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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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-Project Gutenberg's Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3), by Richard Dehmel
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll
-have to check the laws of the country where you are located before using
-this ebook.
-
-
-
-Title: Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3)
-
-Author: Richard Dehmel
-
-Release Date: July 16, 2020 [EBook #62673]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-https://www.pgdp.net
-
-
-
-
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-
- ####################################################################
- Anmerkungen zur Transkription
-
- Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Buchausgabe
- so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
- Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und
- altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
- unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert.
-
- Das Inhaltsverzeichnis (‚Übersicht‘) wurde vom Bearbeiter an den
- Anfang des Buches verschoben.
-
- Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere
- Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden Sonderzeichen
- gekennzeichnet:
-
- kleinere Schrift: _Unterstriche_ (für Regieanweisungen)
- gesperrt: +Pluszeichen+
- Antiqua: ~Tilden~
-
- ####################################################################
-
-
-
-
-[Illustration]
-
-
-
-
- Richard Dehmel
-
- Gesammelte Werke
-
- in drei Bänden
-
- Dritter Band
-
- S. Fischer, Verlag, Berlin
-
-
-
-
- 22. bis 24. Tausend
-
- Alle Rechte vorbehalten, auch das der Übersetzung
- Copyright 1913 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin
-
-
-
-
-Übersicht
-
-
-(Die mit * bezeichneten Stücke sind neu aufgenommen)
-
- Seite
-
- Lebensblätter
-
- Die Rute 7
-
- Der Werwolf 24
-
- Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht 36
-
- Das Gesicht 45
-
- *Das hölzerne Bein 52
-
- Die gelbe Katze 60
-
- Die Gottesnacht 67
-
-
- Betrachtungen
-
- Kunst und Volk 101
-
- *Nationale Kulturpolitik 111
-
- Kunst und Persönlichkeit 117
-
- *Das Buch und der Leser 126
-
- *Philosophische und poetische Weltanschauung 133
-
- *Der Olympier Goethe 137
-
- *Grabrede auf Liliencron 141
-
- Naivität und Genie 144
-
- Kultur und Rasse 168
-
-
- Schauspiele
-
- Die Menschenfreunde 193
-
- *Michel Michael 269
-
-
-
-
- Lebensblätter
-
- Novellen in Prosa
-
- Auswahl
-
-
-
-
-Die Rute
-
-Eine bedenkliche Geschichte
-
-
-Er mußte selber lachen. Wenn ihn einer so sähe: jetzt, mitten in der
-Julihitze, die Ofentür aufschraubend. Und nun hinein mit der Rute
-in das offene Loch! Er bückte sich noch tiefer und freute sich, wie
-die harten Birkenreiser die dünne Schicht Asche zerritzten. Die war
-noch vom Winter her; das kühle Ockergelb der sanften Fläche tat ihm
-ordentlich wohl. Da lieg du!
-
-Er machte langsam wieder zu. Ja, das fehlte noch grade: dieser Popanz
-im Hause. „Gott sieht, Gott hört, Gott straft“ -- er richtete sich auf
--- das hatte er glücklich abgeschafft; nun sollte wohl die Rute hinterm
-Spiegel Jehovah spielen.
-
-Diese Mütter! eine wie die andere. Es mußte doch noch immer etwas
-unbewußte Judenseele in ihr stecken: du sollst, mein Kind, weil deine
-Eltern das so wollen. Na warte, Schatz!
-
-Er setzte sich an seine Arbeit zurück. Ein unverschämter Sonnenstrahl
-stach blendend von der Wand her über den Schreibtisch weg; grade von
-dem Bild der Beiden her. Er rückte zur Seite und ließ den Eindruck
-auf sich wirken. Hm: ruppig genug sah sein Töchterchen aus, da unter
-der grellen Glasplatte auf der schwülen Kupfertapete: so den Finger
-im Mäulchen, neben der mild zuredenden Mutter. Köstlich, dieser
-eigensinnige Moment.
-
-Und nun sollten dem heißen Herzchen diese Momente wohl mit der Rute
-ausgetrieben werden: ein artig Kindchen, eine Puppe aus ihr werden.
-Heilige Mutterliebe!
-
-Als ob sie nicht Zeit genug hätte, die Einsicht der Kleinen zu üben!
-den ganzen Tag über! während Er sich um das bißchen Leben placken
-mußte. Und sie hatte doch zur Genüge an sich selbst erlebt, und auch
-an ihm, daß nur die Einsicht, die wirklich bewußte Selbstanschauung,
-den Menschen ein bißchen menschlicher macht. Aber natürlich: „Kinder,
-die wissen nichts von sich“ -- und da ist es für die liebe Mutter viel
-bequemer, sie mit der Rute zu traktieren. Als wenn Eltern wüßten, was
-solch Kind für seine Zukunft darf und nicht darf.
-
-Ja, das würde wohl nun wieder einen zähen Kampf der Seelen geben. Wie
-sie neulich reizend fein gelächelt hatte, als sein polnischer Freund
-ihn im Scherz den Hahnrei seines Bewußtseins nannte. Ja, das war Wasser
-auf die Mühle ihrer weiblichen Unwillkürlichkeit.
-
-Er mußte wieder lachen. +Das+ Gesicht: wenn sie nun im Oktober zum
-ersten Mal wieder heizen würde und ihr dann die Rute aus dem gelben
-Loch entgegenstarrte, die langvermißte. Vielleicht grade an seinem
-Geburtstag. Wie sie sich dann nach ihm umdrehn würde, mit ihren goldnen
-Augen, ihren dunkeln, da beim Ofen knieend. Und das rechte Auge, ihr
-Wesensauge, würde groß und ruhig von Verständnis leuchten, und von
-Einverständnis; aber in dem kleineren, linken, dem Gattungsauge, durch
-die Wimperschatten des zu schwachen Lides, würde dieser frauenhafte
-Vorwurf zittern, daß sein vorbedachtes Schweigen sie wohl habe
-beschämen sollen. Still um ihre schmalen Lippen würde ein neuer Wille
-dämmern, bis in die zärtlichen Mundwinkel hin; und dann würde er zu ihr
-treten und sie küssen wie damals, als sie sich noch lieben mußten, als
-sie noch nicht Freunde waren.
-
-Er stand auf. Blos fünf kleine Schritte bis zum Ofen. Wie das schmale
-Zimmer ihn getäuscht hatte! Oder das lange Mittelfeld des persischen
-Teppichs? -- Er sah die wunderlichen Ranken des bunten Bortenmusters in
-der Mittagssonne glühen. Er fühlte die Freude wieder, wie sie ihm zum
-vorigen Geburtstag das schöne alte Ding von ihrem Spargeld geschenkt
-hatte. Er sah hinüber auf sein Arbeitsfleckchen und lächelte.
-
-Aber grausig öde war sie wirklich, diese ewige juristische
-Begriffsstoppelei! Noch dazu jetzt, mitten im blühenden Sommer.
-
-Er trat ans Fenster und sah das dunkelblanke Blättergrün der magern
-Pappel drüben vor der grauen Straßenfront im heißen Himmelslicht
-blitzen; wie allein sie stand, so mitten in der Großstadt. Die
-Kupfertapete des Zimmers kam ihm immer schwüler vor. Ja, er mußte mal
-wieder hinaus in den Wald! zum Vater Förster! Richtig: morgen, zu
-Mutters Geburtstag! Den hätt er beinah wieder vergessen.
-
-Gott ja, das Elternhaus --: am Eichenhain, am Pappelbach, rings weit
-am Waldrand hin das freie Feld, die hellen Wiesen, und fern am andern
-Horizont die kleine Ackerbürgerstadt mit dem kümmerlichen alten
-Kirchturm, dem gelbgetünchten Schulhaus --: Kindheit.
-
-Er setzte sich. Der Alte, der natürlich würde wieder tun wie Rübezahl:
-als ob der unverhoffte Eintritt seines Ältesten ihm höchstens seinen
-grimmigen Bart verwirren könne. Blos die stahlblauen Augen würden
-plötzlich etwas dunkler schimmern unter den silbrigen Brauen,
-die kleinen scharfen Pupillen eine Sekunde lang größer sein, die
-Backenfurchen um die mächtige Nase ein bißchen tiefer werden: „Na,
-Junge?“
-
-Er hatte doch wahrhaftig noch immer etwas wie Gewissensangst vor
-diesem wetterroten Gesicht mit dem dichten, fast schon weißen Bart
-und Kopfhaar, dieser Hakennase und dem strengen, forschenden Blick,
-der zuweilen doch so herzlustig blitzen konnte. So hatte er als Kind
-sich immer den lieben Gott gedacht; geträumt. Damals wohl aber noch
-dunkelbärtig.
-
-Die dicken Falten um die Nasenwurzel, ja und die schroff geschwungene
-Stirn, die hatte er vom Vater; nur die Augen, die waren wohl mehr nach
-der Mutter geschnitten, auch mehr grau als blau, mehr Stimmung als
-Wille. „Du bist wohl wunderlich, Jung?“ das war von je ihr herbster
-Tadel gewesen; sie verstand jeden Menschen mit ihrer Nachsicht. Du
-liebes Mutterherz: morgen! --
-
-O, wie würde ihre ganze schlanke Gestalt von warmer Liebe zittern,
-von fast ängstlicher Freude, bis hinauf ins wellenkrause Schläfenhaar,
-die grauen Augen, die vielen Runzeln der feinen Züge, all die kleinen
-Sorgenfältchen um den hagern Mund, die Runen der Mutterschaft. Ja, sie
-war immer noch schön, die alte Mutter; aber ihr Schönstes doch die
-gütigen Lippen, so umstrahlt von Runzel an Runzel. Das war ihm immer
-wie der Ausdruck ihres ganzen zärtlichen Lebens; als zuckte in diesen
-vielen Fältchen tiefrot ihr verschwiegenes Herz, wie um den feinen
-Purpursaum am Stempelkrönchen der Narzissenblüte der keusche Geruch der
-gelblichen Narbenfalten.
-
-Denn Narzissen, ja, das waren ihre Lieblingsblumen. O, wie sie die zu
-pflanzen wußte! Nur einzeln durften sie stehen, hin und wieder, die
-reinen, weißen, ruhigen Sterne über dem grünen Gartenrasen, daß die
-zarte bräunliche Kelchblatthülle oben um den schlanken Stengel deutlich
-sichtbar war an jeder, wie ein langer dänischer Handschuh um den Arm
-einer adligen Dame. Ja, sie verstand die ganze Welt.
-
-Und morgen würde er sie küssen, und sie würde ihren wunderlichen Jungen
-auch verstehen, wenn er dann allein hinaus ins Freie ginge, irgendwo
-an eine Wald-Ecke hin, wo der schattenschaukelnde Wind durch ein
-Lupinenfeld herüberstriche. Wie er ihn schon roch, den süßen Geruch
-der tausend goldgelben Blütenkerzen, so am Rand des sammtgrüngrauen
-Fingerblättermeeres liegend, mit der heißblauen Himmelsglocke drüber;
--- warum war er blos Jurist geworden?!
-
-Dieser Dummejungentick. Blos um dem Alten zu zeigen, daß er seine
-paar Groschen nicht nötig habe, auch zum teuersten Studium nicht. Und
-nun -- nun war er Rechtsanwalt: Er mit seinem Achselzucken über alles
-sogenannte Recht. Er würde doch noch Schriftsteller werden. Hol der
-Teufel die Kundschaft!
-
-Aber Weib und Kind? Und dann würde der Alte von neuem über verrückte
-Projekte reden und die Mutter wieder Gram auf ihre alten Tage haben;
-sie sah ihn ohnehin schon immer mit der stillen Scheu des Mitgefühls
-bei seinen Besuchen an.
-
-Nun, morgen würde er die Kleine mitnehmen. Sie war jetzt Mensch genug,
-ihn zu begleiten; und dann würde eitel Innigkeit und Einigkeit im
-Forsthaus herrschen, wie neulich zu Ostern, als seine Frau ihn mit
-der Kleinen begleitet hatte. Dann würden die Eltern sich mehr als
-Großeltern fühlen und an den Sohn nicht soviel Fragen stellen, soviel
-verfängliche Lebensfragen.
-
-Er erhob sich und öffnete die Tür. „Recha!“ rief er über den Flur. Dann
-setzte er sich zurück an den Schreibtisch und nahm ein Aktenstück zur
-Hand.
-
-„Erich?“ trat sie fragend ein, die Finger auf der Klinke lassend.
-
-Er blickte auf. „Wo ist die Kleine?“
-
-„Spielen gegangen; sie muß bald wiederkommen.“ Sie drückte die Klinke
-fest; es klang, als ob sie etwas von ihm wollte.
-
-Er schob sich wieder vor den Aktenstoß. Wie schön es ihm noch immer
-war, dies edelsemitische Nasenprofil, zu dem die braune Flechtenkrone
-um die Stirn so königlich paßte, daß die kleine Gestalt dadurch größer
-schien. Er liebte sie +doch+ wohl noch. Also Vorsicht! Jetzt trat
-sie hinter seinen Stuhl.
-
-„Du! Erich!“
-
-„Hm?“
-
-„Ich muß dir etwas sagen. Ich habe gestern eine Rute gekauft.“
-
-„So?“
-
-„Ja. Es ging nicht mehr anders. Wirklich: sie wird mir gar zu unnütz.“
-
-„Detta oder die Rute?“
-
-„Nein du, wirklich, es ist mir ernst.“
-
-„Mir auch!“ Er drehte sich um nach ihr. „Übrigens möchte ich morgen zu
-den Eltern fahren und die Kleine mal allein mitnehmen; mach mir, bitte,
-den Rucksack zurecht.“ Sie nickte. „Aber bitte, nur das Nötigste; auf
-zwei Tage blos.“ Sie nickte wieder. „Und -- na aber, was hast du denn?“
-Sie kämpfte mit Tränen.
-
-„Erich!“ Sie bezwang sich. Nur das linke Auge kämpfte noch. Er zog sie
-an sich.
-
-„Sieh mal, Herze, verzeih! Aber wirklich: was sollt ich wohl erwidern?
-Du kennst doch meine Ansicht! Kinder sind doch keine jungen Affen;
-wenigstens dann nicht mehr, wenn die beliebte Prügeldressur beginnen
-soll. Du nennst die Detta bockig, und wer weiß was alles, weil --: blos
-weil sie jetzt im dritten Jahr ist. Wenn sie im zwanzigsten sein wird,
-wirst du das Charakter an ihr nennen.“
-
-„Aber --“
-
-„Nein; genug jetzt, bitte. Ich wäre heute auch was Bessers, hätte mich
-der Hundekantschu meines Alten nicht immer eigensinniger gemacht. Bring
-ihr Pflichtgefühle bei, soviel du willst; aber nicht mit Schlägen,
-muß ich bitten.“ Er wies auf seinen Bücherschrank: „Da! lies was über
-Suggestion! Du hast doch deinen bewußten Willen.“ Um ihre Mundwinkel
-huschte etwas wie ein feines Lächeln. Aha! sie dachte an den Hahnrei
-des Bewußtseins; dieser verdammte Pole! -- „Die Rute jedenfalls verbitt
-ich mir.“ Beinahe hätte er nach dem Ofen gezeigt.
-
-„Du scheinst auf meinen bewußten Willen grade nicht viel Wert zu legen.“
-
-Er ließ sie los. „Schockschwerenot! nun werde gar noch empfindlich!“
-
-„Nun, nun“ -- begütigte sie sogleich; und wieder dies huschende Lächeln.
-
-„Na, was lachst du denn in einem fort!“
-
-„Ich?“ Sie sah ihn groß und ruhig an.
-
-Da flog die Tür auf. „Hater! ich habe beide Hände voll Sonne!“ kam das
-Ungestümchen hereingewirbelt. Wie ihr die blonden Lockenfäden um die
-heißdunkeln Augen hingen! und um das merkwürdige Trotznäschen! „Sieh
-mal, Mutter!“ öffnete sie die Fäustchen.
-
-„Willst du morgen mit Hater zu Ovater fahren?“ fragte die Mutter.
-
-„Nein!“ fuhr das Näschen in die Höh.
-
-„Aber Ovater wird sich so freuen, und die liebe Omama!“
-
-„Großmutter!“ betonte er.
-
-„Nein!“ stampfte das Beinchen.
-
-„Na, dann bleib nur hier“ -- er nahm sacht ihre Händchen und strich
-langsam jeden Finger gerade. „Dann wird Vater ganz allein die große
-schwarze Juno bellen hören -- wau-wau-wau“ -- er fixierte sie --
-„und die bunten Tuckehühnchen spielen sehen“ -- er ließ die Händchen
-plötzlich frei -- „tuck-tuck-tuck, ücke-rü-üh! -- Und --“
-
-„Große Muhkuh! Detta +doch+ mit!“ hob sie hüpfend die Ärmchen aus
-einander. „Tuck-tuck-tuck, sehr lieb“ -- jubilierte sie und umschlang
-die Kniee der Mutter.
-
-Die nickte ihm zu, verständniswillig. Blos: schon wieder dies unbewußte
-Mundwinkelzucken! --
-
- *
-
-Der schwerfällige Post-Omnibus rumpelte aber wirklich etwas sehr
-vorsintflutlich. Und die holprige Landstraße hätte auch wohl längst
-eine neue Schüttung vertragen können. So konnte man ja seekrank werden
-auf den zersessenen Sprungfedern.
-
-Er reckte sich und wollte den Hut aus der Stirn schieben. Aber die
-heiße Vormittagssonne stach grad an dem schlafenden Kutscher vorbei
-prall in den offenen Vordersitz; das Braunrot des verschossenen
-Polsterplüsches schweelte schon beinah wie versengt. „Schweiß und
-Staub -- Schweiß und Staub“ -- hörte er die beiden Gäule ihren
-gewohnten Klappertrab traben. Die jungen Rüstern an der sandigen
-Straßenkante sahen aus, als bedürften sie vor Hitze selbst des
-Schattens.
-
-„Hater“ -- und sinnend zeigte die Kleine auf den nickenden Fuhrmann vor
-sich -- „ßpielt die Feitße mit dem Wind?“ Die Peitsche wippte in der
-Hand des Schlafenden im Takt der Gäule hin und her; die Zügel in der
-andern Hand mußten wohl die Bewegung vermitteln.
-
-„Nein, mein Kind, der Wind ist weggegangen von der Peitsche.“
-
-„Wo ist denn der Wind?“
-
-„Schlafen gegangen.“
-
-„-- ßlafen gangen?“
-
-„Ja“ --
-
-„Wo ßläft er denn?“ Herrgott, dies ewige Gefrage!
-
-„Er schläft!“ Sie war doch wirklich ein unglaublicher Quirl.
-
-„Er ßläft?“
-
-„Ja!“
-
-„Wo denn?“
-
-„Auf den Wolken.“
-
-„Wolken?“ fragte sie zögernder.
-
-„Ja“ -- sagte er kleinlaut und blickte weg; kein einziges Wölkchen
-stand am Himmel.
-
-„Wo denn aber?“ fragte sie ebenso kleinlaut.
-
-Er schwieg.
-
-Wie sie ihn schon in der Eisenbahn mit ihrer Neugier fortwährend
-gepeinigt hatte! Na, Gott sei Dank: jetzt schien sie auch mit
-einzuschlafen. „Schwarzer, Brauner“ -- „Schwarzer, Brauner“ -- hörte er
-wieder den Trott der Gäule. Jetzt war sie schon im Nicken. Die Peitsche
-hatte sie wohl eingewiegt.
-
-Er dachte an gestern. Es mochte doch wohl nicht ganz leicht sein,
-sie immer und immer um sich zu haben. Wie seine Mutter wohl mit ihr
-auskommen würde? „Du wunderlicher Jung’!“
-
-Eigentlich könnte er den Sonnenschirm aufspannen, den ihm Recha
-gestern als Geburtstagsgeschenk schon in Bereitschaft gehalten hatte;
-in manchem war sie doch sehr vorbedacht. Er langte nach dem sorgsam
-eingehüllten Ding. Aber der Staub, der würde es unsauber machen. Es
-war doch schließlich ein Geschenk für die Mutter! Das nimmt man doch
-nicht in Gebrauch vorher. Ach Torheit: kindische Rührgefühle! Nein,
-Ehrfurcht: der Geburtstag der Mutter! --
-
-Ob seine Geschwister das heute wohl auch so fühlten? verstreut in der
-Fremde, geboren aus Einem Schooß, der heute vor Jahren und Jahrzehnten
-in andrer Fremde geboren worden. Schooß aus Schooß -- er blickte sein
-Kind an --: und Schößling neben Schößling. Er sah die nahen jungen
-Bäumchen an der Straßenkante vorüberschwinden, jedes ewig den andern
-fern. Er sah sie in der Ferne der Alleeflucht eng zusammenrücken, immer
-enger; sie führten in die Heimat -- von ihr her -- fort, fort von ihr
--- o Elternhaus! --
-
-Ja, so von ferne, jetzt: wie dehnte sich sein Herz den alten Eltern
-entgegen! Und dann, wie hob’s ihm die Arme hoch, hin um ihren Hals,
-im ersten Augenblick des Wiedersehens; immer noch. Dann war er ganz
-ihr Kind, ihr Blut, Leben von ihrem Leben, hingegeben, unbewußt, wie
-ans Herz der Natur. Er sah sich schon kopfbückend in die kleine Stube
-treten, durch die niedrige Tür, sah Lindenzweige an die Fensterscheiben
-tippen, sah die zwei blanken Schränke aus Birkenholz, die Gewehre und
-Rehgehörne, das wohlig grüne Schattenlicht.
-
-Doch dann -- dann trat auch schon das andre Leben mit ihm ein und
-zwischen sie: das mit den Zweckfragen, die der Mensch sich stellt, der
-Mensch im Gegensatz zur Natur und also auch zum Mitgeschöpf, zu jedem
-Allernächsten grade: das Leben des umgestaltenden Geistes, der bewußt
-gewordene Wille zur Zukunft, der ewige Kampf um neue Kultur.
-
-Dann war er nicht mehr Kind, sie nicht mehr Eltern; dann war er ein
-Junger, sie noch die Alten. Dann war die liebe Muttersprache -- o
-heiliges Wort dem Fühlenden -- kein Verständigungswerkzeug mehr:
-dasselbe wohlgemeinte Wort, es hatte ihnen anderen Sinn als ihm,
-so sehr er in kindlicher Scheu sich mühte, den steten Zwiespalt zu
-verhehlen. Dann war die schattenkühle stille Stube schon manchmal recht
-schwül und drückend gewesen.
-
-Ob ihm das wohl mit seinem Kinde auch einmal so gehen würde? --
-Fernliebe?! -- Entzückend, wie sie da ahnungslos schlief, im Schatten
-des schlafenden Kutschers; und heute würde sicherlich +sie+
-jedweden Zwiespalt überbrücken. Einst aber? -- Ach was! wenns
-+ihr+ mal paßte, seinethalben mochte sie Seiltänzerin werden!
-
-Er sah die Zügelleinen in der Hand des Fahrenden schaukelnd auf den
-Schenkeln der trabenden Klepper hüpfen. Auf ihren Rücken, um die
-schwitzenden Flanken, tanzte das Sonnenlicht hin und her, in großen
-spiegelblanken Flecken; es war doch unerträglich heiß. Die drei
-Messingringe aus den Kumten wippten blitzend auf und nieder mit dem
-Schulterriemzeug -- auf und nieder -- in Schweiß und Staub; -- er sah
-nach der Uhr. Halbzwölf erst; noch eine Stunde so.
-
-Er horchte wieder auf den Takt der Hufe: Schwarzer, Brauner -- auf
-und nieder -- auf und nieder, Schweiß und Staub. Ah, jetzt: vorn vor
-den müden Pferdehälsen kam wenigstens das Dorf schon hoch, wo immer
-angehalten wurde. Da gab es was zu trinken. Und zu rauchen. Zigarren
-vergessen! Er gähnte und lehnte sich zurück; noch fünf Minuten.
-
-Das Geschaukel der Pferdeschenkel wurde immer sonderbarer; förmlich
-arabeskenhaft schwankten die Spiegelwellen der Flanken. Er schloß halb
-die Augen; das tat ihm wohl. Wie er alldas bewußt genoß! -- Am Kumt
-die Ringe zuckten glitzernd auf und nieder zu ihm her, wie drei große
-blendende Sterne; auf und nieder -- Schwarzer, Brauner -- Schwarzer,
-Brauner, Weiß und Staub.
-
-Er schloß die Augen etwas fester. Die Sterne blitzten immer weißer. Auf
-und nieder; weiß und taub.
-
-Nein, das war wohl nicht das rechte Wort; es war wohl Gelb. Ja, Gelb.
-Süßer gelber Lupinengeruch; so wohlig kühl. Es mußte wohl ein Feld wo
-sein; Lupinenfeld. Das hatte er wohl übersehen vorhin.
-
-Nein, es war wohl doch nicht gelb. Denn es waren ja Narzissen. Ja,
-Narzissen. Nein, er träumte wohl; nein, nicht! Denn es waren ja drei
-große, deutliche Narzissensterne -- blendend weiß -- nein fünf -- nein
-sieben; sieben weiße Strahlenblüten.
-
-Sieben nickende Narzissen; mit purpurgoldnem Krönchen jede. Sieben
-schlanke Edeldamen, mit wellenkrausen Schläfenhaaren. O, wie schön!
-Jede mit so grauen Augen; Mutteraugen. Jede hatte um die zarten Arme
-lange dänische Handschuh’ an; gelbe.
-
-Und verbeugten sich vor ihm, eine nach der andern, mit den weißen
-Strahlenhüten. Jede bis zur siebenten. Die hielt einen Spiegel; hatte
-dunkle Augen, dunkelbraune.
-
-Trat die erste vor; sagte ihm ein Wort. Und das war ihr Name, und den
-hatte er schon gehört; nur besinnen konnt er sich nicht drauf. Sagte
-auch die zweite ihren Namen; auch die dritte. Schlossen alle mit der
-Silbe „sinn“, nein „sein“ -- Sinn, Sein -- auch die vierte, fünfte,
-sechste; und die purpurgoldnen Krönchen nickten. Nur die siebente war
-stumm; war blaß; hielt ihm nur den Spiegel hin. Der war blind. Und sie
-schüttelte den Kopf; und ihr linkes Auge blickte traurig.
-
-Nein, das war doch gar zu lustig: wie ihr Purpurkrönchen wackelte. Denn
-das war ja gar kein Krönchen: war ein dicker roter Hahnenkamm, wippte
-in der Sonne. War ein ganzer Hahnenkopf -- dicker bunter Hahnenhals --
-der blähte sich. Schlug mit beiden Flügeln funkelnd durch die Luft --
-rief ganz laut und deutlich: ücke-rüh-ü-üh! --
-
-Er riß die Augen auf. Wahrhaftig: eben stieß der Omnibus mit härterem
-Gerumpel auf die ersten Pflastersteine der Dorfstraße, und drüben auf
-dem einen Hofzaun reckte sich der Hahn und krähte zum zweiten Mal. Der
-alte Fuhrknecht hob das Stoppelkinn: „jüh, Rackers!“ mit den Zügeln auf
-die schweißbeglänzten Pferdeschenkel klatschend. Auch die Kleine wurde
-langsam munter.
-
-Was der Traum wohl zu bedeuten hatte? Ach, bedeuten: Unsinn! Aber wie
-er wohl entstanden war?
-
-Sollte --: Hahnrei des Bewußtseins? -- Hm...
-
-Das Wort des Polen war ihm doch wohl tiefer gegangen, als er damals
-dachte.
-
- *
-
-Die Abendsonne schien sich heute förmlich zu krümmen, wie vor Durst.
-Immer dicker wurde der kupferrote Ball, da hinter den Wasserdünsten
-des sumpfigen Sees am Horizont. Grade zwischen den zwei dicksten alten
-Pappelstämmen bei der kleinen Straßenbrücke drüben hing das dunkelrote
-Ungetüm im fernen Grau, dicht unter dem Zittersaum des schwarzgrünen
-Laubdaches.
-
-So groß und glanzlos hatte er sie niemals sinken sehen. Nur die breiten
-drei Brechungskeile, mit denen sie Wasser zog, wie die Leute hier
-sagten, standen stromhell wie aus Goldtopas geschliffen unter der
-purpurnen Kugel, zeigend daß sie noch Licht gab. Der Mittelkeil war nur
-ganz kurz noch; wie ein mächtiger Strahlensockel. Vor dem schwellenden
-Gelb der Seitenschrägen hoben sich die beiden Pappelstämme tiefschwarz
-ab mit ihren Borkenrändern. Das Laubdach wurde immer dunkelgrüner.
-
-„Wird morgen wieder schwere Hitze geben“, sagte der Alte und trat aus
-der Haustür zu ihm an den Gartenzaun. „Meine ganzen jungen Kiefern
-werden noch vertrocknen; schlimmes Jahr!“ Er zeigte mit der Pfeife
-in das Astwerk der Akazienkrone über ihnen: „Läßt schon Blätter
-fallen.“ Der Tabaksrauch berührte wirbelnd grade eine der verwelkten
-Blütentrauben.
-
-„Hast du neue Bienenstöcke, Vater?“
-
-„Einen blos“ -- erwiderte der Alte und setzte sich auf die Bank
-am Zaun. Nun wies er schmunzelnd auf die Kleine, die an der hohen
-Haustürschwelle neben „Lotte Goldsnut“ hockte. Die Teckelhündin lag,
-platt alle Viere von sich, wie tot im warmen Sande, und die Kleine war
-eifrig bestrebt, zwischen die vier Zehen der krummen Vorderpfoten immer
-drei der abgefallenen Akazienblätter festzuklemmen. Immer wenn sie
-fertig war mit einer Pfote, streifte sich die Dachsmadam mit der andern
-die Blätter wieder ab, und das Spiel begann mit Ernst von neuem. Was
-die Recha nur wollte! die Kleine war ja unglaublich artig.
-
-Jetzt trat die Mutter aus der Tür, in jedem Arm behutsam eine flache
-Satte voll Dickmilch tragend. Er sprang ihr zur Hand. Wie sich all
-ihre Runzeln freuten, bis in die liebreichen Augen hinein, als er die
-eine Schüssel ihr abnahm und sie auf den Gartentisch setzte; richtige
-Geburtstagsaugen! Und zugleich wars wohl auch die Freude, wie ihrem
-Ältesten nachher die kühle Labung schmecken würde, so mit Streuzucker
-drüber und Schwarzbrotkrümeln. Wie die fette Sahne nach dem Eiskeller
-duftete! Orndtlich winterlich sah die weiche Pelzschicht aus.
-
-„Na, Alterchen?“ ließ sich Mutter hören, Vaters Schneehaar
-glattstreichend -- „soll ich +hier+ decken oder unter der Linde?“
-
-„Lieber hier, Mutting,“ kam er dem Alten zuvor; „hier sieht man die
-Abendsonne so schön.“ Die rote Scheibe stieß jetzt grade auf den
-Horizont der Landschaft; der Strahlenfächer war verschwunden.
-
-Der Alte griff sich in den Bart. Sicherlich knurrte er im stillen
-wieder: „Sentimentaler Krempel!“ Das war ein Lieblingstrumpf von ihm.
-
-„Die Lindenblüte riecht auch zu stark“, meinte mit rascher Abwehr die
-Mutter; „Abends manchmal ganz betäubend.“ Dann beugte sie sich zu der
-Kleinen nieder: „na, mein Lämmechen?“ strich ihr die Locken sanft aus
-der Stirn, sorglich nach dem Alten blickend, und ging wieder ins Haus.
-Lotte Goldsnut erhob sich.
-
-„Hat ’ne zarte Nase, unser Muttel“, brummte der Alte und griff
-gemächlich an sein eigenes Vorgebirge, eine dicke Wolke von sich
-paffend; „krigt’s schon mit den Nerven.“
-
-„Ovater“ -- kam auf einmal die Kleine hinter der Teckelhündin
-herangependelt -- „bist du der Weihnachtsmann?“
-
-„Woll, mein Mäuschen!“ und er nickte belustigt. Tief nachdenklich sah
-sie ein Weilchen auf die eine Schüssel hin, durch deren dunkelgrüne
-Glaswand der weiße Inhalt schimmerte. Dann ging sie wieder an die
-Schwelle, wo die verblichenen Akazienblätter auf dem sandigen Boden
-lagen.
-
-„Muß doch mal im Hofe nachsehn“ -- sagte der Alte und stand auf -- „ob
-die Juno etwa los ist; das Schindluder hat mir neulich einen von den
-jungen Hähnen abgewürgt.“ Er reckte sich. „Kann das Volk auch gleich in
-den Stall bringen.“ Er schritt ins Haus. Lotte Goldsnut wackelte ihm
-nach.
-
-Die Sonnenkugel war jetzt nur noch mit dem oberen Drittel sichtbar,
-wie das rote nackte Augenschild eines riesigen Birkhahns. Nun wurde
-sie verdunkelt, fast verdeckt, von dem strotzenden Euter der grauen
-Leitkuh, die eben mit der Heerde drüben von der nahen Weide kam. Um
-die schweren Bäuche stieg der Staub der Landstraße auf. Der lahme
-Spittelhirt des Städtchens hinkte barfuß hinterdrein. Durch das
-hohlere Getön der Brückenbohlen klang die Kupferglocke am Hals der
-Vorderkuh. Zum Brüllen war die Heerde wohl zu satt. Die Mäuler kauten
-noch.
-
-Nun war die Sonne blos noch ein fasriger Rand, wie ein glühender
-Wimpernbogen; das machten wohl die Binsen und das Röhricht in der
-Ferne. Man konnte fast mit den Augen verfolgen, wie sie Strich für
-Strich untertauchte. Er warf die ausgegangene Zigarre weg und stützte
-sich fester auf den Zaun. Jetzt verglomm der letzte Strich, grade
-oberhalb der einen Pappelsohle, wie hineingeschrumpft. Es wurde
-plötzlich etwas heller. Die fahle Dunstwand schien sich abzukühlen.
-Das dumpfe Rotgrau lockerte sich zart ins Grünliche. Durch die stummen
-Pappeln, von Haupt zu Haupt das Fließ entlang, wagte sich ein Lüftchen;
-noch beklommen. Jetzt: die trägen Blätter fingen an zu munkeln.
-
-Er fuhr auf: eine verspätete Biene, von der Linde her, vorbei zu
-Korbe. Ob sein Vater die Feierstunde der Natur auch so ins Einzelne
-mitfühlte? Mit so sinnlicher Andacht? Nein. Das war wohl Neugehirn.
-Neue Sinnlichkeit. Auch neue Wissenschaft.
-
-Aber doch: er hatte ihn einmal sagen hören: „Der Kiefernhochwald, aber
-Schnee muß liegen, das ist meine Kirche!“ Aber eben: Kirche: Unnatur!
--- Da, da drüben die Pappelblätter, oben an der höchsten Spitze, wie
-sie schwärzlich im blassen Luftblau hingen, jeder Rand von einem
-zarten, zitternden Flimmerschein umwirkt: wars nicht tief feierlich
-zu wissen, daß sich da jetzt von unten her die letzten scheidenden
-Sonnenstrahlen durch den Atemduft des warmen Laubes in der Abendkühle
-goldhell brachen.
-
-„Hater --“ fragte plötzlich die Kleine und schob sich bedächtig auf
-die Bank, ihr Schürzchen von sich haltend, das sie mit Akazienblättern
-vollgesammelt hatte -- „sind die Bäume müde, Vater?“ Ihre Augen
-blickten, weit und träumerisch geöffnet, über den Tisch weg nach den
-Pappeln. „Wie die Menßen ’tehn sie da.“
-
-Er mußte nicken; wortlos. Wie die Menschen! O Kindermund.
-
-Das mußte er der Mutter sagen; das war ein Wort aus +ihrem+ Geist.
-Die Kleine saß immer noch träumerisch; leise trat er in den Hausflur.
-Und auch den Narzissentraum ihr sagen! Ja, und dem Alten helfen seine
-Hähne einsperren; das nahm er immer sehr hoch auf.
-
-Die Küche war offen. Die Mutter stand am Herd, eben einen Eierkuchen in
-der zischenden Pfanne wendend. Nein, das war nicht die rechte Stimmung;
-lieber morgen Vormittag im Garten. „Ah --“ sog er unwillkürlich den
-Geruch des brutzelnden Gebäckes ein.
-
-„Mein großer Junge!“ lachte sie und griff ihm liebkosend durch den
-Kinnbart. „Hast wohl schönen Hunger von dem langen Spaziergang?“
-
-„Wo die Juno blos stecken mag!“ wetterte der Alte, aus dem Hühnerhof
-in die Küche tretend; mit dem Helfen wars also auch nix. „Fängt auf
-ihre alten Tage zu jagen an; muß ihr mal ’ne Ladung Schrot aufsengen,
-Kantschu scheint nicht mehr zu ziehen.“ Er war ganz rot vor Ärger; wie
-seine Hähne. „Hast du sie nicht bemerkt Nachmittag?“
-
-„Nein, Vater.“
-
-„Konnt mirs denken“, ging das Sticheln los; „liegst ja immer gleich im
-Grase fest.“ Schwerenot, was ihn das wohl anging!
-
-„Fertig, Kinderchen“ -- rief die Mutter und nahm das Gedeck zur Hand,
-ihm die Teller reichend.
-
-Gottseidank! atmete er auf, wieder hinaus ins Freie tretend; der Alte
-hinterdrein mit den Eierkuchen. Aber was war das? das war ja ’ne nette
-Bescherung! Auf dem Gartentisch, mitten drauf, saß sein Töchterlein,
-eifrig bestrebt, die sandigen Akazienblätter in verschiedenen schönen
-Kringeln auf dem weißen Sahnenpelz der dicken Milch zurechtzulegen;
-eben wollte sie die zweite Satte in Angriff nehmen.
-
-„I du Balg!“ Er besann sich; nur keinen Wutausbruch! Weswegen auch?
-eigentlich wars doch zum Lachen! Er nahm sich zusammen und sprach mit
-Nachdruck: „Das war aber unartig von dir!“
-
-Sie sah ihn groß von der Seite an. „Das war darnicht una’tig von mir!“
-
-„Kiek!“ machte der Alte in der Haustür, und der Kobold stach aus den
-stahlblauen Augen.
-
-Wollte er ihn vielleicht gar foppen? Na warte! Er stellte die Teller
-hin. „Komm mal runter!“ sprach er und trat vor sein Kind.
-
-„Nein!“ stemmte sie die Arme auf. I zum Donner, da sollte doch gleich --
-
-„Kiek!“ kams abermals von der Haustür her; „Respekt scheint sie nicht
-viel zu haben.“
-
-„Braucht sie auch nicht! Verlange ich nicht! Ich schlage meine Kinder
-nicht!“ Verdammt: wie war das aus ihm herausgeplatzt? Hätt er das Balg
-blos nicht mitgebracht!
-
-„Nna“, knurrte der Alte mit Seelenruhe: „die Köter fressen ja dicke
-Milch auch ganz gern. Komm, Lotte“ -- pfiff er der Dachshündin, die
-sich eben durch den Zaun schlängelte. Was war der Jöhre blos aus einmal
-so hinterrücks in den Kopf gekrochen?!
-
-„Komm mal her, mein Schäfchen,“ legte sich jetzt die Mutter ins Mittel
-und lächelte. Der Alte streichelte die Hündin, die bereits in der
-fetten Sahne schleckte. „Komm, mein Schäfchen; komm her zu mir.“
-
-„Will aber nich!“ bockte sie erst recht, die Finger um den Tischrand
-klammernd. Jetzt riß ihm aber bald die Geduld!
-
-„Na, Herzchen,“ lockte die Mutter wieder: „wirst doch nicht wieder
-wunderlich sein?“
-
-Ah: am Nachmittag also +auch+ schon?! Was sollte der Alte denn von
-ihm denken!
-
-„Vater haut nich“ -- stemmte sie sich noch fester.
-
-Teufel, das war denn doch zu bunt! „Willst du jetzt gleich
-herunterkommen?!“
-
-„Nein!“
-
-„Detta?!“
-
-„Nein!“
-
-Wie sie festhielt! Warte, Kröte! Strampelst noch? Und mit den Beinen
-stoßen? -- „+Laß+, Mutter! +laß+ mich!“ schrie er wütend. Und
-wie das blanke Fleisch sich wand! Wie’s klatschte! Wie die Hand ihm
-brannte! Wie der Racker brüllte! Warte, Satan! --
-
-„Na, na! so grob gleich?“ hörte er plötzlich den Alten; wie aus einem
-Nebel her.
-
-„Kanalje!“ keuchte er -- „marsch!“ und besann sich. Ganz knallrot, ja,
-war das Fleisch gewesen; knallrot wie ein Hahnenkamm. Und -- Hahnrei
-des Bewußtseins! schoß ihm das Blut in die Schläfen; verdammt ja, wie
-eine Ohrfeige.
-
-Hatte sie’s verdient? fragte etwas in ihm. Sie stand muckstill, mit den
-Tränen kämpfend. Was würde Recha sagen? Er schämte sich.
-
-„Hab sie Nachmittag auch schon mal striegeln müssen,“ kams wieder von
-der Haustür her. Kreuzdonner -- „Na, entschuldige nur! Blos mit der
-Rute ein bißchen auf die Finger.“
-
-So --: +deswegen+ also „Weihnachtsmann“?! und +darum+ war sie
-vorhin so sonderbar artig?! -- Er konnte nicht anders, er mußte lachen.
-Und auf einmal lachten sie alle zusammen.
-
-
-
-
-Der Werwolf
-
-Erzählung
-
-
-An einem sehr nebligen Oktober-Abend sprach sich in dem entlegensten
-Vorort einer norddeutschen großen Handelsstadt die unheimliche Kunde
-herum, der Apotheker des Ortes sei auf der Eisenbahn während der
-Rückfahrt aus der Stadt von einem Raubmörder erschossen worden.
-Es war das ungefähr um dieselbe Zeit, als in einem Vorort der
-deutschen Reichshauptstadt Berlin ein aus dem Zuchthaus entlassener
-Schustergeselle die ganze zeitunglesende Menschheit zu unvergeßlichem
-Gelächter bewegte, indem er kraft einer abgetragenen preußischen
-Offiziersuniform nebst dazu passender Körperhaltung den versammelten
-Magistratspersonen die hirnberückende Vorstellung eingab -- oder,
-wie die gebildeten Deutschen sich damals ausdrückten, suggerierte
--- er solle auf allerhöchsteignen Befehl Seiner Majestät des
-Kaisers den obrigkeitlichen Geldschrank ausräumen. Auch in jener
-norddeutschen Villenkolonie war über den musterhaften Gaunerstreich
-dieses sogenannten Hauptmanns von Köpenick, bei aller damals üblichen
-Ehrfurcht vor der Würde und Weisheit der Staatsvertreter, noch
-am Tage des Mordes reichlich gelacht worden; nun aber geriet die
-Einwohnerschaft, die größtenteils aus begüterten Kaufleuten und
-gutgestellten Beamten bestand, in eine zunehmende Ernsthaftigkeit.
-Fast alle mußten sie täglich zur Stadt fahren, um ihren Geschäften
-nachzugehen; jeder von ihnen sagte sich also, es hätte ihm nach
-erfüllter Berufspflicht, während er als gebildeter Bürger eines
-gesitteten Staatswesens auf dem besteuerten Bahnwagenpolster
-in den wohlverdienten Genuß einer Zeitung oder eines kleinen
-Schlummers versunken saß, genau desgleichen ergehen können wie
-dem bemitleidenswerten Apotheker, ja es könnte vielleicht sogar
-noch geschehen. Denn der Gemordete wurde begraben, ohne daß von
-dem Raubmörder auch nur die geringste Spur entdeckt war; und
-wochenlang setzten die städtischen Waffenhändler erstaunliche
-Mengen von Taschenrevolvern, Stockdegen, Schlagringen und andern
-Verteidigungswerkzeugen an die erregte Bevölkerung der sämtlichen
-umliegenden Ortschaften ab, während zugleich bei der Bahnverwaltung die
-verschiedensten dringlichen Sicherheitsvorschläge zum Umbau des ganzen
-Wagenparks einliefen, und bei der Polizeidirektion die mannigfachsten
-Verdachtsanzeigen, die immer weniger zur Ergreifung des Mörders und
-immer mehr zur Erregung der Bürgerschaft beitrugen.
-
-Es ließ sich einstweilen nur ermitteln, daß auf der Böschung der
-Vorortbahn unweit der letzten Haltestelle ein alter Kavallerie-Revolver
-mit zwei abgeschossenen, zwei noch geladenen und zwei ungeladenen
-Patronenkammern die Mordtat sowohl wie die Flucht des Täters
-hinlänglich bezeichnete; auch fanden die Untersuchungsbeamten
-in nächster Nähe des Mordwerkzeuges die goldene Uhr und Kette
-des Apothekers, und in dem Bahnwagen hatte bei dem Gemordeten
-seine entleerte Banknotentasche blutbefleckt auf dem Polster
-gelegen. Augenscheinlich also war der Verbrecher nach der planvoll
-durchgeführten Beraubung während der Fahrt aus dem Wagen gesprungen,
-hatte die Tür wieder zugeschlagen, den Revolver im Sprunge fallen
-gelassen und dabei in der Hast auch die Uhr verloren; oder er
-hatte Uhr wie Revolver, um sich nicht später dadurch zu verraten,
-absichtlich sofort aus der Hand geworfen. Eine Fußspur war aus dem
-Graswuchs der Böschung nirgends zu erkennen gewesen, und in dem
-dichten Nebel konnte der Täter sehr leicht noch an demselben Abend
-nach dem Hafen der Handelsstadt auf offener Straße entkommen sein,
-hatte sich erst wohl unterwegs an irgend einem Feldteich gesäubert
-und war dann vermutlich mit falschen Papieren auf einem der vielen
-Auslandschiffe als Kohlenschipper oder dergleichen schon nächster Tage
-in See gegangen. Die meisten Umwohner wollten freilich aus allerlei
-Meldungen entnehmen, er streife noch heimlich im Lande herum; und
-da der massenhafte Vertrieb von Taschenwaffen jeder Art natürlich
-etliche freche Burschen zu neuen Gewalttaten anreizte, so schob sie
-der allgemeine Argwohn immer wieder auf den entschlüpften Raubmörder,
-obgleich diese ungeübten Gelegenheitsräuber stets bald der Polizei
-in die Hände fielen. Im übrigen blieben alle Nachforschungen, auch
-Zeitungsaufrufe und Säulenanschläge, ob irgendwer im deutschen Reich
-einen alten Kavallerie-Revolver kürzlich an irgendwen verkauft habe,
-trotz ausgesetzter Belohnung erfolglos; man mußte leider den Schluß
-ziehen, daß der Verbrecher die Waffe wohl schon in seiner militärischen
-Dienstzeit irgendwie beiseite gebracht und für seine spätere Laufbahn
-aufbewahrt hatte.
-
-Was die Bevölkerung ganz besonders erregte, war der sehr viel
-Gesprächsstoff bietende Umstand, daß der erschossene Apotheker,
-trotzdem ihm der eine Schuß die Schläfe durchbohrt, der andre die
-Schädeldecke zerschlagen hatte, noch lebend, wenn auch bereits
-bewußtlos in dem Bahnwagen aufgefunden ward. Die ärztliche Leichenschau
-ergab, daß die Bewußtlosigkeit wahrscheinlich erst einige Minuten
-nach der Verwundung unter heftigen Schmerzen eingetreten war; und
-jedermann suchte sich nun zu vergegenwärtigen, was für Gedanken dem
-Unglückseligen in seinen letzten Augenblicken durch das zerfetzte
-Gehirn gestürmt sein mochten. Dies umso angelegentlicher, als der
-Entseelte bei Lebzeiten in der Ausübung seines Berufes fast jedem
-einzigen Ortsinsassen mehr oder minder nahe gekommen und auch
-als Persönlichkeit weit beliebt war: ein sanfter, schmiegsamer,
-schlanker Herr mit einem blonden Christuskopf und -- was bei seiner
-Aufgeklärtheit manchem verwunderlich erschien -- von förmlich
-gottgläubiger Frömmigkeit. So legten denn alle Nachdenklichen sich
-selbst und Andern die Frage vor, wie wohl das Gottvertrauen des
-Apothekers die letzte kurze Bewußtseinsfrist nach dieser gräßlichen
-Lebenserfahrung innerst bestanden haben möge, zumal da bekannt geworden
-war, daß die Witwe beim ersten Anblick des Toten nur die verzweifelten
-Worte herausgebracht hatte: „es gibt keinen Gott, es gibt keinen
-Gott!“ Auch daß sie den ziemlich hohen Betrag von 150000 Mark, auf
-den der knapp vierzigjährige Mann erst unlängst sein Leben versichert
-hatte, und welchen ihr die Versicherungsgesellschaft unverzüglich
-überwies, mit keinerlei Regung des Trostes entgegennahm, sondern
-vor Schluchzen kaum zu quittieren vermochte, gab der gemütvollen
-Bürgerschaft zu vielen teilnehmenden Reden Anlaß. Das menschliche
-Mitgefühl der Bevölkerung erstreckte sich so weit in die Runde, daß der
-Friedhofsgärtner nach der Beerdigung reichliche vierzehn Tage brauchte,
-um die Gräber und Beete wieder zurecht zu machen, die unter dem nicht
-zu hemmenden Andrang von Leidtragenden jeden Alters und Standes,
-einheimischen und auswärtigen, zertreten oder zerrauft worden waren.
-Und noch mehrere Wochen nach dem Ereignis konnte man in der ganzen
-Gegend keiner gebildeten Unterhaltung beiwohnen, die nicht schließlich
-zu der Erörterung führte, ob dem verewigten Apotheker, falls es ein
-Fortleben über das Grab hinaus gäbe, die Nichtentdeckung seines
-irdischen Mörders als ein völlig sachgemäßes Verfahren der himmlischen
-Gerechtigkeit einleuchten würde.
-
-Da geschah es an einem schönen Nachmittag, daß ein Gemüsehändler
-des Ortes, der seine Mistbeete für den Winter herrichtete, durch
-eine Gartenhecke hindurch ein sonderbares Gespräch mit anhörte, das
-zwischen dem Eigentümer des Nachbarhäuschens und dessen einzigem
-Freunde stattfand. Dieser Nachbar war allen Leuten ein Rätsel. Als
-früherer Eisenbahnschaffner hatte er infolge einer Zugentgleisung eine
-leichte Kopfverletzung erlitten, von der ihm, wenn sein Gebaren nicht
-trog, eine dauernde Geistesstörung verblieben war, zwar keine richtig
-irrsinnige, aber die ihn nach Meinung der Ärzte doch dienstunfähig
-erscheinen ließ; und so hatte er vor Gericht erlangt, daß ihm die
-Bahnverwaltung den Abschied nebst angemessenem Sühnegeld und -- bis
-sein Geist vielleicht wieder dienstfähig würde -- auch Ruhegehalt
-bewilligen mußte. Nun tat er von Morgens bis Abends nichts weiter,
-als daß er vor seinem dürftigen Häuschen, für dessen Erwerbung das
-Sühnegeld draufgegangen war, in verbiesterter Weise hin und her
-schritt. Zu jeder Tages- und Jahreszeit, bei schlechter wie guter
-Witterung, marschierte er da in dem schmalen Raum zwischen Hauswand
-und Straßenhecke wie ein Wolf im Käfig auf und ab, mit verwildertem
-buschigem rotbraunem Bart, beide Fäuste in die Taschen vergraben,
-die Mütze tief ins Gesicht gedrückt und scheu die Vorübergehenden
-musternd, manchmal mit mißtrauisch zugekniffenen, manchmal mit
-feindselig aufgerissenen Augen; sodaß die Leute im Ort schließlich
-sagten, wenn er nicht wirklich geisteskrank sei, müsse er es bei
-dieser Art Übung allmählich bis zur Vollkommenheit lernen. Außer zu
-seinen Mahlzeiten und sonstigen häuslichen Geschäften, die seine Frau
-nicht für ihn verrichten konnte, wies sein öffentlicher Lebenswandel
-nur dann eine Unterbrechung auf, wenn in der Nachbarschaft irgend ein
-Todesfall vorkam oder auch blos zu erwarten stand. Dann verschwand
-er sofort aus dem Straßengärtchen, schloß sich Tagelang in seine
-Schlafkammer ein oder trollte während der Leichenzeit, wie ein von
-bösen Geistern Verfolgter, in den dichten Haidegehölzen herum, die an
-den Friedhof angrenzten. Deswegen hatte ein Lehrer der Ortsschule, der
-sich in seinen Mußestunden mit Abhandlungen über Gespenstersagen und
-Schauermärchen beschäftigte, einmal am Biertisch im Scherz geäußert,
-der rätselhafte rotbärtige Kerl werde sich noch als Werwolf entpuppen;
-und dieses hingeworfene Wort war als Spitzname an ihm hängen geblieben
-und dermaßen gang und gäbe geworden, daß kein Kind sich allein in die
-Haide wagte, aus Furcht, vielleicht von dem wilden Mann überfallen und
-abgewürgt zu werden.
-
-Ob der Werwolf selbst merkte oder ahnte, was über ihn gemunkelt
-wurde, das wußte wohl nicht einmal seine Frau; denn zu Gesprächen
-neigte er nicht, sondern gab auf Anreden entweder garnichts oder
-höchstens ein unwirsches Knurren zurück. Nur ein kleiner krötiger
-buckliger Flickschneider, mit dem sich sonst niemand recht einlassen
-mochte, hatte sich an ihn angenistet und verstand ihm zuweilen
-ein paar Worte oder gar ein Schmunzeln abzugewinnen. Das passierte
-allerdings selten genug, und blos an besonders schönen Tagen; denn
-des Flickschneiders elenden Knochenbau flog beim leichtesten Lüftchen
-das Zipperlein an, und außerdem war er so schwach auf den Beinen, daß
-er dem unermüdlichen Werwolf kaum ein halbes Stündchen lang Schritt
-halten konnte. Geschah es aber, dann schien sich dieser voll tiefen
-Behagens daran zu weiden, wie das kleine klägliche Klümpchen Unglück
-mit seinem bartlosen Unkengesicht und seiner keuchenden Kläfferstimme
-da neben ihm hin und her hampelte, und wie die Leute das seltsame
-Freundespaar verstohlen von ferne besichtigten. An einem solchen
-schönen Nachmittag also -- es war ein ungewöhnlich milder November --
-vernahm der erwähnte Gemüsehändler, hinter der Gartenhecke knieend,
-wie der Flickschneider plötzlich den Werwolf fragte, ob er nicht
-früher, vor seinem Eisenbahndienst, Sergeant oder so’was gewesen
-sei. Und als der mißtrauisch antwortete, er könne sich nicht mehr an
-alles erinnern, zog der Andre ein Zeitungsblatt aus dem Rock, das den
-berüchtigten Kavallerie-Revolver in größengetreuer Abbildung zeigte,
-und fragte mit pfiffiger Miene weiter, ob er sich hieran vielleicht
-erinnern könne; worauf der Werwolf erst wie entgeistert stillstand,
-dann in ein schreckliches Toben und Schluchzen ausbrach und den Krüppel
-wahrscheinlich entzweigemacht hätte, wäre nicht die Frau aus dem
-Hause dazwischengestürzt und auch der Gemüsehändler zu Hilfe geeilt.
-Natürlich meldete dieser den Vorgang ohne Aufschub der Polizei, und am
-andern Morgen wurde der Unhold von zwei Gendarmen zur Stadt befördert
-und ins Untersuchungsgefängnis gesteckt.
-
-Beim Verhör erklärte zunächst der Flickschneider mit untertänigstem
-Selbstgefühl, daß er sich feierlich dagegen verwahren müsse, als Freund
-des Verhafteten zu gelten. Er sei ein unbescholtener Staatsbürger und
-habe sich mit dem verdächtigen Menschen lediglich deshalb abgegeben,
-um heimlich dabei herauszustudieren, ob derselbe in Wirklichkeit
-verrückt sei oder blos immerfort so tue. Die verfängliche Frage nach
-dem Revolver habe er eigentlich nur gestellt, weil einem solchen
-heimtückischen Müßiggänger doch alles zuzutrauen sei. Er wolle
-keineswegs die Behauptung aufstellen, daß der Werwolf den Apotheker
-umgebracht habe; es bleibe ja immerhin die Möglichkeit, daß derselbe
-den greulichen Wutanfall aus reinem Ärger über die Frage gekrigt
-oder auch blos geheuchelt habe. Aber er möchte doch nicht verfehlen,
-die Aufmerksamkeit der hohen Behörde auf den bedenklichen Umstand
-hinzulenken, daß der Verhaftete am Tage des Mordes schon seit dem
-Mittag verschwunden gewesen und erst wieder am Tage nach dem Begräbnis
-vor seiner Haustür erschienen sei. Wenn sich also derselbe nach alledem
-vor dem hohen Gerichtshof als schuldig erweisen sollte, so möchte er
--- und bei diesen Worten blies sich des Flickschneiders Busenwölbung
-wie ein Truthahn vor dem ebenfalls verhörten Gemüsehändler auf -- ganz
-ergebenst befürworten, daß er allein den vollen Anspruch auf die für
-die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Belohnung erheben dürfe. Der
-Beschuldigte saß währenddem mit gänzlich verstocktem Gesichtsausdruck
-da; nur als sein Verschwinden zur Rede kam, geriet er in merkliche
-Unruhe, und sein zusammengebissener Mund schien wieder mit inneren
-Tränen zu kämpfen. Doch bewirkte seine Vernehmung nichts weiter, als
-daß er hartnäckig leugnete oder zumeist blos den Kopf schüttelte,
-beständig die Augenbrauen runzelnd, wie wenn er die Sache nicht recht
-begriffe. Und da seine Frau nur in einem fort aussagte, sie könne
-sich hoch und teuer verschwören, daß sie nie einen solchen oder
-andern Revolver an ihrem Mann beobachtet habe, so mußte das lebhafte
-Rechtsbedürfnis der aufs stärkste gespannten Zeitungsleser einstweilen
-damit zufrieden sein, sich in neue entrüstete Leitartikel über die
-öffentliche Unsicherheit im allgemeinen, wie über den unheimlichen
-Werwolf und sein jahrelang freies Herumgerenne im besonderen zu
-vertiefen.
-
-Indessen ergab der Fortgang der Nachforschungen, daß der Beschuldigte
-um die Zeit, als Revolver des vielgenannten Systems in der Armee
-geführt wurden, tatsächlich Sergeant gewesen war, und zwar bei der
-reitenden Artillerie; auch daß er sich wirklich zur Stunde des Mordes
-nicht in seiner Behausung befunden hatte. Vor allem aber gelang es
-dem Flickschneider, der inzwischen zusehends in der Achtung der
-teilnahmvollen Bürgerschaft stieg und von Tag zu Tag mehr Zuspruch
-gewann, durch eifrige Umfragen festzustellen, daß die Frau des
-Verhafteten schon seit Jahren bei sämtlichen Krämern und Händlern des
-Ortes, bei Schlachtern, Bäckern und Handwerksleuten, beträchtliche
-kleine Schulden gemacht und ihren Mann für sein lumpiges Ruhegehalt
-und seine schuftige Faullenzerei -- das waren ihre eigenen Worte --
-einmal laut vor den Nachbarn ausgeschimpft hatte; und außerdem war sie
-am Tag vor dem Raubmord in der Familie des Apothekers beim Aufscheuern
-mitbeschäftigt gewesen, sodaß sie von dessen Bahnfahrt zur Stadt wohl
-irgend etwas vorausgehört und dem Werwolf hinterbracht haben konnte. Es
-zweifelte demnach niemand mehr, daß dieser sein kärgliches Gnadenbrot,
-sei es mit, sei es ohne Wissen der Frau, durch den blutigen Handstreich
-hatte aufbessern wollen und die geraubten Banknoten noch irgendwo
-verborgen hielt; geteilter Meinung war man einzig darüber, ob er den
-ruchlosen Entschluß aus echtem Irrsinn gefaßt haben mochte oder immer
-nur wieder in der Berechnung, daß sich bei standhaft geheuchelter
-Geistesstörung jede Schandtat ungestraft ausführen lasse.
-
-Zur großen Befriedigung sämtlicher Wohlgesinnten schien durch die
-nächste Gerichtsverhandlung, die eine öffentliche war, die letztbesagte
-Meinung bestätigt zu werden; denn als dem Verhafteten all jene
-Einzelheiten seiner verdächtigen Lebensführung der Reihe nach
-vorgehalten wurden, war deutlich zu sehn, wie der handfeste Mann aus
-seiner gewohnten Halsstarrigkeit allmählich gleichsam herausstrauchelte
-und schließlich einen hilflosen Blick auf den freundlich lächelnden
-Staatsanwalt warf. Und als dieser den Blick -- was in damaliger Zeit
-ganz erstaunlich an einem Staatsanwalt war -- ohne Strenge erwiderte,
-vielmehr den erschütterten Angeklagten mit herzgewinnender Stimme
-fragte, ob er nicht endlich sein Gewissen erleichtern und durch ein
-mutiges Geständnis vor Gott und den Menschen reinigen wolle, da
-übermannte den Werwolf ein solches Weinen, daß die meisten Damen im
-Zuschauerraum, sogar auch die Witwe des Apothekers, nicht anders
-konnten und laut mitweinten. Das alles aber machte ihn dermaßen wirr,
-daß er vor fassungslosem Stammeln kein klares Wort zu entgegnen wußte,
-sondern nur krampfhaft, während die Tränen ihm in den zitternden
-Bart niederrollten, bald Ja und bald Nein aus der Kehle würgte,
-bald mit zerknirschten Geberden nickte, bald widerspenstig den Kopf
-schüttelte. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen; und also mußte
-er, bis sein Gewissen zum vollen Geständnis gereift sein würde, oder
-bis andere sichere Anzeichen für seine Schuld zutage kämen, in die
-Untersuchungshaft zurückgeführt werden.
-
-Während sich nun die Bevölkerung zwar im Grunde bereits beruhigt
-fühlte, aber sich umso gründlicher der immer noch schwebenden
-Sorge annahm, ob der Gerichtshof den Verbrecher füglich zum Tode
-verurteilen dürfe oder blos lebenslänglich ins Irrenhaus sperren,
-ward der sittlichen Spannung der Gemüter durch zwei fast unglaublich
-widerspruchsvolle, jedoch polizeilich verbürgte Zeitungsberichte ein
-wahrhaft erschreckliches Ziel gesetzt. Der erste Bericht verkündigte
-nämlich, daß sich der Werwolf frühmorgens nach jener Verhandlung an
-einem abgerissenen Hemdärmelstreifen in seiner Haftzelle erhängt und
-auf die Kalkwand der Zelle die Worte gekritzelt hatte: „Ich kann nicht
-mehr. Ich weiß nicht mehr. Gerechter Himmel, es gibt einen Gott.“
-Wohingegen der zweite Bericht besagte, daß der Staatsanwalt am selben
-Vormittag von dem Anwalt der Apothekerswitwe einen langen Eilbrief
-empfangen hatte, demzufolge der Werwolf nicht der Mörder, sondern
-ihr Gatte ein Selbstmörder war. Und zwar wußte die schwergeprüfte
-Dame dies schon seit dem ersten Anblick der Leiche, da ihr zugleich
-von den Untersuchungsbeamten der Kavallerie-Revolver gezeigt und
-von ihr als Eigentum des Toten, aus seinem -- wie man es damals
-nannte -- freiwilligen Militärjahr her, an einem Rostfleck erkannt
-worden war. Um indessen -- so legte ihr Anwalt dar -- den guten
-Ruf des Dahingegangenen, sowohl den moralischen wie besonders den
-christlichen, ihrer ehelichen Pflicht gemäß nach Kräften aufrecht
-zu erhalten, habe sie voller Selbstverleugnung so lange wie möglich
-zu schweigen versucht und deshalb auch die Versicherungssumme ohne
-Widerspruch hingenommen, zumal ihr Anrecht nach dem Vertragswortlaut
-als unanfechtbar gelten könne. Da aber nunmehr ein Unschuldiger für
-die blutige Tat scheine büßen zu sollen, und da inzwischen auch durch
-die Versicherungsgesellschaft bedauerlicherweise ermittelt worden,
-daß der Dahingegangene sein Vermögen in Börsenspekulationen verspielt
-und demnach vermutlich die Ermordung nur zu dem Zweck veranstaltet
-habe, seine Familie vor dem Bankrott zu retten, so glaube Klientin die
-traurige Wahrheit nicht länger unterdrücken zu dürfen. Dieselbe gebe
-der Hoffnung Raum, daß, möge ihr Gatte auch schwer gefehlt haben, das
-allgemein menschliche Mitgefühl doch seinen furchtbaren Opfertod als
-genügende Sühne anerkennen und nicht noch seine Namenserben denselben
-entgelten lassen werde. Welcher Hoffnung dann in der Tat sowohl
-der freundliche Staatsanwalt wie die gemütvolle Bürgerschaft aufs
-offenherzigste entsprach, besonders als man noch erfuhr, daß sich die
-wohlgesinnte Witwe mit der Versicherungsgesellschaft gütlich geeinigt
-und ein Drittel der empfangenen Summe in aller Stille zurückgezahlt
-hatte.
-
-Für den erhängten Werwolf freilich war ihr Bekenntnis leider Gottes
-einige Poststunden zu spät gekommen. Aber zum Glück war vorauszusehen,
-daß sich die Witwen der beiden Selbstmörder, da die zweite die erste
-gerechterweise auf Entschädigung verklagen konnte, im stillen ebenfalls
-gütlich einigen mußten. Auch blieb ja immerhin unentschieden, ob sich
-der Werwolf nicht doch vielleicht, als er an jenem Tag seine Wohnung
-verließ, mit der sträflichen Absicht getragen hatte, den Andern
-meuchlings auszurauben; und jedenfalls ließ sich gewissermaßen eine
-Art höherer Gerechtigkeit in dem sonst peinlichen Umstand entdecken,
-daß dieser auf Staatskosten lebende Heuchler, dessen schlechtes
-Gewissen ihm nicht einmal den ruhigen Genuß seiner Rente erlaubte,
-sich kurzerhand selbst gerichtet hatte. Viel erschrecklicher war
-dem gebildeten Teil der überraschten Bevölkerung die ungeheure
-Verstellungskraft, die den sanften gottgläubigen Apotheker bis zur
-letzten Minute befähigt hatte, den Schein des Raubmordes herzustellen
-und Revolver nebst Uhr noch im Todeskampf aus dem Bahnwagenfenster
-herauszuschleudern. Doch am allerbedenklichsten war die Ungewißheit und
-bot jedem gründlichen Zeitungsleser noch auf lange Zeit reichlichen
-Gesprächsstoff, ob der Werwolf nun doch zuguterletzt, laut seiner
-rätselhaften Wandinschrift, in wirklichen Irrsinn verfallen sei und
-sich, dem freundlichen Staatsanwalt folgend, für den Mörder gehalten
-habe. Den Feinden der bürgerlichen Ordnung natürlich erschien das als
-ausgemachte Gewißheit; ja, ein ruchloser Schriftsteller jener Zeit
-nannte es gradezu einen Staatsfall und ein fast noch musterhafteres
-Beispiel von hirnberückender Eingebung -- oder, wie die gebildeten
-Deutschen sich damals ausdrückten, Suggestion -- als das des berühmten
-Hauptmanns von Köpenick.
-
-
-
-
-Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht
-
-Novelle aus dem Innern eines Misanthropen
-
-
-Jan Goderath war sein Name; und er war stolz auf den Namen. Er
-hatte ihn wieder zu Ehren gebracht, als kein Mensch mehr dem alten
-Handelshaus traute. Und nun ging er hier durch die fremde Stadt, die
-ihn plötzlich an jene Leidenszeit mahnte, und konnte sich seinen
-Trübsinn nicht deuten; die ganze Stadt schien in Trauer versunken.
-
-Freilich: ein Volksmann war gestorben: ein ehrlicher Mann, selbst
-seine Feinde mußten das zugeben. Und standhaft war er gestorben,
-nach qualvoller Kehlkopfkrankheit, vor der Zeit: ein Opfer seiner
-Beredsamkeit. Aber was ging denn +ihn+, den reichen Weltmann Jan
-Goderath, den unabhängigen Handelsherrn, der ausgediente Volksfreund
-an! und noch dazu ein Italiäner! Dies Volk war ihm doch eigentlich
-ein Greuel. Was hatte er mit einem Narren gemein, den seine Schmerzen
-begeistert hatten, wie andere Narren auch! Wie konnten ihn, den
-Menschenkenner aus Hamburg, die Trauermienen des Pöbels in dieser
-fremden Stadt ergreifen?
-
-Und erst dies Genua selbst, ~la superba~, wie diese Söhnchen
-glorreicher Väter ihr Marmornest noch immer nannten: was war in die
-bankrotten Wichte auf einmal für ein Geist gefahren? Er besah sich die
-Vorübergehenden; das stechende Vormittagslicht behagte ihm plötzlich.
-War das dieselbe träge, schamlos geschwätzige Menge, die ihn noch
-gestern verdrossen hatte? Alle gingen sie schleichend wie sonst,
-fast noch schleichender, ohne ihr zweckloses Gliedergefuchtel, und
-Keiner kam ihm träge vor. Der enge Corso wimmelte wie immer dicht von
-Menschenköpfen, durch die sich nur selten ein Fuhrwerk schob; aber
-die Kutscher schrieen heut nicht, jede Stimme klang verhalten, wie
-durch die grauen Paläste gedämpft, und die Gesichter schienen sich den
-stolzen Mauern anzupassen, die düster in den blauen Himmel grenzten.
-Selbst wenn ein schönes Weib vorüberkam, lief ihr kein hündischer Blick
-aus lüstern schwarzen Augen nach; in allen diesen Augen glomm ein
-traumhafter Ernst -- was war das nur?!
-
-Schon unten am Hafen war ihm aufgefallen, daß heut die Arbeit ohne Lärm
-und Flüche und Gelächter vor sich ging; sogar die Maultiertreiber in
-den Steinbrüchen schlugen weniger roh auf ihr bepacktes Viehzeug los.
-Doch das, nun ja, das waren Arbeitsleute; denen mochte der gestorbene
-Gleichheitsmensch wohl wirklich etwas bedeutet haben. Aber hier,
-im Innern der Stadt, was hatten diese flunkernden Kaufleute, diese
-Tagediebe und Weiberknechte, mit dem Mann des Volkes zu tun! Und was
-erst all die Fremden hier! Was gab dem dürren Franzosen dort, mit
-der Orangenblüte im Knopfloch, solchen feierlichen Ausdruck, daß die
-beiden Säulen des alten Portals, vor dem er zufällig wartete, wie sein
-natürlicher Rahmen wirkten, trotz seines modischen Reisehutes. Tat das
-der Tod?
-
-Nein; dazu war dies Volk von Beichtkindern zu leichtherzig. Erst
-vorige Woche hatte er in Pisa einen hohen, weit beliebten Beamten
-zu Grabe bringen sehen: die ganze Stadt war auf den Beinen gewesen,
-sämtliche Glocken läuteten, acht Barfüßermönche trugen den Katafalk,
-all ihre Ordensbrüder schritten voraus und goldverbrämte violette
-Priester, dazwischen Jungfraun in weißen Kleidern und Kinder mit grünen
-Kränzen im Haar, alle mit großen brennenden Kerzen, Chorknaben sangen
-Litaneien, zwei Väter Jesu führten die gebrochene Witwe, die Frauen
-des Gefolges weinten laut -- und eine Stunde später war von dem ganzen
-Straßenschauspiel auch nicht ein Hauch mehr zu spüren gewesen. Und die
-Pisaner standen doch im Ruf der Gründlichkeit, er selber hatte sich
-bei ihnen wohlgefühlt, es mußte da wohl vor Jahrhunderten germanisches
-Erobererblut in die Bevölkerung gedrungen sein.
-
-Und heut nun, hier in Genua, wo jedes wälsche Unkraut sich sonst
-brüstete, schon seit dem frühen Morgen diese Stille. Ihm war, als
-ginge er in einem Strom von Wallfahrern. Was hatte all die Menschen
-so seltsam in sich gekehrt? Der tote Volksmensch war doch nicht
-einmal mit Pomp bestattet worden. Kein Mönch noch Priester war dem
-schmucklosen Holzsarg vorausgezogen; sechs barhäuptige Arbeiter hatten
-ihn getragen, keine Träne war geflossen, und keine Glocke läutete.
-Oder wars etwa grade Das? War dieser ungewohnte stumme Eindruck den
-Schwätzern auf die Seelen gefallen? Dieser farblose Eindruck: der Zug
-der hundert schwarzgekleideten Männer, wie sie paarweis, alle mit
-bloßen Köpfen, die Hüte in der Faust, finster und wortlos hinter der
-Bahre hergeschritten waren, unter dem schwülblauen Himmel. Selbst einen
-Offizier der Kriegsmarine hatte er da die Mütze lüften sehn.
-
-Und hatte nicht er selber, Jan Goderath, sich da sagen müssen, daß
-es doch Ahnen dieser Männer waren, die hier die schlichte Straße von
-Palästen, mit dieser strengen Wucht der Außenwände, dieser ruhigen
-Kühnheit innen, einst hatten bauen können! Er trat hinein in eines
-der machtvollen Treppenhäuser. Wenn jetzt durch diesen Säulenhof,
-in dem die starre Hitze brütete, ein Mann im Arbeitskittel käme, er
-würde den Hut vor ihm abnehmen. Was war ihm nur?! Ihn konnte doch der
-Eindruck von ein paar Dutzend Leidtragenden nicht aus dem Gleichgewicht
-bringen! +Die+ Zeit lag doch wohl hinter ihm; er war doch über die
-Dreißig hinaus. Gewiß: der Eindruck war schön gewesen, schön und ernst,
-vielleicht auch edel. Das brauchte ihn doch aber nicht in seiner Ruhe
-zu stören; er hatte sie sich schwer genug verdient. Was ging denn ihn
-das wälsche Elend an! dem war ja doch nicht zu steuern. Was ging ihn
-überhaupt das Leid der Menschen an? Als ob es ohne Leid Glück geben
-könnte. Das blieb doch in alle Ewigkeit so.
-
-Er trat wieder auf die Straße. Und wieder fühlte er aus allen Augen
-das stille Flimmern auf sich wirken. Oder störte ihn etwa nur das
-Licht, das von dem heißen Marmorpflaster prallte? Er ging hinüber
-in den schmalen Schattenstreifen; es war, als ginge er durch ein
-Gespinnst, das all die dunkeln Köpfe verband. Und keiner sah doch
-traurig aus. Es schwebte nur wie eine Andacht zwischen ihnen; als
-horchten sie auf etwas Fernes, Klares. Das konnte doch der Tod nicht
-machen? Das konnte doch nicht Ehrfurcht sein? Was galt denn dort dem
-Fuchsgesicht, was dort den beiden Professoren der Gestorbene mit seinem
-unklaren Zukunftstraum! Was war das für ein Zwangsgefühl, das diese
-ganze Stadt erfüllte? und ihn mit! Er war doch schon ganz anderer
-Stimmungen Herr geworden, die ihn viel näher betroffen hatten: damals,
-als sich sein Bruder vergiftete -- der hatte auch so rührende Augen wie
-diese braunen Halunken hier. Ja, damals war ihm der Vater am Herzschlag
-gestorben, und Er allein hatte alles gerettet.
-
-Er bog in den Platz vor dem Postgebäude; hier staute sich die
-Menschenmasse. Die Stimmung war noch seltsamer hier. Die grelle
-Hitze machte alle Mienen noch gespannter; bis unter die Arkaden des
-Gebäudes schien diese hohe Spannung zu schweben. Selbst der verkleidete
-Messerhändler, dem sonst sein kriechendes Lächeln so feil wie seine
-Dolche war, ging heut in seinem blaugestickten Dalmatinermantel wie
-ein verbannter Fürst umher. Man hörte kaum ein deutliches Wort. Jeder
-schien sich, wenn er sprach, auf etwas Anderes zu besinnen, etwas
-Vergessenes, Heimliches. Was war das nur? Hier all die Müßiggänger
-hatten doch den Toten nicht geliebt! Und Er, Jan Goderath senior:
-Liebe -- fast hätte er laut losgelacht -- mit +dem+ Gefühl war er
-doch gründlich fertig! das hatte sein Bruder ihm abgewöhnt. Er atmete
-schwer auf; was lag ihm an dem kehlkopfkranken Zukunftsapostel! was an
-dem ganzen Gemurmel hier! Wenn er die Augen etwas schlösse, würde die
-Stimmung vorüber sein. Nein, selbstverständlich: nur noch beklemmender
-kam sie dadurch zu Gefühl: ihm war, als stünde er in seiner Vaterstadt,
-verloren wie ein Blinder, inmitten einer großen Kirchgängerschaar. Er
-mochte das nicht länger ausstehn. Ein Glück, daß ihn der deutsche Maler
-erwartete! Das Brustbild sollte heut fertig werden; so beim Modellstehn
-würde er sein Gleichgewicht schon wiederfinden. Er nahm die Richtung in
-die obere Stadt.
-
-Denn ja, das Gleichgewicht: das war das Höchste: die starke Vernunft.
-Die hatte ihn gemäßigt damals, in seinem Wutanfall, als er fast seinen
-Bruder erschlagen hätte, den toten Schuft, der ihn mit zum Betrüger
-machen wollte, der Lüderjan! Ja, er war stärker als seine Liebe; er
-hatte die Probe bestanden. Wie kam er nur darauf, heut sein Gefühl zu
-befragen? War etwa das Gefühl zu schwach gewesen, wenn die Vernunft so
-stark war damals? Das war doch dann kein Gleichgewicht! sonst wäre doch
-Eintracht in seiner Seele. Ein Jahr lang war er nun gereist und glaubte
-alles verwunden zu haben, und ein paar hundert flüsternde Menschen
-konnten ihn aus der Fassung bringen? eine Heerde, die sich selbst nicht
-begriff! Er fuhr sich heftig über die Stirn. Nun: dank der Kunst --
-er mußte lächeln -- jetzt war er bald heraus aus dem Geräusch. Hier
-schlichen nur noch Vereinzelte; wie bloße Schatten sahen sie aus; es
-schien sie alle etwas nach unten zu rufen.
-
-Er stieg die breite Treppenstraße zu dem oberen Corso hinauf. Er spürte
-die Apenninenluft schon, trotz der sengenden Sonne. Es war doch ein
-Wunderwerk von Stadt, schier ebenbürtig der reichen Natur. Welche
-ungeheure Arbeit sprach allein aus den Grundmauern, auf denen sie
-rings die Bergterrassen emporklomm, aus den Hunderten von steinernen
-Stufen hier, den Quadern der Umwallung dort im Zickzack um den Corso,
-aus all den Brücken über die Felsenspalten, und oben aus dem Zug der
-Festungsblockwerke, der altersgrau den kahlen Höhenkamm krönte: Das war
-Alles Menschenwerk! -- Ihm fiel die Inschrift ein, die er heut Morgen
-am Hafen unten gelesen hatte, an dem Palaste, den einst das genuesische
-Volk dem greisen Doria schenkte: „~ut, maximo labore jam fesso corde,
-otio digno quiesceret~.“ Er übersetzte sich das schlechte Latein:
-„damit er, nun sein Herz von der gewaltigen Arbeit ermüdet ist, in
-würdiger Muße ausruhen könne.“ Ein Schauer überlief ihn: hier rings auf
-all den Bergabhängen, die ihn im Halbkreis umarmten, ragte die Arbeit
-von Hunderttausenden.
-
-Er wandte sich und sah hinunter auf die Stadt. Wie sich da Hohes und
-Niederes einte -- Paläste und Straßenfluchten, die flachen Dächer und
-die Türme, Gärten und riesige Wohnhäusermassen -- im wogenden Weißglanz
-des Mittags. Dort lag die Villa Negro, mit ihrem Park von Lorbeern
-und Myrten, Zypressen, Palmen, Zitronenbäumen, mit allen Blumen des
-Orients und jedem Laubholz des Nordens -- so lieblich hatte sie ihm nie
-gedeucht. Er glaubte das Geplätscher ihrer Springbrunnen, die kleinen
-Wasserstürze der Grotten zu vernehmen, und ihr zu Füßen das Gewirr der
-Gassenschluchten, in Zirkellinien um sie her, dies Spinnennetz, dem er
-soeben entronnen war. Wie sich das nun zusammenschloß, Altes und Neues,
-unter der glutblauen Himmelsglocke! Jeder dunkle Fleck, selbst die
-verwitterten Kirchenkuppeln, schien ihm verklärt, bis ins Gewimmel des
-Hafens hinab. Wie Alles zu ihm herzustreben schien, tief her, fern her:
-die Menschheit unten, Leuchtturm und Schiffe, das silberweiße blendende
-Meer -- er mußte die Augen schließen.
-
-Ein heulender Pfiff riß sie ihm auf. Im Tal zur Linken kam ein Bahnzug
-aus dem Tunnel herausgedampft, der hier im Bogen unter der Stadt
-herumlief; er schätzte, daß er grad drüber stand. Wenn jetzt die Erde
-sich öffnete, würde er in den Schienenschacht stürzen, die Mauern des
-Corsos über ihn her. Auch +un+sichtbar die Arbeit von Tausenden!
-Vielleicht mit von den Männern, die heute den Toten getragen hatten.
-Wenn nun die Männer ihr Werk zerstören wollten? Was hinderte die
-Tausende? -- Ein paar Dutzend Fäßchen Dynamit, planvoll den Tunnel
-entlang verteilt, würden die Stadt in den Hafen schleudern, samt
-Festung, Zuchthaus, Irrenhaus. Er hörte die wankenden Felsen schon
-donnern, die See auftosen und Orkane heulen. Die Dächer der Paläste
-bäumten sich, Kirchtürme flogen durch die Luft, die Kuppeln platzten,
-und die Gärten tanzten. In brandgelben Kurven schossen Marmorstatuen
-ins kochende Meer, Gemäldegalerieen flammten auf, Schiffstrümmer,
-Bibliotheken. Durch den verfinsterten Himmel, durch Qualm und Feuer
-und Wolken von Schutt, scholl das Geschrei zerberstender Bürgerbäuche;
-und oben über dem Rachegericht, auf den umrauchten Höhen des Apennins,
-standen die Tausende, mit heißen Augen der Märtyrer denkend, die sich
-da mitgeopfert hatten -- standen zu neuer Zukunft bereit.
-
-Er wischte sich den Schweiß von den Backen. Was war ihm nur! Sah er
-bei hellem Tag schon Gespenster, wie die Dorfschäfer hinter Hamburg?
-Was war das für ein Zwangsgefühl? Die Männer unten hatten doch nicht
-drohend ausgesehen; eher bittend; als ob sie etwas zu erringen suchten.
-Was hatte Er damit zu tun! er reckte sich. Ja, diese seltsam suchenden
-Augen; er nickte und schritt weiter, jetzt war er bald am Ziel.
-Merkwürdig: auch der Maler hatte manchmal diese Augen: halb bettelnd,
-halb fordernd, der arme Teufel. Nur daß sie grau waren, nordseegrau,
-wie seine eigenen Augen grau; und doch wie Hundeaugen. Ja: wie ein
-Schweißhund vor der Jagd: heißhungrig, scheu. Und diese schräge
-Verbrecherstirn! der filzbraune Spitzbart! die kurzen Beine! Der
-Mensch war ihm doch eigentlich widerlich. Der paßte unter dies wälsche
-Gesindel: halb Lazzarone, halb Genie.
-
-Warum hatte er ihn blos ausgesucht? warum sich von ihm malen lassen?
-von diesem Schächer der Kunst! Wie er ihn immer anstarrte: als wollt
-er die Seele ihm aus dem Leibe pinseln -- und dann wars nichts als
-Stückwerk. Was hatte ihn hingeführt zu dem Menschen?! Etwa daß er
-aus Hamburg war? aus seiner Vaterstadt? -- Pah: Heimweh! lächerlich!
-Kinderkrankheit! -- Oder daß er mit seinem Bruder befreundet gewesen?
-Nun, das vielleicht; er wollte sich wohl absichtlich prüfen. Denn vor
-zwei Jahren hatten sie Drei da oben hinter Hamburg gestanden, auf den
-Elbhöhen draußen, bei Sonnenuntergang, die Aussicht über den Strom zu
-Füßen. Der strömte so breit, als wenn das Meer schon anfinge dort.
-Und der Maler hatte sich abgewandt, die rauchenden Dörfer jenseits
-anstarrend, die in der Abendglut zu brennen schienen; denn Er, er
-machte in Bruderliebe, Jan Goderath senior Nachfolger -- er hatte dem
-Schwächling noch einmal geglaubt, sie waren ja doch Ein Fleisch und
-Blut -- zwei Tage bevor er es kennen lernte, verachten lernte, dies
-Fleisch und Blut, die ganze menschliche Sippschaft. Was ging ihn jetzt
-der Mensch noch an! Der hatte wohl gar um alles gewußt, vielleicht die
-Wechsel gar fälschen helfen. Nun: morgen würde er weiterreisen, ob nun
-das Bild heut fertig wurde oder nicht.
-
-So trat er in das Haus hinein. Hier war es kühl, die steinerne Stiege
-frisch gespült; jetzt würde er gleich Ruhe haben. Wenn +der+
-Mensch ahnen könnte, wie ihn der Pöbel entzwei gemacht hatte. Ja:
-Gleichgewicht! die Eintracht zwischen Vernunft und Gefühl, wie zwischen
-zwei gleich starken Herrschern: wenn Das zu malen wäre, wenn es das
-gäbe, in einem einzigen Menschengesicht, in Einer Seele von Mann auf
-Erden: +der+ sollte sein Freund sein! -- Da stand der Spitzbart
-schon in der Türe; Bedientenseele! -- Und der also duzte ihn -- dem gab
-er die Hand -- -- sie gingen vor die Staffelei. Er trocknete sich die
-Stirn. „Hast du das Kinn nicht zu massig gezeichnet? Ich sehe ja aus
-wie Bonaparte vor Moskau.“ Der Spitzbart, grinsend: „Mit dem hast du
-auch manchmal Ähnlichkeit.“ Ach so! das sollte ihm wohl schmeicheln.
-„Ich habe mit Niemandem Ähnlichkeit; der korsische Dickbauch ist nicht
-mein Mann.“ Der Andre, kleinlaut: „Das Kinn ist gut. Laß nur die Augen
-erst fertig sein; es liegt tatsächlich nur an den Augen.“ -- „So? Nun,
-dann kann man wohl anfangen.“ -- „Ja.“
-
-Er stieg auf das Trittbrett und lehnte sich an das Pfostengerüst. Der
-dürftige Raum war drückend warm. Vom Apennin her tönte ein Hornsignal.
-Sie sahen sich schweigend in die Augen; nur das Geräusch des Malens
-war noch hörbar. Wie ihn der Mensch wieder anstarrte jetzt! Wie er
-sich quälte für sein bißchen Brot! So quälten Hunderttausende sich! --
-Hatte er etwa Mitleid mit ihm? der Reiche mit dem Armen? Er, Goderath
-Nachfolger -- lächerlich! -- Er hatte doch damals kein Mitleid gehabt,
-mit seinem eigenen Bruder nicht, als der um Geld nach Amerika bettelte.
-Nun gar mit diesem wildfremden Stümper? -- „Habt ihr euch eigentlich
-lieb gehabt?“ hörte er plötzlich wie fernher fragen. Was fiel dem
-Menschen da drüben denn ein! „Ich spei auf die Liebe!“ er schrie es
-fast. Warum denn nur? fragte etwas in ihm. -- „Entschuldige!“ hörte er.
-Schweigen.
-
-Und wieder starrten die Augen ihn an. Und wieder starrten sie
-nordseegrau. Und in dem Grau war etwas Flackerndes. Was war das nur?
-Das war ja unheimlich. Das war ja viele Meilen fern; wie ein Gespinnst
-zwischen ihnen, ein flimmernder Strom, und jenseits brennende Dörfer.
-Und über den Strom her kamen Tausende, barhäuptig, paarweis, auf ihn
-zu: die trugen einen Toten. Und starrten ihn an mit Menschenaugen,
-heißhungrig, scheu, halb bettelnd, halb fordernd. Als wäre etwas in
-ihm, das sie suchten: etwas Vergessenes, Fernes, Klares. Und plötzlich
-strahlte es auf in ihm, und strömte über, hin zu ihnen: ein Licht, ein
-Meer, ein Nebelglanz. „Was +ist+ dir, Mensch?“ rief eine Stimme
--- er wankte, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Und heiße Tränen
-machten ihn blind, und blindlings wankte er in zwei Arme, und küßte den
-Bart, der ihm soeben noch widerlich erschienen war; küßte ihn weinend
-wie ein Kind, und lachte, und ermannte sich. O, das war mehr als
-Vernunft und Gefühl! Das war +doch+ Liebe, nicht Mitleid, nein!
-Das war die Liebe, leidlos ob Fleisch und Blut! die Eintracht und das
-Gleichgewicht! Das war die Alles beseelende Liebe.
-
-Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich setzen. Er fühlte den kranken
-Volksmann sterben, der Zukunft zu Liebe, vor der Zeit; er fühlte die
-Sehnsucht der Tausende leben, wie Brüder zu werden, der Freiheit zu
-Liebe; er fühlte die Opfer der Arbeit alle, dem Leben Aller, Aller
-zu Liebe. Und Er? er hatte die Menschen verachtet; er, Goderath, der
-Menschenkenner! -- Er reichte dem Maler die Hände hin: „Ich hab mich
-versündigt an meinem Bruder“...
-
-
-
-
-Das Gesicht
-
-Eine halbe Stunde Seelenleben
-
-
-Er saß und konnte nicht los aus diesem lastenden Bann. Immer wieder
-sank der über ihn, wie ein magnetischer Ring um die Stirn, und lähmte
-seine Hand. Seit Wochen nun schon: seitdem er wieder gesund war. Immer,
-wenn er malen wollte. Immer die eine, große, unerfüllte Lust: das Ziel
-der hundert frohen Mühen und Entwürfe: das Bild, das Bild: ihr Gesicht!
--- was er auch Neues vornehmen mochte.
-
-Er hörte sie im Nebenraum hantieren, durch den Teppich hindurch. So
-verhalten klang es, so fremd. Und die Brandflecken auf dem Teppich:
-wie sie ihn quälend erinnerten! -- Er fühlte seine starken Schultern
-zucken, ohne daß ers wehren konnte. Er sah müde und verächtlich in die
-Landschaft auf der Staffelei, und warf den Pinsel weg, und sah scheu
-nach der Wand drüben, nach dem Menschenbild da.
-
-Da hing es und wartete, das letzte von den vielen; das sie noch
-gerettet hatte aus dem Brande, im letzten Augenblick, aus den
-fliegenden Flammen. Es war wie ein Alb: diese ungelöste Aufgabe, dies
-Gesicht.
-
-O gewiß, es war ja fertig: +war+ ja ein Bild: ein Bild, wie nur
-Er es malen konnte: dies Weib da, mit der Narzisse in den streng
-gefalteten Händen. Sie duftete fast, die vorgebeugte, makellose,
-leuchtende Blüte, mit dem purpurgelben Krönchen auf dem weißen Stern;
-die berauschende Blüte vor den jungen, nackten, vollen Brüsten. Und
-darüber ihr stumm gewährender Mund. Und darüber die blauen drohenden
-Augen, groß und dunkel ins Weite gerichtet. Und darüber all ihre
-Haarglut, schwer und goldrot wie Kupfergold, schwarzgrün umschattet
-vom dichten Laubwerk des alten wilden Myrtenbaumes, mit den kleinen,
-schimmerweiß schwellenden Knospen. Ja, seine Freunde hatten gescholten,
-daß er’s der Welt nicht zeigen wollte; damals.
-
-Aber das war es ja: auch jetzt nicht! Und nie, niemals, bis er das Eine
-gefunden, das noch drin fehlte, Ihm nur sichtbar: das nur Er vermißte
-in diesen Bildern: das letzte Rätsel ihres Gesichtes: Das, warum er sie
-liebte.
-
-O, und nun wars unmöglich: war es zerstört, dies stille lebendige
-Rätsel: von den Flammen gefressen das Geheimnis ihrer Züge, von Narben
-zerrissen dieser stolze Hals, diese schmiegsamen Lippen -- und um
-seinetwillen! -- Und er hatte doch gewußt, mit seiner ganzen Kraft
-gewußt, daß es endlich ihm glücken würde, daß er’s ihr ablauschen
-würde und auf die Leinwand zwingen, dies lockende Wunder. Nicht aus
-den Augen; nicht aus den Mundwinkeln. Da saß es nicht; in keiner
-Einzelheit. Auch in der Stimmung nicht; das hatte er alles versucht
-und getroffen. Es war ein Ausdruck, ein Ausdruck! und er war ihm so
-nahe gewesen: in seinem letzten Bilde, dem an der Wand da drüben, dem
-einzigen übrig gebliebenen. Und jetzt, jetzt --? er preßte die Finger
-ineinander; er hätte sie blutig drücken mögen.
-
-Und all das, weil er sie liebte; grade weil. Und weil er so stark war.
-Ob es wohl Strafen gab? Strafen der Kraft? aus sich selbst? -- Hatte er
-+deshalb+ den Fuß gebrochen? --
-
-Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die
-Kunst! Übermannung! -- Denn es war ja nicht gleich so gewesen; was ging
-ihn ihre Seele an. Aber allmählich -- o aber das wars ja: das Heilige,
-auch für den Künstler: Das, was ihm die Augen geöffnet hatte: das
-Allerheiligste der Form: die bannende Seele, die Gegenseitigkeit alles
-Lebendigen!
-
-Und so wars denn geworden: das Modell zum Weibe, der Leib zum Wesen,
-und immer gegenseitiger dem Künstler ihre Schönheit, und immer
-gegenseitiger dem Menschen ihr Geschlecht. Nein, er wollte es nicht.
-Nur mit den Augen wollt er sie haben: +ihre+ Augen, die nachtblau
-dunklen, schwimmenden Blumen, ihr klares waldseestilles Gesicht --
-Alles! -- Und doch: wie er sie dann erkannte, diese Gestalt, Blick
-für Blick, und Ahnung um Ahnung sicherer wurde, fester im Bilde, und
-alles sich ihr entgegenspannte in seinen Sinnen, und ihre Innigkeit mit
-seiner Sehnsucht wuchs: es war ja Natur, Natur! war das Ohnmacht?
-
-Jener Augenblick, nach jenem letzten Bilde, als er sie am Handgelenk
-heranriß, noch zitternd vor schaffendem Entzücken, und ihr den neuen
-Ausdruck zeigte, der sie fast enträtselte: diese verlangende Keuschheit
--- und dann sie ansah, heiß und durstig, das Eine Letzte suchend,
-daß sie’s nicht aushielt länger und an ihm niederwankte, so warm und
-schwer, und er an ihr: o Versunkenheit! -- Und dann, dann: es war zu
-hart, zu widersinnig hart vom Schicksal: wie er sie hochgerissen hatte
-mit tollen Armen, schreiend vor Lust und doppeltem Glücksgefühl, und
-mit ihr über den Schemel sprang: dieser tückische Knöchelbruch -- über
-den er damals noch lachen konnte -- in seiner schwelgenden Liebe --
-damals.
-
-Er lauschte. Was sie wohl dachte jetzt. An +ihn+ nur. Das fühlte
-er. Das war das Schwere; der magnetische Ring.
-
-Wie still sie wieder saß. Daß er sie nur nicht merken möchte, da in der
-kleinen Kammer, hinter dem Teppich; nichts rührte sich; so wars nun
-Tag für Tag. Und Abends die Angst, die heimliche Angst, mit der sie
-sich im Dunkeln hielt, im Halblicht, oder ihr Gesicht verhüllte, daß er
-es nur nicht sehen möchte; daß er sie nur vergessen möchte, ihre tote
-Schönheit, das Bild ihrer Seele, diese quälende Unmöglichkeit. Ja, die
-Angst in der Luft, das wars; das machte ihn zunichte, diese Art Liebe.
-
-Ja, und +war+ denn das noch Liebe? dieser lähmende Zwang! War
-nicht alles blos Erinnerung?!
-
-Nicht einmal Nachts: nicht anrühren konnt er sie mehr, ohne daß es
-wieder vor ihm stand, das ganze furchtbar rote Schauspiel, und ihm
-heiß und kalt die Sinne benahm. Wie sie ihn geweckt, ihn herausgehoben
-hatte mit seinem kranken, dick verschienten Fuß aus dem qualmenden
-Bett, hinter ihr her schon die leckenden Flammen, durch die Tür und
-hinab die zwölf dunkeln Treppenstufen -- o, sie war stark, fast so
-stark wie er! -- und dann zurückgestürzt war und sich nicht halten
-ließ, wieder hinauf, um das Bild noch zu retten, das eine wenigstens,
-hinein in das glühende Viereck oben, mit den langen offenen Flechten,
-die im Feuerschein flossen wie rollende Wellen -- dies Flimmern! --
-Und auf einmal der Schrei, dieser schrille zerreißende Schrei, und
-das polternde Bild, herunter zu ihm; und oben +sie+, groß, in
-entsetzlicher Pracht, mit den greifenden Armen, die roten Haare zu
-bläulichen Funken zerflatternd, eine sprühende Glorie! züngelnde Flügel
-um den keuchenden Busen! und die grauenhaft flackernden Augen! -- Und
-Er, hilflos da unten sich krümmend! Und noch Einmal der Schrei, der
-heiße, tierische Schrei! und sein eigener Schrei: wie sie wieder sich
-dreht, eine brennende Garbe, noch Einmal hinein -- daß ihn die Sinne
-verlassen -- bis die Leute ihn wecken und sie neben ihm liegt, in den
-Teppich gewickelt, nach dem sie zurückgerannt in letzter gräßlicher
-Besonnenheit, um den lodernden Schmerz zu ersticken, das tapfere starke
-Geschöpf -- seine Retterin! --
-
-Ob sich das wohl malen ließe: feurige Flügel? Nein, Narrheit; so
-wenig wie der Sonnenstrahl, der da auf der Palette blitzte. Ach, das
-Sonnenlicht! Wie ihr Haar drin schillerte früher, so glatt und wogend;
-ob es wohl wiederwachsen würde? -- Aber was nützte das! Ihr Gesicht,
-+das+ war das Unersetzliche! die Erinnerung, die ihn zu ihr zog --
-nein: von ihr stieß.
-
-Er stierte zu Boden. Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben,
-nicht blos in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben
-lang; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria
-Magdalena wars immer gewesen; die hatte er immer im stillen gemeint,
-seitdem er sich heimlich die Bibel gekauft, wenn er zur Strafe hinknien
-und beten mußte. Magdalena, die liebreiche Sünderin.
-
-Ach, was sollte dies Grübeln. Sie lebte ja, lebte und liebte ihn;
-und war gesund, gesund wie Er. O, das schöne, blühende Wort! O, ihre
-quälende Häßlichkeit! ihre mahnende Nähe! die Lust und der Abscheu!
-Ohnmacht! --
-
-Er sah wieder auf; nach dem Teppich, nach dem Narzissenbild. Wenn er’s
-verkaufen würde. Ob er dann vielleicht Ruhe hätte. Wozu auch diese
-Versessenheit, ohne Sinn und Verstand, auf das eine einzige bißchen
-Seele. Wozu denn überhaupt der ganze pedantische Tiefsinn. Warum
-wars ihm nicht genug an dem farbigen Witz, wie den Andern; an der
-Lichtflunkerei, über die er sonst spottete. Es war doch so einfach: was
-Neues probieren! -- Aber +sie+, sie blieb ja. Und wenn er das Bild
-in Stücke zerschnitte, die Erinnerung blieb, solange sie selbst blieb;
-und mit ihr der Zwang. Und +die+ Erinnerung ließ sich nicht malen.
-
-Freiheit! -- Ja --: das war das Ungesunde: das war unsittlich: diese
-widernatürliche dumpfe Gemeinschaft! Knechtschaft! Leibeigenschaft!
-
-Er starrte auf die Palette; ein Wolkenschatten wischte den Lichtstrahl
-aus. Wenn er ihr Schminke gäbe? -- Ihn ekelte! -- Und die Form bliebe
-ja dennoch zerstört, die Seele im Gesicht. Und ihre Scham! ihr Stolz!
-Dann würde sie gehen! --
-
-Aber das wollte er doch? -- Dann das Bild auf die Ausstellung; weg
-damit! Eine Reise; Gletschersonne! Ein, zwei Jahre würde es schon
-reichen, das Geld für das Bild und der Rest seiner Erbschaft; er würde
-blos arbeiten. Und er hatte ja genug gelernt an ihr! Er wollt es den
-Andern schon zeigen, warum er so lange im Stillen gesessen.
-
-Und sie? -- Sie war ja klug genug, die Professorstochter. Sie könnte ja
-Unterricht geben, oder Buchhalterin werden; oder er würde ihr selber
-was schicken. Nein, schändlich: das würde sie nicht nehmen. Und --: und
-wenn nun die Leute sie nicht wollten? mit ihrem entstellten Gesicht?!
-
-O, dies Gewissen! Warum hatte er dies Gewissen! -- Ja, für die Kunst,
-da war’s gut. Aber fürs Leben? fürs Leben brauchte man doch kein
-Gewissen! -- Nicht weil er sie verführt hatte; nein! eher sie ihn.
-Oder weil sie von den Ihren geächtet war? eine Verstoßene?! und um
-seinetwillen! -- Nein: das war ja aus ihr selbst so gekommen. Warum
-war sie denn wiedergekommen, noch eh er von Liebe was ahnte; und immer
-wieder, bis sie bleiben mußte. Das war ihr Verhängnis! Ja, ihr eignes
-Verhängnis: ihr Wille!
-
-Weil sein Ernst sie lockte; was die Eltern auch sagen mochten. Weil
-sie +seinen+ reinen Willen fühlte. Aber: aber war er denn rein?
--- Ja! bis er ihn verlor, in jenem Augenblick, den Willen zur Form.
-Nein, schon vorher: bis er die Seele sah. Aber das war ja die Form,
-die bannende Seele; was er gesucht hatte, was sie gespürt hatte, warum
-sie ihm vertraute, ihm, dem Künstler. Nein, auch dem Menschen! dem
-Menschen, der über sich stand, über Sich und Natur, über Seele und
-Leben, kraft seines formbeherrschenden Geistes! -- Und doch nicht! Wars
-doch dieselbe Natur, die selben Sinne, der selbe Geist: die Kraft des
-Künstlers, des Menschen.
-
-Ja: da hing’s: jener Augenblick, jenes Bild: seine Kunst, sein Leben:
-sein Wille, ihr Wille: das war alles das Selbe, das folternde, drohende
-Selbe! Denn sein Leben, ja, das war er ihr schuldig: ihr, seiner
-Retterin! Sein Leben, seine Kunst, seine Seele; seinen ganzen Beruf und
-Zweck in der Welt.
-
-Er fuhr zusammen: ein neuer Wolkenschatten schlich durch die Stille.
-Er preßte die Augen zu. Er wollt es schon garnicht mehr sehen, das
-fordernde drohende Bild; er haßte es schon. Er drückte die Fäuste in
-die Augen; daß sie flimmerten. Er sah es nur mächtiger, in sprühendem
-Glanz; und sah sie, sie, wie sie +jetzt+ war, mit dem starren
-gestaltlosen Mund, mit dem haarlosen Kopf, mit den Narben um Wangen und
-Kinn, dem blanken, striemenroten Hals. Er stöhnte laut auf, daß ihn
-graute: vor der hohlen, einsamen Stimme.
-
-Da: das war doch nicht +seine+ Stimme? Zagend, suchend kam es
-durch den großen Raum: „riefest du?“ weich und schwer, wie der Teppich,
-den er schwanken hörte.
-
-Er sah nicht auf. Er fühlte, wie sie fragend stand. Nur nicht jetzt ihr
-Gesicht! Er wollte sprechen. Da kam sie.
-
-Er wollte den Kopf schütteln; aber ihre Hand auf seiner Schulter,
-ihr Warten! Es war nicht möglich, es zwang ihn hoch. Er mußte sie
-ansehn, ansehn: das graue Morgenkleid hinauf: ihren Hals! -- und -- --
-Rot! und ein brausendes Schwarz! Seele! der Blick! ihr Gesicht! das
-war Übergewalt --: da stand sie, hoch, starr, erhebend: „Ich werde
-+gehen+“ -- und wollte sich wenden.
-
-Und Er -- sah sie an -- an -- und seine Augen wurden immer weiter, daß
-sie nicht loskonnte -- immer sehender -- und seine Finger tasteten
-und griffen: es zu fassen, zu halten: das Unerkannte, Letzte, Eine:
-das heilige Wunder: Das, was ihn zu ihr in die Kniee riß, warum er
-sie umklammerte -- weinend -- „Offenbarung“ stammelnd --: ihre große
-Sittlichkeit! die Schönheit ihrer Erschütterung!
-
-Und nun: weich -- weich, schwer und leise -- sank auch sie herab an
-ihm: Knie an Knie, kinderfromm, anders wie damals. Und er küßte die
-gestaltlosen Lippen, und schlang die Hände um den haarlosen Kopf, und
-hielt sie von sich, schauend, schauend --: Nein, das lag nicht in den
-Augen, nicht in den Mundwinkeln, in keiner Einzelheit: Das würde ihn
-zur Andacht zwingen, und wenn sie ganz verschleiert vor ihm läge: diese
-herrliche Hoheit, diese selige, siegende Demut.
-
-Und er mußte es sagen, lachend, das Überflüssige: „ich liebe dich.“
-
-Und als sie sich erhoben von den Knieen, in ihrer Klarheit, und der
-breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber,
-nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt
-du, wie ich dich malen werde? -- Sturm und Nacht -- Fackelbrand -- nur
-Auge und Bewegung --: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!“
-
-„Vom Kreuz wegtragend“ -- sprach ihre Seele.
-
-
-
-
-Das hölzerne Bein
-
-Humoreske
-
-
-An einem sehr warmen Frühlingsabend saßen in einem japanischen Hotel
-vier europäische Gäste beisammen: ein Konsul mit seiner jungen Gattin,
-ein ihm vom Klub her befreundeter Baron, und ein zu Studienzwecken
-hergereister Doktor der Naturwissenschaften, der sich über diese
-Freundschaft allerlei stille Gedanken machte und daher laut über etwas
-Anderes sprach.
-
-„Mein verehrter Herr Doktor,“ entgegnete nun der Baron und schlug mit
-seinem Stock an sein rechtes Bein, so daß es einen harten Klang von
-sich gab, „ich möchte Ihre Philosophie, mit der Sie uns soeben erbaut
-haben, nicht auf die Feuerprobe stellen. Den Lohn, den die edle Tat in
-sich selbst tragen soll, den trägt doch wohl höchstens der Täter in
-sich selbst. Und wenn er sich keines Spiegels bedient: woraus sieht er,
-daß seine Tat edel war? Vielleicht war sie eitel Narretei. Der Spiegel
-aber mag noch so heimlich hängen, er bedeutet immer das Auge der Welt.“
-
-Der Angeredete blickte absichtsvoll unter den Sonnenschirm seiner
-Nachbarin und fragte angelegentlichst: „Sind Sie auch so unfrei,
-gnädige Frau? Brauchen Sie immer ein fremdes Auge, um selbst zu fühlen,
-wie schön Sie sind?“
-
-Die junge Frau errötete langsam, während der Baron sein
-schwarzgerändertes Einglas unter seine sandelholzrote Braue klemmte und
-mit seinen onyxschwarzen Pupillen schamlos auf ihren Gatten starrte,
-der statt ihrer lachend erwiderte: „Aber Doktor, Sie sind ja der reine
-Buddhist. Es wird Zeit, daß Sie nach Europa zurückgehn. Wenn Sie erst
-glücklicher Ehemann sind, werden Sie anders über die Damen denken.“
-
-Der junge Naturforscher sagte „Nie!“ mit einer beteuernden
-Handbewegung. Die schöne Frau ließ ein schüchternes „Bravo“ hören.
-
-Der Baron klopfte wieder an sein Bein, hob die juwelengeschmückte
-Linke, tupfte an seinen schwarzgefärbten, amerikanisch gestutzten
-Schnurrbart, um ein Gähnen zu unterdrücken, betastete noch sein rotes
-Haupthaar und versetzte kameradschaftlich: „Lieber Konsul, wozu den
-Doktor bekehren. Lassen wir ihm seine Lebensweisheit; wir sind beide
-wenig älter als er. Vielleicht ist sein männliches Selbstgefühl die
-naturnotwendige Vorbedingung zur Verübung edler Taten; ebenso wie
-das weibliche zur Begehung einer glücklichen Ehe. Ganz im Ernst,
-meine Gnädigste!“ Er zeigte seine weißen Zähne, die zu blank und zu
-regelmäßig waren, als daß sie hätten echt sein können.
-
-Die Dame äußerte unbefangen: „Sie sind ein schlimmer Schmeichler, mein
-Freund“ -- konnte aber doch nicht verhindern, daß ihr wieder eine
-Röte aufstieg. Ihr Gatte gab dem Baron sein Lächeln zurück: „Es kommt
-immer drauf an, wer den Spiegel hält!“ Und der junge Gelehrte sprach
-mit Selbstüberwindung: „Auch sind wir ja nicht hierhergekommen, um
-moralische Disputationen zu pflegen. Der Buddha dort drüben belächelt
-uns +alle+.“
-
-Die vier so zusammen Plaudernden saßen auf der freien Terrasse des erst
-vor kurzem gebauten Hotels; es lag in der Nähe des Tempeldörfchens
-Mijama. Andere Gruppen von Reisenden saßen an den Nebentischen, unter
-den großen bunten Papierschirmen, die man noch immer aufgespannt hielt,
-obgleich die Sonne schon hinter den Bergen war. Vor der Terrasse
-standen in weitem Bogen die leeren Rikscha-Wägelchen, zwischen deren
-zwei Rädern die halbnackten Kulis lagen, als ob sie am Boden Kühlung
-suchten vor dem ungewöhnlich schwülen Aprilabend.
-
-Man war von Kioto herkarriolt, um das Fest der Kirschblüte anzusehen,
-das am nächsten Tage hier stattfinden sollte, und zugleich den
-berühmten Daibutsu zu betrachten, eine riesige alte Buddha-Statue aus
-ehemals vergoldeter Bronce, die auf dem Tempelhügel des Dörfchens
-ragte. Über der Waldung von blühenden Kirschbaumhainen, die sich rings
-um den heiligen Ort hochbauschte, thronte der göttliche Koloß an dem
-bleigrauen Horizont wie aus einem schimmernden Wolkenkissen.
-
-„Vorzüglich gelegenes Hotel“, bemerkte der Konsul mit Kennermiene;
-„wird sicher bald in Mode kommen.“
-
-„Auch für Staffage ist schon gesorgt“, warf der Baron nachlässig hin
-und wies auf eine Schaar einheimische Pilger, die mit ihren großen
-Strohtellerhüten und schilfgeflochtenen Wettermänteln hinter den
-Rikschas kauerten; augenscheinlich durften sie dort übernachten.
-
-Der Konsul lachte weltkundig, während der Doktor nicht umhin konnte,
-seine Nachbarin stirnrunzelnd anzuschauen. Er hatte den Ausflug
-vorgeschlagen, hoffte endlich diesem holden Geschöpf, das für den
-spaßhaft lauten Gatten offenbar viel zu zartfühlend war, im Freien
-etwas vertrauter zu werden, und nun ließ der Baron mit seiner
-Spitzfindigkeit keinen herzlichen Ton aufkommen.
-
-Sie schob jetzt ihren Schirm beiseite, und er wollte ihr behilflich
-sein. Aber der Baron hatte schon einem Diener gewinkt, und der
-klappte hurtig das bunte Ding zusammen, ehe ein Andrer den Arm danach
-ausstrecken konnte. „Die Luft ist so drückend,“ erklärte sie, „wie
-unter einer Taucherglocke. Hoffentlich gibt es kein Gewitter morgen.“
-
-„Gnädige lieben doch sonst den Aufruhr der Elemente“, sagte der Baron
-mit starren Pupillen. Sie schien etwas entgegnen zu wollen, blickte
-aber unsicher weg, errötete wieder und erhob sich. Der Doktor,
-ebenfalls aufstehend, suchte nach einem Beruhigungswort, brachte aber
-zu seiner Verwunderung nur heraus: „Vielleicht liegt ein Erdbeben in
-der Luft.“
-
-Während der Konsul ihn lachend belehrte, daß Erdbeben in dieser
-Jahreszeit, was er natürlich selbst schon wußte, so selten seien wie
-glückliche Ehen, machte auch der Baron Anstalten, sich aus seinem
-Korbstuhl zu erheben. Das geschah, indem er zuerst sein rechtes Bein
-in einen rechten Winkel rückte, dann das linke dicht daneben setzte,
-den schwarzen Stock fest auf den Boden stemmte und mit einem Ruck sich
-emporschnellte; dabei zuckte flüchtig ein verbissener Schmerz durch
-sein schönes bleiches Gesicht, aber zugleich verzog er die knappen,
-himbeerrot geschminkten Lippen zu einem überlegenen Lächeln, das
-gleichsam Leidlosigkeit atmete.
-
-Es war auffällig, wie er durch dies Lächeln dem großen Buddha ähnelte,
-der über der ganzen Landschaft thronte. Auch hatte der Doktor verlauten
-hören, die Mutter des sonderbaren Herrn sei ein vornehmes Hindufräulein
-gewesen, eine Radschah-Tochter oder dergleichen. Doch wurde ihm dadurch
-nicht eben klarer, was diesen Krüppel so anziehend machte, der seine
-notgedrungene Künstlichkeit noch künstlicher aufzustutzen beliebte.
-Man wußte nicht recht, ob nur sein eines Bein oder beide nachgemacht
-waren; er bewegte sie gleicherweise wie ein paar feine Ersatzstücke.
-Und da er die rechte Hand stets behandschuht trug, selbst beim Essen
-und Billardspielen, mußte wohl irgend etwas auch daran nicht natürlich
-beschaffen sein.
-
-Es liefen allerlei Gerüchte um, woher er so verunstaltet wäre. Manche
-erzählten, er habe als Jüngling ein auf der Straße spielendes Kind vor
-einem durchgegangenen Pferd gerettet und sei dabei selbst überfahren
-worden; vielleicht deshalb vorhin sein leiser Spott über den Lohn
-der edlen Tat. Andere sprachen von einer Tigerjagd und einem wütend
-gewordenen Elefanten. Seine Freunde scherzten wie er selber über diese
-wilden Geschichten, und der Konsul hatte einmal, wenn auch nicht in
-seiner Gegenwart, die schnurrige Frage aufgeworfen, was für echte
-Glieder wohl an ihm blieben, wenn er abends ins Bett stiege.
-
-Zur Zeit trug er wiegesagt tiefrotes Haar und einen kurzen schwarzen
-Schnurrbart; vor etwa einem halben Jahr, als der Doktor ihn kennen
-lernte, hatte er die Farben umgekehrt getragen. Man munkelte, daß
-er sich wie ein Perser den Schädel kahl rasieren ließe und zwölf
-verschiedene Perücken benutzte, vom harten Gelbrot bis zum weichsten
-Schwarzrot, für jeden Monat eine andre. Sicher echt war, außer seinen
-Juwelen, nur der steinige Glanz seiner schwarzen Augen, der jedes
-Mitleid weit von sich wies, und der metallische Klang seiner Stimme,
-der an die schwere Verhaltenheit des deutschen Waldhorns erinnerte.
-
-„Der Buddha macht schon Nachttoilette“, sagte er plötzlich zu der Frau
-Konsul, nach dem Koloß am Horizont hindeutend. Der hockte auf seiner
-weißen Blütenwolke, wie mit einem golddurchwirkten dunklen Florhemd
-angetan, und sein verwittert lächelndes Antlitz schien von himmlischen
-Ahnungen umschimmert. „Wir wollen auch bald zur Ruhe gehn“, antwortete
-die schöne Frau, nur halb einen Seufzer unterdrückend, der den Doktor
-ebenso sehr entzückte, wie der Witz des Barons ihn verdroß.
-
-Sie traten in die Hotelhalle und begaben sich an den Fahrstuhl, der
-sie ins erste Stockwerk befördern sollte. Der Baron mit der Dame nahm
-den Vortritt; vier hatten nicht Platz in dem schmalen Kasten. Als der
-Doktor neben dem Konsul nachfuhr, bemerkte dieser mit seinem üblichen
-Lachen: „Famoser Knabe, der Herr von Hinkebein! Gewöhnt meiner Frau die
-Romantik ab!“
-
-Oben stand der Baron bereits im Begriff, sich von ihr zu verabschieden;
-in dem elektrischen Licht des Korridors sahen seine Augen noch
-verhärteter aus, und die ihren noch schmelzender. „Gute Nacht! Auf
-schönes Wiedersehn!“ sagte er mit der verhaltenen Stimme und zog ihre
-Hand an seine Lippen; sie nickte, wie schon halb im Traum.
-
-Der Doktor wollte auch etwas Zartes sagen; aber der Baron kam ihm
-wieder dazwischen. „Gute Nacht, Doktor!“ intonierte er schärfer, ihm
-die behandschuhte Rechte hinstreckend; „und träumen Sie von edlen
-Taten!“ Der junge Gelehrte konnte nur spöttisch erwidern: „Leider bin
-ich kein Joseph, Baron!“ Und unter dem Lachen des Konsuls suchte er,
-etwas verstimmt, sein Zimmer auf.
-
-Mitten in der Nacht erwachte er schreckhaft, trotzdem er sonst ein
-gesunder Schläfer war. Ihm hatte geträumt, die schöne Frau habe von
-fern um Hilfe gerufen, sodaß er aus dem Bett springen wollte; aber am
-Fußende stand der Baron und hielt ihn an beiden Beinen gepackt, um sie
-ihm aus dem Leibe zu ziehen.
-
-Während er noch darüber nachsann und seine Glieder erleichtert dehnte,
-fühlte er unversehens ein Schwanken, als läge er in einer Kajüte. Er
-hielt es noch immer für Traumnachwirkung, aber da knackte und knarrte
-es in den Wänden, als wollte das Haus aus den Fugen gehen, und zugleich
-kam von der Terrasse her ein verworrenes Geschrei vieler Stimmen, sodaß
-er nun wirklich vom Bett aufsprang.
-
-Also doch ein Erdbeben! dachte er mit einer gewissen Genugtuung, indem
-er die Beleuchtung andrehte. Er hatte noch keinem beigewohnt und war
-jetzt einigermaßen erstaunt, daß er von seinem Schreck nichts mehr
-spürte, auch nichts von der fiebrigen Unruhe, die nach den meisten
-Beschreibungen mit einem solchen Erlebnis verbunden sein sollte.
-Freilich wußte er, daß bei Neulingen die Angst am gelindesten auftreten
-sollte, und daß das Hotel bebensicher gebaut war; aber immerhin, er
-konnte zufrieden sein mit seinem wissenschaftlich gestählten Gemüt.
-
-Er warf sich rasch in die Kleider, nahm seine Reisetasche und eilte die
-nächste Treppe hinab; sämtliche Korridore waren erleuchtet, und in den
-Dielen knackte es wieder. Die Terrasse lag jetzt menschenleer; aber im
-Halbdunkel bei den Rikschas schob sich ein zappliges Getümmel, Gäste
-und Kulis durcheinander. Nur die Pilger knieten oder kauerten abseits,
-laut ihre Rosenkränze abbetend und nach dem Buddha hinüberstarrend,
-dessen lächelndes Antlitz wie trunken glühte. In dem Tempeldorf schien
-ein Brand ausgebrochen; eine riesige rauchige Flammengarbe stand
-hellrot über den Kirschblütenwipfeln, und dumpfe Gongtöne dröhnten her.
-
-Unberührt von alldem saß bei dem vordersten Wagen, nur mit Hut und
-Hemdchen bekleidet, ein kleines amerikanisches Mädchen, das mehrmals
-die Hand auf die Erde legte, als ob es etwas fühlen wollte. „~Doesn’t
-move~“, rief es schließlich enttäuscht seiner aufgeregten Mutter
-zu, die sich mit einem Kuli zankte. Dem Doktor fiel ein, daß er in der
-Eile seine Uhr oben hatte liegen lassen; zugleich aber schüttelte ihn
-ein Erdstoß, von dem die ganze Terrasse wankte, und durch die Hausmauer
-fuhr ein knirschender Riß.
-
-Er stand noch prüfend und überlegend, ob er trotzdem zurücklaufen
-sollte, als zwischen mehreren flüchtenden Gästen der Konsul aus der
-Halle gerannt kam und ihn mit verstörtem Lachen begrüßte. Dem Doktor
-fiel ein, daß er in der Eile auch noch garnicht an die Andern gedacht,
-sie auch nirgends gesehen hatte, und aufgebracht schrie er den
-Lachenden an: „Aber wo ist denn Ihre Frau?!“
-
-„Ja! Wo?“ schrie dieser, noch sinnloser lachend. „Ich habe genug an ihr
-Zimmer geklopft, und da sie keine Antwort gab, meint’ich natürlich, sie
-sei schon unten.“
-
-„Also zurück!“ schrie der Doktor nun, warf seine Reisetasche weg
-und stürmte zur Treppe, wieder hinauf. Die Vorstellung, daß dies
-entzückende Weib, das sich gestern Abend in rührender Müdigkeit kaum
-noch aufrecht zu halten vermochte, vielleicht von einem plumpen Stück
-Wand im Schlaf verstümmelt werden könnte, empörte ihn gegen den lauen
-Gatten und gab seinen Schritten wilde Flügel. Atemlos stand er vor
-ihrem verriegelten Zimmer, klopfte, horchte -- und klopfte stärker;
-eine tolle Freude durchzuckte ihn, daß sie den Konsul ausgesperrt hatte.
-
-Jetzt kam auch der herangekeucht, und sie klopften Beide an der Tür,
-horchten, klopften und trommelten -- horchten nochmals: nichts rührte
-sich drinnen. Auf einmal ruckte, krachte es allenthalben, und sie
-hörten einen erstickten Angstruf. Der Doktor packte taumelnd den
-Türgriff, der Konsul desgleichen: das Schloß sprang auf. Es war also
-garnicht verriegelt gewesen; doch Bett und Zimmer waren -- leer.
-
-Sie starrten einander verdutzt ins Gesicht, da kam eine neue Stoßwelle
-nach, und wieder ein unterdrückter Angstschrei. Kein Zweifel, das
-war +ihre+ Stimme; nur kam sie von jenseits des Korridors. In
-diesem Augenblick fühlte der Doktor, wie sich vor Schreck seine Haare
-sträubten: er sah die Gesichtshaut des Konsuls lakenweiß werden,
-während er selbst bis über die Schlafen wie ein Junge errötete: die
-Stimme kam aus dem Zimmer des Barons.
-
-Der Konsul machte eine Grimasse, blickte plötzlich wie ein Rasender
-um sich und stürzte nach dessen Tür hinüber; es schien, er wollte sie
-einschlagen. Aber sie öffnete sich bereits, und er prallte mit offenem
-Munde zurück. Auf der Schwelle erschien der Baron, prangend in seinem
-vollen Schmuck, blos das rechte Bein fehlte in der Hose; hinter ihm
-stand die schöne Frau, in ihrem langen Nachtgewand, die Augen von
-reinstem Mitleid verklärt, und hielt mit zärtlichem Entsetzen zwischen
-den aufgelösten Flechten sein Holzbein an ihrem verhüllten Busen.
-
-Kerzengrad auf den Krückstock gestützt, trat er in den Korridor, ohne
-mit einer Miene zu zucken. „Es wimmelt ja heute von edlen Taten!“ sagte
-er und begann zu lächeln; „die Gnädige wollte mich auch schon retten.“
-
-So sprechend reichte er mit starren Pupillen, während sie in
-schwärmerischer Verschämtheit das Bein mit ihrem Haar zudeckte, dem
-endlich wieder lachenden Konsul seine juwelenblitzende Linke. Und der
-Doktor sah im Hintergrund durch das weitgeöffnete Zimmerfenster den
-feuertrunken lächelnden Buddha über der Blütenwolke thronen.
-
-
-
-
-Die gelbe Katze
-
-Burleske
-
-
-Nichts wirkt bestimmender als das Unbestimmte. Mit dieser Nutzanwendung
-pflegte mein Bruder Ernst mir seine Erlebnisse zu berichten. Jetzt ist
-er tot. Kurz vor seinem Ende schrieb er mir Folgendes.
-
-Wenn die Frau, für die ich meine eigne verlassen wollte, mit mir von
-ihrem Manne sprach, kam sie mir immer häßlich vor. Ihre bräunliche
-Haut wurde dann gelblich, das wilde Haar schien schwarzer und tiefer
-in die Stirn gewachsen, der Pechglanz ihrer Augen wurde siechend und
-der Ausdruck des schwungvollen Mundes hilflos. Ich nannte das ihr
-Dienstmädchengesicht; aber es war mir unerklärlich.
