brauen zogen sich hart zusammen. »Da muß ich
+auf das Eindringlichste abraten. Ich bitt Euch, laßt diesen Mann in
+Fried! Der Haynacher ist bei vollem Verstand --«
+
+Eine erledigende Handbewegung unterbrach den Arzt. »Diesmal irrt Ihr
+Euch, mein guter Lewitter!« Und lächelnd trug Herr Willibald seinen
+weiß überlöckelten Unverstand zur Tür hinüber, um den beurlaubten
+Schreiber herbeizurufen für weitere Mißhandlung der irdischen
+Gerechtigkeit.
+
+Schweigend verließ Lewitter die mufflige Pfründenstube der Frau
+Justitia. Draußen in der Sonne sah er seinen langen Freund mit wehenden
+Rockflügeln herüberkommen vom Mälzmeisterhaus, ein heiteres Lachen
+auf dem zwinkernden Warzengesicht. »Mein gescheiter Simmi!« Lustig
+legte der Pfarrer seinen Arm um die Schultern Lewitters. »Jetzt rat
+einmal, warum von heut auf morgen ein liebes junges Menschenglück zu
+Berchtesgaden in Scherben gehen soll?«
+
+Simeon fragte nur mit den Augen. Und der Pfarrer lachte: »Weil vor
+anno Towak ein Nürnberger Uhrmacher ein geschickter Kampl, aber ein
+gottslästerlicher Hornochs gewesen ist!« Der weitere Gedankenaustausch
+der beiden Freunde wurde gestört durch einen feierlichen Staatsakt, der
+sich vor ihren Augen im großen Stiftshofe vollzog. Die Trommeln der
+Torwache rasselten, daß man an Krieg und Schlachten hätte denken mögen.
+Zwischen einem Spalier von präsentierenden Musketieren, denen unter dem
+Dreispitz bolzensteif der Zopf hervorstach, sah man hinter den Läufern
+mit ihren baumelnden Straußenfedern eine lindgeschaukelte Sänfte
+gleiten. Durch ihr blitzblankes Fenster gewahrte man einen würdevollen
+Herrn in goldstrotzender Gesandtengala und neben ihm einen kleinen,
+bescheiden uniformierten jungen Offizier mit neugierigem Spitzgesicht.
+
+
+
+
+Kapitel XXVII
+
+
+Im gotischen Saal der Entschlüsse, auf dessen Kronleuchtern bei
+noch halbem Tag alle Kerzen brannten, war feierlicher Empfang des
+preußischen Gesandten. Herr Anton Cajetan im Prunkornat saß auf
+dem berchtesgadnischen Thron, flankiert von den Würdenträgern. Für
+Danckelmann und seinen Begleitoffizier hatte man Samtstühle und
+einen goldgeschnörkelten Tisch mit Schreibgerät vor den Thronstufen
+aufgestellt, die Kapitelherren und Domizellaren standen in doppelter
+Reihe, und der Kanzler von Grusdorf, pompös peruckiert, verlas mit
+Würde das Kreditiv:
+
+ »Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden König in Preußen, Marggraf
+ zu Brandenburg usw. usw. geben Ew. Lbd. hierdurch zu vernehmen,
+ wasmaßen wir gut befunden, Unsern Geheimen Hof-Rath von Danckelmann
+ dorthin abzuschicken, um unsere daselbst emigrirenden neuen
+ Unterthanen in staatsrechtlichen Schutz zu übernehmen und deren
+ bewegliche oder allda verbleibende Vermögen in Sicherheit zu erheben.
+ Wir ersuchen Ew. Lbd., Sie wollen Uns die Freundschaft erweisen,
+ besagtem Geheimen Hof-Rath von Danckelmann zu baldiger Ausrichtung
+ solcher Ihm aufgetragenen Commission alles dasjenige angedeyen
+ zu lassen, was desfalls dem Westphälischen Friedens-Schluß und
+ anderen Reichs-Constitutionen gemäß ist, gestalt wir uns solches
+ zuversichtlich promittiren, und wollen auch Wir gegen Ew. Lbd. zur
+ Bezeugung angenehmer Gefälligkeiten stets willig verbleiben.
+
+ Berlin, den 22. März 1733.
+
+ Friedrich Wilhelm.
+
+ An den Herrn Abt zu Berchtesgaden.«
+
+Der Kanzler hatte vor dem Wörtchen Abt verlegen gestockt. Dem Fürsten
+fuhr um dieser unzulänglichen Titulierung willen das Blut ins Gesicht;
+doch er lächelte nachsichtig und flüsterte Herrn von Grusdorf heiter
+zu: »Man scheint uns in Berlin für Kapuziner zu halten.« Dann begann
+er mit Danckelmann eine liebenswürdige Konversation in französischer
+Sprache, die für den ganzen Verlauf des feierlichen Aktes, wie
+späterhin für die geschäftlichen Debatten beibehalten wurde. Bei der
+Vorstellung des jungen Obristen von Berg sagte Danckelmann empfehlend
+zum Fürsten: »Für unsere Majestät eine _persona gratissima_.«
+
+Ein fröhliches Auflachen des kleinen, zierlichen Offiziers: »Der
+freundliche Geheimrat übertreibt. Will man _gratia_ mit Gnade
+übersetzen, dann freilich stimmt es. Seine Majestät mein Herr und König
+haben mich vor kurzem gnädiglich dem Schafott eschappieren lassen.«
+
+»Mit Recht!« sagte Herr Anton Cajetan, nachdem er seine Verblüffung
+überwunden hatte. »Es wäre schade gewesen um einen ebenso klugen
+wie wahrheitsliebenden Kopf. Allzu unverzeihlich werden wohl die
+Verfehlungen des Herrn Obersten nicht gewesen sein?«
+
+»Insubordination und andre Sträflichkeiten schwersten Kalibers.«
+
+»Insubordination?« lachte der Fürst. »Unter dem preußischen Drill?«
+
+»Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich gelte als der einzige unbrauchbare
+Soldat der preußischen Armee.«
+
+»Dann werden der Herr Oberst, der jung zu hohem militärischem Grad
+gelangte, sich wohl durch andere Vorzüge ausgezeichnet haben.«
+Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Herr Anton Cajetan dem
+Geheimrat zu. Höflich den Ärger darüber verschleiernd, daß man einem
+Gesandten für das gefürstete Berchtesgaden als Begleitoffizier einen
+begnadigten Militärverbrecher beigegeben hatte, versprach er an einem
+der nächsten Tage eine Kommission zur Vorberatung zu berufen und lud
+die preußischen Herren für den vierten Tag zu einem Großen Jagen mit
+anschließender Fürstentafel. Nach würdevoller Verneigung betonte der
+Geheimrat seine kurzbemessene Zeit. Ohngeachtet mancher Orientierung,
+die er bereits bei evangelischen Männern eingeholt hätte, bedürfe er
+dreier Tage, um mit ihnen alles Notwendige über Reiseweg und Ansiedlung
+zu bereden. Für den vierten Tag stelle er sich der Einladung Seiner
+Liebden mit Freuden zu Diensten, am fünften Tage müsse er seine
+Rückreise antreten, und so bäte er, sofort in die geschäftlichen
+Verhandlungen einzutreten. Verdutzte Augen im ganzen Saal. Herr Anton
+Cajetan blieb höflich, zog sich mit seinen Würdenträgern zu einer
+Besprechung zurück, erschien nicht mehr, weil er zum Tee bei Aurore de
+Neuenstein erwartet wurde, und designierte den Kanzler, den Dekan und
+den Grafen Saur zur geschäftlichen Verhandlung. Das Kleeblatt setzte
+sich mit den preußischen Herrn inmitten der gespannten Kapitularen um
+den goldgeschnörkelten Tisch. Als die Unterhaltung begann, erschien
+verspätet der Pfarrer Ludwig. Weil es keinem der Kapitularen einfiel,
+ihn den preußischen Herren vorzustellen, besorgte er das selbst.
+Der junge Oberst reichte ihm freundlich die Hand, sah aufmerksam zu
+dem heiteren Warzengesicht hinauf und plauderte munter, während am
+goldenen Tische ernst verhandelt wurde. Weil Ludwig bei schwächlichem
+Französisch einen Schnitzer um den anderen herauswimmelte, begannen
+sich die Domizellaren zu belustigen. Das störte den Pfarrer nicht.
+Zufrieden mit der neuen Bekanntschaft, die er geschlossen hatte, ging
+er zu seinem Kapitelstuhl und kreuzte die Arme.
+
+Die Verhandlung gestaltete sich zäh und spann sich in die Länge.
+Nie beteiligte sich der junge Oberst. Er betrachtete aufmerksam die
+gotischen Ornamente oder musterte die Gesichter aller Anwesenden. Nach
+der zweiten Debattenstunde war der erste Verhandlungspunkt -- Höhe
+der Ablösung für die Leibeigenschaft -- noch immer nicht erledigt.
+Herr von Grusdorf wollte unter 20 Gulden pro Kopf nicht heruntergehen
+und hielt in schlechtem Französisch Reden von der Länge gereizter
+Sonntagspredigten. Der junge Oberst verriet Zeichen von Ungeduld,
+tauchte die Kielfeder ein und begann mit hurtiger Hand schief über
+ein Blatt zu schreiben. Außer Danckelmann, der ein bißchen irritiert
+erschien, achtete niemand dieses Vorganges. Der junge Oberst schrieb:
+»Unsere Forderungen: 1) Jeder evangelische Exulant ist als preußischer
+Untertan zu erachten, dem der Schutz seines Königs gebührt. -- 2) Für
+alle Strafen, die um des evangelischen Bekenntnisses willen verhängt
+wurden, wird von Stund an volle Amnestie gewährt; neue Verurteilungen
+werden nicht ausgesprochen. -- 3) Der erste Zug der Exulanten verläßt
+die berchtesgadnische Grenze am fünften Tage _post datum_; die weiteren
+Züge folgen nach Verwertung des liegenden Besitzes. -- 4) Bei Verkauf
+des evangelischen Eigentums werden Bedrückungen nicht erfolgen; die
+Berchtesgadnische Regierung haftet für Eingang der Kaufschillinge bis
+zu vier Fünfteln des landüblichen Wertes. -- 5) Die Leibeigenschaft
+wird pro Kopf, Mann, Weib, oder Kind, mit 5 Gulden abgelöst; dafür
+haftet der preußische Staatsschatz. -- 6) Geheimrat von Danckelmann und
+seine Begleiter sind für drei Tage zu freizügigem Besuch des Landes
+ermächtigt, um mit den Evangelischen alles Notwendige festzusetzen;
+diese Genehmigung ist rückwirkend für den bisherigen Reiseverlauf.«
+
+Dieses Blatt reichte der junge Oberst dem Geheimrat. Dem wurde unter
+den weißen Locken die Stirn ein bißchen heiß. Er gab das Blatt nach
+kurzem Zögern mit einem zustimmenden Augenwink zurück. Der junge Oberst
+machte eine Abschrift, verwahrte sie zwischen den Knöpfen seines
+blauen Soldatenrockes und erhob sich. »Bewilligen mir die Herren ein
+paar Worte?« Der Kanzler sah verdutzt den Geheimrat an: »Ist Herr
+Oberst von Berg berechtigt --« Danckelmann sagte rasch: »Herr von
+Berg scheint geheime Aufträge Seiner Majestät empfangen zu haben --
+als Offizier.« Schweigen im Saal. Lächelnd und liebenswürdig sagte
+der Oberst: »Die Herren werden rascher zu einem Entschluß gelangen,
+wenn sie durch unsere Gegenwart sich nicht behindert fühlen. Hier sind
+unsere schriftlich niedergelegten Vorschläge. Wir ersuchen um ihre
+unveränderte Annahme bis zur zehnten Abendstunde.« Auch der Geheimrat
+nahm seinen Dreispitz unter den Arm. Herr von Grusdorf, der mit einem
+raschen Blick das Blatt überflogen hatte, stammelte entgeistert:
+»Wenn aber die Regierung begründete Veranlassung zur Abwehr dieser
+Wünsche hätte?« Danckelmann hob die Schultern und deutete auf seinen
+Begleitoffizier. Der Kanzler drehte die runden Augen hinüber: »Würde
+das etwa gar den -- den -- den Krieg bedeuten?« Da fand der junge
+Oberst ein heiteres, herzliches Lachen: »Ich bin so begeistert von den
+Herrlichkeiten Ihres zaubervollen Landes, daß ich jedem preußischen
+Grenadier den Genuß so erhabener Schönheit vergönnen würde.« Schritt
+um Schritt zurücktretend, machte er nach allen Seiten hin so zierliche
+Verneigungen, daß Graf Tige seinen Witz vom maskierten Tanzmeister
+wiederholte. Eine Wirkung erzielte der depossedierte Verkündigungsengel
+der allergnädigsten Aurore de Neuenstein mit seinem Scherzwort nicht.
+Die Gesichter aller Kapitularen blieben lang. Nur einer lachte vergnügt
+und ließ seine große Warze hüpfen. Graf Saur begleitete die Herren zur
+Sänfte. Hinter ihnen im Kapitelsaal erhob sich ein Heidenlärm. Auch bei
+jener Nachtsitzung über das Schicksal des schwarzweißen Doppeltödchens
+war es nicht lebhafter zugegangen.
+
+Zwischen vier hellbrennenden Wachsfackeln gaukelte die Sänfte durch
+die stille, abenddunkle Marktgasse. Danckelmann schwieg, weil der
+Polizeifeldwebel sich immer dicht neben dem Fenster hielt; und der
+junge Oberst, der die durchwachte Nacht zu spüren begann, nickte
+bei diesem sanften Geschaukel ein bißchen ein. Im Leuthaus war für
+die beiden Herren zum Nachtmahl gedeckt; der fürstpröpstliche Lakai
+wurde höflich verabschiedet, und der steifzopfige, stiefelklappernde
+Soldat mußte bedienen; er machte die Sache, wie man eine Kanone lädt
+und abfeuert. Der junge Oberst begann mit Gier zu schlingen, trank
+den schweren Klosterwein wie Wasser, schwatzte immer sein quirlendes
+Französisch und fragte endlich den wortkargen Geheimrat: »Hab ich Ihm
+die diplomatische Laune verdorben?«
+
+»Das nicht, aber -- was tun wir, wenn Ihre römische Kurzangebundenheit
+eine Abfuhr erleidet?«
+
+Ein heiteres Lachen. »Wozu soll ich mir den Kopf über Dinge zerbrechen,
+von denen ich voraussetze, daß sie nicht eintreffen. Die Herren haben
+nicht darnach ausgesehen, als wollten sie mit eisernem Schädel durch
+die Mauer fahren.« Ohne bösartig zu werden, begann der junge Oberst die
+Köpfe der Kapitelherren mit drolliger Spottlust zu silhouettieren. »Nur
+einer war dabei, der mir gefallen hat, der Lange mit dem prächtigen
+Weißkopf und den zwei schrecklichen Warzen. Der hat etwas Rolandeskes,
+hat Menschlichkeit in den deutschen Augen und Gedanken hinter der
+Stirne. Dennoch ist er heiter. Das ist ein Mensch mit erhöhter Seele.«
+
+»Glauben Sie, daß er --«
+
+Gleich verstand der junge Oberst. »Ein heimlicher Protestant? Der?
+Nein. Ihre evangelische Seele ist hochmütig, lieber Geheimrat. Wir
+dürfen nicht jeden wertvollen Menschen für uns in Beschlag nehmen.
+Sokrates und Leonidas waren Heiden, Salomo war Jude. Und der lange
+Weißkopf? Ich wette, der ist ein Katholik vom reinsten Wasser.« Nach
+kurzem Schweigen wieder das muntere Auflachen. »Ich ertappe mich
+manchmal bei einer höchst unnordischen Sympathie für die Katholiken.
+Sie sind mir in manchen Dingen lieber als unsere Orthodoxen, hinter
+deren Eisblöcken noch immer der verflossene Scheiterhaufen ein bißchen
+raucht.« Die schmalen Lippen lächelten malitiös. »Vor zwei Jahren, als
+ich gute Worte nötig hatte, schrieb mir ein katholischer Abt aus der
+Rheingegend diesen Vers in meinen Canisius:
+
+ Ein schlechter Protestant, ein schlechter Katholik,
+ Da frißt der Teufel den Segen, das Glück.
+ Ein guter Katholik, ein guter Protestant,
+ Und driefach wächst die Ernte im Land.
+
+Glauben Sie, Danckelmann, daß jemals einer von unseren
+Oberkonsistorialräten einen solchen Vers in den Katechismus eines
+katholischen Prinzen schreiben würde?«
+
+»So darf man diese Dinge nicht nehmen, Königliche Hoheit! Man muß als
+Staatsmann Distanz bewahren, um sich von Fall zu Fall das Notwendige
+mit Ruhe überlegen zu können.«
+
+»Ruhe? Für alle Fälle? Nein, Danckelmann! Das ist die unergiebigste
+Eigenschaft der Menschen.« Ein lächelndes Sinnen. »Zeit lassen? Beim
+Bergsteigen mag es vernünftig sein, wenn man kurzen Atem hat. Heut,
+als dieser Jäger zwischen den grausamen Dragonergäulen sprang wie ein
+Hirsch, bewies er, daß das Hilfreiche die eiserne Ausdauer ist, die
+schnelle Kraft und der leidenschaftliche Wille. Im Leben und in der
+Geschichte, wenn die Schose vorwärts gehen soll, muß Sturm wehen. Komm
+ich einmal zur Arbeit, so will ich in der ersten Stunde was beginnen,
+worüber die Welt zusammenfahren soll bis in die Knochen.« Sich
+erhebend, leerte er sein Weinglas und winkte auf etwas parodistische
+Art mit der Hand. »Gute Nacht, mein ruhsamer Geheimrat! Ich sehne mich
+nach meinem Nachtgebet. Das will ich _piano_ erledigen, damit es Ihm
+den Schlummer nicht davonpfeift.«
+
+Ein paar Minuten später, als der junge Oberst in >Himmat< und
+Reithose auf dem Bett saß, und der Soldat ihm die von der Schneenässe
+enggewordenen Stiefel herunterziehen wollte, hörte man zwei Stimmen im
+Salon. Dann streckte Danckelmann den Kopf zur Türe herein: »Der Bote
+war da. Alles bewilligt.«
+
+»Na also!« Ein kurzes, fast kindliches Auflachen der melodischen
+Stimme. Dazu in flinkem Französisch: »Hat man 120000 wohldressierte
+Kerle hinter sich, so kann man sich vernünftige Worte erlauben. Umwege
+und geduldige Schwäche machen sich schlecht bezahlt. Entschlossene
+Gradheit bleibt immer die beste Politik.« Und wieder deutsch: »Na,
+Hänne, nu zieh mal feste! Spuck in die _la main_! Denn wird's schon
+jehen.«
+
+Der Geheimrat legte sich mit erleichtertem Gemüt zu Bett. Er hatte
+schon eine berchtesgadnisch-salzburgisch-österreichische Koalition
+in der Luft hängen sehen. Jetzt konnte er aufatmen. Kaum lag er
+in den Kissen, da hörte er durch zwei Mauern sanft gedämpft das
+>Nachtgebet< des jungen Obersten herüberklingen: pedantische
+Flötenläufe, erst langsam und immer schneller, Töne wie Soldaten, die
+nach dem Paradeschritt den Sturmlauf üben. Dann ein innig träumendes
+Adagio, das einer Klavierübung von Bach entnommen und für die Flöte
+zugeschnitten war. Erst gegen Mitternacht verstummten die zärtlichen
+Klänge. Das blieb politisch nicht ohne Folgen. In der Geisterstunde
+wurde Herr von Grusdorf aus dem ersten Schlaf herausgebimmelt, um
+von Muckenfüßl den überraschenden Geheimrapport entgegenzunehmen:
+daß der impertinalimentische Patron, der sich _in loco hujus_ vor
+den Kapitelherren so arroganzialiter aufgespielt hätte, gar kein
+prussianischer Offizier sein könnte, sondern probabilitätisch ein
+verkappter Musikant und Schwegelpfeifer wäre. Graf Tige hatte also mit
+seinem maskierten Tanzmeister nicht weit daneben geraten. Aber wie
+die Dinge lagen, war nichts mehr zu ändern. Man konnte nur bei den
+bevorstehenden Hoffestlichkeiten die Verteilung der Jagdstände und die
+Tischordnung _eo modo_ dirigieren, daß dieser zweifelhafte Kumpan aus
+der allergnädigsten Nähe Seiner Liebden removiert wurde.
+
+Eine dunkle Nacht verging. In den Bürgerhäusern der Marktgasse
+war nach der zehnten Abendstunde das Brennen von Licht seit dem
+Versöhnungsschießen polizeilich verboten. Aurore de Neuenstein und ihr
+Schlafzimmer standen selbstredend außerhalb des Wirkungskreises der
+mittleren Regierungsorgane. An der schon halb zum Unlustschlößchen
+gewordenen Villa blinzelte durch die herzförmigen Ausschnitte der
+geschlossenen Fensterläden ein rosiger Schein heraus, der erst kurz
+vor Anbruch des Morgens erlosch. Da die sekrete Sänfte sich schon vor
+Mitternacht gegen das Stift bewegt hatte, war den Polizeiwächtern
+diese zwecklose Lichtvergeudung der Allergnädigsten nicht erklärlich;
+sie rieten auf Gespensterfurcht; unmöglich konnten sie vermuten,
+daß Aurore de Neuenstein die restlichen Nachtstunden zum Einpacken
+noch unentfernter Kostbarkeiten verwendete. Ein ahnungsvoller Engel,
+sah sie den Strapazen des Großen Jagens, das sie als parisische
+Diana verschönen sollte, mit dunkler Besorgnis entgegen und wollte
+die drei folgenden Tage, in denen sie dank einer immer wirksamen
+Ausrede von allen zärtlichen Verpflichtungen enthoben war, noch gut
+für ihre Zukunft benützen. Kurz vor Anbruch des Tages verließen
+zwei schwerbepackte Saumtiere, von Aurorens verläßlichem Hausknecht
+geleitet, das in der Frühlingswärme still erblühende Freudengärtlein in
+der Richtung gegen Reichenhall.
+
+Unter dem gleichen Frühgrau pochte Leupolt Raurisser an die noch
+verschlossene Tür des Leuthauses. Eine Stunde später, während
+die kommende Sonne alle westlichen Bergspitzen mit Rosenglut zu
+überschütten begann, ritten die zwei preußischen Herren gegen
+Unterstein hinaus, begleitet von dem steifzopfigen Soldaten und von
+Leupolt, der ernst und blaß war, doch so ruhig, daß die Herren, wenn
+sie mit ihm sprachen, keinen Wandel gegen den vergangenen Tag an ihm
+bemerkten. Als die Reiter am Haynacherlehen vorüberkamen, grüßte
+Leupolt in herzlichem Erbarmen den Christl, der wunderlich erregt vom
+Zauntor seines Gehöftes gegen das Sudhaus hinüberspähte. Lange stand
+er und guckte so. Jetzt tat er einen schweren Atemzug. »Da kommt er!«
+Dem Haynacherlehen wanderte ein kleiner, zaundürrer Bauer entgegen, in
+dessen schmunzelndem Runzelgesicht zwei flinke Wieselaugen funkelten.
+Er trug eine schwere Geldkatze um den Magen herumgeschnallt. »Gelobt
+sei Jesus Christus und die heilige Mutter Marie.«
+
+»In Ewigkeit Amen!« sagte Christl und scheuerte den weißen Haarfleck
+hinter dem Ohr.
+
+Der kleine Bauer stieß den Stecken auf den Boden. »Daß wir gleich alles
+ausreden: den Hausrat, 's Vieh und 's Futter mußt du mir aufweisen.
+Dein Feld und den Waldzipf kenn ich. Wie viel verlangst du für alles?«
+
+»Die Nachbarsleut schätzen mein Sach katholisch auf vierzehnhundert
+Gulden.«
+
+»Ich hab dich ausrufen hören: du gibst es um den halben Preis?«
+
+»Was ich sag, ist Stein und Eisen.« Christls tiefliegende Augen
+begannen zu funkeln. »Daß man der Martle ihr Gerstenfeld nit ackern
+und misten darf, das müssen wir protokollarisch machen. Was mein Bübl
+braucht an Wäsch und Zuig, und was --« Dem Christl kam ein Schwanken in
+die Stimme. »Was noch übrig ist von meiner Martle, das nimm ich mit.
+Alles andre ist dein.«
+
+»Schauen wir's an.« Der kleine Bauer nahm die Sache genau. Jedes Stück
+Hausrat untersuchte er bis auf die Leimfugen; jede Ziege hob er auf
+seinen Schoß, jeder Kuh knutschte er das Maul, den Hals, die Wampe,
+das Euter, und jedem Kälbl guckte er aufmerksam unter den Schwanz.
+Der stumme Christl stand mit aschfarbenem Gesicht daneben. »Gut!
+Vierhundert kriegst du bei der Unterschrift, dreihundert bei der
+Übergab. Wann soll ich zum Protokollieren kommen?«
+
+»Gleich.«
+
+Der kleine Bauer lachte. »Pressiert's dir denn gar so?«
+
+»Wohl.« Christl Haynacher trug sein Bübl zur Nachbarin hinüber und
+wanderte mit dem Käufer zum Landgericht. Das wunderliche Kaufdokument
+mit dem Paragraph über das Gerstenfeld: nit ackern und nit misten
+-- verursachte den vier überflüssigen Buchstaben eine muntere
+Viertelstunde. Als Christl unterschrieben hatte, fragte ihn der
+Landrichter lachend: »Wann will er denn exulieren?«
+
+»Morgen.« Der Haynacher hob die brennenden Augen. »Am liebsten tät
+ich's noch heut.«
+
+»Heute? Nein. Heut nachmittag wird er schön daheim bleiben. Da wird
+noch etwas zu erledigen sein.«
+
+Christl lächelte sonderbar. »Was wär denn das?«
+
+»Seine Neugier wird sich gedulden können.« Eine entlassende
+Handbewegung. Als die zwei Bauern mit schweren Schuhen davongepoltert
+waren, schwang sich der muntere Liebling der Gerechtigkeit zu einem
+philosophischen Erguß über die in Bauernköpfen generaliter grassierende
+Verbohrtheit auf. Seine heitere Laune sollte sich noch weiterhin
+erhöhen. Pfarrer Ludwig betrat schmunzelnd die Amtsstube. »Oh?
+_Reverende?_ Was führt Euch zu mir?«
+
+Das Schmunzeln des Pfarrers verstärkte sich. »Um ehrlich zu sein: ein
+Werk der Barmherzigkeit. Oder, um gleich _in medias res_ zu hupfen: ich
+will --« Nach einem Augenwink auf den Schreiber sprach er lateinisch
+weiter: »Ich will meine schwerbedrückte Seele entlasten und ehrlich
+zu Protokoll geben, daß ich es gewesen bin, der das Haynacher'sche
+Zwillingspärl verschwinden ließ.«
+
+Der Landrichter schickte hurtig den Schreiber aus der Stube und platzte
+los. Was Lustigeres war ihm zeit seines Lebens noch nicht begegnet.
+Zwischen Lachen und Lachen sagte er: »Unglaublich! Dieser Lewitter!
+So viel Schlauheit hätt' ich ihm gar nicht zugetraut, obwohl man in
+dieser Materie von einem Juden viel attendieren darf.« Es dauerte ein
+Weilchen, bis er sich von seiner unjustiziarischen Fröhlichkeit so
+weit erholt hatte, um die Gänsefeder in die Streusandbüchse tauchen
+zu können. Die Feder schrieb nicht. »Seht doch,« sagte der muntere
+Willibald, »wie klug meine Feder ist! Sie weigert sich, bei dieser
+barmherzigen Torheit mitzuagieren.« Er griff nach einem anderen Kiel.
+Diesmal fand er beim Eintauchen richtig das Tintenfaß. »Also?« Dabei
+lachte er schon wieder. »Was soll ich protokollieren?«
+
+»Daß ich aus Erbarmen mit dem unglücklichen Vater, aus Mitleid mit dem
+armseligen Pärl, auch sonst aus Vernunfts- und Menschlichkeitsgründen
+dem beklagenswerten Kapitelstreit ein notwendiges Ende bereitet
+habe.« Pfarrer Ludwig war sehr ernst geworden. »Was ich bekenne, Euer
+Gestreng, ist die reine Wahrheit. Mit einem Schlüssel, den ich aus der
+Zeit meiner Amtstätigkeit noch besaß, hab ich in jener Kapitelnacht
+die Armeseelenkammer aufgesperrt. Um mich unkenntlich zu machen, hab
+ich einen gemäschelten Herrenmantel umgehangen, den ich mir vor Jahren
+für ein höfisches Maskenfest hab schneidern lassen. So vermummelt
+hab ich das arme Pärl im Friedhof zur ewigen Ruh bestattet. Mein
+priesterliches Gewissen ist ohne Vorwurf. Lewitter hat uns das im
+Kapitel doch auseinandergesetzt: mit der Verwebung der Muskeln, mit der
+Diffusion des Blutes, _et cetera_. Da muß doch vom getauften Blut was
+übergeflossen sein ins ungetaufte, also quasi eine Mittaufe des nur
+leblos *scheinenden* Körperchens erfolgt sein. Nit?«
+
+»Aaaaah! Glänzend debattiert!« staunte der hocherfreute Richter, der
+nun auch den Grafen Tige, wenigstens inbetreff seiner nächtlichen
+Friedhofstätigkeit gerechtfertigt sah. »Warum habt Ihr denn diese
+hilfreiche Konklusion nicht im Kapitel vorgebracht?«
+
+»Weil sie mir erst _post festum_ eingefallen ist. Daß ich also bis zu
+gewissem Grad gegen kirchliche und weltliche Gesetze handelte, das weiß
+ich. Und bekennen muß ich es, weil ich nicht will, daß ein halbwegs
+Schuldloser leiden soll um meinetwillen.«
+
+»Ssssso!« sagte der von fröhlichem Glück erstrahlende Landrichter nach
+einer Weile, indem er unter das letzte Wort des Protokolls einen netten
+Schnörkel machte. »Und wirklich, _Reverende_, dieses Bekenntnis wollt
+Ihr unterschreiben?« Pfarrer Ludwig, ohne zu antworten, nahm die Feder
+und kritzelte seinen Namen unter das Protokoll. Da bewegten sich die
+vier überflüssigen Buchstaben. Mit einer Herzlichkeit, wie sie noch
+kein anderes Menschenkind von ihm erfahren hatte, streckte Willibald
+Hringghh dem Pfarrer die Hände hin und sagte voll Rührung: »Reicht mir
+Eure hilfreiche Christenhand! Ich *muß* sie drücken. Es ist mir doch
+bekannt, daß Jesunder stets Euer Gegner war. Um so ehrenwerter ist es
+von Euch, daß Ihr einem so erbitterten Widersacher zu Hilfe kommt, der
+nahe daran war, die übelsten Dinge über Euch heraufzubeschwören.«
+
+»Herr Richter!« Pfarrer Ludwig blieb noch immer ernst. »Ich hab keinen
+Schwindel gemacht, ich hab die Wahrheit gesagt.«
+
+Ein fröhliches Lachen erschütterte das Sauermilchgehirn der
+Gerechtigkeit. »Die *reinste* Wahrheit! Auch im Groben famos erfunden.
+Aber permittiert mir, Euch aus dem reichen Tresor meiner richterlichen
+Experienzen auf ein paar laienhafte Dissonanzen aufmerksam zu machen.
+Da ist von einem Schlüssel die Rede. Wenn nun der Richter früge: >Wo
+ist dieser Schlüssel?< Nein, Ihr sollt mir nicht antworten. Ich will
+es Euch sagen.« Der vergnügte Willibald lächelte allwissend. »Nicht
+wahr? Diesen Schlüssel habt Ihr in einen tiefen Brunnen geworfen?«
+
+»Stimmt!«
+
+»Und den gemäschelten Herrenmantel habt Ihr wohl verbrannt in Eurem
+Stubenofen?«
+
+»Stimmt!«
+
+»Aber! _Reverende!_« Der Landrichter lachte, daß von den heftigen
+Schüttelbewegungen die Roßhaarwuckeln seiner Perücke weißlich
+zu qualmen begannen. »Euch, der die herrliche Sache mit der
+diffundierenden Taufe zu finden wußte, sollte doch auch hier etwas
+Witzigeres einfallen. Der tiefe Brunnen und das Ofenfeuer sind die
+abgedroschensten Hilflosigkeiten vor dem Richtertische. Doch um Euch
+einleuchtend zu demonstrieren, *wie* laienhaft in juridischem Sinn Eure
+barmherzige _fabula_ ersonnen ist, will ich noch eine Frage stellen. In
+welcher Nacht behauptet Ihr, das angebliche _crimen_ verübt zu haben?
+Ihr wollt doch wohl nicht sagen: >In der ersten<? Nämlich in der Nacht,
+in der es durch einen mir bekannten Täter wirklich geschah! Da ist doch
+zu beweisen, daß Ihr im Kapitel wart. Nun also? Wann?«
+
+»In der anderen Nacht.«
+
+»Aber Hochwürden!« Die justiziarischen Mausaugen blitzten von
+überlegenem Humor. »Da wart Ihr doch, wie ich mich selbst überzeugte,
+ein schwerleidender Patient.«
+
+»Ich hab die Krankheit simuliert, um das Kapitel schwänzen zu können.«
+
+»Ausgezeichnet!« Hell auflachend klatschte Doktor Willibald die Hand
+auf den geduldigen Tisch der Justitia. »Ich will Euch sogar gestehen,
+daß eine ähnliche Konjektur auch mich zu befallen drohte, bevor sich
+der Gegenbeweis ergab. Daß man vor dem Scharfblick eines Richters
+mancherlei Krankheiten zu simulieren versucht, ist mir nicht neu.
+Es gibt da Simulanten von erstaunlicher Fertigkeit. Aber --« Erst
+mußte der Landrichter die Tränen fortwischen, die ihm der Witz des
+Vorganges aus den Molchaugen beizte. »*So* geschickt hat noch niemals
+einer von meinen Inkulpaten simuliert, daß ich von seiner fingierten
+Krankheit infiziert wurde. Ihr seid der erste, der da reüssierte.
+Eure _simulatio_ hat mir vierzehn Tage beschert, in denen meine Nase
+permutiert war zu einer qualvollen Hölle. Nun? Was sagt Ihr jetzt?«
+
+Der Pfarrer schwieg. Seine große Warze begann zu hüpfen, und dann
+brach er in ein Gelächter aus, daß er mit beiden Händen die Mitte
+seiner Länge umklammern mußte. Eine völlig gegensätzliche Wandlung
+vollzog sich im Molkentopf des Hringghhischen Verstandes. Ernst
+geworden, mit schöner Würde, erhob er sich vom Fundament der vier
+überflüssigen Lettern. »Merkt Ihr jetzt, wie aussichtslos es ist, vor
+einem erfahrenen Richter einen unrealen Bären produzieren zu wollen?
+Aber gestattet nun, daß ich den armen Jesunder sofort von seinem Wahn
+kuriere. Ich dank Euch, liebste Hochwürden! Ihr habt mir in mancher
+Hinsicht eine große Gefälligkeit erwiesen. Grüßt mir auch den klugen,
+vortrefflichen Lewitter!«
+
+Als Pfarrer Ludwig hinaustrat in die Sonne, faltete er wie ein frommes
+Kind die Hände und sprach ohne Worte zum blauen Himmel hinauf: »Du
+lieber Herrgott! Gibt's denn irgendwo auf der Welt noch einen größeren
+Schafskopf? Sag mir's! Dann reis' ich hin. So was Unwahrscheinliches
+muß man mit Händen greifen, bevor man's glauben kann.« Lachend ging er
+zu seinem Haus hinüber. Doch diese Heiterkeit war ohne Dauer. Seine
+Augen wurden ernst, fast traurig. »Und so was richtet über Schicksal
+und Ehr, über Leben und Tod der Menschen.«
+
+Bevor noch eine Stunde verflossen war, trat Doktor Willibald Hringghh
+mit dem Lächeln eines Siegers in die Stube des Pfarrers. »Gestreng?«
+fragte Herr Ludwig. »Was noch?« Die Sauermilch der vier Überflüssigen
+wurde geistreich. »Der gemäschelte Herrenmantel,« Willibald zog das
+Protokoll aus dem Busen, »soll verdiente Gesellschaft erhalten.« Ging
+auf den Ofen zu und schob das Dokument der Gerechtigkeit ins Feuerloch.
+Der Pfarrer schüttelte den Kopf: »Das muß ich mißbilligen. Wenn
+Jesunder das Prozeßverfahren gegen mich fordert?«
+
+»Er wird es unterlassen.« Lächelnd streckte sich Doktor Halbundhalb zum
+Ohr des langen Pfarrers hinauf. »Um eine gelinde, politisch notwendig
+gewordene Verfehlung gegen meine Amtspflicht von mir abzulösen, hab
+ich beim Chorkaplan *gebeichtet*. Es war die einzige Methode, die ihn
+zwingen konnte, das Geheimnis zu bewahren.« Seiner siegreichen Klugheit
+vollbewußt, sah der weise Richter dem Pfarrer in die Augen. »Als ich
+mein Confiteor begann, war der arme Jesunder noch ein gequälter Narr,
+bei der Absolution schon ein sanierter Mensch. Namentlich das Motiv der
+diffundierenden Taufe hat ihn ungemein beruhigt. Und die Hilfe kam, als
+die Not am höchsten war. Den Verstörten bedrückte bereits der Wahn, daß
+er preußische Zwillinge gebären müßte. Eben, da ich kam, wollte er
+seine verzweifelte Mutter zur Hebamme schicken.«
+
+Pfarrer Ludwig, als er allein blieb, sprach mit einem kleinen Zusatz
+die Worte des spinozistischen Briefes vor sich hin: »Alles Wissen und
+Geschehen, auch alle Narretei und Dummheit muß dem Leben dienen, damit
+der Mensch teilhaftig werde des ihm möglichen Glückes!« Dann fort,
+zu seinem Freunde Simmi. Und von Lewitters Haus hinüber zum Meister
+Niklaus. Er traf ihn mit Luisa und Sus bei der Mahlzeit, setzte sich
+zu ihnen, schien besser gelaunt als je und erzählte die Geschichte
+vom preußischen Kapitelsieg. »Die wissen, wie man's zu machen hat.
+Einen feindseligen Hammel muß man aufs Maul schlagen. Kitzelt man ihm
+freundlich die Ohren, so stoßt er.« Während der Pfarrer schwatzte,
+huschten seine forschenden Augen immer wieder zu Luisa hinüber. Ihr
+Gesicht war wie aus Alabaster geschnitten und erzählte stumm von einer
+herzzerdrückenden Kummernacht. Nie hob sie den Blick, sprach keine
+Silbe und atmete schwer. »Ja,« sagte der Pfarrer, »gestern im Kapitel
+hab' ich lachen können. Dafür hab' ich kurz vorher einen netten Schreck
+mit der guten Mälzmeisterin erlebt. Übrigens, Luisli, weißt du denn
+schon, daß der Leupi wieder daheim ist?«
+
+Luisa nickte stumm und beugte das Gesicht noch tiefer gegen den Tisch.
+»Kind?« fragte der Meister halb erstaunt und halb erschrocken. »Und
+da sagst du mir kein Wörtl davon? Ist was geschehen zwischen Euch?
+Du bist seit gestern, daß ich dich schier nimmer kenn.« Sie wollte
+sprechen und brachte keinen Laut aus der Kehle. Die Sus wurde rot
+bis unter die Haarwurzeln, und Niklaus fragte nicht weiter, weil
+ihm der Pfarrer unter der Tischplatte einen mahnenden Puff versetzte
+und dazu verständlich mit den Augen zwinkerte: »Ja, Nick, da hab ich
+wieder einmal sehen können, wieviel Wunderliches in Menschenköpfen
+umeinanderhupft. Du weißt doch, was für ein gescheites, wahrhaft
+frommes Weibl die Mälzmeisterin ist. Und gestern, ich sitz daheim,
+und da surrt der Mutter Agnes ihr Mädel zu mir herein in die Stub,
+heult wie unsinnig und bettelt, ich soll doch um Gotteswillen gleich
+hinüberkommen, die Mutter Agnes hätt den Verstand verloren.«
+
+Niklaus sah ratlos den lächelnden Pfarrer an, die Sus stammelte ein
+>Jesus Maria!<, und Luisa hob das blasse Gesicht mit erweiterten Augen,
+aus denen alle Qual einer verstörten Seele redete.
+
+»Da kannst du dir denken, Nicki, wie ich gesprungen bin. Ich komm
+hinüber, und da sitzt der prächtige Bub auf der Herrgottsbank, hat
+ein Gesicht wie ein Gestorbener, und hält mit den Armen die Mutter
+fest, als müßt er Sorg haben, daß sie was Unsinniges anstellen möcht.
+>Was ist denn?< frag ich. Und da kriegt die Mälzmeisterin ein bißl
+Luft, reißt sich von ihrem Buben los, springt zur Mauer hinüber -- und
+du weißt doch, bei den Mälzmeisterischen hängt so eine hirnrissige,
+lästerliche Gottsaugenuhr in der Stub. Und jetzt rat, was die Mutter
+Agnes getan hat? Ausgesehen hat's freilich, als wär sie verrückt. Aber
+flink bin ich draufgekommen, daß sie gescheiter ist als wir alle. Und
+so springt das zornwütige Weibl auf die Mauer zu, packt die dumme Uhr,
+reißt sie von der Wand herunter, trampelt mit den Schuhsohlen drauf
+herum, wie man was Giftiges totmacht, und schreit dazu in Kummer und
+Tränen: >Frömmigkeit, ja, Frömmigkeit! Rechte Frömmigkeit ist das
+Schönste auf der Welt, aber kindischer Aberglauben ist allweil das
+Schiechste vor Gottes Blick!< Ich sag dir, Nicki --« Pfarrer Ludwig
+verstummte, sah über den Tisch hinüber und fragte verwundert: »Luisli?
+Ist dir nit gut?«
+
+Wankend, als wäre sie nah dem Erlöschen, hatte Luisa sich erhoben.
+Der Meister erschrak, die Sus sprang auf. Und da taumelte Luisa schon
+zur Tür hinaus, den einen Arm vor die Augen gepreßt, mit der anderen
+Hand ins Leere tastend. Die Sus sprang ihr nach mit einem erstickten
+Sorgenschrei. Den Meister, der das Gleiche tun wollte, faßte Pfarrer
+Ludwig am Arm. »Bleib, Nicki! Die Sus macht das schon. Die weiß, wie
+man vor einer füreiligen Dummheit den Schlüssel im Türschlößl umdreht.«
+
+»Mensch!« zürnte der Meister. »Was treibst du denn da?«
+
+»Was der Simmi treibt, wenn er für eine Krankheit das richtige Tränkl
+mischt.« Lächelnd legte der Pfarrer den Arm um den Hals des Freundes.
+»Sei nit neugierig! Das Kind muß in ihm selber das Rechte finden.«
+
+»Pfarrer?« stammelte Niklaus.
+
+»Verstehst du nit? Hast du im Leben noch nie erfahren, zu was die
+hungrige Lieb einen treiben kann?«
+
+Ohne zu antworten, grub Meister Niklaus seine Stirn in die Hände.
+
+Der Pfarrer betrachtete ihn mit einem herzlichen Blick und verließ ohne
+weiteres Wort die Stube.
+
+Auf dem Heimwege begegnete er einem heftig monologisierenden
+Menschenkind. In der milden Mittagssonne schusselte der weißschnauzige
+Hiesel Schneck am Pfarrer vorüber und strebte durch die Stiftshöfe
+gegen den Brunnenplatz. In seinem Gesicht war eine Mischung
+gegensätzlicher Seelenstimmungen. Man konnte da ebensogut auf
+fuchsteufelswilde Himmelhundslaune, wie auf freudenreiche Befriedigung
+raten. Die letztere schien im Hiesel das Übergewicht zu gewinnen,
+als er beim Marktbrunnen sein Schneckenweibl daherzappeln sah, so
+festtäglich aufgeputzt wie ihr Schneck. Hätte jedes von den beiden noch
+einen Rosmarinstrauß an der Brust gehabt, so hätte man sie für ein
+goldenes Hochzeitspaar halten können. »So,« sagte die Schneckin, »jetzt
+haben wir's!« Dabei war auch an ihr das gleiche, seltsame Durcheinander
+von Kummer und Glück zu gewahren. Sie tat einen steinschweren Atemzug
+und wiederholte lächelnd: »Jetzt haben wir's!«
+
+»Und wie!« Der Hiesel legte den Arm um das alte Weibl und tuschelte
+zärtlich, ohne den winzigsten Himmelsköter. »Jetzt ist alles wieder in
+der schönsten Ordnung!«
+
+Der Schneckin brannte ein mädchenhaftes Erglühen über das
+Runzelgesicht. Verwundert guckte sie am Hiesel hinauf und flötete:
+»Jesus, wer hat's dir denn schon wieder verraten?«
+
+»Was?«
+
+»Daß ich mich dir z'lieb wieder einschreiben hab lassen als
+evangelikanische Exulantin.«
+
+Der Hiesel Schneck, dem der himmelwärtsstrebende Schnauzer sonderbar
+zu zittern anfing, hob zuerst sprachlos die geballten Fäuste gegen
+das Frühlingsblau hinauf und verzog das schmerzhafte Maul bis zu den
+Ohren. Dann fuhr ihm aus der verzweifelten Seele eine langschwänzige
+Höllementskreatur heraus. Diesem Fluchgeprassel folgte die weinerliche
+Klage: »Du Narrenkapp ohne Bändel! Du Feiertagsschmarren ohne Schmalz!
+Du alte Fuierbüx ohne Zündloch! Hast du denn um Gottswillen nit ein
+*bißl* Verstand unterm Kuferdeckel!« Weil die Schneckin bitterlich zu
+heulen anfing, wurde der Hiesel etwas sanfter. »Weibl, so geht's nit!
+So kommen wir zwei unser Lebtag nimmer auf gleich. Kreuzteufelundkruzi
+--« Kummervoll erwischte er den Himmelhund, der aus ihm herausfahren
+wollte, beim Schwanz und verschluckte ihn wieder. »Verstehst du denn
+nit? So was von Füreiligkeit! Du bei die Evangelikanischen drent!
+Und ich seit halber Zwölfe wieder der beste Katholik! Wir zwei, wir
+bleiben doch allweil grabenweit auseinander, wenn sich nit eins mit der
+Gottsfreudigkeit ein bißl zruckhalten kann. Verstehst?«
+
+Die Schneckin hatte verstanden. Drum flossen ihre Tränen so reichlich,
+daß dem Hiesel das Erbarmen in die wirblige Seele tröpfelte. »Geh,
+deswegen mußt du nit so grausam röhren! Es gibt auf der Welt kein
+Narrenstückl, das man nit wieder aufpolieren könnt.«
+
+Mit nassen Augen guckte sie hinauf zu seinem zitternden Schnauzer.
+»Meinst, ich soll mich gleich wieder ausstreichen lassen?«
+
+»Ausstreichen? Was? Du Roß ohne Schweif! Da müßt sich der Kommissar
+was Nobels denken von dir. Der tät doch sagen: du bist ja wie 's
+Wetterweibl um Ostern, bald drin im Häusl, bald wieder draußen. Ah na!
+So soll mir keiner nit reden von meiner Schneckin. Verstehst? Ich
+bring die Sach schon wieder auf gleich. Der Hiesel kann's machen, wie
+er mag. Da lachen die kommissarischen Schöpsnasen und sagen halt wieder
+auf französisch: Tätewoh! Meintwegen! Ein Buckel, wie der Schneckische,
+vertragt's.«
+
+Den Hut lüftend, als wäre ihm schwül geworden unter dem struppigen
+Haardach, surrte der Hiesel Schneck, eine Perlenkette neuartig
+gelöckelter Himmelhunde drechselnd, hinüber zur Kommissariatskanzlei.
+Die Schneckin konnte nur neun Vaterunser beten, da war der Hiesel schon
+wieder da. »So, Weibl! Jetzt hat der Schmarren wieder sein Schmalz.
+Jetzt soll's auf der Welt kein' bessern Evangelikaner nimmer geben, als
+wie der Hiesel Schneck einer ist. Verstehst?« Trotz aller Ruhe, mit der
+sich der Hiesel aufspielte, schien doch ein böses Gewissenswürmchen
+an seiner Seele zu nagen. Jählings erblassend zog er sein Weibl mit
+sich fort, so flink, daß die Schneckin das Aussehen einer schiefen
+Zappelfigur bekam. Und das geschah aus keinem anderen Grunde, als
+weil der Hiesel Schneck den heitergestimmten Landrichter in amtlicher
+Begleitung aus dem schattigen Stiftstor heraustreten sah in die Sonne.
+
+
+
+
+Kapitel XXVIII
+
+
+Zur Linken der vierfach entbehrlichen Gerechtigkeit wandelte der
+Feldwebel Muckenfüßl mit dem Krückstock der polizeilichen Gewalt.
+Hinter den beiden marschierten vier Soldaten Gottes mit aufgepflanzten
+Bajonetten. Dieses Doppelkleeblatt der Weltbeglückung verfügte sich ins
+Tal der Ache und zum Lehen des Christl Haynacher.
+
+In dem sonst so stillen Gehöfte war es lebhaft. Vieh wurde
+davongetrieben; bei den Hecken fing man die gackernden Hennen; Heu
+und Stroh wurde auf einen Leiterwagen geladen, und ein paar lustig
+schwatzende Burschen schleppten allerlei Hausgerät aus dem Flur
+und stellten es in die Sonne. Nachbarsleute standen bei der Hecke;
+sie schwatzten leis miteinander oder guckten zum Haus hinüber, wo
+der Christl Haynacher auf der Türbank saß, das schlafende Bübl mit
+leisen Bewegungen auf seinem Schoße wiegend. Sein verzerrtes Gesicht
+war aschenfarbig, und die tief eingesunkenen Augen brannten aus
+bläulichen Ringen heraus. Dennoch bot er den Anblick eines ruhigen
+Menschen und lächelte immer ins Leere, als wären die Dinge, die um
+ihn her geschahen, für sein Herz und Hirn eine ferne Sache. Manchmal
+machte er mit der Hand einen raschen Griff nach seiner Hüfte, um
+zu fühlen, ob die Geldkatze noch da wäre, die er nach der Übergabe
+umgeschnallt hatte. Einer von den Nachbarn ging auf den Christl zu
+und sagte: »Mensch! Warum tust denn du exulieren? Du bist doch ein
+Gutkatholischer!«
+
+»Wohl! Und *was* für ein guter!« nickte der Haynacher und schaukelte
+sein Bübchen. »Aber exulieren tu ich.«
+
+»Du Narr! Warum denn?«
+
+Das lächelnde Gesicht des Christl wurde wie eine starre Maske. »Warum?«
+Er hob die funkelnden Tieraugen. »Schnaufen muß ich wieder können.
+Luft muß ich haben. Ein Kreuz muß ich aufstecken, ich weiß nit wo. Und
+erzählen muß ich dürfen, wie gottselig meine Martle gestorben ist.« Ein
+heiseres Aufkichern. »Mein Vieh und mein Zuig ist alles verkitscht.
+Morgen, eh die Sonn kommt, bin ich schon über der Grenz. Gott soll euch
+gutbleiben, ihr Nachbarsleut! Mich sehet ihr nimmer.« Da rief bei der
+Hecke drüben eine schrille Weiberstimme, wie warnend: »Christl! Die
+Soldaten Gottes kommen.«
+
+»So so?« sagte Christl. Was gingen ihn die Soldaten Gottes an? »Die
+kommen, ich weiß nit zu wem. Bloß nit zu mir. Bei mir ist alles
+protokollarisch. Mein Kopfgeld hab ich schon gestern gezahlt. Zwanzig
+Gulden, Nachbar!« Er lachte wieder. »Weil ich ein Gutkatholischer bin.
+Als Luthrischer hätt ich's billiger haben können um fufzehn Gulden. Ja,
+Nachbar, der richtige Glauben ist einen Batzen wert. Da zahlt einer
+gern. Gelt, ja?«
+
+Der Nachbar schüttelte den Kopf, ohne zu antworten, guckte scheu zur
+Straße hinüber und ging auf die Hecke zu. Er hatte ein gutes Gewissen,
+seine Haustür und seine Kreuzstöcke waren nicht rot angestrichen,
+aber wenn die Soldaten Gottes kommen, ist's immer besser, man ist
+weit davon. Auch die Leute, die nach protokollarischem Recht das
+Haynacherlehen ausräumten, stellten ihre muntere Arbeit ein und
+drückten sich hinter die Scheune. Würdevoll, die Amtsmiene mit einiger
+Heiterkeit aufgeschmälzt, betrat der Landrichter unter Muckenfüßls
+kanzleideutschem Geleit den stillgewordenen Hofraum des Haynacherlehens
+und gab den vier Gottessoldaten einen Wink, sich vorerst in Reserve
+zu halten. Schweigend schritten die beiden der Haustür zu. Weil sie
+die Sonne über dem Nacken hatten, krochen ihre verkürzten Schatten wie
+kleine schwarze Teufelchen vor ihnen her.
+
+»Grüß Gott, ihr Herren!« sagte Christl ruhig, nur ein bißchen
+verwundert. »Aufstehen kann ich nit. Mein Bübl schlaft.«
+
+»So wird er es wecken müssen. Um Abschied von ihm zu nehmen.« Die
+vier Entbehrlichkeiten hatten das reinste Deutsch gesprochen.
+Dennoch verstand der Christl nicht. Doktor Halbundhalb mußte sich
+entschließen, etwas deutlicher zu werden: die Regierung hätte nichts
+dagegen einzuwenden, daß der Haynacher das Land verlasse; einen
+unverbesserlichen Narren gewaltsam festzuhalten, läge nicht im
+Interesse der Obrigkeit; keinesfalls aber dürfe sie damit einverstanden
+sein, daß ihr ein zweifellos katholischer Deszendent entzogen würde,
+der sich zu einem verwendbaren Subjekte anzuwachsen verspräche.
+Weil Christl noch immer so wunderlich dreinguckte, fiel Muckenfüßl
+erläuternd ein: »Kapierst du denn nit, du _Rhinoceratissimus_? Du
+selber därfst marschieren, wie's dir quodlibetiert. Dein Kindl bleibt
+_in loco hujus_.«
+
+Trotz des gehäuften Lateins begann im Haynacher das Verständnis zu
+erwachen. Sein Gesicht entfärbte sich, seine Augen wuchsen, und fester
+schlossen sich seine Arme um das schlummernde Bübl.
+
+»Man hat für sein Kind eine freundliche Unterkunft eruiert und wird es
+christlich erziehen,« sagte der Landrichter mit beruhigender Milde,
+»wobei natürlich dem Kindsvater die Pflegekosten zufallen, die er für
+zehn Jahre zu deponieren hat, mit 26 Gulden _pro anno_.«
+
+»Herr?« Das war kein verständlicher Laut, war wie ein gurgelndes
+Husten. Der Christl tat ein paar schwere Atemzüge, wurde wieder ruhig,
+schüttelte den Kopf und konnte lächeln. »Guter Herr, da müßt Ihr Euch
+verschaut haben in der Hausnummer. Ich bin kein Evangelischer nit, dem
+man sein katholisches Kind wegnehmen därf. Ich bin noch allweil --« Er
+verstummte, weil er im Gesicht des Feldwebels etwas gesehen hatte, was
+ihm kalt in die Adern fiel. Langsam erhob er sich, preßte das Kind an
+seinen Hals, wich ein paar Schritte zurück und ließ die Augen irren wie
+ein gefangenes Tier, das nach einem Ausweg späht.
+
+Aus reicher Erfahrung verstand sich Muckenfüßl auf das leiseste
+Anzeichen von Renitenz; er hatte gegen die Musketiere mit zwei Fingern
+eine Gabel und dann einen bogenförmigen Wink gemacht. Solang diese
+Ordre nicht ausgeführt war, erschien ihm Milde empfehlenswerter als
+polizeiliche Strenge. Mit biersanfter Herzlichkeit sagte er zum
+Haynacher: »Jetzt tu nit obstinat sein, du verdrehter Subjektivus!
+Und mach keine Spurifaxen nit, wo's die Obrigkeit _in loco hujus_
+deinem Kindl aus christlicher Pietätigkeit so gütig vermeint.« Der
+Landrichter, als wäre seine amtliche Mitwirkung bei diesem gutgläubigen
+Vorgang beendet, trat gegen die Hecke hin und betrachtete aufmerksam
+das ungeackerte Gerstenfeld, auf dem die Frühlingsblumen zu blühen
+begannen, obwohl da keine Menschenhand gesät hatte. Und Muckenfüßl
+hängte den Krückstock der Polizeigewalt an seine Säbelkuppel, trat
+mit ermunterndem Lachen auf den Christl Haynacher zu, streckte
+die gespreizten Finger wie eine freundliche Kindsmagd und sagte
+wohlwollend: »Schau, Christl, sei ein bißl intelligentisch. Tu
+gehorsamen und gib halt in Gottesnamen das Würml her!«
+
+Der Haynacher sah aus, als möchte er in seinem ratlosen Gram einen
+Kniefall machen und um Gnade betteln; aber sein Körper streckte sich
+hart; dabei klang seine Stimme wie das Klagen eines gequälten Kindes:
+»Jesus, Jesus, nit um Leben und Sterben, mein Bübl laß ich nit aus.«
+
+»Was einer nit gibt, das muß man nehmen.« Wieder, und diesmal mit
+obrigkeitlichem Unterton, fügte der Feldwebel bei: »In Gottesnamen!«
+
+Der irrende Blick des Bauern sah vom Straßenzaun zwei Musketiere
+herankommen. Nun hörte er die klirrenden Sprünge der beiden
+anderen, die ums Haus herumgelaufen waren und hinter der Mauerkante
+hervortauchten. Ein Ausweg war da nimmer. Im Gesicht des Christl
+Haynacher, dem die Verzweiflung das Gehirn zerwirrte, vollzog sich eine
+grauenvolle Veränderung. Unter heiserem Auflachen riß er das große
+Bauernmesser von seiner Hüfte und grub es mit raschem Stoß in das Herz
+seines schlummernden Kindes. Das Bübchen zuckte nur ein bißchen, wie
+Kinder im Traum zusammenfahren, und ließ das Köpfl auf der Schulter
+des Vaters liegen, als schliefe es friedlich noch immer weiter. Das
+Gesicht des Christl war so weiß wie die Mauer seines verlorenen
+Hauses. Die rechte Hand war rot geworden. Er streckte sie hinauf gegen
+die Sonne und schrie: »Meines Kindes Blut soll kommen über alle, die
+uns Menschen plagen im Namen Gottes!« Mit Sprüngen, wie ein von Hunden
+gehetztes Wild sie macht, unter rasselnden Atemzügen, rannte er gegen
+die Hecke hin, warf sich durch die Stauden und gewann den Gerstenacker,
+während hinter ihm das Geschrei der Obrigkeit, der Musketiere und der
+erschrockenen Nachbarsleute zeterte.
+
+Hinfallend auf die beiden Knie, ließ der Haynacher das entseelte
+Bübchen von seiner Schulter gleiten und stieß das blutige Messer, das
+zwischen Griff und Klinge eine stählerne Querspange hatte, in den
+grünwerdenden Grabhügel der Martle. »So, Weibl!« keuchte er. »Jetzt
+hast du dein Kreuz!« Ein grelles Lachen zerriß ihm die Stimme. »Ist
+kein heiliges nit, aber eins, das die Herren nimmer verbieten können.«
+Er zuckte vom Boden auf. Mit dem Ausdruck eines entrückten Bekenners
+hob er die roten Hände und schrie zum Himmel: »Sie hat's verdient! Von
+allen Christenseelen die frömmste! Und ist gestorben, so schön, wie
+seit dem heiligen Peter und Paul kein römischer Bischof nimmer sterben
+hat können auf seinem vergoldeten Sessel!« Nach diesem Schrei überkam
+ihn eine steinerne Ruhe. Das verzerrte Gesicht drehend, gewahrte
+er bei der grün überhauchten Hecke die obere Hälfte des schwarzen
+Landrichters mit dem kalkweißen Gesicht und der schneeblanken Perücke.
+Er sah nicht den Feldwebel, der mit geschwungenem Säbel halblateinisch
+kommandierte, sah nicht die Musketiere, die sich durch die Hecke
+warfen, sah nicht die schreienden Leute. Nur den Doktor Willibald
+Hringghh. Mit zuckenden Händen griff er in die Luft. »Wie, du! Komm
+her! Oder traust du dich nit?« Ein wildes, jedem menschlichen Klang
+entrücktes Lachen, gleich dem Gebrüll eines gepeinigten Tieres. »Schau
+her, du! Meine Händ sind leer. Ich hab kein Messer nimmer. Und mag nit
+greifen nach einem Prügel. So viel wie ein räudiger Hund verdienst du
+nit.« Mit greifenden Fäusten stürzte er auf die erschrocken wackelnde
+Perücke zu. »Für einen, wie du, da reichen zehn römischkatholische
+Finger aus!« Dem Christl Haynacher fiel der Kopf vornüber, und seine
+Fäuste sanken. Zwei obrigkeitstreue Bajonette waren ihm in die Brust
+gefahren. Übersprudelt vom roten Brunnen seines Lebens, fiel er auf den
+Gerstenacker hin und lag wie ein Entseelter in den jungen Blumen. Nun
+bewegten stoßende Atemzüge seine Brust. Er tat die Augen auf, die er
+schon geschlossen hatte, hob sich mit stemmenden Armen vom Boden und
+sprach in Verzückung: »Es ist ein Gott, und ich glaub. Ihr Sünder, euer
+Irrtum ist des Erbarmens wert. Mehr sag ich nimmer.« Lächelnd fiel er
+zurück, und das Leben entrann ihm.
+
+Drüben bei der Hecke des Nachbarlehens fingen die Leute wie verrückt
+zu schreien an. Die Musketiere standen mit verdutzten Gesichtern,
+als begriffen sie nicht recht, was da im Handumdrehen geschehen war,
+und Muckenfüßl fühlte eine Anwandlung von Übligkeit, weil er Blut in
+solcher Menge nicht sehen konnte. Nur Doktor Willibald Hringghh, obwohl
+seine Nase so weiß wie seine Perücke war, erkämpfte bis zu amtlich
+notwendigem Grade seine Fassung, lüftete das Barettchen und sagte
+kurzatmig: »Hier hat Gott gewaltet und seine ewige Gerechtigkeit.« Mit
+kummervoller Einsicht fügte er bei: »Zu spät erkenne ich die Wahrheit,
+daß dieser unglückselige Mensch kein Schwachkopf, sondern ein geborener
+Verbrecher war.« Getreu seinen Pflichten, erledigte er die peinlich
+genaue Inaugenscheinnahme des Tatortes, begab sich in das leergewordene
+Haus, ließ Tisch und Stühle in die ausgeräumte Stube zurücktragen und
+verfaßte unter häufigem Kopfschütteln ein ausführliches Protokoll. In
+seinem Amtseifer überhörte er den wachsenden Lärm, der vom Gerstenacker
+des Christl Haynacher herüberscholl.
+
+Als der Landrichter bei rotwerdender Sonne das abgestorbene Haus
+verließ, befiel ihn vor dem Anblick des lärmenden Gewühls von zwei,
+drei hundert Menschen ein sichtliches Unbehagen. Er fühlte sich
+zwischen dem Muckenfüßlschen Polizeisäbel und den gottsmilitärischen
+Bajonetten nicht mehr sicher und schlug ein überhastetes Tempo an.
+Dadurch gestaltete er die Situation noch unerquicklicher. Eine
+schreiende, schmähende, von Zorn durchfieberte Leutmenge rannte hinter
+ihm her und begann mit Steinen zu werfen. Es wäre zu bösen Dingen
+gekommen, wenn nicht eine unerwartete Wendung das Trauerspiel dieser
+Stunde halb und halb in das Gegenteil verkehrt hätte. Ein großer
+Rattenpinscher, der, gereizt durch die Blutwitterung, schon immer
+aufgeregt gebelfert hatte und nun den springenden Landrichter erspähte,
+mißverstand die Sachlage, verwechselte die Gerechtigkeit mit dem
+Verbrechertum, schoß wie ein Pfeil hinter dem Fliehenden her, erwischte
+ihn und riß ihm nicht nur einen langen Flügel aus dem richterlichen
+Talar, auch noch ein mageres Stück Fleisch aus einer Körpergegend, die
+sogar ein Liebling der Justitia beim Sitzen nicht zu entbehren vermag.
+
+Aller Zorn der aufgeregten Menschen schlug in befreiendes Hohngelächter
+um, als sie den siegreichen Rattler das schwarze, ein bißchen
+rotgetüpfelte Fähnlein der Gerechtigkeit so stolz in der stichelhärigen
+Schnauze umhertragen sahen. Und während Muckenfüßl und die Musketiere
+rasch den klagenden Herrn davonführten, der eine purpurne Träufelspur
+seines amtlichen Waltens hinter sich zurückließ, rief ein junger
+Mensch, den die Amnestie aller Evangelischen erst am Morgen aus dem
+Aufenthalt ohne Mond und Sonne erlöst hatte: »Gucket, Leut! Jetzt hat
+er einen von seinen vier überflüssigen Buchstaben eingebüßt! Gott
+soll's geben zum Wohl der Menschen, daß man ihm die drei anderen auch
+noch ausknuspert. Kann er die Gerechtigkeit nimmer im Sitzfleck haben,
+so könnt man hoffen, daß sie ihm hinaufsteigt ins Gehirn.«
+
+Bevor die Sonne noch über den Toten Mann hinuntertauchte, kamen
+viele Musketiere und Dragoner zum Gerstenacker des Christl Haynacher
+marschiert, um die in staatsgefährlichem Grad gestörte Bürgerruhe
+wieder herzustellen. Als man die beiden kaltgewordenen Menschenkinder,
+Vater und Bübl, zur Armeseelenkammer brachte, war die Geldkatze des
+Christl spurlos verschwunden. Nach Anbruch der Dunkelheit wurden die
+zwei Entseelten, die als gutgetaufte Christen ein unverlierbares
+Anrecht auf heiligen Boden hatten, ohne Aufsehen im Friedhof bestattet.
+Und der von seinem bedrohlichen Wahn geheilte Jesunder benützte
+diese Gelegenheit, um unauffällig den durch ein schwarzes Heidenkind
+entweihten Gottesacker neu zu konsekrieren. Er vollzog die heilige
+Handlung so nachdrücklich, daß er mit einiger Berechtigung hoffen
+durfte: die Weihe würde sogar bis zur Außenseite der Friedhofsmauer
+penetrieren.
+
+Solang die Polizeistunde noch nicht geschlagen hatte, ging es auf dem
+Brunnenplatz und in der Marktgasse sehr unruhig zu -- am unruhigsten im
+Hof des Leuthauses. Da standen ein paar hundert Menschen beisammen. Die
+hätten gerne noch erfahren, was die zwei preußischen Herren mit ihrem
+Nachtbesuch beim Kanzler von Grusdorf zur Beruhigung der evangelischen
+Mütter und Väter auszurichten vermochten. Die Polizeistunde schlug,
+ohne daß die Harrenden eine Nachricht hörten; sie mußten heim in ihre
+Stuben, mußten sich im Bangen um ihre Kinder noch gedulden durch eine
+lange Sorgennacht.
+
+Früh am Morgen rasselte die Polizeitrommel. Der Feldwebel Muckenfüßl
+begleitete sie nicht. An seiner Stelle mußte ein anderes Polizeiorgan
+der lauschenden Population verkünden: daß, zum ersten, die exulierenden
+Väter und Mütter das unbedrängte Verfügungsrecht über Verbleib oder
+Mitreise ihrer Kinder hätten. Und zum anderen: daß der allergnädigste
+Fürst den traurigen Vorfall im Haynacherlehen aus gerechter Empfindung
+beklage und die beiden Beamten, denen eine folgenschwere Unüberlegtheit
+vorzuwerfen sei, ihres Amtes enthoben hätte.
+
+Es war eine aufgeregte Nachtstunde gewesen, in der sich Herr Anton
+Cajetan diesen Entschluß von der fürstlichen Seele gerungen hatte.
+Den Feldwebel Muckenfüßl fallen zu lassen, war ihm nicht allzu schwer
+geworden; nach unten hin verdünnen sich die Regierungsverpflichtungen.
+Doch gerne hätte er den armen Willibald gehalten; aus Dankbarkeit
+für mancherlei sekrete Dienstleistungen. Man beriet alle rettenden
+Möglichkeiten und fand keinen Ausweg. Willibald mußte hinuntertauchen
+in das Nichts, weniger aus Ursache der »folgenschweren Unüberlegtheit«,
+als weil er durch den Verlust eines notwendigen Buchstäbchens dem Fluch
+einer Lächerlichkeit überliefert war, die ihm jedes weitere Wirken als
+getreues Justizkamel entschieden verweigerte. Dem Stiftsherrn, der
+dem Beklagenswerten diese Botschaft mit dem Pflaster eines gnädigen
+Ruhegehaltes überbrachte, konnte der leidende Mann nicht in die Augen
+schauen, weil er zu besserer Bequemlichkeit des nähenden Stiftsphysikus
+auf der sehenden Seite liegen mußte.
+
+Zum kummervollen Nikodemus Muckenfüßl hatte man keinen Stiftsherrn
+geschickt, nur einen fürstpröpstlichen Lakai. Der entthronte Feldwebel,
+obwohl er auf ein durststillendes Versorgungspöstchen im Stiftskeller
+hoffen durfte, gab durch längere Zeit keine Perle seines Sprachschatzes
+von sich. »So, du Rindviech,« sagte seine tapfere, unverdrossene Frau
+zu ihm, »jetzt red lateinisch!«
+
+Im Verlaufe dieses Tages konnte Pfarrer Ludwig von seinem Fenster aus
+eine Wahrnehmung machen, die ihn wieder an den Amsterdamer Singvogel
+und an die These denken ließ: daß alles Geschehen unter der Sonne, so
+hart und übel es auch wäre, sich doch immer wieder verwandle zu einer
+aufwärts führenden Staffel des Lebens, zu einer Glückshilfe für die
+Menschen. Der Tod des Christl Haynacher war ein Werk der Erlösung für
+hundert bedrückte Herzen geworden. Viele Frauen, evangelische Mütter,
+die in Sorge gewesen waren um den Besitz ihrer Kinder, wanderten zum
+Friedhof und legten Sträuße und kleine Kränze von Frühlingsblumen auf
+das frische Grab. Der alte Mesner konnte sich nicht erinnern, daß seit
+Menschengedenken ein Friedhofshügel so reichen Schmuck empfangen hätte,
+als die Ruhestätte des Christl. Wie sehr man diesen Blutzeugen der
+Vaterliebe in Ehren hielt, das erwies sich auch an einem Vorfall, der
+sich auf des Haynachers Gerstenacker ereignete. Hier gedachte gleich am
+Morgen nach Christls Tod der kleine magere Bauer mit den schlauen Augen
+eine nutzbringende Tätigkeit zu entwickeln. Er wollte das brachliegende
+Feld mit dem Spaten umgraben -- das wäre nicht >geackert< -- und
+wollte schaffweis die Jauche ausgießen -- das wäre nicht >gemistet<
+in protokollarischem Sinne. Dieser klugen Auslegung dessen, was
+schwarz auf weiß geschrieben stand, schlossen sich die Nachbarn des
+Haynacherlehens nicht an. Sie verprügelten neben dem Grab der Martle
+den wifen Protokollisten so fürchterlich, daß er das Misten und Ackern
+sogar auf den eigenen Feldern für längere Zeit versäumte.
+
+Außer dem sühnenden Schwertstreich, der auf die Amtsperücken des
+Landrichters und des Polizeifeldwebels niedergefahren war, tat
+die Regierung auch sonst noch unter den vier preußischen Augen
+ihr Möglichstes, um die Stimmung der Population nach Kräften zu
+besänftigen. Alle Polizeiverbote, die einen Hauch des Muckenfüßlschen
+Geistes atmeten, wurden vom Stiftstor entfernt, so daß sich die vier
+Bogen des Exulationsediktes aller würdigen Sozietät entblößt sahen.
+Wie den Kanzler von Grusdorf bisher das Verbieten ermüdet hatte, so
+fatiguierte ihn jetzt das Erlauben.
+
+Aus Rücksicht auf die gereizte Stimmung der Subjekte wurden auch alle
+Vorbereitungen für das Große Jagen mit Ausschluß der Öffentlichkeit
+betrieben. Die zahlreichen Fahrzeuge mit den Stellnetzen und hohen
+Tüchern, die Menagerievehikel mit den Hirschkäfigen, Sauzwingern
+und Fuchskästen, die Küchenwagen und Proviantkarren, alles wurde
+zu nachtschlafender Zeit in Bewegung gesetzt, um der kritischen
+Neugier des Volkes entrückt zu bleiben. Im alten Tiergarten des
+Wimbachtales arbeiteten unter Leitung des Wildmeisters und der Jägerei
+zweihundert Musketiere und Dragoner drei Tage und drei Nächte lang,
+um die eingegatterten Wildbestände in die Käfigfallen zu treiben,
+sie nach dem Hintersee zu verbringen, an dessen Ufern das große
+Prunkjagen stattfinden sollte, und sie dort nach dem höfischen Rang
+der Schützen in die Kammern der zu den Ständen führenden Ausläufe zu
+verteilen. Was da jagdlich mit vielen Kunstkniffen inszeniert wurde
+-- in einer Jahreszeit, in der die Hirsche keine Geweihe trugen und
+jede Kreatur des Waldes und der Berge die Spuren der winterlichen
+Entbehrung zeigte -- war >edles Weidwerk< im gleichen Sinne, in dem der
+gestutzte Hofgarten als fürstlicher Park und der verflossene Doktor
+Halbundhalb als himmlischer Sendbote der ewigen Gerechtigkeit gelten
+konnte. Wie unter dem Strom der Pariser Moschusdüfte viel Gesundes
+auf deutschem Boden permutiert war zu üblem Geruch, so war auch der
+höfische Jagdbetrieb verwandelt zu einer französischen Fratze dessen,
+was man seit Jahrhunderten als deutsches Weidwerk verstand. Und im
+Stifte hatten sie ihren Ehrgeiz dareingesetzt, dem Gesandten des
+Königs von Preußen weidlich zu imponieren und ihm den gutkatholischen
+Wildsegen ausgiebig unter die evangelische Nase zu reiben. Zahlreiche
+Einladungen waren ergangen. Weil nach altem Brauch an einem Großen
+Jagen, das man auch als Kapiteljagd bezeichnete, alle Stiftsherren
+teilzunehmen pflegten, konnte man auch den Stiftspfarrer Ludwig um die
+ihm gebührende Invitation nicht verkürzen. Er nahm sie an, weil sie
+ihm ein Wiedersehen mit dem jungen Offizier in Aussicht stellte, der
+sich ihm mit heiteren Worten in das alte deutsche Herz hineingeplaudert
+hatte. »Jetzt schau nur,« sagte der Pfarrer zu seiner Schwester, »daß
+du noch ein Fläschl Terpentin erwischen kannst, um aus meinem grünen
+Jagdfrack die verjährten Weintrenzer herauszuputzen!«
+
+Am Vorabend des Großen Jagens konnte der Wildmeister seinem
+allergnädigsten Fürsten melden, daß für das weidmännische _spectaculum_
+alles in bester Bereitschaft wäre, und daß auch der Himmel einen
+selten schönen Frühlingsmorgen verspräche. Auf die vierte Frühstunde
+war das _Rendezvous_ in den Stiftshöfen angesagt. Schon um Mitternacht
+begannen die Pfannenfeuer aufzulodern und überglänzten die Stiftsmauern
+mit grellem Zitterschein. Um zwei Uhr rückte alles aus, was zur
+fürstpröpstlichen Jägerei gehörte. Punkt halb vier erschien Graf
+Saur, der als Oberstjägermeister fungierte. Dann trafen von zwei
+zu zwei Minuten, je nach ihrem höfischen Rang, die Jagdgäste ein,
+zuerst die Stiftsbeamten, drauf die Offiziere der salzburgischen
+Soldateska, nach ihnen die Domizellaren, von denen die Barone Stutzing
+und Kulmer zur Einholung der Allergnädigsten ausgeschickt wurden,
+dann die Kapitularen und der Kanzler von Grusdorf. Alle Herren zu
+Pferde. Es war ein Gewieher, ein Rosseschnauben und Hufgeträppel,
+daß die Stiftsmauern davon widerhallten. Fünf Minuten vor vier
+erschienen die zwei preußischen Herren mit den beiden Jägern, die
+man ihnen attachiert hatte -- Geheimrat von Danckelmann mit dem
+Leupolt Raurisser, Oberst von Berg mit dem Hiesel Schneck, der seinem
+Jagdherrn aus diplomatischer Courtoisie und mit einigem Schmunzeln als
+»Auchevangelischer« bezeichnet wurde. Zwei Minuten vor vier intonierten
+die Hörner den Dianengruß. Aurore de Neuenstein, in einem grünen, durch
+goldene Nesteln schürzbaren Reitkleide mit flimmernden Stickereien,
+kam auf einem zierlichen Pferdchen allerniedlichst in Begleitung ihrer
+beiden Kavaliere angaloppiert. Die Dianenweise schwenkte hinüber
+in den schmetternden Herrengruß, und aus dem Stiftsportal, dessen
+Flügel sich wie durch Zauber öffneten, trat, von Windlichtträgern und
+Läufern flankiert, der Landesfürst hervor, in grüner, goldstrotzender
+Prunkjagdgala. Er küßte das Händchen seiner hübschen, etwas reichlich
+schönbepflasterten Freundin, begrüßte liebenswürdig den Gesandten,
+merklich gedämpfter den jungen Oberst, stieg zu Pferd und gab das
+Zeichen zum Ausritt. Die Hörner bliesen den »Aufbruch zur Jagd«. Hinter
+den hopsenden Läufern und zwischen den gaukelnden Wachsfackeln setzte
+sich die lange Kavalkade in klappernde Bewegung. Als man außerhalb der
+letzten Häuser auf der Ramsauer Straße war, wurden die Wachsfackeln
+ausgelöscht, um den romantischen Reiz des Rittes zu erhöhen und in den
+vollen Genuß des strahlenden Sternzaubers zu gelangen.
+
+Der junge Oberst, der, solange die Fackeln noch gebrannt hatten, mit
+beißendem Spott diesen »kleinhöfischen Seifenblasenschwindel« so
+unbarmherzig persiflierte, daß Danckelmann in verlegene Unruh geriet,
+wurde plötzlich ein stumm Entzückter, als die Lichter erloschen und
+diese von den Geheimnissen der Ewigkeit durchblitzte Nacht ihn umgab.
+Der reine Himmel wie ein stahlblauer Schild, gegen Osten hin schon
+milchig aufgehellt. Die Berge in das tiefe Blau und in die falbe
+Helle schwarz hineingezeichnet, mit weißen Schneemützen in der Höhe.
+Stern an Stern in zitterndem Gefunkel. Die Milchstraße wie ein mit
+Goldsand überstreutes Band. Gleich einem ewigen Feuerzeichen stand
+das Sternbild des Orion über dem Toten Mann, und wie eine große
+Fackel, strahlenschießend, brannte in einer Bergscharte des hohen
+Göhl die Venus. Neben der Straße brauste die weißquirlende Ramsauer
+Ache so laut, daß alles Hufgetäppel unhörbar wurde. Wie eine herrlich
+summende Glockenstimme schwamm das ruhelose Wasserrauschen durch die
+sternfunkelnde Schönheit der erlöschenden Nacht.
+
+»Danckelmann!« Es klang wie die Stimme eines Fiebernden. »Das ist
+eine von den Wunderstunden, die mich Heiden zum Christen machen. Man
+fühlt den Atem Gottes, fühlt die Größe seines Werkes, fühlt seinen
+ewigen Willen zum Schönen.« In dieses enthusiastische Seelenjauchzen
+zwitscherte ein heiteres Auflachen der Allergnädigsten hinein. Der
+Oberst, vom Französischen ins Deutsche fallend, stieß mit galligem
+Ärger vor sich hin: »Na ja, un denn freecht man sich, wer ihm det
+Schöne mit so 'nem Geschmeiß bedreckte.«
+
+Dieses Gespräch wurde durch ein Wort des Fürsten unterbrochen, der
+den Geheimrat an seine Seite rief. Nun ritten die Drei hinter den
+hopsenden Läufern an der Spitze des Zuges, zur Rechten Herr Anton
+Cajetan, zur Linken der Gesandte, in der Mitte das ruhelos piepsende
+Evasvögelchen. Die Laune der Allergnädigsten _en titre_ hatte bei
+aller Munterkeit etwas Gereiztes und erinnerte an den Geschmack
+einer versalzenen Suppe, den ein geschickter Koch durch exotische
+Gewürze prickelnd zu meliorieren verstand. Der hüllende Nachtschleier
+verleitete sie zu gewagten _jeux de mots_, die sie bei hellerem Lichte
+auch in galantester Stunde vermieden hätte, und manchmal, wenn sie so
+pfefferig aufkicherte, wandte sie flink das Gesicht nach der Richtung
+hin, aus der das Wortgewirbel des Grafen Tige, ihres verschnupften
+Verkündigungsengels, zu vernehmen war.
+
+Der junge Oberst, immer emporspähend zu dem grauwerdenden Gezack der
+Berge, ritt einsam vor den beiden Jägern her, die auf dem Rücken die
+vier aus den fürstpröpstlichen Waffenschränken für die preußischen
+Herren ausgesuchten Jagdflinten trugen. Leupolt, wie verwachsen mit dem
+Sattel, sah immer auf die Ohren seines Pferdes. Hiesel Schneck, der
+unruhig hin und her wetzte, schob immer wieder den Zeigefinger zwischen
+die Lippen, um ihn zu netzen und den Zug des Windes prüfen zu können.
+»Heut bleibt 's Wetter nit sauber. Kreuzteufel und Hundsnoterei! Der
+Wind fackelt umeinander, als tät er noch allweil nit wissen, ob er
+evangelikanisch oder gutkatholisch ist. Verstehst? Kunnt sein, wir
+kriegen heut ein Donnerwetter. Und was für eins!«
+
+»Sonn ist allweil!« sagte Leupolt leise.
+
+Während Hiesel grübelte, um den Sinn dieser drei Worte herauszukitzeln,
+die wunderlich geklungen hatten, lenkte der einsame Reiter vor ihm sein
+Pferd aus der Reihe. Gleich fragte der Hiesel dienstwillig: »Herr? Was
+ist denn?« Er bekam keine Antwort. Der junge Oberst ließ den Kanzler
+und die Kapitularen an sich vorüberreiten, lenkte sein Pferd neben den
+steifbeinigen Hoppelgaul des Pfarrers hin und sprach den langen Reiter
+französisch an: »Hochwürden? Wollen Sie für mich in dieser Nacht den
+Dolmetsch Ihrer schönen Heimat machen?«
+
+»Gern, Herr Oberst!« Der Pfarrer lachte. »Ich besorge nur, daß mein
+wackliges Französisch Ihre verwöhnten Ohren mißhandelt.«
+
+»Für die mangelhafte Form wird mich der Inhalt entschädigen. Den finde
+ich bei Ihnen. Und Ihr Französisch, liebe Hochwürden, ist immer noch
+besser, als mein erbärmliches Deutsch.«
+
+Sie ritten Seite an Seite, wurden beim Geplauder warm, heiter, fast
+kameradschaftlich, und mit wachsendem Vergnügen beantwortete Pfarrer
+Ludwig die vielen neugierigen Fragen des jungen Offiziers. Bei Anbruch
+des grauen Morgens erreichte der Jagdzug die ersten Häuser der Ramsau,
+und der Oberst verstummte. Er hatte die getröstete Trauer und die
+neuerweckte Hoffnung, die unter diesen niederen Dächern wohnte,
+vor zwei Tagen in der Sonne gesehen, und die Erinnerung machte ihn
+nachdenklich. Plötzlich fragte er: »Was meinen Sie, Hochwürden, wie
+werden die Exulanten sich auf dem neuen Boden eingewöhnen -- da
+drunten?«
+
+»Schwer. Aber nur um der dickeren Luft willen und aus Sehnsucht nach
+dem Bild der Berge. Alles andere, die neue Art der Arbeit, Knappheit
+des Lebens, Umgang mit neuen Menschen, neue Pflicht und neuer Weg, das
+alles wird ihnen leicht werden. Es ist ein fügsamer und verläßlicher
+Menschenschlag. Und die Zweitausend, die wandern müssen --« die
+Stimme des Pfarrers wurde leis, »das sind von den Unseren nicht die
+Schlechtesten.«
+
+Ein rasches, zustimmendes Nicken. »Raten Sie mir, Hochwürden! Jeden
+Ratschlag will ich mit eisernem Griffel in mein Gedächtnis graben. Wie
+muß man sie nehmen? Wie muß man sie behandeln?«
+
+»Das ist mit einem einzigen Wort zu sagen: freundlich. Dann hat man
+sie. Bei ihrem gesunden Seelenmagen vertragen sie alles. Immer sind sie
+ohne Neid, auch gegenüber dem Besserwissen. Nur muß der Klügere ihnen
+das vormachen, daß er, was er besser wissen will, auch besser *kann*.
+Lacht einer über sie, weil er vermutet, daß sie die Dümmeren wären --
+oder hält sie einer für minderwertig, nur weil sie anders sind, der hat
+sie verloren. Für immer.«
+
+Dem jungen Offizier fuhr es heiß in das aufmerksame Gesicht. »Waren Sie
+viel auf Reisen, da drunten?« Er deutete mit flinker Handbewegung gegen
+Norden.
+
+»Ich? Nein.« Der Pfarrer lächelte. »Regensburg war der Nordpol meines
+Lebens. Über die Donau bin ich nie hinausgekommen.«
+
+»Was veranlaßte Sie, mir zu sagen, was Sie eben sagten?«
+
+Pfarrer Ludwig sah dem Oberst in die von der Nacht umschleierten Augen.
+»Das war die Klage vieler Salzburger, die lieber wieder heimkehrten in
+die Knechtschaft ihrer Seelen.«
+
+Sinnend schwieg der junge Oberst, mit einer Furche zwischen den Brauen.
+Dann sprach er rasch und erregt ein Wort, dessen Zusammenhang mit dem
+Gespräch der Pfarrer nicht ganz zu begreifen schien: »Ein Glück, daß es
+in jedem verschweinten Jahrhundert doch überall und immer noch Menschen
+gibt, die rein, verständig und redlich sind.« Wieder das nachdenkliche
+Schweigen. Dann unter heiterem Lächeln das italienische Sprichwort:
+»_Chi ha tempo, ha vita._«
+
+Das Latein des Pfarrers reichte aus, um das zu verstehen: wer lernt mit
+der Zeit, wird leben.
+
+Da legte sich die schmale Hand des anderen auf das im Steigbügel weit
+ausgebuckelte Knie des langen Pfarrers. »Sagen Sie mir alles, liebe
+Hochwürden, was Ihre Sorge um die Exulierenden zu sagen für notwendig
+hält.« Und während der Pfarrer sprach, mit aller Herzlichkeit seines
+Glaubens an den Wert der Menschen, die seiner Heimat genommen wurden,
+lauschte der junge Oberst so aufmerksam, daß er keinen Blick mehr
+auf die wechselnden Bilder der Landschaft warf, das Tagwerden und
+den ersten Glanz der Sonne nicht bemerkte, den klingenden Morgengruß
+der Hörner nicht vernahm und kein Auge hatte für den aufleuchtenden
+Farbenprunk des Jagdzuges. Erst als die Kavalkade auf einer kleinen
+Rodung am Seeufer ins Stocken kam, blickte er auf wie ein Erwachender.
+In der Windstille zwischen den dunklen Waldmauern kräuselte nicht die
+leiseste Welle den Spiegel des blaugrünen Wassers. Der See als See war
+kaum zu erkennen; man sah nur, daß die Schilfbeete nach aufwärts und
+nach abwärts grünten; daß die Fichtenmauer mit zierlichen Wipfeln zur
+Höhe strebte und gleichgültig, nur etwas blässer, in die Tiefe wuchs;
+daß die von der Sonne rosig angeglühten Felsriesen mit den gleißenden
+Schneefeldern hoch hinaufkletterten ins Blau und ebenso tief
+hinuntersanken ins Bodenlose; und daß ein leuchtender Himmel da droben
+war, ein leuchtender Himmel da drunten. Vor diesem zaubervollen Bilde
+verjüngte und erhellte sich das ernste Gesicht des fremden Offiziers.
+Mit einem fast mädchenhaften Lächeln sagte er vor sich hin: »Wie schön!«
+
+Stimmengewirbel, heiteres Lachen und ein flinkes _déjeuner à
+cheval_. Weißgekleidete Köche und rotweinfarben kostümierte Küfer
+mit Hirschlederschürzen sprangen im Heidekraut umher und hoben die
+kunstvoll aus Holz geschnitzten Platten und die silbernen Becher zu
+den Herren hinauf. Unter hilfreicher Mitwirkung der Natur hatte die
+ganze Aufmachung des festlich prunkenden Bildes etwas Pompöses, etwas
+wahrhaft Fürstliches. Der junge Oberst sah mit sonderbaren Augen den
+Pfarrer Ludwig an: »Ist das Kloster zu Berchtesgaden so reich?«
+
+»Gewesen einmal! Was man heute verschluckt und verpulvert, wird man in
+fünfzig oder sechzig Jahren bezahlen mit bayerischer Münze.« Das war
+vom Pfarrer sehr ernst gesagt, fast traurig; dennoch lachte der junge
+Oberst heiter und spöttisch auf: »_Tout le monde à la façon du roi de
+Pologne, sauf le grand économe de Berlin!_« Das helle Knabenlachen
+klang hinüber zu der Stelle, wo Aurore de Neuenstein neben dem
+frühstückenden Fürsten huldreichen Cercle hielt; Herr von Grusdorf
+drehte das morose Gesicht über die Schulter, und Danckelmann geriet
+in Verlegenheit. Schon mehrmals hatte der Geheimrat zarte Versuche
+gemacht, den jungen Oberst ins Gespräch mit dem allergnädigsten Paar
+_en titre_ zu ziehen; aber so höflich Herr Anton Cajetan sich gegen
+Danckelmann gab, so schwerhörig war er für diese diplomatischen
+Vermittlungsversuche; und als der Geheimrat seine Bemühung erneuerte,
+fand er Widerstand auf der anderen Seite -- der junge Oberst machte
+eine nur Danckelmann verständliche Handbewegung und wandte sich
+wieder seinem Gespräch mit dem Pfarrer zu. Die Fabel vom verkleideten
+Schwegelpfeifer schien zu wirksamer Publizität gediehen zu sein. Es
+begann auffällig zu werden, wie der Begleitoffizier des preußischen
+Gesandten von allen Kapitularen geschnitten wurde. So auffällig war
+es, daß es sogar für den Hiesel Schneck nicht unbemerkbar blieb. »Du!«
+sagte er zu Leupolt Raurisser, der mit ihm zwischen den Gäulen am
+Ufer stand. »Dein preißischer Helfer? Verstehst? Der muß nit gar viel
+Reputation haben.«
+
+»So? Meinst du?« Leupolt fand an diesem Morgen das erste Lächeln.
+
+»Wohl! Um den kümmert sich keine Katz nit.«
+
+Leupolt hob von der Erde einen kleinen Kalksteinsplitter auf, hielt ihn
+auf der Hand dem Schneck vor die verdrießliche Nase und fragte: »Was
+ist das?«
+
+»So ein Steinl halt, so ein dreckets, wie's hunderttausend gibt.«
+
+Ein Kopfschütteln. »Das ist nichts anderes, Hiesel, als wie der große
+Eisberg da droben, von dem's bloß einen einzigen gibt.« Leupolt ließ
+von der ausgestreckten Hand den Kiesel in den See fallen. Gaukelnd
+sank die flache Steinscheibe in die blaugrüne Himmelstiefe, schien
+immer größer zu werden und war umspielt von regenbogenfarbenen
+Ringen. Der Hiesel guckte mit runden Augen, verstand wieder etwas
+nicht und brummelte nach einem vorsichtigen Höllementsköter: »Auf'm
+Stand droben wird's aufkommen, was er für einer ist. Grad neugierig
+bin ich auf die preißische Pulverei.« Mißtrauisch guckte er zu dem
+kleinen mageren Soldätl hinüber, das lebhaft mit dem Pfarrer sprach
+und eben in hurtigem Französisch sagte: »Auf irgend eine Weise muß es
+doch kommen einmal. Der Hader um Gott und Kirchenmauer kann doch auf
+deutschem Boden nicht ewig währen, kann doch alles Zusammengehörige
+nicht immer von neuem entzweireißen! Sie, Hochwürden, als menschlich
+fühlender Priester? Halten Sie denn das für völlig ausgeschlossen, daß
+sich zwischen Katholizismus und Lutheranertum in absehbarer Zeit eine
+friedliche Einigung in allen Glaubensdingen ergibt?«
+
+»Das kann und wird nicht kommen, Herr Oberst! Aber man darf als
+Deutscher etwas anderes erhoffen: daß man in einer kommenden Stunde
+der Not sich brüderlich Schulter an Schulter preßt. Und daß der
+drohende Untergang uns allen, ob römisch oder evangelisch, das deutsche
+Lebensgesetz hineinschreit in die Herzen: Liebe deinen Gott, achte den
+Glauben des anderen und bleibe dir bewußt bei jedem Zornschrei und bei
+jedem Lachen, daß du ein Deutscher bist. Kommt es so, dann ist alles
+gut. Und *das* kann ich glauben.«
+
+In dem strengen Gesicht des jungen Offiziers, um dessen schmalen und
+dennoch edel gezeichneten Mund ein leises Lächeln dämmerte, blitzten
+die stahlblanken, herrlichen Augen. »Da müßte man die Stunde segnen,
+die uns Deutschen von aller Not die schwerste über die bockbeinigen
+Köpfe hagelt.«
+
+Ein klingender Hornruf. An den Waldmauern ein mehrfaches Echo. Geklirr
+und Bewegung. Heiter, nur mit etwas geschraubten Tönen zwitschernd,
+trabte die Allergnädigste zwischen Herrn Anton Cajetan und dem
+Geheimrat auf einen weißbesandeten Waldweg zu. Ihr schwarzgetüpfeltes
+Unschuldsgesicht war vom genossenen Wein und von der Anstrengung des
+Rittes gerötet. Manchmal reckte sie sich ärgerlich im Sattel und atmete
+dazu in einer Art, als wäre der Wunsch in ihr, etwas minder geschnürt
+zu sein. Hinter den Dreien hielten sich dienstbereit die Domizellaren
+von Stutzing und Kulmer, die zu weidmännischer Nachhilfe für Aurore de
+Neuenstein und ihre zierliche Feuerbüchse auf den Fürstenstand befohlen
+waren. Unter einem köstlichen Spiel von Lichtern und Schatten ging's
+eine Viertelstunde empor durch den von grauen und weißen Felsklötzen
+durchwürfelten Frühlingswald. Danckelmann fand gerechten Anlaß, das
+jagdliche Arrangement mit Begeisterung zu loben. Von Stellnetzen
+und hohen Tüchern war nichts zu sehen. Die Kammern und Ausläufe des
+massenhaft zusammengefangenen und eingepferchten Wildes blieben
+unsichtbar. Alles Künstliche war durch Tausende von eingepflöckten
+Fichtenbäumchen und durch Moosballen so dick maskiert, daß man sich
+immer in Gottes freier Natur zu befinden glaubte. Nur selten hörte
+man irgendwo eine Jägerstimme, und manchmal klangen Pflockschläge
+vom Hintersee herauf, wo jetzt, nach Abzug der Herrschaften vom
+Frühstückplatz, die letzten Vorbereitungen für die weidmännische
+Apotheose des Großen Jagens getroffen wurden: für den Seebogen und die
+Wasserjagd.
+
+In der Nähe des Fürstenstandes, neben dem ein Hornquartett den
+Herrengruß ins Grüne schmetterte und hinüberschmolz in die zärtliche
+Dianenweise, stieg man aus dem Sattel. Aurore de Neuenstein brauchte,
+um niederzukommen, vier galante Domizellarenhände. Dragoner, die
+schon gewartet hatten, führten die Pferde davon. Vier Büchsenspanner
+geleiteten Herrn Anton Cajetan zum Fürstenstand, der aussah wie
+eine mit grünem Sammet tapezierte Kanzel. Als der Fürstpropst dem
+Geheimrat schon »Weidmannsheil!« gewünscht hatte, zwitscherte Aurore
+de Neuenstein französisch über die Schulter: »Meine beste, liebste
+Exzellenz! Nicht wahr, Sie sagen gelegentlich Ihrem kleinen Pfeifer,
+daß er ein großer Flegel ist. Adieu!«
+
+Bis zur Fürstenkanzel waren es in sanfter Steigung kaum hundert
+Schritte; sie schienen der Allergnädigsten _en titre_ wachsende
+Atembeschwerden zu verursachen.
+
+
+
+
+Kapitel XXIX
+
+
+Die Stände des Großen Jagens waren so weit voneinander entfernt,
+daß kein Schütze seinen Nachbar gewahren oder durch unvorsichtige
+Schießerei gefährden konnte. Man schien einsam für sich im Walde
+zu sitzen. Dem jungen Oberst, als er mit dem Hiesel Schneck seinen
+grünumflochtenen Stand erklettert hatte, schien das zu gefallen. Es
+war ihm anzumerken an der Art, wie er, behaglich aufatmend, sich auf
+die Bank niederließ, die Arme kreuzte, die schlanke Nase vorschob
+und mit den flinken Blitzaugen fröhlich herumguckte in dem von
+der Morgensonne durchwobenen Bergwald. Inzwischen lud der Hiesel
+gewissenhaft die beiden Feuersteinflinten, schüttete Feinkraut ins
+Pfänndl, legte die Waffen schußfertig über die Auflagstangen und
+huschelte sich hinter seinen Jagdherrn. »So, jetzt bin ich neugierig,
+was wir ausrichten miteinander.« Dem jungen Offizier, dem das Bild
+des stillen Waldes genügte, schien jede Neugier auf den Verlauf des
+Großen Jagens zu mangeln. Das war wieder gut für den Hiesel Schneck.
+So lang er nicht gefragt wurde, konnte er schweigen wie der Tod. Nur
+über die Lage der Stände durfte er Auskunft geben. Rechts, gegen die
+Berghöhe, lagen die Stände des Herrn von Grusdorf, des Grafen Saur, des
+preußischen Gesandten und zu oberst der Doppelstand des Herrn Anton
+Cajetan und der Allergnädigsten; zur Linken, gegen den See hinunter,
+die Stände der Stiftsherren und Domizellaren, der salzburgischen
+Offiziere und der Stiftsbeamten, in strenger Rangabstufung. Über alle
+übrigen Geheimnisse des Großen Jagens mußte Hiesel unverbrüchliches
+Stillschweigen bewahren; es konnte für einen Gast den Reiz des Jagens
+nicht erhöhen, wenn er im voraus wußte, was da kommen würde, und daß
+je drei Füchse für den Fürsten, die Allergnädigste und den preußischen
+Gesandten, je zwei Füchse für den Grafen Saur und den Kanzler, je ein
+Fuchs für den Oberst von Berg und jeden Kapitelherrn, drei Füchse
+für vier Domizellaren und je zwei Füchse für fünf salzburgische
+Offiziere und für sieben Stiftsbeamte in den mehr oder minder
+wahrscheinlichen Tod springen mußten. Nach ähnlicher Abstufung waren
+auch die Wildschweine, das Kahlwild, die Gemsen und »Prunkhirsche« für
+den Aussprung nach den verschiedenen Ständen eingekammert. Alles war
+gerichtet aufs Schnürchen. Hätte die gleiche ordnungsgemäße Vorsehung,
+wie die Fürsten sie bei ihren französisch frisierten Hofjagden zu
+erzielen wußten, auch im heiligen Römischen Reiche geherrscht, welch
+ein Segen wäre das für das deutsche Volk gewesen.
+
+Ganz konnte Hiesel Schneck nicht schweigen. Er deutete mit dem Finger
+und tuschelte: »Da droben, da kommt bald was! Verstehst? Da droben, wo
+der weiße Steinbrocken liegt.« Das hätte der junge Oberst auch ohne
+den barmherzigen Fingerwink des Hiesel erraten können. Von dem weißen
+Steinbrocken zog sich eine Bodenmulde gegen den Stand herunter, auf
+beiden Seiten abgesperrt durch dichtstehende Fichtenbäumchen. Kam
+da droben ein Wild, so hatte es einen Auslauf von 200 Schritten bis
+zum Stand, mußte auf 30 Schritt am Schützen vorbei und konnte, wenn
+sein Leben bis dahin erhalten blieb, in einem grünen Heckentrichter
+verschwinden, um der »Seekammer« und einem unanzweifelbaren Schicksal
+entgegenzuspringen. Vorerst war lautlose Stille im schönen,
+frühlingsduftenden Bergwald, der wohlig unter dem Glanz der Sonne
+träumte und keine Ahnung davon hatte, wie übel er mißbraucht wurde.
+Darüber schien sich auch der junge Oberst keine Gedanken zu machen. Die
+träumende Waldstille gefiel ihm, und seine Augen glänzten.
+
+Hoch droben wurde mit hallendem Hörnerklang das Jagen angeblasen, und
+es dauerte nicht lang, so krachten bei der Fürstenkanzel zahlreiche,
+flink aufeinanderfolgende Schüsse, man hörte das jauchzende
+Piepsstimmchen der Allergnädigsten und dann die melancholische
+Fuchstodweise des Hornquartetts. Bumm, bumm, bummbum, knatterte es
+unter herrlichem Echo von den Ständen des Geheimrats, des Grafen Saur
+und des Kanzlers herunter, und geheimnisvoll zischelte der Hiesel
+Schneck: »Hö! Obacht! Es kommt was.«
+
+Lachend drehte der junge Oberst das Gesicht. »_Mon cher monsieur
+Cheneque!_ Ick habe selber Oogen.«
+
+»*Was* hast?« fragte Hiesel verdutzt. Sein Jagdherr deutete mit beiden
+Zeigefingern auf seine fröhlich glänzenden Augen. Jetzt verstand der
+Hiesel. »Ah so!« Und des weiteren hielt er wütend das Maul, obwohl
+der verhöllte Preiß, weil er keinen Griff nach der Flinte machte,
+den heranschnürenden Fuchs nicht zu sehen schien. Der rote Bruder
+Reineke erledigte seine Promenade in den voraussichtlichen Tod mit
+ruhiger Gemütlichkeit, spähte und lauschte nach allen Seiten, ließ
+die gestreckte Rute zittern, kam bis auf 40 Schritte heran, setzte
+sich erstaunt auf die Hinterbacken und betrachtete den jungen
+Oberst äußerst aufmerksam. Dieses persönliche Interesse schien ein
+gegenseitiges zu sein und währte so lang, daß Hiesel Schneck in
+Besorgnis durch die Zähne knirschte: »Himmelherrgottblutsakerment, so
+schieß doch einmal!«
+
+»Neeee!« klang die melodische Frohstimme des jungen Nichtschützen.
+»Det brave Fückschen soll Mäuse fangen, die dem Bauer am Hafer
+knabbern.« So freundlich diese Stimme sich anhörte, so mißtrauisch
+machte sie den Fuchs. Er sauste unter dem Geböller, das auf den
+tieferen Nachbarständen losging, wie der Blitz davon und verschwand
+in dem grünen Heckentrichter, der ihn einem minder barmherzigen
+Vorgang entgegenlenkte. Hiesel Schneck schlug fassungslos die braunen
+Tatzen über dem Haardach zusammen, vergaß seines evangelikanischen
+Herrgotts und ließ aus empörter Jägerseele den gutkatholischen Seufzer
+herausfahren: »O du Mar' und Josef und alle vierzehn Helfer in der
+christlichen Not!« Bedrückt von einem sorgenvollen Zukunftsgedanken,
+guckte er in das grüne Loch, in dem der Fuchs verschwunden war. Da kam
+-- eines jagdbaren Keilers hatte man den maskierten Schwegelpfeifer
+nicht gewürdigt -- unter Horngeschmetter, hurtigem Flintenknall und
+rollendem Echo eine schwere Bache mit zwei kleinen Überläufern durch
+die Mulde heruntergesurrt, vernehmlich grunzend in ihrer ahnungsvollen
+Angst um die beiden Borstenkinder. Der Hiesel Schneck, weil er mit
+Recht vermutete, daß sich das gewitzte Wildschwein nicht neugierig vor
+einen Preißen hinsetzen würde, konnte seinen Jägerseelensturm nicht
+länger im Zaum halten. »Hö! Du! Verstehst? Dö Sau frißt keine Mäuslen
+nit! Da wirst dich ein bißl tummeln müssen!« Er packte eine der beiden
+Flinten, um sie seinem Jagdherrn hinzubieten. Der schob sie mit der
+Hand zurück: »Uff so 'n jutes Muttchen losknallen? Neeee!« Wortlos
+schüttelte Hiesel Schneck den Schädel mit dem zitternden Schnauzer,
+schien sich in bedenklicher Nähe eines Gehirnschlages zu befinden und
+klagte: »Da fehlt's weit!«
+
+Neues Horngeschmetter, eine gesteigerte Knallerei auf allen Ständen,
+und durch die Mulde trollten in zerzaustem Winterkleid zwei junge
+Hirsche herab, die ihre Geweihe schon abgeworfen hatten. Auch sie
+passierten unbeschossen den Stand des jungen Offiziers. Das begriff
+der Hiesel, und seine grimmige Laune schien sich zu bessern. Aber
+gleich darauf ereignete sich etwas Schauderhaftes, etwas für den
+Hiesel völlig Unfaßbares. Unter einem Fortissimo der Hörner, die
+eine Steigerung aller Reize des Großen Jagens zu verkünden schienen,
+sausten mit wundervollen Fluchten zwei Gemsböcke durch die Mulde
+herunter, mit schön gebogenen Krucken über den weißgelben Backen,
+noch im schwarzen, wenig geschädigten Winterkleid, bei ihrem dichten
+Pelzwerke kugelrund erscheinend, die wachelnde Bartsäge über den Rücken
+hin. Vom aufwärtsziehenden Sonnenwinde gewarnt, wollten sie seitwärts
+aus der Mulde fahren, prallten gegen die elastische Fichtenhecke,
+wurden zurückgeschleudert und überschlugen sich, rafften sich wieder
+auf und hetzten nun mit schnellenden Weitsprüngen gerades Weges gegen
+den Stand herunter. »Aber jetzt,« lachte der Hiesel Schneck, »gelt
+ja, jetzt rührt sich der Preiß ein bißl!« Das stimmte. Der junge
+Oberst war aufgesprungen, konnte sich an dem prachtvollen, ihn heiß
+erregenden Bilde nicht sattschauen, wirbelte sein fast kindhaftes
+Entzücken mit einem französischen Wortgeprassel aus sich heraus, und
+als die beiden Gemsböcke drei Schritte vor ihm mit hohen Fluchten
+über die grünverkleidete Kanzeltreppe setzten, applaudierte er so
+leidenschaftlich, wie er's noch niemals in einer französischen Komödie
+getan hatte, schlug den sprachlosen Hiesel Schneck begeistert auf die
+Schulter und lachte: »Menschenskind! Det war jeradezu himmlisch!«
+
+»Da legst dich nieder!« murrte der Hiesel trostlos und wälzte in
+verstörter Seele den Gedanken umher: wie das mit ihm werden würde,
+wenn *alle* Preißen so schauderhafte Jäger sind? Da lief er, wenn
+er exulierte, einem Leben entgegen, bei dem er sich Tag für Tag so
+namenlos ärgern mußte, daß ihm schließlich vor Gift und Zorn die
+weidmännische Galle verläßlich platzen würde. Etwas Verzweiflungsvolles
+redete aus seinen Wasseraugen, als er zögernd fragte: »Herr? Sind im
+luthrischen Sand da drunt die Jäger *alle* so wie Ös?«
+
+»Wie wer?«
+
+Im Hiesel begann es zu kochen. »Kreuzikruzi --« Der Himmelhund, der nur
+ein bißchen aus dem Schneck herausgeblinzelt hatte, blieb ungeboren.
+»Verstehst denn nit? Der Ös bist du! Und wissen muß ich, ob im
+Preißischen *alle* Jäger so sind wie du?«
+
+Der junge Oberst lachte erheitert. »Neee! Da bin ick der Eenzichste. De
+anderen seind alle die gleichen Schlächter un Pulverschweine als hier
+zuland.«
+
+»So so? Jetzt weiß ich, wie ich dran bin.« Hiesel Schneck tat einen
+Atemzug der Erleichterung; also gab's im Preißischen auch gute und
+richtige Jäger; da brauchte sich der Hiesel doch nicht gerade mit *dem*
+da einzulassen, der einer war, daß Gott erbarm'! Bei dieser schlauen
+Rechnung erschien dem halbgesottenen Evangelikaner das Exulieren minder
+schauderhaft als vor einer Minute. Und hurtig rührte sich wieder der
+gewissenhafte Jäger in ihm. »Psssst! Obacht!« Der Klang der Hörner in
+der Höhe wurde feierlich. Und droben bei dem weißen Stein erschien mit
+ruhigem Schritt ein guter Kronenhirsch, fein abgezeichnet vom grünen
+Hintergrund, mit vorgebuchteter Kehlzotte, über dem straff erhobenen
+Haupt das prächtig verästelte Zwölfergeweih. Leis kicherte Hiesel:
+»Gelt, Preißerl, da schaust!« Verwundert sah der junge Offizier den
+langsam niedersteigenden Hirsch und wieder den Jäger an: »Werfen denn
+hier de ollen Hirsche det Jeweih nich ab im Frühling?«
+
+»Jöises!« klagte der Hiesel. »Jetzt weiß der so was nit! Wann's halt
+ein Gschnittener ist! Verstehst?«
+
+»Wat?«
+
+»Kreuzsakra! Den hat halt der Wildschneider im Herbst kastriert. Da
+wirft einer 's Geweih nimmer ab. Söllene sind an die Dreißig im Jagen.«
+
+»Ach, det arme Luder!« Mit einer harten Furche zwischen den Brauen
+griff der junge Oberst rasch nach der Flinte. Ein Ruck an die Wange.
+Im Feuer überschlug sich der Hirsch, lag verendet zwischen den
+Steinblöcken, und der Schütze, unmutig das Gewehr fortstellend, sagte
+mit leiser Stimme: »_Délivré des bienfaits de la providence humaine!_«
+
+Jetzt applaudierte der Hiesel Schneck, ohne zu verstehen, daß dieser
+barmherzige Erlösungsschuß für seinen Jagdherrn alles andere, nur
+keine weidmännische Freude war. Was der Hiesel in seiner vergnügten
+Anerkennung noch schwatzen wollte, ging unter in einem Heidenlärm,
+der plötzlich den Wald zu erfüllen begann. Unter dem Geschmetter der
+Hörner, die »Schluß des Jagens« bliesen, klangen die jauchzenden
+Stimmen der Jäger und vieler zur Jagdfron befohlener Musketiere und
+Dragoner durch den Wald herunter, näher und näher. Bei den Ständen
+hallten die aufgeregten Hussarufe und Halalischreie, mit denen man
+dem wundgeschossenen Wild den Fangstoß versetzte, überall scholl der
+Hetz- oder Standlaut der Schweißhunde und Saupacker, manchmal auch das
+Aufheulen eines Hundes, dem ein weidkranker Gemsbock das nadelscharfe
+Krickel durch die Gedärme gerissen hatte; bald in der Höhe, bald
+in der Tiefe sang ein Jagdhorn den »Sautod«, den »Hirschtod«, den
+»Gemstod«, den »Fuchstod«; und dieser ganze, noch immer wachsende
+Heidenspektakel wälzte sich von den Ständen gegen den See hinunter, um
+sich völlig auszutoben in der höfischen, treu nach französischem Muster
+zugeschnittenen Apotheose des Großen Jagens.
+
+Als der junge Oberst, schon angewidert von den roten Bildern, die
+er gesehen hatte, mit dem aufgeregten Hiesel Schnack hinunterkam
+ans Wasser, war das herrliche _spectaculum_ Dianä bereits in Gang.
+Schützen, Jäger, Musketiere und Hundejungen mit den in den Halszwingen
+heulenden Bracken standen rings um das Ufer her. Das schöne Spiegelbild
+der Wasserfläche war zerwirbelt von rinnenden Wellenkreisen. Jubelnde
+Hornfanfaren, hallendes Echo an den Felswänden. Und vom Südufer des
+Sees, wo hinter einer dunklen Wipfelsäge das sonnglänzende Dach der
+fürstpröpstlichen Försterei emporspitzte, glitt das mit falschen
+Blumen, Bändergirlanden, Fähnlein und Wimpelchen grellfarbig
+aufgeputzte Schiff der gesegneten Göttin rauschend gegen die Seemitte.
+Auf einem geschnitzten Hirsch, der mit vergoldetem Riesengeweih als
+Galion sich herausstreckte über den Schiffsschnabel, ritt -- nicht Herr
+Anton Cajetan -- nur der fürstliche Wildmeister _à la place du maître
+adoré_. Hinter ihm, in einer vergoldeten Muschel, stand die heftig
+atmende, ein bißchen blaß gewordene Diana mit hellenischer Lanze und
+einem funkelnden Halbmöndchen über dem gepuderten Lockenbau. Auf der
+anschließenden, grüngeländerten Plattform hatten sich rings um den
+Allergnädigsten Herrn die bevorzugten Jagdgäste höchster Rangordnung
+und die hilfsbereiten Domizellaren versammelt, alle mit langen
+Jagdspeeren bewaffnet. Und hinter der Plattform rauschte das Wasser
+weiß um die zwanzig Ruderschaufeln, die von maskierten Schiffern,
+von haarigen Faungestalten regiert wurden. Eine neue Fanfare, ein
+Hussajubel und Brackengeläute rings um den schimmerigen See, ein
+dröhnender Böllerschuß mit endlos rollendem Echo, und aus einer grünen
+Triumphpforte -- wie ein schlammiger Wasserschwall sich im Bogen
+hervorstürzt aus einer jäh geöffneten Schleuse -- schnellte sich eine
+braune, schwarze, rötliche Zappelmasse vom Ufer in das aufspritzende
+Wasser: das in der »Seekammer« angesammelte Wildgewühl, hinter dem die
+Hetzhunde her waren. Von beiden Ufern klatschten die gelösten Bracken
+heulend in die Wellen hinein, trieben den schwimmenden Wildknäuel gegen
+den flitterfarbig heranrauschenden Dianentempel, und da stießen und
+stachen vom goldenen Sitz der Göttin und von beiden Seiten der grünen
+Plattform das hellenische Länzlein und die langen Speere auf und
+nieder, daß es immer blitzte von den zuckenden Klingen. Das erstochene
+Wild drehte die Bäuche nach oben, wobei das schöne blaugrüne Wasser
+sich mit schmutzigem Rot zu färben begann. Und Jubelgeschrei und
+Hörnerschall ohne Ende. Das gefiel nicht allen, die es sahen. Pfarrer
+Ludwig, der in seinem verblichenen Jagdfrack an eine grün umwickelte
+Hopfenstange erinnern konnte, war gar nicht zum Ufer gekommen. Und der
+junge Oberst knirschte in Zorn und Ekel vor sich hin: »Fui Deibel!« Den
+Hiesel Schneck seinen langgeschwänzten Himmelhunden überlassend, wandte
+er sich vom Ufer ab und schritt immer tiefer in den Wald hinein.
+
+Eine Stunde später, als schon der Streckenruf, der Fürstengruß und die
+Dianenweise geblasen waren, mußten viele Jäger durch den Wald springen
+und den Namen des Obersten von Berg zwischen die Bäume schreien. Er
+ließ sich von Leupolt finden, dessen Stimme er erkannte, deutete mit
+der Gerte, die er im Wald gebrochen hatte, über das Ramsauer Tal und
+gegen den Toten Mann hinauf, lächelte schmal und sagte: »Det war
+schöner!« Die Freude über dieses Wort schoß dem Leupolt Raurisser
+mit heißer Blutwelle in das ernste Gesicht, das zu mannhaft war, um
+den Gram der vergangenen Tage merken zu lassen. Dann rief er, zum
+Zeichen für die suchenden Jäger, ein klingendes Hojoh in den Wald.
+Sie kamen gesprungen, mit ihnen auch der schauderhaft abgehetzte
+Hiesel Schneck. Die Freude lachte ihm aus den Augen, als er seinen
+Jagdherrn wieder hatte, der freilich ein Preiß war -- aber was für
+ein Schütz! »Kreuzikruziundsikerafaxhöllementshündl, hat *der* dem
+Hirsch dös preißische Kügerl auffizirkelt aufs richtige Fleckl!
+Verstehst?« Das wurde -- wie für den verewigten Christl Haynacher
+das Wunder der Armeseelenkammer -- für das Kindergehirn des Hiesel
+Schneck eine ruhelos schnurrende, unsterbliche Geschichte. Während
+ihr schweigsamer Held zwischen den heiterschwatzenden Grünröcken
+der Försterei am See entgegenwanderte, klang das beginnende
+Tafelkonzert der fürstpröpstlichen Hofkapelle durch den Wald wie
+sommerliches Grillengezirp. Auch die Mittagsschwüle des heißgewordenen
+Frühlingstages hatte was Sommerliches. Wechselnde Windzüge zerrten
+die Wipfel hin und her, und kleine, kugelige Weißwolken schwammen in
+auseinanderstrebenden Reihen über die wildzerrissenen Schneegrate der
+Mühlsturzhörner empor.
+
+Daß die Sonne sich ein bißchen verschleierte, das war ein Glück für
+die Strecke, die auf einer Wiese der Försterei in langen Linien
+ausgerichtet lag, bewacht von den schweißleckenden Bracken. Den
+reichsten Weidmannssegen schien die huldreiche Göttin dieses Tages
+sich selbst beschert zu haben; fast ein Viertel des erlegten Wildes
+war gekennzeichnet durch die kirschroten Seidenmaschen der heute
+noch allergnädigsten Aurore de Neuenstein. Und gerade um diese
+rotgezierten, wie mit Mohnsträußen geschmückten Wildstücke sumste
+die größte Fliegenmenge. Die kleinen zarten Dianenhände hatten, bis
+die Lanze ins Leben ging, sehr häufig zustechen müssen. Diese vielen
+allergnädigsten Wunden besaßen für das Fliegengesums einen anziehenden
+Reiz. Schweißgeruch und säuerliche Düfte umwitterten das Leichenfeld
+französischer Jagdfreude und wehten bei jedem Umschlag des Windes
+hinüber bis zur offnen Mahlstätte, von der die Tafelmusik und der
+fröhliche Becherlärm der grünen Herren hinausklang in die Waldstille.
+An die Försterei war ein großer Holzsöller angebaut, ganz eingewickelt
+in Fichtengrün, die Zwischenräume der das Dach tragenden Balken
+durchschlungen von Girlanden aus den ersten Blumen des Frühlings. Durch
+die Lücken leuchtete das Farbengepräng der Mahlgesellschaft heraus,
+und überall sah man weiße Köche, gelbe Schüsselträger, blaue Läufer
+und weinrotfarbene Küfer springen. Unter dem bewimpelten Torbogen,
+zu dem vier breite Stufen hinaufstiegen, erschien der Geheimrat in
+sorgenvoller Erregung, sah den winkenden Hiesel Schneck und rief mit
+dem Lachen eines Erlösten: »Endlich? Kommt er?« Ungeduldig schritt
+er dem Erwarteten entgegen und überbrachte ihm die Kunde eines
+diplomatischen Sieges. Man hatte den Oberst von Berg ganz unten an
+der Tafel bei dem alten Pfarrer und den jungen Domizellaren placiert.
+Danckelmann hatte sich ins Mittel gelegt, und nun erwartete den
+Verspäteten der Platz an der Herzseite der Allergnädigsten.
+
+»Meinen schuldigen Dank, lieber Geheimrat, aber ich setze mich zum
+Pfarrer. Der hat mehr Charme in seinen haarigen Warzen, als das Mensch
+an allen rosigen Nuditäten. Die Sorte hab ich satt.« Danckelmann
+war ratlos. Eine Änderung erschien ihm völlig unmöglich. »Alles ist
+möglich. Man muß nur wollen!« Und der junge Oberst, höflich nach allen
+Seiten komplimentierend, ging in der Mahlhalle gerades Weges zum
+unteren Ende der Tafel und auf den Pfarrer zu, legte dem Grafen Tige
+die Hand auf die Schulter und sagte liebenswürdig: »Verzeihen Sie,
+Graf! Jedem das Seine. Ihr Platz, vermute ich, ist dort oben.« Der
+Domizellar erhob sich verdutzt, errötete mit zartem Farbenspiel und
+hatte noch keine Antwort gefunden, als der junge Oberst schon behaglich
+auf dem eroberten Sessel saß. Nach dem leeren Platz an der Herzseite
+der Allergnädigsten schien Graf Tige keine Sehnsucht zu empfinden, war
+wütend und ließ für sich, um in Gefechtsnähe zu bleiben, dem jungen
+Oberst gegenüber einen Sessel zwischen die Barone von Stutzing und
+Kulmer schieben. Dabei hörte man von der allergnädigsten _tête_ der
+Tafel ein so auffällig Dianenlachen, daß die Annahme, der Geheimrat
+hätte eine witzige Ausrede gefunden, nicht unberechtigt war.
+
+»Hochwürden!« sagte der junge Oberst unter dem Gezirp der Tafelmusik
+zum Pfarrer. »Im Walde hab ich nachgedacht über alles, was wir sprachen
+auf dem Wege durch die Ramsau. Sie haben recht mit Ihrer Forderung nach
+verständnisvoller Freundlichkeit. Aber Schuld ist auf beiden Seiten.
+Mir ist da -- Dichter sind immer Propheten und Erzieher -- eine alte
+deutsche Fabel eingefallen. Die muß ich Ihnen erzählen. Vielleicht auf
+dem Heimweg.«
+
+Pfarrer Ludwig kam zu keiner Antwort, weil Graf Tige in gereizter
+Fehdelust über den Tisch herüber fragte: »Verzeihen Sie meine Neugier,
+Herr Oberst! Ihr Name, von Berg? Das ist wohl preußischer Beamtenadel?«
+
+»Jawohl, lieber Graf!« Ein graziöses Kompliment begleitete diese Worte.
+»Die Männer meines Hauses haben von jeher ihren Stolz dareingesetzt,
+die treuesten Diener des Staates zu sein.«
+
+»Gedenken auch Sie diesen Stolz in sich zu erziehen?«
+
+Mit einem fast komisch wirkenden Ernst antwortete der junge Offizier:
+»Seit einiger Zeit beginne ich das zu lernen.«
+
+»Bei Ihrer Jugend kann diese Übung noch nicht lange gedauert haben.«
+Graf Tige lachte. »In Preußen scheint Mangel an gereiften Männern zu
+herrschen, weil man die Zwanzigjährigen zu Obristen macht. In welcher
+Bataille haben Sie sich diesen Lohn erworben?«
+
+Ein hartes Lächeln, hinter dem es kaum merklich wetterleuchtete. »In
+einem Kampf, bei dem es um Kopf und Kragen ging.«
+
+Graf Tige guckte mit verwunderten Augen. »War denn Preußen zu Ihren
+Lebzeiten in einen Krieg verwickelt? Allerdings, die preußische
+Sandbüchse liegt so entfernt von uns, daß man es nicht immer gewahren
+kann, wenn sich der Sand da unten ein bißchen bewegt.«
+
+Pfarrer Ludwig bekam einen roten Kopf. »Denken Sie nicht übel von uns,
+Herr Oberst! Auch hierzulande gibt es wohlerzogene Leute.«
+
+Das schien der junge Offizier nicht zu hören. Sein Gesicht war bleich.
+Nur auf den Backenknochen, die man plötzlich schärfer sah als zuvor,
+glühten zwei kleine rote Flecken. Seine Augen, die unbeweglich auf den
+Grafen gerichtet waren, hatten etwas Verschleiertes. Nun verschwand die
+Blässe, das Blut stieg ihm ins Gesicht, schwellte die Schläfenadern,
+und unter der schönen Stirne brannte der Feuerblick einer stolzen und
+furchtlosen Seele. So nickte er dem Pfarrer lächelnd zu und sprach
+dann mit heiterklingender Stimme über den Tisch hinüber: »Der Sand
+da unten gedenkt noch Wellen zu schlagen, die man spüren wird in der
+ganzen Welt. Ich glaube, der König dieser kleinen Sandbüchse wird unter
+den Großen der Erde noch eine stattliche Figur abgeben. Möglich, daß
+ich das nicht erlebe. Ich habe nicht den Wunsch, sehr alt zu werden.
+Aber manchmal wünsche ich, in hundert oder zweihundert Jahren wieder
+für einen Tag auf die Welt zu kommen, nur um zu sehen, was aus Preußen
+geworden ist. Ich hoffe: viel!« Nun fand er ein Lächeln, auch für den
+Grafen Tige. »Setzen Sie gütigst diesen Glauben auf Rechnung meiner
+verzeihlichen Liebe zu dem Lande, das mich gebar. Im übrigen weiß ich
+sehr wohl, daß ich mich als Gast an dieser Tafel jeder bescheidenen
+Höflichkeit gegen den liebenswürdigsten meiner Wirte zu befleißigen
+habe.«
+
+Das Gespräch wurde durch eine lärmvolle Sensation unterbrochen. Sie
+war verursacht durch eine zwiefache Neuigkeit der Speisenordnung: auf
+großen, braunglänzenden Prunkschüsseln aus sächsischem Porzellan wurden
+nach Krapfenart gebackene Kartoffeln aufgetragen, zwei Dinge, die man
+zu Berchtesgaden bislange noch nie gesehen hatte. Das gab Veranlassung,
+daß viele Becher sich erhoben, um Seiner Liebden für diese Überraschung
+die verdiente Reverenz zu erweisen. Trunk und Zutrunk über die Tafel
+hin und her. Man lupfte die Kannen, wie die Bürstenbinder schlucken,
+und völlerte, wie es Mode und Gewohnheit war. Dazu, immer lärmvoller,
+das französische Lautgewirbel, gut und schlecht, manchmal durchwürfelt
+mit einigen deutschen Worten, die sich ausnahmen wie feste Steine in
+glitzerndem Wassergeriesel. Bei diesem Spektakel fanden der junge
+Oberst und Pfarrer Ludwig sich im Gespräch zusammen. Nach ihren Augen
+und Gesichtern zu schließen, redeten sie von ernsten Dingen. Immer
+lauschte Graf Tige hinüber, in der Erwartung, die erlittene Abfuhr
+wettzumachen und ein Häkchen zu finden, an das eine Bosheit anzuspießen
+war. Als er das Wort Exulanten hörte, fragte er lachend: »Werden denn
+auch die Dritthalbtausend, um die Sie uns erleichtern, Platz finden in
+dem kleinen Berlin?«
+
+»Nicht gut. Aber man wird brüderlich zusammenrücken.« Der junge Oberst
+wandte sich wieder an den Pfarrer: »Ich bin Ihrer Meinung, liebste
+Hochwürden! Ein Volk, das fähig ist eines starken und tiefen Glaubens,
+ist immer ein Volk, das aufwärts steigt. Brave Kerle, die aus ehrlichem
+Herzen glauben, sind die Streiter, mit denen man siegt. Solche Leute
+haben wir in Deutschland. Auf Ihrer und auf unserer Seite. Das ist eine
+Verheißung. Drum ist es Fürstentorheit, an den Religionen wie an einem
+kranken Gaul herumkurieren zu wollen. Man darf ihnen die Gesundung
+nicht erschweren, die sie suchen aus Natur und eigenem Antrieb. Dann
+gibt sich alles von selbst. Daß die Hölle mit ihren gewichtlosen
+Flammen im Inneren der Erde steckt? Das wird man nicht mehr glauben
+können, wenn gelehrte Männer wie Newton beweisen lernten, daß die Erde
+in ihrem Inneren schwerer an Gewicht ist, als an der Oberfläche. Alle
+Jerichotrompeten überleben sich.«
+
+Graf Tige schmunzelte. »Sie? Als bibelfester Protestant? Sie
+bezweifeln, daß die Sonne von Jericho stillgestanden? Ich glaube das.«
+
+Ruhig, doch mit leisem Spottzucken, antwortete der junge Oberst. »Da
+glauben Sie etwas Unbestreitbares, lieber Graf! Kopernikus und Keppler
+haben doch bewiesen, daß die Sonne *immer* stillsteht. Da dürfte sie
+vor Jericho kaum eine Ausnahme gemacht haben.«
+
+Heiteres Gelächter erhob sich rings um die beiden. Und Graf Tige
+unternahm geärgert einen neuen Ausfall. »Das Gewicht des Erdkernes
+wäre noch immer kein Beweis gegen die Hölle. Verfluchte, mit Sünden
+belastete Seelen müssen doch schwerer sein, als die verklärten Geister
+in der Höhe. Oder schätzen Sie das Gewicht einer verdammten Seele
+leichter ein?«
+
+»Es gibt solche, die im Tausend noch keinen Gänsekiel aufwiegen.«
+
+»Oh? Was für Seelen können Sie meinen?«
+
+»Die Seelen aller verdammten Fürsten, die auf Erden miserabel regierten
+und ihre Völker ins Unglück brachten. Gewissenlose Herrscher sind von
+allen pflichtwidrigen Menschen die verfluchenswertesten. Sie haben
+nur die eine Entschuldigung, daß sie ihren Beruf nicht von anderen
+lernen konnten, wie ein Schusterjunge von seinem Meister, sondern ihn
+erziehen mußten in sich selbst. Der Fürstenpädagog _à la mode_, dieser
+Macchiavel, dieser dümmste und schädlichste von allen Schulbonzen der
+Erde, erzieht den Herrscher, der seines Volkes erster und treuster
+Diener sein soll, nur zum Hauptschwein seiner eichelfressenden Herde.
+Auch das Salböl macht die Könige nicht. Sie machen sich selbst zu
+Fürsten oder bleiben Schelme, bleiben die übelsten Ursächer des
+Aufruhrs. Tiefer, als alle anderen Fürsten der Welt, müssen das die
+deutschen Fürsten sich ins Gewissen schreiben. Bei anderen Völkern
+führt aller Aufruhr, den fürstliche Mißwirtschaft erzeugte, über die
+Verelendung der Nation wieder zurück zum Despotismus. Bei den Deutschen
+wäre Aufruhr der Weg zu ewigem Untergang. Ich kann mir jedes romanische
+Volk als Oligarchie oder Republik denken. Nicht das deutsche. Für
+uns Deutsche ist echte Monarchie und gewissenhaftes Königtum so
+unentbehrlich, wie der Atem für die menschliche Lunge. Wehe jedem
+deutschen Fürsten und Bürger, der diese Wahrheit nicht voll erkennt und
+nur der geringsten seiner Pflichten sich entschlägt.«
+
+Inmitten des heiteren Tafeltrubels blieb nach diesen Worten um den
+jungen Oberst her ein schweigsames Inselchen. Ein salzburgischer
+Hauptmann flüsterte seinem Nachbar zu: »Dieser junge Mensch ist vorlaut
+und unerquicklich, aber -- er fesselt mich wider Willen.« Und der
+andere sagte: »Ein wunderlicher Patron! Der Kleinste an der Tafel, nur
+ein Suppenlöffel voll Mannsbild. Aber seine Augen funkeln, als möchte
+er einem Riesen die Nase aus dem Gesicht reißen.«
+
+Bevor Graf Tige sich von seiner Verblüffung erholen und einen neuen
+Lanzenstoß seines Geistes versuchen konnte, umklammerte Pfarrer Ludwig
+die Hand des jungen Offiziers: »Herr Oberst, ich möchte wünschen, Sie
+wären ein deutscher Fürstensohn.« Dieses Wort verwandelte sich für den
+Grafen Tige zu einem Futterkörnchen seines Witzes: »Äußere Anflüge sind
+vorhanden! Oder sollten Sie nicht wissen, Herr Oberst, daß Sie einige
+Ähnlichkeit mit den Bildern besitzen, die von Ihrem berühmt gewordenen
+Kronprinzen Friedrich in Umlauf sind?«
+
+»Wahrhaftig?« In dem strengen, von versunkenen Schmerzen erzählenden
+Jünglingsgesicht erschien ein seltsames Lächeln. »Sie sind der erste,
+der mir eine so überraschende Mitteilung macht.«
+
+Dieser unerschütterlichen Ruhe gegenüber wurde Graf Tige ungezogen in
+Blick und Ton. »Der einzige sind Sie wohl nicht, der in Preußen unter
+Mißachtung des königlichen Soldatenzopfes diese freigeistige Haarmasche
+nach hohem Muster trägt. Wenn Fürsten oder Fürstensöhne um guter oder
+übler Eigenschaften willen berühmt oder berüchtigt werden, findet sich
+mancher, der sich frisiert nach ihrer Silhouette.«
+
+Pfarrer Ludwig erschrak, doch der junge Offizier behielt das
+unveränderliche Lächeln und sagte mit dem gewinnendsten Klang seiner
+Stimme: »Da haben Sie eine überaus treffende Bemerkung gemacht, mein
+lieber Graf! Nachahmung ist die billigste und erbärmlichste Kunst
+aller Menschen. Wenn sie ihre Blähungen blasen hören, glauben sie den
+Donner zu kopieren und wähnen Jupiter zu sein. In solchen Künsten
+sündigen gerade wir Deutschen am verwerflichsten. Wollen wir nicht
+völlig zu Affen werden, so muß ein Erlöser kommen, der uns wieder zu
+selbstbewußten Menschen macht. Verzeihen Sie also bei der Allgemeinheit
+dieses deutschen Lasters auch mir eine kleine Sünde der Eitelkeit!
+Man ist leider, wie man ist. Gott scheint kein Töpfer zu sein. Eines
+ehrlichen Töpfers Bestreben ist es, nur runde und gute Töpfe zu drehen.
+Gott dreht nicht nur so vortreffliche Menschen, wie Sie einer sind,
+mein liebster Graf! Er dreht auch Menschen von so verzweifelt buckliger
+Art, wie ich einer bin. Aber ich will nicht unverbesserlich sein und
+verspreche Ihnen, meine Frisur so entschieden zu ändern, daß fernerhin
+an mir keine Spur von Perückenähnlichkeit mit einem Menschen zu finden
+sein wird, den ich um seiner üblen Vergangenheit willen heute noch
+häßlicher sehe, als ihn der eigene Vater sehen mußte.«
+
+Während Pfarrer Ludwig sich schweigend auf dem Sessel zurückbeugte und
+den jungen Oberst mit großen, forschenden Augen betrachtete, warf der
+salzburgische Hauptmann mißbilligend ein: »So sollte ein Offizier nicht
+sprechen von seinem zukünftigen König. Der Gott aller soldatischen
+Religion heißt Loyalität und muß nach obenhin so blind sein, wie die
+Justitia.«
+
+»Verzeihen Sie, Herr Kamerad, die Religion des preußischen Offiziers
+muß eine andere sein. Sie muß hellsehende Augen haben nach oben und
+nach unten. Ihr einziges Dogma muß lauten: die Arbeit zu tun, die von
+einem klugen Führer befohlen ist, seine Pflicht höher einzuschätzen,
+als sein Glück, sich selbst zu verleugnen und sein ganzes Leben den
+Zukunftszwecken des Staates, dem Wohl seines Volkes zu unterwerfen und
+nur den einzigen Ehrgeiz zu besitzen, ein guter Preuße zu sein und ein
+deutsches Herz zu haben.«
+
+Der salzburgische Hauptmann schüttelte den Kopf und lachte: »Herr
+Oberst, Sie predigen die soldatische Sklaverei.«
+
+»Im Gegenteil, Herr Kamerad! Der freieste Mensch ist nicht jener, der
+immer tun kann, was ihm persönlich zusagt. Der ist der freieste, der
+die notwendigen Gesetze am redlichsten achtet, seiner vaterländischen
+Pflicht am willigsten genügt und kein Stäubchen von Vorwurf oder Reue
+auf seiner Seele fühlt. Und das freieste von allen Völkern ist jenes,
+das die meisten Soldaten solcher Art besitzt. Da sollen die Feinde
+kommen. Man haut sie auf die Köpfe.«
+
+»Oh, wie gewalttätig!« warf der sanftblickende Domizellar von Stutzing
+ein. »Sie scheinen gering von dem zu denken, was man hier auf Erden
+als Frieden bezeichnet?«
+
+»Nein! Friede ist das schönste von den Dingen der Welt. Nur nicht
+möglich unter allen Umständen. Die Friedfertigen um jeden Preis
+zerstören wohl keine fremden Häuser, aber sie bauen auch das eigene
+nicht auf.« In der Erregung, mit der der junge Oberst sprach, wurden
+seine Gesichtsmuskeln von nervösen Reizungen befallen, die aussahen wie
+Grimassen. »Es gibt gewiß viel bessere Dinge auf der Welt, als Soldat
+sein müssen. Aber so lange die Menschen bleiben, wie sie sind -- und
+sie werden *immer* so bleiben -- so lange ist jenes Volk auf Erden am
+sichersten, das die schlagfertigste und gewissenhafteste Armee erzieht.
+Eine solche Armee ist nicht nur höchste Geborgenheit des Staates, nicht
+nur eine militärische, auch eine moralische Macht, eine Schule der
+Selbsterziehung des Volkes.«
+
+»Und Sie meinen,« spottete Graf Tige, »eine Armee von solch fabulöser
+Beschaffenheit wäre die preußische?«
+
+»Ja.«
+
+»Was hat sie denn schon geleistet? Für uns in der Ferne erscheint sie
+nur als ein Gamaschenklotz ohne Zweck.«
+
+»Dieser Klotz wird sich bewegen.«
+
+»Wann?«
+
+»Sobald das Wort gesprochen wird, das ihn belebt. Sie, lieber Graf,
+als angehender Priester der katholischen Kirche werden vermutlich ohne
+Kinder bleiben.« Die brennende Verlegenheitsröte übersehend, die dem
+Neuensteinischen Verkündigungsengel in die Wangen fuhr, sprach der
+junge Oberst mit jagenden Worten weiter: »Aber Brüder oder Schwestern
+haben Sie wohl? Deren Kinder und Kindeskinder werden mitzehren an
+den deutschen Früchten jenes beweglich gewordenen Gamaschenklotzes.
+Deutscher Boden droht die Schüssel für alle fressenden Hunde der
+Nachbarschaft zu werden. Die vergönnen uns die eigene Mahlzeit nur,
+wenn wir die Faust haben, den nach unseren Knochen Lüsternen die
+Zähne einzuschlagen. Sieger wird keiner, der nicht alles gibt, was in
+ihm ist. Diese Opferfreudigkeit wollen wir in unseren Offizieren und
+Soldaten, in unserem ganzen Volk erziehen. Dann wird dafür gesorgt
+sein, daß uns die Welt nicht unterkriegt. Das gelänge ihr nur, wenn
+man ihresgleichen wäre. Wir haben die Pflicht und Absicht, uns
+wesentlich zu unterscheiden von ihr. Dann wird die Zeit kommen, in der
+das kleine Preußen zu wachsen gedenkt. Und was ein Segen für Preußen
+ist, wird zum Heil werden für alle Deutschen. Der Aufstieg und die
+politische Neugeburt des deutschen Volkes wird uns nicht durch den
+strohdreschenden Reichstag und nicht durch die schimmelig und hohl
+gewordene römische Kaiserpuppe beschert werden, sondern durch das
+junge, erstarkende Preußen der Zukunft.«
+
+Diesen Worten folgte an der Tafel ein etwas unfrohes, fast höhnisches
+Gelächter. Nur Pfarrer Ludwig blieb ernst und grollte in Zorn: »Wie
+kann man da lachen? Wenn jeder Deutsche so denken würde, müßte man
+nicht in Durst, in Zweifel und Sehnsucht auf den Augenblick harren,
+der den Kaiser im Untersberg von seiner finsteren Schlafsucht kurieren
+wird.«
+
+Graf Tige sagte mit spottender Heiterkeit: »Wie reizend, Hochwürden!
+Ihre siebzig Jahre befinden sich in kindlicher Märchenlaune!«
+
+Da beugte sich der junge Oberst, die zitternden Hände um den
+Champagnerbecher geklammert, über die Tafel hinüber. In dem
+vorgestreckten Spitzgesichte flammten die Augen, während er mit
+leiser und dennoch scharfklingender Stimme sprach: »Die Kindermärchen
+der Völker sind ihre schönsten und tiefsten Sehnsuchtsschreie.
+Solche Sehnsucht braucht nur beharrlich zu sein, um die Erfüllung zu
+erzwingen.«
+
+»Herr Oberst!« Die Stimme des hübschen Domizellaren erinnerte ein
+bißchen an das parisische Gezwitscher der Allergnädigsten. »Das stimmt
+nicht für Märchen. Die erfüllen sich nie. Noch weniger stimmt es für
+politische Phantastereien. Ihr heimatliche Selbstbewußtsein in allen
+Ehren! Ich mache Ihnen hierüber sogar mein Kompliment. Es frägt sich
+nur, ob das deutsche Volk und die deutschen Fürsten auch gewillt wären,
+sich von Preußen an den Roßschwanz nehmen zu lassen?«
+
+Das Gesicht des jungen Offiziers, in dem alle Erregung plötzlich
+erloschen schien, war verwandelt zu ruhigem Lächeln. So wandte er sich
+dem Pfarrer zu und sagte: »Man muß die Deutschen selig machen *gegen*
+ihren Willen. Oder sie werden es nicht.«
+
+
+
+
+Kapitel XXX
+
+
+An der fürstpröpstlichen Jagdtafel ereignete sich abermals eine
+kulinarische Überraschung: man servierte neben dem Champagner zum
+erstenmale heißen, schwarzen Kaffee, von dem die Sage verbreitet war,
+daß er den Appetit zu reizen vermöchte, den Durst erneuere und gegen
+den Katzenjammer ein vorbeugendes Remedium wäre. Auch noch aus einem
+anderen Grunde war die dampfende Köstlichkeit, die überaus angenehm
+duftete, an der Tafel willkommen. Wer nicht zureichende Weinhitze in
+sich hatte und der natürlichen Blutwärme entbehrte, fröstelte schon
+ein bißchen. Bei sinkendem Nachmittag verkühlten die Frühlingslüfte.
+Das böse Wetter, das der windkundige Hiesel Schneck vorausgeahnt
+hatte, begann sein Herannahen bemerkbar zu machen. Immer häufiger
+erloschen die Sonnenlichter zwischen den von Windstößen geschaukelten
+Girlandenbogen.
+
+Graukühler Schatten überschleierte die farbenbunte Tafel, als Graf
+Saur sich erhob, eine schmetternde Fanfare blasen ließ und die
+witzigen Verse seines Dianentoastes zu sprechen begann. Eine galant
+durchprickelte Stimmung herrschte an der lauschenden Tafel. Nur die
+gefeierte Göttin selbst schien jedem munteren Lächeln entrückt zu sein
+und sollte -- _entre la coupe et les lèvres_ -- den jauchzenden Zuruf
+»_Vive la reine divine de la chasse!_« nicht mehr erwarten können.
+Sei es, daß Aurore de Neuenstein sich durch die jähe Dämpfung der
+Frühlingstemperatur in nachteiligem Grade angeschauert fühlte, oder
+sei es, daß die Ermüdung nach dem emsigen Lanzenschwingen, der allzu
+reichlich genossene Champagner oder andere Umstände mit im Spiele
+waren -- sie wurde während des geistreichen Reimgeklingels plötzlich
+zwischen den schwarzen Schönheitspflästerchen so blaß, daß ihr
+schmales Unschuldsgesicht beinah einer preußischen Miniaturstandarte
+zu vergleichen war. Gewaltsam die _contenance_ bewahrend, schloß sie
+die Augen und überlegte flink alle hilfreichen Möglichkeiten einer
+Ohnmacht. Es war für diesen klugen Gedanken bereits zu spät. Inmitten
+einer Lachsalve, die ein entzückender Dianenscherz des Grafen Saur
+entfesselte, mußte sie sich hastig erheben, um in fluchtartiger
+Eile den Tisch und die Mahlhalle zu verlassen. Auch das gelang
+nicht mehr. Weil die Natur schneller arbeitete als alle französisch
+geschulte Geistesgegenwart, kam die unpaß gewordene Göttin nur bis zur
+Söllerbrüstung und fand hier zwingende Veranlassung, sich rasch über
+den grüngirlandierten Balkenbord hinauszubeugen. Ein solcher Vorgang
+war bei zeitgenössischen Trinkgelagen keine ungewöhnliche Erscheinung.
+Dennoch verlor Graf Saur den Faden seiner witzigen Reime, und eine
+unbehagliche Verblüffung rieselte über die ganze Tafelrunde hin, von
+Herrn Anton Cajetan bis hinunter zum Grafen Tige.
+
+Kanzler von Grusdorf, der sich gleichfalls entfärbte, als wäre er
+von der Indisposition seiner Nichte schon infiziert, versuchte der
+Leidenden durch die naheliegende Vermutung zu Hilfe zu kommen: »Ach,
+Barmherziger, augenscheinlich hat sie die heftig bewegte Schaukelfahrt
+auf dem Dianenschiffe nicht gut vertragen!« Niemand lachte, alle
+Herren schienen teilnahmsvoll und besorgt zu sein. Dennoch wuchs das
+Bedrückende der Tafelstimmung. Und in der halben Stille, die für einen
+Augenblick entstanden war, sagte der junge Oberst mit der Ruhe eines
+großen Gelehrten, dem die Entdeckung einer unanzweifelbaren Wahrheit
+gelang: »Das? Eine Artemis? Nein. Das ist eine Göttin der guten
+Hoffnung.«
+
+Dieser Moment bewies, wie wohlerzogen alle diese adligen Herren waren
+und wie sehr sie sich nach reichlich verschlucktem Wein zu beherrschen
+wußten. Keiner von ihnen wollte das klärende Wort des jungen Offiziers
+verstanden haben, wie vernehmlich es auch gesprochen war. Immerhin
+hatte die Macht der Wahrheit für einigen menschlichen Farbenwechsel
+gesorgt, der sich konträr vollzog: Herr Anton Cajetan war bleich
+geworden, Graf Tige dagegen dunkelrot. Es hätte, dank aller höfischen
+Galanterie, die Situation vielleicht noch gerettet werden können, wenn
+nicht Aurore de Neuenstein selbst, unterstützt durch das Bewußtsein
+einer leidlich gesicherten Zukunft, sie verloren gegeben hätte. Im
+Zustande merklicher Erholung betätigte sie mit flinker Grazie ihr
+Brabanter Spitzentüchelchen, trat tapfer auf die Tafel zu, griff
+nach dem Champagnerbecher ihres sprachlosen, in einen Kreidestein
+verwandelten Onkels, leerte den Kelch bis auf den letzten Tropfen,
+stellte den Becher mit hörbarem Klaps wieder hin und zwitscherte in
+ihrem zierlichen Französisch: »Weshalb so erstaunt, meine Herren?
+So etwas Ähnliches hat sich seit Mutter Evas Zeiten schon mehrmals
+ereignet. Ich bin nicht die erste.«
+
+Da war es mit aller hoheitsvollen Selbstbeherrschung des Herrn Anton
+Cajetan, der sich fern jeder Schuld zu fühlen vermochte, jäh und
+gründlich vorbei. Sich erhebend, sagte er kalt, doch immer noch mit
+Würde: »Madame! Um die Grenzen unseres Landes zu verlassen, sind Ihnen
+vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben.«
+
+Während Herr von Grusdorf eine Knickbewegung tiefster Erschütterung
+machte, wurde Aurore de Neuenstein überaus heiter. »Vierundzwanzig
+Stunden? Ach, wie gnädig!« Das waren die letzten französischen
+Laute, die man am fürstpröpstlichen Hofe von ihr vernahm. Trotz
+aller Peinlichkeit des Augenblickes erwachte in Aurore de Neuenstein
+der schwäbische Mutterwitz. Mit den Fingerspitzen das geschürzte
+Reitkleid auseinanderspreitend, machte sie vor Herrn Anton Cajetan
+einen tadellosen Hofknicks und sagte lustig in ihrem niedlichen
+Dillinger Idiom: »So groß, wie Dei' Ländl isch, bring i dees Hüpfle
+über de Grenzbaum fertig in em halbe Stündle.« Lustig lachend,
+sichtlich erfreut über den sieghaften Abgang, den sie gefunden,
+schwebte die vermenschlichte Göttin des Großen Jagens der bewimpelten
+Söllerpforte entgegen. Huldreich winkte sie mit dem hübschen Händchen
+nach allen Richtungen der Tafelrunde, ohne den sorgenvollen Grafen
+Tige einer besonderen _célébration des adieux_ zu würdigen, und
+nickte noch freundlich und versöhnt dem jungen Oberst zu, der nun
+sichtliches Wohlgefallen an ihr zu finden begann und fast so begeistert
+applaudierte, wie er's beim Anblick der beiden fliehenden Gemsböcke
+getan hatte.
+
+Das drohende Unwetter begünstigte Aurorens Abschied. Alle Pferde der
+Jagdgesellschaft waren schon bereit zum Heimritt. Munter schwatzend
+ließ die Neuenstein sich in den Sattel heben und galoppierte mit ihrem
+Kammerlakai und Büchsenspanner davon, um in Reichenhall so ziemlich
+alles wiederzufinden, was sie zu Berchtesgaden unter beträchtlichem
+_accroissement_ der Stiftsschulden klug zurückgelegt hatte.
+
+Dem vorsichtigen Wildmeister, der für die prompte Bereitschaft der
+Pferde gesorgt hatte, war auch ein willkommenes Erlösungswerk an der
+schwülgewordenen Stimmung in der Söllerhalle zu verdanken. Er brachte
+Seiner Liebden die Meldung des bedenklichen Wetterumschlages. »Wollen
+die gnädigsten Herren nit naß werden bis aufs Häutl, so wird's wohl
+nötig sein, daß man reitet auf der Stell.«
+
+Einem turbulenten Aufbruch von der Tafel folgte ein beschleunigtes
+Abschiednehmen unter fröhlichem Horngeschmetter. Herr Anton Cajetan,
+der nicht gerne naß wurde, zog es vor, sich einen einsamstillen, aber
+trockenen Schmollwinkel in der Försterei bereiten zu lassen, auch auf
+die Gefahr einer schlaflosen Nacht, die umwittert zu werden drohte von
+den üblen Verwesungsdüften der riesigen Wildstrecke. Beim Abschied
+zeigte er eine bewundernswerte Haltung und war in so guter Laune, wie
+man nach kleinen, harmlos verlaufenen Scherzen zu sein pflegt. Den
+unerquicklichen Schwegelpfeifer und begnadigten Militärverbrecher in
+diplomatisch zulässigem Ausmaß ignorierend, bedachten Seine Liebden
+den Geheimrat von Danckelmann mit erlesenen Liebenswürdigkeiten und
+entbanden ihn gnädigst von allen ceremoniellen Abschiedspflichten. Bei
+der Rückkehr nach Berchtesgaden würde Seine Exzellenz das fürstliche
+Rekreditiv im Leuthaus vorfinden. Herr Anton Cajetan unterließ es,
+beizufügen, daß dieses historische Dokument als letzte Amtstätigkeit
+des weiland Kanzlers von Grusdorf zu erachten sei.
+
+Vermochte der bedrohte Staatsmann unter der Stirne seines Herrn zu
+lesen? Mit bleichen Lippen stammelte der entlastete Elefant Aurorens:
+»Euer Liebden! Ich bin trostlos --«
+
+Eisig unterbrach ihn der Fürst: »Da suche er seinen Trost, wo er ihn
+zu finden hofft.« Das war klar gesprochen. Dennoch erwachte in der
+Schlotterkreide des Herrn von Grusdorf nur zögernd die Erkenntnis,
+daß er in diesem Augenblick ein bedauernswerter Schicksalsgenosse des
+Doktor Willibald Hringghh und des Polizeifeldwebels Muckenfüßl geworden
+war.
+
+Der schöne Schmetterklang des Fürstengrußes, an den sich keine
+Dianenweise mehr anzärtelte, geleitete Herrn Anton Cajetan unter
+bleigrauem Himmel zur Försterei, und als er in der niederen Tür
+verschwunden war, löste sich bei dämmerndem Abend aller Pomp des Großen
+Jagens auf in ein Wettrennen vieler Gäule, deren Reiter die schützenden
+Dächer von Berchtesgaden noch vor dem drohenden Platzregen zu erreichen
+hofften.
+
+Weit hinter der jagenden Klapperkavalkade der Stiftsherren und
+Domizellaren blieben fünf Reiter zurück, weil der junge Oberst den
+Pfarrer Ludwig, der sich an den Sattellappen die Waden aufgewetzt hatte
+und nur mit bescheidener Geschwindigkeit noch vorwärts kam, nicht
+der Einsamkeit überlassen wollte. Bei Ausbruch des Regens erreichten
+die Fünf, zwischen Ramsau und Berchtesgaden, in der Schmiede von
+Ilsank einen schützenden Unterstand. Die große Werkstätte gab Raum
+für die Reiter und Pferde. In der Esse, deren Kohlen noch glühten,
+schürte Leupolt ein Feuer an. Und während draußen in der sinkenden
+Nacht der wilde Frühlingsregen der Berge trommelte und in der großen
+Schmiedhöhle das Feuergeflacker alle rußigen Dinge vergoldete, ließ
+sich Pfarrer Ludwig vom alten Hufschneider, der ein geschickter
+Viehdoktor war, die aufgescheuerten Waden mit Hirschtalg salben und
+mollig mit Leinwand überbinden. Danckelmann hatte sich gegen den Ambos
+gelehnt, der junge Oberst saß auf einem umgestürzten Schubkarren,
+das rechte Bein übers linke Knie gelegt, die Hände um den braunen
+Reitstiefel geschlungen. Immer schwatzten und lachten die Drei.
+Der wunderliche Reiz dieser Stunde im Flackerglanz, das mystische
+Wechselbild zwischen Glut und Schwärze, die Nachwirkung der feurigen
+Klosterweine und des Champagners, das Erinnern an alle schönen Natur-
+und Waldbilder des Tages, an die qualmenden, ekelhaften Blutströme
+des Großen Jagens, an den zum Spott herausfordernden, lächerlichen
+Abklatsch des französischen Hofschwindels und an die Komödie der
+gesegneten, so munter zum Orkus entschwundenen Göttin Diana -- das
+alles wirbelte im Gespräche der Drei mit Ernst und Laune, mit Zorn
+und Hohn, mit Witz und sprühendem Übermut durcheinander und gab
+ihnen eine Stunde, an der sie Freude hatten. Sie lachten bei diesem
+Schwatzen so oft und so fröhlich, daß Hiesel Schneck, der immer
+mitlachen mußte, ohne zu wissen warum, ein bißchen wütend wurde und
+nach einem mäßig geschwänzten Himmelhündchen zum schweigsamen Leupolt
+Raurisser sagte: »Was die für kreuzlustige Sachen reden müssen! Und
+unsereiner versteht's halt nit! Aufpassen tu ich wie der Haftelmacher.
+Und versteh's halt nit! Kreuzhimmel und Höllementsnot, hol' doch der
+Teufel die ganze Französianerei! Wann einer, der schießen kann wie das
+preißische Soldätl, wann so einer ebbes sagt? Und zittert und fiebert
+und augenblitzt! Da muß er doch reden, als wie er schießt! Und so was
+möcht halt unsereiner verstehn! Verstehst?«
+
+Raurisser schien nicht zu hören. Neben dem Essenfeuer an der schwarzen
+Mauer lehnend, alles Harten und Schönen des eigenen Lebens vergessend,
+in der Faust die zusammengebundenen Zügel der drei Herrengäule, sah
+Leupolt unbeweglich zu dem jungen Oberst hinüber, lauschte mit großen
+glänzenden Augen, lauschte mit einem gläubigen Lächeln seiner Freude
+auf jeden Laut dieser melodischen, wundersam bezwingenden Stimme,
+verstand so wenig wie der Hiesel Schneck und verstand doch mehr, viel
+mehr, als der Hiesel verstanden hätte, wenn er der beste Franzose
+gewesen wäre.
+
+Jetzt sprach der junge Offizier allein. Die zwei Herren, mit
+vorgebeugten Gesichtern, hörten gefesselt zu, lachten immer wieder
+erheitert auf, vergaßen des Lachens und wurden ernst. In dem
+Bild, das der leidenschaftlich Sprechende bot, war der gleiche,
+schwerbegreifliche Gegensatz wie in seinem ganzen Wesen. Grell
+angestrahlt von der Feuerhelle, in dem schmucklosen, fast ärmlichen
+Soldatenkleid mit den Funkelknöpfen, auf dem gestürzten, radlosen
+Karren sitzend, neben den stampfenden, schnaubenden, durch das
+Essenfeuer beunruhigten Gäulen und neben der Finsternis da draußen, in
+der das Getrommel des schweren Regens war, das falbe, dem Flammenschein
+von Brandstätten gleichende Aufleuchten der umnebelten Blitze, das
+Donnerrollen des Frühlingsgewitters, bald wie knatternde Gewehrsalven,
+bald wie dröhnende Kanonenschläge -- sah er aus wie ein junger
+Heerführer, der in einer Feldnacht zwischen Kampf und Kampf vor einem
+lodernden Wachtfeuer ruht, sich müde fühlt und doch von lebensprühender
+Erregung durchfiebert ist, alle wühlende Sorge in sich mit Heiterkeit
+zu umschleiern vermag, so zu den Seinen redet, ruhig und gläubig in
+die dunkle Ferne späht und mit der deutenden, blitzschnell zuckenden
+Hand Befehl um Befehl erteilt. Doch sein Gesicht war alles andere, nur
+nicht soldatisch. Das spitzvorgeschobene, heißwangige Antlitz mit dem
+lächelnden Spöttermund und den strahlenden Feueraugen war das Gesicht
+eines geistvollen, vom Funken der Stunde erfaßten Poeten, der sich
+immer wandelte, Ernst und Witz durcheinander schüttelte, mit sich und
+den anderen zu spielen schien, bald sprach wie ein kluger Greis und
+bald wie ein träumender Knabe, allen Esprit der französischen Sprache
+erschöpfte und mit diesem fremdländischen Wortgefunkel ein altes,
+sinnvolles Märchen der Deutschen erzählte: die Fabel von dem weisen und
+liebenswürdigen Jüngling, der sich alle Menschen der Welt zu Freunden
+machte.
+
+Dieser Jüngling war so kraftvoll und klug, daß sein Verstand gegen
+jede Gefahr und Not einen siegreichen Gedanken fand. Und war so schön
+und gütig, daß sein warmer Blick und sein herzliches Lächeln jeden
+Neider und Gegner verwandelte in einen Freund. Alle Seelen flogen
+ihm zu, alle Wege der Welt erschlossen sich ihm. Die einen sagten:
+»Sein Verstand erzwingt es.« Die anderen: »Nein, sein gewinnendes
+Herz!« Das sagten die Leute so oft, bis Herz und Hirn im Körper des
+Jünglings von Eifersucht befallen wurden. In einer Gewitternacht, als
+der Jüngling schlummerte, fingen Herz und Hirn in ihm wie erbitterte
+Widersacher zu hadern an und vergaßen, daß sie brüderliche Teile des
+gleichen Körpers waren. »Du da droben unter der Stirne,« sagte das
+gekränkte Herz, »sei nicht so stolz! Die sieghafte Kraft unseres Herrn
+entspringt nicht deinen erfindungsreichen, doch kalten Ratschlägen.
+Nur mir allein verdankt er seine Erfolge, dem fröhlichen Blut, mit dem
+ich ihn erfülle, dem gewinnenden Glanz, den ich entzünde in seinem
+Blick!« Höhnisch lachte das beleidigte Gehirn: »Du aufgedunsener
+Fleischklumpen! Bist du vom Größenwahn befallen? Wenn er mich nicht
+hätte, wäre unser Herr ein stumpfsinniges Tier. Nur die Funken meines
+Geistes erwecken in ihm das Göttliche und machen ihn zum Sieger in
+aller Gefahr.« Zornig antwortete das Herz: »Du lügst! Alle Freunde
+unseres Herrn verärgerst du durch dein spottendes Besserwissen.
+Immer hab ich zu tun, um durch freundliche Güte wieder zu mildern,
+was du versalzen hast.« Und das Gehirn erwiderte: »Du schwächlicher
+Versöhnungslappen! Jeden kühnen Gedanken, den ich erwecke in unserem
+Herrn, verwässerst du durch säuselndes Wohlwollen, durch nachgiebige
+Biederkeit!« Mit Tränen antwortete das geschmähte Herz: »Das hab ich
+satt! Ich lasse mich nicht länger unterschätzen. Gott befohlen!«
+Lachend sagte das triumphierende Hirn: »Vergnügte Reise! Jetzt will ich
+beweisen, was ich vermag, auf mich allein gestellt.«
+
+Das Herz entsprang den Rippen des Schlafenden und glich einem roten
+Frosch, der schwerfällig hinhüpfte durch den Staub der Straße. Das
+Gehirn entschlüpfte der Stirn und war wie eine weißgraue Tarantel, die
+sich mit vielen Gedankenbeinen hastig bewegte. So zogen die beiden
+in die Welt, jedes für sich allein. Eines frühen Morgens kehrten
+sie zurück, und jedes weinte vor Freude beim Anblick des anderen.
+Klagend erzählte das aus vielen Wunden blutende Herz: »Ach, wie
+erbärmlich ist es mir ergangen! Überall nannten sie mich die hüpfende
+Qualle. Jeden liebevollen Schrei meiner Güte haben sie gedeutet
+als ein Zeichen meiner Schwäche, haben mich verlacht, verhöhnt und
+mit den Füßen beiseite gestoßen! Hilf mir, du kluges Gehirn, sonst
+muß ich verbluten!« Und das vor Schmerzen zuckende Hirn erzählte:
+»Ach, wie niederträchtig sind der Unverstand und die Bosheit der
+Erde mit mir umgesprungen! Überall nannten sie mich den giftigen,
+stechenden Skorpion. Jeden Funken meines Geistes verleumdeten sie als
+weltbedrohendes Feuer. Kaum entrann ich ihren Lügen und Drachenzähnen.
+Hilf mir, du gutes Herz, ich bin müde zum sterben!«
+
+Da suchten die beiden eine reine Quelle, um zu baden. Als sie versöhnt
+dem Haus ihres Herrn entgegenwanderten, vernahmen sie die Klagen
+und das Hohngelächter vieler Menschen. Die hatten den schlafenden
+Jüngling für tot gehalten und wollten ihn begraben. Jene, denen er
+Gutes getan, betrauerten seinen Tod. Doch jene, die er kraftvoll
+überwunden, beschimpften seine Leiche und verteilten unter sich die
+funkelnden Waffen seiner Siege. Schon wollten sie den stählernen Sarg
+für ewig über seinem wehrlosen Körper schließen. Da schlüpfte ihm das
+geläuterte Herz unter die Rippen, das reingewordene Gehirn unter die
+Stirne. Und das Herz begann zu hämmern, wie das Gehirn es ihm gebot,
+und das Hirn, vom pochenden Herzen befeuert, begann seine leuchtenden
+Funken zu sprühen. Die strahlenden Augen des Jünglings öffneten sich,
+mit frohem Lächeln erhob er sich, und gedoppelte Kraft erfüllte seine
+Glieder. Jubelnd umringten ihn seine Getreuen, erschrocken beugten
+sich seine Feinde, und von Stund an war der Jüngling schöner und
+gütiger, war kühner und klüger, als er je gewesen. Und weil er um der
+Ewigkeit seiner Kräfte willen nicht untergehen kann, so lange die Welt
+besteht, drum wird die Wahrheit seiner Geschichte nicht enden mit den
+Märchenworten: Starb er nicht lange schon, so lebt er noch heute.
+
+Der junge Oberst, der seine Fabel mit spottender Grazie begonnen hatte,
+war ernst geworden. Als er verstummte, blieb sein Mund eine schmale
+Linie, und seine großen Augen blickten in die Essenglut, als wäre sie
+das redende Geheimnis kommender Dinge. Wie ein Erwachender sah er auf,
+weil er die Stimme des Pfarrers hörte. Der war auf ihn zugetreten.
+»Herr Oberst, ich danke Ihnen.« Er streckte dem jungen Offizier die
+Hand hin, die dieser lächelnd ergriff. »Ich bin ein alter Mann. Aber
+so lang ich noch atme, soll mir diese Fabel ein Lehrbuch des deutschen
+Lebens bleiben.« Tief atmend nickte der Pfarrer. »Fabel? Die Todesnot
+der schlafenden Deutschen wird sie zur Wahrheit machen. Freilich gehört
+auch der helfende Mann dazu.«
+
+Da sagte Leupolt Raurisser neben der glühenden Esse: »Ihr Herren!
+Das Sturmwetter hat aufgehört. Die Nacht wird schön.« Er führte die
+drei Herrengäule durch das Tor der Schmiede auf die finstere Straße
+hinaus. Mit dem klirrenden Hufschlag mischte sich hinter ihm ein
+fröhliches, fast übermütiges Knabenlachen. Es galt dem Aussehen des
+Pfarrers. In dem verwachsenen Jagdrock und mit den klumpig von weißer
+Leinwand umwickelten Waden sah er so komisch aus, daß er selber nicht
+ernst bleiben konnte. Und als man heimritt durch die vom Bachrauschen
+erfüllte Finsternis, leuchteten die beiden milchigen Wickelklötze wie
+führende Laternen.
+
+Gegen Westen, wo der Himmel klar geworden, schimmerten schon die
+Sterne. Über Berchtesgaden und den Zinnen des Untersberges hing noch
+eine schwarze Wolke, in der es manchmal aufdämmerte wie fernes Leuchten.
+
+Aus dem Tal der Ache ritten die Herren gegen die Höhe des Marktes
+hinauf. Und Leupolt Raurisser stammelte erschrocken: »Da droben! Was
+ist denn das? Allmächtiger, das ist Feuerschein! Das Stift und der
+ganze Markt muß brennen.« Die fünf Gäule jagten. Als erster gewann der
+junge Oberst die Kante des Hügels und stand mit seinem Pferde schwarz
+eingezeichnet in diesen seltsam glimmenden Schein, der nicht von den
+Dächern der Stiftsgebäude und des Marktes ausging. Es war ein großes,
+von allen Steinspitzen, Felskanten und Baumwipfeln ausströmendes
+Elmsfeuer, gleich einem gebänderten Nordlicht um die breite Zinne
+des Untersberges herumgewunden, mit zarten Purpurstrahlen, die sanft
+hinaufzüngelten gegen die glimmenden Säume der schwarzen Wolken. Das
+war anzusehen, als trüge der Untersberg eine geisterhafte Riesenkrone,
+die, kaum daß sie zu schimmern begonnen hatte, schon wieder zu
+versinken begann im schwarzen Dunkel. Während die Herren in Erregung
+debattierten, lallte der abergläubische Hiesel Schneck: »Herr Jesus!
+Leupi! Was kann denn das sein?« Ein froher Atemzug. Und eine Stimme wie
+der Klang eines Betenden: »Der Kaiser im Untersberg hat eine freudige
+Seel. Die leuchtet so.«
+
+Für den ganzen Rest des Heimrittes beherrschte die wundersame
+Lichterscheinung das Gespräch der Herren und überschimmerte auch wie
+Weihe den Abschied, den sie vor dem Leuthaus voneinander nahmen. Der
+grüblerische Ernst des jungen Obristen schlug erst wieder um in seine
+knabenhafte Heiterkeit, als er auf seinem Bette saß und sich die
+Stiefel herunterziehen ließ, während ihm Danckelmann das Rekreditiv
+Seiner Liebden vorlas:
+
+»Durchlauchtigster König! Eure Königliche Majestät, besonders gnädiger
+Herr! -- Was Ew. Königliche Majestät zu Faveur Unserer in dero
+Königlich- und Chur-Fürstlichen Lande auf Veranlassung einer Religions-
+und Gewissens-Freyheit emigrirenden Unterthanen vorschrifftlich an
+Uns gelangen lassen, hat der anhero geschickte Geheime Hof-Rath von
+Danckelmann behöriger Orten geziemend überreichet, und gleich wie
+Wir sowohl in Regard Ew. Königlichen Majestät höchst-venerierenden
+Vorschreibens, als auch derer selbst redenden Völker-Rechts-, auch
+Civil-Gesätzen gemäß denen Emigranten das Ihrige angedeyen zu lassen,
+Unserer desfalls eigen aufgestellten Comission die angemessenen
+Befehle ertheilet, sofort dieses Geschäfft durch die sorgfältige
+Negotia gedachten abgeordneten Geheimen Hof-Raths nunmehro zu seiner
+vollkommenen, Zweiffels ohne vergnügten Endschafft gediehen, mithin
+demselben seiner dabey bezeigten Conduite halben ein anständiges
+Zeugnis zu ertheilen Anlaß nehmen, und Uns der Hoffnung erleuchten,
+Ew. Majestät möge in Höchstdero so wohlexerzierter wie forchtbarer
+Armee noch viele dermaßen hartnäckig und viktorios battaillirende
+Offiziers als Höchstdero juchendligen und musikalischen Obrigsten
+von Berg possediren, allso zweiffeln auch nicht, es werden Ew.
+Königliche Majestät diese _ultra viniculum instrumenti pacis_ demselben
+begünstigte Zubilligung so ansehen, wie Wir ambirt haben, das
+Königliche hohe Vor-Wort mit ersinnlichster Hochachtung erfüllen zu
+mögen, und damit verbleiben
+
+Von Gottes Gnaden des Heiligen Römischen Reichs Fürst, Probst und Herr
+zu Berchtesgaden
+
+ Ew. Königlichen Majestät
+ allzeit Dienst-geflißnister
+ Cajetan Antoni.«
+
+Die beiden Hände auf die Schenkel klatschend, platzte der junge Oberst
+los: »I Jott, wat for 'ne Gedärmverwicklung.« Er wurde ernst. »Wüßt
+man nich, daß es deutsch is, man möcht es nich glooben.« Dem Geheimrat
+zunickend, streifte er die Reithose von den mageren Beinen und
+huschelte sich unter das ungetüme Federbett. Nach Gewohnheit brachte
+der Soldat das Lederetui mit der Elfenbeinflöte zum Nachtgebet. »Nee,
+Hänne, laß man heute! Wir wollen musikalisch nich weiter in schlechte
+Reputation jeraten. Um Viere weckste! Ick reite vor Tag.« Er drehte
+sich lachend gegen die Wand. Nach Art eines memorierenden Schülers, dem
+ein Stück Weisheit nicht hinein will in den Schädel, wiederholte er mit
+halblauter Stimme mehrmals die schöne Wortbildung: »Dienstgeflißnister,
+dienstgeflißnister, dienstgeflißnister --« Ein munteres Aufkichern. »Na
+also! Et jeht _en avant_ mit's Deutsche.«
+
+
+
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+Kapitel XXXI
+
+
+Bei grauendem Morgen brannte die Lampe in der Wohnstube des
+Mälzmeisterhauses. Der alte Raurisser, mit rotglühendem Kopf, saß
+im Herrgottswinkel, wickelte kleine Geldrollen und stopfte sie in
+eine neue Lederkatze, die aussah wie ein Tiroler Bauerngürtel. Mit
+buntem Garn waren die Anfangsbuchstaben von Leupolts Namen und sein
+Geburtsjahr 1707 eingestickt; und rechts und links eine Gemse, die mit
+enggestellten Läufen auf einem spitzigen Kegelchen stand. Immer dicker
+und schwerer wurde der schöne Schatzbehälter. Und als der Meister beim
+Wickeln seufzend eine Pause machte, sagte Mutter Agnes, mit Augen und
+Stimme bettelnd: »Gib, Alterle, gib! Sein Weg ist weit.« Der Meister
+wickelte wieder. Und Frau Agnes packte. Zwei große Rucksäcke standen
+schon fertig geschnürt auf der Fensterbank. Jetzt füllte sie mit
+zitternden Händen den dritten Sack und huschte immer wieder davon,
+um ein für ihren Buben brauchbares Stück zu holen, das ihr noch
+einfiel. Als der kugelrunde Sack verschnürt war, packte sie alles, was
+die Magd mit verheulten Augen als Zehrungsbeitrag für die Exulanten
+herbeischleppte, in den großen Wäschekorb auf der Ofenbank: geselchtes
+Wildbret, geräucherte Saiblinge, Schinken und Speckwürste, ein paar
+hundert hartgesottene Eier, Schmalzbüchsen und Buttertöpfe, Salzdüten,
+Schnapsgutter und Weinflaschen, Brotlaibe und süße Wecken. Immer war es
+der Mälzmeisterin noch zu wenig. »Lauf, Mädel, und bring! Da muß man
+geben!« Zustimmend tackte die Gottsaugenuhr an der Mauer: »Tu's! Tu's!
+Tu's!« Ob's der Engel oder das Teufelchen sagte, immer klang es mit
+der gleichen heimlichen Freundlichkeit, und immer blickte das rollende
+Gottesauge im Zustand des Wohlwollens gegen die Ofenbank, blickte nur
+finster, wenn es hinüberschielte gegen die lautwerdende Straße. An der
+schönen alten Uhr, die sich in tadellosem Gang befand, war nicht die
+geringste Spur einer irrsinnigen Mißhandlung zu erkennen. Da mußte
+der Pfarrer Ludwig, als er dem Luisli jene sonderbare Uhrgeschichte
+erzählte, entweder an Wahnvorstellungen gelitten haben wie der
+Chorkaplan Jesunder, oder der Pfarrer hatte wieder einmal gelogen,
+diesmal anscheinend ohne Erfolg. Mit Spinozas Lehre von den für das
+Menschenglück ersprießlichen Geschehnissen schien es in diesem Falle
+nicht zu stimmen.
+
+Leupolt kam zur Tür herein, in dem verwitterten Bergjägerkleid, das er
+getragen hatte, als er die preußischen Herren hinaufführte zum Toten
+Mann. »Jetzt bin ich fertig.« Frau Agnes schien nicht zu hören; beim
+Packen beugte sie nur das Gesicht ein bißchen tiefer gegen den Korb
+hinunter. Für den Vater war das ruhige Wort des Sohnes wie ein Stoß
+vor die Brust gewesen. Mit tattrigen Händen schnallte er die zwei
+Kappen der Lederkatze zu. »So, Bub!« Er schob sich aus der Bank heraus.
+»Schau, da ist, was du kriegst von mir. Sei halt ein bißl gescheit und
+gib nit alles für die anderen aus. Für dich muß auch was bleiben.«
+
+»Vergeltsgott! Tust du die Brüder nit verkürzen?«
+
+Der Alte schüttelte den Kopf. »Beredet haben wir schon alles. Machen
+wir's kurz. Ich muß ins Bräuhaus hinüber.« Als er die Arme um den
+Hals des Sohnes legte, war er noch mannhaft. Kaum aber spürte er den
+eisernen Zärtlichkeitsdruck seines Buben, da verlor er alle Fassung,
+wühlte das Gesicht an die Brust des Sohnes und keuchte: »Bub, ich
+wollt, ich tät mitdürfen!«
+
+»Ja, du!« grollte Mutter Agnes beim Packen mit zerdrückter Stimme
+über die Schulter. »Du wärst der Richtige zum Exulieren! Wo du schon
+den Schnaufer verlierst bis hinüber zum Bräuhaus. Möcht wissen, was
+du sagen tätest auf der Wanderschaft, wenn du Wasser trinken müßtest,
+statt Tag für Tag deine fünf Maß Bier.« Nun drehte sie das blasse
+Gesicht und blinzelte dem Sohne zu, daß er's dem Vater leichter machen
+sollte.
+
+»Komm, Vater!« sagte Leupolt ruhig. »Tu dich aufrichten als festes
+Mannsbild! Bloß die Füß laufen von einander fort. Die Herzen bleiben
+allweil beisammen.«
+
+»Bub! Bub!« Meister Raurisser, hin und her geworfen zwischen Zorn und
+Kummer, war einem Schreikrampf nahe. »Alles Gute für dich! Alles Gute
+auf der Welt! Du hast's verdient! Und so einen Buben jagen sie aus
+dem Land! Die Herrgottsakermenter! Wenn sich so was nit strafen tät,
+da müßt unser Herrgott -- Jesus, Jesus, zu was für einem Herrgott
+muß ich denn hinaufschreien?« Er wollte die geballten Fäuste gegen
+die Stubendecke heben und klammerte die Arme wieder um den Hals des
+Sohnes. »Bub! Mein Bub, du mein lieber! Alles Gute für dich -- und
+alles -- Bub, ich kann nimmer, es reißt mir alles auseinander!« Wie
+ein Betrunkener machte er sich los, taumelte gegen die Türe hin und
+brüllte: »Kronäugeln tu ich ins Bier, vergiften tu ich die Unmenschen,
+die rotzmiserabligen!« Er schlug die Türe hinter sich zu, daß es wie
+ein Böllerschuß durch das Haus hallte.
+
+Erschrocken sah Leupolt die Mutter an. Sie schüttelte den Kopf und
+wischte die Tränen von den Wangen. »Auf die Wörtlen därf man beim Vater
+nit gehen. Ist er drüben im Bräuhaus, so sucht er wieder das beste Malz
+für die Herren aus. Wahr ist's, Bub, es hat nit leicht ein Kind auf der
+Welt einen bräveren Vater, wie du!« Mit fahrigen Händen fing sie wieder
+zu packen an. Und Leupolt stand inmitten der Stube, unbeweglich, den
+Kopf zwischen den Fäusten. Nach einer Weile sagte er zaghaft: »Mutter!
+So kann's das Luisli doch nit gemeint haben. Der Einsamkeit zulaufen
+müssen, das ist hart. Meinst du nit, ich sollt noch eine letzte Frag an
+das liebe Mädel tun?«
+
+Erst nach einer Weile konnte Frau Agnes antworten: »Da muß ich
+abraten. Will Gott es haben, so gibt er's. Mag er es nit, so mußt du
+es leiden.« Als sie das Gesicht von dem fertiggepackten Korb abwandte
+und ihren Buben ansah, mußte sie barmherzig sagen: »Fürgestern hab
+ich mit dem hochwürdigen Herrn geredet. Der hofft noch allweil.« In
+der Gottsaugenuhr ein leises Geräusch, wie von einem schnurrenden
+Rädchen; dann schlug die Uhr mit schönen, tiefen Klängen die sechste
+Morgenstunde. Frau Agnes ging auf den Tisch zu und löschte die Lampe.
