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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-02-03 17:17:43 -0800 |
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If you are not located in the United States, you'll -have to check the laws of the country where you are located before using -this ebook. - - - -Title: Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3) - -Author: Richard Dehmel - -Release Date: July 16, 2020 [EBook #62673] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI *** - - - - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -https://www.pgdp.net - - - - - - - #################################################################### - Anmerkungen zur Transkription - - Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe - so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische - Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und - altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original - unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert. - - Das Inhaltsverzeichnis (‚Übersicht‘) wurde vom Bearbeiter an den - Anfang des Buches verschoben. - - Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere - Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden Sonderzeichen - gekennzeichnet: - - kleinere Schrift: _Unterstriche_ (für Regieanweisungen) - gesperrt: +Pluszeichen+ - Antiqua: ~Tilden~ - - #################################################################### - - - - -[Illustration] - - - - - Richard Dehmel - - Gesammelte Werke - - in drei Bänden - - Dritter Band - - S. Fischer, Verlag, Berlin - - - - - 22. bis 24. Tausend - - Alle Rechte vorbehalten, auch das der Übersetzung - Copyright 1913 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin - - - - -Übersicht - - -(Die mit * bezeichneten Stücke sind neu aufgenommen) - - Seite - - Lebensblätter - - Die Rute 7 - - Der Werwolf 24 - - Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht 36 - - Das Gesicht 45 - - *Das hölzerne Bein 52 - - Die gelbe Katze 60 - - Die Gottesnacht 67 - - - Betrachtungen - - Kunst und Volk 101 - - *Nationale Kulturpolitik 111 - - Kunst und Persönlichkeit 117 - - *Das Buch und der Leser 126 - - *Philosophische und poetische Weltanschauung 133 - - *Der Olympier Goethe 137 - - *Grabrede auf Liliencron 141 - - Naivität und Genie 144 - - Kultur und Rasse 168 - - - Schauspiele - - Die Menschenfreunde 193 - - *Michel Michael 269 - - - - - Lebensblätter - - Novellen in Prosa - - Auswahl - - - - -Die Rute - -Eine bedenkliche Geschichte - - -Er mußte selber lachen. Wenn ihn einer so sähe: jetzt, mitten in der -Julihitze, die Ofentür aufschraubend. Und nun hinein mit der Rute -in das offene Loch! Er bückte sich noch tiefer und freute sich, wie -die harten Birkenreiser die dünne Schicht Asche zerritzten. Die war -noch vom Winter her; das kühle Ockergelb der sanften Fläche tat ihm -ordentlich wohl. Da lieg du! - -Er machte langsam wieder zu. Ja, das fehlte noch grade: dieser Popanz -im Hause. „Gott sieht, Gott hört, Gott straft“ -- er richtete sich auf --- das hatte er glücklich abgeschafft; nun sollte wohl die Rute hinterm -Spiegel Jehovah spielen. - -Diese Mütter! eine wie die andere. Es mußte doch noch immer etwas -unbewußte Judenseele in ihr stecken: du sollst, mein Kind, weil deine -Eltern das so wollen. Na warte, Schatz! - -Er setzte sich an seine Arbeit zurück. Ein unverschämter Sonnenstrahl -stach blendend von der Wand her über den Schreibtisch weg; grade von -dem Bild der Beiden her. Er rückte zur Seite und ließ den Eindruck -auf sich wirken. Hm: ruppig genug sah sein Töchterchen aus, da unter -der grellen Glasplatte auf der schwülen Kupfertapete: so den Finger -im Mäulchen, neben der mild zuredenden Mutter. Köstlich, dieser -eigensinnige Moment. - -Und nun sollten dem heißen Herzchen diese Momente wohl mit der Rute -ausgetrieben werden: ein artig Kindchen, eine Puppe aus ihr werden. -Heilige Mutterliebe! - -Als ob sie nicht Zeit genug hätte, die Einsicht der Kleinen zu üben! -den ganzen Tag über! während Er sich um das bißchen Leben placken -mußte. Und sie hatte doch zur Genüge an sich selbst erlebt, und auch -an ihm, daß nur die Einsicht, die wirklich bewußte Selbstanschauung, -den Menschen ein bißchen menschlicher macht. Aber natürlich: „Kinder, -die wissen nichts von sich“ -- und da ist es für die liebe Mutter viel -bequemer, sie mit der Rute zu traktieren. Als wenn Eltern wüßten, was -solch Kind für seine Zukunft darf und nicht darf. - -Ja, das würde wohl nun wieder einen zähen Kampf der Seelen geben. Wie -sie neulich reizend fein gelächelt hatte, als sein polnischer Freund -ihn im Scherz den Hahnrei seines Bewußtseins nannte. Ja, das war Wasser -auf die Mühle ihrer weiblichen Unwillkürlichkeit. - -Er mußte wieder lachen. +Das+ Gesicht: wenn sie nun im Oktober zum -ersten Mal wieder heizen würde und ihr dann die Rute aus dem gelben -Loch entgegenstarrte, die langvermißte. Vielleicht grade an seinem -Geburtstag. Wie sie sich dann nach ihm umdrehn würde, mit ihren goldnen -Augen, ihren dunkeln, da beim Ofen knieend. Und das rechte Auge, ihr -Wesensauge, würde groß und ruhig von Verständnis leuchten, und von -Einverständnis; aber in dem kleineren, linken, dem Gattungsauge, durch -die Wimperschatten des zu schwachen Lides, würde dieser frauenhafte -Vorwurf zittern, daß sein vorbedachtes Schweigen sie wohl habe -beschämen sollen. Still um ihre schmalen Lippen würde ein neuer Wille -dämmern, bis in die zärtlichen Mundwinkel hin; und dann würde er zu ihr -treten und sie küssen wie damals, als sie sich noch lieben mußten, als -sie noch nicht Freunde waren. - -Er stand auf. Blos fünf kleine Schritte bis zum Ofen. Wie das schmale -Zimmer ihn getäuscht hatte! Oder das lange Mittelfeld des persischen -Teppichs? -- Er sah die wunderlichen Ranken des bunten Bortenmusters in -der Mittagssonne glühen. Er fühlte die Freude wieder, wie sie ihm zum -vorigen Geburtstag das schöne alte Ding von ihrem Spargeld geschenkt -hatte. Er sah hinüber auf sein Arbeitsfleckchen und lächelte. - -Aber grausig öde war sie wirklich, diese ewige juristische -Begriffsstoppelei! Noch dazu jetzt, mitten im blühenden Sommer. - -Er trat ans Fenster und sah das dunkelblanke Blättergrün der magern -Pappel drüben vor der grauen Straßenfront im heißen Himmelslicht -blitzen; wie allein sie stand, so mitten in der Großstadt. Die -Kupfertapete des Zimmers kam ihm immer schwüler vor. Ja, er mußte mal -wieder hinaus in den Wald! zum Vater Förster! Richtig: morgen, zu -Mutters Geburtstag! Den hätt er beinah wieder vergessen. - -Gott ja, das Elternhaus --: am Eichenhain, am Pappelbach, rings weit -am Waldrand hin das freie Feld, die hellen Wiesen, und fern am andern -Horizont die kleine Ackerbürgerstadt mit dem kümmerlichen alten -Kirchturm, dem gelbgetünchten Schulhaus --: Kindheit. - -Er setzte sich. Der Alte, der natürlich würde wieder tun wie Rübezahl: -als ob der unverhoffte Eintritt seines Ältesten ihm höchstens seinen -grimmigen Bart verwirren könne. Blos die stahlblauen Augen würden -plötzlich etwas dunkler schimmern unter den silbrigen Brauen, -die kleinen scharfen Pupillen eine Sekunde lang größer sein, die -Backenfurchen um die mächtige Nase ein bißchen tiefer werden: „Na, -Junge?“ - -Er hatte doch wahrhaftig noch immer etwas wie Gewissensangst vor -diesem wetterroten Gesicht mit dem dichten, fast schon weißen Bart -und Kopfhaar, dieser Hakennase und dem strengen, forschenden Blick, -der zuweilen doch so herzlustig blitzen konnte. So hatte er als Kind -sich immer den lieben Gott gedacht; geträumt. Damals wohl aber noch -dunkelbärtig. - -Die dicken Falten um die Nasenwurzel, ja und die schroff geschwungene -Stirn, die hatte er vom Vater; nur die Augen, die waren wohl mehr nach -der Mutter geschnitten, auch mehr grau als blau, mehr Stimmung als -Wille. „Du bist wohl wunderlich, Jung?“ das war von je ihr herbster -Tadel gewesen; sie verstand jeden Menschen mit ihrer Nachsicht. Du -liebes Mutterherz: morgen! -- - -O, wie würde ihre ganze schlanke Gestalt von warmer Liebe zittern, -von fast ängstlicher Freude, bis hinauf ins wellenkrause Schläfenhaar, -die grauen Augen, die vielen Runzeln der feinen Züge, all die kleinen -Sorgenfältchen um den hagern Mund, die Runen der Mutterschaft. Ja, sie -war immer noch schön, die alte Mutter; aber ihr Schönstes doch die -gütigen Lippen, so umstrahlt von Runzel an Runzel. Das war ihm immer -wie der Ausdruck ihres ganzen zärtlichen Lebens; als zuckte in diesen -vielen Fältchen tiefrot ihr verschwiegenes Herz, wie um den feinen -Purpursaum am Stempelkrönchen der Narzissenblüte der keusche Geruch der -gelblichen Narbenfalten. - -Denn Narzissen, ja, das waren ihre Lieblingsblumen. O, wie sie die zu -pflanzen wußte! Nur einzeln durften sie stehen, hin und wieder, die -reinen, weißen, ruhigen Sterne über dem grünen Gartenrasen, daß die -zarte bräunliche Kelchblatthülle oben um den schlanken Stengel deutlich -sichtbar war an jeder, wie ein langer dänischer Handschuh um den Arm -einer adligen Dame. Ja, sie verstand die ganze Welt. - -Und morgen würde er sie küssen, und sie würde ihren wunderlichen Jungen -auch verstehen, wenn er dann allein hinaus ins Freie ginge, irgendwo -an eine Wald-Ecke hin, wo der schattenschaukelnde Wind durch ein -Lupinenfeld herüberstriche. Wie er ihn schon roch, den süßen Geruch -der tausend goldgelben Blütenkerzen, so am Rand des sammtgrüngrauen -Fingerblättermeeres liegend, mit der heißblauen Himmelsglocke drüber; --- warum war er blos Jurist geworden?! - -Dieser Dummejungentick. Blos um dem Alten zu zeigen, daß er seine -paar Groschen nicht nötig habe, auch zum teuersten Studium nicht. Und -nun -- nun war er Rechtsanwalt: Er mit seinem Achselzucken über alles -sogenannte Recht. Er würde doch noch Schriftsteller werden. Hol der -Teufel die Kundschaft! - -Aber Weib und Kind? Und dann würde der Alte von neuem über verrückte -Projekte reden und die Mutter wieder Gram auf ihre alten Tage haben; -sie sah ihn ohnehin schon immer mit der stillen Scheu des Mitgefühls -bei seinen Besuchen an. - -Nun, morgen würde er die Kleine mitnehmen. Sie war jetzt Mensch genug, -ihn zu begleiten; und dann würde eitel Innigkeit und Einigkeit im -Forsthaus herrschen, wie neulich zu Ostern, als seine Frau ihn mit -der Kleinen begleitet hatte. Dann würden die Eltern sich mehr als -Großeltern fühlen und an den Sohn nicht soviel Fragen stellen, soviel -verfängliche Lebensfragen. - -Er erhob sich und öffnete die Tür. „Recha!“ rief er über den Flur. Dann -setzte er sich zurück an den Schreibtisch und nahm ein Aktenstück zur -Hand. - -„Erich?“ trat sie fragend ein, die Finger auf der Klinke lassend. - -Er blickte auf. „Wo ist die Kleine?“ - -„Spielen gegangen; sie muß bald wiederkommen.“ Sie drückte die Klinke -fest; es klang, als ob sie etwas von ihm wollte. - -Er schob sich wieder vor den Aktenstoß. Wie schön es ihm noch immer -war, dies edelsemitische Nasenprofil, zu dem die braune Flechtenkrone -um die Stirn so königlich paßte, daß die kleine Gestalt dadurch größer -schien. Er liebte sie +doch+ wohl noch. Also Vorsicht! Jetzt trat -sie hinter seinen Stuhl. - -„Du! Erich!“ - -„Hm?“ - -„Ich muß dir etwas sagen. Ich habe gestern eine Rute gekauft.“ - -„So?“ - -„Ja. Es ging nicht mehr anders. Wirklich: sie wird mir gar zu unnütz.“ - -„Detta oder die Rute?“ - -„Nein du, wirklich, es ist mir ernst.“ - -„Mir auch!“ Er drehte sich um nach ihr. „Übrigens möchte ich morgen zu -den Eltern fahren und die Kleine mal allein mitnehmen; mach mir, bitte, -den Rucksack zurecht.“ Sie nickte. „Aber bitte, nur das Nötigste; auf -zwei Tage blos.“ Sie nickte wieder. „Und -- na aber, was hast du denn?“ -Sie kämpfte mit Tränen. - -„Erich!“ Sie bezwang sich. Nur das linke Auge kämpfte noch. Er zog sie -an sich. - -„Sieh mal, Herze, verzeih! Aber wirklich: was sollt ich wohl erwidern? -Du kennst doch meine Ansicht! Kinder sind doch keine jungen Affen; -wenigstens dann nicht mehr, wenn die beliebte Prügeldressur beginnen -soll. Du nennst die Detta bockig, und wer weiß was alles, weil --: blos -weil sie jetzt im dritten Jahr ist. Wenn sie im zwanzigsten sein wird, -wirst du das Charakter an ihr nennen.“ - -„Aber --“ - -„Nein; genug jetzt, bitte. Ich wäre heute auch was Bessers, hätte mich -der Hundekantschu meines Alten nicht immer eigensinniger gemacht. Bring -ihr Pflichtgefühle bei, soviel du willst; aber nicht mit Schlägen, -muß ich bitten.“ Er wies auf seinen Bücherschrank: „Da! lies was über -Suggestion! Du hast doch deinen bewußten Willen.“ Um ihre Mundwinkel -huschte etwas wie ein feines Lächeln. Aha! sie dachte an den Hahnrei -des Bewußtseins; dieser verdammte Pole! -- „Die Rute jedenfalls verbitt -ich mir.“ Beinahe hätte er nach dem Ofen gezeigt. - -„Du scheinst auf meinen bewußten Willen grade nicht viel Wert zu legen.“ - -Er ließ sie los. „Schockschwerenot! nun werde gar noch empfindlich!“ - -„Nun, nun“ -- begütigte sie sogleich; und wieder dies huschende Lächeln. - -„Na, was lachst du denn in einem fort!“ - -„Ich?“ Sie sah ihn groß und ruhig an. - -Da flog die Tür auf. „Hater! ich habe beide Hände voll Sonne!“ kam das -Ungestümchen hereingewirbelt. Wie ihr die blonden Lockenfäden um die -heißdunkeln Augen hingen! und um das merkwürdige Trotznäschen! „Sieh -mal, Mutter!“ öffnete sie die Fäustchen. - -„Willst du morgen mit Hater zu Ovater fahren?“ fragte die Mutter. - -„Nein!“ fuhr das Näschen in die Höh. - -„Aber Ovater wird sich so freuen, und die liebe Omama!“ - -„Großmutter!“ betonte er. - -„Nein!“ stampfte das Beinchen. - -„Na, dann bleib nur hier“ -- er nahm sacht ihre Händchen und strich -langsam jeden Finger gerade. „Dann wird Vater ganz allein die große -schwarze Juno bellen hören -- wau-wau-wau“ -- er fixierte sie -- -„und die bunten Tuckehühnchen spielen sehen“ -- er ließ die Händchen -plötzlich frei -- „tuck-tuck-tuck, ücke-rü-üh! -- Und --“ - -„Große Muhkuh! Detta +doch+ mit!“ hob sie hüpfend die Ärmchen aus -einander. „Tuck-tuck-tuck, sehr lieb“ -- jubilierte sie und umschlang -die Kniee der Mutter. - -Die nickte ihm zu, verständniswillig. Blos: schon wieder dies unbewußte -Mundwinkelzucken! -- - - * - -Der schwerfällige Post-Omnibus rumpelte aber wirklich etwas sehr -vorsintflutlich. Und die holprige Landstraße hätte auch wohl längst -eine neue Schüttung vertragen können. So konnte man ja seekrank werden -auf den zersessenen Sprungfedern. - -Er reckte sich und wollte den Hut aus der Stirn schieben. Aber die -heiße Vormittagssonne stach grad an dem schlafenden Kutscher vorbei -prall in den offenen Vordersitz; das Braunrot des verschossenen -Polsterplüsches schweelte schon beinah wie versengt. „Schweiß und -Staub -- Schweiß und Staub“ -- hörte er die beiden Gäule ihren -gewohnten Klappertrab traben. Die jungen Rüstern an der sandigen -Straßenkante sahen aus, als bedürften sie vor Hitze selbst des -Schattens. - -„Hater“ -- und sinnend zeigte die Kleine auf den nickenden Fuhrmann vor -sich -- „ßpielt die Feitße mit dem Wind?“ Die Peitsche wippte in der -Hand des Schlafenden im Takt der Gäule hin und her; die Zügel in der -andern Hand mußten wohl die Bewegung vermitteln. - -„Nein, mein Kind, der Wind ist weggegangen von der Peitsche.“ - -„Wo ist denn der Wind?“ - -„Schlafen gegangen.“ - -„-- ßlafen gangen?“ - -„Ja“ -- - -„Wo ßläft er denn?“ Herrgott, dies ewige Gefrage! - -„Er schläft!“ Sie war doch wirklich ein unglaublicher Quirl. - -„Er ßläft?“ - -„Ja!“ - -„Wo denn?“ - -„Auf den Wolken.“ - -„Wolken?“ fragte sie zögernder. - -„Ja“ -- sagte er kleinlaut und blickte weg; kein einziges Wölkchen -stand am Himmel. - -„Wo denn aber?“ fragte sie ebenso kleinlaut. - -Er schwieg. - -Wie sie ihn schon in der Eisenbahn mit ihrer Neugier fortwährend -gepeinigt hatte! Na, Gott sei Dank: jetzt schien sie auch mit -einzuschlafen. „Schwarzer, Brauner“ -- „Schwarzer, Brauner“ -- hörte er -wieder den Trott der Gäule. Jetzt war sie schon im Nicken. Die Peitsche -hatte sie wohl eingewiegt. - -Er dachte an gestern. Es mochte doch wohl nicht ganz leicht sein, -sie immer und immer um sich zu haben. Wie seine Mutter wohl mit ihr -auskommen würde? „Du wunderlicher Jung’!“ - -Eigentlich könnte er den Sonnenschirm aufspannen, den ihm Recha -gestern als Geburtstagsgeschenk schon in Bereitschaft gehalten hatte; -in manchem war sie doch sehr vorbedacht. Er langte nach dem sorgsam -eingehüllten Ding. Aber der Staub, der würde es unsauber machen. Es -war doch schließlich ein Geschenk für die Mutter! Das nimmt man doch -nicht in Gebrauch vorher. Ach Torheit: kindische Rührgefühle! Nein, -Ehrfurcht: der Geburtstag der Mutter! -- - -Ob seine Geschwister das heute wohl auch so fühlten? verstreut in der -Fremde, geboren aus Einem Schooß, der heute vor Jahren und Jahrzehnten -in andrer Fremde geboren worden. Schooß aus Schooß -- er blickte sein -Kind an --: und Schößling neben Schößling. Er sah die nahen jungen -Bäumchen an der Straßenkante vorüberschwinden, jedes ewig den andern -fern. Er sah sie in der Ferne der Alleeflucht eng zusammenrücken, immer -enger; sie führten in die Heimat -- von ihr her -- fort, fort von ihr --- o Elternhaus! -- - -Ja, so von ferne, jetzt: wie dehnte sich sein Herz den alten Eltern -entgegen! Und dann, wie hob’s ihm die Arme hoch, hin um ihren Hals, -im ersten Augenblick des Wiedersehens; immer noch. Dann war er ganz -ihr Kind, ihr Blut, Leben von ihrem Leben, hingegeben, unbewußt, wie -ans Herz der Natur. Er sah sich schon kopfbückend in die kleine Stube -treten, durch die niedrige Tür, sah Lindenzweige an die Fensterscheiben -tippen, sah die zwei blanken Schränke aus Birkenholz, die Gewehre und -Rehgehörne, das wohlig grüne Schattenlicht. - -Doch dann -- dann trat auch schon das andre Leben mit ihm ein und -zwischen sie: das mit den Zweckfragen, die der Mensch sich stellt, der -Mensch im Gegensatz zur Natur und also auch zum Mitgeschöpf, zu jedem -Allernächsten grade: das Leben des umgestaltenden Geistes, der bewußt -gewordene Wille zur Zukunft, der ewige Kampf um neue Kultur. - -Dann war er nicht mehr Kind, sie nicht mehr Eltern; dann war er ein -Junger, sie noch die Alten. Dann war die liebe Muttersprache -- o -heiliges Wort dem Fühlenden -- kein Verständigungswerkzeug mehr: -dasselbe wohlgemeinte Wort, es hatte ihnen anderen Sinn als ihm, -so sehr er in kindlicher Scheu sich mühte, den steten Zwiespalt zu -verhehlen. Dann war die schattenkühle stille Stube schon manchmal recht -schwül und drückend gewesen. - -Ob ihm das wohl mit seinem Kinde auch einmal so gehen würde? -- -Fernliebe?! -- Entzückend, wie sie da ahnungslos schlief, im Schatten -des schlafenden Kutschers; und heute würde sicherlich +sie+ -jedweden Zwiespalt überbrücken. Einst aber? -- Ach was! wenns -+ihr+ mal paßte, seinethalben mochte sie Seiltänzerin werden! - -Er sah die Zügelleinen in der Hand des Fahrenden schaukelnd auf den -Schenkeln der trabenden Klepper hüpfen. Auf ihren Rücken, um die -schwitzenden Flanken, tanzte das Sonnenlicht hin und her, in großen -spiegelblanken Flecken; es war doch unerträglich heiß. Die drei -Messingringe aus den Kumten wippten blitzend auf und nieder mit dem -Schulterriemzeug -- auf und nieder -- in Schweiß und Staub; -- er sah -nach der Uhr. Halbzwölf erst; noch eine Stunde so. - -Er horchte wieder auf den Takt der Hufe: Schwarzer, Brauner -- auf -und nieder -- auf und nieder, Schweiß und Staub. Ah, jetzt: vorn vor -den müden Pferdehälsen kam wenigstens das Dorf schon hoch, wo immer -angehalten wurde. Da gab es was zu trinken. Und zu rauchen. Zigarren -vergessen! Er gähnte und lehnte sich zurück; noch fünf Minuten. - -Das Geschaukel der Pferdeschenkel wurde immer sonderbarer; förmlich -arabeskenhaft schwankten die Spiegelwellen der Flanken. Er schloß halb -die Augen; das tat ihm wohl. Wie er alldas bewußt genoß! -- Am Kumt -die Ringe zuckten glitzernd auf und nieder zu ihm her, wie drei große -blendende Sterne; auf und nieder -- Schwarzer, Brauner -- Schwarzer, -Brauner, Weiß und Staub. - -Er schloß die Augen etwas fester. Die Sterne blitzten immer weißer. Auf -und nieder; weiß und taub. - -Nein, das war wohl nicht das rechte Wort; es war wohl Gelb. Ja, Gelb. -Süßer gelber Lupinengeruch; so wohlig kühl. Es mußte wohl ein Feld wo -sein; Lupinenfeld. Das hatte er wohl übersehen vorhin. - -Nein, es war wohl doch nicht gelb. Denn es waren ja Narzissen. Ja, -Narzissen. Nein, er träumte wohl; nein, nicht! Denn es waren ja drei -große, deutliche Narzissensterne -- blendend weiß -- nein fünf -- nein -sieben; sieben weiße Strahlenblüten. - -Sieben nickende Narzissen; mit purpurgoldnem Krönchen jede. Sieben -schlanke Edeldamen, mit wellenkrausen Schläfenhaaren. O, wie schön! -Jede mit so grauen Augen; Mutteraugen. Jede hatte um die zarten Arme -lange dänische Handschuh’ an; gelbe. - -Und verbeugten sich vor ihm, eine nach der andern, mit den weißen -Strahlenhüten. Jede bis zur siebenten. Die hielt einen Spiegel; hatte -dunkle Augen, dunkelbraune. - -Trat die erste vor; sagte ihm ein Wort. Und das war ihr Name, und den -hatte er schon gehört; nur besinnen konnt er sich nicht drauf. Sagte -auch die zweite ihren Namen; auch die dritte. Schlossen alle mit der -Silbe „sinn“, nein „sein“ -- Sinn, Sein -- auch die vierte, fünfte, -sechste; und die purpurgoldnen Krönchen nickten. Nur die siebente war -stumm; war blaß; hielt ihm nur den Spiegel hin. Der war blind. Und sie -schüttelte den Kopf; und ihr linkes Auge blickte traurig. - -Nein, das war doch gar zu lustig: wie ihr Purpurkrönchen wackelte. Denn -das war ja gar kein Krönchen: war ein dicker roter Hahnenkamm, wippte -in der Sonne. War ein ganzer Hahnenkopf -- dicker bunter Hahnenhals -- -der blähte sich. Schlug mit beiden Flügeln funkelnd durch die Luft -- -rief ganz laut und deutlich: ücke-rüh-ü-üh! -- - -Er riß die Augen auf. Wahrhaftig: eben stieß der Omnibus mit härterem -Gerumpel auf die ersten Pflastersteine der Dorfstraße, und drüben auf -dem einen Hofzaun reckte sich der Hahn und krähte zum zweiten Mal. Der -alte Fuhrknecht hob das Stoppelkinn: „jüh, Rackers!“ mit den Zügeln auf -die schweißbeglänzten Pferdeschenkel klatschend. Auch die Kleine wurde -langsam munter. - -Was der Traum wohl zu bedeuten hatte? Ach, bedeuten: Unsinn! Aber wie -er wohl entstanden war? - -Sollte --: Hahnrei des Bewußtseins? -- Hm... - -Das Wort des Polen war ihm doch wohl tiefer gegangen, als er damals -dachte. - - * - -Die Abendsonne schien sich heute förmlich zu krümmen, wie vor Durst. -Immer dicker wurde der kupferrote Ball, da hinter den Wasserdünsten -des sumpfigen Sees am Horizont. Grade zwischen den zwei dicksten alten -Pappelstämmen bei der kleinen Straßenbrücke drüben hing das dunkelrote -Ungetüm im fernen Grau, dicht unter dem Zittersaum des schwarzgrünen -Laubdaches. - -So groß und glanzlos hatte er sie niemals sinken sehen. Nur die breiten -drei Brechungskeile, mit denen sie Wasser zog, wie die Leute hier -sagten, standen stromhell wie aus Goldtopas geschliffen unter der -purpurnen Kugel, zeigend daß sie noch Licht gab. Der Mittelkeil war nur -ganz kurz noch; wie ein mächtiger Strahlensockel. Vor dem schwellenden -Gelb der Seitenschrägen hoben sich die beiden Pappelstämme tiefschwarz -ab mit ihren Borkenrändern. Das Laubdach wurde immer dunkelgrüner. - -„Wird morgen wieder schwere Hitze geben“, sagte der Alte und trat aus -der Haustür zu ihm an den Gartenzaun. „Meine ganzen jungen Kiefern -werden noch vertrocknen; schlimmes Jahr!“ Er zeigte mit der Pfeife -in das Astwerk der Akazienkrone über ihnen: „Läßt schon Blätter -fallen.“ Der Tabaksrauch berührte wirbelnd grade eine der verwelkten -Blütentrauben. - -„Hast du neue Bienenstöcke, Vater?“ - -„Einen blos“ -- erwiderte der Alte und setzte sich auf die Bank -am Zaun. Nun wies er schmunzelnd auf die Kleine, die an der hohen -Haustürschwelle neben „Lotte Goldsnut“ hockte. Die Teckelhündin lag, -platt alle Viere von sich, wie tot im warmen Sande, und die Kleine war -eifrig bestrebt, zwischen die vier Zehen der krummen Vorderpfoten immer -drei der abgefallenen Akazienblätter festzuklemmen. Immer wenn sie -fertig war mit einer Pfote, streifte sich die Dachsmadam mit der andern -die Blätter wieder ab, und das Spiel begann mit Ernst von neuem. Was -die Recha nur wollte! die Kleine war ja unglaublich artig. - -Jetzt trat die Mutter aus der Tür, in jedem Arm behutsam eine flache -Satte voll Dickmilch tragend. Er sprang ihr zur Hand. Wie sich all -ihre Runzeln freuten, bis in die liebreichen Augen hinein, als er die -eine Schüssel ihr abnahm und sie auf den Gartentisch setzte; richtige -Geburtstagsaugen! Und zugleich wars wohl auch die Freude, wie ihrem -Ältesten nachher die kühle Labung schmecken würde, so mit Streuzucker -drüber und Schwarzbrotkrümeln. Wie die fette Sahne nach dem Eiskeller -duftete! Orndtlich winterlich sah die weiche Pelzschicht aus. - -„Na, Alterchen?“ ließ sich Mutter hören, Vaters Schneehaar -glattstreichend -- „soll ich +hier+ decken oder unter der Linde?“ - -„Lieber hier, Mutting,“ kam er dem Alten zuvor; „hier sieht man die -Abendsonne so schön.“ Die rote Scheibe stieß jetzt grade auf den -Horizont der Landschaft; der Strahlenfächer war verschwunden. - -Der Alte griff sich in den Bart. Sicherlich knurrte er im stillen -wieder: „Sentimentaler Krempel!“ Das war ein Lieblingstrumpf von ihm. - -„Die Lindenblüte riecht auch zu stark“, meinte mit rascher Abwehr die -Mutter; „Abends manchmal ganz betäubend.“ Dann beugte sie sich zu der -Kleinen nieder: „na, mein Lämmechen?“ strich ihr die Locken sanft aus -der Stirn, sorglich nach dem Alten blickend, und ging wieder ins Haus. -Lotte Goldsnut erhob sich. - -„Hat ’ne zarte Nase, unser Muttel“, brummte der Alte und griff -gemächlich an sein eigenes Vorgebirge, eine dicke Wolke von sich -paffend; „krigt’s schon mit den Nerven.“ - -„Ovater“ -- kam auf einmal die Kleine hinter der Teckelhündin -herangependelt -- „bist du der Weihnachtsmann?“ - -„Woll, mein Mäuschen!“ und er nickte belustigt. Tief nachdenklich sah -sie ein Weilchen auf die eine Schüssel hin, durch deren dunkelgrüne -Glaswand der weiße Inhalt schimmerte. Dann ging sie wieder an die -Schwelle, wo die verblichenen Akazienblätter auf dem sandigen Boden -lagen. - -„Muß doch mal im Hofe nachsehn“ -- sagte der Alte und stand auf -- „ob -die Juno etwa los ist; das Schindluder hat mir neulich einen von den -jungen Hähnen abgewürgt.“ Er reckte sich. „Kann das Volk auch gleich in -den Stall bringen.“ Er schritt ins Haus. Lotte Goldsnut wackelte ihm -nach. - -Die Sonnenkugel war jetzt nur noch mit dem oberen Drittel sichtbar, -wie das rote nackte Augenschild eines riesigen Birkhahns. Nun wurde -sie verdunkelt, fast verdeckt, von dem strotzenden Euter der grauen -Leitkuh, die eben mit der Heerde drüben von der nahen Weide kam. Um -die schweren Bäuche stieg der Staub der Landstraße auf. Der lahme -Spittelhirt des Städtchens hinkte barfuß hinterdrein. Durch das -hohlere Getön der Brückenbohlen klang die Kupferglocke am Hals der -Vorderkuh. Zum Brüllen war die Heerde wohl zu satt. Die Mäuler kauten -noch. - -Nun war die Sonne blos noch ein fasriger Rand, wie ein glühender -Wimpernbogen; das machten wohl die Binsen und das Röhricht in der -Ferne. Man konnte fast mit den Augen verfolgen, wie sie Strich für -Strich untertauchte. Er warf die ausgegangene Zigarre weg und stützte -sich fester auf den Zaun. Jetzt verglomm der letzte Strich, grade -oberhalb der einen Pappelsohle, wie hineingeschrumpft. Es wurde -plötzlich etwas heller. Die fahle Dunstwand schien sich abzukühlen. -Das dumpfe Rotgrau lockerte sich zart ins Grünliche. Durch die stummen -Pappeln, von Haupt zu Haupt das Fließ entlang, wagte sich ein Lüftchen; -noch beklommen. Jetzt: die trägen Blätter fingen an zu munkeln. - -Er fuhr auf: eine verspätete Biene, von der Linde her, vorbei zu -Korbe. Ob sein Vater die Feierstunde der Natur auch so ins Einzelne -mitfühlte? Mit so sinnlicher Andacht? Nein. Das war wohl Neugehirn. -Neue Sinnlichkeit. Auch neue Wissenschaft. - -Aber doch: er hatte ihn einmal sagen hören: „Der Kiefernhochwald, aber -Schnee muß liegen, das ist meine Kirche!“ Aber eben: Kirche: Unnatur! --- Da, da drüben die Pappelblätter, oben an der höchsten Spitze, wie -sie schwärzlich im blassen Luftblau hingen, jeder Rand von einem -zarten, zitternden Flimmerschein umwirkt: wars nicht tief feierlich -zu wissen, daß sich da jetzt von unten her die letzten scheidenden -Sonnenstrahlen durch den Atemduft des warmen Laubes in der Abendkühle -goldhell brachen. - -„Hater --“ fragte plötzlich die Kleine und schob sich bedächtig auf -die Bank, ihr Schürzchen von sich haltend, das sie mit Akazienblättern -vollgesammelt hatte -- „sind die Bäume müde, Vater?“ Ihre Augen -blickten, weit und träumerisch geöffnet, über den Tisch weg nach den -Pappeln. „Wie die Menßen ’tehn sie da.“ - -Er mußte nicken; wortlos. Wie die Menschen! O Kindermund. - -Das mußte er der Mutter sagen; das war ein Wort aus +ihrem+ Geist. -Die Kleine saß immer noch träumerisch; leise trat er in den Hausflur. -Und auch den Narzissentraum ihr sagen! Ja, und dem Alten helfen seine -Hähne einsperren; das nahm er immer sehr hoch auf. - -Die Küche war offen. Die Mutter stand am Herd, eben einen Eierkuchen in -der zischenden Pfanne wendend. Nein, das war nicht die rechte Stimmung; -lieber morgen Vormittag im Garten. „Ah --“ sog er unwillkürlich den -Geruch des brutzelnden Gebäckes ein. - -„Mein großer Junge!“ lachte sie und griff ihm liebkosend durch den -Kinnbart. „Hast wohl schönen Hunger von dem langen Spaziergang?“ - -„Wo die Juno blos stecken mag!“ wetterte der Alte, aus dem Hühnerhof -in die Küche tretend; mit dem Helfen wars also auch nix. „Fängt auf -ihre alten Tage zu jagen an; muß ihr mal ’ne Ladung Schrot aufsengen, -Kantschu scheint nicht mehr zu ziehen.“ Er war ganz rot vor Ärger; wie -seine Hähne. „Hast du sie nicht bemerkt Nachmittag?“ - -„Nein, Vater.“ - -„Konnt mirs denken“, ging das Sticheln los; „liegst ja immer gleich im -Grase fest.“ Schwerenot, was ihn das wohl anging! - -„Fertig, Kinderchen“ -- rief die Mutter und nahm das Gedeck zur Hand, -ihm die Teller reichend. - -Gottseidank! atmete er auf, wieder hinaus ins Freie tretend; der Alte -hinterdrein mit den Eierkuchen. Aber was war das? das war ja ’ne nette -Bescherung! Auf dem Gartentisch, mitten drauf, saß sein Töchterlein, -eifrig bestrebt, die sandigen Akazienblätter in verschiedenen schönen -Kringeln auf dem weißen Sahnenpelz der dicken Milch zurechtzulegen; -eben wollte sie die zweite Satte in Angriff nehmen. - -„I du Balg!“ Er besann sich; nur keinen Wutausbruch! Weswegen auch? -eigentlich wars doch zum Lachen! Er nahm sich zusammen und sprach mit -Nachdruck: „Das war aber unartig von dir!“ - -Sie sah ihn groß von der Seite an. „Das war darnicht una’tig von mir!“ - -„Kiek!“ machte der Alte in der Haustür, und der Kobold stach aus den -stahlblauen Augen. - -Wollte er ihn vielleicht gar foppen? Na warte! Er stellte die Teller -hin. „Komm mal runter!“ sprach er und trat vor sein Kind. - -„Nein!“ stemmte sie die Arme auf. I zum Donner, da sollte doch gleich -- - -„Kiek!“ kams abermals von der Haustür her; „Respekt scheint sie nicht -viel zu haben.“ - -„Braucht sie auch nicht! Verlange ich nicht! Ich schlage meine Kinder -nicht!“ Verdammt: wie war das aus ihm herausgeplatzt? Hätt er das Balg -blos nicht mitgebracht! - -„Nna“, knurrte der Alte mit Seelenruhe: „die Köter fressen ja dicke -Milch auch ganz gern. Komm, Lotte“ -- pfiff er der Dachshündin, die -sich eben durch den Zaun schlängelte. Was war der Jöhre blos aus einmal -so hinterrücks in den Kopf gekrochen?! - -„Komm mal her, mein Schäfchen,“ legte sich jetzt die Mutter ins Mittel -und lächelte. Der Alte streichelte die Hündin, die bereits in der -fetten Sahne schleckte. „Komm, mein Schäfchen; komm her zu mir.“ - -„Will aber nich!“ bockte sie erst recht, die Finger um den Tischrand -klammernd. Jetzt riß ihm aber bald die Geduld! - -„Na, Herzchen,“ lockte die Mutter wieder: „wirst doch nicht wieder -wunderlich sein?“ - -Ah: am Nachmittag also +auch+ schon?! Was sollte der Alte denn von -ihm denken! - -„Vater haut nich“ -- stemmte sie sich noch fester. - -Teufel, das war denn doch zu bunt! „Willst du jetzt gleich -herunterkommen?!“ - -„Nein!“ - -„Detta?!“ - -„Nein!“ - -Wie sie festhielt! Warte, Kröte! Strampelst noch? Und mit den Beinen -stoßen? -- „+Laß+, Mutter! +laß+ mich!“ schrie er wütend. Und -wie das blanke Fleisch sich wand! Wie’s klatschte! Wie die Hand ihm -brannte! Wie der Racker brüllte! Warte, Satan! -- - -„Na, na! so grob gleich?“ hörte er plötzlich den Alten; wie aus einem -Nebel her. - -„Kanalje!“ keuchte er -- „marsch!“ und besann sich. Ganz knallrot, ja, -war das Fleisch gewesen; knallrot wie ein Hahnenkamm. Und -- Hahnrei -des Bewußtseins! schoß ihm das Blut in die Schläfen; verdammt ja, wie -eine Ohrfeige. - -Hatte sie’s verdient? fragte etwas in ihm. Sie stand muckstill, mit den -Tränen kämpfend. Was würde Recha sagen? Er schämte sich. - -„Hab sie Nachmittag auch schon mal striegeln müssen,“ kams wieder von -der Haustür her. Kreuzdonner -- „Na, entschuldige nur! Blos mit der -Rute ein bißchen auf die Finger.“ - -So --: +deswegen+ also „Weihnachtsmann“?! und +darum+ war sie -vorhin so sonderbar artig?! -- Er konnte nicht anders, er mußte lachen. -Und auf einmal lachten sie alle zusammen. - - - - -Der Werwolf - -Erzählung - - -An einem sehr nebligen Oktober-Abend sprach sich in dem entlegensten -Vorort einer norddeutschen großen Handelsstadt die unheimliche Kunde -herum, der Apotheker des Ortes sei auf der Eisenbahn während der -Rückfahrt aus der Stadt von einem Raubmörder erschossen worden. -Es war das ungefähr um dieselbe Zeit, als in einem Vorort der -deutschen Reichshauptstadt Berlin ein aus dem Zuchthaus entlassener -Schustergeselle die ganze zeitunglesende Menschheit zu unvergeßlichem -Gelächter bewegte, indem er kraft einer abgetragenen preußischen -Offiziersuniform nebst dazu passender Körperhaltung den versammelten -Magistratspersonen die hirnberückende Vorstellung eingab -- oder, -wie die gebildeten Deutschen sich damals ausdrückten, suggerierte --- er solle auf allerhöchsteignen Befehl Seiner Majestät des -Kaisers den obrigkeitlichen Geldschrank ausräumen. Auch in jener -norddeutschen Villenkolonie war über den musterhaften Gaunerstreich -dieses sogenannten Hauptmanns von Köpenick, bei aller damals üblichen -Ehrfurcht vor der Würde und Weisheit der Staatsvertreter, noch -am Tage des Mordes reichlich gelacht worden; nun aber geriet die -Einwohnerschaft, die größtenteils aus begüterten Kaufleuten und -gutgestellten Beamten bestand, in eine zunehmende Ernsthaftigkeit. -Fast alle mußten sie täglich zur Stadt fahren, um ihren Geschäften -nachzugehen; jeder von ihnen sagte sich also, es hätte ihm nach -erfüllter Berufspflicht, während er als gebildeter Bürger eines -gesitteten Staatswesens auf dem besteuerten Bahnwagenpolster -in den wohlverdienten Genuß einer Zeitung oder eines kleinen -Schlummers versunken saß, genau desgleichen ergehen können wie -dem bemitleidenswerten Apotheker, ja es könnte vielleicht sogar -noch geschehen. Denn der Gemordete wurde begraben, ohne daß von -dem Raubmörder auch nur die geringste Spur entdeckt war; und -wochenlang setzten die städtischen Waffenhändler erstaunliche -Mengen von Taschenrevolvern, Stockdegen, Schlagringen und andern -Verteidigungswerkzeugen an die erregte Bevölkerung der sämtlichen -umliegenden Ortschaften ab, während zugleich bei der Bahnverwaltung die -verschiedensten dringlichen Sicherheitsvorschläge zum Umbau des ganzen -Wagenparks einliefen, und bei der Polizeidirektion die mannigfachsten -Verdachtsanzeigen, die immer weniger zur Ergreifung des Mörders und -immer mehr zur Erregung der Bürgerschaft beitrugen. - -Es ließ sich einstweilen nur ermitteln, daß auf der Böschung der -Vorortbahn unweit der letzten Haltestelle ein alter Kavallerie-Revolver -mit zwei abgeschossenen, zwei noch geladenen und zwei ungeladenen -Patronenkammern die Mordtat sowohl wie die Flucht des Täters -hinlänglich bezeichnete; auch fanden die Untersuchungsbeamten -in nächster Nähe des Mordwerkzeuges die goldene Uhr und Kette -des Apothekers, und in dem Bahnwagen hatte bei dem Gemordeten -seine entleerte Banknotentasche blutbefleckt auf dem Polster -gelegen. Augenscheinlich also war der Verbrecher nach der planvoll -durchgeführten Beraubung während der Fahrt aus dem Wagen gesprungen, -hatte die Tür wieder zugeschlagen, den Revolver im Sprunge fallen -gelassen und dabei in der Hast auch die Uhr verloren; oder er -hatte Uhr wie Revolver, um sich nicht später dadurch zu verraten, -absichtlich sofort aus der Hand geworfen. Eine Fußspur war aus dem -Graswuchs der Böschung nirgends zu erkennen gewesen, und in dem -dichten Nebel konnte der Täter sehr leicht noch an demselben Abend -nach dem Hafen der Handelsstadt auf offener Straße entkommen sein, -hatte sich erst wohl unterwegs an irgend einem Feldteich gesäubert -und war dann vermutlich mit falschen Papieren auf einem der vielen -Auslandschiffe als Kohlenschipper oder dergleichen schon nächster Tage -in See gegangen. Die meisten Umwohner wollten freilich aus allerlei -Meldungen entnehmen, er streife noch heimlich im Lande herum; und -da der massenhafte Vertrieb von Taschenwaffen jeder Art natürlich -etliche freche Burschen zu neuen Gewalttaten anreizte, so schob sie -der allgemeine Argwohn immer wieder auf den entschlüpften Raubmörder, -obgleich diese ungeübten Gelegenheitsräuber stets bald der Polizei -in die Hände fielen. Im übrigen blieben alle Nachforschungen, auch -Zeitungsaufrufe und Säulenanschläge, ob irgendwer im deutschen Reich -einen alten Kavallerie-Revolver kürzlich an irgendwen verkauft habe, -trotz ausgesetzter Belohnung erfolglos; man mußte leider den Schluß -ziehen, daß der Verbrecher die Waffe wohl schon in seiner militärischen -Dienstzeit irgendwie beiseite gebracht und für seine spätere Laufbahn -aufbewahrt hatte. - -Was die Bevölkerung ganz besonders erregte, war der sehr viel -Gesprächsstoff bietende Umstand, daß der erschossene Apotheker, -trotzdem ihm der eine Schuß die Schläfe durchbohrt, der andre die -Schädeldecke zerschlagen hatte, noch lebend, wenn auch bereits -bewußtlos in dem Bahnwagen aufgefunden ward. Die ärztliche Leichenschau -ergab, daß die Bewußtlosigkeit wahrscheinlich erst einige Minuten -nach der Verwundung unter heftigen Schmerzen eingetreten war; und -jedermann suchte sich nun zu vergegenwärtigen, was für Gedanken dem -Unglückseligen in seinen letzten Augenblicken durch das zerfetzte -Gehirn gestürmt sein mochten. Dies umso angelegentlicher, als der -Entseelte bei Lebzeiten in der Ausübung seines Berufes fast jedem -einzigen Ortsinsassen mehr oder minder nahe gekommen und auch -als Persönlichkeit weit beliebt war: ein sanfter, schmiegsamer, -schlanker Herr mit einem blonden Christuskopf und -- was bei seiner -Aufgeklärtheit manchem verwunderlich erschien -- von förmlich -gottgläubiger Frömmigkeit. So legten denn alle Nachdenklichen sich -selbst und Andern die Frage vor, wie wohl das Gottvertrauen des -Apothekers die letzte kurze Bewußtseinsfrist nach dieser gräßlichen -Lebenserfahrung innerst bestanden haben möge, zumal da bekannt geworden -war, daß die Witwe beim ersten Anblick des Toten nur die verzweifelten -Worte herausgebracht hatte: „es gibt keinen Gott, es gibt keinen -Gott!“ Auch daß sie den ziemlich hohen Betrag von 150000 Mark, auf -den der knapp vierzigjährige Mann erst unlängst sein Leben versichert -hatte, und welchen ihr die Versicherungsgesellschaft unverzüglich -überwies, mit keinerlei Regung des Trostes entgegennahm, sondern -vor Schluchzen kaum zu quittieren vermochte, gab der gemütvollen -Bürgerschaft zu vielen teilnehmenden Reden Anlaß. Das menschliche -Mitgefühl der Bevölkerung erstreckte sich so weit in die Runde, daß der -Friedhofsgärtner nach der Beerdigung reichliche vierzehn Tage brauchte, -um die Gräber und Beete wieder zurecht zu machen, die unter dem nicht -zu hemmenden Andrang von Leidtragenden jeden Alters und Standes, -einheimischen und auswärtigen, zertreten oder zerrauft worden waren. -Und noch mehrere Wochen nach dem Ereignis konnte man in der ganzen -Gegend keiner gebildeten Unterhaltung beiwohnen, die nicht schließlich -zu der Erörterung führte, ob dem verewigten Apotheker, falls es ein -Fortleben über das Grab hinaus gäbe, die Nichtentdeckung seines -irdischen Mörders als ein völlig sachgemäßes Verfahren der himmlischen -Gerechtigkeit einleuchten würde. - -Da geschah es an einem schönen Nachmittag, daß ein Gemüsehändler -des Ortes, der seine Mistbeete für den Winter herrichtete, durch -eine Gartenhecke hindurch ein sonderbares Gespräch mit anhörte, das -zwischen dem Eigentümer des Nachbarhäuschens und dessen einzigem -Freunde stattfand. Dieser Nachbar war allen Leuten ein Rätsel. Als -früherer Eisenbahnschaffner hatte er infolge einer Zugentgleisung eine -leichte Kopfverletzung erlitten, von der ihm, wenn sein Gebaren nicht -trog, eine dauernde Geistesstörung verblieben war, zwar keine richtig -irrsinnige, aber die ihn nach Meinung der Ärzte doch dienstunfähig -erscheinen ließ; und so hatte er vor Gericht erlangt, daß ihm die -Bahnverwaltung den Abschied nebst angemessenem Sühnegeld und -- bis -sein Geist vielleicht wieder dienstfähig würde -- auch Ruhegehalt -bewilligen mußte. Nun tat er von Morgens bis Abends nichts weiter, -als daß er vor seinem dürftigen Häuschen, für dessen Erwerbung das -Sühnegeld draufgegangen war, in verbiesterter Weise hin und her -schritt. Zu jeder Tages- und Jahreszeit, bei schlechter wie guter -Witterung, marschierte er da in dem schmalen Raum zwischen Hauswand -und Straßenhecke wie ein Wolf im Käfig auf und ab, mit verwildertem -buschigem rotbraunem Bart, beide Fäuste in die Taschen vergraben, -die Mütze tief ins Gesicht gedrückt und scheu die Vorübergehenden -musternd, manchmal mit mißtrauisch zugekniffenen, manchmal mit -feindselig aufgerissenen Augen; sodaß die Leute im Ort schließlich -sagten, wenn er nicht wirklich geisteskrank sei, müsse er es bei -dieser Art Übung allmählich bis zur Vollkommenheit lernen. Außer zu -seinen Mahlzeiten und sonstigen häuslichen Geschäften, die seine Frau -nicht für ihn verrichten konnte, wies sein öffentlicher Lebenswandel -nur dann eine Unterbrechung auf, wenn in der Nachbarschaft irgend ein -Todesfall vorkam oder auch blos zu erwarten stand. Dann verschwand -er sofort aus dem Straßengärtchen, schloß sich Tagelang in seine -Schlafkammer ein oder trollte während der Leichenzeit, wie ein von -bösen Geistern Verfolgter, in den dichten Haidegehölzen herum, die an -den Friedhof angrenzten. Deswegen hatte ein Lehrer der Ortsschule, der -sich in seinen Mußestunden mit Abhandlungen über Gespenstersagen und -Schauermärchen beschäftigte, einmal am Biertisch im Scherz geäußert, -der rätselhafte rotbärtige Kerl werde sich noch als Werwolf entpuppen; -und dieses hingeworfene Wort war als Spitzname an ihm hängen geblieben -und dermaßen gang und gäbe geworden, daß kein Kind sich allein in die -Haide wagte, aus Furcht, vielleicht von dem wilden Mann überfallen und -abgewürgt zu werden. - -Ob der Werwolf selbst merkte oder ahnte, was über ihn gemunkelt -wurde, das wußte wohl nicht einmal seine Frau; denn zu Gesprächen -neigte er nicht, sondern gab auf Anreden entweder garnichts oder -höchstens ein unwirsches Knurren zurück. Nur ein kleiner krötiger -buckliger Flickschneider, mit dem sich sonst niemand recht einlassen -mochte, hatte sich an ihn angenistet und verstand ihm zuweilen -ein paar Worte oder gar ein Schmunzeln abzugewinnen. Das passierte -allerdings selten genug, und blos an besonders schönen Tagen; denn -des Flickschneiders elenden Knochenbau flog beim leichtesten Lüftchen -das Zipperlein an, und außerdem war er so schwach auf den Beinen, daß -er dem unermüdlichen Werwolf kaum ein halbes Stündchen lang Schritt -halten konnte. Geschah es aber, dann schien sich dieser voll tiefen -Behagens daran zu weiden, wie das kleine klägliche Klümpchen Unglück -mit seinem bartlosen Unkengesicht und seiner keuchenden Kläfferstimme -da neben ihm hin und her hampelte, und wie die Leute das seltsame -Freundespaar verstohlen von ferne besichtigten. An einem solchen -schönen Nachmittag also -- es war ein ungewöhnlich milder November -- -vernahm der erwähnte Gemüsehändler, hinter der Gartenhecke knieend, -wie der Flickschneider plötzlich den Werwolf fragte, ob er nicht -früher, vor seinem Eisenbahndienst, Sergeant oder so’was gewesen -sei. Und als der mißtrauisch antwortete, er könne sich nicht mehr an -alles erinnern, zog der Andre ein Zeitungsblatt aus dem Rock, das den -berüchtigten Kavallerie-Revolver in größengetreuer Abbildung zeigte, -und fragte mit pfiffiger Miene weiter, ob er sich hieran vielleicht -erinnern könne; worauf der Werwolf erst wie entgeistert stillstand, -dann in ein schreckliches Toben und Schluchzen ausbrach und den Krüppel -wahrscheinlich entzweigemacht hätte, wäre nicht die Frau aus dem -Hause dazwischengestürzt und auch der Gemüsehändler zu Hilfe geeilt. -Natürlich meldete dieser den Vorgang ohne Aufschub der Polizei, und am -andern Morgen wurde der Unhold von zwei Gendarmen zur Stadt befördert -und ins Untersuchungsgefängnis gesteckt. - -Beim Verhör erklärte zunächst der Flickschneider mit untertänigstem -Selbstgefühl, daß er sich feierlich dagegen verwahren müsse, als Freund -des Verhafteten zu gelten. Er sei ein unbescholtener Staatsbürger und -habe sich mit dem verdächtigen Menschen lediglich deshalb abgegeben, -um heimlich dabei herauszustudieren, ob derselbe in Wirklichkeit -verrückt sei oder blos immerfort so tue. Die verfängliche Frage nach -dem Revolver habe er eigentlich nur gestellt, weil einem solchen -heimtückischen Müßiggänger doch alles zuzutrauen sei. Er wolle -keineswegs die Behauptung aufstellen, daß der Werwolf den Apotheker -umgebracht habe; es bleibe ja immerhin die Möglichkeit, daß derselbe -den greulichen Wutanfall aus reinem Ärger über die Frage gekrigt -oder auch blos geheuchelt habe. Aber er möchte doch nicht verfehlen, -die Aufmerksamkeit der hohen Behörde auf den bedenklichen Umstand -hinzulenken, daß der Verhaftete am Tage des Mordes schon seit dem -Mittag verschwunden gewesen und erst wieder am Tage nach dem Begräbnis -vor seiner Haustür erschienen sei. Wenn sich also derselbe nach alledem -vor dem hohen Gerichtshof als schuldig erweisen sollte, so möchte er --- und bei diesen Worten blies sich des Flickschneiders Busenwölbung -wie ein Truthahn vor dem ebenfalls verhörten Gemüsehändler auf -- ganz -ergebenst befürworten, daß er allein den vollen Anspruch auf die für -die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Belohnung erheben dürfe. Der -Beschuldigte saß währenddem mit gänzlich verstocktem Gesichtsausdruck -da; nur als sein Verschwinden zur Rede kam, geriet er in merkliche -Unruhe, und sein zusammengebissener Mund schien wieder mit inneren -Tränen zu kämpfen. Doch bewirkte seine Vernehmung nichts weiter, als -daß er hartnäckig leugnete oder zumeist blos den Kopf schüttelte, -beständig die Augenbrauen runzelnd, wie wenn er die Sache nicht recht -begriffe. Und da seine Frau nur in einem fort aussagte, sie könne -sich hoch und teuer verschwören, daß sie nie einen solchen oder -andern Revolver an ihrem Mann beobachtet habe, so mußte das lebhafte -Rechtsbedürfnis der aufs stärkste gespannten Zeitungsleser einstweilen -damit zufrieden sein, sich in neue entrüstete Leitartikel über die -öffentliche Unsicherheit im allgemeinen, wie über den unheimlichen -Werwolf und sein jahrelang freies Herumgerenne im besonderen zu -vertiefen. - -Indessen ergab der Fortgang der Nachforschungen, daß der Beschuldigte -um die Zeit, als Revolver des vielgenannten Systems in der Armee -geführt wurden, tatsächlich Sergeant gewesen war, und zwar bei der -reitenden Artillerie; auch daß er sich wirklich zur Stunde des Mordes -nicht in seiner Behausung befunden hatte. Vor allem aber gelang es -dem Flickschneider, der inzwischen zusehends in der Achtung der -teilnahmvollen Bürgerschaft stieg und von Tag zu Tag mehr Zuspruch -gewann, durch eifrige Umfragen festzustellen, daß die Frau des -Verhafteten schon seit Jahren bei sämtlichen Krämern und Händlern des -Ortes, bei Schlachtern, Bäckern und Handwerksleuten, beträchtliche -kleine Schulden gemacht und ihren Mann für sein lumpiges Ruhegehalt -und seine schuftige Faullenzerei -- das waren ihre eigenen Worte -- -einmal laut vor den Nachbarn ausgeschimpft hatte; und außerdem war sie -am Tag vor dem Raubmord in der Familie des Apothekers beim Aufscheuern -mitbeschäftigt gewesen, sodaß sie von dessen Bahnfahrt zur Stadt wohl -irgend etwas vorausgehört und dem Werwolf hinterbracht haben konnte. Es -zweifelte demnach niemand mehr, daß dieser sein kärgliches Gnadenbrot, -sei es mit, sei es ohne Wissen der Frau, durch den blutigen Handstreich -hatte aufbessern wollen und die geraubten Banknoten noch irgendwo -verborgen hielt; geteilter Meinung war man einzig darüber, ob er den -ruchlosen Entschluß aus echtem Irrsinn gefaßt haben mochte oder immer -nur wieder in der Berechnung, daß sich bei standhaft geheuchelter -Geistesstörung jede Schandtat ungestraft ausführen lasse. - -Zur großen Befriedigung sämtlicher Wohlgesinnten schien durch die -nächste Gerichtsverhandlung, die eine öffentliche war, die letztbesagte -Meinung bestätigt zu werden; denn als dem Verhafteten all jene -Einzelheiten seiner verdächtigen Lebensführung der Reihe nach -vorgehalten wurden, war deutlich zu sehn, wie der handfeste Mann aus -seiner gewohnten Halsstarrigkeit allmählich gleichsam herausstrauchelte -und schließlich einen hilflosen Blick auf den freundlich lächelnden -Staatsanwalt warf. Und als dieser den Blick -- was in damaliger Zeit -ganz erstaunlich an einem Staatsanwalt war -- ohne Strenge erwiderte, -vielmehr den erschütterten Angeklagten mit herzgewinnender Stimme -fragte, ob er nicht endlich sein Gewissen erleichtern und durch ein -mutiges Geständnis vor Gott und den Menschen reinigen wolle, da -übermannte den Werwolf ein solches Weinen, daß die meisten Damen im -Zuschauerraum, sogar auch die Witwe des Apothekers, nicht anders -konnten und laut mitweinten. Das alles aber machte ihn dermaßen wirr, -daß er vor fassungslosem Stammeln kein klares Wort zu entgegnen wußte, -sondern nur krampfhaft, während die Tränen ihm in den zitternden -Bart niederrollten, bald Ja und bald Nein aus der Kehle würgte, -bald mit zerknirschten Geberden nickte, bald widerspenstig den Kopf -schüttelte. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen; und also mußte -er, bis sein Gewissen zum vollen Geständnis gereift sein würde, oder -bis andere sichere Anzeichen für seine Schuld zutage kämen, in die -Untersuchungshaft zurückgeführt werden. - -Während sich nun die Bevölkerung zwar im Grunde bereits beruhigt -fühlte, aber sich umso gründlicher der immer noch schwebenden -Sorge annahm, ob der Gerichtshof den Verbrecher füglich zum Tode -verurteilen dürfe oder blos lebenslänglich ins Irrenhaus sperren, -ward der sittlichen Spannung der Gemüter durch zwei fast unglaublich -widerspruchsvolle, jedoch polizeilich verbürgte Zeitungsberichte ein -wahrhaft erschreckliches Ziel gesetzt. Der erste Bericht verkündigte -nämlich, daß sich der Werwolf frühmorgens nach jener Verhandlung an -einem abgerissenen Hemdärmelstreifen in seiner Haftzelle erhängt und -auf die Kalkwand der Zelle die Worte gekritzelt hatte: „Ich kann nicht -mehr. Ich weiß nicht mehr. Gerechter Himmel, es gibt einen Gott.“ -Wohingegen der zweite Bericht besagte, daß der Staatsanwalt am selben -Vormittag von dem Anwalt der Apothekerswitwe einen langen Eilbrief -empfangen hatte, demzufolge der Werwolf nicht der Mörder, sondern -ihr Gatte ein Selbstmörder war. Und zwar wußte die schwergeprüfte -Dame dies schon seit dem ersten Anblick der Leiche, da ihr zugleich -von den Untersuchungsbeamten der Kavallerie-Revolver gezeigt und -von ihr als Eigentum des Toten, aus seinem -- wie man es damals -nannte -- freiwilligen Militärjahr her, an einem Rostfleck erkannt -worden war. Um indessen -- so legte ihr Anwalt dar -- den guten -Ruf des Dahingegangenen, sowohl den moralischen wie besonders den -christlichen, ihrer ehelichen Pflicht gemäß nach Kräften aufrecht -zu erhalten, habe sie voller Selbstverleugnung so lange wie möglich -zu schweigen versucht und deshalb auch die Versicherungssumme ohne -Widerspruch hingenommen, zumal ihr Anrecht nach dem Vertragswortlaut -als unanfechtbar gelten könne. Da aber nunmehr ein Unschuldiger für -die blutige Tat scheine büßen zu sollen, und da inzwischen auch durch -die Versicherungsgesellschaft bedauerlicherweise ermittelt worden, -daß der Dahingegangene sein Vermögen in Börsenspekulationen verspielt -und demnach vermutlich die Ermordung nur zu dem Zweck veranstaltet -habe, seine Familie vor dem Bankrott zu retten, so glaube Klientin die -traurige Wahrheit nicht länger unterdrücken zu dürfen. Dieselbe gebe -der Hoffnung Raum, daß, möge ihr Gatte auch schwer gefehlt haben, das -allgemein menschliche Mitgefühl doch seinen furchtbaren Opfertod als -genügende Sühne anerkennen und nicht noch seine Namenserben denselben -entgelten lassen werde. Welcher Hoffnung dann in der Tat sowohl -der freundliche Staatsanwalt wie die gemütvolle Bürgerschaft aufs -offenherzigste entsprach, besonders als man noch erfuhr, daß sich die -wohlgesinnte Witwe mit der Versicherungsgesellschaft gütlich geeinigt -und ein Drittel der empfangenen Summe in aller Stille zurückgezahlt -hatte. - -Für den erhängten Werwolf freilich war ihr Bekenntnis leider Gottes -einige Poststunden zu spät gekommen. Aber zum Glück war vorauszusehen, -daß sich die Witwen der beiden Selbstmörder, da die zweite die erste -gerechterweise auf Entschädigung verklagen konnte, im stillen ebenfalls -gütlich einigen mußten. Auch blieb ja immerhin unentschieden, ob sich -der Werwolf nicht doch vielleicht, als er an jenem Tag seine Wohnung -verließ, mit der sträflichen Absicht getragen hatte, den Andern -meuchlings auszurauben; und jedenfalls ließ sich gewissermaßen eine -Art höherer Gerechtigkeit in dem sonst peinlichen Umstand entdecken, -daß dieser auf Staatskosten lebende Heuchler, dessen schlechtes -Gewissen ihm nicht einmal den ruhigen Genuß seiner Rente erlaubte, -sich kurzerhand selbst gerichtet hatte. Viel erschrecklicher war -dem gebildeten Teil der überraschten Bevölkerung die ungeheure -Verstellungskraft, die den sanften gottgläubigen Apotheker bis zur -letzten Minute befähigt hatte, den Schein des Raubmordes herzustellen -und Revolver nebst Uhr noch im Todeskampf aus dem Bahnwagenfenster -herauszuschleudern. Doch am allerbedenklichsten war die Ungewißheit und -bot jedem gründlichen Zeitungsleser noch auf lange Zeit reichlichen -Gesprächsstoff, ob der Werwolf nun doch zuguterletzt, laut seiner -rätselhaften Wandinschrift, in wirklichen Irrsinn verfallen sei und -sich, dem freundlichen Staatsanwalt folgend, für den Mörder gehalten -habe. Den Feinden der bürgerlichen Ordnung natürlich erschien das als -ausgemachte Gewißheit; ja, ein ruchloser Schriftsteller jener Zeit -nannte es gradezu einen Staatsfall und ein fast noch musterhafteres -Beispiel von hirnberückender Eingebung -- oder, wie die gebildeten -Deutschen sich damals ausdrückten, Suggestion -- als das des berühmten -Hauptmanns von Köpenick. - - - - -Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht - -Novelle aus dem Innern eines Misanthropen - - -Jan Goderath war sein Name; und er war stolz auf den Namen. Er -hatte ihn wieder zu Ehren gebracht, als kein Mensch mehr dem alten -Handelshaus traute. Und nun ging er hier durch die fremde Stadt, die -ihn plötzlich an jene Leidenszeit mahnte, und konnte sich seinen -Trübsinn nicht deuten; die ganze Stadt schien in Trauer versunken. - -Freilich: ein Volksmann war gestorben: ein ehrlicher Mann, selbst -seine Feinde mußten das zugeben. Und standhaft war er gestorben, -nach qualvoller Kehlkopfkrankheit, vor der Zeit: ein Opfer seiner -Beredsamkeit. Aber was ging denn +ihn+, den reichen Weltmann Jan -Goderath, den unabhängigen Handelsherrn, der ausgediente Volksfreund -an! und noch dazu ein Italiäner! Dies Volk war ihm doch eigentlich -ein Greuel. Was hatte er mit einem Narren gemein, den seine Schmerzen -begeistert hatten, wie andere Narren auch! Wie konnten ihn, den -Menschenkenner aus Hamburg, die Trauermienen des Pöbels in dieser -fremden Stadt ergreifen? - -Und erst dies Genua selbst, ~la superba~, wie diese Söhnchen -glorreicher Väter ihr Marmornest noch immer nannten: was war in die -bankrotten Wichte auf einmal für ein Geist gefahren? Er besah sich die -Vorübergehenden; das stechende Vormittagslicht behagte ihm plötzlich. -War das dieselbe träge, schamlos geschwätzige Menge, die ihn noch -gestern verdrossen hatte? Alle gingen sie schleichend wie sonst, -fast noch schleichender, ohne ihr zweckloses Gliedergefuchtel, und -Keiner kam ihm träge vor. Der enge Corso wimmelte wie immer dicht von -Menschenköpfen, durch die sich nur selten ein Fuhrwerk schob; aber -die Kutscher schrieen heut nicht, jede Stimme klang verhalten, wie -durch die grauen Paläste gedämpft, und die Gesichter schienen sich den -stolzen Mauern anzupassen, die düster in den blauen Himmel grenzten. -Selbst wenn ein schönes Weib vorüberkam, lief ihr kein hündischer Blick -aus lüstern schwarzen Augen nach; in allen diesen Augen glomm ein -traumhafter Ernst -- was war das nur?! - -Schon unten am Hafen war ihm aufgefallen, daß heut die Arbeit ohne Lärm -und Flüche und Gelächter vor sich ging; sogar die Maultiertreiber in -den Steinbrüchen schlugen weniger roh auf ihr bepacktes Viehzeug los. -Doch das, nun ja, das waren Arbeitsleute; denen mochte der gestorbene -Gleichheitsmensch wohl wirklich etwas bedeutet haben. Aber hier, -im Innern der Stadt, was hatten diese flunkernden Kaufleute, diese -Tagediebe und Weiberknechte, mit dem Mann des Volkes zu tun! Und was -erst all die Fremden hier! Was gab dem dürren Franzosen dort, mit -der Orangenblüte im Knopfloch, solchen feierlichen Ausdruck, daß die -beiden Säulen des alten Portals, vor dem er zufällig wartete, wie sein -natürlicher Rahmen wirkten, trotz seines modischen Reisehutes. Tat das -der Tod? - -Nein; dazu war dies Volk von Beichtkindern zu leichtherzig. Erst -vorige Woche hatte er in Pisa einen hohen, weit beliebten Beamten -zu Grabe bringen sehen: die ganze Stadt war auf den Beinen gewesen, -sämtliche Glocken läuteten, acht Barfüßermönche trugen den Katafalk, -all ihre Ordensbrüder schritten voraus und goldverbrämte violette -Priester, dazwischen Jungfraun in weißen Kleidern und Kinder mit grünen -Kränzen im Haar, alle mit großen brennenden Kerzen, Chorknaben sangen -Litaneien, zwei Väter Jesu führten die gebrochene Witwe, die Frauen -des Gefolges weinten laut -- und eine Stunde später war von dem ganzen -Straßenschauspiel auch nicht ein Hauch mehr zu spüren gewesen. Und die -Pisaner standen doch im Ruf der Gründlichkeit, er selber hatte sich -bei ihnen wohlgefühlt, es mußte da wohl vor Jahrhunderten germanisches -Erobererblut in die Bevölkerung gedrungen sein. - -Und heut nun, hier in Genua, wo jedes wälsche Unkraut sich sonst -brüstete, schon seit dem frühen Morgen diese Stille. Ihm war, als -ginge er in einem Strom von Wallfahrern. Was hatte all die Menschen -so seltsam in sich gekehrt? Der tote Volksmensch war doch nicht -einmal mit Pomp bestattet worden. Kein Mönch noch Priester war dem -schmucklosen Holzsarg vorausgezogen; sechs barhäuptige Arbeiter hatten -ihn getragen, keine Träne war geflossen, und keine Glocke läutete. -Oder wars etwa grade Das? War dieser ungewohnte stumme Eindruck den -Schwätzern auf die Seelen gefallen? Dieser farblose Eindruck: der Zug -der hundert schwarzgekleideten Männer, wie sie paarweis, alle mit -bloßen Köpfen, die Hüte in der Faust, finster und wortlos hinter der -Bahre hergeschritten waren, unter dem schwülblauen Himmel. Selbst einen -Offizier der Kriegsmarine hatte er da die Mütze lüften sehn. - -Und hatte nicht er selber, Jan Goderath, sich da sagen müssen, daß -es doch Ahnen dieser Männer waren, die hier die schlichte Straße von -Palästen, mit dieser strengen Wucht der Außenwände, dieser ruhigen -Kühnheit innen, einst hatten bauen können! Er trat hinein in eines -der machtvollen Treppenhäuser. Wenn jetzt durch diesen Säulenhof, -in dem die starre Hitze brütete, ein Mann im Arbeitskittel käme, er -würde den Hut vor ihm abnehmen. Was war ihm nur?! Ihn konnte doch der -Eindruck von ein paar Dutzend Leidtragenden nicht aus dem Gleichgewicht -bringen! +Die+ Zeit lag doch wohl hinter ihm; er war doch über die -Dreißig hinaus. Gewiß: der Eindruck war schön gewesen, schön und ernst, -vielleicht auch edel. Das brauchte ihn doch aber nicht in seiner Ruhe -zu stören; er hatte sie sich schwer genug verdient. Was ging denn ihn -das wälsche Elend an! dem war ja doch nicht zu steuern. Was ging ihn -überhaupt das Leid der Menschen an? Als ob es ohne Leid Glück geben -könnte. Das blieb doch in alle Ewigkeit so. - -Er trat wieder auf die Straße. Und wieder fühlte er aus allen Augen -das stille Flimmern auf sich wirken. Oder störte ihn etwa nur das -Licht, das von dem heißen Marmorpflaster prallte? Er ging hinüber -in den schmalen Schattenstreifen; es war, als ginge er durch ein -Gespinnst, das all die dunkeln Köpfe verband. Und keiner sah doch -traurig aus. Es schwebte nur wie eine Andacht zwischen ihnen; als -horchten sie auf etwas Fernes, Klares. Das konnte doch der Tod nicht -machen? Das konnte doch nicht Ehrfurcht sein? Was galt denn dort dem -Fuchsgesicht, was dort den beiden Professoren der Gestorbene mit seinem -unklaren Zukunftstraum! Was war das für ein Zwangsgefühl, das diese -ganze Stadt erfüllte? und ihn mit! Er war doch schon ganz anderer -Stimmungen Herr geworden, die ihn viel näher betroffen hatten: damals, -als sich sein Bruder vergiftete -- der hatte auch so rührende Augen wie -diese braunen Halunken hier. Ja, damals war ihm der Vater am Herzschlag -gestorben, und Er allein hatte alles gerettet. - -Er bog in den Platz vor dem Postgebäude; hier staute sich die -Menschenmasse. Die Stimmung war noch seltsamer hier. Die grelle -Hitze machte alle Mienen noch gespannter; bis unter die Arkaden des -Gebäudes schien diese hohe Spannung zu schweben. Selbst der verkleidete -Messerhändler, dem sonst sein kriechendes Lächeln so feil wie seine -Dolche war, ging heut in seinem blaugestickten Dalmatinermantel wie -ein verbannter Fürst umher. Man hörte kaum ein deutliches Wort. Jeder -schien sich, wenn er sprach, auf etwas Anderes zu besinnen, etwas -Vergessenes, Heimliches. Was war das nur? Hier all die Müßiggänger -hatten doch den Toten nicht geliebt! Und Er, Jan Goderath senior: -Liebe -- fast hätte er laut losgelacht -- mit +dem+ Gefühl war er -doch gründlich fertig! das hatte sein Bruder ihm abgewöhnt. Er atmete -schwer auf; was lag ihm an dem kehlkopfkranken Zukunftsapostel! was an -dem ganzen Gemurmel hier! Wenn er die Augen etwas schlösse, würde die -Stimmung vorüber sein. Nein, selbstverständlich: nur noch beklemmender -kam sie dadurch zu Gefühl: ihm war, als stünde er in seiner Vaterstadt, -verloren wie ein Blinder, inmitten einer großen Kirchgängerschaar. Er -mochte das nicht länger ausstehn. Ein Glück, daß ihn der deutsche Maler -erwartete! Das Brustbild sollte heut fertig werden; so beim Modellstehn -würde er sein Gleichgewicht schon wiederfinden. Er nahm die Richtung in -die obere Stadt. - -Denn ja, das Gleichgewicht: das war das Höchste: die starke Vernunft. -Die hatte ihn gemäßigt damals, in seinem Wutanfall, als er fast seinen -Bruder erschlagen hätte, den toten Schuft, der ihn mit zum Betrüger -machen wollte, der Lüderjan! Ja, er war stärker als seine Liebe; er -hatte die Probe bestanden. Wie kam er nur darauf, heut sein Gefühl zu -befragen? War etwa das Gefühl zu schwach gewesen, wenn die Vernunft so -stark war damals? Das war doch dann kein Gleichgewicht! sonst wäre doch -Eintracht in seiner Seele. Ein Jahr lang war er nun gereist und glaubte -alles verwunden zu haben, und ein paar hundert flüsternde Menschen -konnten ihn aus der Fassung bringen? eine Heerde, die sich selbst nicht -begriff! Er fuhr sich heftig über die Stirn. Nun: dank der Kunst -- -er mußte lächeln -- jetzt war er bald heraus aus dem Geräusch. Hier -schlichen nur noch Vereinzelte; wie bloße Schatten sahen sie aus; es -schien sie alle etwas nach unten zu rufen. - -Er stieg die breite Treppenstraße zu dem oberen Corso hinauf. Er spürte -die Apenninenluft schon, trotz der sengenden Sonne. Es war doch ein -Wunderwerk von Stadt, schier ebenbürtig der reichen Natur. Welche -ungeheure Arbeit sprach allein aus den Grundmauern, auf denen sie -rings die Bergterrassen emporklomm, aus den Hunderten von steinernen -Stufen hier, den Quadern der Umwallung dort im Zickzack um den Corso, -aus all den Brücken über die Felsenspalten, und oben aus dem Zug der -Festungsblockwerke, der altersgrau den kahlen Höhenkamm krönte: Das war -Alles Menschenwerk! -- Ihm fiel die Inschrift ein, die er heut Morgen -am Hafen unten gelesen hatte, an dem Palaste, den einst das genuesische -Volk dem greisen Doria schenkte: „~ut, maximo labore jam fesso corde, -otio digno quiesceret~.“ Er übersetzte sich das schlechte Latein: -„damit er, nun sein Herz von der gewaltigen Arbeit ermüdet ist, in -würdiger Muße ausruhen könne.“ Ein Schauer überlief ihn: hier rings auf -all den Bergabhängen, die ihn im Halbkreis umarmten, ragte die Arbeit -von Hunderttausenden. - -Er wandte sich und sah hinunter auf die Stadt. Wie sich da Hohes und -Niederes einte -- Paläste und Straßenfluchten, die flachen Dächer und -die Türme, Gärten und riesige Wohnhäusermassen -- im wogenden Weißglanz -des Mittags. Dort lag die Villa Negro, mit ihrem Park von Lorbeern -und Myrten, Zypressen, Palmen, Zitronenbäumen, mit allen Blumen des -Orients und jedem Laubholz des Nordens -- so lieblich hatte sie ihm nie -gedeucht. Er glaubte das Geplätscher ihrer Springbrunnen, die kleinen -Wasserstürze der Grotten zu vernehmen, und ihr zu Füßen das Gewirr der -Gassenschluchten, in Zirkellinien um sie her, dies Spinnennetz, dem er -soeben entronnen war. Wie sich das nun zusammenschloß, Altes und Neues, -unter der glutblauen Himmelsglocke! Jeder dunkle Fleck, selbst die -verwitterten Kirchenkuppeln, schien ihm verklärt, bis ins Gewimmel des -Hafens hinab. Wie Alles zu ihm herzustreben schien, tief her, fern her: -die Menschheit unten, Leuchtturm und Schiffe, das silberweiße blendende -Meer -- er mußte die Augen schließen. - -Ein heulender Pfiff riß sie ihm auf. Im Tal zur Linken kam ein Bahnzug -aus dem Tunnel herausgedampft, der hier im Bogen unter der Stadt -herumlief; er schätzte, daß er grad drüber stand. Wenn jetzt die Erde -sich öffnete, würde er in den Schienenschacht stürzen, die Mauern des -Corsos über ihn her. Auch +un+sichtbar die Arbeit von Tausenden! -Vielleicht mit von den Männern, die heute den Toten getragen hatten. -Wenn nun die Männer ihr Werk zerstören wollten? Was hinderte die -Tausende? -- Ein paar Dutzend Fäßchen Dynamit, planvoll den Tunnel -entlang verteilt, würden die Stadt in den Hafen schleudern, samt -Festung, Zuchthaus, Irrenhaus. Er hörte die wankenden Felsen schon -donnern, die See auftosen und Orkane heulen. Die Dächer der Paläste -bäumten sich, Kirchtürme flogen durch die Luft, die Kuppeln platzten, -und die Gärten tanzten. In brandgelben Kurven schossen Marmorstatuen -ins kochende Meer, Gemäldegalerieen flammten auf, Schiffstrümmer, -Bibliotheken. Durch den verfinsterten Himmel, durch Qualm und Feuer -und Wolken von Schutt, scholl das Geschrei zerberstender Bürgerbäuche; -und oben über dem Rachegericht, auf den umrauchten Höhen des Apennins, -standen die Tausende, mit heißen Augen der Märtyrer denkend, die sich -da mitgeopfert hatten -- standen zu neuer Zukunft bereit. - -Er wischte sich den Schweiß von den Backen. Was war ihm nur! Sah er -bei hellem Tag schon Gespenster, wie die Dorfschäfer hinter Hamburg? -Was war das für ein Zwangsgefühl? Die Männer unten hatten doch nicht -drohend ausgesehen; eher bittend; als ob sie etwas zu erringen suchten. -Was hatte Er damit zu tun! er reckte sich. Ja, diese seltsam suchenden -Augen; er nickte und schritt weiter, jetzt war er bald am Ziel. -Merkwürdig: auch der Maler hatte manchmal diese Augen: halb bettelnd, -halb fordernd, der arme Teufel. Nur daß sie grau waren, nordseegrau, -wie seine eigenen Augen grau; und doch wie Hundeaugen. Ja: wie ein -Schweißhund vor der Jagd: heißhungrig, scheu. Und diese schräge -Verbrecherstirn! der filzbraune Spitzbart! die kurzen Beine! Der -Mensch war ihm doch eigentlich widerlich. Der paßte unter dies wälsche -Gesindel: halb Lazzarone, halb Genie. - -Warum hatte er ihn blos ausgesucht? warum sich von ihm malen lassen? -von diesem Schächer der Kunst! Wie er ihn immer anstarrte: als wollt -er die Seele ihm aus dem Leibe pinseln -- und dann wars nichts als -Stückwerk. Was hatte ihn hingeführt zu dem Menschen?! Etwa daß er -aus Hamburg war? aus seiner Vaterstadt? -- Pah: Heimweh! lächerlich! -Kinderkrankheit! -- Oder daß er mit seinem Bruder befreundet gewesen? -Nun, das vielleicht; er wollte sich wohl absichtlich prüfen. Denn vor -zwei Jahren hatten sie Drei da oben hinter Hamburg gestanden, auf den -Elbhöhen draußen, bei Sonnenuntergang, die Aussicht über den Strom zu -Füßen. Der strömte so breit, als wenn das Meer schon anfinge dort. -Und der Maler hatte sich abgewandt, die rauchenden Dörfer jenseits -anstarrend, die in der Abendglut zu brennen schienen; denn Er, er -machte in Bruderliebe, Jan Goderath senior Nachfolger -- er hatte dem -Schwächling noch einmal geglaubt, sie waren ja doch Ein Fleisch und -Blut -- zwei Tage bevor er es kennen lernte, verachten lernte, dies -Fleisch und Blut, die ganze menschliche Sippschaft. Was ging ihn jetzt -der Mensch noch an! Der hatte wohl gar um alles gewußt, vielleicht die -Wechsel gar fälschen helfen. Nun: morgen würde er weiterreisen, ob nun -das Bild heut fertig wurde oder nicht. - -So trat er in das Haus hinein. Hier war es kühl, die steinerne Stiege -frisch gespült; jetzt würde er gleich Ruhe haben. Wenn +der+ -Mensch ahnen könnte, wie ihn der Pöbel entzwei gemacht hatte. Ja: -Gleichgewicht! die Eintracht zwischen Vernunft und Gefühl, wie zwischen -zwei gleich starken Herrschern: wenn Das zu malen wäre, wenn es das -gäbe, in einem einzigen Menschengesicht, in Einer Seele von Mann auf -Erden: +der+ sollte sein Freund sein! -- Da stand der Spitzbart -schon in der Türe; Bedientenseele! -- Und der also duzte ihn -- dem gab -er die Hand -- -- sie gingen vor die Staffelei. Er trocknete sich die -Stirn. „Hast du das Kinn nicht zu massig gezeichnet? Ich sehe ja aus -wie Bonaparte vor Moskau.“ Der Spitzbart, grinsend: „Mit dem hast du -auch manchmal Ähnlichkeit.“ Ach so! das sollte ihm wohl schmeicheln. -„Ich habe mit Niemandem Ähnlichkeit; der korsische Dickbauch ist nicht -mein Mann.“ Der Andre, kleinlaut: „Das Kinn ist gut. Laß nur die Augen -erst fertig sein; es liegt tatsächlich nur an den Augen.“ -- „So? Nun, -dann kann man wohl anfangen.“ -- „Ja.“ - -Er stieg auf das Trittbrett und lehnte sich an das Pfostengerüst. Der -dürftige Raum war drückend warm. Vom Apennin her tönte ein Hornsignal. -Sie sahen sich schweigend in die Augen; nur das Geräusch des Malens -war noch hörbar. Wie ihn der Mensch wieder anstarrte jetzt! Wie er -sich quälte für sein bißchen Brot! So quälten Hunderttausende sich! -- -Hatte er etwa Mitleid mit ihm? der Reiche mit dem Armen? Er, Goderath -Nachfolger -- lächerlich! -- Er hatte doch damals kein Mitleid gehabt, -mit seinem eigenen Bruder nicht, als der um Geld nach Amerika bettelte. -Nun gar mit diesem wildfremden Stümper? -- „Habt ihr euch eigentlich -lieb gehabt?“ hörte er plötzlich wie fernher fragen. Was fiel dem -Menschen da drüben denn ein! „Ich spei auf die Liebe!“ er schrie es -fast. Warum denn nur? fragte etwas in ihm. -- „Entschuldige!“ hörte er. -Schweigen. - -Und wieder starrten die Augen ihn an. Und wieder starrten sie -nordseegrau. Und in dem Grau war etwas Flackerndes. Was war das nur? -Das war ja unheimlich. Das war ja viele Meilen fern; wie ein Gespinnst -zwischen ihnen, ein flimmernder Strom, und jenseits brennende Dörfer. -Und über den Strom her kamen Tausende, barhäuptig, paarweis, auf ihn -zu: die trugen einen Toten. Und starrten ihn an mit Menschenaugen, -heißhungrig, scheu, halb bettelnd, halb fordernd. Als wäre etwas in -ihm, das sie suchten: etwas Vergessenes, Fernes, Klares. Und plötzlich -strahlte es auf in ihm, und strömte über, hin zu ihnen: ein Licht, ein -Meer, ein Nebelglanz. „Was +ist+ dir, Mensch?“ rief eine Stimme --- er wankte, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Und heiße Tränen -machten ihn blind, und blindlings wankte er in zwei Arme, und küßte den -Bart, der ihm soeben noch widerlich erschienen war; küßte ihn weinend -wie ein Kind, und lachte, und ermannte sich. O, das war mehr als -Vernunft und Gefühl! Das war +doch+ Liebe, nicht Mitleid, nein! -Das war die Liebe, leidlos ob Fleisch und Blut! die Eintracht und das -Gleichgewicht! Das war die Alles beseelende Liebe. - -Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich setzen. Er fühlte den kranken -Volksmann sterben, der Zukunft zu Liebe, vor der Zeit; er fühlte die -Sehnsucht der Tausende leben, wie Brüder zu werden, der Freiheit zu -Liebe; er fühlte die Opfer der Arbeit alle, dem Leben Aller, Aller -zu Liebe. Und Er? er hatte die Menschen verachtet; er, Goderath, der -Menschenkenner! -- Er reichte dem Maler die Hände hin: „Ich hab mich -versündigt an meinem Bruder“... - - - - -Das Gesicht - -Eine halbe Stunde Seelenleben - - -Er saß und konnte nicht los aus diesem lastenden Bann. Immer wieder -sank der über ihn, wie ein magnetischer Ring um die Stirn, und lähmte -seine Hand. Seit Wochen nun schon: seitdem er wieder gesund war. Immer, -wenn er malen wollte. Immer die eine, große, unerfüllte Lust: das Ziel -der hundert frohen Mühen und Entwürfe: das Bild, das Bild: ihr Gesicht! --- was er auch Neues vornehmen mochte. - -Er hörte sie im Nebenraum hantieren, durch den Teppich hindurch. So -verhalten klang es, so fremd. Und die Brandflecken auf dem Teppich: -wie sie ihn quälend erinnerten! -- Er fühlte seine starken Schultern -zucken, ohne daß ers wehren konnte. Er sah müde und verächtlich in die -Landschaft auf der Staffelei, und warf den Pinsel weg, und sah scheu -nach der Wand drüben, nach dem Menschenbild da. - -Da hing es und wartete, das letzte von den vielen; das sie noch -gerettet hatte aus dem Brande, im letzten Augenblick, aus den -fliegenden Flammen. Es war wie ein Alb: diese ungelöste Aufgabe, dies -Gesicht. - -O gewiß, es war ja fertig: +war+ ja ein Bild: ein Bild, wie nur -Er es malen konnte: dies Weib da, mit der Narzisse in den streng -gefalteten Händen. Sie duftete fast, die vorgebeugte, makellose, -leuchtende Blüte, mit dem purpurgelben Krönchen auf dem weißen Stern; -die berauschende Blüte vor den jungen, nackten, vollen Brüsten. Und -darüber ihr stumm gewährender Mund. Und darüber die blauen drohenden -Augen, groß und dunkel ins Weite gerichtet. Und darüber all ihre -Haarglut, schwer und goldrot wie Kupfergold, schwarzgrün umschattet -vom dichten Laubwerk des alten wilden Myrtenbaumes, mit den kleinen, -schimmerweiß schwellenden Knospen. Ja, seine Freunde hatten gescholten, -daß er’s der Welt nicht zeigen wollte; damals. - -Aber das war es ja: auch jetzt nicht! Und nie, niemals, bis er das Eine -gefunden, das noch drin fehlte, Ihm nur sichtbar: das nur Er vermißte -in diesen Bildern: das letzte Rätsel ihres Gesichtes: Das, warum er sie -liebte. - -O, und nun wars unmöglich: war es zerstört, dies stille lebendige -Rätsel: von den Flammen gefressen das Geheimnis ihrer Züge, von Narben -zerrissen dieser stolze Hals, diese schmiegsamen Lippen -- und um -seinetwillen! -- Und er hatte doch gewußt, mit seiner ganzen Kraft -gewußt, daß es endlich ihm glücken würde, daß er’s ihr ablauschen -würde und auf die Leinwand zwingen, dies lockende Wunder. Nicht aus -den Augen; nicht aus den Mundwinkeln. Da saß es nicht; in keiner -Einzelheit. Auch in der Stimmung nicht; das hatte er alles versucht -und getroffen. Es war ein Ausdruck, ein Ausdruck! und er war ihm so -nahe gewesen: in seinem letzten Bilde, dem an der Wand da drüben, dem -einzigen übrig gebliebenen. Und jetzt, jetzt --? er preßte die Finger -ineinander; er hätte sie blutig drücken mögen. - -Und all das, weil er sie liebte; grade weil. Und weil er so stark war. -Ob es wohl Strafen gab? Strafen der Kraft? aus sich selbst? -- Hatte er -+deshalb+ den Fuß gebrochen? -- - -Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die -Kunst! Übermannung! -- Denn es war ja nicht gleich so gewesen; was ging -ihn ihre Seele an. Aber allmählich -- o aber das wars ja: das Heilige, -auch für den Künstler: Das, was ihm die Augen geöffnet hatte: das -Allerheiligste der Form: die bannende Seele, die Gegenseitigkeit alles -Lebendigen! - -Und so wars denn geworden: das Modell zum Weibe, der Leib zum Wesen, -und immer gegenseitiger dem Künstler ihre Schönheit, und immer -gegenseitiger dem Menschen ihr Geschlecht. Nein, er wollte es nicht. -Nur mit den Augen wollt er sie haben: +ihre+ Augen, die nachtblau -dunklen, schwimmenden Blumen, ihr klares waldseestilles Gesicht -- -Alles! -- Und doch: wie er sie dann erkannte, diese Gestalt, Blick -für Blick, und Ahnung um Ahnung sicherer wurde, fester im Bilde, und -alles sich ihr entgegenspannte in seinen Sinnen, und ihre Innigkeit mit -seiner Sehnsucht wuchs: es war ja Natur, Natur! war das Ohnmacht? - -Jener Augenblick, nach jenem letzten Bilde, als er sie am Handgelenk -heranriß, noch zitternd vor schaffendem Entzücken, und ihr den neuen -Ausdruck zeigte, der sie fast enträtselte: diese verlangende Keuschheit --- und dann sie ansah, heiß und durstig, das Eine Letzte suchend, -daß sie’s nicht aushielt länger und an ihm niederwankte, so warm und -schwer, und er an ihr: o Versunkenheit! -- Und dann, dann: es war zu -hart, zu widersinnig hart vom Schicksal: wie er sie hochgerissen hatte -mit tollen Armen, schreiend vor Lust und doppeltem Glücksgefühl, und -mit ihr über den Schemel sprang: dieser tückische Knöchelbruch -- über -den er damals noch lachen konnte -- in seiner schwelgenden Liebe -- -damals. - -Er lauschte. Was sie wohl dachte jetzt. An +ihn+ nur. Das fühlte -er. Das war das Schwere; der magnetische Ring. - -Wie still sie wieder saß. Daß er sie nur nicht merken möchte, da in der -kleinen Kammer, hinter dem Teppich; nichts rührte sich; so wars nun -Tag für Tag. Und Abends die Angst, die heimliche Angst, mit der sie -sich im Dunkeln hielt, im Halblicht, oder ihr Gesicht verhüllte, daß er -es nur nicht sehen möchte; daß er sie nur vergessen möchte, ihre tote -Schönheit, das Bild ihrer Seele, diese quälende Unmöglichkeit. Ja, die -Angst in der Luft, das wars; das machte ihn zunichte, diese Art Liebe. - -Ja, und +war+ denn das noch Liebe? dieser lähmende Zwang! War -nicht alles blos Erinnerung?! - -Nicht einmal Nachts: nicht anrühren konnt er sie mehr, ohne daß es -wieder vor ihm stand, das ganze furchtbar rote Schauspiel, und ihm -heiß und kalt die Sinne benahm. Wie sie ihn geweckt, ihn herausgehoben -hatte mit seinem kranken, dick verschienten Fuß aus dem qualmenden -Bett, hinter ihr her schon die leckenden Flammen, durch die Tür und -hinab die zwölf dunkeln Treppenstufen -- o, sie war stark, fast so -stark wie er! -- und dann zurückgestürzt war und sich nicht halten -ließ, wieder hinauf, um das Bild noch zu retten, das eine wenigstens, -hinein in das glühende Viereck oben, mit den langen offenen Flechten, -die im Feuerschein flossen wie rollende Wellen -- dies Flimmern! -- -Und auf einmal der Schrei, dieser schrille zerreißende Schrei, und -das polternde Bild, herunter zu ihm; und oben +sie+, groß, in -entsetzlicher Pracht, mit den greifenden Armen, die roten Haare zu -bläulichen Funken zerflatternd, eine sprühende Glorie! züngelnde Flügel -um den keuchenden Busen! und die grauenhaft flackernden Augen! -- Und -Er, hilflos da unten sich krümmend! Und noch Einmal der Schrei, der -heiße, tierische Schrei! und sein eigener Schrei: wie sie wieder sich -dreht, eine brennende Garbe, noch Einmal hinein -- daß ihn die Sinne -verlassen -- bis die Leute ihn wecken und sie neben ihm liegt, in den -Teppich gewickelt, nach dem sie zurückgerannt in letzter gräßlicher -Besonnenheit, um den lodernden Schmerz zu ersticken, das tapfere starke -Geschöpf -- seine Retterin! -- - -Ob sich das wohl malen ließe: feurige Flügel? Nein, Narrheit; so -wenig wie der Sonnenstrahl, der da auf der Palette blitzte. Ach, das -Sonnenlicht! Wie ihr Haar drin schillerte früher, so glatt und wogend; -ob es wohl wiederwachsen würde? -- Aber was nützte das! Ihr Gesicht, -+das+ war das Unersetzliche! die Erinnerung, die ihn zu ihr zog -- -nein: von ihr stieß. - -Er stierte zu Boden. Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben, -nicht blos in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben -lang; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria -Magdalena wars immer gewesen; die hatte er immer im stillen gemeint, -seitdem er sich heimlich die Bibel gekauft, wenn er zur Strafe hinknien -und beten mußte. Magdalena, die liebreiche Sünderin. - -Ach, was sollte dies Grübeln. Sie lebte ja, lebte und liebte ihn; -und war gesund, gesund wie Er. O, das schöne, blühende Wort! O, ihre -quälende Häßlichkeit! ihre mahnende Nähe! die Lust und der Abscheu! -Ohnmacht! -- - -Er sah wieder auf; nach dem Teppich, nach dem Narzissenbild. Wenn er’s -verkaufen würde. Ob er dann vielleicht Ruhe hätte. Wozu auch diese -Versessenheit, ohne Sinn und Verstand, auf das eine einzige bißchen -Seele. Wozu denn überhaupt der ganze pedantische Tiefsinn. Warum -wars ihm nicht genug an dem farbigen Witz, wie den Andern; an der -Lichtflunkerei, über die er sonst spottete. Es war doch so einfach: was -Neues probieren! -- Aber +sie+, sie blieb ja. Und wenn er das Bild -in Stücke zerschnitte, die Erinnerung blieb, solange sie selbst blieb; -und mit ihr der Zwang. Und +die+ Erinnerung ließ sich nicht malen. - -Freiheit! -- Ja --: das war das Ungesunde: das war unsittlich: diese -widernatürliche dumpfe Gemeinschaft! Knechtschaft! Leibeigenschaft! - -Er starrte auf die Palette; ein Wolkenschatten wischte den Lichtstrahl -aus. Wenn er ihr Schminke gäbe? -- Ihn ekelte! -- Und die Form bliebe -ja dennoch zerstört, die Seele im Gesicht. Und ihre Scham! ihr Stolz! -Dann würde sie gehen! -- - -Aber das wollte er doch? -- Dann das Bild auf die Ausstellung; weg -damit! Eine Reise; Gletschersonne! Ein, zwei Jahre würde es schon -reichen, das Geld für das Bild und der Rest seiner Erbschaft; er würde -blos arbeiten. Und er hatte ja genug gelernt an ihr! Er wollt es den -Andern schon zeigen, warum er so lange im Stillen gesessen. - -Und sie? -- Sie war ja klug genug, die Professorstochter. Sie könnte ja -Unterricht geben, oder Buchhalterin werden; oder er würde ihr selber -was schicken. Nein, schändlich: das würde sie nicht nehmen. Und --: und -wenn nun die Leute sie nicht wollten? mit ihrem entstellten Gesicht?! - -O, dies Gewissen! Warum hatte er dies Gewissen! -- Ja, für die Kunst, -da war’s gut. Aber fürs Leben? fürs Leben brauchte man doch kein -Gewissen! -- Nicht weil er sie verführt hatte; nein! eher sie ihn. -Oder weil sie von den Ihren geächtet war? eine Verstoßene?! und um -seinetwillen! -- Nein: das war ja aus ihr selbst so gekommen. Warum -war sie denn wiedergekommen, noch eh er von Liebe was ahnte; und immer -wieder, bis sie bleiben mußte. Das war ihr Verhängnis! Ja, ihr eignes -Verhängnis: ihr Wille! - -Weil sein Ernst sie lockte; was die Eltern auch sagen mochten. Weil -sie +seinen+ reinen Willen fühlte. Aber: aber war er denn rein? --- Ja! bis er ihn verlor, in jenem Augenblick, den Willen zur Form. -Nein, schon vorher: bis er die Seele sah. Aber das war ja die Form, -die bannende Seele; was er gesucht hatte, was sie gespürt hatte, warum -sie ihm vertraute, ihm, dem Künstler. Nein, auch dem Menschen! dem -Menschen, der über sich stand, über Sich und Natur, über Seele und -Leben, kraft seines formbeherrschenden Geistes! -- Und doch nicht! Wars -doch dieselbe Natur, die selben Sinne, der selbe Geist: die Kraft des -Künstlers, des Menschen. - -Ja: da hing’s: jener Augenblick, jenes Bild: seine Kunst, sein Leben: -sein Wille, ihr Wille: das war alles das Selbe, das folternde, drohende -Selbe! Denn sein Leben, ja, das war er ihr schuldig: ihr, seiner -Retterin! Sein Leben, seine Kunst, seine Seele; seinen ganzen Beruf und -Zweck in der Welt. - -Er fuhr zusammen: ein neuer Wolkenschatten schlich durch die Stille. -Er preßte die Augen zu. Er wollt es schon garnicht mehr sehen, das -fordernde drohende Bild; er haßte es schon. Er drückte die Fäuste in -die Augen; daß sie flimmerten. Er sah es nur mächtiger, in sprühendem -Glanz; und sah sie, sie, wie sie +jetzt+ war, mit dem starren -gestaltlosen Mund, mit dem haarlosen Kopf, mit den Narben um Wangen und -Kinn, dem blanken, striemenroten Hals. Er stöhnte laut auf, daß ihn -graute: vor der hohlen, einsamen Stimme. - -Da: das war doch nicht +seine+ Stimme? Zagend, suchend kam es -durch den großen Raum: „riefest du?“ weich und schwer, wie der Teppich, -den er schwanken hörte. - -Er sah nicht auf. Er fühlte, wie sie fragend stand. Nur nicht jetzt ihr -Gesicht! Er wollte sprechen. Da kam sie. - -Er wollte den Kopf schütteln; aber ihre Hand auf seiner Schulter, -ihr Warten! Es war nicht möglich, es zwang ihn hoch. Er mußte sie -ansehn, ansehn: das graue Morgenkleid hinauf: ihren Hals! -- und -- -- -Rot! und ein brausendes Schwarz! Seele! der Blick! ihr Gesicht! das -war Übergewalt --: da stand sie, hoch, starr, erhebend: „Ich werde -+gehen+“ -- und wollte sich wenden. - -Und Er -- sah sie an -- an -- und seine Augen wurden immer weiter, daß -sie nicht loskonnte -- immer sehender -- und seine Finger tasteten -und griffen: es zu fassen, zu halten: das Unerkannte, Letzte, Eine: -das heilige Wunder: Das, was ihn zu ihr in die Kniee riß, warum er -sie umklammerte -- weinend -- „Offenbarung“ stammelnd --: ihre große -Sittlichkeit! die Schönheit ihrer Erschütterung! - -Und nun: weich -- weich, schwer und leise -- sank auch sie herab an -ihm: Knie an Knie, kinderfromm, anders wie damals. Und er küßte die -gestaltlosen Lippen, und schlang die Hände um den haarlosen Kopf, und -hielt sie von sich, schauend, schauend --: Nein, das lag nicht in den -Augen, nicht in den Mundwinkeln, in keiner Einzelheit: Das würde ihn -zur Andacht zwingen, und wenn sie ganz verschleiert vor ihm läge: diese -herrliche Hoheit, diese selige, siegende Demut. - -Und er mußte es sagen, lachend, das Überflüssige: „ich liebe dich.“ - -Und als sie sich erhoben von den Knieen, in ihrer Klarheit, und der -breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber, -nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt -du, wie ich dich malen werde? -- Sturm und Nacht -- Fackelbrand -- nur -Auge und Bewegung --: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!“ - -„Vom Kreuz wegtragend“ -- sprach ihre Seele. - - - - -Das hölzerne Bein - -Humoreske - - -An einem sehr warmen Frühlingsabend saßen in einem japanischen Hotel -vier europäische Gäste beisammen: ein Konsul mit seiner jungen Gattin, -ein ihm vom Klub her befreundeter Baron, und ein zu Studienzwecken -hergereister Doktor der Naturwissenschaften, der sich über diese -Freundschaft allerlei stille Gedanken machte und daher laut über etwas -Anderes sprach. - -„Mein verehrter Herr Doktor,“ entgegnete nun der Baron und schlug mit -seinem Stock an sein rechtes Bein, so daß es einen harten Klang von -sich gab, „ich möchte Ihre Philosophie, mit der Sie uns soeben erbaut -haben, nicht auf die Feuerprobe stellen. Den Lohn, den die edle Tat in -sich selbst tragen soll, den trägt doch wohl höchstens der Täter in -sich selbst. Und wenn er sich keines Spiegels bedient: woraus sieht er, -daß seine Tat edel war? Vielleicht war sie eitel Narretei. Der Spiegel -aber mag noch so heimlich hängen, er bedeutet immer das Auge der Welt.“ - -Der Angeredete blickte absichtsvoll unter den Sonnenschirm seiner -Nachbarin und fragte angelegentlichst: „Sind Sie auch so unfrei, -gnädige Frau? Brauchen Sie immer ein fremdes Auge, um selbst zu fühlen, -wie schön Sie sind?“ - -Die junge Frau errötete langsam, während der Baron sein -schwarzgerändertes Einglas unter seine sandelholzrote Braue klemmte und -mit seinen onyxschwarzen Pupillen schamlos auf ihren Gatten starrte, -der statt ihrer lachend erwiderte: „Aber Doktor, Sie sind ja der reine -Buddhist. Es wird Zeit, daß Sie nach Europa zurückgehn. Wenn Sie erst -glücklicher Ehemann sind, werden Sie anders über die Damen denken.“ - -Der junge Naturforscher sagte „Nie!“ mit einer beteuernden -Handbewegung. Die schöne Frau ließ ein schüchternes „Bravo“ hören. - -Der Baron klopfte wieder an sein Bein, hob die juwelengeschmückte -Linke, tupfte an seinen schwarzgefärbten, amerikanisch gestutzten -Schnurrbart, um ein Gähnen zu unterdrücken, betastete noch sein rotes -Haupthaar und versetzte kameradschaftlich: „Lieber Konsul, wozu den -Doktor bekehren. Lassen wir ihm seine Lebensweisheit; wir sind beide -wenig älter als er. Vielleicht ist sein männliches Selbstgefühl die -naturnotwendige Vorbedingung zur Verübung edler Taten; ebenso wie -das weibliche zur Begehung einer glücklichen Ehe. Ganz im Ernst, -meine Gnädigste!“ Er zeigte seine weißen Zähne, die zu blank und zu -regelmäßig waren, als daß sie hätten echt sein können. - -Die Dame äußerte unbefangen: „Sie sind ein schlimmer Schmeichler, mein -Freund“ -- konnte aber doch nicht verhindern, daß ihr wieder eine -Röte aufstieg. Ihr Gatte gab dem Baron sein Lächeln zurück: „Es kommt -immer drauf an, wer den Spiegel hält!“ Und der junge Gelehrte sprach -mit Selbstüberwindung: „Auch sind wir ja nicht hierhergekommen, um -moralische Disputationen zu pflegen. Der Buddha dort drüben belächelt -uns +alle+.“ - -Die vier so zusammen Plaudernden saßen auf der freien Terrasse des erst -vor kurzem gebauten Hotels; es lag in der Nähe des Tempeldörfchens -Mijama. Andere Gruppen von Reisenden saßen an den Nebentischen, unter -den großen bunten Papierschirmen, die man noch immer aufgespannt hielt, -obgleich die Sonne schon hinter den Bergen war. Vor der Terrasse -standen in weitem Bogen die leeren Rikscha-Wägelchen, zwischen deren -zwei Rädern die halbnackten Kulis lagen, als ob sie am Boden Kühlung -suchten vor dem ungewöhnlich schwülen Aprilabend. - -Man war von Kioto herkarriolt, um das Fest der Kirschblüte anzusehen, -das am nächsten Tage hier stattfinden sollte, und zugleich den -berühmten Daibutsu zu betrachten, eine riesige alte Buddha-Statue aus -ehemals vergoldeter Bronce, die auf dem Tempelhügel des Dörfchens -ragte. Über der Waldung von blühenden Kirschbaumhainen, die sich rings -um den heiligen Ort hochbauschte, thronte der göttliche Koloß an dem -bleigrauen Horizont wie aus einem schimmernden Wolkenkissen. - -„Vorzüglich gelegenes Hotel“, bemerkte der Konsul mit Kennermiene; -„wird sicher bald in Mode kommen.“ - -„Auch für Staffage ist schon gesorgt“, warf der Baron nachlässig hin -und wies auf eine Schaar einheimische Pilger, die mit ihren großen -Strohtellerhüten und schilfgeflochtenen Wettermänteln hinter den -Rikschas kauerten; augenscheinlich durften sie dort übernachten. - -Der Konsul lachte weltkundig, während der Doktor nicht umhin konnte, -seine Nachbarin stirnrunzelnd anzuschauen. Er hatte den Ausflug -vorgeschlagen, hoffte endlich diesem holden Geschöpf, das für den -spaßhaft lauten Gatten offenbar viel zu zartfühlend war, im Freien -etwas vertrauter zu werden, und nun ließ der Baron mit seiner -Spitzfindigkeit keinen herzlichen Ton aufkommen. - -Sie schob jetzt ihren Schirm beiseite, und er wollte ihr behilflich -sein. Aber der Baron hatte schon einem Diener gewinkt, und der -klappte hurtig das bunte Ding zusammen, ehe ein Andrer den Arm danach -ausstrecken konnte. „Die Luft ist so drückend,“ erklärte sie, „wie -unter einer Taucherglocke. Hoffentlich gibt es kein Gewitter morgen.“ - -„Gnädige lieben doch sonst den Aufruhr der Elemente“, sagte der Baron -mit starren Pupillen. Sie schien etwas entgegnen zu wollen, blickte -aber unsicher weg, errötete wieder und erhob sich. Der Doktor, -ebenfalls aufstehend, suchte nach einem Beruhigungswort, brachte aber -zu seiner Verwunderung nur heraus: „Vielleicht liegt ein Erdbeben in -der Luft.“ - -Während der Konsul ihn lachend belehrte, daß Erdbeben in dieser -Jahreszeit, was er natürlich selbst schon wußte, so selten seien wie -glückliche Ehen, machte auch der Baron Anstalten, sich aus seinem -Korbstuhl zu erheben. Das geschah, indem er zuerst sein rechtes Bein -in einen rechten Winkel rückte, dann das linke dicht daneben setzte, -den schwarzen Stock fest auf den Boden stemmte und mit einem Ruck sich -emporschnellte; dabei zuckte flüchtig ein verbissener Schmerz durch -sein schönes bleiches Gesicht, aber zugleich verzog er die knappen, -himbeerrot geschminkten Lippen zu einem überlegenen Lächeln, das -gleichsam Leidlosigkeit atmete. - -Es war auffällig, wie er durch dies Lächeln dem großen Buddha ähnelte, -der über der ganzen Landschaft thronte. Auch hatte der Doktor verlauten -hören, die Mutter des sonderbaren Herrn sei ein vornehmes Hindufräulein -gewesen, eine Radschah-Tochter oder dergleichen. Doch wurde ihm dadurch -nicht eben klarer, was diesen Krüppel so anziehend machte, der seine -notgedrungene Künstlichkeit noch künstlicher aufzustutzen beliebte. -Man wußte nicht recht, ob nur sein eines Bein oder beide nachgemacht -waren; er bewegte sie gleicherweise wie ein paar feine Ersatzstücke. -Und da er die rechte Hand stets behandschuht trug, selbst beim Essen -und Billardspielen, mußte wohl irgend etwas auch daran nicht natürlich -beschaffen sein. - -Es liefen allerlei Gerüchte um, woher er so verunstaltet wäre. Manche -erzählten, er habe als Jüngling ein auf der Straße spielendes Kind vor -einem durchgegangenen Pferd gerettet und sei dabei selbst überfahren -worden; vielleicht deshalb vorhin sein leiser Spott über den Lohn -der edlen Tat. Andere sprachen von einer Tigerjagd und einem wütend -gewordenen Elefanten. Seine Freunde scherzten wie er selber über diese -wilden Geschichten, und der Konsul hatte einmal, wenn auch nicht in -seiner Gegenwart, die schnurrige Frage aufgeworfen, was für echte -Glieder wohl an ihm blieben, wenn er abends ins Bett stiege. - -Zur Zeit trug er wiegesagt tiefrotes Haar und einen kurzen schwarzen -Schnurrbart; vor etwa einem halben Jahr, als der Doktor ihn kennen -lernte, hatte er die Farben umgekehrt getragen. Man munkelte, daß -er sich wie ein Perser den Schädel kahl rasieren ließe und zwölf -verschiedene Perücken benutzte, vom harten Gelbrot bis zum weichsten -Schwarzrot, für jeden Monat eine andre. Sicher echt war, außer seinen -Juwelen, nur der steinige Glanz seiner schwarzen Augen, der jedes -Mitleid weit von sich wies, und der metallische Klang seiner Stimme, -der an die schwere Verhaltenheit des deutschen Waldhorns erinnerte. - -„Der Buddha macht schon Nachttoilette“, sagte er plötzlich zu der Frau -Konsul, nach dem Koloß am Horizont hindeutend. Der hockte auf seiner -weißen Blütenwolke, wie mit einem golddurchwirkten dunklen Florhemd -angetan, und sein verwittert lächelndes Antlitz schien von himmlischen -Ahnungen umschimmert. „Wir wollen auch bald zur Ruhe gehn“, antwortete -die schöne Frau, nur halb einen Seufzer unterdrückend, der den Doktor -ebenso sehr entzückte, wie der Witz des Barons ihn verdroß. - -Sie traten in die Hotelhalle und begaben sich an den Fahrstuhl, der -sie ins erste Stockwerk befördern sollte. Der Baron mit der Dame nahm -den Vortritt; vier hatten nicht Platz in dem schmalen Kasten. Als der -Doktor neben dem Konsul nachfuhr, bemerkte dieser mit seinem üblichen -Lachen: „Famoser Knabe, der Herr von Hinkebein! Gewöhnt meiner Frau die -Romantik ab!“ - -Oben stand der Baron bereits im Begriff, sich von ihr zu verabschieden; -in dem elektrischen Licht des Korridors sahen seine Augen noch -verhärteter aus, und die ihren noch schmelzender. „Gute Nacht! Auf -schönes Wiedersehn!“ sagte er mit der verhaltenen Stimme und zog ihre -Hand an seine Lippen; sie nickte, wie schon halb im Traum. - -Der Doktor wollte auch etwas Zartes sagen; aber der Baron kam ihm -wieder dazwischen. „Gute Nacht, Doktor!“ intonierte er schärfer, ihm -die behandschuhte Rechte hinstreckend; „und träumen Sie von edlen -Taten!“ Der junge Gelehrte konnte nur spöttisch erwidern: „Leider bin -ich kein Joseph, Baron!“ Und unter dem Lachen des Konsuls suchte er, -etwas verstimmt, sein Zimmer auf. - -Mitten in der Nacht erwachte er schreckhaft, trotzdem er sonst ein -gesunder Schläfer war. Ihm hatte geträumt, die schöne Frau habe von -fern um Hilfe gerufen, sodaß er aus dem Bett springen wollte; aber am -Fußende stand der Baron und hielt ihn an beiden Beinen gepackt, um sie -ihm aus dem Leibe zu ziehen. - -Während er noch darüber nachsann und seine Glieder erleichtert dehnte, -fühlte er unversehens ein Schwanken, als läge er in einer Kajüte. Er -hielt es noch immer für Traumnachwirkung, aber da knackte und knarrte -es in den Wänden, als wollte das Haus aus den Fugen gehen, und zugleich -kam von der Terrasse her ein verworrenes Geschrei vieler Stimmen, sodaß -er nun wirklich vom Bett aufsprang. - -Also doch ein Erdbeben! dachte er mit einer gewissen Genugtuung, indem -er die Beleuchtung andrehte. Er hatte noch keinem beigewohnt und war -jetzt einigermaßen erstaunt, daß er von seinem Schreck nichts mehr -spürte, auch nichts von der fiebrigen Unruhe, die nach den meisten -Beschreibungen mit einem solchen Erlebnis verbunden sein sollte. -Freilich wußte er, daß bei Neulingen die Angst am gelindesten auftreten -sollte, und daß das Hotel bebensicher gebaut war; aber immerhin, er -konnte zufrieden sein mit seinem wissenschaftlich gestählten Gemüt. - -Er warf sich rasch in die Kleider, nahm seine Reisetasche und eilte die -nächste Treppe hinab; sämtliche Korridore waren erleuchtet, und in den -Dielen knackte es wieder. Die Terrasse lag jetzt menschenleer; aber im -Halbdunkel bei den Rikschas schob sich ein zappliges Getümmel, Gäste -und Kulis durcheinander. Nur die Pilger knieten oder kauerten abseits, -laut ihre Rosenkränze abbetend und nach dem Buddha hinüberstarrend, -dessen lächelndes Antlitz wie trunken glühte. In dem Tempeldorf schien -ein Brand ausgebrochen; eine riesige rauchige Flammengarbe stand -hellrot über den Kirschblütenwipfeln, und dumpfe Gongtöne dröhnten her. - -Unberührt von alldem saß bei dem vordersten Wagen, nur mit Hut und -Hemdchen bekleidet, ein kleines amerikanisches Mädchen, das mehrmals -die Hand auf die Erde legte, als ob es etwas fühlen wollte. „~Doesn’t -move~“, rief es schließlich enttäuscht seiner aufgeregten Mutter -zu, die sich mit einem Kuli zankte. Dem Doktor fiel ein, daß er in der -Eile seine Uhr oben hatte liegen lassen; zugleich aber schüttelte ihn -ein Erdstoß, von dem die ganze Terrasse wankte, und durch die Hausmauer -fuhr ein knirschender Riß. - -Er stand noch prüfend und überlegend, ob er trotzdem zurücklaufen -sollte, als zwischen mehreren flüchtenden Gästen der Konsul aus der -Halle gerannt kam und ihn mit verstörtem Lachen begrüßte. Dem Doktor -fiel ein, daß er in der Eile auch noch garnicht an die Andern gedacht, -sie auch nirgends gesehen hatte, und aufgebracht schrie er den -Lachenden an: „Aber wo ist denn Ihre Frau?!“ - -„Ja! Wo?“ schrie dieser, noch sinnloser lachend. „Ich habe genug an ihr -Zimmer geklopft, und da sie keine Antwort gab, meint’ich natürlich, sie -sei schon unten.“ - -„Also zurück!“ schrie der Doktor nun, warf seine Reisetasche weg -und stürmte zur Treppe, wieder hinauf. Die Vorstellung, daß dies -entzückende Weib, das sich gestern Abend in rührender Müdigkeit kaum -noch aufrecht zu halten vermochte, vielleicht von einem plumpen Stück -Wand im Schlaf verstümmelt werden könnte, empörte ihn gegen den lauen -Gatten und gab seinen Schritten wilde Flügel. Atemlos stand er vor -ihrem verriegelten Zimmer, klopfte, horchte -- und klopfte stärker; -eine tolle Freude durchzuckte ihn, daß sie den Konsul ausgesperrt hatte. - -Jetzt kam auch der herangekeucht, und sie klopften Beide an der Tür, -horchten, klopften und trommelten -- horchten nochmals: nichts rührte -sich drinnen. Auf einmal ruckte, krachte es allenthalben, und sie -hörten einen erstickten Angstruf. Der Doktor packte taumelnd den -Türgriff, der Konsul desgleichen: das Schloß sprang auf. Es war also -garnicht verriegelt gewesen; doch Bett und Zimmer waren -- leer. - -Sie starrten einander verdutzt ins Gesicht, da kam eine neue Stoßwelle -nach, und wieder ein unterdrückter Angstschrei. Kein Zweifel, das -war +ihre+ Stimme; nur kam sie von jenseits des Korridors. In -diesem Augenblick fühlte der Doktor, wie sich vor Schreck seine Haare -sträubten: er sah die Gesichtshaut des Konsuls lakenweiß werden, -während er selbst bis über die Schlafen wie ein Junge errötete: die -Stimme kam aus dem Zimmer des Barons. - -Der Konsul machte eine Grimasse, blickte plötzlich wie ein Rasender -um sich und stürzte nach dessen Tür hinüber; es schien, er wollte sie -einschlagen. Aber sie öffnete sich bereits, und er prallte mit offenem -Munde zurück. Auf der Schwelle erschien der Baron, prangend in seinem -vollen Schmuck, blos das rechte Bein fehlte in der Hose; hinter ihm -stand die schöne Frau, in ihrem langen Nachtgewand, die Augen von -reinstem Mitleid verklärt, und hielt mit zärtlichem Entsetzen zwischen -den aufgelösten Flechten sein Holzbein an ihrem verhüllten Busen. - -Kerzengrad auf den Krückstock gestützt, trat er in den Korridor, ohne -mit einer Miene zu zucken. „Es wimmelt ja heute von edlen Taten!“ sagte -er und begann zu lächeln; „die Gnädige wollte mich auch schon retten.“ - -So sprechend reichte er mit starren Pupillen, während sie in -schwärmerischer Verschämtheit das Bein mit ihrem Haar zudeckte, dem -endlich wieder lachenden Konsul seine juwelenblitzende Linke. Und der -Doktor sah im Hintergrund durch das weitgeöffnete Zimmerfenster den -feuertrunken lächelnden Buddha über der Blütenwolke thronen. - - - - -Die gelbe Katze - -Burleske - - -Nichts wirkt bestimmender als das Unbestimmte. Mit dieser Nutzanwendung -pflegte mein Bruder Ernst mir seine Erlebnisse zu berichten. Jetzt ist -er tot. Kurz vor seinem Ende schrieb er mir Folgendes. - -Wenn die Frau, für die ich meine eigne verlassen wollte, mit mir von -ihrem Manne sprach, kam sie mir immer häßlich vor. Ihre bräunliche -Haut wurde dann gelblich, das wilde Haar schien schwarzer und tiefer -in die Stirn gewachsen, der Pechglanz ihrer Augen wurde siechend und -der Ausdruck des schwungvollen Mundes hilflos. Ich nannte das ihr -Dienstmädchengesicht; aber es war mir unerklärlich. - -Sie beherrschte den Mann; aber das konnte sie doch nicht mehr fesseln. -Sein Körper war ihr unerträglich geworden, sein spöttischer Witz nicht -minder. Seine Rachsucht fürchtete sie nicht, und seine Gutmütigkeit -verachtete sie. Für Freiheit schwärmte sie wie eine russische Fürstin. -Warum also blieb sie noch bei ihm? -- - -Freilich hatte sie ein Kind von ihm. Aber das faßte sie nicht gern an, -trotzdem sie es sehr lieb zu haben glaubte. Mit meinem Töchterchen -spielte sie lieber und sehnte sich nach einem Sohn von mir. - -Auch auf sein Geld war sie nicht angewiesen; er hätte ihr das ihre -nicht vorenthalten, er war ein Ehrenmann. Daß er mich im Duell -erschießen könnte, befürchtete sie ebenso wenig; ich hätte ihm zu Ehren -mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt -- (hier log mein Bruder Ernst) -- -und ihr zu Liebe brauchte ich’s nicht, mein Dasein war ihr werter als -das Urteil der Leute. - -„Ist es, weil du dich vor deinen Eltern schämst?“ fragte ich sie eines -Tages, während wir auf einem Ausflug waren. - -„Ja, vielleicht“ -- sie lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen -schillerten. Dann machte sie ihr Schlangengesicht, als wollte sie das -Wort verschlucken; und gleich drauf lachte sie wie eine Bachantin. - -Wir gingen durch mein Lieblingsdorf, ein Krondorf aus der Zeit des -großen Friedrich. Es war an einem Karfreitag. Zu Ostern wollte sie in -ihre Heimat reisen; der Frühling am Rhein war ihr das Paradies. Wenn -sie davon sprach, erschien sie mir wie die leibhaftige Jungfrau Maria; -ihre nachtbraunen Augen verklärten sich. - -Die Kastanienknospen standen schon ganz dick und grün; manche machten -schon die Finger auf. Die Ahornblüten glänzten goldgelb durch den -blauen Abend. „Daraus mach ich mir ein Feeenszepter“, sagte sie, „wenn -ich mit meinem Vater durch die Berge reite.“ - -Ich sah sie an -- „Es gibt auch böse Feeen, du“ -- und wollte sie -küssen. Zwischen ihre schwarzen Brauen trat ein queres zuckendes -Fältchen; wie immer, wenn sie sich mir überlegen fühlte. Die üppige -Nase zuckte mit. Ich küßte nicht. - -Plötzlich wurden ihre Pupillen lüstern groß. „Sieh, wie unheimlich!“ -flüsterte sie und zeigte über die Straße. Alle ihre Sommersprossen, -selbst auf den Lippen, schienen verschwunden. Der schwellende Mund -wurde dunkler. Das war ihr Hexengesicht; das sechste, das ich an ihr -unterschied. - -Ich ging mit ihr hinüber. Auf einem künstlichen Hügel stand ein -seltsames Häuschen hinter dem Zaun. Es war stets unbewohnt, ich kannte -es schon. In der hellen Dämmerung sah es noch spukhafter aus. - -Zwei riesige Platanen streckten ihre noch kahlen Äste wie -Leichenknochen über das flache Dach. Die Wände waren fahl und fleckig. -Links wiegte ein verkrümmter Lebensbaum sein finstres Laub. Mitten -aus der Vorderwand schob sich ein rundes Spitztürmchen vor, das an -chinesische Hüte erinnerte; die Tür war verschlossen. Um die kleinen -Bogenfenster krochen Borten aus gotischem Schnörkelwerk; die Scheiben -waren so schwarz wie die Pupillen meiner Begleiterin. Zwischen der -rechten Ecke des Hauses und dem Stamm der einen Platane ging die -gelbrote Sonne unter. - -„Hier möcht ich manchmal wohnen“, sagte die schöne Frau. In diesem -Augenblick kam langsam über den Hügelrücken, grade wie aus der Sonne -heraus, eine große gelbrote Katze und setzte sich vor die verschlossene -Tür. - -Das Bild verstimmte mich, so tief voll Stimmung es war. Die -schwarzbraunen Augen des Viehes erinnerten mich unbestimmt an -eine Kindesmörderin aus einem Wachsfigurenkabinett. Die Sonne war -verschwunden; das Fell sah nun noch gelber aus, fast seidig. Sie -starrte blinzelnd herunter auf uns; mich fröstelte. Ich klatschte in -die Hände; sie lief weg. - -Die schöne Frau war zusammengefahren und sah mich etwas unwillig an. -„Ich liebe Hauskatzen nicht“, sagte ich rauh. Sie nickte stumm und -nahm hingebend meinen Arm. Wir wandten uns zur Heimkehr, aber der böse -Eindruck verließ mich nicht. Je zärtlicher sie mit mir sprach, umso -verstimmter wurde ich. Ich schob es auf den Karfreitag. Immerfort durch -unser Geflüster hörte ich Jesu Trostwort an den gekreuzigten Mörder: -Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. - -Fast verlegen küßte ich sie zum Abschied, und sagte lachend: „Auf -Wiedersehen, Magdalena.“ Sie machte ihr Jungfraungesicht. - -Die Nacht drauf träumte mir -- (mein Bruder Ernst hielt nämlich Träume -ebenfalls für Erlebnisse) -- ich sähe aus dem Fenster und schräg mir -gegenüber stünde das seltsame Häuschen. In den schwarzen Scheiben -glomm das Sternlicht. Plötzlich wurden sie blendend hell. Das ganze -Haus stand erleuchtet bis in den löchrigen Schornstein hinauf. Fenster -und Türflügel klappten auf; und aus Allem, was offen war, Luken und -Löchern, vom Dach herab und von den Wänden, sprangen unzählige schwarze -Katzen und stoben lautlos in die vier Winde. Zuletzt kam langsam eine -große rötlich-gelbe aus der Tür, starrte blinzelnd nach mir her, und -verlor sich gleichfalls in die Finsternis. Dann schloß das Haus sich -ebenso lautlos und war mit Einem Schlag wieder dunkel. - -Der Morgen kam. Ich saß mit meiner Frau beim Kaffee; wir besprachen -unsre Trennung. „Wenn du mit Bestimmtheit fühlst“, sagte sie mit ihrer -treuen Stimme, „daß die Andre für dein Glück geschaffener ist als ich, -darf ich dich nicht halten“ -- da ging die Flurglocke. - -Das Dienstmädchen meldete, ein fremdes Fräulein wünsche mich zu -sprechen; ich ging ins Nebenzimmer. Eine große junge Dame trat mir -entgegen; ich erschrak. Sie war ganz in gelbrote Seide gekleidet, ihr -schwarzes Haar bedeckte ein Strohhut mit einem Zweig von künstlichen -Ahornblüten; sie hatte alle Züge der schönen Frau, nur nicht so -sarazenisch, gleichsam zahmer. Ich stand sprachlos. - -War sie’s doch vielleicht? Nein! Gestern war sie verreist. Und jeder -Gesichtszug war mir doch fremd. Und eine Schwester hatte sie nicht. - -Die Dame lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen schillerten. -„Sie kennen mich wohl nicht“, fragte sie leise; ich verneinte -beklommen. „Ich bin die gelbe Katze“, sagte sie schnurrig; mich -fröstelte. Dann fiel mir ein: vielleicht ein Vexierscherz der schönen -Frau -- sie hatte Bekanntschaft in Bühnenkreisen. Die Dame blinzelte, -und zwischen ihre Brauen trat ein queres Fältchen; „ich soll Sie -abholen“, flüsterte sie. - -Aus ihren Augen sah ein schlangenhafter Glanz, der mich bestrickte. -Gleich? fragte ich. „Gleich!“ Wir gingen. - -Wir gingen schweigsam die Treppen hinunter; vor der Tür stand ein -Wagen. Wir fuhren durch zahllose Straßen, ebenso schweigsam; sie schien -mich garnicht zu beachten. Die Straßen wurden enger, die Häuser immer -höher, die Gegend mir unbekannt. Einmal nickte sie flüchtig; da sah ich -eine schwarze Katze durch einen Torweg haschen. Einmal strich sie sich -ihr wirres Haar mit ihrem gelben Handschuh glatt. Endlich hielt der -Wagen; ich folgte ihr willenlos. - -Wir gingen durch einen dumpfigen Hof, dann mehrere eiserne Stiegen -empor, und durch viele halbdunkle Gänge. Ein wahres Labyrinth von -Haus; die Luft roch modrig. Vor einer pechschwarzen Flurtür machte sie -Halt und drückte auf etwas Unsichtbares. Die Tür sprang auf, ich stand -geblendet. Eine stechende Lichtpracht schlug mir entgegen, wie von -tausend Kronleuchtern her. - -Als ich zu mir kam, stand ich in einem Saal, der unabsehbar schien; -vor mir, hinter mir, nach allen Seiten Spiegelwände. Und mitten durch -den Saal, der Länge nach, von allen Seiten widergespiegelt, stand eine -endlose Reihe von lautlos sich drehenden schwarzgekleideten Damen und -lautlos hopsenden mausegrauen Herren, wie nach dem Rhythmus einer -übersinnlichen Tanzmusik. - -Keine der Damen -- (hieraus entnahm ich, daß mein Bruder Ernst noch -immer träumte) -- hatte blos Einen Herrn, die meisten zwei, manche -auch drei; einige schienen ein Dutzend zu haben, falls mich die -Spiegel nicht täuschten. Alle trugen sie, so lustbar sie sich drehten, -einen sonderbar hilflosen Trübsinn zur Schau, fast wie Automaten; die -mittelste hielt ein weinendes Kind im Arm. - -Immer wenn sich eine der Damen dem einen ihrer Herren etwas tiefer -hinbog, tat dieser einen besonders hohen Hops, sodaß die mausegrauen -Frackschöße, die sonst bis auf den Boden schlappten, die Luft -durchschwänzelten. Dann warfen ihm die andern Herren, zumal die dicken, -wütende Blicke zu; aber die Dame lächelte kindlich, dann wurden selbst -die dicksten wieder sanft. - -Mir fing an schwindlig zu werden; ich sah mich um nach meiner gelben -Führerin. Ein Schauder beschlich mich: alle ihre Sommersprossen waren -verschwunden. Die Pupillen hexenhaft groß, stand sie wie die Fürstin -dieses Tanzspiels da und schüttelte die bachantischen Locken. Ihr Haar -war aufgegangen, der Strohhut lag am Boden. In der Rechten hatte sie -den falschen Ahornblütenzweig und schwang ihn wie ein Szepter. Das -Gesicht war dunkelbraun, die schwungvolle Nase schien verbogen. Sie -nickte mir zu. - -In diesem Augenblick sprang hinter ihr die Spiegeltür von neuem -auf; und stumm herein, in mausegrauem Frack, die Schöße zwischen -den Fingerspitzen, grad auf mich los, kam der Gatte der schönen -Frau gehopst. Ich wollte schon laut herauslachen, da seh ich in -der Spiegeltür, die langsam wieder zugeht, entsetzt mich selbst im -mausegrauen Frack, und plötzlich fang ich auch mit zu hopsen an. - -Ich ringe verzweifelt nach Stillstand. Ich werfe der schönen Frau -die ernstesten Blicke zu. Vergebens. Je tiefer sie mir in die Augen -blinzelt, umso höher hopse ich. - -Ich suche dem Gatten näher zu kommen. Ich will ihn aufreizen, mich zu -packen. Er sieht mich spöttisch an und hopst. - -Ich will ihm beweisen -- ich hopse. Ich will ihm zeigen -- er hopst. -Ich will ihn zu Boden schlagen -- wir hopsen. - -Ich will der schönen Frau zu Füßen stürzen. Ich will sie beschwören, -gnädig zu sein. Ich will und will, und kann es nicht --: ihre braune -Haut wird häßlich gelb, ihr Haar scheint mähnenhaft gesträubt und -tiefer in die Stirn gewachsen, ihr Blick wird stechend, der Ausdruck -des üppigen Mundes hilflos: sie hat ihr Dienstmädchengesicht. - -Ich schreie schmerzhaft auf -- und bin wach. - -Neben mir am Bett stand meine Frau mit unserm Töchterchen und strich -mir durchs Haar. „Vater“, sagte die Kleine bedächtig: „du hast so -furchtbar komisch im Schlaf ausgesehn.“ Ich küßte beiden die Hände. - -Seit diesem Morgen -- so schloß mein Bruder Ernst sein seltsames -Schreiben -- ist mir die gelbe Katze nicht mehr gefährlich. Bald darauf -starb er in einem Duell; er hatte der Dame Lebwohl sagen wollen, und -die Wände hatten Ohren gehabt. Er starb durch die zitternde Hand des -Herrn Gemahls; er, der vortreffliche Schütze. Nichts wirkt bestimmender -als das Unbestimmte. - - - - -Die Gottesnacht - -Ein Erlebnis in Träumen - - -Erster Traum - -Ich spürte, ich würde gleich einschlafen. Und ich wünschte es sehr nach -den tristen Gedanken, die wegen der abends empfangenen Todesnachricht -seit Stunden in mir rumorten. Ich sann noch über den Eigensinn -nach, mit dem sich die junge Selbstmörderin die langsamste Todesart -ausgesucht hatte; doch ich war schon erlöst von dem Sinn in den -Worten, die durch mein müdes Gehirn schossen. Ich hörte beseligt den -Drosselgesang, der aus dem Wort Erdrosselung klang, und wunderte mich -über die Bilder, die sich aus jedem Satzglied entpuppten. Da stand sie -auf einmal deutlich vor mir: die rätselhafte Gliederpuppe. - -Wie war sie nur in mein Zimmer gekommen? Da stand sie zwischen Tür und -Schrank mit ihrem wachsbleichen Gesicht wie eine Auferstandene. Die -großen gläsernen goldbraunen Augen starrten mir so bekannt ins Herz, -als hätten sie schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. -Und ein Schmelz war darin, als ob sie lebten; als ob sie mich liebten; -fast mütterlich. Aber natürlich, das schien nur so; ich mußte mich -nur recht erinnern. Denn ja, meine Mutter hatte sie ja meinen Kindern -zu Weihnachten geschenkt, diese lebensgroße Gliederpuppe; und das -Lächeln um die schmalen Lippen blieb immerfort so unbeweglich, wie -die Falten des steifen brokatenen Mantels um ihre sanftgeschwungenen -Achseln. Ja, sie war tot; tot wie die schönen phantastischen Blumen -dieses alten indischen Tempelmantels, der sie bis zu den Füßen hinab -verhüllte. Zwischen solchen Blumen spielte ich einst und pflückte einen -Strauß davon; für ihre bleichen gefalteten Finger. Damals hatte ich -sie noch angebetet. Denn sie thronte auf einem vergoldetem mit Rubinen -und Perlen geschmückten Altar und war die Göttin der Barmherzigkeit; -das war wohl viele hundert Jahre her. Warum sah sie mir nun so starr -ins Herz, als ob ich sie getötet hätte? Sie hatte sich doch selbst -entleibt! Ich träumte wohl? - -Nein, sie hielt ja noch immer die Finger gefaltet und stand groß -zwischen Tür und Schrank. Wenn ich nun mit ihr betete, ob sie sich dann -vielleicht rühren würde? Denn sie war doch früher beweglich gewesen; -wenn ich an ihre Gelenke rührte, dann klirrten noch die zersprungenen -Drähte, bis in den hohlen Brustkorb hinein. Ich seufzte auf, da -klirrten sie wieder; und ihre Arme zuckten ein wenig. Ob sie mich -niemals mehr anrühren würde? mich immer blos so unverwandt ansehn? Ich -spürte ein Stechen in meiner Brust, als ob aus den Drähten elektrische -Funken herzuckten. Ich hörte wieder das leise Klirren; oder klang noch -immer der Drosselgesang? Ich wollte beschwörend die Hände ausstrecken, -aber das Stechen in meiner Brust drang mir bis in die Fingerspitzen. -Ich wollte wegblicken -- da blickt sie mir nach. - -Ich träume ja nur! will ich mir einreden; aber sie blickt auf meine -Hände. Auf den Rubinring an meiner Linken; der beginnt zu glühn wie -ein Altarlämpchen. Auf den Trauring an meiner Rechten; der beginnt -zu glänzen wie Tränenperlen. Und auf den Ring, den mein Vater mir -schenkte, als ich noch keinem Weibe gehörte. Warum quälst du mich, -Mutter? will ich stöhnen; aber ihr Blick verschließt mir den Mund. Ich -will mich aufrichten; ich liege gebannt. - -Ihre Augen beginnen zärtlich zu leuchten, und der Glanz der Ringe -wird funkelnder. Ihre Augen funkeln begehrlich mit; der Glanz der -Ringe erlischt auf einmal. Das sind nicht meiner Mutter Augen! meine -Mutter blickt sanft, meine Mutter ist fromm! Das sind auch nicht mehr -die goldklaren Augen, die ich einst angebetet habe, weil die Mutter -meiner Kinder so blickt. Diese Augen sind schwarz, nein dunkelgrau, -und kennen nicht Treue noch Gottesfurcht; es sind die Augen der -Selbstmörderin. Warum hast du dich aber töten müssen? will ich sie -fragen und höre entsetzt: du hast es doch gewollt, mein Geliebter! -- - -Ich will es leugnen und sehe ihr Lächeln. Vielleicht hat sie garnicht -die Worte gesprochen. Oder vielleicht verstand ich den Sinn nicht; -sie sprach von jeher so doppelsinnig. Doch sie läßt den Kopf so -sonderbar hängen. Ach ja: ich wollte sie ja erdrosseln. Ich höre wieder -den Drosselgesang; aus dem Wald meiner Heimat kommt er her. Gleich -wird mein Vater zwischen den Bäumen erscheinen. Nein, es ist ferner -Flötenklang. Nein, eine Geige jubelt bang. So hat mein toter Freund -einst gespielt, als wir noch kindisch durchs Haidekraut liefen und -hinter den Birken die Waldfee suchten. Ach, ein König der Geiger wollte -er werden, und kommt jetzt gramvoll dahergeschritten im Gefolge der -Königin. Am Waldrand macht der Jagdzug Halt; und wir beugen alle das -Knie vor ihr. - -Warum blickt sie uns so prüfend an mit ihren silbergrauen Augen? Das -ist mein Freund nicht, das bin ich selbst -- und die Königin Elisabeth -winkt mir. Erhebe dich, Shakespear! flüstert sie; und ich fühle, wie -wir uns aufrichten. Er trägt noch die schwarze Scholarentracht, worin -er der Schule entlaufen ist, und einen verrückten alten Brokathut mit -gelben Papageienflügeln. Denn ich weiß, wir müssen uns wahnsinnig -stellen vor der treulosen Königin. Denn sie hat ihn begehrlich -angeblickt, als ich gestern „Venus und Adonis“ beim Bankett der -Jagdgäste deklamierte; er aber liebt ihre Kammerdame, die Augen wie -eine Göttin hat, wie eine Waldfee, wie ein Reh. Das äugt in Todesangst -durch die Büsche, und ich stehe und stiere es an wie ein Bluthund. O, -wie gut wir uns wahnsinnig stellen können, wenn wir nichts als eine -Göttin lieben und solchen verrückten Hut aufhaben! Und nun ahnt sie, -wieso er Schauspieler wurde und den armen Hamlet gedichtet hat; und -wir schwenken den Hut vor der treulosen Königin, und sie lächelt in -Barmherzigkeit. - -Sie lächelt immer barmherziger; es dringt uns stechend durch Brust und -Gehirn. Ich will ihr den Hut vor die Füße werfen, und tue es, und stehe -erstarrt: der Hut hat schwarze Drosselflügel und fliegt zurück auf -meinen Kopf. Ihr Lächeln wird so grausam barmherzig, daß ich sie dafür -umbringen möchte. Du hast es ja schon getan, mein Geliebter! raunt -sie mir unbeweglich zu. Es ist nicht wahr! will ich aufstöhnen; doch -sie läßt den Kopf so sonderbar hängen. Ist das die englische Königin -noch, oder blos die indische Gliederpuppe? Wenn sie noch lange da bei -der Tür steht, wird sie mich wirklich wahnsinnig machen. Warum quält -sie den armen Hamlet so? sie ist doch seine leibliche Mutter! Sie hat -doch Augen wie eine Gottheit und blickt mir stechend in mein Gehirn. Ob -Gott überhaupt nur ein grausames Weib ist? in steter Verpuppung?! die -Allmutter! -- Aber sie hat ja zersprungene Drähte und läßt den Kopf so -sonderbar hängen! -- Ich glaube nicht mehr an Gottheiten! knirscht mein -erstarrter Mund ihr entgegen. Und mit ungeheurem Triumphgefühl weiß -meine Seele: ich träume nur! -- - -Wenn nur die Drähte nicht immerfort klirrten! das ist doch wirklich -verwunderlich. Sie klirren lauter, und immer lauter; so laut wie die -kleine alte Orgel in der Kirche meiner Vaterstadt. Ich lese die goldene -Jahreszahl 1693 auf dem schwarzlackierten Täfelchen zwischen den elf -Apostelbildern. Denn der treulose Judas fehlt natürlich; das habe ich -schon als Kind begriffen. „Salvator Mundi“ steht unter dem zwölften -Bild, auf klarem, himmelblauem Grund; und neben der eisenbeschlagenen -Tür thront lächelnd die Mutter mit dem Kinde. Ich höre die Orgel ihr -Lob anstimmen und weine vor Weihnachtsseligkeit. Die silbernen Fransen -der Altardecke schwimmen in meinen perlenden Tränen. Ich spiele mit -diesen schönen Perlen, und lächelnd sieht mir die Mutter zu. Ich bin -wieder Kind auf ihrem Schooß, und wundre mich nun garnicht mehr. Ich -bin blos im stillen ein bißchen erstaunt: der Apostel Thomas hat drei -Hände. Zwei kleinere, die sind wohlgepflegt; aber aus seinem braunroten -Mantel langt eine dritte, große, aussätzige. Die umklammert ein Buch -und ist mir entsetzlich. Ich darf mich aber kein bißchen rühren, sonst -würde sie nach mir herlangen. Ich starre das Buch an: ob Bücher krank -werden können -- - -und atme plötzlich erleichtert auf: ich erkenne, es ist ja gar keine -Hand: es ist nur eine Falte des Mantels, die über das Buch geschoben -liegt. Ich möchte sie wegtun, ich darf aber nicht; sonst kommt der -Küster und schlägt mir das Buch um die Ohren. Sie dröhnen mir schon; -er schlägt immer dröhnender. Er schlägt mich wohl mit Glockenschlägen? -Sie schallen mir donnernd ins Gehirn. Nein, Blitze schlagen wohl um -mich ein; o Himmel, Hilfe, sie werden mich treffen! Ich will mich -verstecken; o Mutter, wo bist du?! Ein blendender Strahl schließt -mir die Augen; ich bin getroffen; der Strahl zerreißt mich. Ein -unabsehbarer Farbenstrudel spritzt himmelansprühend aus meinem Kopf. -Ich schreie vor Wonne: mein herrlich Gehirn! Und eine Stimme erwidert -von oben: es ist bis über die Sterne gespritzt. Ich will ihm nach: o -himmlisches Licht! Es scheint mir ins Auge; ich erwache. - -Auf meinem Nachttisch brannte die Kerze noch, bei der ich, um meine -Gedanken zu stillen, in Shakespears Sonetten geblättert hatte; und an -der Wand zwischen Tür und Schrank blitzte der Rand des Spiegelglases -über dem Bildnis meiner Mutter. Ich schlug das Buch zu und löschte die -Kerze. - - Ich möchte keiner Flamme bekennen, - was für Blicke in uns Menschen brennen. - Kein Spiegel wird uns je klar machen, - welche Augen in unserm Schlaf erwachen. - Zwischen dunkeln Wänden ahn’ich mit Beben, - wieviel Geister hinter jedem Geist leben. - Denen kann ich nichts vorscheinen; - denen wird mich das Licht einst einen, - wo wir Alle in Schweigen schweben, - Alle im Reinen ... - - -Zweiter Traum - -Wir gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben -lag die Försterei in tiefem Schnee. Die klare Kälte machte alle stumm; -der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. Die Teckel hielten -sich, vor Frost humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. In -dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren -Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen Pelzen. -Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, wieso dabei schon -wieder: mir kam der liebe Gott in Sinn. - -Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus -einem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorf drüben her, auf ihrem -Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem -Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel, keifend, -auf ihn los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll; -den Schwanz eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen -lustiger. Er begreift; und hussa, alle Schwänze hoch, stiebt die wilde -Jagd, schneeumspritzt, bellend und belfernd den Weg hinunter, die -falsche Richtung für die gute alte Frau, die schimpfend und jammernd -auf dem stuckernden Wagen sitzt, mit beiden Armen ihre Semmelkiepe -umklammernd. Wir, lachend, hinterdrein mit langen Sätzen; am Bahndamm -unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel drücken sich beschämt zu -ihren Herren; wir lohnen die Alte ab. Und ich denke wieder an den -lieben Gott. - -Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den -Augen weh zu tun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her -taucht funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze -aus Otterfell. „Der Nachbarförster“, sagt jemand scheu; Einer wird -bleich wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen -Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein -grauer Kinnbart perlt von Eis, die große Hakennase wirft einen Schatten -über die Backenfurchen bis zum Ohr; suchend brennen seine stahlblauen -Augen. „Komm her!“ ruft er heiser. Der Bleichgewordene gehorcht. Nun -stehn sie mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. „Zieh den Handschuh -ab!“ hör ich mit Grauen, fühlend, wie sich der Alte beherrscht. „Wo -hast du den Ring?“ fragt er drohend. Keine Antwort. Der Alte zittert. -Seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff. Ein Ruck: die -Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; hohnlachend stößt er sie zurück. Mit -unsäglicher Verachtung speit er in den Schnee, zum Gehn gewendet. -„Vater!“ schreie ich auf, in die Kniee stürzend. Er geht. - -Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in -weiter Ferne. Sausend peitschen schwere spitze Büschel, Kiefernzacken, -gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich. Stecheichenzweige rauschen -um mich her; ich sehe, wie die roten Beeren lange Kurven durch mein -graues Atemnetz reißen. Aber eine weiche Hand legt mir immer wieder, -schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare. Die gepreßten Zähne -lösen sich; ich glaube, ich werde ein Anderer. Der liegt zu ihren -Füßen, den Kopf in ihren Schooß gedrückt. „Lebst du denn noch?“ -fragt er verwundert. Sie läßt sich in den Lehnstuhl gleiten; das -ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre hellbraunen Flechten. -Neben ihr, auf meinem Schreibtisch, steht ein zartes venezianisches -Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein -meergrün schillerndes Schlänglein ringelt sich darum empor. Ein -Stecheichenblatt starrt aus dem Kelch, und eine wachsbleiche Hyazinthe. -Die hat sie mir eben gebracht; die üppige Blüte berauscht mich. - -„Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. „Ich kann nicht“, fleht er -mühsam; und ich höre ihn mit beklommener Stimme die Geschichte -des Ringes erzählen. Den hat der Urgroßvater seines Vaters, der -Husarenwachtmeister, nach der Schlacht bei Torgau, für seine Tapferkeit -und lange Treue, aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen; -vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das -eingepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldenen Reifen: „und -immer der Älteste erbt ihn.“ Ich höre seine Worte wie im Traum; es ist, -als ob ich sie in einem Buche lese. „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt -sie. Er kämpft mit sich. „Hast du Gewissensbisse?“ flüstert sie; „Du ---?“ - -Was! Will sie mich verspotten? Ich presse drohend meine Zähne an die -Knöchel ihrer Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie, hält mir die -Hyazinthe an die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; „du -hast ihn ja schon“, entgegne ich und blicke auf ihre Finger nieder. -„Den andern noch“, schmeichelt sie; „den Ring der +Andren+!“ Ihre -grauen Augen werden immer bestrickender. - -Ich fühle ein heftiges Zittern; am liebsten möcht ich sie wieder -erwürgen. Dann könnte ich wieder der Andren treu sein, die meine -Kinder geboren hat. Meine Blicke heften sich herzverwirrt auf den -Rubin an meiner Linken; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde. -„Gewissen ist der Spuk des toten Gottes“, spricht sie auf einmal meine -Gedanken aus, mir ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie es höhnisch meint. -Ich wills ihr erklären; sie erhebt sich. „Du bist zu gut,“ haucht sie -gespenstisch -- „nur gute Menschen haben ein schlechtes Gewissen; -- -ich hatte nie eins“ -- und streift mir den Ring ab. Ich will es ihr -wehren; sie entschwebt. Ich will ihr nachstürzen, vergebens; meine -Kniee winden sich gebannt am Boden. Ich suche das Wort, das mich frei -macht. - -Ich stammle Verse, lange flehende Zeilen; sie verliert sich immer -ferner in die Nacht. Ich sehe sie geisterbleich verschwinden; nur der -Rubin glüht noch wie Blut im Mondlicht. Nein, wie ein Wundmal; der tote -Freund! mit seiner Geige schwebt er herbei. Zu meinen Versen beginnt er -zu spielen: ferne flehende Töne: von einer Seele, die ihm untreu ward. -Die runde Wunde seiner Stirne tut sich auf; Blutstropfen perlen aus der -kleinen Öffnung, bei jedem Bogenstrich, die bleiche Schläfe nieder, -in den Schnee. Immer näher schwebt die rote Spur; die geschlossenen -Augenlider zucken, bleicher als sein Sterbehemd, und ich suche das -Wort, das Wort -- in unsrer Kindheit wußten wir’s. - -Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken schlägt -mich: das sind nicht seine Augen! das ist die „Andre“! -- Meine Blicke -erlahmen, mein Mund versagt; meine Finger krümmen sich, ihr Gewand zu -betasten -- hilf mir! das Wort! -- Sie weist auf meinen starren Körper: -lange Ketten Verse, wie Spruchbänder, umschnüren meine gezerrte Kehle. -Ich lese und lese, mir graut: - - Schwere Ringe ... wirb ... ich werbe ... - leere Schlinge ... deine Meinung -- - dunkle Kammer ... uralt Erbe ... - Irrtum ... Jammer ... wird Erscheinung -- - -Wer sprengt die Ketten?! Die Tür springt auf. Lichtschein wie -Nadelstiche prallt mir entgegen. Auf der Schwelle steht meine Mutter; -mit unsäglichem Kummer blickt sie mich an. Meine Arme mühn sich nach -ihr; vergebens. „Sünde an der Mutter deiner Kinder?!“ ringt es sich -von ihren Lippen. Mutter! will ich sie anflehn; sie wehrt mir. „Das -ist Sünde an Gott!“ flüstert sie weiter. +Gott+! ringt sich’s von -+meinen+ Lippen, laut, das Wort... ich bin wach. - -Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen Mondlicht grell bis -auf mein Bett; er zuckte. Ich sah zum Fenster; da war kein Spalt. Ich -wandte den Blick ab; der Streifen glitt mit. Ich weiß nicht, was für -ein Licht so zuckte. - - Wenn dich zwischen Schlaf und Schlaf - um Mitternacht - dein rasend klopfendes Herz - aus deinen Träumen jagt - -- furchtsam stockt dein Atem -- - und sich durch dein finstres Zimmer - weiße Schatten vor dir flüchten: - kennst du dieses Grauen? -- - Wenn dann aus dem toten Raum - mit starren Augen - ein geliebtes Gesicht - lautlos dir entgegenscheint - und leben möchte: - kennst du dieses Grauen? -- - Mit eignen Händen - willst du nach dir greifen - und dich erwürgen - für eine Schuld ... - - -Dritter Traum - -Ich habe sie doch vielleicht umgebracht. Warum sollte es auch unmöglich -sein? Ich habe doch einst sogar ein Kind umgebracht, ein kleines, -hübsches, unschuldiges Kind. Und damals glaubte ich doch sogar noch -an Gott, an die Hölle und ans Jüngste Gericht. Damals war ich ein -schwedischer Kürassier, bei den sakrischen deutschen Protestanten, und -wir brandschatzten ein katholisches Pfarrdorf. Ah, ich fühle wieder -die himmlische Mordlust, wie sich die Bauernweiber wehrten, die wir -ins Spinnhaus eingesperrt hatten. Und da spießte ich einfach der -Ungeberdigsten das schreiende Kind aus den Armen weg und schmiß es im -Bogen in den Dorfteich. Ich sehe noch deutlich die kleine Hand, die aus -dem sumpfigen Wasser herausstak, als wir nachher von den Weibern kamen; -ganz mit geronnenem Blut bedeckt, so stak sie zwischen den Binsen -heraus, wie eine dicke rote Tulpe. Ich habe aber kein Grauen davor; es -weiß ja keiner mehr, daß ich es tat. Ich darf mich nur nicht selber -verraten, wenn sie mich doch vielleicht vor Gericht stellen. - -Wenn ich mich blos erinnern könnte, welche von Beiden ich umgebracht -habe. Doch nicht die Mutter meiner Kinder? Die hat mir ja immer -alles verziehen. Aber die Andre hat sich ja selbst umgebracht; deren -Hand kann doch nicht gegen mich zeugen. Jedenfalls muß ich zu der -Beerdigung gehen; sonst könnten die Leute Verdacht auf mich werfen. -Und ich muß ihr einen Strauß auf den Sarg legen, einen großen schweren -Tulpenstrauß, damit sie die Hand nicht herausstecken kann. Aber weiße -Tulpen müssen es sein; die roten riechen auf einmal so stark, es ist -der reine Leichengeruch. Warum sieht mich der Blumenhändler so an? mit -richtigen Totengräberaugen! -- Ich will auch weiße Tulpen nicht! die -sehen noch leichenhafter aus! -- Er lacht; ich verlasse eilig den Laden. - -Auf der Straße ist so bleiches Licht, wie ich noch niemals erlebt habe. -Ich kann mich kaum schleppen in diesem Licht, so weltschwer hängt es -um meinen Kopf. Es geht auch kein Mensch auf der bleichen Straße, und -die Häuser sind wie aus Schatten gebaut. Wenn ich nicht wüßte, wo ich -bin, könnte ich an ein Geisterland glauben. Aber es macht mich schwach, -dieses Licht; es ist, als ob es mich auspressen möchte. Und ich will -und will mich nicht schwach machen lassen; keine Seele der Welt darf in -meine Seele. Dann muß ich mich aber bei Kräften halten, mein Körper ist -schon wie ausgehöhlt. Ach ja, ich werde wohl Hunger haben; ich habe ja -heute noch nichts gegessen. - -Ich mache ein harmloses Gesicht und trete in einen Schlachterladen. Die -Schlachtersfrau blickt mich fragend an -- ganz still und fragend -- was -blickt sie nur! -- „Geben Sie mir dies kleine Stück Fleischwurst!“ sage -ich langsam mit ruhiger Stimme, als ob ich gar keinen Hunger hätte. Sie -blickt mich wieder wortlos an und legt das Stück Wurst auf ein weißes -Papier, reicht es mir über den Ladentisch. Ich will es nehmen und kann -mich nicht rühren: ich erkenne auf einmal, es ist keine Wurst: es ist -eine kleine Kinderhand, ganz mit geronnenem Blut überzogen. Ich starre -der Frau verstört in die Augen: es sind die Augen des Bauernweibes, dem -ich vor Zeiten Gewalt antat. Ich fasse mich endlich und tappe hinaus; -hinter mir her tönt ein dumpfes Lachen. - -Ich tappe mich wie durch Nebel weiter und komme an eine -Frühstückshalle. Da sitzen wohl hundert essende Menschen hinter der -großen Fensterscheibe; da wird mich wohl keiner beobachten. Ich setze -mich ganz in den Schatten hinten und bestelle irgend ein rasches -Gericht. Es ist so laut in dem halbdunkeln Raum, daß ich kaum meine -eignen Worte verstehe. Das Schenkmädchen bringt mir frischen Hummer und -wünscht mir freundlich guten Appetit. Es freut mich auch wirklich, wie -gut er riecht; aber was steht sie und wartet noch! Ich darf mir aber -nichts anmerken lassen; vielleicht will sie blos ihr Geld bald haben. -Ich bezahle; sie bleibt noch immer stehen. Es wird mir schwer, sie -nicht anzuschreien; aber ich nicke ihr ruhig zu und greife rasch nach -dem Hummerteller. Ich will mir sacht eine Schere abbrechen; aber was -ist das, was ist das nur?! Ich fühle mich bis in die Lippen erbleichen: -es ist eine kleine rote Hand, und ein Leichengeruch schlägt mir -entgegen. Und alle Menschen blicken mich an, wohl hundert menschliche -Augenpaare blicken mich unabwendbar an. Und alle sitzen so still wie -Geister; kein Laut ist mehr in dem halbdunkeln Raum. Ich taste mich -mühsam zur Tür und ins Freie; ein brausendes Lachen schallt mir nach. - -Wo kann ich nur etwas zu essen bekommen! Wenn ich noch lange so -schweigsam herumgehe, werde ich ohnmächtig vor Hunger. Es ist nicht, -weil mein Geheimnis mich würgt; nur, es stachelt mich immer stärker, -mir die herrlichsten Speisen auszumalen. Halt, ich werde mal wieder -den Maler besuchen, der immer so köstliche Späße macht; der wird mich -auf andre Gedanken bringen. Ich sehe, er malt an einem Fruchtstück; -eine große goldgelbe Ananas steht auf der malachitgrünen Schüssel, ein -paar rote Tomaten liegen daneben. „Darf ich mir eine Tomate nehmen?“ -frage ich ihn ganz unbefangen; „Tomaten sind mein Leibgericht.“ Er -malt schweigend weiter; was schweigt er nur? -- „Machen Sie doch -nicht solche Späße!“ stammle ich plötzlich und sehe entsetzt: er -malt eine rote Kinderhand. „Lachen Sie nicht!“ beherrsche ich mich; -„Tomaten sind wirklich mein Leibgericht!“ -- Er lacht aber garnicht, er -lächelt nur -- er blickt mir nur sonderbar in die Augen und sagt mit -teilnahmvoller Stimme: „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt, die Tür -zum Gerichtssaal ist nebenan.“ - -Ich bin einen Augenblick wie im Traum; ich fühle nur wieder wie durch -Nebel, daß der Maler sanft den Arm um mich legt und meine tappenden -Schritte leitet und die Tür des Saales hinter mir schließt. Ich möchte -aufwachen aus diesem Traum; ich glaube mich doch genau zu erinnern, daß -ich in Wirklichkeit Niemand umgebracht habe, weder die Eine noch die -Andre; aber ist das auch wirklich die Wirklichkeit? Ich bin ja schon -öfters im Traum erwacht, und dann wars trotzdem nur wieder geträumt. -Ich will mich lieber zusammennehmen, daß ich nichts von meinem -Geheimnis verrate; mit keinem Wörtchen, mit keiner Miene. Ich sehe mir -meine Richter an. - -Ob ich vor einem Vehmgericht stehe? Regungslos sitzen sie mir -gegenüber, elf schwarzvermummte stille Gestalten, mit Augenlöchern -in den Kapuzen. Es funkeln aber nicht Augen darin; es schauen mich -aus den schwarzen Masken nur lauter noch schwärzere Löcher an. Ob es -vielleicht lauter Schatten sind, die in den hohlen Gewändern sitzen? -Ob es vielleicht doch Geister gibt? Denn in der Mitte sitzt Einer -ohne Maske, mit geschlossenen Augen wie ein Toter, mit silberweißem -Haupthaar und Bart, und mit ewig gebieterischer Stirn; vor dieser -Stirn hat mir oftmals gebangt. Ich weiß nicht, ists meines Vaters -Stirn? Ich weiß nicht, ists eines Gottes Stirn? Wenn lauter Geister -da vor mir sind, muß dann nicht auch ein Obergeist sein?! Könnte ich -nur seine Augen sehn! Vielleicht sind es doch meines Vaters Augen; -meines Vaters herrliche stahlblaue Augen, die mich oftmals so hart und -zornig anstrahlten, und doch so glutweich im hellsten Zorn, und dann so -spöttisch verzeihungswarm. Aber er sitzt da so starr und kalt jetzt, -als werde er die geschlossenen Augen nie wieder zu seinem Sohn hin -öffnen; es sei denn, ich öffne ihm mein Gewissen. Sie sitzen alle so -starr und kalt, als wollten sie ewig darauf warten. Ich fühle, ich muß -wohl endlich sprechen. - -Meine Herren Richter! beginne ich unverzagt: ich habe wirklich ein -reines Gewissen. Denn gesetzt auch, ich hätte sie umgebracht, so hatten -doch beide sich selbst umgebracht. Denn die Eine, die wirklich sich -selbst umgebracht hat, die hat sich auch selbst dazu gebracht. Denn da -sie kein Gewissen gehabt hat, so hat sie mir mein Gewissen genommen und -hat es dann nicht ertragen können. Denn die Andre, der mein Gewissen -gehörte, und die mir drum immer alles verzieh -- denn sonst hätte ich -mir’s nicht wegnehmen lassen --: die hat das nicht länger verzeihen -können. Denn da ich kein Gewissen mehr hatte, und wenn sie deswegen --- was ich nicht weiß -- vor Gram zu Grunde gegangen ist, so ist auch -sie im Grunde von selbst und an sich selbst zu Grunde gegangen. Denn -wenn ich es auch gewollt haben sollte, so hat es, meine Herren Richter, -doch im Grunde ein Anderer gewollt. Denn wenn ich jetzt hier vor Ihnen -stehe -- und wenn, wie ich sehe, mein Vater jetzt Gott ist -- so bin -ich im Grunde der Sohn meines Vaters, und mein Wille ist Gottes Wille -gewesen. Wenn also ich, meine Herren Richter -- nein, nicht ich, wenn -ich Gottes Sohn bin --: wenn also Gott, meine Herren Richter, Eine -von Beiden umgebracht hat -- nein, die Andre -- nein, Beide -- nein, -+alle+ Andern -- -- - -Ich stocke plötzlich und kann nur noch stottern; ich merke, ich habe -mich verwirrt. Ich suche im Blick meiner Richter zu lesen und sehe nur -lauter schwarze Löcher. Ich blicke hilflos den Einen an, der herrlich -in ihrer Mitte sitzt, und erbange vor seiner klaren Stirn; mich befällt -auf einmal dumpf ein Erinnern, als ob ich seit unvordenklichen Zeiten -unzählige Seelen umgebracht habe. Und da endlich tut Gott mir die -Augen auf: meines Vaters strahlende blaue Augen tut er aus ewiger -Ruhe auf und fragt meine Seele: „bekennst du dich schuldig?“ -- Ich -höre mein Herz in seiner Stimme und sehe mein Leben in seinen Augen. -Ich weiß, ich brauche nur +Nein+ zu sagen, dann bin ich auf ewig -freigesprochen. Ich fühle das Nein schon auf den Lippen; ich brauche -nur den Mund aufzutun, dann bin ich von all der Mühsal erlöst. Und ich -tue ihn auf und -- sage „ja“. - -Ein Schrecken befällt mich wie ein Schlag. Ich fühle betäubt mein -Bewußtsein schwinden; mir ist, ich stürze endlos hinab, durch dunkle, -bodenlose Räume. Oder stürze ich endlos empor? Ich höre von oben her -singende Stimmen; sind’s Menschenstimmen? sind’s Geisterstimmen? -Sie singen mich wieder zur Besinnung -- von fern her singen zwei -Frauenstimmen --: Von wannen, von wannen? -- von wannen dein Träumen! --- befreie dich, Seele -- von Zeiten, von Räumen! -- sie verklingen. -Ich schlage mühsam die Augen auf; ich sehe mich durch ein Bogentor -schreiten. - -Es ist noch immer so weltschweres Licht, wie ich noch niemals erlebt -habe; ein totengelbes Abendlicht. Nur vor mir her, da schreitet ein -Mann in richterlichem schwarzem Talar, auf dessen Schritte ich horchen -muß, dann wird das schwere Licht mir leichter. Sie tönen mir seltsam -vertraut, diese Schritte; ich muß sie schon öfters vernommen haben und -ihnen so Schritt für Schritt gefolgt sein, wie ich jetzt ihnen Schritt -zu halten suche unter der dröhnenden Bogenhalle. Ist es mein Vater? -mein Herz sagt nein. Und da höre ich hinter mir noch solche Schritte; -nur ungewissere, haltlosere. Ich wende mich und stehe erstaunt; und -auch der Mann vor mir wendet sich. Ich sehe, hinter mir geht der -Jüngling, der ich vor Jahren gewesen bin; ich sehe, vor mir steht der -Mann, der ich in Zukunft sein werde. Er winkt mir kurz, und es weht -sein Talar, und wir schreiten im Gleichschritt zum Tor hinaus. Und es -weht sein Talar, und mit lautlosem Schritt schreitet der Mann aus sich -selbst heraus und entschwindet meinem gebannten Blick. Denn mein Blick -hängt an einem väterlichen, ewig gebieterischen Greis, der an Stelle -Jenes verblieben ist, und der mir weiterzufolgen winkt. So kommen wir -an ein Hafenwasser. - -Wohl unabsehbar dehnt sich das Wasser unter dem totengelben Himmel. -Viele große Schiffe lagern darauf, mit hohen reichbewimpelten Masten; -aber das Gelbe lastet so nachtschwer, daß keine Farben mehr dämmern -können. Alles, die Schiffe, die Wimpel, das Wasser, scheint alles so -schwarz aus Schatten geschaffen wie der Talar meines greisen Führers; -nur sein weißes Haar schimmert silbern im Zwielicht. Was sind das -für Schiffe? frage ich zweifelnd. „Wirkliche Schiffe“ -- entgegnet -er tonlos und weist auf ein Dock am westlichen Himmel. Kein Laut von -Arbeit kommt aus den Werften her; der ganze Hafen scheint ausgestorben. -Die schwarzen Stützpfosten um die Hellingen ragen starr am Horizont -entlang wie ein auferstandener kahler Hain von ursintflutlichen -Riesenstauden. Nur aus dem westlichen Saum des Haines taucht -klumpenhaft etwas Graues hoch und regt sich in der schweren Stille; es -regt sich wie das felsengraue, urschwere Haupt eines Elefanten. Ists -eines spukhaften Götzen Haupt? ists eines Gottes heiliger Scheitel? -Mein Führer aber winkt mir zu schauen. - -Und was wie ein Haupt war, beginnt zu erglänzen, und entsteigt dem -schwarz aufstarrenden Hain, und ist ein großer glanzvoller Mond. Er -glänzt nicht so fahl wie ein nächtlicher Mond, er glänzt nicht so -grell wie die tägliche Sonne; er glänzt wie ein Tautropfen in der -Frühe, und alle Farben klären sich auf. Und nun wendet mein Führer sein -greises Antlitz blauäugig nach dem östlichen Himmel, und mit langsam -gebieterischer Hand entwinkt er der verklärten Nacht einen zweiten -solchen glanzvollen Mond. „Wisse, du sollst an Geistermacht glauben“ --- haucht er mir in mein schauerndes Herz und entschwebt dem einen der -Monde zu. Bin ich erblindet von seinem Anhauch? ich sehe auf einmal nur -lauter Licht. Ich fühle nur blindlings ein leuchtendes Schweben ins -grenzenlose Blaue hinein. Ich ahne dunkel, ich selbst bin der Greis; er -ist wohl dem andern Mond zugeschwebt? Ich schwebe mit ausgebreiteten -Armen und raumentrückten Augen gleich ihm. - -Das Leuchten wird immer feuriger; ich atme entzückt die zarte Glut. Ich -höre von oben her singende Stimmen, zweistimmig aus unsichtbarer Ferne. -Sind’s wieder die Seelen der Geistinnen beide? erwarten sie mich auf -den strahlenden Monden? Sie singen mich weiter und weiter hinauf: Ins -Weite, Seele -- von wannen dein Träumen! -- erwache ins Freie -- von -Zeiten, von Räumen! -- sie nahen mir. Sie nahen wie schüchterne Lüfte -so lind; sie küssen mir meine entbreiteten Hände. In meinen Handflächen -ruhn ihre Lippen, mein Herzblut strömt ihren Küssen zu. Sie küssen -immer herzinniger, und andere Geistinnen singen von oben. Wollen Sie -mir mein Leben ausküssen? „befreie dich, Seele“, singen sie. Leben sie -nur, wenn Ich sie belebe? „erwache, Seele“, verklingen sie. Ich raffe -all meine Herzkraft zusammen; ein leeres Grausen stöhnt aus mir auf. -Ich will mich den tötlichen Küssen entwinden; wie ein Gekreuzigter -schwebe ich machtlos. Ich krümme mit letzter Gewalt meine Finger, und -während ein herzzerreißender Klageschrei mir die glanzgebadeten Augen -aufreißt, höre ich, daß es mein eigener Schrei ist, von dem ich unter -Tränen erwacht bin. - -Ich lag wirklich wie ein Gekreuzigter da, mit ausgebreiteten Armen -im Dunkeln, die Handflächen über den Bettrand gestreckt, rechts und -links in die schwarze Luft. Ich schob meine halb erstarrten Glieder -langsam in eine andere Lage und machte die Augen wieder zu; die ruhige -Finsternis tat mir wohl nach der tollen Seelenfeuersbrunst. Ich nahm -mir vor: wenn ich wieder so träumte, sofort an meinen Körper zu denken. - - Befreie dich, Seele, - von Zeiten, von Räumen, - erwache ins Weite, - von wannen dein Träumen; - von wannen, von wannen? -- - Von Räumen, von Zeiten, - die ewig bleiben, - erwache, Seele, - du kannst sie vertreiben, - von dannen, von dannen, - ins Weite all dein Träumen bannen! -- - - -Vierter Traum - -Aber ich muß doch zu ihrer Beerdigung gehen. Oder wenigstens ihre -Gräber besuchen. Denn beerdigt sind sie wohl nun schon lange; ich war -ja bei ihrer Feuerbestattung. Könnte ich nur die richtige Grabkammer -finden! ich muß mich hier unten verlaufen haben. Wo mag das -Urnengewölbe denn sein! hier sind ja nur lauter Schädelkammern. Und -die Gänge dazwischen so schlecht beleuchtet, daß man jeden Sinn für -Richtung verliert. Wenn ich zurück auf den oberen Friedhof komme, werde -ich den Verwaltungsrat anregen, bessere Wegweiser einzurichten. Aber -wie komme ich endlich hinauf! Ich erinnere mich, gelesen zu haben, es -sollen schon Leute umgekommen sein in diesen verwirrenden Katakomben. - -Woher nur das Licht in den Schädelkammern kommt? Es ist nicht -elektrisch angelegt; es wird wohl eine Art Oberlicht sein. Darum -flimmern wohl auch die Gänge dazwischen so unterirdisch dumpf und trüb. -Ich werde jetzt nicht mehr nach rechts noch links blicken, sondern -immer den Gang gradaus verfolgen, nach der sonderbar hellen Öffnung da -vorn. Sie steht wie ein weißes Rechteck im Düstern; da muß eine Tür ins -Freie sein. Sie scheint auch allmählich noch heller zu werden; beinahe -blendet sie mich schon. Das Weiße kann aber kein Luftweiß sein; es -steht wie aus Stein so unbewegt. Es grenzt sich so grell ab, ich muß -meine Augen schließen. Ich gehe aber doch grad drauflos; ich spüre, wie -ich hindurchschreite. Es atmet sich auf einmal viel leichter; es muß -also doch eine Luftöffnung sein. Ich schlage die Augen auf und sehe: -hoch über mir blaut der freie Himmel. - -Ich seh es und seh es: hoch über mir -- und über vier hohen weißblanken -Mauern, die senkrecht um mich emporsteigen. Soll ich denn wirklich -nie wieder herausfinden aus diesem sinnlosen Labyrinth? Ich will aber -nicht die Fassung verlieren. Ich weiß ja seit lange aus Erfahrung: -ich muß nur an meinen Körper denken, dann kommt auch die Seele wieder -zu Sinnen. Ich werde mir also den Raum erst betrachten, ob er nicht -doch eine Auffahrt hat. Er hat vier glatte kristallblanke Wände, aus -lauter quadratischen Feldern gebildet. In der Mitte jedes Feldes ein -Goldstern, entzückend in den Kristall eingeschliffen; aber nirgends -ein Halt, um hinaufzukommen. Es ist ein weiter leerer Saal; es scheint -nichts als eine Art Luftschacht zu sein. Aber sieh, er hat ja noch eine -Tür: grad gegenüber der andern Tür, durch die ich hereingekommen bin. -Und da ist ja ein Handgriff an der Kante, in den eine Schnur aus den -Gängen her mündet; das soll gewiß eine Richtschnur sein. Ich fasse die -Schnur, um weiterzugehen, mit einem letzten Blick zurück. - -Aber was +ist+ das? bin ich denn wirklich von Sinnen? Auch an -der andern Tür drüben ist solch ein Handgriff, in den eine solche -Richtschnur mündet. Die muß ich vorhin in den halbdunkeln Gängen beim -Suchen übersehen haben. Aber die Türen sind völlig gleichgeformt, und -ich habe mich in dem leeren Saal fortwährend um mich selbst gedreht; -durch welche Tür bin ich nun gekommen? -- Ich betaste die Schnur und -betaste mich selbst; es ist alles vollkommen körperlich. Ich kann also -ruhig weitergehn; wenn ich vorsichtig suche, wird sich schon zeigen, ob -es die richtige Richtung ist. Ich taste mich immer die Schnur entlang, -von Zeit zu Zeit einen Handgriff streifend; ich komme wieder an lauter -Schädelkammern. Hier sieht das Licht aber bleicher aus; und der Gang -scheint allmählich tiefer zu sinken. Dies Licht kann nicht von oben her -kommen; es scheint aus dem Erdinnern aufgefangen. Die Schädel gleißen -alle so weißblank wie die Kristallquadrate des leeren Saales vorhin, -und doch ist ringsherum tiefer Schatten. Und in all diesen Schädeln -haben einst Welten gespukt -- mit Goldsternen drin und blauen Himmeln --- und vielleicht auch mit einem ewigen Gott; ich fühle eine irrsinnige -Lust, in diesen Schädeln nach Gott zu suchen. Ich lasse aber die Schnur -nicht los; ich will nicht wieder die Richtung verlieren. - -Jetzt kommen auch Kammern mit Tierschädeln; sie schimmern ebenso -erdinnerlich. Was regt sich da auf einmal im Schatten? Ist es denn -möglich, mein alter Getreuer?! Komm her, mein Teckel, was suchst du -denn! Was blickst du mich so innerlich an? Jawohl, ich habe dich -umgebracht; aber was hast du auch immer geknurrt, wenn die tote Dame -mich küssen wollte! Da hab ich dich doch vergiften müssen! -- Er blickt -mich nur immer seelenvoll an, mit demselben Blick noch, den er mir -zuwarf, als er im Todeskampf vor mir lag; ganz ohne Vorwurf, ganz treu -ergeben. Aber was will er denn noch, er lebt doch noch! Er will mich -wohl in die Kammern locken? Ich nehme die Richtschnur fester zur Hand -und erinnere mich an meinen Körper; ich werde einfach weiterschreiten, -der Hund ist gewiß nichts als ein Spuk. - -Nein, er folgt mir; ich höre ihn hinter mir. Ich bleibe stehen; da -steht er auch still. Ich drehe mich um; da legt er sich. Ich locke -ihn nochmals; er rührt sich nicht. Er blickt mich nur immer inständig -an mit seinen unendlich treuen Augen; und, kaum beginne ich wieder -zu schreiten, folgt er mir wieder Schritt für Schritt. Ich höre -seine leisen Zehen; ich spüre, wie sein Blick an mir hängt. Ganz -ohne Rachsucht, ganz voller Liebe; als ob der liebe Gott mir folgt. -Wie dieser Gottblick mich hinterrücks martert! Wenn er noch lange so -anhänglich bleibt, bringe ich ihn zum zweiten Mal um! Aber ich darf -doch die Richtschnur nicht loslassen; ich komme sonst schließlich -selbst noch um, in diesem wahnwitzigen Labyrinth. Halt: schimmert da -vorn nicht wieder ein Lichtloch? das ist wohl endlich die Urnenhalle. -Jawohl, das Viereck wird immer heller; und die Schnur scheint grad -draufhin zu leiten. Wenn ich nur rascher vorwärts käme; wie Grabeslast -ist der Blick hinter mir! Ich zwinge meine Füße zu rennen. Ich keuche -der leuchtenden Halle entgegen. Ich achte nicht den Schmerz meiner -Augen. Ich taumle fast in dem blendenden Viereck; hindurch! und pralle -entsetzt zurück: ich stehe abermals in dem Kristallsaal, den offenen -Himmel über mir --: ich bin im Kreise herumgeirrt. - -Und was stöhnt da, was rührt sich neben mir? Durch die Tür kommt der -Teckel mir nachgeschlichen! Ich sehe jetzt deutlich, es ist nur ein -Schatten; ein Schatten mit gottergebenen Augen. Ich stürze in rasendem -Haß auf ihn los; ich werde den Spuk nun endlich zerreißen! Mit beiden -Händen packe ich ihn, am Genick, am Kreuz, und zerre und zerre. Er -windet sich unter meinem Griff; wie Kautschuk spannt er sich hin und -her. Ich spüre verzweifelt, wie er mich lähmt: wie er nachgiebig meine -Arme entmannt. Ich fühle bis innerst in Leib und Seele: wenn ich dies -Gespenst nicht bewältigen kann, bin ich machtlos für Zeit und Ewigkeit. -Ich spanne all meine Nervenkraft an; und wenn mir Gehirn und Adern -zerbersten! Und ein Ruck, ein leises ersterbendes Winseln: o Wonne, -ich habe den Schemen zerrissen! Mit einem letzten hingebenden Blick -zerfließt er in die leere Luft. - -Ich stehe und zittre am ganzen Körper, vor Glück und Ermattung und -neuer Verzweiflung. Ich starre hinauf in den blauen Himmel: ist -kein Entrinnen aus diesem kristallenen Grab? -- Ich betaste meine -erschöpften Glieder -- warum muß ich nur immer an meinen Körper -denken! -- Es ist doch garnicht mehr nötig jetzt; wer hat mir das -eigentlich eingeredet? -- Wie schön könnt ich schlafen in diesem -lautlosen Schacht. Ich bin so müde, ich höre mein Seelenspiel klingen. -Es rauschen wohl Flügel oben im Blauen? Nein, ich glaube nicht; es -ist nichts zu sehen. Doch: eine weiße Feder schwebt nieder. Wie eine -Schneeflocke kommt sie gewirbelt. Noch eine, noch eine, Flaum auf -Flaum; grad in die Mitte des Saals herab. Immer mehr, immer mehr, weiße -Flaumfederflocken; der ganze Boden liegt schon bedeckt. Ich muß zurück -an die Wandfläche treten; es ist schon ein Hügel, es wird ein Berg. O -Seligkeit, das ist ja die Rettung: der Berg wächst immer höher hinauf! -Schon steht er fast so hoch wie der Schachtrand, und immer dichter -häuft sich das Flockengewimmel. Ich springe mit beiden Füßen hinein; -ich versinke in dem bettweichen Schwall. Aber er ballt sich unter mir; -ich stampfe und stampfe, und es glückt. Ich stampfe mich höher und -höher hinan; es ist, als federn mich Bälle empor. Ich kann kaum sehen, -so stiebt es um mich; und brennender Schweiß verschließt mir die Augen. - -Da: ein frischer Lufthauch kühlt mir die Stirn: ich fühle entzückt, -ich bin oben, oben! Meine Augen wagen wieder zu blinzeln, durch die -feuchten, flaumverschleierten Wimpern. Kein Federchen stiebt mehr, -der Himmel blaut; es ist eine überirdische Stille. Ich stehe auf -steilem, schwankendem Gipfel; tief unter mir klafft der weiße Abgrund -des labyrinthischen Schachtes herauf. O Seele, Seele, wie komm ich -hinüber?! Sieh: rings um den Schacht, wie ein Garten Eden, liegt der -blühende frühlingsgrüne Friedhof! -- Und die Seele erklingt: Ich -seh es, o Geist! Ich seh es durch Tränen, o göttlicher Geist, durch -regenbogenfarbene Tränen! Ja, dein Gipfel schwankt, und ein Wind kommt -gebraust, und du Schwankender weinst und ich breite die Arme: wenn du -jetzt, o Gottgeist, mich Seele erhörst, will ich deiner Kraft trauen -ewiglich! -- - -Horch: braust nicht der Wind beflügelnd, o Seele? und der Gipfel löst -sich und schwebt und wird Wolke! Sieh, mit beiden Armen umspanne ich -sie und schwebe über den Abgrund dahin. O, wie weich sichs fliegt in -dem leichten Flaum: ich fühle nicht Höhen, nicht Tiefen mehr. Ich fühle -nur, wie mich die Windwolke schaukelt und mir süß alle Kräfte stachelt -und kitzelt. Will sie mir etwa mein Leben wegschaukeln? Dann wisse, -Seele: mein Körper lacht! Ich kann sie loslassen, wenn ich will; ich -bin ja befiedert über und über! Ich kann mit dir fliegen, wohin ich -will; ich brauche ja nur den Flaum wegzublasen! Ich blase und blase; -was ist denn das? ich blase mir ja in die eigne Nase! Ich mache wohl -selbst den Wind, der so kitzelt? Ich niese, ich lache -- lache -- -erwache. - -Ich lag noch immer im dunkeln Bett, und ich hielt mein Kopfkissen in -den Armen. Ich fühlte, daß eine kleine Feder aus dem zerknüllten Kissen -herausstak; sie berührte noch meine Nasenspitze. Ich entfernte die -Feder und legte das Kissen glatt; ein Stündchen hoffte ich doch noch zu -schlafen. Der Morgen schien zwar bereits zu grauen; aber ich war noch -müde genug. - - Wenn über unsern tiefsten Verzweiflungen, - wo wir vor lauter geöffneten Not-Türen - nicht aus noch ein zu finden wissen, - stets eines Gottes Blick wachte -- - Wenn unter unsern höchsten Entzückungen, - wo wir verstummend vor Triumph - mit zitterndem Fußtritt - jede Gefahr zerstampft zu haben meinen, - stets eines Gottes Ohr weilte -- - Wenn zwischen unsern erhabensten Gleichgiltigkeiten, - wo wir mit Adlerruhe - alle Verfolgung - Todes wie Lebens - in leere Luft verflogen wähnen, - stets eines Gottes herzliche Teilnahme schwebte -- - ich glaube, er würde vor Lachen sterben ... - - -Fünfter Traum - -Ja, meine Verfolger, ich lache euer! Denn ich kann fliegen, wenn ich -will; ich kann aus eigener Willenskraft fliegen! Sie rasen hinter mir -her wie gehetzt, eine Meute tobsüchtiger Jäger und Hunde. Aber hier, -ich spanne nur meinen Mantel, dann bin ich ihrem Wahnsinn entrückt. -Schon schwebe ich über den Eichenwipfeln und lache Halalî auf sie -nieder. Ich höre sie brüllen: du Mörder, Mörder! und würden mich alle -doch selbst gern morden. Nackt sind sie auf die Jagd ausgezogen, -aber dennoch war ich schneller als sie. Wie sie rachekeuchend mir -nachstarren, durch die kahlen Eichen die fahlen Gesichter, während -ich höher und höher entschwinde! Halalî Hallelûja lache ich nieder -und werfe ihnen Handgrüße zu: Ja, ihr seid auferstanden zum jüngsten -Gericht, ich aber fliege ins ewige Leben! -- - -Wie sie kleiner und kleiner schrumpfen, die schreckbefallenen bleichen -Leiber: wie Würmer wimmeln sie durcheinander zwischen dem welkbraunen -Laubwerk unten, wie ausgegrabene Engerlinge. Ich lasse breit meinen -Mantel fallen, um ihre klägliche Blöße zu decken. Schwer schwebt er -hinab, denn ich schwebe hinan; mit schwimmenden Armen zerteil ich -die Wolken. Was glänzt da her aus dem stahlblauen Äther? ist es ein -unbekannter Stern? -- Halalî Hallelûja jauchzt mein erkennendes Herz: -es ist eine weltbestrahlende Stirn! Sei mir gegrüßt, pfadkundiger -Wildrer, du Jagdherr der Frevler, Shakespear, Erhabener! -- Er schlägt -die entschlafenen Augen nicht auf; traumselig lächelt sein Geisthaupt -nur und grüßt mich stumm und bestrahlt meine Bahn. Es grüßen noch -manche entschlafene Geister mit sternengleich aufstrahlenden Stirnen -und beleuchten meine erhabene Bahn. Es grüßen Rembrandt und Lionardo, -und Dante und Goethe, Beethoven, Bach. Es grüßt auch mein Vater und -meine Mutter; und fern strahlt ein dornenkranztragendes Haupt. - -Wo hab ich dies rührende Haupt schon gesehen? dies schmerzverklärend -verzeihende Antlitz? in meiner Kindheit war es wohl. Ich möchte -vorüber an diesem Antlitz jetzt; aber dahinter ist alles schwarz. Ich -möchte dennoch vorüberschweben; aber es zieht mich näher und näher. -Es zieht mich mit seinem Dornenkranz an, der noch heller strahlt als -die träumende Stirn. Er strahlt wie ein großes verzweigtes Nest; das -Gezweig wächst immer größer ins Weite. Ich möchte dies wachsende -Lichtnest umkreisen; aber es weitet sich kreisend um mich. Es wirbelt -mich hoch wie einen Funken ins schwarze Unermeßliche. Ich blicke hinab, -ich will’s überschauen: ich sehe ein unermeßliches Helles. Ich sehe ein -grenzenlos schwebendes Lichtreich: ein tiefes, ringshin ruhendes Nest -von unzähligen kreisenden Sternenreihen, endlos verzweigt durch den -schwarzen Raum. Mich weht ein Grausen an, ich erkenne: ich bin in einer -anderen Welt. - -Das Grausen weht inniger, es beseligt; ich fühle, es will mich zur -Ruhe wehen. Es weht mich hinab auf das träumende Haupt; wer bist du, -wer bist du, entschlafener Geist, auf dessen Haupt mich ein Lichtreich -wiegt? -- Ich lasse mich willig niederbewegen zu dem leuchtenden -Scheitelpunkt in der Mitte; ich sinke mit heller Heimatswonne immer -tiefer hinein in das weltweite Nest. Und was wie ein Punkt schien, ist -eine Wölbung, eine milchweiß gestirnte unendliche Kuppel, auf deren -Scheitelfläche der Nestkranz ruht. Ich staune hinab in den traumstillen -Kuppelraum, hinab durch das schimmernde Scheitelgewölbe: das ist wohl -Das, du erhabenes Haupt, was wir auf Erden die Milchstraße nannten? -Ja, ich sehe sie kreisen in deinem Innern, die Sterne, die Sonnen -und jene Erde, wie Blutzellkörperchen deiner Adern, du strahlendes, -dornenkranztragendes Haupt! Wie sie zittern, die kleinen Seelchen alle, -die sich Welten dünken in ihrem Dunstkreis: ich sehe sie deutlich -erbeben im Nebel, vor Deiner weltbegrenzenden Stirn. Und sind meinem -Blick doch alle so fern, so grenzenlos fern wie jener Erdball, dem ich -durch Wolken entronnen bin in diese verklärte andere Welt. Die Augen -fallen mir zu vor Bangen: wer bist du, wer bist du, verklärender Geist? --- - -Ein silberhell klingendes Lachen weckt mich; hab ich’s geträumt oder -leben hier Menschen? Nein, eine Lichtgestalt weilt vor mir; ich -schnelle auf, eine Geistin umschwebt mich. Hab ich sie schon auf Erden -gekannt? Ihre Augen ermuntern mein Herz so vertraut, als hätten sie -schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. Ihr Blick ist so -innig silbergrau, nein lichtschwarz, nein tief von Herzen goldklar, -ganz silber-und-gold-herzinnig klar; ist es die Göttin Barmherzigkeit? --- Sie lächelt, sie läßt den Kopf etwas hängen; o süße Schelmin -Barmherzigkeit! Sie nickt mir nochmals von Herzen zu; ich lausche, ich -höre ihr Seelenspiel klingen. - - Die Erde schläft in Nebelschleierschein; - doch kann ihr Atem nicht ihr Leid verdecken. - Ihr träumt, sie würde wach viel freier sein; - es ist wohl Zeit, daß wir sie wecken?! - -Ich starre hinab, mir bangt aufs neue. Nein, steht mein Blick, laß die -Erdseele ruhn! sie ist voll Rachsucht, sie will nur morden; laß uns den -Geist dieses Lichtreiches wecken! -- Die Geistin lächelt; weshalb nur -wieder? aber ihr Lächeln ermutigt mich. Laß uns ihn wecken! verlangt -mein Blick; Ihn, dessen Haupt diese andre Welt trägt, doch unter dessen -träumender Stirn jene Erde uns noch immer bannt! Laß seine Augensterne -erst leuchten, das wird uns erheben aus diesem Bann! -- - -Sie lächelt und nickt, ist nickend verschwunden; ich greife verdutzt -in leeren Glanz. Ich schwebe wieder allein in den Weiten; nur -ihr silberhelles Gelächter klingt noch. Nein, auch ihr Blick ist -zurückgeblieben; wie ein goldenes Sternchen schwebt er vor mir, -inmitten des silberweiß kreisenden Nestes. Oder nein, es ist ja ein -Doppelsternchen! Ja, ein goldklar flimmerndes Zwillingssternchen! -ein kleines wirbelndes Sternseelenpärchen! zwei kleine glitzernde -Seelensternzellchen, die in eins zusammenzusprießen streben. Ich greife -danach, ich schrecke zurück: das eine spiegelt deutlich mein Bild. Ich -seh mich hinauf in den Nestkranz greifen, in das kreisende Spiel des -Sternengezweiges; -- und spielt nicht im andern das Bild der Geistin? --- Nein, schon sind beide zusammengesprossen; ich weiß nicht, spielt -da +mein+ oder +ihr+ Bild? Es spielt mit den kreisenden -Neststernbällen, mit unzähligen, reihenweis wirbelnden, unendlich -zellkleinen Zweigsternbällchen; und in jedem Zellstern spielt wieder -solch Bildchen. Ich will es fassen; ich greife ins Unfaßbare. Ich -merke, es schwebt weit über mir, unermeßlich weit, und sprießt weiter -im Schweben, immer weiter in wirbelnden Sternbilderspielen; es scheint -nur so klein, weil’s so grenzenlos fern ist. Es wirbelt mich hoch, -schon entwirbelt’s dem Nestkranz; und sprießt immer wirbelnder über mir -fort, und ein silberhelles Gelächter umstürmt mich. - -Ich muß mitlachen, ich blicke hinab; ganz zusammengeschnurrt in -schwarzer Tiefe schwebt das weltweite Dornennest unter mir, nur -wie ein flaches Korbflechtwerk noch, eine tellerförmige milchweiße -Scheibe, auf der sich ein riesenhaft sprudelnder, goldklar von -Sternzellen strudelnder, fort und fort wachsender Kreisel dreht. -Er schleudert mich mit im sausenden Umschwung, immer höher den -schwellenden Rand hinan; ich kann kaum noch das winzige Urzellbild -ahnen, das in der Kreiselspitze da unten mit andern solchen -Urbildern Ball spielt. Ich ahne nur, wie sich aus jedem Bildstrahl, -den es hochsprudelt in den silbrigen Nebel, eine neue Schaar -Goldstrahlenbilder entpuppt, aus jedem Weltsternchen eine Sternenwelt, -immer riesenhafter emporgegliedert, ein unendlicher Springbrunn von -Lichtpuppengliedern, und jedes Glied schon ein ganzes Wesen, ein -ganzes Weltpuppengliederspiel, das andere spielende Weltgliederpuppen -nach allen Seiten entspringen läßt. Ich möchte eins dieser Wesen -betrachten; ich schwebe so nahe an seiner Seite, ich kann seinen -Atemkreis brausen fühlen. Ich möchte erkennen, ob’s Mann ist, ob Weib; -aber es dehnt seinen riesigen Lichtnebelkörper, den Sterne um Sterne -wie Flugsaat durchwirbeln, so stürmisch ins Unermeßliche, daß ich -wieder nichts weiter wahrnehmen kann als ein seelenvoll brausendes -Gelächter. Und wieder muß ich voll Bangen mitlachen, denn in all meinem -Bangen ahne ich jetzt: vielleicht ist dies unabsehbare Glanzspiel, -dieser ganze erhabene Sternpuppenkreisel auch wieder nur ein kleines -Glied, vielleicht nur die unterste Zehenspitze von einer noch größeren -Spielgestalt, die wieder noch größere ausspielen kann -- o laß dich -erkennen, erhabenstes Wesen! -- - -Ich starre hinauf zu dem äußersten Lichtsaum: könnt ich nur Einmal -ein einziges Leuchten seiner Augensterne aufschimmern sehn! Ich mühe -mich, jäher emporzukreisen, dem Bannkreis des Strudels noch näher zu -steuern; mir ist, ich tu’s schon seit Ewigkeiten. Ich blicke zurück auf -meine Flugbahn; das Sternennest unten ist garnicht mehr sichtbar, es -scheint nur die allerunterste Spitze dieses schwebenden Weltenkreisels -zu sein. Mir wird so hinschwindend seelenweit, ich kann kaum mehr -meine Bewegungen fühlen. Ich kann in dem wachsenden Lichtseelennebel -auch nichts mehr von meinem Körper sehen; ich bin wohl selbst eine -Lichtwelt geworden. O könnt ich nur endlich das Augenlicht sehen, dem -all diese seligen Weltspielpuppen aus ihren Kreisen entgegenlachen! --- Ich muß auf einmal auch selig lachen: ich sehe urplötzlich im -Innern des Kreisels, rings unter mir, überallher aus den Nebeln, ganze -Schwärme von Augenlichtern aufschimmern: alle die hohen entschlafenen -Geister, die meine Bahn einst beleuchtet haben, sie erwachen aus -ihren träumenden Tiefen und folgen mir höher mit lachenden Blicken. -Es erwachen und lachen Rembrandt und Shakespear, Cervantes und Swift, -Aristophanes, Nietzsche. Es lacht auch mein Vater, auch unsre Mütter, -und jenes dornenumspielte Haupt. Ich will es begrüßen, mein Gruß -erstarrt: aus seinem Blick lacht die Göttin Barmherzigkeit. Ich starre -hinab von Blick zu Blick: in allen den schwärmenden Augensternen, -selbst in Euern Gestirnen, Nietzsche, Rabelais, Shakespear, ihr -wildesten Schwärmer, ihr Freunde der Frevler, spielt das Bild der -Göttin Barmherzigkeit. Mir schwindelt; ich muß wieder aufwärts -blicken! O erwache auch Du, erhabenstes Wesen, erwache aus deiner -Gleichgiltigkeit! Erhebe mich endlich zu +Deinem+ Blick! Entreiß -mich all diesen wachsamen Augen: sie mahnen noch immer an jene Erde, -die doch seit Ewigkeiten dahin ist! Entpuppe dich endlich: wer bist du, -Du -- - -Ich horche erschrocken: was lacht da „Du!