-
-Sie beherrschte den Mann; aber das konnte sie doch nicht mehr fesseln.
-Sein Körper war ihr unerträglich geworden, sein spöttischer Witz nicht
-minder. Seine Rachsucht fürchtete sie nicht, und seine Gutmütigkeit
-verachtete sie. Für Freiheit schwärmte sie wie eine russische Fürstin.
-Warum also blieb sie noch bei ihm? --
-
-Freilich hatte sie ein Kind von ihm. Aber das faßte sie nicht gern an,
-trotzdem sie es sehr lieb zu haben glaubte. Mit meinem Töchterchen
-spielte sie lieber und sehnte sich nach einem Sohn von mir.
-
-Auch auf sein Geld war sie nicht angewiesen; er hätte ihr das ihre
-nicht vorenthalten, er war ein Ehrenmann. Daß er mich im Duell
-erschießen könnte, befürchtete sie ebenso wenig; ich hätte ihm zu Ehren
-mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt -- (hier log mein Bruder Ernst) --
-und ihr zu Liebe brauchte ich’s nicht, mein Dasein war ihr werter als
-das Urteil der Leute.
-
-„Ist es, weil du dich vor deinen Eltern schämst?“ fragte ich sie eines
-Tages, während wir auf einem Ausflug waren.
-
-„Ja, vielleicht“ -- sie lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen
-schillerten. Dann machte sie ihr Schlangengesicht, als wollte sie das
-Wort verschlucken; und gleich drauf lachte sie wie eine Bachantin.
-
-Wir gingen durch mein Lieblingsdorf, ein Krondorf aus der Zeit des
-großen Friedrich. Es war an einem Karfreitag. Zu Ostern wollte sie in
-ihre Heimat reisen; der Frühling am Rhein war ihr das Paradies. Wenn
-sie davon sprach, erschien sie mir wie die leibhaftige Jungfrau Maria;
-ihre nachtbraunen Augen verklärten sich.
-
-Die Kastanienknospen standen schon ganz dick und grün; manche machten
-schon die Finger auf. Die Ahornblüten glänzten goldgelb durch den
-blauen Abend. „Daraus mach ich mir ein Feeenszepter“, sagte sie, „wenn
-ich mit meinem Vater durch die Berge reite.“
-
-Ich sah sie an -- „Es gibt auch böse Feeen, du“ -- und wollte sie
-küssen. Zwischen ihre schwarzen Brauen trat ein queres zuckendes
-Fältchen; wie immer, wenn sie sich mir überlegen fühlte. Die üppige
-Nase zuckte mit. Ich küßte nicht.
-
-Plötzlich wurden ihre Pupillen lüstern groß. „Sieh, wie unheimlich!“
-flüsterte sie und zeigte über die Straße. Alle ihre Sommersprossen,
-selbst auf den Lippen, schienen verschwunden. Der schwellende Mund
-wurde dunkler. Das war ihr Hexengesicht; das sechste, das ich an ihr
-unterschied.
-
-Ich ging mit ihr hinüber. Auf einem künstlichen Hügel stand ein
-seltsames Häuschen hinter dem Zaun. Es war stets unbewohnt, ich kannte
-es schon. In der hellen Dämmerung sah es noch spukhafter aus.
-
-Zwei riesige Platanen streckten ihre noch kahlen Äste wie
-Leichenknochen über das flache Dach. Die Wände waren fahl und fleckig.
-Links wiegte ein verkrümmter Lebensbaum sein finstres Laub. Mitten
-aus der Vorderwand schob sich ein rundes Spitztürmchen vor, das an
-chinesische Hüte erinnerte; die Tür war verschlossen. Um die kleinen
-Bogenfenster krochen Borten aus gotischem Schnörkelwerk; die Scheiben
-waren so schwarz wie die Pupillen meiner Begleiterin. Zwischen der
-rechten Ecke des Hauses und dem Stamm der einen Platane ging die
-gelbrote Sonne unter.
-
-„Hier möcht ich manchmal wohnen“, sagte die schöne Frau. In diesem
-Augenblick kam langsam über den Hügelrücken, grade wie aus der Sonne
-heraus, eine große gelbrote Katze und setzte sich vor die verschlossene
-Tür.
-
-Das Bild verstimmte mich, so tief voll Stimmung es war. Die
-schwarzbraunen Augen des Viehes erinnerten mich unbestimmt an
-eine Kindesmörderin aus einem Wachsfigurenkabinett. Die Sonne war
-verschwunden; das Fell sah nun noch gelber aus, fast seidig. Sie
-starrte blinzelnd herunter auf uns; mich fröstelte. Ich klatschte in
-die Hände; sie lief weg.
-
-Die schöne Frau war zusammengefahren und sah mich etwas unwillig an.
-„Ich liebe Hauskatzen nicht“, sagte ich rauh. Sie nickte stumm und
-nahm hingebend meinen Arm. Wir wandten uns zur Heimkehr, aber der böse
-Eindruck verließ mich nicht. Je zärtlicher sie mit mir sprach, umso
-verstimmter wurde ich. Ich schob es auf den Karfreitag. Immerfort durch
-unser Geflüster hörte ich Jesu Trostwort an den gekreuzigten Mörder:
-Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.
-
-Fast verlegen küßte ich sie zum Abschied, und sagte lachend: „Auf
-Wiedersehen, Magdalena.“ Sie machte ihr Jungfraungesicht.
-
-Die Nacht drauf träumte mir -- (mein Bruder Ernst hielt nämlich Träume
-ebenfalls für Erlebnisse) -- ich sähe aus dem Fenster und schräg mir
-gegenüber stünde das seltsame Häuschen. In den schwarzen Scheiben
-glomm das Sternlicht. Plötzlich wurden sie blendend hell. Das ganze
-Haus stand erleuchtet bis in den löchrigen Schornstein hinauf. Fenster
-und Türflügel klappten auf; und aus Allem, was offen war, Luken und
-Löchern, vom Dach herab und von den Wänden, sprangen unzählige schwarze
-Katzen und stoben lautlos in die vier Winde. Zuletzt kam langsam eine
-große rötlich-gelbe aus der Tür, starrte blinzelnd nach mir her, und
-verlor sich gleichfalls in die Finsternis. Dann schloß das Haus sich
-ebenso lautlos und war mit Einem Schlag wieder dunkel.
-
-Der Morgen kam. Ich saß mit meiner Frau beim Kaffee; wir besprachen
-unsre Trennung. „Wenn du mit Bestimmtheit fühlst“, sagte sie mit ihrer
-treuen Stimme, „daß die Andre für dein Glück geschaffener ist als ich,
-darf ich dich nicht halten“ -- da ging die Flurglocke.
-
-Das Dienstmädchen meldete, ein fremdes Fräulein wünsche mich zu
-sprechen; ich ging ins Nebenzimmer. Eine große junge Dame trat mir
-entgegen; ich erschrak. Sie war ganz in gelbrote Seide gekleidet, ihr
-schwarzes Haar bedeckte ein Strohhut mit einem Zweig von künstlichen
-Ahornblüten; sie hatte alle Züge der schönen Frau, nur nicht so
-sarazenisch, gleichsam zahmer. Ich stand sprachlos.
-
-War sie’s doch vielleicht? Nein! Gestern war sie verreist. Und jeder
-Gesichtszug war mir doch fremd. Und eine Schwester hatte sie nicht.
-
-Die Dame lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen schillerten.
-„Sie kennen mich wohl nicht“, fragte sie leise; ich verneinte
-beklommen. „Ich bin die gelbe Katze“, sagte sie schnurrig; mich
-fröstelte. Dann fiel mir ein: vielleicht ein Vexierscherz der schönen
-Frau -- sie hatte Bekanntschaft in Bühnenkreisen. Die Dame blinzelte,
-und zwischen ihre Brauen trat ein queres Fältchen; „ich soll Sie
-abholen“, flüsterte sie.
-
-Aus ihren Augen sah ein schlangenhafter Glanz, der mich bestrickte.
-Gleich? fragte ich. „Gleich!“ Wir gingen.
-
-Wir gingen schweigsam die Treppen hinunter; vor der Tür stand ein
-Wagen. Wir fuhren durch zahllose Straßen, ebenso schweigsam; sie schien
-mich garnicht zu beachten. Die Straßen wurden enger, die Häuser immer
-höher, die Gegend mir unbekannt. Einmal nickte sie flüchtig; da sah ich
-eine schwarze Katze durch einen Torweg haschen. Einmal strich sie sich
-ihr wirres Haar mit ihrem gelben Handschuh glatt. Endlich hielt der
-Wagen; ich folgte ihr willenlos.
-
-Wir gingen durch einen dumpfigen Hof, dann mehrere eiserne Stiegen
-empor, und durch viele halbdunkle Gänge. Ein wahres Labyrinth von
-Haus; die Luft roch modrig. Vor einer pechschwarzen Flurtür machte sie
-Halt und drückte auf etwas Unsichtbares. Die Tür sprang auf, ich stand
-geblendet. Eine stechende Lichtpracht schlug mir entgegen, wie von
-tausend Kronleuchtern her.
-
-Als ich zu mir kam, stand ich in einem Saal, der unabsehbar schien;
-vor mir, hinter mir, nach allen Seiten Spiegelwände. Und mitten durch
-den Saal, der Länge nach, von allen Seiten widergespiegelt, stand eine
-endlose Reihe von lautlos sich drehenden schwarzgekleideten Damen und
-lautlos hopsenden mausegrauen Herren, wie nach dem Rhythmus einer
-übersinnlichen Tanzmusik.
-
-Keine der Damen -- (hieraus entnahm ich, daß mein Bruder Ernst noch
-immer träumte) -- hatte blos Einen Herrn, die meisten zwei, manche
-auch drei; einige schienen ein Dutzend zu haben, falls mich die
-Spiegel nicht täuschten. Alle trugen sie, so lustbar sie sich drehten,
-einen sonderbar hilflosen Trübsinn zur Schau, fast wie Automaten; die
-mittelste hielt ein weinendes Kind im Arm.
-
-Immer wenn sich eine der Damen dem einen ihrer Herren etwas tiefer
-hinbog, tat dieser einen besonders hohen Hops, sodaß die mausegrauen
-Frackschöße, die sonst bis auf den Boden schlappten, die Luft
-durchschwänzelten. Dann warfen ihm die andern Herren, zumal die dicken,
-wütende Blicke zu; aber die Dame lächelte kindlich, dann wurden selbst
-die dicksten wieder sanft.
-
-Mir fing an schwindlig zu werden; ich sah mich um nach meiner gelben
-Führerin. Ein Schauder beschlich mich: alle ihre Sommersprossen waren
-verschwunden. Die Pupillen hexenhaft groß, stand sie wie die Fürstin
-dieses Tanzspiels da und schüttelte die bachantischen Locken. Ihr Haar
-war aufgegangen, der Strohhut lag am Boden. In der Rechten hatte sie
-den falschen Ahornblütenzweig und schwang ihn wie ein Szepter. Das
-Gesicht war dunkelbraun, die schwungvolle Nase schien verbogen. Sie
-nickte mir zu.
-
-In diesem Augenblick sprang hinter ihr die Spiegeltür von neuem
-auf; und stumm herein, in mausegrauem Frack, die Schöße zwischen
-den Fingerspitzen, grad auf mich los, kam der Gatte der schönen
-Frau gehopst. Ich wollte schon laut herauslachen, da seh ich in
-der Spiegeltür, die langsam wieder zugeht, entsetzt mich selbst im
-mausegrauen Frack, und plötzlich fang ich auch mit zu hopsen an.
-
-Ich ringe verzweifelt nach Stillstand. Ich werfe der schönen Frau
-die ernstesten Blicke zu. Vergebens. Je tiefer sie mir in die Augen
-blinzelt, umso höher hopse ich.
-
-Ich suche dem Gatten näher zu kommen. Ich will ihn aufreizen, mich zu
-packen. Er sieht mich spöttisch an und hopst.
-
-Ich will ihm beweisen -- ich hopse. Ich will ihm zeigen -- er hopst.
-Ich will ihn zu Boden schlagen -- wir hopsen.
-
-Ich will der schönen Frau zu Füßen stürzen. Ich will sie beschwören,
-gnädig zu sein. Ich will und will, und kann es nicht --: ihre braune
-Haut wird häßlich gelb, ihr Haar scheint mähnenhaft gesträubt und
-tiefer in die Stirn gewachsen, ihr Blick wird stechend, der Ausdruck
-des üppigen Mundes hilflos: sie hat ihr Dienstmädchengesicht.
-
-Ich schreie schmerzhaft auf -- und bin wach.
-
-Neben mir am Bett stand meine Frau mit unserm Töchterchen und strich
-mir durchs Haar. „Vater“, sagte die Kleine bedächtig: „du hast so
-furchtbar komisch im Schlaf ausgesehn.“ Ich küßte beiden die Hände.
-
-Seit diesem Morgen -- so schloß mein Bruder Ernst sein seltsames
-Schreiben -- ist mir die gelbe Katze nicht mehr gefährlich. Bald darauf
-starb er in einem Duell; er hatte der Dame Lebwohl sagen wollen, und
-die Wände hatten Ohren gehabt. Er starb durch die zitternde Hand des
-Herrn Gemahls; er, der vortreffliche Schütze. Nichts wirkt bestimmender
-als das Unbestimmte.
-
-
-
-
-Die Gottesnacht
-
-Ein Erlebnis in Träumen
-
-
-Erster Traum
-
-Ich spürte, ich würde gleich einschlafen. Und ich wünschte es sehr nach
-den tristen Gedanken, die wegen der abends empfangenen Todesnachricht
-seit Stunden in mir rumorten. Ich sann noch über den Eigensinn
-nach, mit dem sich die junge Selbstmörderin die langsamste Todesart
-ausgesucht hatte; doch ich war schon erlöst von dem Sinn in den
-Worten, die durch mein müdes Gehirn schossen. Ich hörte beseligt den
-Drosselgesang, der aus dem Wort Erdrosselung klang, und wunderte mich
-über die Bilder, die sich aus jedem Satzglied entpuppten. Da stand sie
-auf einmal deutlich vor mir: die rätselhafte Gliederpuppe.
-
-Wie war sie nur in mein Zimmer gekommen? Da stand sie zwischen Tür und
-Schrank mit ihrem wachsbleichen Gesicht wie eine Auferstandene. Die
-großen gläsernen goldbraunen Augen starrten mir so bekannt ins Herz,
-als hätten sie schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht.
-Und ein Schmelz war darin, als ob sie lebten; als ob sie mich liebten;
-fast mütterlich. Aber natürlich, das schien nur so; ich mußte mich
-nur recht erinnern. Denn ja, meine Mutter hatte sie ja meinen Kindern
-zu Weihnachten geschenkt, diese lebensgroße Gliederpuppe; und das
-Lächeln um die schmalen Lippen blieb immerfort so unbeweglich, wie
-die Falten des steifen brokatenen Mantels um ihre sanftgeschwungenen
-Achseln. Ja, sie war tot; tot wie die schönen phantastischen Blumen
-dieses alten indischen Tempelmantels, der sie bis zu den Füßen hinab
-verhüllte. Zwischen solchen Blumen spielte ich einst und pflückte einen
-Strauß davon; für ihre bleichen gefalteten Finger. Damals hatte ich
-sie noch angebetet. Denn sie thronte auf einem vergoldetem mit Rubinen
-und Perlen geschmückten Altar und war die Göttin der Barmherzigkeit;
-das war wohl viele hundert Jahre her. Warum sah sie mir nun so starr
-ins Herz, als ob ich sie getötet hätte? Sie hatte sich doch selbst
-entleibt! Ich träumte wohl?
-
-Nein, sie hielt ja noch immer die Finger gefaltet und stand groß
-zwischen Tür und Schrank. Wenn ich nun mit ihr betete, ob sie sich dann
-vielleicht rühren würde? Denn sie war doch früher beweglich gewesen;
-wenn ich an ihre Gelenke rührte, dann klirrten noch die zersprungenen
-Drähte, bis in den hohlen Brustkorb hinein. Ich seufzte auf, da
-klirrten sie wieder; und ihre Arme zuckten ein wenig. Ob sie mich
-niemals mehr anrühren würde? mich immer blos so unverwandt ansehn? Ich
-spürte ein Stechen in meiner Brust, als ob aus den Drähten elektrische
-Funken herzuckten. Ich hörte wieder das leise Klirren; oder klang noch
-immer der Drosselgesang? Ich wollte beschwörend die Hände ausstrecken,
-aber das Stechen in meiner Brust drang mir bis in die Fingerspitzen.
-Ich wollte wegblicken -- da blickt sie mir nach.
-
-Ich träume ja nur! will ich mir einreden; aber sie blickt auf meine
-Hände. Auf den Rubinring an meiner Linken; der beginnt zu glühn wie
-ein Altarlämpchen. Auf den Trauring an meiner Rechten; der beginnt
-zu glänzen wie Tränenperlen. Und auf den Ring, den mein Vater mir
-schenkte, als ich noch keinem Weibe gehörte. Warum quälst du mich,
-Mutter? will ich stöhnen; aber ihr Blick verschließt mir den Mund. Ich
-will mich aufrichten; ich liege gebannt.
-
-Ihre Augen beginnen zärtlich zu leuchten, und der Glanz der Ringe
-wird funkelnder. Ihre Augen funkeln begehrlich mit; der Glanz der
-Ringe erlischt auf einmal. Das sind nicht meiner Mutter Augen! meine
-Mutter blickt sanft, meine Mutter ist fromm! Das sind auch nicht mehr
-die goldklaren Augen, die ich einst angebetet habe, weil die Mutter
-meiner Kinder so blickt. Diese Augen sind schwarz, nein dunkelgrau,
-und kennen nicht Treue noch Gottesfurcht; es sind die Augen der
-Selbstmörderin. Warum hast du dich aber töten müssen? will ich sie
-fragen und höre entsetzt: du hast es doch gewollt, mein Geliebter! --
-
-Ich will es leugnen und sehe ihr Lächeln. Vielleicht hat sie garnicht
-die Worte gesprochen. Oder vielleicht verstand ich den Sinn nicht;
-sie sprach von jeher so doppelsinnig. Doch sie läßt den Kopf so
-sonderbar hängen. Ach ja: ich wollte sie ja erdrosseln. Ich höre wieder
-den Drosselgesang; aus dem Wald meiner Heimat kommt er her. Gleich
-wird mein Vater zwischen den Bäumen erscheinen. Nein, es ist ferner
-Flötenklang. Nein, eine Geige jubelt bang. So hat mein toter Freund
-einst gespielt, als wir noch kindisch durchs Haidekraut liefen und
-hinter den Birken die Waldfee suchten. Ach, ein König der Geiger wollte
-er werden, und kommt jetzt gramvoll dahergeschritten im Gefolge der
-Königin. Am Waldrand macht der Jagdzug Halt; und wir beugen alle das
-Knie vor ihr.
-
-Warum blickt sie uns so prüfend an mit ihren silbergrauen Augen? Das
-ist mein Freund nicht, das bin ich selbst -- und die Königin Elisabeth
-winkt mir. Erhebe dich, Shakespear! flüstert sie; und ich fühle, wie
-wir uns aufrichten. Er trägt noch die schwarze Scholarentracht, worin
-er der Schule entlaufen ist, und einen verrückten alten Brokathut mit
-gelben Papageienflügeln. Denn ich weiß, wir müssen uns wahnsinnig
-stellen vor der treulosen Königin. Denn sie hat ihn begehrlich
-angeblickt, als ich gestern „Venus und Adonis“ beim Bankett der
-Jagdgäste deklamierte; er aber liebt ihre Kammerdame, die Augen wie
-eine Göttin hat, wie eine Waldfee, wie ein Reh. Das äugt in Todesangst
-durch die Büsche, und ich stehe und stiere es an wie ein Bluthund. O,
-wie gut wir uns wahnsinnig stellen können, wenn wir nichts als eine
-Göttin lieben und solchen verrückten Hut aufhaben! Und nun ahnt sie,
-wieso er Schauspieler wurde und den armen Hamlet gedichtet hat; und
-wir schwenken den Hut vor der treulosen Königin, und sie lächelt in
-Barmherzigkeit.
-
-Sie lächelt immer barmherziger; es dringt uns stechend durch Brust und
-Gehirn. Ich will ihr den Hut vor die Füße werfen, und tue es, und stehe
-erstarrt: der Hut hat schwarze Drosselflügel und fliegt zurück auf
-meinen Kopf. Ihr Lächeln wird so grausam barmherzig, daß ich sie dafür
-umbringen möchte. Du hast es ja schon getan, mein Geliebter! raunt
-sie mir unbeweglich zu. Es ist nicht wahr! will ich aufstöhnen; doch
-sie läßt den Kopf so sonderbar hängen. Ist das die englische Königin
-noch, oder blos die indische Gliederpuppe? Wenn sie noch lange da bei
-der Tür steht, wird sie mich wirklich wahnsinnig machen. Warum quält
-sie den armen Hamlet so? sie ist doch seine leibliche Mutter! Sie hat
-doch Augen wie eine Gottheit und blickt mir stechend in mein Gehirn. Ob
-Gott überhaupt nur ein grausames Weib ist? in steter Verpuppung?! die
-Allmutter! -- Aber sie hat ja zersprungene Drähte und läßt den Kopf so
-sonderbar hängen! -- Ich glaube nicht mehr an Gottheiten! knirscht mein
-erstarrter Mund ihr entgegen. Und mit ungeheurem Triumphgefühl weiß
-meine Seele: ich träume nur! --
-
-Wenn nur die Drähte nicht immerfort klirrten! das ist doch wirklich
-verwunderlich. Sie klirren lauter, und immer lauter; so laut wie die
-kleine alte Orgel in der Kirche meiner Vaterstadt. Ich lese die goldene
-Jahreszahl 1693 auf dem schwarzlackierten Täfelchen zwischen den elf
-Apostelbildern. Denn der treulose Judas fehlt natürlich; das habe ich
-schon als Kind begriffen. „Salvator Mundi“ steht unter dem zwölften
-Bild, auf klarem, himmelblauem Grund; und neben der eisenbeschlagenen
-Tür thront lächelnd die Mutter mit dem Kinde. Ich höre die Orgel ihr
-Lob anstimmen und weine vor Weihnachtsseligkeit. Die silbernen Fransen
-der Altardecke schwimmen in meinen perlenden Tränen. Ich spiele mit
-diesen schönen Perlen, und lächelnd sieht mir die Mutter zu. Ich bin
-wieder Kind auf ihrem Schooß, und wundre mich nun garnicht mehr. Ich
-bin blos im stillen ein bißchen erstaunt: der Apostel Thomas hat drei
-Hände. Zwei kleinere, die sind wohlgepflegt; aber aus seinem braunroten
-Mantel langt eine dritte, große, aussätzige. Die umklammert ein Buch
-und ist mir entsetzlich. Ich darf mich aber kein bißchen rühren, sonst
-würde sie nach mir herlangen. Ich starre das Buch an: ob Bücher krank
-werden können --
-
-und atme plötzlich erleichtert auf: ich erkenne, es ist ja gar keine
-Hand: es ist nur eine Falte des Mantels, die über das Buch geschoben
-liegt. Ich möchte sie wegtun, ich darf aber nicht; sonst kommt der
-Küster und schlägt mir das Buch um die Ohren. Sie dröhnen mir schon;
-er schlägt immer dröhnender. Er schlägt mich wohl mit Glockenschlägen?
-Sie schallen mir donnernd ins Gehirn. Nein, Blitze schlagen wohl um
-mich ein; o Himmel, Hilfe, sie werden mich treffen! Ich will mich
-verstecken; o Mutter, wo bist du?! Ein blendender Strahl schließt
-mir die Augen; ich bin getroffen; der Strahl zerreißt mich. Ein
-unabsehbarer Farbenstrudel spritzt himmelansprühend aus meinem Kopf.
-Ich schreie vor Wonne: mein herrlich Gehirn! Und eine Stimme erwidert
-von oben: es ist bis über die Sterne gespritzt. Ich will ihm nach: o
-himmlisches Licht! Es scheint mir ins Auge; ich erwache.
-
-Auf meinem Nachttisch brannte die Kerze noch, bei der ich, um meine
-Gedanken zu stillen, in Shakespears Sonetten geblättert hatte; und an
-der Wand zwischen Tür und Schrank blitzte der Rand des Spiegelglases
-über dem Bildnis meiner Mutter. Ich schlug das Buch zu und löschte die
-Kerze.
-
- Ich möchte keiner Flamme bekennen,
- was für Blicke in uns Menschen brennen.
- Kein Spiegel wird uns je klar machen,
- welche Augen in unserm Schlaf erwachen.
- Zwischen dunkeln Wänden ahn’ich mit Beben,
- wieviel Geister hinter jedem Geist leben.
- Denen kann ich nichts vorscheinen;
- denen wird mich das Licht einst einen,
- wo wir Alle in Schweigen schweben,
- Alle im Reinen ...
-
-
-Zweiter Traum
-
-Wir gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben
-lag die Försterei in tiefem Schnee. Die klare Kälte machte alle stumm;
-der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. Die Teckel hielten
-sich, vor Frost humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. In
-dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren
-Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen Pelzen.
-Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, wieso dabei schon
-wieder: mir kam der liebe Gott in Sinn.
-
-Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus
-einem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorf drüben her, auf ihrem
-Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem
-Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel, keifend,
-auf ihn los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll;
-den Schwanz eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen
-lustiger. Er begreift; und hussa, alle Schwänze hoch, stiebt die wilde
-Jagd, schneeumspritzt, bellend und belfernd den Weg hinunter, die
-falsche Richtung für die gute alte Frau, die schimpfend und jammernd
-auf dem stuckernden Wagen sitzt, mit beiden Armen ihre Semmelkiepe
-umklammernd. Wir, lachend, hinterdrein mit langen Sätzen; am Bahndamm
-unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel drücken sich beschämt zu
-ihren Herren; wir lohnen die Alte ab. Und ich denke wieder an den
-lieben Gott.
-
-Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den
-Augen weh zu tun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her
-taucht funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze
-aus Otterfell. „Der Nachbarförster“, sagt jemand scheu; Einer wird
-bleich wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen
-Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein
-grauer Kinnbart perlt von Eis, die große Hakennase wirft einen Schatten
-über die Backenfurchen bis zum Ohr; suchend brennen seine stahlblauen
-Augen. „Komm her!“ ruft er heiser. Der Bleichgewordene gehorcht. Nun
-stehn sie mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. „Zieh den Handschuh
-ab!“ hör ich mit Grauen, fühlend, wie sich der Alte beherrscht. „Wo
-hast du den Ring?“ fragt er drohend. Keine Antwort. Der Alte zittert.
-Seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff. Ein Ruck: die
-Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; hohnlachend stößt er sie zurück. Mit
-unsäglicher Verachtung speit er in den Schnee, zum Gehn gewendet.
-„Vater!“ schreie ich auf, in die Kniee stürzend. Er geht.
-
-Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in
-weiter Ferne. Sausend peitschen schwere spitze Büschel, Kiefernzacken,
-gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich. Stecheichenzweige rauschen
-um mich her; ich sehe, wie die roten Beeren lange Kurven durch mein
-graues Atemnetz reißen. Aber eine weiche Hand legt mir immer wieder,
-schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare. Die gepreßten Zähne
-lösen sich; ich glaube, ich werde ein Anderer. Der liegt zu ihren
-Füßen, den Kopf in ihren Schooß gedrückt. „Lebst du denn noch?“
-fragt er verwundert. Sie läßt sich in den Lehnstuhl gleiten; das
-ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre hellbraunen Flechten.
-Neben ihr, auf meinem Schreibtisch, steht ein zartes venezianisches
-Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein
-meergrün schillerndes Schlänglein ringelt sich darum empor. Ein
-Stecheichenblatt starrt aus dem Kelch, und eine wachsbleiche Hyazinthe.
-Die hat sie mir eben gebracht; die üppige Blüte berauscht mich.
-
-„Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. „Ich kann nicht“, fleht er
-mühsam; und ich höre ihn mit beklommener Stimme die Geschichte
-des Ringes erzählen. Den hat der Urgroßvater seines Vaters, der
-Husarenwachtmeister, nach der Schlacht bei Torgau, für seine Tapferkeit
-und lange Treue, aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen;
-vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das
-eingepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldenen Reifen: „und
-immer der Älteste erbt ihn.“ Ich höre seine Worte wie im Traum; es ist,
-als ob ich sie in einem Buche lese. „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt
-sie. Er kämpft mit sich. „Hast du Gewissensbisse?“ flüstert sie; „Du
---?“
-
-Was! Will sie mich verspotten? Ich presse drohend meine Zähne an die
-Knöchel ihrer Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie, hält mir die
-Hyazinthe an die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; „du
-hast ihn ja schon“, entgegne ich und blicke auf ihre Finger nieder.
-„Den andern noch“, schmeichelt sie; „den Ring der +Andren+!“ Ihre
-grauen Augen werden immer bestrickender.
-
-Ich fühle ein heftiges Zittern; am liebsten möcht ich sie wieder
-erwürgen. Dann könnte ich wieder der Andren treu sein, die meine
-Kinder geboren hat. Meine Blicke heften sich herzverwirrt auf den
-Rubin an meiner Linken; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde.
-„Gewissen ist der Spuk des toten Gottes“, spricht sie auf einmal meine
-Gedanken aus, mir ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie es höhnisch meint.
-Ich wills ihr erklären; sie erhebt sich. „Du bist zu gut,“ haucht sie
-gespenstisch -- „nur gute Menschen haben ein schlechtes Gewissen; --
-ich hatte nie eins“ -- und streift mir den Ring ab. Ich will es ihr
-wehren; sie entschwebt. Ich will ihr nachstürzen, vergebens; meine
-Kniee winden sich gebannt am Boden. Ich suche das Wort, das mich frei
-macht.
-
-Ich stammle Verse, lange flehende Zeilen; sie verliert sich immer
-ferner in die Nacht. Ich sehe sie geisterbleich verschwinden; nur der
-Rubin glüht noch wie Blut im Mondlicht. Nein, wie ein Wundmal; der tote
-Freund! mit seiner Geige schwebt er herbei. Zu meinen Versen beginnt er
-zu spielen: ferne flehende Töne: von einer Seele, die ihm untreu ward.
-Die runde Wunde seiner Stirne tut sich auf; Blutstropfen perlen aus der
-kleinen Öffnung, bei jedem Bogenstrich, die bleiche Schläfe nieder,
-in den Schnee. Immer näher schwebt die rote Spur; die geschlossenen
-Augenlider zucken, bleicher als sein Sterbehemd, und ich suche das
-Wort, das Wort -- in unsrer Kindheit wußten wir’s.
-
-Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken schlägt
-mich: das sind nicht seine Augen! das ist die „Andre“! -- Meine Blicke
-erlahmen, mein Mund versagt; meine Finger krümmen sich, ihr Gewand zu
-betasten -- hilf mir! das Wort! -- Sie weist auf meinen starren Körper:
-lange Ketten Verse, wie Spruchbänder, umschnüren meine gezerrte Kehle.
-Ich lese und lese, mir graut:
-
- Schwere Ringe ... wirb ... ich werbe ...
- leere Schlinge ... deine Meinung --
- dunkle Kammer ... uralt Erbe ...
- Irrtum ... Jammer ... wird Erscheinung --
-
-Wer sprengt die Ketten?! Die Tür springt auf. Lichtschein wie
-Nadelstiche prallt mir entgegen. Auf der Schwelle steht meine Mutter;
-mit unsäglichem Kummer blickt sie mich an. Meine Arme mühn sich nach
-ihr; vergebens. „Sünde an der Mutter deiner Kinder?!“ ringt es sich
-von ihren Lippen. Mutter! will ich sie anflehn; sie wehrt mir. „Das
-ist Sünde an Gott!“ flüstert sie weiter. +Gott+! ringt sich’s von
-+meinen+ Lippen, laut, das Wort... ich bin wach.
-
-Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen Mondlicht grell bis
-auf mein Bett; er zuckte. Ich sah zum Fenster; da war kein Spalt. Ich
-wandte den Blick ab; der Streifen glitt mit. Ich weiß nicht, was für
-ein Licht so zuckte.
-
- Wenn dich zwischen Schlaf und Schlaf
- um Mitternacht
- dein rasend klopfendes Herz
- aus deinen Träumen jagt
- -- furchtsam stockt dein Atem --
- und sich durch dein finstres Zimmer
- weiße Schatten vor dir flüchten:
- kennst du dieses Grauen? --
- Wenn dann aus dem toten Raum
- mit starren Augen
- ein geliebtes Gesicht
- lautlos dir entgegenscheint
- und leben möchte:
- kennst du dieses Grauen? --
- Mit eignen Händen
- willst du nach dir greifen
- und dich erwürgen
- für eine Schuld ...
-
-
-Dritter Traum
-
-Ich habe sie doch vielleicht umgebracht. Warum sollte es auch unmöglich
-sein? Ich habe doch einst sogar ein Kind umgebracht, ein kleines,
-hübsches, unschuldiges Kind. Und damals glaubte ich doch sogar noch
-an Gott, an die Hölle und ans Jüngste Gericht. Damals war ich ein
-schwedischer Kürassier, bei den sakrischen deutschen Protestanten, und
-wir brandschatzten ein katholisches Pfarrdorf. Ah, ich fühle wieder
-die himmlische Mordlust, wie sich die Bauernweiber wehrten, die wir
-ins Spinnhaus eingesperrt hatten. Und da spießte ich einfach der
-Ungeberdigsten das schreiende Kind aus den Armen weg und schmiß es im
-Bogen in den Dorfteich. Ich sehe noch deutlich die kleine Hand, die aus
-dem sumpfigen Wasser herausstak, als wir nachher von den Weibern kamen;
-ganz mit geronnenem Blut bedeckt, so stak sie zwischen den Binsen
-heraus, wie eine dicke rote Tulpe. Ich habe aber kein Grauen davor; es
-weiß ja keiner mehr, daß ich es tat. Ich darf mich nur nicht selber
-verraten, wenn sie mich doch vielleicht vor Gericht stellen.
-
-Wenn ich mich blos erinnern könnte, welche von Beiden ich umgebracht
-habe. Doch nicht die Mutter meiner Kinder? Die hat mir ja immer
-alles verziehen. Aber die Andre hat sich ja selbst umgebracht; deren
-Hand kann doch nicht gegen mich zeugen. Jedenfalls muß ich zu der
-Beerdigung gehen; sonst könnten die Leute Verdacht auf mich werfen.
-Und ich muß ihr einen Strauß auf den Sarg legen, einen großen schweren
-Tulpenstrauß, damit sie die Hand nicht herausstecken kann. Aber weiße
-Tulpen müssen es sein; die roten riechen auf einmal so stark, es ist
-der reine Leichengeruch. Warum sieht mich der Blumenhändler so an? mit
-richtigen Totengräberaugen! -- Ich will auch weiße Tulpen nicht! die
-sehen noch leichenhafter aus! -- Er lacht; ich verlasse eilig den Laden.
-
-Auf der Straße ist so bleiches Licht, wie ich noch niemals erlebt habe.
-Ich kann mich kaum schleppen in diesem Licht, so weltschwer hängt es
-um meinen Kopf. Es geht auch kein Mensch auf der bleichen Straße, und
-die Häuser sind wie aus Schatten gebaut. Wenn ich nicht wüßte, wo ich
-bin, könnte ich an ein Geisterland glauben. Aber es macht mich schwach,
-dieses Licht; es ist, als ob es mich auspressen möchte. Und ich will
-und will mich nicht schwach machen lassen; keine Seele der Welt darf in
-meine Seele. Dann muß ich mich aber bei Kräften halten, mein Körper ist
-schon wie ausgehöhlt. Ach ja, ich werde wohl Hunger haben; ich habe ja
-heute noch nichts gegessen.
-
-Ich mache ein harmloses Gesicht und trete in einen Schlachterladen. Die
-Schlachtersfrau blickt mich fragend an -- ganz still und fragend -- was
-blickt sie nur! -- „Geben Sie mir dies kleine Stück Fleischwurst!“ sage
-ich langsam mit ruhiger Stimme, als ob ich gar keinen Hunger hätte. Sie
-blickt mich wieder wortlos an und legt das Stück Wurst auf ein weißes
-Papier, reicht es mir über den Ladentisch. Ich will es nehmen und kann
-mich nicht rühren: ich erkenne auf einmal, es ist keine Wurst: es ist
-eine kleine Kinderhand, ganz mit geronnenem Blut überzogen. Ich starre
-der Frau verstört in die Augen: es sind die Augen des Bauernweibes, dem
-ich vor Zeiten Gewalt antat. Ich fasse mich endlich und tappe hinaus;
-hinter mir her tönt ein dumpfes Lachen.
-
-Ich tappe mich wie durch Nebel weiter und komme an eine
-Frühstückshalle. Da sitzen wohl hundert essende Menschen hinter der
-großen Fensterscheibe; da wird mich wohl keiner beobachten. Ich setze
-mich ganz in den Schatten hinten und bestelle irgend ein rasches
-Gericht. Es ist so laut in dem halbdunkeln Raum, daß ich kaum meine
-eignen Worte verstehe. Das Schenkmädchen bringt mir frischen Hummer und
-wünscht mir freundlich guten Appetit. Es freut mich auch wirklich, wie
-gut er riecht; aber was steht sie und wartet noch! Ich darf mir aber
-nichts anmerken lassen; vielleicht will sie blos ihr Geld bald haben.
-Ich bezahle; sie bleibt noch immer stehen. Es wird mir schwer, sie
-nicht anzuschreien; aber ich nicke ihr ruhig zu und greife rasch nach
-dem Hummerteller. Ich will mir sacht eine Schere abbrechen; aber was
-ist das, was ist das nur?! Ich fühle mich bis in die Lippen erbleichen:
-es ist eine kleine rote Hand, und ein Leichengeruch schlägt mir
-entgegen. Und alle Menschen blicken mich an, wohl hundert menschliche
-Augenpaare blicken mich unabwendbar an. Und alle sitzen so still wie
-Geister; kein Laut ist mehr in dem halbdunkeln Raum. Ich taste mich
-mühsam zur Tür und ins Freie; ein brausendes Lachen schallt mir nach.
-
-Wo kann ich nur etwas zu essen bekommen! Wenn ich noch lange so
-schweigsam herumgehe, werde ich ohnmächtig vor Hunger. Es ist nicht,
-weil mein Geheimnis mich würgt; nur, es stachelt mich immer stärker,
-mir die herrlichsten Speisen auszumalen. Halt, ich werde mal wieder
-den Maler besuchen, der immer so köstliche Späße macht; der wird mich
-auf andre Gedanken bringen. Ich sehe, er malt an einem Fruchtstück;
-eine große goldgelbe Ananas steht auf der malachitgrünen Schüssel, ein
-paar rote Tomaten liegen daneben. „Darf ich mir eine Tomate nehmen?“
-frage ich ihn ganz unbefangen; „Tomaten sind mein Leibgericht.“ Er
-malt schweigend weiter; was schweigt er nur? -- „Machen Sie doch
-nicht solche Späße!“ stammle ich plötzlich und sehe entsetzt: er
-malt eine rote Kinderhand. „Lachen Sie nicht!“ beherrsche ich mich;
-„Tomaten sind wirklich mein Leibgericht!“ -- Er lacht aber garnicht, er
-lächelt nur -- er blickt mir nur sonderbar in die Augen und sagt mit
-teilnahmvoller Stimme: „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt, die Tür
-zum Gerichtssaal ist nebenan.“
-
-Ich bin einen Augenblick wie im Traum; ich fühle nur wieder wie durch
-Nebel, daß der Maler sanft den Arm um mich legt und meine tappenden
-Schritte leitet und die Tür des Saales hinter mir schließt. Ich möchte
-aufwachen aus diesem Traum; ich glaube mich doch genau zu erinnern, daß
-ich in Wirklichkeit Niemand umgebracht habe, weder die Eine noch die
-Andre; aber ist das auch wirklich die Wirklichkeit? Ich bin ja schon
-öfters im Traum erwacht, und dann wars trotzdem nur wieder geträumt.
-Ich will mich lieber zusammennehmen, daß ich nichts von meinem
-Geheimnis verrate; mit keinem Wörtchen, mit keiner Miene. Ich sehe mir
-meine Richter an.
-
-Ob ich vor einem Vehmgericht stehe? Regungslos sitzen sie mir
-gegenüber, elf schwarzvermummte stille Gestalten, mit Augenlöchern
-in den Kapuzen. Es funkeln aber nicht Augen darin; es schauen mich
-aus den schwarzen Masken nur lauter noch schwärzere Löcher an. Ob es
-vielleicht lauter Schatten sind, die in den hohlen Gewändern sitzen?
-Ob es vielleicht doch Geister gibt? Denn in der Mitte sitzt Einer
-ohne Maske, mit geschlossenen Augen wie ein Toter, mit silberweißem
-Haupthaar und Bart, und mit ewig gebieterischer Stirn; vor dieser
-Stirn hat mir oftmals gebangt. Ich weiß nicht, ists meines Vaters
-Stirn? Ich weiß nicht, ists eines Gottes Stirn? Wenn lauter Geister
-da vor mir sind, muß dann nicht auch ein Obergeist sein?! Könnte ich
-nur seine Augen sehn! Vielleicht sind es doch meines Vaters Augen;
-meines Vaters herrliche stahlblaue Augen, die mich oftmals so hart und
-zornig anstrahlten, und doch so glutweich im hellsten Zorn, und dann so
-spöttisch verzeihungswarm. Aber er sitzt da so starr und kalt jetzt,
-als werde er die geschlossenen Augen nie wieder zu seinem Sohn hin
-öffnen; es sei denn, ich öffne ihm mein Gewissen. Sie sitzen alle so
-starr und kalt, als wollten sie ewig darauf warten. Ich fühle, ich muß
-wohl endlich sprechen.
-
-Meine Herren Richter! beginne ich unverzagt: ich habe wirklich ein
-reines Gewissen. Denn gesetzt auch, ich hätte sie umgebracht, so hatten
-doch beide sich selbst umgebracht. Denn die Eine, die wirklich sich
-selbst umgebracht hat, die hat sich auch selbst dazu gebracht. Denn da
-sie kein Gewissen gehabt hat, so hat sie mir mein Gewissen genommen und
-hat es dann nicht ertragen können. Denn die Andre, der mein Gewissen
-gehörte, und die mir drum immer alles verzieh -- denn sonst hätte ich
-mir’s nicht wegnehmen lassen --: die hat das nicht länger verzeihen
-können. Denn da ich kein Gewissen mehr hatte, und wenn sie deswegen
--- was ich nicht weiß -- vor Gram zu Grunde gegangen ist, so ist auch
-sie im Grunde von selbst und an sich selbst zu Grunde gegangen. Denn
-wenn ich es auch gewollt haben sollte, so hat es, meine Herren Richter,
-doch im Grunde ein Anderer gewollt. Denn wenn ich jetzt hier vor Ihnen
-stehe -- und wenn, wie ich sehe, mein Vater jetzt Gott ist -- so bin
-ich im Grunde der Sohn meines Vaters, und mein Wille ist Gottes Wille
-gewesen. Wenn also ich, meine Herren Richter -- nein, nicht ich, wenn
-ich Gottes Sohn bin --: wenn also Gott, meine Herren Richter, Eine
-von Beiden umgebracht hat -- nein, die Andre -- nein, Beide -- nein,
-+alle+ Andern -- --
-
-Ich stocke plötzlich und kann nur noch stottern; ich merke, ich habe
-mich verwirrt. Ich suche im Blick meiner Richter zu lesen und sehe nur
-lauter schwarze Löcher. Ich blicke hilflos den Einen an, der herrlich
-in ihrer Mitte sitzt, und erbange vor seiner klaren Stirn; mich befällt
-auf einmal dumpf ein Erinnern, als ob ich seit unvordenklichen Zeiten
-unzählige Seelen umgebracht habe. Und da endlich tut Gott mir die
-Augen auf: meines Vaters strahlende blaue Augen tut er aus ewiger
-Ruhe auf und fragt meine Seele: „bekennst du dich schuldig?“ -- Ich
-höre mein Herz in seiner Stimme und sehe mein Leben in seinen Augen.
-Ich weiß, ich brauche nur +Nein+ zu sagen, dann bin ich auf ewig
-freigesprochen. Ich fühle das Nein schon auf den Lippen; ich brauche
-nur den Mund aufzutun, dann bin ich von all der Mühsal erlöst. Und ich
-tue ihn auf und -- sage „ja“.
-
-Ein Schrecken befällt mich wie ein Schlag. Ich fühle betäubt mein
-Bewußtsein schwinden; mir ist, ich stürze endlos hinab, durch dunkle,
-bodenlose Räume. Oder stürze ich endlos empor? Ich höre von oben her
-singende Stimmen; sind’s Menschenstimmen? sind’s Geisterstimmen?
-Sie singen mich wieder zur Besinnung -- von fern her singen zwei
-Frauenstimmen --: Von wannen, von wannen? -- von wannen dein Träumen!
--- befreie dich, Seele -- von Zeiten, von Räumen! -- sie verklingen.
-Ich schlage mühsam die Augen auf; ich sehe mich durch ein Bogentor
-schreiten.
-
-Es ist noch immer so weltschweres Licht, wie ich noch niemals erlebt
-habe; ein totengelbes Abendlicht. Nur vor mir her, da schreitet ein
-Mann in richterlichem schwarzem Talar, auf dessen Schritte ich horchen
-muß, dann wird das schwere Licht mir leichter. Sie tönen mir seltsam
-vertraut, diese Schritte; ich muß sie schon öfters vernommen haben und
-ihnen so Schritt für Schritt gefolgt sein, wie ich jetzt ihnen Schritt
-zu halten suche unter der dröhnenden Bogenhalle. Ist es mein Vater?
-mein Herz sagt nein. Und da höre ich hinter mir noch solche Schritte;
-nur ungewissere, haltlosere. Ich wende mich und stehe erstaunt; und
-auch der Mann vor mir wendet sich. Ich sehe, hinter mir geht der
-Jüngling, der ich vor Jahren gewesen bin; ich sehe, vor mir steht der
-Mann, der ich in Zukunft sein werde. Er winkt mir kurz, und es weht
-sein Talar, und wir schreiten im Gleichschritt zum Tor hinaus. Und es
-weht sein Talar, und mit lautlosem Schritt schreitet der Mann aus sich
-selbst heraus und entschwindet meinem gebannten Blick. Denn mein Blick
-hängt an einem väterlichen, ewig gebieterischen Greis, der an Stelle
-Jenes verblieben ist, und der mir weiterzufolgen winkt. So kommen wir
-an ein Hafenwasser.
-
-Wohl unabsehbar dehnt sich das Wasser unter dem totengelben Himmel.
-Viele große Schiffe lagern darauf, mit hohen reichbewimpelten Masten;
-aber das Gelbe lastet so nachtschwer, daß keine Farben mehr dämmern
-können. Alles, die Schiffe, die Wimpel, das Wasser, scheint alles so
-schwarz aus Schatten geschaffen wie der Talar meines greisen Führers;
-nur sein weißes Haar schimmert silbern im Zwielicht. Was sind das
-für Schiffe? frage ich zweifelnd. „Wirkliche Schiffe“ -- entgegnet
-er tonlos und weist auf ein Dock am westlichen Himmel. Kein Laut von
-Arbeit kommt aus den Werften her; der ganze Hafen scheint ausgestorben.
-Die schwarzen Stützpfosten um die Hellingen ragen starr am Horizont
-entlang wie ein auferstandener kahler Hain von ursintflutlichen
-Riesenstauden. Nur aus dem westlichen Saum des Haines taucht
-klumpenhaft etwas Graues hoch und regt sich in der schweren Stille; es
-regt sich wie das felsengraue, urschwere Haupt eines Elefanten. Ists
-eines spukhaften Götzen Haupt? ists eines Gottes heiliger Scheitel?
-Mein Führer aber winkt mir zu schauen.
-
-Und was wie ein Haupt war, beginnt zu erglänzen, und entsteigt dem
-schwarz aufstarrenden Hain, und ist ein großer glanzvoller Mond. Er
-glänzt nicht so fahl wie ein nächtlicher Mond, er glänzt nicht so
-grell wie die tägliche Sonne; er glänzt wie ein Tautropfen in der
-Frühe, und alle Farben klären sich auf. Und nun wendet mein Führer sein
-greises Antlitz blauäugig nach dem östlichen Himmel, und mit langsam
-gebieterischer Hand entwinkt er der verklärten Nacht einen zweiten
-solchen glanzvollen Mond. „Wisse, du sollst an Geistermacht glauben“
--- haucht er mir in mein schauerndes Herz und entschwebt dem einen der
-Monde zu. Bin ich erblindet von seinem Anhauch? ich sehe auf einmal nur
-lauter Licht. Ich fühle nur blindlings ein leuchtendes Schweben ins
-grenzenlose Blaue hinein. Ich ahne dunkel, ich selbst bin der Greis; er
-ist wohl dem andern Mond zugeschwebt? Ich schwebe mit ausgebreiteten
-Armen und raumentrückten Augen gleich ihm.
-
-Das Leuchten wird immer feuriger; ich atme entzückt die zarte Glut. Ich
-höre von oben her singende Stimmen, zweistimmig aus unsichtbarer Ferne.
-Sind’s wieder die Seelen der Geistinnen beide? erwarten sie mich auf
-den strahlenden Monden? Sie singen mich weiter und weiter hinauf: Ins
-Weite, Seele -- von wannen dein Träumen! -- erwache ins Freie -- von
-Zeiten, von Räumen! -- sie nahen mir. Sie nahen wie schüchterne Lüfte
-so lind; sie küssen mir meine entbreiteten Hände. In meinen Handflächen
-ruhn ihre Lippen, mein Herzblut strömt ihren Küssen zu. Sie küssen
-immer herzinniger, und andere Geistinnen singen von oben. Wollen Sie
-mir mein Leben ausküssen? „befreie dich, Seele“, singen sie. Leben sie
-nur, wenn Ich sie belebe? „erwache, Seele“, verklingen sie. Ich raffe
-all meine Herzkraft zusammen; ein leeres Grausen stöhnt aus mir auf.
-Ich will mich den tötlichen Küssen entwinden; wie ein Gekreuzigter
-schwebe ich machtlos. Ich krümme mit letzter Gewalt meine Finger, und
-während ein herzzerreißender Klageschrei mir die glanzgebadeten Augen
-aufreißt, höre ich, daß es mein eigener Schrei ist, von dem ich unter
-Tränen erwacht bin.
-
-Ich lag wirklich wie ein Gekreuzigter da, mit ausgebreiteten Armen
-im Dunkeln, die Handflächen über den Bettrand gestreckt, rechts und
-links in die schwarze Luft. Ich schob meine halb erstarrten Glieder
-langsam in eine andere Lage und machte die Augen wieder zu; die ruhige
-Finsternis tat mir wohl nach der tollen Seelenfeuersbrunst. Ich nahm
-mir vor: wenn ich wieder so träumte, sofort an meinen Körper zu denken.
-
- Befreie dich, Seele,
- von Zeiten, von Räumen,
- erwache ins Weite,
- von wannen dein Träumen;
- von wannen, von wannen? --
- Von Räumen, von Zeiten,
- die ewig bleiben,
- erwache, Seele,
- du kannst sie vertreiben,
- von dannen, von dannen,
- ins Weite all dein Träumen bannen! --
-
-
-Vierter Traum
-
-Aber ich muß doch zu ihrer Beerdigung gehen. Oder wenigstens ihre
-Gräber besuchen. Denn beerdigt sind sie wohl nun schon lange; ich war
-ja bei ihrer Feuerbestattung. Könnte ich nur die richtige Grabkammer
-finden! ich muß mich hier unten verlaufen haben. Wo mag das
-Urnengewölbe denn sein! hier sind ja nur lauter Schädelkammern. Und
-die Gänge dazwischen so schlecht beleuchtet, daß man jeden Sinn für
-Richtung verliert. Wenn ich zurück auf den oberen Friedhof komme, werde
-ich den Verwaltungsrat anregen, bessere Wegweiser einzurichten. Aber
-wie komme ich endlich hinauf! Ich erinnere mich, gelesen zu haben, es
-sollen schon Leute umgekommen sein in diesen verwirrenden Katakomben.
-
-Woher nur das Licht in den Schädelkammern kommt? Es ist nicht
-elektrisch angelegt; es wird wohl eine Art Oberlicht sein. Darum
-flimmern wohl auch die Gänge dazwischen so unterirdisch dumpf und trüb.
-Ich werde jetzt nicht mehr nach rechts noch links blicken, sondern
-immer den Gang gradaus verfolgen, nach der sonderbar hellen Öffnung da
-vorn. Sie steht wie ein weißes Rechteck im Düstern; da muß eine Tür ins
-Freie sein. Sie scheint auch allmählich noch heller zu werden; beinahe
-blendet sie mich schon. Das Weiße kann aber kein Luftweiß sein; es
-steht wie aus Stein so unbewegt. Es grenzt sich so grell ab, ich muß
-meine Augen schließen. Ich gehe aber doch grad drauflos; ich spüre, wie
-ich hindurchschreite. Es atmet sich auf einmal viel leichter; es muß
-also doch eine Luftöffnung sein. Ich schlage die Augen auf und sehe:
-hoch über mir blaut der freie Himmel.
-
-Ich seh es und seh es: hoch über mir -- und über vier hohen weißblanken
-Mauern, die senkrecht um mich emporsteigen. Soll ich denn wirklich
-nie wieder herausfinden aus diesem sinnlosen Labyrinth? Ich will aber
-nicht die Fassung verlieren. Ich weiß ja seit lange aus Erfahrung:
-ich muß nur an meinen Körper denken, dann kommt auch die Seele wieder
-zu Sinnen. Ich werde mir also den Raum erst betrachten, ob er nicht
-doch eine Auffahrt hat. Er hat vier glatte kristallblanke Wände, aus
-lauter quadratischen Feldern gebildet. In der Mitte jedes Feldes ein
-Goldstern, entzückend in den Kristall eingeschliffen; aber nirgends
-ein Halt, um hinaufzukommen. Es ist ein weiter leerer Saal; es scheint
-nichts als eine Art Luftschacht zu sein. Aber sieh, er hat ja noch eine
-Tür: grad gegenüber der andern Tür, durch die ich hereingekommen bin.
-Und da ist ja ein Handgriff an der Kante, in den eine Schnur aus den
-Gängen her mündet; das soll gewiß eine Richtschnur sein. Ich fasse die
-Schnur, um weiterzugehen, mit einem letzten Blick zurück.
-
-Aber was +ist+ das? bin ich denn wirklich von Sinnen? Auch an
-der andern Tür drüben ist solch ein Handgriff, in den eine solche
-Richtschnur mündet. Die muß ich vorhin in den halbdunkeln Gängen beim
-Suchen übersehen haben. Aber die Türen sind völlig gleichgeformt, und
-ich habe mich in dem leeren Saal fortwährend um mich selbst gedreht;
-durch welche Tür bin ich nun gekommen? -- Ich betaste die Schnur und
-betaste mich selbst; es ist alles vollkommen körperlich. Ich kann also
-ruhig weitergehn; wenn ich vorsichtig suche, wird sich schon zeigen, ob
-es die richtige Richtung ist. Ich taste mich immer die Schnur entlang,
-von Zeit zu Zeit einen Handgriff streifend; ich komme wieder an lauter
-Schädelkammern. Hier sieht das Licht aber bleicher aus; und der Gang
-scheint allmählich tiefer zu sinken. Dies Licht kann nicht von oben her
-kommen; es scheint aus dem Erdinnern aufgefangen. Die Schädel gleißen
-alle so weißblank wie die Kristallquadrate des leeren Saales vorhin,
-und doch ist ringsherum tiefer Schatten. Und in all diesen Schädeln
-haben einst Welten gespukt -- mit Goldsternen drin und blauen Himmeln
--- und vielleicht auch mit einem ewigen Gott; ich fühle eine irrsinnige
-Lust, in diesen Schädeln nach Gott zu suchen. Ich lasse aber die Schnur
-nicht los; ich will nicht wieder die Richtung verlieren.
-
-Jetzt kommen auch Kammern mit Tierschädeln; sie schimmern ebenso
-erdinnerlich. Was regt sich da auf einmal im Schatten? Ist es denn
-möglich, mein alter Getreuer?! Komm her, mein Teckel, was suchst du
-denn! Was blickst du mich so innerlich an? Jawohl, ich habe dich
-umgebracht; aber was hast du auch immer geknurrt, wenn die tote Dame
-mich küssen wollte! Da hab ich dich doch vergiften müssen! -- Er blickt
-mich nur immer seelenvoll an, mit demselben Blick noch, den er mir
-zuwarf, als er im Todeskampf vor mir lag; ganz ohne Vorwurf, ganz treu
-ergeben. Aber was will er denn noch, er lebt doch noch! Er will mich
-wohl in die Kammern locken? Ich nehme die Richtschnur fester zur Hand
-und erinnere mich an meinen Körper; ich werde einfach weiterschreiten,
-der Hund ist gewiß nichts als ein Spuk.
-
-Nein, er folgt mir; ich höre ihn hinter mir. Ich bleibe stehen; da
-steht er auch still. Ich drehe mich um; da legt er sich. Ich locke
-ihn nochmals; er rührt sich nicht. Er blickt mich nur immer inständig
-an mit seinen unendlich treuen Augen; und, kaum beginne ich wieder
-zu schreiten, folgt er mir wieder Schritt für Schritt. Ich höre
-seine leisen Zehen; ich spüre, wie sein Blick an mir hängt. Ganz
-ohne Rachsucht, ganz voller Liebe; als ob der liebe Gott mir folgt.
-Wie dieser Gottblick mich hinterrücks martert! Wenn er noch lange so
-anhänglich bleibt, bringe ich ihn zum zweiten Mal um! Aber ich darf
-doch die Richtschnur nicht loslassen; ich komme sonst schließlich
-selbst noch um, in diesem wahnwitzigen Labyrinth. Halt: schimmert da
-vorn nicht wieder ein Lichtloch? das ist wohl endlich die Urnenhalle.
-Jawohl, das Viereck wird immer heller; und die Schnur scheint grad
-draufhin zu leiten. Wenn ich nur rascher vorwärts käme; wie Grabeslast
-ist der Blick hinter mir! Ich zwinge meine Füße zu rennen. Ich keuche
-der leuchtenden Halle entgegen. Ich achte nicht den Schmerz meiner
-Augen. Ich taumle fast in dem blendenden Viereck; hindurch! und pralle
-entsetzt zurück: ich stehe abermals in dem Kristallsaal, den offenen
-Himmel über mir --: ich bin im Kreise herumgeirrt.
-
-Und was stöhnt da, was rührt sich neben mir? Durch die Tür kommt der
-Teckel mir nachgeschlichen! Ich sehe jetzt deutlich, es ist nur ein
-Schatten; ein Schatten mit gottergebenen Augen. Ich stürze in rasendem
-Haß auf ihn los; ich werde den Spuk nun endlich zerreißen! Mit beiden
-Händen packe ich ihn, am Genick, am Kreuz, und zerre und zerre. Er
-windet sich unter meinem Griff; wie Kautschuk spannt er sich hin und
-her. Ich spüre verzweifelt, wie er mich lähmt: wie er nachgiebig meine
-Arme entmannt. Ich fühle bis innerst in Leib und Seele: wenn ich dies
-Gespenst nicht bewältigen kann, bin ich machtlos für Zeit und Ewigkeit.
-Ich spanne all meine Nervenkraft an; und wenn mir Gehirn und Adern
-zerbersten! Und ein Ruck, ein leises ersterbendes Winseln: o Wonne,
-ich habe den Schemen zerrissen! Mit einem letzten hingebenden Blick
-zerfließt er in die leere Luft.
-
-Ich stehe und zittre am ganzen Körper, vor Glück und Ermattung und
-neuer Verzweiflung. Ich starre hinauf in den blauen Himmel: ist
-kein Entrinnen aus diesem kristallenen Grab? -- Ich betaste meine
-erschöpften Glieder -- warum muß ich nur immer an meinen Körper
-denken! -- Es ist doch garnicht mehr nötig jetzt; wer hat mir das
-eigentlich eingeredet? -- Wie schön könnt ich schlafen in diesem
-lautlosen Schacht. Ich bin so müde, ich höre mein Seelenspiel klingen.
-Es rauschen wohl Flügel oben im Blauen? Nein, ich glaube nicht; es
-ist nichts zu sehen. Doch: eine weiße Feder schwebt nieder. Wie eine
-Schneeflocke kommt sie gewirbelt. Noch eine, noch eine, Flaum auf
-Flaum; grad in die Mitte des Saals herab. Immer mehr, immer mehr, weiße
-Flaumfederflocken; der ganze Boden liegt schon bedeckt. Ich muß zurück
-an die Wandfläche treten; es ist schon ein Hügel, es wird ein Berg. O
-Seligkeit, das ist ja die Rettung: der Berg wächst immer höher hinauf!
-Schon steht er fast so hoch wie der Schachtrand, und immer dichter
-häuft sich das Flockengewimmel. Ich springe mit beiden Füßen hinein;
-ich versinke in dem bettweichen Schwall. Aber er ballt sich unter mir;
-ich stampfe und stampfe, und es glückt. Ich stampfe mich höher und
-höher hinan; es ist, als federn mich Bälle empor. Ich kann kaum sehen,
-so stiebt es um mich; und brennender Schweiß verschließt mir die Augen.
-
-Da: ein frischer Lufthauch kühlt mir die Stirn: ich fühle entzückt,
-ich bin oben, oben! Meine Augen wagen wieder zu blinzeln, durch die
-feuchten, flaumverschleierten Wimpern. Kein Federchen stiebt mehr,
-der Himmel blaut; es ist eine überirdische Stille. Ich stehe auf
-steilem, schwankendem Gipfel; tief unter mir klafft der weiße Abgrund
-des labyrinthischen Schachtes herauf. O Seele, Seele, wie komm ich
-hinüber?! Sieh: rings um den Schacht, wie ein Garten Eden, liegt der
-blühende frühlingsgrüne Friedhof! -- Und die Seele erklingt: Ich
-seh es, o Geist! Ich seh es durch Tränen, o göttlicher Geist, durch
-regenbogenfarbene Tränen! Ja, dein Gipfel schwankt, und ein Wind kommt
-gebraust, und du Schwankender weinst und ich breite die Arme: wenn du
-jetzt, o Gottgeist, mich Seele erhörst, will ich deiner Kraft trauen
-ewiglich! --
-
-Horch: braust nicht der Wind beflügelnd, o Seele? und der Gipfel löst
-sich und schwebt und wird Wolke! Sieh, mit beiden Armen umspanne ich
-sie und schwebe über den Abgrund dahin. O, wie weich sichs fliegt in
-dem leichten Flaum: ich fühle nicht Höhen, nicht Tiefen mehr. Ich fühle
-nur, wie mich die Windwolke schaukelt und mir süß alle Kräfte stachelt
-und kitzelt. Will sie mir etwa mein Leben wegschaukeln? Dann wisse,
-Seele: mein Körper lacht! Ich kann sie loslassen, wenn ich will; ich
-bin ja befiedert über und über! Ich kann mit dir fliegen, wohin ich
-will; ich brauche ja nur den Flaum wegzublasen! Ich blase und blase;
-was ist denn das? ich blase mir ja in die eigne Nase! Ich mache wohl
-selbst den Wind, der so kitzelt? Ich niese, ich lache -- lache --
-erwache.
-
-Ich lag noch immer im dunkeln Bett, und ich hielt mein Kopfkissen in
-den Armen. Ich fühlte, daß eine kleine Feder aus dem zerknüllten Kissen
-herausstak; sie berührte noch meine Nasenspitze. Ich entfernte die
-Feder und legte das Kissen glatt; ein Stündchen hoffte ich doch noch zu
-schlafen. Der Morgen schien zwar bereits zu grauen; aber ich war noch
-müde genug.
-
- Wenn über unsern tiefsten Verzweiflungen,
- wo wir vor lauter geöffneten Not-Türen
- nicht aus noch ein zu finden wissen,
- stets eines Gottes Blick wachte --
- Wenn unter unsern höchsten Entzückungen,
- wo wir verstummend vor Triumph
- mit zitterndem Fußtritt
- jede Gefahr zerstampft zu haben meinen,
- stets eines Gottes Ohr weilte --
- Wenn zwischen unsern erhabensten Gleichgiltigkeiten,
- wo wir mit Adlerruhe
- alle Verfolgung
- Todes wie Lebens
- in leere Luft verflogen wähnen,
- stets eines Gottes herzliche Teilnahme schwebte --
- ich glaube, er würde vor Lachen sterben ...
-
-
-Fünfter Traum
-
-Ja, meine Verfolger, ich lache euer! Denn ich kann fliegen, wenn ich
-will; ich kann aus eigener Willenskraft fliegen! Sie rasen hinter mir
-her wie gehetzt, eine Meute tobsüchtiger Jäger und Hunde. Aber hier,
-ich spanne nur meinen Mantel, dann bin ich ihrem Wahnsinn entrückt.
-Schon schwebe ich über den Eichenwipfeln und lache Halalî auf sie
-nieder. Ich höre sie brüllen: du Mörder, Mörder! und würden mich alle
-doch selbst gern morden. Nackt sind sie auf die Jagd ausgezogen,
-aber dennoch war ich schneller als sie. Wie sie rachekeuchend mir
-nachstarren, durch die kahlen Eichen die fahlen Gesichter, während
-ich höher und höher entschwinde! Halalî Hallelûja lache ich nieder
-und werfe ihnen Handgrüße zu: Ja, ihr seid auferstanden zum jüngsten
-Gericht, ich aber fliege ins ewige Leben! --
-
-Wie sie kleiner und kleiner schrumpfen, die schreckbefallenen bleichen
-Leiber: wie Würmer wimmeln sie durcheinander zwischen dem welkbraunen
-Laubwerk unten, wie ausgegrabene Engerlinge. Ich lasse breit meinen
-Mantel fallen, um ihre klägliche Blöße zu decken. Schwer schwebt er
-hinab, denn ich schwebe hinan; mit schwimmenden Armen zerteil ich
-die Wolken. Was glänzt da her aus dem stahlblauen Äther? ist es ein
-unbekannter Stern? -- Halalî Hallelûja jauchzt mein erkennendes Herz:
-es ist eine weltbestrahlende Stirn! Sei mir gegrüßt, pfadkundiger
-Wildrer, du Jagdherr der Frevler, Shakespear, Erhabener! -- Er schlägt
-die entschlafenen Augen nicht auf; traumselig lächelt sein Geisthaupt
-nur und grüßt mich stumm und bestrahlt meine Bahn. Es grüßen noch
-manche entschlafene Geister mit sternengleich aufstrahlenden Stirnen
-und beleuchten meine erhabene Bahn. Es grüßen Rembrandt und Lionardo,
-und Dante und Goethe, Beethoven, Bach. Es grüßt auch mein Vater und
-meine Mutter; und fern strahlt ein dornenkranztragendes Haupt.
-
-Wo hab ich dies rührende Haupt schon gesehen? dies schmerzverklärend
-verzeihende Antlitz? in meiner Kindheit war es wohl. Ich möchte
-vorüber an diesem Antlitz jetzt; aber dahinter ist alles schwarz. Ich
-möchte dennoch vorüberschweben; aber es zieht mich näher und näher.
-Es zieht mich mit seinem Dornenkranz an, der noch heller strahlt als
-die träumende Stirn. Er strahlt wie ein großes verzweigtes Nest; das
-Gezweig wächst immer größer ins Weite. Ich möchte dies wachsende
-Lichtnest umkreisen; aber es weitet sich kreisend um mich. Es wirbelt
-mich hoch wie einen Funken ins schwarze Unermeßliche. Ich blicke hinab,
-ich will’s überschauen: ich sehe ein unermeßliches Helles. Ich sehe ein
-grenzenlos schwebendes Lichtreich: ein tiefes, ringshin ruhendes Nest
-von unzähligen kreisenden Sternenreihen, endlos verzweigt durch den
-schwarzen Raum. Mich weht ein Grausen an, ich erkenne: ich bin in einer
-anderen Welt.
-
-Das Grausen weht inniger, es beseligt; ich fühle, es will mich zur
-Ruhe wehen. Es weht mich hinab auf das träumende Haupt; wer bist du,
-wer bist du, entschlafener Geist, auf dessen Haupt mich ein Lichtreich
-wiegt? -- Ich lasse mich willig niederbewegen zu dem leuchtenden
-Scheitelpunkt in der Mitte; ich sinke mit heller Heimatswonne immer
-tiefer hinein in das weltweite Nest. Und was wie ein Punkt schien, ist
-eine Wölbung, eine milchweiß gestirnte unendliche Kuppel, auf deren
-Scheitelfläche der Nestkranz ruht. Ich staune hinab in den traumstillen
-Kuppelraum, hinab durch das schimmernde Scheitelgewölbe: das ist wohl
-Das, du erhabenes Haupt, was wir auf Erden die Milchstraße nannten?
-Ja, ich sehe sie kreisen in deinem Innern, die Sterne, die Sonnen
-und jene Erde, wie Blutzellkörperchen deiner Adern, du strahlendes,
-dornenkranztragendes Haupt! Wie sie zittern, die kleinen Seelchen alle,
-die sich Welten dünken in ihrem Dunstkreis: ich sehe sie deutlich
-erbeben im Nebel, vor Deiner weltbegrenzenden Stirn. Und sind meinem
-Blick doch alle so fern, so grenzenlos fern wie jener Erdball, dem ich
-durch Wolken entronnen bin in diese verklärte andere Welt. Die Augen
-fallen mir zu vor Bangen: wer bist du, wer bist du, verklärender Geist?
---
-
-Ein silberhell klingendes Lachen weckt mich; hab ich’s geträumt oder
-leben hier Menschen? Nein, eine Lichtgestalt weilt vor mir; ich
-schnelle auf, eine Geistin umschwebt mich. Hab ich sie schon auf Erden
-gekannt? Ihre Augen ermuntern mein Herz so vertraut, als hätten sie
-schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. Ihr Blick ist so
-innig silbergrau, nein lichtschwarz, nein tief von Herzen goldklar,
-ganz silber-und-gold-herzinnig klar; ist es die Göttin Barmherzigkeit?
--- Sie lächelt, sie läßt den Kopf etwas hängen; o süße Schelmin
-Barmherzigkeit! Sie nickt mir nochmals von Herzen zu; ich lausche, ich
-höre ihr Seelenspiel klingen.
-
- Die Erde schläft in Nebelschleierschein;
- doch kann ihr Atem nicht ihr Leid verdecken.
- Ihr träumt, sie würde wach viel freier sein;
- es ist wohl Zeit, daß wir sie wecken?!
-
-Ich starre hinab, mir bangt aufs neue. Nein, steht mein Blick, laß die
-Erdseele ruhn! sie ist voll Rachsucht, sie will nur morden; laß uns den
-Geist dieses Lichtreiches wecken! -- Die Geistin lächelt; weshalb nur
-wieder? aber ihr Lächeln ermutigt mich. Laß uns ihn wecken! verlangt
-mein Blick; Ihn, dessen Haupt diese andre Welt trägt, doch unter dessen
-träumender Stirn jene Erde uns noch immer bannt! Laß seine Augensterne
-erst leuchten, das wird uns erheben aus diesem Bann! --
-
-Sie lächelt und nickt, ist nickend verschwunden; ich greife verdutzt
-in leeren Glanz. Ich schwebe wieder allein in den Weiten; nur
-ihr silberhelles Gelächter klingt noch. Nein, auch ihr Blick ist
-zurückgeblieben; wie ein goldenes Sternchen schwebt er vor mir,
-inmitten des silberweiß kreisenden Nestes. Oder nein, es ist ja ein
-Doppelsternchen! Ja, ein goldklar flimmerndes Zwillingssternchen!
-ein kleines wirbelndes Sternseelenpärchen! zwei kleine glitzernde
-Seelensternzellchen, die in eins zusammenzusprießen streben. Ich greife
-danach, ich schrecke zurück: das eine spiegelt deutlich mein Bild. Ich
-seh mich hinauf in den Nestkranz greifen, in das kreisende Spiel des
-Sternengezweiges; -- und spielt nicht im andern das Bild der Geistin?
--- Nein, schon sind beide zusammengesprossen; ich weiß nicht, spielt
-da +mein+ oder +ihr+ Bild? Es spielt mit den kreisenden
-Neststernbällen, mit unzähligen, reihenweis wirbelnden, unendlich
-zellkleinen Zweigsternbällchen; und in jedem Zellstern spielt wieder
-solch Bildchen. Ich will es fassen; ich greife ins Unfaßbare. Ich
-merke, es schwebt weit über mir, unermeßlich weit, und sprießt weiter
-im Schweben, immer weiter in wirbelnden Sternbilderspielen; es scheint
-nur so klein, weil’s so grenzenlos fern ist. Es wirbelt mich hoch,
-schon entwirbelt’s dem Nestkranz; und sprießt immer wirbelnder über mir
-fort, und ein silberhelles Gelächter umstürmt mich.
-
-Ich muß mitlachen, ich blicke hinab; ganz zusammengeschnurrt in
-schwarzer Tiefe schwebt das weltweite Dornennest unter mir, nur
-wie ein flaches Korbflechtwerk noch, eine tellerförmige milchweiße
-Scheibe, auf der sich ein riesenhaft sprudelnder, goldklar von
-Sternzellen strudelnder, fort und fort wachsender Kreisel dreht.
-Er schleudert mich mit im sausenden Umschwung, immer höher den
-schwellenden Rand hinan; ich kann kaum noch das winzige Urzellbild
-ahnen, das in der Kreiselspitze da unten mit andern solchen
-Urbildern Ball spielt. Ich ahne nur, wie sich aus jedem Bildstrahl,
-den es hochsprudelt in den silbrigen Nebel, eine neue Schaar
-Goldstrahlenbilder entpuppt, aus jedem Weltsternchen eine Sternenwelt,
-immer riesenhafter emporgegliedert, ein unendlicher Springbrunn von
-Lichtpuppengliedern, und jedes Glied schon ein ganzes Wesen, ein
-ganzes Weltpuppengliederspiel, das andere spielende Weltgliederpuppen
-nach allen Seiten entspringen läßt. Ich möchte eins dieser Wesen
-betrachten; ich schwebe so nahe an seiner Seite, ich kann seinen
-Atemkreis brausen fühlen. Ich möchte erkennen, ob’s Mann ist, ob Weib;
-aber es dehnt seinen riesigen Lichtnebelkörper, den Sterne um Sterne
-wie Flugsaat durchwirbeln, so stürmisch ins Unermeßliche, daß ich
-wieder nichts weiter wahrnehmen kann als ein seelenvoll brausendes
-Gelächter. Und wieder muß ich voll Bangen mitlachen, denn in all meinem
-Bangen ahne ich jetzt: vielleicht ist dies unabsehbare Glanzspiel,
-dieser ganze erhabene Sternpuppenkreisel auch wieder nur ein kleines
-Glied, vielleicht nur die unterste Zehenspitze von einer noch größeren
-Spielgestalt, die wieder noch größere ausspielen kann -- o laß dich
-erkennen, erhabenstes Wesen! --
-
-Ich starre hinauf zu dem äußersten Lichtsaum: könnt ich nur Einmal
-ein einziges Leuchten seiner Augensterne aufschimmern sehn! Ich mühe
-mich, jäher emporzukreisen, dem Bannkreis des Strudels noch näher zu
-steuern; mir ist, ich tu’s schon seit Ewigkeiten. Ich blicke zurück auf
-meine Flugbahn; das Sternennest unten ist garnicht mehr sichtbar, es
-scheint nur die allerunterste Spitze dieses schwebenden Weltenkreisels
-zu sein. Mir wird so hinschwindend seelenweit, ich kann kaum mehr
-meine Bewegungen fühlen. Ich kann in dem wachsenden Lichtseelennebel
-auch nichts mehr von meinem Körper sehen; ich bin wohl selbst eine
-Lichtwelt geworden. O könnt ich nur endlich das Augenlicht sehen, dem
-all diese seligen Weltspielpuppen aus ihren Kreisen entgegenlachen!
--- Ich muß auf einmal auch selig lachen: ich sehe urplötzlich im
-Innern des Kreisels, rings unter mir, überallher aus den Nebeln, ganze
-Schwärme von Augenlichtern aufschimmern: alle die hohen entschlafenen
-Geister, die meine Bahn einst beleuchtet haben, sie erwachen aus
-ihren träumenden Tiefen und folgen mir höher mit lachenden Blicken.
-Es erwachen und lachen Rembrandt und Shakespear, Cervantes und Swift,
-Aristophanes, Nietzsche. Es lacht auch mein Vater, auch unsre Mütter,
-und jenes dornenumspielte Haupt. Ich will es begrüßen, mein Gruß
-erstarrt: aus seinem Blick lacht die Göttin Barmherzigkeit. Ich starre
-hinab von Blick zu Blick: in allen den schwärmenden Augensternen,
-selbst in Euern Gestirnen, Nietzsche, Rabelais, Shakespear, ihr
-wildesten Schwärmer, ihr Freunde der Frevler, spielt das Bild der
-Göttin Barmherzigkeit. Mir schwindelt; ich muß wieder aufwärts
-blicken! O erwache auch Du, erhabenstes Wesen, erwache aus deiner
-Gleichgiltigkeit! Erhebe mich endlich zu +Deinem+ Blick! Entreiß
-mich all diesen wachsamen Augen: sie mahnen noch immer an jene Erde,
-die doch seit Ewigkeiten dahin ist! Entpuppe dich endlich: wer bist du,
-Du --
-
-Ich horche erschrocken: was lacht da „Du!“? Und ein Echo lacht
-stürmisch abermals „Du!“ Will das erhabenste Wesen mich höhnen? O, nur
-höher! mir bangt nicht mehr! nur zu! -- Ich steure noch jäher hinein
-in den Kreisel, ich lache stürmisch mit „Du, du, du!“ Ich lasse mich
-ganz in den Lachstrudel reißen: vielleicht kann selbst das erhabenste
-Wesen mich nur in seinem Innern erhören, da in der innersten Achse
-da! -- Ja, ich höre, nun lacht es „Da, da, da“ --: und siehe, das
-ganze Weltpuppenspiel beginnt zu nicken, wild, fern und nah. Und
-immer wilder, mir stockt das Herz: will es mich aus dem Gleichgewicht
-nicken? Nein, in ganz gleichwilden Weltkreisen nickt es, kreisunter
-kreisüber mir -- da, da, da -- mit sternklar barmherzigen Geisteraugen
--- und lacht ganz gleichgiltig „Ha-ha-hah.“ Es will mich gewiß nur in
-Sicherheit lachen; ja, die Achse des Kreisels ist schon ganz nah. Ob
-sich’s da endlich entpuppen wird? Ja! All die Geister da lachen „Ja“
-und nicken. Aber was +ist+ das? Ah --: die Achse! -- Sie dreht
-uns immer noch höher! aber mir stockt das Herz immer jäher: verliert
-sie nicht doch jetzt das Gleichgewicht? -- Nein, sie verdreht wohl ihr
-Seelenlicht? Hahahah, sie verdreht uns die Übersicht! Sie beginnt zu
-wackeln! o all ihr Geister: das erhabenste Wesen scheint kopfstehn zu
-wollen! --
-
-Ich höre entsetzt: Alles lacht wieder „Ja!“ -- Ha-ha-halt!
-Barmherzigkeit! Wenn wir fallen: wir fallen ins Bodenlose da! -- Da,
-was seh ich: allmächtiger Himmel, ja: es steht ja schon kopf! --
-es entpuppt sich! -- Ah -- --: himmelhoch über mir steht etwas da:
-mittenauf aus den wackelnden Seelenwelten steht die Kreiselkrone in
-Gloria -- und ist eine -- was? -- eine Sohle?? -- ja: eine riesige
-wacklige Weltseelensohle, von unzähligen Zehenspitzen umzappelt.
-Ich erkenne, sie will uns +noch+ höher zappeln: sie beschirmt
-unsre Welt wie ein maßloser Fallhut: wir zappeln in einer ungeheuren,
-allweltenhütenden Urweltpuppe, die auf ihrer Hutspitze bodenlos
-kopfsteht, und deren Bauch sich vor Lachen schüttelt. Er schüttelt uns
-mit, immer mit, hahahah! Macht Halt, ihr Geister, sonst platzt er!
-Da --: er platzt -- ich muß mich vor Lachen umdrehn. Hahahah, all die
-Weltgeister drehn sich +mit+ um! Hahahah, sie verdrehn mir Hören
-und Sehen! Hahahah, das erhabenste Wesen rächt sich! Hahahah, es läßt
-mich vor Lachen sterben -- mir gehn alle Augen über, nein auf! -- ja
-auf! endlich auf! -- Was? -- bin ich denn wach? --
-
-Ja, ich saß mit offenen Augen im Bett; und mittenher durch mein
-halbdunkles Zimmer langte ein goldheller Morgenstrahl, voll
-unzähliger wirbelnder Sonnenstäubchen. Es war also doch ein Spalt in
-dem Fenstervorhang. Ich stand auf, machte vollends hell und besann
-mich; dann warf ich die abends empfangene Todesnachricht aus meinem
-Shakespear in den Papierkorb. Ich wußte nicht: sollte ich wie ein Kind
-ein dankbares Morgengebet verrichten? oder Gott, Welt und Leben zum
-Teufel wünschen? Ich weiß es noch heut nicht, du himmlischer Quälgeist,
-o allbarmherzige Phantasie!
-
- Wer bist du? „Wer du willst!“
- Wo wohnst du? „Wo du’s fühlst!“
- Lebst wohl im Lichtstrahl still?
- „Wohl auch im Staubgewühl!
- Bürst mein Hütlein,
- klopf dein Kittlein,
- so kannst du merken, wer ich bin,
- wieviel goldne Wunderwelten in uns glühn!“
-
-
-
-
- Betrachtungen
-
- über Kunst, Gott und die Welt
-
- Auswahl
-
-
-
-
-Kunst und Volk
-
-Neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung bedürfen
-
-1. +Die Kunst besteht in den Kunstwerken, die nicht fürs Volk
-geschaffen sind, sondern für Gott und die Welt, für die Seele der
-Menschheit oder auch der Blumen auf dem Felde, für Alle und Keinen,
-fürs ewige Leben oder für sonst eine grenzenlose Größe.+
-
-Das soll heißen:
-
-Es werden sehr viele Kunstwerke gemacht, aber recht wenige machen die
-Kunst aus. Kein Kunstwerk mehrt den Kunstbestand, durch das der Urheber
-irgend ein begrenztes Volk zu irgend einer bestimmten Zeit für irgend
-ein bekanntes Ziel ausbilden will oder wollte. Die Volksbeglücker, die
-Volksveredler, die Volkserzieher und -verzieher mögen ein solches Werk
-mit Fug und Recht zu ihrer Zeit den Leuten anpreisen; aber sobald jenes
-Ziel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt solch Werk der
-Vergessenheit oder bestenfalls der Kunstgeschichte, ist überflüssig
-und leer geworden, hat keinen belebenden Inhalt mehr. Freilich befaßt
-sich alle Kunst mit dem umgebenden Volks- und Zeitgeist als einem Teil
-ihres Stoffbestandes; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand, sie geht
-nur aus von dieser Umgebung, und ihr Ziel schwebt grade im Unfaßbaren.
-Beständiges Leben enthält nur +die+ Kunst, die jederzeit und
-immerfort hinaus ins Unbekannte weist, wie die Blumen blühen ins Blaue
-hinein. Und solche Kunst schafft nur der Künstler, der fürs Volk ein
-ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine Bestimmung des Schaffenden:
-die Gesetzgebung für das Unbestimmte. Er sieht nur Eine Grenze des
-Schaffens: die Formlegung für das Unbegrenzte. Denn er ahnt nur Ein
-Ziel der menschlichen Bildung: die Gestaltung eines vollkommenen Wesens.
-
-2. +Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei Arten Volk: das
-menschenwürdige und das hundsgemeine.+
-
-Das heißt:
-
-Vollkommene Kunst wirkt nicht auf Jedermann als vollkommen, sondern
-höchstens auf solche Seelen, die selbst den Trieb zur Vollkommenheit
-haben und fremde Seelenkraft mitfühlen können. Hierzu aber verhilft
-kein besonderer Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger Vorrang,
-der einzelnen Ständen und Klassen des Volkes -- je nach dem Lauf der
-Zeiten -- vergönnt ist, mag auch durch alldas die Freiheit und Freude
-des menschlichen Mitgefühls leichter erblühen. Dies Mitgefühl eignet
-vollkommen nur solchen Seelen, denen das menschliche Dasein unendlich
-mehr ist als eine Laufbahn zum Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder
-Neunmalklugsein, nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung
-aller schaffenden Kräfte, ob für, ob gegen, ob durch einander. Das
-sind die menschenwürdigen Seelen, die auch die Kunst von Grund auf
-zu würdigen wissen. Sie pflanzen den Willen zur Menschheit fort,
-sie bilden in Wahrheit den Volksgeist und Zeitgeist und begeistern
-allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volksschicht
-zu finden, wenn auch am meisten wahrscheinlich in jenen Schichten,
-die am eifrigsten für die Zukunft kämpfen. Wo sich der Sinn auf
-Vollkommenes richtet, ist „Volk“ stets nur der Inbegriff der menschlich
-strebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der Menschheit;
-wer ein vollkommener Mensch sein könnte, der wäre natürlich auch im
-Besitz von jeder Vollkommenheit seines Volkes. Der Rest aber, der ewig
-rückständige, der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel
-wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst, die das Volk
-übers menschliche Dasein täuscht, mehr oder weniger hundsgemein. Doch
-ist auch diese Art Volk und Kunst im geistigen Haushalt der Menschheit
-vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art zur beständigen
-Steigerung ihres Willens.
-
-3. +Keine Art Volk schafft jemals Kunst; jede Art Volk reizt die
-Künstler zum Schaffen.+
-
-Das will besagen:
-
-Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk ist, stellt eine
-unwillkürliche, unerklärliche Einsicht ins Leben vor, die stets nur
-Wenigen innewohnt und sich nur durch eigentümlich geheimnisvolle, zwar
-den Sinnen vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame
-Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man gewöhnlich Volkskunst
-nennt, ist niemals durch die gemeinsame Macht irgend eines Volkswillens
-entstanden, sondern immer ursprünglich von Einzelnen aus reinem
-Eigensinn ersonnen und dann erst zu Gemeingut geworden. Aus einem
-natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im Licht der Gestirne waltet,
-gibt der Einzelne sein einsames Sinnbild dem willigsten Empfängerkreis
-hin, oder dem mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und
-immer weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen -- zumal
-bei mündlicher Weitergabe -- die eigensinnigsten Züge des Bildes ins
-Allgemeinverständliche ab. In den kleinen Volksgemeinden der Urzeit
-besorgten wohl meist die Priesterkasten und Herrengeschlechter die
-erste Verbreitung; nachher vermittelten fahrende Leute zwischen der
-Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft wurde Beruf und
-ging also selbst auf die Fahrt nach Brot. So zog einst der Barde mit
-seinen Heldengesängen von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit
-seinen Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei anderes
-fahrendes Volk machte die vornehmen Gebilde fürs seßhafte schlichte
-Volk zurecht, und aus der erhabenen Heldensage wurde ein Volkslied,
-ein Bänkelsang. So sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von
-den Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen, Naturmythen
-und Geistergeschichten einer von Priestern gelenkten Kultur sind
-später von sinnigen Landstreichern, entlaufenen Mönchen, Scholaren und
-Schreibern, für das Verständnis der Spinnstuben-Insassen verweltlicht
-und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und verballhornt. So ist
-auch die sogenannte Bauernkunst, wie sie in Hausrat und Volkstracht
-sich fristet, nirgends dem Heimatboden entsprungen, ist aus höfischen
-oder städtischen Kreisen von reichen Dörflern aufs Land verpflanzt,
-und da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich verwucherten
-Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst kräftig und reif genug geworden
-ist, die entartete alte zu verdrängen. So ging auch die Kunst der
-wilden Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Festplatz
-des Zauberpriesters, das Zelt des Häuptlings oder der Obmänner, um
-in alle Hütten des Stammes zu dringen. Denn der Künstler, der kein
-Strumpfwirker ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen; er
-will wie das Leben ins Leben wirken, ins unendlich weite belebende
-Leben, und heute wendet sich seine Kunst nur deshalb gleich ans
-breitere Volk, weil es mächtiger als die Machthaber dem schaffenden
-Willen des Lebens dient.
-
-4. +Das Volk versteht nichts von der Kunst; das ist auch nicht nötig
-zum Kunstgenuß.+
-
-Das besagt:
-
-Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig zum Kunstgenuß
-sind; die volle Genußkraft ist ebenso selten wie die vollkommene
-Schaffenskraft. Aber auch diese Wenigen, Jeder für sich allein
-genommen, verstehen nur wenig von den vielfältigen Reizen, die das
-geheimnisvolle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst von den
-Handwerksgriffen des Künstlers versteht zuweilen sogar der Künstler
-nicht jeden einzelnen Wirkungswert, geschweige den ganzen Zusammenhang;
-und mancher nüchterne Kunstgelehrte sieht da schärfer als der
-scharfsinnigste Meister. Nur sind die äußerst klugen Leute, die blos
-mit Verstand zu genießen verstehen, gewöhnlich die innerst seelendummen
-und begreifen oft weniger als ein Nigger von der begeisternden
-Gefühlswelt, die hinter den sinnlichen Reizen des Kunstwerkes lebt.
-Diese Kunstverständigen zwar entscheiden, ob ein Werk den besten
-Kennern des Handwerks auf absehbare Zeit zu genügen vermag, und
-schätzen seinen Sachwert ein; aber unabsehbar ist das Leben, und
-ein vollkommenes Kunstwerk enthält die Lebenshinterlassenschaft
-von hunderttausend Millionen anderer Werke und das unschätzbare
-Vorvermächtnis für aber-und-abermals andre Millionen. Ein solches Werk
-kann Jahrhunderte lang -- nach den Maßstäben aller Sachverständigen,
-nach dem Urteil der Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der
-eignen wie fremder Volksart -- ein wertloses totes Unding sein: und
-auf einmal ist es nur scheintot gewesen und belebt tausend Geister zu
-neuem Gefühl, zu neuem Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten
-seelischen Macht, der das vollkommene Kunstwerk entstammt, ist eben
-auch der Kenner „nur Volk“. Über diese beständige Machtvollkommenheit,
-diesen eigensten Lebenswert der Kunst, entscheidet keinerlei
-Kunstverstand, auch kein Kunstgeschmack und kein Kunstgefühl, weder des
-Einzelnen noch einer Volksmasse; denn es gibt und gab kein einziges
-Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu mäkeln fände, und Geschmack
-und Gefühl sind unbeständig, ob aus Verstand oder Unverstand. Über
-den Lebenswert der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst,
-das wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk zu Volk, ob
-durch Zufall, Notwendigkeit oder Gott-weiß-was, doch beständig zum
-Weiterleben gewillt. Mit dem Genuß aber hat das wenig zu tun; den
-rohesten Kerl kann das scheußlichste Machwerk unvergleichlich stärker
-und inniger freuen, als die reinste Schönheit den feinsten Kenner. Wer
-Anderes lehrt, ist ein Faselhans, ob nun ein Schwarmgeist oder ein
-Nüchterling.
-
-5. +Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht in der Begeisterung durch
-das Unbegreifliche, in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in der
-Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in Glauben, Traum und Übermut.+
-
-Das bedeutet:
-
-Wie das Wesen des Kunstschaffens unerklärlich ist, so auch das Wesen
-des Kunstgenießens; erklärlich ist nur der bewirkte Zustand. Er ist,
-und sei er noch so vergeistigt, ein Zustand der sinnlich befriedigten
-Liebe, im weitesten und engsten Sinn, in der höchsten, tiefsten,
-flachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er gibt also
-nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand des geliebten Dinges,
-für Schönheit, Naturwahrheit und dergleichen. Wie dem liebenden
-Jüngling ein Gesicht, das er gestern noch für abschreckend hielt, heute
-ein Ausbund aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang
-sein wird, vielleicht auch nur für etliche Wochen, so liebt und lebt
-auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein Gemisch von Volk! Sogar
-das griechische Volk war kein Kunstvolk, wie manche Leute es gerne
-träumen; denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab nur
-einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen, kunstliebenden
-Patrizierfamilien und einem Haufen machtsüchtiger, vergnügungslustiger
-Spießbürger nebst einer bäurischen Sklavenheerde. Aber die Lust und
-Liebe zur Kunst ist selbst ein gewaltiger Lebenswert: sie legt den
-geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch unvollkommen
-sind, und hebt alle Kräfte der liebenden Seele, auch wenn es nur
-schwache Kräfte sind. Das gilt für Männlein wie für Weiblein; denn
-in den höchsten Bezirken der Liebe hört der Geschlechtsunterschied
-glücklich auf. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die
-stärksten Sehnsüchte seines Lebens durch das angebetete Bild erfüllt
-zeigt; und je weniger Wissen den Geist beschwert, je weniger Kenntnis
-von Kunstmaßstäben, umso leichter glaubt er seinem Traum. Dann braucht
-er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbegreifliche klar,
-daß er Eins ist mit dem einsamen Künstler: dann erlebt er wie dieser
-das Grenzenlose, ist mit ihm die Blume auf dem Felde, mit ihm der
-Held seiner Abenteuer, mit ihm ein ganzes mächtiges Volk und jauchzt
-im Stillen vor Übermut. Und wenn er aufwacht aus diesem Traum, der
-ihm das Winzigste riesengroß, das Furchtbarste herrlich und lieblich
-machte, dann verehrt er die unerforschliche Kraft, die frei mit den
-eigenen Grenzen spielt; und seine Abenteuerlust, die einen Augenblick
-staunend gestillt war, gibt sich ermutigt dem unstillbaren, wandelbaren
-Leben hin. Ein ganzes Volk aber, das so träumt und nur kraft höchster
-Kunst so träumt, das ist ein -- schöner Zukunftstraum.
-
-6. +Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar, sondern mittelbar als
-Sage ins Volk.+
-
-Nämlich:
-
-Nicht blos die Kunst der vorgeschichtlichen oder späterer
-ungeschichtlicher Zeiten, wie sie uns in heroischen Fabeln, humanen
-Idyllen, religiösen Parabeln vom „Volksmund“ überliefert ist, sondern
-auch alle geschichtliche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild
-sinnlichen Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt ins
-ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur durch freie Erinnerung
-fort; auch der Buchdruck hat daran nichts geändert. Wer liest heute
-noch Cervantes und Swift, wie sie vollständig im Buche stehen, oder
-gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuflein Gebildeter; und viele von
-ihnen nur aus Zwang. Wer sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder
-hört die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden besucht, wer
-den Petersdom, wer den Park von Versailles? Wer kennt wirklich Lionardo
-vollkommen, wer Goethe, wer Mozart und Gluck, wer Bach? -- Aber man
-spreche von Gullivers Reisen, von Don Quijote, Don Juan, Helena, Faust,
-man nenne die Namen Prometheus und Orpheus, Michelangelo, Shakespear,
-Rembrandt, Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskraft
-wird auch den Geist des geistig Armen mit Bildern schicksalreichsten
-Lebens, Gestalten vollkommener Menschlichkeit füllen. Unter hundert
-Kunstkennern sind nicht zwei in der Deutung von Dantes Beatrice,
-der Erklärung von Shakespears Hamlet einig, aber jeder einzige fühlt
-sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes Mädchen scheint
-eine Beatrice, dieser junge Mann ist der reine Hamlet. Das eben ist
-das Kennzeichen höchster Kunst, daß sie Keinem ganz begreiflich wird,
-daß der Eine dies, der Andere jenes als ihr bedeutsamstes Merkmal
-herausgreift, daß sie die unbegrenzte Macht hat, über die eigene
-Bildwirkung weg durch fremde Vermittelung weiterzuwirken, bis sich
-aus all den begeisterten Meinungen ein allgemeines Erinnerungsbild
-formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus dem der Volksgeist
-aber das Ganze -- und mehr als das -- zu begreifen glaubt. So genügt
-dem Liebenden eine Locke, um ihm die ganze Gestalt der Geliebten,
-den Duft ihres Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre ganze Seele
-heraufzubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer Name.
-
-7. +Nie ist Kunst volkstümlich von Anbeginn; sie wird es kraft ihrer
-ursprünglichen, neubelebenden Freiheitslust, und sie bleibt es kraft
-ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungsliebe.+
-
-Denn:
-
-Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen freiwilligen
-Gewöhnung aller einzelnen Volksmitglieder, oder doch der meisten und
-menschlich besten, unter Anleitung der geistig regsten. Man will sich
-aber an nichts erst gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnlich ist;
-und man gewöhnt sich auch an nichts, was durchaus blos ungewöhnlich
-sein will. Nur solche Kunst wird und bleibt volkstümlich, die den
-Willen zum geistigen Miterleben, diesen allgemeinsten menschlichen
-Willen, gleichermaßen bewegt und beruhigt, löst und fesselt,
-antreibt und bändigt. Sie muß Reize enthalten, die immer wieder
-das schrankenlose Naturgefühl selbst des Eigensinnigsten erregen;
-und sie muß andere Reize enthalten, die immerfort die beschränkte
-Kulturvernunft auch des Freimütigsten beschwichtigen. Sie muß alle
-diese zwiefachen Reize in einer so einfachen Form vereinen, daß sie
-zwingend wirkt wie ein neues Gesetz, zu dem die alten hingedrängt
-haben; und es macht das innerste Schicksal des Künstlers aus, ob
-er die äußere Geschicklichkeit hat, sich mit seiner ursprünglichen
-Schaffenskraft in die Beschaffenheit der Welt, die notwendige Ordnung
-der Kräfte, zu fügen. Dann ist sein Werk ein vollkommenes: ein Sinnbild
-des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens
-zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige. Solche
-Kunst mag man anfangs für willkürlich halten, mag sie mißachten und
-mißdeuten, verlästern oder verlobhudeln: grade Das wird die Neugier der
-Menge reizen, grade Das selbst die ältesten Schlafmützen wecken, und
-endlich nimmt auch der Gleichgiltige die ernste Giltigkeit ihres Wesens
-hinter dem scheinbaren Gaukelwerk wahr. Dagegen die Kunst, die nach
-Volksgunst fahndet, indem sie sich in das Maskengewand volkstümlich
-gewordener Ahnenkunst kleidet: sie mag von den vornehmsten Autoritäten,
-von Obrigkeit, Schule und Zeitungen, mit aller Gewalt „populär“ gemacht
-werden, eine Zeit lang „ungeheuer beliebt“ sein, schließlich wird sie
-als eitel Blendwerk erkannt und dient bestenfalls zur Vermittelung
-einiger Kunstkenntnis ans Volk.
-
-8. +Alle Kunst, die nicht volkstümlich wird, ist Unkunst, Tand und
-Spreu im Wind.+
-
-Das ist so zu verstehen:
-
-Kein Kunstwerk, und sei es noch so schlecht, ist von Anfang an ohne
-Lebenswert; es finden sich immer die vielen Dummen und manchmal auch
-nicht wenige Kluge, die ein schlechtes Werk für gut genug halten, die
-Langeweile auszufüllen. Erst allmählich merkt man, was Unkunst ist.
-Jeder Einzelne weiß das aus eigner Erfahrung, und die Erfahrungen der
-Völker wachsen noch viel allmählicher, dafür freilich auch dauerhafter.
-Es lassen sich mancherlei Kunstwerke herzählen, die Jahrhunderte lang
-im Volk wie bei Kennern die höchste Wertschätzung besaßen und heute
-für mittelmäßig gelten, vielleicht immer tiefer an Wert sinken werden,
-vielleicht auch wieder zum höchsten steigen. Eine vollkommene Gewähr
-für die Richtigkeit eines Kunstwerkes bietet allein der Tatbestand, daß
-es als Stoffding untergegangen ist, ohne in irgend einer Form -- in
-Sage, Denkmal, anderen Werken -- als seelisches Wesen weiterzuwirken.
-Das mag sich von den besten Kennern für die ungeheure Mehrzahl der
-Kunstdinge mit aller Gewißheit voraussagen lassen; aber die Kenner
-vollstrecken ihr Urteil nicht. Nur die Menschheit selbst ist das
-Jüngste Gericht und sondert langsam die Spreu vom Weizen; und das
-Volkstum ist das große Sieb, durch das sie ihre Lebensfrucht worfelt.
-Da werden auch viele Dinge durchfallen, die vielen Kennern Kleinodien
-waren; und der ordinärste Hintertreppenroman wird dann nicht tiefer
-im Kehricht liegen als manche exquisite Salonnovelle. Dann wird der
-namenlose Dichter, der dem Volk den Aberwitz der Romantik durch das
-Bild des „geschundenen Raubritters“ zeigte, in der menschlichen
-Sprache lebendiger leben als mancher romantische Schulpoet mit
-literarhistorischem Ruhm. Über die Geistesgebilde der Machtvollsten
-aber lebt noch ihr eigenes Bildnis hinaus. Es werden Zeiten kommen,
-wo unsre Kultur begrabener als die ägyptische daliegt; dann wird
-vielleicht kein Buch von heute, kein Notenblatt mehr in Ansehen stehn,
-aber das Seelenbild Dante, das Paradiese und Höllen umarmt, der Geist
-Beethoven, den die Verzweiflung zum Freudenschrei trieb, wird dann der
-Menschheit noch ebenso heilig sein wie Orpheus oder Prometheus.
-
-9. +Die Kunst geht ihren eigenen Weg; wohl ihr, wenn das Volk ihr zu
-folgen vermag.+
-
-Das ist so selbstverständlich --
-
-daß es selbst für die eingebildetsten Dickköpfe nicht der Erklärung
-bedürfen würde, wenn nicht manche Künstler von Zukunftswert einen
-wohlfeilen Afterstolz darein setzten, bei Lebzeiten nicht ins Volk zu
-dringen. Angewidert vom Afterruhm meinen sie, ihr Selbstgefühl sei die
-ganze Welt, die Menschheit ein Märchen der Volksverführer. Wie lange
-wird dieser Irrsinn dauern? Bis sie der Welt zum Opfer gefallen und dem
-Volk wie der Menschheit ein Leichenschmaus sind! Denn wir leben alle
-nicht für uns selbst, mag es auch manchem Scheinweltweisen bei seiner
-Schreibtischlampe so scheinen; selbst der selbstsüchtigste Geizhals muß
-ins Grab und hat seine Schätze für Erben gesammelt.
-
-
-Nationale Kulturpolitik
-
-Eine fragwürdige Angelegenheit
-
-Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl niemand in Abrede
-stellen. Man pflegt sich nur darüber zu streiten, ob die sogenannte
-wahre Kultur -- wie die philosophastrischen Schlagwörter lauten --
-„bewußt“ oder „unbewußt“ zustande komme, besser gesagt: absichtlich
-oder unwillkürlich. Aber es gibt keine geistige Tätigkeit, die nicht
-zugleich aus unwillkürlichem Antrieb und mit absichtlicher Zwecksetzung
-vor sich geht. Politik ohne bewußte Absicht ist ein Widerspruch
-in sich selbst; und die Geschichte der Völker und Staaten zeigt,
-daß Kulturpolitik zu allen Zeiten und in allen Ländern getrieben
-wurde. Man braucht nur Namen wie Perikles und die Medici, Augustus
-und Louis XIV, William Cecil und Friedrich den Großen zu nennen,
-und wir erinnern uns an Epochen planvollster Zusammenfassung der
-produktiven Einzelkräfte um der organischen Volksbildung willen, auf
-kleineren wie größeren wie ganz großen Staatsgebieten. Und nicht blos
-persönliche Oberhäupter, auch regierende Körperschaften haben solche
-Politik getrieben; Beweis die Republik Venedig, die Niederlande, die
-Hansestädte. Allerdings waren diese Körperschaften noch durchweg
-Aristokratieen und beherrschten nur kleine Volksgebilde; auch die
-sogenannten Demokratieen der altgriechischen Stadtgemeinden hatten
-tatsächlich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zuschnitt. Es
-fehlt daher an historischen Parallelen zu den Herrschaftsformen der
-Gegenwart, die in den großen Staaten Europas aus alten aristokratischen
-und neuen demokratischen Machtzuständen unklar gemischt sind.
-Das aber ist ausschlaggebend für die Entscheidung der Frage, ob
-sich heute die Kristallisation der nationalen Kulturtendenzen
-erfolgreich beschleunigen läßt oder nicht. Denn erstens muß die
-Nation schon reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst
-tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in Grund und Boden
-verdorben; und zweitens ist Politik nur erfolgreich durch eine starke
-Machthaberschaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist freilich
-die Unklarheit der Machtverhältnisse kein Grund, daß es nicht Zeit
-zur Klärung sein könnte; kein Mensch weiß im voraus, wie reif ein
-Volk ist. Also braucht man sich blos noch den Kopf zu zerbrechen, ob
-die verschiedenen mächtigen Leute, die sich heute als Volksvertreter
-fühlen, hinlänglich einig darüber sind, +woraufhin+ kultiviert
-werden soll.
-
-Kulturpolitik irgend welcher Art wird ja allenthalben genug
-getrieben, in Deutschland eher zu viel als zu wenig. Potentaten,
-Finanzbarone, Minister, Parlamente, Parteien und Kongresse, Demagogen
-beiderlei Geschlechts, Universitätsprofessoren und Volksschullehrer,
-Literatenkliquen und Zeitungsredaktionen, alle schwingen das Wort
-„Kultur“ im Munde und greifen sogar in die Tasche dafür, teils in
-die eigene, teils in fremde, und natürlich immer für „wahre“ Kultur.
-Aber mit welcher Sorte wahrer Kultur man das +ganze Volk+ zu
-beglücken gedenkt, davon ist wohlweislich nie die Rede; sie könnte
-doch gar zu leicht unwahr tönen. Trotzdem ist einzig dies der Rede
-wert. Nationale Kultur bleibt ja leere Phrase, wenn sie nicht ein
-humanes Programm bedeutet: bestimmte Veredlungswerte der Menschheit,
-die das Volk selbstbewußt in sich ausbilden soll. Allgemeine Bildung
-ist nur ein Ziel für hochbegabte Persönlichkeiten; im Durchschnitt
-des Volkes läuft sie leider auf allgemeine +Ver+bildung hinaus.
-Gar eine schöngeistige Bildungspflege ist fürs gesamte Volk ein
-Unding, war stets nur gewissen bevorrechteten Gesellschaftsklassen
-wirklich erreichbar, deren leibliche Wirtschaftsbedürfnisse von
-anderen Klassen besorgt wurden. Alle organische Kulturpolitik muß
-zunächst natürlich darauf bedacht sein, besonders leistungsfähige
-Berufsstände zu begünstigen, an die sich die übrigen angliedern
-können, je nach den hauptsächlichen Volksanlagen und den zeitlichen
-wie örtlichen Entwickelungsbedingungen. Selbst in den kleinsten
-Gemeinwesen hat die Kultur nie von Anfang an harmonische Tendenz
-gehabt, war überall um spezifische Interessengruppen konsolidiert:
-agrarische oder kommerzielle, militärische oder juridische, religiöse
-oder philosophische, erotische oder soziologische, je nachdem die
-Oberschicht mehr sensuell oder mehr intellektuell begabt war, mehr
-energisch oder mehr spekulativ. Für all das lassen sich reinliche
-Beispiele bei räumlich beschränkten Kulturen finden, von dem
-spartanischen Kriegerstaat bis hin zum Friedensreich der Inka, von den
-indischen Weisheitsfürstentümern bis zu den Minnehöfen der Provence.
-
-Heute aber, in unseren großen Staaten mit ihren vielerlei
-Machthabergruppen, wo herrscht da wahre Einmütigkeit über solche
-Meistbegünstigung? Wie kann eine Harmonie der Interessen entstehen,
-wenn fast jeder Stand nur +die+ Politik verfolgt, sich möglichst
-„notleidend“ zu stellen! In Deutschland wird man sich höchstens
-vielleicht auf das Zugeständnis einigen: wir scheinen eine
-+industrielle+ Kultur ziemlich hohen Ranges zu schaffen. Aber die
-Folgerung lautet dann meistens: folglich braucht sie nicht mehr
-begünstigt zu werden. Und gewisse Idealisten zetern sofort: das ist
-ja „blos materielle“ Kultur, ist also „überhaupt keine“, ist „nichts
-als“ Zivilisation! Nun, ich bin selber ein Idealist, allerdings keiner
-mit fixen Ideen, und eine Grenze zwischen jenen beiden Begriffen läßt
-sich meines Erachtens durchaus nicht fixieren. Eine Industrie von
-materiellem Höchstwert ist notwendigerweise zugleich ideell, oder zum
-mindesten intellektuell, nämlich angewandte Naturwissenschaft; da ist
-also schon ein Punkt aufgedeckt, wo Zivilisation in Kultur übergeht.
-Die Industrie ist ferner genötigt, sich wegen ihrer technischen
-Qualitäten ästhetische Werte anzuzüchten; und die teilen sich dann
-natürlich dem Volk mit, das ihre Produkte herstellen, vertreiben und
-verbrauchen hilft. Und daß durch ein gründliches Industrie-System auch
-allerlei sonstige Disziplin, ökonomische, juristische, hygienische,
-moralische, in der Volksmasse ausgebildet wird, ist ohne weiteres
-selbstverständlich; Bernard Shaw hat darüber im letzten Akt seiner
-Komödie „Major Barbara“ sehr räsonnabel phantasiert.
-
-Bleibt somit lediglich auszuprobieren, ob in der Tat unsre Industrie
--- in Arbeitgebern wie Arbeitnehmern -- schon so starke Kulturpotenzen
-umspannt, daß sie die übrigen Machthabergruppen von ihrem Vorzugsrecht
-überzeugt, z. B. die Herren Agrarier und den nicht minder herrlichen
-Klerus. Sobald die geistig bedeutendsten Machtgruppen eine dauernde
-Hebung ihrer Wohlfahrt, sei es direkt oder indirekt, von einer
-materiellen Tendenz erwarten, schlägt diese bereits ins Ideelle um,
-in eine sozialpolitische Sympathie aller Stände, die sich bis zu
-religiöser Ekstase und poetischem Enthusiasmus steigern kann; siehe
-die Zeit der Kreuzzüge, die aus agrarischen Interessen emporkam.
-Dergleichen geht meist viel rascher vor sich, als die fixen Idealisten
-glauben; aber ehe es wieder möglich wird, müssen freilich erst die
-führenden Geister der einzelnen Berufskreise mehr Fühlung miteinander
-erlangen, als zur Zeit bei uns vorhanden ist, mehr Achtsamkeit und
-mehr Verständnis für die gegenseitigen Ergänzungswerte. Inzwischen
-hat jedermann im Volk, erst recht aber jeder leitende Mann, das Eine
-zu tun, das immer nottut: seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.
-Bildung predigen kann der nichtsnutzigste Nörgler; gute Lehren sind
-gut, gute Vorbilder besser. +Im eignen Beruf etwas Tüchtiges leisten
-und fremde Tüchtigkeit anerkennen+, das ist schließlich die beste
-Kulturpolitik. Kurz: möglichst wenig davon reden im Allgemeinen,
-möglichst viel im Besonderen dazu tun! In diesem Sinne könnte die
-Großmacht „Presse“ aufs besonderste vorbildlich wirken; notabene wenn
-sie endlich wollte.
-
-Statt dessen wird geschwatzt und geschwatzt, und das hält man womöglich
-noch für ein Zeichen allgemeinen geistigen Fortschritts. Wenn jemand
-alldas lesen müßte, was bei uns über Bildung und Bildungszwecke,
-Kultur und Kulturprobleme geschrieben wird: ob er dann nicht reif
-fürs Irrenhaus würde? Wir sind besessen vom Fortbildungsdrehwurm,
-deshalb besitzen wir keine ruhige Bildung. Ich habe einmal einen Jungen
-gekannt, der so viel übers Leimrutenstellen nachdachte, daß er nie
-dazu kam, einen Vogel zu fangen. Und ich kenne viele erwachsene Leute,
-nicht etwa blos Privatdozenten, die lange Vorträge über Schönheit und
-Freiheit halten und weder verstehen eine Blume zu pflücken noch sie
-in ein Knopfloch zu stecken. Wenn so ein Schöngeist dann plötzlich
-errötet über seine Ungeschicktheit, dann ist vielleicht noch Hoffnung
-vorhanden, daß er endlich aufhört, für Bildung zu schwärmen, und
-wirklich anfängt, sich zu bilden. Darum war es ein Zeichen heilsamer
-Reue, daß unlängst unter den vielen Rundfragen, mit denen jeder
-irgendworin Gebildete von unsern Zeitungen und Zeitschriften aus
-vorzüglicher Hochachtung überschwemmt wird, plötzlich auch die Frage
-auftauchte, ob wir nicht heute „an einer Überwertung der Bildungsfragen
-kranken“. Ich weiß freilich nicht, ob der Verfasser dieser
-Überbildungsfrage über ihren Stil errötet ist; über ihre Motive aber
-sollten wir allesamt erröten.
-
-Was ist Bildung? Nur die Unbildung fragt so. Der Gebildete redet
-nicht darüber, er hat allemal Besseres zu tun; gebildet ist,
-wer vorbildlich wirkt durch irgendeine Tüchtigkeit. Unsre Zeit
-ist nicht so untüchtig, an „Überwertung“ der Bildungsfragen zu
-„kranken“; ich glaube sogar, daß jeder wertvolle Mensch über solche
-Doktorfragen die Achseln zuckt. Aber worunter wir allerdings leiden,
-und grade die Tüchtigsten am meisten, das ist die Überschätzung der
-Bildungs+mittel+, der praktischen wie der ideellen; das Werkzeug
-steht höher im Wert als das Werk! -- Wir bauen großartige Fabriken,
-die kleinliche Fabrikate erzeugen. Wir erfinden hochfliegende
-Verkehrsmaschinen, die den Verkehr immer flacher, weil flüchtiger
-machen. Wir konstruieren geistreiche Schwebebrücken, Bahnhofshallen
-und Kabelanlagen, die keiner andern Güterbeförderung als nur der
-leiblichen Wohlfahrt dienen. Wir überspinnen unsre Städte und Dörfer
-mit baumwuchsverstümmelnden Drahtnetzen, die unser Alltagsgeschwätz
-so bequem verbreiten, daß es selbst dem Geduldigsten unbequem wird.
-Wir pflegen ästhetische Techniken und intellektuelle Methoden, deren
-absonderliche Feinsinnigkeit die Wirkung der Künste wie Wissenschaften
-auf unsre ganze Gesinnung vereitelt. Wir organisieren einen
-Religionsunterricht, der so überaus vernünftig ist, daß die ehrwürdigen
-Worte des Glaubens zum Gespött der Kinder werden. Wir entwickeln
-tiefdurchdachte Erziehungssysteme, die prinzipiell auf Zöglinge von
-oberflächlichster Durchschnittlichkeit des Denkens und Fühlens angelegt
-sind. Wir betreiben eine Politik, die vor lauter Interessendiplomatie
-das solidarste Intresse der Nation, das soziale Vertrauen, in den
-Wind schlägt. Wir gründen sehr sittliche Einrichtungen zum Schutz der
-menschlichen Arbeitskräfte, und das Vollkommenste, was mit all dem
-Aufwand für Volk und Menschheit geschaffen wird, sind Instrumente der
-Zerstörung: Kanonen, Kriegsschiffe und dergleichen.
-
-Wie dieser Wahnwitz kuriert werden kann? Weder durch Lehranstalten noch
-durch Kasernen noch durch die sogenannte Schule des Lebens, durch kein
-Hilfsmittel von außen her. Autosuggestionstherapie nennt es heute die
-innere Medizin; auf gut Deutsch heißt es immer noch Selbstzucht, soll
-den Geist vom Narrsinn der Selbstsucht befreien und kann von den werten
-Lehrmeistern, Eltern und andern Vorgesetzten nur durchs eigne Beispiel
-erläutert werden. Das Wort „Bildungszweck“ ist dabei überflüssig, denn
-hier deckt sich das Mittel mit dem Zweck. Aber freilich: man lernt dies
-Mittel erst anwenden, wenn der Geist schon -- von selbst zu genesen
-beginnt.
-
-
-Kunst und Persönlichkeit
-
-Perspektiven ins Unpersönliche
-
-Wir leben seit der Betriebsamkeit der Lokomotive und des elektrischen
-Drahtes in einer Wiedergeburt der Künste, die der humanen Tendenz
-nach tiefer zu wirken und weiter um sich zu greifen bemüht ist, als
-irgend eine der früheren Renaissancen; nicht blos bemüht, auch berufen.
-Die moderne Kultur ist international geworden, und als gebildete
-Menschheit sieht man nicht mehr eine kleine Klasse von Bevorrechteten
-an, wie einst in Indien und Attika oder in den Adelsländchen und
-Patrizierrepubliken der Reformationszeit, sondern insgesamt all die
-Nationen, in denen die Leibeigenschaft für unrecht gilt. Aus einem
-so viel weitern Intressenkreis nimmt der Künstler unsrer Zeit seinen
-Rohstoff und hat für die Verarbeitung den soviel weiteren Kreis von
-Intressenten. Tiefer als jemals fühlt sich das moderne Individuum im
-Gegensatz zur breiten Masse, die immer mächtiger wird, die freier
-als jemals konkurrierende Individuen aus sich emporwerfen kann. Um
-soviel tiefer, mächtiger und freier muß jede Persönlichkeit, die sich
-zur Geltung bringen will, auch ihre wesentlichen Eigentümlichkeiten
-zum Ausdruck bringen. Sie muß, sie kann nicht anders; das ist das
-Schöpferische, das Gesunde, Urnatürliche, auch wenn es sich an
-einer Szene aus dem Krankenhaus oder an den verdrehten Gesten einer
-Salonpuppe ausläßt.
-
-Und denselben Eigenwillen bekundet, oft bis zum verrannten Eigensinn,
-einstweilen auch noch unser Kunsturteil, d. h. die Einsicht in die
-Ursachen der jeweils empfundenen Wirkung. Denn zu diesen Ursachen
-gehört zunächst der persönliche Geschmack des Genießenden, der sich
-aus allerlei Temperamentsqualitäten zusammensetzt, die mit dem
-Gefühl für den bleibenden Kunstwert nichts oder wenig zu tun haben.
-Insofern freilich wird +kein+ Kunsturteil seinen laienhaft
-subjektiven Charakter verleugnen können; selbst der Künstler dem
-Kunstgenossen gegenüber wird immer darin befangen bleiben. Aber aus
-dieser natürlichen Befangenheit grade entspringt das Gefühl der
-Unbefangenheit. Wer sich ganz dagegen sperren wollte, würde überhaupt
-nicht zum Genuß gelangen; und das hieße dem Künstler, solange er
-lebt, der Dienste schlechtesten erweisen. Eben das instinktive
-Geschmacksurteil, sobald es nur offen als solches bekannt wird, ist dem
-Künstler mindestens ebenso wertvoll wie das sogenannte rein kritische,
-das in Wahrheit niemals rein sein +kann+. Denn es wird ihn am
-klarsten über die Wirkung seiner persönlichsten Ausdrucksmittel auf
-fremde Naturen unterrichten, sei es durch Zustimmung, sei es durch
-Widerspruch; wird also seine Eigenart schärfen und seine Schaffenslust
-kräftigen. Reine Objektivität des Urteils ist ja nichts als Bewußtsein
-der letzten Grenzen zwischen den Eindrücken von Außen her und ihrer
-Verarbeitung von Uns aus, also ein idealer Begriff wie Schönheit,
-Wahrheit, Vollkommenheit, ebenso relativ und variabel. Denn wirklich
-erkennen und begründen lassen sich diese Grenzen erst, wenn und nachdem
-wir den fraglichen Eindruck subjektiv empfunden haben.
-
-Es gibt nun freilich merkwürdige Leute, die zu keiner Zeit zufrieden
-sind, und heutzutage besonders viele, denn seit Lasalle ist
-Unzufriedenheit bekanntlich eine Tugend. Seit Nietzsche aber darf man
-zum Glück gegen die bekannten Tugenden mißtrauisch sein; und wenn sich
-der weise Zarathustra nicht gar so tief in seine Höhle verkrochen
-hätte, würde ihn wohl allmählich nicht blos das „erbärmliche Behagen“,
-sondern mehr noch das viel erbärmlichere Unbehagen gewisser Idealisten
-geekelt haben. In der Tat: merkwürdige Leute das! Da gibt es welche,
-die jammern über Gott und die Welt; und wenn nun Einer sich untersteht,
-ihren Jammer schön in Verse zu bringen, dann fallen sie eilends über
-ihn her und schimpfen ihn einen Entarteten. Da gibt es Andre, die
-haben fortwährend eine laute Sehnsucht nach der inneren Ruhe; wenn
-aber einmal Einer auftritt, der sich diese Ruhe errungen hat, dann
-finden sie ihn fad und müd und werfen ihm noch Steine in seinen stillen
-Hafen. Wieder Andre regen sich drüber auf, daß die Eigentümlichen gar
-so unverständlich seien; gibt dann ein solcher Sonderling auch mal
-was Gemeinverständliches von sich, schelten sie ihn einen geistigen
-Schwindler. Und nochmals Andre lassen sich den Unverstand der Menge
-verdrießen, weil sie neugierig mit den Wenigen laufen, die den Vielen
-nicht gleich offne Briefe sind; läuft aber Einem dieser Wenigen dann
-auch sein Volk bei Zeiten zu, so ist er natürlich ein Überläufer. Und
-so weiter: was so alles zum Vorschein kommt, wenn sich die Leute, die
-das liebe „man“ ausmachen, mit einem Manne abzufinden haben.
-
-Indessen diese merkwürdigen Leute haben trotzalledem nie ganz Unrecht:
-mit der bloßen Selbstherrlichkeit kann kein Mensch etwas Großes
-fordern, nicht einmal ein Staat oder Volk. Jede Wiedergeburt der Künste
-beginnt mit krampfhaften Wachstumsregungen, deren Eigenleben die neue
-wie alte Kultur von Natur aus gefährden würde, wenn nicht irgend ein
-gemeinschaftliches Lebensbedürfnis sie zugleich doch bändigte. Auch
-die Renaissance vor 500 Jahren hat ihre Kulturmacht und Stilvollendung
-nur durch den weitverzweigten Zusammenhang der lokalen Schulen und
-Meister erlangt, der erst zerfiel, als sie reif genug war für den
-universelleren Barockstil und für so umfassende Einzelgeister wie
-Michelangelo, Shakespear, Bach; und Hellas ist gleichfalls erst
-durch den Verkehr mit Asien und Ägypten gewachsen. Dies Bedürfnis
-schöpferischer Kräfte, einander möglichst zu durchdringen, ist auch
-jetzt wieder mächtig in der Kunst, eben weil wieder selbstbewußt genug
-geschaffen wird, daß die Eigenart des Einzelnen nichts mehr daraus
-zu befürchten braucht. Kunst wie Dichtung dürfen wieder dran denken,
-sich dem Volk in ihrem allgemein menschlichen Lebenswert bemerkbar
-zu machen, nicht nur den eigenwillig persönlichen und nationalen
-Geschmackswerten nach. Denn es gibt eine Art der Kunstwirkung,
-die über jegliche Grenze selbstsüchtigen Schaffens und also auch
-Genießens hinausgeht, die überhaupt erst die höchste Kunstwirkung
-ist, und deren Mächtigkeit bei dem einzelnen Kunstwerk den Grad
-der bleibenden Schätzung bestimmt: das ist das befreiende Gefühl
-der Selbstvergessenheit, dasselbe Gefühl, das auch den Künstler im
-schöpferisch entrückten Augenblick packt, also die Wirkung grade der
-+Un+persönlichkeit.
-
-Dies scheint nun fast im Widerspruch zu aller so erbittert
-verteidigten Eigentümlichkeit des Künstlers zu stehen und jede
-Schätzung persönlichen Willens in Form wie Stoffwahl auszuschließen.
-Aber wie allenthalben im Leben bedingen auch hier die Gegensätze
-gegenseitig ihr Dasein. Ein Kunstwerk, das sich nicht vor andern
-durch irgendwelche Besonderheit auszeichnet, kann uns auch
-selbstverständlich nicht zu besonderer Beachtung reizen. Aber was uns
-diesem Anreiz erst nachzugeben drängt und zwingt, das eben ist jenes
-Unpersönlichkeitsbedürfnis, das uns hinter der fremden Besonderheit
-etwas uns Allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes unwillkürliche
-Allgemeingefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum
-und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen
-Gegenstand nach immer neuen Eigenschaften, d. h. Beziehungen zu uns
-selbst, suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche,
-ob wir’s nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist, Allseele oder
-Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen --: wir wenden
-uns enttäuscht ab von dem Kunstwerk, sobald wir jene Vermutung des
-Allgemeinen hinter dem Besonderen nicht darin bestätigt finden. Und
-auch im Künstler selbst ist es so: erst dieses Allgemeine, Unfaßbare,
-Grenzenlose, wie es sich im Prisma seines persönlich beschränkten
-Bewußtseins bricht, sei es durch sinnliche oder durch geistige oder
-durch Gemüts-Wahrnehmung -- gleichsam die drei Flächen dieses Prismas
---: erst Das erzeugt den persönlichen Stil mit all seinen Zu- und
-Unzulänglichkeiten, und einzig deswegen fühlt sich der Künstler niemals
-vollkommen selbstbefriedigt durch irgend eins seiner fertigen Werke.