+»Jetzt müssen wir von einander. Schau, es tagt! Da mußt du auf dem
+Markt beim Brunnen sein, wenn die Notigen und Ratlosen kommen. Du bist
+ihr Helfer und Wegweis.« Ihr Gesicht bekam etwas weiß Versteinertes,
+während sie zur Türe ging und den Riegel vorschob. Stumm, mit müden
+Bewegungen, trat sie an jedes Fenster und zog die blauen Vorhänge
+zu. Eine milde, neblige Dämmerung war in der Stube. Mutter Agnes ging
+zur Gottsaugenuhr, löste die Gewichte von den Schnüren und hängte den
+Perpendikel aus; der Engel und das Teufelchen blieben auf halbem Wege
+stecken, jedes auf der Schwelle seiner Pforte; das Auge Gottes, weder
+böse, noch freundlich, blickte ruhig aus der Mitte des von Strahlen
+umzüngelten Dreiecks, und Mutter Agnes sagte, nicht laut, nur in ihrem
+zerrissenen Herzen: »Die Uhr soll von der jetzigen Stund an nimmer
+schlagen, solang ich noch leb.« Ganz ruhig war sie, als sie auf Leupolt
+zutrat. Von ihrem Schmerz war nichts an ihr zu erkennen; heiß und
+gläubig strahlte die Liebe in ihren Augen. »Bub! Ich kann dich nit
+segnen, wie's deinem Glauben recht ist. Darf ich dich segnen, wie's
+mein Herz versteht?«
+
+»Eine Mutter darf alles.« Er ließ sich hinfallen auf die beiden Knie,
+faltete in einer starren, hölzernen Art die Hände vor der Brust
+und sah mit glänzenden Augen zum weißen Gesicht der Mutter hinauf.
+Wortlos, kaum merklich die stummbetenden Lippen rührend, besprengte
+sie ihrem Sohn den Scheitel, das Gesicht, die Schultern und die Hände
+mit geweihtem Wasser. Und bekreuzte ihm die Stirne, den Mund und die
+Brust. »Im Namen Gott des Vaters, Gott des Sohnes und Gott des heiligen
+Geistes! Ist Gerechtigkeit im Himmel, und da glaub ich dran, so muß die
+gütige Dreifaltigkeit dich hüten auf jedem Weg. An deiner sauberen Seel
+ist nie kein Fleck und Schaden gewesen. Nie hast du ein Ding getan, von
+dem ich sagen hätt müssen: das ist schlecht. Allweil bist du die Freud
+deiner Mutter geblieben --« Die Stimme versagte ihr. Wie von einem
+Frostschauer gerüttelt, beugte sie sich zu ihm hinunter und preßte das
+Gesicht auf seinen Scheitel. »Vergeltsgott, Bub!« Er umklammerte die
+Mutter, ohne einen Laut zu finden, und küßte den Schoß, der ihn geboren
+hatte. Dann sah er zu ihr hinauf. »Dich und mich -- gelt, Mutter -- uns
+schneidet man nit auseinander? Und nit mit der schärfsten Säg.«
+
+Nur den Kopf konnte sie schütteln. Und nun wurde sie von einer
+Verstörtheit befallen, die sich ansah wie Raserei. Die Hände mit
+gespreizten Fingern emporstreckend, schrie Mutter Agnes zur Höhe
+hinauf: »Allmächtiger! Rührst du dich nit ein bißl? Siehst du nit,
+wie's zugeht in tausend Mutterherzen von Berchtesgaden?«
+
+Am verhüllten Fenster ein heftiges Pochen. Und eine Stimme: »Bruder
+Leupi?«
+
+Die beiden in der Stube umklammerten sich stumm. Erst als das Pochen am
+Fenster sich wiederholte, konnte Leupolt antworten: »Wohl! Ich bin noch
+daheim.«
+
+»Geh, komm! Die armen Leut wissen nit aus und ein. Alle schreien nach
+dir.«
+
+»Ich komm.« Er sprang vom Boden auf, umhalste und küßte die Mutter
+-- »Gelt, du Liebe, jetzt muß es sein?« -- vergaß den Rucksack, den
+er tragen sollte, vergaß die Geldkatze und den Zehrungskorb und kam
+auf der Straße gerade zurecht, um ein kränkliches Weib, das zwischen
+schreienden Kindern ohnmächtig geworden war, von der Erde aufzulupfen
+und auf einen Wagen zu heben.
+
+Aus hundert Stuben von Berchtesgaden war der Abschiedsjammer
+herausgetreten über die Schwelle, mit zärtlichem Gestammel und
+Schluchzen, mit Umarmungen, die nicht enden wollten, mit Kindergeschrei
+und Muttertränen, mit erbitterten Zornflüchen und himmelschreienden
+Klagen zerrissener Herzen. Der ganze Marktplatz und alle zuführenden
+Gassen waren unter dem Frühlingsblau und in der milden Morgensonne
+verwandelt zu einer einzigen großen Stube des Menschengrams. Alle
+Glaubensfeindschaft und aller religiöse Gegensatz schien erloschen und
+verschwunden; der Schmerz der Wandernden, die man aus der Heimat jagte,
+war übergeflossen in die Herzen der Bleibenden; in allen war das Gefühl
+der Zusammengehörigkeit wach geworden, die nachbarliche Freundlichkeit
+und das menschliche Erbarmen.
+
+Immer dichter und lärmender füllte sich die lange Marktgasse. Von
+den Armen und Ärmsten, die nicht zu bleiben brauchten, bis Haus
+oder Feld verkauft war, hatten sich Neunhundertundsieben zur ersten
+Schar unter Leupolts Führung gemeldet, Greise, Männer und Weiber,
+Burschen, Mädchen und Kinder. Unter ihnen auch Kranke, die nimmer
+bleiben, nicht länger warten wollten auf den Tag der Seelenfreiheit.
+Ein Bauer hatte seine siebzehnjährige Tochter, die den Fuß gebrochen,
+auf eine Kraxe gebunden und brachte sie auf dem Rücken getragen. Den
+Jakob Aschauer, einen Hundertjährigen, der schon ein Sterbender war,
+mußten seine grauköpfigen Söhne auf den Leiterwagen heben und betten
+im Stroh. Jede Mahnung, zu bleiben und den nahen Tod in der Heimat zu
+erwarten, lehnte der Greis mit harter Handbewegung ab und sagte: »Das
+ist vor Zeiten ein Sprichwort gewesen: Wen Gott lieb hat, den laßt
+er fallen ins berchtesgadnische Land. Jetzt ist eine Zeit gekommen,
+daß aus Berchtesgaden hinauskriechen möcht, wer nimmer laufen kann.«
+Erschüttert durch diese Worte, das Gesicht von Tränen überflossen und
+vom Geist befallen, stieg ein junges Weib auf den Wagen des Greises,
+hob die Arme zum Himmel und begann zu predigen über das Wort: »Gehe
+von deinem Vaterland, von deiner Freundschaft und deiner Mutter Haus
+in ein Land, das ich dir zeigen werde.« Beim Brunnen begannen die
+Evangelischen das Lutherlied zu singen:
+
+ »Ein feste Burg ist unser Gott --«
+
+und auf der anderen Seite der Marktgasse sangen Hunderte das Wanderlied
+der Salzburger:
+
+ »Ich bin ein armer Exulant
+ Und därf daheim nit bleiben,
+ Man tut mich aus dem Vaterland
+ Um Gottes Wort vertreiben --«
+
+Mit dem inbrünstigen Klang der singenden Stimmen, mit dem verzückten
+Lautgestammel des predigenden Weibes und mit den klingenden
+Helferworten des Leupolt Raurisser, der ruhelos von Wagen zu Wagen
+sprang, vermischte sich das Gerassel der verspäteten Karren, das
+Gebrüll der Kühe, das Ziegengemecker und das Blöken der ängstlichen
+Schafe. Der Tier- und Menschentrubel des Brunnenplatzes und der
+Gasse glich dem Bild eines Viehmarktes, dessen Geschäft und Handel
+unterbrochen wurde durch die Nachricht einer bösen, alle Menschen
+verstörenden Landsnot. Köpfe und Arme streckten sich aus allen
+Fenstern, und von überall warf man Kleiderbündel und Päcklein mit Geld
+und Eßwaren herunter auf die Wagen der Exulanten. Aus allen Türen
+kamen Frauen, Männer und Mägde, um herbeizuschleppen, was sie zu
+geben hatten. Pfarrer Ludwig mit seiner Schwester, Lewitter und die
+stumme Lena, die Sus und Meister Niklaus brachten große Körbe. Und
+die Mälzmeisterin, als sie ihrem Buben die Geldkatze um die Hüften
+geschnallt und die Rucksäcke mit dem Zehrkorb untergebracht hatte
+auf dem Scharwagen, unter dessen Bocksitz die eiserne Truhe mit den
+preußischen Hilfsgeldern an die Leitern angeschmiedet war, lief von
+Karren zu Karren: »Ihr guten Leutlen, brauchet ihr noch was?« Sie
+sprang in alle Kaufläden, raffte zusammen, was nötig war, hatte kein
+Geld mehr und mußte immer sagen: »Schreibet nur auf! Ich zahl schon!«
+
+Zwischen Gram und Schluchzen spielten sich Szenen ab, über die man
+in unbedrückter Stunde hätte lachen müssen, und die der Jammer der
+Abschiedsstunde zu einer herzerschütternden Begebenheit machte. Zwei
+Geschwister, die einander verlassen mußten, hielten einen kleinen
+weißen Hund, den sie lieb hatten, am Strickl und stritten verzweifelt
+miteinander, weil ihn jedes dem anderen überlassen wollte. »Nimm ihn,
+um Gottes Barmherzigkeit, so nimm ihn doch, du tust mir was Liebes an!«
+Auf einem Wagen spielte ein ähnlicher Streit, noch tränenreicher, noch
+verzweifelter. Drei Kinder, die beim Vater blieben, hingen am Hals der
+exulierenden Mutter und beschworen sie, den kleinen Käfig mitzunehmen,
+in dem ein Distelfink zwischen den Stäben scheu umherflatterte. »Nimm,
+Mutterle, nimm, du hast das Vögerl so viel lieb, du kannst nit leben
+ohne das Vögerl!« Und die Mutter, von Schluchzen geschüttelt: »Nit!
+Und tausendmal nit! Wandern muß ich nach meinem Herrgotts Willen.
+Euer Vögerl ist nit des Himmels und nit der Höll. Eh tät ich lieber
+sterben am Fleck, eh daß ich meinen Kinderlen die singende Freud aus
+dem Leben tät reißen mögen.« Ihr Schluchzen verwindend, mit den Zähnen
+knirschend, preßte sie den kleinen Käfig zum letztenmal an ihre nasse
+Wange und schlang mit dem anderen Arm die Blondköpfe der weinenden
+Kinder an ihre Brust. Und neben dem Wagen, zwischen einem Ziegenknäuel,
+redete ein junger Bauer mit erbitterten Worten zu seinem blassen,
+unbeweglichen Weib: »Um aller Seligkeit willen, tu dich besinnen im
+letzten Stündl! Weibl, Weibl, bist du denn ganz verloren, daß du mich
+lassen und mit den Luthrischen laufen kannst?«
+
+Die ekstatisch glänzenden Augen zur Höhe gerichtet, sagte sie leis:
+»Ich geh, weil der liebe Gott mich ruft.«
+
+Er klagte: »Weibl, Weibl, du laufst dem Satan zu!« Und weil in ihm
+die Sorge noch größer war, als der Zorn, machte er das schützende
+Kreuzzeichen auf ihre Stirn.
+
+Da sah sie ihm lächelnd in die Augen. »Vergeltsgott, du Gütiger! Jetzt
+kann mir die Höll nimmer schaden. Deine Lieb hat ein heiliges Kreuz
+über mich gemacht.«
+
+Ein alter Mann und eine alte Frau, beide mit bleichen, entstellten
+Gesichtern, hingen an die Arme ihres zwanzigjährigen Sohnes geklammert
+und beschworen ihn zur Reue und zu christlichem Bleiben. Er zog die
+Alten an sich, hielt ihre Köpfe an seine Rippen gepreßt und sagte: »Es
+ist auf der Welt kein Ding, das mir lieber wär als Mutter und Vater.
+Aber Gott ist mehr. Ihr habt euch anders besonnen, und ich tu's nit
+schelten. Jeder so, wie er muß. Ich getrau mich bei eurem Glauben nit
+selig zu werden. Und lügen kann ich nit. Ich tät mich schämen müssen
+vor dem Leupi, der geblutet hat für uns alle. Jedem Redlichen muß die
+Wahrheit heiliger sein als Glück und Leben.«
+
+Das hörte einer, dem dieses verzückte Wort den letzten Blutstropfen aus
+den bärtigen Wangen jagte. »Meister?« stammelte die Sus erschrocken.
+Er sagte zwischen den Zähnen: »Gib! Und gib! Wie mehr, so lieber ist
+mir's. Ich hab einen Weg.« Vorüber an lautem Schluchzen und stillem
+Weinen, vorüber an Zorn und Gram, an Tieren und Menschen. Beim Brunnen
+sah er den Pfarrer und drängte sich hin zu ihm. Der fragte betroffen:
+»Nick? Ist dir nit gut?«
+
+Der Meister sah ihm in die Augen. »So geht's nit länger. Ich kann's
+nimmer hehlen. Ob Ruh oder Elend, ich muß bekennen heut.«
+
+»Dein Gesicht hat mir's kürzer gesagt.« Der Pfarrer legte den Arm um
+den Hals des Freundes. »Tu, was du mußt! Jetzt red ich dir nimmer ab.«
+Seine trauernden Augen irrten über den tausendköpfigen Jammer hin, der
+die Gasse füllte. »Aber was du tun mußt, tu als mutiger Mensch! Der Weg
+zum Listenkommissar ist leicht. Erst geh den härteren zu deinem Kind.«
+
+Der Meister nickte und bot dem Freunde die linke Hand, die lebende.
+Stumm ging er davon und sah nimmer, daß ein leises Lächeln den
+trauernden Ernst im Warzengesicht des Pfarrers milderte. Um sich in
+der langen Gasse nicht wieder vorüberwühlen zu müssen an Menschen und
+Tieren, schritt der Meister hinüber zum gestutzten Hofgarten und suchte
+den Heimweg hinter den Zäunen. Wie das Rauschen eines großen Wassers
+begleitete ihn der klagende Lärm der Marktgasse.
+
+Friedlich umschimmerte die Morgensonne sein Haus inmitten des Gartens,
+in dem die Rosenstauden zu knospen begannen. Der Meister trat in den
+Flur und rief über die Treppe hinauf: »Kind? Wo bist du?«
+
+In der Werkstätte ein erwürgter Laut.
+
+Durch das Fenster mit den verbogenen Eisenstäben flutete eine
+goldschöne Sonnenfülle in den großen, schweigsamen Raum, umglänzte
+die Holzstatue der >heiligen Menschheit< und streifte den Schoß des
+jungen Mädchens, das im ziegelfarbenen Hauskleid hinter dem Spinnrad
+auf der Holzbank saß, ähnlicher dem jungen Tod als einem atmenden
+Menschenkind. Schweigend betrachtete Niklaus seine Tochter, in deren
+Augen eine angstvolle Frage brannte. Dann glitt sein Blick, der wie
+ein gramvolles Abschiednehmen war, über die Mauern, über alles Gerät,
+und blieb an seinem Werke haften: an der schlanken, von dürstendem
+Erwarten durchglühten Gestalt des jungen, ärmlich gekleideten
+Weibes, das die Arme auseinanderbreitet und verklärt einem kommenden
+Wunder entgegenblickt, aus starrem Holz verwandelt zu heißem Leben,
+durchleuchtet von opferwilliger Liebe und hoffendem Glauben. Die Hand
+auf seine Stirne legend, mit einem halb bitteren, halb frohen Lächeln,
+wiederholte der Meister leis die Worte, die er an dieser Stelle vor
+vielen Wochen zu seinem Kinde gesprochen hatte: »Lang muß man harren
+auf Erlösung. Einmal kommt sie.« Er wandte das Gesicht. Sorge und
+Zärtlichkeit waren in seiner Stimme. »Kind! Jetzt muß ich dir sagen,
+was dir hart sein wird.«
+
+Sie schrie: »Was ist ihm geschehen?«
+
+»Wen meinst du? Den Leupi?« Wieder das wehe und dennoch freudige
+Lächeln. »Mußt du schneller an den Leupi denken als an mich? Da
+hab nit Sorg. Der ist ein Aufrechter, geht den Weg seiner redlichen
+Pflicht, hat die Wahrheit im Herzen und ist ein Helfer für hundert
+Leidende. Er geht mit den Ärmsten. Heut. Mit mir hat er nit geredet,
+und ich bring dir keinen Gruß. Was ich dir sagen muß, lieb Kind, geht
+nit um den Leupi. Das geht um dich und mich. Ich muß dir sagen --«
+
+Sie wehrte mit beiden Händen. Das glühende Rot, das ihre Wangen
+überflossen hatte, war wieder verwandelt in wächserne Blässe. »Vater!«
+Für einen Augenblick überkam's ihre Sinne wie Schwindel. »Ich hab
+verstanden. Du bringst dein Herz nit über den heutigen Tag hinüber. Du
+mußt -- bekennen?«
+
+»Ja.« Er trat zu ihr hin. »Und daß ich nimmer lügen kann? Auch nit um
+deinetwillen? Kind? Muß deine fromme Seel mich drum verdammen?«
+
+Sich zusammenkrümmend, preßte sie das Gesicht in die Hände, schüttelte
+den Kopf und klagte: »Bloß ein Einziger weiß, wie alles ist. Ich such
+es allweil und kann's nit finden. Dich hab ich lieb ohne Reu und
+Schmerzen. Mehr weiß ich nimmer.«
+
+Da sprang er zu ihr hin, warf sich vor ihr auf die Knie, zog ihr die
+Arme herunter, küßte lachend ihre Hände, die naß waren von ihren
+Tränen, sah zu ihren schwimmenden Augen hinauf, schmiegte das Gesicht
+an ihre Schulter und stammelte: »Kind! Jetzt hast du deinem Vater das
+Leben geschenkt. Und der Weg, den ich tun muß um der Wahrheit willen,
+ist mir ein leichter und schöner.« Sich erhebend, umschlang er sie,
+küßte ihre Wange, ihre Stirn, ihre Augen -- sprang mit frohem Auflachen
+zur Tür hinüber und war verschwunden.
+
+Unbeweglich saß Luisa auf der Bank und sah die Tür mit erloschenen
+Augen an, als wäre alles Denken in ihr zerdrückt. Da quoll in der
+schönen Sonne, die ihren Leib umflutete, durch die Mauern ein Rauschen
+zu ihr herein, das leis die Fensterscheiben erzittern machte. War
+es das Brausen eines stürzenden Baches? Oder der ferne Lärm von
+tausendstimmigem Menschengeschrei, in dem alles war, nur Freude nicht?
+
+»Vater!« Bei diesem gellenden Laut voll Schreck und Grauen griffen
+ihre Hände gegen die Türe hin. »Vater! Vater! Vater!« Das Spinnrad
+fortstoßend, daß es über die Dielen kollerte, sprang Luisa von der
+Bank, jagte über die Schwelle, jagte mit gestreckten Armen hinaus
+in die Sonne. »Vater! Vater!« Wie eine Verzweifelnde hetzte sie an
+der Gartenplanke hin, gegen den Markt hinüber, in dem roten wehenden
+Kleid, einer fliegenden Flamme gleich, und war nicht die einzige, die
+so rannte, so verstört und ganz von Sinnen. Überall, auf der Straße,
+auf den Fußwegen, auf den Wiesen, überall sah man viele springende
+Menschen, die aufgeregt mit den Armen fuchtelten und wirre Worte
+kreischten, als wäre ein großes Schadenfeuer ausgebrochen, das alle
+Dächer und jedes atmende Leben bedrohte. Auch dröhnende Schläge, wie
+beginnender Feuerlärm! Auf drei Türmen fingen alle Glocken zu läuten
+an und füllten die sonnigen Lüfte mit schwebendem Hall. Sollte das
+ein mahnender Abschiedsgruß der Kirche an die wandernden Seelen sein,
+die sie verlor? Oder war es ein pröpstliches Freudengeläut, das die
+Reinigung des berchtesgadnischen Landes von allem Irrglauben verkündete?
+
+Bei der Reichenhaller Straße kam Luisa nimmer weiter. Zwischen anderen
+Menschen, welche weinten oder beteten, stand sie an die Scheunenmauer
+des Leuthauses gepreßt, mit angstvoll erweiterten Augen im blassen
+Gesicht, keiner Handbewegung und keines Lautes fähig. Ihr gegenüber
+lugte über den Ziegelbord der sekreten Mauer das stille, ausgeräumte
+Unlustschlößchen der weiland Allergnädigsten mit niedergelassenen
+Jalousien hervor, und zwischen der weißen Mauer und dem versteinten
+Mädchen war die enge Straße vollgepfropft durch Menschen, Tiere und
+Karren, durch den vorwärts drängenden Zug der Exulanten, dem vier
+rotjoppige Burschen mit ledernen Reisetaschen, mit schweren Rucksäcken
+und langen Wanderstecken voranschritten, auf den grünen Bubenhüten
+die ersten Blumen des Frühlings, mit rotgeränderten Augen in den
+erbitterten Gesichtern. Einer von den Vieren sang mit der Stimme eines
+Wahnsinnigen, zwei waren stumm und ließen die Köpfe hängen, der vierte
+kreischte immer wieder die zwei gleichen Worte gegen die strahlende
+Sonne hinauf: »Gottsheilige Himmelsfreud! Gottsheilige Himmelsfreud!«
+Nur Leute, die ganz in der Nähe waren, verstanden diese Worte. Wie
+bei einer Hinrichtung das Trommelgerassel den letzten Schrei des
+Verurteilten erstickt, so übertönten die läutenden Kirchenglocken allen
+klagenden Zorn und Jammer dieser Stunde, in welcher tausend gläubige,
+redliche Menschen die Heimat verlieren mußten, an der sie hingen mit
+Blut und Seele.
+
+Daß jeder Seufzer, jedes Wort und jeder Schrei erlosch in der
+wogenden Glockenfülle, das milderte den erschreckenden Vorgang
+dieses großen Jagens nicht, das sich ohne Hifthörner, ohne gelitzte
+Jägergala und ohne französische Reimsprüche vollzog und dennoch
+mehr des menschlichen Herzblutes verschüttete, als draußen in der
+Schönheitsrunde des Hintersees an rauchendem Wildblut hineingeronnen
+war in den Frühlingsboden des deutschen Waldes. Weil alle Menschenklage
+versank im Glockenhall, im Rädergerassel und Viehgeplärr, verwandelte
+sich das Bild des gramvollen Zuges zu einem grausam durchschauerten
+Anblick, der schreiende Farben hatte und dennoch wirkte wie ein
+stummes, unbegreifliche Schattenspiel. Auf den Karren und Wagen
+hielten verstörte Menschen einander umschlungen, drehten immer die
+Gesichter nach rückwärts und deuteten mit zuckenden Armen; die im Stroh
+gebetteten Kranken machten sinnlose Handbewegungen und versuchten sich
+aufzurichten; Bleibende, die von den Exulierenden nicht lassen konnten,
+liefen zwischen den Viehtreibern und den von Staub überqualmten Tieren
+umher, umarmten unersättlich die Scheidenden, hingen mit einer Hand
+an die Wagenleitern geklammert und griffen mit der anderen unter
+unverständlichen Worten immer zu den Weibern und Kindern hinauf, die
+droben saßen auf den Brettern. Hinter dem Scharwagen des Zuges, dem
+letzten aller Karren, kam der vielhundertköpfige Schwarm der Rüstigen,
+der Männer, Weiber und Kinder, die nicht zu fahren brauchten, sondern
+den heimatlichen Boden verlassen konnten auf den eigenen Sohlen. Die
+Zahl der Wandernden hatte sich verdreifacht durch die für immer, oder
+nur bis zum Tage des nächsten Exulantenzuges Bleibenden, und sie hingen
+Arm in Arm an den Wanderleuten, um einem Vater, einer Mutter, einem
+Bruder, einer Schwester noch das Geleit zu geben für eine Strecke des
+bitteren Weges.
+
+Hinter dem Zuge schritt Leupolt Raurisser als der Letzte. Er ging
+gebeugt, wie bedrückt von einer schweren Bürde. Vier schwarzweiße
+Bänder wehten von seinem Jägerhut, als Zeichen des Führers. An den
+Knauf seines langen Wandersteckens hatte ihm Frau Agnes ein rotes
+Aurikelsträußchen gebunden. Er hielt den Arm um die Mutter gelegt,
+die ohne Haube, mit zerrauftem Grauhaar neben ihm herschritt und das
+blasse, von schmutzigen Tränenstrichen überzogene Gesicht an seiner
+Schulter liegen hatte. Diesen zwei Letzten folgte noch ein Gedränge von
+Kindern und Leuten, stumm, mit scheuen Augen, wie weltfremde Menschen
+in erschrockenem Staunen herlaufen hinter den Affen und Kamelen
+eines niegesehenen Gauklerzuges. Als dieser stille Schwarm unter dem
+schönen Glockendröhnen sich vorüberschob an der sekreten Mauer des
+frühlingsblühenden und doch verwelkten Freudengärtleins Seiner Liebden,
+straffte sich plötzlich der gebeugte Körper des jungen Jägers. Unter
+den Menschen, die neben dem Zuge dichtgepreßt an der Scheunenwand des
+Leuthauses standen, hatte Leupolt das mohnfarbene Kleid gesehen.
+
+»Bub?« fragte Frau Agnes und sah zu ihm hinauf.
+
+»Nichts, Mutter! Komm!« Er legte den Arm noch fester um die Zitternde.
+Bei ruhigem Weiterschreiten drehte er das ernste Gesicht und blickte
+über den grauen Scheitel der Mutter hinüber zu dem rotleuchtenden
+Farbenfleck an der Scheunenwand. Ein wehes Zucken irrte um seinen Mund.
+Kein Laut. Nur sein Herz und seine heißen Augen hatten gesprochen: »Du
+da drüben. Dich soll der Herrgott schützen und hüten! Mein Glück ist
+tot, nur meine Pflicht lebendig.«
+
+Die Glocken dröhnten. Ihr Hall umschleierte den Lärm des Zuges, jeden
+klagenden Menschenruf und jeden Schrei der getriebenen Tiere. Nur
+dieses ungesprochene Wort erstickten die stimmgewaltigen Glocken
+nicht. Wie klingendes Feuer war es aus trauernden Augen in eine zu Tod
+erschrockene Mädchenseele gefallen.
+
+Das Staubgewölk des Zuges qualmte weiter und weiter gegen die
+Reichenhaller Straße hinaus. Die Menschen, die zu beiden Seiten des
+Weges gestanden, begannen sich zu verlaufen. Die Glocken verstummten.
+Und noch immer stand Luisa an der Balkenwand, unbeweglich, rot, wie im
+Blut ihres Leidens angenagelt an die Mauer. Von den Bleibenden, die den
+Exulanten das Geleit gegeben, kamen schon viele zurück, die einen blaß
+und stumm, andere unter aufgeregtem Schwatzen, wieder andere mit den
+Händen vor den Augen. Immer dünner wurde die Reihe der Heimkehrenden.
+Jetzt kam eine einsame Frau mit grauem Scheitel. Sie ging so still
+und ruhig, als hätte der Jammer der verwichenen Glockenstunde keine
+Gewalt über sie gewonnen. Nur ihre Hände taten etwas Widersinniges.
+Wie Fieberkranke seltsam mit irgend einem Dinge spielen, so zog Frau
+Agnes den Saum ihrer Schürze durch die zitternden Finger, hin und her,
+wie eine müde Näherin einen langen Faden zieht. Nun blieb sie stehen,
+nicht erschrocken und nicht erfreut. Hatte sie geträumt? Oder hatte sie
+dieses leise Wort, das der letzte Laut ihres Sohnes gewesen war und
+noch immer nachklang in ihrem bedrückten Herzen, wirklich vernommen?
+
+»Mutter?«
+
+Sie wandte das Gesicht gegen die Scheune hin, ihre gütigen Augen wurden
+streng, und während die Tränen langsam über ihre Mundwinkel kollerten,
+betrachtete sie das unbewegliche Mädchen und sagte ruhig: »Mutter? So
+soll jedes ärmste, gottverlassene Elendskindl sagen dürfen zu mir. Du
+nit!« Der Kopf sank ihr auf die Brust, und so ging sie davon, immer
+tiefer gebeugt, den Saum der Schürze durch ihre Finger ziehend.
+
+Leute, die an der Scheune vorübergingen, verhielten sich und sprachen
+zu Luisa, barmherzig und erschrocken. Sie hörte keinen Laut, sah
+keinen Menschen. Ihr klagender Blick irrte umher, mit einem Ausdruck
+des Entsetzens, als wären alle Bilder und Dinge der Welt etwas
+Fremdes, etwas Unbegreifliches und Quälendes für sie geworden. Lautlos
+betend klammerte sie vor der Brust die Hände in einander, fing zu
+schreiten an und fand nach einem verstörten Hin und Her den Weg zum
+Haus ihres Vaters. Immer rascher wurden ihre Schritte. Als sie zu
+den Bretterplanken des Gartens kam, begann sie zu laufen, begann in
+unverständlichen Worten zu lallen, rannte sinnlos dem Haus entgegen,
+streckte die Hände und schrie mit erwürgter Stimme immer wieder die
+zwei gleichen Worte: »Vater, Sus! -- Vater, Sus!« Kein Laut im Haus.
+Sie lief in die Küche. »Vater! Vater!« Sie jagte zurück, stieß die Tür
+der Werkstätte vor sich auf, sah das von Sonne umglänzte Holzbild der
+>heiligen Menschheit< und schrie mit der schrillen Stimme eines zu
+Tod geängsteten Kindes: »Sus? Barmherzige Sus? Wo bist du?« Keuchend
+hetzte sie über die Treppe hinauf, rüttelte an der unverschlossenen
+Tür der Wohnstube, ohne sie öffnen zu können -- »Vater! Vater! Vater!«
+-- sprang in ihre Kammer, riß das ziegelfarbene Hauskleid von sich
+herunter und kleidete sich in Hast, als wäre ein hoher Feiertag
+erschienen und sie müßte zur Kirche gehen. Unter heißem Schluchzen,
+das sich anhörte wie ein glückseliges, nur etwas unbehilfliches Lachen,
+warf sie sich auf den Boden hin, schlug an ihrem kleinen Klosterkoffer
+den Deckel auf und nahm das brennende, von Tränen überströmte Gesicht
+zwischen die Hände, um aus ihrem verstörten Kopf herauszugrübeln: was
+man braucht auf einem weiten, weiten, viele Wochen währenden Wanderweg?
+
+Nur nach dem Allernötigsten griff sie: nach dem wächsernen Jesuskind
+und nach der goldglitzernden Madonna. Voll Inbrunst küßte sie jedes der
+zwei heiligen Bildwerke, bevor sie es achtsam einwickelte in linde,
+verläßliche Wolle. Dazu die kleinen Leuchter, das silberne Ämpelchen
+und die künstlichen Blumen, sieben Heiligenbilder und die Silhouetten
+des Vaters und der Mutter, die über dem Bett gehangen, und die der
+Vater mit seiner linken Hand geschnitten hatte, bevor sein Kind zu ihm
+heimkehrte aus dem Kloster. Nach der Hetze dieser Arbeit sprang sie
+zum Fenster und lauschte gegen die Reichenhaller Straße. Der Lärm des
+Exulantenzuges klang nur noch wie mattes Summen aus weiter Ferne.
+
+»Hilf mir, hilf mir, heilige Gottesmutter, oder ich komm zu spät!«
+
+Mit dem Einpacken des Weihbrunnkesselchens ging es so flink, daß sie
+es vorher zu leeren vergaß. Der Klosterkoffer war nicht wasserdicht,
+unten tröpfelte es merklich heraus. Dafür hatte Luisa keine Augen,
+weil sie besonders sorgfältig die Weihwasserflasche, die sie nach der
+schrecklichen Warnung der Gottsaugenuhr aus der Kirche heimgebracht
+hatte, mit zwei Paar Strümpfen überziehen mußte. Da lag nun alles,
+was ihr heilig, kostbar und unentbehrlich war, wohlgeborgen in ihrem
+Koffer. Und jetzt dazu, was noch Platz hatte an Kleidern, Wäsche,
+Schuhen und täglich nötigen Dingen. Dann sprang sie wieder zum Fenster
+hin und lauschte hinaus in die milde Sonne. Außer dem Lärm der Nähe
+war kein Laut mehr zu hören. Auf der Reichenhaller Straße alles still!
+Totenstill! In Schreck, in neuer Verzweiflung flog sie zur Tür und
+schrie, daß es hallte in der Stille des Hauses: »Vater! Vater!« Keine
+Antwort kam. Sie jagte über die Treppe hinunter. Und wieder in die
+Werkstätte. »Vater!« Hinaus in den Garten. »Vater! Vater!« Da kam
+ihr die Besinnung: der Vater ist gegangen, um zu bekennen, um sich
+einzuschreiben in die Liste der Evangelischen. Diesen Gedanken empfand
+sie wie ein tröstendes Glück. Und morgen wird der Vater nachkommen,
+vielleicht noch heute. Und wer, wie ihr Vater, so mild und menschlich
+über alle Dinge des Lebens urteilt, wird es verstehen, daß man den
+Leupi keine Nacht mit so sterbenstraurigen Augen erleben lassen darf.
+
+Diese Wahrheit gab ihr Tapferkeit und Ruhe in das irrsinnig hämmernde
+Herz. Die Ruhe währte aber nicht länger, als bis Luisa droben war
+in ihrer weißen Kammer. Sie selber wußte nicht, wie es kam. Es war,
+als hätte an der weißen Mauer, nur sichtbar für ihre fromme Seele,
+eine warnende Schrift zu brennen begonnen. Das Gesicht mit den
+Händen verhüllend, fiel sie auf den Boden hin, geschüttelt von einem
+Schluchzen, das ihr junges Leben zu zerreißen drohte. Und da streckte
+sie schon die Hände, um alles für die weite, schöne Wanderung Gepackte
+wieder herauszuzerren aus der tröpfelnden Klostertruhe. Plötzlich
+waren ihre Finger unbeweglich. Ihre Tränen versiegten. Ein frohes,
+glückliches Leuchten war in ihren Augen. »Lang muß man harren auf
+Erlösung! Einmal kommt sie.«
+
+Vor Luisas Abreise aus dem Kloster hatte die gütige, kluge,
+fürsorgliche Frau Oberin auf der Innenseite des Kofferdeckels ein
+geweihtes, von jungfräulichen Rosen umwundenes Schutzengelbild
+festgekleistert und sogar noch mit goldfarbenem Lack überstrichen,
+damit es nur ja nicht mehr herunterfallen könnte und für den frommen
+Klostervogel ein verläßlicher Wegweis bliebe in allen Gefahren der
+bösen Welt. Mit einer langen Stange, die unten eine Lanze und oben
+eine Fahne war, durchstach der geharnischte und geflügelte Schutzengel
+die Herzgegend einer drachenförmigen Schlange. Und die Fahne trug in
+gotischen Lettern den wunderwirkenden Spruch:
+
+ »Wo auch der bös Feind Uibles sinnt,
+ Dein Engel wird ihn gstillen.
+ Was frumb dein truies Herz beginnt,
+ Ist allweil sHimmels Willen.
+ Seel, laß dein Glück nit zagen,
+ Gott wirz auf Händen tragen,
+ Hab rechten Mut
+ Und sEnd ist gut!«
+
+Wie kann doch ein Schutzengel, wenn's nur der richtige ist,
+vieltausendmal hilfreicher und klüger sein, als eine Nürnberger
+Gottsaugenuhr! Und wie die liebe herzensgute Frau Oberin sich freuen
+würde, wenn sie wüßte: daß ihre treue Fürsorge ein junges Menschenglück
+gerettet hatte, das schon zerbrechen wollte zum siebenten und letzten
+mal! Heiß beseligt, in dankbarer Freude, küßte Luisa das erlösende
+Bild. Dann flink den Deckel zu und den Schlüssel abgezogen. Den
+spanischen Hut mit dem weißen Federtuff übers braunblonde Haar, den
+grünen Radmantel um die Schultern! Und während die schmalgewordenen
+Mädchenwangen glühten wie am Johannistag die Rosen im Garten, lernte
+der kleine Klosterkoffer kennen, was eine Schlittenfahrt ohne Schnee
+bedeutet. Mit schrillendem Rutsch ging's über die Schwelle der
+jungfräulichen Kammer hinaus, durch den Oberstock, über die Treppe
+hinunter, und überall auf der hurtigen Glücksreise ließ der pfeifende
+Wanderschlitten eine feuchte Tröpfelfährte hinter sich zurück.
+
+»Vater! Vater! Vater!«
+
+Flink hinein in die Werkstätte. Mit einem Rötelstift, der zum
+Handwerkszeug des Meisters gehörte, schrieb Luisa auf die
+weißgescheuerte Spinnbank: »Lieber Vater! Ich bins derweilen
+vorausgewandert, weils den Leupi seine traurichen Augen nich därf
+warten laß übernacht. Gelt du kommest bald. In Glück und Freiden
+dein erlösenes Kint.« Schöner und fehlerfreier, als es auf der Bank
+geschrieben stand, klang das in Luisas brennendem Herzen. Sie hatte
+bei der klugen, fürsorglichen Frau Oberin besser beten als schreiben
+gelernt.
+
+Eine Vaterunserlänge später bekamen viele Berchtesgadener eine
+atemlose und einsame Exulantin zu sehen, deren Anblick niemand zu
+Gram und Zorn bewegte, niemand erschütterte zu Tränen. Wie das junge,
+bildhübsche Mädel im grünen wehenden Radmantel, mit erhitztem Gesicht
+und strahlenden Glücksaugen ihren kleinen, träufelnden Koffer auf einem
+großen Schubkarren in sehnsüchtiger Ungeduld über die Reichenhaller
+Straße hinausradelte, das war mehr als ein liebliches, war ein
+ergreifendes Bild. Dennoch erschien es den Leuten so komisch, daß sie
+zuerst verwundert gucken, dann heiter schmunzeln und schließlich ohne
+jedes Zartgefühl darüber lachen mußten. Während in einem erlösten
+und beglückten Erdenkind von allen schönen Träumen des Lebens der
+allerschönste zur Wahrheit wurde, kamen törichte Menschen zu der völlig
+unzutreffenden Vermutung: diese verspätete und drum so eilfertige,
+immer betende, weinende und lachende Emigrantin hätte einen reichlichen
+Schoppen über den für ein Mädchen zulässigen Durst getrunken.
+
+Wenn es so schwer fällt, das Natürlichste des Natürlichen klar zu
+erkennen? Wie darf man sich wundern darüber, daß dem Menschengeist
+zuweilen auch bei den Klarstellungen des Übernatürlichen ein
+wesentlicher Irrtum widerfährt?
+
+
+
+
+Kapitel XXXII
+
+
+Nach allem Seelensturm des verflossenen Morgens lag die Sonnenstille
+des Mittags über dem leeren Haus des Meisters. Die heimgekehrten
+Schwalben umflogen den First, bauten an ihren Nestern oder saßen
+rastend auf den geschnitzten Holzzieraten des Giebels.
+
+Die Elfuhrglocke hatte schon geläutet, als Meister Niklaus herüberkam
+vom Leuthaus. Die Sus, mit dem großen leergewordenen Korb über den
+Zöpfen, betrachtete immer wieder in Sorge den wortlos vor sich
+hinbrütenden Mann an ihrer Seite. Von der Freude, mit der er die
+Hände seines verständig gewordenen Kindes geküßt hatte, war nichts
+mehr an ihm zu merken. Auf den Erlösungsjubel, den ihm das offene
+Bekenntnis seines Glaubens in die Seele gegossen, war ein drückender
+Stein gefallen. Seiner Einzeichnung in die Exulantenliste hatte man
+kein Hindernis bereitet, hatte auch der Sus keine Schwierigkeiten
+gemacht, als sie ruhig und entschlossen ihre paar Buchstäbchen dicht
+unter den Namen des Meisters kritzelte. Wegen seines Kindes erklärte
+die Kommission: die Jungfer Zechmeister wäre als notorische Katholikin
+in zureichenden Jahren, um selbst über ihr Schicksal entscheiden
+zu können. Des weiteren müsse der Meister bedenken, daß man einen
+so geschickten und notablen Künstler nicht über die Landesgrenze
+ziehen lassen könne, auf die Gefahr hin, daß er die berchtesgadnische
+Holzschneidekunst im Auslande verbreite, zur Schädigung der Heimat
+und zum Nutzen der Augsburgischen, der Nürnberger oder gar der
+preußischen _industria_. Die Entscheidung der Kommission hatte einige
+Ähnlichkeit mit dem vom Grafen Saur über den Mälzmeister gefällten
+Urteil: »Glaub er, was er wolle, und brau er uns auch fürderhin eine
+so bekömmliche Biersorte wie bisher.« Wenn der Meister sein illustres
+Kunstvermögen der Heimat treu erhalte, wolle man ihm in Glaubenssachen
+keine fühlbaren Diffizilitäten bereiten; wäre aber sein Entschluß
+zur Exulation ein unabänderlicher, so könne sein Auszug nur erfolgen
+unter zureichender Kautionsstellung für allen Schadenersatz und nach
+Ablegung eines heiligen, von zwei Bürgen unterstützten Eides: daß er im
+Ausland für alle Lebenszeit auf jede Betätigung seiner Kunst verzichte.
+»Ihr Herren, das heißt mein Leben erwürgen!« Ein Achselzucken war die
+Antwort.
+
+Vor seiner Haustür blieb Meister Niklaus in der Sonne stehen, beugte
+den Kopf und bedeckte die Augen mit der linken Hand. Die Sus wurde
+bleich bis in die Mundwinkel. Aber sie hatte doch die Kraft, um ruhig
+zu sagen: »Ich mein', der Meister sollt sich zu seiner schönen Arbeit
+stellen. Da ist ihm noch allweil jedes harte Ding ein trägliches
+worden. Ich schaff derweil, daß der Meister nit warten muß auf die
+Mahlzeit.«
+
+Er nickte. »Ja, gute Sus! Vergiß auch nit, daß der Hochwürdige und
+seine Schwester zum Essen kommen. Da ist noch Zeit, daß ich reden
+kann mit dem Kind. Wir müssen's nehmen, wie es ist. Heut haben wir
+so viel an Seelennot und Elend umlaufen sehen, daß wir nit klagen
+dürfen, wenn uns ein schmerzhaftes Steinl hineingedruckt wird in den
+eigenen Leib.« Er öffnete die Tür seiner Werkstätte. »Kind?« In dem
+großen Raume blieb es still. Der Meister rief in den Flur hinaus:
+»Das Kind muß droben in seinem Stübl sein. Gelt, sag ihr, sie soll
+zu mir herunterkommen, gleich!« Draußen huschte die Sus über die
+Stiege hinauf. Der Meister vertauschte den Gassenrock mit dem leichten
+Arbeitskittel und band das lederne Schurzfell um. Eine Weile stand er
+unbeweglich und betrachtete sein fast vollendetes Werk: die >heilige
+Menschheit<. Schon dieses stille, halb zufriedene, halb mißtrauisch
+forschende Sinnen schien ihm die drückende Seelenlast des Augenblicks
+zu erleichtern. Er hörte nicht, daß droben die Sus ein paarmal den
+Namen seiner Tochter schrie. Aufatmend griff er nach dem schweren
+eisernen Schlägel und wollte unter den vielen Meißeln das Hohleisen
+aussuchen, das er brauchte, um eine Gewandfalte zu vertiefen. Da sah
+er das umgeworfene Spinnrad und ging, um es aufzuheben. Von der weißen
+Spinnbank leuchtete ihm die rote Schrift entgegen, der Glücksbrief
+seines ausgewanderten Kindes. Er las. In der Faust den eisernen
+Schlägel, stieß er einen tonlosen Laut aus der Kehle.
+
+Da stürzte die Sus mit entfärbtem Gesicht in die Werkstatt: »Meister
+--« Die gleichen Worte, die sie ihm hatte sagen wollen, schrie er
+selbst: »Das Kind ist fort! Ist dem Glück und dem Leupi zugesprungen.«
+Auflachend und doch mit schwimmenden Augen, schleuderte Niklaus den
+schweren Schlägel zur Werkbank hinüber. Und während die gewichtige
+Eisenmasse gegen den bankförmigen Unterbau der Statue schmetterte, riß
+er das Schurzfell herunter und sprang zur Türe.
+
+»Das Gassenröckl!« Die Sus raffte den braunen Rock vom Sessel und
+wollte dem Meister nachspringen. Hinter ihr ein Knirschen, wie wenn
+ein Brett in Splitter geht. Sus drehte das Gesicht und sah, daß
+die Statue der >heiligen Menschheit< sich zu bewegen begann, als
+hätte sie jede Hoffnung auf den Himmel verloren und möchte sich mit
+ausgebreiteten Armen niederneigen zur treueren Erde. Der Stoß des
+Eisenschlägels hatte den Unterbau schief gedrückt; das viele Zentner
+schwere Gewicht der Statue knickte das schräge Brett, und die Bildsäule
+drohte vornüber zu stürzen. »Meister!« schrie die Sus mit gellendem
+Laut, sprang gegen die Werkbank hin, um das Unglück zu verhüten, und
+fing mit Brust und Armen das fallende Bildwerk auf. Sie war ein festes,
+kraftvolles Mädel, die Sus. Dennoch brach sie unter dem Stoß, mit dem
+die schwere Holzmasse gegen ihren Körper schlug, auf die Knie hinunter.
+»Meister! Meister!« Immer schrie sie, immer schwächer klang ihre
+Stimme. Mit dem Rest ihrer schwindenden Kräfte hielt sie die Statue
+umklammert, um zu hindern, daß die Bildsäule gegen den Boden schlüge
+und Schaden nähme. »Meister!« Tiefer und tiefer wurde das tapfere Mädel
+gegen die Dielen niedergedrückt und lag unter der pressenden Holzmasse
+ausgestreckt wie ein Weib, das in Liebe den Mann empfängt. »Meister,
+ach, Meister --« Das waren Laute des Schmerzes, bei erlöschenden Sinnen
+noch durchzittert von der Freude, daß des Meisters Arbeit, die für den
+Glauben der Sus von allen Herrlichkeiten des Lebens die herrlichste
+war, keinen Fehl und Makel erlitten hatte. Und schon so matt und müde
+war dieser letzte Schrei, daß er nimmer hinausklang aus der Stille des
+sonnenlos gewordenen Raumes. In keuchenden Zügen ging der Atem der
+Ohnmächtigen.
+
+Vor dem Fenster, durch das der sonnige Himmel hereinblaute, klang
+zuweilen ein feiner Schwalbenschrei.
+
+Und drüben beim Leuthaus rannte Meister Niklaus über die Reichenhaller
+Straße hinaus. Von einer Höhe konnte er das Gelände bis Bischofswiesen
+überschauen. Die Straße war leer. Nur in weiter Ferne ließ sich der
+neblige Dunst erkennen, der von der Staubwolke des Exulantenzuges
+zurückgeblieben war.
+
+»Gott mit dir, mein Kind! Glück ist mehr als alles andre.«
+
+Der Meister wandte sich und ging vorüber am Leuthaus, gegen den
+Brunnenplatz. Die Marktgasse war wie abgestorben. Nur spielende Kinder.
+Nicht viele. Und das Pflaster war bedeckt mit zerknickten Strohhalmen
+und mit dem Unrat, den die abgewanderten Tiere zurückgelassen hatten.
+
+Vor dem Stiftstor trafen sie zusammen, Meister Niklaus und Pfarrer
+Ludwig. »Nicki?« Ein erwartungsvoller Blick war in den Augen des
+Pfarrers.
+
+»Das Kind ist fort.«
+
+»Also!« Lächelnd sah Herr Ludwig hinauf in das reine Blau. »Der Ewige
+arbeitet doch verläßlicher, als ein Nürnberger Spielwerk.«
+
+»Mensch? Wahrhaftig? Daß mein Kind dem Leupi nachspringen muß? Das hast
+du erwartet?«
+
+»Drum hab ich mich doch bei dir für heut zum Essen geladen. Daß du
+dein Süppl nit allein verschlucken mußt. Und komm! Wir müssen das
+gleich der Mutter Agnes bringen. Die verzweifelt schier.« Sie wandten
+sich gegen das Stiftstor. »Guck, Nicki! Eine Parabel der Zeit!« Der
+Pfarrer deutete auf die Fülle des Unrates, der das Pflaster bedeckte.
+»Das bleibt der Regierung vom heutigen Tag. Sie wird nit lernen davon.
+Statt den nutzbaren Mist für einen Acker zusammenzukehren, wird sie
+ihn vornehm liegen lassen, bis ihn der nächste Regen verwässert.
+Staatskunst, Nicki, Staatskunst!«
+
+Als Mutter Agnes die Botschaft vom Glück ihres Sohnes hörte, tat sie
+einen Schrei, fiel auf die Mauerbank und wurde von einem so heftigen
+Zittern der Beine befallen, daß die Absätze ihrer Schuhe auf dem
+Fußboden ein flinkes Getrommel erhoben. Meister Raurisser, der vom
+Bräuhaus heimkam und seine Frau so finden mußte, fragte in Sorge:
+»Mutter, was hast du denn?«
+
+»Freud -- Freud -- Freud --« Sonst brachte sie unter dem Sturz ihrer
+frohen Tränen kein Wort heraus.
+
+Pfarrer Ludwig, als er mit Meister Nick aus der Stube ging, deutete
+auf eine ungefährlich gewordene Sache an der weißen Mauer. Und draußen
+auf der Straße sagte er: »Der Dillinger Landschaden, der Grusdorf, die
+überflüssigen Buchstaben, der Muckenfüßl und die Gottesaugenuhr mit
+ihrem boshaften Teufel! Alles im Kehrichtfaß der Vergangenheit! Nick,
+es geht halt doch ein bißl aufwärts mit der Menschheit. Deswegen muß
+sie nit grad eine heilige sein.« Sie kamen zur Pfarrpfründe, und Herr
+Ludwig klinkte an der Haustür, die er verschlossen fand. »Die Schwester
+ist schon voraus zu dir.« Um den Weg zu kürzen, gingen sie hinter den
+Häusern am gestutzten Hofgarten vorüber, dessen lächerlich beschnittene
+Bäume unter Frühlingshilfe den Versuch begannen, aus der Pariserei
+heranzuwachsen und sich wieder auszustrecken zu natürlicher Form.
+
+Beim Plankentor des Meisters blieben die beiden stehen und lauschten.
+Im Haus eine schreiende Stimme. »Meine Schwester!« stammelte der
+Pfarrer. Sie sprangen in den Flur, sahen die Tür der Werkstatt offen
+und fanden neben der schreienden Schwester Franziska die Sus, wie
+tot, von Blut umronnen, die Arme noch immer um die Statue geklammert.
+Der Meister taumelte. Und Pfarrer Ludwig brüllte der Schwester ins
+Ohr: »Zum Lewitter! Lauf, was du laufen kannst!« Nur mühsam gelang es
+den beiden Männern, die schwere Statue vom Körper der Ohnmächtigen
+emporzuheben. »Ach, Mädel, du gutes!« schrie der Meister, hob die
+regungslose, von Blut überströmte Sus auf seine Arme und trug sie
+über die Treppe hinauf. Ohne zu denken, nur weil es von den Türen
+die nächste war, trug er die Blutende in Luisas Kammer und rannte
+um Essig, um alles, was beleben konnte. Nichts wollte helfen. Die
+geschlossenen Augen taten sich nicht auf, kein Herzschlag war an der
+Sus zu spüren, kein Atemhauch vor den blassen Lippen, an denen ein
+leises, unveränderliches Lächeln zu erkennen war. Nur das Blut sickerte
+noch immer aus den Wunden, die das scharfkantige Holz in ihren Körper
+geschnitten hatte.
+
+Schwester Franziska und Lewitter mit seiner Tasche traten in die Kammer.
+
+»Komm, Nicki!« Pfarrer Ludwig legte den Arm um den Hals des Meisters.
+»Wir zwei sind überflüssig.« Sie gingen hinüber in die Wohnstube.
+Der Pfarrer stand am Fenster. Stumm und unbeweglich saß Niklaus am
+Tisch; nur seine Augen bewegten sich, wenn durch die Krippenwand ein
+matter Laut aus der Kammer klang, oder wenn auf der Stiege draußen die
+hastigen Täppelschritte der Schwester Franziska zu hören waren. Und
+plötzlich warf er das Gesicht auf die Tischplatte hin.
+
+Der Pfarrer trat zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter. »Nicki! Bleib
+der Mensch, der du bist! Tu dich nit so verbohren in den Schreck! Tu
+reden, Nicki!«
+
+Meister Niklaus hob das blasse Gesicht. »Einsam werden ist das
+Grauenhafteste des Lebens. Mein Weib versunken, mein Kind ins Kloster
+gesteckt -- um *Gottes* willen!« Er hob die hölzerne Hand und
+betrachtete sie. »Daß ich es überleben hab können? Ich glaub, am Leben
+hat mich nur die Hoffnung gehalten, daß ich *doch* wieder schaffen
+könnt -- einmal.« Wieder streckte er die künstliche Hand vor sich
+hin. »*Das* ist das Leichtere gewesen.« Er nahm den Kopf zwischen die
+Fäuste, und seine Stimme wurde tonlos. »Das andere hat erst angefangen,
+wie ich gemeint hab, ich wär schon wieder ein ruhiger Mensch. Fünf Jahr
+lang hab ich nimmer gewußt, daß ich an Leib und Blut noch allweil ein
+Mannsbild bin. Und gählings -- wie ein schweres Leiden, das kommt, man
+weiß nit wie -- hat's angefangen: die Ruhlosigkeit in den Nächten, am
+Tag das Nachschauen hinter den Weibsleuten, das Händzittern, wenn mir
+ein junges Geschöpf in die Näh gekommen ist. Nur Eine, die allweil
+bei mir war, hab ich nie drum angesehen. Sie ist mir immer das kleine
+Mädel gewesen, als das sie zu uns ins Haus gekommen ist. Und ist schon
+über die achtzehn Jahr gewesen. Im Frühling einmal, da hat sie sich im
+Garten einen Dorn in den Finger gestoßen und ist gekommen: ich sollt
+ihr helfen. Und wie ich sie bei der Hand hab und frag: Tut's weh? --
+und sie schüttelt den Kopf, da hab ich spüren müssen, wie sie zittert.
+Ich schau sie verwundert an. Und gählings merk ich, wie schmuck sie
+geworden ist. Mir ist der Teufel ins hungrige Blut gefahren --«
+
+»Was für einer?« fragte der Pfarrer. »Der von der Gottsaugenuhr?«
+
+Niklaus, ohne zu hören, redete vor sich hin: »Ich bin erschrocken
+über mich. Und hab sie fortgeschoben. Und da brennt ihr Gesicht wie
+Kohlenglut. Sie schaut mich an mit ihren treuen, barmherzigen Tieraugen
+und sagt: >Was liegt an mir? Der Meister muß Ruh haben<.«
+
+Zwei leise Worte: »Heilige Menschheit!«
+
+Der andere schwieg. Nach einer Weile sagte er in Qual: »Sie hat sich
+um meinetwegen zerschlagen mit Vater, Mutter und Geschwistern, hat
+ihr junges Leben hingelegt vor meine Füß und hat gegeben, wie man ein
+Kräutl gibt, das heilsam ist für Not und Trauer eines Menschen. Kann
+sein, es ist ein Unrecht gewesen, daß ich genommen hab. Hungert einer,
+so stiehlt er beim Bäcken. Nie hab ich sie lieb gehabt. Ich bin ihr nur
+gut gewesen, nur dankbar.« Er preßte die Zähne übereinander. »Wie mein
+Kind wieder im Haus gewesen ist, hab ich einen Riegel fürgeschoben und
+hab die Sus nimmer angerührt. Allweil ist ihre treue Sorg um mich die
+gleiche geblieben. Jedes andre -- kann sein, ich selber -- hätt heut
+in der Werkstatt fallen lassen, was ich in Müh geschaffen hab. Die Sus
+hat helfen müssen. Wie's zugegangen ist, das weiß ich nit. Ich weiß
+nur, die Sus ist so. Sie muß dran sterben. Ich leb.« Langsam hob er das
+Gesicht. »Pfarrer! Tät man einen verblutenden Leib noch anbinden können
+an einen Lebendigen, so müßt ich bitten: du sollst mich trauen mit der
+Sus!« Er wandte die Augen zur Krippenwand. »Jetzt hab ich sie lieb.«
+
+Schweigend trat der Pfarrer auf ihn zu und strich ihm mit der Hand
+übers Haar. Dem Meister fuhr das Gesicht herum, weil er draußen einen
+Schritt vernahm. Simeon Lewitter trat in die Stube. Und Niklaus, vom
+Sessel aufzuckend, keuchte: »Ist Hilf?« Ohne die Antwort abzuwarten,
+sprang er auf die Türe zu. Simmi breitete wehrend die Arme auseinander:
+»Nit! Tu bleiben!« Er führte den Zitternden wieder zum Sessel und
+sprach zu ihm in seiner sanften, halblauten Art. Der Pfarrer,
+schweigend, ging zur Holzverschalung der Mauer und drückte auf den
+versteckten Knopf. Lautlos öffneten sich die beiden Flügeltüren der
+Krippe. Die sonnige Fensterhelle leuchtete hinein in die Nische,
+machte alle Farben der hundert Figürchen flimmern, umglänzte die drei
+Gestalten unter dem Kreuze, gab dem Frühlingsbild der zierlichen
+Landschaft einen warmen Schein -- und ohne daß die kleinen Lampen
+brannten, glitzerten die winzigen, aus Glassplittern gebildeten
+Fenster an Kirche und Hütten, als wär's um die Morgenstunde, die einen
+strahlenden Tag verspricht.
+
+»Komm, Nicki! Oder wär's nit so in dir, daß du beten mußt?«
+
+Nun standen die drei Männer wortlos vor der Nische, jeder mit dem
+Arm um den Hals des anderen. Dieses Schweigen war das verbrüderte
+Gebet ihres duldsamen Glaubens, war das ungesungene Lied ihres
+gemeinsamen Harrens auf einen Menschenmorgen, der kommen mußte -- nach
+Jahrhunderten, meinte der eine; nach Jahrzehnten, glaubte der andere;
+bald, so hoffte der dritte.
+
+Auf den Kirchtürmen schlugen die Glocken mit schwebendem Hall die erste
+Mittagsstunde.
+
+Das war die gleiche Stunde, in der die siebenhundert vom großen Jagen
+aus dem Land Gepeitschten ihr letztes Gebet auf heimatlichem Boden zum
+Himmel sangen.
+
+Sie hatten die steigende Wegstrecke vor dem Hallturm erreicht.
+Alle Gesichter der Wandernden waren der Ferne zugerichtet, der sie
+entgegenschritten. Nur die Augen der Kranken, die, mit den Köpfen
+gegen die Zugtiere, gebettet lagen im Wagenstroh, waren rückwärts
+gerichtet nach dem Lande, das sie verließen. Und plötzlich, während die
+lange Karrenzeile schwerfällig hinaufkletterte über die Steigung, hob
+der hundertjährige Jakob Aschauer die dürren, gichtisch verkrümmten
+Hände aus den Strohhalmen, tat einen klagenden Schrei und griff mit
+zuckenden Fingern gegen die blaue Heimat, die schon versunken war
+hinter Hügeln und Gehölzen und noch ein letztesmal heraufstieg mit
+gewellten Frühlingswiesen, mit blitzenden Gewässern, mit sammetgrünen
+Fichtengehängen, mit sonnbeglänzten Dächern und Mauern, mit den
+erwachenden Almen und den kettengleich ins Endlose geschichteten
+Silberkanten der noch von Schnee umschütteten Zinnen. Und alles
+hineingewoben ins reine Blau, alles umschmeichelt von warmer Sonne,
+alles umgossen vom schönen Frieden der lautlosen Ferne. Wieder ein
+Klagelaut, so schrill wie ein Falkenschrei. Und die mühsame Stimme des
+Hundertjährigen: »Leut! Ihr Leut! Ach luget sell naus! Das Ländl! Das
+liebe Ländl! Das Paradeis, aus dem sie uns alle verjagen!«
+
+Das faßte einen um den andern; alle Gesichter wandten sich; hundert
+Stimmen rannen zusammen; der Zug der Wagen staute sich; die
+Viehtreiber ließen die Stricke der Tiere fallen, um die Fäuste vor die
+Augen zu pressen; viele Kinder fingen zu weinen an und klammerten sich
+an die Röcke, an die Hälse der Mütter; Männer und Buben umschlangen
+sich mit den Armen, und die siebenhundertfache Trauer und Liebe floß
+ineinander zu einem einzigen, machtvollen Seelenschrei, der ähnlich
+war dem Brausen eines stürzenden Wildbachs. Die Arme breiteten sie
+aneinander wie Gekreuzigte, sie schrien verzückte Laute in das
+Hallgewoge dieses hundertfältigen Schmerzes und griffen nach der Erde,
+die sie verlassen mußten für immer. Kein Fluch und keine Verwünschung
+war zu hören. Nur Segensworte, nur Laute der inbrünstigen Treue. Und
+Leupolt Raurisser, um dessen Schultern die schwarzweißen Bänder des
+Führers flatterten, hob neben dem Wagen des Hundertjährigen die Hände
+gegen das Blau. Sein Gesicht war entstellt. Aus seinen Augen, die
+trocken geblieben waren in der härtesten seiner Qualen, stürzten die
+Tränen, während er mit klingender Stimme den Psalm begann:
+
+ »Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
+ Herr Gott, erhör mein Rufen --«
+
+Die Siebenhundert fielen ein, auf den Wagenbrettern und im Staub der
+Straße lagen sie auf den Knien, und ihr betendes Lied, ihr letztes auf
+dem Boden der Heimat, schwamm in den Lüften wie das Feiertagsgeläut
+einer schönen, heiligen Glocke.
+
+Als sie zu tönen anfing, kamen aus einem Seitentälchen zwei alte Leute,
+ein kleines Weibl mit kurzem Rock und ein langes, geselchtes Mannsbild
+mit weißem Schnauzer. Vor einem schwerbeladenen Karren, an den drei
+Ziegen und ein Geißbock angebunden waren, hingen die beiden in den
+Zugriemen. Beim Hall des Liedes blieben sie stehen und guckten, das
+Weib in Rührung, der Lange auf eine verdutzte Art, als wäre ihm etwas
+unverständlich an den Klängen, die ihm entgegenrauschten. Er riß die
+Augen auf und atmete schwül. In seinem braunen Gesicht erwachte etwas,
+wie der Spiegelschein eines erschrockenen Gedankens. Immer härter
+schnaufend, sah er sein Weibl an. »Du! Schneckin!«
+
+»Was?«
+
+»Wir zwei gehören da nit dazu. Die Leut da müssen einen Glauben
+haben als wie ein Baum. Der unser ist bloß ein Stäudl, geht hin
+und her und wackelt bei jedem Wind. Wir zwei, verstehst, wir zwei
+gehören sell hin, wo der Bockmist düftelt.« Er hatte den Karren schon
+gewendet. Die Schneckin begann zu weinen und der Hiesel knurrte:
+»Kreuzhöllementsverteufelter Himmelhund, verstehst du denn nit, du
+Schneehas ohne Löffel! Das ist doch kein Fürwurf.« Immer bitterlicher
+weinte das Schneckenweibl. Da wurde der grobe Hiesel barmherzig und
+legte den Arm um den kleinen, kurzröckigen Stöpsel. »Schau, was Guts
+hat unsere Narrenschopferei halt doch gehabt. Verstehst?« Das Weib
+schüttelte kummervoll den grauen Kopf, und tröstend sagte der Hiesel:
+»So sauber, wie jetzt, ist unser Geißstallerl seit dreißig Jährlen noch
+nie gewesen.« Die schwimmenden Augen der Schneckin wurden heller. So
+viel Anerkennung hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie geerntet.
+Mit dankbarem Lächeln sah sie am Hiesel hinauf und flüsterte wie ein
+schämiges Mädel: »Vergeltsgott, Schneck!« Der quieksende Karren mit den
+Meckerziegen verschwand hinter den Stauden, während auf der Straße
+die fromme Glaubensglocke der Siebenhundert immer machtvoller und
+inbrünstiger tönte:
+
+ »Ob bei uns ist der Sünden viel,
+ Bei Gott ist viel mehr Gnaden.
+ Sein Hand zu helfen hat kein Ziel,
+ Wie groß auch sei der Schaden.
+ Er ist allein der rechte Hirt,
+ Der Israel erlösen wird
+ Aus seinen Sünden allen.«
+
+Als das Lied zu Ende klang, war tiefe Stille über den siebenhundert
+gebeugten Köpfen. Leises Schluchzen. Und der hundertjährige Aschauer
+bettelte mit erloschener Stimme: »Ich kann nit fahren, so lang ich
+die Heimat seh, ach Leut, ach Leut, ach lasset mich bleiben, so lang
+ein Aichtl Sonnlicht über dem Ländl hängt. Wenn's finsteret, will ich
+fahren von Herzen gern.« Das Wort lief hin über die lange Reihe der
+Karren, und hundert Stimmen riefen: »Wie's der Älteste haben will, so
+muß man es machen.« Für jeden war's eine tröstende Freude, daß er die
+Heimat noch schauen durfte einige Stunden lang und sie erst verlassen
+mußte, wenn die Nacht sie umschleierte.
+
+Nach allem Gram und Kummer dieses Tages hörte man heitere Worte. Alle
+bedrückten, müdgewordenen Herzen lebten auf, und die schmale Zeile des
+Exulantenzuges löste sich in die Breite. Die Hirten trieben das Vieh in
+den Laubwald, um es weiden zu lassen; die Frauen und Mädchen stiegen
+von den Karren, um die Ziegen und Kühe zu melken, damit die Kinder ihre
+Milch bekämen; und die Männer und Buben trugen Holz zusammen für die
+Kochstätten. An die hundert kleine Feuer fingen zu brennen an, und
+in der Windstille des milden Nachmittages stiegen die Rauchsäulen wie
+blaue Bäume zum Himmel hinauf.
+
+Die Sonne wurde Gold, die Berge im Osten brannten, die steilen Wälder
+im Westen wurden eisenblau, und die jungen Buben begannen zu singen wie
+beim Sonnwendfeuer, wie vor dem Fenster einer Almerin. Und gählings
+geschah ein Ding, daß alle Leute verwundert die Köpfe streckten.
+Leupolt Raurisser rannte gegen die Talstraße hinunter, so flink, daß
+die schwarzweißen Bänder wagrecht hinter seinem Nacken standen. Weil er
+auf der mit Karren vollgepfropften Straße nicht flink genug vorwärts
+kam, sprang er im Zickzack zwischen den weidenden Kühen. Und als die
+Straße frei wurde, fing er ein Rasen an, noch wilder und schöner als
+zwischen den galoppierenden Dragonergäulen. Weit vor ihm, in der Tiefe
+der Talstraße, kam ein winziges Fuhrwerkelchen daher: ein Schubkarren
+mit einem kleinen Koffer. Zwischen der Gabel bewegte sich was Junges,
+hurtig Zappelndes, mit einem weißen Federbusch auf dem spanischen Hut.
+Über dem Koffer lag der grüne Mantel, schön gefaltet, weiß überpulvert
+vom Straßenstaub.
+
+Leupolt schrie den Namen seines Glückes, daß von allen Wäldern ein Echo
+kam.
+
+Sie hörte den Schrei, setzte den Karren nieder und blieb unbeweglich.
+
+Nun stand er vor ihr, heiß atmend vom jagenden Lauf, mit Augen, die
+wie Sterne glänzten. Er streckte die Hände und wagte sein Glück nicht
+zu berühren. Nach der ersten glühenden Scham tat Luisa einen frohen
+Atemzug. Eine wundersame Ruhe überkam ihr Wesen. Sie sah zu ihm
+hinauf. »Willst du mich nehmen, Leupi? Ich kann nit leben ohne dich.
+Gott wird's verstehen. Der hat dich geschaffen. Da muß er auch wissen,
+wie du bist.«
+
+Er stammelte: »Jesus!« Und wagte zuerst nur ihre Hand zu fassen. Als er
+den Druck ihrer Finger fühlte, kam's wie ein lachender Taumel über ihn.
+
+Der spanische Hut verlor seinen graden Sitz. Und erst eine sehr
+beträchtliche Weile später konnte Luisa sagen: »Evangelisch kann ich
+nit werden. Daß ich im Herzen bei meiner Wahrheit bleib? Tust du mir
+das verstatten?«
+
+»Bleib, wie du bist, und allweil wirst du die Richtige sein.« Droben
+auf der Straßenhöhe riefen viele Stimmen seinen Namen. »Die brauchen
+mich. Komm, Bräutl!« Er wollte die Gabel des Schubkarrens fassen,
+richtete sich wieder auf und fragte in Sorge: »Dein Vater, Luisli? Kann
+er denn schnaufen ohne dich? Tut er mir denn mein Glück vergönnen?«
+
+Sie sagte gläubig: »Der kommt uns nach. Heut hat er bekennen müssen und
+ist eingeschrieben.«
+
+Ein heißer, frohseliger Jauchzer. Und der geduldige Schubkarren mußte
+noch eine Weile rasten. Hat man sein Mädel um den Hals, so kann man
+keine Karrengabel in den Händen haben. Und als das Rädl wieder lief,
+blieb Leupolt stumm. Weil er sinnen mußte. Nun ein heiteres Auflachen.
+Hundert Schritte vor dem ersten Exulantenwagen stellte er den Karren
+nieder, nahm den grünen Mantel vom Koffer, schüttelte den Staub davon
+und faßte die Hand seines Glückes. »Komm! Ich such dir ein feines
+Plätzl.« Zwischen den Stauden fand er eines. »Schau nur, wie alles
+blüht um dich herum! Da mußt du warten ein Vaterunser lang.« Er sprang
+davon, und der Karren mußte sausen, obwohl es aufwärts ging.
+
+Auf dem Rücken eine Sesselkraxe, die er von einem Bauer geborgt hatte,
+kam er wieder. »Schatzl? Gelt, du hast keinen Wanderschein?«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Weil ich nur dich hab! Mir ist's genug.«
+
+»Aber den Grenzmusketieren nit!« Er konnte nicht ernst werden, immer
+mußte er lachen in seiner Freude. »Sie täten dich ohne Loskauf, Paß und
+Polizeiverlaub nit über den Schlagbaum lassen. Schatz, es geht nimmer
+anders, ich muß dich hinüberschwärzen in unser Glück. Aber deine Füßlen
+sollen keinen Weg nit machen, der ein Unrecht ist. Hab ich die Freud,
+so muß ich auch die Schuld haben.« Er ließ sich niederfallen auf die
+Knie und flüsterte selig: »Komm! Steig auf! Und leg deinen Mantel auf
+die Krax! Da hast du es linder.«
+
+Ein scheues Zögern, ein leises Auflachen.
+
+Leicht erhob sich Leupolt mit seiner lieben Last. In der Rechten den
+Stecken, die Linke nach oben gestreckt als Halt für Luisas Hände, so
+schritt er flink zwischen den Stauden hin, auf versteckten Wegen, wie
+nur die Jäger sie kennen. Im dämmrigen Fichtenwalde verschwand er.
+
+Eine Weile später ging die Sonne hinunter. Es finsterte schon und die
+Sterne glänzten, als Leupolt wieder kam, mit der leeren Kraxe auf dem
+Rücken.
+
+Nun war's lebendig in der Karrenzeile. An der Spitze des Zuges tönten
+drei Rufe eines Alphorns. Dann fingen die Räder zu knattern an, und die
+lange Wagenreihe kletterte in der Dunkelheit über den Rest der Höhe
+hinauf zur fürstpröpstlichen Grenze. Kleine Lichter -- wie Sterne, die
+auf die Erde gefallen -- waren ausgestreut über die ganze Länge des
+Zuges: die Wagenlaternen, und in zwei Reihen die Kienlichter, die von
+den Jungbuben getragen wurden.
+
+Das Paßgeschäft beim Hallturm währte vier Stunden lang. Die
+Grenzmusketiere nahmen es genau. Es war schon über Mitternacht,
+als hinter dem Scharwagen mit knarrender Feierlichkeit der
+berchtesgadnische Schlagbaum herunterfiel. Außerhalb der Grenze ordnete
+Leupolt den Zug. Und als die Lichterkette sich in Bewegung setzte,
+sprang er durch den finsteren Hochwald davon. Bei den alten, zerstörten
+Festungswerken der bayerischen Grenzhut stand er wieder am Saum der
+Straße. Nicht allein.
+
+Nun schritt er dem Zuge voraus, den Arm um Luisas Schultern
+geschlungen. Sie hatte den Hut heruntergenommen und trug ihn am Gürtel.
+
+»Luisli? Siehst du den schönen Stern da draußen? Das ist der Nordstern.
+Sell müssen wir hin. Dort ist das Land des gütigen Helfers.«
+
+Sie nickte stumm und schmiegte sich enger an seine Brust. Beugte er
+sich ein bißchen nieder, so fanden seine Lippen ihr lindes Haar. Und
+hob sie das Gesicht, so sah er beim Sternschein einen Glanz in ihren
+Augen, ohne die Tränen zu sehen, die ihr von den Wimpern fielen. Die
+einzige, die nasse Wangen hatte, war sie nicht. Viele weinten in der
+Finsternis; die Frauen und Mädchen, die auf den Karren saßen; und alle
+Mütter, auf deren Schoß und an deren Brüsten die müden Kinder schliefen
+oder die furchtsamen wachten.
+
+Ein Rauschen in der Nacht. Man wußte nicht, wo. Bald klang es ferne,
+bald wieder nah.
+
+Die Viere, die hinter Leupolt an der Spitze des Zuges schritten, fingen
+zu singen an. Die Stimmen der Wandernden fielen ein. Sie sangen das
+Stablied der Evangelischen, von dem man erzählte: daß es der gadnische
+Bergmann Josef Schaitberger ersonnen hätte, den man vor vierzig Jahren
+aus der Heimat trieb.
+
+ »Jesu, mein Wanderstab, mit Dir kann ich sorglos ziehen
+ Aus meinem lieben Land! Mit Dir kann ich fliehen,
+ Wenn mich des Feindes List aus meiner Ruhstatt jagt!
+ Du bleibst mein bester Freund, wenn Pharao mich plagt.
+
+ Jesu, mein Wanderstab, auf Dich kann ich mich lehnen,
+ Ach, sieh meine Flucht und zähl meine heißen Tränen,
+ Ich weiß, Du zählst sie, Du hältst sie in Deiner Hand,
+ Sei Du mein Himmelreich und mein neues Heimatland!
+
+ Jesu, mein Wanderstab, mein Licht, das nie sich neiget,
+ Hilf Deinem müden Knecht, der bittend sich beuget!
+ Bleib bei mir, bleib bei mir, bleib jetzt und für und für,
+ Der Tag hat enden müssen, es ist die Nacht vor mir.
+
+ Jesu, mein Wanderstab, die Heimat bleibt dahinten,
+ Mein Blick ist naß und sucht und kann sie nit finden.
+ Herr Jesu, kühl mir die Augen mit Deiner Hand,
+ Wo *Du* bist, Herr, da ist Heimat und Vaterland!«
+
+
+
+
+Bücher von Ludwig Ganghofer:
+
+
+ Das Schweigen im Walde. *Roman*. Neue Ausgabe. 60. Tausend. Initialen
+ und Einbandzeichnung von Friedrich Felger. 8°. Geh. 5 M., geb. 6,50 M.
+
+ Die Trutze von Trutzberg. *Eine Geschichte aus anno Domini 1445.*
+ Initialen und Einbandzeichnung von Friedrich Felger. 8°. 46. Tausend.
+ Geh. 4 M., geb. 5,50 M.
+
+ Das große Jagen. *Roman aus dem 18. Jahrhundert.* Initialen und
+ Einbandzeichnung von Friedrich Felger. Geh. 6 M., geb. 7,50 M.
+
+ Fliegender Sommer. *Novellen.* Neue Ausgabe. Der Reihe nach 21.
+ Tausend. Einbandzeichnung von Friedrich Felger. 8°. Geh. 3,50 M.,
+ geb. 5 M.
+
+ Doppelte Wahrheit. *Neue Novellen.* 8°. 6. Tausend. Geh. 4 M., geb.
+ 5,50 M.
+
+ Das Kaser-Mandl. *Eine Erzählung.* Neue Ausgabe mit Illustrationen
+ von Carl Röhling. 12°. 11. Tausend. Kart. 1,50 M., geb. 2,20 M.
+
+Ob es die Deutschen genügend wissen, was sie an diesem Dichter für eine
+Kraftquelle haben! Ob sie es ahnen, daß seine Schriften, so harmlos
+und heiter sich viele derselben auch geben, eine Vorbereitung, eine
+Stählung des Volksherzens für diesen ungeheuerlichen Verteidigungskrieg
+geworden sind? Die Bayernkraft offenbarte Ganghofer uns, bevor sie zu
+dem herrlichen Heldenringen auf den Plan trat.
+
+ *Peter Rosegger.*
+
+
+G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin
+
+
+
+
+Grote'sche Sammlung v. Werken zeitgenöss. Schriftsteller
+
+
+ =*Charitas Bischoff*, Amalie Dietrich.= Ein Leben. Mit 8 Bildnissen.
+ Achtundvierzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Bilder aus meinem Leben.= Mit sechzehn Vollbildern und fünf
+ Textillustrationen. Zwanzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Victor Blüthgen*, Gedichte.= Neue, verm. Ausgabe. Geb. 4,50 M.
+
+ =*Walther Burk*, Der versunkene Herrgott.= Roman. Geb. 4,50 M.
+
+ =*Gustaf Dickhuth*, Wie der Leutnant Hubertus von Barnim sich
+ verloben wollte und anderes.= Novellen. Geb. 4 M.
+
+ =*Ernst Eckstein*, Murillo=. Dritte Auflage. Geb. 3 M.
+
+ -- --, =Hertha.= Roman. Dritte Auflage. Geb. 8 M.
+
+ -- --, =Themis.= Roman. Zwei Bände. Geb. 9,60 M.
+
+ -- --, =Der Mönch vom Aventin.= Novelle. Vierte Auflage. Geb. 4 M.
+
+ -- --, =Familie Hartwig.= Roman. Zweite Auflage. Geb. 8 M.
+
+ -- --, =Kyparissos.= Roman. Zweite Auflage. Geb. 8 M.
+
+ -- --, =Roderich Löhr.= Roman. Zweite Auflage. Geb. 8 M.
+
+ -- --, =Adotja.= Novellen. Geb. 6,50 M.
+
+ -- --, =Die Hexe von Glaustädt.= Roman. Dritte Auflage. Geb. 8 M.
+
+ =*A. von der Elbe*, Der Bürgermeistersturm.= Ein Roman aus dem
+ fünfzehnten Jahrhundert. Zweite Auflage. Geb. 7 M.
+
+ -- --, =In seinen Fußstapfen.= Roman aus Lüneburgs Vorzeit. Zweite
+ Auflage. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Gustav Falke*, Die Stadt mit den goldenen Türmen.= Die Geschichte
+ meines Lebens. Fünfzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Heinrich Federer*, Lachweiler Geschichten.= Fünf Erzählungen.
+ Siebzehntes Tausend. Geb. 5 M.
+
+ -- --, =Berge und Menschen.= Roman. Zweiundvierzigstes Tausend. Geb.
+ 6,50 M.
+
+ -- --, =Pilatus.= Eine Erzählung aus den Bergen. Neunzehntes Tausend.
+ Geb. 4,50 M.
+
+ -- --, =Jungfer Therese.= Eine Erzählung aus Lachweiler. Achtzehntes
+ Tausend. Geb. 5 M.
+
+ -- --, =Das Mätteliseppi.= Eine Schweizer Erzählung.
+ Fünfundzwanzigstes Tausend. Geb. 6,50 M.
+
+ =*Gustav Frenssen*, Die Sandgräfin.= Roman. Achtundsiebzigstes
+ Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Die drei Getreuen.= Roman. Hunderteinundzwanzigstes Tausend.
+ Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Jörn Uhl.= Roman. Zweihundertneunundvierzigstes Tausend. Geb.
+ 5,50 M.
+
+ -- --, =Hilligenlei.= Roman. Hundertneunundvierzigstes Tausend. Geb.
+ 6,50 M.
+
+ -- --, =Peter Moors Fahrt nach Südwest.= Ein Feldzugsbericht.
+ Hundertsechsundachtzigstes Tausend. Geb. 3,50 M.
+
+ -- --, =Klaus Hinrich Haas.= Roman. Neunundachtzigstes Tausend. Geb.
+ 6,50 M.
+
+ -- --, =Der Untergang der Anna Hollmann.= Eine Erzählung.
+ Sechsundsechzigstes Tausend. Geb. 3,50 M.
+
+ -- --, =Bismarck.= Epische Erzählung. Geb. 5 M.
+
+ -- --, =Die Brüder.= Eine Erzählung. Fünfundachtzigstes Tausend. Geb.
+ 6,50 M.
+
+ =*Ludwig Ganghofer*, Doppelte Wahrheit.= Neue Novellen. Sechstes
+ Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Fliegender Sommer.= Novellen. Einundzwanzigstes Tausend. Geb.
+ 5 M.
+
+ -- --, =Das Schweigen im Walde.= Roman. Neue Ausgabe.
+ Einundsechzigstes Tausend. Geb. 6,50 M.
+
+ -- --, =Die Trutze von Trutzberg.= Eine Geschichte aus Anno Domini
+ 1445. Sechsundvierzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Das große Jagen.= Roman aus dem 18. Jahrh. Geb. 7,50 M.
+
+ =*Hans Ferdinand Gerhard*, In der Jodutenstraße.= Roman. Drittes
+ Tausend. Geb. 4,50 M.
+
+ =*Ola Hansson*, Der Schutzengel.= Roman. Geb. 4 M.
+
+ =*Hermann Heiberg*, Reiche Leute von einst.= Roman. Geb. 4 M.
+
+ =*Hans Hopfen*, Gotthard Lingens Fahrt nach dem Glück.= Roman. Geb.
+ 5,50 M.
+
+ =*F. Hugin*, Durch den Nebel.= Roman. Viertes Tausend. Geb. 4,50 M.
+
+ =*Johannes Jegerlehner*, Marignans.= Eine Erzählung. Fünftes Tausend.
+ Geb. 4,50 M.
+
+ -- --, =Petronella.= Roman aus dem Hochgebirge. Fünftes Tausend. Geb.
+ 4,50 M.
+
+ -- --, =Grenzwacht der Schweizer.= Eine Erzählung. Siebentes Tausend.
+ Geb. 2,50 M.
+
+ =*Wilhelm Jordan*, Zwei Wiegen.= Ein Roman. Neue Ausgabe. Zwei Bände.
+ Fünftes Tausend. Geb. 7 M.
+
+ =*Adam Karrillon*, Michael Hely.= Roman. Neuntes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Die Mühle zu Husterloh.= Roman. Siebentes Taus. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =_O domina mea._= Roman. Sechstes Tausend. Geb. 5.50 M.
+
+ -- --, =Im Lande unserer Urenkel.= Drittes Tausend. Geb. 5 M.
+
+ -- --, =Bauerngeselchtes.= Sechzehn Novellen aus dem Chattenlande.
+ Drittes Tausend. Geb. 4,50 M.
+
+ -- --, =Adams Großvater.= Roman. Siebentes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Joseph von Lauff*, Kärrekiek.= Roman. Zehntes Taus. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Pittje Pittjewitt.= Ein Roman vom Niederrhein. Zwanzigstes
+ Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Frau Aleit.= Roman. Siebzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Die Tanzmamsell=. Roman. Siebzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Sankt Anne.= Roman. Fünfzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Revelaer.= Roman. Sechzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =_Lux aeterna._= Roman. Elftes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Die Brinkschulte.= Roman. Zwölftes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Anne-Susanne.= Roman. Zweiundzwanzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
+
+ -- --, =Sergeant Feuerstein.= Ein Roman aus großer Zeit.
+ Vierundzwanzigstes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ =*Hermann Lingg*, Schlußsteine.= Neue Gedichte. Geb. 4 M.
+
+ =*Fritz Philippi*, Adam Notmann.= Ein Leben in der Zelle. Roman. Geb.
+ 4,50 M.
+
+ =*Wilhelm Rabe*, Die Chronik der Sperlingsgasse.= Achtundneunzigste
+ Auflage. Geb. 4 M.
+
+ -- --, =Horacker.= Zweiunddreißigstes Tausend. Geb. 4 M.
+
+ -- --, =Unruhige Gäste.= Ein Roman aus dem Säkulum. Siebente Auflage.
+ Geb. 4 M.
+
+ -- --, =Im alten Eisen.= Eine Erzählung. Siebente Auflage. Geb. 4 M.
+
+ -- --, =Nach dem großen Kriege.= Eine Geschichte in zwölf Briefen.
+ Fünfte Auflage. Geb. 3,50 M.
+
+ -- --, =Die Kinder von Finkenrode.= Achte Auflage. Geb. 4 M.
+
+ -- --, =Halb Mär, halb mehr.= Erzählungen, Skizzen, Reime. Zweite
+ Auflage. Geb. 4 M.
+
+ =*Otto Rodehorst*, Und wenn die Welt voll Teufel wär!= Eine
+ Erzählung. Achtes Tausend. Geb. 2,50 M.
+
+ =*Erich Scheurmann*, Ein Weg.= Roman. Geb. 5 M.
+
+ -- --, =Abseits.= Sechs Erzählungen. Geb. 3 M.
+
+ =*Gustav Schröer*, Die Flucht von der Murmanbahn.= Eine Erzählung.
+ Achtes Tausend. Geb. 2,50 M.
+
+ -- --, =Der Heiland vom Binsenhof.= Roman. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Ernst Schudert*, Ruhm.= Ein Novellenkranz um Friedrich den Großen.
+ Fünfzehn Novellen. Drittes Tausend. Geb. 4,50 M.
+
+ -- --, =Der Sturmwind Gottes.= Zwei Erzählungen. Geb. 5 M.
+
+ =*Heinrich Wolfgang Seidel*, Der Vogel Tolidan.= Neun Erzählungen.
+ Geb. 4,50 M.
+
+ -- --, =Die Varnholzer.= Ein Buch der Heimat. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Heinrich Steinhausen*, Heinrich Zwiesels Ängste.= Eine Spießhagener
+ Geschichte. Geb. 5,50 M.
+
+ =*Konrad Telmann*, Bohémiens.= Roman. Geb. 6,50 M.
+
+ =*Johannes Trojan*, Auf der anderen Seite.= Streifzüge am
+ Ontario-See. Geb. 3 M.
+
+ -- --, =Berliner Bilder.= Hundert Momentaufnahmen. Zweite Auflage.
+ Geb. 4 M.
+
+ =*Ernst von Wildenbruch*, Das schwarze Holz.= Roman. Sechzehntes
+ Tauend. Geb. 5.50 M.
+
+ -- --, =Lukrezia.= Roman. Siebzehntes Tausend. Geb. 6,50 M.
+
+ =*Julius Wolff*, Till Eulenspiegel redivivus.= Ein Schelmenlied.
+ Sechsundzwanzigstes Tausend. Geb. 4,80 M.
+
+ -- --, =Der Rattenfänger von Hameln.= Eine Aventiure.
+ Siebenundsiebzigstes Tausend. Geb. 4 M. 80 Pf.
+
+ -- --, =Der wilde Jäger.= Eine Weidmannsmär. Hundertundachtes
+ Tausend. Geb. 4 M. 80 Pf.
+
+ -- --, =Tannhäuser.= Ein Minnesang. Zwei Bände. Vierundvierzigstes
+ Tausend. Geb. 8 M.
+
+ -- --, =Lurici.= Eine Romanze. Einundsiebzigstes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Die Pappenheimer.= Ein Reiterlied. Fünfundzwanzigstes
+ Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Renata.= Eine Dichtung. Dreiunddreißigstes Taus. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Der fliegende Holländer.= Eine Seemannssage.
+ Siebenunddreißigstes Tausend. Geb. 5 M.
+
+ -- --, =Assalide.= Dichtung aus der Zeit der provençalischen
+ Troubadours. Siebzehntes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Der Landsknecht von Cochem.= Ein Sang von der Mosel.
+ Dreiundzwanzigstes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Der fahrende Schüler.= Eine Dichtung. Vierzehntes Tausend.
+ Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Der Sülfmeister.= Eine alte Stadtgeschichte. Zwei Bände.
+ Vierundsechzigstes Tausend. Geb. 8 M.
+
+ -- --, =Der Raubgraf.= Eine Geschichte aus dem Harzgau.
+ Dreiundsiebzigstes Tausend. Geb. 7 M.
+
+ -- --, =Das Recht der Hagestolze.= Eine Heiratsgeschichte aus dem
+ Neckartal. Vierundvierzigstes Tausend. Geb. 7 M.
+
+ -- --, =Das schwarze Weib.= Roman aus dem Bauernkriege.
+ Sechsundzwanzigstes Tausend. Geb. 7 M.
+
+ -- --, =Die Hohkönigsburg.= Eine Fehdegeschichte aus dem Wasgau.
+ Vierunddreißigstes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Zweifel der Liebe.= Roman aus der Gegenwart.
+ Einundzwanzigstes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Das Wildfangrecht.= Eine pfälzische Geschichte. Neunzehntes
+ Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Der Sachsenspiegel.= Eine Geschichte aus der
+ Hohenstaufenzeit. Achtzehntes Tausend. Geb. 6 M.
+
+ -- --, =Singuf.= Rattenfängerlieder. Siebzehntes Tausend. Geb. 4 M.
+ 80 Pf.
+
+ -- -- =Aus dem Felde.= Gedichte. Vierte, vermehrte Auflage. Geb. 2 M.
+ 50 Pf.
+
+
+ =*Heinrich Federer*, Das Mätteliseppi.= Eine Erzählung. 25. Tausend.
+ Geh. 5 M., geb. 6.50 M.
+
+Vor zwölf Jahren habe ich diese unvergeßliche Figur in einer Novelle
+behandeln wollen, und damals entstanden die Kapitel in der Webstube
+und im Pfarrexamen in einem mehr humoristischen Fadenschlag. Ich
+legte jedoch den unbefriedigenden Entwurf in die Schublade. Aber im
+Herbst 1915, im Süden und im Heimweh nach den Buchen und Äpfeln und
+Herzlichkeiten meines lieben Nordens, nahm ich die Papiere wieder
+vor und arbeitete sie nun zu einem ... ach freilich so dicken! ...
+Romane aus ... In die Schicksale des Ländleins und besonders der
+Spichtigerfamilie ist nun das Mätteliseppi so verstrickt und hält
+den Faden so stramm in der Faust, daß ich statt des ersten Titels
+»Die Spichtiger« lieber seinen klassischen Namen »Das Mätteliseppi«
+setzte. Es stört die Einheit der Erzählung keineswegs, stärkt sie
+eher und gleicht in seiner rauhen und massiven Gewalt einem Berge,
+in dessen wechselndem Schatten sich eine kleine Menschheit und
+Menschheitsgeschichte entwickelt und bald behindert, bald gehoben ans
+ordentliche Ziel gelangt.
+
+So hat es denn wirklich ein solches Mättelisepi gegeben? Seinen
+Webstuhl und harten Flachsscheitel, seinen langen Stecken, sein
+Unterrichtsgenie und seinen mörderlichen Kleiderkasten als Arrest?
+Seine Helgen und Mären? wie? ... Ich antworte: all das auf den letzten
+Tupf! Viele hundert Obwaldner werden euch das mit einem aus Respekt und
+Schalkheit gemischten Lächeln bestätigen und noch reichlich glossieren
+können. Und auf dem Friedhof von Sachseln findest du die Horat und
+Molin und Herri und Tonoli, indessen der damalige Helfer Ludowig noch
+heute, im Silber von fünfundsiebzig Jahren, als geistliche Spitze des
+Kantons tapfer seines Amtes waltet ... Von all den vielen Knaben und
+Mädchen, dem seltsamen Josef Tonoli zum Beispiel, der kalten, eitlen
+Orla, dem kühnen, wilden Herri und dem glücklichern von Aar bis zum
+Trunzibub hinauf und zur Botin Trunz selber und den Spichtigerleuten
+als den Hauptpersonen des Romanes, von all dem ist keine Faser eitle
+Phantasie dabei. Sie alle sind genau so in Fleisch und Blut und
+starken Knochen an mir vorbeigegangen. Ich habe nur Namen geändert und
+Örtlichkeiten verschoben. Viele leben noch, die meisten ruhen.
+
+Soll ich sagen, ob auch die tiefen Leiden und Zweifel und seelischen
+Erhebungen im Buche historisch sind? Da erlasset mir das Wort. Das
+sollet nun ihr sagen, die ihr das Buch leset!
+
+ Heinrich Federer (in Grote's Weihnachtsalmanach 1916).
+
+
+ =*Ludwig Ganghofer*, Die Trutze von Trutzberg.= Eine Geschichte aus
+ anno Domini 1445. 46. Tausend. Geh. 4 M., geb. 5,50 M.
+
+Ganghofer hat mit seinem neuesten Roman dem deutschen Volke eine
+prächtige Gabe beschert. Er führt seine Leser um ein paar Jahrhunderte
+zurück in jene Zeit, da politische Forderungen die schöne Agnes
+Bernauerin von der Seite des Bayernherzogs rissen. Wie ein düsterer,
+unheimlicher Ton klingt dieses Ereignis durch die Wirrnisse der Fehde,
+die die Trutze von Trutzberg mit ihren Burgnachbarn auszufechten haben.
+Gleichzeitig beleuchtet es die Liebesgeschichte des Romans, die sich
+zwischen dem Fräulein von Puechstein und dem Schäfer Lienhart abspinnt.
+Hierbei ist Ganghofer die schwierige Aufgabe restlos zu lösen gelungen,
+seine Leser für das ungleiche Liebespaar einzunehmen. Von der ersten
+Bekanntschaft mit dem Schäfer Lienhart an muß man diesem Naturburschen
+gut sein, so kernfest und treu-deutsch ist der junge Träumer und Held
+gezeichnet. Deshalb versteht man das junge Edelfräulein, wenn es sein
+Herz an den verachteten Schäfer verliert und einem verderbten Junker
+den Laufpaß gibt. In treffenden Gegensätzen entrollt der Dichter ein
+Bild vom Leben und Treiben in der vom Feinde belagerten Burg. Sein
+köstlicher, echter Humor kommt dabei in vollem Umfang zur Geltung. --
+Ganghofers Buch kommt gerade zur rechten Zeit. Es wird vielen, unter
+der Gegenwart Mühseligen und Beladenen, eine rechte Erquickung sein,
+denn der Quell, der es genährt hat, heißt Gesundheit.
+
+ Dresdner Nachrichten.
+
+
+ =*Ludwig Ganghofer*, Das Schweigen im Walde.= Roman. Neue Ausgabe.
+ 60. Tausend. Geh. 5 M., geb. 6,50 M.
+
+Hinauf auf die Berge und in den Hochwald führt der Dichter seinen
+im Getriebe der Großstadt flügellahm gewordenen Helden und läßt
+ihn gesunden am immer frischen Born reiner, hehrer Gottesnatur und
+inmitten ihrer kernfesten, urwüchsigen Menschen. Charakteristisch
+und scharf gezeichnet treten sämtliche Gestalten der interessanten,
+reichbewegten Handlung gleichsam leibhaftig vor uns und erregen unsere
+warme Sympathie bei allen ihren Leiden und Freuden. Den Mittel- und
+Glanzpunkt der Dichtung aber bildet die herrliche Gebirgsnatur der
+Tiroler Alpen, deren äußere Erscheinungen in edler, von poetischem
+Zauber durchwobener Sprache mit einer plastischen Anschaulichkeit
+geschildert sind, die Herz und Sinn des Lesers unwiderstehlich gefangen
+nimmt.
+
+
+ =*Adam Karrillon*, Adams Großvater.= Roman. 7. Tausend. Geh. 4 M.,
+ geb. 5.50 M.
+
+Adam Karrillon gehört zu den im deutschen Schrifttum nicht seltenen
+Dichtern, die erst im gereiften Mannesalter aus einem im vollen
+Leben tätigen Beruf in die Literatur gekommen sind. Im Odenwald,
+in einem kleinen Waldnest geboren, war er von Jugend an mit Land
+und Leuten seiner Heimat vertraut, später als Landarzt hatte er in
+jahrzehntelanger Praxis im näheren und weiteren Bezirk Gelegenheit,
+Herz und Nieren zu prüfen, seine Menschenkenntnis zu erweitern und zu
+vertiefen. Als Karrillon als 47jähriger seinen ersten Roman herausgab,
+merkte man gleich, daß da ein Eigener auftrat, einer, der aus dem
+vollen schöpfte, der nicht in der Schreibstube nach einer landläufigen
+Mode oder den Geboten einer »Richtung« einen Roman zusammenbastelte,
+sondern die Erfahrungen eines Lebens vor uns ausbreitete, mit einem
+grimmigen Humor, mit innerer Heiterkeit, oft mit Wehmut, knorrig,
+kraus, sehr deutsch von Leben und Schicksalen seiner Leute erzählte.
+So gab er in seinem ersten Buche, dem »Michael Hely«, ein Bild des
+Odenwälder und Schwarzwälder Bauernvolkes, nicht verschönert und
+verniedlicht, wie weiland Auerbach und Defregger es taten, auch nicht
+so einseitig verzerrt und verroht, wie viele Moderne, sondern etwa
+so wie Leibl gemalt hat, so stark, so wahr, so unerbittlich und doch
+liebevoll. Dann kam die »Mühle zu Husterloh«, ein bei aller Komik
+tiefernstes Buch, das die Erwürgung eines patriarchalischen ländlichen
+Mühlenbetriebes durch ein modernes »Etablissement« zum Gegenstand hat,
+endlich der Roman »_O domina mea_«, welcher mit einem heiteren, einem
+nassen Auge das Geschick und die Liebe eines Bauernarztes erzählt.
+Viel eigenes Leben und Leid des Dichters klingt hier schon auf. Nach
+zwei kleineren Büchern, der launigen Schilderung einer Afrikafahrt und
+einem Bande lustiger Bauernhistörchen tritt Karrillon nun wieder mit
+einem größeren Bauernroman hervor, in dem er sein eigenes Geschlecht,
+sein eigenes Jugendland darstellt. Ganz unverfälscht ist wieder
+das Bauernvolk vorgeführt, der echte urwüchsige Bauer, das noch
+ungebrochene deutsche Volkstum. Gestalten, wie den hartschädeligen, auf
+seinen ererbten und mühsam vergrößerten Besitz stolzen Großvater, den
+sie wegen seines Reichtums den »Kurfürsten« nennen, seinen windigen,
+arbeitsscheuen Sohn, der jeder Schürze nachläuft und das väterliche
+Erbe in Saus und Braus durchbringt, vergißt man nicht. Wieder leuchtet
+Karrillons herzhafter Humor mildernd und versöhnend durch Leid und
+Leidenschaft, wieder erfreut eine markige, in ihrer Bilderpracht oft an
+Shakespeare gemahnende Sprache.
+
+
+ =*Gustav Schröer*, Der Heiland vom Binsenhofe.= Roman. Geh. 4 M.,
+ geb. 5,50 M.
+
+Ein starkes, gutes und schönes Werk, aus der Tiefe und Fülle
+menschlicher Empfindung und Erkenntnis geschöpft, edel im Gegenstand,
+frei und maßvoll in der Gesinnung, geradlinig in der Führung,
+einheitlich und geschlossen in der Erfindung und Darstellung, ohne
+bilderreichen Überschwang und doch dichterisch beseelt, lebendige
+Menschen und wirkende Natur, überzeugend und ergreifend. Es ist nur
+eine einfache Bauerngeschichte, aber sie umspannt in ihrer kleinen
+Welt den ganzen ewigen Kampf der Schwachen gegen die Mächtigen, der
+Vernunft gegen den Aberglauben, der Güte gegen die Gemeinheit, der
+Selbstlosigkeit gegen die Leidenschaft. Und als symbolischer Vertreter
+dieses Kampfes erscheint der Schicksalsmensch, dem gerade seine besten
+Eigenschaften einen tragischen Untergang bereiten und dem, wie seinem
+göttlichen Vorgänger, im Leben zum Spott, im Tode zum Ruhm der Name des
+»Heilands« zuteil wird.
+
+Gustav Schröer hat bereits durch die im vorigen Jahre in unserer
+»Sammlung« erschienene Erzählung »Die Flucht von der Murmanbahn« und
+andere Werke starke Talentproben abgelegt; durch dies neue Werk, das
+einen bedeutenden Stoff in bedeutender Weise behandelt und in seinen
+Folgerungen eine ernste Mahnung für vielleicht bevorstehende Tage ist,
+hat er Anspruch, in weitesten Kreisen des deutschen Volkes gehört zu
+werden.
+
+
+ =*Gustav Schröer*, Die Flucht von der Murmanbahn.= Nach den Berichten
+ eines Torgauer Husaren. 8. Tausend. Geh. 2 M., in Pappband geb. 2,50
+ M.
+
+»Dieser Roman eines Torgauer Husaren ist wahrhaftig die beste
+Abenteuergeschichte, die ich kenne: ganz einfach erzählt und dabei doch
+fabelhaft eindrucksvoll.«
+
+ Fedor v. Zobeltitz.
+
+»Das schöne Buch hat alle Anwartschaft, ein Volksbuch zu werden.«
+
+ Carl Busse.
+
+»Am herrlichsten seit langem dünkt mich >Die Flucht von der
+Murmanbahn<. Wie frisch, wahr, tüchtig! wie ist man dabei und leidet
+und hofft und bangt mit! Und wie ist einem das Fensterlicht tief
+unten an der norwegischen Küste dann selbst eine wahre Erlösung! Eine
+ähnliche Natürlichkeit in Nerv und Seele findet man fast nie in den
+ähnlichen abenteuerlichen Werken.«
+
+ Heinrich Federer.
+
+
+ =*Heinrich Wolfgang Seidel*, Die Varnholzer.= Ein Buch der Heimat.
+ Geh. 4 M., geb. 5,50 M.
+
+Heinrich Wolfgang Seidel, der Sohn des Leberecht Hühnchen-Dichters, der
+sich durch seine Novellen »Der Vogel Tolidan« und »Ameisenberg« bereits
+einen anerkannten Namen in der Literatur erworben hat, tritt hiermit
+mit seinem ersten Roman hervor, einem sehr liebenswürdigen Buche, voll
+von Reizen der Stimmung und dichterischer Anschauung, voll Witz und
+Laune und liebevollem Eingehen auf das Seelenleben der betrachteten
+Menschen.
+
+Die Varnholzer sind der Freundeskreis des Anwaltes Varnholz, der mit
+seiner Frau und seinen beiden Kindern im Mittelpunkt dieses Buches
+steht. Er zieht in den Kampf gegen Rußland, wird gefangen und gewinnt
+nach abenteuerlicher Irrfahrt die Heimat aufs neue. Dennoch ist die
+Erzählung weniger eine Darstellung kriegerischer Vorgänge, als der
+Versuch, in anschaulichen Bildern die Erlebnisse der deutschen Seele
+widerzuspiegeln. Eine Fülle von Gestalten erlebt Frieden und Krieg,
+und jede offenbart ein Stück deutschen Wesens. Heitere und tragische
+Züge sind miteinander ausgeglichen, der Schauplatz wechselt vielfach,
+und der Leser wird geführt durch Weltstadt und ländliche Gemeinschaft,
+nach Weimar ebenso wie in die polnische Öde. Das Erleben der
+Kleinstadtbürger und der Künstler, der dumpfen Masse und des einzelnen
+Kulturträgers, der Wagemut des Mannes und die betende Geduld der Frau,
+Kinder-Weihnachten und die Irrwege der in Selbstsucht Strauchelnden,
+die grenzenlose Liebe zum Vaterland, aber auch die Vision Christi,
+dessen Erbarmen den *Menschen* sucht, -- alles das vereinigt sich in
+einem Akkord und läßt doch jeder Erscheinung ihre eigene leidvolle oder
+triumphierende Stimme.
+
+
+ ==Heinrich Wolfgang Seidel=, Der Vogel Tolidan.= Neun Novellen. Geh.
+ 3 M., geb. 4,50 M.
+
+*Inhalt*: Der Vogel Tolidan -- Engelmann -- Advent -- Die Königsprobe
+-- Arm Wendelin und die schöne Susanne -- Die Bibliothek des möblierten
+Herrn -- Ein Ferientag -- Herrn Honolts Abenteuer -- Die Ballspielerin.
+
+
+ =*Heinrich Wolfgang Seidel*, Ameisenberg. Die spanische Jacht.= Zwei
+ Novellen. Kart. 1,80 M., geb. 2 M.
+
+
+
+
+Bei der Transkription vorgenommene Änderungen und weitere Anmerkungen:
+
+Der Abschnitt "Bücher von Ludwig Ganghofer:" wurde vom Anfang des Buchs
+an das Ende verlegt, vor die sonstigen Verlagsanzeigen.
+
+In "Sonst hätt ich doch nit die zwei weißen Fähnlein deiner Torheit
+aufgesteckt, wo du sie sehen hast müssen auf den ersten Blick." stand
+"Fähnlen" statt Fähnlein.
+
+In "Ihr wollt doch wohl nicht sagen: >In der ersten<?" fehlte
+das schließende einfache Anführungszeichen. Dies wurde nach
+Sinnzusammenhang hinter "ersten" ergänzt.
+
+Im Abschnitt "Grote'sche Sammlung v. Werken zeitgenöss. Schriftsteller"
+stand im Original, wenn die Liste der Werke eines Schriftstellers über
+einen Seitenumbruch ging, am Anfang der neuen Seite noch einmal dessen
+Name. Dies wurde ersetzt durch die Form "-- --," welche auch sonst
+anzeigt, dass das nächste Werk von demselben Autor stammt.
+
+
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Das große Jagen, by Ludwig Ganghofer
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58219 ***
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-The Project Gutenberg EBook of Das große Jagen, by Ludwig Ganghofer
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-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
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-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Das große Jagen
-
-Author: Ludwig Ganghofer
-
-Release Date: November 1, 2018 [EBook #58219]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GROßE JAGEN ***
-
-
-
-
-Produced by Heike Leichsenring and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
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-Umschließungen mit _ kursiven Text, und Umschließungen mit = fett
-gedruckten Text.
-
-Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt. Im Übrigen wurden
-Inkonsistenzen in der Interpunktion und Schreibweise einzelner Wörter
-belassen. Eine Liste mit sonstigen Korrekturen finden Sie am Ende des
-Buchs.
-
-
-
-
- Grote'sche Sammlung von Werken zeitgenössischer Schriftsteller Band 133:
-
-
- Das große Jagen
-
- Roman aus dem 18. Jahrhundert
-
- von
-
- Ludwig Ganghofer
-
- [Illustration]
-
- Zweiunddreißigstes Tausend
-
- G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung
- Berlin 1918
-
-
-
-
-Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in andere Sprachen,
-vorbehalten. Copyright by G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin
-1918. Initialen und Einbandzeichnung von Friedrich Felger. Druck von
-Fischer & Wittig in Leipzig
-
-
-
-
-Das große Jagen
-
-
-
-
-Kapitel I
-
-
-Am zweiten Februar des Jahres 1733, am Lichtmeßabend, peitschte der
-stürmische Westwind ein dickwirbelndes Schneetreiben durch die Gassen
-von Berchtesgaden. An den Häusern waren alle Flurtüren versperrt,
-alle Fensterläden geschlossen. Obwohl die Polizeistunde noch nicht
-geschlagen hatte, war auf der Marktgasse kein Mensch mehr zu sehen.
-
-Das dunkle Häuserschweigen in dem weißen Gewirbel hatte trotz allem
-Lärm des Sturmwindes etwas Friedliches. Dieser Friede erzählte von
-sorglosen Menschen in gemütlichen Stuben. Eine grauenvolle Lüge! In
-Erregung, in Zorn und Sehnsucht pochten hinter den verriegelten Türen
-Hunderte von verstörten Herzen. Zwischen den stillen Wänden wohnte
-die Ratlosigkeit neben Haß und Angst, feiges Mißtrauen neben dem Mut,
-duldende Stärke neben der hämischen Bosheit, nicht immer geschieden
-durch Tür und Mauer. Kampf und Erbitterung schwelte, wie zwischen
-Nachbar und Nachbar, auch zwischen Mann und Weib, zwischen Bruder und
-Schwester, zwischen Vater und Sohn.
-
-An allem Fürchterlichen, das sich einsperrte in die Stuben, brauste der
-wirbelnde Schnee vorüber.
-
-Auf den Türmen des Stiftes und der Franziskanerkirche schlugen die
-Glocken im Sturm die neunte Stunde. Unter dem Rauschen des Windes
-war es ein milder Hall. Wie eine warme Gottesstimme sprach er zu dem
-frierenden Leben, das nur lauschte auf den eigenen Zorn und die eigene
-Sehnsucht. Dann wieder die stumme Gassentrauer unter dem wehenden
-Flockenfall.
-
-Aus dem Häusergewinkel, das die nördliche Stiftsmauer umzog, kämpfte
-sich ein schwarzgekleideter Mensch heraus, den Kopf mit der Pelzkappe
-gegen den Wind geschoben, die Arme unter dem Radmantel. Immer dicht
-an den Häusern hin und rasch in eine Gasse. Ein Pfiff, wie der
-Schlag einer Amsel. An einem schmalen Steingebäude, das sich von den
-Nachbarhäusern auffällig unterschied, öffnete sich die Tür ein bißchen
-und eine greise Stimme fragte im Hausdunkel: »Hochwürden?«
-
-»Komm!« Auch diese Stimme klang nimmer jung.
-
-Eine kleine Mannsgestalt in zottigem Fuchspelz mit dicker Kapuze
-huschte aus dem Haus und schloß die Türe, die von innen verriegelt
-wurde. Wortlos, der Kleine neben dem anderen, der groß und hager war,
-schritten die beiden quer über das Ende der Marktgasse, vorüber am
-neuen Pflegeramt, vorüber an den Stallungen des alten Leuthauses. In
-der halb bebauten Straße, die zur Franziskanerkirche führte, traten sie
-in einen mit hohen Bretterplanken umzäunten Garten. Auch hier öffnete
-sich die Haustür wie von selbst. Aus der Finsternis des Flures sprach
-eine Mädchenstimme: »Gelobt sei Jesus Christus und die heilige Mutter
-Marie!«
-
-Der Kleine im Fuchspelz antwortete zaghaft: »Von nun an bis in
-Ewigkeit, Amen!« Und der andere sagte, als er in das Dunkel hineintrat:
-»Schau nur, Luisa, wie gut du den Bekenntnisgruß zu brauchen weißt!«
-Seine Stimme hatte einen heiteren Ton: »Jetzt hast du wieder dreißig
-Wochen Ablaß gut! Tust du denn in deinem jungen Leben des Bösen so
-viel, daß du deine künftige Fegfeuerzeit so fleißig verkürzen mußt?«
-
-»Hochwürden, ich mag das nit, wenn Ihr so redet!« Das junge Mädchen
-verriegelte die Haustür. »Ein geweihter Priester sollt ernst nehmen,
-was heilig ist.«
-
-»Luisichen! Oft wohnt von allem Ernst der tiefste hinter einem
-hilfreichen Lachen.«
-
-Der Kleine hatte den Pelz abgelegt. Jetzt nahm auch der Geistliche den
-Mantel herunter, und da quoll ein Lichtschein auf, als hätte Luisa die
-Blechmaske an einer Blendlaterne gehoben. Der helle Strahl überglänzte
-die beiden Männer. Der Kleine trug das Berchtesgadnische Bürgerkleid
-mit der Bundhose über den weißen Strümpfen und mit dem braunen
-Faltenkittel, über dessen Kragen sich die weiße Hemdkrause herauslegte.
-Ein scharf geschnittener Judenkopf mit blassem Gesicht. Der Spitzbart
-so weiß wie die hohe Stirn. Unter dem Lederkäppchen quollen graue
-Locken heraus. Zwei stille, heißglänzende Augen. Das war der aus
-Salzburg nach Berchtesgaden zugesiedelte Arzt und Handelsmann Simeon
-Lewitter, der vor fünfzehn Jahren bei einem Judenkrawall das Weib und
-seine zwei Kinder verloren und in der Verstörtheit dieser Gräuelnacht
-die Taufe empfangen hatte. Für die Bauern galt er noch immer als
-der Jud, genoß aber als Leibarzt des Fürstpropstes zu Berchtesgaden
-leidliche Sicherheit. Nur die Trauer seiner Augen erzählte von den
-Schmerzen einer vergangenen Zeit. Der schmale Mund unter dem weißen
-Barte hatte das Lächeln einer steingewordenen Geduld.
-
-Neben diesem scheuen Greise sah der katholische Priester, der seit
-sieben Jahren emeritierte Stiftspfarrer Ludwig, fast wie heitere Jugend
-aus, die sich als Alter vermummte. Schon ein bißchen gebeugt, war
-doch in seinem sehnigen Körper noch lebhafte Beweglichkeit. Er machte
-auch eine gute Figur in dem geflügelten Schwarzrock mit den weißen
-Bäffchen, in der seidenen Bundhose mit Strümpfen und Schnallenschuhen.
-Den geschnörkelten Lockenbau, der bei den Herren Mode geworden,
-verschmähte er. Glattsträhnig hingen die aschfarbenen Haare um das
-rasierte Gesicht, in dessen Fältchen ein Spiel von freundlicher
-Spottlust zwinkerte. Er hatte zwei braune haarborstige Warzen, die
-halb entstellend wirkten und halb wie eine drollige Parodie auf die
-Schönheitspflästerchen der vornehmen Damen waren: eine kleine auf
-dem linken Nasenflügel, auf der rechten Wange eine große, die sich
-sonderbar verschob, so oft der Pfarrer lachte. Wenn er ernst war, bekam
-sein Gesicht durch diese Warzen etwas Grausames und Hexenmeisterhaftes.
-Das verschwand aber gleich, sobald seine Augen heiter wurden, diese
-hellblauen Augen, die im Gesicht des Siebzigjährigen noch wie die Augen
-eines lebensgläubigen Jünglings glänzten.
-
-»Luisichen?« fragte er munter. »Warum beleuchtest du mich so scharf?
-Magst du nit lieber dich selber illuminieren? Zum Erquicken unserer
-müden Männerseelen?« Lachend nahm er die Blendlaterne aus Luisas Hand
-und richtete den Lichtkegel auf ihr Gesicht.
-
-Eine Achtzehnjährige von herber Schönheit, über ihr Alter gereift
-in einer Zeit, in der die Redlichen ein härteres Leben hatten als
-die Gewissenlosen. Braunblonde Zöpfe lagen gleich einem schweren
-Seilgeflecht um die Stirne. Der Mund war wie ein strenges
-Siegel dieses jungen, schon geprüften Lebens und zeigte doch das
-Rot einer Kirsche, die reifen will. In den dunklen Augen war
-ein fast ekstatischer Glanz. Oder kam das vom Widerschein des
-blendenden Lichtstrahls? Der zeigte auch das rote, mit Silberblumen
-bestickte Mieder, aus dem sich die weißen Glocken der Spitzenärmel
-herausbauschten. Eine zarte Gestalt, in der sich das junge Weib zu
-formen begann.
-
-Auf der Wange des Pfarrers hüpfte die große Warze. »Luisichen? Hast
-du dich für uns zwei Alten so wohlgefällig gemacht? Oder hat dein
-schmucker Abend einem Jüngeren gegolten?«
-
-In Unmut zog das Mädchen die Brauen zusammen: »Ob jung oder alt, das
-frag ich nit. Mir gilt: getreu oder schlecht, Christ oder Gottesfeind.
-Und heut am Morgen hab ich den heiligen Leib genossen. Da trag ich
-mein bestes Gewand, bis ich schlafen geh. Man muß sich innen und außen
-unterscheiden von den Gottlosen.«
-
-Der Pfarrer blieb stumm. Aus seinen Augen sprach Erbarmen mit dieser
-freudlosen, von aller Härte der Zeit gegeißelten Mädchenseele.
-
-Droben ein Schritt. Licht fiel über die Stiege herunter. »Seid ihr's?«
-fragte eine erregte Stimme. »Ich hab schon geforchten, ihr könntet
-ausbleiben, wegen des schiechen Wetters.«
-
-»Meister, da kennt Ihr uns schlecht.« Der Pfarrer lachte, nicht ganz so
-froh, wie eine Minute früher. »Wir kommen zu unserem lieben Abend, da
-kann es schneien oder lenzen, Mistgabeln oder Kapuziner regnen.«
-
-Die beiden wurden droben von einem Fünfundvierzigjährigen empfangen,
-der ähnlich gekleidet war wie Lewitter. Ein mähniger Kopf mit langem
-Bart, dessen helles Braun schon Silberstriche hatte. Unter den
-Brauenbogen fieberten zwei dunkle Augen mit dem Trauerblick einer
-gequälten Menschenseele. Es waren die gleichen Augen, wie die Tochter
-sie hatte, das einzige Kind des Bildhauers Nikolaus Zechmeister.
-Die Nähe der Gäste ließ den Hausherrn aufatmen, als käme jetzt eine
-bessere Stunde seines Lebens. Und es war ein seltsamer Gruß, den die
-drei einander zuflüsterten: »Mensch bleiben!« Den Händedruck mußte
-Meister Niklaus mit der Linken erledigen. Vor siebzehn Jahren hatte
-man ihm zu Hallein die Schwurhand auf dem Block vom Arm geschlagen,
-weil er gegen seinen Untertaneneid zwei evangelischen Inkulpaten,
-hinter denen die Soldaten Gottes her waren, zur Flucht verholfen hatte.
-Sein Weib war gestorben vom Schreck. Und das Kind hatte man dem der
-Irrlehre Verdächtigen weggenommen und zu gutchristlicher Erziehung
-in ein Kloster gegeben. Erst seit dem verwichenen Herbste war Luisa
-wieder daheim -- als Wächterin des Vaters, um ihn zu behüten vor einem
-Rückfall in den evangelischen Wahn.
-
-Am rechten Arm trug Meister Niklaus in braunem Lederhandschuh eine
-künstliche Holzhand, die er durch einen sinnreichen Mechanismus zur
-Mithilfe bei seiner Arbeit belebt hatte. Zwölf Jahre lang, bis die
-linke Hand sich zu schulen begann, war er seinem Beruf entzogen. Um
-Arbeit zu haben, hatte er in dieser Zeit für die Schnitzereien der
-Berchtesgadnischen Heimarbeiter ein Verlegergeschäft begründet, bei dem
-er, ein wohlhabender Mann, für die Notstillung seiner Dienstgesellen
-oft mehr verbrauchte, als er von ihrer Ware für sich selbst gewann.
-Seit fünf Jahren gehörte Meister Niklaus wieder seiner Werkstätte,
-in der sich Kunst und Handwerk miteinander verschwisterten. Aber so
-fröhlich, wie er als junger Mann gewesen, wurde er nimmer. Und seit der
-Heimkehr seiner Tochter schien er ernster, als er es je in der Zeit
-seines Leidens war.
-
-Während Lewitter in die helle Stube trat, rief Niklaus über das
-Stiegengeländer hinunter: »Gelt, Luisa, bring uns nur gleich den warmen
-Trunk!«
-
-»Wohl, Vater!«
-
-Der Meister blieb über das Geländer gebeugt, als hätte er Sehnsucht,
-noch ein Wort seines Kindes zu hören. Da legte ihm Pfarrer Ludwig die
-Hand auf die Schulter: »Niklaus? Wird's besser mit euch beiden?«
-
-Der andere schüttelte den Kopf. »Sie glaubt nit, daß ich glaub.«
-
-Der Pfarrer bekam das grausame Gesicht. »Viel Ding im Leben hab ich
-verstanden. Eins versteh ich nimmer: wie der Herrgott es dulden kann,
-daß man in seinem Namen die Seelen der Menschen frieren macht? Kann
-sein, daß Gott sein heißt: in alle Ewigkeit für uns Menschen ein Rätsel
-bleiben.«
-
-Ein bitteres Lächeln zuckte um den Mund des Meisters: »Hätt mein Mädel
-das gehört, so tät sie nach dem Klosterbüchl ausrechnen, wieviel
-Jahrhundert Fegfeuer das wieder kostet.«
-
-Die beiden traten in die Stube. Als die Tür geschlossen war, legte
-Pfarrer Ludwig herzlich den Arm um die Schultern des Hausherrn: »Du?«
-Wenn die drei allein waren, duzten sie einander. »Glaubst du, daß ich
-die Menschen kenn?«
-
-»Aus dem Beichtstuhl hast du tief hinuntergeschaut in ihre Seelen.«
-
-»Noch tiefer in der Sonn, die ich außerhalb der Kirch gefunden. Und ich
-sag dir das voraus: in deinem Mädel wird das rechte Leben noch blühen,
-wie am Johannistag die Rosen in deinem Garten.«
-
-»Gott soll's geben!«
-
-»Was für einer?« Die große Warze tänzelte. »Der meinige, der deinige,
-der seinige?« Bei diesem letzten Worte deutete Pfarrer Ludwig auf
-Lewitter, der die Brust an den warmen Kachelofen preßte und dieses
-Kunstwerk des hilfreichen Menschengeistes mit den Armen umschlang,
-schauernd vom Gassenfrost, frierend in der Kälte seines alten, einsamen
-Lebens.
-
-Unter dem reichbesteckten Kerzenrade stand auf rundem Tisch ein
-Schachbrett und daneben ein Körbchen mit den geschnitzten Beinfiguren.
-Während der Meister das Spiel zu stellen begann, warf er lauschend
-einen Blick zur Tür und fragte flüsternd: »Hast du Botschaft aus
-Salzburg?«
-
-Der Pfarrer nickte. »Seit das große Jagen begonnen hat, sind's nach der
-letzten Zählung dreißig Tausend und sieben Hundert, die man aus dem
-Land getrieben.«
-
-»Ist das nit Irrsinn?« stammelte Niklaus.
-
-»Nein, Bruder!« Die große Warze kam in Bewegung. »Wie mehr man die Zahl
-der Fresser mindert in einem Land, um so fetter werden die Erben. Das
-ist die fromme Rechnung unserer Zeit. Wie länger ich das mit anseh, um
-so lustiger macht es mich.«
-
-»Mensch! Wie kann man das heiter nehmen?«
-
-»Anders tät man den üblen Brocken nit schlucken. Die Zeit ist
-so schaudervoll, daß man sie nur als eine Narretei des Lebens
-beschauen kann. Wollt einer sie ernst nehmen, so müßt er an der
-Menschheit verzweifeln. Wie mehr man lacht über ein böses Ding, um so
-ungefährlicher wird es.«
-
-»Still!« mahnte Lewitter. »Das liebe Mädel kommt.« In seiner Art, zu
-sprechen, war kein jüdischer Klang. Er sprach, wie Herren reden, die
-unter Bauern wohnen. Hastig trat er auf den Tisch zu, stellte die
-letzten Schachfiguren und sagte: »Heut seid ihr beide am Spiel. Da hab
-ich für euch einen Anfang ausgesonnen --«
-
-Luisa trat in die Stube. Auf einer Zinnplatte brachte sie drei Becher,
-in denen der Würzwein dampfte.
-
-»So! Und so!« sagte Lewitter. Er machte von jeder Seite des Spiels fünf
-Züge. »Wie gefällt euch das?«
-
-Meister Niklaus, seine Erregung verbergend, nickte: »Das ist neu.«
-
-»Aber schön!« Der Pfarrer ließ sich lachend auf den Sessel nieder. »Was
-man nit allweil behaupten kann von Dingen, die neu sind.«
-
-Luisa hatte die Becher ausgeteilt. »Gott soll's den Herren gesegnen.«
-
-Lewitter antwortete: »Gott soll dir's danken, lieb Kind.« Und der
-Pfarrer redete fröhlich weiter: »Wie fein das duftet! Hast du das im
-Kloster gelernt?«
-
-Ein Zornblick. »Die frommen Schwestern haben Wasser getrunken.«
-
-»Wenn du dabeigewesen bist. Was haben sie geschluckt, wenn du's nit
-gesehen hast?«
-
-Niklaus, der ein strenges Wort seiner Tochter zu befürchten schien,
-sagte rasch: »Ich dank dir, Kind! Weiter brauchen wir nichts. Tu dich
-schlafen legen!«
-
-»Ich muß noch schaffen.« Sie maß den Vater mit einem Sorgenblick. »Auch
-beten muß ich. Heut mehr als sonst.« Ihre Augen glitten über die beiden
-anderen hin. Dann ging sie.
-
-Lewitter flüsterte: »Sie hat Mißtrauen gegen uns.«
-
-»So? Meinst du?« Der Pfarrer schmunzelte. »Dann hat sie ein Näsl, das
-so fein ist wie nett.«
-
-Ein bißchen unwillig sagte der Meister: »Warum tust du sie auch allweil
-reizen?«
-
-»Weil's hilfreich ist. Wie soll ein stilles Wässerlein sich bewegen,
-wenn man keinen Stein hineinwirft? Aber komm, da steht ein schöner
-Gedanke auf dem Schachbrett. Wir wollen uns freuen dran! Was Leben und
-Welt heißt, soll uns weit sein bis um Mitternacht.« Der Pfarrer faßte
-den Becher. »Her da! Wärmet den Herzfleck! Laßt uns anstoßen als treue
-Bundesbrüder des duldsamen Glaubens! Auf alles Gesunde in den Menschen!
-Aller dürstenden Hoffnung zum Trost! Auf den Glauben an die gute Zeit!
-Auf das totgeschlagene und noch allweil nit wiedergeborene Deutschland!
-Auf das kommende Reich, das neu und schön sein wird!«
-
-Die drei Becher klirrten über den Schachfiguren gegen einander und
-Niklaus sagte: »Wann wird das kommen, daß unser Volk und Reich den
-ersten Schrei seines neuen Lebens tut?«
-
-Simeon verlor das steinerne Lächeln. »Am Erlösungsmorgen nach einer
-harten, tiefen und gewaltigen Not.«
-
-Der Meister nickte. »Dann haben wir Hoffnung, daß wir es noch erleben.
-Härter und tiefer ist nie eine Not gewesen als die von heut!«
-
-»Hart und tief!« Die Warze im Gesicht des Pfarrers bewegte sich
-munter. »Bloß das Gewaltige fehlt. Wohin man schaut, alles läppisch
-und erbärmlich. Das neue Reich erleben wir nimmer. Komm, laß uns Freud
-haben am schönen Spiel der Stunde! Du, Nicki, mit den Weißen hast den
-ersten Zug!«
-
-Niklaus rückte eine Figur. »So, mein' ich, wär's am besten.«
-
-Die beiden vertieften sich in das Bild des Schachbrettes. Und Simeon
-verfolgte aufmerksam die Züge. Als Pfarrer Ludwig eine Wendung fand,
-die den Sieg zu seinen Gunsten vorbereitete, nickte Simeon und erhob
-sich. Beim Geschirrkasten füllte er zwei langstielige Tonpfeifen
-mit Tabak, brannte sie an einer Kerze an und brachte sie den beiden
-Spielern. Er selber rauchte nicht. Um außerhalb des Qualmes zu bleiben,
-den die beiden Spieler hinbliesen über die Schachfiguren, rückte er
-ein Stück vom Tische weg. Und als das Spiel dem Ende zuging, streifte
-er einen Schuh herunter und zog unter der eingelegten Filzsohle ein
-dünnes, eng beschriebenes Blatt hervor.
-
-»Was Gutes?« fragte der Pfarrer.
-
-»Seit langem hab ich Tieferes nit gelesen. Ich hab mir auch schon
-überlegt, wie ich's für euch übersetzen muß.«
-
-»Hebräisch? Aus deinem Talmud?«
-
-»Was Besseres.«
-
-»Wenn *du* das sagst, so muß es eine neue Offenbarung sein.« Pfarrer
-Ludwig schob das Schachbrett beiseite.
-
-»Neu? Was in dem Brief da steht, ist bald an die hundert Jahr alt. Mir
-ist's neu gewesen. Das Gute in der Welt hat einen langsamen Weg.«
-
-»Wer hat's geschrieben?«
-
-»Erst mußt du es hören. Man soll nit den Namen vor das Werk setzen,
-sondern das Werk vor den Namen.« Lewitter begann mit leiser Stimme
-zu lesen, während auch Meister Niklaus etwas Heimliches aus dem
-Unterfutter seines Kittels herausholte. Nach einer Weile schlug die
-alte Kastenuhr die zehnte Stunde. Sie hatte einen tiefen, dröhnenden
-Ton. Dabei überhörten die drei, daß an der Haustür jemand pochte, nicht
-laut, doch ungeduldig.
-
-Luisa und die Magd, beim Spinnen in der Küche drunten, vernahmen das
-Pochen.
-
-Die Magd erschrak. Es war ein dreißigjähriges, weißblondes Mädel,
-das einen wohlgeformten Körper und träumende Augen hatte, doch kein
-frohes Gesicht. Mit dreizehn Jahren, bei Luisas Geburt, war die Sus als
-Kindsmädel in des Meisters Haus gekommen. Nach dem Tode seiner Frau,
-als ihm die Tochter um des reinen Glaubens willen genommen wurde, hatte
-die Sus getreu bei dem Einsamen ausgehalten und hatte um seinetwillen
-ihre Jugend versäumt, sich zerschlagen mit Eltern und Geschwistern, die
-es ihr nie verziehen, daß sie atmete unter dem Dach eines Verdächtigen.
-
-Beim Hall der pochenden Schläge war sie bleich geworden und hatte vor
-Schreck das Spinnrädl umgeworfen.
-
-»Bleib, Sus! Ich geh schon!« sagte Luisa. »In dir ist Angst, in mir ist
-Gott. Drum hab ich nit Ursach, mich zu fürchten.«
-
-Der da draußen mußte die Stimme des Mädchens vernommen haben. Das
-ungeduldige Pochen wurde still.
-
-»Jesus!« stammelte Sus. »Ob's nit die Schergen sind?«
-
-»Die kommen zu schlechten Menschen, nit zu uns.« Luisa entzündete die
-Blendlaterne. »Mag sein, man holt den Lewitter zum gnädigsten Herrn.
-Dem ist zuweilen in der Nacht nit gut. Die ihn verleumden, sagen:
-vom vielen Wein. Ich sag: von seiner schlaflosen Sorg um den reinen
-Glauben.« Sie ging zur Haustür und schob den Riegel zurück.
-
-Der da draußen wollte hastig eintreten. Weil die Tür noch an einer
-Kette hing, öffnete sie sich nur um einen schmalen Spalt. Während
-die Schneeflocken hereinwehten, flüsterte in der Nacht eine erregte
-Jünglingsstimme: »Lieb Mädel! So tu doch auf!«
-
-Obwohl sie die Stimme gleich erkannte, fragte sie: »Wer pocht so spät
-in der Nacht an meines Vaters Haus?« Es klang wie Zorn aus ihren leisen
-Worten.
-
-»Einer, der es gut mit deinem Vater meint.«
-
-»Mein Vater kann bauen auf Gottes Hilf. Menschenhilf braucht er nit.«
-
-Der da draußen schien die Geduld zu verlieren. »Sei doch verständig,
-Mädel! Ich will deinen Vater warnen.«
-
-»Der ist kein Treuloser und Unsichtbarer.«
-
-»Bei Christi Leiden. Da steh ich in der Nacht und spiel um mein Leben,
-weil er dein Vater ist!«
-
-»Kannst du spielen um dein Leben, so wird es so viel nit wert sein.«
-
-Ein zerbissener Laut der Sorge. Dann ein wunderlich wehes Auflachen.
-»Tust du dich fürchten? Vor mir?«
-
-»Fürchten? Weil auf heiligem Kirchgang deine Augen mich beschimpft
-haben? So bist du. Fürchten tu ich dich nit.« Die Türkette klirrte, und
-Luisa trat in die Nacht hinaus. Mit der Linken hielt sie die Türe fest,
-damit der Schnee nicht hineinwehen möchte in den Flur, mit der Rechten
-hob sie die Laterne.
-
-Das Licht umglänzte einen Sechsundzwanzigjährigen in verschneiter
-Jägertracht. Ein junger blonder Bart umkrauste das feste, kühne
-Gesicht, das so braun von der Sommersonne war, daß drei Wintermonate
-diese Wangen nicht hatten bleichen können. Wie hundert kleine silberne
-Mücken flogen die beglänzten Schneeflocken um sein im Winde wehendes
-Haar und um die weitgeöffneten Augen, in denen Sorge und Sehnsucht
-brannten.
-
-Die beiden schwiegen eine Sekunde lang. Dann die strenge Mädchenstimme:
-»Du bist das Licht nit wert. Es hilft dir lügen und macht dich anders
-als du bist! Man hat mir gesagt, du wärst ein Unsichtbarer, wenn die
-Sonn am Himmel scheint. Da bleib du auch unsichtbar in der Finsternis!«
-
-Das Licht erlosch; nur noch ein schwarzer Schatten stand in dem weißen
-Gestöber, und die ernste Jünglingsstimme klagte: »Bist du ein lebiges
-Ding mit warmem Blut? Du bist wie zur Winterszeit ein kalter Stein
-in deiner Kirch!« Ohne zu antworten, wollte Luisa zurücktreten in
-den Flur. Da sprang er auf sie zu, umklammerte mit seiner Stahlfaust
-ihren Arm, hielt sie fest, wie heftig sie sich auch wehrte, zog sie
-so dicht an seine Brust heran, daß sie seinen heißen Atem empfand,
-und flüsterte: »Willst du deinem Vater die Hausruh wahren, so sag
-ihm: >Es ist ein heilig Ding, da wird ein Messer durchgestoßen, noch
-heut in der Nacht!<« Er drehte das Gesicht, als hätte er ein Geräusch
-gehört. Da draußen, im Dunkel, beim Leuthaus drüben, glomm es wie
-ein matter, gaukelnder Lichtschein auf; kaum erkennbar war es; doch
-die nachtgewohnten Augen des Jägers erkannten, was da kam. »Hinauf!
-Zu deinem Vater!« Mit Sätzen, wie ein gehetzter Hirsch sie macht,
-verschwand er.
-
-Luisa stand im weißen Gewirbel. Nun war die Sus bei ihr und zog sie in
-den Flur zurück, verriegelte die Tür, gebärdete sich wie eine Verstörte
-und bettelte: »Tu nit Zeit verlieren! Das mußt du dem guten Herren
-sagen! Und tust du's nit, so spring ich selber hinauf --«
-
-Die Stimme der Magd war so laut geworden, daß man sie droben vernommen
-hatte. Niklaus kam aus der Tür gesprungen und rief über das Geländer:
-»Was ist da drunten?«
-
-»Ich komm, Vater!« Luisa huschte über die Treppe hinauf. »Einer hat
-gepocht an der Haustür --« Ein kurzes Zögern. »Ich mein', es ist von
-den Söhnen des Mälzmeisters Raurisser der älteste gewesen, der Leupolt.«
-
-»Sag's doch!« klang die angstvolle Stimme der Magd. »So sag's doch dem
-guten Herrn!«
-
-Der Name, den Luisa genannt hatte, und die Mahnworte der Magd schienen
-den Meister in Sorge zu versetzen. Er zog die Tochter über die
-Stubenschwelle und verschloß die Tür. Auch im Blick der beiden andern
-war Unruh. »So red doch, Kind! Was ist mit dem Leupolt?«
-
-»Das ist ein sündhafter und schlechter Mensch.«
-
-»Der Leupolt?« fragte Pfarrer Ludwig verwundert. »Den prächtigen Buben
-kenn ich seit den Kinderschuhen.«
-
-»Er hat gottferne Augen und hat unsittig zu mir geredet.«
-
-Niklaus wurde ungeduldig. »Red doch, Kind! Was hat er gesagt?« Er
-meinte: jetzt, an der Haustür.
-
-Luisa dachte an den sündhaft gewordenen Dreikönigstag. »Auf heiligem
-Kirchgang hat er zu mir gesagt: ich tät ihm gefallen.«
-
-Aus Simeons Gesicht verschwand die Ängstlichkeit, und Pfarrer Ludwig
-begann zu lachen. »Was für eine Zeit ist das! Ein junges Mädel! Und
-hält es für gottwidrig, wenn sie einem festen Buben gefällt! Alle Natur
-verdreht sich in Unvernunft. Jedes Wörtl wird überspreizt. Keiner redet
-mehr, wie es menschlich wär und wie Herz und Blut es begehren müßten.
-Alles wird aufgeblasen. Jeder lustige Erdenfloh muß sich verwandeln in
-einen Höllendrachen.«
-
-Auch Meister Niklaus schien aufzuatmen. »Und da ist der junge Raurisser
-zur Haustür gekommen? Weil er gern mit dir einen Heimgart gehalten
-hätt?«
-
-Ein Zornblick funkelte in Luisas Augen. »Das nit. Ich hätt es ihm auch
-nit verstattet. Er hat sich frech und unnütz aufgespielt. Du bist, wie
-du bist, Vater! Da braucht nit einer warnen. Und braucht nit sagen:
->Für deinen Vater spiel ich um mein Leben.< Und muß nit sagen: >Es ist
-ein heilig Ding, da wird ein Messer durchgestoßen, noch heut in der
-Nacht.<«
-
-Über die Stirn des Meisters ging ein Erblassen, und Lewitter machte
-eine erschrockene Handbewegung gegen das Schachbrett hin, während
-Niklaus stammelte: »Kind! Warum hast du denn das nit gleich gesagt?«
-
-Luisas Stimme kam einen fremden Klang. »Vater? Ist dein Gewissen nit
-rein vor Gott?«
-
-Zur Antwort blieb dem Meister keine Zeit mehr. Lärmende Rufe im Sturm
-der Nacht, dröhnende Schläge an der Haustür, ein dumpfes Krachen,
-Gesplitter von Holz und das gellende Angstgeschrei der Magd. Als der
-Meister die Stubentür aufriß, hörte man im Flur befehlen: »Ein Vigilant
-zur Haustür! Einer _in loco hujus_ vor das Kuchlmensch! Einer hat
-Vigilanz bei der Stieg! Die drei anderen mit mir! _Citissime_!«
-
-Heiter tätschelte Pfarrer Ludwig die Schulter des vor Schreck wie zu
-Stein gewordenen Mädchens: »Fein, Luisichen! Kindlich über alle Maßen!
-Den Vater ins Rattenloch bringen! So hat's dein heiliger Gott den
-Kindern befohlen! Viertes Gebot!«
-
-Mit erwürgtem Aufschrei jagte Luisa zur Stubentür. Kaum hatte sie dem
-Tisch den Rücken gewandt, da riß Lewitter unter dem Schachbrett das
-hebräisch beschriebene Blatt und ein anderes hervor, das zwischen
-enger Schrift einen Holzschnitt zeigte -- ein Blatt aus dem Nürnberger
-Sendschreiben des vor achtundvierzig Jahren aus Berchtesgaden
-ausgetriebenen evangelischen Bergmannes Josef Schaitberger. Hurtig
-quetschte Simeon die Blätter in zwei kleine Knäuel zusammen, die er
-verschlingen wollte.
-
-»Halt, Bruderherz!« Pfarrer Ludwig riß ihm die Knäuel vom Munde
-weg. »Papier ist untauglich für einen Menschenmagen. Gib her! Ich
-hab ein gutkatholisches Versteck.« Während die große Warze tanzte,
-zerrte der Pfarrer die Bäffchen vom mageren Halse weg und ließ hinter
-ihnen die zwei Papierknäuel verschwinden. »So! Gleich mit dem ersten
-Ruck ist dein Spinoza und des Niklaus Schaitbergischer Sendbrief
-hinuntergerutscht bis in die Magengrub. Außerhalb der Gedärm ist's
-weniger ungesund.«
-
-Zu diesen heiteren Flüsterworten klangen vom Stiegenflur die
-aufgeregten Fragen des Meisters, das Weinen der Magd, die Stimmen und
-das Schrittgetrampel der Soldaten Gottes.
-
-
-
-
-Kapitel II
-
-
-Der Feldwebel des Pflegeramtes, Nikodemus Muckenfüßl, war ein
-wohlgenährter, gutmütig dreinschauender Mensch, der seiner biersanften
-Natur die Unerbittlichkeit des Polizeitones immer gewaltsam abringen
-mußte. Als er, den dünn abgezogenen Schnurrbart um den Finger
-kräuselnd, mit Meister Niklaus und den drei boshaft umherspähenden
-Musketieren lärmvoll in die Stube trat, saß Pfarrer Ludwig mit
-Simeon Lewitter beim Schachspiel und sagte: »Ich weiß nit, warum das
-Schachbrett allweil wackelt? Es steht doch kerzengrad auf dem blanken
-Tisch!« Er hob das Brett in die Höhe und guckte drunter. Niklaus
-verstand diesen Wink und atmete erleichtert auf. Und während Luisa sich
-verstört an die getäfelte Stubenmauer preßte, fragte der Pfarrer sehr
-erstaunt: »Mein lieber Feldwebel? Seid Ihr so ein leidenschaftlicher
-Freund des Schachspiels, daß Ihr aus Ungeduld, ein gutes Spiel zu
-sehen, gleich die Haustür eines redlichen Mannes einschlagt?«
-
-Nikodemus Muckenfüßl machte verdutzte Augen. Das Bild, das er in der
-Stube vorfand, schien seinen Erwartungen nicht zu entsprechen. Seine
-obrigkeitliche Geistesgegenwart versagte für einige Sekunden. Nun fand
-er die strenge Dienstmiene und sagte in dem Polizeideutsch, an das er
-sich in der Pflegerkanzlei gewöhnt hatte: »Vor Reverende prästiere
-ich in christschuldigem _respecto_. Aber Spaßettibus wider die von
-Gott instituierte Obrigkeit sind denen Subjekten nit permittiert. Ich
-inquirirre _sub loco hujus_ in Amtibus.«
-
-»Muckenfüßl,« staunte der Pfarrer, »Ihr redet beinah so gut Latein, wie
-der Kirchenvater Augustinus.«
-
-»_Silentium!_« brüllte der Feldwebel gereizt. Der Scherz des Pfarrers
-bekehrte ihn nicht zu einer reinlicheren Sprache. In diesem Punkte
-gehorchte er nur seiner Frau, die zuhause, wenn ihr Nikodämerl so
-unverständlich kanzleielte, immer sagte: »Red deutsch, du Rindvieh!« In
-dem Schweigen, das sein Befehl erzeugt hatte, erklärte er würdevoll:
-»Es ist der wachsamen Obrigkeit _ad aures_ arriviert, daß _in loco
-hujus_ des _in specie_ verdächtigen Nikolaus Zechmeister verbotene
-_conventicula_ stattfindlich sind, mit _abuso_ ketzerischer _libellis_
-und _pamphletica_. Ich bin von Amtibus ordiniert, die Namen der
-Präsenten _ad notam_ zu rapportieren, _in quasi_ eine Orts- und
-Leibesvisitationem _legaliter_ fürzunehmen.«
-
-Pfarrer Ludwig erhob sich. »So viel Arbeit? Weil wir drei einen Becher
-Würzwein schlucken und Schach spielen: Meister Niklaus unter seinem
-eigenen Dach, als Hausgäste der Leibmedikus Seiner Hochfürstlichen
-Gnaden und ich, von dem Ihr wissen solltet, daß ich ein gutkatholischer
-Priester bin?«
-
-»Der Erzschelm Luther,« rief einer von den Soldaten Gottes, »ist ehnder
-auch einmal ein katholischer Klosterbruder gewesen.«
-
-»Riebeißel,« gebot der Feldwebel, »du tust das Maul tenieren. Der
-Öberste, der kommandieret, bin _ego ipsus_.«
-
-»Also?« fragte der Pfarrer. »Muß ich vorn aufknöpfen oder hinten die
-Hos herunterlassen?«
-
-Muckenfüßl überhörte zartfühlend diesen derben Scherz. »Reverende
-steht _sub_ geistlicher _judicatura_. Ich hab mich nur zu occupieren
-mit denen weltlichen Personibus.«
-
-Da rief ein schwarzbärtiger Musketier, der keinen Blick von der
-Haustochter verwandt hatte: »Vor allem müßt man die Weibsleut
-visitieren. Die sind am flinksten mit dem Verstecken und haben die
-Plätz dazu, wo leicht zum suchen, aber hart zum finden ist.« Er
-streckte schon die Fäuste, um Luisa zu fassen.
-
-Hatte sie bei der wachsamen Obrigkeit einen treubesorgten Schutzengel?
-Der Feldwebel befahl mit gedämpfter Strenge: »Lasset die frommgläubige
-Jungfer in Fried! Visitieret die Mannsleut!«
-
-Luisa stammelte: »Ich bürg mit Seel und Leben für den Vater. Auch für
-die Sus.«
-
-»Für uns zwei nit?« fragte der Pfarrer lachend und wandte sich zu
-Lewitter, von dem ein Musketier den Kittel herunterschälte. »Das müßt
-Ihr leiden, guter Simeon Lewitter! Jeden Kranken untersucht Ihr bis auf
-die Nieren. Da dürft Ihr nit klagen, wenn's _vice-versa_ Euch selber
-einmal geschieht.« Er guckte zur Tür hinüber. »Luisichen! Jetzt wirst
-du aus der Stub gehen müssen. Sonst könnten deine frommen Augen einen
-unheiligen Anblick haben. Ein getaufter alter Jud ist als nackichter
-Adam auch nit schöner, als ein alter, katholisch geborener Christ. Und
-schau, Luisichen, du könntest uns zur Begütigung des Schrecks noch
-einen Becher Würzwein kochen? Oder gleich ein Dutzend! Die tapferen
-Soldaten Gottes sind wohl auch in der kalten Winternacht einem heißen
-Schluck nit abhold.«
-
-Er brachte, während Luisa stumm aus der Stube ging, sein Pfeiflein
-wieder in Brand, ließ sich auf den Sessel nieder und begleitete die
-ernste Amtshandlung mit freundlichen Reden, die spöttisch unterfüttert
-waren.
-
-Zwei Soldaten entkleideten und visitierten den Hausherrn und den
-fürstlichen Leibarzt. Der Musketier, der sich sehr mißtrauisch
-mit Simeon beschäftigte, fand auch in den Schuhen die eingelegten
-Filzsohlen, lüftete sie und stocherte mit dem Finger drunter.
-
-»Ja, Mensch,« sagte der Pfarrer, »das mußt du genau nehmen! Wer weiß,
-ob unter dem Pantoffelfilz nit ein Eimerfäßl ketzerischen Seelenweines
-verborgen ist.«
-
-Während der Visitation der beiden Männer schnüffelten Muckenfüßl und
-Riebeißl in der Stube nach verbotenen Schriften. Sie öffneten jeden
-Kasten und jede Truhe, rissen jede Schublade heraus und drehten das
-Unterste zu oberst. Auf den Knien rutschten sie über die Dielen,
-klopften die Bretter ab und fühlten nach verdächtigen Fugen. Der
-Pfarrer guckte ihnen lustig zu. Plötzlich scheuerte er heftig seine
-Nabelgegend und sagte lachend: »Feldwebel, Ihr müßt einen hungrigen
-Kanzleifloh mitgebracht haben! Der ist hergehupft auf mich, und jetzt
-beißt er mich in der Magengrub.«
-
-Muckenfüßl brummte was Unverständliches und begann die braune
-Vertäfelung der Mauer nach Geheimfächern abzuklopfen. Die drei Männer
--- der eine im schwarzen Priesterkleid und die beiden anderen, die
-irdisch enthäutet in der Stube standen -- sahen nicht nach der
-Mauerstelle hin, die der Feldwebel mit besonderer Sorgfalt abhämmerte.
-Aber während sie ruhig miteinander redeten, funkelte ein gespanntes
-Lauschen in ihren Augen, und alle drei tauschten einen frohen Blick,
-als Muckenfüßl seine obrigkeitliche, den reinen Gottesglauben
-behütende Tätigkeit weiter gegen die Tür hin verschob.
-
-Die zwei gründlich Visitierten durften wieder in ihre Kleider schlüpfen.
-
-Luisa und die weißblonde Magd, die einen verzweifelten Sorgenblick auf
-den Meister heftete, brachten die sieben dampfenden Würzweinbecher.
-Muckenfüßls Amtsmiene milderte sich beträchtlich. Doch bevor er sich
-völlig zurückverwandelte in ein wohlwollendes Menschenkind, mußte er
-noch die wirksamste seiner Künste zur Anwendung bringen und sagte mit
-inquisitorischem Ton: »Gelobt sei Jesus Christus und seine heilige
-Mutter Maria?«
-
-Meister Niklaus, der Pfarrer, Simeon, Sus und Luisa antworteten: »Von
-nun an bis in Ewigkeit, Amen.«
-
-Jetzt nickte Muckenfüßl. »Alles _in ordine_ befunden. Will's der
-Obrigkeit _ad notam_ rapportieren, daß der Angeber ein füreiliges
-_rhinozerum_ gewesen ist.« Lachend griff er nach einem Würzweinbecher.
-»Zur Salutation, ihr ehrenwerten Monsiörs!«
-
-Man stieß miteinander an und schwatzte heiter, als wäre nicht das
-Geringste geschehen in dieser Stunde, die mit der Freiheit dreier
-Männer gespielt hatte und vorüberging wie eine Fastnachtsposse.
-
-Als der Feldwebel und die Soldaten Gottes ihre Becher geleert hatten,
-sagte Niklaus zu den beiden Mädchen: »Sind die Leut aus dem Haus, so
-müßt ihr die beschädigte Tür verstopfen, daß der Schnee nit hereinweht.
-Dann legt euch schlafen.«
-
-Wortlos umklammerte Luisa den Arm des Vaters. Dann verließ sie mit
-jagendem Schritt die Stube. Und Muckenfüßl sagte: »Ich muß die Herren
-noch _specialiter_ monieren _in respecto_ der Polizeistund.«
-
-»Ja, lieber Feldwebel!« lachte der Pfarrer. »Da machet nur, daß Ihr
-mit Euren christlichen Gottesstreitern flink in die Federn kommt! Ihr
-seid die einzigen, die sich gegen das obrigkeitliche Gebot versündigen.
-Meister Niklaus ist in seinem eigenen Haus, ich als Kapitelfähiger des
-Stiftes steh außerhalb des Polizeigesetzes, und Lewitter als Medikus
-hat Freipaß bei Tag und Nacht.«
-
-»Als Medikus! Ich observier aber nit, daß einer von den Monsiöribus
-marod ist?«
-
-»Doch! Mir bremselt's in den unteren Gründen. Da hab ich den Medikus
-nötig. Oder wollet *Ihr* mich davon erlösen?«
-
-»So ein alter Senior! Und allweil Spaßettibus!« Den Kopf schüttelnd,
-ging Muckenfüßl zur Türe. »Daß die Menschheit doch nie zu Verstand
-arriviert.«
-
-Während die Schritte der Musketiere über die Stiege hinunterpolterten,
-standen die drei Männer ernst um den Tisch herum. Als wäre in jedem der
-gleiche Gedanke, reichten sie einander die Hände. Und Niklaus murmelte
-durch die Zähne: »Wär man kein Rebell, sie täten einen machen dazu!«
-
-»Ist schon wahr,« nickte der Pfarrer, »einen Aufruhr hat nie das
-Volk gemacht. Allweil fabriziert ihn die Obrigkeit. Jedes sinnlose
-Polizeiverbot ist Mist für den Acker, auf dem was Widerspenstiges
-aufgeht.«
-
-Simeon schwieg. Meister Niklaus nahm den Kopf zwischen die Hände: »Was
-für eine Zeit ist das! Sie stellt die Lumpen als Wächter vor jedes
-Ding, das wahr und heilig ist.« Er lauschte. Im Haus kein fremder Laut
-mehr; nur ein Brettergerappel drunten im Flur.
-
-Pfarrer Ludwigs braune Warze tanzte zwischen seinen Wangenfalten.
-»So! Jetzt können die heimlichen Gewissensflöh wieder aushupfen.« Er
-löste die Knieschnalle und schlenkerte das Bein. Ein Papierknäuel
-rutschte aus der seidenen Finsternis heraus. »Guck! Einer ist schon da.
-Allweil sag ich's: der ewige Menschendrang zum Licht!« Er dröselte den
-Knäuel auseinander. »Wo bleibt der hebräische Philosoph? Das ist der
-evangelische Dorfapostel Josef Schaitberger. Ein Ketzer.« Lachend hob
-er das Blatt zum Kerzenreif hinauf. Niklaus machte eine Bewegung, als
-möchte er hindern, was der Pfarrer tat. Da züngelte schon die rasche
-Flamme. »Laß brennen, Herzbruder! Dein Haus wird ärmer um eine Gefahr.«
-Die Papierflamme war klein geworden, war herabgebrannt bis zu den
-Fingerspitzen des Pfarrers. Nun blies er kräftig. In vielen Flocken,
-von denen ein paar noch glühten, schwamm die Asche in die Luft hinaus.
-Wieder schüttelte Pfarrer Ludwig die schwarze Seide seiner Hose. »Guck,
-Simmi! Ist *auch* schon da! Dein neufärbiger Philosoph! Ein gefährliche
-Mannsbild! Weil er am tiefsten ist in seiner Weisheit. Gelesen haben
-wir sie. Mich rührt's nit an. Dem Niklaus ist sie gleichgiltig.
-Du, Simmi, hast sie im Köpfl. Besser, wir lassen das Amsterdamer
-Tulpenknöspel verschwinden. >Feuer ist allweil hilfreich!< sagten vor
-anno Towack die Hexenrichter, wenn sie die alten Weiblen verbronnen
-haben.« Wieder eine Flamme. Wieder das Auseinanderschwimmen der Asche.
-
-Nun saßen die drei am Tisch. Der Pfarrer faßte Lewitters Hand. »Erzähl
-uns von ihm! Wann ist er gestorben?«
-
-»Vor 56 Jahren, an der Schwindsucht.«
-
-»Weisheit, die Tausende begnaden kann, verbrennt die Seelen, in denen
-sie wächst.«
-
-»Er hat den Tod in der Werkstatt eingesogen, als Glasschleifer. Die
-jüdische Synagoge von Amsterdam hat ihn ausgestoßen als Verfluchten.
-Und er ist von den wärmsten Menschen einer gewesen, ein Erdenkind mit
-dem ewigen Gottesfunken in der Seel, mit dem Durst nach Wahrheit in
-Blut und Gehirn.«
-
-Die Augen glänzend von einem kummervollen Träumen, sah Niklaus ins
-Leere. »Wann wird das kommen, daß jeder leben darf nach seiner Farb?
-Die Zeit, wo jeder spürt, daß er mit gleichen Rechten ein Bruder des
-andern ist? Mensch neben Mensch?«
-
-Die alte Kastenuhr mit den tiefen Glockentönen schlug Mitternacht.
-Pfarrer Ludwig erhob sich. »Die Zeit geht auf den Morgen zu. Lasset uns
-beten als Brüder, die dem Licht entgegenharren.«
-
-Die beiden anderen standen schweigend auf, und Meister Niklaus ging
-der Wandstelle zu, die der Feldwebel des Pflegeramtes mit erhöhter
-Aufmerksamkeit abgepocht hatte. Er drückte auf einen Nagelstift,
-der verborgen in der Täfelung saß. Die mit einer dicken Gipsmasse
-unterlegte Wandverschalung öffnete sich doppeltürig und zeigte in
-der Mauergrotte ein geschnitztes Bild, das einer mittelalterlichen
-Weihnachtskrippe glich und von kleinen farbigen Lämpchen mystisch
-erleuchtet war -- ein Werk, in dem sich innige Kunst und kindliche
-Einfalt miteinander verwoben.
-
-Eine plastische, durch Farben belebte Berglandschaft unter blauem
-Himmel. Der höchste Gipfel hatte die gebrochene Zahngestalt des
-Wazmann. Auf den Höhen noch der Winter, im Tal der Frühling mit
-Blumen, mit grünen Wiesen und belaubten Wäldchen. Kleine Dörfer mit
-zierlichen Hütten, in deren aus Glassplittern gebildeten Fenstern
-das Licht der bunten Ämpelchen schimmerte, als wär's ein Morgen um
-die Stunde, in der die Sonne kommt. Die Herden auf der Weide. Viele
-winzige Menschenfigürchen dazwischen: Bauern und Sennleute, Köhler und
-Holzfäller, ein Jäger mit Büchse und Hifthorn, ein Floß mit Flößern auf
-den Glasbuckeln des Baches, am Ufer des Wassers ein Fischer mit der
-Angelrute, auf der Straße ein Trupp Musketiere im Marsch. Über grüner
-Anhöhe ein Kirchlein, aus dessen Tor eine Prozession mit vielen Fahnen
-herausschreitet. Ganz vorn zur Linken ein Häuschen, in dessen Stube
-man hineinsieht; es ist die Werkstätte eines Spielzeugschnitzers, der
-mit seinem Weib und vielen Kindern bei der Heimarbeit am Tische sitzt.
-Und zur Rechten eine offene Scheune, in welcher alte und junge Leute
-andächtig um einen Greis herumknien, der aus einem Buche vorliest.
-Zwischen diesen Gruppen ist die Erde geöffnet, und man sieht hinunter
-in die Schachttiefen des Salzwerkes, sieht die Salzhäuer bei der
-Arbeit, sieht die Förderung mit den rollenden Hunden.
-
-Dieses Kleine, Feine und Zierliche war nur ein Rahmen für den größeren
-Mittelpunkt des Bildes. Da stand auf blumigem Hügel ein Kreuz
-errichtet, mit der Gestalt des leidenden Erlösers. Unter dem Kreuze
-beugt die Heilandsmutter, gestützt von den Armen des Johannes, sich
-zärtlich nieder und umschützt mit ihrem blauen, sternbestickten Mantel
-drei kleinere Figuren: einen katholischen Priester mit der Stola, den
-Moses mit den Gesetztafeln und einen evangelischen Prediger mit dem
-Kelch.
-
-Ein leises Knistern war in den Ampelflämmchen, und der dünne Rauch, der
-sich in der Grotte gesammelt hatte, quoll wie Nebel um die Schneegipfel
-der Berge und begann hinaufzuströmen gegen die Stubendecke.
-
-Stumm, die Herzen erfüllt von träumender Inbrunst, standen die drei
-Männer vor dem Bilde, das so ergreifend wie kindlich, so tiefsinnig
-wie voll Einfalt war. Und dieses Schweigen war das verbrüderte Gebet
-ihres duldsamen Glaubens, war das ungesungene Lied ihrer gemeinsamen
-Hoffnung auf einen Menschenmorgen, von dem sie wußten, daß er kommen
-muß -- bald, meinte der eine; nach Jahrzehnten, glaubte der andere;
-nach Jahrhunderten, hoffte der dritte. Und nicht die Farben und
-Figürchen, nicht die Lichter und Dämmerungen des Bildes weckten die
-Andacht in ihren Herzen. Ihr andächtiger Glaube war es, der ihnen das
-tote Gestaltengewimmel belebte und seine flimmernde Enge weitete zum
-lichtdurchfluteten Bilde einer werdenden Welt.
-
-Da hob der Pfarrer lauschend den Kopf. »Niklaus! Ich hör was.«
-
-Der Meister tat einen schweren Atemzug. »Hinter der Mauer ist meines
-Mädels Kammer. Da liegt der arme Klosterspatz auf den Knien und
-litaneiet in Höllenangst um unsere drei verlorenen Seelen.«
-
-War der Sturm erloschen? Außerhalb der Wände kein Rauschen und Sausen
-mehr. Draußen die stummgewordene Nacht. Auch Stille im Haus. Nur immer
-dieser eine gleiche Laut, diese stammelnde Mädchenstimme.
-
-Eine weiße Kammer, freundlich anzusehen. Man merkte an ihrem Gerät, wie
-zärtlich dieser Raum bereitet war von der Liebe eines Vaters, der sein
-Kind in Sehnsucht erwartet hatte nach Jahren des Leidens.
-
-Die Kerze flackerte auf dem Gesimse des von schweren Läden
-verschlossenen Fensters, neben dem weißverhangenen Kastenbett.
-Schon entkleidet, lag Luisa auf den Knien vor einer Truhe, die
-ineinandergekrampften Hände hingerückt gegen ein Altärchen, das
-zwischen Leuchtern und künstlichen Blumen unter schimmerndem Glassturz
-eine von Goldflittern glitzernde Madonna mit dem wächsernen Jesuskinde
-zeigte. Fünf Ave Maria, die Litanei zur Gottesgebärerin, wieder das
-Ave Maria, immer mit der gleichen bebenden Stimme, die wie ein leises
-Schreien aus angstvoller Seele klang. Und so lange betete Luisa, bis
-der Glaube an die Hilfe wieder leuchtend in ihrem Herzen war. Sie
-bekreuzte die Stirne, den Mund und die knospende Brust, beugte sich
-vor und küßte das kalte Glas, das sich behauchte von ihrem Atem.
-Dann trat sie auf den nackten Sohlen zum Kastenbett und begann die
-braunblonden Flechten zu lösen. Gleich einem schimmernden Mantel
-fiel ihr das Haar um Nacken und Schultern. Mit der Linken streifte
-sie die linde Woge über den rechten Arm zurück und wollte die Hände
-heben, um das Haar zu knüpfen. Da weiteten sich ihre Augen. Regungslos
-betrachtete sie den weißen Arm. Der hatte zwischen Schulter und
-Ellenbogen vier blaue, strichförmige Male. Lange verstand sie das
-nicht. Nun eine Schreckbewegung, ein Erstarren ihres Gesichtes. Es
-waren die Denkzeichen jener stählernen Jägerfaust, die bei der Haustür
-im Schneegestöber ihren Arm umklammert hatte. Und ihr war, als klänge
-wieder die erregte Jünglingsstimme: »Es ist ein heilig Ding, da wird
-ein Messer durchgestoßen, noch heut in der Nacht!« Wie eine Sinnlose
-sprang sie auf das kupferne Weihwasserkesselchen zu, tauchte die ganze
-Hand hinein und wusch die blauen Male, immer fröstelnd, als berühre
-sie etwas Häßliches. Dann blies sie die Kerze aus und betete in der
-Finsternis mit flehendem Laut: »Hilf mir, heilige Mutter Marie! Tu mich
-reinigen an Leib und Seel!«
-
-Das Kastenbett krachte ein bißchen, als es die leichte Last einer
-zarten Jugend empfing.
-
-Luisa lag unbeweglich. Ihr Atem ging schwer. Hatte ihr Arm eine Wunde?
-Von der Stelle der blauen Male rann es ihr wie Feuer ins Blut. Und
-immer sah sie ein Bild in der Finsternis: wehendes Blondhaar, eine
-braune Stirn und zwei stahlblaue, sehnsüchtige Jünglingsaugen, die von
-hundert silbernen Mücken umflogen waren.
-
-Die Hände über der Brust verflechtend, fing sie zu beten an. Das
-unheilige Bild verschwand nicht. Sie setzte sich in den Kissen auf
-und hob die gefalteten Hände. Die Heiligen, die sie herbeischrie,
-halfen nicht und wollten das unreine Bild nicht auslöschen, wollten
-den Unsichtbaren, der sich sichtbar machte, nicht zurückstoßen in die
-Finsternis.
-
-Mit klagendem Wehlaut hob Luisa sich auf die Knie, beugte sich über
-das Fußgestell des Bettes und riß die Tür auf, die in die anstoßende
-Kammer führte. »Gute Sus? Du tust noch allweil nit schlafen, gelt?«
-
-Eine müde Stimme: »Mögen tät ich. Mein Schlaf ist, ich weiß nit, wo.«
-
-»Ich tu dich bitten, komm ein bißl zu mir!«
-
-»Kind, was ist dir?« Etwas Graues huschte lautlos aus dem Dunkel
-heraus. »Du bist doch nit krank?«
-
-»Krank nit. Ich tu mich sorgen, daß ich sündig bin, weil ich höllische
-Gespenster seh!«
-
-»Geh, du Närrle!«
-
-»Tu mich halsen, Sus! Noch fester! Jetzt ist mir wohl. Und alles ist
-wieder schwarz. Komm, Sus, tu beten mit mir.«
-
-Leis erwiderte das Mädel: »Beten kann ich nit. Allweil muß ich an die
-Soldaten Gottes denken, und was dem guten Herren hätt drohen können.«
-
-Es wurde laut im Haus. Eine Türe ging. Schritte und Stimmen; am
-deutlichsten die Stimme des Meisters.
-
-Da tauchte plötzlich die Sus das Gesicht gegen den Schoß der
-Haustochter und brach in erwürgtes Schluchzen aus.
-
-»Sus? Du Liebe! Was hast du denn?«
-
-»Mir ist so weh, ich kann's nit sagen. Es bringt mich noch um.«
-
-»Das sind die Soldaten nit. Das ist der Vater, den der Himmel jetzt
-erlöst -- von den anderen zwei, die ich nit leiden mag. Gott tut mich
-warnen vor ihnen. Die bet ich noch fort aus unserem Haus. Sei still,
-liebe Sus! Da mußt du nit Angst haben.«
-
-»Es ist nit Angst. Es ist die Zeit. Die liegt auf jedem als wie ein
-Stein.«
-
-»Die Zeit muß keiner fürchten, der gläubig ist. Komm, Sus, du frierst.
-Ich spür, wie du zitterst. Laß dich zudecken! Einen Menschen haben, ist
-gut.«
-
-Die drei Männer, die draußen hinunter gingen über die Stiege,
-hatten eine Weile im Flur zu schaffen, bis sie die mit Brettern und
-Holzscheiten verbarrikadierte Türe frei bekamen.
-
-Durch die Klüfte der zerschlagenen Haustür wehte kein Schnee
-mehr herein. Das Gestöber war versiegt. Draußen eine schweigsame
-Winternacht, durch deren ziehendes Gewölk der Vollmond herunterglänzte.
-
-Während Meister Niklaus im Flur die Barrikade wieder baute, schritten
-Pfarrer Ludwig und Simeon Lewitter lautlos durch den Schnee.
-
-Hunde schlugen an, bald nah, bald ferne, mit Stimmen, die halb
-erloschen im Rauschen der Ache.
-
-Simeon flüsterte: »Die Nacht ist wieder ohne Ruh.«
-
-»Es wandern die Unsichtbaren.«
-
-Die beiden folgten der Straße. Da faßte der Pfarrer den Arm des
-Freundes und deutete über eine verschneite Wiese hinaus. »Dort! Siehst
-du's?«
-
-Etwas Wunderliches war zu sehen: ein im Mondschein gleitender
-Menschenschatten, ohne daß man einen Menschen sah.
-
-Rasch watete Pfarrer Ludwig in die Wiese hinaus und stand vor einer
-Gestalt, die bis zu den Füßen in Leinwand gekleidet war, so weiß wie
-der Schnee, über dem Kopf eine Kapuze mit Löchern für die Augen, in
-denen es funkelte gleich geschliffenen Gläsern. »Wer bist du?« Keine
-Antwort. Der Pfarrer lachte ein bißchen. »Ich bin nit gefährlich. Nur
-neugierig wie Kinder und alte Leut. Gehst du zum Toten Mann? Oder
-kommst du von ihm?« Keine Antwort. Nur das Strömen eines schweren
-Atems. »Leupolt? Bist du's?«
-
-»Wohl.«
-
-»Was suchst du noch?«
-
-»In Sorg bin ich gewesen. Um den Meister. Jetzt weiß ich, wer bei ihm
-gewesen ist. Da bin ich ledig aller Sorg.«
-
-»Heut hast du ihm viel zulieb getan. Wie hast du wissen können, daß die
-Soldaten Gottes bei ihm einkehren?«
-
-»Der Vater hat's heimgebracht vom Pflegeramt und hat mit der Mutter
-geredet. Ich hab's gehört.«
-
-»So? Und da bist du weggesprungen über Vater und Mutter! Und hast dem
-anderen geholfen? Warum?«
-
-»Weil ich's tun hab müssen.«
-
-»Als sein Bruder in Gott? Gelt, ja? Und sonst aus keinem anderen
-Grund!« Wieder lachte der Pfarrer. »Geh schlafen, lieber Bub! Die
-Gefahr ist vorbei. Steig nur nit gar zu fleißig auf den Toten Mann!
-Dir vergönn ich ein lebendiges Glück. Will auch helfen dazu, so gut
-ich's versteh. Zwei Herrgötter sollen dich hüten, der deine und der
-meine. Doppelt genäht hält allweil besser.« Der Pfarrer stapfte durch
-den Schnee zur Straße zurück. Als er das Gesicht wandte, sah er keine
-Gestalt mehr, nur noch den unbeweglichen Menschenschatten.
-
-
-
-
-Kapitel III
-
-
-In den Schneekrystallen funkelte der Mondschein mit farbigen Blitzen.
-
-Lewitter stellte keine Frage, als der Pfarrer wieder an seiner Seite
-war. Wortlos wanderten die beiden gegen den Markt hinüber und kamen an
-einem neuen, zierlichen Bau vorbei, der hinter hoher Mauer in einem
-Garten stand. Ein feiner, zirpender Spinettklang war zu vernehmen.
-»Hörst du?« flüsterte Pfarrer Ludwig. »Die Allergnädigste ist noch
-munter.«
-
-Simeon schwieg.
-
-Als sie an der Mauer vorüber waren, murrte der Pfarrer: »Hast
-du beim Tor die frischen Fußstapfen im Schnee gesehen? Süße
-Mitternachtsfährten! Und der Allergnädigste trägt die Unkosten.
-_Maîtresse en titre_ heißen sie das in der fürnehmen Welt. Es gibt
-keine Ferkelei, für die man jetzt nit einen parisischen Namen findet,
-der allen Lebensdreck in eine höfische Fineß verwandelt. Wer's
-von den Herren nit mitmacht, glaubt nit Fürst zu sein. Er wär ein
-Minderwertiger unter seinen Standesbrüdern, wenn er dem französischen
-Hof nit alles nachschustert: die Sittenverderbnis, das Schuldenmachen,
-die Karossen und Läufer, die Peruckenfasnacht, die gestutzte Gärtnerei,
-den ganzen Jägerschwindel _à la mode_ und das >Große Jagen< auf die
-haufenweis zusammengehetzte Kreatur -- Mensch oder Vieh!« Der Pfarrer
-verstummte nicht, obwohl ihn Simeon beschwichtigend am Mantel zupfte.
-»Ach, Bruder, die Zeit ist ein übles Kehrichtfaß voll Heuchelei und
-Sinnenbrodel, voll Grausamkeit und verwesenden Dingen. Man sollt die
-ganze Schweinerei verbrennen, um aus der Asche was Neues wachsen zu
-lassen. Ob der Mann schon geboren ist, der das fertig bringt auf dem
-deutschen Acker?«
-
-Lewitter atmete auf, weil der andere schwieg, und machte flinkere
-Schritte.
-
-Ein bißchen lachend, zürnte der Pfarrer: »Allweil bist du wie eine
-Maus. So scheu, so flink, so lautlos.«
-
-Simeons Stimme war wie ein Hauch. »Der Schnee verschärft jeden Laut.
-Und wie stiller eine Mauer ist, um so offener sind ihre Ohren.«
-
-»Recht hast du! Siebzig Jahr! Und noch allweil bin ich der gleiche
-Hammelskopf, der sich die Hörner nit abgestoßen hat.«
-
-Sie gingen in der Marktgasse schweigend an der Häuserzeile entlang,
-die im schwarzen Mondschatten lag. Außerhalb des Dunkels funkelte der
-Schnee im bleichen Licht, und die weißen Mauern der anderen Häuserseite
-sahen unter den dicken Winterkappen aus wie blasse Riesengesichter mit
-vielen finsteren Augen. Bei der Gasse, wo die Wege der beiden sich
-schieden, reichten sie einander die Hände. Jeder flüsterte die zwei
-gleichen Worte: »Mensch bleiben!« Dann der Pfarrer: »Das wird mich nit
-schlafen lassen heut.«
-
-»Die Sorg um den Niklaus?«
-
-»Auch. Und was du uns fürgelesen hast.«
-
-Nun lächelte Lewitter. »Du hast doch gesagt, dich rührt's nit an.«
-
-»Ob das allweil so ist? Bei den neuen, tiefen Gedanken? Es ist wie
-ein Funken, den man nit fallen spürt in sich. Und gählings wärmt er
-und wird ein Feuer, das leuchtet! -- Ich will mir's heut in der Nacht
-noch aufschreiben. Guten Morgen, mein Simmi!« Lautlos ging der Pfarrer
-durch den funkelnden Schnee davon. Lewitter zappelte in die enge Gasse
-hinein, in der nur die Giebel noch Mondschein hatten. Nun schrak das
-Männchen heftig zusammen, weil es auf der Steinschwelle seiner Haustür
-ein zusammengekrümmtes Mannsbild sitzen sah. »Wer bist du? Gelobt sei
-Jesus Christus und die heilige Mutter Maria!«
-
-Der junge Bauer antwortete, vor Frost mit den Zähnen schnatternd: »Von
-nun an bis in Ewigkeit, Amen! Der Christl Haynacher bin ich.«
-
-Lewitter schien aufzuatmen. »Kommst du wegen deines Weibes?«
-
-»Wohl, Herr! Tut mir die Lieb und kommt zu meiner Martle! Ich bin beim
-Feldscheer gewesen. Der hat nit raus mögen aus dem warmen Bett. Aber
-das Weibl kreistet, es ist zum Erbarmen.«
-
-»Ich komme gleich.« Als Lewitter sich gegen die Schwelle wandte, pfiff
-er leis, und die Tür öffnete sich. Er trat in einen finsteren Flur,
-in dem ein angenehmer Duft war, wie gemischt aus den Gerüchen einer
-Apotheke und eines Gewürzlagers. Hinter ihm wurde die Tür verriegelt.
-»Eil dich, Lena,« flüsterte Simeon in das Dunkel, »hol mir die braune
-Tasch!« Während er über eine steile Stiege hinaufhastete, glänzte ein
-matter Lichtschimmer im Hausflur. Vor einer Türe schob Lewitter die
-Füße in zwei große Filzpantoffel, um den Schnee nicht hineinzutragen in
-diese Stube, die das Heiligtum seines einsam gewordenen Lebens war.
-
-Ein großer Raum mit vielen Teppichen. Die zwei Fenster mit dicken
-Innenläden verschlossen, durch Eisenstangen verwahrt. Von der Decke
-hing eine alte Silberampel herunter, deren Licht von einer roten
-Glastulpe umhüllt war. Zierliche Stühlchen und ein Tisch, an dem die
-eingelegte Perlmutter wie Rubine funkelte. Allerlei Frauengerät,
-Haubenstöcke und Kochgeschirr, ein Spinnrädchen und ein Garnhaspel,
-ein kleiner Webstuhl und ein Gewürzmörser. An den Wänden waren hohe
-Gestelle mit Spielzeug in solcher Menge angeräumt, daß die Stube fast
-aussah wie ein Kramladen der Kinderfreude.
-
-Während Lewitter in dem roten Lampenlichte huschend umherging und
-alles Nahe mit zärtlicher Hand berührte, brannte in seinen Augen eine
-dürstende Sehnsucht. Sein Gesicht hatte die steinerne Glätte verloren
-und war durchwühlt von einer schmerzenden Erschütterung. So oft er
-diese Stube betrat, seit fünfzehn Jahren, immer war es so. Immer wurde
-das Glück in ihm lebendig, das er verloren hatte, und immer mußte er
-jener grauenvollen Stunde denken, in der er wie ein Irrsinniger an den
-Leichen seines Weibes und seiner Kinder vorübergetaumelt war und unter
-den Fäusten wahnwitziger Menschen geschrien hatte: »Ich glaube, ich
-glaube, ich laß mich taufen!«
-
-Müd und zitternd, fiel er auf eines der kleinen Stühlchen hin, bedeckte
-das Gesicht mit den Händen, saß unbeweglich und fuhr erschrocken auf,
-wie geweckt und gerüttelt von einer Pflicht seines Lebens. Seufzend
-ließ er die Augen hingleiten über das verstaubte Spielzeug, hatte
-wieder das steinerne Gesicht, das geduldige Lächeln, murmelte ein
-Segenswort seines unverlorenen Väterglaubens und verließ die Stube. Als
-er die Treppe hinunterstieg, erlosch das Licht im Flur. »Hast du die
-braune Tasch?« Er fühlte sie vor seinen Händen und trat in den Schnee
-hinaus. »Komm, Christl!«
-
-»Der Himmel soll's Euch lohnen, guter Herr!«
-
-Simeon lächelte. »Heut sagst du: >Guter Herr!< Am Weihnachtsabend,
-wie ich auf vereistem Weg an dich angestoßen bin, da hast du >Saujud<
-gesagt.«
-
-Verlegen stammelte der junge Bauer: »Ein Mensch im Ärger ist dumm. Mein
-armes Weibl wird's nit entgelten müssen. Selbigsmal, am heiligen Abend,
-hab ich einen schiechen Verdruß hinunterschlucken müssen. Ein Mensch,
-der Unrecht leidet, wird allweil ein Lümmel.«
-
-Die beiden überschritten den Marktplatz, um hinunterzuwandern ins Tal
-der Ache. Das Bauernlehen des Haynacher lag da drunten, hinter der
-Saline Frauenreuth. Vor dem Tor des Stiftes sprang ihnen die Schildwach
-entgegen. Die beiden mußten ihre Namen nennen, ehe sie weiter durften.
-Der junge Bauer, ärgerlich über den Aufenthalt, knirschte zornig vor
-sich hin: »Gescheiter, er tät den Unsichtbaren nachspringen, eh daß er
-einem Gutgläubigen den Weg verstellt. Wie ich heraufgelaufen bin, ist
-überall die Nacht lebendig gewesen. Die im Stift da droben haben noch
-allweil blinde Augen.«
-
-»Die brauchst du ihnen nit zu öffnen, Christl! Sag mir lieber, was ist
-mit deinem Weib? An Weihnachten hab ich gesehen, daß sie gesegnet ist.