“? Und ein Echo lacht -stürmisch abermals „Du!“ Will das erhabenste Wesen mich höhnen? O, nur -höher! mir bangt nicht mehr! nur zu! -- Ich steure noch jäher hinein -in den Kreisel, ich lache stürmisch mit „Du, du, du!“ Ich lasse mich -ganz in den Lachstrudel reißen: vielleicht kann selbst das erhabenste -Wesen mich nur in seinem Innern erhören, da in der innersten Achse -da! -- Ja, ich höre, nun lacht es „Da, da, da“ --: und siehe, das -ganze Weltpuppenspiel beginnt zu nicken, wild, fern und nah. Und -immer wilder, mir stockt das Herz: will es mich aus dem Gleichgewicht -nicken? Nein, in ganz gleichwilden Weltkreisen nickt es, kreisunter -kreisüber mir -- da, da, da -- mit sternklar barmherzigen Geisteraugen --- und lacht ganz gleichgiltig „Ha-ha-hah.“ Es will mich gewiß nur in -Sicherheit lachen; ja, die Achse des Kreisels ist schon ganz nah. Ob -sich’s da endlich entpuppen wird? Ja! All die Geister da lachen „Ja“ -und nicken. Aber was +ist+ das? Ah --: die Achse! -- Sie dreht -uns immer noch höher! aber mir stockt das Herz immer jäher: verliert -sie nicht doch jetzt das Gleichgewicht? -- Nein, sie verdreht wohl ihr -Seelenlicht? Hahahah, sie verdreht uns die Übersicht! Sie beginnt zu -wackeln! o all ihr Geister: das erhabenste Wesen scheint kopfstehn zu -wollen! -- - -Ich höre entsetzt: Alles lacht wieder „Ja!“ -- Ha-ha-halt! -Barmherzigkeit! Wenn wir fallen: wir fallen ins Bodenlose da! -- Da, -was seh ich: allmächtiger Himmel, ja: es steht ja schon kopf! -- -es entpuppt sich! -- Ah -- --: himmelhoch über mir steht etwas da: -mittenauf aus den wackelnden Seelenwelten steht die Kreiselkrone in -Gloria -- und ist eine -- was? -- eine Sohle?? -- ja: eine riesige -wacklige Weltseelensohle, von unzähligen Zehenspitzen umzappelt. -Ich erkenne, sie will uns +noch+ höher zappeln: sie beschirmt -unsre Welt wie ein maßloser Fallhut: wir zappeln in einer ungeheuren, -allweltenhütenden Urweltpuppe, die auf ihrer Hutspitze bodenlos -kopfsteht, und deren Bauch sich vor Lachen schüttelt. Er schüttelt uns -mit, immer mit, hahahah! Macht Halt, ihr Geister, sonst platzt er! -Da --: er platzt -- ich muß mich vor Lachen umdrehn. Hahahah, all die -Weltgeister drehn sich +mit+ um! Hahahah, sie verdrehn mir Hören -und Sehen! Hahahah, das erhabenste Wesen rächt sich! Hahahah, es läßt -mich vor Lachen sterben -- mir gehn alle Augen über, nein auf! -- ja -auf! endlich auf! -- Was? -- bin ich denn wach? -- - -Ja, ich saß mit offenen Augen im Bett; und mittenher durch mein -halbdunkles Zimmer langte ein goldheller Morgenstrahl, voll -unzähliger wirbelnder Sonnenstäubchen. Es war also doch ein Spalt in -dem Fenstervorhang. Ich stand auf, machte vollends hell und besann -mich; dann warf ich die abends empfangene Todesnachricht aus meinem -Shakespear in den Papierkorb. Ich wußte nicht: sollte ich wie ein Kind -ein dankbares Morgengebet verrichten? oder Gott, Welt und Leben zum -Teufel wünschen? Ich weiß es noch heut nicht, du himmlischer Quälgeist, -o allbarmherzige Phantasie! - - Wer bist du? „Wer du willst!“ - Wo wohnst du? „Wo du’s fühlst!“ - Lebst wohl im Lichtstrahl still? - „Wohl auch im Staubgewühl! - Bürst mein Hütlein, - klopf dein Kittlein, - so kannst du merken, wer ich bin, - wieviel goldne Wunderwelten in uns glühn!“ - - - - - Betrachtungen - - über Kunst, Gott und die Welt - - Auswahl - - - - -Kunst und Volk - -Neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung bedürfen - -1. +Die Kunst besteht in den Kunstwerken, die nicht fürs Volk -geschaffen sind, sondern für Gott und die Welt, für die Seele der -Menschheit oder auch der Blumen auf dem Felde, für Alle und Keinen, -fürs ewige Leben oder für sonst eine grenzenlose Größe.+ - -Das soll heißen: - -Es werden sehr viele Kunstwerke gemacht, aber recht wenige machen die -Kunst aus. Kein Kunstwerk mehrt den Kunstbestand, durch das der Urheber -irgend ein begrenztes Volk zu irgend einer bestimmten Zeit für irgend -ein bekanntes Ziel ausbilden will oder wollte. Die Volksbeglücker, die -Volksveredler, die Volkserzieher und -verzieher mögen ein solches Werk -mit Fug und Recht zu ihrer Zeit den Leuten anpreisen; aber sobald jenes -Ziel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt solch Werk der -Vergessenheit oder bestenfalls der Kunstgeschichte, ist überflüssig -und leer geworden, hat keinen belebenden Inhalt mehr. Freilich befaßt -sich alle Kunst mit dem umgebenden Volks- und Zeitgeist als einem Teil -ihres Stoffbestandes; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand, sie geht -nur aus von dieser Umgebung, und ihr Ziel schwebt grade im Unfaßbaren. -Beständiges Leben enthält nur +die+ Kunst, die jederzeit und -immerfort hinaus ins Unbekannte weist, wie die Blumen blühen ins Blaue -hinein. Und solche Kunst schafft nur der Künstler, der fürs Volk ein -ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine Bestimmung des Schaffenden: -die Gesetzgebung für das Unbestimmte. Er sieht nur Eine Grenze des -Schaffens: die Formlegung für das Unbegrenzte. Denn er ahnt nur Ein -Ziel der menschlichen Bildung: die Gestaltung eines vollkommenen Wesens. - -2. +Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei Arten Volk: das -menschenwürdige und das hundsgemeine.+ - -Das heißt: - -Vollkommene Kunst wirkt nicht auf Jedermann als vollkommen, sondern -höchstens auf solche Seelen, die selbst den Trieb zur Vollkommenheit -haben und fremde Seelenkraft mitfühlen können. Hierzu aber verhilft -kein besonderer Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger Vorrang, -der einzelnen Ständen und Klassen des Volkes -- je nach dem Lauf der -Zeiten -- vergönnt ist, mag auch durch alldas die Freiheit und Freude -des menschlichen Mitgefühls leichter erblühen. Dies Mitgefühl eignet -vollkommen nur solchen Seelen, denen das menschliche Dasein unendlich -mehr ist als eine Laufbahn zum Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder -Neunmalklugsein, nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung -aller schaffenden Kräfte, ob für, ob gegen, ob durch einander. Das -sind die menschenwürdigen Seelen, die auch die Kunst von Grund auf -zu würdigen wissen. Sie pflanzen den Willen zur Menschheit fort, -sie bilden in Wahrheit den Volksgeist und Zeitgeist und begeistern -allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volksschicht -zu finden, wenn auch am meisten wahrscheinlich in jenen Schichten, -die am eifrigsten für die Zukunft kämpfen. Wo sich der Sinn auf -Vollkommenes richtet, ist „Volk“ stets nur der Inbegriff der menschlich -strebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der Menschheit; -wer ein vollkommener Mensch sein könnte, der wäre natürlich auch im -Besitz von jeder Vollkommenheit seines Volkes. Der Rest aber, der ewig -rückständige, der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel -wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst, die das Volk -übers menschliche Dasein täuscht, mehr oder weniger hundsgemein. Doch -ist auch diese Art Volk und Kunst im geistigen Haushalt der Menschheit -vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art zur beständigen -Steigerung ihres Willens. - -3. +Keine Art Volk schafft jemals Kunst; jede Art Volk reizt die -Künstler zum Schaffen.+ - -Das will besagen: - -Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk ist, stellt eine -unwillkürliche, unerklärliche Einsicht ins Leben vor, die stets nur -Wenigen innewohnt und sich nur durch eigentümlich geheimnisvolle, zwar -den Sinnen vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame -Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man gewöhnlich Volkskunst -nennt, ist niemals durch die gemeinsame Macht irgend eines Volkswillens -entstanden, sondern immer ursprünglich von Einzelnen aus reinem -Eigensinn ersonnen und dann erst zu Gemeingut geworden. Aus einem -natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im Licht der Gestirne waltet, -gibt der Einzelne sein einsames Sinnbild dem willigsten Empfängerkreis -hin, oder dem mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und -immer weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen -- zumal -bei mündlicher Weitergabe -- die eigensinnigsten Züge des Bildes ins -Allgemeinverständliche ab. In den kleinen Volksgemeinden der Urzeit -besorgten wohl meist die Priesterkasten und Herrengeschlechter die -erste Verbreitung; nachher vermittelten fahrende Leute zwischen der -Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft wurde Beruf und -ging also selbst auf die Fahrt nach Brot. So zog einst der Barde mit -seinen Heldengesängen von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit -seinen Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei anderes -fahrendes Volk machte die vornehmen Gebilde fürs seßhafte schlichte -Volk zurecht, und aus der erhabenen Heldensage wurde ein Volkslied, -ein Bänkelsang. So sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von -den Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen, Naturmythen -und Geistergeschichten einer von Priestern gelenkten Kultur sind -später von sinnigen Landstreichern, entlaufenen Mönchen, Scholaren und -Schreibern, für das Verständnis der Spinnstuben-Insassen verweltlicht -und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und verballhornt. So ist -auch die sogenannte Bauernkunst, wie sie in Hausrat und Volkstracht -sich fristet, nirgends dem Heimatboden entsprungen, ist aus höfischen -oder städtischen Kreisen von reichen Dörflern aufs Land verpflanzt, -und da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich verwucherten -Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst kräftig und reif genug geworden -ist, die entartete alte zu verdrängen. So ging auch die Kunst der -wilden Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Festplatz -des Zauberpriesters, das Zelt des Häuptlings oder der Obmänner, um -in alle Hütten des Stammes zu dringen. Denn der Künstler, der kein -Strumpfwirker ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen; er -will wie das Leben ins Leben wirken, ins unendlich weite belebende -Leben, und heute wendet sich seine Kunst nur deshalb gleich ans -breitere Volk, weil es mächtiger als die Machthaber dem schaffenden -Willen des Lebens dient. - -4. +Das Volk versteht nichts von der Kunst; das ist auch nicht nötig -zum Kunstgenuß.+ - -Das besagt: - -Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig zum Kunstgenuß -sind; die volle Genußkraft ist ebenso selten wie die vollkommene -Schaffenskraft. Aber auch diese Wenigen, Jeder für sich allein -genommen, verstehen nur wenig von den vielfältigen Reizen, die das -geheimnisvolle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst von den -Handwerksgriffen des Künstlers versteht zuweilen sogar der Künstler -nicht jeden einzelnen Wirkungswert, geschweige den ganzen Zusammenhang; -und mancher nüchterne Kunstgelehrte sieht da schärfer als der -scharfsinnigste Meister. Nur sind die äußerst klugen Leute, die blos -mit Verstand zu genießen verstehen, gewöhnlich die innerst seelendummen -und begreifen oft weniger als ein Nigger von der begeisternden -Gefühlswelt, die hinter den sinnlichen Reizen des Kunstwerkes lebt. -Diese Kunstverständigen zwar entscheiden, ob ein Werk den besten -Kennern des Handwerks auf absehbare Zeit zu genügen vermag, und -schätzen seinen Sachwert ein; aber unabsehbar ist das Leben, und -ein vollkommenes Kunstwerk enthält die Lebenshinterlassenschaft -von hunderttausend Millionen anderer Werke und das unschätzbare -Vorvermächtnis für aber-und-abermals andre Millionen. Ein solches Werk -kann Jahrhunderte lang -- nach den Maßstäben aller Sachverständigen, -nach dem Urteil der Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der -eignen wie fremder Volksart -- ein wertloses totes Unding sein: und -auf einmal ist es nur scheintot gewesen und belebt tausend Geister zu -neuem Gefühl, zu neuem Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten -seelischen Macht, der das vollkommene Kunstwerk entstammt, ist eben -auch der Kenner „nur Volk“. Über diese beständige Machtvollkommenheit, -diesen eigensten Lebenswert der Kunst, entscheidet keinerlei -Kunstverstand, auch kein Kunstgeschmack und kein Kunstgefühl, weder des -Einzelnen noch einer Volksmasse; denn es gibt und gab kein einziges -Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu mäkeln fände, und Geschmack -und Gefühl sind unbeständig, ob aus Verstand oder Unverstand. Über -den Lebenswert der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst, -das wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk zu Volk, ob -durch Zufall, Notwendigkeit oder Gott-weiß-was, doch beständig zum -Weiterleben gewillt. Mit dem Genuß aber hat das wenig zu tun; den -rohesten Kerl kann das scheußlichste Machwerk unvergleichlich stärker -und inniger freuen, als die reinste Schönheit den feinsten Kenner. Wer -Anderes lehrt, ist ein Faselhans, ob nun ein Schwarmgeist oder ein -Nüchterling. - -5. +Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht in der Begeisterung durch -das Unbegreifliche, in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in der -Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in Glauben, Traum und Übermut.+ - -Das bedeutet: - -Wie das Wesen des Kunstschaffens unerklärlich ist, so auch das Wesen -des Kunstgenießens; erklärlich ist nur der bewirkte Zustand. Er ist, -und sei er noch so vergeistigt, ein Zustand der sinnlich befriedigten -Liebe, im weitesten und engsten Sinn, in der höchsten, tiefsten, -flachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er gibt also -nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand des geliebten Dinges, -für Schönheit, Naturwahrheit und dergleichen. Wie dem liebenden -Jüngling ein Gesicht, das er gestern noch für abschreckend hielt, heute -ein Ausbund aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang -sein wird, vielleicht auch nur für etliche Wochen, so liebt und lebt -auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein Gemisch von Volk! Sogar -das griechische Volk war kein Kunstvolk, wie manche Leute es gerne -träumen; denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab nur -einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen, kunstliebenden -Patrizierfamilien und einem Haufen machtsüchtiger, vergnügungslustiger -Spießbürger nebst einer bäurischen Sklavenheerde. Aber die Lust und -Liebe zur Kunst ist selbst ein gewaltiger Lebenswert: sie legt den -geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch unvollkommen -sind, und hebt alle Kräfte der liebenden Seele, auch wenn es nur -schwache Kräfte sind. Das gilt für Männlein wie für Weiblein; denn -in den höchsten Bezirken der Liebe hört der Geschlechtsunterschied -glücklich auf. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die -stärksten Sehnsüchte seines Lebens durch das angebetete Bild erfüllt -zeigt; und je weniger Wissen den Geist beschwert, je weniger Kenntnis -von Kunstmaßstäben, umso leichter glaubt er seinem Traum. Dann braucht -er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbegreifliche klar, -daß er Eins ist mit dem einsamen Künstler: dann erlebt er wie dieser -das Grenzenlose, ist mit ihm die Blume auf dem Felde, mit ihm der -Held seiner Abenteuer, mit ihm ein ganzes mächtiges Volk und jauchzt -im Stillen vor Übermut. Und wenn er aufwacht aus diesem Traum, der -ihm das Winzigste riesengroß, das Furchtbarste herrlich und lieblich -machte, dann verehrt er die unerforschliche Kraft, die frei mit den -eigenen Grenzen spielt; und seine Abenteuerlust, die einen Augenblick -staunend gestillt war, gibt sich ermutigt dem unstillbaren, wandelbaren -Leben hin. Ein ganzes Volk aber, das so träumt und nur kraft höchster -Kunst so träumt, das ist ein -- schöner Zukunftstraum. - -6. +Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar, sondern mittelbar als -Sage ins Volk.+ - -Nämlich: - -Nicht blos die Kunst der vorgeschichtlichen oder späterer -ungeschichtlicher Zeiten, wie sie uns in heroischen Fabeln, humanen -Idyllen, religiösen Parabeln vom „Volksmund“ überliefert ist, sondern -auch alle geschichtliche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild -sinnlichen Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt ins -ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur durch freie Erinnerung -fort; auch der Buchdruck hat daran nichts geändert. Wer liest heute -noch Cervantes und Swift, wie sie vollständig im Buche stehen, oder -gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuflein Gebildeter; und viele von -ihnen nur aus Zwang. Wer sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder -hört die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden besucht, wer -den Petersdom, wer den Park von Versailles? Wer kennt wirklich Lionardo -vollkommen, wer Goethe, wer Mozart und Gluck, wer Bach? -- Aber man -spreche von Gullivers Reisen, von Don Quijote, Don Juan, Helena, Faust, -man nenne die Namen Prometheus und Orpheus, Michelangelo, Shakespear, -Rembrandt, Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskraft -wird auch den Geist des geistig Armen mit Bildern schicksalreichsten -Lebens, Gestalten vollkommener Menschlichkeit füllen. Unter hundert -Kunstkennern sind nicht zwei in der Deutung von Dantes Beatrice, -der Erklärung von Shakespears Hamlet einig, aber jeder einzige fühlt -sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes Mädchen scheint -eine Beatrice, dieser junge Mann ist der reine Hamlet. Das eben ist -das Kennzeichen höchster Kunst, daß sie Keinem ganz begreiflich wird, -daß der Eine dies, der Andere jenes als ihr bedeutsamstes Merkmal -herausgreift, daß sie die unbegrenzte Macht hat, über die eigene -Bildwirkung weg durch fremde Vermittelung weiterzuwirken, bis sich -aus all den begeisterten Meinungen ein allgemeines Erinnerungsbild -formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus dem der Volksgeist -aber das Ganze -- und mehr als das -- zu begreifen glaubt. So genügt -dem Liebenden eine Locke, um ihm die ganze Gestalt der Geliebten, -den Duft ihres Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre ganze Seele -heraufzubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer Name. - -7. +Nie ist Kunst volkstümlich von Anbeginn; sie wird es kraft ihrer -ursprünglichen, neubelebenden Freiheitslust, und sie bleibt es kraft -ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungsliebe.+ - -Denn: - -Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen freiwilligen -Gewöhnung aller einzelnen Volksmitglieder, oder doch der meisten und -menschlich besten, unter Anleitung der geistig regsten. Man will sich -aber an nichts erst gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnlich ist; -und man gewöhnt sich auch an nichts, was durchaus blos ungewöhnlich -sein will. Nur solche Kunst wird und bleibt volkstümlich, die den -Willen zum geistigen Miterleben, diesen allgemeinsten menschlichen -Willen, gleichermaßen bewegt und beruhigt, löst und fesselt, -antreibt und bändigt. Sie muß Reize enthalten, die immer wieder -das schrankenlose Naturgefühl selbst des Eigensinnigsten erregen; -und sie muß andere Reize enthalten, die immerfort die beschränkte -Kulturvernunft auch des Freimütigsten beschwichtigen. Sie muß alle -diese zwiefachen Reize in einer so einfachen Form vereinen, daß sie -zwingend wirkt wie ein neues Gesetz, zu dem die alten hingedrängt -haben; und es macht das innerste Schicksal des Künstlers aus, ob -er die äußere Geschicklichkeit hat, sich mit seiner ursprünglichen -Schaffenskraft in die Beschaffenheit der Welt, die notwendige Ordnung -der Kräfte, zu fügen. Dann ist sein Werk ein vollkommenes: ein Sinnbild -des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens -zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige. Solche -Kunst mag man anfangs für willkürlich halten, mag sie mißachten und -mißdeuten, verlästern oder verlobhudeln: grade Das wird die Neugier der -Menge reizen, grade Das selbst die ältesten Schlafmützen wecken, und -endlich nimmt auch der Gleichgiltige die ernste Giltigkeit ihres Wesens -hinter dem scheinbaren Gaukelwerk wahr. Dagegen die Kunst, die nach -Volksgunst fahndet, indem sie sich in das Maskengewand volkstümlich -gewordener Ahnenkunst kleidet: sie mag von den vornehmsten Autoritäten, -von Obrigkeit, Schule und Zeitungen, mit aller Gewalt „populär“ gemacht -werden, eine Zeit lang „ungeheuer beliebt“ sein, schließlich wird sie -als eitel Blendwerk erkannt und dient bestenfalls zur Vermittelung -einiger Kunstkenntnis ans Volk. - -8. +Alle Kunst, die nicht volkstümlich wird, ist Unkunst, Tand und -Spreu im Wind.+ - -Das ist so zu verstehen: - -Kein Kunstwerk, und sei es noch so schlecht, ist von Anfang an ohne -Lebenswert; es finden sich immer die vielen Dummen und manchmal auch -nicht wenige Kluge, die ein schlechtes Werk für gut genug halten, die -Langeweile auszufüllen. Erst allmählich merkt man, was Unkunst ist. -Jeder Einzelne weiß das aus eigner Erfahrung, und die Erfahrungen der -Völker wachsen noch viel allmählicher, dafür freilich auch dauerhafter. -Es lassen sich mancherlei Kunstwerke herzählen, die Jahrhunderte lang -im Volk wie bei Kennern die höchste Wertschätzung besaßen und heute -für mittelmäßig gelten, vielleicht immer tiefer an Wert sinken werden, -vielleicht auch wieder zum höchsten steigen. Eine vollkommene Gewähr -für die Richtigkeit eines Kunstwerkes bietet allein der Tatbestand, daß -es als Stoffding untergegangen ist, ohne in irgend einer Form -- in -Sage, Denkmal, anderen Werken -- als seelisches Wesen weiterzuwirken. -Das mag sich von den besten Kennern für die ungeheure Mehrzahl der -Kunstdinge mit aller Gewißheit voraussagen lassen; aber die Kenner -vollstrecken ihr Urteil nicht. Nur die Menschheit selbst ist das -Jüngste Gericht und sondert langsam die Spreu vom Weizen; und das -Volkstum ist das große Sieb, durch das sie ihre Lebensfrucht worfelt. -Da werden auch viele Dinge durchfallen, die vielen Kennern Kleinodien -waren; und der ordinärste Hintertreppenroman wird dann nicht tiefer -im Kehricht liegen als manche exquisite Salonnovelle. Dann wird der -namenlose Dichter, der dem Volk den Aberwitz der Romantik durch das -Bild des „geschundenen Raubritters“ zeigte, in der menschlichen -Sprache lebendiger leben als mancher romantische Schulpoet mit -literarhistorischem Ruhm. Über die Geistesgebilde der Machtvollsten -aber lebt noch ihr eigenes Bildnis hinaus. Es werden Zeiten kommen, -wo unsre Kultur begrabener als die ägyptische daliegt; dann wird -vielleicht kein Buch von heute, kein Notenblatt mehr in Ansehen stehn, -aber das Seelenbild Dante, das Paradiese und Höllen umarmt, der Geist -Beethoven, den die Verzweiflung zum Freudenschrei trieb, wird dann der -Menschheit noch ebenso heilig sein wie Orpheus oder Prometheus. - -9. +Die Kunst geht ihren eigenen Weg; wohl ihr, wenn das Volk ihr zu -folgen vermag.+ - -Das ist so selbstverständlich -- - -daß es selbst für die eingebildetsten Dickköpfe nicht der Erklärung -bedürfen würde, wenn nicht manche Künstler von Zukunftswert einen -wohlfeilen Afterstolz darein setzten, bei Lebzeiten nicht ins Volk zu -dringen. Angewidert vom Afterruhm meinen sie, ihr Selbstgefühl sei die -ganze Welt, die Menschheit ein Märchen der Volksverführer. Wie lange -wird dieser Irrsinn dauern? Bis sie der Welt zum Opfer gefallen und dem -Volk wie der Menschheit ein Leichenschmaus sind! Denn wir leben alle -nicht für uns selbst, mag es auch manchem Scheinweltweisen bei seiner -Schreibtischlampe so scheinen; selbst der selbstsüchtigste Geizhals muß -ins Grab und hat seine Schätze für Erben gesammelt. - - -Nationale Kulturpolitik - -Eine fragwürdige Angelegenheit - -Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl niemand in Abrede -stellen. Man pflegt sich nur darüber zu streiten, ob die sogenannte -wahre Kultur -- wie die philosophastrischen Schlagwörter lauten -- -„bewußt“ oder „unbewußt“ zustande komme, besser gesagt: absichtlich -oder unwillkürlich. Aber es gibt keine geistige Tätigkeit, die nicht -zugleich aus unwillkürlichem Antrieb und mit absichtlicher Zwecksetzung -vor sich geht. Politik ohne bewußte Absicht ist ein Widerspruch -in sich selbst; und die Geschichte der Völker und Staaten zeigt, -daß Kulturpolitik zu allen Zeiten und in allen Ländern getrieben -wurde. Man braucht nur Namen wie Perikles und die Medici, Augustus -und Louis XIV, William Cecil und Friedrich den Großen zu nennen, -und wir erinnern uns an Epochen planvollster Zusammenfassung der -produktiven Einzelkräfte um der organischen Volksbildung willen, auf -kleineren wie größeren wie ganz großen Staatsgebieten. Und nicht blos -persönliche Oberhäupter, auch regierende Körperschaften haben solche -Politik getrieben; Beweis die Republik Venedig, die Niederlande, die -Hansestädte. Allerdings waren diese Körperschaften noch durchweg -Aristokratieen und beherrschten nur kleine Volksgebilde; auch die -sogenannten Demokratieen der altgriechischen Stadtgemeinden hatten -tatsächlich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zuschnitt. Es -fehlt daher an historischen Parallelen zu den Herrschaftsformen der -Gegenwart, die in den großen Staaten Europas aus alten aristokratischen -und neuen demokratischen Machtzuständen unklar gemischt sind. -Das aber ist ausschlaggebend für die Entscheidung der Frage, ob -sich heute die Kristallisation der nationalen Kulturtendenzen -erfolgreich beschleunigen läßt oder nicht. Denn erstens muß die -Nation schon reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst -tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in Grund und Boden -verdorben; und zweitens ist Politik nur erfolgreich durch eine starke -Machthaberschaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist freilich -die Unklarheit der Machtverhältnisse kein Grund, daß es nicht Zeit -zur Klärung sein könnte; kein Mensch weiß im voraus, wie reif ein -Volk ist. Also braucht man sich blos noch den Kopf zu zerbrechen, ob -die verschiedenen mächtigen Leute, die sich heute als Volksvertreter -fühlen, hinlänglich einig darüber sind, +woraufhin+ kultiviert -werden soll. - -Kulturpolitik irgend welcher Art wird ja allenthalben genug -getrieben, in Deutschland eher zu viel als zu wenig. Potentaten, -Finanzbarone, Minister, Parlamente, Parteien und Kongresse, Demagogen -beiderlei Geschlechts, Universitätsprofessoren und Volksschullehrer, -Literatenkliquen und Zeitungsredaktionen, alle schwingen das Wort -„Kultur“ im Munde und greifen sogar in die Tasche dafür, teils in -die eigene, teils in fremde, und natürlich immer für „wahre“ Kultur. -Aber mit welcher Sorte wahrer Kultur man das +ganze Volk+ zu -beglücken gedenkt, davon ist wohlweislich nie die Rede; sie könnte -doch gar zu leicht unwahr tönen. Trotzdem ist einzig dies der Rede -wert. Nationale Kultur bleibt ja leere Phrase, wenn sie nicht ein -humanes Programm bedeutet: bestimmte Veredlungswerte der Menschheit, -die das Volk selbstbewußt in sich ausbilden soll. Allgemeine Bildung -ist nur ein Ziel für hochbegabte Persönlichkeiten; im Durchschnitt -des Volkes läuft sie leider auf allgemeine +Ver+bildung hinaus. -Gar eine schöngeistige Bildungspflege ist fürs gesamte Volk ein -Unding, war stets nur gewissen bevorrechteten Gesellschaftsklassen -wirklich erreichbar, deren leibliche Wirtschaftsbedürfnisse von -anderen Klassen besorgt wurden. Alle organische Kulturpolitik muß -zunächst natürlich darauf bedacht sein, besonders leistungsfähige -Berufsstände zu begünstigen, an die sich die übrigen angliedern -können, je nach den hauptsächlichen Volksanlagen und den zeitlichen -wie örtlichen Entwickelungsbedingungen. Selbst in den kleinsten -Gemeinwesen hat die Kultur nie von Anfang an harmonische Tendenz -gehabt, war überall um spezifische Interessengruppen konsolidiert: -agrarische oder kommerzielle, militärische oder juridische, religiöse -oder philosophische, erotische oder soziologische, je nachdem die -Oberschicht mehr sensuell oder mehr intellektuell begabt war, mehr -energisch oder mehr spekulativ. Für all das lassen sich reinliche -Beispiele bei räumlich beschränkten Kulturen finden, von dem -spartanischen Kriegerstaat bis hin zum Friedensreich der Inka, von den -indischen Weisheitsfürstentümern bis zu den Minnehöfen der Provence. - -Heute aber, in unseren großen Staaten mit ihren vielerlei -Machthabergruppen, wo herrscht da wahre Einmütigkeit über solche -Meistbegünstigung? Wie kann eine Harmonie der Interessen entstehen, -wenn fast jeder Stand nur +die+ Politik verfolgt, sich möglichst -„notleidend“ zu stellen! In Deutschland wird man sich höchstens -vielleicht auf das Zugeständnis einigen: wir scheinen eine -+industrielle+ Kultur ziemlich hohen Ranges zu schaffen. Aber die -Folgerung lautet dann meistens: folglich braucht sie nicht mehr -begünstigt zu werden. Und gewisse Idealisten zetern sofort: das ist -ja „blos materielle“ Kultur, ist also „überhaupt keine“, ist „nichts -als“ Zivilisation! Nun, ich bin selber ein Idealist, allerdings keiner -mit fixen Ideen, und eine Grenze zwischen jenen beiden Begriffen läßt -sich meines Erachtens durchaus nicht fixieren. Eine Industrie von -materiellem Höchstwert ist notwendigerweise zugleich ideell, oder zum -mindesten intellektuell, nämlich angewandte Naturwissenschaft; da ist -also schon ein Punkt aufgedeckt, wo Zivilisation in Kultur übergeht. -Die Industrie ist ferner genötigt, sich wegen ihrer technischen -Qualitäten ästhetische Werte anzuzüchten; und die teilen sich dann -natürlich dem Volk mit, das ihre Produkte herstellen, vertreiben und -verbrauchen hilft. Und daß durch ein gründliches Industrie-System auch -allerlei sonstige Disziplin, ökonomische, juristische, hygienische, -moralische, in der Volksmasse ausgebildet wird, ist ohne weiteres -selbstverständlich; Bernard Shaw hat darüber im letzten Akt seiner -Komödie „Major Barbara“ sehr räsonnabel phantasiert. - -Bleibt somit lediglich auszuprobieren, ob in der Tat unsre Industrie --- in Arbeitgebern wie Arbeitnehmern -- schon so starke Kulturpotenzen -umspannt, daß sie die übrigen Machthabergruppen von ihrem Vorzugsrecht -überzeugt, z. B. die Herren Agrarier und den nicht minder herrlichen -Klerus. Sobald die geistig bedeutendsten Machtgruppen eine dauernde -Hebung ihrer Wohlfahrt, sei es direkt oder indirekt, von einer -materiellen Tendenz erwarten, schlägt diese bereits ins Ideelle um, -in eine sozialpolitische Sympathie aller Stände, die sich bis zu -religiöser Ekstase und poetischem Enthusiasmus steigern kann; siehe -die Zeit der Kreuzzüge, die aus agrarischen Interessen emporkam. -Dergleichen geht meist viel rascher vor sich, als die fixen Idealisten -glauben; aber ehe es wieder möglich wird, müssen freilich erst die -führenden Geister der einzelnen Berufskreise mehr Fühlung miteinander -erlangen, als zur Zeit bei uns vorhanden ist, mehr Achtsamkeit und -mehr Verständnis für die gegenseitigen Ergänzungswerte. Inzwischen -hat jedermann im Volk, erst recht aber jeder leitende Mann, das Eine -zu tun, das immer nottut: seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. -Bildung predigen kann der nichtsnutzigste Nörgler; gute Lehren sind -gut, gute Vorbilder besser. +Im eignen Beruf etwas Tüchtiges leisten -und fremde Tüchtigkeit anerkennen+, das ist schließlich die beste -Kulturpolitik. Kurz: möglichst wenig davon reden im Allgemeinen, -möglichst viel im Besonderen dazu tun! In diesem Sinne könnte die -Großmacht „Presse“ aufs besonderste vorbildlich wirken; notabene wenn -sie endlich wollte. - -Statt dessen wird geschwatzt und geschwatzt, und das hält man womöglich -noch für ein Zeichen allgemeinen geistigen Fortschritts. Wenn jemand -alldas lesen müßte, was bei uns über Bildung und Bildungszwecke, -Kultur und Kulturprobleme geschrieben wird: ob er dann nicht reif -fürs Irrenhaus würde? Wir sind besessen vom Fortbildungsdrehwurm, -deshalb besitzen wir keine ruhige Bildung. Ich habe einmal einen Jungen -gekannt, der so viel übers Leimrutenstellen nachdachte, daß er nie -dazu kam, einen Vogel zu fangen. Und ich kenne viele erwachsene Leute, -nicht etwa blos Privatdozenten, die lange Vorträge über Schönheit und -Freiheit halten und weder verstehen eine Blume zu pflücken noch sie -in ein Knopfloch zu stecken. Wenn so ein Schöngeist dann plötzlich -errötet über seine Ungeschicktheit, dann ist vielleicht noch Hoffnung -vorhanden, daß er endlich aufhört, für Bildung zu schwärmen, und -wirklich anfängt, sich zu bilden. Darum war es ein Zeichen heilsamer -Reue, daß unlängst unter den vielen Rundfragen, mit denen jeder -irgendworin Gebildete von unsern Zeitungen und Zeitschriften aus -vorzüglicher Hochachtung überschwemmt wird, plötzlich auch die Frage -auftauchte, ob wir nicht heute „an einer Überwertung der Bildungsfragen -kranken“. Ich weiß freilich nicht, ob der Verfasser dieser -Überbildungsfrage über ihren Stil errötet ist; über ihre Motive aber -sollten wir allesamt erröten. - -Was ist Bildung? Nur die Unbildung fragt so. Der Gebildete redet -nicht darüber, er hat allemal Besseres zu tun; gebildet ist, -wer vorbildlich wirkt durch irgendeine Tüchtigkeit. Unsre Zeit -ist nicht so untüchtig, an „Überwertung“ der Bildungsfragen zu -„kranken“; ich glaube sogar, daß jeder wertvolle Mensch über solche -Doktorfragen die Achseln zuckt. Aber worunter wir allerdings leiden, -und grade die Tüchtigsten am meisten, das ist die Überschätzung der -Bildungs+mittel+, der praktischen wie der ideellen; das Werkzeug -steht höher im Wert als das Werk! -- Wir bauen großartige Fabriken, -die kleinliche Fabrikate erzeugen. Wir erfinden hochfliegende -Verkehrsmaschinen, die den Verkehr immer flacher, weil flüchtiger -machen. Wir konstruieren geistreiche Schwebebrücken, Bahnhofshallen -und Kabelanlagen, die keiner andern Güterbeförderung als nur der -leiblichen Wohlfahrt dienen. Wir überspinnen unsre Städte und Dörfer -mit baumwuchsverstümmelnden Drahtnetzen, die unser Alltagsgeschwätz -so bequem verbreiten, daß es selbst dem Geduldigsten unbequem wird. -Wir pflegen ästhetische Techniken und intellektuelle Methoden, deren -absonderliche Feinsinnigkeit die Wirkung der Künste wie Wissenschaften -auf unsre ganze Gesinnung vereitelt. Wir organisieren einen -Religionsunterricht, der so überaus vernünftig ist, daß die ehrwürdigen -Worte des Glaubens zum Gespött der Kinder werden. Wir entwickeln -tiefdurchdachte Erziehungssysteme, die prinzipiell auf Zöglinge von -oberflächlichster Durchschnittlichkeit des Denkens und Fühlens angelegt -sind. Wir betreiben eine Politik, die vor lauter Interessendiplomatie -das solidarste Intresse der Nation, das soziale Vertrauen, in den -Wind schlägt. Wir gründen sehr sittliche Einrichtungen zum Schutz der -menschlichen Arbeitskräfte, und das Vollkommenste, was mit all dem -Aufwand für Volk und Menschheit geschaffen wird, sind Instrumente der -Zerstörung: Kanonen, Kriegsschiffe und dergleichen. - -Wie dieser Wahnwitz kuriert werden kann? Weder durch Lehranstalten noch -durch Kasernen noch durch die sogenannte Schule des Lebens, durch kein -Hilfsmittel von außen her. Autosuggestionstherapie nennt es heute die -innere Medizin; auf gut Deutsch heißt es immer noch Selbstzucht, soll -den Geist vom Narrsinn der Selbstsucht befreien und kann von den werten -Lehrmeistern, Eltern und andern Vorgesetzten nur durchs eigne Beispiel -erläutert werden. Das Wort „Bildungszweck“ ist dabei überflüssig, denn -hier deckt sich das Mittel mit dem Zweck. Aber freilich: man lernt dies -Mittel erst anwenden, wenn der Geist schon -- von selbst zu genesen -beginnt. - - -Kunst und Persönlichkeit - -Perspektiven ins Unpersönliche - -Wir leben seit der Betriebsamkeit der Lokomotive und des elektrischen -Drahtes in einer Wiedergeburt der Künste, die der humanen Tendenz -nach tiefer zu wirken und weiter um sich zu greifen bemüht ist, als -irgend eine der früheren Renaissancen; nicht blos bemüht, auch berufen. -Die moderne Kultur ist international geworden, und als gebildete -Menschheit sieht man nicht mehr eine kleine Klasse von Bevorrechteten -an, wie einst in Indien und Attika oder in den Adelsländchen und -Patrizierrepubliken der Reformationszeit, sondern insgesamt all die -Nationen, in denen die Leibeigenschaft für unrecht gilt. Aus einem -so viel weitern Intressenkreis nimmt der Künstler unsrer Zeit seinen -Rohstoff und hat für die Verarbeitung den soviel weiteren Kreis von -Intressenten. Tiefer als jemals fühlt sich das moderne Individuum im -Gegensatz zur breiten Masse, die immer mächtiger wird, die freier -als jemals konkurrierende Individuen aus sich emporwerfen kann. Um -soviel tiefer, mächtiger und freier muß jede Persönlichkeit, die sich -zur Geltung bringen will, auch ihre wesentlichen Eigentümlichkeiten -zum Ausdruck bringen. Sie muß, sie kann nicht anders; das ist das -Schöpferische, das Gesunde, Urnatürliche, auch wenn es sich an -einer Szene aus dem Krankenhaus oder an den verdrehten Gesten einer -Salonpuppe ausläßt. - -Und denselben Eigenwillen bekundet, oft bis zum verrannten Eigensinn, -einstweilen auch noch unser Kunsturteil, d. h. die Einsicht in die -Ursachen der jeweils empfundenen Wirkung. Denn zu diesen Ursachen -gehört zunächst der persönliche Geschmack des Genießenden, der sich -aus allerlei Temperamentsqualitäten zusammensetzt, die mit dem -Gefühl für den bleibenden Kunstwert nichts oder wenig zu tun haben. -Insofern freilich wird +kein+ Kunsturteil seinen laienhaft -subjektiven Charakter verleugnen können; selbst der Künstler dem -Kunstgenossen gegenüber wird immer darin befangen bleiben. Aber aus -dieser natürlichen Befangenheit grade entspringt das Gefühl der -Unbefangenheit. Wer sich ganz dagegen sperren wollte, würde überhaupt -nicht zum Genuß gelangen; und das hieße dem Künstler, solange er -lebt, der Dienste schlechtesten erweisen. Eben das instinktive -Geschmacksurteil, sobald es nur offen als solches bekannt wird, ist dem -Künstler mindestens ebenso wertvoll wie das sogenannte rein kritische, -das in Wahrheit niemals rein sein +kann+. Denn es wird ihn am -klarsten über die Wirkung seiner persönlichsten Ausdrucksmittel auf -fremde Naturen unterrichten, sei es durch Zustimmung, sei es durch -Widerspruch; wird also seine Eigenart schärfen und seine Schaffenslust -kräftigen. Reine Objektivität des Urteils ist ja nichts als Bewußtsein -der letzten Grenzen zwischen den Eindrücken von Außen her und ihrer -Verarbeitung von Uns aus, also ein idealer Begriff wie Schönheit, -Wahrheit, Vollkommenheit, ebenso relativ und variabel. Denn wirklich -erkennen und begründen lassen sich diese Grenzen erst, wenn und nachdem -wir den fraglichen Eindruck subjektiv empfunden haben. - -Es gibt nun freilich merkwürdige Leute, die zu keiner Zeit zufrieden -sind, und heutzutage besonders viele, denn seit Lasalle ist -Unzufriedenheit bekanntlich eine Tugend. Seit Nietzsche aber darf man -zum Glück gegen die bekannten Tugenden mißtrauisch sein; und wenn sich -der weise Zarathustra nicht gar so tief in seine Höhle verkrochen -hätte, würde ihn wohl allmählich nicht blos das „erbärmliche Behagen“, -sondern mehr noch das viel erbärmlichere Unbehagen gewisser Idealisten -geekelt haben. In der Tat: merkwürdige Leute das! Da gibt es welche, -die jammern über Gott und die Welt; und wenn nun Einer sich untersteht, -ihren Jammer schön in Verse zu bringen, dann fallen sie eilends über -ihn her und schimpfen ihn einen Entarteten. Da gibt es Andre, die -haben fortwährend eine laute Sehnsucht nach der inneren Ruhe; wenn -aber einmal Einer auftritt, der sich diese Ruhe errungen hat, dann -finden sie ihn fad und müd und werfen ihm noch Steine in seinen stillen -Hafen. Wieder Andre regen sich drüber auf, daß die Eigentümlichen gar -so unverständlich seien; gibt dann ein solcher Sonderling auch mal -was Gemeinverständliches von sich, schelten sie ihn einen geistigen -Schwindler. Und nochmals Andre lassen sich den Unverstand der Menge -verdrießen, weil sie neugierig mit den Wenigen laufen, die den Vielen -nicht gleich offne Briefe sind; läuft aber Einem dieser Wenigen dann -auch sein Volk bei Zeiten zu, so ist er natürlich ein Überläufer. Und -so weiter: was so alles zum Vorschein kommt, wenn sich die Leute, die -das liebe „man“ ausmachen, mit einem Manne abzufinden haben. - -Indessen diese merkwürdigen Leute haben trotzalledem nie ganz Unrecht: -mit der bloßen Selbstherrlichkeit kann kein Mensch etwas Großes -fordern, nicht einmal ein Staat oder Volk. Jede Wiedergeburt der Künste -beginnt mit krampfhaften Wachstumsregungen, deren Eigenleben die neue -wie alte Kultur von Natur aus gefährden würde, wenn nicht irgend ein -gemeinschaftliches Lebensbedürfnis sie zugleich doch bändigte. Auch -die Renaissance vor 500 Jahren hat ihre Kulturmacht und Stilvollendung -nur durch den weitverzweigten Zusammenhang der lokalen Schulen und -Meister erlangt, der erst zerfiel, als sie reif genug war für den -universelleren Barockstil und für so umfassende Einzelgeister wie -Michelangelo, Shakespear, Bach; und Hellas ist gleichfalls erst -durch den Verkehr mit Asien und Ägypten gewachsen. Dies Bedürfnis -schöpferischer Kräfte, einander möglichst zu durchdringen, ist auch -jetzt wieder mächtig in der Kunst, eben weil wieder selbstbewußt genug -geschaffen wird, daß die Eigenart des Einzelnen nichts mehr daraus -zu befürchten braucht. Kunst wie Dichtung dürfen wieder dran denken, -sich dem Volk in ihrem allgemein menschlichen Lebenswert bemerkbar -zu machen, nicht nur den eigenwillig persönlichen und nationalen -Geschmackswerten nach. Denn es gibt eine Art der Kunstwirkung, -die über jegliche Grenze selbstsüchtigen Schaffens und also auch -Genießens hinausgeht, die überhaupt erst die höchste Kunstwirkung -ist, und deren Mächtigkeit bei dem einzelnen Kunstwerk den Grad -der bleibenden Schätzung bestimmt: das ist das befreiende Gefühl -der Selbstvergessenheit, dasselbe Gefühl, das auch den Künstler im -schöpferisch entrückten Augenblick packt, also die Wirkung grade der -+Un+persönlichkeit. - -Dies scheint nun fast im Widerspruch zu aller so erbittert -verteidigten Eigentümlichkeit des Künstlers zu stehen und jede -Schätzung persönlichen Willens in Form wie Stoffwahl auszuschließen. -Aber wie allenthalben im Leben bedingen auch hier die Gegensätze -gegenseitig ihr Dasein. Ein Kunstwerk, das sich nicht vor andern -durch irgendwelche Besonderheit auszeichnet, kann uns auch -selbstverständlich nicht zu besonderer Beachtung reizen. Aber was uns -diesem Anreiz erst nachzugeben drängt und zwingt, das eben ist jenes -Unpersönlichkeitsbedürfnis, das uns hinter der fremden Besonderheit -etwas uns Allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes unwillkürliche -Allgemeingefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum -und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen -Gegenstand nach immer neuen Eigenschaften, d. h. Beziehungen zu uns -selbst, suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche, -ob wir’s nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist, Allseele oder -Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen --: wir wenden -uns enttäuscht ab von dem Kunstwerk, sobald wir jene Vermutung des -Allgemeinen hinter dem Besonderen nicht darin bestätigt finden. Und -auch im Künstler selbst ist es so: erst dieses Allgemeine, Unfaßbare, -Grenzenlose, wie es sich im Prisma seines persönlich beschränkten -Bewußtseins bricht, sei es durch sinnliche oder durch geistige oder -durch Gemüts-Wahrnehmung -- gleichsam die drei Flächen dieses Prismas ---: erst Das erzeugt den persönlichen Stil mit all seinen Zu- und -Unzulänglichkeiten, und einzig deswegen fühlt sich der Künstler niemals -vollkommen selbstbefriedigt durch irgend eins seiner fertigen Werke. - -Demgemäß ist es auch ganz verkehrt, wenn eine supermoderne Ästhetik -sich dagegen auflehnen will, nach allgemeinen Maßstäben für -künstlerischen Wert und Unwert zu suchen. Die kritische Methode, wie -Lessing und Schiller sie für Deutschland begründet haben, nämlich -die klar begrenzte Feststellung gewisser höchster Wertbegriffe auf -Grund stets wiederkehrender Gefühlserfahrungen bei allen stärksten -Kunstgenüssen, ist etwas, dessen sich die Menschheit niemals wird -entschlagen können. Wenn eine neuere Ästhetik dies zu ersetzen, -nicht etwa blos zu ergänzen hofft, dadurch daß sie das Kunstwerk -rein beschreibend als eigen reizvolle Erscheinung, womöglich gar -als pathologische, bis ins Feinste zergliedern will, so ist sie -schlechterdings in einer fortwährenden Selbsttäuschung befangen. Denn -damit legt sie nicht das Geringste über die Kunstwirkung als solche -dar, setzt vielmehr jene normative Methode im stillen immerfort voraus, -indem sie eben nachprüferisch nur solche Werke untersucht, die nach -Maßgabe irgendwelcher Allgemeingefühle schon als irgendwie wertvoll -anerkannt sind. Daß solche allgemeinen Maßstäbe immer auf allerlei -Querstriche von anderem Standpunkt aus stoßen werden, liegt nicht -an einem Fehler der Methode, sondern ist im Wesen der Kunstwirkung -einerseits, des menschlichen Verstandes anderseits begründet; denn -jenes letzte unpersönliche Grundgefühl, auf dem der Kunstgenuß beruht, -reicht eben immer weit hinaus über die Grenzen klarer Wahrnehmung, und -von dieser ist ja unser Verstand obendrein nur ein Bestandteil. Daher -ist der Künstler auch stets der Meinung, daß sein Werk am wirksamsten -durch sich selbst spricht. Nicht blos am unwiderleglichsten, sondern -sogar am gründlichsten; denn schließlich sind ja in dem Gefühl, -das durch die Einwirkung des Kunstwerks -- ob für oder wider -- in -uns erregt wird, alle Gedanken schon mit enthalten, die man sich -+über+ die Wirkung machen kann. So ist es nun einmal von Natur: -das Gefühl erstreckt sich ins Grenzenlose, der Verstand ist stets auf -Standpunkte beschränkt. - -Um jenes entrückenden Grundgefühls so gründlich wie möglich teilhaftig -zu werden, muß man sich also immer wieder an die Kunstform selbst -halten, nicht etwa an die Erinnerung blos; und wer es unter dem Bann -seiner Eigenart hinter der fremden Art des Künstlers nicht von selbst -zu erlangen vermag, dem wird es kein Verstand der Kunstverständigen -jemals zu Gemüte führen. Denn alle Kunstwirkung läuft schließlich -auf das Wunder der +Liebe+ hinaus, das sich begrifflich nur -umschreiben läßt als Ausgleichung des Widerspruches zwischen Ichgefühl -und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessenheit. Ja, man kann -gradezu sagen: je mächtiger ein Kunstwerk in uns dieses allumfassende -Gefühl erregt, umso ausdrücklicher darf und muß sich -- schon um -des technischen Gleichgewichts willen -- auch die persönliche Art -des Künstlers zeigen, während sich ohne jenes Unpersönliche die -menschliche Selbstentblößung der Schaffenden, diese völlig grundlose -Offenherzigkeit in seelischen oder leiblichen Dingen, die jedem -ursprünglichen Kunstwerk eignet, nur als die mehr oder weniger -unverschämte Aufdringlichkeit von Marktschreiern auswiese. - -Es hat schon manchen Sittenprediger, auch manchen Schöngeist kopfscheu -gemacht, daß oft grade Kunstwerke, die am stärksten auf Umfassung der -Lebensgewalten, auf Beherrschung der Naturkräfte ausgehn, obenhin -fast den Eindruck machen, als handle sichs um Verherrlichung brutaler -persönlicher Instinkte. Das wäre freilich das Gegenteil von einer -Kunst der Naturbeherrschung. Aber man wird nicht leugnen können: -wo geherrscht werden soll, muß etwas da sein, das der Beherrschung -wert und bedürftig ist. Der lenkende Geist ohne starke Triebe, wäre -ein Reiter ohne Pferd; wie hinwider selbst das edelste Vollblut -nichtsnutzig wird und niederträchtig, wenn nicht ein ebenbürtiger Herr -es mit Geschick zu bändigen weiß. Als oberste Aufgabe der Menschheit -wird auch dem Künstler ewig vorschweben: die Erringung jenes geistigen -Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen -über sein Schicksal erhaben macht, über inneres wie äußeres Schicksal. -Jede Überschätzung der Persönlichkeit ist also gleichbedeutend -mit Unterschätzung ihrer höchsten Schaffenskraft, wie auch des -Kunstschaffens überhaupt. - -Und demzufolge: je stärker sich in einer Zeit dies -Unpersönlichkeitsbedürfnis regt, ob nun als soziale oder erotische oder -sonstwie altruistische Hingebung, umso mehr wächst auch die Lust der -Schaffenden, sich über die technischen Spezialitäten, die wiegesagt -immer blos der Ausdruck des beschränkten Selbstbewußtseins sind, -hinauszuheben zu überschauenden Zeit- und Welt- und Lebens-Sinnbildern, -nicht mehr nur der sinnlichen Anschauung zu dienen durch eigentümlich -stimmungsvolle „Naturausschnitte“ und „Seelenzustände“, die selbst den -Eingeweihten anmuten wie Tempelwände voll Hieroglyphen, sondern wieder -einmal Pyramiden zu bauen, von denen aus Jeder, der notabene die Mühe -des Ersteigens nicht scheut, beseligt in den freien Himmel und über -weites Land schauen kann. Ich will mit dieser bildlichen Floskel nicht -etwa einer bodenlosen Himmelstürmerei das Wort reden, die sich auf -Erden nicht zurecht zu finden weiß. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen -der Unreife, wenn man noch glaubt, den Himmel erst erobern zu müssen. -Wir sind ja jeden Augenblick -- ich meine das ganz wirklich und wahr -- -mitten in allen Himmeln drin; die Erde ist im Unendlichen genau so hoch -oder tief zuhause, wie etwa die Sonne oder ein anderer Stern. - -Das +wissen+ freilich heute schon Viele; aber +fühlen+, -als etwas Selbstverständliches mitfühlen, mit Fleisch und Blut -und allen Nerven, tun es erst recht Wenige. Und grade dieses -selbstverständliche, genau so irdische wie überirdische Allgefühl, -das jede andere Lebensempfindung, jede Einzelwahrnehmung, jeden -Gedanken des Schaffenden stützt und trägt, das eben ist die magische -Basis, auf der sich die großen Werke der Kunst, die im bildsamsten -Sinne vorbildlichen, immer wieder aufbauen. Das hat nichts zu tun mit -dem Idealismus gewisser humaner Tendenzpoeten, der nur temporärer -Kritizismus und meistens ein sehr barbarischer ist. Der künstlerisch -bestrebte Dichter benutzt die humanen Ideen seines Zeitalters nur, um -seine Gefühlskraft daran zu erproben, nämlich als seelische Dissonanzen -zwischen Menschheit und Gottnatur, die er harmonisch zu lösen hat. Er -kann und will nichts weiter tun als eine bildliche Fühlung zum Leben -schaffen, die alle kritischen Widersprüche gegen die Schönheit und -Herrlichkeit des ganzen Daseins ganz und gar ausschließt, also auch -alle speziellen Tendenzen. Das ist der Idealismus des +Künstlers+; -und der liegt jeglichem echten Kunstwerk zugrunde, auch wenn sein -Rohstoff dem oberflächlichen Blick häßlich oder schrecklich erscheint. -Wer sich dann durch dies bildliche Werk in der Tat vollkommen -befriedigt fühlt, den hindert freilich nichts und niemand, darin nach -einem besonderen Richtziel für seine eigne Gefühlswelt zu fahnden. Und -in diesem Sinne -- doch nur in diesem -- kann allerdings +jede+ -Kunstgestalt, vom ganzen Opus bis zur geringsten Teilfigur, als -+Vor+bild der Lebensführung aufgefaßt werden, selbst wider -Absicht und Meinung des Schöpfers; Falstaff genau so gut wie Achilleus. - -Wenn das erst wieder vollkommen begriffen ist, von den Genießenden -wie Schaffenden, dann wird auch der Schauer vor dem Unergründlichen, -den jede gründliche Beschäftigung mit fremder Geistesarbeit in uns -weckt, die Kunstwelt wieder allgemein durchdringen; dann wird sich dies -Gefühl, als eine neue Ehrfurcht vor der ewigen Schöpferkraft, auch -bald durch die Alltagswelt verbreiten, und dann wird diese Welt wohl -endlich merken, daß sich wieder eine +religiöse+, auf deutsch -+allverbindliche+ Kunst bei uns anbahnt. Die braucht nicht wie -ein Sturm daherzufahren; auch im Säuseln des Windes kann man Erhabenes -hören. Dürers Gottvater auf dem Regenbogen über den sieben Leuchtern -und dem knieenden Johannes enthüllt in seinen bescheidenen Formgrenzen -die Allmacht ebenso strahlend, wie Michelangelos Apotheose der -geschlechtlichen Zuchtwahl, die den Himmel der Sixtinischen Kapelle zu -sprengen droht und in dem heilandsherrlichen Menschenpaar des Jüngsten -Gerichtes gipfelt. Der ehemalige Sinn dieser Bilder mag heute schon -halber Unsinn sein; aber ihr Geist wird weiterwirken, solange die -Sterne uns unerreichbar sind. - -Es ist dem eindringlichen Kunstgefühl auch völlig gleich und einerlei, -ob jenes Tiefste und Höchste ihm durch naturale Anschauungsfreude -oder symbolische Vorstellungslust vermittelt wird; das Eine ist so -mittelbar und unmittelbar wie das Andre. Der formgewaltige Phantast -zeigt im Symbol Natürliches, der Realist in der Natur Symbolisches. -Die rhythmische Flut des Sonnenlichtes, die durch den scheinbar -wüsten Tanzknäuel der Rubensschen Kirmeßbauern braust, erhebt den -andächtig Schauenden in eine nicht minder unendliche Seligkeit, wie der -entschwebende Puttenreigen in dem Dämmerungsglanz und Fackelschimmer -von Watteaus Abfahrt nach Cythere. Und das will doch wohl der -machtvolle Künstler: als ein Seher des allmächtigen Lebens betrachtet -werden, nicht als Spezialartist einer Technik. Es gibt eben auch in der -Kunstgeschichte Apokalyptiker und Evangelisten, und Mancher ist gar -Beides zugleich. Wer sich bei einer künftigen Menschheit kanonisches -Ansehn erringen wird, das zu entscheiden geht freilich zu allen Zeiten -über die zeitgenössische Urteilskraft. Eins aber ist sicher: die -Eigenart tut’s nicht. Denn nur das Eine bleibt übrig von uns, wenn -selbst unsre Werke längst verwest sind: Das, was den Andern Vorbild -ward für ihre stete Fühlung zur Welt: die Tat unsrer Liebe. - - -Das Buch und der Leser - -Eine Untersuchung des Verständnisses - -Bücher sind wie spiritistische Medien; wer sie nicht richtig zu fragen -versteht, dem antworten sie falsch oder garnicht, und die meisten Leute -halten deswegen den ganzen Spiritismus für Schwindel, bestenfalls für -Selbsttäuschung. Jener afrikanische Wilde, der einen Missionar aus der -Bibel vorlesen hörte, sich dann das Buch an die Ohren hielt und es -ungläubig wegwarf, weil es ihm nichts sagte: der steckt noch in jedem -gebildetsten Leser. - -Ich will zum Beweis ein Erlebnis erzählen. Als ich Hofmannsthals -„Ödipus und die Sphinx“ das erste Mal las oder lesen wollte, kam ich -nicht über den ersten Aufzug hinweg. Diktion und Rhythmus stachen -auffallend von seinen früheren Dichtungen ab, erinnerten mich hin und -wieder an Dauthendeys schwungvolle Üppigkeit, hin und wieder an die -drangvolle Knappheit meiner eigenen Verstechnik, dazwischen doch immer -an Hofmannsthals einstige haltungsvolle Gewundenheit, und das empfand -ich als ein so tolles Stilgemengsel, daß ich mich einer heftigen, -mehrfach wiederkehrenden Zwerchfellerschütterung schlechterdings nicht -erwehren konnte; ich legte schließlich das Buch beiseite, weil ich -mich einigermaßen schämte, einen ernsthaften Dichter auszulachen. -Bald nachher traf ich mit ihm zusammen, in einem Kreis erfahrener -Kunstfreunde, und gestand ihm meine Verlegenheit gegenüber seiner -neuesten Dichtung. Er war daraufhin so liebenswürdig, uns die zweite -Hälfte des ersten Aufzugs, die ich als besonders unharmonisch empfunden -hatte, vorzulesen. Und merkwürdig: trotzdem Hofmannsthal mit seiner -etwas brüchigen Stimme kein bestechender Vorleser ist, auf einmal -hörte ich den harmonischen Grundakkord. Ich habe später die Dichtung -nochmals, und diesmal vollständig, gelesen und verspürte nichts -mehr von jener Mißwirkung. Ich merkte, daß ich beim ersten Mal mit -allzu dramatischem Gehör auf die momentan metrischen Dissonanzen der -sensuellen Affekte geachtet und so die lyrisch perpetuelle Rhythmik -der sentimentellen Motive überhört hatte. Nun, wenn das einem Fachmann -passieren kann, wie mag sich dann erst der unzünftige Leser gegen -manches Buch benehmen, in dem ein neuer Geist rumort? - -Absichtlich spreche ich darüber mit fachmännischer Gemütsruhe; denn -mit der menschlichen Leidenschaft, die auch Künstler gegen einander -einnimmt, hat der Unverstand des Lesers zunächst nichts zu tun. -Ein Buch zu lesen, ist allererst eine bare Verstandestätigkeit, -gleichviel ob wir ein dichterisches oder wissenschaftliches oder -sonstwie schriftstellerisches Werk in uns aufnehmen. Immer handelt -sichs vorbedinglich um das Verständnis der Fachsprache, und hierfür -bringt der einschlägige Handwerksmann doch mehr Geschultheit mit als -andre Leute. Wer das A-B-C noch nicht zu lesen versteht, dem ist ein -Fibelvers nicht verständlicher als eine mathematische Formel; doch je -mehr er es verstehen lernt, desto umfänglicher wird das A-B-C, desto -umständlicher die Verstandesarbeit. Denn wie geht jeder Leser zu Werke? -Sein mehr oder minder bewußter Verstand, je nach dem Grad eben seiner -Schulung, übersetzt gewohnheitsgemäß den optischen Eindruck der -Schriftzeichen in akustische Ausdrucksmittel, diese wiederum teils in -Gehörswahrnehmungen, teils in Gesichts- und andere Tastvorstellungen, -diese aus der blos sinnlichen Einzelempfindung in vernünftige -Gefühlszusammenhänge, und dann erst entsteht die rätselhafte -Gemütsbewegung, die den ganzen angesammelten Schwarm von dreifach -zwiespältigen Gedankenbeziehungen zu geistiger Bedeutung vereint und -uns mit ungewohnter Leidenschaft für oder wider den fremden Geist -erfüllt. Noch verwickelter wird der Vorgang dadurch, daß er von Satz zu -Satz neu einsetzt und doch die Erinnerungsbilder der Vordersätze immer -mit veranschlagen muß; so befindet sich der Leser fortwährend in einem -Wirbelwind kalter Verstandesluft, der unwillkürliche Gefühlsgluten -anfacht. - -Auch dem wissenschaftlichen Leser ergeht es so, wenn er sich über den -Wahrheitswert irgend einer Schlußfolgerung entscheidet; immer springt -schließlich ein Gemütsfunke aus der Reibung der Verstandeskräfte. -Nein, wird man einwenden: in der Wissenschaft sind die Gefühle -Nebenumstände, in der Dichtung dagegen der Hauptbestand. Aber ist dem -wirklich so? Gipfelt die geistige Schönheit nicht ebenso hoch über -jeder Gefühlserregung wie die Wahrheit und die Gerechtigkeit? Und -wurzeln nicht alle drei dennoch tief in Gründen des Gemütslebens? -Ja, es kommt überall gleichermaßen auf Erkenntnis seelischen Lebens -an; nur die Erkennungszeichen stehn in verschiednem Verhältnis der -sinnlichen und vernünftigen Darstellungsmittel. Welche Vorarbeit -muß der Verstand schon leisten, um sich blos erst in das besondre -Verhältnis der originalen zu den traditionellen Bestandteilen eines -Sprachwerks hineinzuversetzen! In der sogenannten reinen Wissenschaft -ist dies Verhältnis am leichtesten zu erhorchen, weil deren lautliche -Darstellungsmittel überwiegend auf generelle Logik hin abgestimmt -sind, sodaß die individuelle Intuition des Verfassers dem Leser sehr -deutlich ins Gefühl schlägt, wenn auch nur dem genügend geschulten -Leser. Aber bereits die populäre Wissenschaft ist in ihrer formalen -Technik so mit persönlich sensuellen und sentimentellen Elementen -durchsetzt, daß sich die intellektuellen Faktoren kaum noch scharf -davon sondern lassen. Und je mehr sich die rednerische Darstellung der -eigentlich dichterischen nähert, um so schwieriger wird die Sonderung -wie die Zusammenfassung der Lautbilder, und der Leser läuft immerfort -Gefahr, daß der Funke der Erkenntnis zu früh aufflammt und in dem -Schwarm der Gefühle entweder erlischt oder aber Brandschaden stiftet, -wie bei mir in Ansehung Hofmannsthals. - -Denn gerade die Technik der reinsten Dichtung, die Verskunst, nein -die lyrische Verskunst, denn auch Epos und Drama fußen auf lyrischer -Rhythmik: grade die verflicht allgemeinste Denkbegriffe der Sprache -so eng mit eigentümlichsten Empfindungsbegriffen, daß man nirgends -unmittelbar den Vorstellungswert, geschweige den Erregungswert der -Lautwahrnehmungen abschätzen kann, sondern nur durch vielfältigste -Rückschlüsse. Man vergleicht zwar die Lyrik gern mit der Musik, weil -auch die nur indirekt durch Gefühlserregungen zur Erkenntnis geistiger -Lebensverhältnisse führt; aber der lyrische Divinationsprozeß ist -noch um vieles indirekter. Nur zu Anfang geht die Verstandesarbeit in -annähernd ähnlicher Weise vor sich: ob ich ein Notenblatt lese oder -einen poetischen Text, ich übersetze einen äußerlichen Gesichtseindruck -in einen innerlichen Gehörsreiz, wenngleich es schon einen Unterschied -macht, ob ich mir einen gesprochenen Laut oder einen gesungenen Klang -vorstelle, oder gar einen klaren Instrumentalton. Dann jedoch wird -der Unterschied klaffend: das Klangbild der Tonsprache übersetzen wir -unmittelbar in eine Vorstellung von Gefühlszusammenhängen, das Lautbild -der Wortsprache großenteils erst auf dem Umwege über mannigfache -Gesichts- und Tastempfindungen nebst allerlei Hilfsbegriffsgedanken, -nur zum kleineren Teil direkt akustisch. Und dabei meint jeder -Leser einer Dichtung, er sei genügend vorgebildet durch seine -gewohnte Sprachkennerschaft, und traut sich in seinem lieben Gemüt -ein unfehlbares Gesamtverständnis zu, wo doch schon die einzelnen -Darstellungsmittel x-mal mittelbarer wirken als bei jeder anderen Kunst -und durch eine viel ungewohntere Sinnbilderfülle die schließliche -Erkenntnis vermitteln als bei irgend einer Wissenschaft. - -Wieviel Fallgruben für das Verständnis öffnen sich schon bei der ersten -Erweckung der scheintoten Schriftzeichen zu lebendigen Lautbildern! Es -ist nicht gleichgiltig, mit welcher Stimme, ja nur mit welchem Zeitmaß -der Stimme, man sich einen Vers oder gar ein Buch Verse im stillen laut -vorgelesen denkt. Unwillkürlich legen wir da zunächst unsre eigene -Stimme unter; aber der Dichter meint Seine Stimme, oder vielmehr -die verschiedenen Stimmen seiner imaginären Personen, denn auch das -Ich des Lyrikers ist wechselnde Phantasiefigur, vielleicht noch -wechselnder als die Charaktermasken, die der Dramatiker seiner Seele -vorheftet. Keine Orthographie und Interpunktion reicht aus, um auch -nur die gewichtigsten Betonungsverhältnisse zwischen den Satzgliedern -einer einzigen Strophe unzweideutig durchs Auge ins Ohr zu bugsieren. -Was wird nicht alles versucht, um das flüchtige Auge ruhsamer an -das Schriftwort zu fesseln und so das Ohr des Lesers aufmerksamer -für die Bewegtheit der Sprache zu stimmen. Der eine Dichter -ordnet die Zeilen nach der Mittelaxe des Druckspiegels, um seine -irreguläre Rhythmik durch den Kontrast der optischen Symmetrie noch -sinnfälliger hervorzuheben; der andre markiert seine reguläre Metrik, -um die akustische Harmonie seiner rhythmodynamischen Dissonanzen -vonvornherein außer Zweifel zu stellen. Manch einer kann sich garnicht -genugtun mit Gedankenstrichen, Stimmungspunkten, Ausrufzeichen und -+Sperrfingerzeigen+, und möchte womöglich auch noch die Beiwörter -mit Großen Anfangsbuchstaben schreiben; einige andre schreiben -fast alles klein und würden am liebsten gar keine interpunktionen -setzen damit der leser noch länger zwischen den zeilen rätselt -und ein möglichst eindringlicher hörer wird. Hilft uns aber alles -nichts; wir bleiben doch immer auf den Glücksfall des uns annähernd -gleichgestimmten Gehörs angewiesen, so sehr wir mit ganzem Gemüt -danach trachten, jede Menschenseele in unsern Bannkreis zu zwingen. -Muß schließlich noch der Herr Buchverleger, Buchdrucker und Buchbinder -helfen, durch ungewöhnlich gutes Papier, außerordentlich schöne Lettern -und sonstige „selten gediegene“ Ausstattung den Gewohnheitsleser zu -verlocken, daß er sich ausnahmsweise andachtsvoll mit unserm wertvollen -Werk befasse. - -Aber ach: je mehr das Buch selbst Kunstwert erlangt, je mehr es durch -äußeren Augenreiz den Leser sinnig und willig stimmt, umso mehr gerade -verführt es ihn, ein Leser des stillen Wortes zu bleiben, statt ein -Hörer des lauten Satzes zu werden, und umso mehr zugleich verführt -es die Dichtkunst zur inneren Augendienerei. Der Dichter ist ja auch -selber Leser; und je mehr ihn die Buchdruckerpresse gewöhnt hat, -als Leser statt als Hörer zu dichten, umso stumpfer hat sich die -Wahrnehmungskraft für die Gehörsreize der Sprache verflacht, umso -schärfer haben sich die Darstellungsmittel auf Gesichtsvorstellungen -zugespitzt, d. h. umso schwatzhafter ist die Dichtung geworden. -Sehr selten wird jetzt noch ein Lied erfunden, das seine organische -Melodie so einfach vernehmlich in sich trägt, wie die Muschel in -ihren Windungen summt. Viele Gedichte unsrer echtesten Dichter sind -schon dermaßen überladen mit pittoreskem Brimborium, daß sie an -Feuilleton-Prosa streifen. Oder wo doch noch mit Klanganspielungen -unmittelbar aufs Gefühl gezielt wird, da paukt man meist so faustdick -drauflos, als solle die Predigt Johannis des Täufers vor den -taubstummen Steinen Ereignis werden. Und wer die beiden extremen -Elemente gar noch ins Gleichgewicht setzen will, der verübt ein solches -Panoptikumkonzert hypersymbolischer Metaphern, daß die verzwicktesten -Rätsel der Turandot wahre Kinderspiele dagegen sind. Alldas bereichert -natürlich ungeheuer die sinnlichen Wirkungsmittel der Dichtkunst, blos -leider auf Kosten der geistigen Wirkung. Denn je empfindlicher die -Umwege vom Verständnis der einzelnen Sinnbilder zur Erkenntnis des -ganzen Bildsinnes auffallen, desto zerstückelter, also unvollkommener -tritt die Gemütsbewegung ein, die den lebendigen Bildungswert des -schönen Phantasiephänomens erst wirklich fortpflanzt von Geist zu -Geist. Und es bleibt ewig ein dürftiger Trost, daß noch niemals ein -Mensch den andern durchaus vollkommen begriffen hat. - -Welcher Dichter blickt nicht zuweilen mit Grauen und Abscheu auf seine -eigenen Bücher, diese Mumien seiner Phantasie, denen immer erst eine -fremde Seele den Auferstehungsodem einblasen muß, und die doch stets -vom gespenstischen Dunst des stummen Sarges umschleiert bleiben. Ja, -könnten wir jedem, der uns hören will, wenigstens selber das Buch -vorlesen! Dann würde wohl mancher dasselbe Wunder erleben, das meine -Taubheit vor Hofmannsthal linderte. Denn in der körperlich warmen -Menschenstimme beben von Anfang an alle Zauberkräfte der schöpferischen -Seele in eins, alle die heimlichen Verwandlungskünste und redlichen -Naturanwandlungen, die sich der Leser erst nach und nach zwischen den -Zeilen zusammendeuten muß. Einst, als die Dichter noch fahrende Sänger -waren, gehörte es mit zu ihrem Beruf, den Menschen das Wort recht -vernehmlich zu machen; und es ist keine Imitation einer reproduktiven -Virtuosenmode, sondern Symptom einer produktiven Epoche, daß auch heute -wieder die Künstler des Wortes selber als Vortragskünstler auftreten. -Freilich, es ist ziemlich zeitraubend, verstockte Ohren zu erweichen; -und in unsrer Zeit der Arbeitsteilung wird es dem Dichter womöglich -übelgenommen, wenn er als Anwalt des mündlichen Mitteilungstriebes -ein paar Gedichtbücher weniger schreibt. Aber ob er der Mit- und -Nachwelt dann wirklich etwas vorenthält? Was einer an Schöpferkraft -in sich hat, das setzt er allemal in die Welt, ob nun durch hundert -Pfropfreiser oder zehn Wurzelschößlinge. Die paar kurzen Lieder, die -uns die fahrenden Leute der Vorzeit hinterlassen haben, sind sicherlich -unsterblicher, als die tausend bandwurmlangen Prosa-Romane, mit denen -unsre Schreibtischhocker jahraus jahrein die Welt beglücken. Und -vielleicht genest der gebildete Europäer dermaleinst von der närrischen -Lesewut, die seine Augen immer gieriger, seinen Verstand immer -spitzfindiger, seinen Geist immer kurzsichtiger und sein Gemüt immer -schwerhöriger gemacht hat. - -Das Buch wird drum doch seinen Wunderwert als spiritistisches Medium -behalten und dann sogar erst recht offenbaren. Auch jener afrikanische -Wilde hat die Bibel ja schließlich vors Auge genommen; aber er würde es -niemals gelernt haben, hätte sein christlicher Mitmensch ihm das Wort -Gottes nicht immer wieder durchs Ohr zu Gemüte geführt. - - -Philosophische und poetische Weltanschauung - -Ansprache im Monistenbund - -Werte Zuhörer! Der Vorstand Ihres Vereins hat mich ersucht, die -heutige Vorlesung meiner Dichtungen mit einer kurzen Darlegung meiner -Weltanschauung einzuleiten, indem er mir zugleich erklärte, ich sei ein -besonders origineller Repräsentant des „esoterischen Monismus“. Ich -habe den Wunsch des Vorstandes abgelehnt, kann auch die schmeichelhafte -Liebeserklärung nur mit Glaßeehandschuhen annehmen, und möchte Sie -eindringlichst davor warnen, aus den Werken lebender Dichter und -überhaupt zeitgenössischer Künstler das herausfinden zu wollen, was -man heute unter Weltanschauung versteht, nämlich einen begrifflichen -Leitfaden, mit dem sich der zweiflerische, aber glaubensbedürftige -Verstand im Labyrinth der Ursachen und Wirkungen einigermaßen zu -orientieren sucht. - -Der Künstler denkt nicht in Verstandesbegriffen, wenn er bei seiner -Arbeit ist; er denkt in Gefühlsvorstellungen. Er will nicht erst -zum Glauben gelangen, sondern er geht vom Glauben aus. Er glaubt an -alles, was da ist in der Welt; er glaubt auch an die verschiedenen -Weltanschauungen, die in seiner Zeit miteinander kämpfen. Ich habe -einmal einem Politiker, einem Konservativen echten Schlages, der mich -fragte, was ich nun eigentlich sei, Sozialdemokrat oder Anarchist, -nationalsozial oder liberal -- dem habe ich geantwortet: „unter anderm -auch konservativ!“ Und so könnte ich auch Ihnen sagen: ich bin unter -anderm auch Monist, d. h. unter Umständen auch Dualist, oder Trialist -oder Milliardist, oder sagen wir mal Polymonist. - -Der Künstler umfaßt alle Welt mit Liebe. Selbst was er persönlich haßt -und verachtet im Leben: sobald es ihn reizt, es in Kunst umzusetzen, -ergreift ihn unwillkürlich die Liebe zur Sache. Es kann also jeder -Genießer aus jedem Kunstwerk die Philosophie, Moral, Religion -herausdeuten, die grade ihm die liebste ist. Das schließt schon -aus, daß der Dichter als Dichter eine originelle Philosophie oder -Theosophie darbieten kann; denn die ist immer unduldsam gegen anders -gesinnte Originale, also im ernstesten Sinne unliebenswürdig. Er kann -bestenfalls ein Echo sein all der weltbedeutenden Ideen, um die in -seiner Zeit gekämpft wird. - -Sehen wir uns einmal den Dichter an, der heute in Deutschland -vorzugsweise als Weltanschauungsdichter gerühmt wird: Goethe. Wir -finden keine solche Idee bei ihm, die wir nicht auch bei anderen -Wortführern seiner Zeit und Vorzeit finden können, bei den Humboldt, -Schlegel, Schleiermacher, Schelling, Kant, Lamarck, Spinoza usw.; und -wir finden viele Ideen bei ihm, die einander durchaus widerstreiten. -Nur weil er sie bei der Aneignung mit stärkerer Leidenschaft erfaßte, -mit tieferer Liebe und höherem Glauben im Augenblick der Wortschöpfung, -nur deshalb gilt er uns als der typische Repräsentant seiner -Zeitgenossen; und nur weil wir die verschiednen Ideen, denen jene -Männer ihr Lebenlang getrennt und einzeln nachhingen, in diesem Einen -zusammengefaßt sehn, nur deshalb entnehmen wir daraus ein gemeinsames -Gedankenband, die sogenannte einheitliche Weltanschauung jener sehr -mannigfach denkerischen Zeit. - -Denn eine einheitliche Weltanschauung hat es in Wirklichkeit niemals -gegeben, zu keiner Zeit und in keinem Volke; es gibt auch heute keine -zwei Menschen, die unter „Monismus“ genau dasselbe verstehen. Nur wenn -wir zurückblicken auf vergangene Zeiten, dünkt uns diese oder jene -Gedankenverbindung die sieghaft überwiegende. Aber wenn sich die bei -einigen Dichtern, wie z. B. auch bei Dante, Äschylos, Kalidasa, Rumi, -Litaipe mit besonders originellem Pathos ausspricht, dann wollen wir -doch ja beachten, daß die Originalität nicht in den Gedanken steckt, -sondern eben in dem Pathos, in dem mächtigen Aufruhr der Gefühle, der -mit den Gedanken sein bildhaftes Spiel treibt. - -Nehmen wir sogar einmal an, es könnte ein Allerweltsgenie geben, -in dessen Schädel ein gleichermaßen origineller Philosoph und Poet -beisammen hausten. Ich meine nicht jene Zwitterbegabung, bei der -(wie z. B. in Nietzsche und Schiller) ein starkes Talent der einen -Gattung mit einem schwächern der andren verkoppelt ist; sondern eben -ein pures Genie, in dem beide Talente gleich kräftig wären. Wie ja -manche Leute behaupten, daß Shakespear und Bacon in der Tat dieselbe -Person gewesen seien; worüber freilich jeder lächeln wird, der Bacons -Novum Organon und Shakespears Dramen gründlich kennt. Aber nehmen -wir an, sie waren wirklich ein und dasselbe Wundertier: ja, dann hat -eben dieses Wundertier, um seine originelle Philosophie, seine neue -Gedankenwelt darzustellen, seine drei philosophischen Werke geschrieben ---: in seinen poetischen Werken dagegen, das wird wohl selbst der -abstrakteste Kommentator zugeben, da kam es ihm eben auf Poesie an, -also durchaus nicht auf eine Gedankenwelt, sondern auf eine Welt von -Gefühlsgestalten, in der die Gedanken nur dazu dienen, sich gegenseitig -ins Bockshorn zu jagen, oder (tragisch betrachtet) einander den Hals -umzudrehen. - -Man braucht drum noch lange nicht zu folgern, der Dichter sei nur ein -Rohr im Winde, jedem phantastischen Stimmungshauch unterworfen, und -daher fürs wirkliche Menschenleben eigentlich unzurechnungsfähig. -Wenn dem so wäre, dann bliebe wohl alle Dichtung außer Rechnung -fürs Leben der Menschheit; und das bleibt sie doch keineswegs. Der -Dichter hat freilich keine Gedankenkette, an der er sich selbst und -andere Leute auf dem wilden Weltmeer verankern kann; aber er trägt -einen Gefühlskompaß in sich, der ihm und andern die Richtung weist, -wo in der Windrose der Augenblicksleidenschaften seine stärksten -und liebsten Empfindungen zum dauernden Pol zusammenschießen, zum -sichern Gesichtspunkt gegenüber der Welt. Das sittliche Wort dafür ist -Selbstzucht. - -+Das+ ist der ideale Punkt, dem jeder Künstler in seinen Gebilden -zustrebt, und zu dem er schließlich auch die hinbildet, die er -bezaubert durch dies Streben, durch diese liebreiche Anziehungskraft. -Das ist es auch, was Goethe meinte, als er seinen Prometheus sagen -ließ: „Hier sitz ich, forme +Menschen+! ein Geschlecht, das +mir -gleich+ sei!“ Und nach diesem weltumformenden Lebenszweck, ob er -nun göttlich oder übermenschlich oder allgemein-menschlich genannt -wird, mögen alle die unter meinen Hörern, denen der sogenannte rein -künstlerische Genuß keine genügende Belohnung für die Anstrengung des -Zuhörens ist, auch in meinen Dichtungen fahnden. - - -Der Olympier Goethe - -Ein Protest - -Eine öffentliche Gesellschaft von allerlei strebsamen Bürgersleuten -hatte mich einmal eingeladen, Gedichte von Goethe zu deklamieren. Seit -langer Zeit zum ersten Mal wieder las ich nun seine lyrischen Werke von -A bis Z und der Reihe nach durch, um die heute noch lebensvollsten, -menschlich wirksamsten Gedichte für den Vortrag auszuwählen, also -absehend von artistischer und literarhistorischer Feinschmeckerei, und -da erlebte ich eine Überraschung. Ich fand einen wesentlich anderen -Goethe, als ich ihn in der Vorstellung trug, und als er wahrscheinlich -vielen Deutschen von der Schulbank her vorschweben wird. - -Das Bild des weisen Herrn Geheimrats, des harmonischen Olympiers, das -der pädagogische Biedersinn unsrer meisten Literaturprofessoren von -ihm hergerichtet hat, versank vor mir in einem chaotischen Nebelbrodem -von Schmerzen, Leidenschaften und Zweifeln, aus denen nicht ein -olympischer, sondern -- um im antiken Gleichnis zu bleiben -- ein -titanischer Genius einen Kosmos herauszuläutern sucht; oder im Geist -unserer Zeit geredet, nicht der Wille eines Ober-Regierungsrates, -sondern etwa eines Mienen-Ingenieurs, der sich hinabarbeitet in die -Wetterschächte grauenvoller Naturgewalten, hinab zu den unterirdischen -„Müttern“, um ihre Kräfte heraufzufördern an das verklärende Tageslicht -des väterlichen Heimatbodens, zu den „Gefilden hoher Ahnen.“ Also -eine fortwährende Klärungsarbeit der Seele, keine jemals vollkommen -erreichte oder gar von Hause aus mitgebrachte sogenannte Abgeklärtheit. - -Was jene oberflächliche Meinung über den Vielumfassenden aufkommen -ließ, das war sein allzeit schlagfertiger Verstand, der auch das -Alltäglichste in Beziehung zur allgemeinen Wohlfahrt zu setzen wußte, -seine gesellige Vernunft, die im Leben die Maske des Gleichmuts vor -die einsam grübelnde Seele nahm und in der Kunst das ernste Spiel mit -heiteren Tändeleien mischte. Das aber hat nicht den großen Dichter -gemacht, der alles Menschliche in uns aufschürt und in ein Göttliches -umzuschmelzen strebt; ja, es ist fraglich, ob man nicht einst über -den artigen und verständigen Goethe, der für jede Gelegenheit ein -gescheites Sprüchlein oder zierliches Reimlein in Bereitschaft hatte, -ziemlich achselzuckend urteilen wird, sobald wir nämlich endlich einmal -der neunmalklugen Redseligkeit unsrer Dreiviertelsbildung entwachsen -sind. - -Er verstand freilich auch das kleine Veilchen mit allen Würzelchen -zu erfassen, und manchmal tut er gar wie der Schmetterling, der -unbekümmert von Blume zu Blume gaukelt; aber wo sich sein ganzes -Inneres auftut, da quillt die bodenlose Verzweiflung hoch, die mit dem -Leben +nicht+ fertig werden kann. Da entstehen die schwankenden -Gestalten alle, durch die er sich die dämonische Qual der „zwei Seelen -ach in der Brust“ immer wieder vom Herzen zu schaffen sucht, die -Werther, Clavigo, Weislingen, Egmont, Tasso, Orest, Wilhelm Meister -und Eduard; da entsteht Faust mit seinem Schatten Mephisto, und da -auch entstehen als die unmittelbarsten Zeugnisse dieser furchtbaren -Zwiespältigkeit seine ergreifendsten Gedichte. Denn, wie er selber es -ausgesprochen hat: - - Alles geben die Götter, die unendlichen, - ihren Lieblingen ganz: - alle Freuden, die unendlichen, - alle Schmerzen, die unendlichen, ganz! -- - -Erst wenn man sich das zu Gemüte führt, erst dann lernt man auch die -gewaltige Kunst in diesen Gedichten ganz würdigen, die bindende Kraft, -die den wirbelnden Stoff einer so widerspruchsvollen Gefühlswelt so -knapp zusammenzuordnen vermochte. Es ist manchmal, als müßte all diese -Wortschönheit sich selbst von innen heraus zersprengen, wenn man nur -erst die erschütternde Fülle ihres geheimsten Sinnes begriffen hat, -so z. B. den grausigen Todesschauder in Mignons scheinbar seliger -Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ (letzte Strophe) --- oder den wilden Galgenhumor in dem lehrhaft tuenden Trinklied -„~Vanitatum Vanitas~“; wer ein solches Gedicht noch mit fast 60 -Jahren schreibt, der ist weit entfernt vom olympischen Ruhekissen. - -Kurz gesagt: es heißt Goethe +verkleinern+, wenn man ihn als -Olympier anspricht. Soweit er wirklich olympische Anlagen hatte, war -er weder ein Zeus noch ein Apoll; dazu mangelte ihm vor allem andern -die unerschütterliche Hartherzigkeit dieser antiken Ideale. Nicht -einmal ein Dionysos war er in seinen unbekümmerten Stimmungsstunden, -sondern höchstens ein Ganymed oder Hermes, ein Spender der Anmut und -Lebensklugheit, und mehr im römischen als im griechischen Sinne, wie er -selbst einmal zu Herrn Eckermann sagte. - -Aber wodurch er uns groß erscheint, so groß, daß wir ihn mehr bewundern -oder doch sicherlich mehr lieben als seine vielfachen Vorbilder, -das sind nicht diese Eigenschaften. Das ist sein ruhelos ringendes -Doppelwesen, kraft dessen er selber ein Vorbild wurde, ein Vorbild -für jede Übergangszeit, d. h. für jede ursprüngliche, neue Werte -entdeckende Zeit: seine unerschöpfliche „Werdelust“, die sich mit -prometheischer Inbrunst und paracelsischer Phantasie in alle leidvollen -Anfangsgründe einer neu aufstrebenden Menschheit versenkte, weil sie -herstammte aus dem Überdruß einer vollkommen vollendeten, abgetanen -Freudenzeit. - -Das altersmüde Rokoko hatte mit letzter mildester Grazie seine -Jugendtage umspielt; und nun sucht er sein ganzes Leben lang einen -Abglanz dieser verrauschten Schönheit über den brodelnden Aufbegehr der -jungen Zukunft auszubreiten. Sie war ihm kein spielerischer Selbstzweck -mehr, diese Klangschönheit seiner stärksten Gedichte; sie war eine -zuchtvolle Notwendigkeit, um der verwirrend neuen Gefühlsgewalten -überhaupt Herr werden zu können. - -Und das auch wars, was ihn zur Antike zog, obwohl es ihm damals schon -und mehr noch heute von manchem ehrlichen Deutschtümler nicht ohne -Grund verdacht ward und wird. Auch die Griechen hatten die Schönheit -+nötig+; ihre ganze höchste Kunst und Dichtung, bis zu den alten -Mythen zurück, ist fort und fort auf das Eine bedacht, die dämonischen -Kräfte zu bändigen, die im Blut dieses seltsamen Volkes spukten, die -lapithischen und kentaurischen, mänadischen und hekatischen Triebe, -die von Natur aus in ihnen staken und mit barbarischer Brutalität die -mühsam errungene Kultur immer wieder gefährdeten. - -Keiner aber der vielen Gräkomanen, die seit Winckelmann Deutschland -überschwemmten, hat mit so schmerzlicher Klarheit wie Goethe erkannt, -daß jede Heraufführung neuer Kultur, weil sie alte Kultur untergraben -muß, zugleich auch wieder und immer wieder barbarische Instinkte mit -aufrührt, und daß grade der deutsche Volkscharakter zu dieser rohen -Kehrseite der menschlichen Entwicklungskraft neigt. - -Es ist sein höchster und reinster Ruhm, daß er unablässig gegen diese -Gefahr, die auch in seinem Charakter lauerte, seinen besten Kunstwillen -aufgeboten hat, nicht wie ein ausgelernter Altmeister blos, dem die -mancherlei Spiegelfechtereien der poetischen Technik glatt von der -Hand gehen, sondern als ein steter Lehrling des Lebens, in oft sehr -verzweifelter, manchmal vergeblicher, immer aber „strebend bemühter“ -und eben dadurch „erlösender“, für uns alle vorbildlicher Notwehr. - -Und deshalb wollen wir ihn nicht länger auf den hinfälligen -Götzenthron verstorbener sorgloser Götter setzen, sondern uns der -Grabschrift erinnern, die er selbst sich geschrieben hat: - - Denn ich bin ein Mensch gewesen, - und das heißt ein Kämpfer sein. - - -Grabrede auf Liliencron - -22. Juli 1909 - -Liebe Freunde und ihr Mitfühlenden alle! Wir müssen nun Abschied nehmen -von diesem Toten, dessen Leben uns unsäglich beglückt hat. Es würde -nicht in seinem Geist sein, hier viele Worte darüber zu machen, was -wir an ihm verloren haben. Es würde erst recht nicht in seinem Geist -sein, hier unsern Schmerz in die Welt zu rufen und einander das Herz -noch schwerer zu machen. Wenn er jetzt unter uns treten könnte, er -würde sagen: „Kopf hoch, Leute!“ Er würde es sagen, laut oder leise, -mit seinem hellen trotzigen Lachen oder mit stillem gütigen Lächeln. -Wir Wenigen, die ihm die Nächsten waren, und die wir es anfangs -kaum fassen konnten, als er so jäh uns entrissen wurde, Er, dessen -Jugendkraft unverwüstlich schien, plötzlich vernichtet durch einen -Hauch, durch nichts als einen tückischen Windhauch -- nein, wir können -es immer noch nicht fassen. Aber nicht wir Nächsten allein stehen -hier um die Grube versammelt, in die seine sichtbare Gestalt jetzt -versenkt wird; wir stehen hier mitten in einer Gemeinde, die weit -über diesen Friedhof hinausreicht, grenzenlos weit ins Leben hinaus, -vereint durch sein unsichtbares Bild, das uns der Tod nicht entreißen -kann. An solchem Grab wollen wir nicht trauern, wir wollen unsre Herzen -erheben! Wenn wir weinen müssen, ist es nicht blos aus Schmerz; es -ist aus überströmender Dankbarkeit, daß wir so Unendliches mitfühlen -können. Des Dichters unvergängliches Werk, des Menschen unvergeßliches -Wesen: ich weiß nicht, wodurch er uns mehr erhebt. Er war einer von den -herrlich Gefügten, deren Leben und Dichten gleich kühn emporsteigt aus -ihrer unverbrüchlichen Seele, so vollkommen gleich in freier Schwebe -wie der herrliche doppelte Regenbogen, der sich gestern, nachdem wir -in seinem Hause den Sarg über ihm geschlossen hatten, über den ganzen -Himmel Hamburgs spannte, eine überirdische Ehrenpforte. Der Freiherr -von Poggfred, so steht er vor uns, hoch über allem Standes- und -Sittenzwang, aber treu jeder selbstgewählten Pflicht bis tiefst hinab -ins Selbstlose, in das wir Alle verkettet sind. Helm und Degen liegen -auf seinem Sarg; so hat ers verdient, der alte Soldat, der mit Leib -wie Seele für uns gekämpft hat, für uns Deutsche und für uns Menschen. -Helm und Degen wird er nun immer tragen, und einen unverwelklichen -Blumenkranz, wenn er im Geist vor uns aufersteht, nicht mehr nun -der alte Soldat, sondern der immer junge Held, der uns entzückt von -Kampfplatz zu Kampfplatz führt wie zu einem hinreißenden Tanz. Denn -so ist er in Wahrheit durchs Dasein getanzt, noch bis zu seiner -letzten Reise, die er mit Weib und Kind unternahm, um den liebsten -Menschen, die er hatte, seine geliebten Schlachtfelder zu zeigen. -Dort hat ihn der feindliche Lufthauch getroffen, der die tödliche -Entzündung entfachte; und dann ist er dem Wink des Todes gefolgt, wie -er den Winken des Lebens zu folgen pflegte, rasch dahin, ohne langes -Gefackel. Ganz geschlossen ist das Spiel seines Lebens, wunderbar ganz -in sich geschlossen, trotz aller Kreuz-und-Querzügigkeit; vollkommen -vollendet auch noch sein letztes Gedichtbuch, auf das er den Titel -„Gute Nacht“ gesetzt hat, als ob er den Schlaf schon nahen fühlte, -auf den er gefaßt war wie Wenige, ohne Furcht vor der ewigen Nacht, -ohne Hoffnung auf einen jüngsten Tag, sondern mit reiner ruhiger -Ehrfurcht vor der unerfaßlich unerschöpflichen Macht, die uns leben -und sterben läßt. Nein, er war nicht blos der kindhafte Spielmann, -nicht der harmlose Junker Übermut, der liebenswürdig leichtsinnige, für -den ihn Viele gehalten haben, die sich nur an der bunten Oberfläche -seiner reichen Einbildungskraft vergnügten, oder die sich ärgerten -an der allzeit offenen, zum Geben wie Nehmen offenen Hand des armen -Schuldenmachers der Wirklichkeit. Er war auch der Mann der schweren -Stunden, der einsamen Fragen und Gedanken, der auf Jesus mit den -Worten wies: „Nach Innen sah ich seine Schmerzen weinen.“ Er hat -nur deshalb das menschliche Leben in ein launisches Spiel der Natur -umgedichtet, weil er den furchtbaren Ernst unsres Lebens aus innerster -Erfahrung begriff, weil er sich frei davon machen wollte, frei von -der grausigen Notwendigkeit und notwendigen Grausamkeit, vor der -sein empfindliches Gewissen immerfort in Entsetzen geriet. Er hat -sich ja nicht als Jüngling zum Dichter geschult, sondern als Mann -erst, der vom Schicksal geprüft war, der auf Schlachtfeldern und in -fremden Ländern die Menschen hatte ringen sehen. Das ist das Wunder -an seinem gereiften Geist, daß beides innigst in ihm vereint blieb: -der trotzige Jüngling, der unbedenkliche, und der gütige Mann, der -nachdenkliche. Daher sein starkes, herzbefreiendes Lachen, das niemals -zerrissen geklungen hat, und zu dem sein feines huschendes Lächeln -wie ein gedämpftes Echo stimmte. Daher das herzgewinnende Plaudern -des mitteilsamen Menschenfreundes, aber zugleich auch der lauschend -verschleierte Blick des tief verschwiegenen Menschenkenners. Daher -der edelmütige Zauber seiner ganzen Haltung und Zurückhaltung, diese -seltsame Liebenswürdigkeit, der niemand sich entziehen konnte, diese -unwillkürliche Umgänglichkeit, selbst wo er haßte oder verachtete, -diese wohlbedachte Leutseligkeit, der nur seine nächsten Freunde -anmerkten, wieviel zarte und harte Menschenscheu sich darunter in -einsamer Tiefe verbarg. Und daher auch die Zauberkraft des Dichters, -durch die er selbst seine trübsten und leidvollsten Einsamkeiten in -helle Lust für uns Alle verwandelt hat, dieser große Unverkümmerte, -der uns nun mit seiner verklärten Stirn auch über den Abschiedsschmerz -noch hinweghilft, auf seinem Regenbogen dahintanzend über dem irdischen -Getümmel. Habe Dank, du wundervolle Seele! Ich höre deine eigenen -Worte: „Der Himmel lächelt seinem Sonntagskinde.“ Ruhe nun aus vom -Menschenelend, du tapferes, mildes, adliges Herz! -- - - -Naivität und Genie - -Spiritistischer Dialog - -„Das ist naiv“... Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres, -soll das ein Lob, ein Tadel oder einfach eine Aussage sein. Besonders -Künstlern passiert das oft; da ist irgend etwas in ihren Werken, das -hält der eine Betrachter für „recht naiv“, der andre für „vollkommen -naiv“, wieder ein andrer für „gar zu naiv“, und ein abermals andrer -für „nicht naiv genug“. Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er -mit diesem beliebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält -man regelmäßig eine Belehrung über das unbewußte Gemüt. Und wenn man -hierauf zaghaft bemerkt, daß nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt -in bewußtlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch daß sich -über das Unbewußte füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird -man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter -„Instinkt“ und „Genie“ spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der -Deutsche mit wuchtigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts -pochen will, dann spricht er das Wort „Naturgenie“ aus. Bleibt dem -Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven, -teils nicht ganz naiven Fragestellers anheimgestellt, ob er sich für -ein schlechtweg natürliches oder ein etwas übernatürliches oder ein -ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren soll. Denn sein bißchen -Talent steht ja außer Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kultiviert, -sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine -Natürlichkeit hadern. - -Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach -Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für -nicht ganz stark genug erklärt, weil es leider nicht naiv genug sei, -ist manchem ebenso klugen Gönner blos leider nicht kultiviert genug. -Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, daß jenes rätselhafte -Fremdwort wohl etwas Andres besagen müsse als den sogenannten genialen -Instinkt, diesen angeblich unbewußten Naturtrieb, der doch so sonderbar -selbstbewußt auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte -mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn „naiv“ klipp und klar bedeute. - -Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwillkürlich, triebhaft, -ursprünglich, urwüchsig, freimütig, unverstellt, ungezwungen. Dann -ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverdorben, unschuldig, -treuherzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig, -schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich -schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben „tumb“ -im guten altdeutschen Sinne oder „dumm“ im neudeutschen schlechten -bedeuten, konnte kindisch sowohl wie kindlich heißen, unvernünftig -wie unvernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das -nicht unverschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump erscheinen? -Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig -zu nennen, in einem recht lächerlichen Sinne? Unberechnet richtiger -unüberlegt, unbesonnen, unbedacht, unverständig? Hat nicht jegliches -Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht -gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur -gemeinplätzig ist! Kann das Ungekünstelte nicht das Kunstlose sein, -und das Kunstlose das Unkünstlerische! Und der Unverbildete: ist er -nicht meistens -- oder der Biedermann wohl stets -- auch ungebildet, -ungesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus -nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa -was die Franzosen ~bête~ titulieren. - -Das alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war -ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt; das grenzte -doch arg ans bewußte Unbewußte. Ich war naiv genug gewesen, meinen -gesunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch -naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bißchen -als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht -nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich -erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja -der Kulturberuf obliegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich -selber gewisse Naivitäten um des menschlichen Selbstbewußtseins willen -vernünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt, -von meiner bewußten Vernunft genasführt fühlte, so mußte ich wohl oder -übel nun doch versuchen, das Unbewußte zu Rate zu ziehen. - -Also beschloß ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten -Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt -herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer -Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer -heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, daß womöglich auch -sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine unerreichbare -Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe, -der von sämtlichen deutschen Professoren als das Non-plus-ultra -moderner Naivität wie klassischer Kultur deklariert war, überhaupt als -ein Muster an Harmonie; bei Shakespear war die schon zweifelhaft. Also -ließ ich mir den Geist Goethe kommen. - -Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man gemeinhin zu meinen -geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen -Geist zu besitzen, wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits -besessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen, -d. h. das Bewußtsein dieses Wissens, sodaß nur das Unterbewußtsein -noch weiß, von welchem geistigen Überbewußtsein man selbstvergessen -besessen ist, und dann läßt man sozusagen im Schlaf diesen überbewußten -Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen erwacht. Die -Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und -läßt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen. -Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muß dem Medium immer -erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen; -zweitens auch sehr unzuverlässig, denn das Medium -- naiv wie es ist -- -verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewußtsein mit dem genialen -Überbewußtsein und schwindelt dann dummes Zeug zusammen; drittens auch -noch recht kostspielig, von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt -bequemer, besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit -seines Selbstbewußtseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas -Weingeist. Man darf dabei nur nicht unterlassen, die Autosuggestion -darauf einzurichten, daß man sich an die Äußerungen seiner geistvollen -Selbstentäußerung nachträglich noch zu erinnern vermag. - -Das tat ich denn auch und merkte alsbald, wie sich Goethens Geist auf -mich niederließ. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor -mir in einem solennen, bis an die Kravatte zugeknöpften, goldgestickten -Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und ließ ein -höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich -gleichfalls. Darauf +Er+, mit gänzlich lautloser Stimme: Ich bin -zur Stelle, was wünschen Sie? - -+Ich+, mit ganz ebenso lautloser Stimme: Euer Excellenz wollen -gütigst verzeihen, daß ich mir so im Geist unterstehe, Ihre erhabene -Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer -ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne -Euer Excellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig -bildungsbeflissenen Menschheit harmonische Kultur zu erlangen vermag, -sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische -Talent, völlig naiv gewähren läßt. - -+Er+, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsern höchst -schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen. - -+Ich+: Euer Excellenz wollen gütigst glauben, daß ich des -Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten -Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewußten -Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer -Excellenz eigene Schriften. Allein ich hoffe mir unbewußt eine -klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines -weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu gewinnen vermochte. -Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Excellenz verewigtem -Geist vermutlich nicht bewußt sein wird, die Begriffe „naiv“ und -„sentimental“ nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor -Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den Geistern von heute diese -heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit, -die ungleich gefühlvoller war als die jetzige und deshalb auf eine -heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf bedacht -sein mußte. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte -verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre, -Ironische; und wo der Herr Hofrat v. Schiller beinahe geneigt war, -das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst -trefflichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt geschätzt. - -+Er+, etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die -Begriffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gärung -gediehen. - -+Ich+: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Begriffe in -solcher Gärung, daß gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich -die Klärung eintreten wird. Euer Excellenz dürfen überzeugt sein, daß -dieser gedeihliche Prozeß, der nach Meinung der vorgeschrittensten -Geister von Excellenz selber inauguriert ist, zugleich auch den -unterbewußten Beweggrund meines überbewußten Anliegens bildet. Es kann -sich wohl Niemand mehr verhehlen, daß Herrn v. Schillers gestrenge -Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen -gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt, -sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers bezogen wird. -Wie Excellenz selbst schon in den Gesprächen mit dem jungen Herrn -Eckermann bemerkten, daß keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen -Bestand haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam -hervorgewachsen ist, so dürfte auch kein im Sinne Schillers naiver -Dichter zu finden sein, der ohne sentimentalische Mitgift ein -menschliches Herz zu erobern vermöchte. Weswegen denn Schillers -sentimentalstes Gedicht -- „seid umschlungen, Millionen“ -- heute für -sein naivstes gilt, manchem Kenner sogar für allzu naiv. Und daß bei -Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das -ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte, -ohne von sämtlichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler -Naturverfälscher gebrandmarkt zu werden. - -+Er+, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht -der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu -bekritteln? - -+Ich+: Der kritische Disput um die Griechen ist allerdings im -letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständlich geworden, daß ihre -überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt -und mehr denn jemals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt -geworden, daß die Antike zu keiner Zeit so idealiter naiv war, wie -Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, daß insbesondere neben -Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach -aller Forschung durchaus für einen Sentimentaliker ansprechen muß, -einen elegischen Ironiker vom dämonischen Schlage des Lords Byron, -des erlauchten Freundes Euer Excellenz. Auch hat sich bestätigt, -was Excellenz ahnten, daß nämlich der Dichter, der die Balladen der -prähomerischen Tradition in die zwei großen Epen organisierte, kein -plötzlich emporgeschossener Sprößling eines kindlich urwüchsigen -Zeitalters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich -noch patriarchalen, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und -wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem -epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben -kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn -ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwürdigen Hintersinn -gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität, -der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Äschylos mit -sentimentalster Leidenschaft auftrotzt. Ist das nun blos naiver -Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen -Konflikten der Griechen ein problematischer Aufklärungskampf um -Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum -raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur -kapriziösesten Persifflage? - -+Er+, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine ungemeine -Frage. Und da denn alles Ungemeine auch allgemeine Bedeutung hat, -verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung. - -+Ich+: Haben Euer Excellenz annehmen können, ich wollte mir zum -Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren? - -+Er+, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Mephisto -geschrieben -- - -+Ich+: Und wenn ich Excellenz recht verstehe, haben Sie dennoch -auch den Faust schreiben können, samt Gretchen und dem Famulus Wagner, -und die Einen so naiv wie die Andern -- - -+Er+, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser -höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Verwunderung wahrnahm. - -+Ich+: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das -Sentimentalische noch auch das Problematische ausschließt? Und wie -verträgt sich das Raffinierte damit? - -+Er+, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der -Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch -Einfalt gern die Berechnung heranzieht, sobald sich der natürliche -Sinn in Hinsicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon -verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlauheit oder -Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Betracht das Naive das -durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit -dem Raffinierten, das doch auf deutsch sowohl das Geläuterte wie auch -das Abgeklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken! - -+Ich+: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen übeln -Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abgefeimte, -Durchtriebene, Geriebene. - -+Er+, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch -ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist. - -+Ich+: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive -der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während -doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewußter Verstand meine -überbewußte Vernunft nicht betrügt, Beides in sich vereinigen und -irgendwodurch bemessen muß, um harmonisch und kulturell zu wirken. Denn -etwa zu sagen, daß jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das -würde doch fast schon nichtssagend sein. - -+Er+, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn -wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit -abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen; -wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein -zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr -Professor Nietzsche erschienen, der mir mit überaus gütigem Eifer eine -Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem er zuvörderst auf die Autoren -des Neuen Testamentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und -zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst -würdigen Stil, der sich teils an dem Evangelisten Johannes, teils an -dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist -an Luther gebildet hatte, und mit einem äußerst gewaltigen Pathos, das -mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr -Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, von Natur aus -wie auch von Kunst wegen, und war zugleich doch raffiniert. - -+Ich+: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine -Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert. - -+Er+, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr -Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch -vortrefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser -neuester Dichter sprach. Indessen muß wohl alles Naive in einer Art -Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als -wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung +Andre+ -betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur -Verstellung innewohnt, die jeder Erwachsene leicht durchschaut, doch -welche ihn umso reizender anmutet, je inniger sich die kindliche Seele -über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist -freilich das Reizende nicht das Bedeutende. - -+Ich+: So müßte denn wohl das höchste Genie, insofern es die -klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in -jedem Betracht erhaben sein, ob nun geläutert durch Kultur, ob aus -natürlicher Lauterkeit. - -+Er+, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten -Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in -seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber -vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen, -wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit -ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Napoleon auf St. Helena. - -+Ich+: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, daß gerade die -bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschauung nicht pflegten, -vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere -strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten -einschränkt, wenn nicht ausschließt. - -+Er+, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, daß der blinde -Naturtrieb durch Künstlergeist sehend werden möchte. - -+Ich+: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der -genialen Natur ausmachen. Sonst müßte, scheint mir, ein Burns einen -Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen. - -+Er+, die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muß bitten, mein sehr -werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiel zu lassen. - -+Ich+: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des -Beispiels halber noch zu bemerken, daß auch bei den anderen hohen -Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen -- bei Sophokles -wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespear wie Rabelais, -Cervantes wie Swift, Lionardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie -Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beethoven -- das Naive -überall höchstens die Rolle des rührigen Mägdleins im Königsschloß -spielt, wo nicht blos des handlichen Prügelknaben, und meistens zu gar -keinem Vorschein tritt; wohingegen es sich bei vielen sehr reizenden, -jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht -und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer -nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus -dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die -naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der -heutigen Menschheit nichts mehr bedeuten und deshalb gern übersehen -werden. Es müßte auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich -widersinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstlerseelen, die -doch von dem ewig währenden Kampf zwischen Menschenvernunft und blindem -Naturtrieb am allerheftigsten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein -kindlich einfältiges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten, -anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Ausgleich jener -Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu erwirken. Oder denkt ein hoher -Geist anders darüber? - -+Er+, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich -offenbar nicht bewußt, daß aller zeitweilige Wert eines Kunstwerkes -dessen dauernde Fortwirkung nicht erklärt, daß folglich nach -vernünftiger Schätzung sein löblicher Inhalt an Kultur dem natürlichen -Gehalt wohl beigeordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann. - -+Ich+: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art -unbewußtem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unterbewußte oder -überbewußte Sinnentäuschung, daß ein deutscher Klassiker hier so -romantisch redet?! - -+Er+, befremdet: Was für ein Klassiker? - -+Ich+: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persönliche aus dem -Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist. - -+Er+, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker?? - -+Ich+: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der -Geisterwelt unbekannt sein? - -+Er+, mit Mühe seinen Verdruß beherrschend: Da habe ich nun den -deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, daß klassische -Nationalautoren in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange -sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in -allen Stücken zu einer soliden nationalen Kultur gesammelt hat; habe -wieder und wieder nachgewiesen, daß inzwischen das originale Talent -nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, daß -überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit -für eine glückliche Bildung sei. Und nun kommt diese widerspruchsvolle -Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl -wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch -solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde! - -+Ich+: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland -- - -+Er+, ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend -auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen -zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte -Anerkennung zu finden, muß ich hier die reizende Botschaft vernehmen, -daß ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst -unerfreulich, Herr Doktor! - -+Ich+: Euer Excellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges -auszusprechen; indessen könnte das Widerspruchsvolle, obwohl es gewiß -nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Wahrhafte sein. - -+Er+, merklich betroffen: Wie meinen Sie das? - -+Ich+: Wenn Excellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr -Persönliches zu berühren -- - -+Er+, an dem untersten Frackknopf nestelnd: Es hat mich von jeher -nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will -heißen, mit dem gehörigen Anstand. - -+Ich+: Nun, der Name Goethe gilt eben heute als Inbegriff -deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer -Einheit, nach einer persönlichen Harmonie mit dem sozialen -Kulturinstinkt. - -+Er+, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht -von Harmonie, bevor man nicht alle Dissonanzen vernommen und begriffen -hat! - -+Ich+: Man hat sie alle so fleißig begriffen, daß heute im neuen -Deutschen Reich kein Skribifax zu finden sein dürfte, der seinen -absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht -mit irgend einem beiläufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen -Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft. - -+Er+, mit einer Miene leidvoller Dumpfheit: So hat man mich eben -schlecht begriffen. - -+Ich+: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämlich ein wenig zu naiv. - -+Er+, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln: Sie scheinen mir -recht raffiniert, mein wertester Freund. - -+Ich+: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher. -Denn inzwischen hat sich unser Volk immerhin doch auf einen gewissen -Grad politischer Einheit zusammengerafft; und wenn dennoch seine -soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum -jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster -Ehrfurcht auf eine Persönlichkeit, die -- ob sie im Einzelnen noch so -triebhaft von natürlichen Dissonanzen bewegt war -- doch im Ganzen -als ein beharrliches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb -nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber, scheint mir, -ist eben die Wirkung, die von jedem erhabenen Künstler ausgeht und -allen erhebenden Kunstwerken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den -sie enthalten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der -ewige Ausbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt -Natürliches, ein allgemein menschlich Notwendiges, von innerstem Grund -aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher -Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird denn doch -wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzuordnen sein, der -sich an seinem jeweiligen Zustand trüglich-vergnüglich genügen läßt. -Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen -Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer -wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre -jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat -und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch, -am wenigsten aber der geniale. Sollte das nicht, so wahrhaft menschlich -es ist, doch vielleicht auch ein göttlich Wahres sein? - -+Er+, mit hellstem Lächeln: So sei es denn! -- Nur gebe man auch -dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel. - -+Ich+: In welchem Sinne soll ich das nehmen? - -+Er+, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem -gewissen Verstande, der sich verteufelt betriebsam zeigt und den -edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven -wurzelt. Man hüte sich vor der Reflexion, die den Wurzelboden zerwühlt -wie ein Maulwurf! - -+Ich+: So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wodurch das -ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so -unhold befangen wird, daß ein Unwirksames daraus entsteht? - -+Er+, immer noch schalkhaft: So +könnte+ es sein. - -+Ich+: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den -naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische -Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von -Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, daß er gründlichst über -sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin -das gewiß recht naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt -ist, daß er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor -es ihm reif zur Abfassung war. - -+Er+, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und -wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, daß es -Zweierlei ist, über Gefühle nachzudenken oder über die Darstellung von -Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen, -das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach -Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger -Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingibt, und -wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste -hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre -in seinem bewußtlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewußtsein dem -sinnreichen Willen unterwirft. - -+Ich+: Also sollte wirklich der Dichter des Faust, des Tasso -und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den -Wahlverwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der -Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage -zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen -künstlerischer und menschlicher Weisheit, zwischen Geist und Vernunft, -zwischen Dichtung und Wahrheit? - -+Er+, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: +Bei den -Müttern!+ -- - -+Ich+: +Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter -der verklärten Väter!+ -- - -+Er+, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt. - -+Ich+: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachstum des Geistes -gedeihlich sein? - -+Er+, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein -Geist die Grenze entdecken, wo Licht und Dunkel einander durchdringen. - -+Ich+: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder -und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie -ein unfaßbarer Eishauch jedem bedeutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht -grade das Offenbarende sein, das den dumpfen Stoff erst zum klaren -Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert? -Und mag immerhin das Unbewußte der unergründliche Mutterboden aller -schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über -Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche -Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem -geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Abergeschwätz?! -Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer -bewußtlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er -es nicht zugleich recht bewußt über den passenden Leisten schlägt. - -+Er+, mit gleichgiltigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein -guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewußter drauflos -schlüge. - -+Ich+: Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüßte, wäre er dann -nicht ein besserer Schuster?! Und um wieviel mehr erst der sinnreiche -Künstler, der unzählige einzelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes -Ganzes veranschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, daß -er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe -weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff -die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die -beliebigen Bildgefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet! -Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, daß sich jeder Künstler -und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur dadurch auszeichnet, in -welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewußte bei ihm bewußt -wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft -voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes -reizendes Ding von wirklicher Vollkommenheit? Ich glaube, weil sein -Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige -Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in -holdseliger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das er -höchst naiv seinem eigensten, blos sogenannten Mutterwitz zuschreibt; -ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf -mit der gern empfänglichen Mutter Natur. - -+Er+, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstande könnte -es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Vernunft sich erst recht -die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag -der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft -Einzelne planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich -unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen -und halten. - -+Ich+: Doch scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen -starken Gedanken aushalten. Bei Shakespear strotzt selbst der Narr von -Gedanken. - -+Er+, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl -das Närrische sein! - -+Ich+: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist? -hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich -nachzuweisen, daß das gesamte Kunstwerk „Hamlet“ auf einem bestimmten -Gedankengrund steht, um den der Dichter gewußt haben muß. - -+Er+, stutzig: Da wäre ich aber wahrlich gespannt. Sie sind -überaus eigensinnig, Herr Doktor! - -+Ich+: Nur in Euer Excellenz eigenem Sinne. Denn wie Excellenz -selbst einmal kommentierten, wollte Shakespear hier eine Seele -schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewußt auf sich nehmen -will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen, -der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie -Excellenz gleichfalls und mehr als einmal dargelegt haben, nicht im -Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn -sich also das Positive hier nicht in dem sogenannten Helden des Dramas -findet, muß man es wohl in dem Drama selbst, d. h. in dem Ausgleich -der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der -Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert, -auf diese Ergänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen -Vaters, zum Schluß den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den -verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio, -das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese -ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius, -gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem gewissen Grade aktiv -wirkt. Da muß sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe -in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem -der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie -Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf -solche seinen Zeitgenossen erbauliche Grundgedanken gestellt sehen, auf -die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den -psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter -Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem -naiven Pathos ins urteilslose Gemüt zu schleudern, wie dem populären -Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschenkenner --- sehr oft bis zum Cynismus fein -- blieb er sich überall bewußt, -daß diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln, -je unlöslicher sie dem Verstande scheinen, verfädelt unter ein buntes -Gewebe von dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und -Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn -man wie Hamlet Wahnsinn heuchelt, so wäre es sicherlich ganzer Irrsinn, -wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen, er habe sich ebenso selbst -betrogen und nicht vielmehr genau gewußt, warum er uns über diesen -Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel läßt. -Sollte er das nicht einfach gewollt haben, um uns recht sinnfällig -anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die -klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten -droht?! - -+Er+, wieder die Hand in den Busen steckend: Ich sehe, mein -Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und -freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen -gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist -wie Shakespear bewußt war, ohne daß es ihm Schaden tat, könnte minder -kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben. - -+Ich+: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenigstens nicht -für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für -sich behielten. - -+Er+, mit ergetztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt, -mein Teurer! - -+Ich+: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv -brutalen Achilleus den raffiniert dolosen Odysseus ausspielt, wie er -diesen Kontrast zwischen Intelligenz und Instinkt noch mit allerlei -Parallelpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden -Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Polyphem und hündisch -verschlagenen Thersites, von den tolldreisten Lustweibern Helena und -Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann -da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles blos aus -bewußtlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet? - -+Er+, sichtlich des trockenen Tones satt: ~Credo quia absurdum -est.~ - -+Ich+: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen -des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den dunkeln Zeiten -her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König -zusammenbefand. Da mußte der Volksredner, der er war, wohl ~nolens -volens~ darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in -ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber -noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundern. - -+Er+, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch -dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet -doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her, -und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Gewande der -feinsten Gesittung. - -+Ich+: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit nicht ohne -etlichen Hokuspokus auf ihrer Würde bestehen kann, warum dann die -seelische Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung? -Als ob unser hochbestrebtes Bewußtsein nicht zum mindesten ebenso -rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste -drangvollste Unbewußte, das uns mit jedem Kohlkopf gemein ist! Als ob -nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfaßt, ins -Eigentümliche durchgebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins -menschlich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine -Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die -Entwickelung des Bewußtseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist, -Verstand oder Sinn, Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder -Logik taufen! Und zeigt nicht die ganze mannigfache Formenfolge der -Lebewesen ein +stetes Stufenstreben der Geisteskraft, sich immer -wahrnehmbarer auszugestalten+?! - -+Er+, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie -denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die -hinter einem Feuerwerk steckt? - -+Ich+: Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in -unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet blos. - -+Er+, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm -- unter solcher -Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den -dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, daß -eine Schöpferkraft dasein muß, wenn eine Schöpfung werden soll. - -+Ich+: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich -die Erfahrungen aus meinem bewußten Dasein nicht täuschen, in seinem -jeweiligen Denkzustand durchaus nicht so holdselig zu sein, wie er -sich später in unserm Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen -Zustand geistig verklärt; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt -sein, sich diese Dumpfheit jedesmal so rasch wie möglich vom Halse zu -schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde -Gedankendrangsal so unausstehlich bedrückt und befangen, wie der -Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand. - -+Er+, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lächelnd den Knopf -in die Westentasche: Es freut mich, Teuerster, wie Sie das sagen, mit -solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, daß Sie -fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher -Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren -Schriften zu sprechen; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen, -wenn sich ein eigenwilliger Geist auch einer eigenen Sprache bediente. - -+Ich+: Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist?? - -+Er+, augenblicks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom -+beherrschten+ Eigenwillen! - -+Ich+: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er -alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte. - -+Er+, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann -war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich -selber zeitlebens behutsam auswich! - -+Ich+: Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafür -bewundert! - -+Er+, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron wars -Kraft, ihn riß Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang -wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer. - -+Ich+: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine -Heldentat Byrons heranreicht. - -+Er+, mit noch stärkeren Klopftönen: Er hätte euch wohl noch mehr -enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte eintreiben können. Er hatte das -Zeug zu einem Shakespear, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte -nur heldisch, sobald man sein Selbstbewußtsein mit härtestem Stachel -zum Trotz aufreizte; er war nicht über sein Schicksal erhaben. - -+Ich+: Er war es immerhin bis zu dem Grade, daß er das alles im -Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat. - -+Er+, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich -erschöpft! -- - -+Ich+: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten -allzu naiv gefolgt?! - -+Er+, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst -raffiniert, werter Freund! - -+Ich+: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch -eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von -allerlei krampfhaftem Spuk heimgesucht, wie man das fast jedem -kraftvollen Geist mit biederem Gruseln als krankhaft nachsagt, und wie -ja auch Sie, verehrtester Genius, mehrfach von sich selbst berichtet -haben. Ich entdeckte jedoch, daß sich diese Visionen, Somnambulismen -und Katalepsieen immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft -nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer, -Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant -meine poetische Phantasie leider oft zu holdselig faullenzen ließ; -also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen -Unterwelt, die über ihr Bestes bewußt werden wollte. Ich habe mir dann -durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das -gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft, -ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche -Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere. - -+Er+, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange -Audienz. - -+Ich+: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter -Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der -zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine -Geliebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so -emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit. - -+Er+, wunderlich durch mein Zimmer blickend: Da mache ich Ihrer -jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kompliment. - -+Ich+: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen! - -+Er+, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht, -Verehrter; ganz und gar nicht. Es muß wohl ein jeder kräftige Künstler -zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten -verhält wie das aufmerksam hingebungsvolle Weib zur unbequemlich -kopfscheuen Jungfrau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von -ihrer beschränkten Eitelkeit läßt, so verharren auch die meisten -Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale -Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch -okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansteht, dem -Abenteurer und Volksführer, dem politischen oder religiösen Redner, -als dem künstlerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer -des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen -willfahren muß, mit einer überlegenen Ruhe. Da wird denn natürlich, um -diese Ruhe bis ins drangvolle Innerste auszudehnen, auch die Vernunft -je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und -wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib -beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger -Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren. - -+Ich+: Und er darf sich mit heiterem Dank bewußt sein, daß dieser -Glückwunsch ins Centrum des Lebens trifft, und somit auch unseres -Kunstgespräches. - -+Er+, immer verklärter um sich blickend: Wir sprechen wohl einst -noch gewisser darüber -- - -+Ich+: Doch ist uns schon jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß zwar -das naive Gemüt die Axe ist, an die auch die genialste Natur mit -allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische, -der andre ins Triviale verläuft; daß aber +die geistige Reflexion -die formbestimmende Triebkraft+ ist und umso harmonischer auf die -Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste -der Persönlichkeit auf ein centrales Gleichgewicht ordnet -- - -+Er+, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen -die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren -und Inseln des Erdballs -- - -+Ich+: Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so -natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich gibt, -auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie -Kleist zu den Vätern dahinmuß -- - -+Er+, spukhaft aus weiter Ferne lachend: Sie sind in der Tat -höchst naiv, lieber Dehmel -- - -Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben -Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen -bewußteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten -pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft -Naive kuriert. - - -Kultur und Rasse - -Ein Gespräch zwischen Künstlern - -Ein deutscher Dichter und ein jüdischer Maler waren einander in -Verehrung zugetan, trotz oder wegen ihrer sehr verschiedenen Begabung. -Den Maler reizten simple Motive, die er mit räumlich packender Rhythmik -in verwickeltem Lichtspiel zu zeigen verstand; der Dichter ließ sich -umgekehrt meistens von komplizierten Impulsen anregen, die er bei -rhythmisch lebhaftestem Tempo in unvermutet einfachen Zusammenklang -zu setzen wußte. Gemeinsam war ihnen also nur, was allen vollkommenen -Künstlern gemeinsam ist: ein stark beweglicher Scharfsinn bei -gründlicher Gemütsruhe. Das gab dem persönlichen Charakter des Juden -eine sprunghafte Schlagfertigkeit, die sich mit Vorliebe hinter der -Maske berlinischer Fopperei versteckte; an dem Deutschen dagegen prägte -es sich in einer hartnäckigen Spannkraft aus, die sich nach Art des -märkischen Landvolkes gern etwas nückeboldig stellte. - -Als Leute, deren Zeit kostbar war, sahen sie einander nur selten; -aber jeder verfolgte des Andern Arbeiten mit angelegentlicher -Aufmerksamkeit. Nun hatte der Maler ein Bild ausgestellt, dessen -dramatisches Pathos beträchtlich von seiner sonst mehr lyrischen Verve -abstach und infolgedessen viel Kopfschütteln erregte; da konnte der -Dichter nicht unterlassen, ihn doch einmal wieder zu besuchen, um -ihm für diesen neuen Beweis seiner rastlosen Entwicklungskraft ein -respektvolles Kompliment zu sagen. - -Das Gemälde zeigte ein nacktes Weib von mänadischer Gelenkigkeit, -wie es sich auf verwühltem Lager über einem stiernackigen, -wollustgeschwächten Kerl hochreckt, in der Rechten irgend etwas -Blankes wie eine sieghafte Waffe hebend, bis zu den Hüften vom -Zwielicht des Morgens und einer Kerzenflamme beglänzt, während sich -der schlaftrunkene Mann an ihrem Schooß im Halbschatten wälzt. So -nahm sich die Geberde des Weibes wie ein geschmeidiger Hohn auf -die rohe Kraft aus, wie ein Sieg wachsamer Geistesgegenwart über -plump verschlafene Sinnlichkeit, ein fleischgewordener Triumph der -raffinierten Intelligenz über den brutalen Instinkt, mit einfachster -Wucht in feinste Beleuchtung gerückt. Der Maler hatte das große Werk -„Judith und Holofernes“ getauft, obwohl es lediglich durch die Idee -auf die biblische Legende zurückwies. Kein orientalischer Teppich -verliebreizte das Lager, und die Mänade konnte nach ihrem Typus -irgendeine zigeunernde russische Fürstin oder deutsche Prinzessin sein, -der Mann ein x-beliebiger braver Zirkusathlet. Der deutsche Dichter -wollte jedoch von diesem Gesichtspunkt nichts merken lassen, sondern -sprach vor allem seine Bewunderung über die schwungvolle Raumwirkung -aus; worauf sich folgende Unterhaltung entspann. - -+Der Jüdische Maler+: Na ja, sehr schön. Aber nicht wahr, die -Hauptsache ist doch: das Ding hat Rasse von oben bis unten! - -+Der Deutsche Dichter+: Wenn Sie also doch davon sprechen wollen, -dann muß ich Ihnen offen gestehen, ich sehe eher etwas allgemein -Menschliches. - -D. J. M. Sie sind wohl allgemein übergeschnappt? So’was kann doch blos -einer, der Jude ist, machen! - -D. D. D. In der Tat blos Einer, nämlich Sie. - -D. J. M. Na ja, weil ich eben noch Vollblut bin; die Andern sind -meistenteils schon alle so ins allgemein Menschliche vermanscht. - -D. D. D. Ich glaube nicht mehr an das Rassendogma; wenigstens nicht, -soweit es seelische Werte und geistige Leistungen begründen soll. Bei -den künstlichen Tierrassen ist das von selbst ausgeschlossen, denn die -züchtet ja erst der menschliche Geist. Aber auch die natürliche Rasse -kann höchstens für körperbauliche Eigenschaften eine Grundbedingung -sein, eine neben mancherlei andern; vielleicht aber gar keine -Grundbedingung, sondern immer nur ein Endergebnis aus langen seelischen -Sonderbestrebungen einer Gemeinschaft beliebiger Einzelkörper gegen -die gefährliche Umwelt, eine Art Schutzmarke auf Gegenseitigkeit, -die dann wieder neue Arten herbeiführen kann, durch neue Anlässe zur -Gemeinschaftsbildung. Wie soll denn durch Rasse, dies allerallgemeinste -Merkmal oberflächlicher Unterscheidung, die künstlerische Begabung -erklärt werden, die allereigentümlichste Sonderlichkeit, die nur von -den gründlichsten Kennern geistiger Werte vollkommen erkannt und -gewürdigt wird, gleichviel von welchem Rassekörper! - -D. J. M. Sie haben sich da ’ne lange Strippe von Geist und Seele -zusammengedreht. Aber ich will Ihnen mal was sagen, ganz einfach, ohne -Textilapparat: Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! und das kann -blos ein Rassekerl! Ich meine, so richtig dumm und geil; ~cum grano -salis~, wissen Sie. - -D. D. D. Und wahnsinnig! Gleichfalls ~cum grano salis~. - -D. J. M. Und ein Frechdachs! Sie wollen mich wohl uzen, Verehrter? - -D. D. D. Ich wollte Ihrer gesalzenen Weisheit blos einen -rassepsychologischen Wink geben, aus welchem Pökelfaß sie stammt. Dumm, -geil und verrückt -- das ist der Künstler, wie er heute bei allen -Professoren der höheren Zoologie im Buch steht. - -D. J. M. Na, ich meinte natürlich nur: während er Kunst macht! Im Leben -kann er der klügste Geschäftsmann und bravste Familienvater sein; je -klüger und braver, umso besser für ihn. - -D. D. D. Also während er Kunst macht, soll er gewissermaßen seine -besseren menschlichen Qualitäten an den Nagel der Theoretik hängen. Ich -fürchte nur, daß er dann zugleich seine besseren Rassequalitäten mit -weghängt. - -D. J. M. Nanu, so plötzlich? Sie haben doch eben ganz deutlich gesagt, -Sie glauben an solche Qualitäten nicht! - -D. D. D. Ich nicht; aber Rassetheoretiker glauben, daß Familiensinn und -Lebensklugheit die besonderen jüdischen Tugenden sind. - -D. J. M. Ja natürlich! Was blieb uns denn auch weiter übrig, solange -wir im Ghetto hockten -- - -D. D. D. und nachdem in aller Herren Ländern aus einigen tollkühnen -Nomadenstämmen, die wahrscheinlich auch bereits nur zur Hälfte echte -Semiten gewesen sind, allmählich eine brave Sippschaft von allerlei -Krethi und Plethi geworden war. - -D. J. M. Also Karnickel- und Hasen-Hecke. Na ja, das stimmt, da haben -die Antisemiten ganz Recht: das ist heute genau solche jüdische -Spezialität, wie’s auch deutsches Vettermichelpack gibt. Aber was -hat das speziell mit Kunst zu tun? Die verdolmetscht doch eben das -Generelle! Da entpuppt sich das ursemitisch Rassige wieder. - -D. D. D. Merkwürdig nur, daß das alte Volk Israel, solange sein -Hauptstamm wirklich noch reinrassig war, d. h. längstens bis etwa zur -Zeit Samuelis, fast gar keine Kunst hervorgebracht hat; die spärlichen -religiösen Psalmen, die vielleicht in die Zeit vor David zurückreichen, -sind doch wohl erst embryonische Dichtkunst. - -D. J. M. Nebbich! Das war ihnen doch verboten! Siehe Moses: Ihr sollt -euch kein Bildnis noch Gleichnis machen. - -D. D. D. Mir deucht, in einem kunstfähigen Volk hätte solch Verbot -garnicht erst laut werden können. Was meinen Sie wohl, was die Griechen -gesagt hätten, wäre Solon ihnen mit so’was gekommen! Das haben sich -nicht mal die Deutschen bieten lassen, die doch, solange sie reine -Germanen waren, gleichfalls kein nennenswertes Kunstvolk gewesen sind; -und dasselbe gilt von den alten Römern. Überhaupt: betrachten Sie’s -mal historisch! Die sogenannte reine Kunst entsteht überall erst in -Mischvölkern, also wo mehrere Rassen einander kreuzen und -- mag man -das nun einen günstigen Zufall oder „Ergänzung passender Anlagen“ -nennen -- eine neue zu bilden beginnen. Da tritt dann die Kunst -gleichsam vorbildnerisch auf, aus Verlangen nach neuem Menschentum. - -D. J. M. Meschugge ist Trumpf! Oder sind Sie wirklich verrückt? - -D. D. D. Ja, ich will wirklich einmal so verrückt sein, die physische -Rasse als Element für psychische Phänomene gelten zu lassen. Dann -wüßte ich nicht, wodurch aus so einfacher Ursache ein so mannigfach -lebensvolles Ding, wie es jedes starke Kunstwerk doch ist, auf -natürliche Weise entspringen sollte, es müßten denn +mehrere+ -solche Elemente in dem Künstler verbunden sein. Der machtvollste -Künstler wäre dann der, in dessen Familie sich nach und nach alle -Kulturrassen abgelagert hätten. Aber Sie sehn mich ja weiß-Gott an, als -ob Sie mich für irrsinnig hielten. - -D. J. M. Nein, dichten Sie nur ruhig so weiter! Ich habe mir blos Ihr -Gesicht angesehn. Ich werde mal fix ’ne Skizze von machen; Sie sehn -ganz apart aus, wenn Sie so dichten. Und das mit der Rassenablagerung, -das kann ja auf Ihr Gesicht ganz gut stimmen. - -D. D. D. Ahah, Sie meinen, ich rede ~pro domo~? - -D. J. M. Na, ich habe neulich mal wo gelesen, Sie sollen ja so’ne Art -Slawe sein, aus Wendisch-Buchholz oder so her. - -D. D. D. Da könnte ich Ihnen nun leicht beweisen, daß ich ein -waschechter Deutscher bin, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Meine -väterlichen Vorfahren waren niederschlesische Handwerker, ein paar -Schmiede, ein Zimmermeister, ein Seiler, ein Tierarzt und ein Laborant; -meine mütterlichen teils märkische Bauern, teils thüringische Beamten -und Fabrikanten, mit einem rheinischen Nebenzweig. Die Familiennamen -haben in allen Linien den sogenannten reinen Klang: außer meinem eignen -deutschdämligen Namen noch Fließschmidt, Hillmann, Weidner, Zahn, -Oehme, Eule und Eyle. Nur in dritter Linie, von Vaters Seite, kommt -der slawisch klingende Name Tschorsch vor; doch ist er wahrscheinlich -aus deutschem Georg oder Jörge vertschechisiert, oder vielleicht aus -französischem George verdeutscht. Ich könnte mich also vor jedem -Teutobold mindestens ebenso gut als Germanen aufspielen, wie man -Luthers böhmakisches Gesicht oder Bismarcks wendischen Rundschädel ins -Germanische umdichten will; bin aber trotzdem überzeugt, daß ich -- wie -mehr oder weniger jeder Deutsche seit der Völkerwanderung -- nicht blos -slawisches und keltisches, sondern wahrscheinlich auch romanisches und -vielleicht sogar mongolisches Blut in meinen werten Adern beherberge. - -D. J. M. Da säße ich also da „mit’s Talent“, als so’n kümmerliches -semitisches Inzuchtgewächs. - -D. D. D. Ja, wenn Sie wirklich ein echter Hebräer wären? - -D. J. M. Na, hören Sie mal, erlauben Sie mal, ich soll Sie wohl wegen -Verleumdung verklagen?! Wollen Sie etwa meine leiblichen Urgroßmütter -für lauter Herodiäser erklären? - -D. D. D. Oh, zwei bis dreie genügen wohl schon; und wenn ihre Gatten -Herodesse waren, werden Sie’s ihnen wohl nicht verdenken. - -D. J. M. Na, Spaß beiseite! Ihr Schädel wirkt propper; Sie sitzen -faktisch briljant Modell. Sitzen Sie jetzt mal ein bißchen stille! Sehn -Sie sich mal derweil meine Augenbrauen und Nasenwurzel und Stirnbogen -an! Sehn Sie: so’was, das gibts nicht bei allgemeinem Menschmansch, das -ist ganz apartes Rasseprodukt. - -D. D. D. Mag schon sein; die Oberstirn scheint mir vlämische Rasse, die -Augenknochen spanische. Ihre Familie ist ja wohl zum Teil aus Spanien -über Holland gekommen; und der belgische Architekt Van de Velde hat -einen ganz ähnlichen Gesichtsschnitt, obgleich er wahrhaftig kein Jude -ist. - -D. J. M. Nein, wahrhaftig nicht. Aber apart ist er auch. Faktisch ’n -ganz famoses Kerlchen; rassig bis in die Fingerspitzen. Wer weiß, -vielleicht ist er +doch+ ’n Jude! - -D. D. D. Sagen Sie mal, Sie Rassemensch: Sie haben doch englische -Vollblutpferde gemalt. Halten Sie die etwa nicht für rassig? - -D. J. M. Na, und ob! Ach so, Sie möchten mich wieder döppen?! Na -aber, das hab ich doch gleich blos gemeint: da hat sich eben die -angelsächsische mit arabisch-türkischer Zucht gekreuzt und schließlich -’ne neue Rasse gebildet. Aber sein Sie mal jetzt ’ne Sekunde lang -stille; mir stimmt was nicht an Ihrer Stirn. Einen Moment blos, ich -werds gleich haben. Faktisch ’ne ganz verflixte Stirne; von vorne -breit wie’n heraldischer Bulle, und im Profil schlank retour wie’n -Lämmergeier -- Sie wollen gewiß auch ’ne neue Rasse gründen! -- Bitte, -blos’n Moment noch, dann bin ich so weit! -- So: jetzt los auf die -Weltgeschichte! Dichten Sie bitte ungeniert weiter! - -D. D. D. Also -- Tatsache ist doch Folgendes: Ob nun im alten Ägypten -und Hellas, oder im mittelalterlichen China und Indien, oder im -späteren Japan und Persien, oder in der europäischen Renaissance -- -eingerechnet die Vorstufen, byzantinische wie maurische, romanische wie -gotische -- überall sind die kurzen Epochen höchster künstlerischer -Kultur erst dann reinlich hervorgetreten, wenn sich durch Kriegs- -oder Handelszüge verschiedene Volksstämme oder Nationen innig -miteinander befaßt und neue Staats- oder Standesformen, Herrschafts- -oder Gesellschaftsklassen durch Mischheiraten angebahnt hatten. Sogar -bei den verschollenen amerikanischen Kulturen ist von der Forschung -festgestellt, daß die großen Tempel der Azteken und Inka erst nach -langwierigen Eroberungskämpfen zwischen diversen indianischen Rassen -entstanden. Und heute, wo sich in Nordamerika aus dem allgemeinen -Menschmansch, wie Sie zu sagen belieben, eine neue weiße Rasse langsam -herausschält: erst heute zeigen sich dort auch die Anfänge einer -spezifischen Yankeekunst, recht respektabel bereits in der Poesie und -in der profanen Architektur, passabel auch in der Malerei. Nun aber -gar das moderne Europa! Woher denn auf einmal seit etwa 50 Jahren -die Hochflut aller möglichen neuen oder doch neu-sein-wollenden -Kunstrichtungen, von Skandinavien und Rußland bis Frankreich und -Spanien?! Sollte es blos ein Zufall sein, was auch hier wieder -unverkennbar vorausging: die Durcheinanderwürfelung aller Nationen -durch die Napoleonischen Kriege, die Entfesselung internationaler -Tendenzen durch Handel, Industrie und Technik, die enorme Steigerung -des Völkerverkehrs durch die Eisenbahnen und andre Transportreformen, -und zu alledem noch als wahrer Rassenextrakt eine Fülle nie dagewesener -Mischungsversuche durch die Emanzipation der Juden! - -D. J. M. Sieht ja ungeheuer verführerisch aus, Ihre Destille von -Menschenblut. Aber wissen Sie: Kunstrichtungen, unter uns gesagt, -das sind doch wohl eigentlich immer die Künstler. Na, und +die+ -Künstler, die Richtung machen, das sind eben die paar urigen Kerls, -die sozusagen noch koscheres Blut genug haben. Sehn Sie sich doch -mal selber im Spiegel! Haben ’ne richtige deutsche „Schusterneese“. -Brauchen mir garkeine Flappe zu machen; Goethe hatte auch solchen -Zinken. - -D. D. D. Und hatte außerdem Augen und Lippen, wie man sie sonst nur an -italiänischen Frauen sieht. - -D. J. M. Sie, sagen Sie das blos nicht zu laut! Sonst steigen Ihnen die -Deutschen aufs Dach. - -D. D. D. Wie kommt es denn aber, daß die Deutschen, solange sie -„sozusagen noch koscheres Blut genug“ hatten, also längstens bis etwa -zur Zeit Karls des Großen, keinen einzigen namhaften Dichter gezeitigt -haben, von anderen Künsten garnicht zu reden! Wo doch die Griechen -schon vor der geschichtlichen Zeit mit Amphion, Eumolpos und Musäos, -Orpheus, Homer und Hesiod paradieren. Sind das auch nur fingierte -Namen, so beweisen sie doch das Volksbedürfnis nach vorbildlichen -Kulturpersonen; nämlich die Griechen hatten sich damals schon mit -allerhand fremdem Volk gemischt, von Illyrien bis Asien und Ägypten. -Und wie kommt es, daß all die winzigen Rassen, die wir heute noch -wirklich rein nennen dürfen, entweder weil sie von Hause aus keine -Anlage zur Vermischung hatten, vielleicht auch blos keine Gelegenheit, -oder weil sie erstarrte Mischrassen sind, also die sogenannten wilden -Völker -- vom Pescheräh bis zum Eskimo, vom Australneger bis zum -kapländischen Buschmann, vom indischen Paria bis zum Sioux-Indianer -- -gar kein Kulturgenie im Leibe haben, geschweige hohe Kunstbegabung? - -D. J. M. Na, Sie! das liegt doch klar auf der Hand. Wo alles die reine -Unzucht ist, kann keine reine Zucht draus werden. Natürlich muß mal -erst Mischung kommen, damit sich die bessere Rasse selbst auskennen -lernt -- - -D. D. D. und dann dieselbe reine Unzucht weiter treibt? - -D. J. M. Nein, Sie müssen mich nicht für’n Bählamm halten. Natürlich -kapert sie dann allmählich auch die besseren Elemente der andern Rasse. - -D. D. D. Sehr richtig! Was ich vorhin schon sagte. - -D. J. M. Nanu? Das ist doch nichts allgemein Menschliches! Allgemein -menschlich ist leider Gottes, daß sich auch schlechte Elemente mit -einmischen. - -D. D. D. Das würde ich lieber allgemein hündisch nennen. - -D. J. M. Auch recht! Meinethalben! Sie müssen’s ja wissen. Sie sind ja -wohl auf Erotik geaicht. - -D. D. D. Ja; von den Rasseschweinen nämlich. Eigentlich kommt mirs auf -bessere Leser an. - -D. J. M. Na, sein Sie nur friedlich! Ich meinte ja grade: wenn der -viehische Kuddelmuddel zu doll wird, dann gibts eben so’n paar bessere -Menschen, wie die richtigen Künstler doch wohl sind, und in denen muckt -was dagegen „uff“. Was muckt denn da uff, Sie Mann mit’s Talent? Doch -wohl das Tröpfchen stärkere Rasse, das Sie noch irgendwo im Gemächte -haben! Das nenne ich Reaktion der Persönlichkeit +gegen+ das -allgemein Menschliche! Da zeigt sich eben die reine Natur! - -D. D. D. Schön; immerhin sind wir schon einig darüber, daß man mehrere -Rassen im Blut haben muß, damit sich eine davon als die stärkere fühlen -und mit ihrer „reinen Natur“ hervortun kann. Aber nun bitte, sagen -Sie mal: es ist doch eine sehr seltsame „Reaktion“, daß z. B. Sie -enragierter Jude die norddeutsche Landschaft samt ihrem Volksschlag, -von Hamburg bis hinter Amsterdam, mit solcher natürlichen Kraft gemalt -haben, wie bis jetzt noch kein holsteinscher oder friesischer Künstler. -Warum hat denn Ihre Persönlichkeit, will sagen Ihre reine Natur, nicht -lieber semitisch reagiert? Und warum hat z. B. der Holländer Rembrandt -so wenig germanisch reagiert, daß er seine Motive und Modelle mit -Vorliebe aus dem Judenviertel nahm? - -D. J. M. Ja wissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll: das hab ich mich -auch schon manchmal gefragt. Auch warum ich blos blonde Weiber liebe. - -D. D. D. Das ist nicht so sonderbar, wie es scheint; grade die -sogenannten Kulturrassen sind seit jeher auf Weiberraub ausgegangen, -offenbar weil eben nur durch Blutmischung Kultur entwickelt und -fortgepflanzt werden kann. Übrigens ist Ihre Judith doch dunkelhaarig, -wenn auch keineswegs von semitischem Typ. - -D. J. M. Na, solch Biest, das soll man doch eben nicht lieben! das kann -man meinthalben vor Haß bewundern! - -D. D. D. Ja, und sehn Sie, mir gehts grade umgekehrt: Ich stamme aus -durchweg blauäugigen und überwiegend blonden Familien und liebe die -dunkeln jüdischen Frauen. Ich finde bei keiner andern Art Weib so viel -hellen Geist mit seelischer Glut verbunden. Es gibt ja freilich auch -da böse Kreuzottern und allerhand gute Gänse und Schäflein; aber die -besseren sind doch geborene Heldinnen, Richterinnen und Priesterinnen, -um nicht zu sagen Göttinnen. - -D. J. M. Sie, jetzt schwärmen Sie aber, weiß der Herrgott, wie’n -erotischer Muselmann! - -D. D. D. Oder vielleicht, von christlichem Standpunkt betrachtet, -wie ein heroischer Jesuit -- blos daß ich keine himmlische Jungfrau, -sondern möglichst viel irdische Musterweiber züchten möchte. Und da -dürfte ein bißchen Menschenliebe doch vielleicht etwas fruchtbarer sein -als der beliebte Rasseninstinkt, der sich meistens doch recht zuchtlos -geberdet und in der Regel nur als Vorwand dient, um den gemeinen -Menschlichkeiten des Hasses und Neides nach Willkür zu frönen. - -D. J. M. Nun, bei Licht besehn, wird wohl jeder Künstler auf +die+ -Art Modelle versessen sein, die seinen Instinkt am kräftigsten auf sein -Talent hindirigiert, also aufs rein Persönliche. - -D. D. D. Und seine Phantasie aufs allgemein Menschliche; um nicht zu -sagen Göttliche. - -D. J. M. Ach was, Phantasie ist doch keine Kunst! Phantasie ist immer -blos Notbehelf. - -D. D. D. Sie wollen wohl sagen: +noch+ keine Kunst, und auch -blos immer ein Notbehelf! wie +jeder+ naturelle Impuls bloßer -Notbehelf zur Kunstschöpfung ist, z. B. auch der Rasseninstinkt. -Kunst ist eben nur als Kulturprodukt schätzbar; und als solches will -sie uns seelische Reize, die von Natur stets sehr mannichfaltig und -herz-und-sinneverwirrend sind, in geistig beherrschter Einheit zeigen. - -D. J. M. Na ja, das ist ja wohl selbstverständlich. Aber sein Sie mal -wieder ’n Moment lang stille; Sie nickköppen immer, wenn Sie reden. -Ihre Nase ist doch nicht ganz so einfach, wie sie von vorne besehen -aussieht. Von links, das ist ja freilich wahr, ists ’ne richtige -brave Schusterneese; aber von rechts, da könnte sie ebensogut einen -spanischen Torero zieren, oder ’nen polnischen Insurgenten, oder sonst -so’was Mannichfaltiges ..... So, bitte: phantasieren Sie weiter! - -D. D. D. Mit der Nase, das wird wohl daran liegen, daß sie nicht mehr -ihre natürliche Form hat; sie ist mir mehrmals in meiner Studentenzeit -auf der Mensur zerhauen worden. Aber das soll ja wohl ebenfalls ein -germanisches Rassemerkmal sein. - -D. J. M. Sie, nun ulken Sie mal gefälligst nicht! Ich bin wirklich -gespannt, ob Sie leugnen wollen, daß jedes Volk einen eignen Stil -produziert; und den machen doch wohl die einzelnen Künstler, wenn -auch jeder daneben noch seine aparte persönliche Manier kultiviert. -Übrigens, unter uns gesagt, imponiert mir die primitive Kultur von -irgend so’nem Kaffernstamm verhältnismäßig millionenmal mehr als unser -europäischer Knaatsch; so’n Maori oder Botokude hat im kleinen Finger -mehr Stilgefühl, als der ganze Michelangelo mitsamt der Sixtinischen -Kapelle. - -D. D. D. Verhältnismäßig ist das auch meine Meinung; nur taxiere ich, -scheint’s, die Verhältnisse anders. Zunächst ist Volk und Rasse doch -wohl Zweierlei. Jene Volkshorden, die noch reinrassig sind, haben’s -leicht, einen reinen Stil zu bewahren, nicht wegen ihrer reinen Rasse, -sondern bei ihren beschränkten Bedürfnissen, und weil wiegesagt in -rein bleibenden Rassen die Nötigung zur Entwickelung ausbleibt. -Lassen Sie solch ein simples Völkchen mit irgend einer Kulturnation -in nähere Berührung kommen: was geschieht? Sofort entsagt es seinem -natürlichen Stilgefühl und behängt sich mit importiertem Tand, genau -wie der Bauer bei uns mit Stadtkram. Warum denn, trotz allem reinen -Instinkt? Doch wohl nur aus der dumpfen Empfindung heraus, daß ihm -da, im großen Ganzen genommen, etwas wesentlich Wertvolleres zuteil -wird; blos vermag seine Unbildung nicht zu erkennen, daß es an ihm ein -wertloses Einzelnes wird, zu seinem Wesen Unpassendes. Sehr Ähnliches -aber vollzieht sich auch in den gebildeten Schichten der großen Völker, -die wiegesagt durch Rassenmischung und andre natürliche Nötigungen in -einer fortwährenden Entwickelung ihrer kulturellen Bedürfnisse leben. -Da wird grade selbst das genialste Talent, weil es den geistigen Bedarf -seiner Zeit bis in alle Seelengründe begreift, immerfort zwischen -überlieferten und erst entstehenden Formtrieben pendeln, wird also wohl -niemals im einzelnen Werk ein ganz vollkommenes Gleichgewicht zwischen -traditionellem Stil und individueller Manier herstellen. Was soll uns -da noch der Aberglaube, daß irgend ein besonderer Volksgeist diese fort -und fort wechselnden Stile erzeugt, oder gar eine Extra-Rassenseele? -Grade die Ornamentik der wilden Rassen zeigt ja sogar in getrennten -Erdteilen eine oft auch Kenner täuschende Gleichförmigkeit; und die -Stile der Kulturnationen sind nirgends blos in Einem Land, sondern -jedesmal zu gleicher Zeit bei mehreren Völkern Brauch gewesen. Daraus -folgt einerseits: Stil entsteht aus einem allgemein menschlichen -Anpassungstrieb an bestimmte neue Lebensbedingungen, der sich am -schnellsten, stärksten und deutlichsten eben immer in den Künstlern -regt. Und andrerseits, mein verehrter Mitmensch: die stilistische -Mißgeburt eines Michelangelo ist millionenmal wertvoller für die -künftige Menschheit, d. h. geistvoller, seelenvoller, formvoller, als -selbst die vollkommenste Tätowierung eines melanesischen Malermeisters. - -D. J. M. Na ja selbstverständlich; alles was recht ist. Aber sagen Sie -mal: hab ich Ihnen schon mal meine kleine Sammlung Nanking-Porzellan -gezeigt? - -D. D. D. Ja; es sind kostbare Stücke darunter. - -D. J. M. Wunder! Hat auch ein kostbar Stück Geld gekostet. Aber was ich -eigentlich sagen wollte: kennen Sie auch alte Delfter Fayencen? - -D. D. D. Einigermaßen; und nun soll ich wohl eingestehen, der Holländer -hab’s dem Chinesen nachmachen wollen und wegen seiner Rasse nicht -fertig gekrigt? - -D. J. M. Ach was, Blech! Fayence ist natürlich kein Porzellan. Aber daß -er bei der Nachmacherei ganz was Anderes aus den Mustern gemacht hat, -was in seiner Art ebenso kostbar ist, und daß nachher, als die Delfter -Muster dann in Japan weiter nachgemacht wurden, ditto was Anderes draus -geworden ist -- was sagen Sie +dazu+, Sie deutscher Dichter?! - -D. D. D. Darauf könnte ich erstens erwidern, daß es japanische -Ornamente genug gibt, die man für holländische oder chinesische -ansprechen würde, wenn man ihren örtlichen Ursprung nicht wüßte oder -aus Nebenumständen erriete. Wie man z. B. auch das Buch Ruth, wenn -es nicht in der Bibel stünde und hebräische Nomenklatur an sich -trüge, für ein wahres Schatzkästlein altdeutscher Treuherzigkeit, -Rechtschaffenheit und Innigkeit ausgeben dürfte. Und der im Schädelbau -sehr germanische Schiller könnte nach seinem gesamten Sprachbau viel -eher ein Landsmann von Racine, Rousseau und Victor Hugo sein, als -von Hans Sachs, Grimmelshausen und Heinrich v. Kleist. Überhaupt: -wenn man ohne Vorurteil nachprüft, beruht die ganze Beweismethode -der rassendogmatischen Kunstgeschichte auf dem bekannten Fehlschluß -~post propter~, oder sogar blos auf Tautologie. Eine konstant -gewordene Verbindung gewisser Eigenschaften benamst man „Rasse“, und -im Handumdrehn wird dann die Benamsung zur innersten Ursache dieser -Konstanz und womöglich auch noch der Eigenschaften; also etwa wie nach -Onkel Bräsig die große Armut der kleinen Leute von der großen Povertee -herkommt. - -D. J. M. Dadurch wird aber die Konstanz doch bestätigt, die Tatsache -des Rassencharakters. Freilich gibts überall Ausnahmen; die beweisen -aber bekanntlich die Regel. - -D. D. D. Wenn sie nicht etwa auf anderweite, minder bekannte Regeln -hinweisen! -- Und deswegen möchte ich zweitens einwenden: weil Fayence -„natürlich kein Porzellan“ ist, und weil der menschliche Kunstsinn aus -zweierlei Stoff natürlich auch zweierlei Formen entwickelt, deswegen -hat sich den Delfter Töpfermeistern trotz ihrer asiatischen Vorbilder -schließlich von selbst ein neuer Stil aufgedrängt. Aber nicht blos -deswegen allein, sondern jetzt will ich drittens gern zugeben: wenn ich -auch nicht an einen beständigen Volksgeist auf Grund einer Rassenseele -glaube, so doch an bestimmte zeitweilige Volksbedürfnisse, die sich -auf die verschiedensten Ursachen, ideelle wie materielle, zurückführen -lassen, z. B. moralische, religiöse, politische, ökonomische, -klimatische, territoriale. Es wird noch viel zu wenig beachtet, und -selbst Taine hat es nicht bis zu Ende gedacht, was Himmel und Erde, -Luft und Licht, Landschaft und Witterung, Arbeit und Müßiggang, -Reichtum und Armut, Freiheit und Knechtschaft aus der Menschenseele -machen. Man verpflanze ein paar Millionen Britten nach Spanien und -pferche sie in die katholische Kirche, und in 100 Jahren schon wird ihr -Rassecharakter bis zur Unkenntlichkeit verwandelt sein; die Assyrer, -Babylonier und Römer haben ja diese Art Politik an den Juden recht -gründlich praktiziert. Aber auch im Gebiet seiner Heimat verändert der -Mensch fortwährend den Erdboden, und der Boden rückwirkend ihn; wo -einst Urwald war, ist heut Gartenland, oder wo Gärten waren, Wüste. -Das geht freilich beträchtlich langsamer vor sich, als die seltene -plötzliche Volksübersiedlung in ein ganz neues Wohngebiet; und da auf -beständigem Heimatsboden auch die kulturelle Tradition beständiger -bleibt, daher scheint das jeweilige Volksbedürfnis den Zeitgenossen -so wunderbar urwüchsig, als stamme es von einem besondern, durchs -Blut vererbten Rasseninstinkt. So mag denn mancher Stil in der Tat, -obgleich auch er nur dem menschlichen Anpassungstrieb einiger weniger -Künstler entsprang, einem alten Volksbedürfnis entsprechen. Ich sage -absichtlich: mancher Stil, d. h. durchaus nicht all und jeder, der -nachträglich eine populäre oder nationale Geltung erlangt. Denn in dem -Kunstbedarf der Kulturnationen sind zwei sehr verschiedene Arten Kunst -begehrt; da ist einerseits die große Masse -- aber ich glaube, ich -langweile Sie! - -D. J. M. O bitte, wieso denn! Ich male ja. Und Ihr Mund sieht allemal -sehr forsch aus, wenn Sie sich so für die Menschheit aufregen. Sie -sollen mal sehn, Ihr Porträt wird gut. - -D. D. D. Also einerseits, wollte ich sagen, die große Masse der -allgemeinen Gebrauchsgegenstände, vom kleinsten Topf bis zum ganzen -Wohnhaus: deren Formung unterliegt in der Tat mit ziemlicher -Dauerhaftigkeit der populären Tradition. Und weil hier die Form ganz -überwiegend von körperlichen Bedürfnissen abhängt, so mag dabei auch -die physische Rasse einigermaßen merklich mitwirken, wenigstens in -reinrassigen Völkern, oder wo vielleicht eine ältere Mischrasse noch -die Oberhand hat über jüngeres Mischvolk, wie z. B. in Rußland und -in Teilen von China. Ich freilich möchte auch das bezweifeln; denn -wenn wirklich irgend eine Art Formtrieb auf spezifischem Rassetalent -beruhte, dann wäre völlig unbegreiflich, wieso dieser Trieb in manchem -Volk abstirbt, trotzdem die Rasse im Volke noch fortlebt. Wie kurzlebig -war die Kultur der Hellenen, und doch gibt es heute noch griechische -Bauern genug, deren Körperbau ganz den antiken Typ hat! - -D. J. M. Blos leider mit türkischem Blut verkleistert! Und schließlich -wird Jeder mal altersschwach. - -D. D. D. Das sagt man ja freilich auch Völkern nach, und es würde -vielleicht sogar ganz vernünftig sein, wenn wirklich jeder Grieche von -heute schon als Greis aus dem Mutterleib käme. Aber dem Rassenelement -soll doch seelische Urkraft innewohnen; und seit wann werden Urkräfte -altersschwach? Der Kunsttrieb in einem Tizian ist erst zugleich mit -ihm selber gestorben! Er hat mit 99 Jahren gewiß nicht mehr wie als -Jüngling gemalt, aber gemalt hat er bis zuletzt. - -D. J. M. Ja gewiß! Sehn Sie wohl! Was hab ich gesagt? Der war eben -nicht vermuselmanscht! - -D. D. D. Na, wer weiß! Venedig lag nicht so weit von den Harems. Und er -soll ja, unter uns gesagt, ein halb Dutzend Gattinnen totgeliebt haben; -mehr dürfte wohl auch kein Türke leisten! -- Doch Spaß beiseite, und -Schutt auf die Griechen! Aber die Araber und die Perser, die noch bis -in die Renaissance hinein selbständige Kulturformen schufen und sich -seitdem nicht mehr so reichlich wie früher mit anderen Rassen gekreuzt -haben, sind heute gleichfalls barbarisiert. +Es sind wirtschaftlich -verlotterte Völker, infolge der Unzulänglichkeit ihrer humanen Ideale, -denn die rächt sich stets auch sozialpolitisch.