-
-Demgemäß ist es auch ganz verkehrt, wenn eine supermoderne Ästhetik
-sich dagegen auflehnen will, nach allgemeinen Maßstäben für
-künstlerischen Wert und Unwert zu suchen. Die kritische Methode, wie
-Lessing und Schiller sie für Deutschland begründet haben, nämlich
-die klar begrenzte Feststellung gewisser höchster Wertbegriffe auf
-Grund stets wiederkehrender Gefühlserfahrungen bei allen stärksten
-Kunstgenüssen, ist etwas, dessen sich die Menschheit niemals wird
-entschlagen können. Wenn eine neuere Ästhetik dies zu ersetzen,
-nicht etwa blos zu ergänzen hofft, dadurch daß sie das Kunstwerk
-rein beschreibend als eigen reizvolle Erscheinung, womöglich gar
-als pathologische, bis ins Feinste zergliedern will, so ist sie
-schlechterdings in einer fortwährenden Selbsttäuschung befangen. Denn
-damit legt sie nicht das Geringste über die Kunstwirkung als solche
-dar, setzt vielmehr jene normative Methode im stillen immerfort voraus,
-indem sie eben nachprüferisch nur solche Werke untersucht, die nach
-Maßgabe irgendwelcher Allgemeingefühle schon als irgendwie wertvoll
-anerkannt sind. Daß solche allgemeinen Maßstäbe immer auf allerlei
-Querstriche von anderem Standpunkt aus stoßen werden, liegt nicht
-an einem Fehler der Methode, sondern ist im Wesen der Kunstwirkung
-einerseits, des menschlichen Verstandes anderseits begründet; denn
-jenes letzte unpersönliche Grundgefühl, auf dem der Kunstgenuß beruht,
-reicht eben immer weit hinaus über die Grenzen klarer Wahrnehmung, und
-von dieser ist ja unser Verstand obendrein nur ein Bestandteil. Daher
-ist der Künstler auch stets der Meinung, daß sein Werk am wirksamsten
-durch sich selbst spricht. Nicht blos am unwiderleglichsten, sondern
-sogar am gründlichsten; denn schließlich sind ja in dem Gefühl,
-das durch die Einwirkung des Kunstwerks -- ob für oder wider -- in
-uns erregt wird, alle Gedanken schon mit enthalten, die man sich
-+über+ die Wirkung machen kann. So ist es nun einmal von Natur:
-das Gefühl erstreckt sich ins Grenzenlose, der Verstand ist stets auf
-Standpunkte beschränkt.
-
-Um jenes entrückenden Grundgefühls so gründlich wie möglich teilhaftig
-zu werden, muß man sich also immer wieder an die Kunstform selbst
-halten, nicht etwa an die Erinnerung blos; und wer es unter dem Bann
-seiner Eigenart hinter der fremden Art des Künstlers nicht von selbst
-zu erlangen vermag, dem wird es kein Verstand der Kunstverständigen
-jemals zu Gemüte führen. Denn alle Kunstwirkung läuft schließlich
-auf das Wunder der +Liebe+ hinaus, das sich begrifflich nur
-umschreiben läßt als Ausgleichung des Widerspruches zwischen Ichgefühl
-und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessenheit. Ja, man kann
-gradezu sagen: je mächtiger ein Kunstwerk in uns dieses allumfassende
-Gefühl erregt, umso ausdrücklicher darf und muß sich -- schon um
-des technischen Gleichgewichts willen -- auch die persönliche Art
-des Künstlers zeigen, während sich ohne jenes Unpersönliche die
-menschliche Selbstentblößung der Schaffenden, diese völlig grundlose
-Offenherzigkeit in seelischen oder leiblichen Dingen, die jedem
-ursprünglichen Kunstwerk eignet, nur als die mehr oder weniger
-unverschämte Aufdringlichkeit von Marktschreiern auswiese.
-
-Es hat schon manchen Sittenprediger, auch manchen Schöngeist kopfscheu
-gemacht, daß oft grade Kunstwerke, die am stärksten auf Umfassung der
-Lebensgewalten, auf Beherrschung der Naturkräfte ausgehn, obenhin
-fast den Eindruck machen, als handle sichs um Verherrlichung brutaler
-persönlicher Instinkte. Das wäre freilich das Gegenteil von einer
-Kunst der Naturbeherrschung. Aber man wird nicht leugnen können:
-wo geherrscht werden soll, muß etwas da sein, das der Beherrschung
-wert und bedürftig ist. Der lenkende Geist ohne starke Triebe, wäre
-ein Reiter ohne Pferd; wie hinwider selbst das edelste Vollblut
-nichtsnutzig wird und niederträchtig, wenn nicht ein ebenbürtiger Herr
-es mit Geschick zu bändigen weiß. Als oberste Aufgabe der Menschheit
-wird auch dem Künstler ewig vorschweben: die Erringung jenes geistigen
-Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen
-über sein Schicksal erhaben macht, über inneres wie äußeres Schicksal.
-Jede Überschätzung der Persönlichkeit ist also gleichbedeutend
-mit Unterschätzung ihrer höchsten Schaffenskraft, wie auch des
-Kunstschaffens überhaupt.
-
-Und demzufolge: je stärker sich in einer Zeit dies
-Unpersönlichkeitsbedürfnis regt, ob nun als soziale oder erotische oder
-sonstwie altruistische Hingebung, umso mehr wächst auch die Lust der
-Schaffenden, sich über die technischen Spezialitäten, die wiegesagt
-immer blos der Ausdruck des beschränkten Selbstbewußtseins sind,
-hinauszuheben zu überschauenden Zeit- und Welt- und Lebens-Sinnbildern,
-nicht mehr nur der sinnlichen Anschauung zu dienen durch eigentümlich
-stimmungsvolle „Naturausschnitte“ und „Seelenzustände“, die selbst den
-Eingeweihten anmuten wie Tempelwände voll Hieroglyphen, sondern wieder
-einmal Pyramiden zu bauen, von denen aus Jeder, der notabene die Mühe
-des Ersteigens nicht scheut, beseligt in den freien Himmel und über
-weites Land schauen kann. Ich will mit dieser bildlichen Floskel nicht
-etwa einer bodenlosen Himmelstürmerei das Wort reden, die sich auf
-Erden nicht zurecht zu finden weiß. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen
-der Unreife, wenn man noch glaubt, den Himmel erst erobern zu müssen.
-Wir sind ja jeden Augenblick -- ich meine das ganz wirklich und wahr --
-mitten in allen Himmeln drin; die Erde ist im Unendlichen genau so hoch
-oder tief zuhause, wie etwa die Sonne oder ein anderer Stern.
-
-Das +wissen+ freilich heute schon Viele; aber +fühlen+,
-als etwas Selbstverständliches mitfühlen, mit Fleisch und Blut
-und allen Nerven, tun es erst recht Wenige. Und grade dieses
-selbstverständliche, genau so irdische wie überirdische Allgefühl,
-das jede andere Lebensempfindung, jede Einzelwahrnehmung, jeden
-Gedanken des Schaffenden stützt und trägt, das eben ist die magische
-Basis, auf der sich die großen Werke der Kunst, die im bildsamsten
-Sinne vorbildlichen, immer wieder aufbauen. Das hat nichts zu tun mit
-dem Idealismus gewisser humaner Tendenzpoeten, der nur temporärer
-Kritizismus und meistens ein sehr barbarischer ist. Der künstlerisch
-bestrebte Dichter benutzt die humanen Ideen seines Zeitalters nur, um
-seine Gefühlskraft daran zu erproben, nämlich als seelische Dissonanzen
-zwischen Menschheit und Gottnatur, die er harmonisch zu lösen hat. Er
-kann und will nichts weiter tun als eine bildliche Fühlung zum Leben
-schaffen, die alle kritischen Widersprüche gegen die Schönheit und
-Herrlichkeit des ganzen Daseins ganz und gar ausschließt, also auch
-alle speziellen Tendenzen. Das ist der Idealismus des +Künstlers+;
-und der liegt jeglichem echten Kunstwerk zugrunde, auch wenn sein
-Rohstoff dem oberflächlichen Blick häßlich oder schrecklich erscheint.
-Wer sich dann durch dies bildliche Werk in der Tat vollkommen
-befriedigt fühlt, den hindert freilich nichts und niemand, darin nach
-einem besonderen Richtziel für seine eigne Gefühlswelt zu fahnden. Und
-in diesem Sinne -- doch nur in diesem -- kann allerdings +jede+
-Kunstgestalt, vom ganzen Opus bis zur geringsten Teilfigur, als
-+Vor+bild der Lebensführung aufgefaßt werden, selbst wider
-Absicht und Meinung des Schöpfers; Falstaff genau so gut wie Achilleus.
-
-Wenn das erst wieder vollkommen begriffen ist, von den Genießenden
-wie Schaffenden, dann wird auch der Schauer vor dem Unergründlichen,
-den jede gründliche Beschäftigung mit fremder Geistesarbeit in uns
-weckt, die Kunstwelt wieder allgemein durchdringen; dann wird sich dies
-Gefühl, als eine neue Ehrfurcht vor der ewigen Schöpferkraft, auch
-bald durch die Alltagswelt verbreiten, und dann wird diese Welt wohl
-endlich merken, daß sich wieder eine +religiöse+, auf deutsch
-+allverbindliche+ Kunst bei uns anbahnt. Die braucht nicht wie
-ein Sturm daherzufahren; auch im Säuseln des Windes kann man Erhabenes
-hören. Dürers Gottvater auf dem Regenbogen über den sieben Leuchtern
-und dem knieenden Johannes enthüllt in seinen bescheidenen Formgrenzen
-die Allmacht ebenso strahlend, wie Michelangelos Apotheose der
-geschlechtlichen Zuchtwahl, die den Himmel der Sixtinischen Kapelle zu
-sprengen droht und in dem heilandsherrlichen Menschenpaar des Jüngsten
-Gerichtes gipfelt. Der ehemalige Sinn dieser Bilder mag heute schon
-halber Unsinn sein; aber ihr Geist wird weiterwirken, solange die
-Sterne uns unerreichbar sind.
-
-Es ist dem eindringlichen Kunstgefühl auch völlig gleich und einerlei,
-ob jenes Tiefste und Höchste ihm durch naturale Anschauungsfreude
-oder symbolische Vorstellungslust vermittelt wird; das Eine ist so
-mittelbar und unmittelbar wie das Andre. Der formgewaltige Phantast
-zeigt im Symbol Natürliches, der Realist in der Natur Symbolisches.
-Die rhythmische Flut des Sonnenlichtes, die durch den scheinbar
-wüsten Tanzknäuel der Rubensschen Kirmeßbauern braust, erhebt den
-andächtig Schauenden in eine nicht minder unendliche Seligkeit, wie der
-entschwebende Puttenreigen in dem Dämmerungsglanz und Fackelschimmer
-von Watteaus Abfahrt nach Cythere. Und das will doch wohl der
-machtvolle Künstler: als ein Seher des allmächtigen Lebens betrachtet
-werden, nicht als Spezialartist einer Technik. Es gibt eben auch in der
-Kunstgeschichte Apokalyptiker und Evangelisten, und Mancher ist gar
-Beides zugleich. Wer sich bei einer künftigen Menschheit kanonisches
-Ansehn erringen wird, das zu entscheiden geht freilich zu allen Zeiten
-über die zeitgenössische Urteilskraft. Eins aber ist sicher: die
-Eigenart tut’s nicht. Denn nur das Eine bleibt übrig von uns, wenn
-selbst unsre Werke längst verwest sind: Das, was den Andern Vorbild
-ward für ihre stete Fühlung zur Welt: die Tat unsrer Liebe.
-
-
-Das Buch und der Leser
-
-Eine Untersuchung des Verständnisses
-
-Bücher sind wie spiritistische Medien; wer sie nicht richtig zu fragen
-versteht, dem antworten sie falsch oder garnicht, und die meisten Leute
-halten deswegen den ganzen Spiritismus für Schwindel, bestenfalls für
-Selbsttäuschung. Jener afrikanische Wilde, der einen Missionar aus der
-Bibel vorlesen hörte, sich dann das Buch an die Ohren hielt und es
-ungläubig wegwarf, weil es ihm nichts sagte: der steckt noch in jedem
-gebildetsten Leser.
-
-Ich will zum Beweis ein Erlebnis erzählen. Als ich Hofmannsthals
-„Ödipus und die Sphinx“ das erste Mal las oder lesen wollte, kam ich
-nicht über den ersten Aufzug hinweg. Diktion und Rhythmus stachen
-auffallend von seinen früheren Dichtungen ab, erinnerten mich hin und
-wieder an Dauthendeys schwungvolle Üppigkeit, hin und wieder an die
-drangvolle Knappheit meiner eigenen Verstechnik, dazwischen doch immer
-an Hofmannsthals einstige haltungsvolle Gewundenheit, und das empfand
-ich als ein so tolles Stilgemengsel, daß ich mich einer heftigen,
-mehrfach wiederkehrenden Zwerchfellerschütterung schlechterdings nicht
-erwehren konnte; ich legte schließlich das Buch beiseite, weil ich
-mich einigermaßen schämte, einen ernsthaften Dichter auszulachen.
-Bald nachher traf ich mit ihm zusammen, in einem Kreis erfahrener
-Kunstfreunde, und gestand ihm meine Verlegenheit gegenüber seiner
-neuesten Dichtung. Er war daraufhin so liebenswürdig, uns die zweite
-Hälfte des ersten Aufzugs, die ich als besonders unharmonisch empfunden
-hatte, vorzulesen. Und merkwürdig: trotzdem Hofmannsthal mit seiner
-etwas brüchigen Stimme kein bestechender Vorleser ist, auf einmal
-hörte ich den harmonischen Grundakkord. Ich habe später die Dichtung
-nochmals, und diesmal vollständig, gelesen und verspürte nichts
-mehr von jener Mißwirkung. Ich merkte, daß ich beim ersten Mal mit
-allzu dramatischem Gehör auf die momentan metrischen Dissonanzen der
-sensuellen Affekte geachtet und so die lyrisch perpetuelle Rhythmik
-der sentimentellen Motive überhört hatte. Nun, wenn das einem Fachmann
-passieren kann, wie mag sich dann erst der unzünftige Leser gegen
-manches Buch benehmen, in dem ein neuer Geist rumort?
-
-Absichtlich spreche ich darüber mit fachmännischer Gemütsruhe; denn
-mit der menschlichen Leidenschaft, die auch Künstler gegen einander
-einnimmt, hat der Unverstand des Lesers zunächst nichts zu tun.
-Ein Buch zu lesen, ist allererst eine bare Verstandestätigkeit,
-gleichviel ob wir ein dichterisches oder wissenschaftliches oder
-sonstwie schriftstellerisches Werk in uns aufnehmen. Immer handelt
-sichs vorbedinglich um das Verständnis der Fachsprache, und hierfür
-bringt der einschlägige Handwerksmann doch mehr Geschultheit mit als
-andre Leute. Wer das A-B-C noch nicht zu lesen versteht, dem ist ein
-Fibelvers nicht verständlicher als eine mathematische Formel; doch je
-mehr er es verstehen lernt, desto umfänglicher wird das A-B-C, desto
-umständlicher die Verstandesarbeit. Denn wie geht jeder Leser zu Werke?
-Sein mehr oder minder bewußter Verstand, je nach dem Grad eben seiner
-Schulung, übersetzt gewohnheitsgemäß den optischen Eindruck der
-Schriftzeichen in akustische Ausdrucksmittel, diese wiederum teils in
-Gehörswahrnehmungen, teils in Gesichts- und andere Tastvorstellungen,
-diese aus der blos sinnlichen Einzelempfindung in vernünftige
-Gefühlszusammenhänge, und dann erst entsteht die rätselhafte
-Gemütsbewegung, die den ganzen angesammelten Schwarm von dreifach
-zwiespältigen Gedankenbeziehungen zu geistiger Bedeutung vereint und
-uns mit ungewohnter Leidenschaft für oder wider den fremden Geist
-erfüllt. Noch verwickelter wird der Vorgang dadurch, daß er von Satz zu
-Satz neu einsetzt und doch die Erinnerungsbilder der Vordersätze immer
-mit veranschlagen muß; so befindet sich der Leser fortwährend in einem
-Wirbelwind kalter Verstandesluft, der unwillkürliche Gefühlsgluten
-anfacht.
-
-Auch dem wissenschaftlichen Leser ergeht es so, wenn er sich über den
-Wahrheitswert irgend einer Schlußfolgerung entscheidet; immer springt
-schließlich ein Gemütsfunke aus der Reibung der Verstandeskräfte.
-Nein, wird man einwenden: in der Wissenschaft sind die Gefühle
-Nebenumstände, in der Dichtung dagegen der Hauptbestand. Aber ist dem
-wirklich so? Gipfelt die geistige Schönheit nicht ebenso hoch über
-jeder Gefühlserregung wie die Wahrheit und die Gerechtigkeit? Und
-wurzeln nicht alle drei dennoch tief in Gründen des Gemütslebens?
-Ja, es kommt überall gleichermaßen auf Erkenntnis seelischen Lebens
-an; nur die Erkennungszeichen stehn in verschiednem Verhältnis der
-sinnlichen und vernünftigen Darstellungsmittel. Welche Vorarbeit
-muß der Verstand schon leisten, um sich blos erst in das besondre
-Verhältnis der originalen zu den traditionellen Bestandteilen eines
-Sprachwerks hineinzuversetzen! In der sogenannten reinen Wissenschaft
-ist dies Verhältnis am leichtesten zu erhorchen, weil deren lautliche
-Darstellungsmittel überwiegend auf generelle Logik hin abgestimmt
-sind, sodaß die individuelle Intuition des Verfassers dem Leser sehr
-deutlich ins Gefühl schlägt, wenn auch nur dem genügend geschulten
-Leser. Aber bereits die populäre Wissenschaft ist in ihrer formalen
-Technik so mit persönlich sensuellen und sentimentellen Elementen
-durchsetzt, daß sich die intellektuellen Faktoren kaum noch scharf
-davon sondern lassen. Und je mehr sich die rednerische Darstellung der
-eigentlich dichterischen nähert, um so schwieriger wird die Sonderung
-wie die Zusammenfassung der Lautbilder, und der Leser läuft immerfort
-Gefahr, daß der Funke der Erkenntnis zu früh aufflammt und in dem
-Schwarm der Gefühle entweder erlischt oder aber Brandschaden stiftet,
-wie bei mir in Ansehung Hofmannsthals.
-
-Denn gerade die Technik der reinsten Dichtung, die Verskunst, nein
-die lyrische Verskunst, denn auch Epos und Drama fußen auf lyrischer
-Rhythmik: grade die verflicht allgemeinste Denkbegriffe der Sprache
-so eng mit eigentümlichsten Empfindungsbegriffen, daß man nirgends
-unmittelbar den Vorstellungswert, geschweige den Erregungswert der
-Lautwahrnehmungen abschätzen kann, sondern nur durch vielfältigste
-Rückschlüsse. Man vergleicht zwar die Lyrik gern mit der Musik, weil
-auch die nur indirekt durch Gefühlserregungen zur Erkenntnis geistiger
-Lebensverhältnisse führt; aber der lyrische Divinationsprozeß ist
-noch um vieles indirekter. Nur zu Anfang geht die Verstandesarbeit in
-annähernd ähnlicher Weise vor sich: ob ich ein Notenblatt lese oder
-einen poetischen Text, ich übersetze einen äußerlichen Gesichtseindruck
-in einen innerlichen Gehörsreiz, wenngleich es schon einen Unterschied
-macht, ob ich mir einen gesprochenen Laut oder einen gesungenen Klang
-vorstelle, oder gar einen klaren Instrumentalton. Dann jedoch wird
-der Unterschied klaffend: das Klangbild der Tonsprache übersetzen wir
-unmittelbar in eine Vorstellung von Gefühlszusammenhängen, das Lautbild
-der Wortsprache großenteils erst auf dem Umwege über mannigfache
-Gesichts- und Tastempfindungen nebst allerlei Hilfsbegriffsgedanken,
-nur zum kleineren Teil direkt akustisch. Und dabei meint jeder
-Leser einer Dichtung, er sei genügend vorgebildet durch seine
-gewohnte Sprachkennerschaft, und traut sich in seinem lieben Gemüt
-ein unfehlbares Gesamtverständnis zu, wo doch schon die einzelnen
-Darstellungsmittel x-mal mittelbarer wirken als bei jeder anderen Kunst
-und durch eine viel ungewohntere Sinnbilderfülle die schließliche
-Erkenntnis vermitteln als bei irgend einer Wissenschaft.
-
-Wieviel Fallgruben für das Verständnis öffnen sich schon bei der ersten
-Erweckung der scheintoten Schriftzeichen zu lebendigen Lautbildern! Es
-ist nicht gleichgiltig, mit welcher Stimme, ja nur mit welchem Zeitmaß
-der Stimme, man sich einen Vers oder gar ein Buch Verse im stillen laut
-vorgelesen denkt. Unwillkürlich legen wir da zunächst unsre eigene
-Stimme unter; aber der Dichter meint Seine Stimme, oder vielmehr
-die verschiedenen Stimmen seiner imaginären Personen, denn auch das
-Ich des Lyrikers ist wechselnde Phantasiefigur, vielleicht noch
-wechselnder als die Charaktermasken, die der Dramatiker seiner Seele
-vorheftet. Keine Orthographie und Interpunktion reicht aus, um auch
-nur die gewichtigsten Betonungsverhältnisse zwischen den Satzgliedern
-einer einzigen Strophe unzweideutig durchs Auge ins Ohr zu bugsieren.
-Was wird nicht alles versucht, um das flüchtige Auge ruhsamer an
-das Schriftwort zu fesseln und so das Ohr des Lesers aufmerksamer
-für die Bewegtheit der Sprache zu stimmen. Der eine Dichter
-ordnet die Zeilen nach der Mittelaxe des Druckspiegels, um seine
-irreguläre Rhythmik durch den Kontrast der optischen Symmetrie noch
-sinnfälliger hervorzuheben; der andre markiert seine reguläre Metrik,
-um die akustische Harmonie seiner rhythmodynamischen Dissonanzen
-vonvornherein außer Zweifel zu stellen. Manch einer kann sich garnicht
-genugtun mit Gedankenstrichen, Stimmungspunkten, Ausrufzeichen und
-+Sperrfingerzeigen+, und möchte womöglich auch noch die Beiwörter
-mit Großen Anfangsbuchstaben schreiben; einige andre schreiben
-fast alles klein und würden am liebsten gar keine interpunktionen
-setzen damit der leser noch länger zwischen den zeilen rätselt
-und ein möglichst eindringlicher hörer wird. Hilft uns aber alles
-nichts; wir bleiben doch immer auf den Glücksfall des uns annähernd
-gleichgestimmten Gehörs angewiesen, so sehr wir mit ganzem Gemüt
-danach trachten, jede Menschenseele in unsern Bannkreis zu zwingen.
-Muß schließlich noch der Herr Buchverleger, Buchdrucker und Buchbinder
-helfen, durch ungewöhnlich gutes Papier, außerordentlich schöne Lettern
-und sonstige „selten gediegene“ Ausstattung den Gewohnheitsleser zu
-verlocken, daß er sich ausnahmsweise andachtsvoll mit unserm wertvollen
-Werk befasse.
-
-Aber ach: je mehr das Buch selbst Kunstwert erlangt, je mehr es durch
-äußeren Augenreiz den Leser sinnig und willig stimmt, umso mehr gerade
-verführt es ihn, ein Leser des stillen Wortes zu bleiben, statt ein
-Hörer des lauten Satzes zu werden, und umso mehr zugleich verführt
-es die Dichtkunst zur inneren Augendienerei. Der Dichter ist ja auch
-selber Leser; und je mehr ihn die Buchdruckerpresse gewöhnt hat,
-als Leser statt als Hörer zu dichten, umso stumpfer hat sich die
-Wahrnehmungskraft für die Gehörsreize der Sprache verflacht, umso
-schärfer haben sich die Darstellungsmittel auf Gesichtsvorstellungen
-zugespitzt, d. h. umso schwatzhafter ist die Dichtung geworden.
-Sehr selten wird jetzt noch ein Lied erfunden, das seine organische
-Melodie so einfach vernehmlich in sich trägt, wie die Muschel in
-ihren Windungen summt. Viele Gedichte unsrer echtesten Dichter sind
-schon dermaßen überladen mit pittoreskem Brimborium, daß sie an
-Feuilleton-Prosa streifen. Oder wo doch noch mit Klanganspielungen
-unmittelbar aufs Gefühl gezielt wird, da paukt man meist so faustdick
-drauflos, als solle die Predigt Johannis des Täufers vor den
-taubstummen Steinen Ereignis werden. Und wer die beiden extremen
-Elemente gar noch ins Gleichgewicht setzen will, der verübt ein solches
-Panoptikumkonzert hypersymbolischer Metaphern, daß die verzwicktesten
-Rätsel der Turandot wahre Kinderspiele dagegen sind. Alldas bereichert
-natürlich ungeheuer die sinnlichen Wirkungsmittel der Dichtkunst, blos
-leider auf Kosten der geistigen Wirkung. Denn je empfindlicher die
-Umwege vom Verständnis der einzelnen Sinnbilder zur Erkenntnis des
-ganzen Bildsinnes auffallen, desto zerstückelter, also unvollkommener
-tritt die Gemütsbewegung ein, die den lebendigen Bildungswert des
-schönen Phantasiephänomens erst wirklich fortpflanzt von Geist zu
-Geist. Und es bleibt ewig ein dürftiger Trost, daß noch niemals ein
-Mensch den andern durchaus vollkommen begriffen hat.
-
-Welcher Dichter blickt nicht zuweilen mit Grauen und Abscheu auf seine
-eigenen Bücher, diese Mumien seiner Phantasie, denen immer erst eine
-fremde Seele den Auferstehungsodem einblasen muß, und die doch stets
-vom gespenstischen Dunst des stummen Sarges umschleiert bleiben. Ja,
-könnten wir jedem, der uns hören will, wenigstens selber das Buch
-vorlesen! Dann würde wohl mancher dasselbe Wunder erleben, das meine
-Taubheit vor Hofmannsthal linderte. Denn in der körperlich warmen
-Menschenstimme beben von Anfang an alle Zauberkräfte der schöpferischen
-Seele in eins, alle die heimlichen Verwandlungskünste und redlichen
-Naturanwandlungen, die sich der Leser erst nach und nach zwischen den
-Zeilen zusammendeuten muß. Einst, als die Dichter noch fahrende Sänger
-waren, gehörte es mit zu ihrem Beruf, den Menschen das Wort recht
-vernehmlich zu machen; und es ist keine Imitation einer reproduktiven
-Virtuosenmode, sondern Symptom einer produktiven Epoche, daß auch heute
-wieder die Künstler des Wortes selber als Vortragskünstler auftreten.
-Freilich, es ist ziemlich zeitraubend, verstockte Ohren zu erweichen;
-und in unsrer Zeit der Arbeitsteilung wird es dem Dichter womöglich
-übelgenommen, wenn er als Anwalt des mündlichen Mitteilungstriebes
-ein paar Gedichtbücher weniger schreibt. Aber ob er der Mit- und
-Nachwelt dann wirklich etwas vorenthält? Was einer an Schöpferkraft
-in sich hat, das setzt er allemal in die Welt, ob nun durch hundert
-Pfropfreiser oder zehn Wurzelschößlinge. Die paar kurzen Lieder, die
-uns die fahrenden Leute der Vorzeit hinterlassen haben, sind sicherlich
-unsterblicher, als die tausend bandwurmlangen Prosa-Romane, mit denen
-unsre Schreibtischhocker jahraus jahrein die Welt beglücken. Und
-vielleicht genest der gebildete Europäer dermaleinst von der närrischen
-Lesewut, die seine Augen immer gieriger, seinen Verstand immer
-spitzfindiger, seinen Geist immer kurzsichtiger und sein Gemüt immer
-schwerhöriger gemacht hat.
-
-Das Buch wird drum doch seinen Wunderwert als spiritistisches Medium
-behalten und dann sogar erst recht offenbaren. Auch jener afrikanische
-Wilde hat die Bibel ja schließlich vors Auge genommen; aber er würde es
-niemals gelernt haben, hätte sein christlicher Mitmensch ihm das Wort
-Gottes nicht immer wieder durchs Ohr zu Gemüte geführt.
-
-
-Philosophische und poetische Weltanschauung
-
-Ansprache im Monistenbund
-
-Werte Zuhörer! Der Vorstand Ihres Vereins hat mich ersucht, die
-heutige Vorlesung meiner Dichtungen mit einer kurzen Darlegung meiner
-Weltanschauung einzuleiten, indem er mir zugleich erklärte, ich sei ein
-besonders origineller Repräsentant des „esoterischen Monismus“. Ich
-habe den Wunsch des Vorstandes abgelehnt, kann auch die schmeichelhafte
-Liebeserklärung nur mit Glaßeehandschuhen annehmen, und möchte Sie
-eindringlichst davor warnen, aus den Werken lebender Dichter und
-überhaupt zeitgenössischer Künstler das herausfinden zu wollen, was
-man heute unter Weltanschauung versteht, nämlich einen begrifflichen
-Leitfaden, mit dem sich der zweiflerische, aber glaubensbedürftige
-Verstand im Labyrinth der Ursachen und Wirkungen einigermaßen zu
-orientieren sucht.
-
-Der Künstler denkt nicht in Verstandesbegriffen, wenn er bei seiner
-Arbeit ist; er denkt in Gefühlsvorstellungen. Er will nicht erst
-zum Glauben gelangen, sondern er geht vom Glauben aus. Er glaubt an
-alles, was da ist in der Welt; er glaubt auch an die verschiedenen
-Weltanschauungen, die in seiner Zeit miteinander kämpfen. Ich habe
-einmal einem Politiker, einem Konservativen echten Schlages, der mich
-fragte, was ich nun eigentlich sei, Sozialdemokrat oder Anarchist,
-nationalsozial oder liberal -- dem habe ich geantwortet: „unter anderm
-auch konservativ!“ Und so könnte ich auch Ihnen sagen: ich bin unter
-anderm auch Monist, d. h. unter Umständen auch Dualist, oder Trialist
-oder Milliardist, oder sagen wir mal Polymonist.
-
-Der Künstler umfaßt alle Welt mit Liebe. Selbst was er persönlich haßt
-und verachtet im Leben: sobald es ihn reizt, es in Kunst umzusetzen,
-ergreift ihn unwillkürlich die Liebe zur Sache. Es kann also jeder
-Genießer aus jedem Kunstwerk die Philosophie, Moral, Religion
-herausdeuten, die grade ihm die liebste ist. Das schließt schon
-aus, daß der Dichter als Dichter eine originelle Philosophie oder
-Theosophie darbieten kann; denn die ist immer unduldsam gegen anders
-gesinnte Originale, also im ernstesten Sinne unliebenswürdig. Er kann
-bestenfalls ein Echo sein all der weltbedeutenden Ideen, um die in
-seiner Zeit gekämpft wird.
-
-Sehen wir uns einmal den Dichter an, der heute in Deutschland
-vorzugsweise als Weltanschauungsdichter gerühmt wird: Goethe. Wir
-finden keine solche Idee bei ihm, die wir nicht auch bei anderen
-Wortführern seiner Zeit und Vorzeit finden können, bei den Humboldt,
-Schlegel, Schleiermacher, Schelling, Kant, Lamarck, Spinoza usw.; und
-wir finden viele Ideen bei ihm, die einander durchaus widerstreiten.
-Nur weil er sie bei der Aneignung mit stärkerer Leidenschaft erfaßte,
-mit tieferer Liebe und höherem Glauben im Augenblick der Wortschöpfung,
-nur deshalb gilt er uns als der typische Repräsentant seiner
-Zeitgenossen; und nur weil wir die verschiednen Ideen, denen jene
-Männer ihr Lebenlang getrennt und einzeln nachhingen, in diesem Einen
-zusammengefaßt sehn, nur deshalb entnehmen wir daraus ein gemeinsames
-Gedankenband, die sogenannte einheitliche Weltanschauung jener sehr
-mannigfach denkerischen Zeit.
-
-Denn eine einheitliche Weltanschauung hat es in Wirklichkeit niemals
-gegeben, zu keiner Zeit und in keinem Volke; es gibt auch heute keine
-zwei Menschen, die unter „Monismus“ genau dasselbe verstehen. Nur wenn
-wir zurückblicken auf vergangene Zeiten, dünkt uns diese oder jene
-Gedankenverbindung die sieghaft überwiegende. Aber wenn sich die bei
-einigen Dichtern, wie z. B. auch bei Dante, Äschylos, Kalidasa, Rumi,
-Litaipe mit besonders originellem Pathos ausspricht, dann wollen wir
-doch ja beachten, daß die Originalität nicht in den Gedanken steckt,
-sondern eben in dem Pathos, in dem mächtigen Aufruhr der Gefühle, der
-mit den Gedanken sein bildhaftes Spiel treibt.
-
-Nehmen wir sogar einmal an, es könnte ein Allerweltsgenie geben,
-in dessen Schädel ein gleichermaßen origineller Philosoph und Poet
-beisammen hausten. Ich meine nicht jene Zwitterbegabung, bei der
-(wie z. B. in Nietzsche und Schiller) ein starkes Talent der einen
-Gattung mit einem schwächern der andren verkoppelt ist; sondern eben
-ein pures Genie, in dem beide Talente gleich kräftig wären. Wie ja
-manche Leute behaupten, daß Shakespear und Bacon in der Tat dieselbe
-Person gewesen seien; worüber freilich jeder lächeln wird, der Bacons
-Novum Organon und Shakespears Dramen gründlich kennt. Aber nehmen
-wir an, sie waren wirklich ein und dasselbe Wundertier: ja, dann hat
-eben dieses Wundertier, um seine originelle Philosophie, seine neue
-Gedankenwelt darzustellen, seine drei philosophischen Werke geschrieben
---: in seinen poetischen Werken dagegen, das wird wohl selbst der
-abstrakteste Kommentator zugeben, da kam es ihm eben auf Poesie an,
-also durchaus nicht auf eine Gedankenwelt, sondern auf eine Welt von
-Gefühlsgestalten, in der die Gedanken nur dazu dienen, sich gegenseitig
-ins Bockshorn zu jagen, oder (tragisch betrachtet) einander den Hals
-umzudrehen.
-
-Man braucht drum noch lange nicht zu folgern, der Dichter sei nur ein
-Rohr im Winde, jedem phantastischen Stimmungshauch unterworfen, und
-daher fürs wirkliche Menschenleben eigentlich unzurechnungsfähig.
-Wenn dem so wäre, dann bliebe wohl alle Dichtung außer Rechnung
-fürs Leben der Menschheit; und das bleibt sie doch keineswegs. Der
-Dichter hat freilich keine Gedankenkette, an der er sich selbst und
-andere Leute auf dem wilden Weltmeer verankern kann; aber er trägt
-einen Gefühlskompaß in sich, der ihm und andern die Richtung weist,
-wo in der Windrose der Augenblicksleidenschaften seine stärksten
-und liebsten Empfindungen zum dauernden Pol zusammenschießen, zum
-sichern Gesichtspunkt gegenüber der Welt. Das sittliche Wort dafür ist
-Selbstzucht.
-
-+Das+ ist der ideale Punkt, dem jeder Künstler in seinen Gebilden
-zustrebt, und zu dem er schließlich auch die hinbildet, die er
-bezaubert durch dies Streben, durch diese liebreiche Anziehungskraft.
-Das ist es auch, was Goethe meinte, als er seinen Prometheus sagen
-ließ: „Hier sitz ich, forme +Menschen+! ein Geschlecht, das +mir
-gleich+ sei!“ Und nach diesem weltumformenden Lebenszweck, ob er
-nun göttlich oder übermenschlich oder allgemein-menschlich genannt
-wird, mögen alle die unter meinen Hörern, denen der sogenannte rein
-künstlerische Genuß keine genügende Belohnung für die Anstrengung des
-Zuhörens ist, auch in meinen Dichtungen fahnden.
-
-
-Der Olympier Goethe
-
-Ein Protest
-
-Eine öffentliche Gesellschaft von allerlei strebsamen Bürgersleuten
-hatte mich einmal eingeladen, Gedichte von Goethe zu deklamieren. Seit
-langer Zeit zum ersten Mal wieder las ich nun seine lyrischen Werke von
-A bis Z und der Reihe nach durch, um die heute noch lebensvollsten,
-menschlich wirksamsten Gedichte für den Vortrag auszuwählen, also
-absehend von artistischer und literarhistorischer Feinschmeckerei, und
-da erlebte ich eine Überraschung. Ich fand einen wesentlich anderen
-Goethe, als ich ihn in der Vorstellung trug, und als er wahrscheinlich
-vielen Deutschen von der Schulbank her vorschweben wird.
-
-Das Bild des weisen Herrn Geheimrats, des harmonischen Olympiers, das
-der pädagogische Biedersinn unsrer meisten Literaturprofessoren von
-ihm hergerichtet hat, versank vor mir in einem chaotischen Nebelbrodem
-von Schmerzen, Leidenschaften und Zweifeln, aus denen nicht ein
-olympischer, sondern -- um im antiken Gleichnis zu bleiben -- ein
-titanischer Genius einen Kosmos herauszuläutern sucht; oder im Geist
-unserer Zeit geredet, nicht der Wille eines Ober-Regierungsrates,
-sondern etwa eines Mienen-Ingenieurs, der sich hinabarbeitet in die
-Wetterschächte grauenvoller Naturgewalten, hinab zu den unterirdischen
-„Müttern“, um ihre Kräfte heraufzufördern an das verklärende Tageslicht
-des väterlichen Heimatbodens, zu den „Gefilden hoher Ahnen.“ Also
-eine fortwährende Klärungsarbeit der Seele, keine jemals vollkommen
-erreichte oder gar von Hause aus mitgebrachte sogenannte Abgeklärtheit.
-
-Was jene oberflächliche Meinung über den Vielumfassenden aufkommen
-ließ, das war sein allzeit schlagfertiger Verstand, der auch das
-Alltäglichste in Beziehung zur allgemeinen Wohlfahrt zu setzen wußte,
-seine gesellige Vernunft, die im Leben die Maske des Gleichmuts vor
-die einsam grübelnde Seele nahm und in der Kunst das ernste Spiel mit
-heiteren Tändeleien mischte. Das aber hat nicht den großen Dichter
-gemacht, der alles Menschliche in uns aufschürt und in ein Göttliches
-umzuschmelzen strebt; ja, es ist fraglich, ob man nicht einst über
-den artigen und verständigen Goethe, der für jede Gelegenheit ein
-gescheites Sprüchlein oder zierliches Reimlein in Bereitschaft hatte,
-ziemlich achselzuckend urteilen wird, sobald wir nämlich endlich einmal
-der neunmalklugen Redseligkeit unsrer Dreiviertelsbildung entwachsen
-sind.
-
-Er verstand freilich auch das kleine Veilchen mit allen Würzelchen
-zu erfassen, und manchmal tut er gar wie der Schmetterling, der
-unbekümmert von Blume zu Blume gaukelt; aber wo sich sein ganzes
-Inneres auftut, da quillt die bodenlose Verzweiflung hoch, die mit dem
-Leben +nicht+ fertig werden kann. Da entstehen die schwankenden
-Gestalten alle, durch die er sich die dämonische Qual der „zwei Seelen
-ach in der Brust“ immer wieder vom Herzen zu schaffen sucht, die
-Werther, Clavigo, Weislingen, Egmont, Tasso, Orest, Wilhelm Meister
-und Eduard; da entsteht Faust mit seinem Schatten Mephisto, und da
-auch entstehen als die unmittelbarsten Zeugnisse dieser furchtbaren
-Zwiespältigkeit seine ergreifendsten Gedichte. Denn, wie er selber es
-ausgesprochen hat:
-
- Alles geben die Götter, die unendlichen,
- ihren Lieblingen ganz:
- alle Freuden, die unendlichen,
- alle Schmerzen, die unendlichen, ganz! --
-
-Erst wenn man sich das zu Gemüte führt, erst dann lernt man auch die
-gewaltige Kunst in diesen Gedichten ganz würdigen, die bindende Kraft,
-die den wirbelnden Stoff einer so widerspruchsvollen Gefühlswelt so
-knapp zusammenzuordnen vermochte. Es ist manchmal, als müßte all diese
-Wortschönheit sich selbst von innen heraus zersprengen, wenn man nur
-erst die erschütternde Fülle ihres geheimsten Sinnes begriffen hat,
-so z. B. den grausigen Todesschauder in Mignons scheinbar seliger
-Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ (letzte Strophe)
--- oder den wilden Galgenhumor in dem lehrhaft tuenden Trinklied
-„~Vanitatum Vanitas~“; wer ein solches Gedicht noch mit fast 60
-Jahren schreibt, der ist weit entfernt vom olympischen Ruhekissen.
-
-Kurz gesagt: es heißt Goethe +verkleinern+, wenn man ihn als
-Olympier anspricht. Soweit er wirklich olympische Anlagen hatte, war
-er weder ein Zeus noch ein Apoll; dazu mangelte ihm vor allem andern
-die unerschütterliche Hartherzigkeit dieser antiken Ideale. Nicht
-einmal ein Dionysos war er in seinen unbekümmerten Stimmungsstunden,
-sondern höchstens ein Ganymed oder Hermes, ein Spender der Anmut und
-Lebensklugheit, und mehr im römischen als im griechischen Sinne, wie er
-selbst einmal zu Herrn Eckermann sagte.
-
-Aber wodurch er uns groß erscheint, so groß, daß wir ihn mehr bewundern
-oder doch sicherlich mehr lieben als seine vielfachen Vorbilder,
-das sind nicht diese Eigenschaften. Das ist sein ruhelos ringendes
-Doppelwesen, kraft dessen er selber ein Vorbild wurde, ein Vorbild
-für jede Übergangszeit, d. h. für jede ursprüngliche, neue Werte
-entdeckende Zeit: seine unerschöpfliche „Werdelust“, die sich mit
-prometheischer Inbrunst und paracelsischer Phantasie in alle leidvollen
-Anfangsgründe einer neu aufstrebenden Menschheit versenkte, weil sie
-herstammte aus dem Überdruß einer vollkommen vollendeten, abgetanen
-Freudenzeit.
-
-Das altersmüde Rokoko hatte mit letzter mildester Grazie seine
-Jugendtage umspielt; und nun sucht er sein ganzes Leben lang einen
-Abglanz dieser verrauschten Schönheit über den brodelnden Aufbegehr der
-jungen Zukunft auszubreiten. Sie war ihm kein spielerischer Selbstzweck
-mehr, diese Klangschönheit seiner stärksten Gedichte; sie war eine
-zuchtvolle Notwendigkeit, um der verwirrend neuen Gefühlsgewalten
-überhaupt Herr werden zu können.
-
-Und das auch wars, was ihn zur Antike zog, obwohl es ihm damals schon
-und mehr noch heute von manchem ehrlichen Deutschtümler nicht ohne
-Grund verdacht ward und wird. Auch die Griechen hatten die Schönheit
-+nötig+; ihre ganze höchste Kunst und Dichtung, bis zu den alten
-Mythen zurück, ist fort und fort auf das Eine bedacht, die dämonischen
-Kräfte zu bändigen, die im Blut dieses seltsamen Volkes spukten, die
-lapithischen und kentaurischen, mänadischen und hekatischen Triebe,
-die von Natur aus in ihnen staken und mit barbarischer Brutalität die
-mühsam errungene Kultur immer wieder gefährdeten.
-
-Keiner aber der vielen Gräkomanen, die seit Winckelmann Deutschland
-überschwemmten, hat mit so schmerzlicher Klarheit wie Goethe erkannt,
-daß jede Heraufführung neuer Kultur, weil sie alte Kultur untergraben
-muß, zugleich auch wieder und immer wieder barbarische Instinkte mit
-aufrührt, und daß grade der deutsche Volkscharakter zu dieser rohen
-Kehrseite der menschlichen Entwicklungskraft neigt.
-
-Es ist sein höchster und reinster Ruhm, daß er unablässig gegen diese
-Gefahr, die auch in seinem Charakter lauerte, seinen besten Kunstwillen
-aufgeboten hat, nicht wie ein ausgelernter Altmeister blos, dem die
-mancherlei Spiegelfechtereien der poetischen Technik glatt von der
-Hand gehen, sondern als ein steter Lehrling des Lebens, in oft sehr
-verzweifelter, manchmal vergeblicher, immer aber „strebend bemühter“
-und eben dadurch „erlösender“, für uns alle vorbildlicher Notwehr.
-
-Und deshalb wollen wir ihn nicht länger auf den hinfälligen
-Götzenthron verstorbener sorgloser Götter setzen, sondern uns der
-Grabschrift erinnern, die er selbst sich geschrieben hat:
-
- Denn ich bin ein Mensch gewesen,
- und das heißt ein Kämpfer sein.
-
-
-Grabrede auf Liliencron
-
-22. Juli 1909
-
-Liebe Freunde und ihr Mitfühlenden alle! Wir müssen nun Abschied nehmen
-von diesem Toten, dessen Leben uns unsäglich beglückt hat. Es würde
-nicht in seinem Geist sein, hier viele Worte darüber zu machen, was
-wir an ihm verloren haben. Es würde erst recht nicht in seinem Geist
-sein, hier unsern Schmerz in die Welt zu rufen und einander das Herz
-noch schwerer zu machen. Wenn er jetzt unter uns treten könnte, er
-würde sagen: „Kopf hoch, Leute!“ Er würde es sagen, laut oder leise,
-mit seinem hellen trotzigen Lachen oder mit stillem gütigen Lächeln.
-Wir Wenigen, die ihm die Nächsten waren, und die wir es anfangs
-kaum fassen konnten, als er so jäh uns entrissen wurde, Er, dessen
-Jugendkraft unverwüstlich schien, plötzlich vernichtet durch einen
-Hauch, durch nichts als einen tückischen Windhauch -- nein, wir können
-es immer noch nicht fassen. Aber nicht wir Nächsten allein stehen
-hier um die Grube versammelt, in die seine sichtbare Gestalt jetzt
-versenkt wird; wir stehen hier mitten in einer Gemeinde, die weit
-über diesen Friedhof hinausreicht, grenzenlos weit ins Leben hinaus,
-vereint durch sein unsichtbares Bild, das uns der Tod nicht entreißen
-kann. An solchem Grab wollen wir nicht trauern, wir wollen unsre Herzen
-erheben! Wenn wir weinen müssen, ist es nicht blos aus Schmerz; es
-ist aus überströmender Dankbarkeit, daß wir so Unendliches mitfühlen
-können. Des Dichters unvergängliches Werk, des Menschen unvergeßliches
-Wesen: ich weiß nicht, wodurch er uns mehr erhebt. Er war einer von den
-herrlich Gefügten, deren Leben und Dichten gleich kühn emporsteigt aus
-ihrer unverbrüchlichen Seele, so vollkommen gleich in freier Schwebe
-wie der herrliche doppelte Regenbogen, der sich gestern, nachdem wir
-in seinem Hause den Sarg über ihm geschlossen hatten, über den ganzen
-Himmel Hamburgs spannte, eine überirdische Ehrenpforte. Der Freiherr
-von Poggfred, so steht er vor uns, hoch über allem Standes- und
-Sittenzwang, aber treu jeder selbstgewählten Pflicht bis tiefst hinab
-ins Selbstlose, in das wir Alle verkettet sind. Helm und Degen liegen
-auf seinem Sarg; so hat ers verdient, der alte Soldat, der mit Leib
-wie Seele für uns gekämpft hat, für uns Deutsche und für uns Menschen.
-Helm und Degen wird er nun immer tragen, und einen unverwelklichen
-Blumenkranz, wenn er im Geist vor uns aufersteht, nicht mehr nun
-der alte Soldat, sondern der immer junge Held, der uns entzückt von
-Kampfplatz zu Kampfplatz führt wie zu einem hinreißenden Tanz. Denn
-so ist er in Wahrheit durchs Dasein getanzt, noch bis zu seiner
-letzten Reise, die er mit Weib und Kind unternahm, um den liebsten
-Menschen, die er hatte, seine geliebten Schlachtfelder zu zeigen.
-Dort hat ihn der feindliche Lufthauch getroffen, der die tödliche
-Entzündung entfachte; und dann ist er dem Wink des Todes gefolgt, wie
-er den Winken des Lebens zu folgen pflegte, rasch dahin, ohne langes
-Gefackel. Ganz geschlossen ist das Spiel seines Lebens, wunderbar ganz
-in sich geschlossen, trotz aller Kreuz-und-Querzügigkeit; vollkommen
-vollendet auch noch sein letztes Gedichtbuch, auf das er den Titel
-„Gute Nacht“ gesetzt hat, als ob er den Schlaf schon nahen fühlte,
-auf den er gefaßt war wie Wenige, ohne Furcht vor der ewigen Nacht,
-ohne Hoffnung auf einen jüngsten Tag, sondern mit reiner ruhiger
-Ehrfurcht vor der unerfaßlich unerschöpflichen Macht, die uns leben
-und sterben läßt. Nein, er war nicht blos der kindhafte Spielmann,
-nicht der harmlose Junker Übermut, der liebenswürdig leichtsinnige, für
-den ihn Viele gehalten haben, die sich nur an der bunten Oberfläche
-seiner reichen Einbildungskraft vergnügten, oder die sich ärgerten
-an der allzeit offenen, zum Geben wie Nehmen offenen Hand des armen
-Schuldenmachers der Wirklichkeit. Er war auch der Mann der schweren
-Stunden, der einsamen Fragen und Gedanken, der auf Jesus mit den
-Worten wies: „Nach Innen sah ich seine Schmerzen weinen.“ Er hat
-nur deshalb das menschliche Leben in ein launisches Spiel der Natur
-umgedichtet, weil er den furchtbaren Ernst unsres Lebens aus innerster
-Erfahrung begriff, weil er sich frei davon machen wollte, frei von
-der grausigen Notwendigkeit und notwendigen Grausamkeit, vor der
-sein empfindliches Gewissen immerfort in Entsetzen geriet. Er hat
-sich ja nicht als Jüngling zum Dichter geschult, sondern als Mann
-erst, der vom Schicksal geprüft war, der auf Schlachtfeldern und in
-fremden Ländern die Menschen hatte ringen sehen. Das ist das Wunder
-an seinem gereiften Geist, daß beides innigst in ihm vereint blieb:
-der trotzige Jüngling, der unbedenkliche, und der gütige Mann, der
-nachdenkliche. Daher sein starkes, herzbefreiendes Lachen, das niemals
-zerrissen geklungen hat, und zu dem sein feines huschendes Lächeln
-wie ein gedämpftes Echo stimmte. Daher das herzgewinnende Plaudern
-des mitteilsamen Menschenfreundes, aber zugleich auch der lauschend
-verschleierte Blick des tief verschwiegenen Menschenkenners. Daher
-der edelmütige Zauber seiner ganzen Haltung und Zurückhaltung, diese
-seltsame Liebenswürdigkeit, der niemand sich entziehen konnte, diese
-unwillkürliche Umgänglichkeit, selbst wo er haßte oder verachtete,
-diese wohlbedachte Leutseligkeit, der nur seine nächsten Freunde
-anmerkten, wieviel zarte und harte Menschenscheu sich darunter in
-einsamer Tiefe verbarg. Und daher auch die Zauberkraft des Dichters,
-durch die er selbst seine trübsten und leidvollsten Einsamkeiten in
-helle Lust für uns Alle verwandelt hat, dieser große Unverkümmerte,
-der uns nun mit seiner verklärten Stirn auch über den Abschiedsschmerz
-noch hinweghilft, auf seinem Regenbogen dahintanzend über dem irdischen
-Getümmel. Habe Dank, du wundervolle Seele! Ich höre deine eigenen
-Worte: „Der Himmel lächelt seinem Sonntagskinde.“ Ruhe nun aus vom
-Menschenelend, du tapferes, mildes, adliges Herz! --
-
-
-Naivität und Genie
-
-Spiritistischer Dialog
-
-„Das ist naiv“... Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres,
-soll das ein Lob, ein Tadel oder einfach eine Aussage sein. Besonders
-Künstlern passiert das oft; da ist irgend etwas in ihren Werken, das
-hält der eine Betrachter für „recht naiv“, der andre für „vollkommen
-naiv“, wieder ein andrer für „gar zu naiv“, und ein abermals andrer
-für „nicht naiv genug“. Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er
-mit diesem beliebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält
-man regelmäßig eine Belehrung über das unbewußte Gemüt. Und wenn man
-hierauf zaghaft bemerkt, daß nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt
-in bewußtlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch daß sich
-über das Unbewußte füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird
-man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter
-„Instinkt“ und „Genie“ spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der
-Deutsche mit wuchtigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts
-pochen will, dann spricht er das Wort „Naturgenie“ aus. Bleibt dem
-Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven,
-teils nicht ganz naiven Fragestellers anheimgestellt, ob er sich für
-ein schlechtweg natürliches oder ein etwas übernatürliches oder ein
-ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren soll. Denn sein bißchen
-Talent steht ja außer Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kultiviert,
-sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine
-Natürlichkeit hadern.
-
-Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach
-Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für
-nicht ganz stark genug erklärt, weil es leider nicht naiv genug sei,
-ist manchem ebenso klugen Gönner blos leider nicht kultiviert genug.
-Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, daß jenes rätselhafte
-Fremdwort wohl etwas Andres besagen müsse als den sogenannten genialen
-Instinkt, diesen angeblich unbewußten Naturtrieb, der doch so sonderbar
-selbstbewußt auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte
-mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn „naiv“ klipp und klar bedeute.
-
-Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwillkürlich, triebhaft,
-ursprünglich, urwüchsig, freimütig, unverstellt, ungezwungen. Dann
-ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverdorben, unschuldig,
-treuherzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig,
-schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich
-schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben „tumb“
-im guten altdeutschen Sinne oder „dumm“ im neudeutschen schlechten
-bedeuten, konnte kindisch sowohl wie kindlich heißen, unvernünftig
-wie unvernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das
-nicht unverschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump erscheinen?
-Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig
-zu nennen, in einem recht lächerlichen Sinne? Unberechnet richtiger
-unüberlegt, unbesonnen, unbedacht, unverständig? Hat nicht jegliches
-Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht
-gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur
-gemeinplätzig ist! Kann das Ungekünstelte nicht das Kunstlose sein,
-und das Kunstlose das Unkünstlerische! Und der Unverbildete: ist er
-nicht meistens -- oder der Biedermann wohl stets -- auch ungebildet,
-ungesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus
-nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa
-was die Franzosen ~bête~ titulieren.
-
-Das alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war
-ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt; das grenzte
-doch arg ans bewußte Unbewußte. Ich war naiv genug gewesen, meinen
-gesunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch
-naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bißchen
-als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht
-nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich
-erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja
-der Kulturberuf obliegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich
-selber gewisse Naivitäten um des menschlichen Selbstbewußtseins willen
-vernünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt,
-von meiner bewußten Vernunft genasführt fühlte, so mußte ich wohl oder
-übel nun doch versuchen, das Unbewußte zu Rate zu ziehen.
-
-Also beschloß ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten
-Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt
-herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer
-Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer
-heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, daß womöglich auch
-sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine unerreichbare
-Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe,
-der von sämtlichen deutschen Professoren als das Non-plus-ultra
-moderner Naivität wie klassischer Kultur deklariert war, überhaupt als
-ein Muster an Harmonie; bei Shakespear war die schon zweifelhaft. Also
-ließ ich mir den Geist Goethe kommen.
-
-Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man gemeinhin zu meinen
-geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen
-Geist zu besitzen, wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits
-besessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen,
-d. h. das Bewußtsein dieses Wissens, sodaß nur das Unterbewußtsein
-noch weiß, von welchem geistigen Überbewußtsein man selbstvergessen
-besessen ist, und dann läßt man sozusagen im Schlaf diesen überbewußten
-Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen erwacht. Die
-Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und
-läßt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen.
-Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muß dem Medium immer
-erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen;
-zweitens auch sehr unzuverlässig, denn das Medium -- naiv wie es ist --
-verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewußtsein mit dem genialen
-Überbewußtsein und schwindelt dann dummes Zeug zusammen; drittens auch
-noch recht kostspielig, von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt
-bequemer, besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit
-seines Selbstbewußtseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas
-Weingeist. Man darf dabei nur nicht unterlassen, die Autosuggestion
-darauf einzurichten, daß man sich an die Äußerungen seiner geistvollen
-Selbstentäußerung nachträglich noch zu erinnern vermag.
-
-Das tat ich denn auch und merkte alsbald, wie sich Goethens Geist auf
-mich niederließ. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor
-mir in einem solennen, bis an die Kravatte zugeknöpften, goldgestickten
-Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und ließ ein
-höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich
-gleichfalls. Darauf +Er+, mit gänzlich lautloser Stimme: Ich bin
-zur Stelle, was wünschen Sie?
-
-+Ich+, mit ganz ebenso lautloser Stimme: Euer Excellenz wollen
-gütigst verzeihen, daß ich mir so im Geist unterstehe, Ihre erhabene
-Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer
-ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne
-Euer Excellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig
-bildungsbeflissenen Menschheit harmonische Kultur zu erlangen vermag,
-sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische
-Talent, völlig naiv gewähren läßt.
-
-+Er+, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsern höchst
-schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen.
-
-+Ich+: Euer Excellenz wollen gütigst glauben, daß ich des
-Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten
-Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewußten
-Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer
-Excellenz eigene Schriften. Allein ich hoffe mir unbewußt eine
-klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines
-weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu gewinnen vermochte.
-Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Excellenz verewigtem
-Geist vermutlich nicht bewußt sein wird, die Begriffe „naiv“ und
-„sentimental“ nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor
-Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den Geistern von heute diese
-heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit,
-die ungleich gefühlvoller war als die jetzige und deshalb auf eine
-heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf bedacht
-sein mußte. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte
-verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre,
-Ironische; und wo der Herr Hofrat v. Schiller beinahe geneigt war,
-das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst
-trefflichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt geschätzt.
-
-+Er+, etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die
-Begriffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gärung
-gediehen.
-
-+Ich+: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Begriffe in
-solcher Gärung, daß gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich
-die Klärung eintreten wird. Euer Excellenz dürfen überzeugt sein, daß
-dieser gedeihliche Prozeß, der nach Meinung der vorgeschrittensten
-Geister von Excellenz selber inauguriert ist, zugleich auch den
-unterbewußten Beweggrund meines überbewußten Anliegens bildet. Es kann
-sich wohl Niemand mehr verhehlen, daß Herrn v. Schillers gestrenge
-Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen
-gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt,
-sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers bezogen wird.
-Wie Excellenz selbst schon in den Gesprächen mit dem jungen Herrn
-Eckermann bemerkten, daß keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen
-Bestand haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam
-hervorgewachsen ist, so dürfte auch kein im Sinne Schillers naiver
-Dichter zu finden sein, der ohne sentimentalische Mitgift ein
-menschliches Herz zu erobern vermöchte. Weswegen denn Schillers
-sentimentalstes Gedicht -- „seid umschlungen, Millionen“ -- heute für
-sein naivstes gilt, manchem Kenner sogar für allzu naiv. Und daß bei
-Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das
-ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte,
-ohne von sämtlichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler
-Naturverfälscher gebrandmarkt zu werden.
-
-+Er+, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht
-der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu
-bekritteln?
-
-+Ich+: Der kritische Disput um die Griechen ist allerdings im
-letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständlich geworden, daß ihre
-überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt
-und mehr denn jemals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt
-geworden, daß die Antike zu keiner Zeit so idealiter naiv war, wie
-Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, daß insbesondere neben
-Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach
-aller Forschung durchaus für einen Sentimentaliker ansprechen muß,
-einen elegischen Ironiker vom dämonischen Schlage des Lords Byron,
-des erlauchten Freundes Euer Excellenz. Auch hat sich bestätigt,
-was Excellenz ahnten, daß nämlich der Dichter, der die Balladen der
-prähomerischen Tradition in die zwei großen Epen organisierte, kein
-plötzlich emporgeschossener Sprößling eines kindlich urwüchsigen
-Zeitalters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich
-noch patriarchalen, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und
-wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem
-epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben
-kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn
-ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwürdigen Hintersinn
-gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität,
-der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Äschylos mit
-sentimentalster Leidenschaft auftrotzt. Ist das nun blos naiver
-Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen
-Konflikten der Griechen ein problematischer Aufklärungskampf um
-Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum
-raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur
-kapriziösesten Persifflage?
-
-+Er+, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine ungemeine
-Frage. Und da denn alles Ungemeine auch allgemeine Bedeutung hat,
-verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung.
-
-+Ich+: Haben Euer Excellenz annehmen können, ich wollte mir zum
-Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren?
-
-+Er+, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Mephisto
-geschrieben --
-
-+Ich+: Und wenn ich Excellenz recht verstehe, haben Sie dennoch
-auch den Faust schreiben können, samt Gretchen und dem Famulus Wagner,
-und die Einen so naiv wie die Andern --
-
-+Er+, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser
-höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Verwunderung wahrnahm.
-
-+Ich+: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das
-Sentimentalische noch auch das Problematische ausschließt? Und wie
-verträgt sich das Raffinierte damit?
-
-+Er+, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der
-Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch
-Einfalt gern die Berechnung heranzieht, sobald sich der natürliche
-Sinn in Hinsicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon
-verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlauheit oder
-Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Betracht das Naive das
-durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit
-dem Raffinierten, das doch auf deutsch sowohl das Geläuterte wie auch
-das Abgeklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken!
-
-+Ich+: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen übeln
-Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abgefeimte,
-Durchtriebene, Geriebene.
-
-+Er+, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch
-ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist.
-
-+Ich+: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive
-der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während
-doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewußter Verstand meine
-überbewußte Vernunft nicht betrügt, Beides in sich vereinigen und
-irgendwodurch bemessen muß, um harmonisch und kulturell zu wirken. Denn
-etwa zu sagen, daß jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das
-würde doch fast schon nichtssagend sein.
-
-+Er+, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn
-wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit
-abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen;
-wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein
-zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr
-Professor Nietzsche erschienen, der mir mit überaus gütigem Eifer eine
-Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem er zuvörderst auf die Autoren
-des Neuen Testamentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und
-zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst
-würdigen Stil, der sich teils an dem Evangelisten Johannes, teils an
-dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist
-an Luther gebildet hatte, und mit einem äußerst gewaltigen Pathos, das
-mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr
-Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, von Natur aus
-wie auch von Kunst wegen, und war zugleich doch raffiniert.
-
-+Ich+: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine
-Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert.
-
-+Er+, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr
-Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch
-vortrefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser
-neuester Dichter sprach. Indessen muß wohl alles Naive in einer Art
-Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als
-wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung +Andre+
-betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur
-Verstellung innewohnt, die jeder Erwachsene leicht durchschaut, doch
-welche ihn umso reizender anmutet, je inniger sich die kindliche Seele
-über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist
-freilich das Reizende nicht das Bedeutende.
-
-+Ich+: So müßte denn wohl das höchste Genie, insofern es die
-klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in
-jedem Betracht erhaben sein, ob nun geläutert durch Kultur, ob aus
-natürlicher Lauterkeit.
-
-+Er+, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten
-Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in
-seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber
-vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen,
-wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit
-ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Napoleon auf St. Helena.
-
-+Ich+: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, daß gerade die
-bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschauung nicht pflegten,
-vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere
-strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten
-einschränkt, wenn nicht ausschließt.
-
-+Er+, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, daß der blinde
-Naturtrieb durch Künstlergeist sehend werden möchte.
-
-+Ich+: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der
-genialen Natur ausmachen. Sonst müßte, scheint mir, ein Burns einen
-Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen.
-
-+Er+, die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muß bitten, mein sehr
-werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiel zu lassen.
-
-+Ich+: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des
-Beispiels halber noch zu bemerken, daß auch bei den anderen hohen
-Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen -- bei Sophokles
-wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespear wie Rabelais,
-Cervantes wie Swift, Lionardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie
-Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beethoven -- das Naive
-überall höchstens die Rolle des rührigen Mägdleins im Königsschloß
-spielt, wo nicht blos des handlichen Prügelknaben, und meistens zu gar
-keinem Vorschein tritt; wohingegen es sich bei vielen sehr reizenden,
-jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht
-und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer
-nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus
-dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die
-naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der
-heutigen Menschheit nichts mehr bedeuten und deshalb gern übersehen
-werden. Es müßte auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich
-widersinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstlerseelen, die
-doch von dem ewig währenden Kampf zwischen Menschenvernunft und blindem
-Naturtrieb am allerheftigsten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein
-kindlich einfältiges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten,
-anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Ausgleich jener
-Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu erwirken. Oder denkt ein hoher
-Geist anders darüber?
-
-+Er+, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich
-offenbar nicht bewußt, daß aller zeitweilige Wert eines Kunstwerkes
-dessen dauernde Fortwirkung nicht erklärt, daß folglich nach
-vernünftiger Schätzung sein löblicher Inhalt an Kultur dem natürlichen
-Gehalt wohl beigeordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann.
-
-+Ich+: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art
-unbewußtem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unterbewußte oder
-überbewußte Sinnentäuschung, daß ein deutscher Klassiker hier so
-romantisch redet?!
-
-+Er+, befremdet: Was für ein Klassiker?
-
-+Ich+: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persönliche aus dem
-Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist.
-
-+Er+, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker??
-
-+Ich+: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der
-Geisterwelt unbekannt sein?
-
-+Er+, mit Mühe seinen Verdruß beherrschend: Da habe ich nun den
-deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, daß klassische
-Nationalautoren in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange
-sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in
-allen Stücken zu einer soliden nationalen Kultur gesammelt hat; habe
-wieder und wieder nachgewiesen, daß inzwischen das originale Talent
-nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, daß
-überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit
-für eine glückliche Bildung sei. Und nun kommt diese widerspruchsvolle
-Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl
-wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch
-solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde!
-
-+Ich+: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland --
-
-+Er+, ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend
-auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen
-zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte
-Anerkennung zu finden, muß ich hier die reizende Botschaft vernehmen,
-daß ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst
-unerfreulich, Herr Doktor!
-
-+Ich+: Euer Excellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges
-auszusprechen; indessen könnte das Widerspruchsvolle, obwohl es gewiß
-nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Wahrhafte sein.
-
-+Er+, merklich betroffen: Wie meinen Sie das?
-
-+Ich+: Wenn Excellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr
-Persönliches zu berühren --
-
-+Er+, an dem untersten Frackknopf nestelnd: Es hat mich von jeher
-nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will
-heißen, mit dem gehörigen Anstand.
-
-+Ich+: Nun, der Name Goethe gilt eben heute als Inbegriff
-deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer
-Einheit, nach einer persönlichen Harmonie mit dem sozialen
-Kulturinstinkt.
-
-+Er+, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht
-von Harmonie, bevor man nicht alle Dissonanzen vernommen und begriffen
-hat!
-
-+Ich+: Man hat sie alle so fleißig begriffen, daß heute im neuen
-Deutschen Reich kein Skribifax zu finden sein dürfte, der seinen
-absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht
-mit irgend einem beiläufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen
-Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft.
-
-+Er+, mit einer Miene leidvoller Dumpfheit: So hat man mich eben
-schlecht begriffen.
-
-+Ich+: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämlich ein wenig zu naiv.
-
-+Er+, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln: Sie scheinen mir
-recht raffiniert, mein wertester Freund.
-
-+Ich+: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher.
-Denn inzwischen hat sich unser Volk immerhin doch auf einen gewissen
-Grad politischer Einheit zusammengerafft; und wenn dennoch seine
-soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum
-jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster
-Ehrfurcht auf eine Persönlichkeit, die -- ob sie im Einzelnen noch so
-triebhaft von natürlichen Dissonanzen bewegt war -- doch im Ganzen
-als ein beharrliches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb
-nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber, scheint mir,
-ist eben die Wirkung, die von jedem erhabenen Künstler ausgeht und
-allen erhebenden Kunstwerken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den
-sie enthalten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der
-ewige Ausbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt
-Natürliches, ein allgemein menschlich Notwendiges, von innerstem Grund
-aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher
-Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird denn doch
-wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzuordnen sein, der
-sich an seinem jeweiligen Zustand trüglich-vergnüglich genügen läßt.
-Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen
-Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer
-wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre
-jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat
-und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch,
-am wenigsten aber der geniale. Sollte das nicht, so wahrhaft menschlich
-es ist, doch vielleicht auch ein göttlich Wahres sein?
-
-+Er+, mit hellstem Lächeln: So sei es denn! -- Nur gebe man auch
-dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel.
-
-+Ich+: In welchem Sinne soll ich das nehmen?
-
-+Er+, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem
-gewissen Verstande, der sich verteufelt betriebsam zeigt und den
-edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven
-wurzelt. Man hüte sich vor der Reflexion, die den Wurzelboden zerwühlt
-wie ein Maulwurf!
-
-+Ich+: So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wodurch das
-ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so
-unhold befangen wird, daß ein Unwirksames daraus entsteht?
-
-+Er+, immer noch schalkhaft: So +könnte+ es sein.
-
-+Ich+: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den
-naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische
-Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von
-Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, daß er gründlichst über
-sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin
-das gewiß recht naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt
-ist, daß er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor
-es ihm reif zur Abfassung war.
-
-+Er+, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und
-wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, daß es
-Zweierlei ist, über Gefühle nachzudenken oder über die Darstellung von
-Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen,
-das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach
-Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger
-Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingibt, und
-wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste
-hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre
-in seinem bewußtlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewußtsein dem
-sinnreichen Willen unterwirft.
-
-+Ich+: Also sollte wirklich der Dichter des Faust, des Tasso
-und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den
-Wahlverwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der
-Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage
-zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen
-künstlerischer und menschlicher Weisheit, zwischen Geist und Vernunft,
-zwischen Dichtung und Wahrheit?
-
-+Er+, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: +Bei den
-Müttern!+ --
-
-+Ich+: +Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter
-der verklärten Väter!+ --
-
-+Er+, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt.
-
-+Ich+: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachstum des Geistes
-gedeihlich sein?
-
-+Er+, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein
-Geist die Grenze entdecken, wo Licht und Dunkel einander durchdringen.
-
-+Ich+: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder
-und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie
-ein unfaßbarer Eishauch jedem bedeutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht
-grade das Offenbarende sein, das den dumpfen Stoff erst zum klaren
-Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert?
-Und mag immerhin das Unbewußte der unergründliche Mutterboden aller
-schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über
-Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche
-Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem
-geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Abergeschwätz?!
-Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer
-bewußtlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er
-es nicht zugleich recht bewußt über den passenden Leisten schlägt.
-
-+Er+, mit gleichgiltigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein
-guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewußter drauflos
-schlüge.
-
-+Ich+: Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüßte, wäre er dann
-nicht ein besserer Schuster?! Und um wieviel mehr erst der sinnreiche
-Künstler, der unzählige einzelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes
-Ganzes veranschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, daß
-er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe
-weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff
-die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die
-beliebigen Bildgefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet!
-Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, daß sich jeder Künstler
-und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur dadurch auszeichnet, in
-welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewußte bei ihm bewußt
-wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft
-voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes
-reizendes Ding von wirklicher Vollkommenheit? Ich glaube, weil sein
-Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige
-Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in
-holdseliger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das er
-höchst naiv seinem eigensten, blos sogenannten Mutterwitz zuschreibt;
-ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf
-mit der gern empfänglichen Mutter Natur.
-
-+Er+, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstande könnte
-es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Vernunft sich erst recht
-die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag
-der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft
-Einzelne planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich
-unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen
-und halten.
-
-+Ich+: Doch scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen
-starken Gedanken aushalten. Bei Shakespear strotzt selbst der Narr von
-Gedanken.
-
-+Er+, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl
-das Närrische sein!
-
-+Ich+: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist?
-hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich
-nachzuweisen, daß das gesamte Kunstwerk „Hamlet“ auf einem bestimmten
-Gedankengrund steht, um den der Dichter gewußt haben muß.
-
-+Er+, stutzig: Da wäre ich aber wahrlich gespannt. Sie sind
-überaus eigensinnig, Herr Doktor!
-
-+Ich+: Nur in Euer Excellenz eigenem Sinne. Denn wie Excellenz
-selbst einmal kommentierten, wollte Shakespear hier eine Seele
-schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewußt auf sich nehmen
-will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen,
-der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie
-Excellenz gleichfalls und mehr als einmal dargelegt haben, nicht im
-Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn
-sich also das Positive hier nicht in dem sogenannten Helden des Dramas
-findet, muß man es wohl in dem Drama selbst, d. h. in dem Ausgleich
-der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der
-Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert,
-auf diese Ergänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen
-Vaters, zum Schluß den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den
-verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio,
-das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese
-ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius,
-gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem gewissen Grade aktiv
-wirkt. Da muß sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe
-in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem
-der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie
-Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf
-solche seinen Zeitgenossen erbauliche Grundgedanken gestellt sehen, auf
-die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den
-psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter
-Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem
-naiven Pathos ins urteilslose Gemüt zu schleudern, wie dem populären
-Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschenkenner
--- sehr oft bis zum Cynismus fein -- blieb er sich überall bewußt,
-daß diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln,
-je unlöslicher sie dem Verstande scheinen, verfädelt unter ein buntes
-Gewebe von dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und
-Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn
-man wie Hamlet Wahnsinn heuchelt, so wäre es sicherlich ganzer Irrsinn,
-wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen, er habe sich ebenso selbst
-betrogen und nicht vielmehr genau gewußt, warum er uns über diesen
-Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel läßt.
-Sollte er das nicht einfach gewollt haben, um uns recht sinnfällig
-anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die
-klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten
-droht?!
-
-+Er+, wieder die Hand in den Busen steckend: Ich sehe, mein
-Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und
-freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen
-gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist
-wie Shakespear bewußt war, ohne daß es ihm Schaden tat, könnte minder
-kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben.
-
-+Ich+: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenigstens nicht
-für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für
-sich behielten.
-
-+Er+, mit ergetztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt,
-mein Teurer!
-
-+Ich+: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv
-brutalen Achilleus den raffiniert dolosen Odysseus ausspielt, wie er
-diesen Kontrast zwischen Intelligenz und Instinkt noch mit allerlei
-Parallelpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden
-Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Polyphem und hündisch
-verschlagenen Thersites, von den tolldreisten Lustweibern Helena und
-Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann
-da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles blos aus
-bewußtlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet?
-
-+Er+, sichtlich des trockenen Tones satt: ~Credo quia absurdum
-est.~
-
-+Ich+: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen
-des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den dunkeln Zeiten
-her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König
-zusammenbefand. Da mußte der Volksredner, der er war, wohl ~nolens
-volens~ darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in
-ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber
-noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundern.
-
-+Er+, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch
-dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet
-doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her,
-und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Gewande der
-feinsten Gesittung.
-
-+Ich+: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit nicht ohne
-etlichen Hokuspokus auf ihrer Würde bestehen kann, warum dann die
-seelische Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung?
-Als ob unser hochbestrebtes Bewußtsein nicht zum mindesten ebenso
-rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste
-drangvollste Unbewußte, das uns mit jedem Kohlkopf gemein ist! Als ob
-nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfaßt, ins
-Eigentümliche durchgebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins
-menschlich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine
-Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die
-Entwickelung des Bewußtseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist,
-Verstand oder Sinn, Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder
-Logik taufen! Und zeigt nicht die ganze mannigfache Formenfolge der
-Lebewesen ein +stetes Stufenstreben der Geisteskraft, sich immer
-wahrnehmbarer auszugestalten+?!
-
-+Er+, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie
-denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die
-hinter einem Feuerwerk steckt?
-
-+Ich+: Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in
-unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet blos.
-
-+Er+, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm -- unter solcher
-Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den
-dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, daß
-eine Schöpferkraft dasein muß, wenn eine Schöpfung werden soll.
-
-+Ich+: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich
-die Erfahrungen aus meinem bewußten Dasein nicht täuschen, in seinem
-jeweiligen Denkzustand durchaus nicht so holdselig zu sein, wie er
-sich später in unserm Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen
-Zustand geistig verklärt; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt
-sein, sich diese Dumpfheit jedesmal so rasch wie möglich vom Halse zu
-schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde
-Gedankendrangsal so unausstehlich bedrückt und befangen, wie der
-Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand.
-
-+Er+, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lächelnd den Knopf
-in die Westentasche: Es freut mich, Teuerster, wie Sie das sagen, mit
-solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, daß Sie
-fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher
-Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren
-Schriften zu sprechen; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen,
-wenn sich ein eigenwilliger Geist auch einer eigenen Sprache bediente.
-
-+Ich+: Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist??
-
-+Er+, augenblicks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom
-+beherrschten+ Eigenwillen!
-
-+Ich+: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er
-alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte.
-
-+Er+, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann
-war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich
-selber zeitlebens behutsam auswich!
-
-+Ich+: Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafür
-bewundert!
-
-+Er+, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron wars
-Kraft, ihn riß Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang
-wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer.
-
-+Ich+: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine
-Heldentat Byrons heranreicht.
-
-+Er+, mit noch stärkeren Klopftönen: Er hätte euch wohl noch mehr
-enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte eintreiben können. Er hatte das
-Zeug zu einem Shakespear, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte
-nur heldisch, sobald man sein Selbstbewußtsein mit härtestem Stachel
-zum Trotz aufreizte; er war nicht über sein Schicksal erhaben.
-
-+Ich+: Er war es immerhin bis zu dem Grade, daß er das alles im
-Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat.
-
-+Er+, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich
-erschöpft! --
-
-+Ich+: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten
-allzu naiv gefolgt?!
-
-+Er+, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst
-raffiniert, werter Freund!
-
-+Ich+: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch
-eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von
-allerlei krampfhaftem Spuk heimgesucht, wie man das fast jedem
-kraftvollen Geist mit biederem Gruseln als krankhaft nachsagt, und wie
-ja auch Sie, verehrtester Genius, mehrfach von sich selbst berichtet
-haben. Ich entdeckte jedoch, daß sich diese Visionen, Somnambulismen
-und Katalepsieen immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft
-nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer,
-Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant
-meine poetische Phantasie leider oft zu holdselig faullenzen ließ;
-also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen
-Unterwelt, die über ihr Bestes bewußt werden wollte. Ich habe mir dann
-durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das
-gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft,
-ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche
-Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere.
-
-+Er+, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange
-Audienz.
-
-+Ich+: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter
-Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der
-zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine
-Geliebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so
-emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit.
-
-+Er+, wunderlich durch mein Zimmer blickend: Da mache ich Ihrer
-jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kompliment.
-
-+Ich+: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen!
-
-+Er+, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht,
-Verehrter; ganz und gar nicht. Es muß wohl ein jeder kräftige Künstler
-zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten
-verhält wie das aufmerksam hingebungsvolle Weib zur unbequemlich
-kopfscheuen Jungfrau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von
-ihrer beschränkten Eitelkeit läßt, so verharren auch die meisten
-Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale
-Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch
-okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansteht, dem
-Abenteurer und Volksführer, dem politischen oder religiösen Redner,
-als dem künstlerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer
-des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen
-willfahren muß, mit einer überlegenen Ruhe. Da wird denn natürlich, um
-diese Ruhe bis ins drangvolle Innerste auszudehnen, auch die Vernunft
-je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und
-wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib
-beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger
-Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren.
-
-+Ich+: Und er darf sich mit heiterem Dank bewußt sein, daß dieser
-Glückwunsch ins Centrum des Lebens trifft, und somit auch unseres
-Kunstgespräches.
-
-+Er+, immer verklärter um sich blickend: Wir sprechen wohl einst
-noch gewisser darüber --
-
-+Ich+: Doch ist uns schon jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß zwar
-das naive Gemüt die Axe ist, an die auch die genialste Natur mit
-allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische,
-der andre ins Triviale verläuft; daß aber +die geistige Reflexion
-die formbestimmende Triebkraft+ ist und umso harmonischer auf die
-Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste
-der Persönlichkeit auf ein centrales Gleichgewicht ordnet --
-
-+Er+, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen
-die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren
-und Inseln des Erdballs --
-
-+Ich+: Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so
-natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich gibt,
-auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie
-Kleist zu den Vätern dahinmuß --
-
-+Er+, spukhaft aus weiter Ferne lachend: Sie sind in der Tat
-höchst naiv, lieber Dehmel --
-
-Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben
-Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen
-bewußteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten
-pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft
-Naive kuriert.
-
-
-Kultur und Rasse
-
-Ein Gespräch zwischen Künstlern
-
-Ein deutscher Dichter und ein jüdischer Maler waren einander in
-Verehrung zugetan, trotz oder wegen ihrer sehr verschiedenen Begabung.
-Den Maler reizten simple Motive, die er mit räumlich packender Rhythmik
-in verwickeltem Lichtspiel zu zeigen verstand; der Dichter ließ sich
-umgekehrt meistens von komplizierten Impulsen anregen, die er bei
-rhythmisch lebhaftestem Tempo in unvermutet einfachen Zusammenklang
-zu setzen wußte. Gemeinsam war ihnen also nur, was allen vollkommenen
-Künstlern gemeinsam ist: ein stark beweglicher Scharfsinn bei
-gründlicher Gemütsruhe. Das gab dem persönlichen Charakter des Juden
-eine sprunghafte Schlagfertigkeit, die sich mit Vorliebe hinter der
-Maske berlinischer Fopperei versteckte; an dem Deutschen dagegen prägte
-es sich in einer hartnäckigen Spannkraft aus, die sich nach Art des
-märkischen Landvolkes gern etwas nückeboldig stellte.
-
-Als Leute, deren Zeit kostbar war, sahen sie einander nur selten;
-aber jeder verfolgte des Andern Arbeiten mit angelegentlicher
-Aufmerksamkeit. Nun hatte der Maler ein Bild ausgestellt, dessen
-dramatisches Pathos beträchtlich von seiner sonst mehr lyrischen Verve
-abstach und infolgedessen viel Kopfschütteln erregte; da konnte der
-Dichter nicht unterlassen, ihn doch einmal wieder zu besuchen, um
-ihm für diesen neuen Beweis seiner rastlosen Entwicklungskraft ein
-respektvolles Kompliment zu sagen.
-
-Das Gemälde zeigte ein nacktes Weib von mänadischer Gelenkigkeit,
-wie es sich auf verwühltem Lager über einem stiernackigen,
-wollustgeschwächten Kerl hochreckt, in der Rechten irgend etwas
-Blankes wie eine sieghafte Waffe hebend, bis zu den Hüften vom
-Zwielicht des Morgens und einer Kerzenflamme beglänzt, während sich
-der schlaftrunkene Mann an ihrem Schooß im Halbschatten wälzt. So
-nahm sich die Geberde des Weibes wie ein geschmeidiger Hohn auf
-die rohe Kraft aus, wie ein Sieg wachsamer Geistesgegenwart über
-plump verschlafene Sinnlichkeit, ein fleischgewordener Triumph der
-raffinierten Intelligenz über den brutalen Instinkt, mit einfachster
-Wucht in feinste Beleuchtung gerückt. Der Maler hatte das große Werk
-„Judith und Holofernes“ getauft, obwohl es lediglich durch die Idee
-auf die biblische Legende zurückwies. Kein orientalischer Teppich
-verliebreizte das Lager, und die Mänade konnte nach ihrem Typus
-irgendeine zigeunernde russische Fürstin oder deutsche Prinzessin sein,
-der Mann ein x-beliebiger braver Zirkusathlet. Der deutsche Dichter
-wollte jedoch von diesem Gesichtspunkt nichts merken lassen, sondern
-sprach vor allem seine Bewunderung über die schwungvolle Raumwirkung
-aus; worauf sich folgende Unterhaltung entspann.
-
-+Der Jüdische Maler+: Na ja, sehr schön. Aber nicht wahr, die
-Hauptsache ist doch: das Ding hat Rasse von oben bis unten!
-
-+Der Deutsche Dichter+: Wenn Sie also doch davon sprechen wollen,
-dann muß ich Ihnen offen gestehen, ich sehe eher etwas allgemein
-Menschliches.
-
-D. J. M. Sie sind wohl allgemein übergeschnappt? So’was kann doch blos
-einer, der Jude ist, machen!
-
-D. D. D. In der Tat blos Einer, nämlich Sie.
-
-D. J. M. Na ja, weil ich eben noch Vollblut bin; die Andern sind
-meistenteils schon alle so ins allgemein Menschliche vermanscht.
-
-D. D. D. Ich glaube nicht mehr an das Rassendogma; wenigstens nicht,
-soweit es seelische Werte und geistige Leistungen begründen soll. Bei
-den künstlichen Tierrassen ist das von selbst ausgeschlossen, denn die
-züchtet ja erst der menschliche Geist. Aber auch die natürliche Rasse
-kann höchstens für körperbauliche Eigenschaften eine Grundbedingung
-sein, eine neben mancherlei andern; vielleicht aber gar keine
-Grundbedingung, sondern immer nur ein Endergebnis aus langen seelischen
-Sonderbestrebungen einer Gemeinschaft beliebiger Einzelkörper gegen
-die gefährliche Umwelt, eine Art Schutzmarke auf Gegenseitigkeit,
-die dann wieder neue Arten herbeiführen kann, durch neue Anlässe zur
-Gemeinschaftsbildung. Wie soll denn durch Rasse, dies allerallgemeinste
-Merkmal oberflächlicher Unterscheidung, die künstlerische Begabung
-erklärt werden, die allereigentümlichste Sonderlichkeit, die nur von
-den gründlichsten Kennern geistiger Werte vollkommen erkannt und
-gewürdigt wird, gleichviel von welchem Rassekörper!
-
-D. J. M. Sie haben sich da ’ne lange Strippe von Geist und Seele
-zusammengedreht. Aber ich will Ihnen mal was sagen, ganz einfach, ohne
-Textilapparat: Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! und das kann
-blos ein Rassekerl! Ich meine, so richtig dumm und geil; ~cum grano
-salis~, wissen Sie.
-
-D. D. D. Und wahnsinnig! Gleichfalls ~cum grano salis~.
-
-D. J. M. Und ein Frechdachs! Sie wollen mich wohl uzen, Verehrter?
-
-D. D. D. Ich wollte Ihrer gesalzenen Weisheit blos einen
-rassepsychologischen Wink geben, aus welchem Pökelfaß sie stammt. Dumm,
-geil und verrückt -- das ist der Künstler, wie er heute bei allen
-Professoren der höheren Zoologie im Buch steht.
-
-D. J. M. Na, ich meinte natürlich nur: während er Kunst macht! Im Leben
-kann er der klügste Geschäftsmann und bravste Familienvater sein; je
-klüger und braver, umso besser für ihn.
-
-D. D. D. Also während er Kunst macht, soll er gewissermaßen seine
-besseren menschlichen Qualitäten an den Nagel der Theoretik hängen. Ich
-fürchte nur, daß er dann zugleich seine besseren Rassequalitäten mit
-weghängt.
-
-D. J. M. Nanu, so plötzlich? Sie haben doch eben ganz deutlich gesagt,
-Sie glauben an solche Qualitäten nicht!
-
-D. D. D. Ich nicht; aber Rassetheoretiker glauben, daß Familiensinn und
-Lebensklugheit die besonderen jüdischen Tugenden sind.
-
-D. J. M. Ja natürlich! Was blieb uns denn auch weiter übrig, solange
-wir im Ghetto hockten --
-
-D. D. D. und nachdem in aller Herren Ländern aus einigen tollkühnen
-Nomadenstämmen, die wahrscheinlich auch bereits nur zur Hälfte echte
-Semiten gewesen sind, allmählich eine brave Sippschaft von allerlei
-Krethi und Plethi geworden war.
-
-D. J. M. Also Karnickel- und Hasen-Hecke. Na ja, das stimmt, da haben
-die Antisemiten ganz Recht: das ist heute genau solche jüdische
-Spezialität, wie’s auch deutsches Vettermichelpack gibt. Aber was
-hat das speziell mit Kunst zu tun? Die verdolmetscht doch eben das
-Generelle! Da entpuppt sich das ursemitisch Rassige wieder.
-
-D. D. D. Merkwürdig nur, daß das alte Volk Israel, solange sein
-Hauptstamm wirklich noch reinrassig war, d. h. längstens bis etwa zur
-Zeit Samuelis, fast gar keine Kunst hervorgebracht hat; die spärlichen
-religiösen Psalmen, die vielleicht in die Zeit vor David zurückreichen,
-sind doch wohl erst embryonische Dichtkunst.
-
-D. J. M. Nebbich! Das war ihnen doch verboten! Siehe Moses: Ihr sollt
-euch kein Bildnis noch Gleichnis machen.
-
-D. D. D. Mir deucht, in einem kunstfähigen Volk hätte solch Verbot
-garnicht erst laut werden können. Was meinen Sie wohl, was die Griechen
-gesagt hätten, wäre Solon ihnen mit so’was gekommen! Das haben sich
-nicht mal die Deutschen bieten lassen, die doch, solange sie reine
-Germanen waren, gleichfalls kein nennenswertes Kunstvolk gewesen sind;
-und dasselbe gilt von den alten Römern. Überhaupt: betrachten Sie’s
-mal historisch! Die sogenannte reine Kunst entsteht überall erst in
-Mischvölkern, also wo mehrere Rassen einander kreuzen und -- mag man
-das nun einen günstigen Zufall oder „Ergänzung passender Anlagen“
-nennen -- eine neue zu bilden beginnen. Da tritt dann die Kunst
-gleichsam vorbildnerisch auf, aus Verlangen nach neuem Menschentum.
-
-D. J. M. Meschugge ist Trumpf! Oder sind Sie wirklich verrückt?
-
-D. D. D. Ja, ich will wirklich einmal so verrückt sein, die physische
-Rasse als Element für psychische Phänomene gelten zu lassen. Dann
-wüßte ich nicht, wodurch aus so einfacher Ursache ein so mannigfach
-lebensvolles Ding, wie es jedes starke Kunstwerk doch ist, auf
-natürliche Weise entspringen sollte, es müßten denn +mehrere+
-solche Elemente in dem Künstler verbunden sein. Der machtvollste
-Künstler wäre dann der, in dessen Familie sich nach und nach alle
-Kulturrassen abgelagert hätten. Aber Sie sehn mich ja weiß-Gott an, als
-ob Sie mich für irrsinnig hielten.
-
-D. J. M. Nein, dichten Sie nur ruhig so weiter! Ich habe mir blos Ihr
-Gesicht angesehn. Ich werde mal fix ’ne Skizze von machen; Sie sehn
-ganz apart aus, wenn Sie so dichten. Und das mit der Rassenablagerung,
-das kann ja auf Ihr Gesicht ganz gut stimmen.
-
-D. D. D. Ahah, Sie meinen, ich rede ~pro domo~?
-
-D. J. M. Na, ich habe neulich mal wo gelesen, Sie sollen ja so’ne Art
-Slawe sein, aus Wendisch-Buchholz oder so her.
-
-D. D. D. Da könnte ich Ihnen nun leicht beweisen, daß ich ein
-waschechter Deutscher bin, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Meine
-väterlichen Vorfahren waren niederschlesische Handwerker, ein paar
-Schmiede, ein Zimmermeister, ein Seiler, ein Tierarzt und ein Laborant;
-meine mütterlichen teils märkische Bauern, teils thüringische Beamten
-und Fabrikanten, mit einem rheinischen Nebenzweig. Die Familiennamen
-haben in allen Linien den sogenannten reinen Klang: außer meinem eignen
-deutschdämligen Namen noch Fließschmidt, Hillmann, Weidner, Zahn,
-Oehme, Eule und Eyle. Nur in dritter Linie, von Vaters Seite, kommt
-der slawisch klingende Name Tschorsch vor; doch ist er wahrscheinlich
-aus deutschem Georg oder Jörge vertschechisiert, oder vielleicht aus
-französischem George verdeutscht. Ich könnte mich also vor jedem
-Teutobold mindestens ebenso gut als Germanen aufspielen, wie man
-Luthers böhmakisches Gesicht oder Bismarcks wendischen Rundschädel ins
-Germanische umdichten will; bin aber trotzdem überzeugt, daß ich -- wie
-mehr oder weniger jeder Deutsche seit der Völkerwanderung -- nicht blos
-slawisches und keltisches, sondern wahrscheinlich auch romanisches und
-vielleicht sogar mongolisches Blut in meinen werten Adern beherberge.
-
-D. J. M. Da säße ich also da „mit’s Talent“, als so’n kümmerliches
-semitisches Inzuchtgewächs.
-
-D. D. D. Ja, wenn Sie wirklich ein echter Hebräer wären?
-
-D. J. M. Na, hören Sie mal, erlauben Sie mal, ich soll Sie wohl wegen
-Verleumdung verklagen?! Wollen Sie etwa meine leiblichen Urgroßmütter
-für lauter Herodiäser erklären?
-
-D. D. D. Oh, zwei bis dreie genügen wohl schon; und wenn ihre Gatten
-Herodesse waren, werden Sie’s ihnen wohl nicht verdenken.
-
-D. J. M. Na, Spaß beiseite! Ihr Schädel wirkt propper; Sie sitzen
-faktisch briljant Modell. Sitzen Sie jetzt mal ein bißchen stille! Sehn
-Sie sich mal derweil meine Augenbrauen und Nasenwurzel und Stirnbogen
-an! Sehn Sie: so’was, das gibts nicht bei allgemeinem Menschmansch, das
-ist ganz apartes Rasseprodukt.
-
-D. D. D. Mag schon sein; die Oberstirn scheint mir vlämische Rasse, die
-Augenknochen spanische. Ihre Familie ist ja wohl zum Teil aus Spanien
-über Holland gekommen; und der belgische Architekt Van de Velde hat
-einen ganz ähnlichen Gesichtsschnitt, obgleich er wahrhaftig kein Jude
-ist.
-
-D. J. M. Nein, wahrhaftig nicht. Aber apart ist er auch. Faktisch ’n
-ganz famoses Kerlchen; rassig bis in die Fingerspitzen. Wer weiß,
-vielleicht ist er +doch+ ’n Jude!
-
-D. D. D. Sagen Sie mal, Sie Rassemensch: Sie haben doch englische
-Vollblutpferde gemalt. Halten Sie die etwa nicht für rassig?
-
-D. J. M. Na, und ob! Ach so, Sie möchten mich wieder döppen?! Na
-aber, das hab ich doch gleich blos gemeint: da hat sich eben die
-angelsächsische mit arabisch-türkischer Zucht gekreuzt und schließlich
-’ne neue Rasse gebildet. Aber sein Sie mal jetzt ’ne Sekunde lang
-stille; mir stimmt was nicht an Ihrer Stirn. Einen Moment blos, ich
-werds gleich haben. Faktisch ’ne ganz verflixte Stirne; von vorne
-breit wie’n heraldischer Bulle, und im Profil schlank retour wie’n
-Lämmergeier -- Sie wollen gewiß auch ’ne neue Rasse gründen! -- Bitte,
-blos’n Moment noch, dann bin ich so weit! -- So: jetzt los auf die
-Weltgeschichte! Dichten Sie bitte ungeniert weiter!
-
-D. D. D. Also -- Tatsache ist doch Folgendes: Ob nun im alten Ägypten
-und Hellas, oder im mittelalterlichen China und Indien, oder im
-späteren Japan und Persien, oder in der europäischen Renaissance --
-eingerechnet die Vorstufen, byzantinische wie maurische, romanische wie
-gotische -- überall sind die kurzen Epochen höchster künstlerischer
-Kultur erst dann reinlich hervorgetreten, wenn sich durch Kriegs-
-oder Handelszüge verschiedene Volksstämme oder Nationen innig
-miteinander befaßt und neue Staats- oder Standesformen, Herrschafts-
-oder Gesellschaftsklassen durch Mischheiraten angebahnt hatten. Sogar
-bei den verschollenen amerikanischen Kulturen ist von der Forschung
-festgestellt, daß die großen Tempel der Azteken und Inka erst nach
-langwierigen Eroberungskämpfen zwischen diversen indianischen Rassen
-entstanden. Und heute, wo sich in Nordamerika aus dem allgemeinen
-Menschmansch, wie Sie zu sagen belieben, eine neue weiße Rasse langsam
-herausschält: erst heute zeigen sich dort auch die Anfänge einer
-spezifischen Yankeekunst, recht respektabel bereits in der Poesie und
-in der profanen Architektur, passabel auch in der Malerei. Nun aber
-gar das moderne Europa! Woher denn auf einmal seit etwa 50 Jahren
-die Hochflut aller möglichen neuen oder doch neu-sein-wollenden
-Kunstrichtungen, von Skandinavien und Rußland bis Frankreich und
-Spanien?! Sollte es blos ein Zufall sein, was auch hier wieder
-unverkennbar vorausging: die Durcheinanderwürfelung aller Nationen
-durch die Napoleonischen Kriege, die Entfesselung internationaler
-Tendenzen durch Handel, Industrie und Technik, die enorme Steigerung
-des Völkerverkehrs durch die Eisenbahnen und andre Transportreformen,
-und zu alledem noch als wahrer Rassenextrakt eine Fülle nie dagewesener
-Mischungsversuche durch die Emanzipation der Juden!
-
-D. J. M. Sieht ja ungeheuer verführerisch aus, Ihre Destille von
-Menschenblut. Aber wissen Sie: Kunstrichtungen, unter uns gesagt,
-das sind doch wohl eigentlich immer die Künstler. Na, und +die+
-Künstler, die Richtung machen, das sind eben die paar urigen Kerls,
-die sozusagen noch koscheres Blut genug haben. Sehn Sie sich doch
-mal selber im Spiegel! Haben ’ne richtige deutsche „Schusterneese“.
-Brauchen mir garkeine Flappe zu machen; Goethe hatte auch solchen
-Zinken.
-
-D. D. D. Und hatte außerdem Augen und Lippen, wie man sie sonst nur an
-italiänischen Frauen sieht.
-
-D. J. M. Sie, sagen Sie das blos nicht zu laut! Sonst steigen Ihnen die
-Deutschen aufs Dach.
-
-D. D. D. Wie kommt es denn aber, daß die Deutschen, solange sie
-„sozusagen noch koscheres Blut genug“ hatten, also längstens bis etwa
-zur Zeit Karls des Großen, keinen einzigen namhaften Dichter gezeitigt
-haben, von anderen Künsten garnicht zu reden! Wo doch die Griechen
-schon vor der geschichtlichen Zeit mit Amphion, Eumolpos und Musäos,
-Orpheus, Homer und Hesiod paradieren. Sind das auch nur fingierte
-Namen, so beweisen sie doch das Volksbedürfnis nach vorbildlichen
-Kulturpersonen; nämlich die Griechen hatten sich damals schon mit
-allerhand fremdem Volk gemischt, von Illyrien bis Asien und Ägypten.
-Und wie kommt es, daß all die winzigen Rassen, die wir heute noch
-wirklich rein nennen dürfen, entweder weil sie von Hause aus keine
-Anlage zur Vermischung hatten, vielleicht auch blos keine Gelegenheit,
-oder weil sie erstarrte Mischrassen sind, also die sogenannten wilden
-Völker -- vom Pescheräh bis zum Eskimo, vom Australneger bis zum
-kapländischen Buschmann, vom indischen Paria bis zum Sioux-Indianer --
-gar kein Kulturgenie im Leibe haben, geschweige hohe Kunstbegabung?
-
-D. J. M. Na, Sie! das liegt doch klar auf der Hand. Wo alles die reine
-Unzucht ist, kann keine reine Zucht draus werden. Natürlich muß mal
-erst Mischung kommen, damit sich die bessere Rasse selbst auskennen
-lernt --
-
-D. D. D. und dann dieselbe reine Unzucht weiter treibt?
-
-D. J. M. Nein, Sie müssen mich nicht für’n Bählamm halten. Natürlich
-kapert sie dann allmählich auch die besseren Elemente der andern Rasse.
-
-D. D. D. Sehr richtig! Was ich vorhin schon sagte.
-
-D. J. M. Nanu? Das ist doch nichts allgemein Menschliches! Allgemein
-menschlich ist leider Gottes, daß sich auch schlechte Elemente mit
-einmischen.
-
-D. D. D. Das würde ich lieber allgemein hündisch nennen.
-
-D. J. M. Auch recht! Meinethalben! Sie müssen’s ja wissen. Sie sind ja
-wohl auf Erotik geaicht.
-
-D. D. D. Ja; von den Rasseschweinen nämlich. Eigentlich kommt mirs auf
-bessere Leser an.
-
-D. J. M. Na, sein Sie nur friedlich! Ich meinte ja grade: wenn der
-viehische Kuddelmuddel zu doll wird, dann gibts eben so’n paar bessere
-Menschen, wie die richtigen Künstler doch wohl sind, und in denen muckt
-was dagegen „uff“. Was muckt denn da uff, Sie Mann mit’s Talent? Doch
-wohl das Tröpfchen stärkere Rasse, das Sie noch irgendwo im Gemächte
-haben! Das nenne ich Reaktion der Persönlichkeit +gegen+ das
-allgemein Menschliche! Da zeigt sich eben die reine Natur!
-
-D. D. D. Schön; immerhin sind wir schon einig darüber, daß man mehrere
-Rassen im Blut haben muß, damit sich eine davon als die stärkere fühlen
-und mit ihrer „reinen Natur“ hervortun kann. Aber nun bitte, sagen
-Sie mal: es ist doch eine sehr seltsame „Reaktion“, daß z. B. Sie
-enragierter Jude die norddeutsche Landschaft samt ihrem Volksschlag,
-von Hamburg bis hinter Amsterdam, mit solcher natürlichen Kraft gemalt
-haben, wie bis jetzt noch kein holsteinscher oder friesischer Künstler.
-Warum hat denn Ihre Persönlichkeit, will sagen Ihre reine Natur, nicht
-lieber semitisch reagiert? Und warum hat z. B. der Holländer Rembrandt
-so wenig germanisch reagiert, daß er seine Motive und Modelle mit
-Vorliebe aus dem Judenviertel nahm?
-
-D. J. M. Ja wissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll: das hab ich mich
-auch schon manchmal gefragt. Auch warum ich blos blonde Weiber liebe.
-
-D. D. D. Das ist nicht so sonderbar, wie es scheint; grade die
-sogenannten Kulturrassen sind seit jeher auf Weiberraub ausgegangen,
-offenbar weil eben nur durch Blutmischung Kultur entwickelt und
-fortgepflanzt werden kann. Übrigens ist Ihre Judith doch dunkelhaarig,
-wenn auch keineswegs von semitischem Typ.
-
-D. J. M. Na, solch Biest, das soll man doch eben nicht lieben! das kann
-man meinthalben vor Haß bewundern!
-
-D. D. D. Ja, und sehn Sie, mir gehts grade umgekehrt: Ich stamme aus
-durchweg blauäugigen und überwiegend blonden Familien und liebe die
-dunkeln jüdischen Frauen. Ich finde bei keiner andern Art Weib so viel
-hellen Geist mit seelischer Glut verbunden. Es gibt ja freilich auch
-da böse Kreuzottern und allerhand gute Gänse und Schäflein; aber die
-besseren sind doch geborene Heldinnen, Richterinnen und Priesterinnen,
-um nicht zu sagen Göttinnen.
-
-D. J. M. Sie, jetzt schwärmen Sie aber, weiß der Herrgott, wie’n
-erotischer Muselmann!
-
-D. D. D. Oder vielleicht, von christlichem Standpunkt betrachtet,
-wie ein heroischer Jesuit -- blos daß ich keine himmlische Jungfrau,
-sondern möglichst viel irdische Musterweiber züchten möchte. Und da
-dürfte ein bißchen Menschenliebe doch vielleicht etwas fruchtbarer sein
-als der beliebte Rasseninstinkt, der sich meistens doch recht zuchtlos
-geberdet und in der Regel nur als Vorwand dient, um den gemeinen
-Menschlichkeiten des Hasses und Neides nach Willkür zu frönen.
-
-D. J. M. Nun, bei Licht besehn, wird wohl jeder Künstler auf +die+
-Art Modelle versessen sein, die seinen Instinkt am kräftigsten auf sein
-Talent hindirigiert, also aufs rein Persönliche.
-
-D. D. D. Und seine Phantasie aufs allgemein Menschliche; um nicht zu
-sagen Göttliche.
-
-D. J. M. Ach was, Phantasie ist doch keine Kunst! Phantasie ist immer
-blos Notbehelf.
-
-D. D. D. Sie wollen wohl sagen: +noch+ keine Kunst, und auch
-blos immer ein Notbehelf! wie +jeder+ naturelle Impuls bloßer
-Notbehelf zur Kunstschöpfung ist, z. B. auch der Rasseninstinkt.
-Kunst ist eben nur als Kulturprodukt schätzbar; und als solches will
-sie uns seelische Reize, die von Natur stets sehr mannichfaltig und
-herz-und-sinneverwirrend sind, in geistig beherrschter Einheit zeigen.
-
-D. J. M. Na ja, das ist ja wohl selbstverständlich. Aber sein Sie mal
-wieder ’n Moment lang stille; Sie nickköppen immer, wenn Sie reden.
-Ihre Nase ist doch nicht ganz so einfach, wie sie von vorne besehen
-aussieht. Von links, das ist ja freilich wahr, ists ’ne richtige
-brave Schusterneese; aber von rechts, da könnte sie ebensogut einen
-spanischen Torero zieren, oder ’nen polnischen Insurgenten, oder sonst
-so’was Mannichfaltiges ..... So, bitte: phantasieren Sie weiter!
-
-D. D. D. Mit der Nase, das wird wohl daran liegen, daß sie nicht mehr
-ihre natürliche Form hat; sie ist mir mehrmals in meiner Studentenzeit
-auf der Mensur zerhauen worden. Aber das soll ja wohl ebenfalls ein
-germanisches Rassemerkmal sein.
-
-D. J. M. Sie, nun ulken Sie mal gefälligst nicht! Ich bin wirklich
-gespannt, ob Sie leugnen wollen, daß jedes Volk einen eignen Stil
-produziert; und den machen doch wohl die einzelnen Künstler, wenn
-auch jeder daneben noch seine aparte persönliche Manier kultiviert.
-Übrigens, unter uns gesagt, imponiert mir die primitive Kultur von
-irgend so’nem Kaffernstamm verhältnismäßig millionenmal mehr als unser
-europäischer Knaatsch; so’n Maori oder Botokude hat im kleinen Finger
-mehr Stilgefühl, als der ganze Michelangelo mitsamt der Sixtinischen
-Kapelle.
-
-D. D. D. Verhältnismäßig ist das auch meine Meinung; nur taxiere ich,
-scheint’s, die Verhältnisse anders. Zunächst ist Volk und Rasse doch
-wohl Zweierlei. Jene Volkshorden, die noch reinrassig sind, haben’s
-leicht, einen reinen Stil zu bewahren, nicht wegen ihrer reinen Rasse,
-sondern bei ihren beschränkten Bedürfnissen, und weil wiegesagt in
-rein bleibenden Rassen die Nötigung zur Entwickelung ausbleibt.
-Lassen Sie solch ein simples Völkchen mit irgend einer Kulturnation
-in nähere Berührung kommen: was geschieht? Sofort entsagt es seinem
-natürlichen Stilgefühl und behängt sich mit importiertem Tand, genau
-wie der Bauer bei uns mit Stadtkram. Warum denn, trotz allem reinen
-Instinkt? Doch wohl nur aus der dumpfen Empfindung heraus, daß ihm
-da, im großen Ganzen genommen, etwas wesentlich Wertvolleres zuteil
-wird; blos vermag seine Unbildung nicht zu erkennen, daß es an ihm ein
-wertloses Einzelnes wird, zu seinem Wesen Unpassendes. Sehr Ähnliches
-aber vollzieht sich auch in den gebildeten Schichten der großen Völker,
-die wiegesagt durch Rassenmischung und andre natürliche Nötigungen in
-einer fortwährenden Entwickelung ihrer kulturellen Bedürfnisse leben.
-Da wird grade selbst das genialste Talent, weil es den geistigen Bedarf
-seiner Zeit bis in alle Seelengründe begreift, immerfort zwischen
-überlieferten und erst entstehenden Formtrieben pendeln, wird also wohl
-niemals im einzelnen Werk ein ganz vollkommenes Gleichgewicht zwischen
-traditionellem Stil und individueller Manier herstellen. Was soll uns
-da noch der Aberglaube, daß irgend ein besonderer Volksgeist diese fort
-und fort wechselnden Stile erzeugt, oder gar eine Extra-Rassenseele?
-Grade die Ornamentik der wilden Rassen zeigt ja sogar in getrennten
-Erdteilen eine oft auch Kenner täuschende Gleichförmigkeit; und die
-Stile der Kulturnationen sind nirgends blos in Einem Land, sondern
-jedesmal zu gleicher Zeit bei mehreren Völkern Brauch gewesen. Daraus
-folgt einerseits: Stil entsteht aus einem allgemein menschlichen
-Anpassungstrieb an bestimmte neue Lebensbedingungen, der sich am
-schnellsten, stärksten und deutlichsten eben immer in den Künstlern
-regt. Und andrerseits, mein verehrter Mitmensch: die stilistische
-Mißgeburt eines Michelangelo ist millionenmal wertvoller für die
-künftige Menschheit, d. h. geistvoller, seelenvoller, formvoller, als
-selbst die vollkommenste Tätowierung eines melanesischen Malermeisters.
-
-D. J. M. Na ja selbstverständlich; alles was recht ist. Aber sagen Sie
-mal: hab ich Ihnen schon mal meine kleine Sammlung Nanking-Porzellan
-gezeigt?
-
-D. D. D. Ja; es sind kostbare Stücke darunter.
-
-D. J. M. Wunder! Hat auch ein kostbar Stück Geld gekostet. Aber was ich
-eigentlich sagen wollte: kennen Sie auch alte Delfter Fayencen?
-
-D. D. D. Einigermaßen; und nun soll ich wohl eingestehen, der Holländer
-hab’s dem Chinesen nachmachen wollen und wegen seiner Rasse nicht
-fertig gekrigt?
-
-D. J. M. Ach was, Blech! Fayence ist natürlich kein Porzellan. Aber daß
-er bei der Nachmacherei ganz was Anderes aus den Mustern gemacht hat,
-was in seiner Art ebenso kostbar ist, und daß nachher, als die Delfter
-Muster dann in Japan weiter nachgemacht wurden, ditto was Anderes draus
-geworden ist -- was sagen Sie +dazu+, Sie deutscher Dichter?!
-
-D. D. D. Darauf könnte ich erstens erwidern, daß es japanische
-Ornamente genug gibt, die man für holländische oder chinesische
-ansprechen würde, wenn man ihren örtlichen Ursprung nicht wüßte oder
-aus Nebenumständen erriete. Wie man z. B. auch das Buch Ruth, wenn
-es nicht in der Bibel stünde und hebräische Nomenklatur an sich
-trüge, für ein wahres Schatzkästlein altdeutscher Treuherzigkeit,
-Rechtschaffenheit und Innigkeit ausgeben dürfte. Und der im Schädelbau
-sehr germanische Schiller könnte nach seinem gesamten Sprachbau viel
-eher ein Landsmann von Racine, Rousseau und Victor Hugo sein, als
-von Hans Sachs, Grimmelshausen und Heinrich v. Kleist. Überhaupt:
-wenn man ohne Vorurteil nachprüft, beruht die ganze Beweismethode
-der rassendogmatischen Kunstgeschichte auf dem bekannten Fehlschluß
-~post propter~, oder sogar blos auf Tautologie. Eine konstant
-gewordene Verbindung gewisser Eigenschaften benamst man „Rasse“, und
-im Handumdrehn wird dann die Benamsung zur innersten Ursache dieser
-Konstanz und womöglich auch noch der Eigenschaften; also etwa wie nach
-Onkel Bräsig die große Armut der kleinen Leute von der großen Povertee
-herkommt.
-
-D. J. M. Dadurch wird aber die Konstanz doch bestätigt, die Tatsache
-des Rassencharakters. Freilich gibts überall Ausnahmen; die beweisen
-aber bekanntlich die Regel.
-
-D. D. D. Wenn sie nicht etwa auf anderweite, minder bekannte Regeln
-hinweisen! -- Und deswegen möchte ich zweitens einwenden: weil Fayence
-„natürlich kein Porzellan“ ist, und weil der menschliche Kunstsinn aus
-zweierlei Stoff natürlich auch zweierlei Formen entwickelt, deswegen
-hat sich den Delfter Töpfermeistern trotz ihrer asiatischen Vorbilder
-schließlich von selbst ein neuer Stil aufgedrängt. Aber nicht blos
-deswegen allein, sondern jetzt will ich drittens gern zugeben: wenn ich
-auch nicht an einen beständigen Volksgeist auf Grund einer Rassenseele
-glaube, so doch an bestimmte zeitweilige Volksbedürfnisse, die sich
-auf die verschiedensten Ursachen, ideelle wie materielle, zurückführen
-lassen, z. B. moralische, religiöse, politische, ökonomische,
-klimatische, territoriale. Es wird noch viel zu wenig beachtet, und
-selbst Taine hat es nicht bis zu Ende gedacht, was Himmel und Erde,
-Luft und Licht, Landschaft und Witterung, Arbeit und Müßiggang,
-Reichtum und Armut, Freiheit und Knechtschaft aus der Menschenseele
-machen. Man verpflanze ein paar Millionen Britten nach Spanien und
-pferche sie in die katholische Kirche, und in 100 Jahren schon wird ihr
-Rassecharakter bis zur Unkenntlichkeit verwandelt sein; die Assyrer,
-Babylonier und Römer haben ja diese Art Politik an den Juden recht
-gründlich praktiziert. Aber auch im Gebiet seiner Heimat verändert der
-Mensch fortwährend den Erdboden, und der Boden rückwirkend ihn; wo
-einst Urwald war, ist heut Gartenland, oder wo Gärten waren, Wüste.
-Das geht freilich beträchtlich langsamer vor sich, als die seltene
-plötzliche Volksübersiedlung in ein ganz neues Wohngebiet; und da auf
-beständigem Heimatsboden auch die kulturelle Tradition beständiger
-bleibt, daher scheint das jeweilige Volksbedürfnis den Zeitgenossen
-so wunderbar urwüchsig, als stamme es von einem besondern, durchs
-Blut vererbten Rasseninstinkt. So mag denn mancher Stil in der Tat,
-obgleich auch er nur dem menschlichen Anpassungstrieb einiger weniger
-Künstler entsprang, einem alten Volksbedürfnis entsprechen. Ich sage
-absichtlich: mancher Stil, d. h. durchaus nicht all und jeder, der
-nachträglich eine populäre oder nationale Geltung erlangt. Denn in dem
-Kunstbedarf der Kulturnationen sind zwei sehr verschiedene Arten Kunst
-begehrt; da ist einerseits die große Masse -- aber ich glaube, ich
-langweile Sie!
-
-D. J. M. O bitte, wieso denn! Ich male ja. Und Ihr Mund sieht allemal
-sehr forsch aus, wenn Sie sich so für die Menschheit aufregen. Sie
-sollen mal sehn, Ihr Porträt wird gut.
-
-D. D. D. Also einerseits, wollte ich sagen, die große Masse der
-allgemeinen Gebrauchsgegenstände, vom kleinsten Topf bis zum ganzen
-Wohnhaus: deren Formung unterliegt in der Tat mit ziemlicher
-Dauerhaftigkeit der populären Tradition. Und weil hier die Form ganz
-überwiegend von körperlichen Bedürfnissen abhängt, so mag dabei auch
-die physische Rasse einigermaßen merklich mitwirken, wenigstens in
-reinrassigen Völkern, oder wo vielleicht eine ältere Mischrasse noch
-die Oberhand hat über jüngeres Mischvolk, wie z. B. in Rußland und
-in Teilen von China. Ich freilich möchte auch das bezweifeln; denn
-wenn wirklich irgend eine Art Formtrieb auf spezifischem Rassetalent
-beruhte, dann wäre völlig unbegreiflich, wieso dieser Trieb in manchem
-Volk abstirbt, trotzdem die Rasse im Volke noch fortlebt. Wie kurzlebig
-war die Kultur der Hellenen, und doch gibt es heute noch griechische
-Bauern genug, deren Körperbau ganz den antiken Typ hat!
-
-D. J. M. Blos leider mit türkischem Blut verkleistert! Und schließlich
-wird Jeder mal altersschwach.
-
-D. D. D. Das sagt man ja freilich auch Völkern nach, und es würde
-vielleicht sogar ganz vernünftig sein, wenn wirklich jeder Grieche von
-heute schon als Greis aus dem Mutterleib käme. Aber dem Rassenelement
-soll doch seelische Urkraft innewohnen; und seit wann werden Urkräfte
-altersschwach? Der Kunsttrieb in einem Tizian ist erst zugleich mit
-ihm selber gestorben! Er hat mit 99 Jahren gewiß nicht mehr wie als
-Jüngling gemalt, aber gemalt hat er bis zuletzt.
-
-D. J. M. Ja gewiß! Sehn Sie wohl! Was hab ich gesagt? Der war eben
-nicht vermuselmanscht!
-
-D. D. D. Na, wer weiß! Venedig lag nicht so weit von den Harems. Und er
-soll ja, unter uns gesagt, ein halb Dutzend Gattinnen totgeliebt haben;
-mehr dürfte wohl auch kein Türke leisten! -- Doch Spaß beiseite, und
-Schutt auf die Griechen! Aber die Araber und die Perser, die noch bis
-in die Renaissance hinein selbständige Kulturformen schufen und sich
-seitdem nicht mehr so reichlich wie früher mit anderen Rassen gekreuzt
-haben, sind heute gleichfalls barbarisiert. +Es sind wirtschaftlich
-verlotterte Völker, infolge der Unzulänglichkeit ihrer humanen Ideale,
-denn die rächt sich stets auch sozialpolitisch.+ Solche Völker
-vermögen dann nicht einmal in den gewöhnlichsten Kunstgewerben ihre
-stilistische Tradition auf alter Höhe zu erhalten, geschweige daß sie
-die andre Art Kunst, die aus rein seelischen Bedürfnissen stammt,
-noch irgendwie schöpferisch betreiben. Und nun die Hauptsache: diese
-andre Art Kunst weist wiederum zwei durchaus verschiedene, zwar
-sinnlich vielfach verbundene, aber geistig ganz gesonderte Spielarten
-auf: die der Unterhaltung und die der Erhebung. Mag sein, daß die
-+unterhaltenden+ Künste, die ja die eigentlich populären sind,
-noch Rückschlüsse auf die Rasse erlauben, zwar kaum des Künstlers,
-doch vielleicht seiner Kundschaft. Denn auch diese Künste wurzeln
-noch halb im Gewerbe, vom Volkslied der alten Bänkelsänger bis zum
-modernen Familienroman, vom Nationaltanz bis zur Salon-Akrobatik,
-vom Rüpelspiel bis zum ehrsamen Rührstück, vom ungeschlachten
-Jahrmarktsbild bis zum allerleckersten Eßzimmer-Stillleben. Sie hängen
-direkt vom Bedürfnis des Alltags ab, sie betreiben den Zeitvertreib
-als Geschäft, sie behandeln das sinnliche Leben als Selbstzweck, sie
-müssen gemeinverständlich sein, sie zielen mit einfachsten geistigen
-Reizen auf körperliche Erregungen, auf Augenweide und Ohrenschmaus,
-auf Zwerchfell- und Tränendrüsenkitzel, auf Herz- und Nieren- und
-Rückenmarksgruseln; also wird ihre Form wohl auch zum Teil von
-denselben Naturkräften mitbestimmt, die dem menschlichen Körper den
-groben Stempel einer beständigen Rasse aufdrücken.
-
-D. J. M. Na, was Andres hab ich doch niemals behauptet!
-
-D. D. D. Nun aber die freieren, reineren Künste, die ich vorhin die
-+erhebenden+ nannte, weil sie höher hinauswollen als das sinnliche
-Dasein: was hat der Volkskörper damit zu schaffen? Er dient ihnen
-höchstens als Mittel zum Zweck; hier herrscht ganz und gar nur die
-Schöpfermacht der begeisterten und begeisternden Seele. Diese Künstler
-bewerben sich nicht um Volksgunst, sie betreiben das innere Wachstum
-der Menschheit. Da will der Geist die Nerven des Leibes nicht blos
-mit flüchtigen Reizen liebkosen, sondern innigst mit seinem Liebreiz
-befruchten, bis in die feinsten Gehirnzellenfasern, die kein Vivisektor
-je auskennen wird, weil immer noch welche nachwachsen werden. Da
-empfängt die Form kaum noch indirekt von der populären Tradition ihren
-Stil; denn das durch und durch Maßgebende ist da eben die befreiende
-Leidenschaft, die neues Menschentum schaffen will, dieselbe göttliche
-Leidenschaft, aus der auch die religiösen Visionen, die sozialen und
-nationalen Phantome, kurz alle Ideale entspringen. Sie tritt immer
-zuerst nur im Einzelgeist auf, ist nie und nirgends dem Volk gleich
-willkommen, muß überall erst im Kampf mit der Welt ihre rätselhafte
-Kraft erweisen, die an jedem Widerstand wächst und reift. Ja, sie
-stammt sogar aus dem Widerstand: aus dem Zwiespalt zwischen Mensch und
-Natur, den die Kultur überbrücken möchte, und der sich im schaffenden
-Einzelgeist als Konflikt mit den Masseninstinkten auftut. Oder meinen
-Sie etwa, daß Ihre Judith, an der Sie sich Jahrelang abgequält haben,
-sofort begeisterten Zuspruch fände, wenn Ihr verehrliches Publikum aus
-lauter koscheren Juden bestünde?
-
-D. J. M. Gott der Gerechte! Dann doch schon lieber aus lauter
-gemischten ollen Hellenen.
-
-D. D. D. Ja, die hättens Ihnen erst recht gesteckt; den Phidias
-wenigstens haben sie wegen Gottlosigkeit aus Athen weggegrault, und
-der Äschylos wurde so kujoniert, daß er ebenfalls ausgewandert ist.
-Die deutschen Schulmeister sind zwar der gütigen Meinung, daß jeder
-Spießbürger von Athen ein Zeitgenosse des Perikles war und begeistert
-in die Tragödie ging; er ging aber hin, weil’s Staatspflicht war,
-weil ihm das Eintrittsgeld ausgezahlt wurde, weil er den berühmten
-Obolus krigte, durch den ein paar raffinierte Patrizier die primitive
-Kirmeßbühne zur sozialpolitischen Anstalt entwickelten. Begeistert
-war man vielleicht für den Chortanz, für die bachantische Satyrposse,
-für die religiösen Prozessionen, und was sonst noch an festlichem
-Schaugepränge mit dem Drama seit Alters zusammenhing. Begeistert war
-man für alle Gymnastik, wie mans heute für Zirkus und Variété ist,
-oder in Spanien fürs Stiergefecht. Das Volk begeistert sich immer blos
-für ~panis et circenses~ von selbst; das war im antiken Athen und
-Rom ganz wie im modernen Paris und Madrid. Die Plebs will sich einfach
-delektieren; zwar möglichst variabel, doch immer simpel. Das Erhabene,
-wenn es nicht altersgrau war, beschmiß der athenische Bildungspöbel
-mit genau solchem kritischen Schnodderwitz, wie heute der berlinische;
-Beweis die Aristophanische Posse, die diesen Witz mit genialer
-Selbstironie in die poetische Sphäre erhob. Die Kunst des geläuterten
-Menschengeistes, die sich aus instinktiven Konflikten zu ästhetischen
-Harmonieen hinaufringt, liegt ursprünglich stets nur im Bedürfnis
-komplizierter Persönlichkeiten, schon dem Wesen der Motive nach; sie
-wird überall erst durch die Liebhaber dem Volksgeschmack allmählich
-vermittelt, und mit gründlichem Erfolg nur dann, wenn die Vermittler
-zur herrschenden Klasse gehören oder sonstwie in Amt und Würden
-sitzen, z. B. auf dem Schulmeisterthron. An Ihrer Judith hat sichs ja
-deutlich gezeigt; wer sieht denn da heute das geistige Pathos hinter
-der sinnlichen Attitüde? Selbst der gebildete Durchschnittskenner hat
-einstweilen noch keine leise Ahnung von dem allgemein menschlichen Wert
-dieser Geste; er besieht sich den naturalistischen Akt.