-Wär's an der Zeit mit ihr? Hat dich die Hebmutter geschickt?«
-
-Der junge Bauer schüttelte den Kopf. »Ich bin selber gelaufen, aber ich
-weiß nimmer, was das ist. Die Hasenknopfin --«
-
-Lewitter wiederholte rasch: »Die Hasenknopfin?«
-
-Zögernd sagte der junge Bauer: »Wohl! Die Hebmutter von Unterstein.«
-
-»Dein Lehen gehört zum Markt. Warum mußt du die Hebmutter von
-Unterstein haben?«
-
-»Die vom Markt,« erwiderte Christl scheu, »die mag mein Weib nit. Es
-ist ein Kreuz, Herr!«
-
-Mehr brauchte Simeon nicht zu hören. Nun wußte er, daß die Haynacherin
-eine Unsichtbare war, die ihren Leib von einer katholischen Wehmutter
-nicht berühren ließ. »Dein Weib muß leiden?«
-
-»Heut nach der zehnten Stund, da hat sie zu schreien angehoben und ist
-wie unsinnig gewesen.«
-
-»Ein natürlich Ding, Christl!«
-
-Wieder schüttelte der junge Haynacher den Kopf. »Vor anderthalb Jahren
-hat mir meine Martle ein Bübl geboren. Sie sagt, da wär's anders
-gewesen. Und die Hasenknopfin kennt sich nimmer aus. Sie meint, es wär
-schon drei Wochen über die Zeit. In mir ist eine Angst --«
-
-»Die Hasenknopfin wird falsch gerechnet haben. Hast du Feuer daheim?«
-
-»Der Ofen ist warm, der Herd ist kalt.«
-
-»So spring voraus, mach Feuer auf dem Herd, daß du kochendes Wasser
-hast, bis ich komme.«
-
-Der Bauer fing zu rennen an, daß ihm der schnellste Läufer des
-Fürstpropstes nicht nachgekommen wäre. Diese straffe, gesunde Gestalt,
-die noch was Jünglingshaftes hatte, schien Sehnen von Stahl zu
-besitzen. Der graue Lodenmantel wehte dem Christl vom Halse weg, und
-das harte Gesicht mit dem kurzen Braunbart war nach vorne gestreckt.
-So rannte er durch den Mondschein wie ein vom Tod Gehetzter. Der
-gutgläubige Christl Haynacher mußte seine Martle, obwohl sie eine
-Unsichtbare war, von Herzen lieb haben. Er rannte keuchend durch die
-Dampfwolken, die das Frauenreuther Salinenhaus umdunsteten. Über eine
-Holzbrücke hinüber, durch ein kleines Gärtl und in das niedere Haus.
-»Tu dich getrösten, Martle!« rief er atemlos in die Schlafkammer, in
-der das stöhnende Weib die Hände nach ihm streckte. »Gleich kommt der
-Jud. Der ist geschickter als der Feldscheer. Jetzt muß ich zum Herd.
-Der Jud will haben, daß ich Wasser sied.« Er sprang zur Küche.
-
-Bei allen Schmerzen wurde das junge Weib von der Sorge geplagt, daß der
-Mann eine falsche Pfanne nehmen könnte. Angstvoll schrie sie ihm nach:
-»Nit das neue Kupferpfändl. Das müssen wir aufheben fürs Kind. Nimm den
-alten Blechhafen!«
-
-Christl dachte: >Sie sieht nit, was ich nimm.< Er haßte das kommende
-Kind, das sein Weib so schreien machte in Schmerzen, und für seine
-Martle war ihm die neue Kupferpfanne gerade gut genug. Wär' eine
-silberne im Haus gewesen, der Christl hätte sie genommen. Eine Minute,
-und das Feuer züngelte auf dem offenen Herd, die Kupferpfanne hing
-darüber und rauchte. Jetzt konnte Christl zum Bett seines Weibes
-springen. Am Türpfosten zwischen den beiden Wohnräumen hing eine
-qualmende Specklampe und beleuchtete die Stube und die Kammer. In der
-Stube stand neben dem warmen Feuersteinofen die Wiege, in der das
-Bübchen schlief; es hatte rote Wangen und schien den braunen Krausbart
-des Vaters als Perücke zu tragen. Christl warf einen zärtlichen Blick
-auf das kleine Bürschl, das er jetzt doppelt lieb hatte, weil es vor
-seinem ersten Tag die Mutter nicht so grausam geplagt hatte, wie dieses
-neue kommende Leidwesen, das er haßte. Als er hineinsprang in die
-kleine Kammer, die nicht viel größer war als das plumpe Doppelbett, kam
-er gerade recht, um dem jungen Weib, das sich in Schmerzen wand, die
-verkrampften Hände zu lösen. Seine Nähe schien sie ruhiger zu machen.
-Er lag vor dem Bett auf den Knien, und Martle, ihre Pein verbeißend,
-umklammerte seine braunen Fäuste. Ihr hübsches Gesicht war entstellt,
-und das wirre Blondhaar hing um die von Schweiß überglitzerten Wangen.
-Kaum verständlich stöhnte sie: »Mann, ach Mann, ich tu nit gebären, ich
-glaub, daß ich sterben muß.«
-
-Er bettelte: »Herzweibl, magst du nit ein bißl christliche Besinnung
-haben? Magst du nit einen frommen Notschrei tun zu den vierzehn ewigen
-Helfern?«
-
-Heftig wehrte das Weib: »Sterben, wenn's sein muß. Nit lügen! Täten
-die Soldaten Gottes kommen, jetzt tät ich es sagen, daß ich eine
-Unsichtbare bin.«
-
-Er klagte in Gram und Zorn: »Der Himmel tut dich büßen. Not und Elend
-will kommen über uns, weil du weit bist von meinem Herrgott und dich
-versündigst am rechten Glauben.«
-
-»Elend und Not kommt über mich, weil du fern bist von meiner Seligkeit.
-Du bist so weit von mir -- schier sehen dich meine Augen nimmer.« Nach
-diesen Worten ein gellender Schrei ihrer Qual.
-
-Nicht dieser Schrei erschütterte ihn. Was ihm das Herz bedrückte, war
-der Blick der Liebe, der nach ihm dürstete aus ihren verstörten Augen.
-Wie ein Wahnwitziger keuchte er: »Schick mich den Höllenweg! Ich tu's,
-Martle, nur daß ich dich nimmer leiden seh! Soll ich dir einen holen
-von den Deinigen? Daß er dich tröstet?«
-
-Sie zog seine Hände an ihren Hals. »Mein Vater und meine Mutter haben
-mich verlassen, haben mich verstoßen. Von den anderen, die meine
-Geschwister sind in Gott, därf ich keinen beim Namen nennen. Magst du
-mir was zulieb tun, so hol mir mein Paradiesgärtl und tu mir's unter
-das Kissen legen. Dann ist mir leichter.«
-
-Christl sagte wie ein Gefesselter: »Ich tu mich versündigen für alle
-Ewigkeit. Wo hast du das Büchl?«
-
-Sie spähte gegen die Stubentür und lauschte. Dann zog sie ihn an
-sich und flüsterte an seinem Ohr: »In der Milchkammer steht die
-Kleienkist. Tief mußt du unter die Klei hinuntergreifen. Ganz unten ist
-das Mehlsäckel versteckt. Im Mehl, da findest du einen Pack. Sieben
-Lodenfleck sind drumgewickelt.« Ihre Augen begannen zu glänzen. »Da
-drinnen ist das heilige Büchl.«
-
-»Martle, ich muß es bringen.« Er sah ihr in die glücklichen Augen. So
-hatte sie ihn angesehen vor drei Jahren, am Hochzeitstag, als er nach
-dem Kirchenritt die junge Frau heruntergehoben hatte vom rotgesattelten
-Brautschimmel. Und während er hinaustaumelte durch die Stube, raunte
-er wie ein Verzweifelter: »Im Mehlsäckl! Jetzt hat sie's im Mehlsäckl.
-Und hundertmal hab ich das ganze Haus schon ausgesucht nach dem
-gottverfluchten Teufelsgut!«
-
-Als er das Buch -- das evangelische Paradiesgärtlein des Johann Arndt
--- gefunden und aus den mehligen Lappen herausgewickelt hatte, mußte
-er draufspeien in seinem frommen Christenzorn. Erschrocken wischte er
-den Speichel wieder fort und hatte, als er in die Schlafkammer trat und
-sein Weib in Freude die Hände strecken sah, das quälende Gefühl: daß
-er nicht hätte beschimpfen sollen, was seinem Weibe heilig war. Sie
-selber schob das Buch unter das vom Schweiß ihrer Schmerzen durchnäßte
-Kissen. Nun streckte sie sich aus, faltete die Hände und sprach mit
-lächelnder Innigkeit die leisen Worte: »Vergeltsgott, du Lieber! So
-viel wohl ist mir jetzt. Gott verlaßt die Seinen nit, die zu ihm stehen
-in Treu und Redlichkeit.« Während Christl stumm sein lächelndes Weib
-betrachtete, als geschähe an ihr ein Wunder, klang ein hartes Pochen
-durch das stille Haus: Lewitter klopfte an der Schwelle den Schnee von
-den Schuhen. In Freude stammelte der junge Bauer: »Martle! Die Hilf ist
-da!« Er rannte in den Flur und wollte fast verzweifeln, weil Lewitter
-so lange brauchte, um sich aus dem Pelz herauszuschälen und auf dem
-Herd die Hände in heißem Wasser zu waschen.
-
-Mit der braunen Tasche ging Simeon in die Kammer und zündete, während
-er freundlich zu der Leidenden redete, eine hellbrennende Kerze an.
-Dann schloß er die Türe. Christl mußte in der Stube bleiben. In
-qualvoller Erwartung saß er auf der Ofenbank. Um einen Trost für sein
-hämmerndes Herz zu haben, nahm er sein Büberl aus der Wiege und sang
-mit erwürgter Stimme ein Schlummerlied, obwohl der Kleine aus dem
-festen Kinderschlafe gar nicht erwacht war. Zwischen den Strophen des
-Liedes stammelte er seine Stoßgebete, immer eines, mit dem er die
-Heiligen um Hilfe anbettelte für sein leidendes Weib, dann eines, mit
-dem er Gott um Verzeihung bat für die Todsünde, die er durch Förderung
-der Gottwidrigkeit einer Unsichtbaren begangen hatte. Da öffnete
-Lewitter die Kammertür. Er schien erregt zu sein. »Ich hab deinem
-Weib was geben können, was die Schmerzen lindert. Aber man muß die
-Hasenknopfin holen. Allein möcht ich auch nit bleiben. Kannst du nit
-einen Nachbar drum anreden, daß er zur Wehmutter geht?«
-
-»Wohl!« Christl preßte die Wange an das schlafheiße Gesicht seines
-Bübchens und legte das Kind in die Wiege. »Ich spring, was ich springen
-kann.« Durch den Schnee und über den Zaun hinüber. In dem Haus, an dem
-er pochte, wollte niemand erwachen. Oder war niemand daheim? Waren das
-*auch* solche, die sich unsichtbar machen in der Schneenacht? Über die
-Straße zum nächsten Haus. Hier wurde der alte Bauer wach und murrte
-in der Fensterluke: »Aus dem Markt will ich die Hebmutter holen. Der
-Hasenknopfin geh ich nit ums Leben ins Haus.«
-
-»Jesus, Jesus, ich brauch aber die Hasenknopfin.«
-
-»So mußt du selber nach Unterstein. Gelobt sei Jesus Christus und die
-heilige Mutter Marie.« Der alte Bauer schloß das Fenster und sagte
-in der Stube zu seinem Weib: »Jetzt muß der Haynacher auch nimmer
-rechtgläubig sein. Er hat den Fegfeuergruß versagt.« Christl hatte der
-gutkatholischen Antwort nur aus Schreck vergessen. Und während er sich
-besann, zu welchem Haus er nun rennen sollte, sah er von der Saline her
-einen Menschen durch die Mondhelle kommen. Im Schneelicht erkannte
-Christl den Jäger Leupolt Raurisser, mit der Feuersteinflinte unter dem
-Radmantel. »Jesus, Christbruder, was hast du für einen Weg?«
-
-»Zum Königssee.«
-
-»Gott sei Lob und Dank. Da mußt du durch Unterstein. Magst du nit der
-Hasenknopfin ausrichten, sie soll zur Haynacherin kommen, gleich! Magst
-du es tun?«
-
-»Gern, Bauer!«
-
-»Vergeltsgott tausendmal!« Das sagte Christl, während er schon
-davonsprang. Dann fiel ihm ein, daß er den Ablaßgruß vergessen hatte.
-Im Springen schrie er über die Schulter: »Gelobt sei Jesus Christus und
-die heilige Mutter Marie!«
-
-Leupolt gab keine Antwort. Rasch, mit federnden Schritten, wanderte er
-durch den Mondschein, aufwärts an der Ache. Der Schnee knirschte unter
-seinen eisenbeschlagenen Schuhen. Als er den Wald erreichte, fuhr ein
-Wildschweinrudel, das von den Untersteiner Sümpfen kam, an ihm vorüber
-und brach mit Knacken und Rauschen durch den Wald. Nun kam er wieder
-zu offenem Feld, kam zu den ersten Häusern von Unterstein. Das Haus
-der Hasenknopfin lag mitten im Dorf, an der Straße. Leupolt pochte.
-Es rührte sich was in der Stube, das Fenster wurde geöffnet, und eine
-leise Mädchenstimme fragte: »Was willst du?«
-
-»Die Hasenknopfin soll zur Haynacherin kommen.«
-
-Ein mißtrauische Zögern. »Die Mutter ist auswärts.«
-
-»Ich will zu ihr hinlaufen. Wo ist sie?«
-
-Das Mädel schwieg, weil es den Jäger im dunklen Mondschatten nicht
-erkannte. Da beugte Leupolt sich vor und flüsterte: »Es ist ein heilig
-Ding. Ist deins und meins. Tu reden, Schwester!«
-
-»Die Mutter ist bei der Kripp, in der das heilige Kindl hat liegen
-müssen.«
-
-Leupolt sprang über die Straße, hastete den verschneiten Wiesenhang
-hinauf und erreichte den Wald. Im schwarzen Schatten unter den Bäumen
-nahm er den Mantel ab, zog aus dem Bergsack ein weißes Leinenbündel
-heraus, schlüpfte in das Schneekleid der Unsichtbaren und verwahrte
-den Sack, das Hütl und die Flinte in den Stauden. Durch den Wald
-emporsteigend, kam er zu einer Lichtung. Zwischen den letzten Bäumen
-vernahm er das Schnalzen eines Eichhörnchens -- das Wächterzeichen.
-Leupolt antwortete mit dem gleichen Laut. Wie hier, so war es in
-dieser weißen Nacht an vielen Orten des Berchtesgadnischen Landes, auf
-der Gern, zu Bischofswiesen und Ilsank, auf dem Toten Mann, in der
-Ramsau, am Taubensee und auf dem Schwarzeneck. Überall wanderten die
-Unsichtbaren, um Gottes Wort zu hören.
-
-Die geschulte Jägerei des Stiftes zählte in ihren Bezirken jedes
-hauende Schwein, jeden jagdbaren Hirsch und jede Gemse. Doch unter
-den fürstpröpstlichen Jägern wußte nur Leupolt Raurisser, wie viele
-Eichhörnchen in den Berchtesgadnischen Wäldern schnalzten.
-
-
-
-
-Kapitel IV
-
-
-Auf der Waldlichtung lag ein Bauerngehöfte, still, mit schwarzen
-Balkenmauern unter dem weißen Schnee. Kein Laut, keine Spur von Leben.
-Viele Schrittfährten waren durch den frischgefallenen Schnee getreten,
-gegen das Gehöfte hin. Leupolt klopfte an der Haustür, dreimal und
-einmal. Die Tür wurde lautlos aufgetan; eine Hand faßte im finstern
-Flur den Jäger am Arm und zog ihn durch ein enges Gängelchen. Warmer
-Stallgeruch quoll ihm entgegen, und als er die feuchte Holztür öffnete,
-war ihm ein Dunst vor den Augen, als träte er in eine Waschküche
-mit dampfendem Kessel. Das matte Licht einer trüben Laterne. Damit
-auch von dieser schwachen Helle kein Schimmer hinausfiele ins Freie,
-waren die zwei kleinen Fenster dick angestopft mit Heu. Die Hennen
-glucksten leise in ihrer Steige, zwei Ferkelchen quieksten in einer
-Bretterkiste, und drei Kühe und zwei Kälber, die enggedrängt an der
-Futterkrippe standen, rasselten mit ihren Ketten, drehten die Köpfe
-hin und her und schnaubten. Aller übrige Raum des Stalles war Schulter
-an Schulter angefüllt mit Leuten, die entlang der Mauer standen oder
-auf Strohgarben saßen. Alle waren in das gleiche weiße Schneekleid
-eingehüllt, wie es Leupolt trug, alle hatten die Kapuzen mit den
-dunklen Augenlöchern über den Köpfen. Inmitten des heiß atmenden
-Menschenknäuels saß auf dem Melkschemel eine gebeugte Mannsgestalt,
-unter deren Kapuze ein weißgrauer Bart herausquoll. Das war der
-Fürsager, der Älteste der versammelten Gemeinde, die noch nie einen
-Prediger ihres Glaubens gehört hatte. Auf den Knien hielt der Alte
-das heilige Buch, das der Erwecker ihrer Seelen war, die Quelle ihrer
-Sehnsucht und die Stillung ihres Zweifels.
-
-Bei Leupolts Eintritt war Schweigen im Stall. Nur die Raschelgeräusche
-der Tiere. Und alle dunklen Augenlöcher der weißen Kapuzen drehten sich
-gegen den Jäger hin. »'s Gotts Willkommen!« grüßte der Fürsager, als
-die Tür wieder geschlossen war. »Bringst du Botschaft, Bruder?«
-
-Leupolt erhob die Hand. »Ist eine unter euch, die man nötig hat
-zwischen Wehbett und Wieg? Sie muß zur Schwester Martle kommen, gleich.«
-
-Von den weißen Gestalten erhob sich eine, küßte fromm das heilige
-Buch, das der Fürsager auf den Knien liegen hatte, und verließ den
-Stall. Wieder das Schweigen, bis die Tür sich geschlossen hatte. Dann
-sagte der Alte mit seiner sanften Stimme: »Ein Kindl will eintreten
-ins Elend der Zeit. Lasset uns hoffen, daß ihm der Heiland den rechten
-Lebenstrost hineinhaucht ins auflebende Herzl.« Alle Köpfe senkten
-sich, jedes Händepaar klammerte sich vor der Brust ineinander. »Jetzt
-redet weiter, Leut! Wer ein Unrecht erfahren hat, soll's fürbringen vor
-dem heiligen Buch. Wissen, daß wir alle leiden müssen ums Himmelreich,
-das kräftet die Wehleider und die Schwachmütigen!«
-
-Einer, mit heißer Erbitterung in der Stimme, rief aus dem Kreis heraus:
-»Weil ich verdächtig bin und bei einer gutkatholischen Näherin ein
-Hemmed hab nähen lassen, bin ich gestraft worden um vier Gulden, därf
-kein Hemmed mehr am Leib haben und muß nackig unter dem Kittel gehen.«
-
-Ein Weib knirschte zwischen den Zähnen: »Ich bin ums Betläuten in
-der Kuch gesessen und hab Butter gerührt. Da braucht man zwei Händ
-dazu. Ein Musketier ist gekommen: >Weibsbild, warum hast du nit den
-Rosenkranz in der Hand?< Ich sag: >Weil ich bloß zwei Händ hab, nit
-drei.< Da hat er mich viermal ins Gesicht geschlagen. Der Unchrist!«
-
-Mühsam erhob sich ein alter Mann: »Mich hat einer angezeigt, ich weiß
-nit wegen was. Man hat mich ins Loch geschmissen, daß ich nimmer Sonn
-und Mond gesehen hab. Am neunten Morgen haben sie mich auslassen.
-Und wie ich gefragt hab, was ich verbrochen hätt, da hat mich der
-Bußknecht aus dem Stiftshof hinausgestoßen und hat mir nachgebrüllt: Du
-Schafskopf, bist du neugieriger, als *wir* sind?«
-
-Mit Tränen in der Stimme sagte eine Frau, die Wittib war: »Am Sonntag
-hat meine Kuh gekälbert. Drum hab ich die Predigt versäumen müssen.
-Das hat fünf Gulden gekostet. Sieben Kreuzer sind mir auf Brot für die
-Kinder geblieben.«
-
-»Mein Nachbar,« sagte einer, »hat dem Pfleger verraten, ich hätt das
-evangelische Paradiesgärtl bei mir versteckt. Die Soldaten haben
-umgewühlt in meinem Haus wie die Säu. Einer hat gemeint, ich könnt das
-Buch unter dem Fußboden haben, und da hat der Schweinkerl in meiner
-sauberen Stub sein Wasser abgeschlagen, daß es hineingeronnen ist in
-die Bretterklumsen. Wär das heilige Büchl da versteckt gewesen, so hätt
-ich dreinschlagen müssen in meinem Zorn und wär ins Eisen gekommen.«
-
-Eine gellende Mädchenstimme, die sich anhörte wie der Aufschrei einer
-Fieberkranken: »Sie haben in der Weihnächtswoch den Schaitbergischen
-Sendbrief in meinem Bett gefunden. Bis gestern bin ich im Bußloch
-gelegen.« Mit zuckenden Händen riß das Mädel am Hals den Latz
-des Mieders auseinander, daß man die blutunterlaufenen Male der
-Faustschläge sehen konnte. »Leut! Schauet mein junges Brüstl an! So
-haben die Soldaten Gottes mich zugerichtet.«
-
-Unter der zornknirschenden Bewegung, die über die weißverhüllten Köpfe
-hinging, bedeckte der Fürsager mit dem heiligen Buch die mißhandelte
-Blöße des Mädchens. »Im hohen Lied des Königs Salomo steht: Wie schön
-sind deine Brüstlen, sie sind wie Elfenbein! -- Tu nit schreien,
-liebe Schwester! Augen, die aufschauen zum Heiland, müssen sein wie
-Taubenaugen!« Er ging zurück zu seinem Schemel. »Wer muß noch klagen?«
-
-Schrillend rief eine Stimme. »Wär's noch allweil nit genug? Gibt's
-keinen Helfer auf Erden? Hilft da der deutsche Kaiser nit?«
-
-Ein hartes Mannslachen. »Die Salzburger haben Hilf gesucht beim Kaiser.
-Da hat er dem Bischof wider die Evangelischen sechstausend Soldaten als
-Helfer geschickt.«
-
-Wieder jene gellende Mädchenstimme: »Du Kaiser im Untersberg! Steh auf!
-Laß deinen Bart nit länger wachsen! Ist lang genug! Steh auf und hilf!
-Es ist so weit, daß die deutsche Welt verzweifelt.«
-
-»Schwester, tu nit die Ruh verlieren!« mahnte der Fürsager. »Uns helfen
-die Fürsten nit, uns hilft nit das alte Märlein von der guten Zeit,
-die im Untersberg versunken ist. Uns hilft nur Einer. Der hat mir ein
-gutes Sprüchl eingegeben:
-
- Ich trau auf Jesu Huld,
- So wird sich's finden.
- Stillhalten und Geduld
- Kann alls verwinden.«
-
-Da konnte Leupolt nicht länger schweigen. »Fürsager, du redest, wie's
-den Müden um die Seel ist. Wir Jungen spüren es anders. Geduld ist
-ein heiligs Wörtl. Aber Stillhalten ist ein unmännliches Ding. Mit
-Stillhalten findet kein Menschenfuß zu gutem Weg, mit Stillhalten
-geht der beste Wagen nit fürwärts, mit Stillhalten bringen wir die
-unsichtbare Kirch der Freiheit nit entgegen. Es muß einmal ein End
-haben mit dem Ducken und Schweigen, das dem Glauben an Gottes Wahrheit
-zuwider ist.« Viele Stimmen, mit Beifall oder Abwehr, fuhren ihm in die
-Rede. Er reckte sich im weißen Schneekleid, und immer wärmer klangen
-seine Worte: »Leut! Mit unserem mutigen Glauben ist die mutlose Furcht
-gemenget, wie im Müllersieb das Mehl mit den Kleien. Muß nit bald der
-Schüttler kommen, daß die Kleien im Sieb bleiben und das Mehl in den
-Kasten fallt? Hat nit jeder von uns Unsichtbaren schon gespürt in
-seiner Seel, daß er Unrecht tut? Den Rosenkranz um die Hand wickeln,
-die Faust in den Weihbrunnkessel tunken, unredlich im Beichtstuhl
-reden, sich begnügen mit Christi Leib und sein heilig Blut entbehren,
-niederfallen vor einem hölzernen Bildstöckl, das uns nit heilig ist --
-alles, was wir tun, um die Seel vor Musketier und Kaplan zu verstecken
--- ist das ehrlich und evangelisch, Leut? Ich mag da nimmer mittun.
-Ich bin dafür, daß sich die Unsichtbaren sichtbar machen. Die Wahrheit
-ist ein grüner Stecken, an dem ein jeder sich aufrichten kann. Und in
-der letzten Neumondnacht hat uns der Fürsager auf dem Toten Mann das
-Heilandswort gelesen: Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will
-ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.«
-
-Tiefe Erregung erfaßte die Herzen der anderen. Unter lärmendem
-Wortgewirre drängten alle Weißverhüllten gegen den einen hin, der so
-geredet hatte.
-
-»Es ist nit so, daß ich euch was einreden möcht,« sprach Leupolt
-weiter, »ich sag halt, was ich mir denk. Ich kann's nimmer mitmachen.
-Jetzt geht es ins vierte Jahr, daß die Unsichtbaren leiden unter der
-Seelenprob, die der römische Bischof Benedikt erfunden hat. Grüßen muß
-man: Gelobt sei Jesus Christus und die heilige Mutter Marie! Und sagen
-muß man drauf: Von nun an bis in Ewigkeit Amen.«
-
-Einer lachte zornig: »Jesus Christus, die Heilandsmutter und das ewige
-Leben? Sind das nit heilige Wörtlen? Warum soll man söllene Wörtlen nit
-sagen können?«
-
-»Weil der römische Bischof einen Sündenablaß auf seinen
-Scheidwassergruß gesetzt hat: daß jeder, der so grüßt, um 30 Wochen
-früher aus dem Fegfeuer käm! Das geht wider unseren Glauben. Ein
-Fegfeuer gibt's nit. Jeder von uns, der so grüßt, befleckt seine
-redliche Seel mit einer gottswidrigen Lug. Und es ist nit das allein.
-Der Gruß ist ein Grausen worden für jeden Rechtschaffenen. Das ist
-ein Gruß, der Tag für Tag geschändt und verschumpfen wird. Kommt ein
-Kartenbruder ins Leuthaus: Gelobt sei Jesus Christus! Jeder Besoffene
-hebt seinen Krug mit dem Wörtl: Gelobt sei Jesus Christus! Packt ein
-Schmierfink ein Mädel bei der Kittelfalten, so tut er's mit Gelobt sei
-Jesus Christus!«
-
-Jene gellende Mädchenstimme: »Jedes Blutmal auf meinem Brüstl ist ein
-Gelobt sei Jesuchrist gewesen!«
-
-In dem schweratmenden Schweigen, das diesem Zornschrei eines
-gemarterten Lebens folgte, sprach der Jäger mit ernster Ruhe: »Schon
-seit dem Sommer hat das Gewissen in mir geredet. Ich kann nimmer lügen.
-Es geht mir gegen den Herzfrieden. Soll's kommen, wie's mag. Glück
-oder Elend, von heut an will ich den Gruß nimmer sagen, und grüßt mich
-einer, so geb ich die Antwort nit.« Leupolt legte die rechte Hand auf
-das heilige Buch. »Ich tu's geloben.«
-
-Viele weiße Arme streckten sich nach ihm. Ein Verhüllter schrie
-dazwischen: »Nit, nit, ums Himmels willen, ihr Leut! So haben's vor
-dritthalb Jahr die Salzburger angehoben. Dreißigtausend hat der Bischof
-aus seinem Ländl hinausgeschmissen. Das beste Höfl, das drei, vier
-Tausend wert ist, hat man aufgeschrieben mit fünf, sechs Hundert, eine
-milchende Kuh mit vierthalb Gulden, ein jähriges Kalb mit 40 Kreuzer.
-So hat man die evangelischen Wanderleut betrogen um Gut und Blut, hat
-zwischen Mann und Weib eine Mauer geschoben, hat dem Vater oder der
-Mutter die Kinder von der Seel gerissen!« Mit beiden Fäusten packte der
-Aufgeregte seine Brust. »Mein gutes Weibl ist römisch blieben, man tät
-mir die Kinder nehmen. Die laß ich nit. Mein Haus und Acker ist mir
-als wie mein Herzfleck. Müßt ich hinunter zum luthrischen Sand und tät
-keinen Berg mehr sehen, ich wüßt nimmer, wie ich noch schnaufen könnt.
-Es geht nit, Leut! Fürsichtig bleiben ist besser.«
-
-Leupolt legte ihm die Hand auf die Schulter. »Meinst du, das wär
-schlechter: sich aufrecken zur Redlichkeit?«
-
-»Tu mich auslassen!« Der Erregte schüttelte in Zorn die Hand des
-anderen von sich ab. »Hast du Weib und Kind? Hast du Acker und Haus?
-Wieviel verlierst denn du mit der Redlichkeit? Bist du ein Naderer[A],
-der die Fürsichtigen verhetzen will?« Manche von den Unsichtbaren
-hatten den Leupolt Raurisser an der Stimme erkannt. Sie schalten den
-aufgeregten Widersacher um des bösen Wortes willen. Aber andere, die
-nicht wußten, daß es der Leupolt war, wurden mißtrauisch: »Was bist
-denn du für einer? Wer reden will wie du, muß sichtbar sein!«
-
-[A] Polizeispion.
-
-Leupolt streifte die weiße Kapuze über den Scheitel zurück: »Meine
-Brüder im Heiland! Arg evangelisch habt ihr jetzt nit geredt.
-Evangelisch sein, heißt glauben und trauen.«
-
-Jetzt schrien ihm alle freudig zu. Und die Jungen, ob Buben oder
-Mädchen, zerrten die weißen Kappen von ihren Köpfen und zeigten die
-erhitzten Gesichter mit den blitzenden Augen. Was der Leupolt tat, das
-konnte man nachmachen ohne Sorge. Auch der Aufgeregte wurde ruhiger. Er
-enthüllte wohl die Augen nicht, streckte aber dem Jäger die Hand hin
-und sagte herzlich: »Tust du mir mein fürschnelles Wort verzeihen?«
-
-»Gern.« Leupolt faßte die Hand des anderen. »Jetzt
-
-weißt du, wer ich bin. Ich hab nit Haus und Acker, nit Weib und Kind,
-nit Kälbl und Kuh. Aber Vater, Mutter und Brüder hab ich. Da wird eine
-Mauer wachsen, die nimmer fallt. Was Berg und Heimat heißt, das ist
-mir tiefer im Herzen als Blut und Leben.« Der Blick seiner glänzenden
-Blauaugen irrte ins Leere. »Auch hat ein schönes Glück vor meiner Seel
-gehangen. Das muß ich verlieren. Um der Wahrheit wegen, an die ich
-glaub.«
-
-Noch tiefer als der Sinn dieser Worte griff der Klang seiner Stimme
-in die Herzen der anderen. Ein schweres Schweigen. Dann mahnte der
-Fürsager: »Was uns der Leupolt hat raten müssen, das reden wir heut nit
-aus. Da muß man in der Neumondnacht auf dem Toten Mann die Alten hören.
-Und jetzt zum Heimweg soll Einer reden, der's besser kann als ich.«
-Er hob das Buch in die trübe Laternenhelle und las in seiner sanften
-langsamen Art die Worte der Bergpredigt. Alle Köpfe waren geneigt, jede
-Seele lauschte in dürstender Sehnsucht. Die Hennen glucksten in der
-Gattersteige, die Kühe schnaubten an der Krippe und rasselten mit den
-Ketten. Dann fingen die Sichtbaren und die Unsichtbaren mit versunkenen
-Stimmen zu singen an:
-
- »Ein feste Burg ist unser Gott,
- Ein gute Wehr und Waffen --«
-
-Als das Lied zu Ende war, griff der Fürsager in ein Faß, das an der
-Mauer stand, schöpfte mit der Hand von dem roten Viehsalz und hob es
-den Schweigenden hin. »Zum Zeichen, daß wir alle eines Herzens und
-Glaubens sind.« Eines ums andere tauchte den an der Zunge benetzten
-Finger in das Salz und nahm die bitteren Körner zwischen die Lippen.
-»Bleibet beständig und befehlt euer Leidwesen dem gütigen Heiland! Geht
-heim und seid mit der Zeit zufrieden, wie sie ist. Es wird noch ärger
-kommen.« Wer das Salz gekostet hatte, verließ den Stall. Eine von den
-Kühen brüllte der frischen Luft entgegen, die hereinwehte durch die
-offene Tür.
-
-Als Leupolt vom Waldsaum über das weiße Gehäng hinuntersprang
-zur Straße, trug er wieder das dunkle Jägerkleid und hatte die
-Feuersteinflinte unter dem gespreizten Radmäntelchen. Hastig schritt er
-neben der rauschenden Ache hin, deren Wasser heraussprudelte aus dem
-gefrorenen Königssee.
-
-Das beschneite Eis der Seefläche war von Sprüngen durchzogen, und
-immer, wenn eine von diesen Frageln weitersprang, war ein schwebender
-Ton zu hören, als hätte man an eine große Glocke geschlagen.
-
-Aus dem Dunkel einer Schiffhütte holte Leupolt den Beinschlitten
-heraus, stellte sich auf das Brett und begann mit dem langen
-Stachelstock den Schlitten zu treiben. Eine sausende Fahrt, vorüber an
-der Insel Christlieger, dann in den Schatten der Falkensteiner Wand
-hinein. Hier hatte das Eis nur wenige Risse, und sie waren so schmal,
-daß der sausende Schlitten drüber wegsprang wie über eine ungefährliche
-Schnur. Nun aus dem Schatten wieder hinaus in das funkelnde Mondlicht,
-hinein in den ruhelos klingenden Weitsee. Und da wurde die Fahrt immer
-langsamer. Jetzt stand der Schlitten, und die schlanke Gestalt des
-Jägers blieb unbeweglich.
-
-Was da schimmernd vor seinen Augen lag, das hatte er schon hundertmal
-gesehen, aber noch nie so zauberschön wie in dieser klaren Mondnacht.
-Oder steigerte ihm das eigene Denken und Gefühl den Schönheitstraum
-der Erde ins Überirdische? Während der Fahrt, bei der die scharfe
-Zugluft seine Wangen wie mit spitzen Nadeln gestochen hatte, waren
-ihm in Sinn und Seele zwei Gedanken gewesen, von denen der eine den
-anderen peitschte: der Gedanke an das Sichtbarwerden der Unsichtbaren,
-an das mutige Bekennen des verschleierten Glaubens -- und der Gedanke
-an ein strengschönes, dunkeläugiges Mädchengesicht, um dessen Stirn
-wie ein schweres Seilgeflecht die braunblonden Zöpfe lagen. Daß er ein
-Unsichtbarer war, das wußte sie. Von ihrem Vater? Nein. Der Meister
-Niklaus schwatzte nicht. Da muß es ihr wohl die Sus gesagt haben, die
-im vergangenen Winter manchmal mit dem Meister im Schneekleid die
-heilige Fürsagung besucht hatte. Jetzt kam sie nimmer. Weil auch der
-Meister nimmer kam, seit Luisa wieder im Haus war. Gleich am ersten
-Tag nach ihrer Heimkehr aus dem Kloster hatte Leupolt sie gesehen,
-in der Marktgasse, und hatte immer an diese Augen denken müssen, die
-nicht Mensch, nicht Mauer zu gewahren schienen, nur immer so heilig
-ins Leere glänzten. Noch siebenmal war er an ihr vorübergegangen. Von
-jeder Begegnung wußte er den Tag, die Stunde, und ob Sonnschein oder
-trüb Wetter gewesen. Am Dreikönigstag, als sie mit der Sus von der
-Kirche kam, hatte er das Hütl gezogen und hatte ihr's grad in die Augen
-gesagt: »Du tust mir gefallen, ich bin dir gut, tätest du zürnen --« Er
-hatte sagen wollen: Wenn ich werben möcht bei deinem Vater? Das hatte
-sie ihn nimmer zu Ende reden lassen. Ihr Zornblick war ihm ins Herz
-gegangen wie ein Messerstoß.
-
-Ihr Zorn? Warum dieser Zorn? »Hab ich's mit dem ersten redlichen Wörtl
-unschickig angestellt?« Oder hat sie -- die jeden Morgen zur Messe
-und oft zu ihrem Beichtiger ging -- schon damals gewußt, daß er ein
-Bruder der Unsichtbaren war? Er herüben und sie da drüben, und zwischen
-ihm und ihr ein Wasser ohne Steg! Eine, die meint, sie tät dem Himmel
-gehören, wird nicht die liebe Hand nach einem strecken, von dem sie
-glauben muß, er wär' verloren auf ewig. Mit harten Fäusten hatte er
-sein Herz gepackt, hatte sich gezwungen, dieses Hoffnungslose in seinem
-Blut zu ersticken. Und da war der Abend gekommen, an dem es der Vater
-heimbrachte vom Pflegeramt: »Heut kommt der Muckenfüßl über den Meister
-Niklaus; Gott soll's verhüten, daß der Meister verbotene Schriften
-im Haus hat.« Weder die Mutter, noch der Vater hatte dem Leupolt
-was angemerkt. Und aus der Kammer zum Fenster hinaus! Barmherziger
-Herrgott, was für eine irrsinnige Sorgennacht war das gewesen, bis ihm
-der Pfarrer die Angst vom Herzen herunternahm! Und immer, während der
-ganzen sausenden Fahrt über die schwarzen Frageln, die wie Glocken
-läuteten, immer hatte er Luisas Stimme gehört, hatte immer wieder das
-Wort vernommen, das sie im Schneegewirbel zu ihm gesprochen: »Du bist
-das Licht nit wert, es hilft dir lügen und macht dich anders, als du
-bist!« Das hatte er nicht verstanden. Weil ihm die Ruhe fehlte, um zu
-hören? Weil ihm die Angst um sie und ihren Vater die Sinne verstörte?
-Oder weil er empfunden hatte, wie fern sie von ihm war? Auch noch an
-seiner Brust? An der Brust des Unsichtbaren? Und wenn er sichtbar
-wird, und Schimpf und Verfolgung, Buß und Schergen kommen über ihn?
-Dann wird das Wasser zwischen ihm und ihr so tief sein, wie der
-Königssee. Ob's nicht am besten wär', hinunterzusausen durch eine von
-den Frageln, aus denen das schwarze Wasser herausquoll über den weißen
-Schnee? Das war gedacht und schon verworfen als eine feige Sünde. »Wer
-Gottes ist, muß leben und tragen, muß ein fester Stecken sein für die
-Schwächeren! Es zählen die anderen, Mensch, nit du!« Und da war ihm,
-als er herausglitt aus dem Schatten, diese silberfunkelnde, klingende
-Erdenschönheit in die Seele gesprungen.
-
-Er stieg vom Schlitten, stemmte schräg den Stachelstock vor sich hin
-und staunte stumm hinein in das flimmerweiße, läutende Mondnachtwunder.
-Der weite Bogen der hohen Berge war durchwürfelt von Schimmerlicht
-und tiefen Schatten. Fern, am Fuß der gleißenden Wände, lagen drei
-schwarze Punkte im Weiß, die beschattete Kirche, der Jägerkobel und das
-Herrenschlößl von St. Bartholomä. Dahinter stieg das leuchtende Märchen
-empor. Zwischen den schillernden Eiskaskaden der in Tropfsteinformen
-gefrorenen Sturzbäche lagen seltsam gezeichnete Schattengebilde,
-bald wie schwarze Riesentiere, bald wie finstere Männerköpfe und
-Frauengestalten. Droben in der höchsten Höhe mußte Föhnsturm wehen.
-Wie silberne Bänder, wie duftige Schleier, wie weiße Mäntel, gesäumt
-mit Regenbogenschimmer, flog der aufgewirbelte Staubschnee von den
-Bergspitzen gegen den leuchtenden Himmel hinauf, an dem die Sterne wie
-winzige Nadelspitzen glänzten und fast verschwanden neben dem Vollmond.
-Der war anzusehen wie ein rundes Funkelfenster, in dem ein Mann und
-ein Weib einander küßten mit unersättlicher Inbrunst. Ruhelos tönten
-und sangen dazu mit tiefen und hohen Glockenstimmen die vielen Frageln,
-die an hundert Stellen das vom schwellenden Seewasser emporgedrängte
-Eis entzweirissen -- ein klingendes, dröhnendes Andachtsläuten der
-Natur, die ihren Schöpfer lobte. »Herrgott im Himmel, wie mächtig und
-groß bist du!« Diese Worte stammelnd, klammerte Leupolt die Fäuste
-ineinander. Er betete: »Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer
-nach Himmel und Welt. Auch wenn mir Leben und Seel verschmachten,
-bleibst du mein Heil und meines Herzens Trost!« So hatte in der letzten
-Neumondnacht auf dem Toten Mann ein Salzburger gebetet, der aus dem
-Brandenburgischen gekommen war und Botschaft brachte von den in
-Ostpreußen angesiedelten Exulanten. Und der Salzburger hatte erzählt:
-so hätte er den preußischen Königsprinzen Friedrich beten hören, der
-ihnen Hand und Hilf geboten wie ein Bruder den Brüdern.
-
-Noch lange stand Leupolt unbeweglich im Schnee. Plötzlich quoll ihm
-ein heißer Laut aus der Kehle. War's ein erwürgtes Schluchzen, oder
-ein erstickter Schrei der Sehnsucht in seinem Blut? Nach einer Weile
-das leise Wort: »Ach, Mädel, wie hab ich dich lieb! Wo ich hinschau,
-überall bist du!«
-
-Ihm war im Schnee und im knirschenden Winterfrost so schwül, daß er an
-der Brust seinen Jägerkittel aufreißen mußte. -- --
-
--- Und um die gleiche Stunde, in einer von zwei Kerzen erhellten
-weißen Stube, in deren Feuerloch die Kohlen noch glühten, fror ein
-Schlafloser, daß ihm beim Schreiben die Zähne schnatterten. Der Pfarrer
-Ludwig.
-
-Er hatte den Mantel um Hals und Brust geschlungen, daß unter dem
-schwarzen Saum nur die Fingerspitzen mit der Kielfeder hervorguckten.
-Leib und Beine waren noch in eine wollene Decke gewickelt. Die Feder
-raschelte und spritzte ein bißchen, während sie in lateinischer Sprache
-ein Buchstäbchen ums andere hinmalte auf das gelbliche Papier. Was
-Pfarrer Ludwig in seinem Kirchenlatein vom Inhalt des hebräischen
-Briefes, der sich in Asche verwandelt hatte, für seine einsamen
-Stubenstunden festzuhalten versuchte, das hätte in deutscher Sprache
-gelautet:
-
-»Alles Wissen und Geschehen muß dem Leben dienen, damit der Lebende
-des ihm möglichen Glückes teilhaftig wird. Als Anfang mußt du erkennen,
-Mensch, daß alles ein Einziges ist. Der Vater hat viele Kinder. Sie
-kommen und gehen. Er ist der Einzige, der immer gewesen ist und immer
-sein wird. Ob du Gott sagst oder Natur, Geist oder Körper, immer nennst
-du das Gleiche. Das Ewige ist in sich geschlossen und muß vollkommen
-sein. Da Gott nicht begehren kann, was er nicht schon hätte, kann er
-ein Werdendes nicht wollen um eines neuen Zweckes willen. Alles ewig
-Werdende ist ein ewig Gewesenes. Gott ist Bewegung und Ruhe, ewiges
-Wirken und ewige Zufriedenheit. Das fühlst du, Mensch, wie ein Tropfen
-fühlt, daß er ein Teil des Meeres ist. In jedem Körper ist Geist vom
-Geiste. Fühle dich als Gottes Kind, als Blutstropfen des Ewigen,
-als Körnchen im Berge von Gottes Größe. Weil du als Teil das Ganze
-nicht sehen kannst, drum siehst du immer ein Unzulängliches. Sei ein
-Suchender, und du näherst dich der ewigen Wahrheit! In jedem Ding
-ist Trieb nach der Heimat, in jedem Wesen ein Trieb zu Gott. Jeder
-Schritt, dem Vollkommenen entgegen, erhöht deine Kraft. Wende dich ab
-vom Zug des Ewigen, und Furcht und Reue werden dich erfüllen. Du bist
-nicht schuldig deiner selbst, nur schuldig deiner irrenden Straße. Vom
-Guten und Schlechten hast du ein ewiges Wissen in dir: die Sehnsucht
-und den Ekel. Gott leitet und warnt dich nicht, alle Stimmen deiner
-Wege sind in dir selbst. Schau in die eigene Seele und in das eigene
-Blut; je tiefer du schaust, so deutlicher sprechen die Weiser deines
-Weges. Jedes Rasten ist Verlieren. Der willig Schreitende ist ein
-Wachsender an Macht und Freude. Willst du zu Gott, so wirst du bei ihm
-sein. In seinen Armen bist du ein Freier, ferne von ihm ein Knecht ohne
-Hände.«
-
-Pfarrer Ludwig legte die Feder fort, und während ihn immer wieder ein
-Frostschauer rüttelte, überlas er, was er geschrieben hatte. »Ob ich es
-richtig verstanden hab?« sprach er leise vor sich hin. Der Ernst seiner
-Augen begann sich aufzuhellen. »Man muß da halt *auch* wieder glauben!«
-
-Mit einem wunderlich frohen Lächeln, das seinem Warzengesicht einen
-kindhaften Ausdruck gab, ließ er aus der dicken Platte seines
-Schreibtisches ein nur fingertiefes Lädchen herausspringen, verwahrte
-die beschriebenen Blätter und drückte das Geheimfach wieder zu.
-
-Hurtig, immer ein bißchen mit den Zähnen schnatternd, wickelte er den
-Mantel von sich herunter und begann sich zu entkleiden. Als er schon
-barfüßig war und nur noch das Hemd und die Bundhose trug, fiel ihm der
-schöne, fast lebensgroße Crucifixus in die Augen, der, ein Jugendwerk
-des Meister Niklaus, an der weißen Mauer hing.
-
-Sinnend blickte Pfarrer Ludwig zu dem von Dornen gekrönten, gütig
-lächelnden Antlitz empor. »Mir scheint, ich weiß ein bißl, was du jetzt
-denkst von mir!« Er höhlte die Hände um die Füße des Gekreuzigten. »Du
-Fröhlicher! Verzeih's deinem alten treuen Narrenschüppel, weil er um
-so sehnsüchtiger ein Mensch sein möcht, je näher ihm das kommt, daß er
-einer gewesen ist!« Zärtlich küßte er den eisernen Nagel, der durch die
-Füße des Erlösers getrieben war.
-
-
-
-
-Kapitel V
-
-
-Seit drei Tagen hatte bei klarem Himmel der Föhn über die Berge
-hingeblasen und hatte schon an sonnseitigen Gehängen den Schnee
-zusammengebissen zu einer dünnen Kruste. Gegen den vierten Morgen
-begann man den lauen Südwind auch im frostigen Tal zu fühlen.
-
-Bei Tageserwachen, ein Freitag war's, beschlugen sich die Spitzen
-der Berge mit dem Goldglanz der kommenden Sonne. Dennoch hatte der
-Morgen keinen reinen Himmel. Von den Zahnspitzen des Wazmann strebten
-kleinzerstückelte Wolkenstreifen gegen Norden. Die waren anzusehen wie
-endlose Züge kleiner Weißgestalten, die von Süden emporstiegen und da
-droben hinwanderten über blaublühende Leinfelder.
-
-Dieser Gedanke kam dem Meister Niklaus, als er durch das große,
-schwervergitterte Fenster seiner Werkstätte zum Himmel hinaufsah.
-Er mußte an die Tausendscharen der Salzburgischen Exulanten denken,
-die aus der Heimat nach dem Norden gezogen waren. Der Freiheit, dem
-ungehinderten Glauben entgegen? Oder zu neuer Not, zu noch tieferem
-Elend? War den Stimmen zu trauen, die aus dem Pflegeramt herauskamen
-und sich überall im Lande lautmachten, so hatten die Salzburger ein
-hartes Los gefunden. Zu Hunderten waren sie auf ihren Wanderwegen
-siech geworden und gestorben, und jene, die den Frost und die Not des
-Hungers überstanden, bekamen Spott und Schimpf zu erdulden, Unrecht
-und Mißhandlung. Man hatte den Emigranten ihre Kühe und Pferde
-weggenommen, hatte ihre Wagen und Karren zerschlagen, ihre Schiffe
-mit Steinen versenkt, hatte die Dörfer und Städte vor ihnen versperrt
-und die um Erbarmen Flehenden mit Steinhagel und Flintenschüssen
-davongetrieben. Den Wenigen, so hieß es, die zu einem Ziel gekommen,
-hätte man ungesundes Sumpfgeländ oder dürren Sandboden zugewiesen, ohne
-Gerät und Bauholz, ohne Vieh und Zehrpfennig, ohne Beistand und Hilfe.
-
-Jene von den Unsichtbaren, die im Berchtesgadener Lande schon ans
-Wandern dachten, waren vor solchen Warnerstimmen so stutzig geworden,
-daß sie das müde Dulden in der Heimat dem härteren Elend in der
-Fremde vorzogen. Dann war in der letzten Neumondnacht ein heimlicher
-Botschaftsträger der Salzburger zum Toten Mann gekommen, hatte das üble
-Gerede vom Schicksal der Exulanten widerlegt, hatte alles Schwarze
-in schönes Weiß verwandelt und die gelästerte Wanderschaftshölle
-geschildert als einen freundlichen Himmel brüderlichen Erbarmens.
-Was war da Lüge, was Wahrheit? Die Widersprüche waren so schwer, daß
-auch die Vertrauensvollsten zur Vorsicht rieten. Man durfte, sei es
-im Guten oder Bösen, nicht jeder umlaufenden Botschaft glauben, mußte
-die eigenen Augen auftun. Zwei von den Verläßlichsten hatten sich
-zur verbotenen Wanderschaft gemeldet, der Mann der Hasenknopfin von
-Unterstein und der Christoph Raschp von der Wies: sie wollten ihr Leben
-dransetzen, um die Wahrheit zu erfragen. An der Grenze hatte man die
-beiden nicht gefaßt; sonst wären sie auf offenem Markt schon längst am
-Schandbalken gehangen. Nun waren sie schon in die dritte Woche auf der
-Wanderschaft, auf dem Wege zur Wahrheit. Was werden sie bringen? Den
-Trost einer neuen Hoffnung? Oder das hoffnungslose Sichbeugenmüssen?
-Diese Frage brannte in den Gedanken des Mannes mit der hölzernen
-Hand, während er hinaufsah zu den im Blau des Himmels wandernden
-Weißgestalten. Fröstelnd zog er den mit Pelz besetzten Hauskittel enger
-um die Brust und wollte die Arbeit beginnen. Weil er die Tür gehen
-hörte, drehte er das Gesicht über die Schulter.
-
-Die Sus brachte zwischen den Armen einen festen Pack Buchenscheite und
-ging zum Ofen.
-
-Der Meister lächelte. »Als hättst du erraten, daß mir kalt ist! Allweil
-spür ich deine treue Fürsorg.«
-
-Schweigend kniete das schlanke Mädchen beim Ofen nieder und schob ein
-Scheit ums andere in die rote Glut. Leuchtende Schimmerlinien säumten
-ihre Wange, das weißblonde Haar, die Schulter, den runden Arm und die
-Hüfte.
-
-»Wie fein das ist, wenn dich die Glut so anstrahlt! Könnt ich nur auch
-das Holz so schneiden, wie das Feuer den lebigen Körper nachzeichnet!«
-Er rückte einen hohen, dreibeinigen Stuhl, der etwas Verhülltes trug,
-in das Fensterlicht. »Ist das Kind noch droben?«
-
-Das Mädel, schon bei der Türe, schüttelte den Kopf. »Ums Tagwerden ist
-sie zur Frühmeß fort.«
-
-Es zuckte um den bärtigen Mund des Meisters. »Statt besser, wird's
-allweil ärger. So blaß und seltsam, wie in den letzten Tagen, ist sie
-noch nie herumgegangen.«
-
-Sus nickte. »Es muß was geschehen sein in ihr. Die halben Nächt lang
-hör ich sie beten. Oft ruft sie mich in der Finsternis, weil sie
-fürchtet, es täten böse Gespenster umgehen.«
-
-»Gespenster? Freilich, die gehen um. Bei Tag und bei Nacht. In allen
-Köpfen. Kein Wunder, daß jeder Mensch nach Trost und Beistand dürstet.
-Ich verdenk dem Kind den ruhlosen Kirchweg nit. Es sieht so aus, als
-könnt sie den Schreck nit vergessen, den uns der Muckenfüßl ins Haus
-geschmissen. Da wird sie von ihrer Seel den Zorn über den schlechten
-Nachbar wegbeten wollen, der uns im Pflegeramt vernadert hat.« Wieder
-das müde Lächeln. »Ist sie im richtigen Beten, so haben wir ein
-Stündl Zeit. Seit dem Sonntag ist's mit meinem Figürl nimmer aufwärts
-gegangen. Ich brauch dich wieder. Magst du das Wollkleid antun und
-kommen?«
-
-Mit einem Aufleuchten in den Augen ging das Mädel davon. Der Meister
-hob das grüne Tuch von seiner Arbeit und betrachtete das fast
-vollendete Werk. Auf ovaler Holzplatte war in doppelter Spannenlänge
-aus rotem Wachs ein Hochrelief herausgebildet: die Verkündigung, die
-Gottes Engel der Maria bringt. Aus den Lüften niederschwebend, reicht
-er der Auflauschenden die Rose über die Schulter herab. Zwischen den
-Flügeln, die straff gespreitet sind -- so, wie Falken die Flügel
-stellen, wenn sie nach steilem Stoßflug sich niederlassen auf einen
-Baumwipfel -- neigt sich der von Locken umfallene Engelskopf heraus,
-an dessen Antlitz der Meister die strenge Schönheit seines Kindes
-nachgebildet hatte, mit einem keuschen Zug ins Knabenhafte. Nur der
-Kopf, die Arme und Schultern des Engels mit den Schwingen wachsen
-plastisch aus der Holzplatte; von den Flügeln nach abwärts wird die
-Gestalt immer unkörperlicher und verschwindet unter dem Faltengewoge
-des Gewandes, das im Sturme zu flattern scheint und überrollt ist an
-allen Säumen. Im Gegensatz zu diesem Auslöschen alles Körperlichen
-hebt sich der schlanke, schwellende Mädchenleib der auflauschenden
-Jungfrau um so irdischer aus dem Bilde. Neben dem Webstuhl, von ihm
-abgewendet, sitzt Maria auf einem Schemel, die linke Hand noch am
-Weberschifflein, die rechte in Ergebung ausgestreckt zu einer innigen
-Geste des Empfangens. Dieser Körper lebte, hatte Atem, hatte Blut und
-Fleisch. Die schmiegsamen Falten des zarten Gewandes verrieten ihn
-mehr, als sie ihn verhüllten. Dazu ein fremdartig berührendes, kühl
-stilisierte Köpfchen, wie herausgenommen aus einem anderen Bilde und
-auf diesen Hals gesetzt, zu dem es nicht gehörte. Beim Beginn der
-Arbeit hatte Niklaus im Antlitz der Maria die Erinnerung an die Züge
-seines Weibes nachzubilden versucht, das vor Jahren aus Schreck über
-den verstümmelten Arm ihres Mannes gestorben war. Als Luisa das neue
-Werk des Vaters zum erstenmal betrachtete, sagte sie in ihrer strengen
-Weise: »Vater, das Gesichtl der Gottesmutter schaut nit himmlisch
-genug.«
-
-»So ist der Blick und das gute Lächeln deiner Mutter gewesen.«
-
-»Wie das gewesen ist, das weiß ich nit. Ich weiß nur, das Gesichtl der
-Gottesmutter ist unheilig. Das darfst du nit dreinschauen lassen wie
-beim Heimgart im Ofenwinkel. Du mußt es schauen lassen wie in seliger
-Gottesnäh.«
-
-Dem Kind zuliebe hatte der Meister geändert und verhimmelt, bis das
-Köpfchen verdorben war. Der strengen Prüferin gefiel es jetzt, für
-den Meister war es ein Makel, der ihm die Freude an seinem Werk
-verbitterte. Er war in die unzufriedene Musterung so versunken, daß er
-die Tür nicht gehen hörte. Die Schritte der Sus waren lautlos, ihre
-Füße nackt. Anstelle ihres Magdgewandes trug sie ein langes, lind
-gegürtetes Kuttenkleid von weißblauem Wollstoff, der sich ihrem Körper
-anschmiegte wie ein Schleier. Erst als sie den Schemel auf den Antritt
-stellte, sah der Meister auf. »Ich dank dir, gute Sus! Versuchen wir
-halt, ob's besser wird!«
-
-Das Mädel ließ sich wortlos auf den Schemel nieder und ordnete das
-linde Gewand. Von jedem Fältchen schien sie zu wissen, wie es liegen
-mußte. Schweigend begann der Meister die Arbeit, bei der seine Linke
-sich bewegte, als wäre sie fast so geschickt geworden, wie seine Rechte
-gewesen, die man ihm abgeschlagen hatte. Damals, wenn auch schon
-berührt von den Seelenkeimen der Zeit, war er doch immer noch gewesen,
-was man einen Katholiken hätte nennen können. Erst der Niklaus mit der
-hölzernen Hand war ein Unsichtbarer geworden.
-
-Immer rascher ging ihm die Arbeit vonstatten. An seinen glänzenden
-Augen war es zu merken, daß beim Schaffen die Freude wieder in ihm
-erwachte, der Glaube an sein Werk. Der Wahrheit des Lebens gegenüber
-wurde der junge Frauenkörper, den er formte, immer wärmer und
-wahrhafter. Einmal murrte der Meister im Eifer der Arbeit vor sich hin:
-»Ach Gott, mein Pfötl, mein dummes! Ich seh, wie ich's machen muß! Aber
-die unschickigen Finger erzwingen es nit!«
-
-Der unbeweglichen Sus rollten zwei große Tränen über den Mund. Sie
-schwieg. Weil sie wußte, daß es ihm die Arbeit entzweiriß, wenn sie
-sprach. Und immer müder wurde sie, immer schwerer ging ihr Atem.
-
-Als er Bild und Leben wieder einmal mit prüfendem Blick verglich, ging
-er plötzlich auf das Mädel zu und sagte: »Der Gürtel ist ein bißl
-gerutscht.« Er schob ihn um eine Fingerbreite höher gegen ihre Brust.
-
-Sie bekam ein glühendes Gesicht und fing zu zittern an.
-
-Eine Furche grub sich zwischen seine Brauen. »Geh, Mädel!« Das Wort
-hatte einen herzlich mahnenden Klang. »Tu verständig sein!« Nach einer
-Weile, als er wieder bei der Arbeit stand, sagte er zögernd: »Man muß
-sich gedulden.« Er sah die Sus nimmer an, und seine Hand war nimmer so
-flink wie zuvor. »Das wird nit ausbleiben, daß mein Kind sein Glück
-findet. Und daß ich wieder ein Einschichtiger bin, der auf niemand zu
-achten braucht.«
-
-Da fuhr die Sus erschrocken vom Schemel auf. »Sie kommt.« Hastig schob
-sie den Antritt gegen die Mauer und war schon zur Tür hinausgehuscht,
-bevor der Meister das Gesicht vom Fenster abwandte. Draußen im weißen
-Garten kam Luisa mit gesenkten Augen durch den Schnee gegangen,
-eingehüllt in einen dunkelgrünen Mantel. Als wäre sie die Bringerin
-einer helleren Zeit, so glitt bei ihrem Eintritt in die Werkstatt der
-erste Sonnenschein des Morgens durch die Fensterscheiben. Von der
-Frühkälte waren Luisas Wangen wie Pfirsiche vor der Reife. Über den
-Zöpfen trug sie ein mit weißem Federtuff bestecktes spanisches Hütl,
-das noch aus der Mädchenzeit ihrer Mutter stammte. Der dunkelgrüne, an
-den Schultern aufgepuffte Radmantel verhüllte strahlig die schlanke
-Gestalt. Vorne guckten zwischen den Mantelsäumen die Spitzen der
-Handschuhe heraus, die Perlen des Rosenkranzes und ein blaues Gebetbuch
-mit schöner Silberschließe. »Gelobt sei Jesus Christus und die heilige
-Mutter Marie!«
-
-»Von nun an bis in Ewigkeit Amen!« Der Meister lächelte ein bißchen,
-nicht heiter. »Kind, du sagst den Ablaßgruß so oft, daß du aus dem
-Fegfeuer schon herauskommen mußt, noch eh' du drin bist.«
-
-Ein Zucken ihrer Augenbrauen bewies, wie sehr sie die unfromme Rede
-mißbilligte. Schweigend nahm sie das Hütl ab und trat an die Seite des
-Vaters. Als sie sein Werk betrachtete, schien ihr Unmut sich noch zu
-steigern. »Du hast das noch allweil nit geändert? Daß ihr der Engl ein
-Rösl bringt. Das geht nit, Vater! Es müssen die unschuldigen Lilgen
-sein.«
-
-Der Meister sagte geduldig: »Ich muß das wächserne Fürbild formen
-für das Holz. Aus dem spleißigen Holz ist ein Lilgenstengel nit
-herauszuschneiden, ohne daß er nit ausschaut, als wär's ein Besen. So
-eine Staud? Die tät mir doch jedes Verhältnis stören. Es ist ein Gesetz
-in aller Kunst --«
-
-»Die Kunst muß sich bescheiden vor dem Heiligen. Irdische Rosen hätt
-die Gottesmutter bei der Verkündigung nit genommen.«
-
-»So? Wer hat dir denn das gesagt? Dem kannst du ausrichten, er soll
-mich mein Holz schneiden lassen, wie ich glaub, daß es sein muß. Ich
-schwefel ihm auch nichts drein, wie er reden soll mit einem Beichtkind!
-So, wie mit dir? So nit! Aber ich red' ihm nichts drein.« Immer
-schärfer klang die Stimme des Meisters. »Obwohl ich als Vater verlangen
-könnt, daß mein Kind, wenn es heimkommt aus der Gottesnäh, für mich ein
-menschliches Wörtl findet und einen guten Blick. Von einem Lachen will
-ich schon nimmer reden. Das ist versunken in meinem Haus.«
-
-Luisa schien nicht zu hören, was der Vater sprach. Während sie sein
-Werk betrachtete, fingen ihre Wangen in Zorn zu brennen an. Gleich
-einer Verzweifelten sah sie auf und stammelte: »Vater! Gott verzeih dir
-die Sünd, was hast du denn da getan?«
-
-»Getan? Und Sünd? Ich weiß nit, was du meinst?«
-
-Ihre Lippen zuckten, als wäre ihr das Weinen nahe. »Es muß so sein, daß
-die Höll mit ihren bösen Mächten durch unser gutgläubige Haus gegangen
-ist. Ich hab von mir die Versuchung fortgebetet, wie sie gegriffen
-hat nach meinem Arm. Du, Vater, bist dem sündhaften Geist erlegen. Er
-hat den Segen von deiner Hand genommen, so daß du dein frommes Werk
-entheiligt und verdorben hast.«
-
-Erschrocken sah Niklaus in die fieberhaft glänzenden Augen seines
-Kindes. »Mädel, mein liebes? Bist du krank?«
-
-»Vater? Siehst du es nit?« Mit der zitternden Hand, um deren Finger die
-Perlenschnur des Rosenkranzes gewickelt war, deutete Luisa auf das rote
-Wachsfigürchen der Maria. »Das ist die reine, züchtige Gottesmutter
-nimmer, die ich allweil an deinem Werk gesehen hab. Was heilig
-gewesen, hast du verwandelt in ein sündhaftes Weib. Tät es über den
-Marktplatz laufen, so wär gleich einer da, der sagen möcht: >Du tust
-mir gefallen!<« Aus ihren Augen fielen die Tränen. »Du mußt das wieder
-auslöschen. Oder dein Bildwerk ist verdorben. Es ist nichts Gutes mehr
-an ihm, als nur das fromme Köpfl der heiligen Mutter. Alles andere ist
-schlecht.«
-
-In Erregung griff der Meister nach dem Wachsmesser. Hätte er dem ersten
-Zorngedanken nachgegeben, so hätte er das leblos himmelnde Köpfchen
-der Marienfigur vom Halse geschnitten und gesagt: »Das ist das einzig
-Schlechte an meinem Werk. Alles andere ist gut.« Ein Blick in die
-angstvollen Augen seines Kindes machte ihn ruhiger. Er legte das Messer
-fort. »Komm, liebes Mädel! Du hast in der kalten Kirch gefroren. Wir
-wollen uns neben dem warmen Ofen auf das Bänkl setzen.«
-
-Sie entzog sich seinen Händen. »Tust du mir versprechen, daß du die
-Gottesmutter wieder heilig machen willst?«
-
-Er sagte unter klagendem Lächeln: »Ja, Kind! So heilig, als ich es
-fertig bring mit meiner hölzernen Hand.« Da duldete sie, daß er
-ihr das Mäntelchen von den Schultern nahm, das Gebetbuch aus ihrer
-Hand herauswand, die Perlenschnur von den Fingern wickelte und die
-Handschuhe von ihren Händen zog. Während er alles beiseite legte, ging
-sie schweigend zu dem braunen Bänkl, das neben dem wärmestrahlenden
-Ofen an der weißen Mauer stand und überglänzt war von einem Lichtband
-der Morgensonne. Er betrachtete sie. Trotz der kämpfenden Bitterkeit,
-die ihn erfüllte, hatte er seine Freude an ihrem schmucken Bild.
-Sie trug das Mädchenkleid ihrer Mutter aus einer Zeit, in der die
-französische Mode den spanischen Schnitt noch nicht verdrängt hatte.
-Die gelben Lederstiefelchen verschwanden unter den Falten des braunen
-Röckls, und zwischen den abstehenden Schoßzacken des Leibchens lugte
-der rote Miedersaum hervor. Gleich einer großen weißen Blume lag die
-gestickte Leinenkrause um den schlanken Hals, und auf dem jungen Busen
-hob und senkte sich das kleine Elfenbeinkreuz der Klosterschülerin. Sie
-hielt im Schoß die schlanken weißen Hände übereinander gelegt und sah
-mit den dunklen Augen, die einen heißen Schimmer hatten und voll Sorge
-waren, in Erwartung zum Vater auf.
-
-»Ach, Kind, wie lieb bist du anzuschauen!« sagte er herzlich. »Und
-wie viel Vaterfreuden könntest du mir schenken unter meinem Dach!« Er
-nahm ihre Hand und ließ sich neben ihr nieder. Weil er den Arm um ihre
-Schultern legen wollte, rückte sie von ihm fort. Da war auf seinen
-Lippen wieder das bittere Lächeln, in seinen Augen die Trauer. »Wir
-wachsen nit aneinander als Vater und Kind. Jeder Tag und jedes Stündl
-baut an der Mauer zwischen uns.«
-
-»Das ist nit meine Schuld.«
-
-»Wahr, Kindl! Was zwischen uns liegt, das hast du aus dem Kloster mit
-heimgebracht.«
-
-»Wider das Kloster darfst du nit schelten, Vater!«
-
-»Das tu ich nit. Ich mein' nur, die Zeit, in der wir uns nimmer gesehen
-haben, ist zu lang gewesen. Da hast du den Vater vergessen. Und das
-Denken an deine Mutter hat man in dir erlöschen lassen.«
-
-»So ist das nit. Es ist im Kloster kein Tag gewesen, an dem ich nit
-dreimal für dich gebetet, nit fünfmal zu meiner seligen Mutter gerufen
-hab um ihren Beistand.« Luisas Augen irrten gegen die Sonne hin. »Ich
-muß ihr den Himmel neiden. Im Himmel ist's besser als in der Tief, in
-der wir leiden.«
-
-Meister Niklaus verlor seine Ruhe. »Himmel! Und allweil Himmel! Nie
-ein Bröselein Welt! Das ist Elend! Man hat dir im Kloster mehr vom
-Himmel gesagt, als gut ist, und weniger von der Welt, als nötig wär.
-Wir alle, Kind, sind Menschen und müssen Wärm und Sonn, einen Trost
-und Freuden haben, wenn wir schnaufen sollen und nit ersticken.« Die
-Stimme zerbrach ihm fast. »Bist du denn nit mein Blut? Spürst du denn
-nit, daß ich dein Vater bin? Schau mich an! Bin ich nit schon ein halb
-Erwürgter? Willst du mir nit das bißl Sonnschein geben, das ich zum
-Schaffen brauch? Tu mich anlachen, nur ein einzigesmal! Oder ich muß
-verhungern, muß verfaulen bei lebendigem Leib!«
-
-Erschrocken sah sie ihn an und erhob sich. Heiße Glut übergoß ihre
-Wangen, um sich wieder zu verwandeln in wächserne Blässe. »Warum tust
-du nie so inbrünstig hinaufschreien zu Gott? Warum tust du ihm nit dein
-Herz hinbieten auf frommen Händen? Warum tust du nit abschütteln von
-dir, was dich wegzieht aus seiner Näh? Tät ich's machen wie du, ich wär
-verloren gewesen in einer sündhaften Nacht. Mein Gebet hat mich erlöst.
-Höll und Menschen haben nimmer Gewalt über mich.« Sie hob die Hände,
-und ein träumendes Lächeln irrte um ihren Mund -- ein Lächeln, das sich
-ansah wie die Verzückung einer gequälten Seele.
-
-Mühsam atmend ließ Meister Niklaus seine Fäuste auf die Bank fallen --
-die Holzhand schlug wie ein Hammer auf. Ohne die Morgensonne zu spüren,
-die ihn umleuchtete, sah er stumm seine Tochter an. Nun stand er auf.
-»Streng bist du allweil gewesen, seit deiner Heimkehr in mein Haus.« Er
-zwang sich zu ruhigen Worten. »Seit drei, vier Tagen ist was Neues in
-dir. Das macht dich reden, daß ich es nimmer versteh.« Da mußte er an
-die Soldaten Gottes denken, und fast heiter konnte er fragen: »Kind?
-Bist du denn neulich in der Nacht so arg erschrocken --«
-
-Unter seinem Worte zuckend wie unter einem Nadelstich, drehte sie das
-erglühende Gesicht zu ihm und stammelte: »Ich wüßt nit, über was ich
-erschrecken müßt.«
-
-»Ich hab's doch selber gesehen, daß du um alle Ruh gekommen bist, wie
-uns der Muckenfüßl die Haustür eingeschlagen hat!«
-
-»Deswegen bin ich nit erschrocken.« Ihre Stimme hatte wieder den
-strengen Klang. »Daß die Soldaten einmal kommen, hab ich lang
-geforchten. Du hast Menschen lieb, die deinem kranken Glauben zum
-Schaden sind. Allweil hat mich mein Herz vor ihnen gewarnt. Ich
-hab auch Warnungen hören müssen, wo ich Rat gesucht hab in meiner
-Seelenangst.«
-
-Ein Erblassen ging über das Gesicht des Meisters. Dann fuhr ihm
-wieder das dunkle Blut in die Stirn. Seinen Augen war's anzusehen,
-daß martervolle Gedanken sich unter seiner Stirne jagten. Mit rauhem
-Auflachen trat er auf das sonnige Fenster zu und streckte die Arme, als
-möchte er hinausgreifen durch die leuchtenden Scheiben. »Nachbarsleut!
-Ihr guten, schuldlosen Nachbarsleut! Verzeiht mir die schlechten
-Gedanken! Es ist mein Kind gewesen! Mein eigenes Kind!« Eine Sorge, die
-ihn ganz verstörte, riß ihn vom Fenster weg. Die Schulter des Mädchens
-mit der Faust umklammernd, keuchte er: »Hast du auch heut wieder
-solchen Rat gesucht?«
-
-»Wie es sein hat müssen. Ich bin seit der bösen Nacht des Trostes
-bedürftig gewesen an Leib und Seel.«
-
-»Und da hast du ihm alles gesagt, deinem Tröster? Alles?«
-
-»Ich tu nit lügen, Vater! Ich hab gesagt, was ich sagen hab müssen.«
-
-»Und da hast du auch -- Gott soll's verhüten, daß es wahr ist -- --«
-Er konnte nicht weitersprechen, mußte um Atem ringen. »Kind! Du hast
-doch ums Himmelswillen nit den Namen des guten Buben verraten, der mich
-gewarnt hat?«
-
-Sie schwieg, erschüttert durch die Sorge, die heiß aus ihm
-herausbrannte.
-
-Er las die Antwort in ihren Augen und sagte mit schwerer Trauer:
-»Armseliger Star! Wüßt ich nit, daß du in deiner weltfremden Jugend
-törig bist ohne Maß, so müßt ich sagen: du bist so schlecht, wie nur
-der Zwist um Himmel und Glauben die Menschen machen kann!« Immer
-mit der Holzhand an seinem Halse, ging er durch die Werkstatt hin
-und her, und während Erregung und Sorge in ihm wühlten, stieß er
-mit heiserer Stimme vor sich hin: »Ein guter und redlicher Bub! Und
-bietet dir auf ehrlicher Hand sein Glück und Herz! Und wirft um
-deinetwegen sein junges Leben vor meine Haustür hin! Und du in deinem
-gutgläubigen Seelengezappel verklamperst den Buben! Und lieferst ihn
-an den Schandpfahl! Und da droben in den Lüften da ist niemand, der's
-verhindert, kein Engel mit dem Lilgenstengl und keine hilfreiche
-Mutter in Züchtigkeit!« Ein zorniges Auflachen. »Wahr ist's, Mädel!
-So was Heiliges darf man nit irdisch formen! Das muß man himmlisch
-machen, grausam und ohne Erbarmen!« Wieder lachend, faßte er einen
-schweren Hammer und hob ihn zum Schlag. Aufschreiend versuchte Luisa
-den Arm des Vaters zu fangen. Da fuhr der zornige Streich schon auf
-das Bildwerk nieder. In Strahlen spritzte unter dem Hammerschlag das
-rote Wachs auseinander, und was auf der Holzplatte noch verblieb, war
-eine formlose Masse. Schweigend warf der Meister Niklaus den Hammer
-fort und umklammerte die Stirne mit der linken Hand. So stand er ein
-paar Sekunden. Dann sprang er zur Tür der Werkstätte. Draußen seine
-schreiende Stimme: »Sus! Den Hut! Den Mantel!«
-
-Luisa stand in der Sonne wie eine steinerne Säule, die langsam zu
-menschlichem Atem erwacht und beim ersten Blick ins Leben geschüttelt
-wird von Angst und Grauen. Die Arme streckend, trat sie auf das
-vernichtete Werk ihres Vaters zu, beugte das Gesicht und küßte die rote
-Masse des zerquetschten Wachses. Ihre Stimme, die verwandelt war zu
-den dünnen Lauten eines verängsteten Kindes, bettelte ins Leere: »Tu
-ihm verzeihen, hilfreiche Mutter! Ich -- will büßen -- für seine Sünd
---« Mit den Bewegungen einer Schlafwandlerin ging sie umher, fand ihr
-Mäntelchen, den Hut, das blaue Gebetbuch und den Rosenkranz, wickelte
-die Perlenschnur um ihre zitternden Finger und verließ die Werkstatt.
-
-Während sie mit irrendem Blick zu ihrer Kammer hinaufstieg, klang
-aus dem verschneiten Garten die angstvolle Stimme der Sus durch die
-offene, wieder geflickte Haustür in den Flur herein: »Um Gottes
-Barmherzigkeit! Meister! Was ist denn geschehen?« Luisa hörte keinen
-Laut dieser von Sorge zerrissenen Mädchenstimme. Sie lauschte nur in
-die eigene Seele. Was sie da klagen hörte, entstellte ihr Gesicht.
-
-Als sie in ihrer Kammer die Tür verriegelt hatte, stand sie
-unbeweglich. Immer sah sie das weißverhüllte Bett an, und immer
-sah sie, was sie in jener Nacht gesehen hatte: diese stahlblauen,
-dürstenden Jünglingsaugen, die von hundert silberweißen Mücken umflogen
-waren -- und sah das zerquetschte Wachs, sah die Martergestalt einer
-heiligen Frau, die rot war und zu bluten schien aus tausend Wunden.
-
-Langsam, immer wieder die Augen schließend, hängte sie das Mäntelchen
-in den Kasten, verwahrte das Gebetbuch, den Rosenkranz, die Handschuhe
-und das Hütl. Sie schnürte die gelben Stiefelchen von den Füßen,
-nestelte den Spenser herunter und legte ihn gefaltet in die Lade.
-»Büßen -- büßen --« lispelte sie mit entfärbten Lippen vor sich hin.
-»Für den Vater büßen -- alle erlösen, die schuldig sind.« Welche von
-den Sündenstrafen, die sie im Kloster gesehen hatte, war die härteste?
-Hungern müssen am Mittagstische? Zehn Vaterunser lang auf einem
-scharfkantigen Holzscheit knien? Sieben Rosenkränze beten, mit den
-nackten Füßen im Schnee? Sie sann und sann. Und da erwachte in ihr die
-Erinnerung an ein Bild, vor dem sie zitternd gestanden, als sie es zu
-warnender Abschreckung im Kloster hatte betrachten müssen. Wie man jene
-junge, sündhafte Schülerin bestrafte, die in der Messe ein verstecktes
-Spiegelchen aus dem Ärmel herausgezogen hatte -- das war von allen
-Klosterstrafen die quälendste gewesen.
-
-Ihre Augen glitten über die Mauer hin. Höher, als sie mit den Händen
-reichen konnte, war an der weißen Wand ein festes Zapfenbrett, aus den
-Jahren, in denen Meister Niklaus diese Kammer bewohnt hatte -- bei der
-Heimkehr seines Kindes hatte er die Stube geräumt, weil sie in seinem
-Haus die sonnigste war. Wie eine Träumende, verriegelte Luisa auch die
-andere Tür, die hinausführte in die Kammer der Sus. Aus der Truhe nahm
-sie zwei weiße Tüchelchen, knüpfte aus jedem eine Schlinge und schob
-sie über das Handgelenk. Sich bekreuzend, ging sie zum Bette, tauchte
-die Finger in das Weihbrunnkesselchen und besprengte das Gesicht.
-Ihre Bewegungen wurden rascher, etwas Frohes schien in ihren irrenden
-Gedanken zu erwachen. Sie rückte unter dem Zapfenbrett einen Schemel
-an die Wand und stieg hinauf. Mit dem Rücken sich gegen die Mauer
-pressend, schob sie die Schlingen, die an ihren Handgelenken waren,
-über die zwei äußersten Holzzapfen des Brettes und stieß den Schemel
-fort. Mit den Fußspitzen eine Spannenbreite über dem Boden, hing sie
-an den ausgereckten Armen und begann mit einer Stimme, die bei aller
-Innigkeit wie das Stammeln einer Betrunkenen klang, die Litanei zur
-heiligen Jungfrau Maria zu beten -- nur daß sie nicht betete: »Bitt für
-mich!«, sondern immer betete: »Bitt für *ihn*!«
-
-Solange sie noch bei Kräften war, hielt sie den Kopf an die Mauer
-gepreßt und sah mit heißglänzenden Augen zur Höhe. Bald sank ihr die
-Wange gegen die rechte, bald gegen die linke Schulter hin. Als sie in
-beginnender Pein das Gesicht zu drehen versuchte, sah sie an ihrem
-Arm, von dem der weiße Ärmel zurückgefallen war, die vier gelblich
-gewordenen Male, die vom Griff jener stählernen Jägerfaust geblieben
-waren. Zusammenzuckend, schloß die Büßende die Augen, ließ das Gesicht
-vornüberfallen, und ihre betende Stimme wurde zu einem versunkenen
-Schreien. In Schmerzen begann der stammelnde Mädchenmund zu lächeln,
-und auf dem glühenden Gesicht erschien ein Ausdruck der Entrückung.
-Nicht die härteste der Klosterstrafen hatte sie ausgesucht, sondern die
-süßeste und heiligste -- eine fromme Marter, die durchzittert war von
-dem Seligkeitsgefühl: zu leiden, wie der Heiland gelitten hatte für
-die Menschen, die er liebte. Während sie lächelte in Qual, begann ihre
-Stimme sich zu verwirren, verlor die frommen Anrufungen der Litanei und
-behielt nur noch die drei innigen Flüsterworte: »Bitt für ihn -- bitt
-für ihn -- bitt für ihn --«
-
-Gleich einer goldenen, immer breiter wachsenden Säule schob sich das
-leuchtende Band der Morgensonne über die Mauer hin und umschimmerte die
-in Süßigkeit und Schmerzen Betende, die für Andacht und Buße hielt, was
-ein noch Unsichtbares in ihrem Herzen war, ein Unbewußtes in ihrem Blut.
-
-
-
-
-Kapitel VI
-
-
-Der Föhn brauste über die Schornsteine von Berchtesgaden und verbündete
-sich mit der steigenden Sonne. Von allen Kanten der Hausdächer fielen
-Tropfen, die wie Goldkörner funkelten. In der Gasse war kein allzu
-emsiges Leben. Die Frauen, die aus den Kaufläden kamen, huschten flink
-an den Häusern hin, und Mannsleute waren nicht viele zu sehen. Oft
-lenkte einer plötzlich schräg über die Gasse hinüber. Immer war's wie
-der Wunsch, einem andern nicht Gesicht in Gesicht zu begegnen. Und
-grüßte der andere spöttisch: »Gelobt sei Jesus Christus und die heilige
-Mutter Marie!« -- dann guckte der Ausweichende über die Schulter und
-antwortete noch viel lauter: »Von nun an bis in Ewigkeit Amen!« Man
-konnte, bevor man in der Marktgasse vom Pflegeramte bis zum Brunnen
-kam, ein paar Jährchen Fegfeuer von seiner Seele ablösen.
-
-Meister Niklaus, in der Erregung, die ihn durchwühlte, vergaß ein
-paarmal des vorgeschriebenen Grußes. Er wollte schon in das Gässelchen
-hinter der Stiftsmauer einbiegen. Da kam aus dem Stiftstor eine
-heiter schwatzende Gesellschaft. Vier von den jungen, adeligen
-Domizellaren, in weltlicher Tracht, umflattert von den pelzverbrämten
-Seidenmänteln, mit dreispitzigen Hütchen über den gepuderten Frisuren,
-begleiteten unter französischem Scherzgeplänkel eine junge Dame, die
-zwischen den behandschuhten Händen ein winziges Gebetbuch hielt. Auf
-hochgestöckelten Schuhen trippelte sie zierlich durch den Schnee. Der
-Föhnwind blähte den himmelblauen Samtmantel auseinander und bewegte
-den reichgebänderten Steifrock wie eine Glocke. Mit einem Busch von
-Reiherfedern saß ein Pelzkäppl schief über dem großen Lockenbau,
-von dem der Puder davonstäubte. Das reizvolle Grübchengesicht hatte
-ein rosiges Kreuzermäulchen, hatte schwarzgezeichnete Brauenbogen
-über den Veilchenaugen und trug zwei neckisch angebrachte
-Schönheitspflästerchen, das eine neben dem linken Mundwinkel, das
-andere hoch auf der rechten Wange. Vor dieser Dame salutierten
-die Musketiere mit den langen Feuersteinflinten. Das fröhliche
-Fräulein, dem sie diese fürstliche Ehre erwiesen, war die Nichte des
-Berchtesgadnischen Pflegers und Kanzlers v. Grusdorf, war Aurore de
-Neuenstein, die »Allergnädigste«, des Fürstpropstes standesgemäße
-Freundin _en titre_.
-
-Neben der französisch aufgeputzten Gesellschaft erschienen die
-Bürgersleute in ihrer veralteten Tracht wie das Volk einer Zeit, die
-sich verspätet hat um ein halbes Jahrhundert. Die Allergnädigste
-achtete bei ihrem heiteren Gezwitscher aufmerksam darauf, ob auch jeder
-Vorübergehende mit genügender Ehrerbietung grüßte und jede Bürgersfrau
-und jedes Mädchen bis zu pflichtschuldiger Tiefe hinunterknickste.
-Meister Niklaus weckte bei der jungen Dame ein munteres Verwundern.
-Hinter ihm herdeutend, zirpte sie mit ihrem Kinderstimmchen in
-französischer Sprache: »Schon wieder von den Rebellen einer, die ohne
-Ehrfurcht sind vor Gott und Obrigkeit!«
-
-Der Meister strebte flink in die enge Gasse hinein. Als er atemlos in
-die weiße Stube des Pfarrers trat, saß der Hochwürdige beim Frühstück
-und tunkte die gerösteten Weißbrotschnitten in die Milch. »Herzbruder?
-Sturm unter dem Haardach?«
-
-Niklaus sah die Türen an. »Hört uns niemand?«
-
-»Bei mir kannst du schreien wie ein Jochgeier. Jeder Backofen ist
-feinhöriger als meine Schwester.«
-
-»Weißt du, wer uns den Muckenfüßl ins Haus geladen hat?«
-
-»Das merkst du erst heut?« Der Pfarrer lachte. »Die übermäßig Frommen
-sind im Leben wie ein Pulverfäßl. Nie weiß man, wann die Bescherung in
-die Luft geht.«
-
-Kummervoll nickte der Meister. »Mein töriges Mädel hat heut den Namen
-des Leupolt ausgeschwatzt.«
-
-Der Pfarrer fuhr vom Sessel auf. »Das ist hart.« Dann fragte er, als
-wäre das eine Hoffnung: »Meinst du, sie war im Beichtstuhl?«
-
-»Das weiß ich nit.«
-
-Pfarrer Ludwig riß eine Tür auf und brüllte: »Franziskaaa!« Er kam
-zurück. »Meine Schwester wird's wissen. Jeden Morgen geht sie beichten.
-Um mich unverdächtiger vor Gott und den Chorkaplänen zu machen. Bei
-Gott gelingt es ihr, bei den Kaplänen nit.«
-
-Eine sechzigjährige Frau, halb Bäuerin, halb bürgerlich, kam in
-die Stube. Ein bißchen mißtrauisch grüßte sie den Meister und sah
-erwartungsvoll ihren hochwürdigen Bruder an. Durch die Muschel der
-Hände fragte der Pfarrer, ob das Luisichen heut wieder gebeichtet
-hätte? Franziska schüttelte den Kopf. »Heut nit. Heut nach der Frühmeß
-ist sie zum Chorkaplan Jesunder in die Wohnung gegangen. Des Jesunders
-alte Mutter hat am Fenster genäht. Gählings ist sie vom Fenster weg.
-Und wie das Kind aus dem Haus war, hat des Jesunders Mutter flink einen
-Weg gemacht. Zum Pfleger.« Eine tiefe Glocke schallte durch das Haus,
-so laut, daß es auch die Schwester Franziska hörte. Erst guckte sie
-flink in der Stube herum, ob da nicht irgend was Verdächtiges läge,
-dann ging sie, um die Flurtür zu öffnen.
-
-»Wenn's beim lieben Herrgott einmal auslaßt mit der Allwissenheit,«
-sagte der Pfarrer, »da braucht er nur meine Schwester fragen.«
-
-In Unruh stammelte der Meister: »Man muß dem Buben ein Wörtl schicken,
-daß er sich fürsieht.«
-
-»Das wird nit helfen. Der Leupolt ist von den Graden einer, die vor
-Wasser und Feuer nit ausweichen. Sonst könnt man ihm beibringen:
-er soll sich ausreden auf sein Wohlgefallen an deinem Mädel, soll
-sagen, er hätt die Warnung ausgesonnen, um einen Weg zum Luisichen zu
-finden. Aber der Bub wird das Eisenköpfl schütteln und die Wahrheit
-sagen. Verschweigt er was, so tut er es nur, um dich nit auch noch
-einzutunken. So oder so, man muß versuchen, ihm beizuspringen.«
-
-Da kam Franziska. »Der Hochwürdige soll zum Fürsten hinüber, gleich!«
-
-Der Pfarrer tat einen leisen Pfiff. »Herzbruder, die Kanon ist
-geladen.« Während er den Mantel nahm, schwatzte er lustig, um den
-Schreck der Schwester zu beruhigen. Draußen auf der Stiege zischelte
-er: »Spring hinüber zum Mälzmeisterhaus! Red mit des Leupolts Mutter!«
-
-»Das ist doch eine gut Katholische?«
-
-»Eben drum! Weil sie eine gute ist, drum hat sie das Herz auf dem
-rechten Fleck. Aller Zwist im Glauben kommt von den Halben und Falschen
-her. Ob Heid oder Jud, ob römisch oder evangelisch, was einer ganz und
-redlich ist, das macht in ihm den Menschen besser und aufrechter. Dem
-braven, gottesfrommen Weibl kannst du dich anvertrauen ohne Scheu. Dann
-such mich wieder auf!« Der Pfarrer umfaßte mit festem Druck die Hand
-des Freundes. »Mensch bleiben! Und denk an den Amsterdamer Singvogel!
-Man ist nit schuldig seiner selbst, nur schuldig seines falschen Wegs.
-Laß uns den rechten suchen!«
-
-Mit hämmerndem Herzen sprang der Meister hinter den Häusern in das
-Staudenwerk der Berglehne. Hier konnte er gedeckt zum Garten des
-Mälzmeisterhauses kommen, das an der Salzburger Straße lag. Die
-Hintertür stand offen, und als der Meister in die Küche trat, fand er
-die kleine, rundliche Frau Agnes beim Backofen beschäftigt. »Gelobt sei
-Jesus Christus und die heilige Mutter Marie!«
-
-»In Ewigkeit Amen!« antwortete die Mälzmeisterin, ohne sich umzugucken.
-Auf flacher Holzschaufel zog sie ein großes Zopfgebäck aus dem
-Backofen, bestrich es mit Eierklar, ließ es wieder in der duftenden
-Backhöhle verschwinden und schob das kupferne, von Blankheit spiegelnde
-Türchen zu. Auch alles andere Metall an den Wänden funkelte. Dieser
-Küche entsprach die Hausfrau in dem reinlichen Braungewand und der
-blauen Glockenschürze. Aus dem weißen Häubchen lugte das freundliche
-Frauengesicht heraus wie ein heiteres Nonnenantlitz. Trotz der fünfzig
-Jahre sah man in den zwei blonden Haarsicheln, die sich unter dem
-Häubchen hervorschwangen, noch keinen grauen Faden. Ihre Augen
-waren ganz die Augen des Sohnes, nur sanfter. »Soooo!« sagte sie und
-wandte sich. »Ooh, der Meister Niklaus!« Ein leises Lächeln. »Durchs
-Hintertürl?«
-
-»Deine muntere Stimm hören, tut wohl. Und da muß ich dir als unguten
-Dank eine Sorg bringen.«
-
-Ganz ruhig blieb sie. »Kram nur aus! Mit den Krabbelkäfern, die man
-Sorgen heißt, bin ich noch allweil fertig geworden.«
-
-»Ist einer von deinen Mannsleuten daheim?«
-
-»Keiner. Der meinige mit den zwei Jungbuben ist im Bräuhaus, und der
-Leupi ist am Königssee, in Barthelmä.«
-
-Niklaus atmete auf. Das gab Sicherheit für einen Tag. Solang die Sonne
-schien, war der See nicht befahrbar, erst in der Nacht, wenn der Frost
-das Eis wieder härtete. »Gott sei Dank!« Er zog die Gartentüre zu,
-schloß auch die Tür zum Flur und wollte den Riegel vorschieben.
-
-»Das nit!« wehrte Mutter Agnes. »Die Magd ist in der Tenn beim
-Bohnenklauben. Gute Ohren hat sie freilich. Müssen wir halt ein
-bißl Lärm machen.« Im Glutloch des Backofens entzündete sie ein
-Reisigbündel, legte die aufknisternde Flamme auf den offenen Herd
-und schichtete Latschenäste drüber. Nun krachte das züngelnde Feuer,
-als würde in der Küche der Mutter Agnes ein Musketenscharmützel
-ausgefochten. »Da ist ein Bänkl. Tu dich hersetzen! Und red!«
-
-Mit den Lippen an ihrem Ohr, erzählte er, was Leupolt getan. »Mein
-verstörtes Mädel ist beim Jesunder gewesen und hat's ausgeredet in
-ihrer frommen Angst. Des Jesunders Mutter ist zum Pfleger gelaufen,
-den Pfarrer hat man zum Fürsten geholt, und jetzt brennt in mir die
-Sorg um deinen guten Buben.«
-
-Mutter Agnes schwieg. Trotz aller Seelenstärke, die sie aus ihrem
-vertrauensvollen, vom Zeithader unberührten Glauben schöpfte, war ein
-Erblassen über ihr Gesicht geronnen. Vom Feuer angeflackert, saß sie
-auf dem Bänkl, die verklammerten Hände im Schoß. Ihr Blick hing an
-den sternschönen Lichtfunken, die jagend hinauffuhren in den großen
-Rauchtrichter des Schornsteins. Wie dieser glühende Funkenzug, so flog
-ein Gebet ihres Herzens hinauf zu dem Hilfreichen, an den sie glaubte.
-Sie wußte: das Ausschwatzen eines Amtsbefehls in Glaubenssachen wurde
-so streng gebüßt wie versuchter Landsverrat. Den Kopf beugend, preßte
-sie die Hände an ihre Schläfen. »Wir armen Weibsleut! Wo wir hinfallen,
-ist allweil steiniger Boden. Wird eine nit gesegnet, so verschrumpfelt
-sie freudlos am Lebensbaum. Ist man Mutter, so bröckelt man sein Leben
-in die Kindersupp.«
-
-Niklaus legte den Arm um ihre Schultern. »Weißt du einen Rat?«
-
-Sie trocknete mit den Handballen die Augen. »In der Nacht geht ein
-Bierschlitten über den See. Da können wir dem Buben einen Zettel
-schicken. Den will ich hineinbacken in einen süßen Krapfen, mit einem
-Kränzl aus Zwibeben drauf. Da merkt der Leupi: es ist eine Botschaft
-drin. Nur daß er weiß, was ihm zusteht. Helfen kann bloß der Einzige,
-der wissen muß, daß es der Bub nit schlecht gemeint hat. Daß er's tun
-hat müssen, begreif ich.«
-
-»Weißt du, warum?«
-
-»Ich müßt keine Mutter sein, wenn ich's nit lang schon gemerkt hätt.
-Aber ich sorg, es ist eine Mauer zwischen den beiden.« Mutter Agnes hob
-die flehenden Augen. »Sag mir's!«
-
-»Was, Mutter?«
-
-»Ist mein Bub --« Ihre Stimme brach. »Ist der Leupi schon ganz da
-drüben?« Sie wollte sagen: »Auf der falschen Seit!« Weil sie fürchtete,
-daß es den Meister kränken könnte, sagte sie: »Wo die anderen sind,
-die man nit sieht.« Er schwieg. Da griff sie nach seiner Rechten,
-fühlte unter dem Handschuh das Holz und erschrak, als hätte sie etwas
-Glühendes berührt. »Sag mir's! Es soll verschlossen bleiben in mir.«
-
-»Mit Sicherheit weiß ich es nit. Und wenn ich es wüßt, ich dürft es nit
-sagen.«
-
-Aus ihren Augen fielen zwei Tränen, die im Rotschein des Feuers wie
-rinnendes Blut erschienen. »Der Bub ist aufgewachsen zwischen meinen
-Händen. Sein erstes Betsprüchl hat er mir nachgeredet mit seiner
-Kinderstimm. Ist fromm und gläubig gewesen sein ganzes Leben lang.
-Ist ein redlicher Bub geblieben. Und ist doch ein anderer worden, ich
-weiß nit, wie, und ich weiß nit, wann! Wie kann das kommen über einen
-Menschen?«
-
-»Wie dort die Funken fliegen auf deinem Herd. Im Schornstein droben
-verlöschen sie. In eines Menschen Herz ist Boden, wo sie weiterbrennen.
-Das geht am leichtesten in einer Menschenseel, die kein Unrecht sehen
-kann oder Unrecht leiden muß.« Er hob seine hölzerne Hand vor die Augen
-der Mälzmeisterin hin.
-
-»Das hat nit der getan, der die Händ erschaffen hat.«
-
-»Ist dir alles recht, was sie tun und predigen?«
-
-»Es gibt auch Schuster, die schlechte Sohlen machen. Deswegen hab ich
-noch nie den richtigen Weg verloren.«
-
-»Die den besseren suchen? Verwirfst du die?«
-
-Sie sah ihn mit großen Augen an. »Soll ich mein Kind verwerfen? Ich?
-Die Mutter? Allweil sinn ich drüber und versteh's nit. Wie ich bin, so
-muß ich bleiben. Von meinem Buben weiß ich, er ist ein guter Mensch.
-Das bleibt er auch auf dem anderen Weg. Und die ihm als Brüder und
-Schwestern gelten, können nit schlecht sein. Sonst tät's mein Bub nit
-halten mit ihnen.«
-
-Der Meister nahm ihre Hand. »Täten alle denken wie du, so wär nit
-Streit und Hader um jeden Gottesweg. Wir zwei, Mutter, helfen zusammen,
-gelt? Hast du eine Bleifeder? So schreib ich den Zettel, derweil du den
-Teig für den Krapfen rührst.«
-
-»Wahr ist's: helfen ist besser als reden.« Frau Agnes sprang zur
-Flurtür und verschwand. Gleich war sie wieder da, mit Blatt und
-Bleifeder. »Kannst du denn schreiben mit deiner Linken?«
-
-»Muß einer, so lernt er's.«
-
-Sie rückte einen kleinen Tisch vor den Meister hin, und während er
-die steifen Buchstaben zu kritzeln begann, rührte Frau Agnes in einer
-hölzernen Schüssel den Teig. Plötzlich stammelte sie erschrocken:
-»Ach, du barmherziger --« Sie riß das kupferne Türchen des Backofens
-auf und zog den vergessenen Zopf heraus. Der roch sehr übel und war so
-schwarz wie Kohle. Kummervoll sagte sie: »Der erste, der mir verbronnen
-ist!« Frau Agnes lächelte ein bißchen. »Bin ich jetzt eine schlechte
-Hausfrau? Jede Nachbarin tät's glauben.« Sie schob das verdorbene
-Gebäck ins Herdfeuer, in dem es zu rauchen und zu glühen begann. »Man
-darf die Leut nit einschätzen nach den Zöpfen, die sie verbrennen
-lassen.« Wie das gute Holz verwandelte sich auch das verdorbene
-Backwerk in fliegende Feuerfunken. »So geht's mit *einem* Backofen! Und
-jedes Menschenkind hat drei: einen im Blut, einen in der Seel und einen
-im Hirnkästl. Ach, der liebe Herrgott! Auf wie *viel* verbronnene Zöpf
-muß er herunterschauen! Und nie noch hat er die Geduld verloren. Bloß
-auf der Welt verliert man sie allweil, und am ungeduldigsten sind die
-Bäcken, die das Brot versalzen und die meisten Wecken verrußen lassen!«
-Sie setzte sich auf die Bank, nahm die hölzerne Teigschüssel zwischen
-die Knie und begann mit beiden Händen hurtig zu rühren.
-
-Meister Niklaus grübelte, um des Pfarrers Ausrede in Worte zu bringen,
-die nichts verrieten und für den Leupolt doch verständlich waren.
-Während er kritzelte, mußte er immer an den Hochwürdigen denken.
-Der hatte wohl jetzt im Fürstenzimmer des Stiftes eine gefährliche
-Viertelstunde zu übertauchen? Was Meister Niklaus da vermutete, war
-ein Irrtum. Und ein Irrtum war es auch, wenn Mutter Agnes ihren Buben
-in der düsteren Jägerstube sitzen sah, bedrückt von Gewissenspein und
-Sorge. --
-
-Leupolt war um diese Stunde von Sonne umglänzt, von blendendem
-Weiß umfunkelt. Und Ruhe war in seinem braunen Gesicht, in seinen
-stahlblauen Augen. Er stand auf dem Beinschlitten, hinter einem großen
-Sack, in dem er gedörrte Rüben für das hungernde Hochwild zu dem Ufer
-bringen mußte, das der Fischmeisterei von Bartholomä gegenüber lag.
-Da hinüber war's nur ein kurzer Weg, und dennoch mußte Leupolt einen
-langen machen, um den durch das Eis gerissenen Frageln auszuweichen,
-aus denen das geschwellte Seewasser mit Gesprudel herausquoll. Alle
-Kraft des Jägers gehörte dazu, um gegen den Föhnsturm aufzukommen.
-Jetzt mit einer flinken Wendung ans Land, den Sack auf die Schulter und
-über die weiße Böschung hinauf. Von zahlreichen Hochwildfährten war
-der Schnee zertreten zu einem brösligen Wirrwarr. Gleißende Lichter
-und blaue Schatten. Das beschneite Gezweig der Buchen war wie ein
-wundervolles Silbergespinst, das der Goldschmied Gott verziert hatte
-mit Millionen farbigblitzender Edelsteine. Auf vierzig Schritte standen
-im weißen Walde schon die Muttertiere mit ihren Kälbern und warteten.
-Ein paar geringe Hirsche bei ihnen, und schlanke, feinbewegliche
-Jüngferchen. Von den Gutgeweihten, die Leupolt zählen mußte, war noch
-keiner zu sehen. Scheu waren auch sie nicht; die Not des Winters zähmt
-die Wildesten; aber weil sie die Starken waren, konnten sie geduldig
-sein und der Schwäche den Vortritt lassen.
-
-In flinker Arbeit schleppte Leupolt die Heubündel aus der Scheune,
-füllte die Raufen und schüttete das Kernfutter in die langen Tröge.
-Dann schlüpfte er am Ufer unter den kleinen verschneiten Hegerschirm,
-der einen doppelten Ausguck hatte. Die eine Luke guckte nach Bartholomä
-und zeigte ein von Sonne umflimmertes Bildchen. Die kleine Kirche, halb
-weiß und halb im Blauschatten; daneben der altersgraue Jägerkobel, ein
-Balkenhaus, das unten Schiffhütte war und im Oberstock die Stuben der
-Jäger und Fischer enthielt; dahinter das langgestreckte Jagdschlößchen
-der Stiftsherren, umgeben von den Silbergestalten der verschneiten
-Bäume, als Hintergrund die Kletterwände des Wazmann mit dem blauen
-Himmelsdach. Die andere Luke des Hegerschirmes war gegen die Wildraufen
-gerichtet. Hier blieb's noch eine Weile still. Wo die Sonne glänzte,
-blitzten viele von den farbig funkelnden Edelsteinen durch die Luft
-herunter und versanken im Schnee. Nun sicherte langsam ein Muttertier
-mit dem Kalb heran. Dann erschien ein Spießerchen im spanischen Tritt
-und blieb noch eine Weile mutlos. Zwei Jungfern kamen herbeigetrippelt,
-und als diese ersten mit den Äsern in die Futtertröge fuhren,
-galoppierte das Kahlwild mit Geprassel von allen Seiten gegen die
-Raufen hin. Lächelnd sah Leupolt diesem grau durcheinanderdrängenden
-Gewimmel zu und konnte beim Schauen seine Gedanken wandern lassen.
-Sie gingen auch heute den gleichen Weg, wie seit der Schneezeit an
-jedem Wintermorgen. >Der Kirchgang ist lang vorbei. Jetzt muß sie
-schon wieder daheim sein.< Er hat sie noch nie im Haus und bei der
-Arbeit gesehen; und hätte sich das gerne ausgedacht; doch immer sieht
-er sie mit dem Federhütl und in dem dunkelgrünen Mantel, aus dem die
-Rosenkranzperlen hervorgucken. Ihre Augen sind gesenkt. Leupolt sieht
-in dem feinen Gesichtl nur den roten Mund, das zarte Näschen, die
-weißen Lider und die Sicheln der Wimpern. Und wenn sie die Augen hebt,
-so sieht er den Zorn in ihnen funkeln, die Verdammung des Unsichtbaren.
-Wie wunderlich das ist: so oft er sie in Wirklichkeit so gesehen hat,
-war's immer ein Schmerz für ihn, eine quälende Hoffnungslosigkeit. Und
-hier, im weißen Wald, bei diesem stillen Träumen wird alles für ihn zu
-einem frohen und zärtlichen Glück.
-
->Ob sie nit spüren muß, wie oft ich denk an sie? Bei Tag und Nacht!<
-Mit dürstender Sehnsucht ist die Frage in seinem Herzen: >Denkt sie
-wohl auch an mich?< Ob sie nicht betet für ihn? Für seine Seele, die
-sie für eine verlorene hält? Gibt es Frömmigkeit, die nicht barmherzig
-wäre? Frömmigkeit, die nicht beten müßte für jeden, den sie für einen
-Irrenden hält? Und wenn sie hinaufruft zu einem ihrer vielen Heiligen?
-Flüstert sie da nicht manchmal ein leises »Bitt für ihn?« Wie eine
-Süßigkeit klingt es in seinem Ohr, in seiner Seele: »Bitt für ihn --
-bitt für ihn --« Dabei sieht er sie in der kalten Kirche knien, ein
-bißchen frierend, mit dem braunen Hütl über dem schönen Haar, in dem
-dunkelgrünen Mantel, aus dem die Fingerspitzen der gefalteten Hände
-hervorlugen.
-
-Tausend Gedanken denkt die Menschenseele in jeder Stunde. Einer ist
-halbe Wahrheit. Die anderen sind Irrtum.
-
-
-
-
-Kapitel VII
-
-
-Pfarrer Ludwig mußte im Korridor vor dem Fürstenzimmer noch immer auf
-seine Vorlassung warten, weil der Haarkräusler beim Allergnädigsten
-war. Die hundert Locken einer fürstlichen Perücke verlangen ihre
-Zeit. In einer hohen Fensternische an den Kreuzstock gelehnt, zeigte
-der Hochwürdige ein ruhiges Gesicht. Je heißer in ihm die Sorge
-wühlte, um so gleichmütiger sah er über die Wände hin, an denen
-zwischen Hirschgeweihen, Heiligenbildern, großen Jagdgemälden und
-pröpstlichen Bildnissen zwei weltgeschichtliche Kriegstrophäen hingen:
-die Eisenhüte, Brustpanzer, Schwerter, Terzerole und Schärpen zweier
-schwedischer Kürassiere. Was da rostend und verstaubt an der Mauer
-hing, das war fast die einzige Welle gewesen, die der dreißigjährige
-Krieg aus dem verwüsteten Deutschen Reich hereingespült hatte in die
-Stille des Berchtesgadnischen Landes.
-
-Blut, Hunger, Verarmung, Seuchen und Brandschatzung; die Hälfte der
-Deutschen erschlagen, versunken und verfault; Handel und Wohlstand
-vernichtet; alle Bande des Reiches gelockert und zerfetzt; eine
-Kluft des Mißtrauens und des Hasses zwischen Nord und Süd; ein für
-ewige Zeiten unlösbar erscheinender Zwiespalt zwischen deutschem
-Katholizismus und deutschem Lutheranertum; ein entzweigekeiltes, an
-Sitte und Leben verpestetes, in hilflose Fetzen zerfallenes Volk,
-das seine nationale Erneuerung wieder beginnen mußte, wie ein Kind
-nach dem Windelschmutze seine Menschwerdung anfängt in den ersten
-Schuhen -- und als einziges Erinnerungszeichen dieses grauenvollen
-Geschehens hingen im Fürstenkorridor zu Berchtesgaden zwei schwedische
-Kürasse. Die hatte man in der Ramsau zwei verirrten und von den Bauern
-erschlagenen Botschaftsreitern vom blutenden Leib geschält.
-
-Nur ein einzigesmal in jenen dreißig Jahren hatte Berchtesgaden
-für wenige Winterwochen eine Einquartierung erlebt. Während die
-deutsche Welt in Jammer und Elend sank, hätte das >Ländl< in seiner
-Abgeschlossenheit gedeihen können, wenn ihm, angesteckt durch
-Seuchenkeime der Zeit, die Zermürbung nicht im kleinen erwachsen wäre,
-wie draußen dem Volk der Deutschen im großen.
-
-Aus dem Fürstenzimmer huschte ein spitznäsiges Männchen heraus, der
-Perückenmeister, den man aus Paris verschrieben hatte. Ein deutscher
-Bartscheer brachte doch so was Himmlisches nicht fertig, wie es jetzt
-die Herren auf ihren Köpfen trugen. Pfarrer Ludwig tat einen tiefen
-Atemzug und ging zur Tür. Bevor er sie erreichte, vollzog sich ein
-Ereignis, das störend in den Gang der Berchtesgadnischen Regierung
-eingriff. Am Pfarrer rannte einer vorüber und ihm voraus, der auf
-der Schwelle des Fürstenzimmers den Vortritt sogar vor den fremden
-Gesandten hatte. Der Wildmeister. Er brachte die aufregende Nachricht,
-daß die Stiftsjägerei bei den Untersteiner Sümpfen drei kapitale
-hauende Schweine bestätigt hatte. Die Keiler lagen unentrinnbar fest,
-und die Netze waren schon gezogen, nicht zu einem >Großen Jagen<, nur
-zu einem kleinen >Eingestellten Treiben<, das flink zu erledigen
-war. Bei solcher Sachlage hatten die Wildschweine den Vorrang vor
-dem Landswohl und der Fürsorge für den unverfälschten Glauben. In
-den Korridoren sprangen Lakaien und Jägerknechte hin und her, im
-Stiftshofe wurden vier zierliche Schlitten aus den Remisen gezogen,
-und zwei buntgekleidete Läufer, mit weißen Straußenfedern auf den
-grünen Samtkappen, surrten unter dem Brausen des Föhnwindes durch
-die Marktgasse, um die edle Aurore de Neuenstein und den Kanzler von
-Grusdorf zum Eingestellten Treiben zu laden. Der Onkel Kanzler mußte
-zur Wahrung der guten Sitte immer den Regierungstisch verlassen,
-wenn die allergnädigste Nichte sich beteiligte an den winterlichen
-Weidmannsfreuden ihres _maître adoré_.
-
-Pfarrer Ludwig, der sonst auf das neumodische Jagdgepränge nicht gut zu
-sprechen war, segnete an diesem Tag zum erstenmal den >französischen
-Schwindel<. Aufatmend um des Zeitgewinnes willen, eilte er heim und
-brüllte der Schwester ins Ohr: »Kommt der Niklaus, so sag ihm, daß
-ich vorausgegangen bin zu seinem Haus!« Dann schoß er davon, um zwei
-nötige Dinge zu erledigen. Er mußte das fromme Klostervögelchen zum
-Singen bereden, mußte zu erfragen suchen, was Luisa dem Chorkaplan
-Jesunder gesagt hatte. Und mit Lewitter, den er seit dem gestörten
-Schachspielabend nicht mehr gesehen, mußte er das gemeinsame Verhalten
-vor dem Fürsten bereden. Ungeduldig trommelte er mit dem Klöppel an
-Lewitters Haustür. In dem dunklen Flur, in dem die Gewürze dufteten,
-kam für den Pfarrer eine schwierige Unterhaltung mit der alten Lena,
-deren Zeichensprache er nur halb verstand. »Gut sind wir aufgerichtet,
-der Simmi und ich! Die meine hört nit, und die seine kann nit reden!«
-Dem wahren Gott zuliebe hatte man der Magd vor fünfzehn Jahren in
-Salzburg die Zunge kürzer gemacht, weil sie die Obrigkeit belogen
-hatte, um Weib und Kinder ihres Herrn zu retten. Nur mit den Händen
-konnte sie noch reden.
-
-Ungefähr verstand der Pfarrer, daß Simeon nicht daheim wäre; man hätte
-ihn am verwichenen Abend wieder zu einem kranken Weib geholt, das
-seit drei Tagen in den Wehen läge und nicht gebären könne; Lewitter
-wäre wieder die ganze Nacht außer Haus gewesen und auch am Morgen
-nicht heimgekommen. »Ach, das Leben! Könnt ein Gärtl des lieben Gottes
-sein und wird ein Saustall des Teufels! Und da plagt sich jetzt der
-hilfreiche Simmi, um einem neuen Leidgesellen der Menschheit den
-Eintritt ins Leben zu erleichtern!« Den Kopf gegen den Südwind bohrend,
-eilte Pfarrer Ludwig dem Haus des Freundes entgegen, immer grübelnd:
-»Wie muß ich es machen, daß ich das Mädel zu Verstand bring? Zu einem
-Herzschlag, der menschlich ist?«
-
-Ein Weiberschrei voll Sorge machte ihn aufblicken. Vom Zauntor kaum die
-Sus gelaufen: »Wo bleibt der Meister? Ist was geschehen?«
-
-»Nichts, gute Sus! Wo ist das Luisichen?«
-
-»Die Haustochter hab ich nimmer gesehen, seit sie heimgekommen ist
-von der Frühmeß. Der Meister ist ganz von Sinnen gewesen. Und da bin
-ich allweil beim Zaun gestanden, hab gewartet und bin nur ein paarmal
-hineingesprungen zum Herd, daß mir das Fleisch nit aus dem Sieden
-kommt.«
-
-»Recht so, liebe Sus! Dein Herr und dein Herd!« Der Pfarrer sagte
-scherzend: »Gelt, Mädel? Dich plagen keine Seelenzweifel und
-Glaubenskämpf?«
-
-»Mich nit!« antwortete sie ehrlich. »Ob des lieben Herrgotts Kittel
-grün oder rot ist, das ist mir eins. Kittel her oder hin, der Herrgott
-ist drin. Mir ist das Leben recht, so lang der Meister seine Ruh hat
-und schaffen kann. Und weil man schon nimmer weiß, wie man beten muß,
-drum bet ich am Morgen katholisch, am Abend evangelisch. Eins muß dem
-Meister allweil nutzen.«
-
-»Betest du nit auch für dich?«
-
-Sus schüttelte den Kopf und trat in den Flur. »Ich zähl doch nit.« Als
-sie dem Pfarrer den Mantel abnahm, sagte sie: »Eh der Meister fort
-hat müssen, ist die Haustochter bei ihm gewesen.« Sie öffnete die Tür
-der Werkstatt. »Kindl? Bist du noch da?« Auch der Pfarrer war über
-die Schwelle getreten. Nun sahen die beiden im gleichen Augenblick
-die Holzplatte mit dem formlos auseinandergequetschten Wachs. Die
-Sus bekam ein Gesicht, so weiß wie Kalk. Und der Pfarrer stammelte:
-»Gotts Not! Das hat doch der Meister nit selber getan! Mädel? Ist ein
-Chorkaplan im Haus gewesen?« Sus hörte nicht. Immer sah sie die Reste
-des vernichteten Werkes an, als wäre das der Untergang einer kostbaren
-Welt. Den Mund von Tränen überkollert, lispelte sie: »Wie heilig und
-schön ist das gewesen!« Unbeweglich blieb sie vor dem Gewirr des roten
-Wachses stehen, als Pfarrer Ludwig hinaussprang in den Flur.
-
-»Luisichen!« rief er, während er hinaufhastete über die Treppe.
-»Luisichen!« Er stieß die Wohnstube vor sich auf. »Luisichen!
-Luisichen!« Er rüttelte an des Mädels verschlossener Kammertür. »Aber
-Kind! So tu doch reden! Bist du da drin?« Er vernahm einen Laut. War's
-ein lallendes Beten? Ein Stöhnen in Schmerz? Mit aller Kraft seiner
-Sorge warf sich der Greis gegen die Tür. Der Riegel klirrte in die
-Stube hinein, Pfarrer Ludwig taumelte über die Schwelle und tat im
-ersten Schreck einen heiseren Schrei. Erstarrt hing Luisa vor ihm an
-der weißen Mauer, wie eine Gekreuzigte, umwoben von der Sonne. Ihre
-Arme, von denen die leinenen Ärmel zurückgefallen waren, hatten eine
-gedunsene Form und waren so rot wie das Mieder, unter dem die junge
-Mädchenbrust in heftigen Stößen atmete. Oberhalb der schnürenden
-Tuchschlingen waren die Hände dunkelblau, mit gespreizten, leblosen
-Fingern. Und der Kopf mit den schweren Haarflechten hing entkräftet
-vornüber. Ein paar lallende Laute noch. Dann schien eine Ohnmacht die
-Sinne der Büßerin zu umschatten.
-
-Pfarrer Ludwig schrie den Namen der Sus, sprang auf Luisa zu, riß das
-Messer heraus, das er wie ein Bauer an der Hüfte trug, umklammerte die
-Bewußtlose mit dem linken Arm und schnitt die gestrafften Tuchschlingen
-von den Holzzapfen. »Da möcht man doch verzweifeln an der Menschheit!«
-keuchte er und trug die Ohnmächtige hinüber zum Bett. Als er die
-Sus kommen hörte, befahl er: »Lauf, was du laufen kannst, und bring
-einen Becher Kirschwasser!« Er zerrte die Tuchschlingen von Luisas
-Handgelenken, begann ihre starren Arme zu kneten und rieb ihre Hände,
-bis die blaue Färbung verschwand und der Blutlauf wieder in Gang
-geriet. Nun brachte die Sus den Becher und stammelte: »Was ist denn
-geschehen?«
-
-»Nit viel!« Er konnte lachen. »Ein bißl Dummheit geht um in den
-Menschenköpfen. Wer weiß, wozu es gut ist! Ein Holländer hat mir
-neulich gesagt: >Kein Ding, das dem Leben nit dienen könnt, auf daß
-die Menschenkinder teilhaftig werden des Glückes!<« Mit dem Becher
-beugte der Pfarrer sich über das Bett und flößte einen festen Guß des
-Kirschwassers in Luisas Mund. Sie schluckte. »Soooo, Kindl! Gelt, das
-ist gut!« Er stellte den Becher fort und rückte den Fußteil des Bettes
-von der Mauer weg. »Flink, Sus! Auf die ander Seit hinüber! Mach dem
-Mädel das Mieder und den Rockbund auf. Wir müssen schauen, daß wir sie
-unter die Deck bringen.« Hurtig rieb er die Hand der Ohnmächtigen.
-»Dann nimm ihren anderen Arm und tu mir alles nachmachen, fest und
-flink!«
-
-»Was ist denn, Hochwürden?«
-
-»Ach, so dumme Mädelgeschichten! Da ist sie ein bißl krämpfig worden.«
-
-Während Sus das rote Miederchen der Haustochter aufnestelte, klagte sie
-vor sich hin: »Um Gottes willen!«
-
-»Nein, gute Sus! Gott ist da nit dabei. Nur Überfluß an jungem Blut und
-ein bißl Mangel an gesundem Verstand.«
-
-Unter den vier kräftigen Fäusten wurden die zwei starren Mädchenarme
-heiß und beweglich. Auch das verschluckte Kirschwasser wirkte mit, um
-das junge Blut seinen vernünftigen Weg wieder finden zu lassen. Luisa
-öffnete die Lider wie eine Schlaftrunkene. In schwimmendem Glanze
-glitten unter den langen Wimpern die langsamen Augen. »Guck!« Der
-Pfarrer ließ auf seiner Wange die große Warze tanzen. »Wie munter das
-liebe Kindl schon wieder ins Leben blinzelt! Lauf, gute Sus! Und spring
-hinüber zu mir! Da wartest du auf den Meister. Kommt er, so bring ihn
-heim und sag ihm: das Kindl hätt einen Purzelbaum gemacht. Aber sag's
-nit so, daß der Meister erschrecken muß. Sag's lieber so, daß er lachen
-kann.« Die Sus, aufatmend, surrte in den Flur hinaus. Aller Schreck
-der verwichenen Minuten erlosch ihr in dem Gedanken, daß sie hinlaufen
-durfte, wo der Meister war. »So, Luisichen, komm, jetzt nimm zur
-Aufmunterung noch ein kleines Schlückl!« Pfarrer Ludwig schob den Arm
-unter Luisas Nacken und führte den Becher an ihren Mund.
-
-Gehorsam, wenn auch noch immer ein bißchen duselig, öffnete sie die
-Lippen und trank. Nach dem ersten Schluck erweiterten sich ihre Augen
-wie in Entsetzen. Mit beiden Händen versuchte sie sich zu wehren und
-lallte: »Jesu mein, Ihr gießet mir ja die Höll ins Leben!«
-
-»Umgekehrt! Ich lösch in dir die unsinnige Höll mit einem nötigen
-Lebenstrunk! Tu schlucken! Fest!« Er hob und goß, bis der Becher leer
-war. Weil sie nicht schlucken wollte, preßte er die linke Hand auf
-ihren Mund, faßte mit der rechten den feinen Mädchenhals und rüttelte
-die widerspenstige Kehle. »Schluck, mein Luisichen! Schluck!« Ob Luisa
-wollte oder nicht, sie mußte schlucken. Die brennende Kirschwasserhölle
-war drunten. Daraus ergab sich eine sehr sonderbare Wirkung. Obwohl von
-Zorn und Ekel die Tränen in Luisas Augen traten, konnte sie die kühlen
-Greisenfinger an ihrem Halse nicht ertragen, mußte aufkreischen, mußte
-lachen wider Willen. »Ooooh, Luisichen?« Der Pfarrer wurde lustig. »Muß
-man dich kitzeln, damit du das menschliche Lachen lernst? Das kann ich
-besorgen. Lach, mein Luisichen, lach! Wie mehr, so gesünder ist es!« In
-der Art, in der man schäkert mit einem zappelnden Buben, begann er sie
-am Hals zu kitzeln, am Kinn, an den Ohren, an den Ellbogen und unter
-den Armen.
-
-Sie wollte sich wehren und wurde hilflos, wand sich und kreischte,
-schüttelte die sich lösenden Zöpfe von ihrer Stirn herunter und schrie
-und lachte. Immer wollte sie betteln: »Hör auf, hör auf!« Und konnte
-nicht reden, weil sie lachen mußte, immer lachen und lachen.
-
-»Brav, mein Kindl! Netter bist du noch nie gewesen, als jetzt in deinem
-zappligen Übermut! Gelt, ich hab recht? Bloß ein Lachender merkt, wie
-munter und kostbar das irdische Leben ist!«
-
-Es gelang ihr, sich seinen Händen zu entwinden. Halb noch lachend, halb
-von Jähzorn befallen, faßte sie eines von den zwei weißen Kissen ihres
-Bettes und warf es dem Pfarrer Ludwig an den Kopf.
-
-Er haschte das linde Geschoß, umschlang es an seiner Brust und sagte
-fröhlich: »Gott sei Dank! Eine menschliche Regung! Kindl, jetzt kann
-man bei dir auf Genesung hoffen!«
-
-Zitternd fiel sie zurück und preßte den Arm über die Augen. Der
-Pfarrer setzte sich auf den Bettrand hin, behielt das weiße Kissen auf
-seinem schwarzen Schoß und betrachtete unter freundlichem Lächeln das
-stumme, glühende, um Atem ringende Menschenkind, das die Augen vor ihm
-versteckte. Einmal versuchte Luisa den Arm zu heben, ließ ihn wieder
-auf die Augen fallen und lispelte: »Ich weiß nit, was das ist -- alles
-tut sich drehen um mich herum.«
-
-»Kindl,« sagte der Pfarrer vergnügt, »da hast du einen Schwips. Vom
-Kirschwasser. Ja, Luisichen, wer anderthalb Jahrzehnt das kühle
-Brunnenwasser im Kloster genossen hat, vertragt was Wärmeres nit
-aufs erstemal.« Er lächelte. »Lernen brauchst du das nit: daß du
-Kirschwasser vertragen kannst wie Geißmilch. Heut ist's nötig gewesen.
-Sorgen brauchst du dir wegen des kleinen Räuschls nit zu machen. Das
-verschlafst du wieder!« Seine Stimme bekam einen zärtlichen Klang.
-»Auch ist das so: daß alles Schönste im Leben mit einem Räuschl
-anfangt, sei es im Hirnkästl oder sei es im jungen Blut.« Luisa
-blieb stumm. Während die Morgensonne herglänzte über das weiße Bett,
-ging ein schmerzvolles Zucken um den heißroten Mädchenmund. Manchmal
-überrieselte noch ein Nachschauer des Lachens den zierlichen Körper,
-und unter dem Arm, der die Augen verhüllte, quollen die Tränen hervor,
-kollerten über die glühenden Wangen und versanken im braunblonden
-Schimmerkissen der gelösten Zöpfe. Sich vorbeugend, sagte der Pfarrer
-langsam: »Kindl, wie bist du lieb und schön! Was tät der Leupolt geben
-drum, wenn er an meinem Plätzl sitzen dürft. Und morgen oder übermorgen
-muß er am Schandpfahl hängen. Der redliche Bub!« Ein knirschender
-Laut; Luisa warf sich herum und vergrub das Gesicht in die Fülle ihres
-Haares. So lag sie lautlos, während ein heftiges Schüttern ihren Nacken
-und ihre Schultern befiel. Als sie ruhiger wurde, gab sie Antwort auf
-jede Frage. Alles sagte sie, ehrlich und ohne Rückhalt.
-
-Der Pfarrer fröstelte ein bißchen. Obwohl die Sonne durchs Fenster
-hereinfiel und draußen der laue Föhnsturm brauste, war es mehr als kühl
-in der ungeheizten Stube. Und Pfarrer Ludwig hatte schwitzen müssen.
-Als er vom Garten herauf die Stimme des Meisters hörte, erhob er sich,
-legte das Kissen über Luisas Füße und zog ihr die wollene Decke bis an
-das Kinn. »Versuch zu schlafen! Die heilige Mutter Marie, an der wir
-hängen in treuem Glauben, du und ich, die soll dich erwachen lassen zu
-einem wärmeren Leben! Von dem kindischen Narrenstückl, das ich sehen
-hab müssen, soll dein Vater nichts erfahren. Der tät das nit so gut
-verstehen, wie ich alter Pfarrer.« Er strich mit der Hand über den
-Scheitel der lautlos Zuckenden. »Was ich erfahren hab müssen, das ist
-gebeichtet, gelt? Ich, Kindl, ich schweig in heiliger Pflicht. Wärst
-du am Morgen in deiner Herzensnot zu mir gekommen, so hätt die Mutter
-Jesunder dich nit umtragen müssen im Tratschkörbl, und der Pfleger hätt
-nichts erfahren vom Leupolt.« Er hob die zwei zerschnittenen Tüchelchen
-von den Dielen auf, löste die Schlingen, die noch am Zapfenbrette
-hingen, und schob sie schmunzelnd in die Tasche. Forschend guckte er
-über die Schulter nach dem Bett, verließ die Stube und schloß hinter
-sich die verbogene Tür, so gut sich das noch erledigen ließ.
-
-Da kam der Meister über die Stiege heraufgehastet, Sorge in den Augen.
-»Was ist denn mit dem Kind?«
-
-»Nichts, lieber Nick! Oder doch nichts Böses. Im Gegenteil. Dein Kind
-hat einen Sprung aus dem Kalten ins Warme getan. Das geht nit ab ohne
-festen Beutler. Jetzt müssen wir dem kleinen Weibl ein bißl Ruh
-vergönnen und müssen sie schlafen lassen.«
-
-In den Augen des Meisters wollte die Sorge nicht erlöschen. »Schlafen?«
-
-»Aufs erste Kirschwasser schlaft man allweil. In späteren Jahren
-mindert sich die gute Wirkung. Komm! Wir gehen hinunter in die
-Werkstatt!« Er wurde ernst. »Da hab ich gesehen, was mir arg mißfallen
-hat. Mensch bleiben, heißt bauen und schaffen, nit in Scherben
-schlagen.«
-
-Drunten im Flur stand die Sus mit seitwärts gespreiteten Armen an der
-Mauer, zitternd, im Blick den Ausdruck einer qualvollen Angst. Etwas
-Tierisches und dennoch etwas Schönes war in ihren Augen. Der Pfarrer
-ging an der Magd vorüber, ohne sie zu gewahren. Meister Niklaus blieb
-stehen und sah sie an, verwundert, als sähe er etwas an ihr, was er
-noch nie gesehen hatte. »Sus!« Sie neigte vor seinem Blick die Stirn:
-»Jetzt muß ich zum Herd. Das Wasser wird eingesotten sein und das
-Fleisch wird schlecht.« Ein müdes Lächeln. Dann ging sie davon. Er sah
-ihr nach und blieb noch immer stehen, obwohl die Sus in der Küche schon
-verschwunden war.
-
-Der Pfarrer stand in der Werkstätte vor dem roten zerquetschten
-Wachsklumpen. »Herzbruder Nick? Was hast du denn da getan?«
-
-»Fast weiß ich es selber nit.« Meister Niklaus faßte erregt ein breites
-Messer und schnitt die formlose Wachsmasse von der hölzernen Platte.
-»Es ist mir, als hätt ich's im Zorn getan.« Mit der Linken knüllte
-er das Wachs zu einem Ballen. »Oft ist's wie ein Fremdes, was man
-tut. Kann sein, ich hab Platz machen müssen für ein Ding, das besser
-ist.« Er wurde ruhig. Und während er mit dem Pfarrer sprach -- von
-Luisas Heimkehr am Morgen, von seinem jähzornigen Hammerstreich, von
-der Mutter Agnes, vom Eis auf dem Königssee und von dem süßen Krapfen
--- preßte er eine Wachsflocke um die andere auf das Holz, schnitt mit
-dem Daumennagel und formte mit den Fingern. Und plötzlich, die Arbeit
-unterbrechend, sah er den Pfarrer an. »So sag mir doch die Wahrheit!
-Was ist mit dem Kind?«
-
-»Das ist schnell gesagt. Sie hat den Leupolt gern und weiß es noch nit.
-Da rumort das Neue ein bißl hitzig in ihrem kühlen Klosterstübl.«
-
-Aufatmend flüsterte Niklaus: »Das wär ein Glück! Da tät's wieder heller
-werden in meinem Haus.«
-
-Ein Summen an den Fensterscheiben. Man hörte rasch nacheinander aus
-weiter Ferne her den Hall und das Echo von fünf Gewehrschüssen. »Hörst
-du?« lachte der Pfarrer ingrimmig. »Derweil die Herzensnot der Menschen
-umlauft im ganzen Ländl, erlustigt sich die Allergnädigste an den
-Untersteiner Wildsauen. Ein Gutes hat auch das. Die Sorg um den Leupolt
-ist aufgeschoben. >Tod ist Tod,< sagt meine Schwester allweil, >aber
-besser morgen als heut.< Dein Mädel tu schlafen lassen, bis es von
-selber aufwacht. Nach dem Quantum Kirschwasser, das ich dem blinden
-Klosterspatzen eingegossen hab, wird's lang dauern, bis er wieder
-piepsen kann. Und du bleib bei der Arbeit, Nick! Sie ist von allem
-Lebenstrost der beste.«
-
-
-
-
-Kapitel VIII
-
-
-Im Wehen des Föhns, bei blitzendem Tropfenfall und in Sonne,
-schmetterten vier Hifthörner die Sautodweise durch den Untersteiner
-Wald. Auf rotfleckigem Schnee, zwischen der grünmaskierten
-Fürstenkanzel und dem mannshohen Stellnetz, lagen die drei zur Strecke
-gebrachten hauenden Schweine, festlich aufgeheitert, mit Fichtengrün
-bekränzt, mit kirschroten Seidenmaschen an den Lusern und an den
-zottigen Schwänzen. Die graulivrierte Stiftsjägerei war in Reihe
-gestellt, und rings um die erlegten Keiler gaben die weiß und braun
-getigerten Saurüden in ihren dick unterfütterten Barchentpanzern
-Standlaut. Nach einer vierstimmigen Fermate schwiegen die Hörner, um
-gleich darauf die sanfte Dianenweise zu beginnen, die zu Ehren der
-edlen Aurore de Neuenstein geblasen wurde. Mit Grazie kam der Hofzug
-durch den Schnee geschritten, voraus der Fürstpropst Anton Cajetan
-mit der Allergnädigsten _en titre_. Nach französischer Vorschrift für
-ein Eingestelltes Treiben auf Wildschweine trug er ein hechtgraues,
-reich mit Silber besticktes Jägerkleid, an dem zwei kleine Bäffchen
-den Priester unvordringlich andeuteten, und darüber einen offenen,
-kostbaren Pelz, der durch den degenförmigen Hirschfänger vom Körper
-abgespreitet wurde. Unter dem silberbetreßten Dreispitz quoll ein
-geschnörkelter Lockenbau hervor. Zwischen den Haarschnecken spitzte
-sich ein weißes, tadellos rasiertes, schon greisenhaftes Schmalgesicht
-heraus, launig lächelnd, ein bißchen spöttisch und nicht ohne Energie.
-
-Ehe Herr Anton Cajetan im vergangenen Jahr von den sieben Stiftsherren
-zum Fürstpropst gewählt wurde, war er durch zwei Jahrzehnte als
-Dekan des Stiftes ein geschäftiger Vorkämpfer der Kapitularen um
-ihre Selbständigkeit gewesen, um ihre Loslösung von der mönchischen
-Regel, um ihre Verwandlung in freie Chorherren mit allen weltlichen
-Vorrechten edler Geburt. Da hatte er scharfe Worte, nicht nur gegen
-die begründeten Ansprüche des wohlmeinenden Churfürsten von Bayern,
-auch gegen den Papst geredet und geschrieben. Im Streite gegen die
->evangelischen Rebellen< hatte er eine aus Vorsicht und Konsequenz
-gebildete Faust erwiesen. Während aus dem Salzburgischen die
->gottsfeindlichen Landsverräter< zu vielen Tausendscharen ausgewiesen
-wurden, statuierte Herr Anton Cajetan als Dekan und Propst nur ein
-paar abschreckende Exempel und hatte, wie er noch immer glaubte, seine
-Stiftslande frei erhalten von einem staatsgefährlichen Anwachsen
-des Schwarmgeistes. Seit Beginn des evangelischen Aufruhrs im
-Salzburgischen hatte der Fürst, um alle aufreizenden Nachrichten von
-außen abzusperren, jede Straße durch einen Grenzriegel von Musketieren
-verschlossen. Daß dadurch der Wohlstand im Lande sank, aller Handel
-unterbunden war und die Steuerkraft der Bauern, Handwerker und
-Kaufleute vermindert wurde, das zählte nicht. Wenn nur die Landsruh
-und der reine Glaube erhalten blieb! Bis wieder bessere Zeiten kamen,
-konnte man borgen. Aber wo? Die Schulddokumente des Stiftes füllten
-schon viele Schränke, erschreckend wuchsen von Jahr zu Jahr die Kosten
-der höfischen, aus Standesrücksichten unerläßlichen Pariserei, und
-immer bedrohlicher begannen die hilfreichen Brunnen zu versiegen, um
-so mehr, je übler es der Berchtesgadnische Hof mit dem Churfürsten von
-Bayern verschüttet hatte, der früher dem Berchtesgadnischen Land ein
-hilfsbereiter Schutzfreund gewesen war. Die Frage, wo neue goldene
-Hilfsquellen zu erschließen wären, verursachte Herrn Anton Cajetan
-schlummerlose Nächte. Das Bauerngerede, daß der Allergnädigste nicht
-schlafen könne, weil ihm der allzuviele Wein den Magen versäuere, war
-eine Verleumdung. Im Gegenteil: Herr Anton Cajetan bedurfte reichlich
-der spiritualen Beruhigung, weil ihm die gähnende Kassensorge den
-Schlummer verwehrte.
-
-Diesen Regierungsgram hatte er nicht zur Wildschweinhetze mitgenommen.
-Er blickte heiter in die Sonne, und das leise Spottzucken seiner
-Mundwinkel war feingalantes Vergnügen an der Tatsache, daß seine
-hübsche Freundin _en titre_ sich gläubig einen weidmännischen Erfolg
-hatte aufschwatzen lassen, den sie nur dem korrigierenden Beistand
-der Domizellaren verdankte. Die zerschmetterte Wirbelsäule des einen
-Keilers war einwandfrei ein Werk ihrer kleinen Dianenhände. Die
-Blattschüsse der beiden anderen Keiler waren höfische Nachhilfe, die
-von allen Schützen mit den heiligsten Eiden verleugnet wurde. Aurore de
-Neuenstein war so geartet, daß sie an Männerschwüren niemals zweifelte.
-Bei der grünen Fürstenkanzel hatte sich nach den fünf Flintenschüssen
-ein galantes weidmännisches Gerichtsverfahren abgespielt, das den
-Glauben der Allergnädigsten an die Unfehlbarkeit ihrer Geschosse
-befestigt und Herrn Anton Cajetan sarkastisch erheitert hatte. Da er
-seiner standesgemäßen Freundin gegenüber in anderer Weise nicht ganz
-auf seine hohen Kosten kommen konnte, hielt er sich zuweilen dadurch
-schadlos, daß er sich innerlich um so mehr über sie lustig machte, je
-liebenswürdiger er sie äußerlich behandelte.
-
-Unter den Klängen der Dianenweise führte er sie an hoch erhobener Hand
-zur Strecke. Der Wind zauste ihre hechtgraue Pelzglocke und blies
-den Puder aus ihren Locken. Glücklich und stolz, den geschminkten
-Kreuzermund mit dem Schönheitspflästerchen vorgeschoben, stelzte
-sie durch den zerwühlten, mit roten Flecken übersprenkelten Schnee,
-in der Rechten das buntgebänderte Jagdspießchen führend, das einer
-für Kinderhände berechneten Schäferschippe ähnlicher sah als einer
-Saufeder. Dem hohen Paare folgte der Kapitular Graf Saur mit dem
-Kanzler von Grusdorf, der die Regierungssorgen *nicht* zu Hause
-gelassen hatte und zwischen den Lockenschnörkeln gallig in die Sonne
-blinzelte. Seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Allergnädigsten
-verdankte er die bevorzugte Stellung am Hofe; doch weil er an Podagra
-litt, verurteilte er weniger aus moralischen, als aus sanitären Gründen
-diese häufigen Elefantenfahrten, die ihm kalte Füße verursachten. Den
-Zug beschlossen die Domizellaren in hechtgrauer Junkertracht: die
-drei Barone von Hausen, Stutzing und Kulmer, und der bildhübsche,
-zwanzigjährige Graf Tige, der seit dem Weihnachtsspiel, in dem er als
-Partner der Allergnädigsten den heilbringenden Engel dargestellt hatte,
-ihr bevorzugter Günstling war.
-
-Die Hörner schwiegen, der Wildmeister sagte in einer Sprache, die er
-nicht verstand, seinen gereimten Spruch auf -- französische, *sehr*
-galante Verse, die Graf Tige verfaßt und dem Wildmeister eingelernt
-hatte wie einem Papagei. Dann nahm Herr Anton Cajetan die drei
-grünen Brüche, die ihm der Wildmeister auf dem Dreispitz hinbot, und
-befestigte sie am Busen der holdselig lächelnden Diana. Das vollzog
-sich auf eine Weise, daß es auch bei einer _Chasse royale_ im Parke
-zu Fontainebleau nicht graziöser hätte geschehen können. Unter dem
-schmachtenden Rondo der Dianenweise schloß sich an dieses stilgemäße
-Jagddrama noch ein improvisiertes Satyrspiel. Einer der erlegten Keiler
-hatte im Verenden unter Todesqual noch eine letzte irdische Verrichtung
-vollzogen. Was dabei aus dem Leib des Tieres umfangreich in die Sonne
-getreten war, faßte Graf Tige lachend auf eine Fichtenborke, beugte
-elegant das Knie, hob die nach dem Weidmannsgeschmacke der Zeit mehr
-bewundernswerte als anrüchige Sache bis vor das zarte Näschen der etwas
-erschrockenen Diana und zitierte aus dem »_Livre de la chasse du Grand
-Seneschal_« die berühmten Verse:
-
- »_En la saluant humblement
- Mes fumées lui presentay.
- Elle me respond doulcement:
- Et à vous! dont me contentay._«[B]
-
-[B]
-
- Ich bot ihr ehrfurchtsvolle Grüße
- Mit meinen Weidmannsdüften hin --
- »Dank Euch,« so sprach zu mir die Süße,
- »Von dem ich sehr befriedigt bin!«
-
-Der Doppelsinn dieser Reime im Zusammenhang mit den galanten
-Beziehungen, die zwischen Graf Tige und der Allergnädigsten _en
-titre_ bestanden, weckte heiteres Gelächter. Auch Herr Anton Cajetan
-schmunzelte. Ein bißchen boshaft. Und Aurore de Neuenstein, halb
-verlegen, halb geärgert, schmollte mit ihrem Zwitscherstimmchen:
-»_Ingrat! Vous parlez trop par métaphores!_«
-
-Scherzend senkte sie die Klinge des von Bändern flatternden
-Jagdspießchens gegen die Herzstelle des knieenden Junkers und mimte den
-Todesstoß einer zürnenden Göttin. Lächelnd erhob Herr Anton Cajetan die
-wehrende Hand: »_Ma chérie! Vous changez les rôles contrairement à la
-nature des vos enfantillages._«
-
-Neues Gelächter. Unter den Klängen des Herrengrußes kamen die
-Schlitten vorgefahren. Die Heimreise begann in munterer Laune und
-mit schicklicher Platzverteilung: der Fürstpropst nahm den Grafen
-Saur zu sich in den Schlitten, und Aurore de Neuenstein schmiegte
-sich wieder an ihren frierenden Elefanten. Weil Herr von Grusdorf das
-Französische nur mangelhaft beherrschte, mußte die Allergnädigste bei
-dieser Klingelfahrt sich ihrer heimatlichen Sprache bedienen. Geboren
-in der Gegend von Dillingen, schwäbelte sie ein bißchen. Das klang sehr
-niedlich. Doch plötzlich verstummte ihr Gezwitscher, und verwundert
-sah sie die alte Bäuerin an, die aus kleinem Gehöft einen plumpen, mit
-rauchendem Kuhmist beladenen Hörnerschlitten herauszog. Kindlich fragte
-Aurore: »Warum schaut denn dees Weible so bös?«
-
-Herr von Grusdorf erwachte aus seinen Regierungssorgen. »So schauen
-sie hier alle. Die Untersteiner sind von unseren Subjekten die
-Obstinatesten. Ich besorge, daß sich da wieder ein evangelischer
-Provokativus remarkabel macht. Wir haben Suspizien auf einen _vulgo_
-Hasenknopf.« Das edle Fräulein lachte über den sonderbaren Namen und
-zirpte: »Laß ihne doch alle die Köpf runterschlage! Da habe mer Rueh,
-und der Glaube bleibt rein erhalte.«
-
-Bei den letzten Häusern von Unterstein stockte die Schlittenzeile.
-Herr Anton Cajetan sprach mit einem Musketier, der aufgeregt dem
-Fürsten entgegengelaufen war. Auch der Landesherr schien in Erregung zu
-geraten. »Grusdorf! Da bringt man uns eine höchst mirakulöse Nachricht.
-Die Bäuerin im Haynacherlehen soll ein Mißgeschöpf geboren haben, das
-zur Hälfte weiß ist und zur Hälfte schwarz.« Aurore de Neuenstein in
-ihrer holden Unschuld erfaßte sofort den Humor der sonderbaren Sache
-und erklärte eine solche Farbenmischung für _complètement incroyable_,
-da doch kein Neger im Lande wäre.
-
-Flink begannen die vier Klingelkisten zu jagen. Man unterhielt sich
-lustig und rief graziöse Späße von Schlitten zu Schlitten, ohne zu
-ahnen, daß man Scherz trieb mit dem Schicksal eines Menschen, dessen
-junges Hausglück sich verwandelt hatte in etwas Grauenhaftes.
-
-Ehe die Hofschlitten das Haynacherlehen erreichten, hatten in Christls
-Gehöft schon viele Menschen sich angesammelt. Die Bauern, Weiber und
-Kinder der Nachbarlehen standen in Gruppen beisammen, und vom Sudhaus
-waren die Pfannenknechte herübergesprungen. Was in dem kleinen Haus
-geschehen war -- an sich eine natürliche Sache, nur mißraten unter
-einem seltenen Irrtum der Natur -- verwandelte sich für die schwer
-erschrockenen Leute zu einem ungeheuerlichen Ding, das die Gehirne
-verwirrte und die Gemüter verstörte. Weil die Haustür verriegelt war,
-drängten die Leute sich klumpenweis um die drei kleinen Fenster. In
-der Stube sahen sie die Wiege mit dem weinenden Bübchen, sahen auf dem
-Tisch was liegen, bedeckt mit einem rotfleckigen Leilach, und sahen
-die blasse Hasenknopfin hin und her laufen, immer mit einer irdenen
-Wasserschüssel zwischen den Händen. Am Kammerfenster war nichts zu
-erspähen. Man hatte innen das rote Vorhängelchen zugezogen. Nur vier
-Stimmen waren zu hören: das Gestammel der Hasenknopfin, die ängstliche
-Stimme Lewitters, die Klagelaute des jungen Bauern und eine ruhige
-Frauenstimme, die mit gläubiger Inbrunst zu beten schien. Leute, die
-am Fenster lauschten, verstanden einzelne Worte der Haynacherin. Einer
-fragte: »Was betet denn die?« Andere erkannten die Worte, die sie
-heimlich schon oft gelesen hatten -- im verbotenen Paradiesgärtl --
-und diese anderen schwiegen, Ergriffenheit in den harten Gesichtern.
-Sie wußten: daß die unsichtbare Haynacherin in ihrer Todesstunde eine
-Sichtbare wurde.
-
-Ein klobiges Mannsbild, einer von den fürstpröpstlichen
-Pfannenknechten, schrie: »Der Tod bringt's an den Tag. Die Haynacherin
-ist irr im Glauben. Der Christl hat's geduldet in seiner verruckten
-Lieb. Jetzt hat ihn der Herrgott gestraft.« Und ein aufgeregtes Mädel
-kreischte: »Die Hälft am Kindl hat christliche Unschuldsfarb! Der
-Haynacherin ihren Halbteil hat die Höll verschwärzt.« Ein alter Bauer
-mit grauem Bart -- der Fürsager aus dem Stall der Unsichtbaren von
-Unterstein -- sah die beiden Schreier mit zornfunkelnden Augen an:
-»Ihr zwei? Ihr tut euch Christen schimpfen? Ja? Und hundertmal sagen
-im Tag: von nun an bis in Ewigkeit? Ja?« Der Pfannenknecht brüllte:
-»Bist du auch einer, du?« Er sprang auf den Alten zu und packte ihn an
-der Schulter. Gleich drängten sich Fünfe, Sechse zwischen die beiden
-und deckten den alten Mann. Auch der Knecht fand Kameraden, und es
-wäre zu einem üblen Handel gekommen, wenn nicht am Stubenfenster ein
-Kinderstimmchen gerufen hätte: »Jetzt kommt der Jud!« Die Leute guckten.
-
-Simeon Lewitter, mit der Ledertasche in der Linken, eingehüllt in
-seinen dicken Fuchspelz, trat aus der Haustür, die hinter ihm von
-der Hasenknopfin wieder verriegelt wurde. In seinem erschöpften,
-kreidebleichen Gesichte mischte sich scheue Ängstlichkeit mit Zorn
-und Trauer. »Seid doch verständig, Leut, und geht zu euren Dächern.
-In des braven Christls Haus ist das Unglück eingekehrt. Vergönnt ihm
-aus Erbarmen den Frieden, den er nötig hat!« Zwanzig, dreißig Stimmen
-redeten durcheinander und verstummten plötzlich. Ein Peitschenknall,
-ein heitertönendes Schellengeklingel. In der rotwerdenden
-Nachmittagssonne kamen die vier Hofschlitten angefahren. Der Vorreiter
-sprengte durch das Zauntor: »Platz für den allergnädigsten Herrn!« Das
-Gehöft war leer. Die Leute rannten hinter den Schuppen, kletterten über
-den Zaun, wateten durch den schlammigen Ackerschnee und verschwanden
-hinter den Hecken.
-
-Simeon Lewitter blieb. Nicht gerne. Er nahm das Käppchen von seinem
-weißen Haar und täppelte zögernd dem ersten Schlitten entgegen.
-Sorge wühlte in ihm. Was er in dem kleinen Haus getan, das hatte er
-tun müssen aus Barmherzigkeit für den verstörten, von Grauen und
-Verzweiflung zerbrochenen Christl. Aber er fühlte: was er tun hatte
-müssen, konnte sich für ihn selbst in eine Gefahr verwandeln. »Wär ich
-nur schon daheim in meiner Kinderstub!« Da hielt der Schlitten des
-Fürsten. Der zweite Schlitten fuhr dicht an den ersten heran, weil
-Aurore de Neuenstein hören *wollte* und der Kanzler von Amtswegen
-hören *mußte*. Aus den zwei andern Schlitten sprangen die Domizellaren
-heraus und wateten lachend durch den Schnee. Lewitter verbeugte sich
-tief.
-
-»Simeon? Du?« Der Fürstbischof schmunzelte ein bißchen. »Ist das wahr?
-Daß die Haynacherin ein Kind geboren hat, halb weiß, halb schwarz?«
-
-Der kleine Mann schüttelte kummervoll den Kopf. »Es ist noch ärger,
-gnädigster Herr! Nur mit den Farben stimmt es. Das eine Kind ist weiß
-wie ein Rösl. Das andere ist schwarz -- vom Brand.«
-
-Das letzte Wort überhörend, fragte der Fürst verwundert. »*Zwei*
-Kinder?«
-
-Lewitter nickte. Dann sagte er's in kurzen Worten: daß es mit der
-Haynacherin drei Wochen über die Zeit gewesen wäre. Seit vier Nächten
-hatte sie unter furchtbaren Wehen gelitten. Und vor einer Stunde gebar
-sie zwei Mädelchen, ganz natürlich entwickelt, mit allen Gliedmaßen,
-doch von der Schulter bis zur Hüfte aneinander gewachsen -- das eine
-tot, schon erloschen unter dem Herzen der Mutter, während das andere
-nach der Geburt noch Spuren von Leben gezeigt, noch offene Augen und
-ein schlagendes Herz besessen hatte -- Leben, unlösbar mit dem Tod
-verwachsen.
-
-»_Quelle chose effroyable!_« lispelte Aurore de Neuenstein erblassend
-und vergaß ihrer pariserischen Bildung. »Dees ischt ja doch nit zum
-glaube!« Und der Fürstpropst fragte erschrocken: »Gibt es das?«
-
-»Ein seltenes Ding!« sagte Lewitter mit schwankender Stimme. »Ich weiß
-nur noch von einem einzigen Fall. Er hat sich zu Regensburg ereignet,
-vor vierhundert Jahren. Ganz der gleiche Vorgang war es. Auch damals
-mußten Kinder und Mutter sterben.«
-
-Der Fürstpropst beugte sich vor. »Sterben? Auch die Mutter?«
-
-»Als ich das Haus verließ, begann sie zu erlöschen. Keine Hilfe mehr.
-Ich habe den Schmerz des Mannes nimmer sehen können. Drum bin ich
-gegangen. Der Mensch, wenn er hilflos ist, hat feige Stunden. Und was
-ich getan habe, das hat den Mann nicht getröstet.« Lewitters Blick war
-ängstlich. »Ich meinte, daß es ihn aufrichten würde in seinem Schmerz,
-wenn sein weißes Kindlein christlich würde, solange noch Leben in ihm
-war. Drum hab ich ihm die Nottaufe gegeben.«
-
-»Lewitter!« murrte Herr von Grusdorf erschrocken. »Wie konnte er sich
-verleiten lassen zu einer solchen Inkompetenz? Die _causa_ des Leupolt
-Raurisser hätte ihn vorsichtiger machen sollen.« Auch der Fürstpropst
-schien unbehaglich berührt: »Simeon! Das hättest du besser unterlassen!«
-
-»Herr!« Immer ruhiger wurde Lewitter. »Das Erbarmen kann ein Riese
-werden, der uns zwingt.«
-
-»Mag sein! Aber --« Herr Anton Cajetan stieg aus dem Schlitten, und der
-Kanzler tat rasch das gleiche. »Warum hat nicht der Kindsvater das Kind
-getauft?«
-
-»Weil er die schwarzweiße Mißform seiner verlorenen Kinder nicht mehr
-ansehen konnte, ohne daß ihn der Kummer halb erwürgte. Und weil er
-immer wieder in die Kammer sprang zu seinem erlöschenden Weib.« Der
-Körper des kleinen Mannes streckte sich, und etwas Schönes war in
-seinem Blick. »Schon vielen Menschen hab ich beigestanden in ihrer
-letzten Stunde. Aber nie noch hab ich ein Menschenkind so voll
-Gottvertrauen versinken sehen, wie dieses arme, leidende Weib.«
-
-»_Mais donc_ --« Herr Anton Cajetan wurde ungeduldig. »Warum hat nicht
-die Hebmutter die Nottaufe an der noch lebenden Hälfte exekutiert?«
-
-Den Grund -- daß Christl sein Kind durch eine Unsichtbare nicht taufen
-ließ -- wollte Lewitter nicht bekennen. Er sagte: »Die Frau war um das
-sterbende Weib beschäftigt.«
-
-Im Kanzler erwachte ein Verdacht. »War es, um methodisch vorzugehen,
-die Hebmutter des Marktes?«
-
-Jetzt gab es kein Verschweigen mehr. »Es war die Hasenknopfin von
-Unterstein.«
-
-Der Fürst und Herr von Grusdorf tauschten einen Blick. Anton Cajetan
-machte einen Schritt gegen das Haus hin, wandte das ernste Gesicht
-und sagte zu dem hübschen hechtgrauen Junker: »_Mon cher Tigue! La
-Neuenstein désire fort d'être chez soi!_« Bei der Vermutung, daß seine
-Freundin _en titre_ sich einem nervenquälenden Anblick zu entziehen
-wünsche, hatte er nicht mit der Gruselsucht der holden Dame gerechnet.
-»_Non, non, non_,« sie schlüpfte hastig aus dem Schlitten, »_je veux
-voir ça, moi!_ So ebbes Seltsames versäumt me doch nit.« Die Schultern
-zuckend, ging der Fürst auf die Haustür zu. Die anderen hinter ihm
-her. Simeon Lewitter blieb bei den leeren Schlitten stehen. Weil sich
-niemand um ihn kümmerte, wurde ihm die Entscheidung leicht. Nur erst
-daheim sein! Keuchend zappelte er durch den Schnee davon.
-
-Der Kanzler mußte mehrmals an der Haustür des Christl Haynacher pochen.
-Aus dem Innern des Hauses klang ein verzweiflungsvoller Laut, nicht
-wie menschliche Stimme, wie der Schrei eines Tieres. Den hatte der
-junge Bauer ausgestoßen, als er im Gesicht seiner Martle das blasse
-Sterben erkannte. Immer ungeduldiger pochte Herr von Grusdorf, und
-mehrmals beteuerte Aurore de Neuenstein, daß jeder Nerv in ihr vor
-Spannung und Erbarmen fiebere. Endlich öffnete die Hasenknopfin.
-Zitternd stand sie im Dunkel des Flurs. »Gelobt sei --« Weiter kam sie
-nicht, weil die hechtgraue Diana gleich die Frage zwitscherte: wo die
-unglaubliche Sache zu sehen wäre? Schweigend wies die Hasenknopfin zur
-Stube, neben deren Ofen das kleine Bübchen in seiner Wiege weinte, und
-deutete auf den Tisch, auf das weiße, dunkelgefleckte Leilach, das den
-neugeborenen Jammer des Christl Haynacher barmherzig verhüllte.
-
-In der kleinen Stube begann es grau zu werden. Draußen flimmerte wohl
-die Sonne noch auf dem schwindenden Schnee, doch über den Fenstern lag
-schon der Schatten des vorspringenden Daches.
-
-Mit beiden Händchen die steife Glocke ihres Dianenkleides
-zusammenpressend, schmiegte sich Aurore de Neuenstein durch die
-schmale Stubentür, den ovalen Rocktrichter flink voranschiebend. Das
-weinende Bübchen, als es diese seltsame Glocke mit den zwei weißen
-Spitzenschwengeln erscheinen sah, wurde stumm vor Schreck. Und während
-aus der Kammer das erwürgte Schluchzen des jungen Bauern zu hören war,
-trippelte die Neuenstein in der schaukelnden Kleidglocke dem Tisch
-entgegen, faßte mit den Fingerspitzen zu und hob einen Zipfel des
-Leilachs. Jähes Grauen rüttelte ihre feinen Schultern. »_Mon dieu!
-Quelle chose affreuse!_« Als hätte sie sich die behandschuhten Finger
-verbrannt, so hastig ließ sie den Leilachzipfel fallen, stieß einen
-zarten Schrei aus und bot den Anblick einer Dame, die in Ohnmacht zu
-fallen wünscht. »_Eh bien, la voilà!_« sagte Herr Anton Cajetan halb
-nachsichtig, halb ärgerlich. Er deutete auf die mit beiden Händchen
-Rudernde, die das Niederfallen auf den grauen Bretterboden noch
-verzögerte, und sagte zum Grafen Tige: »_Remplissez donc votre devoir
-d'un bon camarade!_« Der hübsche Junker mit den winzigen Bäffchen
-umschlang die pelzverbrämte Diana, wobei sie die Augen schloß und
-schlaffe Arme bekam.
-
-Unter Mithilfe des Domizellaren von Stutzing, der im Türschacht die
-Kleidglocke ovalisieren mußte, beförderte Graf Tige das edle Fräulein
-auf seinen Armen aus der Stube, aus dem Haus und über das Gehöft zum
-Schlitten. Eine zornscharfe Mädchenstimme -- jene gleiche Stimme,
-die im Stall der Unsichtbaren geschrien hatte: »Schauet mein junges
-Brüstl an, so haben die Soldaten Gottes mich zugerichtet!« -- diese
-zornscharfe Mädchenstimme schrillte hinter einer nahen Hecke: »Leut!
-Das bablische Laster zappelt drieköpfig in der Sonn umeinander! Tät's
-ein Wunder sein, wenn der Ewige dreinschlagt mit Zeichen und Ruten!«
-Stutzing und Tige waren so fürsorglich um die in der frischen Luft sehr
-rasch erwachende Diana beschäftigt, daß sie anderer Dinge nicht zu
-achten vermochten. Sie überhörten die schrillende Mädchenstimme. Und
-als sie das zierliche Persönchen im Schlitten und die winzigen Füßchen
-im Fußsack hatten, schwang Graf Tige sich opferfreudig an die Seite der
-Neuenstein und befahl dem Kutscher: »Schnell! Nach Haus!«
-
-Munter tingelten die Schlittenschellen, und die zwei guten Kameraden
-rutschten über den knirschenden Straßengrund. Noch ein bißchen zitternd
-vom überstandenen Grauen, klammerte Aurore de Neuenstein sich an ihren
-Ritter, schlug die unschuldsvollen Augen auf und lispelte: »Alles,
-Liebster! Alles -- --« Nein! Deutsch konnte sie das nicht sagen. Sie
-mußte sich der Feinheit ihrer Bildung besinnen und hauchte dem Junker
-flehend ins Ohr: »_Tout, mon ami! Tout ce que vouz voulez! Mais jamais
-un enfant!_«
-
-Der Domizellar von Stutzing kehrte in das Haus des Christl Haynacher
-zurück. Als er die Stube betrat, war schon wieder mit dem Leilach
-bedeckt, was auf dem Tische lag. Auch das Verhör der Hasenknopfin
-war beendet. Bleich, einen harten Zug um die farblosen Lippen, stand
-das Weib vor dem Kanzler. Während der Fürstpropst und Graf Saur in
-französischer Sprache diesen schwerbegreiflichen Irrtum der Natur
-erörterten, sah Herr von Grusdorf immer die Hasenknopfin an und sagte
-schließlich: »Man wird ihr befehlen, wann sie sich für weiteres Zeugnis
-vor der Obrigkeit zu präsentieren hat. Dann wird sie sich der Wahrheit
-besinnen. Wird auch wissen, wo ihr Mann sich befindet. Heute wird sie
-_recte_ erfüllen, was ihres Amtes ist. Um rebellische Rumore und den
-Zulauf kuriöser Leute zu verhindern, wird sie die Haustür verschlossen
-halten bis zur Dunkelheit. Was tot auf dem Tische liegt, das bringt
-sie nach Anbruch der Nacht in notwendiger Heimlichkeit dort hin, wohin
-es gehört. Man wird das in der Finsternis bestatten. Über alles hat
-sie strengstes Stillschweigen zu observieren. Befehl der Obrigkeit:
-ein totgeborenes Kind, nicht weiß und nicht schwarz, ein Kind, wie
-Kinder zu sein pflegen. Weiteres ist ihr nicht bekannt. Für jedes
-böswillige Leutgerede ist sie haftbar. Versteht sie?« Er machte mit dem
-Stock eine Bewegung, als möchte er das Weib von sich fortschieben, und
-wandte sich gegen die Kammer, aus der kein Laut mehr zu hören war. Die
-Hasenknopfin tat mit entstelltem Gesicht einen schweren Atemzug, nahm
-das schlucksende Bübchen aus der Wiege und rettete sich mit ihm in den
-dämmerigen Ofenwinkel. Während sie das Kind an ihrem Herzen schaukelte,
-spuckte sie immer aus, als könnte sie die Lügen, die sie aus Angst
-geredet hatte, wieder fortspeien von ihrer Zunge.
-
-Herr von Grusdorf hatte die Kammertür vor sich aufgeschoben. Im
-gleichen Augenblick machte er eine abwehrende Bewegung, wie in Sorge,
-daß sein gnädigster Herr ihm folgen könnte. Was er sehen mußte, war
-kein Anblick für fürstliche Augen. Die kleine Kammer war erfüllt von
-einem rötlichen Schein. Ihr Fensterchen lag gegen Westen, und die
-untergehende Sonne verwandelte den kleinen Lichtwinkel in ein glühendes
-Viereck. Das Ehebett des Christl Haynacher und seiner seliggewordenen
-Martle glich dem rotfleckigen und zerwühlten Schnee, in dem die
-hauenden Schweine mit den kirschfarbenen Seidenmaschen gelegen hatten.
-Nur lagen hier, in diesem Rotschimmer, zwei andere Dinge: der ruhige,
-schöne Tod und der besinnungslose Jammer, ein unbeweglicher und ein
-noch zuckender Rest zweier Menschen, in denen die Liebe war und mit der
-Liebe zugleich das Mißtrauen, der Zorn und die Glaubensfeindschaft.
-Lebendig war nur die Liebe noch. Was Feindschaft, Zorn und Mißtrauen
-gewesen, war erlegt von einem Schützen, der so sicher traf, daß man
-ihm Jagderfolge nicht aufzulügen brauchte, war zur Strecke gebracht
-ohne Hifthörner, ohne hechtgraue Jägergala, ohne französische Verse und
-galante Reimsprüche.
-
-In dem engen Gängelchen neben dem Bett auf den Dielen kniend, lag
-Christl mit gestreckten Armen hingeworfen über den Schoß seines
-Weibes, lautlos, zitternd am ganzen Leibe, einem Menschen gleich, der
-durchschüttert wird von jähem Frostschauer. Mit den braunen, groben
-Händen machte er suchende Bewegungen, wie um sein Weib bei den Händen
-zu fassen, die ineinandergeklammert waren nach Art einer Betenden.
-Diese Hände lagen im Schatten von Christls Schulter und waren weiß.
-Das Gesicht, das wie Wachs geworden war, bekam von der Sonnenfarbe
-zur Hälfte ein leuchtendes Rosenrot, zur Hälfte einen violetten
-Schatten. Ein schmuckes Mädel und Weib war die Martle immer gewesen,
-aber in keiner Stunde ihres Lebens so schön, wie jetzt im Tode.
-Eine heilige Ruhe war ausgegossen über das schmale Schimmergesicht.
-Den stillen Mund, der keinen Zug des Leidens mehr erkennen ließ,
-umgab ein träumendes Lächeln. Und unter den vom Lichte in poliertes
-Gold verwandelten Flechten hatten die noch offenen Augen einen
-unbeweglichen, fast überirdischen Glanz.
-
-Erschrocken, in wachsendem Staunen, betrachtete Herr von Grusdorf
-das tote Weib. Wo waren an dieser Abtrünnigen die Spuren ihres
-Seelenkampfes mit dem Teufel? Hatten die Gerüchte gelogen, die seit
-dem Herbste über die Haynacherin umherliefen? Hatte die Hasenknopfin
-die Wahrheit gesprochen, als sie sagte: daß die Martle unter den
-obrigkeitlich vorgeschriebenen Gebeten wie eine rechte Christin
-gestorben wäre? Wider Willen fühlte der Kanzler eine Regung des
-Erbarmens. Aus den früheren Jahren seiner Richterzeit war er gewöhnt
-an die Bilder der Folterstube. Was er in dieser Kammer sah, zerbrach
-ihm den Panzer der Gewohnheit und faßte ihn an einem Muskel seines
-Menschentums. Er legte die Hand auf die Schulter des zuckenden Bauern
-und sagte freundlich: »Ermanne er sich, Haynacher! Gott hat gegeben --«
-Da verstummte er in Zorn und Empörung. Er sah nicht den zerbrochenen
-Menschen, der sich mühsam aufzurichten versuchte; sah nicht diese
-irrenden Verzweiflungsaugen und dieses entstellte Gesicht. Er sah nur
-das abgegriffene Buch, das neben den Fäusten, mit denen Christl vom
-Bett sich aufstemmte, unter dem Kopfkissen der entseelten Haynacherin
-hervorglitt. Gleich erkannte er's. Von diesem Buche hatte er an die
-zwanzig konfiszierte Exemplare in seinem Aktenschrank. Wie ein Falk den
-Vogel faßt, so griff er über den Kopf des Bauern hinüber, packte das
-Paradiesgärtl des Johann Arndt und rief entsetzt: »Das _crimen_ ist
-notifiziert.«
-
-Christl, wie jäh belebt, war an der Mauer in die Höhe gefahren, tappte
-mit den Händen und schrie: »Das Büchl tust du ihr lassen, du! Das Büchl
-ist ihre Seligkeit gewesen und ihr heiliger Tod!«
-
-Der Kanzler war schon bei der Tür und kreischte in die Stube hinaus:
-»_Reverendissime!_ Quittieren Euer Liebden schleunigst dieses
-verfluchte Domizilium der Ketzerei! Hier ist kein Fundament für
-allergnädigste Sohlen.« Man hörte französische Worte, hörte den flinken
-Schritt der Herrenstiefel, die sich entfernten. Und der Kanzler
-betrachtete mit flammenden Augen den Christl Haynacher: »Er verlorener
-Mensch! Ist er beteiligt an dieser unverzeihlichen Todsünde?« Der Bauer
-schüttelte den Kopf und wehrte kraftlos mit den Händen. »Um seiner
-Seligkeit willen hoffe ich, daß seine Deklarazion sich als Wahrheit
-erweist.« Der Kanzler deutete mit dem Krückstock gegen das Bett. »Was
-mit dem Kadaver zu geschehen hat, das weiß die Hasenknopfin.« Er wollte
-gehen.
-
-»Herr!« keuchte Christl und streckte in Verzweiflung die Hände. »Alles!
-Herr! Nur lasset mein gutes Weibl in christlichen Boden tun! Man muß
-doch wissen, wo man sich findet einmal. Und schauet, Herr, so schauet
-das Weibl doch an! Man sieht's noch allweil, gnädiger Herr -- mein
-Weibl ist so fromm und heilig gestorben -- schöner könnt auch der Papst
-nit sterben!«
-
-Der Kanzler erledigte in sich einen schweren Kampf seines privaten
-Mitleids mit dem Amtsgewissen. »_Bene!_ Um seinetwillen! Wir wissen,
-daß er immer ein verläßlicher Sohn der reinen Kirche war. Drum soll
-ihm konzediert sein, dieses Weib, statt auf dem Freimannsanger, auf
-seinem eigenen Acker zu verscharren.« Nach diesen Worten menschlicher
-Barmherzigkeit verließ der Kanzler die rote Kammer.
-
-
-
-
-Kapitel IX
-
-
-Regungslos, mit schlaffhängenden Armen, stand Christl wie an die Mauer
-genagelt. Nur seine Augen, die trocken geworden, bewegten sich. So
-betrachtete er sein Weib, als könnte er die Wahrheit dieser Stunde
-noch nicht begreifen. Dabei hörte er draußen im Flur den Kanzler mit
-erregter Stimme sagen: »_Reverendissime!_ Das Fürchterlichste an dieser
-_chose effroyable_ haben wir noch gar nicht diskutiert. Ein getauftes
-Kind und ein ungetauftes! Entsetzlich! Die Erbsünde angewachsen an
-die Erlösung! Der Himmel mit der Hölle verknorpelt! Wie soll man
-diese unmögliche Kopulation begraben? Hier erwachsen theologische
-Diffizilitäten von inkommensurablen Konsequenzen!«
-
-Christl Haynacher in der roten Kammer begriff den Sinn dieser Worte
-nicht. Er verstand nur: daß sein Glück zerschlagen, sein Leben
-zerbrochen, sein Herz zerrissen war. Und aller Jammer, der in ihm
-wühlte, rann immer dem unerträglichen Gedanken zu: daß seine Martle,
-die so heilig gestorben war, nicht in christlichen Boden kommen,
-sondern ewig ruhelos liegen sollte in ungeweihter Erde. Immer, wenn's
-einem anderen geschehen war, hatte Christl das als guter Katholik für
-gerecht erkannt. Jetzt zum erstenmal begriff er es nicht, weil es ihm
-widerfuhr in seinem eigenen Kummer. Und sind die Herren im Unrecht bei
-seiner Martle, so waren sie auch bei den anderen nie im Recht, die sie
-auf dem Freimannsanger, im Wald oder auf ungeweihtem Acker verscharren
-ließen. »Wenn die Herren Unrecht haben, darf man dawider handeln.« Daß
-die Martle in geweihten Boden kommt, da braucht der Christl keinen
-Chorkaplan. Nicht der Kaplan macht es, sondern das geweihte Wasser
-und der Segen Gottes. Einem braven Weibl, das gestorben ist wie seine
-Martle, kann Gottes Segen nicht fehlen. Und geweihtes Wasser hat
-der Christl im Haus. Wie oft es die Martle auch ausschüttete, der
-Christl hat immer wieder neues heimgetragen. Und wie die Martle ihr
-Paradiesgärtl unter den Kleien versteckte, so hat der Christl unter
-dem Heu den Gutter mit dem Weihwasser verhuschelt. Jetzt wird es den
-Acker heilig machen, in dem die Martle ihre Ruhstatt findet. Tät es
-ein Unrecht sein, so kann es der Christl beichten. Keinem Chorkaplan
-im Markt. Da wird er über den Lattenberg hinüber steigen müssen ins
-Bayrische, wo die Pfarrherren gutmütiger und drum auch christlicher und
-geduldsamer sind. So wollte er's machen. Dabei glaubte er ein guter
-Katholik zu sein und wußte nicht, daß es genau so bei jedem anderen
-begonnen hatte, der ein Unsichtbarer geworden, weil er Unrecht leiden
-oder Unrecht sehen mußte. Nicht die Zweifler machen den neuen Glauben,
-die Unduldsamen im alten säen ihn aus, und die Geplagten in ihrer
-Sehnsucht ernten ihn.
-
-Auf den Boden hinfallend, klammerte Christl die Arme um den Kopf
-seines Weibes und lallte an ihr kaltes Ohr: »Dein Wasen wird heilig
-sein. Das Büchl hab ich ihm lassen müssen, ein Herr ist stärker als
-hundert Bauren.« Die Augen eingepreßt in das feuchte Kissen, lag er
-unbeweglich, bis der rote Schein sich verwandelte in graue Dämmerung.
-Die Hasenknopfin kam und sagte: »Ich hab gekocht, jetzt mußt du dem
-Bübl das Mus geben. Von mir nimmt es nit.« Weil der Christl sich nicht
-rührte, half sie ihm, sich aufzurichten. »Auch die Küh brüllen schon
-die ganze Weil. Die mußt du melchen.« Während sie ihn hinausführte,
-warf er einen scheuen Blick auf den Stubentisch. Da war nichts mehr.
-Er fragte nicht: Wo ist es? -- atmete nur auf, weil das Fürchterliche
-nimmer da war, das seiner Martle das Leben zerrissen hatte.
-
-Beim Ofen brannte die rußende Specklampe. Das Bübl war schläfrig,
-öffnete aber gleich das Mäulchen, als es den warmen Holzlöffel an den
-Lippen fühlte. »Kindl, wie hast du's gut! Du tust nichts wissen.«
-
-Die Hasenknopfin arbeitete in der Küche. Manchmal hörte Christl ein
-Gemurmel von Stimmen, ein Pochen an den Fenstern, ein Klopfen an
-der Haustür. Alles war ihm, als käm' es aus weiter Ferne und gälte
-irgend einem, nicht ihm. Er legte das sattgewordene Bübchen in die
-Kissen, blieb auf der Ofenbank und schaukelte mit dem Fuß den schweren
-Wiegenkasten. Draußen war es finster geworden. Auch still. Da kam die
-Hasenknopfin halb zur Tür herein und sagte: »Christl, ich geh.«
-
-»Wohl!« Er nickte. »Vergeltsgott, Weibl! Mit der Zahlung mußt du mir
-Zeit lassen bis morgen.«
-
-»Nit nötig, Christl! Für die Schwester Martle ist alles umsonst.« Es
-schien, als möchte sie noch etwas sagen. Aber sie schwieg und ging und
-zog hinter sich die Tür zu.
-
-Den kleinen weißen Pack auf ihren Armen hatte Christl nicht gewahrt.
-Er dachte immer nur dieses Eine: >Jetzt muß ich es tun!< Als das
-Bübchen schlief, machte er den Docht der Specklampe klein, zündete eine
-Laterne an, ging in den Stall, molk und fütterte die Kühe und goß in
-der Steinkammer die Milch in die hölzernen Rainen. Beim Heuholen hatte
-er auch gleich den Gutter mit dem versteckten Weihwasser vom Dachboden
-mit heruntergebracht. Aus dem Stiegenwinkel kramte er die Spitzhaue und
-den Spaten hervor, löschte die Laterne und verließ das Haus. Der Föhn
-war stumm geworden. In der Nachtkühle begann der Schnee zu gefrieren.
-Sterne funkelten am Himmel. Der abnehmende Mond war über die Seeberge
-noch nicht heraufgestiegen, strahlte wohl schon die Zacken des Wazmann
-an, ließ aber das Tal noch finster. Gegen den Untersberg sah man die
-erleuchteten Fenster des Stiftes glänzen, als hätte die Erde viel
-größere Sterne, als der Himmel sie hat.
-
-Gleich außerhalb der Hecke lag der Gerstenacker des Christl. Das Feld
-hatte schon einen schneefreien Fleck -- es war die gleiche Stelle,
-an der im Sommer immer so viele Blumen im Getreide blühen. Muß da
-der Boden nicht wärmer sein als anderswo? Hier begann der Christl zu
-graben. Und grub und grub. Dann sprengte er die Hälfte des Weihwassers
-über das Grab, betete ein Vaterunser, streckte die verkrampften Fäuste
-zum Himmel hinauf und bettelte: »Gelt, tu den Ackerboden segnen,
-Herrgott, in den ich das Martle hineintun muß!« Das alles war leicht
-gewesen. Jetzt kam das Schwere. Er ging zurück ins Haus. Da trat ihm
-aus dem Nachtschatten der Hecke jemand entgegen: »Nachbar? Brauchst du
-nit einen, der dir tragen hilft?«
-
-Christl mußte um Atem ringen, bevor er antworten konnte: »Wohl, Mensch!
-Ich zahl dich gut.«
-
-»Nit nötig!« erwiderte der andere. »Für die Schwester Martle ist alles
-umsonst.«
-
-Erst in der Stube erkannte Christl in dem Mann einen alten graubärtigen
-Bauer von Unterstein. Im Leilach trugen sie die Martle zum Acker.
-Als sie zur Grube kamen, standen fünfe oder sechse neben dem Hügel.
-Alle halfen, um die Martle sanft hinunterzulegen. Noch andere kamen
-aus der Nacht herausgeschritten, Männer und Weibsleute. Christl hatte
-keine Tränen, kein Wort. Immer knirschten ihm die Zähne. Er haßte und
-verfluchte sie alle, die zum Grab seines Weibes kamen, und war doch
-einem jeden dankbar.
-
-Als die Martle drunten lag, nahm Christl den Krug und wollte geweihtes
-Wasser auf den weißen Schimmer hinuntersprengen. Da faßte ein Weib
-erschrocken seinen Arm und flüsterte: »Nit, du! Das ist falschgläubig!«
-Schon wollte Christl im Zorn erwidern. Da schob der alte, bärtige Bauer
-das Weib beiseite und sagte leis: »Laß du den Christl tun, wie er
-meint, daß es gut ist! Magst du nit duldig sein, wie willst du hoffen,
-es sollen die anderen duldig werden gegen dich und uns?« Er faßte den
-Spaten und legte die ersten Schollen sacht in die Grube. Eines ums
-andere nahm die Schaufel. Der weiße Schimmer da drunten verschwand,
-die Erde wuchs aus der Tiefe herauf. Und während Christl auf den Knien
-lag, das Gesicht in die Hände vergraben, zuckend und schauernd, fing
-der alte Fürsager der Unsichtbaren von Unterstein mit leiser Stimme zu
-reden an.
-
-Auf der nahen Straße kam ein Klirren und Klingeln aus der Nacht
-heraus, kam immer näher. Erschrocken fuhr Christl auf: »Die Herren!«
-
-»Nit!« flüsterte ein Mädel. »Es ist der Bräuschlitten. Der geht zum
-Königssee.«
-
-Man sah ihn gleiten, schwarz vor dem weißen Schnee, wie sonst beladen
-mit den zehn, zwölf kleinen Fässern. Nur ein Ding war anders als sonst:
-hinter den zwei dampfenden, klingeligen Pferden saß der Bräuknecht
-nicht allein auf dem Bockbrett. Neben ihm, dick eingewickelt in Mantel
-und Kapuze, kauerte eine kleine rundliche Frau. Die Mutter Agnes. Sie
-war der Meinung gewesen, daß sie ihrem Buben noch besser ins Herz
-zu reden verstünde, als es der süße Krapfen mit dem Zwibebenkränzl
-fertig brächte. So hatte sie ihrem verstörten Mann diese Nachtfahrt
-abgetrutzt. Und während sie vor sich hinsah in den Dampf, der von
-den klirrenden Pferden aufging, überlegte sie die Mahnworte, die sie
-ihrem Buben sagen wollte, um ihn wieder auf die rechte Glaubensstraße
-heraufzuziehen.