+ Solche Völker -vermögen dann nicht einmal in den gewöhnlichsten Kunstgewerben ihre -stilistische Tradition auf alter Höhe zu erhalten, geschweige daß sie -die andre Art Kunst, die aus rein seelischen Bedürfnissen stammt, -noch irgendwie schöpferisch betreiben. Und nun die Hauptsache: diese -andre Art Kunst weist wiederum zwei durchaus verschiedene, zwar -sinnlich vielfach verbundene, aber geistig ganz gesonderte Spielarten -auf: die der Unterhaltung und die der Erhebung. Mag sein, daß die -+unterhaltenden+ Künste, die ja die eigentlich populären sind, -noch Rückschlüsse auf die Rasse erlauben, zwar kaum des Künstlers, -doch vielleicht seiner Kundschaft. Denn auch diese Künste wurzeln -noch halb im Gewerbe, vom Volkslied der alten Bänkelsänger bis zum -modernen Familienroman, vom Nationaltanz bis zur Salon-Akrobatik, -vom Rüpelspiel bis zum ehrsamen Rührstück, vom ungeschlachten -Jahrmarktsbild bis zum allerleckersten Eßzimmer-Stillleben. Sie hängen -direkt vom Bedürfnis des Alltags ab, sie betreiben den Zeitvertreib -als Geschäft, sie behandeln das sinnliche Leben als Selbstzweck, sie -müssen gemeinverständlich sein, sie zielen mit einfachsten geistigen -Reizen auf körperliche Erregungen, auf Augenweide und Ohrenschmaus, -auf Zwerchfell- und Tränendrüsenkitzel, auf Herz- und Nieren- und -Rückenmarksgruseln; also wird ihre Form wohl auch zum Teil von -denselben Naturkräften mitbestimmt, die dem menschlichen Körper den -groben Stempel einer beständigen Rasse aufdrücken. - -D. J. M. Na, was Andres hab ich doch niemals behauptet! - -D. D. D. Nun aber die freieren, reineren Künste, die ich vorhin die -+erhebenden+ nannte, weil sie höher hinauswollen als das sinnliche -Dasein: was hat der Volkskörper damit zu schaffen? Er dient ihnen -höchstens als Mittel zum Zweck; hier herrscht ganz und gar nur die -Schöpfermacht der begeisterten und begeisternden Seele. Diese Künstler -bewerben sich nicht um Volksgunst, sie betreiben das innere Wachstum -der Menschheit. Da will der Geist die Nerven des Leibes nicht blos -mit flüchtigen Reizen liebkosen, sondern innigst mit seinem Liebreiz -befruchten, bis in die feinsten Gehirnzellenfasern, die kein Vivisektor -je auskennen wird, weil immer noch welche nachwachsen werden. Da -empfängt die Form kaum noch indirekt von der populären Tradition ihren -Stil; denn das durch und durch Maßgebende ist da eben die befreiende -Leidenschaft, die neues Menschentum schaffen will, dieselbe göttliche -Leidenschaft, aus der auch die religiösen Visionen, die sozialen und -nationalen Phantome, kurz alle Ideale entspringen. Sie tritt immer -zuerst nur im Einzelgeist auf, ist nie und nirgends dem Volk gleich -willkommen, muß überall erst im Kampf mit der Welt ihre rätselhafte -Kraft erweisen, die an jedem Widerstand wächst und reift. Ja, sie -stammt sogar aus dem Widerstand: aus dem Zwiespalt zwischen Mensch und -Natur, den die Kultur überbrücken möchte, und der sich im schaffenden -Einzelgeist als Konflikt mit den Masseninstinkten auftut. Oder meinen -Sie etwa, daß Ihre Judith, an der Sie sich Jahrelang abgequält haben, -sofort begeisterten Zuspruch fände, wenn Ihr verehrliches Publikum aus -lauter koscheren Juden bestünde? - -D. J. M. Gott der Gerechte! Dann doch schon lieber aus lauter -gemischten ollen Hellenen. - -D. D. D. Ja, die hättens Ihnen erst recht gesteckt; den Phidias -wenigstens haben sie wegen Gottlosigkeit aus Athen weggegrault, und -der Äschylos wurde so kujoniert, daß er ebenfalls ausgewandert ist. -Die deutschen Schulmeister sind zwar der gütigen Meinung, daß jeder -Spießbürger von Athen ein Zeitgenosse des Perikles war und begeistert -in die Tragödie ging; er ging aber hin, weil’s Staatspflicht war, -weil ihm das Eintrittsgeld ausgezahlt wurde, weil er den berühmten -Obolus krigte, durch den ein paar raffinierte Patrizier die primitive -Kirmeßbühne zur sozialpolitischen Anstalt entwickelten. Begeistert -war man vielleicht für den Chortanz, für die bachantische Satyrposse, -für die religiösen Prozessionen, und was sonst noch an festlichem -Schaugepränge mit dem Drama seit Alters zusammenhing. Begeistert war -man für alle Gymnastik, wie mans heute für Zirkus und Variété ist, -oder in Spanien fürs Stiergefecht. Das Volk begeistert sich immer blos -für ~panis et circenses~ von selbst; das war im antiken Athen und -Rom ganz wie im modernen Paris und Madrid. Die Plebs will sich einfach -delektieren; zwar möglichst variabel, doch immer simpel. Das Erhabene, -wenn es nicht altersgrau war, beschmiß der athenische Bildungspöbel -mit genau solchem kritischen Schnodderwitz, wie heute der berlinische; -Beweis die Aristophanische Posse, die diesen Witz mit genialer -Selbstironie in die poetische Sphäre erhob. Die Kunst des geläuterten -Menschengeistes, die sich aus instinktiven Konflikten zu ästhetischen -Harmonieen hinaufringt, liegt ursprünglich stets nur im Bedürfnis -komplizierter Persönlichkeiten, schon dem Wesen der Motive nach; sie -wird überall erst durch die Liebhaber dem Volksgeschmack allmählich -vermittelt, und mit gründlichem Erfolg nur dann, wenn die Vermittler -zur herrschenden Klasse gehören oder sonstwie in Amt und Würden -sitzen, z. B. auf dem Schulmeisterthron. An Ihrer Judith hat sichs ja -deutlich gezeigt; wer sieht denn da heute das geistige Pathos hinter -der sinnlichen Attitüde? Selbst der gebildete Durchschnittskenner hat -einstweilen noch keine leise Ahnung von dem allgemein menschlichen Wert -dieser Geste; er besieht sich den naturalistischen Akt. - -D. J. M. Ist mir ja ungemein schmeichelhaft alles; aber eigentlich -muß ich ehrlich bekennen, ich hatte selber noch keine Ahnung davon. -Ich denke beim Malen an nichts Allgemeines, ich will immer was ganz -Besonderes machen. Sie sehn doch, ich zeichne hier Ihre Visage, und Sie -reden das Blaue vom Himmel herunter. Kommt mir ja alles sehr gottvoll -vor, und mein sogenannter Menschengeist denkt sich ja auch allerlei -dabei; aber bilden Sie sich nun faktisch ein, davon soll was auf Ihr -Porträt abfärben? Ich sage Ihnen, +die+ Sorte Geist hat mir noch -keinen Bleistiftstrich machen helfen! - -D. D. D. Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Aber Ihre Kohlenskizze -da würde doch vielleicht etwas anders ausfallen, wenn ich hier stumm -wie ein Fakir säße oder tragische Verse deklamierte. - -D. J. M. Alles was recht ist: Sie döppen mich wirklich gut. - -D. D. D. Man weiß nämlich nachträglich nie so genau, was man bei jedem -Bleistiftstrich denkt. Ich habe Sie übrigens im Verdacht, Sie legen’s -drauf an, sich döppen zu lassen; dann wäre also +Ich+ der Gedöppte. - -D. J. M. Ja, eigentlich gehts ja auf keine Kuhhaut, was einem beim -Malen so durch den Grips geht. Ich hab’s auch wahrhaftig schon immer -gesagt: ich pfeiff aufs Geschäft, ich bin Idealist! - -D. D. D. Das ist wohl schließlich jeder Künstler, und sogar jeder -echte Kunsthandwerker, auch wenn er nicht so laut pfeifen kann. Und -das allein schon beweist zur Genüge, wie wenig im Grunde das Talent -mit einer bestimmten Rasse zu tun hat. Der Rasseninstinkt, wenn er -ehrlich ist, hat ja nicht das mindeste Interesse an irgend einem -Ideal, das über die Reinrassigkeit hinausgeht; das ist ihm ja gradezu -gefährlich. Selbst schon das nationale Ideal, das sich vielleicht noch -am ehesten auf primitive Instinkte stützt, muß seinem politischen -Wesen nach von Hause aus darauf bedacht sein, sich mit +mehreren+ -Rassen abzufinden; denn es gibt kein einziges Staatsgebilde, dessen -Volkskörper nicht aus wenigstens zwei verschiedenen Stammvölkern -aufgebaut ist, aus Eroberern und Unterworfenen. Und nun gar die -humaneren Ideale; die entstehen doch eben aus der Sehnsucht, uns -über die rohen Zwangsgewalten der Naturinstinkte hinwegzusetzen, -und diese Sehnsucht stak schon im simpelsten Schnörkel, mit dem -der Urmensch an seinem Beilgriff oder am Rand seines Trinkgefäßes -den Zweck der Notdurft verkleidete. Wenn man also unsern höchsten -Kulturprodukten wirklich noch Rassenelemente als Formkräfte unterlegen -wollte, dann könnten es immer nur Mischungsverhältnisse sein, die -grade den harmonischen Stil in die originale Manier hineinbrächten. -Denn nur aus vielfachen Blutmischungen ließe sich allenfalls die -Zeugung jener komplizierten Temperamente erklären, die überhaupt das -Bedürfnis empfinden, die Dissonanzen, Kontraste und Konflikte ihres -persönlichen Seelenlebens um der Menschheit willen zu harmonisieren. -Das gilt sogar von dem populärsten, dem ökonomischen Idealismus, -den man heute speziell den sozialen nennt; auch dessen Formen und -Reformen sind ursprünglich immer nur Hirngespinnste von einigen -wenigen Menschenfreunden, die das Volk bekanntlich zu kreuzigen -pflegt, bevor es sie vergöttern lernt. Und wer hat denn die nationale -Idee, die von Bismarcks Gnaden realisiert und dann von seinen -Kreaturen zur patriotischen Phrase verpöbelt wurde, dem deutschen -Michel eingetrichtert? Etliche edle Brauseköpfe des europäischen -Völkerfrühlings, ein paar Poeten, Philosophen und Legislatoren, durch -den Tyrannen Bonaparte zu glühender Freiheitsliebe erregt, die von -den hohen Obrigkeiten so rasch wie möglich abgekühlt wurde, während -der sogenannte Volksgeist von selber kalte Füße krigte! Lesen Sie nur -nach, wie die Kleist und Arndt, die Fichte und Schleiermacher, die Jahn -und Görres ihre Hoffnungen auf Deutschland zu Grabe trugen, wie die -Scharnhorst und Gneisenau Undank ernteten, wie selbst der Freiherr vom -Stein und Blücher um den Sinn ihrer Taten betrogen wurden! Oder wenn -Sie noch mehr Beweise wünschen -- - -D. J. M. Nein, Gott soll schützen, ich schwitze schon! -- Und -überhaupt: ich bin nämlich fertig. Die Skizze ist wirklich gut -geworden. Wenn Sie erlauben, möcht ich jetzt einpacken. - -D. D. D. Na, darf man sie denn nicht erst mal sehen? - -D. J. M. Ja, wenn sie fertig ist, wissen Sie! Ich wollte blos sagen: -für heut bin ich fertig. Wenn Sie wieder mal herkommen, mach ich sie -weiter. Sie ist wirklich nicht schlecht; Sie können mirs glauben! -- -Na, wenns sein muß: bitte, treten Sie näher! -- - -D. D. D..... Da scheint unsre Disputation aber doch etwas heftig -abgefärbt zu haben. Ich sehe ja aus wie’n Federvieh, das Ihr Teckel -zwischen den Zähnen gehabt hat. Aber ich sag’s ja: schließlich bin -+Ich+ der Gedöppte. - -D. J. M. Ja, nicht wahr? da merkt selbst ’n Kaffer die Rassenmischung! --- Man kann’s auch von weiter weg besehn. „Is ’ne Nummer“, wie sie im -Zirkus sagen; der reine „Kraftmélange-Akt“! - -D. D. D. Mir deucht aber: mehr Mélange als Kraft. Sie wollen’s wohl in -den Papierkorb packen? - -D. J. M. Was? Wieso denn? Sie sind wohl nicht von hier, mein Herr?! Das -verkauf ich an irgend ein Museum! Sie sollen mal sehn, Sie deutscher -Dichter: wenn Sie erst in der Nationalgalerie hängen! - -D. D. D. Nein, im Ernst: die Skizze scheint mir wirklich mißglückt. Sie -haben zuviel an mein Geschwätz gedacht. - -D. J. M. Ach ja richtig, Sie sind ja nicht fürs Nationale. Und nun -denken Sie einfach, ich mache Spaß, weil Sie meinen, ich sei ein -Franzosenschüler! - -D. D. D. So einfach pflege ich nicht zu denken. - -D. J. M. Na, oder ein allgemein menschlicher Jude! Ich habe doch -ziemlich deutlich gehört, daß Sie aufs Nationale pfeifen. - -D. D. D. Da haben Sie ziemlich vorbeigehört. - -D. J. M. Nanu? Sie haben doch deutlich gesagt -- - -D. D. D. daß die Nation keine Kunst erzeugt. Damit ist doch aber -durchaus nicht geleugnet, daß die Kunst nationalen Charakter annehmen -kann. Selbst der weiseste Künstler bleibt der Narr seines Mitgefühls. - -D. J. M. +Die+ Logik ist mir etwas zu kringlig. - -D. D. D. Nun, es ist doch dieselbe Leidenschaft, dieselbe -schöpferische Begierde, derselbe göttliche Sinn oder Wahnsinn, woher -die Menschennatur kulturelle Ideen und die Volksmasse nationale -Tendenzen empfängt, überhaupt alle irgendwie universalen Illusionen und -Phantasmen. Es ist immer wieder die ewig gleiche, Ungleiches einende -Einbildungskraft, die auch im Kunstwerk dem Einzelwesen harmonischen -Allgemeinwert verleiht; nur die Intressensphären liegen verschieden. -Warum sollten sich die aber nicht berühren können und unter Umständen -miteinander verbinden? Vielleicht ist sogar zu gewissen Zeiten die -eine der andern Nothelferin. Wenigstens zeigt die Geschichte der -Menschheit, daß immer, wenn in den rührigsten Völkern neue humane -Ideale entstehen, daß dann zugleich auch die nationalen am ungestümsten -aufbegehren; womit ich natürlich nicht sagen will, daß das nun ewig so -bleiben muß. - -D. J. M. Und da denken Sie also, die beiden Aale verwickeln sich so mit -den Schwänzen zusammen, daß der Mensch die göttliche Sehnsucht krigt, -einen einzigen Aal draus zu phantasieren? - -D. D. D. Nein, so verwickelt denken wahrscheinlich blos Bandwürmer. - -D. J. M. Na, wovon krigt man denn aber den dollen Gieper auf so’was -allgemein Göttliches? Irgendwovon muß der doch kommen! - -D. D. D. Ja, da müßten Sie mir schon wirklich erlauben „das Blaue vom -Himmel herunter zu reden“. Von der Rasse kann doch wohl lediglich der -Gieper auf allgemein Tierisches kommen; und von irgend sonstwelchen -Formationen der irdischen Materie, ob’s nun klimatische Ortsumstände -oder soziale Zeitumstände sind, werden Sie diese ewige Sehnsucht -nach harmonischer Umformung der Natur erst recht nicht hinreichend -ableiten können. Wenn sich die überhaupt noch logisch ergründen und -mechanisch begreifen läßt, dann müssen wir schon den mystischen -Äther der Herren Physiker psychisch ausdeuten: unsre Abstammung von -der Sonnenmaterie, die rhythmodynamische Struktur der kosmischen -Centralsysteme, die sogenannte Harmonie der Sphären, den Einfluß -der schwingenden Sternenwelten auf unser eigenes kleines Gestirn, -all die bewegten siderischen und planetarischen Konstellationen, -die bis in den Erdball hinein vibrieren und sich als wechselnde -Innervationspotenzen, als beseelende und begeisternde Kräfte, den -Erdbewohnern einverleiben. Oder halten Sie’s etwa für Aberglauben, -daß immer, wenn sich die Menschenwelt zu erhabenen Kraftanstrengungen -aufrafft, zu Völkerwanderungen, Staatsumwälzungen, Befreiungskriegen, -Entdeckungsfahrten, Glaubenskämpfen und andern Kulturekstasen, daß dann -immer zugleich auch in der Naturwelt gewaltige Katastrophen ausbrechen, -Erdbeben, Springfluten, Wirbelstürme, Heuschreckenschwärme, mikrobische -Epidemieen, vulkanische Eruptionen und dergleichen, begleitet von -seltsamen Himmelserscheinungen, ungewöhnlichen Meteoren, Kometen, -Nordlichtern, Sonnenfinsternissen?! - -D. J. M. Da’s faktisch so ist, wird’s wohl so sein. Es rumort ja auch -jetzt wieder allenthalben. - -D. D. D. Und also wird sich wohl auch kein Künstler, selbst wenn er’s -mit stärkstem Eigensinn wollte, den jeweils zeitbewegenden Kräften, -die sich als Ideale äußern, entziehen oder verschließen können. Und -wenn in unserer ebenso stark nationalen wie internationalen Epoche -ein schöpferischer Geist auf dem norddeutschen Weltteil mit seiner -reichsdeutschen Staatsbürgerhand allgemein-menschliche Werte malt, und -zwar aus rein malerischer Lust zur Sache: dann ist er nicht blos ein -wertvoller Maler, sondern zugleich, auch wenn er ein Jude ist und in -Paris auf die Schule ging, einer der reinsten deutschen Künstler, die -sich je in der Nationalgalerie aufhängen ließen. - -+Der Jüdische Maler+: Na sehn Sie, das freut mich! Und offen -gesagt: das hab ich von Ihnen blos hören wollen! - -+Der Deutsche Dichter+: Oh meine Ahnung! Ich Michel! Sie Schurke! --- Das soll wohl heißen, der Mohr kann gehen?! - -+Der Maler+: Blos, er muß versprechen wiederzukommen! Und das -nächste Mal, da mal’ich ihn +besser+. - -+Der Dichter+: Und ich singe ein Loblied aufs Rassige... - - - - -Die Menschenfreunde - -Drama in drei Akten - -Zweite Ausgabe - -Copyright 1917 +S. Fischer+, Verlag. - - - - -Personen: - - - +Christian Wach+, ein Multimillionär. - +Justus Wach+, sein Vetter, Kriminalkommissar. - +Die alte Anne+, Wirtschafterin bei Christian. - +Ein Geheimer Sanitätsrat.+ - +Ein Oberbürgermeister.+ - +Ein Oberregierungsrat.+ - +Ein Regierungspräsident.+ - +Ein Minister.+ - - +Alle+ männlichen Personen treten in schwarzem Gehrock auf, - die Wirtschafterin in schwarz-und-weißer Schwesterntracht. Der - Dialog hat +langsames Tempo+. - - -Zeit: - -Sommer, Herbst, Winter 1913, alle drei Akte vormittags. - - -Ort: - -Empfangszimmer bei Christian Wach. - - Sehr einfach ausgestattet, fast dürftig, mit altmodischen - Möbeln. Nirgends Spiegel noch Bilder; nur in der Mitte der - Hintergrundswand, über einem halbhohen Bücherbord, hängt das - Porträt einer älteren Dame mit hageren Zügen und auffälligen - Augen, lebensgroße verblaßte Photographie. Links im Hintergrund - Eingangstür, vorn ein schlichter Kamin mit Standuhr. In der - Seitenwand rechts ein Fenster mit verschossenen Vorhängen; daneben - ein Lehnstuhl aus dunklem Korbgeflecht und ein kleiner Lesetisch. - In der Mitte des Zimmers ein größerer runder Tisch mit drei Stühlen - aus dunklem Holz. Rechts und links immer vom Zuschauer aus. - - - - -Erster Akt - - -+Christian Wach+ - - (sitzt lesend am Fenster, von der Vormittagssonne beglänzt) - --- -- Also auch der Galneggy hat seine Milliarde mit Menschenschinderei -erworben -- eh er Millionen verschenken konnte -- (_nickt vor sich hin -und klappt das Buch zu_) -- schauerlich! -- -- - -+Die alte Anne+ - - (tritt ins Zimmer, einen hellroten Rosenstrauß in der einen Hand, - in der andern eine weiße Serviette und schlichte blaue Glasvase) - -So, Herr Christian, wenn Sie auch schelten, ich gratuliere zum -fünfzigsten Geburtstag. Kostet nur dreißig Penning bitte; der ganze -Markt war voll Bauernrosen, ich konnt der Sommerfreude nit widerstehn, -und dem erquickenden Geruch. (_Sie legt die Serviette auf den -Tisch, setzt die Vase mit dem Strauß darauf._) Nun machen Sie mal -ein helles Gesicht, wie sich’s gehört zu den schönen Blumen und dem -Geburtstagssonnenschein! - -+Christian+ - - (ist aufgestanden und hat das Buch in den Wandbord gestellt) - -Ich danke dir, Anne, du meinst es gut; aber du weißt, mich peinigt -solche Verschwendung. Für die dreißig Pfennige hättest du besser einem -Bettelkind etwas zu essen gekauft. - -+Anne+ - -Ja, das hätt sich wohl mehr gefreut als Sie. Ach, Herr Christian, geb -Ihnen Gott ein bißchen Kindersinn zurück! Dann würden Sie bald auch -wieder gesund werden. - -+Christian+ - - (unruhig hin und her, Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken, in der - Erregtheit zuweilen stotternd, aber stets mit Zurückhaltung) - -Lala-laß das Gerede, ich bin nicht krank; ich spüre blos, daß ich alt -werde. - -+Anne+ - -Weil Sie nicht auf mich hören, Sie junger Mann. Mich drücken meine -Jahre nicht; und könnt doch fast Ihre Mutter sein, mit meinen beinah -sechsundsechzig. Nehmen Sie sich ein Kind ins Haus, wenn Sie durchaus -keine Frau nehmen wollen! - -+Christian+ - -Bist doch auch ledig geblieben, alte Anne. - -+Anne+ - -Ich -- was wissen denn Sie davon? Blos daß mich leider keiner heiraten -wollt, mit meinem Huckepack auf’m Rücken; da hab ich halt Kinder und -Kranke gepflegt. - -+Christian+ - -Dein Rücken ist nicht viel krummer als meiner. Was siehst du mich -wieder so auffällig an?! - -+Anne+ - -Ja, nehm Ihnen Gott Ihren Huckepack von der +Seele+ -- - -+Christian+ - - (heftig) - -Lala-laß mich in Ruhe mit deinem Gott! (_sich bezwingend_) sein Reich -ist nicht von dieser Welt. -- (_Nach dem Porträt hinüberdeutend_) Geh, -stell den Strauß da auf den Sims. - -+Anne+ - -Was! meine Rosen da unter das Bild? - -+Christian+ - -Geh, tu mir die Liebe, ich bitte dich. - -+Anne+ - -Neun Jahre liegt sie nun unter der Erde, und immer noch spukt sie Ihnen -im Hirn, als hätten Sie Angst vor ihrem geizigen Blick. Das ist ja -Narrheit, Herr Christian! - -+Christian+ - -Nein, das ist Dankbarkeit, Anne, versteh doch! Du weißt, ich habe seit -Tante Brigittens T-Tod über das menschliche Elend nachdenken lernen; -und wenn ich nun die v-vielen Millionen, die sie mir hinterlassen hat, -nicht grade in ihrem sparsamen Sinne verwende. - -+Anne+ - -Gott sei Dank -- - -+Christian+ - -dann muß ich ihr doch tatsächlich im stillen gewissermaßen Abbitte -leisten; sozusagen als ihr Scha-Schuldiger, wie’s im Vahaha-haterunser -heißt. - -+Anne+ - -Spotten Sie nicht, Herr Christian! Und meinen Rosenstrauß stell ich -+nicht+ da hinüber. Hab ihn auch garnit blos Ihnen zulieb gekauft. -Wenn nachher die Herrn gratulieren kommen - -+Christian+ - -Was soll das heißen! ich hab dir ausdrücklich gesagt, daß du niemand -vorlassen sollst! - -+Anne+ - -Doch nur die Herren von der Regierung; die kann man doch nit vor den -Kopf stoßen. Und dann muß es hier doch ein bißchen freundlich aussehn. -Auch ein Fläschchen Tokayer hab ich noch mitgebracht; man muß doch ein -Gläschen Wein anbieten. - -+Christian+ - - (mit dem Fuß aufstampfend) - -Du wirst mich w-wirklich noch krank machen, Anne! Du trägst die -Faffa-Falasche zum Krämer zurück! (_Da Anne Miene zum Widerspruch -macht_) Du trägst sie zurück! ich will’s, sag ich dir! - -+Anne+ - -Wenn ich Sie damit beruhigen kann --? - -+Christian+ - - (wieder durchs Zimmer wandernd) - -Wenn ich mir selber keinen W-Wein spendiere, bin ich dem Bürgermeister -auch keinen schuldig! -- Kannst die Flasche aber für +Dich+ -dabehalten. Hast wenig genug vom Leben bei mir. - -+Anne+ - -Ihr gutes Herz in Ehren, Herr Christian; ich hab noch nichts entbehrt -bei Ihnen. Aber trotz all Ihrer Wohltätigkeit: manchmal scheint’s fast, -die selige Tante hat Ihnen auch was von ihrem Geiz vererbt. - -+Christian+ - -Scheint’s fast? Ha-hat sie? Was scheint dir denn sonst noch? - -+Anne+ - -Wenn ich denk, wie Sie früher mitteilsam waren! Der Herr Sanitätsrat -ist auch der Meinung: wenn Sie ab und zu ein Gläschen sich gönnen -wollten, das würd Sie wieder umgänglich machen. (_Auf die Bibliothek -weisend_) Ihre Bücher machen Sie blos immer menschenscheuer; Sie -sprechen ja manchmal Tagelang kein überflüssiges Wörtchen mehr. - -+Christian+ - -Also meine einzige Freude gönnst du mir nicht; die l-letzte, die ich -mir noch erlaube! - -+Anne+ - -Aber nein, wie Sie reden -- ich mein doch blos: Sie holen sich -+keine+ Freude draus. Über Büchern läßt man den Kopf hängen; man -holt sich blos seine eignen Grillen draus. - -+Christian+ - - (wieder aufstampfend) - -Schweig! -- Schweig, sag’ ich dir, ich hab genug! -- Ich hab mir das -l-l-längst schon selber gesagt; ich werde morgen die Bücher verkaufen. - -+Anne+ - -Aber liebster bester Herr Christian! - -+Christian+ - -Ich +werd’s+, sag ich dir! - -+Anne+ - -Jaja doch, gewiß doch. Aber bitte, lieber Herr Christian, quälen -Sie nicht mich dumme Person; nehmen Sie mir zuliebe Ruh an! Kommen -Sie, setzen Sie sich in den Lehnstuhl; rennen Sie nicht so herum -immerfort. Glauben Sie mir, ich kenn Ihre Nerven; wozu war ich denn -Krankenschwester. - -+Christian+ - -Du sollst mich nicht so a-ansehn, Anne! - -+Anne+ - -Kommen Sie, sein Sie nit so verbiestert -- der Herr Sanitätsrat hält’s -auch nit für gut -- (_nötigt ihn währenddem in den Korbstuhl_). -So, jetzt hole ich Ihnen ein Buch -- (_draußen elektrisches -Klingelzeichen_). O schad, da sind die Herren wohl schon -- nehmen Sie -Ruh an, Herr Christian -- (_ab nach links_) -- - -+Christian+ - - (allein) - --- -- Schauerliche Komödie -- -- - -+Anne+ - - (läßt zwei Herren eintreten) - -Bitte, Herr Oberbürgermeister -- bitte, Herr Oberregierungsrat -- -(_dann wieder ab._) - -+Christian Wach+ - - (hat sich erhoben, weist auf die Stühle am Mitteltisch) - -Willkommen, meine Herren, nehmen Sie Platz; was verschafft mir die -ungewöhnliche Ehre? - -+Bürgermeister+ - - (stehen bleibend) - -Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, verehrter Herr Kommerzienrat. - -+Regierungsrat+ - - (ebenso) - -Heute tatsächlich auf unsrer Seite; tatsächlich, Herr Kommerzienrat. - -+Bürgermeister+ - -Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen im Namen der Bürgerschaft -und der übergeordneten Ratspersonen die ergebensten aufrichtigsten -Glückwünsche zu Ihrem fünfzigsten Jahrestag auszusprechen. In der -festen Hoffnung, daß es Ihnen, hochzuverehrender Herr Kommerzienrat, -noch Jahrzehnte lang beschieden sein werde, Ihre gemeinnützige -Gesinnung mit unverminderter Kraft zu betätigen, und um die -Dankbarkeit öffentlich kundzutun, mit der wir zu dem selbstlosen -Menschenfreund aufblicken (_Christian Wach zuckt merklich zusammen, -stützt sich auf die Stuhllehne rechts des Tisches_) -- zu dem Stifter -sovieler Wohlfahrts- und Bildungs-Anstalten --: haben wir einstimmig -beschlossen, Sie am heutigen Tage zum Ehrenbürger unserer Haupt- -und Residenzstadt zu ernennen. In Rücksicht aber auf Ihre bekannte -Abneigung gegen persönliche Celebrationen, glaubten wir Abstand nehmen -zu sollen von den üblichen Förmlichkeiten, und ich erlaube mir deshalb, -die Ernennungsurkunde hiermit in denkbar einfachster Form zu Ihren -Händen gelangen zu lassen. (_Er überreicht ihm eine Rolle und schüttelt -ihm gewichtig die Rechte._) - -+Regierungsrat+ - -Im Namen nicht nur der Regierungsorgane, sondern auch Seiner -Königlichen Hoheit des Großherzogs, darf ich Sie, Herr Kommerzienrat, -als Erster zu dieser Ernennung beglückwünschen. Seine Königliche Hoheit -haben zugleich geruht, Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste um das -allgemeine Wohl den Kronenorden der obersten Klasse mit der Kette zu -verleihen. Sie wissen, wieviel Aufmerksamkeit unser gnädiger Herr den -sozialen Bestrebungen widmet, und daß es mehr als eine Förmlichkeit -ist, wenn jemand in unserem Staatswesen einen solchen Ansporn zu -weiterer Betätigung seiner Menschenfreundlichkeit empfängt. (_Er -überreicht ihm ein Kästchen und verneigt sich._) - -+Christian Wach+ - -Meine Herren, ich danke untertänigst. Ich fühle mich in Wahrheit -beschämt und b-bitte es als einen Beweis meiner Ergriffenheit -anzusehen, wenn ich diese hu-hu-huldvollen Ehrenzeichen vor dem Bilde -derjenigen Person niederlege, auf deren wirtschaftliche Tüchtigkeit -ich meine sogenannten Verdienste zurückführen muß -- (_er legt beides -auf den Bücherbord unter das Porträt_). M-M-Menschenfreunde sind wir -wohl alle nur, soweit es unsre Selbstsucht zuläßt; und was bedeutet -ein bißchen Wohltäterei in der ungeheuren W-Wüste des menschlichen -Elends! Sie hat höchstens den Wert eines Grashälmchens, an das sich die -Hoffnung klammern kann, daß +mehr+ Haha-Halme nachwachsen werden. - -+Regierungsrat+ - -Also ein vorbildlicher Wert, der immer weiter und höher zunehmen kann, -und somit der höchsten Beachtung aller Strebsamen würdig. - -+Christian Wach+ - - (sich wieder auf die Stuhllehne stützend) - -Ich verstehe, Herr Oberregierungsrat -- und das wird mir ein Ansporn, -wie Sie gütigst sagten, zu weiterer Betä-tä-tätigung sein; obgleich -die unverminderte Kraft, von der Sie, Herr Oberbürgermeister, mit -Ihrer bekannten Freundlichkeit sprachen, leider an die selbstsüchtigen -Schranken meiner angegriffenen N-N-Nerven gebunden ist. Bitte, wollen -wir uns nicht setzen? - -+Bürgermeister+ - -In Rücksicht auf Ihre werte Gesundheit möchte ich meinerseits -vorziehen, mich jetzt ergebenst zu empfehlen; nicht ohne dem herzlichen -Wunsche Ausdruck zu geben, daß es Ihnen bald wieder vergönnt sein -möge, an den geselligen Freuden Ihrer Mitbürger einigermaßen -teilzunehmen. Ich habe im Anschluß an die Sitzung, in der wir Ihre -Ehrung beschlossen, die Gelegenheit wahrgenommen, einen neuen Verein -zu gründen, der alle wohlgesinnten Elemente unserer strebsamen -Landeshauptstadt allmählich konsolidieren soll: die Gesellschaft der -Menschenfreunde! Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch Sie, verehrter -Herr Ehrenbürger, demnächst als Mitglied begrüßen zu dürfen. - -+Christian Wach+ - -Außerordentlich schmeichelhaft. Aber verzeihen Herr Oberbürgermeister: -meine N-Nerven erlauben mir wirklich nicht, an solchen -m-menschenfreundlichen Sitzungen mit der nötigen Ausdauer teilzunehmen. - -+Bürgermeister+ - -Nun, wenn auch nicht im Augenblick, es wird uns jederzeit aufrichtig -freuen, einen so würdigen Mitbürger in unserem Bunde willkommen zu -heißen. Und deshalb bleibt es mein inniger Wunsch, der allseits -mitempfunden wird, Ihre baldige Wiederherstellung im engeren Kreise -feiern zu können. (_Er schüttelt ihm abermals die Hand._) - -+Regierungsrat+ - -Ich schließe mich diesem Wunsche an, unbeschadet der hohen Achtung, die -Ihre stoischen Lebensgrundsätze jedem eifrigen Staatsbürger abnötigen. -(_Er verneigt sich._) - -+Christian Wach+ - - (die Herren zur Tür geleitend) - -Ich danke ebenso aufrichtig, meine Herren, und wiederhole die -ehrer-b-bietige Bitte, auch bei den zuständigen Stellen meinen Dank -auszurichten. Ich werde wiegesagt bestrebt sein, mich in der „allseits“ -gewünschten Weise nach wie vor zu betä-hä-hä-hätigen. (_Er verneigt -sich gleichfalls und schließt die Tür hinter ihnen, setzt sich dann -matt an den Mitteltisch_) -- -- Grauenhaft -- -- (_Er nickt vor sich -hin, blickt zu dem Porträt empor_) Du rächst dich gut -- -- (_Es -klopft, er schrickt auf_) -- - -+Die alte Anne+ - - (behutsam näher tretend) - -Es ist +noch+ jemand draußen, Herr Christian. - -+Christian+ - -Was soll das! Untersteh dich nicht -- - -+Anne+ - - (verhalten) - -Der Herr Justus! Er wollt sich nicht abweisen lassen. - -+Christian+ - -Was! Vetter Justus? der Leu-te-tenant? - -+Anne+ - - (wie vorher) - -Ja. Das heißt: er ist doch jetzt Polizeikommissar -- (_sie drehn sich -beide prall um, da die Tür aufgeht_) -- - -+Justus Wach+ - - (tritt gelassen ein, mit einer Aktenmappe unterm Arm) - -Du mußt mir schon einmal erlauben -- - -+Christian Wach+ - - (während Anne beklommen hinausgeht und die noch offene Tür wieder - schließt) - -Du bist mir natürlich durchaus willkommen -- - -+Justus+ - - (lächelnd) - -So? -- Ich erhebe nicht den Anspruch. - -+Christian+ - -Nun, dann ist deine Aufrichtigkeit mir willkommen. Offne Arme kannst -du wohl nicht erwarten, nachdem du damals unsern Verkehr, unser -verwandtschaftliches Band, um Geldes willen zerschnitten hast. - -+Justus+ - -Meinst du? -- Aber du erlaubst wohl, daß ich mich setze. (_Er nimmt -Platz auf dem linken Stuhl, legt die Mappe auf den Tisch._) - -+Christian+ - -Aber natürlich; b-bitte höflichst. (_Sich gleichfalls setzend_) Fühle -mich heute auch etwas matt; ein außerordentlich warmer Tag. - -+Justus+ - -Und obendrein deine Ehrenlast. Alle Zeitungen sind ja wieder des Lobes -voll. Wird dir allmählich wohl doch etwas drückend? - -+Christian+ - -Darf ich lieber fragen, w-was dich zu mir führt? - -+Justus+ - -O, traust du mir also garnicht zu, daß ich blos die uneigennützige -Absicht habe, dir auch mal wieder zu gratulieren, dem musterhaften -Menschenfreund, der mich Schuldenmacher dazu gebracht hat, den -schrecklichen bunten Rock auszuziehen und ein nützlicher Mitmensch -in Schwarzgrau zu werden? -- (_Seine Hand auf die Mappe legend_) -Wirklich, ich habe jetzt allen Grund, der rühmlichen Betätigung deiner -Nächstenliebe dankbar zu sein. - -+Christian+ - -Bitte, laß das; mir sind diese Phrasen peinlich. - -+Justus+ - -Mein Lieber, ich kenne deine Art Ehrgeiz. Du hast schon als Schuljunge -Äpfel gestohlen, obgleich du dir aus Äpfeln nichts machtest, blos um -uns Freunde damit zu begönnern und dich an deiner Großmut zu weiden; -vielleicht auch an deiner Kühnheit und Schlauheit, denn erwischen -ließest du dich ja nie. Ich habe dich schon damals durchschaut. - -+Christian+ - -So? -- Meinst du? (_Lächelnd_) Nun, vielleicht hast du Recht. Aber -inzwischen wirst du wohl +auch+ ein A-A-Andrer geworden sein. - -+Justus+ - -Ja, seit neun Jahren ungefähr; dank deiner Betätigung wiegesagt. - -+Christian+ - -Und hast du dich wirklich nun ausgesöhnt mit deinem b-bürgerlichen -Beruf? - -+Justus+ - - (legt lächelnd wieder die Hand auf die Mappe) - -Ja, seit einem Monat etwa vollkommen. Und einigermaßen auch früher -schon. Was blieb mir schließlich denn andres übrig; Schulden konnt ich -doch keine mehr machen, nachdem du die ganze Erbschaft mir weggefischt -hattest, kurz bevor ich zum Hauptmann aufrücken sollte. - -+Christian+ - -Nun, ich habe a-auch nicht das werden können, wonach ich als Jüngling -Verlangen trug; Geld hatte ich ja von Hause aus noch weniger zu -erwarten als du. (_Auf seine Bücher hinüberweisend_) Du weißt sehr -gut, wie ich drauf brannte, die Sta-taatswissenschaften zu studieren, -Sozialpolitik, Nationalökonomie, und es sogar ein paar Semester lang -durchhielt; bis Tante Brigittens harter Kopf mich zwang, mir als -B-Bankbeamter mein Brot zu verdienen. - -+Justus+ - -Ja, du warst ihrer Begönnerung würdig. Ich hab ihr die Faust unters -Kinn gehalten, als sie ihren Mann zu Tode gepeinigt hatte und ihn dann -einscharren ließ wie einen Bettler, den reichsten Grubenbesitzer des -Landes; du zogst es vor, ihr die Krallen zu streicheln. - -+Christian+ - -Sie hat sich selbst noch viel mehr gepeinigt; du solltest nicht über -Handlungen urteilen, für die dir jedes M-Mitgefühl mangelt. Und -notabene: auf ihr Testament konntest du doch im Ernst wohl nicht -rechnen, nach deiner Gleichgiltigkeit -- ge-l-linde gesagt -- bei ihrem -lalala-langen Krankenlager. - -+Justus+ - -Nein, zum Erbschleicher war ich mir allerdings zu schade. Seit wann -stotterst du übrigens? - -+Christian+ - - (ist vom Stuhl aufgefahren) - -Ich ver-b-bitte mir deine Brutalitäten! -- (_Sich bezwingend_) Denkst -du, es war mir ein Vergnügen, die Launen der alten ge-l-lähmten Person -zu ertragen? ihre Heftigkeit, ihre Wutanfälle? dreizehn Jahre lang, Tag -für Tag! - -+Justus+ - - (lächelnd) - -Nein, das denke ich keineswegs -- bei deiner Art Menschenfreundlichkeit. - -+Christian+ - - (fängt wieder an durchs Zimmer zu wandern) - -Und deine Schulden hätt ich dir gern bezahlt, wärst du damit zufrieden -gewesen, statt mir Millionen abpressen zu wollen, für die ich b-bessere -Anwendung wußte. Bin auch jetzt noch bereit dazu, falls du nicht -blos gekommen bist, um mir aufs B-Butterbrot zu streichen, daß du -dich selber seit einem Monat von deinen Gläubigern befreit hast; -(_lächelnd_) das wolltest du doch wohl andeuten. - -+Justus+ - -Nein. Aber ich danke für Gnadenbrocken von deinem Butterbrot, werter -Vetter. - -+Christian+ - -Ja, wozu reibst du dich dann an mir? Und worauf bist du eigentlich -neidisch? -- Was ha-habe ich denn von all meinem Reichtum? Hat er -mich etwa davor bewahrt, v-vorzeitig graue Haare zu kriegen? Ich lebe -wie ein Mönch in der Wüste, und trotzdem ist mein M-Magen krank, -meine Milz beklommen, mein H-Herzschlag verhaspelt, meine Nerven von -Schlaflosigkeit zerrüttet -- - -+Justus+ - -Dein Gehirn von Gewissensbissen zerfressen -- - -+Christian+ - -Deinetwegen? -- (_Stehen bleibend_) Du dauerst mich -- - -+Justus+ - - (steht nun gleichfalls auf, tritt dicht an Christian heran) - -Solltest du nie befürchtet haben, daß ein gewisser +Brief+ -entdeckt werden könnte? -- - -+Christian+ - - (weicht unwillkürlich etwas zurück -- dann spottkalt) - -Ah, Herr Polizeikommissar -- - -+Justus+ - -In der Tat -- das ist mein Beruf -- mit dem ich mich jetzt vollkommen -ausgesöhnt habe -- seit einem Monat wiegesagt, als ich in einer -auswärtigen Chemikalienfabrik -- (_er unterbricht sich, greift nach -der Mappe_) -- aber wollen wir uns nicht wieder setzen? an diesem -„außerordentlich warmen Tag“? -- (_er nimmt Platz, während Christian -stehen bleibt und sich fest auf eine Stuhllehne stützt, die er bei dem -Wort „Chemikalienfabrik“ umklammert hat_) -- also als ich in einer -Chemikalienfabrik einen ungetreuen Buchhalter festnehmen sollte und -bei Durchsicht der Bureaupapiere zufällig einen Geschäftsbrief fand, -worin ein gewisser Christian Wach, laut seiner aufgedruckten Adresse -angeblich Apothekenbesitzer, eine Partie Medikamente bestellt hat, -darunter auch einige heftige Gifte, etwa fünf Wochen vor dem Tode -(_auf das Porträt weisend_) seiner teuren Erbtante Brigitte. (_Wieder -die Hand auf die Mappe legend_) Hier hab ich das menschenfreundliche -Schriftstück. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Sehr verbunden für dieses Geburtstagsvergnügen, auf das du dich also -vier Wochen lang in aller Stille prä-pa-pariert hast. - -+Justus+ - -Ja, zufällig ungefähr ebenso lange, wie du dich vor genau neun Jahren -auf +Dein+ Geburtstagsvergnügen „präpapariert“ hast. - -+Christian+ - -Ja, es gibt spaßhafte Zufälle -- (_es klopft_) -- - -+Die alte Anne+ - - (tritt ein und meldet) - -Der Herr Geheime Sanitätsrat -- - -+Sanitätsrat+ - - (ihr ohne Umstände folgend) - -Ja, Ihrem alten Hausfreund dürfen Sie nicht verwehren, Ihnen heute -die Glückshand zu schütteln, verehrter Ehrenbürger und Ritter vom -Kronenorden! -- (_Überrascht_) Aber was seh ich? ist’s möglich? Herr -Justus! -- Pardon, Herr Leutnant, die alte Gewohnheit. Haben sich also -zur Feier des Tages endlich ausgesöhnt mit dem reichen Herrn Vetter? - - (Anne blickt forschend von einem zum andern.) - -+Justus+ - - (ist aufgestanden, immer eine Hand auf der Mappe) - -Schon möglich, Herr Geheimrat; zur Feier des Tages. - -+Sanitätsrat+ - - (ihm die Rechte schüttelnd) - -Na, das freut mich, freut mich; edel sei der Mensch! Haben schließlich -doch wohl Respekt gekrigt (_mit Verneigung zu Christian hin_) vor der -segensreichen Betätigung. - -+Christian+ - - (aufstampfend) - -Kommen Sie auch noch angequäkt mit dieser verfluchten (_absichtlich_) -Be-täterä-tätigung? Das ist ja wirklich zum Krämpfekriegen! Wie kann -ein Mensch mit etwas Geschmack dies Schandwort auf die Zunge nehmen! -diesen A-Anschmierer-Ausdruck für alles Getue, das den Namen Tat nicht -verdient! - -+Sanitätsrat+ - -Aber mein lieber Kommerzienrat, was haben Sie denn, was erregen Sie -sich? Denken Sie bitte an Ihre Nerven! Kommen Sie, setzen wir uns -gemütlich, und geben Sie mir mal endlich die Hand! (_Es geschieht, und -auch Justus setzt sich._) So -- ja aber, Sie zittern ja, als ständen -Sie im Staatsexamen. Und was ist denn los mit Ihren Pupillen? Da muß -ich doch gleich mal Reflexprobe machen. Schwester Anne, holen Sie mal -einen Spiegel. - -+Anne+ - - (hat inzwischen die Vase mit dem Rosenstrauß unter das Porträt - gestellt) - -Aber nein, Herr Geheimrat wissen doch: der Herr Kommerzienrat will -keine Spiegel um sich. - -+Sanitätsrat+ - - (sich an die Stirn tippend) - -Ja so -- jawohl -- Moralpsychose; ~hypochondria stoica~ sozusagen. -Na, werde mal morgen genauer vorsprechen, bringe dann meine Lupe mit; -die wird Ihrem strengen Gewissen nicht wehtun, Sie geschworener Feind -aller Eitelkeit! -- Was sagen Sie denn zu der neuen Gesellschaft, die -der Bürgermeister zusammentrommelt? Mich hat er natürlich auch breit -geschlagen; na, ein bißchen Menschenfreund ist ja Jeder. - -+Christian+ - -Ich meinesteils bin nicht für Trommelreklame. - -+Sanitätsrat+ - -Ja, Sie können sich’s leisten, drauf zu pfeifen. (_Aufstehend_) Dann -also bis morgen, werter Freund; muß jetzt weiter zu meinen andern -Patienten. Bitte Platz zu behalten, Herr Leutnant; wünsche allerseits -Frieden auf Erden -- (_winkt heiter mit beiden Händen Abschied, und -Anne begleitet ihn hinaus, während die Vettern sitzen bleiben, Justus -links am Tisch, Christian rechts_) -- -- - -+Justus+ - -Du scheinst dein Gesicht nicht gern zu betrachten -- - -+Christian+ - - (die Arme verschränkend) - -Ich habe in der Tat Bessers zu tun. - -+Justus+ - -Du kannst ja niemand mehr grad in die Augen sehn. - -+Christian+ - -Glaubst du, Herr Untersuchungsbeamter? (_Er fixiert ihn, bis Justus -beiseite blickt_) -- -- Durchschaust du die Menschen immer so? - -+Justus+ - -Ja, deine Selbstbeherrschungskunst -- man könnte auch sagen: -Verstellungskunst -- war von jeher bewundernswert. - -+Christian+ - -Und einer besseren Sache würdig. - -+Justus+ - -Der Spott wird dir bald vergehn, teurer Vetter. - -+Christian+ - -Es scheint, du legst enormen Wert auf dein pa-papierenes Dokument. Das -hältst du wohl für einen Indicienbeweis? - -+Justus+ - -Nein, das allein würde nur beinahe genügen. Aber (_auf seine Mappe -tippend_) ich habe hier noch ein andres Papier; nämlich deinen -Empfangsschein, Herr Apotheker, über die eingetroffene Giftsendung -- - -+Christian+ - -Du hast dich tatsächlich gut präpariert -- - -+Justus+ - -Es freut mich, daß du nicht länger heuchelst. Du darfst die Maske -ungeniert lüften. - -+Christian+ - - (immer sehr gemessen) - -Du freust dich etwas vorschnell, mein Lieber. Du scheinst meine -„Schlauheit“ trotz aller Anerkennung noch immer für recht kindlich zu -halten. Vor neun Jahren, werter Herr M-Menschenkenner, war ich wohl -doch nicht mehr Schulbub genug, mich dem Spiel des Zufalls so plump -auszusetzen, wenn ich kein reines Gewissen hatte. - -+Justus+ - -O, das Spiel des Zufalls ist allemal plump. Damals konntest du ja -nicht ahnen, also auch noch nicht damit rechnen, daß dein Edelmut -mich veranlassen würde, (_spitzig_) Detektivoffizier zu werden, -geschweige (_an seine Mappe tippend_) daß dies für jeden andern Finder -unscheinbare Wertpapier gerade mir in die Hand fallen könnte. Nur Das -trieb dein feines Spiel in den Plumpsack der sogenannten Schicksalshand. - -+Christian+ - -Nenn’s lieber gleich den Finger Gottes, dann kommst du dir noch -wichtiger vor. Hähähä-hältst du mich im Ernst für so närrisch, daß -ich mir solche Tat auf die Seele geladen hätte, blos um die Millionen -unsrer alten Tante etwas früher unter die Leute zu streuen? Denn ihr -Testament lag ja schon da für mich. - -+Justus+ - -Blos: sie hätte es doch vielleicht ändern können. Und am Krankenbett -warten, wer weiß wie lange, vielleicht nochmals „dreizehn Jahre lang“, -ist in der Tat kein vergnügliches Geschäft, selbst für die edelsten -Wohltäter nicht. Tante Brigitte war damals nur fünf Jahre älter, als du -heute geworden bist, und hatte trotz ihrer Lähmung recht zähe Nerven. - -+Christian+ - -Und deshalb soll ich so sinnlos gewesen sein, so sinnlos und so ruchlos -zugleich, mir einen M-Mord aufs Gewissen zu wälzen? Und das, denkst du, -wird dir irgendwer glauben? - -+Justus+ - -O, das Gewissen beißt immer erst nachträglich; deine Frage klang -ziemlich wund. Auch glauben die Schwurgerichte gern, daß ein -Bankbeamter sich nicht ohne Zweck falsche Briefbogen drucken läßt und -Apothekerwaaren bestellt. - -+Christian+ - -Du hast dich wohl nie mit -- Selbstmordgedanken getragen? - -+Justus+ - - (scharf) - -+Vor+ meiner Enterbung +nicht+, lieber Vetter! -- Übrigens -kannst du dir deine verblüffenden Fragen für die Gerichtsverhandlung -aufsparen; für das Zeugenverhör zum Beispiel. - -+Christian+ - -Du denkst dir also, ich habe es fertig gebracht, den Sanitätsrat -sowohl wie die alte Anne über die Todesursache zu täuschen, meinem -Opfer kaltblütig die Augen zuzudrücken, die L-Leiche hohnlächelnd -einzusargen, und dann hier in dem Haus, wo sie aufgebahrt lag, mich -triumphierend festzusetzen -- (_er steht auf, mit Erregtheit um sich -weisend_) hier! sieh dich um! zwischen diesen öden Wänden, wo sie einst -geatmet hat! hier seit neun Jahren es auszuhalten! immer von ihren -Möbeln umgeben! immer ihr B-Bild vor meinem Blick! ihre Pflegerin mir -zur Seite, eigens dabehalten zur steten Erinnrung! -- Das, meinst du, -habe ich auf mich genommen, ich maskierter Schurke, um einer Erbschaft -willen, von der ich mir keinen Genuß vergönne, keine Annehmlichkeit, -nicht die kleinste Erholung, blos Nahrung für meinen Großmutsdünkel! --- Du traust mir wirklich merkwürdige Kunststücke zu. (_Er ist hinter -seinen Stuhl getreten und stützt sich wieder auf die Lehne._) - -+Justus+ - -Ja, die Verbrecher halten sich gern für Helden, die ihrer Tat überlegen -sind, und liebäugeln mit dem Erinnerungswurm. Manche brüsten sich so -lange im stillen, bis sie sich schließlich laut verraten; fromme Leute -nennen das Gottes Stimme. (_Merkend, daß Christian nach dem Porträt -starrt_) Du redest wohl +öfters+ mit dem Bild da? -- - -+Christian+ - -Du stellst starke Ansprüche an meine Geduld. - -+Justus+ - -Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Immerhin scheinst du so geneigt -zum Verhandeln, daß du darüber das Stottern verlernt hast. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Nun, vielleicht war auch das nur Maske; man lernt dabei seine Zunge -hüten. -- Wie hoch taxierst du denn deine Entdeckung? -- - -+Justus+ - - (lächelt ebenso) - -Möchtest du nicht etwas deutlicher fragen? -- - -+Christian+ - -Nun, mein gesamter Vermögensrest beträgt noch etwa zwanzig Millionen, -nach Abzug der Reservedepots für meine letzten Stiftungen. Um mir -die Plackerei vom Ha-Halse zu halten, die du als A-A-A-Amtsperson -(_er stampft auf, dann wieder gemessen_) mit dem Plunder da anzetteln -könntest, und um meine innerste Menschlichkeit nicht vor dem Pöbel -entblößen zu müssen, biete ich dir den vierten Teil; das sind also rund -zwei Millionen mehr, als du mir damals abverlangtest. - -+Justus+ - -Deine Menschlichkeit ist seitdem -- beträchtlich großmütiger geworden; -ich erkenne das an, obgleich ich’s erwartet habe. Aber du mußt mir -schon erlauben, deine bekannte Opferwilligkeit - -+Christian+ - -Gut, ich lege noch eine Million zu. Sechs Millionen -- das ist mein -letztes Wort! -- - -+Justus+ - -Du hast mich mißverstanden, mein Teurer; du mußt nicht denken, ich sei -deinesgleichen, weil ich jetzt im schwarzen Rock vor dir sitze. Du -hast mich aus meiner Bahn gestoßen, du opferwilliger Ehrenbürger! Du -erntest den Lohn deiner Heldentaten, wenn ich dir nun dazu verhelfe, -in der Sträflingsjacke vor mir zu stehn! Jawohl, edler Vetter: -Gerechtigkeit will ich! die Welt von deinesgleichen säubern! das ist -+meine+ Art Menschenfreundlichkeit! - -+Christian+ - -Deine Gerechtigkeit braucht sich nicht zu ereifern; ich begreife, daß -du dich rächen willst. - -+Justus+ - -Sehr scharfsinnig, dein Begriffsvermögen. - -+Christian+ - -Willst du mich trotzdem noch ruhig anhören? Nur eine kleine Weile noch? - -+Justus+ - -Bitte; ich habe warten gelernt. Außerdem zappelst du sehr ergötzlich im -Netz. - -+Christian+ - -Ich könnte sagen, mein Anerbieten sei nur eine Maske gewesen, um -dein Pflichtgefühl auf die Probe zu stellen. Aber gesetzt, ich hätte -w-wirklich die ungewöhnliche Tat vollbracht, deren du mich für fähig -hältst: ich hätte eine bejahrte Person, die nichts mehr konnte als sich -und andere quälen, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Ha-Hartherzigkeit, -mit ihrer hähähä-hämischen Habgier (_er ballt die Fäuste, dann wieder -ruhig_) -- die hätte ich aus dem Wege geräumt nach jahrelangem -Gewissenskampf -- hä-hätte dann wie ein Asket versucht, meine heimliche -Gewalttat zu sühnen -- hätte sie hier in meiner Einsamkeit, in der -Nacht meines Schweigens schwerer gebüßt, als sich’s ein Schuldloser -träumen läßt, -- hätte immer weiter diese Erblast geschleppt, die ich -nur für ein Hirngespinnst verwalte -- für eine M-Menschheit, die ich -zu spät durchschaute, die nichts ist als ein marternder Schemen --: -verlangst du +noch+ mehr Gerechtigkeit? - -+Justus+ - -Du vergißt, ich bin nicht mehr Leutnant genug, um deiner heroischen -Märtyrer-Pose einiges Verständnis zu widmen. - -+Christian+ - -Aber vielleicht verstehst du, daß ich inzwischen manches anders ansehen -lernte. Vielleicht war mein Abscheu gegen dein früheres Handwerk -- -deinen Beruf, wenn du das lieber hörst -- nur Verbohrtheit eines -B-Büchermenschen. Vielleicht ist mir die Erkenntnis gekommen, daß auch -Nächstenliebe zur Hartherzigkeit führt, wenn sie die Allernächsten -vergißt über ihrem fernen Ziel. Ich bin dein Schuldner, ich weiß es -lange; deshalb empört mich deine Beschuldigung nicht. Und deshalb -- -nur deshalb, Justus! hörst du? -- wiederhole ich mein Anerbieten. - -+Justus+ - -Zu spät, Euer Gnaden; einen Monat zu spät. - -+Christian+ - -Du irrst. Ich habe schon letzte Weihnacht -- denn dies (_auf sein Herz -deutend_) W-Wrack wird nicht lange mehr Stand halten -- mein Testament -beim Notar hinterlegt; darin stehst du mit dem Betrag verzeichnet, den -du einst von mir gefordert hast. Ich biete dir jetzt das Doppelte, weil -ich dir mehr verdarb, als ich ahnte. - -+Justus+ - - (auf seine Mappe schlagend) - -Zum Teufel, +alles+ verdarbst du mir! Willst du mich +jetzt+ -noch mit Großmut beschwindeln? Dein Testament, wenn’s wahr ist, ist -mir ein Wisch! Ein Verbrecher wie du hat sein Erbrecht verwirkt! Kein -Pfennig von deinem Mammon gehört dir! Wo nimmst du die Stirn her, mich -beschwatzen zu wollen; du verrätst dich ja selber mit jedem Wort! - -+Christian+ - - (tritt ihm langsam näher) - -Ah -- du hoffst auf den ganzen Rest meiner Erbschaft. Verrechne -dich nicht; nimm Vernunft an, Justus! Vergiß nicht, ich sprach nur -bedingungsweise! Es hat sich schon m-mancher die Hand verstaucht, der -zu sehr auf die Gerechtigkeit pochte. - -+Justus+ - -Ich poche nur auf die Mappe hier. (_Er nimmt sie unter den Arm und -steht auf._) - -+Christian+ - -Du kannst dir also garnicht die Möglichkeit denken, daß ich jene -Giftsendung für mich selbst kommen ließ? daß ich mich wand vor Scham -und Verzweiflung unter den frevelhaften Wünschen, die ich -- jawohl, -ich bekenn es dir -- unablässig in mir w-wuchern fühlte am Krankenbett -meiner Quälerin? - -+Justus+ - -Eine Möglichkeit zieht die andere nach. - -+Christian+ - -Und wenn nun die Zeugen für +mich+ aussagen? -- Willst du nicht -wenigstens die Anne erst hören? - -+Justus+ - -Der kannst du viel vorgemunkelt haben. Aber wenn dir’s Vergnügen macht, -dich in ihrem Beisein verhaften zu lassen -- - -+Christian+ - - (nähert sich der Tür) - -Ich tu’s um Deinetwillen, Justus -- - -+Justus+ - -Ich warne nur vor Fluchtversuch! Das Haus ist auf beiden Seiten -umstellt -- - -+Christian+ - - (ruft zur Tür hinaus) - -Anne -- (_tritt dann neben den Bücherbord, lehnt sich an und -verschränkt die Arme_) -- - -+Anne+ - - (kommt, macht die Tür zu, beklommen) - -Was ist, Herr Christian? - -+Justus+ - -Der Herr Kommerzienrat will verreisen. - -+Christian+ - -Ich bitte dich nochmals: nimm Vernunft an. - -+Anne+ - - (beide Hände hebend) - -Oh, Herr Justus, wie schauen Sie drein! -- (_Ihm näher tretend_) Ich -beschwör Sie, was wollen Sie tun! -- (_Von ihm wegweichend_) Einen -Blutsverwandten ins Elend stoßen? - -+Justus+ - -Ah, Sie wissen, worum es sich handelt?! - -+Anne+ - - (noch weiter wegtretend, bis vor den Tisch) - -Ich? was soll ich wissen? ich seh nur Ihr Auge drohn. Ich kenn Sie ja -beide von Jugend auf. Ich weiß nur, was ich als Kind gelernt hab: Mein -ist die Rache, spricht der Herr! - -+Justus+ - -Verzeihung, Schwester Anne, +der+ Herr ist mir +fremd+. Und -dem grauen Sünder da wohl erst recht. Mein Herr ist der Staat! mit -seinen Gesetzen! - -+Anne+ - -Einen Leidenden wollen Sie quälen? Spüren Sie’s nicht, wie er bebt bis -ins Herz?! - -+Christian+ - -Laß gut sein, Anne; es ist genug. Zum letzten Mal, Vetter: ich biet dir -die Hand. - -+Justus+ - -Ich verbitte mir deine -- bestechenden Gesten! - -+Christian+ - - (sich reckend) - -Nun, dann Kampf! Hüt dich! Ich bin bereit. - -+Justus+ - -Sehr gnädig. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte dich, Christian Wach. -(_Die Tür öffnend_) Wenn’s gefällig, du hast den Vortritt -- (_sie -schreiten beide langsam hinaus_) -- -- - -+Anne+ - - (die Hände faltend, leise) - -Herr, erbarme dich seiner Seele -- -- - - (Vorhang) - - - - -Zweiter Akt - - -+Christian Wach+ - - (an die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt - hinaufstarrend) - --- -- Jawohl, du hast dich in mir verrechnet -- von jeher, du Vampyr --- du zwingst mich nicht. (_Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer -lächelnd_) Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich’s -endlich, kein Mensch bezwingt mich. (_Es klopft an die Tür, und Anne -tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß_) -- -- Also soll’s wieder -losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person? - -+Anne+ - - (die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend) - -Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen -aus der -- der -- - -+Christian+ - -Untersuchungshaft meinst du; sag’s nur getrost. - -+Anne+ - -Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt -ich sagen. - -+Christian+ - -Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür -auf den Knieen danken. - -+Anne+ - -War’s nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die -Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen! - -+Christian+ - -Du sollst mich nicht so ansehn, Anne. (_Sich an den Tisch setzend, wie -erschöpft_) Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen. - -+Anne+ - -Geb’s Gott, Herr Christian, geb’s Gott! Aber Sie schauen nit dornlos -drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen -etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit! - -+Christian+ - -Wein --? Kein Tropfen kommt mir ins Haus! - -+Anne+ - -Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch. - -+Christian+ - -So -- also für mich -- -- (_nimmt plötzlich ihre Hand_) o Anne, Anne -(_und preßt seine Stirn hinein_) -- - -+Anne+ - -Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? (_Behutsam -über sein Haar streichend_) Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr -Christian. - -+Christian+ - - (schiebt sie sanft weg, steht auf) - -Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an -meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich -mürbe gemacht -- - -+Anne+ - -O hätt sie nur! -- Nein, ich bild mir nix ein. - -+Christian+ - -Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht -- (_er wendet sich ab, geht -nach dem Fenster_) innerst ruhig; das mußt du doch merken (_läßt sich -in den Korbstuhl nieder_) -- - -+Anne+ - - (ihm folgend) - -Das würd’ mich ja freuen, innerst freuen -- - -+Christian+ - -Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis -ablegte, ich wollte (_an das Porträt weisend_) die da wirklich -vergiften, wenn mich das Schicksal -- du weißt, der Schlaganfall, der -sie in ihrer Erregtheit hinraffte -- nicht gnädig davor bewahrt hätte? - -+Anne+ - -Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig -aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren -Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung. -Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr -Christian! - -+Christian+ - - (abermals aufstehend) - -Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den -Schlaganfall bezeugt. - -+Anne+ - - (ihm wieder durchs Zimmer folgend) - -Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch! - -+Christian+ - -Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. (_Plötzlich sich -umdrehend, Auge in Auge_) Du glaubst wohl nicht, daß es ein -Schlaganfall war? - -+Anne+ - - (zurückweichend) - -O -- wie fragen Sie frevelhaft! -- Was ich beschworen hab, glaube ich -auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie’s fühlen --: wir sind -allesamt Werkzeuge Gottes -- der eine so, der andre so -- - -+Christian+ - - (ist an den Kamin getreten) - -Mich friert, Anne; im Gefängnis war’s wärmer. Von morgen an bitte mußt -du heizen. - -+Anne+ - -Aber ich kann doch natürlich gleich! - -+Christian+ - -Nein, ich sagte: von morgen an. (_Sich wieder an den Mitteltisch -setzend_) Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche. - -+Anne+ - -Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird -Ihnen gut tun. - -+Christian+ - -Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht -schwatzhaft, ich hasse das! -- Aber damit du deinen Willen krigst: -Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen, -ob er heute Vormittag herkommen dürfe -- dann kannst du deine Flasche -kredenzen. - -+Anne+ - -O welche Fügung -- sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das -Herz gerührt! -- O, und ich hab’s ja noch garnit bestellt: der Herr -Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn -Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren! - -+Christian+ - -Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu -Kreuz vor meinem +Geld+; und sind gerührt davon, wie’s mich -+drückt+. - -+Anne+ - -Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch -einstimmig freigesprochen. - -+Christian+ - -Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal -gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen -wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine -Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein -Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt? - -+Anne+ - -O, wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind -lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt. - -+Christian+ - -Mein +Geld+ drückt mich; begreifst du das nicht? -- Übrigens: -vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die -kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und -wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein; -irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an, -daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt. - -+Anne+ - -Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie - -+Christian+ - -Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den -Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es -macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken. - -+Anne+ - - (sich zu ihm neigend) - -Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir -Vertrauen? - -+Christian+ - - (abermals aufstehend) - -Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte, hilf -mir den Lehnstuhl herüber setzen. -- (_Während sie den Stuhl an den -Mitteltisch tragen_) Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. -- -(_Platz anweisend_) Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag -das Bild heut nicht immerfort sehn. - -+Anne+ - - (den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend) - -Ja, das hätt längst schon hinaus gemußt. Darf ich’s nicht endlich -weghängen jetzt? - -+Christian+ - -Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr -schuldig bin. (_Sich setzend_) Wenn sie auch unleidlich war, das ist -vorbei. Daß du’s ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich -das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet. - -+Anne+ - -Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen -bang. - -+Christian+ - -Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! -- Wahrhaftig, manchmal machst -du Augen, grad wie die Tante in ihrer Sterbestunde; so merkwürdig in -die Ferne fragend. -- (_Wiederum aufstehend_) Ich will mich doch lieber -dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr. -(_Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen -andern Stuhl nach hinten._) Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht? - -+Anne+ - -Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich -selber zu fürchten -- - -+Christian+ - - (sich setzend) - -Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen -- -- - -+Anne+ - -Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen, -daß +alle+ Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an -der Wand. - -+Christian+ - -Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht -finden hier. - -+Anne+ - -Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch -tragen helfen. - -+Christian+ - -Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst -daran gedacht, du warst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des -Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir -besprechen. - -+Anne+ - -O, nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir! -Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott -darum; das wird Sie auch wieder gesund machen. - -+Christian+ - - (aufstampfend) - -Ich sag dir, l-laß das -- geh -- bring mich nicht auf! -- (_Ruhiger_) -Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn -ich’s dir sage! -- (_Während Anne langsam zur Tür geht_) Und ich dank -dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles -- hörst du? -(_Da Anne an der Türschwelle zögert_) Nun, laß gut sein, geh jetzt; was -stehst du noch -- - -+Anne+ - - (mit feierlichem Ausdruck, gedämpft) - -Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste -Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr, dein -+Erbarmer+ -- (_sie geht hinaus_) -- -- - -+Christian+ - - (sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung) - -Gespenstermärchen -- -- (_Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter -das Bild._) Ihr zwingt mich nicht -- ihr kennt mich nicht -- niemand! --- (_Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt -neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der -Regierungspräsident und der Oberbürgermeister_) -- -- - -+Präsident+ - - (nach gegenseitiger leichter Verbeugung) - -Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten, -Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen. - -+Christian Wach+ - -Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte lügen, wenn ich -Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich’s bequemer, als es -mancher bei sich zu Hause hat. - -+Präsident+ - - (lächelnd) - -Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu -kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit -unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auftrag des Ministeriums, um -Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum +Geheimen+ Kommerzienrat -anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der -Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen -Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat, -zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter -eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen -persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die -Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung -eine dauernde Aufrichtung geben (_er verbeugt sich mit Gemessenheit_) -- - -+Christian Wach+ - - (lächelnd) - -Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben. -Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen (_sich verneigend_) -untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die -Teilnahme, zweitens für das -- „unverkürzte Vertrauen“. Ich werde mich, -soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig -zu machen versuchen. - -+Bürgermeister+ - -Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht -blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch -darzubringen (_er verbeugt sich gleichfalls gemessen_) -- ich komme -zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch -besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde, -um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen, -die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche -Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen -davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei -Ihrer stets betätigten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet -hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau -Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich -erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein -fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt -werden konnte -- das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht -entdeckt werden konnte - -+Präsident+ - - (sehr rasch) - -Überhaupt natürlich -- - -+Christian Wach+ - - (sehr langsam) - -Überhaupt -- -- Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf -ich nicht bitten, Platz zu nehmen? - -+Präsident+ - -Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen. -(_Sich verbeugend_) Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat. - -+Christian Wach+ - - (ebenso) - -Ich empfehle mich, Herr Präsident. - -+Präsident+ - -Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister? - -+Bürgermeister+ - -Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern. - -+Präsident+ - -Also auf Wiedersehn, meine Herrn -- (_er verbeugt sich nochmals, geht -ab_) -- -- - -+Bürgermeister+ - -Ich möchte mich nur in aller Kürze -- doch ich bitte zunächst um -Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt gefühlt -haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff -- - -+Christian Wach+ - - (lächelnd) - -O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen -- nach allem, was geschehen ist --- da Sie es doch so aufrichtig meinten -- - -+Bürgermeister+ - -Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter -Herr Geheimrat! Und deshalb -- (_da Christian Wach auf die Stühle -weist_) nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze -erkundigen --: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr -mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber -offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus -seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern -bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken. - -+Christian Wach+ - -Sehr freundlich, Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie „sich -versichert zu halten“: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl, -das eine Eigentümlichkeit unsrer (_lächelnd_) etwas starrköpfigen -Familie ist. - -+Bürgermeister+ - -Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen -Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine -zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen -fruchtlosen Übereifer. - -+Christian Wach+ - - (lächelnd) - -Also hätte er doch vielleicht fruchten können? -- Nein, im Ernst, -ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden, -die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig -+mich+ beamtseifert hätte. Es wäre mir wirklich sehr unliebsam, -wenn man ihn grade mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte, -die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs -- nicht wahr, ich irre -wohl nicht -- auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden -begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu -reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat, -wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns. - -+Bürgermeister+ - -Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach -dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit -ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie -werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte -Gesinnung nach wie vor betätigen? - -+Christian Wach+ - -In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu -betä-hähähätigen -- (_sich an die Kehle fassend_) Verzeihung, mein -Nervenübel meldet sich wieder. -- Aber wollen wir uns nicht doch lieber -setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die -geselligen Freuden. - -+Bürgermeister+ - -O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich heute leider besonders -beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! -- Also wiegesagt, um -mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres -guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. (_Er verbeugt -sich würdevollst._) - -+Christian Wach+ - -Ich werde wiegesagt bestrebt sein -- (_er verbeugt sich etwas weniger -und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben; -sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin_) -- -- „Aufrichtig, -verehrter Herr Geheimrat“ -- -- (_es klopft, die alte Anne erscheint_) --- - -+Anne+ - -Kann der Herr Justus jetzt eintreten? - -+Christian+ - -Natürlich. Weshalb fragst du erst? - -+Anne+ - -Soll ich den Wein gleich mitbringen? - -+Christian+ - -Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn’s -an der Zeit ist. (_Anne geht -- Justus erscheint; tritt zögernd näher, -bleibt halbwegs stehen_) -- -- Nun? diesmal ohne Aktenmappe? -- Sehr -liebenswürdig; bitte setz dich. (_Während Justus an den Tisch tritt_) -Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist? - -+Justus+ - -Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme -ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu -bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden -Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch -Blutsverwandte. - -+Christian+ - -Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die -deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz. - -+Justus+ - - (setzt sich links des Tisches) - -Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht -hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter -von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet -- ganz -und gar -- bis unter die nackte Haut sozusagen -- sodaß ich mich vor -mir selber schämte -- - -+Christian+ - -Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut -präpariert. Beruhige dich: ich werde dir’s nicht vergessen, wenn ich -nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen -Vorschuß drauf? - -+Justus+ - -Ich muß mir’s gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst -es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es -ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden, -daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu -dürfen. Ich hab’s mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir -einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem -ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus -Berechnung tue. - -+Christian+ - -Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut -mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes -Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist. - -+Justus+ - -Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du -wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt -dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt. - -+Christian+ - -Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten -Rechenmeister. - -+Justus+ - -Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter. - -+Christian+ - -O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt -„verachten zu dürfen“. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten -in deiner amtlichen Regeldetri? - -+Justus+ - -Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter -stellst, als du bist. Oder fühlst du mir’s in der Tat nicht an, daß -auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit -bekenne? Ich +kann+ dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht -mehr, du hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat -mich ergriffen wie noch nichts im Leben. - -+Christian+ - -Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine -Selbstbeherrschungskunst -- „man könnte auch sagen: Verstellungskunst“ --- über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen -ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet? -Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der -Verbrecherseele. - -+Justus+ - -Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht -aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst, -meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche -Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir -in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann. - -+Christian+ - -O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im -Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine -Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal -schlecht bekommen. Hättest du im Sommer nicht vier Wochen gewartet, -um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten: -wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat -hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem -Ehrenbürger und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht -wünschen, durch meine Verurteilung mit-ba-blamiert zu werden. Also -lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen -Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du -verwickelst dich sonst im eigenen Netz. - -+Justus+ - - (aufstehend) - -Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind -wir quitt! Dann bist du +nicht+ der hochherzige Dulder, vor dem -ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des -Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch -Schmarotzer witterst! - -+Christian+ - -Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum -Pranger geschleift sein wollte! (_Gleichfalls aufstehend_) Dann bin ich -der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die -ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der -argwöhnische, der aus all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre -Untat beschönigen! Dann -- ah: (_taumelnd_) hahahalt mich, Justus: das -Herz! - -+Justus+ - - (ihm beispringend) - -Verdammt ja, was ist --? - -+Christian+ - -Laß -- es geht schon vorüber. -- (_Sich setzend_) Es war -nur ein kleines Erinnerungszeichen -- (_lächelnd_) an meine -Selbstbeherrschung, weißt du. Laß dich’s nicht kümmern, setz -dich wieder. -- (_Da Justus zögert_) Was äffst du uns beide mit -Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen -möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier -hast du meine Hand. - -+Justus+ - -Ich dank dir -- (_gibt ihm die Rechte_) - -+Christian+ - - (ihn fixierend) - -Ich +trau+ dir! -- Nun? Was zuckst du zurück? -- - -+Justus+ - -Du bist mir unheimlich, Christian -- - -+Christian+ - -Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein -ehrliches Wort! -- Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie -ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache, -nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich -sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab -ich ja nicht. -- (_Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein_) --- Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch -klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute (_er weist auf die -Stühle neben sich_). - -+Sanitätsrat+ - - (hinter dem Tisch Platz nehmend) - -Kann mir’s denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen -Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere -- (_sich -verneigend_) zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer -Triumph der Gerechtigkeit; schade, daß Sie keine Zeitungen lesen. -Die ganze Presse singt Ihnen Hosianna; selbst die Sozi blasen ins -Jubelhorn. (_Zu Justus, der stehen geblieben ist_) Ich genier Sie doch -nicht, Herr (_gedehnt_) Polizeikommissar --? - -+Justus+ - -Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin -empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu -leisten. - -+Christian+ - -Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich -tatsächlich noch etwas fragen. - -+Sanitätsrat+ - -Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; (_ihm mit -komischer Würde die Hand hinstreckend_) es irrt der Mensch, solang es -geht -- - -+Christian+ - -Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier -- (_Justus gibt lässig dem -Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches_). Bitte, -Anne, du weißt ja (_sie nickt, geht hinaus_) -- ich danke dir, Justus. - -+Sanitätsrat+ - -Aber Sie haben’s zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte -jetzt Gift! (_Christian zuckt ein wenig zusammen._) Ah Pardon, das -verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle -Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann -recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden? - -+Christian+ - -O bitte -- (_lächelnd_) seh ich denn unruhig aus? - -+Sanitätsrat+ - -Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz -geheuer. (_Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit -Gläsern und Weinflasche auf den Tisch._) - -+Christian+ - -Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein - -+Sanitätsrat und Justus+ - -Nein danke -- danke -- (_strecken gleichzeitig rasch die Hand zur -Abwehr_) -- - -+Christian+ - -So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. (_Lächelnd_) Es ist -wirklich kein Gift drin, meine Herrn. - -+Sanitätsrat+ - -Aber Bester, empfindlich --? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch -zu mir barmherzig (_er läßt sich gleichfalls einschänken_) -- - -+Christian+ - -Justus --? - -+Justus+ - -Ich bin’s zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber -- - -+Anne+ - - (nachdem sie auch ihm eingeschänkt) - -Ist gern geschehen, Herr Justus. - -+Sanitätsrat+ - - (während Anne hinausgeht) - -Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die -Herzensbewegung! -- (_Sie stoßen gemessen an und trinken_) -- Denn wie -gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa -etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine -Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer -Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll, -ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken -Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand -aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt. - -+Christian+ - -Ha-hörst du’s, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das -genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen! - -+Sanitätsrat+ - -Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird’s -Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie! -Und bei Neurosen, so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung -Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie -plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine -Mördergrube! - -+Christian+ - - (Justus zutrinkend) - -Haha-Heil dir also, du Wundertäter! -- Aber, mein lieber Geheimrat, -was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine -Krankheit ist doch viel intressanter. - -+Sanitätsrat+ - -Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin -Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag -fufzig M, ungerechnet die Liebesmähler! -- (_Er trinkt aus und steht -eilfertig auf_) Also wohl bekomm’s, meine Herrn; mehr als guten -Rat kann ich leider nicht geben -- (_verbeugt sich lächelnd, geht -händereibend ab_) -- -- - -+Christian+ - -Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich -doch animieren! - -+Justus+ - -Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat -- (_blickt ihn forschend -an und trinkt aus_) -- - -+Christian+ - - (ihm das Glas wieder füllend) - -in der alten Mördergrube, nicht wahr? -- Du dachtest wohl wirklich im -ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften? - -+Justus+ - -Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern -Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht „witzig“ -genug, um über derlei Scherze zu lachen. - -+Christian+ - -Und wenn’s nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht -gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn (_nach -dem Porträt weisend_) der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war, -sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist -du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich -bewirken kann? - -+Justus+ - -Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen. -Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten -Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen. - -+Christian+ - -Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen -und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre -Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu -Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn -näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein -andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord -abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau wie -den großen Kaiser Karl, der zum höheren Ruhm seines Hahaha-Heilands ein -ganzes Heer Heiden abschlachtete, oder den edlen Bürger Robespierre, -der zu Ehren der Freiheit Tausende Mitbürger in den Kerker und aufs -Schaffott spedierte. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen, -heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann. -(_Sein Glas hebend_) Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen! -- - -+Justus+ - - (während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder füllt) - -Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen -Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält -jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für -einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte. - -+Christian+ - - (auflachend) - -Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig, -das Alleranständigste wäre, wir gingen +alle+ in die -Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter, -ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von -Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter; -zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! (_Er trinkt mit sichtlicher -Erregtheit._) - -+Justus+ - - (nur kurz Bescheid tuend) - -Zum Wohl -- wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in -Wahrheit lieber, dich nicht weiter auszusprechen. - -+Christian+ - -Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! (_Sich mäßigend, starr vor -sich hin_) Was weiß ich schließlich selber davon. - -+Justus+ - -Beruhige dich; ich will sie nicht wissen. - -+Christian+ - -Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur, -was man tut! - -+Justus+ - -Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht -darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen -ködern. Vergiß nicht, es sind blos -- „Gedankenspiele“. (_Er trinkt -wieder mit merklicher Hast._) - -+Justus+ - -Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest. -Wenn’s dir leid geworden ist, gehe ich gern. - -+Christian+ - -Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller -Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid -haben mit meinem „überreizten Zustand“! Natürlich will ich dich etwas -fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von -Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld -zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch? - -+Justus+ - -Also --? - -+Christian+ - -Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können -- (_er will wieder -trinken, beherrscht sich aber_). Also: gesetzt zum Beispiel den Fall, -dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter -geändert hat -- von Grund aus geändert hat, wie du sagtest, -- da -käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen -Gerichtshof den vollen Beweis erbringen könntest, daß ich mich in der -Tat vor Jahren als Unmensch (_absichtlich_) betäterätätigt habe: was -würdest du da tun, lieber Justus? - -+Justus+ - -Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige -Frage eine vernünftige Antwort geben soll. - -+Christian+ - -Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins -Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich -halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so -irrsinnig, aus allgemeiner M-Menschenliebe einen einzelnen Menschen -zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen -M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstens dann vernünftig, wenn -+alle+ Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht, -mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der -Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt, -wenn man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen, -der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht -bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel -an ihm nehmen. Ja, wär’s noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich -die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte! -Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die -Glasglocke setzen? -- Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß -meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind. - -+Justus+ - -Unheimlich richtig -- wie ich gleichfalls schon sagte. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. (_Das Glas hebend_) Zum -Wohl! so trink doch endlich aus! - -+Justus+ - - (sein Glas mit der Hand bedeckend) - -Nein, danke; keinen Tropfen mehr. - -+Christian+ - -Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? -- (_Das Glas -hinsetzend, ohne getrunken zu haben_) Soll ich dich lieber nicht weiter -fragen? - -+Justus+ - - (lächelnd) - -Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können. - -+Christian+ - -Sehr wahr! Du fängst wirklich an zu verstehen! -- Also gesetzt, du -fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich -bewiese -- zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals -geschrieben hätte -- in das ich alles verzeichnet hätte, was mich -zu der Untat verführte -- in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über -meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat -- wie ich -mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche -- -wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner scha-hauderhaft klaren -Vernunft -- wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern -sittlichen Grundsätzen nistet -- wie ich in allen Gründen und Abgründen -meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des -E-Ekels und Dünkels zu zerquetschen -- (_er hat sich krampfig ans Herz -gegriffen_) --: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund -eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken? -- - -+Justus+ - -Aber lieber Christian, nimm’s nicht übel, verzeih mir meine Offenheit: -das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht -vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage -nicht Stellung nehmen. - -+Christian+ - -Du meinst, weil du’s nicht gefunden hast bei deiner amtlichen -Haussuchung hier? (_Lächelnd_) Hast wohl gründlichst an den Wänden -geklopft? zum Beispiel (_nach dem Porträt weisend_) hinter dem Erbstück -da! -- Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem -Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind. - -+Justus+ - - (lachend) - -Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir -von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben, -geschweige ein ganzes Tagebuch. - -+Christian+ - -Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch +gar+ zu -gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo -jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht -wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte -es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem -Siegel -- zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer -einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach -meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf --: gesetzt, ich -hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht -auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menschheit -darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war -- -mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib -umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte, -ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte --- wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor -ohn-m-m-mächtiger Wut - -+Justus+ - - (brüsk aufstehend und sich reckend) - -Genug! jetzt hab ich genug gehört! -- Ich bedauere meine -Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist -jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht! -Ich werde nicht ruhen, bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst -du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und -Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein -Gespenst -- - -+Christian+ - - (hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen starrend) - -Du wirst mir „von Grund aus“ willkommen sein. Du wirst mir das höchste -Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst -mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen! -Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner -Gewissenspfeife tanzt! Du wirst - -+Justus+ - -Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der -sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal -zeigen - -+Christian+ - -dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha-ha-hah! -- Ist +das+ deine -Reue, du „anständiger Mensch“?! +Kenn+ ich dich jetzt, du -ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um -dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung -zerschmelzen ob deiner edlen „Gutgläubigkeit“? Hahahimmlisch, du -entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir „endlich -einmal“ ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube -- hha-ha-ha -- ah -- -(_sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und -bricht zusammen_) -- - -+Justus+ - - (beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt, - betrachtet kalt den Ohnmächtigen) - --- Diesmal scheint’s echt; -- du traust dir zuviel zu, Bursche. -- (_Er -geht langsam zur Tür, öffnet, ruft_) Schwester Anne! -- (_Er zieht -seine Taschenuhr, überlegt_) -- - -+Anne+ - -Was ist? (_Erschreckend_) Um Gottes willen -- (_sie eilt an den -Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und -Halsbinde_) - -+Justus+ - - (an der Tür bleibend) - -Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat -holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich? - -+Anne+ - -Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht. Der Herr sagt mir nichts von seinen -Geschäften. - -+Justus+ - -Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt -ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen. - -+Anne+ - -Gewiß, Herr Justus, das wollen wir. - -+Justus+ - -Also auf bald! - -+Anne+ - -Auf bald, Herr Justus. -- (_Nachdem Justus gegangen ist, leise_) Vater, -hilf deinen schwachen Kindern -- -- - - (Vorhang) - - - - -Dritter Akt - - -+Christian Wach+ - - (sitzt im Lehnstuhl hinter dem Mitteltisch, den Unterkörper in - schwarze Decken gehüllt. Vor ihm liegen Geschäftspapiere, in denen - er blättert und Zahlen nachrechnet, in der linken Hand einen - Bleistift haltend. Man sieht, sein rechter Arm ist gelähmt, hängt - in einer schwarzen Binde. Seine Stimme klingt untergraben.) - --- -- Also noch knappe neun Millionen -- (_den Bleistift hinlegend_) -es geht zu Ende, Christian Wach. -- (_Sich mühsam nach dem Porträt -umwendend_) Deine Schatzgrube ist bald leer, alter Drachen! -- (_Hand -aufs Herz legend, schwer vor sich hin_) Und die Mördergrube wird immer -voller -- -- - -+Die alte Anne+ - - (tritt in die Tür, ein winziges, aber sorgsam geschmücktes - Weihnachtsbäumchen auftragend) - -So, Herr Christian, damit Sie doch merken, daß uns heute der Heiland -geboren ist -- (_vor ihn hintretend_) der Erlöser, lieber Herr -Christian! -- (_Das Bäumchen auf den Tisch stellend_) Gelt, ich darf es -heut Abend uns anzünden; zu Heilig-Abend ist das keine Verschwendung. - -+Christian+ - -Das hast du doch früher nicht getan. (_Lächelnd_) Du denkst wohl, jetzt -bin ich hilflos genug, daß du mir neue Lichter aufstecken kannst? - -+Anne+ - -Ja, ich hätt mir schon eher ein Herz fassen solln. Wir sind allesamt -hilflos genug. - -+Christian+ - -Besonders wenn wir’s uns einreden lassen. Ich halte mich lieber an das -Sprichwort: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das ist auch für die -Gottlosen brauchbar. - -+Anne+ - -Es gibt noch ein ander Sprichwort, Herr Christian: Gott verläßt die -Seinen nicht. Und mancher ist sein, der’s nicht wahr haben will. - -+Christian+ - -Wenn ich nicht wüßte, wie gut du’s meinst, könnt ich glauben, du dankst -deinem Gott im stillen, daß er mich damals nach meiner Freisprechung -(_auf seinen rechten Arm deutend_) mit dem Schlaganfall begnadet hat. - -+Anne+ - -Seine Wege sind nicht die unsern. - -+Christian+ - -Schon recht, schon recht; ich kenn deine Standreden. (_Auf den Stuhl -zu seiner Linken weisend_) Komm, setz dich lieber, ich muß dir was -sagen. Aber stell erst das Bäumchen einstweilen beiseite, sonst vergeht -mir bis Abend die Freude daran. (_Während Anne es auf den Bücherbord -trägt_) Ich habe gestern mit dem Notar mein Testament ins Reine -gebracht (_er berührt die Papiere, schüttelt sich unwillkürlich_) --- aber leg noch bitte etwas Holz aufs Feuer. Und wenn nachher der -Minister kommt, legst du nochmals ein bißchen nach. Hat er nicht -m-melden lassen, worum sich’s handelt? - -+Anne+ - - (ein paar Scheite in den Kamin legend) - -Es wird halt wegen der neuen Stiftung sein; die Grundsteinlegung der -Radioklinik. - -+Christian+ - -Nein, das hab ich mir schon verbeten, daß sie auf meinen Namen getauft -wird. Also komm jetzt, wir wollen uns aussprechen. - -+Anne+ - - (sich setzend, ihm in die Augen blickend) - -Ja, wenn Sie das wollten, Herr Christian -- - -+Christian+ - -Willst du mich wieder aufregen, Anne? Das kannst du dem Justus -überlassen! -- Er hat sich wohl jetzt mit dir verschworen, meine werte -S-Seele zu retten? Seitdem er hier mit im Hause wohnt, wird er von Tag -zu Tag christlicher. - -+Anne+ - -Auch der Herr Justus meint’s gut auf seine Weise. - -+Christian+ - -Gewiß, versteht sich; und ich lohn’s ihm auf meine. Das eben will ich -mit dir besprechen. - -+Anne+ - -Wenn Sie’s aber doch aufregt! grad immer das! Immer wieder diese -unselige Erbschaft, diese Sorge um den morgigen Tag. Und grad zum -Christfest; es hat doch Zeit. - -+Christian+ - -Nein, Anne, mit meiner Zeit ist’s bald aus; kannst ruhig darüber reden -mit mir. Meinst du, ich fürchte mich vor dem T-Tod? Was tut’s denn, ein -bißchen früher zu sterben, als es ohne die Sorge vielleicht geschähe. -Was heißt denn sterben? +keine+ Sorgen mehr haben! Kann man sich -davor fürchten im Leben? Kann man das überhaupt begreifen? Ich kann -meinen Tod mir nicht vorstellen. - -+Anne+ - -Ja: sie +will+ nit sterben, die ewige Seel -- - -+Christian+ - -Kommst du schon wieder mit deiner Gottesfurcht? Versteh doch, ich habe -andere Sorgen! - -+Anne+ - - (seine Linke streichelnd) - -Nicht Furcht, nicht Furcht: Gott will Vertrauen. Furchtbar ist blos die -menschliche Selbstsucht. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Dann sei also selbstlos und hör mir zu. (_Ein Schriftstück aus den -Papieren nehmend_) Hier ist mein Vermögen drin verzeichnet. Es sind, -nach Abzug aller Unterhaltsgelder für die bestehenden Stiftungen, noch -etwa neun Millionen Mark. Davon habe ich drei dem Justus vermacht; den -Rest, wenn du nichts dagegen hast, Dir. - -+Anne+ - -Aber -- - -+Christian+ - -Laß mich erst ausreden, bitte. Du kannst damit machen, was du willst; -kannst den Plunder verschenken, an wen du willst, meinethalben an den -verkommensten Strolch. Nur die eine Bedingung ist dir gestellt: keinen -Pfennig mehr darfst du für irgend eine dieser öffentlichen A-Anstalten -stiften, die unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft -von Pharisäern züchten. Denn daß du’s nur weißt, liebe alte Anne: -ich will dich nicht in Versuchung führen, ob deine Barmherzigkeit -+auch+ am Ende in die allgemeine Herzlosigkeit umschlägt, die sich -M-Menschenfreundlichkeit nennt. Selbst das größte Gefühl wird klein, -wenn es sich aufputzt mit großen Begriffen; ein bißchen Güte von Mensch -zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit. - -+Anne+ - -Das sagen Sie blos wieder, um sich zu quälen. Der gute Wille ist -allzeit heilig. - -+Christian+ - -Wenn du also einverstanden bist, dann liegt es auch in deiner Hand, -das Vermächtnis an Justus größer zu machen. Ich möchte mit ihm nicht -darüber sprechen, und ich bitte auch dich inständig, es nicht vor -meinem T-Tode zu tun; er denkt sonst, ich wolle ihn bestechen, und -das würde die Versöhnung erschweren, die ich noch von ihm zu erlangen -hoffe. Also nicht wahr, du schweigst darüber! - -+Anne+ - -Ja gewiß, Herr Christian, gern. - -+Christian+ - -Du kannst dir ja immer überlegen, ob es vielleicht ein christliches -Werk ist, ihm mehr als die drei Millionen zu geben, die er vor Jahren -von mir verlangt hat; meinethalben das Doppelte. - -+Anne+ - -Was ist da groß zu überlegen? Was braucht ein einzelner Mensch soviel -Geld? Es lädt ihm blos Ängste auf die Seele. Sie, Herr Christian, -hätten’s auch leichter gehabt, wär nit die große Erbschaft gewesen. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Du fühlst dich wohl nicht als „einzelner Mensch“? - -+Anne+ - - (lachend) - -O, ich leichte Person! bei mir bleibt’s nit lang! Hier in der Näh gibts -’ne ganze Straße, da konnt man in einer Nacht die Millionen los werden, -damit das geschminkte Elend mal ein rechtschaffen Christfest feiern -kann. - -+Christian+ - -Du hast’s ja gut vor; gib nur Acht, daß dir die Lichter nicht den Baum -verbrennen. Glaub mir: was der Mensch auch tun mag aus Mitleid, es ist -nie genug und immer zuviel. Du wirst vielleicht noch zufrieden sein, -daß du dem Justus die Sorge aufpacken kannst, wie man das Geld am -besten los wird. - -+Anne+ - -Davor ist mir nit bang, dafür sorgt unser Herrgott; ist eitel Dunst -um jegliche Guttat, die seine Welt verbessern will. Einfach wohltun, -soviel man kann, aus +Freud+ am Wohltun, mehr kann man nit. Was -würd denn der stolze Herr Justus sagen, wollt ich vor ihn hintreten und -ihm was schenken? Nein, das geht nit; dem kann ich das nicht antun. - -+Christian+ - - (langsam nach ihrer Hand tastend) - -Verzeih mir, Anne -- ich hab dich zu spät erkannt -- -- - -+Anne+ - -Und wenn’s noch Zeit wär, Herr Christian -- die andere Sorge auch los -zu werden --? - -+Christian+ - - (sich aufraffend, rauh) - -Was soll das! Laß das! Ich sagte: zu spät! - -+Anne+ - - (seine Linke mit beiden Händen ergreifend) - -Ich hab geschwiegen so viele Jahr lang, ich werd schweigen darüber bis -ans Grab: sprechen Sie aus, was Ihnen das Herz abdrückt! - -+Christian+ - -Sei vernünftig, Anne, reg mich nicht auf! (_Lächelnd_) Du weißt, das -verträgt der Geheimrat nicht. - -+Anne+ - -Ich bitt Sie, Herr Christian, liebster Herr: spotten Sie nicht, ich -fleh Sie an! (_Zu ihm hinknieend_) Ich hab noch nie vor einem Menschen -gekniet -- ich beschwör Sie bei Ihrer Qual -- (_mit beiden Händen nach -dem Porträt weisend_) bei den Augen, die Sie verfolgen --: nehmen Sie -nicht das Geheimnis mit hinüber! - -+Christian+ - -Steh auf! du beschämst mich! Ich d-dulde das nicht! Der Justus hat dich -ganz wirr gemacht! Steh auf, sag ich dir, du machst mich zuschanden! -Willst du mir +noch+ einen Schlaganfall einjagen? - -+Anne+ - -Ich will Ihrer armen Seele beistehn! Die macht’s ja nur, daß der Körper -büßt! - -+Christian+ - - (wild seine Linke gen Himmel spreizend) - -Ist denn selbst die Barmherzigkeit eine Furie?! -- (_Die Hand auf -Annens Kopf senkend, sanft_) Was weißt du von meiner Buße, du Engel. -Steh auf, du überhebst dich vor Demut. (_Die Hand an seine Stirn -legend_) In dies Geheimfach dringt nur der Tod. (_Draußen elektrisches -Klingelzeichen, während Anne sich erhebt_) -- Geh, öffne; (_matt ihre -Hand ergreifend_) du hast mir wohlgetan -- - -+Anne+ - - (küßt seine Stirn, dann mit traumhaftem Ausdruck) - -Denn uns ist heute der Heiland erschienen -- (_legt beglückt ihre Hände -vor die Brust und geht so leise nickend hinaus_) -- -- - -+Christian+ - - (wendet sich langsam nach dem Porträt um) - -Verfolgst du mich wirklich noch?! -- (_Wendet sich langsam zurück, -schließt die Augen; dann mit verklärtem Gesicht_) Bald nicht mehr -- -- -(_Die Tür geht auf, Anne läßt den Minister und den Oberbürgermeister -eintreten_) -- - -+Der Minister+ - - (mit einer Verbeugung, der sich der Bürgermeister anschließt, - während Anne Holz in den Kamin legt) - -Guten Tag, Herr Geheimer Rat; es tut mir leid, Sie stören zu müssen. - -+Christian Wach+ - -Nicht im geringsten, Euer Excellenz. Wollen Sie nur entschuldigen, daß -mein Zustand mir nicht erlaubt, den Herren geziemend entgegenzukommen. -Darf ich bitten, Platz zu nehmen. - -+Minister+ - - (während Anne hinausgeht) - -Die Ehrerbietung erfordert zunächst, meinen Auftrag stehend zu -erstatten. Auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten -Landesherrn, habe ich Ihnen, Herr Geheimer Rat, die persönliche -Eröffnung zu machen: So sehr die Gesinnung zu würdigen ist, aus der Sie -Ihre Namensverknüpfung mit dem von Ihnen gestifteten radioklinischen -Institut ablehnen, kann doch des guten Beispiels wegen ein solches -Geschenk nicht angenommen werden, ohne es durch ein rühmliches Zeichen -der allgemeinen Erkenntlichkeit zu erwidern. Seine Königliche Hoheit -haben daher geruht, in der Annahme, daß es Ihnen eine Weihnachtsfreude -bereiten wird, Sie in den Adelsstand zu erheben; die Urkunde folgt -heute Nachmittag. (_Sich auf den Stuhl links des Tisches setzend, mit -lächelnder Unamtlichkeit_) Ich erlaube mir, Herr von Wach, Ihnen ohne -Phrase zu sagen, daß ich Ihren Dank richtig ausrichten werde. - -+Christian von Wach+ - -Es liegt meinem Selbstgefühl fern, Excellenz, mich gegen ein gütiges -Wort zu wehren -- (_sie reichen einander unwillkürlich die Hand_). - -+Der Bürgermeister+ - - (ist stehen geblieben, räuspert sich) - -Ich bin nicht blos erschienen, Herr Geheimrat von Wach, um Ihnen -meinen aufrichtigen Glückwunsch zu der soeben vernommenen hohen -Auszeichnung darzubringen; ich stehe hier zugleich in Vertretung der -behördlichen Körperschaften unserer Haupt- und Residenzstadt, die -auf mein sachliches Betreiben, trotz der persönlichen Widerstände -gewisser starrköpfiger Mitbürger, den weitherzigen Beschluß gefaßt -haben, zur dauernden Erinnerung an die gemeinnützige Betätigung Ihrer -unentwegten Menschenliebe ein bedeutsames Merkmal zu errichten, sowohl -um Ihnen selbst im Gedächtnis künftiger Zeiten und Geschlechter -Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um andere Menschenfreunde -zu gleicher Betätigung anzuleiten. In diesem überpersönlichen Sinne, -hochzuverehrender Herr Geheimrat, soll Ihr in Öl gemaltes Porträt, -und zwar von der Hand des bewährten Direktors unserer Kunstakademie, -in unserem Rathause aufgehängt werden; und in Rücksicht auf Ihre so -werte Gesundheit, deren baldige Wiederherstellung jeder Wohlgesinnte -wünschen muß, bitte ich Sie, ihm mitzuteilen, zu welchen Stunden Sie -ihm in der Festwoche die leider aus künstlerischen Gründen unumgänglich -erforderlichen Modellsitzungen gewähren wollen. - -+Christian von Wach+ - -Sie dürfen überzeugt sein, Herr Oberbürgermeister, daß ich Ihren -„weitherzigen Beschluß“ im vollen Umfang zu schätzen weiß, sowohl die -überpersönliche Gerechtigkeit wie die persönlichen Widerstände. Ich -meinesteils würde zwar am liebsten ebenso starrköpfigen Widerstand -leisten; aber da ich nicht mehr kräftig genug zu dieser (_absichtlich_) -Betäterätätigung bin, so bitte ich dem Herrn Akademiedirektor mit einem -verbindlichen Gruß zu bestellen, daß er seine Staffelei wohl bald vor -meiner L-Leiche wird aufschlagen können. - -+Bürgermeister+ - -Ich hoffe, verehrter Herr Geheimrat, Sie werden damit nicht sagen wollen - -+Christian von Wach+ - - (erregt) - -Ich will damit sagen, verehrter Herr Ober-b-bürgermeister, daß ich -nach meinem Tod nicht verhindern kann, der M-Menschheit in Öl serviert -zu werden; zu meinen L-Lebzeiten bin ich lalala-leider -- (_sich -zusammennehmend_) für +diese+ „sachliche“ Behandlung meiner -nebensächlichen Person nicht ganz menschenfreundlich genug. - -+Bürgermeister+ - - (sich in die Brust werfend) - -Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß eine so wohlerwogene Ehrung -auf solche Verkennung stoßen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern bleibt -mir nur übrig, dies der Bürgerschaft zur Kenntnis zu bringen; und -wenn ich mich jetzt hier verabschieden muß, so geschieht es mit dem -Bewußtsein, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß ich des Beifalls der -weitesten Kreise in diesem Falle gewiß sein darf. Ich empfehle mich -Euer Excellenz -- (_der Minister steht auf_) oder falls Sie mich zu -begleiten gedenken - -+Christian von Wach+ - -Darf ich wohl bitten, Excellenz, noch einen Augenblick zu verweilen? - -+Minister+ - -Gern, Herr Geheimrat. Verzeihung, Herr Oberbürgermeister. - -+Bürgermeister+ - -So empfehle ich mich denn wiegesagt -- (_man verbeugt sich gemessen -- -er geht gewichtig ab_) -- -- - -+Minister+ - - (indem er sich wieder setzt) - -Ich bin zu jeder Vermittlung bereit. - -+Christian von Wach+ - -Es tut keine mehr not, (_lächelnd_) ich bin erledigt. (_Ernsthaft_) Ich -wollte nur fragen, Excellenz: würden Sie wohl einem Sterbenden eine -unumwundene Antwort geben? - -+Minister+ - -Soweit das menschenmöglich ist -- - -+Christian von Wach+ - -Warum häuft man Ehren auf eine Person, die man doch für schändlich -hält? Warum p-peinigt man mich mit Gnadenmienen, hinter denen der -Abscheu grinst? - -+Minister+ - -Die Ehre gilt niemals der Person, stets nur der Sache, der man dient. -(_Lächelnd_) Das entschuldigt auch die Person, die uns soeben verlassen -hat. - -+Christian von Wach+ - -Also wir sind alle dazu verdammt, einander Böses zu tun im Kampf um das -Gute?! - -+Minister+ - -Wenn’s die Sache verlangt -- jeder Sieg kostet Opfer -- - -+Christian von Wach+ - -Wo bleibt dann die Grenze zwischen Tat und Untat, Heldentum und -Verbrechertum? Was berechtigt uns, Andre zu opfern? - -+Minister+ - - (diskret ihm huldigend) - -Wohl was uns verpflichtet, uns selbst zu opfern. (_Aufstehend_) Wem es -die innere Stimme sagt, der fragt wohl nicht nach dem Urteil der Welt. - -+Christian von Wach+ - -Ich danke Euer Excellenz. - -+Minister+ - - (ihm die Hand hinstreckend) - -Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest! - -+Christian von Wach+ - -Ihnen noch viele, Excellenz! -- -- (_Minister ab, an der Tür sich -nochmals verneigend; Christian erwidert den Gruß, schließt dann die -Augen und raunt vor sich hin_) Wem es die innere Stimme sagt --? -- -(_Es klopft, und Justus Wach tritt ein_) -- -- Nun, Justus, mein -Spiegel, bist du schön blank heut? - -+Justus+ - - (sich rechts des Tisches setzend) - -Macht es dir wirklich noch immer Vergnügen, mir das unbedachte Wort -nachzutragen, das ich damals in der Erregtheit hinwarf? - -+Christian+ - -Wie sollte es nicht? Du bist doch noch immer bestrebt, mir mein wahres -Gesicht zu zeigen. Das macht mir wirklich ein ungemeines Vergnügen; -das einzige, das mir die Welt noch bietet. Ich bin dir auch wirklich -dankbar dafür. - -+Justus+ - -Also dazu hast du mich in dein Haus gelockt: dem Herrn Geheimrat als -Hofnarr zu dienen. Und ich war einfältig genug, mir von der guten Anne -aufschwatzen zu lassen, es sei dir ernstlich um eine Versöhnung zu tun. - -+Christian+ - -Außerordentlich rührend bei deinem Beruf, dies Selbstbekenntnis deiner -Einfalt. Seit wann bist du denn so versöhnlich gestimmt? - -+Justus+ - -Du weißt sehr gut, daß es mich reut, deinen Schlaganfall veranlaßt zu -haben; wenn es auch ohne Absicht geschah. - -+Christian+ - -Ja, das hast du mir schon mehrmals gesagt. Aber nicht wahr: mein -Tagebuch, das hast du noch immer nicht aufgespürt -- - -+Justus+ - -Hältst du es denn in der Tat für möglich, ich hätte bei einiger -Überlegung nur eine Minute lang geglaubt, daß ein solches Geständnis -vorhanden sei? Wenn du es je geschrieben hättest, wär es doch längst -von dir vernichtet. - -+Christian+ - - (wie zufällig die Hand auf seine Papiere legend) - -Und wenn es nun doch noch irgendwo läge? - -+Justus+ - -Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten! - -+Christian+ - -Wenn es mir nun eine Wollust wäre, mit der Entdeckungsgefahr zu -spielen? Wenn mich immerfort die L-Lust stachelte, die unersättlich -marternde Lust, mein Geheimnis der Welt ins Gesicht zu schreien? und -dabei die W-Wonne der Selbstbeherrschung, der Welt nicht den Gefallen -zu tun! mich nicht knechten zu lassen von dieser B-Beichtsucht! diesem -schamlosen Mitteilungstrieb, der uns alle zu armen Sündern macht! -- -Hast du dir das noch nie überlegt? -- - -+Justus+ - -Wenn du mich etwa nötigen willst, Weihnachten anderswo zu feiern, dann -bitte sage es mir doch offen! Die Anspielungen auf meinen Beruf werden -mir nachgerade lästig. - -+Christian+ - -Du kannst dir also garnicht denken, daß ein M-Mörder ein ehrlicher -Mensch sein kann? - -+Justus+ - -Ich denke mir, daß du durch deinen Reichtum, weil du keine andre -Beschäftigung hattest, zum Grillenfänger geworden bist. Nun tüftelst -du dir aus allerlei Zufällen ein neunmalkluges Verbrechen zusammen, -blos um dir nicht einzugestehen, daß dir glücklicherweise der Mut dazu -fehlte. - -+Christian+ - -Deine Menschenkenntnis ist fast so gründlich wie deine gute Meinung -von mir. In der Tat, Vetter: es ist tief beschämend, so als elender -Mitmensch dazusitzen, wo man Teufel und Engel zugleich sein wollte. - -+Justus+ - -Nun, die Märtyrer-Rolle hat auch ihre Glorie. Sonst hättest du wohl die -Selbstquälerei nicht so lange ausgehalten. - -+Christian+ - -Und wenn ich nun all die Jahre lang gegen die Versuchung angekämpft -hätte, diese Qual mit eigner Hand abzu-b-brechen? (_Krampfhaft die Hand -aufs Herz drückend_) Wenn’s mir nun zu erbärmlich gewesen wäre, so vor -mir selbst in die B-Binsen zu gehn? Wenn ich lieber die Buße ertragen -hätte, vor jedem unbe-bedachten Wörtchen zu beben, als diese B-Babbala --- (_sich bezwingend, da Justus ihm Hilfe leisten will_) laß -- ich -danke -- -- ich wollte sagen: Blamage des Selbstmords. - -+Justus+ - -Ich muß es wohl aufgeben, Christian, dein Gewissen zu beruhigen. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Ja, wir haben +beide+ unsern Beruf verfehlt; du als Mitmensch, und -ich als Unmensch. - -+Justus+ - -Ich will dich wahrhaftig nicht aufregen, aber du zwingst mich ja dazu. -Warum bringst du das Unrecht, das ich dir antat, trotz meiner Abbitte -immer wieder zur Sprache? - -+Christian+ - -Vielleicht weil es mein „Gewissen beruhigt“, deine Gerechtigkeit wanken -zu sehen. Wenn du sicher wüßtest, ich hatte gemordet, würdest du dann -wohl noch geneigt sein, mir die Hand zur Versöhnung zu bieten? -- - -+Justus+ - -Es gibt doch Morde, die sogar das Gericht verzeiht. - -+Christian+ - -In der Tat; du bist sehr entgegenkommend. Und die M-Massenmorde -fürs Vaterland, daß heißt für Thron und Altar und Kapital, oder für -Freiheit, Gleichheit, L-Lüderlichkeit oder sonstige große Rosinen: die -verherrlicht sogar die W-Weltgeschichte. Blos, das sind alles Morde aus -Leidenschaft, aus Eifersucht, Rachsucht, Ehrgefühl, Pflichtgefühl; die -freilich entschuldigt man edelmütig. - -+Justus+ - -Nun, wenn auch nicht grade vor Gericht, aber unter vier Augen -betrachtet, ist wohl auch deine Art Menschenliebe eine entschuldbare -Leidenschaft. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Aber Justus, ich werde irre an dir! Sollte ich endlich dein Herz -erweicht haben? - -+Justus+ - - (schroff) - -Wenn du mir keinen Glauben schenkst, beweisen läßt sich dergleichen -nicht. - -+Christian+ - - (die Hand auf seine Papiere legend) - -Wer weiß; ich könnte mich doch vielleicht „unter vier Augen“ -überzeugen, wie weit du mein Vertrauen ehrst. - -+Justus+ - -So? Könntest du das? - -+Christian+ - -Wenn ich wüßte, Justus, wie weit du dir selber trauen darfst? (_Da -Justus Miene macht aufzufahren_) Bitte bleib sitzen, ich will dich -nicht kränken. An deinen guten Willen glaube ich gern. Ich wollte dich -sogar zum Christfest um einen kleinen L-Liebesdienst bitten. - -+Justus+ - -Wenn es dir wirklich ernst darum ist --? - -+Christian+ - - (nimmt aus seinen Papieren ein mit fünf roten Siegeln - verschlossenes Heft) - -Ich habe gestern mein Testament neu verfaßt; ich wollte dich bitten, -hier das alte -- (_draußen elektrisches Klingelzeichen_) ah, der -Sanitätsrat; nun, dann nachher. -- (_Das Heft wieder unter die -Schriftstücke schiebend_) Ich bin sein besuchtester Patient, seitdem er -mich nicht mehr retten kann. (_Anne läßt den Sanitätsrat eintreten_) -- -Willkommen, mein werter L-Lebensretter! - -+Sanitätsrat+ - - (während Anne an den Kamin geht und wieder Holz aufs Feuer legt) - -Danke, danke, mein teuerster Todeskandidat. (_Zu Justus, der -aufgestanden ist_) Aber bitte doch Platz zu behalten. (_Sich -gleichfalls setzend, links des Tisches_) Und bitte mich nicht -mißzuverstehen. Todeskandidaten sind wir ja alle; Sie können mich noch -gut überleben! -- (_Christians linkes Handgelenk nehmend, sich nach -Anne umdrehend_) Gelt, Schwester: der reine Methusalems-Puls! Sie -messen den Blutdruck doch noch regelmäßig? - -+Anne+ - -Gewiß, Herr Geheimrat; er ist etwas niedriger. - -+Sanitätsrat+ - - (während Anne hinausgeht) - -Natürlich! Blos Aufregung vermeiden! Bei Ihrer zähen Konstitution: -wir werden schon wieder Lebensmut fassen! In der letzten Sitzung der -Menschenfreunde hat man sogar darauf gewettet, Sie würden doch noch -Mitglied werden. - -+Christian+ - -Sehr gütig; aber einstweilen scheint mir, der ehrlichste Menschenfreund -ist der T-Tod. - -+Sanitätsrat+ - -Ja, der Mensch bleibt ewig ein Grillenfänger. - -+Christian+ - -Haha-hörst du’s, Vetter? Jetzt muß ich’s wohl glauben. - -+Justus+ - - (lachend) - -Die Diagnose stellt dir Jeder! - -+Sanitätsrat+ - -„Jeder Wohlgesinnte!“ sagt der Herr Bürgermeister. (_Zu Christian_) -Aber was hat denn der Biedermann? Begegnete mir bei der neuen Klinik -und machte ein Gesicht wie ein Truthahn, als ich Ihren Namen nannte. - -+Christian+ - -Ist Ihnen vielleicht auch der Akademie-D-Direktor bei der neuen Klinik -begegnet? - -+Sanitätsrat+ - -Aber Verehrtester, ruhig Blut! Sie werden sich doch nicht einbilden, -ich hätte den Kitsch mit ausgeheckt? - -+Christian+ - -Nein; aber jeder P-Pinsel bildet sich ein, er dürfe mich mit -Berühmtheit beschmaddern, weil ich das selber schon reichlich besorgt -habe. - -+Sanitätsrat+ - -Ja, der Mensch ist von Natur größenwahnsinnig. Aber wiegesagt: nur -nichts tragisch nehmen! (_Zu Justus_) Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie -werden das Ihre tun, uns die Grillen vertreiben zu helfen. - -+Justus+ - -Ja selbstverständlich! nach Kräften! mein Möglichstes! - -+Sanitätsrat+ - - (aufstehend) - -Also dann: gesundes Fest allerseits! Und nicht wahr: wenn das Herzchen -doch wieder muckt: sind ja nur drei Schritte zu mir hinüber. - -+Christian+ - - (lächelnd, die Hand ins Leere schwenkend) - -Mancher geht auch ohne Schritte hinüber -- - -+Sanitätsrat+ - -Ohoh! solche Witze darf +ich+ blos machen. (_Beiden Herren -die Hand schüttelnd_) Na wiegesagt: gesegnete Mahlzeit -- (_geht -händereibend eilends ab_) -- -- - -+Christian+ - -Es scheint, die M-Menschenfreunde wollen mich jetzt zum eingebildeten -Kranken stempeln. - -+Justus+ - -Das könnte dir doch nur angenehm sein. - -+Christian+ - -Und wenn es mir nun -- entsetzlich wäre? - -+Justus+ - -Über diese Annahme darf ich wohl lächeln. - -+Christian+ - -Wenn ich dir aber nun eingestände, wie es mich manchmal ekelt und reut, -daß ich mich nicht verurteilen ließ? wie es mich damals b-bohrend -drängte, öffentlich für die Tat einzutreten, zu der mir, wie du jetzt -gütigst meinst, g-glücklicherweise der Mut gefehlt hat? - -+Justus+ - -Dann müßtest du mir schon erlauben, auch +diese+ Einbildung zu -belächeln. - -+Christian+ - -Auch wenn ich w-wirklich gemordet hätte? - -+Justus+ - -Dann doch erst recht, bei deiner Gemütsart. - -+Christian+ - -Bei meiner Feigheit, willst du wohl sagen. - -+Justus+ - -Nein, in diesem Falle: bei deiner Verstocktheit. - -+Christian+ - -Sehr schmeichelhaft, daß du die für so stark hältst. Aber die Reue -kann ebenso stark sein, selbst im verstocktesten Missetäter. Dein -bewunderter Bonaparte zum Beispiel: Haha-Hunderttausende hat er -skrupellos auf seinen Schlachtfeldern umgebracht, aber der eine Duc -d’Enghien, den er hi-hinterlistig hinrichten ließ, der wurmte ihn noch -auf Sankt-Helena, trotz aller staatsklugen Entschuldigungsgründe. Die -Vernunft mag noch so zielbewußt über das Gewissen hinwegschreiten, das -Gemüt l-läßt sich nicht hintergehen. - -+Justus+ - -Nun, du merkst wohl, ich sprach dir blos zu Munde. Da es dir Spaß -macht, dich selbst zu narren, will ich kein Spielverderber sein. - -+Christian+ - -Also du hältst mich nicht für verstockt? - -+Justus+ - -Sonst hättest du doch wohl kaum die Absicht, grade mir einen -Liebesdienst anzuvertrauen. - -+Christian+ - - (lächelnd) - -Sehr freundlich, daß du mich erinnerst. (_Das versiegelte Heft wieder -vorholend_) Aber darf ich dich erst noch bitten, mir mit deiner -m-möglichsten Offenheit eine Frage zu beantworten? - -+Justus+ - -Und --? - -+Christian+ - -Gesetzt, ich hä-hätte den Mut gehabt, den du mir ehrlicherweise -absprichst, -- gesetzt, ich hätte t-trotzdem die Reue, die du mir -anstandshalber nicht zutraust, -- (_schwer die Hand auf das Heft -legend_) gesetzt, ich würde es dir +beweisen+ -- unter vier Augen, -lieber Vetter -- nicht vor Zeugen, Herr Ki-Kriminalkommissar --: wärest -du dann noch bereit zu dem Liebesdienst? - -+Justus+ - -Wie kann ich das wissen -- ohne Beweis -- - -+Christian+ - -Ist mein Anblick dir nicht Beweis genug?! -- - -+Justus+ - -Ich muß wohl verstummen, wenn du so fragst. - -+Christian+ - -Du meinst, ein Verbrecher verdient kein Vertrauen? - -+Justus+ - -Wenn er bereut, vertraut ihm sogar der Richter. - -+Christian+ - -Und wenn dich nun ein solcher Verbrecher, dem die Reue aus jeder -Grimasse stiert, den sie t-tausendfältig härter gestraft hat, als -irgend ein Richter strafen kann -- wenn dich der nun unter vier Augen -bäte: (_wieder die Hand auf das Heft legend_) hier ist mein Geständnis, -vernichte es! du hältst meine Seele in der Hand! du kannst sie aus der -Verzweiflung retten! du siehst, es foltert mich stückweis zu T-Tode, -daß ich ein einzig Mal unmenschlich war! du gibst mir den Glauben ans -L-Leben zurück, ans Ewige Leben, an Gott und die Menschheit, +wenn du -m-menschlicher handelst als ich+ -- - -+Justus+ - - (die Hand nach dem Heft ausstreckend) - -Ich soll es also -- ins Feuer werfen -- - -+Christian+ - - (überläßt es ihm lächelnd) - -Ja, Justus -- zum Christfest wiegesagt -- -- - -+Justus+ - - (steht auf, macht einige Schritte nach dem Kamin hin, wendet sich - plötzlich ruckhaft um) - -Und du denkst, so lasse ich mich begimpeln? Du bildest dir ein, ich -durchschau nicht dein Lächeln? Du glaubst, du kannst mich (_nach dem -Porträt weisend_) beschwatzen wie +die+ da und dann mich auslachen -wie noch nie? Du Narr, der Andre zu narren meint! -- (_Den Umschlag von -den Heftblättern reißend und ihn vor Christians Füße schleudernd_) -Hier: +so+ behandle ich dein Geständnis! kraft meines Amtes, du -Auswurf der Menschheit! -- (_Hastig die Blätter musternd_) Was? -- wa --- (_steht in sprachloser Verblüfftheit da_) -- - -+Christian+ - -Nun? Was sagt dir das leere Papier? -- - -+Justus+ - - (die Blätter zerfetzend und wegschmeißend) - -Ah, du Jammergestalt, du schandschnäuzige! (_Mit geballten Fäusten auf -Christian los_) Du bist ja die raffinierteste Viper, die je den Erdball -begeifert hat! (_Vor Christians Blick zurückzuckend_) Wenn mir nicht -graute, dich anzurühren, ich schlüg dir die Zähne aus dem Giftmaul! -(_Die Fäuste in die Hüften stemmend_) Ist denn kein Funken Scham in -dir, so mein heiligstes Pflichtgefühl zu verhöhnen? - -+Christian+ - - (endlich gell loslachend) - -Ha-ha-ha-hei -- dein hei -- hahahei -- (_plötzlich krampfhaft nach Luft -ringend, lallend_) heili -- ha-heili -- ha-hilf -- hilf! - -+Justus+ - -Dir --? - -+Christian+ - - (röchelnd) - -+Hilf+, Justus! ich dank dir’s! ich sterbe! ich fühl’s! - -+Justus+ - -Dann stirb, Giftmischer! - -+Christian+ - - (mit brechender Stimme, unsäglich lächelnd) - -Hab Dank, du -- M-Mörder! (_er sinkt zusammen_) -- - -+Justus+ - - (sich an die Brust fassend) - -Ich --? -- (_Hart, mit abwälzender Handbewegung_) Lächerlich! -- (_Er -geht erhobenen Hauptes zur Tür; öffnet, ruft_) Anne! Schwester Anne! -- -(_Sie kommt, er zeigt auf Christian_) Sehen Sie nach, ob noch zu helfen -ist; ich möchte den Arzt nicht unnütz bemühen. - -+Anne+ - - (auf die Papierfetzen deutend) - -Was ist geschehen? War +das+ die Versöhnung? - -+Justus+ - -Rasch! helfen Sie lieber! Mir scheint, er regt sich -- - -+Anne+ - - (rechts des Tisches sich über Christian beugend, während Justus - sich links auf die Stuhllehne stützt) - -Das Herz, das klopft noch -- -- - -+Christian+ - - (traumhaft) - -Anne, bist +Du’s+ --? - -+Anne+ - -Ja, Herr Christian, ich; -- nur still -- nur nit bang -- - -+Christian+ - -Sie sollen mich nicht so ansehn alle! - -+Anne+ - -Nein, Herr Christian, niemand -- nur ich! -- (_Sich aufrichtend, mit -unabweisbarer Frage_) Herr Justus --? - -+Justus+ - - (von ihrem Blick bezwungen) - -Ja, dann ist’s meine Pflicht, den Arzt zu rufen -- (_geht gesenkten -Hauptes hinaus_) -- -- - -+Christian+ - -Sind wir allein, Anne? - -+Anne+ - -Ganz allein -- (_sie legt ihren Arm um seine Schultern_) -- - -+Christian+ - -Ich seh noch immer die Augen alle -- -- nicht M-Menschenaugen -- - -+Anne+ - -Engelaugen -- -- - -+Christian+ - -Sie wollen alle, ich soll es s-sagen -- -- nur einmal sagen -- - -+Anne+ - -Dann ist’s gesühnt -- -- - -+Christian+ - -Ich -- hörst du, Anne? - -+Anne+ - -+Gott+ will es hören -- -- - -+Christian+ - -Ich -- hilf doch, Anne! - -+Anne+ - -Nur Gott kann helfen -- -- - -+Christian+ - -Ich -- ich -- haha-habe -- -- (_jäh sich aufbäumend, schreiend_) -+Nein+, Gott -- (_sich ans Herz greifend, selig lächelnd_) ich -nicht! -- (_er stürzt mit dem Gesicht auf den Tisch_) -- -- - -+Anne+ - - (faßt ihn bang bei der Schulter) - -Herr Christian -- lieber Herr Christian -- -- (_neigt ihr Ohr an seine -linke Seite, kniet dann ehrfürchtig neben ihm nieder, faltet die Hände -zu stillem Gebet_) -- -- - -+Justus+ - - (öffnet horchend die Tür, läßt sie offen, tritt leise ein, nähert - sich verhalten dem Tisch, wartet bis Anne sich erhebt; dann mit - heiser drängender Stimme) - -Hat er gebeichtet? was hat er gesagt? -- (_Da Anne zurückweicht, barsch -auf sie los_) Was hat er gesagt? ich treib Sie zum Zeugeneid! - -+Anne+ - - (noch einen Schritt zurücktretend, hoheitsvoll nach der Tür weisend) - -Gehen Sie endlich, Sie armer Mensch! -- (_Justus, langsam sich an die -Brust fassend, starrt auf den Toten_) -- - - (Vorhang) - - - - -Michel Michael - -Komödie in Versen - -Zweite Ausgabe - - - - -Personen: - - - +Michel Michael+, ein deutscher Bergarbeiter. - +Lise Lied+, sein Mündel. - +Die Frau Venus.+ - +Tyll Eulenspiegel.+ - +Der getreue Eckart.+ - +Der Kaiser Rotbart.+ - +Der rote Karl+, ein Sozialdemokrat. - +Der schwarze Karl+, ein Ultramontaner. - +Der Bergrat.+ - +Der Landrat.+ - +Der Bürgermeister.+ - +Die Frau Bürgermeisterin.+ - Ein Kaplan. - Ein Pastor. - Drei Maschinenheizer. - Polizisten. Kobolde. Leute in Masken. - - -Zeit und Ort: - -Eine Johannisnacht in einer mitteldeutschen Kreisstadt. - - (Rechts und links immer vom Zuschauer aus.) - -+Eulenspiegel als Vorredner+ - - (von rechts kommend, in roter Gugeltracht mit Pritsche): - - Meine allergnädigsten Damen und sehr verehrlichen Herrn! - Sie werden mirs wohl glauben: ich gefiele Ihnen gern. - Aber mein Herr, der Dichter, hat mich leider ausersehn, - Jedem eine Nase zu drehn. - Wer weiß, vielleicht dreh ich ihm selber auch eine; - indessen diese Nase hat -- lange Beine. - Zunächst nämlich soll ich mich erfrechen, - über den Gang der Handlung im Voraus mit Ihnen zu sprechen. - Sie sehn’s schon an mir, und merken mit Gruseln: huh, - hier gehts offenbar geheimnisvoll zu. - Meine Maske hat weder Haut noch Haar, - blos ein unverschämtes Allerweltsspiegellöcherpaar - - (er weist auf seine Augen) - - und einen Schlitz für diese meine Zunge - - (er streckt sie heraus) -- - - und darunter, ganz im Dunkeln, hängt mein Herz und meine Lunge. - Damit mach ich meistens nichts weiter als den Wind, - in den meine Worte gesprochen sind. - Denn mit Worten, da die Worte im Kopf entstehn, - kann der Mensch zwar herrlich andern Menschen den Kopf verdrehn; - aber da es in der Welt, die sich um uns dreht, - dennoch nicht nach unserm Kopf zugeht, - so verläuft der Gang der Handlung auf den 2 mal 5 Beinen - der Hauptpersonen, ausschließlich der meinen. - Ich bin also kein großschnäuziger Tugendschweinigel, - sondern heiße Tyll -- mit Ypsilon bitte -- Eulenspiegel; - das heißt, ich husche als närrischer Kauz durch die Welt, - der sich und andre närrische Käuze mit seinem Doppelspiegel - prellt -- - - (er weist wieder auf seine Augen). - - Was für Nebenpersonen noch drin herumlaufen, - das ist ein kaum zu zählender Haufen; - denn zu den Nebenpersonen um jede Menschenseele herum - gehört bekanntlich das ganze p. p. Publikum -- - - (er verbeugt sich). - - Manche Person ist übrigens eigentlich keine; - und zwei der Hauptpersonen sind im Grunde nur eine. - Manche andre zählt mindestens fürn paar Schock; - und die hauptpersönlichste natürlich steckt in Jedermanns Rock. - Kurz, jegliche Seele tut alles, was sie kann; - aha! es scheint, sie fangen schon an. - -+Vierstimmiger Gesang mit Lautenspiel+ - - (hinterm Vorhang): - - Wir tragen alle ein Licht durch die Nacht, - unter Tag. - -+Eulenspiegel+ - - (horcht und spricht parodierend nach): - - Sie tragen alle ein Licht durch die Nacht. - -+Gesang+: - - Wir träumen von unerschöpflicher Pracht, - über Tag. - -+Eulenspiegel+ - - (wie vorher): - - Sie träumen von unerschöpflicher Pracht. - -+Gesang+: - - Wir helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich; - Glückauf! - -+Eulenspiegel+: - - Sie helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich. - -+Gesang+: - - Wir machen das Erdreich zum Himmelreich; - Glückauf! - -+Eulenspiegel+: - - Sie machen das Erdreich zum Himmelreich. - Da verkriech ich mich schleunigst, ich armer Schuft; - sonst sprengen sie mich am End in die Luft. - - (Er dreht eine Nase, wickelt sich in den Vorhang, und diesen mit - wegziehend verschwindet er rechts). - - -Erster Aufzug - - (+Bild+: Altes kleines Landhaus mit Obstgärtchen. Rechts Wald - und Gartenzaun. Links hinten das Haus. Vorn entlang Landstraße. - An der Hauswand links ein Wegweiser, dessen drei Arme folgende - Aufschriften tragen: Zur Stadt, Zur Grube, Feldweg. Am Gartentisch - sitzen +Michel Michael+, der +rote Karl+ und der - +schwarze Karl+; daneben steht +Lise Lied+ mit der Laute, - in hellgrünem Sommerkleid und weißer Schürze.) - -+Lise Lied+ - - (singt bei offener Bühne weiter, während die Andern nur den - Kehrreim mitsummen): - - Einst fiel alles Leben vom Himmel herab, - über Tag. - Wir Bergleute schürfen’s aus dem Grab, - unter Tag. - Wir fördern’s herauf, das tote Gestein; - Glückauf! - Wir machen’s wieder zu Sonnenschein; - Glückauf! - - (Die Männer stoßen mit ihren großen Schnapsgläsern an und trinken - sie leer). - -+Michel Michael+ - - (in schwarzer Gamaschenhose und weißem Hemd mit offenem Halskragen): - - So, Lise, nun hol uns noch jedem so ein Glas; - denn die Bergmannskehle - -+Lise+: - - Weiß schon: ist mehr trocken als naß. - O Michel! -- - -+Michel+: - - Blos heut mal so’n kleinen Seelenwärmer; - morgen fließt wieder Milch und Sauerbrunn durch die Därmer. - Man muß sich doch für das nächtliche Fest vorbereiten. - -+Lise+: - - Ja, und dann stöhnt ihr über die schweren Zeiten. - - (Sie geht mit den Gläsern und der Laute ins Haus.) - -+Der rote Karl+ - - (trägt gewöhnlichen schwarzen Jackettanzug, schwarzen Schlapphut - und rote Krawatte): - - Also willst du wirklich nachher aufs Johannisfest? - -+Michel+: - - Warum +nicht+? - -+Der rote Karl+: - - O blos: weil der Michel sonst sich zehnmal bitten läßt, - eh er einmal kommt. Aber ja: der Herr Bergrat hat’s gewunschen, - da ists freilich ratsam, sich untertänigst mitzubepunschen. - Sicher wittert man’s da oben so gut wie ich: - manche Stimme in der Knappschaft schwört auf dich. - Hast ein eigen Haus, bist bald Vorhäuer, kannst Leute dingen, - möchtest dich gewiß gar zum Steiger aufschwingen; - wirst morgen für ’ne Stütze von Thron und Altar gelten, - und der Bergrat - -+Michel+: - - Hör mal, roter Karl: den lass ich nicht schelten. - Er meint’s leutselig mit uns Arbeitern allzumal. - Er bezahlt auch heute Nacht wieder Musik und Saal. - -+Der rote Karl+: - - Sehr wahr! und in vier Wochen ist Reichstagswahl. - Du Schäfersohn läßt dir leicht was vormusizieren. - -+Der schwarze Karl+ - - (trägt gleichfalls schwarzen Jackettanzug, aber steifen Hut, - schwarze Krawatte und eine auffällig große Hornbrille mit - dunkelblauen Gläsern): - - Ja, ich meine auch: man muß sich doch wohl etwas salvieren. - Ich sage nichts gegen den Regierungskandidaten, - aber der Herr Bergrat privatim ist doch sozusagen ein Teufelsbraten. - Nicht etwa weil er -- obzwar: auch das ist bedeutungsvoll -- - ’ne jüdische Urgroßmutter gehabt haben soll. - Aber was man so im stillen von seinem Lebenswandel hört -- - -+Der rote Karl+: - - Du, hörst du’s, Michel? der Schwarze ist christlich empört! - Fraglos ist er einzig drum aus der Stadt gekommen, - um hier dem Heil deiner armen Seele zu frommen. - - (Lise kommt mit den gefüllten Schnapsgläsern wieder.) - -+Der schwarze Karl+: - - Hoffte allerdings, Sie, Herr Namensvetter, nicht anzutreffen. - -+Der rote Karl+ - - (sein Glas nehmend): - - Ja, gottvoll, wie sich die Menschen äffen. - -+Der schwarze Karl+ - - (ebenso): - - Nun, Gevatter Michael weiß, welche Tiere am lautesten kläffen. - -+Michel+ - - (mit ihnen anstoßend): - - Holla! Frieden, ihr Karle! Gäste solln sich vertragen! - Muß ich junger Kerl das euch beiden alten sagen? - Hie Knappschaft! Glückauf! Jeder Knappe im Schacht - nehm sich vor falschen Wettern in Acht! - -+Der schwarze Karl+: - - Glückauf, Jungfer Lise! auf das schöne Lied vom Himmel. - -+Lise+ - - (während die Männer trinken): - - O, das ist am schönsten +ohne+ euer Kümmelgebimmel. - -+Michel+: - - Sieh mal, roter Karl: deine Zukunftsrepublik, - das ist doch auch ’ne Art Rattenfängermusik. - Und sehn Sie, schwarzer Karl: Ihr Ewigkeitsparadies - lockt wohl erst recht die liebe Maus zur Mies. - Und derweil ihr Pfiffikusse so die Gegenwart vexiert, - hat der dumme Michel sie längst sehre anderst kapiert. - Denkt ihr, ich will blos drum heut aufs Maskenfest, - weil der Bergrat da ein paar Sektproppen tanzen läßt? - dann tät ich mich lieber mit euch hier draußen besaufen. - Nein, ich will mein Haus an die Grubengesellschaft verkaufen - und in die Stadt ziehn, werte Zeitgenossen! - -+Lise+: - - Michel, nein! - -+Michel+: - - Ja, Lise; das ist nun mal beschlossen. - - (Er langt ein paar Schriftstücke aus der Brusttasche.) - - Hier, ich hab schon alles mit dem Rechtsanwalt aufgesetzt, - und der Bergrat ist kein Knicker; besonders jetzt, - wo sie doch die Vorstadtzeche weiter austeufen wollen - und Platz brauchen für den neuen Wetterstollen, - da wird er heut Nacht bei’ner Buddel Wein - gern zu sprechen sein - und mir die werte Unterschrift geben. - Potz Taler, Lise! sollst sehn, das wird ein Leben! - Na, was machst du denn fürn Sechsdreiergesicht? - -+Lise+: - - Mir ist bang um dich, Michel. O bitte, tu’s nicht! - -+Michel+: - - Achgottedoch! daß dir’s Herzchen nur nicht bricht! - Brennst doch sonst drauf, mit in die Stadt zu fluttschen. - -+Lise+: - - Aber für immer? - -+Michel+: - - Für immer tut kein Weibsbild muckschen. - - (Er nimmt ihre Hand.) - - Weißt du: wenn wir Abends hier manchmal so einsam sitzen - und ich seh da drüben im Tal den großen Lichterknäul blitzen, - die Bahnkörperlampen, die Schaufenster, die Straßenlaternen, - wie sie wetteifern mit den Sternen, - und was hinter den erleuchteten Scheiben - all die tausend Menschenköpfe wohl sinnen und treiben, - was für Strahlen hin-und-herzucken zwischen ihnen - aus den wunderlichen Instrumenten, Apparaten, Maschinen, - elektrischen Drähten -- (_er erhebt sich_) - ich kann’s garnicht ganz sagen, - wie das strahlt -- und mittendurch rollen funkelnd die Wagen, - wodrin Hoch und Niedrig zusammen übers Pflaster jagen, - zu Festsälen, Theatern, Bibliotheken, Klubs, Volkshallen, - kann sich jedermann immer höher bilden mit Allen -- - ja, dann fühl ichs wild: da +bewegt+ sich die Welt! - so wild, du, daß mirs manchmal die Stirnadern schwellt! - - (Er setzt sich und nimmt einen großen Schluck.) - -+Der rote Karl+: - - Ja, Fräulein Lise: Sie können’s noch nicht ermessen: - in der Stadt, da erwacht der Mensch zu edlern Interessen. - - (Er nimmt gleichfalls einen großen Schluck.) - -+Der schwarze Karl+: - -Ja --! Nämlich auch die Kirchen nicht zu vergessen! - - (Er trinkt sein Glas leer.) - -+Michel+ - - (auf die Schriftstücke hauend): - - Kurzum, ich will mehr, als mein väterlich Erbteil begaffen, - ich will mir auf eigne Faust meinen Fußboden schaffen; - +das+ ist mein Intresse! Jawohl! Wirst es auch noch kapieren; - wirst vielleicht dereinst noch in seidnen Kleidern stolzieren, - in Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen, - und an Einer Tafel mit dem Bergrat sitzen. - Also Kopf hoch, Lise! maul nicht! du übertreibst es. - -+Lise+: - - O Michel, du bist ein Träumer -- und bleibst es. - -+Michel+: - - Hat noch niemand unter meinen Träumen gelitten. - - (Er trinkt Rest mit dem roten Karl.) - - Komm, bring uns lieber noch solchen lütten dritten - und sing eins! - -+Der schwarze Karl+: - - Darum allerdings möcht ich gleichfalls schön bitten. - Das heißt, ums Singen mein’ich. - -+Lise+: - - Meinen Sie! ums Singen! - O, euch sollt alle miteinander der Hörselberg verschlingen! -- - - (Sie stampft mit dem Fuß auf und rennt ins Haus.) - -+Der rote Karl+: - - Hast sie doch wohl ein bißchen gar zu herrisch überrascht. - Mich auch, muß ich sagen. Wer erst am Kapitalismus nascht -- - -+Michel+ - - (nochmals auf die Schriftstücke hauend): - - Ach was, Redensarten! Ich tue, was sich verintressiert. - Ihr lauert blos immer und lamentiert. - - (Er steckt die Papiere wieder in die Tasche.) - -+Der rote Karl+: - - Michel, Michel --: jeder Knappe im Schacht - nehm sich vor falschen Wettern in Acht! - -+Der schwarze Karl+: - -Deren gibts allerdings manche auch +über+ Tag. - -+Michel+: - - Ja, wenns eure Trinksprüche täten, dann ging’s Schlag auf Schlag. - Schwerenot! ihr macht einem wirklich den Feiertag schwül; - und dabei ists ein Abend, wie feucht Moos so schön kühl. - Hee, Lise! Racker! gleich kommst du! auf der Stelle! - -+Der schwarze Karl+: - - Ich hol sie -- - - (er begibt sich durch die Gartenpforte vors Haus zur Tür) -- - -+Lise+ - - (mit einer sehr großen Schnapsflasche ihm entgegen): - - Da habt ihr eure Intressenquelle! - - (Sie drückt ihm die Flasche in den Arm.) - -+Der schwarze Karl+ - - (heimlich, während der rote mit Michel gestikuliert): - - Pst, Jungfer Lise, im Vertrauen! ich mein’s wirklich gut. - Wenn der Michel nun, und sein Sie froh, daß ers tut, - in die Stadt zieht: dann drängen sie ihn so Schritt für Schritt, - daß er in das Kränzchen zur heiligen Elisabeth tritt! - und Sie, Jungfer Lise, natürlich mit! - Es ist vergnüglich, und lohnt sich, wie jede Christenpflicht. - -+Lise+: - - Ja, wenn Sie Eins mir versprechen als Christ; sonst nicht. - -+Der schwarze Karl+: - - Gern! Und? - -+Lise+: - - Daß er nicht in die Stadt zieht, Sie Kirchenlicht! - - (Sie macht ihm einen Knix und verschwindet.) - -+Der schwarze Karl+: - - Verflixte Hexe! -- - -+Michel+: - - Also wirklich, Roter: gib dich endlich zufrieden: - die hohen Herrn, die dienen mir blos, um vorerst mein Eisen zu - schmieden. - Nachher -- -- Was! die ganze Flasche schickt sie uns her? - -+Der schwarze Karl+ - - (die Flasche auf den Tisch stellend): - - Ja, die Jungfer scheint sehr entgegenkommend; sehr. - -+Michel+: - - Aha! sie will ihren Vormund mal wieder im stillen beschämen. - Jetzt soll sie’s aber merken: ich kann mich bezähmen! - Kein Schluck jetzt wird getrunken! - -+Der schwarze Karl+: - - Hm -- - -+Der rote Karl+: - - Nu ja -- - -+Der schwarze Karl+: - - Ja, im Grunde - soll der Mensch sich beherrschen -- - -+Der rote Karl+: - - Besonders mit dem Munde. - -+Michel+: - - Sie denkt gewiß, weil ich manchmal Händel anfange; - und da ist ihr vor den fremden Stadtmenschen bange. - -+Der schwarze Karl+: - - Oder vielleicht auch -- hm -- vor den Menschern. - -+Michel+: - - Wie? - Ach so! Nein, Schwarzer: ich bin kein solches Vieh. - Und sie kennt mich; wie Bruder und Schwester sich kennen. - -+Der rote Karl+: - - Könnt drum doch wohl so’n Fünkchen Eifersucht brennen. - Woher hast du sie eigentlich so als Mündel genommen? - -+Michel+: - - Ja, woher? -- Aus fernem Süden wohl ist sie gekommen. - Es war ein Abend wie heute. Da im Wald. - Ich suchte Vogelnester, war so zwölf dreizehn Jahre alt, - da hör ich auf einmal ein fremdländisch Lied erklingen; - rein als wollt mich ein Bergquell tief aus der Erde durchdringen. - Und wie ich mich leise im Moose näher stehle, - sitzt da ein klein braun Mädel in einer Höhle, - so klein noch, und barfuß, gewiß kaum sechs Jahr, - einen Kranz wilde Efeuranken im Haar, - und mit Augen, wie der Kuckuck fürwahr -- - ja, so saß sie unter dem Felsenhang - und sang -- und sang -- -- - Konnte anfangs kein deutsches Wörtchen sagen, - ließ sich nur ihren Namen, der hieß Lilith, abfragen, - aber weil sie sang, wo sie ging und stand, - haben wir sie Lise Lied genannt; - bis sie schließlich ganz unsre Sprache angenommen - und vergessen hat, woher sie gekommen. - Und da mein Vater starb, eh daß sie großjährig war, - bin eben Ich jetzt ihr Vormund; bis zum neuen Jahr. - -+Der schwarze Karl+: - - Wird wahrscheinlich irgend ein verlaufen Zigeunerkind sein. - Ward sie denn getauft? - -+Michel+: - - O! reichlich! mit Wasser und mit Wein. - -+Der rote Karl+: - - Da sollt man doch eigentlich eins drauf trinken. - -+Der schwarze Karl+: - - Hm. Ist Alles Gottesgabe. - -+Michel+: - - Jawoll! pros’t Schinken: - jetzt wird gefastet! und wenn ihr noch so druckst! - - (Leise:) - - Sie steht nämlich hinter der Gardine und luchst; - ich kenn sie. - -+Der schwarze Karl+: - - Scheint ja indertat recht schwesterlich aufzupassen. - -+Michel+: - - Je nun, ich muß sie doch im Haus schalten lassen; - hütet auch heute Nacht wieder allein das Nest. - -+Der rote Karl+: - - So -- sie geht nicht mit aufs Johannisfest? - -+Michel+: - - Nein; sonst würd sie mir doch vielleicht das Geschäft verleiden. - -+Der rote Karl+: - - So, so -- - -+Der schwarze Karl+ - - (an der Flasche fingernd): - - jo, jo -- - -+Der rote Karl+: - - Und wie willst denn Du dich verkleiden? - -+Michel+: - - Ich geh einfach in Vaters Schäferhut-und-rock - und mit seinem langen Hirtenstock. - Hat nun manch Jahr schon still in der Ecke gestanden, - und strich früher wie’n Feldherrnstab hier herum in den Landen. - Ja: kannst mirs glauben: gern zieh ich auch nicht heraus - aus dem lieben alten Haus, - wo ich von Kind auf jeden Holzpflock drin kenne. - Aber wenn ich Morgen für Morgen zur Schicht auf die Zeche renne - und ich denk mir, wir solln hier ewig so hocken, - uns immer wieder denselben Alltagsbrei einbrocken -- - denn ihr, was wollt +ihr+ denn? blos lüstern aufmucken - und euch dann untern öffentlichen Suppenlöffel ducken, - zu dem schon jetzt alle Ja und Amen nicken, - bis selbst die Bettelleute schließlich im Fett mitersticken -- - hrr, dann fühl ich’s heiß mir durch jede Pore toben: - Luft!!! schenkt uns einen Krieg, ihr Herrn da oben! - - (Er greift nach der Flasche, gießt sich das Glas voll und trinkt.) - -+Der schwarze Karl+ - - (sich bekreuzend): - -Josef-Maria, Krieg! Gevatter, das heißt Gott versuchen! Mit Verlaub -- -(_er gießt sich gleichfalls ein_) -- - -+Der rote Karl+: - - Ja, erlaube, Michel: du hast leicht fluchen. - Du bist noch jung, und kennst den Krieg nicht, und meinst voll - Feuer, - er sei ’ne Art Welteroberungsabenteuer. - +Ist+ er auch; und tät heute die Sturmtrommel schlagen - ich würd meine Knochen wieder mit auf die Schanze tragen; - das steckt uns im Blut, uns Bestien. Ja, ’ne Wollust ist der Krieg, - verhilft unsern Raubtiergelüsten zum Sieg; - aber Glück, Michel, menschlich Glück schafft er keins. - -+Michel+: - - Papperlapapp, Karl; ist dein Glück etwa meins? - Halt keine Volksreden, Roter! trink lieber eins! - - (Ihm einschänkend und dann mit Beiden anstoßend:) - - Glück, das ist ein Wort wie’ne Fliegenfalle; - Glückauf! es lebe der Sirup für Alle! - - (Sie trinken.) - -+Lise+ - - (tritt lachend aus der Tür an die Hausecke): - - Wohl bekomm’s! -- Ihr beherrscht euch aber lustig. - -+Michel+: - - O, du Kobold du! Seht ihr’s, da habt ihr’s, das wußt’ich. - -+Lise+ - - (tritt an den Gartentisch und nimmt die Flasche): - - Will sie aber doch vor euch Selbstbeherrschern lieber verstecken. - Gute Nacht, ihr Herrn! und laßt’s euch schön langsam schmecken! - - (Sie geht wieder ins Haus.) - -+Der schwarze Karl+: - - Potz Kuckuck -- - -+Der rote Karl+: - - Glaub mirs, Michel: du kennst die Kriegswut schlecht. - Höchstens aus Notwehr ist sie ein Menschenrecht; - das sollte man nicht als ein Glücksspiel verkündigen. - -+Der schwarze Karl+: - - Nein, bei den heiligen Nothelfern allen: das heißt sich versündigen. - -+Der rote Karl+: - - Verspielst blos deine Kraft, wenn du immer so überschäumst - -+Michel+: - - und dabei den Zukunftsstaat versäumst -- - -+Der rote Karl+: - - Auch die Gegenwart, Michel. Glaub mirs: du träumst! -- - -+Der schwarze Karl+: - - Das kommt, wenn man sich dem ewigen Heil verschließt - und zuviel in den neuen Büchern liest. - - (Er nippt behutsam an seinem Glas.) - -+Michel+: - - O, auch in den alten. Ich könnt euch manche Historie sagen, - wie sichs hier in Wahrheit einstmals hat zugetragen, - als unsre Väter im Herzgau von allen deutschen Landen - hier zwischen der Wartburg und dem Blocksberg ihr Seelenheil fanden, - zwischen dem Kyffhäuser und dem Hörselberg. - Damals ging’s Handeln noch nicht so überzwerch - mit Flausen und Klauseln und Staatsrücksichten wie heute; - damals +vermochten+ noch stracks die aufstrebsamen Leute, - mit der Faust oder Stirn ihren Hochsinn durchzudrücken, - sich selbst und allen Nachkommen zum Entzücken. - O, ich sag euch: hier so lesen von den glorreichen Zeiten, - und die Dämmrung beginnt aus den Schatten der Zweige zu gleiten, - daß die Buchstaben flimmern auf den vergilbten Seiten: - schier leibhaftig seh ich sie dann Gestalt annehmen - und einherschreiten, die gewaltigen Schemen, - die gewappneten Herren aus trutzigem Bauerngeschlechte, - die frommen Einsiedler, die klugen Schalksknechte, - mit ihren blinkenden Schwertern, Kruzifixen, Helmzierden, Drommeten, - gleich als wollten sie da aus dem Wald zu mir treten - und mit mir beten -- -- - -+Der schwarze Karl+: - - Was! Hier? Gestalten? hier unter diesen Bäumen? - Nein, Gevatter Michael: es scheint wirklich, Sie träumen. - - (Er nippt wieder ein Schlückchen.) - -+Michel+: - - Na! dann seid ihr Beiden ja endlich einmal einig. - Und könnt austrinken! Es wird dunkel, mein’ich. - -+Der rote Karl+: - - Ist freilich Mondschein. Erstes Viertel, wie du siehst. - Aber wenn du meinst -- und dich unsre Gesellschaft verdrießt -- - - (Er trinkt aus.) - -+Der schwarze Karl+: - - Ja, dann wollen wir wahrlich keine Zeit verlieren. - - (Er trinkt ebenfalls aus.) - -+Michel+: - - Na, ich mein blos: ich muß mich doch zum Fest ausstaffieren. - -+Lise Lied+ - - (singt im Innern des Hauses, durchs Dachfenster sichtbar): - - Willkommen, weißer Mond im Blauen, - allein! - Laß mich in Deine Heimat schauen, - sei mein! - Ich sitz im Dunkeln voll Geduld, - du scheinst! - O leuchte Jedem heim voll Huld, - dereinst! - - (Sie schließt das Fenster.) - -+Der schwarze Karl+: - - Meiner Seel! wenn sie singt, dann ist sie der reine Engel. - -+Der rote Karl+ - - (aufstehend): - - Ja, und winkt uns heim mit dem Tulpenstengel. - - (Im Haus wird Licht angesteckt, hinterm Dachfenster.) - - Also, Michel, Glückauf; vielleicht siehst du mich noch um - Mitternacht. - -+Michel+ - - (gleichfalls aufstehend): - - Wie? - -+Der rote Karl+: - - Nu, es ist doch Maskenfreiheit angesagt - und jeder wahlberechtigte Bürger nebst Familie eingeladen; - da wirds ’nem alten Kriegsveteranen, denk ich, wohl auch nicht - schaden. - -+Michel+: - - Siehst du, Roter: das ist wacker! Wahrhaftig, das freut mich. - -+Der rote Karl+: - - Trotz dem Bergrat? -- Na! ich will nicht hoffen, es reut dich. - - (Er schüttelt ihm die Hand und geht langsam links ab.) - -+Der schwarze Karl+: - - Ich denk, ich komm auch. - -+Michel+: - - So. - -+Der schwarze Karl+: - - Ja. Ich denk, es bringt Segen, - unsre alte ehrwürdige Knappentracht wieder mal anzulegen. - -+Michel+: - - Schön; stolper nur niemand nicht übern Degen! - Glückauf, Gevatter! -- - - (Er winkt ihm Abschied und geht ins Haus; der schwarze Karl folgt - verdutzt dem roten.) - -+Tyll Eulenspiegel+ - - (kommt von rechts aus dem Wald geschlichen, steigt über den Zaun - auf die Gartenbank und ruft gedämpft): - - Immer vorwärts, gnädiger Herr! die Luft ist jetzt rein. - Nur das Jungfräulein wäscht sich im Kämmerlein. - - (Auch unten im Haus wird ein Fenster hell.) - -+Der Kaiser Rotbart+ - - (tritt aus dem Wald, in goldner Rüstung, mit geschlossnem Visier, - sodaß nur sein langer Bart sichtbar ist): - - Hüt dich, Schalk: sie hat Augen, hurtig wie Eidechsen. - -+Der getreue Eckart+ - - (in schwarzer Kutte mit hohem Kreuzstab, die Kapuze tief ins - Gesicht gezogen, sodaß nur sein weißer Bart hervorguckt): - - Und könnt dich leicht wie den braven Michael behexen. - -+Eulenspiegel+: - - O, der Michel, der ist gänzlich in sich selber versunken. - Seht: er hat nicht mal sein Glas ausgetrunken. - -+Der Rotbart+ - - (zu Eckart): - - Wie stellen wirs an, Getreuer, ihm zu erscheinen? - -+Eulenspiegel+ - - (von der Bank springend): - - Hopp! wir erscheinen eben. Das genügt, sollt ich meinen. - -+Eckart+: - - Mir deucht, gnädiger Herr, der Schalk rät gut. - -+Eulenspiegel+ - - (nach dem unteren Fenster deutend): - - Seht: er ist ganz behext von -- dem alten Schäferhut. - Ach, er küßt ihn -- (_ahmt den Kuß ulkig nach_) -- - -+Eckart+: - - Darüber soll man nicht lachen! - -+Eulenspiegel+: - - Nun, dann werd ich uns mal ernstlich bemerkbar machen. - - (Er klappt mit der Pritsche an die Scheibe und klingelt dazu mit - einer Schelle, die am linken Zipfel seiner Gugelkappe hängt; - dieser Zipfel ist so lang, daß Eulenspiegel die Schelle in die - Gürteltasche stecken kann, damit sie nicht von selbst klingelt, - sondern nur wenn er sie herausnimmt.) - -+Michel Michael+ - - (tritt in Schäfertracht auf die Schwelle, in blauem Rock und grauem - Mantel, eine brennende Kerze in der Hand, sodaß die Scheibe nun - dunkel ist): - - Wer klopft so spät und dringlich an meinem Fenster? - Wer sind die Herren -- - -+Der Rotbart+ - - (wie ein Standbild aufs Schwert gestemmt): - - Gestalten -- - -+Eckart+: - - Gestalten -- - -+Eulenspiegel+ - - (_mit Verbeugung_): sozusagen Gespenster. - -+Michel+: - - Die Herren scheinen sehr spaßhaft gelaunt. Ich vermute, - Sie wollen in die Stadt - -+Eulenspiegel+: - - mit dir auf die Maskenredute; - wenn du uns den Weg zeigen willst. Denn merke dir: - mit Gespenstern spricht man per Du und Ihr. - -+Eckart+: - - Wir kommen, Michel Michael, um dich aus deinem Unmut zu reißen; - ich vom Hörselberg, der getreue Eckart geheißen. - -+Der Rotbart+: - - Ich habe bislang im Kyffhäuser meinen Rotbart beglotzt; - nun hat mich dein Wagmut endlich heraufgetrotzt. - -+Eulenspiegel+: - - Ich brauch mich, Vetter Michel, wohl nicht vorzustelln. - Ich bin überallher und starb bekanntlich in Mölln. - - (Das Dachfenster wird plötzlich dunkel.) - - Weiß also nirgends mehr auf dieser Erde Bescheid, - aber desto gründlicher in der Ewigkeit. - - (+Lise+ kommt die Flurtreppe herab, wie früher gekleidet, doch - ohne Schürze; tritt unbemerkt hinter Michel.) - -+Eckart+: - - Willst du uns nun, hier wo sich die Wege verzweigen, - die rechte Richtung durchs nächtliche Vaterland zeigen -- - -+Der Rotbart+: - - so wollen wir’s lohnen und dir zum guten Gelingen - deines gewagten Geschäftes beispringen -- - -+Eulenspiegel+: - - zum Verkauf deines Hauses -- - -+Michel+: - - Wie?? Ihr wißt?? - -+Eulenspiegel+: - - Daß der Herr Michael heute durchaus kein Träumer mehr ist. - -+Eckart+: - - Brauchst nicht starrstehn, als stünd hier der Antichrist; - wir haben nur im Wald da vorhin ein wenig gelauscht. - -+Lise+: - - Michel, tu’s nicht! Stehst ja jetzt schon wie ausgetauscht! - -+Michel+: - - Was! du bist noch auf, Lise? - -+Lise+: - - Soll wohl mit dir um die Wette träumen? - Ich muß doch noch euer Teufelsgeschirr da beiseite räumen. - - (Sie will an ihm vorbei in den Garten.) - -+Eulenspiegel+ - - (ihr zuvorkommend): - - Auf Ihr Wohl, mein frommes Fräulein, den teuflischen Rest! - - (Er spritzt ihn hoch in die Luft und überreicht ihr die Gläser.) - - Dürfen wir hoffen, Sie wallfahrten auch mit aufs Fest? - -+Lise+: - - Danke. Hab keine Lust. (_Leise_) Ich bitt dich, Michel, tu’s nicht! - Was sind das für Leute? - -+Eulenspiegel+ - - (durch die hohle Hand): - - Lockspitzel fürs Jüngste Gericht! - -+Michel+ - - (noch leiser): - - Sind wohl Grubenbesitzer aus dem Nachbarkreis. - Sei friedlich, Lise! - -+Lise+ - - (ihm den Leuchter abnehmend): - - Ist mancher friedloser, als er weiß -- -- - - (Sie geht mit den Gläsern und dem Licht ins Haus; ein andres - Fenster als vorher wird hell.) - -+Michel+: - - Entschuldigen die Herrn: sie kommt wenig unter Leute, - mein Mündel. Und ist voller Unruh heute. - -+Der Rotbart+ - - (nach links zeigend): - - Das dort unten, der Lichterhaufen, das ist wohl die Stadt? - -+Michel+: - - Ja, Herr. Nicht wahr: was das einen Andrang nach oben hat! - Wie die Glanzpunkte einander immer übersteigen, - überflügeln, und doch sich zusammentun zum Reigen; - rein als möcht sich der Erdkreis da selber von Grund aus - beschwingen, - immer heller hinauf in den dunkeln Weltkreis zu dringen - -+Eulenspiegel+ - - (pathetisch): - - und nachher kopfüber wieder herunter zu springen. - -+Michel+: - - Wie? - -+Eckart+: - - Der Eulenspiegel hat dir nur andeuten wollen -- - -+Der Rotbart+: - - daß es nun wohl Zeit sei, uns langsam hinunter zu trollen. - -+Michel+: - - Ja so! Ja. (_Ins Haus rufend_) Lise! bring mir mal Vaters Stock, - den langen! -- Ich hoffe, mein schlichter alter Rock - paßt zu den Herren Gespenstern nicht schlecht amende? - -+Eulenspiegel+: - - Vortrefflich, Vetter! Besonders (_leise_) zu meinem nagelneuen - Hemde. - -+Lise+: - - Hier, Michel. - -+Michel+ - - (den Stock nehmend): - - So! -- Jetzt, ihr Herrn, sollt ihr sehn, - ob der Michel versteht, durchs nächtliche Deutschland zu gehn - und bis Tagesanbruch sein festlich Geschäft zu vollbringen - und auch ohne euern Beistand - -+Lise+: - - einen Rausch zu erringen. - -+Der Rotbart+: - - Ei, gestrenges Fräulein, im Rausch wird die Herzenslust rege. - Gute Nacht! Ich gönn euch ein rauschend Herz allerwege. - - (Er verneigt sich und schreitet linkshin davon.) - -+Eulenspiegel+ - - (ihm folgend): - - Ich schenk euch alles Rauschgold droben im Blauen. - -+Eckart+ - - (ebenso): - - Ich wünsch euch, allen himmlischen Festrausch zu schauen. - -+Lise+ - - (ihnen nachrufend): - - Und ich euch ein höllisches Morgengrauen! -- - Ach, Michel! - -+Michel+: - - Gute Nacht, du ewige Unruh du. - Geh schön schlafen. Und schließ die Haustür hübsch zu. - Wirst schon sehn, ich sorge für dich aufs väterlich beste; - und übers Jahr kannst du auch mit auf solche Feste. - -+Lise+: - - Wirklich? - -+Michel+: - - Ja wirklich, du. Aber jetzt laß mich gehn; - horch, man hört schon Musik herüberwehn -- - - (eine ferne leise Walzermusik tönt bis zum Schluß des Aktes fort) -- - - und die Herren da warten, es ist höchste Zeit. - Also leg dich aufs Ohr und träum dir ein fein neu Kleid. - - (Indem er den Andern nacheilt): - - Und schick deine Mucken heim, du! da auf die Mondsichel, - du dumme Lise -- (_er verschwindet_) -- - -+Lise+ - - (ihm mit beiden Händen einen Kuß nachwerfend): - - Du dummer Michel! -- - - (Sie huscht ins Haus, löscht das Licht, kommt gleich darauf wieder, - in einen langen schwarzen Schleier gehüllt, ein silbernes Diadem - mit flimmerndem Stern auf dem Haar, einen langen silbernen Stab - in der Hand, der oben wie eine Wünschelrute gespalten ist, und - verschließt die vom Mond beglänzte Tür. Dann sich reckend:) - - O ja, ich schließ zu. Und den Schlüssel, (_ihn hebend_) den sollst - du erst finden, - - (ihn ins Mieder steckend) - - wenn dir die Sinne vor Unruh um mich schwinden, - du Väterlicher! -- Ja: berausch dich nur gut, - du Lieber! Ich fühl’s, was dir braust im Blut. - Ich folg dir, ich halt dich im Heimatland -- - O, er weiß noch, wie er sein Findelkind fand! - wie’s ihn durchdrang, durchdrang, Herz, als er mich sah: - wie ein Bergquell tief aus der Erde -- - (_in Gesang ausbrechend_) ja --: - so saß ich unter dem Felsenhang -- - - (linkshin davonschreitend, während der Vorhang sich schließt) - - und sang -- und sang -- -- - - * - -+Eulenspiegel als Zwischenredner+ - - (tritt aus dem Mittelspalt des Vorhangs, klingelt mit seinem - Schellenzipfel): - - Meine Herrschaften, das Fest ist in vollem Schwung; - selbstverständlich mit polizeilicher Genehmigung. - Die ganze Stadt schwebt auf dem Gipfel der Seligkeit; - einschließlich der beiderseitigen Geistlichkeit. - Jeder darf sich also, ohne irgend eine Pflicht zu entheiligen, - an der allgemeinen Begeisterung voll-und-ganz beteiligen. - Das soll nicht etwa heißen, ich buhle um Ihre Gunst; - sondern blos mein Herr, der Dichter, betreibt diese schändliche - Kunst. - Er betreibt sie leider mit höchst wohlgeziemenden Mitteln - - (das Gestampf einer Maschine wird hörbar) - - und ist fest überzeugt, Sie finden nichts dran zu kritteln; - wie Sie hören, sogar mit Dampfkraft und Elektrizität, - weils ohne diese Errungenschaften heut nicht mehr geht. - Dennoch muß ich sagen - - (eine laut schnarrende Stimme hinterm Vorhang wird hörbar) - - -- na aber! das wird denn doch zu kräftig; - ich bitte um Ruhe dadrinne! Hee! Sie begeistern sich zu heftig! - Heda, Ruhe! oder ich ruf die Regie! - Ich bin ein Gespenst, ich kann nicht so schrein wie Sie, - - (er schreit immer stärker) - - Sie rattern ja lauter als die Dynamomaschine; - bitte schließen Sie gefälligst Ihre Phrasenterrine! -- - Sie! hören Sie nicht? jetzt habe Ich das Wort! -- - Er hört nicht. Er rattert ruhig fort. - Ich fürchte, über solchen voll-und-ganzen Begeisterungston - verfügt nur eine wirkliche neuhochdeutsche Regierungsperson; - jeder andre Geist krigte davon den Schlucken. - Da muß ich braves altdeutsches Gespenst mich wohl ducken - - (er tut es) - - und ehrerbietigst das Mundwerk der hohen Behörde enthüllen, - damit Sie auch lernen, so begeistert zu brüllen. - - (Er schiebt geduckt den Vorhang linkshin auf und verkriecht sich im - Vordergrund der Bühne.) - - -Zweiter Aufzug - - (+Bild+: Eine Gartenwirtschaft mit elektrischen Ampeln, - bunt voller Leute in Maskenkostümen, doch herrscht die schwarze - Farbe vor. Im Hintergrund ein erleuchteter Tanzsaal. Rechts ein - Laubengang mit Tischen und Stühlen, die grün und weiß gestrichen - sind; auf dem vordersten Tisch ein weißes Tischtuch und ein Schild - mit der Aufschrift „Reserviert!