-
-D. J. M. Ist mir ja ungemein schmeichelhaft alles; aber eigentlich
-muß ich ehrlich bekennen, ich hatte selber noch keine Ahnung davon.
-Ich denke beim Malen an nichts Allgemeines, ich will immer was ganz
-Besonderes machen. Sie sehn doch, ich zeichne hier Ihre Visage, und Sie
-reden das Blaue vom Himmel herunter. Kommt mir ja alles sehr gottvoll
-vor, und mein sogenannter Menschengeist denkt sich ja auch allerlei
-dabei; aber bilden Sie sich nun faktisch ein, davon soll was auf Ihr
-Porträt abfärben? Ich sage Ihnen, +die+ Sorte Geist hat mir noch
-keinen Bleistiftstrich machen helfen!
-
-D. D. D. Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Aber Ihre Kohlenskizze
-da würde doch vielleicht etwas anders ausfallen, wenn ich hier stumm
-wie ein Fakir säße oder tragische Verse deklamierte.
-
-D. J. M. Alles was recht ist: Sie döppen mich wirklich gut.
-
-D. D. D. Man weiß nämlich nachträglich nie so genau, was man bei jedem
-Bleistiftstrich denkt. Ich habe Sie übrigens im Verdacht, Sie legen’s
-drauf an, sich döppen zu lassen; dann wäre also +Ich+ der Gedöppte.
-
-D. J. M. Ja, eigentlich gehts ja auf keine Kuhhaut, was einem beim
-Malen so durch den Grips geht. Ich hab’s auch wahrhaftig schon immer
-gesagt: ich pfeiff aufs Geschäft, ich bin Idealist!
-
-D. D. D. Das ist wohl schließlich jeder Künstler, und sogar jeder
-echte Kunsthandwerker, auch wenn er nicht so laut pfeifen kann. Und
-das allein schon beweist zur Genüge, wie wenig im Grunde das Talent
-mit einer bestimmten Rasse zu tun hat. Der Rasseninstinkt, wenn er
-ehrlich ist, hat ja nicht das mindeste Interesse an irgend einem
-Ideal, das über die Reinrassigkeit hinausgeht; das ist ihm ja gradezu
-gefährlich. Selbst schon das nationale Ideal, das sich vielleicht noch
-am ehesten auf primitive Instinkte stützt, muß seinem politischen
-Wesen nach von Hause aus darauf bedacht sein, sich mit +mehreren+
-Rassen abzufinden; denn es gibt kein einziges Staatsgebilde, dessen
-Volkskörper nicht aus wenigstens zwei verschiedenen Stammvölkern
-aufgebaut ist, aus Eroberern und Unterworfenen. Und nun gar die
-humaneren Ideale; die entstehen doch eben aus der Sehnsucht, uns
-über die rohen Zwangsgewalten der Naturinstinkte hinwegzusetzen,
-und diese Sehnsucht stak schon im simpelsten Schnörkel, mit dem
-der Urmensch an seinem Beilgriff oder am Rand seines Trinkgefäßes
-den Zweck der Notdurft verkleidete. Wenn man also unsern höchsten
-Kulturprodukten wirklich noch Rassenelemente als Formkräfte unterlegen
-wollte, dann könnten es immer nur Mischungsverhältnisse sein, die
-grade den harmonischen Stil in die originale Manier hineinbrächten.
-Denn nur aus vielfachen Blutmischungen ließe sich allenfalls die
-Zeugung jener komplizierten Temperamente erklären, die überhaupt das
-Bedürfnis empfinden, die Dissonanzen, Kontraste und Konflikte ihres
-persönlichen Seelenlebens um der Menschheit willen zu harmonisieren.
-Das gilt sogar von dem populärsten, dem ökonomischen Idealismus,
-den man heute speziell den sozialen nennt; auch dessen Formen und
-Reformen sind ursprünglich immer nur Hirngespinnste von einigen
-wenigen Menschenfreunden, die das Volk bekanntlich zu kreuzigen
-pflegt, bevor es sie vergöttern lernt. Und wer hat denn die nationale
-Idee, die von Bismarcks Gnaden realisiert und dann von seinen
-Kreaturen zur patriotischen Phrase verpöbelt wurde, dem deutschen
-Michel eingetrichtert? Etliche edle Brauseköpfe des europäischen
-Völkerfrühlings, ein paar Poeten, Philosophen und Legislatoren, durch
-den Tyrannen Bonaparte zu glühender Freiheitsliebe erregt, die von
-den hohen Obrigkeiten so rasch wie möglich abgekühlt wurde, während
-der sogenannte Volksgeist von selber kalte Füße krigte! Lesen Sie nur
-nach, wie die Kleist und Arndt, die Fichte und Schleiermacher, die Jahn
-und Görres ihre Hoffnungen auf Deutschland zu Grabe trugen, wie die
-Scharnhorst und Gneisenau Undank ernteten, wie selbst der Freiherr vom
-Stein und Blücher um den Sinn ihrer Taten betrogen wurden! Oder wenn
-Sie noch mehr Beweise wünschen --
-
-D. J. M. Nein, Gott soll schützen, ich schwitze schon! -- Und
-überhaupt: ich bin nämlich fertig. Die Skizze ist wirklich gut
-geworden. Wenn Sie erlauben, möcht ich jetzt einpacken.
-
-D. D. D. Na, darf man sie denn nicht erst mal sehen?
-
-D. J. M. Ja, wenn sie fertig ist, wissen Sie! Ich wollte blos sagen:
-für heut bin ich fertig. Wenn Sie wieder mal herkommen, mach ich sie
-weiter. Sie ist wirklich nicht schlecht; Sie können mirs glauben! --
-Na, wenns sein muß: bitte, treten Sie näher! --
-
-D. D. D..... Da scheint unsre Disputation aber doch etwas heftig
-abgefärbt zu haben. Ich sehe ja aus wie’n Federvieh, das Ihr Teckel
-zwischen den Zähnen gehabt hat. Aber ich sag’s ja: schließlich bin
-+Ich+ der Gedöppte.
-
-D. J. M. Ja, nicht wahr? da merkt selbst ’n Kaffer die Rassenmischung!
--- Man kann’s auch von weiter weg besehn. „Is ’ne Nummer“, wie sie im
-Zirkus sagen; der reine „Kraftmélange-Akt“!
-
-D. D. D. Mir deucht aber: mehr Mélange als Kraft. Sie wollen’s wohl in
-den Papierkorb packen?
-
-D. J. M. Was? Wieso denn? Sie sind wohl nicht von hier, mein Herr?! Das
-verkauf ich an irgend ein Museum! Sie sollen mal sehn, Sie deutscher
-Dichter: wenn Sie erst in der Nationalgalerie hängen!
-
-D. D. D. Nein, im Ernst: die Skizze scheint mir wirklich mißglückt. Sie
-haben zuviel an mein Geschwätz gedacht.
-
-D. J. M. Ach ja richtig, Sie sind ja nicht fürs Nationale. Und nun
-denken Sie einfach, ich mache Spaß, weil Sie meinen, ich sei ein
-Franzosenschüler!
-
-D. D. D. So einfach pflege ich nicht zu denken.
-
-D. J. M. Na, oder ein allgemein menschlicher Jude! Ich habe doch
-ziemlich deutlich gehört, daß Sie aufs Nationale pfeifen.
-
-D. D. D. Da haben Sie ziemlich vorbeigehört.
-
-D. J. M. Nanu? Sie haben doch deutlich gesagt --
-
-D. D. D. daß die Nation keine Kunst erzeugt. Damit ist doch aber
-durchaus nicht geleugnet, daß die Kunst nationalen Charakter annehmen
-kann. Selbst der weiseste Künstler bleibt der Narr seines Mitgefühls.
-
-D. J. M. +Die+ Logik ist mir etwas zu kringlig.
-
-D. D. D. Nun, es ist doch dieselbe Leidenschaft, dieselbe
-schöpferische Begierde, derselbe göttliche Sinn oder Wahnsinn, woher
-die Menschennatur kulturelle Ideen und die Volksmasse nationale
-Tendenzen empfängt, überhaupt alle irgendwie universalen Illusionen und
-Phantasmen. Es ist immer wieder die ewig gleiche, Ungleiches einende
-Einbildungskraft, die auch im Kunstwerk dem Einzelwesen harmonischen
-Allgemeinwert verleiht; nur die Intressensphären liegen verschieden.
-Warum sollten sich die aber nicht berühren können und unter Umständen
-miteinander verbinden? Vielleicht ist sogar zu gewissen Zeiten die
-eine der andern Nothelferin. Wenigstens zeigt die Geschichte der
-Menschheit, daß immer, wenn in den rührigsten Völkern neue humane
-Ideale entstehen, daß dann zugleich auch die nationalen am ungestümsten
-aufbegehren; womit ich natürlich nicht sagen will, daß das nun ewig so
-bleiben muß.
-
-D. J. M. Und da denken Sie also, die beiden Aale verwickeln sich so mit
-den Schwänzen zusammen, daß der Mensch die göttliche Sehnsucht krigt,
-einen einzigen Aal draus zu phantasieren?
-
-D. D. D. Nein, so verwickelt denken wahrscheinlich blos Bandwürmer.
-
-D. J. M. Na, wovon krigt man denn aber den dollen Gieper auf so’was
-allgemein Göttliches? Irgendwovon muß der doch kommen!
-
-D. D. D. Ja, da müßten Sie mir schon wirklich erlauben „das Blaue vom
-Himmel herunter zu reden“. Von der Rasse kann doch wohl lediglich der
-Gieper auf allgemein Tierisches kommen; und von irgend sonstwelchen
-Formationen der irdischen Materie, ob’s nun klimatische Ortsumstände
-oder soziale Zeitumstände sind, werden Sie diese ewige Sehnsucht
-nach harmonischer Umformung der Natur erst recht nicht hinreichend
-ableiten können. Wenn sich die überhaupt noch logisch ergründen und
-mechanisch begreifen läßt, dann müssen wir schon den mystischen
-Äther der Herren Physiker psychisch ausdeuten: unsre Abstammung von
-der Sonnenmaterie, die rhythmodynamische Struktur der kosmischen
-Centralsysteme, die sogenannte Harmonie der Sphären, den Einfluß
-der schwingenden Sternenwelten auf unser eigenes kleines Gestirn,
-all die bewegten siderischen und planetarischen Konstellationen,
-die bis in den Erdball hinein vibrieren und sich als wechselnde
-Innervationspotenzen, als beseelende und begeisternde Kräfte, den
-Erdbewohnern einverleiben. Oder halten Sie’s etwa für Aberglauben,
-daß immer, wenn sich die Menschenwelt zu erhabenen Kraftanstrengungen
-aufrafft, zu Völkerwanderungen, Staatsumwälzungen, Befreiungskriegen,
-Entdeckungsfahrten, Glaubenskämpfen und andern Kulturekstasen, daß dann
-immer zugleich auch in der Naturwelt gewaltige Katastrophen ausbrechen,
-Erdbeben, Springfluten, Wirbelstürme, Heuschreckenschwärme, mikrobische
-Epidemieen, vulkanische Eruptionen und dergleichen, begleitet von
-seltsamen Himmelserscheinungen, ungewöhnlichen Meteoren, Kometen,
-Nordlichtern, Sonnenfinsternissen?!
-
-D. J. M. Da’s faktisch so ist, wird’s wohl so sein. Es rumort ja auch
-jetzt wieder allenthalben.
-
-D. D. D. Und also wird sich wohl auch kein Künstler, selbst wenn er’s
-mit stärkstem Eigensinn wollte, den jeweils zeitbewegenden Kräften,
-die sich als Ideale äußern, entziehen oder verschließen können. Und
-wenn in unserer ebenso stark nationalen wie internationalen Epoche
-ein schöpferischer Geist auf dem norddeutschen Weltteil mit seiner
-reichsdeutschen Staatsbürgerhand allgemein-menschliche Werte malt, und
-zwar aus rein malerischer Lust zur Sache: dann ist er nicht blos ein
-wertvoller Maler, sondern zugleich, auch wenn er ein Jude ist und in
-Paris auf die Schule ging, einer der reinsten deutschen Künstler, die
-sich je in der Nationalgalerie aufhängen ließen.
-
-+Der Jüdische Maler+: Na sehn Sie, das freut mich! Und offen
-gesagt: das hab ich von Ihnen blos hören wollen!
-
-+Der Deutsche Dichter+: Oh meine Ahnung! Ich Michel! Sie Schurke!
--- Das soll wohl heißen, der Mohr kann gehen?!
-
-+Der Maler+: Blos, er muß versprechen wiederzukommen! Und das
-nächste Mal, da mal’ich ihn +besser+.
-
-+Der Dichter+: Und ich singe ein Loblied aufs Rassige...
-
-
-
-
-Die Menschenfreunde
-
-Drama in drei Akten
-
-Zweite Ausgabe
-
-Copyright 1917 +S. Fischer+, Verlag.
-
-
-
-
-Personen:
-
-
- +Christian Wach+, ein Multimillionär.
- +Justus Wach+, sein Vetter, Kriminalkommissar.
- +Die alte Anne+, Wirtschafterin bei Christian.
- +Ein Geheimer Sanitätsrat.+
- +Ein Oberbürgermeister.+
- +Ein Oberregierungsrat.+
- +Ein Regierungspräsident.+
- +Ein Minister.+
-
- +Alle+ männlichen Personen treten in schwarzem Gehrock auf,
- die Wirtschafterin in schwarz-und-weißer Schwesterntracht. Der
- Dialog hat +langsames Tempo+.
-
-
-Zeit:
-
-Sommer, Herbst, Winter 1913, alle drei Akte vormittags.
-
-
-Ort:
-
-Empfangszimmer bei Christian Wach.
-
- Sehr einfach ausgestattet, fast dürftig, mit altmodischen
- Möbeln. Nirgends Spiegel noch Bilder; nur in der Mitte der
- Hintergrundswand, über einem halbhohen Bücherbord, hängt das
- Porträt einer älteren Dame mit hageren Zügen und auffälligen
- Augen, lebensgroße verblaßte Photographie. Links im Hintergrund
- Eingangstür, vorn ein schlichter Kamin mit Standuhr. In der
- Seitenwand rechts ein Fenster mit verschossenen Vorhängen; daneben
- ein Lehnstuhl aus dunklem Korbgeflecht und ein kleiner Lesetisch.
- In der Mitte des Zimmers ein größerer runder Tisch mit drei Stühlen
- aus dunklem Holz. Rechts und links immer vom Zuschauer aus.
-
-
-
-
-Erster Akt
-
-
-+Christian Wach+
-
- (sitzt lesend am Fenster, von der Vormittagssonne beglänzt)
-
--- -- Also auch der Galneggy hat seine Milliarde mit Menschenschinderei
-erworben -- eh er Millionen verschenken konnte -- (_nickt vor sich hin
-und klappt das Buch zu_) -- schauerlich! -- --
-
-+Die alte Anne+
-
- (tritt ins Zimmer, einen hellroten Rosenstrauß in der einen Hand,
- in der andern eine weiße Serviette und schlichte blaue Glasvase)
-
-So, Herr Christian, wenn Sie auch schelten, ich gratuliere zum
-fünfzigsten Geburtstag. Kostet nur dreißig Penning bitte; der ganze
-Markt war voll Bauernrosen, ich konnt der Sommerfreude nit widerstehn,
-und dem erquickenden Geruch. (_Sie legt die Serviette auf den
-Tisch, setzt die Vase mit dem Strauß darauf._) Nun machen Sie mal
-ein helles Gesicht, wie sich’s gehört zu den schönen Blumen und dem
-Geburtstagssonnenschein!
-
-+Christian+
-
- (ist aufgestanden und hat das Buch in den Wandbord gestellt)
-
-Ich danke dir, Anne, du meinst es gut; aber du weißt, mich peinigt
-solche Verschwendung. Für die dreißig Pfennige hättest du besser einem
-Bettelkind etwas zu essen gekauft.
-
-+Anne+
-
-Ja, das hätt sich wohl mehr gefreut als Sie. Ach, Herr Christian, geb
-Ihnen Gott ein bißchen Kindersinn zurück! Dann würden Sie bald auch
-wieder gesund werden.
-
-+Christian+
-
- (unruhig hin und her, Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken, in der
- Erregtheit zuweilen stotternd, aber stets mit Zurückhaltung)
-
-Lala-laß das Gerede, ich bin nicht krank; ich spüre blos, daß ich alt
-werde.
-
-+Anne+
-
-Weil Sie nicht auf mich hören, Sie junger Mann. Mich drücken meine
-Jahre nicht; und könnt doch fast Ihre Mutter sein, mit meinen beinah
-sechsundsechzig. Nehmen Sie sich ein Kind ins Haus, wenn Sie durchaus
-keine Frau nehmen wollen!
-
-+Christian+
-
-Bist doch auch ledig geblieben, alte Anne.
-
-+Anne+
-
-Ich -- was wissen denn Sie davon? Blos daß mich leider keiner heiraten
-wollt, mit meinem Huckepack auf’m Rücken; da hab ich halt Kinder und
-Kranke gepflegt.
-
-+Christian+
-
-Dein Rücken ist nicht viel krummer als meiner. Was siehst du mich
-wieder so auffällig an?!
-
-+Anne+
-
-Ja, nehm Ihnen Gott Ihren Huckepack von der +Seele+ --
-
-+Christian+
-
- (heftig)
-
-Lala-laß mich in Ruhe mit deinem Gott! (_sich bezwingend_) sein Reich
-ist nicht von dieser Welt. -- (_Nach dem Porträt hinüberdeutend_) Geh,
-stell den Strauß da auf den Sims.
-
-+Anne+
-
-Was! meine Rosen da unter das Bild?
-
-+Christian+
-
-Geh, tu mir die Liebe, ich bitte dich.
-
-+Anne+
-
-Neun Jahre liegt sie nun unter der Erde, und immer noch spukt sie Ihnen
-im Hirn, als hätten Sie Angst vor ihrem geizigen Blick. Das ist ja
-Narrheit, Herr Christian!
-
-+Christian+
-
-Nein, das ist Dankbarkeit, Anne, versteh doch! Du weißt, ich habe seit
-Tante Brigittens T-Tod über das menschliche Elend nachdenken lernen;
-und wenn ich nun die v-vielen Millionen, die sie mir hinterlassen hat,
-nicht grade in ihrem sparsamen Sinne verwende.
-
-+Anne+
-
-Gott sei Dank --
-
-+Christian+
-
-dann muß ich ihr doch tatsächlich im stillen gewissermaßen Abbitte
-leisten; sozusagen als ihr Scha-Schuldiger, wie’s im Vahaha-haterunser
-heißt.
-
-+Anne+
-
-Spotten Sie nicht, Herr Christian! Und meinen Rosenstrauß stell ich
-+nicht+ da hinüber. Hab ihn auch garnit blos Ihnen zulieb gekauft.
-Wenn nachher die Herrn gratulieren kommen
-
-+Christian+
-
-Was soll das heißen! ich hab dir ausdrücklich gesagt, daß du niemand
-vorlassen sollst!
-
-+Anne+
-
-Doch nur die Herren von der Regierung; die kann man doch nit vor den
-Kopf stoßen. Und dann muß es hier doch ein bißchen freundlich aussehn.
-Auch ein Fläschchen Tokayer hab ich noch mitgebracht; man muß doch ein
-Gläschen Wein anbieten.
-
-+Christian+
-
- (mit dem Fuß aufstampfend)
-
-Du wirst mich w-wirklich noch krank machen, Anne! Du trägst die
-Faffa-Falasche zum Krämer zurück! (_Da Anne Miene zum Widerspruch
-macht_) Du trägst sie zurück! ich will’s, sag ich dir!
-
-+Anne+
-
-Wenn ich Sie damit beruhigen kann --?
-
-+Christian+
-
- (wieder durchs Zimmer wandernd)
-
-Wenn ich mir selber keinen W-Wein spendiere, bin ich dem Bürgermeister
-auch keinen schuldig! -- Kannst die Flasche aber für +Dich+
-dabehalten. Hast wenig genug vom Leben bei mir.
-
-+Anne+
-
-Ihr gutes Herz in Ehren, Herr Christian; ich hab noch nichts entbehrt
-bei Ihnen. Aber trotz all Ihrer Wohltätigkeit: manchmal scheint’s fast,
-die selige Tante hat Ihnen auch was von ihrem Geiz vererbt.
-
-+Christian+
-
-Scheint’s fast? Ha-hat sie? Was scheint dir denn sonst noch?
-
-+Anne+
-
-Wenn ich denk, wie Sie früher mitteilsam waren! Der Herr Sanitätsrat
-ist auch der Meinung: wenn Sie ab und zu ein Gläschen sich gönnen
-wollten, das würd Sie wieder umgänglich machen. (_Auf die Bibliothek
-weisend_) Ihre Bücher machen Sie blos immer menschenscheuer; Sie
-sprechen ja manchmal Tagelang kein überflüssiges Wörtchen mehr.
-
-+Christian+
-
-Also meine einzige Freude gönnst du mir nicht; die l-letzte, die ich
-mir noch erlaube!
-
-+Anne+
-
-Aber nein, wie Sie reden -- ich mein doch blos: Sie holen sich
-+keine+ Freude draus. Über Büchern läßt man den Kopf hängen; man
-holt sich blos seine eignen Grillen draus.
-
-+Christian+
-
- (wieder aufstampfend)
-
-Schweig! -- Schweig, sag’ ich dir, ich hab genug! -- Ich hab mir das
-l-l-längst schon selber gesagt; ich werde morgen die Bücher verkaufen.
-
-+Anne+
-
-Aber liebster bester Herr Christian!
-
-+Christian+
-
-Ich +werd’s+, sag ich dir!
-
-+Anne+
-
-Jaja doch, gewiß doch. Aber bitte, lieber Herr Christian, quälen
-Sie nicht mich dumme Person; nehmen Sie mir zuliebe Ruh an! Kommen
-Sie, setzen Sie sich in den Lehnstuhl; rennen Sie nicht so herum
-immerfort. Glauben Sie mir, ich kenn Ihre Nerven; wozu war ich denn
-Krankenschwester.
-
-+Christian+
-
-Du sollst mich nicht so a-ansehn, Anne!
-
-+Anne+
-
-Kommen Sie, sein Sie nit so verbiestert -- der Herr Sanitätsrat hält’s
-auch nit für gut -- (_nötigt ihn währenddem in den Korbstuhl_).
-So, jetzt hole ich Ihnen ein Buch -- (_draußen elektrisches
-Klingelzeichen_). O schad, da sind die Herren wohl schon -- nehmen Sie
-Ruh an, Herr Christian -- (_ab nach links_) --
-
-+Christian+
-
- (allein)
-
--- -- Schauerliche Komödie -- --
-
-+Anne+
-
- (läßt zwei Herren eintreten)
-
-Bitte, Herr Oberbürgermeister -- bitte, Herr Oberregierungsrat --
-(_dann wieder ab._)
-
-+Christian Wach+
-
- (hat sich erhoben, weist auf die Stühle am Mitteltisch)
-
-Willkommen, meine Herren, nehmen Sie Platz; was verschafft mir die
-ungewöhnliche Ehre?
-
-+Bürgermeister+
-
- (stehen bleibend)
-
-Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, verehrter Herr Kommerzienrat.
-
-+Regierungsrat+
-
- (ebenso)
-
-Heute tatsächlich auf unsrer Seite; tatsächlich, Herr Kommerzienrat.
-
-+Bürgermeister+
-
-Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen im Namen der Bürgerschaft
-und der übergeordneten Ratspersonen die ergebensten aufrichtigsten
-Glückwünsche zu Ihrem fünfzigsten Jahrestag auszusprechen. In der
-festen Hoffnung, daß es Ihnen, hochzuverehrender Herr Kommerzienrat,
-noch Jahrzehnte lang beschieden sein werde, Ihre gemeinnützige
-Gesinnung mit unverminderter Kraft zu betätigen, und um die
-Dankbarkeit öffentlich kundzutun, mit der wir zu dem selbstlosen
-Menschenfreund aufblicken (_Christian Wach zuckt merklich zusammen,
-stützt sich auf die Stuhllehne rechts des Tisches_) -- zu dem Stifter
-sovieler Wohlfahrts- und Bildungs-Anstalten --: haben wir einstimmig
-beschlossen, Sie am heutigen Tage zum Ehrenbürger unserer Haupt-
-und Residenzstadt zu ernennen. In Rücksicht aber auf Ihre bekannte
-Abneigung gegen persönliche Celebrationen, glaubten wir Abstand nehmen
-zu sollen von den üblichen Förmlichkeiten, und ich erlaube mir deshalb,
-die Ernennungsurkunde hiermit in denkbar einfachster Form zu Ihren
-Händen gelangen zu lassen. (_Er überreicht ihm eine Rolle und schüttelt
-ihm gewichtig die Rechte._)
-
-+Regierungsrat+
-
-Im Namen nicht nur der Regierungsorgane, sondern auch Seiner
-Königlichen Hoheit des Großherzogs, darf ich Sie, Herr Kommerzienrat,
-als Erster zu dieser Ernennung beglückwünschen. Seine Königliche Hoheit
-haben zugleich geruht, Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste um das
-allgemeine Wohl den Kronenorden der obersten Klasse mit der Kette zu
-verleihen. Sie wissen, wieviel Aufmerksamkeit unser gnädiger Herr den
-sozialen Bestrebungen widmet, und daß es mehr als eine Förmlichkeit
-ist, wenn jemand in unserem Staatswesen einen solchen Ansporn zu
-weiterer Betätigung seiner Menschenfreundlichkeit empfängt. (_Er
-überreicht ihm ein Kästchen und verneigt sich._)
-
-+Christian Wach+
-
-Meine Herren, ich danke untertänigst. Ich fühle mich in Wahrheit
-beschämt und b-bitte es als einen Beweis meiner Ergriffenheit
-anzusehen, wenn ich diese hu-hu-huldvollen Ehrenzeichen vor dem Bilde
-derjenigen Person niederlege, auf deren wirtschaftliche Tüchtigkeit
-ich meine sogenannten Verdienste zurückführen muß -- (_er legt beides
-auf den Bücherbord unter das Porträt_). M-M-Menschenfreunde sind wir
-wohl alle nur, soweit es unsre Selbstsucht zuläßt; und was bedeutet
-ein bißchen Wohltäterei in der ungeheuren W-Wüste des menschlichen
-Elends! Sie hat höchstens den Wert eines Grashälmchens, an das sich die
-Hoffnung klammern kann, daß +mehr+ Haha-Halme nachwachsen werden.
-
-+Regierungsrat+
-
-Also ein vorbildlicher Wert, der immer weiter und höher zunehmen kann,
-und somit der höchsten Beachtung aller Strebsamen würdig.
-
-+Christian Wach+
-
- (sich wieder auf die Stuhllehne stützend)
-
-Ich verstehe, Herr Oberregierungsrat -- und das wird mir ein Ansporn,
-wie Sie gütigst sagten, zu weiterer Betä-tä-tätigung sein; obgleich
-die unverminderte Kraft, von der Sie, Herr Oberbürgermeister, mit
-Ihrer bekannten Freundlichkeit sprachen, leider an die selbstsüchtigen
-Schranken meiner angegriffenen N-N-Nerven gebunden ist. Bitte, wollen
-wir uns nicht setzen?
-
-+Bürgermeister+
-
-In Rücksicht auf Ihre werte Gesundheit möchte ich meinerseits
-vorziehen, mich jetzt ergebenst zu empfehlen; nicht ohne dem herzlichen
-Wunsche Ausdruck zu geben, daß es Ihnen bald wieder vergönnt sein
-möge, an den geselligen Freuden Ihrer Mitbürger einigermaßen
-teilzunehmen. Ich habe im Anschluß an die Sitzung, in der wir Ihre
-Ehrung beschlossen, die Gelegenheit wahrgenommen, einen neuen Verein
-zu gründen, der alle wohlgesinnten Elemente unserer strebsamen
-Landeshauptstadt allmählich konsolidieren soll: die Gesellschaft der
-Menschenfreunde! Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch Sie, verehrter
-Herr Ehrenbürger, demnächst als Mitglied begrüßen zu dürfen.
-
-+Christian Wach+
-
-Außerordentlich schmeichelhaft. Aber verzeihen Herr Oberbürgermeister:
-meine N-Nerven erlauben mir wirklich nicht, an solchen
-m-menschenfreundlichen Sitzungen mit der nötigen Ausdauer teilzunehmen.
-
-+Bürgermeister+
-
-Nun, wenn auch nicht im Augenblick, es wird uns jederzeit aufrichtig
-freuen, einen so würdigen Mitbürger in unserem Bunde willkommen zu
-heißen. Und deshalb bleibt es mein inniger Wunsch, der allseits
-mitempfunden wird, Ihre baldige Wiederherstellung im engeren Kreise
-feiern zu können. (_Er schüttelt ihm abermals die Hand._)
-
-+Regierungsrat+
-
-Ich schließe mich diesem Wunsche an, unbeschadet der hohen Achtung, die
-Ihre stoischen Lebensgrundsätze jedem eifrigen Staatsbürger abnötigen.
-(_Er verneigt sich._)
-
-+Christian Wach+
-
- (die Herren zur Tür geleitend)
-
-Ich danke ebenso aufrichtig, meine Herren, und wiederhole die
-ehrer-b-bietige Bitte, auch bei den zuständigen Stellen meinen Dank
-auszurichten. Ich werde wiegesagt bestrebt sein, mich in der „allseits“
-gewünschten Weise nach wie vor zu betä-hä-hä-hätigen. (_Er verneigt
-sich gleichfalls und schließt die Tür hinter ihnen, setzt sich dann
-matt an den Mitteltisch_) -- -- Grauenhaft -- -- (_Er nickt vor sich
-hin, blickt zu dem Porträt empor_) Du rächst dich gut -- -- (_Es
-klopft, er schrickt auf_) --
-
-+Die alte Anne+
-
- (behutsam näher tretend)
-
-Es ist +noch+ jemand draußen, Herr Christian.
-
-+Christian+
-
-Was soll das! Untersteh dich nicht --
-
-+Anne+
-
- (verhalten)
-
-Der Herr Justus! Er wollt sich nicht abweisen lassen.
-
-+Christian+
-
-Was! Vetter Justus? der Leu-te-tenant?
-
-+Anne+
-
- (wie vorher)
-
-Ja. Das heißt: er ist doch jetzt Polizeikommissar -- (_sie drehn sich
-beide prall um, da die Tür aufgeht_) --
-
-+Justus Wach+
-
- (tritt gelassen ein, mit einer Aktenmappe unterm Arm)
-
-Du mußt mir schon einmal erlauben --
-
-+Christian Wach+
-
- (während Anne beklommen hinausgeht und die noch offene Tür wieder
- schließt)
-
-Du bist mir natürlich durchaus willkommen --
-
-+Justus+
-
- (lächelnd)
-
-So? -- Ich erhebe nicht den Anspruch.
-
-+Christian+
-
-Nun, dann ist deine Aufrichtigkeit mir willkommen. Offne Arme kannst
-du wohl nicht erwarten, nachdem du damals unsern Verkehr, unser
-verwandtschaftliches Band, um Geldes willen zerschnitten hast.
-
-+Justus+
-
-Meinst du? -- Aber du erlaubst wohl, daß ich mich setze. (_Er nimmt
-Platz auf dem linken Stuhl, legt die Mappe auf den Tisch._)
-
-+Christian+
-
-Aber natürlich; b-bitte höflichst. (_Sich gleichfalls setzend_) Fühle
-mich heute auch etwas matt; ein außerordentlich warmer Tag.
-
-+Justus+
-
-Und obendrein deine Ehrenlast. Alle Zeitungen sind ja wieder des Lobes
-voll. Wird dir allmählich wohl doch etwas drückend?
-
-+Christian+
-
-Darf ich lieber fragen, w-was dich zu mir führt?
-
-+Justus+
-
-O, traust du mir also garnicht zu, daß ich blos die uneigennützige
-Absicht habe, dir auch mal wieder zu gratulieren, dem musterhaften
-Menschenfreund, der mich Schuldenmacher dazu gebracht hat, den
-schrecklichen bunten Rock auszuziehen und ein nützlicher Mitmensch
-in Schwarzgrau zu werden? -- (_Seine Hand auf die Mappe legend_)
-Wirklich, ich habe jetzt allen Grund, der rühmlichen Betätigung deiner
-Nächstenliebe dankbar zu sein.
-
-+Christian+
-
-Bitte, laß das; mir sind diese Phrasen peinlich.
-
-+Justus+
-
-Mein Lieber, ich kenne deine Art Ehrgeiz. Du hast schon als Schuljunge
-Äpfel gestohlen, obgleich du dir aus Äpfeln nichts machtest, blos um
-uns Freunde damit zu begönnern und dich an deiner Großmut zu weiden;
-vielleicht auch an deiner Kühnheit und Schlauheit, denn erwischen
-ließest du dich ja nie. Ich habe dich schon damals durchschaut.
-
-+Christian+
-
-So? -- Meinst du? (_Lächelnd_) Nun, vielleicht hast du Recht. Aber
-inzwischen wirst du wohl +auch+ ein A-A-Andrer geworden sein.
-
-+Justus+
-
-Ja, seit neun Jahren ungefähr; dank deiner Betätigung wiegesagt.
-
-+Christian+
-
-Und hast du dich wirklich nun ausgesöhnt mit deinem b-bürgerlichen
-Beruf?
-
-+Justus+
-
- (legt lächelnd wieder die Hand auf die Mappe)
-
-Ja, seit einem Monat etwa vollkommen. Und einigermaßen auch früher
-schon. Was blieb mir schließlich denn andres übrig; Schulden konnt ich
-doch keine mehr machen, nachdem du die ganze Erbschaft mir weggefischt
-hattest, kurz bevor ich zum Hauptmann aufrücken sollte.
-
-+Christian+
-
-Nun, ich habe a-auch nicht das werden können, wonach ich als Jüngling
-Verlangen trug; Geld hatte ich ja von Hause aus noch weniger zu
-erwarten als du. (_Auf seine Bücher hinüberweisend_) Du weißt sehr
-gut, wie ich drauf brannte, die Sta-taatswissenschaften zu studieren,
-Sozialpolitik, Nationalökonomie, und es sogar ein paar Semester lang
-durchhielt; bis Tante Brigittens harter Kopf mich zwang, mir als
-B-Bankbeamter mein Brot zu verdienen.
-
-+Justus+
-
-Ja, du warst ihrer Begönnerung würdig. Ich hab ihr die Faust unters
-Kinn gehalten, als sie ihren Mann zu Tode gepeinigt hatte und ihn dann
-einscharren ließ wie einen Bettler, den reichsten Grubenbesitzer des
-Landes; du zogst es vor, ihr die Krallen zu streicheln.
-
-+Christian+
-
-Sie hat sich selbst noch viel mehr gepeinigt; du solltest nicht über
-Handlungen urteilen, für die dir jedes M-Mitgefühl mangelt. Und
-notabene: auf ihr Testament konntest du doch im Ernst wohl nicht
-rechnen, nach deiner Gleichgiltigkeit -- ge-l-linde gesagt -- bei ihrem
-lalala-langen Krankenlager.
-
-+Justus+
-
-Nein, zum Erbschleicher war ich mir allerdings zu schade. Seit wann
-stotterst du übrigens?
-
-+Christian+
-
- (ist vom Stuhl aufgefahren)
-
-Ich ver-b-bitte mir deine Brutalitäten! -- (_Sich bezwingend_) Denkst
-du, es war mir ein Vergnügen, die Launen der alten ge-l-lähmten Person
-zu ertragen? ihre Heftigkeit, ihre Wutanfälle? dreizehn Jahre lang, Tag
-für Tag!
-
-+Justus+
-
- (lächelnd)
-
-Nein, das denke ich keineswegs -- bei deiner Art Menschenfreundlichkeit.
-
-+Christian+
-
- (fängt wieder an durchs Zimmer zu wandern)
-
-Und deine Schulden hätt ich dir gern bezahlt, wärst du damit zufrieden
-gewesen, statt mir Millionen abpressen zu wollen, für die ich b-bessere
-Anwendung wußte. Bin auch jetzt noch bereit dazu, falls du nicht
-blos gekommen bist, um mir aufs B-Butterbrot zu streichen, daß du
-dich selber seit einem Monat von deinen Gläubigern befreit hast;
-(_lächelnd_) das wolltest du doch wohl andeuten.
-
-+Justus+
-
-Nein. Aber ich danke für Gnadenbrocken von deinem Butterbrot, werter
-Vetter.
-
-+Christian+
-
-Ja, wozu reibst du dich dann an mir? Und worauf bist du eigentlich
-neidisch? -- Was ha-habe ich denn von all meinem Reichtum? Hat er
-mich etwa davor bewahrt, v-vorzeitig graue Haare zu kriegen? Ich lebe
-wie ein Mönch in der Wüste, und trotzdem ist mein M-Magen krank,
-meine Milz beklommen, mein H-Herzschlag verhaspelt, meine Nerven von
-Schlaflosigkeit zerrüttet --
-
-+Justus+
-
-Dein Gehirn von Gewissensbissen zerfressen --
-
-+Christian+
-
-Deinetwegen? -- (_Stehen bleibend_) Du dauerst mich --
-
-+Justus+
-
- (steht nun gleichfalls auf, tritt dicht an Christian heran)
-
-Solltest du nie befürchtet haben, daß ein gewisser +Brief+
-entdeckt werden könnte? --
-
-+Christian+
-
- (weicht unwillkürlich etwas zurück -- dann spottkalt)
-
-Ah, Herr Polizeikommissar --
-
-+Justus+
-
-In der Tat -- das ist mein Beruf -- mit dem ich mich jetzt vollkommen
-ausgesöhnt habe -- seit einem Monat wiegesagt, als ich in einer
-auswärtigen Chemikalienfabrik -- (_er unterbricht sich, greift nach
-der Mappe_) -- aber wollen wir uns nicht wieder setzen? an diesem
-„außerordentlich warmen Tag“? -- (_er nimmt Platz, während Christian
-stehen bleibt und sich fest auf eine Stuhllehne stützt, die er bei dem
-Wort „Chemikalienfabrik“ umklammert hat_) -- also als ich in einer
-Chemikalienfabrik einen ungetreuen Buchhalter festnehmen sollte und
-bei Durchsicht der Bureaupapiere zufällig einen Geschäftsbrief fand,
-worin ein gewisser Christian Wach, laut seiner aufgedruckten Adresse
-angeblich Apothekenbesitzer, eine Partie Medikamente bestellt hat,
-darunter auch einige heftige Gifte, etwa fünf Wochen vor dem Tode
-(_auf das Porträt weisend_) seiner teuren Erbtante Brigitte. (_Wieder
-die Hand auf die Mappe legend_) Hier hab ich das menschenfreundliche
-Schriftstück.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Sehr verbunden für dieses Geburtstagsvergnügen, auf das du dich also
-vier Wochen lang in aller Stille prä-pa-pariert hast.
-
-+Justus+
-
-Ja, zufällig ungefähr ebenso lange, wie du dich vor genau neun Jahren
-auf +Dein+ Geburtstagsvergnügen „präpapariert“ hast.
-
-+Christian+
-
-Ja, es gibt spaßhafte Zufälle -- (_es klopft_) --
-
-+Die alte Anne+
-
- (tritt ein und meldet)
-
-Der Herr Geheime Sanitätsrat --
-
-+Sanitätsrat+
-
- (ihr ohne Umstände folgend)
-
-Ja, Ihrem alten Hausfreund dürfen Sie nicht verwehren, Ihnen heute
-die Glückshand zu schütteln, verehrter Ehrenbürger und Ritter vom
-Kronenorden! -- (_Überrascht_) Aber was seh ich? ist’s möglich? Herr
-Justus! -- Pardon, Herr Leutnant, die alte Gewohnheit. Haben sich also
-zur Feier des Tages endlich ausgesöhnt mit dem reichen Herrn Vetter?
-
- (Anne blickt forschend von einem zum andern.)
-
-+Justus+
-
- (ist aufgestanden, immer eine Hand auf der Mappe)
-
-Schon möglich, Herr Geheimrat; zur Feier des Tages.
-
-+Sanitätsrat+
-
- (ihm die Rechte schüttelnd)
-
-Na, das freut mich, freut mich; edel sei der Mensch! Haben schließlich
-doch wohl Respekt gekrigt (_mit Verneigung zu Christian hin_) vor der
-segensreichen Betätigung.
-
-+Christian+
-
- (aufstampfend)
-
-Kommen Sie auch noch angequäkt mit dieser verfluchten (_absichtlich_)
-Be-täterä-tätigung? Das ist ja wirklich zum Krämpfekriegen! Wie kann
-ein Mensch mit etwas Geschmack dies Schandwort auf die Zunge nehmen!
-diesen A-Anschmierer-Ausdruck für alles Getue, das den Namen Tat nicht
-verdient!
-
-+Sanitätsrat+
-
-Aber mein lieber Kommerzienrat, was haben Sie denn, was erregen Sie
-sich? Denken Sie bitte an Ihre Nerven! Kommen Sie, setzen wir uns
-gemütlich, und geben Sie mir mal endlich die Hand! (_Es geschieht, und
-auch Justus setzt sich._) So -- ja aber, Sie zittern ja, als ständen
-Sie im Staatsexamen. Und was ist denn los mit Ihren Pupillen? Da muß
-ich doch gleich mal Reflexprobe machen. Schwester Anne, holen Sie mal
-einen Spiegel.
-
-+Anne+
-
- (hat inzwischen die Vase mit dem Rosenstrauß unter das Porträt
- gestellt)
-
-Aber nein, Herr Geheimrat wissen doch: der Herr Kommerzienrat will
-keine Spiegel um sich.
-
-+Sanitätsrat+
-
- (sich an die Stirn tippend)
-
-Ja so -- jawohl -- Moralpsychose; ~hypochondria stoica~ sozusagen.
-Na, werde mal morgen genauer vorsprechen, bringe dann meine Lupe mit;
-die wird Ihrem strengen Gewissen nicht wehtun, Sie geschworener Feind
-aller Eitelkeit! -- Was sagen Sie denn zu der neuen Gesellschaft, die
-der Bürgermeister zusammentrommelt? Mich hat er natürlich auch breit
-geschlagen; na, ein bißchen Menschenfreund ist ja Jeder.
-
-+Christian+
-
-Ich meinesteils bin nicht für Trommelreklame.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Ja, Sie können sich’s leisten, drauf zu pfeifen. (_Aufstehend_) Dann
-also bis morgen, werter Freund; muß jetzt weiter zu meinen andern
-Patienten. Bitte Platz zu behalten, Herr Leutnant; wünsche allerseits
-Frieden auf Erden -- (_winkt heiter mit beiden Händen Abschied, und
-Anne begleitet ihn hinaus, während die Vettern sitzen bleiben, Justus
-links am Tisch, Christian rechts_) -- --
-
-+Justus+
-
-Du scheinst dein Gesicht nicht gern zu betrachten --
-
-+Christian+
-
- (die Arme verschränkend)
-
-Ich habe in der Tat Bessers zu tun.
-
-+Justus+
-
-Du kannst ja niemand mehr grad in die Augen sehn.
-
-+Christian+
-
-Glaubst du, Herr Untersuchungsbeamter? (_Er fixiert ihn, bis Justus
-beiseite blickt_) -- -- Durchschaust du die Menschen immer so?
-
-+Justus+
-
-Ja, deine Selbstbeherrschungskunst -- man könnte auch sagen:
-Verstellungskunst -- war von jeher bewundernswert.
-
-+Christian+
-
-Und einer besseren Sache würdig.
-
-+Justus+
-
-Der Spott wird dir bald vergehn, teurer Vetter.
-
-+Christian+
-
-Es scheint, du legst enormen Wert auf dein pa-papierenes Dokument. Das
-hältst du wohl für einen Indicienbeweis?
-
-+Justus+
-
-Nein, das allein würde nur beinahe genügen. Aber (_auf seine Mappe
-tippend_) ich habe hier noch ein andres Papier; nämlich deinen
-Empfangsschein, Herr Apotheker, über die eingetroffene Giftsendung --
-
-+Christian+
-
-Du hast dich tatsächlich gut präpariert --
-
-+Justus+
-
-Es freut mich, daß du nicht länger heuchelst. Du darfst die Maske
-ungeniert lüften.
-
-+Christian+
-
- (immer sehr gemessen)
-
-Du freust dich etwas vorschnell, mein Lieber. Du scheinst meine
-„Schlauheit“ trotz aller Anerkennung noch immer für recht kindlich zu
-halten. Vor neun Jahren, werter Herr M-Menschenkenner, war ich wohl
-doch nicht mehr Schulbub genug, mich dem Spiel des Zufalls so plump
-auszusetzen, wenn ich kein reines Gewissen hatte.
-
-+Justus+
-
-O, das Spiel des Zufalls ist allemal plump. Damals konntest du ja
-nicht ahnen, also auch noch nicht damit rechnen, daß dein Edelmut
-mich veranlassen würde, (_spitzig_) Detektivoffizier zu werden,
-geschweige (_an seine Mappe tippend_) daß dies für jeden andern Finder
-unscheinbare Wertpapier gerade mir in die Hand fallen könnte. Nur Das
-trieb dein feines Spiel in den Plumpsack der sogenannten Schicksalshand.
-
-+Christian+
-
-Nenn’s lieber gleich den Finger Gottes, dann kommst du dir noch
-wichtiger vor. Hähähä-hältst du mich im Ernst für so närrisch, daß
-ich mir solche Tat auf die Seele geladen hätte, blos um die Millionen
-unsrer alten Tante etwas früher unter die Leute zu streuen? Denn ihr
-Testament lag ja schon da für mich.
-
-+Justus+
-
-Blos: sie hätte es doch vielleicht ändern können. Und am Krankenbett
-warten, wer weiß wie lange, vielleicht nochmals „dreizehn Jahre lang“,
-ist in der Tat kein vergnügliches Geschäft, selbst für die edelsten
-Wohltäter nicht. Tante Brigitte war damals nur fünf Jahre älter, als du
-heute geworden bist, und hatte trotz ihrer Lähmung recht zähe Nerven.
-
-+Christian+
-
-Und deshalb soll ich so sinnlos gewesen sein, so sinnlos und so ruchlos
-zugleich, mir einen M-Mord aufs Gewissen zu wälzen? Und das, denkst du,
-wird dir irgendwer glauben?
-
-+Justus+
-
-O, das Gewissen beißt immer erst nachträglich; deine Frage klang
-ziemlich wund. Auch glauben die Schwurgerichte gern, daß ein
-Bankbeamter sich nicht ohne Zweck falsche Briefbogen drucken läßt und
-Apothekerwaaren bestellt.
-
-+Christian+
-
-Du hast dich wohl nie mit -- Selbstmordgedanken getragen?
-
-+Justus+
-
- (scharf)
-
-+Vor+ meiner Enterbung +nicht+, lieber Vetter! -- Übrigens
-kannst du dir deine verblüffenden Fragen für die Gerichtsverhandlung
-aufsparen; für das Zeugenverhör zum Beispiel.
-
-+Christian+
-
-Du denkst dir also, ich habe es fertig gebracht, den Sanitätsrat
-sowohl wie die alte Anne über die Todesursache zu täuschen, meinem
-Opfer kaltblütig die Augen zuzudrücken, die L-Leiche hohnlächelnd
-einzusargen, und dann hier in dem Haus, wo sie aufgebahrt lag, mich
-triumphierend festzusetzen -- (_er steht auf, mit Erregtheit um sich
-weisend_) hier! sieh dich um! zwischen diesen öden Wänden, wo sie einst
-geatmet hat! hier seit neun Jahren es auszuhalten! immer von ihren
-Möbeln umgeben! immer ihr B-Bild vor meinem Blick! ihre Pflegerin mir
-zur Seite, eigens dabehalten zur steten Erinnrung! -- Das, meinst du,
-habe ich auf mich genommen, ich maskierter Schurke, um einer Erbschaft
-willen, von der ich mir keinen Genuß vergönne, keine Annehmlichkeit,
-nicht die kleinste Erholung, blos Nahrung für meinen Großmutsdünkel!
--- Du traust mir wirklich merkwürdige Kunststücke zu. (_Er ist hinter
-seinen Stuhl getreten und stützt sich wieder auf die Lehne._)
-
-+Justus+
-
-Ja, die Verbrecher halten sich gern für Helden, die ihrer Tat überlegen
-sind, und liebäugeln mit dem Erinnerungswurm. Manche brüsten sich so
-lange im stillen, bis sie sich schließlich laut verraten; fromme Leute
-nennen das Gottes Stimme. (_Merkend, daß Christian nach dem Porträt
-starrt_) Du redest wohl +öfters+ mit dem Bild da? --
-
-+Christian+
-
-Du stellst starke Ansprüche an meine Geduld.
-
-+Justus+
-
-Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Immerhin scheinst du so geneigt
-zum Verhandeln, daß du darüber das Stottern verlernt hast.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Nun, vielleicht war auch das nur Maske; man lernt dabei seine Zunge
-hüten. -- Wie hoch taxierst du denn deine Entdeckung? --
-
-+Justus+
-
- (lächelt ebenso)
-
-Möchtest du nicht etwas deutlicher fragen? --
-
-+Christian+
-
-Nun, mein gesamter Vermögensrest beträgt noch etwa zwanzig Millionen,
-nach Abzug der Reservedepots für meine letzten Stiftungen. Um mir
-die Plackerei vom Ha-Halse zu halten, die du als A-A-A-Amtsperson
-(_er stampft auf, dann wieder gemessen_) mit dem Plunder da anzetteln
-könntest, und um meine innerste Menschlichkeit nicht vor dem Pöbel
-entblößen zu müssen, biete ich dir den vierten Teil; das sind also rund
-zwei Millionen mehr, als du mir damals abverlangtest.
-
-+Justus+
-
-Deine Menschlichkeit ist seitdem -- beträchtlich großmütiger geworden;
-ich erkenne das an, obgleich ich’s erwartet habe. Aber du mußt mir
-schon erlauben, deine bekannte Opferwilligkeit
-
-+Christian+
-
-Gut, ich lege noch eine Million zu. Sechs Millionen -- das ist mein
-letztes Wort! --
-
-+Justus+
-
-Du hast mich mißverstanden, mein Teurer; du mußt nicht denken, ich sei
-deinesgleichen, weil ich jetzt im schwarzen Rock vor dir sitze. Du
-hast mich aus meiner Bahn gestoßen, du opferwilliger Ehrenbürger! Du
-erntest den Lohn deiner Heldentaten, wenn ich dir nun dazu verhelfe,
-in der Sträflingsjacke vor mir zu stehn! Jawohl, edler Vetter:
-Gerechtigkeit will ich! die Welt von deinesgleichen säubern! das ist
-+meine+ Art Menschenfreundlichkeit!
-
-+Christian+
-
-Deine Gerechtigkeit braucht sich nicht zu ereifern; ich begreife, daß
-du dich rächen willst.
-
-+Justus+
-
-Sehr scharfsinnig, dein Begriffsvermögen.
-
-+Christian+
-
-Willst du mich trotzdem noch ruhig anhören? Nur eine kleine Weile noch?
-
-+Justus+
-
-Bitte; ich habe warten gelernt. Außerdem zappelst du sehr ergötzlich im
-Netz.
-
-+Christian+
-
-Ich könnte sagen, mein Anerbieten sei nur eine Maske gewesen, um
-dein Pflichtgefühl auf die Probe zu stellen. Aber gesetzt, ich hätte
-w-wirklich die ungewöhnliche Tat vollbracht, deren du mich für fähig
-hältst: ich hätte eine bejahrte Person, die nichts mehr konnte als sich
-und andere quälen, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Ha-Hartherzigkeit,
-mit ihrer hähähä-hämischen Habgier (_er ballt die Fäuste, dann wieder
-ruhig_) -- die hätte ich aus dem Wege geräumt nach jahrelangem
-Gewissenskampf -- hä-hätte dann wie ein Asket versucht, meine heimliche
-Gewalttat zu sühnen -- hätte sie hier in meiner Einsamkeit, in der
-Nacht meines Schweigens schwerer gebüßt, als sich’s ein Schuldloser
-träumen läßt, -- hätte immer weiter diese Erblast geschleppt, die ich
-nur für ein Hirngespinnst verwalte -- für eine M-Menschheit, die ich
-zu spät durchschaute, die nichts ist als ein marternder Schemen --:
-verlangst du +noch+ mehr Gerechtigkeit?
-
-+Justus+
-
-Du vergißt, ich bin nicht mehr Leutnant genug, um deiner heroischen
-Märtyrer-Pose einiges Verständnis zu widmen.
-
-+Christian+
-
-Aber vielleicht verstehst du, daß ich inzwischen manches anders ansehen
-lernte. Vielleicht war mein Abscheu gegen dein früheres Handwerk --
-deinen Beruf, wenn du das lieber hörst -- nur Verbohrtheit eines
-B-Büchermenschen. Vielleicht ist mir die Erkenntnis gekommen, daß auch
-Nächstenliebe zur Hartherzigkeit führt, wenn sie die Allernächsten
-vergißt über ihrem fernen Ziel. Ich bin dein Schuldner, ich weiß es
-lange; deshalb empört mich deine Beschuldigung nicht. Und deshalb --
-nur deshalb, Justus! hörst du? -- wiederhole ich mein Anerbieten.
-
-+Justus+
-
-Zu spät, Euer Gnaden; einen Monat zu spät.
-
-+Christian+
-
-Du irrst. Ich habe schon letzte Weihnacht -- denn dies (_auf sein Herz
-deutend_) W-Wrack wird nicht lange mehr Stand halten -- mein Testament
-beim Notar hinterlegt; darin stehst du mit dem Betrag verzeichnet, den
-du einst von mir gefordert hast. Ich biete dir jetzt das Doppelte, weil
-ich dir mehr verdarb, als ich ahnte.
-
-+Justus+
-
- (auf seine Mappe schlagend)
-
-Zum Teufel, +alles+ verdarbst du mir! Willst du mich +jetzt+
-noch mit Großmut beschwindeln? Dein Testament, wenn’s wahr ist, ist
-mir ein Wisch! Ein Verbrecher wie du hat sein Erbrecht verwirkt! Kein
-Pfennig von deinem Mammon gehört dir! Wo nimmst du die Stirn her, mich
-beschwatzen zu wollen; du verrätst dich ja selber mit jedem Wort!
-
-+Christian+
-
- (tritt ihm langsam näher)
-
-Ah -- du hoffst auf den ganzen Rest meiner Erbschaft. Verrechne
-dich nicht; nimm Vernunft an, Justus! Vergiß nicht, ich sprach nur
-bedingungsweise! Es hat sich schon m-mancher die Hand verstaucht, der
-zu sehr auf die Gerechtigkeit pochte.
-
-+Justus+
-
-Ich poche nur auf die Mappe hier. (_Er nimmt sie unter den Arm und
-steht auf._)
-
-+Christian+
-
-Du kannst dir also garnicht die Möglichkeit denken, daß ich jene
-Giftsendung für mich selbst kommen ließ? daß ich mich wand vor Scham
-und Verzweiflung unter den frevelhaften Wünschen, die ich -- jawohl,
-ich bekenn es dir -- unablässig in mir w-wuchern fühlte am Krankenbett
-meiner Quälerin?
-
-+Justus+
-
-Eine Möglichkeit zieht die andere nach.
-
-+Christian+
-
-Und wenn nun die Zeugen für +mich+ aussagen? -- Willst du nicht
-wenigstens die Anne erst hören?
-
-+Justus+
-
-Der kannst du viel vorgemunkelt haben. Aber wenn dir’s Vergnügen macht,
-dich in ihrem Beisein verhaften zu lassen --
-
-+Christian+
-
- (nähert sich der Tür)
-
-Ich tu’s um Deinetwillen, Justus --
-
-+Justus+
-
-Ich warne nur vor Fluchtversuch! Das Haus ist auf beiden Seiten
-umstellt --
-
-+Christian+
-
- (ruft zur Tür hinaus)
-
-Anne -- (_tritt dann neben den Bücherbord, lehnt sich an und
-verschränkt die Arme_) --
-
-+Anne+
-
- (kommt, macht die Tür zu, beklommen)
-
-Was ist, Herr Christian?
-
-+Justus+
-
-Der Herr Kommerzienrat will verreisen.
-
-+Christian+
-
-Ich bitte dich nochmals: nimm Vernunft an.
-
-+Anne+
-
- (beide Hände hebend)
-
-Oh, Herr Justus, wie schauen Sie drein! -- (_Ihm näher tretend_) Ich
-beschwör Sie, was wollen Sie tun! -- (_Von ihm wegweichend_) Einen
-Blutsverwandten ins Elend stoßen?
-
-+Justus+
-
-Ah, Sie wissen, worum es sich handelt?!
-
-+Anne+
-
- (noch weiter wegtretend, bis vor den Tisch)
-
-Ich? was soll ich wissen? ich seh nur Ihr Auge drohn. Ich kenn Sie ja
-beide von Jugend auf. Ich weiß nur, was ich als Kind gelernt hab: Mein
-ist die Rache, spricht der Herr!
-
-+Justus+
-
-Verzeihung, Schwester Anne, +der+ Herr ist mir +fremd+. Und
-dem grauen Sünder da wohl erst recht. Mein Herr ist der Staat! mit
-seinen Gesetzen!
-
-+Anne+
-
-Einen Leidenden wollen Sie quälen? Spüren Sie’s nicht, wie er bebt bis
-ins Herz?!
-
-+Christian+
-
-Laß gut sein, Anne; es ist genug. Zum letzten Mal, Vetter: ich biet dir
-die Hand.
-
-+Justus+
-
-Ich verbitte mir deine -- bestechenden Gesten!
-
-+Christian+
-
- (sich reckend)
-
-Nun, dann Kampf! Hüt dich! Ich bin bereit.
-
-+Justus+
-
-Sehr gnädig. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte dich, Christian Wach.
-(_Die Tür öffnend_) Wenn’s gefällig, du hast den Vortritt -- (_sie
-schreiten beide langsam hinaus_) -- --
-
-+Anne+
-
- (die Hände faltend, leise)
-
-Herr, erbarme dich seiner Seele -- --
-
- (Vorhang)
-
-
-
-
-Zweiter Akt
-
-
-+Christian Wach+
-
- (an die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt
- hinaufstarrend)
-
--- -- Jawohl, du hast dich in mir verrechnet -- von jeher, du Vampyr
--- du zwingst mich nicht. (_Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer
-lächelnd_) Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich’s
-endlich, kein Mensch bezwingt mich. (_Es klopft an die Tür, und Anne
-tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß_) -- -- Also soll’s wieder
-losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person?
-
-+Anne+
-
- (die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend)
-
-Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen
-aus der -- der --
-
-+Christian+
-
-Untersuchungshaft meinst du; sag’s nur getrost.
-
-+Anne+
-
-Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt
-ich sagen.
-
-+Christian+
-
-Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür
-auf den Knieen danken.
-
-+Anne+
-
-War’s nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die
-Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen!
-
-+Christian+
-
-Du sollst mich nicht so ansehn, Anne. (_Sich an den Tisch setzend, wie
-erschöpft_) Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen.
-
-+Anne+
-
-Geb’s Gott, Herr Christian, geb’s Gott! Aber Sie schauen nit dornlos
-drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen
-etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit!
-
-+Christian+
-
-Wein --? Kein Tropfen kommt mir ins Haus!
-
-+Anne+
-
-Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch.
-
-+Christian+
-
-So -- also für mich -- -- (_nimmt plötzlich ihre Hand_) o Anne, Anne
-(_und preßt seine Stirn hinein_) --
-
-+Anne+
-
-Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? (_Behutsam
-über sein Haar streichend_) Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr
-Christian.
-
-+Christian+
-
- (schiebt sie sanft weg, steht auf)
-
-Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an
-meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich
-mürbe gemacht --
-
-+Anne+
-
-O hätt sie nur! -- Nein, ich bild mir nix ein.
-
-+Christian+
-
-Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht -- (_er wendet sich ab, geht
-nach dem Fenster_) innerst ruhig; das mußt du doch merken (_läßt sich
-in den Korbstuhl nieder_) --
-
-+Anne+
-
- (ihm folgend)
-
-Das würd’ mich ja freuen, innerst freuen --
-
-+Christian+
-
-Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis
-ablegte, ich wollte (_an das Porträt weisend_) die da wirklich
-vergiften, wenn mich das Schicksal -- du weißt, der Schlaganfall, der
-sie in ihrer Erregtheit hinraffte -- nicht gnädig davor bewahrt hätte?
-
-+Anne+
-
-Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig
-aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren
-Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung.
-Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr
-Christian!
-
-+Christian+
-
- (abermals aufstehend)
-
-Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den
-Schlaganfall bezeugt.
-
-+Anne+
-
- (ihm wieder durchs Zimmer folgend)
-
-Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch!
-
-+Christian+
-
-Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. (_Plötzlich sich
-umdrehend, Auge in Auge_) Du glaubst wohl nicht, daß es ein
-Schlaganfall war?
-
-+Anne+
-
- (zurückweichend)
-
-O -- wie fragen Sie frevelhaft! -- Was ich beschworen hab, glaube ich
-auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie’s fühlen --: wir sind
-allesamt Werkzeuge Gottes -- der eine so, der andre so --
-
-+Christian+
-
- (ist an den Kamin getreten)
-
-Mich friert, Anne; im Gefängnis war’s wärmer. Von morgen an bitte mußt
-du heizen.
-
-+Anne+
-
-Aber ich kann doch natürlich gleich!
-
-+Christian+
-
-Nein, ich sagte: von morgen an. (_Sich wieder an den Mitteltisch
-setzend_) Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche.
-
-+Anne+
-
-Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird
-Ihnen gut tun.
-
-+Christian+
-
-Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht
-schwatzhaft, ich hasse das! -- Aber damit du deinen Willen krigst:
-Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen,
-ob er heute Vormittag herkommen dürfe -- dann kannst du deine Flasche
-kredenzen.
-
-+Anne+
-
-O welche Fügung -- sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das
-Herz gerührt! -- O, und ich hab’s ja noch garnit bestellt: der Herr
-Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn
-Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren!
-
-+Christian+
-
-Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu
-Kreuz vor meinem +Geld+; und sind gerührt davon, wie’s mich
-+drückt+.
-
-+Anne+
-
-Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch
-einstimmig freigesprochen.
-
-+Christian+
-
-Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal
-gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen
-wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine
-Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein
-Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt?
-
-+Anne+
-
-O, wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind
-lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt.
-
-+Christian+
-
-Mein +Geld+ drückt mich; begreifst du das nicht? -- Übrigens:
-vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die
-kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und
-wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein;
-irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an,
-daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt.
-
-+Anne+
-
-Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie
-
-+Christian+
-
-Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den
-Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es
-macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken.
-
-+Anne+
-
- (sich zu ihm neigend)
-
-Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir
-Vertrauen?
-
-+Christian+
-
- (abermals aufstehend)
-
-Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte, hilf
-mir den Lehnstuhl herüber setzen. -- (_Während sie den Stuhl an den
-Mitteltisch tragen_) Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. --
-(_Platz anweisend_) Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag
-das Bild heut nicht immerfort sehn.
-
-+Anne+
-
- (den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend)
-
-Ja, das hätt längst schon hinaus gemußt. Darf ich’s nicht endlich
-weghängen jetzt?
-
-+Christian+
-
-Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr
-schuldig bin. (_Sich setzend_) Wenn sie auch unleidlich war, das ist
-vorbei. Daß du’s ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich
-das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet.
-
-+Anne+
-
-Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen
-bang.
-
-+Christian+
-
-Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! -- Wahrhaftig, manchmal machst
-du Augen, grad wie die Tante in ihrer Sterbestunde; so merkwürdig in
-die Ferne fragend. -- (_Wiederum aufstehend_) Ich will mich doch lieber
-dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr.
-(_Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen
-andern Stuhl nach hinten._) Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht?
-
-+Anne+
-
-Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich
-selber zu fürchten --
-
-+Christian+
-
- (sich setzend)
-
-Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen -- --
-
-+Anne+
-
-Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen,
-daß +alle+ Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an
-der Wand.
-
-+Christian+
-
-Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht
-finden hier.
-
-+Anne+
-
-Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch
-tragen helfen.
-
-+Christian+
-
-Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst
-daran gedacht, du warst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des
-Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir
-besprechen.
-
-+Anne+
-
-O, nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir!
-Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott
-darum; das wird Sie auch wieder gesund machen.
-
-+Christian+
-
- (aufstampfend)
-
-Ich sag dir, l-laß das -- geh -- bring mich nicht auf! -- (_Ruhiger_)
-Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn
-ich’s dir sage! -- (_Während Anne langsam zur Tür geht_) Und ich dank
-dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles -- hörst du?
-(_Da Anne an der Türschwelle zögert_) Nun, laß gut sein, geh jetzt; was
-stehst du noch --
-
-+Anne+
-
- (mit feierlichem Ausdruck, gedämpft)
-
-Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste
-Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr, dein
-+Erbarmer+ -- (_sie geht hinaus_) -- --
-
-+Christian+
-
- (sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung)
-
-Gespenstermärchen -- -- (_Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter
-das Bild._) Ihr zwingt mich nicht -- ihr kennt mich nicht -- niemand!
--- (_Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt
-neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der
-Regierungspräsident und der Oberbürgermeister_) -- --
-
-+Präsident+
-
- (nach gegenseitiger leichter Verbeugung)
-
-Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten,
-Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen.
-
-+Christian Wach+
-
-Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte lügen, wenn ich
-Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich’s bequemer, als es
-mancher bei sich zu Hause hat.
-
-+Präsident+
-
- (lächelnd)
-
-Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu
-kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit
-unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auftrag des Ministeriums, um
-Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum +Geheimen+ Kommerzienrat
-anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der
-Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen
-Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat,
-zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter
-eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen
-persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die
-Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung
-eine dauernde Aufrichtung geben (_er verbeugt sich mit Gemessenheit_) --
-
-+Christian Wach+
-
- (lächelnd)
-
-Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben.
-Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen (_sich verneigend_)
-untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die
-Teilnahme, zweitens für das -- „unverkürzte Vertrauen“. Ich werde mich,
-soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig
-zu machen versuchen.
-
-+Bürgermeister+
-
-Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht
-blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch
-darzubringen (_er verbeugt sich gleichfalls gemessen_) -- ich komme
-zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch
-besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde,
-um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen,
-die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche
-Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen
-davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei
-Ihrer stets betätigten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet
-hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau
-Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich
-erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein
-fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt
-werden konnte -- das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht
-entdeckt werden konnte
-
-+Präsident+
-
- (sehr rasch)
-
-Überhaupt natürlich --
-
-+Christian Wach+
-
- (sehr langsam)
-
-Überhaupt -- -- Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf
-ich nicht bitten, Platz zu nehmen?
-
-+Präsident+
-
-Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen.
-(_Sich verbeugend_) Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat.
-
-+Christian Wach+
-
- (ebenso)
-
-Ich empfehle mich, Herr Präsident.
-
-+Präsident+
-
-Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister?
-
-+Bürgermeister+
-
-Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern.
-
-+Präsident+
-
-Also auf Wiedersehn, meine Herrn -- (_er verbeugt sich nochmals, geht
-ab_) -- --
-
-+Bürgermeister+
-
-Ich möchte mich nur in aller Kürze -- doch ich bitte zunächst um
-Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt gefühlt
-haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff --
-
-+Christian Wach+
-
- (lächelnd)
-
-O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen -- nach allem, was geschehen ist
--- da Sie es doch so aufrichtig meinten --
-
-+Bürgermeister+
-
-Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter
-Herr Geheimrat! Und deshalb -- (_da Christian Wach auf die Stühle
-weist_) nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze
-erkundigen --: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr
-mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber
-offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus
-seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern
-bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken.
-
-+Christian Wach+
-
-Sehr freundlich, Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie „sich
-versichert zu halten“: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl,
-das eine Eigentümlichkeit unsrer (_lächelnd_) etwas starrköpfigen
-Familie ist.
-
-+Bürgermeister+
-
-Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen
-Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine
-zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen
-fruchtlosen Übereifer.
-
-+Christian Wach+
-
- (lächelnd)
-
-Also hätte er doch vielleicht fruchten können? -- Nein, im Ernst,
-ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden,
-die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig
-+mich+ beamtseifert hätte. Es wäre mir wirklich sehr unliebsam,
-wenn man ihn grade mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte,
-die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs -- nicht wahr, ich irre
-wohl nicht -- auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden
-begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu
-reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat,
-wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns.
-
-+Bürgermeister+
-
-Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach
-dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit
-ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie
-werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte
-Gesinnung nach wie vor betätigen?
-
-+Christian Wach+
-
-In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu
-betä-hähähätigen -- (_sich an die Kehle fassend_) Verzeihung, mein
-Nervenübel meldet sich wieder. -- Aber wollen wir uns nicht doch lieber
-setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die
-geselligen Freuden.
-
-+Bürgermeister+
-
-O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich heute leider besonders
-beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! -- Also wiegesagt, um
-mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres
-guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. (_Er verbeugt
-sich würdevollst._)
-
-+Christian Wach+
-
-Ich werde wiegesagt bestrebt sein -- (_er verbeugt sich etwas weniger
-und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben;
-sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin_) -- -- „Aufrichtig,
-verehrter Herr Geheimrat“ -- -- (_es klopft, die alte Anne erscheint_)
---
-
-+Anne+
-
-Kann der Herr Justus jetzt eintreten?
-
-+Christian+
-
-Natürlich. Weshalb fragst du erst?
-
-+Anne+
-
-Soll ich den Wein gleich mitbringen?
-
-+Christian+
-
-Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn’s
-an der Zeit ist. (_Anne geht -- Justus erscheint; tritt zögernd näher,
-bleibt halbwegs stehen_) -- -- Nun? diesmal ohne Aktenmappe? -- Sehr
-liebenswürdig; bitte setz dich. (_Während Justus an den Tisch tritt_)
-Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist?
-
-+Justus+
-
-Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme
-ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu
-bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden
-Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch
-Blutsverwandte.
-
-+Christian+
-
-Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die
-deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz.
-
-+Justus+
-
- (setzt sich links des Tisches)
-
-Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht
-hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter
-von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet -- ganz
-und gar -- bis unter die nackte Haut sozusagen -- sodaß ich mich vor
-mir selber schämte --
-
-+Christian+
-
-Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut
-präpariert. Beruhige dich: ich werde dir’s nicht vergessen, wenn ich
-nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen
-Vorschuß drauf?
-
-+Justus+
-
-Ich muß mir’s gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst
-es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es
-ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden,
-daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu
-dürfen. Ich hab’s mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir
-einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem
-ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus
-Berechnung tue.
-
-+Christian+
-
-Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut
-mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes
-Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist.
-
-+Justus+
-
-Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du
-wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt
-dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt.
-
-+Christian+
-
-Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten
-Rechenmeister.
-
-+Justus+
-
-Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter.
-
-+Christian+
-
-O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt
-„verachten zu dürfen“. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten
-in deiner amtlichen Regeldetri?
-
-+Justus+
-
-Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter
-stellst, als du bist. Oder fühlst du mir’s in der Tat nicht an, daß
-auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit
-bekenne? Ich +kann+ dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht
-mehr, du hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat
-mich ergriffen wie noch nichts im Leben.
-
-+Christian+
-
-Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine
-Selbstbeherrschungskunst -- „man könnte auch sagen: Verstellungskunst“
--- über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen
-ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet?
-Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der
-Verbrecherseele.
-
-+Justus+
-
-Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht
-aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst,
-meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche
-Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir
-in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann.
-
-+Christian+
-
-O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im
-Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine
-Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal
-schlecht bekommen. Hättest du im Sommer nicht vier Wochen gewartet,
-um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten:
-wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat
-hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem
-Ehrenbürger und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht
-wünschen, durch meine Verurteilung mit-ba-blamiert zu werden. Also
-lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen
-Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du
-verwickelst dich sonst im eigenen Netz.
-
-+Justus+
-
- (aufstehend)
-
-Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind
-wir quitt! Dann bist du +nicht+ der hochherzige Dulder, vor dem
-ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des
-Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch
-Schmarotzer witterst!
-
-+Christian+
-
-Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum
-Pranger geschleift sein wollte! (_Gleichfalls aufstehend_) Dann bin ich
-der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die
-ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der
-argwöhnische, der aus all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre
-Untat beschönigen! Dann -- ah: (_taumelnd_) hahahalt mich, Justus: das
-Herz!
-
-+Justus+
-
- (ihm beispringend)
-
-Verdammt ja, was ist --?
-
-+Christian+
-
-Laß -- es geht schon vorüber. -- (_Sich setzend_) Es war
-nur ein kleines Erinnerungszeichen -- (_lächelnd_) an meine
-Selbstbeherrschung, weißt du. Laß dich’s nicht kümmern, setz
-dich wieder. -- (_Da Justus zögert_) Was äffst du uns beide mit
-Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen
-möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier
-hast du meine Hand.
-
-+Justus+
-
-Ich dank dir -- (_gibt ihm die Rechte_)
-
-+Christian+
-
- (ihn fixierend)
-
-Ich +trau+ dir! -- Nun? Was zuckst du zurück? --
-
-+Justus+
-
-Du bist mir unheimlich, Christian --
-
-+Christian+
-
-Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein
-ehrliches Wort! -- Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie
-ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache,
-nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich
-sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab
-ich ja nicht. -- (_Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein_)
--- Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch
-klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute (_er weist auf die
-Stühle neben sich_).
-
-+Sanitätsrat+
-
- (hinter dem Tisch Platz nehmend)
-
-Kann mir’s denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen
-Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere -- (_sich
-verneigend_) zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer
-Triumph der Gerechtigkeit; schade, daß Sie keine Zeitungen lesen.
-Die ganze Presse singt Ihnen Hosianna; selbst die Sozi blasen ins
-Jubelhorn. (_Zu Justus, der stehen geblieben ist_) Ich genier Sie doch
-nicht, Herr (_gedehnt_) Polizeikommissar --?
-
-+Justus+
-
-Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin
-empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu
-leisten.
-
-+Christian+
-
-Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich
-tatsächlich noch etwas fragen.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; (_ihm mit
-komischer Würde die Hand hinstreckend_) es irrt der Mensch, solang es
-geht --
-
-+Christian+
-
-Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier -- (_Justus gibt lässig dem
-Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches_). Bitte,
-Anne, du weißt ja (_sie nickt, geht hinaus_) -- ich danke dir, Justus.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Aber Sie haben’s zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte
-jetzt Gift! (_Christian zuckt ein wenig zusammen._) Ah Pardon, das
-verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle
-Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann
-recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden?
-
-+Christian+
-
-O bitte -- (_lächelnd_) seh ich denn unruhig aus?
-
-+Sanitätsrat+
-
-Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz
-geheuer. (_Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit
-Gläsern und Weinflasche auf den Tisch._)
-
-+Christian+
-
-Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein
-
-+Sanitätsrat und Justus+
-
-Nein danke -- danke -- (_strecken gleichzeitig rasch die Hand zur
-Abwehr_) --
-
-+Christian+
-
-So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. (_Lächelnd_) Es ist
-wirklich kein Gift drin, meine Herrn.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Aber Bester, empfindlich --? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch
-zu mir barmherzig (_er läßt sich gleichfalls einschänken_) --
-
-+Christian+
-
-Justus --?
-
-+Justus+
-
-Ich bin’s zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber --
-
-+Anne+
-
- (nachdem sie auch ihm eingeschänkt)
-
-Ist gern geschehen, Herr Justus.
-
-+Sanitätsrat+
-
- (während Anne hinausgeht)
-
-Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die
-Herzensbewegung! -- (_Sie stoßen gemessen an und trinken_) -- Denn wie
-gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa
-etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine
-Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer
-Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll,
-ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken
-Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand
-aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt.
-
-+Christian+
-
-Ha-hörst du’s, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das
-genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen!
-
-+Sanitätsrat+
-
-Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird’s
-Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie!
-Und bei Neurosen, so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung
-Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie
-plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine
-Mördergrube!
-
-+Christian+
-
- (Justus zutrinkend)
-
-Haha-Heil dir also, du Wundertäter! -- Aber, mein lieber Geheimrat,
-was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine
-Krankheit ist doch viel intressanter.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin
-Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag
-fufzig M, ungerechnet die Liebesmähler! -- (_Er trinkt aus und steht
-eilfertig auf_) Also wohl bekomm’s, meine Herrn; mehr als guten
-Rat kann ich leider nicht geben -- (_verbeugt sich lächelnd, geht
-händereibend ab_) -- --
-
-+Christian+
-
-Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich
-doch animieren!
-
-+Justus+
-
-Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat -- (_blickt ihn forschend
-an und trinkt aus_) --
-
-+Christian+
-
- (ihm das Glas wieder füllend)
-
-in der alten Mördergrube, nicht wahr? -- Du dachtest wohl wirklich im
-ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften?
-
-+Justus+
-
-Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern
-Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht „witzig“
-genug, um über derlei Scherze zu lachen.
-
-+Christian+
-
-Und wenn’s nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht
-gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn (_nach
-dem Porträt weisend_) der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war,
-sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist
-du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich
-bewirken kann?
-
-+Justus+
-
-Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen.
-Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten
-Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen.
-
-+Christian+
-
-Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen
-und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre
-Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu
-Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn
-näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein
-andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord
-abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau wie
-den großen Kaiser Karl, der zum höheren Ruhm seines Hahaha-Heilands ein
-ganzes Heer Heiden abschlachtete, oder den edlen Bürger Robespierre,
-der zu Ehren der Freiheit Tausende Mitbürger in den Kerker und aufs
-Schaffott spedierte. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen,
-heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann.
-(_Sein Glas hebend_) Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen! --
-
-+Justus+
-
- (während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder füllt)
-
-Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen
-Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält
-jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für
-einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte.
-
-+Christian+
-
- (auflachend)
-
-Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig,
-das Alleranständigste wäre, wir gingen +alle+ in die
-Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter,
-ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von
-Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter;
-zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! (_Er trinkt mit sichtlicher
-Erregtheit._)
-
-+Justus+
-
- (nur kurz Bescheid tuend)
-
-Zum Wohl -- wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in
-Wahrheit lieber, dich nicht weiter auszusprechen.
-
-+Christian+
-
-Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! (_Sich mäßigend, starr vor
-sich hin_) Was weiß ich schließlich selber davon.
-
-+Justus+
-
-Beruhige dich; ich will sie nicht wissen.
-
-+Christian+
-
-Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur,
-was man tut!
-
-+Justus+
-
-Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht
-darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen
-ködern. Vergiß nicht, es sind blos -- „Gedankenspiele“. (_Er trinkt
-wieder mit merklicher Hast._)
-
-+Justus+
-
-Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest.
-Wenn’s dir leid geworden ist, gehe ich gern.
-
-+Christian+
-
-Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller
-Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid
-haben mit meinem „überreizten Zustand“! Natürlich will ich dich etwas
-fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von
-Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld
-zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch?
-
-+Justus+
-
-Also --?
-
-+Christian+
-
-Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können -- (_er will wieder
-trinken, beherrscht sich aber_). Also: gesetzt zum Beispiel den Fall,
-dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter
-geändert hat -- von Grund aus geändert hat, wie du sagtest, -- da
-käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen
-Gerichtshof den vollen Beweis erbringen könntest, daß ich mich in der
-Tat vor Jahren als Unmensch (_absichtlich_) betäterätätigt habe: was
-würdest du da tun, lieber Justus?
-
-+Justus+
-
-Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige
-Frage eine vernünftige Antwort geben soll.
-
-+Christian+
-
-Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins
-Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich
-halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so
-irrsinnig, aus allgemeiner M-Menschenliebe einen einzelnen Menschen
-zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen
-M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstens dann vernünftig, wenn
-+alle+ Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht,
-mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der
-Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt,
-wenn man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen,
-der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht
-bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel
-an ihm nehmen. Ja, wär’s noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich
-die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte!
-Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die
-Glasglocke setzen? -- Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß
-meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind.
-
-+Justus+
-
-Unheimlich richtig -- wie ich gleichfalls schon sagte.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. (_Das Glas hebend_) Zum
-Wohl! so trink doch endlich aus!
-
-+Justus+
-
- (sein Glas mit der Hand bedeckend)
-
-Nein, danke; keinen Tropfen mehr.
-
-+Christian+
-
-Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? -- (_Das Glas
-hinsetzend, ohne getrunken zu haben_) Soll ich dich lieber nicht weiter
-fragen?
-
-+Justus+
-
- (lächelnd)
-
-Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können.
-
-+Christian+
-
-Sehr wahr! Du fängst wirklich an zu verstehen! -- Also gesetzt, du
-fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich
-bewiese -- zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals
-geschrieben hätte -- in das ich alles verzeichnet hätte, was mich
-zu der Untat verführte -- in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über
-meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat -- wie ich
-mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche --
-wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner scha-hauderhaft klaren
-Vernunft -- wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern
-sittlichen Grundsätzen nistet -- wie ich in allen Gründen und Abgründen
-meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des
-E-Ekels und Dünkels zu zerquetschen -- (_er hat sich krampfig ans Herz
-gegriffen_) --: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund
-eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken? --
-
-+Justus+
-
-Aber lieber Christian, nimm’s nicht übel, verzeih mir meine Offenheit:
-das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht
-vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage
-nicht Stellung nehmen.
-
-+Christian+
-
-Du meinst, weil du’s nicht gefunden hast bei deiner amtlichen
-Haussuchung hier? (_Lächelnd_) Hast wohl gründlichst an den Wänden
-geklopft? zum Beispiel (_nach dem Porträt weisend_) hinter dem Erbstück
-da! -- Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem
-Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind.
-
-+Justus+
-
- (lachend)
-
-Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir
-von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben,
-geschweige ein ganzes Tagebuch.
-
-+Christian+
-
-Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch +gar+ zu
-gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo
-jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht
-wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte
-es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem
-Siegel -- zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer
-einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach
-meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf --: gesetzt, ich
-hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht
-auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menschheit
-darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war --
-mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib
-umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte,
-ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte
--- wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor
-ohn-m-m-mächtiger Wut
-
-+Justus+
-
- (brüsk aufstehend und sich reckend)
-
-Genug! jetzt hab ich genug gehört! -- Ich bedauere meine
-Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist
-jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht!
-Ich werde nicht ruhen, bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst
-du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und
-Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein
-Gespenst --
-
-+Christian+
-
- (hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen starrend)
-
-Du wirst mir „von Grund aus“ willkommen sein. Du wirst mir das höchste
-Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst
-mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen!
-Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner
-Gewissenspfeife tanzt! Du wirst
-
-+Justus+
-
-Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der
-sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal
-zeigen
-
-+Christian+
-
-dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha-ha-hah! -- Ist +das+ deine
-Reue, du „anständiger Mensch“?! +Kenn+ ich dich jetzt, du
-ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um
-dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung
-zerschmelzen ob deiner edlen „Gutgläubigkeit“? Hahahimmlisch, du
-entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir „endlich
-einmal“ ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube -- hha-ha-ha -- ah --
-(_sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und
-bricht zusammen_) --
-
-+Justus+
-
- (beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt,
- betrachtet kalt den Ohnmächtigen)
-
--- Diesmal scheint’s echt; -- du traust dir zuviel zu, Bursche. -- (_Er
-geht langsam zur Tür, öffnet, ruft_) Schwester Anne! -- (_Er zieht
-seine Taschenuhr, überlegt_) --
-
-+Anne+
-
-Was ist? (_Erschreckend_) Um Gottes willen -- (_sie eilt an den
-Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und
-Halsbinde_)
-
-+Justus+
-
- (an der Tür bleibend)
-
-Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat
-holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich?
-
-+Anne+
-
-Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht. Der Herr sagt mir nichts von seinen
-Geschäften.
-
-+Justus+
-
-Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt
-ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen.
-
-+Anne+
-
-Gewiß, Herr Justus, das wollen wir.
-
-+Justus+
-
-Also auf bald!
-
-+Anne+
-
-Auf bald, Herr Justus. -- (_Nachdem Justus gegangen ist, leise_) Vater,
-hilf deinen schwachen Kindern -- --
-
- (Vorhang)
-
-
-
-
-Dritter Akt
-
-
-+Christian Wach+
-
- (sitzt im Lehnstuhl hinter dem Mitteltisch, den Unterkörper in
- schwarze Decken gehüllt. Vor ihm liegen Geschäftspapiere, in denen
- er blättert und Zahlen nachrechnet, in der linken Hand einen
- Bleistift haltend. Man sieht, sein rechter Arm ist gelähmt, hängt
- in einer schwarzen Binde. Seine Stimme klingt untergraben.)
-
--- -- Also noch knappe neun Millionen -- (_den Bleistift hinlegend_)
-es geht zu Ende, Christian Wach. -- (_Sich mühsam nach dem Porträt
-umwendend_) Deine Schatzgrube ist bald leer, alter Drachen! -- (_Hand
-aufs Herz legend, schwer vor sich hin_) Und die Mördergrube wird immer
-voller -- --
-
-+Die alte Anne+
-
- (tritt in die Tür, ein winziges, aber sorgsam geschmücktes
- Weihnachtsbäumchen auftragend)
-
-So, Herr Christian, damit Sie doch merken, daß uns heute der Heiland
-geboren ist -- (_vor ihn hintretend_) der Erlöser, lieber Herr
-Christian! -- (_Das Bäumchen auf den Tisch stellend_) Gelt, ich darf es
-heut Abend uns anzünden; zu Heilig-Abend ist das keine Verschwendung.
-
-+Christian+
-
-Das hast du doch früher nicht getan. (_Lächelnd_) Du denkst wohl, jetzt
-bin ich hilflos genug, daß du mir neue Lichter aufstecken kannst?
-
-+Anne+
-
-Ja, ich hätt mir schon eher ein Herz fassen solln. Wir sind allesamt
-hilflos genug.
-
-+Christian+
-
-Besonders wenn wir’s uns einreden lassen. Ich halte mich lieber an das
-Sprichwort: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das ist auch für die
-Gottlosen brauchbar.
-
-+Anne+
-
-Es gibt noch ein ander Sprichwort, Herr Christian: Gott verläßt die
-Seinen nicht. Und mancher ist sein, der’s nicht wahr haben will.
-
-+Christian+
-
-Wenn ich nicht wüßte, wie gut du’s meinst, könnt ich glauben, du dankst
-deinem Gott im stillen, daß er mich damals nach meiner Freisprechung
-(_auf seinen rechten Arm deutend_) mit dem Schlaganfall begnadet hat.
-
-+Anne+
-
-Seine Wege sind nicht die unsern.
-
-+Christian+
-
-Schon recht, schon recht; ich kenn deine Standreden. (_Auf den Stuhl
-zu seiner Linken weisend_) Komm, setz dich lieber, ich muß dir was
-sagen. Aber stell erst das Bäumchen einstweilen beiseite, sonst vergeht
-mir bis Abend die Freude daran. (_Während Anne es auf den Bücherbord
-trägt_) Ich habe gestern mit dem Notar mein Testament ins Reine
-gebracht (_er berührt die Papiere, schüttelt sich unwillkürlich_)
--- aber leg noch bitte etwas Holz aufs Feuer. Und wenn nachher der
-Minister kommt, legst du nochmals ein bißchen nach. Hat er nicht
-m-melden lassen, worum sich’s handelt?
-
-+Anne+
-
- (ein paar Scheite in den Kamin legend)
-
-Es wird halt wegen der neuen Stiftung sein; die Grundsteinlegung der
-Radioklinik.
-
-+Christian+
-
-Nein, das hab ich mir schon verbeten, daß sie auf meinen Namen getauft
-wird. Also komm jetzt, wir wollen uns aussprechen.
-
-+Anne+
-
- (sich setzend, ihm in die Augen blickend)
-
-Ja, wenn Sie das wollten, Herr Christian --
-
-+Christian+
-
-Willst du mich wieder aufregen, Anne? Das kannst du dem Justus
-überlassen! -- Er hat sich wohl jetzt mit dir verschworen, meine werte
-S-Seele zu retten? Seitdem er hier mit im Hause wohnt, wird er von Tag
-zu Tag christlicher.
-
-+Anne+
-
-Auch der Herr Justus meint’s gut auf seine Weise.
-
-+Christian+
-
-Gewiß, versteht sich; und ich lohn’s ihm auf meine. Das eben will ich
-mit dir besprechen.
-
-+Anne+
-
-Wenn Sie’s aber doch aufregt! grad immer das! Immer wieder diese
-unselige Erbschaft, diese Sorge um den morgigen Tag. Und grad zum
-Christfest; es hat doch Zeit.
-
-+Christian+
-
-Nein, Anne, mit meiner Zeit ist’s bald aus; kannst ruhig darüber reden
-mit mir. Meinst du, ich fürchte mich vor dem T-Tod? Was tut’s denn, ein
-bißchen früher zu sterben, als es ohne die Sorge vielleicht geschähe.
-Was heißt denn sterben? +keine+ Sorgen mehr haben! Kann man sich
-davor fürchten im Leben? Kann man das überhaupt begreifen? Ich kann
-meinen Tod mir nicht vorstellen.
-
-+Anne+
-
-Ja: sie +will+ nit sterben, die ewige Seel --
-
-+Christian+
-
-Kommst du schon wieder mit deiner Gottesfurcht? Versteh doch, ich habe
-andere Sorgen!
-
-+Anne+
-
- (seine Linke streichelnd)
-
-Nicht Furcht, nicht Furcht: Gott will Vertrauen. Furchtbar ist blos die
-menschliche Selbstsucht.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Dann sei also selbstlos und hör mir zu. (_Ein Schriftstück aus den
-Papieren nehmend_) Hier ist mein Vermögen drin verzeichnet. Es sind,
-nach Abzug aller Unterhaltsgelder für die bestehenden Stiftungen, noch
-etwa neun Millionen Mark. Davon habe ich drei dem Justus vermacht; den
-Rest, wenn du nichts dagegen hast, Dir.
-
-+Anne+
-
-Aber --
-
-+Christian+
-
-Laß mich erst ausreden, bitte. Du kannst damit machen, was du willst;
-kannst den Plunder verschenken, an wen du willst, meinethalben an den
-verkommensten Strolch. Nur die eine Bedingung ist dir gestellt: keinen
-Pfennig mehr darfst du für irgend eine dieser öffentlichen A-Anstalten
-stiften, die unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft
-von Pharisäern züchten. Denn daß du’s nur weißt, liebe alte Anne:
-ich will dich nicht in Versuchung führen, ob deine Barmherzigkeit
-+auch+ am Ende in die allgemeine Herzlosigkeit umschlägt, die sich
-M-Menschenfreundlichkeit nennt. Selbst das größte Gefühl wird klein,
-wenn es sich aufputzt mit großen Begriffen; ein bißchen Güte von Mensch
-zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit.
-
-+Anne+
-
-Das sagen Sie blos wieder, um sich zu quälen. Der gute Wille ist
-allzeit heilig.
-
-+Christian+
-
-Wenn du also einverstanden bist, dann liegt es auch in deiner Hand,
-das Vermächtnis an Justus größer zu machen. Ich möchte mit ihm nicht
-darüber sprechen, und ich bitte auch dich inständig, es nicht vor
-meinem T-Tode zu tun; er denkt sonst, ich wolle ihn bestechen, und
-das würde die Versöhnung erschweren, die ich noch von ihm zu erlangen
-hoffe. Also nicht wahr, du schweigst darüber!
-
-+Anne+
-
-Ja gewiß, Herr Christian, gern.
-
-+Christian+
-
-Du kannst dir ja immer überlegen, ob es vielleicht ein christliches
-Werk ist, ihm mehr als die drei Millionen zu geben, die er vor Jahren
-von mir verlangt hat; meinethalben das Doppelte.
-
-+Anne+
-
-Was ist da groß zu überlegen? Was braucht ein einzelner Mensch soviel
-Geld? Es lädt ihm blos Ängste auf die Seele. Sie, Herr Christian,
-hätten’s auch leichter gehabt, wär nit die große Erbschaft gewesen.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Du fühlst dich wohl nicht als „einzelner Mensch“?
-
-+Anne+
-
- (lachend)
-
-O, ich leichte Person! bei mir bleibt’s nit lang! Hier in der Näh gibts
-’ne ganze Straße, da konnt man in einer Nacht die Millionen los werden,
-damit das geschminkte Elend mal ein rechtschaffen Christfest feiern
-kann.
-
-+Christian+
-
-Du hast’s ja gut vor; gib nur Acht, daß dir die Lichter nicht den Baum
-verbrennen. Glaub mir: was der Mensch auch tun mag aus Mitleid, es ist
-nie genug und immer zuviel. Du wirst vielleicht noch zufrieden sein,
-daß du dem Justus die Sorge aufpacken kannst, wie man das Geld am
-besten los wird.
-
-+Anne+
-
-Davor ist mir nit bang, dafür sorgt unser Herrgott; ist eitel Dunst
-um jegliche Guttat, die seine Welt verbessern will. Einfach wohltun,
-soviel man kann, aus +Freud+ am Wohltun, mehr kann man nit. Was
-würd denn der stolze Herr Justus sagen, wollt ich vor ihn hintreten und
-ihm was schenken? Nein, das geht nit; dem kann ich das nicht antun.
-
-+Christian+
-
- (langsam nach ihrer Hand tastend)
-
-Verzeih mir, Anne -- ich hab dich zu spät erkannt -- --
-
-+Anne+
-
-Und wenn’s noch Zeit wär, Herr Christian -- die andere Sorge auch los
-zu werden --?
-
-+Christian+
-
- (sich aufraffend, rauh)
-
-Was soll das! Laß das! Ich sagte: zu spät!
-
-+Anne+
-
- (seine Linke mit beiden Händen ergreifend)
-
-Ich hab geschwiegen so viele Jahr lang, ich werd schweigen darüber bis
-ans Grab: sprechen Sie aus, was Ihnen das Herz abdrückt!
-
-+Christian+
-
-Sei vernünftig, Anne, reg mich nicht auf! (_Lächelnd_) Du weißt, das
-verträgt der Geheimrat nicht.
-
-+Anne+
-
-Ich bitt Sie, Herr Christian, liebster Herr: spotten Sie nicht, ich
-fleh Sie an! (_Zu ihm hinknieend_) Ich hab noch nie vor einem Menschen
-gekniet -- ich beschwör Sie bei Ihrer Qual -- (_mit beiden Händen nach
-dem Porträt weisend_) bei den Augen, die Sie verfolgen --: nehmen Sie
-nicht das Geheimnis mit hinüber!
-
-+Christian+
-
-Steh auf! du beschämst mich! Ich d-dulde das nicht! Der Justus hat dich
-ganz wirr gemacht! Steh auf, sag ich dir, du machst mich zuschanden!
-Willst du mir +noch+ einen Schlaganfall einjagen?
-
-+Anne+
-
-Ich will Ihrer armen Seele beistehn! Die macht’s ja nur, daß der Körper
-büßt!
-
-+Christian+
-
- (wild seine Linke gen Himmel spreizend)
-
-Ist denn selbst die Barmherzigkeit eine Furie?! -- (_Die Hand auf
-Annens Kopf senkend, sanft_) Was weißt du von meiner Buße, du Engel.
-Steh auf, du überhebst dich vor Demut. (_Die Hand an seine Stirn
-legend_) In dies Geheimfach dringt nur der Tod. (_Draußen elektrisches
-Klingelzeichen, während Anne sich erhebt_) -- Geh, öffne; (_matt ihre
-Hand ergreifend_) du hast mir wohlgetan --
-
-+Anne+
-
- (küßt seine Stirn, dann mit traumhaftem Ausdruck)
-
-Denn uns ist heute der Heiland erschienen -- (_legt beglückt ihre Hände
-vor die Brust und geht so leise nickend hinaus_) -- --
-
-+Christian+
-
- (wendet sich langsam nach dem Porträt um)
-
-Verfolgst du mich wirklich noch?! -- (_Wendet sich langsam zurück,
-schließt die Augen; dann mit verklärtem Gesicht_) Bald nicht mehr -- --
-(_Die Tür geht auf, Anne läßt den Minister und den Oberbürgermeister
-eintreten_) --
-
-+Der Minister+
-
- (mit einer Verbeugung, der sich der Bürgermeister anschließt,
- während Anne Holz in den Kamin legt)
-
-Guten Tag, Herr Geheimer Rat; es tut mir leid, Sie stören zu müssen.
-
-+Christian Wach+
-
-Nicht im geringsten, Euer Excellenz. Wollen Sie nur entschuldigen, daß
-mein Zustand mir nicht erlaubt, den Herren geziemend entgegenzukommen.
-Darf ich bitten, Platz zu nehmen.
-
-+Minister+
-
- (während Anne hinausgeht)
-
-Die Ehrerbietung erfordert zunächst, meinen Auftrag stehend zu
-erstatten. Auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten
-Landesherrn, habe ich Ihnen, Herr Geheimer Rat, die persönliche
-Eröffnung zu machen: So sehr die Gesinnung zu würdigen ist, aus der Sie
-Ihre Namensverknüpfung mit dem von Ihnen gestifteten radioklinischen
-Institut ablehnen, kann doch des guten Beispiels wegen ein solches
-Geschenk nicht angenommen werden, ohne es durch ein rühmliches Zeichen
-der allgemeinen Erkenntlichkeit zu erwidern. Seine Königliche Hoheit
-haben daher geruht, in der Annahme, daß es Ihnen eine Weihnachtsfreude
-bereiten wird, Sie in den Adelsstand zu erheben; die Urkunde folgt
-heute Nachmittag. (_Sich auf den Stuhl links des Tisches setzend, mit
-lächelnder Unamtlichkeit_) Ich erlaube mir, Herr von Wach, Ihnen ohne
-Phrase zu sagen, daß ich Ihren Dank richtig ausrichten werde.
-
-+Christian von Wach+
-
-Es liegt meinem Selbstgefühl fern, Excellenz, mich gegen ein gütiges
-Wort zu wehren -- (_sie reichen einander unwillkürlich die Hand_).
-
-+Der Bürgermeister+
-
- (ist stehen geblieben, räuspert sich)
-
-Ich bin nicht blos erschienen, Herr Geheimrat von Wach, um Ihnen
-meinen aufrichtigen Glückwunsch zu der soeben vernommenen hohen
-Auszeichnung darzubringen; ich stehe hier zugleich in Vertretung der
-behördlichen Körperschaften unserer Haupt- und Residenzstadt, die
-auf mein sachliches Betreiben, trotz der persönlichen Widerstände
-gewisser starrköpfiger Mitbürger, den weitherzigen Beschluß gefaßt
-haben, zur dauernden Erinnerung an die gemeinnützige Betätigung Ihrer
-unentwegten Menschenliebe ein bedeutsames Merkmal zu errichten, sowohl
-um Ihnen selbst im Gedächtnis künftiger Zeiten und Geschlechter
-Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um andere Menschenfreunde
-zu gleicher Betätigung anzuleiten. In diesem überpersönlichen Sinne,
-hochzuverehrender Herr Geheimrat, soll Ihr in Öl gemaltes Porträt,
-und zwar von der Hand des bewährten Direktors unserer Kunstakademie,
-in unserem Rathause aufgehängt werden; und in Rücksicht auf Ihre so
-werte Gesundheit, deren baldige Wiederherstellung jeder Wohlgesinnte
-wünschen muß, bitte ich Sie, ihm mitzuteilen, zu welchen Stunden Sie
-ihm in der Festwoche die leider aus künstlerischen Gründen unumgänglich
-erforderlichen Modellsitzungen gewähren wollen.
-
-+Christian von Wach+
-
-Sie dürfen überzeugt sein, Herr Oberbürgermeister, daß ich Ihren
-„weitherzigen Beschluß“ im vollen Umfang zu schätzen weiß, sowohl die
-überpersönliche Gerechtigkeit wie die persönlichen Widerstände. Ich
-meinesteils würde zwar am liebsten ebenso starrköpfigen Widerstand
-leisten; aber da ich nicht mehr kräftig genug zu dieser (_absichtlich_)
-Betäterätätigung bin, so bitte ich dem Herrn Akademiedirektor mit einem
-verbindlichen Gruß zu bestellen, daß er seine Staffelei wohl bald vor
-meiner L-Leiche wird aufschlagen können.
-
-+Bürgermeister+
-
-Ich hoffe, verehrter Herr Geheimrat, Sie werden damit nicht sagen wollen
-
-+Christian von Wach+
-
- (erregt)
-
-Ich will damit sagen, verehrter Herr Ober-b-bürgermeister, daß ich
-nach meinem Tod nicht verhindern kann, der M-Menschheit in Öl serviert
-zu werden; zu meinen L-Lebzeiten bin ich lalala-leider -- (_sich
-zusammennehmend_) für +diese+ „sachliche“ Behandlung meiner
-nebensächlichen Person nicht ganz menschenfreundlich genug.
-
-+Bürgermeister+
-
- (sich in die Brust werfend)
-
-Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß eine so wohlerwogene Ehrung
-auf solche Verkennung stoßen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern bleibt
-mir nur übrig, dies der Bürgerschaft zur Kenntnis zu bringen; und
-wenn ich mich jetzt hier verabschieden muß, so geschieht es mit dem
-Bewußtsein, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß ich des Beifalls der
-weitesten Kreise in diesem Falle gewiß sein darf. Ich empfehle mich
-Euer Excellenz -- (_der Minister steht auf_) oder falls Sie mich zu
-begleiten gedenken
-
-+Christian von Wach+
-
-Darf ich wohl bitten, Excellenz, noch einen Augenblick zu verweilen?
-
-+Minister+
-
-Gern, Herr Geheimrat. Verzeihung, Herr Oberbürgermeister.
-
-+Bürgermeister+
-
-So empfehle ich mich denn wiegesagt -- (_man verbeugt sich gemessen --
-er geht gewichtig ab_) -- --
-
-+Minister+
-
- (indem er sich wieder setzt)
-
-Ich bin zu jeder Vermittlung bereit.
-
-+Christian von Wach+
-
-Es tut keine mehr not, (_lächelnd_) ich bin erledigt. (_Ernsthaft_) Ich
-wollte nur fragen, Excellenz: würden Sie wohl einem Sterbenden eine
-unumwundene Antwort geben?
-
-+Minister+
-
-Soweit das menschenmöglich ist --
-
-+Christian von Wach+
-
-Warum häuft man Ehren auf eine Person, die man doch für schändlich
-hält? Warum p-peinigt man mich mit Gnadenmienen, hinter denen der
-Abscheu grinst?
-
-+Minister+
-
-Die Ehre gilt niemals der Person, stets nur der Sache, der man dient.
-(_Lächelnd_) Das entschuldigt auch die Person, die uns soeben verlassen
-hat.
-
-+Christian von Wach+
-
-Also wir sind alle dazu verdammt, einander Böses zu tun im Kampf um das
-Gute?!
-
-+Minister+
-
-Wenn’s die Sache verlangt -- jeder Sieg kostet Opfer --
-
-+Christian von Wach+
-
-Wo bleibt dann die Grenze zwischen Tat und Untat, Heldentum und
-Verbrechertum? Was berechtigt uns, Andre zu opfern?
-
-+Minister+
-
- (diskret ihm huldigend)
-
-Wohl was uns verpflichtet, uns selbst zu opfern. (_Aufstehend_) Wem es
-die innere Stimme sagt, der fragt wohl nicht nach dem Urteil der Welt.
-
-+Christian von Wach+
-
-Ich danke Euer Excellenz.
-
-+Minister+
-
- (ihm die Hand hinstreckend)
-
-Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest!
-
-+Christian von Wach+
-
-Ihnen noch viele, Excellenz! -- -- (_Minister ab, an der Tür sich
-nochmals verneigend; Christian erwidert den Gruß, schließt dann die
-Augen und raunt vor sich hin_) Wem es die innere Stimme sagt --? --
-(_Es klopft, und Justus Wach tritt ein_) -- -- Nun, Justus, mein
-Spiegel, bist du schön blank heut?
-
-+Justus+
-
- (sich rechts des Tisches setzend)
-
-Macht es dir wirklich noch immer Vergnügen, mir das unbedachte Wort
-nachzutragen, das ich damals in der Erregtheit hinwarf?
-
-+Christian+
-
-Wie sollte es nicht? Du bist doch noch immer bestrebt, mir mein wahres
-Gesicht zu zeigen. Das macht mir wirklich ein ungemeines Vergnügen;
-das einzige, das mir die Welt noch bietet. Ich bin dir auch wirklich
-dankbar dafür.
-
-+Justus+
-
-Also dazu hast du mich in dein Haus gelockt: dem Herrn Geheimrat als
-Hofnarr zu dienen. Und ich war einfältig genug, mir von der guten Anne
-aufschwatzen zu lassen, es sei dir ernstlich um eine Versöhnung zu tun.
-
-+Christian+
-
-Außerordentlich rührend bei deinem Beruf, dies Selbstbekenntnis deiner
-Einfalt. Seit wann bist du denn so versöhnlich gestimmt?
-
-+Justus+
-
-Du weißt sehr gut, daß es mich reut, deinen Schlaganfall veranlaßt zu
-haben; wenn es auch ohne Absicht geschah.
-
-+Christian+
-
-Ja, das hast du mir schon mehrmals gesagt. Aber nicht wahr: mein
-Tagebuch, das hast du noch immer nicht aufgespürt --
-
-+Justus+
-
-Hältst du es denn in der Tat für möglich, ich hätte bei einiger
-Überlegung nur eine Minute lang geglaubt, daß ein solches Geständnis
-vorhanden sei? Wenn du es je geschrieben hättest, wär es doch längst
-von dir vernichtet.
-
-+Christian+
-
- (wie zufällig die Hand auf seine Papiere legend)
-
-Und wenn es nun doch noch irgendwo läge?
-
-+Justus+
-
-Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten!
-
-+Christian+
-
-Wenn es mir nun eine Wollust wäre, mit der Entdeckungsgefahr zu
-spielen? Wenn mich immerfort die L-Lust stachelte, die unersättlich
-marternde Lust, mein Geheimnis der Welt ins Gesicht zu schreien? und
-dabei die W-Wonne der Selbstbeherrschung, der Welt nicht den Gefallen
-zu tun! mich nicht knechten zu lassen von dieser B-Beichtsucht! diesem
-schamlosen Mitteilungstrieb, der uns alle zu armen Sündern macht! --
-Hast du dir das noch nie überlegt? --
-
-+Justus+
-
-Wenn du mich etwa nötigen willst, Weihnachten anderswo zu feiern, dann
-bitte sage es mir doch offen! Die Anspielungen auf meinen Beruf werden
-mir nachgerade lästig.
-
-+Christian+
-
-Du kannst dir also garnicht denken, daß ein M-Mörder ein ehrlicher
-Mensch sein kann?
-
-+Justus+
-
-Ich denke mir, daß du durch deinen Reichtum, weil du keine andre
-Beschäftigung hattest, zum Grillenfänger geworden bist. Nun tüftelst
-du dir aus allerlei Zufällen ein neunmalkluges Verbrechen zusammen,
-blos um dir nicht einzugestehen, daß dir glücklicherweise der Mut dazu
-fehlte.
-
-+Christian+
-
-Deine Menschenkenntnis ist fast so gründlich wie deine gute Meinung
-von mir. In der Tat, Vetter: es ist tief beschämend, so als elender
-Mitmensch dazusitzen, wo man Teufel und Engel zugleich sein wollte.
-
-+Justus+
-
-Nun, die Märtyrer-Rolle hat auch ihre Glorie. Sonst hättest du wohl die
-Selbstquälerei nicht so lange ausgehalten.
-
-+Christian+
-
-Und wenn ich nun all die Jahre lang gegen die Versuchung angekämpft
-hätte, diese Qual mit eigner Hand abzu-b-brechen? (_Krampfhaft die Hand
-aufs Herz drückend_) Wenn’s mir nun zu erbärmlich gewesen wäre, so vor
-mir selbst in die B-Binsen zu gehn? Wenn ich lieber die Buße ertragen
-hätte, vor jedem unbe-bedachten Wörtchen zu beben, als diese B-Babbala
--- (_sich bezwingend, da Justus ihm Hilfe leisten will_) laß -- ich
-danke -- -- ich wollte sagen: Blamage des Selbstmords.
-
-+Justus+
-
-Ich muß es wohl aufgeben, Christian, dein Gewissen zu beruhigen.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Ja, wir haben +beide+ unsern Beruf verfehlt; du als Mitmensch, und
-ich als Unmensch.
-
-+Justus+
-
-Ich will dich wahrhaftig nicht aufregen, aber du zwingst mich ja dazu.
-Warum bringst du das Unrecht, das ich dir antat, trotz meiner Abbitte
-immer wieder zur Sprache?
-
-+Christian+
-
-Vielleicht weil es mein „Gewissen beruhigt“, deine Gerechtigkeit wanken
-zu sehen. Wenn du sicher wüßtest, ich hatte gemordet, würdest du dann
-wohl noch geneigt sein, mir die Hand zur Versöhnung zu bieten? --
-
-+Justus+
-
-Es gibt doch Morde, die sogar das Gericht verzeiht.
-
-+Christian+
-
-In der Tat; du bist sehr entgegenkommend. Und die M-Massenmorde
-fürs Vaterland, daß heißt für Thron und Altar und Kapital, oder für
-Freiheit, Gleichheit, L-Lüderlichkeit oder sonstige große Rosinen: die
-verherrlicht sogar die W-Weltgeschichte. Blos, das sind alles Morde aus
-Leidenschaft, aus Eifersucht, Rachsucht, Ehrgefühl, Pflichtgefühl; die
-freilich entschuldigt man edelmütig.
-
-+Justus+
-
-Nun, wenn auch nicht grade vor Gericht, aber unter vier Augen
-betrachtet, ist wohl auch deine Art Menschenliebe eine entschuldbare
-Leidenschaft.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Aber Justus, ich werde irre an dir! Sollte ich endlich dein Herz
-erweicht haben?
-
-+Justus+
-
- (schroff)
-
-Wenn du mir keinen Glauben schenkst, beweisen läßt sich dergleichen
-nicht.
-
-+Christian+
-
- (die Hand auf seine Papiere legend)
-
-Wer weiß; ich könnte mich doch vielleicht „unter vier Augen“
-überzeugen, wie weit du mein Vertrauen ehrst.
-
-+Justus+
-
-So? Könntest du das?
-
-+Christian+
-
-Wenn ich wüßte, Justus, wie weit du dir selber trauen darfst? (_Da
-Justus Miene macht aufzufahren_) Bitte bleib sitzen, ich will dich
-nicht kränken. An deinen guten Willen glaube ich gern. Ich wollte dich
-sogar zum Christfest um einen kleinen L-Liebesdienst bitten.
-
-+Justus+
-
-Wenn es dir wirklich ernst darum ist --?
-
-+Christian+
-
- (nimmt aus seinen Papieren ein mit fünf roten Siegeln
- verschlossenes Heft)
-
-Ich habe gestern mein Testament neu verfaßt; ich wollte dich bitten,
-hier das alte -- (_draußen elektrisches Klingelzeichen_) ah, der
-Sanitätsrat; nun, dann nachher. -- (_Das Heft wieder unter die
-Schriftstücke schiebend_) Ich bin sein besuchtester Patient, seitdem er
-mich nicht mehr retten kann. (_Anne läßt den Sanitätsrat eintreten_) --
-Willkommen, mein werter L-Lebensretter!
-
-+Sanitätsrat+
-
- (während Anne an den Kamin geht und wieder Holz aufs Feuer legt)
-
-Danke, danke, mein teuerster Todeskandidat. (_Zu Justus, der
-aufgestanden ist_) Aber bitte doch Platz zu behalten. (_Sich
-gleichfalls setzend, links des Tisches_) Und bitte mich nicht
-mißzuverstehen. Todeskandidaten sind wir ja alle; Sie können mich noch
-gut überleben! -- (_Christians linkes Handgelenk nehmend, sich nach
-Anne umdrehend_) Gelt, Schwester: der reine Methusalems-Puls! Sie
-messen den Blutdruck doch noch regelmäßig?
-
-+Anne+
-
-Gewiß, Herr Geheimrat; er ist etwas niedriger.
-
-+Sanitätsrat+
-
- (während Anne hinausgeht)
-
-Natürlich! Blos Aufregung vermeiden! Bei Ihrer zähen Konstitution:
-wir werden schon wieder Lebensmut fassen! In der letzten Sitzung der
-Menschenfreunde hat man sogar darauf gewettet, Sie würden doch noch
-Mitglied werden.
-
-+Christian+
-
-Sehr gütig; aber einstweilen scheint mir, der ehrlichste Menschenfreund
-ist der T-Tod.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Ja, der Mensch bleibt ewig ein Grillenfänger.
-
-+Christian+
-
-Haha-hörst du’s, Vetter? Jetzt muß ich’s wohl glauben.
-
-+Justus+
-
- (lachend)
-
-Die Diagnose stellt dir Jeder!
-
-+Sanitätsrat+
-
-„Jeder Wohlgesinnte!“ sagt der Herr Bürgermeister. (_Zu Christian_)
-Aber was hat denn der Biedermann? Begegnete mir bei der neuen Klinik
-und machte ein Gesicht wie ein Truthahn, als ich Ihren Namen nannte.
-
-+Christian+
-
-Ist Ihnen vielleicht auch der Akademie-D-Direktor bei der neuen Klinik
-begegnet?
-
-+Sanitätsrat+
-
-Aber Verehrtester, ruhig Blut! Sie werden sich doch nicht einbilden,
-ich hätte den Kitsch mit ausgeheckt?
-
-+Christian+
-
-Nein; aber jeder P-Pinsel bildet sich ein, er dürfe mich mit
-Berühmtheit beschmaddern, weil ich das selber schon reichlich besorgt
-habe.
-
-+Sanitätsrat+
-
-Ja, der Mensch ist von Natur größenwahnsinnig. Aber wiegesagt: nur
-nichts tragisch nehmen! (_Zu Justus_) Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie
-werden das Ihre tun, uns die Grillen vertreiben zu helfen.
-
-+Justus+
-
-Ja selbstverständlich! nach Kräften! mein Möglichstes!
-
-+Sanitätsrat+
-
- (aufstehend)
-
-Also dann: gesundes Fest allerseits! Und nicht wahr: wenn das Herzchen
-doch wieder muckt: sind ja nur drei Schritte zu mir hinüber.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd, die Hand ins Leere schwenkend)
-
-Mancher geht auch ohne Schritte hinüber --
-
-+Sanitätsrat+
-
-Ohoh! solche Witze darf +ich+ blos machen. (_Beiden Herren
-die Hand schüttelnd_) Na wiegesagt: gesegnete Mahlzeit -- (_geht
-händereibend eilends ab_) -- --
-
-+Christian+
-
-Es scheint, die M-Menschenfreunde wollen mich jetzt zum eingebildeten
-Kranken stempeln.
-
-+Justus+
-
-Das könnte dir doch nur angenehm sein.
-
-+Christian+
-
-Und wenn es mir nun -- entsetzlich wäre?
-
-+Justus+
-
-Über diese Annahme darf ich wohl lächeln.
-
-+Christian+
-
-Wenn ich dir aber nun eingestände, wie es mich manchmal ekelt und reut,
-daß ich mich nicht verurteilen ließ? wie es mich damals b-bohrend
-drängte, öffentlich für die Tat einzutreten, zu der mir, wie du jetzt
-gütigst meinst, g-glücklicherweise der Mut gefehlt hat?
-
-+Justus+
-
-Dann müßtest du mir schon erlauben, auch +diese+ Einbildung zu
-belächeln.
-
-+Christian+
-
-Auch wenn ich w-wirklich gemordet hätte?
-
-+Justus+
-
-Dann doch erst recht, bei deiner Gemütsart.
-
-+Christian+
-
-Bei meiner Feigheit, willst du wohl sagen.
-
-+Justus+
-
-Nein, in diesem Falle: bei deiner Verstocktheit.
-
-+Christian+
-
-Sehr schmeichelhaft, daß du die für so stark hältst. Aber die Reue
-kann ebenso stark sein, selbst im verstocktesten Missetäter. Dein
-bewunderter Bonaparte zum Beispiel: Haha-Hunderttausende hat er
-skrupellos auf seinen Schlachtfeldern umgebracht, aber der eine Duc
-d’Enghien, den er hi-hinterlistig hinrichten ließ, der wurmte ihn noch
-auf Sankt-Helena, trotz aller staatsklugen Entschuldigungsgründe. Die
-Vernunft mag noch so zielbewußt über das Gewissen hinwegschreiten, das
-Gemüt l-läßt sich nicht hintergehen.
-
-+Justus+
-
-Nun, du merkst wohl, ich sprach dir blos zu Munde. Da es dir Spaß
-macht, dich selbst zu narren, will ich kein Spielverderber sein.
-
-+Christian+
-
-Also du hältst mich nicht für verstockt?
-
-+Justus+
-
-Sonst hättest du doch wohl kaum die Absicht, grade mir einen
-Liebesdienst anzuvertrauen.
-
-+Christian+
-
- (lächelnd)
-
-Sehr freundlich, daß du mich erinnerst. (_Das versiegelte Heft wieder
-vorholend_) Aber darf ich dich erst noch bitten, mir mit deiner
-m-möglichsten Offenheit eine Frage zu beantworten?
-
-+Justus+
-
-Und --?
-
-+Christian+
-
-Gesetzt, ich hä-hätte den Mut gehabt, den du mir ehrlicherweise
-absprichst, -- gesetzt, ich hätte t-trotzdem die Reue, die du mir
-anstandshalber nicht zutraust, -- (_schwer die Hand auf das Heft
-legend_) gesetzt, ich würde es dir +beweisen+ -- unter vier Augen,
-lieber Vetter -- nicht vor Zeugen, Herr Ki-Kriminalkommissar --: wärest
-du dann noch bereit zu dem Liebesdienst?
-
-+Justus+
-
-Wie kann ich das wissen -- ohne Beweis --
-
-+Christian+
-
-Ist mein Anblick dir nicht Beweis genug?! --
-
-+Justus+
-
-Ich muß wohl verstummen, wenn du so fragst.
-
-+Christian+
-
-Du meinst, ein Verbrecher verdient kein Vertrauen?
-
-+Justus+
-
-Wenn er bereut, vertraut ihm sogar der Richter.
-
-+Christian+
-
-Und wenn dich nun ein solcher Verbrecher, dem die Reue aus jeder
-Grimasse stiert, den sie t-tausendfältig härter gestraft hat, als
-irgend ein Richter strafen kann -- wenn dich der nun unter vier Augen
-bäte: (_wieder die Hand auf das Heft legend_) hier ist mein Geständnis,
-vernichte es! du hältst meine Seele in der Hand! du kannst sie aus der
-Verzweiflung retten! du siehst, es foltert mich stückweis zu T-Tode,
-daß ich ein einzig Mal unmenschlich war! du gibst mir den Glauben ans
-L-Leben zurück, ans Ewige Leben, an Gott und die Menschheit, +wenn du
-m-menschlicher handelst als ich+ --
-
-+Justus+
-
- (die Hand nach dem Heft ausstreckend)
-
-Ich soll es also -- ins Feuer werfen --
-
-+Christian+
-
- (überläßt es ihm lächelnd)
-
-Ja, Justus -- zum Christfest wiegesagt -- --
-
-+Justus+
-
- (steht auf, macht einige Schritte nach dem Kamin hin, wendet sich
- plötzlich ruckhaft um)
-
-Und du denkst, so lasse ich mich begimpeln? Du bildest dir ein, ich
-durchschau nicht dein Lächeln? Du glaubst, du kannst mich (_nach dem
-Porträt weisend_) beschwatzen wie +die+ da und dann mich auslachen
-wie noch nie? Du Narr, der Andre zu narren meint! -- (_Den Umschlag von
-den Heftblättern reißend und ihn vor Christians Füße schleudernd_)
-Hier: +so+ behandle ich dein Geständnis! kraft meines Amtes, du
-Auswurf der Menschheit! -- (_Hastig die Blätter musternd_) Was? -- wa
--- (_steht in sprachloser Verblüfftheit da_) --
-
-+Christian+
-
-Nun? Was sagt dir das leere Papier? --
-
-+Justus+
-
- (die Blätter zerfetzend und wegschmeißend)
-
-Ah, du Jammergestalt, du schandschnäuzige! (_Mit geballten Fäusten auf
-Christian los_) Du bist ja die raffinierteste Viper, die je den Erdball
-begeifert hat! (_Vor Christians Blick zurückzuckend_) Wenn mir nicht
-graute, dich anzurühren, ich schlüg dir die Zähne aus dem Giftmaul!
-(_Die Fäuste in die Hüften stemmend_) Ist denn kein Funken Scham in
-dir, so mein heiligstes Pflichtgefühl zu verhöhnen?
-
-+Christian+
-
- (endlich gell loslachend)
-
-Ha-ha-ha-hei -- dein hei -- hahahei -- (_plötzlich krampfhaft nach Luft
-ringend, lallend_) heili -- ha-heili -- ha-hilf -- hilf!
-
-+Justus+
-
-Dir --?
-
-+Christian+
-
- (röchelnd)
-
-+Hilf+, Justus! ich dank dir’s! ich sterbe! ich fühl’s!
-
-+Justus+
-
-Dann stirb, Giftmischer!
-
-+Christian+
-
- (mit brechender Stimme, unsäglich lächelnd)
-
-Hab Dank, du -- M-Mörder! (_er sinkt zusammen_) --
-
-+Justus+
-
- (sich an die Brust fassend)
-
-Ich --? -- (_Hart, mit abwälzender Handbewegung_) Lächerlich! -- (_Er
-geht erhobenen Hauptes zur Tür; öffnet, ruft_) Anne! Schwester Anne! --
-(_Sie kommt, er zeigt auf Christian_) Sehen Sie nach, ob noch zu helfen
-ist; ich möchte den Arzt nicht unnütz bemühen.
-
-+Anne+
-
- (auf die Papierfetzen deutend)
-
-Was ist geschehen? War +das+ die Versöhnung?
-
-+Justus+
-
-Rasch! helfen Sie lieber! Mir scheint, er regt sich --
-
-+Anne+
-
- (rechts des Tisches sich über Christian beugend, während Justus
- sich links auf die Stuhllehne stützt)
-
-Das Herz, das klopft noch -- --
-
-+Christian+
-
- (traumhaft)
-
-Anne, bist +Du’s+ --?
-
-+Anne+
-
-Ja, Herr Christian, ich; -- nur still -- nur nit bang --
-
-+Christian+
-
-Sie sollen mich nicht so ansehn alle!
-
-+Anne+
-
-Nein, Herr Christian, niemand -- nur ich! -- (_Sich aufrichtend, mit
-unabweisbarer Frage_) Herr Justus --?
-
-+Justus+
-
- (von ihrem Blick bezwungen)
-
-Ja, dann ist’s meine Pflicht, den Arzt zu rufen -- (_geht gesenkten
-Hauptes hinaus_) -- --
-
-+Christian+
-
-Sind wir allein, Anne?
-
-+Anne+
-
-Ganz allein -- (_sie legt ihren Arm um seine Schultern_) --
-
-+Christian+
-
-Ich seh noch immer die Augen alle -- -- nicht M-Menschenaugen --
-
-+Anne+
-
-Engelaugen -- --
-
-+Christian+
-
-Sie wollen alle, ich soll es s-sagen -- -- nur einmal sagen --
-
-+Anne+
-
-Dann ist’s gesühnt -- --
-
-+Christian+
-
-Ich -- hörst du, Anne?
-
-+Anne+
-
-+Gott+ will es hören -- --
-
-+Christian+
-
-Ich -- hilf doch, Anne!
-
-+Anne+
-
-Nur Gott kann helfen -- --
-
-+Christian+
-
-Ich -- ich -- haha-habe -- -- (_jäh sich aufbäumend, schreiend_)
-+Nein+, Gott -- (_sich ans Herz greifend, selig lächelnd_) ich
-nicht! -- (_er stürzt mit dem Gesicht auf den Tisch_) -- --
-
-+Anne+
-
- (faßt ihn bang bei der Schulter)
-
-Herr Christian -- lieber Herr Christian -- -- (_neigt ihr Ohr an seine
-linke Seite, kniet dann ehrfürchtig neben ihm nieder, faltet die Hände
-zu stillem Gebet_) -- --
-
-+Justus+
-
- (öffnet horchend die Tür, läßt sie offen, tritt leise ein, nähert
- sich verhalten dem Tisch, wartet bis Anne sich erhebt; dann mit
- heiser drängender Stimme)
-
-Hat er gebeichtet? was hat er gesagt? -- (_Da Anne zurückweicht, barsch
-auf sie los_) Was hat er gesagt? ich treib Sie zum Zeugeneid!
-
-+Anne+
-
- (noch einen Schritt zurücktretend, hoheitsvoll nach der Tür weisend)
-
-Gehen Sie endlich, Sie armer Mensch! -- (_Justus, langsam sich an die
-Brust fassend, starrt auf den Toten_) --
-
- (Vorhang)
-
-
-
-
-Michel Michael
-
-Komödie in Versen
-
-Zweite Ausgabe
-
-
-
-
-Personen:
-
-
- +Michel Michael+, ein deutscher Bergarbeiter.