-
-Bei den Untersteiner Häusern, zwischen denen es wunderlich lebendig
-war, kam der Schlitten in den Mondschein. Nach einer Weile hielt er am
-See. Zwei Lehrburschen des Bartholomäer Fischmeisters erwarteten ihn
-am Ufer. »Du,« sagte der eine zum anderen, »du bringst den Bierkasten
-allein übers Eis. Ich nimm die Mutter Agnes auf den Beinschlitten. Da
-geht's flinker. Aber Schneid mußt du haben, Weibl! Heut ist ein ungutes
-Fahren. Der Föhn hat die Frageln bös ausgebissen.«
-
-»Das tut nichts!« sagte Mutter Agnes und trippelte über das Eis
-hinaus. »Wer redlich schnauft, steht allweil in Gottes Hut. Fahr
-los!« Der junge Knecht stellte sich hinter ihr auf das Brett und
-brachte den Beinschlitten in sausende Fahrt, weil es, je flinker, um
-so ungefährlicher war. Manchmal zischte der Schlitten durch breite
-Wasserflächen, von denen sprühende Tropfenfahnen in die Luft rauschten.
-Ein paarmal ging es über Frageln hinüber, die schon so sehr erweitert
-waren, daß der Beinschlitten einen bedrohlichen Hupf machte. Frau Agnes
-mußte sich tüchtig anklammern. Seufzend dachte sie: >Mein Leupi tät
-mich sänftlicher fahren!< Auch heut dröhnte das Eis, doch das Licht des
-Mondes war matt, und Dunst umschleierte die Bergwände. Ein paar hundert
-Schritte vom Ufer lag eine schwarze Wasserfläche. Der junge Fischer
-mahnte: »Obacht, Meisterin!« Die Warnung kam zu spät. Der Beinschlitten
-machte einen tischhohen Sprung, und als er niederklatschte, löste sich
-Frau Agnes vom Brett und kollerte durch das handtiefe Wasser. Das
-Erbarmen des jungen Knechtes bestand darin, daß er fürchterlich lachen
-mußte. »Aber, aber,« schmollte Mutter Agnes, während sie sich heraushob
-aus der dunklen Wassersuppe, »wozu so viel überflüssige Müh, ich bin
-doch schon getauft.« Es rieselte von ihr. Und so kalt war's, daß sie zu
-schnattern begann.
-
-Jetzt verging dem Buben das Lachen. »Gelt, tust mir die Lustigkeit nit
-verübeln, Frau?«
-
-»Gott bewahr! Lach, wie du magst! Das Lachen erlöst von der Zeit!«
-
-Um die Zitternde noch ungefroren ans Ufer zu bringen, stachelte der
-junge Fischer wie verrückt und schrie dabei mit gellender Stimme:
-»Leupi! Leupi! Leupi!« Weil man zu Bartholomä den Bierschlitten
-erwartete, waren die Mannsleute und auch die Fischmeisterin noch wach.
-Sie kamen gelaufen. Neben der weißen Kirche fuhr der Beinschlitten
-ans Ufer, und Leupolt erkannte die Mutter. »Herr Jesus!« lachte er in
-seiner Freude. Als er ihre starren Hände und den hartgefrorenen Mantel
-fühlte, wurden ihm die zwei gleichen Worte zu einem Schreckenslaut:
-»Herr Jesus!« Er schlang die Arme um die Mutter und hob sie vom Boden
-auf.
-
-»Geh!« wehrte sie erschrocken. »Du wirst mich ja doch nit tragen
-wollen! So ein Endstrumm Weiberleut!«
-
-»Ich trag einen Zwölferhirsch vom Berg herunter. Schwerer wie ein
-liebes Muttertierl bist du nit!« In Sorge rief er: »Fischmeisterin!
-Trückene Wäsch für die Mutter! Und heiße Weinsupp einen ganzen Hafen
-voll!« Er sprang zum Jägerkobel, über die Freistiege hinauf und flink
-in seine Stube, in der die Lampe brannte und der Ofen noch schöne Wärme
-hatte. Bis er die Mutter aus dem gefrorenen Mantel schälte und die
-Schuhe von ihren Füßen brachte, kam die Fischmeisterin mit Bettzeug und
-Wäsche. Leupolt hängte Mantel und Schuhwerk über das Ofengestäng und
-schob die langen Buchenscheite so reichlich in die Glut wie ein Bäcker,
-wenn er backen muß vor einem großen Feiertag. Dann verließ er die
-Stube. Draußen stand er auf dem schmalen Söller. Aus der Stube hörte er
-den Sorgenjammer der Fischmeisterin und die munteren Antworten seiner
-Mutter. Er wußte, daß sie sich am heitersten zu geben verstand, wenn
-sie verbergen wollte, daß ein Schweres auf ihrem Leben lag.
-
-Warum kam sie?
-
-Die Fischmeisterin trat aus der Stube. »Die Mutter liegt schon. Den
-Glühwein bring ich gleich.« Sie faßte den Jäger am Arm und sagte leis:
-»Ich mach mir ein bißl Sorg.«
-
-Leupolt erschrak. »Meinst du, sie hätt sich verkühlt?«
-
-»Das nit. Aber du weißt doch: wenn's morgen föhnt, und es gibt einen
-linden Tag, so druckt er das Eis noch ganz in Scherben. Und das Weibl
-kann sitzen müssen in Barthelmä, wer weiß, wie lang.« Das war so. Er
-selber hatte schon dran gedacht. Dennoch wär' es ihm lieber gewesen,
-wenn die Fischmeisterin das nicht gesagt hätte. Sie und ihr Mann, ihr
-Mädel, ihre zwei Buben, die drei Fischerknechte und der Platzjäger,
-alle waren sie evangelisch, von den Unsichtbaren des Berchtesgadnischen
-Landes die Ungestörtesten. So lange Frau Agnes im Hause war, mußten die
-Neun sich hüten, konnten am Abend nicht Frag und Antwort geben nach dem
-Spangenbergischen Katechismus, nicht vorlesen aus dem heiligen Buch.
-
-Aus der Stube klang es ungeduldig: »Bub? Wo bleibst du?«
-
-»Ja, Mutter!« Zur Fischmeisterin sagte er hart: »Ich will's überlegen.«
-Es verdroß ihn, daß es Menschen gab, denen seine Mutter nicht
-willkommen war. Er trat in die Stube. Frau Agnes, angetan mit einem
-weißen Kittelchen, das zu eng war, saß in dem klobigen Jägerbett wie
-ein Hühnchen im Metzenkorb. Lächelnd streckte sie ihrem Sohn die Hände
-entgegen: »Bub! Jetzt wird's aber gleich einen Streit geben!«
-
-»Zwischen dir und mir?« Er setzte sich auf den Bettrand. »Wär das
-erstmal im Leben!«
-
-»Doch, Bub! Wenn ich dir sag, warum ich gekommen bin, so glaubst du's
-nit.«
-
-»Dir glaub ich alles.«
-
-Sie nahm dieses Wort wie eine Hoffnung. »Bub, ich bin übers Eis
-gefahren, bloß daß ich dir einen süßen Krapfen bring.« Das glaubte er
-nun wirklich nicht. Frau Agnes nickte. »Wohl! Greif nur hinein in den
-Mantel! Da steckt er. Hoffentlich ist er nit auch getauft worden.«
-
-Leupolt ging zum Ofen. Richtig! Aus dem Mantel kam ein
-zusammengeknüpftes Tüchelchen zum Vorschein. Der Inhalt duftete so
-fein, daß man seine Wesensart auch ohne Jägernase gewittert hätte.
-»Aber Mutter!« Leupolt lachte, und Frau Agnes bekam zwischen den
-Brauen eine Falte, als hätte sein sorgloses Lachen ihr wehgetan. Er
-ging zum Tisch, knüpfte das Tüchelchen auseinander und wickelte den
-goldgelben Krapfen heraus. Schon wollte er hineinbeißen. Da sah er
-das Zwibebenkränzl, wurde ernst und drehte rasch das Gesicht über die
-Schulter. »Mutter?«
-
-»Ja, Bub! Den hab ich keinem anderen nit anvertraut.«
-
-Er brach das Backwerk ruhig entzwei, fand das kleine Schilfröhrchen und
-nahm den dünn zusammengerollten Zettel heraus. Als er die Schrift sah,
-fragte er verwundert: »Das ist doch Vaters Hand nit?«
-
-»Derweil ich den Teig gerührt hab, hat der Meister den Zettel
-geschrieben.«
-
-Seine Augen wurden groß. »*Wer*, Mutter?«
-
-»Ihr Vater. Der Meister Niklaus.«
-
-Heiß schoß ihm das Blut in die Stirn. Die Hand zitterte ihm ein
-bißchen, während er die Lampe von der Mauer herunternahm, um besseres
-Licht beim Lesen zu haben. In Sorge betrachtete ihn die Mutter und
-begriff nicht, daß er so ruhig bleiben konnte. Als er gelesen hatte,
-ging ein Lächeln um seinen Mund. Eine Weile sah er stumm vor sich
-hin. Dann sagte er: »Mutter, jetzt muß ich was Ungutes verlangen von
-dir. Gibt's morgen einen föhnigen Tag, so wüßt man auf Wochen nimmer,
-wie man hinauskäm. Ich muß dich, eh der Nachtfrost auslaßt, auf den
-Schlitten setzen. Sorg mußt du nit haben. Ich weiß den trockenen Weg
-und bring dich gut wieder heim. Am Morgen muß ich draußen sein. Ich mag
-mich nit suchen lassen. Ich will mich stellen.«
-
-Frau Agnes entfärbte sich, versuchte aber doch, ein heiteres Wort zu
-finden. »So! Jetzt bin ich umsonst ins Wasser gekugelt. Freilich,
-tiefer als bis aufs Häutl ist's nit geronnen. Altes Leder ist
-wasserdicht.« Sie wollte lachen, streckte aber plötzlich die Hand und
-flüsterte: »Leupi? Muß das sein?«
-
-»Was anderes weiß ich nimmer.«
-
-Sie wollte fragen: Weißt du, was dir bevorsteht? Aber das verschwieg
-sie. »Bub? Alles Grobe wird linder, wenn man ihm Zeit laßt. Wer weiß,
-wie die Herren denken über drei Wochen? Wenn du vor Tag hinaufsteigen
-tätst zum Hegerhäusl am Fundensee? Und tätst dich bis über Ostern
-einwehen lassen im sicheren Hüttl?«
-
-Er kam zum Bett und nahm ihre Hand. »Da tät der Wildmeister sagen:
-ich wär ein schlechter Jäger, der nit weiß, daß vor der Osterzeit da
-droben kein Wild nit steht. Die Steinböck, die das Tal nit mögen, sind
-ausgestorben.« Er winkte gegen den Zettel hinüber. »Weißt du alles?«
-
-»Von ihrem Vater.«
-
-»Tust du mir's verdenken?«
-
-»Was?«
-
-Er wußte nicht, wie er es sagen sollte. Da fiel ihm das Wort ein, das
-Pfarrer Ludwig zu ihm gesprochen hatte: »Daß ich wegspringen hab müssen
-über dich und den Vater?«
-
-»Geh, du Närrle! Das zählt doch nit. Jetzt geht's um *dich*!« Sie zog
-ihn näher zu sich heran. »Den guten Rat, den der Meister gegeben hat?
-Magst du den nit ein bißl nutzen?«
-
-»Lügen?« Er schüttelte den Kopf. »Tätst du das christlich heißen?«
-Seine Stimme wurde leis. »Und an das Mädel mich anhängen mit einer
-Falschheit? Mutter, das geht nit. Da ist sie mir viel zu gut dazu!«
-
-»Die?« Frau Agnes verlor die Ruhe. »Die dich hineinstoßt in Eisen und
-Not!«
-
-»So ist das nit. Einer geht über den Berg und muß hintreten auf einen
-Stein, der ins Laufen kommt. Da kann man nit wissen, daß der Stein
-einem Bäuml ins Leben schlagt. Wie fromm sie ist, das weißt du doch.
-Schau, da hat ihr halt eine Stimm in der Seel geboten: Red!« Er
-lächelte, fast wie ein Glücklicher. »Jetzt weiß ich doch, daß sie an
-mich hat denken müssen.«
-
-Erschrocken sah Frau Agnes ihren Buben an. »So lieb hast du sie?«
-
-Seine Augen glänzten. »Lieber als mein Leben. Ich bin so, daß ich mir
-auf der Welt bloß ein einziges Glück weiß. Sonst kein anderes. Da
-heißt's halt: finden oder dran vorbeirutschen.«
-
-Sie klammerte den Arm um seinen Hals. »Wenn du sie so lieb hast? Wär's
-da nit denkbar, daß sie dich wieder hinüberzieht --« Sie stockte. »Auf
-den alten und guten Glaubensweg?«
-
-Leupolt blieb unbeweglich und stumm.
-
-»So tu doch reden, Bub!«
-
-Da sagte er schwer und langsam: »Wenn's für einen so kommt, daß Blut
-und Glück ein ander Ding werden als Seel und Wahrheit? Mutter, das ist
-hart. Aber wie man da gehen muß, da ist kein Zweifel nit. Gott, um die
-Menschheit zu erlösen, hat den eigenen Sohn gegeben. Muß da nit der
-Mensch die Kraft haben, um Gottes Willen zu geben, was ihm lieber ist
-als Sonn und Freud?« Er fühlte ihre heißen Tränen an seinem Hals und
-umschlang sie. »Einmal müssen wir reden drüber. Nit jetzt. Lieber auf
-dem Heimweg. Die Stub hat hölzerne Wänd. Ich mag nit, daß dir einer in
-Spott oder Unmut nachredet, was du mir sagen mußt. Da drüben in der
-anderen Kammer --« Er verstummte, riß sich aus dem Arm der Mutter,
-sprang hinüber zum Ofen und warf das Schilfröhrchen und den heimlichen
-Zettel ins Feuer. Das war geschehen, bevor Frau Agnes fragen konnte:
-»Was ist denn?«
-
-»Die Hausmutter kommt.«
-
-Nach einer Weile klangen die Schritte der Fischmeisterin auf der
-Freistiege. Sie kam mit dem dampfenden Glühweinkrug und brachte einen
-Brotwecken und geräucherte Saiblinge. »Sooooo!« Die Frau warf einen
-spähenden Blick auf Leupolt. Er sagte ruhig: »Grad reden wir drüber,
-daß die Mutter vor Tag hinaus muß übers Eis. Morgen könnt harter Weg
-sein. Aufstehen braucht keiner im Haus. Ich mach schon alles.«
-
-Da war die Fischmeisterin verwandelt in ein gefälliges Weibl, schwatzte
-immer zu, putzte die Saiblinge, schnitt das Brot und ließ den heißen
-Becher nicht leer werden. Frau Agnes mußte reichlicher schlucken, als
-sie wollte. Wenn das Zureden der Fischmeisterin nimmer nützte, sagte
-Leupolt: »Trink nur, Mutter! Da kriegst du einen festen Schlaf.« Er saß
-auf der Ofenbank, verzehrte den Krapfen und griff immer wieder in die
-Höhe, um zu fühlen, ob die auf den Stangen hängenden Kleider trocken
-würden. Der Glühwein, die heiteren Worte, mit denen Mutter Agnes ihre
-Sorge verschleierte, und die drolligen Scherzreden der Fischmeisterin
-machten die Nachtstunde in der kleinen Stube so lustig, daß ein fremdes
-Ohr auf drei Menschen hätte raten können, die ferne waren von allem
-Zeitkummer. Als die Fischmeisterin endlich nach einem letzten Spaß die
-Stube verließ, sagte sie das »Gelobt sei Jesus Christus!« wie eine gute
-Katholikin. Sie und ihre Leute verstanden sich aufs Unsichtbarmachen.
-Bei den häufigen Besuchen der Chorherren, die das Schlößl zu Bartholomä
-nicht nur zum Jagen besuchten, auch häufig in Begleitung, um _à la
-mode_ ein bißchen Pariserei zu treiben -- bei diesen Besuchen hatten
-es die Fischmeisterleute gelernt, ihren Seelenwandel unverdächtig zu
-machen. Sie wußten geschickt von einander zu trennen, was Religion und
-Brotkorb hieß. Die Fischmeisterei zu Bartholomä war eine einträgliche
-Stellung, für die man schon einige Rosenkranzperlen bewegen konnte.
-
-Leupolt schien anders zu denken. Während die Fischmeisterin sich
-gutgläubig entfernte, blitzte der Zorn in seinen Augen. Stumm erhob er
-sich und drehte auf der Ofenstange den Mantel der Mutter um. Frau Agnes
-nahm den glühenden Kopf zwischen die Hände und versuchte zu lachen.
-»Bub, ich hab ein Quartl zu viel verschluckt. Die Hitzen fahren mir
-auf, als wär der Teufel zu unterst in mir.«
-
-»Oft sagt man Teufel. Und da ist's die beste von aller Lebenswärm.
-Jetzt muß ich mich nimmer sorgen, daß du dich verkühlt hast. Gut
-schlafen wirst du auch.« Sie tat einen schweren Atemzug. Mit dem Beten
-wartete sie um seinetwillen, bis er die Lampe ausgeblasen hatte. In
-der Finsternis sagte Leupolt: »Gut Nacht, Mutter! Ich weck schon, wenn
-es sein muß.« Er streifte die schweren Schuhe von den Füßen, zog den
-Kittel aus, legte ihn als Kissen auf die Ofenbank und streckte sich
-hin. Flüsternd wiederholte Mutter Agnes: »Wenn es sein muß?« Bei diesen
-vier Worten sah sie den Kanzler, den Richter, den Pfahl mit dem Eisen
-und das kommende Leiden ihres Sohnes. »Bub?« Gleich erhob er sich und
-ging auf den Strümpfen zu ihrem Bett. Sie suchte im Dunkel seine Hand.
-»Sag mir, Leupi, tust du denn nimmer beten?«
-
-»Wohl, Mutter! Fleißiger, wie sonst.«
-
-»Was betest du?« fragte sie in Angst.
-
-»Jetzt bet ich allweil --« Er schwieg. Dann sagte er mit völlig anderer
-Stimme: »Ich bet: >Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer nach
-Himmel und Welt; und täten mir Leben und Seel verschmachten, du bleibst
-mein Heil und meines Lebens Trost!<«
-
-Ein Laut wie in heißer Freude. Frau Agnes hatte nicht nur die Worte
-des Sohnes gehört, auch das Klingen seiner Seele, das Herzgeläut
-seines tiefen Glaubens. »Jesus, Jesus,« stammelte sie im Glück des
-Augenblickes, »betet einer so, da kann's doch so weit nit fehlen.«
-
-»Nein, Mutter, es fehlt nit!«
-
-Sie zog ihn zu sich herab, umschlang seinen Hals und preßte das heiße
-Gesicht an seine Wange. »Jetzt bin ich ruhiger. Da brauchen wir auch
-nimmer reden mit einander. Wer betet wie du, ist nie verlassen. Was
-hätt das Reden für einen Sinn? Mir redest du nichts ein, und dir,
-das merk' ich, ist nimmer auszureden, was dir wie Eisen in Herz und
-Seel ist. Begreifen kann ich's nit, aber es ist so. Müssen wir's halt
-nehmen, wie's ist. Und was kommt, das müssen wir tragen als Mutter und
-Kind. Zwischen uns sollen Zeit und Herren nie einen Graben aufreißen.
-Gelt nein?«
-
-»Nie, Mutter! Vergeltsgott! Jetzt hast du mir's leicht gemacht.« Wie
-wohlig seine Worte klangen! Dann ging er zu seiner harten Bank. Frau
-Agnes lag unbeweglich und lauschte immer zu ihm hinüber. Ihre Augen
-schlossen sich nicht, obwohl der Glühwein die Gedanken ihrer Sorge und
-ihres Trostes ein bißchen durcheinander wirbelte. Auch Leupolt sah mit
-offenen Augen in die Nacht. Sein Atem ging so ruhig, daß die Mutter
-immer glaubte: jetzt schläft er. Gegen drei Uhr morgens erhob er sich
-und schob ein paar Buchenscheite in die Ofenglut, damit die Kleider und
-Schuhe der Mutter völlig trocknen möchten. So leise tat er es, daß kein
-Mäuschen hätte erwachen können. Als er sich lautlos wieder hinstreckte
-auf die Bank, sagte Frau Agnes: »Vergeltsgott!«
-
-»Ich tu's doch gern. Schlaf nur! Es ist noch Zeit.«
-
-Wieder die stillen, wachenden Stunden. Aus der Nebenkammer hörte
-man das Schnarchen des Platzjägers. Und draußen im Zwinger schlugen
-die Hunde an. Da kam wohl hungerndes Hochwild über den Gartenzaun
-gesprungen, um an den Obstbäumen zu beißen. Die schwindende Mondhelle
-verriet dem Jäger, wie weit es an der Zeit war. Gegen die fünfte
-Frühstunde erhob er sich. Gleich sagte die Mutter: »Guten Morgen, Bub!«
-
-»Du hast doch ein bißl geschlafen? Nit?«
-
-»Die ganze Nacht. Und gut.«
-
-»Gott sei Dank!« Er stellte den Rest der Weinsuppe zum Aufwärmen in die
-Ofenröhre. »Dein Zeug ist trocken!« sagte er, nahm die Kleider von den
-Stangen und legte sie auf das Bett. »Draußen putz ich deine Schuh. Da
-kannst du dich gewanden derweil.«
-
-Als sie wegfertig waren, tranken sie den warmen Wein und aßen einen
-Bissen Brot dazu.
-
-Die Feuersteinflinte mit dem Riemen um die Brust, hinter den Schultern
-den Bergsack, auf dem Arm das Radmäntelchen und zwei wollene
-Bettdecken, blieb er auf der Schwelle stehen und warf noch einen
-Blick in die dunkle Stube, in der die Lampe schon ausgeblasen war.
-Draußen sagte er: »Da mußt du Obacht geben, Mutter! Das Treppl ist ein
-bißl vereist.« Auf dem Beinschlitten hüllte er sie fest in die zwei
-Bettdecken und wickelte ihr auch den eigenen Mantel noch um Kopf und
-Hals. Alles ließ sie schweigend geschehen, sah nur immer mit großen,
-nassen Augen zu ihm auf. Bevor er hinter der Mutter auf den Schlitten
-stieg, drehte er das Gesicht und ließ die Augen langsam hingleiten
-über den grauen Jägerkobel, über das schmucke Herrenschlößl und über
-den weiten Bogen der von schwarzem Schatten umwobenen Berge. Ob er das
-im Leben noch einmal sehen würde? Wortlos stieg er auf das Brett und
-begann den Schlitten zu treiben. Mit jagender Eile glitten die beiden
-in die Nacht hinaus, ihrem Schicksal entgegen.
-
-Manchmal klang das Dröhnen einer Eisfragel, die entzweisprengte, was
-aneinandergewachsen war. Und immer hörte sich das an, als hätte man
-stark an eine große Glocke geschlagen, irgendwo, in der Tiefe oder hoch
-in der Luft.
-
-
-
-
-Kapitel X
-
-
-Bald nach Anbruch des Nachtschweigens war zu Berchtesgaden am Hause
-des Chorkaplans Jesunder die Torglocke mit erschreckender Heftigkeit
-gezogen worden. Jesunders alte Mutter Apollonia streckte den Kopf
-mit der großen Nachthaube zum Fenster hinaus, gewahrte aber keinen
-Menschen und war gewohnheitsmäßig der Meinung, daß wieder einmal ein
-gottverlorener Heimtücker eine unverzeihliche Büberei gegen die Kirche
-verübt hätte. Alles, was Frau Apollonia zu Leide geschah, empfand sie
-als eine Verunglimpfung des Himmels.
-
-Hatte sich auch die Kühle der Nacht an ihr versündigt? Frau Apollonia
-hielt es für notwendig, einen Beruhigungstrank aus Kamillenblüten
-zu bereiten. Als sie, innerlich aufgewärmt, wieder zur Ruhe gehen
-wollte, vernahm sie vor dem Haustor eine Männerstimme, die sehr
-sonderbare Worte schrie. Trotz aller Neugier wagte Frau Apollonia
-sich nicht mehr ans Fenster, bevor sie nicht drei Unterröcke, die
-wollene Jacke und einen armdicken Schlips in mehrfacher Windung am
-Leibe fühlte. Bis diese Wandlung vom Kühlen ins Warme vollzogen war,
-hatte die Zeterstimme vor dem Haustor sich ausgewachsen zu einem
-Gewirre aufgeregter Menschenlaute. Und noch immer kamen Musketiere,
-Stiftslakaien, Jägerknechte und Stallwärter von allen Seiten
-herbeigelaufen. In sorgenvoller Ahnung kreischte Frau Apollonia auf
-das Gewühl hinunter: »Was ist denn, was ist denn?« Eine verständliche
-Antwort bekam sie nicht. Sie hörte nur die vier dunklen Worte: Kind
-und Teufel, weiß und schwarz.
-
-Das Amtsgeheimnis, das Herr von Grusdorf der Hasenknopfin auf die
-Hebmutterseele gebunden hatte, wurde innerhalb weniger Minuten zum
-Geschrei von hundert Menschen. Was auf Befehl der Obrigkeit *ein*
-Kind gewesen war, nicht schwarz, nicht weiß, ein Kind, wie eben
-Kinder sind, das waren nun doch *zwei* Kinderchen, weiß und schwarz,
-entseelt, von den Schultern bis zu den Hüften aneinandergewachsen.
-Es war ein unverzeihliches Verbrechen von seiten der Wahrheit, sich
-einem obrigkeitlichen Befehl zuwider so unvertuschelbar in die
-breiteste Öffentlichkeit zu begeben. Alles, was durch die Klugheit
-des Kanzlers hätte vermieden werden sollen: der Zusammenlauf kuriöser
-Leute und die Entstehung rebellischer Rumore -- alles war vorhanden,
-dazu noch in kunstvoll gehobener Entwicklung. Herr von Grusdorf
-erlebte eine verzweiflungsvolle Mitternachtsstunde und verwünschte die
-staatsgefährliche Subjektin, die den Gram des Christl Haynacher nicht
-mit heimlicher Vorsicht in die Armeseelenkammer getragen, sondern
-rachsüchtig dem Chorkaplan Jesunder auf die Hausschwelle gelegt und
-mit fürchterlichem Gebimmel die Lärmglocke gezogen hatte. Das sollte
-die vulgo Hasenknopfin büßen! Zu diesem Zwecke arbeiteten Herr von
-Grusdorf und der kanzleideutsche Muckenfüßl mit solcher Beschleunigung,
-daß die Hasenknopfin, als sie gegen die dritte Morgenstunde ausgehoben
-werden sollte, schon seit vielen Stunden verschwunden war. *Ganz*
-verschwunden! Nicht nur mit ihrem Mädel und aller tragbaren Habe.
-Auch die Hausgeräte waren unsichtbar geworden, Kalb und Kühe
-davongetrieben, die Hennen in unauffindbare Nester gesetzt. Doch
-Muckenfüßl brachte von seinem zwecklosen Dunkelheitsmarsche wenigstens
-*ein* polizeilich verwertbares Gerstenkörnchen in die Kanzlei. Nach
-eindringlicher Bemühung der Soldaten Gottes hatte es eine Nachbarin
-der Hebmutter unter Nasenbluten ausgeschwatzt, daß der Hasenknopf
-vor 18 Tagen heimlich ins Preußische ausgewandert wäre, um sich vom
-Schicksal der Salzburger Exulanten zu überzeugen. »Ins Preußische!«
-Muckenfüßl hob den Zeigefinger der Polizei. »Jetzt weiß der _ego
-ipsus_, was das zwiefärbige _miraculum_ als Gottesstraf _in loco hujus_
-bedeutet! Die preußischen _coloribus_ sind schwarz und weiß. _Ergo_,
-wo die Hasenknopfischen sich betätigen, muß sich alles ins Preußische
-permutieren. Jaaa, der Himmel laßt mit dergleichen Materien keine
-Spassettibus nit machen.«
-
-Dieser Beweisführung, obwohl sie einleuchtend war, wagte Herr
-von Grusdorf sich nicht völlig anzuschließen. Doch besaß er so
-viel politischen Verstand, um einzusehen, daß die Ausstreuung des
-Muckenfüßl'schen Gedankenganges sich eher nützlich als schädlich zu
-erweisen vermöchte. Solch ein Zusammenhang der göttlichen Strafe
-mit der Hasenknopfin mußte die Subjekte zur Einsicht und Reue
-mahnen und auf ihre Gemüter ähnlich wirken wie ein Kriegskomet mit
-schreckenerregendem Feuerschweif. So bekam der Feldwebel eine Belobung
-für seine Geistesschärfe und dazu den obrigkeitlichen Befehl, den
-Wechselwirkungen zwischen Himmel und Hebamme eine segensreiche
-Publizität zu prokurieren. Mit diesem staatsmännischen Weisheitsblitze
-waren die Amtshandlungen des Kanzlers in dieser ereignisvollen
-Hornungsnacht noch nicht erledigt. Die Forschungsreise des Hasenknopf
-ins Preußische gab ihm so viel zu denken, daß sein Gehirn ein bißchen
-kongestiv und die unteren Extremitäten desto blutleerer wurden. Um die
-Regierungsgeschäfte weiterführen zu können, mußte er ein Schaff mit
-heißem Wasser bringen lassen und die schmerzenden Zehen hineinstecken.
-Weil das Wasserschaff unter dem Schreibtisch stand und die grauen
-Dunstwolken zur Linken und Rechten des Regierungssitzes emporquollen,
-bot der rotbefrackte, um den reinen Glauben bemühte Kanzler mit dem
-perückenlosen Kahlkopf einen geradezu satanischen Anblick. Man wurde
-an die Walpurgisnacht erinnert, nur daß es an einem verführerischen
-Hexchen mangelte. Aurore de Neuenstein hatte wohl ebenfalls eine
-schlaflose Nacht, doch statt sich an den kummervollen Amtsgeschäften
-ihres Onkels zu beteiligen, zog sie es vor, sich gemeinsam mit dem
-Grafen Tige der Lektüre eines Pariser Schäferromans zu widmen und die
-Kapitelpausen durch zärtliches Spinettspiel auszufüllen.
-
-Zwischen den quirlenden Dampfwolken reihte die Logik des Herrn von
-Grusdorf alle Indizien unerbittlich aneinander, um Klarheit über die
-fürchterliche Tatsache zu gewinnen, daß die evangelischen Schwärmer
-im Lande augenscheinlich zahlreicher waren, als die Regierung bei
-aller gewohnten Umsicht vermutet hatte. Auf eigene Rechnung war der
-_vulgo_ Hasenknopf doch sicher nicht ins Preußische gewandert. Da
-hatten viele zusammengesteuert. Eine ganze Rotte! Herr von Grusdorf
-überschlug die Kosten der weiten Reise, nahm hypothetisch einen
-erst noch auszuforschenden Begleiter an und brachte eine Ziffer von
-Unsichtbaren heraus, die ihn mit Beklemmungen erfüllte. Es mußten an
-die zehn, zwölf Dutzende sein. Er fing zu schwitzen an. Nicht nur aus
-Ursach des heißen Wassers, noch mehr aus quälender Regierungsangst.
-Nur für das Nötigste diktierte er um die fünfte Morgenstunde eine
-_ordre_ auf Haussuchung unter allen Dächern von Unterstein, eine
-_ordre_ auf Verhaftung des Jägers Leupolt wegen Verrates polizeilicher
-Amtsgeheimnisse, eine _ordre_ auf Dingfestmachung der beiden
-Hasenknopfischen Menscher und eine _ordre_ an alle Grenzwachen: weder
-Mensch noch Vieh aus der Landmark hinauszulassen, insbesonders aber auf
-das Erscheinen des aus dem Preußischen heimkehrenden Hasenknopf samt
-hypothetischem Begleiter ein wachsames Auge zu dirigieren. Nach diesem
-reichlichen Papierverbrauche konnte Herr von Grusdorf die sonderbar
-gestalteten Zehen aus dem heißen Wasser ziehen und des Glaubens
-sein, daß er von allen Berchtesgadnischen Regierungssäulen in dieser
-Hornungsnacht die härteste Geistesarbeit geliefert hatte. Er irrte sich.
-
-Eine noch viel grausamere Nacht erlebte Frau Apollonia in ihrer
-explosiven Fröstelsorge um den hochwürdigen Sohn, zu dem sie aufblickte
-wie zu einem Heiligen auf Erden. Zum Teil verdiente er das. Er hielt
-sich von französischen Anflügen ferne, war ein ruhelos im Dienste
-des Himmels wirkender Priester, ein Vierzigjähriger von tadelloser
-Sittenstrenge, hart gegen sich selbst wie gegen andere. Dazu in
-theologischen Dingen ein großer Gelehrter. Für seine Doktorschrift
-hatte er sich das Problem gestellt: »Wird eine Stück Erde mit einer
-Mauer umzogen und weiht man dieses Grundstück zu einem Gottesacker,
-wie weit dringt dann die Weihe durch Mörtel und Ziegelsteine in das
-Innere der Umfassungsmauer ein? Genau bis zur Mitte? Oder weiter nach
-außen?« Über diese schwierige Frage hatte er ein lateinisches Werk von
-763 Folioseiten mit unzählbaren Zitaten verfaßt und klar bewiesen, daß
-diese Frage mit Sicherheit nicht zu entscheiden wäre -- verläßlich
-ließe sich nur behaupten, daß die Innenseite des Gemäuers der Weihe
-teilhaftig würde, die Außenseite aber logischerweise *nicht*. Es gab
-nur wenige Menschen, die dieses bedeutende Werk studiert hatten. Aber
-man rühmte allgemein den Chorkaplan Jesunder als einen Theologen von
-fabelhafter Belesenheit. Noch herrlicher sah ihn die Mutter. Und nun
-widerfuhr ihm *das*! Undank der bösen, niederträchtigen Welt!
-
-Nicht nur Frau Apollonia, jeder im Lande wußte das: war eine Jungfrau
-entehrt oder eine Frau genötigt worden und gebar sie ein totes Kind,
-so ließ sie dem Menschen, der schlecht an ihr gehandelt hatte,
-den kleinen, klagenden Leichnam zu öffentlicher Verfemung auf die
-Haustürschwelle legen. Und das geschah ihrem schuldlosen Sohn! Welch
-ein Geschrei würde das geben! Und gar noch -- so was Sinnloses --
-wegen der Haynacherin, die er verabscheute als eine des Irrglaubens
-Verdächtige! Und die er am Weihnachtsabend mit pflichtschuldiger
-Strenge aus der Kirche gestoßen hatte, weil sie die unchristliche
-Hand nicht in den Weihbrunnkessel tauchte. Ach, was ist Gerechtigkeit
-auf Erden! Als Jesunder in der Nacht hatte sehen müssen, was man
-gottesfeindlich an seiner Haustürschwelle verübte, war er, die
-Zorntränen der beleidigten Schuldlosigkeit an den Wimpern, in seiner
-Stube so lange betend auf den Knien gelegen, bis man ihn hinüberholte
-zur nächtlichen Kapitelsitzung. Nun dämmerte der Morgen schon, und noch
-immer wollte der Sohn nicht heimkehren zu seiner verzweifelten Mutter,
-die in dieser mehrfach gestörten Sorgennacht den heißen Kamillenabsud
-reichlicher schlürfen mußte als eine genesende Wöchnerin.
-
-Das große gotische Rosettenfenster des Kapitelsaales glänzte wie ein
-entzündetes Riesenauge in das kalte Morgengrau. Und die Nachtsorgen
-des gedünsteten Kanzlers, die Seelenqualen der Frau Apollonia? Was
-waren sie gegen den geistigen Kampf, der hier, unter niedergebrannten
-Kerzen, noch immer kein befriedigendes Ende finden wollte, nach einer
-siebenstündigen, zu heißer Erbitterung emporgewachsenen Sitzung!
-Wahrhaftig, Herr von Grusdorf hatte sich als verblüffender Prophet
-erwiesen, da er auf der Schwelle des Haynacherlehens erschrocken
-den Ausbruch »theologischer Diffizilitäten von inkommensurablen
-Konsequenzen« vermutet hatte. Man stand vor einem Rätsel, dessen Lösung
-eine völlig undenkbare Sache war. Zwei Kinder, das eine getauft, das
-andere ungetauft. Das erstere besaß ein geheiligtes Recht auf geweihten
-Boden, das andere, als unentsühnter Sprößling einer Irrgläubigen, war
-dem Freimannsanger verfallen, auf dem Gnadenwege einem Grübchen in
-ungeweihter Erde. Und das eine Kindchen angewachsen an das andere,
-die Hölle ineinandergemengt mit dem Himmel, das Heidnische und
-Christliche unlösbar verschwistert, oder, wie es Herr von Grusdorf
-äußerst charakteristisch bezeichnet hatte: verknorpelt. Schrecklich!
-Wo war da ein Ausweg? Nicht einmal das Exempel des gordischen Knotens
-vermochte die Schwierigkeit zu lösen. War ein Schnitt denkbar, der vom
-Ungetauften nichts hinüberschnipfelte zum Getauften, vom Getauften kein
-Fäserchen hängen ließ am Ungetauften? Und konnte man dem christlichen
-Feldscheer zumuten, das Heidnische zu operieren? Durfte man es dem
-Freimann gestatten, sich an christlicher Schuldlosigkeit zu vergreifen?
-Chorkaplan Jesunder meinte: vielleicht ginge es mit einem Chirurgen,
-der wohl halb ein Christ, aber auch halb ein Nichtchrist wäre?
-
-Da redete Pfarrer Ludwig, der bislange schweigend auf seinem
-Kapitelstuhl ausgehalten hatte, das erste Wort und gleich ein sehr
-heftiges: »Denkt Ihr an den Simeon Lewitter? Wollt Ihr solches
-Metzgerwerk einem _medico_ zumuten, in dessen Händen die Obhut für
-das Lebenswohl unseres Fürsten liegt?« Bevor eine andere Stimme sich
-äußern konnte, entschied Herr Anton Cajetan, der jetzt das schwarze
-Hofkleid eines gefürsteten Priesters trug: »_C'est juste, révérend!_
-Das geht nicht. Meinetwegen könnt ihr den Wildmeistersknecht mit der
-Sache betrauen. Er ist geschickt im Zerwirken. Mein Leibarzt hat
-außer Spiel zu bleiben.« Dennoch sah auch der Fürstpropst ein, daß es
-klärend zu wirken vermöchte, wenn der Arzt als Zeuge des Vorganges im
-Haynacherlehen vernommen würde, um seine fachmännische Ansicht über
-die anatomischen Schwierigkeiten darzulegen. Simeon Lewitter wurde
-aus dem Bett geholt. Er hatte nicht das steinerne Lächeln wie sonst.
-In kurzen Worten schilderte er, mit welcher Geduld und Tapferkeit die
-fromme Haynacherin das grauenvolle Leiden dieser vier Tage und Nächte
-überstanden hätte.
-
-»Fromm?« wiederholte Jesunder. »Habt Ihr denn nicht gemerkt, daß
-dieses Weib eine Irrgläubige ist?«
-
-»Nein. Im Gegenteil. Sie erschien mir im Sterben als eine Christin von
-seltenen Herzenskräften.«
-
-»Für solche Unterscheidungen gebricht es Euch an der angeborenen
-Fähigkeit. Wie beurteilt Ihr die Sache als Medicus?«
-
-Die Verwachsung der beiden Kinder wäre ein Irrtum der Natur _ab
-ovo_ gewesen. Doch alle beide hätten leben können. Der vorzeitige
-Tod des einen Kindes wäre einer äußerlichen Ursache zuzuschreiben,
-einem Stoß, den die Haynacherin bekommen hätte, oder einer schweren
-Kränkung. »Der junge Bauer erzählte mir, daß es mit seiner Martle seit
-der Weihnacht nimmer richtig gewesen wäre.« In dem Schweigen, das
-dieser Bemerkung folgte -- ein Schweigen, bei dem sich viele Augen
-auf Jesunder hefteten -- sprach Lewitter nur noch wenige Worte. Sie
-hatten den Klang einer tiefen Menschlichkeit. Und plötzlich, nach
-allem spitzfindigen Debattengewoge, stand klagend und erschütternd das
-Erlöschen zweier armer Seelchen, der heilige Tod eines leidenden Weibes
-und das zerschlagene Lebensglück eines redlichen Menschen zwischen den
-stummgewordenen Herren.
-
-Jesunder sagte heiser: »Kommt zur Sache! Schließlich seid auch Ihr es
-gewesen, der uns in diese Schwierigkeit versetzte. Nun zeigt auch einen
-Weg, wie wir da herauskommen. Ihr haltet doch als geschickter Chirurgus
-eine Trennung der feindlichen Gebiete ohne Grenzverletzung für möglich?
-*Ja?*« Dieses letzte Wort war nachdrücklich betont. Verstand Lewitter
-nicht, daß man von seinem Ja eine Erleichterung der Sachlage erhoffte?
-Er schüttelte den Kopf, blieb als Arzt bei den Tatsachen, sprach
-von der Verwachsung der zarten Knöchelchen, von der Verwebung der
-Muskeln und machte so, um der wissenschaftlichen Wahrheit willen, die
-verzweiflungsvolle Streitfrage noch unlösbarer. Als man ihn ungnädig
-und nicht ohne warnenden Hinweis auf die Bedenklichkeit seiner Lage
-entlassen hatte, ging der Wirbeltanz der widersprechenden Meinungen in
-gesteigertem Grade los. Herr Anton Cajetan, der schon mehrmals hinter
-der schlanken Hand gegähnt hatte, übertrug dem Kapitular Graf Saur den
-Vorsitz und sagte: »Von dem Beschlusse, den die Herren fassen, bitte
-ich mich am Morgen zu verständigen.« Nach der Entfernung des Fürsten
-gestaltete sich der Sitzungsverlauf noch aufgeregter. Man hatte sich
-früher wenigstens im Ton gemäßigt. Jetzt wurden die Köpfe heiß, die
-Kehlen rauh.
-
-Schweigend sah Pfarrer Ludwig in den wirren, wachsenden Lärm hinein.
-Was er da erlebte? Wie war das menschenmöglich? Und wer trug die Schuld
-daran? Keiner von diesen erhitzten Schreiern! Sie alle, mit kleinen
-Einschränkungen, waren ehrenhafte, wohlmeinende Männer. Da glaubte
-jeder seine Pflicht zu erfüllen, den Gesetzen der Kirche und dem
-Himmel zu dienen. Was will der Himmel? Was die Kirche? Nur immer das
-Veraltete und Überlebte? Wenn das die Kirche zu wollen scheint? Kann
-auch der Himmel das wollen? Der Schöpfer eines ewig sich erneuernden
-Frühlings? Der Vernichter des Morschgewordenen, der rastlose Erwecker
-neuer Blüte? Bei diesem Gedanken mußte Pfarrer Ludwig umherblicken in
-dem alten gotischen Kapitelsaal. Der ganze Bau des Stiftes, draußen
-der Markt, alle Gassen und Häuser, die Dörfer im Tal, alle Bilder
-des Lebens, sogar die Formen der steinernen Berge hatten im Laufe der
-Jahrhunderte sich geändert, sich gewandelt zum Neuen und Besseren. Nur
-dieser alte Saal der Entschlüsse -- ein Gleichnis der Dinge, die in ihm
-geschahen -- war seit länger als einem halben Jahrtausend immer der
-gleiche geblieben. Und da wunderten sich die Lakaien des Alten in ihren
-verblichenen Tressen, daß zwischen den Rippen der Sehnsuchtsvollen
-immer ein Neues wuchs und sein Recht begehrte! Freilich, der Wert alles
-Neuen ist schwer zu erkennen. Aber ist es nicht schon das Bessere, nur
-*weil* es das Jugendliche ist, das Kräfteschenkende, das Strebende? Wie
-sagte einer zu Amsterdam, den sie verfluchten? »Sei ein Suchender, und
-du näherst dich mit jedem Schritte der ewigen Wahrheit!«
-
-Die freudige Zustimmung, die ein Vorschlag des Grafen Saur gefunden
-hatte, weckte den Pfarrer Ludwig aus den Gedanken, in die er versunken
-war. Der Vorschlag hatte was Bestechendes. Man sollte unterhalb der
-Umwallungssteine des Friedhofes ein Grab ausheben, senkrecht unter der
-Mauermitte, mit der einen Hälfte hinausreichend in die ungeweihte Erde,
-mit der anderen Hälfte hereingreifend in den geweihten Boden. In diesem
-heidnischchristlichen Grabe sollte man das schwarzweiße Doppeltödchen
-bestatten, die schwarze Erbsünde nach außen, das weiße Heil nach innen.
-Dann sollte man, scharf an der Grenze des Weißen und Schwarzen, aus
-Gipsguß eine Scheidewand verfertigen und draußen die ungeweihte Erde
-einfüllen, innen die geweihte.
-
-Alle Herren klatschten dem Grafen Saur den verdienten Beifall zu. Nur
-Jesunder machte eine wehrende Handbewegung. Der Vorschlag berührte
-sein Doktorwerk über die Penetrabilität einer Mauer für die Weihe. Da
-*mußte* er sich äußern. »Meine hochedlen Herren! Ein scharfsinniger
-Fürschlag! Gewiß! Aber Diffizilitäten seh ich auch hier. Es soll
-vorerst noch unentschieden bleiben, ob die gipserne Scheidewand
-genau unter der *Mitte* der Mauer anzubringen wäre. Ich verweise
-auf meine Dissertation. Aber kann denn unter der dicken Mauer ein
-Grab mit solcher Genauigkeit ausgehoben werden, daß die geweihten
-und ungeweihten Schollen nicht durcheinander kollern? Und wenn man
-dagegen ein Mittel fände? Wird da nicht späterhin das unterirdische
-Larvengewimmel eine Grenzüberschreitung begehen, die verhindert werden
-*muß*? Unter allen Umständen! Aber wie?« Die Debatte war von neuem
-entfesselt. Man kämpfte, bis die Morgenglocken läuteten. Und nicht
-die Klärung der Ansichten löste den leidenschaftlichen Streit, nur
-die Ermüdung, nur der begreifliche Wunsch nach dem dringend nötigen
-Frühstück. Ehe man die Sitzung ergebnislos vertagte, versuchte man es
-noch mit einer Abstimmung. Es schien nun doch zur Lösung des Dilemmas
-nichts anderes übrig zu bleiben, als die unvereinbaren Gegensätze
-des Schwarzen und Weißen durch einen operativen Eingriff voneinander
-zu scheiden. Graf Saur, der als erster seine Stimme abzugeben hatte,
-zuckte die Achseln: »Ich bin ratlos, _parfaitement_!« Sein Beispiel
-beeinflußte die anderen, keiner wagte Nein oder Ja zu sagen. Pfarrer
-Ludwig, als er zur Abstimmung aufgerufen wurde, ließ zwischen den
-Wangenfalten die große Warze tanzen. »Auseinanderschneiden? Was
-Besseres findet ihr nit? Also gut! Schneidet!«
-
-»Doch wenn vom Getauften was hängen bleibt am Ungetauften. Da wird sich
-der Himmel kränken.«
-
-»Soweit ich den Himmel kenne, ist das nit wahrscheinlich. Doch wenn
-ihr's vermutet, muß es vermieden werden.«
-
-»Wenn aber vom Ungetauften was hinüberschleicht ins Geweihte? Da wird
-sich in Bosheit die Hölle freuen!«
-
-»Gotts Not und Leiden!« Pfarrer Ludwig verlor die Geduld. »*Soll*
-sich die Höll halt freuen! Vergönnt ihr doch in so schauderhaften
-Zeitläuften ein bißl Vergnügen! Amen. Ich leg mich ins Bett.« Ohne des
-empörten Lärms zu achten, der sich hinter ihm erhob, verließ er den
-Kapitelsaal.
-
-Drei Viertelstunden später vertagte man die ergebnislose Sitzung bis
-zum Abend.
-
-In der grauen, kalten Armeseelenkammer lag auf der langen Totenbank
-ein kleines, weißes Bündel mit noch unentschiedenem Schicksal -- ruhte
-hinter vergittertem Fenster und versperrter Türe, deren Schlüssel beim
-Chorkaplan Jesunder in Verwahrung blieb.
-
-Und im Tal der Ache, die durch den erwachenden Morgen rauschte, saß ein
-Gebrochener neben der Wiege seines schlafenden Bübchens und schnitzte
-an einem hölzernen Kreuz, das er auf den geweihten Grabhügel der Martle
-stecken wollte, noch ehe die Sonne käme.
-
-Eine Nachbarin erbot sich, für den Christl die Morgensuppe zu kochen.
-Er nickte dankbar, ohne ein Wort zu finden. Als auf dem Herd das Feuer
-prasselte, setzte er sich in die Wärme, und während seine zitternden
-Hände an dem kleinen Kreuze schnitzelten, erzählte er mit leiser,
-wunderlich versunkener Stimme, wie fromm und gottergeben seine Martle
-gestorben wäre. Eine Weile sah er schweigend in die Flamme. Nun hob er
-das entstellte Gesicht. »Nachbarin?«
-
-»Was, guter Christl?«
-
-»So heilig sterben können, das ist nit irrgläubig.« Er tat einen
-schweren Atemzug. »Gott verzeih mir die Sünd: ich tu drauf schwören,
-daß meine Martle droben ist in der Seligkeit.« Seine Augen hingen am
-flackernden Feuer. »Schier mein' ich, es kommt auf Kittel und Farb
-nit an, bloß allweil aufs Ehrliche in der Seel und auf den redlichen
-Menschenweg.« Die Nachbarin, die eine Gutgläubige war, blieb stumm.
-Barmherzig war sie gerne, aber auf solche Reden wollte sie sich nicht
-einlassen. Da faßte Christl die Frau am Arm. »Du? Hast du nit gehört,
-was sie da droben machen im Herrenstift?«
-
-Was er meinte, verstand sie gleich. Mit dem Kochlöffel in der Pfanne
-rührend, schüttelte sie den Kopf.
-
-Er stellte das vollendete Kreuz in den Herdwinkel, legte das Messer
-fort und nahm die Stirn zwischen die Hände. »Jesus, Jesus, jetzt muß
-ich mein Herz auseinanderreißen in vier Viertelen! Eins für mein
-Bübl in der Wieg, eins für die Martle auf dem Gerstenacker. Und
-zwei Viertelen -- ich weiß nit, wohin ich die schmeißen muß!« Mit
-den Bewegungen eines schwer Betrunkenen taumelte er hinaus in den
-erwachenden Tag.
-
-
-
-
-Kapitel XI
-
-
-Die Dinge der vergangenen Nacht bekamen laufende Füße. Ehe der Morgen
-hell wurde, erörterte man schon in allen Stuben von Berchtesgaden
-die ungeheuerliche Sache. Für die Unsichtbaren war's eine bange
-Beklommenheit, für die Treugebliebenen gab das schwarzweiße
-Himmelszeichen Anlaß zu abergläubischem Schreck oder zu zorniger
-Erbitterung gegen die evangelische, will sagen preußische Gefahr, auf
-die der Herrgott mit strafendem Finger hingewiesen hatte.
-
-Es war an diesem Morgen der Kirchweg reichlicher bevölkert als sonst.
-Zwischen den aufgeregten Leutgruppen wanderten zwei Menschenkinder,
-die sich nirgends verhielten und mit niemand sprachen -- Luisa und
-Sus. Dem Sorgenblick der Magd war es anzumerken, daß sie von der
-schwarzweißen Gotteswarnung schon Kenntnis hatte. Sie schwieg nur, weil
-der Meister ihr geboten: »Red nit drüber mit dem Kind!« Um der Sache
-selbst willen machte sie sich keine schweren Gedanken. Eine Verirrung
-der Natur und das Unglück eines braven Menschen. Was anderes war es
-nicht für die grade, verständige Sus. Aber ruhelose Sorge wühlte in
-ihr, weil des Meisters Freund in die Sache verwickelt war, und weil
-sie früh im Morgengrau den Muckenfüßl mit vier Gottessoldaten hatte
-hinausmarschieren sehen zum Mälzmeisterhaus. Unbeschwichtigt zitterte
-in ihr auch noch der Kummer über das zerstörte Bildwerk, das nach
-ihrer Meinung seit Erschaffung des Paradieses das Schönste von allem
-Schönen gewesen war.
-
-Blaß und schweigend, mit gesenkten Augen, ging Luisa neben der blonden
-Magd. Aus den Glockenfalten des grünen Mantels lugte wie immer der
-Rosenkranz hervor, dessen Zittern nicht nur herrührte von der Bewegung
-des Schreitens. An Luisas schmerzhaft zusammengezogenen Brauen war es
-zu sehen, daß peinvolle Gedanken in ihr kämpften. Erst beim Eintritt in
-die Kirche, aus deren Dämmerung die brennenden Wachskerzen wie schöne
-Geheimnisse herausflimmerten, löste sich die irrende Qual in ihrem
-Gesicht. Sie war bei Gott, und bei Gott ist Wahrheit. Gerechtigkeit
-geht von ihm aus, um alle Menschentorheit gütig zu vergeben, alle
-leidenden Seelen zu erfüllen mit reiner Kraft. Unbeweglich kniete
-sie in ihrem Kirchstuhl und hielt unter inbrünstigem Gebet die Stirn
-auf ihre verklammerten Hände gepreßt. Als die Schellen zur Wandlung
-klingelten, hob sie das ruhiggewordene Gesicht. Der Glanz eines
-neugestärkten Glaubens leuchtete wieder in den klaren Mädchenaugen.
-Während Luisa sich bekreuzte, sprach ihre Seele: »Gott weiß, was in den
-Menschen ist, allweil kennt er die Seinen; auch gegen die anderen, die
-wider ihn trutzen, bleibt er gerecht und wird durch einen irdischen
-Richter nit bestrafen lassen, was guter und redlicher Wille war.« Diese
-Zuversicht blieb in ihr, als sie neben der blonden Magd die Kirche
-verließ. Mit einer seltsamen Freudigkeit sagte sie: »Geh heim, gute
-Sus! Daß der liebe Vater auf sein Frühmahl nit warten muß. Ich hab
-einen Weg, den ich nit verschieben darf.« Von dem, was Luisa sagte,
-schien Sus nur die drei Worte >der liebe Vater< gehört zu haben. Eine
-Blutwelle schoß ihr in die Wangen, und sie rannte, um so flink wie
-möglich dem Meister zuschreien zu können: »Heut hat sie gesagt: der
-*liebe* Vater. Meister, es wird heller in deinem Haus!«
-
-Unter dem Strom der Leute ging Luisa hinüber zur Wohnung des
-Chorkaplans. Als sie die Glocke ziehen wollte, kam Mutter Jesunder aus
-der Sakristei. Die alte Frau war so dick in warme Dinge gewickelt,
-daß man glauben konnte, ihre Magerkeit hätte während dieser
-aufregungsvollen Nacht das Sorgenfett in kugeliger Fülle angesetzt.
-Auch roch sie auffällig nach Kamillen. Bei Luisas Anblick versuchte
-sie einen zärtlichen Augenaufschlag. »Ei guck, da ist ja unser frommes
-Kindl schon wieder --«
-
-»Mutter Jesunder?« Das klang so ernst, daß die nachtschwache Frau
-sofort ein heftiges Mißtrauen empfand. Streng betrachtete Luisa
-das jähverwandelte Runzelgesicht. »Was ich in meiner Herzensnot
-dem hochwürdigen Herrn hab anvertrauen müssen? Ist es wahr, Mutter
-Jesunder, daß du das in deinem Marktkörbl zum Pfleger getragen hast?«
-
-»Aber Kindl,« begann die Frau zu klagen, »wie kannst du nur so was
-denken von mir --«
-
-Schweigend wandte Luisa sich ab. Die Verlegenheitsglut, die der alten
-Frau mit Pfingstrosenfarbe ins Gesicht gefahren war, hatte deutlich
-gesprochen. Unter erschrockenem Wortgesprudel rannte die Jesunderin
-dem Mädchen nach und beschwor ihre Schuldlosigkeit. Luisa ging
-davon, ohne das Gesicht zu drehen. Da erkannte Frau Apollonia die
-Zwecklosigkeit ihrer Zungenmühe, schickte dem Mädchen einen Wutblick
-nach und murrte: »So eine unverschämte Gans! Die will ich ankreiden bei
-unserem Herrgott!« Diese Drohung war so ernsthaft gemeint, wie Frau
-Jesunder überzeugt war, daß Gott Vater das Menschengeschlecht nach
-ihren Ratschlägen regiere. Das schloß aber die betrübliche Wahrheit
-nicht aus, daß Frau Apollonia in dem nassen Schneequatsch kalte Füße
-bekam, einen Rückfall ihres nächtlichen Leidens befürchtete und mit
-Beschleunigung ihrer Haustür zustreben mußte. So wurde sie an der
-Beobachtung der sonderbaren Tatsache verhindert, daß Luisa die Richtung
-nach dem Hause eines zwar nicht vor Gottes Allwissenheit, aber doch vor
-dem Scharfblick der Frau Apollonia höchst verdächtigen Mannes einschlug.
-
-Pfarrer Ludwig, als er das zaghafte Pochen an seiner Stubentür vernahm,
-ließ die große Warze in ein vergnügtes Schmunzeln hinübergleiten. »Nur
-allweil herein!« Beim Anblick seines Gastes zeigte er den Ausdruck
-einer erstaunten Menschenseele. »Liebes Kind? Was suchst du bei *mir*?«
-
-Die Art, wie der Pfarrer das letzte Wörtchen betonte, erzwang von Luisa
-die zornige Antwort: »Zum Jesunder geh ich nimmer.«
-
-»Oh! Ooh! Oooh!« Mißbilligend schüttelte Herr Ludwig den weißen Kopf.
-Ein Diplomat schien er nicht zu sein. Statt Luisa zu beruhigen, wie
-es doch vermutlich seine Absicht war, blies er durch sein Verhalten
-kräftig in das Feuer ihrer Erregung.
-
-»Zum Jesunder geh ich nimmer!« wiederholte sie unerbittlich. »Ich tu's
-nit, und müßt ich auch verzichten auf jede Seelentröstung.«
-
-»Kind! Was hast du gegen den Jesunder?«
-
-»Hochwürden?« Sie sah erschrocken zu ihm auf. »Wisset Ihr nimmer, was
-Ihr in meiner Kammer geredet habt zu mir?«
-
-Da sagte er mit ernstem Vorwurf: »Was ich an junger Narretei hab sehen
-müssen in deiner Kammer und was wir geredet haben, das war gebeichtet.
-Nit? Und da liegt für mich ein Schleier des Vergessens drauf, den keine
-Menschenhand nimmer hebt. Genau so heilig wie der Beichtstuhl ist
-jedes menschliche Vertrauen. Eh' man da einem redlichen Priester ein
-Wörtl entreißen könnt, da tät er sich lieber die Knochen aus dem Leib
-herausbrechen lassen. Du tust dem Jesunder unrecht! Daß seine Mutter
-nit so schwerhörig ist, wie meine Schwester, dafür kann der Jesunder
-nichts. Oder -- -- Kind? Du wirst doch nit glauben, daß *ich* was
-ausgeredet hätt? Vor deinem Vater?« Ohne das heftige Kopfschütteln des
-Mädchens zu bemerken, sprach der Pfarrer in Erregung weiter: »Nein,
-liebes Kind! Dein Vater ist der wahrhafteste von allen Mannsleuten. Da
-müßt er im Leben zum erstenmal ein unwahres Wörtl geredet haben! Nein,
-nein, nein! Das kann ich nit glauben von einem so redlichen Menschen!«
-
-Sie hatte in Hast das Gebetbuch und den Rosenkranz auf den Tisch
-gelegt. »So ist das nit. Daß der Vater von meiner so sündhaften wie
-törigen Narretei kein Fäserlein erfahren hat, das hab ich gut gemerkt.
-Der Vater --« Sie stockte. Und ihre Wangen fingen zu brennen an. »Der
-Vater glaubt was anderes von mir.«
-
-»Was anderes?« fragte der Hochwürdige überrascht.
-
-»Der Vater glaubt, ich hätt so einen hilflosen Wirbel im Köpfl, weil
-ich --«
-
-»Weil du?« half Herr Ludwig nach.
-
-»Weil ich dem Leupolt gutgeworden wär.« Sie fügte stammelnd hinzu: »Aus
-Sorg und Barmherzigkeit, meint der Vater.«
-
-»Um Gotteswillen!« Der Pfarrer schlug die langen Hände zusammen. »Wie
-kann denn so ein gescheites Mannsbild so was Unmögliches denken!« Nach
-diesen Worten blieb es in der weißen Stube still, und Herr Ludwig
-guckte verwundert drein, ganz ehrlich verwundert. Er schien eine
-Antwort erwartet zu haben. Sie kam nicht. Den Kopf mit dem spanischen
-Federhütl in den Nacken gepreßt, stand Luisa unbeweglich und sah durch
-das Fenster hinauf zu einem blauen Himmelsfleck. Diesen Moment der
-Ablenkung benützte Pfarrer Ludwig zu einigem Nachdenken. Dann nickte
-er: »Das ist merkwürdig --«
-
-Rasch wandte Luisa die Augen. »Was, Hochwürden?«
-
-»Daß einem das unsinnigste Ding um so glaubhafter fürkommt, je länger
-man drüber studiert. Es könnt wohl sein, Kindl, daß dein gescheiter
-Vater recht hat. Einem sonst so redlichen Buben gut werden? Ja, ja!
-Aber -- *nur* aus Barmherzigkeit? Das begreif ich nit. Allweil bin ich
-des Glaubens gewesen: man liebt aus Herz und Seel, aus Blut und Jugend.
-Freilich, was versteh ich altes Pfarrle von solchen Sachen! Ich weiß
-nur, du hast zu barmherziger Sorg um den armen Buben einen Grund. Und
-weil du deine heilige Barmherzigkeit nit vereinen kannst mit deiner
-Treu im Glauben? Und dem Buben doch gutsein *mußt*? Deswegen bist du
-zu mir gekommen? Um Hilf und Rat?«
-
-Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Hochwürden!« In ihrer Stimme war wieder
-die alte Strenge. »Zwischen mir und dem anderen ist kein Weg. Da darf
-ich mir einen Rat nit geben lassen.«
-
-»Gut also! Soll der Bub in sein Elend rennen. Dein unverdächtiger
-Vater darf sich nur warnen lassen von einem Gutgläubigen. Tut's ein
-anderer, der muß ins Eisen, darf Sonn und Mond nimmer schauen. So ist
-es christlich. Aber gekommen *bist* du doch zu mir? Da muß ich fragen:
-warum?«
-
-»Schier weiß ich es selber nit.« Luisas Gesicht, aus dem jede Spur
-von Farbe verschwunden war, bekam den Ausdruck einer qualvollen
-Verzweiflung. »Es hat mich halt hergetrieben in meiner Not. Mir ist so
-weh ums Herz, ich weiß nit, wie. Alles verdreht sich in mir.«
-
-»Sooo? *Des*wegen willst du einen Trost von mir? Für dich allein?«
-
-Sie stand wie betäubt. Dann nickte sie müde.
-
-»Kind! Bevor ich dich trösten kann, muß ich wissen, ob du Vertrauen
-hast zu mir? Es ist mir so fürgekommen, daß du nit nur ein
-unbegründetes Mißtrauen gegen deinen redlichen Vater hast, sondern daß
-deine frommgläubige Seel auch mich für einen Verdächtigen nimmt?«
-
-Sie senkte das erglühende Gesicht.
-
-»Kindl? Ist das so oder nit?« Da nickte sie ehrlich und war in diesem
-schamvollen Bekennen so hold und liebenswert, daß der alte Pfarrer die
-Arme streckte, als möchte er das brennende Mädchengesicht zwischen
-seine Hände nehmen und zärtlich diese flehenden Augen küssen. Doch er
-wurde ernst und fragte: »Kind? Wer ist nach deinem Glauben unter allen,
-die gelebt und gelitten haben, der Wahrhafteste und der Gerechteste
-gewesen?«
-
-Sie lispelte: »Unser heiliger Herr Jesus Christ.«
-
-»Da denkst du, wie ich.« Er legte den Arm um Luisas Schulter. »Komm!
-Und schau ihn an! Da hängt er an der Mauer, so schön, wie ihn dein
-gläubiger Vater herausgeschnitten hat aus dem Holz! Das ist länger her,
-als du lebst. Ja, Kindl, damals hat dein Vater die geschickte Hand noch
-gehabt, die ihm ein ungerechtes Urteil hat wegschlagen lassen. Warum?
-Weil dein Vater barmherzig gewesen ist. Weil er in seiner Güt nit
-unterschieden hat zwischen römisch und evangelisch, zwischen weiß und
-schwarz. Und weil er denken hat müssen: Mensch ist Mensch, und wo einer
-leidet, da muß man helfen.« Während der Pfarrer langsam diese Worte
-sprach, betrachtete er Luisas Gesicht mit forschender Aufmerksamkeit.
-Und plötzlich fragte er verwundert: »Kind? Was tut dich erschrecken?«
-
-Luisas erweiterte Augen waren in Pein und Hilflosigkeit auf das
-Kreuzbild gerichtet. Gleich einer frommen Opfergabe hingen da zwei
-weiße, zerschnittene Tüchelchen an dem eisernen Nagel, von dem die
-blutenden Füße des Erlösers durchbohrt waren.
-
-Pfarrer Ludwig schien von einem heißen Verlegenheitskummer befallen zu
-werden. »Ach, Gott, ich bin aber doch ein grausamer Esel!« Er sprang
-auf das Kreuzbild zu, packte die zwei Tüchelchen, stopfte sie in die
-Hosentasche und sagte betrübt: »So wenig hab ich mir denken können,
-daß *du* zu *mir* kommst! Sonst hätt ich doch nit die zwei weißen
-Fähnlein deiner Torheit aufgesteckt, wo du sie sehen hast müssen auf
-den ersten Blick. Das ist mir leid.«
-
-Stumm, unter Tränen, schüttelte Luisa den Kopf.
-
-»Aber ich seh doch, es hat dir weh getan, daß die Tüchlen dich erinnert
-haben an deine gottferne Narretei. Wie ich heimgekommen bin aus deiner
-Kammer, hab ich sie da hergehangen und hab zum Allgütigen gesagt:
-Gelt, tu dem jungen Kindl nit verdenken, was ausgesehen hat wie ein
-Kinderspott auf dein heiliges Leiden, sie hat es nit so gemeint, ihre
-Seel ist fromm.«
-
-»Nit, Hochwürden,« unterbrach sie ihn leise, »ganz verdreht bin ich
-gewesen. Und die zwei Tüchlen sehen müssen, das ist mir gewesen jetzt
-wie eine verdiente Straf.«
-
-»Jetzt sind sie doch nimmer da. Und wo sie gewesen sind -- schau, Kind,
-da leg ich, um dein Vertrauen zu verdienen, meine Hand jetzt hin und
-sag: Ich bin im Glauben geblieben, der ich allweil gewesen bin. Wie ich
-gelebt hab, so will ich sterben: als Christ und getreuer Mensch. Ich
-glaub an Gottes Güt und Gerechtigkeit, glaub an sein ewiges Walten.
-Ich glaub an den Himmel und glaub an das Recht der Menschen auf Gottes
-Gnad, glaub an die Pflicht der Menschen zu redlichem Leben und zu
-hilfreicher Barmherzigkeit gegen Freund und Feind. Ob einer getreu ist
-oder da drüben steht, ich weiß nit, wo -- ein leidender Mensch, da
-muß man helfen. Ja, lieb Kind, das hab ich gelernt von deinem Vater.«
-Nach diesen ernsten Worten fragte der Pfarrer lächelnd: »Ist das ein
-Christentum, das dir verdächtig erscheint?«
-
-Sie schüttelte den Kopf. Dann streckte sie die zitternde Hand und bat:
-»Hochwürdiger Herr! Tu mir verzeihen in christlicher Güt!«
-
-»Verzeihen?« Er streichelte ihr schönes Haar. »Dir bin ich doch nie
-nit harb gewesen. Allweil hab ich verstanden, wie wertvoll deine liebe
-Jugend ist. Und komm, jetzt setzen wir uns zum Fenster hin!« Er führte
-sie in die helle Mauernische und stellte für sie einen Stuhl ganz nah
-an die Scheiben. Da konnte sie alles gewahren, was da drunten geschah,
-in dem von weißen Schneeresten übersprenkelten Hof, der zwischen der
-Kirche und dem Gerichtsgebäude lag. Aber Luisa wandte keinen Blick
-zum Fenster; in dürstendem Erwarten sah sie zum erregten Gesicht des
-Pfarrers auf, der schwarz an der weißen Mauer stand und in den Hof
-hinunterspähte, als müßte da drunten was geschehen, was er mit Ungeduld
-erwartete. »Schau, Kindl, eh wir reden können von dem Trost, den du
-suchst für dich allein, müssen wir ein bißl reden von einem anderen.«
-Er sah das jähe Erglühen ihres Gesichtes und lächelte. »Von deinem
-Vater.« Sie atmete erleichtert auf. »Wie kommt es, Kindl, daß du so
-mißträulich gegen deinen Vater bist?«
-
-»Man hat mir viel von ihm gesagt, worüber ich hab erschrecken müssen.«
-
-»Sooo? Freilich, die Graden reden grad, die Krummen krumm. Einmal, am
-Königssee, der ein Stündl von Berchtesgaden liegt, hat ein kleines Bübl
-mich gefragt: >Was ist das für ein buckliges Häufl da draußen?< Weißt
-du, was das Bübl gemeint hat? Den großmächtigen Untersberg. So sehen
-deinen Vater die Leut, die sein mannhaftes Herz nie gesehen haben in
-der Näh!«
-
-»Oft redet der Vater, wie man als Christ nit reden sollt.«
-
-»Sooo? Da hab ich nie was gehört davon.«
-
-»So hab ich ihn reden hören mit dem Lewitter.« Scheu fügte sie hinzu:
-»Und oft mit Euch.«
-
-Der Pfarrer lachte, als hätte dieses Wort ihn freundlich erheitert.
-»Mit mir? Und deswegen bin ich verdächtig worden für dich? Aber schau,
-ich versteh noch allweil nit. Was reden wir?«
-
-»Lewitter und mein Vater nehmen Gottes Wort nit, wie es verkündet
-steht. Sie machen was anderes draus, sie deuten es um.«
-
-»Tust du denn das nit auch?«
-
-Erschrocken stammelte sie: »Um aller Seligkeit willen, das tu ich nit.
-Das wär eine arge Sünd. Was Gott geredet hat, steht geschrieben. Das
-muß man glauben, wie Gott es gesagt hat.«
-
-Wortlos betrachtete der Pfarrer eine Weile ihr heißes Gesicht. Dann
-sagte er leis: »Wie seltsam!« Wieder warf er einen raschen Blick durch
-das Fenster.
-
-»Hochwürden? Was ist seltsam?«
-
-»Daß die anderen, die man die Unsichtbaren schimpft, genau so predigen
-wie du. Die legen die Hand auf das heilige Buch und sagen: >Was Gott
-geredet hat, steht geschrieben, das muß man glauben, wie Gott es
-gesagt hat.< Ja, Kind! Und *du* bist doch nit irrgläubig?« Der Pfarrer
-schmunzelte. »Da mußt du mir jetzt erzählen, was im Paradies geschehen
-ist, beim Apfelbaum, bevor Frau Eva, die Mutter von uns allen, sich
-versündigt hat zum erstenmal.«
-
-»Sie wär gehorsam geblieben, wenn nit vom Baum herunter der höllische
-Verführer zu ihr geredet hätt.«
-
-»Wer?« fragte Pfarrer Ludwig.
-
-»Der höllische Verführer.«
-
-»Ooooh?« Der Pfarrer griff zu seinem Schreibtisch hinüber, nahm ein
-kleines dickes Buch, schlug es auf, spähte durch das Fenster, las mit
-lauter Stimme den lateinischen Text des Sündenfalles und schüttelte den
-Kopf. »Kind, auf mein Latein versteh ich mich. Da find ich kein Wörtl
-vom höllischen Verführer. Da steht: die *Schlange*.«
-
-»Das ist er ja doch gewesen!«
-
-»Wer?«
-
-»Der höllische Feind!«
-
-»In Gottes Wort, da heißt es: die *Schlange*! Aber schau, lieb Kind,
-ich denk wie du. Wir zwei, wir wissen, daß Schlangen nit reden können.
-Drum deuten wir das Gleichnis der Falschheit um, machen was anderes
-draus, was wir verstehen, und sagen: der höllische Feind und Verführer.
-Aber was wir selber tun, mein Kind, das dürfen wir doch den anderen nit
-zum Fürwurf machen?« Plötzlich, wie von Kummer befallen, sah Pfarrer
-Ludwig durch das Fenster hinaus und flüsterte: »Ach, Gott! Der gute,
-schuldlose Bub!«
-
-Erblassend, von einem Taumel der Verstörung befallen, sprang Luisa zum
-Fenster hin. Der Pfarrer streckte erschrocken die Arme: »Vom Fenster
-weg! Das sollst du nit sehen! Das tät dich schmerzen.«
-
-Sie klammerte die Hände um den Fensterriegel, preßte die Stirn an das
-geriefelte Glas und atmete schwer. Was da drunten geschah, war deutlich
-zu erkennen, obwohl es verkrümmt wurde durch die Rippen des Glases:
-zwischen einem lärmenden Leuthaufen führten zwei Fronknechte den Jäger
-Leupolt Raurisser vom Gerichtsgebäude zum Gefängnis hinüber. Er trug
-die gekreuzten Fäuste hinter dem Rücken. Nun verschwand der lärmende
-Schwarm, und der Hof da drunten war wieder leer.
-
-Luisa wandte sich langsam vom Fenster ab und tastete gegen den Pfarrer
-hin. »Das darf man doch nit geschehen lassen! Das tät ein Unrecht sein!«
-
-»Unrecht!« klagte der Pfarrer und schritt mit seinen langen Beinen
-aufgeregt durch die Stube. »Unrecht! Freilich ein Unrecht! So deutest
-du es aus mit deinem guten Herzen. Aber da ist der Muckenfüßl! So ein
-Rindvieh und Kummer Gottes! Und der Landrichter mit der Sauermilch im
-Gehirn. Der macht aus einer redlichen Sach das Gegenteil und wirft den
-schuldlosen Buben in Schand und Eisen. Und sagt: dem muß man den jungen
-und schmucken Leib zermartern! Den muß man zerbrechen an Herz und Seel!
-Bloß weil er als Mensch barmherzig gewesen ist und nit leiden hat
-mögen, daß man ein Unrecht verübt an deinem schuldlosen Vater. Tu mich
-nit falsch verstehen, Kind! Mich erbarmt der Leupolt nit.« Er sah den
-Zorn auf ihrer Stirn und beteuerte: »Was geht mich der Leupolt an? Der
-steht da drüben. Ich denk wie du, lieb Kind! Aber Unrecht ist allweil
-ein Ding, das den Gütigen am Kreuz da droben traurig macht.«
-
-Der zarte Körper des Mädchens schien zu wachsen und ihre Stimme bekam
-einen schrillen Klang. »Man darf so ein Unrecht nit geschehen lassen.
-Da muß man helfen!«
-
-»Helfen? Wer denn? Du vielleicht? Geh, sei verständig, Kind! Du willst
-doch nit gar hinüberlaufen zum Richter? Du? Ein verzagtes und mutloses
-Mädel? Das tät ich verhindern müssen. Und schau, was tätst du dem
-Richter sagen? Ich wüßt nit, was.«
-
-Jetzt wurde ihre Stimme ruhig und rein. »Ich tät ihm sagen, was wahr
-ist! Daß der Leupolt den Vater nit gewarnt hat aus Ungehorsam wider die
-Obrigkeit.«
-
-»So? Nit? Und warum denn sonst?«
-
-»Er hat's getan --«
-
-»So sag's doch! Sag's!«
-
-»Bloß weil er mich lieb hat.«
-
-»Aber Kind, tu töriges! Wahr ist's freilich, tausendmal wahr! Der hat
-dich lieber als Vater und Mutter, lieber als Augen und Leben. Aber
-daß er da drüben steht bei den Verdächtigen? Das darf man doch nit
-vergessen.«
-
-Mit erregter Strenge sagte sie: »Ein Mensch ist allweil ein Mensch.«
-
-»Freilich, freilich, aber ich weiß doch, wie so ein dummes Mädel ist!
-Da könnt der beste von allen Buben um ihretwegen versterben müssen --
-von Liebhaben und süßer Vertraulichkeit, vom Heimgart, zu dem er hätt
-kommen mögen, von Spinnrädl und Haustür, von so was redet doch ein
-Mädel nit vor dem Richter. Auch nit das redlichste und tapferste. Da
-muß man rot werden, verlegen und geschämig sein! Da muß man --«
-
-»Hochwürden!« In Luisas Augen war ein Glanz, wie in den Stunden, in
-denen sie betete. »Da kennt Ihr die redlichen Mädlen schlecht.« Sie
-nahm ihr Buch und den Rosenkranz. Bei der Türe wandte sie das Gesicht.
-»Den Trost, um den ich gekommen bin für mich allein, den hol ich ein
-andermal. Jetzt muß ich zum Richter.« Ruhig wehrte sie mit der Hand,
-weil der Pfarrer eine Bewegung machte, als möchte er sie festhalten.
-»Das muß ich tun. Gelobt sei Jesus Christus und die heilige Mutter
-Marie!«
-
-»In Ewigkeit Amen!« antwortete Pfarrer Ludwig mit einer Stimme voll
-inniger Zärtlichkeit. Er sah die Tür an, lachte vor sich hin und kam
-überraschenderweise zu einem ähnlichen Urteil, wie es Frau Apollonia
-Jesunder über Luisa abgesprochen hatte. Nur der Klang war ein anderer.
-»Du liebes Gänsl! Lauf nur! Und lauf durch Schmerzen hinein in dein
-junges Glück!«
-
-Aus der anderen Tür der Stube schob Schwester Franziska den Kopf
-heraus, mit Sorge in den Augen. Der Pfarrer sah sie an und sagte
-heiter: »Schwester! Wärst du nit taub wie ein Ofenloch, so tätst du
-mich jetzt für einen argen Komödianten halten, nach einem Stündl, in
-dem ich für ein leidendes Menschenkind ein hilfreicher Priester war.«
-Franziska verstand nicht, aber sie atmete auf, weil sie den Bruder
-lachen sah. Er trat auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter
-und schrie ihr ins Ohr: »Vor sieben Jahr, wie wir ausgezogen sind aus
-der Stiftspfarrei? Ist da nit ein kleines Kistl dagewesen, mit alten
-Schlüsseln?« Geschäftig nickte die Schwester, lief davon und war von
-einer Sorge befreit, ohne zu ahnen, daß sie zur Mithelferin einer
-Heimlichkeit wurde, bei der ihr hochwürdiger Bruder, weil er menschlich
-empfand, um Ehre und Freiheit spielen mußte.
-
-
-
-
-Kapitel XII
-
-
-Im großen frostigen Flur des Richterhauses standen viele Leute, die
-ihrem Verhör entgegenbangten. Alle Verwandten der Hasenknopfin waren
-da, Bauern und Weiber von Unterstein und von der Wies. Simeon Lewitter
-stand blaß in einer Fensternische. Nun wurde er vorgerufen. Während
-er sich zur Richterstube hinzappelte, trat Meister Niklaus heraus.
-Der hatte eine rote Stirn, aber ruhige Augen; ohne ein Wort zu sagen,
-tröstete er den Freund durch ein aufmunterndes Blinzeln und durch das
-verabredete Zeichen dafür, daß Leupolt kein Wort gesprochen hatte, das
-die Freunde belastete. Pfarrer Ludwig hatte das richtig vorausgesagt:
-»Auf uns wird sich der grade Bub nit ausreden. Wird nur sagen: er hat
-uns für schuldlose Leut gehalten, und drum hat er uns warnen müssen.
-Über das Mädel schnauft er keinen Laut. Nur über sich selber wird er
-die Wahrheit sagen, die ihn verläßlich ins Eisen bringt. Bei jedem
-redlichen Wörtl wird die Sauermilch auf dem Richterstuhl glauben: Das
-ist gelogen! -- _Sancta justizia!_«
-
-Simeon Lewitter trat in die Richterstube, und Meister Niklaus schritt
-durch den langen Flur der Haustür zu, ohne der aufgeregten Männergruppe
-zu achten, in deren Mitte eine halb von Schmerz erwürgte, halb
-wunderlich verzückte Stimme zu hören war. Die Zeugen, die über das
-schwarzweiße Doppeltödchen auf der Schwelle des Chorkaplans Jesunder
-etwas auszusagen hatten, die Musketiere, Lakaien und Jägerknechte
-standen um den Christl Haynacher herum, der immer vom heiligen Sterben
-seines Weibes erzählte. Das war in ihm zu einem Rad geworden, das
-mit eisernen Zähnen die verstörte Seele des Christl gefaßt hatte und
-nimmer losließ. Die aufgeregte Leutgruppe, die ihm zuhörte, schied sich
-deutlich in zwei Parteien: in eine solche, die sich über den Christl
-ärgerte oder über ihn lachte, und in eine solche, die schweigend
-lauschte, mit heißem Glanz in den Augen. »Allweil bin ich ein
-Gutgläubiger gewesen!« klang die bebende, von einem fast unheimlichen
-Unterton durchfieberte Stimme des Christl. »Nie hab ich mich arg
-versündigt, Leut, und trotzdem bin ich elend worden an Leib und Seel.
-Und muß mein Herz auseinanderreißen in vier Viertelen, in eins für mein
-gottseligs Martle --«
-
-»Gottselig?« unterbrach ihn von den Musketieren einer. »Als
-Gutgläubiger mußt du sagen: verflucht auf ewig. Hat man nit das
-verbotene Teufelsbuch gefunden in ihrem Bett?«
-
-Christl Haynacher hob die Arme. »Wahr ist's, Leut! Aber ein Weibl, das
-so gottselig gestorben ist, wär wieder rechtgläubig worden, wenn's noch
-leben hätt dürfen! Da glaub ich dran, so fest, wie ich glaub, daß mein
-Weibl im Himmel ist.«
-
-Eine Stimme lachte: »Im Himmel, ja, wo man die Leberwurst mit Schwefel
-schmälzt!« Viele von den anderen, die bisher schweigsam geblieben,
-schalten den groben Spötter. Und Christl Haynacher mahnte: »Nit
-streiten, Leut! Auf der Welt muß Fried werden. Gütigkeit muß mithelfen,
-daß die verloffenen Seelen wieder heimfinden zur heiligen Mutter.
-Freilich, da därf man die Leut nit an Weihnächten aus der Kirch
-jagen. Und hätt man nit meiner Martle auf ihren gesegneten Leib einen
-Stoß gegeben, daß eins von ihren lieben Kinderlen hat schwarz werden
-müssen unter ihrem gottseligen Herzl --« Seine Trauer erwürgte, was
-er sagen wollte. Geleitet vom Feldwebel Muckenfüßl kam Lewitter aus
-der Richterstube, huschte flink wie ein Wiesel davon und war schon
-verschwunden, noch ehe Christl Haynacher die verlorene Stimme wieder
-fand. »Meine Martle hat leiden müssen, ärger als ein vergrabenes Leben
-unter hausgroßen Steinbrocken. Aber nit ein einziges Zornwörtl hat sie
-dawider gehabt, daß man sie gepeinigt hat bis auf den Tod. Und wie sie
-sterben hat können, ihr guten Leut, das ist gewesen wie ein schönes
-Wunder. Allweil ist Gott ein Trost für die Seinen, hat sie gesagt.
-Und wie der Schnee im Frühling wegrutscht von den Berghalden, so ist
-der Wehdam abgefallen von ihrem gemarterten Leib. In den Augen hat
-ihr ein Glanz gebronnen, so heilig, als tät sie das Himmelreich offen
-sehen. Glaubet mir, Leut, so fromm und schön ist nie noch ein Bischof
-und Papst gestorben. Wär das Martle nit droben im Himmel, so wär der
-Tag nimmer Tag. Der Singvogel müßt ein Käfer in der Mistgrub sein. Und
-einer wie ich, so ein Elendsbröckl, ich wär ein vergnügtes Mannsbild
-mit drei gutgetauften lebendigen Kinderlen und einem lustigen Weibl,
-das tanzen geht, hoppsa und huiserla --« Der Christl nahm den Kopf
-zwischen die Fäuste und brach in Schluchzen aus.
-
-In dem Schweigen, das ihn umgab, klang es streng von der Richterstube
-her: »Was ist denn das _in loco hujus_ für ein fürlauter Subjektivus?«
-
-»Schauet, ihr christlichen Leut, mein gottseliges Martle --«
-
-»Not und Sakeramentum!« Muckenfüßl stieß den Säbel auf die
-Steinfliesen. »Wird der Subjektivus bald _silentium_ observieren und
-das Maul halten?«
-
-Christl Haynacher guckte drein wie ein aus frommen Träumen zu bösem
-Leben Erweckter. Er nahm die Kappe herunter. »Guter Herr, ich tu
-doch bloß von meiner Martle erzählen! Das kann mir doch keiner nit
-verbieten. Von christgläubigen Sachen muß man doch reden dürfen?«
-
-Gegenüber diesem unerwarteten Widerstand versagte dem Feldwebel die
-Kanzleisprache. Kummervoll erklärte er in makellosem Deutsch: »Da
-muß man einschreiten!« und trat in die Richterstube. Das war ein
-weißgetünchter, von Spitzbogen überwölbter Raum mit braunem Holzgerät.
-Früher hatte die weiße Mauer ein großes Gemälde des Jüngsten Gerichtes
-getragen. Der neue Landrichter hatte das Bild übertünchen lassen,
-weil er der Meinung war, daß es die Schuldlosen verzagt mache und die
-verlogene Vorsicht der Verbrecher schärfe.
-
-Auf der Zeugenbank, neben der blassen Mutter Agnes, saß der Mälzmeister
-Raurisser, ein festgezimmertes Mannsbild, das angenehm nach der
-Bierpfanne roch und das Aktengemuffel der Richterstube durch einen
-Duft von gerösteter Gerste milderte. In dem braunen Gesichte waren die
-Zornadern an den Schläfen merklich verdickt. Aber trotz aller Sorge um
-den zu Pfahl und Eisen verurteilten Sohn schien der Mälzmeister vor
-dem Richter und der ihm innewohnenden Gefährlichkeit einen scheuen
-Respekt zu haben. Unbeweglich saß er auf der Bank und hielt mit der
-Linken die rechte Hand der Frau Agnes umklammert, die in Tapferkeit
-und Erbitterung um den Sohn gekämpft hatte. So oft sie sich rührte,
-klammerte der Mälzmeister die Faust noch fester um ihre Hand, wie in
-Sorge, daß sie wieder etwas Aufreizendes sagen möchte. Augenscheinlich
-war er kein Menschenkenner, auch gegenüber seinem Weibe nicht, mit
-dem er seit einem Vierteljahrhundert im gleichen Bette schlief. Frau
-Agnes bot nicht den Anblick, als wäre sie zu weiterem Widerspruch
-entschlossen. Freilich sah sie den Richter unablässig an, aber nicht
-mehr in Angst, sondern auf eine Art, als wäre dieser würdevolle,
-schwarzgewandete und weißgelöckelte Herr für sie etwas völlig
-Unbegreifliches und ein Gegenstand des tiefsten Ekels geworden.
-
-Hinter erhöhtem Tische, auf dem zu beiden Seiten eines Kruzifixes viele
-dickbäuchige Bücher lagen, saß der Richter in würdiger Haltung neben
-dem Schreiber, dem er mit großem Aufwand lateinischer und französischer
-Worte den Schluß eines Protokolls diktierte. Zwischen den gepuderten
-Haarschnörkeln der umständlich gedrechselten Roßhaarperücke stach
-ein hageres Gesicht heraus, mit runden, kleinen, schwarzglänzenden
-Spitzmausaugen. Die Zahl der Jahre, die dieser Richter auf seinen
-schmalen Schultern trug, war schwer zu erraten. Er hatte was Kindliches
-und dennoch etwas Greisenhaftes, in jener rätselvollen Mischung,
-die stets in der innigen Ehe eines unbegründeten Selbstbewußtseins
-mit beklagenswerter Geistesarmut erzeugt wird. Das war der neue
-Landrichter, für die Leute zu Berchtesgaden eine halb beklemmende, halb
-lächerliche Person, die von Amts wegen das unverantwortliche Recht
-besaß, jede Wahrheit als Lüge, jede Lüge als Wahrheit zu erkennen und
-ihre tägliche Unheilsration zum Schaden der Menschheit anzustiften.
-In seinem Privatleben ein harmloser, vielleicht sogar ein ehrenwerter
-Mensch, wurde er in Ausübung seines Berufes eine um so gefährlichere
-Amtsbestie, je mehr er von der Unfehlbarkeit seiner richterlichen
-Entscheidungen überzeugt war. Ein Gleichnis für seine Justizmethode war
-die Form, zu der er seinen winzigen Namen aufblies. Jeder vernünftige
-Mensch des gleichen Namens hätte sich >Ring< geschrieben. Der
-Landrichter _Dr._ Willibald hatte dazu vier überflüssige Buchstaben
-nötig und schrieb sich >Hringghh<. In gleicher Weise formte er seine
-Urteile. Gewiß, er suchte die Wahrheit mit Beflissenheit. Aber er fand
-sie nicht. Für seinen Scharfblick verwandelten sich alle Dinge ins
-Gegenteil ihres Wesens.
-
-Bei dem verstaubten Gerichtsformalismus einer Zeit, die den _Dr._
-Willibald Hringghh als juridische Mißgeburt erzeugte, leider als
-eine nach der Geburt lebendig gebliebene, konnte ein Irrtum zuweilen
-auch einem guten Richter widerfahren. Unter dem Heiligenschein der
-Daumschrauben erschien vor dem Richtertische nichts so unwahrscheinlich
-als die Wahrheit, nichts so glaubwürdig als ein mit Ruhe geschworener
-Meineid. Aber bei guten Richtern wurden die Fehlgriffe zu Ausnahmen,
-bei _Dr._ Willibald mit den vier überflüssigen Buchstaben -- bei
-diesem würdigen Enkel der Hexenrichter, die ein unmündiges Mädelchen
-stundenlang über das _Semen frigidum_ des Teufels inquirieren konnten
--- trat der Irrtum als beängstigende Regel auf. Wer vor seinen
-Richterstuhl berufen wurde, dem konnte man voraussagen: »Du sprichst
-die Wahrheit, dein Fall ist klar, du bist im Recht, also wirst du
-verurteilt werden.« Die Herren des Stiftes kannten ihn. Immer nannte
-ihn der Fürstpropst mit lächelnder Gnade: »Unser getreues Justizkamel!«
-Und ließ ihn weiter amtieren. Diese Duldung seiner Oberen war das
-größere Verbrechen als die bedauerliche Sünde, die eine unbegreifliche
-Schicksalsfügung dadurch beging, daß sie dem Lande Berchtesgaden dieses
-richterliche Käsgehirn als schädliche Laus in die Lebenswolle setzte.
-
-Neben diesem Richter stand als ein ihn geistig überragender Gehilfe
-der Feldwebel Muckenfüßl und schnaufte sehr aufgeregt. Solange der
-Landrichter diktierte, mußte Muckenfüßl schweigen. Als der Streusand
-rieselte, fing der Feldwebel gleich zu kanzleieln an: »Euer Hoch-Ehren!
-Rapportiere subordinaliter, daß da draußen _in loco hujus_ ein
-Subjektivus befindlich ist, der _vulgo_ Haynacher, der das schwarzweiße
-Monstrum hat produzieren helfen, und deß nit genug, reißt er
-impertinalimentisch den Brotladen auf, räsonnieret wider den Papst und
-macht mit landsverräterischen Rumoribus die Population im Glauben irr.
-Das hat mein eigener _ego ipsus in loco hujus_ observieren müssen.«
-
-Der magere Hals des Landrichters verlängerte sich, und weißer Puder
-nebelte ihm auf die schwarzen Schultern herunter. Er machte eine
-winkende Handbewegung und wollte sprechen. Da klang eine erregte
-Mädchenstimme im Flur, die Tür wurde aufgerissen, und Luisa im grünen
-Mantel, den der Luftzug auseinanderwehte, stand atemlos auf der
-Schwelle der Richterstube.
-
-Ein leiser Laut, halb Schreck und halb Freude, fuhr über die Lippen der
-Mutter Agnes.
-
-Erstaunt und unwillig betrachteten die kleinen Spitzmausaugen des
-Richters das junge Mädchen, das nach Atem rang. Was aus Luisas
-angstvollen und dennoch wundersam frohen Augen redete, aus der
-wechselnden Glut und Blässe ihres Gesichtes und aus dem Zittern ihrer
-Hände, von denen die eine das kleine Gebetbuch und die andere den
-Rosenkranz an der kämpfenden Brust umklammert hielt, war menschlich
-so klar und leichtverständlich, daß es der Richter mit den vier
-überflüssigen Buchstaben mißverstehen *mußte*. Nach seiner Meinung
-war der Schuldlose immer ruhig, immer mit der Fähigkeit begnadet,
-sich zu beherrschen. Jede Erregung erschien ihm als verdächtig, als
-Zeichen eines befleckten Gewissens. Er machte den Hals noch länger,
-und deutlich war es an der Runzelbildung seiner niederen Stirn zu
-verfolgen, wie sich im Lakrizentopf seines Unverstandes die Umwandlung
-des ersten Staunens zur Ahnung einer verbotenen Sache vollzog. Mit
-strenger Würde richtete er an Muckenfüßl die Frage: »Wer hat diese
-verdächtig aufgeregte Jungfer citiert?«
-
-Ehe der Feldwebel antworten konnte, trat Luisa an den Tisch und
-stammelte: »Herr Richter! Ich hab gesehen, daß man den schuldlosen
-Leupolt zum Eisen führt. Da muß ich Zeugschaft geben für ihn --«
-
-Eine erledigende Handbewegung. Fein lächelten die überflüssigen
-Buchstaben und ließen nur die eine Silbe vernehmen: »Ssssso?«
-
-Die hoheitsvolle Kälte dieses Lautes schien wie Eiswasser über Luisa
-hinzuströmen. »Herr Richter --«
-
-Wieder jene Handbewegung, etwas kräftiger. »Augenblicklich besitze ich
-für formwidrige Dinge kein Ohr. Die aufgeregte Jungfer wird deponieren,
-wenn man sie zitieren und inquirieren sollte.«
-
-»Herr Richter?« flehte Luisa verstört. »Ist es für die Wahrheit nit
-allweil Zeit?«
-
-»Nein. Jedes Ding _secundum juris regulam_. Nach der dubiosen Weisheit
-uncitierter Zeugen, auch wenn sie in Kenntnis irgendwelcher Wahrheit
-sich befinden sollten, wird nicht entschieden vor Gericht. Vor allem
-müssen die Formalitäten des Prozeßverfahrens observiert werden.«
-
-»Herr Richter?« Luisas erschrockene Augen erweiterten sich. »Steht die
-Unschuld eines Menschen nit höher --«
-
-»Nein!« unterbrach er sie. »Deshalb wird die Jungfer sich jetzt
-entfernen. Ich erkenne ihre unzulässige Voreingenommenheit für den
-Inkulpaten und bezweifle, ob man sie überhaupt zur Zeugnislegung
-berufen wird.«
-
-Sie stammelte: »Aber guter Herr Richter! Da muß doch ein Irrtum --«
-
-»Irrtümer vonseite der Gerechtigkeit, der ich diene, sind
-ausgeschlossen.« _Dr._ Willibald wollte die Feder in die Tinte tauchen,
-irrte sich und fuhr mit dem Kiel in die Streusandbüchse.
-
-»Aber Herr! Ich bin's doch gewesen, mit der in selbiger Nacht der
-Leupolt geredet hat! Ich bin doch die einzige, die weiß --«
-
-Wieder unterbrach er sie: Ȇber den Glauben, der einem Zeugen zu
-schenken ist, entscheidet weder die Tatsächlichkeit der Ereignisse,
-noch die persönliche Qualität des zeugenden Subjekts, sondern einzig
-und allein meine richterliche Räson. Punktum!« Zu diesem Worte
-des Richters machte Feldwebel Muckenfüßl erfreut die Bewegung des
-Streusandschüttens. Die dünne Stimme des _Dr._ Willibald verschärfte
-sich: »Sollte sich die Jungfer nach dieser Aufklärung nicht entfernen,
-so werde ich sie durch eine Amtsperson zur Tür expedieren lassen.« Er
-vertiefte sich in die Durchsicht des Protokolls, das er vor einer Weile
-dem Schreiber diktiert hatte.
-
-Luisa stand wie betäubt und sah den Tisch der Gerechtigkeit so ratlos
-an, als wäre sie in eine unverständliche Welt geraten, die ihr so
-schreckhaft wie unmöglich erschien. Da legte sich ein Arm um ihre
-Schultern, und als sie aufblickte, sah sie das blasse Gesicht und die
-guten Augen der Mutter Agnes. »Geh, lieb Kind!« sagte die Mälzmeisterin
-leise. »Der liebe Gott wird wissen, warum er's duldet. Ich will meinem
-Buben sagen lassen, daß du reden hättst mögen für ihn. Da wird es ihm
-leichter werden, wenn er leiden muß. Gott ist mit uns, lieb Kind, drum
-dürfen wir nit verzagen.«
-
-Das Mädchen sah erschrocken den Feldwebel Muckenfüßl an, der nach einem
-Wink des Richters auf sie zutrat. »Jesus --« Mit der Hand, die den
-Rosenkranz zwischen den zitternden Fingern hatte, tastete Luisa ins
-Leere. Dann verließ sie bleich und wortlos die Richterstube. Menschen
-und Mauer, Licht und Dunkel, alles schwamm ihr vor den Augen. Wie
-im eintönigen Geräusch des Regens das Hämmern einer Traufe klingt,
-so hörte sie in dem schwirrenden Lärm eine fiebernde Stimme rufen:
-»Da gibt's kein Verbieten nit! Was wahr ist, muß einer sagen dürfen.
-Und tät mein gottseligs Weibl nit im Himmel sein, so tät ich einen
-Misthaufen heißen, was Gerechtigkeit ist. Mein Weibl ist so heilig und
-fromm gestorben --«
-
-Die Stimme erlosch. Ein schweres Keuchen, ein hartes Klappern
-genagelter Schuhsohlen. Dann die gemütlich klingende Rede: »Gelt, du
-Subjektissimus, jetzt kannst du _silentium_ observieren!«
-
-Luisa trat in die Morgensonne und preßte den Arm über die vom
-Himmelslicht geblendeten Augen. Dann schritt sie gegen die Marktgasse
-hinüber, immer schneller, und schließlich fing sie zu laufen an, daß
-ihr ein paar Leute verwundert nachsahen. Nicht viele. Obwohl es in der
-Marktgasse von Menschen wimmelte. In aufgeregten Gruppen standen Weiber
-und Männer beisammen. Überall war lauter Zank oder scheues Gewisper,
-grollendes Wortknirschen oder erbitterte Schimpferei. Überall klangen
-die gleichen Worte: schwarz und weiß, Heil und Verdammnis. Und immer
-wieder die vier Namen: Haynacher, Hasenknopfin, Lewitter und Leupolt.
-
-Als Luisa ihres Vaters Haus erreichte, glich sie einem Menschenkind,
-das völlig von Sinnen ist. Sie hörte nicht den Sorgenschrei der Sus. An
-der blonden Magd vorüber, tastete sie gegen die Werkstatt ihres Vaters
-hin.
-
-Meister Niklaus stand bei seiner neuen Arbeit und legte, als er sein
-Kind so kommen sah, erschrocken die beinerne Spachtel fort, mit der er
-gebosselt hatte an dem roten Wachs. »Um Gotteswillen! Kind? Was hast
-du?«
-
-Sie sah nicht die schöne Morgensonne in dem großen Raum, sah nicht die
-werdende Arbeit ihres Vaters: diese schlanke von Schmerz und Sehnsucht
-bewegte Gestalt eines jungen, arm gekleideten Weibes, das mit seitwärts
-gebreiteten Armen wie angeschmiedet an einer halb zertrümmerten Mauer
-steht und den dürstenden Blick nach oben richtet. Nur das Gesicht des
-Vaters schien Luisa zu sehen, nur seine Augen. Und als er das spanische
-Hütl von ihrem Scheitel nahm und den Rosenkranz aus ihren zuckenden
-Fingern löste, fragte sie mit erwürgter Stimme: »Vater, was ist
-Gerechtigkeit?«
-
-Eine Weile sah er sie prüfend an. Dann antwortete er mit ruhigem Ernst:
-»Das kann ich dir nit sagen, Kind. Allweil hab ich an sie geglaubt,
-allweil hab ich sie gesucht auf Erden. Schau her, was ich gefunden
-hab.« Er streckte den Arm mit der hölzernen Hand.
-
-Ihre Augen wurden groß. So stand sie zitternd. Und plötzlich mußte
-sie schreien in ihrem Schmerz. Und sah, wie ihr Vater erschrak. Unter
-rinnenden Tränen stammelte sie: »Du bist gut!« Schluchzend hing sie an
-seinen Hals geklammert. »So viel mißträulich bin ich gewesen! Tu mir
-verzeihen, Vater! Ich will dein treues Kind sein. Wie du auch deutest
-und redest, ich glaub an dich und ich hab dich lieb.« Ihre Stimme
-erlosch, und eine Schwäche schien sie zu befallen.
-
-Er hob sie auf seine Arme. Glück und Sorge wirrten sich im Klang seiner
-Worte durcheinander: »Sus! Sie muß verkrankt sein in der eisigen Kirch.
-Am Morgen hat sie kein Brösl gegessen. Schnell, liebe Sus! Das Kindl
-muß gleich was Kräftiges haben.« Er trug sie über die Treppe hinauf, in
-ihre Kammer.
-
-Die Sus rannte wie verrückt in die Küche, schürte das Feuer und
-schaffte, als möchte sie jede Minute zur Sekunde machen. Und wie ein
-Husch mit dem dampfenden Schüsselchen über die Stiege hinauf. Unter
-der Kammertüre nahm ihr der Meister die Suppe ab und sagte fröhlich:
-»Vergeltsgott, gute Sus! Das ist gegangen als wie gezaubert.« Er sah
-nicht das glückliche Leuchten in den Augen der Magd, sah nur das
-zinnerne Schüsselchen an und trug es auf vorgestreckten Händen zum
-Bett seines Kindes. »So, liebs Weibli, jetzt komm und iß.«
-
-Luisa richtete sich in den Kissen auf. Noch brannten ihre Augen vom
-Weinen, noch schimmerte die Feuchtigkeit der Tränen auf ihren Lippen.
-Aber ruhig war sie, ganz ruhig. Und als sie das qualmende Schüsselchen
-auf dem Schoß hatte, sah sie mit einem wunderlich verträumten Blick
-zu ihrem Vater auf. »Es ist dir in den Augen, wie freudig du sinnest
-an deiner Arbeit. Das tust du mir jetzt zu lieb, gelt ja, und tust um
-meinetwegen nimmer Zeit verlieren?«
-
-Er beugte sich zu ihr nieder, küßte ihr Haar, und als wär' sie eine
-Schlafende, ging er auf den Fußspitzen aus der Kammer. In der Werkstatt
-stand er lange unbeweglich. Immer lächelte er und betrachtete sein
-Werk. Sich reckend, rief er über die Schulter: »Sus!«
-
-Gleich war sie da. »Soll ich den lichtblauen Kittel antun?«
-
-»Nit nötig! Wie irdischer du bleibst, so besser. Stell dich dort an
-die sonnige Mauer hin! Schau her da, so!« Er deutete auf das rote
-Wachsfigürchen.
-
-In scheuer Freude betrachtete Sus das neue Werk und wußte nicht, daß
-sie schon einmal an der Wand gestanden. So! Fast eine Stunde hielt sie
-unbeweglich aus. Und Meister Niklaus arbeitete so leicht und flink,
-als wäre seine hölzerne Hand wieder Bein und Blut geworden. Man sah
-es ihm an, wie ihn nach der glücklichen Wandlung, die er an seinem
-Kinde wahrgenommen, nun auch die Freude an seinem werdenden Werke neu
-belebte. Plötzlich machte Sus eine erschrockene Bewegung, hob lauschend
-den Kopf, sprang zum Ofen hin und warf sich auf die Knie, als müßte
-sie das niedergebrannte Feuer schüren. Auch Meister Niklaus hatte den
-Schritt seines Kindes vernommen und sagte leis: »Da mußt du nimmer
-erschrecken, Sus! Dem Kindl gehen die Augen fürs Leben auf. Da wird sie
-begreifen, was sie gestern noch nit verstanden hätt.« Er dachte bei
-diesen Worten nur an seine Arbeit, die des lebenden Vorbildes nicht
-entbehren konnte. Daß die Maria der Verkündigung nach dem Körper der
-Magd gebildet war, das hatte er vor Luisa immer verheimlichen müssen;
-sie hätte ihm das in ihrem Klosterglauben als schwere Versündigung
-angerechnet. Doch Sus schien aus den Worten des Meisters etwas anderes
-herausgehört zu haben. In ihren Zügen war der Ausdruck einer müden
-Qual, und heftig schüttelte sie den Kopf, wie um zu sagen: das wird sie
-nie verzeihen.
-
-Luisa trat ein. Sie trug ein ziegelfarbenes Hauskleid, das sich lind an
-ihren Körper schmiegte. Als sie die Magd beim Ofen sah, ging sie rasch
-zu ihr hin und sagte mit warmer Herzlichkeit: »Laß *mich* das tun,
-liebe Sus! Alles, was dem Vater freundlich ist, will ich schaffen.«
-Stumm erhob sich die Magd und verließ die Werkstatt. Achtsam legte
-Luisa die Scheite in den Ofen. Ein Krachen und Prasseln, das Rauschen
-der erwachenden Flamme. »Jetzt wirst du nimmer kalt haben, Vater!« Er
-sah in Freude zu ihr hinüber. Sie trat an seine Seite und betrachtete
-das neue Werk. Eine seltsame Erschütterung befiel sie, und etwas tief
-Innerliches war in ihrer leisen Stimme, als sie sagte: »Das redet mir
-heilig in die Seel. Schaut man es an, so möcht man weinen und muß sich
-doch freuen dran.«
-
-Ein frohes Aufatmen ihres Vaters. »Dann wird es, wie es sein muß.«
-
-Sie hob die Augen. »Aber da ist kein Engel nit?«
-
-»Eine Verkündigung soll das nit werden.«
-
-»Eine christliche Blutzeugin?«
-
-»Auch nit.«
-
-»Eine Heilige?«
-
-»Kann sein.« Ein Lächeln huschte um seinen Mund. »Es gibt doch eine
-heilige Kümmernis? Da kann's auch eine heilige Sehnsucht geben.
-Vielleicht auch eine heilige Menschheit. Was ich da machen hab müssen,
-das ist mir ein Bild des irdischen Lebens, das allweil leidet, allweil
-glaubt und in Sehnsucht allweil auf Erlösung hofft. Lang muß man
-harren. Einmal kommt sie.«
-
-Luisa sah den Vater an, als hätte sie den Sinn seiner Worte nicht ganz
-verstanden. Wieder betrachtete sie das rote Wachs, diese von Qual und
-Erwartung durchglühte Frauengestalt. Wie eine Träumende flüsterte sie:
-»Ja, Vater, das ist wahr! Die Erlösung ist vom Kreuz zu den Menschen
-heruntergestiegen. Und allweil wieder kommt sie. Sonst tät man nimmer
-glauben können.« Ein leises Aufatmen. »Ich glaub, daß der gnädigste
-Fürst gerecht ist und einen Schuldlosen begnaden muß.« Sie schlang die
-Hände ineinander und stand unbeweglich.
-
-Bei der Stille, die in der sonnigen Werkstatt war, hörte man von ferne
-her ein rasselndes Geräusch -- den Hall der Polizeitrommel.
-
-
-
-
-Kapitel XIII
-
-
-Wo der Platz vor dem Leuthaus sich hinüberbog in die Marktgasse,
-war ein schweigsames Leutgedränge. Frauen und Mädchen guckten aus
-allen Fenstern heraus. Die Trommel rasselte. Und der Feldwebel des
-Pflegeramtes, begleitet von vier Soldaten Gottes, verkündete den
-Lauschenden: Zum ersten, daß jeder Untertan, so vom Aufenthalt der
-Hasenknopfischen Menscher, wie von der verbotenen Außerlandsfahrt des
-irrgläubigen Hasenknopf in geringster Kenntnis wäre, dies unversäumt,
-zur Vermeidung geziemender Straf, der Obrigkeit bekanntgeben müsse.
-Zum anderen, daß die Untertanen, ausgenommen den sonntäglichen
-Kirchgang, jede Rottierung auf der Straße, wie jedes Herumtragen von
-Unruh erzeugenden Redereien unter Androhung dreitägiger Inhaftierung
-zu vermeiden hätten. Zum dritten, daß nach gerechtem Spruch der Jäger
-Leupolt Raurisser wegen Ausschwätzung eines geheimen Amtsbefehls
-zu Pfahl und Eisen gesprochen wäre und kommenden Sonntags nach dem
-Hochamt seine schuldige Buß _in loco hujus_ vor aller Leut Augen und
-zu wohlmeinender Warnung der Population erleiden würde. Die Trommel
-rasselte. Und die fürsorgliche Obrigkeit bewegte sich weiter. Das
-Leutgedränge rann auseinander. Die Mannsleute blieben stumm. Man sah
-nur manchmal ein müdes Lächeln oder einen zornfunkelnden Blick. Von
-den Fenstern verschwanden die Frauenhauben und die Mädchenschöpfe, die
-Straße wurde fast leer von Erwachsenen und blieb nur ein Spielplatz
-der heiteren Kinder. Berchtesgaden war an diesem kühlsonnigen
-Hornungstage anzusehen, wie die Heimat des schönsten Landfriedens.
-Dennoch sprangen Mißmut und Erbitterung, Aberglaube und Geflüster,
-Klatsch und Anklage, Scheu und Hoffnung von Haus zu Haus.
-
-Für die wachsamen Augen der Obrigkeit blieb alles ein Unsichtbares.
-Bewegung, die ihr sichtbar wurde, herrschte nur im Hausflur des
-Landgerichts. _Dr._ Willibald Hringghh war sehr beschäftigt. Ruhelos
-hatte er Protokolle zu diktieren und Streusand zu bewegen. Um vor dem
-gefährlichen Richter als dienstwillig zu erscheinen, kamen viele,
-die von den Hasenknopfischen was zu wissen glaubten. Jene, die etwas
-wußten, blieben aus. Als der Landrichter gegen Abend das Ergebnis der
-aufgenommenen Protokolle revidierte, trat der seltene Fall ein, daß er
-scharf eine Wahrheit erkannte: »Schier sechzig Bogen! Und nichts steht
-drin.« Zur Beendigung seines staatsbeschützenden Tagewerkes erteilte er
-noch die menschlich angehauchte Ordre: den Christl Haynacher aus der
-Verwarnungshaft zu entlassen.
-
-Seit dem Morgen hatte der stummgewordene Verkünder vom heiligen
-Absterben seines Weibes jene billige Wohnung genossen, in der nicht
-Mond, noch Sonne scheint. Als ihm nun in Milde gestattet wurde, das
-schwindende Abendlicht zu erblicken, begriff er das ebenso wenig, wie
-er verstand, daß jedes Wort über den frommen Tod seiner gutgläubigen
-Martle ein Verbrechen wäre, für das er, wenn er es nur ein einzigesmal
-noch beginge, so schwer wie für Diebstahl oder Brandstiftung zu büßen
-hätte. Sein Gesicht war bleich und sonderbar verändert, in seinem
-unruhigen Blick war eine Mischung von Zorn und Trauer, von Angst
-und Wirrsinn. Obwohl er fürchtete, daß sein Bübl in der Wiege seit
-dem Morgen hatte hungern müssen, schlug er nicht den geraden Weg zu
-seinem Lehen ein, sondern machte einen Umweg und spähte suchend über
-die Mauer des Gottesackers: ob da nicht irgendwo ein frischgehügeltes
-Doppelgräbchen zu sehen wäre? Nichts! Nur zertretener Schnee, nur große
-Gräber mit dem vergilbten Rasen des vergangenen Herbstes.
-
-Immer den Kopf schüttelnd, ging Christl Haynacher davon. Als er
-heimkam, fand er sein Bübl zufrieden und gesättigt, fand alle Arbeit
-im Stall getan und die Milch in den Rainen aufgesetzt. Dankbar lief
-er zur Nachbarin hinüber. Die mußte ihm verlegen sagen, daß sie den
-ganzen Tag nicht Zeit gefunden hätte, nach seinem Bübl zu schauen. Als
-Christl durch die farbige Dämmerung zurückwanderte zu seiner Haustür,
-murmelte er wie ein Träumender: »Die Unsichtbaren sind barmherzige
-Leut! Was wahr ist, müßt einer sagen dürfen.« Er trat ins Dunkel
-seines Hauses. Für sich zu kochen, das brachte Christl nicht fertig.
-Er hob das schläfrige Bübl aus der Wiege, wickelte das Kind in einen
-Lodenmantel und ging mit ihm hinüber zum Gerstenacker. Als er sah,
-daß vom schwarzen Grabhügel seines Weibes das Kreuz verschwunden
-war -- irgend ein Strenggläubiger oder ein Gottesmusketier hatte es
-herausgerissen und verworfen -- da knirschten ihm zuerst die Zähne.
-Zitternd setzte er sich auf die kalte Erde hin, hielt sein Kind
-umklammert und erzählte dem schlafenden Bübchen leise vom gottseligen
-Tod der >lieben, herzguten Mutter<. Während er so flüsterte, spähte
-er immer in der sinkenden Dämmerung umher, ob nicht einer erlauschen
-könnte, daß der Christl Haynacher erzählen mußte, was ihm bei schwerer
-Strafe zu erzählen verboten war. Als er das Bübl heimgetragen hatte,
-wurde er auch in der finsteren Stube nicht stumm, schaukelte die Wiege
-und redete immer ins Dunkle hinein, bis er von einer Übligkeit befallen
-wurde. Das kam wohl nur von der Leere seines Magens. Wo nicht Mond und
-Sonne leuchtet, gibt es auch keine Dinge, die den Menschen stärken.
-Immerhin war es möglich, daß der Zustand, der den Christl Haynacher
-befiel, etwas Seuchenartiges hatte. Unter ähnlichen Erscheinungen
-erkrankten am gleichen Abend auch noch andere Leute.
-
-Simeon Lewitter, der in der Marktgasse immer wieder das gleiche Wort
-hatte hören müssen: »Der Jud!« -- häufig auch in der Zusammensetzung
-mit einer unreinlichen Silbe -- wagte sich nimmer auf die Straße,
-schützte seine Haustür und in der leeren Kinderstube auch alle Fenster
-durch eiserne Stangen, wurde ruhelos gepeinigt von der Erinnerung
-an den roten Tauftag vor fünfzehn Jahren, bekam vor Aufregung einen
-Fieberanfall und legte sich ins Bett. Das letztere tat an diesem
-Abend auch Pfarrer Ludwig, obwohl noch eine Minute früher nicht das
-geringste Zeichen von Kränklichkeit an ihm zu bemerken war. Vor
-Anbruch des Dunkels ließ er sich wegen Unpäßlichkeit von der auf die
-siebente Abendstunde anberaumten Kapitelsitzung entschuldigen. Als
-die Hausglocke gezogen wurde und Chorkaplan Jesunder in Begleitung
-der vier überflüssigen Buchstaben bei dem Patienten erschien, den
-man im Verdacht hatte, daß er aus bedenklichen Gründen die über die
-schwarzweiße Gefahr entscheidende Kapitelsitzung schwänzen möchte,
-schlürfte Pfarrer Ludwig gerade den schmerzstillenden Glühwein, dessen
-lieblicher Zimtgeruch die Stube frühlingsähnlich durchduftete. Seine
-Pein verbeißend, machte der Pfarrer den Versuch, die eintretenden
-Herren freundlich zu begrüßen. Ehe sie sein Bett erreichten, entstellte
-sich in schreckhafter Weise sein unheimliches Warzengesicht, und
-angstvoll brüllte er die taube Schwester an: »Franziskaaa! Schnell! Es
-kommt schon wieder -- _salva venia_, Ihr guten Herren --« Er fuhr mit
-den langen mageren Beinen aus dem Bett.
-
-Fluchtartig verließen Jesunder und _Dr._ Willibald Hringghh die
-gefährliche Krankenstube. Kaum sie verschwunden waren, sprang der
-Pfarrer vollends aus dem Bett, schob die erschrockene Schwester zur
-anderen Tür hinaus, kleidete sich hastig an, öffnete einen Schrank und
-zerrte einen Mantel hervor, der nicht priesterlich schwarz, sondern
-gebändert und farbig war wie weltliche Herrentracht. Unter dem Kissen
-seines Krankenbettes holte er einen großen, von Rost zerfressenen
-Schlüssel hervor, blies die brennende Kerze aus und sprang mit den
-Bewegungen eines völlig genesenen Mannes zum Fenster. Hier stand er an
-die Mauer gedrückt und spähte hinaus.
-
-In dem milden Glimmlicht, das aus vielen erleuchteten Fenstern
-durch den Abend glänzte, schritt der Kaplan in Begleitung der vier
-überflüssigen Buchstaben über den weiten Hof zum Stift hinüber.
-Jesunder war von Pfarrer Ludwigs bedauerlichem Zustand nicht völlig
-überzeugt, war noch immer mißtrauisch. Doch unter dem Barett des
-Landrichters vollzog die fettfleckige Hirnsubstanz einen Gärungsprozeß
-zur Ausbutterung der mit Scharfsinn erkannten Wahrheit. »Nein,
-_Reverende_,« sagte er, »in diesem Falle tut Ihr ihm unrecht. _In
-contrario naturae_ versagt jeder Versuch einer Simulation. Hier
-arbeitet das _organon humanum_ ganz nach eigenem Gutdünken. Nein,
-Reverend, ich irre mich nicht, er ist wirklich ein schwer Leidender.«
-Barmherzig fügte er bei: »Ob es nicht die rote Ruhr ist? Armer,
-verlorener Mann!«
-
-Als die beiden den Kapitelsaal erreichten, war die erneute Debatte
-über die Diffizilitäten der ungetauftgetauften Mißliebigkeit schon in
-leidenschaftlichem Gange. Die Sache verwirrte sich immer mehr. Der
-Fürst war abwesend, um bei der Allergnädigsten zu speisen. Von Stunde
-zu Stunde ließ er sich Botschaft über den Verlauf der Debatte senden.
-Nach der dritten hoffnungslosen Nachricht, um die 10. Nachtstunde,
-schickte er den Grafen Tige mit dem Befehl: die Kapitularen müßten
-bis um elf zu einer Entscheidung kommen, damit alles Nötige noch vor
-Mitternacht erledigt werden könnte und der anbrechende Sonntag nicht
-bedroht wäre durch eine Entweihung. Man empfand den Befehl des Fürsten
-als eine hilfreiche Zwangslage. Doch jeder Versuch einer Abstimmung
-mißglückte. Schließlich blieb den erregten Herren kein anderer Ausweg,
-als die verschiedenen Vorschläge auf Zettel zu schreiben und den Grafen
-Tige als Vertreter des zarteren Alters, als eine Art von Waisenkind,
-das Los erküren zu lassen. Immer spricht bekanntlich der Himmel durch
-den Mund der Unschuld. Graf Tige fischte in graziösester Form den
-Schicksalsspruch aus der Urne und las: »Anatomische Trennung, Begräbnis
-der weißen Heilhälfte in geweihter Erde, Verscharrung des schwarzen,
-ewigverlorenen Abschnitzels auf dem Freimannsanger.« In Wahrheit sagte
-dieses durch die Wirkung der Unschuld verkündete Gottesurteil keinem
-der Kapitularen zu. Aber es war die unwiderrufliche Entscheidung. Man
-mußte sich mit ihr versöhnen. Rasch. Es fehlten nur noch wenige Minuten
-bis elf.
-
-Man ließ den Freimann holen, dazu den Wildmeisterknecht, der sich
-aufs Zerwirken verstand. Jesunder wurde zum theologischen Kommissär,
-der Landrichter zum Protokollisten _ad usum juris_ ernannt, zwei
-Kapitularen hatten als Zeugen zu fungieren, und wer nicht schläfrig
-war, schloß sich dem weltgeschichtlichen Vorgang als neugieriges
-Publikum an. Unter Voraustritt einiger Fackelträger bewegte sich der
-würdevolle Zug durch das Nachtschweigen auf die Armeseelenkammer zu.
-Jesunder, der den Schlüssel in Verwahrung hatte, wollte das Türschloß
-aufsperren. Dabei hatte er nicht mit dem gewissenhaften Formalismus
-der vier zwecklosen Buchstaben gerechnet. _Dr._ Willibald Hringghh
-verlangte eine peinlich genaue Untersuchung darüber: daß erstens nur
-ein einziger, in Verwahrung des Chorkaplans Jesunder befindlicher
-Schlüssel vorhanden sei; daß zweitens jede Möglichkeit eines Mißbrauchs
-dieses Instrumentes als absurd zu gelten hätte, und drittens die
-Türe noch ordnungsgemäß versperrt, das Fenster noch undurchdringlich
-vergittert und somit die Tatsache, daß kein menschlicher Fuß die
-Armeseelenkammer betreten haben konnte, als unanfechtbare Wahrheit
-festgestellt wäre.
-
-Alle Punkte wurden mit gründlichster Genauigkeit erforscht und
-zu Protokoll genommen. »Jetzt!« sagte _Dr._ Willibald gnädig zum
-Chorkaplan. Jesunder öffnete die versperrte Tür, wißbegierig
-drängten die Herren heran, die Fackelträger traten voraus in den
-finsteren, sonderbarerweise ein bißchen nach Zimt duftenden Raum, und
-da erhob sich nach stummer Verblüffung ein fürchterliches Geschrei
-des abergläubischen Schrecks, ein wirres Durcheinanderlallen der
-fassungslosesten Gemütszustände. Sogar der wahrheitsfeindliche Mann mit
-den vier entbehrlichen Schriftzeichen mußte als unbestreitbares Faktum
-erkennen: daß jener arme kleine schwarzweiße Doppeltod, der so viel
-gefährliche _rumores_ erregt und so viel ratlose Verlegenheit erzeugt
-hatte, völlig unsichtbar geworden und spurlos aus der vergitterten,
-festverschlossenen Armeseelenkammer verschwunden war. Man suchte auf
-und unter dem Totenbrett, suchte in der Fensternische, suchte in jedem
-Winkel, und der Freimann mußte sogar auf Befehl des Landrichters mit
-einem eisernen Schürhaken in alle Mauslöcher hineinstochern.
-
-Nichts.
-
-Der Wildmeisterknecht und die Fackelträger flüsterten gleich von einem
-Höllenstreich. Ein paar Verständige unter den Kapitularen nahmen
-das Unbegreifliche heiter und brachen, ein bißchen schadenfroh, in
-Gelächter aus. Der Chorkaplan stand vor dem leeren Totenschragen,
-als wäre ihm ein kalter Blitzstrahl durch alle Gelenke gefahren,
-und unter sämtlichen Augenzeugen des unerklärlichen Rätsels befand
-sich nur ein einziges, restlos glückliches Menschenkind: der _Dr._
-Willibald Hringghh. Der segnete seine Weisheit, weil er in unbewußter
-Ahnung aller Möglichkeiten keine Formalität versäumt hatte und außer
-_obligo_ war. Da gab es kein Deuten und Rütteln. Alles war formaliter
-erwiesen. Alles stand auf dem Papier. Nur die Wahrheit nicht. Um sie
-zu erforschen, begann er sich augenblicklich ans Werk zu machen, begann
-zu verhören, zu untersuchen, zu protokollieren. »Da bin ich neugierig,
-was unser justiziarisches Rhinozeros herauskitzelt!« flüsterte Graf
-Saur einem der Herren zu. »Glauben wir dann das Gegenteil, so sind wir
-der Wahrheit am nächsten.«
-
-Den Fürstpropst konnte man aus höflichen Gründen im Verlaufe dieser
-Nacht von dem Vorgefallenen nicht mehr unterrichten. Aber der Kanzler
-von Grusdorf wurde nach Mitternacht unbarmherzig aus den Federn
-herausgeläutet. Als er keuchend, in dickem Pelz, mit hohen Filztöpfen
-über den Gichtzehen, die von Menschen umwimmelte Armeseelenkammer
-erreichte und sofort ein polizeiliches Schweigverbot erließ, war das
-unerklärliche Wunder, nein, dieses gottverwünschte Teufelswerk schon
-ausgeschrien bei allen Lakaien, Jägerknechten und Musketieren. Wie
-Flugfeuer hinhüpft über trockenes Heu, so sprang die Erregung noch
-während der Nachtstunden von Fenster zu Fenster. In welchem Grade dabei
-der Respekt vor den Regierungsgewalten flöten ging, das mußte _Dr._
-Willibald an sich selbst erfahren. Er fand vor seiner Haustür unter dem
-schönen Frühgeläut ein Gedränge von Menschen vor, die, in auffälligem
-Gegensatze zur Zeitstimmung, nicht in zwei erbitterte Parteien
-gespaltet waren, sondern in einträchtiger Heiterkeit sich erlustigten.
-Als Ursache ihres Vergnügens erwies sich ein großer gelblicher
-Papierbogen, der an der Haustür des Landrichters befestigt war und in
-plumpen, fast kindlichen Schriftzügen die Verse trug:
-
- »Ein Richter, so ein falsches Urtl fällt,
- Ist eine Mißgeburt auf Gottes Welt,
- Halb Leben, halb Tod,
- Halb Lachen, halb Not,
- Halb weiß, halb schwarz,
- Halb Kot, halb Farz,
- Halb Skorpion und halb ein bös Kamel,
- Doch sunst ein Menschenkindl ohne Fehl!«
-
-Während das Hringghhische Perückenantlitz immer länger wurde, quirlte
-im Morgengrau ein fröhliches Leutgekicher. *Alle* lachten. Ohne
-Ausnahme. Jeder von diesen wohltuend Erheiterten, ob gutgläubig
-oder unsichtbar, hatte schon irgend einmal die schmerzhafte
-Wahrheitsforschung der weißgelöckelten Sauermilch am eigenen Leib
-erfahren.
-
-_Dr._ Willibald löste mit blassen, etwas tintenfleckigen Fingerspitzen
-das kleine Volkslied von der Türe, ohne die Wahrheit zu erkennen, die
-ihm da schwarz auf gelb übermittelt wurde. So leicht man an die Einfalt
-der anderen glaubt, so schwierig ist es, sich von der eigenen Dummheit
-zu überzeugen.
-
-Als der Landrichter im Haus verschwand, erhob sich auf der Gasse ein
-schadenfrohes Gelächter, ein lärmendes Durcheinanderschwatzen. Immer
-größer wurde im wachsenden Frühschimmer das Leutgedräng. Noch ehe
-die Glocken zum Hochamt riefen, waren die Stiftshöfe und alle Gassen
-von Berchtesgaden mit einem Menschengewimmel angefüllt, das an die
-viertausend Köpfe zählte. In der Sonne, die über das Dächergezack
-herunterglänzte, blitzten die Messingknöpfe auf den schwarzen Gewändern
-der Salzknappen, leuchteten die Farben der ländlichen Trachten und
-schimmerten die Silberschnüre der Bauernhüte und das zinnerne
-Schaugeschmeid der Weiber. Die vielen roten Joppen der jungen Burschen
-und die kirschfarbenen oder gelben Mädchenmieder erschienen wie tausend
-leuchtende Feuertupfen. Unter den kurzen, nur handbreit über das Knie
-reichenden Sonntagsröcken der Bäuerinnen waren die weißen Wadenstrümpfe
-wie rührsame Schneeflecken. Das bunte Gewühl dieser straffgewachsenen,
-festgefügten Menschengestalten, dieser gesunden Jugend und dieses noch
-kraftvollen Alters mit den von Sonne und Schnee gebräunten Gesichtern
-wäre ein herzerfreuender Anblick gewesen, wenn nicht die Zeitsorge, die
-Erregung der Stunde, das spähende Mißtrauen und die gereizte Heiterkeit
-einen Fieberglanz der Unruh in allen Augen erweckt und dem ganzen Bilde
-etwas Beängstigendes gegeben hätte. Dieses Leutgewoge war anzusehen wie
-ein Menschenhauf in jenen Augenblicken, die eine Masse von Tausenden
-emporreißen zu schöner Begeisterung oder sie verführen zu sinnlosen,
-verbrecherischen Dingen.
-
-Es gärte seit langer Zeit in diesen Bedrückten. In ihnen brannte
-das wühlende Erbe aus Jahrhunderten des Leidens, die gallige
-Unzufriedenheit über geistliche und weltliche Unerträglichkeiten, die
-dürstende Hoffnung auf Hilfe und das fiebernde Suchen nach dem Neuen
-und Besseren. Was sich formte in ihnen, hatte ein kindliches Gesicht.
-Zu gutmütig, um sich in Aufrührer zu verwandeln, wurden sie Träumer
-und Schwärmer. Das hatte unerstickbar in ihnen geglommen, schon lange,
-und war in den beiden letzten Jahren, seit dem großen Auspeitschen
-der Dreißigtausend aus Salzburg, als ein Unsichtbares hinter
-ihren Stirnen gewachsen. Die Behörden waren blind. Und an diesem
-bedrohlichen Sonntagsmorgen, an dem es aussah, als würde von der Seele
-des Volkes ein Schleier fortgezogen, konnte die Obrigkeit warnende
-Wahrnehmungen nicht machen, weil sie die zwecklos versäumte Nachtruhe
-bei Sonnenaufgang nachholen mußte. Sogar der einzige Musketier, der
-vor dem Stiftstor auf Wache war, hatte die Augen geschlossen. Mit der
-ungeladenen Feuersteinflinte zwischen den Knien saß er schlummernd
-auf dem sonnbeschienenen Wächterbänkl, ohne geweckt zu werden von dem
-wachsenden Stimmenlärm.
-
-Schon manchmal, wenn Schreck und Unruh durch das kleine Land geronnen
-waren, hatte das Bild des sonntäglichen Kirchgangs einer heißen
-Suppe geglichen, in der man rührt mit einem groben Löffel. So, wie
-an diesem Hornungsmorgen, war es noch nie gewesen. Hatten die Zeiten
-der stumm ertragenen Pein, die Klagstimmen in den Andachtsnächten
-der Unsichtbaren, Leupolts Mahnung bei der Untersteiner Krippe, das
-schwarzweiße Unglück im Haynacherlehen und die Ungerechtigkeiten, die
-viele gerade in diesen letzten Tagen erfahren mußten, die leidende
-Geduld des Volkes bis zum äußersten gespannt? Und sollte nun die mit
-Schreck oder Aberglauben, mit frommer Scheu oder schweigendem Staunen
-vernommene Kunde von dem unerklärlichen Mirakel der Armeseelenkammer
-zum letzten Anstoß werden, der das vollgeschüttete Geduldfaß zum
-Bersten und Überlaufen brachte?
-
-In der Morgensonne, die um alle Dächer, um das weite schöne Tal und um
-die weißen Berge einen mit tiefem Blau verbrämten, silberglitzernden
-Mantel wob, fingen auf drei Kirchtürmen die sieben Glocken zu läuten
-an, deren hallende Stimmen sich melodisch ineinander woben. Das
-lärmende Gewühl der Menschen begann sich zu schieben und strömte nach
-drei Richtungen. Inmitten dieser Menschenwoge war nur ein Einziger,
-der allem Aufruhr dieses Morgens entzogen blieb. Das war gerade der
-Hauptbeteiligte, der von seinem dunkelgrünen Bauernhut drei schwarze
-Trauerbänder herunterhängen hatte. Wäre Christl Haynacher nicht das
-unglückseligste Mannsbild der Welt gewesen, so hätte er sich an diesem
-Morgen beinah als einen Glücklichen fühlen können. Beim ersten Wort,
-das er vom Mirakel in der Armeseelenkammer vernommen hatte, war es für
-ihn eine ausgemachte Sache, daß sein gottseliges Martle mit treuen
-Mutterhänden aus dem Himmel heruntergegriffen, ihr liebes Pärl aller
-irdischen Pein entzogen und die zwei kleinen, unzertrennlichen Seelchen
-hinaufgehoben hatte in den ewigen Glanz. Und *das* zu erzählen, das
-war ihm polizeilich *nicht* verboten. Jedem Menschen, mit dem er auf
-dem Kirchgang Seite an Seite geriet, verkündete er das gottschöne
-Wunder seiner in die Seligkeit emporgeflogenen Kinder. »Gelt, so was
-Heiliges macht die Mutlosen wieder gutgläubig! Schau, jetzt bin ich
-nach allem Elend wieder ein aufrechtes Mannsbild! Und daß ich kein
-Wörtl nit geredet hab von meinem gottseligen Weibl, nit von ihrem
-Erlösungswunder, nit von ihrem schönen und heiligen Tod? Gelt, Mensch,
-das kannst du bezeugen und tät's einen kreuzweis geschworenen Eid vor
-dem selbigen kosten, der alles Gute verbietet.«
-
-Während Christl so redete, hatte er immer einen nassen Schimmer in
-den Augen, hatte immer ein Lachen des Glückes um den von Schmerzen
-zuckenden Mund. Und als er zwischen tausend anderen in der Kirche war
-und unter dem Rauschen der Orgel in seinem Betstuhl tiefgebeugt auf den
-Knien kauerte, fühlte er sich in seinem Herzen als einen so treuen und
-dankbaren Katholiken, wie er's in seinem ganzen Leben noch nie gewesen.
-Und für die schwere Sünde, die er gleich nach dem Hochamt begehen
-mußte, bat er den lieben Herrgott im voraus um Vergebung. Anstelle des
-ausgerissenen Kreuzes ein neues auf das Grab seiner Martle zu stecken?
-Freilich, das war nicht gutgläubig und war verboten. Aber der Christl
-mußte das tun. Und wenn der liebe Herrgott da droben die Martle mit
-ihren zwei seligen Kinderlen ansieht, dann versteht er es schon und muß
-es verzeihen.
-
-Alle Kirchen waren schon dicht gefüllt, Schulter an Schulter, und noch
-immer strömten lange Menschenzüge heran, die nimmer Einlaß fanden und
-vor den Toren sich anstauten zu großen Gruppen, in denen die letzten
-Nachzügler nur noch das Orgelspiel und die Klingeltöne, aber nimmer die
-Worte der Predigt vernehmen konnten.
-
-Der Brunnenplatz und die Marktgasse waren still und leer, alle
-Haustüren versperrt, alle Fenster geschlossen und verhängt. Auch der
-Musketier vor dem Stiftstor war verschwunden, war aufgewacht und
-frühstückte in der Torstube seine Bratwurst. Nur die zerfließenden
-Schneeflecken, die Sonne und der Schatten waren noch da. Und das
-Brunnenrauschen.
-
-In dieser schweigsamen Öde erschien am Ende der Marktgasse ein
-Stiftslakai, spähte an den Häusern hin und verduftete wieder. Nach
-einer kurzen Weile kehrte er zurück und schritt einer reich mit Silber
-verschnörkelten Sänfte voran, die von zwei Jägerknechten getragen wurde
-und zugezogene Gardinen hatte.
-
-Als die Sänfte durch die Torhalle des Stiftes gaukelte, trat die Wache
-nicht ans Gewehr, und man trommelte nicht. Mit Rücksicht auf die
-Kirchenzeit.
-
-Wenige Minuten später, unter der Brennschere und Puderquaste des
-parisischen Perückenmeisters, mußte Herr Anton Cajetan, welcher
-gutausgeschlafene Augen hatte, die Kunde des Mirakels vernehmen, das in
-der Nacht geschehen war. Nach dem ersten Staunen sagte er mit gerechtem
-Ärger, aber in bestem Deutsch:
-
-»Welcher Schafskopf hat mir denn *das* schon wieder angerichtet?«
-
-
-
-
-Kapitel XIV
-
-
-In der schönen, frühlingskühlen Sonnenstille läuteten die Glocken zur
-Wandlung. Als ihre letzten Klänge mit Gesumm verhallten, wurde es in
-der schlummerfriedlichen Torhalle des Stiftes ein bißchen lebendig.
-Unter Führung des Wildmeisters erschienen acht Jägerknechte mit
-vier großen, zweirädrigen Karren. Drei von diesen sanftholpernden
-Fahrzeugen waren mit Jagdnetzen, Stellstangen, Pflöcken und Seilen
-beladen. Auf dem vierten Karren befanden sich zwischen zwei großen
-Klappkisten die drei kleineren Kastenfallen mit den sechs Füchsen, die
-vor der Mittagsstunde >geprellt< werden sollten, um der edlen Aurore
-de Neuenstein und ihrem galanten Hofstaat ein Sonntagsvergnügen zu
-bereiten. Der Wildmeister schmunzelte immer, wie in Erwartung eines
-ganz besonders fröhlichen Ereignisses. Auch die Jäger befanden sich
-in guter Laune. Sie waren Mitverschworene bei dem vom Grafen Tige
-ersonnenen Knalleffekt, der das Fuchsprellen zur Überraschung der
-Demoisellen lustig beschließen sollte. Munter kuderten die Jäger, als
-der Wildmeister befahl: »Nur langsam über den Straßgraben, daß sich die
-vier lieben Kostbarkeiten in den großen Kästen nit überpurzeln. Wenn
-die einander die Bäuch aufreißen, wär der ganze feine Jux beim Teufel!«
-
-Der Karrenzug ging eine Strecke über die zum Tal der Ache führende
-Straße hinunter und dann hinauf zu der großen, noch von dünnem
-Schnee bedeckten Wiese, die sich an den gestutzten Hofgarten
-anschloß. Was man den >Hofgarten< nannte, bot nicht den Anblick eines
-fürstlichen Parkes. Es war nur ein großes, umzäuntes Gemüsefeld,
-jetzt schneefleckig, mit entblätterten Beerstauden und Obstbäumen,
-die man der Zeitmode zulieb ein bißchen versaillisiert und mit der
-Schere höchst sonderbar in Form von Bechern, Leiern und Pyramiden
-zugestutzt hatte -- ein halb komisches, halb trauriges Gleichnis für
-die Mißgeburten der modischen Pariserei, für das Wollen und Nichtkönnen
-der kleinen, durch sinnlose Verschwendung überschuldeten Höfe.
-
-Auf der freien Wiese, die neben diesem fürstpröpstlichen Hofgarten
-lag, wurden die Netze für die galante Festivität des Fuchsprellens
-aufgestellt. Sonst war es nicht üblich, die Population an den
-Erlustigungen des Hofes teilnehmen zu lassen. Das niedere Volk
-in seinem Unverständnis war immer rasch bereit, die graziöseste
-Galanterie als Schweinerei zu verschreien. Drum pflegte man sonst
-den Festraum solcher Ergötzlichkeiten mit hohen, undurchsichtigen
-Jagdtüchern zu umschließen. Doch für das muntere Fuchsprellen hatte
-man, einem staatsweisen Rate des Herrn von Grusdorf entsprechend, die
-durchsichtigen Netze gewählt. Der Kanzler war der Meinung, daß der
-gnädig bewilligte Mitgenuß bei solch einem heiteren Spektakel eine
-wünschenswerte Beruhigung der bedenklich erregten Subjekte inaugurieren
-würde.
-
-Der Schaulust des Volkes wurde an diesem sonnleuchtenden Hornungsmorgen
-auch noch auf andere Weise gedient. Während auf der Hofwiese die
-Netze für das Fuchsprellen gespannt wurden, brachten zwei Bußknechte
-aus der Torhalle den langen, schweren, mit festen Eisenklammern
-versehenen Schandbalken herausgetragen. Seine Farbe -- er war von dem
-vielen eingetrockneten Blut beinahe schwarz geworden -- konnte davon
-erzählen, daß die Schaustellung an diesem Holz der Unehr nicht nur
-eine qualvolle, auch eine lebensbedrohliche Sache war. Die robustesten
-Inkulpaten hielten das Hängen in diesen schneidenden, Haut und Muskeln
-zerreißenden Eisenklammern nicht länger als zehn Stunden aus, ohne
-der Erschöpfung und dem Blutverlust zu erliegen. Die meisten der
-Verurteilten wurden schon gleich zu Beginn der Marter ohnmächtig, und
-löste man sie vom Balken, so krankten sie Wochen und Monate an den
-schwärenden Wunden.
-
-Dieses häufig benötigte _instrumentum justitiae_ aufzurichten,
-verursachte geringe Arbeit. Man brauchte nur aus dem dicht am Brunnen
-befindlichen Mauerloch den deckenden Holzstöpsel herauszuziehen und
-den Balkenfuß hineinzusenken. »Lupp auf!« Die zwei Freimannsleute
-hoben mit den Schultern. Ein kollerndes Gepolter, und nun stand der
-hohe Balken aufrecht, ähnlich einem Galgen ohne Querholz. Eine kleine
-Leiter wurde angelehnt, und alle Vorbereitungen für diese Sonntagsgabe
-der Hringghhischen Wahrheitsforschung waren erledigt, gerade in dem
-Augenblick, als alle Kirchenglocken den Segen des Hochamtes melodisch
-auszuläuten begannen. Aus dem Schattendunkel des Tores kam ein kleiner
-Zug heraus: zwei Musketiere, hinter ihnen der gutwillige und deshalb
-ungefesselte Verbrecher zwischen dem Freimann und seinem Knechte,
-dann wieder zwei wachsame Soldaten Gottes und als Beschluß der etwas
-schläfrige Feldwebel Muckenfüßl, der, um seinem staatserhaltenden Amte
-zu genügen, von seiner Christenpflicht ein kleines, für den lieben
-Gott gewiß nicht belangreiches Zipfelchen hatte abzwicken müssen.
-
-Leupolt Raurisser ging aufrecht, mit festem Schritt. Er hatte keine
-Spur von Scham oder Zorn im Gesicht. Der Blick seiner glänzenden
-Stahlaugen war so still, als wäre für ihn, was hier geschah, eine
-fremde Sache. Die sinnende Ruhe, mit der er hinauf sah ins leuchtende
-Blau, war fast ein heiteres Lächeln. Der Schein der Morgensonne glänzte
-auf seiner Stirn und auf den Strähnen seines dichten Blondhaars.
-Meister Raurisser hatte das beim Pflegeramt erbettelt: daß man seinem
-Buben den Kopf nicht schor wie einem Ehrlosen. Man hatte dem Vater
-diese unverdiente Gnade aus Klugheit bewilligt, weil der Mälzmeister
-die Güte des Bieres, das er für die Herren braute, leicht durch eine
-unerweisbare Bosheit zu mißliebigen Wirkungen permutieren konnte.
-
-Am Schandpfahl durfte Leupolt das fürstpröpstliche Jägerkleid nicht
-tragen; man hatte ihm die Uniform jenes Aufenthalts verliehen, in dem
-es nicht Mond noch Sonne gibt: einen langen Kittel aus grauem Zwilch,
-dessen schlappe Falten einen zutreffenden Schluß auf die Feuchtigkeit
-der Mauern gestatteten, zwischen denen Leupolt seit seiner Heimkehr
-vom Königssee viele dunkle und doch von einem Stern durchleuchtete
-Stunden verbracht hatte. Pfarrer Ludwig, wenn er den Leupolt so
-gesehen hätte, würde vielleicht im Sinne Spinozas wieder gesagt haben,
-daß kein Ding auf Erden so bös ist, um sich nicht irgendwie in ein
-Gutes für die Menschen verwandeln zu können. In keiner Jägertracht,
-auch nicht in der Weidmannsgala mit den Silbertressen und den hohen
-Knöpfelgamaschen war es so deutlich wie in diesem schmiegsamen, von
-Sickerwasser durchtränkten Sträflingskittel zu erkennen gewesen, welch
-einen schönen, stracken, prachtvoll gebauten Jünglingskörper der
-Leupolt Raurisser von Mutter und Vater, von Gott und Natur empfangen
-hatte. Schade, daß Pfarrer Ludwig, der schöne Menschen immer mit Freude
-sah, diese Wahrnehmung nicht machen konnte; von seiner Unpäßlichkeit
-gepeinigt, lag er noch immer zu Bett und litt so schwer, daß er seit
-dem vergangenen Abend den Bader schon viermal hatte holen lassen.
-
-Als die Karawane der Gerechtigkeit zum Brunnen kam, sagte Muckenfüßl
-mit einem sanften Unterton von Barmherzigkeit: »Jetzt tu nit obstinat
-sein, junger Inkulpatant! Und mach dem Freimann _in loco hujus_
-keine Schwulitäten nit!« Der Feldwebel brauchte nicht weiterzureden.
-Die Leiter verschmähend und mit einem Sprung, so flink, daß die
-erschrockenen Soldaten Gottes einen Fluchtversuch vermuteten, schwang
-sich Leupolt auf den marmornen Brunnenrand, stieg auf den kleinen
-Fußblock des Balkens, drehte hurtig den Körper, preßte den Rücken
-gegen den Pfahl, verschlang hinter ihm die Arme und sagte: »So! Ich
-steh. Jetzt haket die Eisen ein!« Gleich war der Freimannsknecht auf
-der Leiter, und Muckenfüßl, der für menschliche Werte nicht so völlig
-blind war wie der gelöckelte Rechtsbalbierer, sagte anerkennend: »Tät
-sich jeder Inkulpatant so kommoditätisch wie du traktieren, da wär
-die justiziarische Mühsamkeit für meinen _ego ipsus_ ein sanftmütiges
-Knödelschlucken. So! Jetzt tu schön pazientisch aushalten. Acht
-Stündlen bis zum Betläuten am Abend ist eine gnädige Tempora für so
-eine schwere Crimination.« Gähnend schritt der Feldwebel davon, um
-sich ein Stündl aufs obrigkeitliche Ohr zu legen. Die vier Musketiere
-blieben als Wache zurück, und der Freimannsknecht erledigte seine
-klirrende Arbeit.
-
-Leupolt stand unbeweglich am Pfahl und zog nur die Brauen ein bißchen
-zusammen, als die schweren, rostrauhen und scharfkantigen Eisenbänder
-seine Fußknöchel, seine Handgelenke und seinen Hals umklammerten. Der
-körperliche Schmerz war keine Pein für ihn. Sein Leiden begann erst,
-als nach den letzten Glockenschlägen des Segengeläuts der bunte Schwarm
-der Kirchgänger heranströmte. Von vieren hoffte Leupolt, daß sie nicht
-kommen würden; seiner Mutter, dem Vater und den Brüdern hätte er an
-diesem Tag nicht gern in die Augen gesehen; durch einen Bußknecht,
-der sich ihm freundlich erwies, hatte er die viere bitten lassen, den
-Marktplatz nicht zu betreten. Und gerne hätte er das auch einer anderen
-noch sagen lassen. Alle, alle sollten kommen. Nur diese Einzige nicht!
-Die barmherzig für ihn hatte reden wollen vor dem Richter! Die sollte
-ihn nicht hängen sehen am Holz der Unehr. Und nicht um seinetwegen,
-um ihrer selbst willen sollte sie das nicht sehen müssen. Er wußte:
-weil sie gerecht war, würde sie leiden bei seinem Anblick. Dieser
-Gedanke wurde ihm zu einer Qual. Dennoch war in dieser Marter auch eine
-Süßigkeit, die ihm schön durch die Seele und durch jeden Blutstropfen
-rieselte.
-
-Schon begann sich ein Schwarm von Kindern um den Brunnen zu sammeln,
-Burschen und Mädchen blieben stehen, Männer und Weiber. Erst war's
-nur ein scheues Flüstern, dann ein erregtes Durcheinanderreden,
-ein wirrer Lärm. Immer dichter sammelten sich die Menschen, schon
-waren es Hunderte, ein Paar Tausend jetzt, ein Gewühl von Schultern
-und Köpfen, und Leupolt wußte, nun würde das kommen, wie es immer
-kam, wenn ein zum Eisen Gesprochener am Balken hing: das höhnende
-Geschrei, der grausame Spott, das Wasserspritzen und Kittelzupfen.
-Sich im Eisen streckend, hob er die Augen zum Blau und sprach mit
-lauter Stimme das Gebet des preußischen Königsprinzen: »Herr, wenn ich
-Dich nur hab, so frag ich nimmer nach Himmel und Welt; auch wenn mir
-Leben und Seel verschmachten, bleibst Du mein Heil und meines Herzens
-Trost!« Hell, wie der Klang eines stählernen Hammers tönte seine feste
-Jünglingsstimme über den weiten Brunnenplatz. Eine seltsame Bewegung
-ging über die Menschenmenge. Wie ein Rauschen war es, so, wie jenes
-dumpfe, wunderliche Sausen ist, wenn in der Stille vor einem Gewitter
-der erste Sturmstoß in die belaubten Bäume fährt. Leupolt sah das nicht
-und hörte keinen Laut. Das Gesicht emporgerichtet, hatte er die Augen
-geschlossen, weil die Sonne ihn blendete. In dem purpurnen Schein,
-der ihm kreisend hinschwamm über die geschlossenen Lider, standen
-plötzlich, gleich einer wirklichgewordenen Erinnerung, die Linien eines
-Holzschnittes, den er im Winter beim Wildmeister gesehen hatte: wie der
-Küstriner Henker dem Leutnant Katte das Haupt herunterschlägt, und wie
-an einem Festungsfenster der kleine, magere Kronprinz Friedrich von
-zwei Offizieren an den Armen festgehalten wird, um nach seines Vaters
-Willen das Grauenvolle mit eigenen Augen anzuschauen.
-
-Noch immer die Lider geschlossen haltend, flüsterte Leupolt: »Was ist
-mein Leiden dagegen? Ein Stäubl.« Seine Brust hob sich unter einem
-tiefen Atemzug. »Ob der Königssohn wohl so gebetet hat in jener harten
-und blutigen Stund? Und hat das Gebet ihn hinübergelupft in die
-friedsame Ruh? Da wird es auch mich hinüberlupfen über das bißl Weh.
-Über so einen leichten Tag! Zum ruhsamen Stündl nach der Betläutzeit!«
-
-War sie schon da? Diese stille Stunde? Langsam öffnete Leupolt die
-Augen, und während ihm an Hals und Händen schon das Blut unter dem
-scheuernden Eisen herauströpfelte, sah er wie ein Träumender über die
-zusammengestaute Menschenmenge hin, die schon angewachsen war auf drei,
-vier Tausende. Nur ein dumpfes Gesumm, kein lautes Wort, keine höhnende
-Rede, kein Kittelzupfen und kein Wasserschütten. Alle Gesichter waren
-ihm zugewendet, alle Augen waren auf ihn gerichtet, und in jedem Aug,
-auf das er hinuntersah, war Erregung und Verstörtheit oder Trauer und
-Erbarmen.
-
-Daß alle, die da standen, hart umpeitscht waren von der Woge der
-Zeit; daß jeder zu tragen hatte an einer Pein des Lebens; daß alle
-Gemüter und Gehirne an diesem Morgen durchwirbelt waren vom Mirakel
-der Armeseelenkammer; daß die Unsichtbaren fühlten: dieser Gequälte
-ist der Unsere, der für uns duldet und mit dem wir leiden; und daß
-die Gutgläubigen wußten: das ist der Leupolt Raurisser, von unseren
-Buben der redlichste, der Sohn der frömmsten, treuesten und gütigsten
-Bürgerin im Land -- das war es nicht allein, was aus diesen tausend
-trauernden oder funkelnden Augen redete. Es war in ihrem Blick noch
-etwas anderes, etwas Tieferes und Stärkeres, etwas Dunkelschönes
-und Unnennbares. Das sah und fühlte der Blutende am ehrlosen Holz.
-Und zwischen dem Schwarm der Kinder, die stumm und scheu zu ihm
-hinaufblickten, stand eine engzusammengepreßte Gruppe von sieben
-alten, graubärtigen Männern. Der vorderste am Brunnen, das war der
-greise Fürsager von der Untersteiner Krippe, und neben ihm stand der
-bejahrte Fürsager von Bischofswies, der von Ilsank, von der Ramsau, vom
-Taubensee, vom Schwarzeneck und von der Gern. Und der Untersteiner,
-der zwei andere an den Armen umklammert hielt, streckte dem Leupolt
-das Gesicht mit vorstechendem Bart entgegen und flüsterte immer mit
-langsamen Lippen, wie man redet zu einem Taubgewordenen, damit er
-lesen soll aus den Zeichen des Mundes. Leupolt erfaßte keinen Laut;
-den blutenden Hals im Eisen reckend, spähte er immer auf diese welken
-Lippen hinunter, mit dem gleichen bohrenden Jägerblick, mit dem er
-droben über den Wänden den Flug eines kreisenden Adlers zu verfolgen
-pflegte -- und plötzlich verstand er, nickte dem Alten lächelnd zu
-und begann mit lauter Stimme die Worte der Bergpredigt vor sich
-hinzusagen. Wieder ging jenes seltsame Rauschen über die tausend Köpfe
-und Gesichter. Von den Musketieren tuschelte einer seinem Kameraden zu:
-»Flink zum Muckenfüßl! Mir gefallen die Leut nit. So sind sie noch nie
-gewesen.«
-
-Irgendwo ein Gewirr von lauten Rufen. Eine wachsende Unruh. Da drüben
-war's, wo hinter der Stiftsmauer das enge Gässel herausmündete. Und
-jetzt eine scharfe, in Erregung schreiende Frauenstimme: »Lasset mich
-durch, ihr Leut! Eine Mutter muß allweil einen Weg zu ihrem Buben
-haben!« Leupolt erblaßte. Er versuchte hinüber zu sehen, konnte aber
-den Kopf im Eisen so weit nicht wenden. Es rannen ihm nur am Hals die
-Blutfäden dicker unter den Zwilchkittel. Und da war schon im Gedräng
-eine schmale Gasse offen, und Frau Agnes, mit einem Körbl zwischen den
-zitternden Händen, kam zum Brunnen her. Ihr Gesicht war fast so weiß
-wie ihre Haube. »Bub!« sagte sie. »Schau, deine Mutter ist da!« Es
-wurde so still, daß man im leisen Brunnengeplätscher jedes ihrer Worte
-bis zu den Häusern hinüber verstehen konnte. »Deine Brüder hab ich
-eingeriegelt im Haus. Die täten Dummheiten machen. Ich tu, was recht
-ist, nit mehr. Und alles hab ich bei mir, was du brauchst. Tut dich
-hungern? Ich hab's im Körbl.«
-
-»Frau!« murrte ein Musketier. »Das ist verboten.«
-
-Die Mälzmeisterin hörte das nicht. Sie sprach zu ihrem Buben hinauf:
-»Tut dich dürsten? Ich hab's in der Flasch.« Gleich wollte sie
-auspacken.
-
-Er sah in Freude und Kummer zu ihr hinunter. »Mutter! Du Gute! Was tust
-du mir!«
-
-Sie hörte nicht seine Zärtlichkeit, nur seinen Vorwurf. »Ich tu, was
-ich gelernt hab von der heiligsten aller Mütter. Ist die nit auch
-als Mutter unter dem blutigen Holz gestanden? Soll ich daheimbleiben
-und Krapfen backen? Da tät mich die heiligste Mutter im Leben nimmer
-anschauen mit ihren gütigen Augen.« Nun sah sie das Blut über seine
-Hände rinnen und mußte aufschreien, zerrte das weiße Tuch von ihrem
-Hals, fuhr damit in den Brunnen und wollte die Hände ihres Buben
-kühlen. Ein Musketier schob seine Feuersteinflinte zwischen Frau Agnes
-und den Balken. »Das ist verboten, du!« Die Augen der Mälzmeisterin
-funkelten. Aber sie blieb verständig, zog nur ein bißchen mit der Hand
-aus, in der sie das triefende Tuch umklammert hielt. »Verboten oder
-nit, ich tu's! Und tätst du's wehren, so schlag ich dir das nasse
-Tüchl ums Maul, daß du von deinem Weib noch nie eine festere Schell
-gekriegt hast.«
-
-Ein heißes Auflachen von tausend Menschen. Auch das hörte die
-Mutter Raurisser nicht. Während ihr die Tränen über das Kinn
-herunterkollerten, streckte sie sich am Holz der Unehr hinauf und
-hob die Arme. Der Musketier wollte sie fassen, doch einer von seinen
-buntgelitzten Kameraden packte ihn am Arm, wurde bleich und knirschte:
-»Die Frau tust du in Ruh lassen. Gelt!« Das hörte und sah von den
-Tausenden niemand, alle sahen nur die Mutter Agnes an, die mit dem
-nassen Tuch die blutenden Hände ihres Buben wusch. Und aus dem
-Menschengewühl flog über den Brunnen her eine grillende Mädchenstimme:
-»Recht so, Mutter!« Es war das Untersteiner Mädel mit den zerschlagenen
-Brüsten. »Recht so, Mutter! Und gelt, da tust du nit grüßen: Gelobt
-sei Herr Jesuchrist!« Die letzten Worte gingen unter in dem einmütigen
-Aufschrei der Tausende: »Recht so, Mutter! Recht so!« Der Zorn einer
-erbitterten Menschenseele hatte den Tausenden das Wort der Stunde
-gegeben. Dann ein verblüfftes Schweigen und Schauen.
-
-Aus der Halle des Stiftstores klang eine heitere Hifthornweise heraus,
-fein harmonisch ineinander geblasen. Tausend Menschen drehten die
-Gesichter und streckten die Hälse. Aber was in diesen Augen blitzte,
-war nicht die Neugier, nicht die Lachlust derer, die der deutschferne
-Wortschatz des Pflegeramtes als Subjekte zu bezeichnen pflegte. Herr
-von Grusdorf hatte sich in seinen staatsmännischen Kalkulationen
-wieder einmal geirrt. Sehr verhängnisvoll. Der bunte, nach Pariser
-Grazie strebende Zug der Fuchsprellerpaare hätte in keinem Augenblick
-erscheinen können, so falsch gewählt, wie dieser.
-
-Vorerst aber sahen die Hunderte, die vor den Stäben der Läufer
-auseinander wichen, dieses unnatürliche Schritthüpfen und gezierte
-Steifrockschwenken mit schweigendem Staunen an, den Zorn nur in den
-Augen.
-
-Voraus die drei betreßten Jäger mit den in der Sonne blitzenden
-Hifthörnern, dann die Pagen, an deren gebänderten Stäben die
-Fuchsschwänze baumelten, dann die sechs Prellerpaare, als erstes Graf
-Tige mit der Allergnädigsten in grüner Seide und wehenden Pelzflocken,
-dann die fünf anderen Domizellaren mit den hübschen Beamtentöchtern,
-deren geschmacklos zusammengestoppelter Aufputz genau so Pariser
-Mode war, wie der gestutzte Hofgarten ein Park von Versailles. Die
-Festlaune der sechs Pärchen war überaus munter. Immer gab's da was zu
-kichern über galante Scherze, über unzulängliches und komisch wirkendes
-Französisch. Unter den schmelzenden Hifthornklängen, umtänzelt von den
-Pagen, die mit ihren Fuchsschwänzen die Demoisellen an den Hälsen und
-Nasen kitzelten, hüpften und menuettierten die Prellerpaare an den
-Bürgern und Bauern vorüber, in deren Gedräng es laut zu werden begann.
-Aurore de Neuenstein, die wohl lieblich zwitscherte, aber nicht ganz
-so pflaumenzart, nicht ganz so unschuldsvoll und kindlich aussah wie
-sonst, wurde plötzlich überraschend ernst, sah fast erschrocken in das
-lärmende Gewühl hinein, wollte sagen: »_Qu'est-ce que c'est que le
-peuple_« -- vergaß wie vor dem Haynacherlehen ihrer modischen Bildung
-und stotterte: »Was hawe denn die dumme Leit?« Graf Tige schien das
-Bedrohliche der Situation zu empfinden, und befahl den Hornbläsern:
-»_Vite! En avant!_« Er zog das Händchen der Allergnädigsten, die er
-zierlich an erhobenen Fingerspitzen geleitet hatte, schutzfreudig unter
-seinen Arm und machte den anderen Pärchen jene flinke, sehr natürliche
-Gangart vor, die man vor Ausbruch eines Gewitterregens einzuschlagen
-pflegt. So gelang es ihm, den faschingsbunten Zug zur Hofwiese
-hinüberzubringen, bevor die erregten Subjekte ihren mißverständlichen
-Zorn in polizeilich unzulässigen Formen zu äußern begannen.
-
-Es sah in dieser Stunde mit der Schaulust und Lachfreudigkeit der
-niederen Population sehr mager aus. Nur ein Häuflein Kinder zappelte
-dem hohen Netz entgegen, das den höfischen Festplatz umspannte,
-und außer einigen vorsichtigen Mannsleuten, denen es auf dem
-Brunnenplatze nimmer geheuer erschien, bestand das dankbare Publikum
-des beginnenden Fuchsmartyriums fast nur aus den Müttern, Schwestern
-und spöttischen Basen der fünf bürgerlichen Demoisellen, die man der
-hohen Ehre, an solchem Hofspektakel teilzunehmen, als würdig erfunden
-hatte. Unbekümmert um Gunst oder Mißgunst derer von da unten, fand
-die Prellgesellschaft innerhalb des Netzes rasch ihre vergnügte
-Laune wieder, und Aurore de Neuenstein zwitscherte mit entzückender
-Kindlichkeit die politische Meinung aus, man müsse da bald einmal
-»rechtschaffe dezimiere«, um wieder erquickliche Ruh ins Ländle zu
-bringen.
-
-Vor der Mündung des langen, durch eng aneinander gesteckte Rutenbogen
-gebildeten >Fuchslaufes< stellten sich die Paare erwartungsvoll in
-bunte Reihe, Schulter neben Schulter. Jeder Demoiselle stand ihr
-Monsieur, jedem Monsieur seine Demoiselle gegenüber. Zwischen jedem
-Pärchen im _vis-à-vis_ lag quer vor dem Fuchslauf die spannenbreite
-und drei Ellen lange Prellgurte auf dem Schnee, mit festen Holzgriffen
-für die Hände an den Enden. »_Attention, mesdames et messieurs!_«
-kommandierte der Wildmeister, der kein Französisch verstand und es
-aussprach, wie man Haselnüsse knackt. »_Exit le premier renard!_«
-Die Hifthörner bliesen eine Gavotte, die erste Kastenfalle wurde
-geöffnet, und gleich einer langgestreckten roten Flamme sauste der in
-der Falle mit einem Schwefelfaden gebrannte Fuchs durch den langen
-Laufgang der Rutenbogen. Im Gesichtchen der Allergnädigsten zeigte
-sich der Ausdruck einer fiebernden Spannung. Jetzt fuhr der Fuchs,
-dem die Sonne grün in den Augen funkelte, aus den Rutenbogen heraus.
-»Huppla!« schrie Aurore de Neuenstein mit einer von süßer Grausamkeit
-durchzitterten Freude ihrem Partner zu. Ein Zuck der in weißem
-Ziegenleder steckenden Händchen, die Prellgurte schnellte wie der Blitz
-in die Höhe, und der Fuchs, von dem heftigen Netzschlag an der Weiche
-gefaßt, flog ein Dutzend Ellen hoch in die blauen, hornungskühlen
-Sonnenlüfte hinauf. Heiter lachte Graf Tige: »_Le voilà!_« Alle die
-jungen, blitzenden Augen waren auf den fliegenden Fuchs gerichtet, der
-bei seiner Luftreise drollig zappelte, elegante Kapriolen machte und
-absonderliche Purzelbäume schlug. Vom Schusse seines Laufes im Fluge
-noch weitergetrieben, fiel er in das dritte Prellnetz. »Huppla!« Von
-kräftigeren Fäusten aufgeprellt, sauste er noch höher in die Luft,
-überschlug sich wie ein hurtiges Feuerrad mit wehendem Kometenschwänzl,
-fiel in das vierte Prellnetz, sauste wieder in die Höhe, und als
-er nach dem letzten Sonnenfluge außerhalb der glitzerbunten Reihe
-dieser lieblichen Jugend wie ein kleiner roter Sandsack schwer
-herunterplumpste in den weißen Schnee, hatte er, mit rotem Schaum vor
-den gefletschten Zähnen, seine irdische Ruh gefunden und war entseelt.
-
-Die Hifthörner bliesen die melancholische Fuchstodweise. Ein
-Beifallklatschen -- nur innerhalb des Netzes -- ein seliges
-Durcheinanderzwitschern; der erlöste Fuchs, der blutbefeuernde Reiz
-der Stunde, der rotfleckige Schnee, die Sonne, der Himmel, das
-silberne Bild der Berge, alles war »_Superbe!_« war »_Magnifique!_«
-und »_Très délicat!_« Nur nach dem Brunnenplatz verirrte sich kein
-Blick der seligblitzenden Unschuldsaugen. »_Attention, mesdames et
-messieurs! Exit le second renard!_« Die Hörner gavottierten, die rote
-Flamme sauste durch die Rutenbogen -- »Huppla!« -- und während das
-zweite Opfer dieser graziösesten aller Menschenfreuden gegen die Sonne
-wirbelte, schien es plötzlich, als wäre da drüben auf dem Brunnenplatze
-aller Lärm versunken in ein lautloses Schweigen.
-
-Nein! Da drüben war es nicht völlig still geworden. Es übertönten nur
-die Hörner das beklommene Gesumm. Alle, die in der Nähe des Brunnens
-waren, hatten gesehen, daß der Blutende, den die Kraft schon verlassen
-wollte, sich plötzlich in den Eisen reckte und mit Schreck und Freude
-über das Gewoge der Köpfe nach einer Gassenstelle spähte. Viele drehten
-die Gesichter nach dieser Richtung und suchten mit den Augen. Und viele
-sahen und hörten das: wie Leupolt Raurisser an allen schmerzenden
-Gliedern entkräftet in sich versank, in den schneidenden Klammern hing,
-sich lächelnd wieder aufreckte, kraftvoll am Balkan stand, verklärte,
-heißglänzende Augen bekam und zu Frau Agnes hinuntersagte: »Mutter,
-jetzt kommt das Härteste und Schönste!« Viele sahen, wie er gewaltsam
-seine aufrechte Kraft erzwingen wollte, wieder zu sinken begann und
-mit der Kehle an den Kanten des rotgewordenen Eisens hing. Und während
-Leupolts erloschene Stimme wieder zu beten anfing: »Herr, wenn ich
-Dich nur habe --«, kam ein Stoßen und Armwühlen von den Häusern durch
-die gestaute Menschenmenge herüber, viele Leute redeten aufgeregt
-durcheinander, und immer schrie eine bange, von Sorge umklammerte
-Mädchenstimme: »Meister, Meister --«
-
-Den dreien, die da kamen, wurde Platz gemacht. Hundert Stimmen wirrten
-sich durcheinander, und dennoch hörte man das Betteln der Sus: »Ach
-Meister, ich tu Euch bitten, kommet mit heim! Habt Ihr nit Sorg um
-Euretwillen, so schauet doch Eurem Kind in die Augen!«
-
-Wie halb von Sinnen, blaß und zitternd, mit verstörtem und dennoch
-gierig suchendem Blick, hing Luisa an den Vater geklammert, der sie mit
-dem rechten Arm umschlungen hielt und mit dem linken immer weiteren
-Raum in dem aufgeregten Menschengewühl erzwang. Als die flehende Magd
-sich vor ihn hindrängte, schob er sie aus seinem Weg und sagte durch
-die Zähne: »Geh, Sus! Das wirst du nit hindern. Ich tu, was ich muß.«
-Sie bettelte: »Meister, um aller Seligkeit willen --« Da preßte Luisa
-die Hand auf den Mund der Magd: »Sei nit so mutlos! Was du haben willst
-vom Vater, ist unbarmherzig. Wenn Gerechtigkeit nimmer bei den Richtern
-ist, so muß sie bei uns anderen sein.«
-
-Meister Niklaus drängte vorwärts, und die blonde Magd, obwohl sie sich
-verzweifelt wehrte, wurde zurückgerissen in das lärmende Gewühl. Nun
-standen die beiden vor dem Brunnen, Hand in Hand. Luisa mußte die Augen
-schließen und preßte zitternd den Arm vor das entstellte Gesicht.
-Ihr Vater, die Stirn überronnen von einer kalkigen Blässe, sah zu
-dem Blutenden am Balken hinauf, und seine Stimme, nach einem ersten
-Schwanken, wurde fest und laut: »Mich hast du behüten wollen vor einem
-harten Ding. Um meintwegen mußt du büßen. Helfen kann ich dir nit, Gott
-sei's geklagt. Aber wo du leidest, da ist mein Platz.«
-
-Leupolt lächelte. Dann schien ihm zu entrinnen, was noch an Kraft in
-seinen zuckenden Gliedern war. Den Kopf im Eisen nach vorne pressend,
-daß ihm ein roter Sickerstrich herunterging über den grauen Kittel,
-sagte er mühsam: »Vergeltsgott! Aber gelt, jetzt tust du wieder
-heimgehen.« In den Eisen sinkend, schloß er die Augen. »Wie das liebe
-Mädel zittert -- Meister, das kann ich nit sehen.« Seine Stimme erlosch.
-
-»Barmherziger!« schrie Mutter Agnes. »Mein Bub verscheint!« Aus
-einer Flasche füllte sie einen Zinnbecher und wollte auf den Brunnen
-steigen. Da faßte ein Musketier die Frau am Kittel. »Es därf nit sein,
-Meisterin!« Sie kreischte wie von Sinnen: »Hat nit ein römischer
-Musketier dem Erlöser am Kreuz einen Kühltrunk hinaufgehoben? Steht
-das im Urtl, daß wir gutkatholischen Christen unbarmherziger sein
-müssen, als die Heiden gewesen sind?« Die Erregung der Tausende war
-wie wachsendes Sturmrauschen. Und der Musketier machte ratlose Augen.
-»Steht das im Urtl?« schrie die Mälzmeisterin. Nein. Es stand nicht
-drin. _Dr_. Halbundhalb hatte vergessen, dieses Wesentliche seinem
-die Wahrheit bekämpfenden Dokumente einzuverleiben. Und Mutter Agnes
-in ihrer Seelenangst entschied: »Was nit verboten ist, muß erlaubt
-sein!« Sie wollte klettern. Da war ein Kleiderwehen neben ihr, und
-ein tausendfacher Zuruf der erregten, näherdrängenden Menschen. »Nit,
-Mutter Agnes,« hatte Luisa aufgeschrien, »laß *mich* das tun!« Und
-hatte der Mälzmeisterin den Becher aus der Hand genommen und stand
-schon droben auf dem Gesims des Brunnens. Um zu helfen, umklammerte
-Frau Agnes die Knie des Mädchens: »Streck dich, Kindl, ich laß nit
-aus, du tust nit fallen!« Sich hinaufreckend am Holz der Unehr, schob
-Luisa die linke Hand hinter Leupolts Nacken und hob den Becher an
-seine bläulichen Lippen. »Komm! Tu trinken, du guter Mensch!« Ein
-wunderliches Geschrei der Tausende. Es klang wie Zorn, wie Aufruhr,
-hatte etwas Erschreckendes und war doch Freude, war aufatmendes
-Erbarmen.
-
-Leupolt hatte die Augen geöffnet.
-
-Wieder sagte sie: »Komm! Tu trinken!« Und das Geschrei der drängenden
-Menschen verstummte plötzlich und wurde ein Staunen und Lauschen.
-
-Er lächelte, schien nicht zu hören, was sie sagte, und sah nur in ihre
-Augen. Der Glanz seines Blickes und das Fadengerinne seines Blutes
-machten sie so verstört, daß sie heftig zu zittern begann. Sie drohte
-umzusinken. Während ihr alle Sinne taumelten, hörte sie wie aus einem
-kreisenden Brunnen herauf die bettelnde Mutterstimme: »Du tust nit
-fallen! Streck dich, Kindl, ich laß nit aus!« Da wurde es wieder hell
-vor ihrem Blick, sie konnte das Blut des Büßenden und seine Augen
-sehen, streckte sich an dem Lächelnden hinauf, und weil sie nicht
-sprechen konnte, streichelte sie nur sein Haar und hob zwischen seinen
-Lippen den Becher. Als er am Kinn die rinnenden Fäden des Trunkes
-fühlte, verstand er, konnte die verbissenen Zähne öffnen und trank.
-Luisa reichte den geleerten Becher hinunter und schrie: »Gib, Mutter!
-Gib! Er dürstet noch allweil!« Solang ihre Hand ohne Hilfe war, hatte
-sie nicht den Mut, zu ihm aufzublicken, auch dann nicht, als er leis
-ihren Namen sagte: »Luisli?« Sie sah sein Lächeln nicht, doch sie hörte
-es aus dem Klang seiner Stimme und senkte das Gesicht noch tiefer. Erst
-als sie den gefüllten Becher umklammerte, wagte sie die Augen wieder
-aufzurichten, hob den Trunk zu ihm hinauf und flüsterte: »So komm!«
-
-Er trank und leerte den Becher.
-
-Wieder schrie sie zur Mälzmeisterin hinunter: »Gib! Er dürstet!«
-Lächelnd schüttelte Leupolt den Kopf: »Nit, du Gütige! Es ist genug.«
-Aus jedem Laut seiner Stimme war es zu hören, wie die erschöpften
-Kräfte neu erwachten in ihm. »So heilig ist mir noch nie ein Trunk in
-die Seel gegangen, derzeit ich leb. Ich sag dir Vergeltsgott, Luisli!«
-Seine Augen flehten. »Und gelt, jetzt tust du mir was zulieb?«
-
-Ihr blasses Gesicht erglühte. »Alles -- was nit wider Gott ist.«
-
-»So tu ich dich bitten, geh heim! Du tust es mir leichter machen.
-Willst du?«
-
-Sie nickte, wandte sich von ihm ab wie ein folgsames Kind, sah nicht,
-wie blutig ihr Kleid und ihre Hände geworden waren, ließ sich von
-Mutter Agnes und vom Meister hinunterheben und sagte: »Komm, Vater, wir
-gehen heim. Der Leupi will's haben. So muß es sein.«
-
-Während die beiden einen Weg durch die Mauer der Menschen suchten,
-hörte man, wie in der halben Stille, die noch immer herrschte, die
-zittrige Stimme eines alten Mannes zur Sonne hinaufschrie: »Sei
-gesegnet, du heilige Barmherzigkeit!«
-
-Diesen Schrei hatte Leupolt nicht vernommen. Immer sah er den beiden
-nach, die verschwanden, wieder auftauchten und dann nimmer zu sehen
-waren. Er erwachte erst aus seiner lächelnden Versunkenheit, als
-tausend Arme sich erhoben und tausend Stimmen das Wort des alten Mannes
-wiederholten: »Sei gesegnet, du heilige Barmherzigkeit!« Dann wieder
-ein halbes Schweigen in der funkelnden Sonne, und Frau Agnes stammelte
-klagend zum Holz der Unehr hinauf: »Ach, Bub, dein liebes, dein junges
-Leben!« Mit dem Blick eines Glücklichen sagte er: »Man muß das Leben
-nit lieb haben um des Lebens willen, nur um der heiligen Stündlen
-wegen, die's einem schenken kann.« Noch tiefere Stille. Und plötzlich,
-nahe dem Brunnen, klang eine schrillende Weiberstimme, wie völlig
-sinnlos, ähnlich dem Verzweiflungsschrei einer Wahnwitzigen: »Gott?
-Unser Herr und Gott? Warum hast Du uns verlassen?« Da reckte sich der
-Blutende in den roten Eisen. Er straffte sich an allen Gliedern, seine
-Augen glänzten über die tausend wogenden Köpfe hin, und seine rufende
-Stimme wurde wie Stahl: »Weil wir lügen und heucheln. Gottes Hilf ist
-bei den Mutigen, die wahrhaft sind!«
-
-»Jesus!« stammelte Mutter Agnes erschrocken und streckte wehrend die
-Hände zu ihrem Sohn hinauf. Und ein Musketier stieß den Kolben seiner
-Flinte gegen Leupolts Füße: »Kerl, du! Willst du nach aller Gnädigkeit
-das Maul aufreißen und die Leut verhetzen? Du?« Inmitten eines jähen
-Verstummens der Tausende gab Leupolt die klingende Antwort: »Gott
-ist mir gnädig! Soll's jeder halten, wie er meint und muß. Ich will
-bei der Wahrheit bleiben.« Er hob den Kopf aus dem Eisen, daß die
-rote Scheuerwunde an seiner Kehle sich entblößte, und seine Stimme
-wurde wie der frohe Schrei eines beseeligten Menschen. »Jetzt bin
-ich kein Unsichtbarer nimmer. Leut! Ob Leben oder Tod, ich bin ein
-evangelischer Christ.« Der Mutter Agnes brachen die Knie. Sie fiel auf
-die Brunnenstufen hin, bedeckte das Gesicht mit den Händen und mußte
-weinen.
-
-Die Musketiere kreischten: »Jesus, Jesus, wo bleibt der Muckenfüßl?«
-Im gleichen Augenblick zappelte aus dem Stiftstor der Kamerad heraus,
-der fortgelaufen war, um die kanzleideutsche Obrigkeit zu ermuntern.
-Ein Dutzend Soldaten hatte er aus ihren Stuben herausschreien können.
-Von den Herren hatte er keinen gesehen. Wie der Müde _in loco hujus_,
-so schlummerte der vom Verbieten erschöpfte Kanzler, so schnarchte der
-gekränkte Wahrheitsmörder Halbundhalb, so träumte Jesunder aufgeregt
-von dem unerklärlichen Armeseelenkammerrätsel, und so duselten alle,
-die wach geblieben waren in der vergangenen Mirakelnacht. Nur die als
-Sukkurs gerufenen Musketiere klapperten diensteifrig aus dem Tor heraus
-und hörten das erregte Stimmengewoge hinrauschen über den Brunnenplatz.
-Was die Tausende durcheinanderschrien? War es Abwehr oder Zustimmung,
-Zorn oder Hoffnung? Es war alles zugleich und wuchs zu einem tosenden
-Lärm. »Gotts Not! Was ist denn da los?« Der Musketier, der neben dem
-Balken der Unehr stand, gab Antwort: »Der da droben am Schandholz hat
-sich ausgeschrien als Evangelischen. Und verhetzt das gutmütige Volk.