“ Links unter Bäumen ein langer - Tisch, an dessen hinterem Ende der schnarrende +Landrat+ - steht, mit aufgedrehten Schnauzbartspitzen, in schwarzer Halbmaske, - Frack und Domino. An den Seiten dieses Tisches sitzen der - +Bergrat+ und der +Bürgermeister+, ähnlich maskiert, nur - mit anderen Bärten, der Bergrat mit dunkelm spanischen Spitzbart, - der Bürgermeister mit grauem Tintenwischer-Schnurrbart; dann die - +Frau Bürgermeisterin+ und andre Damen in farbigen Masken, - ein +Kaplan+ und ein +Pastor+ unmaskiert, der +schwarze - Karl+ in Bergknappentracht mit Hornbrille, ihm gegenüber - +Michel Michael+ ohne Maske, an der linken Ecke vorn. Die - Honoratioren tragen Zylinderhüte; nur der Kaplan hat flachen - Seidenhut. Hinter Michel stehen wie Wachtposten der +Kaiser - Rotbart+ und der +getreue Eckart+, immer mit geschlossnem - Visier und Kapuze; und +Eulenspiegel+ hat sich zu seinen - Füßen unter die Tischplatte gehockt. In der Mitte der Bühne ein - Lindenbaum, hinter dessen Stamm +Lise Lied+ verborgen steht; - davor eine grün und weiß gestrichene grade Bank ohne Lehne. - Ringsherum maskiertes Volk; darunter auch Kinder.) - -+Der Landrat+ - - (immer lauter schnarrend, um das Gestampf der Maschine zu - übertönen): - - Und demnach, da Sie merken -ä- bin zwar in Maske erschienen, - aber -ä- unverkennbar: Ihr Landrat redet zu Ihnen -- - demnach, sag’ich, will ich hier -ä- in Ihrer festlichen Mitte, - wo uns Alle nach guter, echter, alter Sitte - sozusagen die brüderlichsten -äh- Gefühle beseelen, - will ich, sag’ich, Jedem väterlichst anempfehlen, - trotz allen, wie Schiller sagt, feindlichen Gewalten - unentwegt unsre heiligsten Güter -ä- hochzuhalten. - Und diese -ä- Gefühle -- Gefühle, sag’ich -- sollen uns auch - geleiten, - wenn wir in diesen unverzeihlich vaterlandslosen Zeiten - demnächst, meine Herrn, wie Sie wissen, zur Wahlurne schreiten. - Also, meine Herrn -äh- und Damen, wolln wir uns jetzt von den - Stühlen - zum Zeichen von unsern -ä- unsern -äh- - -+Eulenspiegel+ - - (über den Tischrand weg): - - Hochgefühlen -- - -+Der Landrat+: - - jawohl: von unsern vaterländischen Hochgefühlen -- - wollen wir uns, sag’ich, jetzt mit unsern Gläsern erheben: - unser allverehrter Reichstagskandidat, der Herr Bergrat, er soll - leben! hoch! - -+Chorgesang mit Musik+ - - (während der Landrat dem Bergrat die Hand schüttelt und Alle - anstoßen): - - Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch! - - (Dann noch immer das Geräusch der Maschine.) - -+Der Landrat+: - - Himmelkreizrudiment! da +muß+ ja’s Trommelfell reißen! - - (Nach hinten schreiend:) - - Die Kerls, die Heizer, sollen die Tür zuschmeißen! - Heda!!! Tür zu, sag’ ich! Sofort den Kesselraum schließen! -- - - (Man hört eine eiserne Tür zuklappen; das stampfende Geräusch - verstummt.) - - Bande! Frechheit! Da soll man nu Volksfest genießen. - Unerhört! verstand kaum mein eigen Wort. - Tun’s selbstredend extra, diese Sozi, uns hier zum Tort. - Mußte schrein, daß mir jetzt noch’s Trommelfell klirrt. - -+Der Bergrat+: - - Ach bitte, Herr Bürgermeister, Sie sorgen wohl gütigst beim Wirt, - daß uns die Lichtmaschine, bitte, nicht wieder stört. - -+Der Bürgermeister+: - - Mit Vergnügen, Herr Bergrat. - -+Der Landrat+: - - Ja! bin wirklich empört! - -+Der Bergrat+: - - Er soll den Heizern ein Achtel Pilsner auflegen. - -+Der Bürgermeister+: - - Gern, Herr Bergrat. - - (Er entfernt sich mit der Volksmenge nach dem Tanzsaal.) - -+Der Landrat+: - - Pros’t, Herr Corpsbruder! meinen volksfreundlichsten Segen! - - (Er trinkt dem Bergrat zu.) - - Diese Rasselbande! diese roten Radaugesellen! - -+Michel+ - - (hat wieder Platz genommen, stampft seine Weinflasche auf den - Tisch): - - Mit Verlaub! Indessen: von wegen den Trommelfellen -- - -+Der Landrat+ - - (etwas schwerhörig): - - Äh --? - -+Eulenspiegel+ - - (unterm Tisch hervor): - - Trommelfellen -- - -+Michel+: - - so im Kesselraum schuften, ist +auch+ kein Volksvergnügen. - -+Der Rotbart+: - - Volksvergnügen. - -+Eckart+: - - Volksvergnügen. - -+Der Bergrat+: - - Bravo, Michel! - -+Die Frau Bürgermeisterin+ - - (auffällig bunt kostümiert, lorgnettierend): - - Entzückende Gruppe! - -+Der Landrat+: - - Gottvoll! - -+Michel+: - - Verfluchtige Lügen!!! - -+Eulenspiegel+ (_Fistel_) und +Eckart+ (_Baß_): - - Lügen! Lügen! - - -+Der Rotbart+ - - (Baryton): - - Man soll nicht meinen, ihr Leute, man könne den Michel betrügen. - -+Die Bürgermeisterin+ - - (während die Andern lachen): - - Nein, wie reizend! - -+Der Landrat+: - - Köstlich! - -+Die Bürgermeisterin+: - - Wie echt gemacht! So natürlich! - so romantisch! so richtig sagenfigürlich! - nicht wahr, Herr Pastor? - -+Der Pastor+ - - (in schwarzem Gehrock, zugeknöpft, wohlbeleibt): - - In der Tat, Frau Bürgermeisterin; - ein Maskenscherz mit tiefem evangelischen Sinn. - -+Der Kaplan+ - - (in schwarzer Sutane, noch beleibter): - - Man könnte, Herr Amtsbruder, eher wohl katholischen sagen. - -+Der Bergrat+: - - Also, meine Damen und Herrn, erlaub’ich mir vorzuschlagen, - weil der biedre Zecher da Michel Michael heißt - und offenbar erfüllt ist von wahrhaft volkstümlichem Geist: - wir erteilen nachher dem deutschen Michel nebst Geisterbegleitung - den Maskenpreis! - -+Alle+: - - Bravo! - -+Eulenspiegel+ - - (aufstehend und klingelnd): - - Und setzen’s in die Zeitung! - -+Der Landrat+: - - Selbstredend! - -+Eulenspiegel+ - - (sich vor ihm verbeugend und weiterklingelnd): - - Es lebe die hochwohlweisliche Volksfestleitung! -- - - (Im Saal fängt gedämpfte Tanzmusik an.) - -+Michel+ - - (ist gleichfalls aufgestanden): - - Herr Bergrat spaßen sehr gütig; ja; und ich danke auch sehr. - Aber, wie Herr Bergrat wissen, kam ich eigentlich her, - um mein Haus -- - -+Der Rotbart und Eckart+: - - (während Lise Lied hinter dem Baum hervorschaut) - - Haus -- Haus -- - -+Michel+: - - (die Vertragspapiere aus der Brusttasche holend) - - Hier -- ich bin so frei -- - -+Der Bergrat+: - - Schon gut, lieber Michel; gewiß, kommt auch an die Reih. - Jetzt muß ich erst tanzen gehn. - - (Zur Bürgermeisterin:) - - Gnädige Frau, darf ich bitten! -- - - (Verschiedene Paare, auch der Landrat mit einer Dame, ab nach dem - Saal.) - -+Michel+ - - (die Papiere einsteckend und sich wieder setzend): - - Verdammte, verquere, katzenfreundliche Sitten! - - (Er stürzt ein Glas Wein hinunter.) - -+Eulenspiegel+: - - Ja, Sitten! - -+Der Rotbart und Eckart+: - - Sitten! -- - -+Der schwarze Karl+ - - (hat bis dahin mit dem Kaplan getuschelt): - - Gratuliere, Freund Gevatter; scheinst hier recht wohlgelitten. - -+Michel+: - - Halt’s Maul!!! - -+Lise Lied+ - - (ganz hervortretend, dicht verschleiert, mit verstellter Stimme): - - Michel Michael, laß dich zum ersten Mal warnen! - schon beginnt der Stadtrausch deinen Geist zu umgarnen. - Ich bin deine Glücksfee; bang von fern komm ich her, - von den Sternen, durch die Nacht, übers gründunkle Meer, - meinen Wünschelstab in bebender Hand, - flüchtigen Fußes von Land zu Land, - durch den Wald deiner Kindheit bin ich gegangen, - in den Schooß der Berge trieb mich dein Glückverlangen, - bis zum Hörselgrund tief, wo Frau Venus wacht - und den feurigen Quell der Jugendträume entfacht -- - Michel Michael, jetzt durch meinen Mund - tut dir die ewige Göttin kund: - du sollst deiner lieben Heimat nicht untreu werden, - damit du kein Flüchtling wirst auf Erden. - Lebe wohl! - -+Der Rotbart+: - - Halt, Flüchtling! - -+Eulenspiegel+: - - Halt, edle Fee! Nicht so schnell! - - (Er läuft ihr nach; sie verschwinden im Hintergrund rechts.) - -+Der Rotbart+: - - Du scheinst wahrlich kein Flüchtling, Glücksvogel Michael! - -+Michel+: - - Ach was, Maskenschnack! Lachhaft! Lauter Alfanzerein! - Hee, Bedienung! - - (Ein altdeutsch gekleideter Kellner erscheint und bringt auf seinen - Wink eine neue Flasche.) - -+Der schwarze Karl+: - - Wer mag’s wohl gewesen sein? - Die Jungfer Lise? - -+Michel+: - - Schnack, sag’ich! Die liegt zu Hause im Bett! - Verstanden?! -- Höchstens etwa, daß sie ’ne +Freundin+ hätt - und läßt ihrem Vormund heimlich so’n kleinen Stupps aufschwenken; - braucht drum Niemand nichts Schlechtes von ihr zu denken! - -+Eckart+: - - Michel Michael, hüt dich vor des Hörselbergs Ränken! - -+Der schwarze Karl+: - - Ja, ich meine auch -- - -+Michel+: - - wie?? - -+Der schwarze Karl+: - - das heißt, natürlich nur so im Allgemeinen; - die bösesten Weibsbilder sind, die die besten scheinen. - So zum Beispiel der Bergrat und die Frau Bürgermeistern. - Da hilft kein Vertuschen mehr, kein Verkleistern; - rein schon öffentlich tut sie’s ja mit ihm treiben. - -+Michel+: - - Meinethalben! Man soll mir mit Stadtklatsch vom Halse bleiben! - -+Der Kaplan+: - - Wohlgesprochen, mein Sohn. Jedoch, in dem städtischen Sündenschwarm - braucht der Mensch eines Schutzpatrons starken Arm; - du hast ihn schon lange nicht mehr im Beichtstuhl erprobt. - Wirst hoffentlich trotzdem, wenn nun die Wahlschlacht tobt, - wissen den rechten Schild hochzuhalten. - -+Michel+ - - (aufstehend): - - Zu Gnaden, Ehrwürden; ich lass den alten Gott walten. - Obgleich ich, verzeihn Sie, in meinem einfältigen Sinn - eigentlich mehr für die Protestanten bin. - -+Der Pastor+ - - (gleichfalls aufstehend): - - Ein männliches Wort, lieber Freund! Und ich darf wohl hoffen, - Sie wissen, auch unser Arm steht der christlichen Einfalt offen. - -+Michel+: - - Viel Ehre, Herr Pfarrer. Indeß, um Sie nicht zu vexieren: - ich bin überhaupt fürs Protestieren. - Wenn ich wählen +müßt+ zwischen Pastor und Kaplan, - wär ich doch wohl lieber dem -- Stärkeren untertan. - - (Er verbeugt sich schwerfällig, dreht ihnen den Rücken und - setzt sich ans andre Ende des Tisches; der +Rotbart+ und - +Eckart+ folgen ihm, seine Flasche und sein Glas nachtragend.) - -+Der Pastor+ - - (zum Kaplan, der ebenfalls aufgestanden ist): - - Hm. Wer +ist+ nun der Stärkere von uns Beiden? - -+Der Kaplan+ - - (die Hände über den Bauch faltend): - - Ich schätze, Herr Collega, wir lassen’s vom Publiko entscheiden. - - (Die Tanzmusik im Saal hört auf.) - -+Eulenspiegel+ - - (zurückkommend): - - Vetter Michel, ich habe den ganzen Stadtpark durch-und-durchgekuckt: - deine Glücksfee scheint von der Hölle verschluckt. - -+Michel+: - - Glückauf! - -+Der Rotbart+: - - Wahr dich, Schalk! daß der Michel nicht Flammen spuckt! -- - - (Währenddem kommt Maskengewühl aus dem Saal. Voran der - +Bergrat+ und der +Landrat+, hinter ihnen her der Kellner - mit Sektkübel und Würfelbecher, zu dem reservierten Tisch hin im - Vordergrund rechts.) - -+Der Landrat+ - - (sich mit dem Taschentuch fächelnd): - - Himmelkreiz! Doller Fez! Bewundre Sie. Ohne zu schmeicheln. - -+Der Bergrat+: - - Ja, man lernt allmählich die Volkstatze streicheln. - -+Der Landrat+: - - Na, ich danke! - -+Michel+ - - (hat sich durch die Leute nach vorn gedrängt): - - Herr Bergrat -- wenn Sie jetzt -- ich will nicht behelligen -- - aber solche Unterschrift ist doch leicht zu bewerkstelligen -- - da Sie doch geneigt -- - -+Der Bergrat+: - - Aber bester Michael, - Sie benehmen sich wirklich etwas auffällig schnell. - Hat doch Zeit bis morgen. - -+Michel+: - - Morgen muß ich arbeiten gehn! - -+Der Bergrat+ - - (den Würfelbecher nehmend): - - Na, dann nachher! Jetzt bin ich beschäftigt, wie Sie sehn. - -+Michel+: - - Ich -- seh -- -- - -+Lise Lied+ - - (erscheint im Hintergrund): - - Michel Michael, ich warn dich zum zweiten Mal -- - horch: schon singen die Bergleut ein Spottlied im Saal -- - -+Sprechgesang+ - - (auch Kinderstimmen): - - Der deutsche Michel, der hat sich verlaufen; - Glückauf! - Er will sein Haus an die Stadtleut verkaufen; - Glückauf! - -+Ein Zug maskierter Bergknappen+ - - (kommt weitersingend aus dem Saal, geführt vom +roten Karl+, - der als Militär-Invalide maskiert ist, und begleitet von Kindern in - blaugrauen Koboldtrachten mit Zippelmützen und weißen Bärten): - - O Michel, die Stadt hat ein Herz von Stein, - bald wirst du ein steinreiches Schindluder sein; - Glückauf! - -+Lise Lied+: - - Drum, aus der Berge feurigem Herzensgrund, - tut die Herrin der Zukunftsträume dir kund: - Du sollst deine herzwarmen Augen heller aufmachen, - dann wirst du zum goldensten Traum erwachen. - Glückauf! - - (Sie verschwindet.) - -+Der rote Karl+ - - (seine Mütze abziehend): - - Ein alter Kriegsveteran, der um ein Almosen bettelt -- - -+Michel+: - - Ah, roter Karl! +Du+ hast das angezettelt?! - Ich sag dir: hüt dich! ich kenn dich! scher dich um Deine Sachen! - der Michel läßt sich von +niemand+ zum Popanz machen! - Merk dirs! Sonst: hier: bei meines Vaters Stock -- - - (Die Maschine stampft plötzlich wieder los) - -+Der Landrat+ - - (den Würfelbecher aufstampfend und sich die Ohren zuhaltend): - - Kreizrudiment -- - -+Der rote Karl+: - - man stopp -- - -+Dumpfe Stimmen im Hintergrund+: - - man stopp! man stopp! man stopp! - -+Eulenspiegel+: - - Platz da, Michel! - -+Der rote Karl+: - - Platz! sonst gibts Flecke am Rock! - - (+Drei Maschinenheizer+, rußgeschwärzt, kommen mit - geschulterten Schaufeln im Marschtritt nach vorn; Eulenspiegel - klappt mit der Pritsche den Takt dazu.) - -+Der Oberheizer+: - - Stopp! -- (_Zum Bergrat_:) Euer Hochwohlgeboren haben die Gnade - gehabt - und uns mit einer Erfrischung - -+Der rote Karl+ - - (_soufflierend_): kleinen Erfrischung - -+Der Oberheizer+: - - kleinen Erfrischung gelabt. - Euer Hochwohlgeboren, wir danken Ihnen sehr - und melden - -+Der rote Karl+ - - (_wie vorher_): gehorsamst - -+Der Oberheizer+: - - gehorsamst: das Achtel ist bald leer. - Euer Hochwohlgeboren wissen, die Nacht ist noch lang, - und wir halten - -+Der rote Karl+: - - ergebenst - -+Der Oberheizer+: - - ergebenst die Beleuchtung in Gang. - Euer Hochwohlgeboren, wir möchten - -+Der rote Karl+: - - mit unter - -+Der Oberheizer+: - - mit untertänigstem Respekt - -+Der rote Karl+: - - mal probieren - -+Alle drei Heizer+: - - mal probieren, ob auch Sekt uns schmeckt!!! - -+Der Landrat+ - - (vor sich hin): - - Kreuzschwerebrett -- - -+Der Bergrat+ - - (aufstehend, räuspernd): - - Leute! Hört mal -- - -+Eulenspiegel+ - - (steigt hinten auf einen Stuhl und klingelt): - - Hört, hört! - -+Der Bergrat+: - - Ich bitte doch dringend, daß man den Geist des Festes nicht stört! - -+Eulenspiegel+ - - (nochmals klingelnd): - - Ich schließe mich dringend dem verehrten Herrn Vorredner an - und verordne somit strengstens, so geisterhaft ich kann, - auf Geheiß Seiner Allerhöchstgeistigen Majestät - des weiland Kaisers Rotbart, weil er hier auf Gebet - des annoch deutschen Michels auferstanden steht - im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität, - und weils ohne diese Errungenschaften nicht geht - -+Eckart+ - - (mit Grabesstimme): - - in euerm erleuchteten Jahrhundert -- - -+Der Rotbart+ - - (mit Donnerstimme): - - über das er sich ungeheuer wundert -- - -+Eulenspiegel+: - - so verordnet er hiermit den Anstiftern der Beleuchtung - zur weiteren nächtlichen Kesselraumbefeuchtung - aus seiner johannisfestlichen Kellerei - unter Aufsicht der hochwohlwürdigen Geisterpolizei - einen Korb Henkell-trocken -- - -+Die Heizer und Bergknappen+: - - Ha! Hurra! Bravo! Hei! - -+Eulenspiegel+: - - Wir werden unverzüglich die nötigen Amtsbefehle geben. - - (Er springt vom Stuhl und läuft nach dem Saal.) - -+Die Heizer und Bergknappen+ - - (während Michel sich auf den leeren Stuhl setzt): - - Hurra! hoch! der deutsche Michel soll leben! - leben! leben! und Kaiser Rotbart daneben! -- - -+Der Landrat+ - - (während die Heizer und Knappen mit dem roten Karl nach links - abmarschieren): - - Schwerebrett, Herr Corpsbruder! war ja ’ne nette Bescherung. - Na, pros’t! Immerhin sozusagen ’ne soziale Belehrung. - - (Sie stoßen an und trinken Rest; zugleich klappt wieder die eiserne - Tür, und das Geräusch der Maschine hört auf.) - - Wird der Michelspaß nicht amende bedenklich? - -+Der Bergrat+: - - Unbesorgt. Der Mann ist absolut unverfänglich; - hat sicher mit dem kleinen Putsch nichts zu tun. - Etwas Dickkopf, aber sonst ein gemütliches Huhn; - will mir blos partout sein bißchen Grundstück beibiegen. - Ist auch preiswert; und wie die Chancen liegen, - müßt ich ihn sowieso bald aus seiner Waldbude schassen. - Wollt ihn blos noch ’ne Zeitlang zappeln lassen; - Sie verstehn. - -+Der Landrat+: - - Vollkommen. Blos diese -ä- Geistergestalten, - die uns da eben die noble -ä- Abfuhr aufknallten -- - -+Der Bergrat+: - - Ja, sonderbarer Scherz. - -+Der Landrat+: - - Schon mehr Impertinenz. - -+Der Bergrat+ - - (während die Tanzmusik wieder anfängt): - - Vermutlich Herren von der linksseitigen Konkurrenz; - scheint mir ratsam, hier niemand zur Entlarvung zu zwingen: -- - - (Sie stehen auf, um sich nach dem Saal zu begeben.) - -+Eulenspiegel+ - - (vom Maschinenhaus zurückkommend): - - Gnädiger Herr, ich habe zu hinterbringen: - - (mit Trinkgeberde) - - der kaiserliche Geist beginnt schon ins Volk zu dringen. - Held Michel, halt dich zum Hurraschrein bereit! - -+Michel+ - - (steht brüsk auf, ein wenig schwankend, und steuert zu dem Bergrat - hin): - - Um Verzeihung, Herr Rat -- in aller Bescheidenheit -- - aber es könnt sonst sein, Herr Rat, das Geschäft wird mir leid; -- - den Bittsteller machen, fällt mir von Hause aus schwer -- - -+Der Rotbart und Eckart+ - - (sind ihm nachgeschritten): - - schwer -- schwer -- - -+Der Bergrat+: - - So! Seh einer! -- Na! Dann geben Sie mal her. - Pardon, Herr Corpsbruder. - -+Der Landrat+: - - Bitte. (_Ab zum Saal._) - -+Michel+ - - (die Vertragspapiere überreichend): - - Hier -- zu dienen, Herr Rat -- - -+Lise Lied+ - - (aus dem Laubengang tretend): - - Michel Michael, hör mich! Zum dritten Mal naht - -+Michel+: - - Ruhe!!! - -+Eulenspiegel+: - - Holla, die Glücksfee! Halt, Göttin, halt! - - (Er setzt ihr nach; sie verschwinden beide.) - -+Michel+: - - Verzeihung, Herr Bergrat; sie drängt sich mit Gewalt - -+Der Bergrat+: - - Wohl ein Schatz? - -+Michel+: - - Gott bewahre, Herr Bergrat; nein, keine Spur. - -+Der Bergrat+ - - (sich wieder an den reservierten Tisch setzend): - - Wär doch keine Schande, Mann; delikate Figur! -- - Na, nehmen Sie Platz -- - - (die Papiere aufmachend und seinen Füllfederhalter herauslangend) - - aber Eins, mein Lieber, schick ich voraus: - Sie müssen nicht denken, Sie wären der Herr im Haus. - Ihre Scholle ist uns auf alle Fälle verfallen. - -+Michel+: - - Wie?? - -+Der Bergrat+: - - Nun: wenn wir den Luftschacht etwas mehr seitwärts verstallen - und legen ’ne Schutthalde vor Ihre Tür, - dann gibt kein Mensch mehr ’ne Schippe Kooks dafür. - -+Michel+: - - Ja, aber -- - -+Der Rotbart und Eckart+ - - (wieder hinter ihm Wache stehend): - - aber! -- aber! -- - -+Der Bergrat+: - - Da gibt’s nichts zu abern leider. - Im Übrigen bin ich kein Halsabschneider. - Kellner, noch’n Glas! -- Wollte blos meinen Standpunkt - klarmachen -- -- - - (Den Vertrag durchsehend:) - - Nein -- aber -- Bester -- das ist ja rein zum Lachen: - ich nannte Ihnen fünfzehntausend als unsern äußersten Preis, - und hier stehn achtzehn?! - -+Michel+: - - Ja, Herr Bergrat, weil --: ich weiß nicht, ob der Herr - Bergrat weiß: - mein Großahn war Grobschmied -- und -- und -- - -+Der Bergrat+ - - (_während der Kellner das Glas bringt_): Na? Und? - -+Michel+: - - Es geht eine alte Sage von Mund zu Mund --: - -+Der Rotbart+: - - Des Michel Michaels Haus steht auf eisernem Grund -- - -+Eckart+: - - könnte mancheiner Silber und Gold draus schlagen -- -- - -+Michel+: - - Ja! -- Das heißt, Herr Rat, ich wollte damit nur sagen -- - - (da der Bergrat ihm einschänkt) - - sehr gütig, Herr Rat -- - -+Der Bergrat+: - - Na, Michel: viel ist nicht zu profitieren. - Aber -- na gut: Lufthalber wollen wir’s mal riskieren. - Also (_ihm zutrinkend_) Glückauf! - -+Michel+: - - Glückauf! (_er leert sein Glas._) - -+Der Bergrat+ - - (_unterschreibt_): So. Abgemacht. Hier: - nun Sie! Nein, hier: auf dem andern Papier. - -+Michel+ - - (nachdem er das Duplikat unterschrieben hat): - - Uff. Heiß! - -+Der Bergrat+ - - (hat das erste Schriftstück gefaltet und gibt es ihm zurück): - - So; bitte. Nun? sind Sie nun zufrieden? - -+Michel+ - - (während jeder sein Schriftstück sorgfältig einsteckt): - - Hoh, Herr Bergrat, schon? Jetzt geht’s doch erst los, das Schmieden! - das Glückschmieden mein’ ich. Hier die paar tausend Mark Geldeswert, - die sind doch blos erst das erste Roheisen auf dem Herd; - hoffe dereinst die Welt noch als Feinschmied untern Hammer zu - kriegen. - -+Der Rotbart+: - - Michel Michael, laß nur das Feuer nicht verfliegen! - -+Eckart+: - - Ist schon manche Glut zu Asche zerstoben auf Erden. - -+Der Bergrat+ - - (Michels Glas wieder füllend): - - Ja, ich rate auch, lieber Michel: nicht übermütig werden! - -+Michel+: - - Oh, Herr Rat -- das sind blos so Volksfestgeberden. - - (Sein Glas abermals leerend) - - Auf Ihr Wohl, Herr Rat! -- Ich muß schon den ganzen Abend denken: - wie wir hier so sitzen auf den schönen Stühlen und Bänken, - Hoch und Niedrig zusammen bei den guten Getränken, - und fühlt sich jeder so recht mitbeglückt im Gewühl -- - das ist doch ein sehr erhebendes Gefühl! - nicht wahr? - -+Der Bergrat+ - - (aufstehend): - - Hm. Ja. Sehr erhebend. Ja. Aber jetzt -- - -+Eulenspiegel+ - - (kommt mit +Lise Lied+ Arm in Arm angetanzt): - - Hurra, Vetter Michel, hier kommt dein Glück angesetzt! - Hat sich endlich von mir am Schlafittchen kriegen lassen. - - (Die Tanzmusik hört auf.) - -+Eckart+: - - Schalk, Schalk! des Michels Glück, das kann nur er selber fassen. - -+Michel+ - - (seine Brusttasche befühlend): - - Ja, wahrhaftig! -- - -+Lise Lied+: - - Michel --! -- - -+Michel+ - - (_unwillkürlich_): Lise --! -- (_Sich besinnend_) Ach - nein; dumm Zeuch; - was rührt dich, Michel?! -- (_Auffahrend_) Schockschwerenot, ihr: - was kümmert’s +euch+? - schert euch zum Teufel! (_setzt sich wieder und stiert ins Glas._) - -+Eulenspiegel+: - - Ha! Hörst du’s, Göttin? Verschmäht! - Das fordert Rache! Rache! (_Den Würfelbecher nehmend_:) - Soll ich mit diesem Gerät, - kraft meiner spiritistischen Wupptizität, - hehre Fee, ihn zerschmettern? -- Nein? -- Ach! das ist bitter. - -+Der Bergrat+: - - O: eine Fee, die findet wohl zartere Ritter. - Aber eine Glücksfee, die sollte sich eigentlich entschleiern; - darf ich’s wagen? - -+Lise Lied+ - - (während die Tanzpaare aus dem Saal kommen): - - Vielleicht, Herr Ritter -- doch müssen wir +ihn+ erst feiern, - der da selig in seiner Selbstherrlichkeit thront - und die Dienste der Geister mit eitel Nichtachtung lohnt. - Versteht Ihr, Ritter? - -+Der Bergrat+: - - Stolze Fee, ich beuge in Demut das Knie (_er tut es_) - und verstehe. - -+Die Bürgermeisterin+ - - (_dazwischentretend_): Aber Bergrat, was treiben Sie! - Man ist sehr erstaunt -- - -+Der Bergrat+ - - (_knieen bleibend_): Oh, gnädigste Frau, ich desgleichen! - In der Johannisnacht - -+Eulenspiegel+: - - erlebt man Wunder und Zeichen! - -+Der Rotbart und Eckart+: - - Wunder und Zeichen! - -+Der Bergrat+: - - Eine holde Fee stieg die Himmelsleiter herab - -+Die Bürgermeisterin+: - - shocking! - -+Der Bergrat+ - - (_sich erhebend_): und gebeut uns mit ihrem Zauberstab, - damit wir die Geister der Vor- und Nachwelt versöhnen, - den deutschen Michel zum Weltherrn von ihren Gnaden zu krönen. - -+Die Bürgermeisterin+: - - Empörend! - -+Der Landrat+: - - Gottvoll, Bergrat! - -+Eulenspiegel+: - - Hurra, Michel! Jetzt heißt es erscheinen! - Kopf hoch, Brust raus! - -+Der Rotbart+: - - Stehst du auch fest auf den Beinen? - -+Michel+ - - (aufstehend): - - Hoh! Ich? (_er stolpert_.) - -+Die Bürgermeisterin+: - - Huch! - -+Michel+ - - (_brüllend_): Bombenfest, sollt ich meinen!!! - - (Er stellt sich breitbeinig vor die Bank in der Mitte, während der - Rotbart und Eckart hinter sie treten.) - -+Der Bergrat+: - - Also -- vielwerte Gäste! - -+Etliche Bengel in Koboldtracht+: - - hurrra! - -+Der Bergrat+: - - und Zaungäste! - -+Die Kobolde+: - - hurrra! - -+Eulenspiegel+: - - und Geister, bitte! - -+Der Bergrat+: - - Bitte! - -+Eulenspiegel+: - - Danke. - -+Der Bergrat+: - - Hier steht er -- - -+Kobolde+: - - steht er -- - -+Der Bergrat+: - - in unsrer beglückten Mitte -- - -+Kobolde+: - - Mitte -- - -+Eulenspiegel+: - - leibhaftig -- - -+Kobolde+: - - leibhaftig -- - -+Der Bergrat+: - - unter dem Lindenbaum -- - -+Kobolde+: - - Lindenbaum -- - -+Der Bergrat+: - - unser teurer deutscher Michel -- - -+Kobolde+: - - hurrra -- - -+Eulenspiegel+: - - es ist kein Traum! - -+Der Rotbart und Eckart+: - - Kein Traum. - -+Der Landrat+: - - Himmelkreizrudiment zum Donner! Silenzium jetzt!!! - Ruhe, Bengels! sonst werdt ihr rausgesetzt! - - (Er nimmt einem der Kobolde seine Zippelmütze weg und treibt die - Schreihälse nach hinten.) - - Weiter, Bergrat! - -+Der Bergrat+ - - (Lisens Arm nehmend): - - Also -- bezaubert von dieser Himmelserscheinung - -+Die Bürgermeisterin+: - - unglaublich! - -+Der Landrat+: - - pßt --! - -+Eulenspiegel+: - - und nach der offenbar völlig einstimmigen Meinung - -+Der Bergrat+: - - aller Freunde und Freundinnen der höheren Sphären - -+Lise Lied+: - - wollen wir ihn jetzt zum Beherrscher der -- Lüfte erklären! - -+Der Bergrat+: - - zum Alleinherrscher sämtlicher Zukunftsflugmaschinen! - -+Eulenspiegel+: - - Glücksgondeln, Traumschiffe und sonstiger Zeppelinen! - -+Der Bergrat+: - - Möge er immer flügger, lenkbarer - -+Eulenspiegel+: - - und bombenfester werden! - -+Lise Lied+: - - und selig enden als Luftschloßbesitzer auf Erden! -- - -+Der Landrat+ - - (die Zippelmütze schwenkend): - - Hurrra, deutscher Michel! - -+Alle durcheinander+ - - (während Michel auf die Bank gehoben wird und ein Glas Wein in die - Hand bekommt): - - Hurra! Hurra! - -+Michel+ - - (an den Baumstamm gelehnt): - - Halt!!! Jetzt komm Ich an die Reih! - -+Der Bergrat+: - - Glückauf, Michel! (_trinkt ihm zu_.) - -+Michel+: - - Schön Dank, Herr Bergrat! (_trinkt_.) Ja! Schön Dank fürs - Geschrei! - Denn der Michel nämlich -- ja -- kann viel Spaß vertragen. - -+Der Landrat+: - - Bravo, Michel! (_trinkt ihm zu._) - -+Michel+ - - (immer wieder Bescheid trinkend, worauf ihm unter Gelächter immer - wieder das Glas gefüllt wird, bald mit weißem, bald mit rotem Wein): - - Schön Dank, Herr Landrat! -- Ja! -- Aber -- wollt ich sagen: - kann auch Ernst machen! kann -- kann sich lange ducken -- - -+Der Kaplan+: - - Wohl ihm, Michel! - -+Michel+: - - Schön Dank, Ehrwürden (_trinkt_) -- Kann seine dummen Mucken - -- ja -- vor euch Stadtleuten -- ja -- auch sein Heimweh - verschlucken -- - -+Der Bürgermeister+: - - Hoch, Michel! - -+Michel+: - - Schön Dank, Herr Bürgermeister (_trinkt_) -- Ja --: kann sich - recken -- - kann auf einmal -- ja: kann er -- seine Hand ausstrecken -- - kann vielleicht dereinst noch -- hupp -- die ganze Welt in die - Tasche stecken -- - -+Der Pastor+: - - Heil, Michel! - -+Michel+: - - Schön Dank, Herr Pfarrer (_trinkt_) -- Jawohl --: Luft -- Erde -- - hupp -- Meer -- - den ganzen Himmel -- hupp -- (_er fällt von der Bank herunter_) - -+Lise Lied+ - - (wirft sich aufschreiend über ihn): - - Michel!!! - -+Eulenspiegel+ - - (_sehr laut_): Kellner! den Eiskübel her! -- - -+Der Bergrat+ - - (während der Kellner Eiskübel und Tischtuch bringt): - - Aber teuerste Göttin, er hat sich ja nichts zerbrochen! - -+Der Landrat+ - - (während man Michel auf die Bank setzt und an den Baum lehnt): - - Kein Bein! Der fällt einfach auf seine gesunden Knochen! - -+Eulenspiegel+: - - aus der Zippel- der Zappel- der Zeppeline! - -+Der Bergrat+: - - Da! er macht eine ganz majestätische Miene! - -+Der Landrat+: - - Na, dann kann man ja endlich sozusagen die Krönung vollziehn! - - (Er setzt Micheln die Zippelmütze auf, sodaß die Troddel ihm über - die Nase herabbaumelt.) - - Hoch lebe unser Michel! - -+Alle+: - - (während man ihm das Tischtuch wie einen Mantel umhängt) - - Hoch! Hoch! Hoch! - -+Eckart+ - - (_ernst_): Der Himmel erhalte ihn! - -+Der Rotbart+: - - Er mache ihm jede Bank zum Throne -- - -+Die Kobolde+: - - Throne -- - -+Eulenspiegel+: - - jede deutsche Zippelmütze zur Siegeskrone -- - -+Kobolde+: - - Siegeskrone -- - -+Eckart+: - - jedes deutsche Stück Leinwand zum Hermelin -- - -+Kobolde+: - - Hermelin -- - -+Der Rotbart+: - - jeder deutsche Baum sei ein Baldachin -- - -+Kobolde+: - - Baldachin -- - -+Eulenspiegel+ - - (während man Michel lang auf die Bank streckt und das Tischtuch - über ihn breitet): - - für den allerhöchsten, allerstärksten, allerlängsten, allergrößten - -+Die Bürgermeisterin+ - - (hinter dem Bergrat her, der die halb lachende halb schluchzende - Lise nach rechts beiseite führt): - - Nein, Sie Wüstling, Sie sollen das arme Kind nicht trösten! - -+Der Landrat+: - - Pßßt! - -+Eulenspiegel+: - - und allerreichsten unter den Potentaten - -+Michel+ - - (halb erwachend): - - wie --? - -+Eulenspiegel+: - - still, Michel -- mit und ohne Staaten. - Seht, hier ruht er -- - -+Der Rotbart+: - - daheim im Weltgebrause; -- - -+Eulenspiegel+: - - jetzt kann er selig -- - -+Michel+ - - (_wie vorher_): Lise -- - -+Eulenspiegel+: - - ja, Michel -- - -+Michel+: - - ich -- will -- nach Hause -- - -+Eulenspiegel+: - - ja, Michel -- - -+Eckart+: - - daheim im unendlichen Hafen -- - -+Eulenspiegel+: - - zwischen Himmel und Erde und Hölle schlafen -- - -+Der Rotbart+: - - jenseits von euern Zeiten und Räumen -- - -+Eulenspiegel+ - - (mit wild phantastischer Geste): - - und träumen -- - -+Eckart+ - - (ruhig, während der Vorhang sich schließt): - - träumen -- -- - - * - -+Eulenspiegel als Zwischenredner+ - - (von links kommend, anfangs mit verhaltener Stimme): - - Ssst --: er träumt! -- Eine Menschenseele im Traum - ist ein schaurig Ding, ist ein Unding, ist verflochtner als ein Baum - in alle Wurzelwirren und Wipfelwehen aus Staub und aus Licht, - ist Feuer, Wasser, Luft, was sie will, und -- ists nicht: - verschlafnes Tier, wacher Gott, urweltvoller Stern, hohler Ball, - allmächtig bis zur Ohnmacht, spielt sich auf als All. - Wahrlich: einen Menschen im Traum belauschen, das heißt - mitspielen mit einem höllisch lebenslustigen Geist. - Ich und wir andern längst verstorbenen Geistergestalten, - wir würden uns gern solcher spukhaften Tätigkeit enthalten -- - - (allmählich lauter) - - aber wir müssen uns, ach, noch immer zum Dienst der Menschheit - hergeben; - denn unser Herr, der Dichter, dieser Auchmensch, will davon leben. - Dieser Teufel! Nicht genug, daß wir wirklich leibhaftig erschienen, - er läßt uns sogar noch als Hirngespinste nun dienen; - oh, wär ich ein Mensch, ich glaube, mir graute vor mir. - Aber da ich ganz Geist bin, und jetzt ein Doppelgeist schier, - so kann ich Sie nicht mit derlei Halbgottsgefühlen beglücken, - sondern drehe ihnen -- den Gefühlen nämlich -- im Geiste den Rücken. - - (Er dreht sich mit hoch erhobenen Armen um und teilt mit beiden - Händen den Vorhang.) - - - - -Dritter Aufzug - - - (+Bild+: Große Höhle aus Bergkristall in weiß-und-grüner - Flackerbeleuchtung. Rechts und links durcheinandergetürmte - Pfeiler. In der Mitte des Hintergrundes, auf einer phantastischen - Pyramide, thront +Frau Venus+, ebenso vermummt wie Lise Lied; - nur trägt sie lange weiße Glaßeehandschuhe, und ihr grünes Kleid - ist aus funkelnder Seide, ihr schwarzer Schleier mit Diamanten - besetzt. Zu Füßen des Throns, in Gesteinspalten, hocken schlafende - +Kobolde+, wieder blaugrau mit Zippelmützen und weißen Bärten. - Zu beiden Seiten des Throns zerklüftete Grotten, mit Schnüren aus - Bruchkristallen verhängt, hinter denen ein rotgelb glühender Glanz - bald aufwärts bald abwärts quillt und strudelt, sodaß sie wie - feuriges Netzgeflecht aussehn; hin und wieder zieht rötlicher Rauch - durch die Höhle.) - -+Eulenspiegel+ - - (sofort, noch während der Vorhang sich öffnet, ins Knie sinkend): - - Verzeiht, Göttin Venus: ich weiß zwar, Ihr glaubt es kaum: - aber wirklich, wir sind Beide jetzt nichts als Traum -- - also entschuldigt den frechen Possenreißerstreich! - -+Frau Venus+ - - (zögernd): - - Wer dringt hier ein in mein heimlich Reich? - -+Eulenspiegel+: - - Nur ein armer Schalk namens Tyll, aber abgesandt - -+(er erhebt sich)+ - - von Euerm mächtigsten Nachbarn im ganzen deutschen Land, - von des Kaiser Rotbarts verewigter Majestät, - der voll Unruh, Schönste, hinab in den Hörselberg späht, - denn auch ihn treibt des Michels Traumblick her. - -+Frau Venus+: - - So vermelde des hohen Herrn Begehr, - der so mächtig ist, daß ein stiller schlaftrunkner Mann - seinen ewig wachen Willen verunruhen kann. - -+Eulenspiegel+: - - Oh, Frau Venus, Zaubrin, sehr gewaltig ist dein Bann, - aber nimm in Gnaden die zarte Gewissensfrage hin: - Traumschöpferin, - warst du niemals von deinen Geschöpfen gebannt? - -+Frau Venus+: - - O Schalk! -- - -+Eulenspiegel+: - - So erfahre: des Michels Seele ist unauslöschlich entbrannt - von all und jeder Machtsehnsucht Himmels und der Erden, - heute Nacht soll sein Hauptwunsch entschieden werden. - Du hast eine Flamme in seinem Blut angefacht, - die hat all sein junges Hirn in Rausch und Aufruhr gebracht; - nun kennt er sich selbst kaum vor lauter hochfliegenden Brünsten. - Drum, erlauchte Göttin, dank deinen Zauberkünsten, - sind die andern unsterblichen Hauptpersonen, - die seit Alters in seiner Geisterwelt wohnen, - aus ihrer gottseligen Ruhe (_klappt mit der Pritsche_) jählings - mitaufgeschreckt ---- - und als der stärkste von seinen Schutzgeistern streckt - der Kyffhäuserherr die gepanzerte Faust dir entgegen: - Wenn du ebenso mächtig bist wie verwegen, - mögest du ehrlichen Wettstreit mit ihm pflegen - um des Michel Michaels wahres Seelenheil. - Desgleichen mit mir für mein bescheiden Teil; - du wirst es nicht weigern, erlauben wir uns zu hoffen. - -+Frau Venus+: - - Mein Reich steht allen Geistern, starken und schwachen, offen. - -+Eulenspiegel+: - - Ja, Gnädigste: offen wie ein Grab. - Und dein zauberkräftiger Wünschelstab - glänzt empor über deine dunkeln Schleierfalten - wie ein Irrsternschweif nach zwei Seiten gespalten, - indessen die Weltküglein an den beiden Spitzen - gar nach jeglicher Windrichtung drehbar blitzen. - Ich seh’s, Vielgewandte, trotz unsern verhüllten Mienen; - denn auch ich verstehe, Herrin, zweeen Welten zu dienen. - -+Frau Venus+: - - So schwör ich bei diesem einen unlöslichen Ringe, - kraft dessen mein Szepter die zwiegespaltene Schwinge - der immer wieder sich verjüngenden Welt - in der Schwebe hält: - du nahst ungefährdet meinen vulkanischen Quellen. - -+Eulenspiegel+: - - Und meine Begleitung? - -+Frau Venus+: - - Ist gefeit wie du vor den feuerbrünstigen Wellen. - -+Eulenspiegel+ - - (tritt dem Thron etwas näher und klappt mit der Pritsche): - - Wohlan, edle Hexe! du siehst, wie stracks wir uns stellen. - - (Zugleich sind der +Rotbart+ von links und +Eckart+ - von rechts aus den Pfeilergängen getreten, Beide noch immer mit - vermummten Gesichtern.) - -+Frau Venus+ - - (auffahrend): - - Ah, Schalk! du verkündetest mir der Wettkämpen zwei! - jetzt seid ihr drei? -- (_Wieder ruhig sich setzend_:) - Nun, Eckart: du warst von jeher ein Schleichwegverfechter. - -+Eckart+: - - Ich war von jeher, Frau Venus, dein treuster Torwächter. - Ich tue nichts wider dich, als am Eingang des Hörselbergs warnen; - wer der Warnung trotzt, den magst du getrost umgarnen. - -+Eulenspiegel+: - - Und selbst für Göttinnen bleibt’s doch ein Akt der Huldigung immer, - wenn sich drei Mannsleute mühn um ein Frauenzimmer. - Sieh da, du lächelst! dein ganzer Schleier lacht! - -+Frau Venus+: - - Vor Dir, Eulenspiegel, hat wohl mein Ernst keine Macht. - Und auch den Rotbart wird schwerlich ein trauerndes Weibsbild - rühren. - -+Der Rotbart+: - - Hoh, Huldin, wir hoffen noch innigst Eure Trauer zu spüren, - wenn erst der Michel von uns Selbstbeherrschung annimmt. - Inzwischen freilich sind wir herzlich wenig gestimmt, - christliche Stufen zu Euerm heidnischen Thronsitz zu hobeln. - -+Eulenspiegel+: - - Also kurz und gut: ich schlage vor, sein Seelenheil auszuknobeln. - - (Er holt den Würfelbecher aus der Tasche und schüttelt ihn.) - - Bester Wurf: Alles Eins! -- - - (Er stülpt die Würfel auf einen Kristallblock.) - - Hier --: dreimal der nackte Spatz! - -+Frau Venus+: - - In der Tat: ein unwiderleglicher Satz. - Gib her! - -+Eckart+: - - Halt, Hexe! leg erst den Zauberstab nieder! - -+Frau Venus+: - - Das versprach ich +nie+ wem. - -+Eckart+: - - Dann, Schalk, nimm den Becher wieder! - Rasch! nimm ihn! rasch! -- - Die Unholdin wirft dir Pasch auf Pasch; - so bliebe das Wettspiel in alle Ewigkeit gleich. - -+Frau Venus+: - - Ich hätt ihn heimzahlen können, den schnöden Gauklerstreich; - aber, Tyll, des Michels Seele gilt mir zu viel - für ein Würfelspiel! - Ich sehe, Rotbart, zu meiner Freude: du nickst. - -+Der Rotbart+: - - Ich fühle, Feindin, wie ehrlich du um dich blickst. - -+Frau Venus+: - - So hört meinen rückhaltlosen Bescheid: - der Michel Michael selber löse im Traum unsern Streit! - Wenn du Herrscher in seinem dir zugeweihten Land, - du Wächter an deinem ihm geheiligten Stand, - du Landstreicher da aus vogelfreien Bezirken, - wenn ihr vermögt seiner Sehnsucht ein habhaftes Ziel zu erwirken, - das ihm wettmacht den einen einzigen unruhvollen Bann, - den meine Inbrunst, die verwunschne, ihm antun kann: - so sei er hinfort, in Zeit und Ewigkeit, - von mir befreit! -- - Seid ihrs zufrieden? - -+Der Rotbart und Eulenspiegel+: - - Zufrieden! Zufrieden! - -+Eckart+: - - Nur unter der Sicherheit, - daß dein Szepter, solange der Streit dich drängt, - sein träumendes Haupt nicht berührt noch umkreist noch sonstwie - lenkt. - -+Frau Venus+: - - +Die+ Sicherheit geb ich. - -+Eckart+: - - Dann ruf ihn! die Wette +hängt+. - -+Frau Venus+ - - (berührt die Kobolde mit dem Szepter): - - Aufgewacht, Klopfgeister, aufgewacht! - der Wunschquell sprudelt; öffnet den Schacht! - Feuerfluß werde kristallene Flut! - Erde, enthölle dein Himmelsblut! - verschlinge das Trübe, beschwinge das Reine! - Erscheine, Michael, erscheine! -- - - (Die Kobolde haben die Kristallschnurgeflechte der rechten Grotte - inzwischen geöffnet und eine ferne langsame Tanzmusik ertönt. Aus - rötlichem Qualm auftauchend erscheint ein Zug schwarzgekleideter - Gestalten. Voran +fünf Kaplane+, im Gänsemarsch mit - Polkaschritt. Dann je +fünf Landräte und Bürgermeister+, die - den schlafenden +Michel Michael+ auf seiner Bank einhertragen; - er hat noch immer die Zippelmütze auf dem Kopf und ist mit dem - Tischtuch an die Bank festgebunden, mit dickem Knoten auf der - Brust, doch so, daß seine Arme frei sind. Hinterdrein +fünf - Pastoren+, wieder im Polkaschritt. Jeder Kaplan, Landrat, - Bürgermeister, Pastor ist den vier übrigen zum Verwechseln ähnlich, - in den gleichen Kostümen und Masken wie früher.) - -+Chor der Landräte und Bürgermeister+: - - Hier naht er, hier naht er, - der Weltpotentater. - -+Chor der Kaplane und Pastoren+: - - Da liegt er im Wickel, - das Hochmutskarnickel. - -+Die Landräte und Bürgermeister+: - - Du Großmaul! du Saufsack! du Raufbold! du Strolch! - -+Die Kaplane und Pastoren+: - - Jetzt kommt die Vergeltung, du Sündenmolch! - Rache! -- - - (Der Zug macht ruckhaft in vier Kolonnen Halt und stellt die - Bank in der Mitte der Höhle nieder, Michels Füße dem Venusthron - zugekehrt; zugleich wird die Grotte wieder verhängt, sodaß die - Tanzmusik verstummt, und die Kobolde eilen auf ihre Sitze zurück. - Michel liegt immerfort regungslos.) - -+Frau Venus+: - - Erhebt ihn! - -+Die Landräte+: - - Äh --? - -+Der Rotbart+: - - Erhebt ihn!!! - -+Eulenspiegel+: - - Ja ja! hier pariert man aufs Wort! - Immer artig, werte Herrn! hübsch kusch und apport! - - (Halblaut:) - - Held Michel, hier braucht dich blos das geheimste Lüstchen zu - jucken, - und wir sind allesamt deine tiefst leibeignen Haiducken. - - (Die Amtspersonen haben inzwischen, unter schreckhaften Bücklingen, - die Bank mit Michel hochgekippt, sodaß sein ganzer Körper verdeckt - steht; so dem Venusthron zugewandt, an die aufgerichtete Bank - gebunden, bleibt er stehen, bis sich der Vorhang schließt, und nur - ab und zu wird Arm oder Hand von ihm sichtbar.) - -+Der Rotbart+: - - Hier schützt dich mein Schwert, es ist allzeit unbestechlich. - -+Eckart+: - - Hier stützt dich mein Kreuz, es ist unzerbrechlich. - -+Eulenspiegel+: - - Hier nützt dir meine Pritsche, sie ist unüberwindlich; - und deine Schlafmütze, sie ist unergründlich. - -+Michel+ - - (immer mit schlafbefangener Stimme): - - Wo -- bin -- ich? - -+Frau Venus+: - - Im Reich deiner reinsten Kräfte. - Hier siehst du im Glanz kristallklarer Säulenschäfte - deine stärksten Schutzgeister tausendfältig sich spiegeln - und dir ihre innerste Strahlenfülle entriegeln. - Hier hast du für immer die Wahl zwischen ihnen und mir; - hier bist du Alleinherr. (_Zu den Amtspersonen_:) Kniet nieder, ihr! - -+Die Kaplane+ - - (gehorchend): - - Herr, erbarme! - -+Die Pastoren und Bürgermeister+ - - (ebenso): - - dich unser! - -+Die Landräte+ - - (aufmuckend): - - Himmelkreizrudiment! - -+Eulenspiegel+ - - (sie einzeln rasch mit der Pritsche duckend): - - Nieder! nieder! nieder! nieder! nieder! Blitzelement! - -+Der Rotbart+ - - (Michels Kopf mit dem Schwert berührend): - - Ich, Michel, kröne dein Haupt mit dem herrlichsten Mut, - dem zu dir selbst; bewahre ihn gut! - -+Eckart+ - - (desgleichen mit dem Kreuzstab): - - Ich, Michael, mit der heiligsten Macht, - der über dich selbst; nimm sie wohl in Acht! - -+Eulenspiegel+: - - Ich verhalte mich selbstverständlich ergebenst stille, - denn die Hauptsache bleibt: es geschehe dein Wille! - - (Ihm ins Ohr:) - - Wenn du willst, ist der ganze Weltrummel nichts als ’ne Flause. - -+Michel+: - - Ich -- will -- nach Hause! - -+Der Rotbart+: - - Hier +bist+ du’s! - -+Eckart+: - - Ewig! - -+Frau Venus+: - - Dies Haus kannst du nie verkaufen. - Michel Michael, bald ist die Zeit abgelaufen, - in der du den Raum der Geister heimlich erleuchtet siehst; - wenn du willst, daß dein innerstes Heim sich erschließt, - ich zeig dir’s! - -+Michel+: - - Wer -- bist -- du? - -+Frau Venus+ - - (von feurigem Rauch verhüllt): - - Ich weiß nicht mehr. - Wohl aus tiefem Süden kam ich einst her, - wohl aus höchstem Norden: aus allen Zonen, - wo Urvater Schmerz und Allmutter Wonne wohnen. - Wohl der einsamen Glut seines Geistes bin ich entsprossen, - wohl vom willigen Feuer ihrer Seele durchflossen - in des Erdgrunds kreisenden Leib getropft, - aus dem nun mein Himmelsblut flammt und flackert und drängt und - klopft, - aufbegehrlich durch deine, auch deine irdischen Adern hin -- - -+Eckart+: - - Hüt dich, hüt dich, Michael, vor der Teufelin! - -+Die Kaplane+ - - (_sich bekreuzend_): Teufelin! - -+Der Rotbart+: - - Schweigt, ihr Winsler! - -+Frau Venus+: - - Hab Dank! Ja, Gebieter, ich bin - nur die Stimme, die aus dir selber lacht, - wenn dein Mutwille hochlodert aus dem Kyffhäuserschacht. - Ich, Eckart, brauche des Michels Haupt nicht mit wirren - Machtsprüchen ewigen Heils zu kirren, - nicht wie du, Freund Tyll, mit gleißenden Freiheitsblicken - sein Hirn bestricken: - ich rühre nur leise an sein Herz -- - - (sie senkt ihren Stab auf Michels Brust) - - seht, wie er aufzuckt! -- Sag, Michel: +Ist’s+ Schmerz? - -+Michel+: - - Schmerz -- - -+Frau Venus+: - - Ist’s Wonne? - -+Michel+: - - Wonne -- - -+Frau Venus+: - - Ist’s Heimweh nach dem Licht? - -+Michel+: - - Licht! - -+Frau Venus+ - - (ihren Stab wieder hebend): - - +Fühlst+ du nun des Blutes selige Unruhpflicht? - Oder willst du leben -- sprich -- wie diese Machtstreber hier, - ein Ruhestifter voll furchtsamer Gier? - -+Michel+ - - (die Arme breitend): - - O Göttin! -- - -+Die Pastoren+: - - Gnade! - -+Eulenspiegel+ - - (_mit der Pritsche klappend_): Ruhe! - -+Die Bürgermeister+ - - (während sich die Kaplane bekreuzen): - - Gnade, Göttin! - -+Eulenspiegel+: - - Ruhe!!! - -+Die Landräte+: - - Göttlichste Göttin!! - -+Frau Venus+: - - Ihr?? - Ihr meint eine Andre! Ihr meint die teuflische Fratze, - die jene Diener des Heils da (_auf die Kaplane weisend_) mit plump - geiler Tatze - an die Wand euch malten; drum sitz ich im Trauerschleier. - Aber auch euch treibt heimlich -- wißt es! -- mein mißgunstfreier - Hauch, eure Ängste auszurasen - und euren unreinen Atem irgendwie von euch zu blasen; - drum habt ihr den Erdball zum Höllenkessel gemacht. - - (Die Kobolde mit dem Szepter streifend:) - - Auf, Klopfgeister! öffnet den Wetterschacht, - durch den der Qualm ihrer Süchte zur Läuterung niederquillt! - Jetzt, ihr Herrn, beseht, beseht euch das Ebenbild - eurer knechtischen Notdurft und krampfhaften Mühseligkeit, - eurer zielbewußten Wohlfahrtsbeflissenheit, - eurer mammonstollen Stoffwechselpracherei, - eurer jammervollen Naturgesetzschacherei, - des zivilisierten Barbaren würdigste Konkubine: - da steht eure Göttin: die Maschine! -- - - (Die Kobolde haben währenddem das kristallene Flechtwerk der linken - Grotte geöffnet, und schwarzgrauer Dampf ist herausgequollen. - Nun wird ein feuriges Ofenloch sichtbar, neben dem der +rote - Karl+ in seiner militärischen Maske zwischen maskierten - +Bergleuten+ und rußschwarzen +Heizern+ hockt, und - darüber eine Schwungradmaschine; zugleich hört man wieder das - dumpfe Kolbengestampf, aber weniger laut als früher.) - -+Die Landräte+ - - (sich die Ohren zuhaltend): - - Himmelkreizru -- - -+Der rote Karl+ - - (_tritt drohend vor_): man stopp! - -+Chor der Heizer und Bergleute+ - - (_dumpf_): man stopp, man stopp, man stopp! - -+Der rote Karl+: - - Jetzt kommt die Vergeltung! los, Genossen! hopp hopp! - Rache! - -+Die Heizer und Bergleute+ - - (Schaufeln und Spitzhacken schwingend, bilden mit hoppsenden - Tanzschritten einen Halbkreis um die Amtspersonen, die sich mit - flehenden Geberden knierutschend um Michel zusammendrängen): - - Wir sind nicht mehr Menschen; wir dienen, wir dienen, - lebend’ge Maschinen, den toten Maschinen. - Jetzt wolln wir mal herrschen, mit Gewalt, mit Gewalt, - wir armen Teufel in Menschengestalt. - Rache! - -+Die Kaplane und Landräte+: - - Wir flehn ehrerbietigst um Gnade, um Gnade. - -+Die Pastoren und Bürgermeister+: - - Es wäre doch schade, jammerschade, jammerschade - -+Die Kaplane und Landräte+: - - um unsre christlich-germanische Staatskultur, Staatskultur. - -+Die Pastoren und Bürgermeister+: - - O Michel, o Michel, besinne dich nur! -- - -+Eulenspiegel+ - - (klopft laut mit dem Finger an die Rückseite von Michels Bank): - - Michel, hörst du?? - -+Michel+: - - Ich höre. - -+Der Rotbart+: - - So verschließ dir einstweilen die Ohren! - -+Eckart+: - - Und verwechsle nicht Uns mit diesen vom Zeitgeist besessenen Toren! - -+Frau Venus+: - - Nein, hör sie nur betteln, die dich mit städtischer Hoffahrt - benebeln, - um hinterrücks deinen bäurischen Waghals zu knebeln; - seht, ihr Kriecher, jetzt schlägt sie über die Schnur, - die tückische Glut eurer Unnatur! - - (Eine grelle Flamme pufft aus dem Ofenloch; die Amtspersonen fahren - entsetzt in die Höhe und taumeln geblendet durcheinander.) - - Sie macht alles so hell, - sie macht alles so schnell, - daß eure lichtscheuen Sinne sich dran verbrennen, - bis ihr nichts mehr könnt als blindwütig hasten und rennen: - nun, ich will euch erlösen, ihr armen Irrlichtschürer. - Los, ihr Hetzteufel alle, packt eure Verführer! - -+Die Heizer und Bergleute+ - - (hinter den flüchtenden Amtspersonen her): - - Hetz hetz, ins Feuer! - -+Die Kaplane und Landräte+: - - Erbarmen, Erbarmen! - -+Die Heizer und Bergleute+: - - Ihr Fettungeheuer! - -+Die Pastoren und Bürgermeister+: - - Wir Armen, wir Armen! - -+Die Heizer und Bergleute+ - - (nehmen einen Landrat und einen Kaplan am Kragen, während die - übrigen in den Pfeilergängen verschwinden): - - Ihr Schweinepriester, ihr Rindviehmagnaten, - jetzt singt Halleluja, jetzt werdt ihr gebraten! - marsch! - -+Der Kaplan+: - - O Sankt Michael, hilf uns! - -+Der Landrat+: - - Inhibieren Sie diesen Radau! - -+Der Kaplan+: - - O Sankt Eckart, bitt für uns bei der gnädigen Frau! - -+Eckart+: - - Fahr zur Hölle, Memme! - -+Der rote Karl+: - - Höllaluja! marsch, marsch! - -+Die Heizer+: - - Ins Feuer! - -+Der Kaplan+ - - (_wird ins Ofenloch geschoben_): Au! au!! -- - -+Der Landrat+: - - Sackerment -- (_plötzlich sich losreißend_) Herr Corpsbruder!!! - -+Der Bergrat+ - - (kommt sofort durch das Flechtwerk der rechten Grotte gehopst, - maskiert wie früher): - - -- wünschen? -- - -+Der Landrat+ - - (_während er wieder gepackt wird_): Na +Hilfe+, kreuzsackerment! - -+Der Bergrat+ - - (nach der linken Grotte hinübergaloppierend): - - Bedaure! bin beschäftigt! im Dienst der Herrin! es brennt! - -+Die Bürgermeisterin+ - - (kommt plötzlich aus der rechten Grotte ihm nachgaloppiert): - - Ach bitte, bitte, bitte! Na warte, ich werd dich schon kriegen! - -+Der rote Karl+: - - Jawollja! marsch marsch! immer ran, verehrliche Fliegen! - -+Die Heizer+ - - (den Bergrat gleichfalls ins Feuer schiebend und die - Bürgermeisterin hinterdrein): - - Immer rin, immer rin, immer rin ins Vergniegen! -- - -+Der rote Karl+ - - (zum Landrat): - - Marsch marsch! immer schneidig! - -+Der Landrat+: - - Na, wenn’s sein muß, dann los! - Platz da -- (_er stürzt sich selbst in das Ofenloch_) -- - -+Der rote Karl+: - - Allerhand Achtung! - -+Die Heizer und Bergleute+: - - So’n Schubbiak! so’n Gernegroß! - -+Der rote Karl+: - - Still, Genossen! - -+Die Bergleute+: - - Ohoh! - -+Der rote Karl+: - - Ich sag euch: der Kerl hatte Schneid für drei! - -+Die drei Heizer+: - - Hoh!!! - -+Eulenspiegel+ - - (ihm mit der Pritsche auf die Schulter klopfend): - - Nimm dir’n Beispiel dran, Roter! jetzt kommst Du an die Reih! - -+Der rote Karl+: - - Wa --? - -+Eulenspiegel+: - - Zu dienen, Herr Volksbefreier! jetzt +ist+ man so frei. - -+Der rote Karl+: - - Zu Hilfe, Genossen! - -+Die Heizer und Bergleute+: - - Hoh! ohoh! - -+Eulenspiegel+: - - +Die+ Zeit ist vorbei! - -+Der Oberheizer+: - - Vorbei, du Schreihals! jetzt wird nicht mehr schwadroniert. - -+Der rote Karl+: - - Aber Kameraden! - -+Ein Bergmann+: - - Jawollja! hast uns lange genug kommandiert! - Marsch ins Feuer! - -+Die ganze Bande+: - - Marsch marsch, du Freiheitsverräter! - du Rädelsführer! du Erzschuft! du Hauptattentäter! - -+Der rote Karl+: - - Zu Hilfe, Michel! - -+Eulenspiegel+: - - Der läßt sich erst recht nicht drillen. - -+Der Rotbart+ - - (mit besonders wuchtigem Tonfall): - - Hier ist Jeder nur Bruchstück von Seinem Willen. - -+Frau Venus+: - - Und sein Wille ist, ihr Schächer: ich soll euch ein bißchen läutern! - euch Alle! - -+Eulenspiegel+: - - Nachher könnt ihr säuberlich weitermeutern -- - -+Eckart+: - - und einer den andern mit reinem Gewissen regieren -- - -+Eulenspiegel+: - - und euch gegenseitig immer reiner kuli-kultivieren. - Was meinst +Du+, Michel? - -+Michel+ - - (die Hand nach dem Feuerloch hebend): - - Marsch, marsch! - -+Frau Venus+: - - Hinein, ihr Teufel, hinweg! - Klopfgeister, schließt den Sündenversteck! - Erde, enthölle dein Himmelsblut! - Feuerfluß werde kristallene Flut, - beschwinge die Zeiten, durchdringe die Räume, - bringe Klarheit ins Reich der Träume! - - (Der rote Karl wird inzwischen samt seinen Genossen von den - Kobolden an das Ofenloch gedrängt, und das Flechtwerk der Grotte - schließt sich hinter ihnen, auch die Kobolde mitverbergend; - zugleich verstummt das Geräusch der Maschine.) - - Sag, Kyffhäuserherr, ist nun zur Genüge gestritten? - -+Der Rotbart+: - - Frag den Michel, edle Feindin! du kennst die Geistersitten. - -+Frau Venus+: - - Ja, du Herrlicher du, werd’s endlich inne: - ich bin nur den Armsünderseelen die Teufelinne. - Aus dem Samen, den ich Verschwenderin streue, - keimt alles Künftige, alles Junge und Neue, - jeder Traum von Schönheit und Kühnheit, von Freude und Ruhm, - jeder Glaube an wahrhaftes Heiligtum. - Wahrlich, Eckart, unser Wettstreit bleibt ewig gleich; - denn dein wie mein ist das Erd- wie das Himmelreich. - Also, Eulenspiegel, schür sie nur immer fort, - die Hölle der Freiheit zwischen hier und dort! - und sorge dafür, daß deine Schelle - selbst in die verschlafensten Ohren gelle! - -+Eulenspiegel+: - - Zu Befehl, gnädige Frau! - - (Er hockt sich ans Fußende von Michels Bank.) - -+Frau Venus+: - - Ich nehm dich beim Wort auf der Stelle. - Sprich, Michel: glaubst du an unsre Schutz- und Trutz-Einigkeit? - und willst du ihr treu sein, treu sein in Lust und Leid? - -+Michel+: - - Lust -- und -- Leid! - -+Frau Venus+: - - Und willst du mir, was dein Mund so im Traum verspricht, - auch beschwören von Augen- zu Augenlicht? - -+Michel+: - - Augenlicht! - -+Frau Venus+: - - O, erkenne mich erst, du! -- Weißt du nicht mehr: - Fremd aus fernem Süden wohl kam ich einst her, - so fremd, daß ein Schreck dein nordisches Blut durchlief, - wie ein Bergquell wohl aus der Erde tief, - eines Abends im Wald, war kaum sechs Jahr, - einen Kranz wilde Efeuranken im Haar -- - - (sie lüftet lächelnd ihren Schleier) - - und mit Augen, wie der Kuckuk fürwahr -- - -+Michel+ - - (jäh emporgreifend): - - Lise!! -- - -+Frau Venus+: - - Ja, so saß ich unter dem Felsenhang - und sang -- - -+Michel+: - - und sang -- -- - -+Frau Venus+ - - (nickt und verhüllt sich wieder): - - Und nun siehst du mich hier, wie du wünschtest, in seidnen Kleidern - sitzen, - mit Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen; - und gilt dir doch alldas in Wahrheit nicht einen Niet - gegen ein einziges kleines heimatliches Lied - von Herzensgrund - aus meinem Mund -- - -+Michel+: - - deinem Mund -- - -+Frau Venus+ - - (sich erhebend): - - Hört’s, Geister, hört’s! schlingt den Zauberreigen! - - (Die Kobolde eilen von rechts wie links durch das Flechtwerk aus - den Grotten herbei; eine leise Walzermusik beginnt von fern.) - - Raunt mein Gebet ihm ein in sein innigstes Eigen: - in Fleisch und Blut, - in Mark und Mut: - Körperrausch werde Seelenglut! - - (Sie senkt ihr Szepter wieder auf Michels Brust, während der - Rotbart mit dem Schwert und Eckart mit dem Kreuzstab sein Haupt - berühren; zugleich beginnen die Kobolde ringelreih um die Bank zu - schreiten, während Eulenspiegel am Fußende kauern bleibt.) - -+Frau Venus+: - - Michel Michael! Mehr kann kein menschlicher Geist erwerben - -+Die Kobolde+ - - (_gedämpft_): Geist erwerben - -+Frau Venus+: - - als ein Haus, das er heiligt für seine Erben! - -+Die Kobolde+ - - (_wie vorher_): seine Erben! - -+Frau Venus+: - - als einen Hof, wo er spielt mit Weib und Kind! - -+Die Kobolde+: - - Weib und Kind! - -+Eckart+: - - als einen Herd, an dem er Frieden findt! - -+Die Kobolde+: - - Frieden findt! - -+Der Rotbart+: - - eine Schwelle zum Himmel, wenn er den Kampf bestand - für seine Muttererde, sein Vaterland! - -+Die Kobolde+ - - (allmählich lauter): - - seine Muttererde, sein Vaterland. - -+Eulenspiegel+ - - (alle zehn Finger hochspreizend): - - Dieser Traum der Menschheit, Michel, hat vielerlei Enden! - -+Die Kobolde+: - - vielerlei Enden! - -+Frau Venus+: - - laß dich nicht von Träumen, die eitel sind, blenden! - -+Die Kobolde+ - - (_plötzlich niederknieend, Hände vors Gesicht_): blenden! - - (Die ferne Tanzmusik hört auf.) - -+Eckart+: - - Bei dem Gott, dem der Geist deiner Väter entsprang -- - -+Der Rotbart+: - - bei deines Namens hellem Erzengelklang -- - -+Eulenspiegel+ - - (den Schellenzipfel gen Himmel hebend, doch noch nicht klingelnd): - - bei der dunkeln Macht, über die ich weine und lache -- - -+Frau Venus+: - - erwache, Michael -- - -+Die Kobolde und Eulenspiegel+ - - (_aufspringend, Zippelmützen und Schellenzipfel schwenkend, während - der Vorhang sich schließt_): erwache! -- -- - - * - -+Eulenspiegel als Zwischenredner+ - - (aus dem Mittelspalt des Vorhangs tretend, mit verlegenem - Achselzucken): - - Er schläft immer noch. Was tun? -- (_Aufhorchend_) Jetzt schnarcht - er sogar. - Das ist höchst bedenklich; denn wir laufen alle miteinander Gefahr, - noch geisterhafter von ihm geträumt zu werden, - und das könnte doch vielleicht unsern leiblichen Zustand gefährden. - Ich würde ihn wecken; aber wer weiß, was passiert, - wenn er unversehens seine Zippelmütze verliert - und ernstlich nachdenkt über dies nächtliche Abenteuer. - Auch unserm Herrn Dichter übrigens scheint das durchaus nicht - geheuer; - ich glaube, er fragt sich lieber schon garnicht mehr, - wer jetzt wirklich Herr ist, wir oder er. - - (Hinterm Vorhang beginnt leise Tanzmusik.) - - Aha! da läßt er gleich wieder den Fidelbogen schwingen; - vermutlich, um den Gang der Handlung besser in Trab zu bringen. - Seit wir dem Michel klarmachen mußten, was er im Grunde will, - steht dem Herrn sein Wille ebenso gründlich still - vor den unberechenbaren Folgen dieser Geisterstunde. - Ich hör ihn bereits mit sperrangelweitem Munde - um unsern Beistand gegen seinen schnarchenden Helden flehn; - ja, so dreht sich der Weltlauf im Handumdrehn. - Wenn nun der Michel träumen will bis zum Jüngsten Tage, - was wird dann aus der ganzen tatsächlichen Lage? - Sein Haus fällt der Grubengesellschaft in die Hände, - und seine Glücksfee nimmt womöglich als alte Jungfer ein Ende; - ich muß doch mal nachsehn, was sich da machen läßt. - - (Er steckt einen Augenblick den Kopf in den Vorhangspalt.) - - Halt! er schnarcht nicht mehr. Er liegt bombenfest; - nicht einmal seine Krone ist verschoben, - und man hat ihn inzwischen sogar auf den Thron gehoben. - Da heißt’s doppelt Vorsicht. Ich warne nochmals Jeden vor Schaden; - denn Sie wissen, er ist reichlich mit allerlei Sprengstoff geladen, - und wie leicht kann der plötzlich ganz von selber loskrachen! - Also werd ich ihm mal Platz für den Explosionsfall machen. - - (Er schiebt den Vorhang nach rechts beiseite.) - - - - -Vierter Aufzug - - - (+Bild+: wie beim zweiten Aufzug. Doch ist jetzt die Bank - mit dem +angebundenen+ Michel quer auf zwei zusammengerückte - Tische gesetzt, die rechts unter dem Laubengang stehn; und - überhaupt sieht alles ziemlich verrattert aus. Hinter Michel, auf - Stühlen zu ebner Erde, sitzen der +Rotbart+ und +Eckart+, - ebenfalls schlafend; und an dem langen Tisch links schläft der - +schwarze Karl+, mit einer leeren Flasche im Arm. Vorn, - unten vor Michel, sitzt und wacht +Lise Lied+, noch immer - als verschleierte Glücksfee; neben ihr steht der maskierte - +Bergrat+, mit zwei Sektgläsern in der Hand. Die leise Musik - im Saal dauert fort; man sieht, es wird eine Cotillontour getanzt, - und ab und zu huscht ein Pärchen heraus in die Büsche.) - -+Eulenspiegel+ - - (prallt mit dem Vorhang an den Bergrat, sodaß dieser die Sektgläser - fallen läßt): - - Oh Pardon, Herr Rat! - -+Der Bergrat+: - - O zum Teufel, Sie Tr -- - -+Eulenspiegel+: - - Tr --? - -+Der Bergrat+: - - Sie -- Traumspuk mein’ ich! - -+Eulenspiegel+: - - Ah, danke höflichst, Sie Rr -- - Sie Raumspuk mein’ich -- und werde sofort das Glas neu erscheinen - lassen; - unterdeß dürften Scherben nicht schlecht zu dem Fräulein Glücksfee - passen. - -+Der Bergrat+: - - Also +zwei+ Gläser, bitte. - -+Lise Lied+: - - Nein, danke! Nichts mehr! nicht einen Tropfen! - - (Halblaut zum Bergrat, etwas kokett): - - Ach, ich fühle mein Herz schon rasch genug klopfen. - -+Eulenspiegel+: - - Also +eins+, Herr Glücksrat? - -+Der Bergrat+: - - Nein, danke gleichfalls! danke! - -+Eulenspiegel+: - - Also keins. Glückauf, Spuk! (_Ab nach dem Saal._) - -+Der Bergrat+ - - (_Lisens Schleier fassend_): O diese schwarze Schranke, - wann wird sie endlich von dem klopfenden Herzchen weichen?! - O wüßt ich den Preis, spröde Fee, für dies Glück ohnegleichen! - -+Lise+: - - Nicht so stürmisch, Herr Ritter; Ihr werdet sogleich erschrecken. - Ihr habt den Preis nämlich in der Tasche stecken. - Ja ja! Und er ist nur ein Blatt Papier. - -+Der Bergrat+ - - (seine Brieftasche herauslangend): - - Aber Herz, natürlich! Wie hoch soll der Check sein? Hier! - -+Lise+: - - Check? was ist das? -- Ach so! Hahahah! Nein, danke recht sehr; - ich meinte -- (_zupft an dem Vertragspapier; -- plötzlich - schreckhaft_) ogott! er hat sich gerührt! - -+Der Bergrat+ - - (_den Vertrag rasch wieder einsteckend_): Was! Wer! - -+Lise+: - - Na, Er! Wenn er aufwacht! Ach bitte, Herr Bergrat: schnell: - bringen Sie mich heim! - -+Der Bergrat+: - - Ja natürlich, Schatz! In welches Hotel? - -+Lise+: - - Hotel? Nein, nach Hause! - -+Der Bergrat+: - - Hause? - -+Lise+: - - Ja bitte! geschwind! - -+Der Bergrat+: - - Hm -- wer bist du denn? - -+Lise+: - - Ach, Herr Rat -- blos dem Michel sein Pflegekind. - - (Die Tanzmusik setzt ab.) - -+Der Bergrat+: - - Ach so --! Hahahah! -- Süßer Racker! - -+Lise+: - - Er darf mich hier nicht finden! - Will ihn blos noch rasch von der Bank losbinden. - - (Sie tut es.) - -+Eulenspiegel+ - - (erscheint im Hintergrund mit der noch immer maskierten - Bürgermeisterin): - - Bitte +dort+, schöne Frau; Sie sehn, man will schon verschwinden. - -+Der Bergrat+ - - (Lisens Arm nehmend): - - Also los! - -+Die Bürgermeisterin+ - - (nach vorn eilend, während Eulenspiegel zurück in den Saal geht): - - ~Ah, monsieur~, Sie treiben’s ja rein schon zum Skandal! - -+Der Bergrat+: - - ~Oui, madame!~ drum verlass ich auch das Lokal. - Ihr Diener! - -+Lise+: - - Empfehl mich, Madam! - -+Die Bürgermeisterin+ - - (während die Beiden nach rechts verschwinden): - - Sie Dirne! Sie freches Stück! - O, meine Nerven! -- O Theodor, komm zurück!!! -- - - (Sie ist dabei auf den Stuhl gesunken, auf dem vorher Lise gesessen - hat. Die Tanzmusik setzt wieder ein.) - -+Eulenspiegel+ - - (erscheint mit dem etwas schwankenden Bürgermeister): - - Bitte +dort+, Herr Bürgermeister -- (_entfernt sich wieder_) -- - -+Der Bürgermeister+ - - (gleichfalls noch immer maskiert, mit einigen Cotillon-Orden am - Domino): - - Aber Wally, was sollen die Leute denken! - so mitten aus dem Cotillon abzuschwenken! - ich bitt dich! - -+Die Bürgermeisterin+ - - (_schluchzend_): Ach, Männe! - -+Der Bürgermeister+: - - Ach, laß das Getu! - -+Die Bürgermeisterin+: - - Was?! -- (_Kreischend_:) Pfui, du Flaps! du elender Fatzke du! - Geh!!! - -+Der Bürgermeister+: - - Aber Frauchen! - -+Die Bürgermeisterin+: - - Geh, sag ich! oder ich schrei!!! - -+Der Bürgermeister+: - - Um Gottes willen -- (_er schlägt sich nach rechts in die Büsche_) -- - -+Die Bürgermeisterin+ - - (_schluchzend_): So’n Stiesel! Und riecht noch nach Bier dabei! -- - -+Eulenspiegel+ - - (erscheint im Hintergrund mit dem Kaplan): - - Bitte +dort+, Ehrwürden -- (_dann wieder ab in den Saal_) -- - -+Der Kaplan+ - - (auch schon ein bißchen schwankend, zur Bürgermeisterin): - - Ei, teuerstes Beichtkind, ei: - so vereinsamt inmitten der Fröhlichkeit? - - (Er nimmt einen Stuhl und setzt sich dicht neben sie.) - -+Die Bürgermeisterin+: - - Ach, Ehrwürden, es gibt soviel Herzeleid! - -+Der Kaplan+ - - (ihre Hand nehmend): - - Ei, ei -- - -+Die Bürgermeisterin+: - - O fühlen Sie, wie ich zittre und bebe -- - - (sie drückt seine Hand an ihren Busen, während Michel oben hinter - ihnen erwacht und unbemerkt sich allmählich auf seiner Bank - zurechtsetzt) - - Ach -- - -+Der Kaplan+: - - Ach -- - -+Die Bürgermeisterin+: - - O hätt ich etwas, wofür ich lebe! - mir ist manchmal so schwach, so unbeschreiblich schwach! - -+Der Kaplan+: - - Ja, ich fühl es -- - -+Die Bürgermeisterin+: - - Ach, wie das wohltut -- ach -- - wie das wonnig klang, als Sie sagten: Ei, ei -- - -+Der Kaplan+ - - (weiterfühlend): - - Ei, ei -- - -+Die Bürgermeisterin+: - - Ach, mir wird auf einmal so anders, so frei! - wie das himmlisch ist, so getröstet zu werden! - -+Der Kaplan+: - - Ja, da fühlt man das Paradies auf Erden -- - -+Die Bürgermeisterin+: - - Ach -- wenn ich auch etwas abgehärmt scheine -- - -+Der Kaplan+: - - O -- das sind ja gottgesegnete Beine -- - -+Eulenspiegel+ - - (erscheint im Hintergrund mit dem Pastor): - - Bitte +dort+, Herr Pastor -- - -+Michel+ - - (breit von oben herab zu dem Pärchen): - - +Ihr Schweine+ -- - -+Die Bürgermeisterin+: - - Huch -- (_läuft nach rechts davon_) -- - -+Der Kaplan+ - - (ruhig aufstehend): - - Was! Er Säufer erfrecht sich, hier fromme Gespräche zu stören? - -+Michel+ - - (über die Stühle vom Tisch niedersteigend): - - Platz da, Pfaff! - -+Der Rotbart und Eckart+ - - (von Eulenspiegel wachgemacht, treten aus dem Laubengang): - - Platz! Platz! - -+Der Kaplan+ - - (_vor Michel zurückprallend_): Ah! Er soll von mir hören! - Wart, Bursch! (_Ab in den Saal mit dem Pastor zusammen, der im - Hintergrund - gewartet hat._) - -+Eulenspiegel+: - - Nun, hehrer Helde? zurück aus dem Geisterland? - wie steht’s? - -+Michel+ - - (ganz mit +sich+ beschäftigt, schlägt nach der Troddel der - Zippelmütze): - - Verdammtes Gebammel! (_und reißt sie sich vom Kopf._) - -+Eulenspiegel+: - - O aber! Solch Ehrenpfand, - das schlägt man doch nicht! - -+Michel+ - - (_die Mütze anstarrend_): Was ist das? was soll das? -- Hee: - wer tat das, Schwarzer?! - -+Der schwarze Karl+ - - (_von Michel gerüttelt_): Hilfe! mein Portepee! - Josef-Maria -- (_ist aufstehend über seinen Degen gestolpert, fällt - unter den - Tisch und schläft weiter_) -- - -+Michel+: - - Viehklumpen! -- Und Ich?? -- O Vieh, Vieh, Vieh!!! - - (Die Mütze zerfetzend und zu Boden schleudernd:) - - Schandlappen verfluchter! da lieg, du Infamie! - O, ich Narr! ich Stadtnarr!!! (_Er faßt seinen Kopf mit beiden - Händen; die Tanzmusik setzt wieder ab_) Halt, Michel, halt! - besinn dich, Mensch! -- (_Er blickt scheu nach dem Rotbart und - Eckart hinüber, - tastet an seiner Brust herum, holt das Vertragspapier aus der - Tasche, entfaltet es, - starrt es kopfschüttelnd an._) - -+Eulenspiegel+ - - (nimmt unterdessen Eckart beiseite): - - Excellenz -- - - (und da dieser ihm rasch den Mund zuhält) - - ah, Pardon -- aber gehn wir nicht bald? - wir könnten leicht den rechten Moment verpassen. - -+Der Rotbart+ - - (ist zu ihnen getreten): - - Nein, wir dürfen den Mann +nicht+ in seinem Zorn verlassen. - -+Eulenspiegel+: - - Wie’s beliebt, gnädiger Herr -- -- - -+Michel+: - - Wo +ist+ er? Er soll mir heraus! - -+Der Rotbart+: - - +Wer+, Michel, wer?! - -+Michel+: - - Dem ich hier mein Haus - vorhin verschrieb ohne Sinn und Verstand! - - (Er zerknautscht das Papier, will es wegwerfen, hält plötzlich inne - und steckt’s in die Brusttasche.) - -+Eulenspiegel+: - - +Der+, Herr Vetter, ist leider inzwischen kurzerhand - mit deiner Glücksfee durchgebrannt. - - (Die Tanzmusik setzt wieder ein.) - - -+Michel+ - - (nimmt seinen Hut und Stock von dem Tisch unter der Bank): - - Ihr Herren! Ich bin nur ein Mann in geringem Kleid - und mit Ehrfurcht im Leibe; aber was ihr auch seid, - ich schätz mich zu wert, euern Schabernack einzustecken! - Ich bin kein Hanswurst für naseweise Gecken, - und im Wirtshaus ist jedermann nichts als Zechkumpan! - - (Auf die zerrissene Mütze deutend:) - - Wer hat mir den Schimpf da angetan?! - -+Eulenspiegel+: - - Da mußt du +den+ dort fragen, Freund Grobian. - - (Er zeigt nach hinten, wo eben der maskierte +Landrat+ - erscheint, ganz mit Cotillon-Orden bepflastert, begleitet vom - Kaplan und vom Pastor, alle drei den Hut auf dem Kopf und nicht - mehr vollkommen fest auf den Beinen.) - -+Michel+ - - (sich gleichfalls den Hut aufstülpend): - - Ahh, Herr! - -+Der Landrat+ - - (sich mit dem Taschentuch fächelnd): - - Ä --: Ah --? was Ah?! - -+Michel+: - - Ich fordre Aufklärung, Herr! - -+Der Landrat+: - - Pahahäh! Ist ja gottvoll! -- Na also, Sie Aufklärererr: - erst mal Hut ab, wenn Sie hier um was bitten! - -+Michel+: - - Mit Verlaub: mein Hut kehrt sich ganz nach Anderleuts Sitten! - -+Eulenspiegel+ - - (_mit Fistelton_): ja Sitten! - -+Der Rotbart und Eckart+ - - (_tief und schwer_): Sitten! - -+Der Landrat+: - - Himmelkreiz, Ruhe! -- Das ist ja -äh- unerhört! - -+Der Kaplan und der Pastor+: - - Unerhört! Unerhört! - -+Der Landrat+: - - Er besoffner Flegel, merk er sich: Wenn er das Fest weiterstört - -+Michel+ - - (den Hut kurz lüftend): - - Um Verzeihung, Herr Landrat: Wer +ist+ hier besoffen? - Ich für +mein+ Teil hab meinen Rausch ausgeschloffen. - -+Der Landrat+ - - (immer heftiger fächelnd): - - Ruhe!!! - -+Michel+ - - (_wie vorher_): Sehr gern, Herr Landrat. Nur bitt ich noch - diese Nacht - um Antwort: Wer hat mich besoffen +gemacht+?! - Und im Übrigen bitte: hier leg ich hin, - was ich etwa irgendwem dafür schuldig bin! - - (Er langt eine Handvoll Geld aus der Hosentasche und wirft sie dem - Landrat vor die Füße.) - -+Der Landrat+ - - (etwas zurückweichend): - - Aber das ist ja ein ganz -ä- ganz unglaubliches Vieh! - -+Der Kaplan+: - - Ja, ein Vieh! - -+Michel+: - - Ahh!!! (_hebt in heller Wut seinen Stock._) - -+Der Rotbart und Eckart+: - - Halt, Michel! Halt! - -+Michel+ - - (_bezwingt sich_): Ja, wahrhaftig: für die, - die Biester da, ist mein Stock zu gut. - Aber eh ich ihn heimtrag, ihr Kröten-und-Unkenbrut, - soll euch doch mal erst, und müßt ich den Hals drum wagen, - eine Menschenstimme ans Trommelfell schlagen! - - (Der Landrat holt Notizbuch und Bleistift heraus.) - - Ja, notieren Sie’s nur! ich stell’s gerne auch noch unter Eid! - O, mit welchem Brustkorb voll Feiertagsgläubigkeit - kam ich heut auf dies Fest, dies Volksfest, her in die Stadt! - Wie hatt ich mein einsames altes Waldnest satt! - wie sah ich die Welt hier von neuen Lichtern leuchten, - die mir alles Leben weiter und größer zu entfalten deuchten! - - (halb zum Rotbart und Eckart hingewendet:) - - wie war ich willens -- die Herren da sind mir Zeugen -- - jedem überlegnen Geist mich mit Kopf und Kragen zu beugen! - wie glaubt ich, daß hier, wo Männer zum Wahlkampf rüsten, - die rechten, aufrechten Vorbilder ragen müßten, - einen Kerl wie mich zu vornehmer Art anzuleiten! - Und was fand ich? (_Zornschluchzend_:) Lauter Gemeinheiten! - -+Eckart+ - - (_dumpf_): Gemeinheiten. - -+Eulenspiegel+: - - Na heul nicht, Michel! - -+Der Rotbart+: - - hast höhere Obrigkeiten! - -+Der Landrat+: - - Was?! Schwerebrett ja, was unterstehn Sie sich! - Ich verbitt mir, meine Herrn da -- wer +sind+ Sie eigentlich?! - wie +heißen+ Sie?! (_Inzwischen hat sich im Hintergrund ein Haufen - maskierter - Leute versammelt, darunter das Bürgermeisterpaar Arm in Arm, und ein - lärmender - Wirrwarr drängt gegen den Rücken des Landrats._) - -+Drei Bengelstimmen+ - - (plärren aus dem Gedränge): - - (_weinerlich_) Fritze! (_dreist_) Peter Paul! (_ruppig_) - Ludewich! -- - -+Der Landrat+: - - Himmelkreizrudiment, Herr Kaplan, da soll man nicht fluchen?! - - (+Drei Kobolde+ kommen plötzlich zum Vorschein, der erste ohne - Mütze und mit flennender Miene.) - -+Michel+ (_für sich_): - - Träum ich? - -+Der Landrat+: - - Verflixte Bengels, was habt ihr hier noch zu suchen! - Ehrwürden hat euch doch extra vorhin zu Bett gejagt! - -+Der Pastor+: - - Ich auch, Herr Landrat! - -+Erster Kobold+ - - (_weinerlich_): Ich will meine Mütze! - -+Der Landrat+: - - Waas? - -+Zweiter und dritter Kobold+: - - Mütze! - -+Erster+: - - Ja --! Mutter hat gesagt: - Fritze, hat sie gesagt -- - -+Zweiter und dritter+: - - Dusselfritze! - -+Erster+ - - (+weinerlich+): Dusselfritze -- - -+Zweiter+: - - erst gehst du und holst deine Zippelmütze! - -+Erster+: - - Zippelmütze -- - -+Dritter+: - - Da liegt sie! - -+Der Landrat+ - - (_verlegen sich wegdrehend_): Ä -- bitte, Herr Bürgermeister! - - (Er nimmt ihn beiseite, gestikuliert mit ihm.) - -+Erster Kobold+ - - (hat die Mütze vom Boden genommen): - - Kaputt -- (_und läßt sie wieder fallen_) -- - -+Michel+: - - Na heul nicht, Fritze. Kuckt, kleine Geister, - was +hier+ liegt! - -+Die Kobolde+: - - Geld! richt’ges Geld! - -+Michel+: - - und’n ganzer Haufen! - Da grappscht! da könnt ihr zehn neue für kaufen. - - (Während sie aufsammeln) - - Und sagt eurer Mutter: der deutsche Michel läßt grüßen, - und die alte Schlafmütz, die hat er heut Nacht zerrissen. - So; nu geht zu Bette! - -+Erster Kobold+: - - Dank schön. - -+Zweiter+: - - Hurrra! - -+Dritter+: - - der deutsche Michel soll leben! - -+Erster und zweiter+: - - leben! leben! - -+Eulenspiegel+ - - (während die Kobolde verschwinden): - - So, Herr Vetter; nun könnten wir uns auch wohl ins Nest begeben! - - (Die Tanzmusik macht wieder Pause.) - -+Michel+: - - Wir? -- Ich hab meine Rechnung hier noch nicht klapp! - -+Der Landrat+: - - Ist geschenkt! Er kann jetzt abschwirren. Ab! - Man kennt ihn! - -+Michel+: - - Man soll ihn noch mehr kennen lernen! - -+Der Pastor+: - - Ein Diener des Friedens rät Ihnen, sich zu entfernen, - Herr Michael. Wahrlich, Sie mißbrauchen - -+Der Landrat+: - - Schon gut, Herr Pastor; den muß man anders anhauchen. - Marsch nach Hause, Bursche! (_Michel zuckt auf._) - Und sollt er sich weiter erfrechen, - dann -- (_er gibt dem Bürgermeister ein Zeichen_) -- - -+Der Bürgermeister+: - - Sofort, Herr Landrat! (_geht eilends ab._) - -+Michel+ - - (den Hut lüftend): - - Herr Pastor, ich will den Herrn Bergrat - sprechen; - wo +ist+ er? - -+Der Landrat+: - - Er hat hier garnichts zu wollen! - -+Michel+: - - Wo +ist+ er?! - -+Der Landrat+ - - (zurückweichend, etwas torkelnd): - - Kreuzschwerebrettnochmal, er soll sich nach Hause trollen! - verstanden?! - -+Der Rotbart+: - - Michel Michael, halt deine Hand im Zaum! - -+Eckart+: - - Bleib deiner mächtig, Mann; alles Andre ist Traum. - -+Michel+: - - Wo ist der Bergrat?! Er wird mir Rede stehn; - er versteht mit uns Volk menschlich umzugehn. - - (Die Tanzmusik setzt wieder ein.) - -+Der Landrat+: - - Meine Herren und Damen! ich rufe Sie sämtlich zu Zeugen: - ich habe -ä- Alles getan, um Exzessen vorzubeugen. - Hab ich, meine Herren? - -+Chor der Herren+: - - Jawohl, Herr Landrat! Alles! - -+Der Kaplan+: - - fast übergebührlich! - -+Der Landrat+: - - Meine Damen? - -+Chor der Damen+: - - Jawohl, Herr Landrat! - -+Die Bürgermeisterin+: - - schon beinah unnatürlich! - -+Der Landrat+: - - Demnach -ä- warn’ich den Delinquenten zum letzten Mal: - derselbe hüte sich hierorts, in diesem -ä- städtischen Festlokal, - vor Widerstand gegen die Staatsgewalt! - -+Michel+: - - Wie? -- Ich seh hier nur Leute in allerhand Maskengestalt. - -+Der Landrat+: - - Ruhe!!! - -+Der Kaplan+: - - Wenn Sie wünschen, Herr Landrat, bin ich im Amtskleid erbötig - -+Michel+: - - Ja: Euresgleichen hat keine Maske erst nötig! - -+Eine Dame+: - - Hihihi -- - -+Einige Herren+: - - hähähä -- hahahah -- - -+Der Kaplan+: - - Un-er-hört!! - -+Der Pastor+: - - Es scheint, Herr Collega, der Ärmste ist geistig gestört. - -+Der Landrat+: - - Ja! Sag er mal, Wertster: ihm brennt’s wohl im Kopp, das Stroh?! - -+Michel+: - - Darauf, Allerwertster, darauf antwort ich so -- -- - - (er kehrt ihm den Rücken und schlägt sich aufs Hinterteil; die - Tanzmusik bricht quietschend ab, und ein langer starker Baßton - erfolgt) -- -- - -+Die Herren+: - - Hă!! - -+Die Damen+: - - Ohh -- -- (_man fährt mit den Taschentüchern zur Nase und - wendet sich ruckhaft von Michel weg._) - -+Der Landrat+: - - Aber das schreit ja zum Himmel mit dem Rüpel da! - Ist denn kein Gummiknüppel da?! - Herr Bürgermeister!!! - -+Der Bürgermeister+ - - (_vom Hintergrund her_): Sofort, Herr Landrat! - -+Der Landrat+: - - Ja bitte, fix!! - Platz da, meine Damen! - -+Der Bürgermeister+: - - Vorwärts, Leute! da steht der Taugenix. - - (+Drei Polizisten+ marschieren auf.) - -+Eulenspiegel+ - - (mit der Pritsche klappend): - - Halt! Vorsicht! hier riecht’s nach Dynamit! - -+Der Landrat+: - - Ruhe!!! Vorwärts, Kerls! Losungswort: Moabit! - Los! - -+Der Bürgermeister+: - - Los, Leute! - -+Michel+ - - (mit beiden Händen seinen Stock aufstemmend): - - Halt!! Noch steh ich Gewehr bei Fuß; - aber wer den Michel anrührt, den haut er zu Mus! - -+Der Landrat+: - - Also Achtung! Plempen raus! Hoch das Bein! Immer druff! - -+Die Polizisten+ - - (blank ziehend und vorrückend): - - Immer druff! immer druff! immer druff -- - -+Michel+: - - druff! knuff!! - - (rennt sie mit quergenommenem Stock übern Haufen.) - -+Die Damen+: - - Huch -- (_flüchten samt den Herren nach hinten; zugleich aber - kommen +drei andre Polizisten+ von rechts aus dem Laubengang - gestürzt, fallen Michel in den Rücken und nehmen ihn fest_) -- - -+Die Polizisten+: - - Du Luder! du Mistvieh! du Aas! Lumpenhund! - Uff, Kanalje! Uff jetzt! Na warte: wir drehn dir die Knochen schon - rund! - - (Sie zerren Michel vom Boden und drücken ihn in die Kniee; zwei - Mann halten seine Füße gepackt, je zwei seinen rechten und linken - Arm.) - -+Der Landrat+ - - (wieder nähertretend): - - Stillgestanden! -- So, Bursche: jetzt wird er wohl kirre sein. - Legt ihm Handschellen an! - -+Michel+ - - (_aufbrüllend_): Nein!!! Nein, schrei ich! Nein! - Beim ewigen Gott: lieber hackt mir die Arme vom Rumpf! - -+Der Landrat+: - - Ruhe!!! - -+Michel+: - - Ich will Alles, was ich habe, mein Haus, Stiel und Stumpf, - der Staatskasse schenken! - -+Der Landrat+: - - Schluß jetzt! (_Zu den Polizisten_) Tut eure Pflicht! - -+Der Rotbart+: - - +Halt+! Das wird nicht geschehen! +dem+ Mann da +nicht+! - -+Eckart+: - - Trage Jeder, der richtet, Scheu vor höherm Gericht! - -+Der Landrat+: - - Waas! -- Ja zum Teufel, da soll doch -- das ist ja wahrhaftigen Gott - das reine Anarchistenkomplott! - Herr Bürgermeister!! - -+Der Bürgermeister+: - - Herr Landrat? -- - -+Eulenspiegel+ - - (während die Beiden erregt zusammen tuscheln und der knieende - Michel stumm mit den Polizisten ringt, zum Rotbart): - - Gnädiger Herr, ists erlaubt, - die Narrheit loszulassen gegen ein närrisches Haupt? - -+Der Rotbart+: - - Tu, Schalk, was dein Witz und -- dein Herz dir erlaubt! - -+Eulenspiegel+: - -Dank, Herr -- (_er verneigt sich und eilt nach links davon_) -- - -+Der Bürgermeister+ - - (vor Michel und seine Häscher tretend): - - Halt, Leute! -- Arrestant Michel Michael, - wir wollen Rücksicht nehmen auf Ihren submissen Gnaden-Apell - und Sie einfach abführen lassen, ohne Verwendung von Handschellen, - unter der Bedingung: Sie nennen Ihre Spießgesellen. - -+Michel+: - - Wie --? - -+Der Bürgermeister+ - - (auf den Rotbart und Eckart hinüberweisend): - - Wer sind diese Herren, mit denen Sie sich nicht scheuten, - unsre vaterländische Feststimmung unziemlich auszubeuten? - -+Michel+ - - (immer noch knieend, stier vor sich hin): - - O Deutschland -- -- - -+Der Landrat+: - - Na +wirds+ bald?! - -+Stimme des roten Karls+: - - man stopp!!! - -+Immer mehr Stimmen von draußen her+: - - man stopp! man stopp! man stopp! - - (Zugleich wird wieder das dumpfe Geräusch der stampfenden Maschine - hörbar.) - -+Der Landrat+ - - (sich die Ohren zuhaltend): - - Himmelkreizsackerment, tanzt denn heute der Deibel Galopp?! - - (Von links erscheinen +Eulenspiegel+, der +rote Karl+ - in seiner Militär-Uniform, jetzt aber mit Schlapphut und ohne - Gesichtsmaske, und die maskierten +Bergknappen+; die meisten - etwas angezecht, alle mit leeren Sektflaschen, die sie bedrohlich - wie Keulen schwingen.) - -+Der rote Karl+ - - (während Eulenspiegel mit der Pritsche den Takt dazu klopft): - - Stopp! Hie Knappschaft! - -+Die Bergknappen+: - - Knappschaft! - -+Der rote Karl+: - - Glückauf! - -+Die Bergknappen+: - - Glückauf! - -+Der rote Karl+: - - Jeder Knappe im Schacht - nehm sich vor falschen Wettern in Acht! - Licht aus!!! (_Er haut seine beiden Flaschen aneinander zu - Scherben; sofort erlöschen die elektrischen Ampeln. In der - Dunkelheit geben jetzt nur die Laternchen an den Tschackos der - Bergknappen spärliches Licht. Man sieht, wie sich Michel von seinen - Häschern losreißt, seinen Stock ergreift und um sich schlägt. Dazu - Gerassel von Säbeln und zerschmissenen Flaschen, Geschrei der - flüchtenden Damen und Herren, und Eulenspiegels Pritschengeknalle._) - -+Die Bergknappen+ - - (durch den Tumult hin und her trottend): - - +Aus+ das Licht! +Aus+ das Licht! - Irrwischfunken zünden nicht! - - (Michel stimmt ein): - - Sumpfgesindel! Unkenbrut! - fang mal Feuer, faules Blut! - -+Der Rotbart+: - - Aber Michel! Kerl! du verbläust ja mein Schwert! - -+Michel+: - - Immer druff! Meines Vaters Stock ist zehn Schwerter wert!!! - -+Die Bergknappen+: - - Wert oder nicht, wert oder nicht, - schlagt in Stücken, was zerbricht! - -+Michel+: - - Sind zerbrochen alle Klingen, - kann man noch den Knüppel schwingen! - Sieg!!! - - (Man sieht im Hintergrund durch den Saal die letzten fliehenden - Amtspersonen mit flüchtig aufflammenden Zündhölzchen rennen.) - -+Die Bergknappen+: - - Sieg! Hurra, Sieg!!! - -+Der rote Karl+: - - Glückauf, Genossen! - -+Die Bergknappen+: - - Glückauf!!! - -+Eulenspiegel+ - - (mit Schellengebimmel): - - Es lebe der ganze, allbeglückende Volksfestverlauf! -- - Nun, Held Michel, wie steht’s? vollständig heil und gesund? - Laßt mal sehn! (_Die Bergknappen nehmen die Tschackos ab und - beleuchten ihn mit den Grubenlichtern._) - -+Michel+: - - Mir fehlt blos ein guter Trunk zur Stund. - -+Eulenspiegel+: - - Ih! -- Na, dann mal her den Rest von der Kesselbefeuchtung! - -+Michel+: - - Nein, Wasser! - -+Eulenspiegel+: - - Ah, Wasser! - -+Die Bergknappen+: - - Hahahah! Pros’t! - -+Eulenspiegel+ - - (nochmals bimmelnd und nach draußen gewendet): - - Heeda! Beleuchtung! - wo gibts hier Wasser?! Licht an!!! (_Die elektrischen Ampeln - flammen zum Teil wieder auf; man sieht am Boden zerbrochene - Flaschen, zertrampelte Zylinderhüte und zerrissene Maskenstücke - liegen._) - -+Michel+: - - Aber erst sag ich Dank! - Roter Karl, ich werd’s dir mein Lebenlang - nicht vergessen! (_er schüttelt ihm die Hand._) - -+Der rote Karl+: - - Genossen, seht ihr?! was hab ich gesagt! - jetzt ist er Unser! (_klopft ihm gnädig die Schulter._) - -+Die Bergknappen+: - - Hurrra! - -+Michel+ - - (_zurücktretend_): Wie?? - -+Der rote Karl+: - - Na, man unverzagt! - Hurra schrein wir blos noch so aus alter Gewöhnung. - -+Michel+: - - So --: Das also ist eure Menschenbrüderversöhnung: - - (draußen klappt plötzlich die eiserne Tür zu, und das Geräusch der - Maschine verstummt) - - einen Mann aus den Klauen der Überzahl glücklich rauszukloppen, - um ihn dann in +euern+ Mehrheitsrachen zu stoppen --: - die Sorte Brüderlichkeit, die ist mir zu gleich und frei! - - (+Ein Maschinenheizer+, unmaskiert, bringt ein Bierglas voll - Wasser; Michel schiebt ihn unsanft beiseite.) - - Weg da! Bleibt mir vom Leibe mit eurer Nothelferei! - die könnt ich besser bei der Bergratsgesellschaft finden. - -+Die Bergknappen+: - - Hoh! Frechheit! Haut ihn! - -+Michel+: - - Ja, haut ihn, den Plumpsackblinden! - Ihr habt viel gelernt von denen, die euch schinden, - aber eins, darin sind sie euch doch noch voran: - sie sehn blanke Pfennige nicht für Goldstücke an, - sie wissen Bescheid über ihre eigne erbärmliche Kleinheit -- - - (zu Boden starrend, halb für sich:) - - O Menschheit, dein Erbteil heißt Gemeinheit! -- - -+Die Bergknappen+ - - (zumteil vom Leder ziehend): - - Was?! Lyncht ihn! spießt ihn! Du Scheißkerl! Schuft! Lausejunge! - -+Der Rotbart+ - - (sein Schwert aus der Scheide reißend): - - Zurück!!! - -+Eckart+ - - (einen großen Revolver aus der Kutte langend): - - Sonst ertönt hier eine noch lautere Zunge! - -+Eulenspiegel+: - - Und, meine Herren, Sektproppen knallen doch angenehmer. - Auch läßt sich der Rest der Ladung viel sicherer und bequemer - +ohne+ Bratspießgefuchtel fürs Allgemeinwohl verwenden, - zumal da sich Spieße leicht umdrehn unter Geisterhänden. - -+Einige Bergknappen+: - - Hahahah! - -+Eulenspiegel+: - - Ja, die Welt ist seit Alters voll scharfer Plempen; - und wie bald, wie bald kann das Häuflein Gemeinheitskämpen, - das vor Unserm Gemeinsinn ausriß mit Hasenbeinen, - verstärkt als Werwolfshaufen wieder erscheinen! - Also, meine Herren, verzeihn Sie: ich möchte meinen -- - -+Die Bergknappen+: - - Hm -- ja -- verdammt ja -- sehr wahr! -- Weg!! Kommt, Kinder! Weg! - Nach Hause!! - -+Der rote Karl+: - - Still, Genossen! - -+Die Bergknappen+: - - Hoh! ohoh! - -+Der rote Karl+: - - Aber Schwerenotdonnerblech, - so hört doch! - -+Die Bergknappen+ - - (ihre Degen einsteckend und torkelbeinig nach links abziehend): - - Blech! marsch! halt die Schnauze! sonst gibts’n Tritt! - komm unsern Sekt aussaufen! marsch! nach Hause! komm mit! - -+Der rote Karl+: - - Dann sauft, Viecher -- _(lauter)_ Michel, wir sind noch nicht - quitt! -- -- - - (Er schreitet langsam den Andern nach.) - -+Eulenspiegel+ - - (da Michel mit seinem Stock am Boden herumbohrt): - - Nun, Gevatter Helde? du schaust ja so tiefsinnig nieder. - Es scheint, deine Zippelmütze bezaubert dich wieder. - - (Indem er sie auflangt:) - - Sie ist zwar ein bißchen stark ramponiert; - aber vielleicht hast du jemand, der sie dir repariert? -- - Bitte -- (_er überreicht sie ihm_) -- - -+Michel+ - - (in sich gekehrt): - - Ja --: zur Erinnrung an diese Geisternacht -- - und zum Zeichen: der Michel ist aufgewacht! -- - -+Eulenspiegel+: - - Ist er? -- - -+Der Rotbart und Eckart+ - - (während der Vorhang sich schließt): - - aufgewacht -- -- - - * - -+Eulenspiegel als Zwischenredner+ - - (von links kommend, klappt mit der Pritsche): - - Hochgesinnte Gönner! (_bimmelt mit der Schelle_) sinnige - Gönnerinnen! - der Akt der Rache kann jetzt beginnen. - Sie suchen wahrscheinlich bereits mit dem Opernglase - nach der wohlverdienten, gespenstisch langen Nase, - die ich unserm Dichter untertänigst in Aussicht stellte. - Jedoch ich frage Sie: +wäre+ er dann der Geprellte? - Nein, diesen Kopfverdreher müssen wir noch verdrehter anfassen. - Er hat sich ohnehin zu Anfang gewiß nicht träumen lassen, - hier als Nachtmützenhüter für Michels Haushalt zu enden; - ich bitte ihm also Ihren wärmsten staatsbürgerlichen Beifall zu - spenden, - das wird seinen Weltbürger-Größenwahn gründlich vernichten. - Er wollte drum -- im Vertrauen gesagt -- garnicht weiterdichten, - aber da kennt er die Traumweltgesetzgebung schlecht: - unser Herr und Meister, jetzt ist er unser Knecht! - Soll uns etwa, ihm zu Gefallen, der Weltgeist spurlos verschlingen - und die deutsche Geheimpolizei immer mehr in Mißkredit bringen? - Noch ahnt ja keine Seele, was wir in Wirklichkeit sind; - an Geistererscheinungen glaubt doch kaum noch ein Kind. - Vor allem sind wir -- auf den Ausgang der Handlung gespannt; - denn es ist doch für den Fortbestand - der christlich-germanischen Menschheit die unumgänglichste Pflicht, - daß der Michel seine Lise krigt. - - (Hinterm Vorhang rhythmisches Händegeklatsch.) - - Da! man klatscht schon! -- Heiliger Pritschenschall, - das klappt ja, als wär bereits Hochzeitsball. - -+Lise Lied+ - - (singt hinterm Vorhang, und Eulenspiegel spricht horchend Zeile auf - Zeile nach): - - Tapp tapp, wer kommt da querfeldein? - Nur rasch, nur rasch, Herr Morgenschein, - Trab Trab! - Die Jungfer Tauduft putzt sich hier; - sie schlägt den Schleier auf vor dir, - klapp klapp! - -+Eulenspiegel+ - - (nachdem er die letzte Zeile wiederholt hat): - - Sie schlägt vielleicht noch mehr auf, klapp; - da geh ich diskreterweise ab. - - (Er verschwindet nach links, den Vorhang mit wegziehend.) - - - - -Fünfter Aufzug - - - (+Bild+: wie beim ersten Aufzug. Am Gartentisch sitzt - +Lise+ mit dem noch immer maskierten +Bergrat+; Beide - klatschen mit den Händen den Takt des Liedes. Sie hat den Schleier - zurückgeschlagen, und ihr Wünschelstab steht an die Haustür - gelehnt. Es ist noch erstes Morgengrauen; später wird der Himmel - hinter den Bäumen heller und färbt sich schließlich mit goldner - Röte.) - -+Lise+ - - (singt weiter): - - Klapp klapp, sie lädt dich ein zum Tanz; - nur hol erst deinen goldnen Kranz, - Trab Trab! - Wer zu ihr will, muß früh aufstehn; - wer’s tut, dem patscht sie auf die Zehn, - schwapp! - -+Der Bergrat+ - - (ihre Hände fassend): - - Schwapp, gefangen! Jetzt fordr’ich Lösegeld. - -+Lise+: - - Das kann doch keiner zahlen, dem man die Hand festhält? - -+Der Bergrat+ - - (sie freigebend): - - Ach, Fräulein Lise: wirklich: Sie machen mich rein zum Kind. - Sie tun ja viel stachliger, als Sie sind. - -+Lise+: - - So? Wie bin ich denn? - -+Der Bergrat+: - - Sie sind so zum küssen nett, - so wie Dornröschen in ihrem moosgrünen Bett, - als endlich der Ritter kam und sie nannten sich Du -- - -+Lise+: - - Halt, Herr Ritter: so spornstreichs gehts nur im Märchen zu. - -+Der Bergrat+: - - Aber ich bitte doch schon die ganze Nacht so heiß - wie ein Glühwurm, Schatz! - -+Lise+: - - Herr Glühwurm, erst für den Schatz den Preis! - -+Der Bergrat+: - - Aber Kind, du liegst ja wie’n Füchslein danach auf der Lauer. - -+Lise+: - - Ja, Herr Fuchs; sonst bleiben die Trauben sauer. - -+Der Bergrat+: - - Liebes Fräulein Lise: hier, bitte, sehn Sie mein ehrlich Gesicht! - - (Er will sich die Maske abnehmen.) - -+Lise+ - - (ihn nasenstübernd): - - Nein, lieber nicht. - Ich finde die meisten Herren maskiert viel netter. - -+Der Bergrat+: - - Alle Wetter! -- - Ja aber, du Satansmädel: - was spukt dir im Schädel! - solch Grundstück ist doch kein Puppenlappen! - -+Lise+: - - Ja aber, Herr Satan, ich bin doch auch ein recht schmucker Happen. - -+Der Bergrat+: - - Und blos, weil der -- Vormund das Haus behalten soll? - -+Lise+: - - Was dachten +Sie+ denn? - -+Der Bergrat+: - - Mädel, mach mich nicht toll! - Sag, wo hast du den Schlüssel?! - -+Lise+: - - Nein wahrhaftig, den haben die Raben; - ich muß ihn im Stadtpark verloren haben. - -+Der Bergrat+: - - Liebes goldnes Mädel, ich hüll dich in Sammt und Seide! - -+Lise+: - - Lieber toller Herr Bergrat: bitte, drei Schritt vom Kleide! - Sonst zieh ich gleich wieder den schwarzen Schleier vor - und stopf mir moosgrüne Watte ins Ohr. - -+Der Bergrat+ - - (das Vertragspapier aus der Brusttasche nehmend und entfaltend): - - Nun -- dann hier, Fräulein Lise. Der Fuchs ist zwar manchmal ein - Dieb, - aber immer ein Ritter. - -+Lise+: - - O, +das+ -- nein, ist +das+ aber lieb! - Nein wirklich: das ist einfach lieb von Ihnen! - -+Der Bergrat+: - - Und die Trauben? - -+Lise+: - - Oh -- die werden vielleicht noch Rosinen. - Hier schenk ich Ihnen meinen aller-aller-unsauersten Kuß. - - (Sie küßt ihm die Hand und springt rasch weg; steckt das - Vertragspapier dann ins Mieder.) - -+Der Bergrat+: - - Das war aber ein sehr, sehr vormundhafter Genuß. - - (Auf ihr Mieder deutend): - - Darf ich nicht wenigstens beim Verschluß der Schatzkammer helfen? - -+Lise+: - - Nein, das dürfen vorläufig nur im Mondschein die Elfen. - -+Der Bergrat+: - - Ach, liebstes Fräulein Lise, sein Sie doch gut zu mir! - -+Lise+: - - Ach, liebstes Herrlein Bergrat -- - -+Der Bergrat+: - - Racker, ich sage dir: - mach mich nicht wild, ich hau dich! - -+Lise+: - - Erst kriegen! erst kriegen! - -+Der Bergrat+ - - (ihr nachsetzend): - - Na wart du! ich werd dir die Hexenbeinchen schon biegen! - - (Zugleich erscheint von links +Michel Michael+; hinter ihm - +Eulenspiegel+, der +Rotbart+ und +Eckart+. Lise - sieht es und läßt sich vom Bergrat fangen.) - -+Michel+ - - (kraß auflachend): - - Hahahah, ich -- heut lern ich noch blocksberghoch fliegen -- -- - (_Dumpf_) O Lise -- (_Zum Bergrat, wild:_) Weg jetzt!!! Marsch aus - dem Garten, Sie -- - -+Der Bergrat+ - - (ihm ruhig nähertretend): - - Sie --? - -+Michel+: - - Scheren Sie sich! Hier bin +Ich+ Herr!! - -+Der Bergrat+: - - Wie --? - -+Michel+ - - (zusammenzuckend, sich abwendend): - - Ja so! -- Verflucht ja -- - -+Der Bergrat+: - - Ja -- jetzt bin +Ich+ es -- - -+Lise+ - - (_spöttisch, halblaut_): So --? - -+Der Bergrat+: - - Ach so; verdammt ja -- (_wendet sich gleichfalls ab_) -- - -+Michel+ - - (_reckt sich wieder_): Ich sag Ihnen, Mensch, sein Sie froh, - daß mein Stock schon Arbeit gehabt hat heut Nacht! - Aber nehmen Sie trotzdem, rat’ich, Ihr Corpus juris in Acht: - bis zum Räumungstermin ist das Haus noch Mein! - Also Marsch jetzt!! - -+Lise+: - - Aber Michel! - -+Michel+: - - Schweig jetzt! Pack dich hinein! - Wo ist der Schlüssel?! - -+Lise+: - - Futsch. - -+Michel+: - - Quatsch nicht!! - -+Lise+: - - Verloren. - -+Michel+: - - Lüg nicht noch obendrein!! - -+Lise+: - - Wie werd ich denn das dem Herrn Vormund zu bieten wagen? - -+Michel+ - - (an der Türklinke rüttelnd): - - Himmelkreuz -- (_will Lisens Stab zerschmeißen_) -- - -+Lise+: - - Nicht, Michel! nicht meinen Glücksstab zerschlagen! - o bitte, nicht wüst sein -- (_entwindet ihm den Stab_) -- - -+Der Bergrat+ - - (_den Hut lüftend_): Fräulein Lise, ich will jetzt gehn; - aber ich hoffe - -+Michel+: - - auf Nimmerwiedersehn!!! - -+Der Bergrat+: - - Das dürfte wohl nicht von +Ihnen+ abhängen, denke ich. - -+Lise+ - - (halblaut): - - Wer weiß, Herr Traubenräuber -- - -+Der Bergrat+: - - Ah! -- Hüten Sie sich! - Der Ritter Fuchs könnte leicht seine Zähne demaskieren. - -+Eulenspiegel+ - - (kitzelt ihn hinterrücks mit dem Gugelzipfel am Ohr): - - Dürft ich bitten, Herr Ritter, das mal dort drüben zu probieren?! - - (Er weist höflichst zum Rotbart und Eckart hinüber, die sich nach - rechts begeben haben.) - - Inzwischen, schönste Glücksfee, gratulier ich zum Luftschloßbefund; - vielleicht, Herr Vetter, paßt mein Geheimschlüsselbund. - - (Sie machen vergebliche Versuche, die Tür aufzuschließen; Lise - schneidet dem wütenden Michel Gesichter dabei.) - -+Der Bergrat+ - - (hat seinen Spazierstock vom Gartentisch geholt, tritt nun sehr - förmlich vor die beiden Vermummten): - - Die Herren wünschen? Und mit wem hab ich die Ehre? - -+Der Rotbart+ - - (gedämpft, aber wuchtig): - - Wir wünschen, daß Niemand des Michel Michaels Hausstand versehre. - -+Der Bergrat+: - - Aber ich muß doch sehr bitten -- - -+Eckart+: - - Wir wünschen zum zweiten, - daß Niemand uns nötige, unverhüllt einzuschreiten. - Hier bitte -- zur steten Erinnerung -- - - (er überreicht ihm zwei Visitenkarten und hebt einen Augenblick die - Kapuze) -- - -+Der Bergrat+ - - (jetzt gleichfalls die Stimme dämpfend und vollkommen seine Haltung - ändernd): - - O bitte tausendmal um Entschuldigung! -- - - (Mit tiefer Verbeugung, erst vorm Rotbart, dann etwas knapper auch - vor Eckart): - - Hätten Hoheit ahnen lassen, oder Excellenz, - dies bescheidne Volksfest werde Sie aus der Residenz - an unsern aufblühenden Industrieplatz locken -- - -+Der Rotbart+: - - Nein, wir wünschen wiegesagt +keine+ großen Glocken. - -+Der Bergrat+: - - Zu Befehl, Hoheit. - -+Eckart+: - - Und wünschen, daß aus dem Wetterschacht - dieser spaßhaften Nacht - keinerlei ernsthafte Schläge übertag entstehn; - Sie lassen, Herr Bergrat, mir darüber Bericht zugehn! - -+Der Bergrat+: - - Zu dienen, Excellenz. - -+Eckart+: - - Dann auf glückhaftes Wiedersehn -- -- - - (Er gibt dem Bergrat gemessen die Hand; dieser verneigt sich - zweimal zum Abschied, zieht dann auch vor der Haustürgruppe den - Hut, wofür Lise ihm eine Kußhand zuwirft, und verschwindet mit - saurem Lächeln nach links.) - -+Eulenspiegel+ - - (seinen Schlüsselbund einsteckend): - - Ja, Gevatter, es scheint, du mußt bis zum Räumungstermin - in dein Luftschloß entweder durch den Rauchfang ziehn, - oder du nimmst hier den Garten als Himmelbett. - -+Lise+: - - Oder - -+Michel+: - - Still, du Maulaff! - -+Lise+: - - Gern, Herr Vormund; mein Maul ist nämlich sehr nett. - - (Sie geht und setzt sich an den Gartentisch, während Michel dem - Bergrat nachstarrt.) - -+Der Rotbart+ - - (hat sich mit Eckart wieder dem Haus genähert): - - Oder, Michel, stimmt dich die +Stadt+ da so tief beschaulich? - -+Eulenspiegel+: - - Sie deucht dir heute wohl ziemlich morgengraulich? - -+Eckart+ - - (über den Garten zum Himmel hinweisend, eindringlich): - - Schau lieber dorthin, wo sich aus höhern Gründen - reinere Lichter aufs neue entzünden! - -+Michel+: - - Ja, ihr Herren! Und Nein! Euch will ichs gerne verkünden. - Ihr habt mir beigestanden in dieser Sommerwendnacht, - und die hat mein Grünjungengetreide reifer gemacht. - Ja, ich +sehe+ ein neues Frührot entbrennen; - aber drum, grad drum will ich +nicht+ mehr ins Blaue rennen. - - (Sein zerknautschtes Vertragspapier einen Augenblick herauslangend): - - Ich will mich mit meiner papiernen Habe aufmachen - und nicht ruhn, bis auch Andre aus ihrem Papiertraum erwachen. - Ich werde uns erdwüchsig Volk zusammenraffen, - wir werden uns jeder Haus und Hof wieder schaffen, - Erde, auf der wir mit Lust arbeiten - und unsern Kindern ein greifbar Stück Vaterland bereiten; - bis in die Städte hinein wird Garten an Garten einst prangen, - wird aller Schöpfergeist edleren Boden empfangen, - Frucht gegen Frucht tauschen, Saat gegen Saat, - Tat für Tat. - Und will er +dazu+ sein Handlangervolk befrein, - dann soll auch der rote Karl mir willkommen sein: - jeder, der ankommt mit einer lichtfrohen Kraft, - bis wir das ganze Erdreich erleuchten, wir Neubauernschaft! - -+Eulenspiegel+: - - die den alten Dunst aus der Pfeife pafft! - -+Michel+: - - Wie?? - -+Eulenspiegel+: - - O Vetter! dein Luftschloß wird immer -- hm -- allgemeiner. - Du redst ja wie’n Buch von Hertzka oder Oppenheimer. - -+Lise+ - - (vom Gartentisch her): - - Ja -- solch Mundwerk wie der Herr Vormund hat Keiner. - -+Der Rotbart+: - - Michel Michael! willst du plötzlich auf Andre bauen? - -+Eckart+: - - Wo blieb heut um Mitternacht dein Menschenvertrauen? - Es war so zerfetzt wie dein Mützenflaus. - -+Michel+: - - O, ihr Herren, ihr kennt mich noch lange nicht aus! - Hab ich nicht Euch, ihr Unbekannten, vertraut? - Ich sag euch: Hundert Menschheiten stecken in jeder Haut! -- - Seht dort: noch deutet der Himmel erst schüchtern mit Funken an, - daß da eine Sonne auflodern will und kann! - Horcht hier: noch rührt sich kein Vogelruf im Wald: - in einer Stunde schmettert alles und schallt! - So wird, wenn +Einer+ erst wagt, Haupt und Herz zu erheben, - dieser Eine viel Andre mitbeleben, - bis Alle aufglühn zu immer hellerem Geist, - wie’s im Liede heißt: - Auf Erden ist immerfort jüngstes Gericht -- - -+Lise+ - - (singt halblaut, in derselben Melodie wie zu Anfang des Spiels): - - jüngstes Gericht -- - unter Tag. - -+Michel+: - - Aus Schutt wird Feuer, wird Wärme, wird Licht -- - -+Lise+ - - (etwas lauter): - - wird Wärme, wird Licht -- - über Tag. - -+Michel+: - - Weiter!!! - -+Lise+ - - (mit immer vollerer Stimme): - - Wir schlagen aus jeglicher Schlacke noch Glut; - Glückauf! - Wir ruhn erst, wenn Gottes Tagwerk ruht; - Glückauf! -- - -+Michel+: - - +Ja+, Herren! -- - -+Eulenspiegel+: - - Ja, laß dir nur gründlich die Ohren vollsingen! - Das wird dich auf immer gottvollere Sprünge bringen; - - (durch die hohle Hand) - - man opfert fürn Nachthäubchen schließlich den rosigsten Morgen. - -+Michel+: - - Dafür, Herr Haubenmatz, laß mich nur selber sorgen! - Ich weiß jetzt mein Tag- und Nacht-Gebet, - das keine Lichtmaschine mir mehr verdreht. - So wird’s auch manch ander Manns- und Weibs-Herze wissen, - das heut emporbegehrt aus den Zwielicht-Dämmernissen. - - (Nach der Stadt weisend): - - Und wenn da unten die Herrschaften etwa dagegenfackeln, - dann solln schließlich +ihnen+ die Zippelmützen wackeln! - -+Eulenspiegel+: - - Dann wirds wohl Zeit, edler Helde, dir endlich Lebwohl zu sagen; - sonst gehts womöglich erst mal Uns an den Kragen. - -+Lise+: - - O, der Herr Vormund kann sich manchmal auch artig betragen. - -+Michel+ - - (nach einer Drohgeberde zu ihr hinüber): - - Freilich wüßt ich gerne: wem bin ich zu Dank verpflichtet? - Ihr Herren habt mich aus schwerer Schmach aufgerichtet. - -+Der Rotbart+: - - Dann mag deine Glücksfee dich weiter so dankbereit halten. - -+Eckart+: - - Schutzgeister +müssen+ geheimnisvoll walten. - - (Von rechts her ein Schnurr-und-Knattergeräusch.) - -+Eulenspiegel+: - - Auch lockt uns plötzlich ein Zaubermaschinenduft: - unser Kraftwagen verdirbt deine Morgenluft. - Also, hehre Fee, bitte segne den Schicksalslauf! - -+Lise+: - - Glückauf, ihr Geister! - -+Die Drei+ - - (sind inzwischen nach rechts geschritten): - - Glückauf! Glückauf! Glückauf! - - (Sie verschwinden nacheinander im Wald.) - -+Stimme Eulenspiegels+: - - Ich wünsch dir, Michel, noch manche erbauliche Luftschloßbestrebung! - -+Stimme Eckarts+: - - Nur zerstör nicht den Himmel mit deiner Erdreichbelebung! - -+Stimme des Rotbarts+: - - Denn, Michel: das Erbgut der Menschheit heißt Erhebung! -- -- - - (Nochmals das Kraftwagen-Geräusch.) - -+Michel+ - - (ist an der Gartenpforte stehen geblieben, nähert sich nun dem - Gartentisch): - - Na, du Grasaff? - -+Lise+: - - Na, Herr Vormund? - -+Michel+: - - Dir fällt wohl’s Stehn heute schwer? - -+Lise+: - - Nein, Herr Vormund -- (_erhebt sich_) -- - -+Michel+: - - So -- (_Aufstampfend_) Schockwetter, laß das Gesperr, - du dumme Lise! -- Was hast du dir denn gedacht - mit deinem Gejachter, so in der Nacht?! - -+Lise+: - - Ich hab mir gedacht, so in der Nacht, - ob der dumme Michel wohl endlich einmal aufwacht - und alldas still mit nach Hause bringt, - wovon die dumme Lise Lied immer singt. - Und weil er so lange ist wer-weiß-wo geblieben, - hab ich mir eben derweil ein bißchen die Zeit vertrieben. - -+Michel+: - - Mit solchem unstatthaften Patron! - -+Lise+: - - Ist doch eine ganz stattliche Mannsperson. - -+Michel+: - - Der -- getaufte Jud! - -+Lise+: - - Ist doch ein sehr altmächtig, erdstark, auserwählt Blut. - - (Mit bebender Frage:) - - Weißt du nicht mehr: - ich kam ja auch wohl aus fernem Süden einst her -- - -+Michel+ - - (indem sein Stock ihm entfällt): - - Lise!!! - -+Lise+: - - Michel -- -- (_unsägliche Umarmung_) -- -- - -+Michel+ - - (_stammelnd_): O, du all mein einziges, ewiges Herzbegehr -- - O, wie lange hast du mich nach dir suchen lassen -- - -+Lise+: - - O, wie lange konnt ichs selber nicht fassen -- - -+Michel+: - - Und nun stehn wir, wie’s einst am Anfang war: - im Garten Eden, das erste Menschenpaar. - Du meine Welt, du liebe Unruh du! - -+Lise+: - - Du meine Heimat -- meine Ruh -- -- - -+Michel+: - - Ach, Lise, ich hab so wundervoll heute von dir geträumt! - -+Lise+ - - (sich halb aus seinen Armen lösend): - - Und hast beinahe dabei dein wirkliches Wunder versäumt. - - (Sie schreiten allmählich aus dem Garten vors Haus.) - - Aber vielleicht ist’s wahr, das Sprichwort -- - -+Michel+: - - ach, sei kein Schaf -- - -+Lise+ - - (küßt ihn): - - ja: den Schafen gibt’s der Himmel im Schlaf. - Weißt du, wo jetzt die Schwelle zu unserm Luftschloß steckt? - -+Michel+: - - Na sag’s mal! - -+Lise+ - - (_auf ihre Brust tippend_): Hier! - -+Michel+: - - Ja, Herze! das hab ich eben entdeckt. - -+Lise+: - - Nein, wirklich! - -+Michel+: - - Wirklich? - -+Lise+ - - (am mittelsten Miederknopf drehend): - - Ja, hier! - -+Michel+: - - Da? -- (_scheu_) in deinem Mieder? - -+Lise+: - - Ja --! Vielleicht findst du da -- auch den Schlüssel wieder. - Such mal! - -+Michel+: - - Ach, Lise -- - -+Lise+: - - Sieh mal, das macht man so --: - - (sie nimmt seine Finger und öffnet damit zwei Knöpfe) -- - - Siehst du, da +ist+ er -- ganz warm -- - - (sie drückt ihm den Schlüssel in die Hand) - -+Michel+ - - (_an ihr niedersinkend_): O Lise! -- Oh! -- - -+Lise+: - - Na, darum fällt man doch nicht gleich um in der Welt?! - - (Auf das Vertragspapier deuten, das zu Boden geflogen ist:) - - Sieh: das Beste hast du noch garnicht gesehn, du Held! - Komm, steh auf! (_Sie bückt sich und gibt ihm das aufgeschlagene - Papier._) - -+Michel+ - - (_sich erhebend_): Was?! Wie?! Ja, wie hast denn +Du+ das erfuchst?! - -+Lise+: - - Ja, das hat der Grasaff dem Traubenfuchs abgeluchst. - -+Michel+: - - Du, Du --! - -+Lise+ - - (_fast streng_): Nein, Michel; gut sein! (_küßt ihn_) -- - -+Michel+: - - Du unbezahlbarer Racker! - -+Lise+: - - Nicht wahr: mein „Maul“ versteht sich aufs Gold-im-Munde-Gegacker?! - -+Michel+: - - Dann wolln wir aber das Teufelspapier gleich in tausend Stücke - zerreißen - und die Fetzen allen guten Geistern zuschmeißen! - - (Er tut es; sie klatscht in die Hände dazu.) - - Und meins hier auch! (_Er holt sein zerknautschtes Papier aus der - Tasche und - reißt die Zippelmütze dabei mir heraus._) - -+Lise+ - - (nimmt sie vom Boden auf, während Michel das Papier zerreißt): - - Nanu, du: was ist denn daas? - -+Michel+: - - O -- das ist blos so’n kleiner Traumgeisterspaß -- - -+Lise+: - - Na, dann schließ mal auf, du; ich werd sie dir flicken! - -+Michel+ - - (den Schlüssel ans Türschloß setzend): - - In Unserm Haus, Du -- - -+Lise+: - - Du --! nicht wieder gleich in die Kniee knicken! - -+Michel+ - - (die Tür breit aufsperrend): - - Aber den Trauerschleier erst ab! - - (Er tritt von der Schwelle zurück zu ihr, nimmt ihr hastig Diadem - und Schleier vom Haar, will beides auf die Erde werfen) - - Der soll heute Morgen für immer ins Grab! - -+Lise+: - - Aber der Stern, der muß in mein Kämmerlein! - - (Sie wirft lachend das Diadem in den Hausflur.) - - Und mein Glücksstab, Michel, hinterdrein! - - (Sie schleudert den Stab, den sie bis jetzt immer festhielt, in - hohem Bogen durch die Tür; man hört ihn auf der Treppe poltern.) - - So! -- (_Sie hebt winkend die Zippelmütze --: läßt plötzlich - schreckhaft den Arm wieder sinken, da Michel wie entgeistert - zurückweicht, die eine Hand aufs Herz pressend, die andre vor die - Stirn schlagend._) - Aber +was+ denn, Michel?! Was träumt dir?! - -+Michel+: - - Nein -- - Nein! -- Sehr wirklich! -- Dieses Haus ist +nicht+ mein! - Du sollst mich nicht zu Unehr mit deinem Gewinke verführen; - lieber will ich nie wieder ein Glied von dir berühren! - Ich habe mein Wort, du, meinen Handschlag dem Mann da verpfändet; - das wird nicht durch Weiberfingerspiel umgewendet! - - (Auf die Papierfetzen weisend): - - Da, die Schrift da, die kann der Wind verwehn; - hier das Wort in mir, das bleibt ewig stehn! - Und will mich der Bergrat noch heute aufs Straßenpflaster jagen, - ich werde gehn, und müßt ich den ganzen Kram drin zerschlagen! - Das ist einfach meine verfluchte Pflicht, - schlicht und richt; - ich hab sie mir selber zuzuschreiben. - -+Lise+: - - Aber - -+Michel+: - - Nichts „aber“! Willst du ’nen Hundsfott beweiben?? - Und gesetzt selbst, wir wollten’s so hündisch treiben: - ich sag dir: macht sich der Mensch mal gemein, - die Welt wird noch x-mal gemeiner dann sein. - Heute Nacht der Bergrat gab mirs sehr dürr zu kauen: - die Grubengesellschaft hat Alles hier sowieso in den Klauen. - -+Lise+ - - (für sich): - - O Fuchs -- - -+Michel+ - - (sich reckend): - - Also bleibts dabei: Neu Land wird beschafft, - wo keine Maulwurfshand uns die Wurzeln wegrafft! - wo wir Kraft haben dürfen wie unsre Erdschollen - und Luft und Licht schöpfen, soviel wir wollen! - Und gibt die Heimat kein solches Land mehr her, - - (wild und weh:) - - dann, Lise, dann tragen wir Deutschland übers Meer! - Verstanden?! - -+Lise+: - - Dann, Michel, dann will ich nur beten, - daß unsre Schutzgeister gnädigst dazwischentreten, - du lieber, einziger, grenzenloser Mann! - Denn wenn sie’s nichttun: (_beklommen_) wo soll denn dann - unsre -- Hochzeitsfeier sein? und wann? - -+Michel+: - - Wann? -- Wann?? -- - - (nimmt sie stürmisch auf beide Arme hoch) - -+Lise+: - - Nein, Michel, nicht!!! - -+Michel+: - - Nein?? -- - - (macht grimmig Miene, sie niederzusetzen) - -+Lise+ - - (_ihn bang umhalsend_): Ja, Michel, schnell -- -- - - (Er trägt sie über den schwarzen Schleier hinweg ins Haus; auf - seinem Rücken baumelt in ihrer Hand die zerrissene Zippelmütze.) - -+Eulenspiegel+ - - (taucht aus dem Souffleurkasten auf, seinen Schellenzipfel - schwingend): - -+Es lebe dein Stammhalter, Michel Michael!!!+ - - (+Vorhang+) - - - * * * - - - * - Druck der - Spamerschen Buchdruckerei - in Leipzig - * - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3), by -Richard Dehmel - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI *** - -***** This file should be named 62673-0.txt or 62673-0.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/6/2/6/7/62673/ - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -https://www.pgdp.net - - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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Dritter Band, by Richard Dehmel. - </title> - <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" /> - <style type="text/css"> - -body { - margin-left: 10%; - margin-right: 10%; -} - -div.chapter,div.section {page-break-before: always;} - -.break-before {page-break-before: always;} - -div.titelei { - width: 70%; - margin: 3em 15%;} - -h1,h2,h3,h4 { - text-align: center; /* all headings centered */ - clear: both; - font-weight: normal;} - -h1 {font-size: 225%;} -h2,.s2 {font-size: 185%;} -h3,.s3 {font-size: 165%;} -h4,.s4 {font-size: 130%;} -.s4a {font-size: 115%;} -.s5 {font-size: 90%;} -.s6 {font-size: 70%;} - -h2.nobreak { - page-break-before: avoid; - padding-top: 5em;} -h2.versteckt { - font-size: 1%; - line-height: 0.01;} - -h3 {padding-top: 2em;} - -h4 {margin-bottom: 0.5em;} - -p { - margin-top: .51em; - text-align: justify; - margin-bottom: .49em; - text-indent: 1.5em;} - -p.p0,p.center {text-indent: 0;} - -p.regie { - font-size: 85%; - width: 60%; - margin: auto 20%; - text-align: center; 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms -of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at -www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll -have to check the laws of the country where you are located before using -this ebook. - - - -Title: Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3) - -Author: Richard Dehmel - -Release Date: July 16, 2020 [EBook #62673] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI *** - - - - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -https://www.pgdp.net - - - - - - -</pre> - - -<div class="transnote"> - -<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p> - -<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen -Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. -Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche -und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original -unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert. Der Autor -verwendet Elisionen, die vom nächsten Wort nicht durch ein Leerzeichen -getrennt sind (z. B. ‚werd’ich‘, statt ‚werd’ ich‘).</p> - -<p class="p0">Der Übersichtlichkeit halber wurde das Inhaltsverzeichnis -(‚<a href="#UEbersicht">Übersicht</a>‘) an den Anfang des Buches verschoben.</p> - -<p class="p0">Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; Passagen -in <span class="antiqua">Antiquaschrift</span> werden im vorliegenden -Text kursiv dargestellt. <span class="nohtml">Abhängig von der im -jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original -<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in -serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt -erscheinen.</span></p> - -<p class="p0 htmlhide">Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter geschaffen -und in die Public Domain eingebracht. Ein Urheberrecht wird nicht -geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt -werden.</p> - -</div> - -<div class="figcenter break-before"> - <a id="signet" name="signet"> - <img class="w6em padtop5" src="images/signet.jpg" alt="Verlagssignet" /></a> -</div> - -<div class="titelei"> - -<p class="s2 center break-before">Richard Dehmel</p> - -<h1>Gesammelte Werke<br /> -<span class="s6">in drei Bänden</span></h1> - -<p class="s3 center padtop5 padbot5">Dritter Band</p> - -<hr class="full_d" /> - -<p class="s3 center">S. Fischer, Verlag, Berlin</p> - -<p class="s5 center padtop5 break-before"><em class="gesperrt">22. bis 24. -Tausend</em></p> - -<p class="s5 center">Alle Rechte vorbehalten, auch das der Übersetzung<br /> -Copyright 1913 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin</p> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="UEbersicht">Übersicht</h2> - -<p class="center">(Die mit * bezeichneten Stücke sind neu aufgenommen)</p> - -</div> - -<table class="toc" summary="Inhaltsverzeichnis"> - <tr> - <td class="s5" colspan="2"> - <div class="right">Seite</div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="s4a" colspan="2"> - <div class="center"><a href="#Lebensblaetter">Lebensblätter</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat padtop1"> - Die Rute - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Die_Rute">7</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Der Werwolf - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Der_Werwolf">24</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Der_Menschenkenner_und_sein_Gleichgewicht">36</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Das Gesicht - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Das_Gesicht">45</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Das hölzerne Bein - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Das_hoelzerne_Bein">52</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Die gelbe Katze - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Die_gelbe_Katze">60</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Die Gottesnacht - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Die_Gottesnacht">67</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="s4a padtop1" colspan="2"> - <div class="center"><a href="#Betrachtungen">Betrachtungen</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat padtop1"> - Kunst und Volk - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kunst_und_Volk">101</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Nationale Kulturpolitik - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Nationale_Kulturpolitik">111</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Kunst und Persönlichkeit - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kunst_und_Persoenlichkeit">117</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Das Buch und der Leser - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Das_Buch_und_der_Leser">126</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Philosophische und poetische Weltanschauung - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Philosophische_und_poetische_Weltanschauung">133</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Der Olympier Goethe - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Der_Olympier_Goethe">137</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Grabrede auf Liliencron - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Grabrede_auf_Liliencron">141</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Naivität und Genie - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Naivitaet_und_Genie">144</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - Kultur und Rasse - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Kultur_und_Rasse">168</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="s4a padtop1" colspan="2"> - <div class="center"><a href="#Schauspiele">Schauspiele</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat padtop1"> - Die Menschenfreunde - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Die_Menschenfreunde">193</a></div> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="vat"> - *Michel Michael - </td> - <td class="vab"> - <div class="right"><a href="#Michel_Michael">269</a></div> - </td> - </tr> -</table> - -</div> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Lebensblaetter">Lebensblätter<br /> -<span class="s5">Novellen in Prosa</span><br /> -<span class="s6">Auswahl</span></h2> - -</div> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p> - -<h3 id="Die_Rute">Die Rute</h3> - -<p class="center">Eine bedenkliche Geschichte</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Er mußte selber lachen. Wenn ihn einer so sähe: jetzt, mitten in der -Julihitze, die Ofentür aufschraubend. Und nun hinein mit der Rute -in das offene Loch! Er bückte sich noch tiefer und freute sich, wie -die harten Birkenreiser die dünne Schicht Asche zerritzten. Die war -noch vom Winter her; das kühle Ockergelb der sanften Fläche tat ihm -ordentlich wohl. Da lieg du!</p> - -<p>Er machte langsam wieder zu. Ja, das fehlte noch grade: dieser Popanz -im Hause. „Gott sieht, Gott hört, Gott straft“ — er richtete sich auf -— das hatte er glücklich abgeschafft; nun sollte wohl die Rute hinterm -Spiegel Jehovah spielen.</p> - -<p>Diese Mütter! eine wie die andere. Es mußte doch noch immer etwas -unbewußte Judenseele in ihr stecken: du sollst, mein Kind, weil deine -Eltern das so wollen. Na warte, Schatz!</p> - -<p>Er setzte sich an seine Arbeit zurück. Ein unverschämter Sonnenstrahl -stach blendend von der Wand her über den Schreibtisch weg; grade von -dem Bild der Beiden her. Er rückte zur Seite und ließ den Eindruck -auf sich wirken. Hm: ruppig genug sah sein Töchterchen aus, da unter -der grellen Glasplatte auf der schwülen Kupfertapete: so den Finger -im Mäulchen, neben der mild zuredenden Mutter. Köstlich, dieser -eigensinnige Moment.</p> - -<p>Und nun sollten dem heißen Herzchen diese Momente wohl mit der Rute -ausgetrieben werden: ein artig Kindchen, eine Puppe aus ihr werden. -Heilige Mutterliebe!</p> - -<p>Als ob sie nicht Zeit genug hätte, die Einsicht der Kleinen zu üben! -den ganzen Tag über! während Er sich um das bißchen Leben placken -mußte. Und sie hatte doch zur Genüge an sich selbst erlebt, und auch -an ihm, daß nur die Einsicht, die wirklich bewußte Selbstanschauung, -den Menschen ein bißchen<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span> menschlicher macht. Aber natürlich: „Kinder, -die wissen nichts von sich“ — und da ist es für die liebe Mutter viel -bequemer, sie mit der Rute zu traktieren. Als wenn Eltern wüßten, was -solch Kind für seine Zukunft darf und nicht darf.</p> - -<p>Ja, das würde wohl nun wieder einen zähen Kampf der Seelen geben. Wie -sie neulich reizend fein gelächelt hatte, als sein polnischer Freund -ihn im Scherz den Hahnrei seines Bewußtseins nannte. Ja, das war Wasser -auf die Mühle ihrer weiblichen Unwillkürlichkeit.</p> - -<p>Er mußte wieder lachen. <em class="gesperrt">Das</em> Gesicht: wenn sie nun im Oktober zum -ersten Mal wieder heizen würde und ihr dann die Rute aus dem gelben -Loch entgegenstarrte, die langvermißte. Vielleicht grade an seinem -Geburtstag. Wie sie sich dann nach ihm umdrehn würde, mit ihren goldnen -Augen, ihren dunkeln, da beim Ofen knieend. Und das rechte Auge, ihr -Wesensauge, würde groß und ruhig von Verständnis leuchten, und von -Einverständnis; aber in dem kleineren, linken, dem Gattungsauge, durch -die Wimperschatten des zu schwachen Lides, würde dieser frauenhafte -Vorwurf zittern, daß sein vorbedachtes Schweigen sie wohl habe -beschämen sollen. Still um ihre schmalen Lippen würde ein neuer Wille -dämmern, bis in die zärtlichen Mundwinkel hin; und dann würde er zu ihr -treten und sie küssen wie damals, als sie sich noch lieben mußten, als -sie noch nicht Freunde waren.</p> - -<p>Er stand auf. Blos fünf kleine Schritte bis zum Ofen. Wie das schmale -Zimmer ihn getäuscht hatte! Oder das lange Mittelfeld des persischen -Teppichs? — Er sah die wunderlichen Ranken des bunten Bortenmusters in -der Mittagssonne glühen. Er fühlte die Freude wieder, wie sie ihm zum -vorigen Geburtstag das schöne alte Ding von ihrem Spargeld geschenkt -hatte. Er sah hinüber auf sein Arbeitsfleckchen und lächelte.</p> - -<p>Aber grausig öde war sie wirklich, diese ewige juristische -Begriffsstoppelei! Noch dazu jetzt, mitten im blühenden Sommer.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span></p> - -<p>Er trat ans Fenster und sah das dunkelblanke Blättergrün der magern -Pappel drüben vor der grauen Straßenfront im heißen Himmelslicht -blitzen; wie allein sie stand, so mitten in der Großstadt. Die -Kupfertapete des Zimmers kam ihm immer schwüler vor. Ja, er mußte mal -wieder hinaus in den Wald! zum Vater Förster! Richtig: morgen, zu -Mutters Geburtstag! Den hätt er beinah wieder vergessen.</p> - -<p>Gott ja, das Elternhaus —: am Eichenhain, am Pappelbach, rings weit -am Waldrand hin das freie Feld, die hellen Wiesen, und fern am andern -Horizont die kleine Ackerbürgerstadt mit dem kümmerlichen alten -Kirchturm, dem gelbgetünchten Schulhaus —: Kindheit.</p> - -<p>Er setzte sich. Der Alte, der natürlich würde wieder tun wie Rübezahl: -als ob der unverhoffte Eintritt seines Ältesten ihm höchstens seinen -grimmigen Bart verwirren könne. Blos die stahlblauen Augen würden -plötzlich etwas dunkler schimmern unter den silbrigen Brauen, -die kleinen scharfen Pupillen eine Sekunde lang größer sein, die -Backenfurchen um die mächtige Nase ein bißchen tiefer werden: „Na, -Junge?“</p> - -<p>Er hatte doch wahrhaftig noch immer etwas wie Gewissensangst vor -diesem wetterroten Gesicht mit dem dichten, fast schon weißen Bart -und Kopfhaar, dieser Hakennase und dem strengen, forschenden Blick, -der zuweilen doch so herzlustig blitzen konnte. So hatte er als Kind -sich immer den lieben Gott gedacht; geträumt. Damals wohl aber noch -dunkelbärtig.</p> - -<p>Die dicken Falten um die Nasenwurzel, ja und die schroff geschwungene -Stirn, die hatte er vom Vater; nur die Augen, die waren wohl mehr nach -der Mutter geschnitten, auch mehr grau als blau, mehr Stimmung als -Wille. „Du bist wohl wunderlich, Jung?“ das war von je ihr herbster -Tadel gewesen; sie verstand jeden Menschen mit ihrer Nachsicht. Du -liebes Mutterherz: morgen! —</p> - -<p>O, wie würde ihre ganze schlanke Gestalt von warmer<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> Liebe zittern, -von fast ängstlicher Freude, bis hinauf ins wellenkrause Schläfenhaar, -die grauen Augen, die vielen Runzeln der feinen Züge, all die kleinen -Sorgenfältchen um den hagern Mund, die Runen der Mutterschaft. Ja, sie -war immer noch schön, die alte Mutter; aber ihr Schönstes doch die -gütigen Lippen, so umstrahlt von Runzel an Runzel. Das war ihm immer -wie der Ausdruck ihres ganzen zärtlichen Lebens; als zuckte in diesen -vielen Fältchen tiefrot ihr verschwiegenes Herz, wie um den feinen -Purpursaum am Stempelkrönchen der Narzissenblüte der keusche Geruch der -gelblichen Narbenfalten.</p> - -<p>Denn Narzissen, ja, das waren ihre Lieblingsblumen. O, wie sie die zu -pflanzen wußte! Nur einzeln durften sie stehen, hin und wieder, die -reinen, weißen, ruhigen Sterne über dem grünen Gartenrasen, daß die -zarte bräunliche Kelchblatthülle oben um den schlanken Stengel deutlich -sichtbar war an jeder, wie ein langer dänischer Handschuh um den Arm -einer adligen Dame. Ja, sie verstand die ganze Welt.</p> - -<p>Und morgen würde er sie küssen, und sie würde ihren wunderlichen Jungen -auch verstehen, wenn er dann allein hinaus ins Freie ginge, irgendwo -an eine Wald-Ecke hin, wo der schattenschaukelnde Wind durch ein -Lupinenfeld herüberstriche. Wie er ihn schon roch, den süßen Geruch -der tausend goldgelben Blütenkerzen, so am Rand des sammtgrüngrauen -Fingerblättermeeres liegend, mit der heißblauen Himmelsglocke drüber; -— warum war er blos Jurist geworden?!</p> - -<p>Dieser Dummejungentick. Blos um dem Alten zu zeigen, daß er seine -paar Groschen nicht nötig habe, auch zum teuersten Studium nicht. Und -nun — nun war er Rechtsanwalt: Er mit seinem Achselzucken über alles -sogenannte Recht. Er würde doch noch Schriftsteller werden. Hol der -Teufel die Kundschaft!</p> - -<p>Aber Weib und Kind? Und dann würde der Alte von neuem über verrückte -Projekte reden und die Mutter wieder<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> Gram auf ihre alten Tage haben; -sie sah ihn ohnehin schon immer mit der stillen Scheu des Mitgefühls -bei seinen Besuchen an.</p> - -<p>Nun, morgen würde er die Kleine mitnehmen. Sie war jetzt Mensch genug, -ihn zu begleiten; und dann würde eitel Innigkeit und Einigkeit im -Forsthaus herrschen, wie neulich zu Ostern, als seine Frau ihn mit -der Kleinen begleitet hatte. Dann würden die Eltern sich mehr als -Großeltern fühlen und an den Sohn nicht soviel Fragen stellen, soviel -verfängliche Lebensfragen.</p> - -<p>Er erhob sich und öffnete die Tür. „Recha!“ rief er über den Flur. Dann -setzte er sich zurück an den Schreibtisch und nahm ein Aktenstück zur -Hand.</p> - -<p>„Erich?“ trat sie fragend ein, die Finger auf der Klinke lassend.</p> - -<p>Er blickte auf. „Wo ist die Kleine?“</p> - -<p>„Spielen gegangen; sie muß bald wiederkommen.“ Sie drückte die Klinke -fest; es klang, als ob sie etwas von ihm wollte.</p> - -<p>Er schob sich wieder vor den Aktenstoß. Wie schön es ihm noch immer -war, dies edelsemitische Nasenprofil, zu dem die braune Flechtenkrone -um die Stirn so königlich paßte, daß die kleine Gestalt dadurch größer -schien. Er liebte sie <em class="gesperrt">doch</em> wohl noch. Also Vorsicht! Jetzt trat -sie hinter seinen Stuhl.</p> - -<p>„Du! Erich!“</p> - -<p>„Hm?“</p> - -<p>„Ich muß dir etwas sagen. Ich habe gestern eine Rute gekauft.“</p> - -<p>„So?“</p> - -<p>„Ja. Es ging nicht mehr anders. Wirklich: sie wird mir gar zu unnütz.“</p> - -<p>„Detta oder die Rute?“</p> - -<p>„Nein du, wirklich, es ist mir ernst.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span></p> - -<p>„Mir auch!“ Er drehte sich um nach ihr. „Übrigens möchte ich morgen zu -den Eltern fahren und die Kleine mal allein mitnehmen; mach mir, bitte, -den Rucksack zurecht.“ Sie nickte. „Aber bitte, nur das Nötigste; auf -zwei Tage blos.“ Sie nickte wieder. „Und — na aber, was hast du denn?“ -Sie kämpfte mit Tränen.</p> - -<p>„Erich!“ Sie bezwang sich. Nur das linke Auge kämpfte noch. Er zog sie -an sich.</p> - -<p>„Sieh mal, Herze, verzeih! Aber wirklich: was sollt ich wohl erwidern? -Du kennst doch meine Ansicht! Kinder sind doch keine jungen Affen; -wenigstens dann nicht mehr, wenn die beliebte Prügeldressur beginnen -soll. Du nennst die Detta bockig, und wer weiß was alles, weil —: blos -weil sie jetzt im dritten Jahr ist. Wenn sie im zwanzigsten sein wird, -wirst du das Charakter an ihr nennen.“</p> - -<p>„Aber —“</p> - -<p>„Nein; genug jetzt, bitte. Ich wäre heute auch was Bessers, hätte mich -der Hundekantschu meines Alten nicht immer eigensinniger gemacht. Bring -ihr Pflichtgefühle bei, soviel du willst; aber nicht mit Schlägen, -muß ich bitten.“ Er wies auf seinen Bücherschrank: „Da! lies was über -Suggestion! Du hast doch deinen bewußten Willen.“ Um ihre Mundwinkel -huschte etwas wie ein feines Lächeln. Aha! sie dachte an den Hahnrei -des Bewußtseins; dieser verdammte Pole! — „Die Rute jedenfalls verbitt -ich mir.“ Beinahe hätte er nach dem Ofen gezeigt.</p> - -<p>„Du scheinst auf meinen bewußten Willen grade nicht viel Wert zu legen.“</p> - -<p>Er ließ sie los. „Schockschwerenot! nun werde gar noch empfindlich!“</p> - -<p>„Nun, nun“ — begütigte sie sogleich; und wieder dies huschende Lächeln.</p> - -<p>„Na, was lachst du denn in einem fort!“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span></p> - -<p>„Ich?“ Sie sah ihn groß und ruhig an.</p> - -<p>Da flog die Tür auf. „Hater! ich habe beide Hände voll Sonne!“ kam das -Ungestümchen hereingewirbelt. Wie ihr die blonden Lockenfäden um die -heißdunkeln Augen hingen! und um das merkwürdige Trotznäschen! „Sieh -mal, Mutter!“ öffnete sie die Fäustchen.</p> - -<p>„Willst du morgen mit Hater zu Ovater fahren?“ fragte die Mutter.</p> - -<p>„Nein!“ fuhr das Näschen in die Höh.</p> - -<p>„Aber Ovater wird sich so freuen, und die liebe Omama!“</p> - -<p>„Großmutter!“ betonte er.</p> - -<p>„Nein!“ stampfte das Beinchen.</p> - -<p>„Na, dann bleib nur hier“ — er nahm sacht ihre Händchen und strich -langsam jeden Finger gerade. „Dann wird Vater ganz allein die große -schwarze Juno bellen hören — wau-wau-wau“ — er fixierte sie — -„und die bunten Tuckehühnchen spielen sehen“ — er ließ die Händchen -plötzlich frei — „tuck-tuck-tuck, ücke-rü-üh! — Und —“</p> - -<p>„Große Muhkuh! Detta <em class="gesperrt">doch</em> mit!“ hob sie hüpfend die Ärmchen aus -einander. „Tuck-tuck-tuck, sehr lieb“ — jubilierte sie und umschlang -die Kniee der Mutter.</p> - -<p>Die nickte ihm zu, verständniswillig. Blos: schon wieder dies unbewußte -Mundwinkelzucken! —</p> - -<p class="s4 center mtop1 mbot1">*</p> - -<p>Der schwerfällige Post-Omnibus rumpelte aber wirklich etwas sehr -vorsintflutlich. Und die holprige Landstraße hätte auch wohl längst -eine neue Schüttung vertragen können. So konnte man ja seekrank werden -auf den zersessenen Sprungfedern.</p> - -<p>Er reckte sich und wollte den Hut aus der Stirn schieben. Aber die -heiße Vormittagssonne stach grad an dem schlafenden Kutscher vorbei -prall in den offenen Vordersitz; das Braunrot des verschossenen -Polsterplüsches schweelte schon beinah wie<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> versengt. „Schweiß und -Staub — Schweiß und Staub“ — hörte er die beiden Gäule ihren -gewohnten Klappertrab traben. Die jungen Rüstern an der sandigen -Straßenkante sahen aus, als bedürften sie vor Hitze selbst des -Schattens.</p> - -<p>„Hater“ — und sinnend zeigte die Kleine auf den nickenden Fuhrmann vor -sich — „ßpielt die Feitße mit dem Wind?“ Die Peitsche wippte in der -Hand des Schlafenden im Takt der Gäule hin und her; die Zügel in der -andern Hand mußten wohl die Bewegung vermitteln.</p> - -<p>„Nein, mein Kind, der Wind ist weggegangen von der Peitsche.“</p> - -<p>„Wo ist denn der Wind?“</p> - -<p>„Schlafen gegangen.“</p> - -<p>„— ßlafen gangen?“</p> - -<p>„Ja“ —</p> - -<p>„Wo ßläft er denn?“ Herrgott, dies ewige Gefrage!</p> - -<p>„Er schläft!“ Sie war doch wirklich ein unglaublicher Quirl.</p> - -<p>„Er ßläft?“</p> - -<p>„Ja!“</p> - -<p>„Wo denn?“</p> - -<p>„Auf den Wolken.“</p> - -<p>„Wolken?“ fragte sie zögernder.</p> - -<p>„Ja“ — sagte er kleinlaut und blickte weg; kein einziges Wölkchen -stand am Himmel.</p> - -<p>„Wo denn aber?“ fragte sie ebenso kleinlaut.</p> - -<p>Er schwieg.</p> - -<p>Wie sie ihn schon in der Eisenbahn mit ihrer Neugier fortwährend -gepeinigt hatte! Na, Gott sei Dank: jetzt schien sie auch mit -einzuschlafen. „Schwarzer, Brauner“ — „Schwarzer, Brauner“ — hörte er -wieder den Trott der Gäule. Jetzt war sie schon im Nicken. Die Peitsche -hatte sie wohl eingewiegt.</p> - -<p>Er dachte an gestern. Es mochte doch wohl nicht ganz<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span> leicht sein, -sie immer und immer um sich zu haben. Wie seine Mutter wohl mit ihr -auskommen würde? „Du wunderlicher Jung’!“</p> - -<p>Eigentlich könnte er den Sonnenschirm aufspannen, den ihm Recha -gestern als Geburtstagsgeschenk schon in Bereitschaft gehalten hatte; -in manchem war sie doch sehr vorbedacht. Er langte nach dem sorgsam -eingehüllten Ding. Aber der Staub, der würde es unsauber machen. Es -war doch schließlich ein Geschenk für die Mutter! Das nimmt man doch -nicht in Gebrauch vorher. Ach Torheit: kindische Rührgefühle! Nein, -Ehrfurcht: der Geburtstag der Mutter! —</p> - -<p>Ob seine Geschwister das heute wohl auch so fühlten? verstreut in der -Fremde, geboren aus Einem Schooß, der heute vor Jahren und Jahrzehnten -in andrer Fremde geboren worden. Schooß aus Schooß — er blickte sein -Kind an —: und Schößling neben Schößling. Er sah die nahen jungen -Bäumchen an der Straßenkante vorüberschwinden, jedes ewig den andern -fern. Er sah sie in der Ferne der Alleeflucht eng zusammenrücken, immer -enger; sie führten in die Heimat — von ihr her — fort, fort von ihr -— o Elternhaus! —</p> - -<p>Ja, so von ferne, jetzt: wie dehnte sich sein Herz den alten Eltern -entgegen! Und dann, wie hob’s ihm die Arme hoch, hin um ihren Hals, -im ersten Augenblick des Wiedersehens; immer noch. Dann war er ganz -ihr Kind, ihr Blut, Leben von ihrem Leben, hingegeben, unbewußt, wie -ans Herz der Natur. Er sah sich schon kopfbückend in die kleine Stube -treten, durch die niedrige Tür, sah Lindenzweige an die Fensterscheiben -tippen, sah die zwei blanken Schränke aus Birkenholz, die Gewehre und -Rehgehörne, das wohlig grüne Schattenlicht.</p> - -<p>Doch dann — dann trat auch schon das andre Leben mit ihm ein und -zwischen sie: das mit den Zweckfragen, die der Mensch sich stellt, der -Mensch im Gegensatz zur Natur und also auch zum Mitgeschöpf, zu jedem -Allernächsten grade: das Leben des<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> umgestaltenden Geistes, der bewußt -gewordene Wille zur Zukunft, der ewige Kampf um neue Kultur.</p> - -<p>Dann war er nicht mehr Kind, sie nicht mehr Eltern; dann war er ein -Junger, sie noch die Alten. Dann war die liebe Muttersprache — o -heiliges Wort dem Fühlenden — kein Verständigungswerkzeug mehr: -dasselbe wohlgemeinte Wort, es hatte ihnen anderen Sinn als ihm, -so sehr er in kindlicher Scheu sich mühte, den steten Zwiespalt zu -verhehlen. Dann war die schattenkühle stille Stube schon manchmal recht -schwül und drückend gewesen.</p> - -<p>Ob ihm das wohl mit seinem Kinde auch einmal so gehen würde? — -Fernliebe?! — Entzückend, wie sie da ahnungslos schlief, im Schatten -des schlafenden Kutschers; und heute würde sicherlich <em class="gesperrt">sie</em> -jedweden Zwiespalt überbrücken. Einst aber? — Ach was! wenns -<em class="gesperrt">ihr</em> mal paßte, seinethalben mochte sie Seiltänzerin werden!</p> - -<p>Er sah die Zügelleinen in der Hand des Fahrenden schaukelnd auf den -Schenkeln der trabenden Klepper hüpfen. Auf ihren Rücken, um die -schwitzenden Flanken, tanzte das Sonnenlicht hin und her, in großen -spiegelblanken Flecken; es war doch unerträglich heiß. Die drei -Messingringe aus den Kumten wippten blitzend auf und nieder mit dem -Schulterriemzeug — auf und nieder — in Schweiß und Staub; — er sah -nach der Uhr. Halbzwölf erst; noch eine Stunde so.</p> - -<p>Er horchte wieder auf den Takt der Hufe: Schwarzer, Brauner — auf -und nieder — auf und nieder, Schweiß und Staub. Ah, jetzt: vorn vor -den müden Pferdehälsen kam wenigstens das Dorf schon hoch, wo immer -angehalten wurde. Da gab es was zu trinken. Und zu rauchen. Zigarren -vergessen! Er gähnte und lehnte sich zurück; noch fünf Minuten.</p> - -<p>Das Geschaukel der Pferdeschenkel wurde immer sonderbarer; förmlich -arabeskenhaft schwankten die Spiegelwellen der Flanken. Er schloß halb -die Augen; das tat ihm wohl. Wie<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> er alldas bewußt genoß! — Am Kumt -die Ringe zuckten glitzernd auf und nieder zu ihm her, wie drei große -blendende Sterne; auf und nieder — Schwarzer, Brauner — Schwarzer, -Brauner, Weiß und Staub.</p> - -<p>Er schloß die Augen etwas fester. Die Sterne blitzten immer weißer. Auf -und nieder; weiß und taub.</p> - -<p>Nein, das war wohl nicht das rechte Wort; es war wohl Gelb. Ja, Gelb. -Süßer gelber Lupinengeruch; so wohlig kühl. Es mußte wohl ein Feld wo -sein; Lupinenfeld. Das hatte er wohl übersehen vorhin.</p> - -<p>Nein, es war wohl doch nicht gelb. Denn es waren ja Narzissen. Ja, -Narzissen. Nein, er träumte wohl; nein, nicht! Denn es waren ja drei -große, deutliche Narzissensterne — blendend weiß — nein fünf — nein -sieben; sieben weiße Strahlenblüten.</p> - -<p>Sieben nickende Narzissen; mit purpurgoldnem Krönchen jede. Sieben -schlanke Edeldamen, mit wellenkrausen Schläfenhaaren. O, wie schön! -Jede mit so grauen Augen; Mutteraugen. Jede hatte um die zarten Arme -lange dänische Handschuh’ an; gelbe.</p> - -<p>Und verbeugten sich vor ihm, eine nach der andern, mit den weißen -Strahlenhüten. Jede bis zur siebenten. Die hielt einen Spiegel; hatte -dunkle Augen, dunkelbraune.</p> - -<p>Trat die erste vor; sagte ihm ein Wort. Und das war ihr Name, und den -hatte er schon gehört; nur besinnen konnt er sich nicht drauf. Sagte -auch die zweite ihren Namen; auch die dritte. Schlossen alle mit der -Silbe „sinn“, nein „sein“ — Sinn, Sein — auch die vierte, fünfte, -sechste; und die purpurgoldnen Krönchen nickten. Nur die siebente war -stumm; war blaß; hielt ihm nur den Spiegel hin. Der war blind. Und sie -schüttelte den Kopf; und ihr linkes Auge blickte traurig.</p> - -<p>Nein, das war doch gar zu lustig: wie ihr Purpurkrönchen wackelte. Denn -das war ja gar kein Krönchen: war ein dicker<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span> roter Hahnenkamm, wippte -in der Sonne. War ein ganzer Hahnenkopf — dicker bunter Hahnenhals — -der blähte sich. Schlug mit beiden Flügeln funkelnd durch die Luft — -rief ganz laut und deutlich: ücke-rüh-ü-üh! —</p> - -<p>Er riß die Augen auf. Wahrhaftig: eben stieß der Omnibus mit härterem -Gerumpel auf die ersten Pflastersteine der Dorfstraße, und drüben auf -dem einen Hofzaun reckte sich der Hahn und krähte zum zweiten Mal. Der -alte Fuhrknecht hob das Stoppelkinn: „jüh, Rackers!“ mit den Zügeln auf -die schweißbeglänzten Pferdeschenkel klatschend. Auch die Kleine wurde -langsam munter.</p> - -<p>Was der Traum wohl zu bedeuten hatte? Ach, bedeuten: Unsinn! Aber wie -er wohl entstanden war?</p> - -<p>Sollte —: Hahnrei des Bewußtseins? — Hm...</p> - -<p>Das Wort des Polen war ihm doch wohl tiefer gegangen, als er damals -dachte.</p> - -<p class="s4 center mtop1 mbot1">*</p> - -<p>Die Abendsonne schien sich heute förmlich zu krümmen, wie vor Durst. -Immer dicker wurde der kupferrote Ball, da hinter den Wasserdünsten -des sumpfigen Sees am Horizont. Grade zwischen den zwei dicksten alten -Pappelstämmen bei der kleinen Straßenbrücke drüben hing das dunkelrote -Ungetüm im fernen Grau, dicht unter dem Zittersaum des schwarzgrünen -Laubdaches.</p> - -<p>So groß und glanzlos hatte er sie niemals sinken sehen. Nur die breiten -drei Brechungskeile, mit denen sie Wasser zog, wie die Leute hier -sagten, standen stromhell wie aus Goldtopas geschliffen unter der -purpurnen Kugel, zeigend daß sie noch Licht gab. Der Mittelkeil war nur -ganz kurz noch; wie ein mächtiger Strahlensockel. Vor dem schwellenden -Gelb der Seitenschrägen hoben sich die beiden Pappelstämme tiefschwarz -ab mit ihren Borkenrändern. Das Laubdach wurde immer dunkelgrüner.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span></p> - -<p>„Wird morgen wieder schwere Hitze geben“, sagte der Alte und trat aus -der Haustür zu ihm an den Gartenzaun. „Meine ganzen jungen Kiefern -werden noch vertrocknen; schlimmes Jahr!“ Er zeigte mit der Pfeife -in das Astwerk der Akazienkrone über ihnen: „Läßt schon Blätter -fallen.“ Der Tabaksrauch berührte wirbelnd grade eine der verwelkten -Blütentrauben.</p> - -<p>„Hast du neue Bienenstöcke, Vater?“</p> - -<p>„Einen blos“ — erwiderte der Alte und setzte sich auf die Bank -am Zaun. Nun wies er schmunzelnd auf die Kleine, die an der hohen -Haustürschwelle neben „Lotte Goldsnut“ hockte. Die Teckelhündin lag, -platt alle Viere von sich, wie tot im warmen Sande, und die Kleine war -eifrig bestrebt, zwischen die vier Zehen der krummen Vorderpfoten immer -drei der abgefallenen Akazienblätter festzuklemmen. Immer wenn sie -fertig war mit einer Pfote, streifte sich die Dachsmadam mit der andern -die Blätter wieder ab, und das Spiel begann mit Ernst von neuem. Was -die Recha nur wollte! die Kleine war ja unglaublich artig.</p> - -<p>Jetzt trat die Mutter aus der Tür, in jedem Arm behutsam eine flache -Satte voll Dickmilch tragend. Er sprang ihr zur Hand. Wie sich all -ihre Runzeln freuten, bis in die liebreichen Augen hinein, als er die -eine Schüssel ihr abnahm und sie auf den Gartentisch setzte; richtige -Geburtstagsaugen! Und zugleich wars wohl auch die Freude, wie ihrem -Ältesten nachher die kühle Labung schmecken würde, so mit Streuzucker -drüber und Schwarzbrotkrümeln. Wie die fette Sahne nach dem Eiskeller -duftete! Orndtlich winterlich sah die weiche Pelzschicht aus.</p> - -<p>„Na, Alterchen?“ ließ sich Mutter hören, Vaters Schneehaar -glattstreichend — „soll ich <em class="gesperrt">hier</em> decken oder unter der Linde?“</p> - -<p>„Lieber hier, Mutting,“ kam er dem Alten zuvor; „hier<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> sieht man die -Abendsonne so schön.“ Die rote Scheibe stieß jetzt grade auf den -Horizont der Landschaft; der Strahlenfächer war verschwunden.</p> - -<p>Der Alte griff sich in den Bart. Sicherlich knurrte er im stillen -wieder: „Sentimentaler Krempel!“ Das war ein Lieblingstrumpf von ihm.</p> - -<p>„Die Lindenblüte riecht auch zu stark“, meinte mit rascher Abwehr die -Mutter; „Abends manchmal ganz betäubend.“ Dann beugte sie sich zu der -Kleinen nieder: „na, mein Lämmechen?“ strich ihr die Locken sanft aus -der Stirn, sorglich nach dem Alten blickend, und ging wieder ins Haus. -Lotte Goldsnut erhob sich.</p> - -<p>„Hat ’ne zarte Nase, unser Muttel“, brummte der Alte und griff -gemächlich an sein eigenes Vorgebirge, eine dicke Wolke von sich -paffend; „krigt’s schon mit den Nerven.“</p> - -<p>„Ovater“ — kam auf einmal die Kleine hinter der Teckelhündin -herangependelt — „bist du der Weihnachtsmann?“</p> - -<p>„Woll, mein Mäuschen!“ und er nickte belustigt. Tief nachdenklich sah -sie ein Weilchen auf die eine Schüssel hin, durch deren dunkelgrüne -Glaswand der weiße Inhalt schimmerte. Dann ging sie wieder an die -Schwelle, wo die verblichenen Akazienblätter auf dem sandigen Boden -lagen.</p> - -<p>„Muß doch mal im Hofe nachsehn“ — sagte der Alte und stand auf — „ob -die Juno etwa los ist; das Schindluder hat mir neulich einen von den -jungen Hähnen abgewürgt.“ Er reckte sich. „Kann das Volk auch gleich in -den Stall bringen.“ Er schritt ins Haus. Lotte Goldsnut wackelte ihm -nach.</p> - -<p>Die Sonnenkugel war jetzt nur noch mit dem oberen Drittel sichtbar, -wie das rote nackte Augenschild eines riesigen Birkhahns. Nun wurde -sie verdunkelt, fast verdeckt, von dem strotzenden Euter der grauen -Leitkuh, die eben mit der Heerde drüben von der nahen Weide kam. Um -die schweren Bäuche stieg der Staub der Landstraße auf. Der lahme -Spittelhirt des Städt<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span>chens hinkte barfuß hinterdrein. Durch das -hohlere Getön der Brückenbohlen klang die Kupferglocke am Hals der -Vorderkuh. Zum Brüllen war die Heerde wohl zu satt. Die Mäuler kauten -noch.</p> - -<p>Nun war die Sonne blos noch ein fasriger Rand, wie ein glühender -Wimpernbogen; das machten wohl die Binsen und das Röhricht in der -Ferne. Man konnte fast mit den Augen verfolgen, wie sie Strich für -Strich untertauchte. Er warf die ausgegangene Zigarre weg und stützte -sich fester auf den Zaun. Jetzt verglomm der letzte Strich, grade -oberhalb der einen Pappelsohle, wie hineingeschrumpft. Es wurde -plötzlich etwas heller. Die fahle Dunstwand schien sich abzukühlen. -Das dumpfe Rotgrau lockerte sich zart ins Grünliche. Durch die stummen -Pappeln, von Haupt zu Haupt das Fließ entlang, wagte sich ein Lüftchen; -noch beklommen. Jetzt: die trägen Blätter fingen an zu munkeln.</p> - -<p>Er fuhr auf: eine verspätete Biene, von der Linde her, vorbei zu -Korbe. Ob sein Vater die Feierstunde der Natur auch so ins Einzelne -mitfühlte? Mit so sinnlicher Andacht? Nein. Das war wohl Neugehirn. -Neue Sinnlichkeit. Auch neue Wissenschaft.</p> - -<p>Aber doch: er hatte ihn einmal sagen hören: „Der Kiefernhochwald, aber -Schnee muß liegen, das ist meine Kirche!“ Aber eben: Kirche: Unnatur! -— Da, da drüben die Pappelblätter, oben an der höchsten Spitze, wie -sie schwärzlich im blassen Luftblau hingen, jeder Rand von einem -zarten, zitternden Flimmerschein umwirkt: wars nicht tief feierlich -zu wissen, daß sich da jetzt von unten her die letzten scheidenden -Sonnenstrahlen durch den Atemduft des warmen Laubes in der Abendkühle -goldhell brachen.</p> - -<p>„Hater —“ fragte plötzlich die Kleine und schob sich bedächtig auf -die Bank, ihr Schürzchen von sich haltend, das sie mit Akazienblättern -vollgesammelt hatte — „sind die Bäume müde, Vater?“ Ihre Augen -blickten, weit und träumerisch<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span> geöffnet, über den Tisch weg nach den -Pappeln. „Wie die Menßen ’tehn sie da.“</p> - -<p>Er mußte nicken; wortlos. Wie die Menschen! O Kindermund.</p> - -<p>Das mußte er der Mutter sagen; das war ein Wort aus <em class="gesperrt">ihrem</em> Geist. -Die Kleine saß immer noch träumerisch; leise trat er in den Hausflur. -Und auch den Narzissentraum ihr sagen! Ja, und dem Alten helfen seine -Hähne einsperren; das nahm er immer sehr hoch auf.</p> - -<p>Die Küche war offen. Die Mutter stand am Herd, eben einen Eierkuchen in -der zischenden Pfanne wendend. Nein, das war nicht die rechte Stimmung; -lieber morgen Vormittag im Garten. „Ah —“ sog er unwillkürlich den -Geruch des brutzelnden Gebäckes ein.</p> - -<p>„Mein großer Junge!“ lachte sie und griff ihm liebkosend durch den -Kinnbart. „Hast wohl schönen Hunger von dem langen Spaziergang?“</p> - -<p>„Wo die Juno blos stecken mag!“ wetterte der Alte, aus dem Hühnerhof -in die Küche tretend; mit dem Helfen wars also auch nix. „Fängt auf -ihre alten Tage zu jagen an; muß ihr mal ’ne Ladung Schrot aufsengen, -Kantschu scheint nicht mehr zu ziehen.“ Er war ganz rot vor Ärger; wie -seine Hähne. „Hast du sie nicht bemerkt Nachmittag?“</p> - -<p>„Nein, Vater.“</p> - -<p>„Konnt mirs denken“, ging das Sticheln los; „liegst ja immer gleich im -Grase fest.“ Schwerenot, was ihn das wohl anging!</p> - -<p>„Fertig, Kinderchen“ — rief die Mutter und nahm das Gedeck zur Hand, -ihm die Teller reichend.</p> - -<p>Gottseidank! atmete er auf, wieder hinaus ins Freie tretend; der Alte -hinterdrein mit den Eierkuchen. Aber was war das? das war ja ’ne nette -Bescherung! Auf dem Gartentisch, mitten drauf, saß sein Töchterlein, -eifrig bestrebt, die sandigen Akazienblätter in verschiedenen schönen -Kringeln auf dem<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span> weißen Sahnenpelz der dicken Milch zurechtzulegen; -eben wollte sie die zweite Satte in Angriff nehmen.</p> - -<p>„I du Balg!“ Er besann sich; nur keinen Wutausbruch! Weswegen auch? -eigentlich wars doch zum Lachen! Er nahm sich zusammen und sprach mit -Nachdruck: „Das war aber unartig von dir!“</p> - -<p>Sie sah ihn groß von der Seite an. „Das war darnicht una’tig von mir!“</p> - -<p>„Kiek!“ machte der Alte in der Haustür, und der Kobold stach aus den -stahlblauen Augen.</p> - -<p>Wollte er ihn vielleicht gar foppen? Na warte! Er stellte die Teller -hin. „Komm mal runter!“ sprach er und trat vor sein Kind.</p> - -<p>„Nein!“ stemmte sie die Arme auf. I zum Donner, da sollte doch gleich —</p> - -<p>„Kiek!“ kams abermals von der Haustür her; „Respekt scheint sie nicht -viel zu haben.“</p> - -<p>„Braucht sie auch nicht! Verlange ich nicht! Ich schlage meine Kinder -nicht!“ Verdammt: wie war das aus ihm herausgeplatzt? Hätt er das Balg -blos nicht mitgebracht!</p> - -<p>„Nna“, knurrte der Alte mit Seelenruhe: „die Köter fressen ja dicke -Milch auch ganz gern. Komm, Lotte“ — pfiff er der Dachshündin, die -sich eben durch den Zaun schlängelte. Was war der Jöhre blos aus einmal -so hinterrücks in den Kopf gekrochen?!</p> - -<p>„Komm mal her, mein Schäfchen,“ legte sich jetzt die Mutter ins Mittel -und lächelte. Der Alte streichelte die Hündin, die bereits in der -fetten Sahne schleckte. „Komm, mein Schäfchen; komm her zu mir.“</p> - -<p>„Will aber nich!“ bockte sie erst recht, die Finger um den Tischrand -klammernd. Jetzt riß ihm aber bald die Geduld!</p> - -<p>„Na, Herzchen,“ lockte die Mutter wieder: „wirst doch nicht wieder -wunderlich sein?“</p> - -<p>Ah: am Nachmittag also <em class="gesperrt">auch</em> schon?! Was sollte der Alte denn von -ihm denken!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span></p> - -<p>„Vater haut nich“ — stemmte sie sich noch fester.</p> - -<p>Teufel, das war denn doch zu bunt! „Willst du jetzt gleich -herunterkommen?!“</p> - -<p>„Nein!“</p> - -<p>„Detta?!“</p> - -<p>„Nein!“</p> - -<p>Wie sie festhielt! Warte, Kröte! Strampelst noch? Und mit den Beinen -stoßen? — „<em class="gesperrt">Laß</em>, Mutter! <em class="gesperrt">laß</em> mich!“ schrie er wütend. Und -wie das blanke Fleisch sich wand! Wie’s klatschte! Wie die Hand ihm -brannte! Wie der Racker brüllte! Warte, Satan! —</p> - -<p>„Na, na! so grob gleich?“ hörte er plötzlich den Alten; wie aus einem -Nebel her.</p> - -<p>„Kanalje!“ keuchte er — „marsch!“ und besann sich. Ganz knallrot, ja, -war das Fleisch gewesen; knallrot wie ein Hahnenkamm. Und — Hahnrei -des Bewußtseins! schoß ihm das Blut in die Schläfen; verdammt ja, wie -eine Ohrfeige.</p> - -<p>Hatte sie’s verdient? fragte etwas in ihm. Sie stand muckstill, mit den -Tränen kämpfend. Was würde Recha sagen? Er schämte sich.</p> - -<p>„Hab sie Nachmittag auch schon mal striegeln müssen,“ kams wieder von -der Haustür her. Kreuzdonner — „Na, entschuldige nur! Blos mit der -Rute ein bißchen auf die Finger.“</p> - -<p>So —: <em class="gesperrt">deswegen</em> also „Weihnachtsmann“?! und <em class="gesperrt">darum</em> war sie -vorhin so sonderbar artig?! — Er konnte nicht anders, er mußte lachen. -Und auf einmal lachten sie alle zusammen.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Der_Werwolf">Der Werwolf</h3> - -<p class="center">Erzählung</p> - -</div> - -<p class="mtop2">An einem sehr nebligen Oktober-Abend sprach sich in dem entlegensten -Vorort einer norddeutschen großen Handelsstadt die unheimliche Kunde -herum, der Apotheker des Ortes sei auf<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> der Eisenbahn während der -Rückfahrt aus der Stadt von einem Raubmörder erschossen worden. -Es war das ungefähr um dieselbe Zeit, als in einem Vorort der -deutschen Reichshauptstadt Berlin ein aus dem Zuchthaus entlassener -Schustergeselle die ganze zeitunglesende Menschheit zu unvergeßlichem -Gelächter bewegte, indem er kraft einer abgetragenen preußischen -Offiziersuniform nebst dazu passender Körperhaltung den versammelten -Magistratspersonen die hirnberückende Vorstellung eingab — oder, -wie die gebildeten Deutschen sich damals ausdrückten, suggerierte -— er solle auf allerhöchsteignen Befehl Seiner Majestät des -Kaisers den obrigkeitlichen Geldschrank ausräumen. Auch in jener -norddeutschen Villenkolonie war über den musterhaften Gaunerstreich -dieses sogenannten Hauptmanns von Köpenick, bei aller damals üblichen -Ehrfurcht vor der Würde und Weisheit der Staatsvertreter, noch -am Tage des Mordes reichlich gelacht worden; nun aber geriet die -Einwohnerschaft, die größtenteils aus begüterten Kaufleuten und -gutgestellten Beamten bestand, in eine zunehmende Ernsthaftigkeit. -Fast alle mußten sie täglich zur Stadt fahren, um ihren Geschäften -nachzugehen; jeder von ihnen sagte sich also, es hätte ihm nach -erfüllter Berufspflicht, während er als gebildeter Bürger eines -gesitteten Staatswesens auf dem besteuerten Bahnwagenpolster -in den wohlverdienten Genuß einer Zeitung oder eines kleinen -Schlummers versunken saß, genau desgleichen ergehen können wie -dem bemitleidenswerten Apotheker, ja es könnte vielleicht sogar -noch geschehen. Denn der Gemordete wurde begraben, ohne daß von -dem Raubmörder auch nur die geringste Spur entdeckt war; und -wochenlang setzten die städtischen Waffenhändler erstaunliche -Mengen von Taschenrevolvern, Stockdegen, Schlagringen und andern -Verteidigungswerkzeugen an die erregte Bevölkerung der sämtlichen -umliegenden Ortschaften ab, während zugleich bei der Bahnverwaltung die -verschiedensten dringlichen Sicherheitsvorschläge<span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span> zum Umbau des ganzen -Wagenparks einliefen, und bei der Polizeidirektion die mannigfachsten -Verdachtsanzeigen, die immer weniger zur Ergreifung des Mörders und -immer mehr zur Erregung der Bürgerschaft beitrugen.</p> - -<p>Es ließ sich einstweilen nur ermitteln, daß auf der Böschung der -Vorortbahn unweit der letzten Haltestelle ein alter Kavallerie-Revolver -mit zwei abgeschossenen, zwei noch geladenen und zwei ungeladenen -Patronenkammern die Mordtat sowohl wie die Flucht des Täters -hinlänglich bezeichnete; auch fanden die Untersuchungsbeamten -in nächster Nähe des Mordwerkzeuges die goldene Uhr und Kette -des Apothekers, und in dem Bahnwagen hatte bei dem Gemordeten -seine entleerte Banknotentasche blutbefleckt auf dem Polster -gelegen. Augenscheinlich also war der Verbrecher nach der planvoll -durchgeführten Beraubung während der Fahrt aus dem Wagen gesprungen, -hatte die Tür wieder zugeschlagen, den Revolver im Sprunge fallen -gelassen und dabei in der Hast auch die Uhr verloren; oder er -hatte Uhr wie Revolver, um sich nicht später dadurch zu verraten, -absichtlich sofort aus der Hand geworfen. Eine Fußspur war aus dem -Graswuchs der Böschung nirgends zu erkennen gewesen, und in dem -dichten Nebel konnte der Täter sehr leicht noch an demselben Abend -nach dem Hafen der Handelsstadt auf offener Straße entkommen sein, -hatte sich erst wohl unterwegs an irgend einem Feldteich gesäubert -und war dann vermutlich mit falschen Papieren auf einem der vielen -Auslandschiffe als Kohlenschipper oder dergleichen schon nächster Tage -in See gegangen. Die meisten Umwohner wollten freilich aus allerlei -Meldungen entnehmen, er streife noch heimlich im Lande herum; und -da der massenhafte Vertrieb von Taschenwaffen jeder Art natürlich -etliche freche Burschen zu neuen Gewalttaten anreizte, so schob sie -der allgemeine Argwohn immer wieder auf den entschlüpften Raubmörder, -obgleich diese ungeübten Gelegenheitsräuber stets bald der Polizei -in die Hände fielen.<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span> Im übrigen blieben alle Nachforschungen, auch -Zeitungsaufrufe und Säulenanschläge, ob irgendwer im deutschen Reich -einen alten Kavallerie-Revolver kürzlich an irgendwen verkauft habe, -trotz ausgesetzter Belohnung erfolglos; man mußte leider den Schluß -ziehen, daß der Verbrecher die Waffe wohl schon in seiner militärischen -Dienstzeit irgendwie beiseite gebracht und für seine spätere Laufbahn -aufbewahrt hatte.</p> - -<p>Was die Bevölkerung ganz besonders erregte, war der sehr viel -Gesprächsstoff bietende Umstand, daß der erschossene Apotheker, -trotzdem ihm der eine Schuß die Schläfe durchbohrt, der andre die -Schädeldecke zerschlagen hatte, noch lebend, wenn auch bereits -bewußtlos in dem Bahnwagen aufgefunden ward. Die ärztliche Leichenschau -ergab, daß die Bewußtlosigkeit wahrscheinlich erst einige Minuten -nach der Verwundung unter heftigen Schmerzen eingetreten war; und -jedermann suchte sich nun zu vergegenwärtigen, was für Gedanken dem -Unglückseligen in seinen letzten Augenblicken durch das zerfetzte -Gehirn gestürmt sein mochten. Dies umso angelegentlicher, als der -Entseelte bei Lebzeiten in der Ausübung seines Berufes fast jedem -einzigen Ortsinsassen mehr oder minder nahe gekommen und auch -als Persönlichkeit weit beliebt war: ein sanfter, schmiegsamer, -schlanker Herr mit einem blonden Christuskopf und — was bei seiner -Aufgeklärtheit manchem verwunderlich erschien — von förmlich -gottgläubiger Frömmigkeit. So legten denn alle Nachdenklichen sich -selbst und Andern die Frage vor, wie wohl das Gottvertrauen des -Apothekers die letzte kurze Bewußtseinsfrist nach dieser gräßlichen -Lebenserfahrung innerst bestanden haben möge, zumal da bekannt geworden -war, daß die Witwe beim ersten Anblick des Toten nur die verzweifelten -Worte herausgebracht hatte: „es gibt keinen Gott, es gibt keinen -Gott!“ Auch daß sie den ziemlich hohen Betrag von 150000 Mark, auf -den der knapp vierzigjährige Mann erst unlängst sein Leben versichert -hatte, und welchen ihr die Versicherungsgesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span> unverzüglich -überwies, mit keinerlei Regung des Trostes entgegennahm, sondern -vor Schluchzen kaum zu quittieren vermochte, gab der gemütvollen -Bürgerschaft zu vielen teilnehmenden Reden Anlaß. Das menschliche -Mitgefühl der Bevölkerung erstreckte sich so weit in die Runde, daß der -Friedhofsgärtner nach der Beerdigung reichliche vierzehn Tage brauchte, -um die Gräber und Beete wieder zurecht zu machen, die unter dem nicht -zu hemmenden Andrang von Leidtragenden jeden Alters und Standes, -einheimischen und auswärtigen, zertreten oder zerrauft worden waren. -Und noch mehrere Wochen nach dem Ereignis konnte man in der ganzen -Gegend keiner gebildeten Unterhaltung beiwohnen, die nicht schließlich -zu der Erörterung führte, ob dem verewigten Apotheker, falls es ein -Fortleben über das Grab hinaus gäbe, die Nichtentdeckung seines -irdischen Mörders als ein völlig sachgemäßes Verfahren der himmlischen -Gerechtigkeit einleuchten würde.</p> - -<p>Da geschah es an einem schönen Nachmittag, daß ein Gemüsehändler -des Ortes, der seine Mistbeete für den Winter herrichtete, durch -eine Gartenhecke hindurch ein sonderbares Gespräch mit anhörte, das -zwischen dem Eigentümer des Nachbarhäuschens und dessen einzigem -Freunde stattfand. Dieser Nachbar war allen Leuten ein Rätsel. Als -früherer Eisenbahnschaffner hatte er infolge einer Zugentgleisung eine -leichte Kopfverletzung erlitten, von der ihm, wenn sein Gebaren nicht -trog, eine dauernde Geistesstörung verblieben war, zwar keine richtig -irrsinnige, aber die ihn nach Meinung der Ärzte doch dienstunfähig -erscheinen ließ; und so hatte er vor Gericht erlangt, daß ihm die -Bahnverwaltung den Abschied nebst angemessenem Sühnegeld und — bis -sein Geist vielleicht wieder dienstfähig würde — auch Ruhegehalt -bewilligen mußte. Nun tat er von Morgens bis Abends nichts weiter, -als daß er vor seinem dürftigen Häuschen, für dessen Erwerbung das -Sühnegeld draufgegangen war, in verbiesterter Weise hin und her<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span> -schritt. Zu jeder Tages- und Jahreszeit, bei schlechter wie guter -Witterung, marschierte er da in dem schmalen Raum zwischen Hauswand -und Straßenhecke wie ein Wolf im Käfig auf und ab, mit verwildertem -buschigem rotbraunem Bart, beide Fäuste in die Taschen vergraben, -die Mütze tief ins Gesicht gedrückt und scheu die Vorübergehenden -musternd, manchmal mit mißtrauisch zugekniffenen, manchmal mit -feindselig aufgerissenen Augen; sodaß die Leute im Ort schließlich -sagten, wenn er nicht wirklich geisteskrank sei, müsse er es bei -dieser Art Übung allmählich bis zur Vollkommenheit lernen. Außer zu -seinen Mahlzeiten und sonstigen häuslichen Geschäften, die seine Frau -nicht für ihn verrichten konnte, wies sein öffentlicher Lebenswandel -nur dann eine Unterbrechung auf, wenn in der Nachbarschaft irgend ein -Todesfall vorkam oder auch blos zu erwarten stand. Dann verschwand -er sofort aus dem Straßengärtchen, schloß sich Tagelang in seine -Schlafkammer ein oder trollte während der Leichenzeit, wie ein von -bösen Geistern Verfolgter, in den dichten Haidegehölzen herum, die an -den Friedhof angrenzten. Deswegen hatte ein Lehrer der Ortsschule, der -sich in seinen Mußestunden mit Abhandlungen über Gespenstersagen und -Schauermärchen beschäftigte, einmal am Biertisch im Scherz geäußert, -der rätselhafte rotbärtige Kerl werde sich noch als Werwolf entpuppen; -und dieses hingeworfene Wort war als Spitzname an ihm hängen geblieben -und dermaßen gang und gäbe geworden, daß kein Kind sich allein in die -Haide wagte, aus Furcht, vielleicht von dem wilden Mann überfallen und -abgewürgt zu werden.</p> - -<p>Ob der Werwolf selbst merkte oder ahnte, was über ihn gemunkelt -wurde, das wußte wohl nicht einmal seine Frau; denn zu Gesprächen -neigte er nicht, sondern gab auf Anreden entweder garnichts oder -höchstens ein unwirsches Knurren zurück. Nur ein kleiner krötiger -buckliger Flickschneider, mit dem sich sonst niemand recht einlassen -mochte, hatte sich an ihn an<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span>genistet und verstand ihm zuweilen -ein paar Worte oder gar ein Schmunzeln abzugewinnen. Das passierte -allerdings selten genug, und blos an besonders schönen Tagen; denn -des Flickschneiders elenden Knochenbau flog beim leichtesten Lüftchen -das Zipperlein an, und außerdem war er so schwach auf den Beinen, daß -er dem unermüdlichen Werwolf kaum ein halbes Stündchen lang Schritt -halten konnte. Geschah es aber, dann schien sich dieser voll tiefen -Behagens daran zu weiden, wie das kleine klägliche Klümpchen Unglück -mit seinem bartlosen Unkengesicht und seiner keuchenden Kläfferstimme -da neben ihm hin und her hampelte, und wie die Leute das seltsame -Freundespaar verstohlen von ferne besichtigten. An einem solchen -schönen Nachmittag also — es war ein ungewöhnlich milder November — -vernahm der erwähnte Gemüsehändler, hinter der Gartenhecke knieend, -wie der Flickschneider plötzlich den Werwolf fragte, ob er nicht -früher, vor seinem Eisenbahndienst, Sergeant oder so’was gewesen -sei. Und als der mißtrauisch antwortete, er könne sich nicht mehr an -alles erinnern, zog der Andre ein Zeitungsblatt aus dem Rock, das den -berüchtigten Kavallerie-Revolver in größengetreuer Abbildung zeigte, -und fragte mit pfiffiger Miene weiter, ob er sich hieran vielleicht -erinnern könne; worauf der Werwolf erst wie entgeistert stillstand, -dann in ein schreckliches Toben und Schluchzen ausbrach und den Krüppel -wahrscheinlich entzweigemacht hätte, wäre nicht die Frau aus dem -Hause dazwischengestürzt und auch der Gemüsehändler zu Hilfe geeilt. -Natürlich meldete dieser den Vorgang ohne Aufschub der Polizei, und am -andern Morgen wurde der Unhold von zwei Gendarmen zur Stadt befördert -und ins Untersuchungsgefängnis gesteckt.</p> - -<p>Beim Verhör erklärte zunächst der Flickschneider mit untertänigstem -Selbstgefühl, daß er sich feierlich dagegen verwahren müsse, als Freund -des Verhafteten zu gelten. Er sei ein unbescholtener Staatsbürger und -habe sich mit dem verdächtigen<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> Menschen lediglich deshalb abgegeben, -um heimlich dabei herauszustudieren, ob derselbe in Wirklichkeit -verrückt sei oder blos immerfort so tue. Die verfängliche Frage nach -dem Revolver habe er eigentlich nur gestellt, weil einem solchen -heimtückischen Müßiggänger doch alles zuzutrauen sei. Er wolle -keineswegs die Behauptung aufstellen, daß der Werwolf den Apotheker -umgebracht habe; es bleibe ja immerhin die Möglichkeit, daß derselbe -den greulichen Wutanfall aus reinem Ärger über die Frage gekrigt -oder auch blos geheuchelt habe. Aber er möchte doch nicht verfehlen, -die Aufmerksamkeit der hohen Behörde auf den bedenklichen Umstand -hinzulenken, daß der Verhaftete am Tage des Mordes schon seit dem -Mittag verschwunden gewesen und erst wieder am Tage nach dem Begräbnis -vor seiner Haustür erschienen sei. Wenn sich also derselbe nach alledem -vor dem hohen Gerichtshof als schuldig erweisen sollte, so möchte er -— und bei diesen Worten blies sich des Flickschneiders Busenwölbung -wie ein Truthahn vor dem ebenfalls verhörten Gemüsehändler auf — ganz -ergebenst befürworten, daß er allein den vollen Anspruch auf die für -die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Belohnung erheben dürfe. Der -Beschuldigte saß währenddem mit gänzlich verstocktem Gesichtsausdruck -da; nur als sein Verschwinden zur Rede kam, geriet er in merkliche -Unruhe, und sein zusammengebissener Mund schien wieder mit inneren -Tränen zu kämpfen. Doch bewirkte seine Vernehmung nichts weiter, als -daß er hartnäckig leugnete oder zumeist blos den Kopf schüttelte, -beständig die Augenbrauen runzelnd, wie wenn er die Sache nicht recht -begriffe. Und da seine Frau nur in einem fort aussagte, sie könne -sich hoch und teuer verschwören, daß sie nie einen solchen oder -andern Revolver an ihrem Mann beobachtet habe, so mußte das lebhafte -Rechtsbedürfnis der aufs stärkste gespannten Zeitungsleser einstweilen -damit zufrieden sein, sich in neue entrüstete Leitartikel über die -öffentliche Unsicherheit im<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> allgemeinen, wie über den unheimlichen -Werwolf und sein jahrelang freies Herumgerenne im besonderen zu -vertiefen.</p> - -<p>Indessen ergab der Fortgang der Nachforschungen, daß der Beschuldigte -um die Zeit, als Revolver des vielgenannten Systems in der Armee -geführt wurden, tatsächlich Sergeant gewesen war, und zwar bei der -reitenden Artillerie; auch daß er sich wirklich zur Stunde des Mordes -nicht in seiner Behausung befunden hatte. Vor allem aber gelang es -dem Flickschneider, der inzwischen zusehends in der Achtung der -teilnahmvollen Bürgerschaft stieg und von Tag zu Tag mehr Zuspruch -gewann, durch eifrige Umfragen festzustellen, daß die Frau des -Verhafteten schon seit Jahren bei sämtlichen Krämern und Händlern des -Ortes, bei Schlachtern, Bäckern und Handwerksleuten, beträchtliche -kleine Schulden gemacht und ihren Mann für sein lumpiges Ruhegehalt -und seine schuftige Faullenzerei — das waren ihre eigenen Worte — -einmal laut vor den Nachbarn ausgeschimpft hatte; und außerdem war sie -am Tag vor dem Raubmord in der Familie des Apothekers beim Aufscheuern -mitbeschäftigt gewesen, sodaß sie von dessen Bahnfahrt zur Stadt wohl -irgend etwas vorausgehört und dem Werwolf hinterbracht haben konnte. Es -zweifelte demnach niemand mehr, daß dieser sein kärgliches Gnadenbrot, -sei es mit, sei es ohne Wissen der Frau, durch den blutigen Handstreich -hatte aufbessern wollen und die geraubten Banknoten noch irgendwo -verborgen hielt; geteilter Meinung war man einzig darüber, ob er den -ruchlosen Entschluß aus echtem Irrsinn gefaßt haben mochte oder immer -nur wieder in der Berechnung, daß sich bei standhaft geheuchelter -Geistesstörung jede Schandtat ungestraft ausführen lasse.</p> - -<p>Zur großen Befriedigung sämtlicher Wohlgesinnten schien durch die -nächste Gerichtsverhandlung, die eine öffentliche war, die letztbesagte -Meinung bestätigt zu werden; denn als dem Verhafteten all jene -Einzelheiten seiner verdächtigen Lebensführung<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> der Reihe nach -vorgehalten wurden, war deutlich zu sehn, wie der handfeste Mann aus -seiner gewohnten Halsstarrigkeit allmählich gleichsam herausstrauchelte -und schließlich einen hilflosen Blick auf den freundlich lächelnden -Staatsanwalt warf. Und als dieser den Blick — was in damaliger Zeit -ganz erstaunlich an einem Staatsanwalt war — ohne Strenge erwiderte, -vielmehr den erschütterten Angeklagten mit herzgewinnender Stimme -fragte, ob er nicht endlich sein Gewissen erleichtern und durch ein -mutiges Geständnis vor Gott und den Menschen reinigen wolle, da -übermannte den Werwolf ein solches Weinen, daß die meisten Damen im -Zuschauerraum, sogar auch die Witwe des Apothekers, nicht anders -konnten und laut mitweinten. Das alles aber machte ihn dermaßen wirr, -daß er vor fassungslosem Stammeln kein klares Wort zu entgegnen wußte, -sondern nur krampfhaft, während die Tränen ihm in den zitternden -Bart niederrollten, bald Ja und bald Nein aus der Kehle würgte, -bald mit zerknirschten Geberden nickte, bald widerspenstig den Kopf -schüttelte. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen; und also mußte -er, bis sein Gewissen zum vollen Geständnis gereift sein würde, oder -bis andere sichere Anzeichen für seine Schuld zutage kämen, in die -Untersuchungshaft zurückgeführt werden.</p> - -<p>Während sich nun die Bevölkerung zwar im Grunde bereits beruhigt -fühlte, aber sich umso gründlicher der immer noch schwebenden -Sorge annahm, ob der Gerichtshof den Verbrecher füglich zum Tode -verurteilen dürfe oder blos lebenslänglich ins Irrenhaus sperren, -ward der sittlichen Spannung der Gemüter durch zwei fast unglaublich -widerspruchsvolle, jedoch polizeilich verbürgte Zeitungsberichte ein -wahrhaft erschreckliches Ziel gesetzt. Der erste Bericht verkündigte -nämlich, daß sich der Werwolf frühmorgens nach jener Verhandlung an -einem abgerissenen Hemdärmelstreifen in seiner Haftzelle erhängt und -auf die Kalkwand der Zelle die Worte gekritzelt<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> hatte: „Ich kann nicht -mehr. Ich weiß nicht mehr. Gerechter Himmel, es gibt einen Gott.“ -Wohingegen der zweite Bericht besagte, daß der Staatsanwalt am selben -Vormittag von dem Anwalt der Apothekerswitwe einen langen Eilbrief -empfangen hatte, demzufolge der Werwolf nicht der Mörder, sondern -ihr Gatte ein Selbstmörder war. Und zwar wußte die schwergeprüfte -Dame dies schon seit dem ersten Anblick der Leiche, da ihr zugleich -von den Untersuchungsbeamten der Kavallerie-Revolver gezeigt und -von ihr als Eigentum des Toten, aus seinem — wie man es damals -nannte — freiwilligen Militärjahr her, an einem Rostfleck erkannt -worden war. Um indessen — so legte ihr Anwalt dar — den guten -Ruf des Dahingegangenen, sowohl den moralischen wie besonders den -christlichen, ihrer ehelichen Pflicht gemäß nach Kräften aufrecht -zu erhalten, habe sie voller Selbstverleugnung so lange wie möglich -zu schweigen versucht und deshalb auch die Versicherungssumme ohne -Widerspruch hingenommen, zumal ihr Anrecht nach dem Vertragswortlaut -als unanfechtbar gelten könne. Da aber nunmehr ein Unschuldiger für -die blutige Tat scheine büßen zu sollen, und da inzwischen auch durch -die Versicherungsgesellschaft bedauerlicherweise ermittelt worden, -daß der Dahingegangene sein Vermögen in Börsenspekulationen verspielt -und demnach vermutlich die Ermordung nur zu dem Zweck veranstaltet -habe, seine Familie vor dem Bankrott zu retten, so glaube Klientin die -traurige Wahrheit nicht länger unterdrücken zu dürfen. Dieselbe gebe -der Hoffnung Raum, daß, möge ihr Gatte auch schwer gefehlt haben, das -allgemein menschliche Mitgefühl doch seinen furchtbaren Opfertod als -genügende Sühne anerkennen und nicht noch seine Namenserben denselben -entgelten lassen werde. Welcher Hoffnung dann in der Tat sowohl -der freundliche Staatsanwalt wie die gemütvolle Bürgerschaft aufs -offenherzigste entsprach, besonders als man noch erfuhr, daß sich die -wohlgesinnte Witwe mit der Versicherungsgesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> gütlich geeinigt -und ein Drittel der empfangenen Summe in aller Stille zurückgezahlt -hatte.</p> - -<p>Für den erhängten Werwolf freilich war ihr Bekenntnis leider Gottes -einige Poststunden zu spät gekommen. Aber zum Glück war vorauszusehen, -daß sich die Witwen der beiden Selbstmörder, da die zweite die erste -gerechterweise auf Entschädigung verklagen konnte, im stillen ebenfalls -gütlich einigen mußten. Auch blieb ja immerhin unentschieden, ob sich -der Werwolf nicht doch vielleicht, als er an jenem Tag seine Wohnung -verließ, mit der sträflichen Absicht getragen hatte, den Andern -meuchlings auszurauben; und jedenfalls ließ sich gewissermaßen eine -Art höherer Gerechtigkeit in dem sonst peinlichen Umstand entdecken, -daß dieser auf Staatskosten lebende Heuchler, dessen schlechtes -Gewissen ihm nicht einmal den ruhigen Genuß seiner Rente erlaubte, -sich kurzerhand selbst gerichtet hatte. Viel erschrecklicher war -dem gebildeten Teil der überraschten Bevölkerung die ungeheure -Verstellungskraft, die den sanften gottgläubigen Apotheker bis zur -letzten Minute befähigt hatte, den Schein des Raubmordes herzustellen -und Revolver nebst Uhr noch im Todeskampf aus dem Bahnwagenfenster -herauszuschleudern. Doch am allerbedenklichsten war die Ungewißheit und -bot jedem gründlichen Zeitungsleser noch auf lange Zeit reichlichen -Gesprächsstoff, ob der Werwolf nun doch zuguterletzt, laut seiner -rätselhaften Wandinschrift, in wirklichen Irrsinn verfallen sei und -sich, dem freundlichen Staatsanwalt folgend, für den Mörder gehalten -habe. Den Feinden der bürgerlichen Ordnung natürlich erschien das als -ausgemachte Gewißheit; ja, ein ruchloser Schriftsteller jener Zeit -nannte es gradezu einen Staatsfall und ein fast noch musterhafteres -Beispiel von hirnberückender Eingebung — oder, wie die gebildeten -Deutschen sich damals ausdrückten, Suggestion — als das des berühmten -Hauptmanns von Köpenick.</p> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span></p> - -<h3 id="Der_Menschenkenner_und_sein_Gleichgewicht">Der Menschenkenner -und sein Gleichgewicht</h3> - -<p class="center">Novelle aus dem Innern eines Misanthropen</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Jan Goderath war sein Name; und er war stolz auf den Namen. Er -hatte ihn wieder zu Ehren gebracht, als kein Mensch mehr dem alten -Handelshaus traute. Und nun ging er hier durch die fremde Stadt, die -ihn plötzlich an jene Leidenszeit mahnte, und konnte sich seinen -Trübsinn nicht deuten; die ganze Stadt schien in Trauer versunken.</p> - -<p>Freilich: ein Volksmann war gestorben: ein ehrlicher Mann, selbst -seine Feinde mußten das zugeben. Und standhaft war er gestorben, -nach qualvoller Kehlkopfkrankheit, vor der Zeit: ein Opfer seiner -Beredsamkeit. Aber was ging denn <em class="gesperrt">ihn</em>, den reichen Weltmann Jan -Goderath, den unabhängigen Handelsherrn, der ausgediente Volksfreund -an! und noch dazu ein Italiäner! Dies Volk war ihm doch eigentlich -ein Greuel. Was hatte er mit einem Narren gemein, den seine Schmerzen -begeistert hatten, wie andere Narren auch! Wie konnten ihn, den -Menschenkenner aus Hamburg, die Trauermienen des Pöbels in dieser -fremden Stadt ergreifen?</p> - -<p>Und erst dies Genua selbst, <span class="antiqua">la superba</span>, wie diese Söhnchen -glorreicher Väter ihr Marmornest noch immer nannten: was war in die -bankrotten Wichte auf einmal für ein Geist gefahren? Er besah sich die -Vorübergehenden; das stechende Vormittagslicht behagte ihm plötzlich. -War das dieselbe träge, schamlos geschwätzige Menge, die ihn noch -gestern verdrossen hatte? Alle gingen sie schleichend wie sonst, -fast noch schleichender, ohne ihr zweckloses Gliedergefuchtel, und -Keiner kam ihm träge vor. Der enge Corso wimmelte wie immer dicht von -Menschenköpfen, durch die sich nur selten ein Fuhrwerk schob; aber -die Kutscher schrieen heut nicht, jede Stimme klang verhalten, wie -durch die grauen Paläste gedämpft, und die Gesichter schienen sich den -stolzen Mauern anzupassen, die düster in<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> den blauen Himmel grenzten. -Selbst wenn ein schönes Weib vorüberkam, lief ihr kein hündischer Blick -aus lüstern schwarzen Augen nach; in allen diesen Augen glomm ein -traumhafter Ernst — was war das nur?!</p> - -<p>Schon unten am Hafen war ihm aufgefallen, daß heut die Arbeit ohne Lärm -und Flüche und Gelächter vor sich ging; sogar die Maultiertreiber in -den Steinbrüchen schlugen weniger roh auf ihr bepacktes Viehzeug los. -Doch das, nun ja, das waren Arbeitsleute; denen mochte der gestorbene -Gleichheitsmensch wohl wirklich etwas bedeutet haben. Aber hier, -im Innern der Stadt, was hatten diese flunkernden Kaufleute, diese -Tagediebe und Weiberknechte, mit dem Mann des Volkes zu tun! Und was -erst all die Fremden hier! Was gab dem dürren Franzosen dort, mit -der Orangenblüte im Knopfloch, solchen feierlichen Ausdruck, daß die -beiden Säulen des alten Portals, vor dem er zufällig wartete, wie sein -natürlicher Rahmen wirkten, trotz seines modischen Reisehutes. Tat das -der Tod?</p> - -<p>Nein; dazu war dies Volk von Beichtkindern zu leichtherzig. Erst -vorige Woche hatte er in Pisa einen hohen, weit beliebten Beamten -zu Grabe bringen sehen: die ganze Stadt war auf den Beinen gewesen, -sämtliche Glocken läuteten, acht Barfüßermönche trugen den Katafalk, -all ihre Ordensbrüder schritten voraus und goldverbrämte violette -Priester, dazwischen Jungfraun in weißen Kleidern und Kinder mit grünen -Kränzen im Haar, alle mit großen brennenden Kerzen, Chorknaben sangen -Litaneien, zwei Väter Jesu führten die gebrochene Witwe, die Frauen -des Gefolges weinten laut — und eine Stunde später war von dem ganzen -Straßenschauspiel auch nicht ein Hauch mehr zu spüren gewesen. Und die -Pisaner standen doch im Ruf der Gründlichkeit, er selber hatte sich -bei ihnen wohlgefühlt, es mußte da wohl vor Jahrhunderten germanisches -Erobererblut in die Bevölkerung gedrungen sein.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span></p> - -<p>Und heut nun, hier in Genua, wo jedes wälsche Unkraut sich sonst -brüstete, schon seit dem frühen Morgen diese Stille. Ihm war, als -ginge er in einem Strom von Wallfahrern. Was hatte all die Menschen -so seltsam in sich gekehrt? Der tote Volksmensch war doch nicht -einmal mit Pomp bestattet worden. Kein Mönch noch Priester war dem -schmucklosen Holzsarg vorausgezogen; sechs barhäuptige Arbeiter hatten -ihn getragen, keine Träne war geflossen, und keine Glocke läutete. -Oder wars etwa grade Das? War dieser ungewohnte stumme Eindruck den -Schwätzern auf die Seelen gefallen? Dieser farblose Eindruck: der Zug -der hundert schwarzgekleideten Männer, wie sie paarweis, alle mit -bloßen Köpfen, die Hüte in der Faust, finster und wortlos hinter der -Bahre hergeschritten waren, unter dem schwülblauen Himmel. Selbst einen -Offizier der Kriegsmarine hatte er da die Mütze lüften sehn.</p> - -<p>Und hatte nicht er selber, Jan Goderath, sich da sagen müssen, daß -es doch Ahnen dieser Männer waren, die hier die schlichte Straße von -Palästen, mit dieser strengen Wucht der Außenwände, dieser ruhigen -Kühnheit innen, einst hatten bauen können! Er trat hinein in eines -der machtvollen Treppenhäuser. Wenn jetzt durch diesen Säulenhof, -in dem die starre Hitze brütete, ein Mann im Arbeitskittel käme, er -würde den Hut vor ihm abnehmen. Was war ihm nur?! Ihn konnte doch der -Eindruck von ein paar Dutzend Leidtragenden nicht aus dem Gleichgewicht -bringen! <em class="gesperrt">Die</em> Zeit lag doch wohl hinter ihm; er war doch über die -Dreißig hinaus. Gewiß: der Eindruck war schön gewesen, schön und ernst, -vielleicht auch edel. Das brauchte ihn doch aber nicht in seiner Ruhe -zu stören; er hatte sie sich schwer genug verdient. Was ging denn ihn -das wälsche Elend an! dem war ja doch nicht zu steuern. Was ging ihn -überhaupt das Leid der Menschen an? Als ob es ohne Leid Glück geben -könnte. Das blieb doch in alle Ewigkeit so.</p> - -<p>Er trat wieder auf die Straße. Und wieder fühlte er aus<span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span> allen Augen -das stille Flimmern auf sich wirken. Oder störte ihn etwa nur das -Licht, das von dem heißen Marmorpflaster prallte? Er ging hinüber -in den schmalen Schattenstreifen; es war, als ginge er durch ein -Gespinnst, das all die dunkeln Köpfe verband. Und keiner sah doch -traurig aus. Es schwebte nur wie eine Andacht zwischen ihnen; als -horchten sie auf etwas Fernes, Klares. Das konnte doch der Tod nicht -machen? Das konnte doch nicht Ehrfurcht sein? Was galt denn dort dem -Fuchsgesicht, was dort den beiden Professoren der Gestorbene mit seinem -unklaren Zukunftstraum! Was war das für ein Zwangsgefühl, das diese -ganze Stadt erfüllte? und ihn mit! Er war doch schon ganz anderer -Stimmungen Herr geworden, die ihn viel näher betroffen hatten: damals, -als sich sein Bruder vergiftete — der hatte auch so rührende Augen wie -diese braunen Halunken hier. Ja, damals war ihm der Vater am Herzschlag -gestorben, und Er allein hatte alles gerettet.