- +Lise Lied+, sein Mündel.
- +Die Frau Venus.+
- +Tyll Eulenspiegel.+
- +Der getreue Eckart.+
- +Der Kaiser Rotbart.+
- +Der rote Karl+, ein Sozialdemokrat.
- +Der schwarze Karl+, ein Ultramontaner.
- +Der Bergrat.+
- +Der Landrat.+
- +Der Bürgermeister.+
- +Die Frau Bürgermeisterin.+
- Ein Kaplan.
- Ein Pastor.
- Drei Maschinenheizer.
- Polizisten. Kobolde. Leute in Masken.
-
-
-Zeit und Ort:
-
-Eine Johannisnacht in einer mitteldeutschen Kreisstadt.
-
- (Rechts und links immer vom Zuschauer aus.)
-
-+Eulenspiegel als Vorredner+
-
- (von rechts kommend, in roter Gugeltracht mit Pritsche):
-
- Meine allergnädigsten Damen und sehr verehrlichen Herrn!
- Sie werden mirs wohl glauben: ich gefiele Ihnen gern.
- Aber mein Herr, der Dichter, hat mich leider ausersehn,
- Jedem eine Nase zu drehn.
- Wer weiß, vielleicht dreh ich ihm selber auch eine;
- indessen diese Nase hat -- lange Beine.
- Zunächst nämlich soll ich mich erfrechen,
- über den Gang der Handlung im Voraus mit Ihnen zu sprechen.
- Sie sehn’s schon an mir, und merken mit Gruseln: huh,
- hier gehts offenbar geheimnisvoll zu.
- Meine Maske hat weder Haut noch Haar,
- blos ein unverschämtes Allerweltsspiegellöcherpaar
-
- (er weist auf seine Augen)
-
- und einen Schlitz für diese meine Zunge
-
- (er streckt sie heraus) --
-
- und darunter, ganz im Dunkeln, hängt mein Herz und meine Lunge.
- Damit mach ich meistens nichts weiter als den Wind,
- in den meine Worte gesprochen sind.
- Denn mit Worten, da die Worte im Kopf entstehn,
- kann der Mensch zwar herrlich andern Menschen den Kopf verdrehn;
- aber da es in der Welt, die sich um uns dreht,
- dennoch nicht nach unserm Kopf zugeht,
- so verläuft der Gang der Handlung auf den 2 mal 5 Beinen
- der Hauptpersonen, ausschließlich der meinen.
- Ich bin also kein großschnäuziger Tugendschweinigel,
- sondern heiße Tyll -- mit Ypsilon bitte -- Eulenspiegel;
- das heißt, ich husche als närrischer Kauz durch die Welt,
- der sich und andre närrische Käuze mit seinem Doppelspiegel
- prellt --
-
- (er weist wieder auf seine Augen).
-
- Was für Nebenpersonen noch drin herumlaufen,
- das ist ein kaum zu zählender Haufen;
- denn zu den Nebenpersonen um jede Menschenseele herum
- gehört bekanntlich das ganze p. p. Publikum --
-
- (er verbeugt sich).
-
- Manche Person ist übrigens eigentlich keine;
- und zwei der Hauptpersonen sind im Grunde nur eine.
- Manche andre zählt mindestens fürn paar Schock;
- und die hauptpersönlichste natürlich steckt in Jedermanns Rock.
- Kurz, jegliche Seele tut alles, was sie kann;
- aha! es scheint, sie fangen schon an.
-
-+Vierstimmiger Gesang mit Lautenspiel+
-
- (hinterm Vorhang):
-
- Wir tragen alle ein Licht durch die Nacht,
- unter Tag.
-
-+Eulenspiegel+
-
- (horcht und spricht parodierend nach):
-
- Sie tragen alle ein Licht durch die Nacht.
-
-+Gesang+:
-
- Wir träumen von unerschöpflicher Pracht,
- über Tag.
-
-+Eulenspiegel+
-
- (wie vorher):
-
- Sie träumen von unerschöpflicher Pracht.
-
-+Gesang+:
-
- Wir helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich;
- Glückauf!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Sie helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich.
-
-+Gesang+:
-
- Wir machen das Erdreich zum Himmelreich;
- Glückauf!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Sie machen das Erdreich zum Himmelreich.
- Da verkriech ich mich schleunigst, ich armer Schuft;
- sonst sprengen sie mich am End in die Luft.
-
- (Er dreht eine Nase, wickelt sich in den Vorhang, und diesen mit
- wegziehend verschwindet er rechts).
-
-
-Erster Aufzug
-
- (+Bild+: Altes kleines Landhaus mit Obstgärtchen. Rechts Wald
- und Gartenzaun. Links hinten das Haus. Vorn entlang Landstraße.
- An der Hauswand links ein Wegweiser, dessen drei Arme folgende
- Aufschriften tragen: Zur Stadt, Zur Grube, Feldweg. Am Gartentisch
- sitzen +Michel Michael+, der +rote Karl+ und der
- +schwarze Karl+; daneben steht +Lise Lied+ mit der Laute,
- in hellgrünem Sommerkleid und weißer Schürze.)
-
-+Lise Lied+
-
- (singt bei offener Bühne weiter, während die Andern nur den
- Kehrreim mitsummen):
-
- Einst fiel alles Leben vom Himmel herab,
- über Tag.
- Wir Bergleute schürfen’s aus dem Grab,
- unter Tag.
- Wir fördern’s herauf, das tote Gestein;
- Glückauf!
- Wir machen’s wieder zu Sonnenschein;
- Glückauf!
-
- (Die Männer stoßen mit ihren großen Schnapsgläsern an und trinken
- sie leer).
-
-+Michel Michael+
-
- (in schwarzer Gamaschenhose und weißem Hemd mit offenem Halskragen):
-
- So, Lise, nun hol uns noch jedem so ein Glas;
- denn die Bergmannskehle
-
-+Lise+:
-
- Weiß schon: ist mehr trocken als naß.
- O Michel! --
-
-+Michel+:
-
- Blos heut mal so’n kleinen Seelenwärmer;
- morgen fließt wieder Milch und Sauerbrunn durch die Därmer.
- Man muß sich doch für das nächtliche Fest vorbereiten.
-
-+Lise+:
-
- Ja, und dann stöhnt ihr über die schweren Zeiten.
-
- (Sie geht mit den Gläsern und der Laute ins Haus.)
-
-+Der rote Karl+
-
- (trägt gewöhnlichen schwarzen Jackettanzug, schwarzen Schlapphut
- und rote Krawatte):
-
- Also willst du wirklich nachher aufs Johannisfest?
-
-+Michel+:
-
- Warum +nicht+?
-
-+Der rote Karl+:
-
- O blos: weil der Michel sonst sich zehnmal bitten läßt,
- eh er einmal kommt. Aber ja: der Herr Bergrat hat’s gewunschen,
- da ists freilich ratsam, sich untertänigst mitzubepunschen.
- Sicher wittert man’s da oben so gut wie ich:
- manche Stimme in der Knappschaft schwört auf dich.
- Hast ein eigen Haus, bist bald Vorhäuer, kannst Leute dingen,
- möchtest dich gewiß gar zum Steiger aufschwingen;
- wirst morgen für ’ne Stütze von Thron und Altar gelten,
- und der Bergrat
-
-+Michel+:
-
- Hör mal, roter Karl: den lass ich nicht schelten.
- Er meint’s leutselig mit uns Arbeitern allzumal.
- Er bezahlt auch heute Nacht wieder Musik und Saal.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Sehr wahr! und in vier Wochen ist Reichstagswahl.
- Du Schäfersohn läßt dir leicht was vormusizieren.
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (trägt gleichfalls schwarzen Jackettanzug, aber steifen Hut,
- schwarze Krawatte und eine auffällig große Hornbrille mit
- dunkelblauen Gläsern):
-
- Ja, ich meine auch: man muß sich doch wohl etwas salvieren.
- Ich sage nichts gegen den Regierungskandidaten,
- aber der Herr Bergrat privatim ist doch sozusagen ein Teufelsbraten.
- Nicht etwa weil er -- obzwar: auch das ist bedeutungsvoll --
- ’ne jüdische Urgroßmutter gehabt haben soll.
- Aber was man so im stillen von seinem Lebenswandel hört --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Du, hörst du’s, Michel? der Schwarze ist christlich empört!
- Fraglos ist er einzig drum aus der Stadt gekommen,
- um hier dem Heil deiner armen Seele zu frommen.
-
- (Lise kommt mit den gefüllten Schnapsgläsern wieder.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Hoffte allerdings, Sie, Herr Namensvetter, nicht anzutreffen.
-
-+Der rote Karl+
-
- (sein Glas nehmend):
-
- Ja, gottvoll, wie sich die Menschen äffen.
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (ebenso):
-
- Nun, Gevatter Michael weiß, welche Tiere am lautesten kläffen.
-
-+Michel+
-
- (mit ihnen anstoßend):
-
- Holla! Frieden, ihr Karle! Gäste solln sich vertragen!
- Muß ich junger Kerl das euch beiden alten sagen?
- Hie Knappschaft! Glückauf! Jeder Knappe im Schacht
- nehm sich vor falschen Wettern in Acht!
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Glückauf, Jungfer Lise! auf das schöne Lied vom Himmel.
-
-+Lise+
-
- (während die Männer trinken):
-
- O, das ist am schönsten +ohne+ euer Kümmelgebimmel.
-
-+Michel+:
-
- Sieh mal, roter Karl: deine Zukunftsrepublik,
- das ist doch auch ’ne Art Rattenfängermusik.
- Und sehn Sie, schwarzer Karl: Ihr Ewigkeitsparadies
- lockt wohl erst recht die liebe Maus zur Mies.
- Und derweil ihr Pfiffikusse so die Gegenwart vexiert,
- hat der dumme Michel sie längst sehre anderst kapiert.
- Denkt ihr, ich will blos drum heut aufs Maskenfest,
- weil der Bergrat da ein paar Sektproppen tanzen läßt?
- dann tät ich mich lieber mit euch hier draußen besaufen.
- Nein, ich will mein Haus an die Grubengesellschaft verkaufen
- und in die Stadt ziehn, werte Zeitgenossen!
-
-+Lise+:
-
- Michel, nein!
-
-+Michel+:
-
- Ja, Lise; das ist nun mal beschlossen.
-
- (Er langt ein paar Schriftstücke aus der Brusttasche.)
-
- Hier, ich hab schon alles mit dem Rechtsanwalt aufgesetzt,
- und der Bergrat ist kein Knicker; besonders jetzt,
- wo sie doch die Vorstadtzeche weiter austeufen wollen
- und Platz brauchen für den neuen Wetterstollen,
- da wird er heut Nacht bei’ner Buddel Wein
- gern zu sprechen sein
- und mir die werte Unterschrift geben.
- Potz Taler, Lise! sollst sehn, das wird ein Leben!
- Na, was machst du denn fürn Sechsdreiergesicht?
-
-+Lise+:
-
- Mir ist bang um dich, Michel. O bitte, tu’s nicht!
-
-+Michel+:
-
- Achgottedoch! daß dir’s Herzchen nur nicht bricht!
- Brennst doch sonst drauf, mit in die Stadt zu fluttschen.
-
-+Lise+:
-
- Aber für immer?
-
-+Michel+:
-
- Für immer tut kein Weibsbild muckschen.
-
- (Er nimmt ihre Hand.)
-
- Weißt du: wenn wir Abends hier manchmal so einsam sitzen
- und ich seh da drüben im Tal den großen Lichterknäul blitzen,
- die Bahnkörperlampen, die Schaufenster, die Straßenlaternen,
- wie sie wetteifern mit den Sternen,
- und was hinter den erleuchteten Scheiben
- all die tausend Menschenköpfe wohl sinnen und treiben,
- was für Strahlen hin-und-herzucken zwischen ihnen
- aus den wunderlichen Instrumenten, Apparaten, Maschinen,
- elektrischen Drähten -- (_er erhebt sich_)
- ich kann’s garnicht ganz sagen,
- wie das strahlt -- und mittendurch rollen funkelnd die Wagen,
- wodrin Hoch und Niedrig zusammen übers Pflaster jagen,
- zu Festsälen, Theatern, Bibliotheken, Klubs, Volkshallen,
- kann sich jedermann immer höher bilden mit Allen --
- ja, dann fühl ichs wild: da +bewegt+ sich die Welt!
- so wild, du, daß mirs manchmal die Stirnadern schwellt!
-
- (Er setzt sich und nimmt einen großen Schluck.)
-
-+Der rote Karl+:
-
- Ja, Fräulein Lise: Sie können’s noch nicht ermessen:
- in der Stadt, da erwacht der Mensch zu edlern Interessen.
-
- (Er nimmt gleichfalls einen großen Schluck.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
-Ja --! Nämlich auch die Kirchen nicht zu vergessen!
-
- (Er trinkt sein Glas leer.)
-
-+Michel+
-
- (auf die Schriftstücke hauend):
-
- Kurzum, ich will mehr, als mein väterlich Erbteil begaffen,
- ich will mir auf eigne Faust meinen Fußboden schaffen;
- +das+ ist mein Intresse! Jawohl! Wirst es auch noch kapieren;
- wirst vielleicht dereinst noch in seidnen Kleidern stolzieren,
- in Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen,
- und an Einer Tafel mit dem Bergrat sitzen.
- Also Kopf hoch, Lise! maul nicht! du übertreibst es.
-
-+Lise+:
-
- O Michel, du bist ein Träumer -- und bleibst es.
-
-+Michel+:
-
- Hat noch niemand unter meinen Träumen gelitten.
-
- (Er trinkt Rest mit dem roten Karl.)
-
- Komm, bring uns lieber noch solchen lütten dritten
- und sing eins!
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Darum allerdings möcht ich gleichfalls schön bitten.
- Das heißt, ums Singen mein’ich.
-
-+Lise+:
-
- Meinen Sie! ums Singen!
- O, euch sollt alle miteinander der Hörselberg verschlingen! --
-
- (Sie stampft mit dem Fuß auf und rennt ins Haus.)
-
-+Der rote Karl+:
-
- Hast sie doch wohl ein bißchen gar zu herrisch überrascht.
- Mich auch, muß ich sagen. Wer erst am Kapitalismus nascht --
-
-+Michel+
-
- (nochmals auf die Schriftstücke hauend):
-
- Ach was, Redensarten! Ich tue, was sich verintressiert.
- Ihr lauert blos immer und lamentiert.
-
- (Er steckt die Papiere wieder in die Tasche.)
-
-+Der rote Karl+:
-
- Michel, Michel --: jeder Knappe im Schacht
- nehm sich vor falschen Wettern in Acht!
-
-+Der schwarze Karl+:
-
-Deren gibts allerdings manche auch +über+ Tag.
-
-+Michel+:
-
- Ja, wenns eure Trinksprüche täten, dann ging’s Schlag auf Schlag.
- Schwerenot! ihr macht einem wirklich den Feiertag schwül;
- und dabei ists ein Abend, wie feucht Moos so schön kühl.
- Hee, Lise! Racker! gleich kommst du! auf der Stelle!
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Ich hol sie --
-
- (er begibt sich durch die Gartenpforte vors Haus zur Tür) --
-
-+Lise+
-
- (mit einer sehr großen Schnapsflasche ihm entgegen):
-
- Da habt ihr eure Intressenquelle!
-
- (Sie drückt ihm die Flasche in den Arm.)
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (heimlich, während der rote mit Michel gestikuliert):
-
- Pst, Jungfer Lise, im Vertrauen! ich mein’s wirklich gut.
- Wenn der Michel nun, und sein Sie froh, daß ers tut,
- in die Stadt zieht: dann drängen sie ihn so Schritt für Schritt,
- daß er in das Kränzchen zur heiligen Elisabeth tritt!
- und Sie, Jungfer Lise, natürlich mit!
- Es ist vergnüglich, und lohnt sich, wie jede Christenpflicht.
-
-+Lise+:
-
- Ja, wenn Sie Eins mir versprechen als Christ; sonst nicht.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Gern! Und?
-
-+Lise+:
-
- Daß er nicht in die Stadt zieht, Sie Kirchenlicht!
-
- (Sie macht ihm einen Knix und verschwindet.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Verflixte Hexe! --
-
-+Michel+:
-
- Also wirklich, Roter: gib dich endlich zufrieden:
- die hohen Herrn, die dienen mir blos, um vorerst mein Eisen zu
- schmieden.
- Nachher -- -- Was! die ganze Flasche schickt sie uns her?
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (die Flasche auf den Tisch stellend):
-
- Ja, die Jungfer scheint sehr entgegenkommend; sehr.
-
-+Michel+:
-
- Aha! sie will ihren Vormund mal wieder im stillen beschämen.
- Jetzt soll sie’s aber merken: ich kann mich bezähmen!
- Kein Schluck jetzt wird getrunken!
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Hm --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Nu ja --
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Ja, im Grunde
- soll der Mensch sich beherrschen --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Besonders mit dem Munde.
-
-+Michel+:
-
- Sie denkt gewiß, weil ich manchmal Händel anfange;
- und da ist ihr vor den fremden Stadtmenschen bange.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Oder vielleicht auch -- hm -- vor den Menschern.
-
-+Michel+:
-
- Wie?
- Ach so! Nein, Schwarzer: ich bin kein solches Vieh.
- Und sie kennt mich; wie Bruder und Schwester sich kennen.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Könnt drum doch wohl so’n Fünkchen Eifersucht brennen.
- Woher hast du sie eigentlich so als Mündel genommen?
-
-+Michel+:
-
- Ja, woher? -- Aus fernem Süden wohl ist sie gekommen.
- Es war ein Abend wie heute. Da im Wald.
- Ich suchte Vogelnester, war so zwölf dreizehn Jahre alt,
- da hör ich auf einmal ein fremdländisch Lied erklingen;
- rein als wollt mich ein Bergquell tief aus der Erde durchdringen.
- Und wie ich mich leise im Moose näher stehle,
- sitzt da ein klein braun Mädel in einer Höhle,
- so klein noch, und barfuß, gewiß kaum sechs Jahr,
- einen Kranz wilde Efeuranken im Haar,
- und mit Augen, wie der Kuckuck fürwahr --
- ja, so saß sie unter dem Felsenhang
- und sang -- und sang -- --
- Konnte anfangs kein deutsches Wörtchen sagen,
- ließ sich nur ihren Namen, der hieß Lilith, abfragen,
- aber weil sie sang, wo sie ging und stand,
- haben wir sie Lise Lied genannt;
- bis sie schließlich ganz unsre Sprache angenommen
- und vergessen hat, woher sie gekommen.
- Und da mein Vater starb, eh daß sie großjährig war,
- bin eben Ich jetzt ihr Vormund; bis zum neuen Jahr.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Wird wahrscheinlich irgend ein verlaufen Zigeunerkind sein.
- Ward sie denn getauft?
-
-+Michel+:
-
- O! reichlich! mit Wasser und mit Wein.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Da sollt man doch eigentlich eins drauf trinken.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Hm. Ist Alles Gottesgabe.
-
-+Michel+:
-
- Jawoll! pros’t Schinken:
- jetzt wird gefastet! und wenn ihr noch so druckst!
-
- (Leise:)
-
- Sie steht nämlich hinter der Gardine und luchst;
- ich kenn sie.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Scheint ja indertat recht schwesterlich aufzupassen.
-
-+Michel+:
-
- Je nun, ich muß sie doch im Haus schalten lassen;
- hütet auch heute Nacht wieder allein das Nest.
-
-+Der rote Karl+:
-
- So -- sie geht nicht mit aufs Johannisfest?
-
-+Michel+:
-
- Nein; sonst würd sie mir doch vielleicht das Geschäft verleiden.
-
-+Der rote Karl+:
-
- So, so --
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (an der Flasche fingernd):
-
- jo, jo --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Und wie willst denn Du dich verkleiden?
-
-+Michel+:
-
- Ich geh einfach in Vaters Schäferhut-und-rock
- und mit seinem langen Hirtenstock.
- Hat nun manch Jahr schon still in der Ecke gestanden,
- und strich früher wie’n Feldherrnstab hier herum in den Landen.
- Ja: kannst mirs glauben: gern zieh ich auch nicht heraus
- aus dem lieben alten Haus,
- wo ich von Kind auf jeden Holzpflock drin kenne.
- Aber wenn ich Morgen für Morgen zur Schicht auf die Zeche renne
- und ich denk mir, wir solln hier ewig so hocken,
- uns immer wieder denselben Alltagsbrei einbrocken --
- denn ihr, was wollt +ihr+ denn? blos lüstern aufmucken
- und euch dann untern öffentlichen Suppenlöffel ducken,
- zu dem schon jetzt alle Ja und Amen nicken,
- bis selbst die Bettelleute schließlich im Fett mitersticken --
- hrr, dann fühl ich’s heiß mir durch jede Pore toben:
- Luft!!! schenkt uns einen Krieg, ihr Herrn da oben!
-
- (Er greift nach der Flasche, gießt sich das Glas voll und trinkt.)
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (sich bekreuzend):
-
-Josef-Maria, Krieg! Gevatter, das heißt Gott versuchen! Mit Verlaub --
-(_er gießt sich gleichfalls ein_) --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Ja, erlaube, Michel: du hast leicht fluchen.
- Du bist noch jung, und kennst den Krieg nicht, und meinst voll
- Feuer,
- er sei ’ne Art Welteroberungsabenteuer.
- +Ist+ er auch; und tät heute die Sturmtrommel schlagen
- ich würd meine Knochen wieder mit auf die Schanze tragen;
- das steckt uns im Blut, uns Bestien. Ja, ’ne Wollust ist der Krieg,
- verhilft unsern Raubtiergelüsten zum Sieg;
- aber Glück, Michel, menschlich Glück schafft er keins.
-
-+Michel+:
-
- Papperlapapp, Karl; ist dein Glück etwa meins?
- Halt keine Volksreden, Roter! trink lieber eins!
-
- (Ihm einschänkend und dann mit Beiden anstoßend:)
-
- Glück, das ist ein Wort wie’ne Fliegenfalle;
- Glückauf! es lebe der Sirup für Alle!
-
- (Sie trinken.)
-
-+Lise+
-
- (tritt lachend aus der Tür an die Hausecke):
-
- Wohl bekomm’s! -- Ihr beherrscht euch aber lustig.
-
-+Michel+:
-
- O, du Kobold du! Seht ihr’s, da habt ihr’s, das wußt’ich.
-
-+Lise+
-
- (tritt an den Gartentisch und nimmt die Flasche):
-
- Will sie aber doch vor euch Selbstbeherrschern lieber verstecken.
- Gute Nacht, ihr Herrn! und laßt’s euch schön langsam schmecken!
-
- (Sie geht wieder ins Haus.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Potz Kuckuck --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Glaub mirs, Michel: du kennst die Kriegswut schlecht.
- Höchstens aus Notwehr ist sie ein Menschenrecht;
- das sollte man nicht als ein Glücksspiel verkündigen.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Nein, bei den heiligen Nothelfern allen: das heißt sich versündigen.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Verspielst blos deine Kraft, wenn du immer so überschäumst
-
-+Michel+:
-
- und dabei den Zukunftsstaat versäumst --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Auch die Gegenwart, Michel. Glaub mirs: du träumst! --
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Das kommt, wenn man sich dem ewigen Heil verschließt
- und zuviel in den neuen Büchern liest.
-
- (Er nippt behutsam an seinem Glas.)
-
-+Michel+:
-
- O, auch in den alten. Ich könnt euch manche Historie sagen,
- wie sichs hier in Wahrheit einstmals hat zugetragen,
- als unsre Väter im Herzgau von allen deutschen Landen
- hier zwischen der Wartburg und dem Blocksberg ihr Seelenheil fanden,
- zwischen dem Kyffhäuser und dem Hörselberg.
- Damals ging’s Handeln noch nicht so überzwerch
- mit Flausen und Klauseln und Staatsrücksichten wie heute;
- damals +vermochten+ noch stracks die aufstrebsamen Leute,
- mit der Faust oder Stirn ihren Hochsinn durchzudrücken,
- sich selbst und allen Nachkommen zum Entzücken.
- O, ich sag euch: hier so lesen von den glorreichen Zeiten,
- und die Dämmrung beginnt aus den Schatten der Zweige zu gleiten,
- daß die Buchstaben flimmern auf den vergilbten Seiten:
- schier leibhaftig seh ich sie dann Gestalt annehmen
- und einherschreiten, die gewaltigen Schemen,
- die gewappneten Herren aus trutzigem Bauerngeschlechte,
- die frommen Einsiedler, die klugen Schalksknechte,
- mit ihren blinkenden Schwertern, Kruzifixen, Helmzierden, Drommeten,
- gleich als wollten sie da aus dem Wald zu mir treten
- und mit mir beten -- --
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Was! Hier? Gestalten? hier unter diesen Bäumen?
- Nein, Gevatter Michael: es scheint wirklich, Sie träumen.
-
- (Er nippt wieder ein Schlückchen.)
-
-+Michel+:
-
- Na! dann seid ihr Beiden ja endlich einmal einig.
- Und könnt austrinken! Es wird dunkel, mein’ich.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Ist freilich Mondschein. Erstes Viertel, wie du siehst.
- Aber wenn du meinst -- und dich unsre Gesellschaft verdrießt --
-
- (Er trinkt aus.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Ja, dann wollen wir wahrlich keine Zeit verlieren.
-
- (Er trinkt ebenfalls aus.)
-
-+Michel+:
-
- Na, ich mein blos: ich muß mich doch zum Fest ausstaffieren.
-
-+Lise Lied+
-
- (singt im Innern des Hauses, durchs Dachfenster sichtbar):
-
- Willkommen, weißer Mond im Blauen,
- allein!
- Laß mich in Deine Heimat schauen,
- sei mein!
- Ich sitz im Dunkeln voll Geduld,
- du scheinst!
- O leuchte Jedem heim voll Huld,
- dereinst!
-
- (Sie schließt das Fenster.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Meiner Seel! wenn sie singt, dann ist sie der reine Engel.
-
-+Der rote Karl+
-
- (aufstehend):
-
- Ja, und winkt uns heim mit dem Tulpenstengel.
-
- (Im Haus wird Licht angesteckt, hinterm Dachfenster.)
-
- Also, Michel, Glückauf; vielleicht siehst du mich noch um
- Mitternacht.
-
-+Michel+
-
- (gleichfalls aufstehend):
-
- Wie?
-
-+Der rote Karl+:
-
- Nu, es ist doch Maskenfreiheit angesagt
- und jeder wahlberechtigte Bürger nebst Familie eingeladen;
- da wirds ’nem alten Kriegsveteranen, denk ich, wohl auch nicht
- schaden.
-
-+Michel+:
-
- Siehst du, Roter: das ist wacker! Wahrhaftig, das freut mich.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Trotz dem Bergrat? -- Na! ich will nicht hoffen, es reut dich.
-
- (Er schüttelt ihm die Hand und geht langsam links ab.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Ich denk, ich komm auch.
-
-+Michel+:
-
- So.
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Ja. Ich denk, es bringt Segen,
- unsre alte ehrwürdige Knappentracht wieder mal anzulegen.
-
-+Michel+:
-
- Schön; stolper nur niemand nicht übern Degen!
- Glückauf, Gevatter! --
-
- (Er winkt ihm Abschied und geht ins Haus; der schwarze Karl folgt
- verdutzt dem roten.)
-
-+Tyll Eulenspiegel+
-
- (kommt von rechts aus dem Wald geschlichen, steigt über den Zaun
- auf die Gartenbank und ruft gedämpft):
-
- Immer vorwärts, gnädiger Herr! die Luft ist jetzt rein.
- Nur das Jungfräulein wäscht sich im Kämmerlein.
-
- (Auch unten im Haus wird ein Fenster hell.)
-
-+Der Kaiser Rotbart+
-
- (tritt aus dem Wald, in goldner Rüstung, mit geschlossnem Visier,
- sodaß nur sein langer Bart sichtbar ist):
-
- Hüt dich, Schalk: sie hat Augen, hurtig wie Eidechsen.
-
-+Der getreue Eckart+
-
- (in schwarzer Kutte mit hohem Kreuzstab, die Kapuze tief ins
- Gesicht gezogen, sodaß nur sein weißer Bart hervorguckt):
-
- Und könnt dich leicht wie den braven Michael behexen.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- O, der Michel, der ist gänzlich in sich selber versunken.
- Seht: er hat nicht mal sein Glas ausgetrunken.
-
-+Der Rotbart+
-
- (zu Eckart):
-
- Wie stellen wirs an, Getreuer, ihm zu erscheinen?
-
-+Eulenspiegel+
-
- (von der Bank springend):
-
- Hopp! wir erscheinen eben. Das genügt, sollt ich meinen.
-
-+Eckart+:
-
- Mir deucht, gnädiger Herr, der Schalk rät gut.
-
-+Eulenspiegel+
-
- (nach dem unteren Fenster deutend):
-
- Seht: er ist ganz behext von -- dem alten Schäferhut.
- Ach, er küßt ihn -- (_ahmt den Kuß ulkig nach_) --
-
-+Eckart+:
-
- Darüber soll man nicht lachen!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Nun, dann werd ich uns mal ernstlich bemerkbar machen.
-
- (Er klappt mit der Pritsche an die Scheibe und klingelt dazu mit
- einer Schelle, die am linken Zipfel seiner Gugelkappe hängt;
- dieser Zipfel ist so lang, daß Eulenspiegel die Schelle in die
- Gürteltasche stecken kann, damit sie nicht von selbst klingelt,
- sondern nur wenn er sie herausnimmt.)
-
-+Michel Michael+
-
- (tritt in Schäfertracht auf die Schwelle, in blauem Rock und grauem
- Mantel, eine brennende Kerze in der Hand, sodaß die Scheibe nun
- dunkel ist):
-
- Wer klopft so spät und dringlich an meinem Fenster?
- Wer sind die Herren --
-
-+Der Rotbart+
-
- (wie ein Standbild aufs Schwert gestemmt):
-
- Gestalten --
-
-+Eckart+:
-
- Gestalten --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (_mit Verbeugung_): sozusagen Gespenster.
-
-+Michel+:
-
- Die Herren scheinen sehr spaßhaft gelaunt. Ich vermute,
- Sie wollen in die Stadt
-
-+Eulenspiegel+:
-
- mit dir auf die Maskenredute;
- wenn du uns den Weg zeigen willst. Denn merke dir:
- mit Gespenstern spricht man per Du und Ihr.
-
-+Eckart+:
-
- Wir kommen, Michel Michael, um dich aus deinem Unmut zu reißen;
- ich vom Hörselberg, der getreue Eckart geheißen.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Ich habe bislang im Kyffhäuser meinen Rotbart beglotzt;
- nun hat mich dein Wagmut endlich heraufgetrotzt.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ich brauch mich, Vetter Michel, wohl nicht vorzustelln.
- Ich bin überallher und starb bekanntlich in Mölln.
-
- (Das Dachfenster wird plötzlich dunkel.)
-
- Weiß also nirgends mehr auf dieser Erde Bescheid,
- aber desto gründlicher in der Ewigkeit.
-
- (+Lise+ kommt die Flurtreppe herab, wie früher gekleidet, doch
- ohne Schürze; tritt unbemerkt hinter Michel.)
-
-+Eckart+:
-
- Willst du uns nun, hier wo sich die Wege verzweigen,
- die rechte Richtung durchs nächtliche Vaterland zeigen --
-
-+Der Rotbart+:
-
- so wollen wir’s lohnen und dir zum guten Gelingen
- deines gewagten Geschäftes beispringen --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- zum Verkauf deines Hauses --
-
-+Michel+:
-
- Wie?? Ihr wißt??
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Daß der Herr Michael heute durchaus kein Träumer mehr ist.
-
-+Eckart+:
-
- Brauchst nicht starrstehn, als stünd hier der Antichrist;
- wir haben nur im Wald da vorhin ein wenig gelauscht.
-
-+Lise+:
-
- Michel, tu’s nicht! Stehst ja jetzt schon wie ausgetauscht!
-
-+Michel+:
-
- Was! du bist noch auf, Lise?
-
-+Lise+:
-
- Soll wohl mit dir um die Wette träumen?
- Ich muß doch noch euer Teufelsgeschirr da beiseite räumen.
-
- (Sie will an ihm vorbei in den Garten.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (ihr zuvorkommend):
-
- Auf Ihr Wohl, mein frommes Fräulein, den teuflischen Rest!
-
- (Er spritzt ihn hoch in die Luft und überreicht ihr die Gläser.)
-
- Dürfen wir hoffen, Sie wallfahrten auch mit aufs Fest?
-
-+Lise+:
-
- Danke. Hab keine Lust. (_Leise_) Ich bitt dich, Michel, tu’s nicht!
- Was sind das für Leute?
-
-+Eulenspiegel+
-
- (durch die hohle Hand):
-
- Lockspitzel fürs Jüngste Gericht!
-
-+Michel+
-
- (noch leiser):
-
- Sind wohl Grubenbesitzer aus dem Nachbarkreis.
- Sei friedlich, Lise!
-
-+Lise+
-
- (ihm den Leuchter abnehmend):
-
- Ist mancher friedloser, als er weiß -- --
-
- (Sie geht mit den Gläsern und dem Licht ins Haus; ein andres
- Fenster als vorher wird hell.)
-
-+Michel+:
-
- Entschuldigen die Herrn: sie kommt wenig unter Leute,
- mein Mündel. Und ist voller Unruh heute.
-
-+Der Rotbart+
-
- (nach links zeigend):
-
- Das dort unten, der Lichterhaufen, das ist wohl die Stadt?
-
-+Michel+:
-
- Ja, Herr. Nicht wahr: was das einen Andrang nach oben hat!
- Wie die Glanzpunkte einander immer übersteigen,
- überflügeln, und doch sich zusammentun zum Reigen;
- rein als möcht sich der Erdkreis da selber von Grund aus
- beschwingen,
- immer heller hinauf in den dunkeln Weltkreis zu dringen
-
-+Eulenspiegel+
-
- (pathetisch):
-
- und nachher kopfüber wieder herunter zu springen.
-
-+Michel+:
-
- Wie?
-
-+Eckart+:
-
- Der Eulenspiegel hat dir nur andeuten wollen --
-
-+Der Rotbart+:
-
- daß es nun wohl Zeit sei, uns langsam hinunter zu trollen.
-
-+Michel+:
-
- Ja so! Ja. (_Ins Haus rufend_) Lise! bring mir mal Vaters Stock,
- den langen! -- Ich hoffe, mein schlichter alter Rock
- paßt zu den Herren Gespenstern nicht schlecht amende?
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Vortrefflich, Vetter! Besonders (_leise_) zu meinem nagelneuen
- Hemde.
-
-+Lise+:
-
- Hier, Michel.
-
-+Michel+
-
- (den Stock nehmend):
-
- So! -- Jetzt, ihr Herrn, sollt ihr sehn,
- ob der Michel versteht, durchs nächtliche Deutschland zu gehn
- und bis Tagesanbruch sein festlich Geschäft zu vollbringen
- und auch ohne euern Beistand
-
-+Lise+:
-
- einen Rausch zu erringen.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Ei, gestrenges Fräulein, im Rausch wird die Herzenslust rege.
- Gute Nacht! Ich gönn euch ein rauschend Herz allerwege.
-
- (Er verneigt sich und schreitet linkshin davon.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (ihm folgend):
-
- Ich schenk euch alles Rauschgold droben im Blauen.
-
-+Eckart+
-
- (ebenso):
-
- Ich wünsch euch, allen himmlischen Festrausch zu schauen.
-
-+Lise+
-
- (ihnen nachrufend):
-
- Und ich euch ein höllisches Morgengrauen! --
- Ach, Michel!
-
-+Michel+:
-
- Gute Nacht, du ewige Unruh du.
- Geh schön schlafen. Und schließ die Haustür hübsch zu.
- Wirst schon sehn, ich sorge für dich aufs väterlich beste;
- und übers Jahr kannst du auch mit auf solche Feste.
-
-+Lise+:
-
- Wirklich?
-
-+Michel+:
-
- Ja wirklich, du. Aber jetzt laß mich gehn;
- horch, man hört schon Musik herüberwehn --
-
- (eine ferne leise Walzermusik tönt bis zum Schluß des Aktes fort) --
-
- und die Herren da warten, es ist höchste Zeit.
- Also leg dich aufs Ohr und träum dir ein fein neu Kleid.
-
- (Indem er den Andern nacheilt):
-
- Und schick deine Mucken heim, du! da auf die Mondsichel,
- du dumme Lise -- (_er verschwindet_) --
-
-+Lise+
-
- (ihm mit beiden Händen einen Kuß nachwerfend):
-
- Du dummer Michel! --
-
- (Sie huscht ins Haus, löscht das Licht, kommt gleich darauf wieder,
- in einen langen schwarzen Schleier gehüllt, ein silbernes Diadem
- mit flimmerndem Stern auf dem Haar, einen langen silbernen Stab
- in der Hand, der oben wie eine Wünschelrute gespalten ist, und
- verschließt die vom Mond beglänzte Tür. Dann sich reckend:)
-
- O ja, ich schließ zu. Und den Schlüssel, (_ihn hebend_) den sollst
- du erst finden,
-
- (ihn ins Mieder steckend)
-
- wenn dir die Sinne vor Unruh um mich schwinden,
- du Väterlicher! -- Ja: berausch dich nur gut,
- du Lieber! Ich fühl’s, was dir braust im Blut.
- Ich folg dir, ich halt dich im Heimatland --
- O, er weiß noch, wie er sein Findelkind fand!
- wie’s ihn durchdrang, durchdrang, Herz, als er mich sah:
- wie ein Bergquell tief aus der Erde --
- (_in Gesang ausbrechend_) ja --:
- so saß ich unter dem Felsenhang --
-
- (linkshin davonschreitend, während der Vorhang sich schließt)
-
- und sang -- und sang -- --
-
- *
-
-+Eulenspiegel als Zwischenredner+
-
- (tritt aus dem Mittelspalt des Vorhangs, klingelt mit seinem
- Schellenzipfel):
-
- Meine Herrschaften, das Fest ist in vollem Schwung;
- selbstverständlich mit polizeilicher Genehmigung.
- Die ganze Stadt schwebt auf dem Gipfel der Seligkeit;
- einschließlich der beiderseitigen Geistlichkeit.
- Jeder darf sich also, ohne irgend eine Pflicht zu entheiligen,
- an der allgemeinen Begeisterung voll-und-ganz beteiligen.
- Das soll nicht etwa heißen, ich buhle um Ihre Gunst;
- sondern blos mein Herr, der Dichter, betreibt diese schändliche
- Kunst.
- Er betreibt sie leider mit höchst wohlgeziemenden Mitteln
-
- (das Gestampf einer Maschine wird hörbar)
-
- und ist fest überzeugt, Sie finden nichts dran zu kritteln;
- wie Sie hören, sogar mit Dampfkraft und Elektrizität,
- weils ohne diese Errungenschaften heut nicht mehr geht.
- Dennoch muß ich sagen
-
- (eine laut schnarrende Stimme hinterm Vorhang wird hörbar)
-
- -- na aber! das wird denn doch zu kräftig;
- ich bitte um Ruhe dadrinne! Hee! Sie begeistern sich zu heftig!
- Heda, Ruhe! oder ich ruf die Regie!
- Ich bin ein Gespenst, ich kann nicht so schrein wie Sie,
-
- (er schreit immer stärker)
-
- Sie rattern ja lauter als die Dynamomaschine;
- bitte schließen Sie gefälligst Ihre Phrasenterrine! --
- Sie! hören Sie nicht? jetzt habe Ich das Wort! --
- Er hört nicht. Er rattert ruhig fort.
- Ich fürchte, über solchen voll-und-ganzen Begeisterungston
- verfügt nur eine wirkliche neuhochdeutsche Regierungsperson;
- jeder andre Geist krigte davon den Schlucken.
- Da muß ich braves altdeutsches Gespenst mich wohl ducken
-
- (er tut es)
-
- und ehrerbietigst das Mundwerk der hohen Behörde enthüllen,
- damit Sie auch lernen, so begeistert zu brüllen.
-
- (Er schiebt geduckt den Vorhang linkshin auf und verkriecht sich im
- Vordergrund der Bühne.)
-
-
-Zweiter Aufzug
-
- (+Bild+: Eine Gartenwirtschaft mit elektrischen Ampeln,
- bunt voller Leute in Maskenkostümen, doch herrscht die schwarze
- Farbe vor. Im Hintergrund ein erleuchteter Tanzsaal. Rechts ein
- Laubengang mit Tischen und Stühlen, die grün und weiß gestrichen
- sind; auf dem vordersten Tisch ein weißes Tischtuch und ein Schild
- mit der Aufschrift „Reserviert!“ Links unter Bäumen ein langer
- Tisch, an dessen hinterem Ende der schnarrende +Landrat+
- steht, mit aufgedrehten Schnauzbartspitzen, in schwarzer Halbmaske,
- Frack und Domino. An den Seiten dieses Tisches sitzen der
- +Bergrat+ und der +Bürgermeister+, ähnlich maskiert, nur
- mit anderen Bärten, der Bergrat mit dunkelm spanischen Spitzbart,
- der Bürgermeister mit grauem Tintenwischer-Schnurrbart; dann die
- +Frau Bürgermeisterin+ und andre Damen in farbigen Masken,
- ein +Kaplan+ und ein +Pastor+ unmaskiert, der +schwarze
- Karl+ in Bergknappentracht mit Hornbrille, ihm gegenüber
- +Michel Michael+ ohne Maske, an der linken Ecke vorn. Die
- Honoratioren tragen Zylinderhüte; nur der Kaplan hat flachen
- Seidenhut. Hinter Michel stehen wie Wachtposten der +Kaiser
- Rotbart+ und der +getreue Eckart+, immer mit geschlossnem
- Visier und Kapuze; und +Eulenspiegel+ hat sich zu seinen
- Füßen unter die Tischplatte gehockt. In der Mitte der Bühne ein
- Lindenbaum, hinter dessen Stamm +Lise Lied+ verborgen steht;
- davor eine grün und weiß gestrichene grade Bank ohne Lehne.
- Ringsherum maskiertes Volk; darunter auch Kinder.)
-
-+Der Landrat+
-
- (immer lauter schnarrend, um das Gestampf der Maschine zu
- übertönen):
-
- Und demnach, da Sie merken -ä- bin zwar in Maske erschienen,
- aber -ä- unverkennbar: Ihr Landrat redet zu Ihnen --
- demnach, sag’ich, will ich hier -ä- in Ihrer festlichen Mitte,
- wo uns Alle nach guter, echter, alter Sitte
- sozusagen die brüderlichsten -äh- Gefühle beseelen,
- will ich, sag’ich, Jedem väterlichst anempfehlen,
- trotz allen, wie Schiller sagt, feindlichen Gewalten
- unentwegt unsre heiligsten Güter -ä- hochzuhalten.
- Und diese -ä- Gefühle -- Gefühle, sag’ich -- sollen uns auch
- geleiten,
- wenn wir in diesen unverzeihlich vaterlandslosen Zeiten
- demnächst, meine Herrn, wie Sie wissen, zur Wahlurne schreiten.
- Also, meine Herrn -äh- und Damen, wolln wir uns jetzt von den
- Stühlen
- zum Zeichen von unsern -ä- unsern -äh-
-
-+Eulenspiegel+
-
- (über den Tischrand weg):
-
- Hochgefühlen --
-
-+Der Landrat+:
-
- jawohl: von unsern vaterländischen Hochgefühlen --
- wollen wir uns, sag’ich, jetzt mit unsern Gläsern erheben:
- unser allverehrter Reichstagskandidat, der Herr Bergrat, er soll
- leben! hoch!
-
-+Chorgesang mit Musik+
-
- (während der Landrat dem Bergrat die Hand schüttelt und Alle
- anstoßen):
-
- Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!
-
- (Dann noch immer das Geräusch der Maschine.)
-
-+Der Landrat+:
-
- Himmelkreizrudiment! da +muß+ ja’s Trommelfell reißen!
-
- (Nach hinten schreiend:)
-
- Die Kerls, die Heizer, sollen die Tür zuschmeißen!
- Heda!!! Tür zu, sag’ ich! Sofort den Kesselraum schließen! --
-
- (Man hört eine eiserne Tür zuklappen; das stampfende Geräusch
- verstummt.)
-
- Bande! Frechheit! Da soll man nu Volksfest genießen.
- Unerhört! verstand kaum mein eigen Wort.
- Tun’s selbstredend extra, diese Sozi, uns hier zum Tort.
- Mußte schrein, daß mir jetzt noch’s Trommelfell klirrt.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ach bitte, Herr Bürgermeister, Sie sorgen wohl gütigst beim Wirt,
- daß uns die Lichtmaschine, bitte, nicht wieder stört.
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Mit Vergnügen, Herr Bergrat.
-
-+Der Landrat+:
-
- Ja! bin wirklich empört!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Er soll den Heizern ein Achtel Pilsner auflegen.
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Gern, Herr Bergrat.
-
- (Er entfernt sich mit der Volksmenge nach dem Tanzsaal.)
-
-+Der Landrat+:
-
- Pros’t, Herr Corpsbruder! meinen volksfreundlichsten Segen!
-
- (Er trinkt dem Bergrat zu.)
-
- Diese Rasselbande! diese roten Radaugesellen!
-
-+Michel+
-
- (hat wieder Platz genommen, stampft seine Weinflasche auf den
- Tisch):
-
- Mit Verlaub! Indessen: von wegen den Trommelfellen --
-
-+Der Landrat+
-
- (etwas schwerhörig):
-
- Äh --?
-
-+Eulenspiegel+
-
- (unterm Tisch hervor):
-
- Trommelfellen --
-
-+Michel+:
-
- so im Kesselraum schuften, ist +auch+ kein Volksvergnügen.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Volksvergnügen.
-
-+Eckart+:
-
- Volksvergnügen.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Bravo, Michel!
-
-+Die Frau Bürgermeisterin+
-
- (auffällig bunt kostümiert, lorgnettierend):
-
- Entzückende Gruppe!
-
-+Der Landrat+:
-
- Gottvoll!
-
-+Michel+:
-
- Verfluchtige Lügen!!!
-
-+Eulenspiegel+ (_Fistel_) und +Eckart+ (_Baß_):
-
- Lügen! Lügen!
-
-
-+Der Rotbart+
-
- (Baryton):
-
- Man soll nicht meinen, ihr Leute, man könne den Michel betrügen.
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (während die Andern lachen):
-
- Nein, wie reizend!
-
-+Der Landrat+:
-
- Köstlich!
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Wie echt gemacht! So natürlich!
- so romantisch! so richtig sagenfigürlich!
- nicht wahr, Herr Pastor?
-
-+Der Pastor+
-
- (in schwarzem Gehrock, zugeknöpft, wohlbeleibt):
-
- In der Tat, Frau Bürgermeisterin;
- ein Maskenscherz mit tiefem evangelischen Sinn.
-
-+Der Kaplan+
-
- (in schwarzer Sutane, noch beleibter):
-
- Man könnte, Herr Amtsbruder, eher wohl katholischen sagen.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Also, meine Damen und Herrn, erlaub’ich mir vorzuschlagen,
- weil der biedre Zecher da Michel Michael heißt
- und offenbar erfüllt ist von wahrhaft volkstümlichem Geist:
- wir erteilen nachher dem deutschen Michel nebst Geisterbegleitung
- den Maskenpreis!
-
-+Alle+:
-
- Bravo!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (aufstehend und klingelnd):
-
- Und setzen’s in die Zeitung!
-
-+Der Landrat+:
-
- Selbstredend!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (sich vor ihm verbeugend und weiterklingelnd):
-
- Es lebe die hochwohlweisliche Volksfestleitung! --
-
- (Im Saal fängt gedämpfte Tanzmusik an.)
-
-+Michel+
-
- (ist gleichfalls aufgestanden):
-
- Herr Bergrat spaßen sehr gütig; ja; und ich danke auch sehr.
- Aber, wie Herr Bergrat wissen, kam ich eigentlich her,
- um mein Haus --
-
-+Der Rotbart und Eckart+:
-
- (während Lise Lied hinter dem Baum hervorschaut)
-
- Haus -- Haus --
-
-+Michel+:
-
- (die Vertragspapiere aus der Brusttasche holend)
-
- Hier -- ich bin so frei --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Schon gut, lieber Michel; gewiß, kommt auch an die Reih.
- Jetzt muß ich erst tanzen gehn.
-
- (Zur Bürgermeisterin:)
-
- Gnädige Frau, darf ich bitten! --
-
- (Verschiedene Paare, auch der Landrat mit einer Dame, ab nach dem
- Saal.)
-
-+Michel+
-
- (die Papiere einsteckend und sich wieder setzend):
-
- Verdammte, verquere, katzenfreundliche Sitten!
-
- (Er stürzt ein Glas Wein hinunter.)
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ja, Sitten!
-
-+Der Rotbart und Eckart+:
-
- Sitten! --
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (hat bis dahin mit dem Kaplan getuschelt):
-
- Gratuliere, Freund Gevatter; scheinst hier recht wohlgelitten.
-
-+Michel+:
-
- Halt’s Maul!!!
-
-+Lise Lied+
-
- (ganz hervortretend, dicht verschleiert, mit verstellter Stimme):
-
- Michel Michael, laß dich zum ersten Mal warnen!
- schon beginnt der Stadtrausch deinen Geist zu umgarnen.
- Ich bin deine Glücksfee; bang von fern komm ich her,
- von den Sternen, durch die Nacht, übers gründunkle Meer,
- meinen Wünschelstab in bebender Hand,
- flüchtigen Fußes von Land zu Land,
- durch den Wald deiner Kindheit bin ich gegangen,
- in den Schooß der Berge trieb mich dein Glückverlangen,
- bis zum Hörselgrund tief, wo Frau Venus wacht
- und den feurigen Quell der Jugendträume entfacht --
- Michel Michael, jetzt durch meinen Mund
- tut dir die ewige Göttin kund:
- du sollst deiner lieben Heimat nicht untreu werden,
- damit du kein Flüchtling wirst auf Erden.
- Lebe wohl!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Halt, Flüchtling!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Halt, edle Fee! Nicht so schnell!
-
- (Er läuft ihr nach; sie verschwinden im Hintergrund rechts.)
-
-+Der Rotbart+:
-
- Du scheinst wahrlich kein Flüchtling, Glücksvogel Michael!
-
-+Michel+:
-
- Ach was, Maskenschnack! Lachhaft! Lauter Alfanzerein!
- Hee, Bedienung!
-
- (Ein altdeutsch gekleideter Kellner erscheint und bringt auf seinen
- Wink eine neue Flasche.)
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Wer mag’s wohl gewesen sein?
- Die Jungfer Lise?
-
-+Michel+:
-
- Schnack, sag’ich! Die liegt zu Hause im Bett!
- Verstanden?! -- Höchstens etwa, daß sie ’ne +Freundin+ hätt
- und läßt ihrem Vormund heimlich so’n kleinen Stupps aufschwenken;
- braucht drum Niemand nichts Schlechtes von ihr zu denken!
-
-+Eckart+:
-
- Michel Michael, hüt dich vor des Hörselbergs Ränken!
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- Ja, ich meine auch --
-
-+Michel+:
-
- wie??
-
-+Der schwarze Karl+:
-
- das heißt, natürlich nur so im Allgemeinen;
- die bösesten Weibsbilder sind, die die besten scheinen.
- So zum Beispiel der Bergrat und die Frau Bürgermeistern.
- Da hilft kein Vertuschen mehr, kein Verkleistern;
- rein schon öffentlich tut sie’s ja mit ihm treiben.
-
-+Michel+:
-
- Meinethalben! Man soll mir mit Stadtklatsch vom Halse bleiben!
-
-+Der Kaplan+:
-
- Wohlgesprochen, mein Sohn. Jedoch, in dem städtischen Sündenschwarm
- braucht der Mensch eines Schutzpatrons starken Arm;
- du hast ihn schon lange nicht mehr im Beichtstuhl erprobt.
- Wirst hoffentlich trotzdem, wenn nun die Wahlschlacht tobt,
- wissen den rechten Schild hochzuhalten.
-
-+Michel+
-
- (aufstehend):
-
- Zu Gnaden, Ehrwürden; ich lass den alten Gott walten.
- Obgleich ich, verzeihn Sie, in meinem einfältigen Sinn
- eigentlich mehr für die Protestanten bin.
-
-+Der Pastor+
-
- (gleichfalls aufstehend):
-
- Ein männliches Wort, lieber Freund! Und ich darf wohl hoffen,
- Sie wissen, auch unser Arm steht der christlichen Einfalt offen.
-
-+Michel+:
-
- Viel Ehre, Herr Pfarrer. Indeß, um Sie nicht zu vexieren:
- ich bin überhaupt fürs Protestieren.
- Wenn ich wählen +müßt+ zwischen Pastor und Kaplan,
- wär ich doch wohl lieber dem -- Stärkeren untertan.
-
- (Er verbeugt sich schwerfällig, dreht ihnen den Rücken und
- setzt sich ans andre Ende des Tisches; der +Rotbart+ und
- +Eckart+ folgen ihm, seine Flasche und sein Glas nachtragend.)
-
-+Der Pastor+
-
- (zum Kaplan, der ebenfalls aufgestanden ist):
-
- Hm. Wer +ist+ nun der Stärkere von uns Beiden?
-
-+Der Kaplan+
-
- (die Hände über den Bauch faltend):
-
- Ich schätze, Herr Collega, wir lassen’s vom Publiko entscheiden.
-
- (Die Tanzmusik im Saal hört auf.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (zurückkommend):
-
- Vetter Michel, ich habe den ganzen Stadtpark durch-und-durchgekuckt:
- deine Glücksfee scheint von der Hölle verschluckt.
-
-+Michel+:
-
- Glückauf!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Wahr dich, Schalk! daß der Michel nicht Flammen spuckt! --
-
- (Währenddem kommt Maskengewühl aus dem Saal. Voran der
- +Bergrat+ und der +Landrat+, hinter ihnen her der Kellner
- mit Sektkübel und Würfelbecher, zu dem reservierten Tisch hin im
- Vordergrund rechts.)
-
-+Der Landrat+
-
- (sich mit dem Taschentuch fächelnd):
-
- Himmelkreiz! Doller Fez! Bewundre Sie. Ohne zu schmeicheln.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ja, man lernt allmählich die Volkstatze streicheln.
-
-+Der Landrat+:
-
- Na, ich danke!
-
-+Michel+
-
- (hat sich durch die Leute nach vorn gedrängt):
-
- Herr Bergrat -- wenn Sie jetzt -- ich will nicht behelligen --
- aber solche Unterschrift ist doch leicht zu bewerkstelligen --
- da Sie doch geneigt --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Aber bester Michael,
- Sie benehmen sich wirklich etwas auffällig schnell.
- Hat doch Zeit bis morgen.
-
-+Michel+:
-
- Morgen muß ich arbeiten gehn!
-
-+Der Bergrat+
-
- (den Würfelbecher nehmend):
-
- Na, dann nachher! Jetzt bin ich beschäftigt, wie Sie sehn.
-
-+Michel+:
-
- Ich -- seh -- --
-
-+Lise Lied+
-
- (erscheint im Hintergrund):
-
- Michel Michael, ich warn dich zum zweiten Mal --
- horch: schon singen die Bergleut ein Spottlied im Saal --
-
-+Sprechgesang+
-
- (auch Kinderstimmen):
-
- Der deutsche Michel, der hat sich verlaufen;
- Glückauf!
- Er will sein Haus an die Stadtleut verkaufen;
- Glückauf!
-
-+Ein Zug maskierter Bergknappen+
-
- (kommt weitersingend aus dem Saal, geführt vom +roten Karl+,
- der als Militär-Invalide maskiert ist, und begleitet von Kindern in
- blaugrauen Koboldtrachten mit Zippelmützen und weißen Bärten):
-
- O Michel, die Stadt hat ein Herz von Stein,
- bald wirst du ein steinreiches Schindluder sein;
- Glückauf!
-
-+Lise Lied+:
-
- Drum, aus der Berge feurigem Herzensgrund,
- tut die Herrin der Zukunftsträume dir kund:
- Du sollst deine herzwarmen Augen heller aufmachen,
- dann wirst du zum goldensten Traum erwachen.
- Glückauf!
-
- (Sie verschwindet.)
-
-+Der rote Karl+
-
- (seine Mütze abziehend):
-
- Ein alter Kriegsveteran, der um ein Almosen bettelt --
-
-+Michel+:
-
- Ah, roter Karl! +Du+ hast das angezettelt?!
- Ich sag dir: hüt dich! ich kenn dich! scher dich um Deine Sachen!
- der Michel läßt sich von +niemand+ zum Popanz machen!
- Merk dirs! Sonst: hier: bei meines Vaters Stock --
-
- (Die Maschine stampft plötzlich wieder los)
-
-+Der Landrat+
-
- (den Würfelbecher aufstampfend und sich die Ohren zuhaltend):
-
- Kreizrudiment --
-
-+Der rote Karl+:
-
- man stopp --
-
-+Dumpfe Stimmen im Hintergrund+:
-
- man stopp! man stopp! man stopp!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Platz da, Michel!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Platz! sonst gibts Flecke am Rock!
-
- (+Drei Maschinenheizer+, rußgeschwärzt, kommen mit
- geschulterten Schaufeln im Marschtritt nach vorn; Eulenspiegel
- klappt mit der Pritsche den Takt dazu.)
-
-+Der Oberheizer+:
-
- Stopp! -- (_Zum Bergrat_:) Euer Hochwohlgeboren haben die Gnade
- gehabt
- und uns mit einer Erfrischung
-
-+Der rote Karl+
-
- (_soufflierend_): kleinen Erfrischung
-
-+Der Oberheizer+:
-
- kleinen Erfrischung gelabt.
- Euer Hochwohlgeboren, wir danken Ihnen sehr
- und melden
-
-+Der rote Karl+
-
- (_wie vorher_): gehorsamst
-
-+Der Oberheizer+:
-
- gehorsamst: das Achtel ist bald leer.
- Euer Hochwohlgeboren wissen, die Nacht ist noch lang,
- und wir halten
-
-+Der rote Karl+:
-
- ergebenst
-
-+Der Oberheizer+:
-
- ergebenst die Beleuchtung in Gang.
- Euer Hochwohlgeboren, wir möchten
-
-+Der rote Karl+:
-
- mit unter
-
-+Der Oberheizer+:
-
- mit untertänigstem Respekt
-
-+Der rote Karl+:
-
- mal probieren
-
-+Alle drei Heizer+:
-
- mal probieren, ob auch Sekt uns schmeckt!!!
-
-+Der Landrat+
-
- (vor sich hin):
-
- Kreuzschwerebrett --
-
-+Der Bergrat+
-
- (aufstehend, räuspernd):
-
- Leute! Hört mal --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (steigt hinten auf einen Stuhl und klingelt):
-
- Hört, hört!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ich bitte doch dringend, daß man den Geist des Festes nicht stört!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (nochmals klingelnd):
-
- Ich schließe mich dringend dem verehrten Herrn Vorredner an
- und verordne somit strengstens, so geisterhaft ich kann,
- auf Geheiß Seiner Allerhöchstgeistigen Majestät
- des weiland Kaisers Rotbart, weil er hier auf Gebet
- des annoch deutschen Michels auferstanden steht
- im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität,
- und weils ohne diese Errungenschaften nicht geht
-
-+Eckart+
-
- (mit Grabesstimme):
-
- in euerm erleuchteten Jahrhundert --
-
-+Der Rotbart+
-
- (mit Donnerstimme):
-
- über das er sich ungeheuer wundert --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- so verordnet er hiermit den Anstiftern der Beleuchtung
- zur weiteren nächtlichen Kesselraumbefeuchtung
- aus seiner johannisfestlichen Kellerei
- unter Aufsicht der hochwohlwürdigen Geisterpolizei
- einen Korb Henkell-trocken --
-
-+Die Heizer und Bergknappen+:
-
- Ha! Hurra! Bravo! Hei!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Wir werden unverzüglich die nötigen Amtsbefehle geben.
-
- (Er springt vom Stuhl und läuft nach dem Saal.)
-
-+Die Heizer und Bergknappen+
-
- (während Michel sich auf den leeren Stuhl setzt):
-
- Hurra! hoch! der deutsche Michel soll leben!
- leben! leben! und Kaiser Rotbart daneben! --
-
-+Der Landrat+
-
- (während die Heizer und Knappen mit dem roten Karl nach links
- abmarschieren):
-
- Schwerebrett, Herr Corpsbruder! war ja ’ne nette Bescherung.
- Na, pros’t! Immerhin sozusagen ’ne soziale Belehrung.
-
- (Sie stoßen an und trinken Rest; zugleich klappt wieder die eiserne
- Tür, und das Geräusch der Maschine hört auf.)
-
- Wird der Michelspaß nicht amende bedenklich?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Unbesorgt. Der Mann ist absolut unverfänglich;
- hat sicher mit dem kleinen Putsch nichts zu tun.
- Etwas Dickkopf, aber sonst ein gemütliches Huhn;
- will mir blos partout sein bißchen Grundstück beibiegen.
- Ist auch preiswert; und wie die Chancen liegen,
- müßt ich ihn sowieso bald aus seiner Waldbude schassen.
- Wollt ihn blos noch ’ne Zeitlang zappeln lassen;
- Sie verstehn.
-
-+Der Landrat+:
-
- Vollkommen. Blos diese -ä- Geistergestalten,
- die uns da eben die noble -ä- Abfuhr aufknallten --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ja, sonderbarer Scherz.
-
-+Der Landrat+:
-
- Schon mehr Impertinenz.
-
-+Der Bergrat+
-
- (während die Tanzmusik wieder anfängt):
-
- Vermutlich Herren von der linksseitigen Konkurrenz;
- scheint mir ratsam, hier niemand zur Entlarvung zu zwingen: --
-
- (Sie stehen auf, um sich nach dem Saal zu begeben.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (vom Maschinenhaus zurückkommend):
-
- Gnädiger Herr, ich habe zu hinterbringen:
-
- (mit Trinkgeberde)
-
- der kaiserliche Geist beginnt schon ins Volk zu dringen.
- Held Michel, halt dich zum Hurraschrein bereit!
-
-+Michel+
-
- (steht brüsk auf, ein wenig schwankend, und steuert zu dem Bergrat
- hin):
-
- Um Verzeihung, Herr Rat -- in aller Bescheidenheit --
- aber es könnt sonst sein, Herr Rat, das Geschäft wird mir leid; --
- den Bittsteller machen, fällt mir von Hause aus schwer --
-
-+Der Rotbart und Eckart+
-
- (sind ihm nachgeschritten):
-
- schwer -- schwer --
-
-+Der Bergrat+:
-
- So! Seh einer! -- Na! Dann geben Sie mal her.
- Pardon, Herr Corpsbruder.
-
-+Der Landrat+:
-
- Bitte. (_Ab zum Saal._)
-
-+Michel+
-
- (die Vertragspapiere überreichend):
-
- Hier -- zu dienen, Herr Rat --
-
-+Lise Lied+
-
- (aus dem Laubengang tretend):
-
- Michel Michael, hör mich! Zum dritten Mal naht
-
-+Michel+:
-
- Ruhe!!!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Holla, die Glücksfee! Halt, Göttin, halt!
-
- (Er setzt ihr nach; sie verschwinden beide.)
-
-+Michel+:
-
- Verzeihung, Herr Bergrat; sie drängt sich mit Gewalt
-
-+Der Bergrat+:
-
- Wohl ein Schatz?
-
-+Michel+:
-
- Gott bewahre, Herr Bergrat; nein, keine Spur.
-
-+Der Bergrat+
-
- (sich wieder an den reservierten Tisch setzend):
-
- Wär doch keine Schande, Mann; delikate Figur! --
- Na, nehmen Sie Platz --
-
- (die Papiere aufmachend und seinen Füllfederhalter herauslangend)
-
- aber Eins, mein Lieber, schick ich voraus:
- Sie müssen nicht denken, Sie wären der Herr im Haus.
- Ihre Scholle ist uns auf alle Fälle verfallen.
-
-+Michel+:
-
- Wie??
-
-+Der Bergrat+:
-
- Nun: wenn wir den Luftschacht etwas mehr seitwärts verstallen
- und legen ’ne Schutthalde vor Ihre Tür,
- dann gibt kein Mensch mehr ’ne Schippe Kooks dafür.
-
-+Michel+:
-
- Ja, aber --
-
-+Der Rotbart und Eckart+
-
- (wieder hinter ihm Wache stehend):
-
- aber! -- aber! --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Da gibt’s nichts zu abern leider.
- Im Übrigen bin ich kein Halsabschneider.
- Kellner, noch’n Glas! -- Wollte blos meinen Standpunkt
- klarmachen -- --
-
- (Den Vertrag durchsehend:)
-
- Nein -- aber -- Bester -- das ist ja rein zum Lachen:
- ich nannte Ihnen fünfzehntausend als unsern äußersten Preis,
- und hier stehn achtzehn?!
-
-+Michel+:
-
- Ja, Herr Bergrat, weil --: ich weiß nicht, ob der Herr
- Bergrat weiß:
- mein Großahn war Grobschmied -- und -- und --
-
-+Der Bergrat+
-
- (_während der Kellner das Glas bringt_): Na? Und?
-
-+Michel+:
-
- Es geht eine alte Sage von Mund zu Mund --:
-
-+Der Rotbart+:
-
- Des Michel Michaels Haus steht auf eisernem Grund --
-
-+Eckart+:
-
- könnte mancheiner Silber und Gold draus schlagen -- --
-
-+Michel+:
-
- Ja! -- Das heißt, Herr Rat, ich wollte damit nur sagen --
-
- (da der Bergrat ihm einschänkt)
-
- sehr gütig, Herr Rat --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Na, Michel: viel ist nicht zu profitieren.
- Aber -- na gut: Lufthalber wollen wir’s mal riskieren.
- Also (_ihm zutrinkend_) Glückauf!
-
-+Michel+:
-
- Glückauf! (_er leert sein Glas._)
-
-+Der Bergrat+
-
- (_unterschreibt_): So. Abgemacht. Hier:
- nun Sie! Nein, hier: auf dem andern Papier.
-
-+Michel+
-
- (nachdem er das Duplikat unterschrieben hat):
-
- Uff. Heiß!
-
-+Der Bergrat+
-
- (hat das erste Schriftstück gefaltet und gibt es ihm zurück):
-
- So; bitte. Nun? sind Sie nun zufrieden?
-
-+Michel+
-
- (während jeder sein Schriftstück sorgfältig einsteckt):
-
- Hoh, Herr Bergrat, schon? Jetzt geht’s doch erst los, das Schmieden!
- das Glückschmieden mein’ ich. Hier die paar tausend Mark Geldeswert,
- die sind doch blos erst das erste Roheisen auf dem Herd;
- hoffe dereinst die Welt noch als Feinschmied untern Hammer zu
- kriegen.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Michel Michael, laß nur das Feuer nicht verfliegen!
-
-+Eckart+:
-
- Ist schon manche Glut zu Asche zerstoben auf Erden.
-
-+Der Bergrat+
-
- (Michels Glas wieder füllend):
-
- Ja, ich rate auch, lieber Michel: nicht übermütig werden!
-
-+Michel+:
-
- Oh, Herr Rat -- das sind blos so Volksfestgeberden.
-
- (Sein Glas abermals leerend)
-
- Auf Ihr Wohl, Herr Rat! -- Ich muß schon den ganzen Abend denken:
- wie wir hier so sitzen auf den schönen Stühlen und Bänken,
- Hoch und Niedrig zusammen bei den guten Getränken,
- und fühlt sich jeder so recht mitbeglückt im Gewühl --
- das ist doch ein sehr erhebendes Gefühl!
- nicht wahr?
-
-+Der Bergrat+
-
- (aufstehend):
-
- Hm. Ja. Sehr erhebend. Ja. Aber jetzt --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (kommt mit +Lise Lied+ Arm in Arm angetanzt):
-
- Hurra, Vetter Michel, hier kommt dein Glück angesetzt!
- Hat sich endlich von mir am Schlafittchen kriegen lassen.
-
- (Die Tanzmusik hört auf.)
-
-+Eckart+:
-
- Schalk, Schalk! des Michels Glück, das kann nur er selber fassen.
-
-+Michel+
-
- (seine Brusttasche befühlend):
-
- Ja, wahrhaftig! --
-
-+Lise Lied+:
-
- Michel --! --
-
-+Michel+
-
- (_unwillkürlich_): Lise --! -- (_Sich besinnend_) Ach
- nein; dumm Zeuch;
- was rührt dich, Michel?! -- (_Auffahrend_) Schockschwerenot, ihr:
- was kümmert’s +euch+?
- schert euch zum Teufel! (_setzt sich wieder und stiert ins Glas._)
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ha! Hörst du’s, Göttin? Verschmäht!
- Das fordert Rache! Rache! (_Den Würfelbecher nehmend_:)
- Soll ich mit diesem Gerät,
- kraft meiner spiritistischen Wupptizität,
- hehre Fee, ihn zerschmettern? -- Nein? -- Ach! das ist bitter.
-
-+Der Bergrat+:
-
- O: eine Fee, die findet wohl zartere Ritter.
- Aber eine Glücksfee, die sollte sich eigentlich entschleiern;
- darf ich’s wagen?
-
-+Lise Lied+
-
- (während die Tanzpaare aus dem Saal kommen):
-
- Vielleicht, Herr Ritter -- doch müssen wir +ihn+ erst feiern,
- der da selig in seiner Selbstherrlichkeit thront
- und die Dienste der Geister mit eitel Nichtachtung lohnt.
- Versteht Ihr, Ritter?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Stolze Fee, ich beuge in Demut das Knie (_er tut es_)
- und verstehe.
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (_dazwischentretend_): Aber Bergrat, was treiben Sie!
- Man ist sehr erstaunt --
-
-+Der Bergrat+
-
- (_knieen bleibend_): Oh, gnädigste Frau, ich desgleichen!
- In der Johannisnacht
-
-+Eulenspiegel+:
-
- erlebt man Wunder und Zeichen!
-
-+Der Rotbart und Eckart+:
-
- Wunder und Zeichen!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Eine holde Fee stieg die Himmelsleiter herab
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- shocking!
-
-+Der Bergrat+
-
- (_sich erhebend_): und gebeut uns mit ihrem Zauberstab,
- damit wir die Geister der Vor- und Nachwelt versöhnen,
- den deutschen Michel zum Weltherrn von ihren Gnaden zu krönen.
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Empörend!
-
-+Der Landrat+:
-
- Gottvoll, Bergrat!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Hurra, Michel! Jetzt heißt es erscheinen!
- Kopf hoch, Brust raus!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Stehst du auch fest auf den Beinen?
-
-+Michel+
-
- (aufstehend):
-
- Hoh! Ich? (_er stolpert_.)
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Huch!
-
-+Michel+
-
- (_brüllend_): Bombenfest, sollt ich meinen!!!
-
- (Er stellt sich breitbeinig vor die Bank in der Mitte, während der
- Rotbart und Eckart hinter sie treten.)
-
-+Der Bergrat+:
-
- Also -- vielwerte Gäste!
-
-+Etliche Bengel in Koboldtracht+:
-
- hurrra!
-
-+Der Bergrat+:
-
- und Zaungäste!
-
-+Die Kobolde+:
-
- hurrra!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- und Geister, bitte!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Bitte!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Danke.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Hier steht er --
-
-+Kobolde+:
-
- steht er --
-
-+Der Bergrat+:
-
- in unsrer beglückten Mitte --
-
-+Kobolde+:
-
- Mitte --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- leibhaftig --
-
-+Kobolde+:
-
- leibhaftig --
-
-+Der Bergrat+:
-
- unter dem Lindenbaum --
-
-+Kobolde+:
-
- Lindenbaum --
-
-+Der Bergrat+:
-
- unser teurer deutscher Michel --
-
-+Kobolde+:
-
- hurrra --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- es ist kein Traum!
-
-+Der Rotbart und Eckart+:
-
- Kein Traum.
-
-+Der Landrat+:
-
- Himmelkreizrudiment zum Donner! Silenzium jetzt!!!
- Ruhe, Bengels! sonst werdt ihr rausgesetzt!
-
- (Er nimmt einem der Kobolde seine Zippelmütze weg und treibt die
- Schreihälse nach hinten.)
-
- Weiter, Bergrat!
-
-+Der Bergrat+
-
- (Lisens Arm nehmend):
-
- Also -- bezaubert von dieser Himmelserscheinung
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- unglaublich!
-
-+Der Landrat+:
-
- pßt --!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- und nach der offenbar völlig einstimmigen Meinung
-
-+Der Bergrat+:
-
- aller Freunde und Freundinnen der höheren Sphären
-
-+Lise Lied+:
-
- wollen wir ihn jetzt zum Beherrscher der -- Lüfte erklären!
-
-+Der Bergrat+:
-
- zum Alleinherrscher sämtlicher Zukunftsflugmaschinen!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Glücksgondeln, Traumschiffe und sonstiger Zeppelinen!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Möge er immer flügger, lenkbarer
-
-+Eulenspiegel+:
-
- und bombenfester werden!
-
-+Lise Lied+:
-
- und selig enden als Luftschloßbesitzer auf Erden! --
-
-+Der Landrat+
-
- (die Zippelmütze schwenkend):
-
- Hurrra, deutscher Michel!
-
-+Alle durcheinander+
-
- (während Michel auf die Bank gehoben wird und ein Glas Wein in die
- Hand bekommt):
-
- Hurra! Hurra!
-
-+Michel+
-
- (an den Baumstamm gelehnt):
-
- Halt!!! Jetzt komm Ich an die Reih!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Glückauf, Michel! (_trinkt ihm zu_.)
-
-+Michel+:
-
- Schön Dank, Herr Bergrat! (_trinkt_.) Ja! Schön Dank fürs
- Geschrei!
- Denn der Michel nämlich -- ja -- kann viel Spaß vertragen.
-
-+Der Landrat+:
-
- Bravo, Michel! (_trinkt ihm zu._)
-
-+Michel+
-
- (immer wieder Bescheid trinkend, worauf ihm unter Gelächter immer
- wieder das Glas gefüllt wird, bald mit weißem, bald mit rotem Wein):
-
- Schön Dank, Herr Landrat! -- Ja! -- Aber -- wollt ich sagen:
- kann auch Ernst machen! kann -- kann sich lange ducken --
-
-+Der Kaplan+:
-
- Wohl ihm, Michel!
-
-+Michel+:
-
- Schön Dank, Ehrwürden (_trinkt_) -- Kann seine dummen Mucken
- -- ja -- vor euch Stadtleuten -- ja -- auch sein Heimweh
- verschlucken --
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Hoch, Michel!
-
-+Michel+:
-
- Schön Dank, Herr Bürgermeister (_trinkt_) -- Ja --: kann sich
- recken --
- kann auf einmal -- ja: kann er -- seine Hand ausstrecken --
- kann vielleicht dereinst noch -- hupp -- die ganze Welt in die
- Tasche stecken --
-
-+Der Pastor+:
-
- Heil, Michel!
-
-+Michel+:
-
- Schön Dank, Herr Pfarrer (_trinkt_) -- Jawohl --: Luft -- Erde --
- hupp -- Meer --
- den ganzen Himmel -- hupp -- (_er fällt von der Bank herunter_)
-
-+Lise Lied+
-
- (wirft sich aufschreiend über ihn):
-
- Michel!!!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (_sehr laut_): Kellner! den Eiskübel her! --
-
-+Der Bergrat+
-
- (während der Kellner Eiskübel und Tischtuch bringt):
-
- Aber teuerste Göttin, er hat sich ja nichts zerbrochen!
-
-+Der Landrat+
-
- (während man Michel auf die Bank setzt und an den Baum lehnt):
-
- Kein Bein! Der fällt einfach auf seine gesunden Knochen!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- aus der Zippel- der Zappel- der Zeppeline!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Da! er macht eine ganz majestätische Miene!
-
-+Der Landrat+:
-
- Na, dann kann man ja endlich sozusagen die Krönung vollziehn!
-
- (Er setzt Micheln die Zippelmütze auf, sodaß die Troddel ihm über
- die Nase herabbaumelt.)
-
- Hoch lebe unser Michel!
-
-+Alle+:
-
- (während man ihm das Tischtuch wie einen Mantel umhängt)
-
- Hoch! Hoch! Hoch!
-
-+Eckart+
-
- (_ernst_): Der Himmel erhalte ihn!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Er mache ihm jede Bank zum Throne --
-
-+Die Kobolde+:
-
- Throne --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- jede deutsche Zippelmütze zur Siegeskrone --
-
-+Kobolde+:
-
- Siegeskrone --
-
-+Eckart+:
-
- jedes deutsche Stück Leinwand zum Hermelin --
-
-+Kobolde+:
-
- Hermelin --
-
-+Der Rotbart+:
-
- jeder deutsche Baum sei ein Baldachin --
-
-+Kobolde+:
-
- Baldachin --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (während man Michel lang auf die Bank streckt und das Tischtuch
- über ihn breitet):
-
- für den allerhöchsten, allerstärksten, allerlängsten, allergrößten
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (hinter dem Bergrat her, der die halb lachende halb schluchzende
- Lise nach rechts beiseite führt):
-
- Nein, Sie Wüstling, Sie sollen das arme Kind nicht trösten!
-
-+Der Landrat+:
-
- Pßßt!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- und allerreichsten unter den Potentaten
-
-+Michel+
-
- (halb erwachend):
-
- wie --?
-
-+Eulenspiegel+:
-
- still, Michel -- mit und ohne Staaten.
- Seht, hier ruht er --
-
-+Der Rotbart+:
-
- daheim im Weltgebrause; --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- jetzt kann er selig --
-
-+Michel+
-
- (_wie vorher_): Lise --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- ja, Michel --
-
-+Michel+:
-
- ich -- will -- nach Hause --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- ja, Michel --
-
-+Eckart+:
-
- daheim im unendlichen Hafen --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- zwischen Himmel und Erde und Hölle schlafen --
-
-+Der Rotbart+:
-
- jenseits von euern Zeiten und Räumen --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (mit wild phantastischer Geste):
-
- und träumen --
-
-+Eckart+
-
- (ruhig, während der Vorhang sich schließt):
-
- träumen -- --
-
- *
-
-+Eulenspiegel als Zwischenredner+
-
- (von links kommend, anfangs mit verhaltener Stimme):
-
- Ssst --: er träumt! -- Eine Menschenseele im Traum
- ist ein schaurig Ding, ist ein Unding, ist verflochtner als ein Baum
- in alle Wurzelwirren und Wipfelwehen aus Staub und aus Licht,
- ist Feuer, Wasser, Luft, was sie will, und -- ists nicht:
- verschlafnes Tier, wacher Gott, urweltvoller Stern, hohler Ball,
- allmächtig bis zur Ohnmacht, spielt sich auf als All.
- Wahrlich: einen Menschen im Traum belauschen, das heißt
- mitspielen mit einem höllisch lebenslustigen Geist.
- Ich und wir andern längst verstorbenen Geistergestalten,
- wir würden uns gern solcher spukhaften Tätigkeit enthalten --
-
- (allmählich lauter)
-
- aber wir müssen uns, ach, noch immer zum Dienst der Menschheit
- hergeben;
- denn unser Herr, der Dichter, dieser Auchmensch, will davon leben.
- Dieser Teufel! Nicht genug, daß wir wirklich leibhaftig erschienen,
- er läßt uns sogar noch als Hirngespinste nun dienen;
- oh, wär ich ein Mensch, ich glaube, mir graute vor mir.
- Aber da ich ganz Geist bin, und jetzt ein Doppelgeist schier,
- so kann ich Sie nicht mit derlei Halbgottsgefühlen beglücken,
- sondern drehe ihnen -- den Gefühlen nämlich -- im Geiste den Rücken.
-
- (Er dreht sich mit hoch erhobenen Armen um und teilt mit beiden
- Händen den Vorhang.)
-
-
-
-
-Dritter Aufzug
-
-
- (+Bild+: Große Höhle aus Bergkristall in weiß-und-grüner
- Flackerbeleuchtung. Rechts und links durcheinandergetürmte
- Pfeiler. In der Mitte des Hintergrundes, auf einer phantastischen
- Pyramide, thront +Frau Venus+, ebenso vermummt wie Lise Lied;
- nur trägt sie lange weiße Glaßeehandschuhe, und ihr grünes Kleid
- ist aus funkelnder Seide, ihr schwarzer Schleier mit Diamanten
- besetzt. Zu Füßen des Throns, in Gesteinspalten, hocken schlafende
- +Kobolde+, wieder blaugrau mit Zippelmützen und weißen Bärten.
- Zu beiden Seiten des Throns zerklüftete Grotten, mit Schnüren aus
- Bruchkristallen verhängt, hinter denen ein rotgelb glühender Glanz
- bald aufwärts bald abwärts quillt und strudelt, sodaß sie wie
- feuriges Netzgeflecht aussehn; hin und wieder zieht rötlicher Rauch
- durch die Höhle.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (sofort, noch während der Vorhang sich öffnet, ins Knie sinkend):
-
- Verzeiht, Göttin Venus: ich weiß zwar, Ihr glaubt es kaum:
- aber wirklich, wir sind Beide jetzt nichts als Traum --
- also entschuldigt den frechen Possenreißerstreich!
-
-+Frau Venus+
-
- (zögernd):
-
- Wer dringt hier ein in mein heimlich Reich?
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Nur ein armer Schalk namens Tyll, aber abgesandt
-
-+(er erhebt sich)+
-
- von Euerm mächtigsten Nachbarn im ganzen deutschen Land,
- von des Kaiser Rotbarts verewigter Majestät,
- der voll Unruh, Schönste, hinab in den Hörselberg späht,
- denn auch ihn treibt des Michels Traumblick her.
-
-+Frau Venus+:
-
- So vermelde des hohen Herrn Begehr,
- der so mächtig ist, daß ein stiller schlaftrunkner Mann
- seinen ewig wachen Willen verunruhen kann.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Oh, Frau Venus, Zaubrin, sehr gewaltig ist dein Bann,
- aber nimm in Gnaden die zarte Gewissensfrage hin:
- Traumschöpferin,
- warst du niemals von deinen Geschöpfen gebannt?
-
-+Frau Venus+:
-
- O Schalk! --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- So erfahre: des Michels Seele ist unauslöschlich entbrannt
- von all und jeder Machtsehnsucht Himmels und der Erden,
- heute Nacht soll sein Hauptwunsch entschieden werden.
- Du hast eine Flamme in seinem Blut angefacht,
- die hat all sein junges Hirn in Rausch und Aufruhr gebracht;
- nun kennt er sich selbst kaum vor lauter hochfliegenden Brünsten.
- Drum, erlauchte Göttin, dank deinen Zauberkünsten,
- sind die andern unsterblichen Hauptpersonen,
- die seit Alters in seiner Geisterwelt wohnen,
- aus ihrer gottseligen Ruhe (_klappt mit der Pritsche_) jählings
- mitaufgeschreckt ----
- und als der stärkste von seinen Schutzgeistern streckt
- der Kyffhäuserherr die gepanzerte Faust dir entgegen:
- Wenn du ebenso mächtig bist wie verwegen,
- mögest du ehrlichen Wettstreit mit ihm pflegen
- um des Michel Michaels wahres Seelenheil.
- Desgleichen mit mir für mein bescheiden Teil;
- du wirst es nicht weigern, erlauben wir uns zu hoffen.
-
-+Frau Venus+:
-
- Mein Reich steht allen Geistern, starken und schwachen, offen.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ja, Gnädigste: offen wie ein Grab.
- Und dein zauberkräftiger Wünschelstab
- glänzt empor über deine dunkeln Schleierfalten
- wie ein Irrsternschweif nach zwei Seiten gespalten,
- indessen die Weltküglein an den beiden Spitzen
- gar nach jeglicher Windrichtung drehbar blitzen.
- Ich seh’s, Vielgewandte, trotz unsern verhüllten Mienen;
- denn auch ich verstehe, Herrin, zweeen Welten zu dienen.
-
-+Frau Venus+:
-
- So schwör ich bei diesem einen unlöslichen Ringe,
- kraft dessen mein Szepter die zwiegespaltene Schwinge
- der immer wieder sich verjüngenden Welt
- in der Schwebe hält:
- du nahst ungefährdet meinen vulkanischen Quellen.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Und meine Begleitung?
-
-+Frau Venus+:
-
- Ist gefeit wie du vor den feuerbrünstigen Wellen.
-
-+Eulenspiegel+
-
- (tritt dem Thron etwas näher und klappt mit der Pritsche):
-
- Wohlan, edle Hexe! du siehst, wie stracks wir uns stellen.
-
- (Zugleich sind der +Rotbart+ von links und +Eckart+
- von rechts aus den Pfeilergängen getreten, Beide noch immer mit
- vermummten Gesichtern.)
-
-+Frau Venus+
-
- (auffahrend):
-
- Ah, Schalk! du verkündetest mir der Wettkämpen zwei!
- jetzt seid ihr drei? -- (_Wieder ruhig sich setzend_:)
- Nun, Eckart: du warst von jeher ein Schleichwegverfechter.
-
-+Eckart+:
-
- Ich war von jeher, Frau Venus, dein treuster Torwächter.
- Ich tue nichts wider dich, als am Eingang des Hörselbergs warnen;
- wer der Warnung trotzt, den magst du getrost umgarnen.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Und selbst für Göttinnen bleibt’s doch ein Akt der Huldigung immer,
- wenn sich drei Mannsleute mühn um ein Frauenzimmer.
- Sieh da, du lächelst! dein ganzer Schleier lacht!
-
-+Frau Venus+:
-
- Vor Dir, Eulenspiegel, hat wohl mein Ernst keine Macht.
- Und auch den Rotbart wird schwerlich ein trauerndes Weibsbild
- rühren.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Hoh, Huldin, wir hoffen noch innigst Eure Trauer zu spüren,
- wenn erst der Michel von uns Selbstbeherrschung annimmt.
- Inzwischen freilich sind wir herzlich wenig gestimmt,
- christliche Stufen zu Euerm heidnischen Thronsitz zu hobeln.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Also kurz und gut: ich schlage vor, sein Seelenheil auszuknobeln.
-
- (Er holt den Würfelbecher aus der Tasche und schüttelt ihn.)
-
- Bester Wurf: Alles Eins! --
-
- (Er stülpt die Würfel auf einen Kristallblock.)
-
- Hier --: dreimal der nackte Spatz!
-
-+Frau Venus+:
-
- In der Tat: ein unwiderleglicher Satz.
- Gib her!
-
-+Eckart+:
-
- Halt, Hexe! leg erst den Zauberstab nieder!
-
-+Frau Venus+:
-
- Das versprach ich +nie+ wem.
-
-+Eckart+:
-
- Dann, Schalk, nimm den Becher wieder!
- Rasch! nimm ihn! rasch! --
- Die Unholdin wirft dir Pasch auf Pasch;
- so bliebe das Wettspiel in alle Ewigkeit gleich.
-
-+Frau Venus+:
-
- Ich hätt ihn heimzahlen können, den schnöden Gauklerstreich;
- aber, Tyll, des Michels Seele gilt mir zu viel
- für ein Würfelspiel!
- Ich sehe, Rotbart, zu meiner Freude: du nickst.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Ich fühle, Feindin, wie ehrlich du um dich blickst.
-
-+Frau Venus+:
-
- So hört meinen rückhaltlosen Bescheid:
- der Michel Michael selber löse im Traum unsern Streit!
- Wenn du Herrscher in seinem dir zugeweihten Land,
- du Wächter an deinem ihm geheiligten Stand,
- du Landstreicher da aus vogelfreien Bezirken,
- wenn ihr vermögt seiner Sehnsucht ein habhaftes Ziel zu erwirken,
- das ihm wettmacht den einen einzigen unruhvollen Bann,
- den meine Inbrunst, die verwunschne, ihm antun kann:
- so sei er hinfort, in Zeit und Ewigkeit,
- von mir befreit! --
- Seid ihrs zufrieden?
-
-+Der Rotbart und Eulenspiegel+:
-
- Zufrieden! Zufrieden!
-
-+Eckart+:
-
- Nur unter der Sicherheit,
- daß dein Szepter, solange der Streit dich drängt,
- sein träumendes Haupt nicht berührt noch umkreist noch sonstwie
- lenkt.
-
-+Frau Venus+:
-
- +Die+ Sicherheit geb ich.
-
-+Eckart+:
-
- Dann ruf ihn! die Wette +hängt+.
-
-+Frau Venus+
-
- (berührt die Kobolde mit dem Szepter):
-
- Aufgewacht, Klopfgeister, aufgewacht!
- der Wunschquell sprudelt; öffnet den Schacht!
- Feuerfluß werde kristallene Flut!
- Erde, enthölle dein Himmelsblut!
- verschlinge das Trübe, beschwinge das Reine!
- Erscheine, Michael, erscheine! --
-
- (Die Kobolde haben die Kristallschnurgeflechte der rechten Grotte
- inzwischen geöffnet und eine ferne langsame Tanzmusik ertönt. Aus
- rötlichem Qualm auftauchend erscheint ein Zug schwarzgekleideter
- Gestalten. Voran +fünf Kaplane+, im Gänsemarsch mit
- Polkaschritt. Dann je +fünf Landräte und Bürgermeister+, die
- den schlafenden +Michel Michael+ auf seiner Bank einhertragen;
- er hat noch immer die Zippelmütze auf dem Kopf und ist mit dem
- Tischtuch an die Bank festgebunden, mit dickem Knoten auf der
- Brust, doch so, daß seine Arme frei sind. Hinterdrein +fünf
- Pastoren+, wieder im Polkaschritt. Jeder Kaplan, Landrat,
- Bürgermeister, Pastor ist den vier übrigen zum Verwechseln ähnlich,
- in den gleichen Kostümen und Masken wie früher.)
-
-+Chor der Landräte und Bürgermeister+:
-
- Hier naht er, hier naht er,
- der Weltpotentater.
-
-+Chor der Kaplane und Pastoren+:
-
- Da liegt er im Wickel,
- das Hochmutskarnickel.
-
-+Die Landräte und Bürgermeister+:
-
- Du Großmaul! du Saufsack! du Raufbold! du Strolch!
-
-+Die Kaplane und Pastoren+:
-
- Jetzt kommt die Vergeltung, du Sündenmolch!
- Rache! --
-
- (Der Zug macht ruckhaft in vier Kolonnen Halt und stellt die
- Bank in der Mitte der Höhle nieder, Michels Füße dem Venusthron
- zugekehrt; zugleich wird die Grotte wieder verhängt, sodaß die
- Tanzmusik verstummt, und die Kobolde eilen auf ihre Sitze zurück.
- Michel liegt immerfort regungslos.)
-
-+Frau Venus+:
-
- Erhebt ihn!
-
-+Die Landräte+:
-
- Äh --?
-
-+Der Rotbart+:
-
- Erhebt ihn!!!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ja ja! hier pariert man aufs Wort!
- Immer artig, werte Herrn! hübsch kusch und apport!
-
- (Halblaut:)
-
- Held Michel, hier braucht dich blos das geheimste Lüstchen zu
- jucken,
- und wir sind allesamt deine tiefst leibeignen Haiducken.
-
- (Die Amtspersonen haben inzwischen, unter schreckhaften Bücklingen,
- die Bank mit Michel hochgekippt, sodaß sein ganzer Körper verdeckt
- steht; so dem Venusthron zugewandt, an die aufgerichtete Bank
- gebunden, bleibt er stehen, bis sich der Vorhang schließt, und nur
- ab und zu wird Arm oder Hand von ihm sichtbar.)
-
-+Der Rotbart+:
-
- Hier schützt dich mein Schwert, es ist allzeit unbestechlich.
-
-+Eckart+:
-
- Hier stützt dich mein Kreuz, es ist unzerbrechlich.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Hier nützt dir meine Pritsche, sie ist unüberwindlich;
- und deine Schlafmütze, sie ist unergründlich.
-
-+Michel+
-
- (immer mit schlafbefangener Stimme):
-
- Wo -- bin -- ich?
-
-+Frau Venus+:
-
- Im Reich deiner reinsten Kräfte.
- Hier siehst du im Glanz kristallklarer Säulenschäfte
- deine stärksten Schutzgeister tausendfältig sich spiegeln
- und dir ihre innerste Strahlenfülle entriegeln.
- Hier hast du für immer die Wahl zwischen ihnen und mir;
- hier bist du Alleinherr. (_Zu den Amtspersonen_:) Kniet nieder, ihr!
-
-+Die Kaplane+
-
- (gehorchend):
-
- Herr, erbarme!
-
-+Die Pastoren und Bürgermeister+
-
- (ebenso):
-
- dich unser!
-
-+Die Landräte+
-
- (aufmuckend):
-
- Himmelkreizrudiment!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (sie einzeln rasch mit der Pritsche duckend):
-
- Nieder! nieder! nieder! nieder! nieder! Blitzelement!
-
-+Der Rotbart+
-
- (Michels Kopf mit dem Schwert berührend):
-
- Ich, Michel, kröne dein Haupt mit dem herrlichsten Mut,
- dem zu dir selbst; bewahre ihn gut!
-
-+Eckart+
-
- (desgleichen mit dem Kreuzstab):
-
- Ich, Michael, mit der heiligsten Macht,
- der über dich selbst; nimm sie wohl in Acht!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ich verhalte mich selbstverständlich ergebenst stille,
- denn die Hauptsache bleibt: es geschehe dein Wille!
-
- (Ihm ins Ohr:)
-
- Wenn du willst, ist der ganze Weltrummel nichts als ’ne Flause.
-
-+Michel+:
-
- Ich -- will -- nach Hause!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Hier +bist+ du’s!
-
-+Eckart+:
-
- Ewig!
-
-+Frau Venus+:
-
- Dies Haus kannst du nie verkaufen.
- Michel Michael, bald ist die Zeit abgelaufen,
- in der du den Raum der Geister heimlich erleuchtet siehst;
- wenn du willst, daß dein innerstes Heim sich erschließt,
- ich zeig dir’s!
-
-+Michel+:
-
- Wer -- bist -- du?
-
-+Frau Venus+
-
- (von feurigem Rauch verhüllt):
-
- Ich weiß nicht mehr.
- Wohl aus tiefem Süden kam ich einst her,
- wohl aus höchstem Norden: aus allen Zonen,
- wo Urvater Schmerz und Allmutter Wonne wohnen.
- Wohl der einsamen Glut seines Geistes bin ich entsprossen,
- wohl vom willigen Feuer ihrer Seele durchflossen
- in des Erdgrunds kreisenden Leib getropft,
- aus dem nun mein Himmelsblut flammt und flackert und drängt und
- klopft,
- aufbegehrlich durch deine, auch deine irdischen Adern hin --
-
-+Eckart+:
-
- Hüt dich, hüt dich, Michael, vor der Teufelin!
-
-+Die Kaplane+
-
- (_sich bekreuzend_): Teufelin!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Schweigt, ihr Winsler!
-
-+Frau Venus+:
-
- Hab Dank! Ja, Gebieter, ich bin
- nur die Stimme, die aus dir selber lacht,
- wenn dein Mutwille hochlodert aus dem Kyffhäuserschacht.
- Ich, Eckart, brauche des Michels Haupt nicht mit wirren
- Machtsprüchen ewigen Heils zu kirren,
- nicht wie du, Freund Tyll, mit gleißenden Freiheitsblicken
- sein Hirn bestricken:
- ich rühre nur leise an sein Herz --
-
- (sie senkt ihren Stab auf Michels Brust)
-
- seht, wie er aufzuckt! -- Sag, Michel: +Ist’s+ Schmerz?
-
-+Michel+:
-
- Schmerz --
-
-+Frau Venus+:
-
- Ist’s Wonne?
-
-+Michel+:
-
- Wonne --
-
-+Frau Venus+:
-
- Ist’s Heimweh nach dem Licht?
-
-+Michel+:
-
- Licht!
-
-+Frau Venus+
-
- (ihren Stab wieder hebend):
-
- +Fühlst+ du nun des Blutes selige Unruhpflicht?
- Oder willst du leben -- sprich -- wie diese Machtstreber hier,
- ein Ruhestifter voll furchtsamer Gier?
-
-+Michel+
-
- (die Arme breitend):
-
- O Göttin! --
-
-+Die Pastoren+:
-
- Gnade!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (_mit der Pritsche klappend_): Ruhe!
-
-+Die Bürgermeister+
-
- (während sich die Kaplane bekreuzen):
-
- Gnade, Göttin!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ruhe!!!
-
-+Die Landräte+:
-
- Göttlichste Göttin!!
-
-+Frau Venus+:
-
- Ihr??
- Ihr meint eine Andre! Ihr meint die teuflische Fratze,
- die jene Diener des Heils da (_auf die Kaplane weisend_) mit plump
- geiler Tatze
- an die Wand euch malten; drum sitz ich im Trauerschleier.
- Aber auch euch treibt heimlich -- wißt es! -- mein mißgunstfreier
- Hauch, eure Ängste auszurasen
- und euren unreinen Atem irgendwie von euch zu blasen;
- drum habt ihr den Erdball zum Höllenkessel gemacht.
-
- (Die Kobolde mit dem Szepter streifend:)
-
- Auf, Klopfgeister! öffnet den Wetterschacht,
- durch den der Qualm ihrer Süchte zur Läuterung niederquillt!
- Jetzt, ihr Herrn, beseht, beseht euch das Ebenbild
- eurer knechtischen Notdurft und krampfhaften Mühseligkeit,
- eurer zielbewußten Wohlfahrtsbeflissenheit,
- eurer mammonstollen Stoffwechselpracherei,
- eurer jammervollen Naturgesetzschacherei,
- des zivilisierten Barbaren würdigste Konkubine:
- da steht eure Göttin: die Maschine! --
-
- (Die Kobolde haben währenddem das kristallene Flechtwerk der linken
- Grotte geöffnet, und schwarzgrauer Dampf ist herausgequollen.
- Nun wird ein feuriges Ofenloch sichtbar, neben dem der +rote
- Karl+ in seiner militärischen Maske zwischen maskierten
- +Bergleuten+ und rußschwarzen +Heizern+ hockt, und
- darüber eine Schwungradmaschine; zugleich hört man wieder das
- dumpfe Kolbengestampf, aber weniger laut als früher.)
-
-+Die Landräte+
-
- (sich die Ohren zuhaltend):
-
- Himmelkreizru --
-
-+Der rote Karl+
-
- (_tritt drohend vor_): man stopp!
-
-+Chor der Heizer und Bergleute+
-
- (_dumpf_): man stopp, man stopp, man stopp!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Jetzt kommt die Vergeltung! los, Genossen! hopp hopp!
- Rache!
-
-+Die Heizer und Bergleute+
-
- (Schaufeln und Spitzhacken schwingend, bilden mit hoppsenden
- Tanzschritten einen Halbkreis um die Amtspersonen, die sich mit
- flehenden Geberden knierutschend um Michel zusammendrängen):
-
- Wir sind nicht mehr Menschen; wir dienen, wir dienen,
- lebend’ge Maschinen, den toten Maschinen.
- Jetzt wolln wir mal herrschen, mit Gewalt, mit Gewalt,
- wir armen Teufel in Menschengestalt.
- Rache!
-
-+Die Kaplane und Landräte+:
-
- Wir flehn ehrerbietigst um Gnade, um Gnade.
-
-+Die Pastoren und Bürgermeister+:
-
- Es wäre doch schade, jammerschade, jammerschade
-
-+Die Kaplane und Landräte+:
-
- um unsre christlich-germanische Staatskultur, Staatskultur.
-
-+Die Pastoren und Bürgermeister+:
-
- O Michel, o Michel, besinne dich nur! --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (klopft laut mit dem Finger an die Rückseite von Michels Bank):
-
- Michel, hörst du??
-
-+Michel+:
-
- Ich höre.
-
-+Der Rotbart+:
-
- So verschließ dir einstweilen die Ohren!
-
-+Eckart+:
-
- Und verwechsle nicht Uns mit diesen vom Zeitgeist besessenen Toren!
-
-+Frau Venus+:
-
- Nein, hör sie nur betteln, die dich mit städtischer Hoffahrt
- benebeln,
- um hinterrücks deinen bäurischen Waghals zu knebeln;
- seht, ihr Kriecher, jetzt schlägt sie über die Schnur,
- die tückische Glut eurer Unnatur!
-
- (Eine grelle Flamme pufft aus dem Ofenloch; die Amtspersonen fahren
- entsetzt in die Höhe und taumeln geblendet durcheinander.)
-
- Sie macht alles so hell,
- sie macht alles so schnell,
- daß eure lichtscheuen Sinne sich dran verbrennen,
- bis ihr nichts mehr könnt als blindwütig hasten und rennen:
- nun, ich will euch erlösen, ihr armen Irrlichtschürer.
- Los, ihr Hetzteufel alle, packt eure Verführer!
-
-+Die Heizer und Bergleute+
-
- (hinter den flüchtenden Amtspersonen her):
-
- Hetz hetz, ins Feuer!
-
-+Die Kaplane und Landräte+:
-
- Erbarmen, Erbarmen!
-
-+Die Heizer und Bergleute+:
-
- Ihr Fettungeheuer!
-
-+Die Pastoren und Bürgermeister+:
-
- Wir Armen, wir Armen!
-
-+Die Heizer und Bergleute+
-
- (nehmen einen Landrat und einen Kaplan am Kragen, während die
- übrigen in den Pfeilergängen verschwinden):
-
- Ihr Schweinepriester, ihr Rindviehmagnaten,
- jetzt singt Halleluja, jetzt werdt ihr gebraten!
- marsch!
-
-+Der Kaplan+:
-
- O Sankt Michael, hilf uns!
-
-+Der Landrat+:
-
- Inhibieren Sie diesen Radau!
-
-+Der Kaplan+:
-
- O Sankt Eckart, bitt für uns bei der gnädigen Frau!
-
-+Eckart+:
-
- Fahr zur Hölle, Memme!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Höllaluja! marsch, marsch!
-
-+Die Heizer+:
-
- Ins Feuer!
-
-+Der Kaplan+
-
- (_wird ins Ofenloch geschoben_): Au! au!! --
-
-+Der Landrat+:
-
- Sackerment -- (_plötzlich sich losreißend_) Herr Corpsbruder!!!
-
-+Der Bergrat+
-
- (kommt sofort durch das Flechtwerk der rechten Grotte gehopst,
- maskiert wie früher):
-
- -- wünschen? --
-
-+Der Landrat+
-
- (_während er wieder gepackt wird_): Na +Hilfe+, kreuzsackerment!
-
-+Der Bergrat+
-
- (nach der linken Grotte hinübergaloppierend):
-
- Bedaure! bin beschäftigt! im Dienst der Herrin! es brennt!
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (kommt plötzlich aus der rechten Grotte ihm nachgaloppiert):
-
- Ach bitte, bitte, bitte! Na warte, ich werd dich schon kriegen!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Jawollja! marsch marsch! immer ran, verehrliche Fliegen!
-
-+Die Heizer+
-
- (den Bergrat gleichfalls ins Feuer schiebend und die
- Bürgermeisterin hinterdrein):
-
- Immer rin, immer rin, immer rin ins Vergniegen! --
-
-+Der rote Karl+
-
- (zum Landrat):
-
- Marsch marsch! immer schneidig!
-
-+Der Landrat+:
-
- Na, wenn’s sein muß, dann los!
- Platz da -- (_er stürzt sich selbst in das Ofenloch_) --
-
-+Der rote Karl+:
-
- Allerhand Achtung!
-
-+Die Heizer und Bergleute+:
-
- So’n Schubbiak! so’n Gernegroß!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Still, Genossen!
-
-+Die Bergleute+:
-
- Ohoh!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Ich sag euch: der Kerl hatte Schneid für drei!
-
-+Die drei Heizer+:
-
- Hoh!!!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (ihm mit der Pritsche auf die Schulter klopfend):
-
- Nimm dir’n Beispiel dran, Roter! jetzt kommst Du an die Reih!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Wa --?
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Zu dienen, Herr Volksbefreier! jetzt +ist+ man so frei.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Zu Hilfe, Genossen!
-
-+Die Heizer und Bergleute+:
-
- Hoh! ohoh!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- +Die+ Zeit ist vorbei!
-
-+Der Oberheizer+:
-
- Vorbei, du Schreihals! jetzt wird nicht mehr schwadroniert.
-
-+Der rote Karl+:
-
- Aber Kameraden!
-
-+Ein Bergmann+:
-
- Jawollja! hast uns lange genug kommandiert!
- Marsch ins Feuer!
-
-+Die ganze Bande+:
-
- Marsch marsch, du Freiheitsverräter!
- du Rädelsführer! du Erzschuft! du Hauptattentäter!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Zu Hilfe, Michel!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Der läßt sich erst recht nicht drillen.
-
-+Der Rotbart+
-
- (mit besonders wuchtigem Tonfall):
-
- Hier ist Jeder nur Bruchstück von Seinem Willen.
-
-+Frau Venus+:
-
- Und sein Wille ist, ihr Schächer: ich soll euch ein bißchen läutern!
- euch Alle!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Nachher könnt ihr säuberlich weitermeutern --
-
-+Eckart+:
-
- und einer den andern mit reinem Gewissen regieren --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- und euch gegenseitig immer reiner kuli-kultivieren.
- Was meinst +Du+, Michel?
-
-+Michel+
-
- (die Hand nach dem Feuerloch hebend):
-
- Marsch, marsch!
-
-+Frau Venus+:
-
- Hinein, ihr Teufel, hinweg!
- Klopfgeister, schließt den Sündenversteck!
- Erde, enthölle dein Himmelsblut!
- Feuerfluß werde kristallene Flut,
- beschwinge die Zeiten, durchdringe die Räume,
- bringe Klarheit ins Reich der Träume!
-
- (Der rote Karl wird inzwischen samt seinen Genossen von den
- Kobolden an das Ofenloch gedrängt, und das Flechtwerk der Grotte
- schließt sich hinter ihnen, auch die Kobolde mitverbergend;
- zugleich verstummt das Geräusch der Maschine.)
-
- Sag, Kyffhäuserherr, ist nun zur Genüge gestritten?
-
-+Der Rotbart+:
-
- Frag den Michel, edle Feindin! du kennst die Geistersitten.
-
-+Frau Venus+:
-
- Ja, du Herrlicher du, werd’s endlich inne:
- ich bin nur den Armsünderseelen die Teufelinne.
- Aus dem Samen, den ich Verschwenderin streue,
- keimt alles Künftige, alles Junge und Neue,
- jeder Traum von Schönheit und Kühnheit, von Freude und Ruhm,
- jeder Glaube an wahrhaftes Heiligtum.
- Wahrlich, Eckart, unser Wettstreit bleibt ewig gleich;
- denn dein wie mein ist das Erd- wie das Himmelreich.
- Also, Eulenspiegel, schür sie nur immer fort,
- die Hölle der Freiheit zwischen hier und dort!
- und sorge dafür, daß deine Schelle
- selbst in die verschlafensten Ohren gelle!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Zu Befehl, gnädige Frau!
-
- (Er hockt sich ans Fußende von Michels Bank.)
-
-+Frau Venus+:
-
- Ich nehm dich beim Wort auf der Stelle.
- Sprich, Michel: glaubst du an unsre Schutz- und Trutz-Einigkeit?
- und willst du ihr treu sein, treu sein in Lust und Leid?
-
-+Michel+:
-
- Lust -- und -- Leid!
-
-+Frau Venus+:
-
- Und willst du mir, was dein Mund so im Traum verspricht,
- auch beschwören von Augen- zu Augenlicht?
-
-+Michel+:
-
- Augenlicht!
-
-+Frau Venus+:
-
- O, erkenne mich erst, du! -- Weißt du nicht mehr:
- Fremd aus fernem Süden wohl kam ich einst her,
- so fremd, daß ein Schreck dein nordisches Blut durchlief,
- wie ein Bergquell wohl aus der Erde tief,
- eines Abends im Wald, war kaum sechs Jahr,
- einen Kranz wilde Efeuranken im Haar --
-
- (sie lüftet lächelnd ihren Schleier)
-
- und mit Augen, wie der Kuckuk fürwahr --
-
-+Michel+
-
- (jäh emporgreifend):
-
- Lise!! --
-
-+Frau Venus+:
-
- Ja, so saß ich unter dem Felsenhang
- und sang --
-
-+Michel+:
-
- und sang -- --
-
-+Frau Venus+
-
- (nickt und verhüllt sich wieder):
-
- Und nun siehst du mich hier, wie du wünschtest, in seidnen Kleidern
- sitzen,
- mit Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen;
- und gilt dir doch alldas in Wahrheit nicht einen Niet
- gegen ein einziges kleines heimatliches Lied
- von Herzensgrund
- aus meinem Mund --
-
-+Michel+:
-
- deinem Mund --
-
-+Frau Venus+
-
- (sich erhebend):
-
- Hört’s, Geister, hört’s! schlingt den Zauberreigen!
-
- (Die Kobolde eilen von rechts wie links durch das Flechtwerk aus
- den Grotten herbei; eine leise Walzermusik beginnt von fern.)
-
- Raunt mein Gebet ihm ein in sein innigstes Eigen:
- in Fleisch und Blut,
- in Mark und Mut:
- Körperrausch werde Seelenglut!
-
- (Sie senkt ihr Szepter wieder auf Michels Brust, während der
- Rotbart mit dem Schwert und Eckart mit dem Kreuzstab sein Haupt
- berühren; zugleich beginnen die Kobolde ringelreih um die Bank zu
- schreiten, während Eulenspiegel am Fußende kauern bleibt.)
-
-+Frau Venus+:
-
- Michel Michael! Mehr kann kein menschlicher Geist erwerben
-
-+Die Kobolde+
-
- (_gedämpft_): Geist erwerben
-
-+Frau Venus+:
-
- als ein Haus, das er heiligt für seine Erben!
-
-+Die Kobolde+
-
- (_wie vorher_): seine Erben!
-
-+Frau Venus+:
-
- als einen Hof, wo er spielt mit Weib und Kind!
-
-+Die Kobolde+:
-
- Weib und Kind!
-
-+Eckart+:
-
- als einen Herd, an dem er Frieden findt!
-
-+Die Kobolde+:
-
- Frieden findt!
-
-+Der Rotbart+:
-
- eine Schwelle zum Himmel, wenn er den Kampf bestand
- für seine Muttererde, sein Vaterland!
-
-+Die Kobolde+
-
- (allmählich lauter):
-
- seine Muttererde, sein Vaterland.
-
-+Eulenspiegel+
-
- (alle zehn Finger hochspreizend):
-
- Dieser Traum der Menschheit, Michel, hat vielerlei Enden!
-
-+Die Kobolde+:
-
- vielerlei Enden!
-
-+Frau Venus+:
-
- laß dich nicht von Träumen, die eitel sind, blenden!
-
-+Die Kobolde+
-
- (_plötzlich niederknieend, Hände vors Gesicht_): blenden!
-
- (Die ferne Tanzmusik hört auf.)
-
-+Eckart+:
-
- Bei dem Gott, dem der Geist deiner Väter entsprang --
-
-+Der Rotbart+:
-
- bei deines Namens hellem Erzengelklang --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (den Schellenzipfel gen Himmel hebend, doch noch nicht klingelnd):
-
- bei der dunkeln Macht, über die ich weine und lache --
-
-+Frau Venus+:
-
- erwache, Michael --
-
-+Die Kobolde und Eulenspiegel+
-
- (_aufspringend, Zippelmützen und Schellenzipfel schwenkend, während
- der Vorhang sich schließt_): erwache! -- --
-
- *
-
-+Eulenspiegel als Zwischenredner+
-
- (aus dem Mittelspalt des Vorhangs tretend, mit verlegenem
- Achselzucken):
-
- Er schläft immer noch. Was tun? -- (_Aufhorchend_) Jetzt schnarcht
- er sogar.
- Das ist höchst bedenklich; denn wir laufen alle miteinander Gefahr,
- noch geisterhafter von ihm geträumt zu werden,
- und das könnte doch vielleicht unsern leiblichen Zustand gefährden.
- Ich würde ihn wecken; aber wer weiß, was passiert,
- wenn er unversehens seine Zippelmütze verliert
- und ernstlich nachdenkt über dies nächtliche Abenteuer.
- Auch unserm Herrn Dichter übrigens scheint das durchaus nicht
- geheuer;
- ich glaube, er fragt sich lieber schon garnicht mehr,
- wer jetzt wirklich Herr ist, wir oder er.
-
- (Hinterm Vorhang beginnt leise Tanzmusik.)
-
- Aha! da läßt er gleich wieder den Fidelbogen schwingen;
- vermutlich, um den Gang der Handlung besser in Trab zu bringen.
- Seit wir dem Michel klarmachen mußten, was er im Grunde will,
- steht dem Herrn sein Wille ebenso gründlich still
- vor den unberechenbaren Folgen dieser Geisterstunde.
- Ich hör ihn bereits mit sperrangelweitem Munde
- um unsern Beistand gegen seinen schnarchenden Helden flehn;
- ja, so dreht sich der Weltlauf im Handumdrehn.
- Wenn nun der Michel träumen will bis zum Jüngsten Tage,
- was wird dann aus der ganzen tatsächlichen Lage?
- Sein Haus fällt der Grubengesellschaft in die Hände,
- und seine Glücksfee nimmt womöglich als alte Jungfer ein Ende;
- ich muß doch mal nachsehn, was sich da machen läßt.
-
- (Er steckt einen Augenblick den Kopf in den Vorhangspalt.)
-
- Halt! er schnarcht nicht mehr. Er liegt bombenfest;
- nicht einmal seine Krone ist verschoben,
- und man hat ihn inzwischen sogar auf den Thron gehoben.
- Da heißt’s doppelt Vorsicht. Ich warne nochmals Jeden vor Schaden;
- denn Sie wissen, er ist reichlich mit allerlei Sprengstoff geladen,
- und wie leicht kann der plötzlich ganz von selber loskrachen!
- Also werd ich ihm mal Platz für den Explosionsfall machen.
-
- (Er schiebt den Vorhang nach rechts beiseite.)
-
-
-
-
-Vierter Aufzug
-
-
- (+Bild+: wie beim zweiten Aufzug. Doch ist jetzt die Bank
- mit dem +angebundenen+ Michel quer auf zwei zusammengerückte
- Tische gesetzt, die rechts unter dem Laubengang stehn; und
- überhaupt sieht alles ziemlich verrattert aus. Hinter Michel, auf
- Stühlen zu ebner Erde, sitzen der +Rotbart+ und +Eckart+,
- ebenfalls schlafend; und an dem langen Tisch links schläft der
- +schwarze Karl+, mit einer leeren Flasche im Arm. Vorn,
- unten vor Michel, sitzt und wacht +Lise Lied+, noch immer
- als verschleierte Glücksfee; neben ihr steht der maskierte
- +Bergrat+, mit zwei Sektgläsern in der Hand. Die leise Musik
- im Saal dauert fort; man sieht, es wird eine Cotillontour getanzt,
- und ab und zu huscht ein Pärchen heraus in die Büsche.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (prallt mit dem Vorhang an den Bergrat, sodaß dieser die Sektgläser
- fallen läßt):
-
- Oh Pardon, Herr Rat!
-
-+Der Bergrat+:
-
- O zum Teufel, Sie Tr --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Tr --?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Sie -- Traumspuk mein’ ich!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ah, danke höflichst, Sie Rr --
- Sie Raumspuk mein’ich -- und werde sofort das Glas neu erscheinen
- lassen;
- unterdeß dürften Scherben nicht schlecht zu dem Fräulein Glücksfee
- passen.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Also +zwei+ Gläser, bitte.
-
-+Lise Lied+:
-
- Nein, danke! Nichts mehr! nicht einen Tropfen!
-
- (Halblaut zum Bergrat, etwas kokett):
-
- Ach, ich fühle mein Herz schon rasch genug klopfen.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Also +eins+, Herr Glücksrat?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Nein, danke gleichfalls! danke!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Also keins. Glückauf, Spuk! (_Ab nach dem Saal._)
-
-+Der Bergrat+
-
- (_Lisens Schleier fassend_): O diese schwarze Schranke,
- wann wird sie endlich von dem klopfenden Herzchen weichen?!
- O wüßt ich den Preis, spröde Fee, für dies Glück ohnegleichen!
-
-+Lise+:
-
- Nicht so stürmisch, Herr Ritter; Ihr werdet sogleich erschrecken.
- Ihr habt den Preis nämlich in der Tasche stecken.
- Ja ja! Und er ist nur ein Blatt Papier.
-
-+Der Bergrat+
-
- (seine Brieftasche herauslangend):
-
- Aber Herz, natürlich! Wie hoch soll der Check sein? Hier!
-
-+Lise+:
-
- Check? was ist das? -- Ach so! Hahahah! Nein, danke recht sehr;
- ich meinte -- (_zupft an dem Vertragspapier; -- plötzlich
- schreckhaft_) ogott! er hat sich gerührt!
-
-+Der Bergrat+
-
- (_den Vertrag rasch wieder einsteckend_): Was! Wer!
-
-+Lise+:
-
- Na, Er! Wenn er aufwacht! Ach bitte, Herr Bergrat: schnell:
- bringen Sie mich heim!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ja natürlich, Schatz! In welches Hotel?
-
-+Lise+:
-
- Hotel? Nein, nach Hause!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Hause?
-
-+Lise+:
-
- Ja bitte! geschwind!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Hm -- wer bist du denn?
-
-+Lise+:
-
- Ach, Herr Rat -- blos dem Michel sein Pflegekind.
-
- (Die Tanzmusik setzt ab.)
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ach so --! Hahahah! -- Süßer Racker!
-
-+Lise+:
-
- Er darf mich hier nicht finden!
- Will ihn blos noch rasch von der Bank losbinden.
-
- (Sie tut es.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (erscheint im Hintergrund mit der noch immer maskierten
- Bürgermeisterin):
-
- Bitte +dort+, schöne Frau; Sie sehn, man will schon verschwinden.
-
-+Der Bergrat+
-
- (Lisens Arm nehmend):
-
- Also los!
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (nach vorn eilend, während Eulenspiegel zurück in den Saal geht):
-
- ~Ah, monsieur~, Sie treiben’s ja rein schon zum Skandal!
-
-+Der Bergrat+:
-
- ~Oui, madame!~ drum verlass ich auch das Lokal.
- Ihr Diener!
-
-+Lise+:
-
- Empfehl mich, Madam!
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (während die Beiden nach rechts verschwinden):
-
- Sie Dirne! Sie freches Stück!
- O, meine Nerven! -- O Theodor, komm zurück!!! --
-
- (Sie ist dabei auf den Stuhl gesunken, auf dem vorher Lise gesessen
- hat. Die Tanzmusik setzt wieder ein.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (erscheint mit dem etwas schwankenden Bürgermeister):
-
- Bitte +dort+, Herr Bürgermeister -- (_entfernt sich wieder_) --
-
-+Der Bürgermeister+
-
- (gleichfalls noch immer maskiert, mit einigen Cotillon-Orden am
- Domino):
-
- Aber Wally, was sollen die Leute denken!
- so mitten aus dem Cotillon abzuschwenken!
- ich bitt dich!
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (_schluchzend_): Ach, Männe!
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Ach, laß das Getu!
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Was?! -- (_Kreischend_:) Pfui, du Flaps! du elender Fatzke du!
- Geh!!!
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Aber Frauchen!
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Geh, sag ich! oder ich schrei!!!
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Um Gottes willen -- (_er schlägt sich nach rechts in die Büsche_) --
-
-+Die Bürgermeisterin+
-
- (_schluchzend_): So’n Stiesel! Und riecht noch nach Bier dabei! --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (erscheint im Hintergrund mit dem Kaplan):
-
- Bitte +dort+, Ehrwürden -- (_dann wieder ab in den Saal_) --
-
-+Der Kaplan+
-
- (auch schon ein bißchen schwankend, zur Bürgermeisterin):
-
- Ei, teuerstes Beichtkind, ei:
- so vereinsamt inmitten der Fröhlichkeit?
-
- (Er nimmt einen Stuhl und setzt sich dicht neben sie.)
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Ach, Ehrwürden, es gibt soviel Herzeleid!
-
-+Der Kaplan+
-
- (ihre Hand nehmend):
-
- Ei, ei --
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- O fühlen Sie, wie ich zittre und bebe --
-
- (sie drückt seine Hand an ihren Busen, während Michel oben hinter
- ihnen erwacht und unbemerkt sich allmählich auf seiner Bank
- zurechtsetzt)
-
- Ach --
-
-+Der Kaplan+:
-
- Ach --
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- O hätt ich etwas, wofür ich lebe!
- mir ist manchmal so schwach, so unbeschreiblich schwach!
-
-+Der Kaplan+:
-
- Ja, ich fühl es --
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Ach, wie das wohltut -- ach --
- wie das wonnig klang, als Sie sagten: Ei, ei --
-
-+Der Kaplan+
-
- (weiterfühlend):
-
- Ei, ei --
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Ach, mir wird auf einmal so anders, so frei!
- wie das himmlisch ist, so getröstet zu werden!
-
-+Der Kaplan+:
-
- Ja, da fühlt man das Paradies auf Erden --
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Ach -- wenn ich auch etwas abgehärmt scheine --
-
-+Der Kaplan+:
-
- O -- das sind ja gottgesegnete Beine --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (erscheint im Hintergrund mit dem Pastor):
-
- Bitte +dort+, Herr Pastor --
-
-+Michel+
-
- (breit von oben herab zu dem Pärchen):
-
- +Ihr Schweine+ --
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- Huch -- (_läuft nach rechts davon_) --
-
-+Der Kaplan+
-
- (ruhig aufstehend):
-
- Was! Er Säufer erfrecht sich, hier fromme Gespräche zu stören?
-
-+Michel+
-
- (über die Stühle vom Tisch niedersteigend):
-
- Platz da, Pfaff!
-
-+Der Rotbart und Eckart+
-
- (von Eulenspiegel wachgemacht, treten aus dem Laubengang):
-
- Platz! Platz!
-
-+Der Kaplan+
-
- (_vor Michel zurückprallend_): Ah! Er soll von mir hören!
- Wart, Bursch! (_Ab in den Saal mit dem Pastor zusammen, der im
- Hintergrund
- gewartet hat._)
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Nun, hehrer Helde? zurück aus dem Geisterland?
- wie steht’s?
-
-+Michel+
-
- (ganz mit +sich+ beschäftigt, schlägt nach der Troddel der
- Zippelmütze):
-
- Verdammtes Gebammel! (_und reißt sie sich vom Kopf._)
-
-+Eulenspiegel+:
-
- O aber! Solch Ehrenpfand,
- das schlägt man doch nicht!
-
-+Michel+
-
- (_die Mütze anstarrend_): Was ist das? was soll das? -- Hee:
- wer tat das, Schwarzer?!
-
-+Der schwarze Karl+
-
- (_von Michel gerüttelt_): Hilfe! mein Portepee!
- Josef-Maria -- (_ist aufstehend über seinen Degen gestolpert, fällt
- unter den
- Tisch und schläft weiter_) --
-
-+Michel+:
-
- Viehklumpen! -- Und Ich?? -- O Vieh, Vieh, Vieh!!!
-
- (Die Mütze zerfetzend und zu Boden schleudernd:)
-
- Schandlappen verfluchter! da lieg, du Infamie!
- O, ich Narr! ich Stadtnarr!!! (_Er faßt seinen Kopf mit beiden
- Händen; die Tanzmusik setzt wieder ab_) Halt, Michel, halt!
- besinn dich, Mensch! -- (_Er blickt scheu nach dem Rotbart und
- Eckart hinüber,
- tastet an seiner Brust herum, holt das Vertragspapier aus der
- Tasche, entfaltet es,
- starrt es kopfschüttelnd an._)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (nimmt unterdessen Eckart beiseite):
-
- Excellenz --
-
- (und da dieser ihm rasch den Mund zuhält)
-
- ah, Pardon -- aber gehn wir nicht bald?
- wir könnten leicht den rechten Moment verpassen.
-
-+Der Rotbart+
-
- (ist zu ihnen getreten):
-
- Nein, wir dürfen den Mann +nicht+ in seinem Zorn verlassen.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Wie’s beliebt, gnädiger Herr -- --
-
-+Michel+:
-
- Wo +ist+ er? Er soll mir heraus!
-
-+Der Rotbart+:
-
- +Wer+, Michel, wer?!
-
-+Michel+:
-
- Dem ich hier mein Haus
- vorhin verschrieb ohne Sinn und Verstand!
-
- (Er zerknautscht das Papier, will es wegwerfen, hält plötzlich inne
- und steckt’s in die Brusttasche.)
-
-+Eulenspiegel+:
-
- +Der+, Herr Vetter, ist leider inzwischen kurzerhand
- mit deiner Glücksfee durchgebrannt.
-
- (Die Tanzmusik setzt wieder ein.)
-
-
-+Michel+
-
- (nimmt seinen Hut und Stock von dem Tisch unter der Bank):
-
- Ihr Herren! Ich bin nur ein Mann in geringem Kleid
- und mit Ehrfurcht im Leibe; aber was ihr auch seid,
- ich schätz mich zu wert, euern Schabernack einzustecken!