-Dem luthrischen Narren sollt man alle Knochen in Scherben schlagen!«
-Weil er mit dem Flintenkolben eine Bewegung machte, faßte die
-Mälzmeisterin gleich einer Wahnwitzigen den Mann an der Säbelkoppel:
-»Unmensch, du!«
-
-»Unmensch? So?« Er schüttelte die Frau von sich ab. »Und du? Eine
-Gutkatholische? Du weißt wohl nit, was für eine Straf die evangelischen
-Ketzer verdienen?«
-
-Noch ehe Frau Agnes antworten konnte, stand zwischen den beiden die
-Moidi von Unterstein, jenes Mädel, dem der alte Fürsager die blauen
-Faustmale der Brüste mit dem heiligen Buche bedeckt hatte. Das Gesicht
-des jungen Geschöpfes war so wächsern wie das Antlitz einer Sterbenden,
-doch in den weitgeöffneten Braunaugen glänzte etwas Freudiges und
-Schönes. So streckte sie sich an dem schweren Soldaten Gottes hinauf
-und fragte mit heller Stimme: »Was verdienen die? So sag's doch! Sag's!«
-
-»Die verdienen, daß sie all zusammen auf den Scheiterhaufen kommen.«
-
-Da breitete das kleine hagere Mädel mit einem leisen, wunderlich frohen
-Schrei die Arme auseinander und rief: »So mußt du mich auch verbrennen.
-Ich bin eine evangelische Christin. Schon ins vierte Jahr.«
-
-Ein knirschender Soldatenfluch. »Packet das unverschämte Mensch!« Drei,
-vier Musketiere fielen über das Mädel her, und während sie ihm die Arme
-hinter den Rücken preßten, drängte sich aus dem schreienden Gewühl der
-Menschen ein alter Bauer heraus, der Fürsager von Unterstein, kreuzte
-selber die Hände und streckte sie den Soldaten hin: »Nehmet mich
-auch gleich mit! Ich bin ein Evangelischer. Ich bin's, derzeit ich
-denken hab können. Und meine Buben und Töchter, meine Schwieger und
-meine sechzehn Enkelen, wir alle sind evangelisch.« Wie ein fröhlich
-Betrunkener drehte er den grauen Bart über die Schulter und schrie
-mit der Stimme eines jungen Menschen: »Kinderlen! Her zu mir! Unser
-Christenherz will maien! Jetzt geht es ins Himmelreich!« Erschrocken
-guckten die Musketiere die vielen Kinder des Alten an, die sich
-herdrängten von allen Seiten, Männer und Greise, Bürger und Bauern,
-Weiber, Kinder, hochstämmige Burschen und halbwüchsige Mädchen. An die
-vierzig, an die fünfzig und sechzig waren es, und mit jeder Sekunde
-wuchs ihre Zahl, und sie alle waren Kinder vom Geiste dieses Alten,
-auch wenn sie einen anderen Namen trugen, als er.
-
-Erschrocken sah Frau Agnes in das jauchzende Gewühl der haufenweis
-herbeiströmenden Bekenner hinein und griff sich mit beiden Händen an
-die Schläfe, daß ihr die weiße Haube zurückfiel in den Nacken. Zitternd
-taumelte sie gegen das Holz der Unehr hin und umklammerte die rot
-übersickerten Füße ihres Sohnes: »Mein Bub! Mein Blut und Fleisch! Was
-hast du verschuldet!«
-
-»Nichts, Mutter!« Der Klang seiner Stimme war ruhig. »In meines Lebens
-heiligstem Stündl hab ich ein Wegweis der redlichen Wahrheit werden
-müssen.«
-
-Sein Wort ging unter in dem wachsenden Stimmengebraus der Hunderte, die
-sich herandrängten, um das Schneekleid ihrer Seelen abzustreifen und
-Sichtbare zu werden. Fast alle, wenn sie die Hände hinboten, hatten
-das gleiche Wort: »Mich auch! Wie schön ist die Wahrheit! Jetzt geht
-es ins Himmelreich!« Immer vier oder fünfe wurden von den Musketieren
-in die Torhalle hineingeführt, und doppelt so viele folgten aus freiem
-Willen, bis die Soldaten Gottes müde wurden des Verhaftens. Nur drei
-von ihnen blieben beharrlich. Und da faßten sie im Gedräng einen
-Bauer. Der wehrte sich wie irrsinnig und kreischte: »Lasset mich aus!
-Ich bin ein Gutgläubiger. Mein Weibl ist römisch und meine Kinder
-sind's. Die laß ich nit. Gelobt sei Jesus Christus, ich glaub ans
-Fegfeuer, in Ewigkeit Amen. Und wie mein Herzfleck ist mir mein Haus
-und Acker. Und müßt ich zum luthrischen Sand hinunter, ich wüßt nimmer,
-wie ich noch schnaufen könnt. So lasset mich doch aus, ihr Herren!
-Vor Weihbrunnkessel und Meßbuch will ich's beschwören: Ich bin ein
-Gutgläubiger!«
-
-Der Blutende am Holz der Unehr wandte das Gesicht im Eisen. Er hatte
-seinen Widersacher von der Untersteiner Krippe erkannt. Mit einer
-Stimme, so hell und stark, daß sie allen Lärm übertönte, rief er hinaus
-in die Sonne: »Lügen heißt leiden. Und einer, an den wir glauben,
-hat gesagt: >Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich auch
-verleugnen vor meinem himmlischen Vater.<«
-
-Der Bauer, den die Musketiere schon freigegeben hatten, blieb stehen
-wie ein Gelähmter. Langsam wandte er die Augen und sah zum Balken
-hinauf. Ein Erblassen rann ihm über das verstörte Gesicht. Nun tat
-er einen tiefen Atemzug, ging auf einen der Musketiere zu und bot
-ihm die gekreuzten Hände hin: »Mich auch! Alles verlieren! Nur nit
-die Seligkeit. Ich bin evangelisch.« Der Soldat verhaftete ihn
-nicht, sondern sah den Bauer mit erweiterten Augen an, warf die
-Feuersteinflinte in den Brunnen, riß den Dreispitz und die Säbelkoppel
-herunter, schleuderte alles wie in Ekel von sich und sagte: »Da tu ich
-nimmer mit. Komm, Bruder, wir gehen selbander ins Himmelreich!« Er
-legte den Arm um den Hals des Bauern, küßte ihn auf die Wange und trat
-mit ihm in den Schatten der Torhalle.
-
-Ein unversiegendes Herandrängen von allen Seiten. Jetzt irgendwo eine
-jauchzende Stimme: »Leut! Ihr lieben Leut! So schön, wie der Frühling
-der Wahrheit ist, so gottschön ist kein Blumenwuchs auf der besten
-Alm!« Das Wort des Einen wurde zum frohen Seelenschrei von Hunderten:
-»Frühling der Wahrheit! Frühling der Wahrheit!« In dem brausenden
-Bekennergewimmel, das schon den Hof des Stiftes zu füllen begann, fing
-einer mit klingender Kehle zu singen an. Viele Stimmen wuchsen mit
-freudigen Kräften hinzu. Aus Tor und Halle schwoll das Lied um den
-Brunnen her, sprang hinüber zu den Türen, zu den Fenstern, und rauschte
-über die Gasse hin:
-
- »Nun freut euch, liebe Christengmein,
- Und laßt uns fröhlich springen --«
-
-Alle, die so sangen in dieser Frühlingsstunde ihrer Seelen, sangen das
-Lied in ihrem Leben zum erstenmal mit lauten und unverschüchterten
-Stimmen. Fast war es nicht wie Gesang. Es war wie ein unersättliches,
-nicht enden wollendes Aufjauchzen der Freiheit und Erlösung.
-
-
-
-
-Kapitel XV
-
-
-Der Hall des tausendstimmigen Liedes, das emporschwoll über die
-Dächer des Stiftes, klang auch hinüber zu der galanten Jugend, die
-sich _à la Versailles_ amüsierte und kaum einen Laut dieser über
-alles Irdische emporgehobenen Menschenfreude vernahm. Es erging den
-graziös Erheiterten, wie es einem leichtsinnigen Träumer geschieht,
-der beim Rauschen eines fröhlichen Baches den Donner des aufsteigenden
-Gewitters überhört. Auf der Hofwiese gavottierten die Hifthörner in
-rasendem Tempo, obwohl sie die klagende Fuchstodweise hätten blasen
-müssen. Der letzte Prellfuchs war schon seit geraumer Weile entseelt.
-Er zappelte nimmer, während er flog, sauste aber immer wieder hinauf
-ins schöne Blau. Die Allergnädigste schien sich des blutspritzenden
-Spiels nicht ersättigen zu können, und so wurde der leblose Tierklumpen
-zu einer Kostbarkeit, um die sich alle Prellerpaare in ausgelassener
-Heiterkeit zu raufen begannen. Nun fing auch die Zuschauermenge vor dem
-Netz zu wachsen an. Viele, die den Marktplatz erschrocken verlassen
-hatten, wurden festgehalten durch das farbige Flatterbild, doch nicht
-in Schaulust, sondern in Zorn. Inmitten einer erregten Frauengruppe
-deutete ein mauerblasses Weib auf den fliegenden Fuchs und schrie:
-»So prellen sie unsere Seelen, unser Gut und Leben, bis uns allen der
-Schnaufer vergeht. Die sollt der Teufel einmal reiten! Kreuzweis!«
-
-Hatten die Dunklen der Unterwelt diesen Segenswunsch erhört? Aus
-zwei großen Kästen, die auf einen heimlichen Wink des Grafen Tige
-auseinanderfielen, sausten vier schwarzborstige Unholde mit Grunzen
-heraus, prallten gegen die gespannten Netze, rasten blind nach einer
-anderen Richtung, spritzten im Lauf den blutigen Schnee auseinander,
-wurden wie besessen und überrannten jedes lebendige Hindernis. Diesen
-Vorgang begleitete ein sechsstimmiges Damengeschrei, das sich aus
-toller Heiterkeit sehr flink verwandelte in schrilles Angstgezeter.
-Gleich zu Beginn des Scherzes merkte Graf Tige, daß der graziöse
-Knalleffekt ein übles Ende zu nehmen drohte. Erschrocken befahl er dem
-Wildmeister und den Jägern: »Abfangen! Abfangen!« Es war zu spät. Mit
-gehobenen Röcken, grillend wie geängstigte Kinder, jagten die unter
-Schminke und Schönheitspflästerchen entfärbten Demoisellen sinnlos
-zwischen den Netzen hin und her, um den jungen, sausenden Wildschweinen
-zu entrinnen. Keiner gelang es. Jede wurde von solch einem
-blindsurrenden Borstenklotz zu Boden geworfen. Hinter den Schweinen,
-halb noch lachend, halb schon in Sorge, sprangen die Domizellaren und
-Jäger mit den blanken Hirschfängern einher.
-
-Bevor man das erste der rasenden Schweinchen zu Boden bringen konnte,
-waren die sechs Demoisellen schon zum Erbarmen zugerichtet, mit
-zerrauften Frisuren, mit zerfetzten Kleidern, beschmutzt, vom Schnee
-durchnäßt, an Gesichtern und Händen mit roten Flecken gesprenkelt,
-die vom Abklatsch des überall ausgespritzten Fuchsblutes herrührten.
-Das zweite und dritte Wildschwein wurden in den Netzen erstochen.
-Den letzten Überläufer mußte man, bevor er den Todesstoß empfangen
-konnte, an den Hinterläufen unter dem tonnenartigen Steifrock
-der Allergnädigsten hervorzerren. Aurore de Neuenstein lag mit
-ausgespreizten Armen im Schnee und zeterte ununterbrochen die beiden
-Worte: »_Mon Dieu! Mon Dieu! Mon Dieu!_« -- in einem wesentlich
-anderen Ton, als Damen zu kichern pflegen, wenn sie charmant
-kascholiert werden. Und während dieses weidmännische Accouchement unter
-beträchtlicher Kränkung zarter Prinzipien vollzogen wurde, ließ sich
-ein zorniges Spottgelächter vernehmen. Drei der Demoisellen huschten
-durch die Leierbüsche des gestutzten Hofgartens davon, um dem Hohn der
-Subjekte zu entrinnen. Und Aurore de Neuenstein war anzusehen wie eine
-Nachtwandlerin mit geöffneten Augen.
-
-Das ungraziöse Überraschungsspiel der bösen Schweinchen schien sich
-bei ihr mit einer sinnverwirrenden Entdeckung zu komplizieren. Als
-aller Schreck schon längst überstanden war, wurde die Allergnädigste
-plötzlich von einer befremdenden Erschütterung der Verdauungsorgane
-befallen -- ein Symptom, über das Graf Tige nicht minder erschrak, als
-Aurore de Neuenstein. Zu einer Erörterung der unliebsamen Katastrophe
-verblieb den beiden vorerst keine Zeit. Atemlos erschien auf der
-Hofwiese der aus seinem Sonntagsschläfchen aufgestörte Muckenfüßl,
-schlotterbackig, ohne Säbel, und kreischte: »Ihr Herren und Jäger!
-Jesus, Jesus! Die Welt geht unter _in loco hujus_! Unsere Bauern
-rebellieren wider Himmel und Gott! Wir brauchen Hilf! Alles hinüber
-zum gnädigsten Fürsten!« Der Wildmeister, alle Domizellaren --
-ausgenommen den Grafen Tige -- die Pagen und Hifthornbläser sprangen
-mit dem stotternden Feldwebel durch den Schloßgraben zum Stift hinüber,
-aus dessen Höfen das Lied der tausend Bekennerstimmen in die Sonne
-schwoll. Sechs von den Jägern zerrten die abgestochenen Wildschweine
-hinter sich her.
-
-Auf der Straße war ein ruheloses Durcheinander. Leute rannten
-schreiend gegen den Markt hinauf, und viele, denen die Seele angstvoll
-geworden, strebten hastig ihren Höfen zu: die noch Unentschlossenen,
-die nicht sichtbar werden wollten, und die Gutgläubigen, denen das
-Bekennungswunder dieses Morgens die frommen Gemüter mit Trauer und
-Schreck erfüllt hatte. Inmitten eines Schwarmes dieser Heimläufer
-kreischte ein Aufgeregter: »Mich haben die Musketierer dreimal
-gepackt. Allweil hab ich mich ausweisen können mit polizeimäßigen
-Glaubenswörtlen. Wer tät denn gutgläubig sein, wenn's ich nit bin?
-Hättst du das Erlösungswunder meiner Martle gesehen, so tätst du
-glauben, Mensch! Erzählen darf ich es nit. Aber für's Martle tu ich ein
-neues Kreuzl schneiden. Sie hat's verdient! Wenn eins heruntergreift
-aus dem Himmel und meine Kinderlen hinaufholt in die Ewigkeit -- so
-eine Gottselige wird wohl ein Kreuzl verdienen? Nit? Und müßt auch
-ihr Leichnam in heidnischen Boden kommen wie eine ungetaufte Katz,
-bevor sie stinkig wird.« Der Haynacher betrachtete unter verzerrtem
-Lächeln das erstochene, in Schneegebrösel und Blutklumpen eingewickelte
-Wildschwein, das von zwei Jägern in den Schloßgraben hinuntergezogen
-wurde. Mit dem Finger deutend, kicherte Christl: »Auch ein Ungetauftes!
-Findt aber doch eine christliche Ruhstatt. Weil's die geistlichen
-Herren hinunterschlucken in ihre geweihten Mägen!«
-
-Da kam einer aus dem Tal herauf. »Christl? Jeder Redliche lauft der
-Wahrheit zu. Und *du* gehst *heim*?«
-
-»Wohl, Mensch!« Der Haynacher lächelte schlau. »Mich haben sie wieder
-auslassen müssen. Weil ich so gutgläubig bin, wie mein Martle und
-jedes von meinen getauften Kinderlen gewesen ist.« Der andere, halb
-in Zorn und halb in Erbarmen, machte eine Handbewegung und ging
-vorüber. Christl Haynacher keuchte in die Sonne hinaus: »Kann sein,
-mir ist ein unheiliger Zweifel durchs Hirndächl gelaufen, ich weiß
-nit, wann. Aber wie das Wunder mit meinen Kinderlen geschehen ist,
-da bin ich gutgläubig worden. Wenn aus der Seligkeit zwei liebe Händ
-heruntergreifen zur irdischen Not! Und lupfen das unschuldsweiße Pärl
-aus dem amtsmäßigen Riegel heraus! Und allweil höher hinauf zum ewigen
-Gottesglanz! Schau, Mensch, da mußt du doch selber sagen --« Er merkte,
-daß er allein stand. »So so?« Dem Christl liefen zwei Tränen über die
-Feuerflecken seiner Backen. »Schau, von meinen gottseligen Kinderlen
-will kein Mensch mehr ein Wörtl wissen!«
-
-Diese Weisheit glich einem der wahrheitsfernen Irrtümer, wie sie der
-lyrisch verherrlichte _Dr._ Halbundhalb zu fabrizieren pflegte. Gerade
-in dem Augenblick, in welchem Christl seine falsche Rechnung aussprach,
-erwachte die Erinnerung an das Haynacher'sche Zwillingspaar in einer
-Menschenseele, der man ein so treues Gedenken gar nicht zugetraut hätte
--- in der Seele der allergnädigsten Aurore de Neuenstein. Von dem
-verwüsteten Fuchsprellplatze hatte Graf Tige den leidenden Engel in
-zerrupftem Zustand hinübergeleitet zu einem Salettchen des gestutzten
-Hofgartens. Hier saß die Neuenstein auf einem Holzbänkl. Graf Tige
-lag vor den Knitterbrüchen des Steifrockes auf den Knien, labte die
-schwache Demoiselle mit Biskuitstückelchen -- und da wiederholte sich
-plötzlich jene befremdende Erschütterung ihres innersten Wesens. Es
-wurde der Allergnädigsten in beklagenswertem Grade übel, und dieses
-war der Augenblick, in dem Aurore de Neuenstein sich jener _chose
-effroyable_ erinnern mußte, die sie auf dem Stubentische des Christl
-Haynacher hatte liegen sehen. Aber statt von menschlichem Erbarmen
-bewegt zu werden, geriet sie in einen schwer erklärlichen Jähzorn, und
--- billeripatsch -- versetzte die Allerungnädigste dem Grafen Tige
-eine schallende Ohrfeige, viel kräftiger, als man es diesem zartesten
-aller Händchen hätte zutrauen mögen. In Tränen ausbrechend, entzog sie
-sich flink durch eine Ohnmacht jeder weiteren Konversation. Graf Tige
-mit der brennenden Wange eilte durch den gestutzten Hofgarten davon,
-um Hilfe für Aurore de Neuenstein herbeizurufen. Als er die sekrete
-Gartenmauer erreichte, hörte er das Stimmengebraus der Marktgasse und
-den mächtig wachsenden Klang eines verbotenen Liedes, das von Tausenden
-gesungen wurde. Ratlos guckte er in die Sonne und wurde von zwei
-Menschen, die es eilig hatten, aus dem Weg gestoßen.
-
-Neben einem blonden, sich wie irrsinnig gebärdenden Mädel, sprang der
-lange Stiftspfarrer Ludwig in dünnen Hausschuhen durch Schnee und
-Pfützen. Der schwer erkrankte Mann konnte plötzlich so hurtig rennen
-wie der gesündeste Bauernbub. Über die Wasserlachen vor dem Garten
-des Meister Niklaus machte Pfarrer Ludwig Sprünge wie ein Wettläufer
-vor dem Ziel. Er wollte atemlos in die Werkstatt treten, fand die Tür
-verschlossen und schrie: »Ums Himmels willen, Nicki, so tu doch auf!«
-Hinter der Tür eine zornbebende Stimme: »Man hat mich eingesperrt.«
-Die Sus stammelte: »Da ist der Schlüssel!« Nun mußte der Pfarrer
-lachen. »Du hast ihn eingekastelt?« Dem Mädel kollerten die Tränen über
-das angstvolle Gesicht. »Was hätt ich denn tun sollen? Der Meister
-ist stärker als ich. Wie ich heimgekommen bin und hab erzählt, daß
-die Evangelischen hundertweis bekennen, hat der Meister gleich zum
-Bekenntnis laufen wollen. Da bin ich in meiner Seelenangst aus der Tür
-gerumpelt, hab zugesperrt und bin zu Euch gesprungen.«
-
-»Und das Luisichen?« fragte der Pfarrer sorgenvoll. »Weiß sie, was der
-Meister hat tun wollen?« Sus schüttelte den Kopf: »Die hab ich droben
-eingesperrt in ihrem Stübl. Gar nit gemerkt hat sie's. So durstig hat
-sie gebetet vor dem Jesukind.« Der Pfarrer atmete auf: »Dich sollt man
-zum Kanzler von Berchtesgaden machen. Du bist die Gescheiteste von uns
-allen. Jetzt tu das Mädel behüten, derweil ich red mit dem Meister.«
-Während dieser Worte des Pfarrers rüttelte der Eingesperrte immer an
-der Tür: »Gotts Not, so machet doch auf!«
-
-»Ja, guter Nick! Erst muß ich das Schlüsselloch finden. Ich bin ein
-Kranker, mir zittern die Händ.« Dieser unanfechtbaren Wahrheit zum
-Trotze wußte der Pfarrer, als er die Tür geöffnet hatte und über die
-Schwelle gesprungen war, sehr flink wieder auf der Innenseite den
-Schlüssel ins Schloß zu bringen und umzudrehen.
-
-Meister Niklaus bekam eine dunkelrote Stirne. »Pfarrer! Meinen Weg gib
-frei!«
-
-»Gleich, Herzbruder! Nur ein Wörtl!«
-
-»Gewissen und Wahrheit vertragen kein Biegen nit.«
-
-Der Pfarrer sah, daß das Fenster offen stand und das schwere Gitter
-verbogen war. »Gewissen und Wahrheit sind wie eiserne Stangen. Ein bißl
-Biegen, wenn es vernünftig ist, vertragen sie schon. Nur gegen die
-Unvernunft sind sie bockbeinig. Und da ist's ein Glück, daß es noch
-allweil Schlosser gibt, die verläßliche Arbeit machen.«
-
-»Pfarrer?« Meister Niklaus streckte sich. »Willst du mich hindern, als
-Christ meine Pflicht zu tun?«
-
-»Ganz im Gegenteil! Ich will dich in deiner Pflicht bestärken.« Weil
-der Meister den Pfarrer beiseite drängen und die Schwelle gewinnen
-wollte, stemmte der Greis sich gegen das Türschloß, in dem noch der
-Schlüssel stak. »Aber Herzbruder! Tu nit so grob mit mir! Seit gestern
-bin ich ein todkranker Mensch.« Dem Meister fielen kraftlos die Arme
-hinunter. Und der Pfarrer, nachdem er den Türschlüssel abgezogen hatte,
-sagte ruhig: »Schau, Nick! Ein Christ sein, ist ein wundervolles Ding.
-Aber *jede* Pflicht verlangt vom Menschen ein bißl Treu. Von deiner
-Kunst will ich nit reden. Die ist durch deine Redlichkeit eh' schon zu
-kurz gekommen um eine geschickte Hand. Aber willst du vergessen, daß
-du auch ein pflichttreuer Vater sein mußt? Willst du das Gute, das in
-deinem Mädel gewachsen ist, wieder in Scherben schlagen? Willst du dein
-Kind in Tod und Verzweiflung treiben?« Das Gesicht in die beiden Hände
-pressend, von denen nur die hölzerne nicht zitterte, stand der Meister
-wortlos am offenen Fenster, überglänzt von einem steilen Strahlenbündel
-der Mittagssonne. »Komm, Herzbruder! Setz dich zu mir aufs Bänkl her!
-Da wollen wir reden miteinander.«
-
-In der friedsamen Stille, die diesen Worten folgte, richtete draußen
-vor der Türe die Sus sich auf und bekreuzte unter einem Atemzug der
-Erquickung das blasse Gesicht. Heißen Blickes emporschauend nach der
-Richtung, in der sie den Wohnsitz Gottes vermutete, sprach sie mit
-jagender Flüsterstimme zwei Gebete, zuerst ein evangelisches, dann
-ein gutkatholisches. Und flink über die Stiege hinauf, um abermals
-zu lauschen -- an Luisas Tür. Deutlich konnte sie die inbrünstigen
-Stammellaute einer Litanei vernehmen. Leis drehte Sus den Schlüssel
-und trat in die weiße, sonnige Mädchenstube. Vor dem flimmernden
-Jesuschrein lag Luisa auf den Knien, die blutfleckigen Hände ineinander
-gekrampft. Sie hörte nicht, daß jemand den flehenden Hilfeschrei der
-Litanei zur heiligen Gottesmutter andächtig mitsprach: »Bitt für ihn
--- bitt für ihn --« Als Luisa wieder ein Ave Maria beginnen wollte,
-sagte die blonde Magd mit lauter Stimme das Amen, faßte die Haustochter
-unter den Armen und hob sie vom Boden auf. »Komm, Kindl! So fromm hast
-du gebetet, daß die heiligste Mutter ihm helfen *muß*! Und schau, du
-mußt doch das blutfleckige Kleidl heruntertun! Mußt dir die roten
-Händlen waschen!« Lautlos bewegte Luisa die Lippen, umklammerte den
-Hals der Magd und preßte das Gesicht an ihre Schulter. Nach heiteren
-Worten suchend, führte Sus die Haustochter zu einem Sessel, begann
-sie zu entkleiden und stellte das Waschbecken zurecht. Dabei lauschte
-sie immer in den Flur hinunter. Es dauerte lang, bis drunten das
-Klappen der schweren Tür an des Meisters Werkstätte zu hören war.
-Kein Schritt. Die Sus atmete erleichtert auf. Sie wußte gleich: der
-Meister ist daheim geblieben, und nur der Pfarrer in seinen lautlosen
-Filzschuhen ist davongegangen. Als sie zum Fenster hinhuschte, sah sie
-den Hochwürdigen auf die Straße treten. Jetzt sprang der lange Pfarrer
-nimmer. Sehr achtsam umging er die Wasserlachen.
-
-Ein Menschengerenne hin und her. Trotz des wogenden Lärms, der die
-Marktgasse füllte, war nicht das geringste Zeichen von Rebellion zu
-erkennen. Das flutende Leutgedränge hatte was Festliches. Und während
-der Klang des evangelischen Liedes herscholl von den Stiftshöfen, ragte
-auf dem Brunnenplatz der leergewordene Schandbalken über das Gewühl
-der Köpfe hinaus. Man hatte den Büßenden aus Staatsräson begnadigt,
-um die Aufregung der Subjekte zu mildern. Dieser notwendig gewordene
-Gnadenakt hatte die Regierungsseele des Herrn von Grusdorf bedenklich
-aus dem Gleichgewichte gebracht. Das stand unter verschobenem Lockenbau
-auf seinem Katzenjammergesicht zu lesen, als er, von sechs Musketieren
-flankiert, hinüberwatete zum Sanssouci der Allergnädigsten, die ihn
-durch ein geheimnisvolles Eilbriefchen zu sich berufen hatte. Sein
-Prophetengeist war so verwirrt, daß er nicht ahnen konnte, welcher
-familiären Bestürzung er mit seinen Gichtzehen entgegenzappelte.
-
-Unter munteren Worten bohrte sich der Pfarrer durch das wogende
-Leutgewühl zu dem Hause seines Freundes Lewitter. In dem dunklen Flur,
-in dem es nach Gewürzen duftete, fragte er die stumme Lena: »Ist dein
-Herr daheim?« Da hörte er aus dem Oberstock den leisen Gesang einer
-müden Greisenstimme. Es war nicht das erstemal, daß Pfarrer Ludwig
-in Lewitters Haus diese alte, schwermütige, wunderlich verzierte
-Tempelweise vernahm. Er hastete über die steile Treppe hinauf und
-hämmerte mit dem Fingerknöchel gegen die Türe. »Simmi! Tu auf! Ich
-bin's! Ein Mensch!« Eiserne Stangen klirrten, und zwei Schlüssel
-drehten sich in den schweren Schlössern. Simeon Lewitter schlüpfte
-durch einen schmalen Spalt und fragte tonlos: »Ist Gefahr?« Der Pfarrer
-schüttelte den Kopf. »Die Leut von heut sind ungefährlicher als die
-von gestern. In ihnen ist Freud und Hoffnung. Bloß die Regierung hat
-Magenweh. Und ich bin gestern marod geworden. Der Bader hat seine Not
-mit mir gehabt.«
-
-»Den Bader hast du holen lassen?« Simeons Augen wurden groß. »Warum
-denn mich nit?«
-
-»Du bist der bessere Doktor. Aber der Bader schwefelt vor unserem
-Justizkamel das glaubhaftere Zeugnis.«
-
-Erschrocken fragte Lewitter: »Wirst du's nötig haben?«
-
-Der Pfarrer lachte. »Wenn dem Willibald ein Tröpfl Verstand lebendig
-wird in der Stöckelmilch! Wahrscheinlich ist's *nit*. Aber allweil noch
-so möglich, wie daß der Gockel eine Henn wird, wenn man ihm freundlich
-zuredet. Und da sollst du außer Spiel bleiben, Simmi! Aber weil mir der
-Bader nit geholfen hat, drum bin ich in den Filzpatschen hergelaufen zu
-dir. Und du hast mir ein feines Medikament verzapft. Gelt ja?«
-
-Ohne zu antworten, huschte Lewitter davon, brachte eine haselnußgroße
-Pille und schob sie dem Pfarrer zwischen die Lippen. »Jetzt brauch ich
-nit lügen.«
-
-»Und ich brauch nimmer im Bett liegen. Da ist uns beiden geholfen.«
-
-»Eine seltsame Krankheit! So glaubhaft --« Lewitters Stimme wurde leis,
-»wie das Mirakel der Armeseelenkammer.«
-
-Schmunzelnd beugte sich der Pfarrer gegen das Gesicht des Freundes
-hin. »Gott sei Dank, Simmi, daß *du* nit der Landrichter bist.« Ein
-heiteres Lachen. In der Stille, die ihm folgte, klang der Hall des
-tausendstimmigen Bekennerliedes wie das ferne Rauschen einer Mühle.
-Herr Ludwig wurde ernst und fragte flüsternd: »Weißt du, was geschieht
-da drunten?«
-
-Lewitter wehrte mit beiden Händen und schlüpfte in seine leere
-Kinderstube. Drinnen klirrten die eisernen Stangen. Vor sich
-hinnickend, stapfte der Pfarrer die Treppe hinunter. In das Gewühl der
-Marktgasse wagte er sich nimmer. Hinter den Häusern watete er durch
-die Traufenbäche und begann, bevor er seine Wohnung erreichte, heftig
-zu niesen. Die Folgen seiner Verkühlung in den nassen Filzpantoffeln
-entwickelten sich mit der Schnelligkeit eines fürstpröpstlichen
-Läufers. Dem Jammer seiner Schwester konnte Pfarrer Ludwig das
-tröstende Wort entgegenhalten: »Gott bleibt allweil barmherzig. Wie
-nötiger ein Leiden ist, um so flinker schickt er's.«
-
-Brausend klang von den Stiftshöfen herauf das fromme Lied. »Tät die
-Regierung nit sagen, das ist Rebellion, so möcht man glauben, das
-ist schöner Gottesdienst.« Der Pfarrer ließ sich den Lehnstuhl ans
-Fenster rücken. Hier saß er, in wollene Decken gewickelt, sich immer
-schnäuzend, und blickte hinunter auf das Menschengewühl, das sich in
-dem weiten Hof mit jeder Minute vergrößerte.
-
-Nicht nur Bauern und arme Handwerker standen da drunten, um auf die
-Eintragung in die Ketzerliste zu warten, auch wohlhabende Bürger des
-Marktes, die man noch nie als Unsichtbare verdächtigt hatte, zahlreiche
-Salzknappen und viele Dienstleute des Stiftes. Die fassungslose
-Regierung mußte die Wahrnehmung machen, daß sie seit Jahren von
->Abtrünnigen< umgeben war bis zu den vergoldeten Füßen ihres Thrönchens.
-
-Nichts von Aufruhr. Kein Schimpfen und Spektakulieren. Das Verhalten
-der Bekenner war ruhig, war durchglänzt von einem freudigen Glück. In
-dichten Gruppen standen sie beisammen, und immer wieder fing einer
-zu singen an, und hundert und tausend fielen ein, daß ihr froher
-Gesang wie das Osterlied einer Orgel war. »Christen? Ketzer?« Pfarrer
-Ludwig sah zum Geheimfach seines Schreibtisches hinüber. »Hat der
-Amsterdamer Singvogel recht, so sind es tausend Gotteskinder, näher dem
-Himmel als der Welt. Weil sie vorwärts drängen und Wahrheit suchen.«
-Sinnend betrachtete er die lange Menschenkette, die sich gegen das
-Gerichtsgebäude hinüberschob. Bei aller friedsamen Bürgerruhe, die da
-drunten herrschte, gab es doch auch erregte Szenen. Es kamen gutgläubig
-gebliebene Frauen, verstört und weinend, um ihre evangelischen Männer
-und Söhne zu reuevoller Umkehr zu beschwören. Es kamen zornige Männer,
-die ihre >verführten< Weiber und Töchter herausreißen wollten aus
-der Bekennerschar. Doch immer ruhiger wurden diese Wortkämpfe, je
-deutlicher die Regierung eine Hilflosigkeit bekundete, von der man
-Gefahren für Gut oder Leben nimmer zu besorgen brauchte. Wie man den
-Leupolt Raurisser vom Holz der Unehr heruntergenommen hatte, ließ man
-auch alle Verhafteten wieder frei. Die gesetzliche Macht beschränkte
-sich darauf, zur Festlegung der Bekennernamen ein Tribunal zu
-errichten, dessen Vorsitz der Kanzler von Grusdorf übernehmen sollte.
-Leider mußte man auf seine Mitwirkung verzichten; er war von dem Besuch
-bei seiner unpäßlichen Nichte Aurore de Neuenstein in einem Zustand
-heimgekehrt, der einem Schlagfluß ähnelte. So mußte den Vorsitz des
-Tribunals der aus dem Schlaf gerüttelte _Dr._ Halbundhalb übernehmen.
-Als er in gespensterhafter Blässe zur dienstlichen Mißhandlung der
-Wahrheit antrat, richtete Herr Anton Cajetan diese Rede an ihn:
-»Willibald! Daß du ein Esel bist, hab ich immer gewußt. Aber so
-deutlich wie in diesen Tagen hast du es noch nie bewiesen. Ich möchte
-weinen über die Arbeit, die du fabriziert hast. Daß du die Ehrlichen
-als Verbrecher erkennst und die Lumpen für Apostel der Wahrheit nimmst,
-das ist noch lange nicht die übelste von deinen Schädigungen des
-Staates. Du wirkst wie ein Fäulniskeim. In allen Redlichen erschütterst
-du den Glauben an die Gerechtigkeit, und den geheiligten Richterstand
-machst du verächtlich vor allen Subjekten. _Mais, que Dieu nous soit en
-aide_, die böse Stunde läßt dich unentbehrlich erscheinen -- ich habe
-kein Rechtskamel, das kleiner ist. Setze dich hinauf, laß die andern
-amten, suche würdevoll auszusehen und halte das Maul! Besser kannst
-du mir nicht dienen.« Als Beisitzer gab ihm Herr Anton Cajetan vier
-Kapitelherren, die beiden Chorkapläne und fünf Domizellaren. Graf Tige
-war nicht aufzufinden.
-
-Die Moidi von Unterstein, die man zuerst verhaftet hatte, wurde
-auch zuerst verhört. Als Graf Saur die Frage an sie richtete: »Was
-glaubst du?«, öffnete sie das Mieder, zeigte die schwärenden Male der
-Faustschläge und sagte: »Ich glaub, daß es Gottes Willen nit ist, ein
-Menschenkind so zuzurichten.« Die Herren waren ein bißchen betreten,
-und der Richter mit den verriegelten Zähnen klappte wie eine Eule
-die Augendeckel zu, weil der unsittliche Anblick seinen Prinzipien
-zuwiderlief. Dabei ließ er sich zu zwei verbotenen Worten hinreißen:
-»Du Schwein!« In Zorn antwortete das Mädel: »Auf den Hintern haben mich
-die Soldaten Gottes nit gehauen. Sonst hätt ich Euch *den* gezeigt. Und
-mir hätt's weniger weh getan.« Graf Saur beruhigte die Empörte. Dann
-wurde sie drei Stunden lang über alle Glaubenssätze vernommen.
-
-Als Zweiten wollte man den Fürsager von Unterstein citieren.
-Da polterte ein Ungerufener in die Amtsstube: der Mälzmeister
-Raurisser. Er hatte die von seiner Frau versperrte Haustür in Fetzen
-geschlagen, um sich als evangelisch zu bekennen. Unter allem, was er
-zähneknirschend vor sich hinbiß, hatten nur die Worte Verstand, die
-er über die >unchristliche Peinigung< seines Sohnes sagte; doch sein
-Glaubensbekenntnis war so verworren, daß man mit Sicherheit nicht
-unterscheiden konnte, ob der alte Raurisser schon evangelisch oder
-noch gutkatholisch wäre. Dieses Dilemma wurde von Graf Saur durch die
-salomonischen Worte entschieden: »Mein lieber Mälzmeister! Geh er
-wieder heim, glaub er, was er wolle, und brau er uns auch fürderhin
-eine so bekömmliche Biersorte wie bisher.«
-
-Nun wurde der Alte von Unterstein vorgerufen. Sein Verhör entwickelte
-sich für die beiden Chorkapläne zu einem erbitterten Wortgefecht.
-Der Greis in seiner unerschütterlichen Ruhe, in seiner graden und
-schlichten Einfalt, blieb ihnen keine Antwort schuldig und übertraf
-an Bibelfestigkeit die zwei Theologen bei weitem. Sie hätten seine
-Nierenprüfung ausgedehnt bis in die Nacht, wenn Graf Saur nicht
-festgestellt hätte, daß mit drei Verhören fünf kostbare Stunden
-vertrödelt wurden. »Protokollieren wir so weiter, dann müssen wir ein
-halbes Jahr lang durch Tag und Nacht verhören und sind im Herbst,
-wenn schon die Hirsche röhren, noch immer nicht fertig.« Es war
-dringend notwendig, die Tribunalpraxis in ein summarisches Verfahren
-zu verwandeln. Es wurden sechs Tische aufgestellt. An jedem zwei
-Schreiber. Und nun wanderten die endlosen Reihen der Bekenner an den
-sich immer länger füllenden Listen vorüber. Man schrieb nur Namen,
-Alter, Lehen und Gnotschaft auf. Dann weiter um eine Nummer. Erst gegen
-die zweite Morgenstunde wurden die Stiftshöfe leer. Und als man an den
-Tischen des Ketzertribunals summierte, ergab sich die erschreckende
-Ziffer 2714.
-
-Schon früh am Morgen begann die Zuwanderung der Bekenner aufs neue.
-Am Abend standen 4372 Namen verzeichnet. In der Dämmerung des dritten
-Abends waren es 5816, und als in den Nachmittagsstunden des folgenden
-Mittwochs der Strom der Subjekte, die sich als evangelisch bekannten,
-endlich versiegte, konnte die Regierung ihre Hände über der Ziffer 6394
-zusammenschlagen. Mehr als zwei Drittel der gesamten Einwohnerzahl des
-gefürsteten Landes von Berchtesgaden! Herr Anton Cajetan stand ratlos
-und erschüttert vor dieser ungeahnten Katastrophe. Er hatte schlaflose
-Nächte, Herr von Grusdorf entsetzliche Tage. Der Kanzler fühlte die
-Last der Verantwortung, wagte sich nimmer ins Stift und maskierte
-seine chronische Absenz durch einen schweren Anfall von Podagra. Auch
-jeden Besuch bei der Allergnädigsten unterließ er. Wurde ihr Name vor
-ihm genannt, so bekam er einen Gallenkrampf.
-
-An Jesunder waren Zeichen einer Melancholie zu entdecken, die in
-Geistesstörung überzugehen drohte. Er zankte sich ununterbrochen mit
-seiner verehrten Frau Mutter, versagte bei jedem Bekehrungsversuch
-und konnte durch Tag und Finsternis an nichts anderes denken, als nur
-an das ungelöste Rätsel der Armeseelenkammer. Immer hängte sich sein
-ganzes Sinnen und Grübeln an diesen *einen* Verdacht: der Pfarrer
-Ludwig! Um dem Chorkaplan diese aberwitzige Vorstellung aus dem Gehirn
-herauszubeweisen, verschwendete _Dr._ Willibald alle Schärfe seines
-Geistes. Zu Dutzendmalen sagte er: »Aber Bester! Endlich *muß* man sich
-doch von einer notorischen Wahrheit überzeugen lassen!« Im Bewußtsein,
-etwas justiziarisch Zweckloses zu unternehmen, nur, um den gequälten
-Jesunder von dieser Wahnvorstellung abzubringen, überraschte er den
-Pfarrer durch einen inquisitorischen Besuch. Der Verdächtige war jetzt
-wirklich krank, litt an einem Schnupfen von gewalttätigen Symptomen.
-Weil die Sache unbestreitbar war, begann der Landrichter an ihr zu
-zweifeln und sagte zu Jesunder: »Nun erkenne ich, daß Ihr nicht völlig
-unrecht habt.« Er mußte die infizierte Nase putzen. »Der Pfarrer
-simuliert.«
-
-Während solche Gedankenblitze unter den gepuderten Roßhaarwickeln
-des Landrichters wetterleuchteten, ging ein hoffnungsvolles Aufatmen
-durch das Berchtesgadnische Land. In allen Häusern und Hütten der
-Bekenner war's wie ein stiller, schöner Ostermorgen der Wahrheit. Die
-Freude glänzte in den Augen der Evangelischen. Doch nirgends hörte man
-lauten Jubel, nie ein übermütiges Wort. Diese Sechstausend schienen
-wie erneut in ihrem Leben, wie erhoben und geläutert an allen Kräften
-ihres Herzens. Am Tage gingen sie fleißig ihrer Arbeit nach. Am Abend
-versammelten sie sich zur Fürsage und hörten das Wort Gottes. Und im
-ganzen Ländl erwies es sich, daß es für die Bekenner verschiedenen
-Glaubens kein Ding der Unmöglichkeit ist, verträglich Seite an Seite
-zu leben. In den Gutgläubigen, die treu an ihrem alten Himmel hingen,
-zitterte wohl der Schreck und die Trauer. Auch der Zorn. Aber in diesem
-gesunden, prächtigen Volksschlag gab es viele Verständige, die sich
-gut darauf verstanden, den Nebenmenschen nicht nach der Kittelfarbe
-einzuschätzen, sondern nach Herz und Leben. Auch waren die Unterschiede
-in den Glaubenssätzen nicht so beträchtlich, daß ein nachbarliches
-Brückenschlagen nicht möglich gewesen wäre für Menschen, die sich nicht
-leiten ließen von blindem Haß. Es standen auf katholischer Seite viele
-Männer und Frauen, die wesensverwandt mit dem Pfarrer Ludwig und der
-tapferen Frau Agnes waren, jeden aufbrennenden Hader besänftigten und
-immer sagten: »Ist unser Erlöser nit der gleiche? Sind wir nit geboren
-auf gleichem Boden? Sind wir nit deutsche Leut, die zusammengehören in
-Freud und Pein?«
-
-Auch in den Häusern, in denen ein >tiefer Graben< ausgeschaufelt
-war zwischen Mann und Weib, zwischen Eltern und Kindern, begann es
-friedsamer zu werden, seit man nimmer zu besorgen hatte, daß man
-auseinandergerissen würde. Zwei Drittel der Einwohner eines Landes
-kann man nicht um Dach und Heimat bringen und über die Grenze jagen.
-Die Herren müssen zur Einsicht kommen, sie haben schon den Anfang
-gemacht, haben den Leupolt nach der vierten Stund am roten Balken
-begnadigt, haben keinen Bekenner ins Eisen geschmissen, werden sich
-verständigen mit den Evangelischen, wie's der Westfälische Frieden
-allen Deutschen vermeint hat, und müssen den Leuten ein ruhsames
-Nebeneinanderhausen vergönnen. Not und Elend ist aus dem Ländl
-hinausgeblasen, alles Böse wird linder sein, und die >gute Zeit< wird
-kommen, auf die man in Schmerzen gewartet hat seit hundert Jahren und
-länger. Wie eine feste, heiße und schöne Freude war dieser Glaube in
-allen.
-
-Der Fürsager von Unterstein schickte an die verschwundene, drüben im
-Bayerischen versteckte Hasenknopfin die Botschaft: »Komm wieder heim
-mit deinem Mädel! Im Ländl ist lieber Gottfrieden.« Die Hasenknopfin
-konnte ihr Mißtrauen nicht überwinden, wollte die Heimkehr ihres Mannes
-aus dem Preußischen außerhalb der Grenze abwarten, blieb unsichtbar für
-die Berchtesgadnische Regierung und fühlte sich wohl auf bayerischem
-Boden.
-
-Sie war eine weise Frau.
-
-
-
-
-Kapitel XVI
-
-
-In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag schlug das Wetter um. Früh
-am Morgen fing es zu schneien an, still, ohne das leiseste Windwehen.
-Senkrecht fielen die großen Flocken aus der Luft herunter.
-
-Im schwarzwollenen Hauskittel stand Pfarrer Ludwig am Fenster. Er
-hatte eine rotverschwollene Nase zwischen entzündeten Augen und mußte
-noch manchmal niesen. Im Widerspruch zu diesem Leiden war seine Laune
-überraschend heiter und wurde noch immer fröhlicher, je dichter
-da draußen die Flocken fielen. »Nur schön herunter mit dem weißen
-Leintüchl! Dann such, du justiziarisches Dromedar!«
-
-Sehr heftig rasselte die Hausglocke. Schwester Franziska, mit
-erweiterten Angstaugen, trat in die Stube: »Der Hochwürdige soll
-hinüberkommen zum Fürsten.«
-
-Pfarrer Ludwig schrie mit seiner vom Schnupfen noch heiseren Stimme:
-»Die hohen Stiefel! Flink!« Als er allein war, runzelte er die Stirne
-wie unter angestrengter Gedankenarbeit. Er sprang zum Kasten, zerrte
-einen Mantel heraus, der farbig und gebändert war wie weltliche
-Herrentracht, ballte ihn zu einem Knäuel zusammen und schob ihn hastig
-ins Ofenloch. Das gab ein hurtiges Feuer. »Es stinkt ein bißl, aber
-hilfreich ist es.« Pfarrer Ludwig lachte. »Der Schlüssel im tiefsten
-Brunnen! Der Totengräbermantel in der schönsten Glut!« Nun flink
-hinüber zum Schreibtisch. Er ließ das Geheimfach aufspringen, zerriß
-drei lateinisch beschriebene Blätter in kleine Stücke und beförderte
-sie ebenfalls in die Flamme. »Früher hat man die Klugen selber
-verbronnen, jetzt röstet man nur noch ihren Verstand. Allweil duldsamer
-wird die Menschheit.« Aus einer Lade nahm er zehn Guldenstücke und
-zwanzig Sechser, legte die Münzen schön geordnet in das Geheimfach,
-ließ die Feder wieder zuschnappen, zog in der Stube alle Schlüssel ab
-und schob sie in die Tasche. Als ihm die Schwester die Stiefel brachte,
-fuhr er mit den Füßen hurtig in die Schäfte. »Nach Rosenwasser riechen
-sie nit. Der Gnädigste wird das Näsl verziehen.« Er nahm den Radmantel
-um und stülpte schmunzelnd die schwarze Pelzkappe übers weiße Haar.
-»So, Schwester, tu mir das Haus schön hüten! Und kriegst du Besuch, so
-unterhalt dich gut!«
-
-Bevor er hinaustrat in den jungen Schnee, spähte er nach den Fenstern
-des Chorkaplans Jesunder und konnte gewahren, wie Frau Apollonia
-zurückfuhr von ihrem Lauerposten. »So so?« Er schlug den Radmantel
-um die Schultern, wanderte gegen das Stift, blieb wieder stehen und
-blickte heiter dem flinken Menschenkind entgegen, das herankam durch
-den Vorhang der weißen Himmelsfäden. Flaumig hing der Schnee am
-Federtuff des spanischen Hütls. Schultern und Ärmel des grünen Mantels
-waren versilbert. Kein Gebetbuch, kein Rosenkranz. Zwischen den Händen,
-die aus den Mantelsäumen herauslugten, zitterte ein braunes Tiegelchen,
-das mit einem Schweinsblasenfleck überbunden war. »Guten Morgen, Kind!
-Wohin denn im tiefen Winter?«
-
-»Zur Mutter Agnes.«
-
-Der Hochwürdige schien zu erschrecken. »Ich kann doch nit denken, daß
-dein besonnener Vater dich schickt?«
-
-»Ich geh von selber.« Sie atmete schwer. »Die Mutter Agnes ist eine
-Gutgläubige.«
-
-»Freilich! Aber in ihrem Haus, da liegt doch einer, der zur bösen Lawin
-der Siebenthalbtausend den ersten Schneeballen hat laufen lassen?«
-
-»Wie alles ist, weiß bloß ein Einziger.« Sie hob das vergrämte Gesicht
-zur weißverschleierten Höhe.
-
-»Kind? Warum hast du Tränen in den Augen?«
-
-»Weil ich allweil denken muß --«
-
-»An den Leupi und seine Schmerzen?«
-
-Sie schüttelte den Kopf. »An den Kummer Gottes.«
-
-»Freilich!« Der Pfarrer nickte. »Gott muß sorgenvolle Zeiten haben.
-Erschafft einen prächtigen Buben, hat seine Freud an ihm, und jetzt
-liegt er in Blut und Schwären.« Er legte die Hand auf ihren Arm. »Ich
-hätt dir den heutigen Weg gern ausgeredet. Aber ich merk, du tust dich
-da nimmer halten lassen. Was christliche Barmherzigkeit ist, versteh
-ich doch auch. Jeder gütige Menschenweg bleibt allweil ein Sträßl
-Gottes. Und was ich dir neulich gesagt hab über deinen Vater? Also?
-*Ist* er jetzt einer von den Siebenthalbtausend?«
-
-»Wär's gekommen, wie ich geforchten hab, ich hätt's nit überlebt.« In
-ihren großen nassen Augen erwachte ein froher Glanz, als wäre das die
-einzige Freude dieser harten Zeit: »Jetzt glaub ich, daß der Vater
-glaubt.«
-
-»Siehst du! Hat man nit grad vier überflüssige Buchstaben im Hirn, so
-kommt man schließlich im Leben hinter jede Wahrheit. Geh mit Gott,
-mein Luisichen!« Lächelnd segelte der Hochwürdige in den langen
-Schmierstiefeln über die weiße Welt, aufmerksam begleitet vom
-Späherblick der Mutter Apollonia. Frau Jesunder leistete dabei eine
-zwecklose Arbeit. Daß Pfarrer Ludwig zum Fürsten berufen war, das wußte
-sie schon, wußte sogar noch mehr, hätte aber auch gerne gewußt, welche
-Richtung das grüne Mäntelchen einschlug. Doch bis die neugierige Mutter
-Apollonia in ihrer Behausung zu einem winzigen Hinterfenster sprang,
-durch das sie die Welt nur in notwendigen Ausnahmefällen zu betrachten
-pflegte, war Luisa nimmer zu entdecken.
-
-Sie hatte bereits das Mälzmeisterlehen betreten. Zitternd stand sie da
-im Flur und betrachtete ratlos die drei geschlossenen Türen. Ach, wie
-viel Herzklopfen verursachen die Wege der christlichen Barmherzigkeit!
-
-In dem kleinen Flur war nichts Katholisches, nichts Evangelisches zu
-gewahren. Ein bißchen roch es nach Seife und lauem Wasserdampf. Doch
-mehr nach Frühling. Hopfenproben und geröstete Gerste duften kräftiger
-als manche Blumen.
-
-Von den drei Türen war es die nach der Gartenseite, zu der man das
-größte Vertrauen haben konnte. Die Küchentür. Als Luisa sie öffnete,
-sah sie zwei Wasserbottiche mit blutfleckiger Bettwäsche und sah eine
-schlafende Frau. Wahrhaftig, man konnte glauben, daß Mutter Agnes
-schlief. So unbeweglich saß sie auf dem spreizbeinigen Bänkl über das
-Gesims des Gartenfensters hingesunken, vor dem der Fall der Schneefäden
-herunterging, und hielt das Gesicht in den Armen vergraben. Über den
-entblößten Scheitel rieselte ein schauerndes Zucken. Frau Agnes hörte
-nicht, daß jemand gekommen war. Erst diese lispelnde Stimme weckte sie:
-»Liebe Meisterin --« Da fuhr sie auf, als sähe sie ein Wunder. »Kindl?
-Du?« Luisa nickte: »Schau, da hab ich ein wehstillendes Sälbl gekocht
-und hab's in lindem Feuer viermal geläutert. Gestern, wie noch heller
-Himmel gewesen, hab ich es klären können in der Sonn. Und heißer hab
-ich gebetet dabei, als je im Leben.« In den zitternden Händen hielt sie
-ihr das braune, mit Schweinsblase verschlossene Tiegelchen hin. »Magst
-du es haben?« Mutter Agnes versuchte zu lächeln, blieb stumm und beugte
-den Kopf. »Jesus!« stammelte Luisa. Erst jetzt gewahrte sie dieses
-Erschreckende. Die Mälzmeisterin, deren Scheitel am Sonntag vor dem
-Holz der Unehr noch blond gewesen, war in fünf Nächten grau geworden.
-
-In der stillen Küche knisterte das Herdfeuer, und das siedende Wasser
-brodelte. Das war wie eine verträumte Stimme, die gerne singen möchte,
-aber nur die Weise findet und kein Wort dazu.
-
-Frau Agnes erhob sich und legte den Arm um Luisas Schultern. »Komm!«
-Sie führte das Mädchen in den Flur und vor eine Tür, die sie öffnete.
-»Da, schau!« Es war seine Kammer. An einem Zapfenbrette hingen allerlei
-Jagdgeräte, die Schneereifen und Steigeisen, der Bergsack, die
-stählernen Schlagfallen für den Fuchsfang, die neue Feuersteinflinte
-und eine Armbrust aus Urgroßvaters Zeiten. Eine schmale weiße Stube,
-ohne Ofen, mit spärlichem Gerät, so alt, wie die Armbrust war. An
-der Mauer ein kleines Kruzifix. In der Ecke, dem tief in der Mauer
-sitzenden Fenster gegenüber, stand das plumpe Bett, mit einer grauen
-Wildschur und mit Kissen, von denen der Überzug heruntergenommen war.
-
-Luisa entfärbte sich.
-
-»Schau, da hat er noch gestern gelegen, so klaglos und gottsfreudig
-wie einer von den Heiligen, die sie gemartert haben.« Frau Agnes
-streichelte ein Kissen, das feuchte Flecken hatte. »In der Nacht ist
-der Wildmeister gekommen, mit zwei Jägerknechten. Die haben ihn im
-blutigen Verband auf ein Rößl gehoben und haben ihn fortgeführt, ich
-weiß nit, wohin.«
-
-Wie eine Erlöste atmete Luisa auf.
-
-Da sah die Mälzmeisterin sie an. »Ach, Kindl, wie tust du zittern!
-Komm, setz dich ein bißl daher!« Sie zog die Widerstrebende auf das
-leere Bett ihres Sohnes. »Mein Alter meint, die Herren hätten den Buben
-bloß fortgeschafft, daß er den Leuten aus den Augen wär. Krieg ich
-Botschaft, wo er ist, so schick ich ihm gleich dein Tiegerl, gelt!« Sie
-konnte lächeln. »Ob's heilsam ist oder nit, es wird ihm wohltun. Darf
-ich es ihm sagen?«
-
-»Was, Meisterin?«
-
-»Daß es von dir ist.«
-
-Sie nickte.
-
-»Und daß du ihm gut bist?«
-
-»Ja, Mutter!«
-
-»Und daß ihr zwei, wenn die verständigen Zeiten wieder einkehren --«
-
-Luisa bekam das strenge Klostergesicht. »Das nit! Eine Hoffnung tät
-Sünd werden. Er ist drüben, ich bin, wo ich sein muß. Da ist kein Weg
-nimmer.«
-
-»Eins von euch beiden muß doch fügsam werden. Wie soll's denn enden?«
-
-Ein Lächeln. »Mit einem einsamen Tod.«
-
-Das ging der Mälzmeisterin gegen die gesunde Natur. »Ach geh, du
-Schäfle! Tät ich vom Sterben reden, so hätt's Verstand. Bei dir ist's
-Narretei. Das mach ich dir nit zum Fürwurf. Ist doch die halbe Welt
-verdreht!« Der Zorn war in dieser ausgeglichenen Frau eine seltene
-Sache. Jetzt wurde er wach. »Tät unser Herrgott doch endlich einmal
-einen Stecken nehmen und die ganze hirnkranke Menschheit so lang
-karbatschen, bis sie alle betteln: Hör auf, wir wollen verstandsam
-bleiben!« Sie wurde ruhiger und klagte: »Er tut's halt nit. Der muß
-einen Geduldfaden haben, daß man ihn auf der Weltkugel nit aufknäulen
-könnt in hunderttausend Jahr. Freilich, unser Herrgott hat Zeit zum
-warten. Wir Menschen nit. Komm, Kindl! Wir wollen ein Wörtl reden mit
-ihm. Eine schmerzhafte Mutter und von allen Jüngferlen das frömmste. Da
-*muß* er doch hören! Meinst du nit auch?«
-
-»Ja, Mutter Agnes!«
-
-»Aber das Tiegerl mußt du auslassen. Schau nur, was du für glühheiße
-Händlen hast! Was Heilsams muß allweil kühl haben.« Sie stellte den
-kleinen braunen Tiegel an das Fenster, dessen Scheiben mit Schnee
-behangen waren. »So, Kindl!«
-
-Nun knieten die beiden vor dem Kruzifix auf die frischgescheuerten
-Dielen nieder und falteten die Hände. Aus aller Frömmigkeit ihres
-Herzens sprach Mutter Agnes den >Notschrei der wahren Christen im
-tiefsten Elend<. Und Luisa, mit einer von Süßigkeit durchfieberten
-Inbrunst, betete die Worte: »Hilf uns, o Herr! Hilf uns, Du Gütiger und
-Gerechter, Du Allbarmherziger! Hilf uns, Du ewiger Vater!« Das hatte
-sie schon hundertmal gebetet, mit einer Seele, die nur glauben konnte,
-nicht denken. Jetzt zum erstenmal zuckte ihr durch die Verzückung des
-Gebets ein menschlicher Gedanke: »Christen sind sie doch auch! Die von
-da drüben! Sie glauben an Gott und Erlöser. Da sind sie doch keine
-Heiden nit!« Sie mußte zittern, beschuldigte sich einer schweren Sünde
-und empfand doch eine Freude, die den Klang ihrer betenden Worte noch
-heißer und inniger machte. --
-
--- Um die gleiche Stunde betete auch ein anderer, nur in taumelnder
-Seele, mit stummen Lippen, die sich so matt bewegten wie der Mund eines
-Verschmachtenden. Sein Gesicht glühte, seine Augen waren geschlossen,
-sein Körper wurde geschüttelt vom Wundfieber. Im Hallturmer Jägerhaus,
-das nur einen Büchsenschuß von der bayerischen Grenze entfernt stand --
-in einem Bodenraum, über dem die Lücken des Schindeldaches verkrustet
-waren mit angewehten Schneeklumpen -- lag er ausgestreckt auf dem
-Heu, in seinem Bergjägerkleid, mit nackten Füßen. Rotgesprenkelte
-Wundverbände umwanden die Fußknöchel, die Handgelenke und den Hals.
-
-Nun zuckten seine Glieder. Der wachsende Schmerz hatte ihn aus dem
-Fiebertaumel gerüttelt. Halb sich aufrichtend, ließ er die heißen Augen
-hingleiten über die niedere Balkenwand und über die Schneekrusten, die
-zwischen den Schindeln hingen. Undeutlich hörte er aus dem Unterstock
-des Hauses eine fluchende Stimme heraufklingen. Und sein Blick fragte:
-Wo bin ich? Er schloß die Augen wieder. »Herr, wenn ich Dich nur hab
---« Die Worte des Gebetes flüsternd, fiel er zurück aufs Heu. Sein
-zerrissenes Erinnern mischte sich mit jagenden Fieberbildern. Er hörte
-die Mutter reden, sah ein Gewoge von Köpfen und Schultern, fühlte den
-schmerzenden Druck der Eisenbänder, die zu glühen schienen, vernahm
-das schöne Brausen des evangelischen Bekennerliedes, sah zwei Augen,
-die er mehr als sein Leben liebte, spürte einen Becher an den Lippen
-und hörte eine zärtliche Stimme: »Komm, tu trinken.« Er lächelte, und
-mit diesem Lächeln schlief er ein.
-
-Es knarrte auf der hölzernen Treppe. Aus dem offenen Stiegenloch
-tauchte ein geselchtes Mannsbild heraus, lang und dürr, mit einem
-weißen Schnauzer in dem mageren, wettergebräunten Gesicht, mit
-wasserblauen, mißmutigen Augen. Das war der fürstpröpstliche Grenzjäger
-Matthias Schneck. Der staatsmännische Auftrag, den ihm der Wildmeister
-hinterlassen hatte, war ihm ungemütlich. »Kreuzteufel und Elend!«
-knirschte er vor sich hin, während er aufmerksam den Schlafenden im
-Heu betrachtete. Ein guter und fester Jäger war der Leupolt, von der
-ganzen Berchtesgadnischen Jägerei der beste, freilich, aber halt
-auch ein Ketzer, ein ewig verfluchter! So was hat ein guter Katholik
-wie der Hiesel Schneck nicht gern unter Dach. »Teufel, Teufel, eine
-abgestochene Sau wär mir lieber im Haus.« Nach diesem Weisheitsspruche
-zog der Alte den Schnauzer zurück, tappte über die steile Stiegenleiter
-in die Herdstube hinunter, zog über seinem Kopf die Bodenklappe zu und
-schimpfte: »Kreuzteufel und narrischer Himmelhund! Allweil und allweil
-schlaft er!«
-
-»So?« erwiderte ein kleines, abgearbeitetes Weibl mit versunkenen
-Kinderaugen in einem weißen Runzelgesicht. Weil sie das kurze, nur
-wenig über die Knie reichende Röckl trug, sah sie noch kleiner aus,
-als sie war, und glich einem braunen Borkenstöpsel, der auf zwei
-weißbeinernen Stricknadeln steht. Auch schien es ihr an häuslichem
-Verstand zu mangeln. Sie kochte was in einer kleinen Pfanne, für die
-ein winziges Feuer ausgereicht hätte; aber auf dem Herdstein rauschte
-eine große Flamme, von der eine sengende Hitze ausging. Und noch immer
-legte das Weibl einen Ast um den anderen dazu. Und sagte: »Du! Schneck!
-Wann's dir nit recht ist, daß er schlaft, so hättst ihn ja wecken
-können.«
-
-»Wecken? Wecken?« Ganz rasend wurde der Hiesel. »Du Gans ohne Federn!
-So was tut man doch nit.«
-
-Das Weibl schmunzelte. »Warum denn nit?«
-
-»Höll, Himmel und Haberstroh! Hast nit ein *bißl* Verstand unter dem
-Hafendeckel? Ein einzigsmal seit der Ewigkeit hat unser grundgütiger
-Herrgott ein boshaftes Stündl verspürt, und da hat er ihm so ein
-Weiberleut ausstudiert! Kreuz Teufel, enk sollt man hauen den ganzen
-Tag. Der hat vierundzwanzig Stündlen. Wann sie nit reichen, könnt man
-die Nacht noch hernehmen dazu! Verstehst?«
-
-»Ja ja, Schneck, versteh schon!«
-
-»Also, in Gotts Namen!« Er setzte sich auf die Mauerbank und begann
-für einen Schneemarsch die Filzgamaschen um die Waden zu schnüren.
-So oft der Riemen nicht in die Haftel schlüpfen wollte, gab's einen
-fürchterlichen Fluch. Das Fluchen ist ein verhölltes Ding, und wo
-sich der Teufel rührt, wird's finster. Wohl möglich, daß die alten
-Balkenmauern in den fünfunddreißig Jahren, seit der Schneck und die
-Schneckin zwischen ihnen hausten, vom vielen Fluchen des Hiesel so
-schwarz wurden. Augenblicklich waren diese teufelsfarbenen Wände auch
-noch angeglüht von der großen Flamme. Alles in der Stube funkelte,
-der ganze Herd mit der Rauchmuschel darüber, in der anderen Ecke das
-zweischläfrige Bett mit den hochgetürmten Kissen, in der dritten
-Ecke der Tisch, in der vierten der alte Geschirrkasten und die
-Geweihstangen, die als Kleiderrechen an die Balken genagelt waren. Kaum
-merkte man inmitten dieser Funkelglut, daß es draußen Tag war. Auch
-sonst hatte die Stube noch was Höllisches. Neben der Tür, die ins Freie
-führte, ging ein niederes Türchen in den Geißstall. Da trug man an den
-Sohlen immer was über die Schwelle. Drum roch es beim Hiesel Schneck
--- außer nach Ruß, nach Rauchtabak und geschmierten Bergschuhen --
-auch sehr heftig nach Ziegenpillen und Bockmist. Dennoch merkte man es
-der Stube an, daß sie behütet wurde von zwei fleißigen Frauenhänden.
-Gegen den Stallgeruch konnte die Schneckin nicht aufkommen, weil sie
-sich seit dreißig Jahren an ihn gewöhnt hatte und nur selten merkte,
-daß er da war. Die Ziegen hatten alle paar Jährchen gewechselt, der
-Geruch war der gleiche geblieben. Auch der Hiesel Schneck. Der hatte
-schon vor fünfunddreißig Jahren, in der ersten Woche nach der Hochzeit
-so lästerlich geflucht. Das war der jungen Schneckin hart auf die
-Seele gefallen. Und eines Tages hatte sie gebettelt: »Tu dich doch
-nit allweil so versündigen, Mann!« Da hatte er in Zorn gebrüllt:
-»Kreuzteufel, Himmelhund und Höllement! Wer sagt denn, daß ich mich
-versündig? Wie denn? Wann denn? Wo denn?« Seit damals wußte die
-Schneckin, daß das Sakermentieren am Hiesel nur eine Haut war, wie am
-Fichtenbaum die Borke. Die ist rauh, das Holz ist gut. So gewöhnte sich
-die Schneckin an die höllmentischen Borsten ihres Schneck, wie sie
-sich um der guten Geißmilch willen an die Düfte des Bockmistes gewöhnen
-mußte. Länger als ein Vierteljahrhundert hatte sie der Schneckischen
-Flüche nimmer geachtet. Erst im vergangenen Herbste hatte sie wieder
-Ohren dafür bekommen. Das ließ sie den Hiesel aus triftigen Gründen
-nicht merken.
-
-Als er die Filzgamaschen prall an seine Waden hingeflucht hatte,
-nahm er Branntwein und Ziegenkäs in den Bergsack, hängte die
-Feuersteinflinte hinter die Schultern, warf den Wettermantel drüber und
-sagte leis: »Paß auf, Schneckin! Das Süppl, Kreuzteufel, das muß er
-haben! Aber ordentlich versalzen mußt du's. Verstehst?«
-
-»Wohl, Schneck, versteh schon. Ich salz, daß der Bub verdursten muß
-über Nacht.«
-
-»Höllement und Himmelhund, verstehst du denn nit, du Schaf ohne Woll!
-Nit gar so fest! Bloß daß er merkt, wie gut er's überall haben könnt,
-viel besser als wie bei uns. Verstehst?«
-
-»Ja ja, Schneck, gut versteh ich.«
-
-»Daß er frieren muß da droben, wie die Feldmaus an Weihnächten, das
-wird mithelfen. Und du mußt ihm halt allweil fürreden, daß er keine
-hundert Sprüng nit braucht bis zur bayrischen Grenz. Verstehst?«
-
-»Ja, Schneck, versteh schon. Allweil stell ich mich ans Bodenfenster
-und sag: ja guck nur, guck, wie gut man von da den Grenzbaum sieht!«
-
-»No also! Endlich verstehst ein bißl! Und wirst wohl wissen,
-wie's der Wildmeister haben will. Kein Wörtl von der luthrischen
-Narretei. Tu fürsichtig das Maul halten! Wir zwei sind gute Christen.
-Kreuzhöllement! Unser Herrgott ist unser Brot. Verstehst? Wie flinker
-er nüberspringt ins Bayrische, um so lieber ist es den Herren.
-Verstehst?«
-
-»Wohl, Schneck, versteh schon! Wenn's nächtet, ist der Bub nimmer
-droben am Heuboden.«
-
-»Gott soll's geben!« Der Hiesel ging zur Türe. »Gelobt sei Jesus
-Christus und die heilige Mutter Marie.«
-
-Ruhig sagte das kleine Weibl am Herd: »Von nun an bis in Ewigkeit
-Amen!« Und legte drei schwere Holzprügel in die große, rauschende
-Flamme.
-
-»Höll, Himmelhund und narrische Fasnacht, was tust du denn so unsinnig
-feuern, Weib?«
-
-»Daß ich nit frieren muß.« Dabei rannen der Schneckin die Schweißperlen
-über das von der Hitze halb gebratene Gesicht. »Verstehst?« Nein,
-das verstand der Hiesel nicht. Er fing über die Dummheit der Weiber
-wie ein Wilder zu fluchen an und schlug die Türe hinter sich zu. Man
-hörte noch immer seine wütenden Himmelhunde bellen, als seine Schritte
-schon versunken waren im tiefgewordenen Schnee. Kaum er draußen war,
-sprang die Schneckin zur Treppe hinüber und lupfte die Bodenklappe, daß
-die Wärme hinaufströmen konnte. Und wieder zum Herd, und wieder ein
-paar feste Prügel ins Feuer. Sie kostete, was sie gekocht hatte, und
-weil die Milchsuppe ein bißchen nach dem Geißstall bitterte, rührte
-die Schneckin ein Löffelchen Honig hinein. Daß einer im Wundfieber
-nichts Heißes trinken soll, das wußte sie auch. Drum sprang sie in den
-weißen Flockenfall hinaus, um das Blechschüsselchen mit der dampfenden
-Suppe im Schnee zu kühlen. Wieder kostete sie und nickte zufrieden.
-In der Art, wie die Schneckin das alles tat, war etwas Mutterhaftes.
-Sieben Kinder hatte sie ihrem Höllementshiesel geboren, alle in
-dieser schwarzen Stube, und keines hatte sie behalten. Drei waren
-an den Blattern gestorben, die zwei ältesten Buben dienten bei der
-Schellenberger Saline, der dritte war Soldat bei der Reichsarmee, und
-das jüngste von ihren Kindern, ihr liebes Mädel, hatte im vergangenen
-Sommer einen Halleiner Knappen geheiratet. Bei der Schneckin waren nur
-der Hiesel, seine Himmelhunde und der Bockmist geblieben.
-
-Achtsam trug sie das kühle Schüsselchen über die steile Treppe hinauf,
-huschelte sich neben dem Schlafenden ins Heu, betrachtete sein
-glühendes Gesicht und streichelte den Wundverband an seinem Handgelenk.
-Dann saß sie unbeweglich, bis der Schlummernde zu erwachen schien. Sie
-schob ihm sacht die Hand unter den Nacken. Als er die Augen öffnete,
-hob sie das Schüsselchen und sagte freundlich: »So komm, tu trinken!«
-
-Mit einem erstickten Laut riß Leupolt den Kopf in die Höhe, sah
-verstört in die Augen der alten Frau, schob die Schüssel von sich fort
-und fiel zurück.
-
-»Bub? Tust du mir leicht nit trauen?«
-
-Leupolt schwieg.
-
-Da neigte die Schneckin den Mund zu seinem Ohr. »Es ist ein heilig
-Ding, ist deins und meins. Komm, lieber Bruder in Christ, tu trinken!«
-
-Noch während sie sprach, umklammerte er mit zuckenden Händen ihren Arm
-und fragte: »Bist du am Sonntag auf dem Markt gewesen?«
-
-»Wohl, Bub, da hab ich dich leiden sehen.«
-
-»Hast du gesehen, daß eine mich trinken hat lassen aus ihrem Becher?«
-
-»Ja, Bub!«
-
-»So hab ich es nit geträumt?« Aufatmend nahm er das Schüsselchen
-aus ihren Händen, trank mit gierigen Zügen und sagte lächelnd:
-»Vergeltsgott, gute Schwester!« Er schloß die Augen, noch immer
-lächelnd. Nach einer Weile fragte er leis: »Wer bist du?«
-
-»Die Schneckin, Bub! Kennst du mich nit?«
-
-»Das Weib des Jägers an der Grenz? Und bist du am Sonntag auch den Weg
-der Wahrheit gegangen?« Die Frau blieb stumm und verfärbte sich ein
-bißchen. Leupolt öffnete die Augen. »Warum nit, Schwester?«
-
-Ruhig sagte sie: »Den Schneck tät's umbringen.«
-
-Er nickte. »Jeder, wie er meint, daß es recht ist.« Seine Brauen zogen
-sich zusammen. »Drunten in der Herdstub hab ich einen schelten hören.
-Ist das der Schneck gewesen?«
-
-»Wohl, Bub! So tut er allweil.«
-
-»Weil du evangelisch bist?«
-
-Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß er nit.«
-
-»Kann's ein Mannsbild geben, das nit Augen hat für die Seel in seinem
-Weib?«
-
-Ein bißchen lächelte sie. »So ist der Schneck. Tät die Himmelsglock
-herunterfallen auf die Welt, da müßt ich dem Meinigen sagen: Du,
-Schneck, paß auf! Sonst merkt er es nit.« Sie sah, daß Leupolt die
-Zähne übereinanderbiß. Erschrocken fragte sie: »Hast du Schmerzen?«
-
-»Nit arg.«
-
-»Ich will dich pflegen. Drunten in der Herdstub hätt ich's leichter.
-Meinst du, daß du hinunterkommst?«
-
-Mit ihrer Hilfe hob er sich aus dem Heu. Die Füße trugen ihn nicht.
-»Mußt mich halt noch ein Stündl liegen lassen. Dein guter Trunk wird
-helfen, daß ich zu Kräften komm.« Er hielt mit seinen glühenden Fingern
-die Hand der Schneckin umspannt. »Weiß meine Mutter, wo man mich
-hingeführt hat?«
-
-»Bub, da bin ich überfragt.«
-
-»Magst du ihr Botschaft geben?«
-
-Das hatte der Wildmeister über Auftrag der Regierung streng verboten.
-»Ja, Bub,« sagte die Schneckin, »das wird sich schon machen lassen. Ich
-hab am Ellbogen ein Überbein und red dem Meinigen ein, daß es blutet.
-Verstehst, ein Überbein blutet doch nie. Und da lauft der Meinige
-gleich zum Jud um ein Pflaster. So ein Jud ist allweil schlau. Und
-lügen kann er halt nit, der Schneck, verstehst? Da redet er allweil so
-dumm daher, daß man alles merkt. Und der Jud wird's dem Pfarrer sagen,
-und der Pfarrer tragt's deiner Mutter zu. Ja, Bub, die Wahrheit geht
-allweil den kürzesten Weg.«
-
-»So ist alles gut.«
-
-Schweigend lag er und atmete ruhig, bis der Fieberschlaf ihn wieder
-befiel.
-
-Unter dem verschneiten Dache war es warm geworden. Zwischen den
-Schindeln begannen die Schneeklumpen zu schmelzen, und die Tropfen
-fielen so reichlich von den Balken, wie sie im tauenden Frühling von
-den Bäumen fallen.
-
-
-
-
-Kapitel XVII
-
-
-Pfarrer Ludwig trat in das Fürstenzimmer, aus dem die verschnörkelte
-Pariserei allen deutschen Hausrat verdrängt hatte.
-
-Herr Anton Cajetan, in einem Hofkleid aus schwarzem Atlas, unter
-frischgepudertem Lockenbau, schlürfte seine Morgenschokolade. Er
-hatte unausgeschlafene Augen. Spinettspiel und Cyperwein hatten
-sich wirkungsloser erwiesen als sonst. Zehntausend Untertanen und
-siebentausend Abtrünnige! Und die innersten Regierungsstätten ein
-Tummelplatz erschreckender Mirakel -- die gereizten Seelenzustände der
-schönen Freundin _en titre_ noch gar nicht in Rechnung gezogen -- wie
-soll man da schlafen können als Fürst? Mit einem Augenwink schickte
-Herr Anton Cajetan den Lakai aus dem Zimmer und trat erregt auf den
-Pfarrer zu. »Was sagst du zu dieser konsternierenden Sache! Fast
-siebentausend!« Da sah er die verschwollene Nase des Pfarrers und wich
-zurück. »Es scheint, daß du *wirklich* katarrhalisch bist?«
-
-»Haben Euer Liebden daran gezweifelt? Aber es wird schon besser. Und im
-Abflauen ist eine Krankheit nimmer ansteckend.«
-
-»Immerhin wollen wir vorsichtig sein und den Tisch _entre nous_
-postieren. Nimm Platz -- da drüben!« Forschend betrachtete Herr Anton
-Cajetan den Greis. »Ich will deine Meinung hören. Man muß zu einer
-Dezision kommen, was man tun soll. Der Salzburger Hof, an den ich einen
-Kurier detaschiert habe, schweigt sich aus. Und die Gehirne meiner
-eigenen Kanzleikamele befinden sich in einer desolaten Konstitution.«
-
-»Wenn man nur merkt, wie man dran ist mit ihnen. Da schadet's minder.«
-
-»Weißt du mir einen Rat?«
-
-Dem Pfarrer stieg das Blut ins Gesicht. Er hatte sich nichts Gutes von
-dieser Stunde erwartet. Nun fühlte er ihre Verantwortung. War es nicht
-denkbar, daß diese Stunde auch Segen bringen konnte? »Einen Rat?« Er
-atmete tief und nickte. »Es geht da um unser Ländl und Volk. Kann sein,
-um *mehr*! Um ein notwendiges Ding im Reich --«
-
-»Was, Reich!« lehnte Anton Cajetan verdrießlich ab. »Laß
-Nebensächliches _à part_! Was soll ich tun in dieser desperaten
-Fatalität?« Der Fürst tauchte ein Biskuit in die Schokolade.
-
-Pfarrer Ludwig zog die Brauen zusammen. »Man kann von zehntausend
-Untertanen nit siebentausend über die Grenz jagen. An verläßlichen
-Stiftsleuten bringen Euer Liebden kein halbes Hundert nimmer auf.
-Fünfzig wider siebentausend, das ist so siegreich wie ein Frosch wider
-einen Ochsen.« Zur Bekräftigung dieser Wahrheit mußte der Pfarrer
-niesen.
-
-Anton Cajetan streckte mißmutig die Hand. »Rück weiter vom Tische!«
-Seufzend schob er das lindgeweichte Biskuit an seinen Bestimmungsort.
-»Du meinst also?«
-
-»Daß Euer Gnaden sich mit den Siebentausend in Güt verständigen müssen.«
-
-»Ganz meine Meinung.«
-
-»Ja, Herr?« fuhr es dem Pfarrer mit freudigem Laut heraus.
-
-»Wie denkst du dir die Bekehrungsmethode?«
-
-»Bekehrung?« Dem Enttäuschten wurden die Augen groß. »Freilich, wenn es
-an den Brotkorb geht, werden viele umfallen. Alle Schwachmütigen. Zu
-Eurem Nutzen wär es, Euch die Tüchtigen zu erhalten. Oder Euer Ländl
-wird blutarm werden wie ein junges Weib, dem der Mann genommen ist.«
-
-»Ludwig, du bist opulent an unpriesterlichen Bildern. Oder --« Anton
-Cajetan richtete einen mißtrauischen Blick auf den Pfarrer. »Bist du
-vielleicht deines eigenen Glaubens nicht mehr sicher?«
-
-»Doch, Herr!« Die große Warze des Pfarrers zuckte ein bißchen. »Aber
-ich spür, daß viele von diesen Abtrünnigen die besseren Menschen sind,
-als manche von den Treugebliebenen.«
-
-Zornig fuhr der Fürst vom Sessel auf und bespritzte die schimmernde
-Hose mit Schokolade. Auf das weiße Fenster zutretend, tupfte er mit dem
-Spitzentuch die Flecken vom schwarzen Atlas. Dann lachte er kurz und
-murrte: »Die besseren Menschen! Diese Treulosen an ihrem Fürsten und
-Gott!«
-
-»Alles Neue faßt am tiefsten die Menschen an, in deren Seelen der
-fruchtbarste Boden ist. Was blüht in einer sehnsüchtigen Seel, erhebt
-den Menschen, macht ihn stärker und schöner in allen Kräften, zündet in
-seinem Blut und Herzen ein lauteres Feuer an. Und *das* sind die Leut,
-die Ihr nit verjagen dürft. Bekehren? Nein, Herr! Und hält man sie nit
-zurück, so wird das Land seine fleißigsten Händ verlieren.«
-
-Etwas ruhiger geworden, kehrte Anton Cajetan zum Tisch zurück und
-setzte sich wieder zu seiner Schokolade. »Man darf doch diese
-üblen Dinge nicht laufen lassen, wie sie laufen? Wenn sich auch ein
-hilfreicher Weg im Augenblick nicht präsentiert, so hat man als Fürst
-doch seine Verpflichtungen. Wer Herr heißt, trägt das Schwert nicht
-umsonst. Man muß die Rädelsführer zu fassen suchen, muß aus dem Weg
-räumen, was der Ordnung _contre coeur_ ist. Ein Fürst, der es
-unterließe, wäre ein Erwürger seiner eigenen Herrschaft.«
-
-Der Pfarrer bekam eine rote Stirn. »So sprachen wohl auch die römischen
-Cäsaren, als sie das Christentum zu verfolgen begannen. Haben sie es
-ausgerottet?«
-
-Anton Cajetan verlor seine gebesserte Laune wieder. »Christentum und
-evangelische Narretei sind verschiedene Dinge.«
-
-»Für Euch als Priester. Nit für Euch als Fürst. Ist das deutsche Blut
-im Schwedenkrieg umsonst geflossen? Sind die Protestanten nach den
-Satzungen des Westfälischen Friedens nit privilegiert im ganzen Reich?«
-
-Der Fürstpropst, vom Sessel aufspringend, vergaß seiner Würde so weit,
-daß er mit der Faust wie ein Bauer losdrosch auf die Tischplatte.
-»Diese siebentausend Rebellen meines Landes *sind* keine Protestanten.
-Das sind hirnverdrehte Schwarmgeister, die ihren Wahn herausspinnen aus
-besoffenen Gehirnen. Diese verrückten Kujons haben doch niemals noch
-einen Prediger ihres Glaubens gehört.«
-
-»Vielleicht ist eben deswegen ihr Glauben so fest!«
-
-»Oh? Pamphletierst du gegen den eigenen Stand?«
-
-»Das nit! Ich glaub, daß für die Menschen nichts nötiger ist als eine
-hilfreiche Seelenweisung. Aber es kann die Schwachgewordenen nit arg
-im Glauben festen, wenn neben dem Priester allweil der Muckenfüßl mit
-seinem gefährlichen Notizbuch steht: Brauchst du das Weihwasser und den
-Rosenkranz? Glaubst du ans Fegfeuer? Und wenn du nit glauben magst, so
-mußt du zahlen!«
-
-Der Fürstpropst wurde nachdenklich.
-
-Das sah der Pfarrer und sagte mit herzlicher Mahnung: »Ihr spürt es
-doch in Euch selber, daß da endlich ein Wandel kommen muß. Lieber Herr!
-Schauet das Leben doch an! Sonst überall ist Wahl und Freiheit. Was tät
-man sagen, wenn der Muckenfüßl austrommeln wollt: >Subjekt, du darfst
-nur den schwarzen Rettich essen, nit den weißen!< Oft vertragt einer
-halt den schwarzen nit, weil er so raß ist.«
-
-Empört fuhr Anton Cajetan auf: »Vergleichst du die Religion mit einem
-Rettichschwanz?«
-
-»Ach, Herr, so ein kleines, unverdauliche Schwänzl hat *jedes* Ding auf
-der Welt.«
-
-»Das sind Parabeln, auf die ich mich nicht einlassen kann.« Heißer
-Unmut begann im Fürsten zu wühlen. »Das Volk ist undankbar. Es sollte
-kapieren, daß es heute besser dran ist, als in vergangenen Zeiten.«
-
-»Besser?« Der Blick des Pfarrers war wie ein Rückschauen in grauenvolle
-Bilder. »Wahr ist's, der Henker hat ein bißl weniger Arbeit heut, als
-vor hundert Jahren. Da hat man dem deutschen Land durch Ketzerbrennen,
-Ersäufen und Köpfen eine schauderhafte Zahl von rechtschaffenen Leuten
-entzogen. Und hat für die Kirch nichts anderes zustand gebracht als
-üblen Geruch.«
-
-»Sie hat ihren Schaden observiert und hat es abgestellt.«
-
-»Um ihre widerspenstigen Kinder leben zu lassen und sie lieber so lang
-zu peinigen, bis sie die Rute küssen.«
-
-Der Fürst machte echauffiert einen Gang durch das Zimmer und sagte
-gereizt: »Rom könnte nicht mehr bleiben, was es ist, wenn es aufhören
-wollte, die Widersacher zu bestrafen. In solchen Dingen muß man
-konsequent sein.«
-
-»Was hat's geholfen, Herr? Aus lauter römischer Konsequenz ist das
-halbe deutsche Reich schon lutherisch. Und haben die justiziarischen
-Seifenschläger bei uns nit ausposaunt: das Land ist rein, und wollt
-man suchen mit des Diogenes Latern, es wär kein Evangelischer nimmer
-zu finden. Und jetzt? Siebentausend bei uns! Und in Salzburg waren es
-über die Dreißigtausend! Gefahr und Ketten, Not und Armut haben die
-Salzburger lieber ertragen wollen, als untreu werden ihrem Seelentrost.
-Man hat die Weiber aus den Armen der Männer gerissen, Tausende von
-Kindern hat man ihnen weggenommen --«
-
-»Ludwig?« unterbrach Herr Anton Cajetan. »Hast du geheime Verbindung
-mit Salzburg? Da müßte ich deiner Neugier einen Riegel vorschieben.«
-
-»Mich wird er nit drucken, Herr!« Der Pfarrer zog den Atem rückwärts,
-um nicht niesen zu müssen. »Drucken und einengen wird er nur Euch.
-Verschließt alle Grenzen mit eisernen Mauern und tausend Musketieren
--- die Botschaft, die Euer Völkl hören *will*, wird allweil einen
-Weg zu seinem Herzen finden.« Er streckte die Hände. In seiner
-Erregung fiel es ihm nicht auf, wie schnell der Allergnädigste vor
-der Infektionsgefahr retirierte. »Herr! Ich bitt Euch, laßt Euch
-raten von mir! Rühren Euch die Kanzleischöpse einen bösen Brei in den
-fürstlichen Topf, so seid doch Ihr es, der ihn austunken muß. Was in
-den Siebentausend zu heißem Leben geboren ist, das macht der Muckenfüßl
-nimmer zum Kadaver. Das ist in ihnen wie gesundes Frühlingsholz.
-Versenkt es in Eurem Königssee bis auf den Grund, beschwert es mit
-Steinen, laßt eine Eisdeck drüberwachsen! Das Eis wird springen, die
-Felsbrocken werden zerfallen, und das gute Holz steigt wieder in die
-Höh. Es wird aus der schmerzhaften Tief heraufbrausen mit einem Stoß
-und Auftrieb -- -- das könnt Euch umschmeißen, Herr!«
-
-Der Fürst war bleich geworden, ging hastig zur Tür und schrie in den
-Flur hinaus: »Ist dieser gottverlassene Filou noch immer nicht zurück?«
-Man hörte die verneinende Antwort eines Lakaien.
-
-Stumm betrachtete Pfarrer Ludwig den Fürsten, jäh herausgerissen aus
-aller keimenden Hoffnung. Der Ausdruck schweren Kummers sprach aus
-seinem verschwollenen Gesicht, aus den vom Schnupfen tränenden Augen.
-
-Anton Cajetan hatte die Türe krachend ins Schloß geworfen, wanderte
-hilflos durch die prunkvolle Stube und sagte ein paarmal flink
-hintereinander: »Das muß man überlegen! Das muß man sich doch
-überlegen!«
-
-»Ja, Herr! Ein füreiliger Entschluß könnt Euch ein böses Sträßl in die
-Zukunft bauen.« Die Stimme des Pfarrers klang so hart, daß der Fürst
-verwundert aufsah. Ganz still war's einen Augenblick in dem großen
-Raum. »Zu End müssen wir das allweil reden, Herr! Ich tu's und wenn's
-um den Hals geht.«
-
-»Eine anrüchige Einleitung! Was willst du sagen?«
-
-»Ich mein', es handelt sich da nit *nur* um Gott und Himmel. Es kommt
-mir so für, als tät hinter dem unverträglichen Eigensinn, mit dem die
-Katholiken und Evangelischen gegeneinander hadern, noch was anderes
-stecken. Römisch? Evangelisch? Das liegt doch nit so weit überzwerch,
-daß man sich unter deutschen Nachbarsleuten nit verstehen könnt.«
-
-Verdrossen murrte der Fürst: »Gott muß sich schön was denken, wenn er
-dich als katholischen Priester so räsonnieren hört!«
-
-»Da glaub ich erstens, daß Gott was Gescheiteres zu tun hat, als auf
-mich aufzupassen. Und zweitens mein' ich, daß es ihm gleich ist, ob
-die Menschen von rechts oder von links zu ihm kommen. Wenn sie nur
-nit ausbleiben. Und schauet, Herr, zwischen einem Katholiken, wenn es
-kein schlechter, und einem Evangelischen, wenn es ein rechter ist, wär
-allweil ein ruhvolles Nebeneinanderleben möglich. Nit zwischen den
-Hetzern und Streithammeln. Da ist Krieg, bis ihnen die bösen Kräft
-entrinnen. Ich will hoffen auf den Sieg des Guten. Hoffnung muß das
-ewige Laster aller Menschheit bleiben. Und da glaub ich, Herr, daß
-der Hader um die Religion in Deutschland nur halb herausgewachsen ist
-aus dem Kirchboden. Das geht noch auf was anderes zurück, als auf die
-sprenkligen Glaubensfarben und auf das dreißigjährige Morden im Reich.
-Das Ding ist älter. Der Gegensatz im Glauben hat's nur erneut und
-aufgeblasen zu gefährlicher Unform.«
-
-»Ich verstehe nicht. Was meinst du damit?«
-
-»Den bockbeinigen Eigensinn und die händelsüchtige Rechthaberei der
-Deutschen! Der tiefe Graben, der überall aufgerissen ist zwischen
-allen deutschen Stämmen, will ein Sumpfloch werden, in dem das Beste
-der deutschen Kraft versinkt. Sonst ist die unglückselige Torheit nur
-daheimgewesen in den Herbergen und Studentenbursen, auf den Märkten
-und Kirchweihen. Jetzt hängen sich die landsmännischen Galläpfel an
-alles Große und Wichtige im Reich. Ein verzweifeltes Elend! Überall die
-gleiche Narretei und Unvernunft: daß man den anderen, weil er anders
-redet, in anderem Hut oder Kittel geht, allweil minder einwertet als
-sich selber.«
-
-Ungeduldig sagte Herr Anton Cajetan: »Das war so, seit es Deutsche
-gibt. Und es wird so bleiben.«
-
-»Dann werden die Deutschen dran zu Grund gehen.«
-
-»Ach, Torheit! Und hat es sich seit zwei Jahrhunderten immer mehr
-verschärft -- wer ist der Schuldige?«
-
-Der Pfarrer nickte. »Wahr ist's, er hat uns Römischen eine bittere
-Mahlzeit eingebrockt. Aber wer weiß, ob das Ding mit ihm so weit
-gegangen wär, wenn man auf unserer Seit ein bißl einsichtsvoller hätt
-sein können, ein bißl menschlicher und -- weniger konsequent.«
-
-»Ludwig?« fiel Herr Anton Cajetan dem Pfarrer zornig in die Rede.
-»Willst du nicht lieber gleich hinübergehen zur Ketzerliste und dich
-inskribieren?«
-
-Der Pfarrer lächelte. »Ich? Nein, Herr! Ich mein' nur, eine Sonn, die
-sticht, bleibt allweil auch eine Sonn, die geleuchtet hat.« Etwas
-Heißes und Bestürmendes kam in den Klang seiner Worte, obwohl sie
-leiser wurden. »Herr? Habt Ihr nie seine Bibel gelesen? Nur um der
-Sprach willen? Als deutsches Buch?«
-
-Anton Cajetan machte mit den Schultern eine graziöse Bewegung.
-»Deutsch!«
-
-»Ein kurzes Wörtl! Aber die kürzesten, Herr, sind allweil die tiefsten
--- wie Gott und Herz, wie Glück und Not.« Noch leiser wurde die von
-Erregung bebende Stimme des Pfarrers. »Herr! Des Luthers Bibel, und
-wär's nur um ihrer kraftvollen und neugeborenen Sprach willen, ist
-ein Gesundbrunnen, eine heimatliche Erweckung für uns Deutsche. Wie
-der Heiland gesprochen hat zur Tochter des Jairus, so spricht jedes
-Blatt dieses Buches zum deutschen Volk: Steh auf und rede! Und *das*,
-Herr, *das* vor allem ist der geheimnisvolle Zauber, den dieses
-Buch auf unsere deutschen Bürger und Bauern übt! Da verstehen sie,
-wenn sie lesen. Und spüren, daß sie dem vaterländischen Boden noch
-nit entwachsen, noch nit pariserisch oder spanisch geworden sind,
-sondern allweil noch mit Blut und Herz an der Heimat hängen.« Die
-hagere Gestalt des Greises streckte sich, und in seinem Blick war
-ein Hoffnungsglanz, wie in den Augen eines Jünglings, der von den
-Heiligkeiten seiner Liebe spricht. »Besinnen sich die Herren ihrer
-Pflicht und Herkunft nit, ihres nötigen Rückwegs in die Heimat, so wird
-das deutsche Bürgertum und das Volk der deutschen Bauern dem kranken
-Reich einen Weg zu gesundem Heil und zu neuer Zukunft bauen -- auch
-*ohne* die Herren!« Pfarrer Ludwig vermochte nicht weiter zu sprechen,
-weil er heftig niesen mußte, so unerwartet, daß er sich nimmer völlig
-beiseite wenden konnte.
-
-Der Fürstpropst war in aufmerksamer Spannung nähergetreten. Jetzt wich
-er fluchtartig zurück, brachte sein Spitzentüchelchen und das goldene
-Riechsalzfläschl in flinke Tätigkeit und klagte erbittert: »_Eh bien_,
-nun hast du mir auch noch mitten in die Physiognomie hineingenossen.«
-
-Der Pfarrer tat einen schweren Atemzug. »Das ist traurig, Herr: denken
-müssen, daß ich Euch vielleicht beredet hätt zu einem verständigen
-Entschluß -- wenn ich nit katarrhalisch wär. Ja, ja: die kleinen
-Ursächlen und die betrübsamen Wirkungen!« Er versuchte sich seiner
-Erregung durch ein heiteres Wort zu entwinden. »Vielleicht wär auch die
-Welt nit erschaffen worden, wenn sich der liebe Gott vor dem ersten
-Schöpfungstag im kühlen Chaos ein Tropfnäsl geholt hätt.«
-
-»_Mon cher!_ Du beginnst impertinent zu werden. Es war nicht nur
-gesundheitsgefährlich, heute mit dir zu konferieren, ich muß auch
-die Wahrnehmung machen, daß ich mich gründlich in dir getäuscht
-habe. Inkommodiere mich nicht mehr mit deinem Volk! Wo tauber Same
-in morastigem Acker fault, da siehst du Frühlingssaat. Dein Volk ist
-widerspenstig und voll Eigennutz. Dein Volk ist dumm. Dein Volk ist
-schlecht.«
-
-Das Gesicht des Pfarrers bekam so grimmige Züge, daß es mit seinen
-häßlichen Warzen dem Antlitz eines mehr als verdächtigen Menschen
-glich. »Nein, Herr! Das Volk ist weder gut noch bös, ist weder weiß
-noch schwarz. Das Volk ist grau, wie sein Elend ist. So hat man das
-Volk mit Seelenzwang, mit Jammer und Not gefärbt. Und nit zu verkennen
-ist das, Euer Liebden, daß in geistlichen Fürstentümern das Volk weit
-elender ist, als unter weltlichen Herren. Die geistlichen Fürsten
-sagen: Selig sind die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich. Und weil
-sie als Priester wollen müssen, daß jeder selig wird, drum sorgen sie
-als Fürsten dafür, daß jedermann arm ist.«
-
-In Zorn machte Herr Anton Cajetan eine Bewegung, als möchte er auf den
-Pfarrer zuschreiten. Doch er hielt sich ferne. »Mein langer Ludovice!
-Du bist entweder ein großer Mensch, oder ein ganz erstaunlicher Narr.«
-
-»Wofür entscheiden sich Euer Liebden?«
-
-»Für das letztere.«
-
-»Da werde ich mit dem Ratschlag, den ich noch geben muß, kaum Glück
-haben. Aber geben muß ich ihn. Und daß ich vom fürstlichen Priester hab
-reden müssen, ist schon eine Staffel gewesen. Den Entschluß, den die
-Not Eures Lands und die Sorg um das Reich von Euch fordern, könnt Ihr
-niemals finden als Priester. *Nur* als Fürst. In Euch selber könnt Ihr
-Euch nit auseinander schneiden. So müßt Ihr den Schnitt zwischen Euch
-und Eurem Ländl machen.«
-
-»Oh?« Herr Anton Cajetan schien sich sehr zu amüsieren. »Abdanken,
-meinst du?«
-
-»Wär nit genug.«
-
-»Wie anspruchsvoll!«
-
-Je mehr im Fürsten die Heiterkeit erwachte, um so ernster wurde der
-Pfarrer. »Schauet das Reich doch an! Wie ist da alles zerstückelt
-und zerrissen! Festen Halt hat nur das groß und stark aneinander
-Geschmiedete. Es gibt Stimmen, die sagen, es wär die einzige Genesung
-der Deutschen: *ein* Volk, *ein* Reich, *ein* Herr! So sag ich nit. Die
-Stammverschiedenheit ist wie gute Hefengärung im schweren deutschen
-Teig. Nur fest aneinanderschlingen müßt man sich. Und müßt das wüst
-ins Unkraut schießende Spötteln, das sinnlose, hochmütige, blitzdumme
-Aufmucken unterlassen, bei denen im Süden wider die im Norden, bei den
-Schwaben gegen die Sachsen, bei denen im Norden wider die im Süden.
-Ist denn das um Herrgottswillen so ein schweres Kunststück, von einem
-Bruder zu sagen: So ist er, und wie er ist, so müssen wir ihn nehmen
-und nutzen!«
-
-»Laß das!« unterbrach der Fürst. »Was geht das *mich* an! Ich bin
-kuriös auf dein Rezept.«
-
-»Wollt Ihr handeln als deutscher Fürst, so müßt Ihr aus der Landsnot,
-die Euch bedrückt, einen Nutzen heraushämmern für das Reich. Müßt
-helfen dazu, ein Fürbild der Verträglichkeit zu geben. Müßt helfen
-dazu, daß ein gewichtiger Teil im Reich noch standhafter ins Wachsen
-kommt.«
-
-»Ich verstehe deine sibyllinische Weisheit nicht.« Der sarkastische
-Ton verriet, daß Herr Anton Cajetan doch schon ein bißchen was zu
-ahnen begann. Es gewitterte sehr merklich in seinen schwarzgefärbten
-Augenbrauen.
-
-»Beugt sich in Euch der Fürst vor dem Priester, so macht Ihr unser
-Völkl elend, und Euer Land verblutet. Stellt Ihr den Fürsten *über* den
-Priester, laßt Ihr Euch das Landwohl nit verpanschen von der berühmten
-Konsequenz und macht Ihr Frieden mit den Siebentausend, so fallt Ihr in
-Streit und Hader mit allen Hitzköpfen unseres geweihten Standes. Herr!
-Da gibt's nur einen einzigen Ausweg.«
-
-Die bleichen Lippen des Fürsten wurden schmal. »Und welchen?«
-
-»Erlöst Euch selber und Euer Land aus allem Zwist, stärket durch Euer
-Bröckl Fürstenherrlichkeit ein gesundes Land im Reich und bindet den
-Berchtesgadnischen Sehnsuchtswinkel an das feste Bayern. Da seid Ihr
-als Fürst, wie als Priester, ledig aller Not und habt den Ärger und die
-giftigen Schulden los. Der neue Landsherr wird mit reichen Mitteln den
-stockenden Blutsaft unseres Völkls wieder in Gang bringen und wird sich
-als weltlicher Fürst mit den Siebentausend so leicht verständigen, wie
-es für Euch als fürstlichen Priester unmöglich ist.«
-
-Anton Cajetan legte die Hände hinter den Rücken. »Du? Bist du ein
-bezahlter Emissär des bayrischen Churfürsten?«
-
-»Herr!« Es dauerte eine Weile, ehe der Pfarrer weitersprach. »Das muß
-ich heiter nehmen. Wär' es ernst, so müßt ich mit Kummer fragen: Was
-ist siebzigjährige Treu eines Untertan gegen sein Land und seinen
-Fürsten? Und die Antwort tät lauten: Eine schauderhafte Dummheit!«
-
-Es war dem Fürsten anzumerken, daß Zorn und Verstand, Stolz und
-Hilflosigkeit einen harten Kampf in ihm ausfochten. Er begann
-französisch zu sprechen und kehrte wieder zu seinem ungeliebten Deutsch
-zurück: »Mag sein, daß ich mich im Wort vergriffen habe. Aber ich
-kapiere noch immer nicht, wie du dich einer solchen Kühnheit vermessen
-kannst.«
-
-»Kühnheit? Das ist nur ein schmerzhaftes Rechenexempel. Handel und
-Steuern gehen rückwärts, die Schuldzinsen fressen bei Butz und
-Stingel auf, was eingeht, und das Borgen wird allweil hoffnungsloser.
-Lang wird's ohnehin nimmer dauern mit der Stiftsherrlichkeit zu
-Berchtesgaden. Und Eure Landsnot mit entschlossenem Mut verwandeln
-in einen deutschen Hilfswillen? Herr? Wär das nit schöner als der
-fürstpröpstliche Bankerott und das Elend der Siebentausend, die heut
-noch an Seelenfreiheit und Erlösung glauben?«
-
-Ratlos faßte Herr Anton Cajetan seine gepuderten Locken zwischen die
-schönberingten Hände. »Wenn's nicht so wahr wäre! Zum Verzweifeln ist
-das!« Er fiel auf einen Sessel und sagte kleinlaut: »Du meinst also?«
-
-Im Pfarrer schien eine neue Hoffnung zu erwachen. Doch beim ersten
-Schritt, den er machte, um seinem verzagten Fürsten näher zu sein,
-wehrte Anton Cajetan erschrocken: »Nein! Bleibe, wo du stehst! Ich
-fühle bereits, daß ich niesen muß.« Ein paar französische Jammersätze.
-Dann ein deutscher Ausbruch seines verstörten Zornes. »Glaubst du denn,
-man legt einen Fürstenhut ab, wie man eine Perücke zum Frisieren gibt?
-Und die vielen, die da in Mitleidenschaft geraten!« Anton Cajetan
-sprach im Plural, obwohl er nur an ein Persönchen im Singular dachte.
-»Aber ich muß gestehen, die Dinge liegen so desperat -- ich werde nicht
-umhin können, meiner fürstlichen Seele diese schwere Dezision --« Das
-Zeitwort blieb ungesprochen. Lauschend hatte der Fürst die weißen
-Locken erhoben. Bevor er den Sessel noch verlassen konnte, kam der
-Lakai mit einem gesiegelten Schreiben auf silbernem Teller. »_Ah, ah,
-bienvenu, mon cher!_« Halb noch zitternd, halb schon wieder lächelnd,
-brach der Fürst mit ungeduldigen Fingern das große rote Siegel auf,
-schickte gnädig den Lakai aus dem Zimmer und begann zu lesen. Je
-mehr sein blasses Antlitz während des Lesens sich aufheiterte, um so
-bleicher wurde der Pfarrer. Als er sah, wie fröhlich der Fürst das
-Schreiben in seinem Frack verwahrte, sagte er ruhig: »Ich schätz die
-Salzburger Hilf auf fünf-, sechshundert Musketier und ein Dutzend
-Kapuziner. Hätten Euer Liebden Geld oder einen deutschen Rat verlangt,
-so wär die Antwort magerer ausgefallen.«
-
-Mit halbem Lachen fragte der Fürst: »Hast du mir, während ich las, über
-die Schulter geguckt?«
-
-»Nein, Herr! Ich hab mein katarrhalisches Bannfleckl nit verlassen. Aber
-die Gradschauenden kommen allweil in den Verdacht, daß sie um die Mauer
-blinzeln.«
-
-»Du solltest dich hüten, irgendwie in Verdacht zu geraten. Da wär es
-möglich, daß du mißliebige Experienzen machen mußt.«
-
-»Soll's kommen, wie's mag, ich kann noch allweil von Glück sagen. Wär
-ich vor hundert Jahren geboren worden, mit meinen zwei grauslichen
-Warzen im Gesicht, so hätt' ich als Teufelsbündler auf den
-Scheiterhaufen müssen.« Ein versunkenes Lachen. »Es ist unverkennbar,
-Zeit und Menschen gehen nach aufwärts.«
-
-Herr Anton Cajetan wurde überaus liebenswürdig. »Mein guter Pfarrer! Du
-hast die Warzen nicht nur im Gesicht, auch im Gehirn und an der Seele.
-Das kann lebensgefährlich werden.«
-
-»Vielleicht! Aber schauet, Herr, ich bin von den Glücklichen einer,
-denen nichts mehr geschehen kann. Mein Gott ist mein Gott. Jeder Tag
-bringt mich vorwärts auf dem Weg zu ihm.«
-
-Der Fürst lachte munter. »So muß ich dich, wenn du strafbar werden
-solltest, zu einem langen Leben verdammen.« Ein Handwink, und Pfarrer
-Ludwig war entlassen. Schon stand er bei der Tür. Da klang es hinter
-ihm mit spöttischem Laut: »_À propos, mon cher!_ Ich höre, man
-beschuldigt dich einer üblen Sache.«
-
-»Soooo?« Der Pfarrer schmunzelte. »Vielleicht einer Menschlichkeit? Die
-wär von allen Zeitverbrechen das größte.«
-
-Anton Cajetan schien sich zu ärgern. »Man hat dich in Verdacht, daß
-*du* der Wundertäter warst, der das Mirakel in der Armeseelenkammer
-wirkte und die schwarzweiße Gefahr verschwinden ließ in die ewige Ruhe?«
-
-Behaglich wiegte Pfarrer Ludwig den grauen Kopf. »Schau! Was für ein
-netter Einfall! Hätt ich ihn gehabt, ich tät mich um seinetwegen nit
-schämen.«
-
-Ein paar heftige Schritte des Fürsten. Und ein Ton wie aus Wolkenhöhe.
-»Ludwig? Lügst du?«
-
-»Mein gütiger Herr!« antwortete der Greis mit Seelenruhe. »Die
-redlichsten Wahrheiten schauen allweil einer Lug so zum Verwechseln
-ähnlich, wie ein Rattenschweif dem Schnauzer des Muckenfüßl.«
-
-Der Fürst verhehlte seinen Mißmut nimmer. »Weil du so gern diesen
-diensteifrigen Mann citierst, wirst du vielleicht Gelegenheit finden,
-dich eingehend mit ihm zu okkupieren.« Noch über die Schulter die
-strenge Mahnung: »Daß es Dienstgeheimnisse gibt, das weißt du.« Herr
-Anton Cajetan verzog das Gesicht, als ob er niesen müßte, und zerrte
-das Riechfläschl aus der Atlasweste.
-
-Das konnte der Pfarrer noch sehen. Halb belustigt, halb mit dem Groll
-seines wühlenden Kummers, murrte er in Gedanken vor sich hin: »Meinen
-Schnupfen *hat* er! Jetzt kriegt ihn die allergnädigste Aurore de
-Neuenstein. Und der vergönn ich ihn.« Er grüßte freundlich die Lakaien
-im Korridor. Als er durch den reichlich fallenden Schnee hinüberschritt
-zu seinem Hause, war er nicht ärmer um eine Hoffnung. Die Stunde mit
-dem Fürsten war so gewesen, wie er befürchtet hatte, daß sie sein
-würde. Und war für Augenblicke ein irrender Hoffnungsgedanke in ihm
-erwacht, so war's geschehen wider Verstand und besseres Wissen. »Er
-ist, wie er ist. So bleibt er bis zu seiner letzten Schlittenfahrt, und
-so muß man ihn nehmen. Nur daß er mich *jetzt* grad rufen hat lassen
--- das vergrämt mich ein bißl.« Bei diesem Gedanken spähte er zu den
-Fenstern des Chorkaplans Jesunder hinüber. Frau Apollonia, obwohl keine
-Evangelische, war unsichtbar. »Da haben sie also nichts gefunden.
-Sonst tät sie vergnügt aus dem Fenster grinsen.« Nein, es war für den
-emeritierten Stiftspfarrer Ludwig *keine* Überraschung, als er seine
-Haustür eingedrückt, alle Schränke und den Schreibtisch erbrochen fand.
-Von dem Silbergeld im aufgemeißelten Geheimfach fehlte kein Sechser.
-Unleugbar, die Polizei war ehrlich.
-
-Eine Überraschung war der Besuch des Feldwebels Muckenfüßl und der
-Soldaten Gottes nur für die Schwester Franziska gewesen. Eine ganz
-fürchterliche. Sie weinte, daß es zum Herzzerbrechen war. Der Pfarrer
-legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern und schrie ihr ins Ohr.
-»Geh, sei gescheit und trink ein Schnäpsle! Das richtet dich wieder
-auf.«
-
-Es blieb unentschieden, ob sie das verstanden hatte. Unter Tränen sah
-sie den Bruder an und klagte: »Ach, Gott, wie *viel* haben sie gefragt!
-Aber weißt du, ich hab allweil falsch gehört.«
-
-»Ja ja, Schwester! Wenn der Mensch nur immer weiß, wie er seine
-mangelhaften Instrumente gebrauchen muß.« Der Pfarrer nahm den
-Radmantel ab, zog die Schmierstiefel aus und begann in der übel
-zugerichteten Stube wieder Ordnung zu machen.
-
-
-
-
-Kapitel XVIII
-
-
-Die folgenden Tage waren im Lande Berchtesgaden reich an
-Überraschungen. Nachdem es einen Tag und eine Nacht lang tüchtig
-geschneit hatte, kam blauer Himmel mit klarer Sonne. Die Welt sah
-aus, wie neu vom lieben Herrgott versilbert. Und am Samstag, in
-den Morgenstunden, wurde zu Berchtesgaden ausgetrommelt, daß der
-allergnädigste Herr Fürst, um wieder einmal inmitten seiner getreuen
-Landskinder zu weilen, für den folgenden Sonntag im Schützenhaus ein
-fröhliches Fastnachtsschießen angeordnet hätte, mit vielen Preisen
-und Aufmunterungen für die besten Schützen des Landes. Nicht nur die
-Mitglieder der hochehrenwerten Schützengesellschaft vom heiligen Martin
-wären eingeladen, sondern alle Mannsleute, so eine Schußwaffe besäßen.
-Die Austrommlung endete mit dem munteren Vers:
-
- »Wie mehrer die Gäst,
- So schöner das Fest,
- So froher der Fürst,
- 's gibt Freibier und Würst!«
-
-Unter den vielen, die das zu Berchtesgaden austrommeln hörten, befand
-sich auch der Hiesel Schneck, der bei dem Juden ein Pflaster für das
-Überbein seiner Schneckin hatte holen müssen. Das Schützenfest schien
-ihm keine Freude zu bereiten. Die unzählbaren Himmelhunde, die er
-hinaufknurren ließ zur Sonne, bewiesen, daß der Hiesel Schneck in übler
-Laune war. Ihn quälte der Ärger darüber, daß so ein Jud wieder einmal
-schlauer gewesen war, als der redlichste von allen Christen. Hiesel
-hatte geschwiegen wie ein luthrisches Grab, auf dem kein Hügel und
-kein Kreuzl ist. Dennoch hatte Lewitter plötzlich ganz genau gewußt,
-wo Leupolt Raurisser versteckt war, und hatte dem Hiesel nicht nur
-die Quetschbehandlung eines Überbeins auseinandergesetzt, sondern
-hatte ihm auch Verbandzeug, ein fieberstillendes Mittel und etwas zum
-Waschen für schwärende Wunden mitgegeben, obwohl sich der gewissenhafte
-Schneck wie ein Rasender dagegen gewehrt hatte. Man trägt als treuer
-Christ in seinem Bergsack nicht gern eine obrigkeitlich verbotene
-Sache, die für einen Luthrischen wohltätig ist. Unter grimmigen Flüchen
-fühlte er mit seiner braunen Tatze immer wieder nach hinten: ob das
-verdächtige Päckl nicht gottsgnädigerweis so spurlos verschwinden
-möchte, wie die preußische Gefahr aus der Armeseelenkammer. Aber wenn
-im Menschengedräng einer gegen ihn hinpuffte, brüllte er gleich:
-»Blitzhimmelsausen und Höllementshund, gib doch Obacht, ich hab was
-Gläsernes auf'm Buckl.«
-
-Bei dieser angstvollen Fürsorge war er nicht in der Laune, sehr
-aufmerksam auf die Muckenfüßl'sche Überraschung zu horchen. Auch hatte
-der Hiesel Schneck in diesen Tagen eine viel größere Überraschung schon
-erlebt. Damals, als es zu schneien anfing. Da war er spät am Abend
-heimgekehrt, in der sicheren Erwartung, daß der unbequeme, vermaledeite
-Ketzer schon über die bayrische Grenze gesprungen wäre und nimmer
-droben läge auf dem Heuboden. Teilweise war auch eingetroffen, was
-die Schneckin ihrem Schneck versprochen hatte: Leupolt lag nimmer auf
-der Heuschütt, sondern herunten neben dem Herdfeuer im Ehebett des
-Hiesel. Und die Schneckin hockte im Ofenwinkel auf einem Strohsack,
-den sie so breit gemacht hatte, daß er zwieschläfrig zu benutzen war.
-Hiesel ließ die wildesten Höllemente los, wenn auch -- weil Leupolt
-schlief -- mit gedämpfter Stimme. Da mochte die Schneckin hundertmal
-flüstern: »Verstehst?« -- der Schneck verstand nicht und war verbohrt
-in die unzutreffende Meinung: daß es die Schneckin »aber schon *ganz*
-saudumm« angestellt haben müßte. »Soll den Kerl über die Grenz hatzen
-und laßt ihn ins Bett hupfen! Kreuzhimmel, Bluthöllement und Bratwürst
-übereinander!« Grollend saß er auf dem Herdrand. Schließlich, wenn er
-in dieser Schneenacht neben seiner Schneckin liegen wollte, blieb ihm
-nichts anderes übrig, als mit dem Strohsack vorlieb zu nehmen. Bis
-lange nach Mitternacht bellten seine gedämpften Himmelhunde. Am Morgen,
-freilich, da sah auch der Hiesel das ein: daß man mit einem Fieber, in
-dem »alle Knöchelen scheppern«, nicht ins Bayrische hinüberlaufen kann.
-Und jetzt, unter den Rasselklängen der Muckenfüßl'schen Austrommlung,
-erzeugte der Schneck in seinem langsamen Gehirn den Trostgedanken:
-»Wenn ich dem Buben das jüdische Päckl zutrag, daß er bald über die
-Grenz hupfen kann, so tu ich bloß, was die Herren haben wollen.
-Verstehst?« Die vielen Himmelhundsmonologe, die er mit sich führte,
-verhinderten ihn, auf dem Marktplatz und während des Heimweges der
-freudigen Bewegung zu achten, die der Feldwebel Muckenfüßl mit seiner
-sonst so gefürchteten Trommel in der Bevölkerung erweckt hatte.
-
-So splendid und wohlwollend hatte sich der Landesfürst schon lange
-nicht mehr erwiesen. War in der Verkündigung auch nicht deutlich
-ausgesprochen, was sie bezweckte, so war doch ihr schöner Sinn so
-klar, wie die alte Sonne über dem jungen Schnee. Die Gutgläubigen
-nahmen die Ansage des Festes als deutliche Mahnung zur Verträglichkeit,
-die Evangelischen empfanden sie als Friedensverheißung, als
-Wegweis zu naher Verständigung und zur Freiheit ihrer Seelen. Seit
-Menschengedenken war zu Berchtesgaden nimmer so gut und herzlich von
-der Obrigkeit gesprochen worden, wie es an diesem silbernen Samstage
-tausendstimmig geschah. In allen Häusern wurde gesungen und gelacht,
-aus allen Truhen wurde das Feiertagsgewand und versteckter Schmuck
-herausgenestelt. Überall an den Fenstern saßen die Mannsleute und
-putzten ihre Schießgewehre. In der Mittagsstunde böllerten durch das
-sonnfunkelnde Tal die Probeschüsse. Einer sagte: »Wie wenn beim größten
-von allen Bauern eine Hochzeit wär!« Und bekam die lachende Antwort:
-»Das wird wohl ein Metzensäckl Pulver wert sein, wenn der gnädigste
-Herr Fürst mit seinem Völkl Versöhnung feiert!«
-
-Den ganzen Nachmittag umstanden Scharen von Mädchen und Kindern
-das Schützenhaus, um den gewaltigen Vorbereitungen zuzuschauen,
-die für das Fest getroffen wurden. Die Mannsleute, die man sonst
-nur zähe zur Fronarbeit herbeibrachte, boten sich ungerufen zur
-Hilfeleistung. Von der großen Festwiese neben dem Schützenhaus
-wurde der Schnee fortgeschaufelt, und Lachen, frohes Geschrei und
-dröhnendes Hammerklopfen begleitete den flinken Bau des »Mahlsaales«,
-einer mächtigen Bretterbude, die ein paar tausend Schützenbrüder
-fassen konnte, um in Verträglichkeit und Frohsinn bei Freibier und
-Speckwürsten mit den gütigen Herren beisammenzusitzen. Man arbeitete
-noch bei Fackelschein bis gegen Mitternacht.
-
-Der große Morgen kam. Die Tausende auf Berchtesgadnischer Erde waren
-willig zur Freude. Nur der liebe Gott schien an diesem Versöhnungstage
-kein rechtes Wohlgefallen zu haben und steckte die Sonne in einen
-mächtigen Wolkensack. Feine Eiskrystalle rieselten aus dem Grau
-herunter, scharf wie Nadelspitzen. Das verdarb keinem Fröhlichen die
-Laune.
-
-Als man zum Kirchgang läutete, war die Zuwanderung der Andächtigen
-ein bißchen schütter. Die Erlösung von allem Gewissenszwang
-vorausgenießend, hielten die Evangelischen den Gottesdienst dieses
-Freudentages daheim in ihren Stuben ab oder besuchten eine Fürsagung,
-ohne Schneekleid, völlig sichtbar. Erst nach dem Hochamt, während
-mit allen Glocken der Gottesfriede dieses Sonntages verkündet wurde,
-begannen die Marktgasse, der Brunnenplatz und die Stiftshöfe sich zu
-füllen mit einem farbenbunten und fröhlich gestimmten Menschengewühl.
-Obwohl es immer nebelte, sah die lärmende Bewegung der farbigen
-Menge sich an wie ein jubelndes Lebensfest. Die Frauen und Mädchen
-hatten sich aufgeputzt und waren durch Jugend, Gesundheit, Freude und
-hoffendes Vertrauen noch schmucker geziert, als durch die feuerfarbenen
-Mieder, durch das leuchtende Bänderwerk und die mattfunkelnden
-Schaumünzen. Stolz trugen die Mannsleute ihre klobigen Schießgewehre,
-und fast jeder hatte auf seinem gebänderten Hütl ein paar von den
-Blumen stecken, die bei frierendem Winter blühen in den warmen
-Bauernstuben. Dem wirbelnden Frohsinn dieses Bildes tat es keinen
-Eintrag, daß im Gewühl der Leute keiner von den Herren zu sehen war.
-Es tauchte nur der Feldwebel Muckenfüßl auf, dem ein paar Musketiere
-bei der Ordnung des tausendköpfigen Schützenzuges behilflich waren.
-Als die Hifthörner der fürstlichen Jägerei den Festruf bliesen und die
-Trompeten und Klarinetten der Salzknappen mit ihrer lustig dudelnden
-Marschmusik einfielen, erhoben die Tausende dieser fröhlichen, von
-harter Zeit erlösten Menschen ein Jauchzen, daß ihr Freudenspektakel
-alles Blechgeschmetter übertönte.
-
-Wie ein vom Glück dieses Tages Ausgeschlossener, mit unfrohen Augen,
-Zorn und trauernde Erbitterung in dem blassen Warzengesicht, saß
-Pfarrer Ludwig am Fenster seiner Stube und blickte hinunter auf das
-fröhliche Gepräng des Schützenzuges. »Ob in Sonn oder unter Wolken --
-gibt's auf der Welt ein schöneres Ding, als die vertrauensselige Freud
-eines hoffenden Volkes? Und gibt's auf Erden ein übleres, als dieser
-Tag es bringen wird?« Immer wieder brannte in ihm der Gedanke: Reiß
-das Fenster auf, schrei diesen Jauchzenden eine Warnung zu! Nicht die
-fürstliche Mahnung an das Dienstgeheimnis hielt ihn zurück, nur die
-Erkenntnis, daß seine Warnung das Schicksal dieses Tages nicht wenden,
-sondern Aufruhr und Totschlag heraufbeschwören würde.
-
-Der weite Hof unter dem Fenster des Pfarrers war leer und still
-geworden. Immer ferner tönten die fröhlichen Jauchzer, das
-Klarinettenquieksen und der Trompetenklang. Nun das donnerähnliche
-Dröhnen eines Böllerschlages. Dann knatterten die Stutzenschüsse
-durcheinander, als hätten hundert Heinzelmännchen zu dreschen
-begonnen. Das ging zwei Stunden lang so weiter. Dann läuteten die
-Mittagsglocken. Auf der Festwiese verstummten die Schüsse. Und nebelnde
-Stille lag über den Dächern des Stiftes. Jetzt der Hufschlag eines
-Pferdes. Von der Salzburger Straße kam ein erzbischöflicher Dragoner
-über den Hof geritten und verschwand im Stiftstor. Pfarrer Ludwig
-nickte. »Die Konsequenz! Sechs Füß hat sie! Und hat zwei Köpf, von
-denen jeder was anderes denkt.« Wenige Minuten später mußte er zu
-der beschämenden Einsicht gelangen, daß er die Salzburgische Hilfe
-militärisch unterboten, katechetisch überschätzt hatte: nicht ein
-volles Dutzend Kapuziner, nur neune; aber statt der fünfhundert
-Soldaten, auf die er geraten hatte, kamen achthundert Musketiere,
-scharf bewaffnet, dazu ein halbes Tausend Dragoner, hoch zu Roß. »Guck
-nur!« knirschte der Pfarrer vor sich hin. »Neben der Gotteshilf macht
-Salzburg noch ein gutes Geschäft! Den ganzen Heerwurm müssen ihm unsere
-Bauern füttern, wer weiß, wie lang!«
-
-Es litt ihn nimmer in der Stube. Flink in die hohen Schmierstiefel,
-aus dem Haus und hinunter zur Festwiese. Auf einem Fußsteig, der über
-die verschneiten Wiesengehänge kletterte, blieb er erschrocken stehen
-und spähte zur Fahrstraße hinüber. Unter den vielen Leuten, die nach
-der Festwiese strebten, sah er den Meister Niklaus und Luisa. Der
-Pfarrer schrie den Namen des Freundes und watete durch den tiefen
-Schnee. Als er die Straße erreichte, war er so atemlos, daß er kaum zu
-sprechen vermochte: »Kehr um, Nicki! Führ dein Mädel heim und laß dich
-einsperren von der Sus!«
-
-»Hochwürden?« stammelte Luisa. Und der Meister fragte erblassend: »Um
-Gottswillen, was ist denn los?«
-
-»Getroffen, Nicki!« Der Pfarrer lachte grell. »Um *Gotts* willen ist
-was los! Und da wirst du dir denken können, wie es ausschaut.« Er faßte
-Luisas Arm und flüsterte: »Mädel! Wenn du deinen redlichen Vater nit
-auch noch verlieren willst, so schau, daß du ihn heimbringst in die
-Werkstatt und zu seiner Arbeit! Geh, Nicki, sei verständig! Noch ein
-letztesmal! Ich tät's nit raten, wenn es nit sein müßt. Und du, Mädel,
-tu beten vor deinem Jesuschrein! Andächtiger als je!« Die Stimme des
-Pfarrers bekam einen harten Zornklang. »Heut wird deine fromme Seel
-noch was umzudeuten kriegen. Die heilige Mutter soll dir's geben, daß
-du eine Deutung findest, die deinen standhaften Glauben nit verdächtig
-macht vor den Konsequenten.«
-
-Luisa, deren Gesicht sich entfärbt hatte, umklammerte stumm die lebende
-Hand des Vaters. Und Niklaus stammelte: »Mensch! Was ist denn?«
-
-Heiser lachend deutete Pfarrer Ludwig mit dem Hakenstock gegen die
-Wolken. »Guck doch in die Höh! Da mußt du doch merken, daß heut ein Tag
-ist, an dem unser Herrgott sich in seinen ewigen Mantel wickelt und um
-die Menschen trauert.« Er sagte mit heißer Mahnung: »Geh heim, Nicki!
-Deinem Kind zulieb!«
-
-»Und du?«
-
-»Ich bin doch ein Priester, nit? So einer ist allweil auf dem Weg zu
-den Hoffnungslosen. Wie heut, so neugierig bin ich noch nie gewesen:
-ob der Amsterdamer recht hat, wenn er sagt, es wär kein Ding auf Erden
-so schlecht, daß es nit ein Gutes werden könnt für die Menschen.«
-War's noch vom Schnupfen, oder hatte es einen neuen Grund, daß dem
-Pfarrer das Wasser in die Augen trat? Dann sagte er zu Luisa: »Laß den
-Vater nimmer aus! Mädlen, die tapfere Kinder sind, werden die besten
-Frauen.« Er wandte sich ab und eilte die Straße hinunter. Das Gesumm
-einer großen Volksmenge klang ihm durch den ziehenden Nebel entgegen.
-Hunderte von Frauen, Mädchen und Kindern umstanden in heiterer Laune
-die große Bretterbude des Mahlsaales, in dem die Trompeten und
-Klarinetten der Salzknappen eine lustige Tanzweise spielten. Fast
-alle Mannsleute waren schon im Saal versammelt. Nur ein paar Burschen
-wimmelten in ihren roten Joppen noch vergnügt umher, schäkerten mit
-der weiblichen Jugend oder machten harmlose Späße über die Bratwürste,
-die noch immer nicht duften wollten, und über die geduldigen Mägen
-der Herren, die noch unsichtbarer wären, als es die Evangelischen vor
-dem Bekennertag gewesen. Unter Muckenfüßls kanzleideutschem Kommando
-drängten sich Lakaien und Musketiere im Frauengewühl umher, faßten
-die rotjoppigen Buben ab und schoben sie in den Saal, immer unter
-der gleichen Mahnung: »Flink! Nur flink! Die Bräuknecht haben schon
-angezapft!« Nun schoben sie den letzten von den Burschen durch die enge
-Tür hinein, die aussah wie ein Festungsschlupf. Und durch den Türspalt
-leuchtete das rote Flackerlicht der Kienfackeln heraus, die man in der
-fensterlosen Bretterbude angezündet hatte, um sie hell zu machen.
-
-Die Weibsleute guckten ein bißchen verwundert drein, weil an die
-zwanzig, mit Flinten und Terzerolen bewaffnete Musketiere vor der
-Saaltür aufzogen wie eine kriegsmäßige Wache. Als Muckenfüßl mit den
-Lakaien und Jägerknechten das Schützenhaus besetzte, in dessen Halle
-die Schießgewehre der Bauern verwahrt standen, kam Pfarrer Ludwig
-in Hast von der Straße herübergeschritten. Er spähte mit blitzenden
-Augen, sprang auf die Saaltür zu und wollte eintreten. Zwei Musketiere
-kreuzten vor seiner Brust die Flinten. »Ruckwärts, Hochwürden! Niemand
-darf passieren. Befehl des gnädigsten Herrn!«
-
-»Aber Leut!« Der Pfarrer lachte. »Ich will doch auch meine Freimaß
-haben und mein Würstl! Geh, seid doch nit gar so neidisch!« Er hatte
-die beiden Flinten beiseite geschoben und drückte die Saaltür vor
-sich auf. Ein Musketier faßte ihn am Radmantel. »Wirst du auslassen?«
-Mit einem zornigen Fauststreich machte der Pfarrer sich frei und
-trat in den von einem wogenden Mannsgewühl, von dudelnder Musik,
-von Flackerschein und Fackelqualm, von Lärm und Gelächter erfüllten
-Brettersaal. An langen, leeren Tischen saßen die Bürger und Bauern, die
-Handwerker und Salzknappen auf hochbeinigen Holzbänken. In den schmalen
-Gassen drängten sich Hunderte umher, die noch keinen Platz gefunden.
-Die roten Joppen leuchteten wie Blutflecken, und die Gesichter, die
-schmutzig wurden vom Fackelruß, schienen in der trüben Flackerhelle
-verzerrt zu einem ruhelosen Grinsen. Und doch war Freude in allen
-Gesichtern, fröhliche Erwartung in allen Augen. Freilich, derbe Späße
-gab es in Hülle und Fülle, weil man schon wartete seit einer halben
-Stunde und noch immer den Duft keiner Bratwurst witterte. Doch in jedem
-Scherz war heitere Geduld, war noch immer ehrfürchtige Dankbarkeit für
-den allergnädigsten Wirt dieses freudenreichen Versöhnungstages. Nur in
-der hintersten Saalecke, wo die rotjoppigen Burschen dick beisammen
-saßen, begann es ein bißchen übermütig zu werden; da trommelten sie mit
-den Fäusten auf die Tische und begannen kleine Spottlieder zu singen,
-wie der Augenblick sie gebar.
-
-Als der Pfarrer, noch in den Radmantel gewickelt, von der Türschwelle
-stumm hineinsah in dieses heiter lärmende Männergewühl, war sein
-Gesicht entstellt, daß ihn die Leute nicht gleich erkannten. Es mußte
-erst ein Fröhlicher schreien: »Herr Jöi! Unser gütiges Pfarrherrle!«
-Und einer brüllte über alle Tische: »Leut! Jetzt geht's aber an! Der
-erste von unseren Herren ist da!« Während der Lärm sich ein bißchen
-dämpfte, drängten viele gegen den Pfarrer Ludwig hin, zu einem Gruß,
-zu einem Händedruck. Von einer nahen Bank erhob sich einer, der ein
-kleines Bübl auf dem Arm hatte. In seinen Augen war ein verstörter
-Blick, doch unter dem Braunbart lachte sein blasser Mund, als wäre er
-der Fröhlichste unter diesen tausend Festfrohen. Rittlings über der
-Bank stehend, winkte er mit dem Arm und kreischte: »Hochwürden! Zu mir
-her! Euch geb ich mein Plätzl. Ich muß nit sitzen. Mich halten Herz und
-Seel in der Höh.« Der Christl Haynacher lachte wie ein Glücklicher und
-preßte das scheuguckende Bübchen an seine Brust. »Jetzt, Hochwürden,
-ist alles am Tag! Gelt ja? *Mir* müssen die Leut Vergeltsgott sagen.
-Wär mein Weibl nit so heilig und fromm gestorben, und hätt mein Weibl
-nit hilfreich aus dem ewigen Glanz heruntergegriffen zur kreistenden
-Menschennot? Da täten wir trauern und seufzen müssen, gelt! Jetzt
-können wir Freud haben und wieder glauben. Alle Herzviertelen sind
-wieder schön beisammen. Und Fried und Brüderschaft ist überall auf der
-gottschönen Welt. Die guten Herren! Die soll unser Herrgott segnen für
-den heutigen Tag.« Während Christl Haynacher so redete, mit umkippenden
-Tönen, schrien es die anderen von Tisch zu Tisch, daß von den Herren
-der erste gekommen wäre. Die dudelnde Knappenmusik geriet außer Takt
-und verstummte. Aller Lärm versickerte, es wurde immer stiller im Saal.
-Und da streckte sich der Pfarrer, hob die beiden Hände aus dem Mantel
-und rief: »Ihr guten Leut! Laßt mich ein brüderlichs Wörtl reden mit
-euch!«
-
-Überall ein Gucken und Hälsestrecken, von allen Bänken erhoben
-sich die Männer und Burschen, einer der schlechtgezimmerten Tische
-knickte krachend zusammen, ein Gelächter, dann viele Stimmen, die
-zum Schweigen mahnten. Jetzt war die Ruhe da. Nur noch das Rauschen
-der Fackelflammen, das schwere Atmen der vielen Hunderte in dem
-qualmigen Raum. Und da lauschten sie alle -- nicht auf den Pfarrer,
-der mit zerdrückter Stimme zu reden begann. Sie lauschten auf das
-Unerklärliche, das von draußen hereinklang durch die fensterlosen
-Bretterwände. Es war ein aufwirbelndes Geschrei von vielen Weibern und
-Kindern. Wie gellende Angst war es anzuhören. Und es mußte doch Freude
-sein? Kamen die Herren? Fragende Rufe schwirrten von Tisch zu Tisch.
-Und einer kreischte mit Lachen: »Hört ihr die Mädlen juchzen? Jetzt
-kommt der gnädigste Herr Fürst! Höi, Trompeter! Blaset den Herrengruß!«
-Ein fröhliches Blechgeschmetter. Niemand hörte mehr auf den Pfarrer.
-Seine Stimme versank im lärmenden Festjubel dieser treuen, beglückten
-Untertanen.
-
-Vor der Saaltür ein Gepolter und ein aufgeregtes Stimmengewirr. Immer
-deutlicher hob sich aus ihm die schrillende Stimme eines Mädels heraus.
-Es war wie das Zetergeschrei einer Irrsinnigen. Ein Gerüttel an der
-kleinen Tür. Jetzt patschte da draußen ein Pistolenschuß -- nicht wie
-ein Pulverknall, nur wie das Klatschen einer festen Peitsche -- und
-über die Schwelle der aufgedrückten Türe stürzte schreiend ein junges
-Geschöpf herein, jenes Untersteiner Mädel, das unter dem Holz der
-Unehr, am Bekennersonntag, als erste mit verzückter Freude gerufen
-hatte: »So müßt ihr mich auch verbrennen! Ich bin eine evangelische
-Christin!«
-
-Was sie schrie und lallte, während sie hintaumelte gegen die erste
-Bank, war im aufrauschenden Lärm des Saales nicht zu verstehen. Immer
-schreiend, stieg sie neben dem stummgewordenen Christl Haynacher
-auf die Bank, sprang auf die Tischplatte und stand da droben, mit
-aufgereckten Armen, einer Verzückten ähnlich, oder einer Wahnwitzigen.
-Immer lallte und schrie das Mädel, die Augen erweitert, das Gesicht
-wie Kalk so weiß. Im versinkenden Lärm des Saales klang vom Tisch der
-Salzknappen eine verzweifelte Bubenstimme: »Barmherziger Herrgott!
-Moidi! Du blutest!« Sie drehte das Gesicht gegen die Stelle hin,
-von der die Stimme kam, lächelte ein bißchen, reckte sich und rief:
-»Ihr lieben Brüder! Haltet fest am Gütigen, der für uns gestorben
-ist am Kreuz! Hilf ist nur im Himmel noch. Hilf ist nimmer auf der
-Welt. Gewalt ist über uns! Zehntausend heidnische Dragoner reiten
-über das Schneefeld her!« Das Mädel wankte, straffte sich wieder an
-allen Gliedern, wollte reden, hatte keinen Laut mehr und preßte die
-zitternden Fäuste gegen das Mieder. In der Stille, die plötzlich im
-Saal entstand, hörte man sie mit leiser und froher Stimme sagen: »Herr
-Jesu, dir leb ich -- Herr Jesu, dir sterb ich --« Viele Hände streckten
-sich nach der Sinkenden, Pfarrer Ludwig fing die Erloschene in seinen
-Armen auf, und Christl Haynacher, dessen Bübl das Gesicht am Hals des
-Vaters versteckte und zu greinen begann, brüllte plötzlich wie ein
-Betrunkener: »Herrgott! Herrgott! Ist's noch allweil nit genug?«
-
-Ein tausendstimmiger Laut im Saal, wie das Aufstöhnen eines gewaltigen
-Tieres, dem das mordende Eisen ins Leben fährt. Nun ein dumpfes Gewühl,
-ein Zusammenkrachen aller Tische und Bänke -- und jetzt ein mahnender
-Männerschrei, so kraftvoll und gebietend, daß er die tausend Verstörten
-beherrschte und zum Lauschen zwang. »Ihr Leut! Ihr guten Leut!« Pfarrer
-Ludwig war heiser geworden von diesem Schrei. »Schauet her! Ich hab
-den Tod auf den Armen. Drum muß ich ein Wörtl sagen für euer Leben.
-Heut geht Gewalt vor Recht. Die Zeit wird kommen, in der sich's wendet.
-Seid besonnen, ihr guten Leut! Oder ihr stoßt euch alle, eure Weiber
-und Kinder ins hilflose Elend! Christ sein, heißt nit: zuschlagen mit
-Fäusten und Tischfüßen, einander würgen und niedertrampeln. Christ
-sein, heißt noch allweil, ein Mensch unter Menschen bleiben und
-sein Leidwesen dem gütigen Heiland in die Hand legen. Der wird uns
-aufrichten. Der wird uns helfen!« Man hörte von draußen den Schritt
-einer marschierenden Truppe, hörte die Trommel, die schon nah bei
-der Tür war. Pfarrer Ludwig, dem die Arme unter der Last zu zittern
-begannen, die sie trugen, sagte ruhig: »Drei evangelische Brüder sollen
-mir helfen. Wir wollen das fromme Christenkind, das in Gottes Reich
-gegangen, heimtragen zu seiner Mutter.«
-
-»Nachbar!« keuchte der Haynacher. »Nimm mein Bübl ein bißl! Da muß man
-helfen.« Er sprang an die Seite des Pfarrers und raunte auf eine Art,
-wie die Fieberkranken reden: »Gelobt sei Jesuchrist und die heilige
-Mutter Marie.« Jetzt kamen die Salzburgischen Gottesmusketiere unter
-Trommelschlag in den Saal marschiert, zu vieren dicht aneinander
-gedrängt, die Gewehrläufe vorgestreckt, den Finger am Bügel. Außer dem
-Schrittklappen und den soldatischen Befehlsworten war kaum ein Laut im
-Saal. Die Leute wichen vor dem immer breiter werdenden Soldatengürtel
-zurück, die einen scheu und mit blassen Gesichtern, die anderen mit dem
-stummen Zorn auf der Stirn und in den Augen. Den ersten aufwühlenden
-Sturm in ihnen hatte das Wort des Pfarrers bezwungen. Nun lähmte sie
-der Schreck, das betäubende Bewußtsein ihrer Wehrlosigkeit und noch ein
-Härteres: die Bitterkeit der Enttäuschten, die Trauer über den Betrug,
-der da begangen wurde an ihrem frohen, gläubigen Vertrauen.
-
-Hinter der Kette der Musketiere stehend, verkündete Muckenfüßl das
-pröpstliche Edikt auf Konfiskation aller Schützengewehre. Jedem
-reumütigen Subjekte sei die Gnade des Fürsten zugesagt, jedem
-Widerspenstigen das strengste Gericht. Zur Ermahnung der Seelen sei
-von einer fürsorglichen Obrigkeit beschlossen worden, jede Gnotschaft
-des Landes mit achtzig Musketieren und fünfzig Dragonern samt Rößl
-zu belegen, für deren Bedarf an Zehrung und Trank die Gnotschaft
-aufzukommen hätte, insolang, als eine Besserung des rebellischen
-Geistes nicht in glaubhaftem Ausmaß sichtbar würde. Nach dieser
-Verkündigung formierten die Musketiere eine Gasse durch den ganzen
-Saal. Eine Gnotschaft nach der anderen wurde aufgerufen. Wenn die
-Männer, die zur gleichen Gnotschaft gehörten, alle beisammen waren,
-wurden sie paarweis abgeführt. Einige Burschen, die sich unehrerbietig
-zu äußern wagten, wurden verhaftet. Auch einen von den vier Trägern der
-»schön und gottselig gestorbenen« Moidi von Unterstein -- den Christl
-Haynacher -- mußte man festnehmen. Bei seiner Verhaftung gebärdete
-sich der hirnverdrehte Suspiziosus, wie Muckenfüßl ihn nannte, so
-rebellisch, daß die Anwendung von eisernen Handschellen nötig wurde.
-
-Draußen im Schnee, zwischen Mahlsaal und Schützenhalle, standen,
-gleichmäßig abgezählt und in militärischer Ordnung ausgerichtet, für
-jede Gnotschaft die achtzig Musketiere und die fünfzig berittenen
-Dragoner parat. Bei jedem Trupp -- gleich einem Leutnant neben seiner
-Kompagnie -- befand sich ein Kapuziner.
-
-Die Abwanderung der Gnotschaftsleute mit ihrer militärischen Bedeckung
-dauerte bis in die Dunkelheit. Und die Soldaten, die ihr Quartier zu
-Berchtesgaden bekamen, bewiesen noch vor Anbruch der Nacht, daß sie
-nicht nur dem Himmel, sondern auch der Kunst zu dienen vermochten.
-Mit großen Töpfen und langen Tüncherpinseln wanderten sie durch die
-Gassen und bemalten an jedem Haus, in welchem ein der Ketzerliste
-Einverleibter wohnte, die Türen und Fensterstöcke mit knallroter Farbe.
-
-
-
-
-Kapitel XIX
-
-
-Spät am Abend wurde an der Haustür des Meisters Niklaus gepocht, so
-leise, daß es die drei, die in der Werkstatt waren, nicht gleich
-vernahmen. Der Meister, um ruhig zu bleiben, hatte sich zu seiner
-Arbeit gestellt. Und Luisa und Sus waren mit ihren Spinnrädern aus der
-Küche zu ihm in die Werkstatt gekommen. Helle Kerzen brannten auf dem
-eisernen Reif. An dem großen Fenster war der Laden geschlossen. Nur
-das Schnurren der Spinnräder und manchmal der Schritt des Meisters,
-wenn er zurücktrat, um sein Werk zu betrachten. Da hörte Luisa das
-kaum vernehmliche Klopfen. Ihre Augen vergrößerten sich, als sie
-stammelte: »Vater! Es pochet.« Die Sus wollte zur Türe. »Bleib!« sagte
-der Meister. »Ich selber geh.« Er brauchte keine Frage zu tun; beim
-Hall seiner Schritte klang es draußen in der Nacht: »Tu auf, Nicki! Ein
-Mensch!«
-
-»Gott sei gelobt!« Aufatmend stieß der Meister den Riegel zurück und
-hob den Sperrbalken aus dem Mauerloch, während Sus und Luisa wortlos
-aus der Werkstatt gesprungen kamen. Der Pfarrer trat in den Flur, und
-Sus verwahrte die Türe wieder. »Gotts Gruß zum traurigen Abend! Weil
-ich nur bei euch bin. Aufatmen tu ich.« Pfarrer Ludwig hängte den
-Radmantel an das Zapfenbrett und fragte die Sus: »Hast du noch warmes
-Wasser? Ich muß mich waschen. 's ist eine Zeit, in der man rot wird,
-vor Zorn oder von was anderem.« An seinem schwarzen Gewande sah man
-die eingetrockneten Blutflecken nicht, nur an den Händen. »Jesus?«
-stammelte Luisa. »Ist's *Euer* Blut?«
-
-Er schüttelte den Kopf. »Das tät ich lieber sehen. Es wär um meine paar
-letzten Tröpflen minder schad.«
-
-Die Sus war in die Küche gesprungen, in der ein mattes Ölflämmchen
-glomm, und schöpfte Wasser aus der kupfernen Herdkufe. Nun kamen die
-anderen drei zu ihr, und der Pfarrer wusch die zitternden Hände. Schwer
-atmend fragte er über die Schulter: »Wißt ihr schon, was geschehen
-ist?« Die beiden Mädchen schwiegen. Der Meister nickte. »Da brauchen
-wir nimmer reden drüber.« Pfarrer Ludwig griff nach dem Handtuch und
-schob die Sus von sich, die vor ihm auf die Dielen hinkniete, um sein
-Gewand zu säubern. »Das nit! Mannsbilderhosen sind leichter waschen,
-wenn man sie nit am Leib hat.« Er legte den Arm um die Schulter des
-Meisters. »Nick? Weißt du, was eine Mutter ist?«
-
-»Das weiß man, glaub ich.«
-
-»Was meinst du, daß eine Mutter sagt, wenn ihr liebes Kind am Morgen
-lachend aus dem Haus gegangen ist, und man bringt es ihr am Abend heim,
-wie ich das Moidi hab bringen müssen?«
-
-Mühsam antwortete der Meister. »Ich wüßt nit, was ich schreien tät.«
-
-»In Unterstein hat eine Mutter ihres toten Mädels Kopf zwischen die
-Händ genommen und in freudiger Ruh gesagt: Mein Kindl, dich muß
-der Heiland lieb haben, uns anderen ist er feind, drum müssen wir
-weiterschnaufen in der irdischen Not!« Mit beiden Händen rüttelte der
-Pfarrer die Schultern des Meisters. »Mensch! Kann's einer besser sagen,
-wie die Zeit ist?« Dann wandte er sich an die Sus: »Tätst du dich
-trauen, daß du zum Simmi hinüberspringst?«
-
-»Ich trau mich alles, wenn's für den Meister ist.«
-
-»Für den ist's auch. Heut möcht' ich, daß wir beisammen sind. Traut
-der Lewitter sich nit aus dem Haus, so sag ihm, daß ich krank wär. Da
-kommt er. Gelogen ist's nit. Alles leidet in mir, was Leben heißt. Aber
-fürsichtig mußt du sein. Sonst packen dich die Soldaten Gottes mit
-Gelobt sei Jesuchrist!«
-
-»Soll mich nur einer anrühren!« Das weißblonde Mädel sprang zur
-Haustür. Der Meister ging mit ihr, und als er im dunklen Flur den
-Riegel aufstieß, sagte er leis: »Vergeltsgott, du Treue!«
-
-In der Küche legte Pfarrer Ludwig die Hand auf Luisas Scheitel. »Also?
-Hast du die fromme Deutung für den heutigen Versöhnungstag schon
-gefunden?«
-
-Sie sah verstört zu ihm auf. »Hochwürden! Ich weiß nimmer, wo die
-Christen sind.«
-
-»Christen sind überall. Nur finden muß man sie können. Und selber muß
-man einer sein.«
-
-Die Tränen fielen über ihr blasses Gesicht. »Ich seh keinen Weg nimmer.
-Überall ist Wirrnis und Sünd. Dürft ich nit morgen kommen um einen
-Seelentrost?«
-
-»Ja, komm nur!« Er streichelte ihr schönes Haar. »Ich will dich
-trösten.« Die Stimme dämpfend, beugte er sich zu ihrem Ohr. »Seit dem
-Morgen weiß Mutter Agnes, wo der Leupolt ist. Beim Hiesel Schneck.«
-
-Sie fing zu zittern an. »Wo hauset der?«
-
-An der Flurtür klapperte der Sperrbalken. Und draußen, in der nebligen
-Dunkelheit, huschte die Sus um die Bretterplanke des Gartens. Als
-sie hinüberkam zum Leuthaus, mußte sie in einen finsteren Schuppen
-springen. Hufschläge klapperten über das Pflaster her, und mit dem
-Lärm, den die vielen genagelten Bauernsohlen machten, vermischte sich
-das Marschgeklirre der Soldaten Gottes. Es waren die Bischofswiesener,
-an die siebenhundert Männer und Burschen, mit ihren achtzig Musketieren
-und fünfzig berittenen Dragonern, von denen jeder den blanken Säbel in
-der Faust hatte.
-
-Am Schwänzl des Zuges ging der Hiesel Schneck. Er hatte sich
-angeschlossen, weil er den weiten Weg nicht einsam wandern wollte, und
-weil er als Gutgläubiger sich verpflichtet hielt, dem Pater Kapuziner
-während des langen Nachtmarsches ein bißl Gesellschaft zu leisten.
-»Ja, ja, verstehst?« Er fluchte aus Rücksicht auf den geweihten
-Wandergesellen überraschend wenig, war aber doch in verdrießlicher
-Laune, weil er schon wieder was Verbotenes im Rucksack tragen mußte.
-Freilich, immer noch lieber als das gläserne Judenfläschl war ihm das
-irdene Tiegelchen. Sollte er's auch einem ewig Verfluchten zutragen,
-so kam's doch von der Mälzmeisterin, von einem rechtschaffenen
-Christenweibl.
-
-Die Bauern wanderten schweigend zwischen den Soldatenreihen. Ihre
-Gestalten waren schwarz in der frostigen Nacht, die der Schnee nur
-wenig aufhellte. Kein Stern war da, um einen Glanz in ihren Augen zu
-wecken. Dennoch hoben sie immer wieder die Gesichter zum Himmel. Und
-während sie paarweis gingen, hielten viele sich bei den Händen gefaßt,
-wie Blinde und Sehende, die einander führen.
-
-Hinter Bischofswiesen, wo unter Weibergeschrei und Hundegebell die
-Austeilung der Soldatenquartiere begann, mußte Hiesel Schneck seinen
-Nachtweg in Einsamkeit erledigen. Jetzt, da ihn der Kapuziner nimmer
-hörte, konnte er fluchen nach Bedarf. Er fluchte, so oft ihm der
-Strohsack einfiel. Manchmal sakermentierte er und wußte selber nicht
-recht, warum. Auch dem Hiesel Schneck, so eisentreu er an seinem
-Fürsten hing, hatte der Versöhnungstag mißfallen. Kein Gedanke verriet
-ihm diese Wahrheit; sie war nur in seinem Blut, in seinen Flüchen.
-Und ohne daß er es merkte, verwandelte sie diesen Höllementskünstler
-so folgenschwer, daß er die neue Überraschung, der seine Nagelflöße
-entgegenwanderten, wesentlich anders aufnahm, als es geschehen wäre,
-wenn er das leutselige Schützenfest nicht erlebt, das Blut der Moidi
-von Unterstein nicht hätte rinnen sehen.
-
-Als er vor dem Hallturm in das waldige Seitentälchen ablenkte, konnte
-er gewahren, daß in seinem Herdstübl noch die Specklampe brannte.
-Obwohl er kein Übersparsamer war und eigentlich gar nicht verstand,
-warum ihn diese leuchtende Sache so fürchterlich erboste, fing er ein
-Himmelhundstreiben an, daß der Schnee davon knirschte. Immer schlug er
-mit der Faust in die Luft und nannte seine Schneckin einen Kindsschädel
-ohne Hirn, ein Grillenei ohne Dotter, sogar eine Sau ohne Speck, was
-doch sicher eine unmögliche Sache ist. Die Wut, die in ihm rasselte,
-beeinträchtigte die getrübten Verstandeskräfte des Hiesel Schneck bis
-zu völliger Urteilslosigkeit. Fluchend und schnaubend tappte er durch
-den Schnee. Nah bei der Haustür wurde er festgehalten vom Anblick
-einer Schneefährte, die er sich, ein so geschulter Weidmann er war,
-durchaus nicht erklären konnte. Es waren große, kreisrunde, tief in
-den Schnee gesenkte Tapper. Welch ein ungeheuerliches Nachtvieh
-mochte das Haus des Hiesel Schneck umwandert haben? Auch nicht der
-beste fürstpröpstliche Hirsch trat solche Fährten aus! Es blieb
-dem Hiesel keine andere Lösung, als diese Schneelöcher -- die das
-Blechschüsselchen der Schneckin schmolz, wenn sie die Mahlzeit des
-Fieberkranken kühlte -- für Huftritte des Teufels zu halten, der sich
-nach dem Verbleib der ihm zustehenden Ketzerseele ein bißchen erkundigt
-hatte. »Also, da haben wir's!« Das Gruseln kannte der Hiesel nicht.
-Für ihn als redlichen Christenmenschen war der Teufel eine Sache, so
-ungefährlich wie ein Eichkätzl. Aber dem strohdummen Weibl, diesem Igel
-ohne Borsten, gedachte er ein paar schmerzhafte Stacheln einzusetzen.
-Schon drehte er sich gegen die Haustür. Da hielt ihn der Klang der
-beiden Stimmen fest, die aus der Herdstube heraustönten. Unter einem
-knirschenden Himmelhündchen beugte er sich gegen das Fenster hin und
-guckte in den milden Schein.
-
-Eine flackernde Lampe, auf dem Herd noch eine rote Glut. Leupolt lag
-aufgestützt im Bette, den Fieberbrand auf den Wangen. Sein Hals und die
-Handgelenke waren frisch verbunden. Jetzt wusch ihm das Schneckenweibl,
-das auf dem Lehmboden kniete, mit zärtlicher Vorsicht die breite Wunde,
-die den Knöchel des rechten Fußes umzog. Dabei redeten die beiden
-mit ruhigen Stimmen, und es machte den Hiesel Schneck ein bißchen
-perplex, weil die zwei zu einander Bruder und Schwester sagten. Diese
-Verwandtschaft war was völlig Neues für ihn.
-
-»Seit der Herbstzeit?« fragte Leupolt.
-
-»Wohl, Bruder!« Die Schneckin begann die lange, weiße Binde zu wickeln.
-
-»Wie ist das gekommen, Schwester, daß deine Seel sich erhoben hat? Hast
-du ein Unrecht erfahren müssen?«
-
-Sie schüttelte den grauen Kopf. »Mein liebes Mädl, verstehst, die ist
-verheuert an einen Knappen in Hallein. Und im Herbst, wie die Hirsch
-geröhrt haben und mein Schneck allweil draußen hat sein müssen im Holz,
-da ist sie über einen Sonntag bei mir auf Besuch gewesen. Allweil
-hat mich das Mädl angeschaut so scheu und verzagt, und allweil hab
-ich fragen müssen: Was ist denn? Sie hat nit rausrucken wollen mit
-der Farb. Ich frag: Gelt ja, jetzt flucht halt der Deinige auch? Und
-das Mädl -- jetzt ist sie ein Weibl und bald ein Mutterl, aber noch
-allweil muß ich halt Mädl sagen -- und das Mädl beutelt ihr Köpfl. Ich
-frag: Herr Jesus, er wird dich doch ums Himmelswillen nit prügeln, der
-Deinig? Und das Mädl sagt: Der Meinig ist von allen der beste, grad wie
-der Vater Schneck! Und tut mich halsen wie irrsinnig und heult mir ins
-Ohr: Mein Hansl ist evangelisch und ich bin's auch, gelt, tu's nur dem
-Vater nit sagen, der tät versterben dran!«
-
-Der Hiesel Schneck verstarb nicht, stand nur im Schnee, wie verwandelt
-zu einer hölzernen Säule.
-
-»Erst hab ich gemeint vor Schreck, es tät mir das Blut gerinnen!« sagte
-die Schneckin. »Aber wenn's schon wahr sein muß, daß ihr Hansl verhöllt
-ist, wird doch sein Weibl nit einschichtig aufs Himmelreich trachten?
-Verstehst? Beisammen sein, ist allweil das Best, ob in Kält oder Glut.
-Und schau, da hat mir mein Mädl was fürgelesen von einem luthrischen
-Blättl. Schöner und fester hab ich nie noch ein deutsches Mannsbild
-reden hören. Das ist einem eingegangen, ich kann's nit sagen. Alles
-hat mir das Kindl verzählt: wie ihr der Hansl das Evangelische allweil
-fürgeredet hat, verstehst? Und gählings ist es in mir gewesen.« Die
-Schneckin guckte den Leupolt an. »Wenn einem sein liebes Mädl so was
-sagt? Verstehst? Da *muß* man doch glauben.«
-
-»Nit allweil!«
-
-Diese beiden Worte waren so leis gesprochen, daß der Hiesel sie
-nicht verstand. Aber deutlich hörte er das wehe Klagen seines
-Schneckenweibls: »Schau, und so ist's halt, wie es ist. Und die junge,
-evangelische Gottesfreud wär so schön in meiner Seel! Bloß eins ist
-hart: daß ich herüben bin, und mein Schneck ist drüben. Und kommt er
-drauf -- im ganzen Leben hat mir der gute Kerl noch nie ein Streichl
-gegeben, verstehst -- aber muß er merken, daß er eine evangelische
-Schneckin hat, da haut er mir alle Knöchelen im Leib auf Scherben.«
-
-Das tat der Hiesel nicht, obwohl er was gemerkt hatte, wenn auch
-ein bißchen langsam. Unbeweglich stand er im Schnee und hörte den
-Leupolt sagen: »Dein Schneck ist ein redliches Mannsbild. Und heut ist
-Versöhnungstag gewesen. Fried und Seelenfreiheit wird hausen im Ländl.
-Schwester, wie gottsfreudig müssen heut alle Leut gewesen sein!« Der
-Fiebernde ließ sich hinfallen auf das Kissen. »Von allen Schmerzen, die
-mich angefallen haben, ist das der härteste: daß ich heut nit sehen
-hab dürfen, wie Herren und Leut einander die Hand bieten auf Glück und
-Treu!«
-
-Da taumelte der Hiesel Schneck vom Fenster zurück, als hätte ihm dieses
-gläubige Wort einen Stoß vor die Brust gegeben. Er fand keinen Fluch,
-ließ nicht den kleinsten seiner Himmelhunde bellen. Weglos stapfte
-er in den Schnee hinaus, irrte hin und her wie ein Tier, das von der
-Drehkrankheit befallen ist, und als er den Waldsaum fand, er wußte
-nicht, wie, da ließ er sich hinfallen und keuchte in die Nacht hinaus:
-»Die Herren! Was die Herren alles treiben! Ach Jesus, Jesus!« Schauernd
-an allen Knochen, grub er das Gesicht zwischen die Fäuste und begann
-zu weinen wie ein kleines Kind. Das war eine Beschäftigung, die er
-schon sechzig Jahre lang nimmer getrieben hatte. Drum zerriß ihm ihre
-ungewohnte Übung fast die Rippen.
-
-War eine Stunde oder mehr vergangen? Vom Schneckenhäusl klang ein
-sorgenvoller Erkundungsschrei in die Nacht hinaus: »Schneeeheeeeck!«
-Nach einer Weile wieder. Die Schneckin sorgte sich, obwohl sie wußte,
-daß ihr Schneck Augen an den Schuhsohlen hatte. Und wo sich glückhafte
-Leute versöhnen, wird das Sitzleder dauerhaft. »Die haben ihn halt
-nit fortlassen vom Freibierbänkl.« Sie verkürzte den Docht der Lampe
-und raschelte sich in die Strohsackmulde. »Gut Nacht, Leupi!« Der
-Fiebernde schlief bereits. Auch die Schneckin brauchte nicht lang, um
-einzutunken. Sie erwachte erst, als der Hiesel Schneck sich wortlos
-hinlegte auf den Strohsack. »Gott sei Lob und Dank,« sagte sie, »weil
-du nur daheim bist. Ist's lustig gewesen?«
-
-»In Ruh laß mich!« knurrte er durch die Zähne.
-
-»No, no, geh, verzähl doch ein bißl was!«
-
-Da gab der Hiesel eine stumme Antwort. Sonst pflegte er so zu liegen,
-daß die Schneckin ihr graues Köpfl an seine Schulter lehnen konnte, und
-da waren ihr am Morgen immer die Falten seines Hemdärmels in die Wange
-gedrückt. Jetzt drehte er sich heftig auf die Seite hinüber. Ganz und
-gar.
-
-»Schneck! Jesus! Wirst doch nit krank sein?«
-
-»Was Gescheiteres fallt dir nimmer ein? Du --« Nein, der Schneck
-brachte es nicht fertig, zu seiner Schneckin zu sagen: »Du Christin
-ohne Herrgott!«
-
-Verwundert sann das Weibl in der Finsternis über die unerklärliche
-Tatsache nach, daß der Hiesel nicht fluchte. Da *mußte* ihm doch was
-weh tun, wie einem Baum, der im Frühling nicht grünen will. Bei diesem
-Schweigen stöhnte plötzlich der Hiesel: »Ganz schauderhaft ist so was!«
-
-»Was denn?« fragte das Weibl erschrocken.
-
-»Wie heut der Bockmist stinkt!«
-
-»Schneck, da mußt du dich verkühlt haben! Beim Kathari hat einer
-allweil so ein empfindsams Naserl.« Sie setzte sich auf. »Wart, da koch
-ich dir gleich ein heißes Weinsüppl mit Nagerlblüten.«
-
-Jetzt fluchte der Hiesel, und zwar so fürchterlich, daß die Schneckin
-rasch zur Einsicht gelangte: »Krank ist er nit!« Nach vielen
-stichelhärigen Himmelhunden murrte er: »Jetzt wirst du mich aber doch
-bald schlafen lassen, verstehst? Rumpel dich auf'n Strohsack hin, du
-Wagen ohne Deichsel!« Weiter gab er keine Antwort mehr und tat so, als
-ob er schliefe. Seine Augen blieben offen, bis der Morgen graute. Ohne
-auf die Geißmilchsuppe zu warten, stapfte er, von seinen kummervollen
-Himmelhunden begleitet, in das Schneegeriesel des Morgens hinaus.
-
-Die Schneckin sah ihm in ratloser Sorge nach. Was war denn nur
-mit ihrem Hiesel? Hatte er beim Schützenfest was Unverständiges
-angerichtet? Sie lief hinüber zum Hallturm. Ob da nicht von den
-Soldaten was zu erfahren wäre? Ja, die wußten was! Sehr viel. Wenn
-auch nichts vom Hiesel. Und als die Schneckin heimkam, merkte es
-Leupolt gleich an ihrem blassen Gesicht, daß etwas Hartes geschehen
-war. Schweigend hörte er an, was sie vom Versöhnungstag erzählte. Dann
-nahm er ihre Hand. »Nit trauern, Schwester! Soll man uns jede Bruck
-zerbrechen. Es ist ein Baumeister, der einen neuen Weg für uns auftut.«
-
-»Ja, Bub, da muß man glauben dran. Sonst tät man verzagen.«
-Nachdenklich sah die Schneckin vor sich hin. »Jetzt weiß ich, warum
-der Schneck heut nacht so gewesen ist. Falschheiten vertragt er nit.
-So ist er! Jetzt kommt's auf, wo er den Bockmist hat schmecken müssen.
-Verstehst?« Für alle Fälle wollte die Schneckin dafür sorgen, daß die
-empfindsam gewordene Nase des Hiesel wenigstens unter dem eigenen Dache
-nimmer gekränkt würde. Drum leistete sie an diesem Tag im Geißstall
-eine Arbeit, daß sie an den König Augias hätte denken können, wenn sie
-was von ihm gewußt hätte.
-
-Zur Mahlzeit kam der Schneck nicht heim. Erst am Abend. Der Schneckin,
-die gleich zum Herd sprang, um sein Essen aufzuwärmen, vergönnte er
-keinen Blick. Er ging zum Bett und griff in den Rucksack. »Heut in der
-Nacht, verstehst, da hab ich vergessen, daß mir die Mälzmeisterin was
-mitgegeben hat für dich.«
-
-»Die Mutter?« fuhr Leupolt in Freude auf.
-
-»Ob's deine Mutter ist, weiß ich nit,« sagte der Hiesel gallig, »auf
-der Welt gibt's allerlei Verwandtschaften. Himmelkreuzbluthöllement, es
-könnt am End gar noch aufkommen, daß du mein Schwager bist.«
-
-Der Sinn dieser Worte war für die Schneckin eine dunkle Sache. Und
-Leupolt hörte nicht, was der Hiesel redete; langsam, weil seine
-entzündeten Hände noch nicht gehorchen wollten, wickelte er das Päckl
-auf und schälte das braune Tiegelchen aus der Leinwand. Eine Salbe?
-Sonst nichts? Kein Gruß, keine Nachricht? Endlich fand er das kleine,
-versteckte Blättl und las bei der Feuerhelle des Herdes die winzig
-zusammengedrängte Schrift: »Mein herzlieber Bub! Die Sorg ist linder,
-seit ich weiß, wo du bist. Es wird sich schon geben, daß ich schicken
-kann, was du nötig hast. Kommen darf ich nit. Tu mir bald gesunden, tu
-allweil hoffen, Bub, Hoffnung ist eine so feste Sach wie Gott, der sie
-uns armen Menschen gegeben hat. Das Sälbl ist vom Luisli. Sie hat's
-selber gebracht, das liebe Kind, hat's in der Sonn geläutert und hat
-dich lieb. Alles ander müssen wir in Gott befehlen. Ich tu dich grüßen.
-Bleib, wie du bist, mein Bub, da bist du kein schlechter nit. Das weiß
-ich, deine Mutter in Treu.«
-
-Hätten der Schneck und die Schneckin jetzt hinübergeguckt zu ihrem
-zwieschläfrigen Bett, so hätten sie sehen können, wie die Augen eines
-Glücklichen leuchten. Aber die Schneckin mußte auf die Schüssel achten,
-die sie zum Tische trug, und der Hiesel starrte kummervoll in den
-Herrgottswinkel. Das Schneckweibl hielt es für nötig, zu fragen: »Wie
-hat's denn die Mälzmeisterin erfahren, daß der Leupi bei uns ist?«
-
-»Was weiß denn ich?« brüllte der Hiesel.
-»Kreuzhimmelhundblutshöllement, es gibt halt söllene Fensterln, wo
-einer was auskundschaften kann, wenn er ausputzte Luser hat!« Wie
-sonderbar, daß der Hiesel jetzt so unverständliche Sachen redete!
-Sonst pflegte er nur Dinge zu sagen, die jedes Kind verstand. Seufzend
-ging die Schneckin zum Herd. Und Leupolt sagte wie ein Träumender: »In
-der tiefsten Freud wird auch die höchste Not ein Lindes. Magst du mir
-nit erzählen, Schneck, wie's gestern gewesen ist?« Der Hiesel beutelte
-wütend den Kopf, schob die Schüssel fort, riß den Tabakbeutel vom
-Gürtel und begann die Holzpfeife zu stopfen. »So was ist schauderhaft!
-Ganz schauderhaft!« Das bezog die Schneckin natürlich auf den Bockmist
-und sagte gekränkt: »Schau hinaus ins Geißstallerl! Ob's nit so sauber
-ist, daß man am Sonntag vom Stallboden essen könnt.« Mit Tränen in den
-Augen zündete sie einen Kienbrand an und verließ die Stube, um draußen
-noch ein bißchen nachzufegen. Da wurde plötzlich der Hiesel Schneck ein
-völlig anderer. Alle Wut erlosch in ihm. Schweigend sah er die kleine
-Stalltür an, in den kreisrunden Augen einen so hilflosen Kummer, daß
-sein weißschnauziges Gesicht etwas Kindhaftes bekam. Wie zerschlagen an
-allen Knochen trat er zum Herd, um ein glühendes Kohlenbröckl in die
-Pfeife zu legen.
-
-»Schneck!« sagte Leupolt. »Weil das gute Weibl draußen ist, wollen
-wir's ausreden als grade Menschen. Ich spring nit hinüber zum
-Grenzbaum, tu nit flüchten. Vergönn mir das Plätzl in deinem Haus! Ich
-will's vergelten. Sobald die Füß mich tragen, leg ich mich hinauf ins
-Heu. Kann ich wieder laufen, so mußt du mich helfen lassen bei deinem
-harten Dienst. Daß du's leichter hast. Ich versprech dir, daß ich
-nichts tu, was dir Ungelegenheiten macht. Ich will nit konventikeln und
-heimlichen Weg laufen. Will sein, wie du wollen mußt, daß ich bin. Ist
-dir's recht so?« Er streckte die Hand.
-
-»Meintwegen!« murrte der Hiesel, ohne die Hand zu fassen. »Stapfen wir
-selbander durchs Holz, so kannst du mir auseinanderkletzeln, was denn
-eigentlich dran ist -- an der luthrischen Narretei? Daß in der besten
-Menschenseel so ein Unsinn zündet! Es ist halt, weil einer verstehn
-will, was er nit versteht. Verstehst?«
-
-»Fragst du, so geb ich Antwort.« Wieder streckte Leupolt die Hand.
-»Magst du nit einschlagen? Wir sind doch Gesellen, wo Verlaß ist auf
-einander. Nit?«
-
-Der Hiesel bewies, daß er trotz aller Bescheidenheit seines Verstandes
-klüger sein konnte als andere Menschen. »Mannderl,« sagte er, »wenn
-ich dein verschwollenes Pratzl drucken tät, möchtest du einen
-schönen Brüller machen!« Er guckte über die Schulter, weil er aus
-dem Geißstall ein heftiges Wassergeplätscher vernahm. »So was ist
-schauderhaft! Ganz schauderhaft!« Er sprang zur Stalltür hinüber. »Du!
-Kreuzhimmelhundshöllement und christgläubiges Elend! Wirst du nit bald
-auf'n Strohsack rutschen? Verkühlst dich ja draußen! Du Zeiserl ohne
-Kröpfl!« Keinen Kropf zu haben, ist eigentlich eine schöne Sache. Aber
-der Hiesel dachte bei diesem wütenden Kosenamen an einen Vogel, dem
-Gott wohl keinen Gesang gegeben hatte, dafür aber Federn, mit denen man
-schreiben kann.
-
-Die gekränkte Schneckin plätscherte noch eine Stunde lang. Als sie
-endlich die Ruhe suchte, lag ihr Schneck schon hinübergedreht nach der
-feindseligen Seite. »So,« sagte sie, »jetzt wirst du ihn aber nimmer
-schmecken!« Das stimmte. Gegen den Knasterqualm, den der Hiesel in die
-Stube geblasen hatte, kam der Geißstall nicht merklich auf. Dennoch
-knurrte der Unversöhnliche in die Nacht: »Ganz schauderhaft ist so
-was! Schauderhaft!« Da drehte sich auch die Schneckin beleidigt auf
-die andere Seite, und während ihre Tränen kollerten, hielt der Hiesel
-verzweifelt seinen brennenden Schädel zwischen den Fäusten. Die Stube
-des Grenzjägers beim Hallturm war in dieser Nacht eine Parabel des
-Lebens, in welchem Trostlosigkeit und Hoffnung, Glück und Not, Zorn und
-Liebe in unvereinbarem Widerspruche bei einander wohnen.
-
-Leupolt sah mit offenen Augen ins Dunkel, das braune Tiegelchen
-zwischen den Händen. Wie in der klingenden Mondnacht auf dem Königssee,
-so waren wieder in ihm zwei kämpfende Gedanken, die einander hart
-bedrängten. Seine Trauer über das üble Herrenwerk des Versöhnungstages
-und seine Sorgen um die leidenden Brüder umschatteten die blühende
-Botschaft der Mutter: »Sie hat dich lieb.« Aus dieser Zwiesprach
-seines Kummers und seiner Träume riß ihn ein Himmelsköter des Hiesel
-Schneck, der wütend in die Finsternis hineinbellte: »Wie, du -- jetzt
-hätt ich vor lauter Schauderei schiergar vergessen! Hörst oder nit? Du
-Haubenstock ohne Mascherl! Wirst du dich bald umdrehen, ja? Und den
-überbeinigen Ellbogen gib her! Verstehst?« Der Hiesel mochte schneller
-zugegriffen haben, als die Schneckin zu geben bereit war. Sie ließ ein
-so wehleidiges Quieksen vernehmen, daß Leupolt erschrocken fragte:
-»Schneck? Was tust du denn deinem Weibl?«
-
-»Nit mehr, als was mir der Jud zur Schuldigkeit auftragen hat,
-verstehst? Soll die saumäßige Zeitnot ausschauen, wie sie mag, ein
-Überbein ist allweil ein Überbein.« In der Finsternis bügelte der
-Hiesel Schneck das neugewachsene Ellbogenknöcherl seiner Schneckin.
-Weil sie wieder ein bißchen wimmerte, brüllte er: »Ja, pfeif nur,
-pfeif, du Spinnrädl ohne Schmier! Wenn's dir wohltät, gelt, da
-könnt ich rippeln bis vierzehn Täg nach der Ewigkeit.« Nun ließ das
-Schneckenweibl keinen Laut mehr vernehmen. Als der Hiesel mit dem
-Knochenbügeln endlich Feierabend machte, konnte die Schneckin nicht in
-Abrede stellen, daß ihr Überbein sich merklich verkleinert hatte. Sie
-beobachtete auch noch eine andere Wirkung der gewalttätigen Kur: ihr
-Schneck war von der >jüdischen Dokterei< so müde geworden, daß er vor
-dem Einschlafen vergaß, sich auf die feindselige Seite hinüberzudrehen.
-Mit Vorsicht rückte die Schneckin auf der Raschelmatratze ein bißchen
-näher, fand das Kissen wieder, an das sie seit fünfunddreißig Jahren
-gewöhnt war, und schloß als zufriedenes Menschenkind die Augen.
-
-
-
-
-Kapitel XX
-
-
-Am Morgen, als der Hiesel mit seinem verschwiegenen Christenkummer sich
-wieder hinausfluchte in die tröstende Waldeinsamkeit und sein Weib
-von den Schneckischen Hemdärmelfalten auf der Wange eine Zeichnung
-hatte, ähnlich den Eisblumen am Fenster, fühlte sich Leupolt Raurisser,
-obwohl ihm vom Wundfieber noch immer die Pulse hämmerten, so weit bei
-Kräften, daß er hinüberhumpeln konnte zur Fensterbank. Und da wurde er
-sein eigener Arzt -- weil er das kostbare braune Tiegelchen von keiner
-anderen Hand berühren ließ.
-
-Zwischen wechselndem Schneegestöber blinzelte manchmal die Sonne durch
-das verschneite Fenster, während Leupolt vor dem Zinnspiegelchen
-der Schneckin saß, wie einer, der sich selbst rasieren muß. Ein
-feingeglätteter Holzspan diente ihm als ärztliches Messer, mit dem er
-die Halswunde so sauber schabte, daß die Schneckin gestehen mußte:
-»*Viel* besser schaut's aus!« Mit zärtlicher Achtsamkeit verteilte er
-die in der Morgensonne der Liebe geläuterte Wundsalbe über den frischen
-Leinwandstreif. »So!« sagte er, als alles Rote am Hals bedeckt und
-die lange Binde darumgewickelt war. Dabei glänzten ihm die Augen, wie
-sie nur einem Menschen glänzen können, der ein unsagbares Wohlgefühl
-empfindet. Und immer schüttelte er lächelnd den Kopf, so oft die
-Schneckin barmherzig klagte: »Jesus, Jesus, es muß dir ja grausam
-wehtun!« Mit den Fußknöcheln hatte er leichtere Arbeit. Auch beim
-Verbinden der Handgelenke durfte ihm die Schneckin nicht beispringen;
-er nahm die Zähne zu Hilfe. Und gleich, mit dem Bergstecken des Hiesel,
-versuchte er's, in der Stube auf und ab zu schreiten. Immer besser
-ging's. Freilich, der braune Tiegel war ausgeräumt bis auf das letzte
-Glitzerbröselchen. »Da muß mein Schneck halt wieder ein Sälbl holen,
-verstehst?«
-
-»Mehr braucht's nit. Das hilft aufs erstemal. Ich spür's.«
-
-Die Schneckin mußte zu ihren Geißen. Als sie wieder in die Stube
-kam, war Leupolt umgezogen, saß hinter dem Herd auf dem kummervollen
-Strohsack des Hiesel und las den kleinen Zettel der Mutter, las so
-lange, als wäre das winzige Stück Papier ein Buch ohne Ende.
-
-Hundertmal im Verlauf des Tages sagte das Schneckenweibl: »Heut am
-Abend freut er sich, mein Schneck! Weil er sein Bett wieder hat,
-verstehst?« Aber am Abend freute sich der Hiesel gar nicht. Auch
-während der folgenden Tage, unter wehendem Schneegestöber, blieb er so
-mürrisch, so verdrossen, so rätselhaft traurig, daß in der Schneckin
-der beklommene Verdacht erwachte: der Hiesel hat was gemerkt von ihrem
-evangelischen Geheimnis. Aber nein! »Da tät er doch dreinschlagen
-mit dem Bergstecken, tät umfallen vor lauter Kümmernis und tot sein!
-Verstehst?« Stundenlang, wenn der Schneck mit den Fuchseisen draußen
-im Gestöber war, beredete sie's mit Leupolt. Der sagte: »Es ist was
-anderes. Grausen tut ihm. Was er sehen hat müssen beim Schützenfest,
-das verwindt er nimmer. Nit viel im Leben ist härter, als übel von
-einem Herren denken müssen, dem man zugeschworen ist in Treu und
-Ehrfurcht.«
-
-Die Schneckin tat einen Seufzer: »Ach, lieber Herr Jesus! Was für eine
-schieche Zeit ist das!« Von den schrecklichen Dingen, die im Land
-geschahen, wußte sie nur wenig. Die hohen Schneewächten legten um das
-einsame Haus einen schützenden Riegel. Und was die Schneckin drüben im
-Hallturm von der eindringlichen Bekehrung hörte, die mit Musketieren
-und Kapuzinern betrieben wurde, mit Strafgeldern, Angebereien,
-Ausstoßungen aus den Handwerksgilden, Haussuchungen und Polizeichikanen
--- das verschwieg sie vor Leupolt. Einen Wundkranken darf man nicht
-aufregen. Auch sonst hatte das Schneckenweibl ihre Not mit ihm. Immer
-wollte er arbeiten, sich nützlich machen. Jede Pflege wies er ab. Sie
-schalt: »So geht's nit weiter, Bub! Du mußt dich wieder verbinden
-lassen.« Er streichelte lächelnd ihre Hand: »Nit, Weibl! Ich spür schon
-das Heiljucken. Nachhelfen muß man bloß bei schwachen und mühsamen
-Dingen. Den starken und guten Sachen muß man ihr Sträßl lassen und muß
-ihnen Zeit vergunnen. Komm! Es nächtet. Tu für den Schneck das Mus
-kochen! Wenn das Feuer scheint, ist liebe Stund. Da sag ich dir wieder
-ein Lied.« Als die Flamme züngelte und die schwarze Stube rotscheinig
-wurde, sang er leis in die flackernde Feuerhelle:
-
- »Herz, laß dich nie nichts dauern mit Trauern! Sei stille!