</p> - -<p>Er bog in den Platz vor dem Postgebäude; hier staute sich die -Menschenmasse. Die Stimmung war noch seltsamer hier. Die grelle -Hitze machte alle Mienen noch gespannter; bis unter die Arkaden des -Gebäudes schien diese hohe Spannung zu schweben. Selbst der verkleidete -Messerhändler, dem sonst sein kriechendes Lächeln so feil wie seine -Dolche war, ging heut in seinem blaugestickten Dalmatinermantel wie -ein verbannter Fürst umher. Man hörte kaum ein deutliches Wort. Jeder -schien sich, wenn er sprach, auf etwas Anderes zu besinnen, etwas -Vergessenes, Heimliches. Was war das nur? Hier all die Müßiggänger -hatten doch den Toten nicht geliebt! Und Er, Jan Goderath senior: -Liebe — fast hätte er laut losgelacht — mit <em class="gesperrt">dem</em> Gefühl war er -doch gründlich fertig! das hatte sein Bruder ihm abgewöhnt. Er atmete -schwer auf; was lag ihm an dem kehlkopfkranken Zukunftsapostel! was an -dem ganzen Gemurmel hier! Wenn er die Augen etwas schlösse, würde die -Stimmung vorüber sein. Nein, selbstverständlich:<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span> nur noch beklemmender -kam sie dadurch zu Gefühl: ihm war, als stünde er in seiner Vaterstadt, -verloren wie ein Blinder, inmitten einer großen Kirchgängerschaar. Er -mochte das nicht länger ausstehn. Ein Glück, daß ihn der deutsche Maler -erwartete! Das Brustbild sollte heut fertig werden; so beim Modellstehn -würde er sein Gleichgewicht schon wiederfinden. Er nahm die Richtung in -die obere Stadt.</p> - -<p>Denn ja, das Gleichgewicht: das war das Höchste: die starke Vernunft. -Die hatte ihn gemäßigt damals, in seinem Wutanfall, als er fast seinen -Bruder erschlagen hätte, den toten Schuft, der ihn mit zum Betrüger -machen wollte, der Lüderjan! Ja, er war stärker als seine Liebe; er -hatte die Probe bestanden. Wie kam er nur darauf, heut sein Gefühl zu -befragen? War etwa das Gefühl zu schwach gewesen, wenn die Vernunft so -stark war damals? Das war doch dann kein Gleichgewicht! sonst wäre doch -Eintracht in seiner Seele. Ein Jahr lang war er nun gereist und glaubte -alles verwunden zu haben, und ein paar hundert flüsternde Menschen -konnten ihn aus der Fassung bringen? eine Heerde, die sich selbst nicht -begriff! Er fuhr sich heftig über die Stirn. Nun: dank der Kunst — -er mußte lächeln — jetzt war er bald heraus aus dem Geräusch. Hier -schlichen nur noch Vereinzelte; wie bloße Schatten sahen sie aus; es -schien sie alle etwas nach unten zu rufen.</p> - -<p>Er stieg die breite Treppenstraße zu dem oberen Corso hinauf. Er spürte -die Apenninenluft schon, trotz der sengenden Sonne. Es war doch ein -Wunderwerk von Stadt, schier ebenbürtig der reichen Natur. Welche -ungeheure Arbeit sprach allein aus den Grundmauern, auf denen sie -rings die Bergterrassen emporklomm, aus den Hunderten von steinernen -Stufen hier, den Quadern der Umwallung dort im Zickzack um den Corso, -aus all den Brücken über die Felsenspalten, und oben aus dem Zug der -Festungsblockwerke, der altersgrau den kahlen Höhenkamm krönte: Das war -Alles Menschenwerk! — Ihm fiel die<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span> Inschrift ein, die er heut Morgen -am Hafen unten gelesen hatte, an dem Palaste, den einst das genuesische -Volk dem greisen Doria schenkte: „<span class="antiqua">ut, maximo labore jam fesso corde, -otio digno quiesceret</span>.“ Er übersetzte sich das schlechte Latein: -„damit er, nun sein Herz von der gewaltigen Arbeit ermüdet ist, in -würdiger Muße ausruhen könne.“ Ein Schauer überlief ihn: hier rings auf -all den Bergabhängen, die ihn im Halbkreis umarmten, ragte die Arbeit -von Hunderttausenden.</p> - -<p>Er wandte sich und sah hinunter auf die Stadt. Wie sich da Hohes und -Niederes einte — Paläste und Straßenfluchten, die flachen Dächer und -die Türme, Gärten und riesige Wohnhäusermassen — im wogenden Weißglanz -des Mittags. Dort lag die Villa Negro, mit ihrem Park von Lorbeern -und Myrten, Zypressen, Palmen, Zitronenbäumen, mit allen Blumen des -Orients und jedem Laubholz des Nordens — so lieblich hatte sie ihm nie -gedeucht. Er glaubte das Geplätscher ihrer Springbrunnen, die kleinen -Wasserstürze der Grotten zu vernehmen, und ihr zu Füßen das Gewirr der -Gassenschluchten, in Zirkellinien um sie her, dies Spinnennetz, dem er -soeben entronnen war. Wie sich das nun zusammenschloß, Altes und Neues, -unter der glutblauen Himmelsglocke! Jeder dunkle Fleck, selbst die -verwitterten Kirchenkuppeln, schien ihm verklärt, bis ins Gewimmel des -Hafens hinab. Wie Alles zu ihm herzustreben schien, tief her, fern her: -die Menschheit unten, Leuchtturm und Schiffe, das silberweiße blendende -Meer — er mußte die Augen schließen.</p> - -<p>Ein heulender Pfiff riß sie ihm auf. Im Tal zur Linken kam ein Bahnzug -aus dem Tunnel herausgedampft, der hier im Bogen unter der Stadt -herumlief; er schätzte, daß er grad drüber stand. Wenn jetzt die Erde -sich öffnete, würde er in den Schienenschacht stürzen, die Mauern des -Corsos über ihn her. Auch <em class="gesperrt">un</em>sichtbar die Arbeit von Tausenden! -Vielleicht mit von den Männern, die heute den Toten getragen hatten. -Wenn<span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span> nun die Männer ihr Werk zerstören wollten? Was hinderte die -Tausende? — Ein paar Dutzend Fäßchen Dynamit, planvoll den Tunnel -entlang verteilt, würden die Stadt in den Hafen schleudern, samt -Festung, Zuchthaus, Irrenhaus. Er hörte die wankenden Felsen schon -donnern, die See auftosen und Orkane heulen. Die Dächer der Paläste -bäumten sich, Kirchtürme flogen durch die Luft, die Kuppeln platzten, -und die Gärten tanzten. In brandgelben Kurven schossen Marmorstatuen -ins kochende Meer, Gemäldegalerieen flammten auf, Schiffstrümmer, -Bibliotheken. Durch den verfinsterten Himmel, durch Qualm und Feuer -und Wolken von Schutt, scholl das Geschrei zerberstender Bürgerbäuche; -und oben über dem Rachegericht, auf den umrauchten Höhen des Apennins, -standen die Tausende, mit heißen Augen der Märtyrer denkend, die sich -da mitgeopfert hatten — standen zu neuer Zukunft bereit.</p> - -<p>Er wischte sich den Schweiß von den Backen. Was war ihm nur! Sah er -bei hellem Tag schon Gespenster, wie die Dorfschäfer hinter Hamburg? -Was war das für ein Zwangsgefühl? Die Männer unten hatten doch nicht -drohend ausgesehen; eher bittend; als ob sie etwas zu erringen suchten. -Was hatte Er damit zu tun! er reckte sich. Ja, diese seltsam suchenden -Augen; er nickte und schritt weiter, jetzt war er bald am Ziel. -Merkwürdig: auch der Maler hatte manchmal diese Augen: halb bettelnd, -halb fordernd, der arme Teufel. Nur daß sie grau waren, nordseegrau, -wie seine eigenen Augen grau; und doch wie Hundeaugen. Ja: wie ein -Schweißhund vor der Jagd: heißhungrig, scheu. Und diese schräge -Verbrecherstirn! der filzbraune Spitzbart! die kurzen Beine! Der -Mensch war ihm doch eigentlich widerlich. Der paßte unter dies wälsche -Gesindel: halb Lazzarone, halb Genie.</p> - -<p>Warum hatte er ihn blos ausgesucht? warum sich von ihm malen lassen? -von diesem Schächer der Kunst! Wie er ihn immer anstarrte: als wollt -er die Seele ihm aus dem Leibe pinseln<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span> — und dann wars nichts als -Stückwerk. Was hatte ihn hingeführt zu dem Menschen?! Etwa daß er -aus Hamburg war? aus seiner Vaterstadt? — Pah: Heimweh! lächerlich! -Kinderkrankheit! — Oder daß er mit seinem Bruder befreundet gewesen? -Nun, das vielleicht; er wollte sich wohl absichtlich prüfen. Denn vor -zwei Jahren hatten sie Drei da oben hinter Hamburg gestanden, auf den -Elbhöhen draußen, bei Sonnenuntergang, die Aussicht über den Strom zu -Füßen. Der strömte so breit, als wenn das Meer schon anfinge dort. -Und der Maler hatte sich abgewandt, die rauchenden Dörfer jenseits -anstarrend, die in der Abendglut zu brennen schienen; denn Er, er -machte in Bruderliebe, Jan Goderath senior Nachfolger — er hatte dem -Schwächling noch einmal geglaubt, sie waren ja doch Ein Fleisch und -Blut — zwei Tage bevor er es kennen lernte, verachten lernte, dies -Fleisch und Blut, die ganze menschliche Sippschaft. Was ging ihn jetzt -der Mensch noch an! Der hatte wohl gar um alles gewußt, vielleicht die -Wechsel gar fälschen helfen. Nun: morgen würde er weiterreisen, ob nun -das Bild heut fertig wurde oder nicht.</p> - -<p>So trat er in das Haus hinein. Hier war es kühl, die steinerne Stiege -frisch gespült; jetzt würde er gleich Ruhe haben. Wenn <em class="gesperrt">der</em> -Mensch ahnen könnte, wie ihn der Pöbel entzwei gemacht hatte. Ja: -Gleichgewicht! die Eintracht zwischen Vernunft und Gefühl, wie zwischen -zwei gleich starken Herrschern: wenn Das zu malen wäre, wenn es das -gäbe, in einem einzigen Menschengesicht, in Einer Seele von Mann auf -Erden: <em class="gesperrt">der</em> sollte sein Freund sein! — Da stand der Spitzbart -schon in der Türe; Bedientenseele! — Und der also duzte ihn — dem gab -er die Hand — — sie gingen vor die Staffelei. Er trocknete sich die -Stirn. „Hast du das Kinn nicht zu massig gezeichnet? Ich sehe ja aus -wie Bonaparte vor Moskau.“ Der Spitzbart, grinsend: „Mit dem hast du -auch manchmal Ähnlichkeit.“ Ach so! das sollte ihm wohl schmeicheln. -„Ich habe mit Niemandem<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> Ähnlichkeit; der korsische Dickbauch ist nicht -mein Mann.“ Der Andre, kleinlaut: „Das Kinn ist gut. Laß nur die Augen -erst fertig sein; es liegt tatsächlich nur an den Augen.“ — „So? Nun, -dann kann man wohl anfangen.“ — „Ja.“</p> - -<p>Er stieg auf das Trittbrett und lehnte sich an das Pfostengerüst. Der -dürftige Raum war drückend warm. Vom Apennin her tönte ein Hornsignal. -Sie sahen sich schweigend in die Augen; nur das Geräusch des Malens -war noch hörbar. Wie ihn der Mensch wieder anstarrte jetzt! Wie er -sich quälte für sein bißchen Brot! So quälten Hunderttausende sich! — -Hatte er etwa Mitleid mit ihm? der Reiche mit dem Armen? Er, Goderath -Nachfolger — lächerlich! — Er hatte doch damals kein Mitleid gehabt, -mit seinem eigenen Bruder nicht, als der um Geld nach Amerika bettelte. -Nun gar mit diesem wildfremden Stümper? — „Habt ihr euch eigentlich -lieb gehabt?“ hörte er plötzlich wie fernher fragen. Was fiel dem -Menschen da drüben denn ein! „Ich spei auf die Liebe!“ er schrie es -fast. Warum denn nur? fragte etwas in ihm. — „Entschuldige!“ hörte er. -Schweigen.</p> - -<p>Und wieder starrten die Augen ihn an. Und wieder starrten sie -nordseegrau. Und in dem Grau war etwas Flackerndes. Was war das nur? -Das war ja unheimlich. Das war ja viele Meilen fern; wie ein Gespinnst -zwischen ihnen, ein flimmernder Strom, und jenseits brennende Dörfer. -Und über den Strom her kamen Tausende, barhäuptig, paarweis, auf ihn -zu: die trugen einen Toten. Und starrten ihn an mit Menschenaugen, -heißhungrig, scheu, halb bettelnd, halb fordernd. Als wäre etwas in -ihm, das sie suchten: etwas Vergessenes, Fernes, Klares. Und plötzlich -strahlte es auf in ihm, und strömte über, hin zu ihnen: ein Licht, ein -Meer, ein Nebelglanz. „Was <em class="gesperrt">ist</em> dir, Mensch?“ rief eine Stimme -— er wankte, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Und heiße Tränen -machten ihn blind, und blindlings wankte er in zwei Arme, und küßte den -Bart, der ihm<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> soeben noch widerlich erschienen war; küßte ihn weinend -wie ein Kind, und lachte, und ermannte sich. O, das war mehr als -Vernunft und Gefühl! Das war <em class="gesperrt">doch</em> Liebe, nicht Mitleid, nein! -Das war die Liebe, leidlos ob Fleisch und Blut! die Eintracht und das -Gleichgewicht! Das war die Alles beseelende Liebe.</p> - -<p>Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich setzen. Er fühlte den kranken -Volksmann sterben, der Zukunft zu Liebe, vor der Zeit; er fühlte die -Sehnsucht der Tausende leben, wie Brüder zu werden, der Freiheit zu -Liebe; er fühlte die Opfer der Arbeit alle, dem Leben Aller, Aller -zu Liebe. Und Er? er hatte die Menschen verachtet; er, Goderath, der -Menschenkenner! — Er reichte dem Maler die Hände hin: „Ich hab mich -versündigt an meinem Bruder“...</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Das_Gesicht">Das Gesicht</h3> - -<p class="center">Eine halbe Stunde Seelenleben</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Er saß und konnte nicht los aus diesem lastenden Bann. Immer wieder -sank der über ihn, wie ein magnetischer Ring um die Stirn, und lähmte -seine Hand. Seit Wochen nun schon: seitdem er wieder gesund war. Immer, -wenn er malen wollte. Immer die eine, große, unerfüllte Lust: das Ziel -der hundert frohen Mühen und Entwürfe: das Bild, das Bild: ihr Gesicht! -— was er auch Neues vornehmen mochte.</p> - -<p>Er hörte sie im Nebenraum hantieren, durch den Teppich hindurch. So -verhalten klang es, so fremd. Und die Brandflecken auf dem Teppich: -wie sie ihn quälend erinnerten! — Er fühlte seine starken Schultern -zucken, ohne daß ers wehren konnte. Er sah müde und verächtlich in die -Landschaft auf der Staffelei, und warf den Pinsel weg, und sah scheu -nach der Wand drüben, nach dem Menschenbild da.</p> - -<p>Da hing es und wartete, das letzte von den vielen; das sie noch -gerettet hatte aus dem Brande, im letzten Augenblick,<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span> aus den -fliegenden Flammen. Es war wie ein Alb: diese ungelöste Aufgabe, dies -Gesicht.</p> - -<p>O gewiß, es war ja fertig: <em class="gesperrt">war</em> ja ein Bild: ein Bild, wie nur -Er es malen konnte: dies Weib da, mit der Narzisse in den streng -gefalteten Händen. Sie duftete fast, die vorgebeugte, makellose, -leuchtende Blüte, mit dem purpurgelben Krönchen auf dem weißen Stern; -die berauschende Blüte vor den jungen, nackten, vollen Brüsten. Und -darüber ihr stumm gewährender Mund. Und darüber die blauen drohenden -Augen, groß und dunkel ins Weite gerichtet. Und darüber all ihre -Haarglut, schwer und goldrot wie Kupfergold, schwarzgrün umschattet -vom dichten Laubwerk des alten wilden Myrtenbaumes, mit den kleinen, -schimmerweiß schwellenden Knospen. Ja, seine Freunde hatten gescholten, -daß er’s der Welt nicht zeigen wollte; damals.</p> - -<p>Aber das war es ja: auch jetzt nicht! Und nie, niemals, bis er das Eine -gefunden, das noch drin fehlte, Ihm nur sichtbar: das nur Er vermißte -in diesen Bildern: das letzte Rätsel ihres Gesichtes: Das, warum er sie -liebte.</p> - -<p>O, und nun wars unmöglich: war es zerstört, dies stille lebendige -Rätsel: von den Flammen gefressen das Geheimnis ihrer Züge, von Narben -zerrissen dieser stolze Hals, diese schmiegsamen Lippen — und um -seinetwillen! — Und er hatte doch gewußt, mit seiner ganzen Kraft -gewußt, daß es endlich ihm glücken würde, daß er’s ihr ablauschen -würde und auf die Leinwand zwingen, dies lockende Wunder. Nicht aus -den Augen; nicht aus den Mundwinkeln. Da saß es nicht; in keiner -Einzelheit. Auch in der Stimmung nicht; das hatte er alles versucht -und getroffen. Es war ein Ausdruck, ein Ausdruck! und er war ihm so -nahe gewesen: in seinem letzten Bilde, dem an der Wand da drüben, dem -einzigen übrig gebliebenen. Und jetzt, jetzt —? er preßte die Finger -ineinander; er hätte sie blutig drücken mögen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span></p> - -<p>Und all das, weil er sie liebte; grade weil. Und weil er so stark war. -Ob es wohl Strafen gab? Strafen der Kraft? aus sich selbst? — Hatte er -<em class="gesperrt">deshalb</em> den Fuß gebrochen? —</p> - -<p>Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die -Kunst! Übermannung! — Denn es war ja nicht gleich so gewesen; was ging -ihn ihre Seele an. Aber allmählich — o aber das wars ja: das Heilige, -auch für den Künstler: Das, was ihm die Augen geöffnet hatte: das -Allerheiligste der Form: die bannende Seele, die Gegenseitigkeit alles -Lebendigen!</p> - -<p>Und so wars denn geworden: das Modell zum Weibe, der Leib zum Wesen, -und immer gegenseitiger dem Künstler ihre Schönheit, und immer -gegenseitiger dem Menschen ihr Geschlecht. Nein, er wollte es nicht. -Nur mit den Augen wollt er sie haben: <em class="gesperrt">ihre</em> Augen, die nachtblau -dunklen, schwimmenden Blumen, ihr klares waldseestilles Gesicht — -Alles! — Und doch: wie er sie dann erkannte, diese Gestalt, Blick -für Blick, und Ahnung um Ahnung sicherer wurde, fester im Bilde, und -alles sich ihr entgegenspannte in seinen Sinnen, und ihre Innigkeit mit -seiner Sehnsucht wuchs: es war ja Natur, Natur! war das Ohnmacht?</p> - -<p>Jener Augenblick, nach jenem letzten Bilde, als er sie am Handgelenk -heranriß, noch zitternd vor schaffendem Entzücken, und ihr den neuen -Ausdruck zeigte, der sie fast enträtselte: diese verlangende Keuschheit -— und dann sie ansah, heiß und durstig, das Eine Letzte suchend, -daß sie’s nicht aushielt länger und an ihm niederwankte, so warm und -schwer, und er an ihr: o Versunkenheit! — Und dann, dann: es war zu -hart, zu widersinnig hart vom Schicksal: wie er sie hochgerissen hatte -mit tollen Armen, schreiend vor Lust und doppeltem Glücksgefühl, und -mit ihr über den Schemel sprang: dieser tückische Knöchelbruch — über -den er damals noch lachen konnte — in seiner schwelgenden Liebe — -damals.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span></p> - -<p>Er lauschte. Was sie wohl dachte jetzt. An <em class="gesperrt">ihn</em> nur. Das fühlte -er. Das war das Schwere; der magnetische Ring.</p> - -<p>Wie still sie wieder saß. Daß er sie nur nicht merken möchte, da in der -kleinen Kammer, hinter dem Teppich; nichts rührte sich; so wars nun -Tag für Tag. Und Abends die Angst, die heimliche Angst, mit der sie -sich im Dunkeln hielt, im Halblicht, oder ihr Gesicht verhüllte, daß er -es nur nicht sehen möchte; daß er sie nur vergessen möchte, ihre tote -Schönheit, das Bild ihrer Seele, diese quälende Unmöglichkeit. Ja, die -Angst in der Luft, das wars; das machte ihn zunichte, diese Art Liebe.</p> - -<p>Ja, und <em class="gesperrt">war</em> denn das noch Liebe? dieser lähmende Zwang! War -nicht alles blos Erinnerung?!</p> - -<p>Nicht einmal Nachts: nicht anrühren konnt er sie mehr, ohne daß es -wieder vor ihm stand, das ganze furchtbar rote Schauspiel, und ihm -heiß und kalt die Sinne benahm. Wie sie ihn geweckt, ihn herausgehoben -hatte mit seinem kranken, dick verschienten Fuß aus dem qualmenden -Bett, hinter ihr her schon die leckenden Flammen, durch die Tür und -hinab die zwölf dunkeln Treppenstufen — o, sie war stark, fast so -stark wie er! — und dann zurückgestürzt war und sich nicht halten -ließ, wieder hinauf, um das Bild noch zu retten, das eine wenigstens, -hinein in das glühende Viereck oben, mit den langen offenen Flechten, -die im Feuerschein flossen wie rollende Wellen — dies Flimmern! — -Und auf einmal der Schrei, dieser schrille zerreißende Schrei, und -das polternde Bild, herunter zu ihm; und oben <em class="gesperrt">sie</em>, groß, in -entsetzlicher Pracht, mit den greifenden Armen, die roten Haare zu -bläulichen Funken zerflatternd, eine sprühende Glorie! züngelnde Flügel -um den keuchenden Busen! und die grauenhaft flackernden Augen! — Und -Er, hilflos da unten sich krümmend! Und noch Einmal der Schrei, der -heiße, tierische Schrei! und sein eigener Schrei: wie sie wieder sich -dreht, eine brennende Garbe, noch Einmal hinein — daß ihn die Sinne -verlassen — bis die<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span> Leute ihn wecken und sie neben ihm liegt, in den -Teppich gewickelt, nach dem sie zurückgerannt in letzter gräßlicher -Besonnenheit, um den lodernden Schmerz zu ersticken, das tapfere starke -Geschöpf — seine Retterin! —</p> - -<p>Ob sich das wohl malen ließe: feurige Flügel? Nein, Narrheit; so -wenig wie der Sonnenstrahl, der da auf der Palette blitzte. Ach, das -Sonnenlicht! Wie ihr Haar drin schillerte früher, so glatt und wogend; -ob es wohl wiederwachsen würde? — Aber was nützte das! Ihr Gesicht, -<em class="gesperrt">das</em> war das Unersetzliche! die Erinnerung, die ihn zu ihr zog — -nein: von ihr stieß.</p> - -<p>Er stierte zu Boden. Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben, -nicht blos in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben -lang; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria -Magdalena wars immer gewesen; die hatte er immer im stillen gemeint, -seitdem er sich heimlich die Bibel gekauft, wenn er zur Strafe hinknien -und beten mußte. Magdalena, die liebreiche Sünderin.</p> - -<p>Ach, was sollte dies Grübeln. Sie lebte ja, lebte und liebte ihn; -und war gesund, gesund wie Er. O, das schöne, blühende Wort! O, ihre -quälende Häßlichkeit! ihre mahnende Nähe! die Lust und der Abscheu! -Ohnmacht! —</p> - -<p>Er sah wieder auf; nach dem Teppich, nach dem Narzissenbild. Wenn er’s -verkaufen würde. Ob er dann vielleicht Ruhe hätte. Wozu auch diese -Versessenheit, ohne Sinn und Verstand, auf das eine einzige bißchen -Seele. Wozu denn überhaupt der ganze pedantische Tiefsinn. Warum -wars ihm nicht genug an dem farbigen Witz, wie den Andern; an der -Lichtflunkerei, über die er sonst spottete. Es war doch so einfach: was -Neues probieren! — Aber <em class="gesperrt">sie</em>, sie blieb ja. Und wenn er das Bild -in Stücke zerschnitte, die Erinnerung blieb, solange sie selbst blieb; -und mit ihr der Zwang. Und <em class="gesperrt">die</em> Erinnerung ließ sich nicht malen.</p> - -<p>Freiheit! — Ja —: das war das Ungesunde: das war<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> unsittlich: diese -widernatürliche dumpfe Gemeinschaft! Knechtschaft! Leibeigenschaft!</p> - -<p>Er starrte auf die Palette; ein Wolkenschatten wischte den Lichtstrahl -aus. Wenn er ihr Schminke gäbe? — Ihn ekelte! — Und die Form bliebe -ja dennoch zerstört, die Seele im Gesicht. Und ihre Scham! ihr Stolz! -Dann würde sie gehen! —</p> - -<p>Aber das wollte er doch? — Dann das Bild auf die Ausstellung; weg -damit! Eine Reise; Gletschersonne! Ein, zwei Jahre würde es schon -reichen, das Geld für das Bild und der Rest seiner Erbschaft; er würde -blos arbeiten. Und er hatte ja genug gelernt an ihr! Er wollt es den -Andern schon zeigen, warum er so lange im Stillen gesessen.</p> - -<p>Und sie? — Sie war ja klug genug, die Professorstochter. Sie könnte ja -Unterricht geben, oder Buchhalterin werden; oder er würde ihr selber -was schicken. Nein, schändlich: das würde sie nicht nehmen. Und —: und -wenn nun die Leute sie nicht wollten? mit ihrem entstellten Gesicht?!</p> - -<p>O, dies Gewissen! Warum hatte er dies Gewissen! — Ja, für die Kunst, -da war’s gut. Aber fürs Leben? fürs Leben brauchte man doch kein -Gewissen! — Nicht weil er sie verführt hatte; nein! eher sie ihn. -Oder weil sie von den Ihren geächtet war? eine Verstoßene?! und um -seinetwillen! — Nein: das war ja aus ihr selbst so gekommen. Warum -war sie denn wiedergekommen, noch eh er von Liebe was ahnte; und immer -wieder, bis sie bleiben mußte. Das war ihr Verhängnis! Ja, ihr eignes -Verhängnis: ihr Wille!</p> - -<p>Weil sein Ernst sie lockte; was die Eltern auch sagen mochten. Weil -sie <em class="gesperrt">seinen</em> reinen Willen fühlte. Aber: aber war er denn rein? -— Ja! bis er ihn verlor, in jenem Augenblick, den Willen zur Form. -Nein, schon vorher: bis er die Seele sah. Aber das war ja die Form, -die bannende Seele; was er gesucht hatte, was sie gespürt hatte, warum -sie ihm vertraute, ihm, dem Künstler. Nein, auch dem Menschen! dem -Menschen, der über sich stand,<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> über Sich und Natur, über Seele und -Leben, kraft seines formbeherrschenden Geistes! — Und doch nicht! Wars -doch dieselbe Natur, die selben Sinne, der selbe Geist: die Kraft des -Künstlers, des Menschen.</p> - -<p>Ja: da hing’s: jener Augenblick, jenes Bild: seine Kunst, sein Leben: -sein Wille, ihr Wille: das war alles das Selbe, das folternde, drohende -Selbe! Denn sein Leben, ja, das war er ihr schuldig: ihr, seiner -Retterin! Sein Leben, seine Kunst, seine Seele; seinen ganzen Beruf und -Zweck in der Welt.</p> - -<p>Er fuhr zusammen: ein neuer Wolkenschatten schlich durch die Stille. -Er preßte die Augen zu. Er wollt es schon garnicht mehr sehen, das -fordernde drohende Bild; er haßte es schon. Er drückte die Fäuste in -die Augen; daß sie flimmerten. Er sah es nur mächtiger, in sprühendem -Glanz; und sah sie, sie, wie sie <em class="gesperrt">jetzt</em> war, mit dem starren -gestaltlosen Mund, mit dem haarlosen Kopf, mit den Narben um Wangen und -Kinn, dem blanken, striemenroten Hals. Er stöhnte laut auf, daß ihn -graute: vor der hohlen, einsamen Stimme.</p> - -<p>Da: das war doch nicht <em class="gesperrt">seine</em> Stimme? Zagend, suchend kam es -durch den großen Raum: „riefest du?“ weich und schwer, wie der Teppich, -den er schwanken hörte.</p> - -<p>Er sah nicht auf. Er fühlte, wie sie fragend stand. Nur nicht jetzt ihr -Gesicht! Er wollte sprechen. Da kam sie.</p> - -<p>Er wollte den Kopf schütteln; aber ihre Hand auf seiner Schulter, -ihr Warten! Es war nicht möglich, es zwang ihn hoch. Er mußte sie -ansehn, ansehn: das graue Morgenkleid hinauf: ihren Hals! — und — — -Rot! und ein brausendes Schwarz! Seele! der Blick! ihr Gesicht! das -war Übergewalt —: da stand sie, hoch, starr, erhebend: „Ich werde -<em class="gesperrt">gehen</em>“ — und wollte sich wenden.</p> - -<p>Und Er — sah sie an — an — und seine Augen wurden immer weiter, daß -sie nicht loskonnte — immer sehender — und seine Finger tasteten -und griffen: es zu fassen, zu halten:<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> das Unerkannte, Letzte, Eine: -das heilige Wunder: Das, was ihn zu ihr in die Kniee riß, warum er -sie umklammerte — weinend — „Offenbarung“ stammelnd —: ihre große -Sittlichkeit! die Schönheit ihrer Erschütterung!</p> - -<p>Und nun: weich — weich, schwer und leise — sank auch sie herab an -ihm: Knie an Knie, kinderfromm, anders wie damals. Und er küßte die -gestaltlosen Lippen, und schlang die Hände um den haarlosen Kopf, und -hielt sie von sich, schauend, schauend —: Nein, das lag nicht in den -Augen, nicht in den Mundwinkeln, in keiner Einzelheit: Das würde ihn -zur Andacht zwingen, und wenn sie ganz verschleiert vor ihm läge: diese -herrliche Hoheit, diese selige, siegende Demut.</p> - -<p>Und er mußte es sagen, lachend, das Überflüssige: „ich liebe dich.“</p> - -<p>Und als sie sich erhoben von den Knieen, in ihrer Klarheit, und der -breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber, -nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt -du, wie ich dich malen werde? — Sturm und Nacht — Fackelbrand — nur -Auge und Bewegung —: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!“</p> - -<p>„Vom Kreuz wegtragend“ — sprach ihre Seele.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Das_hoelzerne_Bein">Das hölzerne Bein</h3> - -<p class="center">Humoreske</p> - -</div> - -<p class="mtop2">An einem sehr warmen Frühlingsabend saßen in einem japanischen Hotel -vier europäische Gäste beisammen: ein Konsul mit seiner jungen Gattin, -ein ihm vom Klub her befreundeter Baron, und ein zu Studienzwecken -hergereister Doktor der Naturwissenschaften, der sich über diese -Freundschaft allerlei stille Gedanken machte und daher laut über etwas -Anderes sprach.</p> - -<p>„Mein verehrter Herr Doktor,“ entgegnete nun der Baron<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span> und schlug mit -seinem Stock an sein rechtes Bein, so daß es einen harten Klang von -sich gab, „ich möchte Ihre Philosophie, mit der Sie uns soeben erbaut -haben, nicht auf die Feuerprobe stellen. Den Lohn, den die edle Tat in -sich selbst tragen soll, den trägt doch wohl höchstens der Täter in -sich selbst. Und wenn er sich keines Spiegels bedient: woraus sieht er, -daß seine Tat edel war? Vielleicht war sie eitel Narretei. Der Spiegel -aber mag noch so heimlich hängen, er bedeutet immer das Auge der Welt.“</p> - -<p>Der Angeredete blickte absichtsvoll unter den Sonnenschirm seiner -Nachbarin und fragte angelegentlichst: „Sind Sie auch so unfrei, -gnädige Frau? Brauchen Sie immer ein fremdes Auge, um selbst zu fühlen, -wie schön Sie sind?“</p> - -<p>Die junge Frau errötete langsam, während der Baron sein -schwarzgerändertes Einglas unter seine sandelholzrote Braue klemmte und -mit seinen onyxschwarzen Pupillen schamlos auf ihren Gatten starrte, -der statt ihrer lachend erwiderte: „Aber Doktor, Sie sind ja der reine -Buddhist. Es wird Zeit, daß Sie nach Europa zurückgehn. Wenn Sie erst -glücklicher Ehemann sind, werden Sie anders über die Damen denken.“</p> - -<p>Der junge Naturforscher sagte „Nie!“ mit einer beteuernden -Handbewegung. Die schöne Frau ließ ein schüchternes „Bravo“ hören.</p> - -<p>Der Baron klopfte wieder an sein Bein, hob die juwelengeschmückte -Linke, tupfte an seinen schwarzgefärbten, amerikanisch gestutzten -Schnurrbart, um ein Gähnen zu unterdrücken, betastete noch sein rotes -Haupthaar und versetzte kameradschaftlich: „Lieber Konsul, wozu den -Doktor bekehren. Lassen wir ihm seine Lebensweisheit; wir sind beide -wenig älter als er. Vielleicht ist sein männliches Selbstgefühl die -naturnotwendige Vorbedingung zur Verübung edler Taten; ebenso wie -das weibliche zur Begehung einer glücklichen Ehe. Ganz im Ernst, -meine Gnädigste!“ Er zeigte seine weißen Zähne, die<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> zu blank und zu -regelmäßig waren, als daß sie hätten echt sein können.</p> - -<p>Die Dame äußerte unbefangen: „Sie sind ein schlimmer Schmeichler, mein -Freund“ — konnte aber doch nicht verhindern, daß ihr wieder eine -Röte aufstieg. Ihr Gatte gab dem Baron sein Lächeln zurück: „Es kommt -immer drauf an, wer den Spiegel hält!“ Und der junge Gelehrte sprach -mit Selbstüberwindung: „Auch sind wir ja nicht hierhergekommen, um -moralische Disputationen zu pflegen. Der Buddha dort drüben belächelt -uns <em class="gesperrt">alle</em>.“</p> - -<p>Die vier so zusammen Plaudernden saßen auf der freien Terrasse des erst -vor kurzem gebauten Hotels; es lag in der Nähe des Tempeldörfchens -Mijama. Andere Gruppen von Reisenden saßen an den Nebentischen, unter -den großen bunten Papierschirmen, die man noch immer aufgespannt hielt, -obgleich die Sonne schon hinter den Bergen war. Vor der Terrasse -standen in weitem Bogen die leeren Rikscha-Wägelchen, zwischen deren -zwei Rädern die halbnackten Kulis lagen, als ob sie am Boden Kühlung -suchten vor dem ungewöhnlich schwülen Aprilabend.</p> - -<p>Man war von Kioto herkarriolt, um das Fest der Kirschblüte anzusehen, -das am nächsten Tage hier stattfinden sollte, und zugleich den -berühmten Daibutsu zu betrachten, eine riesige alte Buddha-Statue aus -ehemals vergoldeter Bronce, die auf dem Tempelhügel des Dörfchens -ragte. Über der Waldung von blühenden Kirschbaumhainen, die sich rings -um den heiligen Ort hochbauschte, thronte der göttliche Koloß an dem -bleigrauen Horizont wie aus einem schimmernden Wolkenkissen.</p> - -<p>„Vorzüglich gelegenes Hotel“, bemerkte der Konsul mit Kennermiene; -„wird sicher bald in Mode kommen.“</p> - -<p>„Auch für Staffage ist schon gesorgt“, warf der Baron nachlässig hin -und wies auf eine Schaar einheimische Pilger,<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> die mit ihren großen -Strohtellerhüten und schilfgeflochtenen Wettermänteln hinter den -Rikschas kauerten; augenscheinlich durften sie dort übernachten.</p> - -<p>Der Konsul lachte weltkundig, während der Doktor nicht umhin konnte, -seine Nachbarin stirnrunzelnd anzuschauen. Er hatte den Ausflug -vorgeschlagen, hoffte endlich diesem holden Geschöpf, das für den -spaßhaft lauten Gatten offenbar viel zu zartfühlend war, im Freien -etwas vertrauter zu werden, und nun ließ der Baron mit seiner -Spitzfindigkeit keinen herzlichen Ton aufkommen.</p> - -<p>Sie schob jetzt ihren Schirm beiseite, und er wollte ihr behilflich -sein. Aber der Baron hatte schon einem Diener gewinkt, und der -klappte hurtig das bunte Ding zusammen, ehe ein Andrer den Arm danach -ausstrecken konnte. „Die Luft ist so drückend,“ erklärte sie, „wie -unter einer Taucherglocke. Hoffentlich gibt es kein Gewitter morgen.“</p> - -<p>„Gnädige lieben doch sonst den Aufruhr der Elemente“, sagte der Baron -mit starren Pupillen. Sie schien etwas entgegnen zu wollen, blickte -aber unsicher weg, errötete wieder und erhob sich. Der Doktor, -ebenfalls aufstehend, suchte nach einem Beruhigungswort, brachte aber -zu seiner Verwunderung nur heraus: „Vielleicht liegt ein Erdbeben in -der Luft.“</p> - -<p>Während der Konsul ihn lachend belehrte, daß Erdbeben in dieser -Jahreszeit, was er natürlich selbst schon wußte, so selten seien wie -glückliche Ehen, machte auch der Baron Anstalten, sich aus seinem -Korbstuhl zu erheben. Das geschah, indem er zuerst sein rechtes Bein -in einen rechten Winkel rückte, dann das linke dicht daneben setzte, -den schwarzen Stock fest auf den Boden stemmte und mit einem Ruck sich -emporschnellte; dabei zuckte flüchtig ein verbissener Schmerz durch -sein schönes bleiches Gesicht, aber zugleich verzog er die knappen, -himbeerrot geschminkten Lippen zu einem überlegenen Lächeln, das -gleichsam Leidlosigkeit atmete.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span></p> - -<p>Es war auffällig, wie er durch dies Lächeln dem großen Buddha ähnelte, -der über der ganzen Landschaft thronte. Auch hatte der Doktor verlauten -hören, die Mutter des sonderbaren Herrn sei ein vornehmes Hindufräulein -gewesen, eine Radschah-Tochter oder dergleichen. Doch wurde ihm dadurch -nicht eben klarer, was diesen Krüppel so anziehend machte, der seine -notgedrungene Künstlichkeit noch künstlicher aufzustutzen beliebte. -Man wußte nicht recht, ob nur sein eines Bein oder beide nachgemacht -waren; er bewegte sie gleicherweise wie ein paar feine Ersatzstücke. -Und da er die rechte Hand stets behandschuht trug, selbst beim Essen -und Billardspielen, mußte wohl irgend etwas auch daran nicht natürlich -beschaffen sein.</p> - -<p>Es liefen allerlei Gerüchte um, woher er so verunstaltet wäre. Manche -erzählten, er habe als Jüngling ein auf der Straße spielendes Kind vor -einem durchgegangenen Pferd gerettet und sei dabei selbst überfahren -worden; vielleicht deshalb vorhin sein leiser Spott über den Lohn -der edlen Tat. Andere sprachen von einer Tigerjagd und einem wütend -gewordenen Elefanten. Seine Freunde scherzten wie er selber über diese -wilden Geschichten, und der Konsul hatte einmal, wenn auch nicht in -seiner Gegenwart, die schnurrige Frage aufgeworfen, was für echte -Glieder wohl an ihm blieben, wenn er abends ins Bett stiege.</p> - -<p>Zur Zeit trug er wiegesagt tiefrotes Haar und einen kurzen schwarzen -Schnurrbart; vor etwa einem halben Jahr, als der Doktor ihn kennen -lernte, hatte er die Farben umgekehrt getragen. Man munkelte, daß -er sich wie ein Perser den Schädel kahl rasieren ließe und zwölf -verschiedene Perücken benutzte, vom harten Gelbrot bis zum weichsten -Schwarzrot, für jeden Monat eine andre. Sicher echt war, außer seinen -Juwelen, nur der steinige Glanz seiner schwarzen Augen, der jedes -Mitleid weit von sich wies, und der metallische Klang seiner Stimme, -der an die schwere Verhaltenheit des deutschen Waldhorns erinnerte.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span></p> - -<p>„Der Buddha macht schon Nachttoilette“, sagte er plötzlich zu der Frau -Konsul, nach dem Koloß am Horizont hindeutend. Der hockte auf seiner -weißen Blütenwolke, wie mit einem golddurchwirkten dunklen Florhemd -angetan, und sein verwittert lächelndes Antlitz schien von himmlischen -Ahnungen umschimmert. „Wir wollen auch bald zur Ruhe gehn“, antwortete -die schöne Frau, nur halb einen Seufzer unterdrückend, der den Doktor -ebenso sehr entzückte, wie der Witz des Barons ihn verdroß.</p> - -<p>Sie traten in die Hotelhalle und begaben sich an den Fahrstuhl, der -sie ins erste Stockwerk befördern sollte. Der Baron mit der Dame nahm -den Vortritt; vier hatten nicht Platz in dem schmalen Kasten. Als der -Doktor neben dem Konsul nachfuhr, bemerkte dieser mit seinem üblichen -Lachen: „Famoser Knabe, der Herr von Hinkebein! Gewöhnt meiner Frau die -Romantik ab!“</p> - -<p>Oben stand der Baron bereits im Begriff, sich von ihr zu verabschieden; -in dem elektrischen Licht des Korridors sahen seine Augen noch -verhärteter aus, und die ihren noch schmelzender. „Gute Nacht! Auf -schönes Wiedersehn!“ sagte er mit der verhaltenen Stimme und zog ihre -Hand an seine Lippen; sie nickte, wie schon halb im Traum.</p> - -<p>Der Doktor wollte auch etwas Zartes sagen; aber der Baron kam ihm -wieder dazwischen. „Gute Nacht, Doktor!“ intonierte er schärfer, ihm -die behandschuhte Rechte hinstreckend; „und träumen Sie von edlen -Taten!“ Der junge Gelehrte konnte nur spöttisch erwidern: „Leider bin -ich kein Joseph, Baron!“ Und unter dem Lachen des Konsuls suchte er, -etwas verstimmt, sein Zimmer auf.</p> - -<p>Mitten in der Nacht erwachte er schreckhaft, trotzdem er sonst ein -gesunder Schläfer war. Ihm hatte geträumt, die schöne Frau habe von -fern um Hilfe gerufen, sodaß er aus dem Bett springen wollte; aber am -Fußende stand der Baron und<span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span> hielt ihn an beiden Beinen gepackt, um sie -ihm aus dem Leibe zu ziehen.</p> - -<p>Während er noch darüber nachsann und seine Glieder erleichtert dehnte, -fühlte er unversehens ein Schwanken, als läge er in einer Kajüte. Er -hielt es noch immer für Traumnachwirkung, aber da knackte und knarrte -es in den Wänden, als wollte das Haus aus den Fugen gehen, und zugleich -kam von der Terrasse her ein verworrenes Geschrei vieler Stimmen, sodaß -er nun wirklich vom Bett aufsprang.</p> - -<p>Also doch ein Erdbeben! dachte er mit einer gewissen Genugtuung, indem -er die Beleuchtung andrehte. Er hatte noch keinem beigewohnt und war -jetzt einigermaßen erstaunt, daß er von seinem Schreck nichts mehr -spürte, auch nichts von der fiebrigen Unruhe, die nach den meisten -Beschreibungen mit einem solchen Erlebnis verbunden sein sollte. -Freilich wußte er, daß bei Neulingen die Angst am gelindesten auftreten -sollte, und daß das Hotel bebensicher gebaut war; aber immerhin, er -konnte zufrieden sein mit seinem wissenschaftlich gestählten Gemüt.</p> - -<p>Er warf sich rasch in die Kleider, nahm seine Reisetasche und eilte die -nächste Treppe hinab; sämtliche Korridore waren erleuchtet, und in den -Dielen knackte es wieder. Die Terrasse lag jetzt menschenleer; aber im -Halbdunkel bei den Rikschas schob sich ein zappliges Getümmel, Gäste -und Kulis durcheinander. Nur die Pilger knieten oder kauerten abseits, -laut ihre Rosenkränze abbetend und nach dem Buddha hinüberstarrend, -dessen lächelndes Antlitz wie trunken glühte. In dem Tempeldorf schien -ein Brand ausgebrochen; eine riesige rauchige Flammengarbe stand -hellrot über den Kirschblütenwipfeln, und dumpfe Gongtöne dröhnten her.</p> - -<p>Unberührt von alldem saß bei dem vordersten Wagen, nur mit Hut und -Hemdchen bekleidet, ein kleines amerikanisches Mädchen, das mehrmals -die Hand auf die Erde legte, als ob es etwas fühlen wollte. „<span class="antiqua">Doesn’t -move</span>“, rief es schließlich ent<span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span>täuscht seiner aufgeregten Mutter -zu, die sich mit einem Kuli zankte. Dem Doktor fiel ein, daß er in der -Eile seine Uhr oben hatte liegen lassen; zugleich aber schüttelte ihn -ein Erdstoß, von dem die ganze Terrasse wankte, und durch die Hausmauer -fuhr ein knirschender Riß.</p> - -<p>Er stand noch prüfend und überlegend, ob er trotzdem zurücklaufen -sollte, als zwischen mehreren flüchtenden Gästen der Konsul aus der -Halle gerannt kam und ihn mit verstörtem Lachen begrüßte. Dem Doktor -fiel ein, daß er in der Eile auch noch garnicht an die Andern gedacht, -sie auch nirgends gesehen hatte, und aufgebracht schrie er den -Lachenden an: „Aber wo ist denn Ihre Frau?!“</p> - -<p>„Ja! Wo?“ schrie dieser, noch sinnloser lachend. „Ich habe genug an ihr -Zimmer geklopft, und da sie keine Antwort gab, meint’ich natürlich, sie -sei schon unten.“</p> - -<p>„Also zurück!“ schrie der Doktor nun, warf seine Reisetasche weg -und stürmte zur Treppe, wieder hinauf. Die Vorstellung, daß dies -entzückende Weib, das sich gestern Abend in rührender Müdigkeit kaum -noch aufrecht zu halten vermochte, vielleicht von einem plumpen Stück -Wand im Schlaf verstümmelt werden könnte, empörte ihn gegen den lauen -Gatten und gab seinen Schritten wilde Flügel. Atemlos stand er vor -ihrem verriegelten Zimmer, klopfte, horchte — und klopfte stärker; -eine tolle Freude durchzuckte ihn, daß sie den Konsul ausgesperrt hatte.</p> - -<p>Jetzt kam auch der herangekeucht, und sie klopften Beide an der Tür, -horchten, klopften und trommelten — horchten nochmals: nichts rührte -sich drinnen. Auf einmal ruckte, krachte es allenthalben, und sie -hörten einen erstickten Angstruf. Der Doktor packte taumelnd den -Türgriff, der Konsul desgleichen: das Schloß sprang auf. Es war also -garnicht verriegelt gewesen; doch Bett und Zimmer waren — leer.</p> - -<p>Sie starrten einander verdutzt ins Gesicht, da kam eine neue Stoßwelle -nach, und wieder ein unterdrückter Angstschrei. Kein<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span> Zweifel, das -war <em class="gesperrt">ihre</em> Stimme; nur kam sie von jenseits des Korridors. In -diesem Augenblick fühlte der Doktor, wie sich vor Schreck seine Haare -sträubten: er sah die Gesichtshaut des Konsuls lakenweiß werden, -während er selbst bis über die Schlafen wie ein Junge errötete: die -Stimme kam aus dem Zimmer des Barons.</p> - -<p>Der Konsul machte eine Grimasse, blickte plötzlich wie ein Rasender -um sich und stürzte nach dessen Tür hinüber; es schien, er wollte sie -einschlagen. Aber sie öffnete sich bereits, und er prallte mit offenem -Munde zurück. Auf der Schwelle erschien der Baron, prangend in seinem -vollen Schmuck, blos das rechte Bein fehlte in der Hose; hinter ihm -stand die schöne Frau, in ihrem langen Nachtgewand, die Augen von -reinstem Mitleid verklärt, und hielt mit zärtlichem Entsetzen zwischen -den aufgelösten Flechten sein Holzbein an ihrem verhüllten Busen.</p> - -<p>Kerzengrad auf den Krückstock gestützt, trat er in den Korridor, ohne -mit einer Miene zu zucken. „Es wimmelt ja heute von edlen Taten!“ sagte -er und begann zu lächeln; „die Gnädige wollte mich auch schon retten.“</p> - -<p>So sprechend reichte er mit starren Pupillen, während sie in -schwärmerischer Verschämtheit das Bein mit ihrem Haar zudeckte, dem -endlich wieder lachenden Konsul seine juwelenblitzende Linke. Und der -Doktor sah im Hintergrund durch das weitgeöffnete Zimmerfenster den -feuertrunken lächelnden Buddha über der Blütenwolke thronen.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Die_gelbe_Katze">Die gelbe Katze</h3> - -<p class="center">Burleske</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Nichts wirkt bestimmender als das Unbestimmte. Mit dieser Nutzanwendung -pflegte mein Bruder Ernst mir seine Erlebnisse zu berichten. Jetzt ist -er tot. Kurz vor seinem Ende schrieb er mir Folgendes.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span></p> - -<p>Wenn die Frau, für die ich meine eigne verlassen wollte, mit mir von -ihrem Manne sprach, kam sie mir immer häßlich vor. Ihre bräunliche -Haut wurde dann gelblich, das wilde Haar schien schwarzer und tiefer -in die Stirn gewachsen, der Pechglanz ihrer Augen wurde siechend und -der Ausdruck des schwungvollen Mundes hilflos. Ich nannte das ihr -Dienstmädchengesicht; aber es war mir unerklärlich.</p> - -<p>Sie beherrschte den Mann; aber das konnte sie doch nicht mehr fesseln. -Sein Körper war ihr unerträglich geworden, sein spöttischer Witz nicht -minder. Seine Rachsucht fürchtete sie nicht, und seine Gutmütigkeit -verachtete sie. Für Freiheit schwärmte sie wie eine russische Fürstin. -Warum also blieb sie noch bei ihm? —</p> - -<p>Freilich hatte sie ein Kind von ihm. Aber das faßte sie nicht gern an, -trotzdem sie es sehr lieb zu haben glaubte. Mit meinem Töchterchen -spielte sie lieber und sehnte sich nach einem Sohn von mir.</p> - -<p>Auch auf sein Geld war sie nicht angewiesen; er hätte ihr das ihre -nicht vorenthalten, er war ein Ehrenmann. Daß er mich im Duell -erschießen könnte, befürchtete sie ebenso wenig; ich hätte ihm zu Ehren -mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt — (hier log mein Bruder Ernst) — -und ihr zu Liebe brauchte ich’s nicht, mein Dasein war ihr werter als -das Urteil der Leute.</p> - -<p>„Ist es, weil du dich vor deinen Eltern schämst?“ fragte ich sie eines -Tages, während wir auf einem Ausflug waren.</p> - -<p>„Ja, vielleicht“ — sie lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen -schillerten. Dann machte sie ihr Schlangengesicht, als wollte sie das -Wort verschlucken; und gleich drauf lachte sie wie eine Bachantin.</p> - -<p>Wir gingen durch mein Lieblingsdorf, ein Krondorf aus der Zeit des -großen Friedrich. Es war an einem Karfreitag. Zu Ostern wollte sie in -ihre Heimat reisen; der Frühling am<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span> Rhein war ihr das Paradies. Wenn -sie davon sprach, erschien sie mir wie die leibhaftige Jungfrau Maria; -ihre nachtbraunen Augen verklärten sich.</p> - -<p>Die Kastanienknospen standen schon ganz dick und grün; manche machten -schon die Finger auf. Die Ahornblüten glänzten goldgelb durch den -blauen Abend. „Daraus mach ich mir ein Feeenszepter“, sagte sie, „wenn -ich mit meinem Vater durch die Berge reite.“</p> - -<p>Ich sah sie an — „Es gibt auch böse Feeen, du“ — und wollte sie -küssen. Zwischen ihre schwarzen Brauen trat ein queres zuckendes -Fältchen; wie immer, wenn sie sich mir überlegen fühlte. Die üppige -Nase zuckte mit. Ich küßte nicht.</p> - -<p>Plötzlich wurden ihre Pupillen lüstern groß. „Sieh, wie unheimlich!“ -flüsterte sie und zeigte über die Straße. Alle ihre Sommersprossen, -selbst auf den Lippen, schienen verschwunden. Der schwellende Mund -wurde dunkler. Das war ihr Hexengesicht; das sechste, das ich an ihr -unterschied.</p> - -<p>Ich ging mit ihr hinüber. Auf einem künstlichen Hügel stand ein -seltsames Häuschen hinter dem Zaun. Es war stets unbewohnt, ich kannte -es schon. In der hellen Dämmerung sah es noch spukhafter aus.</p> - -<p>Zwei riesige Platanen streckten ihre noch kahlen Äste wie -Leichenknochen über das flache Dach. Die Wände waren fahl und fleckig. -Links wiegte ein verkrümmter Lebensbaum sein finstres Laub. Mitten -aus der Vorderwand schob sich ein rundes Spitztürmchen vor, das an -chinesische Hüte erinnerte; die Tür war verschlossen. Um die kleinen -Bogenfenster krochen Borten aus gotischem Schnörkelwerk; die Scheiben -waren so schwarz wie die Pupillen meiner Begleiterin. Zwischen der -rechten Ecke des Hauses und dem Stamm der einen Platane ging die -gelbrote Sonne unter.</p> - -<p>„Hier möcht ich manchmal wohnen“, sagte die schöne Frau. In diesem -Augenblick kam langsam über den Hügelrücken,<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span> grade wie aus der Sonne -heraus, eine große gelbrote Katze und setzte sich vor die verschlossene -Tür.</p> - -<p>Das Bild verstimmte mich, so tief voll Stimmung es war. Die -schwarzbraunen Augen des Viehes erinnerten mich unbestimmt an -eine Kindesmörderin aus einem Wachsfigurenkabinett. Die Sonne war -verschwunden; das Fell sah nun noch gelber aus, fast seidig. Sie -starrte blinzelnd herunter auf uns; mich fröstelte. Ich klatschte in -die Hände; sie lief weg.</p> - -<p>Die schöne Frau war zusammengefahren und sah mich etwas unwillig an. -„Ich liebe Hauskatzen nicht“, sagte ich rauh. Sie nickte stumm und -nahm hingebend meinen Arm. Wir wandten uns zur Heimkehr, aber der böse -Eindruck verließ mich nicht. Je zärtlicher sie mit mir sprach, umso -verstimmter wurde ich. Ich schob es auf den Karfreitag. Immerfort durch -unser Geflüster hörte ich Jesu Trostwort an den gekreuzigten Mörder: -Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.</p> - -<p>Fast verlegen küßte ich sie zum Abschied, und sagte lachend: „Auf -Wiedersehen, Magdalena.“ Sie machte ihr Jungfraungesicht.</p> - -<p>Die Nacht drauf träumte mir — (mein Bruder Ernst hielt nämlich Träume -ebenfalls für Erlebnisse) — ich sähe aus dem Fenster und schräg mir -gegenüber stünde das seltsame Häuschen. In den schwarzen Scheiben -glomm das Sternlicht. Plötzlich wurden sie blendend hell. Das ganze -Haus stand erleuchtet bis in den löchrigen Schornstein hinauf. Fenster -und Türflügel klappten auf; und aus Allem, was offen war, Luken und -Löchern, vom Dach herab und von den Wänden, sprangen unzählige schwarze -Katzen und stoben lautlos in die vier Winde. Zuletzt kam langsam eine -große rötlich-gelbe aus der Tür, starrte blinzelnd nach mir her, und -verlor sich gleichfalls in die Finsternis. Dann schloß das Haus sich -ebenso lautlos und war mit Einem Schlag wieder dunkel.</p> - -<p>Der Morgen kam. Ich saß mit meiner Frau beim Kaffee;<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> wir besprachen -unsre Trennung. „Wenn du mit Bestimmtheit fühlst“, sagte sie mit ihrer -treuen Stimme, „daß die Andre für dein Glück geschaffener ist als ich, -darf ich dich nicht halten“ — da ging die Flurglocke.</p> - -<p>Das Dienstmädchen meldete, ein fremdes Fräulein wünsche mich zu -sprechen; ich ging ins Nebenzimmer. Eine große junge Dame trat mir -entgegen; ich erschrak. Sie war ganz in gelbrote Seide gekleidet, ihr -schwarzes Haar bedeckte ein Strohhut mit einem Zweig von künstlichen -Ahornblüten; sie hatte alle Züge der schönen Frau, nur nicht so -sarazenisch, gleichsam zahmer. Ich stand sprachlos.</p> - -<p>War sie’s doch vielleicht? Nein! Gestern war sie verreist. Und jeder -Gesichtszug war mir doch fremd. Und eine Schwester hatte sie nicht.</p> - -<p>Die Dame lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen schillerten. -„Sie kennen mich wohl nicht“, fragte sie leise; ich verneinte -beklommen. „Ich bin die gelbe Katze“, sagte sie schnurrig; mich -fröstelte. Dann fiel mir ein: vielleicht ein Vexierscherz der schönen -Frau — sie hatte Bekanntschaft in Bühnenkreisen. Die Dame blinzelte, -und zwischen ihre Brauen trat ein queres Fältchen; „ich soll Sie -abholen“, flüsterte sie.</p> - -<p>Aus ihren Augen sah ein schlangenhafter Glanz, der mich bestrickte. -Gleich? fragte ich. „Gleich!“ Wir gingen.</p> - -<p>Wir gingen schweigsam die Treppen hinunter; vor der Tür stand ein -Wagen. Wir fuhren durch zahllose Straßen, ebenso schweigsam; sie schien -mich garnicht zu beachten. Die Straßen wurden enger, die Häuser immer -höher, die Gegend mir unbekannt. Einmal nickte sie flüchtig; da sah ich -eine schwarze Katze durch einen Torweg haschen. Einmal strich sie sich -ihr wirres Haar mit ihrem gelben Handschuh glatt. Endlich hielt der -Wagen; ich folgte ihr willenlos.</p> - -<p>Wir gingen durch einen dumpfigen Hof, dann mehrere eiserne Stiegen -empor, und durch viele halbdunkle Gänge.<span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span> Ein wahres Labyrinth von -Haus; die Luft roch modrig. Vor einer pechschwarzen Flurtür machte sie -Halt und drückte auf etwas Unsichtbares. Die Tür sprang auf, ich stand -geblendet. Eine stechende Lichtpracht schlug mir entgegen, wie von -tausend Kronleuchtern her.</p> - -<p>Als ich zu mir kam, stand ich in einem Saal, der unabsehbar schien; -vor mir, hinter mir, nach allen Seiten Spiegelwände. Und mitten durch -den Saal, der Länge nach, von allen Seiten widergespiegelt, stand eine -endlose Reihe von lautlos sich drehenden schwarzgekleideten Damen und -lautlos hopsenden mausegrauen Herren, wie nach dem Rhythmus einer -übersinnlichen Tanzmusik.</p> - -<p>Keine der Damen — (hieraus entnahm ich, daß mein Bruder Ernst noch -immer träumte) — hatte blos Einen Herrn, die meisten zwei, manche -auch drei; einige schienen ein Dutzend zu haben, falls mich die -Spiegel nicht täuschten. Alle trugen sie, so lustbar sie sich drehten, -einen sonderbar hilflosen Trübsinn zur Schau, fast wie Automaten; die -mittelste hielt ein weinendes Kind im Arm.</p> - -<p>Immer wenn sich eine der Damen dem einen ihrer Herren etwas tiefer -hinbog, tat dieser einen besonders hohen Hops, sodaß die mausegrauen -Frackschöße, die sonst bis auf den Boden schlappten, die Luft -durchschwänzelten. Dann warfen ihm die andern Herren, zumal die dicken, -wütende Blicke zu; aber die Dame lächelte kindlich, dann wurden selbst -die dicksten wieder sanft.</p> - -<p>Mir fing an schwindlig zu werden; ich sah mich um nach meiner gelben -Führerin. Ein Schauder beschlich mich: alle ihre Sommersprossen waren -verschwunden. Die Pupillen hexenhaft groß, stand sie wie die Fürstin -dieses Tanzspiels da und schüttelte die bachantischen Locken. Ihr Haar -war aufgegangen, der Strohhut lag am Boden. In der Rechten hatte sie -den falschen Ahornblütenzweig und schwang ihn wie ein<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> Szepter. Das -Gesicht war dunkelbraun, die schwungvolle Nase schien verbogen. Sie -nickte mir zu.</p> - -<p>In diesem Augenblick sprang hinter ihr die Spiegeltür von neuem -auf; und stumm herein, in mausegrauem Frack, die Schöße zwischen -den Fingerspitzen, grad auf mich los, kam der Gatte der schönen -Frau gehopst. Ich wollte schon laut herauslachen, da seh ich in -der Spiegeltür, die langsam wieder zugeht, entsetzt mich selbst im -mausegrauen Frack, und plötzlich fang ich auch mit zu hopsen an.</p> - -<p>Ich ringe verzweifelt nach Stillstand. Ich werfe der schönen Frau -die ernstesten Blicke zu. Vergebens. Je tiefer sie mir in die Augen -blinzelt, umso höher hopse ich.</p> - -<p>Ich suche dem Gatten näher zu kommen. Ich will ihn aufreizen, mich zu -packen. Er sieht mich spöttisch an und hopst.</p> - -<p>Ich will ihm beweisen — ich hopse. Ich will ihm zeigen — er hopst. -Ich will ihn zu Boden schlagen — wir hopsen.</p> - -<p>Ich will der schönen Frau zu Füßen stürzen. Ich will sie beschwören, -gnädig zu sein. Ich will und will, und kann es nicht —: ihre braune -Haut wird häßlich gelb, ihr Haar scheint mähnenhaft gesträubt und -tiefer in die Stirn gewachsen, ihr Blick wird stechend, der Ausdruck -des üppigen Mundes hilflos: sie hat ihr Dienstmädchengesicht.</p> - -<p>Ich schreie schmerzhaft auf — und bin wach.</p> - -<p>Neben mir am Bett stand meine Frau mit unserm Töchterchen und strich -mir durchs Haar. „Vater“, sagte die Kleine bedächtig: „du hast so -furchtbar komisch im Schlaf ausgesehn.“ Ich küßte beiden die Hände.</p> - -<p>Seit diesem Morgen — so schloß mein Bruder Ernst sein seltsames -Schreiben — ist mir die gelbe Katze nicht mehr gefährlich. Bald darauf -starb er in einem Duell; er hatte der Dame Lebwohl sagen wollen, und -die Wände hatten Ohren gehabt. Er starb durch die zitternde Hand des -Herrn Gemahls; er, der vortreffliche Schütze. Nichts wirkt bestimmender -als das Unbestimmte.</p> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span></p> - -<h3 id="Die_Gottesnacht">Die Gottesnacht</h3> - -<p class="center">Ein Erlebnis in Träumen</p> - -</div> - -<h4 id="Erster_Traum">Erster Traum</h4> - -<p class="mtop2">Ich spürte, ich würde gleich einschlafen. Und ich wünschte es sehr nach -den tristen Gedanken, die wegen der abends empfangenen Todesnachricht -seit Stunden in mir rumorten. Ich sann noch über den Eigensinn -nach, mit dem sich die junge Selbstmörderin die langsamste Todesart -ausgesucht hatte; doch ich war schon erlöst von dem Sinn in den -Worten, die durch mein müdes Gehirn schossen. Ich hörte beseligt den -Drosselgesang, der aus dem Wort Erdrosselung klang, und wunderte mich -über die Bilder, die sich aus jedem Satzglied entpuppten. Da stand sie -auf einmal deutlich vor mir: die rätselhafte Gliederpuppe.</p> - -<p>Wie war sie nur in mein Zimmer gekommen? Da stand sie zwischen Tür und -Schrank mit ihrem wachsbleichen Gesicht wie eine Auferstandene. Die -großen gläsernen goldbraunen Augen starrten mir so bekannt ins Herz, -als hätten sie schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. -Und ein Schmelz war darin, als ob sie lebten; als ob sie mich liebten; -fast mütterlich. Aber natürlich, das schien nur so; ich mußte mich -nur recht erinnern. Denn ja, meine Mutter hatte sie ja meinen Kindern -zu Weihnachten geschenkt, diese lebensgroße Gliederpuppe; und das -Lächeln um die schmalen Lippen blieb immerfort so unbeweglich, wie -die Falten des steifen brokatenen Mantels um ihre sanftgeschwungenen -Achseln. Ja, sie war tot; tot wie die schönen phantastischen Blumen -dieses alten indischen Tempelmantels, der sie bis zu den Füßen hinab -verhüllte. Zwischen solchen Blumen spielte ich einst und pflückte einen -Strauß davon; für ihre bleichen gefalteten Finger. Damals hatte ich -sie noch angebetet. Denn sie thronte auf einem vergoldetem mit Rubinen -und Perlen geschmückten<span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span> Altar und war die Göttin der Barmherzigkeit; -das war wohl viele hundert Jahre her. Warum sah sie mir nun so starr -ins Herz, als ob ich sie getötet hätte? Sie hatte sich doch selbst -entleibt! Ich träumte wohl?</p> - -<p>Nein, sie hielt ja noch immer die Finger gefaltet und stand groß -zwischen Tür und Schrank. Wenn ich nun mit ihr betete, ob sie sich dann -vielleicht rühren würde? Denn sie war doch früher beweglich gewesen; -wenn ich an ihre Gelenke rührte, dann klirrten noch die zersprungenen -Drähte, bis in den hohlen Brustkorb hinein. Ich seufzte auf, da -klirrten sie wieder; und ihre Arme zuckten ein wenig. Ob sie mich -niemals mehr anrühren würde? mich immer blos so unverwandt ansehn? Ich -spürte ein Stechen in meiner Brust, als ob aus den Drähten elektrische -Funken herzuckten. Ich hörte wieder das leise Klirren; oder klang noch -immer der Drosselgesang? Ich wollte beschwörend die Hände ausstrecken, -aber das Stechen in meiner Brust drang mir bis in die Fingerspitzen. -Ich wollte wegblicken — da blickt sie mir nach.</p> - -<p>Ich träume ja nur! will ich mir einreden; aber sie blickt auf meine -Hände. Auf den Rubinring an meiner Linken; der beginnt zu glühn wie -ein Altarlämpchen. Auf den Trauring an meiner Rechten; der beginnt -zu glänzen wie Tränenperlen. Und auf den Ring, den mein Vater mir -schenkte, als ich noch keinem Weibe gehörte. Warum quälst du mich, -Mutter? will ich stöhnen; aber ihr Blick verschließt mir den Mund. Ich -will mich aufrichten; ich liege gebannt.</p> - -<p>Ihre Augen beginnen zärtlich zu leuchten, und der Glanz der Ringe -wird funkelnder. Ihre Augen funkeln begehrlich mit; der Glanz der -Ringe erlischt auf einmal. Das sind nicht meiner Mutter Augen! meine -Mutter blickt sanft, meine Mutter ist fromm! Das sind auch nicht mehr -die goldklaren Augen, die ich einst angebetet habe, weil die Mutter -meiner Kinder so blickt. Diese Augen sind schwarz, nein dunkelgrau, -und kennen<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> nicht Treue noch Gottesfurcht; es sind die Augen der -Selbstmörderin. Warum hast du dich aber töten müssen? will ich sie -fragen und höre entsetzt: du hast es doch gewollt, mein Geliebter! —</p> - -<p>Ich will es leugnen und sehe ihr Lächeln. Vielleicht hat sie garnicht -die Worte gesprochen. Oder vielleicht verstand ich den Sinn nicht; -sie sprach von jeher so doppelsinnig. Doch sie läßt den Kopf so -sonderbar hängen. Ach ja: ich wollte sie ja erdrosseln. Ich höre wieder -den Drosselgesang; aus dem Wald meiner Heimat kommt er her. Gleich -wird mein Vater zwischen den Bäumen erscheinen. Nein, es ist ferner -Flötenklang. Nein, eine Geige jubelt bang. So hat mein toter Freund -einst gespielt, als wir noch kindisch durchs Haidekraut liefen und -hinter den Birken die Waldfee suchten. Ach, ein König der Geiger wollte -er werden, und kommt jetzt gramvoll dahergeschritten im Gefolge der -Königin. Am Waldrand macht der Jagdzug Halt; und wir beugen alle das -Knie vor ihr.</p> - -<p>Warum blickt sie uns so prüfend an mit ihren silbergrauen Augen? Das -ist mein Freund nicht, das bin ich selbst — und die Königin Elisabeth -winkt mir. Erhebe dich, Shakespear! flüstert sie; und ich fühle, wie -wir uns aufrichten. Er trägt noch die schwarze Scholarentracht, worin -er der Schule entlaufen ist, und einen verrückten alten Brokathut mit -gelben Papageienflügeln. Denn ich weiß, wir müssen uns wahnsinnig -stellen vor der treulosen Königin. Denn sie hat ihn begehrlich -angeblickt, als ich gestern „Venus und Adonis“ beim Bankett der -Jagdgäste deklamierte; er aber liebt ihre Kammerdame, die Augen wie -eine Göttin hat, wie eine Waldfee, wie ein Reh. Das äugt in Todesangst -durch die Büsche, und ich stehe und stiere es an wie ein Bluthund. O, -wie gut wir uns wahnsinnig stellen können, wenn wir nichts als eine -Göttin lieben und solchen verrückten Hut aufhaben! Und nun ahnt sie, -wieso er Schauspieler wurde und den armen Hamlet gedichtet hat;<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span> und -wir schwenken den Hut vor der treulosen Königin, und sie lächelt in -Barmherzigkeit.</p> - -<p>Sie lächelt immer barmherziger; es dringt uns stechend durch Brust und -Gehirn. Ich will ihr den Hut vor die Füße werfen, und tue es, und stehe -erstarrt: der Hut hat schwarze Drosselflügel und fliegt zurück auf -meinen Kopf. Ihr Lächeln wird so grausam barmherzig, daß ich sie dafür -umbringen möchte. Du hast es ja schon getan, mein Geliebter! raunt -sie mir unbeweglich zu. Es ist nicht wahr! will ich aufstöhnen; doch -sie läßt den Kopf so sonderbar hängen. Ist das die englische Königin -noch, oder blos die indische Gliederpuppe? Wenn sie noch lange da bei -der Tür steht, wird sie mich wirklich wahnsinnig machen. Warum quält -sie den armen Hamlet so? sie ist doch seine leibliche Mutter! Sie hat -doch Augen wie eine Gottheit und blickt mir stechend in mein Gehirn. Ob -Gott überhaupt nur ein grausames Weib ist? in steter Verpuppung?! die -Allmutter! — Aber sie hat ja zersprungene Drähte und läßt den Kopf so -sonderbar hängen! — Ich glaube nicht mehr an Gottheiten! knirscht mein -erstarrter Mund ihr entgegen. Und mit ungeheurem Triumphgefühl weiß -meine Seele: ich träume nur! —</p> - -<p>Wenn nur die Drähte nicht immerfort klirrten! das ist doch wirklich -verwunderlich. Sie klirren lauter, und immer lauter; so laut wie die -kleine alte Orgel in der Kirche meiner Vaterstadt. Ich lese die goldene -Jahreszahl 1693 auf dem schwarzlackierten Täfelchen zwischen den elf -Apostelbildern. Denn der treulose Judas fehlt natürlich; das habe ich -schon als Kind begriffen. „Salvator Mundi“ steht unter dem zwölften -Bild, auf klarem, himmelblauem Grund; und neben der eisenbeschlagenen -Tür thront lächelnd die Mutter mit dem Kinde. Ich höre die Orgel ihr -Lob anstimmen und weine vor Weihnachtsseligkeit. Die silbernen Fransen -der Altardecke schwimmen in meinen perlenden Tränen. Ich spiele mit -diesen schönen<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> Perlen, und lächelnd sieht mir die Mutter zu. Ich bin -wieder Kind auf ihrem Schooß, und wundre mich nun garnicht mehr. Ich -bin blos im stillen ein bißchen erstaunt: der Apostel Thomas hat drei -Hände. Zwei kleinere, die sind wohlgepflegt; aber aus seinem braunroten -Mantel langt eine dritte, große, aussätzige. Die umklammert ein Buch -und ist mir entsetzlich. Ich darf mich aber kein bißchen rühren, sonst -würde sie nach mir herlangen. Ich starre das Buch an: ob Bücher krank -werden können —</p> - -<p>und atme plötzlich erleichtert auf: ich erkenne, es ist ja gar keine -Hand: es ist nur eine Falte des Mantels, die über das Buch geschoben -liegt. Ich möchte sie wegtun, ich darf aber nicht; sonst kommt der -Küster und schlägt mir das Buch um die Ohren. Sie dröhnen mir schon; -er schlägt immer dröhnender. Er schlägt mich wohl mit Glockenschlägen? -Sie schallen mir donnernd ins Gehirn. Nein, Blitze schlagen wohl um -mich ein; o Himmel, Hilfe, sie werden mich treffen! Ich will mich -verstecken; o Mutter, wo bist du?! Ein blendender Strahl schließt -mir die Augen; ich bin getroffen; der Strahl zerreißt mich. Ein -unabsehbarer Farbenstrudel spritzt himmelansprühend aus meinem Kopf. -Ich schreie vor Wonne: mein herrlich Gehirn! Und eine Stimme erwidert -von oben: es ist bis über die Sterne gespritzt. Ich will ihm nach: o -himmlisches Licht! Es scheint mir ins Auge; ich erwache.</p> - -<p>Auf meinem Nachttisch brannte die Kerze noch, bei der ich, um meine -Gedanken zu stillen, in Shakespears Sonetten geblättert hatte; und an -der Wand zwischen Tür und Schrank blitzte der Rand des Spiegelglases -über dem Bildnis meiner Mutter. Ich schlug das Buch zu und löschte die -Kerze.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich möchte keiner Flamme bekennen,</div> - <div class="verse">was für Blicke in uns Menschen brennen.</div> - <div class="verse">Kein Spiegel wird uns je klar machen,</div> - <div class="verse">welche Augen in unserm Schlaf erwachen.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span> - <div class="verse">Zwischen dunkeln Wänden ahn’ich mit Beben,</div> - <div class="verse">wieviel Geister hinter jedem Geist leben.</div> - <div class="verse">Denen kann ich nichts vorscheinen;</div> - <div class="verse">denen wird mich das Licht einst einen,</div> - <div class="verse">wo wir Alle in Schweigen schweben,</div> - <div class="verse">Alle im Reinen ...</div> - </div> - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 id="Zweiter_Traum">Zweiter Traum</h4> - -</div> - -<p class="mtop2">Wir gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben -lag die Försterei in tiefem Schnee. Die klare Kälte machte alle stumm; -der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. Die Teckel hielten -sich, vor Frost humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. In -dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren -Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen Pelzen. -Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, wieso dabei schon -wieder: mir kam der liebe Gott in Sinn.</p> - -<p>Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus -einem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorf drüben her, auf ihrem -Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem -Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel, keifend, -auf ihn los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll; -den Schwanz eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen -lustiger. Er begreift; und hussa, alle Schwänze hoch, stiebt die wilde -Jagd, schneeumspritzt, bellend und belfernd den Weg hinunter, die -falsche Richtung für die gute alte Frau, die schimpfend und jammernd -auf dem stuckernden Wagen sitzt, mit beiden Armen ihre Semmelkiepe -umklammernd. Wir, lachend, hinterdrein mit langen Sätzen; am Bahndamm -unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel drücken sich beschämt zu -ihren Herren; wir lohnen die Alte ab. Und ich denke wieder an den -lieben Gott.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span></p> - -<p>Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den -Augen weh zu tun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her -taucht funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze -aus Otterfell. „Der Nachbarförster“, sagt jemand scheu; Einer wird -bleich wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen -Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein -grauer Kinnbart perlt von Eis, die große Hakennase wirft einen Schatten -über die Backenfurchen bis zum Ohr; suchend brennen seine stahlblauen -Augen. „Komm her!“ ruft er heiser. Der Bleichgewordene gehorcht. Nun -stehn sie mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. „Zieh den Handschuh -ab!“ hör ich mit Grauen, fühlend, wie sich der Alte beherrscht. „Wo -hast du den Ring?“ fragt er drohend. Keine Antwort. Der Alte zittert. -Seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff. Ein Ruck: die -Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; hohnlachend stößt er sie zurück. Mit -unsäglicher Verachtung speit er in den Schnee, zum Gehn gewendet. -„Vater!“ schreie ich auf, in die Kniee stürzend. Er geht.</p> - -<p>Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in -weiter Ferne. Sausend peitschen schwere spitze Büschel, Kiefernzacken, -gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich. Stecheichenzweige rauschen -um mich her; ich sehe, wie die roten Beeren lange Kurven durch mein -graues Atemnetz reißen. Aber eine weiche Hand legt mir immer wieder, -schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare. Die gepreßten Zähne -lösen sich; ich glaube, ich werde ein Anderer. Der liegt zu ihren -Füßen, den Kopf in ihren Schooß gedrückt. „Lebst du denn noch?“ -fragt er verwundert. Sie läßt sich in den Lehnstuhl gleiten; das -ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre hellbraunen Flechten. -Neben ihr, auf meinem Schreibtisch, steht ein zartes venezianisches -Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein -meergrün schillerndes Schlänglein ringelt sich darum<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> empor. Ein -Stecheichenblatt starrt aus dem Kelch, und eine wachsbleiche Hyazinthe. -Die hat sie mir eben gebracht; die üppige Blüte berauscht mich.</p> - -<p>„Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. „Ich kann nicht“, fleht er -mühsam; und ich höre ihn mit beklommener Stimme die Geschichte -des Ringes erzählen. Den hat der Urgroßvater seines Vaters, der -Husarenwachtmeister, nach der Schlacht bei Torgau, für seine Tapferkeit -und lange Treue, aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen; -vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das -eingepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldenen Reifen: „und -immer der Älteste erbt ihn.“ Ich höre seine Worte wie im Traum; es ist, -als ob ich sie in einem Buche lese. „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt -sie. Er kämpft mit sich. „Hast du Gewissensbisse?“ flüstert sie; „Du -—?“</p> - -<p>Was! Will sie mich verspotten? Ich presse drohend meine Zähne an die -Knöchel ihrer Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie, hält mir die -Hyazinthe an die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; „du -hast ihn ja schon“, entgegne ich und blicke auf ihre Finger nieder. -„Den andern noch“, schmeichelt sie; „den Ring der <em class="gesperrt">Andren</em>!“ Ihre -grauen Augen werden immer bestrickender.</p> - -<p>Ich fühle ein heftiges Zittern; am liebsten möcht ich sie wieder -erwürgen. Dann könnte ich wieder der Andren treu sein, die meine -Kinder geboren hat. Meine Blicke heften sich herzverwirrt auf den -Rubin an meiner Linken; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde. -„Gewissen ist der Spuk des toten Gottes“, spricht sie auf einmal meine -Gedanken aus, mir ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie es höhnisch meint. -Ich wills ihr erklären; sie erhebt sich. „Du bist zu gut,“ haucht sie -gespenstisch — „nur gute Menschen haben ein schlechtes Gewissen; — -ich hatte nie eins“ — und streift mir den Ring ab. Ich will es ihr -wehren; sie entschwebt. Ich will ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span> nachstürzen, vergebens; meine -Kniee winden sich gebannt am Boden. Ich suche das Wort, das mich frei -macht.</p> - -<p>Ich stammle Verse, lange flehende Zeilen; sie verliert sich immer -ferner in die Nacht. Ich sehe sie geisterbleich verschwinden; nur der -Rubin glüht noch wie Blut im Mondlicht. Nein, wie ein Wundmal; der tote -Freund! mit seiner Geige schwebt er herbei. Zu meinen Versen beginnt er -zu spielen: ferne flehende Töne: von einer Seele, die ihm untreu ward. -Die runde Wunde seiner Stirne tut sich auf; Blutstropfen perlen aus der -kleinen Öffnung, bei jedem Bogenstrich, die bleiche Schläfe nieder, -in den Schnee. Immer näher schwebt die rote Spur; die geschlossenen -Augenlider zucken, bleicher als sein Sterbehemd, und ich suche das -Wort, das Wort — in unsrer Kindheit wußten wir’s.</p> - -<p>Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken schlägt -mich: das sind nicht seine Augen! das ist die „Andre“! — Meine Blicke -erlahmen, mein Mund versagt; meine Finger krümmen sich, ihr Gewand zu -betasten — hilf mir! das Wort! — Sie weist auf meinen starren Körper: -lange Ketten Verse, wie Spruchbänder, umschnüren meine gezerrte Kehle. -Ich lese und lese, mir graut:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schwere Ringe ... wirb ... ich werbe ...</div> - <div class="verse">leere Schlinge ... deine Meinung —</div> - <div class="verse">dunkle Kammer ... uralt Erbe ...</div> - <div class="verse">Irrtum ... Jammer ... wird Erscheinung —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wer sprengt die Ketten?! Die Tür springt auf. Lichtschein wie -Nadelstiche prallt mir entgegen. Auf der Schwelle steht meine Mutter; -mit unsäglichem Kummer blickt sie mich an. Meine Arme mühn sich nach -ihr; vergebens. „Sünde an der Mutter deiner Kinder?!“ ringt es sich -von ihren Lippen. Mutter! will ich sie anflehn; sie wehrt mir. „Das -ist Sünde an Gott!“ flüstert sie weiter. <em class="gesperrt">Gott</em>! ringt sich’s von -<em class="gesperrt">meinen</em> Lippen, laut, das Wort... ich bin wach.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span></p> - -<p>Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen Mondlicht grell bis -auf mein Bett; er zuckte. Ich sah zum Fenster; da war kein Spalt. Ich -wandte den Blick ab; der Streifen glitt mit. Ich weiß nicht, was für -ein Licht so zuckte.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wenn dich zwischen Schlaf und Schlaf</div> - <div class="verse">um Mitternacht</div> - <div class="verse">dein rasend klopfendes Herz</div> - <div class="verse">aus deinen Träumen jagt</div> - <div class="verse">— furchtsam stockt dein Atem —</div> - <div class="verse">und sich durch dein finstres Zimmer</div> - <div class="verse">weiße Schatten vor dir flüchten:</div> - <div class="verse">kennst du dieses Grauen? —</div> - <div class="verse">Wenn dann aus dem toten Raum</div> - <div class="verse">mit starren Augen</div> - <div class="verse">ein geliebtes Gesicht</div> - <div class="verse">lautlos dir entgegenscheint</div> - <div class="verse">und leben möchte:</div> - <div class="verse">kennst du dieses Grauen? —</div> - <div class="verse">Mit eignen Händen</div> - <div class="verse">willst du nach dir greifen</div> - <div class="verse">und dich erwürgen</div> - <div class="verse">für eine Schuld ...</div> - </div> - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 id="Dritter_Traum">Dritter Traum</h4> - -</div> - -<p class="mtop2">Ich habe sie doch vielleicht umgebracht. Warum sollte es auch unmöglich -sein? Ich habe doch einst sogar ein Kind umgebracht, ein kleines, -hübsches, unschuldiges Kind. Und damals glaubte ich doch sogar noch -an Gott, an die Hölle und ans Jüngste Gericht. Damals war ich ein -schwedischer Kürassier, bei den sakrischen deutschen Protestanten, und -wir brandschatzten ein katholisches Pfarrdorf. Ah, ich fühle wieder -die himmlische Mordlust, wie sich die Bauernweiber wehrten, die<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> wir -ins Spinnhaus eingesperrt hatten. Und da spießte ich einfach der -Ungeberdigsten das schreiende Kind aus den Armen weg und schmiß es im -Bogen in den Dorfteich. Ich sehe noch deutlich die kleine Hand, die aus -dem sumpfigen Wasser herausstak, als wir nachher von den Weibern kamen; -ganz mit geronnenem Blut bedeckt, so stak sie zwischen den Binsen -heraus, wie eine dicke rote Tulpe. Ich habe aber kein Grauen davor; es -weiß ja keiner mehr, daß ich es tat. Ich darf mich nur nicht selber -verraten, wenn sie mich doch vielleicht vor Gericht stellen.</p> - -<p>Wenn ich mich blos erinnern könnte, welche von Beiden ich umgebracht -habe. Doch nicht die Mutter meiner Kinder? Die hat mir ja immer -alles verziehen. Aber die Andre hat sich ja selbst umgebracht; deren -Hand kann doch nicht gegen mich zeugen. Jedenfalls muß ich zu der -Beerdigung gehen; sonst könnten die Leute Verdacht auf mich werfen. -Und ich muß ihr einen Strauß auf den Sarg legen, einen großen schweren -Tulpenstrauß, damit sie die Hand nicht herausstecken kann. Aber weiße -Tulpen müssen es sein; die roten riechen auf einmal so stark, es ist -der reine Leichengeruch. Warum sieht mich der Blumenhändler so an? mit -richtigen Totengräberaugen! — Ich will auch weiße Tulpen nicht! die -sehen noch leichenhafter aus! — Er lacht; ich verlasse eilig den Laden.</p> - -<p>Auf der Straße ist so bleiches Licht, wie ich noch niemals erlebt habe. -Ich kann mich kaum schleppen in diesem Licht, so weltschwer hängt es -um meinen Kopf. Es geht auch kein Mensch auf der bleichen Straße, und -die Häuser sind wie aus Schatten gebaut. Wenn ich nicht wüßte, wo ich -bin, könnte ich an ein Geisterland glauben. Aber es macht mich schwach, -dieses Licht; es ist, als ob es mich auspressen möchte. Und ich will -und will mich nicht schwach machen lassen; keine Seele der Welt darf in -meine Seele. Dann muß ich mich aber bei Kräften halten, mein Körper ist -schon wie ausgehöhlt. Ach ja, ich werde wohl Hunger haben; ich habe ja -heute noch nichts gegessen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span></p> - -<p>Ich mache ein harmloses Gesicht und trete in einen Schlachterladen. Die -Schlachtersfrau blickt mich fragend an — ganz still und fragend — was -blickt sie nur! — „Geben Sie mir dies kleine Stück Fleischwurst!“ sage -ich langsam mit ruhiger Stimme, als ob ich gar keinen Hunger hätte. Sie -blickt mich wieder wortlos an und legt das Stück Wurst auf ein weißes -Papier, reicht es mir über den Ladentisch. Ich will es nehmen und kann -mich nicht rühren: ich erkenne auf einmal, es ist keine Wurst: es ist -eine kleine Kinderhand, ganz mit geronnenem Blut überzogen. Ich starre -der Frau verstört in die Augen: es sind die Augen des Bauernweibes, dem -ich vor Zeiten Gewalt antat. Ich fasse mich endlich und tappe hinaus; -hinter mir her tönt ein dumpfes Lachen.</p> - -<p>Ich tappe mich wie durch Nebel weiter und komme an eine -Frühstückshalle. Da sitzen wohl hundert essende Menschen hinter der -großen Fensterscheibe; da wird mich wohl keiner beobachten. Ich setze -mich ganz in den Schatten hinten und bestelle irgend ein rasches -Gericht. Es ist so laut in dem halbdunkeln Raum, daß ich kaum meine -eignen Worte verstehe. Das Schenkmädchen bringt mir frischen Hummer und -wünscht mir freundlich guten Appetit. Es freut mich auch wirklich, wie -gut er riecht; aber was steht sie und wartet noch! Ich darf mir aber -nichts anmerken lassen; vielleicht will sie blos ihr Geld bald haben. -Ich bezahle; sie bleibt noch immer stehen. Es wird mir schwer, sie -nicht anzuschreien; aber ich nicke ihr ruhig zu und greife rasch nach -dem Hummerteller. Ich will mir sacht eine Schere abbrechen; aber was -ist das, was ist das nur?! Ich fühle mich bis in die Lippen erbleichen: -es ist eine kleine rote Hand, und ein Leichengeruch schlägt mir -entgegen. Und alle Menschen blicken mich an, wohl hundert menschliche -Augenpaare blicken mich unabwendbar an. Und alle sitzen so still wie -Geister; kein Laut ist mehr in dem halbdunkeln Raum. Ich taste mich -mühsam zur Tür und ins Freie; ein brausendes Lachen schallt mir nach.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span></p> - -<p>Wo kann ich nur etwas zu essen bekommen! Wenn ich noch lange so -schweigsam herumgehe, werde ich ohnmächtig vor Hunger. Es ist nicht, -weil mein Geheimnis mich würgt; nur, es stachelt mich immer stärker, -mir die herrlichsten Speisen auszumalen. Halt, ich werde mal wieder -den Maler besuchen, der immer so köstliche Späße macht; der wird mich -auf andre Gedanken bringen. Ich sehe, er malt an einem Fruchtstück; -eine große goldgelbe Ananas steht auf der malachitgrünen Schüssel, ein -paar rote Tomaten liegen daneben. „Darf ich mir eine Tomate nehmen?“ -frage ich ihn ganz unbefangen; „Tomaten sind mein Leibgericht.“ Er -malt schweigend weiter; was schweigt er nur? — „Machen Sie doch -nicht solche Späße!“ stammle ich plötzlich und sehe entsetzt: er -malt eine rote Kinderhand. „Lachen Sie nicht!“ beherrsche ich mich; -„Tomaten sind wirklich mein Leibgericht!“ — Er lacht aber garnicht, er -lächelt nur — er blickt mir nur sonderbar in die Augen und sagt mit -teilnahmvoller Stimme: „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt, die Tür -zum Gerichtssaal ist nebenan.“</p> - -<p>Ich bin einen Augenblick wie im Traum; ich fühle nur wieder wie durch -Nebel, daß der Maler sanft den Arm um mich legt und meine tappenden -Schritte leitet und die Tür des Saales hinter mir schließt. Ich möchte -aufwachen aus diesem Traum; ich glaube mich doch genau zu erinnern, daß -ich in Wirklichkeit Niemand umgebracht habe, weder die Eine noch die -Andre; aber ist das auch wirklich die Wirklichkeit? Ich bin ja schon -öfters im Traum erwacht, und dann wars trotzdem nur wieder geträumt. -Ich will mich lieber zusammennehmen, daß ich nichts von meinem -Geheimnis verrate; mit keinem Wörtchen, mit keiner Miene. Ich sehe mir -meine Richter an.</p> - -<p>Ob ich vor einem Vehmgericht stehe? Regungslos sitzen sie mir -gegenüber, elf schwarzvermummte stille Gestalten, mit Augenlöchern -in den Kapuzen. Es funkeln aber nicht Augen<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span> darin; es schauen mich -aus den schwarzen Masken nur lauter noch schwärzere Löcher an. Ob es -vielleicht lauter Schatten sind, die in den hohlen Gewändern sitzen? -Ob es vielleicht doch Geister gibt? Denn in der Mitte sitzt Einer -ohne Maske, mit geschlossenen Augen wie ein Toter, mit silberweißem -Haupthaar und Bart, und mit ewig gebieterischer Stirn; vor dieser -Stirn hat mir oftmals gebangt. Ich weiß nicht, ists meines Vaters -Stirn? Ich weiß nicht, ists eines Gottes Stirn? Wenn lauter Geister -da vor mir sind, muß dann nicht auch ein Obergeist sein?! Könnte ich -nur seine Augen sehn! Vielleicht sind es doch meines Vaters Augen; -meines Vaters herrliche stahlblaue Augen, die mich oftmals so hart und -zornig anstrahlten, und doch so glutweich im hellsten Zorn, und dann so -spöttisch verzeihungswarm. Aber er sitzt da so starr und kalt jetzt, -als werde er die geschlossenen Augen nie wieder zu seinem Sohn hin -öffnen; es sei denn, ich öffne ihm mein Gewissen. Sie sitzen alle so -starr und kalt, als wollten sie ewig darauf warten. Ich fühle, ich muß -wohl endlich sprechen.</p> - -<p>Meine Herren Richter! beginne ich unverzagt: ich habe wirklich ein -reines Gewissen. Denn gesetzt auch, ich hätte sie umgebracht, so hatten -doch beide sich selbst umgebracht. Denn die Eine, die wirklich sich -selbst umgebracht hat, die hat sich auch selbst dazu gebracht. Denn da -sie kein Gewissen gehabt hat, so hat sie mir mein Gewissen genommen und -hat es dann nicht ertragen können. Denn die Andre, der mein Gewissen -gehörte, und die mir drum immer alles verzieh — denn sonst hätte ich -mir’s nicht wegnehmen lassen —: die hat das nicht länger verzeihen -können. Denn da ich kein Gewissen mehr hatte, und wenn sie deswegen -— was ich nicht weiß — vor Gram zu Grunde gegangen ist, so ist auch -sie im Grunde von selbst und an sich selbst zu Grunde gegangen. Denn -wenn ich es auch gewollt haben sollte, so hat es, meine Herren Richter, -doch im Grunde ein Anderer gewollt. Denn wenn ich jetzt hier vor Ihnen -stehe<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> — und wenn, wie ich sehe, mein Vater jetzt Gott ist — so bin -ich im Grunde der Sohn meines Vaters, und mein Wille ist Gottes Wille -gewesen. Wenn also ich, meine Herren Richter — nein, nicht ich, wenn -ich Gottes Sohn bin —: wenn also Gott, meine Herren Richter, Eine -von Beiden umgebracht hat — nein, die Andre — nein, Beide — nein, -<em class="gesperrt">alle</em> Andern — —</p> - -<p>Ich stocke plötzlich und kann nur noch stottern; ich merke, ich habe -mich verwirrt. Ich suche im Blick meiner Richter zu lesen und sehe nur -lauter schwarze Löcher. Ich blicke hilflos den Einen an, der herrlich -in ihrer Mitte sitzt, und erbange vor seiner klaren Stirn; mich befällt -auf einmal dumpf ein Erinnern, als ob ich seit unvordenklichen Zeiten -unzählige Seelen umgebracht habe. Und da endlich tut Gott mir die -Augen auf: meines Vaters strahlende blaue Augen tut er aus ewiger -Ruhe auf und fragt meine Seele: „bekennst du dich schuldig?“ — Ich -höre mein Herz in seiner Stimme und sehe mein Leben in seinen Augen. -Ich weiß, ich brauche nur <em class="gesperrt">Nein</em> zu sagen, dann bin ich auf ewig -freigesprochen. Ich fühle das Nein schon auf den Lippen; ich brauche -nur den Mund aufzutun, dann bin ich von all der Mühsal erlöst. Und ich -tue ihn auf und — sage „ja“.</p> - -<p>Ein Schrecken befällt mich wie ein Schlag. Ich fühle betäubt mein -Bewußtsein schwinden; mir ist, ich stürze endlos hinab, durch dunkle, -bodenlose Räume. Oder stürze ich endlos empor? Ich höre von oben her -singende Stimmen; sind’s Menschenstimmen? sind’s Geisterstimmen? -Sie singen mich wieder zur Besinnung — von fern her singen zwei -Frauenstimmen —: Von wannen, von wannen? — von wannen dein Träumen! -— befreie dich, Seele — von Zeiten, von Räumen! — sie verklingen. -Ich schlage mühsam die Augen auf; ich sehe mich durch ein Bogentor -schreiten.</p> - -<p>Es ist noch immer so weltschweres Licht, wie ich noch niemals erlebt -habe; ein totengelbes Abendlicht. Nur vor mir<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> her, da schreitet ein -Mann in richterlichem schwarzem Talar, auf dessen Schritte ich horchen -muß, dann wird das schwere Licht mir leichter. Sie tönen mir seltsam -vertraut, diese Schritte; ich muß sie schon öfters vernommen haben und -ihnen so Schritt für Schritt gefolgt sein, wie ich jetzt ihnen Schritt -zu halten suche unter der dröhnenden Bogenhalle. Ist es mein Vater? -mein Herz sagt nein. Und da höre ich hinter mir noch solche Schritte; -nur ungewissere, haltlosere. Ich wende mich und stehe erstaunt; und -auch der Mann vor mir wendet sich. Ich sehe, hinter mir geht der -Jüngling, der ich vor Jahren gewesen bin; ich sehe, vor mir steht der -Mann, der ich in Zukunft sein werde. Er winkt mir kurz, und es weht -sein Talar, und wir schreiten im Gleichschritt zum Tor hinaus. Und es -weht sein Talar, und mit lautlosem Schritt schreitet der Mann aus sich -selbst heraus und entschwindet meinem gebannten Blick. Denn mein Blick -hängt an einem väterlichen, ewig gebieterischen Greis, der an Stelle -Jenes verblieben ist, und der mir weiterzufolgen winkt. So kommen wir -an ein Hafenwasser.</p> - -<p>Wohl unabsehbar dehnt sich das Wasser unter dem totengelben Himmel. -Viele große Schiffe lagern darauf, mit hohen reichbewimpelten Masten; -aber das Gelbe lastet so nachtschwer, daß keine Farben mehr dämmern -können. Alles, die Schiffe, die Wimpel, das Wasser, scheint alles so -schwarz aus Schatten geschaffen wie der Talar meines greisen Führers; -nur sein weißes Haar schimmert silbern im Zwielicht. Was sind das -für Schiffe? frage ich zweifelnd. „Wirkliche Schiffe“ — entgegnet -er tonlos und weist auf ein Dock am westlichen Himmel. Kein Laut von -Arbeit kommt aus den Werften her; der ganze Hafen scheint ausgestorben. -Die schwarzen Stützpfosten um die Hellingen ragen starr am Horizont -entlang wie ein auferstandener kahler Hain von ursintflutlichen -Riesenstauden. Nur aus dem westlichen Saum des Haines taucht -klumpenhaft etwas Graues hoch und regt sich in der<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> schweren Stille; es -regt sich wie das felsengraue, urschwere Haupt eines Elefanten. Ists -eines spukhaften Götzen Haupt? ists eines Gottes heiliger Scheitel? -Mein Führer aber winkt mir zu schauen.</p> - -<p>Und was wie ein Haupt war, beginnt zu erglänzen, und entsteigt dem -schwarz aufstarrenden Hain, und ist ein großer glanzvoller Mond. Er -glänzt nicht so fahl wie ein nächtlicher Mond, er glänzt nicht so -grell wie die tägliche Sonne; er glänzt wie ein Tautropfen in der -Frühe, und alle Farben klären sich auf. Und nun wendet mein Führer sein -greises Antlitz blauäugig nach dem östlichen Himmel, und mit langsam -gebieterischer Hand entwinkt er der verklärten Nacht einen zweiten -solchen glanzvollen Mond. „Wisse, du sollst an Geistermacht glauben“ -— haucht er mir in mein schauerndes Herz und entschwebt dem einen der -Monde zu. Bin ich erblindet von seinem Anhauch? ich sehe auf einmal nur -lauter Licht. Ich fühle nur blindlings ein leuchtendes Schweben ins -grenzenlose Blaue hinein. Ich ahne dunkel, ich selbst bin der Greis; er -ist wohl dem andern Mond zugeschwebt? Ich schwebe mit ausgebreiteten -Armen und raumentrückten Augen gleich ihm.</p> - -<p>Das Leuchten wird immer feuriger; ich atme entzückt die zarte Glut. Ich -höre von oben her singende Stimmen, zweistimmig aus unsichtbarer Ferne. -Sind’s wieder die Seelen der Geistinnen beide? erwarten sie mich auf -den strahlenden Monden? Sie singen mich weiter und weiter hinauf: Ins -Weite, Seele — von wannen dein Träumen! — erwache ins Freie — von -Zeiten, von Räumen! — sie nahen mir. Sie nahen wie schüchterne Lüfte -so lind; sie küssen mir meine entbreiteten Hände. In meinen Handflächen -ruhn ihre Lippen, mein Herzblut strömt ihren Küssen zu. Sie küssen -immer herzinniger, und andere Geistinnen singen von oben. Wollen Sie -mir mein Leben ausküssen? „befreie dich, Seele“, singen sie. Leben sie -nur, wenn Ich sie belebe? „erwache, Seele“, ver<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span>klingen sie. Ich raffe -all meine Herzkraft zusammen; ein leeres Grausen stöhnt aus mir auf. -Ich will mich den tötlichen Küssen entwinden; wie ein Gekreuzigter -schwebe ich machtlos. Ich krümme mit letzter Gewalt meine Finger, und -während ein herzzerreißender Klageschrei mir die glanzgebadeten Augen -aufreißt, höre ich, daß es mein eigener Schrei ist, von dem ich unter -Tränen erwacht bin.</p> - -<p>Ich lag wirklich wie ein Gekreuzigter da, mit ausgebreiteten Armen -im Dunkeln, die Handflächen über den Bettrand gestreckt, rechts und -links in die schwarze Luft. Ich schob meine halb erstarrten Glieder -langsam in eine andere Lage und machte die Augen wieder zu; die ruhige -Finsternis tat mir wohl nach der tollen Seelenfeuersbrunst. Ich nahm -mir vor: wenn ich wieder so träumte, sofort an meinen Körper zu denken.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Befreie dich, Seele,</div> - <div class="verse">von Zeiten, von Räumen,</div> - <div class="verse">erwache ins Weite,</div> - <div class="verse">von wannen dein Träumen;</div> - <div class="verse">von wannen, von wannen? —</div> - <div class="verse">Von Räumen, von Zeiten,</div> - <div class="verse">die ewig bleiben,</div> - <div class="verse">erwache, Seele,</div> - <div class="verse">du kannst sie vertreiben,</div> - <div class="verse">von dannen, von dannen,</div> - <div class="verse">ins Weite all dein Träumen bannen! —</div> - </div> - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 id="Vierter_Traum">Vierter Traum</h4> - -</div> - -<p class="mtop2">Aber ich muß doch zu ihrer Beerdigung gehen. Oder wenigstens ihre -Gräber besuchen. Denn beerdigt sind sie wohl nun schon lange; ich war -ja bei ihrer Feuerbestattung. Könnte ich nur die richtige Grabkammer -finden! ich muß mich hier unten<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> verlaufen haben. Wo mag das -Urnengewölbe denn sein! hier sind ja nur lauter Schädelkammern. Und -die Gänge dazwischen so schlecht beleuchtet, daß man jeden Sinn für -Richtung verliert. Wenn ich zurück auf den oberen Friedhof komme, werde -ich den Verwaltungsrat anregen, bessere Wegweiser einzurichten. Aber -wie komme ich endlich hinauf! Ich erinnere mich, gelesen zu haben, es -sollen schon Leute umgekommen sein in diesen verwirrenden Katakomben.</p> - -<p>Woher nur das Licht in den Schädelkammern kommt? Es ist nicht -elektrisch angelegt; es wird wohl eine Art Oberlicht sein. Darum -flimmern wohl auch die Gänge dazwischen so unterirdisch dumpf und trüb. -Ich werde jetzt nicht mehr nach rechts noch links blicken, sondern -immer den Gang gradaus verfolgen, nach der sonderbar hellen Öffnung da -vorn. Sie steht wie ein weißes Rechteck im Düstern; da muß eine Tür ins -Freie sein. Sie scheint auch allmählich noch heller zu werden; beinahe -blendet sie mich schon. Das Weiße kann aber kein Luftweiß sein; es -steht wie aus Stein so unbewegt. Es grenzt sich so grell ab, ich muß -meine Augen schließen. Ich gehe aber doch grad drauflos; ich spüre, wie -ich hindurchschreite. Es atmet sich auf einmal viel leichter; es muß -also doch eine Luftöffnung sein. Ich schlage die Augen auf und sehe: -hoch über mir blaut der freie Himmel.</p> - -<p>Ich seh es und seh es: hoch über mir — und über vier hohen weißblanken -Mauern, die senkrecht um mich emporsteigen. Soll ich denn wirklich -nie wieder herausfinden aus diesem sinnlosen Labyrinth? Ich will aber -nicht die Fassung verlieren. Ich weiß ja seit lange aus Erfahrung: -ich muß nur an meinen Körper denken, dann kommt auch die Seele wieder -zu Sinnen. Ich werde mir also den Raum erst betrachten, ob er nicht -doch eine Auffahrt hat. Er hat vier glatte kristallblanke Wände, aus -lauter quadratischen Feldern gebildet. In der Mitte jedes Feldes ein -Goldstern, entzückend in den Kristall eingeschliffen;<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span> aber nirgends -ein Halt, um hinaufzukommen. Es ist ein weiter leerer Saal; es scheint -nichts als eine Art Luftschacht zu sein. Aber sieh, er hat ja noch eine -Tür: grad gegenüber der andern Tür, durch die ich hereingekommen bin. -Und da ist ja ein Handgriff an der Kante, in den eine Schnur aus den -Gängen her mündet; das soll gewiß eine Richtschnur sein. Ich fasse die -Schnur, um weiterzugehen, mit einem letzten Blick zurück.</p> - -<p>Aber was <em class="gesperrt">ist</em> das? bin ich denn wirklich von Sinnen? Auch an -der andern Tür drüben ist solch ein Handgriff, in den eine solche -Richtschnur mündet. Die muß ich vorhin in den halbdunkeln Gängen beim -Suchen übersehen haben. Aber die Türen sind völlig gleichgeformt, und -ich habe mich in dem leeren Saal fortwährend um mich selbst gedreht; -durch welche Tür bin ich nun gekommen? — Ich betaste die Schnur und -betaste mich selbst; es ist alles vollkommen körperlich. Ich kann also -ruhig weitergehn; wenn ich vorsichtig suche, wird sich schon zeigen, ob -es die richtige Richtung ist. Ich taste mich immer die Schnur entlang, -von Zeit zu Zeit einen Handgriff streifend; ich komme wieder an lauter -Schädelkammern. Hier sieht das Licht aber bleicher aus; und der Gang -scheint allmählich tiefer zu sinken. Dies Licht kann nicht von oben her -kommen; es scheint aus dem Erdinnern aufgefangen. Die Schädel gleißen -alle so weißblank wie die Kristallquadrate des leeren Saales vorhin, -und doch ist ringsherum tiefer Schatten. Und in all diesen Schädeln -haben einst Welten gespukt — mit Goldsternen drin und blauen Himmeln -— und vielleicht auch mit einem ewigen Gott; ich fühle eine irrsinnige -Lust, in diesen Schädeln nach Gott zu suchen. Ich lasse aber die Schnur -nicht los; ich will nicht wieder die Richtung verlieren.</p> - -<p>Jetzt kommen auch Kammern mit Tierschädeln; sie schimmern ebenso -erdinnerlich. Was regt sich da auf einmal im Schatten? Ist es denn -möglich, mein alter Getreuer?! Komm her, mein Teckel, was suchst du -denn! Was blickst du mich so<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span> innerlich an? Jawohl, ich habe dich -umgebracht; aber was hast du auch immer geknurrt, wenn die tote Dame -mich küssen wollte! Da hab ich dich doch vergiften müssen! — Er blickt -mich nur immer seelenvoll an, mit demselben Blick noch, den er mir -zuwarf, als er im Todeskampf vor mir lag; ganz ohne Vorwurf, ganz treu -ergeben. Aber was will er denn noch, er lebt doch noch! Er will mich -wohl in die Kammern locken? Ich nehme die Richtschnur fester zur Hand -und erinnere mich an meinen Körper; ich werde einfach weiterschreiten, -der Hund ist gewiß nichts als ein Spuk.</p> - -<p>Nein, er folgt mir; ich höre ihn hinter mir. Ich bleibe stehen; da -steht er auch still. Ich drehe mich um; da legt er sich. Ich locke -ihn nochmals; er rührt sich nicht. Er blickt mich nur immer inständig -an mit seinen unendlich treuen Augen; und, kaum beginne ich wieder -zu schreiten, folgt er mir wieder Schritt für Schritt. Ich höre -seine leisen Zehen; ich spüre, wie sein Blick an mir hängt. Ganz -ohne Rachsucht, ganz voller Liebe; als ob der liebe Gott mir folgt. -Wie dieser Gottblick mich hinterrücks martert! Wenn er noch lange so -anhänglich bleibt, bringe ich ihn zum zweiten Mal um! Aber ich darf -doch die Richtschnur nicht loslassen; ich komme sonst schließlich -selbst noch um, in diesem wahnwitzigen Labyrinth. Halt: schimmert da -vorn nicht wieder ein Lichtloch? das ist wohl endlich die Urnenhalle. -Jawohl, das Viereck wird immer heller; und die Schnur scheint grad -draufhin zu leiten. Wenn ich nur rascher vorwärts käme; wie Grabeslast -ist der Blick hinter mir! Ich zwinge meine Füße zu rennen. Ich keuche -der leuchtenden Halle entgegen. Ich achte nicht den Schmerz meiner -Augen. Ich taumle fast in dem blendenden Viereck; hindurch! und pralle -entsetzt zurück: ich stehe abermals in dem Kristallsaal, den offenen -Himmel über mir —: ich bin im Kreise herumgeirrt.</p> - -<p>Und was stöhnt da, was rührt sich neben mir? Durch die Tür kommt der -Teckel mir nachgeschlichen! Ich sehe jetzt deut<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span>lich, es ist nur ein -Schatten; ein Schatten mit gottergebenen Augen. Ich stürze in rasendem -Haß auf ihn los; ich werde den Spuk nun endlich zerreißen! Mit beiden -Händen packe ich ihn, am Genick, am Kreuz, und zerre und zerre. Er -windet sich unter meinem Griff; wie Kautschuk spannt er sich hin und -her. Ich spüre verzweifelt, wie er mich lähmt: wie er nachgiebig meine -Arme entmannt. Ich fühle bis innerst in Leib und Seele: wenn ich dies -Gespenst nicht bewältigen kann, bin ich machtlos für Zeit und Ewigkeit. -Ich spanne all meine Nervenkraft an; und wenn mir Gehirn und Adern -zerbersten! Und ein Ruck, ein leises ersterbendes Winseln: o Wonne, -ich habe den Schemen zerrissen! Mit einem letzten hingebenden Blick -zerfließt er in die leere Luft.</p> - -<p>Ich stehe und zittre am ganzen Körper, vor Glück und Ermattung und -neuer Verzweiflung. Ich starre hinauf in den blauen Himmel: ist -kein Entrinnen aus diesem kristallenen Grab? — Ich betaste meine -erschöpften Glieder — warum muß ich nur immer an meinen Körper -denken! — Es ist doch garnicht mehr nötig jetzt; wer hat mir das -eigentlich eingeredet? — Wie schön könnt ich schlafen in diesem -lautlosen Schacht. Ich bin so müde, ich höre mein Seelenspiel klingen. -Es rauschen wohl Flügel oben im Blauen? Nein, ich glaube nicht; es -ist nichts zu sehen. Doch: eine weiße Feder schwebt nieder. Wie eine -Schneeflocke kommt sie gewirbelt. Noch eine, noch eine, Flaum auf -Flaum; grad in die Mitte des Saals herab. Immer mehr, immer mehr, weiße -Flaumfederflocken; der ganze Boden liegt schon bedeckt. Ich muß zurück -an die Wandfläche treten; es ist schon ein Hügel, es wird ein Berg. O -Seligkeit, das ist ja die Rettung: der Berg wächst immer höher hinauf! -Schon steht er fast so hoch wie der Schachtrand, und immer dichter -häuft sich das Flockengewimmel. Ich springe mit beiden Füßen hinein; -ich versinke in dem bettweichen Schwall. Aber er ballt sich unter mir; -ich stampfe und stampfe, und es glückt. Ich stampfe mich<span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span> höher und -höher hinan; es ist, als federn mich Bälle empor. Ich kann kaum sehen, -so stiebt es um mich; und brennender Schweiß verschließt mir die Augen.</p> - -<p>Da: ein frischer Lufthauch kühlt mir die Stirn: ich fühle entzückt, -ich bin oben, oben! Meine Augen wagen wieder zu blinzeln, durch die -feuchten, flaumverschleierten Wimpern. Kein Federchen stiebt mehr, -der Himmel blaut; es ist eine überirdische Stille. Ich stehe auf -steilem, schwankendem Gipfel; tief unter mir klafft der weiße Abgrund -des labyrinthischen Schachtes herauf. O Seele, Seele, wie komm ich -hinüber?! Sieh: rings um den Schacht, wie ein Garten Eden, liegt der -blühende frühlingsgrüne Friedhof! — Und die Seele erklingt: Ich -seh es, o Geist! Ich seh es durch Tränen, o göttlicher Geist, durch -regenbogenfarbene Tränen! Ja, dein Gipfel schwankt, und ein Wind kommt -gebraust, und du Schwankender weinst und ich breite die Arme: wenn du -jetzt, o Gottgeist, mich Seele erhörst, will ich deiner Kraft trauen -ewiglich! —</p> - -<p>Horch: braust nicht der Wind beflügelnd, o Seele? und der Gipfel löst -sich und schwebt und wird Wolke! Sieh, mit beiden Armen umspanne ich -sie und schwebe über den Abgrund dahin. O, wie weich sichs fliegt in -dem leichten Flaum: ich fühle nicht Höhen, nicht Tiefen mehr. Ich fühle -nur, wie mich die Windwolke schaukelt und mir süß alle Kräfte stachelt -und kitzelt. Will sie mir etwa mein Leben wegschaukeln? Dann wisse, -Seele: mein Körper lacht! Ich kann sie loslassen, wenn ich will; ich -bin ja befiedert über und über! Ich kann mit dir fliegen, wohin ich -will; ich brauche ja nur den Flaum wegzublasen! Ich blase und blase; -was ist denn das? ich blase mir ja in die eigne Nase! Ich mache wohl -selbst den Wind, der so kitzelt? Ich niese, ich lache — lache — -erwache.</p> - -<p>Ich lag noch immer im dunkeln Bett, und ich hielt mein Kopfkissen in -den Armen. Ich fühlte, daß eine kleine Feder aus dem zerknüllten Kissen -herausstak; sie berührte noch meine<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> Nasenspitze. Ich entfernte die -Feder und legte das Kissen glatt; ein Stündchen hoffte ich doch noch zu -schlafen. Der Morgen schien zwar bereits zu grauen; aber ich war noch -müde genug.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wenn über unsern tiefsten Verzweiflungen,</div> - <div class="verse">wo wir vor lauter geöffneten Not-Türen</div> - <div class="verse">nicht aus noch ein zu finden wissen,</div> - <div class="verse">stets eines Gottes Blick wachte —</div> - <div class="verse">Wenn unter unsern höchsten Entzückungen,</div> - <div class="verse">wo wir verstummend vor Triumph</div> - <div class="verse">mit zitterndem Fußtritt</div> - <div class="verse">jede Gefahr zerstampft zu haben meinen,</div> - <div class="verse">stets eines Gottes Ohr weilte —</div> - <div class="verse">Wenn zwischen unsern erhabensten Gleichgiltigkeiten,</div> - <div class="verse">wo wir mit Adlerruhe</div> - <div class="verse">alle Verfolgung</div> - <div class="verse">Todes wie Lebens</div> - <div class="verse">in leere Luft verflogen wähnen,</div> - <div class="verse">stets eines Gottes herzliche Teilnahme schwebte —</div> - <div class="verse">ich glaube, er würde vor Lachen sterben ...</div> - </div> - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 id="Fuenfter_Traum">Fünfter Traum</h4> - -</div> - -<p class="mtop2">Ja, meine Verfolger, ich lache euer! Denn ich kann fliegen, wenn ich -will; ich kann aus eigener Willenskraft fliegen! Sie rasen hinter mir -her wie gehetzt, eine Meute tobsüchtiger Jäger und Hunde. Aber hier, -ich spanne nur meinen Mantel, dann bin ich ihrem Wahnsinn entrückt. -Schon schwebe ich über den Eichenwipfeln und lache Halalî auf sie -nieder. Ich höre sie brüllen: du Mörder, Mörder! und würden mich alle -doch selbst gern morden. Nackt sind sie auf die Jagd ausgezogen, -aber dennoch war ich schneller als sie. Wie sie rachekeuchend mir -nachstarren, durch die kahlen Eichen die fahlen Gesichter, während -ich höher und höher entschwinde! Halalî Hallelûja lache ich nieder<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span> -und werfe ihnen Handgrüße zu: Ja, ihr seid auferstanden zum jüngsten -Gericht, ich aber fliege ins ewige Leben! —</p> - -<p>Wie sie kleiner und kleiner schrumpfen, die schreckbefallenen bleichen -Leiber: wie Würmer wimmeln sie durcheinander zwischen dem welkbraunen -Laubwerk unten, wie ausgegrabene Engerlinge. Ich lasse breit meinen -Mantel fallen, um ihre klägliche Blöße zu decken. Schwer schwebt er -hinab, denn ich schwebe hinan; mit schwimmenden Armen zerteil ich -die Wolken. Was glänzt da her aus dem stahlblauen Äther? ist es ein -unbekannter Stern? — Halalî Hallelûja jauchzt mein erkennendes Herz: -es ist eine weltbestrahlende Stirn! Sei mir gegrüßt, pfadkundiger -Wildrer, du Jagdherr der Frevler, Shakespear, Erhabener! — Er schlägt -die entschlafenen Augen nicht auf; traumselig lächelt sein Geisthaupt -nur und grüßt mich stumm und bestrahlt meine Bahn. Es grüßen noch -manche entschlafene Geister mit sternengleich aufstrahlenden Stirnen -und beleuchten meine erhabene Bahn. Es grüßen Rembrandt und Lionardo, -und Dante und Goethe, Beethoven, Bach. Es grüßt auch mein Vater und -meine Mutter; und fern strahlt ein dornenkranztragendes Haupt.</p> - -<p>Wo hab ich dies rührende Haupt schon gesehen? dies schmerzverklärend -verzeihende Antlitz? in meiner Kindheit war es wohl. Ich möchte -vorüber an diesem Antlitz jetzt; aber dahinter ist alles schwarz. Ich -möchte dennoch vorüberschweben; aber es zieht mich näher und näher. -Es zieht mich mit seinem Dornenkranz an, der noch heller strahlt als -die träumende Stirn. Er strahlt wie ein großes verzweigtes Nest; das -Gezweig wächst immer größer ins Weite. Ich möchte dies wachsende -Lichtnest umkreisen; aber es weitet sich kreisend um mich. Es wirbelt -mich hoch wie einen Funken ins schwarze Unermeßliche. Ich blicke hinab, -ich will’s überschauen: ich sehe ein unermeßliches Helles. Ich sehe ein -grenzenlos schwebendes Lichtreich: ein tiefes, ringshin ruhendes Nest -von unzähligen kreisenden<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> Sternenreihen, endlos verzweigt durch den -schwarzen Raum. Mich weht ein Grausen an, ich erkenne: ich bin in einer -anderen Welt.</p> - -<p>Das Grausen weht inniger, es beseligt; ich fühle, es will mich zur -Ruhe wehen. Es weht mich hinab auf das träumende Haupt; wer bist du, -wer bist du, entschlafener Geist, auf dessen Haupt mich ein Lichtreich -wiegt? — Ich lasse mich willig niederbewegen zu dem leuchtenden -Scheitelpunkt in der Mitte; ich sinke mit heller Heimatswonne immer -tiefer hinein in das weltweite Nest. Und was wie ein Punkt schien, ist -eine Wölbung, eine milchweiß gestirnte unendliche Kuppel, auf deren -Scheitelfläche der Nestkranz ruht. Ich staune hinab in den traumstillen -Kuppelraum, hinab durch das schimmernde Scheitelgewölbe: das ist wohl -Das, du erhabenes Haupt, was wir auf Erden die Milchstraße nannten? -Ja, ich sehe sie kreisen in deinem Innern, die Sterne, die Sonnen -und jene Erde, wie Blutzellkörperchen deiner Adern, du strahlendes, -dornenkranztragendes Haupt! Wie sie zittern, die kleinen Seelchen alle, -die sich Welten dünken in ihrem Dunstkreis: ich sehe sie deutlich -erbeben im Nebel, vor Deiner weltbegrenzenden Stirn. Und sind meinem -Blick doch alle so fern, so grenzenlos fern wie jener Erdball, dem ich -durch Wolken entronnen bin in diese verklärte andere Welt. Die Augen -fallen mir zu vor Bangen: wer bist du, wer bist du, verklärender Geist? —</p> - -<p>Ein silberhell klingendes Lachen weckt mich; hab ich’s geträumt oder -leben hier Menschen? Nein, eine Lichtgestalt weilt vor mir; ich -schnelle auf, eine Geistin umschwebt mich. Hab ich sie schon auf Erden -gekannt? Ihre Augen ermuntern mein Herz so vertraut, als hätten sie -schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. Ihr Blick ist so -innig silbergrau, nein lichtschwarz, nein tief von Herzen goldklar, -ganz silber-und-gold-herzinnig klar; ist es die Göttin Barmherzigkeit? -— Sie lächelt, sie läßt den Kopf etwas hängen; o süße Schelmin -Barmherzig<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span>keit! Sie nickt mir nochmals von Herzen zu; ich lausche, ich -höre ihr Seelenspiel klingen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Erde schläft in Nebelschleierschein;</div> - <div class="verse">doch kann ihr Atem nicht ihr Leid verdecken.</div> - <div class="verse">Ihr träumt, sie würde wach viel freier sein;</div> - <div class="verse">es ist wohl Zeit, daß wir sie wecken?!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ich starre hinab, mir bangt aufs neue. Nein, steht mein Blick, laß die -Erdseele ruhn! sie ist voll Rachsucht, sie will nur morden; laß uns den -Geist dieses Lichtreiches wecken! — Die Geistin lächelt; weshalb nur -wieder? aber ihr Lächeln ermutigt mich. Laß uns ihn wecken! verlangt -mein Blick; Ihn, dessen Haupt diese andre Welt trägt, doch unter dessen -träumender Stirn jene Erde uns noch immer bannt! Laß seine Augensterne -erst leuchten, das wird uns erheben aus diesem Bann! —</p> - -<p>Sie lächelt und nickt, ist nickend verschwunden; ich greife verdutzt -in leeren Glanz. Ich schwebe wieder allein in den Weiten; nur -ihr silberhelles Gelächter klingt noch. Nein, auch ihr Blick ist -zurückgeblieben; wie ein goldenes Sternchen schwebt er vor mir, -inmitten des silberweiß kreisenden Nestes. Oder nein, es ist ja ein -Doppelsternchen! Ja, ein goldklar flimmerndes Zwillingssternchen! -ein kleines wirbelndes Sternseelenpärchen! zwei kleine glitzernde -Seelensternzellchen, die in eins zusammenzusprießen streben. Ich greife -danach, ich schrecke zurück: das eine spiegelt deutlich mein Bild. Ich -seh mich hinauf in den Nestkranz greifen, in das kreisende Spiel des -Sternengezweiges; — und spielt nicht im andern das Bild der Geistin? -— Nein, schon sind beide zusammengesprossen; ich weiß nicht, spielt -da <em class="gesperrt">mein</em> oder <em class="gesperrt">ihr</em> Bild? Es spielt mit den kreisenden -Neststernbällen, mit unzähligen, reihenweis wirbelnden, unendlich -zellkleinen Zweigsternbällchen; und in jedem Zellstern spielt wieder -solch Bildchen. Ich will es fassen; ich greife ins Unfaßbare. Ich -merke, es schwebt weit über mir, unermeßlich<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> weit, und sprießt weiter -im Schweben, immer weiter in wirbelnden Sternbilderspielen; es scheint -nur so klein, weil’s so grenzenlos fern ist. Es wirbelt mich hoch, -schon entwirbelt’s dem Nestkranz; und sprießt immer wirbelnder über mir -fort, und ein silberhelles Gelächter umstürmt mich.</p> - -<p>Ich muß mitlachen, ich blicke hinab; ganz zusammengeschnurrt in -schwarzer Tiefe schwebt das weltweite Dornennest unter mir, nur -wie ein flaches Korbflechtwerk noch, eine tellerförmige milchweiße -Scheibe, auf der sich ein riesenhaft sprudelnder, goldklar von -Sternzellen strudelnder, fort und fort wachsender Kreisel dreht. -Er schleudert mich mit im sausenden Umschwung, immer höher den -schwellenden Rand hinan; ich kann kaum noch das winzige Urzellbild -ahnen, das in der Kreiselspitze da unten mit andern solchen -Urbildern Ball spielt. Ich ahne nur, wie sich aus jedem Bildstrahl, -den es hochsprudelt in den silbrigen Nebel, eine neue Schaar -Goldstrahlenbilder entpuppt, aus jedem Weltsternchen eine Sternenwelt, -immer riesenhafter emporgegliedert, ein unendlicher Springbrunn von -Lichtpuppengliedern, und jedes Glied schon ein ganzes Wesen, ein -ganzes Weltpuppengliederspiel, das andere spielende Weltgliederpuppen -nach allen Seiten entspringen läßt. Ich möchte eins dieser Wesen -betrachten; ich schwebe so nahe an seiner Seite, ich kann seinen -Atemkreis brausen fühlen. Ich möchte erkennen, ob’s Mann ist, ob Weib; -aber es dehnt seinen riesigen Lichtnebelkörper, den Sterne um Sterne -wie Flugsaat durchwirbeln, so stürmisch ins Unermeßliche, daß ich -wieder nichts weiter wahrnehmen kann als ein seelenvoll brausendes -Gelächter. Und wieder muß ich voll Bangen mitlachen, denn in all meinem -Bangen ahne ich jetzt: vielleicht ist dies unabsehbare Glanzspiel, -dieser ganze erhabene Sternpuppenkreisel auch wieder nur ein kleines -Glied, vielleicht nur die unterste Zehenspitze von einer noch größeren -Spielgestalt, die wieder noch größere ausspielen kann — o laß dich -erkennen, erhabenstes Wesen! —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span></p> - -<p>Ich starre hinauf zu dem äußersten Lichtsaum: könnt ich nur Einmal -ein einziges Leuchten seiner Augensterne aufschimmern sehn! Ich mühe -mich, jäher emporzukreisen, dem Bannkreis des Strudels noch näher zu -steuern; mir ist, ich tu’s schon seit Ewigkeiten. Ich blicke zurück auf -meine Flugbahn; das Sternennest unten ist garnicht mehr sichtbar, es -scheint nur die allerunterste Spitze dieses schwebenden Weltenkreisels -zu sein. Mir wird so hinschwindend seelenweit, ich kann kaum mehr -meine Bewegungen fühlen. Ich kann in dem wachsenden Lichtseelennebel -auch nichts mehr von meinem Körper sehen; ich bin wohl selbst eine -Lichtwelt geworden. O könnt ich nur endlich das Augenlicht sehen, dem -all diese seligen Weltspielpuppen aus ihren Kreisen entgegenlachen! -— Ich muß auf einmal auch selig lachen: ich sehe urplötzlich im -Innern des Kreisels, rings unter mir, überallher aus den Nebeln, ganze -Schwärme von Augenlichtern aufschimmern: alle die hohen entschlafenen -Geister, die meine Bahn einst beleuchtet haben, sie erwachen aus -ihren träumenden Tiefen und folgen mir höher mit lachenden Blicken. -Es erwachen und lachen Rembrandt und Shakespear, Cervantes und Swift, -Aristophanes, Nietzsche. Es lacht auch mein Vater, auch unsre Mütter, -und jenes dornenumspielte Haupt. Ich will es begrüßen, mein Gruß -erstarrt: aus seinem Blick lacht die Göttin Barmherzigkeit. Ich starre -hinab von Blick zu Blick: in allen den schwärmenden Augensternen, -selbst in Euern Gestirnen, Nietzsche, Rabelais, Shakespear, ihr -wildesten Schwärmer, ihr Freunde der Frevler, spielt das Bild der -Göttin Barmherzigkeit. Mir schwindelt; ich muß wieder aufwärts -blicken! O erwache auch Du, erhabenstes Wesen, erwache aus deiner -Gleichgiltigkeit! Erhebe mich endlich zu <em class="gesperrt">Deinem</em> Blick! Entreiß -mich all diesen wachsamen Augen: sie mahnen noch immer an jene Erde, -die doch seit Ewigkeiten dahin ist! Entpuppe dich endlich: wer bist du, -Du —</p> - -<p>Ich horche erschrocken: was lacht da „Du!“? Und ein Echo<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> lacht -stürmisch abermals „Du!“ Will das erhabenste Wesen mich höhnen? O, nur -höher! mir bangt nicht mehr! nur zu! — Ich steure noch jäher hinein -in den Kreisel, ich lache stürmisch mit „Du, du, du!“ Ich lasse mich -ganz in den Lachstrudel reißen: vielleicht kann selbst das erhabenste -Wesen mich nur in seinem Innern erhören, da in der innersten Achse -da! — Ja, ich höre, nun lacht es „Da, da, da“ —: und siehe, das -ganze Weltpuppenspiel beginnt zu nicken, wild, fern und nah. Und -immer wilder, mir stockt das Herz: will es mich aus dem Gleichgewicht -nicken? Nein, in ganz gleichwilden Weltkreisen nickt es, kreisunter -kreisüber mir — da, da, da — mit sternklar barmherzigen Geisteraugen -— und lacht ganz gleichgiltig „Ha-ha-hah.“ Es will mich gewiß nur in -Sicherheit lachen; ja, die Achse des Kreisels ist schon ganz nah. Ob -sich’s da endlich entpuppen wird? Ja! All die Geister da lachen „Ja“ -und nicken. Aber was <em class="gesperrt">ist</em> das? Ah —: die Achse! — Sie dreht -uns immer noch höher! aber mir stockt das Herz immer jäher: verliert -sie nicht doch jetzt das Gleichgewicht? — Nein, sie verdreht wohl ihr -Seelenlicht? Hahahah, sie verdreht uns die Übersicht! Sie beginnt zu -wackeln! o all ihr Geister: das erhabenste Wesen scheint kopfstehn zu -wollen! —</p> - -<p>Ich höre entsetzt: Alles lacht wieder „Ja!“ — Ha-ha-halt! -Barmherzigkeit! Wenn wir fallen: wir fallen ins Bodenlose da! — Da, -was seh ich: allmächtiger Himmel, ja: es steht ja schon kopf! — -es entpuppt sich! — Ah — —: himmelhoch über mir steht etwas da: -mittenauf aus den wackelnden Seelenwelten steht die Kreiselkrone in -Gloria — und ist eine — was? — eine Sohle?? — ja: eine riesige -wacklige Weltseelensohle, von unzähligen Zehenspitzen umzappelt. -Ich erkenne, sie will uns <em class="gesperrt">noch</em> höher zappeln: sie beschirmt -unsre Welt wie ein maßloser Fallhut: wir zappeln in einer ungeheuren, -allweltenhütenden Urweltpuppe, die auf ihrer Hutspitze bodenlos -kopfsteht, und deren Bauch sich vor Lachen schüttelt. Er schüttelt uns -mit, im<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span>mer mit, hahahah! Macht Halt, ihr Geister, sonst platzt er! -Da —: er platzt — ich muß mich vor Lachen umdrehn. Hahahah, all die -Weltgeister drehn sich <em class="gesperrt">mit</em> um! Hahahah, sie verdrehn mir Hören -und Sehen! Hahahah, das erhabenste Wesen rächt sich! Hahahah, es läßt -mich vor Lachen sterben — mir gehn alle Augen über, nein auf! — ja -auf! endlich auf! — Was? — bin ich denn wach? —</p> - -<p>Ja, ich saß mit offenen Augen im Bett; und mittenher durch mein -halbdunkles Zimmer langte ein goldheller Morgenstrahl, voll -unzähliger wirbelnder Sonnenstäubchen. Es war also doch ein Spalt in -dem Fenstervorhang. Ich stand auf, machte vollends hell und besann -mich; dann warf ich die abends empfangene Todesnachricht aus meinem -Shakespear in den Papierkorb. Ich wußte nicht: sollte ich wie ein Kind -ein dankbares Morgengebet verrichten? oder Gott, Welt und Leben zum -Teufel wünschen? Ich weiß es noch heut nicht, du himmlischer Quälgeist, -o allbarmherzige Phantasie!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wer bist du? „Wer du willst!“</div> - <div class="verse">Wo wohnst du? „Wo du’s fühlst!“</div> - <div class="verse">Lebst wohl im Lichtstrahl still?</div> - <div class="verse">„Wohl auch im Staubgewühl!</div> - <div class="verse">Bürst mein Hütlein,</div> - <div class="verse">klopf dein Kittlein,</div> - <div class="verse">so kannst du merken, wer ich bin,</div> - <div class="verse">wieviel goldne Wunderwelten in uns glühn!“</div> - </div> - </div> -</div> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Betrachtungen">Betrachtungen<br /> -<span class="s5">über Kunst, Gott und die Welt</span><br /> -<span class="s6">Auswahl</span></h2> - -</div> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span></p> - -<h3 id="Kunst_und_Volk">Kunst und Volk</h3> - -<p class="center">Neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung -bedürfen</p> - -</div> - -<p class="mtop2">1. <em class="gesperrt">Die Kunst besteht in den Kunstwerken, die nicht fürs Volk -geschaffen sind, sondern für Gott und die Welt, für die Seele der -Menschheit oder auch der Blumen auf dem Felde, für Alle und Keinen, -fürs ewige Leben oder für sonst eine grenzenlose Größe.</em></p> - -<p>Das soll heißen:</p> - -<p>Es werden sehr viele Kunstwerke gemacht, aber recht wenige machen die -Kunst aus. Kein Kunstwerk mehrt den Kunstbestand, durch das der Urheber -irgend ein begrenztes Volk zu irgend einer bestimmten Zeit für irgend -ein bekanntes Ziel ausbilden will oder wollte. Die Volksbeglücker, die -Volksveredler, die Volkserzieher und -verzieher mögen ein solches Werk -mit Fug und Recht zu ihrer Zeit den Leuten anpreisen; aber sobald jenes -Ziel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt solch Werk der -Vergessenheit oder bestenfalls der Kunstgeschichte, ist überflüssig -und leer geworden, hat keinen belebenden Inhalt mehr. Freilich befaßt -sich alle Kunst mit dem umgebenden Volks- und Zeitgeist als einem Teil -ihres Stoffbestandes; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand, sie geht -nur aus von dieser Umgebung, und ihr Ziel schwebt grade im Unfaßbaren. -Beständiges Leben enthält nur <em class="gesperrt">die</em> Kunst, die jederzeit und -immerfort hinaus ins Unbekannte weist, wie die Blumen blühen ins Blaue -hinein. Und solche Kunst schafft nur der Künstler, der fürs Volk ein -ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine Bestimmung des Schaffenden: -die Gesetzgebung für das Unbestimmte. Er sieht nur Eine Grenze des -Schaffens: die Formlegung für das Unbegrenzte. Denn er ahnt nur Ein -Ziel der menschlichen Bildung: die Gestaltung eines vollkommenen Wesens.</p> - -<p>2. <em class="gesperrt">Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei Arten Volk: das -menschenwürdige und das hundsgemeine.</em></p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span></p> - -<p>Das heißt:</p> - -<p>Vollkommene Kunst wirkt nicht auf Jedermann als vollkommen, sondern -höchstens auf solche Seelen, die selbst den Trieb zur Vollkommenheit -haben und fremde Seelenkraft mitfühlen können. Hierzu aber verhilft -kein besonderer Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger Vorrang, -der einzelnen Ständen und Klassen des Volkes — je nach dem Lauf der -Zeiten — vergönnt ist, mag auch durch alldas die Freiheit und Freude -des menschlichen Mitgefühls leichter erblühen. Dies Mitgefühl eignet -vollkommen nur solchen Seelen, denen das menschliche Dasein unendlich -mehr ist als eine Laufbahn zum Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder -Neunmalklugsein, nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung -aller schaffenden Kräfte, ob für, ob gegen, ob durch einander. Das -sind die menschenwürdigen Seelen, die auch die Kunst von Grund auf -zu würdigen wissen. Sie pflanzen den Willen zur Menschheit fort, -sie bilden in Wahrheit den Volksgeist und Zeitgeist und begeistern -allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volksschicht -zu finden, wenn auch am meisten wahrscheinlich in jenen Schichten, -die am eifrigsten für die Zukunft kämpfen. Wo sich der Sinn auf -Vollkommenes richtet, ist „Volk“ stets nur der Inbegriff der menschlich -strebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der Menschheit; -wer ein vollkommener Mensch sein könnte, der wäre natürlich auch im -Besitz von jeder Vollkommenheit seines Volkes. Der Rest aber, der ewig -rückständige, der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel -wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst, die das Volk -übers menschliche Dasein täuscht, mehr oder weniger hundsgemein. Doch -ist auch diese Art Volk und Kunst im geistigen Haushalt der Menschheit -vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art zur beständigen -Steigerung ihres Willens.</p> - -<p>3. <em class="gesperrt">Keine Art Volk schafft jemals Kunst; jede Art Volk reizt die -Künstler zum Schaffen.</em></p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p> - -<p>Das will besagen:</p> - -<p>Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk ist, stellt eine -unwillkürliche, unerklärliche Einsicht ins Leben vor, die stets nur -Wenigen innewohnt und sich nur durch eigentümlich geheimnisvolle, zwar -den Sinnen vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame -Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man gewöhnlich Volkskunst -nennt, ist niemals durch die gemeinsame Macht irgend eines Volkswillens -entstanden, sondern immer ursprünglich von Einzelnen aus reinem -Eigensinn ersonnen und dann erst zu Gemeingut geworden. Aus einem -natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im Licht der Gestirne waltet, -gibt der Einzelne sein einsames Sinnbild dem willigsten Empfängerkreis -hin, oder dem mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und -immer weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen — zumal -bei mündlicher Weitergabe — die eigensinnigsten Züge des Bildes ins -Allgemeinverständliche ab. In den kleinen Volksgemeinden der Urzeit -besorgten wohl meist die Priesterkasten und Herrengeschlechter die -erste Verbreitung; nachher vermittelten fahrende Leute zwischen der -Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft wurde Beruf und -ging also selbst auf die Fahrt nach Brot. So zog einst der Barde mit -seinen Heldengesängen von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit -seinen Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei anderes -fahrendes Volk machte die vornehmen Gebilde fürs seßhafte schlichte -Volk zurecht, und aus der erhabenen Heldensage wurde ein Volkslied, -ein Bänkelsang. So sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von -den Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen, Naturmythen -und Geistergeschichten einer von Priestern gelenkten Kultur sind -später von sinnigen Landstreichern, entlaufenen Mönchen, Scholaren und -Schreibern, für das Verständnis der Spinnstuben-Insassen verweltlicht -und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und verballhornt.<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span> So ist -auch die sogenannte Bauernkunst, wie sie in Hausrat und Volkstracht -sich fristet, nirgends dem Heimatboden entsprungen, ist aus höfischen -oder städtischen Kreisen von reichen Dörflern aufs Land verpflanzt, -und da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich verwucherten -Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst kräftig und reif genug geworden -ist, die entartete alte zu verdrängen. So ging auch die Kunst der -wilden Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Festplatz -des Zauberpriesters, das Zelt des Häuptlings oder der Obmänner, um -in alle Hütten des Stammes zu dringen. Denn der Künstler, der kein -Strumpfwirker ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen; er -will wie das Leben ins Leben wirken, ins unendlich weite belebende -Leben, und heute wendet sich seine Kunst nur deshalb gleich ans -breitere Volk, weil es mächtiger als die Machthaber dem schaffenden -Willen des Lebens dient.</p> - -<p>4. <em class="gesperrt">Das Volk versteht nichts von der Kunst; das ist auch nicht nötig -zum Kunstgenuß.</em></p> - -<p>Das besagt:</p> - -<p>Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig zum Kunstgenuß -sind; die volle Genußkraft ist ebenso selten wie die vollkommene -Schaffenskraft. Aber auch diese Wenigen, Jeder für sich allein -genommen, verstehen nur wenig von den vielfältigen Reizen, die das -geheimnisvolle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst von den -Handwerksgriffen des Künstlers versteht zuweilen sogar der Künstler -nicht jeden einzelnen Wirkungswert, geschweige den ganzen Zusammenhang; -und mancher nüchterne Kunstgelehrte sieht da schärfer als der -scharfsinnigste Meister. Nur sind die äußerst klugen Leute, die blos -mit Verstand zu genießen verstehen, gewöhnlich die innerst seelendummen -und begreifen oft weniger als ein Nigger von der begeisternden -Gefühlswelt, die hinter den sinnlichen Reizen des Kunstwerkes lebt. -Diese Kunstverständigen zwar entschei<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span>den, ob ein Werk den besten -Kennern des Handwerks auf absehbare Zeit zu genügen vermag, und -schätzen seinen Sachwert ein; aber unabsehbar ist das Leben, und -ein vollkommenes Kunstwerk enthält die Lebenshinterlassenschaft -von hunderttausend Millionen anderer Werke und das unschätzbare -Vorvermächtnis für aber-und-abermals andre Millionen. Ein solches Werk -kann Jahrhunderte lang — nach den Maßstäben aller Sachverständigen, -nach dem Urteil der Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der -eignen wie fremder Volksart — ein wertloses totes Unding sein: und -auf einmal ist es nur scheintot gewesen und belebt tausend Geister zu -neuem Gefühl, zu neuem Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten -seelischen Macht, der das vollkommene Kunstwerk entstammt, ist eben -auch der Kenner „nur Volk“. Über diese beständige Machtvollkommenheit, -diesen eigensten Lebenswert der Kunst, entscheidet keinerlei -Kunstverstand, auch kein Kunstgeschmack und kein Kunstgefühl, weder des -Einzelnen noch einer Volksmasse; denn es gibt und gab kein einziges -Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu mäkeln fände, und Geschmack -und Gefühl sind unbeständig, ob aus Verstand oder Unverstand. Über -den Lebenswert der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst, -das wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk zu Volk, ob -durch Zufall, Notwendigkeit oder Gott-weiß-was, doch beständig zum -Weiterleben gewillt. Mit dem Genuß aber hat das wenig zu tun; den -rohesten Kerl kann das scheußlichste Machwerk unvergleichlich stärker -und inniger freuen, als die reinste Schönheit den feinsten Kenner. Wer -Anderes lehrt, ist ein Faselhans, ob nun ein Schwarmgeist oder ein -Nüchterling.</p> - -<p>5. <em class="gesperrt">Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht in der Begeisterung durch -das Unbegreifliche, in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in der -Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in Glauben, Traum und Übermut.</em></p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span></p> - -<p>Das bedeutet:</p> - -<p>Wie das Wesen des Kunstschaffens unerklärlich ist, so auch das Wesen -des Kunstgenießens; erklärlich ist nur der bewirkte Zustand. Er ist, -und sei er noch so vergeistigt, ein Zustand der sinnlich befriedigten -Liebe, im weitesten und engsten Sinn, in der höchsten, tiefsten, -flachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er gibt also -nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand des geliebten Dinges, -für Schönheit, Naturwahrheit und dergleichen. Wie dem liebenden -Jüngling ein Gesicht, das er gestern noch für abschreckend hielt, heute -ein Ausbund aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang -sein wird, vielleicht auch nur für etliche Wochen, so liebt und lebt -auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein Gemisch von Volk! Sogar -das griechische Volk war kein Kunstvolk, wie manche Leute es gerne -träumen; denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab nur -einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen, kunstliebenden -Patrizierfamilien und einem Haufen machtsüchtiger, vergnügungslustiger -Spießbürger nebst einer bäurischen Sklavenheerde. Aber die Lust und -Liebe zur Kunst ist selbst ein gewaltiger Lebenswert: sie legt den -geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch unvollkommen -sind, und hebt alle Kräfte der liebenden Seele, auch wenn es nur -schwache Kräfte sind. Das gilt für Männlein wie für Weiblein; denn -in den höchsten Bezirken der Liebe hört der Geschlechtsunterschied -glücklich auf. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die -stärksten Sehnsüchte seines Lebens durch das angebetete Bild erfüllt -zeigt; und je weniger Wissen den Geist beschwert, je weniger Kenntnis -von Kunstmaßstäben, umso leichter glaubt er seinem Traum. Dann braucht -er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbegreifliche klar, -daß er Eins ist mit dem einsamen Künstler: dann erlebt er wie dieser -das Grenzenlose, ist mit ihm die Blume auf dem Felde, mit ihm der -Held seiner Abenteuer, mit ihm ein ganzes mächtiges Volk und jauchzt -im Stillen<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> vor Übermut. Und wenn er aufwacht aus diesem Traum, der -ihm das Winzigste riesengroß, das Furchtbarste herrlich und lieblich -machte, dann verehrt er die unerforschliche Kraft, die frei mit den -eigenen Grenzen spielt; und seine Abenteuerlust, die einen Augenblick -staunend gestillt war, gibt sich ermutigt dem unstillbaren, wandelbaren -Leben hin. Ein ganzes Volk aber, das so träumt und nur kraft höchster -Kunst so träumt, das ist ein — schöner Zukunftstraum.</p> - -<p>6. <em class="gesperrt">Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar, sondern mittelbar als -Sage ins Volk.</em></p> - -<p>Nämlich:</p> - -<p>Nicht blos die Kunst der vorgeschichtlichen oder späterer -ungeschichtlicher Zeiten, wie sie uns in heroischen Fabeln, humanen -Idyllen, religiösen Parabeln vom „Volksmund“ überliefert ist, sondern -auch alle geschichtliche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild -sinnlichen Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt ins -ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur durch freie Erinnerung -fort; auch der Buchdruck hat daran nichts geändert. Wer liest heute -noch Cervantes und Swift, wie sie vollständig im Buche stehen, oder -gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuflein Gebildeter; und viele von -ihnen nur aus Zwang. Wer sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder -hört die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden besucht, wer -den Petersdom, wer den Park von Versailles? Wer kennt wirklich Lionardo -vollkommen, wer Goethe, wer Mozart und Gluck, wer Bach? — Aber man -spreche von Gullivers Reisen, von Don Quijote, Don Juan, Helena, Faust, -man nenne die Namen Prometheus und Orpheus, Michelangelo, Shakespear, -Rembrandt, Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskraft -wird auch den Geist des geistig Armen mit Bildern schicksalreichsten -Lebens, Gestalten vollkommener Menschlichkeit füllen. Unter hundert -Kunstkennern sind nicht zwei in der Deutung von Dantes Beatrice,<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span> -der Erklärung von Shakespears Hamlet einig, aber jeder einzige fühlt -sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes Mädchen scheint -eine Beatrice, dieser junge Mann ist der reine Hamlet. Das eben ist -das Kennzeichen höchster Kunst, daß sie Keinem ganz begreiflich wird, -daß der Eine dies, der Andere jenes als ihr bedeutsamstes Merkmal -herausgreift, daß sie die unbegrenzte Macht hat, über die eigene -Bildwirkung weg durch fremde Vermittelung weiterzuwirken, bis sich -aus all den begeisterten Meinungen ein allgemeines Erinnerungsbild -formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus dem der Volksgeist -aber das Ganze — und mehr als das — zu begreifen glaubt. So genügt -dem Liebenden eine Locke, um ihm die ganze Gestalt der Geliebten, -den Duft ihres Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre ganze Seele -heraufzubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer Name.</p> - -<p>7. <em class="gesperrt">Nie ist Kunst volkstümlich von Anbeginn; sie wird es kraft ihrer -ursprünglichen, neubelebenden Freiheitslust, und sie bleibt es kraft -ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungsliebe.</em></p> - -<p>Denn:</p> - -<p>Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen freiwilligen -Gewöhnung aller einzelnen Volksmitglieder, oder doch der meisten und -menschlich besten, unter Anleitung der geistig regsten. Man will sich -aber an nichts erst gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnlich ist; -und man gewöhnt sich auch an nichts, was durchaus blos ungewöhnlich -sein will. Nur solche Kunst wird und bleibt volkstümlich, die den -Willen zum geistigen Miterleben, diesen allgemeinsten menschlichen -Willen, gleichermaßen bewegt und beruhigt, löst und fesselt, -antreibt und bändigt. Sie muß Reize enthalten, die immer wieder -das schrankenlose Naturgefühl selbst des Eigensinnigsten erregen; -und sie muß andere Reize enthalten, die immerfort die beschränkte -Kulturvernunft auch des Freimütigsten beschwichtigen.<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> Sie muß alle -diese zwiefachen Reize in einer so einfachen Form vereinen, daß sie -zwingend wirkt wie ein neues Gesetz, zu dem die alten hingedrängt -haben; und es macht das innerste Schicksal des Künstlers aus, ob -er die äußere Geschicklichkeit hat, sich mit seiner ursprünglichen -Schaffenskraft in die Beschaffenheit der Welt, die notwendige Ordnung -der Kräfte, zu fügen. Dann ist sein Werk ein vollkommenes: ein Sinnbild -des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens -zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige. Solche -Kunst mag man anfangs für willkürlich halten, mag sie mißachten und -mißdeuten, verlästern oder verlobhudeln: grade Das wird die Neugier der -Menge reizen, grade Das selbst die ältesten Schlafmützen wecken, und -endlich nimmt auch der Gleichgiltige die ernste Giltigkeit ihres Wesens -hinter dem scheinbaren Gaukelwerk wahr. Dagegen die Kunst, die nach -Volksgunst fahndet, indem sie sich in das Maskengewand volkstümlich -gewordener Ahnenkunst kleidet: sie mag von den vornehmsten Autoritäten, -von Obrigkeit, Schule und Zeitungen, mit aller Gewalt „populär“ gemacht -werden, eine Zeit lang „ungeheuer beliebt“ sein, schließlich wird sie -als eitel Blendwerk erkannt und dient bestenfalls zur Vermittelung -einiger Kunstkenntnis ans Volk.</p> - -<p>8. <em class="gesperrt">Alle Kunst, die nicht volkstümlich wird, ist Unkunst, Tand und -Spreu im Wind.</em></p> - -<p>Das ist so zu verstehen:</p> - -<p>Kein Kunstwerk, und sei es noch so schlecht, ist von Anfang an ohne -Lebenswert; es finden sich immer die vielen Dummen und manchmal auch -nicht wenige Kluge, die ein schlechtes Werk für gut genug halten, die -Langeweile auszufüllen. Erst allmählich merkt man, was Unkunst ist. -Jeder Einzelne weiß das aus eigner Erfahrung, und die Erfahrungen der -Völker wachsen noch viel allmählicher, dafür freilich auch dauerhafter. -Es lassen sich mancherlei Kunstwerke herzählen, die Jahrhunderte lang -im Volk wie bei Kennern die höchste Wertschätzung be<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span>saßen und heute -für mittelmäßig gelten, vielleicht immer tiefer an Wert sinken werden, -vielleicht auch wieder zum höchsten steigen. Eine vollkommene Gewähr -für die Richtigkeit eines Kunstwerkes bietet allein der Tatbestand, daß -es als Stoffding untergegangen ist, ohne in irgend einer Form — in -Sage, Denkmal, anderen Werken — als seelisches Wesen weiterzuwirken. -Das mag sich von den besten Kennern für die ungeheure Mehrzahl der -Kunstdinge mit aller Gewißheit voraussagen lassen; aber die Kenner -vollstrecken ihr Urteil nicht. Nur die Menschheit selbst ist das -Jüngste Gericht und sondert langsam die Spreu vom Weizen; und das -Volkstum ist das große Sieb, durch das sie ihre Lebensfrucht worfelt. -Da werden auch viele Dinge durchfallen, die vielen Kennern Kleinodien -waren; und der ordinärste Hintertreppenroman wird dann nicht tiefer -im Kehricht liegen als manche exquisite Salonnovelle. Dann wird der -namenlose Dichter, der dem Volk den Aberwitz der Romantik durch das -Bild des „geschundenen Raubritters“ zeigte, in der menschlichen -Sprache lebendiger leben als mancher romantische Schulpoet mit -literarhistorischem Ruhm. Über die Geistesgebilde der Machtvollsten -aber lebt noch ihr eigenes Bildnis hinaus. Es werden Zeiten kommen, -wo unsre Kultur begrabener als die ägyptische daliegt; dann wird -vielleicht kein Buch von heute, kein Notenblatt mehr in Ansehen stehn, -aber das Seelenbild Dante, das Paradiese und Höllen umarmt, der Geist -Beethoven, den die Verzweiflung zum Freudenschrei trieb, wird dann der -Menschheit noch ebenso heilig sein wie Orpheus oder Prometheus.</p> - -<p>9. <em class="gesperrt">Die Kunst geht ihren eigenen Weg; wohl ihr, wenn das Volk ihr zu -folgen vermag.</em></p> - -<p>Das ist so selbstverständlich —</p> - -<p>daß es selbst für die eingebildetsten Dickköpfe nicht der Erklärung -bedürfen würde, wenn nicht manche Künstler von Zukunftswert einen -wohlfeilen Afterstolz darein setzten, bei Leb<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span>zeiten nicht ins Volk zu -dringen. Angewidert vom Afterruhm meinen sie, ihr Selbstgefühl sei die -ganze Welt, die Menschheit ein Märchen der Volksverführer. Wie lange -wird dieser Irrsinn dauern? Bis sie der Welt zum Opfer gefallen und dem -Volk wie der Menschheit ein Leichenschmaus sind! Denn wir leben alle -nicht für uns selbst, mag es auch manchem Scheinweltweisen bei seiner -Schreibtischlampe so scheinen; selbst der selbstsüchtigste Geizhals muß -ins Grab und hat seine Schätze für Erben gesammelt.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Nationale_Kulturpolitik">Nationale Kulturpolitik</h3> - -<p class="center">Eine fragwürdige Angelegenheit</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl niemand in Abrede -stellen. Man pflegt sich nur darüber zu streiten, ob die sogenannte -wahre Kultur — wie die philosophastrischen Schlagwörter lauten — -„bewußt“ oder „unbewußt“ zustande komme, besser gesagt: absichtlich -oder unwillkürlich. Aber es gibt keine geistige Tätigkeit, die nicht -zugleich aus unwillkürlichem Antrieb und mit absichtlicher Zwecksetzung -vor sich geht. Politik ohne bewußte Absicht ist ein Widerspruch -in sich selbst; und die Geschichte der Völker und Staaten zeigt, -daß Kulturpolitik zu allen Zeiten und in allen Ländern getrieben -wurde. Man braucht nur Namen wie Perikles und die Medici, Augustus -und Louis XIV, William Cecil und Friedrich den Großen zu nennen, -und wir erinnern uns an Epochen planvollster Zusammenfassung der -produktiven Einzelkräfte um der organischen Volksbildung willen, auf -kleineren wie größeren wie ganz großen Staatsgebieten. Und nicht blos -persönliche Oberhäupter, auch regierende Körperschaften haben solche -Politik getrieben; Beweis die Republik Venedig, die Niederlande, die -Hansestädte. Allerdings waren diese Körperschaften noch durchweg -Aristokratieen und beherrschten nur kleine Volksgebilde; auch die -so<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span>genannten Demokratieen der altgriechischen Stadtgemeinden hatten -tatsächlich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zuschnitt. Es -fehlt daher an historischen Parallelen zu den Herrschaftsformen der -Gegenwart, die in den großen Staaten Europas aus alten aristokratischen -und neuen demokratischen Machtzuständen unklar gemischt sind. -Das aber ist ausschlaggebend für die Entscheidung der Frage, ob -sich heute die Kristallisation der nationalen Kulturtendenzen -erfolgreich beschleunigen läßt oder nicht. Denn erstens muß die -Nation schon reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst -tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in Grund und Boden -verdorben; und zweitens ist Politik nur erfolgreich durch eine starke -Machthaberschaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist freilich -die Unklarheit der Machtverhältnisse kein Grund, daß es nicht Zeit -zur Klärung sein könnte; kein Mensch weiß im voraus, wie reif ein -Volk ist. Also braucht man sich blos noch den Kopf zu zerbrechen, ob -die verschiedenen mächtigen Leute, die sich heute als Volksvertreter -fühlen, hinlänglich einig darüber sind, <em class="gesperrt">woraufhin</em> kultiviert -werden soll.</p> - -<p>Kulturpolitik irgend welcher Art wird ja allenthalben genug -getrieben, in Deutschland eher zu viel als zu wenig. Potentaten, -Finanzbarone, Minister, Parlamente, Parteien und Kongresse, Demagogen -beiderlei Geschlechts, Universitätsprofessoren und Volksschullehrer, -Literatenkliquen und Zeitungsredaktionen, alle schwingen das Wort -„Kultur“ im Munde und greifen sogar in die Tasche dafür, teils in -die eigene, teils in fremde, und natürlich immer für „wahre“ Kultur. -Aber mit welcher Sorte wahrer Kultur man das <em class="gesperrt">ganze Volk</em> zu -beglücken gedenkt, davon ist wohlweislich nie die Rede; sie könnte -doch gar zu leicht unwahr tönen. Trotzdem ist einzig dies der Rede -wert. Nationale Kultur bleibt ja leere Phrase, wenn sie nicht ein -humanes Programm bedeutet: bestimmte Veredlungswerte der Menschheit, -die das Volk selbstbewußt in sich ausbilden soll. Allgemeine Bildung -ist nur ein Ziel für hochbegabte Persön<span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span>lichkeiten; im Durchschnitt -des Volkes läuft sie leider auf allgemeine <em class="gesperrt">Ver</em>bildung hinaus. -Gar eine schöngeistige Bildungspflege ist fürs gesamte Volk ein -Unding, war stets nur gewissen bevorrechteten Gesellschaftsklassen -wirklich erreichbar, deren leibliche Wirtschaftsbedürfnisse von -anderen Klassen besorgt wurden. Alle organische Kulturpolitik muß -zunächst natürlich darauf bedacht sein, besonders leistungsfähige -Berufsstände zu begünstigen, an die sich die übrigen angliedern -können, je nach den hauptsächlichen Volksanlagen und den zeitlichen -wie örtlichen Entwickelungsbedingungen. Selbst in den kleinsten -Gemeinwesen hat die Kultur nie von Anfang an harmonische Tendenz -gehabt, war überall um spezifische Interessengruppen konsolidiert: -agrarische oder kommerzielle, militärische oder juridische, religiöse -oder philosophische, erotische oder soziologische, je nachdem die -Oberschicht mehr sensuell oder mehr intellektuell begabt war, mehr -energisch oder mehr spekulativ. Für all das lassen sich reinliche -Beispiele bei räumlich beschränkten Kulturen finden, von dem -spartanischen Kriegerstaat bis hin zum Friedensreich der Inka, von den -indischen Weisheitsfürstentümern bis zu den Minnehöfen der Provence.</p> - -<p>Heute aber, in unseren großen Staaten mit ihren vielerlei -Machthabergruppen, wo herrscht da wahre Einmütigkeit über solche -Meistbegünstigung? Wie kann eine Harmonie der Interessen entstehen, -wenn fast jeder Stand nur <em class="gesperrt">die</em> Politik verfolgt, sich -möglichst „notleidend“ zu stellen! In Deutschland wird man sich -höchstens vielleicht auf das Zugeständnis einigen: wir scheinen eine -<em class="gesperrt">industrielle</em> Kultur ziemlich hohen Ranges zu schaffen. Aber -die Folgerung lautet dann meistens: folglich braucht sie nicht mehr -begünstigt zu werden. Und gewisse Idealisten zetern sofort: das ist -ja „blos materielle“ Kultur, ist also „überhaupt keine“, ist „nichts -als“ Zivilisation! Nun, ich bin selber ein Idealist, allerdings keiner -mit fixen Ideen, und eine Grenze zwischen jenen beiden Begriffen läßt -sich meines Er<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span>achtens durchaus nicht fixieren. Eine Industrie von -materiellem Höchstwert ist notwendigerweise zugleich ideell, oder zum -mindesten intellektuell, nämlich angewandte Naturwissenschaft; da ist -also schon ein Punkt aufgedeckt, wo Zivilisation in Kultur übergeht. -Die Industrie ist ferner genötigt, sich wegen ihrer technischen -Qualitäten ästhetische Werte anzuzüchten; und die teilen sich dann -natürlich dem Volk mit, das ihre Produkte herstellen, vertreiben und -verbrauchen hilft. Und daß durch ein gründliches Industrie-System auch -allerlei sonstige Disziplin, ökonomische, juristische, hygienische, -moralische, in der Volksmasse ausgebildet wird, ist ohne weiteres -selbstverständlich; Bernard Shaw hat darüber im letzten Akt seiner -Komödie „Major Barbara“ sehr räsonnabel phantasiert.</p> - -<p>Bleibt somit lediglich auszuprobieren, ob in der Tat unsre Industrie -— in Arbeitgebern wie Arbeitnehmern — schon so starke Kulturpotenzen -umspannt, daß sie die übrigen Machthabergruppen von ihrem Vorzugsrecht -überzeugt, z. B. die Herren Agrarier und den nicht minder herrlichen -Klerus. Sobald die geistig bedeutendsten Machtgruppen eine dauernde -Hebung ihrer Wohlfahrt, sei es direkt oder indirekt, von einer -materiellen Tendenz erwarten, schlägt diese bereits ins Ideelle um, -in eine sozialpolitische Sympathie aller Stände, die sich bis zu -religiöser Ekstase und poetischem Enthusiasmus steigern kann; siehe -die Zeit der Kreuzzüge, die aus agrarischen Interessen emporkam. -Dergleichen geht meist viel rascher vor sich, als die fixen Idealisten -glauben; aber ehe es wieder möglich wird, müssen freilich erst die -führenden Geister der einzelnen Berufskreise mehr Fühlung miteinander -erlangen, als zur Zeit bei uns vorhanden ist, mehr Achtsamkeit und -mehr Verständnis für die gegenseitigen Ergänzungswerte. Inzwischen -hat jedermann im Volk, erst recht aber jeder leitende Mann, das Eine -zu tun, das immer nottut: seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. -Bildung predigen kann der nichtsnutzigste Nörg<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span>ler; gute Lehren sind -gut, gute Vorbilder besser. <em class="gesperrt">Im eignen Beruf etwas Tüchtiges leisten -und fremde Tüchtigkeit anerkennen</em>, das ist schließlich die beste -Kulturpolitik. Kurz: möglichst wenig davon reden im Allgemeinen, -möglichst viel im Besonderen dazu tun! In diesem Sinne könnte die -Großmacht „Presse“ aufs besonderste vorbildlich wirken; notabene wenn -sie endlich wollte.</p> - -<p>Statt dessen wird geschwatzt und geschwatzt, und das hält man womöglich -noch für ein Zeichen allgemeinen geistigen Fortschritts. Wenn jemand -alldas lesen müßte, was bei uns über Bildung und Bildungszwecke, -Kultur und Kulturprobleme geschrieben wird: ob er dann nicht reif -fürs Irrenhaus würde? Wir sind besessen vom Fortbildungsdrehwurm, -deshalb besitzen wir keine ruhige Bildung. Ich habe einmal einen Jungen -gekannt, der so viel übers Leimrutenstellen nachdachte, daß er nie -dazu kam, einen Vogel zu fangen. Und ich kenne viele erwachsene Leute, -nicht etwa blos Privatdozenten, die lange Vorträge über Schönheit und -Freiheit halten und weder verstehen eine Blume zu pflücken noch sie -in ein Knopfloch zu stecken. Wenn so ein Schöngeist dann plötzlich -errötet über seine Ungeschicktheit, dann ist vielleicht noch Hoffnung -vorhanden, daß er endlich aufhört, für Bildung zu schwärmen, und -wirklich anfängt, sich zu bilden. Darum war es ein Zeichen heilsamer -Reue, daß unlängst unter den vielen Rundfragen, mit denen jeder -irgendworin Gebildete von unsern Zeitungen und Zeitschriften aus -vorzüglicher Hochachtung überschwemmt wird, plötzlich auch die Frage -auftauchte, ob wir nicht heute „an einer Überwertung der Bildungsfragen -kranken“. Ich weiß freilich nicht, ob der Verfasser dieser -Überbildungsfrage über ihren Stil errötet ist; über ihre Motive aber -sollten wir allesamt erröten.</p> - -<p>Was ist Bildung? Nur die Unbildung fragt so. Der Gebildete redet -nicht darüber, er hat allemal Besseres zu tun; gebildet ist, -wer vorbildlich wirkt durch irgendeine Tüchtigkeit.<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> Unsre Zeit -ist nicht so untüchtig, an „Überwertung“ der Bildungsfragen zu -„kranken“; ich glaube sogar, daß jeder wertvolle Mensch über solche -Doktorfragen die Achseln zuckt. Aber worunter wir allerdings leiden, -und grade die Tüchtigsten am meisten, das ist die Überschätzung der -Bildungs<em class="gesperrt">mittel</em>, der praktischen wie der ideellen; das Werkzeug -steht höher im Wert als das Werk! — Wir bauen großartige Fabriken, -die kleinliche Fabrikate erzeugen. Wir erfinden hochfliegende -Verkehrsmaschinen, die den Verkehr immer flacher, weil flüchtiger -machen. Wir konstruieren geistreiche Schwebebrücken, Bahnhofshallen -und Kabelanlagen, die keiner andern Güterbeförderung als nur der -leiblichen Wohlfahrt dienen. Wir überspinnen unsre Städte und Dörfer -mit baumwuchsverstümmelnden Drahtnetzen, die unser Alltagsgeschwätz -so bequem verbreiten, daß es selbst dem Geduldigsten unbequem wird. -Wir pflegen ästhetische Techniken und intellektuelle Methoden, deren -absonderliche Feinsinnigkeit die Wirkung der Künste wie Wissenschaften -auf unsre ganze Gesinnung vereitelt. Wir organisieren einen -Religionsunterricht, der so überaus vernünftig ist, daß die ehrwürdigen -Worte des Glaubens zum Gespött der Kinder werden. Wir entwickeln -tiefdurchdachte Erziehungssysteme, die prinzipiell auf Zöglinge von -oberflächlichster Durchschnittlichkeit des Denkens und Fühlens angelegt -sind. Wir betreiben eine Politik, die vor lauter Interessendiplomatie -das solidarste Intresse der Nation, das soziale Vertrauen, in den -Wind schlägt. Wir gründen sehr sittliche Einrichtungen zum Schutz der -menschlichen Arbeitskräfte, und das Vollkommenste, was mit all dem -Aufwand für Volk und Menschheit geschaffen wird, sind Instrumente der -Zerstörung: Kanonen, Kriegsschiffe und dergleichen.</p> - -<p>Wie dieser Wahnwitz kuriert werden kann? Weder durch Lehranstalten noch -durch Kasernen noch durch die sogenannte Schule des Lebens, durch kein -Hilfsmittel von außen her. Autosuggestionstherapie nennt es heute die -innere Medizin;<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> auf gut Deutsch heißt es immer noch Selbstzucht, soll -den Geist vom Narrsinn der Selbstsucht befreien und kann von den werten -Lehrmeistern, Eltern und andern Vorgesetzten nur durchs eigne Beispiel -erläutert werden. Das Wort „Bildungszweck“ ist dabei überflüssig, denn -hier deckt sich das Mittel mit dem Zweck. Aber freilich: man lernt dies -Mittel erst anwenden, wenn der Geist schon — von selbst zu genesen -beginnt.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Kunst_und_Persoenlichkeit">Kunst und Persönlichkeit</h3> - -<p class="center">Perspektiven ins Unpersönliche</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Wir leben seit der Betriebsamkeit der Lokomotive und des elektrischen -Drahtes in einer Wiedergeburt der Künste, die der humanen Tendenz -nach tiefer zu wirken und weiter um sich zu greifen bemüht ist, als -irgend eine der früheren Renaissancen; nicht blos bemüht, auch berufen. -Die moderne Kultur ist international geworden, und als gebildete -Menschheit sieht man nicht mehr eine kleine Klasse von Bevorrechteten -an, wie einst in Indien und Attika oder in den Adelsländchen und -Patrizierrepubliken der Reformationszeit, sondern insgesamt all die -Nationen, in denen die Leibeigenschaft für unrecht gilt. Aus einem -so viel weitern Intressenkreis nimmt der Künstler unsrer Zeit seinen -Rohstoff und hat für die Verarbeitung den soviel weiteren Kreis von -Intressenten. Tiefer als jemals fühlt sich das moderne Individuum im -Gegensatz zur breiten Masse, die immer mächtiger wird, die freier -als jemals konkurrierende Individuen aus sich emporwerfen kann. Um -soviel tiefer, mächtiger und freier muß jede Persönlichkeit, die sich -zur Geltung bringen will, auch ihre wesentlichen Eigentümlichkeiten -zum Ausdruck bringen. Sie muß, sie kann nicht anders; das ist das -Schöpferische, das Gesunde, Urnatürliche, auch wenn es sich an -einer Szene aus dem Krankenhaus oder an den verdrehten Gesten einer -Salonpuppe ausläßt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span></p> - -<p>Und denselben Eigenwillen bekundet, oft bis zum verrannten Eigensinn, -einstweilen auch noch unser Kunsturteil, d. h. die Einsicht in die -Ursachen der jeweils empfundenen Wirkung. Denn zu diesen Ursachen -gehört zunächst der persönliche Geschmack des Genießenden, der sich -aus allerlei Temperamentsqualitäten zusammensetzt, die mit dem -Gefühl für den bleibenden Kunstwert nichts oder wenig zu tun haben. -Insofern freilich wird <em class="gesperrt">kein</em> Kunsturteil seinen laienhaft -subjektiven Charakter verleugnen können; selbst der Künstler dem -Kunstgenossen gegenüber wird immer darin befangen bleiben. Aber aus -dieser natürlichen Befangenheit grade entspringt das Gefühl der -Unbefangenheit. Wer sich ganz dagegen sperren wollte, würde überhaupt -nicht zum Genuß gelangen; und das hieße dem Künstler, solange er -lebt, der Dienste schlechtesten erweisen. Eben das instinktive -Geschmacksurteil, sobald es nur offen als solches bekannt wird, ist dem -Künstler mindestens ebenso wertvoll wie das sogenannte rein kritische, -das in Wahrheit niemals rein sein <em class="gesperrt">kann</em>. Denn es wird ihn am -klarsten über die Wirkung seiner persönlichsten Ausdrucksmittel auf -fremde Naturen unterrichten, sei es durch Zustimmung, sei es durch -Widerspruch; wird also seine Eigenart schärfen und seine Schaffenslust -kräftigen. Reine Objektivität des Urteils ist ja nichts als Bewußtsein -der letzten Grenzen zwischen den Eindrücken von Außen her und ihrer -Verarbeitung von Uns aus, also ein idealer Begriff wie Schönheit, -Wahrheit, Vollkommenheit, ebenso relativ und variabel. Denn wirklich -erkennen und begründen lassen sich diese Grenzen erst, wenn und nachdem -wir den fraglichen Eindruck subjektiv empfunden haben.</p> - -<p>Es gibt nun freilich merkwürdige Leute, die zu keiner Zeit zufrieden -sind, und heutzutage besonders viele, denn seit Lasalle ist -Unzufriedenheit bekanntlich eine Tugend. Seit Nietzsche aber darf man -zum Glück gegen die bekannten Tugenden mißtrauisch sein; und wenn sich -der weise Zarathustra nicht gar so<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> tief in seine Höhle verkrochen -hätte, würde ihn wohl allmählich nicht blos das „erbärmliche Behagen“, -sondern mehr noch das viel erbärmlichere Unbehagen gewisser Idealisten -geekelt haben. In der Tat: merkwürdige Leute das! Da gibt es welche, -die jammern über Gott und die Welt; und wenn nun Einer sich untersteht, -ihren Jammer schön in Verse zu bringen, dann fallen sie eilends über -ihn her und schimpfen ihn einen Entarteten. Da gibt es Andre, die -haben fortwährend eine laute Sehnsucht nach der inneren Ruhe; wenn -aber einmal Einer auftritt, der sich diese Ruhe errungen hat, dann -finden sie ihn fad und müd und werfen ihm noch Steine in seinen stillen -Hafen. Wieder Andre regen sich drüber auf, daß die Eigentümlichen gar -so unverständlich seien; gibt dann ein solcher Sonderling auch mal -was Gemeinverständliches von sich, schelten sie ihn einen geistigen -Schwindler. Und nochmals Andre lassen sich den Unverstand der Menge -verdrießen, weil sie neugierig mit den Wenigen laufen, die den Vielen -nicht gleich offne Briefe sind; läuft aber Einem dieser Wenigen dann -auch sein Volk bei Zeiten zu, so ist er natürlich ein Überläufer. Und -so weiter: was so alles zum Vorschein kommt, wenn sich die Leute, die -das liebe „man“ ausmachen, mit einem Manne abzufinden haben.</p> - -<p>Indessen diese merkwürdigen Leute haben trotzalledem nie ganz Unrecht: -mit der bloßen Selbstherrlichkeit kann kein Mensch etwas Großes -fordern, nicht einmal ein Staat oder Volk. Jede Wiedergeburt der Künste -beginnt mit krampfhaften Wachstumsregungen, deren Eigenleben die neue -wie alte Kultur von Natur aus gefährden würde, wenn nicht irgend ein -gemeinschaftliches Lebensbedürfnis sie zugleich doch bändigte. Auch -die Renaissance vor 500 Jahren hat ihre Kulturmacht und Stilvollendung -nur durch den weitverzweigten Zusammenhang der lokalen Schulen und -Meister erlangt, der erst zerfiel, als sie reif genug war für den -universelleren Barockstil und für so umfassende Einzelgeister wie -Michelangelo, Shakespear, Bach;<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> und Hellas ist gleichfalls erst -durch den Verkehr mit Asien und Ägypten gewachsen. Dies Bedürfnis -schöpferischer Kräfte, einander möglichst zu durchdringen, ist auch -jetzt wieder mächtig in der Kunst, eben weil wieder selbstbewußt genug -geschaffen wird, daß die Eigenart des Einzelnen nichts mehr daraus -zu befürchten braucht. Kunst wie Dichtung dürfen wieder dran denken, -sich dem Volk in ihrem allgemein menschlichen Lebenswert bemerkbar -zu machen, nicht nur den eigenwillig persönlichen und nationalen -Geschmackswerten nach. Denn es gibt eine Art der Kunstwirkung, -die über jegliche Grenze selbstsüchtigen Schaffens und also auch -Genießens hinausgeht, die überhaupt erst die höchste Kunstwirkung -ist, und deren Mächtigkeit bei dem einzelnen Kunstwerk den Grad -der bleibenden Schätzung bestimmt: das ist das befreiende Gefühl -der Selbstvergessenheit, dasselbe Gefühl, das auch den Künstler im -schöpferisch entrückten Augenblick packt, also die Wirkung grade der -<em class="gesperrt">Un</em>persönlichkeit.</p> - -<p>Dies scheint nun fast im Widerspruch zu aller so erbittert -verteidigten Eigentümlichkeit des Künstlers zu stehen und jede -Schätzung persönlichen Willens in Form wie Stoffwahl auszuschließen. -Aber wie allenthalben im Leben bedingen auch hier die Gegensätze -gegenseitig ihr Dasein. Ein Kunstwerk, das sich nicht vor andern -durch irgendwelche Besonderheit auszeichnet, kann uns auch -selbstverständlich nicht zu besonderer Beachtung reizen. Aber was uns -diesem Anreiz erst nachzugeben drängt und zwingt, das eben ist jenes -Unpersönlichkeitsbedürfnis, das uns hinter der fremden Besonderheit -etwas uns Allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes unwillkürliche -Allgemeingefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum -und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen -Gegenstand nach immer neuen Eigenschaften, d. h. Beziehungen zu uns -selbst, suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche, -ob wir’s nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist,<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> Allseele oder -Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen —: wir wenden -uns enttäuscht ab von dem Kunstwerk, sobald wir jene Vermutung des -Allgemeinen hinter dem Besonderen nicht darin bestätigt finden. Und -auch im Künstler selbst ist es so: erst dieses Allgemeine, Unfaßbare, -Grenzenlose, wie es sich im Prisma seines persönlich beschränkten -Bewußtseins bricht, sei es durch sinnliche oder durch geistige oder -durch Gemüts-Wahrnehmung — gleichsam die drei Flächen dieses Prismas -—: erst Das erzeugt den persönlichen Stil mit all seinen Zu- und -Unzulänglichkeiten, und einzig deswegen fühlt sich der Künstler niemals -vollkommen selbstbefriedigt durch irgend eins seiner fertigen Werke.</p> - -<p>Demgemäß ist es auch ganz verkehrt, wenn eine supermoderne Ästhetik -sich dagegen auflehnen will, nach allgemeinen Maßstäben für -künstlerischen Wert und Unwert zu suchen. Die kritische Methode, wie -Lessing und Schiller sie für Deutschland begründet haben, nämlich -die klar begrenzte Feststellung gewisser höchster Wertbegriffe auf -Grund stets wiederkehrender Gefühlserfahrungen bei allen stärksten -Kunstgenüssen, ist etwas, dessen sich die Menschheit niemals wird -entschlagen können. Wenn eine neuere Ästhetik dies zu ersetzen, -nicht etwa blos zu ergänzen hofft, dadurch daß sie das Kunstwerk -rein beschreibend als eigen reizvolle Erscheinung, womöglich gar -als pathologische, bis ins Feinste zergliedern will, so ist sie -schlechterdings in einer fortwährenden Selbsttäuschung befangen. Denn -damit legt sie nicht das Geringste über die Kunstwirkung als solche -dar, setzt vielmehr jene normative Methode im stillen immerfort voraus, -indem sie eben nachprüferisch nur solche Werke untersucht, die nach -Maßgabe irgendwelcher Allgemeingefühle schon als irgendwie wertvoll -anerkannt sind. Daß solche allgemeinen Maßstäbe immer auf allerlei -Querstriche von anderem Standpunkt aus stoßen werden, liegt nicht -an einem Fehler der Methode, sondern ist im Wesen der Kunstwirkung<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> -einerseits, des menschlichen Verstandes anderseits begründet; denn -jenes letzte unpersönliche Grundgefühl, auf dem der Kunstgenuß beruht, -reicht eben immer weit hinaus über die Grenzen klarer Wahrnehmung, und -von dieser ist ja unser Verstand obendrein nur ein Bestandteil. Daher -ist der Künstler auch stets der Meinung, daß sein Werk am wirksamsten -durch sich selbst spricht. Nicht blos am unwiderleglichsten, sondern -sogar am gründlichsten; denn schließlich sind ja in dem Gefühl, -das durch die Einwirkung des Kunstwerks — ob für oder wider — in -uns erregt wird, alle Gedanken schon mit enthalten, die man sich -<em class="gesperrt">über</em> die Wirkung machen kann. So ist es nun einmal von Natur: -das Gefühl erstreckt sich ins Grenzenlose, der Verstand ist stets auf -Standpunkte beschränkt.</p> - -<p>Um jenes entrückenden Grundgefühls so gründlich wie möglich teilhaftig -zu werden, muß man sich also immer wieder an die Kunstform selbst -halten, nicht etwa an die Erinnerung blos; und wer es unter dem Bann -seiner Eigenart hinter der fremden Art des Künstlers nicht von selbst -zu erlangen vermag, dem wird es kein Verstand der Kunstverständigen -jemals zu Gemüte führen. Denn alle Kunstwirkung läuft schließlich -auf das Wunder der <em class="gesperrt">Liebe</em> hinaus, das sich begrifflich nur -umschreiben läßt als Ausgleichung des Widerspruches zwischen Ichgefühl -und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessenheit. Ja, man kann -gradezu sagen: je mächtiger ein Kunstwerk in uns dieses allumfassende -Gefühl erregt, umso ausdrücklicher darf und muß sich — schon um -des technischen Gleichgewichts willen — auch die persönliche Art -des Künstlers zeigen, während sich ohne jenes Unpersönliche die -menschliche Selbstentblößung der Schaffenden, diese völlig grundlose -Offenherzigkeit in seelischen oder leiblichen Dingen, die jedem -ursprünglichen Kunstwerk eignet, nur als die mehr oder weniger -unverschämte Aufdringlichkeit von Marktschreiern auswiese.</p> - -<p>Es hat schon manchen Sittenprediger, auch manchen Schön<span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span>geist kopfscheu -gemacht, daß oft grade Kunstwerke, die am stärksten auf Umfassung der -Lebensgewalten, auf Beherrschung der Naturkräfte ausgehn, obenhin -fast den Eindruck machen, als handle sichs um Verherrlichung brutaler -persönlicher Instinkte. Das wäre freilich das Gegenteil von einer -Kunst der Naturbeherrschung. Aber man wird nicht leugnen können: -wo geherrscht werden soll, muß etwas da sein, das der Beherrschung -wert und bedürftig ist. Der lenkende Geist ohne starke Triebe, wäre -ein Reiter ohne Pferd; wie hinwider selbst das edelste Vollblut -nichtsnutzig wird und niederträchtig, wenn nicht ein ebenbürtiger Herr -es mit Geschick zu bändigen weiß. Als oberste Aufgabe der Menschheit -wird auch dem Künstler ewig vorschweben: die Erringung jenes geistigen -Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen -über sein Schicksal erhaben macht, über inneres wie äußeres Schicksal. -Jede Überschätzung der Persönlichkeit ist also gleichbedeutend -mit Unterschätzung ihrer höchsten Schaffenskraft, wie auch des -Kunstschaffens überhaupt.</p> - -<p>Und demzufolge: je stärker sich in einer Zeit dies -Unpersönlichkeitsbedürfnis regt, ob nun als soziale oder erotische oder -sonstwie altruistische Hingebung, umso mehr wächst auch die Lust der -Schaffenden, sich über die technischen Spezialitäten, die wiegesagt -immer blos der Ausdruck des beschränkten Selbstbewußtseins sind, -hinauszuheben zu überschauenden Zeit- und Welt- und Lebens-Sinnbildern, -nicht mehr nur der sinnlichen Anschauung zu dienen durch eigentümlich -stimmungsvolle „Naturausschnitte“ und „Seelenzustände“, die selbst den -Eingeweihten anmuten wie Tempelwände voll Hieroglyphen, sondern wieder -einmal Pyramiden zu bauen, von denen aus Jeder, der notabene die Mühe -des Ersteigens nicht scheut, beseligt in den freien Himmel und über -weites Land schauen kann. Ich will mit dieser bildlichen Floskel nicht -etwa einer bodenlosen Himmelstürmerei das Wort reden, die sich auf -Erden nicht zurecht zu<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span> finden weiß. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen -der Unreife, wenn man noch glaubt, den Himmel erst erobern zu müssen. -Wir sind ja jeden Augenblick — ich meine das ganz wirklich und wahr — -mitten in allen Himmeln drin; die Erde ist im Unendlichen genau so hoch -oder tief zuhause, wie etwa die Sonne oder ein anderer Stern.</p> - -<p>Das <em class="gesperrt">wissen</em> freilich heute schon Viele; aber <em class="gesperrt">fühlen</em>, -als etwas Selbstverständliches mitfühlen, mit Fleisch und Blut -und allen Nerven, tun es erst recht Wenige. Und grade dieses -selbstverständliche, genau so irdische wie überirdische Allgefühl, -das jede andere Lebensempfindung, jede Einzelwahrnehmung, jeden -Gedanken des Schaffenden stützt und trägt, das eben ist die magische -Basis, auf der sich die großen Werke der Kunst, die im bildsamsten -Sinne vorbildlichen, immer wieder aufbauen. Das hat nichts zu tun mit -dem Idealismus gewisser humaner Tendenzpoeten, der nur temporärer -Kritizismus und meistens ein sehr barbarischer ist. Der künstlerisch -bestrebte Dichter benutzt die humanen Ideen seines Zeitalters nur, um -seine Gefühlskraft daran zu erproben, nämlich als seelische Dissonanzen -zwischen Menschheit und Gottnatur, die er harmonisch zu lösen hat. Er -kann und will nichts weiter tun als eine bildliche Fühlung zum Leben -schaffen, die alle kritischen Widersprüche gegen die Schönheit und -Herrlichkeit des ganzen Daseins ganz und gar ausschließt, also auch -alle speziellen Tendenzen. Das ist der Idealismus des <em class="gesperrt">Künstlers</em>; -und der liegt jeglichem echten Kunstwerk zugrunde, auch wenn sein -Rohstoff dem oberflächlichen Blick häßlich oder schrecklich erscheint. -Wer sich dann durch dies bildliche Werk in der Tat vollkommen -befriedigt fühlt, den hindert freilich nichts und niemand, darin nach -einem besonderen Richtziel für seine eigne Gefühlswelt zu fahnden. Und -in diesem Sinne — doch nur in diesem — kann allerdings <em class="gesperrt">jede</em> -Kunstgestalt, vom ganzen Opus bis zur geringsten Teilfigur, als -<em class="gesperrt">Vor</em>bild der Lebensführung aufgefaßt<span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span> werden, selbst wider -Absicht und Meinung des Schöpfers; Falstaff genau so gut wie Achilleus.</p> - -<p>Wenn das erst wieder vollkommen begriffen ist, von den Genießenden -wie Schaffenden, dann wird auch der Schauer vor dem Unergründlichen, -den jede gründliche Beschäftigung mit fremder Geistesarbeit in uns -weckt, die Kunstwelt wieder allgemein durchdringen; dann wird sich dies -Gefühl, als eine neue Ehrfurcht vor der ewigen Schöpferkraft, auch -bald durch die Alltagswelt verbreiten, und dann wird diese Welt wohl -endlich merken, daß sich wieder eine <em class="gesperrt">religiöse</em>, auf deutsch -<em class="gesperrt">allverbindliche</em> Kunst bei uns anbahnt. Die braucht nicht wie -ein Sturm daherzufahren; auch im Säuseln des Windes kann man Erhabenes -hören. Dürers Gottvater auf dem Regenbogen über den sieben Leuchtern -und dem knieenden Johannes enthüllt in seinen bescheidenen Formgrenzen -die Allmacht ebenso strahlend, wie Michelangelos Apotheose der -geschlechtlichen Zuchtwahl, die den Himmel der Sixtinischen Kapelle zu -sprengen droht und in dem heilandsherrlichen Menschenpaar des Jüngsten -Gerichtes gipfelt. Der ehemalige Sinn dieser Bilder mag heute schon -halber Unsinn sein; aber ihr Geist wird weiterwirken, solange die -Sterne uns unerreichbar sind.</p> - -<p>Es ist dem eindringlichen Kunstgefühl auch völlig gleich und einerlei, -ob jenes Tiefste und Höchste ihm durch naturale Anschauungsfreude -oder symbolische Vorstellungslust vermittelt wird; das Eine ist so -mittelbar und unmittelbar wie das Andre. Der formgewaltige Phantast -zeigt im Symbol Natürliches, der Realist in der Natur Symbolisches. -Die rhythmische Flut des Sonnenlichtes, die durch den scheinbar -wüsten Tanzknäuel der Rubensschen Kirmeßbauern braust, erhebt den -andächtig Schauenden in eine nicht minder unendliche Seligkeit, wie der -entschwebende Puttenreigen in dem Dämmerungsglanz und Fackelschimmer -von Watteaus Abfahrt nach Cythere. Und das will doch wohl der -machtvolle Künstler: als ein Seher des all<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span>mächtigen Lebens betrachtet -werden, nicht als Spezialartist einer Technik. Es gibt eben auch in der -Kunstgeschichte Apokalyptiker und Evangelisten, und Mancher ist gar -Beides zugleich. Wer sich bei einer künftigen Menschheit kanonisches -Ansehn erringen wird, das zu entscheiden geht freilich zu allen Zeiten -über die zeitgenössische Urteilskraft. Eins aber ist sicher: die -Eigenart tut’s nicht. Denn nur das Eine bleibt übrig von uns, wenn -selbst unsre Werke längst verwest sind: Das, was den Andern Vorbild -ward für ihre stete Fühlung zur Welt: die Tat unsrer Liebe.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Das_Buch_und_der_Leser">Das Buch und der Leser</h3> - -<p class="center">Eine Untersuchung des Verständnisses</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Bücher sind wie spiritistische Medien; wer sie nicht richtig zu fragen -versteht, dem antworten sie falsch oder garnicht, und die meisten Leute -halten deswegen den ganzen Spiritismus für Schwindel, bestenfalls für -Selbsttäuschung. Jener afrikanische Wilde, der einen Missionar aus der -Bibel vorlesen hörte, sich dann das Buch an die Ohren hielt und es -ungläubig wegwarf, weil es ihm nichts sagte: der steckt noch in jedem -gebildetsten Leser.</p> - -<p>Ich will zum Beweis ein Erlebnis erzählen. Als ich Hofmannsthals -„Ödipus und die Sphinx“ das erste Mal las oder lesen wollte, kam ich -nicht über den ersten Aufzug hinweg. Diktion und Rhythmus stachen -auffallend von seinen früheren Dichtungen ab, erinnerten mich hin und -wieder an Dauthendeys schwungvolle Üppigkeit, hin und wieder an die -drangvolle Knappheit meiner eigenen Verstechnik, dazwischen doch immer -an Hofmannsthals einstige haltungsvolle Gewundenheit, und das empfand -ich als ein so tolles Stilgemengsel, daß ich mich einer heftigen, -mehrfach wiederkehrenden Zwerchfellerschütterung schlechterdings nicht -erwehren konnte; ich legte schließlich<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> das Buch beiseite, weil ich -mich einigermaßen schämte, einen ernsthaften Dichter auszulachen. -Bald nachher traf ich mit ihm zusammen, in einem Kreis erfahrener -Kunstfreunde, und gestand ihm meine Verlegenheit gegenüber seiner -neuesten Dichtung. Er war daraufhin so liebenswürdig, uns die zweite -Hälfte des ersten Aufzugs, die ich als besonders unharmonisch empfunden -hatte, vorzulesen. Und merkwürdig: trotzdem Hofmannsthal mit seiner -etwas brüchigen Stimme kein bestechender Vorleser ist, auf einmal -hörte ich den harmonischen Grundakkord. Ich habe später die Dichtung -nochmals, und diesmal vollständig, gelesen und verspürte nichts -mehr von jener Mißwirkung. Ich merkte, daß ich beim ersten Mal mit -allzu dramatischem Gehör auf die momentan metrischen Dissonanzen der -sensuellen Affekte geachtet und so die lyrisch perpetuelle Rhythmik -der sentimentellen Motive überhört hatte. Nun, wenn das einem Fachmann -passieren kann, wie mag sich dann erst der unzünftige Leser gegen -manches Buch benehmen, in dem ein neuer Geist rumort?</p> - -<p>Absichtlich spreche ich darüber mit fachmännischer Gemütsruhe; denn -mit der menschlichen Leidenschaft, die auch Künstler gegen einander -einnimmt, hat der Unverstand des Lesers zunächst nichts zu tun. -Ein Buch zu lesen, ist allererst eine bare Verstandestätigkeit, -gleichviel ob wir ein dichterisches oder wissenschaftliches oder -sonstwie schriftstellerisches Werk in uns aufnehmen. Immer handelt -sichs vorbedinglich um das Verständnis der Fachsprache, und hierfür -bringt der einschlägige Handwerksmann doch mehr Geschultheit mit als -andre Leute. Wer das A-B-C noch nicht zu lesen versteht, dem ist ein -Fibelvers nicht verständlicher als eine mathematische Formel; doch je -mehr er es verstehen lernt, desto umfänglicher wird das A-B-C, desto -umständlicher die Verstandesarbeit. Denn wie geht jeder Leser zu Werke? -Sein mehr oder minder bewußter Verstand, je nach dem Grad eben seiner -Schulung, übersetzt gewohnheits<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span>gemäß den optischen Eindruck der -Schriftzeichen in akustische Ausdrucksmittel, diese wiederum teils in -Gehörswahrnehmungen, teils in Gesichts- und andere Tastvorstellungen, -diese aus der blos sinnlichen Einzelempfindung in vernünftige -Gefühlszusammenhänge, und dann erst entsteht die rätselhafte -Gemütsbewegung, die den ganzen angesammelten Schwarm von dreifach -zwiespältigen Gedankenbeziehungen zu geistiger Bedeutung vereint und -uns mit ungewohnter Leidenschaft für oder wider den fremden Geist -erfüllt. Noch verwickelter wird der Vorgang dadurch, daß er von Satz zu -Satz neu einsetzt und doch die Erinnerungsbilder der Vordersätze immer -mit veranschlagen muß; so befindet sich der Leser fortwährend in einem -Wirbelwind kalter Verstandesluft, der unwillkürliche Gefühlsgluten -anfacht.</p> - -<p>Auch dem wissenschaftlichen Leser ergeht es so, wenn er sich über den -Wahrheitswert irgend einer Schlußfolgerung entscheidet; immer springt -schließlich ein Gemütsfunke aus der Reibung der Verstandeskräfte. -Nein, wird man einwenden: in der Wissenschaft sind die Gefühle -Nebenumstände, in der Dichtung dagegen der Hauptbestand. Aber ist dem -wirklich so? Gipfelt die geistige Schönheit nicht ebenso hoch über -jeder Gefühlserregung wie die Wahrheit und die Gerechtigkeit? Und -wurzeln nicht alle drei dennoch tief in Gründen des Gemütslebens? -Ja, es kommt überall gleichermaßen auf Erkenntnis seelischen Lebens -an; nur die Erkennungszeichen stehn in verschiednem Verhältnis der -sinnlichen und vernünftigen Darstellungsmittel. Welche Vorarbeit -muß der Verstand schon leisten, um sich blos erst in das besondre -Verhältnis der originalen zu den traditionellen Bestandteilen eines -Sprachwerks hineinzuversetzen! In der sogenannten reinen Wissenschaft -ist dies Verhältnis am leichtesten zu erhorchen, weil deren lautliche -Darstellungsmittel überwiegend auf generelle Logik hin abgestimmt -sind, sodaß die individuelle Intuition des Verfassers dem Leser sehr -deut<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span>lich ins Gefühl schlägt, wenn auch nur dem genügend geschulten -Leser. Aber bereits die populäre Wissenschaft ist in ihrer formalen -Technik so mit persönlich sensuellen und sentimentellen Elementen -durchsetzt, daß sich die intellektuellen Faktoren kaum noch scharf -davon sondern lassen. Und je mehr sich die rednerische Darstellung der -eigentlich dichterischen nähert, um so schwieriger wird die Sonderung -wie die Zusammenfassung der Lautbilder, und der Leser läuft immerfort -Gefahr, daß der Funke der Erkenntnis zu früh aufflammt und in dem -Schwarm der Gefühle entweder erlischt oder aber Brandschaden stiftet, -wie bei mir in Ansehung Hofmannsthals.</p> - -<p>Denn gerade die Technik der reinsten Dichtung, die Verskunst, nein -die lyrische Verskunst, denn auch Epos und Drama fußen auf lyrischer -Rhythmik: grade die verflicht allgemeinste Denkbegriffe der Sprache -so eng mit eigentümlichsten Empfindungsbegriffen, daß man nirgends -unmittelbar den Vorstellungswert, geschweige den Erregungswert der -Lautwahrnehmungen abschätzen kann, sondern nur durch vielfältigste -Rückschlüsse. Man vergleicht zwar die Lyrik gern mit der Musik, weil -auch die nur indirekt durch Gefühlserregungen zur Erkenntnis geistiger -Lebensverhältnisse führt; aber der lyrische Divinationsprozeß ist -noch um vieles indirekter. Nur zu Anfang geht die Verstandesarbeit in -annähernd ähnlicher Weise vor sich: ob ich ein Notenblatt lese oder -einen poetischen Text, ich übersetze einen äußerlichen Gesichtseindruck -in einen innerlichen Gehörsreiz, wenngleich es schon einen Unterschied -macht, ob ich mir einen gesprochenen Laut oder einen gesungenen Klang -vorstelle, oder gar einen klaren Instrumentalton. Dann jedoch wird -der Unterschied klaffend: das Klangbild der Tonsprache übersetzen wir -unmittelbar in eine Vorstellung von Gefühlszusammenhängen, das Lautbild -der Wortsprache großenteils erst auf dem Umwege über mannigfache -Gesichts- und Tast<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span>empfindungen nebst allerlei Hilfsbegriffsgedanken, -nur zum kleineren Teil direkt akustisch. Und dabei meint jeder -Leser einer Dichtung, er sei genügend vorgebildet durch seine -gewohnte Sprachkennerschaft, und traut sich in seinem lieben Gemüt -ein unfehlbares Gesamtverständnis zu, wo doch schon die einzelnen -Darstellungsmittel x-mal mittelbarer wirken als bei jeder anderen Kunst -und durch eine viel ungewohntere Sinnbilderfülle die schließliche -Erkenntnis vermitteln als bei irgend einer Wissenschaft.</p> - -<p>Wieviel Fallgruben für das Verständnis öffnen sich schon bei der ersten -Erweckung der scheintoten Schriftzeichen zu lebendigen Lautbildern! Es -ist nicht gleichgiltig, mit welcher Stimme, ja nur mit welchem Zeitmaß -der Stimme, man sich einen Vers oder gar ein Buch Verse im stillen laut -vorgelesen denkt. Unwillkürlich legen wir da zunächst unsre eigene -Stimme unter; aber der Dichter meint Seine Stimme, oder vielmehr -die verschiedenen Stimmen seiner imaginären Personen, denn auch das -Ich des Lyrikers ist wechselnde Phantasiefigur, vielleicht noch -wechselnder als die Charaktermasken, die der Dramatiker seiner Seele -vorheftet. Keine Orthographie und Interpunktion reicht aus, um auch -nur die gewichtigsten Betonungsverhältnisse zwischen den Satzgliedern -einer einzigen Strophe unzweideutig durchs Auge ins Ohr zu bugsieren. -Was wird nicht alles versucht, um das flüchtige Auge ruhsamer an -das Schriftwort zu fesseln und so das Ohr des Lesers aufmerksamer -für die Bewegtheit der Sprache zu stimmen. Der eine Dichter -ordnet die Zeilen nach der Mittelaxe des Druckspiegels, um seine -irreguläre Rhythmik durch den Kontrast der optischen Symmetrie noch -sinnfälliger hervorzuheben; der andre markiert seine reguläre Metrik, -um die akustische Harmonie seiner rhythmodynamischen Dissonanzen -vonvornherein außer Zweifel zu stellen. Manch einer kann sich garnicht -genugtun mit Gedankenstrichen, Stimmungspunkten, Ausrufzeichen und -<em class="gesperrt">Sperrfingerzeigen</em>, und möchte<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span> womöglich auch noch die Beiwörter -mit Großen Anfangsbuchstaben schreiben; einige andre schreiben -fast alles klein und würden am liebsten gar keine interpunktionen -setzen damit der leser noch länger zwischen den zeilen rätselt -und ein möglichst eindringlicher hörer wird. Hilft uns aber alles -nichts; wir bleiben doch immer auf den Glücksfall des uns annähernd -gleichgestimmten Gehörs angewiesen, so sehr wir mit ganzem Gemüt -danach trachten, jede Menschenseele in unsern Bannkreis zu zwingen. -Muß schließlich noch der Herr Buchverleger, Buchdrucker und Buchbinder -helfen, durch ungewöhnlich gutes Papier, außerordentlich schöne Lettern -und sonstige „selten gediegene“ Ausstattung den Gewohnheitsleser zu -verlocken, daß er sich ausnahmsweise andachtsvoll mit unserm wertvollen -Werk befasse.</p> - -<p>Aber ach: je mehr das Buch selbst Kunstwert erlangt, je mehr es durch -äußeren Augenreiz den Leser sinnig und willig stimmt, umso mehr gerade -verführt es ihn, ein Leser des stillen Wortes zu bleiben, statt ein -Hörer des lauten Satzes zu werden, und umso mehr zugleich verführt -es die Dichtkunst zur inneren Augendienerei. Der Dichter ist ja auch -selber Leser; und je mehr ihn die Buchdruckerpresse gewöhnt hat, -als Leser statt als Hörer zu dichten, umso stumpfer hat sich die -Wahrnehmungskraft für die Gehörsreize der Sprache verflacht, umso -schärfer haben sich die Darstellungsmittel auf Gesichtsvorstellungen -zugespitzt, d. h. umso schwatzhafter ist die Dichtung geworden. -Sehr selten wird jetzt noch ein Lied erfunden, das seine organische -Melodie so einfach vernehmlich in sich trägt, wie die Muschel in -ihren Windungen summt. Viele Gedichte unsrer echtesten Dichter sind -schon dermaßen überladen mit pittoreskem Brimborium, daß sie an -Feuilleton-Prosa streifen. Oder wo doch noch mit Klanganspielungen -unmittelbar aufs Gefühl gezielt wird, da paukt man meist so faustdick -drauflos, als solle die Predigt Johannis des Täufers vor den -taubstummen Steinen Ereig<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span>nis werden. Und wer die beiden extremen -Elemente gar noch ins Gleichgewicht setzen will, der verübt ein solches -Panoptikumkonzert hypersymbolischer Metaphern, daß die verzwicktesten -Rätsel der Turandot wahre Kinderspiele dagegen sind. Alldas bereichert -natürlich ungeheuer die sinnlichen Wirkungsmittel der Dichtkunst, blos -leider auf Kosten der geistigen Wirkung. Denn je empfindlicher die -Umwege vom Verständnis der einzelnen Sinnbilder zur Erkenntnis des -ganzen Bildsinnes auffallen, desto zerstückelter, also unvollkommener -tritt die Gemütsbewegung ein, die den lebendigen Bildungswert des -schönen Phantasiephänomens erst wirklich fortpflanzt von Geist zu -Geist. Und es bleibt ewig ein dürftiger Trost, daß noch niemals ein -Mensch den andern durchaus vollkommen begriffen hat.</p> - -<p>Welcher Dichter blickt nicht zuweilen mit Grauen und Abscheu auf seine -eigenen Bücher, diese Mumien seiner Phantasie, denen immer erst eine -fremde Seele den Auferstehungsodem einblasen muß, und die doch stets -vom gespenstischen Dunst des stummen Sarges umschleiert bleiben. Ja, -könnten wir jedem, der uns hören will, wenigstens selber das Buch -vorlesen! Dann würde wohl mancher dasselbe Wunder erleben, das meine -Taubheit vor Hofmannsthal linderte. Denn in der körperlich warmen -Menschenstimme beben von Anfang an alle Zauberkräfte der schöpferischen -Seele in eins, alle die heimlichen Verwandlungskünste und redlichen -Naturanwandlungen, die sich der Leser erst nach und nach zwischen den -Zeilen zusammendeuten muß. Einst, als die Dichter noch fahrende Sänger -waren, gehörte es mit zu ihrem Beruf, den Menschen das Wort recht -vernehmlich zu machen; und es ist keine Imitation einer reproduktiven -Virtuosenmode, sondern Symptom einer produktiven Epoche, daß auch heute -wieder die Künstler des Wortes selber als Vortragskünstler auftreten. -Freilich, es ist ziemlich zeitraubend, verstockte Ohren zu erweichen; -und in<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span> unsrer Zeit der Arbeitsteilung wird es dem Dichter womöglich -übelgenommen, wenn er als Anwalt des mündlichen Mitteilungstriebes -ein paar Gedichtbücher weniger schreibt. Aber ob er der Mit- und -Nachwelt dann wirklich etwas vorenthält? Was einer an Schöpferkraft -in sich hat, das setzt er allemal in die Welt, ob nun durch hundert -Pfropfreiser oder zehn Wurzelschößlinge. Die paar kurzen Lieder, die -uns die fahrenden Leute der Vorzeit hinterlassen haben, sind sicherlich -unsterblicher, als die tausend bandwurmlangen Prosa-Romane, mit denen -unsre Schreibtischhocker jahraus jahrein die Welt beglücken. Und -vielleicht genest der gebildete Europäer dermaleinst von der närrischen -Lesewut, die seine Augen immer gieriger, seinen Verstand immer -spitzfindiger, seinen Geist immer kurzsichtiger und sein Gemüt immer -schwerhöriger gemacht hat.</p> - -<p>Das Buch wird drum doch seinen Wunderwert als spiritistisches Medium -behalten und dann sogar erst recht offenbaren. Auch jener afrikanische -Wilde hat die Bibel ja schließlich vors Auge genommen; aber er würde es -niemals gelernt haben, hätte sein christlicher Mitmensch ihm das Wort -Gottes nicht immer wieder durchs Ohr zu Gemüte geführt.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Philosophische_und_poetische_Weltanschauung">Philosophische und -poetische Weltanschauung</h3> - -<p class="center">Ansprache im Monistenbund</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Werte Zuhörer! Der Vorstand Ihres Vereins hat mich ersucht, die -heutige Vorlesung meiner Dichtungen mit einer kurzen Darlegung meiner -Weltanschauung einzuleiten, indem er mir zugleich erklärte, ich sei ein -besonders origineller Repräsentant des „esoterischen Monismus“. Ich -habe den Wunsch des Vorstandes abgelehnt, kann auch die schmeichelhafte -Liebeserklärung nur mit Glaßeehandschuhen annehmen, und möchte Sie -eindringlichst davor warnen, aus den Werken lebender<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> Dichter und -überhaupt zeitgenössischer Künstler das herausfinden zu wollen, was -man heute unter Weltanschauung versteht, nämlich einen begrifflichen -Leitfaden, mit dem sich der zweiflerische, aber glaubensbedürftige -Verstand im Labyrinth der Ursachen und Wirkungen einigermaßen zu -orientieren sucht.</p> - -<p>Der Künstler denkt nicht in Verstandesbegriffen, wenn er bei seiner -Arbeit ist; er denkt in Gefühlsvorstellungen. Er will nicht erst -zum Glauben gelangen, sondern er geht vom Glauben aus. Er glaubt an -alles, was da ist in der Welt; er glaubt auch an die verschiedenen -Weltanschauungen, die in seiner Zeit miteinander kämpfen. Ich habe -einmal einem Politiker, einem Konservativen echten Schlages, der mich -fragte, was ich nun eigentlich sei, Sozialdemokrat oder Anarchist, -nationalsozial oder liberal — dem habe ich geantwortet: „unter anderm -auch konservativ!“ Und so könnte ich auch Ihnen sagen: ich bin unter -anderm auch Monist, d. h. unter Umständen auch Dualist, oder Trialist -oder Milliardist, oder sagen wir mal Polymonist.</p> - -<p>Der Künstler umfaßt alle Welt mit Liebe. Selbst was er persönlich haßt -und verachtet im Leben: sobald es ihn reizt, es in Kunst umzusetzen, -ergreift ihn unwillkürlich die Liebe zur Sache. Es kann also jeder -Genießer aus jedem Kunstwerk die Philosophie, Moral, Religion -herausdeuten, die grade ihm die liebste ist. Das schließt schon -aus, daß der Dichter als Dichter eine originelle Philosophie oder -Theosophie darbieten kann; denn die ist immer unduldsam gegen anders -gesinnte Originale, also im ernstesten Sinne unliebenswürdig. Er kann -bestenfalls ein Echo sein all der weltbedeutenden Ideen, um die in -seiner Zeit gekämpft wird.</p> - -<p>Sehen wir uns einmal den Dichter an, der heute in Deutschland -vorzugsweise als Weltanschauungsdichter gerühmt wird: Goethe. Wir -finden keine solche Idee bei ihm, die wir nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span> auch bei anderen -Wortführern seiner Zeit und Vorzeit finden können, bei den Humboldt, -Schlegel, Schleiermacher, Schelling, Kant, Lamarck, Spinoza usw.; und -wir finden viele Ideen bei ihm, die einander durchaus widerstreiten. -Nur weil er sie bei der Aneignung mit stärkerer Leidenschaft erfaßte, -mit tieferer Liebe und höherem Glauben im Augenblick der Wortschöpfung, -nur deshalb gilt er uns als der typische Repräsentant seiner -Zeitgenossen; und nur weil wir die verschiednen Ideen, denen jene -Männer ihr Lebenlang getrennt und einzeln nachhingen, in diesem Einen -zusammengefaßt sehn, nur deshalb entnehmen wir daraus ein gemeinsames -Gedankenband, die sogenannte einheitliche Weltanschauung jener sehr -mannigfach denkerischen Zeit.</p> - -<p>Denn eine einheitliche Weltanschauung hat es in Wirklichkeit niemals -gegeben, zu keiner Zeit und in keinem Volke; es gibt auch heute keine -zwei Menschen, die unter „Monismus“ genau dasselbe verstehen. Nur wenn -wir zurückblicken auf vergangene Zeiten, dünkt uns diese oder jene -Gedankenverbindung die sieghaft überwiegende. Aber wenn sich die bei -einigen Dichtern, wie z. B. auch bei Dante, Äschylos, Kalidasa, Rumi, -Litaipe mit besonders originellem Pathos ausspricht, dann wollen wir -doch ja beachten, daß die Originalität nicht in den Gedanken steckt, -sondern eben in dem Pathos, in dem mächtigen Aufruhr der Gefühle, der -mit den Gedanken sein bildhaftes Spiel treibt.</p> - -<p>Nehmen wir sogar einmal an, es könnte ein Allerweltsgenie geben, -in dessen Schädel ein gleichermaßen origineller Philosoph und Poet -beisammen hausten. Ich meine nicht jene Zwitterbegabung, bei der -(wie z. B. in Nietzsche und Schiller) ein starkes Talent der einen -Gattung mit einem schwächern der andren verkoppelt ist; sondern eben -ein pures Genie, in dem beide Talente gleich kräftig wären. Wie ja -manche Leute behaupten, daß Shakespear und Bacon in der Tat dieselbe -Per<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span>son gewesen seien; worüber freilich jeder lächeln wird, der Bacons -Novum Organon und Shakespears Dramen gründlich kennt. Aber nehmen -wir an, sie waren wirklich ein und dasselbe Wundertier: ja, dann hat -eben dieses Wundertier, um seine originelle Philosophie, seine neue -Gedankenwelt darzustellen, seine drei philosophischen Werke geschrieben -—: in seinen poetischen Werken dagegen, das wird wohl selbst der -abstrakteste Kommentator zugeben, da kam es ihm eben auf Poesie an, -also durchaus nicht auf eine Gedankenwelt, sondern auf eine Welt von -Gefühlsgestalten, in der die Gedanken nur dazu dienen, sich gegenseitig -ins Bockshorn zu jagen, oder (tragisch betrachtet) einander den Hals -umzudrehen.</p> - -<p>Man braucht drum noch lange nicht zu folgern, der Dichter sei nur ein -Rohr im Winde, jedem phantastischen Stimmungshauch unterworfen, und -daher fürs wirkliche Menschenleben eigentlich unzurechnungsfähig. -Wenn dem so wäre, dann bliebe wohl alle Dichtung außer Rechnung -fürs Leben der Menschheit; und das bleibt sie doch keineswegs. Der -Dichter hat freilich keine Gedankenkette, an der er sich selbst und -andere Leute auf dem wilden Weltmeer verankern kann; aber er trägt -einen Gefühlskompaß in sich, der ihm und andern die Richtung weist, -wo in der Windrose der Augenblicksleidenschaften seine stärksten -und liebsten Empfindungen zum dauernden Pol zusammenschießen, zum -sichern Gesichtspunkt gegenüber der Welt. Das sittliche Wort dafür ist -Selbstzucht.</p> - -<p><em class="gesperrt">Das</em> ist der ideale Punkt, dem jeder Künstler in seinen Gebilden -zustrebt, und zu dem er schließlich auch die hinbildet, die er -bezaubert durch dies Streben, durch diese liebreiche Anziehungskraft. -Das ist es auch, was Goethe meinte, als er seinen Prometheus sagen -ließ: „Hier sitz ich, forme <em class="gesperrt">Menschen</em>! ein Geschlecht, das <em class="gesperrt">mir -gleich</em> sei!“ Und nach diesem weltumformenden Lebenszweck, ob er -nun göttlich oder übermenschlich oder allgemein-menschlich genannt -wird, mögen alle die unter<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span> meinen Hörern, denen der sogenannte rein -künstlerische Genuß keine genügende Belohnung für die Anstrengung des -Zuhörens ist, auch in meinen Dichtungen fahnden.</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Der_Olympier_Goethe">Der Olympier Goethe</h3> - -<p class="center">Ein Protest</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Eine öffentliche Gesellschaft von allerlei strebsamen Bürgersleuten -hatte mich einmal eingeladen, Gedichte von Goethe zu deklamieren. Seit -langer Zeit zum ersten Mal wieder las ich nun seine lyrischen Werke von -A bis Z und der Reihe nach durch, um die heute noch lebensvollsten, -menschlich wirksamsten Gedichte für den Vortrag auszuwählen, also -absehend von artistischer und literarhistorischer Feinschmeckerei, und -da erlebte ich eine Überraschung. Ich fand einen wesentlich anderen -Goethe, als ich ihn in der Vorstellung trug, und als er wahrscheinlich -vielen Deutschen von der Schulbank her vorschweben wird.</p> - -<p>Das Bild des weisen Herrn Geheimrats, des harmonischen Olympiers, das -der pädagogische Biedersinn unsrer meisten Literaturprofessoren von -ihm hergerichtet hat, versank vor mir in einem chaotischen Nebelbrodem -von Schmerzen, Leidenschaften und Zweifeln, aus denen nicht ein -olympischer, sondern — um im antiken Gleichnis zu bleiben — ein -titanischer Genius einen Kosmos herauszuläutern sucht; oder im Geist -unserer Zeit geredet, nicht der Wille eines Ober-Regierungsrates, -sondern etwa eines Mienen-Ingenieurs, der sich hinabarbeitet in die -Wetterschächte grauenvoller Naturgewalten, hinab zu den unterirdischen -„Müttern“, um ihre Kräfte heraufzufördern an das verklärende Tageslicht -des väterlichen Heimatbodens, zu den „Gefilden hoher Ahnen.“ Also -eine fortwährende Klärungsarbeit der Seele, keine jemals vollkommen -erreichte oder gar von Hause aus mitgebrachte sogenannte Abgeklärtheit.</p> - -<p>Was jene oberflächliche Meinung über den Vielumfassenden<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> aufkommen -ließ, das war sein allzeit schlagfertiger Verstand, der auch das -Alltäglichste in Beziehung zur allgemeinen Wohlfahrt zu setzen wußte, -seine gesellige Vernunft, die im Leben die Maske des Gleichmuts vor -die einsam grübelnde Seele nahm und in der Kunst das ernste Spiel mit -heiteren Tändeleien mischte. Das aber hat nicht den großen Dichter -gemacht, der alles Menschliche in uns aufschürt und in ein Göttliches -umzuschmelzen strebt; ja, es ist fraglich, ob man nicht einst über -den artigen und verständigen Goethe, der für jede Gelegenheit ein -gescheites Sprüchlein oder zierliches Reimlein in Bereitschaft hatte, -ziemlich achselzuckend urteilen wird, sobald wir nämlich endlich einmal -der neunmalklugen Redseligkeit unsrer Dreiviertelsbildung entwachsen -sind.</p> - -<p>Er verstand freilich auch das kleine Veilchen mit allen Würzelchen -zu erfassen, und manchmal tut er gar wie der Schmetterling, der -unbekümmert von Blume zu Blume gaukelt; aber wo sich sein ganzes -Inneres auftut, da quillt die bodenlose Verzweiflung hoch, die mit dem -Leben <em class="gesperrt">nicht</em> fertig werden kann. Da entstehen die schwankenden -Gestalten alle, durch die er sich die dämonische Qual der „zwei Seelen -ach in der Brust“ immer wieder vom Herzen zu schaffen sucht, die -Werther, Clavigo, Weislingen, Egmont, Tasso, Orest, Wilhelm Meister -und Eduard; da entsteht Faust mit seinem Schatten Mephisto, und da -auch entstehen als die unmittelbarsten Zeugnisse dieser furchtbaren -Zwiespältigkeit seine ergreifendsten Gedichte. Denn, wie er selber es -ausgesprochen hat:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Alles geben die Götter, die unendlichen,</div> - <div class="verse">ihren Lieblingen ganz:</div> - <div class="verse">alle Freuden, die unendlichen,</div> - <div class="verse">alle Schmerzen, die unendlichen, ganz! —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Erst wenn man sich das zu Gemüte führt, erst dann lernt man auch die -gewaltige Kunst in diesen Gedichten ganz würdi<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span>gen, die bindende Kraft, -die den wirbelnden Stoff einer so widerspruchsvollen Gefühlswelt so -knapp zusammenzuordnen vermochte. Es ist manchmal, als müßte all diese -Wortschönheit sich selbst von innen heraus zersprengen, wenn man nur -erst die erschütternde Fülle ihres geheimsten Sinnes begriffen hat, -so z. B. den grausigen Todesschauder in Mignons scheinbar seliger -Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ (letzte Strophe) -— oder den wilden Galgenhumor in dem lehrhaft tuenden Trinklied -„<span class="antiqua">Vanitatum Vanitas</span>“; wer ein solches Gedicht noch mit fast 60 -Jahren schreibt, der ist weit entfernt vom olympischen Ruhekissen.</p> - -<p>Kurz gesagt: es heißt Goethe <em class="gesperrt">verkleinern</em>, wenn man ihn als -Olympier anspricht. Soweit er wirklich olympische Anlagen hatte, war -er weder ein Zeus noch ein Apoll; dazu mangelte ihm vor allem andern -die unerschütterliche Hartherzigkeit dieser antiken Ideale. Nicht -einmal ein Dionysos war er in seinen unbekümmerten Stimmungsstunden, -sondern höchstens ein Ganymed oder Hermes, ein Spender der Anmut und -Lebensklugheit, und mehr im römischen als im griechischen Sinne, wie er -selbst einmal zu Herrn Eckermann sagte.</p> - -<p>Aber wodurch er uns groß erscheint, so groß, daß wir ihn mehr bewundern -oder doch sicherlich mehr lieben als seine vielfachen Vorbilder, -das sind nicht diese Eigenschaften. Das ist sein ruhelos ringendes -Doppelwesen, kraft dessen er selber ein Vorbild wurde, ein Vorbild -für jede Übergangszeit, d. h. für jede ursprüngliche, neue Werte -entdeckende Zeit: seine unerschöpfliche „Werdelust“, die sich mit -prometheischer Inbrunst und paracelsischer Phantasie in alle leidvollen -Anfangsgründe einer neu aufstrebenden Menschheit versenkte, weil sie -herstammte aus dem Überdruß einer vollkommen vollendeten, abgetanen -Freudenzeit.</p> - -<p>Das altersmüde Rokoko hatte mit letzter mildester Grazie seine -Jugendtage umspielt; und nun sucht er sein ganzes Leben<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span> lang einen -Abglanz dieser verrauschten Schönheit über den brodelnden Aufbegehr der -jungen Zukunft auszubreiten. Sie war ihm kein spielerischer Selbstzweck -mehr, diese Klangschönheit seiner stärksten Gedichte; sie war eine -zuchtvolle Notwendigkeit, um der verwirrend neuen Gefühlsgewalten -überhaupt Herr werden zu können.</p> - -<p>Und das auch wars, was ihn zur Antike zog, obwohl es ihm damals schon -und mehr noch heute von manchem ehrlichen Deutschtümler nicht ohne -Grund verdacht ward und wird. Auch die Griechen hatten die Schönheit -<em class="gesperrt">nötig</em>; ihre ganze höchste Kunst und Dichtung, bis zu den alten -Mythen zurück, ist fort und fort auf das Eine bedacht, die dämonischen -Kräfte zu bändigen, die im Blut dieses seltsamen Volkes spukten, die -lapithischen und kentaurischen, mänadischen und hekatischen Triebe, -die von Natur aus in ihnen staken und mit barbarischer Brutalität die -mühsam errungene Kultur immer wieder gefährdeten.</p> - -<p>Keiner aber der vielen Gräkomanen, die seit Winckelmann Deutschland -überschwemmten, hat mit so schmerzlicher Klarheit wie Goethe erkannt, -daß jede Heraufführung neuer Kultur, weil sie alte Kultur untergraben -muß, zugleich auch wieder und immer wieder barbarische Instinkte mit -aufrührt, und daß grade der deutsche Volkscharakter zu dieser rohen -Kehrseite der menschlichen Entwicklungskraft neigt.</p> - -<p>Es ist sein höchster und reinster Ruhm, daß er unablässig gegen diese -Gefahr, die auch in seinem Charakter lauerte, seinen besten Kunstwillen -aufgeboten hat, nicht wie ein ausgelernter Altmeister blos, dem die -mancherlei Spiegelfechtereien der poetischen Technik glatt von der -Hand gehen, sondern als ein steter Lehrling des Lebens, in oft sehr -verzweifelter, manchmal vergeblicher, immer aber „strebend bemühter“ -und eben dadurch „erlösender“, für uns alle vorbildlicher Notwehr.</p> - -<p>Und deshalb wollen wir ihn nicht länger auf den hin<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span>fälligen -Götzenthron verstorbener sorgloser Götter setzen, sondern uns der -Grabschrift erinnern, die er selbst sich geschrieben hat:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Denn ich bin ein Mensch gewesen,</div> - <div class="verse">und das heißt ein Kämpfer sein.</div> - </div> - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h3 id="Grabrede_auf_Liliencron">Grabrede auf Liliencron</h3> - -<p class="center">22. Juli 1909</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Liebe Freunde und ihr Mitfühlenden alle! Wir müssen nun Abschied nehmen -von diesem Toten, dessen Leben uns unsäglich beglückt hat. Es würde -nicht in seinem Geist sein, hier viele Worte darüber zu machen, was -wir an ihm verloren haben. Es würde erst recht nicht in seinem Geist -sein, hier unsern Schmerz in die Welt zu rufen und einander das Herz -noch schwerer zu machen. Wenn er jetzt unter uns treten könnte, er -würde sagen: „Kopf hoch, Leute!“ Er würde es sagen, laut oder leise, -mit seinem hellen trotzigen Lachen oder mit stillem gütigen Lächeln. -Wir Wenigen, die ihm die Nächsten waren, und die wir es anfangs -kaum fassen konnten, als er so jäh uns entrissen wurde, Er, dessen -Jugendkraft unverwüstlich schien, plötzlich vernichtet durch einen -Hauch, durch nichts als einen tückischen Windhauch — nein, wir können -es immer noch nicht fassen. Aber nicht wir Nächsten allein stehen -hier um die Grube versammelt, in die seine sichtbare Gestalt jetzt -versenkt wird; wir stehen hier mitten in einer Gemeinde, die weit -über diesen Friedhof hinausreicht, grenzenlos weit ins Leben hinaus, -vereint durch sein unsichtbares Bild, das uns der Tod nicht entreißen -kann. An solchem Grab wollen wir nicht trauern, wir wollen unsre Herzen -erheben! Wenn wir weinen müssen, ist es nicht blos aus Schmerz; es -ist aus überströmender Dankbarkeit, daß wir so Unendliches mitfühlen -können. Des Dichters<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span> unvergängliches Werk, des Menschen unvergeßliches -Wesen: ich weiß nicht, wodurch er uns mehr erhebt. Er war einer von den -herrlich Gefügten, deren Leben und Dichten gleich kühn emporsteigt aus -ihrer unverbrüchlichen Seele, so vollkommen gleich in freier Schwebe -wie der herrliche doppelte Regenbogen, der sich gestern, nachdem wir -in seinem Hause den Sarg über ihm geschlossen hatten, über den ganzen -Himmel Hamburgs spannte, eine überirdische Ehrenpforte. Der Freiherr -von Poggfred, so steht er vor uns, hoch über allem Standes- und -Sittenzwang, aber treu jeder selbstgewählten Pflicht bis tiefst hinab -ins Selbstlose, in das wir Alle verkettet sind. Helm und Degen liegen -auf seinem Sarg; so hat ers verdient, der alte Soldat, der mit Leib -wie Seele für uns gekämpft hat, für uns Deutsche und für uns Menschen. -Helm und Degen wird er nun immer tragen, und einen unverwelklichen -Blumenkranz, wenn er im Geist vor uns aufersteht, nicht mehr nun -der alte Soldat, sondern der immer junge Held, der uns entzückt von -Kampfplatz zu Kampfplatz führt wie zu einem hinreißenden Tanz. Denn -so ist er in Wahrheit durchs Dasein getanzt, noch bis zu seiner -letzten Reise, die er mit Weib und Kind unternahm, um den liebsten -Menschen, die er hatte, seine geliebten Schlachtfelder zu zeigen. -Dort hat ihn der feindliche Lufthauch getroffen, der die tödliche -Entzündung entfachte; und dann ist er dem Wink des Todes gefolgt, wie -er den Winken des Lebens zu folgen pflegte, rasch dahin, ohne langes -Gefackel. Ganz geschlossen ist das Spiel seines Lebens, wunderbar ganz -in sich geschlossen, trotz aller Kreuz-und-Querzügigkeit; vollkommen -vollendet auch noch sein letztes Gedichtbuch, auf das er den Titel -„Gute Nacht“ gesetzt hat, als ob er den Schlaf schon nahen fühlte, -auf den er gefaßt war wie Wenige, ohne Furcht vor der ewigen Nacht, -ohne Hoffnung auf einen jüngsten Tag, sondern mit reiner ruhiger -Ehrfurcht vor der unerfaßlich unerschöpflichen Macht, die uns leben -und sterben läßt. Nein, er war nicht blos der<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> kindhafte Spielmann, -nicht der harmlose Junker Übermut, der liebenswürdig leichtsinnige, für -den ihn Viele gehalten haben, die sich nur an der bunten Oberfläche -seiner reichen Einbildungskraft vergnügten, oder die sich ärgerten -an der allzeit offenen, zum Geben wie Nehmen offenen Hand des armen -Schuldenmachers der Wirklichkeit. Er war auch der Mann der schweren -Stunden, der einsamen Fragen und Gedanken, der auf Jesus mit den -Worten wies: „Nach Innen sah ich seine Schmerzen weinen.“ Er hat -nur deshalb das menschliche Leben in ein launisches Spiel der Natur -umgedichtet, weil er den furchtbaren Ernst unsres Lebens aus innerster -Erfahrung begriff, weil er sich frei davon machen wollte, frei von -der grausigen Notwendigkeit und notwendigen Grausamkeit, vor der -sein empfindliches Gewissen immerfort in Entsetzen geriet. Er hat -sich ja nicht als Jüngling zum Dichter geschult, sondern als Mann -erst, der vom Schicksal geprüft war, der auf Schlachtfeldern und in -fremden Ländern die Menschen hatte ringen sehen. Das ist das Wunder -an seinem gereiften Geist, daß beides innigst in ihm vereint blieb: -der trotzige Jüngling, der unbedenkliche, und der gütige Mann, der -nachdenkliche. Daher sein starkes, herzbefreiendes Lachen, das niemals -zerrissen geklungen hat, und zu dem sein feines huschendes Lächeln -wie ein gedämpftes Echo stimmte. Daher das herzgewinnende Plaudern -des mitteilsamen Menschenfreundes, aber zugleich auch der lauschend -verschleierte Blick des tief verschwiegenen Menschenkenners. Daher -der edelmütige Zauber seiner ganzen Haltung und Zurückhaltung, diese -seltsame Liebenswürdigkeit, der niemand sich entziehen konnte, diese -unwillkürliche Umgänglichkeit, selbst wo er haßte oder verachtete, -diese wohlbedachte Leutseligkeit, der nur seine nächsten Freunde -anmerkten, wieviel zarte und harte Menschenscheu sich darunter in -einsamer Tiefe verbarg. Und daher auch die Zauberkraft des Dichters, -durch die er selbst seine trübsten und leidvollsten Einsamkeiten in -helle Lust für uns Alle verwandelt hat, dieser große Unverkümmerte, -der<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> uns nun mit seiner verklärten Stirn auch über den Abschiedsschmerz -noch hinweghilft, auf seinem Regenbogen dahintanzend über dem irdischen -Getümmel. Habe Dank, du wundervolle Seele! Ich höre deine eigenen -Worte: „Der Himmel lächelt seinem Sonntagskinde.“ Ruhe nun aus vom -Menschenelend, du tapferes, mildes, adliges Herz! —</p> - -<div class="section"> - -<h3 id="Naivitaet_und_Genie">Naivität und Genie</h3> - -<p class="center">Spiritistischer Dialog</p> - -</div> - -<p class="mtop2">„Das ist naiv“... Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres, -soll das ein Lob, ein Tadel oder einfach eine Aussage sein. Besonders -Künstlern passiert das oft; da ist irgend etwas in ihren Werken, das -hält der eine Betrachter für „recht naiv“, der andre für „vollkommen -naiv“, wieder ein andrer für „gar zu naiv“, und ein abermals andrer -für „nicht naiv genug“. Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er -mit diesem beliebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält -man regelmäßig eine Belehrung über das unbewußte Gemüt. Und wenn man -hierauf zaghaft bemerkt, daß nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt -in bewußtlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch daß sich -über das Unbewußte füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird -man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter -„Instinkt“ und „Genie“ spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der -Deutsche mit wuchtigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts -pochen will, dann spricht er das Wort „Naturgenie“ aus. Bleibt dem -Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven, -teils nicht ganz naiven Fragestellers anheimgestellt, ob er sich für -ein schlechtweg natürliches oder ein etwas übernatürliches oder ein -ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren soll. Denn sein bißchen -Talent steht ja außer<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kultiviert, -sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine -Natürlichkeit hadern.</p> - -<p>Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach -Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für -nicht ganz stark genug erklärt, weil es leider nicht naiv genug sei, -ist manchem ebenso klugen Gönner blos leider nicht kultiviert genug. -Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, daß jenes rätselhafte -Fremdwort wohl etwas Andres besagen müsse als den sogenannten genialen -Instinkt, diesen angeblich unbewußten Naturtrieb, der doch so sonderbar -selbstbewußt auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte -mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn „naiv“ klipp und klar bedeute.</p> - -<p>Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwillkürlich, triebhaft, -ursprünglich, urwüchsig, freimütig, unverstellt, ungezwungen. Dann -ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverdorben, unschuldig, -treuherzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig, -schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich -schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben „tumb“ -im guten altdeutschen Sinne oder „dumm“ im neudeutschen schlechten -bedeuten, konnte kindisch sowohl wie kindlich heißen, unvernünftig -wie unvernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das -nicht unverschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump erscheinen? -Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig -zu nennen, in einem recht lächerlichen Sinne? Unberechnet richtiger -unüberlegt, unbesonnen, unbedacht, unverständig? Hat nicht jegliches -Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht -gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur -gemeinplätzig ist! Kann das Ungekünstelte nicht das Kunstlose sein, -und das Kunstlose das Unkünstlerische! Und der Unverbildete: ist er<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span> -nicht meistens — oder der Biedermann wohl stets — auch ungebildet, -ungesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus -nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa -was die Franzosen <span class="antiqua">bête</span> titulieren.</p> - -<p>Das alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war -ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt; das grenzte -doch arg ans bewußte Unbewußte. Ich war naiv genug gewesen, meinen -gesunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch -naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bißchen -als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht -nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich -erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja -der Kulturberuf obliegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich -selber gewisse Naivitäten um des menschlichen Selbstbewußtseins willen -vernünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt, -von meiner bewußten Vernunft genasführt fühlte, so mußte ich wohl oder -übel nun doch versuchen, das Unbewußte zu Rate zu ziehen.</p> - -<p>Also beschloß ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten -Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt -herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer -Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer -heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, daß womöglich auch -sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine unerreichbare -Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe, -der von sämtlichen deutschen Professoren als das Non-plus-ultra -moderner Naivität wie klassischer Kultur deklariert war, überhaupt als -ein Muster an Harmonie; bei Shakespear war die schon zweifelhaft. Also -ließ ich mir den Geist Goethe kommen.</p> - -<p>Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man gemein<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span>hin zu meinen -geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen -Geist zu besitzen, wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits -besessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen, -d. h. das Bewußtsein dieses Wissens, sodaß nur das Unterbewußtsein -noch weiß, von welchem geistigen Überbewußtsein man selbstvergessen -besessen ist, und dann läßt man sozusagen im Schlaf diesen überbewußten -Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen erwacht. Die -Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und -läßt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen. -Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muß dem Medium immer -erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen; -zweitens auch sehr unzuverlässig, denn das Medium — naiv wie es ist — -verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewußtsein mit dem genialen -Überbewußtsein und schwindelt dann dummes Zeug zusammen; drittens auch -noch recht kostspielig, von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt -bequemer, besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit -seines Selbstbewußtseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas -Weingeist. Man darf dabei nur nicht unterlassen, die Autosuggestion -darauf einzurichten, daß man sich an die Äußerungen seiner geistvollen -Selbstentäußerung nachträglich noch zu erinnern vermag.</p> - -<p>Das tat ich denn auch und merkte alsbald, wie sich Goethens Geist auf -mich niederließ. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor -mir in einem solennen, bis an die Kravatte zugeknöpften, goldgestickten -Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und ließ ein -höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich -gleichfalls. Darauf <em class="gesperrt">Er</em>, mit gänzlich lautloser Stimme: Ich bin -zur Stelle, was wünschen Sie?</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>, mit ganz ebenso lautloser Stimme: Euer Excellenz wollen -gütigst verzeihen, daß ich mir so im Geist unterstehe,<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span> Ihre erhabene -Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer -ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne -Euer Excellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig -bildungsbeflissenen Menschheit harmonische Kultur zu erlangen vermag, -sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische -Talent, völlig naiv gewähren läßt.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsern höchst -schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Euer Excellenz wollen gütigst glauben, daß ich des -Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten -Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewußten -Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer -Excellenz eigene Schriften. Allein ich hoffe mir unbewußt eine -klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines -weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu gewinnen vermochte. -Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Excellenz verewigtem -Geist vermutlich nicht bewußt sein wird, die Begriffe „naiv“ und -„sentimental“ nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor -Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den Geistern von heute diese -heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit, -die ungleich gefühlvoller war als die jetzige und deshalb auf eine -heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf bedacht -sein mußte. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte -verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre, -Ironische; und wo der Herr Hofrat v. Schiller beinahe geneigt war, -das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst -trefflichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt geschätzt.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die -Begriffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gärung -gediehen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Begriffe in -solcher Gärung, daß gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich -die Klärung eintreten wird. Euer Excellenz dürfen überzeugt sein, daß -dieser gedeihliche Prozeß, der nach Meinung der vorgeschrittensten -Geister von Excellenz selber inauguriert ist, zugleich auch den -unterbewußten Beweggrund meines überbewußten Anliegens bildet. Es kann -sich wohl Niemand mehr verhehlen, daß Herrn v. Schillers gestrenge -Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen -gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt, -sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers bezogen wird. -Wie Excellenz selbst schon in den Gesprächen mit dem jungen Herrn -Eckermann bemerkten, daß keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen -Bestand haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam -hervorgewachsen ist, so dürfte auch kein im Sinne Schillers naiver -Dichter zu finden sein, der ohne sentimentalische Mitgift ein -menschliches Herz zu erobern vermöchte. Weswegen denn Schillers -sentimentalstes Gedicht — „seid umschlungen, Millionen“ — heute für -sein naivstes gilt, manchem Kenner sogar für allzu naiv. Und daß bei -Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das -ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte, -ohne von sämtlichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler -Naturverfälscher gebrandmarkt zu werden.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht -der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu -bekritteln?</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Der kritische Disput um die Griechen ist allerdings im -letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständlich geworden, daß ihre -überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt -und mehr denn jemals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt -geworden, daß die Antike zu keiner Zeit so<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> idealiter naiv war, wie -Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, daß insbesondere neben -Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach -aller Forschung durchaus für einen Sentimentaliker ansprechen muß, -einen elegischen Ironiker vom dämonischen Schlage des Lords Byron, -des erlauchten Freundes Euer Excellenz. Auch hat sich bestätigt, -was Excellenz ahnten, daß nämlich der Dichter, der die Balladen der -prähomerischen Tradition in die zwei großen Epen organisierte, kein -plötzlich emporgeschossener Sprößling eines kindlich urwüchsigen -Zeitalters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich -noch patriarchalen, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und -wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem -epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben -kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn -ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwürdigen Hintersinn -gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität, -der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Äschylos mit -sentimentalster Leidenschaft auftrotzt. Ist das nun blos naiver -Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen -Konflikten der Griechen ein problematischer Aufklärungskampf um -Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum -raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur -kapriziösesten Persifflage?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine ungemeine -Frage. Und da denn alles Ungemeine auch allgemeine Bedeutung hat, -verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Haben Euer Excellenz annehmen können, ich wollte mir zum -Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Mephisto -geschrieben —</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und wenn ich Excellenz recht verstehe, haben Sie<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> dennoch -auch den Faust schreiben können, samt Gretchen und dem Famulus Wagner, -und die Einen so naiv wie die Andern —</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser -höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Verwunderung wahrnahm.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das -Sentimentalische noch auch das Problematische ausschließt? Und wie -verträgt sich das Raffinierte damit?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der -Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch -Einfalt gern die Berechnung heranzieht, sobald sich der natürliche -Sinn in Hinsicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon -verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlauheit oder -Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Betracht das Naive das -durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit -dem Raffinierten, das doch auf deutsch sowohl das Geläuterte wie auch -das Abgeklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen übeln -Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abgefeimte, -Durchtriebene, Geriebene.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch -ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive -der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während -doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewußter Verstand meine -überbewußte Vernunft nicht betrügt, Beides in sich vereinigen und -irgendwodurch bemessen muß, um harmonisch und kulturell zu wirken. Denn -etwa zu sagen, daß jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das -würde doch fast schon nichtssagend sein.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn -wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit -abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen; -wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein -zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr -Professor Nietzsche erschienen, der mir mit überaus gütigem Eifer eine -Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem er zuvörderst auf die Autoren -des Neuen Testamentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und -zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst -würdigen Stil, der sich teils an dem Evangelisten Johannes, teils an -dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist -an Luther gebildet hatte, und mit einem äußerst gewaltigen Pathos, das -mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr -Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, von Natur aus -wie auch von Kunst wegen, und war zugleich doch raffiniert.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine -Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr -Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch -vortrefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser -neuester Dichter sprach. Indessen muß wohl alles Naive in einer Art -Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als -wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung <em class="gesperrt">Andre</em> -betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur -Verstellung innewohnt, die jeder Erwachsene leicht durchschaut, doch -welche ihn umso reizender anmutet, je inniger sich die kindliche Seele -über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist -freilich das Reizende nicht das Bedeutende.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: So müßte denn wohl das höchste Genie, insofern es<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> die -klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in -jedem Betracht erhaben sein, ob nun geläutert durch Kultur, ob aus -natürlicher Lauterkeit.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten -Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in -seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber -vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen, -wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit -ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Napoleon auf St. Helena.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, daß gerade die -bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschauung nicht pflegten, -vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere -strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten -einschränkt, wenn nicht ausschließt.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, daß der blinde -Naturtrieb durch Künstlergeist sehend werden möchte.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der -genialen Natur ausmachen. Sonst müßte, scheint mir, ein Burns einen -Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muß bitten, mein sehr -werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiel zu lassen.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des -Beispiels halber noch zu bemerken, daß auch bei den anderen hohen -Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen — bei Sophokles -wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespear wie Rabelais, -Cervantes wie Swift, Lionardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie -Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beethoven — das Naive -überall höchstens die Rolle des rührigen Mägdleins im Königsschloß -spielt, wo nicht blos des handlichen Prügelknaben, und meistens zu gar -keinem Vorschein tritt; wohingegen es sich bei<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> vielen sehr reizenden, -jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht -und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer -nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus -dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die -naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der -heutigen Menschheit nichts mehr bedeuten und deshalb gern übersehen -werden. Es müßte auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich -widersinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstlerseelen, die -doch von dem ewig währenden Kampf zwischen Menschenvernunft und blindem -Naturtrieb am allerheftigsten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein -kindlich einfältiges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten, -anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Ausgleich jener -Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu erwirken. Oder denkt ein hoher -Geist anders darüber?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich -offenbar nicht bewußt, daß aller zeitweilige Wert eines Kunstwerkes -dessen dauernde Fortwirkung nicht erklärt, daß folglich nach -vernünftiger Schätzung sein löblicher Inhalt an Kultur dem natürlichen -Gehalt wohl beigeordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art -unbewußtem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unterbewußte oder -überbewußte Sinnentäuschung, daß ein deutscher Klassiker hier so -romantisch redet?!</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, befremdet: Was für ein Klassiker?</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persönliche aus dem -Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker??</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der -Geisterwelt unbekannt sein?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit Mühe seinen Verdruß beherrschend: Da habe ich nun den -deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, daß klassische -Nationalautoren in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange -sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in -allen Stücken zu einer soliden nationalen Kultur gesammelt hat; habe -wieder und wieder nachgewiesen, daß inzwischen das originale Talent -nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, daß -überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit -für eine glückliche Bildung sei. Und nun kommt diese widerspruchsvolle -Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl -wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch -solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland —</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend -auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen -zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte -Anerkennung zu finden, muß ich hier die reizende Botschaft vernehmen, -daß ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst -unerfreulich, Herr Doktor!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Euer Excellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges -auszusprechen; indessen könnte das Widerspruchsvolle, obwohl es gewiß -nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Wahrhafte sein.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, merklich betroffen: Wie meinen Sie das?</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn Excellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr -Persönliches zu berühren —</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, an dem untersten Frackknopf nestelnd: Es hat mich von jeher -nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will -heißen, mit dem gehörigen Anstand.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Nun, der Name Goethe gilt eben heute als Inbegriff -deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer -Einheit, nach einer persönlichen Harmonie mit dem sozialen -Kulturinstinkt.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht -von Harmonie, bevor man nicht alle Dissonanzen vernommen und begriffen -hat!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Man hat sie alle so fleißig begriffen, daß heute im neuen -Deutschen Reich kein Skribifax zu finden sein dürfte, der seinen -absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht -mit irgend einem beiläufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen -Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit einer Miene leidvoller Dumpfheit: So hat man mich eben -schlecht begriffen.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämlich ein wenig zu naiv.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln: Sie scheinen mir -recht raffiniert, mein wertester Freund.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher. -Denn inzwischen hat sich unser Volk immerhin doch auf einen gewissen -Grad politischer Einheit zusammengerafft; und wenn dennoch seine -soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum -jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster -Ehrfurcht auf eine Persönlichkeit, die — ob sie im Einzelnen noch so -triebhaft von natürlichen Dissonanzen bewegt war — doch im Ganzen -als ein beharrliches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb -nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber, scheint mir, -ist eben die Wirkung, die von jedem erhabenen Künstler ausgeht und -allen erhebenden Kunstwerken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den -sie enthalten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der -ewige Ausbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt -Natürliches, ein allge<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span>mein menschlich Notwendiges, von innerstem Grund -aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher -Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird denn doch -wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzuordnen sein, der -sich an seinem jeweiligen Zustand trüglich-vergnüglich genügen läßt. -Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen -Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer -wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre -jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat -und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch, -am wenigsten aber der geniale. Sollte das nicht, so wahrhaft menschlich -es ist, doch vielleicht auch ein göttlich Wahres sein?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit hellstem Lächeln: So sei es denn! — Nur gebe man auch -dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: In welchem Sinne soll ich das nehmen?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem -gewissen Verstande, der sich verteufelt betriebsam zeigt und den -edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven -wurzelt. Man hüte sich vor der Reflexion, die den Wurzelboden zerwühlt -wie ein Maulwurf!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wodurch das -ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so -unhold befangen wird, daß ein Unwirksames daraus entsteht?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer noch schalkhaft: So <em class="gesperrt">könnte</em> es sein.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den -naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische -Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von -Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, daß er gründlichst über -sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin -das gewiß recht<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt -ist, daß er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor -es ihm reif zur Abfassung war.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und -wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, daß es -Zweierlei ist, über Gefühle nachzudenken oder über die Darstellung von -Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen, -das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach -Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger -Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingibt, und -wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste -hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre -in seinem bewußtlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewußtsein dem -sinnreichen Willen unterwirft.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Also sollte wirklich der Dichter des Faust, des Tasso -und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den -Wahlverwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der -Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage -zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen -künstlerischer und menschlicher Weisheit, zwischen Geist und Vernunft, -zwischen Dichtung und Wahrheit?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: <em class="gesperrt">Bei den -Müttern!</em> —</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: <em class="gesperrt">Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter -der verklärten Väter!</em> —</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachstum des Geistes -gedeihlich sein?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein -Geist die Grenze entdecken, wo Licht und Dunkel einander durchdringen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder -und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie -ein unfaßbarer Eishauch jedem bedeutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht -grade das Offenbarende sein, das den dumpfen Stoff erst zum klaren -Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert? -Und mag immerhin das Unbewußte der unergründliche Mutterboden aller -schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über -Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche -Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem -geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Abergeschwätz?! -Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer -bewußtlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er -es nicht zugleich recht bewußt über den passenden Leisten schlägt.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit gleichgiltigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein -guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewußter drauflos -schlüge.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüßte, wäre er dann -nicht ein besserer Schuster?! Und um wieviel mehr erst der sinnreiche -Künstler, der unzählige einzelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes -Ganzes veranschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, daß -er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe -weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff -die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die -beliebigen Bildgefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet! -Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, daß sich jeder Künstler -und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur dadurch auszeichnet, in -welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewußte bei ihm bewußt -wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft -voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span> -reizendes Ding von wirklicher Vollkommenheit? Ich glaube, weil sein -Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige -Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in -holdseliger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das er -höchst naiv seinem eigensten, blos sogenannten Mutterwitz zuschreibt; -ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf -mit der gern empfänglichen Mutter Natur.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstande könnte -es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Vernunft sich erst recht -die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag -der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft -Einzelne planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich -unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen -und halten.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen -starken Gedanken aushalten. Bei Shakespear strotzt selbst der Narr von -Gedanken.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl -das Närrische sein!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist? -hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich -nachzuweisen, daß das gesamte Kunstwerk „Hamlet“ auf einem bestimmten -Gedankengrund steht, um den der Dichter gewußt haben muß.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, stutzig: Da wäre ich aber wahrlich gespannt. Sie sind -überaus eigensinnig, Herr Doktor!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Nur in Euer Excellenz eigenem Sinne. Denn wie Excellenz -selbst einmal kommentierten, wollte Shakespear hier eine Seele -schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewußt auf sich nehmen -will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen, -der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie -Excellenz gleichfalls<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> und mehr als einmal dargelegt haben, nicht im -Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn -sich also das Positive hier nicht in dem sogenannten Helden des Dramas -findet, muß man es wohl in dem Drama selbst, d. h. in dem Ausgleich -der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der -Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert, -auf diese Ergänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen -Vaters, zum Schluß den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den -verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio, -das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese -ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius, -gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem gewissen Grade aktiv -wirkt. Da muß sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe -in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem -der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie -Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf -solche seinen Zeitgenossen erbauliche Grundgedanken gestellt sehen, auf -die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den -psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter -Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem -naiven Pathos ins urteilslose Gemüt zu schleudern, wie dem populären -Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschenkenner -— sehr oft bis zum Cynismus fein — blieb er sich überall bewußt, -daß diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln, -je unlöslicher sie dem Verstande scheinen, verfädelt unter ein buntes -Gewebe von dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und -Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn -man wie Hamlet Wahnsinn heuchelt, so wäre es sicherlich ganzer Irrsinn, -wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen,<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> er habe sich ebenso selbst -betrogen und nicht vielmehr genau gewußt, warum er uns über diesen -Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel läßt. -Sollte er das nicht einfach gewollt haben, um uns recht sinnfällig -anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die -klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten -droht?!</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, wieder die Hand in den Busen steckend: Ich sehe, mein -Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und -freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen -gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist -wie Shakespear bewußt war, ohne daß es ihm Schaden tat, könnte minder -kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenigstens nicht -für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für -sich behielten.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit ergetztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt, -mein Teurer!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv -brutalen Achilleus den raffiniert dolosen Odysseus ausspielt, wie er -diesen Kontrast zwischen Intelligenz und Instinkt noch mit allerlei -Parallelpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden -Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Polyphem und hündisch -verschlagenen Thersites, von den tolldreisten Lustweibern Helena und -Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann -da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles blos aus -bewußtlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet?</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, sichtlich des trockenen Tones satt: <span class="antiqua">Credo quia absurdum -est.</span></p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen -des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> dunkeln Zeiten -her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König -zusammenbefand. Da mußte der Volksredner, der er war, wohl <span class="antiqua">nolens -volens</span> darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in -ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber -noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundern.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch -dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet -doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her, -und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Gewande der -feinsten Gesittung.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit nicht ohne -etlichen Hokuspokus auf ihrer Würde bestehen kann, warum dann die -seelische Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung? -Als ob unser hochbestrebtes Bewußtsein nicht zum mindesten ebenso -rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste -drangvollste Unbewußte, das uns mit jedem Kohlkopf gemein ist! Als ob -nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfaßt, ins -Eigentümliche durchgebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins -menschlich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine -Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die -Entwickelung des Bewußtseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist, -Verstand oder Sinn, Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder -Logik taufen! Und zeigt nicht die ganze mannigfache Formenfolge der -Lebewesen ein <em class="gesperrt">stetes Stufenstreben der Geisteskraft, sich immer -wahrnehmbarer auszugestalten</em>?!</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie -denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die -hinter einem Feuerwerk steckt?</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in -unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet blos.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm — unter solcher -Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den -dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, daß -eine Schöpferkraft dasein muß, wenn eine Schöpfung werden soll.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich -die Erfahrungen aus meinem bewußten Dasein nicht täuschen, in seinem -jeweiligen Denkzustand durchaus nicht so holdselig zu sein, wie er -sich später in unserm Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen -Zustand geistig verklärt; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt -sein, sich diese Dumpfheit jedesmal so rasch wie möglich vom Halse zu -schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde -Gedankendrangsal so unausstehlich bedrückt und befangen, wie der -Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lächelnd den Knopf -in die Westentasche: Es freut mich, Teuerster, wie Sie das sagen, mit -solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, daß Sie -fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher -Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren -Schriften zu sprechen; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen, -wenn sich ein eigenwilliger Geist auch einer eigenen Sprache bediente.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist??</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, augenblicks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom -<em class="gesperrt">beherrschten</em> Eigenwillen!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er -alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann -war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich -selber zeitlebens behutsam auswich!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span></p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafür -bewundert!</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron wars -Kraft, ihn riß Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang -wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine -Heldentat Byrons heranreicht.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit noch stärkeren Klopftönen: Er hätte euch wohl noch mehr -enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte eintreiben können. Er hatte das -Zeug zu einem Shakespear, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte -nur heldisch, sobald man sein Selbstbewußtsein mit härtestem Stachel -zum Trotz aufreizte; er war nicht über sein Schicksal erhaben.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Er war es immerhin bis zu dem Grade, daß er das alles im -Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich -erschöpft! —</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten -allzu naiv gefolgt?!</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst -raffiniert, werter Freund!</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch -eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von -allerlei krampfhaftem Spuk heimgesucht, wie man das fast jedem -kraftvollen Geist mit biederem Gruseln als krankhaft nachsagt, und wie -ja auch Sie, verehrtester Genius, mehrfach von sich selbst berichtet -haben. Ich entdeckte jedoch, daß sich diese Visionen, Somnambulismen -und Katalepsieen immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft -nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer, -Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span> -meine poetische Phantasie leider oft zu holdselig faullenzen ließ; -also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen -Unterwelt, die über ihr Bestes bewußt werden wollte. Ich habe mir dann -durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das -gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft, -ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche -Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange -Audienz.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter -Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der -zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine -Geliebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so -emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, wunderlich durch mein Zimmer blickend: Da mache ich Ihrer -jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kompliment.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen!</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht, -Verehrter; ganz und gar nicht. Es muß wohl ein jeder kräftige Künstler -zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten -verhält wie das aufmerksam hingebungsvolle Weib zur unbequemlich -kopfscheuen Jungfrau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von -ihrer beschränkten Eitelkeit läßt, so verharren auch die meisten -Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale -Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch -okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansteht, dem -Abenteurer und Volksführer, dem politischen oder religiösen Redner, -als dem künstlerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer -des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen -willfahren muß, mit einer überlegenen Ruhe. Da<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span> wird denn natürlich, um -diese Ruhe bis ins drangvolle Innerste auszudehnen, auch die Vernunft -je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und -wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib -beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger -Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren.</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und er darf sich mit heiterem Dank bewußt sein, daß dieser -Glückwunsch ins Centrum des Lebens trifft, und somit auch unseres -Kunstgespräches.</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer verklärter um sich blickend: Wir sprechen wohl einst -noch gewisser darüber —</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch ist uns schon jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß zwar -das naive Gemüt die Axe ist, an die auch die genialste Natur mit -allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische, -der andre ins Triviale verläuft; daß aber <em class="gesperrt">die geistige Reflexion -die formbestimmende Triebkraft</em> ist und umso harmonischer auf die -Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste -der Persönlichkeit auf ein centrales Gleichgewicht ordnet —</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen -die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren -und Inseln des Erdballs —</p> - -<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so -natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich gibt, -auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie -Kleist zu den Vätern dahinmuß —</p> - -<p><em class="gesperrt">Er</em>, spukhaft aus weiter Ferne lachend: Sie sind in der Tat -höchst naiv, lieber Dehmel —</p> - -<p>Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben -Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen -bewußteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten -pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft -Naive kuriert.</p> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span></p> - -<h3 id="Kultur_und_Rasse">Kultur und Rasse</h3> - -<p class="center">Ein Gespräch zwischen Künstlern</p> - -</div> - -<p class="mtop2">Ein deutscher Dichter und ein jüdischer Maler waren einander in -Verehrung zugetan, trotz oder wegen ihrer sehr verschiedenen Begabung. -Den Maler reizten simple Motive, die er mit räumlich packender Rhythmik -in verwickeltem Lichtspiel zu zeigen verstand; der Dichter ließ sich -umgekehrt meistens von komplizierten Impulsen anregen, die er bei -rhythmisch lebhaftestem Tempo in unvermutet einfachen Zusammenklang -zu setzen wußte. Gemeinsam war ihnen also nur, was allen vollkommenen -Künstlern gemeinsam ist: ein stark beweglicher Scharfsinn bei -gründlicher Gemütsruhe. Das gab dem persönlichen Charakter des Juden -eine sprunghafte Schlagfertigkeit, die sich mit Vorliebe hinter der -Maske berlinischer Fopperei versteckte; an dem Deutschen dagegen prägte -es sich in einer hartnäckigen Spannkraft aus, die sich nach Art des -märkischen Landvolkes gern etwas nückeboldig stellte.</p> - -<p>Als Leute, deren Zeit kostbar war, sahen sie einander nur selten; -aber jeder verfolgte des Andern Arbeiten mit angelegentlicher -Aufmerksamkeit. Nun hatte der Maler ein Bild ausgestellt, dessen -dramatisches Pathos beträchtlich von seiner sonst mehr lyrischen Verve -abstach und infolgedessen viel Kopfschütteln erregte; da konnte der -Dichter nicht unterlassen, ihn doch einmal wieder zu besuchen, um -ihm für diesen neuen Beweis seiner rastlosen Entwicklungskraft ein -respektvolles Kompliment zu sagen.</p> - -<p>Das Gemälde zeigte ein nacktes Weib von mänadischer Gelenkigkeit, -wie es sich auf verwühltem Lager über einem stiernackigen, -wollustgeschwächten Kerl hochreckt, in der Rechten irgend etwas -Blankes wie eine sieghafte Waffe hebend, bis zu den Hüften vom -Zwielicht des Morgens und einer Kerzenflamme beglänzt, während sich -der schlaftrunkene Mann an<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> ihrem Schooß im Halbschatten wälzt. So -nahm sich die Geberde des Weibes wie ein geschmeidiger Hohn auf -die rohe Kraft aus, wie ein Sieg wachsamer Geistesgegenwart über -plump verschlafene Sinnlichkeit, ein fleischgewordener Triumph der -raffinierten Intelligenz über den brutalen Instinkt, mit einfachster -Wucht in feinste Beleuchtung gerückt. Der Maler hatte das große Werk -„Judith und Holofernes“ getauft, obwohl es lediglich durch die Idee -auf die biblische Legende zurückwies. Kein orientalischer Teppich -verliebreizte das Lager, und die Mänade konnte nach ihrem Typus -irgendeine zigeunernde russische Fürstin oder deutsche Prinzessin sein, -der Mann ein x-beliebiger braver Zirkusathlet. Der deutsche Dichter -wollte jedoch von diesem Gesichtspunkt nichts merken lassen, sondern -sprach vor allem seine Bewunderung über die schwungvolle Raumwirkung -aus; worauf sich folgende Unterhaltung entspann.</p> - -<p><em class="gesperrt">Der Jüdische Maler</em>: Na ja, sehr schön. Aber nicht wahr, die -Hauptsache ist doch: das Ding hat Rasse von oben bis unten!</p> - -<p><em class="gesperrt">Der Deutsche Dichter</em>: Wenn Sie also doch davon sprechen wollen, -dann muß ich Ihnen offen gestehen, ich sehe eher etwas allgemein -Menschliches.</p> - -<p>D. J. M. Sie sind wohl allgemein übergeschnappt? So’was kann doch blos -einer, der Jude ist, machen!</p> - -<p>D. D. D. In der Tat blos Einer, nämlich Sie.</p> - -<p>D. J. M. Na ja, weil ich eben noch Vollblut bin; die Andern sind -meistenteils schon alle so ins allgemein Menschliche vermanscht.</p> - -<p>D. D. D. Ich glaube nicht mehr an das Rassendogma; wenigstens nicht, -soweit es seelische Werte und geistige Leistungen begründen soll. Bei -den künstlichen Tierrassen ist das von selbst ausgeschlossen, denn die -züchtet ja erst der menschliche Geist. Aber auch die natürliche Rasse -kann höchstens für körper<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span>bauliche Eigenschaften eine Grundbedingung -sein, eine neben mancherlei andern; vielleicht aber gar keine -Grundbedingung, sondern immer nur ein Endergebnis aus langen seelischen -Sonderbestrebungen einer Gemeinschaft beliebiger Einzelkörper gegen -die gefährliche Umwelt, eine Art Schutzmarke auf Gegenseitigkeit, -die dann wieder neue Arten herbeiführen kann, durch neue Anlässe zur -Gemeinschaftsbildung. Wie soll denn durch Rasse, dies allerallgemeinste -Merkmal oberflächlicher Unterscheidung, die künstlerische Begabung -erklärt werden, die allereigentümlichste Sonderlichkeit, die nur von -den gründlichsten Kennern geistiger Werte vollkommen erkannt und -gewürdigt wird, gleichviel von welchem Rassekörper!</p> - -<p>D. J. M. Sie haben sich da ’ne lange Strippe von Geist und Seele -zusammengedreht. Aber ich will Ihnen mal was sagen, ganz einfach, ohne -Textilapparat: Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! und das kann -blos ein Rassekerl! Ich meine, so richtig dumm und geil; <span class="antiqua">cum grano -salis</span>, wissen Sie.</p> - -<p>D. D. D. Und wahnsinnig! Gleichfalls <span class="antiqua">cum grano salis</span>.</p> - -<p>D. J. M. Und ein Frechdachs! Sie wollen mich wohl uzen, Verehrter?</p> - -<p>D. D. D. Ich wollte Ihrer gesalzenen Weisheit blos einen -rassepsychologischen Wink geben, aus welchem Pökelfaß sie stammt. Dumm, -geil und verrückt — das ist der Künstler, wie er heute bei allen -Professoren der höheren Zoologie im Buch steht.</p> - -<p>D. J. M. Na, ich meinte natürlich nur: während er Kunst macht! Im Leben -kann er der klügste Geschäftsmann und bravste Familienvater sein; je -klüger und braver, umso besser für ihn.</p> - -<p>D. D. D. Also während er Kunst macht, soll er gewissermaßen seine -besseren menschlichen Qualitäten an den Nagel der Theoretik hängen. Ich -fürchte nur, daß er dann zugleich seine besseren Rassequalitäten mit -weghängt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span></p> - -<p>D. J. M. Nanu, so plötzlich? Sie haben doch eben ganz deutlich gesagt, -Sie glauben an solche Qualitäten nicht!</p> - -<p>D. D. D. Ich nicht; aber Rassetheoretiker glauben, daß Familiensinn und -Lebensklugheit die besonderen jüdischen Tugenden sind.</p> - -<p>D. J. M. Ja natürlich! Was blieb uns denn auch weiter übrig, solange -wir im Ghetto hockten —</p> - -<p>D. D. D. und nachdem in aller Herren Ländern aus einigen tollkühnen -Nomadenstämmen, die wahrscheinlich auch bereits nur zur Hälfte echte -Semiten gewesen sind, allmählich eine brave Sippschaft von allerlei -Krethi und Plethi geworden war.</p> - -<p>D. J. M. Also Karnickel- und Hasen-Hecke. Na ja, das stimmt, da haben -die Antisemiten ganz Recht: das ist heute genau solche jüdische -Spezialität, wie’s auch deutsches Vettermichelpack gibt. Aber was -hat das speziell mit Kunst zu tun? Die verdolmetscht doch eben das -Generelle! Da entpuppt sich das ursemitisch Rassige wieder.</p> - -<p>D. D. D. Merkwürdig nur, daß das alte Volk Israel, solange sein -Hauptstamm wirklich noch reinrassig war, d. h. längstens bis etwa zur -Zeit Samuelis, fast gar keine Kunst hervorgebracht hat; die spärlichen -religiösen Psalmen, die vielleicht in die Zeit vor David zurückreichen, -sind doch wohl erst embryonische Dichtkunst.</p> - -<p>D. J. M. Nebbich! Das war ihnen doch verboten! Siehe Moses: Ihr sollt -euch kein Bildnis noch Gleichnis machen.</p> - -<p>D. D. D. Mir deucht, in einem kunstfähigen Volk hätte solch Verbot -garnicht erst laut werden können. Was meinen Sie wohl, was die Griechen -gesagt hätten, wäre Solon ihnen mit so’was gekommen! Das haben sich -nicht mal die Deutschen bieten lassen, die doch, solange sie reine -Germanen waren, gleichfalls kein nennenswertes Kunstvolk gewesen sind; -und<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> dasselbe gilt von den alten Römern. Überhaupt: betrachten Sie’s -mal historisch! Die sogenannte reine Kunst entsteht überall erst in -Mischvölkern, also wo mehrere Rassen einander kreuzen und — mag man -das nun einen günstigen Zufall oder „Ergänzung passender Anlagen“ -nennen — eine neue zu bilden beginnen. Da tritt dann die Kunst -gleichsam vorbildnerisch auf, aus Verlangen nach neuem Menschentum.</p> - -<p>D. J. M. Meschugge ist Trumpf! Oder sind Sie wirklich verrückt?</p> - -<p>D. D. D. Ja, ich will wirklich einmal so verrückt sein, die physische -Rasse als Element für psychische Phänomene gelten zu lassen. Dann -wüßte ich nicht, wodurch aus so einfacher Ursache ein so mannigfach -lebensvolles Ding, wie es jedes starke Kunstwerk doch ist, auf -natürliche Weise entspringen sollte, es müßten denn <em class="gesperrt">mehrere</em> -solche Elemente in dem Künstler verbunden sein. Der machtvollste -Künstler wäre dann der, in dessen Familie sich nach und nach alle -Kulturrassen abgelagert hätten. Aber Sie sehn mich ja weiß-Gott an, als -ob Sie mich für irrsinnig hielten.</p> - -<p>D. J. M. Nein, dichten Sie nur ruhig so weiter! Ich habe mir blos Ihr -Gesicht angesehn. Ich werde mal fix ’ne Skizze von machen; Sie sehn -ganz apart aus, wenn Sie so dichten. Und das mit der Rassenablagerung, -das kann ja auf Ihr Gesicht ganz gut stimmen.</p> - -<p>D. D. D. Ahah, Sie meinen, ich rede <span class="antiqua">pro domo</span>?</p> - -<p>D. J. M. Na, ich habe neulich mal wo gelesen, Sie sollen ja so’ne Art -Slawe sein, aus Wendisch-Buchholz oder so her.</p> - -<p>D. D. D. Da könnte ich Ihnen nun leicht beweisen, daß ich ein -waschechter Deutscher bin, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Meine -väterlichen Vorfahren waren niederschlesische Handwerker, ein paar -Schmiede, ein Zimmermeister, ein Seiler, ein Tierarzt und ein Laborant; -meine mütterlichen teils märkische Bauern, teils thüringische Beamten -und Fabrikanten, mit<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span> einem rheinischen Nebenzweig. Die Familiennamen -haben in allen Linien den sogenannten reinen Klang: außer meinem eignen -deutschdämligen Namen noch Fließschmidt, Hillmann, Weidner, Zahn, -Oehme, Eule und Eyle. Nur in dritter Linie, von Vaters Seite, kommt -der slawisch klingende Name Tschorsch vor; doch ist er wahrscheinlich -aus deutschem Georg oder Jörge vertschechisiert, oder vielleicht aus -französischem George verdeutscht. Ich könnte mich also vor jedem -Teutobold mindestens ebenso gut als Germanen aufspielen, wie man -Luthers böhmakisches Gesicht oder Bismarcks wendischen Rundschädel ins -Germanische umdichten will; bin aber trotzdem überzeugt, daß ich — wie -mehr oder weniger jeder Deutsche seit der Völkerwanderung — nicht blos -slawisches und keltisches, sondern wahrscheinlich auch romanisches und -vielleicht sogar mongolisches Blut in meinen werten Adern beherberge.</p> - -<p>D. J. M. Da säße ich also da „mit’s Talent“, als so’n kümmerliches -semitisches Inzuchtgewächs.</p> - -<p>D. D. D. Ja, wenn Sie wirklich ein echter Hebräer wären?</p> - -<p>D. J. M. Na, hören Sie mal, erlauben Sie mal, ich soll Sie wohl wegen -Verleumdung verklagen?! Wollen Sie etwa meine leiblichen Urgroßmütter -für lauter Herodiäser erklären?</p> - -<p>D. D. D. Oh, zwei bis dreie genügen wohl schon; und wenn ihre Gatten -Herodesse waren, werden Sie’s ihnen wohl nicht verdenken.</p> - -<p>D. J. M. Na, Spaß beiseite! Ihr Schädel wirkt propper; Sie sitzen -faktisch briljant Modell. Sitzen Sie jetzt mal ein bißchen stille! Sehn -Sie sich mal derweil meine Augenbrauen und Nasenwurzel und Stirnbogen -an! Sehn Sie: so’was, das gibts nicht bei allgemeinem Menschmansch, das -ist ganz apartes Rasseprodukt.</p> - -<p>D. D. D. Mag schon sein; die Oberstirn scheint mir vlämische Rasse, die -Augenknochen spanische. Ihre Familie ist ja<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> wohl zum Teil aus Spanien -über Holland gekommen; und der belgische Architekt Van de Velde hat -einen ganz ähnlichen Gesichtsschnitt, obgleich er wahrhaftig kein Jude -ist.</p> - -<p>D. J. M. Nein, wahrhaftig nicht. Aber apart ist er auch. Faktisch ’n -ganz famoses Kerlchen; rassig bis in die Fingerspitzen. Wer weiß, -vielleicht ist er <em class="gesperrt">doch</em> ’n Jude!</p> - -<p>D. D. D. Sagen Sie mal, Sie Rassemensch: Sie haben doch englische -Vollblutpferde gemalt. Halten Sie die etwa nicht für rassig?</p> - -<p>D. J. M. Na, und ob! Ach so, Sie möchten mich wieder döppen?! Na -aber, das hab ich doch gleich blos gemeint: da hat sich eben die -angelsächsische mit arabisch-türkischer Zucht gekreuzt und schließlich -’ne neue Rasse gebildet. Aber sein Sie mal jetzt ’ne Sekunde lang -stille; mir stimmt was nicht an Ihrer Stirn. Einen Moment blos, ich -werds gleich haben. Faktisch ’ne ganz verflixte Stirne; von vorne -breit wie’n heraldischer Bulle, und im Profil schlank retour wie’n -Lämmergeier — Sie wollen gewiß auch ’ne neue Rasse gründen! — Bitte, -blos’n Moment noch, dann bin ich so weit! — So: jetzt los auf die -Weltgeschichte! Dichten Sie bitte ungeniert weiter!</p> - -<p>D. D. D. Also — Tatsache ist doch Folgendes: Ob nun im alten Ägypten -und Hellas, oder im mittelalterlichen China und Indien, oder im -späteren Japan und Persien, oder in der europäischen Renaissance — -eingerechnet die Vorstufen, byzantinische wie maurische, romanische wie -gotische — überall sind die kurzen Epochen höchster künstlerischer -Kultur erst dann reinlich hervorgetreten, wenn sich durch Kriegs- -oder Handelszüge verschiedene Volksstämme oder Nationen innig -miteinander befaßt und neue Staats- oder Standesformen, Herrschafts- -oder Gesellschaftsklassen durch Mischheiraten angebahnt hatten. Sogar -bei den verschollenen amerikanischen Kulturen ist von der Forschung -festgestellt, daß die großen Tempel der Azteken und Inka erst nach -langwierigen Eroberungskämpfen zwischen<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span> diversen indianischen Rassen -entstanden. Und heute, wo sich in Nordamerika aus dem allgemeinen -Menschmansch, wie Sie zu sagen belieben, eine neue weiße Rasse langsam -herausschält: erst heute zeigen sich dort auch die Anfänge einer -spezifischen Yankeekunst, recht respektabel bereits in der Poesie und -in der profanen Architektur, passabel auch in der Malerei. Nun aber -gar das moderne Europa! Woher denn auf einmal seit etwa 50 Jahren -die Hochflut aller möglichen neuen oder doch neu-sein-wollenden -Kunstrichtungen, von Skandinavien und Rußland bis Frankreich und -Spanien?! Sollte es blos ein Zufall sein, was auch hier wieder -unverkennbar vorausging: die Durcheinanderwürfelung aller Nationen -durch die Napoleonischen Kriege, die Entfesselung internationaler -Tendenzen durch Handel, Industrie und Technik, die enorme Steigerung -des Völkerverkehrs durch die Eisenbahnen und andre Transportreformen, -und zu alledem noch als wahrer Rassenextrakt eine Fülle nie dagewesener -Mischungsversuche durch die Emanzipation der Juden!</p> - -<p>D. J. M. Sieht ja ungeheuer verführerisch aus, Ihre Destille von -Menschenblut. Aber wissen Sie: Kunstrichtungen, unter uns gesagt, -das sind doch wohl eigentlich immer die Künstler. Na, und <em class="gesperrt">die</em> -Künstler, die Richtung machen, das sind eben die paar urigen Kerls, -die sozusagen noch koscheres Blut genug haben. Sehn Sie sich doch -mal selber im Spiegel! Haben ’ne richtige deutsche „Schusterneese“. -Brauchen mir garkeine Flappe zu machen; Goethe hatte auch solchen -Zinken.</p> - -<p>D. D. D. Und hatte außerdem Augen und Lippen, wie man sie sonst nur an -italiänischen Frauen sieht.</p> - -<p>D. J. M. Sie, sagen Sie das blos nicht zu laut! Sonst steigen Ihnen die -Deutschen aufs Dach.</p> - -<p>D. D. D. Wie kommt es denn aber, daß die Deutschen, solange sie -„sozusagen noch koscheres Blut genug“ hatten, also längstens bis etwa -zur Zeit Karls des Großen, keinen einzigen<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> namhaften Dichter gezeitigt -haben, von anderen Künsten garnicht zu reden! Wo doch die Griechen -schon vor der geschichtlichen Zeit mit Amphion, Eumolpos und Musäos, -Orpheus, Homer und Hesiod paradieren. Sind das auch nur fingierte -Namen, so beweisen sie doch das Volksbedürfnis nach vorbildlichen -Kulturpersonen; nämlich die Griechen hatten sich damals schon mit -allerhand fremdem Volk gemischt, von Illyrien bis Asien und Ägypten. -Und wie kommt es, daß all die winzigen Rassen, die wir heute noch -wirklich rein nennen dürfen, entweder weil sie von Hause aus keine -Anlage zur Vermischung hatten, vielleicht auch blos keine Gelegenheit, -oder weil sie erstarrte Mischrassen sind, also die sogenannten wilden -Völker — vom Pescheräh bis zum Eskimo, vom Australneger bis zum -kapländischen Buschmann, vom indischen Paria bis zum Sioux-Indianer — -gar kein Kulturgenie im Leibe haben, geschweige hohe Kunstbegabung?</p> - -<p>D. J. M. Na, Sie! das liegt doch klar auf der Hand. Wo alles die reine -Unzucht ist, kann keine reine Zucht draus werden. Natürlich muß mal -erst Mischung kommen, damit sich die bessere Rasse selbst auskennen -lernt —</p> - -<p>D. D. D. und dann dieselbe reine Unzucht weiter treibt?</p> - -<p>D. J. M. Nein, Sie müssen mich nicht für’n Bählamm halten. Natürlich -kapert sie dann allmählich auch die besseren Elemente der andern Rasse.</p> - -<p>D. D. D. Sehr richtig! Was ich vorhin schon sagte.</p> - -<p>D. J. M. Nanu? Das ist doch nichts allgemein Menschliches! Allgemein -menschlich ist leider Gottes, daß sich auch schlechte Elemente mit -einmischen.</p> - -<p>D. D. D. Das würde ich lieber allgemein hündisch nennen.</p> - -<p>D. J. M. Auch recht! Meinethalben! Sie müssen’s ja wissen. Sie sind ja -wohl auf Erotik geaicht.</p> - -<p>D. D. D. Ja; von den Rasseschweinen nämlich. Eigentlich kommt mirs auf -bessere Leser an.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span></p> - -<p>D. J. M. Na, sein Sie nur friedlich! Ich meinte ja grade: wenn der -viehische Kuddelmuddel zu doll wird, dann gibts eben so’n paar bessere -Menschen, wie die richtigen Künstler doch wohl sind, und in denen muckt -was dagegen „uff“. Was muckt denn da uff, Sie Mann mit’s Talent? Doch -wohl das Tröpfchen stärkere Rasse, das Sie noch irgendwo im Gemächte -haben! Das nenne ich Reaktion der Persönlichkeit <em class="gesperrt">gegen</em> das -allgemein Menschliche! Da zeigt sich eben die reine Natur!</p> - -<p>D. D. D. Schön; immerhin sind wir schon einig darüber, daß man mehrere -Rassen im Blut haben muß, damit sich eine davon als die stärkere fühlen -und mit ihrer „reinen Natur“ hervortun kann. Aber nun bitte, sagen -Sie mal: es ist doch eine sehr seltsame „Reaktion“, daß z. B. Sie -enragierter Jude die norddeutsche Landschaft samt ihrem Volksschlag, -von Hamburg bis hinter Amsterdam, mit solcher natürlichen Kraft gemalt -haben, wie bis jetzt noch kein holsteinscher oder friesischer Künstler. -Warum hat denn Ihre Persönlichkeit, will sagen Ihre reine Natur, nicht -lieber semitisch reagiert? Und warum hat z. B. der Holländer Rembrandt -so wenig germanisch reagiert, daß er seine Motive und Modelle mit -Vorliebe aus dem Judenviertel nahm?</p> - -<p>D. J. M. Ja wissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll: das hab ich mich -auch schon manchmal gefragt. Auch warum ich blos blonde Weiber liebe.</p> - -<p>D. D. D. Das ist nicht so sonderbar, wie es scheint; grade die -sogenannten Kulturrassen sind seit jeher auf Weiberraub ausgegangen, -offenbar weil eben nur durch Blutmischung Kultur entwickelt und -fortgepflanzt werden kann. Übrigens ist Ihre Judith doch dunkelhaarig, -wenn auch keineswegs von semitischem Typ.</p> - -<p>D. J. M. Na, solch Biest, das soll man doch eben nicht lieben! das kann -man meinthalben vor Haß bewundern!</p> - -<p>D. D. D. Ja, und sehn Sie, mir gehts grade umgekehrt:<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span> Ich stamme aus -durchweg blauäugigen und überwiegend blonden Familien und liebe die -dunkeln jüdischen Frauen. Ich finde bei keiner andern Art Weib so viel -hellen Geist mit seelischer Glut verbunden. Es gibt ja freilich auch -da böse Kreuzottern und allerhand gute Gänse und Schäflein; aber die -besseren sind doch geborene Heldinnen, Richterinnen und Priesterinnen, -um nicht zu sagen Göttinnen.</p> - -<p>D. J. M. Sie, jetzt schwärmen Sie aber, weiß der Herrgott, wie’n -erotischer Muselmann!</p> - -<p>D. D. D. Oder vielleicht, von christlichem Standpunkt betrachtet, -wie ein heroischer Jesuit — blos daß ich keine himmlische Jungfrau, -sondern möglichst viel irdische Musterweiber züchten möchte. Und da -dürfte ein bißchen Menschenliebe doch vielleicht etwas fruchtbarer sein -als der beliebte Rasseninstinkt, der sich meistens doch recht zuchtlos -geberdet und in der Regel nur als Vorwand dient, um den gemeinen -Menschlichkeiten des Hasses und Neides nach Willkür zu frönen.</p> - -<p>D. J. M. Nun, bei Licht besehn, wird wohl jeder Künstler auf <em class="gesperrt">die</em> -Art Modelle versessen sein, die seinen Instinkt am kräftigsten auf sein -Talent hindirigiert, also aufs rein Persönliche.</p> - -<p>D. D. D. Und seine Phantasie aufs allgemein Menschliche; um nicht zu -sagen Göttliche.</p> - -<p>D. J. M. Ach was, Phantasie ist doch keine Kunst! Phantasie ist immer -blos Notbehelf.</p> - -<p>D. D. D. Sie wollen wohl sagen: <em class="gesperrt">noch</em> keine Kunst, und auch -blos immer ein Notbehelf! wie <em class="gesperrt">jeder</em> naturelle Impuls bloßer -Notbehelf zur Kunstschöpfung ist, z. B. auch der Rasseninstinkt. -Kunst ist eben nur als Kulturprodukt schätzbar; und als solches will -sie uns seelische Reize, die von Natur stets sehr mannichfaltig und -herz-und-sinneverwirrend sind, in geistig beherrschter Einheit zeigen.</p> - -<p>D. J. M. Na ja, das ist ja wohl selbstverständlich. Aber sein Sie mal -wieder ’n Moment lang stille; Sie nickköppen im<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span>mer, wenn Sie reden. -Ihre Nase ist doch nicht ganz so einfach, wie sie von vorne besehen -aussieht. Von links, das ist ja freilich wahr, ists ’ne richtige -brave Schusterneese; aber von rechts, da könnte sie ebensogut einen -spanischen Torero zieren, oder ’nen polnischen Insurgenten, oder sonst -so’was Mannichfaltiges ..... So, bitte: phantasieren Sie weiter!</p> - -<p>D. D. D. Mit der Nase, das wird wohl daran liegen, daß sie nicht mehr -ihre natürliche Form hat; sie ist mir mehrmals in meiner Studentenzeit -auf der Mensur zerhauen worden. Aber das soll ja wohl ebenfalls ein -germanisches Rassemerkmal sein.</p> - -<p>D. J. M. Sie, nun ulken Sie mal gefälligst nicht! Ich bin wirklich -gespannt, ob Sie leugnen wollen, daß jedes Volk einen eignen Stil -produziert; und den machen doch wohl die einzelnen Künstler, wenn -auch jeder daneben noch seine aparte persönliche Manier kultiviert. -Übrigens, unter uns gesagt, imponiert mir die primitive Kultur von -irgend so’nem Kaffernstamm verhältnismäßig millionenmal mehr als unser -europäischer Knaatsch; so’n Maori oder Botokude hat im kleinen Finger -mehr Stilgefühl, als der ganze Michelangelo mitsamt der Sixtinischen -Kapelle.</p> - -<p>D. D. D. Verhältnismäßig ist das auch meine Meinung; nur taxiere ich, -scheint’s, die Verhältnisse anders. Zunächst ist Volk und Rasse doch -wohl Zweierlei. Jene Volkshorden, die noch reinrassig sind, haben’s -leicht, einen reinen Stil zu bewahren, nicht wegen ihrer reinen Rasse, -sondern bei ihren beschränkten Bedürfnissen, und weil wiegesagt in -rein bleibenden Rassen die Nötigung zur Entwickelung ausbleibt. -Lassen Sie solch ein simples Völkchen mit irgend einer Kulturnation -in nähere Berührung kommen: was geschieht? Sofort entsagt es seinem -natürlichen Stilgefühl und behängt sich mit importiertem Tand, genau -wie der Bauer bei uns mit Stadtkram. Warum denn, trotz allem reinen -Instinkt? Doch wohl nur aus der<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> dumpfen Empfindung heraus, daß ihm -da, im großen Ganzen genommen, etwas wesentlich Wertvolleres zuteil -wird; blos vermag seine Unbildung nicht zu erkennen, daß es an ihm ein -wertloses Einzelnes wird, zu seinem Wesen Unpassendes. Sehr Ähnliches -aber vollzieht sich auch in den gebildeten Schichten der großen Völker, -die wiegesagt durch Rassenmischung und andre natürliche Nötigungen in -einer fortwährenden Entwickelung ihrer kulturellen Bedürfnisse leben. -Da wird grade selbst das genialste Talent, weil es den geistigen Bedarf -seiner Zeit bis in alle Seelengründe begreift, immerfort zwischen -überlieferten und erst entstehenden Formtrieben pendeln, wird also wohl -niemals im einzelnen Werk ein ganz vollkommenes Gleichgewicht zwischen -traditionellem Stil und individueller Manier herstellen. Was soll uns -da noch der Aberglaube, daß irgend ein besonderer Volksgeist diese fort -und fort wechselnden Stile erzeugt, oder gar eine Extra-Rassenseele? -Grade die Ornamentik der wilden Rassen zeigt ja sogar in getrennten -Erdteilen eine oft auch Kenner täuschende Gleichförmigkeit; und die -Stile der Kulturnationen sind nirgends blos in Einem Land, sondern -jedesmal zu gleicher Zeit bei mehreren Völkern Brauch gewesen. Daraus -folgt einerseits: Stil entsteht aus einem allgemein menschlichen -Anpassungstrieb an bestimmte neue Lebensbedingungen, der sich am -schnellsten, stärksten und deutlichsten eben immer in den Künstlern -regt. Und andrerseits, mein verehrter Mitmensch: die stilistische -Mißgeburt eines Michelangelo ist millionenmal wertvoller für die -künftige Menschheit, d. h. geistvoller, seelenvoller, formvoller, als -selbst die vollkommenste Tätowierung eines melanesischen Malermeisters.</p> - -<p>D. J. M. Na ja selbstverständlich; alles was recht ist. Aber sagen Sie -mal: hab ich Ihnen schon mal meine kleine Sammlung Nanking-Porzellan -gezeigt?</p> - -<p>D. D. D. Ja; es sind kostbare Stücke darunter.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span></p> - -<p>D. J. M. Wunder! Hat auch ein kostbar Stück Geld gekostet. Aber was ich -eigentlich sagen wollte: kennen Sie auch alte Delfter Fayencen?</p> - -<p>D. D. D. Einigermaßen; und nun soll ich wohl eingestehen, der Holländer -hab’s dem Chinesen nachmachen wollen und wegen seiner Rasse nicht -fertig gekrigt?</p> - -<p>D. J. M. Ach was, Blech! Fayence ist natürlich kein Porzellan. Aber daß -er bei der Nachmacherei ganz was Anderes aus den Mustern gemacht hat, -was in seiner Art ebenso kostbar ist, und daß nachher, als die Delfter -Muster dann in Japan weiter nachgemacht wurden, ditto was Anderes draus -geworden ist — was sagen Sie <em class="gesperrt">dazu</em>, Sie deutscher Dichter?!</p> - -<p>D. D. D. Darauf könnte ich erstens erwidern, daß es japanische -Ornamente genug gibt, die man für holländische oder chinesische -ansprechen würde, wenn man ihren örtlichen Ursprung nicht wüßte oder -aus Nebenumständen erriete. Wie man z. B. auch das Buch Ruth, wenn -es nicht in der Bibel stünde und hebräische Nomenklatur an sich -trüge, für ein wahres Schatzkästlein altdeutscher Treuherzigkeit, -Rechtschaffenheit und Innigkeit ausgeben dürfte. Und der im Schädelbau -sehr germanische Schiller könnte nach seinem gesamten Sprachbau viel -eher ein Landsmann von Racine, Rousseau und Victor Hugo sein, als -von Hans Sachs, Grimmelshausen und Heinrich v. Kleist. Überhaupt: -wenn man ohne Vorurteil nachprüft, beruht die ganze Beweismethode -der rassendogmatischen Kunstgeschichte auf dem bekannten Fehlschluß -<span class="antiqua">post propter</span>, oder sogar blos auf Tautologie. Eine konstant -gewordene Verbindung gewisser Eigenschaften benamst man „Rasse“, und -im Handumdrehn wird dann die Benamsung zur innersten Ursache dieser -Konstanz und womöglich auch noch der Eigenschaften; also etwa wie nach -Onkel Bräsig die große Armut der kleinen Leute von der großen Povertee -herkommt.</p> - -<p>D. J. M. Dadurch wird aber die Konstanz doch bestätigt,<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span> die Tatsache -des Rassencharakters. Freilich gibts überall Ausnahmen; die beweisen -aber bekanntlich die Regel.</p> - -<p>D. D. D. Wenn sie nicht etwa auf anderweite, minder bekannte Regeln -hinweisen! — Und deswegen möchte ich zweitens einwenden: weil Fayence -„natürlich kein Porzellan“ ist, und weil der menschliche Kunstsinn aus -zweierlei Stoff natürlich auch zweierlei Formen entwickelt, deswegen -hat sich den Delfter Töpfermeistern trotz ihrer asiatischen Vorbilder -schließlich von selbst ein neuer Stil aufgedrängt. Aber nicht blos -deswegen allein, sondern jetzt will ich drittens gern zugeben: wenn ich -auch nicht an einen beständigen Volksgeist auf Grund einer Rassenseele -glaube, so doch an bestimmte zeitweilige Volksbedürfnisse, die sich -auf die verschiedensten Ursachen, ideelle wie materielle, zurückführen -lassen, z. B. moralische, religiöse, politische, ökonomische, -klimatische, territoriale. Es wird noch viel zu wenig beachtet, und -selbst Taine hat es nicht bis zu Ende gedacht, was Himmel und Erde, -Luft und Licht, Landschaft und Witterung, Arbeit und Müßiggang, -Reichtum und Armut, Freiheit und Knechtschaft aus der Menschenseele -machen. Man verpflanze ein paar Millionen Britten nach Spanien und -pferche sie in die katholische Kirche, und in 100 Jahren schon wird ihr -Rassecharakter bis zur Unkenntlichkeit verwandelt sein; die Assyrer, -Babylonier und Römer haben ja diese Art Politik an den Juden recht -gründlich praktiziert. Aber auch im Gebiet seiner Heimat verändert der -Mensch fortwährend den Erdboden, und der Boden rückwirkend ihn; wo -einst Urwald war, ist heut Gartenland, oder wo Gärten waren, Wüste. -Das geht freilich beträchtlich langsamer vor sich, als die seltene -plötzliche Volksübersiedlung in ein ganz neues Wohngebiet; und da auf -beständigem Heimatsboden auch die kulturelle Tradition beständiger -bleibt, daher scheint das jeweilige Volksbedürfnis den Zeitgenossen -so wunderbar urwüchsig, als stamme es von einem besondern, durchs -Blut vererbten Rasseninstinkt. So mag<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span> denn mancher Stil in der Tat, -obgleich auch er nur dem menschlichen Anpassungstrieb einiger weniger -Künstler entsprang, einem alten Volksbedürfnis entsprechen. Ich sage -absichtlich: mancher Stil, d. h. durchaus nicht all und jeder, der -nachträglich eine populäre oder nationale Geltung erlangt. Denn in dem -Kunstbedarf der Kulturnationen sind zwei sehr verschiedene Arten Kunst -begehrt; da ist einerseits die große Masse — aber ich glaube, ich -langweile Sie!</p> - -<p>D. J. M. O bitte, wieso denn! Ich male ja. Und Ihr Mund sieht allemal -sehr forsch aus, wenn Sie sich so für die Menschheit aufregen. Sie -sollen mal sehn, Ihr Porträt wird gut.</p> - -<p>D. D. D. Also einerseits, wollte ich sagen, die große Masse der -allgemeinen Gebrauchsgegenstände, vom kleinsten Topf bis zum ganzen -Wohnhaus: deren Formung unterliegt in der Tat mit ziemlicher -Dauerhaftigkeit der populären Tradition. Und weil hier die Form ganz -überwiegend von körperlichen Bedürfnissen abhängt, so mag dabei auch -die physische Rasse einigermaßen merklich mitwirken, wenigstens in -reinrassigen Völkern, oder wo vielleicht eine ältere Mischrasse noch -die Oberhand hat über jüngeres Mischvolk, wie z. B. in Rußland und -in Teilen von China. Ich freilich möchte auch das bezweifeln; denn -wenn wirklich irgend eine Art Formtrieb auf spezifischem Rassetalent -beruhte, dann wäre völlig unbegreiflich, wieso dieser Trieb in manchem -Volk abstirbt, trotzdem die Rasse im Volke noch fortlebt. Wie kurzlebig -war die Kultur der Hellenen, und doch gibt es heute noch griechische -Bauern genug, deren Körperbau ganz den antiken Typ hat!</p> - -<p>D. J. M. Blos leider mit türkischem Blut verkleistert! Und schließlich -wird Jeder mal altersschwach.</p> - -<p>D. D. D. Das sagt man ja freilich auch Völkern nach, und es würde -vielleicht sogar ganz vernünftig sein, wenn wirklich jeder Grieche von -heute schon als Greis aus dem Mutterleib<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span> käme. Aber dem Rassenelement -soll doch seelische Urkraft innewohnen; und seit wann werden Urkräfte -altersschwach? Der Kunsttrieb in einem Tizian ist erst zugleich mit -ihm selber gestorben! Er hat mit 99 Jahren gewiß nicht mehr wie als -Jüngling gemalt, aber gemalt hat er bis zuletzt.</p> - -<p>D. J. M. Ja gewiß! Sehn Sie wohl! Was hab ich gesagt? Der war eben -nicht vermuselmanscht!</p> - -<p>D. D. D. Na, wer weiß! Venedig lag nicht so weit von den Harems. Und er -soll ja, unter uns gesagt, ein halb Dutzend Gattinnen totgeliebt haben; -mehr dürfte wohl auch kein Türke leisten! — Doch Spaß beiseite, und -Schutt auf die Griechen! Aber die Araber und die Perser, die noch bis -in die Renaissance hinein selbständige Kulturformen schufen und sich -seitdem nicht mehr so reichlich wie früher mit anderen Rassen gekreuzt -haben, sind heute gleichfalls barbarisiert. <em class="gesperrt">Es sind wirtschaftlich -verlotterte Völker, infolge der Unzulänglichkeit ihrer humanen Ideale, -denn die rächt sich stets auch sozialpolitisch.</em> Solche Völker -vermögen dann nicht einmal in den gewöhnlichsten Kunstgewerben ihre -stilistische Tradition auf alter Höhe zu erhalten, geschweige daß sie -die andre Art Kunst, die aus rein seelischen Bedürfnissen stammt, -noch irgendwie schöpferisch betreiben. Und nun die Hauptsache: diese -andre Art Kunst weist wiederum zwei durchaus verschiedene, zwar -sinnlich vielfach verbundene, aber geistig ganz gesonderte Spielarten -auf: die der Unterhaltung und die der Erhebung. Mag sein, daß die -<em class="gesperrt">unterhaltenden</em> Künste, die ja die eigentlich populären sind, -noch Rückschlüsse auf die Rasse erlauben, zwar kaum des Künstlers, -doch vielleicht seiner Kundschaft. Denn auch diese Künste wurzeln -noch halb im Gewerbe, vom Volkslied der alten Bänkelsänger bis zum -modernen Familienroman, vom Nationaltanz bis zur Salon-Akrobatik, -vom Rüpelspiel bis zum ehrsamen Rührstück, vom ungeschlachten -Jahrmarktsbild bis zum allerleckersten Eßzimmer-Stillleben. Sie hängen<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span> -direkt vom Bedürfnis des Alltags ab, sie betreiben den Zeitvertreib -als Geschäft, sie behandeln das sinnliche Leben als Selbstzweck, sie -müssen gemeinverständlich sein, sie zielen mit einfachsten geistigen -Reizen auf körperliche Erregungen, auf Augenweide und Ohrenschmaus, -auf Zwerchfell- und Tränendrüsenkitzel, auf Herz- und Nieren- und -Rückenmarksgruseln; also wird ihre Form wohl auch zum Teil von -denselben Naturkräften mitbestimmt, die dem menschlichen Körper den -groben Stempel einer beständigen Rasse aufdrücken.</p> - -<p>D. J. M. Na, was Andres hab ich doch niemals behauptet!</p> - -<p>D. D. D. Nun aber die freieren, reineren Künste, die ich vorhin die -<em class="gesperrt">erhebenden</em> nannte, weil sie höher hinauswollen als das sinnliche -Dasein: was hat der Volkskörper damit zu schaffen? Er dient ihnen -höchstens als Mittel zum Zweck; hier herrscht ganz und gar nur die -Schöpfermacht der begeisterten und begeisternden Seele. Diese Künstler -bewerben sich nicht um Volksgunst, sie betreiben das innere Wachstum -der Menschheit. Da will der Geist die Nerven des Leibes nicht blos -mit flüchtigen Reizen liebkosen, sondern innigst mit seinem Liebreiz -befruchten, bis in die feinsten Gehirnzellenfasern, die kein Vivisektor -je auskennen wird, weil immer noch welche nachwachsen werden. Da -empfängt die Form kaum noch indirekt von der populären Tradition ihren -Stil; denn das durch und durch Maßgebende ist da eben die befreiende -Leidenschaft, die neues Menschentum schaffen will, dieselbe göttliche -Leidenschaft, aus der auch die religiösen Visionen, die sozialen und -nationalen Phantome, kurz alle Ideale entspringen. Sie tritt immer -zuerst nur im Einzelgeist auf, ist nie und nirgends dem Volk gleich -willkommen, muß überall erst im Kampf mit der Welt ihre rätselhafte -Kraft erweisen, die an jedem Widerstand wächst und reift. Ja, sie -stammt sogar aus dem Widerstand: aus dem Zwiespalt zwischen Mensch und -Natur, den die Kultur über<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span>brücken möchte, und der sich im schaffenden -Einzelgeist als Konflikt mit den Masseninstinkten auftut. Oder meinen -Sie etwa, daß Ihre Judith, an der Sie sich Jahrelang abgequält haben, -sofort begeisterten Zuspruch fände, wenn Ihr verehrliches Publikum aus -lauter koscheren Juden bestünde?</p> - -<p>D. J. M. Gott der Gerechte! Dann doch schon lieber aus lauter -gemischten ollen Hellenen.</p> - -<p>D. D. D. Ja, die hättens Ihnen erst recht gesteckt; den Phidias -wenigstens haben sie wegen Gottlosigkeit aus Athen weggegrault, und -der Äschylos wurde so kujoniert, daß er ebenfalls ausgewandert ist. -Die deutschen Schulmeister sind zwar der gütigen Meinung, daß jeder -Spießbürger von Athen ein Zeitgenosse des Perikles war und begeistert -in die Tragödie ging; er ging aber hin, weil’s Staatspflicht war, -weil ihm das Eintrittsgeld ausgezahlt wurde, weil er den berühmten -Obolus krigte, durch den ein paar raffinierte Patrizier die primitive -Kirmeßbühne zur sozialpolitischen Anstalt entwickelten. Begeistert -war man vielleicht für den Chortanz, für die bachantische Satyrposse, -für die religiösen Prozessionen, und was sonst noch an festlichem -Schaugepränge mit dem Drama seit Alters zusammenhing. Begeistert war -man für alle Gymnastik, wie mans heute für Zirkus und Variété ist, -oder in Spanien fürs Stiergefecht. Das Volk begeistert sich immer blos -für <span class="antiqua">panis et circenses</span> von selbst; das war im antiken Athen und -Rom ganz wie im modernen Paris und Madrid. Die Plebs will sich einfach -delektieren; zwar möglichst variabel, doch immer simpel. Das Erhabene, -wenn es nicht altersgrau war, beschmiß der athenische Bildungspöbel -mit genau solchem kritischen Schnodderwitz, wie heute der berlinische; -Beweis die Aristophanische Posse, die diesen Witz mit genialer -Selbstironie in die poetische Sphäre erhob. Die Kunst des geläuterten -Menschengeistes, die sich aus instinktiven Konflikten zu ästhetischen -Harmonieen hinaufringt, liegt ursprünglich stets nur im Bedürfnis -kompli<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span>zierter Persönlichkeiten, schon dem Wesen der Motive nach; sie -wird überall erst durch die Liebhaber dem Volksgeschmack allmählich -vermittelt, und mit gründlichem Erfolg nur dann, wenn die Vermittler -zur herrschenden Klasse gehören oder sonstwie in Amt und Würden -sitzen, z. B. auf dem Schulmeisterthron. An Ihrer Judith hat sichs ja -deutlich gezeigt; wer sieht denn da heute das geistige Pathos hinter -der sinnlichen Attitüde? Selbst der gebildete Durchschnittskenner hat -einstweilen noch keine leise Ahnung von dem allgemein menschlichen Wert -dieser Geste; er besieht sich den naturalistischen Akt.</p> - -<p>D. J. M. Ist mir ja ungemein schmeichelhaft alles; aber eigentlich -muß ich ehrlich bekennen, ich hatte selber noch keine Ahnung davon. -Ich denke beim Malen an nichts Allgemeines, ich will immer was ganz -Besonderes machen. Sie sehn doch, ich zeichne hier Ihre Visage, und Sie -reden das Blaue vom Himmel herunter. Kommt mir ja alles sehr gottvoll -vor, und mein sogenannter Menschengeist denkt sich ja auch allerlei -dabei; aber bilden Sie sich nun faktisch ein, davon soll was auf Ihr -Porträt abfärben? Ich sage Ihnen, <em class="gesperrt">die</em> Sorte Geist hat mir noch -keinen Bleistiftstrich machen helfen!</p> - -<p>D. D. D. Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Aber Ihre Kohlenskizze -da würde doch vielleicht etwas anders ausfallen, wenn ich hier stumm -wie ein Fakir säße oder tragische Verse deklamierte.</p> - -<p>D. J. M. Alles was recht ist: Sie döppen mich wirklich gut.</p> - -<p>D. D. D. Man weiß nämlich nachträglich nie so genau, was man bei jedem -Bleistiftstrich denkt. Ich habe Sie übrigens im Verdacht, Sie legen’s -drauf an, sich döppen zu lassen; dann wäre also <em class="gesperrt">Ich</em> der Gedöppte.</p> - -<p>D. J. M. Ja, eigentlich gehts ja auf keine Kuhhaut, was einem beim -Malen so durch den Grips geht. Ich hab’s auch<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> wahrhaftig schon immer -gesagt: ich pfeiff aufs Geschäft, ich bin Idealist!</p> - -<p>D. D. D. Das ist wohl schließlich jeder Künstler, und sogar jeder -echte Kunsthandwerker, auch wenn er nicht so laut pfeifen kann. Und -das allein schon beweist zur Genüge, wie wenig im Grunde das Talent -mit einer bestimmten Rasse zu tun hat. Der Rasseninstinkt, wenn er -ehrlich ist, hat ja nicht das mindeste Interesse an irgend einem -Ideal, das über die Reinrassigkeit hinausgeht; das ist ihm ja gradezu -gefährlich. Selbst schon das nationale Ideal, das sich vielleicht noch -am ehesten auf primitive Instinkte stützt, muß seinem politischen -Wesen nach von Hause aus darauf bedacht sein, sich mit <em class="gesperrt">mehreren</em> -Rassen abzufinden; denn es gibt kein einziges Staatsgebilde, dessen -Volkskörper nicht aus wenigstens zwei verschiedenen Stammvölkern -aufgebaut ist, aus Eroberern und Unterworfenen. Und nun gar die -humaneren Ideale; die entstehen doch eben aus der Sehnsucht, uns -über die rohen Zwangsgewalten der Naturinstinkte hinwegzusetzen, -und diese Sehnsucht stak schon im simpelsten Schnörkel, mit dem -der Urmensch an seinem Beilgriff oder am Rand seines Trinkgefäßes -den Zweck der Notdurft verkleidete. Wenn man also unsern höchsten -Kulturprodukten wirklich noch Rassenelemente als Formkräfte unterlegen -wollte, dann könnten es immer nur Mischungsverhältnisse sein, die -grade den harmonischen Stil in die originale Manier hineinbrächten. -Denn nur aus vielfachen Blutmischungen ließe sich allenfalls die -Zeugung jener komplizierten Temperamente erklären, die überhaupt das -Bedürfnis empfinden, die Dissonanzen, Kontraste und Konflikte ihres -persönlichen Seelenlebens um der Menschheit willen zu harmonisieren. -Das gilt sogar von dem populärsten, dem ökonomischen Idealismus, -den man heute speziell den sozialen nennt; auch dessen Formen und -Reformen sind ursprünglich immer nur Hirngespinnste von einigen -wenigen Menschenfreunden, die das Volk bekannt<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span>lich zu kreuzigen -pflegt, bevor es sie vergöttern lernt. Und wer hat denn die nationale -Idee, die von Bismarcks Gnaden realisiert und dann von seinen -Kreaturen zur patriotischen Phrase verpöbelt wurde, dem deutschen -Michel eingetrichtert? Etliche edle Brauseköpfe des europäischen -Völkerfrühlings, ein paar Poeten, Philosophen und Legislatoren, durch -den Tyrannen Bonaparte zu glühender Freiheitsliebe erregt, die von -den hohen Obrigkeiten so rasch wie möglich abgekühlt wurde, während -der sogenannte Volksgeist von selber kalte Füße krigte! Lesen Sie nur -nach, wie die Kleist und Arndt, die Fichte und Schleiermacher, die Jahn -und Görres ihre Hoffnungen auf Deutschland zu Grabe trugen, wie die -Scharnhorst und Gneisenau Undank ernteten, wie selbst der Freiherr vom -Stein und Blücher um den Sinn ihrer Taten betrogen wurden! Oder wenn -Sie noch mehr Beweise wünschen —</p> - -<p>D. J. M. Nein, Gott soll schützen, ich schwitze schon! — Und -überhaupt: ich bin nämlich fertig. Die Skizze ist wirklich gut -geworden. Wenn Sie erlauben, möcht ich jetzt einpacken.</p> - -<p>D. D. D. Na, darf man sie denn nicht erst mal sehen?</p> - -<p>D. J. M. Ja, wenn sie fertig ist, wissen Sie! Ich wollte blos sagen: -für heut bin ich fertig. Wenn Sie wieder mal herkommen, mach ich sie -weiter. Sie ist wirklich nicht schlecht; Sie können mirs glauben! — -Na, wenns sein muß: bitte, treten Sie näher! —</p> - -<p>D. D. D..... Da scheint unsre Disputation aber doch etwas heftig -abgefärbt zu haben. Ich sehe ja aus wie’n Federvieh, das Ihr Teckel -zwischen den Zähnen gehabt hat. Aber ich sag’s ja: schließlich bin -<em class="gesperrt">Ich</em> der Gedöppte.</p> - -<p>D. J. M. Ja, nicht wahr? da merkt selbst ’n Kaffer die Rassenmischung! -— Man kann’s auch von weiter weg besehn. „Is ’ne Nummer“, wie sie im -Zirkus sagen; der reine „Kraftmélange-Akt“!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p> - -<p>D. D. D. Mir deucht aber: mehr Mélange als Kraft. Sie wollen’s wohl in -den Papierkorb packen?</p> - -<p>D. J. M. Was? Wieso denn? Sie sind wohl nicht von hier, mein Herr?! Das -verkauf ich an irgend ein Museum! Sie sollen mal sehn, Sie deutscher -Dichter: wenn Sie erst in der Nationalgalerie hängen!</p> - -<p>D. D. D. Nein, im Ernst: die Skizze scheint mir wirklich mißglückt. Sie -haben zuviel an mein Geschwätz gedacht.</p> - -<p>D. J. M. Ach ja richtig, Sie sind ja nicht fürs Nationale. Und nun -denken Sie einfach, ich mache Spaß, weil Sie meinen, ich sei ein -Franzosenschüler!</p> - -<p>D. D. D. So einfach pflege ich nicht zu denken.</p> - -<p>D. J. M. Na, oder ein allgemein menschlicher Jude! Ich habe doch -ziemlich deutlich gehört, daß Sie aufs Nationale pfeifen.</p> - -<p>D. D. D. Da haben Sie ziemlich vorbeigehört.</p> - -<p>D. J. M. Nanu? Sie haben doch deutlich gesagt —</p> - -<p>D. D. D. daß die Nation keine Kunst erzeugt. Damit ist doch aber -durchaus nicht geleugnet, daß die Kunst nationalen Charakter annehmen -kann. Selbst der weiseste Künstler bleibt der Narr seines Mitgefühls.</p> - -<p>D. J. M. <em class="gesperrt">Die</em> Logik ist mir etwas zu kringlig.</p> - -<p>D. D. D. Nun, es ist doch dieselbe Leidenschaft, dieselbe -schöpferische Begierde, derselbe göttliche Sinn oder Wahnsinn, woher -die Menschennatur kulturelle Ideen und die Volksmasse nationale -Tendenzen empfängt, überhaupt alle irgendwie universalen Illusionen und -Phantasmen. Es ist immer wieder die ewig gleiche, Ungleiches einende -Einbildungskraft, die auch im Kunstwerk dem Einzelwesen harmonischen -Allgemeinwert verleiht; nur die Intressensphären liegen verschieden. -Warum sollten sich die aber nicht berühren können und unter Umständen -miteinander verbinden? Vielleicht ist sogar zu gewissen Zeiten die -eine der andern Nothelferin. Wenigstens zeigt die Ge<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span>schichte der -Menschheit, daß immer, wenn in den rührigsten Völkern neue humane -Ideale entstehen, daß dann zugleich auch die nationalen am ungestümsten -aufbegehren; womit ich natürlich nicht sagen will, daß das nun ewig so -bleiben muß.</p> - -<p>D. J. M. Und da denken Sie also, die beiden Aale verwickeln sich so mit -den Schwänzen zusammen, daß der Mensch die göttliche Sehnsucht krigt, -einen einzigen Aal draus zu phantasieren?</p> - -<p>D. D. D. Nein, so verwickelt denken wahrscheinlich blos Bandwürmer.</p> - -<p>D. J. M. Na, wovon krigt man denn aber den dollen Gieper auf so’was -allgemein Göttliches? Irgendwovon muß der doch kommen!</p> - -<p>D. D. D. Ja, da müßten Sie mir schon wirklich erlauben „das Blaue vom -Himmel herunter zu reden“. Von der Rasse kann doch wohl lediglich der -Gieper auf allgemein Tierisches kommen; und von irgend sonstwelchen -Formationen der irdischen Materie, ob’s nun klimatische Ortsumstände -oder soziale Zeitumstände sind, werden Sie diese ewige Sehnsucht -nach harmonischer Umformung der Natur erst recht nicht hinreichend -ableiten können. Wenn sich die überhaupt noch logisch ergründen und -mechanisch begreifen läßt, dann müssen wir schon den mystischen -Äther der Herren Physiker psychisch ausdeuten: unsre Abstammung von -der Sonnenmaterie, die rhythmodynamische Struktur der kosmischen -Centralsysteme, die sogenannte Harmonie der Sphären, den Einfluß -der schwingenden Sternenwelten auf unser eigenes kleines Gestirn, -all die bewegten siderischen und planetarischen Konstellationen, -die bis in den Erdball hinein vibrieren und sich als wechselnde -Innervationspotenzen, als beseelende und begeisternde Kräfte, den -Erdbewohnern einverleiben. Oder halten Sie’s etwa für Aberglauben, -daß immer, wenn sich die Menschenwelt zu erhabenen Kraftanstrengungen -aufrafft, zu Völkerwanderungen, Staats<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span>umwälzungen, Befreiungskriegen, -Entdeckungsfahrten, Glaubenskämpfen und andern Kulturekstasen, daß dann -immer zugleich auch in der Naturwelt gewaltige Katastrophen ausbrechen, -Erdbeben, Springfluten, Wirbelstürme, Heuschreckenschwärme, mikrobische -Epidemieen, vulkanische Eruptionen und dergleichen, begleitet von -seltsamen Himmelserscheinungen, ungewöhnlichen Meteoren, Kometen, -Nordlichtern, Sonnenfinsternissen?!</p> - -<p>D. J. M. Da’s faktisch so ist, wird’s wohl so sein. Es rumort ja auch -jetzt wieder allenthalben.</p> - -<p>D. D. D. Und also wird sich wohl auch kein Künstler, selbst wenn er’s -mit stärkstem Eigensinn wollte, den jeweils zeitbewegenden Kräften, -die sich als Ideale äußern, entziehen oder verschließen können. Und -wenn in unserer ebenso stark nationalen wie internationalen Epoche -ein schöpferischer Geist auf dem norddeutschen Weltteil mit seiner -reichsdeutschen Staatsbürgerhand allgemein-menschliche Werte malt, und -zwar aus rein malerischer Lust zur Sache: dann ist er nicht blos ein -wertvoller Maler, sondern zugleich, auch wenn er ein Jude ist und in -Paris auf die Schule ging, einer der reinsten deutschen Künstler, die -sich je in der Nationalgalerie aufhängen ließen.</p> - -<p><em class="gesperrt">Der Jüdische Maler</em>: Na sehn Sie, das freut mich! Und offen -gesagt: das hab ich von Ihnen blos hören wollen!</p> - -<p><em class="gesperrt">Der Deutsche Dichter</em>: Oh meine Ahnung! Ich Michel! Sie Schurke! -— Das soll wohl heißen, der Mohr kann gehen?!</p> - -<p><em class="gesperrt">Der Maler</em>: Blos, er muß versprechen wiederzukommen! Und das -nächste Mal, da mal’ich ihn <em class="gesperrt">besser</em>.</p> - -<p><em class="gesperrt">Der Dichter</em>: Und ich singe ein Loblied aufs Rassige...</p> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span></p> - -<h2 class="versteckt" id="Schauspiele" title="Schauspiele"></h2> - -</div> - -<h3 id="Die_Menschenfreunde">Die Menschenfreunde<br /> -<span class="s5">Drama in drei Akten</span><br /> -<span class="s6">Zweite Ausgabe</span></h3> - -<p class="s5 center">Copyright 1917 <em class="gesperrt">S. Fischer</em>, -Verlag.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span></p> - -<p class="center padtop3 break-before"><em class="gesperrt">Personen</em>:</p> - -<div class="centre-container"> - <div class="centred"> - <div class="item"><em class="gesperrt">Christian Wach</em>, ein Multimillionär.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Justus Wach</em>, sein Vetter, Kriminalkommissar.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em>, Wirtschafterin bei Christian.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Geheimer Sanitätsrat.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Oberbürgermeister.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Oberregierungsrat.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Regierungspräsident.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Minister.</em></div> - </div> -</div> - -<p class="regie padtop1"><em class="gesperrt">Alle</em> männlichen Personen treten in schwarzem Gehrock auf, -die Wirtschafterin in schwarz-und-weißer Schwesterntracht. Der -Dialog hat <em class="gesperrt">langsames Tempo</em>.</p> - -<p class="center mtop2"><em class="gesperrt">Zeit</em>:</p> - -<p class="center">Sommer, Herbst, Winter 1913,<br /> -alle drei Akte vormittags.</p> - -<p class="center mtop2"><em class="gesperrt">Ort</em>:</p> - -<p class="center">Empfangszimmer bei Christian Wach.</p> - -<p class="regie padtop1">Sehr einfach ausgestattet, fast dürftig, mit altmodischen -Möbeln. Nirgends Spiegel noch Bilder; nur in der Mitte der -Hintergrundswand, über einem halbhohen Bücherbord, hängt das -Porträt einer älteren Dame mit hageren Zügen und auffälligen -Augen, lebensgroße verblaßte Photographie. Links im Hintergrund -Eingangstür, vorn ein schlichter Kamin mit Standuhr. In der -Seitenwand rechts ein Fenster mit verschossenen Vorhängen; daneben -ein Lehnstuhl aus dunklem Korbgeflecht und ein kleiner Lesetisch. -In der Mitte des Zimmers ein größerer runder Tisch mit drei Stühlen -aus dunklem Holz. Rechts und links immer vom Zuschauer aus.</p> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span></p> - -<h4 class="padtop1" id="Erster_Akt">Erster Akt</h4> - -</div> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(sitzt lesend am Fenster, von der Vormittagssonne beglänzt)</p> - -<p>— — Also auch der Galneggy hat seine Milliarde mit Menschenschinderei -erworben — eh er Millionen verschenken konnte — (<span class="regie">nickt vor sich hin -und klappt das Buch zu</span>) — schauerlich! — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p> - -<p class="regie">(tritt ins Zimmer, einen hellroten Rosenstrauß in der einen Hand, -in der andern eine weiße Serviette und schlichte blaue Glasvase)</p> - -<p>So, Herr Christian, wenn Sie auch schelten, ich gratuliere zum -fünfzigsten Geburtstag. Kostet nur dreißig Penning bitte; der ganze -Markt war voll Bauernrosen, ich konnt der Sommerfreude nit widerstehn, -und dem erquickenden Geruch. (<span class="regie">Sie legt die Serviette auf den -Tisch, setzt die Vase mit dem Strauß darauf.</span>) Nun machen Sie mal -ein helles Gesicht, wie sich’s gehört zu den schönen Blumen und dem -Geburtstagssonnenschein!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(ist aufgestanden und hat das Buch in den Wandbord -gestellt)</p> - -<p>Ich danke dir, Anne, du meinst es gut; aber du weißt, mich peinigt -solche Verschwendung. Für die dreißig Pfennige hättest du besser einem -Bettelkind etwas zu essen gekauft.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja, das hätt sich wohl mehr gefreut als Sie. Ach, Herr Christian, geb -Ihnen Gott ein bißchen Kindersinn zurück! Dann würden Sie bald auch -wieder gesund werden.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(unruhig hin und her, Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken, in der -Erregtheit zuweilen stotternd, aber stets mit Zurückhaltung)</p> - -<p>Lala-laß das Gerede, ich bin nicht krank; ich spüre blos, daß ich alt -werde.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Weil Sie nicht auf mich hören, Sie junger Mann. Mich drücken meine -Jahre nicht; und könnt doch fast Ihre Mutter<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span> sein, mit meinen beinah -sechsundsechzig. Nehmen Sie sich ein Kind ins Haus, wenn Sie durchaus -keine Frau nehmen wollen!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Bist doch auch ledig geblieben, alte Anne.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ich — was wissen denn Sie davon? Blos daß mich leider keiner heiraten -wollt, mit meinem Huckepack auf’m Rücken; da hab ich halt Kinder und -Kranke gepflegt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Dein Rücken ist nicht viel krummer als meiner. Was siehst du mich -wieder so auffällig an?!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja, nehm Ihnen Gott Ihren Huckepack von der <em class="gesperrt">Seele</em> —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(heftig)</p> - -<p>Lala-laß mich in Ruhe mit deinem Gott! (<span class="regie">sich bezwingend</span>) sein Reich -ist nicht von dieser Welt. — (<span class="regie">Nach dem Porträt hinüberdeutend</span>) Geh, -stell den Strauß da auf den Sims.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Was! meine Rosen da unter das Bild?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Geh, tu mir die Liebe, ich bitte dich.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Neun Jahre liegt sie nun unter der Erde, und immer noch spukt sie Ihnen -im Hirn, als hätten Sie Angst vor ihrem geizigen Blick. Das ist ja -Narrheit, Herr Christian!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, das ist Dankbarkeit, Anne, versteh doch! Du weißt, ich habe seit -Tante Brigittens T-Tod über das menschliche Elend nachdenken lernen; -und wenn ich nun die v-vielen Millionen, die sie mir hinterlassen hat, -nicht grade in ihrem sparsamen Sinne verwende.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Gott sei Dank —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>dann muß ich ihr doch tatsächlich im stillen gewissermaßen Abbitte -leisten; sozusagen als ihr Scha-Schuldiger, wie’s im Vahaha-haterunser -heißt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Spotten Sie nicht, Herr Christian! Und meinen Rosenstrauß stell ich -<em class="gesperrt">nicht</em> da hinüber. Hab ihn auch garnit blos Ihnen zulieb gekauft. -Wenn nachher die Herrn gratulieren kommen</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Was soll das heißen! ich hab dir ausdrücklich gesagt, daß du niemand -vorlassen sollst!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Doch nur die Herren von der Regierung; die kann man doch nit vor den -Kopf stoßen. Und dann muß es hier doch ein bißchen freundlich aussehn. -Auch ein Fläschchen Tokayer hab ich noch mitgebracht; man muß doch ein -Gläschen Wein anbieten.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(mit dem Fuß aufstampfend)</p> - -<p>Du wirst mich w-wirklich noch krank machen, Anne! Du trägst die -Faffa-Falasche zum Krämer zurück! (<span class="regie">Da Anne Miene zum Widerspruch -macht</span>) Du trägst sie zurück! ich will’s, sag ich dir!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Wenn ich Sie damit beruhigen kann —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(wieder durchs Zimmer wandernd)</p> - -<p>Wenn ich mir selber keinen W-Wein spendiere, bin ich dem Bürgermeister -auch keinen schuldig! — Kannst die Flasche aber für <em class="gesperrt">Dich</em> -dabehalten. Hast wenig genug vom Leben bei mir.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ihr gutes Herz in Ehren, Herr Christian; ich hab noch nichts entbehrt -bei Ihnen. Aber trotz all Ihrer Wohltätigkeit: manchmal scheint’s fast, -die selige Tante hat Ihnen auch was von ihrem Geiz vererbt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Scheint’s fast? Ha-hat sie? Was scheint dir denn sonst noch?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Wenn ich denk, wie Sie früher mitteilsam waren! Der Herr Sanitätsrat -ist auch der Meinung: wenn Sie ab und zu ein Gläschen sich gönnen -wollten, das würd Sie wieder umgänglich machen. (<span class="regie">Auf die Bibliothek -weisend</span>) Ihre Bücher machen Sie blos immer menschenscheuer; Sie -sprechen ja manchmal Tagelang kein überflüssiges Wörtchen mehr.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Also meine einzige Freude gönnst du mir nicht; die l-letzte, die ich -mir noch erlaube!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Aber nein, wie Sie reden — ich mein doch blos: Sie holen sich -<em class="gesperrt">keine</em> Freude draus. Über Büchern läßt man den Kopf hängen; man -holt sich blos seine eignen Grillen draus.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(wieder aufstampfend)</p> - -<p>Schweig! — Schweig, sag’ ich dir, ich hab genug! — Ich hab mir das -l-l-längst schon selber gesagt; ich werde morgen die Bücher verkaufen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Aber liebster bester Herr Christian!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich <em class="gesperrt">werd’s</em>, sag ich dir!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Jaja doch, gewiß doch. Aber bitte, lieber Herr Christian, quälen -Sie nicht mich dumme Person; nehmen Sie mir zuliebe Ruh an! Kommen -Sie, setzen Sie sich in den Lehnstuhl; rennen Sie nicht so herum -immerfort. Glauben Sie mir, ich kenn Ihre Nerven; wozu war ich denn -Krankenschwester.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du sollst mich nicht so a-ansehn, Anne!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Kommen Sie, sein Sie nit so verbiestert — der Herr Sanitätsrat hält’s -auch nit für gut — (<span class="regie">nötigt ihn währenddem in den Korbstuhl</span>). -So, jetzt hole ich Ihnen ein Buch — (<span class="regie">draußen elektrisches -Klingelzeichen</span>). O schad, da sind die Herren wohl schon — nehmen Sie -Ruh an, Herr Christian — (<span class="regie">ab nach links</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(allein)</p> - -<p>— — Schauerliche Komödie — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(läßt zwei Herren eintreten)</p> - -<p>Bitte, Herr Oberbürgermeister — bitte, Herr Oberregierungsrat — -(<span class="regie">dann wieder ab.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(hat sich erhoben, weist auf die Stühle am Mitteltisch)</p> - -<p>Willkommen, meine Herren, nehmen Sie Platz; was verschafft mir die -ungewöhnliche Ehre?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p class="regie">(stehen bleibend)</p> - -<p>Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, verehrter Herr Kommerzienrat.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p> - -<p class="regie">(ebenso)</p> - -<p>Heute tatsächlich auf unsrer Seite; tatsächlich, Herr Kommerzienrat.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen im Namen der Bürgerschaft -und der übergeordneten Ratspersonen die ergebensten aufrichtigsten -Glückwünsche zu Ihrem fünfzigsten Jahrestag auszusprechen. In der -festen Hoffnung, daß es Ihnen, hochzuverehrender Herr Kommerzienrat, -noch Jahrzehnte lang beschieden sein werde, Ihre gemeinnützige -Gesinnung mit unverminderter Kraft zu betätigen, und um die -Dankbarkeit öffentlich kundzutun, mit der wir zu dem selbstlosen -Menschenfreund aufblicken (<span class="regie">Christian Wach zuckt merklich zusammen, -stützt sich auf die Stuhllehne rechts des Tisches</span>) — zu dem Stifter -sovieler Wohlfahrts- und Bildungs-Anstalten —: haben wir einstimmig -beschlossen, Sie am heutigen Tage zum Ehrenbürger unserer Haupt- -und Residenzstadt zu ernennen. In Rücksicht aber auf Ihre bekannte -Abneigung gegen persönliche Celebrationen, glaubten wir Abstand nehmen -zu sollen von den üblichen Förmlichkeiten, und ich erlaube mir deshalb, -die Ernennungsurkunde hiermit in denkbar einfachster Form zu Ihren -Händen gelangen zu lassen. (<span class="regie">Er überreicht ihm eine Rolle und schüttelt -ihm gewichtig die Rechte.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p> - -<p>Im Namen nicht nur der Regierungsorgane, sondern auch Seiner -Königlichen Hoheit des Großherzogs, darf ich Sie, Herr Kommerzienrat, -als Erster zu dieser Ernennung beglückwünschen. Seine Königliche Hoheit -haben zugleich geruht, Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste um das -allgemeine Wohl den Kronenorden der obersten Klasse mit der Kette zu -verleihen. Sie wissen, wieviel Aufmerksamkeit unser gnädiger Herr den -sozialen Bestrebungen widmet, und daß es mehr als eine Förmlichkeit -ist, wenn jemand in unserem Staatswesen einen solchen Ansporn zu -weiterer Betätigung seiner Menschenfreundlichkeit empfängt. (<span class="regie">Er -überreicht ihm ein Kästchen und verneigt sich.</span>)</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>Meine Herren, ich danke untertänigst. Ich fühle mich in Wahrheit -beschämt und b-bitte es als einen Beweis meiner Ergriffenheit -anzusehen, wenn ich diese hu-hu-huldvollen Ehrenzeichen vor dem Bilde -derjenigen Person niederlege, auf deren wirtschaftliche Tüchtigkeit -ich meine sogenannten Verdienste zurückführen muß — (<span class="regie">er legt beides -auf den Bücherbord unter das Porträt</span>). M-M-Menschenfreunde sind wir -wohl alle nur, soweit es unsre Selbstsucht zuläßt; und was bedeutet -ein bißchen Wohltäterei in der ungeheuren W-Wüste des menschlichen -Elends! Sie hat höchstens den Wert eines Grashälmchens, an das sich die -Hoffnung klammern kann, daß <em class="gesperrt">mehr</em> Haha-Halme nachwachsen werden.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p> - -<p>Also ein vorbildlicher Wert, der immer weiter und höher zunehmen kann, -und somit der höchsten Beachtung aller Strebsamen würdig.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(sich wieder auf die Stuhllehne stützend)</p> - -<p>Ich verstehe, Herr Oberregierungsrat — und das wird mir ein Ansporn, -wie Sie gütigst sagten, zu weiterer Betä-tä-tätigung sein; obgleich -die unverminderte Kraft, von der Sie, Herr Oberbürgermeister, mit -Ihrer bekannten Freundlichkeit sprachen, leider an die selbstsüchtigen -Schranken meiner angegriffenen N-N-Nerven gebunden ist. Bitte, wollen -wir uns nicht setzen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>In Rücksicht auf Ihre werte Gesundheit möchte ich meinerseits -vorziehen, mich jetzt ergebenst zu empfehlen; nicht ohne dem herzlichen -Wunsche Ausdruck zu geben, daß es Ihnen bald wieder vergönnt sein -möge, an den geselligen Freuden Ihrer Mitbürger einigermaßen -teilzunehmen. Ich habe im Anschluß an die Sitzung, in der wir Ihre -Ehrung beschlossen, die Ge<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span>legenheit wahrgenommen, einen neuen Verein -zu gründen, der alle wohlgesinnten Elemente unserer strebsamen -Landeshauptstadt allmählich konsolidieren soll: die Gesellschaft der -Menschenfreunde! Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch Sie, verehrter -Herr Ehrenbürger, demnächst als Mitglied begrüßen zu dürfen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>Außerordentlich schmeichelhaft. Aber verzeihen Herr Oberbürgermeister: -meine N-Nerven erlauben mir wirklich nicht, an solchen -m-menschenfreundlichen Sitzungen mit der nötigen Ausdauer teilzunehmen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Nun, wenn auch nicht im Augenblick, es wird uns jederzeit aufrichtig -freuen, einen so würdigen Mitbürger in unserem Bunde willkommen zu -heißen. Und deshalb bleibt es mein inniger Wunsch, der allseits -mitempfunden wird, Ihre baldige Wiederherstellung im engeren Kreise -feiern zu können. (<span class="regie">Er schüttelt ihm abermals die Hand.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p> - -<p>Ich schließe mich diesem Wunsche an, unbeschadet der hohen Achtung, die -Ihre stoischen Lebensgrundsätze jedem eifrigen Staatsbürger abnötigen. -(<span class="regie">Er verneigt sich.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(die Herren zur Tür geleitend)</p> - -<p>Ich danke ebenso aufrichtig, meine Herren, und wiederhole die -ehrer-b-bietige Bitte, auch bei den zuständigen Stellen meinen Dank -auszurichten. Ich werde wiegesagt bestrebt sein, mich in der „allseits“ -gewünschten Weise nach wie vor zu betä-hä-hä-hätigen. (<span class="regie">Er verneigt -sich gleichfalls und schließt die Tür hinter ihnen, setzt sich dann -matt an den Mitteltisch</span>) — — Grauenhaft — — (<span class="regie">Er nickt vor sich -hin, blickt zu dem Porträt empor</span>) Du rächst dich gut — — (<span class="regie">Es -klopft, er schrickt auf</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p> - -<p class="regie">(behutsam näher tretend)</p> - -<p>Es ist <em class="gesperrt">noch</em> jemand draußen, Herr Christian.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Was soll das! Untersteh dich nicht —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(verhalten)</p> - -<p>Der Herr Justus! Er wollt sich nicht abweisen lassen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Was! Vetter Justus? der Leu-te-tenant?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(wie vorher)</p> - -<p>Ja. Das heißt: er ist doch jetzt Polizeikommissar — (<span class="regie">sie drehn sich -beide prall um, da die Tür aufgeht</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus Wach</em></p> - -<p class="regie">(tritt gelassen ein, mit einer Aktenmappe unterm Arm)</p> - -<p>Du mußt mir schon einmal erlauben —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(während Anne beklommen hinausgeht und die noch offene Tür wieder -schließt)</p> - -<p>Du bist mir natürlich durchaus willkommen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>So? — Ich erhebe nicht den Anspruch.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun, dann ist deine Aufrichtigkeit mir willkommen. Offne Arme kannst -du wohl nicht erwarten, nachdem du damals unsern Verkehr, unser -verwandtschaftliches Band, um Geldes willen zerschnitten hast.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Meinst du? — Aber du erlaubst wohl, daß ich mich setze. (<span class="regie">Er nimmt -Platz auf dem linken Stuhl, legt die Mappe auf den Tisch.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Aber natürlich; b-bitte höflichst. (<span class="regie">Sich gleichfalls setzend</span>) Fühle -mich heute auch etwas matt; ein außerordentlich warmer Tag.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Und obendrein deine Ehrenlast. Alle Zeitungen sind ja wieder des Lobes -voll. Wird dir allmählich wohl doch etwas drückend?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Darf ich lieber fragen, w-was dich zu mir führt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>O, traust du mir also garnicht zu, daß ich blos die uneigennützige -Absicht habe, dir auch mal wieder zu gratulieren, dem musterhaften -Menschenfreund, der mich Schuldenmacher dazu gebracht hat, den -schrecklichen bunten Rock auszuziehen und ein nützlicher Mitmensch -in Schwarzgrau zu werden? — (<span class="regie">Seine Hand auf die Mappe legend</span>) -Wirklich, ich habe jetzt allen Grund, der rühmlichen Betätigung deiner -Nächstenliebe dankbar zu sein.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Bitte, laß das; mir sind diese Phrasen peinlich.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Mein Lieber, ich kenne deine Art Ehrgeiz. Du hast schon als Schuljunge -Äpfel gestohlen, obgleich du dir aus Äpfeln nichts machtest, blos um -uns Freunde damit zu begönnern und dich an deiner Großmut zu weiden; -vielleicht auch an deiner Kühnheit und Schlauheit, denn erwischen -ließest du dich ja nie. Ich habe dich schon damals durchschaut.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>So? — Meinst du? (<span class="regie">Lächelnd</span>) Nun, vielleicht hast du Recht. Aber -inzwischen wirst du wohl <em class="gesperrt">auch</em> ein A-A-Andrer geworden sein.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ja, seit neun Jahren ungefähr; dank deiner Betätigung wiegesagt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und hast du dich wirklich nun ausgesöhnt mit deinem b-bürgerlichen -Beruf?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(legt lächelnd wieder die Hand auf die Mappe)</p> - -<p>Ja, seit einem Monat etwa vollkommen. Und einigermaßen auch früher -schon. Was blieb mir schließlich denn<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span> andres übrig; Schulden konnt ich -doch keine mehr machen, nachdem du die ganze Erbschaft mir weggefischt -hattest, kurz bevor ich zum Hauptmann aufrücken sollte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun, ich habe a-auch nicht das werden können, wonach ich als Jüngling -Verlangen trug; Geld hatte ich ja von Hause aus noch weniger zu -erwarten als du. (<span class="regie">Auf seine Bücher hinüberweisend</span>) Du weißt sehr -gut, wie ich drauf brannte, die Sta-taatswissenschaften zu studieren, -Sozialpolitik, Nationalökonomie, und es sogar ein paar Semester lang -durchhielt; bis Tante Brigittens harter Kopf mich zwang, mir als -B-Bankbeamter mein Brot zu verdienen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ja, du warst ihrer Begönnerung würdig. Ich hab ihr die Faust unters -Kinn gehalten, als sie ihren Mann zu Tode gepeinigt hatte und ihn dann -einscharren ließ wie einen Bettler, den reichsten Grubenbesitzer des -Landes; du zogst es vor, ihr die Krallen zu streicheln.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sie hat sich selbst noch viel mehr gepeinigt; du solltest nicht über -Handlungen urteilen, für die dir jedes M-Mitgefühl mangelt. Und -notabene: auf ihr Testament konntest du doch im Ernst wohl nicht -rechnen, nach deiner Gleichgiltigkeit — ge-l-linde gesagt — bei ihrem -lalala-langen Krankenlager.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nein, zum Erbschleicher war ich mir allerdings zu schade. Seit wann -stotterst du übrigens?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(ist vom Stuhl aufgefahren)</p> - -<p>Ich ver-b-bitte mir deine Brutalitäten! — (<span class="regie">Sich bezwingend</span>) Denkst -du, es war mir ein Vergnügen, die Launen der alten<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span> ge-l-lähmten Person -zu ertragen? ihre Heftigkeit, ihre Wutanfälle? dreizehn Jahre lang, Tag -für Tag!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Nein, das denke ich keineswegs — bei deiner Art Menschenfreundlichkeit.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(fängt wieder an durchs Zimmer zu wandern)</p> - -<p>Und deine Schulden hätt ich dir gern bezahlt, wärst du damit zufrieden -gewesen, statt mir Millionen abpressen zu wollen, für die ich b-bessere -Anwendung wußte. Bin auch jetzt noch bereit dazu, falls du nicht -blos gekommen bist, um mir aufs B-Butterbrot zu streichen, daß du -dich selber seit einem Monat von deinen Gläubigern befreit hast; -(<span class="regie">lächelnd</span>) das wolltest du doch wohl andeuten.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nein. Aber ich danke für Gnadenbrocken von deinem Butterbrot, werter -Vetter.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ja, wozu reibst du dich dann an mir? Und worauf bist du eigentlich -neidisch? — Was ha-habe ich denn von all meinem Reichtum? Hat er -mich etwa davor bewahrt, v-vorzeitig graue Haare zu kriegen? Ich lebe -wie ein Mönch in der Wüste, und trotzdem ist mein M-Magen krank, -meine Milz beklommen, mein H-Herzschlag verhaspelt, meine Nerven von -Schlaflosigkeit zerrüttet —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Dein Gehirn von Gewissensbissen zerfressen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Deinetwegen? — (<span class="regie">Stehen bleibend</span>) Du dauerst mich —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(steht nun gleichfalls auf, tritt dicht an Christian heran)</p> - -<p>Solltest du nie befürchtet haben, daß ein gewisser <em class="gesperrt">Brief</em> -entdeckt werden könnte? —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(weicht unwillkürlich etwas zurück — dann spottkalt)</p> - -<p>Ah, Herr Polizeikommissar —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>In der Tat — das ist mein Beruf — mit dem ich mich jetzt vollkommen -ausgesöhnt habe — seit einem Monat wiegesagt, als ich in einer -auswärtigen Chemikalienfabrik — (<span class="regie">er unterbricht sich, greift nach -der Mappe</span>) — aber wollen wir uns nicht wieder setzen? an diesem -„außerordentlich warmen Tag“? — (<span class="regie">er nimmt Platz, während Christian -stehen bleibt und sich fest auf eine Stuhllehne stützt, die er bei dem -Wort „Chemikalienfabrik“ umklammert hat</span>) — also als ich in einer -Chemikalienfabrik einen ungetreuen Buchhalter festnehmen sollte und -bei Durchsicht der Bureaupapiere zufällig einen Geschäftsbrief fand, -worin ein gewisser Christian Wach, laut seiner aufgedruckten Adresse -angeblich Apothekenbesitzer, eine Partie Medikamente bestellt hat, -darunter auch einige heftige Gifte, etwa fünf Wochen vor dem Tode -(<span class="regie">auf das Porträt weisend</span>) seiner teuren Erbtante Brigitte. (<span class="regie">Wieder -die Hand auf die Mappe legend</span>) Hier hab ich das menschenfreundliche -Schriftstück.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Sehr verbunden für dieses Geburtstagsvergnügen, auf das du dich also -vier Wochen lang in aller Stille prä-pa-pariert hast.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ja, zufällig ungefähr ebenso lange, wie du dich vor genau neun Jahren -auf <em class="gesperrt">Dein</em> Geburtstagsvergnügen „präpapariert“ hast.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ja, es gibt spaßhafte Zufälle — (<span class="regie">es klopft</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p> - -<p class="regie">(tritt ein und meldet)</p> - -<p>Der Herr Geheime Sanitätsrat —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(ihr ohne Umstände folgend)</p> - -<p>Ja, Ihrem alten Hausfreund dürfen Sie nicht verwehren, Ihnen heute -die Glückshand zu schütteln, verehrter Ehrenbürger und Ritter vom -Kronenorden! — (<span class="regie">Überrascht</span>) Aber was seh ich? ist’s möglich? Herr -Justus! — Pardon, Herr Leutnant, die alte Gewohnheit. Haben sich also -zur Feier des Tages endlich ausgesöhnt mit dem reichen Herrn Vetter?</p> - -<p class="regie">(Anne blickt forschend von einem zum andern.)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(ist aufgestanden, immer eine Hand auf der Mappe)</p> - -<p>Schon möglich, Herr Geheimrat; zur Feier des Tages.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(ihm die Rechte schüttelnd)</p> - -<p>Na, das freut mich, freut mich; edel sei der Mensch! Haben schließlich -doch wohl Respekt gekrigt (<span class="regie">mit Verneigung zu Christian hin</span>) vor der -segensreichen Betätigung.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(aufstampfend)</p> - -<p>Kommen Sie auch noch angequäkt mit dieser verfluchten (<span class="regie">absichtlich</span>) -Be-täterä-tätigung? Das ist ja wirklich zum Krämpfekriegen! Wie kann -ein Mensch mit etwas Geschmack dies Schandwort auf die Zunge nehmen! -diesen A-Anschmierer-Ausdruck für alles Getue, das den Namen Tat nicht -verdient!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Aber mein lieber Kommerzienrat, was haben Sie denn, was erregen Sie -sich? Denken Sie bitte an Ihre Nerven! Kommen Sie, setzen wir uns -gemütlich, und geben Sie mir mal endlich die Hand! (<span class="regie">Es geschieht, und -auch Justus setzt sich.</span>) So — ja aber, Sie zittern ja, als ständen -Sie im Staatsexamen. Und was ist denn los mit Ihren Pupillen? Da muß -ich doch gleich mal Reflexprobe machen. Schwester Anne, holen Sie mal -einen Spiegel.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(hat inzwischen die Vase mit dem Rosenstrauß unter das Porträt -gestellt)</p> - -<p>Aber nein, Herr Geheimrat wissen doch: der Herr Kommerzienrat will -keine Spiegel um sich.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(sich an die Stirn tippend)</p> - -<p>Ja so — jawohl — Moralpsychose; <span class="antiqua">hypochondria stoica</span> sozusagen. -Na, werde mal morgen genauer vorsprechen, bringe dann meine Lupe mit; -die wird Ihrem strengen Gewissen nicht wehtun, Sie geschworener Feind -aller Eitelkeit! — Was sagen Sie denn zu der neuen Gesellschaft, die -der Bürgermeister zusammentrommelt? Mich hat er natürlich auch breit -geschlagen; na, ein bißchen Menschenfreund ist ja Jeder.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich meinesteils bin nicht für Trommelreklame.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Ja, Sie können sich’s leisten, drauf zu pfeifen. (<span class="regie">Aufstehend</span>) Dann -also bis morgen, werter Freund; muß jetzt weiter zu meinen andern -Patienten. Bitte Platz zu behalten, Herr Leutnant; wünsche allerseits -Frieden auf Erden — (<span class="regie">winkt heiter mit beiden Händen Abschied, und -Anne begleitet ihn hinaus, während die Vettern sitzen bleiben, Justus -links am Tisch, Christian rechts</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du scheinst dein Gesicht nicht gern zu betrachten —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(die Arme verschränkend)</p> - -<p>Ich habe in der Tat Bessers zu tun.