- Ich bin kein Hanswurst für naseweise Gecken,
- und im Wirtshaus ist jedermann nichts als Zechkumpan!
-
- (Auf die zerrissene Mütze deutend:)
-
- Wer hat mir den Schimpf da angetan?!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Da mußt du +den+ dort fragen, Freund Grobian.
-
- (Er zeigt nach hinten, wo eben der maskierte +Landrat+
- erscheint, ganz mit Cotillon-Orden bepflastert, begleitet vom
- Kaplan und vom Pastor, alle drei den Hut auf dem Kopf und nicht
- mehr vollkommen fest auf den Beinen.)
-
-+Michel+
-
- (sich gleichfalls den Hut aufstülpend):
-
- Ahh, Herr!
-
-+Der Landrat+
-
- (sich mit dem Taschentuch fächelnd):
-
- Ä --: Ah --? was Ah?!
-
-+Michel+:
-
- Ich fordre Aufklärung, Herr!
-
-+Der Landrat+:
-
- Pahahäh! Ist ja gottvoll! -- Na also, Sie Aufklärererr:
- erst mal Hut ab, wenn Sie hier um was bitten!
-
-+Michel+:
-
- Mit Verlaub: mein Hut kehrt sich ganz nach Anderleuts Sitten!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (_mit Fistelton_): ja Sitten!
-
-+Der Rotbart und Eckart+
-
- (_tief und schwer_): Sitten!
-
-+Der Landrat+:
-
- Himmelkreiz, Ruhe! -- Das ist ja -äh- unerhört!
-
-+Der Kaplan und der Pastor+:
-
- Unerhört! Unerhört!
-
-+Der Landrat+:
-
- Er besoffner Flegel, merk er sich: Wenn er das Fest weiterstört
-
-+Michel+
-
- (den Hut kurz lüftend):
-
- Um Verzeihung, Herr Landrat: Wer +ist+ hier besoffen?
- Ich für +mein+ Teil hab meinen Rausch ausgeschloffen.
-
-+Der Landrat+
-
- (immer heftiger fächelnd):
-
- Ruhe!!!
-
-+Michel+
-
- (_wie vorher_): Sehr gern, Herr Landrat. Nur bitt ich noch
- diese Nacht
- um Antwort: Wer hat mich besoffen +gemacht+?!
- Und im Übrigen bitte: hier leg ich hin,
- was ich etwa irgendwem dafür schuldig bin!
-
- (Er langt eine Handvoll Geld aus der Hosentasche und wirft sie dem
- Landrat vor die Füße.)
-
-+Der Landrat+
-
- (etwas zurückweichend):
-
- Aber das ist ja ein ganz -ä- ganz unglaubliches Vieh!
-
-+Der Kaplan+:
-
- Ja, ein Vieh!
-
-+Michel+:
-
- Ahh!!! (_hebt in heller Wut seinen Stock._)
-
-+Der Rotbart und Eckart+:
-
- Halt, Michel! Halt!
-
-+Michel+
-
- (_bezwingt sich_): Ja, wahrhaftig: für die,
- die Biester da, ist mein Stock zu gut.
- Aber eh ich ihn heimtrag, ihr Kröten-und-Unkenbrut,
- soll euch doch mal erst, und müßt ich den Hals drum wagen,
- eine Menschenstimme ans Trommelfell schlagen!
-
- (Der Landrat holt Notizbuch und Bleistift heraus.)
-
- Ja, notieren Sie’s nur! ich stell’s gerne auch noch unter Eid!
- O, mit welchem Brustkorb voll Feiertagsgläubigkeit
- kam ich heut auf dies Fest, dies Volksfest, her in die Stadt!
- Wie hatt ich mein einsames altes Waldnest satt!
- wie sah ich die Welt hier von neuen Lichtern leuchten,
- die mir alles Leben weiter und größer zu entfalten deuchten!
-
- (halb zum Rotbart und Eckart hingewendet:)
-
- wie war ich willens -- die Herren da sind mir Zeugen --
- jedem überlegnen Geist mich mit Kopf und Kragen zu beugen!
- wie glaubt ich, daß hier, wo Männer zum Wahlkampf rüsten,
- die rechten, aufrechten Vorbilder ragen müßten,
- einen Kerl wie mich zu vornehmer Art anzuleiten!
- Und was fand ich? (_Zornschluchzend_:) Lauter Gemeinheiten!
-
-+Eckart+
-
- (_dumpf_): Gemeinheiten.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Na heul nicht, Michel!
-
-+Der Rotbart+:
-
- hast höhere Obrigkeiten!
-
-+Der Landrat+:
-
- Was?! Schwerebrett ja, was unterstehn Sie sich!
- Ich verbitt mir, meine Herrn da -- wer +sind+ Sie eigentlich?!
- wie +heißen+ Sie?! (_Inzwischen hat sich im Hintergrund ein Haufen
- maskierter
- Leute versammelt, darunter das Bürgermeisterpaar Arm in Arm, und ein
- lärmender
- Wirrwarr drängt gegen den Rücken des Landrats._)
-
-+Drei Bengelstimmen+
-
- (plärren aus dem Gedränge):
-
- (_weinerlich_) Fritze! (_dreist_) Peter Paul! (_ruppig_)
- Ludewich! --
-
-+Der Landrat+:
-
- Himmelkreizrudiment, Herr Kaplan, da soll man nicht fluchen?!
-
- (+Drei Kobolde+ kommen plötzlich zum Vorschein, der erste ohne
- Mütze und mit flennender Miene.)
-
-+Michel+ (_für sich_):
-
- Träum ich?
-
-+Der Landrat+:
-
- Verflixte Bengels, was habt ihr hier noch zu suchen!
- Ehrwürden hat euch doch extra vorhin zu Bett gejagt!
-
-+Der Pastor+:
-
- Ich auch, Herr Landrat!
-
-+Erster Kobold+
-
- (_weinerlich_): Ich will meine Mütze!
-
-+Der Landrat+:
-
- Waas?
-
-+Zweiter und dritter Kobold+:
-
- Mütze!
-
-+Erster+:
-
- Ja --! Mutter hat gesagt:
- Fritze, hat sie gesagt --
-
-+Zweiter und dritter+:
-
- Dusselfritze!
-
-+Erster+
-
- (+weinerlich+): Dusselfritze --
-
-+Zweiter+:
-
- erst gehst du und holst deine Zippelmütze!
-
-+Erster+:
-
- Zippelmütze --
-
-+Dritter+:
-
- Da liegt sie!
-
-+Der Landrat+
-
- (_verlegen sich wegdrehend_): Ä -- bitte, Herr Bürgermeister!
-
- (Er nimmt ihn beiseite, gestikuliert mit ihm.)
-
-+Erster Kobold+
-
- (hat die Mütze vom Boden genommen):
-
- Kaputt -- (_und läßt sie wieder fallen_) --
-
-+Michel+:
-
- Na heul nicht, Fritze. Kuckt, kleine Geister,
- was +hier+ liegt!
-
-+Die Kobolde+:
-
- Geld! richt’ges Geld!
-
-+Michel+:
-
- und’n ganzer Haufen!
- Da grappscht! da könnt ihr zehn neue für kaufen.
-
- (Während sie aufsammeln)
-
- Und sagt eurer Mutter: der deutsche Michel läßt grüßen,
- und die alte Schlafmütz, die hat er heut Nacht zerrissen.
- So; nu geht zu Bette!
-
-+Erster Kobold+:
-
- Dank schön.
-
-+Zweiter+:
-
- Hurrra!
-
-+Dritter+:
-
- der deutsche Michel soll leben!
-
-+Erster und zweiter+:
-
- leben! leben!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (während die Kobolde verschwinden):
-
- So, Herr Vetter; nun könnten wir uns auch wohl ins Nest begeben!
-
- (Die Tanzmusik macht wieder Pause.)
-
-+Michel+:
-
- Wir? -- Ich hab meine Rechnung hier noch nicht klapp!
-
-+Der Landrat+:
-
- Ist geschenkt! Er kann jetzt abschwirren. Ab!
- Man kennt ihn!
-
-+Michel+:
-
- Man soll ihn noch mehr kennen lernen!
-
-+Der Pastor+:
-
- Ein Diener des Friedens rät Ihnen, sich zu entfernen,
- Herr Michael. Wahrlich, Sie mißbrauchen
-
-+Der Landrat+:
-
- Schon gut, Herr Pastor; den muß man anders anhauchen.
- Marsch nach Hause, Bursche! (_Michel zuckt auf._)
- Und sollt er sich weiter erfrechen,
- dann -- (_er gibt dem Bürgermeister ein Zeichen_) --
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Sofort, Herr Landrat! (_geht eilends ab._)
-
-+Michel+
-
- (den Hut lüftend):
-
- Herr Pastor, ich will den Herrn Bergrat
- sprechen;
- wo +ist+ er?
-
-+Der Landrat+:
-
- Er hat hier garnichts zu wollen!
-
-+Michel+:
-
- Wo +ist+ er?!
-
-+Der Landrat+
-
- (zurückweichend, etwas torkelnd):
-
- Kreuzschwerebrettnochmal, er soll sich nach Hause trollen!
- verstanden?!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Michel Michael, halt deine Hand im Zaum!
-
-+Eckart+:
-
- Bleib deiner mächtig, Mann; alles Andre ist Traum.
-
-+Michel+:
-
- Wo ist der Bergrat?! Er wird mir Rede stehn;
- er versteht mit uns Volk menschlich umzugehn.
-
- (Die Tanzmusik setzt wieder ein.)
-
-+Der Landrat+:
-
- Meine Herren und Damen! ich rufe Sie sämtlich zu Zeugen:
- ich habe -ä- Alles getan, um Exzessen vorzubeugen.
- Hab ich, meine Herren?
-
-+Chor der Herren+:
-
- Jawohl, Herr Landrat! Alles!
-
-+Der Kaplan+:
-
- fast übergebührlich!
-
-+Der Landrat+:
-
- Meine Damen?
-
-+Chor der Damen+:
-
- Jawohl, Herr Landrat!
-
-+Die Bürgermeisterin+:
-
- schon beinah unnatürlich!
-
-+Der Landrat+:
-
- Demnach -ä- warn’ich den Delinquenten zum letzten Mal:
- derselbe hüte sich hierorts, in diesem -ä- städtischen Festlokal,
- vor Widerstand gegen die Staatsgewalt!
-
-+Michel+:
-
- Wie? -- Ich seh hier nur Leute in allerhand Maskengestalt.
-
-+Der Landrat+:
-
- Ruhe!!!
-
-+Der Kaplan+:
-
- Wenn Sie wünschen, Herr Landrat, bin ich im Amtskleid erbötig
-
-+Michel+:
-
- Ja: Euresgleichen hat keine Maske erst nötig!
-
-+Eine Dame+:
-
- Hihihi --
-
-+Einige Herren+:
-
- hähähä -- hahahah --
-
-+Der Kaplan+:
-
- Un-er-hört!!
-
-+Der Pastor+:
-
- Es scheint, Herr Collega, der Ärmste ist geistig gestört.
-
-+Der Landrat+:
-
- Ja! Sag er mal, Wertster: ihm brennt’s wohl im Kopp, das Stroh?!
-
-+Michel+:
-
- Darauf, Allerwertster, darauf antwort ich so -- --
-
- (er kehrt ihm den Rücken und schlägt sich aufs Hinterteil; die
- Tanzmusik bricht quietschend ab, und ein langer starker Baßton
- erfolgt) -- --
-
-+Die Herren+:
-
- Hă!!
-
-+Die Damen+:
-
- Ohh -- -- (_man fährt mit den Taschentüchern zur Nase und
- wendet sich ruckhaft von Michel weg._)
-
-+Der Landrat+:
-
- Aber das schreit ja zum Himmel mit dem Rüpel da!
- Ist denn kein Gummiknüppel da?!
- Herr Bürgermeister!!!
-
-+Der Bürgermeister+
-
- (_vom Hintergrund her_): Sofort, Herr Landrat!
-
-+Der Landrat+:
-
- Ja bitte, fix!!
- Platz da, meine Damen!
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Vorwärts, Leute! da steht der Taugenix.
-
- (+Drei Polizisten+ marschieren auf.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (mit der Pritsche klappend):
-
- Halt! Vorsicht! hier riecht’s nach Dynamit!
-
-+Der Landrat+:
-
- Ruhe!!! Vorwärts, Kerls! Losungswort: Moabit!
- Los!
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Los, Leute!
-
-+Michel+
-
- (mit beiden Händen seinen Stock aufstemmend):
-
- Halt!! Noch steh ich Gewehr bei Fuß;
- aber wer den Michel anrührt, den haut er zu Mus!
-
-+Der Landrat+:
-
- Also Achtung! Plempen raus! Hoch das Bein! Immer druff!
-
-+Die Polizisten+
-
- (blank ziehend und vorrückend):
-
- Immer druff! immer druff! immer druff --
-
-+Michel+:
-
- druff! knuff!!
-
- (rennt sie mit quergenommenem Stock übern Haufen.)
-
-+Die Damen+:
-
- Huch -- (_flüchten samt den Herren nach hinten; zugleich aber
- kommen +drei andre Polizisten+ von rechts aus dem Laubengang
- gestürzt, fallen Michel in den Rücken und nehmen ihn fest_) --
-
-+Die Polizisten+:
-
- Du Luder! du Mistvieh! du Aas! Lumpenhund!
- Uff, Kanalje! Uff jetzt! Na warte: wir drehn dir die Knochen schon
- rund!
-
- (Sie zerren Michel vom Boden und drücken ihn in die Kniee; zwei
- Mann halten seine Füße gepackt, je zwei seinen rechten und linken
- Arm.)
-
-+Der Landrat+
-
- (wieder nähertretend):
-
- Stillgestanden! -- So, Bursche: jetzt wird er wohl kirre sein.
- Legt ihm Handschellen an!
-
-+Michel+
-
- (_aufbrüllend_): Nein!!! Nein, schrei ich! Nein!
- Beim ewigen Gott: lieber hackt mir die Arme vom Rumpf!
-
-+Der Landrat+:
-
- Ruhe!!!
-
-+Michel+:
-
- Ich will Alles, was ich habe, mein Haus, Stiel und Stumpf,
- der Staatskasse schenken!
-
-+Der Landrat+:
-
- Schluß jetzt! (_Zu den Polizisten_) Tut eure Pflicht!
-
-+Der Rotbart+:
-
- +Halt+! Das wird nicht geschehen! +dem+ Mann da +nicht+!
-
-+Eckart+:
-
- Trage Jeder, der richtet, Scheu vor höherm Gericht!
-
-+Der Landrat+:
-
- Waas! -- Ja zum Teufel, da soll doch -- das ist ja wahrhaftigen Gott
- das reine Anarchistenkomplott!
- Herr Bürgermeister!!
-
-+Der Bürgermeister+:
-
- Herr Landrat? --
-
-+Eulenspiegel+
-
- (während die Beiden erregt zusammen tuscheln und der knieende
- Michel stumm mit den Polizisten ringt, zum Rotbart):
-
- Gnädiger Herr, ists erlaubt,
- die Narrheit loszulassen gegen ein närrisches Haupt?
-
-+Der Rotbart+:
-
- Tu, Schalk, was dein Witz und -- dein Herz dir erlaubt!
-
-+Eulenspiegel+:
-
-Dank, Herr -- (_er verneigt sich und eilt nach links davon_) --
-
-+Der Bürgermeister+
-
- (vor Michel und seine Häscher tretend):
-
- Halt, Leute! -- Arrestant Michel Michael,
- wir wollen Rücksicht nehmen auf Ihren submissen Gnaden-Apell
- und Sie einfach abführen lassen, ohne Verwendung von Handschellen,
- unter der Bedingung: Sie nennen Ihre Spießgesellen.
-
-+Michel+:
-
- Wie --?
-
-+Der Bürgermeister+
-
- (auf den Rotbart und Eckart hinüberweisend):
-
- Wer sind diese Herren, mit denen Sie sich nicht scheuten,
- unsre vaterländische Feststimmung unziemlich auszubeuten?
-
-+Michel+
-
- (immer noch knieend, stier vor sich hin):
-
- O Deutschland -- --
-
-+Der Landrat+:
-
- Na +wirds+ bald?!
-
-+Stimme des roten Karls+:
-
- man stopp!!!
-
-+Immer mehr Stimmen von draußen her+:
-
- man stopp! man stopp! man stopp!
-
- (Zugleich wird wieder das dumpfe Geräusch der stampfenden Maschine
- hörbar.)
-
-+Der Landrat+
-
- (sich die Ohren zuhaltend):
-
- Himmelkreizsackerment, tanzt denn heute der Deibel Galopp?!
-
- (Von links erscheinen +Eulenspiegel+, der +rote Karl+
- in seiner Militär-Uniform, jetzt aber mit Schlapphut und ohne
- Gesichtsmaske, und die maskierten +Bergknappen+; die meisten
- etwas angezecht, alle mit leeren Sektflaschen, die sie bedrohlich
- wie Keulen schwingen.)
-
-+Der rote Karl+
-
- (während Eulenspiegel mit der Pritsche den Takt dazu klopft):
-
- Stopp! Hie Knappschaft!
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Knappschaft!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Glückauf!
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Glückauf!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Jeder Knappe im Schacht
- nehm sich vor falschen Wettern in Acht!
- Licht aus!!! (_Er haut seine beiden Flaschen aneinander zu
- Scherben; sofort erlöschen die elektrischen Ampeln. In der
- Dunkelheit geben jetzt nur die Laternchen an den Tschackos der
- Bergknappen spärliches Licht. Man sieht, wie sich Michel von seinen
- Häschern losreißt, seinen Stock ergreift und um sich schlägt. Dazu
- Gerassel von Säbeln und zerschmissenen Flaschen, Geschrei der
- flüchtenden Damen und Herren, und Eulenspiegels Pritschengeknalle._)
-
-+Die Bergknappen+
-
- (durch den Tumult hin und her trottend):
-
- +Aus+ das Licht! +Aus+ das Licht!
- Irrwischfunken zünden nicht!
-
- (Michel stimmt ein):
-
- Sumpfgesindel! Unkenbrut!
- fang mal Feuer, faules Blut!
-
-+Der Rotbart+:
-
- Aber Michel! Kerl! du verbläust ja mein Schwert!
-
-+Michel+:
-
- Immer druff! Meines Vaters Stock ist zehn Schwerter wert!!!
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Wert oder nicht, wert oder nicht,
- schlagt in Stücken, was zerbricht!
-
-+Michel+:
-
- Sind zerbrochen alle Klingen,
- kann man noch den Knüppel schwingen!
- Sieg!!!
-
- (Man sieht im Hintergrund durch den Saal die letzten fliehenden
- Amtspersonen mit flüchtig aufflammenden Zündhölzchen rennen.)
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Sieg! Hurra, Sieg!!!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Glückauf, Genossen!
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Glückauf!!!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (mit Schellengebimmel):
-
- Es lebe der ganze, allbeglückende Volksfestverlauf! --
- Nun, Held Michel, wie steht’s? vollständig heil und gesund?
- Laßt mal sehn! (_Die Bergknappen nehmen die Tschackos ab und
- beleuchten ihn mit den Grubenlichtern._)
-
-+Michel+:
-
- Mir fehlt blos ein guter Trunk zur Stund.
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ih! -- Na, dann mal her den Rest von der Kesselbefeuchtung!
-
-+Michel+:
-
- Nein, Wasser!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ah, Wasser!
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Hahahah! Pros’t!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (nochmals bimmelnd und nach draußen gewendet):
-
- Heeda! Beleuchtung!
- wo gibts hier Wasser?! Licht an!!! (_Die elektrischen Ampeln
- flammen zum Teil wieder auf; man sieht am Boden zerbrochene
- Flaschen, zertrampelte Zylinderhüte und zerrissene Maskenstücke
- liegen._)
-
-+Michel+:
-
- Aber erst sag ich Dank!
- Roter Karl, ich werd’s dir mein Lebenlang
- nicht vergessen! (_er schüttelt ihm die Hand._)
-
-+Der rote Karl+:
-
- Genossen, seht ihr?! was hab ich gesagt!
- jetzt ist er Unser! (_klopft ihm gnädig die Schulter._)
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Hurrra!
-
-+Michel+
-
- (_zurücktretend_): Wie??
-
-+Der rote Karl+:
-
- Na, man unverzagt!
- Hurra schrein wir blos noch so aus alter Gewöhnung.
-
-+Michel+:
-
- So --: Das also ist eure Menschenbrüderversöhnung:
-
- (draußen klappt plötzlich die eiserne Tür zu, und das Geräusch der
- Maschine verstummt)
-
- einen Mann aus den Klauen der Überzahl glücklich rauszukloppen,
- um ihn dann in +euern+ Mehrheitsrachen zu stoppen --:
- die Sorte Brüderlichkeit, die ist mir zu gleich und frei!
-
- (+Ein Maschinenheizer+, unmaskiert, bringt ein Bierglas voll
- Wasser; Michel schiebt ihn unsanft beiseite.)
-
- Weg da! Bleibt mir vom Leibe mit eurer Nothelferei!
- die könnt ich besser bei der Bergratsgesellschaft finden.
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Hoh! Frechheit! Haut ihn!
-
-+Michel+:
-
- Ja, haut ihn, den Plumpsackblinden!
- Ihr habt viel gelernt von denen, die euch schinden,
- aber eins, darin sind sie euch doch noch voran:
- sie sehn blanke Pfennige nicht für Goldstücke an,
- sie wissen Bescheid über ihre eigne erbärmliche Kleinheit --
-
- (zu Boden starrend, halb für sich:)
-
- O Menschheit, dein Erbteil heißt Gemeinheit! --
-
-+Die Bergknappen+
-
- (zumteil vom Leder ziehend):
-
- Was?! Lyncht ihn! spießt ihn! Du Scheißkerl! Schuft! Lausejunge!
-
-+Der Rotbart+
-
- (sein Schwert aus der Scheide reißend):
-
- Zurück!!!
-
-+Eckart+
-
- (einen großen Revolver aus der Kutte langend):
-
- Sonst ertönt hier eine noch lautere Zunge!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Und, meine Herren, Sektproppen knallen doch angenehmer.
- Auch läßt sich der Rest der Ladung viel sicherer und bequemer
- +ohne+ Bratspießgefuchtel fürs Allgemeinwohl verwenden,
- zumal da sich Spieße leicht umdrehn unter Geisterhänden.
-
-+Einige Bergknappen+:
-
- Hahahah!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ja, die Welt ist seit Alters voll scharfer Plempen;
- und wie bald, wie bald kann das Häuflein Gemeinheitskämpen,
- das vor Unserm Gemeinsinn ausriß mit Hasenbeinen,
- verstärkt als Werwolfshaufen wieder erscheinen!
- Also, meine Herren, verzeihn Sie: ich möchte meinen --
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Hm -- ja -- verdammt ja -- sehr wahr! -- Weg!! Kommt, Kinder! Weg!
- Nach Hause!!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Still, Genossen!
-
-+Die Bergknappen+:
-
- Hoh! ohoh!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Aber Schwerenotdonnerblech,
- so hört doch!
-
-+Die Bergknappen+
-
- (ihre Degen einsteckend und torkelbeinig nach links abziehend):
-
- Blech! marsch! halt die Schnauze! sonst gibts’n Tritt!
- komm unsern Sekt aussaufen! marsch! nach Hause! komm mit!
-
-+Der rote Karl+:
-
- Dann sauft, Viecher -- _(lauter)_ Michel, wir sind noch nicht
- quitt! -- --
-
- (Er schreitet langsam den Andern nach.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (da Michel mit seinem Stock am Boden herumbohrt):
-
- Nun, Gevatter Helde? du schaust ja so tiefsinnig nieder.
- Es scheint, deine Zippelmütze bezaubert dich wieder.
-
- (Indem er sie auflangt:)
-
- Sie ist zwar ein bißchen stark ramponiert;
- aber vielleicht hast du jemand, der sie dir repariert? --
- Bitte -- (_er überreicht sie ihm_) --
-
-+Michel+
-
- (in sich gekehrt):
-
- Ja --: zur Erinnrung an diese Geisternacht --
- und zum Zeichen: der Michel ist aufgewacht! --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ist er? --
-
-+Der Rotbart und Eckart+
-
- (während der Vorhang sich schließt):
-
- aufgewacht -- --
-
- *
-
-+Eulenspiegel als Zwischenredner+
-
- (von links kommend, klappt mit der Pritsche):
-
- Hochgesinnte Gönner! (_bimmelt mit der Schelle_) sinnige
- Gönnerinnen!
- der Akt der Rache kann jetzt beginnen.
- Sie suchen wahrscheinlich bereits mit dem Opernglase
- nach der wohlverdienten, gespenstisch langen Nase,
- die ich unserm Dichter untertänigst in Aussicht stellte.
- Jedoch ich frage Sie: +wäre+ er dann der Geprellte?
- Nein, diesen Kopfverdreher müssen wir noch verdrehter anfassen.
- Er hat sich ohnehin zu Anfang gewiß nicht träumen lassen,
- hier als Nachtmützenhüter für Michels Haushalt zu enden;
- ich bitte ihm also Ihren wärmsten staatsbürgerlichen Beifall zu
- spenden,
- das wird seinen Weltbürger-Größenwahn gründlich vernichten.
- Er wollte drum -- im Vertrauen gesagt -- garnicht weiterdichten,
- aber da kennt er die Traumweltgesetzgebung schlecht:
- unser Herr und Meister, jetzt ist er unser Knecht!
- Soll uns etwa, ihm zu Gefallen, der Weltgeist spurlos verschlingen
- und die deutsche Geheimpolizei immer mehr in Mißkredit bringen?
- Noch ahnt ja keine Seele, was wir in Wirklichkeit sind;
- an Geistererscheinungen glaubt doch kaum noch ein Kind.
- Vor allem sind wir -- auf den Ausgang der Handlung gespannt;
- denn es ist doch für den Fortbestand
- der christlich-germanischen Menschheit die unumgänglichste Pflicht,
- daß der Michel seine Lise krigt.
-
- (Hinterm Vorhang rhythmisches Händegeklatsch.)
-
- Da! man klatscht schon! -- Heiliger Pritschenschall,
- das klappt ja, als wär bereits Hochzeitsball.
-
-+Lise Lied+
-
- (singt hinterm Vorhang, und Eulenspiegel spricht horchend Zeile auf
- Zeile nach):
-
- Tapp tapp, wer kommt da querfeldein?
- Nur rasch, nur rasch, Herr Morgenschein,
- Trab Trab!
- Die Jungfer Tauduft putzt sich hier;
- sie schlägt den Schleier auf vor dir,
- klapp klapp!
-
-+Eulenspiegel+
-
- (nachdem er die letzte Zeile wiederholt hat):
-
- Sie schlägt vielleicht noch mehr auf, klapp;
- da geh ich diskreterweise ab.
-
- (Er verschwindet nach links, den Vorhang mit wegziehend.)
-
-
-
-
-Fünfter Aufzug
-
-
- (+Bild+: wie beim ersten Aufzug. Am Gartentisch sitzt
- +Lise+ mit dem noch immer maskierten +Bergrat+; Beide
- klatschen mit den Händen den Takt des Liedes. Sie hat den Schleier
- zurückgeschlagen, und ihr Wünschelstab steht an die Haustür
- gelehnt. Es ist noch erstes Morgengrauen; später wird der Himmel
- hinter den Bäumen heller und färbt sich schließlich mit goldner
- Röte.)
-
-+Lise+
-
- (singt weiter):
-
- Klapp klapp, sie lädt dich ein zum Tanz;
- nur hol erst deinen goldnen Kranz,
- Trab Trab!
- Wer zu ihr will, muß früh aufstehn;
- wer’s tut, dem patscht sie auf die Zehn,
- schwapp!
-
-+Der Bergrat+
-
- (ihre Hände fassend):
-
- Schwapp, gefangen! Jetzt fordr’ich Lösegeld.
-
-+Lise+:
-
- Das kann doch keiner zahlen, dem man die Hand festhält?
-
-+Der Bergrat+
-
- (sie freigebend):
-
- Ach, Fräulein Lise: wirklich: Sie machen mich rein zum Kind.
- Sie tun ja viel stachliger, als Sie sind.
-
-+Lise+:
-
- So? Wie bin ich denn?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Sie sind so zum küssen nett,
- so wie Dornröschen in ihrem moosgrünen Bett,
- als endlich der Ritter kam und sie nannten sich Du --
-
-+Lise+:
-
- Halt, Herr Ritter: so spornstreichs gehts nur im Märchen zu.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Aber ich bitte doch schon die ganze Nacht so heiß
- wie ein Glühwurm, Schatz!
-
-+Lise+:
-
- Herr Glühwurm, erst für den Schatz den Preis!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Aber Kind, du liegst ja wie’n Füchslein danach auf der Lauer.
-
-+Lise+:
-
- Ja, Herr Fuchs; sonst bleiben die Trauben sauer.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Liebes Fräulein Lise: hier, bitte, sehn Sie mein ehrlich Gesicht!
-
- (Er will sich die Maske abnehmen.)
-
-+Lise+
-
- (ihn nasenstübernd):
-
- Nein, lieber nicht.
- Ich finde die meisten Herren maskiert viel netter.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Alle Wetter! --
- Ja aber, du Satansmädel:
- was spukt dir im Schädel!
- solch Grundstück ist doch kein Puppenlappen!
-
-+Lise+:
-
- Ja aber, Herr Satan, ich bin doch auch ein recht schmucker Happen.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Und blos, weil der -- Vormund das Haus behalten soll?
-
-+Lise+:
-
- Was dachten +Sie+ denn?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Mädel, mach mich nicht toll!
- Sag, wo hast du den Schlüssel?!
-
-+Lise+:
-
- Nein wahrhaftig, den haben die Raben;
- ich muß ihn im Stadtpark verloren haben.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Liebes goldnes Mädel, ich hüll dich in Sammt und Seide!
-
-+Lise+:
-
- Lieber toller Herr Bergrat: bitte, drei Schritt vom Kleide!
- Sonst zieh ich gleich wieder den schwarzen Schleier vor
- und stopf mir moosgrüne Watte ins Ohr.
-
-+Der Bergrat+
-
- (das Vertragspapier aus der Brusttasche nehmend und entfaltend):
-
- Nun -- dann hier, Fräulein Lise. Der Fuchs ist zwar manchmal ein
- Dieb,
- aber immer ein Ritter.
-
-+Lise+:
-
- O, +das+ -- nein, ist +das+ aber lieb!
- Nein wirklich: das ist einfach lieb von Ihnen!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Und die Trauben?
-
-+Lise+:
-
- Oh -- die werden vielleicht noch Rosinen.
- Hier schenk ich Ihnen meinen aller-aller-unsauersten Kuß.
-
- (Sie küßt ihm die Hand und springt rasch weg; steckt das
- Vertragspapier dann ins Mieder.)
-
-+Der Bergrat+:
-
- Das war aber ein sehr, sehr vormundhafter Genuß.
-
- (Auf ihr Mieder deutend):
-
- Darf ich nicht wenigstens beim Verschluß der Schatzkammer helfen?
-
-+Lise+:
-
- Nein, das dürfen vorläufig nur im Mondschein die Elfen.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ach, liebstes Fräulein Lise, sein Sie doch gut zu mir!
-
-+Lise+:
-
- Ach, liebstes Herrlein Bergrat --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Racker, ich sage dir:
- mach mich nicht wild, ich hau dich!
-
-+Lise+:
-
- Erst kriegen! erst kriegen!
-
-+Der Bergrat+
-
- (ihr nachsetzend):
-
- Na wart du! ich werd dir die Hexenbeinchen schon biegen!
-
- (Zugleich erscheint von links +Michel Michael+; hinter ihm
- +Eulenspiegel+, der +Rotbart+ und +Eckart+. Lise
- sieht es und läßt sich vom Bergrat fangen.)
-
-+Michel+
-
- (kraß auflachend):
-
- Hahahah, ich -- heut lern ich noch blocksberghoch fliegen -- --
- (_Dumpf_) O Lise -- (_Zum Bergrat, wild:_) Weg jetzt!!! Marsch aus
- dem Garten, Sie --
-
-+Der Bergrat+
-
- (ihm ruhig nähertretend):
-
- Sie --?
-
-+Michel+:
-
- Scheren Sie sich! Hier bin +Ich+ Herr!!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Wie --?
-
-+Michel+
-
- (zusammenzuckend, sich abwendend):
-
- Ja so! -- Verflucht ja --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ja -- jetzt bin +Ich+ es --
-
-+Lise+
-
- (_spöttisch, halblaut_): So --?
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ach so; verdammt ja -- (_wendet sich gleichfalls ab_) --
-
-+Michel+
-
- (_reckt sich wieder_): Ich sag Ihnen, Mensch, sein Sie froh,
- daß mein Stock schon Arbeit gehabt hat heut Nacht!
- Aber nehmen Sie trotzdem, rat’ich, Ihr Corpus juris in Acht:
- bis zum Räumungstermin ist das Haus noch Mein!
- Also Marsch jetzt!!
-
-+Lise+:
-
- Aber Michel!
-
-+Michel+:
-
- Schweig jetzt! Pack dich hinein!
- Wo ist der Schlüssel?!
-
-+Lise+:
-
- Futsch.
-
-+Michel+:
-
- Quatsch nicht!!
-
-+Lise+:
-
- Verloren.
-
-+Michel+:
-
- Lüg nicht noch obendrein!!
-
-+Lise+:
-
- Wie werd ich denn das dem Herrn Vormund zu bieten wagen?
-
-+Michel+
-
- (an der Türklinke rüttelnd):
-
- Himmelkreuz -- (_will Lisens Stab zerschmeißen_) --
-
-+Lise+:
-
- Nicht, Michel! nicht meinen Glücksstab zerschlagen!
- o bitte, nicht wüst sein -- (_entwindet ihm den Stab_) --
-
-+Der Bergrat+
-
- (_den Hut lüftend_): Fräulein Lise, ich will jetzt gehn;
- aber ich hoffe
-
-+Michel+:
-
- auf Nimmerwiedersehn!!!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Das dürfte wohl nicht von +Ihnen+ abhängen, denke ich.
-
-+Lise+
-
- (halblaut):
-
- Wer weiß, Herr Traubenräuber --
-
-+Der Bergrat+:
-
- Ah! -- Hüten Sie sich!
- Der Ritter Fuchs könnte leicht seine Zähne demaskieren.
-
-+Eulenspiegel+
-
- (kitzelt ihn hinterrücks mit dem Gugelzipfel am Ohr):
-
- Dürft ich bitten, Herr Ritter, das mal dort drüben zu probieren?!
-
- (Er weist höflichst zum Rotbart und Eckart hinüber, die sich nach
- rechts begeben haben.)
-
- Inzwischen, schönste Glücksfee, gratulier ich zum Luftschloßbefund;
- vielleicht, Herr Vetter, paßt mein Geheimschlüsselbund.
-
- (Sie machen vergebliche Versuche, die Tür aufzuschließen; Lise
- schneidet dem wütenden Michel Gesichter dabei.)
-
-+Der Bergrat+
-
- (hat seinen Spazierstock vom Gartentisch geholt, tritt nun sehr
- förmlich vor die beiden Vermummten):
-
- Die Herren wünschen? Und mit wem hab ich die Ehre?
-
-+Der Rotbart+
-
- (gedämpft, aber wuchtig):
-
- Wir wünschen, daß Niemand des Michel Michaels Hausstand versehre.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Aber ich muß doch sehr bitten --
-
-+Eckart+:
-
- Wir wünschen zum zweiten,
- daß Niemand uns nötige, unverhüllt einzuschreiten.
- Hier bitte -- zur steten Erinnerung --
-
- (er überreicht ihm zwei Visitenkarten und hebt einen Augenblick die
- Kapuze) --
-
-+Der Bergrat+
-
- (jetzt gleichfalls die Stimme dämpfend und vollkommen seine Haltung
- ändernd):
-
- O bitte tausendmal um Entschuldigung! --
-
- (Mit tiefer Verbeugung, erst vorm Rotbart, dann etwas knapper auch
- vor Eckart):
-
- Hätten Hoheit ahnen lassen, oder Excellenz,
- dies bescheidne Volksfest werde Sie aus der Residenz
- an unsern aufblühenden Industrieplatz locken --
-
-+Der Rotbart+:
-
- Nein, wir wünschen wiegesagt +keine+ großen Glocken.
-
-+Der Bergrat+:
-
- Zu Befehl, Hoheit.
-
-+Eckart+:
-
- Und wünschen, daß aus dem Wetterschacht
- dieser spaßhaften Nacht
- keinerlei ernsthafte Schläge übertag entstehn;
- Sie lassen, Herr Bergrat, mir darüber Bericht zugehn!
-
-+Der Bergrat+:
-
- Zu dienen, Excellenz.
-
-+Eckart+:
-
- Dann auf glückhaftes Wiedersehn -- --
-
- (Er gibt dem Bergrat gemessen die Hand; dieser verneigt sich
- zweimal zum Abschied, zieht dann auch vor der Haustürgruppe den
- Hut, wofür Lise ihm eine Kußhand zuwirft, und verschwindet mit
- saurem Lächeln nach links.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (seinen Schlüsselbund einsteckend):
-
- Ja, Gevatter, es scheint, du mußt bis zum Räumungstermin
- in dein Luftschloß entweder durch den Rauchfang ziehn,
- oder du nimmst hier den Garten als Himmelbett.
-
-+Lise+:
-
- Oder
-
-+Michel+:
-
- Still, du Maulaff!
-
-+Lise+:
-
- Gern, Herr Vormund; mein Maul ist nämlich sehr nett.
-
- (Sie geht und setzt sich an den Gartentisch, während Michel dem
- Bergrat nachstarrt.)
-
-+Der Rotbart+
-
- (hat sich mit Eckart wieder dem Haus genähert):
-
- Oder, Michel, stimmt dich die +Stadt+ da so tief beschaulich?
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Sie deucht dir heute wohl ziemlich morgengraulich?
-
-+Eckart+
-
- (über den Garten zum Himmel hinweisend, eindringlich):
-
- Schau lieber dorthin, wo sich aus höhern Gründen
- reinere Lichter aufs neue entzünden!
-
-+Michel+:
-
- Ja, ihr Herren! Und Nein! Euch will ichs gerne verkünden.
- Ihr habt mir beigestanden in dieser Sommerwendnacht,
- und die hat mein Grünjungengetreide reifer gemacht.
- Ja, ich +sehe+ ein neues Frührot entbrennen;
- aber drum, grad drum will ich +nicht+ mehr ins Blaue rennen.
-
- (Sein zerknautschtes Vertragspapier einen Augenblick herauslangend):
-
- Ich will mich mit meiner papiernen Habe aufmachen
- und nicht ruhn, bis auch Andre aus ihrem Papiertraum erwachen.
- Ich werde uns erdwüchsig Volk zusammenraffen,
- wir werden uns jeder Haus und Hof wieder schaffen,
- Erde, auf der wir mit Lust arbeiten
- und unsern Kindern ein greifbar Stück Vaterland bereiten;
- bis in die Städte hinein wird Garten an Garten einst prangen,
- wird aller Schöpfergeist edleren Boden empfangen,
- Frucht gegen Frucht tauschen, Saat gegen Saat,
- Tat für Tat.
- Und will er +dazu+ sein Handlangervolk befrein,
- dann soll auch der rote Karl mir willkommen sein:
- jeder, der ankommt mit einer lichtfrohen Kraft,
- bis wir das ganze Erdreich erleuchten, wir Neubauernschaft!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- die den alten Dunst aus der Pfeife pafft!
-
-+Michel+:
-
- Wie??
-
-+Eulenspiegel+:
-
- O Vetter! dein Luftschloß wird immer -- hm -- allgemeiner.
- Du redst ja wie’n Buch von Hertzka oder Oppenheimer.
-
-+Lise+
-
- (vom Gartentisch her):
-
- Ja -- solch Mundwerk wie der Herr Vormund hat Keiner.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Michel Michael! willst du plötzlich auf Andre bauen?
-
-+Eckart+:
-
- Wo blieb heut um Mitternacht dein Menschenvertrauen?
- Es war so zerfetzt wie dein Mützenflaus.
-
-+Michel+:
-
- O, ihr Herren, ihr kennt mich noch lange nicht aus!
- Hab ich nicht Euch, ihr Unbekannten, vertraut?
- Ich sag euch: Hundert Menschheiten stecken in jeder Haut! --
- Seht dort: noch deutet der Himmel erst schüchtern mit Funken an,
- daß da eine Sonne auflodern will und kann!
- Horcht hier: noch rührt sich kein Vogelruf im Wald:
- in einer Stunde schmettert alles und schallt!
- So wird, wenn +Einer+ erst wagt, Haupt und Herz zu erheben,
- dieser Eine viel Andre mitbeleben,
- bis Alle aufglühn zu immer hellerem Geist,
- wie’s im Liede heißt:
- Auf Erden ist immerfort jüngstes Gericht --
-
-+Lise+
-
- (singt halblaut, in derselben Melodie wie zu Anfang des Spiels):
-
- jüngstes Gericht --
- unter Tag.
-
-+Michel+:
-
- Aus Schutt wird Feuer, wird Wärme, wird Licht --
-
-+Lise+
-
- (etwas lauter):
-
- wird Wärme, wird Licht --
- über Tag.
-
-+Michel+:
-
- Weiter!!!
-
-+Lise+
-
- (mit immer vollerer Stimme):
-
- Wir schlagen aus jeglicher Schlacke noch Glut;
- Glückauf!
- Wir ruhn erst, wenn Gottes Tagwerk ruht;
- Glückauf! --
-
-+Michel+:
-
- +Ja+, Herren! --
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Ja, laß dir nur gründlich die Ohren vollsingen!
- Das wird dich auf immer gottvollere Sprünge bringen;
-
- (durch die hohle Hand)
-
- man opfert fürn Nachthäubchen schließlich den rosigsten Morgen.
-
-+Michel+:
-
- Dafür, Herr Haubenmatz, laß mich nur selber sorgen!
- Ich weiß jetzt mein Tag- und Nacht-Gebet,
- das keine Lichtmaschine mir mehr verdreht.
- So wird’s auch manch ander Manns- und Weibs-Herze wissen,
- das heut emporbegehrt aus den Zwielicht-Dämmernissen.
-
- (Nach der Stadt weisend):
-
- Und wenn da unten die Herrschaften etwa dagegenfackeln,
- dann solln schließlich +ihnen+ die Zippelmützen wackeln!
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Dann wirds wohl Zeit, edler Helde, dir endlich Lebwohl zu sagen;
- sonst gehts womöglich erst mal Uns an den Kragen.
-
-+Lise+:
-
- O, der Herr Vormund kann sich manchmal auch artig betragen.
-
-+Michel+
-
- (nach einer Drohgeberde zu ihr hinüber):
-
- Freilich wüßt ich gerne: wem bin ich zu Dank verpflichtet?
- Ihr Herren habt mich aus schwerer Schmach aufgerichtet.
-
-+Der Rotbart+:
-
- Dann mag deine Glücksfee dich weiter so dankbereit halten.
-
-+Eckart+:
-
- Schutzgeister +müssen+ geheimnisvoll walten.
-
- (Von rechts her ein Schnurr-und-Knattergeräusch.)
-
-+Eulenspiegel+:
-
- Auch lockt uns plötzlich ein Zaubermaschinenduft:
- unser Kraftwagen verdirbt deine Morgenluft.
- Also, hehre Fee, bitte segne den Schicksalslauf!
-
-+Lise+:
-
- Glückauf, ihr Geister!
-
-+Die Drei+
-
- (sind inzwischen nach rechts geschritten):
-
- Glückauf! Glückauf! Glückauf!
-
- (Sie verschwinden nacheinander im Wald.)
-
-+Stimme Eulenspiegels+:
-
- Ich wünsch dir, Michel, noch manche erbauliche Luftschloßbestrebung!
-
-+Stimme Eckarts+:
-
- Nur zerstör nicht den Himmel mit deiner Erdreichbelebung!
-
-+Stimme des Rotbarts+:
-
- Denn, Michel: das Erbgut der Menschheit heißt Erhebung! -- --
-
- (Nochmals das Kraftwagen-Geräusch.)
-
-+Michel+
-
- (ist an der Gartenpforte stehen geblieben, nähert sich nun dem
- Gartentisch):
-
- Na, du Grasaff?
-
-+Lise+:
-
- Na, Herr Vormund?
-
-+Michel+:
-
- Dir fällt wohl’s Stehn heute schwer?
-
-+Lise+:
-
- Nein, Herr Vormund -- (_erhebt sich_) --
-
-+Michel+:
-
- So -- (_Aufstampfend_) Schockwetter, laß das Gesperr,
- du dumme Lise! -- Was hast du dir denn gedacht
- mit deinem Gejachter, so in der Nacht?!
-
-+Lise+:
-
- Ich hab mir gedacht, so in der Nacht,
- ob der dumme Michel wohl endlich einmal aufwacht
- und alldas still mit nach Hause bringt,
- wovon die dumme Lise Lied immer singt.
- Und weil er so lange ist wer-weiß-wo geblieben,
- hab ich mir eben derweil ein bißchen die Zeit vertrieben.
-
-+Michel+:
-
- Mit solchem unstatthaften Patron!
-
-+Lise+:
-
- Ist doch eine ganz stattliche Mannsperson.
-
-+Michel+:
-
- Der -- getaufte Jud!
-
-+Lise+:
-
- Ist doch ein sehr altmächtig, erdstark, auserwählt Blut.
-
- (Mit bebender Frage:)
-
- Weißt du nicht mehr:
- ich kam ja auch wohl aus fernem Süden einst her --
-
-+Michel+
-
- (indem sein Stock ihm entfällt):
-
- Lise!!!
-
-+Lise+:
-
- Michel -- -- (_unsägliche Umarmung_) -- --
-
-+Michel+
-
- (_stammelnd_): O, du all mein einziges, ewiges Herzbegehr --
- O, wie lange hast du mich nach dir suchen lassen --
-
-+Lise+:
-
- O, wie lange konnt ichs selber nicht fassen --
-
-+Michel+:
-
- Und nun stehn wir, wie’s einst am Anfang war:
- im Garten Eden, das erste Menschenpaar.
- Du meine Welt, du liebe Unruh du!
-
-+Lise+:
-
- Du meine Heimat -- meine Ruh -- --
-
-+Michel+:
-
- Ach, Lise, ich hab so wundervoll heute von dir geträumt!
-
-+Lise+
-
- (sich halb aus seinen Armen lösend):
-
- Und hast beinahe dabei dein wirkliches Wunder versäumt.
-
- (Sie schreiten allmählich aus dem Garten vors Haus.)
-
- Aber vielleicht ist’s wahr, das Sprichwort --
-
-+Michel+:
-
- ach, sei kein Schaf --
-
-+Lise+
-
- (küßt ihn):
-
- ja: den Schafen gibt’s der Himmel im Schlaf.
- Weißt du, wo jetzt die Schwelle zu unserm Luftschloß steckt?
-
-+Michel+:
-
- Na sag’s mal!
-
-+Lise+
-
- (_auf ihre Brust tippend_): Hier!
-
-+Michel+:
-
- Ja, Herze! das hab ich eben entdeckt.
-
-+Lise+:
-
- Nein, wirklich!
-
-+Michel+:
-
- Wirklich?
-
-+Lise+
-
- (am mittelsten Miederknopf drehend):
-
- Ja, hier!
-
-+Michel+:
-
- Da? -- (_scheu_) in deinem Mieder?
-
-+Lise+:
-
- Ja --! Vielleicht findst du da -- auch den Schlüssel wieder.
- Such mal!
-
-+Michel+:
-
- Ach, Lise --
-
-+Lise+:
-
- Sieh mal, das macht man so --:
-
- (sie nimmt seine Finger und öffnet damit zwei Knöpfe) --
-
- Siehst du, da +ist+ er -- ganz warm --
-
- (sie drückt ihm den Schlüssel in die Hand)
-
-+Michel+
-
- (_an ihr niedersinkend_): O Lise! -- Oh! --
-
-+Lise+:
-
- Na, darum fällt man doch nicht gleich um in der Welt?!
-
- (Auf das Vertragspapier deuten, das zu Boden geflogen ist:)
-
- Sieh: das Beste hast du noch garnicht gesehn, du Held!
- Komm, steh auf! (_Sie bückt sich und gibt ihm das aufgeschlagene
- Papier._)
-
-+Michel+
-
- (_sich erhebend_): Was?! Wie?! Ja, wie hast denn +Du+ das erfuchst?!
-
-+Lise+:
-
- Ja, das hat der Grasaff dem Traubenfuchs abgeluchst.
-
-+Michel+:
-
- Du, Du --!
-
-+Lise+
-
- (_fast streng_): Nein, Michel; gut sein! (_küßt ihn_) --
-
-+Michel+:
-
- Du unbezahlbarer Racker!
-
-+Lise+:
-
- Nicht wahr: mein „Maul“ versteht sich aufs Gold-im-Munde-Gegacker?!
-
-+Michel+:
-
- Dann wolln wir aber das Teufelspapier gleich in tausend Stücke
- zerreißen
- und die Fetzen allen guten Geistern zuschmeißen!
-
- (Er tut es; sie klatscht in die Hände dazu.)
-
- Und meins hier auch! (_Er holt sein zerknautschtes Papier aus der
- Tasche und
- reißt die Zippelmütze dabei mir heraus._)
-
-+Lise+
-
- (nimmt sie vom Boden auf, während Michel das Papier zerreißt):
-
- Nanu, du: was ist denn daas?
-
-+Michel+:
-
- O -- das ist blos so’n kleiner Traumgeisterspaß --
-
-+Lise+:
-
- Na, dann schließ mal auf, du; ich werd sie dir flicken!
-
-+Michel+
-
- (den Schlüssel ans Türschloß setzend):
-
- In Unserm Haus, Du --
-
-+Lise+:
-
- Du --! nicht wieder gleich in die Kniee knicken!
-
-+Michel+
-
- (die Tür breit aufsperrend):
-
- Aber den Trauerschleier erst ab!
-
- (Er tritt von der Schwelle zurück zu ihr, nimmt ihr hastig Diadem
- und Schleier vom Haar, will beides auf die Erde werfen)
-
- Der soll heute Morgen für immer ins Grab!
-
-+Lise+:
-
- Aber der Stern, der muß in mein Kämmerlein!
-
- (Sie wirft lachend das Diadem in den Hausflur.)
-
- Und mein Glücksstab, Michel, hinterdrein!
-
- (Sie schleudert den Stab, den sie bis jetzt immer festhielt, in
- hohem Bogen durch die Tür; man hört ihn auf der Treppe poltern.)
-
- So! -- (_Sie hebt winkend die Zippelmütze --: läßt plötzlich
- schreckhaft den Arm wieder sinken, da Michel wie entgeistert
- zurückweicht, die eine Hand aufs Herz pressend, die andre vor die
- Stirn schlagend._)
- Aber +was+ denn, Michel?! Was träumt dir?!
-
-+Michel+:
-
- Nein --
- Nein! -- Sehr wirklich! -- Dieses Haus ist +nicht+ mein!
- Du sollst mich nicht zu Unehr mit deinem Gewinke verführen;
- lieber will ich nie wieder ein Glied von dir berühren!
- Ich habe mein Wort, du, meinen Handschlag dem Mann da verpfändet;
- das wird nicht durch Weiberfingerspiel umgewendet!
-
- (Auf die Papierfetzen weisend):
-
- Da, die Schrift da, die kann der Wind verwehn;
- hier das Wort in mir, das bleibt ewig stehn!
- Und will mich der Bergrat noch heute aufs Straßenpflaster jagen,
- ich werde gehn, und müßt ich den ganzen Kram drin zerschlagen!
- Das ist einfach meine verfluchte Pflicht,
- schlicht und richt;
- ich hab sie mir selber zuzuschreiben.
-
-+Lise+:
-
- Aber
-
-+Michel+:
-
- Nichts „aber“! Willst du ’nen Hundsfott beweiben??
- Und gesetzt selbst, wir wollten’s so hündisch treiben:
- ich sag dir: macht sich der Mensch mal gemein,
- die Welt wird noch x-mal gemeiner dann sein.
- Heute Nacht der Bergrat gab mirs sehr dürr zu kauen:
- die Grubengesellschaft hat Alles hier sowieso in den Klauen.
-
-+Lise+
-
- (für sich):
-
- O Fuchs --
-
-+Michel+
-
- (sich reckend):
-
- Also bleibts dabei: Neu Land wird beschafft,
- wo keine Maulwurfshand uns die Wurzeln wegrafft!
- wo wir Kraft haben dürfen wie unsre Erdschollen
- und Luft und Licht schöpfen, soviel wir wollen!
- Und gibt die Heimat kein solches Land mehr her,
-
- (wild und weh:)
-
- dann, Lise, dann tragen wir Deutschland übers Meer!
- Verstanden?!
-
-+Lise+:
-
- Dann, Michel, dann will ich nur beten,
- daß unsre Schutzgeister gnädigst dazwischentreten,
- du lieber, einziger, grenzenloser Mann!
- Denn wenn sie’s nichttun: (_beklommen_) wo soll denn dann
- unsre -- Hochzeitsfeier sein? und wann?
-
-+Michel+:
-
- Wann? -- Wann?? --
-
- (nimmt sie stürmisch auf beide Arme hoch)
-
-+Lise+:
-
- Nein, Michel, nicht!!!
-
-+Michel+:
-
- Nein?? --
-
- (macht grimmig Miene, sie niederzusetzen)
-
-+Lise+
-
- (_ihn bang umhalsend_): Ja, Michel, schnell -- --
-
- (Er trägt sie über den schwarzen Schleier hinweg ins Haus; auf
- seinem Rücken baumelt in ihrer Hand die zerrissene Zippelmütze.)
-
-+Eulenspiegel+
-
- (taucht aus dem Souffleurkasten auf, seinen Schellenzipfel
- schwingend):
-
-+Es lebe dein Stammhalter, Michel Michael!!!+
-
- (+Vorhang+)
-
-
- * * *
-
-
- *
- Druck der
- Spamerschen Buchdruckerei
- in Leipzig
- *
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3), by
-Richard Dehmel
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI ***
-
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- The Project Gutenberg eBook of Gesammelte Werke; Dritter Band, by Richard Dehmel.
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-<body>
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-<pre>
-
-Project Gutenberg's Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3), by Richard Dehmel
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
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-this ebook.
-
-
-
-Title: Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3)
-
-Author: Richard Dehmel
-
-Release Date: July 16, 2020 [EBook #62673]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI ***
-
-
-
-
-Produced by the Online Distributed Proofreading Team at
-https://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="transnote">
-
-<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen
-Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben.
-Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche
-und altertümliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
-unverändert; fremdsprachliche Zitate wurden nicht korrigiert. Der Autor
-verwendet Elisionen, die vom nächsten Wort nicht durch ein Leerzeichen
-getrennt sind (z. B. ‚werd’ich‘, statt ‚werd’ ich‘).</p>
-
-<p class="p0">Der Übersichtlichkeit halber wurde das Inhaltsverzeichnis
-(‚<a href="#UEbersicht">Übersicht</a>‘) an den Anfang des Buches verschoben.</p>
-
-<p class="p0">Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt; Passagen
-in <span class="antiqua">Antiquaschrift</span> werden im vorliegenden
-Text kursiv dargestellt. <span class="nohtml">Abhängig von der im
-jeweiligen Lesegerät installierten Schriftart können die im Original
-<em class="gesperrt">gesperrt</em> gedruckten Passagen gesperrt, in
-serifenloser Schrift, oder aber sowohl serifenlos als auch gesperrt
-erscheinen.</span></p>
-
-<p class="p0 htmlhide">Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter geschaffen
-und in die Public Domain eingebracht. Ein Urheberrecht wird nicht
-geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt
-werden.</p>
-
-</div>
-
-<div class="figcenter break-before">
- <a id="signet" name="signet">
- <img class="w6em padtop5" src="images/signet.jpg" alt="Verlagssignet" /></a>
-</div>
-
-<div class="titelei">
-
-<p class="s2 center break-before">Richard Dehmel</p>
-
-<h1>Gesammelte Werke<br />
-<span class="s6">in drei Bänden</span></h1>
-
-<p class="s3 center padtop5 padbot5">Dritter Band</p>
-
-<hr class="full_d" />
-
-<p class="s3 center">S. Fischer, Verlag, Berlin</p>
-
-<p class="s5 center padtop5 break-before"><em class="gesperrt">22. bis 24.
-Tausend</em></p>
-
-<p class="s5 center">Alle Rechte vorbehalten, auch das der Übersetzung<br />
-Copyright 1913 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="UEbersicht">Übersicht</h2>
-
-<p class="center">(Die mit * bezeichneten Stücke sind neu aufgenommen)</p>
-
-</div>
-
-<table class="toc" summary="Inhaltsverzeichnis">
- <tr>
- <td class="s5" colspan="2">
- <div class="right">Seite</div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="s4a" colspan="2">
- <div class="center"><a href="#Lebensblaetter">Lebensblätter</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat padtop1">
- Die Rute
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Die_Rute">7</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Der Werwolf
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Der_Werwolf">24</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Der Menschenkenner und sein Gleichgewicht
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Der_Menschenkenner_und_sein_Gleichgewicht">36</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Das Gesicht
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Das_Gesicht">45</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Das hölzerne Bein
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Das_hoelzerne_Bein">52</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Die gelbe Katze
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Die_gelbe_Katze">60</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Die Gottesnacht
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Die_Gottesnacht">67</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="s4a padtop1" colspan="2">
- <div class="center"><a href="#Betrachtungen">Betrachtungen</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat padtop1">
- Kunst und Volk
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kunst_und_Volk">101</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Nationale Kulturpolitik
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Nationale_Kulturpolitik">111</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
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- Kunst und Persönlichkeit
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Kunst_und_Persoenlichkeit">117</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Das Buch und der Leser
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Das_Buch_und_der_Leser">126</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Philosophische und poetische Weltanschauung
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Philosophische_und_poetische_Weltanschauung">133</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Der Olympier Goethe
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Der_Olympier_Goethe">137</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Grabrede auf Liliencron
- </td>
- <td class="vab">
- <div class="right"><a href="#Grabrede_auf_Liliencron">141</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Naivität und Genie
- </td>
- <td class="vab">
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- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- Kultur und Rasse
- </td>
- <td class="vab">
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- </td>
- </tr>
- <tr>
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- <div class="center"><a href="#Schauspiele">Schauspiele</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
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- Die Menschenfreunde
- </td>
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- <div class="right"><a href="#Die_Menschenfreunde">193</a></div>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="vat">
- *Michel Michael
- </td>
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- </td>
- </tr>
-</table>
-
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Lebensblaetter">Lebensblätter<br />
-<span class="s5">Novellen in Prosa</span><br />
-<span class="s6">Auswahl</span></h2>
-
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span></p>
-
-<h3 id="Die_Rute">Die Rute</h3>
-
-<p class="center">Eine bedenkliche Geschichte</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Er mußte selber lachen. Wenn ihn einer so sähe: jetzt, mitten in der
-Julihitze, die Ofentür aufschraubend. Und nun hinein mit der Rute
-in das offene Loch! Er bückte sich noch tiefer und freute sich, wie
-die harten Birkenreiser die dünne Schicht Asche zerritzten. Die war
-noch vom Winter her; das kühle Ockergelb der sanften Fläche tat ihm
-ordentlich wohl. Da lieg du!</p>
-
-<p>Er machte langsam wieder zu. Ja, das fehlte noch grade: dieser Popanz
-im Hause. „Gott sieht, Gott hört, Gott straft“ &mdash; er richtete sich auf
-&mdash; das hatte er glücklich abgeschafft; nun sollte wohl die Rute hinterm
-Spiegel Jehovah spielen.</p>
-
-<p>Diese Mütter! eine wie die andere. Es mußte doch noch immer etwas
-unbewußte Judenseele in ihr stecken: du sollst, mein Kind, weil deine
-Eltern das so wollen. Na warte, Schatz!</p>
-
-<p>Er setzte sich an seine Arbeit zurück. Ein unverschämter Sonnenstrahl
-stach blendend von der Wand her über den Schreibtisch weg; grade von
-dem Bild der Beiden her. Er rückte zur Seite und ließ den Eindruck
-auf sich wirken. Hm: ruppig genug sah sein Töchterchen aus, da unter
-der grellen Glasplatte auf der schwülen Kupfertapete: so den Finger
-im Mäulchen, neben der mild zuredenden Mutter. Köstlich, dieser
-eigensinnige Moment.</p>
-
-<p>Und nun sollten dem heißen Herzchen diese Momente wohl mit der Rute
-ausgetrieben werden: ein artig Kindchen, eine Puppe aus ihr werden.
-Heilige Mutterliebe!</p>
-
-<p>Als ob sie nicht Zeit genug hätte, die Einsicht der Kleinen zu üben!
-den ganzen Tag über! während Er sich um das bißchen Leben placken
-mußte. Und sie hatte doch zur Genüge an sich selbst erlebt, und auch
-an ihm, daß nur die Einsicht, die wirklich bewußte Selbstanschauung,
-den Menschen ein bißchen<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span> menschlicher macht. Aber natürlich: „Kinder,
-die wissen nichts von sich“ &mdash; und da ist es für die liebe Mutter viel
-bequemer, sie mit der Rute zu traktieren. Als wenn Eltern wüßten, was
-solch Kind für seine Zukunft darf und nicht darf.</p>
-
-<p>Ja, das würde wohl nun wieder einen zähen Kampf der Seelen geben. Wie
-sie neulich reizend fein gelächelt hatte, als sein polnischer Freund
-ihn im Scherz den Hahnrei seines Bewußtseins nannte. Ja, das war Wasser
-auf die Mühle ihrer weiblichen Unwillkürlichkeit.</p>
-
-<p>Er mußte wieder lachen. <em class="gesperrt">Das</em> Gesicht: wenn sie nun im Oktober zum
-ersten Mal wieder heizen würde und ihr dann die Rute aus dem gelben
-Loch entgegenstarrte, die langvermißte. Vielleicht grade an seinem
-Geburtstag. Wie sie sich dann nach ihm umdrehn würde, mit ihren goldnen
-Augen, ihren dunkeln, da beim Ofen knieend. Und das rechte Auge, ihr
-Wesensauge, würde groß und ruhig von Verständnis leuchten, und von
-Einverständnis; aber in dem kleineren, linken, dem Gattungsauge, durch
-die Wimperschatten des zu schwachen Lides, würde dieser frauenhafte
-Vorwurf zittern, daß sein vorbedachtes Schweigen sie wohl habe
-beschämen sollen. Still um ihre schmalen Lippen würde ein neuer Wille
-dämmern, bis in die zärtlichen Mundwinkel hin; und dann würde er zu ihr
-treten und sie küssen wie damals, als sie sich noch lieben mußten, als
-sie noch nicht Freunde waren.</p>
-
-<p>Er stand auf. Blos fünf kleine Schritte bis zum Ofen. Wie das schmale
-Zimmer ihn getäuscht hatte! Oder das lange Mittelfeld des persischen
-Teppichs? &mdash; Er sah die wunderlichen Ranken des bunten Bortenmusters in
-der Mittagssonne glühen. Er fühlte die Freude wieder, wie sie ihm zum
-vorigen Geburtstag das schöne alte Ding von ihrem Spargeld geschenkt
-hatte. Er sah hinüber auf sein Arbeitsfleckchen und lächelte.</p>
-
-<p>Aber grausig öde war sie wirklich, diese ewige juristische
-Begriffsstoppelei! Noch dazu jetzt, mitten im blühenden Sommer.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span></p>
-
-<p>Er trat ans Fenster und sah das dunkelblanke Blättergrün der magern
-Pappel drüben vor der grauen Straßenfront im heißen Himmelslicht
-blitzen; wie allein sie stand, so mitten in der Großstadt. Die
-Kupfertapete des Zimmers kam ihm immer schwüler vor. Ja, er mußte mal
-wieder hinaus in den Wald! zum Vater Förster! Richtig: morgen, zu
-Mutters Geburtstag! Den hätt er beinah wieder vergessen.</p>
-
-<p>Gott ja, das Elternhaus &mdash;: am Eichenhain, am Pappelbach, rings weit
-am Waldrand hin das freie Feld, die hellen Wiesen, und fern am andern
-Horizont die kleine Ackerbürgerstadt mit dem kümmerlichen alten
-Kirchturm, dem gelbgetünchten Schulhaus &mdash;: Kindheit.</p>
-
-<p>Er setzte sich. Der Alte, der natürlich würde wieder tun wie Rübezahl:
-als ob der unverhoffte Eintritt seines Ältesten ihm höchstens seinen
-grimmigen Bart verwirren könne. Blos die stahlblauen Augen würden
-plötzlich etwas dunkler schimmern unter den silbrigen Brauen,
-die kleinen scharfen Pupillen eine Sekunde lang größer sein, die
-Backenfurchen um die mächtige Nase ein bißchen tiefer werden: „Na,
-Junge?“</p>
-
-<p>Er hatte doch wahrhaftig noch immer etwas wie Gewissensangst vor
-diesem wetterroten Gesicht mit dem dichten, fast schon weißen Bart
-und Kopfhaar, dieser Hakennase und dem strengen, forschenden Blick,
-der zuweilen doch so herzlustig blitzen konnte. So hatte er als Kind
-sich immer den lieben Gott gedacht; geträumt. Damals wohl aber noch
-dunkelbärtig.</p>
-
-<p>Die dicken Falten um die Nasenwurzel, ja und die schroff geschwungene
-Stirn, die hatte er vom Vater; nur die Augen, die waren wohl mehr nach
-der Mutter geschnitten, auch mehr grau als blau, mehr Stimmung als
-Wille. „Du bist wohl wunderlich, Jung?“ das war von je ihr herbster
-Tadel gewesen; sie verstand jeden Menschen mit ihrer Nachsicht. Du
-liebes Mutterherz: morgen!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>O, wie würde ihre ganze schlanke Gestalt von warmer<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> Liebe zittern,
-von fast ängstlicher Freude, bis hinauf ins wellenkrause Schläfenhaar,
-die grauen Augen, die vielen Runzeln der feinen Züge, all die kleinen
-Sorgenfältchen um den hagern Mund, die Runen der Mutterschaft. Ja, sie
-war immer noch schön, die alte Mutter; aber ihr Schönstes doch die
-gütigen Lippen, so umstrahlt von Runzel an Runzel. Das war ihm immer
-wie der Ausdruck ihres ganzen zärtlichen Lebens; als zuckte in diesen
-vielen Fältchen tiefrot ihr verschwiegenes Herz, wie um den feinen
-Purpursaum am Stempelkrönchen der Narzissenblüte der keusche Geruch der
-gelblichen Narbenfalten.</p>
-
-<p>Denn Narzissen, ja, das waren ihre Lieblingsblumen. O, wie sie die zu
-pflanzen wußte! Nur einzeln durften sie stehen, hin und wieder, die
-reinen, weißen, ruhigen Sterne über dem grünen Gartenrasen, daß die
-zarte bräunliche Kelchblatthülle oben um den schlanken Stengel deutlich
-sichtbar war an jeder, wie ein langer dänischer Handschuh um den Arm
-einer adligen Dame. Ja, sie verstand die ganze Welt.</p>
-
-<p>Und morgen würde er sie küssen, und sie würde ihren wunderlichen Jungen
-auch verstehen, wenn er dann allein hinaus ins Freie ginge, irgendwo
-an eine Wald-Ecke hin, wo der schattenschaukelnde Wind durch ein
-Lupinenfeld herüberstriche. Wie er ihn schon roch, den süßen Geruch
-der tausend goldgelben Blütenkerzen, so am Rand des sammtgrüngrauen
-Fingerblättermeeres liegend, mit der heißblauen Himmelsglocke drüber;
-&mdash; warum war er blos Jurist geworden?!</p>
-
-<p>Dieser Dummejungentick. Blos um dem Alten zu zeigen, daß er seine
-paar Groschen nicht nötig habe, auch zum teuersten Studium nicht. Und
-nun &mdash; nun war er Rechtsanwalt: Er mit seinem Achselzucken über alles
-sogenannte Recht. Er würde doch noch Schriftsteller werden. Hol der
-Teufel die Kundschaft!</p>
-
-<p>Aber Weib und Kind? Und dann würde der Alte von neuem über verrückte
-Projekte reden und die Mutter wieder<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> Gram auf ihre alten Tage haben;
-sie sah ihn ohnehin schon immer mit der stillen Scheu des Mitgefühls
-bei seinen Besuchen an.</p>
-
-<p>Nun, morgen würde er die Kleine mitnehmen. Sie war jetzt Mensch genug,
-ihn zu begleiten; und dann würde eitel Innigkeit und Einigkeit im
-Forsthaus herrschen, wie neulich zu Ostern, als seine Frau ihn mit
-der Kleinen begleitet hatte. Dann würden die Eltern sich mehr als
-Großeltern fühlen und an den Sohn nicht soviel Fragen stellen, soviel
-verfängliche Lebensfragen.</p>
-
-<p>Er erhob sich und öffnete die Tür. „Recha!“ rief er über den Flur. Dann
-setzte er sich zurück an den Schreibtisch und nahm ein Aktenstück zur
-Hand.</p>
-
-<p>„Erich?“ trat sie fragend ein, die Finger auf der Klinke lassend.</p>
-
-<p>Er blickte auf. „Wo ist die Kleine?“</p>
-
-<p>„Spielen gegangen; sie muß bald wiederkommen.“ Sie drückte die Klinke
-fest; es klang, als ob sie etwas von ihm wollte.</p>
-
-<p>Er schob sich wieder vor den Aktenstoß. Wie schön es ihm noch immer
-war, dies edelsemitische Nasenprofil, zu dem die braune Flechtenkrone
-um die Stirn so königlich paßte, daß die kleine Gestalt dadurch größer
-schien. Er liebte sie <em class="gesperrt">doch</em> wohl noch. Also Vorsicht! Jetzt trat
-sie hinter seinen Stuhl.</p>
-
-<p>„Du! Erich!“</p>
-
-<p>„Hm?“</p>
-
-<p>„Ich muß dir etwas sagen. Ich habe gestern eine Rute gekauft.“</p>
-
-<p>„So?“</p>
-
-<p>„Ja. Es ging nicht mehr anders. Wirklich: sie wird mir gar zu unnütz.“</p>
-
-<p>„Detta oder die Rute?“</p>
-
-<p>„Nein du, wirklich, es ist mir ernst.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span></p>
-
-<p>„Mir auch!“ Er drehte sich um nach ihr. „Übrigens möchte ich morgen zu
-den Eltern fahren und die Kleine mal allein mitnehmen; mach mir, bitte,
-den Rucksack zurecht.“ Sie nickte. „Aber bitte, nur das Nötigste; auf
-zwei Tage blos.“ Sie nickte wieder. „Und &mdash; na aber, was hast du denn?“
-Sie kämpfte mit Tränen.</p>
-
-<p>„Erich!“ Sie bezwang sich. Nur das linke Auge kämpfte noch. Er zog sie
-an sich.</p>
-
-<p>„Sieh mal, Herze, verzeih! Aber wirklich: was sollt ich wohl erwidern?
-Du kennst doch meine Ansicht! Kinder sind doch keine jungen Affen;
-wenigstens dann nicht mehr, wenn die beliebte Prügeldressur beginnen
-soll. Du nennst die Detta bockig, und wer weiß was alles, weil &mdash;: blos
-weil sie jetzt im dritten Jahr ist. Wenn sie im zwanzigsten sein wird,
-wirst du das Charakter an ihr nennen.“</p>
-
-<p>„Aber &mdash;“</p>
-
-<p>„Nein; genug jetzt, bitte. Ich wäre heute auch was Bessers, hätte mich
-der Hundekantschu meines Alten nicht immer eigensinniger gemacht. Bring
-ihr Pflichtgefühle bei, soviel du willst; aber nicht mit Schlägen,
-muß ich bitten.“ Er wies auf seinen Bücherschrank: „Da! lies was über
-Suggestion! Du hast doch deinen bewußten Willen.“ Um ihre Mundwinkel
-huschte etwas wie ein feines Lächeln. Aha! sie dachte an den Hahnrei
-des Bewußtseins; dieser verdammte Pole! &mdash; „Die Rute jedenfalls verbitt
-ich mir.“ Beinahe hätte er nach dem Ofen gezeigt.</p>
-
-<p>„Du scheinst auf meinen bewußten Willen grade nicht viel Wert zu legen.“</p>
-
-<p>Er ließ sie los. „Schockschwerenot! nun werde gar noch empfindlich!“</p>
-
-<p>„Nun, nun“ &mdash; begütigte sie sogleich; und wieder dies huschende Lächeln.</p>
-
-<p>„Na, was lachst du denn in einem fort!“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span></p>
-
-<p>„Ich?“ Sie sah ihn groß und ruhig an.</p>
-
-<p>Da flog die Tür auf. „Hater! ich habe beide Hände voll Sonne!“ kam das
-Ungestümchen hereingewirbelt. Wie ihr die blonden Lockenfäden um die
-heißdunkeln Augen hingen! und um das merkwürdige Trotznäschen! „Sieh
-mal, Mutter!“ öffnete sie die Fäustchen.</p>
-
-<p>„Willst du morgen mit Hater zu Ovater fahren?“ fragte die Mutter.</p>
-
-<p>„Nein!“ fuhr das Näschen in die Höh.</p>
-
-<p>„Aber Ovater wird sich so freuen, und die liebe Omama!“</p>
-
-<p>„Großmutter!“ betonte er.</p>
-
-<p>„Nein!“ stampfte das Beinchen.</p>
-
-<p>„Na, dann bleib nur hier“ &mdash; er nahm sacht ihre Händchen und strich
-langsam jeden Finger gerade. „Dann wird Vater ganz allein die große
-schwarze Juno bellen hören &mdash; wau-wau-wau“ &mdash; er fixierte sie &mdash;
-„und die bunten Tuckehühnchen spielen sehen“ &mdash; er ließ die Händchen
-plötzlich frei &mdash; „tuck-tuck-tuck, ücke-rü-üh! &mdash; Und &mdash;“</p>
-
-<p>„Große Muhkuh! Detta <em class="gesperrt">doch</em> mit!“ hob sie hüpfend die Ärmchen aus
-einander. „Tuck-tuck-tuck, sehr lieb“ &mdash; jubilierte sie und umschlang
-die Kniee der Mutter.</p>
-
-<p>Die nickte ihm zu, verständniswillig. Blos: schon wieder dies unbewußte
-Mundwinkelzucken!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="s4 center mtop1 mbot1">*</p>
-
-<p>Der schwerfällige Post-Omnibus rumpelte aber wirklich etwas sehr
-vorsintflutlich. Und die holprige Landstraße hätte auch wohl längst
-eine neue Schüttung vertragen können. So konnte man ja seekrank werden
-auf den zersessenen Sprungfedern.</p>
-
-<p>Er reckte sich und wollte den Hut aus der Stirn schieben. Aber die
-heiße Vormittagssonne stach grad an dem schlafenden Kutscher vorbei
-prall in den offenen Vordersitz; das Braunrot des verschossenen
-Polsterplüsches schweelte schon beinah wie<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> versengt. „Schweiß und
-Staub &mdash; Schweiß und Staub“ &mdash; hörte er die beiden Gäule ihren
-gewohnten Klappertrab traben. Die jungen Rüstern an der sandigen
-Straßenkante sahen aus, als bedürften sie vor Hitze selbst des
-Schattens.</p>
-
-<p>„Hater“ &mdash; und sinnend zeigte die Kleine auf den nickenden Fuhrmann vor
-sich &mdash; „ßpielt die Feitße mit dem Wind?“ Die Peitsche wippte in der
-Hand des Schlafenden im Takt der Gäule hin und her; die Zügel in der
-andern Hand mußten wohl die Bewegung vermitteln.</p>
-
-<p>„Nein, mein Kind, der Wind ist weggegangen von der Peitsche.“</p>
-
-<p>„Wo ist denn der Wind?“</p>
-
-<p>„Schlafen gegangen.“</p>
-
-<p>„&mdash; ßlafen gangen?“</p>
-
-<p>„Ja“&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Wo ßläft er denn?“ Herrgott, dies ewige Gefrage!</p>
-
-<p>„Er schläft!“ Sie war doch wirklich ein unglaublicher Quirl.</p>
-
-<p>„Er ßläft?“</p>
-
-<p>„Ja!“</p>
-
-<p>„Wo denn?“</p>
-
-<p>„Auf den Wolken.“</p>
-
-<p>„Wolken?“ fragte sie zögernder.</p>
-
-<p>„Ja“ &mdash; sagte er kleinlaut und blickte weg; kein einziges Wölkchen
-stand am Himmel.</p>
-
-<p>„Wo denn aber?“ fragte sie ebenso kleinlaut.</p>
-
-<p>Er schwieg.</p>
-
-<p>Wie sie ihn schon in der Eisenbahn mit ihrer Neugier fortwährend
-gepeinigt hatte! Na, Gott sei Dank: jetzt schien sie auch mit
-einzuschlafen. „Schwarzer, Brauner“ &mdash; „Schwarzer, Brauner“ &mdash; hörte er
-wieder den Trott der Gäule. Jetzt war sie schon im Nicken. Die Peitsche
-hatte sie wohl eingewiegt.</p>
-
-<p>Er dachte an gestern. Es mochte doch wohl nicht ganz<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span> leicht sein,
-sie immer und immer um sich zu haben. Wie seine Mutter wohl mit ihr
-auskommen würde? „Du wunderlicher Jung’!“</p>
-
-<p>Eigentlich könnte er den Sonnenschirm aufspannen, den ihm Recha
-gestern als Geburtstagsgeschenk schon in Bereitschaft gehalten hatte;
-in manchem war sie doch sehr vorbedacht. Er langte nach dem sorgsam
-eingehüllten Ding. Aber der Staub, der würde es unsauber machen. Es
-war doch schließlich ein Geschenk für die Mutter! Das nimmt man doch
-nicht in Gebrauch vorher. Ach Torheit: kindische Rührgefühle! Nein,
-Ehrfurcht: der Geburtstag der Mutter!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ob seine Geschwister das heute wohl auch so fühlten? verstreut in der
-Fremde, geboren aus Einem Schooß, der heute vor Jahren und Jahrzehnten
-in andrer Fremde geboren worden. Schooß aus Schooß &mdash; er blickte sein
-Kind an &mdash;: und Schößling neben Schößling. Er sah die nahen jungen
-Bäumchen an der Straßenkante vorüberschwinden, jedes ewig den andern
-fern. Er sah sie in der Ferne der Alleeflucht eng zusammenrücken, immer
-enger; sie führten in die Heimat &mdash; von ihr her &mdash; fort, fort von ihr
-&mdash; o Elternhaus!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ja, so von ferne, jetzt: wie dehnte sich sein Herz den alten Eltern
-entgegen! Und dann, wie hob’s ihm die Arme hoch, hin um ihren Hals,
-im ersten Augenblick des Wiedersehens; immer noch. Dann war er ganz
-ihr Kind, ihr Blut, Leben von ihrem Leben, hingegeben, unbewußt, wie
-ans Herz der Natur. Er sah sich schon kopfbückend in die kleine Stube
-treten, durch die niedrige Tür, sah Lindenzweige an die Fensterscheiben
-tippen, sah die zwei blanken Schränke aus Birkenholz, die Gewehre und
-Rehgehörne, das wohlig grüne Schattenlicht.</p>
-
-<p>Doch dann &mdash; dann trat auch schon das andre Leben mit ihm ein und
-zwischen sie: das mit den Zweckfragen, die der Mensch sich stellt, der
-Mensch im Gegensatz zur Natur und also auch zum Mitgeschöpf, zu jedem
-Allernächsten grade: das Leben des<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> umgestaltenden Geistes, der bewußt
-gewordene Wille zur Zukunft, der ewige Kampf um neue Kultur.</p>
-
-<p>Dann war er nicht mehr Kind, sie nicht mehr Eltern; dann war er ein
-Junger, sie noch die Alten. Dann war die liebe Muttersprache &mdash; o
-heiliges Wort dem Fühlenden &mdash; kein Verständigungswerkzeug mehr:
-dasselbe wohlgemeinte Wort, es hatte ihnen anderen Sinn als ihm,
-so sehr er in kindlicher Scheu sich mühte, den steten Zwiespalt zu
-verhehlen. Dann war die schattenkühle stille Stube schon manchmal recht
-schwül und drückend gewesen.</p>
-
-<p>Ob ihm das wohl mit seinem Kinde auch einmal so gehen würde? &mdash;
-Fernliebe?! &mdash; Entzückend, wie sie da ahnungslos schlief, im Schatten
-des schlafenden Kutschers; und heute würde sicherlich <em class="gesperrt">sie</em>
-jedweden Zwiespalt überbrücken. Einst aber? &mdash; Ach was! wenns
-<em class="gesperrt">ihr</em> mal paßte, seinethalben mochte sie Seiltänzerin werden!</p>
-
-<p>Er sah die Zügelleinen in der Hand des Fahrenden schaukelnd auf den
-Schenkeln der trabenden Klepper hüpfen. Auf ihren Rücken, um die
-schwitzenden Flanken, tanzte das Sonnenlicht hin und her, in großen
-spiegelblanken Flecken; es war doch unerträglich heiß. Die drei
-Messingringe aus den Kumten wippten blitzend auf und nieder mit dem
-Schulterriemzeug &mdash; auf und nieder &mdash; in Schweiß und Staub; &mdash; er sah
-nach der Uhr. Halbzwölf erst; noch eine Stunde so.</p>
-
-<p>Er horchte wieder auf den Takt der Hufe: Schwarzer, Brauner &mdash; auf
-und nieder &mdash; auf und nieder, Schweiß und Staub. Ah, jetzt: vorn vor
-den müden Pferdehälsen kam wenigstens das Dorf schon hoch, wo immer
-angehalten wurde. Da gab es was zu trinken. Und zu rauchen. Zigarren
-vergessen! Er gähnte und lehnte sich zurück; noch fünf Minuten.</p>
-
-<p>Das Geschaukel der Pferdeschenkel wurde immer sonderbarer; förmlich
-arabeskenhaft schwankten die Spiegelwellen der Flanken. Er schloß halb
-die Augen; das tat ihm wohl. Wie<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> er alldas bewußt genoß! &mdash; Am Kumt
-die Ringe zuckten glitzernd auf und nieder zu ihm her, wie drei große
-blendende Sterne; auf und nieder &mdash; Schwarzer, Brauner &mdash; Schwarzer,
-Brauner, Weiß und Staub.</p>
-
-<p>Er schloß die Augen etwas fester. Die Sterne blitzten immer weißer. Auf
-und nieder; weiß und taub.</p>
-
-<p>Nein, das war wohl nicht das rechte Wort; es war wohl Gelb. Ja, Gelb.
-Süßer gelber Lupinengeruch; so wohlig kühl. Es mußte wohl ein Feld wo
-sein; Lupinenfeld. Das hatte er wohl übersehen vorhin.</p>
-
-<p>Nein, es war wohl doch nicht gelb. Denn es waren ja Narzissen. Ja,
-Narzissen. Nein, er träumte wohl; nein, nicht! Denn es waren ja drei
-große, deutliche Narzissensterne &mdash; blendend weiß &mdash; nein fünf &mdash; nein
-sieben; sieben weiße Strahlenblüten.</p>
-
-<p>Sieben nickende Narzissen; mit purpurgoldnem Krönchen jede. Sieben
-schlanke Edeldamen, mit wellenkrausen Schläfenhaaren. O, wie schön!
-Jede mit so grauen Augen; Mutteraugen. Jede hatte um die zarten Arme
-lange dänische Handschuh’ an; gelbe.</p>
-
-<p>Und verbeugten sich vor ihm, eine nach der andern, mit den weißen
-Strahlenhüten. Jede bis zur siebenten. Die hielt einen Spiegel; hatte
-dunkle Augen, dunkelbraune.</p>
-
-<p>Trat die erste vor; sagte ihm ein Wort. Und das war ihr Name, und den
-hatte er schon gehört; nur besinnen konnt er sich nicht drauf. Sagte
-auch die zweite ihren Namen; auch die dritte. Schlossen alle mit der
-Silbe „sinn“, nein „sein“ &mdash; Sinn, Sein &mdash; auch die vierte, fünfte,
-sechste; und die purpurgoldnen Krönchen nickten. Nur die siebente war
-stumm; war blaß; hielt ihm nur den Spiegel hin. Der war blind. Und sie
-schüttelte den Kopf; und ihr linkes Auge blickte traurig.</p>
-
-<p>Nein, das war doch gar zu lustig: wie ihr Purpurkrönchen wackelte. Denn
-das war ja gar kein Krönchen: war ein dicker<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span> roter Hahnenkamm, wippte
-in der Sonne. War ein ganzer Hahnenkopf &mdash; dicker bunter Hahnenhals &mdash;
-der blähte sich. Schlug mit beiden Flügeln funkelnd durch die Luft &mdash;
-rief ganz laut und deutlich: ücke-rüh-ü-üh!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Er riß die Augen auf. Wahrhaftig: eben stieß der Omnibus mit härterem
-Gerumpel auf die ersten Pflastersteine der Dorfstraße, und drüben auf
-dem einen Hofzaun reckte sich der Hahn und krähte zum zweiten Mal. Der
-alte Fuhrknecht hob das Stoppelkinn: „jüh, Rackers!“ mit den Zügeln auf
-die schweißbeglänzten Pferdeschenkel klatschend. Auch die Kleine wurde
-langsam munter.</p>
-
-<p>Was der Traum wohl zu bedeuten hatte? Ach, bedeuten: Unsinn! Aber wie
-er wohl entstanden war?</p>
-
-<p>Sollte &mdash;: Hahnrei des Bewußtseins? &mdash; Hm...</p>
-
-<p>Das Wort des Polen war ihm doch wohl tiefer gegangen, als er damals
-dachte.</p>
-
-<p class="s4 center mtop1 mbot1">*</p>
-
-<p>Die Abendsonne schien sich heute förmlich zu krümmen, wie vor Durst.
-Immer dicker wurde der kupferrote Ball, da hinter den Wasserdünsten
-des sumpfigen Sees am Horizont. Grade zwischen den zwei dicksten alten
-Pappelstämmen bei der kleinen Straßenbrücke drüben hing das dunkelrote
-Ungetüm im fernen Grau, dicht unter dem Zittersaum des schwarzgrünen
-Laubdaches.</p>
-
-<p>So groß und glanzlos hatte er sie niemals sinken sehen. Nur die breiten
-drei Brechungskeile, mit denen sie Wasser zog, wie die Leute hier
-sagten, standen stromhell wie aus Goldtopas geschliffen unter der
-purpurnen Kugel, zeigend daß sie noch Licht gab. Der Mittelkeil war nur
-ganz kurz noch; wie ein mächtiger Strahlensockel. Vor dem schwellenden
-Gelb der Seitenschrägen hoben sich die beiden Pappelstämme tiefschwarz
-ab mit ihren Borkenrändern. Das Laubdach wurde immer dunkelgrüner.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span></p>
-
-<p>„Wird morgen wieder schwere Hitze geben“, sagte der Alte und trat aus
-der Haustür zu ihm an den Gartenzaun. „Meine ganzen jungen Kiefern
-werden noch vertrocknen; schlimmes Jahr!“ Er zeigte mit der Pfeife
-in das Astwerk der Akazienkrone über ihnen: „Läßt schon Blätter
-fallen.“ Der Tabaksrauch berührte wirbelnd grade eine der verwelkten
-Blütentrauben.</p>
-
-<p>„Hast du neue Bienenstöcke, Vater?“</p>
-
-<p>„Einen blos“ &mdash; erwiderte der Alte und setzte sich auf die Bank
-am Zaun. Nun wies er schmunzelnd auf die Kleine, die an der hohen
-Haustürschwelle neben „Lotte Goldsnut“ hockte. Die Teckelhündin lag,
-platt alle Viere von sich, wie tot im warmen Sande, und die Kleine war
-eifrig bestrebt, zwischen die vier Zehen der krummen Vorderpfoten immer
-drei der abgefallenen Akazienblätter festzuklemmen. Immer wenn sie
-fertig war mit einer Pfote, streifte sich die Dachsmadam mit der andern
-die Blätter wieder ab, und das Spiel begann mit Ernst von neuem. Was
-die Recha nur wollte! die Kleine war ja unglaublich artig.</p>
-
-<p>Jetzt trat die Mutter aus der Tür, in jedem Arm behutsam eine flache
-Satte voll Dickmilch tragend. Er sprang ihr zur Hand. Wie sich all
-ihre Runzeln freuten, bis in die liebreichen Augen hinein, als er die
-eine Schüssel ihr abnahm und sie auf den Gartentisch setzte; richtige
-Geburtstagsaugen! Und zugleich wars wohl auch die Freude, wie ihrem
-Ältesten nachher die kühle Labung schmecken würde, so mit Streuzucker
-drüber und Schwarzbrotkrümeln. Wie die fette Sahne nach dem Eiskeller
-duftete! Orndtlich winterlich sah die weiche Pelzschicht aus.</p>
-
-<p>„Na, Alterchen?“ ließ sich Mutter hören, Vaters Schneehaar
-glattstreichend &mdash; „soll ich <em class="gesperrt">hier</em> decken oder unter der Linde?“</p>
-
-<p>„Lieber hier, Mutting,“ kam er dem Alten zuvor; „hier<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> sieht man die
-Abendsonne so schön.“ Die rote Scheibe stieß jetzt grade auf den
-Horizont der Landschaft; der Strahlenfächer war verschwunden.</p>
-
-<p>Der Alte griff sich in den Bart. Sicherlich knurrte er im stillen
-wieder: „Sentimentaler Krempel!“ Das war ein Lieblingstrumpf von ihm.</p>
-
-<p>„Die Lindenblüte riecht auch zu stark“, meinte mit rascher Abwehr die
-Mutter; „Abends manchmal ganz betäubend.“ Dann beugte sie sich zu der
-Kleinen nieder: „na, mein Lämmechen?“ strich ihr die Locken sanft aus
-der Stirn, sorglich nach dem Alten blickend, und ging wieder ins Haus.
-Lotte Goldsnut erhob sich.</p>
-
-<p>„Hat ’ne zarte Nase, unser Muttel“, brummte der Alte und griff
-gemächlich an sein eigenes Vorgebirge, eine dicke Wolke von sich
-paffend; „krigt’s schon mit den Nerven.“</p>
-
-<p>„Ovater“ &mdash; kam auf einmal die Kleine hinter der Teckelhündin
-herangependelt &mdash; „bist du der Weihnachtsmann?“</p>
-
-<p>„Woll, mein Mäuschen!“ und er nickte belustigt. Tief nachdenklich sah
-sie ein Weilchen auf die eine Schüssel hin, durch deren dunkelgrüne
-Glaswand der weiße Inhalt schimmerte. Dann ging sie wieder an die
-Schwelle, wo die verblichenen Akazienblätter auf dem sandigen Boden
-lagen.</p>
-
-<p>„Muß doch mal im Hofe nachsehn“ &mdash; sagte der Alte und stand auf &mdash; „ob
-die Juno etwa los ist; das Schindluder hat mir neulich einen von den
-jungen Hähnen abgewürgt.“ Er reckte sich. „Kann das Volk auch gleich in
-den Stall bringen.“ Er schritt ins Haus. Lotte Goldsnut wackelte ihm
-nach.</p>
-
-<p>Die Sonnenkugel war jetzt nur noch mit dem oberen Drittel sichtbar,
-wie das rote nackte Augenschild eines riesigen Birkhahns. Nun wurde
-sie verdunkelt, fast verdeckt, von dem strotzenden Euter der grauen
-Leitkuh, die eben mit der Heerde drüben von der nahen Weide kam. Um
-die schweren Bäuche stieg der Staub der Landstraße auf. Der lahme
-Spittelhirt des Städt<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span>chens hinkte barfuß hinterdrein. Durch das
-hohlere Getön der Brückenbohlen klang die Kupferglocke am Hals der
-Vorderkuh. Zum Brüllen war die Heerde wohl zu satt. Die Mäuler kauten
-noch.</p>
-
-<p>Nun war die Sonne blos noch ein fasriger Rand, wie ein glühender
-Wimpernbogen; das machten wohl die Binsen und das Röhricht in der
-Ferne. Man konnte fast mit den Augen verfolgen, wie sie Strich für
-Strich untertauchte. Er warf die ausgegangene Zigarre weg und stützte
-sich fester auf den Zaun. Jetzt verglomm der letzte Strich, grade
-oberhalb der einen Pappelsohle, wie hineingeschrumpft. Es wurde
-plötzlich etwas heller. Die fahle Dunstwand schien sich abzukühlen.
-Das dumpfe Rotgrau lockerte sich zart ins Grünliche. Durch die stummen
-Pappeln, von Haupt zu Haupt das Fließ entlang, wagte sich ein Lüftchen;
-noch beklommen. Jetzt: die trägen Blätter fingen an zu munkeln.</p>
-
-<p>Er fuhr auf: eine verspätete Biene, von der Linde her, vorbei zu
-Korbe. Ob sein Vater die Feierstunde der Natur auch so ins Einzelne
-mitfühlte? Mit so sinnlicher Andacht? Nein. Das war wohl Neugehirn.
-Neue Sinnlichkeit. Auch neue Wissenschaft.</p>
-
-<p>Aber doch: er hatte ihn einmal sagen hören: „Der Kiefernhochwald, aber
-Schnee muß liegen, das ist meine Kirche!“ Aber eben: Kirche: Unnatur!
-&mdash; Da, da drüben die Pappelblätter, oben an der höchsten Spitze, wie
-sie schwärzlich im blassen Luftblau hingen, jeder Rand von einem
-zarten, zitternden Flimmerschein umwirkt: wars nicht tief feierlich
-zu wissen, daß sich da jetzt von unten her die letzten scheidenden
-Sonnenstrahlen durch den Atemduft des warmen Laubes in der Abendkühle
-goldhell brachen.</p>
-
-<p>„Hater &mdash;“ fragte plötzlich die Kleine und schob sich bedächtig auf
-die Bank, ihr Schürzchen von sich haltend, das sie mit Akazienblättern
-vollgesammelt hatte &mdash; „sind die Bäume müde, Vater?“ Ihre Augen
-blickten, weit und träumerisch<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span> geöffnet, über den Tisch weg nach den
-Pappeln. „Wie die Menßen ’tehn sie da.“</p>
-
-<p>Er mußte nicken; wortlos. Wie die Menschen! O Kindermund.</p>
-
-<p>Das mußte er der Mutter sagen; das war ein Wort aus <em class="gesperrt">ihrem</em> Geist.
-Die Kleine saß immer noch träumerisch; leise trat er in den Hausflur.
-Und auch den Narzissentraum ihr sagen! Ja, und dem Alten helfen seine
-Hähne einsperren; das nahm er immer sehr hoch auf.</p>
-
-<p>Die Küche war offen. Die Mutter stand am Herd, eben einen Eierkuchen in
-der zischenden Pfanne wendend. Nein, das war nicht die rechte Stimmung;
-lieber morgen Vormittag im Garten. „Ah &mdash;“ sog er unwillkürlich den
-Geruch des brutzelnden Gebäckes ein.</p>
-
-<p>„Mein großer Junge!“ lachte sie und griff ihm liebkosend durch den
-Kinnbart. „Hast wohl schönen Hunger von dem langen Spaziergang?“</p>
-
-<p>„Wo die Juno blos stecken mag!“ wetterte der Alte, aus dem Hühnerhof
-in die Küche tretend; mit dem Helfen wars also auch nix. „Fängt auf
-ihre alten Tage zu jagen an; muß ihr mal ’ne Ladung Schrot aufsengen,
-Kantschu scheint nicht mehr zu ziehen.“ Er war ganz rot vor Ärger; wie
-seine Hähne. „Hast du sie nicht bemerkt Nachmittag?“</p>
-
-<p>„Nein, Vater.“</p>
-
-<p>„Konnt mirs denken“, ging das Sticheln los; „liegst ja immer gleich im
-Grase fest.“ Schwerenot, was ihn das wohl anging!</p>
-
-<p>„Fertig, Kinderchen“ &mdash; rief die Mutter und nahm das Gedeck zur Hand,
-ihm die Teller reichend.</p>
-
-<p>Gottseidank! atmete er auf, wieder hinaus ins Freie tretend; der Alte
-hinterdrein mit den Eierkuchen. Aber was war das? das war ja ’ne nette
-Bescherung! Auf dem Gartentisch, mitten drauf, saß sein Töchterlein,
-eifrig bestrebt, die sandigen Akazienblätter in verschiedenen schönen
-Kringeln auf dem<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span> weißen Sahnenpelz der dicken Milch zurechtzulegen;
-eben wollte sie die zweite Satte in Angriff nehmen.</p>
-
-<p>„I du Balg!“ Er besann sich; nur keinen Wutausbruch! Weswegen auch?
-eigentlich wars doch zum Lachen! Er nahm sich zusammen und sprach mit
-Nachdruck: „Das war aber unartig von dir!“</p>
-
-<p>Sie sah ihn groß von der Seite an. „Das war darnicht una’tig von mir!“</p>
-
-<p>„Kiek!“ machte der Alte in der Haustür, und der Kobold stach aus den
-stahlblauen Augen.</p>
-
-<p>Wollte er ihn vielleicht gar foppen? Na warte! Er stellte die Teller
-hin. „Komm mal runter!“ sprach er und trat vor sein Kind.</p>
-
-<p>„Nein!“ stemmte sie die Arme auf. I zum Donner, da sollte doch gleich&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Kiek!“ kams abermals von der Haustür her; „Respekt scheint sie nicht
-viel zu haben.“</p>
-
-<p>„Braucht sie auch nicht! Verlange ich nicht! Ich schlage meine Kinder
-nicht!“ Verdammt: wie war das aus ihm herausgeplatzt? Hätt er das Balg
-blos nicht mitgebracht!</p>
-
-<p>„Nna“, knurrte der Alte mit Seelenruhe: „die Köter fressen ja dicke
-Milch auch ganz gern. Komm, Lotte“ &mdash; pfiff er der Dachshündin, die
-sich eben durch den Zaun schlängelte. Was war der Jöhre blos aus einmal
-so hinterrücks in den Kopf gekrochen?!</p>
-
-<p>„Komm mal her, mein Schäfchen,“ legte sich jetzt die Mutter ins Mittel
-und lächelte. Der Alte streichelte die Hündin, die bereits in der
-fetten Sahne schleckte. „Komm, mein Schäfchen; komm her zu mir.“</p>
-
-<p>„Will aber nich!“ bockte sie erst recht, die Finger um den Tischrand
-klammernd. Jetzt riß ihm aber bald die Geduld!</p>
-
-<p>„Na, Herzchen,“ lockte die Mutter wieder: „wirst doch nicht wieder
-wunderlich sein?“</p>
-
-<p>Ah: am Nachmittag also <em class="gesperrt">auch</em> schon?! Was sollte der Alte denn von
-ihm denken!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span></p>
-
-<p>„Vater haut nich“ &mdash; stemmte sie sich noch fester.</p>
-
-<p>Teufel, das war denn doch zu bunt! „Willst du jetzt gleich
-herunterkommen?!“</p>
-
-<p>„Nein!“</p>
-
-<p>„Detta?!“</p>
-
-<p>„Nein!“</p>
-
-<p>Wie sie festhielt! Warte, Kröte! Strampelst noch? Und mit den Beinen
-stoßen? &mdash; „<em class="gesperrt">Laß</em>, Mutter! <em class="gesperrt">laß</em> mich!“ schrie er wütend. Und
-wie das blanke Fleisch sich wand! Wie’s klatschte! Wie die Hand ihm
-brannte! Wie der Racker brüllte! Warte, Satan!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>„Na, na! so grob gleich?“ hörte er plötzlich den Alten; wie aus einem
-Nebel her.</p>
-
-<p>„Kanalje!“ keuchte er &mdash; „marsch!“ und besann sich. Ganz knallrot, ja,
-war das Fleisch gewesen; knallrot wie ein Hahnenkamm. Und &mdash; Hahnrei
-des Bewußtseins! schoß ihm das Blut in die Schläfen; verdammt ja, wie
-eine Ohrfeige.</p>
-
-<p>Hatte sie’s verdient? fragte etwas in ihm. Sie stand muckstill, mit den
-Tränen kämpfend. Was würde Recha sagen? Er schämte sich.</p>
-
-<p>„Hab sie Nachmittag auch schon mal striegeln müssen,“ kams wieder von
-der Haustür her. Kreuzdonner &mdash; „Na, entschuldige nur! Blos mit der
-Rute ein bißchen auf die Finger.“</p>
-
-<p>So &mdash;: <em class="gesperrt">deswegen</em> also „Weihnachtsmann“?! und <em class="gesperrt">darum</em> war sie
-vorhin so sonderbar artig?! &mdash; Er konnte nicht anders, er mußte lachen.
-Und auf einmal lachten sie alle zusammen.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Der_Werwolf">Der Werwolf</h3>
-
-<p class="center">Erzählung</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">An einem sehr nebligen Oktober-Abend sprach sich in dem entlegensten
-Vorort einer norddeutschen großen Handelsstadt die unheimliche Kunde
-herum, der Apotheker des Ortes sei auf<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> der Eisenbahn während der
-Rückfahrt aus der Stadt von einem Raubmörder erschossen worden.
-Es war das ungefähr um dieselbe Zeit, als in einem Vorort der
-deutschen Reichshauptstadt Berlin ein aus dem Zuchthaus entlassener
-Schustergeselle die ganze zeitunglesende Menschheit zu unvergeßlichem
-Gelächter bewegte, indem er kraft einer abgetragenen preußischen
-Offiziersuniform nebst dazu passender Körperhaltung den versammelten
-Magistratspersonen die hirnberückende Vorstellung eingab &mdash; oder,
-wie die gebildeten Deutschen sich damals ausdrückten, suggerierte
-&mdash; er solle auf allerhöchsteignen Befehl Seiner Majestät des
-Kaisers den obrigkeitlichen Geldschrank ausräumen. Auch in jener
-norddeutschen Villenkolonie war über den musterhaften Gaunerstreich
-dieses sogenannten Hauptmanns von Köpenick, bei aller damals üblichen
-Ehrfurcht vor der Würde und Weisheit der Staatsvertreter, noch
-am Tage des Mordes reichlich gelacht worden; nun aber geriet die
-Einwohnerschaft, die größtenteils aus begüterten Kaufleuten und
-gutgestellten Beamten bestand, in eine zunehmende Ernsthaftigkeit.
-Fast alle mußten sie täglich zur Stadt fahren, um ihren Geschäften
-nachzugehen; jeder von ihnen sagte sich also, es hätte ihm nach
-erfüllter Berufspflicht, während er als gebildeter Bürger eines
-gesitteten Staatswesens auf dem besteuerten Bahnwagenpolster
-in den wohlverdienten Genuß einer Zeitung oder eines kleinen
-Schlummers versunken saß, genau desgleichen ergehen können wie
-dem bemitleidenswerten Apotheker, ja es könnte vielleicht sogar
-noch geschehen. Denn der Gemordete wurde begraben, ohne daß von
-dem Raubmörder auch nur die geringste Spur entdeckt war; und
-wochenlang setzten die städtischen Waffenhändler erstaunliche
-Mengen von Taschenrevolvern, Stockdegen, Schlagringen und andern
-Verteidigungswerkzeugen an die erregte Bevölkerung der sämtlichen
-umliegenden Ortschaften ab, während zugleich bei der Bahnverwaltung die
-verschiedensten dringlichen Sicherheitsvorschläge<span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span> zum Umbau des ganzen
-Wagenparks einliefen, und bei der Polizeidirektion die mannigfachsten
-Verdachtsanzeigen, die immer weniger zur Ergreifung des Mörders und
-immer mehr zur Erregung der Bürgerschaft beitrugen.</p>
-
-<p>Es ließ sich einstweilen nur ermitteln, daß auf der Böschung der
-Vorortbahn unweit der letzten Haltestelle ein alter Kavallerie-Revolver
-mit zwei abgeschossenen, zwei noch geladenen und zwei ungeladenen
-Patronenkammern die Mordtat sowohl wie die Flucht des Täters
-hinlänglich bezeichnete; auch fanden die Untersuchungsbeamten
-in nächster Nähe des Mordwerkzeuges die goldene Uhr und Kette
-des Apothekers, und in dem Bahnwagen hatte bei dem Gemordeten
-seine entleerte Banknotentasche blutbefleckt auf dem Polster
-gelegen. Augenscheinlich also war der Verbrecher nach der planvoll
-durchgeführten Beraubung während der Fahrt aus dem Wagen gesprungen,
-hatte die Tür wieder zugeschlagen, den Revolver im Sprunge fallen
-gelassen und dabei in der Hast auch die Uhr verloren; oder er
-hatte Uhr wie Revolver, um sich nicht später dadurch zu verraten,
-absichtlich sofort aus der Hand geworfen. Eine Fußspur war aus dem
-Graswuchs der Böschung nirgends zu erkennen gewesen, und in dem
-dichten Nebel konnte der Täter sehr leicht noch an demselben Abend
-nach dem Hafen der Handelsstadt auf offener Straße entkommen sein,
-hatte sich erst wohl unterwegs an irgend einem Feldteich gesäubert
-und war dann vermutlich mit falschen Papieren auf einem der vielen
-Auslandschiffe als Kohlenschipper oder dergleichen schon nächster Tage
-in See gegangen. Die meisten Umwohner wollten freilich aus allerlei
-Meldungen entnehmen, er streife noch heimlich im Lande herum; und
-da der massenhafte Vertrieb von Taschenwaffen jeder Art natürlich
-etliche freche Burschen zu neuen Gewalttaten anreizte, so schob sie
-der allgemeine Argwohn immer wieder auf den entschlüpften Raubmörder,
-obgleich diese ungeübten Gelegenheitsräuber stets bald der Polizei
-in die Hände fielen.<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span> Im übrigen blieben alle Nachforschungen, auch
-Zeitungsaufrufe und Säulenanschläge, ob irgendwer im deutschen Reich
-einen alten Kavallerie-Revolver kürzlich an irgendwen verkauft habe,
-trotz ausgesetzter Belohnung erfolglos; man mußte leider den Schluß
-ziehen, daß der Verbrecher die Waffe wohl schon in seiner militärischen
-Dienstzeit irgendwie beiseite gebracht und für seine spätere Laufbahn
-aufbewahrt hatte.</p>
-
-<p>Was die Bevölkerung ganz besonders erregte, war der sehr viel
-Gesprächsstoff bietende Umstand, daß der erschossene Apotheker,
-trotzdem ihm der eine Schuß die Schläfe durchbohrt, der andre die
-Schädeldecke zerschlagen hatte, noch lebend, wenn auch bereits
-bewußtlos in dem Bahnwagen aufgefunden ward. Die ärztliche Leichenschau
-ergab, daß die Bewußtlosigkeit wahrscheinlich erst einige Minuten
-nach der Verwundung unter heftigen Schmerzen eingetreten war; und
-jedermann suchte sich nun zu vergegenwärtigen, was für Gedanken dem
-Unglückseligen in seinen letzten Augenblicken durch das zerfetzte
-Gehirn gestürmt sein mochten. Dies umso angelegentlicher, als der
-Entseelte bei Lebzeiten in der Ausübung seines Berufes fast jedem
-einzigen Ortsinsassen mehr oder minder nahe gekommen und auch
-als Persönlichkeit weit beliebt war: ein sanfter, schmiegsamer,
-schlanker Herr mit einem blonden Christuskopf und &mdash; was bei seiner
-Aufgeklärtheit manchem verwunderlich erschien &mdash; von förmlich
-gottgläubiger Frömmigkeit. So legten denn alle Nachdenklichen sich
-selbst und Andern die Frage vor, wie wohl das Gottvertrauen des
-Apothekers die letzte kurze Bewußtseinsfrist nach dieser gräßlichen
-Lebenserfahrung innerst bestanden haben möge, zumal da bekannt geworden
-war, daß die Witwe beim ersten Anblick des Toten nur die verzweifelten
-Worte herausgebracht hatte: „es gibt keinen Gott, es gibt keinen
-Gott!“ Auch daß sie den ziemlich hohen Betrag von 150000 Mark, auf
-den der knapp vierzigjährige Mann erst unlängst sein Leben versichert
-hatte, und welchen ihr die Versicherungsgesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span> unverzüglich
-überwies, mit keinerlei Regung des Trostes entgegennahm, sondern
-vor Schluchzen kaum zu quittieren vermochte, gab der gemütvollen
-Bürgerschaft zu vielen teilnehmenden Reden Anlaß. Das menschliche
-Mitgefühl der Bevölkerung erstreckte sich so weit in die Runde, daß der
-Friedhofsgärtner nach der Beerdigung reichliche vierzehn Tage brauchte,
-um die Gräber und Beete wieder zurecht zu machen, die unter dem nicht
-zu hemmenden Andrang von Leidtragenden jeden Alters und Standes,
-einheimischen und auswärtigen, zertreten oder zerrauft worden waren.
-Und noch mehrere Wochen nach dem Ereignis konnte man in der ganzen
-Gegend keiner gebildeten Unterhaltung beiwohnen, die nicht schließlich
-zu der Erörterung führte, ob dem verewigten Apotheker, falls es ein
-Fortleben über das Grab hinaus gäbe, die Nichtentdeckung seines
-irdischen Mörders als ein völlig sachgemäßes Verfahren der himmlischen
-Gerechtigkeit einleuchten würde.</p>
-
-<p>Da geschah es an einem schönen Nachmittag, daß ein Gemüsehändler
-des Ortes, der seine Mistbeete für den Winter herrichtete, durch
-eine Gartenhecke hindurch ein sonderbares Gespräch mit anhörte, das
-zwischen dem Eigentümer des Nachbarhäuschens und dessen einzigem
-Freunde stattfand. Dieser Nachbar war allen Leuten ein Rätsel. Als
-früherer Eisenbahnschaffner hatte er infolge einer Zugentgleisung eine
-leichte Kopfverletzung erlitten, von der ihm, wenn sein Gebaren nicht
-trog, eine dauernde Geistesstörung verblieben war, zwar keine richtig
-irrsinnige, aber die ihn nach Meinung der Ärzte doch dienstunfähig
-erscheinen ließ; und so hatte er vor Gericht erlangt, daß ihm die
-Bahnverwaltung den Abschied nebst angemessenem Sühnegeld und &mdash; bis
-sein Geist vielleicht wieder dienstfähig würde &mdash; auch Ruhegehalt
-bewilligen mußte. Nun tat er von Morgens bis Abends nichts weiter,
-als daß er vor seinem dürftigen Häuschen, für dessen Erwerbung das
-Sühnegeld draufgegangen war, in verbiesterter Weise hin und her<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span>
-schritt. Zu jeder Tages- und Jahreszeit, bei schlechter wie guter
-Witterung, marschierte er da in dem schmalen Raum zwischen Hauswand
-und Straßenhecke wie ein Wolf im Käfig auf und ab, mit verwildertem
-buschigem rotbraunem Bart, beide Fäuste in die Taschen vergraben,
-die Mütze tief ins Gesicht gedrückt und scheu die Vorübergehenden
-musternd, manchmal mit mißtrauisch zugekniffenen, manchmal mit
-feindselig aufgerissenen Augen; sodaß die Leute im Ort schließlich
-sagten, wenn er nicht wirklich geisteskrank sei, müsse er es bei
-dieser Art Übung allmählich bis zur Vollkommenheit lernen. Außer zu
-seinen Mahlzeiten und sonstigen häuslichen Geschäften, die seine Frau
-nicht für ihn verrichten konnte, wies sein öffentlicher Lebenswandel
-nur dann eine Unterbrechung auf, wenn in der Nachbarschaft irgend ein
-Todesfall vorkam oder auch blos zu erwarten stand. Dann verschwand
-er sofort aus dem Straßengärtchen, schloß sich Tagelang in seine
-Schlafkammer ein oder trollte während der Leichenzeit, wie ein von
-bösen Geistern Verfolgter, in den dichten Haidegehölzen herum, die an
-den Friedhof angrenzten. Deswegen hatte ein Lehrer der Ortsschule, der
-sich in seinen Mußestunden mit Abhandlungen über Gespenstersagen und
-Schauermärchen beschäftigte, einmal am Biertisch im Scherz geäußert,
-der rätselhafte rotbärtige Kerl werde sich noch als Werwolf entpuppen;
-und dieses hingeworfene Wort war als Spitzname an ihm hängen geblieben
-und dermaßen gang und gäbe geworden, daß kein Kind sich allein in die
-Haide wagte, aus Furcht, vielleicht von dem wilden Mann überfallen und
-abgewürgt zu werden.</p>
-
-<p>Ob der Werwolf selbst merkte oder ahnte, was über ihn gemunkelt
-wurde, das wußte wohl nicht einmal seine Frau; denn zu Gesprächen
-neigte er nicht, sondern gab auf Anreden entweder garnichts oder
-höchstens ein unwirsches Knurren zurück. Nur ein kleiner krötiger
-buckliger Flickschneider, mit dem sich sonst niemand recht einlassen
-mochte, hatte sich an ihn an<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span>genistet und verstand ihm zuweilen
-ein paar Worte oder gar ein Schmunzeln abzugewinnen. Das passierte
-allerdings selten genug, und blos an besonders schönen Tagen; denn
-des Flickschneiders elenden Knochenbau flog beim leichtesten Lüftchen
-das Zipperlein an, und außerdem war er so schwach auf den Beinen, daß
-er dem unermüdlichen Werwolf kaum ein halbes Stündchen lang Schritt
-halten konnte. Geschah es aber, dann schien sich dieser voll tiefen
-Behagens daran zu weiden, wie das kleine klägliche Klümpchen Unglück
-mit seinem bartlosen Unkengesicht und seiner keuchenden Kläfferstimme
-da neben ihm hin und her hampelte, und wie die Leute das seltsame
-Freundespaar verstohlen von ferne besichtigten. An einem solchen
-schönen Nachmittag also &mdash; es war ein ungewöhnlich milder November &mdash;
-vernahm der erwähnte Gemüsehändler, hinter der Gartenhecke knieend,
-wie der Flickschneider plötzlich den Werwolf fragte, ob er nicht
-früher, vor seinem Eisenbahndienst, Sergeant oder so’was gewesen
-sei. Und als der mißtrauisch antwortete, er könne sich nicht mehr an
-alles erinnern, zog der Andre ein Zeitungsblatt aus dem Rock, das den
-berüchtigten Kavallerie-Revolver in größengetreuer Abbildung zeigte,
-und fragte mit pfiffiger Miene weiter, ob er sich hieran vielleicht
-erinnern könne; worauf der Werwolf erst wie entgeistert stillstand,
-dann in ein schreckliches Toben und Schluchzen ausbrach und den Krüppel
-wahrscheinlich entzweigemacht hätte, wäre nicht die Frau aus dem
-Hause dazwischengestürzt und auch der Gemüsehändler zu Hilfe geeilt.
-Natürlich meldete dieser den Vorgang ohne Aufschub der Polizei, und am
-andern Morgen wurde der Unhold von zwei Gendarmen zur Stadt befördert
-und ins Untersuchungsgefängnis gesteckt.</p>
-
-<p>Beim Verhör erklärte zunächst der Flickschneider mit untertänigstem
-Selbstgefühl, daß er sich feierlich dagegen verwahren müsse, als Freund
-des Verhafteten zu gelten. Er sei ein unbescholtener Staatsbürger und
-habe sich mit dem verdächtigen<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> Menschen lediglich deshalb abgegeben,
-um heimlich dabei herauszustudieren, ob derselbe in Wirklichkeit
-verrückt sei oder blos immerfort so tue. Die verfängliche Frage nach
-dem Revolver habe er eigentlich nur gestellt, weil einem solchen
-heimtückischen Müßiggänger doch alles zuzutrauen sei. Er wolle
-keineswegs die Behauptung aufstellen, daß der Werwolf den Apotheker
-umgebracht habe; es bleibe ja immerhin die Möglichkeit, daß derselbe
-den greulichen Wutanfall aus reinem Ärger über die Frage gekrigt
-oder auch blos geheuchelt habe. Aber er möchte doch nicht verfehlen,
-die Aufmerksamkeit der hohen Behörde auf den bedenklichen Umstand
-hinzulenken, daß der Verhaftete am Tage des Mordes schon seit dem
-Mittag verschwunden gewesen und erst wieder am Tage nach dem Begräbnis
-vor seiner Haustür erschienen sei. Wenn sich also derselbe nach alledem
-vor dem hohen Gerichtshof als schuldig erweisen sollte, so möchte er
-&mdash; und bei diesen Worten blies sich des Flickschneiders Busenwölbung
-wie ein Truthahn vor dem ebenfalls verhörten Gemüsehändler auf &mdash; ganz
-ergebenst befürworten, daß er allein den vollen Anspruch auf die für
-die Entdeckung des Mörders ausgesetzte Belohnung erheben dürfe. Der
-Beschuldigte saß währenddem mit gänzlich verstocktem Gesichtsausdruck
-da; nur als sein Verschwinden zur Rede kam, geriet er in merkliche
-Unruhe, und sein zusammengebissener Mund schien wieder mit inneren
-Tränen zu kämpfen. Doch bewirkte seine Vernehmung nichts weiter, als
-daß er hartnäckig leugnete oder zumeist blos den Kopf schüttelte,
-beständig die Augenbrauen runzelnd, wie wenn er die Sache nicht recht
-begriffe. Und da seine Frau nur in einem fort aussagte, sie könne
-sich hoch und teuer verschwören, daß sie nie einen solchen oder
-andern Revolver an ihrem Mann beobachtet habe, so mußte das lebhafte
-Rechtsbedürfnis der aufs stärkste gespannten Zeitungsleser einstweilen
-damit zufrieden sein, sich in neue entrüstete Leitartikel über die
-öffentliche Unsicherheit im<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> allgemeinen, wie über den unheimlichen
-Werwolf und sein jahrelang freies Herumgerenne im besonderen zu
-vertiefen.</p>
-
-<p>Indessen ergab der Fortgang der Nachforschungen, daß der Beschuldigte
-um die Zeit, als Revolver des vielgenannten Systems in der Armee
-geführt wurden, tatsächlich Sergeant gewesen war, und zwar bei der
-reitenden Artillerie; auch daß er sich wirklich zur Stunde des Mordes
-nicht in seiner Behausung befunden hatte. Vor allem aber gelang es
-dem Flickschneider, der inzwischen zusehends in der Achtung der
-teilnahmvollen Bürgerschaft stieg und von Tag zu Tag mehr Zuspruch
-gewann, durch eifrige Umfragen festzustellen, daß die Frau des
-Verhafteten schon seit Jahren bei sämtlichen Krämern und Händlern des
-Ortes, bei Schlachtern, Bäckern und Handwerksleuten, beträchtliche
-kleine Schulden gemacht und ihren Mann für sein lumpiges Ruhegehalt
-und seine schuftige Faullenzerei &mdash; das waren ihre eigenen Worte &mdash;
-einmal laut vor den Nachbarn ausgeschimpft hatte; und außerdem war sie
-am Tag vor dem Raubmord in der Familie des Apothekers beim Aufscheuern
-mitbeschäftigt gewesen, sodaß sie von dessen Bahnfahrt zur Stadt wohl
-irgend etwas vorausgehört und dem Werwolf hinterbracht haben konnte. Es
-zweifelte demnach niemand mehr, daß dieser sein kärgliches Gnadenbrot,
-sei es mit, sei es ohne Wissen der Frau, durch den blutigen Handstreich
-hatte aufbessern wollen und die geraubten Banknoten noch irgendwo
-verborgen hielt; geteilter Meinung war man einzig darüber, ob er den
-ruchlosen Entschluß aus echtem Irrsinn gefaßt haben mochte oder immer
-nur wieder in der Berechnung, daß sich bei standhaft geheuchelter
-Geistesstörung jede Schandtat ungestraft ausführen lasse.</p>
-
-<p>Zur großen Befriedigung sämtlicher Wohlgesinnten schien durch die
-nächste Gerichtsverhandlung, die eine öffentliche war, die letztbesagte
-Meinung bestätigt zu werden; denn als dem Verhafteten all jene
-Einzelheiten seiner verdächtigen Lebensführung<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> der Reihe nach
-vorgehalten wurden, war deutlich zu sehn, wie der handfeste Mann aus
-seiner gewohnten Halsstarrigkeit allmählich gleichsam herausstrauchelte
-und schließlich einen hilflosen Blick auf den freundlich lächelnden
-Staatsanwalt warf. Und als dieser den Blick &mdash; was in damaliger Zeit
-ganz erstaunlich an einem Staatsanwalt war &mdash; ohne Strenge erwiderte,
-vielmehr den erschütterten Angeklagten mit herzgewinnender Stimme
-fragte, ob er nicht endlich sein Gewissen erleichtern und durch ein
-mutiges Geständnis vor Gott und den Menschen reinigen wolle, da
-übermannte den Werwolf ein solches Weinen, daß die meisten Damen im
-Zuschauerraum, sogar auch die Witwe des Apothekers, nicht anders
-konnten und laut mitweinten. Das alles aber machte ihn dermaßen wirr,
-daß er vor fassungslosem Stammeln kein klares Wort zu entgegnen wußte,
-sondern nur krampfhaft, während die Tränen ihm in den zitternden
-Bart niederrollten, bald Ja und bald Nein aus der Kehle würgte,
-bald mit zerknirschten Geberden nickte, bald widerspenstig den Kopf
-schüttelte. Mehr war aus ihm nicht herauszubringen; und also mußte
-er, bis sein Gewissen zum vollen Geständnis gereift sein würde, oder
-bis andere sichere Anzeichen für seine Schuld zutage kämen, in die
-Untersuchungshaft zurückgeführt werden.</p>
-
-<p>Während sich nun die Bevölkerung zwar im Grunde bereits beruhigt
-fühlte, aber sich umso gründlicher der immer noch schwebenden
-Sorge annahm, ob der Gerichtshof den Verbrecher füglich zum Tode
-verurteilen dürfe oder blos lebenslänglich ins Irrenhaus sperren,
-ward der sittlichen Spannung der Gemüter durch zwei fast unglaublich
-widerspruchsvolle, jedoch polizeilich verbürgte Zeitungsberichte ein
-wahrhaft erschreckliches Ziel gesetzt. Der erste Bericht verkündigte
-nämlich, daß sich der Werwolf frühmorgens nach jener Verhandlung an
-einem abgerissenen Hemdärmelstreifen in seiner Haftzelle erhängt und
-auf die Kalkwand der Zelle die Worte gekritzelt<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> hatte: „Ich kann nicht
-mehr. Ich weiß nicht mehr. Gerechter Himmel, es gibt einen Gott.“
-Wohingegen der zweite Bericht besagte, daß der Staatsanwalt am selben
-Vormittag von dem Anwalt der Apothekerswitwe einen langen Eilbrief
-empfangen hatte, demzufolge der Werwolf nicht der Mörder, sondern
-ihr Gatte ein Selbstmörder war. Und zwar wußte die schwergeprüfte
-Dame dies schon seit dem ersten Anblick der Leiche, da ihr zugleich
-von den Untersuchungsbeamten der Kavallerie-Revolver gezeigt und
-von ihr als Eigentum des Toten, aus seinem &mdash; wie man es damals
-nannte &mdash; freiwilligen Militärjahr her, an einem Rostfleck erkannt
-worden war. Um indessen &mdash; so legte ihr Anwalt dar &mdash; den guten
-Ruf des Dahingegangenen, sowohl den moralischen wie besonders den
-christlichen, ihrer ehelichen Pflicht gemäß nach Kräften aufrecht
-zu erhalten, habe sie voller Selbstverleugnung so lange wie möglich
-zu schweigen versucht und deshalb auch die Versicherungssumme ohne
-Widerspruch hingenommen, zumal ihr Anrecht nach dem Vertragswortlaut
-als unanfechtbar gelten könne. Da aber nunmehr ein Unschuldiger für
-die blutige Tat scheine büßen zu sollen, und da inzwischen auch durch
-die Versicherungsgesellschaft bedauerlicherweise ermittelt worden,
-daß der Dahingegangene sein Vermögen in Börsenspekulationen verspielt
-und demnach vermutlich die Ermordung nur zu dem Zweck veranstaltet
-habe, seine Familie vor dem Bankrott zu retten, so glaube Klientin die
-traurige Wahrheit nicht länger unterdrücken zu dürfen. Dieselbe gebe
-der Hoffnung Raum, daß, möge ihr Gatte auch schwer gefehlt haben, das
-allgemein menschliche Mitgefühl doch seinen furchtbaren Opfertod als
-genügende Sühne anerkennen und nicht noch seine Namenserben denselben
-entgelten lassen werde. Welcher Hoffnung dann in der Tat sowohl
-der freundliche Staatsanwalt wie die gemütvolle Bürgerschaft aufs
-offenherzigste entsprach, besonders als man noch erfuhr, daß sich die
-wohlgesinnte Witwe mit der Versicherungsgesellschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> gütlich geeinigt
-und ein Drittel der empfangenen Summe in aller Stille zurückgezahlt
-hatte.</p>
-
-<p>Für den erhängten Werwolf freilich war ihr Bekenntnis leider Gottes
-einige Poststunden zu spät gekommen. Aber zum Glück war vorauszusehen,
-daß sich die Witwen der beiden Selbstmörder, da die zweite die erste
-gerechterweise auf Entschädigung verklagen konnte, im stillen ebenfalls
-gütlich einigen mußten. Auch blieb ja immerhin unentschieden, ob sich
-der Werwolf nicht doch vielleicht, als er an jenem Tag seine Wohnung
-verließ, mit der sträflichen Absicht getragen hatte, den Andern
-meuchlings auszurauben; und jedenfalls ließ sich gewissermaßen eine
-Art höherer Gerechtigkeit in dem sonst peinlichen Umstand entdecken,
-daß dieser auf Staatskosten lebende Heuchler, dessen schlechtes
-Gewissen ihm nicht einmal den ruhigen Genuß seiner Rente erlaubte,
-sich kurzerhand selbst gerichtet hatte. Viel erschrecklicher war
-dem gebildeten Teil der überraschten Bevölkerung die ungeheure
-Verstellungskraft, die den sanften gottgläubigen Apotheker bis zur
-letzten Minute befähigt hatte, den Schein des Raubmordes herzustellen
-und Revolver nebst Uhr noch im Todeskampf aus dem Bahnwagenfenster
-herauszuschleudern. Doch am allerbedenklichsten war die Ungewißheit und
-bot jedem gründlichen Zeitungsleser noch auf lange Zeit reichlichen
-Gesprächsstoff, ob der Werwolf nun doch zuguterletzt, laut seiner
-rätselhaften Wandinschrift, in wirklichen Irrsinn verfallen sei und
-sich, dem freundlichen Staatsanwalt folgend, für den Mörder gehalten
-habe. Den Feinden der bürgerlichen Ordnung natürlich erschien das als
-ausgemachte Gewißheit; ja, ein ruchloser Schriftsteller jener Zeit
-nannte es gradezu einen Staatsfall und ein fast noch musterhafteres
-Beispiel von hirnberückender Eingebung &mdash; oder, wie die gebildeten
-Deutschen sich damals ausdrückten, Suggestion &mdash; als das des berühmten
-Hauptmanns von Köpenick.</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span></p>
-
-<h3 id="Der_Menschenkenner_und_sein_Gleichgewicht">Der Menschenkenner
-und sein Gleichgewicht</h3>
-
-<p class="center">Novelle aus dem Innern eines Misanthropen</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Jan Goderath war sein Name; und er war stolz auf den Namen. Er
-hatte ihn wieder zu Ehren gebracht, als kein Mensch mehr dem alten
-Handelshaus traute. Und nun ging er hier durch die fremde Stadt, die
-ihn plötzlich an jene Leidenszeit mahnte, und konnte sich seinen
-Trübsinn nicht deuten; die ganze Stadt schien in Trauer versunken.</p>
-
-<p>Freilich: ein Volksmann war gestorben: ein ehrlicher Mann, selbst
-seine Feinde mußten das zugeben. Und standhaft war er gestorben,
-nach qualvoller Kehlkopfkrankheit, vor der Zeit: ein Opfer seiner
-Beredsamkeit. Aber was ging denn <em class="gesperrt">ihn</em>, den reichen Weltmann Jan
-Goderath, den unabhängigen Handelsherrn, der ausgediente Volksfreund
-an! und noch dazu ein Italiäner! Dies Volk war ihm doch eigentlich
-ein Greuel. Was hatte er mit einem Narren gemein, den seine Schmerzen
-begeistert hatten, wie andere Narren auch! Wie konnten ihn, den
-Menschenkenner aus Hamburg, die Trauermienen des Pöbels in dieser
-fremden Stadt ergreifen?</p>
-
-<p>Und erst dies Genua selbst, <span class="antiqua">la superba</span>, wie diese Söhnchen
-glorreicher Väter ihr Marmornest noch immer nannten: was war in die
-bankrotten Wichte auf einmal für ein Geist gefahren? Er besah sich die
-Vorübergehenden; das stechende Vormittagslicht behagte ihm plötzlich.