- Wie Gott es fügt, so sei's vergnügt dein Wille.
- Bleib nur in allem Handel ohn' Wandel! Steh feste!
- Wie's Gott verleiht, ist's allzeit das Beste.
- Du sollst nit heut dich sorgen ums Morgen! Der Eine
- Steht allem für und gibt auch dir das Deine.«
-
-Das Schneckenweibl brach in Tränen aus wie ein armseliges Häuflein
-Elend und klagte: »Bub! Tät's unser Herrgott allweil aufs beste
-richten, so könnt der Schneck nit im Ländl bleiben, wenn's so kommen
-tät, daß ich auf Wanderschaft müßt. Verstehst?« Wie die Schneckin es
-meinte, so verstand es Leupolt nicht. Sie hatte es nicht übers Herz
-gebracht, ihm zu sagen, was drüben im Hallturm zu hören war: daß man
-zu Berchtesgaden zwischen Judica und Palmarum das Exulations-Edikt
-wider alle Verstockten anschlagen würde, die vor dem Karfreitag
-nicht reumütig zurückgekehrt wären zum alten, allein seligmachenden
-Glauben. Leupolt verstand nur, daß Kummer und Verstörtheit dem alten
-Schneckenweibl fast die Seele zerdrückten. Er streckte die Hand, deren
-Gelenk umwulstet war von dem starrgewordenen Verband, legte sie auf den
-Arm der Weinenden und wiederholte mit tröstender Herzlichkeit den Vers:
-
- »Du sollst nit heut dich sorgen ums Morgen! Der Eine
- Steht allem für und gibt auch dir das Deine!«
-
-Draußen vor der Haustür pochte Hiesel Schneck den Schnee von den
-Schuhen. Als er eintrat, versuchte er zu lachen und warf unter dem
-fröhlich tuenden Gebell eines kleinen Himmelhundes zwei schöne Füchse,
-die er aus den Fallen genommen, vor die Herdmauer. »Also! Hat der
-Mensch auch wieder einmal ein bißl Freud! Verstehst? Für d' Füchslen,
-freilich, war 's Vergnügen minder.« Mit seinem gereizten Lachen mischte
-sich ein wühlender Zornklang. »Was müssen die Rindviecher hinschnufeln
-zum eisernen Fensterl! Da kann einer allweil was hören! Verstehst?«
-Er drehte sich gegen die Balkenwand, um sein von Schnee umwickeltes
-Zeug an die Geweihzacken zu hängen. »Freilich, was Guts ist allweil
-dabei. Wird halt die Meinige jetzt ein ofenwarms Pelzkragerl auf
-ihren Kirchenmantel kriegen!« Dieses zärtliche Versprechen hatte eine
-sonderbare Wirkung. Heftig zusammenzuckend, ließ die Schneckin den
-Kochlöffel ins Mus fallen, fuhr mit den Fäusten nach den Augen und
-bekam einen Schreikrampf, der sich zu hilflosem Schluchzen löste. Eine
-Weile stand der Hiesel wie versteinert. Dann fing er mit gesteigertem
-Höllementsreichtum zu fluchen an und brüllte: »Du Wiedehupfin ohne
-Schöpfl! Warum flennst du denn jetzt?«
-
-»Weil -- weil ich merk --«
-
-»Was?« fragte der Hiesel erschrocken.
-
-»Daß du mir -- eine Freud machen willst -- und grad für'n Kirchenmantel
--- Jesus, Jesus, für'n Kirchenmantel!« Unter den Tränenstürzen ihrer
-Verstörtheit vergaß sie völlig, daß sie das Mus für ihren Schneck
-gekocht hatte, war der Meinung, es wäre die Kost des Fieberkranken,
-und trug das Schüsselchen in die Dunkelheit hinaus, um es im Schnee
-zu kühlen. Bei dieser Gelegenheit konnte der Hiesel Schneck die
-überraschende Entdeckung machen, daß nicht der ketzergierige Satan,
-sondern die menschliche Barmherzigkeit seiner Schneckin die »unsinnigen
-Tapper« in den Neuschnee hineingefährtet hatte. Nachdenklich
-wiederholte er das Kummerwort seiner letzten Nächte: »Ganz schauderhaft
-ist so was!« Dann fluchte er unter heftigem Faustgefuchtel so
-entsetzlich nach allen Windrichtungen, daß die schwarze Stube sich
-noch dunkler zu schwärzen schien. Leupolt sagte lächelnd: »So was ist
-seltsam.«
-
-»Was?« brüllte der rasende Schneck.
-
-»Wie die Lieb oft herausredet aus der Menschenseel.«
-
-Dieses Wort machte den Hiesel zuerst bestürzt. Dann schrie er: »Wann
-ich raufen muß mit der Meinigen, da tu dich nit einmischen! Schau
-lieber, daß du bald mit mir auf ein rechtschaffens Waldstraßl kommst.
-Daß man reden kann miteinander. Oder verstehst nit, du luthrischer
-Narrenkasten ohne Riegel, daß einer verstehn will, was er nit versteht?
-Verstehst?«
-
-Leupolt gab keine Antwort. Er lächelte nur. --
-
-In dem kleinen Jägerhaus kamen stille Tage. Keine schönen. Es stöberte,
-daß der Schnee vor der Hausmauer immer höher wuchs. Manchmal in den
-Nächten krachte das alte Dach unter der weißen Last. Dann plötzlich,
-von einem Tag auf den anderen, setzte der Föhnsturm ein, mit Brausen
-und Toben, mit klatschenden Regengüssen.
-
-Die Herren zu Berchtesgaden schienen den Jäger Leupolt Raurisser
-entweder vergessen zu haben, oder sie erwarteten von ihm noch immer,
-daß er seinem fürstlichen Herrn die Gefälligkeit erweisen möchte,
-jenseits der bayerischen Grenze zu verschwinden. Es kam vom Stifte
-keine Nachricht, kein Befehl. Alle paar Tage brachte das Schneckenweibl
-ein Bündel, das jemand im Hallturm für den Hiesel abgegeben hatte.
-Immer war's eine Sendung der Mutter Agnes für ihren Sohn. Schließlich
-hatte Leupolt alles beisammen, was ein Jäger braucht -- ausgenommen
-die Flinte. Am Tage nach dem Versöhnungsfest hatte die Polizei seine
-Waffen konfisziert. Bei jeder Sendung war ein verstecktes Zettelchen
-der Mutter, die sich um die Gesundheit ihres Buben sorgte. Über die
-Dinge, die zu Berchtesgaden geschahen, schrieb sie kein Wort. Es hieß
-nur immer: »Ach, das Leben ist nimmer schön!« -- »Bub, man weiß bald
-nimmer, was man denken und glauben soll!« -- »Ach, Bub, sei froh, daß
-du weit bist vom Marktbrunnen! Der Schandpfahl hat nimmer Feierabend.«
-Nie ein Wort über Luisa, nie ein Gruß von ihr. Nur einmal, als sich
-schon die ersten Frühlingszeichen an den sonnseitigen Gehängen
-entdecken ließen, schrieb Mutter Agnes: »Hab gestern ein liebes Veigerl
-gesehen, das nimmer blühen mag. Da hilft kein Wörtl nit. Man muß an
-die Sonn glauben, die dem armen Blüml das Köpfl wieder aufrichtet.«
-Als Leupolt dieses Zettelchen gelesen hatte, trat er zum Fenster, sah
-in den rauschenden Regen hinaus und sagte: »Die Sonn ist bloß hinter
-Wolken. Da ist sie allweil. Komm, Schneck, nimm den Mantel, ich geh mit
-dir hinaus ins Holz. Wo die Bäum wachsen, wohnt der Herrgott.«
-
-»Wohl!« brummte Hiesel. »Aber was für einer?«
-
-Draußen wurde dem langen Schneck die Nässe ungemütlich. Er wußte eine
-Holzerhütte zu finden, brachte ein Feuerchen in Brand, stopfte seine
-Holzpfeife und fing wieder zu fragen an, wie immer, wenn er mit Leupolt
-allein war. Dabei schien er nur die Worte des anderen zu hören, nicht
-den Herzklang, von dem sie erfüllt waren, nicht die ruhige Festigkeit,
-die in ihnen glänzte. Wieder schüttelte er nach stundenlangem Lauschen
-den grauen Kopf: »Da kann mir einer sagen, was er will, ich versteh's
-halt nit!« Etwas Verzweiflungsvolles brannte ihm in den kummervollen
-Augen. »Aber was soll denn einer machen, wenn er muß?« Das war wieder
-eine von den dunklen Reden, die der Hiesel sich angewöhnt hatte seit
-dem Versöhnungsfest.
-
-»Schneck? Magst du mir nit sagen, was dich druckt?«
-
-Der Alte erhob sich vom Feuer. »Der Verstand druckt mich nit. Sonst tät
-ich's verstehn. Verstehst?«
-
-Je näher es auf die Osterwoche ging, umso wortkarger wurde der
-Hiesel Schneck, ersann immer seltsamere Flüche und fand für sein
-Schneckenweibl immer wunderlichere Vergleiche, denen das Nötigste
-fehlte. Er nannte sie ein Wasser ohne Brunnenrohr, ein Mühlrad ohne
-Mehl, ein Bänkl ohne Füß, ein Zöpfl ohne Haar, sogar eine arme Seel
-ohne Fegfeuer. Mit Menschen zusammenzukommen, das schien der Hiesel zu
-fürchten, wie ein Gebrannter das Feuer. Die angstvolle Schneckin quälte
-ihn eines Tages mit hundert verwirrten Fragen. Der Hiesel schwieg sich
-aus, beteuerte ein Dutzendmal, daß so was schauderhaft wäre, ganz
-schauderhaft, nahm die Feuersteinflinte und ließ seine Himmelhunde
-hinausknurren in den nassen Frühlingswald. Die Schneckin, völlig
-verdreht, wollte ihm nachlaufen. Leupolt hielt sie zurück und sagte:
-»Laß ihn, Weibl! Im Holz draußen findt er die Ruh schon wieder. Ein
-guter Mensch ist er. Und was er hören und sehen muß, das geht ihm über
-den Herzfrieden.« Wenn Leupolt auch wenig wußte von den Dingen im Land,
-so wußte er doch so viel, daß er sein Versprechen, keinen heimlichen
-Weg zu machen, wie eine Kette zu empfinden begann. Einmal sagte er zur
-Schneckin: »Nit helfen können, ist das Härteste.«
-
-Es war in diesen Wochen im Lande Berchtesgaden ein neuer Gruß erfunden
-worden, nicht von der Polizei, sondern von denen, die ihn verschwiegen
-vor ihr. Begegnete einer dem anderen, und hatten sie mit den Augen
-geblinzelt, so sagte der eine: »Schieche Zeit, Bruder!« Und der andere
-knirschte zwischen den Zähnen: »Gott soll's geben, daß der Helfer
-kommt!«
-
-Der Weg zu den Stiftsgefängnissen wurde in dieser Zeit das belebteste
-Sträßl im Land. Um der jungen Mädchen willen gab es blutige
-Schlägereien zwischen den Burschen und Musketieren. Die Soldaten und
-ihre Rosse fraßen die evangelischen Bauern arm. Was in den Seelen der
-Bedrückten noch übrig blieb an Hoffnungsfestigkeit, das wurde gebeizt
-und gesotten bei den stundenlangen Hauspredigten der Kapuziner. Von
-ihrem schwitzenden Eifer kam ein Sprichwort in Umlauf: »Der tröpfelt
-wie ein Bußprediger.« Und was diese emsige Seelsorge, was die Muketiere
-und ihre fressenden Gäule, die Polizeiverhöre und die Herbergsstunden
-ohne Mond und Sonne nicht fertig brachten, das vollendete die
-Verhetzung innerhalb der evangelischen Familien, die Behinderung eines
-jeden Erwerbs, der Frondienst und die Geldbuße, die Viehpfändung,
-der Entzug des Hauslehens und noch eine andere dunkle Sache, die im
-ganzen Lande wie ein drückender Alp auf allen Menschen lag. Es schien,
-als ginge in den Häusern einer umher, der nicht zu sehen, nicht zu
-hören und nicht zu greifen war, jedes Wort erschnappte, jede Rede
-verdrehte, jeden Gedanken herauskitzelte und denunzierte. Dank diesem
-emsigen Lauschergeiste war der Landrichter Willibald Halbundhalb
-durch die gesteigerten Geschäfte seiner Wahrheitsforschung so grausam
-überbürdet, daß man ihm vier Assessoren zur Hilfe beigeben mußte.
-Weil der Herbergsraum ohne Mond und Sonne stets überfüllt war, wurde,
-um Platz zu sparen und die Einkünfte des Stiftes zu erhöhen, alles
-minder Gravierende durch hohe Geldbußen erledigt. Das hatte einen
-doppelten Erfolg: zum erstenmal seit Jahren konnte die Rechnungskammer
-des Stiftes die an Ostern fälligen Schuldzinsen glatt begleichen, und
-noch vor dem Palmsonntag konnte man amtlich registrieren, daß von den
-Siebenthalbtausend der jubelnden Bekennertage schon mehr als die Hälfte
-bußbereit wieder heimkehrte zum »fürstpröpstlichen Glauben«. Gegen
-die dreitausend noch Verstockten wurde das Exulations-Edikt an allen
-Kirchtoren von Berchtesgaden angeschlagen.
-
-Wie schweres Nebelgewölk, so lag die dumpfe Herztrauer der Wehrlosen
-über dem ganzen Land. Aber auch *diese* Zeit, so unerträglich sie war,
-konnte den Witz des gesunden Volkes nicht völlig ersticken. Unter das
-Polizeigebot, das neben dem Exulations-Edikte angenagelt war und jeden
-»Befund dreier gleichzeitiger Personen auf der Straße« mit schwerer
-Strafe bedrohte, hatte einer die Frage geschrieben: »Wie ist das bei
-einer schwangeren Mutter, die mit Zwillingen geht? Das sind doch
-auch drei Gleichzeitige? Muß da der Muckenfüßl vor dem Grillenhäusl
-auf die Überzähligen passen? Oder muß er die Haustür einschlagen?«
-Der Wahrheitsforscher mit den vier überflüssigen Federstrichen,
-der den Dichter des Volksliedes vom _Dr._ Halbundhalb noch immer
-nicht ausgeforscht hatte, mußte sich mit einem neuen Geheimnis der
-Schriftenkunde befassen, um es *nicht* zu lösen.
-
-Die Sonne begann zu lachen und machte die Tage vor dem Osterfeste lind
-und schön. Auf den Talwiesen begann das erste Grün zu spitzen, an den
-Bächen kätzelten die Weidenstauden und auf den Berghängen schrumpfte
-der Schnee immer weiter durch die Wälder empor.
-
-Am Morgen des Karfreitags wanderte Hiesel Schneck mit seiner Schneckin
-nach Bischofswiesen, um das heilige Grab zu besuchen -- der Hiesel
-trotz der himmelschönen Frühlingsfrühe verdrossener als je, das
-Schneckenweibl bei aller Seelenangst viel freudenreicher als seit
-Wochen. Wie warm die Sonne heizte, das schien die Schneckin nicht zu
-bemerken; sonst hätte sie nicht das dickgefütterte Wintermäntelchen mit
-dem neuen Fuchspelzkragen spazierengeschleppt. Jedem Menschen, dem die
-beiden begegneten, sah die Schneckin fragend in die Augen. Dann bekam
-der andere einen scheuen Blick und dachte: »Der bin ich verdächtig!«
-Die Schneckin aber schmunzelte stolz: »Dem gefallt mein Fuchspelzl
-auch!«
-
-Um für Hiesel einen freien Morgen zu machen, hatte Leupolt den
-Hegerdienst übernommen. Seine Karfreitagsandacht hielt er im Bergwald.
-Nur der Gott, an den er glaubte, sah den Leupolt Raurisser zwischen
-den ersten Frühlingsblumen des Waldes knien, mit gefalteten Händen,
-mit entblößtem Scheitel, mit klingender Menschenseele, mit hoffendem
-Glanz in den Augen. Wie aus Holz geschnitten sah er aus, in dem
-verwitterten Bergjägerkleid, mit den starr und grau gewordenen
-Wundverbänden um den Hals, um Fußknöchel und Handgelenke. Das Rauschen
-der Frühlingswässer und leises Vogelgezwitscher war um ihn her, und
-durch das kahle Gezweig der Buchen, an denen die Knospen zu schwellen
-begannen, spann die Morgensonne ihre funkelnden Fäden. Als er heim
-kam ins stille Jägerhaus, brannte er auf dem Herd ein Feuer an und
-hängte den kupfernen Wasserkessel drüber. Mit dem warmen Wasser
-weichte er die zusammengekrusteten Verbände auf. Die Wunden waren
-geheilt. Die erneute Haut umzog den braunen Hals wie ein weißes Band.
-Ebenso war's an den Fußknöcheln und Handgelenken. Lächelnd flüsterte
-Leupolt vor sich hin: »Vergeltsgott, Luisli!« Und weil er's nicht
-übers Herz brachte, die Verbandlappen fortzuwerfen, verbrannte er
-sie im Herdfeuer. Aus der Flamme quoll ein feiner Harzduft heraus,
-der an den Wohlgeruch des keimenden Waldes erinnerte. Leupolt wusch
-sich und zog die Feiertagskleider an, die seine Mutter ihm geschickt
-hatte. Im Herrgottswinkel aß er die Geißmilchsuppe. Dann setzte er
-sich vor der Haustür auf das sonnige Bänkl. Wie still und schön war
-diese heilige Frühe! Jedes Gefühl in ihm verwandelte sich in dankbare
-Andacht, die schmerzend umschleiert war von den Gedanken an die
-leidenden Glaubensbrüder. Wie mochte es aussehen in den Herzen der
-Schwachgewordenen, die unter Gewalt und Pein die Wahrheit ihrer Seelen
-verleugnet hatten? Wie in den Herzen der aufrecht Gebliebenen, die
-keinem Zwang sich beugten und doch der Stunde entgegenzitterten, in der
-sie, verarmt und schutzlos, zum Exulantenstecken greifen und die Heimat
-verlassen mußten, um einem ungewissen Schicksal entgegen zu wandern.
-
-»Gott soll dich hüten, mein liebes Glück! Ich geh mit der ersten Schar.«
-
-Ruhigen Auges hinausblickend in den Glanz der Morgensonne, überlegte
-er, wie er den Wandernden nützen könnte, welchen Weg sie nehmen,
-wohin sie sich wenden sollten auf der Suche nach einer neuen Heimat?
-Übers Wasser nach England oder Amerika? Auf Landwegen nach Holland
-oder Dänemark? Solchen Weg hatten viele von den Salzburgern genommen.
-Leupolt schüttelte den Kopf. »Sind wir nit deutsche Leut? Wir gehören
-auf deutschen Boden!« Da gab's nur einen einzigen Weg: über den Main
-und über die Elbe hinunter, ins preußische Land. Aber wie für die weite
-Wanderung alle nötigen Mittel finden, Zehrung für die Verarmten, Pflege
-für die Erkrankten, neues Heimatland, Boden für den Hausbau, Balken
-und Kalk, Hausrat und Ackerzeug? Wer wird da brüderlich und barmherzig
-sein? Wer wird helfen? Leupolt hob das Gesicht zur Sonne. »Einer,
-der allweil hilft!« Da fiel ihm etwas zwischen die Hände, die er auf
-den Knien liegen hatte. Wie der Schauer eines heiligen Geheimnisse
-durchrieselte es ihn, als er das goldgelbe Aurikelsträußchen
-betrachtete, das ihm zugeflogen war, als wär' es heruntergefallen vom
-Himmel. Ein heißer Glücksgedanke durchzuckte sein Herz. Gleich verwarf
-er ihn wieder. An das Luisli zu denken, war Torheit, war Irrsinn!
-
-Jetzt hörte er hinter der Hausecke die Sprünge eines flinken Fußes
-über kiesigen Grund. Er lief zur Hauskante hinüber und sah ein
-blondschopfiges Mädel zwischen den Fichtenstauden verschwinden. War
-das nicht die Tochter der Hasenknopfin? Dann war der Hasenknopf von
-seiner Wanderung ins Preußische heimgekommen! Und in dem Sträußl war
-eine Botschaft! Leupolt suchte zwischen den Blüten. Unter den grünen
-Stengeln knisterte was: ein kleiner Zettel, eng beschrieben mit
-verstellter Schrift, in der Ecke ein Kreis mit vier Punkten -- das nur
-den Verläßlichsten bekannte Namenszeichen des Hasenknopf. Leupolt las:
-»Es ist ein heilig Ding, ist deins und meins. Dem mußt du dienen. Vor
-dem Neumond, am Abend um die fünfte Stund, da kommen von Reichenhall
-zwei Auslandrische geritten, ein evangelischer Herr mit seinem Diener.
-Die mußt du erwarten, wo man die verbronnene Plaienburg sieht. Tu dich
-ausweisen mit deinen Wundmalen. Du mußt um Christi willen gehorsamen,
-auch wenn es so ausschauen tät, als wär's gegen Treu und Eid. Es ist
-nit so, ist alles zu christlicher Hilf. Es wollen die zwo in der
-Neumondnacht zu einem, der nimmer lebt und ewig lebendig bleibt. Da
-mußt du sie umsichtig führen und gut behüten. In Jesu leb ich, in Jesu
-sterb ich. Den Zettel mußt du verbrennen. Gleich.« Ein zweitesmal las
-er, ein drittesmal. Dann ging er ins Haus, legte den Zettel auf die
-glühenden Kohlen und sah ihn zu Asche werden.
-
-»Ein Helfer kommt!«
-
-Die Freude machte ihm das Blut in den Adern heiß, machte ihm das Herz
-gegen die Rippen hämmern. Den Helfer führen? Zu einem, der nimmer lebt?
-Das war der Tote Mann, der Ramsauer Waldberg, auf dem die Evangelischen
-in der Neumondnacht sich versammelten.
-
-Stunde um Stunde wartete Leupolt mit Ungeduld auf den Hiesel Schneck.
-Der mußte ihm das Versprechen zurückgeben: keinen heimlichen Weg zu
-machen. Die Mittagsstunde ging vorüber, ohne daß die Hausleute kamen.
-Erst gegen Abend zappelte das Schneckenweibl über die Wiese her,
-schwitzend unter dem Fuchspelz ihres Kirchenmantels. Von weitem rief
-sie dem Leupolt, der wartend vor der Haustür stand, die Frage zu: ob
-der Schneck schon daheim wäre? Als Leupolt den Kopf schüttelte, fing
-die Schneckin in seltsamer Verstörtheit zu klagen an: sie hätte eine
-Besorgung gehabt; die hätte ein bißl lang gedauert; und als sie wieder
-zurückgekommen wäre ins Wirtshaus, wäre der Hiesel nimmer dagewesen;
-sie hätte ihn überall gesucht, nirgends gefunden und hätte gemeint,
-er wäre schon heimgelaufen. »Und jetzt ist er nit da! Jesus, Jesus,
-ich muß ihm was sagen!« Sie lief zur Straße zurück, guckte und schrie,
-kam heim, begann die Fastenspeise zu kochen und rannte wieder vor die
-Haustür, um nach dem Hiesel auszuschauen. Endlich, da es schon zu
-dämmern anfing, sah sie ihn kommen.
-
-Ganz langsam ging er, merklich gebeugt, als wäre er seit dem Morgen
-um ein paar drückende Jährchen älter geworden. Als er sein Weibl so
-aufgeregt schwatzen hörte, blieb er stumm, tat einen schweren Atemzug
-und guckte zum Himmel hinauf. Plötzlich machte er einen raschen Griff,
-faßte mit der groben Pranke die Hand seines Weibes und sagte wunderlich
-zart und leise: »Schneckin! Paß auf! Jetzt muß ich dir was sagen.
-*Dir* z'lieb, verstehst? Heut hab ich mich einschreiben lassen als
-luthrischer Exulant.« Das Schneckenweibl stand wie zu Stein erstarrt.
-Ihre Tränen begannen zu rinnen, bevor sie sich rühren konnte. Von einem
-Schreikrampf befallen, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und
-klagte in den sternschönen Frühlingsabend hinaus: »O Jesus, Jesus!
-*So* ein Unglück! Und ich, bloß daß ich nit fort hätt müssen von dir,
-verstehst, ich hab mich heut wieder bekehren lassen vom Kapuziner!«
-
-Es gab zu dieser Stunde im trauervollen Lande Berchtesgaden nicht viele
-Menschen, die so unglücklich waren, wie der evangelische Hiesel Schneck
-und seine neukatholische Schneckin.
-
-
-
-
-Kapitel XXI
-
-
-Nach Ostern, am Vormittage vor der Neumondnacht im April, fuhr ein
-Leiterwägelchen, das von Berchtesgaden kam, durch Bischofswiesen gegen
-den Hallturm. Die Sus kutschierte. Hinter ihr saßen zwei Paare, die
-nicht zu einander gehörten und sich doch bei den Händen gefaßt hielten:
-Meister Niklaus und Mutter Agnes auf dem ersten Brett, Pfarrer Ludwig
-und das Luisli auf dem anderen. Ihre Gesichter und Augen erzählten von
-harten Tagen. Während der Fahrt durch Bischofswiesen redete keins von
-den Fünfen ein Wort. Und die Sus schlenkerte immer die Zügel und trieb
-das Gäulchen, als könnte sie das kaum erwarten: zum letzten Hause des
-erschreckenden Dorfes zu kommen.
-
-Ein Frühlingsmorgen, voll Sonne, duftend von allem Reiz des neu
-Erstehenden in der Natur. Was dieser Morgenglanz an Leben umschimmerte,
-war Trauer, Menschenelend und Verwüstung. Viele Häuser standen leer
-und hatten rot angestrichene Türen und Fensterstöcke. Die Leute, die
-man aus ihren Lehen getrieben hatte, wohnten hinter den Hausgärten
-in Bretterschuppen. Mit dem eng übereinander gestellten Hausrat
-sahen diese Zufluchtsstätten aus wie Trödlerbuden eines unfröhlichen
-Jahrmarktes. Nur wenige Häuser waren gegen früher völlig unverändert.
-Dazwischen lagen bewohnte Lehen, deren gewaschene Fensterstöcke
-und Türen nur noch einen matten, rötlichen Schiller hatten -- das
-Zeichen der Heimkehr zum fürstpröpstlichen Glauben. Wer sich aus der
-Bekennerliste streichen ließ, bekam mit der Anwartschaft auf die ewige
-Seligkeit auch ein Fläschl Terpentin, um Türen und Fensterstöcke wieder
-gutgläubig zu machen.
-
-Lenzfreude und munteres Leben ließ sich auch an den Häusern nicht
-entdecken, die noch bewohnt waren. Alte Weibsleute hockten stumm in
-den Höfen; an den Fenstern sah man verschüchterte Kindergesichter;
-bejahrte Männer waren beim Umgraben der Gärten. Durch offene Türen
-sah man in leere Ställe. Das Vieh war davongetrieben. Den Bußfertigen
-hatte man reichlich des Himmels Gnade zugesagt, aber die Rinder nicht
-mehr zurückgegeben. Die waren von der Salzburgischen Soldateska schon
-aufgefressen, bevor im Bauer die christliche Reu erwachte. Neben
-einem geplünderten Hause war ein Feld überstreut mit den Holzscherben
-zerschlagener Kästen und Bettstellen; es erinnerte an des Haynachers
-Gerstenacker, auf dem die Holzfetzen der Kreuze umherlagen, die der
-Christl unermüdlich, mit einem an Wahnwitz grenzenden Eigensinn auf
-das Grab seiner Martle steckte, und die von gutgläubigen Händen immer
-wieder zertrümmert wurden. Dann kam in der Dorfgasse ein grau und
-schwarz gesprenkeltes Loch, die Brandstätte dreier Höfe. Überall fingen
-die Bäume und Hecken zu grünen an; die Obstbäume der niedergebrannten
-Höfe trieben keine Knospe mehr; sie waren von der Feuerhitze versengt,
-waren fuchsig rot wie verschmachtete Wacholderbüsche.
-
-Nur die spielenden oder brünstig trabenden Hunde, die den Frühling in
-sich verspürten, und die gackernden Hennen schienen zu Bischofswiesen
-noch beweisen zu wollen, daß die Freuden des Lebens nie ganz erlöschen.
-Hörte man fröhliche Menschenstimmen, so kam's von den Soldaten Gottes,
-die in der Sonne auf Bänken saßen und mit dem Knöchelbecher einander
-das Plündergut und die Bekehrungsgroschen abnahmen. Im Gärtl des
-Wirtshauses war eine halbe Kompagnie beisammen. Als die Soldaten das
-Leiterwägelchen kommen sahen, reckten sie die Köpfe, und ein Lustiger
-rief: »Ihr tapferen Eisenbeißer! Zum Sturm! Da rutschen zwei saubere
-Weibsleut her!« Gleich kam das ganze buntgelitzte Rudel herangesaust.
-Die Sus bekam ein zorniges Gesicht, Luisa wurde bleich, und Mutter
-Agnes schrie der blonden Magd über die Schulter zu: »Tu doch das Rößl
-treiben!« Das Gäulchen war schon umstellt und festgehalten.
-
-Da zuckte Pfarrer Ludwig vom Sitzbrett auf. In seiner schwarzen
-hageren Länge sah er wunderlich aus, verblüffend durch sein grimmiges
-Warzengesicht mit dem wehenden Weißhaar. Die Soldaten stutzten
-und wurden unschlüssig. Weil der Pfarrer das merkte, konnte er
-einen heiteren Ton finden: »Die sturmfreudigen Herren haben sich
-umsonst bemüht. Mutter Mälzmeisterin, zeig den gütigen Kindlen
-Seiner apostolischen Majestät den Passierschein der Pflegerkanzlei!
-Die vier Leut da sind vom gnädigsten Herrn Fürsten meinem Schutz
-vertraut. Ich bin Kapitelherr des Stiftes.« Diese beiden letzten Sätze
-waren eine anderthalbfache Lüge. Auf einem Spaziergang war Pfarrer
-Ludwig dem Wägelchen begegnet; in seiner Sorge um den Freund war er
-aufgesprungen und mitgefahren, ohne zu wissen, wohin. Und seit dem
-Versöhnungsschießen stand Pfarrer Ludwig auf der schwarzen Tafel, was
-bedeutete: daß man ihm an Pfingsten zu Ehren des heiligen Geistes die
-Kapitelfähigkeit herunterkratzen würde. Er schien der Meinung zu sein,
-daß er die kurze Zeit seiner stiftsherrlichen Unverletzlichkeit noch
-ausnützen müßte, stieg über das Vorderbrett, nahm der Sus die Zügel
-aus der Hand, klatschte dem Gaul eins über den runden Hinterbacken und
-lachte unter dem Geholper des flinkwerdenden Wagens: »Wenn der Mensch
-nur allweil bei der Wahrheit bleibt! Da findet er überall offenen Weg.«
-Hinter dem Rädergerassel verklangen die Späße der Musketiere.
-
-Meister Niklaus drehte mit zornfunkelnden Augen das blasse Gesicht
-und ließ die Feder seines Stockdegens, den er gelockert hatte, wieder
-einschnappen. »Alles um Gottes wegen!«
-
-»Nit, Vater!« Luisa legte die zitternde Hand auf seinen Arm. »Tu nit
-lästern! Das wär kein Segen für den heutigen Weg. Gott ist fern von
-den bösen Dingen, die jetzt geschehen auf der Welt. Warum er sie nit
-hindert, das versteh ich nimmer.«
-
-»Ach, Kindl!« seufzte die Mälzmeisterin. »Beim Anblick der irdischen
-Narretei wird sich der Allgütige halt denken: ich muß die blinden
-Schermäus einmal wursteln lassen, bis sie einsehen, wie schafköpfig und
-strohdumm sie sind.«
-
-»Ganz so wird's wohl nit sein.« Im Gesicht des Pfarrers tänzelte
-die große Warze. Er gab der Sus die Zügel und kletterte zu seinem
-Brett zurück. »Ein solches Experiment deines Allgütigen wär für die
-Menschheit ein bißl zu kostspielig.«
-
-»Allmächtig ist er aber doch? Warum also laßt er so viel Zwidrigkeiten
-zu?«
-
-»Lang dauert's nimmer, bis ich hinaufkomm zu ihm. Da will ich ihn
-fragen. Dann schreib ich dir ein Wolkenbrieferl und schick's mit dem
-Weihnachtsengel.«
-
-Halb erheitert, schüttelte die Mälzmeisterin den graugewordenen Kopf.
-»Und allweil noch ein Späßl!«
-
-»Ist's nit hilfreicher als der Jammer, als der Zweifel und die
-Schimpferei?«
-
-Von diesem Wortwechsel hatte Meister Niklaus nicht viel gehört. Immer
-hatte er zurückschauen müssen zu dem verwüsteten Dorf. »Wie schön ist
-das Örtl gewesen! Und jetzt!«
-
-»Ja, Nicki! Kein Wunder, wenn einem die Wanderlust in die Sohlen fahrt.
-Gestern hat sich als Exulant einer einschreiben lassen, von dem ich es
-nie erwartet hätt. Der Christl Haynacher.«
-
-Erregt, eine irrende Verstörtheit in den Augen, sagte Niklaus: »Sogar
-*der* bekennt!«
-
-»Das nit! Der exuliert als Katholik. Augen kriegt er, aus denen was
-Schreckhaftes herausschaut. Und allweil ist das seine Klag: daß die
-undankbare Menschheit sein schwarzweißes Pärl schon völlig verschwitzt
-hat.« Der Pfarrer nickte. »Wahr ist's! Außer dem Christl und meinem
-hochverehrten Herrn Amtsbruder Jesunder denkt an das traurige
-Doppeltödl nur noch ein einziger! Bei Tag und bei Nacht!«
-
-Ernst fragte der Meister: »*Wer*, Ludwig?«
-
-»Das Justizkamel!« Der Pfarrer lächelte. »Er bohrt und bohrt und
-bringt es halt nit heraus. Und den Christl -- den einzigen, der ihm
-sagen hätt können, wie das Wunder geschehen ist -- den hat er gestern
-hinauswerfen lassen aus der Kanzlei. Da ist der Christl geraden Wegs
-zum Exulantentischl gelaufen.«
-
-Der Meister knirschte erbittert vor sich hin: »Es wühlt in jedem.« Was
-war an diesem kleinen Wort? Die Sus bekam erweiterte Augen, und Luisa
-erschrak, daß ihre Züge sich veränderten. »Vater?« Die angstvolle
-Frage blieb ohne Antwort. Zwei Grenzmusketiere, die auf der Straße
-marschierten, hatten das Wägelchen kommen sehen und verstellten ihm den
-Weg. Der eine, ein altgedienter Soldat, faßte den Gaul am Zaum. »Wohin,
-ihr Leut?«
-
-»Zum Hallturm hinaus.«
-
-»Da lasset uns aufsitzen, wir haben einen pressanten Dienstweg. Sonst
-müßt ich das Wägl in Beschlag nehmen.«
-
-»Es geht schon!« sagte die Mälzmeisterin flink. »Komm, Sus, gib das
-Bockbrettl her! Du hast noch Platz zwischen dem Meister und mir.«
-Während die Musketiere aufkletterten, flüsterte der jüngere dem älteren
-zu: »Tu sie ausfragen!« Dieser Musketier schien die Aufmerksamkeit des
-Pfarrers zu erwecken. Er gab seinem Freunde einen Stupps und zwinkerte
-gegen den Soldaten hin. Der war auch dem Meister schon aufgefallen,
-wegen des schwarzen Bartgestrüpps, das ein bißchen an den Fasching
-erinnerte. Seine Bewegungen waren nicht sehr militärisch. Der ältere
-Musketier fragte so unermüdlich, daß schließlich nur Mutter Agnes noch
-Antwort gab. Der Junge mit dem sonderbaren Bart sprach keine Silbe
-mehr. Als das Wägelchen in der Nähe des Hallturmes vor der Herberg
-hielt, glitt er flink vom Wagen herunter, salutierte faschingsmäßig und
-ging rasch davon. »Ein wüster Kerl, ein grauslicher!« murrte die Sus,
-während sie dem Rößl das Zaumzeug über die Ohren zog.
-
-Der Pfarrer nahm den Meister beiseite. »Ich laß mir einen Finger
-abschneiden, wenn das nit ein Polizeispion gewesen ist. Was er beim
-Hallturm sucht, das kann ich mir denken.« Seine Stimme wurde noch
-leiser. »Heut in der Nacht ist Neumond.« Er sah zum weißen Schneegrat
-des Toten Mannes hinauf. »Verstehst du, Nick?«
-
-Der Meister atmete in schwüler Unruh. Und drüben beim Wägelchen nahm
-Mutter Agnes Luisas Gesicht, das in Glut und Blässe wechselte, zwischen
-zärtliche Hände. »Nit aufregen, Kind! Es wird schon alles gut gehen.
-Fest beispringen mußt du mir halt!« Luisa nickte, und ihre suchenden
-Augen füllten sich mit Tränen. »Nit, Kindl! Du gehst einem Lachen
-entgegen, keinem Leid. Wär ich ein Bub, so tät ich sieben glückselige
-Sprüng machen um dich.« Frau Agnes schmiegte die Wange an Luisas Haar.
-»Alles in dir ist Sehnsucht worden. Sonst hab ich allweil gehofft auf
-meinen Herrgott, heut hoff ich auf dich. Mein Bub hat doch Augen. Nit?«
-
-Der Pfarrer kam. »Also, wir machen es, wie's beredet ist?«
-
-Mutter Agnes bettelte: »Wär's nit doch am besten, ich tät gleich
-hinüberlaufen zu ihm?«
-
-»Bei den Schneckischen hättst du ein hartes Reden. Komm, die
-Herbergmutter wird schon wen haben, der ihn holen kann. Derweil
-bestellen wir für unser Sechse eine feste Mahlzeit.«
-
-Frau Agnes und Luisa sagten das gleiche Wort: »Ich kann nit essen.«
-
-»Das muß man können.« Der Pfarrer legte den beiden die Arme um die
-Schultern. »Ach, ihr Weiberleutlen! Ob Freud oder Weh, allweil hängt
-ihr zuerst den Magen an den Bindfaden.«
-
-Niklaus stand noch immer auf der Straße, spähte zum Toten Mann hinauf
-und wieder hinüber gegen die Büsche, hinter denen der Musketier mit dem
-sonderbaren Bart verschwunden war. Nun ging der Meister zur Herberg
-hinüber. Da kam die Sus gelaufen, mit großgeöffneten Sorgenaugen:
-»Meister? Was ist das für ein Wörtl gewesen? Daß es wühlt in jedem?«
-
-Den Kopf beugend, fragte er in Trauer: »Verstehst du das nit?« Eine
-Weile stand sie unbeweglich, dann nickte sie stumm. Ganz leis wurde
-seine Stimme. »Wenn's so kommen müßt? Was tätst du, Sus?«
-
-Mit einem Lächeln, aus dem alle treue Tiefe ihres aufgeopferten Lebens
-herausglänzte, sagte sie: »Bleibt der Meister, so bleib ich. Geht der
-Meister, so geh ich.«
-
-An den beiden surrte ein junger Bub vorbei. Der sprang hinüber zum
-Schneckenhäusl. Nach einer Weile brachte er die Botschaft: »Der Jäger
-Raurisser ist nit daheim, ist droben am Berg. Am Nachmittag, hat die
-Schneckin gesagt, gegen die vierte Stund muß er heimkommen.« Das
-wurde nun eine qualvolle Zeit des Wartens. Alle paar Minuten guckte
-Frau Agnes nach der Sonnenuhr, die über der Herbergstür an der Mauer
-war. »Heut muß die Sonn langsamer laufen, wie sonst.« Noch ehe der
-Schattenstrich hinrückte gegen die Vier, verlor die Mälzmeisterin ihre
-letzte Geduld. Sie umklammerte die heiße Hand des Mädchens. »Komm!
-Jetzt springen wir ihm entgegen, den Berg hinauf, und schreien uns
-die Seelen aus dem Hals. Darf der Kuckuck schreien im Frühling, warum
-sollen die Menschen nit schreien dürfen?« Sie riß das wortlose Mädchen
-mit sich fort. Zum Haus des Hiesel Schneck hinüber war es nicht weit.
-In dem engen Wiesentälchen konnte man den Weg nicht verfehlen. Auch
-war der Pfad gut ausgetreten von den Schneckischen Nagelflößen. Drei
-schwarze Ziegen trotteten mit kleinen Bimmelschellen und klunkernden
-Eutern über den Weg, man hörte die müde Stimme des Schneckenweibls
-locken, und durch die Stauden schimmerte in der Sonne die alte
-Balkenmauer.
-
-Ein erstickter Laut. Mutter Agnes fing an allen Gliedern zu zittern
-an. »Mein Bub! Da kommt er!« Nun ein leises Betteln: »Kindl? Gelt?
-Das erste Wörtl tust du der Mutter lassen!« Nur nicken konnte Luisa
-und sprang in den knospenden Buchenwald hinein. Mutter Agnes, immer
-fröhlicher atmend, hing mit leuchtendem Blick an der festen Gestalt
-des Sohnes, den das Gewirr der Stauden noch umschleierte. Er war ohne
-Waffe, trug den Bergsack auf dem Rücken, den langen Griesstecken in
-der Faust. Gleich sah die Mutter: der ist gesund, gesünder als je!
-Huschend glitt vor ihren Gedanken ein Bild vorüber: der Marktplatz
-zu Berchtesgaden, der Brunnen mit den Musketieren, das erregte
-Menschengewühl und der Blutende am Holz der Unehr.
-
-Leupolt, langsamer schreitend, blickte nicht auf den Pfad, sah und
-lauschte immer gegen den Hallturm hinüber. Und plötzlich sprang er auf
-die Stauden zu, wandte sich gegen die bayrische Grenze und verschwand
-hinter brechendem Gezweig.
-
-»Leupi!« schrie die Mutter mit erdrosseltem Laut.
-
-Ein Rauschen im Gebüsch. Nun tauchte er aus den Stauden heraus, Schreck
-und Hoffnung in den Augen. Ein heißer, glückseliger Schrei: »Herr
-Jesus! Mutter!« Hätte sie es noch nie gewußt, wie er hing an ihr, mit
-jeder Faser seines Lebens, mit jedem Blutstropfen seines Herzens,
-so hätte ihr's dieser Schrei gesagt, dieses glückliche Aufglänzen
-seiner Augen. Lachend wie ein Kind, stieß er den Griesstecken in den
-Wiesgrund, warf das Hütl dazu und sprang ihr entgegen: »Mutter! Mutter!
-Mutter!« Verstummend riß er sie an sich, und sie hing an seinen Hals
-geklammert, in Freude stöhnend unter dem Druck seiner stählernen Arme.
-
-Nicht weit von den beiden stand eine Zitternde im Schatten des Waldes
-und preßte das Gesicht in die Hände. Noch in keiner träumenden
-Sonnenstunde, noch in keinem Blutschauer ihres jungen Leibes, in keiner
-von den schlaflosen, mit wirrem Gebet durchstammelten Nächten hatte sie
-so brennend den Durst nach dem Augenblick empfunden, in dem seine Arme
-sie umklammern würden, wie er jetzt die Mutter umschlungen hielt.
-
-Er hob das Gesicht. Weil die Haube seiner Mutter zurückgefallen war
-in den Nacken, sah er das graugewordene Haar. Schweigend küßte er den
-entfärbten Scheitel, preßte die Mutter noch fester an sich, erschrak --
-und fragte: »Hab ich dir weh getan?«
-
-Mit feuchten Augen lachte sie an ihm hinauf. »Das ist doch einer
-Mutter liebste Freud, wenn sie merkt, wie stark ihre Buben sind. Jetzt
-ist mir's mit blauen Flecken auf den Leib geschrieben, wie gesund du
-wieder bist.« Sie sah die weiße Narbe an seinem Hals und strich mit den
-Fingerspitzen drüber. »Du, das ist schön geheilt.«
-
-Er nickte. »Was du mir geschickt hast von ihr, ist wie ein Wunder
-gewesen. Sag ihr ein Vergeltsgott von mir! Sag ihr: mir ist gewesen wie
-einem Baum, wenn ihm der Frühling die Eisrind forthaucht! Mutter, wie
-lebt sie? Wann hast du sie das letztmal gesehen?«
-
-Ein Erglühen ging ihr über das Gesicht. »Nit lang ist's her.«
-
-»Das mußt du mir alles erzählen -- einmal -- nit jetzt.« Er warf
-einen forschenden Blick nach dem Stand der Sonne. »Heut haben wir nit
-viel Zeit. Ich muß einen Weg machen, den ich nit versäumen darf. Aber
-allweil reicht's noch ein paar Vaterunser lang. Muß ich halt nachher
-doppelt springen.« Er sah nicht, wie sie erblaßte. »Da drüben, komm,
-wo der Baum liegt, können wir uns niedersetzen.« Die Wange an ihr
-Haar schmiegend, führte er sie über den Weg hinüber. Als sie auf dem
-Baumblock saßen, nahm er ihre Hände. »Wie geht's dem Vater und den
-Brüdern?«
-
-Alle Freude war zerdrückt in ihr. »Wie's einem halt gehen kann in
-heutiger Zeit. Keiner hat mehr ein richtiges Lachen.«
-
-Da sagte er froh und fest: »Die Zeit wird besser. Tu dich gedulden.«
-Eine Sorge schien ihn zu befallen. »Mutter? Daß du bei mir bist, so?
-Wirst du das nit ungut zahlen müssen?«
-
-Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab Verlaub.«
-
-Zögernd wiederholte er dieses Wort. »Verlaub?« Sein Blick wurde
-schärfer. »Von wem?«
-
-»Vom gnädigen Herrn.« Sie sah, wie sein Körper sich streckte. Angstvoll
-umklammerte sie seine Hand und brachte kaum einen klaren Laut heraus.
-»Gestern -- da hat er mich rufen lassen -- und hat mich in aller Güt
-gefragt, ob mich nit bangen tät nach dir --«
-
-»Güt?« Er machte mit der Hand eine Bewegung. »Nein, Mutter! Güt ist
-ein ander Ding. Rechtschaffene Güt vergönnt jeder Menschenseel, was
-ihr heilig ist, will nit ausbrennen, was tief im Leben sitzt. Du
-sollst mir die Botschaft des Fürsten nit ausrichten. Da bist du mir
-zu gut dafür. Verstanden hab ich schon.« Eine Sekunde schwieg er. »Am
-Osterdienstag hat mir der Wildmeister einen Deuter geschickt. Heut
-schicken sie mir die Mutter. Weil sie meinen, was meinem Herzen das
-Wärmste ist, das tät mich umschmeißen! -- Mutter? Hast du dir nit
-gesagt: das ist mein Leupi?«
-
-»Allweil und allweil hab ich mir's fürgesagt. Und bin halt doch
-gesprungen in Freud und Zutrauen. Tust du mir das verdenken, Bub?«
-
-Er zog sie an sich, streichelte mit schwerer Hand ihr erloschenes Haar
-und sagte ruhig: »Ich soll mich bußfertig erweisen? Gelt? Soll den
-Glauben niederdrucken, soll lügen wider Gott und gegen mich selber? Und
-alles, was sie Untreu heißen, tät mir verziehen sein? Weil sie meinen:
-die Dritthalbtausend, die noch standhalten, die sich nit haben umwerfen
-lassen von Kapuziner und Musketier, von Geldbuß und Hausbrand, von Not
-und Elend, von Kinderaugen und Landslieb -- die soll mein Beispiel
-wacklig machen und umreißen? Gelt?«
-
-Sie zitterte. »Ach, Bub --«
-
-»Ich will nit reden von der Wahrheit in mir, von Ehr und Treu. Keiner,
-Mutter, ist um seiner selbst willen auf der Welt. Jeder ist um der
-anderen wegen da. Und ein Wegweiser darf nit Brennholz werden. Ein
-Sturm kann ihn werfen, und faul kann er werden im Balken. Da müßt ihn
-aber erst das Alter dürr machen. Ich bin jung, mich wirft der Sturm
-nit, und was Faulkrankes ist mir nit in der Seel. Die Brüder und
-Schwestern, die in Not und Verzweiflung nach einem Helfer dürsten
---« Verstummend, von einem Schreck befallen, hob er das Gesicht gegen
-die Sonne und stammelte: »Jesus! Mutter, du gute! Jetzt muß ich fort.
-Ich muß!« Mit hetzenden Sprüngen jagte er über den Weg hinüber, riß
-den Griesstecken aus der Erde, raffte das Hütl vom Boden auf, kam
-zurückgesprungen und schlang den Arm um den Hals der Mutter. »Sag's dem
-gnädigen Herrn! Ein anderes Wörtl hab ich nit. Daß ich dich sehen hab
-dürfen, das soll dir unser Herrgott in Güt vergelten.«
-
-Eine letzte Hoffnung in den Augen, flehte sie zu ihm hinauf: »Der
-*unsere*?«
-
-Um seinen Mund ging ein schmerzendes Lächeln. »Muß ich halt sagen: der
-deine und der meinige. Tu mir den meinen nit schelten, und ich will
-den deinigen in Ehren halten. Wir zwei, Mutter, haben uns noch allweil
-verstanden. Täten es uns die anderen nachmachen, so wär der Weltboden
-ein Frühlingsacker. Tu mir den Vater grüßen, gelt! Jetzt muß ich --«
-
-Sie hielt seinen Arm umklammert, und ihre Stimme schrillte: »Luisli!
-Luisli! Allgütiger, so hilf mir doch!«
-
-Leupolt, sich verfärbend, stand einen Augenblick wie zu Stein
-verwandelt. Das traf ihn, als wär's ein Balkenstoß gegen seine Kehle,
-und wurde binnen drei Herzschlägen für ihn eine trinkende Freude, ein
-Rausch seiner Liebe. Die sein Gedanke und seine Sehnsucht war bei Traum
-und Wachen, die Seele seiner Seele, das Blut seines Blutes, der süßeste
-Inhalt seines Lebens -- da stand sie vor ihm, hold und liebenswert,
-eine zur Blume entbronnene Knospe, ein weibgewordenes Gebet, die Hände
-nach ihm gestreckt, die nassen Augen glänzend und bekennend. Alle Welt
-versank ihm, er sah die Mutter nimmer, sah nicht den Meister und den
-Hochwürdigen, die inmitten des ergrünenden Tälchens standen. »Luisli!«
-Ein Sprung, der wie ein Aufjauchzen seines jungen Körpers war.
-
-Erschrocken stieß sie die Arme vor sich hin, wie um ihn fernzuhalten.
-Oder wollte sie seine Hände fassen, seine Brust berühren, seinen Hals
-umwinden? Und versagte ihr nur die Kraft? Ihre Arme fielen. Halb einer
-Ohnmacht nahe, stand sie vor ihm. Alles Blut war aus ihren Wangen
-entflohen. Nur ihre Augen lebten und hatten Glanz, waren voll Scham und
-Sehnsucht, voll Zweifel und Hoffnung. »Leupi?« Das war ein Laut, als
-spräche nicht ihr Mund, nur ihre Seele. »Magst du dich nit besinnen?
-Tust du es nit mir zulieb? Um deiner Seel wegen hat mir der liebe Gott
-befohlen, daß ich die Wahrheit reden muß. Derzeit du am Holz gehangen,
-ist alles Kühle und Fromme in mir ein anderes worden. Tu ich beten, so
-kann ich nimmer an die Heiligen denken, muß allweil denken an dich.
-Jede Nacht ist mir ein einziges Träumen von dir. Jeder neue Morgen hat
-mir den Glauben in die Seel geschrien: heut kommt der Leupi. Ich hab
-geharret den ganzen Tag. Am Abend ums Betläuten hab ich in Trauer sagen
-müssen: heut wieder nit! Und hab in der Nacht aus Sünd und Seligkeit
-tausendmal die Händ gehoben -- nach meinem Herrgott oder nach dir, ich
-weiß nit recht -- so lieb bist du mir worden, ich kann's nit sagen --«
-Verstummend preßte sie das erglühende Gesicht in die Hände, und ihr
-feines, schmuckes Körperchen krümmte sich tief zusammen.
-
-Frau Agnes, zwischen Hoffnung und Sorge, nickte immer wieder ihrem
-Buben zu und machte mit den Händen nachhelfende Bewegungen. Und neben
-dem Meister Niklaus, der in Unruh die zwei jungen Menschen betrachtete,
-als würde hier nicht nur das Lebensglück seines Kindes, auch noch etwas
-anderes entschieden -- neben diesem erregten Manne stand der lange
-Pfarrer, hielt den Kopf zwischen die Schultern gezogen, schlenkerte
-seinen Hakenstock, guckte mißmutig drein und murrte: »Da wird's halt
-wieder aufkommen, daß Manndl und Weibl schwerer wiegen, als Himmel und
-Höll!«
-
-Leupolt schwieg noch immer, unbeweglich, den Bergstecken vor sich
-hingestemmt, einen frohen, heiligen Glanz in den Augen, ein Lächeln
-seiner tiefen Freude um die stummen Lippen. Nun beugte er sich langsam
-gegen das Mädchen hin und sagte leis: »So heb doch das Köpfl, Luisli!
-Schau mich an! Ein rechtes Vergeltsgott muß man einem in die Augen
-sagen. Du hast mich zum reichsten Mannsbild auf der Welt gemacht.
-Jetzt ist mir alles ein Maigarten und Sonnenweg. Vergeltsgott, du
-Liebe!« Er streckte die Hand und ließ sie zärtlich hingleiten über
-ihr schimmerndes Haar. Als hätte diese Berührung seine feste Ruhe
-verwandelt in einen Sturm seines Durstes nach ihr, so klammerte er
-plötzlich den Arm um ihren Nacken und preßte den Mund auf ihren
-Scheitel. »Daß ich dein bin und keiner anderen nimmer? Gelt, Luisli,
-das weißt du?«
-
-In Freude stammelte Frau Agnes: »Gott sei Lob und Dank!« Und Luisa,
-unter glückseligem Auflachen, verschönt, erglühend, nahm sein Gesicht
-zwischen die zitternden Hände: »Gelt, jetzt gehst du mit uns?«
-
-Er schüttelte den Kopf. »Heut nit. Das kann nit sein, Herzliebe!« Ein
-rascher Blick nach der Sonne. »Heut hab ich einen Weg. Da darf mir auch
-das Glück und alle Herzfreud keinen Riegel nit drüberschieben.«
-
-Meister Niklaus bekam ein brennendes Gesicht, und die mißmutige Laune,
-die in dem Warzengesicht des Pfarrers gewittert hatte, schien sich
-merklich zu bessern.
-
-Erschrocken bettelte Luisa: »Schau, je flinker du bereuen tust, so
-gottsfreudiger machst du deinen Weg.«
-
-»Bereuen?« Er richtete sich auf. Sein Lächeln blieb. »Ich wüßt nit, was
-ich bereuen müßt. Mein Weg ist ein anderer, als du meinst. Das ist ein
-Festes. Ich geh mit der ersten Exulantenschar. Aber kommen tu ich noch.
-Zu dir. Und frag dich, ob du mitgehst.«
-
-Sie wehrte mit den Händen.
-
-»Nit so! Das mußt du dir in Ruh überlegen. Kannst du es tun, so sollst
-du auf jedem Weg meine Händ unter deinen Füßlen spüren. Mußt du Nein
-sagen, so bleib ich allweil -- ich weiß nit wo -- der deinige bis
-zum letzten Schnaufer.« Ein tiefer Atemzug. »Jetzt muß ich fort. Die
-Sonn will über den Berg hinüber.« Seine Hand umschloß die ihre. »Du
-Liebe! Alle Gütigen im Himmel sollen dich hüten! -- Und dich, Mutter!«
-Ein paar flinke Sprünge, und er war schon drüben bei den Stauden. Da
-verstellte ihm einer den Weg. Betroffen wandte Leupolt das Gesicht und
-sah in die leuchtenden Augen des Meister Niklaus.
-
-Ein leises, fröhliches Wort. »Bub, du hast es mir leicht gemacht. Ich
-will bekennen.«
-
-In heißer Freude klammerte Leupolt die Hand um die Schulter des
-Meisters. Ein Zögern, ein kurzer Kampf, nun ein rasches, lachendes
-Flüstern: »Tu dich aufrichten! Ein Helfer kommt.« Dann sprang er in die
-Stauden und war verschwunden. Wie ein Träumender sah Niklaus zu seinem
-Kind hinüber, das schluchzend am Hals der Mutter Agnes hing.
-
-Pfarrer Ludwig kam auf den Meister zugegangen, viel größer, als er vor
-einer Minute ausgesehen hatte. »Nick? Was sagst du?« Er deutete mit
-dem Hakenstock gegen die Stauden hin, die hinter dem Verschwundenen
-noch schwankten. »Wie der Bub davongesprungen ist, da hab ich mir was
-denken müssen.« Seine Stimme bekam einen jungen Klang. »Römisch oder
-evangelisch? Das ist die Frag nit. Zwei feste Geschwister, die Zeit
-und der Menschenverstand, die werden Brücken bauen. Die Frag für uns
-ist: deutsch oder undeutsch! Laß den deutschen Boden verkuhwedelt sein,
-pariserisiert und versaut, wie er mag --« Wieder deutete er gegen die
-Stauden hin: »*Die* Rass' schlagt allweil wieder durch. Wie der Bub
-da, sind Tausend und Hunderttausend im Reich. Sie wissen es nit. Und
-hegen es doch in sich wie ein heiliges Feuer. *Wann* das Aufwachen
-kommt? *Wann* dem blauen Untersberg da draußen die schläfrigen Riegel
-springen? Ob morgen oder in hundert Jahr, ich weiß nit, wann -- -- ich
-weiß nur: *es kommt*!« Er legte dem Freunde lächelnd den Arm um die
-Schultern und deutete gegen die Buchen, in deren Wipfelgezweig eine
-Ringdrossel flötete. »Lus, Nicki! Ein deutsches Lied! Ist's nit noch
-schöner, als wie der Amsterdamer Vogel singt?«
-
-In das leise Lachen des Pfarrers schnitt ein klagender Mädchenlaut
-hinein. Luisa taumelte auf den Vater zu und weinte: »Tu mich wieder
-zu den frommen Schwestern ins Kloster! Alles in mir ist Sünd, die mich
-verbrennt. Beten kann ich nimmer, wenn ich nit bet' für ihn. Und jedes
-Gebet für ihn ist Frevel wider Gott. So kann ich nimmer leben. Alles
-ist Trauer, alles ist Elend! Wo ist die Ruh?« Aufschreiend lief sie mit
-flatterndem Kleid durch das leuchtende Tälchen. Und die Mälzmeisterin
-zappelte erschrocken der verzweifelten Mädchenseele nach, klagend,
-bettelnd, mit beruhigenden Worten, schließlich ein bißchen scheltend.
-Auch Meister Niklaus wollte springen. Der Pfarrer hielt ihn am Ärmel
-fest. »Nur nit verlieren, was die Neuenstein als Kontenanz bezeichnet.
-Laß das kleine Weibl sich ausheulen. Ein Wasser oder ein tiefer Graben
-ist nit in der Näh. Und daß sie wie ein Eichkätzl auf einen Baum
-hinaufkraxelt und herunterspringt, ist mehr als zweifelhaft!«
-
-Während die beiden Männer davonschritten durch die Nachmittagssonne,
-hörte man die Sorgenstimme der Schneckin und das Schellengebimmel der
-Ziegen, die aus ihrem reinlichen Ställchen mit erleichterten Eutern
-wieder hinaustrabten zu ihrer duftenden Frühlingsweide.
-
-
-
-
-Kapitel XXII
-
-
-Über dem tiefen Reichenhaller Talbecken glänzte der milde Nachmittag.
-Alle Wiesen grün, mit den blassen Kelchen der Herbstzeitlosen, mit
-Himmelsschlüsseln, Margariten und Steinnelken. In der Talsohle sproßten
-bereits die Hecken, und der Fichtenwald war schneefrei bis hinauf zur
-halben Höhe. Alle Bergspitzen stachen weiß wie funkelnde Silberstufen
-in das Blau des Himmels. Taubenschwärme und Viehherden waren auf den
-Feldern, und viele Drosseln huschten bei der Käferjagd an den Hecken
-hin.
-
-Über die harte Straße, die von Reichenhall emporführte zu den Ruinen
-der Plaienburg und gegen den Hallturm, klapperten die Hufe von sechs
-Pferden. Voran ein Reitknecht in bürgerlicher Reisetracht und ein
-hochgestiefelter, steifzopfiger Soldat. Jeder führte am Zügel ein mit
-Mantelsäcken und Ledertaschen beladenes Packpferd. Dann kamen zwei
-Reiter, die sich in französischer Sprache unterhielten. Zur Linken
-ritt ein bejahrter Herr in vornehmer Reisekleidung aus braunem Tuch,
-mit offenem Mantelkragen. Aus der weißen Perücke sah ein freundliches
-Gesicht heraus. Das war der preußische Geheimrat von Danckelmann, der
-Präsident des zu Regensburg amtierenden _Corpus evangelicorum_, dem
-die Wahrung der durch den Westfälischen Frieden gewährleisteten Rechte
-der Protestanten im deutschen Süden übertragen war. Während des großen
-Jagens, das die Scharen der Salzburger in die Fremde trieb, hatte
-Danckelmann viele Tausendzüge der Exulanten ins Brandenburgische und
-nach dem schwachbevölkerten Ostpreußen geleitet. Jetzt ritt er zu Herrn
-Anton Cajetan, als Gesandter des Königs von Preußen, dessen Hilfe die
-Berchtesgadnischen Bekenner in ihrer Verzweiflung angerufen hatten. Der
-mit der Bärentatze geschriebene Auftrag des Königs an Danckelmann hatte
-gelautet: »Betrachte dir die Petenten genau. Ist es zweifelhaftes Volk,
-so laß die Hände davon. Faulpelze, Gotteskomödianten und Mauldrescher
-können wir auf unserem mageren Boden nich gebrauchen, haben schon genug
-davon, so des Wegräumens bedarf. Seind es tüchtige Leute, insonderheit
-Protestanten bis auf die Knochen, so nimm ihrer, so viele du erwischen
-kannst. Aller Beistand soll ihnen bewilliget sein. Bei gutem
-Menschenkauf muß der Sparmeister ein Verschwender werden. Oder er wäre
-als Fürst ein gottverlorener Esel. Wär auch kein Preuße nich. Preußen
-muß sich helfen, wie es kann. Mach er seine Sache gut!«
-
-Am Abend vor Danckelmanns Abreise von Regensburg hatte sich
-unangemeldet ein Begleiter bei ihm eingestellt, der auf abgehetztem
-Pferde über Ansbach gekommen war. In der Art, wie der Geheimrat mit
-diesem jungen Reisekameraden sprach, den er zur Rechten reiten ließ,
-war bei aller Höflichkeit eine stete Fürsorge, bald für den jungen
-Reiter selbst, bald für seinen glanzhaarigen Fuchs, der mit der
-schlanken, zart erscheinenden Hand, von der er gelenkt wurde, nicht
-einverstanden schien und schäumend an der Stange kaute.
-
-Im Gespräch der beiden war keine Rede vom Zweck ihrer Reise. In hurtig
-gleitendem Französisch, das der Jüngere besser beherrschte als der
-Geheimrat, sprachen sie von der Herrlichkeit der Natur, von der
-zaubervollen Keuschheit der Frühlingslandschaft und von der Schönheit
-der Berge, deren Anblick den staunenden Jüngling heiß erregte.
-Immer sprach er. Sprach mit einer klangvollen, ungemein melodischen
-Stimme. Warf er manchmal zwischen das Französische einen kurzen
-deutschen Satz hinein, so war das ein sonderbares, unbehilfliches
-Gemisch aus Fremdwörtern, altmodischer Beamtensprache, pommerischem
-Platt und Berliner Vulgärdialekt. Und hurtig kehrte er wieder zum
-Französischen zurück, in dem er mit Geist und Klarheit auszusprechen
-vermochte, was Glut in ihm war. Für sein leidenschaftliches Entzücken
-fand er Worte, wie ein von Schönheit berauschter Poet sie findet in
-schwärmender Ekstase. Plötzlich ein kühles Ernstwerden des altklugen
-Knabengesichtes. »Danckelmann! Sehen Sie doch! Diese schwarze,
-fruchtbare Erde! Das ist ein Boden, auf dem nur gesunde, feste Kerle
-wachsen können. Wär' es anders, so wär's eine Pflichtwidrigkeit der
-Natur, eine Gewissenlosigkeit Gottes. Aber Gott muß doch höchste
-Verantwortung sein, Natur ist ewiggewordene Pflicht.« Da machte,
-an steil abfallender Wegstelle, das Pferd des jungen Reiters einen
-scheuenden Seitensprung. Erschrocken suchte der Geheimrat den Zügel
-des steigenden Gaules zu haschen. Das war überflüssig. Das Pferd hatte
-sich schon beruhigt und gehorchte. Der schlanke Reiter streifte seinen
-Begleiter mit einem halb mißmutigen, halb ironischen Blick. »Ich kann
-reiten, lieber Danckelmann! Auch wenn es manchmal so aussieht, als
-hätt' ich es nicht gelernt.«
-
-Der alte Herr schien seinen Schreck noch nicht überwunden zu haben und
-glich einem sorgenvollen Pädagogen, der sich verantwortlich fühlt für
-einen zu unberechenbaren Streichen geneigten Schützling. Und dieser
-Schützling, ein Einundzwanzigjähriger von feiner Zierlichkeit, war
-Soldat und trug die Offiziersuniform eines preußischen Regiments, mit
-dem Rangzeichen des Obristen. In seiner Erscheinung war etwas seltsam
-Gegensätzliches. Körperliche Schwäche schien vereinigt zu sein mit
-innerlicher Kraft. Er hatte als Soldat eine schlechte Haltung. Dennoch
-konnte man sich keine Tracht denken, die besser für ihn gepaßt hätte
-als dieser dunkelblaue Soldatenrock mit den roten Aufschlägen. Der saß
-nicht sonderlich straff und militärisch an der zarten Jünglingsgestalt,
-die manchmal so gebeugt und haltlos erschien, als möchte die gelbe
-Hose mit dem ganzen zierlichen Figürchen schlapp hineinsinken in die
-braunen Reitstiefel. Doch wenn ein neuer Ausblick zwischen den Kulissen
-der Landschaft den jungen Reiter entzückte, straffte das Feuer seines
-Innern auch den versunkenen Körper. Dann schien er ein anderer zu
-werden. Seine Bewegungen waren flink und zugleich bedachtsam; es war in
-ihnen eine Mischung von feurigem Vorwärtstrieb und einer zähen Kunst
-des Sichruhigverhaltens, eine Mischung aus Seele und Willen, aus der
-Kraft eines ehrgeizigen Jünglings und der Ruhe eines klugen Greises.
-
-Er trug nicht den soldatischen Zopf. Hinter dem betreßten Dreispitz war
-das braune Haar von einer schwarzen Bandmasche locker zusammengefaßt.
-Zwischen gelösten Haarwischen, mit denen der milde Bergwind spielte,
-schob sich hager ein ovales Gesicht hervor, nicht schön, doch scharf
-und edel geschnitten, Stirn und Nasenrücken eine gerade Linie, bei der
-man zugleich an einen Widderkopf und an griechischen Profilschnitt
-denken mußte -- ein Gesicht, das einer sanften Mutter gleichen wollte
-und ähnlicher einem strengen Vater war. Wie große strahlenflinke Sterne
-glänzten aus diesem Gesichte zwei feuchte, enthusiastische Augen
-heraus, in der Gier des unermüdlichen Spähens ein bißchen vorgequollen
--- Augen, die etwas seelisch Verzücktes hatten und etwas von der
-Trauer eines gequälten Tieres. Es war Leidenschaft und dennoch Stille
-in diesem ruhelos gleitenden Blick, ein Gemenge aus Spottlust und
-jugendlichem Frohsinn, aus allem Zartgefühl und allen tiefgründigen
-Wildheiten einer rätselvollen Menschenseele. Abstoßend und anziehend
-war dieser Blick, mißtrauisch und gläubig, befremdend und erstaunlich,
-überredend und bezwingend. Und diese Augen waren jetzt durchleuchtet,
-dieses Gesicht durchglüht von der Freude an allem Frühlingsreiz der
-aufblühenden Bergnatur. Bei unersättlichem Schauen verhielt der junge
-Oberst plötzlich mit einem kaum sichtbaren Zügelruck das Pferd,
-daß es unbeweglich stand. In den Bügeln sich hebend, reckte er den
-schmächtigen Körper, tat einen wohligen Atemzug und sagte in der Art
-eines Berauschten: »Danckelmann! In dieser Stunde ist ein Gefühl in
-mir, das mich nicht mehr verlassen wird bis zu meiner Todesstunde.«
-
-Wie erlöst von seiner Sorge fragte der Geheimrat: »Das Gefühl der
-erneuten Freude am Leben?«
-
-»Nein. Das Gefühl der Freiheit. Nie in meinem Leben genoß ich eine
-freie Stunde. Jetzt trinke ich Freiheit. Sie ist das Beste im
-Menschen.« Ein heiteres Auflachen. Und jäh ein Umschlag ins Müde und
-Gallige. »Gute Dinge verlangen ihren Preis. Ich habe die Freiheit
-dieser Tage teuer bezahlt.« Er gab dem Pferd, das nach einer grünen
-Staude haschte, einen unwilligen Sporendruck, und weil es den saftigen
-Zweig nicht lassen wollte, schlug er ihm jähzornig die Reitpeitsche
-zwischen die Ohren. Mit jagenden Sprüngen nahm der erschrockene Gaul
-die steile Weghöhe; droben, wo die Straße sich wieder abwärts senkte,
-durfte das Pferd in ruhigen Schritt fallen. Als Danckelmann mit
-bekümmertem Antlitz nachgeträppelt kam, fragte der junge Oberst auf
-sonderbare Art über die Schulter: »Ganz offen, unter uns, was redet man
-über meine Braut?«
-
-Nach kurzem Schweigen der Verlegenheit sagte der Geheimrat: »Man
-erzählt, sie wäre eine überaus gottesfürchtige Dame.«
-
-Der junge Oberst schien erheitert zu sein. »Da hat man unter ihren
-unerquicklichen Eigenschaften die übelste herausgefischt.« Ein
-Lippenzucken, fast hochmütig und verächtlich. »Welch ein geistiges
-Armutszeugnis ist die Gottesfurcht! Gott ist groß und gerecht. Größe
-ist nie ohne Güte. Und was Gerechtigkeit ist, das brauchen nur die
-Schelme zu fürchten. Gott lieben und ihm vertrauen, jeder nach seiner
-Art, das ist besser, als Gott fürchten.« Gebeugt im Sattel, die großen
-runden Augen ins Leere gerichtet, sagte er langsam: »Wenn einer, wie
-ich, in bösen Nächten eine herzzerdrückende Angst vor dem Ewigen
-fühlt, so hat das seine Ursachen. Solch ein verzweifelt sündenloses
-Frauenzimmer hat keinen Anlaß, vor dem Himmel zu zittern.« Ein wehes
-Lächeln, das sich zum Spott erheben wollte und Trauer blieb. »Nun
-ist's entschieden. Wie das Mensch ist, das man wählte für mich, so muß
-ich es lieben. Ich will's erzwingen. Noch ist sie mir widerlich. Ihr
-verschlucktes Kichern ist etwas Entsetzliches. Ich liebe das Lachen und
-die Heiterkeit. Nur müssen sie aus Herz und Gehirn kommen, nicht aus
-den Gedärmen. Unter allen, die in Wahl kamen, hat man die ledernste für
-mich ausgesucht. Und das mein Freudenbissen für ein ganzes Leben!«
-
-Tiefe Schwermut umschleierte alles Schöne in seinen Augen. Was der
-Geheimrat mit vorsichtiger Mahnung zu ihm redete, schien er nicht zu
-hören. Plötzlich, wie ein Erwachender, streckte er sich, weil er den
-flötenden Schlag einer Ringdrossel vernommen hatte. Mit stillen Augen
-sah er umher, war ruhig und sagte ernst: »Es ist wohl so, weil es so
-sein muß. Damit ich lerne, unter dem meschanten Gesindel für mich
-allein zu bleiben. Würde der Olympier eine Olympierin finden, das gäbe
-Söhne, die diese miserable Welt übern Haufen schmeißen, um aus den
-Scherben eine neue zu machen, die besser ist.« Über dieses Wort befiel
-ihn selbst ein Verwundern, das sich vor dem seltsamen Blick seines
-Begleiters verwandelte in einen knabenhaften Schreck. Sein verjüngtes
-Gesicht war glühend vor Scham, seine flüsternde Stimme hatte fast den
-Klang einer ängstlichen Bitte: »Danckelmann! Sie werden vergessen,
-was ich da sagte in meiner Torheit.« Nach einer Weile, die Zügel des
-Gaules kräftiger fassend, sprach er hart vor sich hin: »Es ist meines
-Vaters Wille. Da gibt es keine Antwort als Gehorsam. Ich darf und
-will den Vater durch Stützigkeit nicht mehr irre machen, seit er mit
-Überraschung zu der Ansicht kam, daß etwas in mir steckt. Es gab eine
-rote Stunde, in der ich ihn für einen Tollhäusler hielt. Nun weiß ich,
-daß sein Verstand um so tiefer ist, je langsamer er sich offenbart.
-Ich muß mich strecken nach seiner Größe. Wenn später alles drunter und
-drüber ginge, würde er im sicheren Steinsarg über mich lachen. Das wäre
-noch übler, als sein grober Stock gewesen. Besser, ein um eigene Schuld
-Geprügelter zu sein, als fühlen, daß man verachtet wird.«
-
-Er deutete mit der Reitgerte nach den blühenden Erikastauden, die den
-südwärts blickenden Straßenrain überwucherten. »Wie schön! Was Frühling
-heißt, ist der einzige überzeugende Gottesbeweis.« Er lächelte. »Bei
-uns daheim in der Haide sind sie noch schöner.« Das Pferd verhaltend,
-sah er in die nördliche Ferne. »Heimat? Ich sehe Moor und Sand.
-Sehe den Rauch der schmacklosen Abendsuppen von Zorndorf, sehe den
-schlammigen Fluß, armselige Dörfer und schläfrige Menschen.« Ein
-Aufzucken des schmächtigen Körpers. »Sie sollen erwachen.« Er trieb das
-Pferd, hatte enggereihte Falten auf der jungen Stirn und lachte. Ein
-Blick in das von einem weißen Bach durchsprudelte Waldtal, über dessen
-Wipfel der Hügel mit den Ruinen der Plaienburg hervortauchte, entriß
-ihm einen Ausruf des Entzückens. Alle Freude des Schauens sprudelte
-jugendlich aus ihm heraus. Immer deutete seine Hand mit der Reitgerte.
-Immer sprach er, immer fröhlicher und erregter, in enthusiastischen
-Ausdrücken, in französischen Verzückungen, die sich anhörten wie Verse.
-Plötzlich ein müder Blick auf den Begleiter. Dazu in deutscher Sprache
-die halb verdrießliche, halb ironische Frage: »Wat, Geheimrat? Ick
-quazle wohl wieder etwas kopiösemang?«
-
-Danckelmann antwortete lächelnd: »Kein Wort, das ich nicht gerne gehört
-hätte.«
-
-Der junge Oberst, wieder französisch, sagte mit irrendem Blick: »Wenn
-man seine Fehler nur einsieht. Da ist Hoffnung vorhanden, daß ich noch
-der Einsilbigste aller Deutschen werde.« Verstummend trieb er das
-Pferd. Die Straße führte auf ebener Strecke in einen hochstämmigen
-Wald, der verwüstet war vom Bergwinter. Wirr hingen Hunderte von
-Bäumen durcheinander, die unter dem Schneedruck niedergebrochen waren.
-»Hier sieht es aus wie im verunheiligten Deutschen Reich.« Kühler
-Abendschatten fiel über die beiden Reiter herab. Die Pferde trabten.
-Danckelmann schaukelte sich gewandt im Sattel. Sein Begleiter bockelte
-mit losen Ellenbogen, zeichnete schlaffen Körpers jede Unebenheit des
-Bodens nach, schien das alles nicht zu fühlen und war in Gedanken
-versunken. Da kam eine Lawinengasse, die der stürzende Schnee von der
-Berghöhe hinuntergebrochen hatte bis in die Bachtiefe. Die Straße war
-überworfen von einem breiten Buckel festgestampfter Schneemassen,
-aus denen zersplitterte Äste und zerquetschte Wipfel hervorlugten.
-Danckelmann hielt: »Wie bringen wir da die Pferde hinüber?«
-
-Drüben stand der Soldat. Er hatte seine beiden Gäule dem Reitknecht des
-Geheimrats übergeben und wollte über die Schneewulsten herüberklettern,
-um das Pferd seines Vorgesetzten zu führen. Der rief ihm ärgerlich zu:
-»Bleib, wo de bist!« Die Reitgerte zischte. Ein Dutzend wilder, hin und
-her schwankender Sätze, und der glanzhaarige Fuchs mit seinem Reiter
-war drüben. Der junge Oberst lachte. Die Sache schien ihm Spaß gemacht
-zu haben. Nun sah er verwundert den Soldaten an. »Kerl? Wat machste da?
-'n Cavalerist des Königs von Preußen jehört mit seinen Arsch in den
-Sattel. Nich mit den Stiebeln in die Drecksuppe.« Erschrocken rannte
-der Soldat in seinen plumpen Klapperschäften davon, daß der steife Zopf
-hinter seinem Nacken pendelte. Erst jetzt erinnerte sich der Oberst
-seines Begleiters. »Ach --« Er wandte das Pferd. Da fiel ihm ein Bild
-von hinreißender Schönheit in die Augen. Zwischen den schwarzgrünen
-Baumwänden der Lawinengasse sah man einen Ausschnitt des Reichenhaller
-Tales. Die winzigen Dächer, die Herden auf der Weide, die Wiesen,
-die Brachfelder und Hecken, die Bäche und Wäldchen, alles funkelte
-vom Glanz der Abendsonne, nicht wie etwas Irdisches, sondern wie ein
-märchenhaftes Spielzeug, in Schimmer herausgeschnitten aus blankem
-Kupfer. Und hinter diesem frohen Geglitzer stand ernst und schön,
-in tiefes Blau getaucht, die steile Schattenwand des Hohen Staufen.
-Der Berg mit seiner weißen, von Glanz umzüngelten Höhe war anzusehen
-wie ein Riesenfürst auf seinem Thron, wie ein kaiserlicher Greis im
-wallenden Weißhaar, unbeweglich, mit schlummernden Augen, auf der
-hohen, reinen Stirn die strahlenzuckende Krone.
-
-»Danckelmann!« Das klang wie der atemlose Schrei eines von Freude
-verwirrten Kindes. »Kommen Sie! Das müssen Sie sehen! Gibt es denn
-solche Dinge auf der Welt? Geheimrat! So kommen Sie doch endlich! Das
-Herrliche beginnt zu erlöschen.«
-
-Eben kletterte Danckelmann mit seinem Falben vorsichtig über den
-Lawinenschnee herunter. Was er noch zu sehen bekam, war verdämmernde
-Schönheit.
-
-Der junge Oberst saß unbeweglich im Sattel, das scharfgeschnittene
-Gesicht zur Höhe gehoben. Als die letzte Strahlenflamme des weißen,
-sich blau umschleiernden Berghauptes zu schwinden begann und nur noch
-eine dünne Feuerlinie die steilen Schneegrate säumte, trank er einen
-tiefen Atemzug in seine schmale Brust und sagte langsam: »Ich habe
-gesehen, was noch keiner sah.«
-
-Danckelmann, ein bißchen verstimmt, betrachtete ihn verwundert, eine
-Frage nur in den Augen.
-
-»Ich sah das Gewesene und sah das Kommende.« Ein Lächeln von heiliger
-Innerlichkeit. Ruhig wandte er das Pferd und ritt in den stillen,
-dunkelnden Wald hinein. Blitze flammten in seinen herrlichen,
-stahlblauen, weitgeöffneten Augen. Jäh beugte er sich aus dem Sattel
-und legte seine Hand auf den Arm des Begleiters. »Nein! Ich habe nicht
-zu teuer bezahlt. Um einen Hauch Freiheit zu atmen, kann man kuschen
-wie ein Hund. So stark ist keiner, daß ihn Gemeinheiten, die er
-erleben muß, nicht schwach machen. Man muß hinunter, Danckelmann, tief
-hinunter, um die Wege zur Höhe zu finden.« Er zog die bartlosen Lippen
-von den Zähnen. »Im Mai oder Juni sperren sie mich in das Grillenhaus
-einer fürchterlichen Ehe. Ich genieße die ersten und letzten Tage
-meiner Freiheit. Was kommt, ist Pflicht. Sie wird hart sein.« Der Ernst
-dieses Wortes schlug über in einen klagenden Laut. »Wer hilft mir?«
-Dann sagte er deutsch: »Ick bin ein egariertes Schaf des Lebens, habe
-keen Menschenskind, das mich zu wat nütze is, habe nur mir selbst,
-den dubiosesten von allen Wegweisern.« Das Gesicht, das der Geheimrat
-zu diesen Worten machte, schien dem jungen Oberst die verlorene
-Heiterkeit zurückzugeben. Lustig tippte er mit der Reitgerte nach
-seinem Begleiter, als möchte er vom Mantelkragen des würdigen Herrn
-eine Fliege fortkitzeln, und fragte französisch: »Ist das nicht wie ein
-spaßhaftes Wunder? Daß ich da so lakaienfern und unbeschnüffelt reite
-wie in einem Märchenwald und noch immer auf meinen Schultern einen Kopf
-habe.«
-
-Erst erschrak der Geheimrat. Dann sagte er aufatmend: »Ein Glück, daß
-man diesen jungen Kopf nicht abhauen ließ, wie es der Kaiser erwartete.«
-
-Froher Spott umzuckte den feinen Mund des anderen. »Weil er's zu
-erwarten schien, begann ich zu begreifen, wie steif ich diesen Kopf
-aufsetzen muß.«
-
-Eine Lichtwoge strömte in das Düster des Waldes herein. Die Straße
-öffnete sich gegen einen Wiesenhang von smaragdenem Frühlingsgrün, noch
-überhaucht von einem letzten Sonnenschimmer, der durch tiefgeschnittene
-Bergschatten herfunkelte aus der westlichen Ferne. Der Reitknecht des
-Geheimrats kam den Herren entgegen getrabt und meldete: »Der Jäger
-ist da. Auch das Mädchen für die Weisung zur Herberg.« Die Reiter
-lenkten von der Straße weg in ein Seitentälchen, das umhuschelt war von
-knospenden Erlenstauden. Überall Finkenschlag, Meisengezwitscher und
-immer aufs neue der melodische Lockruf einer Ringdrossel. Das Tälchen
-schon tief umschattet, und über ihm das zitronenfarbene Leuchten
-des reinen Abendhimmels. Bei den zwei Packpferden, die zu grasen
-begannen, stand mit scheuem Blick die Tochter der Hasenknopfin; neben
-ihr, aufrecht und äußerlich ruhig, der Jäger Leupolt Raurisser im
-grauverwitterten Bergzeug, in der Hand den langen Griesstecken, hinter
-dem Rücken den Waldsack. Auf seiner Stirne brannte noch die Nachglut
-seiner Begegnung mit Luisa und der Mutter. Als er die zwei Herren
-kommen sah, erwachte ein dürstendes Forschen in seinem Blick. Welcher
-von den beiden war der Helfer für seiner Brüder verzweiflungsvolle
-Seelennot? Welcher hatte die starke Hand des ersehnten Retters? Das
-junge, windige Soldätl? Das schlapp herunterrutschte vom Gaul? Den Hut
-ziehend, hoffenden Glanz in den Augen, trat Leupolt auf den Geheimrat
-zu: »Gottslieben Gruß in meiner notvollen Heimat. Es ist ein heilig
-Ding, ist Euers und meins. Ich bin geboten zu Eurem Dienst. Viel gute
-Herzen harren auf Euch in Drangnus und Sorgen.«
-
-Noch im Sattel fragte Danckelmann: »Kann er sich ausweisen?«
-
-Leupolt, wie es ihm der Zettel des Hasenknopf befohlen hatte, entblößte
-die breite weiße Narbe an seinem braunen Hals. Da fühlte er, daß ein
-Arm sich um seine Schulter legte. Neben ihm stand das Soldätl, hatte
-einen glänzenden Blick und sagte ernst: »So invulnerabel is sein
-Glaube? Daß ihn keen Eisen lädieren kann?«
-
-Verwirrt vom Leuchten dieser stahlblauen Augen, antwortete Leupolt
-verlegen: »Herr, ich versteh nit.« Sich dem Arm des Offiziers
-entwindend, sah er zu Danckelmann auf: »Lang dürfen wir uns nit
-verhalten. Es geht über mürben Schnee, und der Weg ist weit. Wir müssen
-vor Nacht im Hüttl sein. Da können wir rasten. Wer geht außer Euch noch
-mit?«
-
-»Wir alle, sobald die Pferde versorgt sind.«
-
-»Vier Leut?« Der Jäger schüttelte den Kopf. »Mir ist geboten: du führst
-einen Herrn und seinen Diener. Es geht um heilige Sachen. Da muß man es
-machen, wie's recht ist.«
-
-Danckelmann wollte ärgerlich erwidern. Da wehrte der junge Offizier
-französisch: »Das ist ein gewissenhafter Mensch. Was er haben will,
-muß geschehen.« Mit Wohlgefallen betrachtete er den Jäger und sagte
-deutsch: »Er führt uns beede. Det is der Herr, ick bin der Diener.«
-Er ging auf den Soldaten zu. »Hänne! Meine Grammatik!« Der Mann riß
-hurtig ein kleines Buch aus der Satteltasche, reichte es seinem Herrn
-und salutierte so wunderlich eckig, daß Leupolt schmunzeln mußte. Der
-Offizier schob das Buch in die Rocktasche. »Weiter, Hänne! Versorg man
-die Gäule gut! Gieß er nich zu viel hinter de Binde und molestier er
-die Menscher nich. Man kann es missen. Uff morjen!«
-
-Als der Soldat und der Bediente hinter dem Mädel, das sie zur Herberg
-führen sollte, davonritten, rief Leupolt: »He! Wo ist denn das Zeug für
-die Herren?«
-
-»Unsere Mäntel haben wir!« sagte Danckelmann. »Was noch? Ist Zehrung
-nötig?«
-
-»Das nit. Mit Zehrung hat die Schneckin das Hüttl gut versorgt.«
-
-»Wer?« staunte der junge Offizier.
-
-»Die Schneckin.« Leupolt war auf den Bedienten zugegangen. »Wo sind die
-Hemmeder? Jeder von den Herren muß ein Hemmed haben.«
-
-Neugierig fragte das feine Soldätl: »Wat is det: ein Himmat?«
-
-Danckelmann verdolmetschte: »_Je crois qu'il veut dire une chemise._«
-
-»_Mais voilà_ --« der junge Oberst zog in heiterer Laune den
-Soldatenrock auseinander, »ick habe bereits ein Himmat.«
-
-Leupolt blieb ernst. »Durch den Schnee hinauf wird's schwitzen heißen.
-Und droben geht ein schneidiger Luft. Da müssen die Herrn in trückene
-Wäsch kommen.«
-
-»Danckelmann, det is 'n fürsorglicher Mensch.« Der junge Oberst rief
-dem Soldaten zu: »Flink, Hänne, raus mit 'n Himmat!« Und wieder zu
-Danckelmann, französisch: »Ich beginne Deutsch zu lernen.«
-
-Als Leupolt das zusammengewickelte Päckl mit den zwei Hemden erhielt,
-fragte er: »Und die Bergschuh?«
-
-Der Geheimrat wurde ungeduldig. »Er sieht doch, daß wir tüchtig
-gestiefelt sind.«
-
-»Ja, Herr, das sind grad die richtigen Rutschkarren. Die bleiben Euch
-stecken im Schnee, wie das Mäusl in einem Mehlsack.«
-
-»Wat anderes als meine königlich preußischen Kommißkanonen hab ick
-nich!« lachte der Oberst. »Die muß ick ooch heil wieder heimbringen.
-Sonst kreiden se mich beim Regiment den außerdienstlichen Schaden an.«
-
-Auch Danckelmann wurde heiter. »Soll ich vielleicht die Lackschuhe
-meiner Gesandtengala auspacken?«
-
-Leupolt verstand, daß da nichts zu wollen war, und sagte zu der Tochter
-der Hasenknopfin: »Weißt, fremde Leut, die sich bei uns nit auskennen!
-Sind die Rößlen versorgt, so spring zum Hiesel Schneck. Er soll meine
-neuen Schuh zum Holzerhüttl hinaufbringen. Die passen dem gnädigen
-Herrn. Und für das Soldätl, das Füßlen hat wie ein Weiberleut, muß
-die Schneckin ihre Sonntagstäpperlen hergeben. Und feste Söckeln. Und
-Schneegamaschen. Wenn der Schneck sich tummelt, kann er droben sein im
-Hüttl, bis wir kommen. Unser Umweg um die Grenz ist weit. Und im Hüttl
-soll der Schneck gut feuern. Daß die Herren nit frieren müssen. Gelt?«
-Das Mädel sprang den Gäulen voraus. Leupolt gab das Hemdenpäckl mit dem
-Kragen des Geheimrats in seinen Rucksack und schob den Militärmantel
-des Obersten hinter die Tragriemen. »So, Ihr Herren! Los!« Bei der
-ersten Haselnußstaude zog er das Messer.
-
-»Wat macht er da?«
-
-»Für die Herren schneid ich einen guten Stecken.«
-
-»Ick will keenen Stock!« sagte das junge Soldätl mit seltsamer
-Heftigkeit.
-
-»Muß ich den Stecken halt tragen derweil, bis der Herr ihn nimmt.«
-Leupolt reichte dem Geheimrat den eigenen Bergstock. »Der ist minder
-schwer, weil er dürr ist.« Im Weiterschreiten säuberte er die zwei
-geschnittenen Stöcke von den Zweigen.
-
-Durch das von Stauden eingedeckte Tälchen lief ein Fußpfad hinauf, der
-unter dem Widerschein des leuchtenden Himmels wie Messing glänzte.
-Der junge Oberst war immer voraus. Er schien die Wanderung in der
-Abendkühle und in der reinen Höhenluft wie eine sein ganzes Wesen
-belebende Erfrischung zu genießen. Einmal blieb er stehen, breitete die
-Arme, als möchte er alle Schönheit des Abends in seine Seele reißen,
-und deklamierte französische Verse mit dem Pathos eines verzückten
-Schauspielers. Häufig glitt er aus, kam aber nie zu Fall, rettete sich
-jedesmal mit einem kecken Sprung auf sicheren Boden und lachte.
-
-Danckelmann begann mit dem Jäger zu reden, fragte nach den
-Berchtesgadnischen Bekennern, nach ihrer Not, nach ihren Plänen.
-Leupolt, während er antwortete, hob immer lauschend den Kopf. Endlich
-merkte er, daß dieses leise Klirren, das ihn an Grenzmusketiere denken
-ließ, von den Sporen der Herren kam. »Die müssen weg. Da könnt's im
-Holz einen Purzelbaum geben.« Erst schnallte er dem Geheimrat die
-Riemen von den Füßen, dann holte er mit flinken Sprüngen den anderen
-ein, kniete vor ihm nieder, löste seine Sporen und band im kreuzweis
-eine feste Schnur um jede Stiefelsohle. »Da rutschet Ihr minder.«
-
-»Sieh mal,« lachte das Soldätl, »sonne Strippe, richtig appliziert,
-kann zu allerlei nützlichen Dingen servieren. Zum Hängen und zum fest
-uff die Beene stellen.«
-
-»So, Herr!« Leupolt erhob sich. »Und nit so hitzig beim Steigen. Da
-verliert man fürzeitig den Schnaufer. Bei uns, wo steiler Bergweg ist,
-da grüßt man allweil: Zeit lassen.«
-
-»'n gutes Wort!« Die blitzenden Stahlaugen träumten ins Weite. »Zeit
-lassen?« Freundlich legte der junge Oberst dem Jäger die Hand auf
-die Schulter. »Also, her mit 'n Stock! _En avant_, voran! Von 'nem
-Verständjen läßt man sich jerne dirigieren.«
-
-Sie stiegen der von schwarzen Wäldern umflossenen, von tausend
-Schneeflecken durchwürfelten Höhe zu. Das Rauschen der Wildwässer hing
-wie das Lied eines Unsichtbaren in der schimmernden Abendluft.
-
-
-
-
-Kapitel XXIII
-
-
-Vor der letzten Dämmerung raffelte Hiesel Schneck durch den Bergwald
-hinauf, begleitet von einem Ringelspiel seiner wütenden Himmelhunde.
-Zeitlebens war ihm vieltausendmal die Galle übergelaufen. Aber bei so
-schlechtem Humor wie seit Ostern war er noch selten gewesen. Seine
-verzweifelte Schneckin mußte unablässig heulen. Freilich, wie hätte
-ein >Neuevangelikaner<, gleich dem Hiesel Schneck, sich friedsam
-vertragen können mit so einem >rekatholizierten Weiberleut<! Und noch
-viel rasender machte ihn dieses andere: daß man in der Wildmeisterei
-sein mutiges Bekennertum so wenig ernst nahm! Ganz fürchterlich hatten
-sie über ihn gelacht, als er am Osterdienstag in der Jagdkanzlei
-erschienen war. Der Wildmeister hatte ihn angeböllert: »Mach, daß du
-heimkommst, du Kalbskopf, du überzwercher! Und eh du den evangelischen
-Rausch nit verschlafen hast, kommst du mir nimmer zum Rapport!« Diese
-Unterschätzung seiner heiligsten Gefühle hatte dem Hiesel Schneck den
-evangelischen Eigensinn wie mit großen glühenden Nägeln hineingehämmert
-in das kleine Kindergehirn. »Jetzt grad mit Fleiß! Kreuzteufelsausen
-und Höllementsnot in der Sauwelt übereinand!« Er guckte zum Himmel
-hinauf, nicht um den Wohnort seines neuen Gottes zu suchen, sondern
-weil er den knurrenden Falzlaut einer streichenden Schnepfe vernommen
-hatte. Wie ein graues Pudelköpfl mit langen Wackelohren kam sie in der
-Dämmerung über die Birkenwipfel hergeschwommen. »Wart, du!« Hiesel riß
-die Feuersteinflinte vom Buckel und pulverte. Die Schnepfe fiel nicht.
-Sie ließ nur etwas fallen. Die Wut über diesen Hohn erzeugte im Hiesel
-Schneck den langschwänzigsten aller Himmelhunde, die seinem Gemüt noch
-jemals entronnen waren. »Mir vergunnt halt mein luthrischer Herrgott
-kein Faserl nimmer, seit ihm die Schneckin wieder kündigt hat.«
-
-Den Kopf in die Dämmerung bohrend, fluchte er sich über den
-steilen Hang hinauf. Was Graues klunkerte ihm auf dem Rücken: die
-zwei Paar Schneegamaschen. Und was Schwarzes klingelte vor seinem
-betrübten Herzen: die neuen Bergschuhe des Leupolt und die netten
-Sonntagstäpperlen des Schneckenweibls. Das Raurisserische Schuhwerk
-und die Gamaschen waren für den Hiesel eine erklärliche Sache. Wozu
-man aber beim evangelischen Weltumsturz die Feiertagshäferln seiner
-Schneckin benötigte? Das verstand er nicht. Trotz allem Nachdenken kam
-er nicht drauf. Er hatte die Botschaft der Hasenknopfischen Tochter nur
-ausgeführt, weil er dunkel hoffte, daß es irgend eine Feindseligkeit
-gegen den wildmeisterischen Glauben wäre.
-
-Bei Anbruch der Finsternis erreichte er die Holzerhütte. Tisch, Bänkl
-oder Sessel gab's da nicht. Nur eine große Stangentruhe mit Heu zur
-Liegerstatt, ein bißchen Geschirr und im schwarzberußten Balkenwinkel
-ein niederes Sitzmäuerchen um die Aschengrube. Hiesel schürte im
-Herdloch ein Feuer an, daß es waberte, und machte verdutzte Augen,
-als er das Wandkästl mit allerlei schmackhaften Dingen angeräumt
-fand. Da waren Speckwürste und ein Krug mit Milch, Weißbrot und
-geselchtes Wildpret, ein paar Dutzend Eier und frische Butter. Die
-Schneckische Seelenverzweiflung begann sich zu mildern. Gleich fing
-er zu knuspern an und hätte alles, was man für Seine Exzellenz den
-Gesandten des Königs von Preußen eingewirtschaftet hatte, ratzenkahl
-aufgefressen, wenn nicht Leupolt auf der Hüttenschwelle erschienen
-wäre: »Barmherziger Herrgott, Hiesel, das ist doch die Zehrung für
-meine Herrenleut!« Der Evangelikaner riß das Butterbrot, das er
-zwischen den Zähnen hatte, erschrocken aus dem Rachen und warf es ins
-Feuer. »Nit schlecht!« Hinter diesen zwei dunkelsinnigen Worten ließ er
-ein Himmelhündchen einherschwänzeln.
-
-Auf dem letzten Hang vor der Hütte, als man den wegweisenden
-Feuerschein sehen konnte, war Leupolt den Herren vorausgesprungen, um
-ein Wort mit dem Hiesel zu reden. Er nahm den Schneck nicht gerne mit
-hinauf zur heiligen Fürsagung in der Neumondnacht. Aber es mußte sein.
-Ohne Hilfe hätte Leupolt den Geheimrat nimmer über den schweren Schnee
-der Höhe gebracht. »Kaum, daß ich ihn herlupfen hab können bis zum
-Hüttl. Drunten hab ich gemeint, es fallt mir zuerst das klebere Soldätl
-um. Aber wie mühsamer der Weg, um so lebfrischer ist das Männdl worden.
-Alles freut ihn, jeden Vortl hat er flink heraus. Sein Herr, der Alte,
-ist ein fürnehmes Mannsbild. Aber das feine Soldätl -- es muß schon
-wahr sein, daß die niederen Leut oft die besseren sind als wie die
-Gottsöbersten. Jetzt gib mir die Hand her, Schneck! Tu mir versprechen,
-daß du den Schnabel halten willst über die heutige Nacht. Es geht um
-unser Not und Erlösung, Mensch! Gelt, du machst mir nit Schand und
-Unehr?«
-
-Hiesel streckte die braune Tatze und brummte: »Ich bin doch ein
-Evangelischer.«
-
-»Ja, Schneck, aber was für einer!« sagte Leupolt bekümmert. Weil er
-Stimmen hörte, zerrte er den Bergsack herunter, packte die zwei Hemden
-aus, riß ein brennendes Scheit aus dem Feuer und sprang in die Nacht:
-»Höi huuup!« Als er die Herren in die Herdhelle der Hüttentür brachte,
-ging von den erhitzten Bergsteigern in der Nachtkühle der Dampf auf,
-wie von Pferden bei einer Schlittenfahrt. »Nur gleich herein ins Hüttl!
-Mein Kamerad, der Schneck, hat warm gemacht.«
-
-»_Ah, je comprends_,« lachte der junge Oberst, nahm den Dreispitz ab
-und schüttelte den Schweiß von der Stirne, »_c'est le Cheneque de la
-Chenequine_!« Er spähte vergnügt in die vom Feuerschein durchzüngelte
-Hütte.
-
-»Ist sein Kamerad ein vertrauenswürdiger Mann?« fragte der Geheimrat
-halblaut, zwischen hurtigem Atempumpen. »Ein Protestant?«
-
-»Verträulich ist er, der Schneck, ah ja! Kann auch sein, er wird noch
-richtig ein Evangelischer. Glauben tu ich es nit.«
-
-Von dieser leisen Zwiesprach hatte der Hiesel keinen Laut vernommen.
-Nur die französischen Worte hatte er gehört, dabei sehr deutlich
-die Worte Schneck und Schneckin. Daraus zog er den Schluß, daß das
-feinbeinlete Soldätl das Französische nicht gut verstand; wenn die
-Kapitelherren auf der Jagd parisisch redeten, hieß Schneck immer
-»Tätewoh«. Ein bißchen wunderte sich der Hiesel darüber, daß man auch
-drunten im lutherischen Sand von ihm und seiner Schneckin was wußte.
-Aber die Sache machte ihn auch mißtrauisch. Was konnte man in einer
-Sprache, die ihm fremd war, nicht alles über ihn reden! Er begann
-den heiteren Soldaten sehr unfreundlich zu betrachten. Der war doch
-auch in jener Gegend daheim, aus der das luthrische Elend gekommen
-war, das seit dem Versöhnungsschießen dem Hiesel Schneck das Köpfl
-so schauderhaft zerwirbelte. Bocksteif, ohne zu grüßen, stand er mit
-seinem rotangestrahlten Schädel neben dem wabernden Feuer, bis ihn
-Leupolt mit dem Eimer zum Brunnen um Waschwasser schickte. Kaum war
-er draußen in der Nacht, da himmelhündelte er so wütend in den Ganter
-hinein, daß das Blech davon einen summenden Widerhall bekam. Noch ein
-zweitesmal mußte er um Wasser laufen und schimpfte: »Sauberkeit laß
-ich mir gefallen! Aber *so* waschen! So was Weiberleutigs paßt doch
-nit für ein Mannsbild. Freilich, ausschauen tut er eh, wie die magere
-Schwester vom Lazarus!« Und als nun der Hiesel gar zum drittenmal mit
-dem Eimer springen mußte, gewann er über das kühlungsbedürftige Soldätl
-die Meinung: »Das ist kein Mensch nit! Wie er pritschelt und fludert im
-Wasser! Mit seine mageren Flügerln! Da laß ich mich köpfen: das muß ein
-verwunschener Eisvogel sein!« Endlich gab es für den Hiesel Raum und
-Rast in der Hütte. Leupolt scheuerte die Pfanne und klapperte die Eier
-hinein. Die zerfließende Butter begann angenehm zu duften.
-
-Der hohen, vom nassen Schnee durchweichten Reitstiefel ledig, staken
-die Füße der Herren in den hölzernen Hüttenpantoffeln der beiden Jäger.
-Der blaue Soldatenrock mit den roten Aufschlägen, der schokoladfarbene
-Reitfrack des Geheimrates und die zwei dampfenden Hemden hingen auf
-den Herdstangen. Danckelmann, mit etwas konfus gewordener Perücke,
-drehte sich vor dem Feuer hin und her. Der junge Oberst, hemdärmelig
-in seinen Militärmantel gewickelt, hatte sich auf das Herdmäuerchen
-niedergelassen. Erfrischt, das Antlitz brennend, saß er gegen die
-Balkenwand gelehnt und blickte mit vorgeschobener Nase in den
-Funkenflug, der viele glitzerige Sternchen hinwehte an die berußte
-Sparrendecke. Plötzlich, wie ein Erwachender, schien er etwas zu
-suchen, fand das kleine Buch, rückte näher ans Feuer und fing zu lesen
-an, alles um sich her vergessend. Danckelmann schien das nicht gerne zu
-sehen. Unter einem Seufzer fragte er: »Schon wieder Voltaire?«
-
-»Nein!« Der junge Oberst hob dem Geheimrat das kleine Buch vor die
-Nase. Es war eine Taschenausgabe der Luther'schen Bibel.
-
-In Verblüffung sagte der alte Herr: »So fromm?«
-
-»Auch das nicht. Ich studiere diese deutsche Grammatik, um mein
-Kutscherdeutsch nach Möglichkeit zu verbessern.«
-
-Der Hiesel, weil die Herren französisch redeten, brannte wütend seine
-Pfeife an und blies Wolken vor sich hin, daß er völlig eingewickelt
-wurde von diesem grauen Vorhang. Ein paarmal fuchtelte der junge Oberst
-mit der Hand den beizenden Knasterqualm vor seiner Nase weg. Halb in
-Zorn und halb erheitert rief er zu Danckelmann hinüber: »Der fehlt
-noch in der Tabagie. Er würde zu hohen Ehren kommen.« Leupolt, als
-sein mahnendes Augenblinzeln beim Hiesel kein Verständnis fand, sprang
-von der Pfanne weg, zog dem Schneck die Pfeife aus den Zähnen und
-öffnete die Hüttentür. Jetzt kapierte der Hiesel Schneck und brummelte
-gallig: »Ah, freilich, die Preißen! Die rauchen bloß Muskatblütln und
-Pomeranzen! Was?« Erschrocken sah Leupolt zu den Herren hinüber. Die
-schienen von der Weisheit des Hiesel Schneck keinen Laut vernommen zu
-haben. Danckelmann hatte sich auf die Heutruhe gesetzt und schien ein
-Nickerchen zu machen. Der andere war in das Buch versunken, war seltsam
-erregt, wie befallen von einem wühlenden Seelensturm. Im Rauschen der
-Herdflamme eine lautwerdende, von innerem Aufruhr bebende Stimme. Den
-Rücken gebeugt, das Gesicht fast niedergetaucht auf das kleine Buch,
-las der junge Oberst: »Absalom sprach zu Joab: Warum bin ich von Gessur
-kommen? Es wäre mir besser, daß ich noch da wäre. So laß mich nun das
-Angesicht des Königs sehen! Ist aber eine Missetat an mir, so töte
-mich!«
-
-Leupolt, der die Stelle aus dem zweiten Buche Samuelis erkannte,
-lauschte mit glänzenden Augen. Nun sah er betroffen auf das schreckhaft
-verwandelte Gesicht des jungen Soldaten. Der las zwischen knirschenden
-Zähnen, die verzerrten Wangen von Tränen überglitzert, fast in der Art
-eines Menschen, der an der hinfallenden Krankheit leidet und einen Stoß
-seines Übels zu empfinden scheint: »Und Joab ging hinein zum Könige
-und sagte es ihm an. Und er rief dem Absalom, daß er hinein zum Könige
-kam, und er fiel nieder vor dem Könige, auf sein Antlitz zur Erde.
-Und der König küßte Absalom.« Verstummend preßte er das Gesicht auf
-die Blätter. War das ein Schluchzen? Oder war es ein Lachen? Nun ein
-jähes Aufzucken des vom Haar umwirrten Gesichtes. Und ein kreischender
-Laut, zu Danckelmann hinüber, in französischer Sprache: »Absalom starb
-an der Eiche. Wo sterbe ich?« Ein jähes Erlöschen alles seelischen
-Aufruhrs, ein ruhiges Lächeln, ein heiterer Klang in der melodischen
-Stimme: »Wenn's auf dem Boden eines deutschen Sieges wäre, sollt' es
-mir recht sein in jeder Stunde.«
-
-Danckelmann, der aus seinem Müdigkeitsdusel noch nicht völlig ermuntert
-war, sah ratlos drein. Und Leupolt fragte in Sorge: »Ist dem jungen
-Herrn übel?«
-
-»_Mais non!_« Der Oberst lachte. »Mich is wohler denn je. Det war nur
-Rebelljon der Jedärme. Mir hungert.«
-
-Kopfschüttelnd verließ der Hiesel Schneck die Hütte, stolperte in die
-Nacht hinaus und klagte: »So was! Und söllene Leut möchten die deutsche
-Welt verbessern und den alten Herrgott umnageln. Ich versteh's nit!
-Kreuzhimmelhöllementshundsviecherei!« Zur Beruhigung seiner verärgerten
-Seele hatte er die Pfeife mit heraus genommen. Er schlug Feuer, daß die
-Funken stoben, wühlte den stinkenden Schwamm unter die Tabaksasche, und
-als die Pfeife festen Zug hatte, blies er einen dicken Rauchfaden durch
-ein Astloch der Hüttentür. »So, schmeck's, du Preiß, du abzirkelter!«
-Er fühlte sein Gemüt erleichtert, trat auf einen Felsschnacken
-hinaus und spähte in die schwarze, von schönen Sternen überfunkelte
-Neumondnacht. Zu den strahlenden Lichtern der Ewigkeit zog es den Blick
-des Hiesel nicht empor. Immer guckte er hinunter auf das dustere Loch
-einer kleinen Talmulde und mummelte melancholisch: »Ob wohl jetzt das
-liebe alte Radl ohne Wagen rekatholisch träumt oder evangelikanisch?«
-
-In der Hütte klapperten die irdenen Teller. Flinkes Französisch.
-Immer wieder das heitere Lachen des Soldätleins. Dann ein lebhafter
-Wortwechsel, der von energischem Deutsch unterbrochen wurde: »Denk
-er an seine fumfzich Jahre, Danckelmann! Leg er sich hin uffs Heu!
-_Sans façon!_ Ick will 's.« Merkwürdig, dachte der Hiesel Schneck,
-wie im Preußischen ein Knechtl reden darf mit seinem Herrn! Dann
-guckte er wieder in die Tiefe. Da draußen, gegen Bischofswiesen zu,
-gaukelte was durch den schwarzen Wald gegen den Gratsattel hinter dem
-Toten Mann hinauf wie ein winziges Sternchen. »Was ist denn da los?«
-So viel wußte der Hiesel schon: daß von den Evangelischen keiner
-mit einer Latern zur heimlichen Fürsagung wandert. Die machen sich
-seit dem Versöhnungsschießen unsichtbarer als je. Was war da los?
-Um an eine Gefahr für die Brüder in Christ zu denken, dazu war die
-Bekennerseele des Hiesel noch nicht evangelisch genug. Er fand für das
-gaukelnde Laternenrätsel nur die Lösung: daß da einer von der Jägerei
-zu Berg stiege, um für den Fürsten oder für die -- »Sagen wir halt:
-Allergnädigste!« -- einen Auerhahn zu verlusen. Diese Vorstellung,
-statt sein Jägerherz zu erfreuen, machte den Hiesel so traurig, daß er
-sich auf den Schnee hinsetzen und das Gesicht in die Fäuste drücken
-mußte. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Komm, Schneck, und
-schlaf ein Stündl! Wir müssen uns heut noch plagen in der Nacht.«
-
-In der Hütte kein Feuer mehr. Doch zwischen der Asche lag noch eine
-große Kohlenglut und strahlte ihren roten Schimmer in den stillen
-Raum. Der Geheimrat, mit seinem Mantelkragen zugedeckt, lag im Heu
-und schnarchte ein bißchen. Auf dem Sitzmäuerchen, gegen die Balken
-gelehnt, schlief der junge Oberst, das Gesicht vom Haar überhangen,
-klein zusammengehuschelt in dem dunklen Militärmantel. »Was einer
-ist als Mensch, das sieht man allweil am besten im Schlaf!« so
-philosophierte der Hiesel Schneck. »Dahocken tut das Preißerl wie ein
-Häufl Elend.« Freilich, eine Minute später hockte dieser lange Weise
-nicht viel anders in seinem Winkel. Der Schlaf ist einer von den
-Gleichmachern des Lebens. Tod, Notdurft und Wollust heißen die anderen.
-
-Leupolt hatte sich lautlos zum Sitzmäuerchen hingeschlichen. Seine
-Augen blieben offen. Manchmal schob er sacht einen Holzstorren unter
-die Kohlen, damit die Glut nicht völlig ohne Nahrung bliebe und die
-schlafenden Herren nicht frieren müßten. Fing das Holz unter den
-Kohlen zu glosten an, so pufften fahle Rauchfäden aus der Asche
-heraus, und kleine bläuliche Flammen tanzten über der Glut, wie
-Frühlingsschmetterlinge um eine rote Blume gaukeln. Sinnend blickte
-Leupolt in das Spiel der kleinen Feuerseelen, sah zwei heiße, von
-Tränen umflossene, in Scham und Sehnsucht bekennende Mädchenaugen und
-hörte eine leise, von Erregung fiebernde Stimme flüstern: »Du bist mir
-so lieb geworden, ich kann's nit sagen.« Da weckte ihn ein stöhnender
-Laut aus seinem gläubigen Sinnen. Der junge Soldat schien böse Träume
-zu haben; sein gebeugter Jünglingskörper zuckte unter den Falten des
-Militärmantels. Halblaute Worte, deutsch und französisch, wirrten sich
-durcheinander. Die Hände begannen zu stoßen, als möchten sie sich einer
-Fessel entwinden, und plötzlich streckten sie sich mit gespreizten
-Fingern, wie zur Abwehr eines grauenvollen Bildes. Die Augen des
-Träumers waren starr geöffnet, hatten den Blick eines verzweifelten
-Menschen, und eine von Zorn und Angst durchrüttelte Knabenstimme
-bettelte: »Nich schlagen, Vater! Alles, was du willst! Nur nich
-schlagen!«
-
-»Junger Herr!« Leupolt faßte den Mantel des Traumverstörten und zupfte.
-»Ihr träumet ungut. Da muß man Euch wecken.«
-
-Ein stumm gleitender Blick des Erwachens, ein staunendes Beschauen
-des von Rotglut durchschimmerten Raumes. Fester gegen die Balkenmauer
-rückend, hüllte sich der junge Oberst wieder in seinen Mantel, schloß
-die Augen und sagte mißmutig: »Weck er mich, wenn es Zeit is. Nich
-früher.«
-
-Wieder die rotflimmernde Stille, das schwere Atemziehen des Geheimrates
-und das Duselgebrumm des Hiesel Schneck. Leupolt saß unbeweglich,
-beugte nur manchmal den Kopf, um durch das kleine Fenster nach dem
-Stand der Sterne zu schauen. Als es auf Mitternacht zuging, legte
-er Kienspäne über die Glut, gab ein paar kleine Scheite in die sich
-ermunternde Flamme, goß die Geißmilch in die Kupferpfanne und stellte
-sie über den Feuerbock. Nun weckte er den jungen Schläfer am Herd.
-»Herr! Zeit ist's!« Der Oberst fuhr in die Höhe, straffte sich nach
-militärischer Art und sprach ins Leere: »_Me voilà! Je ne dors plus!_
-Befehlen Sie, Vater! Ick will gehorchen.« Da hörte er das freundliche
-Herdgeprassel, schien völlig zu erwachen, streifte mit einem prüfenden
-Blick den Jäger und sagte ruhig: »An jedem Morgen soll man sich
-erinnern, daß man Gottes is. Sprech' er ein Gebet!«
-
-Leupolt kniete auf das Herdmäuerchen hin, verschlang die Hände vor der
-Brust und betete: »Herr, wenn ich dich nur hab, so frag ich nimmer nach
-Himmel und Welt. Auch wenn mir Leben und Seel verschmachten, du bleibst
-mein Heil und meines Herzens Trost.« Gleich bei den ersten Worten des
-Gebetes hatte der junge Oberst blitzschnell das Gesicht gegen den
-Jäger gedreht. In seinen Augen war eine Verblüffung, die sich in Zorn
-zu verwandeln drohte. Leupolts Anblick schien den Erregten wieder zu
-beruhigen. Mehr neugierig als unmutig fragte er: »Wie kommt er zu
-diesem Gebet?«
-
-»So hat uns auf dem Toten Mann ein Salzburger fürgebetet, der uns
-Botschaft gebracht hat aus dem Preußischen. Er hat erzählt: so hätt
-er den preußischen Königsprinzen beten hören, der den Exulanten
-beigesprungen ist mit hilfreicher Güt. Jetzt bet ich allweil so. Die
-schönen, gottsfreudigen Wörtlen haben mich hinübergehoben über viel
-Hartes.«
-
-Der junge Oberst legte die Hand auf Leupolts Arm. »Det Gebet for
-sich alleene macht es nich. Gott is am willigsten, den Starken zu
-sekourieren, der sich _spontanément_ zu helfen weiß.« Lächelnd ging er
-zur Heutruhe, weckte den Geheimrat, indem er ihn mit einem Halm an der
-Nase kitzelte, brach über Danckelmanns Ermunterungsseufzer in Lachen
-aus und begann mit ihm in französischer Sprache ein hurtiges Geplauder.
-Dabei rasselte sich auch der Hiesel Schneck aus seinem letzten
-Schnarcher heraus, schien nicht zu wissen, wessen Gottes er war, und
-begrüßte die Mitternachtsstunde mit einem gegen die Haare gebürsteten
-Himmelhund.
-
-Nach der Geißmilchsuppe brachte die Schuhprobe ein paar muntere
-Minuten. Dem Geheimrat saßen die neuen Schuhe des Leupolt wie
-angemessen. Die Sonntagstäpperlen des Schneckenweibls mußten, um für
-das schlanke >Weiberleutsfüßl< des Soldätleins zu passen, zwischen
-Leder und Söckeln noch ein bißchen mit Heu gepolstert werden. Die
-Schneegamaschen, die darüberkamen, hielten alles verläßlich zusammen.
-Und nun hinaus in die kühle, schwarze, von großen, strahlenschießenden
-Sternen durchfunkelte Neumondfrühe. Ein schönes Rauschen ging über
-die finsteren Wipfel hin. Alle paar Schritte stehen bleibend, spähte
-der junge Oberst unersättlich in diesen wundersamen Nachtzauber. Mit
-enthusiastischen Worten stammelte er sein Entzücken vor sich hin und
-sagte französisch zu Danckelmann: »So groß und weit und herrlich
-sind die Nächte in der Tiefe nicht. Auf der Höhe zu wandeln, hat
-seine kostbaren Reize.« Er tappte bis an die Hüften in ein Schneeloch
-hinunter, zog sich lachend heraus und scherzte: »_Tiens, voilà mon
-sort_, auf herrlicher Höhe gibt es auch Löcher, um sich die Knochen
-zu brechen -- eine Erfahrung, die mir nicht neu ist, obwohl ich zum
-erstenmal im Leben einen rechtschaffenen Berg besteige.« Hiesel, der
-sich über das viele Französisch ärgerte, knurrte spöttisch: »Gelt ja,
-sterngucken und bergkraxeln passen nit gut zu einander! Verstehst?
-Mit'm Nasenspitzl in der Höh geht's allweil abwärts, nie nit aufwärts.«
-Kopfschüttelnd tappte er davon. »Und söllene Kniespatzen möchten die
-christliche Welt umschustern.« Der junge Oberst, der den Sinn dieser
-Worte nur halb, aber zureichend die Grobheit ihres Tones verstanden
-hatte, rief erheitert zu Danckelmann zurück: »'n agreabler deutscher
-Bruder!«
-
-Da mahnte Leupolt, der den Geheimrat am Henkel hatte: »Schneck! Mach
-langsame und feste Tapper, daß der Herr hinter dir in gute Stapfen
-kommt.« Nun wanderten sie schweigend hintereinander. Manchmal trug die
-gefrorene Schneedecke, dann kamen wieder mürbe Stellen, an denen man
-hinunterbrach bis übers Knie. Schon nach einer Viertelstunde fragte
-Danckelmann in Erschöpfung: »Haben wir noch weit?«
-
-»Nit, Herr! Ein paar hundert Vaterunser. Sonst ist die Fürsagung
-allweil ganz da draußen gewesen auf dem Toten Mann. Heut ist sie ein
-Stündl herwärts. Daß die Herren nit gar so weit steigen müssen, bloß
-ein Katzensprüngl.« Seufzend machte der Geheimrat die Bemerkung:
-»Die Katzen von Berchtesgaden, nach ihren Sprüngen zu schließen,
-scheinen Tiger zu sein.« Aus dem geschlossenen Walde ging es hinaus
-auf eine freie, steile Schneelehne, an die hundert Schritte breit.
-Schneck und der junge Oberst hatten den weißen Steilhang schon zur
-Hälfte überquert, als ihn Leupolt mit dem Geheimrat erreichte. »Jetzt
-ein bißl Fürsicht, Herr! Der Schnee könnt rutschen.« Leupolt hatte
-kaum gesprochen, als sich über die Lehne her ein leiser, lachender
-Schrei vernehmen ließ. Mit dem jungen Oberst war eine stubengroße
-Schneescholle ins Gleiten geraten. Und je mehr der Lachende sich
-plagte, um aus der rutschenden Masse herauszukommen, desto tiefer
-sank er in den gleitenden Teig. »Jesus!« brüllte der Hiesel Schneck.
-Er dachte an die Wände, die da drunten waren, und machte Sprünge wie
-ein irrsinniger Wolf. Und von der anderen Seite der Lehne kam Leupolt
-schief heruntergesaust und überholte die rutschende Scholle. Zwischen
-zwei Felszacken eingestemmt, warf er seine Brust dem gleitenden Schnee
-entgegen. Er wurde weiß überschüttet. Die fahrende Masse stockte einen
-Augenblick, und da sprang der Hiesel über die Wulsten her, riß das
-halb versunkene Soldätl, das noch immer lachte, aus dem Schnee heraus,
-umklammerte den schlanken Körper unter den Armen und steuerte mit
-wilden Sprüngen, die der andere gelehrig mitmachte, gegen den festen
-Waldgrund hinüber. »Hiesel?« schrie Leupolt aus der Nacht heraus. »Hast
-du ihn?«
-
-»Wohl!«
-
-Von droben klang die aufgeregte Stimme des Geheimrates: »Ist etwas
-geschehen?«
-
-»Nit sorgen, Herr!« antwortete Leupolt. »Ist alles gut! Ich komm schon.«
-
-Drüben am Waldsaum, neben einer Fichte, die von den Frühlingslawinen
-schiefgebogen war, schüttelte der junge Offizier die Schneebrocken von
-seiner Uniform, während der Hiesel Schneck mit Lachen sagte: »Gott
-sei Lob und Dank!« Man vernahm aus der Tiefe herauf einen schweren,
-krachenden Plumps. Wieder lachte der Hiesel. »Hörst es, Preißerl!«
-
-»Wat war 'n det?«
-
-»Der Schnee. Verstehst? Wär der Leupi nit gewesen, so täten wir jetzt
-da drunt liegen! Kreuzsausen und Himmelhund! Und 's Schneckenweibl
-könnt ihre Sonntagstäpperlen suchen, sie weiß nit, wo!«
-
-Da legte der junge Oberst dem Hiesel Schneck die Hand auf den Arm.
-»Ick hab ihn for 'nen Rüpel jehalten und merke, daß er 'n janz famoser
-Patron is.« Ein feines, herzliches Auflachen. »Die Haut scheint bei
-uns deutschen Brüdern nich det Wesentliche zu sein. Man muß hinter
-'s Leder kieken. Geb er mich seine Hand!« Der Hiesel rührte seine
-Tatze nicht, weil er lauschend den weißen Schädel strecken mußte. »Du,
-da!« sagte er scheu und leise. »Lus!« Er deutete gegen die Höhe, über
-der die großen Sterne des Berghimmels funkelten. Hatte das summende
-Rauschen des Waldes einen geheimnisvollen Mitsänger gefunden? Wie
-das Klingen einer fernen und sanften Glocke war es, war wie das
-rhythmische Murmeln eines ruhig fließenden Baches, hatte dennoch einen
-leidenschaftlichen, von Leid und banger Sehnsucht durchzitterten
-Unterton, verstärkte sich und sank, wurde vernehmlicher und schmolz
-aufs neue zusammen mit dem Rauschen der Bäume, daß es nimmer von ihm zu
-scheiden war.
-
-»Wat is 'n det?«
-
-»Ich hab als Evangelikaner noch ein bißl junge Ohrwascheln. Aber
-täusch ich mich nit, so singen da droben hinter dem Bergsattel die
-Unsichtbaren.« Ein lauer, föhniger Windhauch, der dem Morgen voranging,
-wehte über den Hang herunter, und der Liedklang vieler menschlicher
-Stimmen wurde deutlich. Der junge Offizier erkannte das Lutherlied. In
-einer Erregung, die ihn schüttelte wie einen Fieberkranken, riß er den
-Dreispitz herunter, preßte ihn mit den Fäusten gegen die Brust, sah
-unbeweglich zu den strahlenden Sternen hinauf und sprach die Worte der
-letzten Liedstrophe, die da droben gesungen wurde, mit lauter Stimme in
-die Nacht:
-
- »Nehmen sie den Leib,
- Gut, Ehr, Kind und Weib,
- Laß fahren hin,
- Sie haben's kein Gewinn,
- Das Reich muß uns doch bleiben.«
-
-Nur noch das Rauschen im Wald und der schweigende Sternglanz, von
-dessen Widerschein die Schneekrystalle an den Felszacken feine,
-farbige Lichterchen bekamen. Der junge Oberst drückte den Dreispitz
-über den Scheitel und begann mit ungeduldiger Hast das steile Gehäng
-hinaufzuklettern. »Komm er!« Bei einer Wende des Waldsaumes trafen
-die zwei mit den beiden anderen zusammen, und atemlos begann der
-Geheimrat ein französisches Gewirbel seiner Sorge herauszustammeln.
-Der junge Oberst machte eine unmutige Handbewegung und sagte deutsch,
-mit einer soldatisch harten Stimme: »Laß er, Danckelmann! Wir haben
-kostbare Minuten verläppert. Dort oben seind unsere neuen Kinder.
-Eenen, der leidet, darf man nich warten lassen. Hinauf!« Er kletterte,
-als hätte dieses Wort ihm Kräfte gegeben, die alles Zarte seines
-Körpers verwandelten zu stählernem Willen. Leupolt Raurisser, von
-einer schweren Erschütterung befallen, tastete nach der Schulter
-des Grenzjägers. »Hies!« Die Stimme wollte leise sein und war doch
-ein glückheißes Jauchzen. »Ich bin ein Blinder gewesen.« Seine Hand
-deutete hinter dem Steigenden her, den die Dunkelheit zu umschleiern
-begann. »*Der* ist der Helfer!« Ein frohes Aufatmen. Dann ein heiteres
-Flüstern: »Komm! Der braucht uns nit. Wir müssen das alte Knechtl
-hinter ihm herlupfen.« Jetzt ging es flink nach aufwärts, ohne daß der
-Geheimrat sich plagen mußte. Ein Eichhörnchen schnalzte. Ein zweites.
-Leupolt gab Antwort mit dem gleichen Laut. Und Danckelmann fragte: »Was
-ist das?«
-
-»Es sind die Wächter.« Wie graue Steinblöcke, in den Kitteln der
-Unsichtbaren, standen die Wächter im Schnee, der eine am Waldsaum, der
-andere draußen auf dem freien Hang. Als die Aufwärtssteigenden schon
-verschwunden waren, klang auf dem Schneefeld eine leise Knabenstimme:
-»Vater? Meinst du, er ist dabeigewesen?« Aus der Finsternis des Waldes
-antwortete die Stimme eines alten Mannes, so voll Inbrunst wie die
-Stimme eines Betenden in tiefstem Leide: »Gott soll's geben, Bübl, daß
-der Helfer kommen ist. Oder es müßt die deutsche Welt verzweifeln.«
-
-Nach stummer Weile ein flehender Laut: »Mir banget, Vater! Darf ich
-hinüber zu dir?«
-
-»Jetzt nit. Dort ist dein Plätzl. Da hat man dich hingestellt. Da mußt
-du bleiben, bis der Morgen kommt. Ein Hoffender muß verlässig sein.«
-
-Nur noch das Rauschen der schwarzen Wipfel. Und manchmal sprang eine
-kleine Schneescholle lautlos über den weißen Hang in die schwarze Tiefe
-hinunter.
-
-
-
-
-Kapitel XXIV
-
-
-Unter dem Gewimmel der Sterne, die groß und glanzvoll am schwarzblauen
-Himmel funkelten, erreichten die vier Männer einen steinigen Grat,
-von dem die Frühlingssonne den Schnee schon fortgeschmolzen hatte.
-Wie eine große Muschel wölbte sich die Felsmauer, auf deren Höhe sie
-standen, um einen halbgerodeten Waldfleck, dessen wenige Bäume finster
-emporstachen aus einer grauweißen, absonderlich gewellten Fläche. Man
-hörte undeutlich den Klang einer greisen Stimme und sah einen matten
-Glutschein, der übriggeblieben war von einem erloschenen Feuer. Leupolt
-trat auf den jungen Oberst zu, der suchend in das Zwielicht spähte.
-»Schauet, gnädiger Herr, da ist die heilige Fürsagung.«
-
-»Ick sehe niemand. Wo seind die Leute?«
-
-»Grad vor uns. Mehr als tausend müssen es sein.«
-
-Vor dem Glutschein da drunten bewegte sich ein graublauer Schatten.
-»Eenen seh ick,« sagte der junge Offizier, »nee, viele seind es,
-viele!« Der Platz unter der Felswand, auf dem die Evangelischen
-knieten, standen oder saßen, eng aneinander gedrängt, mit ihren weißen
-Kitteln und Kapuzen, im Halbkreis um den Glutschein herum, glich einem
-Gewirre mehlgrauer Maulwurfshügel, die mit schwachen Schimmerlinien
-gesäumt waren und sich immer hoben und senkten. Es war ein Bild, das
-ergreifend und geheimnisvoll berührte, aber auch befremdend war,
-so sehr, daß es auf die mangelhaft entwickelte Evangelikanerseele
-des Hiesel Schneck belustigend wirkte. Er buckelte sich zusammen,
-hämmerte mit der Faust aufs Knie und ließ ein halbverschlucktes Lachen
-vernehmen: »Ho ho hohohooo!« Das Gesicht des jungen Obersten fuhr nach
-ihm herum, und die zornscharfe Stimme sagte: »Wat hat er? Ick finde an
-diesen Menschen nichts Lächerlichs.«
-
-»Gotts Not und Elend,« stotterte Hiesel erschrocken, »ich versteh's
-halt nit, verstehst?«
-
-Leupolt legte zuerst dem jungen Offizier, dann dem Geheimrat den
-Mantel um die Schultern. »Es weht ein schneidiger Luft, wenn's auf
-den Morgen zugeht. Die Herren müssen sich gut einwickeln. Ich steig
-derweil zu den Alten hinunter und red mit ihnen.« Lautlos verschwand er
-hinter den Schrofen in der Finsternis. Während er über das Felsgezack
-hinunterstieg, hörte er immer deutlicher die Stimme des Fürsagers von
-Unterstein: »Die Törigen nahmen ihre Lampen; aber sie nahmen nit Öl mit
-sich. Die Klugen aber nahmen Öl in ihren Gefäßen samt ihren Lampen. Da
-nun der Bräutigam verzog, wurden sie alle schläfrig und entschliefen.
-Zur Mitternacht aber ward ein Geschrei: Siehe, der Bräutigam
-kommt, gehet aus, ihm entgegen!« Die sanfte Stimme des Alten wurde
-unterbrochen durch einen verzückten Knabenschrei: »Da steigt einer aus
-dem Berg heraus! Ein Lichtschein ist um ihn her!«
-
-Aus tausend Kehlen ein wunderlicher Laut. Alle weißen Gestalten
-zuckten auf. Einer, der gegen die Felswand hingesprungen war, erkannte
-den Jäger und rief: »Der Leupi!« Von Mund zu Mund ging es, wie ein
-frohes Rauschen, wie ein Aufatmen der Hoffnung: »Der Leupi Raurisser
-ist kommen!« Viele drängten ihm entgegen. Er stand wie eine graue
-Säule im Schnee und rief über das Gewühl der ihm entgegendrängenden
-Weißgestalten hin: »Ein jeder soll bleiben an seinem Platz. Jeder soll
-Ruh halten. Ich bring den Morgen unserer Not. Nur einen Schnaufer
-Geduld noch, ihr guten Leut! Erst muß ich reden mit den Alten.« Das
-Gedräng der Weißgestalten wich auseinander. Wieder bildete sich der
-Halbkreis, wie er zuvor gewesen. Ein erregtes Stimmengewirr. Man hörte
-seltsames Aufkichern, hörte leise, fast krankhaft klingende Schreie,
-hörte das Fiebergestammel einer Verzweiflung, die in Freude verwandelt
-war, und hörte lallende Laute, wie Betrunkene sie ausstoßen, die lachen
-möchten und näher dem Weinen sind.
-
-Droben auf der schwarzen Felsmauer sagte einer, dem die Stimme kaum
-gehorchen wollte: »Danckelmann, das ist erschütternd! Was müssen diese
-Menschen gelitten haben!«
-
-Auf der weißen Rodung, rings um den roten Glutschein, war Stille.
-Von der alten Fichte, die sich schwarz neben der Kohlenglut erhob,
-sprangen elf Weißverhüllte auf Leupolt zu, die Fürsager der neun
-berchtesgadnischen Gnotschaften, bei ihnen der Mann der Hasenknopfin
-von Unterstein und der Christoph Raschp von der Wies, die in der
-Osterwoche heimgekehrt waren aus dem Preußischen. Alle streckten
-die Hände nach dem Jäger, alle stammelten die gleiche Frage: »Ist
-er kommen?« Leupolt deutete gegen die Höhe. Etwas wundersam Frohes
-war in seiner Stimme: »Da droben steht er. Ihr sehet ihn nit in der
-Finsternis. Und er ist doch unser Licht, ist unser Helfer in aller
-Not!« Einer von den Alten schrie wie ein Entrückter: »Holz in die
-Glut! Leut, es taget über unseren Seelen!« Viele sprangen gegen den
-Glutschein hin. Die Scheite klapperten und klirrten. Ein Knistern
-und Geprassel. Schwarze Rauchwolken umwirbelten die alte Fichte. Ein
-Leuchten, ein wechselndes Lichtgezitter. Schön und lodernd stieg die
-wachsende Flamme gegen die Sterne hinauf. Die knorrigen Wetterbäume
-schienen funkelnde Blüten zu tragen, der Schneegrund war überwoben von
-blitzendem Glanz und violettem Schatten, alle nahen Felswände begannen
-zu glimmen, und die tausend Weißgestalten standen angestrahlt, als
-wären ihre Leinwandkittel verwandelt in purpurne Gewänder. »Zündet die
-Kienbränd!« rief der Alte von Unterstein. »Wir Fürsager, alle neun, wir
-steigen hinauf und holen den Helfer zum Feuer!«
-
-»Ihr müßt den Umweg machen über den Karrensteig!« sagte Leupolt. »Unser
-Helfer tät auch herkommen über das Wändl. Der zwingt jeden Weg. Aber es
-ist ein Müder bei ihm. Der muß ein linderes Sträßl haben. Und eh wir
-den Helfer holen, müssen wir sicher sein, daß sich kein Unbeschaffener
-nit eingeschlichen hat durch die Wächterzeil.« Er hob die Arme:
-»Die Gnotschaftsmeister! Zu mir!« Neun Männer kamen gesprungen, von
-verschiedenen Stellen her. Zu ihnen sagte Leupolt: »Das Feuer ist hell.
-Jeder zu seiner Gnotschaft! Schauet jedem unter die Kapp, jedem in
-die Augen! Wär einer dabei, dem ihr nit trauet auf Stein und Bein, so
-müßt ihr ihn ausweisen aus der Wächterzeil.« Er ließ einen Kienbrand
-aufflammen am Feuerstoß. »Kommet, Fürsager, ich führ euch.« Während im
-Ring der rotbestrahlten Weißgestalten die Gnotschaften sich voneinander
-sonderten, ging der Zug der Kienbrandträger gegen den dichteren Wald
-hinüber. Hinter den Bäumen verschwanden die Lichter halb und gaukelten
-mit rauchigem Schein. Bei den Gnotschaftsplätzen, wo einer um den
-andern sich gegen das Feuer wenden und die Kapuze heben mußte, schrie
-plötzlich eine Knabenstimme: »Wir Bischofswiesener sind hundertfünfe,
-da sind zwei Überzählige.« Ein zorniges Hindrängen. Aus den Reihen der
-Männer wühlten sich zwei Weißverhüllte mit schlagenden Armen heraus und
-sprangen in wilden Sätzen hinunter gegen den tieferen Wald der Ramsauer
-Talseite. Die Verfolger jagten sie über die Wächterzeile hinaus. Ein
-flinker Bub vermochte den einen noch zu haschen, riß ihm die Kapuze
-herunter, bekam einen Faustschlag ins Gesicht, taumelte über den Schnee
-und behielt zwischen seinen Fingern die schwarzen Zotten eines falschen
-Bartes.
-
-»Ich bin nit schuld, Leut!« sagte der Gnotschaftsmeister. »Jeder von
-den Meinen hat mir die heilige Losung sagen müssen. Daß bei uns die
-Polizeischnufler umschliefen wie die Mäus in der Mehlkammer, das spüren
-wir lang.« Aus der Unruh der anderen rief der Hasenknopf heraus: »Wie
-härter die Prüfung, so fester unsere Seelen. Bloß um den Leupi muß ich
-mich sorgen. Der ist sichtbar gewesen. Da blüht es ihm morgen, daß er
-Sonn und Mond nimmer sieht.«
-
-»Dem Leupi wird einer beistehen, der stark in ihm gewesen ist am
-Bekennertag. Sell droben -- schauet, Leut! -- da bringen die Fürsager
-den Morgen unserer Not vom sternscheinigen Himmel her! Machet die Augen
-sichtbar! Alle! Vor dem Helfer dürfen wir uns nit verstecken.« Der
-Gnotschaftsmeister streifte die weiße Kapuze in den Nacken zurück. Bei
-der Feuerhelle sah man ein hageres Gesicht, in dem zwei sehnsüchtige
-Augen brannten. Wie dieser eine, so taten alle. Tausend Gesichter
-enthüllten sich, junge und graubärtige, und alle waren einander
-ähnlich, hatten den gleichen dürstenden Hoffnungsglanz in den Augen,
-das gleiche stumme Leiden, das sie standhaft ertragen hatten um ihres
-Glaubens willen. Alle diese heißfunkelnden deutschen Bauernaugen
-waren emporgerichtet zur Höhe der Felsmauer, über deren Saum die von
-rotem Licht umzitterten Kienbrandträger mit den zwei fremden Herren
-herunterkamen.
-
-Der Hallturmer Grenzjäger war nicht bei ihnen. Der war in der
-Finsternis zurückgeblieben. Was er sah, dieses Wunderliche, zum
-Lachen Reizende und doch Ergreifende, bedrängte ihm hart das langsame
-Kindergehirn und machte ihn völlig hilflos. Mit dem Kopf zwischen
-den Fäusten, stand er wie ein Holzklotz, guckte dem Gaukelzug der
-Kienbrände nach, getraute sich nimmer zu lachen und klagte in das
-Nachtschweigen: »Herr Jesu mein, ich versteh's nit! Und ich versteh's
-halt nit!«
-
-Die Kienbrände qualmten im schwarzen Wald. Nun kamen sie auf die
-Rodung. Deutlich sahen die Tausend beim Feuerschein den alten würdigen
-Herrn im braunen Mantelkragen; er ging entblößten Hauptes, und seine
-weiße Perücke war im Flammenschein wie ein aus Kupfer gebuckelter Helm.
-An seiner Seite schritt ein anderer, klein, mager, gebeugt; das eckig
-vorgeschobene Jünglingsgesicht zwischen den losen Haarwischen ging
-immer hin und her; immer spähten seine Augen; der dunkle Soldatenmantel
-war von roten Feuerlinien umzeichnet, und die Tressen glitzerten an
-seinem Dreispitz wie die Juwelen eines Diadems. Das stumme Schauen
-der Tausend verwandelte sich in unruhiges Stimmengesumm: »Ein Soldat!
-Da kommt ein Soldat!« Schreck und Sorge klangen aus diesen Lauten.
-Die Leiden der vergangenen Wochen wirkten nach in den Seelen der
-Evangelischen. Manchen durchfieberte noch das zornvolle Grauen,
-das er davongetragen hatte vom Versöhnungsschießen, und alle waren
-sie eingedenk der Mißhandlungen, die sie erlitten hatten von den
-Musketieren und Dragonern. »Ein Soldat! Da kommt nichts Gutes. Ein
-Soldat hat allweil den Teufel am Bändel.«
-
-Der Hasenknopf versuchte die Aufgeregten zu beschwichtigen. »Ohne Sorg,
-Leut! Bei den Preußen ist's allweil so: ob was Irdisches oder Heiliges,
-überall ist ein Soldat dabei. Das sind nit solche Landschäden wie die
-unseren. Ein Soldat des Königs von Preußen ist voll rechtschaffener
-Zucht, ist allweil eine Landshilf und ein Leutfreund.« Das klang
-so unwahrscheinlich, daß es nicht beruhigend wirkte. Die Hände
-erhebend, mahnte der Hasenknopf: »Aber Brüder! Ich bin doch gewesen im
-Preußischen, hab's doch selber gesehen, wie da auf jedem Bodenfleck
-der Menschenfleiß und das Recht hausen. Was ich euch erzählt hab von
-des Königs Güt und vom Hilfswillen der evangelischen Leut? Ist das
-alles gählings verschwitzt? Bloß weil an einem Soldatenhütl die Litzen
-glanzen? Was geht der Soldat euch an? Der ist halt mitgeritten zur
-Sicherheit für den Herrn. Für uns ist *der* die Hauptsach. Als Fürstand
-des evangelischen Korpus von Regensburg ist er für die Salzburger
-Exulanten ein Baum und Schild gewesen.« Das Mißtrauen der Leute schien
-nicht völlig zu schwinden, aber sie wurden ruhiger und sahen dem Zug
-der Kienbrandträger mit schweratmender Erwartung entgegen.
-
-Eine Stille, in der nur das Rauschen der großen Flamme noch zu hören
-war, das Fauchen des Morgenwindes, der immer schärfer blies, und das
-hurtige Summen der fernen Talbäche. Die Fürsager kamen mit den beiden
-Herren zum Feuerstoß und warfen auf eine schweigsame, festliche Art
-die Kienbrände in die Flamme. Danckelmann trat gegen den Halbkreis
-hin und schwenkte freundlich und dennoch würdevoll die Reisemütze
-gegen die tausend Männer: »Grüß Gott, ihr lieben Leute! Ihr habt um
-Hilfe nachgesucht, ich bringe sie im Namen meines allergnädigsten
-Herrn, des Königs von Preußen, des Treuesten und Väterlichsten aller
-Evangelischen.« Schüchtern antworteten viele Stimmen: »Grüß Gott! Grüß
-Gott!« Und alle Augen hingen an dem würdigen alten Herrn, zu dem man
-Vertrauen haben konnte. Nur ein einziger, Leupolt Raurisser, sah in
-erregter Erwartung immer den anderen an. Der war bescheiden hinter
-dem Geheimrat zurückgeblieben, hatte ein bißchen geschmunzelt, als
-Danckelmann vom Väterlichsten aller Evangelischen sprach, war auf das
-Feuer zugeschritten und hielt nun, während seine Augen neugierig über
-die vielen Gesichter huschten, die kleinen Hände wie ein Frierender nah
-an die Flamme. Im Schatten der Helle war seine zierliche Gestalt eine
-schwarze Fläche, in der sich nichts unterscheiden ließ, und war nicht
-wie der Umriß eines Jünglings, sondern wie die Silhouette eines müden
-Greises. Rote Glutlinien umschimmerten den schwarzen Riß und drängten
-ihn noch dünner zusammen.
-
-»Ist der Mann anwesend,« fragte Danckelmann, »der zu Regensburg im
-Auftrag der Evangelischen von Berchtesgaden bei mir war?«
-
-»Wohl, Herr!« Der Hasenknopf trat vor und machte, obwohl er keinen Hut
-hatte, eine Handbewegung, als müßte er den Kopf entblößen.
-
-»Hat er den Leuten alles aufrichtig erzählt, was er auf seiner Reise
-durchs Preußische wahrgenommen?«
-
-»Wohl, Herr! Von allem Guten hab ich verzählt, vom evangelischen
-Hilfswillen und von der festen Ordnung im Land. Von der Sicherheit,
-in der jeder Bürger und Bauer lebt. Und von der Glaubensfreiheit, von
-den unbedrückten Seelen, von den evangelischen Gotteshäusern, von den
-Kanzelherren, die so gottfest predigen, und von den Pfarrhöfen, in
-denen gütige Frauen hausen, mit einem Häufl von lieben Kindern.« Bei
-dieser Feststellung fiel dem Hasenknopf eine wichtige Sache ein, die er
-den Leuten noch nicht erzählt hatte. Er wandte sich gegen den Halbkreis
-der Gnotschaften. »Wahr ist's, Leut, in der Gegend von Jüterbog« --
-man kicherte ein bißchen bei diesem wunderlichen Namen -- »da bin ich
-in einem winzigen Pfarrhöfl gewesen. Leut, da hat's gewummelt als wie
-im Immenkorb. Sind erst fufzehn Jährlen verheuert gewesen, das Pfarrle
-und die Pfarrfrau, und haben siebzehn Kinderlen gehabt, das achtzehnte
-schon unterwegs.« Im Ring der Leute prasselte ein heiteres Lachen
-auf, und man hörte eine Bubenstimme: »Sakrawolt, wie gottfest muß das
-preußische Pfarrmänndle gepredigt haben!« Wieder ein hundertstimmiges
-Lachen. Das klang so froh, als wär' es für diese bedrückten Herzen
-ein wohltuende Erlösungswunder: daß sie nach Monaten des Leidens
-das ausgehungerte Zwerchfell ein bißchen bewegen durften. Während
-das Gelächter hinknatterte über die vielen Köpfe, rief das magere
-Schwarzfigürchen vom Feuerstoß französisch zu Danckelmann hinüber: »Das
-ist die wirksamste Pastorenpredigt, von der ich noch je vernommen habe.
-Sie hat tausend betrübte Christen im Handumdrehen fröhlich gemacht. Der
-fähige Gottesmann muß Konsistorialrat werden.«
-
-Es blieb auch in der Stimme des Hasenknopf ein munterer Klang zurück.
-»Wie von allem Guten, Herr, so hab ich den Leuten auch redlich verzählt
-von allem Harten. Daß die Steuern nit linder sind, als bei uns.
-Freilich, die schlupfen wieder fürs Leutwohl ins Land hinein und gehen
-nit für Schuldzinsen und parisische Kebsföhlen drauf. Muß der Bauer im
-Preußischen zahlen, so kriegt er auch was. Arg plagen muß er sich. Der
-Boden ist mühsam. Da muß man tief hinunterackern, muß driefach misten,
-und schwitzen muß man um Halm und Frucht. Aber die Leut sind riegelsam,
-und der Wuchs ist überall gut. Die Küh haben Euter wie Metzenkörb,
-und die Ross' haben Flachsen wie Eisen. Die Arbeit muß einer gern
-haben im Preußischen. Sonst wär die Freud am Leben ein bißl mager.
-Die Gegnet schaut aus, als hätt sie der Höllische eben geklopft mit
-seiner Ofenschaufel. Kein Berg und kein Bergl nit. Alles Wasser lauft
-sandig und langsam. Nirgends ein lustiger Bach. Der Wind muß die Mühlen
-treiben, sonst tät die Halbscheid der Preußen kein Mehl nit haben.
-Aber lebfreudig sind sie doch allweil und lachen gern. Sind standhafte
-Leut. Wie man sagt bei uns: >Herr Jesu, dir leb ich, dir sterb ich!< --
-so sagen's die Preußen bei aller Gottslieb von ihrem Land und König.
-Aber wie die Leut da drunten reden! Man lust und lust und versteht's
-nit recht. Da müssen wir im Deutschen ein bißl umlernen, wenn wir ins
-Preußische kommen. Bei uns im Wirtshäusl schafft einer an: >Gelt,
-Marianndl, bist so gut und bringst mir ein paar Schweinshaxln!< Im
-Preußischen muß einer kommandieren: >He! 'n Eisbein! Wuppdich!<« Wieder
-prasselte ein Lachen über die tausend Köpfe hin. »Wahr ist's, Leut, die
-Preußischen reden kurzzipflet und flink. Oft tut's unsereinem weh in
-den Ohrwascheln, ich weiß nit warum. Im Anfang hat's mich schier aus
-dem Häusl gebracht. Da kommt so ein Preuß und sagt was. Du meinst, daß
-er beißen möcht. Hörst du aber ein bißl gutwillig hin, so kommt's dir
-für, als möcht er ganz freundlich Grüßgott sagen. Er kann's halt nit
-anders. Sein Maulofen hat nit die richtig Wärm. Ist schad drum. Täten
-die Preußischen mit unsereinem reden, wie sie schaffen und einwendig
-sind -- wahr ist's, Leut, die müßt man gern haben.«
-
-»Jedes Land hat seinen Boden, jedes Volk seine Art,« fiel Danckelmann
-ein, »man muß das nehmen, wie es ist. Bei euch im Süden ist auch
-nicht alles, wie es den Preußen zusagt.« Er schien gegenüber den
-Weisheiten der Hasenknopfischen Preußenforschung die Geduld ein bißchen
-verloren zu haben. Hinter ihm, beim Feuerstoß, klang ein herzliches
-Knabenlachen. Dann halblaut das französische Wort: »Dieser ehrliche
-Mann hat recht, mein lieber Geheimrat! Wir sollten versuchen, etwas
-Wärme hinter das Klappergebiß zu bringen.« Wieder lachend, drehte der
-junge Oberst die Brust gegen die Flamme, breitete die mageren Ärmchen
-und sperrte, ein bißchen in parodistischer Art, die Zähne auseinander,
-um den heißen Hauch des Feuerstoßes reichlich in seine Brust zu saugen.
-Da fand auch Danckelmann seine freundliche Ruhe wieder. Er sagte: die
-Evangelischen dürften aller zureichenden Hilfe gewärtig sein; doch
-läge es dem König von Preußen fern, dem Lande Berchtesgaden einen
-Untertan abwendig zu machen; Hilfe hätten nur jene zu erwarten, die
-als Exulanten eingeschrieben, also von ihrem Fürsten innerlich schon
-gelöst wären und sich einwandfrei als Protestanten erkennen ließen;
-deshalb wäre, ehe man von der Hilfe sprechen dürfte, eine Prüfung ihrer
-Glaubenssätze unerläßlich; man könnte nicht tausend Menschen auf ihren
-Glauben befragen; so möchten die Evangelischen einen aus ihrer Mitte
-wählen, der die notwendigen Fragen für sie alle zu beantworten hätte.
-Gleich riefen Hunderte von Stimmen: »Der Leupi Raurisser.« Danckelmann
-sagte: »Das scheint die Majorität zu sein. Wer dagegen wäre, daß dieser
-Mann für eure Seelen Zeugnis gibt, soll die Hand ausstrecken.« Keine
-Hand erhob sich.
-
-Dem Jäger war eine heiße Verlegenheitsglut über das Gesicht
-geflogen. Jetzt nahm er im Feuerschein den grünen Hut vor die Brust.
-»Vergeltsgott, meine Brüder! Das ist mir Ehr, die ich als heilig spür.«
-Er ging auf den jungen Oberst zu: »Fraget, gütiger Herr! Ich will alles
-ehrlich sagen, was mir in Herz und Seel ist.« Das feurig angestrahlte
-Soldätl machte verdutzte Augen und sagte, fast erschrocken: »Vor mich?
-Nee!« Höflich komplimentierend deutete er auf Danckelmann. Der fragte
-schon mit würdevollem Ernst: »Was glaubt er von Gott, vom Geiste, von
-Gottes Sohn und vom Werke der Erlösung?« Ein praktisch erfahrener
-Katechet schien Danckelmann nicht zu sein; was er fragte, war für den
-ersten Anhieb reichlich viel. Der junge Oberst, ohne eine Miene zu
-verziehen, flüsterte dem Geheimrat französisch zu: »Milder! Milder!
-Ich wäre schon in Verlegenheit!« Auch Leupolt mußte sich eine Weile
-besinnen, um die vier Antworten verständig zusammenzubinden. Dann
-sprach er mit der Ruhe eines reifen Menschen, mit der Inbrunst eines
-gläubigen Herzens und doch mit der Einfalt eines Kindes. Alles sagte
-er, daß jedes Wort zu erweisen war durch eine Stelle der Bibel. Und
-als der Geheimrat mit lauter Stimme fragte: »Glaubt ihr das alle so?«
--- da fuhren die paar tausend weißen Arme in die Höhe, und die tausend
-Stimmen riefen wie aus einer einzigen, andachtsvollen Seele heraus:
-»Wir glauben!« Das war im sternfunkelnden Nachtschweigen, beim Rauschen
-des Feuers und in der Traumstille des zwischen Winter und Frühling
-kämpfenden Waldes ein so wundervoller Laut, daß der junge Oberst vor
-tiefer Erschütterung bleich wurde bis in die schmalen, hart aufeinander
-gepreßten Lippen. Vorgebeugt, das spitz herausgeschobene Gesicht
-scharf abgehoben von der Feuerhelle, die übereinander gepreßten Hände
-auf den Degenknauf gestützt wie auf einen Krückstock, sah er mit groß
-erweiterten Augen den Jäger an und spähte über alle Gesichter hin, über
-das rötliche Glimmbild der wunderlich gestalteten Felsen und über das
-Funkelgewölbe des schwarzblauen Himmels, den fern im Osten schon eine
-matte Lichtahnung des kommenden Morgens überschlich.
-
-Auch Danckelmann schien unter dem Eindruck dieses Augenblicks zu
-stehen. Seine Stimme klang unsicher, als er fragte: »Was glaubt er
-von der Taufe, von der Sündenvergebung und vom heiligen Abendmahl?«
-Da brauchte Leupolt sich nicht zu besinnen. Was er sagte, riß die
-Tausend wieder zu dem frohen Schrei empor: »Wir glauben!« Dennoch
-schien der Geheimrat nicht völlig zufriedengestellt. Diese fromme
-evangelische Seelenmusik erschien ihm nicht völlig frei von Klängen,
-die ein strenger Protestant als halb katholisch empfinden konnte. Eine
-Einwendung erhob er nicht, sondern fragte weiter: »Was glaubt er von
-Himmel und Hölle?«
-
-»Himmel ist überall, wo der Herrgott ist. Und allweil bei Gott und in
-ewiger Freud ist die Wohnstatt der Guten, wenn sie verschnauft haben
-als redliche Christen. Zu jeder sauberen Seel in ihrer Todesstund
-sagt Jesuchrist: Noch heute wirst du bei mir im Paradiese sein! --
-Überall, wo Gott nit weilen mag, ist Höll und ewige Pein. Da hausen die
-Unverbesserlichen im Bösen.«
-
-»Glaubt ihr das alle so?«
-
-»Wir glauben!«
-
-»So sag er mir --«
-
-Der junge Oberst legte wehrend die Hand auf den Arm des Geheimrats. Der
-merkte das in seinem Eifer nicht und fragte: »Sag er mir, was glaubt er
-vom sogenannten Fegefeuer?«
-
-»Ans Fegfeuer glaub ich nit.«
-
-»Warum nicht?«
-
-»Weil Gottes Weisheit das Nutzlose nit erschafft und ein zweckloses
-Ding zwischen Himmel und Höll nit dulden kann. Die im unsauberen
-Laster und in der Sünd Verstockten kommen aus dem Feuer nimmer heraus.
-Da reicht die Höll. Die redlichen Willens sind, die sündigen nit
-unverzeihlich und kommen nit hinein ins Feuer. Da reicht der Himmel.
-Ohne Schuld auf Erden ist bloß ein einziger gewesen. Der Menschensohn.
-Was sonst noch lebt, und tät es der Beste sein, ist alles wie ein
-Hälml, das sich biegt unter hartem Wind und sich wieder aufrichtet in
-guter Stund. Wozu ein Fegfeuer? Redliche Reu hebt jede schwachgewordene
-Seel dem Herrgott entgegen. Da ist siebenfache Freud in der Höh. So
-steht's geschrieben. So ist es.«
-
-Noch ehe Danckelmann eine Frage an die Tausend richtete, riefen schon
-alle Stimmen: »Ans Fegfeuer glauben wir nit.«
-
-»Was hält er von jenen, die anderen Glaubens sind als er?«
-
-Leupolt schwieg, seine Brauen zogen sich zusammen.
-
-»Warum unterläßt er es, zu antworten?«
-
-Da wandte der Jäger die trauernden Augen von dem würdigen Manne ab, sah
-den jungen Oberst an und sagte ruhig: »Herr! Meine Mutter, von allen
-Müttern die beste, ist eine gutkatholische Frau.«
-
-»Will er damit sagen --« fiel Danckelmann ein. Weiter kam er nicht.
-Neben ihm klang eine leise, scharfe Stimme: »_Assez!_« Wieder legte
-sich die schlanke weiße Jünglingshand auf seinen Arm. Dann ein flinkes
-Gewirbel französischer Worte, halb ernst, halb mit spöttischem Klang:
-»Wir wollen da Schluß machen. Wer katechisieren will, soll's besser
-verstehen als der andere. Jeder von diesen Christen, mein lieber
-Danckelmann, glaubt hundertmal mehr als Sie. Von mir nicht zu reden.
-Ich stehe nackt und frierend vor diesen warm umwickelten Seelen.« Er
-trat erregt auf Leupolt zu, betrachtete ihn mit einem freundlich
-forschenden Blick und fragte mit leiser Zärtlichkeit, die seine Stimme
-völlig veränderte: »Hat er ooch 'ne Schwester?«
-
-Der Jäger schüttelte stumm den Kopf.
-
-»Schade!« Und langsam, fast schleppend -- als wär' es für ihn eine
-Gedankenarbeit, die reindeutschen Worte zu finden -- sprach der kleine,
-zierliche Offizier zu dem glühenden Gesicht des Jägers hinauf: »Mutter
-is der Name alles Gütigen uff Erden. Det Treueste und Wärmste heißt
-Schwester. Er hätte verdient, 'ne Schwester zu haben.« Seine weiße
-schlanke Hand faßte eine Falte an Leupolts Kittel. Der zärtliche Klang
-war erloschen, die Stimme verwandelt zu harter Strenge. »Er is so 'n
-reinlicher Christ, wie 'n wohljeschaffener Mensch. Wird er ooch 'n
-ebenso beschaffener Bürger werden?« Ein huschendes Lächeln. »Wat hält
-er von der weltlichen Obrigkeit?«
-
-»Daß sie so nötig ist, wie die hilfreiche Sonn über dem Boden und wie
-die Feuchtigkeit im Acker. Wenn's die richtige ist, die allweil im Land
-das Gute und Rechte will, das Leben nit nötet, die Seelen nit zwängt,
-so muß man ihr gehorsamen auf Schnaufer und Sterben.«
-
-»So? Meint er?« Wieder dieses flinkverschwindende Lächeln. »Und welche
-is unter solcher Obrigkeit die notwendigste Tugend eines guten Bürgers?«
-
-»Die Treu.«
-
-»Ooch. Es gibt 'ne bessere.«
-
-»Mutige Tapferkeit wider jeden Landsfeind.«
-
-»Ooch. Es gibt 'ne bessere.«
-
-Leupolt schwieg, verwirrt durch den funkelnden Stahlglanz dieser
-strengen Jünglingsaugen.
-
-»Ick will 's ihm sagen: *die Pflicht*. Det is der Hammer for alle
-steinernen Nüsse des Lebens. Un weeß er ooch, wat for'n Unterschied is
-zwischen Fürst und Bürger? Ick will's ihm sagen. Ein guter Fürst und
-'n pflichtvergessener Bürger, da is der Fürst der höhere. Ein guter
-Bürger und 'n pflichtvergessener Fürst, da is der Bürger der bessere.
-Ein pflichtgetreuer Fürst und ein pflichtgetreuer Bürger, da is keen
-Unterschied nich. Jeder ein Diener seines Volkes.« Nun das leise,
-feinspielende Lächeln wieder. »Nna? Kann er det ooch glauben?«
-
-»Wohl, Herr!« Mit zitternden Fäusten preßte Leupolt den Hut an die
-Brust. »Jetzt steht das für mich geschrieben. So ist es. Da glaub ich
-dran.«
-
-»Denn soll 'r seinen Glauben den anderen predigen. So fleißig und
-gottfest, wie der Paster von Jüterbog das Predigen verstund. Und
-Preußen wird Wachstum haben. Jeb er mich seine Hand! Will er _dans cet
-esprit_ der Unsere werden, denn bin ick der Seine. Und nu ruf er die
-anderen her. Denen will ick sagen, wie der König von Preußen ihnen
-helfen wird. Besser sollen sie's _naturellement_ nich haben als unsere
-Preußen. Aber ooch nich schlechter.«
-
-In einem Sturm von Glück und Freude schrie Leupolts klingende Stimme
-in das schöne kalte Nachtschweigen: »Her zu unserem Herrn, ihr
-Brüder in Christ! Der Helfer will reden zu euch!« Wie eine große,
-rauschende, weißgraue Woge strömte neben dem Feuerstoß der Halbkreis
-der Gnotschaften gegen den Jäger hin und schloß sich um die beiden
-Herren und die Fürsager zu einem engen Ring. Die Vordersten warfen sich
-auf die Knie und kauerten sich auf den Boden, damit die hinter ihnen
-Stehenden sehen und hören könnten. In diesem Ring von vorgestreckten
-Köpfen, von glanzäugigen, zwischen grellem Feuerschein und schwarzem
-Schatten wechselnden Gesichtern klang die langsame, nach deutschem
-Ausdruck ringende, scharfgepreßte und dennoch wohllautende Stimme des
-Sprechenden. Bei der atemlosen Stille, mit der sie lauschten, vernahmen
-die Tausend jedes Wort.
-
-Nur ein einziger verstand nicht; der einsame Hiesel Schneck auf der
-rotglimmenden Felswand droben. Über die Wand hinunterzusteigen und
-hinüberzuspringen zum Ring der Lauschenden -- auf diesen Einfall
-konnte er nicht kommen. So erfindungsreich und beweglich war sein
-sechzigjähriges Kindergehirnchen nicht. Gewissenhaft blieb der
-Hiesel, wo man ihn hatte stehen lassen. Obwohl er sich mit dem halben
-Leib hinaushängte über den Steinrand und die braunen Tatzen wie
-Suppenschüsseln um die Ohrmuscheln wölbte, konnte er nur manchmal
-ein Wort erschnappen. Da drunten wurde alles beredet: die Lösung von
-der Leibeigenschaft auf Kosten des Königs von Preußen; das Reisegeld
-für die völlig Unbemittelten, die alles verloren hatten; Führung und
-Fürsorge, Verpflegung und Unterkunft für die Dauer der weiten Wanderung
-bis ins Brandenburgische und nach Ostpreußen; die Zuteilung von
-gutem Ackerboden in fruchtbarer Gegend; zwanzig Morgen Feld für den
-einzelnen Mann, zwanzig bis dreißig Morgen für kinderreiche Familien;
-Bauholz, Steine, Kalk und Arbeitshilfe für Errichtung von Wohnstätten;
-Begabung mit Rindern, Pferden und Ackergerät; unbedrückende, auf
-viele Jahre verteilte Rückzahlung der empfangenen Werte; zehnjährige
-Steuerfreiheit für das neue Dach; Einteilung in die Seelsorge; freier
-Gottesdienst und Freiheit der Seelen.
-
-Daß da drunten beim Feuerstoß der Schnapsgutter oder ein Weinkrug
-reichlich herumgereicht worden wäre, davon hatte der Hiesel Schneck
-trotz seiner ruhelos spähenden Luchsaugen nicht das Geringste gewahren
-können. Drum blieb es ihm auch völlig unverständlich, daß die Tausend
-beim lodernden Feuerstoß und in ihren grellbeleuchteten Schneekitteln
-sich zu gebärden begannen wie froh und selig Betrunkene. Alle
-drängten sie jubelnd gegen die fremden Herren hin, jeder wollte einen
-Händedruck des Helfers erhaschen, und die freudigen Jauchzer schrillten
-durcheinander, als würde da drunten nicht eine polizeilich verbotene
-Trutzversammlung abgehalten, sondern eine heilige, das Blut und die
-Seelen durchleuchtende Sonnwendfeier. Aus dem freudetrunkenen Gewirbel
-der tausend Seligkeitslaute hörte der verdutzte Hiesel Schneck eine
-verzückte Bubenstimme herausschrillen: »Du Kaiser im Untersberg! Schlaf
-weiter, so lang wie du magst! Da ist ein Lebendiger, der uns auflupft
-aus aller deutschen Not!« Dann eine Greisenstimme mit trunkenem Schrei
-und voll junggewordener Kraft: »Du Schneekittel, du mutloser und
-trauriger! Ich brauch dich nimmer. Gucket, Brüder, wie lustig mein
-Lugenröckl brennt!« Wie dieser eine tat, so taten hundert, so taten
-alle. Gleich großen weißen Vögeln flogen die Kittel und Kapuzen der
-Sichtbargewordenen ins Feuer. Die lodernde Flamme wuchs und schlug noch
-höher empor, als die Wipfel der höchsten Bäume standen.
-
-Mit großen Augen guckte der Hiesel Schneck hinunter auf diese
-märchenhafte Sache, die er nicht begriff. Das verrückte
-Durcheinandergewirr und das jubelnde Geschrei erschien ihm als etwas
-Lächerliches und stimmte ihn doch so sonderbar traurig, daß er am
-liebsten wieder heulen hätte mögen wie damals in jener Schneenacht,
-die ihm die evangelikanischen Heimlichkeiten seines Schneckenweibls
-verraten hatte. Um sich dieser unbehaglichen Gefühlsbedrückung zu
-entreißen, rührte er mit den Fäusten in der Luft herum und knurrte
-gallig hinauf zum sternschönen Himmel: »Mar' und Josef, ich versteh's
-nit, kreuzikruzisaxundfixige Weltsnoterei und Höllementshund du
-verteufelter, und ich versteh's halt nit!«
-
-Wie der heilige Georg mit seiner Lanze losgestochen hatte auf den
-menschenfressenden Giftdrachen, so stieß der Hiesel den Eisenspitz
-seines Bergsteckens zwischen die Steinrippen der unbegreiflichen Welt
-und sauste mit wütenden Sprüngen über den steilen Hang hinunter zur
-Holzerhütte, um in der Herdgrube ein Feuer anzuschüren, wie es Leupolt
-ihm aufgetragen hatte. Seine Pflicht und Schuldigkeit tat der Hiesel
-unter allen Umständen, auch wenn er nicht verstand, wozu es nötig war.
-In dieser Hinsicht konnte man den Schneck mit einem guten Preußen
-vergleichen, freilich unter dem Risiko, daß der sonst so gutmütige
-Hiesel mit seinem Bergstecken unbarmherzig auf jeden losdreschen würde,
-der so was Schauderhaftes über ihn aussprach.
-
-
-
-
-Kapitel XXV
-
-
-Um die Dächer von Berchtesgaden blaute die Morgenfrühe, die nach der
-Neumondnacht zu leuchten begann. Die höchsten, noch weißen Bergzinnen
-waren schon rosig angestrahlt, die Täler noch umsponnen von grauem
-Frühschatten. Auf drei Türmen läuteten die Glocken. Frauen und Mädchen
-wanderten schweigsam zur Messe. Sie trugen das Gebetbuch und den
-Rosenkranz zwischen vorgestreckten Händen. Neben den vielen Musketieren
-waren nur wenige Mannsleute und Burschen zu sehen, selten einer mit
-frohen Augen.
-
-Nicht nur die müden Menschengesichter, auch die Häuser und ihre Mauern
-erzählten von den erbitterten Glaubenskämpfen der vergangenen Wochen.
-Viele Kaufgewölbe waren geschlossen. Zwischen Häusern mit grünen
-Fensterläden und Flurpfosten stand immer wieder eines, dessen Türen
-und Kreuzstöcke mit Mohnfarbe angestrichen waren. Dadurch hatte die
-Marktgasse unleugbar an malerischem Reiz gewonnen. Das prächtige,
-reichlich verschwendete Rot und das saftige Frühlingsgrün stimmte gut
-mit dem silbernen Weiß der Mauern zusammen, das freilich der früher
-üblichen Reinheit ein bißchen entbehrte. Mit Kohle oder schwarzer
-Wagenschmiere, sogar mit einer Farbe, die man sonst bei künstlerischer
-Betätigung nicht zu verwenden pflegt, waren auf den weißen Mauern
-phantasievolle Teufelsgestalten mit schweinsartig geringelten
-Schwänzchen angemalt. Diese Zeugnisse einer naiven Volkskunst waren
-textlich belebt durch Stoßseufzer der christlichen Nächstenliebe,
-gegen die man den Vorwurf einer gewissen Eintönigkeit erheben mußte.
-Auf jeder Mauer wiederholten sich die gleichen Geistesblitze:
-»Luthrischer Siach!«, »Du Salzlecker!«, »Verhöllter Saukerl!«,
-»Schwarzweißer Preiß!«, »Evangelischer Teufelsbraten!« Von dieser,
-seit dem Versöhnungsschießen epidemisch gewordenen Volkskunst waren
-auch die Mauern der Gutgläubigen nicht verschont geblieben. Es erwies
-sich wieder einmal das Sprichwort: »Schrei hinein in den Wald und so
-hallte heraus.« Man hatte die Wände der Treugebliebenen geziert durch
-Mönchsköpfe mit Ablaßzetteln als ausgestreckte Zungen, durch Heilige
-mit Geldsäcken unter den Armen, durch Kapuziner mit Säbel, Muskete
-und Bratwurstkränzl. Diese Bilder waren aber nur noch fragmentarisch
-vorhanden, weil man sie wieder heruntergekratzt hatte. Das war
-polizeilich erlaubt: an ketzerischen Mauern war jedes Erlösungswerk
-verboten; hier hieß es: »Volksstimme, Gottesstimme.«
-
-Häufig waren Häuser zu sehen, deren Türen und Fensterstöcke nach
-ausgiebiger Terpentintaufe nur noch einen blaßroten Schimmer
-hatten. Man durfte da nicht immer auf eine reumütige Heimkehr zum
-fürstpröpstlichen Glauben schließen. Gleich in den ersten Nächten
-nach dem Versöhnungsschießen hatten »evangelikanische Inkulpatanten«,
-wie Muckenfüßl rapportierte, zu heimtückischem Ausgleich auch die
-Fensterstöcke und Haustüren gutgläubiger Nachbarn mit roter Farbe
-bestrichen. Viel Terpentin war nötig. Die Preise der erlösenden
-Flüssigkeit stiegen. Weil man schließlich -- helfe, was helfen kann
--- die fälschlich verketzerten Haustüren mit Kirschwasser, mit
-Zwetschkengeist und doppelt gebranntem Enzian waschen mußte, ergab
-es sich, daß alles, was unter die Bezeichnung Spiritus fiel, im Lande
-Berchtesgaden eine schwer erschwingliche Sache wurde. Der Rausch
-war ein seltenes Ding, man sah auch an Sonn- und Feiertagen keinen
-Betrunkenen mehr, und Pfarrer Ludwig konnte heiter zu Lewitter sagen:
-»Er hat doch recht, der Amsterdamer! Keine Sach des Lebens ist so
-kotzmiserablig, daß sie nit irgendwie zur moralischen Besserung der
-Menschheit dienen könnt.«
-
-Wie fast alle Häuser der Marktgasse, so hatten auch die großen,
-altersdunklen Torflügel des Stiftes ein neuzeitliches Aussehen.
-An ihnen waren die vier großen, engbedruckten Papierbogen mit den
-vielen Paragraphen des Exulationsediktes angeschlagen; der Mann
-mit den entbehrlichen Schriftzeichen hatte hier die zwecklose
-Buchstabenverschwendung zu einer Orgie ausgestaltet. Und wie ein
-Herrscher sich umgeben sieht von seinen Generälen und Soldaten, so
-war das große Papierquartett der Landsverweisung aller Evangelischen
-im Ring umnagelt mit allen Polizeiverboten, die aus dem Schoß der
-Bekehrungswochen herausgesprungen waren. An diesen weißen Zetteln
-ging der stille Strom der Kirchgänger vorüber. Und ging vorüber an
-einem wunderlich blickenden Menschen, der auf den Marmorstufen des
-Marktbrunnens hockte, zwischen den Armen ein schlummerndes Bübchen,
-auf dem Bauernhut drei von Sonne und Regen verblichene Trauerbänder.
-Jedesmal, wenn zwischen den Weibsleuten ein Mannsbild an ihm
-vorüberging, rief er mit erwürgter Stimme die gleichen Worte: »Höi!
-Luset! Kauft nit einer meinen Hausrat, meine Küh und meine Geißen,
-mein Feld und mein Futter? Ich geb's um den halben Preis. Bloß der
-Gerstenacker muß mein bleiben für den gottsfreien Blumenwuchs. Da soll
-man nit misten und mähen. Das ander alles kann einer haben um den
-halben Preis.« Ein sonderbares Lächeln. »Jeder kann's kaufen. Alles ist
-gutkatholische War.« Die Leute sahen den Christl Haynacher in Erbarmen
-an oder schüttelten die Köpfe. Manche erkannten ihn nimmer. Er hatte
-sich verändert. Sehr.
-
-Nach der Woche ohne Mond und Sonne, die ihm das Versöhnungsschießen
-eingetragen hatte, war Christl Haynacher ein geduldiger Mann geworden.
-Er versorgte seine Kühe und Geißen, kochte für sein Bübl das Mus,
-richtete unverdrossen auf dem Grabhügel seiner Martle ein neues Kreuz
-wieder auf, wenn das andere verschwunden war, schreinerte schließlich
-die nötigen Kreuze im Vorrat für eine ganze Woche, und verschwieg
-gehorsam die polizeilich verbotene Geschichte vom gottseligen Absterben
-seines Weibes. Nur von dem heiligen Mirakel erzählte er, das seine
-zwei »Preußenkinderlen« aus der Armeseelenkammer in den Glanz des
-Himmels hinaufgehoben hatte. So blieb er, bis der Kanzler von Grusdorf
-aus Gründen der Staatsräson in der geduldigen Ergebung des Christl
-Haynacher einen Wandel hervorrief. Unter Androhung vierzehntägiger
-Haftstrafe verbot man dem Christl, etwas »Kreuzähnliches« auf das
-Grab seiner Martle zu stecken, und zwei Dutzend Stockstreiche sollten
-ihm gewährleistet sein, wenn er nur einem einzigen Menschen noch die
-Himmelfahrtsgeschichte seines ungetauftgetauften Zwillingspärchens
-vorschwindle. »So so?« sagte Christl, als ihm Muckenfüßl diese
-Regierungsverlautbarung aus dem gefährlichen Notizbuch vorgelesen
-hatte. Das Grab seines Weibes blieb ohne Kreuz, und um das Schweigen
-leichter zu erlernen, vermied es Christl, mit Menschen beisammen zu
-sein, wurde erschreckend mager und bekam die Augen eines wilden Tieres.
-
-Vor zwei Tagen hatte man ihn zum Landgericht befohlen. Der Mutter
-Jesunder war es aufgefallen, daß der Haynacher immer häufiger in der
-Kirche fehlte. Nun sollte er die schwarze Seele weißwaschen. Während
-seine verstörten Augen über den Tisch der Gerechtigkeit glitten,
-sagte er ruhig: »Mein Bübl muß sein Mus haben. Eine Magd kann ich nit
-bezahlen. Soll ich fleißig die Meß besuchen, so müssen mir die Herren
-eine Kindsmagd stellen.« Trotz andauernden Kopfschüttelns wollte sich
-aus dem justiziarischen Sauermilchgehirn keine verwertbare Butter
-absondern. Bezahlte man dem Haynacher eine Magd, so mußte doch wieder
-das Mädel die Kirche versäumen. Das war also gehupft wie gesprungen.
-Und dem Stifte kam es billiger zu stehen, wenn der Himmel nur um das
-Kirchengebet des Christl Haynacher verkürzt wurde. Man mußte die Sache
-auf sich beruhen lassen. Damit aber das Verhör nicht völlig ohne
-Resultat bliebe, stellte der Landrichter _in miraculi sororum geminarum
-causa_ an den Christl allerlei schwerbegreifliche Fragen. Der wortkarge
-Haynacher, als er merkte, daß ihm das Reden nicht nur gestattet, sogar
-befohlen war, wurde überaus gesprächig, bekam einen heilig entrückten
-Blick und schilderte das gottschöne Wunder seiner Martle so genau,
-als wäre er selbst dabei gewesen. »Und schauet, lieber Herr, da
-ist's in der Finsternis allweil heller worden. Wie die Sonn an einem
-Frühlingsmorgen, so ist der lichtscheinige Himmelsglanz hergefallen
-über das gottsliebe Pärl. Zwei treue Mutterhändlen haben herausgelangt
-aus der Höh --«
-
-»Ssssssso?« Der Landrichter ließ den Puder seiner Wuckelperücke
-nebeln. »Feldwebel! Schmeiß er das besoffene Schwein aus meiner
-Kanzlei!« Das geschah. Und *wie* es geschah, in einem so gottsheiligen
-Augenblick, das richtete im Verstand des Christl Haynacher eine so
-verheerende Wirkung an, daß er wie ein Verrückter hinüberlief zur
-Exulationskommission und sich einschrieb in die Liste der evangelischen
-Emigranten, mit der ausdrücklichen Beifügung: »als gutkatholischer
-Christ«. So ganz verstört war er, daß ihm bei der Eintragung sein
-Bübchen nicht einfiel. Und nun bot er schon den zweiten Tag seine Habe
-zum Verkauf: »Ich geb's um den halben Preis! Bloß der Gerstenacker
-soll bleiben für den gottsfreien Blumenwuchs. Da soll man nit misten
-und mähen.« Immer dünner wurde der Zug der Kirchgänger. Jetzt öffnete
-sich die Tür eines nahen Hauses, und würdevoll erschienen die vier
-entbehrlichen Federstriche, mit großer Aktenmappe, mit tadellos
-überpudertem Gehirnpelz. Mißmutig musterten die kleinen Mausaugen
-die frischgeweißte Hauswand. Sei es, daß man die tünchende Schicht
-zu dünn genommen, sei es, daß die Feuchtigkeit der Morgenluft den
-Kalk transparent machte, so oder so, das vierzeilige Lied, das ein
-unerforschbarer Missetäter mit roter Farbe auf diese Mauer geschrieben
-hatte, leuchtete deutlich durch:
-
- »Du Christenschnufler, du Gottsentdecker,
- Tust du als fleißiger Seelenschmecker
- Dem Inkulpaten durch's Nasenloch gucken?