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du kannst ja niemand mehr grad in die Augen sehn.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Glaubst du, Herr Untersuchungsbeamter? (<span class="regie">Er fixiert ihn, bis Justus -beiseite blickt</span>) — — Durchschaust du die Menschen immer so?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ja, deine Selbstbeherrschungskunst — man könnte auch sagen: -Verstellungskunst — war von jeher bewundernswert.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und einer besseren Sache würdig.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Der Spott wird dir bald vergehn, teurer Vetter.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Es scheint, du legst enormen Wert auf dein pa-papierenes Dokument. Das -hältst du wohl für einen Indicienbeweis?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nein, das allein würde nur beinahe genügen. Aber (<span class="regie">auf seine Mappe -tippend</span>) ich habe hier noch ein andres Papier; nämlich deinen -Empfangsschein, Herr Apotheker, über die eingetroffene Giftsendung —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du hast dich tatsächlich gut präpariert —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Es freut mich, daß du nicht länger heuchelst. Du darfst die Maske -ungeniert lüften.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(immer sehr gemessen)</p> - -<p>Du freust dich etwas vorschnell, mein Lieber. Du scheinst meine -„Schlauheit“ trotz aller Anerkennung noch immer für recht kindlich zu -halten. Vor neun Jahren, werter Herr M-Menschenkenner, war ich wohl -doch nicht mehr Schulbub genug, mich dem Spiel des Zufalls so plump -auszusetzen, wenn ich kein reines Gewissen hatte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>O, das Spiel des Zufalls ist allemal plump. Damals konntest du ja -nicht ahnen, also auch noch nicht damit rechnen, daß dein<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span> Edelmut -mich veranlassen würde, (<span class="regie">spitzig</span>) Detektivoffizier zu werden, -geschweige (<span class="regie">an seine Mappe tippend</span>) daß dies für jeden andern Finder -unscheinbare Wertpapier gerade mir in die Hand fallen könnte. Nur Das -trieb dein feines Spiel in den Plumpsack der sogenannten Schicksalshand.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nenn’s lieber gleich den Finger Gottes, dann kommst du dir noch -wichtiger vor. Hähähä-hältst du mich im Ernst für so närrisch, daß -ich mir solche Tat auf die Seele geladen hätte, blos um die Millionen -unsrer alten Tante etwas früher unter die Leute zu streuen? Denn ihr -Testament lag ja schon da für mich.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Blos: sie hätte es doch vielleicht ändern können. Und am Krankenbett -warten, wer weiß wie lange, vielleicht nochmals „dreizehn Jahre lang“, -ist in der Tat kein vergnügliches Geschäft, selbst für die edelsten -Wohltäter nicht. Tante Brigitte war damals nur fünf Jahre älter, als du -heute geworden bist, und hatte trotz ihrer Lähmung recht zähe Nerven.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und deshalb soll ich so sinnlos gewesen sein, so sinnlos und so ruchlos -zugleich, mir einen M-Mord aufs Gewissen zu wälzen? Und das, denkst du, -wird dir irgendwer glauben?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>O, das Gewissen beißt immer erst nachträglich; deine Frage klang -ziemlich wund. Auch glauben die Schwurgerichte gern, daß ein -Bankbeamter sich nicht ohne Zweck falsche Briefbogen drucken läßt und -Apothekerwaaren bestellt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du hast dich wohl nie mit — Selbstmordgedanken getragen?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(scharf)</p> - -<p><em class="gesperrt">Vor</em> meiner Enterbung <em class="gesperrt">nicht</em>, lieber Vetter! — Übrigens -kannst du dir deine verblüffenden Fragen für die Gerichtsverhandlung -aufsparen; für das Zeugenverhör zum Beispiel.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du denkst dir also, ich habe es fertig gebracht, den Sanitätsrat -sowohl wie die alte Anne über die Todesursache zu täuschen, meinem -Opfer kaltblütig die Augen zuzudrücken, die L-Leiche hohnlächelnd -einzusargen, und dann hier in dem Haus, wo sie aufgebahrt lag, mich -triumphierend festzusetzen — (<span class="regie">er steht auf, mit Erregtheit um sich -weisend</span>) hier! sieh dich um! zwischen diesen öden Wänden, wo sie einst -geatmet hat! hier seit neun Jahren es auszuhalten! immer von ihren -Möbeln umgeben! immer ihr B-Bild vor meinem Blick! ihre Pflegerin mir -zur Seite, eigens dabehalten zur steten Erinnrung! — Das, meinst du, -habe ich auf mich genommen, ich maskierter Schurke, um einer Erbschaft -willen, von der ich mir keinen Genuß vergönne, keine Annehmlichkeit, -nicht die kleinste Erholung, blos Nahrung für meinen Großmutsdünkel! -— Du traust mir wirklich merkwürdige Kunststücke zu. (<span class="regie">Er ist hinter -seinen Stuhl getreten und stützt sich wieder auf die Lehne.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ja, die Verbrecher halten sich gern für Helden, die ihrer Tat überlegen -sind, und liebäugeln mit dem Erinnerungswurm. Manche brüsten sich so -lange im stillen, bis sie sich schließlich laut verraten; fromme Leute -nennen das Gottes Stimme. (<span class="regie">Merkend, daß Christian nach dem Porträt -starrt</span>) Du redest wohl <em class="gesperrt">öfters</em> mit dem Bild da? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du stellst starke Ansprüche an meine Geduld.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Immerhin scheinst du so geneigt -zum Verhandeln, daß du darüber das Stottern verlernt hast.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Nun, vielleicht war auch das nur Maske; man lernt dabei seine Zunge -hüten. — Wie hoch taxierst du denn deine Entdeckung? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(lächelt ebenso)</p> - -<p>Möchtest du nicht etwas deutlicher fragen? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun, mein gesamter Vermögensrest beträgt noch etwa zwanzig Millionen, -nach Abzug der Reservedepots für meine letzten Stiftungen. Um mir -die Plackerei vom Ha-Halse zu halten, die du als A-A-A-Amtsperson -(<span class="regie">er stampft auf, dann wieder gemessen</span>) mit dem Plunder da anzetteln -könntest, und um meine innerste Menschlichkeit nicht vor dem Pöbel -entblößen zu müssen, biete ich dir den vierten Teil; das sind also rund -zwei Millionen mehr, als du mir damals abverlangtest.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Deine Menschlichkeit ist seitdem — beträchtlich großmütiger geworden; -ich erkenne das an, obgleich ich’s erwartet habe. Aber du mußt mir -schon erlauben, deine bekannte Opferwilligkeit</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Gut, ich lege noch eine Million zu. Sechs Millionen — das ist mein -letztes Wort! —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du hast mich mißverstanden, mein Teurer; du mußt nicht denken, ich sei -deinesgleichen, weil ich jetzt im schwarzen Rock<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> vor dir sitze. Du -hast mich aus meiner Bahn gestoßen, du opferwilliger Ehrenbürger! Du -erntest den Lohn deiner Heldentaten, wenn ich dir nun dazu verhelfe, -in der Sträflingsjacke vor mir zu stehn! Jawohl, edler Vetter: -Gerechtigkeit will ich! die Welt von deinesgleichen säubern! das ist -<em class="gesperrt">meine</em> Art Menschenfreundlichkeit!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Deine Gerechtigkeit braucht sich nicht zu ereifern; ich begreife, daß -du dich rächen willst.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Sehr scharfsinnig, dein Begriffsvermögen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Willst du mich trotzdem noch ruhig anhören? Nur eine kleine Weile noch?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Bitte; ich habe warten gelernt. Außerdem zappelst du sehr ergötzlich im -Netz.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich könnte sagen, mein Anerbieten sei nur eine Maske gewesen, um -dein Pflichtgefühl auf die Probe zu stellen. Aber gesetzt, ich hätte -w-wirklich die ungewöhnliche Tat vollbracht, deren du mich für fähig -hältst: ich hätte eine bejahrte Person, die nichts mehr konnte als sich -und andere quälen, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Ha-Hartherzigkeit, -mit ihrer hähähä-hämischen Habgier (<span class="regie">er ballt die Fäuste, dann wieder -ruhig</span>) — die hätte ich aus dem Wege geräumt nach jahrelangem -Gewissenskampf — hä-hätte dann wie ein Asket versucht, meine heimliche -Gewalttat zu sühnen — hätte sie hier in meiner Einsamkeit, in der -Nacht meines Schweigens schwerer gebüßt, als sich’s ein Schuldloser -träumen läßt, — hätte immer weiter diese Erblast geschleppt, die ich -nur für ein Hirngespinnst verwalte — für eine M-Menschheit, die ich -zu spät durchschaute, die nichts<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> ist als ein marternder Schemen —: -verlangst du <em class="gesperrt">noch</em> mehr Gerechtigkeit?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du vergißt, ich bin nicht mehr Leutnant genug, um deiner heroischen -Märtyrer-Pose einiges Verständnis zu widmen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Aber vielleicht verstehst du, daß ich inzwischen manches anders ansehen -lernte. Vielleicht war mein Abscheu gegen dein früheres Handwerk — -deinen Beruf, wenn du das lieber hörst — nur Verbohrtheit eines -B-Büchermenschen. Vielleicht ist mir die Erkenntnis gekommen, daß auch -Nächstenliebe zur Hartherzigkeit führt, wenn sie die Allernächsten -vergißt über ihrem fernen Ziel. Ich bin dein Schuldner, ich weiß es -lange; deshalb empört mich deine Beschuldigung nicht. Und deshalb — -nur deshalb, Justus! hörst du? — wiederhole ich mein Anerbieten.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Zu spät, Euer Gnaden; einen Monat zu spät.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du irrst. Ich habe schon letzte Weihnacht — denn dies (<span class="regie">auf sein Herz -deutend</span>) W-Wrack wird nicht lange mehr Stand halten — mein Testament -beim Notar hinterlegt; darin stehst du mit dem Betrag verzeichnet, den -du einst von mir gefordert hast. Ich biete dir jetzt das Doppelte, weil -ich dir mehr verdarb, als ich ahnte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(auf seine Mappe schlagend)</p> - -<p>Zum Teufel, <em class="gesperrt">alles</em> verdarbst du mir! Willst du mich <em class="gesperrt">jetzt</em> -noch mit Großmut beschwindeln? Dein Testament, wenn’s wahr ist, ist -mir ein Wisch! Ein Verbrecher wie du hat sein Erbrecht verwirkt! Kein -Pfennig von deinem Mammon gehört dir! Wo nimmst du die Stirn her, mich -beschwatzen zu wollen; du verrätst dich ja selber mit jedem Wort!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(tritt ihm langsam näher)</p> - -<p>Ah — du hoffst auf den ganzen Rest meiner Erbschaft. Verrechne -dich nicht; nimm Vernunft an, Justus! Vergiß nicht, ich sprach nur -bedingungsweise! Es hat sich schon m-mancher die Hand verstaucht, der -zu sehr auf die Gerechtigkeit pochte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich poche nur auf die Mappe hier. (<span class="regie">Er nimmt sie unter den Arm und -steht auf.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du kannst dir also garnicht die Möglichkeit denken, daß ich jene -Giftsendung für mich selbst kommen ließ? daß ich mich wand vor Scham -und Verzweiflung unter den frevelhaften Wünschen, die ich — jawohl, -ich bekenn es dir — unablässig in mir w-wuchern fühlte am Krankenbett -meiner Quälerin?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Eine Möglichkeit zieht die andere nach.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und wenn nun die Zeugen für <em class="gesperrt">mich</em> aussagen? — Willst du nicht -wenigstens die Anne erst hören?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Der kannst du viel vorgemunkelt haben. Aber wenn dir’s Vergnügen macht, -dich in ihrem Beisein verhaften zu lassen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(nähert sich der Tür)</p> - -<p>Ich tu’s um Deinetwillen, Justus —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich warne nur vor Fluchtversuch! Das Haus ist auf beiden Seiten -umstellt —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(ruft zur Tür hinaus)</p> - -<p>Anne — (<span class="regie">tritt dann neben den Bücherbord, lehnt sich an und -verschränkt die Arme</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(kommt, macht die Tür zu, beklommen)</p> - -<p>Was ist, Herr Christian?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Der Herr Kommerzienrat will verreisen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich bitte dich nochmals: nimm Vernunft an.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(beide Hände hebend)</p> - -<p>Oh, Herr Justus, wie schauen Sie drein! — (<span class="regie">Ihm näher tretend</span>) Ich -beschwör Sie, was wollen Sie tun! — (<span class="regie">Von ihm wegweichend</span>) Einen -Blutsverwandten ins Elend stoßen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ah, Sie wissen, worum es sich handelt?!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(noch weiter wegtretend, bis vor den Tisch)</p> - -<p>Ich? was soll ich wissen? ich seh nur Ihr Auge drohn. Ich kenn Sie ja -beide von Jugend auf. Ich weiß nur, was ich als Kind gelernt hab: Mein -ist die Rache, spricht der Herr!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Verzeihung, Schwester Anne, <em class="gesperrt">der</em> Herr ist mir <em class="gesperrt">fremd</em>. Und -dem grauen Sünder da wohl erst recht. Mein Herr ist der Staat! mit -seinen Gesetzen!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Einen Leidenden wollen Sie quälen? Spüren Sie’s nicht, wie er bebt bis -ins Herz?!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Laß gut sein, Anne; es ist genug. Zum letzten Mal, Vetter: ich biet dir -die Hand.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich verbitte mir deine — bestechenden Gesten!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(sich reckend)</p> - -<p>Nun, dann Kampf! Hüt dich! Ich bin bereit.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Sehr gnädig. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte dich, Christian Wach. -(<span class="regie">Die Tür öffnend</span>) Wenn’s gefällig, du hast den Vortritt — (<span class="regie">sie -schreiten beide langsam hinaus</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(die Hände faltend, leise)</p> - -<p>Herr, erbarme dich seiner Seele — —</p> - -<p class="regie">(Vorhang)</p> - -<div class="section"> - -<h4 class="padtop1" id="Zweiter_Akt">Zweiter Akt</h4> - -</div> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(an die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt -hinaufstarrend)</p> - -<p>— — Jawohl, du hast dich in mir verrechnet — von jeher, du Vampyr -— du zwingst mich nicht. (<span class="regie">Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer -lächelnd</span>) Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich’s -endlich, kein Mensch bezwingt mich. (<span class="regie">Es klopft an die Tür, und Anne -tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß</span>) — — Also soll’s wieder -losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend)</p> - -<p>Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen -aus der — der —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Untersuchungshaft meinst du; sag’s nur getrost.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt -ich sagen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür -auf den Knieen danken.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>War’s nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die -Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du sollst mich nicht so ansehn, Anne. (<span class="regie">Sich an den Tisch setzend, wie -erschöpft</span>) Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Geb’s Gott, Herr Christian, geb’s Gott! Aber Sie schauen nit dornlos -drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen -etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wein —? Kein Tropfen kommt mir ins Haus!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>So — also für mich — — (<span class="regie">nimmt plötzlich ihre Hand</span>) o Anne, Anne -(<span class="regie">und preßt seine Stirn hinein</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? (<span class="regie">Behutsam -über sein Haar streichend</span>) Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr -Christian.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(schiebt sie sanft weg, steht auf)</p> - -<p>Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an -meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich -mürbe gemacht —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>O hätt sie nur! — Nein, ich bild mir nix ein.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht — (<span class="regie">er wendet sich ab, geht -nach dem Fenster</span>) innerst ruhig; das mußt du doch merken (<span class="regie">läßt sich -in den Korbstuhl nieder</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(ihm folgend)</p> - -<p>Das würd’ mich ja freuen, innerst freuen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis -ablegte, ich wollte (<span class="regie">an das Porträt weisend</span>) die da wirklich -vergiften, wenn mich das Schicksal — du weißt, der Schlaganfall, der -sie in ihrer Erregtheit hinraffte — nicht gnädig davor bewahrt hätte?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig -aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren -Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung. -Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr -Christian!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(abermals aufstehend)</p> - -<p>Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den -Schlaganfall bezeugt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(ihm wieder durchs Zimmer folgend)</p> - -<p>Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. (<span class="regie">Plötzlich sich -umdrehend, Auge in Auge</span>) Du glaubst wohl nicht, daß es ein -Schlaganfall war?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(zurückweichend)</p> - -<p>O — wie fragen Sie frevelhaft! — Was ich beschworen hab, glaube ich -auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie’s fühlen —: wir sind -allesamt Werkzeuge Gottes — der eine so, der andre so —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(ist an den Kamin getreten)</p> - -<p>Mich friert, Anne; im Gefängnis war’s wärmer. Von morgen an bitte mußt -du heizen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Aber ich kann doch natürlich gleich!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, ich sagte: von morgen an. (<span class="regie">Sich wieder an den Mitteltisch -setzend</span>) Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird -Ihnen gut tun.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht -schwatzhaft, ich hasse das! — Aber damit du deinen Willen krigst: -Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen, -ob er heute Vormittag herkommen dürfe — dann kannst du deine Flasche -kredenzen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>O welche Fügung — sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das -Herz gerührt! — O, und ich hab’s ja noch garnit bestellt: der Herr -Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn -Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu -Kreuz vor meinem <em class="gesperrt">Geld</em>; und sind gerührt davon, wie’s mich -<em class="gesperrt">drückt</em>.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch -einstimmig freigesprochen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal -gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen -wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine -Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein -Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>O, wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind -lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Mein <em class="gesperrt">Geld</em> drückt mich; begreifst du das nicht? — Übrigens: -vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die -kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und -wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein; -irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an, -daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den -Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es -macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(sich zu ihm neigend)</p> - -<p>Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir -Vertrauen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(abermals aufstehend)</p> - -<p>Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte, hilf -mir den Lehnstuhl herüber setzen. — (<span class="regie">Während sie den Stuhl an den -Mitteltisch tragen</span>) Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. — -(<span class="regie">Platz anweisend</span>) Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag -das Bild heut nicht immerfort sehn.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend)</p> - -<p>Ja, das hätt längst schon hinaus gemußt. Darf ich’s nicht endlich -weghängen jetzt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr -schuldig bin. (<span class="regie">Sich setzend</span>) Wenn sie auch unleidlich war, das ist -vorbei. Daß du’s ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich -das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen -bang.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! — Wahrhaftig, manchmal machst -du Augen, grad wie die Tante in ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span> Sterbestunde; so merkwürdig in -die Ferne fragend. — (<span class="regie">Wiederum aufstehend</span>) Ich will mich doch lieber -dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr. -(<span class="regie">Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen -andern Stuhl nach hinten.</span>) Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich -selber zu fürchten —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(sich setzend)</p> - -<p>Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen, -daß <em class="gesperrt">alle</em> Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an -der Wand.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht -finden hier.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch -tragen helfen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst -daran gedacht, du warst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des -Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir -besprechen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>O, nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir! -Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott -darum; das wird Sie auch wieder gesund machen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(aufstampfend)</p> - -<p>Ich sag dir, l-laß das — geh — bring mich nicht auf! — (<span class="regie">Ruhiger</span>) -Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn -ich’s dir sage! — (<span class="regie">Während Anne langsam zur Tür geht</span>) Und ich dank -dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles — hörst du? -(<span class="regie">Da Anne an der Türschwelle zögert</span>) Nun, laß gut sein, geh jetzt; was -stehst du noch —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(mit feierlichem Ausdruck, gedämpft)</p> - -<p>Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste -Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr, dein -<em class="gesperrt">Erbarmer</em> — (<span class="regie">sie geht hinaus</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung)</p> - -<p>Gespenstermärchen — — (<span class="regie">Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter -das Bild.</span>) Ihr zwingt mich nicht — ihr kennt mich nicht — niemand! -— (<span class="regie">Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt -neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der -Regierungspräsident und der Oberbürgermeister</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p> - -<p class="regie">(nach gegenseitiger leichter Verbeugung)</p> - -<p>Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten, -Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte lügen, wenn ich -Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich’s bequemer, als es -mancher bei sich zu Hause hat.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu -kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit -unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auf<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span>trag des Ministeriums, um -Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum <em class="gesperrt">Geheimen</em> Kommerzienrat -anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der -Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen -Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat, -zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter -eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen -persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die -Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung -eine dauernde Aufrichtung geben (<span class="regie">er verbeugt sich mit Gemessenheit</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben. -Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen (<span class="regie">sich verneigend</span>) -untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die -Teilnahme, zweitens für das — „unverkürzte Vertrauen“. Ich werde mich, -soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig -zu machen versuchen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht -blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch -darzubringen (<span class="regie">er verbeugt sich gleichfalls gemessen</span>) — ich komme -zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch -besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde, -um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen, -die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche -Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen -davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei -Ihrer stets betätig<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span>ten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet -hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau -Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich -erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein -fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt -werden konnte — das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht -entdeckt werden konnte</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p> - -<p class="regie">(sehr rasch)</p> - -<p>Überhaupt natürlich —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(sehr langsam)</p> - -<p>Überhaupt — — Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf -ich nicht bitten, Platz zu nehmen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p> - -<p>Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen. -(<span class="regie">Sich verbeugend</span>) Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(ebenso)</p> - -<p>Ich empfehle mich, Herr Präsident.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p> - -<p>Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p> - -<p>Also auf Wiedersehn, meine Herrn — (<span class="regie">er verbeugt sich nochmals, geht -ab</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Ich möchte mich nur in aller Kürze — doch ich bitte zunächst um -Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span> gefühlt -haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen — nach allem, was geschehen ist -— da Sie es doch so aufrichtig meinten —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter -Herr Geheimrat! Und deshalb — (<span class="regie">da Christian Wach auf die Stühle -weist</span>) nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze -erkundigen —: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr -mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber -offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus -seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern -bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>Sehr freundlich, Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie „sich -versichert zu halten“: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl, -das eine Eigentümlichkeit unsrer (<span class="regie">lächelnd</span>) etwas starrköpfigen -Familie ist.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen -Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine -zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen -fruchtlosen Übereifer.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Also hätte er doch vielleicht fruchten können? — Nein, im Ernst, -ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden, -die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig -<em class="gesperrt">mich</em> beamtseifert hätte. Es wäre mir<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span> wirklich sehr unliebsam, -wenn man ihn grade mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte, -die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs — nicht wahr, ich irre -wohl nicht — auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden -begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu -reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat, -wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach -dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit -ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie -werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte -Gesinnung nach wie vor betätigen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu -betä-hähähätigen — (<span class="regie">sich an die Kehle fassend</span>) Verzeihung, mein -Nervenübel meldet sich wieder. — Aber wollen wir uns nicht doch lieber -setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die -geselligen Freuden.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich heute leider besonders -beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! — Also wiegesagt, um -mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres -guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. (<span class="regie">Er verbeugt -sich würdevollst.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>Ich werde wiegesagt bestrebt sein — (<span class="regie">er verbeugt sich etwas weniger -und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben; -sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin</span>) — — „Aufrichtig, -verehrter Herr Geheimrat“ — — (<span class="regie">es klopft, die alte Anne erscheint</span>) —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Kann der Herr Justus jetzt eintreten?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Natürlich. Weshalb fragst du erst?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Soll ich den Wein gleich mitbringen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn’s -an der Zeit ist. (<span class="regie">Anne geht — Justus erscheint; tritt zögernd näher, -bleibt halbwegs stehen</span>) — — Nun? diesmal ohne Aktenmappe? — Sehr -liebenswürdig; bitte setz dich. (<span class="regie">Während Justus an den Tisch tritt</span>) -Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme -ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu -bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden -Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch -Blutsverwandte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die -deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(setzt sich links des Tisches)</p> - -<p>Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht -hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter -von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet — ganz -und gar — bis unter die nackte Haut sozusagen — sodaß ich mich vor -mir selber schämte —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut -präpariert. Beruhige dich: ich werde dir’s nicht vergessen, wenn ich -nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen -Vorschuß drauf?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich muß mir’s gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst -es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es -ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden, -daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu -dürfen. Ich hab’s mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir -einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem -ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus -Berechnung tue.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut -mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes -Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du -wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt -dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten -Rechenmeister.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt -„verachten zu dürfen“. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten -in deiner amtlichen Regeldetri?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter -stellst, als du bist. Oder fühlst du mir’s in der Tat nicht an, daß -auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit -bekenne? Ich <em class="gesperrt">kann</em> dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht -mehr, du hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat -mich ergriffen wie noch nichts im Leben.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine -Selbstbeherrschungskunst — „man könnte auch sagen: Verstellungskunst“ -— über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen -ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet? -Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der -Verbrecherseele.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht -aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst, -meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche -Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir -in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im -Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine -Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal -schlecht bekommen. Hättest du im Sommer<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span> nicht vier Wochen gewartet, -um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten: -wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat -hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem -Ehrenbürger und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht -wünschen, durch meine Verurteilung mit-ba-blamiert zu werden. Also -lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen -Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du -verwickelst dich sonst im eigenen Netz.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(aufstehend)</p> - -<p>Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind -wir quitt! Dann bist du <em class="gesperrt">nicht</em> der hochherzige Dulder, vor dem -ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des -Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch -Schmarotzer witterst!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum -Pranger geschleift sein wollte! (<span class="regie">Gleichfalls aufstehend</span>) Dann bin ich -der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die -ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der -argwöhnische, der aus all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre -Untat beschönigen! Dann — ah: (<span class="regie">taumelnd</span>) hahahalt mich, Justus: das -Herz!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(ihm beispringend)</p> - -<p>Verdammt ja, was ist —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Laß — es geht schon vorüber. — (<span class="regie">Sich setzend</span>) Es war -nur ein kleines Erinnerungszeichen — (<span class="regie">lächelnd</span>) an meine -Selbst<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span>beherrschung, weißt du. Laß dich’s nicht kümmern, setz -dich wieder. — (<span class="regie">Da Justus zögert</span>) Was äffst du uns beide mit -Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen -möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier -hast du meine Hand.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich dank dir — (<span class="regie">gibt ihm die Rechte</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(ihn fixierend)</p> - -<p>Ich <em class="gesperrt">trau</em> dir! — Nun? Was zuckst du zurück? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du bist mir unheimlich, Christian —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein -ehrliches Wort! — Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie -ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache, -nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich -sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab -ich ja nicht. — (<span class="regie">Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein</span>) -— Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch -klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute (<span class="regie">er weist auf die -Stühle neben sich</span>).</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(hinter dem Tisch Platz nehmend)</p> - -<p>Kann mir’s denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen -Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere — (<span class="regie">sich -verneigend</span>) zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer -Triumph der Gerechtigkeit; schade, daß Sie keine Zeitungen lesen. -Die ganze Presse singt Ihnen Ho<span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span>sianna; selbst die Sozi blasen ins -Jubelhorn. (<span class="regie">Zu Justus, der stehen geblieben ist</span>) Ich genier Sie doch -nicht, Herr (<span class="regie">gedehnt</span>) Polizeikommissar —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin -empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu -leisten.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich -tatsächlich noch etwas fragen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; (<span class="regie">ihm mit -komischer Würde die Hand hinstreckend</span>) es irrt der Mensch, solang es -geht —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier — (<span class="regie">Justus gibt lässig dem -Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches</span>). Bitte, -Anne, du weißt ja (<span class="regie">sie nickt, geht hinaus</span>) — ich danke dir, Justus.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Aber Sie haben’s zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte -jetzt Gift! (<span class="regie">Christian zuckt ein wenig zusammen.</span>) Ah Pardon, das -verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle -Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann -recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>O bitte — (<span class="regie">lächelnd</span>) seh ich denn unruhig aus?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz -geheuer. (<span class="regie">Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit -Gläsern und Weinflasche auf den Tisch.</span>)</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat und Justus</em></p> - -<p>Nein danke — danke — (<span class="regie">strecken gleichzeitig rasch die Hand zur -Abwehr</span>) —</p> - -<p><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. (<span class="regie">Lächelnd</span>) Es ist -wirklich kein Gift drin, meine Herrn.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Aber Bester, empfindlich —? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch -zu mir barmherzig (<span class="regie">er läßt sich gleichfalls einschänken</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Justus —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich bin’s zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(nachdem sie auch ihm eingeschänkt)</p> - -<p>Ist gern geschehen, Herr Justus.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(während Anne hinausgeht)</p> - -<p>Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die -Herzensbewegung! — (<span class="regie">Sie stoßen gemessen an und trinken</span>) — Denn wie -gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa -etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine -Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer -Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll, -ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken -Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand -aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ha-hörst du’s, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das -genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird’s -Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie! -Und bei Neurosen, so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung -Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie -plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine -Mördergrube!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(Justus zutrinkend)</p> - -<p>Haha-Heil dir also, du Wundertäter! — Aber, mein lieber Geheimrat, -was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine -Krankheit ist doch viel intressanter.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin -Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag -fufzig M, ungerechnet die Liebesmähler! — (<span class="regie">Er trinkt aus und steht -eilfertig auf</span>) Also wohl bekomm’s, meine Herrn; mehr als guten -Rat kann ich leider nicht geben — (<span class="regie">verbeugt sich lächelnd, geht -händereibend ab</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich -doch animieren!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat — (<span class="regie">blickt ihn forschend -an und trinkt aus</span>) —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(ihm das Glas wieder füllend)</p> - -<p>in der alten Mördergrube, nicht wahr? — Du dachtest wohl wirklich im -ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern -Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht „witzig“ -genug, um über derlei Scherze zu lachen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und wenn’s nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht -gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn (<span class="regie">nach -dem Porträt weisend</span>) der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war, -sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist -du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich -bewirken kann?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen. -Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten -Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen -und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre -Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu -Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn -näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein -andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord -abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau wie -den großen Kaiser Karl, der zum höheren Ruhm seines Hahaha-Heilands ein -ganzes Heer Heiden abschlachtete, oder den edlen Bürger Robespierre,<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span> -der zu Ehren der Freiheit Tausende Mitbürger in den Kerker und aufs -Schaffott spedierte. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen, -heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann. -(<span class="regie">Sein Glas hebend</span>) Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen! —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder -füllt)</p> - -<p>Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen -Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält -jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für -einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(auflachend)</p> - -<p>Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig, -das Alleranständigste wäre, wir gingen <em class="gesperrt">alle</em> in die -Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter, -ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von -Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter; -zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! (<span class="regie">Er trinkt mit sichtlicher -Erregtheit.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(nur kurz Bescheid tuend)</p> - -<p>Zum Wohl — wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in -Wahrheit lieber, dich nicht weiter auszusprechen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! (<span class="regie">Sich mäßigend, starr vor -sich hin</span>) Was weiß ich schließlich selber davon.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Beruhige dich; ich will sie nicht wissen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur, -was man tut!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht -darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen -ködern. Vergiß nicht, es sind blos — „Gedankenspiele“. (<span class="regie">Er trinkt -wieder mit merklicher Hast.</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest. -Wenn’s dir leid geworden ist, gehe ich gern.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller -Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid -haben mit meinem „überreizten Zustand“! Natürlich will ich dich etwas -fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von -Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld -zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Also —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können — (<span class="regie">er will wieder -trinken, beherrscht sich aber</span>). Also: gesetzt zum Beispiel den Fall, -dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter -geändert hat — von Grund aus geändert hat, wie du sagtest, — da -käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen -Gerichtshof den vollen Beweis erbringen könntest, daß ich mich in der -Tat vor Jahren als Unmensch (<span class="regie">absichtlich</span>) betäterätätigt habe: was -würdest du da tun, lieber Justus?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige -Frage eine vernünftige Antwort geben soll.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins -Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich -halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so -irrsinnig, aus allgemeiner M-Menschenliebe einen einzelnen Menschen -zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen -M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstens dann vernünftig, wenn -<em class="gesperrt">alle</em> Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht, -mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der -Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt, -wenn man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen, -der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht -bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel -an ihm nehmen. Ja, wär’s noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich -die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte! -Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die -Glasglocke setzen? — Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß -meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Unheimlich richtig — wie ich gleichfalls schon sagte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. (<span class="regie">Das Glas hebend</span>) Zum -Wohl! so trink doch endlich aus!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(sein Glas mit der Hand bedeckend)</p> - -<p>Nein, danke; keinen Tropfen mehr.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? — (<span class="regie">Das Glas -hinsetzend, ohne getrunken zu haben</span>) Soll ich dich lieber nicht weiter -fragen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sehr wahr! Du fängst wirklich an zu verstehen! — Also gesetzt, du -fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich -bewiese — zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals -geschrieben hätte — in das ich alles verzeichnet hätte, was mich -zu der Untat verführte — in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über -meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat — wie ich -mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche — -wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner scha-hauderhaft klaren -Vernunft — wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern -sittlichen Grundsätzen nistet — wie ich in allen Gründen und Abgründen -meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des -E-Ekels und Dünkels zu zerquetschen — (<span class="regie">er hat sich krampfig ans Herz -gegriffen</span>) —: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund -eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Aber lieber Christian, nimm’s nicht übel, verzeih mir meine Offenheit: -das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht -vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage -nicht Stellung nehmen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du meinst, weil du’s nicht gefunden hast bei deiner amtlichen -Haussuchung hier? (<span class="regie">Lächelnd</span>) Hast wohl gründlichst an den Wänden -geklopft? zum Beispiel (<span class="regie">nach dem Porträt weisend</span>) hinter dem Erbstück -da! — Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem -Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(lachend)</p> - -<p>Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir -von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben, -geschweige ein ganzes Tagebuch.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch <em class="gesperrt">gar</em> zu -gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo -jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht -wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte -es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem -Siegel — zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer -einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach -meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf —: gesetzt, ich -hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht -auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menschheit -darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war — -mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib -umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte, -ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte -— wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor -ohn-m-m-mächtiger Wut</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(brüsk aufstehend und sich reckend)</p> - -<p>Genug! jetzt hab ich genug gehört! — Ich bedauere meine -Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist -jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht! -Ich werde nicht ruhen, bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst -du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und -Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein -Gespenst —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen -starrend)</p> - -<p>Du wirst mir „von Grund aus“ willkommen sein. Du wirst mir das höchste -Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst -mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen! -Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner -Gewissenspfeife tanzt! Du wirst</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der -sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal -zeigen</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha-ha-hah! — Ist <em class="gesperrt">das</em> deine -Reue, du „anständiger Mensch“?! <em class="gesperrt">Kenn</em> ich dich jetzt, du -ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um -dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung -zerschmelzen ob deiner edlen „Gutgläubigkeit“? Hahahimmlisch, du -entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir „endlich -einmal“ ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube — hha-ha-ha — ah — -(<span class="regie">sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und -bricht zusammen</span>) —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt, -betrachtet kalt den Ohnmächtigen)</p> - -<p>— Diesmal scheint’s echt; — du traust dir zuviel zu, Bursche. — (<span class="regie">Er -geht langsam zur Tür, öffnet, ruft</span>) Schwester Anne! — (<span class="regie">Er zieht -seine Taschenuhr, überlegt</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Was ist? (<span class="regie">Erschreckend</span>) Um Gottes willen — (<span class="regie">sie eilt an den -Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und -Halsbinde</span>)</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(an der Tür bleibend)</p> - -<p>Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat -holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht. Der Herr sagt mir nichts von seinen -Geschäften.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt -ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Gewiß, Herr Justus, das wollen wir.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Also auf bald!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Auf bald, Herr Justus. — (<span class="regie">Nachdem Justus gegangen ist, leise</span>) Vater, -hilf deinen schwachen Kindern — —</p> - -<p class="regie">(Vorhang)</p> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span></p> - -<h4 class="padtop1" id="Dritter_Akt">Dritter Akt</h4> - -</div> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p class="regie">(sitzt im Lehnstuhl hinter dem Mitteltisch, den Unterkörper in -schwarze Decken gehüllt. Vor ihm liegen Geschäftspapiere, in denen -er blättert und Zahlen nachrechnet, in der linken Hand einen -Bleistift haltend. Man sieht, sein rechter Arm ist gelähmt, hängt -in einer schwarzen Binde. Seine Stimme klingt untergraben.)</p> - -<p>— — Also noch knappe neun Millionen — (<span class="regie">den Bleistift hinlegend</span>) -es geht zu Ende, Christian Wach. — (<span class="regie">Sich mühsam nach dem Porträt -umwendend</span>) Deine Schatzgrube ist bald leer, alter Drachen! — (<span class="regie">Hand -aufs Herz legend, schwer vor sich hin</span>) Und die Mördergrube wird immer -voller — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p> - -<p class="regie">(tritt in die Tür, ein winziges, aber sorgsam geschmücktes -Weihnachtsbäumchen auftragend)</p> - -<p>So, Herr Christian, damit Sie doch merken, daß uns heute der Heiland -geboren ist — (<span class="regie">vor ihn hintretend</span>) der Erlöser, lieber Herr -Christian! — (<span class="regie">Das Bäumchen auf den Tisch stellend</span>) Gelt, ich darf es -heut Abend uns anzünden; zu Heilig-Abend ist das keine Verschwendung.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Das hast du doch früher nicht getan. (<span class="regie">Lächelnd</span>) Du denkst wohl, jetzt -bin ich hilflos genug, daß du mir neue Lichter aufstecken kannst?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja, ich hätt mir schon eher ein Herz fassen solln. Wir sind allesamt -hilflos genug.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Besonders wenn wir’s uns einreden lassen. Ich halte mich lieber an das -Sprichwort: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das ist auch für die -Gottlosen brauchbar.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Es gibt noch ein ander Sprichwort, Herr Christian: Gott verläßt die -Seinen nicht. Und mancher ist sein, der’s nicht wahr haben will.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wenn ich nicht wüßte, wie gut du’s meinst, könnt ich glauben, du dankst -deinem Gott im stillen, daß er mich damals nach meiner Freisprechung -(<span class="regie">auf seinen rechten Arm deutend</span>) mit dem Schlaganfall begnadet hat.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Seine Wege sind nicht die unsern.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Schon recht, schon recht; ich kenn deine Standreden. (<span class="regie">Auf den Stuhl -zu seiner Linken weisend</span>) Komm, setz dich lieber, ich muß dir was -sagen. Aber stell erst das Bäumchen einstweilen beiseite, sonst vergeht -mir bis Abend die Freude daran. (<span class="regie">Während Anne es auf den Bücherbord -trägt</span>) Ich habe gestern mit dem Notar mein Testament ins Reine -gebracht (<span class="regie">er berührt die Papiere, schüttelt sich unwillkürlich</span>) -— aber leg noch bitte etwas Holz aufs Feuer. Und wenn nachher der -Minister kommt, legst du nochmals ein bißchen nach. Hat er nicht -m-melden lassen, worum sich’s handelt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(ein paar Scheite in den Kamin legend)</p> - -<p>Es wird halt wegen der neuen Stiftung sein; die Grundsteinlegung der -Radioklinik.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, das hab ich mir schon verbeten, daß sie auf meinen Namen getauft -wird. Also komm jetzt, wir wollen uns aussprechen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(sich setzend, ihm in die Augen blickend)</p> - -<p>Ja, wenn Sie das wollten, Herr Christian —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Willst du mich wieder aufregen, Anne? Das kannst du dem Justus -überlassen! — Er hat sich wohl jetzt mit dir ver<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span>schworen, meine werte -S-Seele zu retten? Seitdem er hier mit im Hause wohnt, wird er von Tag -zu Tag christlicher.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Auch der Herr Justus meint’s gut auf seine Weise.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Gewiß, versteht sich; und ich lohn’s ihm auf meine. Das eben will ich -mit dir besprechen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Wenn Sie’s aber doch aufregt! grad immer das! Immer wieder diese -unselige Erbschaft, diese Sorge um den morgigen Tag. Und grad zum -Christfest; es hat doch Zeit.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein, Anne, mit meiner Zeit ist’s bald aus; kannst ruhig darüber reden -mit mir. Meinst du, ich fürchte mich vor dem T-Tod? Was tut’s denn, ein -bißchen früher zu sterben, als es ohne die Sorge vielleicht geschähe. -Was heißt denn sterben? <em class="gesperrt">keine</em> Sorgen mehr haben! Kann man sich -davor fürchten im Leben? Kann man das überhaupt begreifen? Ich kann -meinen Tod mir nicht vorstellen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja: sie <em class="gesperrt">will</em> nit sterben, die ewige Seel —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Kommst du schon wieder mit deiner Gottesfurcht? Versteh doch, ich habe -andere Sorgen!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(seine Linke streichelnd)</p> - -<p>Nicht Furcht, nicht Furcht: Gott will Vertrauen. Furchtbar ist blos die -menschliche Selbstsucht.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Dann sei also selbstlos und hör mir zu. (<span class="regie">Ein Schriftstück aus den -Papieren nehmend</span>) Hier ist mein Vermögen drin verzeichnet. Es sind, -nach Abzug aller Unterhaltsgelder für die bestehenden Stiftungen, noch -etwa neun Millionen Mark. Davon habe ich drei dem Justus vermacht; den -Rest, wenn du nichts dagegen hast, Dir.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Aber —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Laß mich erst ausreden, bitte. Du kannst damit machen, was du willst; -kannst den Plunder verschenken, an wen du willst, meinethalben an den -verkommensten Strolch. Nur die eine Bedingung ist dir gestellt: keinen -Pfennig mehr darfst du für irgend eine dieser öffentlichen A-Anstalten -stiften, die unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft -von Pharisäern züchten. Denn daß du’s nur weißt, liebe alte Anne: -ich will dich nicht in Versuchung führen, ob deine Barmherzigkeit -<em class="gesperrt">auch</em> am Ende in die allgemeine Herzlosigkeit umschlägt, die sich -M-Menschenfreundlichkeit nennt. Selbst das größte Gefühl wird klein, -wenn es sich aufputzt mit großen Begriffen; ein bißchen Güte von Mensch -zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Das sagen Sie blos wieder, um sich zu quälen. Der gute Wille ist -allzeit heilig.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wenn du also einverstanden bist, dann liegt es auch in deiner Hand, -das Vermächtnis an Justus größer zu machen. Ich möchte mit ihm nicht -darüber sprechen, und ich bitte auch dich inständig, es nicht vor -meinem T-Tode zu tun; er denkt<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span> sonst, ich wolle ihn bestechen, und -das würde die Versöhnung erschweren, die ich noch von ihm zu erlangen -hoffe. Also nicht wahr, du schweigst darüber!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja gewiß, Herr Christian, gern.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du kannst dir ja immer überlegen, ob es vielleicht ein christliches -Werk ist, ihm mehr als die drei Millionen zu geben, die er vor Jahren -von mir verlangt hat; meinethalben das Doppelte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Was ist da groß zu überlegen? Was braucht ein einzelner Mensch soviel -Geld? Es lädt ihm blos Ängste auf die Seele. Sie, Herr Christian, -hätten’s auch leichter gehabt, wär nit die große Erbschaft gewesen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Du fühlst dich wohl nicht als „einzelner Mensch“?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(lachend)</p> - -<p>O, ich leichte Person! bei mir bleibt’s nit lang! Hier in der Näh gibts -’ne ganze Straße, da konnt man in einer Nacht die Millionen los werden, -damit das geschminkte Elend mal ein rechtschaffen Christfest feiern -kann.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du hast’s ja gut vor; gib nur Acht, daß dir die Lichter nicht den Baum -verbrennen. Glaub mir: was der Mensch auch tun mag aus Mitleid, es ist -nie genug und immer zuviel. Du wirst vielleicht noch zufrieden sein, -daß du dem Justus die Sorge aufpacken kannst, wie man das Geld am -besten los wird.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Davor ist mir nit bang, dafür sorgt unser Herrgott; ist eitel Dunst -um jegliche Guttat, die seine Welt verbessern will. Einfach wohltun, -soviel man kann, aus <em class="gesperrt">Freud</em> am Wohltun, mehr kann man nit. Was -würd denn der stolze Herr Justus sagen, wollt ich vor ihn hintreten und -ihm was schenken? Nein, das geht nit; dem kann ich das nicht antun.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(langsam nach ihrer Hand tastend)</p> - -<p>Verzeih mir, Anne — ich hab dich zu spät erkannt — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Und wenn’s noch Zeit wär, Herr Christian — die andere Sorge auch los -zu werden —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(sich aufraffend, rauh)</p> - -<p>Was soll das! Laß das! Ich sagte: zu spät!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(seine Linke mit beiden Händen ergreifend)</p> - -<p>Ich hab geschwiegen so viele Jahr lang, ich werd schweigen darüber bis -ans Grab: sprechen Sie aus, was Ihnen das Herz abdrückt!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sei vernünftig, Anne, reg mich nicht auf! (<span class="regie">Lächelnd</span>) Du weißt, das -verträgt der Geheimrat nicht.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ich bitt Sie, Herr Christian, liebster Herr: spotten Sie nicht, ich -fleh Sie an! (<span class="regie">Zu ihm hinknieend</span>) Ich hab noch nie vor einem Menschen -gekniet — ich beschwör Sie bei Ihrer Qual — (<span class="regie">mit beiden Händen nach -dem Porträt weisend</span>) bei den Augen, die Sie verfolgen —: nehmen Sie -nicht das Geheimnis mit hinüber!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Steh auf! du beschämst mich! Ich d-dulde das nicht! Der Justus hat dich -ganz wirr gemacht! Steh auf, sag ich dir,<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> du machst mich zuschanden! -Willst du mir <em class="gesperrt">noch</em> einen Schlaganfall einjagen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ich will Ihrer armen Seele beistehn! Die macht’s ja nur, daß der Körper -büßt!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(wild seine Linke gen Himmel spreizend)</p> - -<p>Ist denn selbst die Barmherzigkeit eine Furie?! — (<span class="regie">Die Hand auf -Annens Kopf senkend, sanft</span>) Was weißt du von meiner Buße, du Engel. -Steh auf, du überhebst dich vor Demut. (<span class="regie">Die Hand an seine Stirn -legend</span>) In dies Geheimfach dringt nur der Tod. (<span class="regie">Draußen elektrisches -Klingelzeichen, während Anne sich erhebt</span>) — Geh, öffne; (<span class="regie">matt ihre -Hand ergreifend</span>) du hast mir wohlgetan —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(küßt seine Stirn, dann mit traumhaftem Ausdruck)</p> - -<p>Denn uns ist heute der Heiland erschienen — (<span class="regie">legt beglückt ihre Hände -vor die Brust und geht so leise nickend hinaus</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(wendet sich langsam nach dem Porträt um)</p> - -<p>Verfolgst du mich wirklich noch?! — (<span class="regie">Wendet sich langsam zurück, -schließt die Augen; dann mit verklärtem Gesicht</span>) Bald nicht mehr — — -(<span class="regie">Die Tür geht auf, Anne läßt den Minister und den Oberbürgermeister -eintreten</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Der Minister</em></p> - -<p class="regie">(mit einer Verbeugung, der sich der Bürgermeister anschließt, -während Anne Holz in den Kamin legt)</p> - -<p>Guten Tag, Herr Geheimer Rat; es tut mir leid, Sie stören zu müssen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p> - -<p>Nicht im geringsten, Euer Excellenz. Wollen Sie nur entschuldigen, daß -mein Zustand mir nicht erlaubt, den Herren geziemend entgegenzukommen. -Darf ich bitten, Platz zu nehmen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p class="regie">(während Anne hinausgeht)</p> - -<p>Die Ehrerbietung erfordert zunächst, meinen Auftrag stehend zu -erstatten. Auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten -Landesherrn, habe ich Ihnen, Herr Geheimer Rat, die persönliche -Eröffnung zu machen: So sehr die Gesinnung zu würdigen ist, aus der Sie -Ihre Namensverknüpfung mit dem von Ihnen gestifteten radioklinischen -Institut ablehnen, kann doch des guten Beispiels wegen ein solches -Geschenk nicht angenommen werden, ohne es durch ein rühmliches Zeichen -der allgemeinen Erkenntlichkeit zu erwidern. Seine Königliche Hoheit -haben daher geruht, in der Annahme, daß es Ihnen eine Weihnachtsfreude -bereiten wird, Sie in den Adelsstand zu erheben; die Urkunde folgt -heute Nachmittag. (<span class="regie">Sich auf den Stuhl links des Tisches setzend, mit -lächelnder Unamtlichkeit</span>) Ich erlaube mir, Herr von Wach, Ihnen ohne -Phrase zu sagen, daß ich Ihren Dank richtig ausrichten werde.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Es liegt meinem Selbstgefühl fern, Excellenz, mich gegen ein gütiges -Wort zu wehren — (<span class="regie">sie reichen einander unwillkürlich die Hand</span>).</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></p> - -<p class="regie">(ist stehen geblieben, räuspert sich)</p> - -<p>Ich bin nicht blos erschienen, Herr Geheimrat von Wach, um Ihnen -meinen aufrichtigen Glückwunsch zu der soeben vernommenen hohen -Auszeichnung darzubringen; ich stehe hier zugleich in Vertretung der -behördlichen Körperschaften unserer Haupt- und Residenzstadt, die -auf mein sachliches Betreiben, trotz der persönlichen Widerstände -gewisser starrköpfiger Mitbürger, den weitherzigen Beschluß gefaßt -haben, zur dauernden Erinnerung an die gemeinnützige Betätigung Ihrer -unentwegten Menschenliebe ein bedeutsames Merkmal zu errichten, sowohl -um Ihnen selbst im Gedächtnis künftiger Zeiten und Geschlechter<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span> -Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um andere Menschenfreunde -zu gleicher Betätigung anzuleiten. In diesem überpersönlichen Sinne, -hochzuverehrender Herr Geheimrat, soll Ihr in Öl gemaltes Porträt, -und zwar von der Hand des bewährten Direktors unserer Kunstakademie, -in unserem Rathause aufgehängt werden; und in Rücksicht auf Ihre so -werte Gesundheit, deren baldige Wiederherstellung jeder Wohlgesinnte -wünschen muß, bitte ich Sie, ihm mitzuteilen, zu welchen Stunden Sie -ihm in der Festwoche die leider aus künstlerischen Gründen unumgänglich -erforderlichen Modellsitzungen gewähren wollen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Sie dürfen überzeugt sein, Herr Oberbürgermeister, daß ich Ihren -„weitherzigen Beschluß“ im vollen Umfang zu schätzen weiß, sowohl die -überpersönliche Gerechtigkeit wie die persönlichen Widerstände. Ich -meinesteils würde zwar am liebsten ebenso starrköpfigen Widerstand -leisten; aber da ich nicht mehr kräftig genug zu dieser (<span class="regie">absichtlich</span>) -Betäterätätigung bin, so bitte ich dem Herrn Akademiedirektor mit einem -verbindlichen Gruß zu bestellen, daß er seine Staffelei wohl bald vor -meiner L-Leiche wird aufschlagen können.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>Ich hoffe, verehrter Herr Geheimrat, Sie werden damit nicht sagen wollen</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p class="regie">(erregt)</p> - -<p>Ich will damit sagen, verehrter Herr Ober-b-bürgermeister, daß ich -nach meinem Tod nicht verhindern kann, der M-Menschheit in Öl serviert -zu werden; zu meinen L-Lebzeiten bin ich lalala-leider — (<span class="regie">sich -zusammennehmend</span>) für <em class="gesperrt">diese</em> „sachliche“ Behandlung meiner -nebensächlichen Person nicht ganz menschenfreundlich genug.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p class="regie">(sich in die Brust werfend)</p> - -<p>Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß eine so wohlerwogene Ehrung -auf solche Verkennung stoßen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern bleibt -mir nur übrig, dies der Bürgerschaft zur Kenntnis zu bringen; und -wenn ich mich jetzt hier verabschieden muß, so geschieht es mit dem -Bewußtsein, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß ich des Beifalls der -weitesten Kreise in diesem Falle gewiß sein darf. Ich empfehle mich -Euer Excellenz — (<span class="regie">der Minister steht auf</span>) oder falls Sie mich zu -begleiten gedenken</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Darf ich wohl bitten, Excellenz, noch einen Augenblick zu verweilen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p>Gern, Herr Geheimrat. Verzeihung, Herr Oberbürgermeister.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p> - -<p>So empfehle ich mich denn wiegesagt — (<span class="regie">man verbeugt sich gemessen — -er geht gewichtig ab</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p class="regie">(indem er sich wieder setzt)</p> - -<p>Ich bin zu jeder Vermittlung bereit.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Es tut keine mehr not, (<span class="regie">lächelnd</span>) ich bin erledigt. (<span class="regie">Ernsthaft</span>) Ich -wollte nur fragen, Excellenz: würden Sie wohl einem Sterbenden eine -unumwundene Antwort geben?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p>Soweit das menschenmöglich ist —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Warum häuft man Ehren auf eine Person, die man doch für schändlich -hält? Warum p-peinigt man mich mit Gnadenmienen, hinter denen der -Abscheu grinst?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p>Die Ehre gilt niemals der Person, stets nur der Sache, der man dient. -(<span class="regie">Lächelnd</span>) Das entschuldigt auch die Person, die uns soeben verlassen -hat.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Also wir sind alle dazu verdammt, einander Böses zu tun im Kampf um das -Gute?!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p>Wenn’s die Sache verlangt — jeder Sieg kostet Opfer —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Wo bleibt dann die Grenze zwischen Tat und Untat, Heldentum und -Verbrechertum? Was berechtigt uns, Andre zu opfern?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p class="regie">(diskret ihm huldigend)</p> - -<p>Wohl was uns verpflichtet, uns selbst zu opfern. (<span class="regie">Aufstehend</span>) Wem es -die innere Stimme sagt, der fragt wohl nicht nach dem Urteil der Welt.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Ich danke Euer Excellenz.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p> - -<p class="regie">(ihm die Hand hinstreckend)</p> - -<p>Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p> - -<p>Ihnen noch viele, Excellenz! — — (<span class="regie">Minister ab, an der Tür sich -nochmals verneigend; Christian erwidert den Gruß, schließt dann die -Augen und raunt vor sich hin</span>) Wem es die innere Stimme sagt —? — -(<span class="regie">Es klopft, und Justus Wach tritt ein</span>) — — Nun, Justus, mein -Spiegel, bist du schön blank heut?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(sich rechts des Tisches setzend)</p> - -<p>Macht es dir wirklich noch immer Vergnügen, mir das unbedachte Wort -nachzutragen, das ich damals in der Erregtheit hinwarf?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wie sollte es nicht? Du bist doch noch immer bestrebt, mir mein wahres -Gesicht zu zeigen. Das macht mir wirklich ein ungemeines Vergnügen; -das einzige, das mir die Welt noch bietet. Ich bin dir auch wirklich -dankbar dafür.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Also dazu hast du mich in dein Haus gelockt: dem Herrn Geheimrat als -Hofnarr zu dienen. Und ich war einfältig genug, mir von der guten Anne -aufschwatzen zu lassen, es sei dir ernstlich um eine Versöhnung zu tun.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Außerordentlich rührend bei deinem Beruf, dies Selbstbekenntnis deiner -Einfalt. Seit wann bist du denn so versöhnlich gestimmt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Du weißt sehr gut, daß es mich reut, deinen Schlaganfall veranlaßt zu -haben; wenn es auch ohne Absicht geschah.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ja, das hast du mir schon mehrmals gesagt. Aber nicht wahr: mein -Tagebuch, das hast du noch immer nicht aufgespürt —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Hältst du es denn in der Tat für möglich, ich hätte bei einiger -Überlegung nur eine Minute lang geglaubt, daß ein solches Geständnis -vorhanden sei? Wenn du es je geschrieben hättest, wär es doch längst -von dir vernichtet.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(wie zufällig die Hand auf seine Papiere legend)</p> - -<p>Und wenn es nun doch noch irgendwo läge?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wenn es mir nun eine Wollust wäre, mit der Entdeckungsgefahr zu -spielen? Wenn mich immerfort die L-Lust stachelte, die unersättlich -marternde Lust, mein Geheimnis der Welt ins Gesicht zu schreien? und -dabei die W-Wonne der Selbstbeherrschung, der Welt nicht den Gefallen -zu tun! mich nicht knechten zu lassen von dieser B-Beichtsucht! diesem -schamlosen Mitteilungstrieb, der uns alle zu armen Sündern macht! — -Hast du dir das noch nie überlegt? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Wenn du mich etwa nötigen willst, Weihnachten anderswo zu feiern, dann -bitte sage es mir doch offen! Die Anspielungen auf meinen Beruf werden -mir nachgerade lästig.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du kannst dir also garnicht denken, daß ein M-Mörder ein ehrlicher -Mensch sein kann?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich denke mir, daß du durch deinen Reichtum, weil du keine andre -Beschäftigung hattest, zum Grillenfänger geworden bist. Nun tüftelst -du dir aus allerlei Zufällen ein neunmalkluges Verbrechen zusammen, -blos um dir nicht einzugestehen, daß dir glücklicherweise der Mut dazu -fehlte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Deine Menschenkenntnis ist fast so gründlich wie deine gute Meinung -von mir. In der Tat, Vetter: es ist tief beschämend, so als elender -Mitmensch dazusitzen, wo man Teufel und Engel zugleich sein wollte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nun, die Märtyrer-Rolle hat auch ihre Glorie. Sonst hättest du wohl die -Selbstquälerei nicht so lange ausgehalten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und wenn ich nun all die Jahre lang gegen die Versuchung angekämpft -hätte, diese Qual mit eigner Hand abzu-b-brechen? (<span class="regie">Krampfhaft die Hand -aufs Herz drückend</span>) Wenn’s mir nun zu erbärmlich gewesen wäre, so vor -mir selbst in die B-Binsen zu gehn? Wenn ich lieber die Buße ertragen -hätte, vor jedem unbe-bedachten Wörtchen zu beben, als diese B-Babbala -— (<span class="regie">sich bezwingend, da Justus ihm Hilfe leisten will</span>) laß — ich -danke — — ich wollte sagen: Blamage des Selbstmords.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich muß es wohl aufgeben, Christian, dein Gewissen zu beruhigen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Ja, wir haben <em class="gesperrt">beide</em> unsern Beruf verfehlt; du als Mitmensch, und -ich als Unmensch.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich will dich wahrhaftig nicht aufregen, aber du zwingst mich ja dazu. -Warum bringst du das Unrecht, das ich dir antat, trotz meiner Abbitte -immer wieder zur Sprache?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Vielleicht weil es mein „Gewissen beruhigt“, deine Gerechtigkeit wanken -zu sehen. Wenn du sicher wüßtest, ich hatte gemordet, würdest du dann -wohl noch geneigt sein, mir die Hand zur Versöhnung zu bieten? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Es gibt doch Morde, die sogar das Gericht verzeiht.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>In der Tat; du bist sehr entgegenkommend. Und die M-Massenmorde -fürs Vaterland, daß heißt für Thron und Altar und Kapital, oder für -Freiheit, Gleichheit, L-Lüderlichkeit oder son<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span>stige große Rosinen: die -verherrlicht sogar die W-Weltgeschichte. Blos, das sind alles Morde aus -Leidenschaft, aus Eifersucht, Rachsucht, Ehrgefühl, Pflichtgefühl; die -freilich entschuldigt man edelmütig.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nun, wenn auch nicht grade vor Gericht, aber unter vier Augen -betrachtet, ist wohl auch deine Art Menschenliebe eine entschuldbare -Leidenschaft.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Aber Justus, ich werde irre an dir! Sollte ich endlich dein Herz -erweicht haben?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(schroff)</p> - -<p>Wenn du mir keinen Glauben schenkst, beweisen läßt sich dergleichen -nicht.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(die Hand auf seine Papiere legend)</p> - -<p>Wer weiß; ich könnte mich doch vielleicht „unter vier Augen“ -überzeugen, wie weit du mein Vertrauen ehrst.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>So? Könntest du das?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wenn ich wüßte, Justus, wie weit du dir selber trauen darfst? (<span class="regie">Da -Justus Miene macht aufzufahren</span>) Bitte bleib sitzen, ich will dich -nicht kränken. An deinen guten Willen glaube ich gern. Ich wollte dich -sogar zum Christfest um einen kleinen L-Liebesdienst bitten.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Wenn es dir wirklich ernst darum ist —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(nimmt aus seinen Papieren ein mit fünf roten Siegeln -verschlossenes Heft)</p> - -<p>Ich habe gestern mein Testament neu verfaßt; ich wollte<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span> dich bitten, -hier das alte — (<span class="regie">draußen elektrisches Klingelzeichen</span>) ah, der -Sanitätsrat; nun, dann nachher. — (<span class="regie">Das Heft wieder unter die -Schriftstücke schiebend</span>) Ich bin sein besuchtester Patient, seitdem er -mich nicht mehr retten kann. (<span class="regie">Anne läßt den Sanitätsrat eintreten</span>) — -Willkommen, mein werter L-Lebensretter!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(während Anne an den Kamin geht und wieder Holz aufs Feuer -legt)</p> - -<p>Danke, danke, mein teuerster Todeskandidat. (<span class="regie">Zu Justus, der -aufgestanden ist</span>) Aber bitte doch Platz zu behalten. (<span class="regie">Sich -gleichfalls setzend, links des Tisches</span>) Und bitte mich nicht -mißzuverstehen. Todeskandidaten sind wir ja alle; Sie können mich noch -gut überleben! — (<span class="regie">Christians linkes Handgelenk nehmend, sich nach -Anne umdrehend</span>) Gelt, Schwester: der reine Methusalems-Puls! Sie -messen den Blutdruck doch noch regelmäßig?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Gewiß, Herr Geheimrat; er ist etwas niedriger.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(während Anne hinausgeht)</p> - -<p>Natürlich! Blos Aufregung vermeiden! Bei Ihrer zähen Konstitution: -wir werden schon wieder Lebensmut fassen! In der letzten Sitzung der -Menschenfreunde hat man sogar darauf gewettet, Sie würden doch noch -Mitglied werden.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sehr gütig; aber einstweilen scheint mir, der ehrlichste Menschenfreund -ist der T-Tod.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Ja, der Mensch bleibt ewig ein Grillenfänger.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Haha-hörst du’s, Vetter? Jetzt muß ich’s wohl glauben.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(lachend)</p> - -<p>Die Diagnose stellt dir Jeder!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>„Jeder Wohlgesinnte!“ sagt der Herr Bürgermeister. (<span class="regie">Zu Christian</span>) -Aber was hat denn der Biedermann? Begegnete mir bei der neuen Klinik -und machte ein Gesicht wie ein Truthahn, als ich Ihren Namen nannte.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ist Ihnen vielleicht auch der Akademie-D-Direktor bei der neuen Klinik -begegnet?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Aber Verehrtester, ruhig Blut! Sie werden sich doch nicht einbilden, -ich hätte den Kitsch mit ausgeheckt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nein; aber jeder P-Pinsel bildet sich ein, er dürfe mich mit -Berühmtheit beschmaddern, weil ich das selber schon reichlich besorgt -habe.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Ja, der Mensch ist von Natur größenwahnsinnig. Aber wiegesagt: nur -nichts tragisch nehmen! (<span class="regie">Zu Justus</span>) Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie -werden das Ihre tun, uns die Grillen vertreiben zu helfen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ja selbstverständlich! nach Kräften! mein Möglichstes!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p class="regie">(aufstehend)</p> - -<p>Also dann: gesundes Fest allerseits! Und nicht wahr: wenn das Herzchen -doch wieder muckt: sind ja nur drei Schritte zu mir hinüber.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd, die Hand ins Leere schwenkend)</p> - -<p>Mancher geht auch ohne Schritte hinüber —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p> - -<p>Ohoh! solche Witze darf <em class="gesperrt">ich</em> blos machen. (<span class="regie">Beiden Herren<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span> -die Hand schüttelnd</span>) Na wiegesagt: gesegnete Mahlzeit — (<span class="regie">geht -händereibend eilends ab</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Es scheint, die M-Menschenfreunde wollen mich jetzt zum eingebildeten -Kranken stempeln.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Das könnte dir doch nur angenehm sein.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und wenn es mir nun — entsetzlich wäre?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Über diese Annahme darf ich wohl lächeln.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Wenn ich dir aber nun eingestände, wie es mich manchmal ekelt und reut, -daß ich mich nicht verurteilen ließ? wie es mich damals b-bohrend -drängte, öffentlich für die Tat einzutreten, zu der mir, wie du jetzt -gütigst meinst, g-glücklicherweise der Mut gefehlt hat?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Dann müßtest du mir schon erlauben, auch <em class="gesperrt">diese</em> Einbildung zu -belächeln.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Auch wenn ich w-wirklich gemordet hätte?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Dann doch erst recht, bei deiner Gemütsart.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Bei meiner Feigheit, willst du wohl sagen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nein, in diesem Falle: bei deiner Verstocktheit.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sehr schmeichelhaft, daß du die für so stark hältst. Aber die Reue -kann ebenso stark sein, selbst im verstocktesten Misse<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span>täter. Dein -bewunderter Bonaparte zum Beispiel: Haha-Hunderttausende hat er -skrupellos auf seinen Schlachtfeldern umgebracht, aber der eine Duc -d’Enghien, den er hi-hinterlistig hinrichten ließ, der wurmte ihn noch -auf Sankt-Helena, trotz aller staatsklugen Entschuldigungsgründe. Die -Vernunft mag noch so zielbewußt über das Gewissen hinwegschreiten, das -Gemüt l-läßt sich nicht hintergehen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Nun, du merkst wohl, ich sprach dir blos zu Munde. Da es dir Spaß -macht, dich selbst zu narren, will ich kein Spielverderber sein.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Also du hältst mich nicht für verstockt?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Sonst hättest du doch wohl kaum die Absicht, grade mir einen -Liebesdienst anzuvertrauen.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(lächelnd)</p> - -<p>Sehr freundlich, daß du mich erinnerst. (<span class="regie">Das versiegelte Heft wieder -vorholend</span>) Aber darf ich dich erst noch bitten, mir mit deiner -m-möglichsten Offenheit eine Frage zu beantworten?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Und —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Gesetzt, ich hä-hätte den Mut gehabt, den du mir ehrlicherweise -absprichst, — gesetzt, ich hätte t-trotzdem die Reue, die du mir -anstandshalber nicht zutraust, — (<span class="regie">schwer die Hand auf das Heft -legend</span>) gesetzt, ich würde es dir <em class="gesperrt">beweisen</em> — unter vier Augen, -lieber Vetter — nicht vor Zeugen, Herr Ki-Kriminalkommissar —: wärest -du dann noch bereit zu dem Liebesdienst?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Wie kann ich das wissen — ohne Beweis —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ist mein Anblick dir nicht Beweis genug?! —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Ich muß wohl verstummen, wenn du so fragst.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Du meinst, ein Verbrecher verdient kein Vertrauen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Wenn er bereut, vertraut ihm sogar der Richter.</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Und wenn dich nun ein solcher Verbrecher, dem die Reue aus jeder -Grimasse stiert, den sie t-tausendfältig härter gestraft hat, als -irgend ein Richter strafen kann — wenn dich der nun unter vier Augen -bäte: (<span class="regie">wieder die Hand auf das Heft legend</span>) hier ist mein Geständnis, -vernichte es! du hältst meine Seele in der Hand! du kannst sie aus der -Verzweiflung retten! du siehst, es foltert mich stückweis zu T-Tode, -daß ich ein einzig Mal unmenschlich war! du gibst mir den Glauben ans -L-Leben zurück, ans Ewige Leben, an Gott und die Menschheit, <em class="gesperrt">wenn du -m-menschlicher handelst als ich</em> —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(die Hand nach dem Heft ausstreckend)</p> - -<p>Ich soll es also — ins Feuer werfen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(überläßt es ihm lächelnd)</p> - -<p>Ja, Justus — zum Christfest wiegesagt — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(steht auf, macht einige Schritte nach dem Kamin hin, wendet sich -plötzlich ruckhaft um)</p> - -<p>Und du denkst, so lasse ich mich begimpeln? Du bildest dir ein, ich -durchschau nicht dein Lächeln? Du glaubst, du kannst mich (<span class="regie">nach dem -Porträt weisend</span>) beschwatzen wie <em class="gesperrt">die</em> da und dann mich auslachen -wie noch nie? Du Narr, der Andre zu narren meint! — (<span class="regie">Den Umschlag von -den Heftblättern reißend und ihn vor Christians Füße schleudernd</span>)<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span> -Hier: <em class="gesperrt">so</em> behandle ich dein Geständnis! kraft meines Amtes, du -Auswurf der Menschheit! — (<span class="regie">Hastig die Blätter musternd</span>) Was? — wa -— (<span class="regie">steht in sprachloser Verblüfftheit da</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Nun? Was sagt dir das leere Papier? —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(die Blätter zerfetzend und wegschmeißend)</p> - -<p>Ah, du Jammergestalt, du schandschnäuzige! (<span class="regie">Mit geballten Fäusten auf -Christian los</span>) Du bist ja die raffinierteste Viper, die je den Erdball -begeifert hat! (<span class="regie">Vor Christians Blick zurückzuckend</span>) Wenn mir nicht -graute, dich anzurühren, ich schlüg dir die Zähne aus dem Giftmaul! -(<span class="regie">Die Fäuste in die Hüften stemmend</span>) Ist denn kein Funken Scham in -dir, so mein heiligstes Pflichtgefühl zu verhöhnen?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(endlich gell loslachend)</p> - -<p>Ha-ha-ha-hei — dein hei — hahahei — (<span class="regie">plötzlich krampfhaft nach Luft -ringend, lallend</span>) heili — ha-heili — ha-hilf — hilf!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Dir —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(röchelnd)</p> - -<p><em class="gesperrt">Hilf</em>, Justus! ich dank dir’s! ich sterbe! ich fühl’s!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Dann stirb, Giftmischer!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(mit brechender Stimme, unsäglich lächelnd)</p> - -<p>Hab Dank, du — M-Mörder! (<span class="regie">er sinkt zusammen</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(sich an die Brust fassend)</p> - -<p>Ich —? — (<span class="regie">Hart, mit abwälzender Handbewegung</span>) Lächerlich! — (<span class="regie">Er -geht erhobenen Hauptes zur Tür; öffnet, ruft</span>) Anne! Schwester Anne! — -(<span class="regie">Sie kommt, er zeigt auf Christian</span>) Sehen Sie nach, ob noch zu helfen -ist; ich möchte den Arzt nicht unnütz bemühen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(auf die Papierfetzen deutend)</p> - -<p>Was ist geschehen? War <em class="gesperrt">das</em> die Versöhnung?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p>Rasch! helfen Sie lieber! Mir scheint, er regt sich —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(rechts des Tisches sich über Christian beugend, während Justus -sich links auf die Stuhllehne stützt)</p> - -<p>Das Herz, das klopft noch — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p class="regie">(traumhaft)</p> - -<p>Anne, bist <em class="gesperrt">Du’s</em> —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ja, Herr Christian, ich; — nur still — nur nit bang —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sie sollen mich nicht so ansehn alle!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Nein, Herr Christian, niemand — nur ich! — (<span class="regie">Sich aufrichtend, mit -unabweisbarer Frage</span>) Herr Justus —?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(von ihrem Blick bezwungen)</p> - -<p>Ja, dann ist’s meine Pflicht, den Arzt zu rufen — (<span class="regie">geht gesenkten -Hauptes hinaus</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sind wir allein, Anne?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Ganz allein — (<span class="regie">sie legt ihren Arm um seine Schultern</span>) —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich seh noch immer die Augen alle — — nicht M-Menschenaugen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Engelaugen — —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span></p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Sie wollen alle, ich soll es s-sagen — — nur einmal sagen —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Dann ist’s gesühnt — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich — hörst du, Anne?</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p><em class="gesperrt">Gott</em> will es hören — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich — hilf doch, Anne!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p>Nur Gott kann helfen — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p> - -<p>Ich — ich — haha-habe — — (<span class="regie">jäh sich aufbäumend, schreiend</span>) -<em class="gesperrt">Nein</em>, Gott — (<span class="regie">sich ans Herz greifend, selig lächelnd</span>) ich -nicht! — (<span class="regie">er stürzt mit dem Gesicht auf den Tisch</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(faßt ihn bang bei der Schulter)</p> - -<p>Herr Christian — lieber Herr Christian — — (<span class="regie">neigt ihr Ohr an seine -linke Seite, kniet dann ehrfürchtig neben ihm nieder, faltet die Hände -zu stillem Gebet</span>) — —</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p> - -<p class="regie">(öffnet horchend die Tür, läßt sie offen, tritt leise ein, nähert -sich verhalten dem Tisch, wartet bis Anne sich erhebt; dann mit -heiser drängender Stimme)</p> - -<p>Hat er gebeichtet? was hat er gesagt? — (<span class="regie">Da Anne zurückweicht, barsch -auf sie los</span>) Was hat er gesagt? ich treib Sie zum Zeugeneid!</p> - -<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p> - -<p class="regie">(noch einen Schritt zurücktretend, hoheitsvoll nach der Tür -weisend)</p> - -<p>Gehen Sie endlich, Sie armer Mensch! — (<span class="regie">Justus, langsam sich an die -Brust fassend, starrt auf den Toten</span>) —</p> - -<p class="regie padtop2">(Vorhang)</p> - -<div class="section"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p> - -<h3 id="Michel_Michael">Michel Michael<br /> -<span class="s5">Komödie in Versen</span><br /> -<span class="s6">Zweite Ausgabe</span></h3> - -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span></p> - -<p class="center padtop3 break-before"><em class="gesperrt">Personen</em>:</p> - -<div class="centre-container"> - <div class="centred"> - <div class="item"><em class="gesperrt">Michel Michael</em>, ein deutscher Bergarbeiter.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>, sein Mündel.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Die Frau Venus.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Tyll Eulenspiegel.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der getreue Eckart.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der Kaiser Rotbart.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>, ein Sozialdemokrat.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>, ein Ultramontaner.</div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der Bergrat.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der Landrat.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister.</em></div> - <div class="item"><em class="gesperrt">Die Frau Bürgermeisterin.</em></div> - <div class="item">Ein Kaplan.</div> - <div class="item">Ein Pastor.</div> - <div class="item">Drei Maschinenheizer.</div> - <div class="item">Polizisten. Kobolde. Leute in Masken.</div> - </div> -</div> - -<p class="center padtop1"><em class="gesperrt">Zeit und Ort</em>:</p> - -<p class="center">Eine Johannisnacht in einer mitteldeutschen Kreisstadt.</p> - -<p class="regie">(Rechts und links immer vom Zuschauer aus.)</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span></p> - -<div class="poetry-container break-before"> - <div class="poetry"> - <div class="person padtop1"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als - Vorredner</em></div> - <div class="regie">(von rechts kommend, in roter Gugeltracht mit - Pritsche):</div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meine allergnädigsten Damen und sehr verehrlichen Herrn!</div> - <div class="verse">Sie werden mirs wohl glauben: ich gefiele Ihnen gern.</div> - <div class="verse">Aber mein Herr, der Dichter, hat mich leider ausersehn,</div> - <div class="verse">Jedem eine Nase zu drehn.</div> - <div class="verse">Wer weiß, vielleicht dreh ich ihm selber auch eine;</div> - <div class="verse">indessen diese Nase hat — lange Beine.</div> - <div class="verse">Zunächst nämlich soll ich mich erfrechen,</div> - <div class="verse">über den Gang der Handlung im Voraus mit Ihnen zu sprechen.</div> - <div class="verse">Sie sehn’s schon an mir, und merken mit Gruseln: huh,</div> - <div class="verse">hier gehts offenbar geheimnisvoll zu.</div> - <div class="verse">Meine Maske hat weder Haut noch Haar,</div> - <div class="verse">blos ein unverschämtes Allerweltsspiegellöcherpaar</div> - </div> - <div class="regie">(er weist auf seine Augen)</div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">und einen Schlitz für diese meine Zunge</div> - </div> - <div class="regie">(er streckt sie heraus) —</div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">und darunter, ganz im Dunkeln, hängt mein Herz und meine Lunge.</div> - <div class="verse">Damit mach ich meistens nichts weiter als den Wind,</div> - <div class="verse">in den meine Worte gesprochen sind.</div> - <div class="verse">Denn mit Worten, da die Worte im Kopf entstehn,</div> - <div class="verse">kann der Mensch zwar herrlich andern Menschen den Kopf verdrehn;</div> - <div class="verse">aber da es in der Welt, die sich um uns dreht,</div> - <div class="verse">dennoch nicht nach unserm Kopf zugeht,</div> - <div class="verse">so verläuft der Gang der Handlung auf den 2 mal 5 Beinen</div> - <div class="verse">der Hauptpersonen, ausschließlich der meinen.</div> - <div class="verse">Ich bin also kein großschnäuziger Tugendschweinigel,</div> - <div class="verse">sondern heiße Tyll — mit Ypsilon bitte — Eulenspiegel;</div> - <div class="verse">das heißt, ich husche als närrischer Kauz durch die Welt,</div> - <div class="verse">der sich und andre närrische Käuze mit seinem Doppelspiegel prellt —</div> - </div> - <div class="regie">(er weist wieder auf seine Augen).</div> - <div class="stanza"> -<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span> - <div class="verse">Was für Nebenpersonen noch drin herumlaufen,</div> - <div class="verse">das ist ein kaum zu zählender Haufen;</div> - <div class="verse">denn zu den Nebenpersonen um jede Menschenseele herum</div> - <div class="verse">gehört bekanntlich das ganze p. p. Publikum —</div> - </div> - <div class="regie">(er verbeugt sich).</div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Manche Person ist übrigens eigentlich keine;</div> - <div class="verse">und zwei der Hauptpersonen sind im Grunde nur eine.</div> - <div class="verse">Manche andre zählt mindestens fürn paar Schock;</div> - <div class="verse">und die hauptpersönlichste natürlich steckt in Jedermanns Rock.</div> - <div class="verse">Kurz, jegliche Seele tut alles, was sie kann;</div> - <div class="verse">aha! es scheint, sie fangen schon an.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Vierstimmiger Gesang mit Lautenspiel</em></div> - - <div class="regie">(hinterm Vorhang):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir tragen alle ein Licht durch die Nacht,</div> - <div class="verse mleft6">unter Tag.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(horcht und spricht parodierend nach):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie tragen alle ein Licht durch die Nacht.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Gesang</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir träumen von unerschöpflicher Pracht,</div> - <div class="verse mleft6">über Tag.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(wie vorher):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie träumen von unerschöpflicher Pracht.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Gesang</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich;</div> - <div class="verse mleft6">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Gesang</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir machen das Erdreich zum Himmelreich;</div> - <div class="verse mleft6">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie machen das Erdreich zum Himmelreich.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span> - <div class="verse">Da verkriech ich mich schleunigst, ich armer Schuft;</div> - <div class="verse">sonst sprengen sie mich am End in die Luft.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er dreht eine Nase, wickelt sich in den Vorhang, und diesen - mit wegziehend verschwindet er rechts).</div> - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 class="padtop1" id="Erster_Aufzug">Erster Aufzug</h4> - -</div> - -<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: Altes kleines Landhaus mit Obstgärtchen. Rechts Wald -und Gartenzaun. Links hinten das Haus. Vorn entlang Landstraße. -An der Hauswand links ein Wegweiser, dessen drei Arme folgende -Aufschriften tragen: Zur Stadt, Zur Grube, Feldweg. Am Gartentisch -sitzen <em class="gesperrt">Michel Michael</em>, der <em class="gesperrt">rote Karl</em> und der -<em class="gesperrt">schwarze Karl</em>; daneben steht <em class="gesperrt">Lise Lied</em> mit der Laute, -in hellgrünem Sommerkleid und weißer Schürze.)</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="person padtop1"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(singt bei offener Bühne weiter, während die Andern nur den -Kehrreim mitsummen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Einst fiel alles Leben vom Himmel herab,</div> - <div class="verse center">über Tag.</div> - <div class="verse center">Wir Bergleute schürfen’s aus dem Grab,</div> - <div class="verse center">unter Tag.</div> - <div class="verse center">Wir fördern’s herauf, das tote Gestein;</div> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - <div class="verse center">Wir machen’s wieder zu Sonnenschein;</div> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Männer stoßen mit ihren großen Schnapsgläsern an und trinken - sie leer).</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel Michael</em></div> - - <div class="regie">(in schwarzer Gamaschenhose und weißem Hemd mit - offenem Halskragen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So, Lise, nun hol uns noch jedem so ein Glas;</div> - <div class="verse">denn die Bergmannskehle</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Weiß schon: ist mehr trocken als naß.</div> - <div class="verse">O Michel! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Blos heut mal so’n kleinen Seelenwärmer;</div> - <div class="verse">morgen fließt wieder Milch und Sauerbrunn durch die Därmer.</div> - <div class="verse">Man muß sich doch für das nächtliche Fest vorbereiten.</div> - </div> - - <div class="person"><span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span> - <em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, und dann stöhnt ihr über die schweren Zeiten.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie geht mit den Gläsern und der Laute ins Haus.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="regie">(trägt gewöhnlichen schwarzen Jackettanzug, schwarzen Schlapphut - und rote Krawatte):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also willst du wirklich nachher aufs Johannisfest?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Warum <em class="gesperrt">nicht</em>?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">O blos: weil der Michel sonst sich zehnmal bitten läßt,</div> - <div class="verse">eh er einmal kommt. Aber ja: der Herr Bergrat hat’s gewunschen,</div> - <div class="verse">da ists freilich ratsam, sich untertänigst mitzubepunschen.</div> - <div class="verse">Sicher wittert man’s da oben so gut wie ich:</div> - <div class="verse">manche Stimme in der Knappschaft schwört auf dich.</div> - <div class="verse">Hast ein eigen Haus, bist bald Vorhäuer, kannst Leute dingen,</div> - <div class="verse">möchtest dich gewiß gar zum Steiger aufschwingen;</div> - <div class="verse">wirst morgen für ’ne Stütze von Thron und Altar gelten,</div> - <div class="verse">und der Bergrat</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Hör mal, roter Karl: den lass ich nicht schelten.</div> - <div class="verse">Er meint’s leutselig mit uns Arbeitern allzumal.</div> - <div class="verse">Er bezahlt auch heute Nacht wieder Musik und Saal.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sehr wahr! und in vier Wochen ist Reichstagswahl.</div> - <div class="verse">Du Schäfersohn läßt dir leicht was vormusizieren.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(trägt gleichfalls schwarzen Jackettanzug, aber steifen Hut, -schwarze Krawatte und eine auffällig große Hornbrille mit -dunkelblauen Gläsern):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, ich meine auch: man muß sich doch wohl etwas salvieren.</div> - <div class="verse">Ich sage nichts gegen den Regierungskandidaten,</div> - <div class="verse">aber der Herr Bergrat privatim ist doch sozusagen ein Teufelsbraten.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span> - <div class="verse">Nicht etwa weil er — obzwar: auch das ist bedeutungsvoll —</div> - <div class="verse">’ne jüdische Urgroßmutter gehabt haben soll.</div> - <div class="verse">Aber was man so im stillen von seinem Lebenswandel hört —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du, hörst du’s, Michel? der Schwarze ist christlich empört!</div> - <div class="verse">Fraglos ist er einzig drum aus der Stadt gekommen,</div> - <div class="verse">um hier dem Heil deiner armen Seele zu frommen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Lise kommt mit den gefüllten Schnapsgläsern wieder.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoffte allerdings, Sie, Herr Namensvetter, nicht anzutreffen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="regie">(sein Glas nehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, gottvoll, wie sich die Menschen äffen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(ebenso):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nun, Gevatter Michael weiß, welche Tiere am lautesten kläffen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(mit ihnen anstoßend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Holla! Frieden, ihr Karle! Gäste solln sich vertragen!</div> - <div class="verse">Muß ich junger Kerl das euch beiden alten sagen?</div> - <div class="verse">Hie Knappschaft! Glückauf! Jeder Knappe im Schacht</div> - <div class="verse">nehm sich vor falschen Wettern in Acht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glückauf, Jungfer Lise! auf das schöne Lied vom Himmel.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(während die Männer trinken):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, das ist am schönsten <em class="gesperrt">ohne</em> euer Kümmelgebimmel.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sieh mal, roter Karl: deine Zukunftsrepublik,</div> - <div class="verse">das ist doch auch ’ne Art Rattenfängermusik.</div> - <div class="verse">Und sehn Sie, schwarzer Karl: Ihr Ewigkeitsparadies</div> - <div class="verse">lockt wohl erst recht die liebe Maus zur Mies.</div> - <div class="verse">Und derweil ihr Pfiffikusse so die Gegenwart vexiert,</div> - <div class="verse">hat der dumme Michel sie längst sehre anderst kapiert.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span> - <div class="verse">Denkt ihr, ich will blos drum heut aufs Maskenfest,</div> - <div class="verse">weil der Bergrat da ein paar Sektproppen tanzen läßt?</div> - <div class="verse">dann tät ich mich lieber mit euch hier draußen besaufen.</div> - <div class="verse">Nein, ich will mein Haus an die Grubengesellschaft verkaufen</div> - <div class="verse">und in die Stadt ziehn, werte Zeitgenossen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel, nein!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Ja, Lise; das ist nun mal beschlossen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er langt ein paar Schriftstücke aus der Brusttasche.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier, ich hab schon alles mit dem Rechtsanwalt aufgesetzt,</div> - <div class="verse">und der Bergrat ist kein Knicker; besonders jetzt,</div> - <div class="verse">wo sie doch die Vorstadtzeche weiter austeufen wollen</div> - <div class="verse">und Platz brauchen für den neuen Wetterstollen,</div> - <div class="verse">da wird er heut Nacht bei’ner Buddel Wein</div> - <div class="verse">gern zu sprechen sein</div> - <div class="verse">und mir die werte Unterschrift geben.</div> - <div class="verse">Potz Taler, Lise! sollst sehn, das wird ein Leben!</div> - <div class="verse">Na, was machst du denn fürn Sechsdreiergesicht?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mir ist bang um dich, Michel. O bitte, tu’s nicht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Achgottedoch! daß dir’s Herzchen nur nicht bricht!</div> - <div class="verse">Brennst doch sonst drauf, mit in die Stadt zu fluttschen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber für immer?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Für immer tut kein Weibsbild muckschen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nimmt ihre Hand.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weißt du: wenn wir Abends hier manchmal so einsam sitzen</div> - <div class="verse">und ich seh da drüben im Tal den großen Lichterknäul blitzen,</div> - <div class="verse">die Bahnkörperlampen, die Schaufenster, die Straßenlaternen,</div> - <div class="verse">wie sie wetteifern mit den Sternen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span> - <div class="verse">und was hinter den erleuchteten Scheiben</div> - <div class="verse">all die tausend Menschenköpfe wohl sinnen und treiben,</div> - <div class="verse">was für Strahlen hin-und-herzucken zwischen ihnen</div> - <div class="verse">aus den wunderlichen Instrumenten, Apparaten, Maschinen,</div> - <div class="verse">elektrischen Drähten — (<span class="regie">er erhebt sich</span>)</div> - <div class="verse mleft9">ich kann’s garnicht ganz sagen,</div> - <div class="verse">wie das strahlt — und mittendurch rollen funkelnd die Wagen,</div> - <div class="verse">wodrin Hoch und Niedrig zusammen übers Pflaster jagen,</div> - <div class="verse">zu Festsälen, Theatern, Bibliotheken, Klubs, Volkshallen,</div> - <div class="verse">kann sich jedermann immer höher bilden mit Allen —</div> - <div class="verse">ja, dann fühl ichs wild: da <em class="gesperrt">bewegt</em> sich die Welt!</div> - <div class="verse">so wild, du, daß mirs manchmal die Stirnadern schwellt!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er setzt sich und nimmt einen großen Schluck.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, Fräulein Lise: Sie können’s noch nicht ermessen:</div> - <div class="verse">in der Stadt, da erwacht der Mensch zu edlern Interessen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nimmt gleichfalls einen großen Schluck.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja —! Nämlich auch die Kirchen nicht zu vergessen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er trinkt sein Glas leer.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(auf die Schriftstücke hauend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Kurzum, ich will mehr, als mein väterlich Erbteil begaffen,</div> - <div class="verse">ich will mir auf eigne Faust meinen Fußboden schaffen;</div> - <div class="verse"><em class="gesperrt">das</em> ist mein Intresse! Jawohl! Wirst es auch noch kapieren;</div> - <div class="verse">wirst vielleicht dereinst noch in seidnen Kleidern stolzieren,</div> - <div class="verse">in Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen,</div> - <div class="verse">und an Einer Tafel mit dem Bergrat sitzen.</div> - <div class="verse">Also Kopf hoch, Lise! maul nicht! du übertreibst es.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Michel, du bist ein Träumer — und bleibst es.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hat noch niemand unter meinen Träumen gelitten.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er trinkt Rest mit dem roten Karl.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Komm, bring uns lieber noch solchen lütten dritten</div> - <div class="verse">und sing eins!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Darum allerdings möcht ich gleichfalls schön bitten.</div> - <div class="verse">Das heißt, ums Singen mein’ich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Meinen Sie! ums Singen!</div> - <div class="verse">O, euch sollt alle miteinander der Hörselberg verschlingen! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie stampft mit dem Fuß auf und rennt ins Haus.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hast sie doch wohl ein bißchen gar zu herrisch überrascht.</div> - <div class="verse">Mich auch, muß ich sagen. Wer erst am Kapitalismus nascht —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(nochmals auf die Schriftstücke hauend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach was, Redensarten! Ich tue, was sich verintressiert.</div> - <div class="verse">Ihr lauert blos immer und lamentiert.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er steckt die Papiere wieder in die Tasche.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel, Michel —: jeder Knappe im Schacht</div> - <div class="verse">nehm sich vor falschen Wettern in Acht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Deren gibts allerdings manche auch <em class="gesperrt">über</em> Tag.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, wenns eure Trinksprüche täten, dann ging’s Schlag auf Schlag.</div> - <div class="verse">Schwerenot! ihr macht einem wirklich den Feiertag schwül;</div> - <div class="verse">und dabei ists ein Abend, wie feucht Moos so schön kühl.</div> - <div class="verse">Hee, Lise! Racker! gleich kommst du! auf der Stelle!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich hol sie —</div> - </div> - - <div class="regie">(er begibt sich durch die Gartenpforte vors Haus zur Tür) —</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(mit einer sehr großen Schnapsflasche ihm entgegen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Da habt ihr eure Intressenquelle!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie drückt ihm die Flasche in den Arm.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(heimlich, während der rote mit Michel gestikuliert):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Pst, Jungfer Lise, im Vertrauen! ich mein’s wirklich gut.</div> - <div class="verse">Wenn der Michel nun, und sein Sie froh, daß ers tut,</div> - <div class="verse">in die Stadt zieht: dann drängen sie ihn so Schritt für Schritt,</div> - <div class="verse">daß er in das Kränzchen zur heiligen Elisabeth tritt!</div> - <div class="verse">und Sie, Jungfer Lise, natürlich mit!</div> - <div class="verse">Es ist vergnüglich, und lohnt sich, wie jede Christenpflicht.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, wenn Sie Eins mir versprechen als Christ; sonst nicht.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gern! Und?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Daß er nicht in die Stadt zieht, Sie Kirchenlicht!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie macht ihm einen Knix und verschwindet.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verflixte Hexe! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Also wirklich, Roter: gib dich endlich zufrieden:</div> - <div class="verse">die hohen Herrn, die dienen mir blos, um vorerst mein Eisen zu schmieden.</div> - <div class="verse">Nachher — — Was! die ganze Flasche schickt sie uns her?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(die Flasche auf den Tisch stellend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, die Jungfer scheint sehr entgegenkommend; sehr.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aha! sie will ihren Vormund mal wieder im stillen beschämen.</div> - <div class="verse">Jetzt soll sie’s aber merken: ich kann mich bezähmen!</div> - <div class="verse">Kein Schluck jetzt wird getrunken!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Hm —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">Nu ja —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft20">Ja, im Grunde</div> - <div class="verse">soll der Mensch sich beherrschen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Besonders mit dem Munde.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie denkt gewiß, weil ich manchmal Händel anfange;</div> - <div class="verse">und da ist ihr vor den fremden Stadtmenschen bange.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Oder vielleicht auch — hm — vor den Menschern.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft21">Wie?</div> - <div class="verse">Ach so! Nein, Schwarzer: ich bin kein solches Vieh.</div> - <div class="verse">Und sie kennt mich; wie Bruder und Schwester sich kennen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Könnt drum doch wohl so’n Fünkchen Eifersucht brennen.</div> - <div class="verse">Woher hast du sie eigentlich so als Mündel genommen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, woher? — Aus fernem Süden wohl ist sie gekommen.</div> - <div class="verse">Es war ein Abend wie heute. Da im Wald.</div> - <div class="verse">Ich suchte Vogelnester, war so zwölf dreizehn Jahre alt,</div> - <div class="verse">da hör ich auf einmal ein fremdländisch Lied erklingen;</div> - <div class="verse">rein als wollt mich ein Bergquell tief aus der Erde durchdringen.</div> - <div class="verse">Und wie ich mich leise im Moose näher stehle,</div> - <div class="verse">sitzt da ein klein braun Mädel in einer Höhle,</div> - <div class="verse">so klein noch, und barfuß, gewiß kaum sechs Jahr,</div> - <div class="verse">einen Kranz wilde Efeuranken im Haar,</div> - <div class="verse">und mit Augen, wie der Kuckuck fürwahr —</div> - <div class="verse">ja, so saß sie unter dem Felsenhang</div> - <div class="verse">und sang — und sang — —</div> - <div class="verse">Konnte anfangs kein deutsches Wörtchen sagen,</div> - <div class="verse">ließ sich nur ihren Namen, der hieß Lilith, abfragen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span> - <div class="verse">aber weil sie sang, wo sie ging und stand,</div> - <div class="verse">haben wir sie Lise Lied genannt;</div> - <div class="verse">bis sie schließlich ganz unsre Sprache angenommen</div> - <div class="verse">und vergessen hat, woher sie gekommen.</div> - <div class="verse">Und da mein Vater starb, eh daß sie großjährig war,</div> - <div class="verse">bin eben Ich jetzt ihr Vormund; bis zum neuen Jahr.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wird wahrscheinlich irgend ein verlaufen Zigeunerkind sein.</div> - <div class="verse">Ward sie denn getauft?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">O! reichlich! mit Wasser und mit Wein.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Da sollt man doch eigentlich eins drauf trinken.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hm. Ist Alles Gottesgabe.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Jawoll! pros’t Schinken:</div> - <div class="verse">jetzt wird gefastet! und wenn ihr noch so druckst!</div> - </div> - - <div class="regie">(Leise:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie steht nämlich hinter der Gardine und luchst;</div> - <div class="verse">ich kenn sie.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Scheint ja indertat recht schwesterlich aufzupassen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Je nun, ich muß sie doch im Haus schalten lassen;</div> - <div class="verse">hütet auch heute Nacht wieder allein das Nest.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So — sie geht nicht mit aufs Johannisfest?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein; sonst würd sie mir doch vielleicht das Geschäft verleiden.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So, so —</div> - </div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span></p> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(an der Flasche fingernd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">jo, jo —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Und wie willst denn Du dich verkleiden?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich geh einfach in Vaters Schäferhut-und-rock</div> - <div class="verse">und mit seinem langen Hirtenstock.</div> - <div class="verse">Hat nun manch Jahr schon still in der Ecke gestanden,</div> - <div class="verse">und strich früher wie’n Feldherrnstab hier herum in den Landen.</div> - <div class="verse">Ja: kannst mirs glauben: gern zieh ich auch nicht heraus</div> - <div class="verse">aus dem lieben alten Haus,</div> - <div class="verse">wo ich von Kind auf jeden Holzpflock drin kenne.</div> - <div class="verse">Aber wenn ich Morgen für Morgen zur Schicht auf die Zeche renne</div> - <div class="verse">und ich denk mir, wir solln hier ewig so hocken,</div> - <div class="verse">uns immer wieder denselben Alltagsbrei einbrocken —</div> - <div class="verse">denn ihr, was wollt <em class="gesperrt">ihr</em> denn? blos lüstern aufmucken</div> - <div class="verse">und euch dann untern öffentlichen Suppenlöffel ducken,</div> - <div class="verse">zu dem schon jetzt alle Ja und Amen nicken,</div> - <div class="verse">bis selbst die Bettelleute schließlich im Fett mitersticken —</div> - <div class="verse">hrr, dann fühl ich’s heiß mir durch jede Pore toben:</div> - <div class="verse">Luft!!! schenkt uns einen Krieg, ihr Herrn da oben!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er greift nach der Flasche, gießt sich das Glas voll und trinkt.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(sich bekreuzend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Josef-Maria, Krieg! Gevatter, das heißt Gott versuchen!</div> - <div class="verse">Mit Verlaub — (<span class="regie">er gießt sich gleichfalls ein</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ja, erlaube, Michel: du hast leicht fluchen.</div> - <div class="verse">Du bist noch jung, und kennst den Krieg nicht, und meinst voll Feuer,</div> - <div class="verse">er sei ’ne Art Welteroberungsabenteuer.</div> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Ist</em> er auch; und tät heute die Sturmtrommel schlagen</div> - <div class="verse">ich würd meine Knochen wieder mit auf die Schanze tragen;</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span> - <div class="verse">das steckt uns im Blut, uns Bestien. Ja, ’ne Wollust ist der Krieg,</div> - <div class="verse">verhilft unsern Raubtiergelüsten zum Sieg;</div> - <div class="verse">aber Glück, Michel, menschlich Glück schafft er keins.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Papperlapapp, Karl; ist dein Glück etwa meins?</div> - <div class="verse">Halt keine Volksreden, Roter! trink lieber eins!</div> - </div> - - <div class="regie">(Ihm einschänkend und dann mit Beiden anstoßend:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glück, das ist ein Wort wie’ne Fliegenfalle;</div> - <div class="verse">Glückauf! es lebe der Sirup für Alle!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie trinken.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(tritt lachend aus der Tür an die Hausecke):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wohl bekomm’s! — Ihr beherrscht euch aber lustig.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, du Kobold du! Seht ihr’s, da habt ihr’s, das wußt’ich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(tritt an den Gartentisch und nimmt die Flasche):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Will sie aber doch vor euch Selbstbeherrschern lieber verstecken.</div> - <div class="verse">Gute Nacht, ihr Herrn! und laßt’s euch schön langsam schmecken!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie geht wieder ins Haus.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Potz Kuckuck —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Glaub mirs, Michel: du kennst die Kriegswut schlecht.</div> - <div class="verse">Höchstens aus Notwehr ist sie ein Menschenrecht;</div> - <div class="verse">das sollte man nicht als ein Glücksspiel verkündigen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, bei den heiligen Nothelfern allen: das heißt sich versündigen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verspielst blos deine Kraft, wenn du immer so überschäumst</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und dabei den Zukunftsstaat versäumst —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Auch die Gegenwart, Michel. Glaub mirs: du träumst! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das kommt, wenn man sich dem ewigen Heil verschließt</div> - <div class="verse">und zuviel in den neuen Büchern liest.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nippt behutsam an seinem Glas.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, auch in den alten. Ich könnt euch manche Historie sagen,</div> - <div class="verse">wie sichs hier in Wahrheit einstmals hat zugetragen,</div> - <div class="verse">als unsre Väter im Herzgau von allen deutschen Landen</div> - <div class="verse">hier zwischen der Wartburg und dem Blocksberg ihr Seelenheil fanden,</div> - <div class="verse">zwischen dem Kyffhäuser und dem Hörselberg.</div> - <div class="verse">Damals ging’s Handeln noch nicht so überzwerch</div> - <div class="verse">mit Flausen und Klauseln und Staatsrücksichten wie heute;</div> - <div class="verse">damals <em class="gesperrt">vermochten</em> noch stracks die aufstrebsamen Leute,</div> - <div class="verse">mit der Faust oder Stirn ihren Hochsinn durchzudrücken,</div> - <div class="verse">sich selbst und allen Nachkommen zum Entzücken.</div> - <div class="verse">O, ich sag euch: hier so lesen von den glorreichen Zeiten,</div> - <div class="verse">und die Dämmrung beginnt aus den Schatten der Zweige zu gleiten,</div> - <div class="verse">daß die Buchstaben flimmern auf den vergilbten Seiten:</div> - <div class="verse">schier leibhaftig seh ich sie dann Gestalt annehmen</div> - <div class="verse">und einherschreiten, die gewaltigen Schemen,</div> - <div class="verse">die gewappneten Herren aus trutzigem Bauerngeschlechte,</div> - <div class="verse">die frommen Einsiedler, die klugen Schalksknechte,</div> - <div class="verse">mit ihren blinkenden Schwertern, Kruzifixen, Helmzierden, Drommeten,</div> - <div class="verse">gleich als wollten sie da aus dem Wald zu mir treten</div> - <div class="verse">und mit mir beten — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was! Hier? Gestalten? hier unter diesen Bäumen?</div> - <div class="verse">Nein, Gevatter Michael: es scheint wirklich, Sie träumen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nippt wieder ein Schlückchen.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na! dann seid ihr Beiden ja endlich einmal einig.</div> - <div class="verse">Und könnt austrinken! Es wird dunkel, mein’ich.</div> -</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist freilich Mondschein. Erstes Viertel, wie du siehst.</div> - <div class="verse">Aber wenn du meinst — und dich unsre Gesellschaft verdrießt —</div> -</div> - - <div class="regie">(Er trinkt aus.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, dann wollen wir wahrlich keine Zeit verlieren.</div> -</div> - - <div class="regie">(Er trinkt ebenfalls aus.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, ich mein blos: ich muß mich doch zum Fest ausstaffieren.</div> -</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(singt im Innern des Hauses, durchs Dachfenster sichtbar):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Willkommen, weißer Mond im Blauen,</div> - <div class="verse center">allein!</div> - <div class="verse center">Laß mich in Deine Heimat schauen,</div> - <div class="verse center">sei mein!</div> - <div class="verse center">Ich sitz im Dunkeln voll Geduld,</div> - <div class="verse center">du scheinst!</div> - <div class="verse center">O leuchte Jedem heim voll Huld,</div> - <div class="verse center">dereinst!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie schließt das Fenster.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meiner Seel! wenn sie singt, dann ist sie der reine Engel.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="regie">(aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, und winkt uns heim mit dem Tulpenstengel.</div> - </div> - - <div class="regie">(Im Haus wird Licht angesteckt, hinterm Dachfenster.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also, Michel, Glückauf; vielleicht siehst du mich noch um Mitternacht.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(gleichfalls aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Nu, es ist doch Maskenfreiheit angesagt</div> - <div class="verse">und jeder wahlberechtigte Bürger nebst Familie eingeladen;</div> - <div class="verse">da wirds ’nem alten Kriegsveteranen, denk ich, wohl auch nicht schaden.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Siehst du, Roter: das ist wacker! Wahrhaftig, das freut mich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Trotz dem Bergrat? — Na! ich will nicht hoffen, es reut dich.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er schüttelt ihm die Hand und geht langsam links ab.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich denk, ich komm auch.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">So.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Ja. Ich denk, es bringt Segen,</div> - <div class="verse">unsre alte ehrwürdige Knappentracht wieder mal anzulegen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schön; stolper nur niemand nicht übern Degen!</div> - <div class="verse">Glückauf, Gevatter! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Er winkt ihm Abschied und geht ins Haus; der schwarze Karl folgt - verdutzt dem roten.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Tyll Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(kommt von rechts aus dem Wald geschlichen, steigt über den Zaun -auf die Gartenbank und ruft gedämpft):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Immer vorwärts, gnädiger Herr! die Luft ist jetzt rein.</div> - <div class="verse">Nur das Jungfräulein wäscht sich im Kämmerlein.</div> - </div> - - <div class="regie">(Auch unten im Haus wird ein Fenster hell.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaiser Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(tritt aus dem Wald, in goldner Rüstung, mit geschlossnem Visier, -sodaß nur sein langer Bart sichtbar ist):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hüt dich, Schalk: sie hat Augen, hurtig wie Eidechsen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der getreue Eckart</em></div> - - <div class="regie">(in schwarzer Kutte mit hohem Kreuzstab, die Kapuze tief ins -Gesicht gezogen, sodaß nur sein weißer Bart hervorguckt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und könnt dich leicht wie den braven Michael behexen.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, der Michel, der ist gänzlich in sich selber versunken.</div> - <div class="verse">Seht: er hat nicht mal sein Glas ausgetrunken.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(zu Eckart):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie stellen wirs an, Getreuer, ihm zu erscheinen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(von der Bank springend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hopp! wir erscheinen eben. Das genügt, sollt ich meinen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mir deucht, gnädiger Herr, der Schalk rät gut.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(nach dem unteren Fenster deutend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Seht: er ist ganz behext von — dem alten Schäferhut.</div> - <div class="verse">Ach, er küßt ihn — (<span class="regie">ahmt den Kuß ulkig nach</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Darüber soll man nicht lachen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nun, dann werd ich uns mal ernstlich bemerkbar machen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er klappt mit der Pritsche an die Scheibe und klingelt dazu mit -einer Schelle, die am linken Zipfel seiner Gugelkappe hängt; -dieser Zipfel ist so lang, daß Eulenspiegel die Schelle in die -Gürteltasche stecken kann, damit sie nicht von selbst klingelt, -sondern nur wenn er sie herausnimmt.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel Michael</em></div> - - <div class="regie">(tritt in Schäfertracht auf die Schwelle, in blauem Rock und grauem -Mantel, eine brennende Kerze in der Hand, sodaß die Scheibe nun -dunkel ist):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wer klopft so spät und dringlich an meinem Fenster?</div> - <div class="verse">Wer sind die Herren —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(wie ein Standbild aufs Schwert gestemmt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Gestalten —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Gestalten —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">(<span class="regie">mit Verbeugung</span>): sozusagen Gespenster.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Herren scheinen sehr spaßhaft gelaunt. Ich vermute,</div> - <div class="verse">Sie wollen in die Stadt</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">mit dir auf die Maskenredute;</div> - <div class="verse">wenn du uns den Weg zeigen willst. Denn merke dir:</div> - <div class="verse">mit Gespenstern spricht man per Du und Ihr.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir kommen, Michel Michael, um dich aus deinem Unmut zu reißen;</div> - <div class="verse">ich vom Hörselberg, der getreue Eckart geheißen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich habe bislang im Kyffhäuser meinen Rotbart beglotzt;</div> - <div class="verse">nun hat mich dein Wagmut endlich heraufgetrotzt.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich brauch mich, Vetter Michel, wohl nicht vorzustelln.</div> - <div class="verse">Ich bin überallher und starb bekanntlich in Mölln.</div> - </div> - - <div class="regie">(Das Dachfenster wird plötzlich dunkel.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weiß also nirgends mehr auf dieser Erde Bescheid,</div> - <div class="verse">aber desto gründlicher in der Ewigkeit.</div> - </div> - - <div class="regie">(<em class="gesperrt">Lise</em> kommt die Flurtreppe herab, wie früher gekleidet, doch -ohne Schürze; tritt unbemerkt hinter Michel.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Willst du uns nun, hier wo sich die Wege verzweigen,</div> - <div class="verse">die rechte Richtung durchs nächtliche Vaterland zeigen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">so wollen wir’s lohnen und dir zum guten Gelingen</div> - <div class="verse">deines gewagten Geschäftes beispringen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">zum Verkauf deines Hauses —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Wie?? Ihr wißt??</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Daß der Herr Michael heute durchaus kein Träumer mehr ist.</div> - </div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span></p> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Brauchst nicht starrstehn, als stünd hier der Antichrist;</div> - <div class="verse">wir haben nur im Wald da vorhin ein wenig gelauscht.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel, tu’s nicht! Stehst ja jetzt schon wie ausgetauscht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was! du bist noch auf, Lise?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Soll wohl mit dir um die Wette träumen?</div> - <div class="verse">Ich muß doch noch euer Teufelsgeschirr da beiseite räumen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie will an ihm vorbei in den Garten.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(ihr zuvorkommend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Auf Ihr Wohl, mein frommes Fräulein, den teuflischen Rest!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er spritzt ihn hoch in die Luft und überreicht ihr die Gläser.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dürfen wir hoffen, Sie wallfahrten auch mit aufs Fest?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Danke. Hab keine Lust. (<span class="regie">Leise</span>) Ich bitt dich, Michel, tu’s nicht!</div> - <div class="verse">Was sind das für Leute?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(durch die hohle Hand):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Lockspitzel fürs Jüngste Gericht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(noch leiser):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sind wohl Grubenbesitzer aus dem Nachbarkreis.</div> - <div class="verse ">Sei friedlich, Lise!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(ihm den Leuchter abnehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Ist mancher friedloser, als er weiß — —</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie geht mit den Gläsern und dem Licht ins Haus; ein andres -Fenster als vorher wird hell.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Entschuldigen die Herrn: sie kommt wenig unter Leute,</div> - <div class="verse">mein Mündel. Und ist voller Unruh heute.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(nach links zeigend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das dort unten, der Lichterhaufen, das ist wohl die Stadt?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, Herr. Nicht wahr: was das einen Andrang nach oben hat!</div> - <div class="verse">Wie die Glanzpunkte einander immer übersteigen,</div> - <div class="verse">überflügeln, und doch sich zusammentun zum Reigen;</div> - <div class="verse">rein als möcht sich der Erdkreis da selber von Grund aus beschwingen,</div> - <div class="verse">immer heller hinauf in den dunkeln Weltkreis zu dringen</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(pathetisch):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und nachher kopfüber wieder herunter zu springen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Der Eulenspiegel hat dir nur andeuten wollen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">daß es nun wohl Zeit sei, uns langsam hinunter zu trollen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja so! Ja. (<span class="regie">Ins Haus rufend</span>) Lise! bring mir mal Vaters Stock,</div> - <div class="verse">den langen! — Ich hoffe, mein schlichter alter Rock</div> - <div class="verse">paßt zu den Herren Gespenstern nicht schlecht amende?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vortrefflich, Vetter! Besonders (<span class="regie">leise</span>) zu meinem nagelneuen Hemde.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier, Michel.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(den Stock nehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">So! — Jetzt, ihr Herrn, sollt ihr sehn,</div> - <div class="verse">ob der Michel versteht, durchs nächtliche Deutschland zu gehn</div> - <div class="verse">und bis Tagesanbruch sein festlich Geschäft zu vollbringen</div> - <div class="verse">und auch ohne euern Beistand</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">einen Rausch zu erringen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ei, gestrenges Fräulein, im Rausch wird die Herzenslust rege.</div> - <div class="verse">Gute Nacht! Ich gönn euch ein rauschend Herz allerwege.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er verneigt sich und schreitet linkshin davon.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(ihm folgend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich schenk euch alles Rauschgold droben im Blauen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="regie">(ebenso):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich wünsch euch, allen himmlischen Festrausch zu schauen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(ihnen nachrufend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und ich euch ein höllisches Morgengrauen! —</div> - <div class="verse">Ach, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Gute Nacht, du ewige Unruh du.</div> - <div class="verse">Geh schön schlafen. Und schließ die Haustür hübsch zu.</div> - <div class="verse">Wirst schon sehn, ich sorge für dich aufs väterlich beste;</div> - <div class="verse">und übers Jahr kannst du auch mit auf solche Feste.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wirklich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ja wirklich, du. Aber jetzt laß mich gehn;</div> - <div class="verse">horch, man hört schon Musik herüberwehn —</div> - </div> - - <div class="regie">(eine ferne leise Walzermusik tönt bis zum Schluß des Aktes fort) —</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und die Herren da warten, es ist höchste Zeit.</div> - <div class="verse">Also leg dich aufs Ohr und träum dir ein fein neu Kleid.</div> - </div> - - <div class="regie">(Indem er den Andern nacheilt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und schick deine Mucken heim, du! da auf die Mondsichel,</div> - <div class="verse">du dumme Lise — (<span class="regie">er verschwindet</span>) —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(ihm mit beiden Händen einen Kuß nachwerfend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Du dummer Michel! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie huscht ins Haus, löscht das Licht, kommt gleich darauf wieder, -in einen langen schwarzen Schleier gehüllt, ein silbernes Diadem -mit flimmerndem Stern auf dem Haar, einen langen silbernen Stab -in der Hand, der oben wie eine Wünschelrute gespalten ist, und -verschließt die vom Mond beglänzte Tür. Dann sich reckend:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O ja, ich schließ zu. Und den Schlüssel, (<span class="regie">ihn hebend</span>) den sollst du erst finden,</div> - </div> - - <div class="regie">(ihn ins Mieder steckend)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">wenn dir die Sinne vor Unruh um mich schwinden,</div> - <div class="verse">du Väterlicher! — Ja: berausch dich nur gut,</div> - <div class="verse">du Lieber! Ich fühl’s, was dir braust im Blut.</div> - <div class="verse">Ich folg dir, ich halt dich im Heimatland —</div> - <div class="verse">O, er weiß noch, wie er sein Findelkind fand!</div> - <div class="verse">wie’s ihn durchdrang, durchdrang, Herz, als er mich sah:</div> - <div class="verse">wie ein Bergquell tief aus der Erde —</div> - <div class="verse mleft6">(<span class="regie">in Gesang ausbrechend</span>) ja —:</div> - <div class="verse">so saß ich unter dem Felsenhang —</div> - </div> - - <div class="regie">(linkshin davonschreitend, während der Vorhang sich schließt)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und sang — und sang — —</div> - </div> - - <div class="person"><span class="s4">*</span></div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div> - - <div class="regie">(tritt aus dem Mittelspalt des Vorhangs, klingelt mit seinem -Schellenzipfel):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meine Herrschaften, das Fest ist in vollem Schwung;</div> - <div class="verse">selbstverständlich mit polizeilicher Genehmigung.</div> - <div class="verse">Die ganze Stadt schwebt auf dem Gipfel der Seligkeit;</div> - <div class="verse">einschließlich der beiderseitigen Geistlichkeit.</div> - <div class="verse">Jeder darf sich also, ohne irgend eine Pflicht zu entheiligen,</div> - <div class="verse">an der allgemeinen Begeisterung voll-und-ganz beteiligen.</div> - <div class="verse">Das soll nicht etwa heißen, ich buhle um Ihre Gunst;</div> - <div class="verse">sondern blos mein Herr, der Dichter, betreibt diese schändliche Kunst.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span> - <div class="verse">Er betreibt sie leider mit höchst wohlgeziemenden Mitteln</div> - </div> - - <div class="regie">(das Gestampf einer Maschine wird hörbar)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und ist fest überzeugt, Sie finden nichts dran zu kritteln;</div> - <div class="verse">wie Sie hören, sogar mit Dampfkraft und Elektrizität,</div> - <div class="verse">weils ohne diese Errungenschaften heut nicht mehr geht.</div> - <div class="verse">Dennoch muß ich sagen</div> - </div> - - <div class="regie">(eine laut schnarrende Stimme hinterm Vorhang wird hörbar)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">— na aber! das wird denn doch zu kräftig;</div> - <div class="verse">ich bitte um Ruhe dadrinne! Hee! Sie begeistern sich zu heftig!</div> - <div class="verse">Heda, Ruhe! oder ich ruf die Regie!</div> - <div class="verse">Ich bin ein Gespenst, ich kann nicht so schrein wie Sie,</div> - </div> - - <div class="regie">(er schreit immer stärker)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie rattern ja lauter als die Dynamomaschine;</div> - <div class="verse">bitte schließen Sie gefälligst Ihre Phrasenterrine! —</div> - <div class="verse">Sie! hören Sie nicht? jetzt habe Ich das Wort! —</div> - <div class="verse">Er hört nicht. Er rattert ruhig fort.</div> - <div class="verse">Ich fürchte, über solchen voll-und-ganzen Begeisterungston</div> - <div class="verse">verfügt nur eine wirkliche neuhochdeutsche Regierungsperson;</div> - <div class="verse">jeder andre Geist krigte davon den Schlucken.</div> - <div class="verse">Da muß ich braves altdeutsches Gespenst mich wohl ducken</div> - </div> - - <div class="regie">(er tut es)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und ehrerbietigst das Mundwerk der hohen Behörde enthüllen,</div> - <div class="verse">damit Sie auch lernen, so begeistert zu brüllen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er schiebt geduckt den Vorhang linkshin auf und verkriecht sich im -Vordergrund der Bühne.)</div> - - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 class="padtop1" id="Zweiter_Aufzug">Zweiter Aufzug</h4> - -</div> - -<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: Eine Gartenwirtschaft mit elektrischen Ampeln, -bunt voller Leute in Maskenkostümen, doch herrscht die schwarze -Farbe vor. Im Hintergrund ein erleuchteter Tanzsaal. Rechts ein -Laubengang mit Tischen und Stühlen, die grün und weiß gestrichen -sind; auf dem vordersten Tisch ein weißes Tischtuch und ein Schild -mit der Aufschrift „Reserviert!“ Links unter Bäumen ein langer -Tisch, an dessen hinterem Ende der schnarrende <em class="gesperrt">Landrat</em> -steht, mit aufgedrehten Schnauzbartspitzen, in schwarzer Halbmaske, -Frack und Domino. An den Seiten dieses Tisches sitzen der -<em class="gesperrt">Bergrat</em> und der <em class="gesperrt">Bürgermeister</em>, ähnlich maskiert, nur -mit anderen Bärten, der Bergrat mit dunkelm spanischen Spitzbart, -der Bürgermeister mit grauem Tintenwischer-Schnurrbart; dann die -<em class="gesperrt">Frau Bürgermeisterin</em> und andre Damen in farbigen<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span> Masken, -ein <em class="gesperrt">Kaplan</em> und ein <em class="gesperrt">Pastor</em> unmaskiert, der <em class="gesperrt">schwarze -Karl</em> in Bergknappentracht mit Hornbrille, ihm gegenüber -<em class="gesperrt">Michel Michael</em> ohne Maske, an der linken Ecke vorn. Die -Honoratioren tragen Zylinderhüte; nur der Kaplan hat flachen -Seidenhut. Hinter Michel stehen wie Wachtposten der <em class="gesperrt">Kaiser -Rotbart</em> und der <em class="gesperrt">getreue Eckart</em>, immer mit geschlossnem -Visier und Kapuze; und <em class="gesperrt">Eulenspiegel</em> hat sich zu seinen -Füßen unter die Tischplatte gehockt. In der Mitte der Bühne ein -Lindenbaum, hinter dessen Stamm <em class="gesperrt">Lise Lied</em> verborgen steht; -davor eine grün und weiß gestrichene grade Bank ohne Lehne. -Ringsherum maskiertes Volk; darunter auch Kinder.)</p> - -<div class="poetry-container padtop1"> - <div class="poetry"> - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(immer lauter schnarrend, um das Gestampf der Maschine zu - übertönen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und demnach, da Sie merken -ä- bin zwar in Maske erschienen,</div> - <div class="verse">aber -ä- unverkennbar: Ihr Landrat redet zu Ihnen —</div> - <div class="verse">demnach, sag’ich, will ich hier -ä- in Ihrer festlichen Mitte,</div> - <div class="verse">wo uns Alle nach guter, echter, alter Sitte</div> - <div class="verse">sozusagen die brüderlichsten -äh- Gefühle beseelen,</div> - <div class="verse">will ich, sag’ich, Jedem väterlichst anempfehlen,</div> - <div class="verse">trotz allen, wie Schiller sagt, feindlichen Gewalten</div> - <div class="verse">unentwegt unsre heiligsten Güter -ä- hochzuhalten.</div> - <div class="verse">Und diese -ä- Gefühle — Gefühle, sag’ich — sollen uns auch geleiten,</div> - <div class="verse">wenn wir in diesen unverzeihlich vaterlandslosen Zeiten</div> - <div class="verse">demnächst, meine Herrn, wie Sie wissen, zur Wahlurne schreiten.</div> - <div class="verse">Also, meine Herrn -äh- und Damen, wolln wir uns jetzt von den Stühlen</div> - <div class="verse">zum Zeichen von unsern -ä- unsern -äh-</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(über den Tischrand weg):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">Hochgefühlen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">jawohl: von unsern vaterländischen Hochgefühlen —</div> - <div class="verse">wollen wir uns, sag’ich, jetzt mit unsern Gläsern erheben:</div> - <div class="verse">unser allverehrter Reichstagskandidat, der Herr Bergrat, er soll leben! hoch!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Chorgesang mit Musik</em></div> - - <div class="regie">(während der Landrat dem Bergrat die Hand schüttelt und Alle -anstoßen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!</div> - </div> - - <div class="regie">(Dann noch immer das Geräusch der Maschine.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreizrudiment! da <em class="gesperrt">muß</em> ja’s Trommelfell reißen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Nach hinten schreiend:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Kerls, die Heizer, sollen die Tür zuschmeißen!</div> - <div class="verse">Heda!!! Tür zu, sag’ ich! Sofort den Kesselraum schließen! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Man hört eine eiserne Tür zuklappen; das stampfende Geräusch -verstummt.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bande! Frechheit! Da soll man nu Volksfest genießen.</div> - <div class="verse">Unerhört! verstand kaum mein eigen Wort.</div> - <div class="verse">Tun’s selbstredend extra, diese Sozi, uns hier zum Tort.</div> - <div class="verse">Mußte schrein, daß mir jetzt noch’s Trommelfell klirrt.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach bitte, Herr Bürgermeister, Sie sorgen wohl gütigst beim Wirt,</div> - <div class="verse">daß uns die Lichtmaschine, bitte, nicht wieder stört.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mit Vergnügen, Herr Bergrat.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Ja! bin wirklich empört!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er soll den Heizern ein Achtel Pilsner auflegen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gern, Herr Bergrat.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er entfernt sich mit der Volksmenge nach dem Tanzsaal.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Pros’t, Herr Corpsbruder! meinen volksfreundlichsten Segen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er trinkt dem Bergrat zu.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Diese Rasselbande! diese roten Radaugesellen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(hat wieder Platz genommen, stampft seine Weinflasche auf den -Tisch):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mit Verlaub! Indessen: von wegen den Trommelfellen —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(etwas schwerhörig):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Äh —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(unterm Tisch hervor):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Trommelfellen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">so im Kesselraum schuften, ist <em class="gesperrt">auch</em> kein Volksvergnügen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Volksvergnügen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Volksvergnügen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bravo, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Frau Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="regie">(auffällig bunt kostümiert, lorgnettierend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Entzückende Gruppe!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Gottvoll!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">Verfluchtige Lügen!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em> (<span class="regie">Fistel</span>) und <em class="gesperrt">Eckart</em> (<span class="regie">Baß</span>):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Lügen! <span class="mleft6">Lügen!</span></div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(Baryton):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Man soll nicht meinen, ihr Leute, man könne den Michel betrügen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="regie">(während die Andern lachen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, wie reizend!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Köstlich!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Wie echt gemacht! So natürlich!</div> - <div class="verse">so romantisch! so richtig sagenfigürlich!</div> - <div class="verse">nicht wahr, Herr Pastor?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em></div> - - <div class="regie">(in schwarzem Gehrock, zugeknöpft, wohlbeleibt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">In der Tat, Frau Bürgermeisterin;</div> - <div class="verse">ein Maskenscherz mit tiefem evangelischen Sinn.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="regie">(in schwarzer Sutane, noch beleibter):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Man könnte, Herr Amtsbruder, eher wohl katholischen sagen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also, meine Damen und Herrn, erlaub’ich mir vorzuschlagen,</div> - <div class="verse">weil der biedre Zecher da Michel Michael heißt</div> - <div class="verse">und offenbar erfüllt ist von wahrhaft volkstümlichem Geist:</div> - <div class="verse">wir erteilen nachher dem deutschen Michel nebst Geisterbegleitung</div> - <div class="verse">den Maskenpreis!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Alle</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Bravo!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(aufstehend und klingelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Und setzen’s in die Zeitung!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Selbstredend!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(sich vor ihm verbeugend und weiterklingelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Es lebe die hochwohlweisliche Volksfestleitung! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Im Saal fängt gedämpfte Tanzmusik an.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(ist gleichfalls aufgestanden):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Herr Bergrat spaßen sehr gütig; ja; und ich danke auch sehr.</div> - <div class="verse">Aber, wie Herr Bergrat wissen, kam ich eigentlich her,</div> - <div class="verse">um mein Haus —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div> - - <div class="regie">(während Lise Lied hinter dem Baum hervorschaut)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Haus — <span class="mleft5">Haus —</span></div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="regie">(die Vertragspapiere aus der Brusttasche holend)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Hier — ich bin so frei —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schon gut, lieber Michel; gewiß, kommt auch an die Reih.</div> - <div class="verse">Jetzt muß ich erst tanzen gehn.</div> - </div> - - <div class="regie">(Zur Bürgermeisterin:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Gnädige Frau, darf ich bitten! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Verschiedene Paare, auch der Landrat mit einer Dame, ab nach dem -Saal.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(die Papiere einsteckend und sich wieder setzend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verdammte, verquere, katzenfreundliche Sitten!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er stürzt ein Glas Wein hinunter.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Ja, Sitten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Sitten! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="regie">(hat bis dahin mit dem Kaplan getuschelt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gratuliere, Freund Gevatter; scheinst hier recht wohlgelitten.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Halt’s Maul!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(ganz hervortretend, dicht verschleiert, mit verstellter Stimme):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Michel Michael, laß dich zum ersten Mal warnen!</div> - <div class="verse">schon beginnt der Stadtrausch deinen Geist zu umgarnen.</div> - <div class="verse">Ich bin deine Glücksfee; bang von fern komm ich her,</div> - <div class="verse">von den Sternen, durch die Nacht, übers gründunkle Meer,</div> - <div class="verse">meinen Wünschelstab in bebender Hand,</div> - <div class="verse">flüchtigen Fußes von Land zu Land,</div> - <div class="verse">durch den Wald deiner Kindheit bin ich gegangen,</div> - <div class="verse">in den Schooß der Berge trieb mich dein Glückverlangen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span> - <div class="verse">bis zum Hörselgrund tief, wo Frau Venus wacht</div> - <div class="verse">und den feurigen Quell der Jugendträume entfacht —</div> - <div class="verse">Michel Michael, jetzt durch meinen Mund</div> - <div class="verse">tut dir die ewige Göttin kund:</div> - <div class="verse">du sollst deiner lieben Heimat nicht untreu werden,</div> - <div class="verse">damit du kein Flüchtling wirst auf Erden.</div> - <div class="verse">Lebe wohl!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Halt, Flüchtling!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Halt, edle Fee! Nicht so schnell!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er läuft ihr nach; sie verschwinden im Hintergrund rechts.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du scheinst wahrlich kein Flüchtling, Glücksvogel Michael!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach was, Maskenschnack! Lachhaft! Lauter Alfanzerein!</div> - <div class="verse">Hee, Bedienung!</div> - </div> - - <div class="regie">(Ein altdeutsch gekleideter Kellner erscheint und bringt auf seinen -Wink eine neue Flasche.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Wer mag’s wohl gewesen sein?</div> - <div class="verse">Die Jungfer Lise?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Schnack, sag’ich! Die liegt zu Hause im Bett!</div> - <div class="verse">Verstanden?! — Höchstens etwa, daß sie ’ne <em class="gesperrt">Freundin</em> hätt</div> - <div class="verse">und läßt ihrem Vormund heimlich so’n kleinen Stupps aufschwenken;</div> - <div class="verse">braucht drum Niemand nichts Schlechtes von ihr zu denken!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel Michael, hüt dich vor des Hörselbergs Ränken!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, ich meine auch —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">wie??</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">das heißt, natürlich nur so im Allgemeinen;</div> - <div class="verse">die bösesten Weibsbilder sind, die die besten scheinen.</div> - <div class="verse">So zum Beispiel der Bergrat und die Frau Bürgermeistern.</div> - <div class="verse">Da hilft kein Vertuschen mehr, kein Verkleistern;</div> - <div class="verse">rein schon öffentlich tut sie’s ja mit ihm treiben.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meinethalben! Man soll mir mit Stadtklatsch vom Halse bleiben!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wohlgesprochen, mein Sohn. Jedoch, in dem städtischen Sündenschwarm</div> - <div class="verse">braucht der Mensch eines Schutzpatrons starken Arm;</div> - <div class="verse">du hast ihn schon lange nicht mehr im Beichtstuhl erprobt.</div> - <div class="verse">Wirst hoffentlich trotzdem, wenn nun die Wahlschlacht tobt,</div> - <div class="verse">wissen den rechten Schild hochzuhalten.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zu Gnaden, Ehrwürden; ich lass den alten Gott walten.</div> - <div class="verse">Obgleich ich, verzeihn Sie, in meinem einfältigen Sinn</div> - <div class="verse">eigentlich mehr für die Protestanten bin.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em></div> - - <div class="regie">(gleichfalls aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ein männliches Wort, lieber Freund! Und ich darf wohl hoffen,</div> - <div class="verse">Sie wissen, auch unser Arm steht der christlichen Einfalt offen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Viel Ehre, Herr Pfarrer. Indeß, um Sie nicht zu vexieren:</div> - <div class="verse">ich bin überhaupt fürs Protestieren.</div> - <div class="verse">Wenn ich wählen <em class="gesperrt">müßt</em> zwischen Pastor und Kaplan,</div> - <div class="verse">wär ich doch wohl lieber dem — Stärkeren untertan.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er verbeugt sich schwerfällig, dreht ihnen den Rücken und -setzt sich ans andre Ende des Tisches; der <em class="gesperrt">Rotbart</em> und -<em class="gesperrt">Eckart</em> folgen ihm, seine Flasche und sein Glas nachtragend.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em></div> - - <div class="regie">(zum Kaplan, der ebenfalls aufgestanden ist):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hm. Wer <em class="gesperrt">ist</em> nun der Stärkere von uns Beiden?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="regie">(die Hände über den Bauch faltend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich schätze, Herr Collega, wir lassen’s vom Publiko entscheiden.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Tanzmusik im Saal hört auf.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(zurückkommend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vetter Michel, ich habe den ganzen Stadtpark durch-und-durchgekuckt:</div> - <div class="verse">deine Glücksfee scheint von der Hölle verschluckt.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Wahr dich, Schalk! daß der Michel nicht Flammen spuckt! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Währenddem kommt Maskengewühl aus dem Saal. Voran der -<em class="gesperrt">Bergrat</em> und der <em class="gesperrt">Landrat</em>, hinter ihnen her der Kellner -mit Sektkübel und Würfelbecher, zu dem reservierten Tisch hin im -Vordergrund rechts.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(sich mit dem Taschentuch fächelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreiz! Doller Fez! Bewundre Sie. Ohne zu schmeicheln.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, man lernt allmählich die Volkstatze streicheln.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, ich danke!