-War das dieselbe träge, schamlos geschwätzige Menge, die ihn noch
-gestern verdrossen hatte? Alle gingen sie schleichend wie sonst,
-fast noch schleichender, ohne ihr zweckloses Gliedergefuchtel, und
-Keiner kam ihm träge vor. Der enge Corso wimmelte wie immer dicht von
-Menschenköpfen, durch die sich nur selten ein Fuhrwerk schob; aber
-die Kutscher schrieen heut nicht, jede Stimme klang verhalten, wie
-durch die grauen Paläste gedämpft, und die Gesichter schienen sich den
-stolzen Mauern anzupassen, die düster in<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> den blauen Himmel grenzten.
-Selbst wenn ein schönes Weib vorüberkam, lief ihr kein hündischer Blick
-aus lüstern schwarzen Augen nach; in allen diesen Augen glomm ein
-traumhafter Ernst &mdash; was war das nur?!</p>
-
-<p>Schon unten am Hafen war ihm aufgefallen, daß heut die Arbeit ohne Lärm
-und Flüche und Gelächter vor sich ging; sogar die Maultiertreiber in
-den Steinbrüchen schlugen weniger roh auf ihr bepacktes Viehzeug los.
-Doch das, nun ja, das waren Arbeitsleute; denen mochte der gestorbene
-Gleichheitsmensch wohl wirklich etwas bedeutet haben. Aber hier,
-im Innern der Stadt, was hatten diese flunkernden Kaufleute, diese
-Tagediebe und Weiberknechte, mit dem Mann des Volkes zu tun! Und was
-erst all die Fremden hier! Was gab dem dürren Franzosen dort, mit
-der Orangenblüte im Knopfloch, solchen feierlichen Ausdruck, daß die
-beiden Säulen des alten Portals, vor dem er zufällig wartete, wie sein
-natürlicher Rahmen wirkten, trotz seines modischen Reisehutes. Tat das
-der Tod?</p>
-
-<p>Nein; dazu war dies Volk von Beichtkindern zu leichtherzig. Erst
-vorige Woche hatte er in Pisa einen hohen, weit beliebten Beamten
-zu Grabe bringen sehen: die ganze Stadt war auf den Beinen gewesen,
-sämtliche Glocken läuteten, acht Barfüßermönche trugen den Katafalk,
-all ihre Ordensbrüder schritten voraus und goldverbrämte violette
-Priester, dazwischen Jungfraun in weißen Kleidern und Kinder mit grünen
-Kränzen im Haar, alle mit großen brennenden Kerzen, Chorknaben sangen
-Litaneien, zwei Väter Jesu führten die gebrochene Witwe, die Frauen
-des Gefolges weinten laut &mdash; und eine Stunde später war von dem ganzen
-Straßenschauspiel auch nicht ein Hauch mehr zu spüren gewesen. Und die
-Pisaner standen doch im Ruf der Gründlichkeit, er selber hatte sich
-bei ihnen wohlgefühlt, es mußte da wohl vor Jahrhunderten germanisches
-Erobererblut in die Bevölkerung gedrungen sein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span></p>
-
-<p>Und heut nun, hier in Genua, wo jedes wälsche Unkraut sich sonst
-brüstete, schon seit dem frühen Morgen diese Stille. Ihm war, als
-ginge er in einem Strom von Wallfahrern. Was hatte all die Menschen
-so seltsam in sich gekehrt? Der tote Volksmensch war doch nicht
-einmal mit Pomp bestattet worden. Kein Mönch noch Priester war dem
-schmucklosen Holzsarg vorausgezogen; sechs barhäuptige Arbeiter hatten
-ihn getragen, keine Träne war geflossen, und keine Glocke läutete.
-Oder wars etwa grade Das? War dieser ungewohnte stumme Eindruck den
-Schwätzern auf die Seelen gefallen? Dieser farblose Eindruck: der Zug
-der hundert schwarzgekleideten Männer, wie sie paarweis, alle mit
-bloßen Köpfen, die Hüte in der Faust, finster und wortlos hinter der
-Bahre hergeschritten waren, unter dem schwülblauen Himmel. Selbst einen
-Offizier der Kriegsmarine hatte er da die Mütze lüften sehn.</p>
-
-<p>Und hatte nicht er selber, Jan Goderath, sich da sagen müssen, daß
-es doch Ahnen dieser Männer waren, die hier die schlichte Straße von
-Palästen, mit dieser strengen Wucht der Außenwände, dieser ruhigen
-Kühnheit innen, einst hatten bauen können! Er trat hinein in eines
-der machtvollen Treppenhäuser. Wenn jetzt durch diesen Säulenhof,
-in dem die starre Hitze brütete, ein Mann im Arbeitskittel käme, er
-würde den Hut vor ihm abnehmen. Was war ihm nur?! Ihn konnte doch der
-Eindruck von ein paar Dutzend Leidtragenden nicht aus dem Gleichgewicht
-bringen! <em class="gesperrt">Die</em> Zeit lag doch wohl hinter ihm; er war doch über die
-Dreißig hinaus. Gewiß: der Eindruck war schön gewesen, schön und ernst,
-vielleicht auch edel. Das brauchte ihn doch aber nicht in seiner Ruhe
-zu stören; er hatte sie sich schwer genug verdient. Was ging denn ihn
-das wälsche Elend an! dem war ja doch nicht zu steuern. Was ging ihn
-überhaupt das Leid der Menschen an? Als ob es ohne Leid Glück geben
-könnte. Das blieb doch in alle Ewigkeit so.</p>
-
-<p>Er trat wieder auf die Straße. Und wieder fühlte er aus<span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span> allen Augen
-das stille Flimmern auf sich wirken. Oder störte ihn etwa nur das
-Licht, das von dem heißen Marmorpflaster prallte? Er ging hinüber
-in den schmalen Schattenstreifen; es war, als ginge er durch ein
-Gespinnst, das all die dunkeln Köpfe verband. Und keiner sah doch
-traurig aus. Es schwebte nur wie eine Andacht zwischen ihnen; als
-horchten sie auf etwas Fernes, Klares. Das konnte doch der Tod nicht
-machen? Das konnte doch nicht Ehrfurcht sein? Was galt denn dort dem
-Fuchsgesicht, was dort den beiden Professoren der Gestorbene mit seinem
-unklaren Zukunftstraum! Was war das für ein Zwangsgefühl, das diese
-ganze Stadt erfüllte? und ihn mit! Er war doch schon ganz anderer
-Stimmungen Herr geworden, die ihn viel näher betroffen hatten: damals,
-als sich sein Bruder vergiftete &mdash; der hatte auch so rührende Augen wie
-diese braunen Halunken hier. Ja, damals war ihm der Vater am Herzschlag
-gestorben, und Er allein hatte alles gerettet.</p>
-
-<p>Er bog in den Platz vor dem Postgebäude; hier staute sich die
-Menschenmasse. Die Stimmung war noch seltsamer hier. Die grelle
-Hitze machte alle Mienen noch gespannter; bis unter die Arkaden des
-Gebäudes schien diese hohe Spannung zu schweben. Selbst der verkleidete
-Messerhändler, dem sonst sein kriechendes Lächeln so feil wie seine
-Dolche war, ging heut in seinem blaugestickten Dalmatinermantel wie
-ein verbannter Fürst umher. Man hörte kaum ein deutliches Wort. Jeder
-schien sich, wenn er sprach, auf etwas Anderes zu besinnen, etwas
-Vergessenes, Heimliches. Was war das nur? Hier all die Müßiggänger
-hatten doch den Toten nicht geliebt! Und Er, Jan Goderath senior:
-Liebe &mdash; fast hätte er laut losgelacht &mdash; mit <em class="gesperrt">dem</em> Gefühl war er
-doch gründlich fertig! das hatte sein Bruder ihm abgewöhnt. Er atmete
-schwer auf; was lag ihm an dem kehlkopfkranken Zukunftsapostel! was an
-dem ganzen Gemurmel hier! Wenn er die Augen etwas schlösse, würde die
-Stimmung vorüber sein. Nein, selbstverständlich:<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span> nur noch beklemmender
-kam sie dadurch zu Gefühl: ihm war, als stünde er in seiner Vaterstadt,
-verloren wie ein Blinder, inmitten einer großen Kirchgängerschaar. Er
-mochte das nicht länger ausstehn. Ein Glück, daß ihn der deutsche Maler
-erwartete! Das Brustbild sollte heut fertig werden; so beim Modellstehn
-würde er sein Gleichgewicht schon wiederfinden. Er nahm die Richtung in
-die obere Stadt.</p>
-
-<p>Denn ja, das Gleichgewicht: das war das Höchste: die starke Vernunft.
-Die hatte ihn gemäßigt damals, in seinem Wutanfall, als er fast seinen
-Bruder erschlagen hätte, den toten Schuft, der ihn mit zum Betrüger
-machen wollte, der Lüderjan! Ja, er war stärker als seine Liebe; er
-hatte die Probe bestanden. Wie kam er nur darauf, heut sein Gefühl zu
-befragen? War etwa das Gefühl zu schwach gewesen, wenn die Vernunft so
-stark war damals? Das war doch dann kein Gleichgewicht! sonst wäre doch
-Eintracht in seiner Seele. Ein Jahr lang war er nun gereist und glaubte
-alles verwunden zu haben, und ein paar hundert flüsternde Menschen
-konnten ihn aus der Fassung bringen? eine Heerde, die sich selbst nicht
-begriff! Er fuhr sich heftig über die Stirn. Nun: dank der Kunst &mdash;
-er mußte lächeln &mdash; jetzt war er bald heraus aus dem Geräusch. Hier
-schlichen nur noch Vereinzelte; wie bloße Schatten sahen sie aus; es
-schien sie alle etwas nach unten zu rufen.</p>
-
-<p>Er stieg die breite Treppenstraße zu dem oberen Corso hinauf. Er spürte
-die Apenninenluft schon, trotz der sengenden Sonne. Es war doch ein
-Wunderwerk von Stadt, schier ebenbürtig der reichen Natur. Welche
-ungeheure Arbeit sprach allein aus den Grundmauern, auf denen sie
-rings die Bergterrassen emporklomm, aus den Hunderten von steinernen
-Stufen hier, den Quadern der Umwallung dort im Zickzack um den Corso,
-aus all den Brücken über die Felsenspalten, und oben aus dem Zug der
-Festungsblockwerke, der altersgrau den kahlen Höhenkamm krönte: Das war
-Alles Menschenwerk! &mdash; Ihm fiel die<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span> Inschrift ein, die er heut Morgen
-am Hafen unten gelesen hatte, an dem Palaste, den einst das genuesische
-Volk dem greisen Doria schenkte: „<span class="antiqua">ut, maximo labore jam fesso corde,
-otio digno quiesceret</span>.“ Er übersetzte sich das schlechte Latein:
-„damit er, nun sein Herz von der gewaltigen Arbeit ermüdet ist, in
-würdiger Muße ausruhen könne.“ Ein Schauer überlief ihn: hier rings auf
-all den Bergabhängen, die ihn im Halbkreis umarmten, ragte die Arbeit
-von Hunderttausenden.</p>
-
-<p>Er wandte sich und sah hinunter auf die Stadt. Wie sich da Hohes und
-Niederes einte &mdash; Paläste und Straßenfluchten, die flachen Dächer und
-die Türme, Gärten und riesige Wohnhäusermassen &mdash; im wogenden Weißglanz
-des Mittags. Dort lag die Villa Negro, mit ihrem Park von Lorbeern
-und Myrten, Zypressen, Palmen, Zitronenbäumen, mit allen Blumen des
-Orients und jedem Laubholz des Nordens &mdash; so lieblich hatte sie ihm nie
-gedeucht. Er glaubte das Geplätscher ihrer Springbrunnen, die kleinen
-Wasserstürze der Grotten zu vernehmen, und ihr zu Füßen das Gewirr der
-Gassenschluchten, in Zirkellinien um sie her, dies Spinnennetz, dem er
-soeben entronnen war. Wie sich das nun zusammenschloß, Altes und Neues,
-unter der glutblauen Himmelsglocke! Jeder dunkle Fleck, selbst die
-verwitterten Kirchenkuppeln, schien ihm verklärt, bis ins Gewimmel des
-Hafens hinab. Wie Alles zu ihm herzustreben schien, tief her, fern her:
-die Menschheit unten, Leuchtturm und Schiffe, das silberweiße blendende
-Meer &mdash; er mußte die Augen schließen.</p>
-
-<p>Ein heulender Pfiff riß sie ihm auf. Im Tal zur Linken kam ein Bahnzug
-aus dem Tunnel herausgedampft, der hier im Bogen unter der Stadt
-herumlief; er schätzte, daß er grad drüber stand. Wenn jetzt die Erde
-sich öffnete, würde er in den Schienenschacht stürzen, die Mauern des
-Corsos über ihn her. Auch <em class="gesperrt">un</em>sichtbar die Arbeit von Tausenden!
-Vielleicht mit von den Männern, die heute den Toten getragen hatten.
-Wenn<span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span> nun die Männer ihr Werk zerstören wollten? Was hinderte die
-Tausende? &mdash; Ein paar Dutzend Fäßchen Dynamit, planvoll den Tunnel
-entlang verteilt, würden die Stadt in den Hafen schleudern, samt
-Festung, Zuchthaus, Irrenhaus. Er hörte die wankenden Felsen schon
-donnern, die See auftosen und Orkane heulen. Die Dächer der Paläste
-bäumten sich, Kirchtürme flogen durch die Luft, die Kuppeln platzten,
-und die Gärten tanzten. In brandgelben Kurven schossen Marmorstatuen
-ins kochende Meer, Gemäldegalerieen flammten auf, Schiffstrümmer,
-Bibliotheken. Durch den verfinsterten Himmel, durch Qualm und Feuer
-und Wolken von Schutt, scholl das Geschrei zerberstender Bürgerbäuche;
-und oben über dem Rachegericht, auf den umrauchten Höhen des Apennins,
-standen die Tausende, mit heißen Augen der Märtyrer denkend, die sich
-da mitgeopfert hatten &mdash; standen zu neuer Zukunft bereit.</p>
-
-<p>Er wischte sich den Schweiß von den Backen. Was war ihm nur! Sah er
-bei hellem Tag schon Gespenster, wie die Dorfschäfer hinter Hamburg?
-Was war das für ein Zwangsgefühl? Die Männer unten hatten doch nicht
-drohend ausgesehen; eher bittend; als ob sie etwas zu erringen suchten.
-Was hatte Er damit zu tun! er reckte sich. Ja, diese seltsam suchenden
-Augen; er nickte und schritt weiter, jetzt war er bald am Ziel.
-Merkwürdig: auch der Maler hatte manchmal diese Augen: halb bettelnd,
-halb fordernd, der arme Teufel. Nur daß sie grau waren, nordseegrau,
-wie seine eigenen Augen grau; und doch wie Hundeaugen. Ja: wie ein
-Schweißhund vor der Jagd: heißhungrig, scheu. Und diese schräge
-Verbrecherstirn! der filzbraune Spitzbart! die kurzen Beine! Der
-Mensch war ihm doch eigentlich widerlich. Der paßte unter dies wälsche
-Gesindel: halb Lazzarone, halb Genie.</p>
-
-<p>Warum hatte er ihn blos ausgesucht? warum sich von ihm malen lassen?
-von diesem Schächer der Kunst! Wie er ihn immer anstarrte: als wollt
-er die Seele ihm aus dem Leibe pinseln<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span> &mdash; und dann wars nichts als
-Stückwerk. Was hatte ihn hingeführt zu dem Menschen?! Etwa daß er
-aus Hamburg war? aus seiner Vaterstadt? &mdash; Pah: Heimweh! lächerlich!
-Kinderkrankheit! &mdash; Oder daß er mit seinem Bruder befreundet gewesen?
-Nun, das vielleicht; er wollte sich wohl absichtlich prüfen. Denn vor
-zwei Jahren hatten sie Drei da oben hinter Hamburg gestanden, auf den
-Elbhöhen draußen, bei Sonnenuntergang, die Aussicht über den Strom zu
-Füßen. Der strömte so breit, als wenn das Meer schon anfinge dort.
-Und der Maler hatte sich abgewandt, die rauchenden Dörfer jenseits
-anstarrend, die in der Abendglut zu brennen schienen; denn Er, er
-machte in Bruderliebe, Jan Goderath senior Nachfolger &mdash; er hatte dem
-Schwächling noch einmal geglaubt, sie waren ja doch Ein Fleisch und
-Blut &mdash; zwei Tage bevor er es kennen lernte, verachten lernte, dies
-Fleisch und Blut, die ganze menschliche Sippschaft. Was ging ihn jetzt
-der Mensch noch an! Der hatte wohl gar um alles gewußt, vielleicht die
-Wechsel gar fälschen helfen. Nun: morgen würde er weiterreisen, ob nun
-das Bild heut fertig wurde oder nicht.</p>
-
-<p>So trat er in das Haus hinein. Hier war es kühl, die steinerne Stiege
-frisch gespült; jetzt würde er gleich Ruhe haben. Wenn <em class="gesperrt">der</em>
-Mensch ahnen könnte, wie ihn der Pöbel entzwei gemacht hatte. Ja:
-Gleichgewicht! die Eintracht zwischen Vernunft und Gefühl, wie zwischen
-zwei gleich starken Herrschern: wenn Das zu malen wäre, wenn es das
-gäbe, in einem einzigen Menschengesicht, in Einer Seele von Mann auf
-Erden: <em class="gesperrt">der</em> sollte sein Freund sein! &mdash; Da stand der Spitzbart
-schon in der Türe; Bedientenseele! &mdash; Und der also duzte ihn &mdash; dem gab
-er die Hand &mdash; &mdash; sie gingen vor die Staffelei. Er trocknete sich die
-Stirn. „Hast du das Kinn nicht zu massig gezeichnet? Ich sehe ja aus
-wie Bonaparte vor Moskau.“ Der Spitzbart, grinsend: „Mit dem hast du
-auch manchmal Ähnlichkeit.“ Ach so! das sollte ihm wohl schmeicheln.
-„Ich habe mit Niemandem<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> Ähnlichkeit; der korsische Dickbauch ist nicht
-mein Mann.“ Der Andre, kleinlaut: „Das Kinn ist gut. Laß nur die Augen
-erst fertig sein; es liegt tatsächlich nur an den Augen.“ &mdash; „So? Nun,
-dann kann man wohl anfangen.“ &mdash; „Ja.“</p>
-
-<p>Er stieg auf das Trittbrett und lehnte sich an das Pfostengerüst. Der
-dürftige Raum war drückend warm. Vom Apennin her tönte ein Hornsignal.
-Sie sahen sich schweigend in die Augen; nur das Geräusch des Malens
-war noch hörbar. Wie ihn der Mensch wieder anstarrte jetzt! Wie er
-sich quälte für sein bißchen Brot! So quälten Hunderttausende sich! &mdash;
-Hatte er etwa Mitleid mit ihm? der Reiche mit dem Armen? Er, Goderath
-Nachfolger &mdash; lächerlich! &mdash; Er hatte doch damals kein Mitleid gehabt,
-mit seinem eigenen Bruder nicht, als der um Geld nach Amerika bettelte.
-Nun gar mit diesem wildfremden Stümper? &mdash; „Habt ihr euch eigentlich
-lieb gehabt?“ hörte er plötzlich wie fernher fragen. Was fiel dem
-Menschen da drüben denn ein! „Ich spei auf die Liebe!“ er schrie es
-fast. Warum denn nur? fragte etwas in ihm. &mdash; „Entschuldige!“ hörte er.
-Schweigen.</p>
-
-<p>Und wieder starrten die Augen ihn an. Und wieder starrten sie
-nordseegrau. Und in dem Grau war etwas Flackerndes. Was war das nur?
-Das war ja unheimlich. Das war ja viele Meilen fern; wie ein Gespinnst
-zwischen ihnen, ein flimmernder Strom, und jenseits brennende Dörfer.
-Und über den Strom her kamen Tausende, barhäuptig, paarweis, auf ihn
-zu: die trugen einen Toten. Und starrten ihn an mit Menschenaugen,
-heißhungrig, scheu, halb bettelnd, halb fordernd. Als wäre etwas in
-ihm, das sie suchten: etwas Vergessenes, Fernes, Klares. Und plötzlich
-strahlte es auf in ihm, und strömte über, hin zu ihnen: ein Licht, ein
-Meer, ein Nebelglanz. „Was <em class="gesperrt">ist</em> dir, Mensch?“ rief eine Stimme
-&mdash; er wankte, taumelte, verlor das Gleichgewicht. Und heiße Tränen
-machten ihn blind, und blindlings wankte er in zwei Arme, und küßte den
-Bart, der ihm<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> soeben noch widerlich erschienen war; küßte ihn weinend
-wie ein Kind, und lachte, und ermannte sich. O, das war mehr als
-Vernunft und Gefühl! Das war <em class="gesperrt">doch</em> Liebe, nicht Mitleid, nein!
-Das war die Liebe, leidlos ob Fleisch und Blut! die Eintracht und das
-Gleichgewicht! Das war die Alles beseelende Liebe.</p>
-
-<p>Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich setzen. Er fühlte den kranken
-Volksmann sterben, der Zukunft zu Liebe, vor der Zeit; er fühlte die
-Sehnsucht der Tausende leben, wie Brüder zu werden, der Freiheit zu
-Liebe; er fühlte die Opfer der Arbeit alle, dem Leben Aller, Aller
-zu Liebe. Und Er? er hatte die Menschen verachtet; er, Goderath, der
-Menschenkenner! &mdash; Er reichte dem Maler die Hände hin: „Ich hab mich
-versündigt an meinem Bruder“...</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Das_Gesicht">Das Gesicht</h3>
-
-<p class="center">Eine halbe Stunde Seelenleben</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Er saß und konnte nicht los aus diesem lastenden Bann. Immer wieder
-sank der über ihn, wie ein magnetischer Ring um die Stirn, und lähmte
-seine Hand. Seit Wochen nun schon: seitdem er wieder gesund war. Immer,
-wenn er malen wollte. Immer die eine, große, unerfüllte Lust: das Ziel
-der hundert frohen Mühen und Entwürfe: das Bild, das Bild: ihr Gesicht!
-&mdash; was er auch Neues vornehmen mochte.</p>
-
-<p>Er hörte sie im Nebenraum hantieren, durch den Teppich hindurch. So
-verhalten klang es, so fremd. Und die Brandflecken auf dem Teppich:
-wie sie ihn quälend erinnerten! &mdash; Er fühlte seine starken Schultern
-zucken, ohne daß ers wehren konnte. Er sah müde und verächtlich in die
-Landschaft auf der Staffelei, und warf den Pinsel weg, und sah scheu
-nach der Wand drüben, nach dem Menschenbild da.</p>
-
-<p>Da hing es und wartete, das letzte von den vielen; das sie noch
-gerettet hatte aus dem Brande, im letzten Augenblick,<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span> aus den
-fliegenden Flammen. Es war wie ein Alb: diese ungelöste Aufgabe, dies
-Gesicht.</p>
-
-<p>O gewiß, es war ja fertig: <em class="gesperrt">war</em> ja ein Bild: ein Bild, wie nur
-Er es malen konnte: dies Weib da, mit der Narzisse in den streng
-gefalteten Händen. Sie duftete fast, die vorgebeugte, makellose,
-leuchtende Blüte, mit dem purpurgelben Krönchen auf dem weißen Stern;
-die berauschende Blüte vor den jungen, nackten, vollen Brüsten. Und
-darüber ihr stumm gewährender Mund. Und darüber die blauen drohenden
-Augen, groß und dunkel ins Weite gerichtet. Und darüber all ihre
-Haarglut, schwer und goldrot wie Kupfergold, schwarzgrün umschattet
-vom dichten Laubwerk des alten wilden Myrtenbaumes, mit den kleinen,
-schimmerweiß schwellenden Knospen. Ja, seine Freunde hatten gescholten,
-daß er’s der Welt nicht zeigen wollte; damals.</p>
-
-<p>Aber das war es ja: auch jetzt nicht! Und nie, niemals, bis er das Eine
-gefunden, das noch drin fehlte, Ihm nur sichtbar: das nur Er vermißte
-in diesen Bildern: das letzte Rätsel ihres Gesichtes: Das, warum er sie
-liebte.</p>
-
-<p>O, und nun wars unmöglich: war es zerstört, dies stille lebendige
-Rätsel: von den Flammen gefressen das Geheimnis ihrer Züge, von Narben
-zerrissen dieser stolze Hals, diese schmiegsamen Lippen &mdash; und um
-seinetwillen! &mdash; Und er hatte doch gewußt, mit seiner ganzen Kraft
-gewußt, daß es endlich ihm glücken würde, daß er’s ihr ablauschen
-würde und auf die Leinwand zwingen, dies lockende Wunder. Nicht aus
-den Augen; nicht aus den Mundwinkeln. Da saß es nicht; in keiner
-Einzelheit. Auch in der Stimmung nicht; das hatte er alles versucht
-und getroffen. Es war ein Ausdruck, ein Ausdruck! und er war ihm so
-nahe gewesen: in seinem letzten Bilde, dem an der Wand da drüben, dem
-einzigen übrig gebliebenen. Und jetzt, jetzt &mdash;? er preßte die Finger
-ineinander; er hätte sie blutig drücken mögen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span></p>
-
-<p>Und all das, weil er sie liebte; grade weil. Und weil er so stark war.
-Ob es wohl Strafen gab? Strafen der Kraft? aus sich selbst? &mdash; Hatte er
-<em class="gesperrt">deshalb</em> den Fuß gebrochen?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ob Liebe Sünde war? Nicht überhaupt, aber für Ihn: Sünde gegen die
-Kunst! Übermannung! &mdash; Denn es war ja nicht gleich so gewesen; was ging
-ihn ihre Seele an. Aber allmählich &mdash; o aber das wars ja: das Heilige,
-auch für den Künstler: Das, was ihm die Augen geöffnet hatte: das
-Allerheiligste der Form: die bannende Seele, die Gegenseitigkeit alles
-Lebendigen!</p>
-
-<p>Und so wars denn geworden: das Modell zum Weibe, der Leib zum Wesen,
-und immer gegenseitiger dem Künstler ihre Schönheit, und immer
-gegenseitiger dem Menschen ihr Geschlecht. Nein, er wollte es nicht.
-Nur mit den Augen wollt er sie haben: <em class="gesperrt">ihre</em> Augen, die nachtblau
-dunklen, schwimmenden Blumen, ihr klares waldseestilles Gesicht &mdash;
-Alles! &mdash; Und doch: wie er sie dann erkannte, diese Gestalt, Blick
-für Blick, und Ahnung um Ahnung sicherer wurde, fester im Bilde, und
-alles sich ihr entgegenspannte in seinen Sinnen, und ihre Innigkeit mit
-seiner Sehnsucht wuchs: es war ja Natur, Natur! war das Ohnmacht?</p>
-
-<p>Jener Augenblick, nach jenem letzten Bilde, als er sie am Handgelenk
-heranriß, noch zitternd vor schaffendem Entzücken, und ihr den neuen
-Ausdruck zeigte, der sie fast enträtselte: diese verlangende Keuschheit
-&mdash; und dann sie ansah, heiß und durstig, das Eine Letzte suchend,
-daß sie’s nicht aushielt länger und an ihm niederwankte, so warm und
-schwer, und er an ihr: o Versunkenheit! &mdash; Und dann, dann: es war zu
-hart, zu widersinnig hart vom Schicksal: wie er sie hochgerissen hatte
-mit tollen Armen, schreiend vor Lust und doppeltem Glücksgefühl, und
-mit ihr über den Schemel sprang: dieser tückische Knöchelbruch &mdash; über
-den er damals noch lachen konnte &mdash; in seiner schwelgenden Liebe &mdash;
-damals.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span></p>
-
-<p>Er lauschte. Was sie wohl dachte jetzt. An <em class="gesperrt">ihn</em> nur. Das fühlte
-er. Das war das Schwere; der magnetische Ring.</p>
-
-<p>Wie still sie wieder saß. Daß er sie nur nicht merken möchte, da in der
-kleinen Kammer, hinter dem Teppich; nichts rührte sich; so wars nun
-Tag für Tag. Und Abends die Angst, die heimliche Angst, mit der sie
-sich im Dunkeln hielt, im Halblicht, oder ihr Gesicht verhüllte, daß er
-es nur nicht sehen möchte; daß er sie nur vergessen möchte, ihre tote
-Schönheit, das Bild ihrer Seele, diese quälende Unmöglichkeit. Ja, die
-Angst in der Luft, das wars; das machte ihn zunichte, diese Art Liebe.</p>
-
-<p>Ja, und <em class="gesperrt">war</em> denn das noch Liebe? dieser lähmende Zwang! War
-nicht alles blos Erinnerung?!</p>
-
-<p>Nicht einmal Nachts: nicht anrühren konnt er sie mehr, ohne daß es
-wieder vor ihm stand, das ganze furchtbar rote Schauspiel, und ihm
-heiß und kalt die Sinne benahm. Wie sie ihn geweckt, ihn herausgehoben
-hatte mit seinem kranken, dick verschienten Fuß aus dem qualmenden
-Bett, hinter ihr her schon die leckenden Flammen, durch die Tür und
-hinab die zwölf dunkeln Treppenstufen &mdash; o, sie war stark, fast so
-stark wie er! &mdash; und dann zurückgestürzt war und sich nicht halten
-ließ, wieder hinauf, um das Bild noch zu retten, das eine wenigstens,
-hinein in das glühende Viereck oben, mit den langen offenen Flechten,
-die im Feuerschein flossen wie rollende Wellen &mdash; dies Flimmern! &mdash;
-Und auf einmal der Schrei, dieser schrille zerreißende Schrei, und
-das polternde Bild, herunter zu ihm; und oben <em class="gesperrt">sie</em>, groß, in
-entsetzlicher Pracht, mit den greifenden Armen, die roten Haare zu
-bläulichen Funken zerflatternd, eine sprühende Glorie! züngelnde Flügel
-um den keuchenden Busen! und die grauenhaft flackernden Augen! &mdash; Und
-Er, hilflos da unten sich krümmend! Und noch Einmal der Schrei, der
-heiße, tierische Schrei! und sein eigener Schrei: wie sie wieder sich
-dreht, eine brennende Garbe, noch Einmal hinein &mdash; daß ihn die Sinne
-verlassen &mdash; bis die<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span> Leute ihn wecken und sie neben ihm liegt, in den
-Teppich gewickelt, nach dem sie zurückgerannt in letzter gräßlicher
-Besonnenheit, um den lodernden Schmerz zu ersticken, das tapfere starke
-Geschöpf &mdash; seine Retterin!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ob sich das wohl malen ließe: feurige Flügel? Nein, Narrheit; so
-wenig wie der Sonnenstrahl, der da auf der Palette blitzte. Ach, das
-Sonnenlicht! Wie ihr Haar drin schillerte früher, so glatt und wogend;
-ob es wohl wiederwachsen würde? &mdash; Aber was nützte das! Ihr Gesicht,
-<em class="gesperrt">das</em> war das Unersetzliche! die Erinnerung, die ihn zu ihr zog &mdash;
-nein: von ihr stieß.</p>
-
-<p>Er stierte zu Boden. Wenn sie doch gestorben wäre; wirklich gestorben,
-nicht blos in ihm. Dann würde er zu ihr beten können, sein ganzes Leben
-lang; ruhig, traurig, wie als Kind zur Jungfrau Maria. Nein, Maria
-Magdalena wars immer gewesen; die hatte er immer im stillen gemeint,
-seitdem er sich heimlich die Bibel gekauft, wenn er zur Strafe hinknien
-und beten mußte. Magdalena, die liebreiche Sünderin.</p>
-
-<p>Ach, was sollte dies Grübeln. Sie lebte ja, lebte und liebte ihn;
-und war gesund, gesund wie Er. O, das schöne, blühende Wort! O, ihre
-quälende Häßlichkeit! ihre mahnende Nähe! die Lust und der Abscheu!
-Ohnmacht!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Er sah wieder auf; nach dem Teppich, nach dem Narzissenbild. Wenn er’s
-verkaufen würde. Ob er dann vielleicht Ruhe hätte. Wozu auch diese
-Versessenheit, ohne Sinn und Verstand, auf das eine einzige bißchen
-Seele. Wozu denn überhaupt der ganze pedantische Tiefsinn. Warum
-wars ihm nicht genug an dem farbigen Witz, wie den Andern; an der
-Lichtflunkerei, über die er sonst spottete. Es war doch so einfach: was
-Neues probieren! &mdash; Aber <em class="gesperrt">sie</em>, sie blieb ja. Und wenn er das Bild
-in Stücke zerschnitte, die Erinnerung blieb, solange sie selbst blieb;
-und mit ihr der Zwang. Und <em class="gesperrt">die</em> Erinnerung ließ sich nicht malen.</p>
-
-<p>Freiheit! &mdash; Ja &mdash;: das war das Ungesunde: das war<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> unsittlich: diese
-widernatürliche dumpfe Gemeinschaft! Knechtschaft! Leibeigenschaft!</p>
-
-<p>Er starrte auf die Palette; ein Wolkenschatten wischte den Lichtstrahl
-aus. Wenn er ihr Schminke gäbe? &mdash; Ihn ekelte! &mdash; Und die Form bliebe
-ja dennoch zerstört, die Seele im Gesicht. Und ihre Scham! ihr Stolz!
-Dann würde sie gehen!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Aber das wollte er doch? &mdash; Dann das Bild auf die Ausstellung; weg
-damit! Eine Reise; Gletschersonne! Ein, zwei Jahre würde es schon
-reichen, das Geld für das Bild und der Rest seiner Erbschaft; er würde
-blos arbeiten. Und er hatte ja genug gelernt an ihr! Er wollt es den
-Andern schon zeigen, warum er so lange im Stillen gesessen.</p>
-
-<p>Und sie? &mdash; Sie war ja klug genug, die Professorstochter. Sie könnte ja
-Unterricht geben, oder Buchhalterin werden; oder er würde ihr selber
-was schicken. Nein, schändlich: das würde sie nicht nehmen. Und &mdash;: und
-wenn nun die Leute sie nicht wollten? mit ihrem entstellten Gesicht?!</p>
-
-<p>O, dies Gewissen! Warum hatte er dies Gewissen! &mdash; Ja, für die Kunst,
-da war’s gut. Aber fürs Leben? fürs Leben brauchte man doch kein
-Gewissen! &mdash; Nicht weil er sie verführt hatte; nein! eher sie ihn.
-Oder weil sie von den Ihren geächtet war? eine Verstoßene?! und um
-seinetwillen! &mdash; Nein: das war ja aus ihr selbst so gekommen. Warum
-war sie denn wiedergekommen, noch eh er von Liebe was ahnte; und immer
-wieder, bis sie bleiben mußte. Das war ihr Verhängnis! Ja, ihr eignes
-Verhängnis: ihr Wille!</p>
-
-<p>Weil sein Ernst sie lockte; was die Eltern auch sagen mochten. Weil
-sie <em class="gesperrt">seinen</em> reinen Willen fühlte. Aber: aber war er denn rein?
-&mdash; Ja! bis er ihn verlor, in jenem Augenblick, den Willen zur Form.
-Nein, schon vorher: bis er die Seele sah. Aber das war ja die Form,
-die bannende Seele; was er gesucht hatte, was sie gespürt hatte, warum
-sie ihm vertraute, ihm, dem Künstler. Nein, auch dem Menschen! dem
-Menschen, der über sich stand,<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> über Sich und Natur, über Seele und
-Leben, kraft seines formbeherrschenden Geistes! &mdash; Und doch nicht! Wars
-doch dieselbe Natur, die selben Sinne, der selbe Geist: die Kraft des
-Künstlers, des Menschen.</p>
-
-<p>Ja: da hing’s: jener Augenblick, jenes Bild: seine Kunst, sein Leben:
-sein Wille, ihr Wille: das war alles das Selbe, das folternde, drohende
-Selbe! Denn sein Leben, ja, das war er ihr schuldig: ihr, seiner
-Retterin! Sein Leben, seine Kunst, seine Seele; seinen ganzen Beruf und
-Zweck in der Welt.</p>
-
-<p>Er fuhr zusammen: ein neuer Wolkenschatten schlich durch die Stille.
-Er preßte die Augen zu. Er wollt es schon garnicht mehr sehen, das
-fordernde drohende Bild; er haßte es schon. Er drückte die Fäuste in
-die Augen; daß sie flimmerten. Er sah es nur mächtiger, in sprühendem
-Glanz; und sah sie, sie, wie sie <em class="gesperrt">jetzt</em> war, mit dem starren
-gestaltlosen Mund, mit dem haarlosen Kopf, mit den Narben um Wangen und
-Kinn, dem blanken, striemenroten Hals. Er stöhnte laut auf, daß ihn
-graute: vor der hohlen, einsamen Stimme.</p>
-
-<p>Da: das war doch nicht <em class="gesperrt">seine</em> Stimme? Zagend, suchend kam es
-durch den großen Raum: „riefest du?“ weich und schwer, wie der Teppich,
-den er schwanken hörte.</p>
-
-<p>Er sah nicht auf. Er fühlte, wie sie fragend stand. Nur nicht jetzt ihr
-Gesicht! Er wollte sprechen. Da kam sie.</p>
-
-<p>Er wollte den Kopf schütteln; aber ihre Hand auf seiner Schulter,
-ihr Warten! Es war nicht möglich, es zwang ihn hoch. Er mußte sie
-ansehn, ansehn: das graue Morgenkleid hinauf: ihren Hals! &mdash; und &mdash; &mdash;
-Rot! und ein brausendes Schwarz! Seele! der Blick! ihr Gesicht! das
-war Übergewalt &mdash;: da stand sie, hoch, starr, erhebend: „Ich werde
-<em class="gesperrt">gehen</em>“ &mdash; und wollte sich wenden.</p>
-
-<p>Und Er &mdash; sah sie an &mdash; an &mdash; und seine Augen wurden immer weiter, daß
-sie nicht loskonnte &mdash; immer sehender &mdash; und seine Finger tasteten
-und griffen: es zu fassen, zu halten:<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> das Unerkannte, Letzte, Eine:
-das heilige Wunder: Das, was ihn zu ihr in die Kniee riß, warum er
-sie umklammerte &mdash; weinend &mdash; „Offenbarung“ stammelnd &mdash;: ihre große
-Sittlichkeit! die Schönheit ihrer Erschütterung!</p>
-
-<p>Und nun: weich &mdash; weich, schwer und leise &mdash; sank auch sie herab an
-ihm: Knie an Knie, kinderfromm, anders wie damals. Und er küßte die
-gestaltlosen Lippen, und schlang die Hände um den haarlosen Kopf, und
-hielt sie von sich, schauend, schauend &mdash;: Nein, das lag nicht in den
-Augen, nicht in den Mundwinkeln, in keiner Einzelheit: Das würde ihn
-zur Andacht zwingen, und wenn sie ganz verschleiert vor ihm läge: diese
-herrliche Hoheit, diese selige, siegende Demut.</p>
-
-<p>Und er mußte es sagen, lachend, das Überflüssige: „ich liebe dich.“</p>
-
-<p>Und als sie sich erhoben von den Knieen, in ihrer Klarheit, und der
-breite Sonnenstrahl auf der Palette blitzte, nach der Wand hinüber,
-nach dem Myrtenbilde: da stieg es vor ihm auf, neu und mächtig: „Weißt
-du, wie ich dich malen werde? &mdash; Sturm und Nacht &mdash; Fackelbrand &mdash; nur
-Auge und Bewegung &mdash;: Magdalena, beglückt den Gekreuzigten tragend!“</p>
-
-<p>„Vom Kreuz wegtragend“ &mdash; sprach ihre Seele.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Das_hoelzerne_Bein">Das hölzerne Bein</h3>
-
-<p class="center">Humoreske</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">An einem sehr warmen Frühlingsabend saßen in einem japanischen Hotel
-vier europäische Gäste beisammen: ein Konsul mit seiner jungen Gattin,
-ein ihm vom Klub her befreundeter Baron, und ein zu Studienzwecken
-hergereister Doktor der Naturwissenschaften, der sich über diese
-Freundschaft allerlei stille Gedanken machte und daher laut über etwas
-Anderes sprach.</p>
-
-<p>„Mein verehrter Herr Doktor,“ entgegnete nun der Baron<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span> und schlug mit
-seinem Stock an sein rechtes Bein, so daß es einen harten Klang von
-sich gab, „ich möchte Ihre Philosophie, mit der Sie uns soeben erbaut
-haben, nicht auf die Feuerprobe stellen. Den Lohn, den die edle Tat in
-sich selbst tragen soll, den trägt doch wohl höchstens der Täter in
-sich selbst. Und wenn er sich keines Spiegels bedient: woraus sieht er,
-daß seine Tat edel war? Vielleicht war sie eitel Narretei. Der Spiegel
-aber mag noch so heimlich hängen, er bedeutet immer das Auge der Welt.“</p>
-
-<p>Der Angeredete blickte absichtsvoll unter den Sonnenschirm seiner
-Nachbarin und fragte angelegentlichst: „Sind Sie auch so unfrei,
-gnädige Frau? Brauchen Sie immer ein fremdes Auge, um selbst zu fühlen,
-wie schön Sie sind?“</p>
-
-<p>Die junge Frau errötete langsam, während der Baron sein
-schwarzgerändertes Einglas unter seine sandelholzrote Braue klemmte und
-mit seinen onyxschwarzen Pupillen schamlos auf ihren Gatten starrte,
-der statt ihrer lachend erwiderte: „Aber Doktor, Sie sind ja der reine
-Buddhist. Es wird Zeit, daß Sie nach Europa zurückgehn. Wenn Sie erst
-glücklicher Ehemann sind, werden Sie anders über die Damen denken.“</p>
-
-<p>Der junge Naturforscher sagte „Nie!“ mit einer beteuernden
-Handbewegung. Die schöne Frau ließ ein schüchternes „Bravo“ hören.</p>
-
-<p>Der Baron klopfte wieder an sein Bein, hob die juwelengeschmückte
-Linke, tupfte an seinen schwarzgefärbten, amerikanisch gestutzten
-Schnurrbart, um ein Gähnen zu unterdrücken, betastete noch sein rotes
-Haupthaar und versetzte kameradschaftlich: „Lieber Konsul, wozu den
-Doktor bekehren. Lassen wir ihm seine Lebensweisheit; wir sind beide
-wenig älter als er. Vielleicht ist sein männliches Selbstgefühl die
-naturnotwendige Vorbedingung zur Verübung edler Taten; ebenso wie
-das weibliche zur Begehung einer glücklichen Ehe. Ganz im Ernst,
-meine Gnädigste!“ Er zeigte seine weißen Zähne, die<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> zu blank und zu
-regelmäßig waren, als daß sie hätten echt sein können.</p>
-
-<p>Die Dame äußerte unbefangen: „Sie sind ein schlimmer Schmeichler, mein
-Freund“ &mdash; konnte aber doch nicht verhindern, daß ihr wieder eine
-Röte aufstieg. Ihr Gatte gab dem Baron sein Lächeln zurück: „Es kommt
-immer drauf an, wer den Spiegel hält!“ Und der junge Gelehrte sprach
-mit Selbstüberwindung: „Auch sind wir ja nicht hierhergekommen, um
-moralische Disputationen zu pflegen. Der Buddha dort drüben belächelt
-uns <em class="gesperrt">alle</em>.“</p>
-
-<p>Die vier so zusammen Plaudernden saßen auf der freien Terrasse des erst
-vor kurzem gebauten Hotels; es lag in der Nähe des Tempeldörfchens
-Mijama. Andere Gruppen von Reisenden saßen an den Nebentischen, unter
-den großen bunten Papierschirmen, die man noch immer aufgespannt hielt,
-obgleich die Sonne schon hinter den Bergen war. Vor der Terrasse
-standen in weitem Bogen die leeren Rikscha-Wägelchen, zwischen deren
-zwei Rädern die halbnackten Kulis lagen, als ob sie am Boden Kühlung
-suchten vor dem ungewöhnlich schwülen Aprilabend.</p>
-
-<p>Man war von Kioto herkarriolt, um das Fest der Kirschblüte anzusehen,
-das am nächsten Tage hier stattfinden sollte, und zugleich den
-berühmten Daibutsu zu betrachten, eine riesige alte Buddha-Statue aus
-ehemals vergoldeter Bronce, die auf dem Tempelhügel des Dörfchens
-ragte. Über der Waldung von blühenden Kirschbaumhainen, die sich rings
-um den heiligen Ort hochbauschte, thronte der göttliche Koloß an dem
-bleigrauen Horizont wie aus einem schimmernden Wolkenkissen.</p>
-
-<p>„Vorzüglich gelegenes Hotel“, bemerkte der Konsul mit Kennermiene;
-„wird sicher bald in Mode kommen.“</p>
-
-<p>„Auch für Staffage ist schon gesorgt“, warf der Baron nachlässig hin
-und wies auf eine Schaar einheimische Pilger,<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> die mit ihren großen
-Strohtellerhüten und schilfgeflochtenen Wettermänteln hinter den
-Rikschas kauerten; augenscheinlich durften sie dort übernachten.</p>
-
-<p>Der Konsul lachte weltkundig, während der Doktor nicht umhin konnte,
-seine Nachbarin stirnrunzelnd anzuschauen. Er hatte den Ausflug
-vorgeschlagen, hoffte endlich diesem holden Geschöpf, das für den
-spaßhaft lauten Gatten offenbar viel zu zartfühlend war, im Freien
-etwas vertrauter zu werden, und nun ließ der Baron mit seiner
-Spitzfindigkeit keinen herzlichen Ton aufkommen.</p>
-
-<p>Sie schob jetzt ihren Schirm beiseite, und er wollte ihr behilflich
-sein. Aber der Baron hatte schon einem Diener gewinkt, und der
-klappte hurtig das bunte Ding zusammen, ehe ein Andrer den Arm danach
-ausstrecken konnte. „Die Luft ist so drückend,“ erklärte sie, „wie
-unter einer Taucherglocke. Hoffentlich gibt es kein Gewitter morgen.“</p>
-
-<p>„Gnädige lieben doch sonst den Aufruhr der Elemente“, sagte der Baron
-mit starren Pupillen. Sie schien etwas entgegnen zu wollen, blickte
-aber unsicher weg, errötete wieder und erhob sich. Der Doktor,
-ebenfalls aufstehend, suchte nach einem Beruhigungswort, brachte aber
-zu seiner Verwunderung nur heraus: „Vielleicht liegt ein Erdbeben in
-der Luft.“</p>
-
-<p>Während der Konsul ihn lachend belehrte, daß Erdbeben in dieser
-Jahreszeit, was er natürlich selbst schon wußte, so selten seien wie
-glückliche Ehen, machte auch der Baron Anstalten, sich aus seinem
-Korbstuhl zu erheben. Das geschah, indem er zuerst sein rechtes Bein
-in einen rechten Winkel rückte, dann das linke dicht daneben setzte,
-den schwarzen Stock fest auf den Boden stemmte und mit einem Ruck sich
-emporschnellte; dabei zuckte flüchtig ein verbissener Schmerz durch
-sein schönes bleiches Gesicht, aber zugleich verzog er die knappen,
-himbeerrot geschminkten Lippen zu einem überlegenen Lächeln, das
-gleichsam Leidlosigkeit atmete.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span></p>
-
-<p>Es war auffällig, wie er durch dies Lächeln dem großen Buddha ähnelte,
-der über der ganzen Landschaft thronte. Auch hatte der Doktor verlauten
-hören, die Mutter des sonderbaren Herrn sei ein vornehmes Hindufräulein
-gewesen, eine Radschah-Tochter oder dergleichen. Doch wurde ihm dadurch
-nicht eben klarer, was diesen Krüppel so anziehend machte, der seine
-notgedrungene Künstlichkeit noch künstlicher aufzustutzen beliebte.
-Man wußte nicht recht, ob nur sein eines Bein oder beide nachgemacht
-waren; er bewegte sie gleicherweise wie ein paar feine Ersatzstücke.
-Und da er die rechte Hand stets behandschuht trug, selbst beim Essen
-und Billardspielen, mußte wohl irgend etwas auch daran nicht natürlich
-beschaffen sein.</p>
-
-<p>Es liefen allerlei Gerüchte um, woher er so verunstaltet wäre. Manche
-erzählten, er habe als Jüngling ein auf der Straße spielendes Kind vor
-einem durchgegangenen Pferd gerettet und sei dabei selbst überfahren
-worden; vielleicht deshalb vorhin sein leiser Spott über den Lohn
-der edlen Tat. Andere sprachen von einer Tigerjagd und einem wütend
-gewordenen Elefanten. Seine Freunde scherzten wie er selber über diese
-wilden Geschichten, und der Konsul hatte einmal, wenn auch nicht in
-seiner Gegenwart, die schnurrige Frage aufgeworfen, was für echte
-Glieder wohl an ihm blieben, wenn er abends ins Bett stiege.</p>
-
-<p>Zur Zeit trug er wiegesagt tiefrotes Haar und einen kurzen schwarzen
-Schnurrbart; vor etwa einem halben Jahr, als der Doktor ihn kennen
-lernte, hatte er die Farben umgekehrt getragen. Man munkelte, daß
-er sich wie ein Perser den Schädel kahl rasieren ließe und zwölf
-verschiedene Perücken benutzte, vom harten Gelbrot bis zum weichsten
-Schwarzrot, für jeden Monat eine andre. Sicher echt war, außer seinen
-Juwelen, nur der steinige Glanz seiner schwarzen Augen, der jedes
-Mitleid weit von sich wies, und der metallische Klang seiner Stimme,
-der an die schwere Verhaltenheit des deutschen Waldhorns erinnerte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span></p>
-
-<p>„Der Buddha macht schon Nachttoilette“, sagte er plötzlich zu der Frau
-Konsul, nach dem Koloß am Horizont hindeutend. Der hockte auf seiner
-weißen Blütenwolke, wie mit einem golddurchwirkten dunklen Florhemd
-angetan, und sein verwittert lächelndes Antlitz schien von himmlischen
-Ahnungen umschimmert. „Wir wollen auch bald zur Ruhe gehn“, antwortete
-die schöne Frau, nur halb einen Seufzer unterdrückend, der den Doktor
-ebenso sehr entzückte, wie der Witz des Barons ihn verdroß.</p>
-
-<p>Sie traten in die Hotelhalle und begaben sich an den Fahrstuhl, der
-sie ins erste Stockwerk befördern sollte. Der Baron mit der Dame nahm
-den Vortritt; vier hatten nicht Platz in dem schmalen Kasten. Als der
-Doktor neben dem Konsul nachfuhr, bemerkte dieser mit seinem üblichen
-Lachen: „Famoser Knabe, der Herr von Hinkebein! Gewöhnt meiner Frau die
-Romantik ab!“</p>
-
-<p>Oben stand der Baron bereits im Begriff, sich von ihr zu verabschieden;
-in dem elektrischen Licht des Korridors sahen seine Augen noch
-verhärteter aus, und die ihren noch schmelzender. „Gute Nacht! Auf
-schönes Wiedersehn!“ sagte er mit der verhaltenen Stimme und zog ihre
-Hand an seine Lippen; sie nickte, wie schon halb im Traum.</p>
-
-<p>Der Doktor wollte auch etwas Zartes sagen; aber der Baron kam ihm
-wieder dazwischen. „Gute Nacht, Doktor!“ intonierte er schärfer, ihm
-die behandschuhte Rechte hinstreckend; „und träumen Sie von edlen
-Taten!“ Der junge Gelehrte konnte nur spöttisch erwidern: „Leider bin
-ich kein Joseph, Baron!“ Und unter dem Lachen des Konsuls suchte er,
-etwas verstimmt, sein Zimmer auf.</p>
-
-<p>Mitten in der Nacht erwachte er schreckhaft, trotzdem er sonst ein
-gesunder Schläfer war. Ihm hatte geträumt, die schöne Frau habe von
-fern um Hilfe gerufen, sodaß er aus dem Bett springen wollte; aber am
-Fußende stand der Baron und<span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span> hielt ihn an beiden Beinen gepackt, um sie
-ihm aus dem Leibe zu ziehen.</p>
-
-<p>Während er noch darüber nachsann und seine Glieder erleichtert dehnte,
-fühlte er unversehens ein Schwanken, als läge er in einer Kajüte. Er
-hielt es noch immer für Traumnachwirkung, aber da knackte und knarrte
-es in den Wänden, als wollte das Haus aus den Fugen gehen, und zugleich
-kam von der Terrasse her ein verworrenes Geschrei vieler Stimmen, sodaß
-er nun wirklich vom Bett aufsprang.</p>
-
-<p>Also doch ein Erdbeben! dachte er mit einer gewissen Genugtuung, indem
-er die Beleuchtung andrehte. Er hatte noch keinem beigewohnt und war
-jetzt einigermaßen erstaunt, daß er von seinem Schreck nichts mehr
-spürte, auch nichts von der fiebrigen Unruhe, die nach den meisten
-Beschreibungen mit einem solchen Erlebnis verbunden sein sollte.
-Freilich wußte er, daß bei Neulingen die Angst am gelindesten auftreten
-sollte, und daß das Hotel bebensicher gebaut war; aber immerhin, er
-konnte zufrieden sein mit seinem wissenschaftlich gestählten Gemüt.</p>
-
-<p>Er warf sich rasch in die Kleider, nahm seine Reisetasche und eilte die
-nächste Treppe hinab; sämtliche Korridore waren erleuchtet, und in den
-Dielen knackte es wieder. Die Terrasse lag jetzt menschenleer; aber im
-Halbdunkel bei den Rikschas schob sich ein zappliges Getümmel, Gäste
-und Kulis durcheinander. Nur die Pilger knieten oder kauerten abseits,
-laut ihre Rosenkränze abbetend und nach dem Buddha hinüberstarrend,
-dessen lächelndes Antlitz wie trunken glühte. In dem Tempeldorf schien
-ein Brand ausgebrochen; eine riesige rauchige Flammengarbe stand
-hellrot über den Kirschblütenwipfeln, und dumpfe Gongtöne dröhnten her.</p>
-
-<p>Unberührt von alldem saß bei dem vordersten Wagen, nur mit Hut und
-Hemdchen bekleidet, ein kleines amerikanisches Mädchen, das mehrmals
-die Hand auf die Erde legte, als ob es etwas fühlen wollte. „<span class="antiqua">Doesn’t
-move</span>“, rief es schließlich ent<span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span>täuscht seiner aufgeregten Mutter
-zu, die sich mit einem Kuli zankte. Dem Doktor fiel ein, daß er in der
-Eile seine Uhr oben hatte liegen lassen; zugleich aber schüttelte ihn
-ein Erdstoß, von dem die ganze Terrasse wankte, und durch die Hausmauer
-fuhr ein knirschender Riß.</p>
-
-<p>Er stand noch prüfend und überlegend, ob er trotzdem zurücklaufen
-sollte, als zwischen mehreren flüchtenden Gästen der Konsul aus der
-Halle gerannt kam und ihn mit verstörtem Lachen begrüßte. Dem Doktor
-fiel ein, daß er in der Eile auch noch garnicht an die Andern gedacht,
-sie auch nirgends gesehen hatte, und aufgebracht schrie er den
-Lachenden an: „Aber wo ist denn Ihre Frau?!“</p>
-
-<p>„Ja! Wo?“ schrie dieser, noch sinnloser lachend. „Ich habe genug an ihr
-Zimmer geklopft, und da sie keine Antwort gab, meint’ich natürlich, sie
-sei schon unten.“</p>
-
-<p>„Also zurück!“ schrie der Doktor nun, warf seine Reisetasche weg
-und stürmte zur Treppe, wieder hinauf. Die Vorstellung, daß dies
-entzückende Weib, das sich gestern Abend in rührender Müdigkeit kaum
-noch aufrecht zu halten vermochte, vielleicht von einem plumpen Stück
-Wand im Schlaf verstümmelt werden könnte, empörte ihn gegen den lauen
-Gatten und gab seinen Schritten wilde Flügel. Atemlos stand er vor
-ihrem verriegelten Zimmer, klopfte, horchte &mdash; und klopfte stärker;
-eine tolle Freude durchzuckte ihn, daß sie den Konsul ausgesperrt hatte.</p>
-
-<p>Jetzt kam auch der herangekeucht, und sie klopften Beide an der Tür,
-horchten, klopften und trommelten &mdash; horchten nochmals: nichts rührte
-sich drinnen. Auf einmal ruckte, krachte es allenthalben, und sie
-hörten einen erstickten Angstruf. Der Doktor packte taumelnd den
-Türgriff, der Konsul desgleichen: das Schloß sprang auf. Es war also
-garnicht verriegelt gewesen; doch Bett und Zimmer waren &mdash; leer.</p>
-
-<p>Sie starrten einander verdutzt ins Gesicht, da kam eine neue Stoßwelle
-nach, und wieder ein unterdrückter Angstschrei. Kein<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span> Zweifel, das
-war <em class="gesperrt">ihre</em> Stimme; nur kam sie von jenseits des Korridors. In
-diesem Augenblick fühlte der Doktor, wie sich vor Schreck seine Haare
-sträubten: er sah die Gesichtshaut des Konsuls lakenweiß werden,
-während er selbst bis über die Schlafen wie ein Junge errötete: die
-Stimme kam aus dem Zimmer des Barons.</p>
-
-<p>Der Konsul machte eine Grimasse, blickte plötzlich wie ein Rasender
-um sich und stürzte nach dessen Tür hinüber; es schien, er wollte sie
-einschlagen. Aber sie öffnete sich bereits, und er prallte mit offenem
-Munde zurück. Auf der Schwelle erschien der Baron, prangend in seinem
-vollen Schmuck, blos das rechte Bein fehlte in der Hose; hinter ihm
-stand die schöne Frau, in ihrem langen Nachtgewand, die Augen von
-reinstem Mitleid verklärt, und hielt mit zärtlichem Entsetzen zwischen
-den aufgelösten Flechten sein Holzbein an ihrem verhüllten Busen.</p>
-
-<p>Kerzengrad auf den Krückstock gestützt, trat er in den Korridor, ohne
-mit einer Miene zu zucken. „Es wimmelt ja heute von edlen Taten!“ sagte
-er und begann zu lächeln; „die Gnädige wollte mich auch schon retten.“</p>
-
-<p>So sprechend reichte er mit starren Pupillen, während sie in
-schwärmerischer Verschämtheit das Bein mit ihrem Haar zudeckte, dem
-endlich wieder lachenden Konsul seine juwelenblitzende Linke. Und der
-Doktor sah im Hintergrund durch das weitgeöffnete Zimmerfenster den
-feuertrunken lächelnden Buddha über der Blütenwolke thronen.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Die_gelbe_Katze">Die gelbe Katze</h3>
-
-<p class="center">Burleske</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Nichts wirkt bestimmender als das Unbestimmte. Mit dieser Nutzanwendung
-pflegte mein Bruder Ernst mir seine Erlebnisse zu berichten. Jetzt ist
-er tot. Kurz vor seinem Ende schrieb er mir Folgendes.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span></p>
-
-<p>Wenn die Frau, für die ich meine eigne verlassen wollte, mit mir von
-ihrem Manne sprach, kam sie mir immer häßlich vor. Ihre bräunliche
-Haut wurde dann gelblich, das wilde Haar schien schwarzer und tiefer
-in die Stirn gewachsen, der Pechglanz ihrer Augen wurde siechend und
-der Ausdruck des schwungvollen Mundes hilflos. Ich nannte das ihr
-Dienstmädchengesicht; aber es war mir unerklärlich.</p>
-
-<p>Sie beherrschte den Mann; aber das konnte sie doch nicht mehr fesseln.
-Sein Körper war ihr unerträglich geworden, sein spöttischer Witz nicht
-minder. Seine Rachsucht fürchtete sie nicht, und seine Gutmütigkeit
-verachtete sie. Für Freiheit schwärmte sie wie eine russische Fürstin.
-Warum also blieb sie noch bei ihm?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Freilich hatte sie ein Kind von ihm. Aber das faßte sie nicht gern an,
-trotzdem sie es sehr lieb zu haben glaubte. Mit meinem Töchterchen
-spielte sie lieber und sehnte sich nach einem Sohn von mir.</p>
-
-<p>Auch auf sein Geld war sie nicht angewiesen; er hätte ihr das ihre
-nicht vorenthalten, er war ein Ehrenmann. Daß er mich im Duell
-erschießen könnte, befürchtete sie ebenso wenig; ich hätte ihm zu Ehren
-mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt &mdash; (hier log mein Bruder Ernst) &mdash;
-und ihr zu Liebe brauchte ich’s nicht, mein Dasein war ihr werter als
-das Urteil der Leute.</p>
-
-<p>„Ist es, weil du dich vor deinen Eltern schämst?“ fragte ich sie eines
-Tages, während wir auf einem Ausflug waren.</p>
-
-<p>„Ja, vielleicht“ &mdash; sie lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen
-schillerten. Dann machte sie ihr Schlangengesicht, als wollte sie das
-Wort verschlucken; und gleich drauf lachte sie wie eine Bachantin.</p>
-
-<p>Wir gingen durch mein Lieblingsdorf, ein Krondorf aus der Zeit des
-großen Friedrich. Es war an einem Karfreitag. Zu Ostern wollte sie in
-ihre Heimat reisen; der Frühling am<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span> Rhein war ihr das Paradies. Wenn
-sie davon sprach, erschien sie mir wie die leibhaftige Jungfrau Maria;
-ihre nachtbraunen Augen verklärten sich.</p>
-
-<p>Die Kastanienknospen standen schon ganz dick und grün; manche machten
-schon die Finger auf. Die Ahornblüten glänzten goldgelb durch den
-blauen Abend. „Daraus mach ich mir ein Feeenszepter“, sagte sie, „wenn
-ich mit meinem Vater durch die Berge reite.“</p>
-
-<p>Ich sah sie an &mdash; „Es gibt auch böse Feeen, du“ &mdash; und wollte sie
-küssen. Zwischen ihre schwarzen Brauen trat ein queres zuckendes
-Fältchen; wie immer, wenn sie sich mir überlegen fühlte. Die üppige
-Nase zuckte mit. Ich küßte nicht.</p>
-
-<p>Plötzlich wurden ihre Pupillen lüstern groß. „Sieh, wie unheimlich!“
-flüsterte sie und zeigte über die Straße. Alle ihre Sommersprossen,
-selbst auf den Lippen, schienen verschwunden. Der schwellende Mund
-wurde dunkler. Das war ihr Hexengesicht; das sechste, das ich an ihr
-unterschied.</p>
-
-<p>Ich ging mit ihr hinüber. Auf einem künstlichen Hügel stand ein
-seltsames Häuschen hinter dem Zaun. Es war stets unbewohnt, ich kannte
-es schon. In der hellen Dämmerung sah es noch spukhafter aus.</p>
-
-<p>Zwei riesige Platanen streckten ihre noch kahlen Äste wie
-Leichenknochen über das flache Dach. Die Wände waren fahl und fleckig.
-Links wiegte ein verkrümmter Lebensbaum sein finstres Laub. Mitten
-aus der Vorderwand schob sich ein rundes Spitztürmchen vor, das an
-chinesische Hüte erinnerte; die Tür war verschlossen. Um die kleinen
-Bogenfenster krochen Borten aus gotischem Schnörkelwerk; die Scheiben
-waren so schwarz wie die Pupillen meiner Begleiterin. Zwischen der
-rechten Ecke des Hauses und dem Stamm der einen Platane ging die
-gelbrote Sonne unter.</p>
-
-<p>„Hier möcht ich manchmal wohnen“, sagte die schöne Frau. In diesem
-Augenblick kam langsam über den Hügelrücken,<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span> grade wie aus der Sonne
-heraus, eine große gelbrote Katze und setzte sich vor die verschlossene
-Tür.</p>
-
-<p>Das Bild verstimmte mich, so tief voll Stimmung es war. Die
-schwarzbraunen Augen des Viehes erinnerten mich unbestimmt an
-eine Kindesmörderin aus einem Wachsfigurenkabinett. Die Sonne war
-verschwunden; das Fell sah nun noch gelber aus, fast seidig. Sie
-starrte blinzelnd herunter auf uns; mich fröstelte. Ich klatschte in
-die Hände; sie lief weg.</p>
-
-<p>Die schöne Frau war zusammengefahren und sah mich etwas unwillig an.
-„Ich liebe Hauskatzen nicht“, sagte ich rauh. Sie nickte stumm und
-nahm hingebend meinen Arm. Wir wandten uns zur Heimkehr, aber der böse
-Eindruck verließ mich nicht. Je zärtlicher sie mit mir sprach, umso
-verstimmter wurde ich. Ich schob es auf den Karfreitag. Immerfort durch
-unser Geflüster hörte ich Jesu Trostwort an den gekreuzigten Mörder:
-Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.</p>
-
-<p>Fast verlegen küßte ich sie zum Abschied, und sagte lachend: „Auf
-Wiedersehen, Magdalena.“ Sie machte ihr Jungfraungesicht.</p>
-
-<p>Die Nacht drauf träumte mir &mdash; (mein Bruder Ernst hielt nämlich Träume
-ebenfalls für Erlebnisse) &mdash; ich sähe aus dem Fenster und schräg mir
-gegenüber stünde das seltsame Häuschen. In den schwarzen Scheiben
-glomm das Sternlicht. Plötzlich wurden sie blendend hell. Das ganze
-Haus stand erleuchtet bis in den löchrigen Schornstein hinauf. Fenster
-und Türflügel klappten auf; und aus Allem, was offen war, Luken und
-Löchern, vom Dach herab und von den Wänden, sprangen unzählige schwarze
-Katzen und stoben lautlos in die vier Winde. Zuletzt kam langsam eine
-große rötlich-gelbe aus der Tür, starrte blinzelnd nach mir her, und
-verlor sich gleichfalls in die Finsternis. Dann schloß das Haus sich
-ebenso lautlos und war mit Einem Schlag wieder dunkel.</p>
-
-<p>Der Morgen kam. Ich saß mit meiner Frau beim Kaffee;<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> wir besprachen
-unsre Trennung. „Wenn du mit Bestimmtheit fühlst“, sagte sie mit ihrer
-treuen Stimme, „daß die Andre für dein Glück geschaffener ist als ich,
-darf ich dich nicht halten“ &mdash; da ging die Flurglocke.</p>
-
-<p>Das Dienstmädchen meldete, ein fremdes Fräulein wünsche mich zu
-sprechen; ich ging ins Nebenzimmer. Eine große junge Dame trat mir
-entgegen; ich erschrak. Sie war ganz in gelbrote Seide gekleidet, ihr
-schwarzes Haar bedeckte ein Strohhut mit einem Zweig von künstlichen
-Ahornblüten; sie hatte alle Züge der schönen Frau, nur nicht so
-sarazenisch, gleichsam zahmer. Ich stand sprachlos.</p>
-
-<p>War sie’s doch vielleicht? Nein! Gestern war sie verreist. Und jeder
-Gesichtszug war mir doch fremd. Und eine Schwester hatte sie nicht.</p>
-
-<p>Die Dame lächelte kindlich; ihre tausend Sommersprossen schillerten.
-„Sie kennen mich wohl nicht“, fragte sie leise; ich verneinte
-beklommen. „Ich bin die gelbe Katze“, sagte sie schnurrig; mich
-fröstelte. Dann fiel mir ein: vielleicht ein Vexierscherz der schönen
-Frau &mdash; sie hatte Bekanntschaft in Bühnenkreisen. Die Dame blinzelte,
-und zwischen ihre Brauen trat ein queres Fältchen; „ich soll Sie
-abholen“, flüsterte sie.</p>
-
-<p>Aus ihren Augen sah ein schlangenhafter Glanz, der mich bestrickte.
-Gleich? fragte ich. „Gleich!“ Wir gingen.</p>
-
-<p>Wir gingen schweigsam die Treppen hinunter; vor der Tür stand ein
-Wagen. Wir fuhren durch zahllose Straßen, ebenso schweigsam; sie schien
-mich garnicht zu beachten. Die Straßen wurden enger, die Häuser immer
-höher, die Gegend mir unbekannt. Einmal nickte sie flüchtig; da sah ich
-eine schwarze Katze durch einen Torweg haschen. Einmal strich sie sich
-ihr wirres Haar mit ihrem gelben Handschuh glatt. Endlich hielt der
-Wagen; ich folgte ihr willenlos.</p>
-
-<p>Wir gingen durch einen dumpfigen Hof, dann mehrere eiserne Stiegen
-empor, und durch viele halbdunkle Gänge.<span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span> Ein wahres Labyrinth von
-Haus; die Luft roch modrig. Vor einer pechschwarzen Flurtür machte sie
-Halt und drückte auf etwas Unsichtbares. Die Tür sprang auf, ich stand
-geblendet. Eine stechende Lichtpracht schlug mir entgegen, wie von
-tausend Kronleuchtern her.</p>
-
-<p>Als ich zu mir kam, stand ich in einem Saal, der unabsehbar schien;
-vor mir, hinter mir, nach allen Seiten Spiegelwände. Und mitten durch
-den Saal, der Länge nach, von allen Seiten widergespiegelt, stand eine
-endlose Reihe von lautlos sich drehenden schwarzgekleideten Damen und
-lautlos hopsenden mausegrauen Herren, wie nach dem Rhythmus einer
-übersinnlichen Tanzmusik.</p>
-
-<p>Keine der Damen &mdash; (hieraus entnahm ich, daß mein Bruder Ernst noch
-immer träumte) &mdash; hatte blos Einen Herrn, die meisten zwei, manche
-auch drei; einige schienen ein Dutzend zu haben, falls mich die
-Spiegel nicht täuschten. Alle trugen sie, so lustbar sie sich drehten,
-einen sonderbar hilflosen Trübsinn zur Schau, fast wie Automaten; die
-mittelste hielt ein weinendes Kind im Arm.</p>
-
-<p>Immer wenn sich eine der Damen dem einen ihrer Herren etwas tiefer
-hinbog, tat dieser einen besonders hohen Hops, sodaß die mausegrauen
-Frackschöße, die sonst bis auf den Boden schlappten, die Luft
-durchschwänzelten. Dann warfen ihm die andern Herren, zumal die dicken,
-wütende Blicke zu; aber die Dame lächelte kindlich, dann wurden selbst
-die dicksten wieder sanft.</p>
-
-<p>Mir fing an schwindlig zu werden; ich sah mich um nach meiner gelben
-Führerin. Ein Schauder beschlich mich: alle ihre Sommersprossen waren
-verschwunden. Die Pupillen hexenhaft groß, stand sie wie die Fürstin
-dieses Tanzspiels da und schüttelte die bachantischen Locken. Ihr Haar
-war aufgegangen, der Strohhut lag am Boden. In der Rechten hatte sie
-den falschen Ahornblütenzweig und schwang ihn wie ein<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> Szepter. Das
-Gesicht war dunkelbraun, die schwungvolle Nase schien verbogen. Sie
-nickte mir zu.</p>
-
-<p>In diesem Augenblick sprang hinter ihr die Spiegeltür von neuem
-auf; und stumm herein, in mausegrauem Frack, die Schöße zwischen
-den Fingerspitzen, grad auf mich los, kam der Gatte der schönen
-Frau gehopst. Ich wollte schon laut herauslachen, da seh ich in
-der Spiegeltür, die langsam wieder zugeht, entsetzt mich selbst im
-mausegrauen Frack, und plötzlich fang ich auch mit zu hopsen an.</p>
-
-<p>Ich ringe verzweifelt nach Stillstand. Ich werfe der schönen Frau
-die ernstesten Blicke zu. Vergebens. Je tiefer sie mir in die Augen
-blinzelt, umso höher hopse ich.</p>
-
-<p>Ich suche dem Gatten näher zu kommen. Ich will ihn aufreizen, mich zu
-packen. Er sieht mich spöttisch an und hopst.</p>
-
-<p>Ich will ihm beweisen &mdash; ich hopse. Ich will ihm zeigen &mdash; er hopst.
-Ich will ihn zu Boden schlagen &mdash; wir hopsen.</p>
-
-<p>Ich will der schönen Frau zu Füßen stürzen. Ich will sie beschwören,
-gnädig zu sein. Ich will und will, und kann es nicht &mdash;: ihre braune
-Haut wird häßlich gelb, ihr Haar scheint mähnenhaft gesträubt und
-tiefer in die Stirn gewachsen, ihr Blick wird stechend, der Ausdruck
-des üppigen Mundes hilflos: sie hat ihr Dienstmädchengesicht.</p>
-
-<p>Ich schreie schmerzhaft auf &mdash; und bin wach.</p>
-
-<p>Neben mir am Bett stand meine Frau mit unserm Töchterchen und strich
-mir durchs Haar. „Vater“, sagte die Kleine bedächtig: „du hast so
-furchtbar komisch im Schlaf ausgesehn.“ Ich küßte beiden die Hände.</p>
-
-<p>Seit diesem Morgen &mdash; so schloß mein Bruder Ernst sein seltsames
-Schreiben &mdash; ist mir die gelbe Katze nicht mehr gefährlich. Bald darauf
-starb er in einem Duell; er hatte der Dame Lebwohl sagen wollen, und
-die Wände hatten Ohren gehabt. Er starb durch die zitternde Hand des
-Herrn Gemahls; er, der vortreffliche Schütze. Nichts wirkt bestimmender
-als das Unbestimmte.</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span></p>
-
-<h3 id="Die_Gottesnacht">Die Gottesnacht</h3>
-
-<p class="center">Ein Erlebnis in Träumen</p>
-
-</div>
-
-<h4 id="Erster_Traum">Erster Traum</h4>
-
-<p class="mtop2">Ich spürte, ich würde gleich einschlafen. Und ich wünschte es sehr nach
-den tristen Gedanken, die wegen der abends empfangenen Todesnachricht
-seit Stunden in mir rumorten. Ich sann noch über den Eigensinn
-nach, mit dem sich die junge Selbstmörderin die langsamste Todesart
-ausgesucht hatte; doch ich war schon erlöst von dem Sinn in den
-Worten, die durch mein müdes Gehirn schossen. Ich hörte beseligt den
-Drosselgesang, der aus dem Wort Erdrosselung klang, und wunderte mich
-über die Bilder, die sich aus jedem Satzglied entpuppten. Da stand sie
-auf einmal deutlich vor mir: die rätselhafte Gliederpuppe.</p>
-
-<p>Wie war sie nur in mein Zimmer gekommen? Da stand sie zwischen Tür und
-Schrank mit ihrem wachsbleichen Gesicht wie eine Auferstandene. Die
-großen gläsernen goldbraunen Augen starrten mir so bekannt ins Herz,
-als hätten sie schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht.
-Und ein Schmelz war darin, als ob sie lebten; als ob sie mich liebten;
-fast mütterlich. Aber natürlich, das schien nur so; ich mußte mich
-nur recht erinnern. Denn ja, meine Mutter hatte sie ja meinen Kindern
-zu Weihnachten geschenkt, diese lebensgroße Gliederpuppe; und das
-Lächeln um die schmalen Lippen blieb immerfort so unbeweglich, wie
-die Falten des steifen brokatenen Mantels um ihre sanftgeschwungenen
-Achseln. Ja, sie war tot; tot wie die schönen phantastischen Blumen
-dieses alten indischen Tempelmantels, der sie bis zu den Füßen hinab
-verhüllte. Zwischen solchen Blumen spielte ich einst und pflückte einen
-Strauß davon; für ihre bleichen gefalteten Finger. Damals hatte ich
-sie noch angebetet. Denn sie thronte auf einem vergoldetem mit Rubinen
-und Perlen geschmückten<span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span> Altar und war die Göttin der Barmherzigkeit;
-das war wohl viele hundert Jahre her. Warum sah sie mir nun so starr
-ins Herz, als ob ich sie getötet hätte? Sie hatte sich doch selbst
-entleibt! Ich träumte wohl?</p>
-
-<p>Nein, sie hielt ja noch immer die Finger gefaltet und stand groß
-zwischen Tür und Schrank. Wenn ich nun mit ihr betete, ob sie sich dann
-vielleicht rühren würde? Denn sie war doch früher beweglich gewesen;
-wenn ich an ihre Gelenke rührte, dann klirrten noch die zersprungenen
-Drähte, bis in den hohlen Brustkorb hinein. Ich seufzte auf, da
-klirrten sie wieder; und ihre Arme zuckten ein wenig. Ob sie mich
-niemals mehr anrühren würde? mich immer blos so unverwandt ansehn? Ich
-spürte ein Stechen in meiner Brust, als ob aus den Drähten elektrische
-Funken herzuckten. Ich hörte wieder das leise Klirren; oder klang noch
-immer der Drosselgesang? Ich wollte beschwörend die Hände ausstrecken,
-aber das Stechen in meiner Brust drang mir bis in die Fingerspitzen.
-Ich wollte wegblicken &mdash; da blickt sie mir nach.</p>
-
-<p>Ich träume ja nur! will ich mir einreden; aber sie blickt auf meine
-Hände. Auf den Rubinring an meiner Linken; der beginnt zu glühn wie
-ein Altarlämpchen. Auf den Trauring an meiner Rechten; der beginnt
-zu glänzen wie Tränenperlen. Und auf den Ring, den mein Vater mir
-schenkte, als ich noch keinem Weibe gehörte. Warum quälst du mich,
-Mutter? will ich stöhnen; aber ihr Blick verschließt mir den Mund. Ich
-will mich aufrichten; ich liege gebannt.</p>
-
-<p>Ihre Augen beginnen zärtlich zu leuchten, und der Glanz der Ringe
-wird funkelnder. Ihre Augen funkeln begehrlich mit; der Glanz der
-Ringe erlischt auf einmal. Das sind nicht meiner Mutter Augen! meine
-Mutter blickt sanft, meine Mutter ist fromm! Das sind auch nicht mehr
-die goldklaren Augen, die ich einst angebetet habe, weil die Mutter
-meiner Kinder so blickt. Diese Augen sind schwarz, nein dunkelgrau,
-und kennen<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> nicht Treue noch Gottesfurcht; es sind die Augen der
-Selbstmörderin. Warum hast du dich aber töten müssen? will ich sie
-fragen und höre entsetzt: du hast es doch gewollt, mein Geliebter!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ich will es leugnen und sehe ihr Lächeln. Vielleicht hat sie garnicht
-die Worte gesprochen. Oder vielleicht verstand ich den Sinn nicht;
-sie sprach von jeher so doppelsinnig. Doch sie läßt den Kopf so
-sonderbar hängen. Ach ja: ich wollte sie ja erdrosseln. Ich höre wieder
-den Drosselgesang; aus dem Wald meiner Heimat kommt er her. Gleich
-wird mein Vater zwischen den Bäumen erscheinen. Nein, es ist ferner
-Flötenklang. Nein, eine Geige jubelt bang. So hat mein toter Freund
-einst gespielt, als wir noch kindisch durchs Haidekraut liefen und
-hinter den Birken die Waldfee suchten. Ach, ein König der Geiger wollte
-er werden, und kommt jetzt gramvoll dahergeschritten im Gefolge der
-Königin. Am Waldrand macht der Jagdzug Halt; und wir beugen alle das
-Knie vor ihr.</p>
-
-<p>Warum blickt sie uns so prüfend an mit ihren silbergrauen Augen? Das
-ist mein Freund nicht, das bin ich selbst &mdash; und die Königin Elisabeth
-winkt mir. Erhebe dich, Shakespear! flüstert sie; und ich fühle, wie
-wir uns aufrichten. Er trägt noch die schwarze Scholarentracht, worin
-er der Schule entlaufen ist, und einen verrückten alten Brokathut mit
-gelben Papageienflügeln. Denn ich weiß, wir müssen uns wahnsinnig
-stellen vor der treulosen Königin. Denn sie hat ihn begehrlich
-angeblickt, als ich gestern „Venus und Adonis“ beim Bankett der
-Jagdgäste deklamierte; er aber liebt ihre Kammerdame, die Augen wie
-eine Göttin hat, wie eine Waldfee, wie ein Reh. Das äugt in Todesangst
-durch die Büsche, und ich stehe und stiere es an wie ein Bluthund. O,
-wie gut wir uns wahnsinnig stellen können, wenn wir nichts als eine
-Göttin lieben und solchen verrückten Hut aufhaben! Und nun ahnt sie,
-wieso er Schauspieler wurde und den armen Hamlet gedichtet hat;<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span> und
-wir schwenken den Hut vor der treulosen Königin, und sie lächelt in
-Barmherzigkeit.</p>
-
-<p>Sie lächelt immer barmherziger; es dringt uns stechend durch Brust und
-Gehirn. Ich will ihr den Hut vor die Füße werfen, und tue es, und stehe
-erstarrt: der Hut hat schwarze Drosselflügel und fliegt zurück auf
-meinen Kopf. Ihr Lächeln wird so grausam barmherzig, daß ich sie dafür
-umbringen möchte. Du hast es ja schon getan, mein Geliebter! raunt
-sie mir unbeweglich zu. Es ist nicht wahr! will ich aufstöhnen; doch
-sie läßt den Kopf so sonderbar hängen. Ist das die englische Königin
-noch, oder blos die indische Gliederpuppe? Wenn sie noch lange da bei
-der Tür steht, wird sie mich wirklich wahnsinnig machen. Warum quält
-sie den armen Hamlet so? sie ist doch seine leibliche Mutter! Sie hat
-doch Augen wie eine Gottheit und blickt mir stechend in mein Gehirn. Ob
-Gott überhaupt nur ein grausames Weib ist? in steter Verpuppung?! die
-Allmutter! &mdash; Aber sie hat ja zersprungene Drähte und läßt den Kopf so
-sonderbar hängen! &mdash; Ich glaube nicht mehr an Gottheiten! knirscht mein
-erstarrter Mund ihr entgegen. Und mit ungeheurem Triumphgefühl weiß
-meine Seele: ich träume nur!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Wenn nur die Drähte nicht immerfort klirrten! das ist doch wirklich
-verwunderlich. Sie klirren lauter, und immer lauter; so laut wie die
-kleine alte Orgel in der Kirche meiner Vaterstadt. Ich lese die goldene
-Jahreszahl 1693 auf dem schwarzlackierten Täfelchen zwischen den elf
-Apostelbildern. Denn der treulose Judas fehlt natürlich; das habe ich
-schon als Kind begriffen. „Salvator Mundi“ steht unter dem zwölften
-Bild, auf klarem, himmelblauem Grund; und neben der eisenbeschlagenen
-Tür thront lächelnd die Mutter mit dem Kinde. Ich höre die Orgel ihr
-Lob anstimmen und weine vor Weihnachtsseligkeit. Die silbernen Fransen
-der Altardecke schwimmen in meinen perlenden Tränen. Ich spiele mit
-diesen schönen<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> Perlen, und lächelnd sieht mir die Mutter zu. Ich bin
-wieder Kind auf ihrem Schooß, und wundre mich nun garnicht mehr. Ich
-bin blos im stillen ein bißchen erstaunt: der Apostel Thomas hat drei
-Hände. Zwei kleinere, die sind wohlgepflegt; aber aus seinem braunroten
-Mantel langt eine dritte, große, aussätzige. Die umklammert ein Buch
-und ist mir entsetzlich. Ich darf mich aber kein bißchen rühren, sonst
-würde sie nach mir herlangen. Ich starre das Buch an: ob Bücher krank
-werden können&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>und atme plötzlich erleichtert auf: ich erkenne, es ist ja gar keine
-Hand: es ist nur eine Falte des Mantels, die über das Buch geschoben
-liegt. Ich möchte sie wegtun, ich darf aber nicht; sonst kommt der
-Küster und schlägt mir das Buch um die Ohren. Sie dröhnen mir schon;
-er schlägt immer dröhnender. Er schlägt mich wohl mit Glockenschlägen?
-Sie schallen mir donnernd ins Gehirn. Nein, Blitze schlagen wohl um
-mich ein; o Himmel, Hilfe, sie werden mich treffen! Ich will mich
-verstecken; o Mutter, wo bist du?! Ein blendender Strahl schließt
-mir die Augen; ich bin getroffen; der Strahl zerreißt mich. Ein
-unabsehbarer Farbenstrudel spritzt himmelansprühend aus meinem Kopf.
-Ich schreie vor Wonne: mein herrlich Gehirn! Und eine Stimme erwidert
-von oben: es ist bis über die Sterne gespritzt. Ich will ihm nach: o
-himmlisches Licht! Es scheint mir ins Auge; ich erwache.</p>
-
-<p>Auf meinem Nachttisch brannte die Kerze noch, bei der ich, um meine
-Gedanken zu stillen, in Shakespears Sonetten geblättert hatte; und an
-der Wand zwischen Tür und Schrank blitzte der Rand des Spiegelglases
-über dem Bildnis meiner Mutter. Ich schlug das Buch zu und löschte die
-Kerze.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich möchte keiner Flamme bekennen,</div>
- <div class="verse">was für Blicke in uns Menschen brennen.</div>
- <div class="verse">Kein Spiegel wird uns je klar machen,</div>
- <div class="verse">welche Augen in unserm Schlaf erwachen.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span>
- <div class="verse">Zwischen dunkeln Wänden ahn’ich mit Beben,</div>
- <div class="verse">wieviel Geister hinter jedem Geist leben.</div>
- <div class="verse">Denen kann ich nichts vorscheinen;</div>
- <div class="verse">denen wird mich das Licht einst einen,</div>
- <div class="verse">wo wir Alle in Schweigen schweben,</div>
- <div class="verse">Alle im Reinen ...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 id="Zweiter_Traum">Zweiter Traum</h4>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Wir gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben
-lag die Försterei in tiefem Schnee. Die klare Kälte machte alle stumm;
-der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. Die Teckel hielten
-sich, vor Frost humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. In
-dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren
-Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen Pelzen.
-Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, wieso dabei schon
-wieder: mir kam der liebe Gott in Sinn.</p>
-
-<p>Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus
-einem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorf drüben her, auf ihrem
-Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem
-Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel, keifend,
-auf ihn los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll;
-den Schwanz eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen
-lustiger. Er begreift; und hussa, alle Schwänze hoch, stiebt die wilde
-Jagd, schneeumspritzt, bellend und belfernd den Weg hinunter, die
-falsche Richtung für die gute alte Frau, die schimpfend und jammernd
-auf dem stuckernden Wagen sitzt, mit beiden Armen ihre Semmelkiepe
-umklammernd. Wir, lachend, hinterdrein mit langen Sätzen; am Bahndamm
-unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel drücken sich beschämt zu
-ihren Herren; wir lohnen die Alte ab. Und ich denke wieder an den
-lieben Gott.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span></p>
-
-<p>Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den
-Augen weh zu tun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her
-taucht funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze
-aus Otterfell. „Der Nachbarförster“, sagt jemand scheu; Einer wird
-bleich wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen
-Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein
-grauer Kinnbart perlt von Eis, die große Hakennase wirft einen Schatten
-über die Backenfurchen bis zum Ohr; suchend brennen seine stahlblauen
-Augen. „Komm her!“ ruft er heiser. Der Bleichgewordene gehorcht. Nun
-stehn sie mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. „Zieh den Handschuh
-ab!“ hör ich mit Grauen, fühlend, wie sich der Alte beherrscht. „Wo
-hast du den Ring?“ fragt er drohend. Keine Antwort. Der Alte zittert.
-Seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff. Ein Ruck: die
-Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; hohnlachend stößt er sie zurück. Mit
-unsäglicher Verachtung speit er in den Schnee, zum Gehn gewendet.
-„Vater!“ schreie ich auf, in die Kniee stürzend. Er geht.</p>
-
-<p>Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in
-weiter Ferne. Sausend peitschen schwere spitze Büschel, Kiefernzacken,
-gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich. Stecheichenzweige rauschen
-um mich her; ich sehe, wie die roten Beeren lange Kurven durch mein
-graues Atemnetz reißen. Aber eine weiche Hand legt mir immer wieder,
-schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare. Die gepreßten Zähne
-lösen sich; ich glaube, ich werde ein Anderer. Der liegt zu ihren
-Füßen, den Kopf in ihren Schooß gedrückt. „Lebst du denn noch?“
-fragt er verwundert. Sie läßt sich in den Lehnstuhl gleiten; das
-ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre hellbraunen Flechten.
-Neben ihr, auf meinem Schreibtisch, steht ein zartes venezianisches
-Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein
-meergrün schillerndes Schlänglein ringelt sich darum<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> empor. Ein
-Stecheichenblatt starrt aus dem Kelch, und eine wachsbleiche Hyazinthe.
-Die hat sie mir eben gebracht; die üppige Blüte berauscht mich.</p>
-
-<p>„Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. „Ich kann nicht“, fleht er
-mühsam; und ich höre ihn mit beklommener Stimme die Geschichte
-des Ringes erzählen. Den hat der Urgroßvater seines Vaters, der
-Husarenwachtmeister, nach der Schlacht bei Torgau, für seine Tapferkeit
-und lange Treue, aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen;
-vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das
-eingepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldenen Reifen: „und
-immer der Älteste erbt ihn.“ Ich höre seine Worte wie im Traum; es ist,
-als ob ich sie in einem Buche lese. „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt
-sie. Er kämpft mit sich. „Hast du Gewissensbisse?“ flüstert sie; „Du
-&mdash;?“</p>
-
-<p>Was! Will sie mich verspotten? Ich presse drohend meine Zähne an die
-Knöchel ihrer Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie, hält mir die
-Hyazinthe an die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; „du
-hast ihn ja schon“, entgegne ich und blicke auf ihre Finger nieder.
-„Den andern noch“, schmeichelt sie; „den Ring der <em class="gesperrt">Andren</em>!“ Ihre
-grauen Augen werden immer bestrickender.</p>
-
-<p>Ich fühle ein heftiges Zittern; am liebsten möcht ich sie wieder
-erwürgen. Dann könnte ich wieder der Andren treu sein, die meine
-Kinder geboren hat. Meine Blicke heften sich herzverwirrt auf den
-Rubin an meiner Linken; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde.
-„Gewissen ist der Spuk des toten Gottes“, spricht sie auf einmal meine
-Gedanken aus, mir ins Ohr. Ich weiß nicht, ob sie es höhnisch meint.
-Ich wills ihr erklären; sie erhebt sich. „Du bist zu gut,“ haucht sie
-gespenstisch &mdash; „nur gute Menschen haben ein schlechtes Gewissen; &mdash;
-ich hatte nie eins“ &mdash; und streift mir den Ring ab. Ich will es ihr
-wehren; sie entschwebt. Ich will ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span> nachstürzen, vergebens; meine
-Kniee winden sich gebannt am Boden. Ich suche das Wort, das mich frei
-macht.</p>
-
-<p>Ich stammle Verse, lange flehende Zeilen; sie verliert sich immer
-ferner in die Nacht. Ich sehe sie geisterbleich verschwinden; nur der
-Rubin glüht noch wie Blut im Mondlicht. Nein, wie ein Wundmal; der tote
-Freund! mit seiner Geige schwebt er herbei. Zu meinen Versen beginnt er
-zu spielen: ferne flehende Töne: von einer Seele, die ihm untreu ward.
-Die runde Wunde seiner Stirne tut sich auf; Blutstropfen perlen aus der
-kleinen Öffnung, bei jedem Bogenstrich, die bleiche Schläfe nieder,
-in den Schnee. Immer näher schwebt die rote Spur; die geschlossenen
-Augenlider zucken, bleicher als sein Sterbehemd, und ich suche das
-Wort, das Wort &mdash; in unsrer Kindheit wußten wir’s.</p>
-
-<p>Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken schlägt
-mich: das sind nicht seine Augen! das ist die „Andre“! &mdash; Meine Blicke
-erlahmen, mein Mund versagt; meine Finger krümmen sich, ihr Gewand zu
-betasten &mdash; hilf mir! das Wort! &mdash; Sie weist auf meinen starren Körper:
-lange Ketten Verse, wie Spruchbänder, umschnüren meine gezerrte Kehle.
-Ich lese und lese, mir graut:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schwere Ringe ... wirb ... ich werbe ...</div>
- <div class="verse">leere Schlinge ... deine Meinung&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">dunkle Kammer ... uralt Erbe ...</div>
- <div class="verse">Irrtum ... Jammer ... wird Erscheinung&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wer sprengt die Ketten?! Die Tür springt auf. Lichtschein wie
-Nadelstiche prallt mir entgegen. Auf der Schwelle steht meine Mutter;
-mit unsäglichem Kummer blickt sie mich an. Meine Arme mühn sich nach
-ihr; vergebens. „Sünde an der Mutter deiner Kinder?!“ ringt es sich
-von ihren Lippen. Mutter! will ich sie anflehn; sie wehrt mir. „Das
-ist Sünde an Gott!“ flüstert sie weiter. <em class="gesperrt">Gott</em>! ringt sich’s von
-<em class="gesperrt">meinen</em> Lippen, laut, das Wort... ich bin wach.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span></p>
-
-<p>Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen Mondlicht grell bis
-auf mein Bett; er zuckte. Ich sah zum Fenster; da war kein Spalt. Ich
-wandte den Blick ab; der Streifen glitt mit. Ich weiß nicht, was für
-ein Licht so zuckte.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wenn dich zwischen Schlaf und Schlaf</div>
- <div class="verse">um Mitternacht</div>
- <div class="verse">dein rasend klopfendes Herz</div>
- <div class="verse">aus deinen Träumen jagt</div>
- <div class="verse">&mdash; furchtsam stockt dein Atem&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">und sich durch dein finstres Zimmer</div>
- <div class="verse">weiße Schatten vor dir flüchten:</div>
- <div class="verse">kennst du dieses Grauen?&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Wenn dann aus dem toten Raum</div>
- <div class="verse">mit starren Augen</div>
- <div class="verse">ein geliebtes Gesicht</div>
- <div class="verse">lautlos dir entgegenscheint</div>
- <div class="verse">und leben möchte:</div>
- <div class="verse">kennst du dieses Grauen?&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Mit eignen Händen</div>
- <div class="verse">willst du nach dir greifen</div>
- <div class="verse">und dich erwürgen</div>
- <div class="verse">für eine Schuld ...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 id="Dritter_Traum">Dritter Traum</h4>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Ich habe sie doch vielleicht umgebracht. Warum sollte es auch unmöglich
-sein? Ich habe doch einst sogar ein Kind umgebracht, ein kleines,
-hübsches, unschuldiges Kind. Und damals glaubte ich doch sogar noch
-an Gott, an die Hölle und ans Jüngste Gericht. Damals war ich ein
-schwedischer Kürassier, bei den sakrischen deutschen Protestanten, und
-wir brandschatzten ein katholisches Pfarrdorf. Ah, ich fühle wieder
-die himmlische Mordlust, wie sich die Bauernweiber wehrten, die<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> wir
-ins Spinnhaus eingesperrt hatten. Und da spießte ich einfach der
-Ungeberdigsten das schreiende Kind aus den Armen weg und schmiß es im
-Bogen in den Dorfteich. Ich sehe noch deutlich die kleine Hand, die aus
-dem sumpfigen Wasser herausstak, als wir nachher von den Weibern kamen;
-ganz mit geronnenem Blut bedeckt, so stak sie zwischen den Binsen
-heraus, wie eine dicke rote Tulpe. Ich habe aber kein Grauen davor; es
-weiß ja keiner mehr, daß ich es tat. Ich darf mich nur nicht selber
-verraten, wenn sie mich doch vielleicht vor Gericht stellen.</p>
-
-<p>Wenn ich mich blos erinnern könnte, welche von Beiden ich umgebracht
-habe. Doch nicht die Mutter meiner Kinder? Die hat mir ja immer
-alles verziehen. Aber die Andre hat sich ja selbst umgebracht; deren
-Hand kann doch nicht gegen mich zeugen. Jedenfalls muß ich zu der
-Beerdigung gehen; sonst könnten die Leute Verdacht auf mich werfen.
-Und ich muß ihr einen Strauß auf den Sarg legen, einen großen schweren
-Tulpenstrauß, damit sie die Hand nicht herausstecken kann. Aber weiße
-Tulpen müssen es sein; die roten riechen auf einmal so stark, es ist
-der reine Leichengeruch. Warum sieht mich der Blumenhändler so an? mit
-richtigen Totengräberaugen! &mdash; Ich will auch weiße Tulpen nicht! die
-sehen noch leichenhafter aus! &mdash; Er lacht; ich verlasse eilig den Laden.</p>
-
-<p>Auf der Straße ist so bleiches Licht, wie ich noch niemals erlebt habe.
-Ich kann mich kaum schleppen in diesem Licht, so weltschwer hängt es
-um meinen Kopf. Es geht auch kein Mensch auf der bleichen Straße, und
-die Häuser sind wie aus Schatten gebaut. Wenn ich nicht wüßte, wo ich
-bin, könnte ich an ein Geisterland glauben. Aber es macht mich schwach,
-dieses Licht; es ist, als ob es mich auspressen möchte. Und ich will
-und will mich nicht schwach machen lassen; keine Seele der Welt darf in
-meine Seele. Dann muß ich mich aber bei Kräften halten, mein Körper ist
-schon wie ausgehöhlt. Ach ja, ich werde wohl Hunger haben; ich habe ja
-heute noch nichts gegessen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span></p>
-
-<p>Ich mache ein harmloses Gesicht und trete in einen Schlachterladen. Die
-Schlachtersfrau blickt mich fragend an &mdash; ganz still und fragend &mdash; was
-blickt sie nur! &mdash; „Geben Sie mir dies kleine Stück Fleischwurst!“ sage
-ich langsam mit ruhiger Stimme, als ob ich gar keinen Hunger hätte. Sie
-blickt mich wieder wortlos an und legt das Stück Wurst auf ein weißes
-Papier, reicht es mir über den Ladentisch. Ich will es nehmen und kann
-mich nicht rühren: ich erkenne auf einmal, es ist keine Wurst: es ist
-eine kleine Kinderhand, ganz mit geronnenem Blut überzogen. Ich starre
-der Frau verstört in die Augen: es sind die Augen des Bauernweibes, dem
-ich vor Zeiten Gewalt antat. Ich fasse mich endlich und tappe hinaus;
-hinter mir her tönt ein dumpfes Lachen.</p>
-
-<p>Ich tappe mich wie durch Nebel weiter und komme an eine
-Frühstückshalle. Da sitzen wohl hundert essende Menschen hinter der
-großen Fensterscheibe; da wird mich wohl keiner beobachten. Ich setze
-mich ganz in den Schatten hinten und bestelle irgend ein rasches
-Gericht. Es ist so laut in dem halbdunkeln Raum, daß ich kaum meine
-eignen Worte verstehe. Das Schenkmädchen bringt mir frischen Hummer und
-wünscht mir freundlich guten Appetit. Es freut mich auch wirklich, wie
-gut er riecht; aber was steht sie und wartet noch! Ich darf mir aber
-nichts anmerken lassen; vielleicht will sie blos ihr Geld bald haben.
-Ich bezahle; sie bleibt noch immer stehen. Es wird mir schwer, sie
-nicht anzuschreien; aber ich nicke ihr ruhig zu und greife rasch nach
-dem Hummerteller. Ich will mir sacht eine Schere abbrechen; aber was
-ist das, was ist das nur?! Ich fühle mich bis in die Lippen erbleichen:
-es ist eine kleine rote Hand, und ein Leichengeruch schlägt mir
-entgegen. Und alle Menschen blicken mich an, wohl hundert menschliche
-Augenpaare blicken mich unabwendbar an. Und alle sitzen so still wie
-Geister; kein Laut ist mehr in dem halbdunkeln Raum. Ich taste mich
-mühsam zur Tür und ins Freie; ein brausendes Lachen schallt mir nach.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span></p>
-
-<p>Wo kann ich nur etwas zu essen bekommen! Wenn ich noch lange so
-schweigsam herumgehe, werde ich ohnmächtig vor Hunger. Es ist nicht,
-weil mein Geheimnis mich würgt; nur, es stachelt mich immer stärker,
-mir die herrlichsten Speisen auszumalen. Halt, ich werde mal wieder
-den Maler besuchen, der immer so köstliche Späße macht; der wird mich
-auf andre Gedanken bringen. Ich sehe, er malt an einem Fruchtstück;
-eine große goldgelbe Ananas steht auf der malachitgrünen Schüssel, ein
-paar rote Tomaten liegen daneben. „Darf ich mir eine Tomate nehmen?“
-frage ich ihn ganz unbefangen; „Tomaten sind mein Leibgericht.“ Er
-malt schweigend weiter; was schweigt er nur? &mdash; „Machen Sie doch
-nicht solche Späße!“ stammle ich plötzlich und sehe entsetzt: er
-malt eine rote Kinderhand. „Lachen Sie nicht!“ beherrsche ich mich;
-„Tomaten sind wirklich mein Leibgericht!“ &mdash; Er lacht aber garnicht, er
-lächelt nur &mdash; er blickt mir nur sonderbar in die Augen und sagt mit
-teilnahmvoller Stimme: „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt, die Tür
-zum Gerichtssaal ist nebenan.“</p>
-
-<p>Ich bin einen Augenblick wie im Traum; ich fühle nur wieder wie durch
-Nebel, daß der Maler sanft den Arm um mich legt und meine tappenden
-Schritte leitet und die Tür des Saales hinter mir schließt. Ich möchte
-aufwachen aus diesem Traum; ich glaube mich doch genau zu erinnern, daß
-ich in Wirklichkeit Niemand umgebracht habe, weder die Eine noch die
-Andre; aber ist das auch wirklich die Wirklichkeit? Ich bin ja schon
-öfters im Traum erwacht, und dann wars trotzdem nur wieder geträumt.
-Ich will mich lieber zusammennehmen, daß ich nichts von meinem
-Geheimnis verrate; mit keinem Wörtchen, mit keiner Miene. Ich sehe mir
-meine Richter an.</p>
-
-<p>Ob ich vor einem Vehmgericht stehe? Regungslos sitzen sie mir
-gegenüber, elf schwarzvermummte stille Gestalten, mit Augenlöchern
-in den Kapuzen. Es funkeln aber nicht Augen<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span> darin; es schauen mich
-aus den schwarzen Masken nur lauter noch schwärzere Löcher an. Ob es
-vielleicht lauter Schatten sind, die in den hohlen Gewändern sitzen?
-Ob es vielleicht doch Geister gibt? Denn in der Mitte sitzt Einer
-ohne Maske, mit geschlossenen Augen wie ein Toter, mit silberweißem
-Haupthaar und Bart, und mit ewig gebieterischer Stirn; vor dieser
-Stirn hat mir oftmals gebangt. Ich weiß nicht, ists meines Vaters
-Stirn? Ich weiß nicht, ists eines Gottes Stirn? Wenn lauter Geister
-da vor mir sind, muß dann nicht auch ein Obergeist sein?! Könnte ich
-nur seine Augen sehn! Vielleicht sind es doch meines Vaters Augen;
-meines Vaters herrliche stahlblaue Augen, die mich oftmals so hart und
-zornig anstrahlten, und doch so glutweich im hellsten Zorn, und dann so
-spöttisch verzeihungswarm. Aber er sitzt da so starr und kalt jetzt,
-als werde er die geschlossenen Augen nie wieder zu seinem Sohn hin
-öffnen; es sei denn, ich öffne ihm mein Gewissen. Sie sitzen alle so
-starr und kalt, als wollten sie ewig darauf warten. Ich fühle, ich muß
-wohl endlich sprechen.</p>
-
-<p>Meine Herren Richter! beginne ich unverzagt: ich habe wirklich ein
-reines Gewissen. Denn gesetzt auch, ich hätte sie umgebracht, so hatten
-doch beide sich selbst umgebracht. Denn die Eine, die wirklich sich
-selbst umgebracht hat, die hat sich auch selbst dazu gebracht. Denn da
-sie kein Gewissen gehabt hat, so hat sie mir mein Gewissen genommen und
-hat es dann nicht ertragen können. Denn die Andre, der mein Gewissen
-gehörte, und die mir drum immer alles verzieh &mdash; denn sonst hätte ich
-mir’s nicht wegnehmen lassen &mdash;: die hat das nicht länger verzeihen
-können. Denn da ich kein Gewissen mehr hatte, und wenn sie deswegen
-&mdash; was ich nicht weiß &mdash; vor Gram zu Grunde gegangen ist, so ist auch
-sie im Grunde von selbst und an sich selbst zu Grunde gegangen. Denn
-wenn ich es auch gewollt haben sollte, so hat es, meine Herren Richter,
-doch im Grunde ein Anderer gewollt. Denn wenn ich jetzt hier vor Ihnen
-stehe<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> &mdash; und wenn, wie ich sehe, mein Vater jetzt Gott ist &mdash; so bin
-ich im Grunde der Sohn meines Vaters, und mein Wille ist Gottes Wille
-gewesen. Wenn also ich, meine Herren Richter &mdash; nein, nicht ich, wenn
-ich Gottes Sohn bin &mdash;: wenn also Gott, meine Herren Richter, Eine
-von Beiden umgebracht hat &mdash; nein, die Andre &mdash; nein, Beide &mdash; nein,
-<em class="gesperrt">alle</em> Andern &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ich stocke plötzlich und kann nur noch stottern; ich merke, ich habe
-mich verwirrt. Ich suche im Blick meiner Richter zu lesen und sehe nur
-lauter schwarze Löcher. Ich blicke hilflos den Einen an, der herrlich
-in ihrer Mitte sitzt, und erbange vor seiner klaren Stirn; mich befällt
-auf einmal dumpf ein Erinnern, als ob ich seit unvordenklichen Zeiten
-unzählige Seelen umgebracht habe. Und da endlich tut Gott mir die
-Augen auf: meines Vaters strahlende blaue Augen tut er aus ewiger
-Ruhe auf und fragt meine Seele: „bekennst du dich schuldig?“ &mdash; Ich
-höre mein Herz in seiner Stimme und sehe mein Leben in seinen Augen.
-Ich weiß, ich brauche nur <em class="gesperrt">Nein</em> zu sagen, dann bin ich auf ewig
-freigesprochen. Ich fühle das Nein schon auf den Lippen; ich brauche
-nur den Mund aufzutun, dann bin ich von all der Mühsal erlöst. Und ich
-tue ihn auf und &mdash; sage „ja“.</p>
-
-<p>Ein Schrecken befällt mich wie ein Schlag. Ich fühle betäubt mein
-Bewußtsein schwinden; mir ist, ich stürze endlos hinab, durch dunkle,
-bodenlose Räume. Oder stürze ich endlos empor? Ich höre von oben her
-singende Stimmen; sind’s Menschenstimmen? sind’s Geisterstimmen?
-Sie singen mich wieder zur Besinnung &mdash; von fern her singen zwei
-Frauenstimmen &mdash;: Von wannen, von wannen? &mdash; von wannen dein Träumen!
-&mdash; befreie dich, Seele &mdash; von Zeiten, von Räumen! &mdash; sie verklingen.
-Ich schlage mühsam die Augen auf; ich sehe mich durch ein Bogentor
-schreiten.</p>
-
-<p>Es ist noch immer so weltschweres Licht, wie ich noch niemals erlebt
-habe; ein totengelbes Abendlicht. Nur vor mir<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> her, da schreitet ein
-Mann in richterlichem schwarzem Talar, auf dessen Schritte ich horchen
-muß, dann wird das schwere Licht mir leichter. Sie tönen mir seltsam
-vertraut, diese Schritte; ich muß sie schon öfters vernommen haben und
-ihnen so Schritt für Schritt gefolgt sein, wie ich jetzt ihnen Schritt
-zu halten suche unter der dröhnenden Bogenhalle. Ist es mein Vater?
-mein Herz sagt nein. Und da höre ich hinter mir noch solche Schritte;
-nur ungewissere, haltlosere. Ich wende mich und stehe erstaunt; und
-auch der Mann vor mir wendet sich. Ich sehe, hinter mir geht der
-Jüngling, der ich vor Jahren gewesen bin; ich sehe, vor mir steht der
-Mann, der ich in Zukunft sein werde. Er winkt mir kurz, und es weht
-sein Talar, und wir schreiten im Gleichschritt zum Tor hinaus. Und es
-weht sein Talar, und mit lautlosem Schritt schreitet der Mann aus sich
-selbst heraus und entschwindet meinem gebannten Blick. Denn mein Blick
-hängt an einem väterlichen, ewig gebieterischen Greis, der an Stelle
-Jenes verblieben ist, und der mir weiterzufolgen winkt. So kommen wir
-an ein Hafenwasser.</p>
-
-<p>Wohl unabsehbar dehnt sich das Wasser unter dem totengelben Himmel.
-Viele große Schiffe lagern darauf, mit hohen reichbewimpelten Masten;
-aber das Gelbe lastet so nachtschwer, daß keine Farben mehr dämmern
-können. Alles, die Schiffe, die Wimpel, das Wasser, scheint alles so
-schwarz aus Schatten geschaffen wie der Talar meines greisen Führers;
-nur sein weißes Haar schimmert silbern im Zwielicht. Was sind das
-für Schiffe? frage ich zweifelnd. „Wirkliche Schiffe“ &mdash; entgegnet
-er tonlos und weist auf ein Dock am westlichen Himmel. Kein Laut von
-Arbeit kommt aus den Werften her; der ganze Hafen scheint ausgestorben.
-Die schwarzen Stützpfosten um die Hellingen ragen starr am Horizont
-entlang wie ein auferstandener kahler Hain von ursintflutlichen
-Riesenstauden. Nur aus dem westlichen Saum des Haines taucht
-klumpenhaft etwas Graues hoch und regt sich in der<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> schweren Stille; es
-regt sich wie das felsengraue, urschwere Haupt eines Elefanten. Ists
-eines spukhaften Götzen Haupt? ists eines Gottes heiliger Scheitel?
-Mein Führer aber winkt mir zu schauen.</p>
-
-<p>Und was wie ein Haupt war, beginnt zu erglänzen, und entsteigt dem
-schwarz aufstarrenden Hain, und ist ein großer glanzvoller Mond. Er
-glänzt nicht so fahl wie ein nächtlicher Mond, er glänzt nicht so
-grell wie die tägliche Sonne; er glänzt wie ein Tautropfen in der
-Frühe, und alle Farben klären sich auf. Und nun wendet mein Führer sein
-greises Antlitz blauäugig nach dem östlichen Himmel, und mit langsam
-gebieterischer Hand entwinkt er der verklärten Nacht einen zweiten
-solchen glanzvollen Mond. „Wisse, du sollst an Geistermacht glauben“
-&mdash; haucht er mir in mein schauerndes Herz und entschwebt dem einen der
-Monde zu. Bin ich erblindet von seinem Anhauch? ich sehe auf einmal nur
-lauter Licht. Ich fühle nur blindlings ein leuchtendes Schweben ins
-grenzenlose Blaue hinein. Ich ahne dunkel, ich selbst bin der Greis; er
-ist wohl dem andern Mond zugeschwebt? Ich schwebe mit ausgebreiteten
-Armen und raumentrückten Augen gleich ihm.</p>
-
-<p>Das Leuchten wird immer feuriger; ich atme entzückt die zarte Glut. Ich
-höre von oben her singende Stimmen, zweistimmig aus unsichtbarer Ferne.
-Sind’s wieder die Seelen der Geistinnen beide? erwarten sie mich auf
-den strahlenden Monden? Sie singen mich weiter und weiter hinauf: Ins
-Weite, Seele &mdash; von wannen dein Träumen! &mdash; erwache ins Freie &mdash; von
-Zeiten, von Räumen! &mdash; sie nahen mir. Sie nahen wie schüchterne Lüfte
-so lind; sie küssen mir meine entbreiteten Hände. In meinen Handflächen
-ruhn ihre Lippen, mein Herzblut strömt ihren Küssen zu. Sie küssen
-immer herzinniger, und andere Geistinnen singen von oben. Wollen Sie
-mir mein Leben ausküssen? „befreie dich, Seele“, singen sie. Leben sie
-nur, wenn Ich sie belebe? „erwache, Seele“, ver<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span>klingen sie. Ich raffe
-all meine Herzkraft zusammen; ein leeres Grausen stöhnt aus mir auf.
-Ich will mich den tötlichen Küssen entwinden; wie ein Gekreuzigter
-schwebe ich machtlos. Ich krümme mit letzter Gewalt meine Finger, und
-während ein herzzerreißender Klageschrei mir die glanzgebadeten Augen
-aufreißt, höre ich, daß es mein eigener Schrei ist, von dem ich unter
-Tränen erwacht bin.</p>
-
-<p>Ich lag wirklich wie ein Gekreuzigter da, mit ausgebreiteten Armen
-im Dunkeln, die Handflächen über den Bettrand gestreckt, rechts und
-links in die schwarze Luft. Ich schob meine halb erstarrten Glieder
-langsam in eine andere Lage und machte die Augen wieder zu; die ruhige
-Finsternis tat mir wohl nach der tollen Seelenfeuersbrunst. Ich nahm
-mir vor: wenn ich wieder so träumte, sofort an meinen Körper zu denken.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Befreie dich, Seele,</div>
- <div class="verse">von Zeiten, von Räumen,</div>
- <div class="verse">erwache ins Weite,</div>
- <div class="verse">von wannen dein Träumen;</div>
- <div class="verse">von wannen, von wannen?&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Von Räumen, von Zeiten,</div>
- <div class="verse">die ewig bleiben,</div>
- <div class="verse">erwache, Seele,</div>
- <div class="verse">du kannst sie vertreiben,</div>
- <div class="verse">von dannen, von dannen,</div>
- <div class="verse">ins Weite all dein Träumen bannen!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 id="Vierter_Traum">Vierter Traum</h4>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Aber ich muß doch zu ihrer Beerdigung gehen. Oder wenigstens ihre
-Gräber besuchen. Denn beerdigt sind sie wohl nun schon lange; ich war
-ja bei ihrer Feuerbestattung. Könnte ich nur die richtige Grabkammer
-finden! ich muß mich hier unten<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> verlaufen haben. Wo mag das
-Urnengewölbe denn sein! hier sind ja nur lauter Schädelkammern. Und
-die Gänge dazwischen so schlecht beleuchtet, daß man jeden Sinn für
-Richtung verliert. Wenn ich zurück auf den oberen Friedhof komme, werde
-ich den Verwaltungsrat anregen, bessere Wegweiser einzurichten. Aber
-wie komme ich endlich hinauf! Ich erinnere mich, gelesen zu haben, es
-sollen schon Leute umgekommen sein in diesen verwirrenden Katakomben.</p>
-
-<p>Woher nur das Licht in den Schädelkammern kommt? Es ist nicht
-elektrisch angelegt; es wird wohl eine Art Oberlicht sein. Darum
-flimmern wohl auch die Gänge dazwischen so unterirdisch dumpf und trüb.
-Ich werde jetzt nicht mehr nach rechts noch links blicken, sondern
-immer den Gang gradaus verfolgen, nach der sonderbar hellen Öffnung da
-vorn. Sie steht wie ein weißes Rechteck im Düstern; da muß eine Tür ins
-Freie sein. Sie scheint auch allmählich noch heller zu werden; beinahe
-blendet sie mich schon. Das Weiße kann aber kein Luftweiß sein; es
-steht wie aus Stein so unbewegt. Es grenzt sich so grell ab, ich muß
-meine Augen schließen. Ich gehe aber doch grad drauflos; ich spüre, wie
-ich hindurchschreite. Es atmet sich auf einmal viel leichter; es muß
-also doch eine Luftöffnung sein. Ich schlage die Augen auf und sehe:
-hoch über mir blaut der freie Himmel.</p>
-
-<p>Ich seh es und seh es: hoch über mir &mdash; und über vier hohen weißblanken
-Mauern, die senkrecht um mich emporsteigen. Soll ich denn wirklich
-nie wieder herausfinden aus diesem sinnlosen Labyrinth? Ich will aber
-nicht die Fassung verlieren. Ich weiß ja seit lange aus Erfahrung:
-ich muß nur an meinen Körper denken, dann kommt auch die Seele wieder
-zu Sinnen. Ich werde mir also den Raum erst betrachten, ob er nicht
-doch eine Auffahrt hat. Er hat vier glatte kristallblanke Wände, aus
-lauter quadratischen Feldern gebildet. In der Mitte jedes Feldes ein
-Goldstern, entzückend in den Kristall eingeschliffen;<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span> aber nirgends
-ein Halt, um hinaufzukommen. Es ist ein weiter leerer Saal; es scheint
-nichts als eine Art Luftschacht zu sein. Aber sieh, er hat ja noch eine
-Tür: grad gegenüber der andern Tür, durch die ich hereingekommen bin.
-Und da ist ja ein Handgriff an der Kante, in den eine Schnur aus den
-Gängen her mündet; das soll gewiß eine Richtschnur sein. Ich fasse die
-Schnur, um weiterzugehen, mit einem letzten Blick zurück.</p>
-
-<p>Aber was <em class="gesperrt">ist</em> das? bin ich denn wirklich von Sinnen? Auch an
-der andern Tür drüben ist solch ein Handgriff, in den eine solche
-Richtschnur mündet. Die muß ich vorhin in den halbdunkeln Gängen beim
-Suchen übersehen haben. Aber die Türen sind völlig gleichgeformt, und
-ich habe mich in dem leeren Saal fortwährend um mich selbst gedreht;
-durch welche Tür bin ich nun gekommen? &mdash; Ich betaste die Schnur und
-betaste mich selbst; es ist alles vollkommen körperlich. Ich kann also
-ruhig weitergehn; wenn ich vorsichtig suche, wird sich schon zeigen, ob
-es die richtige Richtung ist. Ich taste mich immer die Schnur entlang,
-von Zeit zu Zeit einen Handgriff streifend; ich komme wieder an lauter
-Schädelkammern. Hier sieht das Licht aber bleicher aus; und der Gang
-scheint allmählich tiefer zu sinken. Dies Licht kann nicht von oben her
-kommen; es scheint aus dem Erdinnern aufgefangen. Die Schädel gleißen
-alle so weißblank wie die Kristallquadrate des leeren Saales vorhin,
-und doch ist ringsherum tiefer Schatten. Und in all diesen Schädeln
-haben einst Welten gespukt &mdash; mit Goldsternen drin und blauen Himmeln
-&mdash; und vielleicht auch mit einem ewigen Gott; ich fühle eine irrsinnige
-Lust, in diesen Schädeln nach Gott zu suchen. Ich lasse aber die Schnur
-nicht los; ich will nicht wieder die Richtung verlieren.</p>
-
-<p>Jetzt kommen auch Kammern mit Tierschädeln; sie schimmern ebenso
-erdinnerlich. Was regt sich da auf einmal im Schatten? Ist es denn
-möglich, mein alter Getreuer?! Komm her, mein Teckel, was suchst du
-denn! Was blickst du mich so<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span> innerlich an? Jawohl, ich habe dich
-umgebracht; aber was hast du auch immer geknurrt, wenn die tote Dame
-mich küssen wollte! Da hab ich dich doch vergiften müssen! &mdash; Er blickt
-mich nur immer seelenvoll an, mit demselben Blick noch, den er mir
-zuwarf, als er im Todeskampf vor mir lag; ganz ohne Vorwurf, ganz treu
-ergeben. Aber was will er denn noch, er lebt doch noch! Er will mich
-wohl in die Kammern locken? Ich nehme die Richtschnur fester zur Hand
-und erinnere mich an meinen Körper; ich werde einfach weiterschreiten,
-der Hund ist gewiß nichts als ein Spuk.</p>
-
-<p>Nein, er folgt mir; ich höre ihn hinter mir. Ich bleibe stehen; da
-steht er auch still. Ich drehe mich um; da legt er sich. Ich locke
-ihn nochmals; er rührt sich nicht. Er blickt mich nur immer inständig
-an mit seinen unendlich treuen Augen; und, kaum beginne ich wieder
-zu schreiten, folgt er mir wieder Schritt für Schritt. Ich höre
-seine leisen Zehen; ich spüre, wie sein Blick an mir hängt. Ganz
-ohne Rachsucht, ganz voller Liebe; als ob der liebe Gott mir folgt.
-Wie dieser Gottblick mich hinterrücks martert! Wenn er noch lange so
-anhänglich bleibt, bringe ich ihn zum zweiten Mal um! Aber ich darf
-doch die Richtschnur nicht loslassen; ich komme sonst schließlich
-selbst noch um, in diesem wahnwitzigen Labyrinth. Halt: schimmert da
-vorn nicht wieder ein Lichtloch? das ist wohl endlich die Urnenhalle.