- Oder mußt du dich tiefer bucken?«
-
-In Anbetracht der Gedankenspiele, die das doppelhöckerige Justizgehirn
-des Landrichters durchkribbeln mußten, konnte man, als sein Scharfblick
-von der getünchten Mauer hinüberglitt zum Christl Haynacher, eine
-Besserung seiner Laune kaum erhoffen. Dennoch kam sie. Mit einem fast
-heiteren Lächeln blieb er vor dem Bauer stehen. »Nun? Er hat sich ja,
-wie ich höre, inskribieren lassen als Exulant?«
-
-»Wohl, Herr!« Langsam hob der Christl die tiefliegenden Augen. »Aber
-nit als Evangelischer. Ich und mein Bübl, wir bleiben gutkatholische
-Christen bis zur erlösenden Sterbstund.«
-
-Das Lächeln des Landrichters wurde noch fröhlicher. »Ich observiere
-mit Satisfaktion, daß er seinen Deszendenten ausdrücklich als
-katholisch nominiert und will es _ad notam_ nehmen.« Dieses Deutsch
-verstand der Christl nicht. Er guckte stumm. »Aber meint er nicht,
-mein guter Haynacher, daß es, wenn, auch außerdienstlich, ein hoher
-Gerichtsbeamter mit ihm spricht, generaliter empfehlenswürdig wäre,
-sich vom Sitzfleisch zu erheben?«
-
-»Das geht nit, Herr, mein Bübl schlaft. Es hat nit schlafen können die
-ganze Nacht. Ein bißl Ruh, Herr, muß man einer Menschenseel vergönnen.«
-
-»Ja. Gut! Bleib er also sitzen! Aber hat diese Schlafsucht seines
-Kindes nicht eine andere Ursache? Man hat mir rapportiert, daß er viel
-mit seinem Bübchen redet, auf eine sonderbare Weise.«
-
-»So so?« Der Bauer legte den Hut mit den Trauerbändern auf die
-Marmorstufe und strich sich mit der Hand übers Haar, das hinter dem
-rechten Ohr einen weißlichen Fleck bekam, vom vielen Kratzen.
-
-Im Blick des Landrichters glänzte die Freude eines inquisitorischen
-Fundes. »Da erzählt er wohl jetzt seinem *Kinde*, was den Leuten zu
-erzählen ihm verboten ist?«
-
-»Gott bewahr!« Christls Augen funkelten wie Wolfslichter. »Ich tu
-allweil gehorsamen, Herr!«
-
-»Was schwatzt er dann immer mit seinem Kind?«
-
-»Ich tu nit schwatzen, Herr! Ich tu dem Bübl, wenn es nit schlafen
-kann, ein Liedl singen.«
-
-»Man rapportiert mir aber, das wäre geredet, nicht gesungen.«
-
-Ein hartes Lachen irrte um Christls aschgraue Lippen. »Jeder singt,
-wie er's kann. Und wie man ihn laßt.« Der Haynacher erhob sich,
-schmiegte das wachgewordene Bübl an seine Brust und sagte fromm:
-»Gelobt sei Jesuchrist und die heilige Mutter Marie, drietausendmal
-in Ewigkeit Amen!« Ehe die vier überflüssigen Buchstaben denkfähig
-wurden, war der Haynacher schon davongegangen. Erst nach einer Weile
-vermochte Doktor Halbundhalb die Wahrheit zu ergründen: es handle
-sich da um einen schwachsinnigen Menschen, der, als Inskribierter,
-nicht im klaren war über die politische Zuständigkeit seines
-eingestandenermaßen katholischen Deszendenten. »Man kann das Kind einem
-solchen Narren nicht länger überlassen. Das wäre unmenschlich.« In
-diesem Gedankengange wurde der Landrichter durch einen jungen, schon
-zu körperlicher Rundung neigenden Klosterbruder unterbrochen, der aus
-dem Stiftshof herauskam und auf ihn zutrat. Obwohl er glatt rasiert
-war, erinnerte er merklich an den Grenzmusketier mit dem zottigen
-Faschingsbart. Das gedunsene Gesicht sah ein bißchen ermüdet aus, ein
-bißchen abgehetzt. Die Hände in die Kuttenärmel geschoben, verneigte
-er sich demütig und sprach ein paar leise Worte -- nicht: »Gelobt sei
-Jesus Christus!« -- er sagte was anderes und flüsterte vom Leupolt
-Raurisser. Doktor Willibald stutzte. Rasch verschwanden die beiden in
-der Torhalle des Stiftes.
-
-Eine Viertelstunde später trabten auf flinken Gäulen zwei Dragoner
-und ein berittener fürstpröpstlicher Jäger gegen die zum Hallturm
-führende Straße hinaus, vorüber am aufblühenden Freudengärtl der
-allergnädigsten Aurore de Neuenstein, die eben aus ihrem Schlafzimmer
-auf das zierlich verschnörkelte Altänchen heraustrat, um in der
-milden Sonne des schönen Lenzmorgens ihre Schokolade einzunehmen.
-Trotz der frühen Stunde trug das kindhafte Fräulein kein bequemes
-_Deshabillé_, sondern war schon geschnürt, wenn auch nicht völlig
-zur zarten Wespentaille wie sonst. Frisiert war sie noch nicht, aber
-schon geschminkt und schönbepflastert. Sehr reichlich. Sonst hatte
-sie nur immer zwei Schönheitspflästerchen neckisch verwendet. Jetzt
-trug sie ein halbes Dutzend. Das hatte unliebsame Ursachen. Ihr holdes
-Unschuldsgesichtchen war seit einiger Zeit ein bißchen verpustelt,
-als wäre sie eine Liebhaberin heftig gewürzter Speisen geworden. Auch
-schien sie von dem Familienübel derer von Grusdorf befallen zu sein:
-von der Gicht. Täglich nahm sie ein gesalzenes Bad, so heiß, wie es
-eine zarte Menschenhaut nur mit Aufwand größter Tapferkeit zu ertragen
-vermag. Auch an seelischen Depressionen krankte sie und wurde häufig
-von Weinkrämpfen befallen, wie ein den weißen Mäuschen zuneigender
-Zechbruder sie im besoffenen Elend zu bekommen pflegt. Doch an jedem
-Abend, wenn der Landesherr sich mit seiner Freundin _en titre_ zur
-gemeinsamen Mahlzeit setzte, wurde Aurore de Neuenstein überraschend
-liebenswürdig, sprühte von Heiterkeit und wußte ihren _maître adoré_ in
-eine Stimmung zu versetzen, die ihn seiner vielen abtrünnigen Subjekte
-völlig vergessen ließ. In solch einer gutgelaunten, für köstlichen
-Nachtschlaf sorgenden Stunde äußerte er einmal die anerkennende
-Meinung: einer reizvolleren Freundin könne sich auch der König von
-Polen nicht erfreuen, dem doch bekanntlich die größte Auswahl zur
-Verfügung stünde.
-
-Dankbar für ein so ehrenvolles Kompliment, überbot sich Aurore de
-Neuenstein in entzückenden Munterkeiten, die ihr um so leichter
-gelangen, weil Graf Tige, an langwieriger Verkühlung leidend, sich
-chronisch von der intimen Tafel der Allergnädigsten exkusieren ließ.
-Das nannte Herr Anton Cajetan »so verwunderlich wie das unerforschbare
-Rätsel der Armeseelenkammer«. Nicht ganz begreiflich war ihm auch der
-Zustand andauernder Feindseligkeit, der zwischen seiner niedlichen
-Freundin und ihrem morosen Onkel von Grusdorf zu bestehen schien. Bei
-einer Diskussion dieses erstaunlichen Familienzwistes vergaß Aurore de
-Neuenstein wieder einmal ihrer feinen Pariser Bildung und schwäbelte in
-bebendem Zorn: »E rechts Kameel isch'r. Wo was schief geht im Ländle,
-isch'r ratlos und weiß koi Mittel nit.« Sie selbst erschrak über diesen
-heimatlichen Ausbruch ihrer dunkelsten Unruhe. Herr Anton Cajetan aber
-hatte nur eine politische Wahrheit herausgehört, die ihn nachdenklich
-klagen ließ: »Ein großer, in allen Relationen versierter Staatsmann
-ist so selten, wie ein reiner Engel auf Erden.« Er küßte galant das
-Händchen seiner verblüfften Freundin, die erleichtert aufatmete. Über
-solch jähes Erschrecken, wie über das ruhelose Mißtrauen, von dem sie
-stets erfüllt schien, konnte sie nie einen völlig hüllenden Schleier
-ziehen. Wenn die harmloseste Sache geschah, wenn der Klopfer an ihrem
-Gartentor gerührt wurde, wenn ein Lakai erschien, wurde sie immer
-zuerst von einer heftigen Konfusion befallen, bevor sie ihre Kontenanz
-und ihr unschuldsvolles Lächeln wieder fand. Und als sie auf ihrem
-Altänchen das Hufgeklapper hörte und die beiden Dragoner in Begleitung
-eines fürstpröpstlichen Jägers so hurtig traben sah, erschrak sie _à
-tel point_, daß sie unter der rosigen Schminke erblaßte. Allerdings,
-diesmal entbehrte ihr Schreck auch einer realen Beziehung nicht.
-Vor einigen Tagen hatte sie, für alle unvorhergesehenen Fälle, ihre
-kostbarsten Schmuckstücke, die Mehrzahl ihrer Pariser Toiletten,
-ihre feinste brabantische Spitzenwäsche und zwei schwere Kassetten
-mit klug ersparten Dukaten nach Reichenhall geschickt, über die
-berchtesgadnische Grenze. Just *dieser* Grenze trabten die zwei
-Dragoner und der fürstpröpstliche Jäger entgegen, mit einer Eile,
-als hätten sie auf amtlichen Befehl was flüchtig Gewordenes wieder
-einzufangen. In der ersten Bestürzung zeterte Aurore de Neuenstein:
-»Soldate! Soldate! Was isch denn? Halt! Ihr saudumme Kerle, höret ihr
-denn nit?«
-
-Sie hörten nicht. Und die Allergnädigste verbrachte eine qualvolle
-Stunde, bis ihre Zofe aus der Pflegerkanzlei die beruhigende Nachricht
-brachte, daß die Drei nur davongeritten wären, um den Leupolt Raurisser
-wegen Teilnahme an einer nächtlichen Fürsagung dem Aufenthalt ohne
-Mond und Sonne entgegenzuführen. Zur Beruhigung des überstandenen
-Nervensturmes nahm Aurore de Neuenstein ein dampfendes Salzbad,
-ungefähr um die gleiche Stunde, in der die drei Berittenen die
-Grenzwache beim Hallturm erreichten. Hier gab's einen Aufenthalt.
-Vornehme Gäste wurden feierlich empfangen, der Gesandte des Königs
-von Preußen mit seinem Geleitsoffizier, dem Obristen von Berg. Eine
-Eilstafette mußte absausen, um dem fürstpröpstlichen Hof die Ankunft
-des Gesandten zu melden. Erst, als die beiden Herren im Schritt
-davonritten, hinter einer Ehreneskorte von sechs Dragonern, fanden die
-Drei, die zum Hiesel Schneck wollten, einen Führer.
-
-Das kleine Jägerhaus lag schweigsam, mit verschlossener Tür. Im
-offenen Geißstall plätscherte was. Als die Soldaten durch den niederen
-Einschlupf guckten, erschrak das Schneckenweibl fürchterlich. Die
-Drei sprangen auf die Stubentür zu und fanden den Hiesel schnarchend
-im Bett. »Kerl, was liegst du am lichten Tag in den Federn? Das ist
-verdächtig.« Mit einer an ihm seltenen Beweglichkeit des Geistes
-antwortete Schneck: »Heut in der Nacht bin ich beim Hahnverlusen
-gewesen. Verstehst?« Der fürstpröpstliche Jäger bestätigte: »Allweil
-schlaft man nach dem Hahnverlusen.« Er wandte sich an Hiesel:
-»Deintwegen kommen wir nit. Wo ist der Raurisser?«
-
-Schneck, dem das Blut in die Stirn fuhr, nahm seine Zuflucht zu einem
-gesunden Himmelhund: »Kreuzteufel und Höllementsnoterei, was weiß denn
-ich?« Damit der Schläfer auf dem Heuboden erwachen und durch eine
-Dachluke entspringen möchte, schrie er aus Leibeskräften: »Ich bin doch
-nit dem Leupi seine Kindsmagd! Wird halt draußen im Wald sein. Das
-hat er nit schmecken können, der Leupi, daß die *Dragoner* kommen.«
-Das Wort war wie ein Trompetenstoß. Droben über der Stubendecke ein
-leichtes Gepolter. »Gott sei Dank,« dachte Hiesel, »jetzt fahrt er
-davon!« Dabei tat er, um jedes Geräusch da droben zu übertönen, einen
-brüllenden Fluch um den andern und strampelte mit den Beinen gegen
-die Bettlade. Er war ein prächtiges Mannsbild, der Schneck, nur kein
-Menschenkenner. An der Decke wurde die Stiegenklappe gehoben, und
-man hörte eine ruhige Stimme sagen: »Ich bin daheim. Und komm schon.
-Gleich.« Die Schneckin heulte in ihre Schürze, und Hiesel knirschte
-wütend gegen die Wand: »So ein Rindviech, so ein ehrenhafts!«
-
-Leupolt kam über die Stiege herunter, in dem verwitterten
-Bergjägerkleid, das er in der Nacht getragen hatte. »Was soll's, ihr
-Leut?«
-
-»Du mußt mit uns. Befehl der Stiftskanzlei.«
-
-»Gut!« Seine Augen glänzten. Als ihn die Dragoner packten, ihm die
-Hände hinter den Rücken zogen und den Strick um die Gelenke schnürten,
-sagte er lächelnd: »Das wär nit nötig. Ich geh gutwillig. Jetzt ist
-kein Weg nimmer, der nit der Erlösung zulauft.« Er drehte das Gesicht.
-»Vergeltsgott, Mutter Schneckin! Für alles. Und Vergeltsgott, Hies! Dir
-bleib ich gut.« Er trat hinaus in die Sonne, die drei anderen hinter
-ihm. Mit einem fürchterlich gestichelten Himmelsköter sprang Hiesel
-Schneck aus dem Bett heraus, im Hemd. Das war seit vierzig Jahren,
-trotz seltener Wäsche, ein bißchen eingegangen und kurz geworden.
-Man sah, was man nicht sehen wollte. Der Hiesel hatte magergeselchte
-Beine, fast so haarig wie Ziegenläufe. Gar nicht appetitlich sah er
-aus. Dennoch war etwas Schönes an ihm, als er die schüttelnden Arme
-hob und hinaufklagte zur schwarzen Stubendecke: »Herrgott, Herrgott,
-was für eine Welt ist das, verstehst! Wo der Redlichste nimmer sicher
-ist seiner Haut und Seel!« Eine knirschende Wut befiel ihn. »Her da,
-Schneckin! Her zu mir!« Er machte mit dem Zeigefinger eine Bewegung,
-wie schlechte Hundepädagogen sie zu machen pflegen, wenn sie einen
-widerspenstigen Teckel heranbefehlen. Als er das schluchzende Weibl
-umklammert hielt, brüllte er in seinem ehrlichen Menschenzorn: »Jetzt,
-Schneckin, verstehst, jetzt hat der christliche Hafen bei mir ein Loch.
-Heut in der Nacht, verstehst, da bin ich noch allweil kein richtiger
-Evangelikaner gewesen. Jetzt bin ich einer. Gottsherrgottsakerment, ich
-exulier, ich exulier und ich exulier, jetzt grad mit Fleiß! Verstehst,
-Alte?«
-
-»Wohl, Schneck, versteh schon!« weinte sie. »Aber ehnder du exulieren
-kannst, mußt du allweil ins Hösl schlupfen! Verstehst?« Der Hiesel
-verstand nicht. Er sprang unter einem Himmelhund, der so lang wurde
-wie eine Wagendeichsel, zum kleinen Fenster hin und legte sich, um
-hinauszugucken, mit beiden Armen in die Nische. Dadurch wurde das
-kurze Hemd noch kürzer. Auch die Stimme des Schneck erinnerte an
-ein klagendes Kind: »Herr Jesus, Jesus, Schneckin, jetzt binden die
-Saubrüder, die gottverfluchten, den Buben an die Rösser an!« So
-schrecklich, wie es für den Hiesel aussah, war es in Wirklichkeit
-nicht. Als die zwei Dragoner aufgestiegen waren, knüpfte jeder ein Ende
-des Strickes, mit dem sie Leupolt gefesselt hatten, an den Sattelknauf.
-Und fort. Der Jäger zwischen den beiden Gäulen. Die hatten keinen
-allzulangen Schritt. Da war schon mitzukommen. Aber sobald die Reiter
-auf der breiten Straße waren, fingen sie zu traben an, weniger aus
-Diensteifer als aus Neugier; sie wollten den Einzug des preußischen
-Gesandten zu Berchtesgaden nicht versäumen. Leupolt mußte springen,
-verlor den Hut und sagte: »Leut! Mein Hütl! Haltet ein bißl!«
-
-Ein Dragoner lachte: »Wo du hinkommst, brauchst du kein Hütl nimmer.
-Sei froh, wenn du den Kopf behaltst.« Und weil er sah, wie flink der
-Leupolt Raurisser zu springen verstand, begann er den Gaul zu spornen,
-als wäre er neugierig, welcher von beiden der bessere Springer wäre,
-der Jäger oder das Roß. Die gefesselten Hände hinter dem Rücken, den
-Kopf in den Nacken zurückgelegt, das Gesicht umweht von den feuchten
-Strähnen des Blondhaars, die Brust nach vorne geschoben, mit ruhig
-pumpenden Atemzügen, so sprang der Jäger und war nicht langsamer als
-die Gäule. In seinen Augen schwamm ein heißer und froher Glanz, in
-seiner Seele der Gedanke: »Dort, wo ich hinspring, ist der Helfer
-und mein Glück.« Die Dragoner, die für ihre Gäule ehrgeizig wurden,
-begannen zu galoppieren. Leupolt sprang, ein Lächeln um den halb
-offenen, durstig atmenden Mund. Der junge schlanke, stahlsehnige Jäger,
-der das Beste seiner Kraft herausholte aus den beschwingten Gliedern,
-bot einen Anblick, daß der Herrgott, hätte er auf ihn heruntergeschaut,
-in Stolz und Freude hätte sagen müssen: »Wie schön und kraftvoll ist
-der Mensch, den ich erschuf!«
-
-Schon tauchten die Dächer und der Kirchturm von Bischofswiesen über
-die Hügel. Auf der harten Kalksteinstraße war der hämmernde Hufschlag
-weit zu hören. Nahe den ersten Häusern ritten im Schritt die sechs
-Dragoner, die man dem preußischen Gesandten als Ehreneskorte gegeben
-hatte. Der junge Oberst, mitten im französischen Geplauder, drehte
-das Gesicht nach Art eines wachsamen Soldaten, sah den springenden
-Menschen zwischen den beiden hetzenden Gäulen, erkannte den Jäger,
-riß unter einem kurzen Laut das Pferd herum und jagte den Dragonern
-entgegen. Ein Dutzend Schritte vor ihnen verhielt er den Fuchs und
-streckte die Reitpeitsche seitwärts, als wär's eine Schranke, über die
-es kein Hinüber gab. »_Ne bougez pas! Gredins!_« Seine Augen blitzten.
-In der Gewohnheit der Sprache, die ihm geläufiger war als die Sprache
-der Heimat, quirlten die jähzornigen Worte aus ihm heraus: »_Hé! Vous!
-Êtes-vous des soldats allemands ou des bourreaux? Rendez la liberté à
-cet homme!_ Wollt ihr? _Hein?_ Gebt den Mann da frei!« Danckelmann, mit
-Sorge in den Augen, kam herangetrabt und wisperte französische Worte.
-»Ach wat!« Ein unwilliges Kopfschütteln. »Det duld ick nich. Sei es uff
-preußischem Sand oder fremdem Boden.« Der junge Oberst gab dem Fuchs
-einen Sporendruck und trieb ihn gegen die beiden Dragoner hin. »Wat
-hat der Mann da verbrochen?« Die Dragoner, ohne zu antworten, machten
-verdutzte Köpfe, und Leupolt, zwischen den schnaufenden Gäulen, stand
-aufrecht, mit glanzvollen Augen, so kraftvoll atmend, daß ihm die
-Schultern und der Brustkorb auf und nieder gingen. »Habt ihr Wolle in
-den Ohren? Ick frage, wat der da verbrochen hat.«
-
-Verdrossen murrte einer von den Dragonern: »So ein luthrischer Siach
-ist er.«
-
-»Wat?« Eine rasche Wendung gegen den Geheimrat: »_Est-ce que vous avez
-compris? Moi pas._«
-
-Danckelmann verdolmetschte: »_Il prétend que le chasseur est un de ces
-infâmes luthériens._«
-
-»Oh?« Der junge Oberst lächelte. »Sonst hat er nischt verschuldet?«
-
-»Nit um ein Härlhaar!« sagte der Fürstpröpstliche. »Ist allweil der
-Beste von unserer Jägerei gewesen.«
-
-Gegen den linken Dragoner hinreitend, befahl der junge Oberst: »Er! Vom
-Gaul herunter!« Weil der Dragoner zögerte, wurde die Stimme schärfer.
-»Kennt er keenen Offizier nich? Runter vom Gaul! Den Mann da vom
-Strick!« Jetzt stieg der Dragoner aus dem Sattel; während er den Strick
-vom Gaul und von Leupolts Händen nestelte, brummte er immer vor sich
-hin, nicht freundlich. Der junge Oberst lachte. »Na, Kerl, er kann sich
-seinem Herrgott rekompensieren, daß er keen Preuße nich is. Sonst säß
-er morgen im verdienten Loch.«
-
-Als Leupolt frei war, hob er die leuchtenden Augen. »Vergeltsgott,
-Herr! Man spürt, daß der Helfer kommen ist.«
-
-»Zeig er mich seine Hände!« Sich niederbeugend, betrachtete der Oberst
-neugierig die weißen Narbenbänder, die sich um Leupolts Handgelenke
-zogen. Man sah nur die eingewürgten Striemen, kein Blut. Wieder ein
-heiteres Lachen: »Det luthrische Leder is dauerhaft. Kann er reiten? So
-steig er uff den leeren Gaul! Und komm er an meine Seite.« Der junge
-Offizier in der Mitte, Danckelmann zur Rechten, der hutlose Leupolt
-Raurisser zur Linken, so ritten die Drei davon. Immer schwatzte der
-Oberst mit dem Geheimrat. Plötzlich wandte er das fröhliche Gesicht dem
-Jäger zu: »Wie lange hat er so springen jemußt?«
-
-»Vom Hallturm bis zu Euch, Herr!«
-
-»_Parbleu!_« Ein drolliges Staunen war in den großen Stahlaugen. »Mir
-jeht die Puste aus, wenn ick hundert Sprünge mache. Wat muß er Luft in
-die Lungen haben und Schmalz in die Beene.« Französisch zu Danckelmann:
-»Das wird ein Preuße, um den der Ritt sich gelohnt hat.« Der Lachende
-verstummte, seine Augen glitten staunend ins Weite. Hinter dem
-Untersberg und seinen vorgelagerten Waldnasen hatte der hohe Göhl sich
-hervorgeschoben, die ganze herrliche Silberkette bis zum Steinernen
-Meer. Und ihr zu Füßen der keimende Frühling. »Wie schön ist das!« In
-enthusiastischem Entzücken, mit einem Wirbelsturm von Worten, schüttete
-der Begeisterte alle Freude einer andächtigen Knabenseele aus sich
-heraus. Und griff hinüber zum Arm des Jägers, mit einem Ton, der etwas
-Beleidigendes hatte: »Kerl, sonne Heimat verläßt er?«
-
-Leupolts Stirne wurde heiß. Dann tat er einen tiefen Atemzug und sagte
-ruhig: »Man tut's nur um Gottes wegen.«
-
-Der junge Oberst blieb stumm, war nachdenklich, saß gebeugt im Sattel
-und blickte immer vor sich hin. Jetzt ein Aufzucken, ein ernster Blick
-auf den Geheimrat. »Danckelmann!« Nach diesem deutschen Namen die
-französischen Worte: »Nun beginne ich die Menschen erst zu begreifen,
-die wir gesehen haben in dieser Nacht. Welch ein gottverlorener Esel
-muß ein Fürst sein, der solche Untertanen über die Grenze jagt.
-Von diesen Christen soll Preußen noch Gewinn haben. Und ich will
-sorgen dafür, daß sie Gewinn haben von Preußen.« Sie hatten die
-ersten Häuser von Bischofswiesen erreicht. Es kamen die Brandstätten,
-die geplünderten Ställe. Der schweigsam gewordene Offizier, mit
-vorgeschobenem Gesicht, ließ immer die Augen gleiten. Er schien nur
-das Bild der Verwüstung zu sehen, nicht die Musketiere, die neben der
-Straße salutierten, nicht die Männer und Burschen, die zu den Zäunen
-gesprungen kamen, ein hoffendes Erkennen im Blick. Mit einem Laut
-des Ekels wandte er sich von einer Wiese ab, die überstreut war mit
-zertrümmertem Hausgerät, und sagte französisch zu Danckelmann: »Trab!
-Dieser Lieblichkeit muß man entrinnen. Wir Deutsche mögen viel Gutes
-haben. Witz und Geist besitzen die Franzosen. Nur *ihre* Sprache konnte
-das aktuelle Wortspiel ersinnen: _chrétien, crétinisme_.« Er ritt, mit
-gebeugtem Kopf, ritt immer schneller, hielt die Augen halb geschlossen
-und hatte was Greisenhaftes in dem jungen Gesicht. Schon lange war
-das verwüstete Dorf hinter grünenden Hügeln verschwunden, als Leupolt
-sagte: »Da kommen die berchtesgadnischen Herren.«
-
-Der Oberst straffte ruckartig den Körper, ließ den Geheimrat
-vorausreiten, war verwandelt in einen anderen Menschen, war jung,
-war liebenswürdig, aufmerksam auf jedes Wort, und machte, während
-Danckelmann den Obristen von Berg als seinen Begleitoffizier den
-zwei Kapitelherren vorstellte, so graziöse Komplimente, als hätte
-die erfahrenste Dame der großen Welt sie ihm einstudiert. Graf Tige
-begann über dieses zierliche Wesen zu schmunzeln und flüsterte dem
-Domizellaren von Stutzing in die Perücke: »Der? Ein Soldat? Ach nein!
-Das ist ein markierter Tanzmeister.« Besser schien der junge preußische
-Offizier dem Grafen Saur zu gefallen. Der Kapitular fand während des
-Weiterrittes Vergnügen an dem eleganten Französisch, das gespickt
-war mit prickelnden Wortspielen, mit enthusiastischen Hymnen auf die
-Schönheit des berchtesgadnischen Landes. Mitten im heitersten Geplauder
-wurde der junge Oberst ernst: »_Cher comte!_ Eine Angelegenheit, die
-mir dringlich erscheint! Ein Mann wurde entgegen den Reichsgesetzen in
-brutaler Weise wie ein Verbrecher mißhandelt, nur weil er Protestant
-ist. Ich habe den Schuldlosen unter meinen Schutz genommen und stelle
-die Bitte, daß mir dieser Landkundige für die Dauer meines Aufenthaltes
-zugeteilt werde zu meinem persönlichen Dienst.«
-
-»Ich glaube das zusagen zu können, auch ohne Rücksprache mit meinem
-Allergnädigsten. Wer ist der Mann?«
-
-»Der da hinten auf dem Dragonergaul, der junge Mensch ohne Hut.«
-
-Graf Saur wandte die Augen und schien sehr unliebsam berührt zu sein;
-doch höflich sagte er: »Ihr Wunsch, Herr Oberst, ist bewilligt. Seine
-Liebden der Fürstpropst werden meiner Ansicht beistimmen.«
-
-Das Wohlgefallen, das Graf Saur an dem preußischen Offizier gefunden
-hatte, schien erloschen zu sein; er wandte sich im Gespräch fast nur an
-Danckelmann.
-
-Lächelnd und schweigsam, mit ruhelos gleitenden Augen, ritt der junge
-Oberst neben den beiden her.
-
-
-
-
-Kapitel XXVI
-
-
-Vor dem Leuthaus zu Berchtesgaden war eine Ehrenwache aufgezogen. Die
-drei Gesandtenzimmer waren in Bereitschaft gesetzt, im Salon war zum
-Imbiß gedeckt, die Betten hatte man mit Pariser Essenzen parfümiert,
-und ein Lakai vom persönlichen Dienst Seiner Liebden überwachte alle
-Vorbereitungen. Weil es trotz der heftig duftenden Blumenwässer in den
-lange nicht mehr benützten Zimmern noch immer sehr merklich muffelte,
-hatte man zur Lüftung alle Fenster aufgerissen. Freundlich schimmerte
-die Frühlingssonne des milden Nachmittages auf den Gesimsen, und
-durch die offenen Fenster quoll ein gedämpftes Stimmengesumm. Der
-ganze Hof des Leuthauses -- ausgenommen eine von den Polizeisoldaten
-freigehaltene Gasse -- war angefüllt mit einer gestauten Menschenmenge.
-Immer hörte man die kanzleideutschen Befehle Muckenfüßls, der überaus
-aufgeregt war und ungeachtet des ihm innewohnenden Begriffsvermögens in
-eine Eigenschaft des Hiesel Schneck verfiel: er verstand etwas nicht.
-Seit Wochen war es zu Berchtesgaden eine Rarität gewesen, wenn man ein
-Mannsbild auf der Gasse sah. Nun plötzlich wimmelte es von Männern und
-Burschen. Muckenfüßl erkannte die meisten von ihnen als Inskribierte.
-»Die Sach ist perplexierend!« sagte er zum Kommandanten der Ehrenwache.
-»Wir von der Polizei, wir haben doch _in loco hujus_ nit ausgeratscht,
-wer da von Reichenhall her adveniert? Und doch muß jeder evangelische
-Floh schon einen Schmeck davon haben! Dem landsverrätrischen Gesindel
-sticht die Freud wie Schneckenhörndln _per oculos_ heraus!« Diese
-Muckenfüßl'sche Beobachtung war kein Irrtum. Den paarhundert Männern
-und Burschen, die sich außerhalb des Polizeispaliers mit entblößten
-Köpfen Schulter an Schulter drängten, glänzte in den abgezehrten
-Gesichtern der Hoffnungstrost, den sie in der Morgendämmerung
-heimgetragen hatten vom Toten Mann.
-
-Als die Herren geritten kamen, ließ sich kein Zuruf und kein Gruß
-vernehmen; außer dem Pferdegetrappel und dem Gewehrklappern der
-salutierenden Musketiere kaum ein Laut. Jene, die nur aus Neugier
-zusammengelaufen waren, guckten stumm, und die anderen, die das
-Erlösungsfeuer der Neumondnacht gesehen hatten, grüßten nur mit einem
-Augenleuchten, mit einem lächelnden Aufatmen. In der Stille, die den
-Empfang der fremden Herren umringte, gab es an der Ecke des Leuthauses
-plötzlich ein Gedräng. Ein aufgeregtes Mädel wollte sich aus dem Gewühl
-heranarbeiten und bettelte immer: »Lasset mich doch hinaus, ich muß
-zum Meister heim!« Es war die Sus. Sie kämpfte mit Ellenbogen und
-Fäusten. Als sie sich endlich freien Weg erstritten hatte, rannte sie,
-daß ihr Rock wie eine Fahne flatterte. Vor der Haustür preßte sie die
-Fäuste auf die Brust, als möchte sie gewaltsam still machen, was in ihr
-hämmerte. Aus der Werkstatt klangen gleichmäßige Meißelschläge, und im
-Gesicht der Sus verriet sich eine grübelnde Gedankenarbeit. Wie sollte
-sie das machen: daß der Meister nicht herausgerissen würde aus seiner
-schönen Arbeit, und daß Luisa doch erfuhr, welchen hutlosen Reiter die
-Sus auf einem Dragonergaul hatte sitzen sehen? Ruhig trat sie in die
-Werkstatt des Meisters. Er hämmerte mit festen Streichen vor dem roten
-Wachsmodell an der lebensgroßen Holzstatue der >heiligen Menschheit<.
-Neben dem Ofen saß Luisa hinter dem Spinnrad, mit gesenkten Augen.
-Der Meister, ohne die Arbeit zu unterbrechen, fragte: »Was ist los im
-Markt?«
-
-»Zwei Fremde sind eingeritten, ein fürnehmes Mannsbild und ein junger
-Soldat. Die Stiftsherren haben die Gäst zum Leuthaus komplimentiert.«
-
-Der Meister hämmerte weiter. Es war ihm nicht aufgefallen, daß die
-Stimme der Sus anders klang wie sonst. Aber Luisa, unter raschem
-Handgriff nach dem Rädl, hob das Gesicht und sah die Augen der Magd in
-stummer Sprache auf sich gerichtet. Dann wandte sich die Sus und ging.
-Die Wangen überhaucht von einer fieberhaften Röte, erhob sich Luisa.
-»Kind?« fragte Niklaus unter den hallenden Hammerschlägen. »Wohin?«
-
-»Ich muß die Sus was fragen.«
-
-Seit Wochen war es der Meister so gewöhnt, daß Luisa immer bei ihm
-blieb, wenn er arbeitete. Es fehlte ihm was, sobald er das Spinnrad
-nicht schnurren hörte. »Kommst du wieder?«
-
-»Gleich, Vater!« Draußen im Flur fand Luisa die Magd, die schon
-wartete. »Sus?« Das war keine Stimme, nur ein Hauch. »Was Ungutes?«
-
-Sus faßte die Haustochter bei der Hand, zog sie in die Küche, schlang
-den Arm um ihre Schultern und flüsterte: »Mit den Herren ist der
-Leupolt eingeritten.«
-
-Ein Erblassen rann über Luisas Stirn: »Gefangen?«
-
-»Frei und wie von den Herren einer ist er auf gesatteltem Gaul
-gesessen. Das tät nit sein können, wenn ihn der Fürst nit begnadigt
-hätt.«
-
-Luisa stand mit geschlossenen Augen. »Begnadigt?«
-
-»Er wird halt reumütig geworden sein, eurem Glück zulieb!« Ein heißes
-Drängen kam in die Stimme der Sus. »Kindl, jetzt sei gescheit! Ich seh
-doch, wie du vor Sehnsucht schier versterben mußt. Denk nit an Höll
-oder Himmel, denk an dein Glück! Unter allem Heiligen ist Glück und
-Freud das Heiligste in der Menschenseel.«
-
-Noch immer zitterte Luisa in der Erschütterung, von der sie befallen
-war. »Begnadigt? Das muß man der Mutter Agnes zu wissen tun.« Sie riß
-sich aus den Armen der Sus und sprang zur Haustür hinaus, ohne Hut
-und Tuch, in dem ziegelfarbenen Hauskleid, angetan mit der grünen
-Spinnschürze. Wie wunderlich die Leute auf der Gasse sie ansahen,
-das merkte sie nicht. Vor dem Leuthaus war, so gierig auch Luisas
-Augen suchten, kein gesattelter Gaul und kein begnadigter Reiter
-zu gewahren, nur die Schildwach vor der Tür und ein Schwarm von
-Burschen, die in freudiger Erregung mit einander flüsterten. Wußten
-die es auch schon, daß der Leupolt begnadigt war? Und zwei Herren
-kamen feierlich zum Leuthaus gegangen, festlich gekleidet und frisch
-gepudert, der Stiftsdekan mit dem abgemagerten, gichtisch knaxenden
-Kanzler von Grusdorf. Beriefen die beiden den Leupolt zum Fürsten? Und
-die leere Sänfte, die ihr in der Marktgasse begegnete, voraus zwei
-Läufer, auf deren blauen Seidenkappen die Straußenfedern so zufriedene
-Bewegungen machten? Holte die Sänfte den Leupolt? Zum Vergelt für
-die ungerechten Leiden? In Luisa wurde alles zu einem Märchen, zu
-einem Kindertraum, und war doch nichts anderes als der glühende,
-sinnverwirrende Blutschauer eines liebenden Weibes. Sie war so ganz in
-das Glück dieser Stunde verloren, daß sie eine Frau nicht erkannte, an
-der sie doch sonst nicht blind vorüberging. Hatte dieser gnadenreiche
-Tag alle Menschen so verdreht gemacht, wie Luisa war? Auch Mutter
-Jesunder zappelte an dem Mädchen vorbei, als hätten ihre Augen das
-Sehen verlernt. Was aus dem verstörten Runzelgesicht der Frau Apollonia
-herausblinkerte, war keine Gnadenfreude. Sie machte in ihrer Sorge um
-den leidenden Sohn einen Weg, den sie in ihrem Leben noch nie gegangen
-war.
-
-Die rätselvolle Seelenkrankheit, an welcher Jesunder litt, hatte
-sich in der vergangenen Nacht zu einer schrecklichen Traumkrise
-angewachsen. Die auf ewig verdammte Marta Haynacherin war ihm
-erschienen als grauenhafte Feuergestalt, war an sein weißes Bett
-getreten und hatte in fehlerfreiem Latein zu ihm gesprochen: »Gib
-mir meine Kinder wieder, das schwarze und das weiße!« Unter kaltem
-Angstschweiß hatte er geantwortet, ebenfalls im besten, ciceronischen
-Idiom: »Ich habe sie nicht, ich möchte doch selber wissen, wo sie
-sind.« Und die entsetzliche, unerbittliche Haynacherin: »Du hast sie,
-gib sie mir wieder! Ich weiß, du verschlucktest sie, wie ein Wolf das
-schwarze und weiße Lämmlein!« Etwas Ähnliches hatte er selbst schon
-in Augenblicken geistiger Verwirrung höchst unmedizinisch vermutet,
-wenn er auch angenommen hatte, daß das unzertrennliche Pärchen nur in
-seinen Gehirnwindungen eingekapselt wäre, nicht in seinem Unterleib.
-Verzweifelt schrie er, mit einer Stimme, die nicht traumhaft blieb,
-sondern so laut wurde, daß man sie vernehmen konnte im ganzen Haus:
-»So nimm sie dir, schneide sie mir aus dem Bauch heraus, ich muß es
-dulden in christlicher Ergebung!« Das war der Moment gewesen, in dem
-die Mutter Jesunder ungemein real, mit weißer Nachthaube und rotem
-Unterrock bekleidet, in den mystischen Traumvorgang hereingesprungen
-war. Zitternd und unter Tränen hatte der wachgewordene Sohn am Hals
-der Mutter gehangen und jedes Bekenntnis verweigert. Erst im Verlauf
-des Vormittages, noch immer in den schwülen Wöchnerkissen liegend,
-hatte er soviel Tapferkeit gefunden, um seiner kummervollen Mutter
-den lateinischen Traum ins Deutsche zu übersetzen. Frau Jesunder
-rannte im ersten Schreck zum Bader. Der scheuerte sich ratlos
-hinter den Ohren. Sie lief zum Stiftsphysikus. Der lachte in einer
-Anwandlung von Gemütsroheit, sprach von _vaporibus obstinatis_ und
-empfahl die schattenseitige Applizierung von lauwarmer Sole, sanft
-gemildert durch Olivenöl. Unmöglich! Wie hätte sich Mutter Jesunder
-ihrem hochwürdigsten Herrn Sohn gegenüber zur Anwendung solch einer
-unpriesterlichen Maßregel entschließen können? Und da wußte sie
-schließlich in ihrer Verzweiflung keine andere Hilfe mehr, nur diesen
-von ihr noch nie betretenen, mit den glühenden Steinen christlicher
-Vorwürfe gepflasterten Weg: zum getauften Juden Simeon Lewitter.
-
-Als sie scheu in das enge Gässelchen hineinsurrte, erreichte Luisa in
-entgegengesetzter Richtung das schattige Häusergewinkel hinter der
-nördlichen Stiftsmauer. Vor der Hintertür von Pfarrer Ludwigs Wohnung
-stockte für einen Augenblick ihr jagender Fuß. Einen Rat holen? Dieser
-Gedanke, kaum geboren, war schon wieder verworfen. Das zitternde
-Jubelklingen in ihrem Herzen? War das nicht von allen Ratgebern der
-verläßlichste? Weiter mit wehendem Rock und fliegender Schürze! Auf der
-Schwelle des Mälzmeisterhauses ein Stoßgebet und ohne Besinnen hinein
-in die Stube. Wie freundlich diese schmucke, schimmerblanke Stube war!
-Hinter dem weißgescheuerten Tisch, im sonnigen Herrgottswinkel, saß
-Mutter Agnes und schneiderte. Die große Schere fiel ihr klappernd aus
-der Hand.
-
-»Mutter!« War das der Hilfeschrei einer versinkenden Menschenseele oder
-der scheue, atemlose Jauchzer eines auferstandenen Herzens? »Mutter!
-Mutter! Unser Leupi ist da!« Bevor Frau Agnes noch herauskam aus der
-Bank, hing Luisa schon an ihren Hals geklammert. Eine Weile hielten
-sich die beiden schweigend umschlungen, und man hörte in dieser Stille
-das scharfe Tacken einer großen Pendeluhr. Das klang wie eine stählerne
-Mahnung der unerbittlich schwindenden Zeit und sagte immer die gleiche,
-befehlende Silbe: »Tu's! -- Tu's! -- Tu's! --« Die Mälzmeisterin fand
-zwischen Weinen und Lachen zuerst die Sprache. »So red doch, Kind! Um
-Christi Barmherzigkeit! Wo ist denn mein Bub?«
-
-»Mit den Herren ist er eingeritten im Leuthaus. Und ist begnadigt vom
-gütigen Fürsten.«
-
-Aller Aufruhr in Mutter Agnes beschwichtigte sich. »Siehst du, Kind!
-Hab ich's nit allweil gesagt!« Lächelnd hob sie die nassen Augen zu
-dem mit Palmzweigen geschmückten Kreuz im Herrgottswinkel. »Auf den da
-droben ist Verlaß! Tät der ganze Weltkäfig ein schecketes Narrenhaus
-werden, beim Ewigen bleibt allweil der glashelle Verstand daheim.« Sie
-fühlte, wie der schlanke Mädchenkörper in ihren Armen bebte. »Komm,
-liebes Kind! Tu dich hersetzen zu mir! Und sag, wo hast du denn unseren
-Buben gesehen? Beim Leuthaus drüben? Da ist er doch nimmer weit von
-uns? Da muß er doch kommen? Bald!« Nun fuhr der Mälzmeisterin eine
-Hausfrauensorge durch das Mutterglück. »O du heiliger Schnee, jetzt
-kommt der Bub, und sein Stübl ist nit parat! Ist noch allweil, wie's
-gewesen ist nach dem roten Tag. Das müssen wir richten. Komm, Kindl,
-und hilf! Wir zwei, wir betten unseren Buben, daß er in seinem Nest
-ein Träumen haben soll wie ein Schwalbenmänndl im Mai!« Sie lachte
-aus fröhlichem Herzen. »Ach, Mädel, da brauchst du nit so sorgenvoll
-dreingucken! Er tut's nit allein. Da kannst du dich verlassen drauf.
-Aber flink, Weible, jetzt müssen wir schaffen!«
-
-Schlüssel klapperten, Schubladen quieksten, Kastentüren flogen auf
-und zu. Und immer dieses glückliche Stammeln und Schwatzen. Es blieb
-aber doch in aller lachenden Freude noch immer ein leiser Sorgenklang.
-Leupolt? Als ein Reumütiger heimkehrend zum fürstpröpstlichen Glauben?
-Luisa konnte das hoffen, Mutter Agnes nicht. Während sie schaffte und
-die Kissen schüttelte, wurde jedes Wort in ihr lebendig, das ihr Sohn
-im Jägerkobel zu Bartholomä und da draußen im Buchenwald beim Haus des
-Hiesel Schneck zu ihr gesprochen hatte. Die Sonne macht Tag um Tag
-ihren Wandel durch, geht unter und morgen wieder auf. Der Leupi färbelt
-nicht. Der bleibt, wie er war. Aber gekommen ist er doch! Ist frei! Und
-da muß er doch auch begnadigt sein! Das freudige Wunder ist geschehen.
-Wie? Der Herrgott wird's wissen. Es ist von aller unnötigen Arbeit
-die dümmste: daß sich die verdrehten Menschen bei ihrem Seelengezappel
-allweil den Kopf des Ewigen zerbrechen. Wie's Gott macht, ist es
-wohlgetan. Allweil! Und um so größer und schöner sind seine treuen
-Wunder, je minder so ein armseliger Menschenverstand sie begreift. Als
-Mutter Agnes zu diesem Schlußgedanken kam, wurde ihr Lachen so frei,
-daß auch Luisa immer froher und gläubiger wurde. In Leupis kleinem
-Stübl lagen die Kissen frisch bezogen auf dem weißen Bett. Da fragte
-Luisa mit glühendem Gesicht: »Meinst du nit, man tät ein paar Blümlen
-finden?«
-
-»Freilich, liebs Weible, spring nur! Draußen im Gärtl, wo viel
-Sonn gewesen, da blüht schon was!« Während Luisa durch die Küche
-davonhuschte, sprang die Mälzmeisterin in die Wohnstube hinüber, um
-Weihwasser zu holen und die Kammer ihres heimkehrenden Buben zu segnen.
-Schon hob sie die Hände, um das zinnerne Kesselchen vom Türpfosten
-herunterzunehmen. Da sanken ihr die Arme wieder. »Er tät's nit haben
-wollen. So darf ich's nit tun.« Den Kopf beugend, preßte sie das
-Gesicht in die Hände. Ein Schatten glitt über das sonnige Fenster,
-und auf der Pflasterung vor der Haustür klang ein fester Schritt.
-Den kannte Mutter Agnes, wie die Sterne ihren Weg am Himmel kennen;
-aber das freudige Erschrecken fuhr ihr so lähmend in alle Glieder,
-daß sie nicht von der Stelle kam. War's eine Ewigkeit, war's eine
-Sekunde -- Leupolt stand schon auf der Stubenschwelle, mit dem frohen
-Lachen eines Glücklichen, brauchte keinen Hut herunterzunehmen, weil
-er keinen hatte, riß die Mutter an sich und hielt sie umschlungen.
-Erst weinte sich Frau Agnes an seiner Schulter tüchtig aus, um die
-Unsicherheit ihres Glückes loszuwerden. Immer streichelte Leupolt ihr
-grau gewordenes Haar, bis sie ruhiger wurde und fragen konnte: »Darfst
-du jetzt bleiben? Daheim?«
-
-»Den Abend und die Nacht. Ja, Mutter! Morgen muß ich bei meinem neuen
-Herrn zum Dienst antreten.«
-
-»Bei --« Die Sprache versagte ihr. »Dein neuer Herr? Wer ist das?«
-
-»Der starke Helfer in unserer Not. Ach, Mutter, wie schön ist das
-Leben, wenn es Trost und Hoffnung hat und einen graden, sauberen Weg.«
-
-Sie wollte was sagen, mußte aber immer ihren Buben ansehen. So
-aufrecht, mit so festem Gesicht und so leuchtenden Augen hatte sie ihn
-noch nie gesehen. War das an ihres lieben Herrgotts schwerbegreiflichem
-Wunder das Beste? Oder wußte der Leupi schon, daß sein Luisli im
-Haus war? Jesus, das Luisli! Auf das kleine Weibl, das um die Blumen
-gelaufen war, hatte die Mälzmeisterin ganz vergessen. Und da klingelte
-draußen im Hausflur schon das winzige Schuhwerk über die Dielen. »Bub,
-da ist wer!« stammelte Frau Agnes. »Tu dich gedulden einen Schnaufer
-lang!« Sie glitt aus der Stube, zog die Türe hinter sich zu und haschte
-auf der Kammerschwelle das Mädel. Zwischen den Händen hielt Luisa einen
-rund und hübsch gebundenen Strauß von roten Aurikeln, der aussah wie
-ein großer reifer Apfel mit festem Stiel. Dieser Vergleich mußte der
-Mälzmeisterin eingefallen sein, weil sie sagte: »Komm, du Everl du
-liebs, deine paradeisischen Blümlen sollen gleich an das Plätzl kommen,
-für das der gescheite Herrgott sie erschaffen hat.« Zärtlich schob sie
-das Mädel in die Stube, klinkte hurtig die Türe wieder zu und flüsterte
-in einer wirbligen Mischung von Glück und Trauer: »Finden und hergeben!
-Zwei Wörtlen! Und alles ist gesagt, was Freud einer Mutter heißt.« Von
-der mütterlichen Klugheit sprach sie nicht, handelte aber doch nach
-ihrem Gebot, drehte leis im Schloß der Stubentüre den Schlüssel um,
-zog ihn ab und schob ihn in die Schürzentasche. »So!« Jetzt sollten
-ihr die beiden nimmer aus der Stube kommen, bevor sie nicht eins
-miteinander wären. Draußen im offenen Buchenwald an der bayrischen
-Grenze, wo die Welt wohl einen Schlagbaum hat und doch nicht vernagelt
-ist mit Brettern, da konnten zwei verrückte Menschenkinder rennen,
-Gott weiß wohin. Zwischen vier festen Mauern mußten sie aushalten,
-bis der gefrorene Verstand ihnen ausschlug zu verheißungsvollen
-Frühlingsknospen.
-
-Diese menschliche Logik war so fehlerlos, wie das Traumlatein des
-Chorkaplans Jesunder. Dennoch hatte sie einen Haken. Vorerst, als die
-Mälzmeisterin an der Türe lauschte, schien tiefster Friede in der Stube
-zu herrschen. Man konnte nur hören, wie die alte Pendeluhr das mahnende
-Knack und Tack der schmelzenden Zeit verkündete. Da war es für Mutter
-Agnes eine ausgemachte Sache: die zwei jungen Leut mit ihren brennenden
-Herzen hatten kürzeren Prozeß gemacht, als ihn der Landrichter
-Halbundhalb mit Tinte, Streusandbüchse und zahllosen Überflüssigkeiten
-zu machen pflegte, hatten sich herzhaft um den Hals genommen und hingen
-Schnabel an Schnabel.
-
-So war es nicht. Es war viel schöner. Luisa stand mit dem Rücken
-gegen die heimtückisch verschlossene Tür gelehnt, ohne zu ahnen,
-welche Gewalttätigkeit sich da vollzogen hatte, hielt den runden
-Apfel der roten Aurikeln zwischen den fiebernden Händen und sah in
-Glut, mit Bangen und doch in sehnsüchtigem Hoffen zu diesem stummen,
-prachtvollen Menschen hinauf, den die Staubwolken der Reichenhaller
-Straße bis über die Hüften so weiß überpulvert hatten, als hätte er
-durch eine Mehlkiste springen müssen. Er stand ein paar Schritte vor
-ihr, sah sie immer an und konnte nicht reden, konnte nur lächeln in
-seiner Freude. Neben Gott und Ehre war sie ihm stets das Schönste des
-Lebens gewesen; aber so reizvoll wie in dieser Stunde hatte er sie
-noch nie gesehen, auch nicht im Hallturmer Buchenwald; da draußen war
-die Pflicht zwischen ihr und ihm gestanden; jetzt stand das Glück bei
-ihnen und übergoß für ihn die Geliebte mit einem Zauber ohnegleichen.
-Ihr ziegelfarbenes Hauskleid brannte wie Mohn in der Sonne, und vor
-der grünen Spinnschürze, an der noch viele glitzernde Fäden hingen,
-flackerte beim Zittern ihrer Hände der rote Aurikelbuschen. Aber
-schöner und feiner blühten noch die Farben ihrer selbst, der rosige
-Bluthauch und die blaßblauen Adern ihres schlanken Halses, die Glut
-auf ihren Wangen, die dunkle Tiefe der glänzenden Augen und der sanfte
-Schimmer des reichen Haars. Es war in seinem dürstenden Blick: daß er
-sie gern in der ersten Freude an sich gerissen hätte, um sie nimmer
-zu lassen. Und die alte Pendeluhr, als wäre sie der Pfarrer Ludwig,
-mahnte immer: »Tu's! Tu's! Tu's!« Er überwand es. Luisa war ihm viel zu
-lieb und zu kostbar, als daß er sie hätte berühren mögen mit seinen
-verstaubten, von der Zügelschwärze beschmutzten Händen. Auch lag noch
-immer zwischen ihnen ein tiefer Graben, den die Liebe erst überbrücken
-mußte; doch er fühlte, daß das Glück der gegenwärtigen Stunde diese
-Brücke bauen würde. »Deine Blumen, Luisli?« sagte er und deutete nur
-ein bißchen mit der Hand. »Sind die für mich?«
-
-In ihrer Verwirrung schien sie nicht recht zu wissen, welche Antwort
-sie gab. Es war ein Wort, das den innersten Schatz ihres Herzens vor
-ihm entschleierte. Mit glücklichen Augen zu ihm aufblickend, sagte sie:
-»Für dich ist alles.«
-
-Da nahm er die roten Blumen. »Vergeltsgott, du Meine! Daß ich nit lüg,
-das weißt du. Deine Blumen, auch wenn sie dürr geworden, sollen mir
-allweil das Beste sein, was der Frühling verschenken kann. Und komm!
-Wir wissen, was wir einander gelten. Da wollen wir alles nach Pflicht
-und Treu bereden.« Sie mußte sich am Tisch zu dem Fenster setzen, durch
-das die Sonne hereinglänzte. Willig tat sie, was er haben wollte.
-Er saß ihr gegenüber. An seinem Kittel wischte er den Staub und die
-Riemenschwärze von den Fingern, wölbte zärtlich die Hände um Luisas
-roten Blütenapfel, sah ihr in die Augen und beugte sich über die
-Tischplatte zu ihr hinüber. »Schau, ich frag dich gleich mit dem ersten
-Wörtl: Gehst du mit mir?«
-
-Sie erschrak, daß ihr Gesicht sich veränderte. Dennoch war es nicht
-mehr der gleiche verstörende Schreck, wie draußen im Hallturmer
-Buchenwald. Was aus ihren erloschenen Worten herauszitterte, war mehr
-Sorge als Angst: »Ach, Jesus! Gehst du denn wirklich?«
-
-»Ja, Luisli! Von morgen den fünften Tag. Ich führ den ersten Zug. Das
-sind die Ärmsten. Die führ ich. Unser Weg geht über Reichenhall, über
-Ingolstadt, Bayreuth und Wittenberg hinunter ins Brandenburgische und
-auf Ostpreußen zu.«
-
-Sie wollte sprechen und brachte keinen Laut heraus.
-
-Leupolt sah, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Die roten Blumen
-an seinen weißnarbigen Hals pressend, beugte er sich noch näher zu ihr
-hin und flüsterte aus aller Glut seines Herzens: »Gehst du mit mir? Ich
-mein', dein guter Vater tät uns das Glück nit wehren. Dich hat er lieb.
-Kann sein, daß er hinzieht, wo wir hausen werden. Sorg mußt du nit
-haben. Ich krieg einen Herrn, der mir gütig ist. Von Vater und Mutter
-hab ich ein bißl was, versteh mich auf mein Sach und bin ein richtiger
-Schaffer. Verschwören kann es der Redlichste nit, was kommt. Aber ich
-trau mir's zu, daß ich dir und mir ein Glück bau, fest fürs Leben wie
-eine eiserne Mauer. -- Luisli? Kommst du mit?«
-
-Sie wehrte mit schwachen Händen und klagte: »Es geht nit, geht nit,
-Leupi! Alles in mir ist dein. Und schelten kann ich es nimmer, daß du
-da drüben bist. Aber hinüber zu dir?« Den Mut, ihn anzusehen, hatte
-sie nicht. Sie sprach ins Leere hinaus. »Das wär' wider Gott und die
-Seligkeit. Ich kann nit verlassen, was mir heilig und ewig ist.«
-
-»Das müßt nit sein. Deswegen könnten wir allweil in Treu und Glück
-miteinander leben. Mußt du nit schelten, was ich glaub, so will ich
-allweil in Ehren halten, was dir heilig ist. Geh, schau mir doch ein
-bißl in die Augen, Liebe! Ich tät mich viel leichter reden.« Er legte
-seine Hand auf die ihre. »Kannst du es tun, so gibst du mir Leben und
-Glück. Mußt du es wehren, so legst du mir das einschichtige Elend auf
-Leib und Seel. Verzweifeln werd ich nit müssen. Bloß allweil dürsten
-nach dir. Und im Dürsten muß ich mich ausstrecken, geh meinen graden
-Weg und tu meine Pflicht als Mensch und Christ. Ich kann nit anders.
--- Luisli!« Hoffender Jubel klang aus diesem Namen. Er sah, wie ihre
-heißen Augen sich ihm zuwandten und wie sie hingen an ihm. Und sah,
-wie alles Wirre und Hilflose in ihrem lieben Gesicht sich zu mildern
-und zu lösen begann. »Luisli? Meinst du nit, wir zwei, die uns so lieb
-gewonnen, könnten für Tausend, die an der gleichen Irrnis leiden, ein
-gutes Fürbild sein? Daß man nit hadern und streiten muß um Himmel und
-Herrgott? Und daß man als deutsche Leut in Glück und Fried miteinander
-hausen könnt? Herrgott bei Herrgott, Glauben bei Glauben und Herz neben
-Herz.«
-
-Zitternd faßte sie ihren Kopf mit den Händen, schüttelte immer das
-stumme Nein und konnte doch mit ihrem Blick seine Augen nimmer lassen.
-Ein Schwimmen und Gleiten kam ihr in die Sinne, ein Brausen und Klingen
-war in ihren Ohren, in ihrem Blut. Sie verstand seine Worte nimmer,
-hörte und fühlte nur die Zärtlichkeit und die zwingende Macht seiner
-Stimme. Alle Sehnsuchtsbilder schlafloser Nächte wurden wach in ihr.
-Was so rein und freudig in ihrem Herzen zu glühen begann? Konnte das
-Sünde sein? Dürfte das in ihr lebendig werden, wenn nicht Gott es in
-ihre Seele gegeben hätte, wie er den Aurikelblüten das leuchtende Blut,
-dem Himmel das keusche Blau und der Sonne die linde Frühlingswärme
-gab? Dieser Glaube wuchs ihr fest in die Seele, immer ruhiger und
-froher wurde sie, und je länger und tiefer sie in Leupolts glänzende
-Augen sah, um so heißer fühlte sie, daß sie das grausame Nein nimmer
-sagen konnte.
-
-Bei aller Redlichkeit war Leupolt doch auch ein guter, flinkschauender
-Jäger. Gleich merkte er den erlösenden Umschwung, der sich in Luisa
-vollzog, huschte mit glückseligem Auflachen zu ihr hinüber, saß an
-ihrer Seite, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sie
-wehrte sich nimmer, drängte sich aufatmend an seine Brust und schmiegte
-unter frohem Lächeln die Wange an seinen Hals. Er neigte in seiner
-brennenden Freude schon das Gesicht, um sie zu küssen. Und immer sagte
-die Uhr an der Mauer: »Tu's! Tu's! Tu's!« Aber der alte Räderkasten
-kannte den jungen Leupolt nicht. Der war zu gewissenhaft. Dem hatte die
-Neumondnacht ein eisernes Wort ins Leben gegossen: Pflicht! »Schau,
-Luisli,« sagte er an ihrem Ohr, »ich spür doch, wie sich alles in dir
-zum Guten wendet. Nehmen darf ich dich nit, du mußt dich geben, frei
-und unberedet! Luisli? Gehst du mit mir?«
-
-Schon wollte sie nicken, schon hob sie die Arme zu seinem Hals. Da
-fiel ihr plötzlich etwas Steinernes in das erblassende Gesicht. Und
-erschrocken starrten ihre erweiterten Augen auf eine schreckliche Sache
--- auf diese unerbittliche Uhr an der weißen Mauer. So freundlich klang
-ihre tackende Stimme und war doch ein höhnender Mord an dem blühenden
-Glück dieser Stunde. Nicht wie der hilfreiche Pfarrer Ludwig war diese
-Uhr. Sie war wie der Chorkaplan Jesunder, der eine gläubige Seele bei
-schönem Orgelrauschen hinausgestoßen hatte aus dem Gotteshaus.
-
-Ein altes Meisterstück. Geschaffen von einem grüblerischen Handwerker,
-dem Gedanken unter dem Haardach wuchsen. Der hatte sich gesagt:
-»Die laufende Zeit ist Gottes Kind, der sein Geschöpf bewacht in
-jeder Sekunde und die schwachen Menschen mit jedem Pendelschlag vor
-dem Bösen warnt und sie ermahnt zum Guten.« Aus solchem Gedanken
-hatte der geschickte Mann diese verhängnisvolle Uhr geschaffen. Ein
-silbernes Zifferblatt mit geschnörkelten Zeigern. Über dem Kreis
-der Stundenzahlen wachte das Auge Gottes, nicht gemalt, sondern
-plastisch und lebendig. Inmitten eines von Flammen umloderten Dreiecks
-funkelte das dunkle Auge mit weißen Winkeln. Durch einen unsichtbaren
-Mechanismus -- wie die ewige Vorsehung unter Schleiern waltet -- war
-das ruhelose Auge mit dem Pendelgang verbunden. Tackte der Pendel hin
-und her, so glitt das wachende Auge her und hin. Sah es nach rechts,
-so war es freundlich, und seitwärts aus dem Uhrgehäuse hob sich mit
-winkendem Palmzweig ein weißbeschwingter Engel hervor. Sah es nach
-links, so war es zornig, und ein schwarzgeflügelter Teufel fischte mit
-dem Höllenzagel nach einer ewig verdammten Seele.
-
-Leupolt, ungeduldig auf eine Antwort harrend, fragte in Herzlichkeit:
-»Luisli? Gehst du mit mir?«
-
-Das Weiße des gleitenden Auges flimmerte zornig nach links, und der
-Höllische kicherte boshaft: »Tu's!«
-
-Wie eine Fiebernde stammelte Luisa: »Ich kann's nit sagen. Das muß ich
-erst mit Gott bereden in der Kirch.«
-
-Freundlich glänzte das dunkle Auge nach rechts, und der unschuldweiße
-Engel mahnte: »Tu's!«
-
-»Mein alles bist du! Mein Glück und Leben! Du kannst mich doch nit
-verlassen? Schau mir doch in die Augen! Nimm mich um den Hals! Gelt ja,
-du bleibst die Meine?«
-
-Bevor der huschende Warnerblick das Weiße schrecklich nach links
-hin drehen und der ewige Widersacher alles Menschenglückes die
-scheinheilige Verführungssilbe schmunzeln konnte, riß sich Luisa mit
-erloschenem Schrei aus Leupolts Armen, kämpfte sich aus der Bank
-heraus, deutete verstört auf das Auge Gottes und preßte zitternd das
-Gesicht in die Hände. Die Uhr an der Mauer sagte: »Tu's!« Und Luisa
-wußte nimmer, ob da der Engel oder der Höllische geredet hatte. Wie
-eine Irrsinnige sprang sie zur Tür hinüber, fand sie verschlossen
-und wurde von einem grauenvollen Entsetzen befallen. Als Leupolt,
-bleich und bestürzt, dem Mädel nachgesprungen kam, stieß ihn Luisa
-mit den Fäusten von sich, tastete nach der Klinke, riß und rüttelte
-an der Tür und fing zu schreien an wie ein angstvolles Kind in den
-Gichtern. Mit Leupolts stammelnden Worten mischte sich draußen im Flur
-das erschrockene Klagen der Mutter Agnes. Der Schlüssel klapperte
-im Schloß, die Tür sprang auf, und Luisa jagte an der ratlosen
-Mälzmeisterin vorüber, durch den Flur, hinaus in die Sonne.
-
-»Bub? Herr Jesus, was ist denn da?«
-
-»Ich weiß nit, Mutter, was da geschehen ist. Weiß nur, mein Glück und
-Leben und alles ist in Scherben!«
-
-Diesen von Gram zerdrückten Schrei konnte Luisa noch hören. Ein
-verständiges Besinnen schien sie zu überkommen, weil sie die
-fürchterliche Uhr nimmer sah. Aber da klang das verführerische
-Teufelskichern, so nah, als wär' es versteckt in ihren Zöpfen: »Tu's!«
-Die Hände über die Ohren pressend, huschte sie in ihrem ziegelroten
-Kleid wie eine wehende Flamme hinüber zum Stiftshof und dem Tor der
-Kirche zu.
-
-Das war gerade der Augenblick, in welchem Simeon Lewitter, nach
-gründlicher Untersuchung der ciceronischen Traumzustände des
-Chorkaplans Jesunder, sehr nachdenklich heraustrat aus der Pfarrei.
-Er sah das Mädel vorüberflattern und in der Kirche verschwinden. »Was
-ist nur da schon wieder? Mir scheint, die ganze Welt hat scheckige
-Zwillingskinder im Gehirn.« Seufzend täppelte er seiner heiligen
-Kinderstube zu, kehrte wieder um, spähte zu den Fenstern seines
-langen Freundes Ludwig hinauf und trat nach einigem Zögern in das
-Gerichtsgebäude.
-
-Die vier überflüssigen Buchstaben waren sehr beschäftigt und verzogen
-sich zu einer mißtrauischen Grimasse, als Lewitter schüchtern sagte:
-»Ich hätt ein Wörtl zu reden. Unter vier Augen.« Er mußte erst noch
-beifügen, daß es sich um Leben und Verstand eines wackeren Mannes
-handle, ehe Doktor Halbundhalb sich entschließen konnte, seine
-Gehirnlatwerge vom Formaljustiziarischen loszureißen, den Schreiber
-aus der Stube zu schicken und sich einzulassen auf eine sekrete
-Konversation.
-
-»Also?«
-
-Lewitter faßte sich kurz: seit dem Verschwinden des Haynacher'schen
-Zwillingspärchens aus der Armeseelenkammer wäre der Chorkaplan von
-Wahnvorstellungen befallen, die seinen Verstand bedrohen. Jetzt bilde
-er sich ein --
-
-»Mir schon bekannt!« unterbrach der Allwissende unter der mehligen
-Roßhaarperücke. »Zuerst die sinnlose Annahme, daß Pfarrer Ludwig der
-Schuldige wäre -- eine Hypothese, die sich bei aller Plausibilität als
-verfehlt _in nuce_ erwies -- und nun dieser neue beklagenswerte Wahn!
-Der Mann erbarmt mich. Hoffentlich findet Ihr ein rettendes Remedium?«
-
-»Es gibt nur ein einziges. Man muß dem Jesunder über den Verbleib des
-Pärleins die Wahrheit mitteilen.«
-
-»Ausgeschlossen!« sagte der Landrichter mit Energie und mit einer das
-Thema erledigenden Handbewegung.
-
-Lewitter schmunzelte, kaum merklich. »Ist denn die Wahrheit Euer
-Gestreng bekannt?«
-
-Der Landrichter schob den Hals der Gerechtigkeit lang aus der Krause
-heraus. Wie der Himmel dunstet, wenn er in unmutige Laune gerät, so
-senkte sich aus den weißen Lockenschnecken ein nebliger Niederschlag.
-»Vermutet Ihr, daß es jemals eine Wahrheit gab, die ich *nicht*
-erforschte?«
-
-»Da dürft Ihr sie dem armen Jesunder nit vorenthalten. Seid barmherzig,
-Herr!«
-
-»Unmöglich.«
-
-»Dann sitzt der leidende Chorkaplan an Pfingsten im Narrenturm. Das
-wird für die Regierung kein erquicklicher Fürgang sein. Und könnte
-traurige Folgen haben. Der Bevölkerung dürfte das wie eine offenkundige
-Gottesstraf erscheinen, und es wär nit undenkbar, daß es zu neuem
-Aufruhr kommt, der die Exulantenliste wieder um viele hundert Namen
-vermehrt. Was wird der Allergnädigste Herr da sagen? Und mir, Gestreng,
-wird es nit zu verübeln sein, daß ich mich dem Fürsten gegenüber
-salvieren muß, nachdem mein nützlicher Rat das verdiente Gehör nit
-gefunden hat.«
-
-Herr Willibald Hringghh, einem folgenschweren Dilemma gegenübergestellt
-und in Erinnerung der Standrede seines Allergnädigsten, begann vor
-Aufregung und Ratlosigkeit so heftig zu transpirieren, daß seine
-niedere Stirn wie übersät erschien mit zahllosen Glassplitterchen.
-Gerade, um seinem Allergnädigsten eine schmerzende Unerquicklichkeit zu
-ersparen, hatte er unter heftigen Seelenkämpfen mit seinem Amtsgewissen
-jede weitere Untersuchung in Sachen des an der Armenseelenkammer
-begangenen Raubes niedergeschlagen. Es war ihm vor Wochen ein Gerede
-zu Ohren gekommen. Dem hatte er mit wahrheitsschädlicher Emsigkeit
-nachgeforscht und hatte einen Zeugen eruiert, der unter Eid bekundete:
-er wäre in der Mirakelnacht am Gottesacker vorbeigekommen und
-hätte deutlich gesehen, daß ein junger schlanker Mensch in einem
-hellfarbigen, gebänderten und gemäschelten Herrenmantel hurtig mit
-einer Schaufel ein Loch in den Boden grübe; dabei hätte der Zeuge
-sich nur gedacht, daß wohl einer von den lustigen Domizellaren wieder
-einmal einen übermütigen Streich verüben möchte; mehr wisse er nicht.
-Schon vierundzwanzig Stunden nach der Streubesandung dieses Protokolles
-wußte Willibald, der Wahrheitsforscher, wesentlich mehr und hatte
-den geheimnisvollen Totengräber verläßlich ausgeforscht: den Grafen
-Tige. Mit justiziarischer Schlingensicherheit war nachzuweisen, daß
--- nicht in der zweiten, wohl aber in der ersten Kapitelnacht, es lag
-hier einer von jenen häufigen Irrtümern vor, wie sie einem Zeugen bei
-Zeitbestimmungen leicht zu widerfahren pflegen -- daß der leichtsinnige
-und frivole Junker in jener Nacht das Bett seiner Domizellarenstube
-nicht berührt, nach anzunehmender Friedhofsschändung die restlichen
-Nachtstunden in den innersten Gemächern der allergnädigsten Aurore
-de Neuenstein verbracht und so den Leichenschmack gewissenlos in das
-Freudengärtlein des vertrauensseligen Landesfürsten transferiert
-hatte. Durch diesen Sachbefund war nicht nur die fleckenlose Unschuld
-des widersinnig verdächtigten Pfarrers zur Evidenz erwiesen; es
-hatte sich auch die betrübsame Angelegenheit für die vier zu Tod
-erschrockenen Entbehrlichkeitslettern in eine _res sacra_ verwandelt,
-vor der die Gerechtigkeit ihre Augen doppelt verbinden mußte. Und
-drum hatte das >getreue Justizkamel< den für die Herzensruhe des
-Landesfürsten gefährlichen Akt mit submissester Ergebenheit in dem
-durch Riegel und Vorhangschlösser gesicherten Geheimarchiv seiner
-Kanzlei verschwinden lassen. Wie hätte man nun dem verrückten Jesunder,
-der sogar seine Träume hinausbrüllte in die Welt, solch eine delikate
-Wahrheit anvertrauen dürfen? »Unmöglich!« Aber diese neue Gefahr nun!
-Gottesstrafe, Aufruhr, Wachstum der Exulantenliste und Verderb des
-ganzen, bisher so glücklich geratenen Bekehrungswerkes! In dieser
-desperaten Lage fand der schwitzende Wahrheitsgräber keinen anderen
-Ausweg, als sich dem klugen Simeon Lewitter ohne Rückhalt zu eröffnen.
-
-»Freilich,« nickte Simmi unter leisem Lächeln, »*das* kann man dem
-armen Jesunder nit preisgeben!«
-
-»Was aber soll man tun?«
-
-»Man wird -- die Wahrheit in allen Ehren -- zur Rettung des
-beklagenswerten Mannes einen barmherzigen Schwindel ersinnen müssen.«
-
-»Glaubt Ihr damit zu reüssieren?«
-
-»Vielleicht. Wenn Euer Gestreng mir hilfreich beistehen wollen?«
-
-»Mit Freuden!« Die weißen Perückenschnecken des Landrichters machten,
-weil die vier Überflüssigen einen tiefen Atemzug der Erleichterung aus
-sich herausbliesen, eine sonderbare Nickbewegung. »Seid meines Dankes
-gewiß für alle Fälle. Und weil wir schon von getrübten Gehirnen reden
--- habt Ihr nicht in letzter Zeit dem Christl Haynacher Eure Beachtung
-als Arzt gewidmet?«
-
-»Warum?« fragte Lewitter ernst.
-
-»Der gute Mann scheint völlig schwachsinnig geworden zu sein. Wir
-sorgen uns um seinen katholischen Deszendenten. Auch Muckenfüßl ist der
-Meinung, daß man da einschreiten müßte. Bald.«
-
-»Euer Gestreng!« Simeons Brauen zogen sich hart zusammen. »Da muß ich
-auf das Eindringlichste abraten. Ich bitt Euch, laßt diesen Mann in
-Fried! Der Haynacher ist bei vollem Verstand --«
-
-Eine erledigende Handbewegung unterbrach den Arzt. »Diesmal irrt Ihr
-Euch, mein guter Lewitter!« Und lächelnd trug Herr Willibald seinen
-weiß überlöckelten Unverstand zur Tür hinüber, um den beurlaubten
-Schreiber herbeizurufen für weitere Mißhandlung der irdischen
-Gerechtigkeit.
-
-Schweigend verließ Lewitter die mufflige Pfründenstube der Frau
-Justitia. Draußen in der Sonne sah er seinen langen Freund mit wehenden
-Rockflügeln herüberkommen vom Mälzmeisterhaus, ein heiteres Lachen
-auf dem zwinkernden Warzengesicht. »Mein gescheiter Simmi!« Lustig
-legte der Pfarrer seinen Arm um die Schultern Lewitters. »Jetzt rat
-einmal, warum von heut auf morgen ein liebes junges Menschenglück zu
-Berchtesgaden in Scherben gehen soll?«
-
-Simeon fragte nur mit den Augen. Und der Pfarrer lachte: »Weil vor
-anno Towak ein Nürnberger Uhrmacher ein geschickter Kampl, aber ein
-gottslästerlicher Hornochs gewesen ist!« Der weitere Gedankenaustausch
-der beiden Freunde wurde gestört durch einen feierlichen Staatsakt, der
-sich vor ihren Augen im großen Stiftshofe vollzog. Die Trommeln der
-Torwache rasselten, daß man an Krieg und Schlachten hätte denken mögen.
-Zwischen einem Spalier von präsentierenden Musketieren, denen unter dem
-Dreispitz bolzensteif der Zopf hervorstach, sah man hinter den Läufern
-mit ihren baumelnden Straußenfedern eine lindgeschaukelte Sänfte
-gleiten. Durch ihr blitzblankes Fenster gewahrte man einen würdevollen
-Herrn in goldstrotzender Gesandtengala und neben ihm einen kleinen,
-bescheiden uniformierten jungen Offizier mit neugierigem Spitzgesicht.
-
-
-
-
-Kapitel XXVII
-
-
-Im gotischen Saal der Entschlüsse, auf dessen Kronleuchtern bei
-noch halbem Tag alle Kerzen brannten, war feierlicher Empfang des
-preußischen Gesandten. Herr Anton Cajetan im Prunkornat saß auf
-dem berchtesgadnischen Thron, flankiert von den Würdenträgern. Für
-Danckelmann und seinen Begleitoffizier hatte man Samtstühle und
-einen goldgeschnörkelten Tisch mit Schreibgerät vor den Thronstufen
-aufgestellt, die Kapitelherren und Domizellaren standen in doppelter
-Reihe, und der Kanzler von Grusdorf, pompös peruckiert, verlas mit
-Würde das Kreditiv:
-
- »Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden König in Preußen, Marggraf
- zu Brandenburg usw. usw. geben Ew. Lbd. hierdurch zu vernehmen,
- wasmaßen wir gut befunden, Unsern Geheimen Hof-Rath von Danckelmann
- dorthin abzuschicken, um unsere daselbst emigrirenden neuen
- Unterthanen in staatsrechtlichen Schutz zu übernehmen und deren
- bewegliche oder allda verbleibende Vermögen in Sicherheit zu erheben.
- Wir ersuchen Ew. Lbd., Sie wollen Uns die Freundschaft erweisen,
- besagtem Geheimen Hof-Rath von Danckelmann zu baldiger Ausrichtung
- solcher Ihm aufgetragenen Commission alles dasjenige angedeyen
- zu lassen, was desfalls dem Westphälischen Friedens-Schluß und
- anderen Reichs-Constitutionen gemäß ist, gestalt wir uns solches
- zuversichtlich promittiren, und wollen auch Wir gegen Ew. Lbd. zur
- Bezeugung angenehmer Gefälligkeiten stets willig verbleiben.
-
- Berlin, den 22. März 1733.
-
- Friedrich Wilhelm.
-
- An den Herrn Abt zu Berchtesgaden.«
-
-Der Kanzler hatte vor dem Wörtchen Abt verlegen gestockt. Dem Fürsten
-fuhr um dieser unzulänglichen Titulierung willen das Blut ins Gesicht;
-doch er lächelte nachsichtig und flüsterte Herrn von Grusdorf heiter
-zu: »Man scheint uns in Berlin für Kapuziner zu halten.« Dann begann
-er mit Danckelmann eine liebenswürdige Konversation in französischer
-Sprache, die für den ganzen Verlauf des feierlichen Aktes, wie
-späterhin für die geschäftlichen Debatten beibehalten wurde. Bei der
-Vorstellung des jungen Obristen von Berg sagte Danckelmann empfehlend
-zum Fürsten: »Für unsere Majestät eine _persona gratissima_.«
-
-Ein fröhliches Auflachen des kleinen, zierlichen Offiziers: »Der
-freundliche Geheimrat übertreibt. Will man _gratia_ mit Gnade
-übersetzen, dann freilich stimmt es. Seine Majestät mein Herr und König
-haben mich vor kurzem gnädiglich dem Schafott eschappieren lassen.«
-
-»Mit Recht!« sagte Herr Anton Cajetan, nachdem er seine Verblüffung
-überwunden hatte. »Es wäre schade gewesen um einen ebenso klugen
-wie wahrheitsliebenden Kopf. Allzu unverzeihlich werden wohl die
-Verfehlungen des Herrn Obersten nicht gewesen sein?«
-
-»Insubordination und andre Sträflichkeiten schwersten Kalibers.«
-
-»Insubordination?« lachte der Fürst. »Unter dem preußischen Drill?«
-
-»Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich gelte als der einzige unbrauchbare
-Soldat der preußischen Armee.«
-
-»Dann werden der Herr Oberst, der jung zu hohem militärischem Grad
-gelangte, sich wohl durch andere Vorzüge ausgezeichnet haben.«
-Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Herr Anton Cajetan dem
-Geheimrat zu. Höflich den Ärger darüber verschleiernd, daß man einem
-Gesandten für das gefürstete Berchtesgaden als Begleitoffizier einen
-begnadigten Militärverbrecher beigegeben hatte, versprach er an einem
-der nächsten Tage eine Kommission zur Vorberatung zu berufen und lud
-die preußischen Herren für den vierten Tag zu einem Großen Jagen mit
-anschließender Fürstentafel. Nach würdevoller Verneigung betonte der
-Geheimrat seine kurzbemessene Zeit. Ohngeachtet mancher Orientierung,
-die er bereits bei evangelischen Männern eingeholt hätte, bedürfe er
-dreier Tage, um mit ihnen alles Notwendige über Reiseweg und Ansiedlung
-zu bereden. Für den vierten Tag stelle er sich der Einladung Seiner
-Liebden mit Freuden zu Diensten, am fünften Tage müsse er seine
-Rückreise antreten, und so bäte er, sofort in die geschäftlichen
-Verhandlungen einzutreten. Verdutzte Augen im ganzen Saal. Herr Anton
-Cajetan blieb höflich, zog sich mit seinen Würdenträgern zu einer
-Besprechung zurück, erschien nicht mehr, weil er zum Tee bei Aurore de
-Neuenstein erwartet wurde, und designierte den Kanzler, den Dekan und
-den Grafen Saur zur geschäftlichen Verhandlung. Das Kleeblatt setzte
-sich mit den preußischen Herrn inmitten der gespannten Kapitularen um
-den goldgeschnörkelten Tisch. Als die Unterhaltung begann, erschien
-verspätet der Pfarrer Ludwig. Weil es keinem der Kapitularen einfiel,
-ihn den preußischen Herren vorzustellen, besorgte er das selbst.
-Der junge Oberst reichte ihm freundlich die Hand, sah aufmerksam zu
-dem heiteren Warzengesicht hinauf und plauderte munter, während am
-goldenen Tische ernst verhandelt wurde. Weil Ludwig bei schwächlichem
-Französisch einen Schnitzer um den anderen herauswimmelte, begannen
-sich die Domizellaren zu belustigen. Das störte den Pfarrer nicht.
-Zufrieden mit der neuen Bekanntschaft, die er geschlossen hatte, ging
-er zu seinem Kapitelstuhl und kreuzte die Arme.
-
-Die Verhandlung gestaltete sich zäh und spann sich in die Länge.
-Nie beteiligte sich der junge Oberst. Er betrachtete aufmerksam die
-gotischen Ornamente oder musterte die Gesichter aller Anwesenden. Nach
-der zweiten Debattenstunde war der erste Verhandlungspunkt -- Höhe
-der Ablösung für die Leibeigenschaft -- noch immer nicht erledigt.
-Herr von Grusdorf wollte unter 20 Gulden pro Kopf nicht heruntergehen
-und hielt in schlechtem Französisch Reden von der Länge gereizter
-Sonntagspredigten. Der junge Oberst verriet Zeichen von Ungeduld,
-tauchte die Kielfeder ein und begann mit hurtiger Hand schief über
-ein Blatt zu schreiben. Außer Danckelmann, der ein bißchen irritiert
-erschien, achtete niemand dieses Vorganges. Der junge Oberst schrieb:
-»Unsere Forderungen: 1) Jeder evangelische Exulant ist als preußischer
-Untertan zu erachten, dem der Schutz seines Königs gebührt. -- 2) Für
-alle Strafen, die um des evangelischen Bekenntnisses willen verhängt
-wurden, wird von Stund an volle Amnestie gewährt; neue Verurteilungen
-werden nicht ausgesprochen. -- 3) Der erste Zug der Exulanten verläßt
-die berchtesgadnische Grenze am fünften Tage _post datum_; die weiteren
-Züge folgen nach Verwertung des liegenden Besitzes. -- 4) Bei Verkauf
-des evangelischen Eigentums werden Bedrückungen nicht erfolgen; die
-Berchtesgadnische Regierung haftet für Eingang der Kaufschillinge bis
-zu vier Fünfteln des landüblichen Wertes. -- 5) Die Leibeigenschaft
-wird pro Kopf, Mann, Weib, oder Kind, mit 5 Gulden abgelöst; dafür
-haftet der preußische Staatsschatz. -- 6) Geheimrat von Danckelmann und
-seine Begleiter sind für drei Tage zu freizügigem Besuch des Landes
-ermächtigt, um mit den Evangelischen alles Notwendige festzusetzen;
-diese Genehmigung ist rückwirkend für den bisherigen Reiseverlauf.«
-
-Dieses Blatt reichte der junge Oberst dem Geheimrat. Dem wurde unter
-den weißen Locken die Stirn ein bißchen heiß. Er gab das Blatt nach
-kurzem Zögern mit einem zustimmenden Augenwink zurück. Der junge Oberst
-machte eine Abschrift, verwahrte sie zwischen den Knöpfen seines
-blauen Soldatenrockes und erhob sich. »Bewilligen mir die Herren ein
-paar Worte?« Der Kanzler sah verdutzt den Geheimrat an: »Ist Herr
-Oberst von Berg berechtigt --« Danckelmann sagte rasch: »Herr von
-Berg scheint geheime Aufträge Seiner Majestät empfangen zu haben --
-als Offizier.« Schweigen im Saal. Lächelnd und liebenswürdig sagte
-der Oberst: »Die Herren werden rascher zu einem Entschluß gelangen,
-wenn sie durch unsere Gegenwart sich nicht behindert fühlen. Hier sind
-unsere schriftlich niedergelegten Vorschläge. Wir ersuchen um ihre
-unveränderte Annahme bis zur zehnten Abendstunde.« Auch der Geheimrat
-nahm seinen Dreispitz unter den Arm. Herr von Grusdorf, der mit einem
-raschen Blick das Blatt überflogen hatte, stammelte entgeistert:
-»Wenn aber die Regierung begründete Veranlassung zur Abwehr dieser
-Wünsche hätte?« Danckelmann hob die Schultern und deutete auf seinen
-Begleitoffizier. Der Kanzler drehte die runden Augen hinüber: »Würde
-das etwa gar den -- den -- den Krieg bedeuten?« Da fand der junge
-Oberst ein heiteres, herzliches Lachen: »Ich bin so begeistert von den
-Herrlichkeiten Ihres zaubervollen Landes, daß ich jedem preußischen
-Grenadier den Genuß so erhabener Schönheit vergönnen würde.« Schritt
-um Schritt zurücktretend, machte er nach allen Seiten hin so zierliche
-Verneigungen, daß Graf Tige seinen Witz vom maskierten Tanzmeister
-wiederholte. Eine Wirkung erzielte der depossedierte Verkündigungsengel
-der allergnädigsten Aurore de Neuenstein mit seinem Scherzwort nicht.
-Die Gesichter aller Kapitularen blieben lang. Nur einer lachte vergnügt
-und ließ seine große Warze hüpfen. Graf Saur begleitete die Herren zur
-Sänfte. Hinter ihnen im Kapitelsaal erhob sich ein Heidenlärm. Auch bei
-jener Nachtsitzung über das Schicksal des schwarzweißen Doppeltödchens
-war es nicht lebhafter zugegangen.
-
-Zwischen vier hellbrennenden Wachsfackeln gaukelte die Sänfte durch
-die stille, abenddunkle Marktgasse. Danckelmann schwieg, weil der
-Polizeifeldwebel sich immer dicht neben dem Fenster hielt; und der
-junge Oberst, der die durchwachte Nacht zu spüren begann, nickte
-bei diesem sanften Geschaukel ein bißchen ein. Im Leuthaus war für
-die beiden Herren zum Nachtmahl gedeckt; der fürstpröpstliche Lakai
-wurde höflich verabschiedet, und der steifzopfige, stiefelklappernde
-Soldat mußte bedienen; er machte die Sache, wie man eine Kanone lädt
-und abfeuert. Der junge Oberst begann mit Gier zu schlingen, trank
-den schweren Klosterwein wie Wasser, schwatzte immer sein quirlendes
-Französisch und fragte endlich den wortkargen Geheimrat: »Hab ich Ihm
-die diplomatische Laune verdorben?«
-
-»Das nicht, aber -- was tun wir, wenn Ihre römische Kurzangebundenheit
-eine Abfuhr erleidet?«
-
-Ein heiteres Lachen. »Wozu soll ich mir den Kopf über Dinge zerbrechen,
-von denen ich voraussetze, daß sie nicht eintreffen. Die Herren haben
-nicht darnach ausgesehen, als wollten sie mit eisernem Schädel durch
-die Mauer fahren.« Ohne bösartig zu werden, begann der junge Oberst die
-Köpfe der Kapitelherren mit drolliger Spottlust zu silhouettieren. »Nur
-einer war dabei, der mir gefallen hat, der Lange mit dem prächtigen
-Weißkopf und den zwei schrecklichen Warzen. Der hat etwas Rolandeskes,
-hat Menschlichkeit in den deutschen Augen und Gedanken hinter der
-Stirne. Dennoch ist er heiter. Das ist ein Mensch mit erhöhter Seele.«
-
-»Glauben Sie, daß er --«
-
-Gleich verstand der junge Oberst. »Ein heimlicher Protestant? Der?
-Nein. Ihre evangelische Seele ist hochmütig, lieber Geheimrat. Wir
-dürfen nicht jeden wertvollen Menschen für uns in Beschlag nehmen.
-Sokrates und Leonidas waren Heiden, Salomo war Jude. Und der lange
-Weißkopf? Ich wette, der ist ein Katholik vom reinsten Wasser.« Nach
-kurzem Schweigen wieder das muntere Auflachen. »Ich ertappe mich
-manchmal bei einer höchst unnordischen Sympathie für die Katholiken.
-Sie sind mir in manchen Dingen lieber als unsere Orthodoxen, hinter
-deren Eisblöcken noch immer der verflossene Scheiterhaufen ein bißchen
-raucht.« Die schmalen Lippen lächelten malitiös. »Vor zwei Jahren, als
-ich gute Worte nötig hatte, schrieb mir ein katholischer Abt aus der
-Rheingegend diesen Vers in meinen Canisius:
-
- Ein schlechter Protestant, ein schlechter Katholik,
- Da frißt der Teufel den Segen, das Glück.
- Ein guter Katholik, ein guter Protestant,
- Und driefach wächst die Ernte im Land.
-
-Glauben Sie, Danckelmann, daß jemals einer von unseren
-Oberkonsistorialräten einen solchen Vers in den Katechismus eines
-katholischen Prinzen schreiben würde?«
-
-»So darf man diese Dinge nicht nehmen, Königliche Hoheit! Man muß als
-Staatsmann Distanz bewahren, um sich von Fall zu Fall das Notwendige
-mit Ruhe überlegen zu können.«
-
-»Ruhe? Für alle Fälle? Nein, Danckelmann! Das ist die unergiebigste
-Eigenschaft der Menschen.« Ein lächelndes Sinnen. »Zeit lassen? Beim
-Bergsteigen mag es vernünftig sein, wenn man kurzen Atem hat. Heut,
-als dieser Jäger zwischen den grausamen Dragonergäulen sprang wie ein
-Hirsch, bewies er, daß das Hilfreiche die eiserne Ausdauer ist, die
-schnelle Kraft und der leidenschaftliche Wille. Im Leben und in der
-Geschichte, wenn die Schose vorwärts gehen soll, muß Sturm wehen. Komm
-ich einmal zur Arbeit, so will ich in der ersten Stunde was beginnen,
-worüber die Welt zusammenfahren soll bis in die Knochen.« Sich
-erhebend, leerte er sein Weinglas und winkte auf etwas parodistische
-Art mit der Hand. »Gute Nacht, mein ruhsamer Geheimrat! Ich sehne mich
-nach meinem Nachtgebet. Das will ich _piano_ erledigen, damit es Ihm
-den Schlummer nicht davonpfeift.«
-
-Ein paar Minuten später, als der junge Oberst in >Himmat< und
-Reithose auf dem Bett saß, und der Soldat ihm die von der Schneenässe
-enggewordenen Stiefel herunterziehen wollte, hörte man zwei Stimmen im
-Salon. Dann streckte Danckelmann den Kopf zur Türe herein: »Der Bote
-war da. Alles bewilligt.«
-
-»Na also!« Ein kurzes, fast kindliches Auflachen der melodischen
-Stimme. Dazu in flinkem Französisch: »Hat man 120000 wohldressierte
-Kerle hinter sich, so kann man sich vernünftige Worte erlauben. Umwege
-und geduldige Schwäche machen sich schlecht bezahlt. Entschlossene
-Gradheit bleibt immer die beste Politik.« Und wieder deutsch: »Na,
-Hänne, nu zieh mal feste! Spuck in die _la main_! Denn wird's schon
-jehen.«
-
-Der Geheimrat legte sich mit erleichtertem Gemüt zu Bett. Er hatte
-schon eine berchtesgadnisch-salzburgisch-österreichische Koalition
-in der Luft hängen sehen. Jetzt konnte er aufatmen. Kaum lag er
-in den Kissen, da hörte er durch zwei Mauern sanft gedämpft das
->Nachtgebet< des jungen Obersten herüberklingen: pedantische
-Flötenläufe, erst langsam und immer schneller, Töne wie Soldaten, die
-nach dem Paradeschritt den Sturmlauf üben. Dann ein innig träumendes
-Adagio, das einer Klavierübung von Bach entnommen und für die Flöte
-zugeschnitten war. Erst gegen Mitternacht verstummten die zärtlichen
-Klänge. Das blieb politisch nicht ohne Folgen. In der Geisterstunde
-wurde Herr von Grusdorf aus dem ersten Schlaf herausgebimmelt, um
-von Muckenfüßl den überraschenden Geheimrapport entgegenzunehmen:
-daß der impertinalimentische Patron, der sich _in loco hujus_ vor
-den Kapitelherren so arroganzialiter aufgespielt hätte, gar kein
-prussianischer Offizier sein könnte, sondern probabilitätisch ein
-verkappter Musikant und Schwegelpfeifer wäre. Graf Tige hatte also mit
-seinem maskierten Tanzmeister nicht weit daneben geraten. Aber wie
-die Dinge lagen, war nichts mehr zu ändern. Man konnte nur bei den
-bevorstehenden Hoffestlichkeiten die Verteilung der Jagdstände und die
-Tischordnung _eo modo_ dirigieren, daß dieser zweifelhafte Kumpan aus
-der allergnädigsten Nähe Seiner Liebden removiert wurde.
-
-Eine dunkle Nacht verging. In den Bürgerhäusern der Marktgasse
-war nach der zehnten Abendstunde das Brennen von Licht seit dem
-Versöhnungsschießen polizeilich verboten. Aurore de Neuenstein und ihr
-Schlafzimmer standen selbstredend außerhalb des Wirkungskreises der
-mittleren Regierungsorgane. An der schon halb zum Unlustschlößchen
-gewordenen Villa blinzelte durch die herzförmigen Ausschnitte der
-geschlossenen Fensterläden ein rosiger Schein heraus, der erst kurz
-vor Anbruch des Morgens erlosch. Da die sekrete Sänfte sich schon vor
-Mitternacht gegen das Stift bewegt hatte, war den Polizeiwächtern
-diese zwecklose Lichtvergeudung der Allergnädigsten nicht erklärlich;
-sie rieten auf Gespensterfurcht; unmöglich konnten sie vermuten,
-daß Aurore de Neuenstein die restlichen Nachtstunden zum Einpacken
-noch unentfernter Kostbarkeiten verwendete. Ein ahnungsvoller Engel,
-sah sie den Strapazen des Großen Jagens, das sie als parisische
-Diana verschönen sollte, mit dunkler Besorgnis entgegen und wollte
-die drei folgenden Tage, in denen sie dank einer immer wirksamen
-Ausrede von allen zärtlichen Verpflichtungen enthoben war, noch gut
-für ihre Zukunft benützen. Kurz vor Anbruch des Tages verließen
-zwei schwerbepackte Saumtiere, von Aurorens verläßlichem Hausknecht
-geleitet, das in der Frühlingswärme still erblühende Freudengärtlein in
-der Richtung gegen Reichenhall.
-
-Unter dem gleichen Frühgrau pochte Leupolt Raurisser an die noch
-verschlossene Tür des Leuthauses. Eine Stunde später, während
-die kommende Sonne alle westlichen Bergspitzen mit Rosenglut zu
-überschütten begann, ritten die zwei preußischen Herren gegen
-Unterstein hinaus, begleitet von dem steifzopfigen Soldaten und von
-Leupolt, der ernst und blaß war, doch so ruhig, daß die Herren, wenn
-sie mit ihm sprachen, keinen Wandel gegen den vergangenen Tag an ihm
-bemerkten. Als die Reiter am Haynacherlehen vorüberkamen, grüßte
-Leupolt in herzlichem Erbarmen den Christl, der wunderlich erregt vom
-Zauntor seines Gehöftes gegen das Sudhaus hinüberspähte. Lange stand
-er und guckte so. Jetzt tat er einen schweren Atemzug. »Da kommt er!«
-Dem Haynacherlehen wanderte ein kleiner, zaundürrer Bauer entgegen, in
-dessen schmunzelndem Runzelgesicht zwei flinke Wieselaugen funkelten.
-Er trug eine schwere Geldkatze um den Magen herumgeschnallt. »Gelobt
-sei Jesus Christus und die heilige Mutter Marie.«
-
-»In Ewigkeit Amen!« sagte Christl und scheuerte den weißen Haarfleck
-hinter dem Ohr.
-
-Der kleine Bauer stieß den Stecken auf den Boden. »Daß wir gleich alles
-ausreden: den Hausrat, 's Vieh und 's Futter mußt du mir aufweisen.
-Dein Feld und den Waldzipf kenn ich. Wie viel verlangst du für alles?«
-
-»Die Nachbarsleut schätzen mein Sach katholisch auf vierzehnhundert
-Gulden.«
-
-»Ich hab dich ausrufen hören: du gibst es um den halben Preis?«
-
-»Was ich sag, ist Stein und Eisen.« Christls tiefliegende Augen
-begannen zu funkeln. »Daß man der Martle ihr Gerstenfeld nit ackern
-und misten darf, das müssen wir protokollarisch machen. Was mein Bübl
-braucht an Wäsch und Zuig, und was --« Dem Christl kam ein Schwanken in
-die Stimme. »Was noch übrig ist von meiner Martle, das nimm ich mit.
-Alles andre ist dein.«
-
-»Schauen wir's an.« Der kleine Bauer nahm die Sache genau. Jedes Stück
-Hausrat untersuchte er bis auf die Leimfugen; jede Ziege hob er auf
-seinen Schoß, jeder Kuh knutschte er das Maul, den Hals, die Wampe,
-das Euter, und jedem Kälbl guckte er aufmerksam unter den Schwanz.
-Der stumme Christl stand mit aschfarbenem Gesicht daneben. »Gut!
-Vierhundert kriegst du bei der Unterschrift, dreihundert bei der
-Übergab. Wann soll ich zum Protokollieren kommen?«
-
-»Gleich.«
-
-Der kleine Bauer lachte. »Pressiert's dir denn gar so?«
-
-»Wohl.« Christl Haynacher trug sein Bübl zur Nachbarin hinüber und
-wanderte mit dem Käufer zum Landgericht. Das wunderliche Kaufdokument
-mit dem Paragraph über das Gerstenfeld: nit ackern und nit misten
--- verursachte den vier überflüssigen Buchstaben eine muntere
-Viertelstunde. Als Christl unterschrieben hatte, fragte ihn der
-Landrichter lachend: »Wann will er denn exulieren?«
-
-»Morgen.« Der Haynacher hob die brennenden Augen. »Am liebsten tät
-ich's noch heut.«
-
-»Heute? Nein. Heut nachmittag wird er schön daheim bleiben. Da wird
-noch etwas zu erledigen sein.«
-
-Christl lächelte sonderbar. »Was wär denn das?«
-
-»Seine Neugier wird sich gedulden können.« Eine entlassende
-Handbewegung. Als die zwei Bauern mit schweren Schuhen davongepoltert
-waren, schwang sich der muntere Liebling der Gerechtigkeit zu einem
-philosophischen Erguß über die in Bauernköpfen generaliter grassierende
-Verbohrtheit auf. Seine heitere Laune sollte sich noch weiterhin
-erhöhen. Pfarrer Ludwig betrat schmunzelnd die Amtsstube. »Oh?
-_Reverende?_ Was führt Euch zu mir?«
-
-Das Schmunzeln des Pfarrers verstärkte sich. »Um ehrlich zu sein: ein
-Werk der Barmherzigkeit. Oder, um gleich _in medias res_ zu hupfen: ich
-will --« Nach einem Augenwink auf den Schreiber sprach er lateinisch
-weiter: »Ich will meine schwerbedrückte Seele entlasten und ehrlich
-zu Protokoll geben, daß ich es gewesen bin, der das Haynacher'sche
-Zwillingspärl verschwinden ließ.«
-
-Der Landrichter schickte hurtig den Schreiber aus der Stube und platzte
-los. Was Lustigeres war ihm zeit seines Lebens noch nicht begegnet.
-Zwischen Lachen und Lachen sagte er: »Unglaublich! Dieser Lewitter!
-So viel Schlauheit hätt' ich ihm gar nicht zugetraut, obwohl man in
-dieser Materie von einem Juden viel attendieren darf.« Es dauerte ein
-Weilchen, bis er sich von seiner unjustiziarischen Fröhlichkeit so
-weit erholt hatte, um die Gänsefeder in die Streusandbüchse tauchen
-zu können. Die Feder schrieb nicht. »Seht doch,« sagte der muntere
-Willibald, »wie klug meine Feder ist! Sie weigert sich, bei dieser
-barmherzigen Torheit mitzuagieren.« Er griff nach einem anderen Kiel.
-Diesmal fand er beim Eintauchen richtig das Tintenfaß. »Also?« Dabei
-lachte er schon wieder. »Was soll ich protokollieren?«
-
-»Daß ich aus Erbarmen mit dem unglücklichen Vater, aus Mitleid mit dem
-armseligen Pärl, auch sonst aus Vernunfts- und Menschlichkeitsgründen
-dem beklagenswerten Kapitelstreit ein notwendiges Ende bereitet
-habe.« Pfarrer Ludwig war sehr ernst geworden. »Was ich bekenne, Euer
-Gestreng, ist die reine Wahrheit. Mit einem Schlüssel, den ich aus der
-Zeit meiner Amtstätigkeit noch besaß, hab ich in jener Kapitelnacht
-die Armeseelenkammer aufgesperrt. Um mich unkenntlich zu machen, hab
-ich einen gemäschelten Herrenmantel umgehangen, den ich mir vor Jahren
-für ein höfisches Maskenfest hab schneidern lassen. So vermummelt
-hab ich das arme Pärl im Friedhof zur ewigen Ruh bestattet. Mein
-priesterliches Gewissen ist ohne Vorwurf. Lewitter hat uns das im
-Kapitel doch auseinandergesetzt: mit der Verwebung der Muskeln, mit der
-Diffusion des Blutes, _et cetera_. Da muß doch vom getauften Blut was
-übergeflossen sein ins ungetaufte, also quasi eine Mittaufe des nur
-leblos *scheinenden* Körperchens erfolgt sein. Nit?«
-
-»Aaaaah! Glänzend debattiert!« staunte der hocherfreute Richter, der
-nun auch den Grafen Tige, wenigstens inbetreff seiner nächtlichen
-Friedhofstätigkeit gerechtfertigt sah. »Warum habt Ihr denn diese
-hilfreiche Konklusion nicht im Kapitel vorgebracht?«
-
-»Weil sie mir erst _post festum_ eingefallen ist. Daß ich also bis zu
-gewissem Grad gegen kirchliche und weltliche Gesetze handelte, das weiß
-ich. Und bekennen muß ich es, weil ich nicht will, daß ein halbwegs
-Schuldloser leiden soll um meinetwillen.«
-
-»Ssssso!« sagte der von fröhlichem Glück erstrahlende Landrichter nach
-einer Weile, indem er unter das letzte Wort des Protokolls einen netten
-Schnörkel machte. »Und wirklich, _Reverende_, dieses Bekenntnis wollt
-Ihr unterschreiben?« Pfarrer Ludwig, ohne zu antworten, nahm die Feder
-und kritzelte seinen Namen unter das Protokoll. Da bewegten sich die
-vier überflüssigen Buchstaben. Mit einer Herzlichkeit, wie sie noch
-kein anderes Menschenkind von ihm erfahren hatte, streckte Willibald
-Hringghh dem Pfarrer die Hände hin und sagte voll Rührung: »Reicht mir
-Eure hilfreiche Christenhand! Ich *muß* sie drücken. Es ist mir doch
-bekannt, daß Jesunder stets Euer Gegner war. Um so ehrenwerter ist es
-von Euch, daß Ihr einem so erbitterten Widersacher zu Hilfe kommt, der
-nahe daran war, die übelsten Dinge über Euch heraufzubeschwören.«
-
-»Herr Richter!« Pfarrer Ludwig blieb noch immer ernst. »Ich hab keinen
-Schwindel gemacht, ich hab die Wahrheit gesagt.«
-
-Ein fröhliches Lachen erschütterte das Sauermilchgehirn der
-Gerechtigkeit. »Die *reinste* Wahrheit! Auch im Groben famos erfunden.
-Aber permittiert mir, Euch aus dem reichen Tresor meiner richterlichen
-Experienzen auf ein paar laienhafte Dissonanzen aufmerksam zu machen.
-Da ist von einem Schlüssel die Rede. Wenn nun der Richter früge: >Wo
-ist dieser Schlüssel?< Nein, Ihr sollt mir nicht antworten. Ich will
-es Euch sagen.« Der vergnügte Willibald lächelte allwissend. »Nicht
-wahr? Diesen Schlüssel habt Ihr in einen tiefen Brunnen geworfen?«
-
-»Stimmt!«
-
-»Und den gemäschelten Herrenmantel habt Ihr wohl verbrannt in Eurem
-Stubenofen?«
-
-»Stimmt!«
-
-»Aber! _Reverende!_« Der Landrichter lachte, daß von den heftigen
-Schüttelbewegungen die Roßhaarwuckeln seiner Perücke weißlich
-zu qualmen begannen. »Euch, der die herrliche Sache mit der
-diffundierenden Taufe zu finden wußte, sollte doch auch hier etwas
-Witzigeres einfallen. Der tiefe Brunnen und das Ofenfeuer sind die
-abgedroschensten Hilflosigkeiten vor dem Richtertische. Doch um Euch
-einleuchtend zu demonstrieren, *wie* laienhaft in juridischem Sinn Eure
-barmherzige _fabula_ ersonnen ist, will ich noch eine Frage stellen. In
-welcher Nacht behauptet Ihr, das angebliche _crimen_ verübt zu haben?
-Ihr wollt doch wohl nicht sagen: >In der ersten<? Nämlich in der Nacht,
-in der es durch einen mir bekannten Täter wirklich geschah! Da ist doch
-zu beweisen, daß Ihr im Kapitel wart. Nun also? Wann?«
-
-»In der anderen Nacht.«
-
-»Aber Hochwürden!« Die justiziarischen Mausaugen blitzten von
-überlegenem Humor. »Da wart Ihr doch, wie ich mich selbst überzeugte,
-ein schwerleidender Patient.«
-
-»Ich hab die Krankheit simuliert, um das Kapitel schwänzen zu können.«
-
-»Ausgezeichnet!« Hell auflachend klatschte Doktor Willibald die Hand
-auf den geduldigen Tisch der Justitia. »Ich will Euch sogar gestehen,
-daß eine ähnliche Konjektur auch mich zu befallen drohte, bevor sich
-der Gegenbeweis ergab. Daß man vor dem Scharfblick eines Richters
-mancherlei Krankheiten zu simulieren versucht, ist mir nicht neu.
-Es gibt da Simulanten von erstaunlicher Fertigkeit. Aber --« Erst
-mußte der Landrichter die Tränen fortwischen, die ihm der Witz des
-Vorganges aus den Molchaugen beizte. »*So* geschickt hat noch niemals
-einer von meinen Inkulpaten simuliert, daß ich von seiner fingierten
-Krankheit infiziert wurde. Ihr seid der erste, der da reüssierte.
-Eure _simulatio_ hat mir vierzehn Tage beschert, in denen meine Nase
-permutiert war zu einer qualvollen Hölle. Nun? Was sagt Ihr jetzt?«
-
-Der Pfarrer schwieg. Seine große Warze begann zu hüpfen, und dann
-brach er in ein Gelächter aus, daß er mit beiden Händen die Mitte
-seiner Länge umklammern mußte. Eine völlig gegensätzliche Wandlung
-vollzog sich im Molkentopf des Hringghhischen Verstandes. Ernst
-geworden, mit schöner Würde, erhob er sich vom Fundament der vier
-überflüssigen Lettern. »Merkt Ihr jetzt, wie aussichtslos es ist, vor
-einem erfahrenen Richter einen unrealen Bären produzieren zu wollen?
-Aber gestattet nun, daß ich den armen Jesunder sofort von seinem Wahn
-kuriere. Ich dank Euch, liebste Hochwürden! Ihr habt mir in mancher
-Hinsicht eine große Gefälligkeit erwiesen. Grüßt mir auch den klugen,
-vortrefflichen Lewitter!«
-
-Als Pfarrer Ludwig hinaustrat in die Sonne, faltete er wie ein frommes
-Kind die Hände und sprach ohne Worte zum blauen Himmel hinauf: »Du
-lieber Herrgott! Gibt's denn irgendwo auf der Welt noch einen größeren
-Schafskopf? Sag mir's! Dann reis' ich hin. So was Unwahrscheinliches
-muß man mit Händen greifen, bevor man's glauben kann.« Lachend ging er
-zu seinem Haus hinüber. Doch diese Heiterkeit war ohne Dauer. Seine
-Augen wurden ernst, fast traurig. »Und so was richtet über Schicksal
-und Ehr, über Leben und Tod der Menschen.«
-
-Bevor noch eine Stunde verflossen war, trat Doktor Willibald Hringghh
-mit dem Lächeln eines Siegers in die Stube des Pfarrers. »Gestreng?«
-fragte Herr Ludwig. »Was noch?« Die Sauermilch der vier Überflüssigen
-wurde geistreich. »Der gemäschelte Herrenmantel,« Willibald zog das
-Protokoll aus dem Busen, »soll verdiente Gesellschaft erhalten.« Ging
-auf den Ofen zu und schob das Dokument der Gerechtigkeit ins Feuerloch.
-Der Pfarrer schüttelte den Kopf: »Das muß ich mißbilligen. Wenn
-Jesunder das Prozeßverfahren gegen mich fordert?«
-
-»Er wird es unterlassen.« Lächelnd streckte sich Doktor Halbundhalb zum
-Ohr des langen Pfarrers hinauf. »Um eine gelinde, politisch notwendig
-gewordene Verfehlung gegen meine Amtspflicht von mir abzulösen, hab
-ich beim Chorkaplan *gebeichtet*. Es war die einzige Methode, die ihn
-zwingen konnte, das Geheimnis zu bewahren.« Seiner siegreichen Klugheit
-vollbewußt, sah der weise Richter dem Pfarrer in die Augen. »Als ich
-mein Confiteor begann, war der arme Jesunder noch ein gequälter Narr,
-bei der Absolution schon ein sanierter Mensch. Namentlich das Motiv der
-diffundierenden Taufe hat ihn ungemein beruhigt. Und die Hilfe kam, als
-die Not am höchsten war. Den Verstörten bedrückte bereits der Wahn, daß
-er preußische Zwillinge gebären müßte. Eben, da ich kam, wollte er
-seine verzweifelte Mutter zur Hebamme schicken.«
-
-Pfarrer Ludwig, als er allein blieb, sprach mit einem kleinen Zusatz
-die Worte des spinozistischen Briefes vor sich hin: »Alles Wissen und
-Geschehen, auch alle Narretei und Dummheit muß dem Leben dienen, damit
-der Mensch teilhaftig werde des ihm möglichen Glückes!« Dann fort,
-zu seinem Freunde Simmi. Und von Lewitters Haus hinüber zum Meister
-Niklaus. Er traf ihn mit Luisa und Sus bei der Mahlzeit, setzte sich
-zu ihnen, schien besser gelaunt als je und erzählte die Geschichte
-vom preußischen Kapitelsieg. »Die wissen, wie man's zu machen hat.
-Einen feindseligen Hammel muß man aufs Maul schlagen. Kitzelt man ihm
-freundlich die Ohren, so stoßt er.« Während der Pfarrer schwatzte,
-huschten seine forschenden Augen immer wieder zu Luisa hinüber. Ihr
-Gesicht war wie aus Alabaster geschnitten und erzählte stumm von einer
-herzzerdrückenden Kummernacht. Nie hob sie den Blick, sprach keine
-Silbe und atmete schwer. »Ja,« sagte der Pfarrer, »gestern im Kapitel
-hab' ich lachen können. Dafür hab' ich kurz vorher einen netten Schreck
-mit der guten Mälzmeisterin erlebt. Übrigens, Luisli, weißt du denn
-schon, daß der Leupi wieder daheim ist?«
-
-Luisa nickte stumm und beugte das Gesicht noch tiefer gegen den Tisch.
-»Kind?« fragte der Meister halb erstaunt und halb erschrocken. »Und
-da sagst du mir kein Wörtl davon? Ist was geschehen zwischen Euch?
-Du bist seit gestern, daß ich dich schier nimmer kenn.« Sie wollte
-sprechen und brachte keinen Laut aus der Kehle. Die Sus wurde rot
-bis unter die Haarwurzeln, und Niklaus fragte nicht weiter, weil
-ihm der Pfarrer unter der Tischplatte einen mahnenden Puff versetzte
-und dazu verständlich mit den Augen zwinkerte: »Ja, Nick, da hab ich
-wieder einmal sehen können, wieviel Wunderliches in Menschenköpfen
-umeinanderhupft. Du weißt doch, was für ein gescheites, wahrhaft
-frommes Weibl die Mälzmeisterin ist. Und gestern, ich sitz daheim,
-und da surrt der Mutter Agnes ihr Mädel zu mir herein in die Stub,
-heult wie unsinnig und bettelt, ich soll doch um Gotteswillen gleich
-hinüberkommen, die Mutter Agnes hätt den Verstand verloren.«
-
-Niklaus sah ratlos den lächelnden Pfarrer an, die Sus stammelte ein
->Jesus Maria!<, und Luisa hob das blasse Gesicht mit erweiterten Augen,
-aus denen alle Qual einer verstörten Seele redete.
-
-»Da kannst du dir denken, Nicki, wie ich gesprungen bin. Ich komm
-hinüber, und da sitzt der prächtige Bub auf der Herrgottsbank, hat
-ein Gesicht wie ein Gestorbener, und hält mit den Armen die Mutter
-fest, als müßt er Sorg haben, daß sie was Unsinniges anstellen möcht.
->Was ist denn?< frag ich. Und da kriegt die Mälzmeisterin ein bißl
-Luft, reißt sich von ihrem Buben los, springt zur Mauer hinüber -- und
-du weißt doch, bei den Mälzmeisterischen hängt so eine hirnrissige,
-lästerliche Gottsaugenuhr in der Stub. Und jetzt rat, was die Mutter
-Agnes getan hat? Ausgesehen hat's freilich, als wär sie verrückt. Aber
-flink bin ich draufgekommen, daß sie gescheiter ist als wir alle. Und
-so springt das zornwütige Weibl auf die Mauer zu, packt die dumme Uhr,
-reißt sie von der Wand herunter, trampelt mit den Schuhsohlen drauf
-herum, wie man was Giftiges totmacht, und schreit dazu in Kummer und
-Tränen: >Frömmigkeit, ja, Frömmigkeit! Rechte Frömmigkeit ist das
-Schönste auf der Welt, aber kindischer Aberglauben ist allweil das
-Schiechste vor Gottes Blick!< Ich sag dir, Nicki --« Pfarrer Ludwig
-verstummte, sah über den Tisch hinüber und fragte verwundert: »Luisli?
-Ist dir nit gut?«
-
-Wankend, als wäre sie nah dem Erlöschen, hatte Luisa sich erhoben.
-Der Meister erschrak, die Sus sprang auf. Und da taumelte Luisa schon
-zur Tür hinaus, den einen Arm vor die Augen gepreßt, mit der anderen
-Hand ins Leere tastend. Die Sus sprang ihr nach mit einem erstickten
-Sorgenschrei. Den Meister, der das Gleiche tun wollte, faßte Pfarrer
-Ludwig am Arm. »Bleib, Nicki! Die Sus macht das schon. Die weiß, wie
-man vor einer füreiligen Dummheit den Schlüssel im Türschlößl umdreht.«
-
-»Mensch!« zürnte der Meister. »Was treibst du denn da?«
-
-»Was der Simmi treibt, wenn er für eine Krankheit das richtige Tränkl
-mischt.« Lächelnd legte der Pfarrer den Arm um den Hals des Freundes.
-»Sei nit neugierig! Das Kind muß in ihm selber das Rechte finden.«
-
-»Pfarrer?« stammelte Niklaus.
-
-»Verstehst du nit? Hast du im Leben noch nie erfahren, zu was die
-hungrige Lieb einen treiben kann?«
-
-Ohne zu antworten, grub Meister Niklaus seine Stirn in die Hände.
-
-Der Pfarrer betrachtete ihn mit einem herzlichen Blick und verließ ohne
-weiteres Wort die Stube.
-
-Auf dem Heimwege begegnete er einem heftig monologisierenden
-Menschenkind. In der milden Mittagssonne schusselte der weißschnauzige
-Hiesel Schneck am Pfarrer vorüber und strebte durch die Stiftshöfe
-gegen den Brunnenplatz. In seinem Gesicht war eine Mischung
-gegensätzlicher Seelenstimmungen. Man konnte da ebensogut auf
-fuchsteufelswilde Himmelhundslaune, wie auf freudenreiche Befriedigung
-raten. Die letztere schien im Hiesel das Übergewicht zu gewinnen,
-als er beim Marktbrunnen sein Schneckenweibl daherzappeln sah, so
-festtäglich aufgeputzt wie ihr Schneck. Hätte jedes von den beiden noch
-einen Rosmarinstrauß an der Brust gehabt, so hätte man sie für ein
-goldenes Hochzeitspaar halten können. »So,« sagte die Schneckin, »jetzt
-haben wir's!« Dabei war auch an ihr das gleiche, seltsame Durcheinander
-von Kummer und Glück zu gewahren. Sie tat einen steinschweren Atemzug
-und wiederholte lächelnd: »Jetzt haben wir's!«
-
-»Und wie!« Der Hiesel legte den Arm um das alte Weibl und tuschelte
-zärtlich, ohne den winzigsten Himmelsköter. »Jetzt ist alles wieder in
-der schönsten Ordnung!«
-
-Der Schneckin brannte ein mädchenhaftes Erglühen über das
-Runzelgesicht. Verwundert guckte sie am Hiesel hinauf und flötete:
-»Jesus, wer hat's dir denn schon wieder verraten?«
-
-»Was?«
-
-»Daß ich mich dir z'lieb wieder einschreiben hab lassen als
-evangelikanische Exulantin.«
-
-Der Hiesel Schneck, dem der himmelwärtsstrebende Schnauzer sonderbar
-zu zittern anfing, hob zuerst sprachlos die geballten Fäuste gegen
-das Frühlingsblau hinauf und verzog das schmerzhafte Maul bis zu den
-Ohren. Dann fuhr ihm aus der verzweifelten Seele eine langschwänzige
-Höllementskreatur heraus. Diesem Fluchgeprassel folgte die weinerliche
-Klage: »Du Narrenkapp ohne Bändel! Du Feiertagsschmarren ohne Schmalz!
-Du alte Fuierbüx ohne Zündloch! Hast du denn um Gottswillen nit ein
-*bißl* Verstand unterm Kuferdeckel!« Weil die Schneckin bitterlich zu
-heulen anfing, wurde der Hiesel etwas sanfter. »Weibl, so geht's nit!
-So kommen wir zwei unser Lebtag nimmer auf gleich. Kreuzteufelundkruzi
---« Kummervoll erwischte er den Himmelhund, der aus ihm herausfahren
-wollte, beim Schwanz und verschluckte ihn wieder. »Verstehst du denn
-nit? So was von Füreiligkeit! Du bei die Evangelikanischen drent!
-Und ich seit halber Zwölfe wieder der beste Katholik! Wir zwei, wir
-bleiben doch allweil grabenweit auseinander, wenn sich nit eins mit der
-Gottsfreudigkeit ein bißl zruckhalten kann. Verstehst?«
-
-Die Schneckin hatte verstanden. Drum flossen ihre Tränen so reichlich,
-daß dem Hiesel das Erbarmen in die wirblige Seele tröpfelte. »Geh,
-deswegen mußt du nit so grausam röhren! Es gibt auf der Welt kein
-Narrenstückl, das man nit wieder aufpolieren könnt.«
-
-Mit nassen Augen guckte sie hinauf zu seinem zitternden Schnauzer.
-»Meinst, ich soll mich gleich wieder ausstreichen lassen?«
-
-»Ausstreichen? Was? Du Roß ohne Schweif! Da müßt sich der Kommissar
-was Nobels denken von dir. Der tät doch sagen: du bist ja wie 's
-Wetterweibl um Ostern, bald drin im Häusl, bald wieder draußen. Ah na!
-So soll mir keiner nit reden von meiner Schneckin. Verstehst? Ich
-bring die Sach schon wieder auf gleich. Der Hiesel kann's machen, wie
-er mag. Da lachen die kommissarischen Schöpsnasen und sagen halt wieder
-auf französisch: Tätewoh! Meintwegen! Ein Buckel, wie der Schneckische,
-vertragt's.«
-
-Den Hut lüftend, als wäre ihm schwül geworden unter dem struppigen
-Haardach, surrte der Hiesel Schneck, eine Perlenkette neuartig
-gelöckelter Himmelhunde drechselnd, hinüber zur Kommissariatskanzlei.
-Die Schneckin konnte nur neun Vaterunser beten, da war der Hiesel schon
-wieder da. »So, Weibl! Jetzt hat der Schmarren wieder sein Schmalz.
-Jetzt soll's auf der Welt kein' bessern Evangelikaner nimmer geben, als
-wie der Hiesel Schneck einer ist. Verstehst?« Trotz aller Ruhe, mit der
-sich der Hiesel aufspielte, schien doch ein böses Gewissenswürmchen
-an seiner Seele zu nagen. Jählings erblassend zog er sein Weibl mit
-sich fort, so flink, daß die Schneckin das Aussehen einer schiefen
-Zappelfigur bekam. Und das geschah aus keinem anderen Grunde, als
-weil der Hiesel Schneck den heitergestimmten Landrichter in amtlicher
-Begleitung aus dem schattigen Stiftstor heraustreten sah in die Sonne.
-
-
-
-
-Kapitel XXVIII
-
-
-Zur Linken der vierfach entbehrlichen Gerechtigkeit wandelte der
-Feldwebel Muckenfüßl mit dem Krückstock der polizeilichen Gewalt.
-Hinter den beiden marschierten vier Soldaten Gottes mit aufgepflanzten
-Bajonetten. Dieses Doppelkleeblatt der Weltbeglückung verfügte sich ins
-Tal der Ache und zum Lehen des Christl Haynacher.
-
-In dem sonst so stillen Gehöfte war es lebhaft. Vieh wurde
-davongetrieben; bei den Hecken fing man die gackernden Hennen; Heu
-und Stroh wurde auf einen Leiterwagen geladen, und ein paar lustig
-schwatzende Burschen schleppten allerlei Hausgerät aus dem Flur
-und stellten es in die Sonne. Nachbarsleute standen bei der Hecke;
-sie schwatzten leis miteinander oder guckten zum Haus hinüber, wo
-der Christl Haynacher auf der Türbank saß, das schlafende Bübl mit
-leisen Bewegungen auf seinem Schoße wiegend. Sein verzerrtes Gesicht
-war aschenfarbig, und die tief eingesunkenen Augen brannten aus
-bläulichen Ringen heraus. Dennoch bot er den Anblick eines ruhigen
-Menschen und lächelte immer ins Leere, als wären die Dinge, die um
-ihn her geschahen, für sein Herz und Hirn eine ferne Sache. Manchmal
-machte er mit der Hand einen raschen Griff nach seiner Hüfte, um
-zu fühlen, ob die Geldkatze noch da wäre, die er nach der Übergabe
-umgeschnallt hatte. Einer von den Nachbarn ging auf den Christl zu
-und sagte: »Mensch! Warum tust denn du exulieren? Du bist doch ein
-Gutkatholischer!«
-
-»Wohl! Und *was* für ein guter!« nickte der Haynacher und schaukelte
-sein Bübchen. »Aber exulieren tu ich.«
-
-»Du Narr! Warum denn?«
-
-Das lächelnde Gesicht des Christl wurde wie eine starre Maske. »Warum?«
-Er hob die funkelnden Tieraugen. »Schnaufen muß ich wieder können.
-Luft muß ich haben. Ein Kreuz muß ich aufstecken, ich weiß nit wo. Und
-erzählen muß ich dürfen, wie gottselig meine Martle gestorben ist.« Ein
-heiseres Aufkichern. »Mein Vieh und mein Zuig ist alles verkitscht.
-Morgen, eh die Sonn kommt, bin ich schon über der Grenz. Gott soll euch
-gutbleiben, ihr Nachbarsleut! Mich sehet ihr nimmer.« Da rief bei der
-Hecke drüben eine schrille Weiberstimme, wie warnend: »Christl! Die
-Soldaten Gottes kommen.«
-
-»So so?« sagte Christl. Was gingen ihn die Soldaten Gottes an? »Die
-kommen, ich weiß nit zu wem. Bloß nit zu mir. Bei mir ist alles
-protokollarisch. Mein Kopfgeld hab ich schon gestern gezahlt. Zwanzig
-Gulden, Nachbar!« Er lachte wieder. »Weil ich ein Gutkatholischer bin.
-Als Luthrischer hätt ich's billiger haben können um fufzehn Gulden. Ja,
-Nachbar, der richtige Glauben ist einen Batzen wert. Da zahlt einer
-gern. Gelt, ja?«
-
-Der Nachbar schüttelte den Kopf, ohne zu antworten, guckte scheu zur
-Straße hinüber und ging auf die Hecke zu. Er hatte ein gutes Gewissen,
-seine Haustür und seine Kreuzstöcke waren nicht rot angestrichen,
-aber wenn die Soldaten Gottes kommen, ist's immer besser, man ist
-weit davon. Auch die Leute, die nach protokollarischem Recht das
-Haynacherlehen ausräumten, stellten ihre muntere Arbeit ein und
-drückten sich hinter die Scheune. Würdevoll, die Amtsmiene mit einiger
-Heiterkeit aufgeschmälzt, betrat der Landrichter unter Muckenfüßls
-kanzleideutschem Geleit den stillgewordenen Hofraum des Haynacherlehens
-und gab den vier Gottessoldaten einen Wink, sich vorerst in Reserve
-zu halten. Schweigend schritten die beiden der Haustür zu. Weil sie
-die Sonne über dem Nacken hatten, krochen ihre verkürzten Schatten wie
-kleine schwarze Teufelchen vor ihnen her.
-
-»Grüß Gott, ihr Herren!« sagte Christl ruhig, nur ein bißchen
-verwundert. »Aufstehen kann ich nit. Mein Bübl schlaft.«
-
-»So wird er es wecken müssen. Um Abschied von ihm zu nehmen.« Die
-vier Entbehrlichkeiten hatten das reinste Deutsch gesprochen.
-Dennoch verstand der Christl nicht. Doktor Halbundhalb mußte sich
-entschließen, etwas deutlicher zu werden: die Regierung hätte nichts
-dagegen einzuwenden, daß der Haynacher das Land verlasse; einen
-unverbesserlichen Narren gewaltsam festzuhalten, läge nicht im
-Interesse der Obrigkeit; keinesfalls aber dürfe sie damit einverstanden
-sein, daß ihr ein zweifellos katholischer Deszendent entzogen würde,
-der sich zu einem verwendbaren Subjekte anzuwachsen verspräche.
-Weil Christl noch immer so wunderlich dreinguckte, fiel Muckenfüßl
-erläuternd ein: »Kapierst du denn nit, du _Rhinoceratissimus_? Du
-selber därfst marschieren, wie's dir quodlibetiert. Dein Kindl bleibt
-_in loco hujus_.«
-
-Trotz des gehäuften Lateins begann im Haynacher das Verständnis zu
-erwachen. Sein Gesicht entfärbte sich, seine Augen wuchsen, und fester
-schlossen sich seine Arme um das schlummernde Bübl.
-
-»Man hat für sein Kind eine freundliche Unterkunft eruiert und wird es
-christlich erziehen,« sagte der Landrichter mit beruhigender Milde,
-»wobei natürlich dem Kindsvater die Pflegekosten zufallen, die er für
-zehn Jahre zu deponieren hat, mit 26 Gulden _pro anno_.«
-
-»Herr?« Das war kein verständlicher Laut, war wie ein gurgelndes
-Husten. Der Christl tat ein paar schwere Atemzüge, wurde wieder ruhig,
-schüttelte den Kopf und konnte lächeln. »Guter Herr, da müßt Ihr Euch
-verschaut haben in der Hausnummer. Ich bin kein Evangelischer nit, dem
-man sein katholisches Kind wegnehmen därf. Ich bin noch allweil --« Er
-verstummte, weil er im Gesicht des Feldwebels etwas gesehen hatte, was
-ihm kalt in die Adern fiel. Langsam erhob er sich, preßte das Kind an
-seinen Hals, wich ein paar Schritte zurück und ließ die Augen irren wie
-ein gefangenes Tier, das nach einem Ausweg späht.
-
-Aus reicher Erfahrung verstand sich Muckenfüßl auf das leiseste
-Anzeichen von Renitenz; er hatte gegen die Musketiere mit zwei Fingern
-eine Gabel und dann einen bogenförmigen Wink gemacht. Solang diese
-Ordre nicht ausgeführt war, erschien ihm Milde empfehlenswerter als
-polizeiliche Strenge. Mit biersanfter Herzlichkeit sagte er zum
-Haynacher: »Jetzt tu nit obstinat sein, du verdrehter Subjektivus!
-Und mach keine Spurifaxen nit, wo's die Obrigkeit _in loco hujus_
-deinem Kindl aus christlicher Pietätigkeit so gütig vermeint.« Der
-Landrichter, als wäre seine amtliche Mitwirkung bei diesem gutgläubigen
-Vorgang beendet, trat gegen die Hecke hin und betrachtete aufmerksam
-das ungeackerte Gerstenfeld, auf dem die Frühlingsblumen zu blühen
-begannen, obwohl da keine Menschenhand gesät hatte. Und Muckenfüßl
-hängte den Krückstock der Polizeigewalt an seine Säbelkuppel, trat
-mit ermunterndem Lachen auf den Christl Haynacher zu, streckte
-die gespreizten Finger wie eine freundliche Kindsmagd und sagte
-wohlwollend: »Schau, Christl, sei ein bißl intelligentisch. Tu
-gehorsamen und gib halt in Gottesnamen das Würml her!«
-
-Der Haynacher sah aus, als möchte er in seinem ratlosen Gram einen
-Kniefall machen und um Gnade betteln; aber sein Körper streckte sich
-hart; dabei klang seine Stimme wie das Klagen eines gequälten Kindes:
-»Jesus, Jesus, nit um Leben und Sterben, mein Bübl laß ich nit aus.«
-
-»Was einer nit gibt, das muß man nehmen.« Wieder, und diesmal mit
-obrigkeitlichem Unterton, fügte der Feldwebel bei: »In Gottesnamen!«
-
-Der irrende Blick des Bauern sah vom Straßenzaun zwei Musketiere
-herankommen. Nun hörte er die klirrenden Sprünge der beiden
-anderen, die ums Haus herumgelaufen waren und hinter der Mauerkante
-hervortauchten. Ein Ausweg war da nimmer. Im Gesicht des Christl
-Haynacher, dem die Verzweiflung das Gehirn zerwirrte, vollzog sich eine
-grauenvolle Veränderung. Unter heiserem Auflachen riß er das große
-Bauernmesser von seiner Hüfte und grub es mit raschem Stoß in das Herz
-seines schlummernden Kindes. Das Bübchen zuckte nur ein bißchen, wie
-Kinder im Traum zusammenfahren, und ließ das Köpfl auf der Schulter
-des Vaters liegen, als schliefe es friedlich noch immer weiter. Das
-Gesicht des Christl war so weiß wie die Mauer seines verlorenen
-Hauses. Die rechte Hand war rot geworden. Er streckte sie hinauf gegen
-die Sonne und schrie: »Meines Kindes Blut soll kommen über alle, die
-uns Menschen plagen im Namen Gottes!« Mit Sprüngen, wie ein von Hunden
-gehetztes Wild sie macht, unter rasselnden Atemzügen, rannte er gegen
-die Hecke hin, warf sich durch die Stauden und gewann den Gerstenacker,
-während hinter ihm das Geschrei der Obrigkeit, der Musketiere und der
-erschrockenen Nachbarsleute zeterte.
-
-Hinfallend auf die beiden Knie, ließ der Haynacher das entseelte
-Bübchen von seiner Schulter gleiten und stieß das blutige Messer, das
-zwischen Griff und Klinge eine stählerne Querspange hatte, in den
-grünwerdenden Grabhügel der Martle. »So, Weibl!« keuchte er. »Jetzt
-hast du dein Kreuz!« Ein grelles Lachen zerriß ihm die Stimme. »Ist
-kein heiliges nit, aber eins, das die Herren nimmer verbieten können.«
-Er zuckte vom Boden auf. Mit dem Ausdruck eines entrückten Bekenners
-hob er die roten Hände und schrie zum Himmel: »Sie hat's verdient! Von
-allen Christenseelen die frömmste! Und ist gestorben, so schön, wie
-seit dem heiligen Peter und Paul kein römischer Bischof nimmer sterben
-hat können auf seinem vergoldeten Sessel!« Nach diesem Schrei überkam
-ihn eine steinerne Ruhe. Das verzerrte Gesicht drehend, gewahrte
-er bei der grün überhauchten Hecke die obere Hälfte des schwarzen
-Landrichters mit dem kalkweißen Gesicht und der schneeblanken Perücke.
-Er sah nicht den Feldwebel, der mit geschwungenem Säbel halblateinisch
-kommandierte, sah nicht die Musketiere, die sich durch die Hecke
-warfen, sah nicht die schreienden Leute. Nur den Doktor Willibald
-Hringghh. Mit zuckenden Händen griff er in die Luft. »Wie, du! Komm
-her! Oder traust du dich nit?« Ein wildes, jedem menschlichen Klang
-entrücktes Lachen, gleich dem Gebrüll eines gepeinigten Tieres. »Schau
-her, du! Meine Händ sind leer. Ich hab kein Messer nimmer. Und mag nit
-greifen nach einem Prügel. So viel wie ein räudiger Hund verdienst du
-nit.« Mit greifenden Fäusten stürzte er auf die erschrocken wackelnde
-Perücke zu. »Für einen, wie du, da reichen zehn römischkatholische
-Finger aus!« Dem Christl Haynacher fiel der Kopf vornüber, und seine
-Fäuste sanken. Zwei obrigkeitstreue Bajonette waren ihm in die Brust
-gefahren. Übersprudelt vom roten Brunnen seines Lebens, fiel er auf den
-Gerstenacker hin und lag wie ein Entseelter in den jungen Blumen. Nun
-bewegten stoßende Atemzüge seine Brust. Er tat die Augen auf, die er
-schon geschlossen hatte, hob sich mit stemmenden Armen vom Boden und
-sprach in Verzückung: »Es ist ein Gott, und ich glaub. Ihr Sünder, euer
-Irrtum ist des Erbarmens wert. Mehr sag ich nimmer.« Lächelnd fiel er
-zurück, und das Leben entrann ihm.
-
-Drüben bei der Hecke des Nachbarlehens fingen die Leute wie verrückt
-zu schreien an. Die Musketiere standen mit verdutzten Gesichtern,
-als begriffen sie nicht recht, was da im Handumdrehen geschehen war,
-und Muckenfüßl fühlte eine Anwandlung von Übligkeit, weil er Blut in
-solcher Menge nicht sehen konnte. Nur Doktor Willibald Hringghh, obwohl
-seine Nase so weiß wie seine Perücke war, erkämpfte bis zu amtlich
-notwendigem Grade seine Fassung, lüftete das Barettchen und sagte
-kurzatmig: »Hier hat Gott gewaltet und seine ewige Gerechtigkeit.« Mit
-kummervoller Einsicht fügte er bei: »Zu spät erkenne ich die Wahrheit,
-daß dieser unglückselige Mensch kein Schwachkopf, sondern ein geborener
-Verbrecher war.« Getreu seinen Pflichten, erledigte er die peinlich
-genaue Inaugenscheinnahme des Tatortes, begab sich in das leergewordene
-Haus, ließ Tisch und Stühle in die ausgeräumte Stube zurücktragen und
-verfaßte unter häufigem Kopfschütteln ein ausführliches Protokoll. In
-seinem Amtseifer überhörte er den wachsenden Lärm, der vom Gerstenacker
-des Christl Haynacher herüberscholl.
-
-Als der Landrichter bei rotwerdender Sonne das abgestorbene Haus
-verließ, befiel ihn vor dem Anblick des lärmenden Gewühls von zwei,
-drei hundert Menschen ein sichtliches Unbehagen. Er fühlte sich
-zwischen dem Muckenfüßlschen Polizeisäbel und den gottsmilitärischen
-Bajonetten nicht mehr sicher und schlug ein überhastetes Tempo an.
-Dadurch gestaltete er die Situation noch unerquicklicher. Eine
-schreiende, schmähende, von Zorn durchfieberte Leutmenge rannte hinter
-ihm her und begann mit Steinen zu werfen. Es wäre zu bösen Dingen
-gekommen, wenn nicht eine unerwartete Wendung das Trauerspiel dieser
-Stunde halb und halb in das Gegenteil verkehrt hätte. Ein großer
-Rattenpinscher, der, gereizt durch die Blutwitterung, schon immer
-aufgeregt gebelfert hatte und nun den springenden Landrichter erspähte,
-mißverstand die Sachlage, verwechselte die Gerechtigkeit mit dem
-Verbrechertum, schoß wie ein Pfeil hinter dem Fliehenden her, erwischte
-ihn und riß ihm nicht nur einen langen Flügel aus dem richterlichen
-Talar, auch noch ein mageres Stück Fleisch aus einer Körpergegend, die
-sogar ein Liebling der Justitia beim Sitzen nicht zu entbehren vermag.
-
-Aller Zorn der aufgeregten Menschen schlug in befreiendes Hohngelächter
-um, als sie den siegreichen Rattler das schwarze, ein bißchen
-rotgetüpfelte Fähnlein der Gerechtigkeit so stolz in der stichelhärigen
-Schnauze umhertragen sahen. Und während Muckenfüßl und die Musketiere
-rasch den klagenden Herrn davonführten, der eine purpurne Träufelspur
-seines amtlichen Waltens hinter sich zurückließ, rief ein junger
-Mensch, den die Amnestie aller Evangelischen erst am Morgen aus dem
-Aufenthalt ohne Mond und Sonne erlöst hatte: »Gucket, Leut! Jetzt hat
-er einen von seinen vier überflüssigen Buchstaben eingebüßt! Gott
-soll's geben zum Wohl der Menschen, daß man ihm die drei anderen auch
-noch ausknuspert. Kann er die Gerechtigkeit nimmer im Sitzfleck haben,
-so könnt man hoffen, daß sie ihm hinaufsteigt ins Gehirn.«
-
-Bevor die Sonne noch über den Toten Mann hinuntertauchte, kamen
-viele Musketiere und Dragoner zum Gerstenacker des Christl Haynacher
-marschiert, um die in staatsgefährlichem Grad gestörte Bürgerruhe
-wieder herzustellen. Als man die beiden kaltgewordenen Menschenkinder,
-Vater und Bübl, zur Armeseelenkammer brachte, war die Geldkatze des
-Christl spurlos verschwunden. Nach Anbruch der Dunkelheit wurden die
-zwei Entseelten, die als gutgetaufte Christen ein unverlierbares
-Anrecht auf heiligen Boden hatten, ohne Aufsehen im Friedhof bestattet.
-Und der von seinem bedrohlichen Wahn geheilte Jesunder benützte
-diese Gelegenheit, um unauffällig den durch ein schwarzes Heidenkind
-entweihten Gottesacker neu zu konsekrieren. Er vollzog die heilige
-Handlung so nachdrücklich, daß er mit einiger Berechtigung hoffen
-durfte: die Weihe würde sogar bis zur Außenseite der Friedhofsmauer
-penetrieren.
-
-Solang die Polizeistunde noch nicht geschlagen hatte, ging es auf dem
-Brunnenplatz und in der Marktgasse sehr unruhig zu -- am unruhigsten im
-Hof des Leuthauses. Da standen ein paar hundert Menschen beisammen. Die
-hätten gerne noch erfahren, was die zwei preußischen Herren mit ihrem
-Nachtbesuch beim Kanzler von Grusdorf zur Beruhigung der evangelischen
-Mütter und Väter auszurichten vermochten. Die Polizeistunde schlug,
-ohne daß die Harrenden eine Nachricht hörten; sie mußten heim in ihre
-Stuben, mußten sich im Bangen um ihre Kinder noch gedulden durch eine
-lange Sorgennacht.
-
-Früh am Morgen rasselte die Polizeitrommel. Der Feldwebel Muckenfüßl
-begleitete sie nicht. An seiner Stelle mußte ein anderes Polizeiorgan
-der lauschenden Population verkünden: daß, zum ersten, die exulierenden
-Väter und Mütter das unbedrängte Verfügungsrecht über Verbleib oder
-Mitreise ihrer Kinder hätten. Und zum anderen: daß der allergnädigste
-Fürst den traurigen Vorfall im Haynacherlehen aus gerechter Empfindung
-beklage und die beiden Beamten, denen eine folgenschwere Unüberlegtheit
-vorzuwerfen sei, ihres Amtes enthoben hätte.
-
-Es war eine aufgeregte Nachtstunde gewesen, in der sich Herr Anton
-Cajetan diesen Entschluß von der fürstlichen Seele gerungen hatte.
-Den Feldwebel Muckenfüßl fallen zu lassen, war ihm nicht allzu schwer
-geworden; nach unten hin verdünnen sich die Regierungsverpflichtungen.
-Doch gerne hätte er den armen Willibald gehalten; aus Dankbarkeit
-für mancherlei sekrete Dienstleistungen. Man beriet alle rettenden
-Möglichkeiten und fand keinen Ausweg. Willibald mußte hinuntertauchen
-in das Nichts, weniger aus Ursache der »folgenschweren Unüberlegtheit«,
-als weil er durch den Verlust eines notwendigen Buchstäbchens dem Fluch
-einer Lächerlichkeit überliefert war, die ihm jedes weitere Wirken als
-getreues Justizkamel entschieden verweigerte. Dem Stiftsherrn, der
-dem Beklagenswerten diese Botschaft mit dem Pflaster eines gnädigen
-Ruhegehaltes überbrachte, konnte der leidende Mann nicht in die Augen
-schauen, weil er zu besserer Bequemlichkeit des nähenden Stiftsphysikus
-auf der sehenden Seite liegen mußte.
-
-Zum kummervollen Nikodemus Muckenfüßl hatte man keinen Stiftsherrn
-geschickt, nur einen fürstpröpstlichen Lakai. Der entthronte Feldwebel,
-obwohl er auf ein durststillendes Versorgungspöstchen im Stiftskeller
-hoffen durfte, gab durch längere Zeit keine Perle seines Sprachschatzes
-von sich. »So, du Rindviech,« sagte seine tapfere, unverdrossene Frau
-zu ihm, »jetzt red lateinisch!«
-
-Im Verlaufe dieses Tages konnte Pfarrer Ludwig von seinem Fenster aus
-eine Wahrnehmung machen, die ihn wieder an den Amsterdamer Singvogel
-und an die These denken ließ: daß alles Geschehen unter der Sonne, so
-hart und übel es auch wäre, sich doch immer wieder verwandle zu einer
-aufwärts führenden Staffel des Lebens, zu einer Glückshilfe für die
-Menschen. Der Tod des Christl Haynacher war ein Werk der Erlösung für
-hundert bedrückte Herzen geworden. Viele Frauen, evangelische Mütter,
-die in Sorge gewesen waren um den Besitz ihrer Kinder, wanderten zum
-Friedhof und legten Sträuße und kleine Kränze von Frühlingsblumen auf
-das frische Grab. Der alte Mesner konnte sich nicht erinnern, daß seit
-Menschengedenken ein Friedhofshügel so reichen Schmuck empfangen hätte,
-als die Ruhestätte des Christl. Wie sehr man diesen Blutzeugen der
-Vaterliebe in Ehren hielt, das erwies sich auch an einem Vorfall, der
-sich auf des Haynachers Gerstenacker ereignete. Hier gedachte gleich am
-Morgen nach Christls Tod der kleine magere Bauer mit den schlauen Augen
-eine nutzbringende Tätigkeit zu entwickeln. Er wollte das brachliegende
-Feld mit dem Spaten umgraben -- das wäre nicht >geackert< -- und
-wollte schaffweis die Jauche ausgießen -- das wäre nicht >gemistet<
-in protokollarischem Sinne. Dieser klugen Auslegung dessen, was
-schwarz auf weiß geschrieben stand, schlossen sich die Nachbarn des
-Haynacherlehens nicht an. Sie verprügelten neben dem Grab der Martle
-den wifen Protokollisten so fürchterlich, daß er das Misten und Ackern
-sogar auf den eigenen Feldern für längere Zeit versäumte.
-
-Außer dem sühnenden Schwertstreich, der auf die Amtsperücken des
-Landrichters und des Polizeifeldwebels niedergefahren war, tat
-die Regierung auch sonst noch unter den vier preußischen Augen
-ihr Möglichstes, um die Stimmung der Population nach Kräften zu
-besänftigen. Alle Polizeiverbote, die einen Hauch des Muckenfüßlschen
-Geistes atmeten, wurden vom Stiftstor entfernt, so daß sich die vier
-Bogen des Exulationsediktes aller würdigen Sozietät entblößt sahen.
-Wie den Kanzler von Grusdorf bisher das Verbieten ermüdet hatte, so
-fatiguierte ihn jetzt das Erlauben.
-
-Aus Rücksicht auf die gereizte Stimmung der Subjekte wurden auch alle
-Vorbereitungen für das Große Jagen mit Ausschluß der Öffentlichkeit
-betrieben. Die zahlreichen Fahrzeuge mit den Stellnetzen und hohen
-Tüchern, die Menagerievehikel mit den Hirschkäfigen, Sauzwingern
-und Fuchskästen, die Küchenwagen und Proviantkarren, alles wurde
-zu nachtschlafender Zeit in Bewegung gesetzt, um der kritischen
-Neugier des Volkes entrückt zu bleiben. Im alten Tiergarten des
-Wimbachtales arbeiteten unter Leitung des Wildmeisters und der Jägerei
-zweihundert Musketiere und Dragoner drei Tage und drei Nächte lang,
-um die eingegatterten Wildbestände in die Käfigfallen zu treiben,
-sie nach dem Hintersee zu verbringen, an dessen Ufern das große
-Prunkjagen stattfinden sollte, und sie dort nach dem höfischen Rang
-der Schützen in die Kammern der zu den Ständen führenden Ausläufe zu
-verteilen. Was da jagdlich mit vielen Kunstkniffen inszeniert wurde
--- in einer Jahreszeit, in der die Hirsche keine Geweihe trugen und
-jede Kreatur des Waldes und der Berge die Spuren der winterlichen
-Entbehrung zeigte -- war >edles Weidwerk< im gleichen Sinne, in dem der
-gestutzte Hofgarten als fürstlicher Park und der verflossene Doktor
-Halbundhalb als himmlischer Sendbote der ewigen Gerechtigkeit gelten
-konnte. Wie unter dem Strom der Pariser Moschusdüfte viel Gesundes
-auf deutschem Boden permutiert war zu üblem Geruch, so war auch der
-höfische Jagdbetrieb verwandelt zu einer französischen Fratze dessen,
-was man seit Jahrhunderten als deutsches Weidwerk verstand. Und im
-Stifte hatten sie ihren Ehrgeiz dareingesetzt, dem Gesandten des
-Königs von Preußen weidlich zu imponieren und ihm den gutkatholischen
-Wildsegen ausgiebig unter die evangelische Nase zu reiben. Zahlreiche
-Einladungen waren ergangen. Weil nach altem Brauch an einem Großen
-Jagen, das man auch als Kapiteljagd bezeichnete, alle Stiftsherren
-teilzunehmen pflegten, konnte man auch den Stiftspfarrer Ludwig um die
-ihm gebührende Invitation nicht verkürzen. Er nahm sie an, weil sie
-ihm ein Wiedersehen mit dem jungen Offizier in Aussicht stellte, der
-sich ihm mit heiteren Worten in das alte deutsche Herz hineingeplaudert
-hatte. »Jetzt schau nur,« sagte der Pfarrer zu seiner Schwester, »daß
-du noch ein Fläschl Terpentin erwischen kannst, um aus meinem grünen
-Jagdfrack die verjährten Weintrenzer herauszuputzen!«
-
-Am Vorabend des Großen Jagens konnte der Wildmeister seinem
-allergnädigsten Fürsten melden, daß für das weidmännische _spectaculum_
-alles in bester Bereitschaft wäre, und daß auch der Himmel einen
-selten schönen Frühlingsmorgen verspräche. Auf die vierte Frühstunde
-war das _Rendezvous_ in den Stiftshöfen angesagt. Schon um Mitternacht
-begannen die Pfannenfeuer aufzulodern und überglänzten die Stiftsmauern
-mit grellem Zitterschein. Um zwei Uhr rückte alles aus, was zur
-fürstpröpstlichen Jägerei gehörte. Punkt halb vier erschien Graf
-Saur, der als Oberstjägermeister fungierte. Dann trafen von zwei
-zu zwei Minuten, je nach ihrem höfischen Rang, die Jagdgäste ein,
-zuerst die Stiftsbeamten, drauf die Offiziere der salzburgischen
-Soldateska, nach ihnen die Domizellaren, von denen die Barone Stutzing
-und Kulmer zur Einholung der Allergnädigsten ausgeschickt wurden,
-dann die Kapitularen und der Kanzler von Grusdorf. Alle Herren zu
-Pferde. Es war ein Gewieher, ein Rosseschnauben und Hufgeträppel,
-daß die Stiftsmauern davon widerhallten. Fünf Minuten vor vier
-erschienen die zwei preußischen Herren mit den beiden Jägern, die
-man ihnen attachiert hatte -- Geheimrat von Danckelmann mit dem
-Leupolt Raurisser, Oberst von Berg mit dem Hiesel Schneck, der seinem
-Jagdherrn aus diplomatischer Courtoisie und mit einigem Schmunzeln als
-»Auchevangelischer« bezeichnet wurde. Zwei Minuten vor vier intonierten
-die Hörner den Dianengruß. Aurore de Neuenstein, in einem grünen, durch
-goldene Nesteln schürzbaren Reitkleide mit flimmernden Stickereien,
-kam auf einem zierlichen Pferdchen allerniedlichst in Begleitung ihrer
-beiden Kavaliere angaloppiert. Die Dianenweise schwenkte hinüber
-in den schmetternden Herrengruß, und aus dem Stiftsportal, dessen
-Flügel sich wie durch Zauber öffneten, trat, von Windlichtträgern und
-Läufern flankiert, der Landesfürst hervor, in grüner, goldstrotzender
-Prunkjagdgala. Er küßte das Händchen seiner hübschen, etwas reichlich
-schönbepflasterten Freundin, begrüßte liebenswürdig den Gesandten,
-merklich gedämpfter den jungen Oberst, stieg zu Pferd und gab das
-Zeichen zum Ausritt. Die Hörner bliesen den »Aufbruch zur Jagd«. Hinter
-den hopsenden Läufern und zwischen den gaukelnden Wachsfackeln setzte
-sich die lange Kavalkade in klappernde Bewegung. Als man außerhalb der
-letzten Häuser auf der Ramsauer Straße war, wurden die Wachsfackeln
-ausgelöscht, um den romantischen Reiz des Rittes zu erhöhen und in den
-vollen Genuß des strahlenden Sternzaubers zu gelangen.
-
-Der junge Oberst, der, solange die Fackeln noch gebrannt hatten, mit
-beißendem Spott diesen »kleinhöfischen Seifenblasenschwindel« so
-unbarmherzig persiflierte, daß Danckelmann in verlegene Unruh geriet,
-wurde plötzlich ein stumm Entzückter, als die Lichter erloschen und
-diese von den Geheimnissen der Ewigkeit durchblitzte Nacht ihn umgab.
-Der reine Himmel wie ein stahlblauer Schild, gegen Osten hin schon
-milchig aufgehellt. Die Berge in das tiefe Blau und in die falbe
-Helle schwarz hineingezeichnet, mit weißen Schneemützen in der Höhe.
-Stern an Stern in zitterndem Gefunkel. Die Milchstraße wie ein mit
-Goldsand überstreutes Band. Gleich einem ewigen Feuerzeichen stand
-das Sternbild des Orion über dem Toten Mann, und wie eine große
-Fackel, strahlenschießend, brannte in einer Bergscharte des hohen
-Göhl die Venus. Neben der Straße brauste die weißquirlende Ramsauer
-Ache so laut, daß alles Hufgetäppel unhörbar wurde. Wie eine herrlich
-summende Glockenstimme schwamm das ruhelose Wasserrauschen durch die
-sternfunkelnde Schönheit der erlöschenden Nacht.
-
-»Danckelmann!« Es klang wie die Stimme eines Fiebernden. »Das ist
-eine von den Wunderstunden, die mich Heiden zum Christen machen. Man
-fühlt den Atem Gottes, fühlt die Größe seines Werkes, fühlt seinen
-ewigen Willen zum Schönen.« In dieses enthusiastische Seelenjauchzen
-zwitscherte ein heiteres Auflachen der Allergnädigsten hinein. Der
-Oberst, vom Französischen ins Deutsche fallend, stieß mit galligem
-Ärger vor sich hin: »Na ja, un denn freecht man sich, wer ihm det
-Schöne mit so 'nem Geschmeiß bedreckte.«
-
-Dieses Gespräch wurde durch ein Wort des Fürsten unterbrochen, der
-den Geheimrat an seine Seite rief. Nun ritten die Drei hinter den
-hopsenden Läufern an der Spitze des Zuges, zur Rechten Herr Anton
-Cajetan, zur Linken der Gesandte, in der Mitte das ruhelos piepsende
-Evasvögelchen. Die Laune der Allergnädigsten _en titre_ hatte bei
-aller Munterkeit etwas Gereiztes und erinnerte an den Geschmack
-einer versalzenen Suppe, den ein geschickter Koch durch exotische
-Gewürze prickelnd zu meliorieren verstand. Der hüllende Nachtschleier
-verleitete sie zu gewagten _jeux de mots_, die sie bei hellerem Lichte
-auch in galantester Stunde vermieden hätte, und manchmal, wenn sie so
-pfefferig aufkicherte, wandte sie flink das Gesicht nach der Richtung
-hin, aus der das Wortgewirbel des Grafen Tige, ihres verschnupften
-Verkündigungsengels, zu vernehmen war.
-
-Der junge Oberst, immer emporspähend zu dem grauwerdenden Gezack der
-Berge, ritt einsam vor den beiden Jägern her, die auf dem Rücken die
-vier aus den fürstpröpstlichen Waffenschränken für die preußischen
-Herren ausgesuchten Jagdflinten trugen. Leupolt, wie verwachsen mit dem
-Sattel, sah immer auf die Ohren seines Pferdes. Hiesel Schneck, der
-unruhig hin und her wetzte, schob immer wieder den Zeigefinger zwischen
-die Lippen, um ihn zu netzen und den Zug des Windes prüfen zu können.
-»Heut bleibt 's Wetter nit sauber. Kreuzteufel und Hundsnoterei! Der
-Wind fackelt umeinander, als tät er noch allweil nit wissen, ob er
-evangelikanisch oder gutkatholisch ist. Verstehst? Kunnt sein, wir
-kriegen heut ein Donnerwetter. Und was für eins!«
-
-»Sonn ist allweil!« sagte Leupolt leise.
-
-Während Hiesel grübelte, um den Sinn dieser drei Worte herauszukitzeln,
-die wunderlich geklungen hatten, lenkte der einsame Reiter vor ihm sein
-Pferd aus der Reihe. Gleich fragte der Hiesel dienstwillig: »Herr? Was
-ist denn?« Er bekam keine Antwort. Der junge Oberst ließ den Kanzler
-und die Kapitularen an sich vorüberreiten, lenkte sein Pferd neben den
-steifbeinigen Hoppelgaul des Pfarrers hin und sprach den langen Reiter
-französisch an: »Hochwürden? Wollen Sie für mich in dieser Nacht den
-Dolmetsch Ihrer schönen Heimat machen?«
-
-»Gern, Herr Oberst!« Der Pfarrer lachte. »Ich besorge nur, daß mein
-wackliges Französisch Ihre verwöhnten Ohren mißhandelt.«
-
-»Für die mangelhafte Form wird mich der Inhalt entschädigen. Den finde
-ich bei Ihnen. Und Ihr Französisch, liebe Hochwürden, ist immer noch
-besser, als mein erbärmliches Deutsch.«
-
-Sie ritten Seite an Seite, wurden beim Geplauder warm, heiter, fast
-kameradschaftlich, und mit wachsendem Vergnügen beantwortete Pfarrer
-Ludwig die vielen neugierigen Fragen des jungen Offiziers. Bei Anbruch
-des grauen Morgens erreichte der Jagdzug die ersten Häuser der Ramsau,
-und der Oberst verstummte. Er hatte die getröstete Trauer und die
-neuerweckte Hoffnung, die unter diesen niederen Dächern wohnte,
-vor zwei Tagen in der Sonne gesehen, und die Erinnerung machte ihn
-nachdenklich. Plötzlich fragte er: »Was meinen Sie, Hochwürden, wie
-werden die Exulanten sich auf dem neuen Boden eingewöhnen -- da
-drunten?«
-
-»Schwer. Aber nur um der dickeren Luft willen und aus Sehnsucht nach
-dem Bild der Berge. Alles andere, die neue Art der Arbeit, Knappheit
-des Lebens, Umgang mit neuen Menschen, neue Pflicht und neuer Weg, das
-alles wird ihnen leicht werden. Es ist ein fügsamer und verläßlicher
-Menschenschlag. Und die Zweitausend, die wandern müssen --« die
-Stimme des Pfarrers wurde leis, »das sind von den Unseren nicht die
-Schlechtesten.«
-
-Ein rasches, zustimmendes Nicken. »Raten Sie mir, Hochwürden! Jeden
-Ratschlag will ich mit eisernem Griffel in mein Gedächtnis graben. Wie
-muß man sie nehmen? Wie muß man sie behandeln?«
-
-»Das ist mit einem einzigen Wort zu sagen: freundlich. Dann hat man
-sie. Bei ihrem gesunden Seelenmagen vertragen sie alles. Immer sind sie
-ohne Neid, auch gegenüber dem Besserwissen. Nur muß der Klügere ihnen
-das vormachen, daß er, was er besser wissen will, auch besser *kann*.
-Lacht einer über sie, weil er vermutet, daß sie die Dümmeren wären --
-oder hält sie einer für minderwertig, nur weil sie anders sind, der hat
-sie verloren. Für immer.«
-
-Dem jungen Offizier fuhr es heiß in das aufmerksame Gesicht. »Waren Sie
-viel auf Reisen, da drunten?« Er deutete mit flinker Handbewegung gegen
-Norden.
-
-»Ich? Nein.« Der Pfarrer lächelte. »Regensburg war der Nordpol meines
-Lebens. Über die Donau bin ich nie hinausgekommen.«
-
-»Was veranlaßte Sie, mir zu sagen, was Sie eben sagten?«
-
-Pfarrer Ludwig sah dem Oberst in die von der Nacht umschleierten Augen.
-»Das war die Klage vieler Salzburger, die lieber wieder heimkehrten in
-die Knechtschaft ihrer Seelen.«
-
-Sinnend schwieg der junge Oberst, mit einer Furche zwischen den Brauen.
-Dann sprach er rasch und erregt ein Wort, dessen Zusammenhang mit dem
-Gespräch der Pfarrer nicht ganz zu begreifen schien: »Ein Glück, daß es
-in jedem verschweinten Jahrhundert doch überall und immer noch Menschen
-gibt, die rein, verständig und redlich sind.« Wieder das nachdenkliche
-Schweigen. Dann unter heiterem Lächeln das italienische Sprichwort:
-»_Chi ha tempo, ha vita._«
-
-Das Latein des Pfarrers reichte aus, um das zu verstehen: wer lernt mit
-der Zeit, wird leben.
-
-Da legte sich die schmale Hand des anderen auf das im Steigbügel weit
-ausgebuckelte Knie des langen Pfarrers. »Sagen Sie mir alles, liebe
-Hochwürden, was Ihre Sorge um die Exulierenden zu sagen für notwendig
-hält.« Und während der Pfarrer sprach, mit aller Herzlichkeit seines
-Glaubens an den Wert der Menschen, die seiner Heimat genommen wurden,
-lauschte der junge Oberst so aufmerksam, daß er keinen Blick mehr
-auf die wechselnden Bilder der Landschaft warf, das Tagwerden und
-den ersten Glanz der Sonne nicht bemerkte, den klingenden Morgengruß
-der Hörner nicht vernahm und kein Auge hatte für den aufleuchtenden
-Farbenprunk des Jagdzuges. Erst als die Kavalkade auf einer kleinen
-Rodung am Seeufer ins Stocken kam, blickte er auf wie ein Erwachender.
-In der Windstille zwischen den dunklen Waldmauern kräuselte nicht die
-leiseste Welle den Spiegel des blaugrünen Wassers. Der See als See war
-kaum zu erkennen; man sah nur, daß die Schilfbeete nach aufwärts und
-nach abwärts grünten; daß die Fichtenmauer mit zierlichen Wipfeln zur
-Höhe strebte und gleichgültig, nur etwas blässer, in die Tiefe wuchs;
-daß die von der Sonne rosig angeglühten Felsriesen mit den gleißenden
-Schneefeldern hoch hinaufkletterten ins Blau und ebenso tief
-hinuntersanken ins Bodenlose; und daß ein leuchtender Himmel da droben
-war, ein leuchtender Himmel da drunten. Vor diesem zaubervollen Bilde
-verjüngte und erhellte sich das ernste Gesicht des fremden Offiziers.
-Mit einem fast mädchenhaften Lächeln sagte er vor sich hin: »Wie schön!«
-
-Stimmengewirbel, heiteres Lachen und ein flinkes _déjeuner à
-cheval_. Weißgekleidete Köche und rotweinfarben kostümierte Küfer
-mit Hirschlederschürzen sprangen im Heidekraut umher und hoben die
-kunstvoll aus Holz geschnitzten Platten und die silbernen Becher zu
-den Herren hinauf. Unter hilfreicher Mitwirkung der Natur hatte die
-ganze Aufmachung des festlich prunkenden Bildes etwas Pompöses, etwas
-wahrhaft Fürstliches. Der junge Oberst sah mit sonderbaren Augen den
-Pfarrer Ludwig an: »Ist das Kloster zu Berchtesgaden so reich?«
-
-»Gewesen einmal! Was man heute verschluckt und verpulvert, wird man in
-fünfzig oder sechzig Jahren bezahlen mit bayerischer Münze.« Das war
-vom Pfarrer sehr ernst gesagt, fast traurig; dennoch lachte der junge
-Oberst heiter und spöttisch auf: »_Tout le monde à la façon du roi de
-Pologne, sauf le grand économe de Berlin!_« Das helle Knabenlachen
-klang hinüber zu der Stelle, wo Aurore de Neuenstein neben dem
-frühstückenden Fürsten huldreichen Cercle hielt; Herr von Grusdorf
-drehte das morose Gesicht über die Schulter, und Danckelmann geriet
-in Verlegenheit. Schon mehrmals hatte der Geheimrat zarte Versuche
-gemacht, den jungen Oberst ins Gespräch mit dem allergnädigsten Paar
-_en titre_ zu ziehen; aber so höflich Herr Anton Cajetan sich gegen
-Danckelmann gab, so schwerhörig war er für diese diplomatischen
-Vermittlungsversuche; und als der Geheimrat seine Bemühung erneuerte,
-fand er Widerstand auf der anderen Seite -- der junge Oberst machte
-eine nur Danckelmann verständliche Handbewegung und wandte sich
-wieder seinem Gespräch mit dem Pfarrer zu. Die Fabel vom verkleideten
-Schwegelpfeifer schien zu wirksamer Publizität gediehen zu sein. Es
-begann auffällig zu werden, wie der Begleitoffizier des preußischen
-Gesandten von allen Kapitularen geschnitten wurde. So auffällig war
-es, daß es sogar für den Hiesel Schneck nicht unbemerkbar blieb. »Du!«
-sagte er zu Leupolt Raurisser, der mit ihm zwischen den Gäulen am
-Ufer stand. »Dein preißischer Helfer? Verstehst? Der muß nit gar viel
-Reputation haben.«
-
-»So? Meinst du?« Leupolt fand an diesem Morgen das erste Lächeln.
-
-»Wohl! Um den kümmert sich keine Katz nit.«
-
-Leupolt hob von der Erde einen kleinen Kalksteinsplitter auf, hielt ihn
-auf der Hand dem Schneck vor die verdrießliche Nase und fragte: »Was
-ist das?«
-
-»So ein Steinl halt, so ein dreckets, wie's hunderttausend gibt.«
-
-Ein Kopfschütteln. »Das ist nichts anderes, Hiesel, als wie der große
-Eisberg da droben, von dem's bloß einen einzigen gibt.« Leupolt ließ
-von der ausgestreckten Hand den Kiesel in den See fallen. Gaukelnd
-sank die flache Steinscheibe in die blaugrüne Himmelstiefe, schien
-immer größer zu werden und war umspielt von regenbogenfarbenen
-Ringen. Der Hiesel guckte mit runden Augen, verstand wieder etwas
-nicht und brummelte nach einem vorsichtigen Höllementsköter: »Auf'm
-Stand droben wird's aufkommen, was er für einer ist. Grad neugierig
-bin ich auf die preißische Pulverei.« Mißtrauisch guckte er zu dem
-kleinen mageren Soldätl hinüber, das lebhaft mit dem Pfarrer sprach
-und eben in hurtigem Französisch sagte: »Auf irgend eine Weise muß es
-doch kommen einmal. Der Hader um Gott und Kirchenmauer kann doch auf
-deutschem Boden nicht ewig währen, kann doch alles Zusammengehörige
-nicht immer von neuem entzweireißen! Sie, Hochwürden, als menschlich
-fühlender Priester? Halten Sie denn das für völlig ausgeschlossen, daß
-sich zwischen Katholizismus und Lutheranertum in absehbarer Zeit eine
-friedliche Einigung in allen Glaubensdingen ergibt?«
-
-»Das kann und wird nicht kommen, Herr Oberst! Aber man darf als
-Deutscher etwas anderes erhoffen: daß man in einer kommenden Stunde
-der Not sich brüderlich Schulter an Schulter preßt. Und daß der
-drohende Untergang uns allen, ob römisch oder evangelisch, das deutsche
-Lebensgesetz hineinschreit in die Herzen: Liebe deinen Gott, achte den
-Glauben des anderen und bleibe dir bewußt bei jedem Zornschrei und bei
-jedem Lachen, daß du ein Deutscher bist. Kommt es so, dann ist alles
-gut. Und *das* kann ich glauben.«
-
-In dem strengen Gesicht des jungen Offiziers, um dessen schmalen und
-dennoch edel gezeichneten Mund ein leises Lächeln dämmerte, blitzten
-die stahlblanken, herrlichen Augen. »Da müßte man die Stunde segnen,
-die uns Deutschen von aller Not die schwerste über die bockbeinigen
-Köpfe hagelt.«
-
-Ein klingender Hornruf. An den Waldmauern ein mehrfaches Echo. Geklirr
-und Bewegung. Heiter, nur mit etwas geschraubten Tönen zwitschernd,
-trabte die Allergnädigste zwischen Herrn Anton Cajetan und dem
-Geheimrat auf einen weißbesandeten Waldweg zu. Ihr schwarzgetüpfeltes
-Unschuldsgesicht war vom genossenen Wein und von der Anstrengung des
-Rittes gerötet. Manchmal reckte sie sich ärgerlich im Sattel und atmete
-dazu in einer Art, als wäre der Wunsch in ihr, etwas minder geschnürt
-zu sein. Hinter den Dreien hielten sich dienstbereit die Domizellaren
-von Stutzing und Kulmer, die zu weidmännischer Nachhilfe für Aurore de
-Neuenstein und ihre zierliche Feuerbüchse auf den Fürstenstand befohlen
-waren. Unter einem köstlichen Spiel von Lichtern und Schatten ging's
-eine Viertelstunde empor durch den von grauen und weißen Felsklötzen
-durchwürfelten Frühlingswald. Danckelmann fand gerechten Anlaß, das
-jagdliche Arrangement mit Begeisterung zu loben. Von Stellnetzen
-und hohen Tüchern war nichts zu sehen. Die Kammern und Ausläufe des
-massenhaft zusammengefangenen und eingepferchten Wildes blieben
-unsichtbar. Alles Künstliche war durch Tausende von eingepflöckten
-Fichtenbäumchen und durch Moosballen so dick maskiert, daß man sich
-immer in Gottes freier Natur zu befinden glaubte. Nur selten hörte
-man irgendwo eine Jägerstimme, und manchmal klangen Pflockschläge
-vom Hintersee herauf, wo jetzt, nach Abzug der Herrschaften vom
-Frühstückplatz, die letzten Vorbereitungen für die weidmännische
-Apotheose des Großen Jagens getroffen wurden: für den Seebogen und die
-Wasserjagd.
-
-In der Nähe des Fürstenstandes, neben dem ein Hornquartett den
-Herrengruß ins Grüne schmetterte und hinüberschmolz in die zärtliche
-Dianenweise, stieg man aus dem Sattel. Aurore de Neuenstein brauchte,
-um niederzukommen, vier galante Domizellarenhände. Dragoner, die
-schon gewartet hatten, führten die Pferde davon. Vier Büchsenspanner
-geleiteten Herrn Anton Cajetan zum Fürstenstand, der aussah wie
-eine mit grünem Sammet tapezierte Kanzel. Als der Fürstpropst dem
-Geheimrat schon »Weidmannsheil!« gewünscht hatte, zwitscherte Aurore
-de Neuenstein französisch über die Schulter: »Meine beste, liebste
-Exzellenz! Nicht wahr, Sie sagen gelegentlich Ihrem kleinen Pfeifer,
-daß er ein großer Flegel ist. Adieu!«
-
-Bis zur Fürstenkanzel waren es in sanfter Steigung kaum hundert
-Schritte; sie schienen der Allergnädigsten _en titre_ wachsende
-Atembeschwerden zu verursachen.
-
-
-
-
-Kapitel XXIX
-
-
-Die Stände des Großen Jagens waren so weit voneinander entfernt,
-daß kein Schütze seinen Nachbar gewahren oder durch unvorsichtige
-Schießerei gefährden konnte. Man schien einsam für sich im Walde
-zu sitzen. Dem jungen Oberst, als er mit dem Hiesel Schneck seinen
-grünumflochtenen Stand erklettert hatte, schien das zu gefallen. Es
-war ihm anzumerken an der Art, wie er, behaglich aufatmend, sich auf
-die Bank niederließ, die Arme kreuzte, die schlanke Nase vorschob
-und mit den flinken Blitzaugen fröhlich herumguckte in dem von
-der Morgensonne durchwobenen Bergwald. Inzwischen lud der Hiesel
-gewissenhaft die beiden Feuersteinflinten, schüttete Feinkraut ins
-Pfänndl, legte die Waffen schußfertig über die Auflagstangen und
-huschelte sich hinter seinen Jagdherrn. »So, jetzt bin ich neugierig,
-was wir ausrichten miteinander.« Dem jungen Offizier, dem das Bild
-des stillen Waldes genügte, schien jede Neugier auf den Verlauf des
-Großen Jagens zu mangeln. Das war wieder gut für den Hiesel Schneck.
-So lang er nicht gefragt wurde, konnte er schweigen wie der Tod. Nur
-über die Lage der Stände durfte er Auskunft geben. Rechts, gegen die
-Berghöhe, lagen die Stände des Herrn von Grusdorf, des Grafen Saur, des
-preußischen Gesandten und zu oberst der Doppelstand des Herrn Anton
-Cajetan und der Allergnädigsten; zur Linken, gegen den See hinunter,
-die Stände der Stiftsherren und Domizellaren, der salzburgischen
-Offiziere und der Stiftsbeamten, in strenger Rangabstufung. Über alle
-übrigen Geheimnisse des Großen Jagens mußte Hiesel unverbrüchliches
-Stillschweigen bewahren; es konnte für einen Gast den Reiz des Jagens
-nicht erhöhen, wenn er im voraus wußte, was da kommen würde, und daß
-je drei Füchse für den Fürsten, die Allergnädigste und den preußischen
-Gesandten, je zwei Füchse für den Grafen Saur und den Kanzler, je ein
-Fuchs für den Oberst von Berg und jeden Kapitelherrn, drei Füchse
-für vier Domizellaren und je zwei Füchse für fünf salzburgische
-Offiziere und für sieben Stiftsbeamte in den mehr oder minder
-wahrscheinlichen Tod springen mußten. Nach ähnlicher Abstufung waren
-auch die Wildschweine, das Kahlwild, die Gemsen und »Prunkhirsche« für
-den Aussprung nach den verschiedenen Ständen eingekammert. Alles war
-gerichtet aufs Schnürchen. Hätte die gleiche ordnungsgemäße Vorsehung,
-wie die Fürsten sie bei ihren französisch frisierten Hofjagden zu
-erzielen wußten, auch im heiligen Römischen Reiche geherrscht, welch
-ein Segen wäre das für das deutsche Volk gewesen.
-
-Ganz konnte Hiesel Schneck nicht schweigen. Er deutete mit dem Finger
-und tuschelte: »Da droben, da kommt bald was! Verstehst? Da droben, wo
-der weiße Steinbrocken liegt.« Das hätte der junge Oberst auch ohne
-den barmherzigen Fingerwink des Hiesel erraten können. Von dem weißen
-Steinbrocken zog sich eine Bodenmulde gegen den Stand herunter, auf
-beiden Seiten abgesperrt durch dichtstehende Fichtenbäumchen. Kam
-da droben ein Wild, so hatte es einen Auslauf von 200 Schritten bis
-zum Stand, mußte auf 30 Schritt am Schützen vorbei und konnte, wenn
-sein Leben bis dahin erhalten blieb, in einem grünen Heckentrichter
-verschwinden, um der »Seekammer« und einem unanzweifelbaren Schicksal
-entgegenzuspringen. Vorerst war lautlose Stille im schönen,
-frühlingsduftenden Bergwald, der wohlig unter dem Glanz der Sonne
-träumte und keine Ahnung davon hatte, wie übel er mißbraucht wurde.
-Darüber schien sich auch der junge Oberst keine Gedanken zu machen. Die
-träumende Waldstille gefiel ihm, und seine Augen glänzten.
-
-Hoch droben wurde mit hallendem Hörnerklang das Jagen angeblasen, und
-es dauerte nicht lang, so krachten bei der Fürstenkanzel zahlreiche,
-flink aufeinanderfolgende Schüsse, man hörte das jauchzende
-Piepsstimmchen der Allergnädigsten und dann die melancholische
-Fuchstodweise des Hornquartetts. Bumm, bumm, bummbum, knatterte es
-unter herrlichem Echo von den Ständen des Geheimrats, des Grafen Saur
-und des Kanzlers herunter, und geheimnisvoll zischelte der Hiesel
-Schneck: »Hö! Obacht! Es kommt was.«
-
-Lachend drehte der junge Oberst das Gesicht. »_Mon cher monsieur
-Cheneque!_ Ick habe selber Oogen.«
-
-»*Was* hast?« fragte Hiesel verdutzt. Sein Jagdherr deutete mit beiden
-Zeigefingern auf seine fröhlich glänzenden Augen. Jetzt verstand der
-Hiesel. »Ah so!« Und des weiteren hielt er wütend das Maul, obwohl
-der verhöllte Preiß, weil er keinen Griff nach der Flinte machte,
-den heranschnürenden Fuchs nicht zu sehen schien. Der rote Bruder
-Reineke erledigte seine Promenade in den voraussichtlichen Tod mit
-ruhiger Gemütlichkeit, spähte und lauschte nach allen Seiten, ließ
-die gestreckte Rute zittern, kam bis auf 40 Schritte heran, setzte
-sich erstaunt auf die Hinterbacken und betrachtete den jungen
-Oberst äußerst aufmerksam. Dieses persönliche Interesse schien ein
-gegenseitiges zu sein und währte so lang, daß Hiesel Schneck in
-Besorgnis durch die Zähne knirschte: »Himmelherrgottblutsakerment, so
-schieß doch einmal!«
-
-»Neeee!« klang die melodische Frohstimme des jungen Nichtschützen.
-»Det brave Fückschen soll Mäuse fangen, die dem Bauer am Hafer
-knabbern.« So freundlich diese Stimme sich anhörte, so mißtrauisch
-machte sie den Fuchs. Er sauste unter dem Geböller, das auf den
-tieferen Nachbarständen losging, wie der Blitz davon und verschwand
-in dem grünen Heckentrichter, der ihn einem minder barmherzigen
-Vorgang entgegenlenkte. Hiesel Schneck schlug fassungslos die braunen
-Tatzen über dem Haardach zusammen, vergaß seines evangelikanischen
-Herrgotts und ließ aus empörter Jägerseele den gutkatholischen Seufzer
-herausfahren: »O du Mar' und Josef und alle vierzehn Helfer in der
-christlichen Not!« Bedrückt von einem sorgenvollen Zukunftsgedanken,
-guckte er in das grüne Loch, in dem der Fuchs verschwunden war. Da kam
--- eines jagdbaren Keilers hatte man den maskierten Schwegelpfeifer
-nicht gewürdigt -- unter Horngeschmetter, hurtigem Flintenknall und
-rollendem Echo eine schwere Bache mit zwei kleinen Überläufern durch
-die Mulde heruntergesurrt, vernehmlich grunzend in ihrer ahnungsvollen
-Angst um die beiden Borstenkinder. Der Hiesel Schneck, weil er mit
-Recht vermutete, daß sich das gewitzte Wildschwein nicht neugierig vor
-einen Preißen hinsetzen würde, konnte seinen Jägerseelensturm nicht
-länger im Zaum halten. »Hö! Du! Verstehst? Dö Sau frißt keine Mäuslen
-nit! Da wirst dich ein bißl tummeln müssen!« Er packte eine der beiden
-Flinten, um sie seinem Jagdherrn hinzubieten. Der schob sie mit der
-Hand zurück: »Uff so 'n jutes Muttchen losknallen? Neeee!« Wortlos
-schüttelte Hiesel Schneck den Schädel mit dem zitternden Schnauzer,
-schien sich in bedenklicher Nähe eines Gehirnschlages zu befinden und
-klagte: »Da fehlt's weit!«
-
-Neues Horngeschmetter, eine gesteigerte Knallerei auf allen Ständen,
-und durch die Mulde trollten in zerzaustem Winterkleid zwei junge
-Hirsche herab, die ihre Geweihe schon abgeworfen hatten. Auch sie
-passierten unbeschossen den Stand des jungen Offiziers. Das begriff
-der Hiesel, und seine grimmige Laune schien sich zu bessern. Aber
-gleich darauf ereignete sich etwas Schauderhaftes, etwas für den
-Hiesel völlig Unfaßbares. Unter einem Fortissimo der Hörner, die
-eine Steigerung aller Reize des Großen Jagens zu verkünden schienen,
-sausten mit wundervollen Fluchten zwei Gemsböcke durch die Mulde
-herunter, mit schön gebogenen Krucken über den weißgelben Backen,
-noch im schwarzen, wenig geschädigten Winterkleid, bei ihrem dichten
-Pelzwerke kugelrund erscheinend, die wachelnde Bartsäge über den Rücken
-hin. Vom aufwärtsziehenden Sonnenwinde gewarnt, wollten sie seitwärts
-aus der Mulde fahren, prallten gegen die elastische Fichtenhecke,
-wurden zurückgeschleudert und überschlugen sich, rafften sich wieder
-auf und hetzten nun mit schnellenden Weitsprüngen gerades Weges gegen
-den Stand herunter. »Aber jetzt,« lachte der Hiesel Schneck, »gelt
-ja, jetzt rührt sich der Preiß ein bißl!« Das stimmte. Der junge
-Oberst war aufgesprungen, konnte sich an dem prachtvollen, ihn heiß
-erregenden Bilde nicht sattschauen, wirbelte sein fast kindhaftes
-Entzücken mit einem französischen Wortgeprassel aus sich heraus, und
-als die beiden Gemsböcke drei Schritte vor ihm mit hohen Fluchten
-über die grünverkleidete Kanzeltreppe setzten, applaudierte er so
-leidenschaftlich, wie er's noch niemals in einer französischen Komödie
-getan hatte, schlug den sprachlosen Hiesel Schneck begeistert auf die
-Schulter und lachte: »Menschenskind! Det war jeradezu himmlisch!«
-
-»Da legst dich nieder!« murrte der Hiesel trostlos und wälzte in
-verstörter Seele den Gedanken umher: wie das mit ihm werden würde,
-wenn *alle* Preißen so schauderhafte Jäger sind? Da lief er, wenn
-er exulierte, einem Leben entgegen, bei dem er sich Tag für Tag so
-namenlos ärgern mußte, daß ihm schließlich vor Gift und Zorn die
-weidmännische Galle verläßlich platzen würde. Etwas Verzweiflungsvolles
-redete aus seinen Wasseraugen, als er zögernd fragte: »Herr? Sind im
-luthrischen Sand da drunt die Jäger *alle* so wie Ös?«
-
-»Wie wer?«
-
-Im Hiesel begann es zu kochen. »Kreuzikruzi --« Der Himmelhund, der nur
-ein bißchen aus dem Schneck herausgeblinzelt hatte, blieb ungeboren.