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(hat sich durch die Leute nach vorn gedrängt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Herr Bergrat — wenn Sie jetzt — ich will nicht behelligen —</div> - <div class="verse">aber solche Unterschrift ist doch leicht zu bewerkstelligen —</div> - <div class="verse">da Sie doch geneigt —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Aber bester Michael,</div> - <div class="verse">Sie benehmen sich wirklich etwas auffällig schnell.</div> - <div class="verse">Hat doch Zeit bis morgen.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Morgen muß ich arbeiten gehn!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(den Würfelbecher nehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, dann nachher! Jetzt bin ich beschäftigt, wie Sie sehn.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich — seh — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(erscheint im Hintergrund):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Michel Michael, ich warn dich zum zweiten Mal —</div> - <div class="verse">horch: schon singen die Bergleut ein Spottlied im Saal —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Sprechgesang</em></div> - - <div class="regie">(auch Kinderstimmen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Der deutsche Michel, der hat sich verlaufen;</div> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - <div class="verse center">Er will sein Haus an die Stadtleut verkaufen;</div> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Ein Zug maskierter Bergknappen</em></div> - - <div class="regie">(kommt weitersingend aus dem Saal, geführt vom <em class="gesperrt">roten Karl</em>, -der als Militär-Invalide maskiert ist, und begleitet von Kindern in -blaugrauen Koboldtrachten mit Zippelmützen und weißen Bärten):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">O Michel, die Stadt hat ein Herz von Stein,</div> - <div class="verse center">bald wirst du ein steinreiches Schindluder sein;</div> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Drum, aus der Berge feurigem Herzensgrund,</div> - <div class="verse">tut die Herrin der Zukunftsträume dir kund:</div> - <div class="verse">Du sollst deine herzwarmen Augen heller aufmachen,</div> - <div class="verse">dann wirst du zum goldensten Traum erwachen.</div> - <div class="verse">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie verschwindet.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="regie">(seine Mütze abziehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ein alter Kriegsveteran, der um ein Almosen bettelt —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ah, roter Karl! <em class="gesperrt">Du</em> hast das angezettelt?!</div> - <div class="verse">Ich sag dir: hüt dich! ich kenn dich! scher dich um Deine Sachen!</div> - <div class="verse">der Michel läßt sich von <em class="gesperrt">niemand</em> zum Popanz machen!</div> - <div class="verse">Merk dirs! Sonst: hier: bei meines Vaters Stock —</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Maschine stampft plötzlich wieder los)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(den Würfelbecher aufstampfend und sich die Ohren zuhaltend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Kreizrudiment —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">man stopp —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Dumpfe Stimmen im Hintergrund</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">man stopp! man stopp! man stopp!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Platz da, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Platz! sonst gibts Flecke am Rock!</div> - </div> - - <div class="regie">(<em class="gesperrt">Drei Maschinenheizer</em>, rußgeschwärzt, kommen mit -geschulterten Schaufeln im Marschtritt nach vorn; Eulenspiegel -klappt mit der Pritsche den Takt dazu.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Stopp! — (<span class="regie">Zum Bergrat</span>:) Euer Hochwohlgeboren haben die Gnade gehabt</div> - <div class="verse">und uns mit einer Erfrischung</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">soufflierend</span>): kleinen Erfrischung</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">kleinen Erfrischung gelabt.</div> - <div class="verse">Euer Hochwohlgeboren, wir danken Ihnen sehr</div> - <div class="verse">und melden</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">wie vorher</span>): gehorsamst</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">gehorsamst: das Achtel ist bald leer.</div> - <div class="verse">Euer Hochwohlgeboren wissen, die Nacht ist noch lang,</div> - <div class="verse">und wir halten</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">ergebenst</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">ergebenst die Beleuchtung in Gang.</div> - <div class="verse">Euer Hochwohlgeboren, wir möchten</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">mit unter</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center mleft11">mit untertänigstem Respekt</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">mal probieren</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Alle drei Heizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">mal probieren, ob auch Sekt uns schmeckt!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(vor sich hin):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Kreuzschwerebrett —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(aufstehend, räuspernd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Leute! Hört mal —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(steigt hinten auf einen Stuhl und klingelt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Hört, hört!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich bitte doch dringend, daß man den Geist des Festes nicht stört!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(nochmals klingelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich schließe mich dringend dem verehrten Herrn Vorredner an</div> - <div class="verse">und verordne somit strengstens, so geisterhaft ich kann,</div> - <div class="verse">auf Geheiß Seiner Allerhöchstgeistigen Majestät</div> - <div class="verse">des weiland Kaisers Rotbart, weil er hier auf Gebet</div> - <div class="verse">des annoch deutschen Michels auferstanden steht</div> - <div class="verse">im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität,</div> - <div class="verse">und weils ohne diese Errungenschaften nicht geht</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="regie">(mit Grabesstimme):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">in euerm erleuchteten Jahrhundert —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(mit Donnerstimme):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">über das er sich ungeheuer wundert —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">so verordnet er hiermit den Anstiftern der Beleuchtung</div> - <div class="verse">zur weiteren nächtlichen Kesselraumbefeuchtung</div> - <div class="verse">aus seiner johannisfestlichen Kellerei</div> - <div class="verse">unter Aufsicht der hochwohlwürdigen Geisterpolizei</div> - <div class="verse">einen Korb Henkell-trocken —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Ha! Hurra! Bravo! Hei!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir werden unverzüglich die nötigen Amtsbefehle geben.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er springt vom Stuhl und läuft nach dem Saal.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergknappen</em></div> - - <div class="regie">(während Michel sich auf den leeren Stuhl setzt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hurra! hoch! der deutsche Michel soll leben!</div> - <div class="verse">leben! leben! und Kaiser Rotbart daneben! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(während die Heizer und Knappen mit dem roten Karl nach links -abmarschieren):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schwerebrett, Herr Corpsbruder! war ja ’ne nette Bescherung.</div> - <div class="verse">Na, pros’t! Immerhin sozusagen ’ne soziale Belehrung.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie stoßen an und trinken Rest; zugleich klappt wieder die eiserne -Tür, und das Geräusch der Maschine hört auf.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wird der Michelspaß nicht amende bedenklich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Unbesorgt. Der Mann ist absolut unverfänglich;</div> - <div class="verse">hat sicher mit dem kleinen Putsch nichts zu tun.</div> - <div class="verse">Etwas Dickkopf, aber sonst ein gemütliches Huhn;</div> - <div class="verse">will mir blos partout sein bißchen Grundstück beibiegen.</div> - <div class="verse">Ist auch preiswert; und wie die Chancen liegen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span> - <div class="verse">müßt ich ihn sowieso bald aus seiner Waldbude schassen.</div> - <div class="verse">Wollt ihn blos noch ’ne Zeitlang zappeln lassen;</div> - <div class="verse">Sie verstehn.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Vollkommen. Blos diese -ä- Geistergestalten,</div> - <div class="verse">die uns da eben die noble -ä- Abfuhr aufknallten —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, sonderbarer Scherz.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Schon mehr Impertinenz.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(während die Tanzmusik wieder anfängt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vermutlich Herren von der linksseitigen Konkurrenz;</div> - <div class="verse">scheint mir ratsam, hier niemand zur Entlarvung zu zwingen: —</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie stehen auf, um sich nach dem Saal zu begeben.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(vom Maschinenhaus zurückkommend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gnädiger Herr, ich habe zu hinterbringen:</div> - </div> - - <div class="regie">(mit Trinkgeberde)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">der kaiserliche Geist beginnt schon ins Volk zu dringen.</div> - <div class="verse">Held Michel, halt dich zum Hurraschrein bereit!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(steht brüsk auf, ein wenig schwankend, und steuert zu dem Bergrat -hin):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Um Verzeihung, Herr Rat — in aller Bescheidenheit —</div> - <div class="verse">aber es könnt sonst sein, Herr Rat, das Geschäft wird mir leid; —</div> - <div class="verse">den Bittsteller machen, fällt mir von Hause aus schwer —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div> - - <div class="regie">(sind ihm nachgeschritten):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">schwer — schwer —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So! Seh einer! — Na! Dann geben Sie mal her.</div> - <div class="verse">Pardon, Herr Corpsbruder.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Bitte. (<span class="regie">Ab zum Saal.</span>)</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(die Vertragspapiere überreichend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Hier — zu dienen, Herr Rat —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(aus dem Laubengang tretend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel Michael, hör mich! Zum dritten Mal naht</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ruhe!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Holla, die Glücksfee! Halt, Göttin, halt!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er setzt ihr nach; sie verschwinden beide.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verzeihung, Herr Bergrat; sie drängt sich mit Gewalt</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wohl ein Schatz?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Gott bewahre, Herr Bergrat; nein, keine Spur.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(sich wieder an den reservierten Tisch setzend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wär doch keine Schande, Mann; delikate Figur! —</div> - <div class="verse">Na, nehmen Sie Platz —</div> - </div> - - <div class="regie">(die Papiere aufmachend und seinen Füllfederhalter herauslangend)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">aber Eins, mein Lieber, schick ich voraus:</div> - <div class="verse">Sie müssen nicht denken, Sie wären der Herr im Haus.</div> - <div class="verse">Ihre Scholle ist uns auf alle Fälle verfallen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie??</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Nun: wenn wir den Luftschacht etwas mehr seitwärts verstallen</div> - <div class="verse">und legen ’ne Schutthalde vor Ihre Tür,</div> - <div class="verse">dann gibt kein Mensch mehr ’ne Schippe Kooks dafür.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, aber —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div> - - <div class="regie">(wieder hinter ihm Wache stehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">aber! — aber! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Da gibt’s nichts zu abern leider.</div> - <div class="verse">Im Übrigen bin ich kein Halsabschneider.</div> - <div class="verse">Kellner, noch’n Glas! — Wollte blos meinen Standpunkt klarmachen — —</div> - </div> - - <div class="person">(Den Vertrag durchsehend:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein — aber — Bester — das ist ja rein zum Lachen:</div> - <div class="verse">ich nannte Ihnen fünfzehntausend als unsern äußersten Preis,</div> - <div class="verse">und hier stehn achtzehn?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ja, Herr Bergrat, weil —: ich weiß nicht, ob der Herr Bergrat weiß:</div> - <div class="verse">mein Großahn war Grobschmied — und — und —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">während der Kellner das Glas bringt</span>): Na? Und?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Es geht eine alte Sage von Mund zu Mund —:</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Des Michel Michaels Haus steht auf eisernem Grund —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">könnte mancheiner Silber und Gold draus schlagen — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja! — Das heißt, Herr Rat, ich wollte damit nur sagen —</div> - </div> - - <div class="regie">(da der Bergrat ihm einschänkt)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">sehr gütig, Herr Rat —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Na, Michel: viel ist nicht zu profitieren.</div> - <div class="verse">Aber — na gut: Lufthalber wollen wir’s mal riskieren.</div> - <div class="verse">Also (<span class="regie">ihm zutrinkend</span>) Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Glückauf! (<span class="regie">er leert sein Glas.</span>)</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">(<span class="regie">unterschreibt</span>): So. Abgemacht. Hier:</div> - <div class="verse">nun Sie! Nein, hier: auf dem andern Papier.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(nachdem er das Duplikat unterschrieben hat):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Uff. Heiß!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(hat das erste Schriftstück gefaltet und gibt es ihm zurück):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">So; bitte. Nun? sind Sie nun zufrieden?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(während jeder sein Schriftstück sorgfältig einsteckt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoh, Herr Bergrat, schon? Jetzt geht’s doch erst los, das Schmieden!</div> - <div class="verse">das Glückschmieden mein’ ich. Hier die paar tausend Mark Geldeswert,</div> - <div class="verse">die sind doch blos erst das erste Roheisen auf dem Herd;</div> - <div class="verse">hoffe dereinst die Welt noch als Feinschmied untern Hammer zu kriegen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel Michael, laß nur das Feuer nicht verfliegen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist schon manche Glut zu Asche zerstoben auf Erden.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(Michels Glas wieder füllend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, ich rate auch, lieber Michel: nicht übermütig werden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Oh, Herr Rat — das sind blos so Volksfestgeberden.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sein Glas abermals leerend)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Auf Ihr Wohl, Herr Rat! — Ich muß schon den ganzen Abend denken:</div> - <div class="verse">wie wir hier so sitzen auf den schönen Stühlen und Bänken,</div> - <div class="verse">Hoch und Niedrig zusammen bei den guten Getränken,</div> - <div class="verse">und fühlt sich jeder so recht mitbeglückt im Gewühl —</div> - <div class="verse">das ist doch ein sehr erhebendes Gefühl!</div> - <div class="verse">nicht wahr?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_310" id="Seite_310">[S. 310]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Hm. Ja. Sehr erhebend. Ja. Aber jetzt —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(kommt mit <em class="gesperrt">Lise Lied</em> Arm in Arm angetanzt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hurra, Vetter Michel, hier kommt dein Glück angesetzt!</div> - <div class="verse">Hat sich endlich von mir am Schlafittchen kriegen lassen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Tanzmusik hört auf.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schalk, Schalk! des Michels Glück, das kann nur er selber fassen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(seine Brusttasche befühlend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, wahrhaftig! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Michel —! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">unwillkürlich</span>): Lise —! — (<span class="regie">Sich besinnend</span>) Ach nein; dumm Zeuch;</div> - <div class="verse">was rührt dich, Michel?! — (<span class="regie">Auffahrend</span>) Schockschwerenot, ihr: was kümmert’s <em class="gesperrt">euch</em>?</div> - <div class="verse">schert euch zum Teufel! (<span class="regie">setzt sich wieder und stiert ins Glas.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ha! Hörst du’s, Göttin? Verschmäht!</div> - <div class="verse">Das fordert Rache! Rache! (<span class="regie">Den Würfelbecher nehmend</span>:)</div> - <div class="verse mleft11">Soll ich mit diesem Gerät,</div> - <div class="verse">kraft meiner spiritistischen Wupptizität,</div> - <div class="verse">hehre Fee, ihn zerschmettern? — Nein? — Ach! das ist bitter.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O: eine Fee, die findet wohl zartere Ritter.</div> - <div class="verse">Aber eine Glücksfee, die sollte sich eigentlich entschleiern;</div> - <div class="verse">darf ich’s wagen?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_311" id="Seite_311">[S. 311]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(während die Tanzpaare aus dem Saal kommen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Vielleicht, Herr Ritter — doch müssen wir <em class="gesperrt">ihn</em> erst feiern,</div> - <div class="verse">der da selig in seiner Selbstherrlichkeit thront</div> - <div class="verse">und die Dienste der Geister mit eitel Nichtachtung lohnt.</div> - <div class="verse">Versteht Ihr, Ritter?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Stolze Fee, ich beuge in Demut das Knie (<span class="regie">er tut es</span>)</div> - <div class="verse">und verstehe.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">dazwischentretend</span>): Aber Bergrat, was treiben Sie!</div> - <div class="verse">Man ist sehr erstaunt —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">knieen bleibend</span>): Oh, gnädigste Frau, ich desgleichen!</div> - <div class="verse">In der Johannisnacht</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">erlebt man Wunder und Zeichen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Wunder und Zeichen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Eine holde Fee stieg die Himmelsleiter herab</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">shocking!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">sich erhebend</span>): und gebeut uns mit ihrem Zauberstab,</div> - <div class="verse">damit wir die Geister der Vor- und Nachwelt versöhnen,</div> - <div class="verse">den deutschen Michel zum Weltherrn von ihren Gnaden zu krönen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Empörend!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Gottvoll, Bergrat!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_312" id="Seite_312">[S. 312]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Hurra, Michel! Jetzt heißt es erscheinen!</div> - <div class="verse">Kopf hoch, Brust raus!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Stehst du auch fest auf den Beinen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoh! Ich? (<span class="regie">er stolpert</span>.)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Huch!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">(<span class="regie">brüllend</span>): Bombenfest, sollt ich meinen!!!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er stellt sich breitbeinig vor die Bank in der Mitte, während der -Rotbart und Eckart hinter sie treten.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also — vielwerte Gäste!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Etliche Bengel in Koboldtracht</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">hurrra!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">und Zaungäste!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">hurrra!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">und Geister, bitte!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft24">Bitte!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Danke.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Hier steht er —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">steht er —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">in unsrer beglückten Mitte —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_313" id="Seite_313">[S. 313]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft24">Mitte —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">leibhaftig —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">leibhaftig —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">unter dem Lindenbaum —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft18">Lindenbaum —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">unser teurer deutscher Michel —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">hurrra —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft16">es ist kein Traum!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft24">Kein Traum.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreizrudiment zum Donner! Silenzium jetzt!!!</div> - <div class="verse">Ruhe, Bengels! sonst werdt ihr rausgesetzt!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nimmt einem der Kobolde seine Zippelmütze weg und treibt die -Schreihälse nach hinten.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weiter, Bergrat!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(Lisens Arm nehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Also — bezaubert von dieser Himmelserscheinung</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">unglaublich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">pßt —!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">und nach der offenbar völlig einstimmigen Meinung</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_314" id="Seite_314">[S. 314]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">aller Freunde und Freundinnen der höheren Sphären</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">wollen wir ihn jetzt zum Beherrscher der — Lüfte erklären!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">zum Alleinherrscher sämtlicher Zukunftsflugmaschinen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glücksgondeln, Traumschiffe und sonstiger Zeppelinen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Möge er immer flügger, lenkbarer</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">und bombenfester werden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und selig enden als Luftschloßbesitzer auf Erden! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(die Zippelmütze schwenkend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hurrra, deutscher Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Alle durcheinander</em></div> - - <div class="regie">(während Michel auf die Bank gehoben wird und ein Glas Wein in die -Hand bekommt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Hurra! Hurra!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(an den Baumstamm gelehnt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Halt!!! Jetzt komm Ich an die Reih!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glückauf, Michel! (<span class="regie">trinkt ihm zu</span>.)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Schön Dank, Herr Bergrat! (<span class="regie">trinkt</span>.) Ja! Schön Dank fürs Geschrei!</div> - <div class="verse">Denn der Michel nämlich — ja — kann viel Spaß vertragen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bravo, Michel! (<span class="regie">trinkt ihm zu.</span>)</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_315" id="Seite_315">[S. 315]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(immer wieder Bescheid trinkend, worauf ihm unter Gelächter immer -wieder das Glas gefüllt wird, bald mit weißem, bald mit rotem Wein):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schön Dank, Herr Landrat! — Ja! — Aber — wollt ich sagen:</div> - <div class="verse">kann auch Ernst machen! kann — kann sich lange ducken —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Wohl ihm, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schön Dank, Ehrwürden (<span class="regie">trinkt</span>) — Kann seine dummen Mucken</div> - <div class="verse">— ja — vor euch Stadtleuten — ja — auch sein Heimweh verschlucken —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Hoch, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schön Dank, Herr Bürgermeister (<span class="regie">trinkt</span>) — Ja —: kann sich recken —</div> - <div class="verse">kann auf einmal — ja: kann er — seine Hand ausstrecken —</div> - <div class="verse">kann vielleicht dereinst noch — hupp — die ganze Welt in die Tasche stecken —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Heil, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schön Dank, Herr Pfarrer (<span class="regie">trinkt</span>) — Jawohl —: Luft — Erde — hupp — Meer —</div> - <div class="verse">den ganzen Himmel — hupp — (<span class="regie">er fällt von der Bank herunter</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(wirft sich aufschreiend über ihn):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Michel!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">(<span class="regie">sehr laut</span>): Kellner! den Eiskübel her! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(während der Kellner Eiskübel und Tischtuch bringt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber teuerste Göttin, er hat sich ja nichts zerbrochen!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_316" id="Seite_316">[S. 316]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(während man Michel auf die Bank setzt und an den Baum lehnt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Kein Bein! Der fällt einfach auf seine gesunden Knochen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">aus der Zippel- der Zappel- der Zeppeline!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Da! er macht eine ganz majestätische Miene!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, dann kann man ja endlich sozusagen die Krönung vollziehn!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er setzt Micheln die Zippelmütze auf, sodaß die Troddel ihm über -die Nase herabbaumelt.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoch lebe unser Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Alle</em>:</div> - - <div class="regie">(während man ihm das Tischtuch wie einen Mantel umhängt)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Hoch! Hoch! Hoch!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">ernst</span>): Der Himmel erhalte ihn!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er mache ihm jede Bank zum Throne —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Throne —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">jede deutsche Zippelmütze zur Siegeskrone —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft18">Siegeskrone —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">jedes deutsche Stück Leinwand zum Hermelin —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft19">Hermelin —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">jeder deutsche Baum sei ein Baldachin —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft16">Baldachin —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_317" id="Seite_317">[S. 317]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(während man Michel lang auf die Bank streckt und das Tischtuch -über ihn breitet):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">für den allerhöchsten, allerstärksten, allerlängsten, allergrößten</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="regie">(hinter dem Bergrat her, der die halb lachende halb schluchzende -Lise nach rechts beiseite führt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, Sie Wüstling, Sie sollen das arme Kind nicht trösten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Pßßt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">und allerreichsten unter den Potentaten</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(halb erwachend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">wie —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">still, Michel — mit und ohne Staaten.</div> - <div class="verse">Seht, hier ruht er —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">daheim im Weltgebrause; —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">jetzt kann er selig —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">wie vorher</span>): Lise —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">ja, Michel —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">ich — will — nach Hause —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">ja, Michel —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">daheim im unendlichen Hafen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">zwischen Himmel und Erde und Hölle schlafen —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_318" id="Seite_318">[S. 318]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">jenseits von euern Zeiten und Räumen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(mit wild phantastischer Geste):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und träumen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="regie">(ruhig, während der Vorhang sich schließt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">träumen — —</div> - </div> - - <div class="person"><span class="s4">*</span></div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div> - - <div class="regie">(von links kommend, anfangs mit verhaltener Stimme):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ssst —: er träumt! — Eine Menschenseele im Traum</div> - <div class="verse">ist ein schaurig Ding, ist ein Unding, ist verflochtner als ein Baum</div> - <div class="verse">in alle Wurzelwirren und Wipfelwehen aus Staub und aus Licht,</div> - <div class="verse">ist Feuer, Wasser, Luft, was sie will, und — ists nicht:</div> - <div class="verse">verschlafnes Tier, wacher Gott, urweltvoller Stern, hohler Ball,</div> - <div class="verse">allmächtig bis zur Ohnmacht, spielt sich auf als All.</div> - <div class="verse">Wahrlich: einen Menschen im Traum belauschen, das heißt</div> - <div class="verse">mitspielen mit einem höllisch lebenslustigen Geist.</div> - <div class="verse">Ich und wir andern längst verstorbenen Geistergestalten,</div> - <div class="verse">wir würden uns gern solcher spukhaften Tätigkeit enthalten —</div> - </div> - - <div class="regie">(allmählich lauter)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">aber wir müssen uns, ach, noch immer zum Dienst der Menschheit hergeben;</div> - <div class="verse">denn unser Herr, der Dichter, dieser Auchmensch, will davon leben.</div> - <div class="verse">Dieser Teufel! Nicht genug, daß wir wirklich leibhaftig erschienen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_319" id="Seite_319">[S. 319]</a></span> - <div class="verse">er läßt uns sogar noch als Hirngespinste nun dienen;</div> - <div class="verse">oh, wär ich ein Mensch, ich glaube, mir graute vor mir.</div> - <div class="verse">Aber da ich ganz Geist bin, und jetzt ein Doppelgeist schier,</div> - <div class="verse">so kann ich Sie nicht mit derlei Halbgottsgefühlen beglücken,</div> - <div class="verse">sondern drehe ihnen — den Gefühlen nämlich — im Geiste den Rücken.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er dreht sich mit hoch erhobenen Armen um und teilt mit beiden -Händen den Vorhang.)</div> - - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 class="padtop1" id="Dritter_Aufzug">Dritter Aufzug</h4> - -</div> - -<div class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: Große Höhle aus Bergkristall in weiß-und-grüner -Flackerbeleuchtung. Rechts und links durcheinandergetürmte -Pfeiler. In der Mitte des Hintergrundes, auf einer phantastischen -Pyramide, thront <em class="gesperrt">Frau Venus</em>, ebenso vermummt wie Lise Lied; -nur trägt sie lange weiße Glaßeehandschuhe, und ihr grünes Kleid -ist aus funkelnder Seide, ihr schwarzer Schleier mit Diamanten -besetzt. Zu Füßen des Throns, in Gesteinspalten, hocken schlafende -<em class="gesperrt">Kobolde</em>, wieder blaugrau mit Zippelmützen und weißen Bärten. -Zu beiden Seiten des Throns zerklüftete Grotten, mit Schnüren aus -Bruchkristallen verhängt, hinter denen ein rotgelb glühender Glanz -bald aufwärts bald abwärts quillt und strudelt, sodaß sie wie -feuriges Netzgeflecht aussehn; hin und wieder zieht rötlicher Rauch -durch die Höhle.)</div> - -<div class="poetry-container padtop1"> - <div class="poetry"> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(sofort, noch während der Vorhang sich öffnet, ins Knie sinkend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verzeiht, Göttin Venus: ich weiß zwar, Ihr glaubt es kaum:</div> - <div class="verse">aber wirklich, wir sind Beide jetzt nichts als Traum —</div> - <div class="verse">also entschuldigt den frechen Possenreißerstreich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(zögernd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wer dringt hier ein in mein heimlich Reich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nur ein armer Schalk namens Tyll, aber abgesandt</div> - </div> - - <div class="regie"><em class="gesperrt">(er erhebt sich)</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">von Euerm mächtigsten Nachbarn im ganzen deutschen Land,</div> - <div class="verse">von des Kaiser Rotbarts verewigter Majestät,</div> - <div class="verse">der voll Unruh, Schönste, hinab in den Hörselberg späht,</div> - <div class="verse">denn auch ihn treibt des Michels Traumblick her.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So vermelde des hohen Herrn Begehr,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_320" id="Seite_320">[S. 320]</a></span> - <div class="verse">der so mächtig ist, daß ein stiller schlaftrunkner Mann</div> - <div class="verse">seinen ewig wachen Willen verunruhen kann.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Oh, Frau Venus, Zaubrin, sehr gewaltig ist dein Bann,</div> - <div class="verse">aber nimm in Gnaden die zarte Gewissensfrage hin:</div> - <div class="verse">Traumschöpferin,</div> - <div class="verse">warst du niemals von deinen Geschöpfen gebannt?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Schalk! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">So erfahre: des Michels Seele ist unauslöschlich entbrannt</div> - <div class="verse">von all und jeder Machtsehnsucht Himmels und der Erden,</div> - <div class="verse">heute Nacht soll sein Hauptwunsch entschieden werden.</div> - <div class="verse">Du hast eine Flamme in seinem Blut angefacht,</div> - <div class="verse">die hat all sein junges Hirn in Rausch und Aufruhr gebracht;</div> - <div class="verse">nun kennt er sich selbst kaum vor lauter hochfliegenden Brünsten.</div> - <div class="verse">Drum, erlauchte Göttin, dank deinen Zauberkünsten,</div> - <div class="verse">sind die andern unsterblichen Hauptpersonen,</div> - <div class="verse">die seit Alters in seiner Geisterwelt wohnen,</div> - <div class="verse">aus ihrer gottseligen Ruhe (<span class="regie">klappt mit der Pritsche</span>) jählings mitaufgeschreckt ——</div> - <div class="verse">und als der stärkste von seinen Schutzgeistern streckt</div> - <div class="verse">der Kyffhäuserherr die gepanzerte Faust dir entgegen:</div> - <div class="verse">Wenn du ebenso mächtig bist wie verwegen,</div> - <div class="verse">mögest du ehrlichen Wettstreit mit ihm pflegen</div> - <div class="verse">um des Michel Michaels wahres Seelenheil.</div> - <div class="verse">Desgleichen mit mir für mein bescheiden Teil;</div> - <div class="verse">du wirst es nicht weigern, erlauben wir uns zu hoffen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mein Reich steht allen Geistern, starken und schwachen, offen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, Gnädigste: offen wie ein Grab.</div> - <div class="verse">Und dein zauberkräftiger Wünschelstab</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_321" id="Seite_321">[S. 321]</a></span> - <div class="verse">glänzt empor über deine dunkeln Schleierfalten</div> - <div class="verse">wie ein Irrsternschweif nach zwei Seiten gespalten,</div> - <div class="verse">indessen die Weltküglein an den beiden Spitzen</div> - <div class="verse">gar nach jeglicher Windrichtung drehbar blitzen.</div> - <div class="verse">Ich seh’s, Vielgewandte, trotz unsern verhüllten Mienen;</div> - <div class="verse">denn auch ich verstehe, Herrin, zweeen Welten zu dienen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So schwör ich bei diesem einen unlöslichen Ringe,</div> - <div class="verse">kraft dessen mein Szepter die zwiegespaltene Schwinge</div> - <div class="verse">der immer wieder sich verjüngenden Welt</div> - <div class="verse">in der Schwebe hält:</div> - <div class="verse">du nahst ungefährdet meinen vulkanischen Quellen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und meine Begleitung?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ist gefeit wie du vor den feuerbrünstigen Wellen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(tritt dem Thron etwas näher und klappt mit der Pritsche):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wohlan, edle Hexe! du siehst, wie stracks wir uns stellen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Zugleich sind der <em class="gesperrt">Rotbart</em> von links und <em class="gesperrt">Eckart</em> -von rechts aus den Pfeilergängen getreten, Beide noch immer mit -vermummten Gesichtern.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(auffahrend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ah, Schalk! du verkündetest mir der Wettkämpen zwei!</div> - <div class="verse">jetzt seid ihr drei? — (<span class="regie">Wieder ruhig sich setzend</span>:)</div> - <div class="verse">Nun, Eckart: du warst von jeher ein Schleichwegverfechter.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich war von jeher, Frau Venus, dein treuster Torwächter.</div> - <div class="verse">Ich tue nichts wider dich, als am Eingang des Hörselbergs warnen;</div> - <div class="verse">wer der Warnung trotzt, den magst du getrost umgarnen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und selbst für Göttinnen bleibt’s doch ein Akt der Huldigung immer,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_322" id="Seite_322">[S. 322]</a></span> - <div class="verse">wenn sich drei Mannsleute mühn um ein Frauenzimmer.</div> - <div class="verse">Sieh da, du lächelst! dein ganzer Schleier lacht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vor Dir, Eulenspiegel, hat wohl mein Ernst keine Macht.</div> - <div class="verse">Und auch den Rotbart wird schwerlich ein trauerndes Weibsbild rühren.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoh, Huldin, wir hoffen noch innigst Eure Trauer zu spüren,</div> - <div class="verse">wenn erst der Michel von uns Selbstbeherrschung annimmt.</div> - <div class="verse">Inzwischen freilich sind wir herzlich wenig gestimmt,</div> - <div class="verse">christliche Stufen zu Euerm heidnischen Thronsitz zu hobeln.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also kurz und gut: ich schlage vor, sein Seelenheil auszuknobeln.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er holt den Würfelbecher aus der Tasche und schüttelt ihn.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bester Wurf: Alles Eins! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Er stülpt die Würfel auf einen Kristallblock.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Hier —: dreimal der nackte Spatz!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">In der Tat: ein unwiderleglicher Satz.</div> - <div class="verse">Gib her!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Halt, Hexe! leg erst den Zauberstab nieder!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das versprach ich <em class="gesperrt">nie</em> wem.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Dann, Schalk, nimm den Becher wieder!</div> - <div class="verse">Rasch! nimm ihn! rasch! —</div> - <div class="verse">Die Unholdin wirft dir Pasch auf Pasch;</div> - <div class="verse">so bliebe das Wettspiel in alle Ewigkeit gleich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich hätt ihn heimzahlen können, den schnöden Gauklerstreich;</div> - <div class="verse">aber, Tyll, des Michels Seele gilt mir zu viel</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_323" id="Seite_323">[S. 323]</a></span> - <div class="verse">für ein Würfelspiel!</div> - <div class="verse">Ich sehe, Rotbart, zu meiner Freude: du nickst.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich fühle, Feindin, wie ehrlich du um dich blickst.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So hört meinen rückhaltlosen Bescheid:</div> - <div class="verse">der Michel Michael selber löse im Traum unsern Streit!</div> - <div class="verse">Wenn du Herrscher in seinem dir zugeweihten Land,</div> - <div class="verse">du Wächter an deinem ihm geheiligten Stand,</div> - <div class="verse">du Landstreicher da aus vogelfreien Bezirken,</div> - <div class="verse">wenn ihr vermögt seiner Sehnsucht ein habhaftes Ziel zu erwirken,</div> - <div class="verse">das ihm wettmacht den einen einzigen unruhvollen Bann,</div> - <div class="verse">den meine Inbrunst, die verwunschne, ihm antun kann:</div> - <div class="verse">so sei er hinfort, in Zeit und Ewigkeit,</div> - <div class="verse">von mir befreit! —</div> - <div class="verse">Seid ihrs zufrieden?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Zufrieden! <span class="mleft3">Zufrieden!</span></div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Nur unter der Sicherheit,</div> - <div class="verse">daß dein Szepter, solange der Streit dich drängt,</div> - <div class="verse">sein träumendes Haupt nicht berührt noch umkreist noch sonstwie lenkt.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Die</em> Sicherheit geb ich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Dann ruf ihn! die Wette <em class="gesperrt">hängt</em>.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(berührt die Kobolde mit dem Szepter):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Aufgewacht, Klopfgeister, aufgewacht!</div> - <div class="verse mleft6">der Wunschquell sprudelt; öffnet den Schacht!</div> - <div class="verse mleft6">Feuerfluß werde kristallene Flut!</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_324" id="Seite_324">[S. 324]</a></span> - <div class="verse mleft6">Erde, enthölle dein Himmelsblut!</div> - <div class="verse mleft6">verschlinge das Trübe, beschwinge das Reine!</div> - <div class="verse mleft6">Erscheine, Michael, erscheine! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Kobolde haben die Kristallschnurgeflechte der rechten Grotte -inzwischen geöffnet und eine ferne langsame Tanzmusik ertönt. Aus -rötlichem Qualm auftauchend erscheint ein Zug schwarzgekleideter -Gestalten. Voran <em class="gesperrt">fünf Kaplane</em>, im Gänsemarsch mit -Polkaschritt. Dann je <em class="gesperrt">fünf Landräte und Bürgermeister</em>, die -den schlafenden <em class="gesperrt">Michel Michael</em> auf seiner Bank einhertragen; -er hat noch immer die Zippelmütze auf dem Kopf und ist mit dem -Tischtuch an die Bank festgebunden, mit dickem Knoten auf der -Brust, doch so, daß seine Arme frei sind. Hinterdrein <em class="gesperrt">fünf -Pastoren</em>, wieder im Polkaschritt. Jeder Kaplan, Landrat, -Bürgermeister, Pastor ist den vier übrigen zum Verwechseln ähnlich, -in den gleichen Kostümen und Masken wie früher.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Landräte und Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Hier naht er, hier naht er,</div> - <div class="verse mleft10">der Weltpotentater.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Kaplane und Pastoren</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Da liegt er im Wickel,</div> - <div class="verse mleft10">das Hochmutskarnickel.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte und Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Du Großmaul! du Saufsack! du Raufbold! du Strolch!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Pastoren</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Jetzt kommt die Vergeltung, du Sündenmolch!</div> - <div class="verse center">Rache! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Der Zug macht ruckhaft in vier Kolonnen Halt und stellt die -Bank in der Mitte der Höhle nieder, Michels Füße dem Venusthron -zugekehrt; zugleich wird die Grotte wieder verhängt, sodaß die -Tanzmusik verstummt, und die Kobolde eilen auf ihre Sitze zurück. -Michel liegt immerfort regungslos.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Erhebt ihn!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Äh —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Erhebt ihn!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Ja ja! hier pariert man aufs Wort!</div> - <div class="verse">Immer artig, werte Herrn! hübsch kusch und apport!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_325" id="Seite_325">[S. 325]</a></span> - - <div class="regie">(Halblaut:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Held Michel, hier braucht dich blos das geheimste Lüstchen zu jucken,</div> - <div class="verse">und wir sind allesamt deine tiefst leibeignen Haiducken.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Amtspersonen haben inzwischen, unter schreckhaften Bücklingen, -die Bank mit Michel hochgekippt, sodaß sein ganzer Körper verdeckt -steht; so dem Venusthron zugewandt, an die aufgerichtete Bank -gebunden, bleibt er stehen, bis sich der Vorhang schließt, und nur -ab und zu wird Arm oder Hand von ihm sichtbar.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier schützt dich mein Schwert, es ist allzeit unbestechlich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier stützt dich mein Kreuz, es ist unzerbrechlich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier nützt dir meine Pritsche, sie ist unüberwindlich;</div> - <div class="verse">und deine Schlafmütze, sie ist unergründlich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(immer mit schlafbefangener Stimme):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wo — bin — ich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Im Reich deiner reinsten Kräfte.</div> - <div class="verse">Hier siehst du im Glanz kristallklarer Säulenschäfte</div> - <div class="verse">deine stärksten Schutzgeister tausendfältig sich spiegeln</div> - <div class="verse">und dir ihre innerste Strahlenfülle entriegeln.</div> - <div class="verse">Hier hast du für immer die Wahl zwischen ihnen und mir;</div> - <div class="verse">hier bist du Alleinherr. (<span class="regie">Zu den Amtspersonen</span>:) Kniet nieder, ihr!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane</em></div> - - <div class="regie">(gehorchend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Herr, erbarme!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em></div> - - <div class="regie">(ebenso):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">dich unser!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em></div> - - <div class="regie">(aufmuckend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Himmelkreizrudiment!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(sie einzeln rasch mit der Pritsche duckend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nieder! nieder! nieder! nieder! nieder! Blitzelement!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_326" id="Seite_326">[S. 326]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(Michels Kopf mit dem Schwert berührend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich, Michel, kröne dein Haupt mit dem herrlichsten Mut,</div> - <div class="verse">dem zu dir selbst; bewahre ihn gut!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="regie">(desgleichen mit dem Kreuzstab):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich, Michael, mit der heiligsten Macht,</div> - <div class="verse">der über dich selbst; nimm sie wohl in Acht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich verhalte mich selbstverständlich ergebenst stille,</div> - <div class="verse">denn die Hauptsache bleibt: es geschehe dein Wille!</div> - </div> - - <div class="regie">(Ihm ins Ohr:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wenn du willst, ist der ganze Weltrummel nichts als ’ne Flause.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich — will — nach Hause!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier <em class="gesperrt">bist</em> du’s!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Ewig!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Dies Haus kannst du nie verkaufen.</div> - <div class="verse">Michel Michael, bald ist die Zeit abgelaufen,</div> - <div class="verse">in der du den Raum der Geister heimlich erleuchtet siehst;</div> - <div class="verse">wenn du willst, daß dein innerstes Heim sich erschließt,</div> - <div class="verse">ich zeig dir’s!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Wer — bist — du?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(von feurigem Rauch verhüllt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Ich weiß nicht mehr.</div> - <div class="verse">Wohl aus tiefem Süden kam ich einst her,</div> - <div class="verse">wohl aus höchstem Norden: aus allen Zonen,</div> - <div class="verse">wo Urvater Schmerz und Allmutter Wonne wohnen.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_327" id="Seite_327">[S. 327]</a></span> - <div class="verse">Wohl der einsamen Glut seines Geistes bin ich entsprossen,</div> - <div class="verse">wohl vom willigen Feuer ihrer Seele durchflossen</div> - <div class="verse">in des Erdgrunds kreisenden Leib getropft,</div> - <div class="verse">aus dem nun mein Himmelsblut flammt und flackert und drängt und klopft,</div> - <div class="verse">aufbegehrlich durch deine, auch deine irdischen Adern hin —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hüt dich, hüt dich, Michael, vor der Teufelin!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">(<span class="regie">sich bekreuzend</span>): Teufelin!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schweigt, ihr Winsler!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Hab Dank! Ja, Gebieter, ich bin</div> - <div class="verse">nur die Stimme, die aus dir selber lacht,</div> - <div class="verse">wenn dein Mutwille hochlodert aus dem Kyffhäuserschacht.</div> - <div class="verse">Ich, Eckart, brauche des Michels Haupt nicht mit wirren</div> - <div class="verse">Machtsprüchen ewigen Heils zu kirren,</div> - <div class="verse">nicht wie du, Freund Tyll, mit gleißenden Freiheitsblicken</div> - <div class="verse">sein Hirn bestricken:</div> - <div class="verse">ich rühre nur leise an sein Herz —</div> - </div> - - <div class="regie">(sie senkt ihren Stab auf Michels Brust)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">seht, wie er aufzuckt! — Sag, Michel: <em class="gesperrt">Ist’s</em> Schmerz?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schmerz —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Ist’s Wonne?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Wonne —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Ist’s Heimweh nach dem Licht?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft25">Licht!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_328" id="Seite_328">[S. 328]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(ihren Stab wieder hebend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Fühlst</em> du nun des Blutes selige Unruhpflicht?</div> - <div class="verse">Oder willst du leben — sprich — wie diese Machtstreber hier,</div> - <div class="verse">ein Ruhestifter voll furchtsamer Gier?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(die Arme breitend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Göttin! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Gnade!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">mit der Pritsche klappend</span>): Ruhe!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeister</em></div> - - <div class="regie">(während sich die Kaplane bekreuzen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Gnade, Göttin!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Ruhe!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft18">Göttlichste Göttin!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft26">Ihr??</div> - <div class="verse">Ihr meint eine Andre! Ihr meint die teuflische Fratze,</div> - <div class="verse">die jene Diener des Heils da (<span class="regie">auf die Kaplane weisend</span>) mit plump geiler Tatze</div> - <div class="verse">an die Wand euch malten; drum sitz ich im Trauerschleier.</div> - <div class="verse">Aber auch euch treibt heimlich — wißt es! — mein mißgunstfreier</div> - <div class="verse">Hauch, eure Ängste auszurasen</div> - <div class="verse">und euren unreinen Atem irgendwie von euch zu blasen;</div> - <div class="verse">drum habt ihr den Erdball zum Höllenkessel gemacht.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Kobolde mit dem Szepter streifend:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Auf, Klopfgeister! öffnet den Wetterschacht,</div> - <div class="verse">durch den der Qualm ihrer Süchte zur Läuterung niederquillt!</div> - <div class="verse">Jetzt, ihr Herrn, beseht, beseht euch das Ebenbild</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_329" id="Seite_329">[S. 329]</a></span> - <div class="verse">eurer knechtischen Notdurft und krampfhaften Mühseligkeit,</div> - <div class="verse">eurer zielbewußten Wohlfahrtsbeflissenheit,</div> - <div class="verse">eurer mammonstollen Stoffwechselpracherei,</div> - <div class="verse">eurer jammervollen Naturgesetzschacherei,</div> - <div class="verse">des zivilisierten Barbaren würdigste Konkubine:</div> - <div class="verse">da steht eure Göttin: die Maschine! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Kobolde haben währenddem das kristallene Flechtwerk der linken -Grotte geöffnet, und schwarzgrauer Dampf ist herausgequollen. -Nun wird ein feuriges Ofenloch sichtbar, neben dem der <em class="gesperrt">rote -Karl</em> in seiner militärischen Maske zwischen maskierten -<em class="gesperrt">Bergleuten</em> und rußschwarzen <em class="gesperrt">Heizern</em> hockt, und -darüber eine Schwungradmaschine; zugleich hört man wieder das -dumpfe Kolbengestampf, aber weniger laut als früher.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em></div> - - <div class="regie">(sich die Ohren zuhaltend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreizru —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">(<span class="regie">tritt drohend vor</span>): man stopp!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Heizer und Bergleute</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">(<span class="regie">dumpf</span>): man stopp, man stopp, man stopp!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Jetzt kommt die Vergeltung! los, Genossen! hopp hopp!</div> - <div class="verse center">Rache!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em></div> - - <div class="regie">(Schaufeln und Spitzhacken schwingend, bilden mit hoppsenden -Tanzschritten einen Halbkreis um die Amtspersonen, die sich mit -flehenden Geberden knierutschend um Michel zusammendrängen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir sind nicht mehr Menschen; wir dienen, wir dienen,</div> - <div class="verse">lebend’ge Maschinen, den toten Maschinen.</div> - <div class="verse">Jetzt wolln wir mal herrschen, mit Gewalt, mit Gewalt,</div> - <div class="verse">wir armen Teufel in Menschengestalt.</div> - <div class="verse center">Rache!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Landräte</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir flehn ehrerbietigst um Gnade, um Gnade.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Es wäre doch schade, jammerschade, jammerschade</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Landräte</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">um unsre christlich-germanische Staatskultur, Staatskultur.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_330" id="Seite_330">[S. 330]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">O Michel, o Michel, besinne dich nur! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(klopft laut mit dem Finger an die Rückseite von Michels Bank):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel, hörst du??</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Ich höre.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">So verschließ dir einstweilen die Ohren!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und verwechsle nicht Uns mit diesen vom Zeitgeist besessenen Toren!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, hör sie nur betteln, die dich mit städtischer Hoffahrt benebeln,</div> - <div class="verse">um hinterrücks deinen bäurischen Waghals zu knebeln;</div> - <div class="verse">seht, ihr Kriecher, jetzt schlägt sie über die Schnur,</div> - <div class="verse">die tückische Glut eurer Unnatur!</div> - </div> - - <div class="regie">(Eine grelle Flamme pufft aus dem Ofenloch; die Amtspersonen fahren -entsetzt in die Höhe und taumeln geblendet durcheinander.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie macht alles so hell,</div> - <div class="verse">sie macht alles so schnell,</div> - <div class="verse">daß eure lichtscheuen Sinne sich dran verbrennen,</div> - <div class="verse">bis ihr nichts mehr könnt als blindwütig hasten und rennen:</div> - <div class="verse">nun, ich will euch erlösen, ihr armen Irrlichtschürer.</div> - <div class="verse">Los, ihr Hetzteufel alle, packt eure Verführer!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em></div> - - <div class="regie">(hinter den flüchtenden Amtspersonen her):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hetz hetz, ins Feuer!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Landräte</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Erbarmen, Erbarmen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr Fettungeheuer!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Wir Armen, wir Armen!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_331" id="Seite_331">[S. 331]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em></div> - - <div class="regie">(nehmen einen Landrat und einen Kaplan am Kragen, während die -übrigen in den Pfeilergängen verschwinden):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Ihr Schweinepriester, ihr Rindviehmagnaten,</div> - <div class="verse center">jetzt singt Halleluja, jetzt werdt ihr gebraten!</div> - <div class="verse center">marsch!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Sankt Michael, hilf uns!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Inhibieren Sie diesen Radau!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Sankt Eckart, bitt für uns bei der gnädigen Frau!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Fahr zur Hölle, Memme!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Höllaluja! marsch, marsch!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Ins Feuer!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">wird ins Ofenloch geschoben</span>): Au! au!! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sackerment — (<span class="regie">plötzlich sich losreißend</span>) Herr Corpsbruder!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(kommt sofort durch das Flechtwerk der rechten Grotte gehopst, -maskiert wie früher):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">— wünschen? —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">(<span class="regie">während er wieder gepackt wird</span>): Na <em class="gesperrt">Hilfe</em>, kreuzsackerment!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(nach der linken Grotte hinübergaloppierend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bedaure! bin beschäftigt! im Dienst der Herrin! es brennt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="regie">(kommt plötzlich aus der rechten Grotte ihm nachgaloppiert):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach bitte, bitte, bitte! Na warte, ich werd dich schon kriegen!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_332" id="Seite_332">[S. 332]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Jawollja! marsch marsch! immer ran, verehrliche Fliegen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer</em></div> - - <div class="regie">(den Bergrat gleichfalls ins Feuer schiebend und die -Bürgermeisterin hinterdrein):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Immer rin, immer rin, immer rin ins Vergniegen! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="regie">(zum Landrat):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Marsch marsch! immer schneidig!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Na, wenn’s sein muß, dann los!</div> - <div class="verse">Platz da — (<span class="regie">er stürzt sich selbst in das Ofenloch</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Allerhand Achtung!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">So’n Schubbiak! so’n Gernegroß!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Still, Genossen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergleute</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Ohoh!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Ich sag euch: der Kerl hatte Schneid für drei!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die drei Heizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoh!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(ihm mit der Pritsche auf die Schulter klopfend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Nimm dir’n Beispiel dran, Roter! jetzt kommst Du an die Reih!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wa —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Zu dienen, Herr Volksbefreier! jetzt <em class="gesperrt">ist</em> man so frei.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zu Hilfe, Genossen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Hoh! ohoh!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_333" id="Seite_333">[S. 333]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14"><em class="gesperrt">Die</em> Zeit ist vorbei!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vorbei, du Schreihals! jetzt wird nicht mehr schwadroniert.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber Kameraden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Ein Bergmann</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Jawollja! hast uns lange genug kommandiert!</div> - <div class="verse">Marsch ins Feuer!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die ganze Bande</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Marsch marsch, du Freiheitsverräter!</div> - <div class="verse">du Rädelsführer! du Erzschuft! du Hauptattentäter!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zu Hilfe, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Der läßt sich erst recht nicht drillen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(mit besonders wuchtigem Tonfall):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier ist Jeder nur Bruchstück von Seinem Willen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und sein Wille ist, ihr Schächer: ich soll euch ein bißchen läutern!</div> - <div class="verse">euch Alle!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Nachher könnt ihr säuberlich weitermeutern —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und einer den andern mit reinem Gewissen regieren —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und euch gegenseitig immer reiner kuli-kultivieren.</div> - <div class="verse">Was meinst <em class="gesperrt">Du</em>, Michel?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(die Hand nach dem Feuerloch hebend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Marsch, marsch!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_334" id="Seite_334">[S. 334]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">Hinein, ihr Teufel, hinweg!</div> - <div class="verse">Klopfgeister, schließt den Sündenversteck!</div> - <div class="verse">Erde, enthölle dein Himmelsblut!</div> - <div class="verse">Feuerfluß werde kristallene Flut,</div> - <div class="verse">beschwinge die Zeiten, durchdringe die Räume,</div> - <div class="verse">bringe Klarheit ins Reich der Träume!</div> - </div> - - <div class="regie">(Der rote Karl wird inzwischen samt seinen Genossen von den -Kobolden an das Ofenloch gedrängt, und das Flechtwerk der Grotte -schließt sich hinter ihnen, auch die Kobolde mitverbergend; -zugleich verstummt das Geräusch der Maschine.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sag, Kyffhäuserherr, ist nun zur Genüge gestritten?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Frag den Michel, edle Feindin! du kennst die Geistersitten.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, du Herrlicher du, werd’s endlich inne:</div> - <div class="verse">ich bin nur den Armsünderseelen die Teufelinne.</div> - <div class="verse">Aus dem Samen, den ich Verschwenderin streue,</div> - <div class="verse">keimt alles Künftige, alles Junge und Neue,</div> - <div class="verse">jeder Traum von Schönheit und Kühnheit, von Freude und Ruhm,</div> - <div class="verse">jeder Glaube an wahrhaftes Heiligtum.</div> - <div class="verse">Wahrlich, Eckart, unser Wettstreit bleibt ewig gleich;</div> - <div class="verse">denn dein wie mein ist das Erd- wie das Himmelreich.</div> - <div class="verse">Also, Eulenspiegel, schür sie nur immer fort,</div> - <div class="verse">die Hölle der Freiheit zwischen hier und dort!</div> - <div class="verse">und sorge dafür, daß deine Schelle</div> - <div class="verse">selbst in die verschlafensten Ohren gelle!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zu Befehl, gnädige Frau!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er hockt sich ans Fußende von Michels Bank.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ich nehm dich beim Wort auf der Stelle.</div> - <div class="verse">Sprich, Michel: glaubst du an unsre Schutz- und Trutz-Einigkeit?</div> - <div class="verse">und willst du ihr treu sein, treu sein in Lust und Leid?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_335" id="Seite_335">[S. 335]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Lust — und — Leid!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und willst du mir, was dein Mund so im Traum verspricht,</div> - <div class="verse">auch beschwören von Augen- zu Augenlicht?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Augenlicht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, erkenne mich erst, du! — Weißt du nicht mehr:</div> - <div class="verse">Fremd aus fernem Süden wohl kam ich einst her,</div> - <div class="verse">so fremd, daß ein Schreck dein nordisches Blut durchlief,</div> - <div class="verse">wie ein Bergquell wohl aus der Erde tief,</div> - <div class="verse">eines Abends im Wald, war kaum sechs Jahr,</div> - <div class="verse">einen Kranz wilde Efeuranken im Haar —</div> - </div> - - <div class="regie">(sie lüftet lächelnd ihren Schleier)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">und mit Augen, wie der Kuckuk fürwahr —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(jäh emporgreifend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Lise!! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Ja, so saß ich unter dem Felsenhang</div> - <div class="verse">und sang —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">und sang — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(nickt und verhüllt sich wieder):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und nun siehst du mich hier, wie du wünschtest, in seidnen Kleidern sitzen,</div> - <div class="verse">mit Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen;</div> - <div class="verse">und gilt dir doch alldas in Wahrheit nicht einen Niet</div> - <div class="verse">gegen ein einziges kleines heimatliches Lied</div> - <div class="verse">von Herzensgrund</div> - <div class="verse">aus meinem Mund —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_336" id="Seite_336">[S. 336]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">deinem Mund —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div> - - <div class="regie">(sich erhebend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Hört’s, Geister, hört’s! schlingt den Zauberreigen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Kobolde eilen von rechts wie links durch das Flechtwerk aus -den Grotten herbei; eine leise Walzermusik beginnt von fern.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Raunt mein Gebet ihm ein in sein innigstes Eigen:</div> - <div class="verse center">in Fleisch und Blut,</div> - <div class="verse center">in Mark und Mut:  </div> - <div class="verse center">Körperrausch werde Seelenglut!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie senkt ihr Szepter wieder auf Michels Brust, während der -Rotbart mit dem Schwert und Eckart mit dem Kreuzstab sein Haupt -berühren; zugleich beginnen die Kobolde ringelreih um die Bank zu -schreiten, während Eulenspiegel am Fußende kauern bleibt.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel Michael! Mehr kann kein menschlicher Geist erwerben</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">gedämpft</span>): Geist erwerben</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">als ein Haus, das er heiligt für seine Erben!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">wie vorher</span>): seine Erben!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">als einen Hof, wo er spielt mit Weib und Kind!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Weib und Kind!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">als einen Herd, an dem er Frieden findt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Frieden findt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">eine Schwelle zum Himmel, wenn er den Kampf bestand</div> - <div class="verse">für seine Muttererde, sein Vaterland!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_337" id="Seite_337">[S. 337]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div> - - <div class="regie">(allmählich lauter):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">seine Muttererde, sein Vaterland.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(alle zehn Finger hochspreizend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dieser Traum der Menschheit, Michel, hat vielerlei Enden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">vielerlei Enden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">laß dich nicht von Träumen, die eitel sind, blenden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">plötzlich niederknieend, Hände vors Gesicht</span>): blenden!</div> - </div> - - <div class="regie">(Die ferne Tanzmusik hört auf.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bei dem Gott, dem der Geist deiner Väter entsprang —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">bei deines Namens hellem Erzengelklang —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(den Schellenzipfel gen Himmel hebend, doch noch nicht klingelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">bei der dunkeln Macht, über die ich weine und lache —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">erwache, Michael —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde und Eulenspiegel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">aufspringend, Zippelmützen und Schellenzipfel schwenkend,</span></div> - <div class="verse center"><span class="regie">während der Vorhang sich schließt</span>): erwache! — —</div> - </div> - - <div class="person"><span class="s4">*</span></div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div> - - <div class="regie">(aus dem Mittelspalt des Vorhangs tretend, mit verlegenem -Achselzucken):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er schläft immer noch. Was tun? — (<span class="regie">Aufhorchend</span>) Jetzt schnarcht er sogar.</div> - <div class="verse">Das ist höchst bedenklich; denn wir laufen alle miteinander Gefahr,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_338" id="Seite_338">[S. 338]</a></span> - <div class="verse">noch geisterhafter von ihm geträumt zu werden,</div> - <div class="verse">und das könnte doch vielleicht unsern leiblichen Zustand gefährden.</div> - <div class="verse">Ich würde ihn wecken; aber wer weiß, was passiert,</div> - <div class="verse">wenn er unversehens seine Zippelmütze verliert</div> - <div class="verse">und ernstlich nachdenkt über dies nächtliche Abenteuer.</div> - <div class="verse">Auch unserm Herrn Dichter übrigens scheint das durchaus nicht geheuer;</div> - <div class="verse">ich glaube, er fragt sich lieber schon garnicht mehr,</div> - <div class="verse">wer jetzt wirklich Herr ist, wir oder er.</div> - </div> - - <div class="regie">(Hinterm Vorhang beginnt leise Tanzmusik.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aha! da läßt er gleich wieder den Fidelbogen schwingen;</div> - <div class="verse">vermutlich, um den Gang der Handlung besser in Trab zu bringen.</div> - <div class="verse">Seit wir dem Michel klarmachen mußten, was er im Grunde will,</div> - <div class="verse">steht dem Herrn sein Wille ebenso gründlich still</div> - <div class="verse">vor den unberechenbaren Folgen dieser Geisterstunde.</div> - <div class="verse">Ich hör ihn bereits mit sperrangelweitem Munde</div> - <div class="verse">um unsern Beistand gegen seinen schnarchenden Helden flehn;</div> - <div class="verse">ja, so dreht sich der Weltlauf im Handumdrehn.</div> - <div class="verse">Wenn nun der Michel träumen will bis zum Jüngsten Tage,</div> - <div class="verse">was wird dann aus der ganzen tatsächlichen Lage?</div> - <div class="verse">Sein Haus fällt der Grubengesellschaft in die Hände,</div> - <div class="verse">und seine Glücksfee nimmt womöglich als alte Jungfer ein Ende;</div> - <div class="verse">ich muß doch mal nachsehn, was sich da machen läßt.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er steckt einen Augenblick den Kopf in den Vorhangspalt.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Halt! er schnarcht nicht mehr. Er liegt bombenfest;</div> - <div class="verse">nicht einmal seine Krone ist verschoben,</div> - <div class="verse">und man hat ihn inzwischen sogar auf den Thron gehoben.</div> - <div class="verse">Da heißt’s doppelt Vorsicht. Ich warne nochmals Jeden vor Schaden;</div> - <div class="verse">denn Sie wissen, er ist reichlich mit allerlei Sprengstoff geladen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_339" id="Seite_339">[S. 339]</a></span> - <div class="verse">und wie leicht kann der plötzlich ganz von selber loskrachen!</div> - <div class="verse">Also werd ich ihm mal Platz für den Explosionsfall machen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er schiebt den Vorhang nach rechts beiseite.)</div> - - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 class="padtop1" id="Vierter_Aufzug">Vierter Aufzug</h4> - -</div> - -<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: wie beim zweiten Aufzug. Doch ist jetzt die Bank -mit dem <em class="gesperrt">angebundenen</em> Michel quer auf zwei zusammengerückte -Tische gesetzt, die rechts unter dem Laubengang stehn; und -überhaupt sieht alles ziemlich verrattert aus. Hinter Michel, auf -Stühlen zu ebner Erde, sitzen der <em class="gesperrt">Rotbart</em> und <em class="gesperrt">Eckart</em>, -ebenfalls schlafend; und an dem langen Tisch links schläft der -<em class="gesperrt">schwarze Karl</em>, mit einer leeren Flasche im Arm. Vorn, -unten vor Michel, sitzt und wacht <em class="gesperrt">Lise Lied</em>, noch immer -als verschleierte Glücksfee; neben ihr steht der maskierte -<em class="gesperrt">Bergrat</em>, mit zwei Sektgläsern in der Hand. Die leise Musik -im Saal dauert fort; man sieht, es wird eine Cotillontour getanzt, -und ab und zu huscht ein Pärchen heraus in die Büsche.)</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(prallt mit dem Vorhang an den Bergrat, sodaß dieser die Sektgläser -fallen läßt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Oh Pardon, Herr Rat!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">O zum Teufel, Sie Tr —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Tr —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Sie — Traumspuk mein’ ich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Ah, danke höflichst, Sie Rr —</div> - <div class="verse">Sie Raumspuk mein’ich — und werde sofort das Glas neu erscheinen lassen;</div> - <div class="verse">unterdeß dürften Scherben nicht schlecht zu dem Fräulein Glücksfee passen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also <em class="gesperrt">zwei</em> Gläser, bitte.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Nein, danke! Nichts mehr! nicht einen Tropfen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Halblaut zum Bergrat, etwas kokett):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, ich fühle mein Herz schon rasch genug klopfen.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_340" id="Seite_340">[S. 340]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also <em class="gesperrt">eins</em>, Herr Glücksrat?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Nein, danke gleichfalls! danke!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also keins. Glückauf, Spuk! (<span class="regie">Ab nach dem Saal.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">Lisens Schleier fassend</span>): O diese schwarze Schranke,</div> - <div class="verse">wann wird sie endlich von dem klopfenden Herzchen weichen?!</div> - <div class="verse">O wüßt ich den Preis, spröde Fee, für dies Glück ohnegleichen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht so stürmisch, Herr Ritter; Ihr werdet sogleich erschrecken.</div> - <div class="verse">Ihr habt den Preis nämlich in der Tasche stecken.</div> - <div class="verse">Ja ja! Und er ist nur ein Blatt Papier.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(seine Brieftasche herauslangend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber Herz, natürlich! Wie hoch soll der Check sein? Hier!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Check? was ist das? — Ach so! Hahahah! Nein, danke recht sehr;</div> - <div class="verse">ich meinte — (<span class="regie">zupft an dem Vertragspapier; — plötzlich schreckhaft</span>) ogott! er hat sich gerührt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">den Vertrag rasch wieder einsteckend</span>): Was! Wer!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, Er! Wenn er aufwacht! Ach bitte, Herr Bergrat: schnell:</div> - <div class="verse">bringen Sie mich heim!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ja natürlich, Schatz! In welches Hotel?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hotel? Nein, nach Hause!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Hause?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_341" id="Seite_341">[S. 341]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Ja bitte! geschwind!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hm — wer bist du denn?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ach, Herr Rat — blos dem Michel sein Pflegekind.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Tanzmusik setzt ab.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach so —! Hahahah! — Süßer Racker!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft16">Er darf mich hier nicht finden!</div> - <div class="verse">Will ihn blos noch rasch von der Bank losbinden.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie tut es.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(erscheint im Hintergrund mit der noch immer maskierten -Bürgermeisterin):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, schöne Frau; Sie sehn, man will schon verschwinden.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(Lisens Arm nehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also los!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="regie">(nach vorn eilend, während Eulenspiegel zurück in den Saal geht):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5"><span class="antiqua">Ah, monsieur</span>, Sie treiben’s ja rein schon zum Skandal!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><span class="antiqua">Oui, madame!</span> drum verlass ich auch das Lokal.</div> - <div class="verse">Ihr Diener!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Empfehl mich, Madam!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="regie">(während die Beiden nach rechts verschwinden):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Sie Dirne! Sie freches Stück!</div> - <div class="verse">O, meine Nerven! — O Theodor, komm zurück!!! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie ist dabei auf den Stuhl gesunken, auf dem vorher Lise gesessen -hat. Die Tanzmusik setzt wieder ein.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_342" id="Seite_342">[S. 342]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(erscheint mit dem etwas schwankenden Bürgermeister):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, Herr Bürgermeister — (<span class="regie">entfernt sich wieder</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div> - - <div class="regie">(gleichfalls noch immer maskiert, mit einigen Cotillon-Orden am -Domino):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Aber Wally, was sollen die Leute denken!</div> - <div class="verse">so mitten aus dem Cotillon abzuschwenken!</div> - <div class="verse">ich bitt dich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">schluchzend</span>): Ach, Männe!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Ach, laß das Getu!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was?! — (<span class="regie">Kreischend</span>:) Pfui, du Flaps! du elender Fatzke du!</div> - <div class="verse">Geh!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Aber Frauchen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Geh, sag ich! oder ich schrei!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Um Gottes willen — (<span class="regie">er schlägt sich nach rechts in die Büsche</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">(<span class="regie">schluchzend</span>): So’n Stiesel! Und riecht noch nach Bier dabei! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(erscheint im Hintergrund mit dem Kaplan):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, Ehrwürden — (<span class="regie">dann wieder ab in den Saal</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="regie">(auch schon ein bißchen schwankend, zur Bürgermeisterin):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ei, teuerstes Beichtkind, ei:</div> - <div class="verse">so vereinsamt inmitten der Fröhlichkeit?</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nimmt einen Stuhl und setzt sich dicht neben sie.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, Ehrwürden, es gibt soviel Herzeleid!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_343" id="Seite_343">[S. 343]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="regie">(ihre Hand nehmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ei, ei —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">O fühlen Sie, wie ich zittre und bebe —</div> - </div> - - <div class="regie">(sie drückt seine Hand an ihren Busen, während Michel oben hinter -ihnen erwacht und unbemerkt sich allmählich auf seiner Bank -zurechtsetzt)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">Ach —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">O hätt ich etwas, wofür ich lebe!</div> - <div class="verse">mir ist manchmal so schwach, so unbeschreiblich schwach!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, ich fühl es —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Ach, wie das wohltut — ach —</div> - <div class="verse">wie das wonnig klang, als Sie sagten: Ei, ei —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="regie">(weiterfühlend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ei, ei —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Ach, mir wird auf einmal so anders, so frei!</div> - <div class="verse">wie das himmlisch ist, so getröstet zu werden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, da fühlt man das Paradies auf Erden —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach — wenn ich auch etwas abgehärmt scheine —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O — das sind ja gottgesegnete Beine —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(erscheint im Hintergrund mit dem Pastor):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, Herr Pastor —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_344" id="Seite_344">[S. 344]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(breit von oben herab zu dem Pärchen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10"><em class="gesperrt">Ihr Schweine</em> —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Huch — (<span class="regie">läuft nach rechts davon</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="regie">(ruhig aufstehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Was! Er Säufer erfrecht sich, hier fromme Gespräche zu stören?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(über die Stühle vom Tisch niedersteigend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Platz da, Pfaff!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div> - - <div class="regie">(von Eulenspiegel wachgemacht, treten aus dem Laubengang):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Platz! <span class="mleft3">Platz!</span></div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">vor Michel zurückprallend</span>): Ah! Er soll von mir hören!</div> - <div class="verse">Wart, Bursch! (<span class="regie">Ab in den Saal mit dem Pastor zusammen, der im Hintergrund -gewartet hat.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Nun, hehrer Helde? zurück aus dem Geisterland?</div> - <div class="verse">wie steht’s?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(ganz mit <em class="gesperrt">sich</em> beschäftigt, schlägt nach der Troddel der -Zippelmütze):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Verdammtes Gebammel! (<span class="regie">und reißt sie sich vom Kopf.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">O aber! Solch Ehrenpfand,</div> - <div class="verse">das schlägt man doch nicht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">die Mütze anstarrend</span>): Was ist das? was soll das? — Hee:</div> - <div class="verse">wer tat das, Schwarzer?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">von Michel gerüttelt</span>): Hilfe! mein Portepee!</div> - <div class="verse">Josef-Maria — (<span class="regie">ist aufstehend über seinen Degen gestolpert, fällt unter den -Tisch und schläft weiter</span>) —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_345" id="Seite_345">[S. 345]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Viehklumpen! — Und Ich?? — O Vieh, Vieh, Vieh!!!</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Mütze zerfetzend und zu Boden schleudernd:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schandlappen verfluchter! da lieg, du Infamie!</div> - <div class="verse">O, ich Narr! ich Stadtnarr!!! (<span class="regie">Er faßt seinen Kopf mit beiden Händen;</span></div> - <div class="verse mleft1"><span class="regie">die Tanzmusik setzt wieder ab</span>) Halt, Michel, halt!</div> - <div class="verse">besinn dich, Mensch! — (<span class="regie">Er blickt scheu nach dem Rotbart und Eckart hinüber, -tastet an seiner Brust herum, holt das Vertragspapier aus der Tasche, entfaltet es, -starrt es kopfschüttelnd an.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(nimmt unterdessen Eckart beiseite):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Excellenz —</div> - </div> - - <div class="regie">(und da dieser ihm rasch den Mund zuhält)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">ah, Pardon — aber gehn wir nicht bald?</div> - <div class="verse">wir könnten leicht den rechten Moment verpassen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(ist zu ihnen getreten):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, wir dürfen den Mann <em class="gesperrt">nicht</em> in seinem Zorn verlassen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie’s beliebt, gnädiger Herr — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Wo <em class="gesperrt">ist</em> er? Er soll mir heraus!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Wer</em>, Michel, wer?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Dem ich hier mein Haus</div> - <div class="verse">vorhin verschrieb ohne Sinn und Verstand!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er zerknautscht das Papier, will es wegwerfen, hält plötzlich inne -und steckt’s in die Brusttasche.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Der</em>, Herr Vetter, ist leider inzwischen kurzerhand</div> - <div class="verse">mit deiner Glücksfee durchgebrannt.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Tanzmusik setzt wieder ein.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_346" id="Seite_346">[S. 346]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(nimmt seinen Hut und Stock von dem Tisch unter der Bank):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr Herren! Ich bin nur ein Mann in geringem Kleid</div> - <div class="verse">und mit Ehrfurcht im Leibe; aber was ihr auch seid,</div> - <div class="verse">ich schätz mich zu wert, euern Schabernack einzustecken!</div> - <div class="verse">Ich bin kein Hanswurst für naseweise Gecken,</div> - <div class="verse">und im Wirtshaus ist jedermann nichts als Zechkumpan!</div> - </div> - - <div class="regie">(Auf die zerrissene Mütze deutend:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wer hat mir den Schimpf da angetan?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Da mußt du <em class="gesperrt">den</em> dort fragen, Freund Grobian.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er zeigt nach hinten, wo eben der maskierte <em class="gesperrt">Landrat</em> -erscheint, ganz mit Cotillon-Orden bepflastert, begleitet vom -Kaplan und vom Pastor, alle drei den Hut auf dem Kopf und nicht -mehr vollkommen fest auf den Beinen.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(sich gleichfalls den Hut aufstülpend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ahh, Herr!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(sich mit dem Taschentuch fächelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ä —: Ah —? was Ah?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Ich fordre Aufklärung, Herr!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Pahahäh! Ist ja gottvoll! — Na also, Sie Aufklärererr:</div> - <div class="verse">erst mal Hut ab, wenn Sie hier um was bitten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mit Verlaub: mein Hut kehrt sich ganz nach Anderleuts Sitten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">mit Fistelton</span>): ja Sitten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">tief und schwer</span>): Sitten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreiz, Ruhe! — Das ist ja -äh- unerhört!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan und der Pastor</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Unerhört! Unerhört!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_347" id="Seite_347">[S. 347]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er besoffner Flegel, merk er sich: Wenn er das Fest weiterstört</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(den Hut kurz lüftend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Um Verzeihung, Herr Landrat: Wer <em class="gesperrt">ist</em> hier besoffen?</div> - <div class="verse">Ich für <em class="gesperrt">mein</em> Teil hab meinen Rausch ausgeschloffen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(immer heftiger fächelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ruhe!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">wie vorher</span>): Sehr gern, Herr Landrat. Nur bitt ich noch diese Nacht</div> - <div class="verse">um Antwort: Wer hat mich besoffen <em class="gesperrt">gemacht</em>?!</div> - <div class="verse">Und im Übrigen bitte: hier leg ich hin,</div> - <div class="verse">was ich etwa irgendwem dafür schuldig bin!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er langt eine Handvoll Geld aus der Hosentasche und wirft sie dem -Landrat vor die Füße.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(etwas zurückweichend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber das ist ja ein ganz -ä- ganz unglaubliches Vieh!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Ja, ein Vieh!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ahh!!! (<span class="regie">hebt in heller Wut seinen Stock.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Halt, Michel! Halt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">bezwingt sich</span>): Ja, wahrhaftig: für die,</div> - <div class="verse">die Biester da, ist mein Stock zu gut.</div> - <div class="verse">Aber eh ich ihn heimtrag, ihr Kröten-und-Unkenbrut,</div> - <div class="verse">soll euch doch mal erst, und müßt ich den Hals drum wagen,</div> - <div class="verse">eine Menschenstimme ans Trommelfell schlagen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Der Landrat holt Notizbuch und Bleistift heraus.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, notieren Sie’s nur! ich stell’s gerne auch noch unter Eid!</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_348" id="Seite_348">[S. 348]</a></span> - <div class="verse">O, mit welchem Brustkorb voll Feiertagsgläubigkeit</div> - <div class="verse">kam ich heut auf dies Fest, dies Volksfest, her in die Stadt!</div> - <div class="verse">Wie hatt ich mein einsames altes Waldnest satt!</div> - <div class="verse">wie sah ich die Welt hier von neuen Lichtern leuchten,</div> - <div class="verse">die mir alles Leben weiter und größer zu entfalten deuchten!</div> - </div> - - <div class="regie">(halb zum Rotbart und Eckart hingewendet:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">wie war ich willens — die Herren da sind mir Zeugen —</div> - <div class="verse">jedem überlegnen Geist mich mit Kopf und Kragen zu beugen!</div> - <div class="verse">wie glaubt ich, daß hier, wo Männer zum Wahlkampf rüsten,</div> - <div class="verse">die rechten, aufrechten Vorbilder ragen müßten,</div> - <div class="verse">einen Kerl wie mich zu vornehmer Art anzuleiten!</div> - <div class="verse">Und was fand ich? (<span class="regie">Zornschluchzend</span>:) Lauter Gemeinheiten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">dumpf</span>): Gemeinheiten.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na heul nicht, Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">hast höhere Obrigkeiten!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was?! Schwerebrett ja, was unterstehn Sie sich!</div> - <div class="verse">Ich verbitt mir, meine Herrn da — wer <em class="gesperrt">sind</em> Sie eigentlich?!</div> - <div class="verse">wie <em class="gesperrt">heißen</em> Sie?! (<span class="regie">Inzwischen hat sich im Hintergrund ein Haufen maskierter -Leute versammelt, darunter das Bürgermeisterpaar Arm in Arm, und ein lärmender -Wirrwarr drängt gegen den Rücken des Landrats.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Drei Bengelstimmen</em></div> - - <div class="regie">(plärren aus dem Gedränge):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">(<span class="regie">weinerlich</span>) Fritze! (<span class="regie">dreist</span>) Peter Paul! (<span class="regie">ruppig</span>) Ludewich! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreizrudiment, Herr Kaplan, da soll man nicht fluchen?!</div> - </div> - - <div class="regie">(<em class="gesperrt">Drei Kobolde</em> kommen plötzlich zum Vorschein, der erste ohne -Mütze und mit flennender Miene.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em> (<span class="regie">für sich</span>):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Träum ich?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_349" id="Seite_349">[S. 349]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Verflixte Bengels, was habt ihr hier noch zu suchen!</div> - <div class="verse">Ehrwürden hat euch doch extra vorhin zu Bett gejagt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich auch, Herr Landrat!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster Kobold</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">weinerlich</span>): Ich will meine Mütze!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Waas?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter und dritter Kobold</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Mütze!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ja —! Mutter hat gesagt:</div> - <div class="verse">Fritze, hat sie gesagt —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter und dritter</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Dusselfritze!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">(<em class="gesperrt">weinerlich</em>): Dusselfritze —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">erst gehst du und holst deine Zippelmütze!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft18">Zippelmütze —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Dritter</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Da liegt sie!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">verlegen sich wegdrehend</span>): Ä — bitte, Herr Bürgermeister!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er nimmt ihn beiseite, gestikuliert mit ihm.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster Kobold</em></div> - - <div class="regie">(hat die Mütze vom Boden genommen):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Kaputt — (<span class="regie">und läßt sie wieder fallen</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Na heul nicht, Fritze. Kuckt, kleine Geister,</div> - <div class="verse">was <em class="gesperrt">hier</em> liegt!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_350" id="Seite_350">[S. 350]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Geld! richt’ges Geld!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft16">und’n ganzer Haufen!</div> - <div class="verse">Da grappscht! da könnt ihr zehn neue für kaufen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Während sie aufsammeln)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und sagt eurer Mutter: der deutsche Michel läßt grüßen,</div> - <div class="verse">und die alte Schlafmütz, die hat er heut Nacht zerrissen.</div> - <div class="verse">So; nu geht zu Bette!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster Kobold</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Dank schön.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Hurrra!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Dritter</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">der deutsche Michel soll leben!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Erster und zweiter</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft18">leben! leben!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(während die Kobolde verschwinden):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So, Herr Vetter; nun könnten wir uns auch wohl ins Nest begeben!</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Tanzmusik macht wieder Pause.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir? — Ich hab meine Rechnung hier noch nicht klapp!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist geschenkt! Er kann jetzt abschwirren. Ab!</div> - <div class="verse">Man kennt ihn!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Man soll ihn noch mehr kennen lernen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ein Diener des Friedens rät Ihnen, sich zu entfernen,</div> - <div class="verse">Herr Michael. Wahrlich, Sie mißbrauchen</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_351" id="Seite_351">[S. 351]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schon gut, Herr Pastor; den muß man anders anhauchen.</div> - <div class="verse">Marsch nach Hause, Bursche! (<span class="regie">Michel zuckt auf.</span>)</div> - <div class="verse mleft12">Und sollt er sich weiter erfrechen,</div> - <div class="verse">dann — (<span class="regie">er gibt dem Bürgermeister ein Zeichen</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Sofort, Herr Landrat! (<span class="regie">geht eilends ab.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(den Hut lüftend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Herr Pastor, ich will den Herrn Bergrat sprechen;</div> - <div class="verse">wo <em class="gesperrt">ist</em> er?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Er hat hier garnichts zu wollen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wo <em class="gesperrt">ist</em> er?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(zurückweichend, etwas torkelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Kreuzschwerebrettnochmal, er soll sich nach Hause trollen!</div> - <div class="verse">verstanden?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Michel Michael, halt deine Hand im Zaum!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bleib deiner mächtig, Mann; alles Andre ist Traum.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wo ist der Bergrat?! Er wird mir Rede stehn;</div> - <div class="verse">er versteht mit uns Volk menschlich umzugehn.</div> - </div> - - <div class="regie">(Die Tanzmusik setzt wieder ein.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meine Herren und Damen! ich rufe Sie sämtlich zu Zeugen:</div> - <div class="verse">ich habe -ä- Alles getan, um Exzessen vorzubeugen.</div> - <div class="verse">Hab ich, meine Herren?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_352" id="Seite_352">[S. 352]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Herren</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Jawohl, Herr Landrat! Alles!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft18">fast übergebührlich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meine Damen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Damen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Jawohl, Herr Landrat!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">schon beinah unnatürlich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Demnach -ä- warn’ich den Delinquenten zum letzten Mal:</div> - <div class="verse">derselbe hüte sich hierorts, in diesem -ä- städtischen Festlokal,</div> - <div class="verse">vor Widerstand gegen die Staatsgewalt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie? — Ich seh hier nur Leute in allerhand Maskengestalt.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ruhe!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Wenn Sie wünschen, Herr Landrat, bin ich im Amtskleid erbötig</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja: Euresgleichen hat keine Maske erst nötig!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eine Dame</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hihihi —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Einige Herren</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">hähähä — hahahah —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Un-er-hört!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Es scheint, Herr Collega, der Ärmste ist geistig gestört.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_353" id="Seite_353">[S. 353]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja! Sag er mal, Wertster: ihm brennt’s wohl im Kopp, das Stroh?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Darauf, Allerwertster, darauf antwort ich so — —</div> - </div> - - <div class="regie">(er kehrt ihm den Rücken und schlägt sich aufs Hinterteil; die -Tanzmusik bricht quietschend ab, und ein langer starker Baßton -erfolgt) — —</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Herren</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hă!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Damen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Ohh — — (<span class="regie">man fährt mit den Taschentüchern zur Nase und -wendet sich ruckhaft von Michel weg.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber das schreit ja zum Himmel mit dem Rüpel da!</div> - <div class="verse">Ist denn kein Gummiknüppel da?!</div> - <div class="verse">Herr Bürgermeister!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">(<span class="regie">vom Hintergrund her</span>): Sofort, Herr Landrat!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft19">Ja bitte, fix!!</div> - <div class="verse">Platz da, meine Damen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Vorwärts, Leute! da steht der Taugenix.</div> - </div> - - <div class="regie">(<em class="gesperrt">Drei Polizisten</em> marschieren auf.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(mit der Pritsche klappend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Halt! Vorsicht! hier riecht’s nach Dynamit!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ruhe!!! Vorwärts, Kerls! Losungswort: Moabit!</div> - <div class="verse">Los!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">Los, Leute!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_354" id="Seite_354">[S. 354]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(mit beiden Händen seinen Stock aufstemmend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Halt!! Noch steh ich Gewehr bei Fuß;</div> - <div class="verse">aber wer den Michel anrührt, den haut er zu Mus!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Also Achtung! Plempen raus! Hoch das Bein! Immer druff!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Polizisten</em></div> - - <div class="regie">(blank ziehend und vorrückend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Immer druff! immer druff! immer druff —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">druff! knuff!!</div> - </div> - - <div class="regie">(rennt sie mit quergenommenem Stock übern Haufen.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Damen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Huch — (<span class="regie">flüchten samt den Herren nach hinten; zugleich aber kommen <em class="gesperrt">drei -andre Polizisten</em> von rechts aus dem Laubengang gestürzt, fallen Michel in den -Rücken und nehmen ihn fest</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Polizisten</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du Luder! du Mistvieh! du Aas! Lumpenhund!</div> - <div class="verse">Uff, Kanalje! Uff jetzt! Na warte: wir drehn dir die Knochen schon rund!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie zerren Michel vom Boden und drücken ihn in die Kniee; zwei -Mann halten seine Füße gepackt, je zwei seinen rechten und linken -Arm.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(wieder nähertretend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Stillgestanden! — So, Bursche: jetzt wird er wohl kirre sein.</div> - <div class="verse">Legt ihm Handschellen an!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">(<span class="regie">aufbrüllend</span>): Nein!!! Nein, schrei ich! Nein!</div> - <div class="verse">Beim ewigen Gott: lieber hackt mir die Arme vom Rumpf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ruhe!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Ich will Alles, was ich habe, mein Haus, Stiel und Stumpf,</div> - <div class="verse">der Staatskasse schenken!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_355" id="Seite_355">[S. 355]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Schluß jetzt! (<span class="regie">Zu den Polizisten</span>) Tut eure Pflicht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Halt</em>! Das wird nicht geschehen! <em class="gesperrt">dem</em> Mann da <em class="gesperrt">nicht</em>!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Trage Jeder, der richtet, Scheu vor höherm Gericht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Waas! — Ja zum Teufel, da soll doch — das ist ja wahrhaftigen Gott</div> - <div class="verse">das reine Anarchistenkomplott!</div> - <div class="verse">Herr Bürgermeister!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Herr Landrat? —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(während die Beiden erregt zusammen tuscheln und der knieende -Michel stumm mit den Polizisten ringt, zum Rotbart):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Gnädiger Herr, ists erlaubt,</div> - <div class="verse">die Narrheit loszulassen gegen ein närrisches Haupt?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Tu, Schalk, was dein Witz und — dein Herz dir erlaubt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dank, Herr — (<span class="regie">er verneigt sich und eilt nach links davon</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div> - - <div class="regie">(vor Michel und seine Häscher tretend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Halt, Leute! — Arrestant Michel Michael,</div> - <div class="verse">wir wollen Rücksicht nehmen auf Ihren submissen Gnaden-Apell</div> - <div class="verse">und Sie einfach abführen lassen, ohne Verwendung von Handschellen,</div> - <div class="verse">unter der Bedingung: Sie nennen Ihre Spießgesellen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div> - - <div class="regie">(auf den Rotbart und Eckart hinüberweisend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">Wer sind diese Herren, mit denen Sie sich nicht scheuten,</div> - <div class="verse">unsre vaterländische Feststimmung unziemlich auszubeuten?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_356" id="Seite_356">[S. 356]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(immer noch knieend, stier vor sich hin):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Deutschland — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Na <em class="gesperrt">wirds</em> bald?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme des roten Karls</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">man stopp!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Immer mehr Stimmen von draußen her</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">man stopp! man stopp! man stopp!</div> - </div> - - <div class="regie">(Zugleich wird wieder das dumpfe Geräusch der stampfenden Maschine -hörbar.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div> - - <div class="regie">(sich die Ohren zuhaltend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreizsackerment, tanzt denn heute der Deibel Galopp?!</div> - </div> - - <div class="regie">(Von links erscheinen <em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>, der <em class="gesperrt">rote Karl</em> -in seiner Militär-Uniform, jetzt aber mit Schlapphut und ohne -Gesichtsmaske, und die maskierten <em class="gesperrt">Bergknappen</em>; die meisten -etwas angezecht, alle mit leeren Sektflaschen, die sie bedrohlich -wie Keulen schwingen.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div> - - <div class="regie">(während Eulenspiegel mit der Pritsche den Takt dazu klopft):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Stopp! Hie Knappschaft!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza center"> - <div class="verse">Knappschaft!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Jeder Knappe im Schacht</div> - <div class="verse">nehm sich vor falschen Wettern in Acht!</div> - <div class="verse">Licht aus!!! (<span class="regie">Er haut seine beiden Flaschen aneinander zu Scherben; sofort -erlöschen die elektrischen Ampeln. In der Dunkelheit geben jetzt nur die Laternchen -an den Tschackos der Bergknappen spärliches Licht. Man sieht, wie sich Michel von -seinen Häschern losreißt, seinen Stock ergreift und um sich schlägt. Dazu Gerassel -von Säbeln und zerschmissenen Flaschen, Geschrei der flüchtenden Damen und Herren, -und Eulenspiegels Pritschengeknalle.</span>)</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_357" id="Seite_357">[S. 357]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em></div> - - <div class="regie">(durch den Tumult hin und her trottend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12"><em class="gesperrt">Aus</em> das Licht! <em class="gesperrt">Aus</em> das Licht!</div> - <div class="verse mleft12">Irrwischfunken zünden nicht!</div> - </div> - - <div class="regie">(Michel stimmt ein):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Sumpfgesindel! Unkenbrut!</div> - <div class="verse mleft12">fang mal Feuer, faules Blut!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber Michel! Kerl! du verbläust ja mein Schwert!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Immer druff! Meines Vaters Stock ist zehn Schwerter wert!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Wert oder nicht, wert oder nicht,</div> - <div class="verse mleft12">schlagt in Stücken, was zerbricht!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Sind zerbrochen alle Klingen,</div> - <div class="verse mleft12">kann man noch den Knüppel schwingen!</div> - <div class="verse mleft17">Sieg!!!</div> - </div> - - <div class="regie">(Man sieht im Hintergrund durch den Saal die letzten fliehenden -Amtspersonen mit flüchtig aufflammenden Zündhölzchen rennen.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sieg! Hurra, Sieg!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Glückauf, Genossen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">Glückauf!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(mit Schellengebimmel):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Es lebe der ganze, allbeglückende Volksfestverlauf! —</div> - <div class="verse">Nun, Held Michel, wie steht’s? vollständig heil und gesund?</div> - <div class="verse">Laßt mal sehn! (<span class="regie">Die Bergknappen nehmen die Tschackos ab und beleuchten ihn - mit den Grubenlichtern.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Mir fehlt blos ein guter Trunk zur Stund.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_358" id="Seite_358">[S. 358]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ih! — Na, dann mal her den Rest von der Kesselbefeuchtung!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, Wasser!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Ah, Wasser!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Hahahah! Pros’t!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(nochmals bimmelnd und nach draußen gewendet):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft20">Heeda! Beleuchtung!</div> - <div class="verse">wo gibts hier Wasser?! Licht an!!! (<span class="regie">Die elektrischen Ampeln flammen -zum Teil wieder auf; man sieht am Boden zerbrochene Flaschen, zertrampelte -Zylinderhüte und zerrissene Maskenstücke liegen.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Aber erst sag ich Dank!</div> - <div class="verse">Roter Karl, ich werd’s dir mein Lebenlang</div> - <div class="verse">nicht vergessen! (<span class="regie">er schüttelt ihm die Hand.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Genossen, seht ihr?! was hab ich gesagt!</div> - <div class="verse">jetzt ist er Unser! (<span class="regie">klopft ihm gnädig die Schulter.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Hurrra!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">zurücktretend</span>): Wie??</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Na, man unverzagt!</div> - <div class="verse">Hurra schrein wir blos noch so aus alter Gewöhnung.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So —: Das also ist eure Menschenbrüderversöhnung:</div> - </div> - - <div class="regie">(draußen klappt plötzlich die eiserne Tür zu, und das Geräusch der -Maschine verstummt)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">einen Mann aus den Klauen der Überzahl glücklich rauszukloppen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_359" id="Seite_359">[S. 359]</a></span> - <div class="verse">um ihn dann in <em class="gesperrt">euern</em> Mehrheitsrachen zu stoppen —:</div> - <div class="verse">die Sorte Brüderlichkeit, die ist mir zu gleich und frei!</div> - </div> - - <div class="regie">(<em class="gesperrt">Ein Maschinenheizer</em>, unmaskiert, bringt ein Bierglas voll -Wasser; Michel schiebt ihn unsanft beiseite.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weg da! Bleibt mir vom Leibe mit eurer Nothelferei!</div> - <div class="verse">die könnt ich besser bei der Bergratsgesellschaft finden.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hoh! Frechheit! Haut ihn!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Ja, haut ihn, den Plumpsackblinden!</div> - <div class="verse">Ihr habt viel gelernt von denen, die euch schinden,</div> - <div class="verse">aber eins, darin sind sie euch doch noch voran:</div> - <div class="verse">sie sehn blanke Pfennige nicht für Goldstücke an,</div> - <div class="verse">sie wissen Bescheid über ihre eigne erbärmliche Kleinheit —</div> - </div> - - <div class="regie">(zu Boden starrend, halb für sich:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Menschheit, dein Erbteil heißt Gemeinheit! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em></div> - - <div class="regie">(zumteil vom Leder ziehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was?! Lyncht ihn! spießt ihn! Du Scheißkerl! Schuft! Lausejunge!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(sein Schwert aus der Scheide reißend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zurück!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="regie">(einen großen Revolver aus der Kutte langend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Sonst ertönt hier eine noch lautere Zunge!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und, meine Herren, Sektproppen knallen doch angenehmer.</div> - <div class="verse">Auch läßt sich der Rest der Ladung viel sicherer und bequemer</div> - <div class="verse"><em class="gesperrt">ohne</em> Bratspießgefuchtel fürs Allgemeinwohl verwenden,</div> - <div class="verse">zumal da sich Spieße leicht umdrehn unter Geisterhänden.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Einige Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hahahah!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_360" id="Seite_360">[S. 360]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ja, die Welt ist seit Alters voll scharfer Plempen;</div> - <div class="verse">und wie bald, wie bald kann das Häuflein Gemeinheitskämpen,</div> - <div class="verse">das vor Unserm Gemeinsinn ausriß mit Hasenbeinen,</div> - <div class="verse">verstärkt als Werwolfshaufen wieder erscheinen!</div> - <div class="verse">Also, meine Herren, verzeihn Sie: ich möchte meinen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hm — ja — verdammt ja — sehr wahr! — Weg!! Kommt, Kinder! Weg!</div> - <div class="verse">Nach Hause!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Still, Genossen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Hoh! ohoh!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Aber Schwerenotdonnerblech,</div> - <div class="verse">so hört doch!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em></div> - - <div class="regie">(ihre Degen einsteckend und torkelbeinig nach links abziehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Blech! marsch! halt die Schnauze! sonst gibts’n Tritt!</div> - <div class="verse">komm unsern Sekt aussaufen! marsch! nach Hause! komm mit!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dann sauft, Viecher — <span class="regie">(lauter)</span> Michel, wir sind noch nicht quitt! — —</div> - </div> - - <div class="regie">(Er schreitet langsam den Andern nach.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(da Michel mit seinem Stock am Boden herumbohrt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nun, Gevatter Helde? du schaust ja so tiefsinnig nieder.</div> - <div class="verse">Es scheint, deine Zippelmütze bezaubert dich wieder.</div> - </div> - - <div class="regie">(Indem er sie auflangt:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie ist zwar ein bißchen stark ramponiert;</div> - <div class="verse">aber vielleicht hast du jemand, der sie dir repariert? —</div> - <div class="verse">Bitte — (<span class="regie">er überreicht sie ihm</span>) —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_361" id="Seite_361">[S. 361]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(in sich gekehrt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Ja —: zur Erinnrung an diese Geisternacht —</div> - <div class="verse">und zum Zeichen: der Michel ist aufgewacht! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist er? —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div> - - <div class="regie">(während der Vorhang sich schließt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">aufgewacht — —</div> - </div> - - <div class="person"><span class="s4">*</span></div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div> - - <div class="regie">(von links kommend, klappt mit der Pritsche):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hochgesinnte Gönner! (<span class="regie">bimmelt mit der Schelle</span>) sinnige Gönnerinnen!</div> - <div class="verse">der Akt der Rache kann jetzt beginnen.</div> - <div class="verse">Sie suchen wahrscheinlich bereits mit dem Opernglase</div> - <div class="verse">nach der wohlverdienten, gespenstisch langen Nase,</div> - <div class="verse">die ich unserm Dichter untertänigst in Aussicht stellte.</div> - <div class="verse">Jedoch ich frage Sie: <em class="gesperrt">wäre</em> er dann der Geprellte?</div> - <div class="verse">Nein, diesen Kopfverdreher müssen wir noch verdrehter anfassen.</div> - <div class="verse">Er hat sich ohnehin zu Anfang gewiß nicht träumen lassen,</div> - <div class="verse">hier als Nachtmützenhüter für Michels Haushalt zu enden;</div> - <div class="verse">ich bitte ihm also Ihren wärmsten staatsbürgerlichen Beifall zu spenden,</div> - <div class="verse">das wird seinen Weltbürger-Größenwahn gründlich vernichten.</div> - <div class="verse">Er wollte drum — im Vertrauen gesagt — garnicht weiterdichten,</div> - <div class="verse">aber da kennt er die Traumweltgesetzgebung schlecht:</div> - <div class="verse">unser Herr und Meister, jetzt ist er unser Knecht!</div> - <div class="verse">Soll uns etwa, ihm zu Gefallen, der Weltgeist spurlos verschlingen</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_362" id="Seite_362">[S. 362]</a></span> - <div class="verse">und die deutsche Geheimpolizei immer mehr in Mißkredit bringen?</div> - <div class="verse">Noch ahnt ja keine Seele, was wir in Wirklichkeit sind;</div> - <div class="verse">an Geistererscheinungen glaubt doch kaum noch ein Kind.</div> - <div class="verse">Vor allem sind wir — auf den Ausgang der Handlung gespannt;</div> - <div class="verse">denn es ist doch für den Fortbestand</div> - <div class="verse">der christlich-germanischen Menschheit die unumgänglichste Pflicht,</div> - <div class="verse">daß der Michel seine Lise krigt.</div> - </div> - - <div class="regie">(Hinterm Vorhang rhythmisches Händegeklatsch.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Da! man klatscht schon! — Heiliger Pritschenschall,</div> - <div class="verse">das klappt ja, als wär bereits Hochzeitsball.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div> - - <div class="regie">(singt hinterm Vorhang, und Eulenspiegel spricht horchend Zeile auf -Zeile nach):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Tapp tapp, wer kommt da querfeldein?</div> - <div class="verse center">Nur rasch, nur rasch, Herr Morgenschein,</div> - <div class="verse center">Trab Trab!</div> - <div class="verse center">Die Jungfer Tauduft putzt sich hier;</div> - <div class="verse center">sie schlägt den Schleier auf vor dir,</div> - <div class="verse center">klapp klapp!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(nachdem er die letzte Zeile wiederholt hat):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie schlägt vielleicht noch mehr auf, klapp;</div> - <div class="verse">da geh ich diskreterweise ab.</div> - </div> - - <div class="regie">(Er verschwindet nach links, den Vorhang mit wegziehend.)</div> - - </div> -</div> - -<div class="section"> - -<h4 class="padtop1" id="Fuenfter_Aufzug">Fünfter Aufzug</h4> - -</div> - -<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: wie beim ersten Aufzug. Am Gartentisch sitzt -<em class="gesperrt">Lise</em> mit dem noch immer maskierten <em class="gesperrt">Bergrat</em>; Beide -klatschen mit den Händen den Takt des Liedes. Sie hat den Schleier -zurückgeschlagen, und ihr Wünschelstab steht an die Haustür -gelehnt. Es ist noch erstes Morgengrauen; später wird der Himmel -hinter den Bäumen heller und färbt sich schließlich mit goldner -Röte.)</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_363" id="Seite_363">[S. 363]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(singt weiter):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Klapp klapp, sie lädt dich ein zum Tanz;</div> - <div class="verse center">nur hol erst deinen goldnen Kranz,</div> - <div class="verse center">Trab Trab!</div> - <div class="verse center">Wer zu ihr will, muß früh aufstehn;</div> - <div class="verse center">wer’s tut, dem patscht sie auf die Zehn,</div> - <div class="verse center">schwapp!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(ihre Hände fassend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schwapp, gefangen! Jetzt fordr’ich Lösegeld.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das kann doch keiner zahlen, dem man die Hand festhält?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(sie freigebend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, Fräulein Lise: wirklich: Sie machen mich rein zum Kind.</div> - <div class="verse">Sie tun ja viel stachliger, als Sie sind.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So? Wie bin ich denn?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Sie sind so zum küssen nett,</div> - <div class="verse">so wie Dornröschen in ihrem moosgrünen Bett,</div> - <div class="verse">als endlich der Ritter kam und sie nannten sich Du —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Halt, Herr Ritter: so spornstreichs gehts nur im Märchen zu.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber ich bitte doch schon die ganze Nacht so heiß</div> - <div class="verse">wie ein Glühwurm, Schatz!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Herr Glühwurm, erst für den Schatz den Preis!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber Kind, du liegst ja wie’n Füchslein danach auf der Lauer.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, Herr Fuchs; sonst bleiben die Trauben sauer.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_364" id="Seite_364">[S. 364]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Liebes Fräulein Lise: hier, bitte, sehn Sie mein ehrlich Gesicht!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er will sich die Maske abnehmen.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(ihn nasenstübernd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, lieber nicht.</div> - <div class="verse">Ich finde die meisten Herren maskiert viel netter.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Alle Wetter! —</div> - <div class="verse">Ja aber, du Satansmädel:</div> - <div class="verse">was spukt dir im Schädel!</div> - <div class="verse">solch Grundstück ist doch kein Puppenlappen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja aber, Herr Satan, ich bin doch auch ein recht schmucker Happen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und blos, weil der — Vormund das Haus behalten soll?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was dachten <em class="gesperrt">Sie</em> denn?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Mädel, mach mich nicht toll!</div> - <div class="verse">Sag, wo hast du den Schlüssel?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Nein wahrhaftig, den haben die Raben;</div> - <div class="verse">ich muß ihn im Stadtpark verloren haben.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Liebes goldnes Mädel, ich hüll dich in Sammt und Seide!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Lieber toller Herr Bergrat: bitte, drei Schritt vom Kleide!</div> - <div class="verse">Sonst zieh ich gleich wieder den schwarzen Schleier vor</div> - <div class="verse">und stopf mir moosgrüne Watte ins Ohr.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_365" id="Seite_365">[S. 365]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(das Vertragspapier aus der Brusttasche nehmend und entfaltend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nun — dann hier, Fräulein Lise. Der Fuchs ist zwar manchmal ein Dieb,</div> - <div class="verse">aber immer ein Ritter.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">O, <em class="gesperrt">das</em> — nein, ist <em class="gesperrt">das</em> aber lieb!</div> - <div class="verse">Nein wirklich: das ist einfach lieb von Ihnen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und die Trauben?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Oh — die werden vielleicht noch Rosinen.</div> - <div class="verse">Hier schenk ich Ihnen meinen aller-aller-unsauersten Kuß.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie küßt ihm die Hand und springt rasch weg; steckt das -Vertragspapier dann ins Mieder.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das war aber ein sehr, sehr vormundhafter Genuß.</div> - </div> - - <div class="regie">(Auf ihr Mieder deutend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Darf ich nicht wenigstens beim Verschluß der Schatzkammer helfen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, das dürfen vorläufig nur im Mondschein die Elfen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, liebstes Fräulein Lise, sein Sie doch gut zu mir!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, liebstes Herrlein Bergrat —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Racker, ich sage dir:</div> - <div class="verse">mach mich nicht wild, ich hau dich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Erst kriegen! erst kriegen!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(ihr nachsetzend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na wart du! ich werd dir die Hexenbeinchen schon biegen!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_366" id="Seite_366">[S. 366]</a></span> - - <div class="regie">(Zugleich erscheint von links <em class="gesperrt">Michel Michael</em>; hinter ihm -<em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>, der <em class="gesperrt">Rotbart</em> und <em class="gesperrt">Eckart</em>. Lise -sieht es und läßt sich vom Bergrat fangen.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(kraß auflachend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hahahah, ich — heut lern ich noch blocksberghoch fliegen — —</div> - <div class="verse">(<span class="regie">Dumpf</span>) O Lise — (<span class="regie">Zum Bergrat, wild:</span>) Weg jetzt!!! Marsch aus dem Garten, Sie —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(ihm ruhig nähertretend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Scheren Sie sich! Hier bin <em class="gesperrt">Ich</em> Herr!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft19">Wie —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(zusammenzuckend, sich abwendend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja so! — Verflucht ja —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Ja — jetzt bin <em class="gesperrt">Ich</em> es —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">(<span class="regie">spöttisch, halblaut</span>): So —?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach so; verdammt ja — (<span class="regie">wendet sich gleichfalls ab</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">reckt sich wieder</span>): Ich sag Ihnen, Mensch, sein Sie froh,</div> - <div class="verse">daß mein Stock schon Arbeit gehabt hat heut Nacht!</div> - <div class="verse">Aber nehmen Sie trotzdem, rat’ich, Ihr Corpus juris in Acht:</div> - <div class="verse">bis zum Räumungstermin ist das Haus noch Mein!</div> - <div class="verse">Also Marsch jetzt!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Aber Michel!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Schweig jetzt! Pack dich hinein!</div> - <div class="verse">Wo ist der Schlüssel?!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_367" id="Seite_367">[S. 367]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Futsch.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Quatsch nicht!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Verloren.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Lüg nicht noch obendrein!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie werd ich denn das dem Herrn Vormund zu bieten wagen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(an der Türklinke rüttelnd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Himmelkreuz — (<span class="regie">will Lisens Stab zerschmeißen</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Nicht, Michel! nicht meinen Glücksstab zerschlagen!</div> - <div class="verse">o bitte, nicht wüst sein — (<span class="regie">entwindet ihm den Stab</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">(<span class="regie">den Hut lüftend</span>): Fräulein Lise, ich will jetzt gehn;</div> - <div class="verse">aber ich hoffe</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">auf Nimmerwiedersehn!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das dürfte wohl nicht von <em class="gesperrt">Ihnen</em> abhängen, denke ich.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(halblaut):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wer weiß, Herr Traubenräuber —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Ah! — Hüten Sie sich!</div> - <div class="verse">Der Ritter Fuchs könnte leicht seine Zähne demaskieren.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(kitzelt ihn hinterrücks mit dem Gugelzipfel am Ohr):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dürft ich bitten, Herr Ritter, das mal dort drüben zu probieren?!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er weist höflichst zum Rotbart und Eckart hinüber, die sich nach -rechts begeben haben.)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_368" id="Seite_368">[S. 368]</a></span> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Inzwischen, schönste Glücksfee, gratulier ich zum Luftschloßbefund;</div> - <div class="verse">vielleicht, Herr Vetter, paßt mein Geheimschlüsselbund.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie machen vergebliche Versuche, die Tür aufzuschließen; Lise -schneidet dem wütenden Michel Gesichter dabei.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(hat seinen Spazierstock vom Gartentisch geholt, tritt nun sehr -förmlich vor die beiden Vermummten):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Herren wünschen? Und mit wem hab ich die Ehre?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(gedämpft, aber wuchtig):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wir wünschen, daß Niemand des Michel Michaels Hausstand versehre.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber ich muß doch sehr bitten —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Wir wünschen zum zweiten,</div> - <div class="verse">daß Niemand uns nötige, unverhüllt einzuschreiten.</div> - <div class="verse">Hier bitte — zur steten Erinnerung —</div> - </div> - - <div class="regie">(er überreicht ihm zwei Visitenkarten und hebt einen Augenblick die -Kapuze) —</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div> - - <div class="regie">(jetzt gleichfalls die Stimme dämpfend und vollkommen seine Haltung -ändernd):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O bitte tausendmal um Entschuldigung! —</div> - </div> - - <div class="regie">(Mit tiefer Verbeugung, erst vorm Rotbart, dann etwas knapper auch -vor Eckart):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hätten Hoheit ahnen lassen, oder Excellenz,</div> - <div class="verse">dies bescheidne Volksfest werde Sie aus der Residenz</div> - <div class="verse">an unsern aufblühenden Industrieplatz locken —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, wir wünschen wiegesagt <em class="gesperrt">keine</em> großen Glocken.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zu Befehl, Hoheit.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Und wünschen, daß aus dem Wetterschacht</div> - <div class="verse">dieser spaßhaften Nacht</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_369" id="Seite_369">[S. 369]</a></span> - <div class="verse">keinerlei ernsthafte Schläge übertag entstehn;</div> - <div class="verse">Sie lassen, Herr Bergrat, mir darüber Bericht zugehn!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zu dienen, Excellenz.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Dann auf glückhaftes Wiedersehn — —</div> - </div> - - <div class="regie">(Er gibt dem Bergrat gemessen die Hand; dieser verneigt sich -zweimal zum Abschied, zieht dann auch vor der Haustürgruppe den -Hut, wofür Lise ihm eine Kußhand zuwirft, und verschwindet mit -saurem Lächeln nach links.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(seinen Schlüsselbund einsteckend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, Gevatter, es scheint, du mußt bis zum Räumungstermin</div> - <div class="verse">in dein Luftschloß entweder durch den Rauchfang ziehn,</div> - <div class="verse">oder du nimmst hier den Garten als Himmelbett.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Oder</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Still, du Maulaff!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Gern, Herr Vormund; mein Maul ist nämlich sehr nett.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie geht und setzt sich an den Gartentisch, während Michel dem -Bergrat nachstarrt.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div> - - <div class="regie">(hat sich mit Eckart wieder dem Haus genähert):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Oder, Michel, stimmt dich die <em class="gesperrt">Stadt</em> da so tief beschaulich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie deucht dir heute wohl ziemlich morgengraulich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div> - - <div class="regie">(über den Garten zum Himmel hinweisend, eindringlich):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schau lieber dorthin, wo sich aus höhern Gründen</div> - <div class="verse">reinere Lichter aufs neue entzünden!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, ihr Herren! Und Nein! Euch will ichs gerne verkünden.</div> - <div class="verse">Ihr habt mir beigestanden in dieser Sommerwendnacht,</div> - <div class="verse">und die hat mein Grünjungengetreide reifer gemacht.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_370" id="Seite_370">[S. 370]</a></span> - <div class="verse">Ja, ich <em class="gesperrt">sehe</em> ein neues Frührot entbrennen;</div> - <div class="verse">aber drum, grad drum will ich <em class="gesperrt">nicht</em> mehr ins Blaue rennen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Sein zerknautschtes Vertragspapier einen Augenblick herauslangend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich will mich mit meiner papiernen Habe aufmachen</div> - <div class="verse">und nicht ruhn, bis auch Andre aus ihrem Papiertraum erwachen.</div> - <div class="verse">Ich werde uns erdwüchsig Volk zusammenraffen,</div> - <div class="verse">wir werden uns jeder Haus und Hof wieder schaffen,</div> - <div class="verse">Erde, auf der wir mit Lust arbeiten</div> - <div class="verse">und unsern Kindern ein greifbar Stück Vaterland bereiten;</div> - <div class="verse">bis in die Städte hinein wird Garten an Garten einst prangen,</div> - <div class="verse">wird aller Schöpfergeist edleren Boden empfangen,</div> - <div class="verse">Frucht gegen Frucht tauschen, Saat gegen Saat,</div> - <div class="verse">Tat für Tat.</div> - <div class="verse">Und will er <em class="gesperrt">dazu</em> sein Handlangervolk befrein,</div> - <div class="verse">dann soll auch der rote Karl mir willkommen sein:</div> - <div class="verse">jeder, der ankommt mit einer lichtfrohen Kraft,</div> - <div class="verse">bis wir das ganze Erdreich erleuchten, wir Neubauernschaft!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">die den alten Dunst aus der Pfeife pafft!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie??</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">O Vetter! dein Luftschloß wird immer — hm — allgemeiner.</div> - <div class="verse">Du redst ja wie’n Buch von Hertzka oder Oppenheimer.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(vom Gartentisch her):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja — solch Mundwerk wie der Herr Vormund hat Keiner.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Michel Michael! willst du plötzlich auf Andre bauen?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wo blieb heut um Mitternacht dein Menschenvertrauen?</div> - <div class="verse">Es war so zerfetzt wie dein Mützenflaus.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_371" id="Seite_371">[S. 371]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, ihr Herren, ihr kennt mich noch lange nicht aus!</div> - <div class="verse">Hab ich nicht Euch, ihr Unbekannten, vertraut?</div> - <div class="verse">Ich sag euch: Hundert Menschheiten stecken in jeder Haut! —</div> - <div class="verse">Seht dort: noch deutet der Himmel erst schüchtern mit Funken an,</div> - <div class="verse">daß da eine Sonne auflodern will und kann!</div> - <div class="verse">Horcht hier: noch rührt sich kein Vogelruf im Wald:</div> - <div class="verse">in einer Stunde schmettert alles und schallt!</div> - <div class="verse">So wird, wenn <em class="gesperrt">Einer</em> erst wagt, Haupt und Herz zu erheben,</div> - <div class="verse">dieser Eine viel Andre mitbeleben,</div> - <div class="verse">bis Alle aufglühn zu immer hellerem Geist,</div> - <div class="verse">wie’s im Liede heißt:</div> - <div class="verse center">Auf Erden ist immerfort jüngstes Gericht —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(singt halblaut, in derselben Melodie wie zu Anfang des Spiels):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">jüngstes Gericht —</div> - <div class="verse center">unter Tag.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Aus Schutt wird Feuer, wird Wärme, wird Licht —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(etwas lauter):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">wird Wärme, wird Licht —</div> - <div class="verse center">über Tag.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weiter!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(mit immer vollerer Stimme):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Wir schlagen aus jeglicher Schlacke noch Glut;</div> - <div class="verse center">Glückauf!</div> - <div class="verse center">Wir ruhn erst, wenn Gottes Tagwerk ruht;</div> - <div class="verse center">Glückauf! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Ja</em>, Herren! —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_372" id="Seite_372">[S. 372]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ja, laß dir nur gründlich die Ohren vollsingen!</div> - <div class="verse">Das wird dich auf immer gottvollere Sprünge bringen;</div> - </div> - - <div class="regie">(durch die hohle Hand)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">man opfert fürn Nachthäubchen schließlich den rosigsten Morgen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dafür, Herr Haubenmatz, laß mich nur selber sorgen!</div> - <div class="verse">Ich weiß jetzt mein Tag- und Nacht-Gebet,</div> - <div class="verse">das keine Lichtmaschine mir mehr verdreht.</div> - <div class="verse">So wird’s auch manch ander Manns- und Weibs-Herze wissen,</div> - <div class="verse">das heut emporbegehrt aus den Zwielicht-Dämmernissen.</div> - </div> - - <div class="regie">(Nach der Stadt weisend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und wenn da unten die Herrschaften etwa dagegenfackeln,</div> - <div class="verse">dann solln schließlich <em class="gesperrt">ihnen</em> die Zippelmützen wackeln!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dann wirds wohl Zeit, edler Helde, dir endlich Lebwohl zu sagen;</div> - <div class="verse">sonst gehts womöglich erst mal Uns an den Kragen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, der Herr Vormund kann sich manchmal auch artig betragen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(nach einer Drohgeberde zu ihr hinüber):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Freilich wüßt ich gerne: wem bin ich zu Dank verpflichtet?</div> - <div class="verse">Ihr Herren habt mich aus schwerer Schmach aufgerichtet.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dann mag deine Glücksfee dich weiter so dankbereit halten.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schutzgeister <em class="gesperrt">müssen</em> geheimnisvoll walten.</div> - </div> - - <div class="regie">(Von rechts her ein Schnurr-und-Knattergeräusch.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Auch lockt uns plötzlich ein Zaubermaschinenduft:</div> - <div class="verse">unser Kraftwagen verdirbt deine Morgenluft.</div> - <div class="verse">Also, hehre Fee, bitte segne den Schicksalslauf!</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_373" id="Seite_373">[S. 373]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glückauf, ihr Geister!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Die Drei</em></div> - - <div class="regie">(sind inzwischen nach rechts geschritten):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse center">Glückauf! Glückauf! Glückauf!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie verschwinden nacheinander im Wald.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme Eulenspiegels</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich wünsch dir, Michel, noch manche erbauliche Luftschloßbestrebung!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme Eckarts</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nur zerstör nicht den Himmel mit deiner Erdreichbelebung!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme des Rotbarts</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Denn, Michel: das Erbgut der Menschheit heißt Erhebung! — —</div> - </div> - - <div class="regie">(Nochmals das Kraftwagen-Geräusch.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(ist an der Gartenpforte stehen geblieben, nähert sich nun dem -Gartentisch):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, du Grasaff?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Na, Herr Vormund?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Dir fällt wohl’s Stehn heute schwer?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, Herr Vormund — (<span class="regie">erhebt sich</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">So — (<span class="regie">Aufstampfend</span>) Schockwetter, laß das Gesperr,</div> - <div class="verse">du dumme Lise! — Was hast du dir denn gedacht</div> - <div class="verse">mit deinem Gejachter, so in der Nacht?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich hab mir gedacht, so in der Nacht,</div> - <div class="verse">ob der dumme Michel wohl endlich einmal aufwacht</div> - <div class="verse">und alldas still mit nach Hause bringt,</div> - <div class="verse">wovon die dumme Lise Lied immer singt.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_374" id="Seite_374">[S. 374]</a></span> - <div class="verse">Und weil er so lange ist wer-weiß-wo geblieben,</div> - <div class="verse">hab ich mir eben derweil ein bißchen die Zeit vertrieben.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mit solchem unstatthaften Patron!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist doch eine ganz stattliche Mannsperson.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der — getaufte Jud!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist doch ein sehr altmächtig, erdstark, auserwählt Blut.</div> - </div> - - <div class="regie">(Mit bebender Frage:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weißt du nicht mehr:</div> - <div class="verse">ich kam ja auch wohl aus fernem Süden einst her —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(indem sein Stock ihm entfällt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Lise!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Michel — — (<span class="regie">unsägliche Umarmung</span>) — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft1">(<span class="regie">stammelnd</span>): O, du all mein einziges, ewiges Herzbegehr —</div> - <div class="verse">O, wie lange hast du mich nach dir suchen lassen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O, wie lange konnt ichs selber nicht fassen —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und nun stehn wir, wie’s einst am Anfang war:</div> - <div class="verse">im Garten Eden, das erste Menschenpaar.</div> - <div class="verse">Du meine Welt, du liebe Unruh du!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du meine Heimat — meine Ruh — —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, Lise, ich hab so wundervoll heute von dir geträumt!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(sich halb aus seinen Armen lösend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und hast beinahe dabei dein wirkliches Wunder versäumt.</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_375" id="Seite_375">[S. 375]</a></span> - - <div class="regie">(Sie schreiten allmählich aus dem Garten vors Haus.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber vielleicht ist’s wahr, das Sprichwort —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">ach, sei kein Schaf —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(küßt ihn):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">ja: den Schafen gibt’s der Himmel im Schlaf.</div> - <div class="verse">Weißt du, wo jetzt die Schwelle zu unserm Luftschloß steckt?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na sag’s mal!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">auf ihre Brust tippend</span>): Hier!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Ja, Herze! das hab ich eben entdeckt.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, wirklich!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Wirklich?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(am mittelsten Miederknopf drehend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Ja, hier!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft15">Da? — (<span class="regie">scheu</span>) in deinem Mieder?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja —! Vielleicht findst du da — auch den Schlüssel wieder.</div> - <div class="verse">Such mal!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ach, Lise —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Sieh mal, das macht man so —:</div> - </div> - - <div class="regie">(sie nimmt seine Finger und öffnet damit zwei Knöpfe) —</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Siehst du, da <em class="gesperrt">ist</em> er — ganz warm —</div> - </div> - - <div class="regie">(sie drückt ihm den Schlüssel in die Hand)</div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_376" id="Seite_376">[S. 376]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">(<span class="regie">an ihr niedersinkend</span>): O Lise! — Oh! —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, darum fällt man doch nicht gleich um in der Welt?!</div> - </div> - - <div class="regie">(Auf das Vertragspapier deuten, das zu Boden geflogen ist:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sieh: das Beste hast du noch garnicht gesehn, du Held!</div> - <div class="verse">Komm, steh auf! (<span class="regie">Sie bückt sich und gibt ihm das aufgeschlagene Papier.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft1">(<span class="regie">sich erhebend</span>): Was?! Wie?! Ja, wie hast denn <em class="gesperrt">Du</em> das erfuchst?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, das hat der Grasaff dem Traubenfuchs abgeluchst.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du, Du —!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">(<span class="regie">fast streng</span>): Nein, Michel; gut sein! (<span class="regie">küßt ihn</span>) —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft14">Du unbezahlbarer Racker!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht wahr: mein „Maul“ versteht sich aufs Gold-im-Munde-Gegacker?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dann wolln wir aber das Teufelspapier gleich in tausend Stücke zerreißen</div> - <div class="verse">und die Fetzen allen guten Geistern zuschmeißen!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er tut es; sie klatscht in die Hände dazu.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und meins hier auch! (<span class="regie">Er holt sein zerknautschtes Papier aus der Tasche und -reißt die Zippelmütze dabei mir heraus.</span>)</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(nimmt sie vom Boden auf, während Michel das Papier zerreißt):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Nanu, du: was ist denn daas?</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O — das ist blos so’n kleiner Traumgeisterspaß —</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_377" id="Seite_377">[S. 377]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Na, dann schließ mal auf, du; ich werd sie dir flicken!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(den Schlüssel ans Türschloß setzend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">In Unserm Haus, Du —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Du —! nicht wieder gleich in die Kniee knicken!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(die Tür breit aufsperrend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber den Trauerschleier erst ab!</div> - </div> - - <div class="regie">(Er tritt von der Schwelle zurück zu ihr, nimmt ihr hastig Diadem -und Schleier vom Haar, will beides auf die Erde werfen)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der soll heute Morgen für immer ins Grab!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber der Stern, der muß in mein Kämmerlein!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie wirft lachend das Diadem in den Hausflur.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und mein Glücksstab, Michel, hinterdrein!</div> - </div> - - <div class="regie">(Sie schleudert den Stab, den sie bis jetzt immer festhielt, in -hohem Bogen durch die Tür; man hört ihn auf der Treppe poltern.)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">So! — (<span class="regie">Sie hebt winkend die Zippelmütze —: läßt plötzlich schreckhaft den Arm -wieder sinken, da Michel wie entgeistert zurückweicht, die eine Hand aufs Herz pressend, -die andre vor die Stirn schlagend.</span>)</div> - <div class="verse mleft2">Aber <em class="gesperrt">was</em> denn, Michel?! Was träumt dir?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft20">Nein —</div> - <div class="verse">Nein! — Sehr wirklich! — Dieses Haus ist <em class="gesperrt">nicht</em> mein!</div> - <div class="verse">Du sollst mich nicht zu Unehr mit deinem Gewinke verführen;</div> - <div class="verse">lieber will ich nie wieder ein Glied von dir berühren!</div> - <div class="verse">Ich habe mein Wort, du, meinen Handschlag dem Mann da verpfändet;</div> - <div class="verse">das wird nicht durch Weiberfingerspiel umgewendet!</div> - </div> - - <div class="regie">(Auf die Papierfetzen weisend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Da, die Schrift da, die kann der Wind verwehn;</div> - <div class="verse">hier das Wort in mir, das bleibt ewig stehn!</div> - <div class="verse">Und will mich der Bergrat noch heute aufs Straßenpflaster jagen,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_378" id="Seite_378">[S. 378]</a></span> - <div class="verse">ich werde gehn, und müßt ich den ganzen Kram drin zerschlagen!</div> - <div class="verse">Das ist einfach meine verfluchte Pflicht,</div> - <div class="verse">schlicht und richt;</div> - <div class="verse">ich hab sie mir selber zuzuschreiben.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aber</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Nichts „aber“! Willst du ’nen Hundsfott beweiben??</div> - <div class="verse">Und gesetzt selbst, wir wollten’s so hündisch treiben:</div> - <div class="verse">ich sag dir: macht sich der Mensch mal gemein,</div> - <div class="verse">die Welt wird noch x-mal gemeiner dann sein.</div> - <div class="verse">Heute Nacht der Bergrat gab mirs sehr dürr zu kauen:</div> - <div class="verse">die Grubengesellschaft hat Alles hier sowieso in den Klauen.</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="regie">(für sich):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Fuchs —</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div> - - <div class="regie">(sich reckend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Also bleibts dabei: Neu Land wird beschafft,</div> - <div class="verse">wo keine Maulwurfshand uns die Wurzeln wegrafft!</div> - <div class="verse">wo wir Kraft haben dürfen wie unsre Erdschollen</div> - <div class="verse">und Luft und Licht schöpfen, soviel wir wollen!</div> - <div class="verse">Und gibt die Heimat kein solches Land mehr her,</div> - </div> - - <div class="regie">(wild und weh:)</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">dann, Lise, dann tragen wir Deutschland übers Meer!</div> - <div class="verse">Verstanden?!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dann, Michel, dann will ich nur beten,</div> - <div class="verse">daß unsre Schutzgeister gnädigst dazwischentreten,</div> - <div class="verse">du lieber, einziger, grenzenloser Mann!</div> - <div class="verse">Denn wenn sie’s nichttun: (<span class="regie">beklommen</span>) wo soll denn dann</div> - <div class="verse">unsre — Hochzeitsfeier sein? und wann?</div> - </div> - -<span class="pagenum"><a name="Seite_379" id="Seite_379">[S. 379]</a></span> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft17">Wann? — Wann?? —</div> - </div> - - <div class="regie">(nimmt sie stürmisch auf beide Arme hoch)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nein, Michel, nicht!!!</div> - </div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Nein?? —</div> - </div> - - <div class="regie">(macht grimmig Miene, sie niederzusetzen)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">(<span class="regie">ihn bang umhalsend</span>): Ja, Michel, schnell — —</div> - </div> - - <div class="regie">(Er trägt sie über den schwarzen Schleier hinweg ins Haus; auf -seinem Rücken baumelt in ihrer Hand die zerrissene Zippelmütze.)</div> - - <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div> - - <div class="regie">(taucht aus dem Souffleurkasten auf, seinen Schellenzipfel -schwingend):</div> - - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Es lebe dein Stammhalter, Michel Michael!!!</em></div> - </div> - - <div class="regie">(<em class="gesperrt">Vorhang</em>)</div> - - </div> -</div> - -<p class="s4 center padtop1 mbot2">* * *</p> - -<div class="chapter"> - -<p class="center padtop5">*</p> - -</div> - -<p class="s5 center">Druck der<br /> -Spamerschen Buchdruckerei<br /> -in Leipzig</p> - -<p class="center">*</p> - - - - - - - - -<pre> - - - - - -End of the Project Gutenberg EBook of Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3), by -Richard Dehmel - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI *** - -***** This file should be named 62673-h.htm or 62673-h.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/6/2/6/7/62673/ - -Produced by the Online Distributed Proofreading Team at -https://www.pgdp.net - - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. 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It -exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations -from people in all walks of life. - -Volunteers and financial support to provide volunteers with the -assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's -goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will -remain freely available for generations to come. In 2001, the Project -Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure -and permanent future for Project Gutenberg-tm and future -generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see -Sections 3 and 4 and the Foundation information page at -www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg -Literary Archive Foundation - -The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit -501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the -state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal -Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification -number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary -Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by -U.S. federal laws and your state's laws. - -The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the -mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its -volunteers and employees are scattered throughout numerous -locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt -Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to -date contact information can be found at the Foundation's web site and -official page at www.gutenberg.org/contact - -For additional contact information: - - Dr. Gregory B. Newby - Chief Executive and Director - gbnewby@pglaf.org - -Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg -Literary Archive Foundation - -Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide -spread public support and donations to carry out its mission of -increasing the number of public domain and licensed works that can be -freely distributed in machine readable form accessible by the widest -array of equipment including outdated equipment. Many small donations -($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt -status with the IRS. - -The Foundation is committed to complying with the laws regulating -charities and charitable donations in all 50 states of the United -States. 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