-»Verstehst denn nit? Der Ös bist du! Und wissen muß ich, ob im
-Preißischen *alle* Jäger so sind wie du?«
-
-Der junge Oberst lachte erheitert. »Neee! Da bin ick der Eenzichste. De
-anderen seind alle die gleichen Schlächter un Pulverschweine als hier
-zuland.«
-
-»So so? Jetzt weiß ich, wie ich dran bin.« Hiesel Schneck tat einen
-Atemzug der Erleichterung; also gab's im Preißischen auch gute und
-richtige Jäger; da brauchte sich der Hiesel doch nicht gerade mit *dem*
-da einzulassen, der einer war, daß Gott erbarm'! Bei dieser schlauen
-Rechnung erschien dem halbgesottenen Evangelikaner das Exulieren minder
-schauderhaft als vor einer Minute. Und hurtig rührte sich wieder der
-gewissenhafte Jäger in ihm. »Psssst! Obacht!« Der Klang der Hörner in
-der Höhe wurde feierlich. Und droben bei dem weißen Stein erschien mit
-ruhigem Schritt ein guter Kronenhirsch, fein abgezeichnet vom grünen
-Hintergrund, mit vorgebuchteter Kehlzotte, über dem straff erhobenen
-Haupt das prächtig verästelte Zwölfergeweih. Leis kicherte Hiesel:
-»Gelt, Preißerl, da schaust!« Verwundert sah der junge Offizier den
-langsam niedersteigenden Hirsch und wieder den Jäger an: »Werfen denn
-hier de ollen Hirsche det Jeweih nich ab im Frühling?«
-
-»Jöises!« klagte der Hiesel. »Jetzt weiß der so was nit! Wann's halt
-ein Gschnittener ist! Verstehst?«
-
-»Wat?«
-
-»Kreuzsakra! Den hat halt der Wildschneider im Herbst kastriert. Da
-wirft einer 's Geweih nimmer ab. Söllene sind an die Dreißig im Jagen.«
-
-»Ach, det arme Luder!« Mit einer harten Furche zwischen den Brauen
-griff der junge Oberst rasch nach der Flinte. Ein Ruck an die Wange.
-Im Feuer überschlug sich der Hirsch, lag verendet zwischen den
-Steinblöcken, und der Schütze, unmutig das Gewehr fortstellend, sagte
-mit leiser Stimme: »_Délivré des bienfaits de la providence humaine!_«
-
-Jetzt applaudierte der Hiesel Schneck, ohne zu verstehen, daß dieser
-barmherzige Erlösungsschuß für seinen Jagdherrn alles andere, nur
-keine weidmännische Freude war. Was der Hiesel in seiner vergnügten
-Anerkennung noch schwatzen wollte, ging unter in einem Heidenlärm,
-der plötzlich den Wald zu erfüllen begann. Unter dem Geschmetter der
-Hörner, die »Schluß des Jagens« bliesen, klangen die jauchzenden
-Stimmen der Jäger und vieler zur Jagdfron befohlener Musketiere und
-Dragoner durch den Wald herunter, näher und näher. Bei den Ständen
-hallten die aufgeregten Hussarufe und Halalischreie, mit denen man
-dem wundgeschossenen Wild den Fangstoß versetzte, überall scholl der
-Hetz- oder Standlaut der Schweißhunde und Saupacker, manchmal auch das
-Aufheulen eines Hundes, dem ein weidkranker Gemsbock das nadelscharfe
-Krickel durch die Gedärme gerissen hatte; bald in der Höhe, bald
-in der Tiefe sang ein Jagdhorn den »Sautod«, den »Hirschtod«, den
-»Gemstod«, den »Fuchstod«; und dieser ganze, noch immer wachsende
-Heidenspektakel wälzte sich von den Ständen gegen den See hinunter, um
-sich völlig auszutoben in der höfischen, treu nach französischem Muster
-zugeschnittenen Apotheose des Großen Jagens.
-
-Als der junge Oberst, schon angewidert von den roten Bildern, die
-er gesehen hatte, mit dem aufgeregten Hiesel Schnack hinunterkam
-ans Wasser, war das herrliche _spectaculum_ Dianä bereits in Gang.
-Schützen, Jäger, Musketiere und Hundejungen mit den in den Halszwingen
-heulenden Bracken standen rings um das Ufer her. Das schöne Spiegelbild
-der Wasserfläche war zerwirbelt von rinnenden Wellenkreisen. Jubelnde
-Hornfanfaren, hallendes Echo an den Felswänden. Und vom Südufer des
-Sees, wo hinter einer dunklen Wipfelsäge das sonnglänzende Dach der
-fürstpröpstlichen Försterei emporspitzte, glitt das mit falschen
-Blumen, Bändergirlanden, Fähnlein und Wimpelchen grellfarbig
-aufgeputzte Schiff der gesegneten Göttin rauschend gegen die Seemitte.
-Auf einem geschnitzten Hirsch, der mit vergoldetem Riesengeweih als
-Galion sich herausstreckte über den Schiffsschnabel, ritt -- nicht Herr
-Anton Cajetan -- nur der fürstliche Wildmeister _à la place du maître
-adoré_. Hinter ihm, in einer vergoldeten Muschel, stand die heftig
-atmende, ein bißchen blaß gewordene Diana mit hellenischer Lanze und
-einem funkelnden Halbmöndchen über dem gepuderten Lockenbau. Auf der
-anschließenden, grüngeländerten Plattform hatten sich rings um den
-Allergnädigsten Herrn die bevorzugten Jagdgäste höchster Rangordnung
-und die hilfsbereiten Domizellaren versammelt, alle mit langen
-Jagdspeeren bewaffnet. Und hinter der Plattform rauschte das Wasser
-weiß um die zwanzig Ruderschaufeln, die von maskierten Schiffern,
-von haarigen Faungestalten regiert wurden. Eine neue Fanfare, ein
-Hussajubel und Brackengeläute rings um den schimmerigen See, ein
-dröhnender Böllerschuß mit endlos rollendem Echo, und aus einer grünen
-Triumphpforte -- wie ein schlammiger Wasserschwall sich im Bogen
-hervorstürzt aus einer jäh geöffneten Schleuse -- schnellte sich eine
-braune, schwarze, rötliche Zappelmasse vom Ufer in das aufspritzende
-Wasser: das in der »Seekammer« angesammelte Wildgewühl, hinter dem die
-Hetzhunde her waren. Von beiden Ufern klatschten die gelösten Bracken
-heulend in die Wellen hinein, trieben den schwimmenden Wildknäuel gegen
-den flitterfarbig heranrauschenden Dianentempel, und da stießen und
-stachen vom goldenen Sitz der Göttin und von beiden Seiten der grünen
-Plattform das hellenische Länzlein und die langen Speere auf und
-nieder, daß es immer blitzte von den zuckenden Klingen. Das erstochene
-Wild drehte die Bäuche nach oben, wobei das schöne blaugrüne Wasser
-sich mit schmutzigem Rot zu färben begann. Und Jubelgeschrei und
-Hörnerschall ohne Ende. Das gefiel nicht allen, die es sahen. Pfarrer
-Ludwig, der in seinem verblichenen Jagdfrack an eine grün umwickelte
-Hopfenstange erinnern konnte, war gar nicht zum Ufer gekommen. Und der
-junge Oberst knirschte in Zorn und Ekel vor sich hin: »Fui Deibel!« Den
-Hiesel Schneck seinen langgeschwänzten Himmelhunden überlassend, wandte
-er sich vom Ufer ab und schritt immer tiefer in den Wald hinein.
-
-Eine Stunde später, als schon der Streckenruf, der Fürstengruß und die
-Dianenweise geblasen waren, mußten viele Jäger durch den Wald springen
-und den Namen des Obersten von Berg zwischen die Bäume schreien. Er
-ließ sich von Leupolt finden, dessen Stimme er erkannte, deutete mit
-der Gerte, die er im Wald gebrochen hatte, über das Ramsauer Tal und
-gegen den Toten Mann hinauf, lächelte schmal und sagte: »Det war
-schöner!« Die Freude über dieses Wort schoß dem Leupolt Raurisser
-mit heißer Blutwelle in das ernste Gesicht, das zu mannhaft war, um
-den Gram der vergangenen Tage merken zu lassen. Dann rief er, zum
-Zeichen für die suchenden Jäger, ein klingendes Hojoh in den Wald.
-Sie kamen gesprungen, mit ihnen auch der schauderhaft abgehetzte
-Hiesel Schneck. Die Freude lachte ihm aus den Augen, als er seinen
-Jagdherrn wieder hatte, der freilich ein Preiß war -- aber was für
-ein Schütz! »Kreuzikruziundsikerafaxhöllementshündl, hat *der* dem
-Hirsch dös preißische Kügerl auffizirkelt aufs richtige Fleckl!
-Verstehst?« Das wurde -- wie für den verewigten Christl Haynacher
-das Wunder der Armeseelenkammer -- für das Kindergehirn des Hiesel
-Schneck eine ruhelos schnurrende, unsterbliche Geschichte. Während
-ihr schweigsamer Held zwischen den heiterschwatzenden Grünröcken
-der Försterei am See entgegenwanderte, klang das beginnende
-Tafelkonzert der fürstpröpstlichen Hofkapelle durch den Wald wie
-sommerliches Grillengezirp. Auch die Mittagsschwüle des heißgewordenen
-Frühlingstages hatte was Sommerliches. Wechselnde Windzüge zerrten
-die Wipfel hin und her, und kleine, kugelige Weißwolken schwammen in
-auseinanderstrebenden Reihen über die wildzerrissenen Schneegrate der
-Mühlsturzhörner empor.
-
-Daß die Sonne sich ein bißchen verschleierte, das war ein Glück für
-die Strecke, die auf einer Wiese der Försterei in langen Linien
-ausgerichtet lag, bewacht von den schweißleckenden Bracken. Den
-reichsten Weidmannssegen schien die huldreiche Göttin dieses Tages
-sich selbst beschert zu haben; fast ein Viertel des erlegten Wildes
-war gekennzeichnet durch die kirschroten Seidenmaschen der heute
-noch allergnädigsten Aurore de Neuenstein. Und gerade um diese
-rotgezierten, wie mit Mohnsträußen geschmückten Wildstücke sumste
-die größte Fliegenmenge. Die kleinen zarten Dianenhände hatten, bis
-die Lanze ins Leben ging, sehr häufig zustechen müssen. Diese vielen
-allergnädigsten Wunden besaßen für das Fliegengesums einen anziehenden
-Reiz. Schweißgeruch und säuerliche Düfte umwitterten das Leichenfeld
-französischer Jagdfreude und wehten bei jedem Umschlag des Windes
-hinüber bis zur offnen Mahlstätte, von der die Tafelmusik und der
-fröhliche Becherlärm der grünen Herren hinausklang in die Waldstille.
-An die Försterei war ein großer Holzsöller angebaut, ganz eingewickelt
-in Fichtengrün, die Zwischenräume der das Dach tragenden Balken
-durchschlungen von Girlanden aus den ersten Blumen des Frühlings. Durch
-die Lücken leuchtete das Farbengepräng der Mahlgesellschaft heraus,
-und überall sah man weiße Köche, gelbe Schüsselträger, blaue Läufer
-und weinrotfarbene Küfer springen. Unter dem bewimpelten Torbogen,
-zu dem vier breite Stufen hinaufstiegen, erschien der Geheimrat in
-sorgenvoller Erregung, sah den winkenden Hiesel Schneck und rief mit
-dem Lachen eines Erlösten: »Endlich? Kommt er?« Ungeduldig schritt
-er dem Erwarteten entgegen und überbrachte ihm die Kunde eines
-diplomatischen Sieges. Man hatte den Oberst von Berg ganz unten an
-der Tafel bei dem alten Pfarrer und den jungen Domizellaren placiert.
-Danckelmann hatte sich ins Mittel gelegt, und nun erwartete den
-Verspäteten der Platz an der Herzseite der Allergnädigsten.
-
-»Meinen schuldigen Dank, lieber Geheimrat, aber ich setze mich zum
-Pfarrer. Der hat mehr Charme in seinen haarigen Warzen, als das Mensch
-an allen rosigen Nuditäten. Die Sorte hab ich satt.« Danckelmann
-war ratlos. Eine Änderung erschien ihm völlig unmöglich. »Alles ist
-möglich. Man muß nur wollen!« Und der junge Oberst, höflich nach allen
-Seiten komplimentierend, ging in der Mahlhalle gerades Weges zum
-unteren Ende der Tafel und auf den Pfarrer zu, legte dem Grafen Tige
-die Hand auf die Schulter und sagte liebenswürdig: »Verzeihen Sie,
-Graf! Jedem das Seine. Ihr Platz, vermute ich, ist dort oben.« Der
-Domizellar erhob sich verdutzt, errötete mit zartem Farbenspiel und
-hatte noch keine Antwort gefunden, als der junge Oberst schon behaglich
-auf dem eroberten Sessel saß. Nach dem leeren Platz an der Herzseite
-der Allergnädigsten schien Graf Tige keine Sehnsucht zu empfinden, war
-wütend und ließ für sich, um in Gefechtsnähe zu bleiben, dem jungen
-Oberst gegenüber einen Sessel zwischen die Barone von Stutzing und
-Kulmer schieben. Dabei hörte man von der allergnädigsten _tête_ der
-Tafel ein so auffällig Dianenlachen, daß die Annahme, der Geheimrat
-hätte eine witzige Ausrede gefunden, nicht unberechtigt war.
-
-»Hochwürden!« sagte der junge Oberst unter dem Gezirp der Tafelmusik
-zum Pfarrer. »Im Walde hab ich nachgedacht über alles, was wir sprachen
-auf dem Wege durch die Ramsau. Sie haben recht mit Ihrer Forderung nach
-verständnisvoller Freundlichkeit. Aber Schuld ist auf beiden Seiten.
-Mir ist da -- Dichter sind immer Propheten und Erzieher -- eine alte
-deutsche Fabel eingefallen. Die muß ich Ihnen erzählen. Vielleicht auf
-dem Heimweg.«
-
-Pfarrer Ludwig kam zu keiner Antwort, weil Graf Tige in gereizter
-Fehdelust über den Tisch herüber fragte: »Verzeihen Sie meine Neugier,
-Herr Oberst! Ihr Name, von Berg? Das ist wohl preußischer Beamtenadel?«
-
-»Jawohl, lieber Graf!« Ein graziöses Kompliment begleitete diese Worte.
-»Die Männer meines Hauses haben von jeher ihren Stolz dareingesetzt,
-die treuesten Diener des Staates zu sein.«
-
-»Gedenken auch Sie diesen Stolz in sich zu erziehen?«
-
-Mit einem fast komisch wirkenden Ernst antwortete der junge Offizier:
-»Seit einiger Zeit beginne ich das zu lernen.«
-
-»Bei Ihrer Jugend kann diese Übung noch nicht lange gedauert haben.«
-Graf Tige lachte. »In Preußen scheint Mangel an gereiften Männern zu
-herrschen, weil man die Zwanzigjährigen zu Obristen macht. In welcher
-Bataille haben Sie sich diesen Lohn erworben?«
-
-Ein hartes Lächeln, hinter dem es kaum merklich wetterleuchtete. »In
-einem Kampf, bei dem es um Kopf und Kragen ging.«
-
-Graf Tige guckte mit verwunderten Augen. »War denn Preußen zu Ihren
-Lebzeiten in einen Krieg verwickelt? Allerdings, die preußische
-Sandbüchse liegt so entfernt von uns, daß man es nicht immer gewahren
-kann, wenn sich der Sand da unten ein bißchen bewegt.«
-
-Pfarrer Ludwig bekam einen roten Kopf. »Denken Sie nicht übel von uns,
-Herr Oberst! Auch hierzulande gibt es wohlerzogene Leute.«
-
-Das schien der junge Offizier nicht zu hören. Sein Gesicht war bleich.
-Nur auf den Backenknochen, die man plötzlich schärfer sah als zuvor,
-glühten zwei kleine rote Flecken. Seine Augen, die unbeweglich auf den
-Grafen gerichtet waren, hatten etwas Verschleiertes. Nun verschwand die
-Blässe, das Blut stieg ihm ins Gesicht, schwellte die Schläfenadern,
-und unter der schönen Stirne brannte der Feuerblick einer stolzen und
-furchtlosen Seele. So nickte er dem Pfarrer lächelnd zu und sprach
-dann mit heiterklingender Stimme über den Tisch hinüber: »Der Sand
-da unten gedenkt noch Wellen zu schlagen, die man spüren wird in der
-ganzen Welt. Ich glaube, der König dieser kleinen Sandbüchse wird unter
-den Großen der Erde noch eine stattliche Figur abgeben. Möglich, daß
-ich das nicht erlebe. Ich habe nicht den Wunsch, sehr alt zu werden.
-Aber manchmal wünsche ich, in hundert oder zweihundert Jahren wieder
-für einen Tag auf die Welt zu kommen, nur um zu sehen, was aus Preußen
-geworden ist. Ich hoffe: viel!« Nun fand er ein Lächeln, auch für den
-Grafen Tige. »Setzen Sie gütigst diesen Glauben auf Rechnung meiner
-verzeihlichen Liebe zu dem Lande, das mich gebar. Im übrigen weiß ich
-sehr wohl, daß ich mich als Gast an dieser Tafel jeder bescheidenen
-Höflichkeit gegen den liebenswürdigsten meiner Wirte zu befleißigen
-habe.«
-
-Das Gespräch wurde durch eine lärmvolle Sensation unterbrochen. Sie
-war verursacht durch eine zwiefache Neuigkeit der Speisenordnung: auf
-großen, braunglänzenden Prunkschüsseln aus sächsischem Porzellan wurden
-nach Krapfenart gebackene Kartoffeln aufgetragen, zwei Dinge, die man
-zu Berchtesgaden bislange noch nie gesehen hatte. Das gab Veranlassung,
-daß viele Becher sich erhoben, um Seiner Liebden für diese Überraschung
-die verdiente Reverenz zu erweisen. Trunk und Zutrunk über die Tafel
-hin und her. Man lupfte die Kannen, wie die Bürstenbinder schlucken,
-und völlerte, wie es Mode und Gewohnheit war. Dazu, immer lärmvoller,
-das französische Lautgewirbel, gut und schlecht, manchmal durchwürfelt
-mit einigen deutschen Worten, die sich ausnahmen wie feste Steine in
-glitzerndem Wassergeriesel. Bei diesem Spektakel fanden der junge
-Oberst und Pfarrer Ludwig sich im Gespräch zusammen. Nach ihren Augen
-und Gesichtern zu schließen, redeten sie von ernsten Dingen. Immer
-lauschte Graf Tige hinüber, in der Erwartung, die erlittene Abfuhr
-wettzumachen und ein Häkchen zu finden, an das eine Bosheit anzuspießen
-war. Als er das Wort Exulanten hörte, fragte er lachend: »Werden denn
-auch die Dritthalbtausend, um die Sie uns erleichtern, Platz finden in
-dem kleinen Berlin?«
-
-»Nicht gut. Aber man wird brüderlich zusammenrücken.« Der junge Oberst
-wandte sich wieder an den Pfarrer: »Ich bin Ihrer Meinung, liebste
-Hochwürden! Ein Volk, das fähig ist eines starken und tiefen Glaubens,
-ist immer ein Volk, das aufwärts steigt. Brave Kerle, die aus ehrlichem
-Herzen glauben, sind die Streiter, mit denen man siegt. Solche Leute
-haben wir in Deutschland. Auf Ihrer und auf unserer Seite. Das ist eine
-Verheißung. Drum ist es Fürstentorheit, an den Religionen wie an einem
-kranken Gaul herumkurieren zu wollen. Man darf ihnen die Gesundung
-nicht erschweren, die sie suchen aus Natur und eigenem Antrieb. Dann
-gibt sich alles von selbst. Daß die Hölle mit ihren gewichtlosen
-Flammen im Inneren der Erde steckt? Das wird man nicht mehr glauben
-können, wenn gelehrte Männer wie Newton beweisen lernten, daß die Erde
-in ihrem Inneren schwerer an Gewicht ist, als an der Oberfläche. Alle
-Jerichotrompeten überleben sich.«
-
-Graf Tige schmunzelte. »Sie? Als bibelfester Protestant? Sie
-bezweifeln, daß die Sonne von Jericho stillgestanden? Ich glaube das.«
-
-Ruhig, doch mit leisem Spottzucken, antwortete der junge Oberst. »Da
-glauben Sie etwas Unbestreitbares, lieber Graf! Kopernikus und Keppler
-haben doch bewiesen, daß die Sonne *immer* stillsteht. Da dürfte sie
-vor Jericho kaum eine Ausnahme gemacht haben.«
-
-Heiteres Gelächter erhob sich rings um die beiden. Und Graf Tige
-unternahm geärgert einen neuen Ausfall. »Das Gewicht des Erdkernes
-wäre noch immer kein Beweis gegen die Hölle. Verfluchte, mit Sünden
-belastete Seelen müssen doch schwerer sein, als die verklärten Geister
-in der Höhe. Oder schätzen Sie das Gewicht einer verdammten Seele
-leichter ein?«
-
-»Es gibt solche, die im Tausend noch keinen Gänsekiel aufwiegen.«
-
-»Oh? Was für Seelen können Sie meinen?«
-
-»Die Seelen aller verdammten Fürsten, die auf Erden miserabel regierten
-und ihre Völker ins Unglück brachten. Gewissenlose Herrscher sind von
-allen pflichtwidrigen Menschen die verfluchenswertesten. Sie haben
-nur die eine Entschuldigung, daß sie ihren Beruf nicht von anderen
-lernen konnten, wie ein Schusterjunge von seinem Meister, sondern ihn
-erziehen mußten in sich selbst. Der Fürstenpädagog _à la mode_, dieser
-Macchiavel, dieser dümmste und schädlichste von allen Schulbonzen der
-Erde, erzieht den Herrscher, der seines Volkes erster und treuster
-Diener sein soll, nur zum Hauptschwein seiner eichelfressenden Herde.
-Auch das Salböl macht die Könige nicht. Sie machen sich selbst zu
-Fürsten oder bleiben Schelme, bleiben die übelsten Ursächer des
-Aufruhrs. Tiefer, als alle anderen Fürsten der Welt, müssen das die
-deutschen Fürsten sich ins Gewissen schreiben. Bei anderen Völkern
-führt aller Aufruhr, den fürstliche Mißwirtschaft erzeugte, über die
-Verelendung der Nation wieder zurück zum Despotismus. Bei den Deutschen
-wäre Aufruhr der Weg zu ewigem Untergang. Ich kann mir jedes romanische
-Volk als Oligarchie oder Republik denken. Nicht das deutsche. Für
-uns Deutsche ist echte Monarchie und gewissenhaftes Königtum so
-unentbehrlich, wie der Atem für die menschliche Lunge. Wehe jedem
-deutschen Fürsten und Bürger, der diese Wahrheit nicht voll erkennt und
-nur der geringsten seiner Pflichten sich entschlägt.«
-
-Inmitten des heiteren Tafeltrubels blieb nach diesen Worten um den
-jungen Oberst her ein schweigsames Inselchen. Ein salzburgischer
-Hauptmann flüsterte seinem Nachbar zu: »Dieser junge Mensch ist vorlaut
-und unerquicklich, aber -- er fesselt mich wider Willen.« Und der
-andere sagte: »Ein wunderlicher Patron! Der Kleinste an der Tafel, nur
-ein Suppenlöffel voll Mannsbild. Aber seine Augen funkeln, als möchte
-er einem Riesen die Nase aus dem Gesicht reißen.«
-
-Bevor Graf Tige sich von seiner Verblüffung erholen und einen neuen
-Lanzenstoß seines Geistes versuchen konnte, umklammerte Pfarrer Ludwig
-die Hand des jungen Offiziers: »Herr Oberst, ich möchte wünschen, Sie
-wären ein deutscher Fürstensohn.« Dieses Wort verwandelte sich für den
-Grafen Tige zu einem Futterkörnchen seines Witzes: »Äußere Anflüge sind
-vorhanden! Oder sollten Sie nicht wissen, Herr Oberst, daß Sie einige
-Ähnlichkeit mit den Bildern besitzen, die von Ihrem berühmt gewordenen
-Kronprinzen Friedrich in Umlauf sind?«
-
-»Wahrhaftig?« In dem strengen, von versunkenen Schmerzen erzählenden
-Jünglingsgesicht erschien ein seltsames Lächeln. »Sie sind der erste,
-der mir eine so überraschende Mitteilung macht.«
-
-Dieser unerschütterlichen Ruhe gegenüber wurde Graf Tige ungezogen in
-Blick und Ton. »Der einzige sind Sie wohl nicht, der in Preußen unter
-Mißachtung des königlichen Soldatenzopfes diese freigeistige Haarmasche
-nach hohem Muster trägt. Wenn Fürsten oder Fürstensöhne um guter oder
-übler Eigenschaften willen berühmt oder berüchtigt werden, findet sich
-mancher, der sich frisiert nach ihrer Silhouette.«
-
-Pfarrer Ludwig erschrak, doch der junge Offizier behielt das
-unveränderliche Lächeln und sagte mit dem gewinnendsten Klang seiner
-Stimme: »Da haben Sie eine überaus treffende Bemerkung gemacht, mein
-lieber Graf! Nachahmung ist die billigste und erbärmlichste Kunst
-aller Menschen. Wenn sie ihre Blähungen blasen hören, glauben sie den
-Donner zu kopieren und wähnen Jupiter zu sein. In solchen Künsten
-sündigen gerade wir Deutschen am verwerflichsten. Wollen wir nicht
-völlig zu Affen werden, so muß ein Erlöser kommen, der uns wieder zu
-selbstbewußten Menschen macht. Verzeihen Sie also bei der Allgemeinheit
-dieses deutschen Lasters auch mir eine kleine Sünde der Eitelkeit!
-Man ist leider, wie man ist. Gott scheint kein Töpfer zu sein. Eines
-ehrlichen Töpfers Bestreben ist es, nur runde und gute Töpfe zu drehen.
-Gott dreht nicht nur so vortreffliche Menschen, wie Sie einer sind,
-mein liebster Graf! Er dreht auch Menschen von so verzweifelt buckliger
-Art, wie ich einer bin. Aber ich will nicht unverbesserlich sein und
-verspreche Ihnen, meine Frisur so entschieden zu ändern, daß fernerhin
-an mir keine Spur von Perückenähnlichkeit mit einem Menschen zu finden
-sein wird, den ich um seiner üblen Vergangenheit willen heute noch
-häßlicher sehe, als ihn der eigene Vater sehen mußte.«
-
-Während Pfarrer Ludwig sich schweigend auf dem Sessel zurückbeugte und
-den jungen Oberst mit großen, forschenden Augen betrachtete, warf der
-salzburgische Hauptmann mißbilligend ein: »So sollte ein Offizier nicht
-sprechen von seinem zukünftigen König. Der Gott aller soldatischen
-Religion heißt Loyalität und muß nach obenhin so blind sein, wie die
-Justitia.«
-
-»Verzeihen Sie, Herr Kamerad, die Religion des preußischen Offiziers
-muß eine andere sein. Sie muß hellsehende Augen haben nach oben und
-nach unten. Ihr einziges Dogma muß lauten: die Arbeit zu tun, die von
-einem klugen Führer befohlen ist, seine Pflicht höher einzuschätzen,
-als sein Glück, sich selbst zu verleugnen und sein ganzes Leben den
-Zukunftszwecken des Staates, dem Wohl seines Volkes zu unterwerfen und
-nur den einzigen Ehrgeiz zu besitzen, ein guter Preuße zu sein und ein
-deutsches Herz zu haben.«
-
-Der salzburgische Hauptmann schüttelte den Kopf und lachte: »Herr
-Oberst, Sie predigen die soldatische Sklaverei.«
-
-»Im Gegenteil, Herr Kamerad! Der freieste Mensch ist nicht jener, der
-immer tun kann, was ihm persönlich zusagt. Der ist der freieste, der
-die notwendigen Gesetze am redlichsten achtet, seiner vaterländischen
-Pflicht am willigsten genügt und kein Stäubchen von Vorwurf oder Reue
-auf seiner Seele fühlt. Und das freieste von allen Völkern ist jenes,
-das die meisten Soldaten solcher Art besitzt. Da sollen die Feinde
-kommen. Man haut sie auf die Köpfe.«
-
-»Oh, wie gewalttätig!« warf der sanftblickende Domizellar von Stutzing
-ein. »Sie scheinen gering von dem zu denken, was man hier auf Erden
-als Frieden bezeichnet?«
-
-»Nein! Friede ist das schönste von den Dingen der Welt. Nur nicht
-möglich unter allen Umständen. Die Friedfertigen um jeden Preis
-zerstören wohl keine fremden Häuser, aber sie bauen auch das eigene
-nicht auf.« In der Erregung, mit der der junge Oberst sprach, wurden
-seine Gesichtsmuskeln von nervösen Reizungen befallen, die aussahen wie
-Grimassen. »Es gibt gewiß viel bessere Dinge auf der Welt, als Soldat
-sein müssen. Aber so lange die Menschen bleiben, wie sie sind -- und
-sie werden *immer* so bleiben -- so lange ist jenes Volk auf Erden am
-sichersten, das die schlagfertigste und gewissenhafteste Armee erzieht.
-Eine solche Armee ist nicht nur höchste Geborgenheit des Staates, nicht
-nur eine militärische, auch eine moralische Macht, eine Schule der
-Selbsterziehung des Volkes.«
-
-»Und Sie meinen,« spottete Graf Tige, »eine Armee von solch fabulöser
-Beschaffenheit wäre die preußische?«
-
-»Ja.«
-
-»Was hat sie denn schon geleistet? Für uns in der Ferne erscheint sie
-nur als ein Gamaschenklotz ohne Zweck.«
-
-»Dieser Klotz wird sich bewegen.«
-
-»Wann?«
-
-»Sobald das Wort gesprochen wird, das ihn belebt. Sie, lieber Graf,
-als angehender Priester der katholischen Kirche werden vermutlich ohne
-Kinder bleiben.« Die brennende Verlegenheitsröte übersehend, die dem
-Neuensteinischen Verkündigungsengel in die Wangen fuhr, sprach der
-junge Oberst mit jagenden Worten weiter: »Aber Brüder oder Schwestern
-haben Sie wohl? Deren Kinder und Kindeskinder werden mitzehren an
-den deutschen Früchten jenes beweglich gewordenen Gamaschenklotzes.
-Deutscher Boden droht die Schüssel für alle fressenden Hunde der
-Nachbarschaft zu werden. Die vergönnen uns die eigene Mahlzeit nur,
-wenn wir die Faust haben, den nach unseren Knochen Lüsternen die
-Zähne einzuschlagen. Sieger wird keiner, der nicht alles gibt, was in
-ihm ist. Diese Opferfreudigkeit wollen wir in unseren Offizieren und
-Soldaten, in unserem ganzen Volk erziehen. Dann wird dafür gesorgt
-sein, daß uns die Welt nicht unterkriegt. Das gelänge ihr nur, wenn
-man ihresgleichen wäre. Wir haben die Pflicht und Absicht, uns
-wesentlich zu unterscheiden von ihr. Dann wird die Zeit kommen, in der
-das kleine Preußen zu wachsen gedenkt. Und was ein Segen für Preußen
-ist, wird zum Heil werden für alle Deutschen. Der Aufstieg und die
-politische Neugeburt des deutschen Volkes wird uns nicht durch den
-strohdreschenden Reichstag und nicht durch die schimmelig und hohl
-gewordene römische Kaiserpuppe beschert werden, sondern durch das
-junge, erstarkende Preußen der Zukunft.«
-
-Diesen Worten folgte an der Tafel ein etwas unfrohes, fast höhnisches
-Gelächter. Nur Pfarrer Ludwig blieb ernst und grollte in Zorn: »Wie
-kann man da lachen? Wenn jeder Deutsche so denken würde, müßte man
-nicht in Durst, in Zweifel und Sehnsucht auf den Augenblick harren,
-der den Kaiser im Untersberg von seiner finsteren Schlafsucht kurieren
-wird.«
-
-Graf Tige sagte mit spottender Heiterkeit: »Wie reizend, Hochwürden!
-Ihre siebzig Jahre befinden sich in kindlicher Märchenlaune!«
-
-Da beugte sich der junge Oberst, die zitternden Hände um den
-Champagnerbecher geklammert, über die Tafel hinüber. In dem
-vorgestreckten Spitzgesichte flammten die Augen, während er mit
-leiser und dennoch scharfklingender Stimme sprach: »Die Kindermärchen
-der Völker sind ihre schönsten und tiefsten Sehnsuchtsschreie.
-Solche Sehnsucht braucht nur beharrlich zu sein, um die Erfüllung zu
-erzwingen.«
-
-»Herr Oberst!« Die Stimme des hübschen Domizellaren erinnerte ein
-bißchen an das parisische Gezwitscher der Allergnädigsten. »Das stimmt
-nicht für Märchen. Die erfüllen sich nie. Noch weniger stimmt es für
-politische Phantastereien. Ihr heimatliche Selbstbewußtsein in allen
-Ehren! Ich mache Ihnen hierüber sogar mein Kompliment. Es frägt sich
-nur, ob das deutsche Volk und die deutschen Fürsten auch gewillt wären,
-sich von Preußen an den Roßschwanz nehmen zu lassen?«
-
-Das Gesicht des jungen Offiziers, in dem alle Erregung plötzlich
-erloschen schien, war verwandelt zu ruhigem Lächeln. So wandte er sich
-dem Pfarrer zu und sagte: »Man muß die Deutschen selig machen *gegen*
-ihren Willen. Oder sie werden es nicht.«
-
-
-
-
-Kapitel XXX
-
-
-An der fürstpröpstlichen Jagdtafel ereignete sich abermals eine
-kulinarische Überraschung: man servierte neben dem Champagner zum
-erstenmale heißen, schwarzen Kaffee, von dem die Sage verbreitet war,
-daß er den Appetit zu reizen vermöchte, den Durst erneuere und gegen
-den Katzenjammer ein vorbeugendes Remedium wäre. Auch noch aus einem
-anderen Grunde war die dampfende Köstlichkeit, die überaus angenehm
-duftete, an der Tafel willkommen. Wer nicht zureichende Weinhitze in
-sich hatte und der natürlichen Blutwärme entbehrte, fröstelte schon
-ein bißchen. Bei sinkendem Nachmittag verkühlten die Frühlingslüfte.
-Das böse Wetter, das der windkundige Hiesel Schneck vorausgeahnt
-hatte, begann sein Herannahen bemerkbar zu machen. Immer häufiger
-erloschen die Sonnenlichter zwischen den von Windstößen geschaukelten
-Girlandenbogen.
-
-Graukühler Schatten überschleierte die farbenbunte Tafel, als Graf
-Saur sich erhob, eine schmetternde Fanfare blasen ließ und die
-witzigen Verse seines Dianentoastes zu sprechen begann. Eine galant
-durchprickelte Stimmung herrschte an der lauschenden Tafel. Nur die
-gefeierte Göttin selbst schien jedem munteren Lächeln entrückt zu sein
-und sollte -- _entre la coupe et les lèvres_ -- den jauchzenden Zuruf
-»_Vive la reine divine de la chasse!_« nicht mehr erwarten können.
-Sei es, daß Aurore de Neuenstein sich durch die jähe Dämpfung der
-Frühlingstemperatur in nachteiligem Grade angeschauert fühlte, oder
-sei es, daß die Ermüdung nach dem emsigen Lanzenschwingen, der allzu
-reichlich genossene Champagner oder andere Umstände mit im Spiele
-waren -- sie wurde während des geistreichen Reimgeklingels plötzlich
-zwischen den schwarzen Schönheitspflästerchen so blaß, daß ihr
-schmales Unschuldsgesicht beinah einer preußischen Miniaturstandarte
-zu vergleichen war. Gewaltsam die _contenance_ bewahrend, schloß sie
-die Augen und überlegte flink alle hilfreichen Möglichkeiten einer
-Ohnmacht. Es war für diesen klugen Gedanken bereits zu spät. Inmitten
-einer Lachsalve, die ein entzückender Dianenscherz des Grafen Saur
-entfesselte, mußte sie sich hastig erheben, um in fluchtartiger
-Eile den Tisch und die Mahlhalle zu verlassen. Auch das gelang
-nicht mehr. Weil die Natur schneller arbeitete als alle französisch
-geschulte Geistesgegenwart, kam die unpaß gewordene Göttin nur bis zur
-Söllerbrüstung und fand hier zwingende Veranlassung, sich rasch über
-den grüngirlandierten Balkenbord hinauszubeugen. Ein solcher Vorgang
-war bei zeitgenössischen Trinkgelagen keine ungewöhnliche Erscheinung.
-Dennoch verlor Graf Saur den Faden seiner witzigen Reime, und eine
-unbehagliche Verblüffung rieselte über die ganze Tafelrunde hin, von
-Herrn Anton Cajetan bis hinunter zum Grafen Tige.
-
-Kanzler von Grusdorf, der sich gleichfalls entfärbte, als wäre er
-von der Indisposition seiner Nichte schon infiziert, versuchte der
-Leidenden durch die naheliegende Vermutung zu Hilfe zu kommen: »Ach,
-Barmherziger, augenscheinlich hat sie die heftig bewegte Schaukelfahrt
-auf dem Dianenschiffe nicht gut vertragen!« Niemand lachte, alle
-Herren schienen teilnahmsvoll und besorgt zu sein. Dennoch wuchs das
-Bedrückende der Tafelstimmung. Und in der halben Stille, die für einen
-Augenblick entstanden war, sagte der junge Oberst mit der Ruhe eines
-großen Gelehrten, dem die Entdeckung einer unanzweifelbaren Wahrheit
-gelang: »Das? Eine Artemis? Nein. Das ist eine Göttin der guten
-Hoffnung.«
-
-Dieser Moment bewies, wie wohlerzogen alle diese adligen Herren waren
-und wie sehr sie sich nach reichlich verschlucktem Wein zu beherrschen
-wußten. Keiner von ihnen wollte das klärende Wort des jungen Offiziers
-verstanden haben, wie vernehmlich es auch gesprochen war. Immerhin
-hatte die Macht der Wahrheit für einigen menschlichen Farbenwechsel
-gesorgt, der sich konträr vollzog: Herr Anton Cajetan war bleich
-geworden, Graf Tige dagegen dunkelrot. Es hätte, dank aller höfischen
-Galanterie, die Situation vielleicht noch gerettet werden können, wenn
-nicht Aurore de Neuenstein selbst, unterstützt durch das Bewußtsein
-einer leidlich gesicherten Zukunft, sie verloren gegeben hätte. Im
-Zustande merklicher Erholung betätigte sie mit flinker Grazie ihr
-Brabanter Spitzentüchelchen, trat tapfer auf die Tafel zu, griff
-nach dem Champagnerbecher ihres sprachlosen, in einen Kreidestein
-verwandelten Onkels, leerte den Kelch bis auf den letzten Tropfen,
-stellte den Becher mit hörbarem Klaps wieder hin und zwitscherte in
-ihrem zierlichen Französisch: »Weshalb so erstaunt, meine Herren?
-So etwas Ähnliches hat sich seit Mutter Evas Zeiten schon mehrmals
-ereignet. Ich bin nicht die erste.«
-
-Da war es mit aller hoheitsvollen Selbstbeherrschung des Herrn Anton
-Cajetan, der sich fern jeder Schuld zu fühlen vermochte, jäh und
-gründlich vorbei. Sich erhebend, sagte er kalt, doch immer noch mit
-Würde: »Madame! Um die Grenzen unseres Landes zu verlassen, sind Ihnen
-vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben.«
-
-Während Herr von Grusdorf eine Knickbewegung tiefster Erschütterung
-machte, wurde Aurore de Neuenstein überaus heiter. »Vierundzwanzig
-Stunden? Ach, wie gnädig!« Das waren die letzten französischen
-Laute, die man am fürstpröpstlichen Hofe von ihr vernahm. Trotz
-aller Peinlichkeit des Augenblickes erwachte in Aurore de Neuenstein
-der schwäbische Mutterwitz. Mit den Fingerspitzen das geschürzte
-Reitkleid auseinanderspreitend, machte sie vor Herrn Anton Cajetan
-einen tadellosen Hofknicks und sagte lustig in ihrem niedlichen
-Dillinger Idiom: »So groß, wie Dei' Ländl isch, bring i dees Hüpfle
-über de Grenzbaum fertig in em halbe Stündle.« Lustig lachend,
-sichtlich erfreut über den sieghaften Abgang, den sie gefunden,
-schwebte die vermenschlichte Göttin des Großen Jagens der bewimpelten
-Söllerpforte entgegen. Huldreich winkte sie mit dem hübschen Händchen
-nach allen Richtungen der Tafelrunde, ohne den sorgenvollen Grafen
-Tige einer besonderen _célébration des adieux_ zu würdigen, und
-nickte noch freundlich und versöhnt dem jungen Oberst zu, der nun
-sichtliches Wohlgefallen an ihr zu finden begann und fast so begeistert
-applaudierte, wie er's beim Anblick der beiden fliehenden Gemsböcke
-getan hatte.
-
-Das drohende Unwetter begünstigte Aurorens Abschied. Alle Pferde der
-Jagdgesellschaft waren schon bereit zum Heimritt. Munter schwatzend
-ließ die Neuenstein sich in den Sattel heben und galoppierte mit ihrem
-Kammerlakai und Büchsenspanner davon, um in Reichenhall so ziemlich
-alles wiederzufinden, was sie zu Berchtesgaden unter beträchtlichem
-_accroissement_ der Stiftsschulden klug zurückgelegt hatte.
-
-Dem vorsichtigen Wildmeister, der für die prompte Bereitschaft der
-Pferde gesorgt hatte, war auch ein willkommenes Erlösungswerk an der
-schwülgewordenen Stimmung in der Söllerhalle zu verdanken. Er brachte
-Seiner Liebden die Meldung des bedenklichen Wetterumschlages. »Wollen
-die gnädigsten Herren nit naß werden bis aufs Häutl, so wird's wohl
-nötig sein, daß man reitet auf der Stell.«
-
-Einem turbulenten Aufbruch von der Tafel folgte ein beschleunigtes
-Abschiednehmen unter fröhlichem Horngeschmetter. Herr Anton Cajetan,
-der nicht gerne naß wurde, zog es vor, sich einen einsamstillen, aber
-trockenen Schmollwinkel in der Försterei bereiten zu lassen, auch auf
-die Gefahr einer schlaflosen Nacht, die umwittert zu werden drohte von
-den üblen Verwesungsdüften der riesigen Wildstrecke. Beim Abschied
-zeigte er eine bewundernswerte Haltung und war in so guter Laune, wie
-man nach kleinen, harmlos verlaufenen Scherzen zu sein pflegt. Den
-unerquicklichen Schwegelpfeifer und begnadigten Militärverbrecher in
-diplomatisch zulässigem Ausmaß ignorierend, bedachten Seine Liebden
-den Geheimrat von Danckelmann mit erlesenen Liebenswürdigkeiten und
-entbanden ihn gnädigst von allen ceremoniellen Abschiedspflichten. Bei
-der Rückkehr nach Berchtesgaden würde Seine Exzellenz das fürstliche
-Rekreditiv im Leuthaus vorfinden. Herr Anton Cajetan unterließ es,
-beizufügen, daß dieses historische Dokument als letzte Amtstätigkeit
-des weiland Kanzlers von Grusdorf zu erachten sei.
-
-Vermochte der bedrohte Staatsmann unter der Stirne seines Herrn zu
-lesen? Mit bleichen Lippen stammelte der entlastete Elefant Aurorens:
-»Euer Liebden! Ich bin trostlos --«
-
-Eisig unterbrach ihn der Fürst: »Da suche er seinen Trost, wo er ihn
-zu finden hofft.« Das war klar gesprochen. Dennoch erwachte in der
-Schlotterkreide des Herrn von Grusdorf nur zögernd die Erkenntnis,
-daß er in diesem Augenblick ein bedauernswerter Schicksalsgenosse des
-Doktor Willibald Hringghh und des Polizeifeldwebels Muckenfüßl geworden
-war.
-
-Der schöne Schmetterklang des Fürstengrußes, an den sich keine
-Dianenweise mehr anzärtelte, geleitete Herrn Anton Cajetan unter
-bleigrauem Himmel zur Försterei, und als er in der niederen Tür
-verschwunden war, löste sich bei dämmerndem Abend aller Pomp des Großen
-Jagens auf in ein Wettrennen vieler Gäule, deren Reiter die schützenden
-Dächer von Berchtesgaden noch vor dem drohenden Platzregen zu erreichen
-hofften.
-
-Weit hinter der jagenden Klapperkavalkade der Stiftsherren und
-Domizellaren blieben fünf Reiter zurück, weil der junge Oberst den
-Pfarrer Ludwig, der sich an den Sattellappen die Waden aufgewetzt hatte
-und nur mit bescheidener Geschwindigkeit noch vorwärts kam, nicht
-der Einsamkeit überlassen wollte. Bei Ausbruch des Regens erreichten
-die Fünf, zwischen Ramsau und Berchtesgaden, in der Schmiede von
-Ilsank einen schützenden Unterstand. Die große Werkstätte gab Raum
-für die Reiter und Pferde. In der Esse, deren Kohlen noch glühten,
-schürte Leupolt ein Feuer an. Und während draußen in der sinkenden
-Nacht der wilde Frühlingsregen der Berge trommelte und in der großen
-Schmiedhöhle das Feuergeflacker alle rußigen Dinge vergoldete, ließ
-sich Pfarrer Ludwig vom alten Hufschneider, der ein geschickter
-Viehdoktor war, die aufgescheuerten Waden mit Hirschtalg salben und
-mollig mit Leinwand überbinden. Danckelmann hatte sich gegen den Ambos
-gelehnt, der junge Oberst saß auf einem umgestürzten Schubkarren,
-das rechte Bein übers linke Knie gelegt, die Hände um den braunen
-Reitstiefel geschlungen. Immer schwatzten und lachten die Drei.
-Der wunderliche Reiz dieser Stunde im Flackerglanz, das mystische
-Wechselbild zwischen Glut und Schwärze, die Nachwirkung der feurigen
-Klosterweine und des Champagners, das Erinnern an alle schönen Natur-
-und Waldbilder des Tages, an die qualmenden, ekelhaften Blutströme
-des Großen Jagens, an den zum Spott herausfordernden, lächerlichen
-Abklatsch des französischen Hofschwindels und an die Komödie der
-gesegneten, so munter zum Orkus entschwundenen Göttin Diana -- das
-alles wirbelte im Gespräche der Drei mit Ernst und Laune, mit Zorn
-und Hohn, mit Witz und sprühendem Übermut durcheinander und gab
-ihnen eine Stunde, an der sie Freude hatten. Sie lachten bei diesem
-Schwatzen so oft und so fröhlich, daß Hiesel Schneck, der immer
-mitlachen mußte, ohne zu wissen warum, ein bißchen wütend wurde und
-nach einem mäßig geschwänzten Himmelhündchen zum schweigsamen Leupolt
-Raurisser sagte: »Was die für kreuzlustige Sachen reden müssen! Und
-unsereiner versteht's halt nit! Aufpassen tu ich wie der Haftelmacher.
-Und versteh's halt nit! Kreuzhimmel und Höllementsnot, hol' doch der
-Teufel die ganze Französianerei! Wann einer, der schießen kann wie das
-preißische Soldätl, wann so einer ebbes sagt? Und zittert und fiebert
-und augenblitzt! Da muß er doch reden, als wie er schießt! Und so was
-möcht halt unsereiner verstehn! Verstehst?«
-
-Raurisser schien nicht zu hören. Neben dem Essenfeuer an der schwarzen
-Mauer lehnend, alles Harten und Schönen des eigenen Lebens vergessend,
-in der Faust die zusammengebundenen Zügel der drei Herrengäule, sah
-Leupolt unbeweglich zu dem jungen Oberst hinüber, lauschte mit großen
-glänzenden Augen, lauschte mit einem gläubigen Lächeln seiner Freude
-auf jeden Laut dieser melodischen, wundersam bezwingenden Stimme,
-verstand so wenig wie der Hiesel Schneck und verstand doch mehr, viel
-mehr, als der Hiesel verstanden hätte, wenn er der beste Franzose
-gewesen wäre.
-
-Jetzt sprach der junge Offizier allein. Die zwei Herren, mit
-vorgebeugten Gesichtern, hörten gefesselt zu, lachten immer wieder
-erheitert auf, vergaßen des Lachens und wurden ernst. In dem
-Bild, das der leidenschaftlich Sprechende bot, war der gleiche,
-schwerbegreifliche Gegensatz wie in seinem ganzen Wesen. Grell
-angestrahlt von der Feuerhelle, in dem schmucklosen, fast ärmlichen
-Soldatenkleid mit den Funkelknöpfen, auf dem gestürzten, radlosen
-Karren sitzend, neben den stampfenden, schnaubenden, durch das
-Essenfeuer beunruhigten Gäulen und neben der Finsternis da draußen, in
-der das Getrommel des schweren Regens war, das falbe, dem Flammenschein
-von Brandstätten gleichende Aufleuchten der umnebelten Blitze, das
-Donnerrollen des Frühlingsgewitters, bald wie knatternde Gewehrsalven,
-bald wie dröhnende Kanonenschläge -- sah er aus wie ein junger
-Heerführer, der in einer Feldnacht zwischen Kampf und Kampf vor einem
-lodernden Wachtfeuer ruht, sich müde fühlt und doch von lebensprühender
-Erregung durchfiebert ist, alle wühlende Sorge in sich mit Heiterkeit
-zu umschleiern vermag, so zu den Seinen redet, ruhig und gläubig in
-die dunkle Ferne späht und mit der deutenden, blitzschnell zuckenden
-Hand Befehl um Befehl erteilt. Doch sein Gesicht war alles andere, nur
-nicht soldatisch. Das spitzvorgeschobene, heißwangige Antlitz mit dem
-lächelnden Spöttermund und den strahlenden Feueraugen war das Gesicht
-eines geistvollen, vom Funken der Stunde erfaßten Poeten, der sich
-immer wandelte, Ernst und Witz durcheinander schüttelte, mit sich und
-den anderen zu spielen schien, bald sprach wie ein kluger Greis und
-bald wie ein träumender Knabe, allen Esprit der französischen Sprache
-erschöpfte und mit diesem fremdländischen Wortgefunkel ein altes,
-sinnvolles Märchen der Deutschen erzählte: die Fabel von dem weisen und
-liebenswürdigen Jüngling, der sich alle Menschen der Welt zu Freunden
-machte.
-
-Dieser Jüngling war so kraftvoll und klug, daß sein Verstand gegen
-jede Gefahr und Not einen siegreichen Gedanken fand. Und war so schön
-und gütig, daß sein warmer Blick und sein herzliches Lächeln jeden
-Neider und Gegner verwandelte in einen Freund. Alle Seelen flogen
-ihm zu, alle Wege der Welt erschlossen sich ihm. Die einen sagten:
-»Sein Verstand erzwingt es.« Die anderen: »Nein, sein gewinnendes
-Herz!« Das sagten die Leute so oft, bis Herz und Hirn im Körper des
-Jünglings von Eifersucht befallen wurden. In einer Gewitternacht, als
-der Jüngling schlummerte, fingen Herz und Hirn in ihm wie erbitterte
-Widersacher zu hadern an und vergaßen, daß sie brüderliche Teile des
-gleichen Körpers waren. »Du da droben unter der Stirne,« sagte das
-gekränkte Herz, »sei nicht so stolz! Die sieghafte Kraft unseres Herrn
-entspringt nicht deinen erfindungsreichen, doch kalten Ratschlägen.
-Nur mir allein verdankt er seine Erfolge, dem fröhlichen Blut, mit dem
-ich ihn erfülle, dem gewinnenden Glanz, den ich entzünde in seinem
-Blick!« Höhnisch lachte das beleidigte Gehirn: »Du aufgedunsener
-Fleischklumpen! Bist du vom Größenwahn befallen? Wenn er mich nicht
-hätte, wäre unser Herr ein stumpfsinniges Tier. Nur die Funken meines
-Geistes erwecken in ihm das Göttliche und machen ihn zum Sieger in
-aller Gefahr.« Zornig antwortete das Herz: »Du lügst! Alle Freunde
-unseres Herrn verärgerst du durch dein spottendes Besserwissen.
-Immer hab ich zu tun, um durch freundliche Güte wieder zu mildern,
-was du versalzen hast.« Und das Gehirn erwiderte: »Du schwächlicher
-Versöhnungslappen! Jeden kühnen Gedanken, den ich erwecke in unserem
-Herrn, verwässerst du durch säuselndes Wohlwollen, durch nachgiebige
-Biederkeit!« Mit Tränen antwortete das geschmähte Herz: »Das hab ich
-satt! Ich lasse mich nicht länger unterschätzen. Gott befohlen!«
-Lachend sagte das triumphierende Hirn: »Vergnügte Reise! Jetzt will ich
-beweisen, was ich vermag, auf mich allein gestellt.«
-
-Das Herz entsprang den Rippen des Schlafenden und glich einem roten
-Frosch, der schwerfällig hinhüpfte durch den Staub der Straße. Das
-Gehirn entschlüpfte der Stirn und war wie eine weißgraue Tarantel, die
-sich mit vielen Gedankenbeinen hastig bewegte. So zogen die beiden
-in die Welt, jedes für sich allein. Eines frühen Morgens kehrten
-sie zurück, und jedes weinte vor Freude beim Anblick des anderen.
-Klagend erzählte das aus vielen Wunden blutende Herz: »Ach, wie
-erbärmlich ist es mir ergangen! Überall nannten sie mich die hüpfende
-Qualle. Jeden liebevollen Schrei meiner Güte haben sie gedeutet
-als ein Zeichen meiner Schwäche, haben mich verlacht, verhöhnt und
-mit den Füßen beiseite gestoßen! Hilf mir, du kluges Gehirn, sonst
-muß ich verbluten!« Und das vor Schmerzen zuckende Hirn erzählte:
-»Ach, wie niederträchtig sind der Unverstand und die Bosheit der
-Erde mit mir umgesprungen! Überall nannten sie mich den giftigen,
-stechenden Skorpion. Jeden Funken meines Geistes verleumdeten sie als
-weltbedrohendes Feuer. Kaum entrann ich ihren Lügen und Drachenzähnen.
-Hilf mir, du gutes Herz, ich bin müde zum sterben!«
-
-Da suchten die beiden eine reine Quelle, um zu baden. Als sie versöhnt
-dem Haus ihres Herrn entgegenwanderten, vernahmen sie die Klagen
-und das Hohngelächter vieler Menschen. Die hatten den schlafenden
-Jüngling für tot gehalten und wollten ihn begraben. Jene, denen er
-Gutes getan, betrauerten seinen Tod. Doch jene, die er kraftvoll
-überwunden, beschimpften seine Leiche und verteilten unter sich die
-funkelnden Waffen seiner Siege. Schon wollten sie den stählernen Sarg
-für ewig über seinem wehrlosen Körper schließen. Da schlüpfte ihm das
-geläuterte Herz unter die Rippen, das reingewordene Gehirn unter die
-Stirne. Und das Herz begann zu hämmern, wie das Gehirn es ihm gebot,
-und das Hirn, vom pochenden Herzen befeuert, begann seine leuchtenden
-Funken zu sprühen. Die strahlenden Augen des Jünglings öffneten sich,
-mit frohem Lächeln erhob er sich, und gedoppelte Kraft erfüllte seine
-Glieder. Jubelnd umringten ihn seine Getreuen, erschrocken beugten
-sich seine Feinde, und von Stund an war der Jüngling schöner und
-gütiger, war kühner und klüger, als er je gewesen. Und weil er um der
-Ewigkeit seiner Kräfte willen nicht untergehen kann, so lange die Welt
-besteht, drum wird die Wahrheit seiner Geschichte nicht enden mit den
-Märchenworten: Starb er nicht lange schon, so lebt er noch heute.
-
-Der junge Oberst, der seine Fabel mit spottender Grazie begonnen hatte,
-war ernst geworden. Als er verstummte, blieb sein Mund eine schmale
-Linie, und seine großen Augen blickten in die Essenglut, als wäre sie
-das redende Geheimnis kommender Dinge. Wie ein Erwachender sah er auf,
-weil er die Stimme des Pfarrers hörte. Der war auf ihn zugetreten.
-»Herr Oberst, ich danke Ihnen.« Er streckte dem jungen Offizier die
-Hand hin, die dieser lächelnd ergriff. »Ich bin ein alter Mann. Aber
-so lang ich noch atme, soll mir diese Fabel ein Lehrbuch des deutschen
-Lebens bleiben.« Tief atmend nickte der Pfarrer. »Fabel? Die Todesnot
-der schlafenden Deutschen wird sie zur Wahrheit machen. Freilich gehört
-auch der helfende Mann dazu.«
-
-Da sagte Leupolt Raurisser neben der glühenden Esse: »Ihr Herren!
-Das Sturmwetter hat aufgehört. Die Nacht wird schön.« Er führte die
-drei Herrengäule durch das Tor der Schmiede auf die finstere Straße
-hinaus. Mit dem klirrenden Hufschlag mischte sich hinter ihm ein
-fröhliches, fast übermütiges Knabenlachen. Es galt dem Aussehen des
-Pfarrers. In dem verwachsenen Jagdrock und mit den klumpig von weißer
-Leinwand umwickelten Waden sah er so komisch aus, daß er selber nicht
-ernst bleiben konnte. Und als man heimritt durch die vom Bachrauschen
-erfüllte Finsternis, leuchteten die beiden milchigen Wickelklötze wie
-führende Laternen.
-
-Gegen Westen, wo der Himmel klar geworden, schimmerten schon die
-Sterne. Über Berchtesgaden und den Zinnen des Untersberges hing noch
-eine schwarze Wolke, in der es manchmal aufdämmerte wie fernes Leuchten.
-
-Aus dem Tal der Ache ritten die Herren gegen die Höhe des Marktes
-hinauf. Und Leupolt Raurisser stammelte erschrocken: »Da droben! Was
-ist denn das? Allmächtiger, das ist Feuerschein! Das Stift und der
-ganze Markt muß brennen.« Die fünf Gäule jagten. Als erster gewann der
-junge Oberst die Kante des Hügels und stand mit seinem Pferde schwarz
-eingezeichnet in diesen seltsam glimmenden Schein, der nicht von den
-Dächern der Stiftsgebäude und des Marktes ausging. Es war ein großes,
-von allen Steinspitzen, Felskanten und Baumwipfeln ausströmendes
-Elmsfeuer, gleich einem gebänderten Nordlicht um die breite Zinne
-des Untersberges herumgewunden, mit zarten Purpurstrahlen, die sanft
-hinaufzüngelten gegen die glimmenden Säume der schwarzen Wolken. Das
-war anzusehen, als trüge der Untersberg eine geisterhafte Riesenkrone,
-die, kaum daß sie zu schimmern begonnen hatte, schon wieder zu
-versinken begann im schwarzen Dunkel. Während die Herren in Erregung
-debattierten, lallte der abergläubische Hiesel Schneck: »Herr Jesus!
-Leupi! Was kann denn das sein?« Ein froher Atemzug. Und eine Stimme wie
-der Klang eines Betenden: »Der Kaiser im Untersberg hat eine freudige
-Seel. Die leuchtet so.«
-
-Für den ganzen Rest des Heimrittes beherrschte die wundersame
-Lichterscheinung das Gespräch der Herren und überschimmerte auch wie
-Weihe den Abschied, den sie vor dem Leuthaus voneinander nahmen. Der
-grüblerische Ernst des jungen Obristen schlug erst wieder um in seine
-knabenhafte Heiterkeit, als er auf seinem Bette saß und sich die
-Stiefel herunterziehen ließ, während ihm Danckelmann das Rekreditiv
-Seiner Liebden vorlas:
-
-»Durchlauchtigster König! Eure Königliche Majestät, besonders gnädiger
-Herr! -- Was Ew. Königliche Majestät zu Faveur Unserer in dero
-Königlich- und Chur-Fürstlichen Lande auf Veranlassung einer Religions-
-und Gewissens-Freyheit emigrirenden Unterthanen vorschrifftlich an
-Uns gelangen lassen, hat der anhero geschickte Geheime Hof-Rath von
-Danckelmann behöriger Orten geziemend überreichet, und gleich wie
-Wir sowohl in Regard Ew. Königlichen Majestät höchst-venerierenden
-Vorschreibens, als auch derer selbst redenden Völker-Rechts-, auch
-Civil-Gesätzen gemäß denen Emigranten das Ihrige angedeyen zu lassen,
-Unserer desfalls eigen aufgestellten Comission die angemessenen
-Befehle ertheilet, sofort dieses Geschäfft durch die sorgfältige
-Negotia gedachten abgeordneten Geheimen Hof-Raths nunmehro zu seiner
-vollkommenen, Zweiffels ohne vergnügten Endschafft gediehen, mithin
-demselben seiner dabey bezeigten Conduite halben ein anständiges
-Zeugnis zu ertheilen Anlaß nehmen, und Uns der Hoffnung erleuchten,
-Ew. Majestät möge in Höchstdero so wohlexerzierter wie forchtbarer
-Armee noch viele dermaßen hartnäckig und viktorios battaillirende
-Offiziers als Höchstdero juchendligen und musikalischen Obrigsten
-von Berg possediren, allso zweiffeln auch nicht, es werden Ew.
-Königliche Majestät diese _ultra viniculum instrumenti pacis_ demselben
-begünstigte Zubilligung so ansehen, wie Wir ambirt haben, das
-Königliche hohe Vor-Wort mit ersinnlichster Hochachtung erfüllen zu
-mögen, und damit verbleiben
-
-Von Gottes Gnaden des Heiligen Römischen Reichs Fürst, Probst und Herr
-zu Berchtesgaden
-
- Ew. Königlichen Majestät
- allzeit Dienst-geflißnister
- Cajetan Antoni.«
-
-Die beiden Hände auf die Schenkel klatschend, platzte der junge Oberst
-los: »I Jott, wat for 'ne Gedärmverwicklung.« Er wurde ernst. »Wüßt
-man nich, daß es deutsch is, man möcht es nich glooben.« Dem Geheimrat
-zunickend, streifte er die Reithose von den mageren Beinen und
-huschelte sich unter das ungetüme Federbett. Nach Gewohnheit brachte
-der Soldat das Lederetui mit der Elfenbeinflöte zum Nachtgebet. »Nee,
-Hänne, laß man heute! Wir wollen musikalisch nich weiter in schlechte
-Reputation jeraten. Um Viere weckste! Ick reite vor Tag.« Er drehte
-sich lachend gegen die Wand. Nach Art eines memorierenden Schülers, dem
-ein Stück Weisheit nicht hinein will in den Schädel, wiederholte er mit
-halblauter Stimme mehrmals die schöne Wortbildung: »Dienstgeflißnister,
-dienstgeflißnister, dienstgeflißnister --« Ein munteres Aufkichern. »Na
-also! Et jeht _en avant_ mit's Deutsche.«
-
-
-
-
-Kapitel XXXI
-
-
-Bei grauendem Morgen brannte die Lampe in der Wohnstube des
-Mälzmeisterhauses. Der alte Raurisser, mit rotglühendem Kopf, saß
-im Herrgottswinkel, wickelte kleine Geldrollen und stopfte sie in
-eine neue Lederkatze, die aussah wie ein Tiroler Bauerngürtel. Mit
-buntem Garn waren die Anfangsbuchstaben von Leupolts Namen und sein
-Geburtsjahr 1707 eingestickt; und rechts und links eine Gemse, die mit
-enggestellten Läufen auf einem spitzigen Kegelchen stand. Immer dicker
-und schwerer wurde der schöne Schatzbehälter. Und als der Meister beim
-Wickeln seufzend eine Pause machte, sagte Mutter Agnes, mit Augen und
-Stimme bettelnd: »Gib, Alterle, gib! Sein Weg ist weit.« Der Meister
-wickelte wieder. Und Frau Agnes packte. Zwei große Rucksäcke standen
-schon fertig geschnürt auf der Fensterbank. Jetzt füllte sie mit
-zitternden Händen den dritten Sack und huschte immer wieder davon,
-um ein für ihren Buben brauchbares Stück zu holen, das ihr noch
-einfiel. Als der kugelrunde Sack verschnürt war, packte sie alles, was
-die Magd mit verheulten Augen als Zehrungsbeitrag für die Exulanten
-herbeischleppte, in den großen Wäschekorb auf der Ofenbank: geselchtes
-Wildbret, geräucherte Saiblinge, Schinken und Speckwürste, ein paar
-hundert hartgesottene Eier, Schmalzbüchsen und Buttertöpfe, Salzdüten,
-Schnapsgutter und Weinflaschen, Brotlaibe und süße Wecken. Immer war es
-der Mälzmeisterin noch zu wenig. »Lauf, Mädel, und bring! Da muß man
-geben!« Zustimmend tackte die Gottsaugenuhr an der Mauer: »Tu's! Tu's!
-Tu's!« Ob's der Engel oder das Teufelchen sagte, immer klang es mit
-der gleichen heimlichen Freundlichkeit, und immer blickte das rollende
-Gottesauge im Zustand des Wohlwollens gegen die Ofenbank, blickte nur
-finster, wenn es hinüberschielte gegen die lautwerdende Straße. An der
-schönen alten Uhr, die sich in tadellosem Gang befand, war nicht die
-geringste Spur einer irrsinnigen Mißhandlung zu erkennen. Da mußte
-der Pfarrer Ludwig, als er dem Luisli jene sonderbare Uhrgeschichte
-erzählte, entweder an Wahnvorstellungen gelitten haben wie der
-Chorkaplan Jesunder, oder der Pfarrer hatte wieder einmal gelogen,
-diesmal anscheinend ohne Erfolg. Mit Spinozas Lehre von den für das
-Menschenglück ersprießlichen Geschehnissen schien es in diesem Falle
-nicht zu stimmen.
-
-Leupolt kam zur Tür herein, in dem verwitterten Bergjägerkleid, das er
-getragen hatte, als er die preußischen Herren hinaufführte zum Toten
-Mann. »Jetzt bin ich fertig.« Frau Agnes schien nicht zu hören; beim
-Packen beugte sie nur das Gesicht ein bißchen tiefer gegen den Korb
-hinunter. Für den Vater war das ruhige Wort des Sohnes wie ein Stoß
-vor die Brust gewesen. Mit tattrigen Händen schnallte er die zwei
-Kappen der Lederkatze zu. »So, Bub!« Er schob sich aus der Bank heraus.
-»Schau, da ist, was du kriegst von mir. Sei halt ein bißl gescheit und
-gib nit alles für die anderen aus. Für dich muß auch was bleiben.«
-
-»Vergeltsgott! Tust du die Brüder nit verkürzen?«
-
-Der Alte schüttelte den Kopf. »Beredet haben wir schon alles. Machen
-wir's kurz. Ich muß ins Bräuhaus hinüber.« Als er die Arme um den
-Hals des Sohnes legte, war er noch mannhaft. Kaum aber spürte er den
-eisernen Zärtlichkeitsdruck seines Buben, da verlor er alle Fassung,
-wühlte das Gesicht an die Brust des Sohnes und keuchte: »Bub, ich
-wollt, ich tät mitdürfen!«
-
-»Ja, du!« grollte Mutter Agnes beim Packen mit zerdrückter Stimme
-über die Schulter. »Du wärst der Richtige zum Exulieren! Wo du schon
-den Schnaufer verlierst bis hinüber zum Bräuhaus. Möcht wissen, was
-du sagen tätest auf der Wanderschaft, wenn du Wasser trinken müßtest,
-statt Tag für Tag deine fünf Maß Bier.« Nun drehte sie das blasse
-Gesicht und blinzelte dem Sohne zu, daß er's dem Vater leichter machen
-sollte.
-
-»Komm, Vater!« sagte Leupolt ruhig. »Tu dich aufrichten als festes
-Mannsbild! Bloß die Füß laufen von einander fort. Die Herzen bleiben
-allweil beisammen.«
-
-»Bub! Bub!« Meister Raurisser, hin und her geworfen zwischen Zorn und
-Kummer, war einem Schreikrampf nahe. »Alles Gute für dich! Alles Gute
-auf der Welt! Du hast's verdient! Und so einen Buben jagen sie aus
-dem Land! Die Herrgottsakermenter! Wenn sich so was nit strafen tät,
-da müßt unser Herrgott -- Jesus, Jesus, zu was für einem Herrgott
-muß ich denn hinaufschreien?« Er wollte die geballten Fäuste gegen
-die Stubendecke heben und klammerte die Arme wieder um den Hals des
-Sohnes. »Bub! Mein Bub, du mein lieber! Alles Gute für dich -- und
-alles -- Bub, ich kann nimmer, es reißt mir alles auseinander!« Wie
-ein Betrunkener machte er sich los, taumelte gegen die Türe hin und
-brüllte: »Kronäugeln tu ich ins Bier, vergiften tu ich die Unmenschen,
-die rotzmiserabligen!« Er schlug die Türe hinter sich zu, daß es wie
-ein Böllerschuß durch das Haus hallte.
-
-Erschrocken sah Leupolt die Mutter an. Sie schüttelte den Kopf und
-wischte die Tränen von den Wangen. »Auf die Wörtlen därf man beim Vater
-nit gehen. Ist er drüben im Bräuhaus, so sucht er wieder das beste Malz
-für die Herren aus. Wahr ist's, Bub, es hat nit leicht ein Kind auf der
-Welt einen bräveren Vater, wie du!« Mit fahrigen Händen fing sie wieder
-zu packen an. Und Leupolt stand inmitten der Stube, unbeweglich, den
-Kopf zwischen den Fäusten. Nach einer Weile sagte er zaghaft: »Mutter!
-So kann's das Luisli doch nit gemeint haben. Der Einsamkeit zulaufen
-müssen, das ist hart. Meinst du nit, ich sollt noch eine letzte Frag an
-das liebe Mädel tun?«
-
-Erst nach einer Weile konnte Frau Agnes antworten: »Da muß ich
-abraten. Will Gott es haben, so gibt er's. Mag er es nit, so mußt du
-es leiden.« Als sie das Gesicht von dem fertiggepackten Korb abwandte
-und ihren Buben ansah, mußte sie barmherzig sagen: »Fürgestern hab
-ich mit dem hochwürdigen Herrn geredet. Der hofft noch allweil.« In
-der Gottsaugenuhr ein leises Geräusch, wie von einem schnurrenden
-Rädchen; dann schlug die Uhr mit schönen, tiefen Klängen die sechste
-Morgenstunde. Frau Agnes ging auf den Tisch zu und löschte die Lampe.
-»Jetzt müssen wir von einander. Schau, es tagt! Da mußt du auf dem
-Markt beim Brunnen sein, wenn die Notigen und Ratlosen kommen. Du bist
-ihr Helfer und Wegweis.« Ihr Gesicht bekam etwas weiß Versteinertes,
-während sie zur Türe ging und den Riegel vorschob. Stumm, mit müden
-Bewegungen, trat sie an jedes Fenster und zog die blauen Vorhänge
-zu. Eine milde, neblige Dämmerung war in der Stube. Mutter Agnes ging
-zur Gottsaugenuhr, löste die Gewichte von den Schnüren und hängte den
-Perpendikel aus; der Engel und das Teufelchen blieben auf halbem Wege
-stecken, jedes auf der Schwelle seiner Pforte; das Auge Gottes, weder
-böse, noch freundlich, blickte ruhig aus der Mitte des von Strahlen
-umzüngelten Dreiecks, und Mutter Agnes sagte, nicht laut, nur in ihrem
-zerrissenen Herzen: »Die Uhr soll von der jetzigen Stund an nimmer
-schlagen, solang ich noch leb.« Ganz ruhig war sie, als sie auf Leupolt
-zutrat. Von ihrem Schmerz war nichts an ihr zu erkennen; heiß und
-gläubig strahlte die Liebe in ihren Augen. »Bub! Ich kann dich nit
-segnen, wie's deinem Glauben recht ist. Darf ich dich segnen, wie's
-mein Herz versteht?«
-
-»Eine Mutter darf alles.« Er ließ sich hinfallen auf die beiden Knie,
-faltete in einer starren, hölzernen Art die Hände vor der Brust
-und sah mit glänzenden Augen zum weißen Gesicht der Mutter hinauf.
-Wortlos, kaum merklich die stummbetenden Lippen rührend, besprengte
-sie ihrem Sohn den Scheitel, das Gesicht, die Schultern und die Hände
-mit geweihtem Wasser. Und bekreuzte ihm die Stirne, den Mund und die
-Brust. »Im Namen Gott des Vaters, Gott des Sohnes und Gott des heiligen
-Geistes! Ist Gerechtigkeit im Himmel, und da glaub ich dran, so muß die
-gütige Dreifaltigkeit dich hüten auf jedem Weg. An deiner sauberen Seel
-ist nie kein Fleck und Schaden gewesen. Nie hast du ein Ding getan, von
-dem ich sagen hätt müssen: das ist schlecht. Allweil bist du die Freud
-deiner Mutter geblieben --« Die Stimme versagte ihr. Wie von einem
-Frostschauer gerüttelt, beugte sie sich zu ihm hinunter und preßte das
-Gesicht auf seinen Scheitel. »Vergeltsgott, Bub!« Er umklammerte die
-Mutter, ohne einen Laut zu finden, und küßte den Schoß, der ihn geboren
-hatte. Dann sah er zu ihr hinauf. »Dich und mich -- gelt, Mutter -- uns
-schneidet man nit auseinander? Und nit mit der schärfsten Säg.«
-
-Nur den Kopf konnte sie schütteln. Und nun wurde sie von einer
-Verstörtheit befallen, die sich ansah wie Raserei. Die Hände mit
-gespreizten Fingern emporstreckend, schrie Mutter Agnes zur Höhe
-hinauf: »Allmächtiger! Rührst du dich nit ein bißl? Siehst du nit,
-wie's zugeht in tausend Mutterherzen von Berchtesgaden?«
-
-Am verhüllten Fenster ein heftiges Pochen. Und eine Stimme: »Bruder
-Leupi?«
-
-Die beiden in der Stube umklammerten sich stumm. Erst als das Pochen am
-Fenster sich wiederholte, konnte Leupolt antworten: »Wohl! Ich bin noch
-daheim.«
-
-»Geh, komm! Die armen Leut wissen nit aus und ein. Alle schreien nach
-dir.«
-
-»Ich komm.« Er sprang vom Boden auf, umhalste und küßte die Mutter
--- »Gelt, du Liebe, jetzt muß es sein?« -- vergaß den Rucksack, den
-er tragen sollte, vergaß die Geldkatze und den Zehrungskorb und kam
-auf der Straße gerade zurecht, um ein kränkliches Weib, das zwischen
-schreienden Kindern ohnmächtig geworden war, von der Erde aufzulupfen
-und auf einen Wagen zu heben.
-
-Aus hundert Stuben von Berchtesgaden war der Abschiedsjammer
-herausgetreten über die Schwelle, mit zärtlichem Gestammel und
-Schluchzen, mit Umarmungen, die nicht enden wollten, mit Kindergeschrei
-und Muttertränen, mit erbitterten Zornflüchen und himmelschreienden
-Klagen zerrissener Herzen. Der ganze Marktplatz und alle zuführenden
-Gassen waren unter dem Frühlingsblau und in der milden Morgensonne
-verwandelt zu einer einzigen großen Stube des Menschengrams. Alle
-Glaubensfeindschaft und aller religiöse Gegensatz schien erloschen und
-verschwunden; der Schmerz der Wandernden, die man aus der Heimat jagte,
-war übergeflossen in die Herzen der Bleibenden; in allen war das Gefühl
-der Zusammengehörigkeit wach geworden, die nachbarliche Freundlichkeit
-und das menschliche Erbarmen.
-
-Immer dichter und lärmender füllte sich die lange Marktgasse. Von
-den Armen und Ärmsten, die nicht zu bleiben brauchten, bis Haus
-oder Feld verkauft war, hatten sich Neunhundertundsieben zur ersten
-Schar unter Leupolts Führung gemeldet, Greise, Männer und Weiber,
-Burschen, Mädchen und Kinder. Unter ihnen auch Kranke, die nimmer
-bleiben, nicht länger warten wollten auf den Tag der Seelenfreiheit.
-Ein Bauer hatte seine siebzehnjährige Tochter, die den Fuß gebrochen,
-auf eine Kraxe gebunden und brachte sie auf dem Rücken getragen. Den
-Jakob Aschauer, einen Hundertjährigen, der schon ein Sterbender war,
-mußten seine grauköpfigen Söhne auf den Leiterwagen heben und betten
-im Stroh. Jede Mahnung, zu bleiben und den nahen Tod in der Heimat zu
-erwarten, lehnte der Greis mit harter Handbewegung ab und sagte: »Das
-ist vor Zeiten ein Sprichwort gewesen: Wen Gott lieb hat, den laßt
-er fallen ins berchtesgadnische Land. Jetzt ist eine Zeit gekommen,
-daß aus Berchtesgaden hinauskriechen möcht, wer nimmer laufen kann.«
-Erschüttert durch diese Worte, das Gesicht von Tränen überflossen und
-vom Geist befallen, stieg ein junges Weib auf den Wagen des Greises,
-hob die Arme zum Himmel und begann zu predigen über das Wort: »Gehe
-von deinem Vaterland, von deiner Freundschaft und deiner Mutter Haus
-in ein Land, das ich dir zeigen werde.« Beim Brunnen begannen die
-Evangelischen das Lutherlied zu singen:
-
- »Ein feste Burg ist unser Gott --«
-
-und auf der anderen Seite der Marktgasse sangen Hunderte das Wanderlied
-der Salzburger:
-
- »Ich bin ein armer Exulant
- Und därf daheim nit bleiben,
- Man tut mich aus dem Vaterland
- Um Gottes Wort vertreiben --«
-
-Mit dem inbrünstigen Klang der singenden Stimmen, mit dem verzückten
-Lautgestammel des predigenden Weibes und mit den klingenden
-Helferworten des Leupolt Raurisser, der ruhelos von Wagen zu Wagen
-sprang, vermischte sich das Gerassel der verspäteten Karren, das
-Gebrüll der Kühe, das Ziegengemecker und das Blöken der ängstlichen
-Schafe. Der Tier- und Menschentrubel des Brunnenplatzes und der
-Gasse glich dem Bild eines Viehmarktes, dessen Geschäft und Handel
-unterbrochen wurde durch die Nachricht einer bösen, alle Menschen
-verstörenden Landsnot. Köpfe und Arme streckten sich aus allen
-Fenstern, und von überall warf man Kleiderbündel und Päcklein mit Geld
-und Eßwaren herunter auf die Wagen der Exulanten. Aus allen Türen
-kamen Frauen, Männer und Mägde, um herbeizuschleppen, was sie zu
-geben hatten. Pfarrer Ludwig mit seiner Schwester, Lewitter und die
-stumme Lena, die Sus und Meister Niklaus brachten große Körbe. Und
-die Mälzmeisterin, als sie ihrem Buben die Geldkatze um die Hüften
-geschnallt und die Rucksäcke mit dem Zehrkorb untergebracht hatte
-auf dem Scharwagen, unter dessen Bocksitz die eiserne Truhe mit den
-preußischen Hilfsgeldern an die Leitern angeschmiedet war, lief von
-Karren zu Karren: »Ihr guten Leutlen, brauchet ihr noch was?« Sie
-sprang in alle Kaufläden, raffte zusammen, was nötig war, hatte kein
-Geld mehr und mußte immer sagen: »Schreibet nur auf! Ich zahl schon!«
-
-Zwischen Gram und Schluchzen spielten sich Szenen ab, über die man
-in unbedrückter Stunde hätte lachen müssen, und die der Jammer der
-Abschiedsstunde zu einer herzerschütternden Begebenheit machte. Zwei
-Geschwister, die einander verlassen mußten, hielten einen kleinen
-weißen Hund, den sie lieb hatten, am Strickl und stritten verzweifelt
-miteinander, weil ihn jedes dem anderen überlassen wollte. »Nimm ihn,
-um Gottes Barmherzigkeit, so nimm ihn doch, du tust mir was Liebes an!«
-Auf einem Wagen spielte ein ähnlicher Streit, noch tränenreicher, noch
-verzweifelter. Drei Kinder, die beim Vater blieben, hingen am Hals der
-exulierenden Mutter und beschworen sie, den kleinen Käfig mitzunehmen,
-in dem ein Distelfink zwischen den Stäben scheu umherflatterte. »Nimm,
-Mutterle, nimm, du hast das Vögerl so viel lieb, du kannst nit leben
-ohne das Vögerl!« Und die Mutter, von Schluchzen geschüttelt: »Nit!
-Und tausendmal nit! Wandern muß ich nach meinem Herrgotts Willen.
-Euer Vögerl ist nit des Himmels und nit der Höll. Eh tät ich lieber
-sterben am Fleck, eh daß ich meinen Kinderlen die singende Freud aus
-dem Leben tät reißen mögen.« Ihr Schluchzen verwindend, mit den Zähnen
-knirschend, preßte sie den kleinen Käfig zum letztenmal an ihre nasse
-Wange und schlang mit dem anderen Arm die Blondköpfe der weinenden
-Kinder an ihre Brust. Und neben dem Wagen, zwischen einem Ziegenknäuel,
-redete ein junger Bauer mit erbitterten Worten zu seinem blassen,
-unbeweglichen Weib: »Um aller Seligkeit willen, tu dich besinnen im
-letzten Stündl! Weibl, Weibl, bist du denn ganz verloren, daß du mich
-lassen und mit den Luthrischen laufen kannst?«
-
-Die ekstatisch glänzenden Augen zur Höhe gerichtet, sagte sie leis:
-»Ich geh, weil der liebe Gott mich ruft.«
-
-Er klagte: »Weibl, Weibl, du laufst dem Satan zu!« Und weil in ihm
-die Sorge noch größer war, als der Zorn, machte er das schützende
-Kreuzzeichen auf ihre Stirn.
-
-Da sah sie ihm lächelnd in die Augen. »Vergeltsgott, du Gütiger! Jetzt
-kann mir die Höll nimmer schaden. Deine Lieb hat ein heiliges Kreuz
-über mich gemacht.«
-
-Ein alter Mann und eine alte Frau, beide mit bleichen, entstellten
-Gesichtern, hingen an die Arme ihres zwanzigjährigen Sohnes geklammert
-und beschworen ihn zur Reue und zu christlichem Bleiben. Er zog die
-Alten an sich, hielt ihre Köpfe an seine Rippen gepreßt und sagte: »Es
-ist auf der Welt kein Ding, das mir lieber wär als Mutter und Vater.
-Aber Gott ist mehr. Ihr habt euch anders besonnen, und ich tu's nit
-schelten. Jeder so, wie er muß. Ich getrau mich bei eurem Glauben nit
-selig zu werden. Und lügen kann ich nit. Ich tät mich schämen müssen
-vor dem Leupi, der geblutet hat für uns alle. Jedem Redlichen muß die
-Wahrheit heiliger sein als Glück und Leben.«
-
-Das hörte einer, dem dieses verzückte Wort den letzten Blutstropfen aus
-den bärtigen Wangen jagte. »Meister?« stammelte die Sus erschrocken.
-Er sagte zwischen den Zähnen: »Gib! Und gib! Wie mehr, so lieber ist
-mir's. Ich hab einen Weg.« Vorüber an lautem Schluchzen und stillem
-Weinen, vorüber an Zorn und Gram, an Tieren und Menschen. Beim Brunnen
-sah er den Pfarrer und drängte sich hin zu ihm. Der fragte betroffen:
-»Nick? Ist dir nit gut?«
-
-Der Meister sah ihm in die Augen. »So geht's nit länger. Ich kann's
-nimmer hehlen. Ob Ruh oder Elend, ich muß bekennen heut.«
-
-»Dein Gesicht hat mir's kürzer gesagt.« Der Pfarrer legte den Arm um
-den Hals des Freundes. »Tu, was du mußt! Jetzt red ich dir nimmer ab.«
-Seine trauernden Augen irrten über den tausendköpfigen Jammer hin, der
-die Gasse füllte. »Aber was du tun mußt, tu als mutiger Mensch! Der Weg
-zum Listenkommissar ist leicht. Erst geh den härteren zu deinem Kind.«
-
-Der Meister nickte und bot dem Freunde die linke Hand, die lebende.
-Stumm ging er davon und sah nimmer, daß ein leises Lächeln den
-trauernden Ernst im Warzengesicht des Pfarrers milderte. Um sich in
-der langen Gasse nicht wieder vorüberwühlen zu müssen an Menschen und
-Tieren, schritt der Meister hinüber zum gestutzten Hofgarten und suchte
-den Heimweg hinter den Zäunen. Wie das Rauschen eines großen Wassers
-begleitete ihn der klagende Lärm der Marktgasse.
-
-Friedlich umschimmerte die Morgensonne sein Haus inmitten des Gartens,
-in dem die Rosenstauden zu knospen begannen. Der Meister trat in den
-Flur und rief über die Treppe hinauf: »Kind? Wo bist du?«
-
-In der Werkstätte ein erwürgter Laut.
-
-Durch das Fenster mit den verbogenen Eisenstäben flutete eine
-goldschöne Sonnenfülle in den großen, schweigsamen Raum, umglänzte
-die Holzstatue der >heiligen Menschheit< und streifte den Schoß des
-jungen Mädchens, das im ziegelfarbenen Hauskleid hinter dem Spinnrad
-auf der Holzbank saß, ähnlicher dem jungen Tod als einem atmenden
-Menschenkind. Schweigend betrachtete Niklaus seine Tochter, in deren
-Augen eine angstvolle Frage brannte. Dann glitt sein Blick, der wie
-ein gramvolles Abschiednehmen war, über die Mauern, über alles Gerät,
-und blieb an seinem Werke haften: an der schlanken, von dürstendem
-Erwarten durchglühten Gestalt des jungen, ärmlich gekleideten
-Weibes, das die Arme auseinanderbreitet und verklärt einem kommenden
-Wunder entgegenblickt, aus starrem Holz verwandelt zu heißem Leben,
-durchleuchtet von opferwilliger Liebe und hoffendem Glauben. Die Hand
-auf seine Stirne legend, mit einem halb bitteren, halb frohen Lächeln,
-wiederholte der Meister leis die Worte, die er an dieser Stelle vor
-vielen Wochen zu seinem Kinde gesprochen hatte: »Lang muß man harren
-auf Erlösung. Einmal kommt sie.« Er wandte das Gesicht. Sorge und
-Zärtlichkeit waren in seiner Stimme. »Kind! Jetzt muß ich dir sagen,
-was dir hart sein wird.«
-
-Sie schrie: »Was ist ihm geschehen?«
-
-»Wen meinst du? Den Leupi?« Wieder das wehe und dennoch freudige
-Lächeln. »Mußt du schneller an den Leupi denken als an mich? Da
-hab nit Sorg. Der ist ein Aufrechter, geht den Weg seiner redlichen
-Pflicht, hat die Wahrheit im Herzen und ist ein Helfer für hundert
-Leidende. Er geht mit den Ärmsten. Heut. Mit mir hat er nit geredet,
-und ich bring dir keinen Gruß. Was ich dir sagen muß, lieb Kind, geht
-nit um den Leupi. Das geht um dich und mich. Ich muß dir sagen --«
-
-Sie wehrte mit beiden Händen. Das glühende Rot, das ihre Wangen
-überflossen hatte, war wieder verwandelt in wächserne Blässe. »Vater!«
-Für einen Augenblick überkam's ihre Sinne wie Schwindel. »Ich hab
-verstanden. Du bringst dein Herz nit über den heutigen Tag hinüber. Du
-mußt -- bekennen?«
-
-»Ja.« Er trat zu ihr hin. »Und daß ich nimmer lügen kann? Auch nit um
-deinetwillen? Kind? Muß deine fromme Seel mich drum verdammen?«
-
-Sich zusammenkrümmend, preßte sie das Gesicht in die Hände, schüttelte
-den Kopf und klagte: »Bloß ein Einziger weiß, wie alles ist. Ich such
-es allweil und kann's nit finden. Dich hab ich lieb ohne Reu und
-Schmerzen. Mehr weiß ich nimmer.«
-
-Da sprang er zu ihr hin, warf sich vor ihr auf die Knie, zog ihr die
-Arme herunter, küßte lachend ihre Hände, die naß waren von ihren
-Tränen, sah zu ihren schwimmenden Augen hinauf, schmiegte das Gesicht
-an ihre Schulter und stammelte: »Kind! Jetzt hast du deinem Vater das
-Leben geschenkt. Und der Weg, den ich tun muß um der Wahrheit willen,
-ist mir ein leichter und schöner.« Sich erhebend, umschlang er sie,
-küßte ihre Wange, ihre Stirn, ihre Augen -- sprang mit frohem Auflachen
-zur Tür hinüber und war verschwunden.
-
-Unbeweglich saß Luisa auf der Bank und sah die Tür mit erloschenen
-Augen an, als wäre alles Denken in ihr zerdrückt. Da quoll in der
-schönen Sonne, die ihren Leib umflutete, durch die Mauern ein Rauschen
-zu ihr herein, das leis die Fensterscheiben erzittern machte. War
-es das Brausen eines stürzenden Baches? Oder der ferne Lärm von
-tausendstimmigem Menschengeschrei, in dem alles war, nur Freude nicht?
-
-»Vater!« Bei diesem gellenden Laut voll Schreck und Grauen griffen
-ihre Hände gegen die Türe hin. »Vater! Vater! Vater!« Das Spinnrad
-fortstoßend, daß es über die Dielen kollerte, sprang Luisa von der
-Bank, jagte über die Schwelle, jagte mit gestreckten Armen hinaus
-in die Sonne. »Vater! Vater!« Wie eine Verzweifelnde hetzte sie an
-der Gartenplanke hin, gegen den Markt hinüber, in dem roten wehenden
-Kleid, einer fliegenden Flamme gleich, und war nicht die einzige, die
-so rannte, so verstört und ganz von Sinnen. Überall, auf der Straße,
-auf den Fußwegen, auf den Wiesen, überall sah man viele springende
-Menschen, die aufgeregt mit den Armen fuchtelten und wirre Worte
-kreischten, als wäre ein großes Schadenfeuer ausgebrochen, das alle
-Dächer und jedes atmende Leben bedrohte. Auch dröhnende Schläge, wie
-beginnender Feuerlärm! Auf drei Türmen fingen alle Glocken zu läuten
-an und füllten die sonnigen Lüfte mit schwebendem Hall. Sollte das
-ein mahnender Abschiedsgruß der Kirche an die wandernden Seelen sein,
-die sie verlor? Oder war es ein pröpstliches Freudengeläut, das die
-Reinigung des berchtesgadnischen Landes von allem Irrglauben verkündete?
-
-Bei der Reichenhaller Straße kam Luisa nimmer weiter. Zwischen anderen
-Menschen, welche weinten oder beteten, stand sie an die Scheunenmauer
-des Leuthauses gepreßt, mit angstvoll erweiterten Augen im blassen
-Gesicht, keiner Handbewegung und keines Lautes fähig. Ihr gegenüber
-lugte über den Ziegelbord der sekreten Mauer das stille, ausgeräumte
-Unlustschlößchen der weiland Allergnädigsten mit niedergelassenen
-Jalousien hervor, und zwischen der weißen Mauer und dem versteinten
-Mädchen war die enge Straße vollgepfropft durch Menschen, Tiere und
-Karren, durch den vorwärts drängenden Zug der Exulanten, dem vier
-rotjoppige Burschen mit ledernen Reisetaschen, mit schweren Rucksäcken
-und langen Wanderstecken voranschritten, auf den grünen Bubenhüten
-die ersten Blumen des Frühlings, mit rotgeränderten Augen in den
-erbitterten Gesichtern. Einer von den Vieren sang mit der Stimme eines
-Wahnsinnigen, zwei waren stumm und ließen die Köpfe hängen, der vierte
-kreischte immer wieder die zwei gleichen Worte gegen die strahlende
-Sonne hinauf: »Gottsheilige Himmelsfreud! Gottsheilige Himmelsfreud!«
-Nur Leute, die ganz in der Nähe waren, verstanden diese Worte. Wie
-bei einer Hinrichtung das Trommelgerassel den letzten Schrei des
-Verurteilten erstickt, so übertönten die läutenden Kirchenglocken allen
-klagenden Zorn und Jammer dieser Stunde, in welcher tausend gläubige,
-redliche Menschen die Heimat verlieren mußten, an der sie hingen mit
-Blut und Seele.
-
-Daß jeder Seufzer, jedes Wort und jeder Schrei erlosch in der
-wogenden Glockenfülle, das milderte den erschreckenden Vorgang
-dieses großen Jagens nicht, das sich ohne Hifthörner, ohne gelitzte
-Jägergala und ohne französische Reimsprüche vollzog und dennoch
-mehr des menschlichen Herzblutes verschüttete, als draußen in der
-Schönheitsrunde des Hintersees an rauchendem Wildblut hineingeronnen
-war in den Frühlingsboden des deutschen Waldes. Weil alle Menschenklage
-versank im Glockenhall, im Rädergerassel und Viehgeplärr, verwandelte
-sich das Bild des gramvollen Zuges zu einem grausam durchschauerten
-Anblick, der schreiende Farben hatte und dennoch wirkte wie ein
-stummes, unbegreifliche Schattenspiel. Auf den Karren und Wagen
-hielten verstörte Menschen einander umschlungen, drehten immer die
-Gesichter nach rückwärts und deuteten mit zuckenden Armen; die im Stroh
-gebetteten Kranken machten sinnlose Handbewegungen und versuchten sich
-aufzurichten; Bleibende, die von den Exulierenden nicht lassen konnten,
-liefen zwischen den Viehtreibern und den von Staub überqualmten Tieren
-umher, umarmten unersättlich die Scheidenden, hingen mit einer Hand
-an die Wagenleitern geklammert und griffen mit der anderen unter
-unverständlichen Worten immer zu den Weibern und Kindern hinauf, die
-droben saßen auf den Brettern. Hinter dem Scharwagen des Zuges, dem
-letzten aller Karren, kam der vielhundertköpfige Schwarm der Rüstigen,
-der Männer, Weiber und Kinder, die nicht zu fahren brauchten, sondern
-den heimatlichen Boden verlassen konnten auf den eigenen Sohlen. Die
-Zahl der Wandernden hatte sich verdreifacht durch die für immer, oder
-nur bis zum Tage des nächsten Exulantenzuges Bleibenden, und sie hingen
-Arm in Arm an den Wanderleuten, um einem Vater, einer Mutter, einem
-Bruder, einer Schwester noch das Geleit zu geben für eine Strecke des
-bitteren Weges.
-
-Hinter dem Zuge schritt Leupolt Raurisser als der Letzte. Er ging
-gebeugt, wie bedrückt von einer schweren Bürde. Vier schwarzweiße
-Bänder wehten von seinem Jägerhut, als Zeichen des Führers. An den
-Knauf seines langen Wandersteckens hatte ihm Frau Agnes ein rotes
-Aurikelsträußchen gebunden. Er hielt den Arm um die Mutter gelegt,
-die ohne Haube, mit zerrauftem Grauhaar neben ihm herschritt und das
-blasse, von schmutzigen Tränenstrichen überzogene Gesicht an seiner
-Schulter liegen hatte. Diesen zwei Letzten folgte noch ein Gedränge von
-Kindern und Leuten, stumm, mit scheuen Augen, wie weltfremde Menschen
-in erschrockenem Staunen herlaufen hinter den Affen und Kamelen
-eines niegesehenen Gauklerzuges. Als dieser stille Schwarm unter dem
-schönen Glockendröhnen sich vorüberschob an der sekreten Mauer des
-frühlingsblühenden und doch verwelkten Freudengärtleins Seiner Liebden,
-straffte sich plötzlich der gebeugte Körper des jungen Jägers. Unter
-den Menschen, die neben dem Zuge dichtgepreßt an der Scheunenwand des
-Leuthauses standen, hatte Leupolt das mohnfarbene Kleid gesehen.
-
-»Bub?« fragte Frau Agnes und sah zu ihm hinauf.
-
-»Nichts, Mutter! Komm!« Er legte den Arm noch fester um die Zitternde.
-Bei ruhigem Weiterschreiten drehte er das ernste Gesicht und blickte
-über den grauen Scheitel der Mutter hinüber zu dem rotleuchtenden
-Farbenfleck an der Scheunenwand. Ein wehes Zucken irrte um seinen Mund.
-Kein Laut. Nur sein Herz und seine heißen Augen hatten gesprochen: »Du
-da drüben. Dich soll der Herrgott schützen und hüten! Mein Glück ist
-tot, nur meine Pflicht lebendig.«
-
-Die Glocken dröhnten. Ihr Hall umschleierte den Lärm des Zuges, jeden
-klagenden Menschenruf und jeden Schrei der getriebenen Tiere. Nur
-dieses ungesprochene Wort erstickten die stimmgewaltigen Glocken
-nicht. Wie klingendes Feuer war es aus trauernden Augen in eine zu Tod
-erschrockene Mädchenseele gefallen.
-
-Das Staubgewölk des Zuges qualmte weiter und weiter gegen die
-Reichenhaller Straße hinaus. Die Menschen, die zu beiden Seiten des
-Weges gestanden, begannen sich zu verlaufen. Die Glocken verstummten.
-Und noch immer stand Luisa an der Balkenwand, unbeweglich, rot, wie im
-Blut ihres Leidens angenagelt an die Mauer. Von den Bleibenden, die den
-Exulanten das Geleit gegeben, kamen schon viele zurück, die einen blaß
-und stumm, andere unter aufgeregtem Schwatzen, wieder andere mit den
-Händen vor den Augen. Immer dünner wurde die Reihe der Heimkehrenden.
-Jetzt kam eine einsame Frau mit grauem Scheitel. Sie ging so still
-und ruhig, als hätte der Jammer der verwichenen Glockenstunde keine
-Gewalt über sie gewonnen. Nur ihre Hände taten etwas Widersinniges.
-Wie Fieberkranke seltsam mit irgend einem Dinge spielen, so zog Frau
-Agnes den Saum ihrer Schürze durch die zitternden Finger, hin und her,
-wie eine müde Näherin einen langen Faden zieht. Nun blieb sie stehen,
-nicht erschrocken und nicht erfreut. Hatte sie geträumt? Oder hatte sie
-dieses leise Wort, das der letzte Laut ihres Sohnes gewesen war und
-noch immer nachklang in ihrem bedrückten Herzen, wirklich vernommen?
-
-»Mutter?«
-
-Sie wandte das Gesicht gegen die Scheune hin, ihre gütigen Augen wurden
-streng, und während die Tränen langsam über ihre Mundwinkel kollerten,
-betrachtete sie das unbewegliche Mädchen und sagte ruhig: »Mutter? So
-soll jedes ärmste, gottverlassene Elendskindl sagen dürfen zu mir. Du
-nit!« Der Kopf sank ihr auf die Brust, und so ging sie davon, immer
-tiefer gebeugt, den Saum der Schürze durch ihre Finger ziehend.
-
-Leute, die an der Scheune vorübergingen, verhielten sich und sprachen
-zu Luisa, barmherzig und erschrocken. Sie hörte keinen Laut, sah
-keinen Menschen. Ihr klagender Blick irrte umher, mit einem Ausdruck
-des Entsetzens, als wären alle Bilder und Dinge der Welt etwas
-Fremdes, etwas Unbegreifliches und Quälendes für sie geworden. Lautlos
-betend klammerte sie vor der Brust die Hände in einander, fing zu
-schreiten an und fand nach einem verstörten Hin und Her den Weg zum
-Haus ihres Vaters. Immer rascher wurden ihre Schritte. Als sie zu
-den Bretterplanken des Gartens kam, begann sie zu laufen, begann in
-unverständlichen Worten zu lallen, rannte sinnlos dem Haus entgegen,
-streckte die Hände und schrie mit erwürgter Stimme immer wieder die
-zwei gleichen Worte: »Vater, Sus! -- Vater, Sus!« Kein Laut im Haus.
-Sie lief in die Küche. »Vater! Vater!« Sie jagte zurück, stieß die Tür
-der Werkstätte vor sich auf, sah das von Sonne umglänzte Holzbild der
->heiligen Menschheit< und schrie mit der schrillen Stimme eines zu
-Tod geängsteten Kindes: »Sus? Barmherzige Sus? Wo bist du?« Keuchend
-hetzte sie über die Treppe hinauf, rüttelte an der unverschlossenen
-Tür der Wohnstube, ohne sie öffnen zu können -- »Vater! Vater! Vater!«
--- sprang in ihre Kammer, riß das ziegelfarbene Hauskleid von sich
-herunter und kleidete sich in Hast, als wäre ein hoher Feiertag
-erschienen und sie müßte zur Kirche gehen. Unter heißem Schluchzen,
-das sich anhörte wie ein glückseliges, nur etwas unbehilfliches Lachen,
-warf sie sich auf den Boden hin, schlug an ihrem kleinen Klosterkoffer
-den Deckel auf und nahm das brennende, von Tränen überströmte Gesicht
-zwischen die Hände, um aus ihrem verstörten Kopf herauszugrübeln: was
-man braucht auf einem weiten, weiten, viele Wochen währenden Wanderweg?
-
-Nur nach dem Allernötigsten griff sie: nach dem wächsernen Jesuskind
-und nach der goldglitzernden Madonna. Voll Inbrunst küßte sie jedes der
-zwei heiligen Bildwerke, bevor sie es achtsam einwickelte in linde,
-verläßliche Wolle. Dazu die kleinen Leuchter, das silberne Ämpelchen
-und die künstlichen Blumen, sieben Heiligenbilder und die Silhouetten
-des Vaters und der Mutter, die über dem Bett gehangen, und die der
-Vater mit seiner linken Hand geschnitten hatte, bevor sein Kind zu ihm
-heimkehrte aus dem Kloster. Nach der Hetze dieser Arbeit sprang sie
-zum Fenster und lauschte gegen die Reichenhaller Straße. Der Lärm des
-Exulantenzuges klang nur noch wie mattes Summen aus weiter Ferne.
-
-»Hilf mir, hilf mir, heilige Gottesmutter, oder ich komm zu spät!«
-
-Mit dem Einpacken des Weihbrunnkesselchens ging es so flink, daß sie
-es vorher zu leeren vergaß. Der Klosterkoffer war nicht wasserdicht,
-unten tröpfelte es merklich heraus. Dafür hatte Luisa keine Augen,
-weil sie besonders sorgfältig die Weihwasserflasche, die sie nach der
-schrecklichen Warnung der Gottsaugenuhr aus der Kirche heimgebracht
-hatte, mit zwei Paar Strümpfen überziehen mußte. Da lag nun alles,
-was ihr heilig, kostbar und unentbehrlich war, wohlgeborgen in ihrem
-Koffer. Und jetzt dazu, was noch Platz hatte an Kleidern, Wäsche,
-Schuhen und täglich nötigen Dingen. Dann sprang sie wieder zum Fenster
-hin und lauschte hinaus in die milde Sonne. Außer dem Lärm der Nähe
-war kein Laut mehr zu hören. Auf der Reichenhaller Straße alles still!
-Totenstill! In Schreck, in neuer Verzweiflung flog sie zur Tür und
-schrie, daß es hallte in der Stille des Hauses: »Vater! Vater!« Keine
-Antwort kam. Sie jagte über die Treppe hinunter. Und wieder in die
-Werkstätte. »Vater!« Hinaus in den Garten. »Vater! Vater!« Da kam
-ihr die Besinnung: der Vater ist gegangen, um zu bekennen, um sich
-einzuschreiben in die Liste der Evangelischen. Diesen Gedanken empfand
-sie wie ein tröstendes Glück. Und morgen wird der Vater nachkommen,
-vielleicht noch heute. Und wer, wie ihr Vater, so mild und menschlich
-über alle Dinge des Lebens urteilt, wird es verstehen, daß man den
-Leupi keine Nacht mit so sterbenstraurigen Augen erleben lassen darf.
-
-Diese Wahrheit gab ihr Tapferkeit und Ruhe in das irrsinnig hämmernde
-Herz. Die Ruhe währte aber nicht länger, als bis Luisa droben war
-in ihrer weißen Kammer. Sie selber wußte nicht, wie es kam. Es war,
-als hätte an der weißen Mauer, nur sichtbar für ihre fromme Seele,
-eine warnende Schrift zu brennen begonnen. Das Gesicht mit den
-Händen verhüllend, fiel sie auf den Boden hin, geschüttelt von einem
-Schluchzen, das ihr junges Leben zu zerreißen drohte. Und da streckte
-sie schon die Hände, um alles für die weite, schöne Wanderung Gepackte
-wieder herauszuzerren aus der tröpfelnden Klostertruhe. Plötzlich
-waren ihre Finger unbeweglich. Ihre Tränen versiegten. Ein frohes,
-glückliches Leuchten war in ihren Augen. »Lang muß man harren auf
-Erlösung! Einmal kommt sie.«
-
-Vor Luisas Abreise aus dem Kloster hatte die gütige, kluge,
-fürsorgliche Frau Oberin auf der Innenseite des Kofferdeckels ein
-geweihtes, von jungfräulichen Rosen umwundenes Schutzengelbild
-festgekleistert und sogar noch mit goldfarbenem Lack überstrichen,
-damit es nur ja nicht mehr herunterfallen könnte und für den frommen
-Klostervogel ein verläßlicher Wegweis bliebe in allen Gefahren der
-bösen Welt. Mit einer langen Stange, die unten eine Lanze und oben
-eine Fahne war, durchstach der geharnischte und geflügelte Schutzengel
-die Herzgegend einer drachenförmigen Schlange. Und die Fahne trug in
-gotischen Lettern den wunderwirkenden Spruch:
-
- »Wo auch der bös Feind Uibles sinnt,
- Dein Engel wird ihn gstillen.
- Was frumb dein truies Herz beginnt,
- Ist allweil sHimmels Willen.
- Seel, laß dein Glück nit zagen,
- Gott wirz auf Händen tragen,
- Hab rechten Mut
- Und sEnd ist gut!«
-
-Wie kann doch ein Schutzengel, wenn's nur der richtige ist,
-vieltausendmal hilfreicher und klüger sein, als eine Nürnberger
-Gottsaugenuhr! Und wie die liebe herzensgute Frau Oberin sich freuen
-würde, wenn sie wüßte: daß ihre treue Fürsorge ein junges Menschenglück
-gerettet hatte, das schon zerbrechen wollte zum siebenten und letzten
-mal! Heiß beseligt, in dankbarer Freude, küßte Luisa das erlösende
-Bild. Dann flink den Deckel zu und den Schlüssel abgezogen. Den
-spanischen Hut mit dem weißen Federtuff übers braunblonde Haar, den
-grünen Radmantel um die Schultern! Und während die schmalgewordenen
-Mädchenwangen glühten wie am Johannistag die Rosen im Garten, lernte
-der kleine Klosterkoffer kennen, was eine Schlittenfahrt ohne Schnee
-bedeutet. Mit schrillendem Rutsch ging's über die Schwelle der
-jungfräulichen Kammer hinaus, durch den Oberstock, über die Treppe
-hinunter, und überall auf der hurtigen Glücksreise ließ der pfeifende
-Wanderschlitten eine feuchte Tröpfelfährte hinter sich zurück.
-
-»Vater! Vater! Vater!«
-
-Flink hinein in die Werkstätte. Mit einem Rötelstift, der zum
-Handwerkszeug des Meisters gehörte, schrieb Luisa auf die
-weißgescheuerte Spinnbank: »Lieber Vater! Ich bins derweilen
-vorausgewandert, weils den Leupi seine traurichen Augen nich därf
-warten laß übernacht. Gelt du kommest bald. In Glück und Freiden
-dein erlösenes Kint.« Schöner und fehlerfreier, als es auf der Bank
-geschrieben stand, klang das in Luisas brennendem Herzen. Sie hatte
-bei der klugen, fürsorglichen Frau Oberin besser beten als schreiben
-gelernt.
-
-Eine Vaterunserlänge später bekamen viele Berchtesgadener eine
-atemlose und einsame Exulantin zu sehen, deren Anblick niemand zu
-Gram und Zorn bewegte, niemand erschütterte zu Tränen. Wie das junge,
-bildhübsche Mädel im grünen wehenden Radmantel, mit erhitztem Gesicht
-und strahlenden Glücksaugen ihren kleinen, träufelnden Koffer auf einem
-großen Schubkarren in sehnsüchtiger Ungeduld über die Reichenhaller
-Straße hinausradelte, das war mehr als ein liebliches, war ein
-ergreifendes Bild. Dennoch erschien es den Leuten so komisch, daß sie
-zuerst verwundert gucken, dann heiter schmunzeln und schließlich ohne
-jedes Zartgefühl darüber lachen mußten. Während in einem erlösten
-und beglückten Erdenkind von allen schönen Träumen des Lebens der
-allerschönste zur Wahrheit wurde, kamen törichte Menschen zu der völlig
-unzutreffenden Vermutung: diese verspätete und drum so eilfertige,
-immer betende, weinende und lachende Emigrantin hätte einen reichlichen
-Schoppen über den für ein Mädchen zulässigen Durst getrunken.
-
-Wenn es so schwer fällt, das Natürlichste des Natürlichen klar zu
-erkennen? Wie darf man sich wundern darüber, daß dem Menschengeist
-zuweilen auch bei den Klarstellungen des Übernatürlichen ein
-wesentlicher Irrtum widerfährt?
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-Kapitel XXXII
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-Nach allem Seelensturm des verflossenen Morgens lag die Sonnenstille
-des Mittags über dem leeren Haus des Meisters. Die heimgekehrten
-Schwalben umflogen den First, bauten an ihren Nestern oder saßen
-rastend auf den geschnitzten Holzzieraten des Giebels.
-
-Die Elfuhrglocke hatte schon geläutet, als Meister Niklaus herüberkam
-vom Leuthaus. Die Sus, mit dem großen leergewordenen Korb über den
-Zöpfen, betrachtete immer wieder in Sorge den wortlos vor sich
-hinbrütenden Mann an ihrer Seite. Von der Freude, mit der er die
-Hände seines verständig gewordenen Kindes geküßt hatte, war nichts
-mehr an ihm zu merken. Auf den Erlösungsjubel, den ihm das offene
-Bekenntnis seines Glaubens in die Seele gegossen, war ein drückender
-Stein gefallen. Seiner Einzeichnung in die Exulantenliste hatte man
-kein Hindernis bereitet, hatte auch der Sus keine Schwierigkeiten
-gemacht, als sie ruhig und entschlossen ihre paar Buchstäbchen dicht
-unter den Namen des Meisters kritzelte. Wegen seines Kindes erklärte
-die Kommission: die Jungfer Zechmeister wäre als notorische Katholikin
-in zureichenden Jahren, um selbst über ihr Schicksal entscheiden
-zu können. Des weiteren müsse der Meister bedenken, daß man einen
-so geschickten und notablen Künstler nicht über die Landesgrenze
-ziehen lassen könne, auf die Gefahr hin, daß er die berchtesgadnische
-Holzschneidekunst im Auslande verbreite, zur Schädigung der Heimat
-und zum Nutzen der Augsburgischen, der Nürnberger oder gar der
-preußischen _industria_. Die Entscheidung der Kommission hatte einige
-Ähnlichkeit mit dem vom Grafen Saur über den Mälzmeister gefällten
-Urteil: »Glaub er, was er wolle, und brau er uns auch fürderhin eine
-so bekömmliche Biersorte wie bisher.« Wenn der Meister sein illustres
-Kunstvermögen der Heimat treu erhalte, wolle man ihm in Glaubenssachen
-keine fühlbaren Diffizilitäten bereiten; wäre aber sein Entschluß
-zur Exulation ein unabänderlicher, so könne sein Auszug nur erfolgen
-unter zureichender Kautionsstellung für allen Schadenersatz und nach
-Ablegung eines heiligen, von zwei Bürgen unterstützten Eides: daß er im
-Ausland für alle Lebenszeit auf jede Betätigung seiner Kunst verzichte.
-»Ihr Herren, das heißt mein Leben erwürgen!« Ein Achselzucken war die
-Antwort.
-
-Vor seiner Haustür blieb Meister Niklaus in der Sonne stehen, beugte
-den Kopf und bedeckte die Augen mit der linken Hand. Die Sus wurde
-bleich bis in die Mundwinkel. Aber sie hatte doch die Kraft, um ruhig
-zu sagen: »Ich mein', der Meister sollt sich zu seiner schönen Arbeit
-stellen. Da ist ihm noch allweil jedes harte Ding ein trägliches
-worden. Ich schaff derweil, daß der Meister nit warten muß auf die
-Mahlzeit.«
-
-Er nickte. »Ja, gute Sus! Vergiß auch nit, daß der Hochwürdige und
-seine Schwester zum Essen kommen. Da ist noch Zeit, daß ich reden
-kann mit dem Kind. Wir müssen's nehmen, wie es ist. Heut haben wir
-so viel an Seelennot und Elend umlaufen sehen, daß wir nit klagen
-dürfen, wenn uns ein schmerzhaftes Steinl hineingedruckt wird in den
-eigenen Leib.« Er öffnete die Tür seiner Werkstätte. »Kind?« In dem
-großen Raume blieb es still. Der Meister rief in den Flur hinaus:
-»Das Kind muß droben in seinem Stübl sein. Gelt, sag ihr, sie soll
-zu mir herunterkommen, gleich!« Draußen huschte die Sus über die
-Stiege hinauf. Der Meister vertauschte den Gassenrock mit dem leichten
-Arbeitskittel und band das lederne Schurzfell um. Eine Weile stand er
-unbeweglich und betrachtete sein fast vollendetes Werk: die >heilige
-Menschheit<. Schon dieses stille, halb zufriedene, halb mißtrauisch
-forschende Sinnen schien ihm die drückende Seelenlast des Augenblicks
-zu erleichtern. Er hörte nicht, daß droben die Sus ein paarmal den
-Namen seiner Tochter schrie. Aufatmend griff er nach dem schweren
-eisernen Schlägel und wollte unter den vielen Meißeln das Hohleisen
-aussuchen, das er brauchte, um eine Gewandfalte zu vertiefen. Da sah
-er das umgeworfene Spinnrad und ging, um es aufzuheben. Von der weißen
-Spinnbank leuchtete ihm die rote Schrift entgegen, der Glücksbrief
-seines ausgewanderten Kindes. Er las. In der Faust den eisernen
-Schlägel, stieß er einen tonlosen Laut aus der Kehle.
-
-Da stürzte die Sus mit entfärbtem Gesicht in die Werkstatt: »Meister
---« Die gleichen Worte, die sie ihm hatte sagen wollen, schrie er
-selbst: »Das Kind ist fort! Ist dem Glück und dem Leupi zugesprungen.«
-Auflachend und doch mit schwimmenden Augen, schleuderte Niklaus den
-schweren Schlägel zur Werkbank hinüber. Und während die gewichtige
-Eisenmasse gegen den bankförmigen Unterbau der Statue schmetterte, riß
-er das Schurzfell herunter und sprang zur Türe.
-
-»Das Gassenröckl!« Die Sus raffte den braunen Rock vom Sessel und
-wollte dem Meister nachspringen. Hinter ihr ein Knirschen, wie wenn
-ein Brett in Splitter geht. Sus drehte das Gesicht und sah, daß
-die Statue der >heiligen Menschheit< sich zu bewegen begann, als
-hätte sie jede Hoffnung auf den Himmel verloren und möchte sich mit
-ausgebreiteten Armen niederneigen zur treueren Erde. Der Stoß des
-Eisenschlägels hatte den Unterbau schief gedrückt; das viele Zentner
-schwere Gewicht der Statue knickte das schräge Brett, und die Bildsäule
-drohte vornüber zu stürzen. »Meister!« schrie die Sus mit gellendem
-Laut, sprang gegen die Werkbank hin, um das Unglück zu verhüten, und
-fing mit Brust und Armen das fallende Bildwerk auf. Sie war ein festes,
-kraftvolles Mädel, die Sus. Dennoch brach sie unter dem Stoß, mit dem
-die schwere Holzmasse gegen ihren Körper schlug, auf die Knie hinunter.
-»Meister! Meister!« Immer schrie sie, immer schwächer klang ihre
-Stimme. Mit dem Rest ihrer schwindenden Kräfte hielt sie die Statue
-umklammert, um zu hindern, daß die Bildsäule gegen den Boden schlüge
-und Schaden nähme. »Meister!« Tiefer und tiefer wurde das tapfere Mädel
-gegen die Dielen niedergedrückt und lag unter der pressenden Holzmasse
-ausgestreckt wie ein Weib, das in Liebe den Mann empfängt. »Meister,
-ach, Meister --« Das waren Laute des Schmerzes, bei erlöschenden Sinnen
-noch durchzittert von der Freude, daß des Meisters Arbeit, die für den
-Glauben der Sus von allen Herrlichkeiten des Lebens die herrlichste
-war, keinen Fehl und Makel erlitten hatte. Und schon so matt und müde
-war dieser letzte Schrei, daß er nimmer hinausklang aus der Stille des
-sonnenlos gewordenen Raumes. In keuchenden Zügen ging der Atem der
-Ohnmächtigen.
-
-Vor dem Fenster, durch das der sonnige Himmel hereinblaute, klang
-zuweilen ein feiner Schwalbenschrei.
-
-Und drüben beim Leuthaus rannte Meister Niklaus über die Reichenhaller
-Straße hinaus. Von einer Höhe konnte er das Gelände bis Bischofswiesen
-überschauen. Die Straße war leer. Nur in weiter Ferne ließ sich der
-neblige Dunst erkennen, der von der Staubwolke des Exulantenzuges
-zurückgeblieben war.
-
-»Gott mit dir, mein Kind! Glück ist mehr als alles andre.«
-
-Der Meister wandte sich und ging vorüber am Leuthaus, gegen den
-Brunnenplatz. Die Marktgasse war wie abgestorben. Nur spielende Kinder.
-Nicht viele. Und das Pflaster war bedeckt mit zerknickten Strohhalmen
-und mit dem Unrat, den die abgewanderten Tiere zurückgelassen hatten.
-
-Vor dem Stiftstor trafen sie zusammen, Meister Niklaus und Pfarrer
-Ludwig. »Nicki?« Ein erwartungsvoller Blick war in den Augen des
-Pfarrers.
-
-»Das Kind ist fort.«
-
-»Also!« Lächelnd sah Herr Ludwig hinauf in das reine Blau. »Der Ewige
-arbeitet doch verläßlicher, als ein Nürnberger Spielwerk.«
-
-»Mensch? Wahrhaftig? Daß mein Kind dem Leupi nachspringen muß? Das hast
-du erwartet?«
-
-»Drum hab ich mich doch bei dir für heut zum Essen geladen. Daß du
-dein Süppl nit allein verschlucken mußt. Und komm! Wir müssen das
-gleich der Mutter Agnes bringen. Die verzweifelt schier.« Sie wandten
-sich gegen das Stiftstor. »Guck, Nicki! Eine Parabel der Zeit!« Der
-Pfarrer deutete auf die Fülle des Unrates, der das Pflaster bedeckte.
-»Das bleibt der Regierung vom heutigen Tag. Sie wird nit lernen davon.
-Statt den nutzbaren Mist für einen Acker zusammenzukehren, wird sie
-ihn vornehm liegen lassen, bis ihn der nächste Regen verwässert.
-Staatskunst, Nicki, Staatskunst!«
-
-Als Mutter Agnes die Botschaft vom Glück ihres Sohnes hörte, tat sie
-einen Schrei, fiel auf die Mauerbank und wurde von einem so heftigen
-Zittern der Beine befallen, daß die Absätze ihrer Schuhe auf dem
-Fußboden ein flinkes Getrommel erhoben. Meister Raurisser, der vom
-Bräuhaus heimkam und seine Frau so finden mußte, fragte in Sorge:
-»Mutter, was hast du denn?«
-
-»Freud -- Freud -- Freud --« Sonst brachte sie unter dem Sturz ihrer
-frohen Tränen kein Wort heraus.
-
-Pfarrer Ludwig, als er mit Meister Nick aus der Stube ging, deutete
-auf eine ungefährlich gewordene Sache an der weißen Mauer. Und draußen
-auf der Straße sagte er: »Der Dillinger Landschaden, der Grusdorf, die
-überflüssigen Buchstaben, der Muckenfüßl und die Gottesaugenuhr mit
-ihrem boshaften Teufel! Alles im Kehrichtfaß der Vergangenheit! Nick,
-es geht halt doch ein bißl aufwärts mit der Menschheit. Deswegen muß
-sie nit grad eine heilige sein.« Sie kamen zur Pfarrpfründe, und Herr
-Ludwig klinkte an der Haustür, die er verschlossen fand. »Die Schwester
-ist schon voraus zu dir.« Um den Weg zu kürzen, gingen sie hinter den
-Häusern am gestutzten Hofgarten vorüber, dessen lächerlich beschnittene
-Bäume unter Frühlingshilfe den Versuch begannen, aus der Pariserei
-heranzuwachsen und sich wieder auszustrecken zu natürlicher Form.
-
-Beim Plankentor des Meisters blieben die beiden stehen und lauschten.
-Im Haus eine schreiende Stimme. »Meine Schwester!« stammelte der
-Pfarrer. Sie sprangen in den Flur, sahen die Tür der Werkstatt offen
-und fanden neben der schreienden Schwester Franziska die Sus, wie
-tot, von Blut umronnen, die Arme noch immer um die Statue geklammert.
-Der Meister taumelte. Und Pfarrer Ludwig brüllte der Schwester ins
-Ohr: »Zum Lewitter! Lauf, was du laufen kannst!« Nur mühsam gelang es
-den beiden Männern, die schwere Statue vom Körper der Ohnmächtigen
-emporzuheben. »Ach, Mädel, du gutes!« schrie der Meister, hob die
-regungslose, von Blut überströmte Sus auf seine Arme und trug sie
-über die Treppe hinauf. Ohne zu denken, nur weil es von den Türen
-die nächste war, trug er die Blutende in Luisas Kammer und rannte
-um Essig, um alles, was beleben konnte. Nichts wollte helfen. Die
-geschlossenen Augen taten sich nicht auf, kein Herzschlag war an der
-Sus zu spüren, kein Atemhauch vor den blassen Lippen, an denen ein
-leises, unveränderliches Lächeln zu erkennen war. Nur das Blut sickerte
-noch immer aus den Wunden, die das scharfkantige Holz in ihren Körper
-geschnitten hatte.
-
-Schwester Franziska und Lewitter mit seiner Tasche traten in die Kammer.
-
-»Komm, Nicki!« Pfarrer Ludwig legte den Arm um den Hals des Meisters.
-»Wir zwei sind überflüssig.« Sie gingen hinüber in die Wohnstube.
-Der Pfarrer stand am Fenster. Stumm und unbeweglich saß Niklaus am
-Tisch; nur seine Augen bewegten sich, wenn durch die Krippenwand ein
-matter Laut aus der Kammer klang, oder wenn auf der Stiege draußen die
-hastigen Täppelschritte der Schwester Franziska zu hören waren. Und
-plötzlich warf er das Gesicht auf die Tischplatte hin.
-
-Der Pfarrer trat zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter. »Nicki! Bleib
-der Mensch, der du bist! Tu dich nit so verbohren in den Schreck! Tu
-reden, Nicki!«
-
-Meister Niklaus hob das blasse Gesicht. »Einsam werden ist das
-Grauenhafteste des Lebens. Mein Weib versunken, mein Kind ins Kloster
-gesteckt -- um *Gottes* willen!« Er hob die hölzerne Hand und
-betrachtete sie. »Daß ich es überleben hab können? Ich glaub, am Leben
-hat mich nur die Hoffnung gehalten, daß ich *doch* wieder schaffen
-könnt -- einmal.« Wieder streckte er die künstliche Hand vor sich
-hin. »*Das* ist das Leichtere gewesen.« Er nahm den Kopf zwischen die
-Fäuste, und seine Stimme wurde tonlos. »Das andere hat erst angefangen,
-wie ich gemeint hab, ich wär schon wieder ein ruhiger Mensch. Fünf Jahr
-lang hab ich nimmer gewußt, daß ich an Leib und Blut noch allweil ein
-Mannsbild bin. Und gählings -- wie ein schweres Leiden, das kommt, man
-weiß nit wie -- hat's angefangen: die Ruhlosigkeit in den Nächten, am
-Tag das Nachschauen hinter den Weibsleuten, das Händzittern, wenn mir
-ein junges Geschöpf in die Näh gekommen ist. Nur Eine, die allweil
-bei mir war, hab ich nie drum angesehen. Sie ist mir immer das kleine
-Mädel gewesen, als das sie zu uns ins Haus gekommen ist. Und ist schon
-über die achtzehn Jahr gewesen. Im Frühling einmal, da hat sie sich im
-Garten einen Dorn in den Finger gestoßen und ist gekommen: ich sollt
-ihr helfen. Und wie ich sie bei der Hand hab und frag: Tut's weh? --
-und sie schüttelt den Kopf, da hab ich spüren müssen, wie sie zittert.
-Ich schau sie verwundert an. Und gählings merk ich, wie schmuck sie
-geworden ist. Mir ist der Teufel ins hungrige Blut gefahren --«
-
-»Was für einer?« fragte der Pfarrer. »Der von der Gottsaugenuhr?«
-
-Niklaus, ohne zu hören, redete vor sich hin: »Ich bin erschrocken
-über mich. Und hab sie fortgeschoben. Und da brennt ihr Gesicht wie
-Kohlenglut. Sie schaut mich an mit ihren treuen, barmherzigen Tieraugen
-und sagt: >Was liegt an mir? Der Meister muß Ruh haben<.«
-
-Zwei leise Worte: »Heilige Menschheit!«
-
-Der andere schwieg. Nach einer Weile sagte er in Qual: »Sie hat sich
-um meinetwegen zerschlagen mit Vater, Mutter und Geschwistern, hat
-ihr junges Leben hingelegt vor meine Füß und hat gegeben, wie man ein
-Kräutl gibt, das heilsam ist für Not und Trauer eines Menschen. Kann
-sein, es ist ein Unrecht gewesen, daß ich genommen hab. Hungert einer,
-so stiehlt er beim Bäcken. Nie hab ich sie lieb gehabt. Ich bin ihr nur
-gut gewesen, nur dankbar.« Er preßte die Zähne übereinander. »Wie mein
-Kind wieder im Haus gewesen ist, hab ich einen Riegel fürgeschoben und
-hab die Sus nimmer angerührt. Allweil ist ihre treue Sorg um mich die
-gleiche geblieben. Jedes andre -- kann sein, ich selber -- hätt heut
-in der Werkstatt fallen lassen, was ich in Müh geschaffen hab. Die Sus
-hat helfen müssen. Wie's zugegangen ist, das weiß ich nit. Ich weiß
-nur, die Sus ist so. Sie muß dran sterben. Ich leb.« Langsam hob er das
-Gesicht. »Pfarrer! Tät man einen verblutenden Leib noch anbinden können
-an einen Lebendigen, so müßt ich bitten: du sollst mich trauen mit der
-Sus!« Er wandte die Augen zur Krippenwand. »Jetzt hab ich sie lieb.«
-
-Schweigend trat der Pfarrer auf ihn zu und strich ihm mit der Hand
-übers Haar. Dem Meister fuhr das Gesicht herum, weil er draußen einen
-Schritt vernahm. Simeon Lewitter trat in die Stube. Und Niklaus, vom
-Sessel aufzuckend, keuchte: »Ist Hilf?« Ohne die Antwort abzuwarten,
-sprang er auf die Türe zu. Simmi breitete wehrend die Arme auseinander:
-»Nit! Tu bleiben!« Er führte den Zitternden wieder zum Sessel und
-sprach zu ihm in seiner sanften, halblauten Art. Der Pfarrer,
-schweigend, ging zur Holzverschalung der Mauer und drückte auf den
-versteckten Knopf. Lautlos öffneten sich die beiden Flügeltüren der
-Krippe. Die sonnige Fensterhelle leuchtete hinein in die Nische,
-machte alle Farben der hundert Figürchen flimmern, umglänzte die drei
-Gestalten unter dem Kreuze, gab dem Frühlingsbild der zierlichen
-Landschaft einen warmen Schein -- und ohne daß die kleinen Lampen
-brannten, glitzerten die winzigen, aus Glassplittern gebildeten
-Fenster an Kirche und Hütten, als wär's um die Morgenstunde, die einen
-strahlenden Tag verspricht.
-
-»Komm, Nicki! Oder wär's nit so in dir, daß du beten mußt?«
-
-Nun standen die drei Männer wortlos vor der Nische, jeder mit dem
-Arm um den Hals des anderen. Dieses Schweigen war das verbrüderte
-Gebet ihres duldsamen Glaubens, war das ungesungene Lied ihres
-gemeinsamen Harrens auf einen Menschenmorgen, der kommen mußte -- nach
-Jahrhunderten, meinte der eine; nach Jahrzehnten, glaubte der andere;
-bald, so hoffte der dritte.
-
-Auf den Kirchtürmen schlugen die Glocken mit schwebendem Hall die erste
-Mittagsstunde.
-
-Das war die gleiche Stunde, in der die siebenhundert vom großen Jagen
-aus dem Land Gepeitschten ihr letztes Gebet auf heimatlichem Boden zum
-Himmel sangen.
-
-Sie hatten die steigende Wegstrecke vor dem Hallturm erreicht.
-Alle Gesichter der Wandernden waren der Ferne zugerichtet, der sie
-entgegenschritten. Nur die Augen der Kranken, die, mit den Köpfen
-gegen die Zugtiere, gebettet lagen im Wagenstroh, waren rückwärts
-gerichtet nach dem Lande, das sie verließen. Und plötzlich, während die
-lange Karrenzeile schwerfällig hinaufkletterte über die Steigung, hob
-der hundertjährige Jakob Aschauer die dürren, gichtisch verkrümmten
-Hände aus den Strohhalmen, tat einen klagenden Schrei und griff mit
-zuckenden Fingern gegen die blaue Heimat, die schon versunken war
-hinter Hügeln und Gehölzen und noch ein letztesmal heraufstieg mit
-gewellten Frühlingswiesen, mit blitzenden Gewässern, mit sammetgrünen
-Fichtengehängen, mit sonnbeglänzten Dächern und Mauern, mit den
-erwachenden Almen und den kettengleich ins Endlose geschichteten
-Silberkanten der noch von Schnee umschütteten Zinnen. Und alles
-hineingewoben ins reine Blau, alles umschmeichelt von warmer Sonne,
-alles umgossen vom schönen Frieden der lautlosen Ferne. Wieder ein
-Klagelaut, so schrill wie ein Falkenschrei. Und die mühsame Stimme des
-Hundertjährigen: »Leut! Ihr Leut! Ach luget sell naus! Das Ländl! Das
-liebe Ländl! Das Paradeis, aus dem sie uns alle verjagen!«
-
-Das faßte einen um den andern; alle Gesichter wandten sich; hundert
-Stimmen rannen zusammen; der Zug der Wagen staute sich; die
-Viehtreiber ließen die Stricke der Tiere fallen, um die Fäuste vor die
-Augen zu pressen; viele Kinder fingen zu weinen an und klammerten sich
-an die Röcke, an die Hälse der Mütter; Männer und Buben umschlangen
-sich mit den Armen, und die siebenhundertfache Trauer und Liebe floß
-ineinander zu einem einzigen, machtvollen Seelenschrei, der ähnlich
-war dem Brausen eines stürzenden Wildbachs. Die Arme breiteten sie
-aneinander wie Gekreuzigte, sie schrien verzückte Laute in das
-Hallgewoge dieses hundertfältigen Schmerzes und griffen nach der Erde,
-die sie verlassen mußten für immer. Kein Fluch und keine Verwünschung
-war zu hören. Nur Segensworte, nur Laute der inbrünstigen Treue. Und
-Leupolt Raurisser, um dessen Schultern die schwarzweißen Bänder des
-Führers flatterten, hob neben dem Wagen des Hundertjährigen die Hände
-gegen das Blau. Sein Gesicht war entstellt. Aus seinen Augen, die
-trocken geblieben waren in der härtesten seiner Qualen, stürzten die
-Tränen, während er mit klingender Stimme den Psalm begann:
-
- »Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
- Herr Gott, erhör mein Rufen --«
-
-Die Siebenhundert fielen ein, auf den Wagenbrettern und im Staub der
-Straße lagen sie auf den Knien, und ihr betendes Lied, ihr letztes auf
-dem Boden der Heimat, schwamm in den Lüften wie das Feiertagsgeläut
-einer schönen, heiligen Glocke.
-
-Als sie zu tönen anfing, kamen aus einem Seitentälchen zwei alte Leute,
-ein kleines Weibl mit kurzem Rock und ein langes, geselchtes Mannsbild
-mit weißem Schnauzer. Vor einem schwerbeladenen Karren, an den drei
-Ziegen und ein Geißbock angebunden waren, hingen die beiden in den
-Zugriemen. Beim Hall des Liedes blieben sie stehen und guckten, das
-Weib in Rührung, der Lange auf eine verdutzte Art, als wäre ihm etwas
-unverständlich an den Klängen, die ihm entgegenrauschten. Er riß die
-Augen auf und atmete schwül. In seinem braunen Gesicht erwachte etwas,
-wie der Spiegelschein eines erschrockenen Gedankens. Immer härter
-schnaufend, sah er sein Weibl an. »Du! Schneckin!«
-
-»Was?«
-
-»Wir zwei gehören da nit dazu. Die Leut da müssen einen Glauben
-haben als wie ein Baum. Der unser ist bloß ein Stäudl, geht hin
-und her und wackelt bei jedem Wind. Wir zwei, verstehst, wir zwei
-gehören sell hin, wo der Bockmist düftelt.« Er hatte den Karren schon
-gewendet. Die Schneckin begann zu weinen und der Hiesel knurrte:
-»Kreuzhöllementsverteufelter Himmelhund, verstehst du denn nit, du
-Schneehas ohne Löffel! Das ist doch kein Fürwurf.« Immer bitterlicher
-weinte das Schneckenweibl. Da wurde der grobe Hiesel barmherzig und
-legte den Arm um den kleinen, kurzröckigen Stöpsel. »Schau, was Guts
-hat unsere Narrenschopferei halt doch gehabt. Verstehst?« Das Weib
-schüttelte kummervoll den grauen Kopf, und tröstend sagte der Hiesel:
-»So sauber, wie jetzt, ist unser Geißstallerl seit dreißig Jährlen noch
-nie gewesen.« Die schwimmenden Augen der Schneckin wurden heller. So
-viel Anerkennung hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie geerntet.
-Mit dankbarem Lächeln sah sie am Hiesel hinauf und flüsterte wie ein
-schämiges Mädel: »Vergeltsgott, Schneck!« Der quieksende Karren mit den
-Meckerziegen verschwand hinter den Stauden, während auf der Straße
-die fromme Glaubensglocke der Siebenhundert immer machtvoller und
-inbrünstiger tönte:
-
- »Ob bei uns ist der Sünden viel,
- Bei Gott ist viel mehr Gnaden.
- Sein Hand zu helfen hat kein Ziel,
- Wie groß auch sei der Schaden.
- Er ist allein der rechte Hirt,
- Der Israel erlösen wird
- Aus seinen Sünden allen.«
-
-Als das Lied zu Ende klang, war tiefe Stille über den siebenhundert
-gebeugten Köpfen. Leises Schluchzen. Und der hundertjährige Aschauer
-bettelte mit erloschener Stimme: »Ich kann nit fahren, so lang ich
-die Heimat seh, ach Leut, ach Leut, ach lasset mich bleiben, so lang
-ein Aichtl Sonnlicht über dem Ländl hängt. Wenn's finsteret, will ich
-fahren von Herzen gern.« Das Wort lief hin über die lange Reihe der
-Karren, und hundert Stimmen riefen: »Wie's der Älteste haben will, so
-muß man es machen.« Für jeden war's eine tröstende Freude, daß er die
-Heimat noch schauen durfte einige Stunden lang und sie erst verlassen
-mußte, wenn die Nacht sie umschleierte.
-
-Nach allem Gram und Kummer dieses Tages hörte man heitere Worte. Alle
-bedrückten, müdgewordenen Herzen lebten auf, und die schmale Zeile des
-Exulantenzuges löste sich in die Breite. Die Hirten trieben das Vieh in
-den Laubwald, um es weiden zu lassen; die Frauen und Mädchen stiegen
-von den Karren, um die Ziegen und Kühe zu melken, damit die Kinder ihre
-Milch bekämen; und die Männer und Buben trugen Holz zusammen für die
-Kochstätten. An die hundert kleine Feuer fingen zu brennen an, und
-in der Windstille des milden Nachmittages stiegen die Rauchsäulen wie
-blaue Bäume zum Himmel hinauf.
-
-Die Sonne wurde Gold, die Berge im Osten brannten, die steilen Wälder
-im Westen wurden eisenblau, und die jungen Buben begannen zu singen wie
-beim Sonnwendfeuer, wie vor dem Fenster einer Almerin. Und gählings
-geschah ein Ding, daß alle Leute verwundert die Köpfe streckten.
-Leupolt Raurisser rannte gegen die Talstraße hinunter, so flink, daß
-die schwarzweißen Bänder wagrecht hinter seinem Nacken standen. Weil er
-auf der mit Karren vollgepfropften Straße nicht flink genug vorwärts
-kam, sprang er im Zickzack zwischen den weidenden Kühen. Und als die
-Straße frei wurde, fing er ein Rasen an, noch wilder und schöner als
-zwischen den galoppierenden Dragonergäulen. Weit vor ihm, in der Tiefe
-der Talstraße, kam ein winziges Fuhrwerkelchen daher: ein Schubkarren
-mit einem kleinen Koffer. Zwischen der Gabel bewegte sich was Junges,
-hurtig Zappelndes, mit einem weißen Federbusch auf dem spanischen Hut.
-Über dem Koffer lag der grüne Mantel, schön gefaltet, weiß überpulvert
-vom Straßenstaub.
-
-Leupolt schrie den Namen seines Glückes, daß von allen Wäldern ein Echo
-kam.
-
-Sie hörte den Schrei, setzte den Karren nieder und blieb unbeweglich.
-
-Nun stand er vor ihr, heiß atmend vom jagenden Lauf, mit Augen, die
-wie Sterne glänzten. Er streckte die Hände und wagte sein Glück nicht
-zu berühren. Nach der ersten glühenden Scham tat Luisa einen frohen
-Atemzug. Eine wundersame Ruhe überkam ihr Wesen. Sie sah zu ihm
-hinauf. »Willst du mich nehmen, Leupi? Ich kann nit leben ohne dich.
-Gott wird's verstehen. Der hat dich geschaffen. Da muß er auch wissen,
-wie du bist.«
-
-Er stammelte: »Jesus!« Und wagte zuerst nur ihre Hand zu fassen. Als er
-den Druck ihrer Finger fühlte, kam's wie ein lachender Taumel über ihn.
-
-Der spanische Hut verlor seinen graden Sitz. Und erst eine sehr
-beträchtliche Weile später konnte Luisa sagen: »Evangelisch kann ich
-nit werden. Daß ich im Herzen bei meiner Wahrheit bleib? Tust du mir
-das verstatten?«
-
-»Bleib, wie du bist, und allweil wirst du die Richtige sein.« Droben
-auf der Straßenhöhe riefen viele Stimmen seinen Namen. »Die brauchen
-mich. Komm, Bräutl!« Er wollte die Gabel des Schubkarrens fassen,
-richtete sich wieder auf und fragte in Sorge: »Dein Vater, Luisli? Kann
-er denn schnaufen ohne dich? Tut er mir denn mein Glück vergönnen?«
-
-Sie sagte gläubig: »Der kommt uns nach. Heut hat er bekennen müssen und
-ist eingeschrieben.«
-
-Ein heißer, frohseliger Jauchzer. Und der geduldige Schubkarren mußte
-noch eine Weile rasten. Hat man sein Mädel um den Hals, so kann man
-keine Karrengabel in den Händen haben. Und als das Rädl wieder lief,
-blieb Leupolt stumm. Weil er sinnen mußte. Nun ein heiteres Auflachen.
-Hundert Schritte vor dem ersten Exulantenwagen stellte er den Karren
-nieder, nahm den grünen Mantel vom Koffer, schüttelte den Staub davon
-und faßte die Hand seines Glückes. »Komm! Ich such dir ein feines
-Plätzl.« Zwischen den Stauden fand er eines. »Schau nur, wie alles
-blüht um dich herum! Da mußt du warten ein Vaterunser lang.« Er sprang
-davon, und der Karren mußte sausen, obwohl es aufwärts ging.
-
-Auf dem Rücken eine Sesselkraxe, die er von einem Bauer geborgt hatte,
-kam er wieder. »Schatzl? Gelt, du hast keinen Wanderschein?«
-
-Sie schüttelte den Kopf. »Weil ich nur dich hab! Mir ist's genug.«
-
-»Aber den Grenzmusketieren nit!« Er konnte nicht ernst werden, immer
-mußte er lachen in seiner Freude. »Sie täten dich ohne Loskauf, Paß und
-Polizeiverlaub nit über den Schlagbaum lassen. Schatz, es geht nimmer
-anders, ich muß dich hinüberschwärzen in unser Glück. Aber deine Füßlen
-sollen keinen Weg nit machen, der ein Unrecht ist. Hab ich die Freud,
-so muß ich auch die Schuld haben.« Er ließ sich niederfallen auf die
-Knie und flüsterte selig: »Komm! Steig auf! Und leg deinen Mantel auf
-die Krax! Da hast du es linder.«
-
-Ein scheues Zögern, ein leises Auflachen.
-
-Leicht erhob sich Leupolt mit seiner lieben Last. In der Rechten den
-Stecken, die Linke nach oben gestreckt als Halt für Luisas Hände, so
-schritt er flink zwischen den Stauden hin, auf versteckten Wegen, wie
-nur die Jäger sie kennen. Im dämmrigen Fichtenwalde verschwand er.
-
-Eine Weile später ging die Sonne hinunter. Es finsterte schon und die
-Sterne glänzten, als Leupolt wieder kam, mit der leeren Kraxe auf dem
-Rücken.
-
-Nun war's lebendig in der Karrenzeile. An der Spitze des Zuges tönten
-drei Rufe eines Alphorns. Dann fingen die Räder zu knattern an, und die
-lange Wagenreihe kletterte in der Dunkelheit über den Rest der Höhe
-hinauf zur fürstpröpstlichen Grenze. Kleine Lichter -- wie Sterne, die
-auf die Erde gefallen -- waren ausgestreut über die ganze Länge des
-Zuges: die Wagenlaternen, und in zwei Reihen die Kienlichter, die von
-den Jungbuben getragen wurden.
-
-Das Paßgeschäft beim Hallturm währte vier Stunden lang. Die
-Grenzmusketiere nahmen es genau. Es war schon über Mitternacht,
-als hinter dem Scharwagen mit knarrender Feierlichkeit der
-berchtesgadnische Schlagbaum herunterfiel. Außerhalb der Grenze ordnete
-Leupolt den Zug. Und als die Lichterkette sich in Bewegung setzte,
-sprang er durch den finsteren Hochwald davon. Bei den alten, zerstörten
-Festungswerken der bayerischen Grenzhut stand er wieder am Saum der
-Straße. Nicht allein.
-
-Nun schritt er dem Zuge voraus, den Arm um Luisas Schultern
-geschlungen. Sie hatte den Hut heruntergenommen und trug ihn am Gürtel.
-
-»Luisli? Siehst du den schönen Stern da draußen? Das ist der Nordstern.
-Sell müssen wir hin. Dort ist das Land des gütigen Helfers.«
-
-Sie nickte stumm und schmiegte sich enger an seine Brust. Beugte er
-sich ein bißchen nieder, so fanden seine Lippen ihr lindes Haar. Und
-hob sie das Gesicht, so sah er beim Sternschein einen Glanz in ihren
-Augen, ohne die Tränen zu sehen, die ihr von den Wimpern fielen. Die
-einzige, die nasse Wangen hatte, war sie nicht. Viele weinten in der
-Finsternis; die Frauen und Mädchen, die auf den Karren saßen; und alle
-Mütter, auf deren Schoß und an deren Brüsten die müden Kinder schliefen
-oder die furchtsamen wachten.
-
-Ein Rauschen in der Nacht. Man wußte nicht, wo. Bald klang es ferne,
-bald wieder nah.
-
-Die Viere, die hinter Leupolt an der Spitze des Zuges schritten, fingen
-zu singen an. Die Stimmen der Wandernden fielen ein. Sie sangen das
-Stablied der Evangelischen, von dem man erzählte: daß es der gadnische
-Bergmann Josef Schaitberger ersonnen hätte, den man vor vierzig Jahren
-aus der Heimat trieb.
-
- »Jesu, mein Wanderstab, mit Dir kann ich sorglos ziehen
- Aus meinem lieben Land! Mit Dir kann ich fliehen,
- Wenn mich des Feindes List aus meiner Ruhstatt jagt!
- Du bleibst mein bester Freund, wenn Pharao mich plagt.
-
- Jesu, mein Wanderstab, auf Dich kann ich mich lehnen,
- Ach, sieh meine Flucht und zähl meine heißen Tränen,
- Ich weiß, Du zählst sie, Du hältst sie in Deiner Hand,
- Sei Du mein Himmelreich und mein neues Heimatland!
-
- Jesu, mein Wanderstab, mein Licht, das nie sich neiget,
- Hilf Deinem müden Knecht, der bittend sich beuget!
- Bleib bei mir, bleib bei mir, bleib jetzt und für und für,
- Der Tag hat enden müssen, es ist die Nacht vor mir.
-
- Jesu, mein Wanderstab, die Heimat bleibt dahinten,
- Mein Blick ist naß und sucht und kann sie nit finden.
- Herr Jesu, kühl mir die Augen mit Deiner Hand,
- Wo *Du* bist, Herr, da ist Heimat und Vaterland!«
-
-
-
-
-Bücher von Ludwig Ganghofer:
-
-
- Das Schweigen im Walde. *Roman*. Neue Ausgabe. 60. Tausend. Initialen
- und Einbandzeichnung von Friedrich Felger. 8°. Geh. 5 M., geb. 6,50 M.
-
- Die Trutze von Trutzberg. *Eine Geschichte aus anno Domini 1445.*
- Initialen und Einbandzeichnung von Friedrich Felger. 8°. 46. Tausend.
- Geh. 4 M., geb. 5,50 M.
-
- Das große Jagen. *Roman aus dem 18. Jahrhundert.* Initialen und
- Einbandzeichnung von Friedrich Felger. Geh. 6 M., geb. 7,50 M.
-
- Fliegender Sommer. *Novellen.* Neue Ausgabe. Der Reihe nach 21.
- Tausend. Einbandzeichnung von Friedrich Felger. 8°. Geh. 3,50 M.,
- geb. 5 M.
-
- Doppelte Wahrheit. *Neue Novellen.* 8°. 6. Tausend. Geh. 4 M., geb.
- 5,50 M.
-
- Das Kaser-Mandl. *Eine Erzählung.* Neue Ausgabe mit Illustrationen
- von Carl Röhling. 12°. 11. Tausend. Kart. 1,50 M., geb. 2,20 M.
-
-Ob es die Deutschen genügend wissen, was sie an diesem Dichter für eine
-Kraftquelle haben! Ob sie es ahnen, daß seine Schriften, so harmlos
-und heiter sich viele derselben auch geben, eine Vorbereitung, eine
-Stählung des Volksherzens für diesen ungeheuerlichen Verteidigungskrieg
-geworden sind? Die Bayernkraft offenbarte Ganghofer uns, bevor sie zu
-dem herrlichen Heldenringen auf den Plan trat.
-
- *Peter Rosegger.*
-
-
-G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin
-
-
-
-
-Grote'sche Sammlung v. Werken zeitgenöss. Schriftsteller
-
-
- =*Charitas Bischoff*, Amalie Dietrich.= Ein Leben. Mit 8 Bildnissen.
- Achtundvierzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Bilder aus meinem Leben.= Mit sechzehn Vollbildern und fünf
- Textillustrationen. Zwanzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- =*Victor Blüthgen*, Gedichte.= Neue, verm. Ausgabe. Geb. 4,50 M.
-
- =*Walther Burk*, Der versunkene Herrgott.= Roman. Geb. 4,50 M.
-
- =*Gustaf Dickhuth*, Wie der Leutnant Hubertus von Barnim sich
- verloben wollte und anderes.= Novellen. Geb. 4 M.
-
- =*Ernst Eckstein*, Murillo=. Dritte Auflage. Geb. 3 M.
-
- -- --, =Hertha.= Roman. Dritte Auflage. Geb. 8 M.
-
- -- --, =Themis.= Roman. Zwei Bände. Geb. 9,60 M.
-
- -- --, =Der Mönch vom Aventin.= Novelle. Vierte Auflage. Geb. 4 M.
-
- -- --, =Familie Hartwig.= Roman. Zweite Auflage. Geb. 8 M.
-
- -- --, =Kyparissos.= Roman. Zweite Auflage. Geb. 8 M.
-
- -- --, =Roderich Löhr.= Roman. Zweite Auflage. Geb. 8 M.
-
- -- --, =Adotja.= Novellen. Geb. 6,50 M.
-
- -- --, =Die Hexe von Glaustädt.= Roman. Dritte Auflage. Geb. 8 M.
-
- =*A. von der Elbe*, Der Bürgermeistersturm.= Ein Roman aus dem
- fünfzehnten Jahrhundert. Zweite Auflage. Geb. 7 M.
-
- -- --, =In seinen Fußstapfen.= Roman aus Lüneburgs Vorzeit. Zweite
- Auflage. Geb. 5,50 M.
-
- =*Gustav Falke*, Die Stadt mit den goldenen Türmen.= Die Geschichte
- meines Lebens. Fünfzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- =*Heinrich Federer*, Lachweiler Geschichten.= Fünf Erzählungen.
- Siebzehntes Tausend. Geb. 5 M.
-
- -- --, =Berge und Menschen.= Roman. Zweiundvierzigstes Tausend. Geb.
- 6,50 M.
-
- -- --, =Pilatus.= Eine Erzählung aus den Bergen. Neunzehntes Tausend.
- Geb. 4,50 M.
-
- -- --, =Jungfer Therese.= Eine Erzählung aus Lachweiler. Achtzehntes
- Tausend. Geb. 5 M.
-
- -- --, =Das Mätteliseppi.= Eine Schweizer Erzählung.
- Fünfundzwanzigstes Tausend. Geb. 6,50 M.
-
- =*Gustav Frenssen*, Die Sandgräfin.= Roman. Achtundsiebzigstes
- Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Die drei Getreuen.= Roman. Hunderteinundzwanzigstes Tausend.
- Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Jörn Uhl.= Roman. Zweihundertneunundvierzigstes Tausend. Geb.
- 5,50 M.
-
- -- --, =Hilligenlei.= Roman. Hundertneunundvierzigstes Tausend. Geb.
- 6,50 M.
-
- -- --, =Peter Moors Fahrt nach Südwest.= Ein Feldzugsbericht.
- Hundertsechsundachtzigstes Tausend. Geb. 3,50 M.
-
- -- --, =Klaus Hinrich Haas.= Roman. Neunundachtzigstes Tausend. Geb.
- 6,50 M.
-
- -- --, =Der Untergang der Anna Hollmann.= Eine Erzählung.
- Sechsundsechzigstes Tausend. Geb. 3,50 M.
-
- -- --, =Bismarck.= Epische Erzählung. Geb. 5 M.
-
- -- --, =Die Brüder.= Eine Erzählung. Fünfundachtzigstes Tausend. Geb.
- 6,50 M.
-
- =*Ludwig Ganghofer*, Doppelte Wahrheit.= Neue Novellen. Sechstes
- Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Fliegender Sommer.= Novellen. Einundzwanzigstes Tausend. Geb.
- 5 M.
-
- -- --, =Das Schweigen im Walde.= Roman. Neue Ausgabe.
- Einundsechzigstes Tausend. Geb. 6,50 M.
-
- -- --, =Die Trutze von Trutzberg.= Eine Geschichte aus Anno Domini
- 1445. Sechsundvierzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Das große Jagen.= Roman aus dem 18. Jahrh. Geb. 7,50 M.
-
- =*Hans Ferdinand Gerhard*, In der Jodutenstraße.= Roman. Drittes
- Tausend. Geb. 4,50 M.
-
- =*Ola Hansson*, Der Schutzengel.= Roman. Geb. 4 M.
-
- =*Hermann Heiberg*, Reiche Leute von einst.= Roman. Geb. 4 M.
-
- =*Hans Hopfen*, Gotthard Lingens Fahrt nach dem Glück.= Roman. Geb.
- 5,50 M.
-
- =*F. Hugin*, Durch den Nebel.= Roman. Viertes Tausend. Geb. 4,50 M.
-
- =*Johannes Jegerlehner*, Marignans.= Eine Erzählung. Fünftes Tausend.
- Geb. 4,50 M.
-
- -- --, =Petronella.= Roman aus dem Hochgebirge. Fünftes Tausend. Geb.
- 4,50 M.
-
- -- --, =Grenzwacht der Schweizer.= Eine Erzählung. Siebentes Tausend.
- Geb. 2,50 M.
-
- =*Wilhelm Jordan*, Zwei Wiegen.= Ein Roman. Neue Ausgabe. Zwei Bände.
- Fünftes Tausend. Geb. 7 M.
-
- =*Adam Karrillon*, Michael Hely.= Roman. Neuntes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Die Mühle zu Husterloh.= Roman. Siebentes Taus. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =_O domina mea._= Roman. Sechstes Tausend. Geb. 5.50 M.
-
- -- --, =Im Lande unserer Urenkel.= Drittes Tausend. Geb. 5 M.
-
- -- --, =Bauerngeselchtes.= Sechzehn Novellen aus dem Chattenlande.
- Drittes Tausend. Geb. 4,50 M.
-
- -- --, =Adams Großvater.= Roman. Siebentes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- =*Joseph von Lauff*, Kärrekiek.= Roman. Zehntes Taus. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Pittje Pittjewitt.= Ein Roman vom Niederrhein. Zwanzigstes
- Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Frau Aleit.= Roman. Siebzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Die Tanzmamsell=. Roman. Siebzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Sankt Anne.= Roman. Fünfzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Revelaer.= Roman. Sechzehntes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =_Lux aeterna._= Roman. Elftes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Die Brinkschulte.= Roman. Zwölftes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Anne-Susanne.= Roman. Zweiundzwanzigstes Tausend. Geb. 5,50 M.
-
- -- --, =Sergeant Feuerstein.= Ein Roman aus großer Zeit.
- Vierundzwanzigstes Tausend. Geb. 6 M.
-
- =*Hermann Lingg*, Schlußsteine.= Neue Gedichte. Geb. 4 M.
-
- =*Fritz Philippi*, Adam Notmann.= Ein Leben in der Zelle. Roman. Geb.
- 4,50 M.
-
- =*Wilhelm Rabe*, Die Chronik der Sperlingsgasse.= Achtundneunzigste
- Auflage. Geb. 4 M.
-
- -- --, =Horacker.= Zweiunddreißigstes Tausend. Geb. 4 M.
-
- -- --, =Unruhige Gäste.= Ein Roman aus dem Säkulum. Siebente Auflage.
- Geb. 4 M.
-
- -- --, =Im alten Eisen.= Eine Erzählung. Siebente Auflage. Geb. 4 M.
-
- -- --, =Nach dem großen Kriege.= Eine Geschichte in zwölf Briefen.
- Fünfte Auflage. Geb. 3,50 M.
-
- -- --, =Die Kinder von Finkenrode.= Achte Auflage. Geb. 4 M.
-
- -- --, =Halb Mär, halb mehr.= Erzählungen, Skizzen, Reime. Zweite
- Auflage. Geb. 4 M.
-
- =*Otto Rodehorst*, Und wenn die Welt voll Teufel wär!= Eine
- Erzählung. Achtes Tausend. Geb. 2,50 M.
-
- =*Erich Scheurmann*, Ein Weg.= Roman. Geb. 5 M.
-
- -- --, =Abseits.= Sechs Erzählungen. Geb. 3 M.
-
- =*Gustav Schröer*, Die Flucht von der Murmanbahn.= Eine Erzählung.
- Achtes Tausend. Geb. 2,50 M.
-
- -- --, =Der Heiland vom Binsenhof.= Roman. Geb. 5,50 M.
-
- =*Ernst Schudert*, Ruhm.= Ein Novellenkranz um Friedrich den Großen.
- Fünfzehn Novellen. Drittes Tausend. Geb. 4,50 M.
-
- -- --, =Der Sturmwind Gottes.= Zwei Erzählungen. Geb. 5 M.
-
- =*Heinrich Wolfgang Seidel*, Der Vogel Tolidan.= Neun Erzählungen.
- Geb. 4,50 M.
-
- -- --, =Die Varnholzer.= Ein Buch der Heimat. Geb. 5,50 M.
-
- =*Heinrich Steinhausen*, Heinrich Zwiesels Ängste.= Eine Spießhagener
- Geschichte. Geb. 5,50 M.
-
- =*Konrad Telmann*, Bohémiens.= Roman. Geb. 6,50 M.
-
- =*Johannes Trojan*, Auf der anderen Seite.= Streifzüge am
- Ontario-See. Geb. 3 M.
-
- -- --, =Berliner Bilder.= Hundert Momentaufnahmen. Zweite Auflage.
- Geb. 4 M.
-
- =*Ernst von Wildenbruch*, Das schwarze Holz.= Roman. Sechzehntes
- Tauend. Geb. 5.50 M.
-
- -- --, =Lukrezia.= Roman. Siebzehntes Tausend. Geb. 6,50 M.
-
- =*Julius Wolff*, Till Eulenspiegel redivivus.= Ein Schelmenlied.
- Sechsundzwanzigstes Tausend. Geb. 4,80 M.
-
- -- --, =Der Rattenfänger von Hameln.= Eine Aventiure.
- Siebenundsiebzigstes Tausend. Geb. 4 M. 80 Pf.
-
- -- --, =Der wilde Jäger.= Eine Weidmannsmär. Hundertundachtes
- Tausend. Geb. 4 M. 80 Pf.
-
- -- --, =Tannhäuser.= Ein Minnesang. Zwei Bände. Vierundvierzigstes
- Tausend. Geb. 8 M.
-
- -- --, =Lurici.= Eine Romanze. Einundsiebzigstes Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Die Pappenheimer.= Ein Reiterlied. Fünfundzwanzigstes
- Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Renata.= Eine Dichtung. Dreiunddreißigstes Taus. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Der fliegende Holländer.= Eine Seemannssage.
- Siebenunddreißigstes Tausend. Geb. 5 M.
-
- -- --, =Assalide.= Dichtung aus der Zeit der provençalischen
- Troubadours. Siebzehntes Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Der Landsknecht von Cochem.= Ein Sang von der Mosel.
- Dreiundzwanzigstes Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Der fahrende Schüler.= Eine Dichtung. Vierzehntes Tausend.
- Geb. 6 M.
-
- -- --, =Der Sülfmeister.= Eine alte Stadtgeschichte. Zwei Bände.
- Vierundsechzigstes Tausend. Geb. 8 M.
-
- -- --, =Der Raubgraf.= Eine Geschichte aus dem Harzgau.
- Dreiundsiebzigstes Tausend. Geb. 7 M.
-
- -- --, =Das Recht der Hagestolze.= Eine Heiratsgeschichte aus dem
- Neckartal. Vierundvierzigstes Tausend. Geb. 7 M.
-
- -- --, =Das schwarze Weib.= Roman aus dem Bauernkriege.
- Sechsundzwanzigstes Tausend. Geb. 7 M.
-
- -- --, =Die Hohkönigsburg.= Eine Fehdegeschichte aus dem Wasgau.
- Vierunddreißigstes Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Zweifel der Liebe.= Roman aus der Gegenwart.
- Einundzwanzigstes Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Das Wildfangrecht.= Eine pfälzische Geschichte. Neunzehntes
- Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Der Sachsenspiegel.= Eine Geschichte aus der
- Hohenstaufenzeit. Achtzehntes Tausend. Geb. 6 M.
-
- -- --, =Singuf.= Rattenfängerlieder. Siebzehntes Tausend. Geb. 4 M.
- 80 Pf.
-
- -- -- =Aus dem Felde.= Gedichte. Vierte, vermehrte Auflage. Geb. 2 M.
- 50 Pf.
-
-
- =*Heinrich Federer*, Das Mätteliseppi.= Eine Erzählung. 25. Tausend.
- Geh. 5 M., geb. 6.50 M.
-
-Vor zwölf Jahren habe ich diese unvergeßliche Figur in einer Novelle
-behandeln wollen, und damals entstanden die Kapitel in der Webstube
-und im Pfarrexamen in einem mehr humoristischen Fadenschlag. Ich
-legte jedoch den unbefriedigenden Entwurf in die Schublade. Aber im
-Herbst 1915, im Süden und im Heimweh nach den Buchen und Äpfeln und
-Herzlichkeiten meines lieben Nordens, nahm ich die Papiere wieder
-vor und arbeitete sie nun zu einem ... ach freilich so dicken! ...
-Romane aus ... In die Schicksale des Ländleins und besonders der
-Spichtigerfamilie ist nun das Mätteliseppi so verstrickt und hält
-den Faden so stramm in der Faust, daß ich statt des ersten Titels
-»Die Spichtiger« lieber seinen klassischen Namen »Das Mätteliseppi«
-setzte. Es stört die Einheit der Erzählung keineswegs, stärkt sie
-eher und gleicht in seiner rauhen und massiven Gewalt einem Berge,
-in dessen wechselndem Schatten sich eine kleine Menschheit und
-Menschheitsgeschichte entwickelt und bald behindert, bald gehoben ans
-ordentliche Ziel gelangt.
-
-So hat es denn wirklich ein solches Mättelisepi gegeben? Seinen
-Webstuhl und harten Flachsscheitel, seinen langen Stecken, sein
-Unterrichtsgenie und seinen mörderlichen Kleiderkasten als Arrest?
-Seine Helgen und Mären? wie? ... Ich antworte: all das auf den letzten
-Tupf! Viele hundert Obwaldner werden euch das mit einem aus Respekt und
-Schalkheit gemischten Lächeln bestätigen und noch reichlich glossieren
-können. Und auf dem Friedhof von Sachseln findest du die Horat und
-Molin und Herri und Tonoli, indessen der damalige Helfer Ludowig noch
-heute, im Silber von fünfundsiebzig Jahren, als geistliche Spitze des
-Kantons tapfer seines Amtes waltet ... Von all den vielen Knaben und
-Mädchen, dem seltsamen Josef Tonoli zum Beispiel, der kalten, eitlen
-Orla, dem kühnen, wilden Herri und dem glücklichern von Aar bis zum
-Trunzibub hinauf und zur Botin Trunz selber und den Spichtigerleuten
-als den Hauptpersonen des Romanes, von all dem ist keine Faser eitle
-Phantasie dabei. Sie alle sind genau so in Fleisch und Blut und
-starken Knochen an mir vorbeigegangen. Ich habe nur Namen geändert und
-Örtlichkeiten verschoben. Viele leben noch, die meisten ruhen.
-
-Soll ich sagen, ob auch die tiefen Leiden und Zweifel und seelischen
-Erhebungen im Buche historisch sind? Da erlasset mir das Wort. Das
-sollet nun ihr sagen, die ihr das Buch leset!
-
- Heinrich Federer (in Grote's Weihnachtsalmanach 1916).
-
-
- =*Ludwig Ganghofer*, Die Trutze von Trutzberg.= Eine Geschichte aus
- anno Domini 1445. 46. Tausend. Geh. 4 M., geb. 5,50 M.
-
-Ganghofer hat mit seinem neuesten Roman dem deutschen Volke eine
-prächtige Gabe beschert. Er führt seine Leser um ein paar Jahrhunderte
-zurück in jene Zeit, da politische Forderungen die schöne Agnes
-Bernauerin von der Seite des Bayernherzogs rissen. Wie ein düsterer,
-unheimlicher Ton klingt dieses Ereignis durch die Wirrnisse der Fehde,
-die die Trutze von Trutzberg mit ihren Burgnachbarn auszufechten haben.
-Gleichzeitig beleuchtet es die Liebesgeschichte des Romans, die sich
-zwischen dem Fräulein von Puechstein und dem Schäfer Lienhart abspinnt.
-Hierbei ist Ganghofer die schwierige Aufgabe restlos zu lösen gelungen,
-seine Leser für das ungleiche Liebespaar einzunehmen. Von der ersten
-Bekanntschaft mit dem Schäfer Lienhart an muß man diesem Naturburschen
-gut sein, so kernfest und treu-deutsch ist der junge Träumer und Held
-gezeichnet. Deshalb versteht man das junge Edelfräulein, wenn es sein
-Herz an den verachteten Schäfer verliert und einem verderbten Junker
-den Laufpaß gibt. In treffenden Gegensätzen entrollt der Dichter ein
-Bild vom Leben und Treiben in der vom Feinde belagerten Burg. Sein
-köstlicher, echter Humor kommt dabei in vollem Umfang zur Geltung. --
-Ganghofers Buch kommt gerade zur rechten Zeit. Es wird vielen, unter
-der Gegenwart Mühseligen und Beladenen, eine rechte Erquickung sein,
-denn der Quell, der es genährt hat, heißt Gesundheit.
-
- Dresdner Nachrichten.
-
-
- =*Ludwig Ganghofer*, Das Schweigen im Walde.= Roman. Neue Ausgabe.
- 60. Tausend. Geh. 5 M., geb. 6,50 M.
-
-Hinauf auf die Berge und in den Hochwald führt der Dichter seinen
-im Getriebe der Großstadt flügellahm gewordenen Helden und läßt
-ihn gesunden am immer frischen Born reiner, hehrer Gottesnatur und
-inmitten ihrer kernfesten, urwüchsigen Menschen. Charakteristisch
-und scharf gezeichnet treten sämtliche Gestalten der interessanten,
-reichbewegten Handlung gleichsam leibhaftig vor uns und erregen unsere
-warme Sympathie bei allen ihren Leiden und Freuden. Den Mittel- und
-Glanzpunkt der Dichtung aber bildet die herrliche Gebirgsnatur der
-Tiroler Alpen, deren äußere Erscheinungen in edler, von poetischem
-Zauber durchwobener Sprache mit einer plastischen Anschaulichkeit
-geschildert sind, die Herz und Sinn des Lesers unwiderstehlich gefangen
-nimmt.
-
-
- =*Adam Karrillon*, Adams Großvater.= Roman. 7. Tausend. Geh. 4 M.,
- geb. 5.50 M.
-
-Adam Karrillon gehört zu den im deutschen Schrifttum nicht seltenen
-Dichtern, die erst im gereiften Mannesalter aus einem im vollen
-Leben tätigen Beruf in die Literatur gekommen sind. Im Odenwald,
-in einem kleinen Waldnest geboren, war er von Jugend an mit Land
-und Leuten seiner Heimat vertraut, später als Landarzt hatte er in
-jahrzehntelanger Praxis im näheren und weiteren Bezirk Gelegenheit,
-Herz und Nieren zu prüfen, seine Menschenkenntnis zu erweitern und zu
-vertiefen. Als Karrillon als 47jähriger seinen ersten Roman herausgab,
-merkte man gleich, daß da ein Eigener auftrat, einer, der aus dem
-vollen schöpfte, der nicht in der Schreibstube nach einer landläufigen
-Mode oder den Geboten einer »Richtung« einen Roman zusammenbastelte,
-sondern die Erfahrungen eines Lebens vor uns ausbreitete, mit einem
-grimmigen Humor, mit innerer Heiterkeit, oft mit Wehmut, knorrig,
-kraus, sehr deutsch von Leben und Schicksalen seiner Leute erzählte.
-So gab er in seinem ersten Buche, dem »Michael Hely«, ein Bild des
-Odenwälder und Schwarzwälder Bauernvolkes, nicht verschönert und
-verniedlicht, wie weiland Auerbach und Defregger es taten, auch nicht
-so einseitig verzerrt und verroht, wie viele Moderne, sondern etwa
-so wie Leibl gemalt hat, so stark, so wahr, so unerbittlich und doch
-liebevoll. Dann kam die »Mühle zu Husterloh«, ein bei aller Komik
-tiefernstes Buch, das die Erwürgung eines patriarchalischen ländlichen
-Mühlenbetriebes durch ein modernes »Etablissement« zum Gegenstand hat,
-endlich der Roman »_O domina mea_«, welcher mit einem heiteren, einem
-nassen Auge das Geschick und die Liebe eines Bauernarztes erzählt.
-Viel eigenes Leben und Leid des Dichters klingt hier schon auf. Nach
-zwei kleineren Büchern, der launigen Schilderung einer Afrikafahrt und
-einem Bande lustiger Bauernhistörchen tritt Karrillon nun wieder mit
-einem größeren Bauernroman hervor, in dem er sein eigenes Geschlecht,
-sein eigenes Jugendland darstellt. Ganz unverfälscht ist wieder
-das Bauernvolk vorgeführt, der echte urwüchsige Bauer, das noch
-ungebrochene deutsche Volkstum. Gestalten, wie den hartschädeligen, auf
-seinen ererbten und mühsam vergrößerten Besitz stolzen Großvater, den
-sie wegen seines Reichtums den »Kurfürsten« nennen, seinen windigen,
-arbeitsscheuen Sohn, der jeder Schürze nachläuft und das väterliche
-Erbe in Saus und Braus durchbringt, vergißt man nicht. Wieder leuchtet
-Karrillons herzhafter Humor mildernd und versöhnend durch Leid und
-Leidenschaft, wieder erfreut eine markige, in ihrer Bilderpracht oft an
-Shakespeare gemahnende Sprache.
-
-
- =*Gustav Schröer*, Der Heiland vom Binsenhofe.= Roman. Geh. 4 M.,
- geb. 5,50 M.
-
-Ein starkes, gutes und schönes Werk, aus der Tiefe und Fülle
-menschlicher Empfindung und Erkenntnis geschöpft, edel im Gegenstand,
-frei und maßvoll in der Gesinnung, geradlinig in der Führung,
-einheitlich und geschlossen in der Erfindung und Darstellung, ohne
-bilderreichen Überschwang und doch dichterisch beseelt, lebendige
-Menschen und wirkende Natur, überzeugend und ergreifend. Es ist nur
-eine einfache Bauerngeschichte, aber sie umspannt in ihrer kleinen
-Welt den ganzen ewigen Kampf der Schwachen gegen die Mächtigen, der
-Vernunft gegen den Aberglauben, der Güte gegen die Gemeinheit, der
-Selbstlosigkeit gegen die Leidenschaft. Und als symbolischer Vertreter
-dieses Kampfes erscheint der Schicksalsmensch, dem gerade seine besten
-Eigenschaften einen tragischen Untergang bereiten und dem, wie seinem
-göttlichen Vorgänger, im Leben zum Spott, im Tode zum Ruhm der Name des
-»Heilands« zuteil wird.
-
-Gustav Schröer hat bereits durch die im vorigen Jahre in unserer
-»Sammlung« erschienene Erzählung »Die Flucht von der Murmanbahn« und
-andere Werke starke Talentproben abgelegt; durch dies neue Werk, das
-einen bedeutenden Stoff in bedeutender Weise behandelt und in seinen
-Folgerungen eine ernste Mahnung für vielleicht bevorstehende Tage ist,
-hat er Anspruch, in weitesten Kreisen des deutschen Volkes gehört zu
-werden.
-
-
- =*Gustav Schröer*, Die Flucht von der Murmanbahn.= Nach den Berichten
- eines Torgauer Husaren. 8. Tausend. Geh. 2 M., in Pappband geb. 2,50
- M.
-
-»Dieser Roman eines Torgauer Husaren ist wahrhaftig die beste
-Abenteuergeschichte, die ich kenne: ganz einfach erzählt und dabei doch
-fabelhaft eindrucksvoll.«
-
- Fedor v. Zobeltitz.
-
-»Das schöne Buch hat alle Anwartschaft, ein Volksbuch zu werden.«
-
- Carl Busse.
-
-»Am herrlichsten seit langem dünkt mich >Die Flucht von der
-Murmanbahn<. Wie frisch, wahr, tüchtig! wie ist man dabei und leidet
-und hofft und bangt mit! Und wie ist einem das Fensterlicht tief
-unten an der norwegischen Küste dann selbst eine wahre Erlösung! Eine
-ähnliche Natürlichkeit in Nerv und Seele findet man fast nie in den
-ähnlichen abenteuerlichen Werken.«
-
- Heinrich Federer.
-
-
- =*Heinrich Wolfgang Seidel*, Die Varnholzer.= Ein Buch der Heimat.
- Geh. 4 M., geb. 5,50 M.
-
-Heinrich Wolfgang Seidel, der Sohn des Leberecht Hühnchen-Dichters, der
-sich durch seine Novellen »Der Vogel Tolidan« und »Ameisenberg« bereits
-einen anerkannten Namen in der Literatur erworben hat, tritt hiermit
-mit seinem ersten Roman hervor, einem sehr liebenswürdigen Buche, voll
-von Reizen der Stimmung und dichterischer Anschauung, voll Witz und
-Laune und liebevollem Eingehen auf das Seelenleben der betrachteten
-Menschen.
-
-Die Varnholzer sind der Freundeskreis des Anwaltes Varnholz, der mit
-seiner Frau und seinen beiden Kindern im Mittelpunkt dieses Buches
-steht. Er zieht in den Kampf gegen Rußland, wird gefangen und gewinnt
-nach abenteuerlicher Irrfahrt die Heimat aufs neue. Dennoch ist die
-Erzählung weniger eine Darstellung kriegerischer Vorgänge, als der
-Versuch, in anschaulichen Bildern die Erlebnisse der deutschen Seele
-widerzuspiegeln. Eine Fülle von Gestalten erlebt Frieden und Krieg,
-und jede offenbart ein Stück deutschen Wesens. Heitere und tragische
-Züge sind miteinander ausgeglichen, der Schauplatz wechselt vielfach,
-und der Leser wird geführt durch Weltstadt und ländliche Gemeinschaft,
-nach Weimar ebenso wie in die polnische Öde. Das Erleben der
-Kleinstadtbürger und der Künstler, der dumpfen Masse und des einzelnen
-Kulturträgers, der Wagemut des Mannes und die betende Geduld der Frau,
-Kinder-Weihnachten und die Irrwege der in Selbstsucht Strauchelnden,
-die grenzenlose Liebe zum Vaterland, aber auch die Vision Christi,
-dessen Erbarmen den *Menschen* sucht, -- alles das vereinigt sich in
-einem Akkord und läßt doch jeder Erscheinung ihre eigene leidvolle oder
-triumphierende Stimme.
-
-
- ==Heinrich Wolfgang Seidel=, Der Vogel Tolidan.= Neun Novellen. Geh.
- 3 M., geb. 4,50 M.
-
-*Inhalt*: Der Vogel Tolidan -- Engelmann -- Advent -- Die Königsprobe
--- Arm Wendelin und die schöne Susanne -- Die Bibliothek des möblierten
-Herrn -- Ein Ferientag -- Herrn Honolts Abenteuer -- Die Ballspielerin.
-
-
- =*Heinrich Wolfgang Seidel*, Ameisenberg. Die spanische Jacht.= Zwei
- Novellen. Kart. 1,80 M., geb. 2 M.
-
-
-
-
-Bei der Transkription vorgenommene Änderungen und weitere Anmerkungen:
-
-Der Abschnitt "Bücher von Ludwig Ganghofer:" wurde vom Anfang des Buchs
-an das Ende verlegt, vor die sonstigen Verlagsanzeigen.
-
-In "Sonst hätt ich doch nit die zwei weißen Fähnlein deiner Torheit
-aufgesteckt, wo du sie sehen hast müssen auf den ersten Blick." stand
-"Fähnlen" statt Fähnlein.
-
-In "Ihr wollt doch wohl nicht sagen: >In der ersten<?" fehlte
-das schließende einfache Anführungszeichen. Dies wurde nach
-Sinnzusammenhang hinter "ersten" ergänzt.
-
-Im Abschnitt "Grote'sche Sammlung v. Werken zeitgenöss. Schriftsteller"
-stand im Original, wenn die Liste der Werke eines Schriftstellers über
-einen Seitenumbruch ging, am Anfang der neuen Seite noch einmal dessen
-Name. Dies wurde ersetzt durch die Form "-- --," welche auch sonst
-anzeigt, dass das nächste Werk von demselben Autor stammt.
-
-
-
-
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-End of the Project Gutenberg EBook of Das große Jagen, by Ludwig Ganghofer
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-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GROßE JAGEN ***
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diff --git a/58219-h/58219-h.htm b/58219-h/58219-h.htm
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Das große Jagen, by Ludwig Ganghofer
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
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-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
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-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Das große Jagen
-
-Author: Ludwig Ganghofer
-
-Release Date: November 1, 2018 [EBook #58219]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GROßE JAGEN ***
-
-
-
-
-Produced by Heike Leichsenring and the Online Distributed
-Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-</pre>
+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58219 ***</div>
<p>Grote'sche Sammlung von Werken
zeitgenössischer Schriftsteller Band 133:</p>
@@ -20450,379 +20416,7 @@ Autor stammt.</li>
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Das große Jagen, by Ludwig Ganghofer
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS GROßE JAGEN ***
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+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 58219 ***</div>
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