-Jawohl, das Viereck wird immer heller; und die Schnur scheint grad
-draufhin zu leiten. Wenn ich nur rascher vorwärts käme; wie Grabeslast
-ist der Blick hinter mir! Ich zwinge meine Füße zu rennen. Ich keuche
-der leuchtenden Halle entgegen. Ich achte nicht den Schmerz meiner
-Augen. Ich taumle fast in dem blendenden Viereck; hindurch! und pralle
-entsetzt zurück: ich stehe abermals in dem Kristallsaal, den offenen
-Himmel über mir &mdash;: ich bin im Kreise herumgeirrt.</p>
-
-<p>Und was stöhnt da, was rührt sich neben mir? Durch die Tür kommt der
-Teckel mir nachgeschlichen! Ich sehe jetzt deut<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span>lich, es ist nur ein
-Schatten; ein Schatten mit gottergebenen Augen. Ich stürze in rasendem
-Haß auf ihn los; ich werde den Spuk nun endlich zerreißen! Mit beiden
-Händen packe ich ihn, am Genick, am Kreuz, und zerre und zerre. Er
-windet sich unter meinem Griff; wie Kautschuk spannt er sich hin und
-her. Ich spüre verzweifelt, wie er mich lähmt: wie er nachgiebig meine
-Arme entmannt. Ich fühle bis innerst in Leib und Seele: wenn ich dies
-Gespenst nicht bewältigen kann, bin ich machtlos für Zeit und Ewigkeit.
-Ich spanne all meine Nervenkraft an; und wenn mir Gehirn und Adern
-zerbersten! Und ein Ruck, ein leises ersterbendes Winseln: o Wonne,
-ich habe den Schemen zerrissen! Mit einem letzten hingebenden Blick
-zerfließt er in die leere Luft.</p>
-
-<p>Ich stehe und zittre am ganzen Körper, vor Glück und Ermattung und
-neuer Verzweiflung. Ich starre hinauf in den blauen Himmel: ist
-kein Entrinnen aus diesem kristallenen Grab? &mdash; Ich betaste meine
-erschöpften Glieder &mdash; warum muß ich nur immer an meinen Körper
-denken! &mdash; Es ist doch garnicht mehr nötig jetzt; wer hat mir das
-eigentlich eingeredet? &mdash; Wie schön könnt ich schlafen in diesem
-lautlosen Schacht. Ich bin so müde, ich höre mein Seelenspiel klingen.
-Es rauschen wohl Flügel oben im Blauen? Nein, ich glaube nicht; es
-ist nichts zu sehen. Doch: eine weiße Feder schwebt nieder. Wie eine
-Schneeflocke kommt sie gewirbelt. Noch eine, noch eine, Flaum auf
-Flaum; grad in die Mitte des Saals herab. Immer mehr, immer mehr, weiße
-Flaumfederflocken; der ganze Boden liegt schon bedeckt. Ich muß zurück
-an die Wandfläche treten; es ist schon ein Hügel, es wird ein Berg. O
-Seligkeit, das ist ja die Rettung: der Berg wächst immer höher hinauf!
-Schon steht er fast so hoch wie der Schachtrand, und immer dichter
-häuft sich das Flockengewimmel. Ich springe mit beiden Füßen hinein;
-ich versinke in dem bettweichen Schwall. Aber er ballt sich unter mir;
-ich stampfe und stampfe, und es glückt. Ich stampfe mich<span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span> höher und
-höher hinan; es ist, als federn mich Bälle empor. Ich kann kaum sehen,
-so stiebt es um mich; und brennender Schweiß verschließt mir die Augen.</p>
-
-<p>Da: ein frischer Lufthauch kühlt mir die Stirn: ich fühle entzückt,
-ich bin oben, oben! Meine Augen wagen wieder zu blinzeln, durch die
-feuchten, flaumverschleierten Wimpern. Kein Federchen stiebt mehr,
-der Himmel blaut; es ist eine überirdische Stille. Ich stehe auf
-steilem, schwankendem Gipfel; tief unter mir klafft der weiße Abgrund
-des labyrinthischen Schachtes herauf. O Seele, Seele, wie komm ich
-hinüber?! Sieh: rings um den Schacht, wie ein Garten Eden, liegt der
-blühende frühlingsgrüne Friedhof! &mdash; Und die Seele erklingt: Ich
-seh es, o Geist! Ich seh es durch Tränen, o göttlicher Geist, durch
-regenbogenfarbene Tränen! Ja, dein Gipfel schwankt, und ein Wind kommt
-gebraust, und du Schwankender weinst und ich breite die Arme: wenn du
-jetzt, o Gottgeist, mich Seele erhörst, will ich deiner Kraft trauen
-ewiglich!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Horch: braust nicht der Wind beflügelnd, o Seele? und der Gipfel löst
-sich und schwebt und wird Wolke! Sieh, mit beiden Armen umspanne ich
-sie und schwebe über den Abgrund dahin. O, wie weich sichs fliegt in
-dem leichten Flaum: ich fühle nicht Höhen, nicht Tiefen mehr. Ich fühle
-nur, wie mich die Windwolke schaukelt und mir süß alle Kräfte stachelt
-und kitzelt. Will sie mir etwa mein Leben wegschaukeln? Dann wisse,
-Seele: mein Körper lacht! Ich kann sie loslassen, wenn ich will; ich
-bin ja befiedert über und über! Ich kann mit dir fliegen, wohin ich
-will; ich brauche ja nur den Flaum wegzublasen! Ich blase und blase;
-was ist denn das? ich blase mir ja in die eigne Nase! Ich mache wohl
-selbst den Wind, der so kitzelt? Ich niese, ich lache &mdash; lache &mdash;
-erwache.</p>
-
-<p>Ich lag noch immer im dunkeln Bett, und ich hielt mein Kopfkissen in
-den Armen. Ich fühlte, daß eine kleine Feder aus dem zerknüllten Kissen
-herausstak; sie berührte noch meine<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> Nasenspitze. Ich entfernte die
-Feder und legte das Kissen glatt; ein Stündchen hoffte ich doch noch zu
-schlafen. Der Morgen schien zwar bereits zu grauen; aber ich war noch
-müde genug.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wenn über unsern tiefsten Verzweiflungen,</div>
- <div class="verse">wo wir vor lauter geöffneten Not-Türen</div>
- <div class="verse">nicht aus noch ein zu finden wissen,</div>
- <div class="verse">stets eines Gottes Blick wachte&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Wenn unter unsern höchsten Entzückungen,</div>
- <div class="verse">wo wir verstummend vor Triumph</div>
- <div class="verse">mit zitterndem Fußtritt</div>
- <div class="verse">jede Gefahr zerstampft zu haben meinen,</div>
- <div class="verse">stets eines Gottes Ohr weilte&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Wenn zwischen unsern erhabensten Gleichgiltigkeiten,</div>
- <div class="verse">wo wir mit Adlerruhe</div>
- <div class="verse">alle Verfolgung</div>
- <div class="verse">Todes wie Lebens</div>
- <div class="verse">in leere Luft verflogen wähnen,</div>
- <div class="verse">stets eines Gottes herzliche Teilnahme schwebte&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">ich glaube, er würde vor Lachen sterben ...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 id="Fuenfter_Traum">Fünfter Traum</h4>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Ja, meine Verfolger, ich lache euer! Denn ich kann fliegen, wenn ich
-will; ich kann aus eigener Willenskraft fliegen! Sie rasen hinter mir
-her wie gehetzt, eine Meute tobsüchtiger Jäger und Hunde. Aber hier,
-ich spanne nur meinen Mantel, dann bin ich ihrem Wahnsinn entrückt.
-Schon schwebe ich über den Eichenwipfeln und lache Halalî auf sie
-nieder. Ich höre sie brüllen: du Mörder, Mörder! und würden mich alle
-doch selbst gern morden. Nackt sind sie auf die Jagd ausgezogen,
-aber dennoch war ich schneller als sie. Wie sie rachekeuchend mir
-nachstarren, durch die kahlen Eichen die fahlen Gesichter, während
-ich höher und höher entschwinde! Halalî Hallelûja lache ich nieder<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span>
-und werfe ihnen Handgrüße zu: Ja, ihr seid auferstanden zum jüngsten
-Gericht, ich aber fliege ins ewige Leben!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Wie sie kleiner und kleiner schrumpfen, die schreckbefallenen bleichen
-Leiber: wie Würmer wimmeln sie durcheinander zwischen dem welkbraunen
-Laubwerk unten, wie ausgegrabene Engerlinge. Ich lasse breit meinen
-Mantel fallen, um ihre klägliche Blöße zu decken. Schwer schwebt er
-hinab, denn ich schwebe hinan; mit schwimmenden Armen zerteil ich
-die Wolken. Was glänzt da her aus dem stahlblauen Äther? ist es ein
-unbekannter Stern? &mdash; Halalî Hallelûja jauchzt mein erkennendes Herz:
-es ist eine weltbestrahlende Stirn! Sei mir gegrüßt, pfadkundiger
-Wildrer, du Jagdherr der Frevler, Shakespear, Erhabener! &mdash; Er schlägt
-die entschlafenen Augen nicht auf; traumselig lächelt sein Geisthaupt
-nur und grüßt mich stumm und bestrahlt meine Bahn. Es grüßen noch
-manche entschlafene Geister mit sternengleich aufstrahlenden Stirnen
-und beleuchten meine erhabene Bahn. Es grüßen Rembrandt und Lionardo,
-und Dante und Goethe, Beethoven, Bach. Es grüßt auch mein Vater und
-meine Mutter; und fern strahlt ein dornenkranztragendes Haupt.</p>
-
-<p>Wo hab ich dies rührende Haupt schon gesehen? dies schmerzverklärend
-verzeihende Antlitz? in meiner Kindheit war es wohl. Ich möchte
-vorüber an diesem Antlitz jetzt; aber dahinter ist alles schwarz. Ich
-möchte dennoch vorüberschweben; aber es zieht mich näher und näher.
-Es zieht mich mit seinem Dornenkranz an, der noch heller strahlt als
-die träumende Stirn. Er strahlt wie ein großes verzweigtes Nest; das
-Gezweig wächst immer größer ins Weite. Ich möchte dies wachsende
-Lichtnest umkreisen; aber es weitet sich kreisend um mich. Es wirbelt
-mich hoch wie einen Funken ins schwarze Unermeßliche. Ich blicke hinab,
-ich will’s überschauen: ich sehe ein unermeßliches Helles. Ich sehe ein
-grenzenlos schwebendes Lichtreich: ein tiefes, ringshin ruhendes Nest
-von unzähligen kreisenden<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> Sternenreihen, endlos verzweigt durch den
-schwarzen Raum. Mich weht ein Grausen an, ich erkenne: ich bin in einer
-anderen Welt.</p>
-
-<p>Das Grausen weht inniger, es beseligt; ich fühle, es will mich zur
-Ruhe wehen. Es weht mich hinab auf das träumende Haupt; wer bist du,
-wer bist du, entschlafener Geist, auf dessen Haupt mich ein Lichtreich
-wiegt? &mdash; Ich lasse mich willig niederbewegen zu dem leuchtenden
-Scheitelpunkt in der Mitte; ich sinke mit heller Heimatswonne immer
-tiefer hinein in das weltweite Nest. Und was wie ein Punkt schien, ist
-eine Wölbung, eine milchweiß gestirnte unendliche Kuppel, auf deren
-Scheitelfläche der Nestkranz ruht. Ich staune hinab in den traumstillen
-Kuppelraum, hinab durch das schimmernde Scheitelgewölbe: das ist wohl
-Das, du erhabenes Haupt, was wir auf Erden die Milchstraße nannten?
-Ja, ich sehe sie kreisen in deinem Innern, die Sterne, die Sonnen
-und jene Erde, wie Blutzellkörperchen deiner Adern, du strahlendes,
-dornenkranztragendes Haupt! Wie sie zittern, die kleinen Seelchen alle,
-die sich Welten dünken in ihrem Dunstkreis: ich sehe sie deutlich
-erbeben im Nebel, vor Deiner weltbegrenzenden Stirn. Und sind meinem
-Blick doch alle so fern, so grenzenlos fern wie jener Erdball, dem ich
-durch Wolken entronnen bin in diese verklärte andere Welt. Die Augen
-fallen mir zu vor Bangen: wer bist du, wer bist du, verklärender Geist?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ein silberhell klingendes Lachen weckt mich; hab ich’s geträumt oder
-leben hier Menschen? Nein, eine Lichtgestalt weilt vor mir; ich
-schnelle auf, eine Geistin umschwebt mich. Hab ich sie schon auf Erden
-gekannt? Ihre Augen ermuntern mein Herz so vertraut, als hätten sie
-schon in früher Kindheit über meinen Spielen gewacht. Ihr Blick ist so
-innig silbergrau, nein lichtschwarz, nein tief von Herzen goldklar,
-ganz silber-und-gold-herzinnig klar; ist es die Göttin Barmherzigkeit?
-&mdash; Sie lächelt, sie läßt den Kopf etwas hängen; o süße Schelmin
-Barmherzig<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span>keit! Sie nickt mir nochmals von Herzen zu; ich lausche, ich
-höre ihr Seelenspiel klingen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Erde schläft in Nebelschleierschein;</div>
- <div class="verse">doch kann ihr Atem nicht ihr Leid verdecken.</div>
- <div class="verse">Ihr träumt, sie würde wach viel freier sein;</div>
- <div class="verse">es ist wohl Zeit, daß wir sie wecken?!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ich starre hinab, mir bangt aufs neue. Nein, steht mein Blick, laß die
-Erdseele ruhn! sie ist voll Rachsucht, sie will nur morden; laß uns den
-Geist dieses Lichtreiches wecken! &mdash; Die Geistin lächelt; weshalb nur
-wieder? aber ihr Lächeln ermutigt mich. Laß uns ihn wecken! verlangt
-mein Blick; Ihn, dessen Haupt diese andre Welt trägt, doch unter dessen
-träumender Stirn jene Erde uns noch immer bannt! Laß seine Augensterne
-erst leuchten, das wird uns erheben aus diesem Bann!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Sie lächelt und nickt, ist nickend verschwunden; ich greife verdutzt
-in leeren Glanz. Ich schwebe wieder allein in den Weiten; nur
-ihr silberhelles Gelächter klingt noch. Nein, auch ihr Blick ist
-zurückgeblieben; wie ein goldenes Sternchen schwebt er vor mir,
-inmitten des silberweiß kreisenden Nestes. Oder nein, es ist ja ein
-Doppelsternchen! Ja, ein goldklar flimmerndes Zwillingssternchen!
-ein kleines wirbelndes Sternseelenpärchen! zwei kleine glitzernde
-Seelensternzellchen, die in eins zusammenzusprießen streben. Ich greife
-danach, ich schrecke zurück: das eine spiegelt deutlich mein Bild. Ich
-seh mich hinauf in den Nestkranz greifen, in das kreisende Spiel des
-Sternengezweiges; &mdash; und spielt nicht im andern das Bild der Geistin?
-&mdash; Nein, schon sind beide zusammengesprossen; ich weiß nicht, spielt
-da <em class="gesperrt">mein</em> oder <em class="gesperrt">ihr</em> Bild? Es spielt mit den kreisenden
-Neststernbällen, mit unzähligen, reihenweis wirbelnden, unendlich
-zellkleinen Zweigsternbällchen; und in jedem Zellstern spielt wieder
-solch Bildchen. Ich will es fassen; ich greife ins Unfaßbare. Ich
-merke, es schwebt weit über mir, unermeßlich<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> weit, und sprießt weiter
-im Schweben, immer weiter in wirbelnden Sternbilderspielen; es scheint
-nur so klein, weil’s so grenzenlos fern ist. Es wirbelt mich hoch,
-schon entwirbelt’s dem Nestkranz; und sprießt immer wirbelnder über mir
-fort, und ein silberhelles Gelächter umstürmt mich.</p>
-
-<p>Ich muß mitlachen, ich blicke hinab; ganz zusammengeschnurrt in
-schwarzer Tiefe schwebt das weltweite Dornennest unter mir, nur
-wie ein flaches Korbflechtwerk noch, eine tellerförmige milchweiße
-Scheibe, auf der sich ein riesenhaft sprudelnder, goldklar von
-Sternzellen strudelnder, fort und fort wachsender Kreisel dreht.
-Er schleudert mich mit im sausenden Umschwung, immer höher den
-schwellenden Rand hinan; ich kann kaum noch das winzige Urzellbild
-ahnen, das in der Kreiselspitze da unten mit andern solchen
-Urbildern Ball spielt. Ich ahne nur, wie sich aus jedem Bildstrahl,
-den es hochsprudelt in den silbrigen Nebel, eine neue Schaar
-Goldstrahlenbilder entpuppt, aus jedem Weltsternchen eine Sternenwelt,
-immer riesenhafter emporgegliedert, ein unendlicher Springbrunn von
-Lichtpuppengliedern, und jedes Glied schon ein ganzes Wesen, ein
-ganzes Weltpuppengliederspiel, das andere spielende Weltgliederpuppen
-nach allen Seiten entspringen läßt. Ich möchte eins dieser Wesen
-betrachten; ich schwebe so nahe an seiner Seite, ich kann seinen
-Atemkreis brausen fühlen. Ich möchte erkennen, ob’s Mann ist, ob Weib;
-aber es dehnt seinen riesigen Lichtnebelkörper, den Sterne um Sterne
-wie Flugsaat durchwirbeln, so stürmisch ins Unermeßliche, daß ich
-wieder nichts weiter wahrnehmen kann als ein seelenvoll brausendes
-Gelächter. Und wieder muß ich voll Bangen mitlachen, denn in all meinem
-Bangen ahne ich jetzt: vielleicht ist dies unabsehbare Glanzspiel,
-dieser ganze erhabene Sternpuppenkreisel auch wieder nur ein kleines
-Glied, vielleicht nur die unterste Zehenspitze von einer noch größeren
-Spielgestalt, die wieder noch größere ausspielen kann &mdash; o laß dich
-erkennen, erhabenstes Wesen!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span></p>
-
-<p>Ich starre hinauf zu dem äußersten Lichtsaum: könnt ich nur Einmal
-ein einziges Leuchten seiner Augensterne aufschimmern sehn! Ich mühe
-mich, jäher emporzukreisen, dem Bannkreis des Strudels noch näher zu
-steuern; mir ist, ich tu’s schon seit Ewigkeiten. Ich blicke zurück auf
-meine Flugbahn; das Sternennest unten ist garnicht mehr sichtbar, es
-scheint nur die allerunterste Spitze dieses schwebenden Weltenkreisels
-zu sein. Mir wird so hinschwindend seelenweit, ich kann kaum mehr
-meine Bewegungen fühlen. Ich kann in dem wachsenden Lichtseelennebel
-auch nichts mehr von meinem Körper sehen; ich bin wohl selbst eine
-Lichtwelt geworden. O könnt ich nur endlich das Augenlicht sehen, dem
-all diese seligen Weltspielpuppen aus ihren Kreisen entgegenlachen!
-&mdash; Ich muß auf einmal auch selig lachen: ich sehe urplötzlich im
-Innern des Kreisels, rings unter mir, überallher aus den Nebeln, ganze
-Schwärme von Augenlichtern aufschimmern: alle die hohen entschlafenen
-Geister, die meine Bahn einst beleuchtet haben, sie erwachen aus
-ihren träumenden Tiefen und folgen mir höher mit lachenden Blicken.
-Es erwachen und lachen Rembrandt und Shakespear, Cervantes und Swift,
-Aristophanes, Nietzsche. Es lacht auch mein Vater, auch unsre Mütter,
-und jenes dornenumspielte Haupt. Ich will es begrüßen, mein Gruß
-erstarrt: aus seinem Blick lacht die Göttin Barmherzigkeit. Ich starre
-hinab von Blick zu Blick: in allen den schwärmenden Augensternen,
-selbst in Euern Gestirnen, Nietzsche, Rabelais, Shakespear, ihr
-wildesten Schwärmer, ihr Freunde der Frevler, spielt das Bild der
-Göttin Barmherzigkeit. Mir schwindelt; ich muß wieder aufwärts
-blicken! O erwache auch Du, erhabenstes Wesen, erwache aus deiner
-Gleichgiltigkeit! Erhebe mich endlich zu <em class="gesperrt">Deinem</em> Blick! Entreiß
-mich all diesen wachsamen Augen: sie mahnen noch immer an jene Erde,
-die doch seit Ewigkeiten dahin ist! Entpuppe dich endlich: wer bist du,
-Du&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ich horche erschrocken: was lacht da „Du!“? Und ein Echo<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> lacht
-stürmisch abermals „Du!“ Will das erhabenste Wesen mich höhnen? O, nur
-höher! mir bangt nicht mehr! nur zu! &mdash; Ich steure noch jäher hinein
-in den Kreisel, ich lache stürmisch mit „Du, du, du!“ Ich lasse mich
-ganz in den Lachstrudel reißen: vielleicht kann selbst das erhabenste
-Wesen mich nur in seinem Innern erhören, da in der innersten Achse
-da! &mdash; Ja, ich höre, nun lacht es „Da, da, da“ &mdash;: und siehe, das
-ganze Weltpuppenspiel beginnt zu nicken, wild, fern und nah. Und
-immer wilder, mir stockt das Herz: will es mich aus dem Gleichgewicht
-nicken? Nein, in ganz gleichwilden Weltkreisen nickt es, kreisunter
-kreisüber mir &mdash; da, da, da &mdash; mit sternklar barmherzigen Geisteraugen
-&mdash; und lacht ganz gleichgiltig „Ha-ha-hah.“ Es will mich gewiß nur in
-Sicherheit lachen; ja, die Achse des Kreisels ist schon ganz nah. Ob
-sich’s da endlich entpuppen wird? Ja! All die Geister da lachen „Ja“
-und nicken. Aber was <em class="gesperrt">ist</em> das? Ah &mdash;: die Achse! &mdash; Sie dreht
-uns immer noch höher! aber mir stockt das Herz immer jäher: verliert
-sie nicht doch jetzt das Gleichgewicht? &mdash; Nein, sie verdreht wohl ihr
-Seelenlicht? Hahahah, sie verdreht uns die Übersicht! Sie beginnt zu
-wackeln! o all ihr Geister: das erhabenste Wesen scheint kopfstehn zu
-wollen!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ich höre entsetzt: Alles lacht wieder „Ja!“ &mdash; Ha-ha-halt!
-Barmherzigkeit! Wenn wir fallen: wir fallen ins Bodenlose da! &mdash; Da,
-was seh ich: allmächtiger Himmel, ja: es steht ja schon kopf! &mdash;
-es entpuppt sich! &mdash; Ah &mdash; &mdash;: himmelhoch über mir steht etwas da:
-mittenauf aus den wackelnden Seelenwelten steht die Kreiselkrone in
-Gloria &mdash; und ist eine &mdash; was? &mdash; eine Sohle?? &mdash; ja: eine riesige
-wacklige Weltseelensohle, von unzähligen Zehenspitzen umzappelt.
-Ich erkenne, sie will uns <em class="gesperrt">noch</em> höher zappeln: sie beschirmt
-unsre Welt wie ein maßloser Fallhut: wir zappeln in einer ungeheuren,
-allweltenhütenden Urweltpuppe, die auf ihrer Hutspitze bodenlos
-kopfsteht, und deren Bauch sich vor Lachen schüttelt. Er schüttelt uns
-mit, im<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span>mer mit, hahahah! Macht Halt, ihr Geister, sonst platzt er!
-Da &mdash;: er platzt &mdash; ich muß mich vor Lachen umdrehn. Hahahah, all die
-Weltgeister drehn sich <em class="gesperrt">mit</em> um! Hahahah, sie verdrehn mir Hören
-und Sehen! Hahahah, das erhabenste Wesen rächt sich! Hahahah, es läßt
-mich vor Lachen sterben &mdash; mir gehn alle Augen über, nein auf! &mdash; ja
-auf! endlich auf! &mdash; Was? &mdash; bin ich denn wach?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Ja, ich saß mit offenen Augen im Bett; und mittenher durch mein
-halbdunkles Zimmer langte ein goldheller Morgenstrahl, voll
-unzähliger wirbelnder Sonnenstäubchen. Es war also doch ein Spalt in
-dem Fenstervorhang. Ich stand auf, machte vollends hell und besann
-mich; dann warf ich die abends empfangene Todesnachricht aus meinem
-Shakespear in den Papierkorb. Ich wußte nicht: sollte ich wie ein Kind
-ein dankbares Morgengebet verrichten? oder Gott, Welt und Leben zum
-Teufel wünschen? Ich weiß es noch heut nicht, du himmlischer Quälgeist,
-o allbarmherzige Phantasie!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wer bist du? „Wer du willst!“</div>
- <div class="verse">Wo wohnst du? „Wo du’s fühlst!“</div>
- <div class="verse">Lebst wohl im Lichtstrahl still?</div>
- <div class="verse">„Wohl auch im Staubgewühl!</div>
- <div class="verse">Bürst mein Hütlein,</div>
- <div class="verse">klopf dein Kittlein,</div>
- <div class="verse">so kannst du merken, wer ich bin,</div>
- <div class="verse">wieviel goldne Wunderwelten in uns glühn!“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Betrachtungen">Betrachtungen<br />
-<span class="s5">über Kunst, Gott und die Welt</span><br />
-<span class="s6">Auswahl</span></h2>
-
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span></p>
-
-<h3 id="Kunst_und_Volk">Kunst und Volk</h3>
-
-<p class="center">Neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung
-bedürfen</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">1. <em class="gesperrt">Die Kunst besteht in den Kunstwerken, die nicht fürs Volk
-geschaffen sind, sondern für Gott und die Welt, für die Seele der
-Menschheit oder auch der Blumen auf dem Felde, für Alle und Keinen,
-fürs ewige Leben oder für sonst eine grenzenlose Größe.</em></p>
-
-<p>Das soll heißen:</p>
-
-<p>Es werden sehr viele Kunstwerke gemacht, aber recht wenige machen die
-Kunst aus. Kein Kunstwerk mehrt den Kunstbestand, durch das der Urheber
-irgend ein begrenztes Volk zu irgend einer bestimmten Zeit für irgend
-ein bekanntes Ziel ausbilden will oder wollte. Die Volksbeglücker, die
-Volksveredler, die Volkserzieher und -verzieher mögen ein solches Werk
-mit Fug und Recht zu ihrer Zeit den Leuten anpreisen; aber sobald jenes
-Ziel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt solch Werk der
-Vergessenheit oder bestenfalls der Kunstgeschichte, ist überflüssig
-und leer geworden, hat keinen belebenden Inhalt mehr. Freilich befaßt
-sich alle Kunst mit dem umgebenden Volks- und Zeitgeist als einem Teil
-ihres Stoffbestandes; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand, sie geht
-nur aus von dieser Umgebung, und ihr Ziel schwebt grade im Unfaßbaren.
-Beständiges Leben enthält nur <em class="gesperrt">die</em> Kunst, die jederzeit und
-immerfort hinaus ins Unbekannte weist, wie die Blumen blühen ins Blaue
-hinein. Und solche Kunst schafft nur der Künstler, der fürs Volk ein
-ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine Bestimmung des Schaffenden:
-die Gesetzgebung für das Unbestimmte. Er sieht nur Eine Grenze des
-Schaffens: die Formlegung für das Unbegrenzte. Denn er ahnt nur Ein
-Ziel der menschlichen Bildung: die Gestaltung eines vollkommenen Wesens.</p>
-
-<p>2. <em class="gesperrt">Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei Arten Volk: das
-menschenwürdige und das hundsgemeine.</em></p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span></p>
-
-<p>Das heißt:</p>
-
-<p>Vollkommene Kunst wirkt nicht auf Jedermann als vollkommen, sondern
-höchstens auf solche Seelen, die selbst den Trieb zur Vollkommenheit
-haben und fremde Seelenkraft mitfühlen können. Hierzu aber verhilft
-kein besonderer Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger Vorrang,
-der einzelnen Ständen und Klassen des Volkes &mdash; je nach dem Lauf der
-Zeiten &mdash; vergönnt ist, mag auch durch alldas die Freiheit und Freude
-des menschlichen Mitgefühls leichter erblühen. Dies Mitgefühl eignet
-vollkommen nur solchen Seelen, denen das menschliche Dasein unendlich
-mehr ist als eine Laufbahn zum Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder
-Neunmalklugsein, nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung
-aller schaffenden Kräfte, ob für, ob gegen, ob durch einander. Das
-sind die menschenwürdigen Seelen, die auch die Kunst von Grund auf
-zu würdigen wissen. Sie pflanzen den Willen zur Menschheit fort,
-sie bilden in Wahrheit den Volksgeist und Zeitgeist und begeistern
-allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volksschicht
-zu finden, wenn auch am meisten wahrscheinlich in jenen Schichten,
-die am eifrigsten für die Zukunft kämpfen. Wo sich der Sinn auf
-Vollkommenes richtet, ist „Volk“ stets nur der Inbegriff der menschlich
-strebsamsten Volksgenossen, d.&nbsp;h. ein Unterbegriff der Menschheit;
-wer ein vollkommener Mensch sein könnte, der wäre natürlich auch im
-Besitz von jeder Vollkommenheit seines Volkes. Der Rest aber, der ewig
-rückständige, der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel
-wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst, die das Volk
-übers menschliche Dasein täuscht, mehr oder weniger hundsgemein. Doch
-ist auch diese Art Volk und Kunst im geistigen Haushalt der Menschheit
-vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art zur beständigen
-Steigerung ihres Willens.</p>
-
-<p>3. <em class="gesperrt">Keine Art Volk schafft jemals Kunst; jede Art Volk reizt die
-Künstler zum Schaffen.</em></p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span></p>
-
-<p>Das will besagen:</p>
-
-<p>Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk ist, stellt eine
-unwillkürliche, unerklärliche Einsicht ins Leben vor, die stets nur
-Wenigen innewohnt und sich nur durch eigentümlich geheimnisvolle, zwar
-den Sinnen vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame
-Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man gewöhnlich Volkskunst
-nennt, ist niemals durch die gemeinsame Macht irgend eines Volkswillens
-entstanden, sondern immer ursprünglich von Einzelnen aus reinem
-Eigensinn ersonnen und dann erst zu Gemeingut geworden. Aus einem
-natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im Licht der Gestirne waltet,
-gibt der Einzelne sein einsames Sinnbild dem willigsten Empfängerkreis
-hin, oder dem mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und
-immer weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen &mdash; zumal
-bei mündlicher Weitergabe &mdash; die eigensinnigsten Züge des Bildes ins
-Allgemeinverständliche ab. In den kleinen Volksgemeinden der Urzeit
-besorgten wohl meist die Priesterkasten und Herrengeschlechter die
-erste Verbreitung; nachher vermittelten fahrende Leute zwischen der
-Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft wurde Beruf und
-ging also selbst auf die Fahrt nach Brot. So zog einst der Barde mit
-seinen Heldengesängen von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit
-seinen Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei anderes
-fahrendes Volk machte die vornehmen Gebilde fürs seßhafte schlichte
-Volk zurecht, und aus der erhabenen Heldensage wurde ein Volkslied,
-ein Bänkelsang. So sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von
-den Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen, Naturmythen
-und Geistergeschichten einer von Priestern gelenkten Kultur sind
-später von sinnigen Landstreichern, entlaufenen Mönchen, Scholaren und
-Schreibern, für das Verständnis der Spinnstuben-Insassen verweltlicht
-und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und verballhornt.<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span> So ist
-auch die sogenannte Bauernkunst, wie sie in Hausrat und Volkstracht
-sich fristet, nirgends dem Heimatboden entsprungen, ist aus höfischen
-oder städtischen Kreisen von reichen Dörflern aufs Land verpflanzt,
-und da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich verwucherten
-Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst kräftig und reif genug geworden
-ist, die entartete alte zu verdrängen. So ging auch die Kunst der
-wilden Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Festplatz
-des Zauberpriesters, das Zelt des Häuptlings oder der Obmänner, um
-in alle Hütten des Stammes zu dringen. Denn der Künstler, der kein
-Strumpfwirker ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen; er
-will wie das Leben ins Leben wirken, ins unendlich weite belebende
-Leben, und heute wendet sich seine Kunst nur deshalb gleich ans
-breitere Volk, weil es mächtiger als die Machthaber dem schaffenden
-Willen des Lebens dient.</p>
-
-<p>4. <em class="gesperrt">Das Volk versteht nichts von der Kunst; das ist auch nicht nötig
-zum Kunstgenuß.</em></p>
-
-<p>Das besagt:</p>
-
-<p>Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig zum Kunstgenuß
-sind; die volle Genußkraft ist ebenso selten wie die vollkommene
-Schaffenskraft. Aber auch diese Wenigen, Jeder für sich allein
-genommen, verstehen nur wenig von den vielfältigen Reizen, die das
-geheimnisvolle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst von den
-Handwerksgriffen des Künstlers versteht zuweilen sogar der Künstler
-nicht jeden einzelnen Wirkungswert, geschweige den ganzen Zusammenhang;
-und mancher nüchterne Kunstgelehrte sieht da schärfer als der
-scharfsinnigste Meister. Nur sind die äußerst klugen Leute, die blos
-mit Verstand zu genießen verstehen, gewöhnlich die innerst seelendummen
-und begreifen oft weniger als ein Nigger von der begeisternden
-Gefühlswelt, die hinter den sinnlichen Reizen des Kunstwerkes lebt.
-Diese Kunstverständigen zwar entschei<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span>den, ob ein Werk den besten
-Kennern des Handwerks auf absehbare Zeit zu genügen vermag, und
-schätzen seinen Sachwert ein; aber unabsehbar ist das Leben, und
-ein vollkommenes Kunstwerk enthält die Lebenshinterlassenschaft
-von hunderttausend Millionen anderer Werke und das unschätzbare
-Vorvermächtnis für aber-und-abermals andre Millionen. Ein solches Werk
-kann Jahrhunderte lang &mdash; nach den Maßstäben aller Sachverständigen,
-nach dem Urteil der Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der
-eignen wie fremder Volksart &mdash; ein wertloses totes Unding sein: und
-auf einmal ist es nur scheintot gewesen und belebt tausend Geister zu
-neuem Gefühl, zu neuem Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten
-seelischen Macht, der das vollkommene Kunstwerk entstammt, ist eben
-auch der Kenner „nur Volk“. Über diese beständige Machtvollkommenheit,
-diesen eigensten Lebenswert der Kunst, entscheidet keinerlei
-Kunstverstand, auch kein Kunstgeschmack und kein Kunstgefühl, weder des
-Einzelnen noch einer Volksmasse; denn es gibt und gab kein einziges
-Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu mäkeln fände, und Geschmack
-und Gefühl sind unbeständig, ob aus Verstand oder Unverstand. Über
-den Lebenswert der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst,
-das wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk zu Volk, ob
-durch Zufall, Notwendigkeit oder Gott-weiß-was, doch beständig zum
-Weiterleben gewillt. Mit dem Genuß aber hat das wenig zu tun; den
-rohesten Kerl kann das scheußlichste Machwerk unvergleichlich stärker
-und inniger freuen, als die reinste Schönheit den feinsten Kenner. Wer
-Anderes lehrt, ist ein Faselhans, ob nun ein Schwarmgeist oder ein
-Nüchterling.</p>
-
-<p>5. <em class="gesperrt">Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht in der Begeisterung durch
-das Unbegreifliche, in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in der
-Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in Glauben, Traum und Übermut.</em></p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span></p>
-
-<p>Das bedeutet:</p>
-
-<p>Wie das Wesen des Kunstschaffens unerklärlich ist, so auch das Wesen
-des Kunstgenießens; erklärlich ist nur der bewirkte Zustand. Er ist,
-und sei er noch so vergeistigt, ein Zustand der sinnlich befriedigten
-Liebe, im weitesten und engsten Sinn, in der höchsten, tiefsten,
-flachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er gibt also
-nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand des geliebten Dinges,
-für Schönheit, Naturwahrheit und dergleichen. Wie dem liebenden
-Jüngling ein Gesicht, das er gestern noch für abschreckend hielt, heute
-ein Ausbund aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang
-sein wird, vielleicht auch nur für etliche Wochen, so liebt und lebt
-auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein Gemisch von Volk! Sogar
-das griechische Volk war kein Kunstvolk, wie manche Leute es gerne
-träumen; denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab nur
-einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen, kunstliebenden
-Patrizierfamilien und einem Haufen machtsüchtiger, vergnügungslustiger
-Spießbürger nebst einer bäurischen Sklavenheerde. Aber die Lust und
-Liebe zur Kunst ist selbst ein gewaltiger Lebenswert: sie legt den
-geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch unvollkommen
-sind, und hebt alle Kräfte der liebenden Seele, auch wenn es nur
-schwache Kräfte sind. Das gilt für Männlein wie für Weiblein; denn
-in den höchsten Bezirken der Liebe hört der Geschlechtsunterschied
-glücklich auf. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die
-stärksten Sehnsüchte seines Lebens durch das angebetete Bild erfüllt
-zeigt; und je weniger Wissen den Geist beschwert, je weniger Kenntnis
-von Kunstmaßstäben, umso leichter glaubt er seinem Traum. Dann braucht
-er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbegreifliche klar,
-daß er Eins ist mit dem einsamen Künstler: dann erlebt er wie dieser
-das Grenzenlose, ist mit ihm die Blume auf dem Felde, mit ihm der
-Held seiner Abenteuer, mit ihm ein ganzes mächtiges Volk und jauchzt
-im Stillen<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> vor Übermut. Und wenn er aufwacht aus diesem Traum, der
-ihm das Winzigste riesengroß, das Furchtbarste herrlich und lieblich
-machte, dann verehrt er die unerforschliche Kraft, die frei mit den
-eigenen Grenzen spielt; und seine Abenteuerlust, die einen Augenblick
-staunend gestillt war, gibt sich ermutigt dem unstillbaren, wandelbaren
-Leben hin. Ein ganzes Volk aber, das so träumt und nur kraft höchster
-Kunst so träumt, das ist ein &mdash; schöner Zukunftstraum.</p>
-
-<p>6. <em class="gesperrt">Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar, sondern mittelbar als
-Sage ins Volk.</em></p>
-
-<p>Nämlich:</p>
-
-<p>Nicht blos die Kunst der vorgeschichtlichen oder späterer
-ungeschichtlicher Zeiten, wie sie uns in heroischen Fabeln, humanen
-Idyllen, religiösen Parabeln vom „Volksmund“ überliefert ist, sondern
-auch alle geschichtliche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild
-sinnlichen Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt ins
-ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur durch freie Erinnerung
-fort; auch der Buchdruck hat daran nichts geändert. Wer liest heute
-noch Cervantes und Swift, wie sie vollständig im Buche stehen, oder
-gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuflein Gebildeter; und viele von
-ihnen nur aus Zwang. Wer sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder
-hört die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden besucht, wer
-den Petersdom, wer den Park von Versailles? Wer kennt wirklich Lionardo
-vollkommen, wer Goethe, wer Mozart und Gluck, wer Bach? &mdash; Aber man
-spreche von Gullivers Reisen, von Don Quijote, Don Juan, Helena, Faust,
-man nenne die Namen Prometheus und Orpheus, Michelangelo, Shakespear,
-Rembrandt, Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskraft
-wird auch den Geist des geistig Armen mit Bildern schicksalreichsten
-Lebens, Gestalten vollkommener Menschlichkeit füllen. Unter hundert
-Kunstkennern sind nicht zwei in der Deutung von Dantes Beatrice,<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span>
-der Erklärung von Shakespears Hamlet einig, aber jeder einzige fühlt
-sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes Mädchen scheint
-eine Beatrice, dieser junge Mann ist der reine Hamlet. Das eben ist
-das Kennzeichen höchster Kunst, daß sie Keinem ganz begreiflich wird,
-daß der Eine dies, der Andere jenes als ihr bedeutsamstes Merkmal
-herausgreift, daß sie die unbegrenzte Macht hat, über die eigene
-Bildwirkung weg durch fremde Vermittelung weiterzuwirken, bis sich
-aus all den begeisterten Meinungen ein allgemeines Erinnerungsbild
-formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus dem der Volksgeist
-aber das Ganze &mdash; und mehr als das &mdash; zu begreifen glaubt. So genügt
-dem Liebenden eine Locke, um ihm die ganze Gestalt der Geliebten,
-den Duft ihres Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre ganze Seele
-heraufzubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer Name.</p>
-
-<p>7. <em class="gesperrt">Nie ist Kunst volkstümlich von Anbeginn; sie wird es kraft ihrer
-ursprünglichen, neubelebenden Freiheitslust, und sie bleibt es kraft
-ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungsliebe.</em></p>
-
-<p>Denn:</p>
-
-<p>Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen freiwilligen
-Gewöhnung aller einzelnen Volksmitglieder, oder doch der meisten und
-menschlich besten, unter Anleitung der geistig regsten. Man will sich
-aber an nichts erst gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnlich ist;
-und man gewöhnt sich auch an nichts, was durchaus blos ungewöhnlich
-sein will. Nur solche Kunst wird und bleibt volkstümlich, die den
-Willen zum geistigen Miterleben, diesen allgemeinsten menschlichen
-Willen, gleichermaßen bewegt und beruhigt, löst und fesselt,
-antreibt und bändigt. Sie muß Reize enthalten, die immer wieder
-das schrankenlose Naturgefühl selbst des Eigensinnigsten erregen;
-und sie muß andere Reize enthalten, die immerfort die beschränkte
-Kulturvernunft auch des Freimütigsten beschwichtigen.<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> Sie muß alle
-diese zwiefachen Reize in einer so einfachen Form vereinen, daß sie
-zwingend wirkt wie ein neues Gesetz, zu dem die alten hingedrängt
-haben; und es macht das innerste Schicksal des Künstlers aus, ob
-er die äußere Geschicklichkeit hat, sich mit seiner ursprünglichen
-Schaffenskraft in die Beschaffenheit der Welt, die notwendige Ordnung
-der Kräfte, zu fügen. Dann ist sein Werk ein vollkommenes: ein Sinnbild
-des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens
-zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige. Solche
-Kunst mag man anfangs für willkürlich halten, mag sie mißachten und
-mißdeuten, verlästern oder verlobhudeln: grade Das wird die Neugier der
-Menge reizen, grade Das selbst die ältesten Schlafmützen wecken, und
-endlich nimmt auch der Gleichgiltige die ernste Giltigkeit ihres Wesens
-hinter dem scheinbaren Gaukelwerk wahr. Dagegen die Kunst, die nach
-Volksgunst fahndet, indem sie sich in das Maskengewand volkstümlich
-gewordener Ahnenkunst kleidet: sie mag von den vornehmsten Autoritäten,
-von Obrigkeit, Schule und Zeitungen, mit aller Gewalt „populär“ gemacht
-werden, eine Zeit lang „ungeheuer beliebt“ sein, schließlich wird sie
-als eitel Blendwerk erkannt und dient bestenfalls zur Vermittelung
-einiger Kunstkenntnis ans Volk.</p>
-
-<p>8. <em class="gesperrt">Alle Kunst, die nicht volkstümlich wird, ist Unkunst, Tand und
-Spreu im Wind.</em></p>
-
-<p>Das ist so zu verstehen:</p>
-
-<p>Kein Kunstwerk, und sei es noch so schlecht, ist von Anfang an ohne
-Lebenswert; es finden sich immer die vielen Dummen und manchmal auch
-nicht wenige Kluge, die ein schlechtes Werk für gut genug halten, die
-Langeweile auszufüllen. Erst allmählich merkt man, was Unkunst ist.
-Jeder Einzelne weiß das aus eigner Erfahrung, und die Erfahrungen der
-Völker wachsen noch viel allmählicher, dafür freilich auch dauerhafter.
-Es lassen sich mancherlei Kunstwerke herzählen, die Jahrhunderte lang
-im Volk wie bei Kennern die höchste Wertschätzung be<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span>saßen und heute
-für mittelmäßig gelten, vielleicht immer tiefer an Wert sinken werden,
-vielleicht auch wieder zum höchsten steigen. Eine vollkommene Gewähr
-für die Richtigkeit eines Kunstwerkes bietet allein der Tatbestand, daß
-es als Stoffding untergegangen ist, ohne in irgend einer Form &mdash; in
-Sage, Denkmal, anderen Werken &mdash; als seelisches Wesen weiterzuwirken.
-Das mag sich von den besten Kennern für die ungeheure Mehrzahl der
-Kunstdinge mit aller Gewißheit voraussagen lassen; aber die Kenner
-vollstrecken ihr Urteil nicht. Nur die Menschheit selbst ist das
-Jüngste Gericht und sondert langsam die Spreu vom Weizen; und das
-Volkstum ist das große Sieb, durch das sie ihre Lebensfrucht worfelt.
-Da werden auch viele Dinge durchfallen, die vielen Kennern Kleinodien
-waren; und der ordinärste Hintertreppenroman wird dann nicht tiefer
-im Kehricht liegen als manche exquisite Salonnovelle. Dann wird der
-namenlose Dichter, der dem Volk den Aberwitz der Romantik durch das
-Bild des „geschundenen Raubritters“ zeigte, in der menschlichen
-Sprache lebendiger leben als mancher romantische Schulpoet mit
-literarhistorischem Ruhm. Über die Geistesgebilde der Machtvollsten
-aber lebt noch ihr eigenes Bildnis hinaus. Es werden Zeiten kommen,
-wo unsre Kultur begrabener als die ägyptische daliegt; dann wird
-vielleicht kein Buch von heute, kein Notenblatt mehr in Ansehen stehn,
-aber das Seelenbild Dante, das Paradiese und Höllen umarmt, der Geist
-Beethoven, den die Verzweiflung zum Freudenschrei trieb, wird dann der
-Menschheit noch ebenso heilig sein wie Orpheus oder Prometheus.</p>
-
-<p>9. <em class="gesperrt">Die Kunst geht ihren eigenen Weg; wohl ihr, wenn das Volk ihr zu
-folgen vermag.</em></p>
-
-<p>Das ist so selbstverständlich&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>daß es selbst für die eingebildetsten Dickköpfe nicht der Erklärung
-bedürfen würde, wenn nicht manche Künstler von Zukunftswert einen
-wohlfeilen Afterstolz darein setzten, bei Leb<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span>zeiten nicht ins Volk zu
-dringen. Angewidert vom Afterruhm meinen sie, ihr Selbstgefühl sei die
-ganze Welt, die Menschheit ein Märchen der Volksverführer. Wie lange
-wird dieser Irrsinn dauern? Bis sie der Welt zum Opfer gefallen und dem
-Volk wie der Menschheit ein Leichenschmaus sind! Denn wir leben alle
-nicht für uns selbst, mag es auch manchem Scheinweltweisen bei seiner
-Schreibtischlampe so scheinen; selbst der selbstsüchtigste Geizhals muß
-ins Grab und hat seine Schätze für Erben gesammelt.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Nationale_Kulturpolitik">Nationale Kulturpolitik</h3>
-
-<p class="center">Eine fragwürdige Angelegenheit</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Die Möglichkeit einer Kulturpolitik wird wohl niemand in Abrede
-stellen. Man pflegt sich nur darüber zu streiten, ob die sogenannte
-wahre Kultur &mdash; wie die philosophastrischen Schlagwörter lauten &mdash;
-„bewußt“ oder „unbewußt“ zustande komme, besser gesagt: absichtlich
-oder unwillkürlich. Aber es gibt keine geistige Tätigkeit, die nicht
-zugleich aus unwillkürlichem Antrieb und mit absichtlicher Zwecksetzung
-vor sich geht. Politik ohne bewußte Absicht ist ein Widerspruch
-in sich selbst; und die Geschichte der Völker und Staaten zeigt,
-daß Kulturpolitik zu allen Zeiten und in allen Ländern getrieben
-wurde. Man braucht nur Namen wie Perikles und die Medici, Augustus
-und Louis XIV, William Cecil und Friedrich den Großen zu nennen,
-und wir erinnern uns an Epochen planvollster Zusammenfassung der
-produktiven Einzelkräfte um der organischen Volksbildung willen, auf
-kleineren wie größeren wie ganz großen Staatsgebieten. Und nicht blos
-persönliche Oberhäupter, auch regierende Körperschaften haben solche
-Politik getrieben; Beweis die Republik Venedig, die Niederlande, die
-Hansestädte. Allerdings waren diese Körperschaften noch durchweg
-Aristokratieen und beherrschten nur kleine Volksgebilde; auch die
-so<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span>genannten Demokratieen der altgriechischen Stadtgemeinden hatten
-tatsächlich patrizischen oder sonstwie oligarchischen Zuschnitt. Es
-fehlt daher an historischen Parallelen zu den Herrschaftsformen der
-Gegenwart, die in den großen Staaten Europas aus alten aristokratischen
-und neuen demokratischen Machtzuständen unklar gemischt sind.
-Das aber ist ausschlaggebend für die Entscheidung der Frage, ob
-sich heute die Kristallisation der nationalen Kulturtendenzen
-erfolgreich beschleunigen läßt oder nicht. Denn erstens muß die
-Nation schon reif sein für solche höchst raffinierte Politik, sonst
-tut der naive Volksgeist nicht mit oder wird in Grund und Boden
-verdorben; und zweitens ist Politik nur erfolgreich durch eine starke
-Machthaberschaft, wie immer geartet diese sei. An sich ist freilich
-die Unklarheit der Machtverhältnisse kein Grund, daß es nicht Zeit
-zur Klärung sein könnte; kein Mensch weiß im voraus, wie reif ein
-Volk ist. Also braucht man sich blos noch den Kopf zu zerbrechen, ob
-die verschiedenen mächtigen Leute, die sich heute als Volksvertreter
-fühlen, hinlänglich einig darüber sind, <em class="gesperrt">woraufhin</em> kultiviert
-werden soll.</p>
-
-<p>Kulturpolitik irgend welcher Art wird ja allenthalben genug
-getrieben, in Deutschland eher zu viel als zu wenig. Potentaten,
-Finanzbarone, Minister, Parlamente, Parteien und Kongresse, Demagogen
-beiderlei Geschlechts, Universitätsprofessoren und Volksschullehrer,
-Literatenkliquen und Zeitungsredaktionen, alle schwingen das Wort
-„Kultur“ im Munde und greifen sogar in die Tasche dafür, teils in
-die eigene, teils in fremde, und natürlich immer für „wahre“ Kultur.
-Aber mit welcher Sorte wahrer Kultur man das <em class="gesperrt">ganze Volk</em> zu
-beglücken gedenkt, davon ist wohlweislich nie die Rede; sie könnte
-doch gar zu leicht unwahr tönen. Trotzdem ist einzig dies der Rede
-wert. Nationale Kultur bleibt ja leere Phrase, wenn sie nicht ein
-humanes Programm bedeutet: bestimmte Veredlungswerte der Menschheit,
-die das Volk selbstbewußt in sich ausbilden soll. Allgemeine Bildung
-ist nur ein Ziel für hochbegabte Persön<span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span>lichkeiten; im Durchschnitt
-des Volkes läuft sie leider auf allgemeine <em class="gesperrt">Ver</em>bildung hinaus.
-Gar eine schöngeistige Bildungspflege ist fürs gesamte Volk ein
-Unding, war stets nur gewissen bevorrechteten Gesellschaftsklassen
-wirklich erreichbar, deren leibliche Wirtschaftsbedürfnisse von
-anderen Klassen besorgt wurden. Alle organische Kulturpolitik muß
-zunächst natürlich darauf bedacht sein, besonders leistungsfähige
-Berufsstände zu begünstigen, an die sich die übrigen angliedern
-können, je nach den hauptsächlichen Volksanlagen und den zeitlichen
-wie örtlichen Entwickelungsbedingungen. Selbst in den kleinsten
-Gemeinwesen hat die Kultur nie von Anfang an harmonische Tendenz
-gehabt, war überall um spezifische Interessengruppen konsolidiert:
-agrarische oder kommerzielle, militärische oder juridische, religiöse
-oder philosophische, erotische oder soziologische, je nachdem die
-Oberschicht mehr sensuell oder mehr intellektuell begabt war, mehr
-energisch oder mehr spekulativ. Für all das lassen sich reinliche
-Beispiele bei räumlich beschränkten Kulturen finden, von dem
-spartanischen Kriegerstaat bis hin zum Friedensreich der Inka, von den
-indischen Weisheitsfürstentümern bis zu den Minnehöfen der Provence.</p>
-
-<p>Heute aber, in unseren großen Staaten mit ihren vielerlei
-Machthabergruppen, wo herrscht da wahre Einmütigkeit über solche
-Meistbegünstigung? Wie kann eine Harmonie der Interessen entstehen,
-wenn fast jeder Stand nur <em class="gesperrt">die</em> Politik verfolgt, sich
-möglichst „notleidend“ zu stellen! In Deutschland wird man sich
-höchstens vielleicht auf das Zugeständnis einigen: wir scheinen eine
-<em class="gesperrt">industrielle</em> Kultur ziemlich hohen Ranges zu schaffen. Aber
-die Folgerung lautet dann meistens: folglich braucht sie nicht mehr
-begünstigt zu werden. Und gewisse Idealisten zetern sofort: das ist
-ja „blos materielle“ Kultur, ist also „überhaupt keine“, ist „nichts
-als“ Zivilisation! Nun, ich bin selber ein Idealist, allerdings keiner
-mit fixen Ideen, und eine Grenze zwischen jenen beiden Begriffen läßt
-sich meines Er<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span>achtens durchaus nicht fixieren. Eine Industrie von
-materiellem Höchstwert ist notwendigerweise zugleich ideell, oder zum
-mindesten intellektuell, nämlich angewandte Naturwissenschaft; da ist
-also schon ein Punkt aufgedeckt, wo Zivilisation in Kultur übergeht.
-Die Industrie ist ferner genötigt, sich wegen ihrer technischen
-Qualitäten ästhetische Werte anzuzüchten; und die teilen sich dann
-natürlich dem Volk mit, das ihre Produkte herstellen, vertreiben und
-verbrauchen hilft. Und daß durch ein gründliches Industrie-System auch
-allerlei sonstige Disziplin, ökonomische, juristische, hygienische,
-moralische, in der Volksmasse ausgebildet wird, ist ohne weiteres
-selbstverständlich; Bernard Shaw hat darüber im letzten Akt seiner
-Komödie „Major Barbara“ sehr räsonnabel phantasiert.</p>
-
-<p>Bleibt somit lediglich auszuprobieren, ob in der Tat unsre Industrie
-&mdash; in Arbeitgebern wie Arbeitnehmern &mdash; schon so starke Kulturpotenzen
-umspannt, daß sie die übrigen Machthabergruppen von ihrem Vorzugsrecht
-überzeugt, z. B. die Herren Agrarier und den nicht minder herrlichen
-Klerus. Sobald die geistig bedeutendsten Machtgruppen eine dauernde
-Hebung ihrer Wohlfahrt, sei es direkt oder indirekt, von einer
-materiellen Tendenz erwarten, schlägt diese bereits ins Ideelle um,
-in eine sozialpolitische Sympathie aller Stände, die sich bis zu
-religiöser Ekstase und poetischem Enthusiasmus steigern kann; siehe
-die Zeit der Kreuzzüge, die aus agrarischen Interessen emporkam.
-Dergleichen geht meist viel rascher vor sich, als die fixen Idealisten
-glauben; aber ehe es wieder möglich wird, müssen freilich erst die
-führenden Geister der einzelnen Berufskreise mehr Fühlung miteinander
-erlangen, als zur Zeit bei uns vorhanden ist, mehr Achtsamkeit und
-mehr Verständnis für die gegenseitigen Ergänzungswerte. Inzwischen
-hat jedermann im Volk, erst recht aber jeder leitende Mann, das Eine
-zu tun, das immer nottut: seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.
-Bildung predigen kann der nichtsnutzigste Nörg<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span>ler; gute Lehren sind
-gut, gute Vorbilder besser. <em class="gesperrt">Im eignen Beruf etwas Tüchtiges leisten
-und fremde Tüchtigkeit anerkennen</em>, das ist schließlich die beste
-Kulturpolitik. Kurz: möglichst wenig davon reden im Allgemeinen,
-möglichst viel im Besonderen dazu tun! In diesem Sinne könnte die
-Großmacht „Presse“ aufs besonderste vorbildlich wirken; notabene wenn
-sie endlich wollte.</p>
-
-<p>Statt dessen wird geschwatzt und geschwatzt, und das hält man womöglich
-noch für ein Zeichen allgemeinen geistigen Fortschritts. Wenn jemand
-alldas lesen müßte, was bei uns über Bildung und Bildungszwecke,
-Kultur und Kulturprobleme geschrieben wird: ob er dann nicht reif
-fürs Irrenhaus würde? Wir sind besessen vom Fortbildungsdrehwurm,
-deshalb besitzen wir keine ruhige Bildung. Ich habe einmal einen Jungen
-gekannt, der so viel übers Leimrutenstellen nachdachte, daß er nie
-dazu kam, einen Vogel zu fangen. Und ich kenne viele erwachsene Leute,
-nicht etwa blos Privatdozenten, die lange Vorträge über Schönheit und
-Freiheit halten und weder verstehen eine Blume zu pflücken noch sie
-in ein Knopfloch zu stecken. Wenn so ein Schöngeist dann plötzlich
-errötet über seine Ungeschicktheit, dann ist vielleicht noch Hoffnung
-vorhanden, daß er endlich aufhört, für Bildung zu schwärmen, und
-wirklich anfängt, sich zu bilden. Darum war es ein Zeichen heilsamer
-Reue, daß unlängst unter den vielen Rundfragen, mit denen jeder
-irgendworin Gebildete von unsern Zeitungen und Zeitschriften aus
-vorzüglicher Hochachtung überschwemmt wird, plötzlich auch die Frage
-auftauchte, ob wir nicht heute „an einer Überwertung der Bildungsfragen
-kranken“. Ich weiß freilich nicht, ob der Verfasser dieser
-Überbildungsfrage über ihren Stil errötet ist; über ihre Motive aber
-sollten wir allesamt erröten.</p>
-
-<p>Was ist Bildung? Nur die Unbildung fragt so. Der Gebildete redet
-nicht darüber, er hat allemal Besseres zu tun; gebildet ist,
-wer vorbildlich wirkt durch irgendeine Tüchtigkeit.<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> Unsre Zeit
-ist nicht so untüchtig, an „Überwertung“ der Bildungsfragen zu
-„kranken“; ich glaube sogar, daß jeder wertvolle Mensch über solche
-Doktorfragen die Achseln zuckt. Aber worunter wir allerdings leiden,
-und grade die Tüchtigsten am meisten, das ist die Überschätzung der
-Bildungs<em class="gesperrt">mittel</em>, der praktischen wie der ideellen; das Werkzeug
-steht höher im Wert als das Werk! &mdash; Wir bauen großartige Fabriken,
-die kleinliche Fabrikate erzeugen. Wir erfinden hochfliegende
-Verkehrsmaschinen, die den Verkehr immer flacher, weil flüchtiger
-machen. Wir konstruieren geistreiche Schwebebrücken, Bahnhofshallen
-und Kabelanlagen, die keiner andern Güterbeförderung als nur der
-leiblichen Wohlfahrt dienen. Wir überspinnen unsre Städte und Dörfer
-mit baumwuchsverstümmelnden Drahtnetzen, die unser Alltagsgeschwätz
-so bequem verbreiten, daß es selbst dem Geduldigsten unbequem wird.
-Wir pflegen ästhetische Techniken und intellektuelle Methoden, deren
-absonderliche Feinsinnigkeit die Wirkung der Künste wie Wissenschaften
-auf unsre ganze Gesinnung vereitelt. Wir organisieren einen
-Religionsunterricht, der so überaus vernünftig ist, daß die ehrwürdigen
-Worte des Glaubens zum Gespött der Kinder werden. Wir entwickeln
-tiefdurchdachte Erziehungssysteme, die prinzipiell auf Zöglinge von
-oberflächlichster Durchschnittlichkeit des Denkens und Fühlens angelegt
-sind. Wir betreiben eine Politik, die vor lauter Interessendiplomatie
-das solidarste Intresse der Nation, das soziale Vertrauen, in den
-Wind schlägt. Wir gründen sehr sittliche Einrichtungen zum Schutz der
-menschlichen Arbeitskräfte, und das Vollkommenste, was mit all dem
-Aufwand für Volk und Menschheit geschaffen wird, sind Instrumente der
-Zerstörung: Kanonen, Kriegsschiffe und dergleichen.</p>
-
-<p>Wie dieser Wahnwitz kuriert werden kann? Weder durch Lehranstalten noch
-durch Kasernen noch durch die sogenannte Schule des Lebens, durch kein
-Hilfsmittel von außen her. Autosuggestionstherapie nennt es heute die
-innere Medizin;<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> auf gut Deutsch heißt es immer noch Selbstzucht, soll
-den Geist vom Narrsinn der Selbstsucht befreien und kann von den werten
-Lehrmeistern, Eltern und andern Vorgesetzten nur durchs eigne Beispiel
-erläutert werden. Das Wort „Bildungszweck“ ist dabei überflüssig, denn
-hier deckt sich das Mittel mit dem Zweck. Aber freilich: man lernt dies
-Mittel erst anwenden, wenn der Geist schon &mdash; von selbst zu genesen
-beginnt.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Kunst_und_Persoenlichkeit">Kunst und Persönlichkeit</h3>
-
-<p class="center">Perspektiven ins Unpersönliche</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Wir leben seit der Betriebsamkeit der Lokomotive und des elektrischen
-Drahtes in einer Wiedergeburt der Künste, die der humanen Tendenz
-nach tiefer zu wirken und weiter um sich zu greifen bemüht ist, als
-irgend eine der früheren Renaissancen; nicht blos bemüht, auch berufen.
-Die moderne Kultur ist international geworden, und als gebildete
-Menschheit sieht man nicht mehr eine kleine Klasse von Bevorrechteten
-an, wie einst in Indien und Attika oder in den Adelsländchen und
-Patrizierrepubliken der Reformationszeit, sondern insgesamt all die
-Nationen, in denen die Leibeigenschaft für unrecht gilt. Aus einem
-so viel weitern Intressenkreis nimmt der Künstler unsrer Zeit seinen
-Rohstoff und hat für die Verarbeitung den soviel weiteren Kreis von
-Intressenten. Tiefer als jemals fühlt sich das moderne Individuum im
-Gegensatz zur breiten Masse, die immer mächtiger wird, die freier
-als jemals konkurrierende Individuen aus sich emporwerfen kann. Um
-soviel tiefer, mächtiger und freier muß jede Persönlichkeit, die sich
-zur Geltung bringen will, auch ihre wesentlichen Eigentümlichkeiten
-zum Ausdruck bringen. Sie muß, sie kann nicht anders; das ist das
-Schöpferische, das Gesunde, Urnatürliche, auch wenn es sich an
-einer Szene aus dem Krankenhaus oder an den verdrehten Gesten einer
-Salonpuppe ausläßt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span></p>
-
-<p>Und denselben Eigenwillen bekundet, oft bis zum verrannten Eigensinn,
-einstweilen auch noch unser Kunsturteil, d.&nbsp;h. die Einsicht in die
-Ursachen der jeweils empfundenen Wirkung. Denn zu diesen Ursachen
-gehört zunächst der persönliche Geschmack des Genießenden, der sich
-aus allerlei Temperamentsqualitäten zusammensetzt, die mit dem
-Gefühl für den bleibenden Kunstwert nichts oder wenig zu tun haben.
-Insofern freilich wird <em class="gesperrt">kein</em> Kunsturteil seinen laienhaft
-subjektiven Charakter verleugnen können; selbst der Künstler dem
-Kunstgenossen gegenüber wird immer darin befangen bleiben. Aber aus
-dieser natürlichen Befangenheit grade entspringt das Gefühl der
-Unbefangenheit. Wer sich ganz dagegen sperren wollte, würde überhaupt
-nicht zum Genuß gelangen; und das hieße dem Künstler, solange er
-lebt, der Dienste schlechtesten erweisen. Eben das instinktive
-Geschmacksurteil, sobald es nur offen als solches bekannt wird, ist dem
-Künstler mindestens ebenso wertvoll wie das sogenannte rein kritische,
-das in Wahrheit niemals rein sein <em class="gesperrt">kann</em>. Denn es wird ihn am
-klarsten über die Wirkung seiner persönlichsten Ausdrucksmittel auf
-fremde Naturen unterrichten, sei es durch Zustimmung, sei es durch
-Widerspruch; wird also seine Eigenart schärfen und seine Schaffenslust
-kräftigen. Reine Objektivität des Urteils ist ja nichts als Bewußtsein
-der letzten Grenzen zwischen den Eindrücken von Außen her und ihrer
-Verarbeitung von Uns aus, also ein idealer Begriff wie Schönheit,
-Wahrheit, Vollkommenheit, ebenso relativ und variabel. Denn wirklich
-erkennen und begründen lassen sich diese Grenzen erst, wenn und nachdem
-wir den fraglichen Eindruck subjektiv empfunden haben.</p>
-
-<p>Es gibt nun freilich merkwürdige Leute, die zu keiner Zeit zufrieden
-sind, und heutzutage besonders viele, denn seit Lasalle ist
-Unzufriedenheit bekanntlich eine Tugend. Seit Nietzsche aber darf man
-zum Glück gegen die bekannten Tugenden mißtrauisch sein; und wenn sich
-der weise Zarathustra nicht gar so<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> tief in seine Höhle verkrochen
-hätte, würde ihn wohl allmählich nicht blos das „erbärmliche Behagen“,
-sondern mehr noch das viel erbärmlichere Unbehagen gewisser Idealisten
-geekelt haben. In der Tat: merkwürdige Leute das! Da gibt es welche,
-die jammern über Gott und die Welt; und wenn nun Einer sich untersteht,
-ihren Jammer schön in Verse zu bringen, dann fallen sie eilends über
-ihn her und schimpfen ihn einen Entarteten. Da gibt es Andre, die
-haben fortwährend eine laute Sehnsucht nach der inneren Ruhe; wenn
-aber einmal Einer auftritt, der sich diese Ruhe errungen hat, dann
-finden sie ihn fad und müd und werfen ihm noch Steine in seinen stillen
-Hafen. Wieder Andre regen sich drüber auf, daß die Eigentümlichen gar
-so unverständlich seien; gibt dann ein solcher Sonderling auch mal
-was Gemeinverständliches von sich, schelten sie ihn einen geistigen
-Schwindler. Und nochmals Andre lassen sich den Unverstand der Menge
-verdrießen, weil sie neugierig mit den Wenigen laufen, die den Vielen
-nicht gleich offne Briefe sind; läuft aber Einem dieser Wenigen dann
-auch sein Volk bei Zeiten zu, so ist er natürlich ein Überläufer. Und
-so weiter: was so alles zum Vorschein kommt, wenn sich die Leute, die
-das liebe „man“ ausmachen, mit einem Manne abzufinden haben.</p>
-
-<p>Indessen diese merkwürdigen Leute haben trotzalledem nie ganz Unrecht:
-mit der bloßen Selbstherrlichkeit kann kein Mensch etwas Großes
-fordern, nicht einmal ein Staat oder Volk. Jede Wiedergeburt der Künste
-beginnt mit krampfhaften Wachstumsregungen, deren Eigenleben die neue
-wie alte Kultur von Natur aus gefährden würde, wenn nicht irgend ein
-gemeinschaftliches Lebensbedürfnis sie zugleich doch bändigte. Auch
-die Renaissance vor 500 Jahren hat ihre Kulturmacht und Stilvollendung
-nur durch den weitverzweigten Zusammenhang der lokalen Schulen und
-Meister erlangt, der erst zerfiel, als sie reif genug war für den
-universelleren Barockstil und für so umfassende Einzelgeister wie
-Michelangelo, Shakespear, Bach;<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> und Hellas ist gleichfalls erst
-durch den Verkehr mit Asien und Ägypten gewachsen. Dies Bedürfnis
-schöpferischer Kräfte, einander möglichst zu durchdringen, ist auch
-jetzt wieder mächtig in der Kunst, eben weil wieder selbstbewußt genug
-geschaffen wird, daß die Eigenart des Einzelnen nichts mehr daraus
-zu befürchten braucht. Kunst wie Dichtung dürfen wieder dran denken,
-sich dem Volk in ihrem allgemein menschlichen Lebenswert bemerkbar
-zu machen, nicht nur den eigenwillig persönlichen und nationalen
-Geschmackswerten nach. Denn es gibt eine Art der Kunstwirkung,
-die über jegliche Grenze selbstsüchtigen Schaffens und also auch
-Genießens hinausgeht, die überhaupt erst die höchste Kunstwirkung
-ist, und deren Mächtigkeit bei dem einzelnen Kunstwerk den Grad
-der bleibenden Schätzung bestimmt: das ist das befreiende Gefühl
-der Selbstvergessenheit, dasselbe Gefühl, das auch den Künstler im
-schöpferisch entrückten Augenblick packt, also die Wirkung grade der
-<em class="gesperrt">Un</em>persönlichkeit.</p>
-
-<p>Dies scheint nun fast im Widerspruch zu aller so erbittert
-verteidigten Eigentümlichkeit des Künstlers zu stehen und jede
-Schätzung persönlichen Willens in Form wie Stoffwahl auszuschließen.
-Aber wie allenthalben im Leben bedingen auch hier die Gegensätze
-gegenseitig ihr Dasein. Ein Kunstwerk, das sich nicht vor andern
-durch irgendwelche Besonderheit auszeichnet, kann uns auch
-selbstverständlich nicht zu besonderer Beachtung reizen. Aber was uns
-diesem Anreiz erst nachzugeben drängt und zwingt, das eben ist jenes
-Unpersönlichkeitsbedürfnis, das uns hinter der fremden Besonderheit
-etwas uns Allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes unwillkürliche
-Allgemeingefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum
-und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen
-Gegenstand nach immer neuen Eigenschaften, d.&nbsp;h. Beziehungen zu uns
-selbst, suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche,
-ob wir’s nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist,<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> Allseele oder
-Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen &mdash;: wir wenden
-uns enttäuscht ab von dem Kunstwerk, sobald wir jene Vermutung des
-Allgemeinen hinter dem Besonderen nicht darin bestätigt finden. Und
-auch im Künstler selbst ist es so: erst dieses Allgemeine, Unfaßbare,
-Grenzenlose, wie es sich im Prisma seines persönlich beschränkten
-Bewußtseins bricht, sei es durch sinnliche oder durch geistige oder
-durch Gemüts-Wahrnehmung &mdash; gleichsam die drei Flächen dieses Prismas
-&mdash;: erst Das erzeugt den persönlichen Stil mit all seinen Zu- und
-Unzulänglichkeiten, und einzig deswegen fühlt sich der Künstler niemals
-vollkommen selbstbefriedigt durch irgend eins seiner fertigen Werke.</p>
-
-<p>Demgemäß ist es auch ganz verkehrt, wenn eine supermoderne Ästhetik
-sich dagegen auflehnen will, nach allgemeinen Maßstäben für
-künstlerischen Wert und Unwert zu suchen. Die kritische Methode, wie
-Lessing und Schiller sie für Deutschland begründet haben, nämlich
-die klar begrenzte Feststellung gewisser höchster Wertbegriffe auf
-Grund stets wiederkehrender Gefühlserfahrungen bei allen stärksten
-Kunstgenüssen, ist etwas, dessen sich die Menschheit niemals wird
-entschlagen können. Wenn eine neuere Ästhetik dies zu ersetzen,
-nicht etwa blos zu ergänzen hofft, dadurch daß sie das Kunstwerk
-rein beschreibend als eigen reizvolle Erscheinung, womöglich gar
-als pathologische, bis ins Feinste zergliedern will, so ist sie
-schlechterdings in einer fortwährenden Selbsttäuschung befangen. Denn
-damit legt sie nicht das Geringste über die Kunstwirkung als solche
-dar, setzt vielmehr jene normative Methode im stillen immerfort voraus,
-indem sie eben nachprüferisch nur solche Werke untersucht, die nach
-Maßgabe irgendwelcher Allgemeingefühle schon als irgendwie wertvoll
-anerkannt sind. Daß solche allgemeinen Maßstäbe immer auf allerlei
-Querstriche von anderem Standpunkt aus stoßen werden, liegt nicht
-an einem Fehler der Methode, sondern ist im Wesen der Kunstwirkung<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span>
-einerseits, des menschlichen Verstandes anderseits begründet; denn
-jenes letzte unpersönliche Grundgefühl, auf dem der Kunstgenuß beruht,
-reicht eben immer weit hinaus über die Grenzen klarer Wahrnehmung, und
-von dieser ist ja unser Verstand obendrein nur ein Bestandteil. Daher
-ist der Künstler auch stets der Meinung, daß sein Werk am wirksamsten
-durch sich selbst spricht. Nicht blos am unwiderleglichsten, sondern
-sogar am gründlichsten; denn schließlich sind ja in dem Gefühl,
-das durch die Einwirkung des Kunstwerks &mdash; ob für oder wider &mdash; in
-uns erregt wird, alle Gedanken schon mit enthalten, die man sich
-<em class="gesperrt">über</em> die Wirkung machen kann. So ist es nun einmal von Natur:
-das Gefühl erstreckt sich ins Grenzenlose, der Verstand ist stets auf
-Standpunkte beschränkt.</p>
-
-<p>Um jenes entrückenden Grundgefühls so gründlich wie möglich teilhaftig
-zu werden, muß man sich also immer wieder an die Kunstform selbst
-halten, nicht etwa an die Erinnerung blos; und wer es unter dem Bann
-seiner Eigenart hinter der fremden Art des Künstlers nicht von selbst
-zu erlangen vermag, dem wird es kein Verstand der Kunstverständigen
-jemals zu Gemüte führen. Denn alle Kunstwirkung läuft schließlich
-auf das Wunder der <em class="gesperrt">Liebe</em> hinaus, das sich begrifflich nur
-umschreiben läßt als Ausgleichung des Widerspruches zwischen Ichgefühl
-und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessenheit. Ja, man kann
-gradezu sagen: je mächtiger ein Kunstwerk in uns dieses allumfassende
-Gefühl erregt, umso ausdrücklicher darf und muß sich &mdash; schon um
-des technischen Gleichgewichts willen &mdash; auch die persönliche Art
-des Künstlers zeigen, während sich ohne jenes Unpersönliche die
-menschliche Selbstentblößung der Schaffenden, diese völlig grundlose
-Offenherzigkeit in seelischen oder leiblichen Dingen, die jedem
-ursprünglichen Kunstwerk eignet, nur als die mehr oder weniger
-unverschämte Aufdringlichkeit von Marktschreiern auswiese.</p>
-
-<p>Es hat schon manchen Sittenprediger, auch manchen Schön<span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span>geist kopfscheu
-gemacht, daß oft grade Kunstwerke, die am stärksten auf Umfassung der
-Lebensgewalten, auf Beherrschung der Naturkräfte ausgehn, obenhin
-fast den Eindruck machen, als handle sichs um Verherrlichung brutaler
-persönlicher Instinkte. Das wäre freilich das Gegenteil von einer
-Kunst der Naturbeherrschung. Aber man wird nicht leugnen können:
-wo geherrscht werden soll, muß etwas da sein, das der Beherrschung
-wert und bedürftig ist. Der lenkende Geist ohne starke Triebe, wäre
-ein Reiter ohne Pferd; wie hinwider selbst das edelste Vollblut
-nichtsnutzig wird und niederträchtig, wenn nicht ein ebenbürtiger Herr
-es mit Geschick zu bändigen weiß. Als oberste Aufgabe der Menschheit
-wird auch dem Künstler ewig vorschweben: die Erringung jenes geistigen
-Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen
-über sein Schicksal erhaben macht, über inneres wie äußeres Schicksal.
-Jede Überschätzung der Persönlichkeit ist also gleichbedeutend
-mit Unterschätzung ihrer höchsten Schaffenskraft, wie auch des
-Kunstschaffens überhaupt.</p>
-
-<p>Und demzufolge: je stärker sich in einer Zeit dies
-Unpersönlichkeitsbedürfnis regt, ob nun als soziale oder erotische oder
-sonstwie altruistische Hingebung, umso mehr wächst auch die Lust der
-Schaffenden, sich über die technischen Spezialitäten, die wiegesagt
-immer blos der Ausdruck des beschränkten Selbstbewußtseins sind,
-hinauszuheben zu überschauenden Zeit- und Welt- und Lebens-Sinnbildern,
-nicht mehr nur der sinnlichen Anschauung zu dienen durch eigentümlich
-stimmungsvolle „Naturausschnitte“ und „Seelenzustände“, die selbst den
-Eingeweihten anmuten wie Tempelwände voll Hieroglyphen, sondern wieder
-einmal Pyramiden zu bauen, von denen aus Jeder, der notabene die Mühe
-des Ersteigens nicht scheut, beseligt in den freien Himmel und über
-weites Land schauen kann. Ich will mit dieser bildlichen Floskel nicht
-etwa einer bodenlosen Himmelstürmerei das Wort reden, die sich auf
-Erden nicht zurecht zu<span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span> finden weiß. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen
-der Unreife, wenn man noch glaubt, den Himmel erst erobern zu müssen.
-Wir sind ja jeden Augenblick &mdash; ich meine das ganz wirklich und wahr &mdash;
-mitten in allen Himmeln drin; die Erde ist im Unendlichen genau so hoch
-oder tief zuhause, wie etwa die Sonne oder ein anderer Stern.</p>
-
-<p>Das <em class="gesperrt">wissen</em> freilich heute schon Viele; aber <em class="gesperrt">fühlen</em>,
-als etwas Selbstverständliches mitfühlen, mit Fleisch und Blut
-und allen Nerven, tun es erst recht Wenige. Und grade dieses
-selbstverständliche, genau so irdische wie überirdische Allgefühl,
-das jede andere Lebensempfindung, jede Einzelwahrnehmung, jeden
-Gedanken des Schaffenden stützt und trägt, das eben ist die magische
-Basis, auf der sich die großen Werke der Kunst, die im bildsamsten
-Sinne vorbildlichen, immer wieder aufbauen. Das hat nichts zu tun mit
-dem Idealismus gewisser humaner Tendenzpoeten, der nur temporärer
-Kritizismus und meistens ein sehr barbarischer ist. Der künstlerisch
-bestrebte Dichter benutzt die humanen Ideen seines Zeitalters nur, um
-seine Gefühlskraft daran zu erproben, nämlich als seelische Dissonanzen
-zwischen Menschheit und Gottnatur, die er harmonisch zu lösen hat. Er
-kann und will nichts weiter tun als eine bildliche Fühlung zum Leben
-schaffen, die alle kritischen Widersprüche gegen die Schönheit und
-Herrlichkeit des ganzen Daseins ganz und gar ausschließt, also auch
-alle speziellen Tendenzen. Das ist der Idealismus des <em class="gesperrt">Künstlers</em>;
-und der liegt jeglichem echten Kunstwerk zugrunde, auch wenn sein
-Rohstoff dem oberflächlichen Blick häßlich oder schrecklich erscheint.
-Wer sich dann durch dies bildliche Werk in der Tat vollkommen
-befriedigt fühlt, den hindert freilich nichts und niemand, darin nach
-einem besonderen Richtziel für seine eigne Gefühlswelt zu fahnden. Und
-in diesem Sinne &mdash; doch nur in diesem &mdash; kann allerdings <em class="gesperrt">jede</em>
-Kunstgestalt, vom ganzen Opus bis zur geringsten Teilfigur, als
-<em class="gesperrt">Vor</em>bild der Lebensführung aufgefaßt<span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span> werden, selbst wider
-Absicht und Meinung des Schöpfers; Falstaff genau so gut wie Achilleus.</p>
-
-<p>Wenn das erst wieder vollkommen begriffen ist, von den Genießenden
-wie Schaffenden, dann wird auch der Schauer vor dem Unergründlichen,
-den jede gründliche Beschäftigung mit fremder Geistesarbeit in uns
-weckt, die Kunstwelt wieder allgemein durchdringen; dann wird sich dies
-Gefühl, als eine neue Ehrfurcht vor der ewigen Schöpferkraft, auch
-bald durch die Alltagswelt verbreiten, und dann wird diese Welt wohl
-endlich merken, daß sich wieder eine <em class="gesperrt">religiöse</em>, auf deutsch
-<em class="gesperrt">allverbindliche</em> Kunst bei uns anbahnt. Die braucht nicht wie
-ein Sturm daherzufahren; auch im Säuseln des Windes kann man Erhabenes
-hören. Dürers Gottvater auf dem Regenbogen über den sieben Leuchtern
-und dem knieenden Johannes enthüllt in seinen bescheidenen Formgrenzen
-die Allmacht ebenso strahlend, wie Michelangelos Apotheose der
-geschlechtlichen Zuchtwahl, die den Himmel der Sixtinischen Kapelle zu
-sprengen droht und in dem heilandsherrlichen Menschenpaar des Jüngsten
-Gerichtes gipfelt. Der ehemalige Sinn dieser Bilder mag heute schon
-halber Unsinn sein; aber ihr Geist wird weiterwirken, solange die
-Sterne uns unerreichbar sind.</p>
-
-<p>Es ist dem eindringlichen Kunstgefühl auch völlig gleich und einerlei,
-ob jenes Tiefste und Höchste ihm durch naturale Anschauungsfreude
-oder symbolische Vorstellungslust vermittelt wird; das Eine ist so
-mittelbar und unmittelbar wie das Andre. Der formgewaltige Phantast
-zeigt im Symbol Natürliches, der Realist in der Natur Symbolisches.
-Die rhythmische Flut des Sonnenlichtes, die durch den scheinbar
-wüsten Tanzknäuel der Rubensschen Kirmeßbauern braust, erhebt den
-andächtig Schauenden in eine nicht minder unendliche Seligkeit, wie der
-entschwebende Puttenreigen in dem Dämmerungsglanz und Fackelschimmer
-von Watteaus Abfahrt nach Cythere. Und das will doch wohl der
-machtvolle Künstler: als ein Seher des all<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span>mächtigen Lebens betrachtet
-werden, nicht als Spezialartist einer Technik. Es gibt eben auch in der
-Kunstgeschichte Apokalyptiker und Evangelisten, und Mancher ist gar
-Beides zugleich. Wer sich bei einer künftigen Menschheit kanonisches
-Ansehn erringen wird, das zu entscheiden geht freilich zu allen Zeiten
-über die zeitgenössische Urteilskraft. Eins aber ist sicher: die
-Eigenart tut’s nicht. Denn nur das Eine bleibt übrig von uns, wenn
-selbst unsre Werke längst verwest sind: Das, was den Andern Vorbild
-ward für ihre stete Fühlung zur Welt: die Tat unsrer Liebe.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Das_Buch_und_der_Leser">Das Buch und der Leser</h3>
-
-<p class="center">Eine Untersuchung des Verständnisses</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Bücher sind wie spiritistische Medien; wer sie nicht richtig zu fragen
-versteht, dem antworten sie falsch oder garnicht, und die meisten Leute
-halten deswegen den ganzen Spiritismus für Schwindel, bestenfalls für
-Selbsttäuschung. Jener afrikanische Wilde, der einen Missionar aus der
-Bibel vorlesen hörte, sich dann das Buch an die Ohren hielt und es
-ungläubig wegwarf, weil es ihm nichts sagte: der steckt noch in jedem
-gebildetsten Leser.</p>
-
-<p>Ich will zum Beweis ein Erlebnis erzählen. Als ich Hofmannsthals
-„Ödipus und die Sphinx“ das erste Mal las oder lesen wollte, kam ich
-nicht über den ersten Aufzug hinweg. Diktion und Rhythmus stachen
-auffallend von seinen früheren Dichtungen ab, erinnerten mich hin und
-wieder an Dauthendeys schwungvolle Üppigkeit, hin und wieder an die
-drangvolle Knappheit meiner eigenen Verstechnik, dazwischen doch immer
-an Hofmannsthals einstige haltungsvolle Gewundenheit, und das empfand
-ich als ein so tolles Stilgemengsel, daß ich mich einer heftigen,
-mehrfach wiederkehrenden Zwerchfellerschütterung schlechterdings nicht
-erwehren konnte; ich legte schließlich<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> das Buch beiseite, weil ich
-mich einigermaßen schämte, einen ernsthaften Dichter auszulachen.
-Bald nachher traf ich mit ihm zusammen, in einem Kreis erfahrener
-Kunstfreunde, und gestand ihm meine Verlegenheit gegenüber seiner
-neuesten Dichtung. Er war daraufhin so liebenswürdig, uns die zweite
-Hälfte des ersten Aufzugs, die ich als besonders unharmonisch empfunden
-hatte, vorzulesen. Und merkwürdig: trotzdem Hofmannsthal mit seiner
-etwas brüchigen Stimme kein bestechender Vorleser ist, auf einmal
-hörte ich den harmonischen Grundakkord. Ich habe später die Dichtung
-nochmals, und diesmal vollständig, gelesen und verspürte nichts
-mehr von jener Mißwirkung. Ich merkte, daß ich beim ersten Mal mit
-allzu dramatischem Gehör auf die momentan metrischen Dissonanzen der
-sensuellen Affekte geachtet und so die lyrisch perpetuelle Rhythmik
-der sentimentellen Motive überhört hatte. Nun, wenn das einem Fachmann
-passieren kann, wie mag sich dann erst der unzünftige Leser gegen
-manches Buch benehmen, in dem ein neuer Geist rumort?</p>
-
-<p>Absichtlich spreche ich darüber mit fachmännischer Gemütsruhe; denn
-mit der menschlichen Leidenschaft, die auch Künstler gegen einander
-einnimmt, hat der Unverstand des Lesers zunächst nichts zu tun.
-Ein Buch zu lesen, ist allererst eine bare Verstandestätigkeit,
-gleichviel ob wir ein dichterisches oder wissenschaftliches oder
-sonstwie schriftstellerisches Werk in uns aufnehmen. Immer handelt
-sichs vorbedinglich um das Verständnis der Fachsprache, und hierfür
-bringt der einschlägige Handwerksmann doch mehr Geschultheit mit als
-andre Leute. Wer das A-B-C noch nicht zu lesen versteht, dem ist ein
-Fibelvers nicht verständlicher als eine mathematische Formel; doch je
-mehr er es verstehen lernt, desto umfänglicher wird das A-B-C, desto
-umständlicher die Verstandesarbeit. Denn wie geht jeder Leser zu Werke?
-Sein mehr oder minder bewußter Verstand, je nach dem Grad eben seiner
-Schulung, übersetzt gewohnheits<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span>gemäß den optischen Eindruck der
-Schriftzeichen in akustische Ausdrucksmittel, diese wiederum teils in
-Gehörswahrnehmungen, teils in Gesichts- und andere Tastvorstellungen,
-diese aus der blos sinnlichen Einzelempfindung in vernünftige
-Gefühlszusammenhänge, und dann erst entsteht die rätselhafte
-Gemütsbewegung, die den ganzen angesammelten Schwarm von dreifach
-zwiespältigen Gedankenbeziehungen zu geistiger Bedeutung vereint und
-uns mit ungewohnter Leidenschaft für oder wider den fremden Geist
-erfüllt. Noch verwickelter wird der Vorgang dadurch, daß er von Satz zu
-Satz neu einsetzt und doch die Erinnerungsbilder der Vordersätze immer
-mit veranschlagen muß; so befindet sich der Leser fortwährend in einem
-Wirbelwind kalter Verstandesluft, der unwillkürliche Gefühlsgluten
-anfacht.</p>
-
-<p>Auch dem wissenschaftlichen Leser ergeht es so, wenn er sich über den
-Wahrheitswert irgend einer Schlußfolgerung entscheidet; immer springt
-schließlich ein Gemütsfunke aus der Reibung der Verstandeskräfte.
-Nein, wird man einwenden: in der Wissenschaft sind die Gefühle
-Nebenumstände, in der Dichtung dagegen der Hauptbestand. Aber ist dem
-wirklich so? Gipfelt die geistige Schönheit nicht ebenso hoch über
-jeder Gefühlserregung wie die Wahrheit und die Gerechtigkeit? Und
-wurzeln nicht alle drei dennoch tief in Gründen des Gemütslebens?
-Ja, es kommt überall gleichermaßen auf Erkenntnis seelischen Lebens
-an; nur die Erkennungszeichen stehn in verschiednem Verhältnis der
-sinnlichen und vernünftigen Darstellungsmittel. Welche Vorarbeit
-muß der Verstand schon leisten, um sich blos erst in das besondre
-Verhältnis der originalen zu den traditionellen Bestandteilen eines
-Sprachwerks hineinzuversetzen! In der sogenannten reinen Wissenschaft
-ist dies Verhältnis am leichtesten zu erhorchen, weil deren lautliche
-Darstellungsmittel überwiegend auf generelle Logik hin abgestimmt
-sind, sodaß die individuelle Intuition des Verfassers dem Leser sehr
-deut<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span>lich ins Gefühl schlägt, wenn auch nur dem genügend geschulten
-Leser. Aber bereits die populäre Wissenschaft ist in ihrer formalen
-Technik so mit persönlich sensuellen und sentimentellen Elementen
-durchsetzt, daß sich die intellektuellen Faktoren kaum noch scharf
-davon sondern lassen. Und je mehr sich die rednerische Darstellung der
-eigentlich dichterischen nähert, um so schwieriger wird die Sonderung
-wie die Zusammenfassung der Lautbilder, und der Leser läuft immerfort
-Gefahr, daß der Funke der Erkenntnis zu früh aufflammt und in dem
-Schwarm der Gefühle entweder erlischt oder aber Brandschaden stiftet,
-wie bei mir in Ansehung Hofmannsthals.</p>
-
-<p>Denn gerade die Technik der reinsten Dichtung, die Verskunst, nein
-die lyrische Verskunst, denn auch Epos und Drama fußen auf lyrischer
-Rhythmik: grade die verflicht allgemeinste Denkbegriffe der Sprache
-so eng mit eigentümlichsten Empfindungsbegriffen, daß man nirgends
-unmittelbar den Vorstellungswert, geschweige den Erregungswert der
-Lautwahrnehmungen abschätzen kann, sondern nur durch vielfältigste
-Rückschlüsse. Man vergleicht zwar die Lyrik gern mit der Musik, weil
-auch die nur indirekt durch Gefühlserregungen zur Erkenntnis geistiger
-Lebensverhältnisse führt; aber der lyrische Divinationsprozeß ist
-noch um vieles indirekter. Nur zu Anfang geht die Verstandesarbeit in
-annähernd ähnlicher Weise vor sich: ob ich ein Notenblatt lese oder
-einen poetischen Text, ich übersetze einen äußerlichen Gesichtseindruck
-in einen innerlichen Gehörsreiz, wenngleich es schon einen Unterschied
-macht, ob ich mir einen gesprochenen Laut oder einen gesungenen Klang
-vorstelle, oder gar einen klaren Instrumentalton. Dann jedoch wird
-der Unterschied klaffend: das Klangbild der Tonsprache übersetzen wir
-unmittelbar in eine Vorstellung von Gefühlszusammenhängen, das Lautbild
-der Wortsprache großenteils erst auf dem Umwege über mannigfache
-Gesichts- und Tast<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span>empfindungen nebst allerlei Hilfsbegriffsgedanken,
-nur zum kleineren Teil direkt akustisch. Und dabei meint jeder
-Leser einer Dichtung, er sei genügend vorgebildet durch seine
-gewohnte Sprachkennerschaft, und traut sich in seinem lieben Gemüt
-ein unfehlbares Gesamtverständnis zu, wo doch schon die einzelnen
-Darstellungsmittel x-mal mittelbarer wirken als bei jeder anderen Kunst
-und durch eine viel ungewohntere Sinnbilderfülle die schließliche
-Erkenntnis vermitteln als bei irgend einer Wissenschaft.</p>
-
-<p>Wieviel Fallgruben für das Verständnis öffnen sich schon bei der ersten
-Erweckung der scheintoten Schriftzeichen zu lebendigen Lautbildern! Es
-ist nicht gleichgiltig, mit welcher Stimme, ja nur mit welchem Zeitmaß
-der Stimme, man sich einen Vers oder gar ein Buch Verse im stillen laut
-vorgelesen denkt. Unwillkürlich legen wir da zunächst unsre eigene
-Stimme unter; aber der Dichter meint Seine Stimme, oder vielmehr
-die verschiedenen Stimmen seiner imaginären Personen, denn auch das
-Ich des Lyrikers ist wechselnde Phantasiefigur, vielleicht noch
-wechselnder als die Charaktermasken, die der Dramatiker seiner Seele
-vorheftet. Keine Orthographie und Interpunktion reicht aus, um auch
-nur die gewichtigsten Betonungsverhältnisse zwischen den Satzgliedern
-einer einzigen Strophe unzweideutig durchs Auge ins Ohr zu bugsieren.
-Was wird nicht alles versucht, um das flüchtige Auge ruhsamer an
-das Schriftwort zu fesseln und so das Ohr des Lesers aufmerksamer
-für die Bewegtheit der Sprache zu stimmen. Der eine Dichter
-ordnet die Zeilen nach der Mittelaxe des Druckspiegels, um seine
-irreguläre Rhythmik durch den Kontrast der optischen Symmetrie noch
-sinnfälliger hervorzuheben; der andre markiert seine reguläre Metrik,
-um die akustische Harmonie seiner rhythmodynamischen Dissonanzen
-vonvornherein außer Zweifel zu stellen. Manch einer kann sich garnicht
-genugtun mit Gedankenstrichen, Stimmungspunkten, Ausrufzeichen und
-<em class="gesperrt">Sperrfingerzeigen</em>, und möchte<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span> womöglich auch noch die Beiwörter
-mit Großen Anfangsbuchstaben schreiben; einige andre schreiben
-fast alles klein und würden am liebsten gar keine interpunktionen
-setzen damit der leser noch länger zwischen den zeilen rätselt
-und ein möglichst eindringlicher hörer wird. Hilft uns aber alles
-nichts; wir bleiben doch immer auf den Glücksfall des uns annähernd
-gleichgestimmten Gehörs angewiesen, so sehr wir mit ganzem Gemüt
-danach trachten, jede Menschenseele in unsern Bannkreis zu zwingen.
-Muß schließlich noch der Herr Buchverleger, Buchdrucker und Buchbinder
-helfen, durch ungewöhnlich gutes Papier, außerordentlich schöne Lettern
-und sonstige „selten gediegene“ Ausstattung den Gewohnheitsleser zu
-verlocken, daß er sich ausnahmsweise andachtsvoll mit unserm wertvollen
-Werk befasse.</p>
-
-<p>Aber ach: je mehr das Buch selbst Kunstwert erlangt, je mehr es durch
-äußeren Augenreiz den Leser sinnig und willig stimmt, umso mehr gerade
-verführt es ihn, ein Leser des stillen Wortes zu bleiben, statt ein
-Hörer des lauten Satzes zu werden, und umso mehr zugleich verführt
-es die Dichtkunst zur inneren Augendienerei. Der Dichter ist ja auch
-selber Leser; und je mehr ihn die Buchdruckerpresse gewöhnt hat,
-als Leser statt als Hörer zu dichten, umso stumpfer hat sich die
-Wahrnehmungskraft für die Gehörsreize der Sprache verflacht, umso
-schärfer haben sich die Darstellungsmittel auf Gesichtsvorstellungen
-zugespitzt, d.&nbsp;h. umso schwatzhafter ist die Dichtung geworden.
-Sehr selten wird jetzt noch ein Lied erfunden, das seine organische
-Melodie so einfach vernehmlich in sich trägt, wie die Muschel in
-ihren Windungen summt. Viele Gedichte unsrer echtesten Dichter sind
-schon dermaßen überladen mit pittoreskem Brimborium, daß sie an
-Feuilleton-Prosa streifen. Oder wo doch noch mit Klanganspielungen
-unmittelbar aufs Gefühl gezielt wird, da paukt man meist so faustdick
-drauflos, als solle die Predigt Johannis des Täufers vor den
-taubstummen Steinen Ereig<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span>nis werden. Und wer die beiden extremen
-Elemente gar noch ins Gleichgewicht setzen will, der verübt ein solches
-Panoptikumkonzert hypersymbolischer Metaphern, daß die verzwicktesten
-Rätsel der Turandot wahre Kinderspiele dagegen sind. Alldas bereichert
-natürlich ungeheuer die sinnlichen Wirkungsmittel der Dichtkunst, blos
-leider auf Kosten der geistigen Wirkung. Denn je empfindlicher die
-Umwege vom Verständnis der einzelnen Sinnbilder zur Erkenntnis des
-ganzen Bildsinnes auffallen, desto zerstückelter, also unvollkommener
-tritt die Gemütsbewegung ein, die den lebendigen Bildungswert des
-schönen Phantasiephänomens erst wirklich fortpflanzt von Geist zu
-Geist. Und es bleibt ewig ein dürftiger Trost, daß noch niemals ein
-Mensch den andern durchaus vollkommen begriffen hat.</p>
-
-<p>Welcher Dichter blickt nicht zuweilen mit Grauen und Abscheu auf seine
-eigenen Bücher, diese Mumien seiner Phantasie, denen immer erst eine
-fremde Seele den Auferstehungsodem einblasen muß, und die doch stets
-vom gespenstischen Dunst des stummen Sarges umschleiert bleiben. Ja,
-könnten wir jedem, der uns hören will, wenigstens selber das Buch
-vorlesen! Dann würde wohl mancher dasselbe Wunder erleben, das meine
-Taubheit vor Hofmannsthal linderte. Denn in der körperlich warmen
-Menschenstimme beben von Anfang an alle Zauberkräfte der schöpferischen
-Seele in eins, alle die heimlichen Verwandlungskünste und redlichen
-Naturanwandlungen, die sich der Leser erst nach und nach zwischen den
-Zeilen zusammendeuten muß. Einst, als die Dichter noch fahrende Sänger
-waren, gehörte es mit zu ihrem Beruf, den Menschen das Wort recht
-vernehmlich zu machen; und es ist keine Imitation einer reproduktiven
-Virtuosenmode, sondern Symptom einer produktiven Epoche, daß auch heute
-wieder die Künstler des Wortes selber als Vortragskünstler auftreten.
-Freilich, es ist ziemlich zeitraubend, verstockte Ohren zu erweichen;
-und in<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span> unsrer Zeit der Arbeitsteilung wird es dem Dichter womöglich
-übelgenommen, wenn er als Anwalt des mündlichen Mitteilungstriebes
-ein paar Gedichtbücher weniger schreibt. Aber ob er der Mit- und
-Nachwelt dann wirklich etwas vorenthält? Was einer an Schöpferkraft
-in sich hat, das setzt er allemal in die Welt, ob nun durch hundert
-Pfropfreiser oder zehn Wurzelschößlinge. Die paar kurzen Lieder, die
-uns die fahrenden Leute der Vorzeit hinterlassen haben, sind sicherlich
-unsterblicher, als die tausend bandwurmlangen Prosa-Romane, mit denen
-unsre Schreibtischhocker jahraus jahrein die Welt beglücken. Und
-vielleicht genest der gebildete Europäer dermaleinst von der närrischen
-Lesewut, die seine Augen immer gieriger, seinen Verstand immer
-spitzfindiger, seinen Geist immer kurzsichtiger und sein Gemüt immer
-schwerhöriger gemacht hat.</p>
-
-<p>Das Buch wird drum doch seinen Wunderwert als spiritistisches Medium
-behalten und dann sogar erst recht offenbaren. Auch jener afrikanische
-Wilde hat die Bibel ja schließlich vors Auge genommen; aber er würde es
-niemals gelernt haben, hätte sein christlicher Mitmensch ihm das Wort
-Gottes nicht immer wieder durchs Ohr zu Gemüte geführt.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Philosophische_und_poetische_Weltanschauung">Philosophische und
-poetische Weltanschauung</h3>
-
-<p class="center">Ansprache im Monistenbund</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Werte Zuhörer! Der Vorstand Ihres Vereins hat mich ersucht, die
-heutige Vorlesung meiner Dichtungen mit einer kurzen Darlegung meiner
-Weltanschauung einzuleiten, indem er mir zugleich erklärte, ich sei ein
-besonders origineller Repräsentant des „esoterischen Monismus“. Ich
-habe den Wunsch des Vorstandes abgelehnt, kann auch die schmeichelhafte
-Liebeserklärung nur mit Glaßeehandschuhen annehmen, und möchte Sie
-eindringlichst davor warnen, aus den Werken lebender<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> Dichter und
-überhaupt zeitgenössischer Künstler das herausfinden zu wollen, was
-man heute unter Weltanschauung versteht, nämlich einen begrifflichen
-Leitfaden, mit dem sich der zweiflerische, aber glaubensbedürftige
-Verstand im Labyrinth der Ursachen und Wirkungen einigermaßen zu
-orientieren sucht.</p>
-
-<p>Der Künstler denkt nicht in Verstandesbegriffen, wenn er bei seiner
-Arbeit ist; er denkt in Gefühlsvorstellungen. Er will nicht erst
-zum Glauben gelangen, sondern er geht vom Glauben aus. Er glaubt an
-alles, was da ist in der Welt; er glaubt auch an die verschiedenen
-Weltanschauungen, die in seiner Zeit miteinander kämpfen. Ich habe
-einmal einem Politiker, einem Konservativen echten Schlages, der mich
-fragte, was ich nun eigentlich sei, Sozialdemokrat oder Anarchist,
-nationalsozial oder liberal &mdash; dem habe ich geantwortet: „unter anderm
-auch konservativ!“ Und so könnte ich auch Ihnen sagen: ich bin unter
-anderm auch Monist, d.&nbsp;h. unter Umständen auch Dualist, oder Trialist
-oder Milliardist, oder sagen wir mal Polymonist.</p>
-
-<p>Der Künstler umfaßt alle Welt mit Liebe. Selbst was er persönlich haßt
-und verachtet im Leben: sobald es ihn reizt, es in Kunst umzusetzen,
-ergreift ihn unwillkürlich die Liebe zur Sache. Es kann also jeder
-Genießer aus jedem Kunstwerk die Philosophie, Moral, Religion
-herausdeuten, die grade ihm die liebste ist. Das schließt schon
-aus, daß der Dichter als Dichter eine originelle Philosophie oder
-Theosophie darbieten kann; denn die ist immer unduldsam gegen anders
-gesinnte Originale, also im ernstesten Sinne unliebenswürdig. Er kann
-bestenfalls ein Echo sein all der weltbedeutenden Ideen, um die in
-seiner Zeit gekämpft wird.</p>
-
-<p>Sehen wir uns einmal den Dichter an, der heute in Deutschland
-vorzugsweise als Weltanschauungsdichter gerühmt wird: Goethe. Wir
-finden keine solche Idee bei ihm, die wir nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span> auch bei anderen
-Wortführern seiner Zeit und Vorzeit finden können, bei den Humboldt,
-Schlegel, Schleiermacher, Schelling, Kant, Lamarck, Spinoza usw.; und
-wir finden viele Ideen bei ihm, die einander durchaus widerstreiten.
-Nur weil er sie bei der Aneignung mit stärkerer Leidenschaft erfaßte,
-mit tieferer Liebe und höherem Glauben im Augenblick der Wortschöpfung,
-nur deshalb gilt er uns als der typische Repräsentant seiner
-Zeitgenossen; und nur weil wir die verschiednen Ideen, denen jene
-Männer ihr Lebenlang getrennt und einzeln nachhingen, in diesem Einen
-zusammengefaßt sehn, nur deshalb entnehmen wir daraus ein gemeinsames
-Gedankenband, die sogenannte einheitliche Weltanschauung jener sehr
-mannigfach denkerischen Zeit.</p>
-
-<p>Denn eine einheitliche Weltanschauung hat es in Wirklichkeit niemals
-gegeben, zu keiner Zeit und in keinem Volke; es gibt auch heute keine
-zwei Menschen, die unter „Monismus“ genau dasselbe verstehen. Nur wenn
-wir zurückblicken auf vergangene Zeiten, dünkt uns diese oder jene
-Gedankenverbindung die sieghaft überwiegende. Aber wenn sich die bei
-einigen Dichtern, wie z. B. auch bei Dante, Äschylos, Kalidasa, Rumi,
-Litaipe mit besonders originellem Pathos ausspricht, dann wollen wir
-doch ja beachten, daß die Originalität nicht in den Gedanken steckt,
-sondern eben in dem Pathos, in dem mächtigen Aufruhr der Gefühle, der
-mit den Gedanken sein bildhaftes Spiel treibt.</p>
-
-<p>Nehmen wir sogar einmal an, es könnte ein Allerweltsgenie geben,
-in dessen Schädel ein gleichermaßen origineller Philosoph und Poet
-beisammen hausten. Ich meine nicht jene Zwitterbegabung, bei der
-(wie z. B. in Nietzsche und Schiller) ein starkes Talent der einen
-Gattung mit einem schwächern der andren verkoppelt ist; sondern eben
-ein pures Genie, in dem beide Talente gleich kräftig wären. Wie ja
-manche Leute behaupten, daß Shakespear und Bacon in der Tat dieselbe
-Per<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span>son gewesen seien; worüber freilich jeder lächeln wird, der Bacons
-Novum Organon und Shakespears Dramen gründlich kennt. Aber nehmen
-wir an, sie waren wirklich ein und dasselbe Wundertier: ja, dann hat
-eben dieses Wundertier, um seine originelle Philosophie, seine neue
-Gedankenwelt darzustellen, seine drei philosophischen Werke geschrieben
-&mdash;: in seinen poetischen Werken dagegen, das wird wohl selbst der
-abstrakteste Kommentator zugeben, da kam es ihm eben auf Poesie an,
-also durchaus nicht auf eine Gedankenwelt, sondern auf eine Welt von
-Gefühlsgestalten, in der die Gedanken nur dazu dienen, sich gegenseitig
-ins Bockshorn zu jagen, oder (tragisch betrachtet) einander den Hals
-umzudrehen.</p>
-
-<p>Man braucht drum noch lange nicht zu folgern, der Dichter sei nur ein
-Rohr im Winde, jedem phantastischen Stimmungshauch unterworfen, und
-daher fürs wirkliche Menschenleben eigentlich unzurechnungsfähig.
-Wenn dem so wäre, dann bliebe wohl alle Dichtung außer Rechnung
-fürs Leben der Menschheit; und das bleibt sie doch keineswegs. Der
-Dichter hat freilich keine Gedankenkette, an der er sich selbst und
-andere Leute auf dem wilden Weltmeer verankern kann; aber er trägt
-einen Gefühlskompaß in sich, der ihm und andern die Richtung weist,
-wo in der Windrose der Augenblicksleidenschaften seine stärksten
-und liebsten Empfindungen zum dauernden Pol zusammenschießen, zum
-sichern Gesichtspunkt gegenüber der Welt. Das sittliche Wort dafür ist
-Selbstzucht.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Das</em> ist der ideale Punkt, dem jeder Künstler in seinen Gebilden
-zustrebt, und zu dem er schließlich auch die hinbildet, die er
-bezaubert durch dies Streben, durch diese liebreiche Anziehungskraft.
-Das ist es auch, was Goethe meinte, als er seinen Prometheus sagen
-ließ: „Hier sitz ich, forme <em class="gesperrt">Menschen</em>! ein Geschlecht, das <em class="gesperrt">mir
-gleich</em> sei!“ Und nach diesem weltumformenden Lebenszweck, ob er
-nun göttlich oder übermenschlich oder allgemein-menschlich genannt
-wird, mögen alle die unter<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span> meinen Hörern, denen der sogenannte rein
-künstlerische Genuß keine genügende Belohnung für die Anstrengung des
-Zuhörens ist, auch in meinen Dichtungen fahnden.</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Der_Olympier_Goethe">Der Olympier Goethe</h3>
-
-<p class="center">Ein Protest</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Eine öffentliche Gesellschaft von allerlei strebsamen Bürgersleuten
-hatte mich einmal eingeladen, Gedichte von Goethe zu deklamieren. Seit
-langer Zeit zum ersten Mal wieder las ich nun seine lyrischen Werke von
-A bis Z und der Reihe nach durch, um die heute noch lebensvollsten,
-menschlich wirksamsten Gedichte für den Vortrag auszuwählen, also
-absehend von artistischer und literarhistorischer Feinschmeckerei, und
-da erlebte ich eine Überraschung. Ich fand einen wesentlich anderen
-Goethe, als ich ihn in der Vorstellung trug, und als er wahrscheinlich
-vielen Deutschen von der Schulbank her vorschweben wird.</p>
-
-<p>Das Bild des weisen Herrn Geheimrats, des harmonischen Olympiers, das
-der pädagogische Biedersinn unsrer meisten Literaturprofessoren von
-ihm hergerichtet hat, versank vor mir in einem chaotischen Nebelbrodem
-von Schmerzen, Leidenschaften und Zweifeln, aus denen nicht ein
-olympischer, sondern &mdash; um im antiken Gleichnis zu bleiben &mdash; ein
-titanischer Genius einen Kosmos herauszuläutern sucht; oder im Geist
-unserer Zeit geredet, nicht der Wille eines Ober-Regierungsrates,
-sondern etwa eines Mienen-Ingenieurs, der sich hinabarbeitet in die
-Wetterschächte grauenvoller Naturgewalten, hinab zu den unterirdischen
-„Müttern“, um ihre Kräfte heraufzufördern an das verklärende Tageslicht
-des väterlichen Heimatbodens, zu den „Gefilden hoher Ahnen.“ Also
-eine fortwährende Klärungsarbeit der Seele, keine jemals vollkommen
-erreichte oder gar von Hause aus mitgebrachte sogenannte Abgeklärtheit.</p>
-
-<p>Was jene oberflächliche Meinung über den Vielumfassenden<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> aufkommen
-ließ, das war sein allzeit schlagfertiger Verstand, der auch das
-Alltäglichste in Beziehung zur allgemeinen Wohlfahrt zu setzen wußte,
-seine gesellige Vernunft, die im Leben die Maske des Gleichmuts vor
-die einsam grübelnde Seele nahm und in der Kunst das ernste Spiel mit
-heiteren Tändeleien mischte. Das aber hat nicht den großen Dichter
-gemacht, der alles Menschliche in uns aufschürt und in ein Göttliches
-umzuschmelzen strebt; ja, es ist fraglich, ob man nicht einst über
-den artigen und verständigen Goethe, der für jede Gelegenheit ein
-gescheites Sprüchlein oder zierliches Reimlein in Bereitschaft hatte,
-ziemlich achselzuckend urteilen wird, sobald wir nämlich endlich einmal
-der neunmalklugen Redseligkeit unsrer Dreiviertelsbildung entwachsen
-sind.</p>
-
-<p>Er verstand freilich auch das kleine Veilchen mit allen Würzelchen
-zu erfassen, und manchmal tut er gar wie der Schmetterling, der
-unbekümmert von Blume zu Blume gaukelt; aber wo sich sein ganzes
-Inneres auftut, da quillt die bodenlose Verzweiflung hoch, die mit dem
-Leben <em class="gesperrt">nicht</em> fertig werden kann. Da entstehen die schwankenden
-Gestalten alle, durch die er sich die dämonische Qual der „zwei Seelen
-ach in der Brust“ immer wieder vom Herzen zu schaffen sucht, die
-Werther, Clavigo, Weislingen, Egmont, Tasso, Orest, Wilhelm Meister
-und Eduard; da entsteht Faust mit seinem Schatten Mephisto, und da
-auch entstehen als die unmittelbarsten Zeugnisse dieser furchtbaren
-Zwiespältigkeit seine ergreifendsten Gedichte. Denn, wie er selber es
-ausgesprochen hat:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Alles geben die Götter, die unendlichen,</div>
- <div class="verse">ihren Lieblingen ganz:</div>
- <div class="verse">alle Freuden, die unendlichen,</div>
- <div class="verse">alle Schmerzen, die unendlichen, ganz!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Erst wenn man sich das zu Gemüte führt, erst dann lernt man auch die
-gewaltige Kunst in diesen Gedichten ganz würdi<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span>gen, die bindende Kraft,
-die den wirbelnden Stoff einer so widerspruchsvollen Gefühlswelt so
-knapp zusammenzuordnen vermochte. Es ist manchmal, als müßte all diese
-Wortschönheit sich selbst von innen heraus zersprengen, wenn man nur
-erst die erschütternde Fülle ihres geheimsten Sinnes begriffen hat,
-so z. B. den grausigen Todesschauder in Mignons scheinbar seliger
-Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ (letzte Strophe)
-&mdash; oder den wilden Galgenhumor in dem lehrhaft tuenden Trinklied
-„<span class="antiqua">Vanitatum Vanitas</span>“; wer ein solches Gedicht noch mit fast 60
-Jahren schreibt, der ist weit entfernt vom olympischen Ruhekissen.</p>
-
-<p>Kurz gesagt: es heißt Goethe <em class="gesperrt">verkleinern</em>, wenn man ihn als
-Olympier anspricht. Soweit er wirklich olympische Anlagen hatte, war
-er weder ein Zeus noch ein Apoll; dazu mangelte ihm vor allem andern
-die unerschütterliche Hartherzigkeit dieser antiken Ideale. Nicht
-einmal ein Dionysos war er in seinen unbekümmerten Stimmungsstunden,
-sondern höchstens ein Ganymed oder Hermes, ein Spender der Anmut und
-Lebensklugheit, und mehr im römischen als im griechischen Sinne, wie er
-selbst einmal zu Herrn Eckermann sagte.</p>
-
-<p>Aber wodurch er uns groß erscheint, so groß, daß wir ihn mehr bewundern
-oder doch sicherlich mehr lieben als seine vielfachen Vorbilder,
-das sind nicht diese Eigenschaften. Das ist sein ruhelos ringendes
-Doppelwesen, kraft dessen er selber ein Vorbild wurde, ein Vorbild
-für jede Übergangszeit, d.&nbsp;h. für jede ursprüngliche, neue Werte
-entdeckende Zeit: seine unerschöpfliche „Werdelust“, die sich mit
-prometheischer Inbrunst und paracelsischer Phantasie in alle leidvollen
-Anfangsgründe einer neu aufstrebenden Menschheit versenkte, weil sie
-herstammte aus dem Überdruß einer vollkommen vollendeten, abgetanen
-Freudenzeit.</p>
-
-<p>Das altersmüde Rokoko hatte mit letzter mildester Grazie seine
-Jugendtage umspielt; und nun sucht er sein ganzes Leben<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span> lang einen
-Abglanz dieser verrauschten Schönheit über den brodelnden Aufbegehr der
-jungen Zukunft auszubreiten. Sie war ihm kein spielerischer Selbstzweck
-mehr, diese Klangschönheit seiner stärksten Gedichte; sie war eine
-zuchtvolle Notwendigkeit, um der verwirrend neuen Gefühlsgewalten
-überhaupt Herr werden zu können.</p>
-
-<p>Und das auch wars, was ihn zur Antike zog, obwohl es ihm damals schon
-und mehr noch heute von manchem ehrlichen Deutschtümler nicht ohne
-Grund verdacht ward und wird. Auch die Griechen hatten die Schönheit
-<em class="gesperrt">nötig</em>; ihre ganze höchste Kunst und Dichtung, bis zu den alten
-Mythen zurück, ist fort und fort auf das Eine bedacht, die dämonischen
-Kräfte zu bändigen, die im Blut dieses seltsamen Volkes spukten, die
-lapithischen und kentaurischen, mänadischen und hekatischen Triebe,
-die von Natur aus in ihnen staken und mit barbarischer Brutalität die
-mühsam errungene Kultur immer wieder gefährdeten.</p>
-
-<p>Keiner aber der vielen Gräkomanen, die seit Winckelmann Deutschland
-überschwemmten, hat mit so schmerzlicher Klarheit wie Goethe erkannt,
-daß jede Heraufführung neuer Kultur, weil sie alte Kultur untergraben
-muß, zugleich auch wieder und immer wieder barbarische Instinkte mit
-aufrührt, und daß grade der deutsche Volkscharakter zu dieser rohen
-Kehrseite der menschlichen Entwicklungskraft neigt.</p>
-
-<p>Es ist sein höchster und reinster Ruhm, daß er unablässig gegen diese
-Gefahr, die auch in seinem Charakter lauerte, seinen besten Kunstwillen
-aufgeboten hat, nicht wie ein ausgelernter Altmeister blos, dem die
-mancherlei Spiegelfechtereien der poetischen Technik glatt von der
-Hand gehen, sondern als ein steter Lehrling des Lebens, in oft sehr
-verzweifelter, manchmal vergeblicher, immer aber „strebend bemühter“
-und eben dadurch „erlösender“, für uns alle vorbildlicher Notwehr.</p>
-
-<p>Und deshalb wollen wir ihn nicht länger auf den hin<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span>fälligen
-Götzenthron verstorbener sorgloser Götter setzen, sondern uns der
-Grabschrift erinnern, die er selbst sich geschrieben hat:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Denn ich bin ein Mensch gewesen,</div>
- <div class="verse">und das heißt ein Kämpfer sein.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Grabrede_auf_Liliencron">Grabrede auf Liliencron</h3>
-
-<p class="center">22. Juli 1909</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Liebe Freunde und ihr Mitfühlenden alle! Wir müssen nun Abschied nehmen
-von diesem Toten, dessen Leben uns unsäglich beglückt hat. Es würde
-nicht in seinem Geist sein, hier viele Worte darüber zu machen, was
-wir an ihm verloren haben. Es würde erst recht nicht in seinem Geist
-sein, hier unsern Schmerz in die Welt zu rufen und einander das Herz
-noch schwerer zu machen. Wenn er jetzt unter uns treten könnte, er
-würde sagen: „Kopf hoch, Leute!“ Er würde es sagen, laut oder leise,
-mit seinem hellen trotzigen Lachen oder mit stillem gütigen Lächeln.
-Wir Wenigen, die ihm die Nächsten waren, und die wir es anfangs
-kaum fassen konnten, als er so jäh uns entrissen wurde, Er, dessen
-Jugendkraft unverwüstlich schien, plötzlich vernichtet durch einen
-Hauch, durch nichts als einen tückischen Windhauch &mdash; nein, wir können
-es immer noch nicht fassen. Aber nicht wir Nächsten allein stehen
-hier um die Grube versammelt, in die seine sichtbare Gestalt jetzt
-versenkt wird; wir stehen hier mitten in einer Gemeinde, die weit
-über diesen Friedhof hinausreicht, grenzenlos weit ins Leben hinaus,
-vereint durch sein unsichtbares Bild, das uns der Tod nicht entreißen
-kann. An solchem Grab wollen wir nicht trauern, wir wollen unsre Herzen
-erheben! Wenn wir weinen müssen, ist es nicht blos aus Schmerz; es
-ist aus überströmender Dankbarkeit, daß wir so Unendliches mitfühlen
-können. Des Dichters<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span> unvergängliches Werk, des Menschen unvergeßliches
-Wesen: ich weiß nicht, wodurch er uns mehr erhebt. Er war einer von den
-herrlich Gefügten, deren Leben und Dichten gleich kühn emporsteigt aus
-ihrer unverbrüchlichen Seele, so vollkommen gleich in freier Schwebe
-wie der herrliche doppelte Regenbogen, der sich gestern, nachdem wir
-in seinem Hause den Sarg über ihm geschlossen hatten, über den ganzen
-Himmel Hamburgs spannte, eine überirdische Ehrenpforte. Der Freiherr
-von Poggfred, so steht er vor uns, hoch über allem Standes- und
-Sittenzwang, aber treu jeder selbstgewählten Pflicht bis tiefst hinab
-ins Selbstlose, in das wir Alle verkettet sind. Helm und Degen liegen
-auf seinem Sarg; so hat ers verdient, der alte Soldat, der mit Leib
-wie Seele für uns gekämpft hat, für uns Deutsche und für uns Menschen.
-Helm und Degen wird er nun immer tragen, und einen unverwelklichen
-Blumenkranz, wenn er im Geist vor uns aufersteht, nicht mehr nun
-der alte Soldat, sondern der immer junge Held, der uns entzückt von
-Kampfplatz zu Kampfplatz führt wie zu einem hinreißenden Tanz. Denn
-so ist er in Wahrheit durchs Dasein getanzt, noch bis zu seiner
-letzten Reise, die er mit Weib und Kind unternahm, um den liebsten
-Menschen, die er hatte, seine geliebten Schlachtfelder zu zeigen.
-Dort hat ihn der feindliche Lufthauch getroffen, der die tödliche
-Entzündung entfachte; und dann ist er dem Wink des Todes gefolgt, wie
-er den Winken des Lebens zu folgen pflegte, rasch dahin, ohne langes
-Gefackel. Ganz geschlossen ist das Spiel seines Lebens, wunderbar ganz
-in sich geschlossen, trotz aller Kreuz-und-Querzügigkeit; vollkommen
-vollendet auch noch sein letztes Gedichtbuch, auf das er den Titel
-„Gute Nacht“ gesetzt hat, als ob er den Schlaf schon nahen fühlte,
-auf den er gefaßt war wie Wenige, ohne Furcht vor der ewigen Nacht,
-ohne Hoffnung auf einen jüngsten Tag, sondern mit reiner ruhiger
-Ehrfurcht vor der unerfaßlich unerschöpflichen Macht, die uns leben
-und sterben läßt. Nein, er war nicht blos der<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> kindhafte Spielmann,
-nicht der harmlose Junker Übermut, der liebenswürdig leichtsinnige, für
-den ihn Viele gehalten haben, die sich nur an der bunten Oberfläche
-seiner reichen Einbildungskraft vergnügten, oder die sich ärgerten
-an der allzeit offenen, zum Geben wie Nehmen offenen Hand des armen
-Schuldenmachers der Wirklichkeit. Er war auch der Mann der schweren
-Stunden, der einsamen Fragen und Gedanken, der auf Jesus mit den
-Worten wies: „Nach Innen sah ich seine Schmerzen weinen.“ Er hat
-nur deshalb das menschliche Leben in ein launisches Spiel der Natur
-umgedichtet, weil er den furchtbaren Ernst unsres Lebens aus innerster
-Erfahrung begriff, weil er sich frei davon machen wollte, frei von
-der grausigen Notwendigkeit und notwendigen Grausamkeit, vor der
-sein empfindliches Gewissen immerfort in Entsetzen geriet. Er hat
-sich ja nicht als Jüngling zum Dichter geschult, sondern als Mann
-erst, der vom Schicksal geprüft war, der auf Schlachtfeldern und in
-fremden Ländern die Menschen hatte ringen sehen. Das ist das Wunder
-an seinem gereiften Geist, daß beides innigst in ihm vereint blieb:
-der trotzige Jüngling, der unbedenkliche, und der gütige Mann, der
-nachdenkliche. Daher sein starkes, herzbefreiendes Lachen, das niemals
-zerrissen geklungen hat, und zu dem sein feines huschendes Lächeln
-wie ein gedämpftes Echo stimmte. Daher das herzgewinnende Plaudern
-des mitteilsamen Menschenfreundes, aber zugleich auch der lauschend
-verschleierte Blick des tief verschwiegenen Menschenkenners. Daher
-der edelmütige Zauber seiner ganzen Haltung und Zurückhaltung, diese
-seltsame Liebenswürdigkeit, der niemand sich entziehen konnte, diese
-unwillkürliche Umgänglichkeit, selbst wo er haßte oder verachtete,
-diese wohlbedachte Leutseligkeit, der nur seine nächsten Freunde
-anmerkten, wieviel zarte und harte Menschenscheu sich darunter in
-einsamer Tiefe verbarg. Und daher auch die Zauberkraft des Dichters,
-durch die er selbst seine trübsten und leidvollsten Einsamkeiten in
-helle Lust für uns Alle verwandelt hat, dieser große Unverkümmerte,
-der<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> uns nun mit seiner verklärten Stirn auch über den Abschiedsschmerz
-noch hinweghilft, auf seinem Regenbogen dahintanzend über dem irdischen
-Getümmel. Habe Dank, du wundervolle Seele! Ich höre deine eigenen
-Worte: „Der Himmel lächelt seinem Sonntagskinde.“ Ruhe nun aus vom
-Menschenelend, du tapferes, mildes, adliges Herz!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<div class="section">
-
-<h3 id="Naivitaet_und_Genie">Naivität und Genie</h3>
-
-<p class="center">Spiritistischer Dialog</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">„Das ist naiv“... Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres,
-soll das ein Lob, ein Tadel oder einfach eine Aussage sein. Besonders
-Künstlern passiert das oft; da ist irgend etwas in ihren Werken, das
-hält der eine Betrachter für „recht naiv“, der andre für „vollkommen
-naiv“, wieder ein andrer für „gar zu naiv“, und ein abermals andrer
-für „nicht naiv genug“. Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er
-mit diesem beliebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält
-man regelmäßig eine Belehrung über das unbewußte Gemüt. Und wenn man
-hierauf zaghaft bemerkt, daß nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt
-in bewußtlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch daß sich
-über das Unbewußte füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird
-man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter
-„Instinkt“ und „Genie“ spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der
-Deutsche mit wuchtigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts
-pochen will, dann spricht er das Wort „Naturgenie“ aus. Bleibt dem
-Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven,
-teils nicht ganz naiven Fragestellers anheimgestellt, ob er sich für
-ein schlechtweg natürliches oder ein etwas übernatürliches oder ein
-ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren soll. Denn sein bißchen
-Talent steht ja außer<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kultiviert,
-sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine
-Natürlichkeit hadern.</p>
-
-<p>Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach
-Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für
-nicht ganz stark genug erklärt, weil es leider nicht naiv genug sei,
-ist manchem ebenso klugen Gönner blos leider nicht kultiviert genug.
-Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, daß jenes rätselhafte
-Fremdwort wohl etwas Andres besagen müsse als den sogenannten genialen
-Instinkt, diesen angeblich unbewußten Naturtrieb, der doch so sonderbar
-selbstbewußt auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte
-mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn „naiv“ klipp und klar bedeute.</p>
-
-<p>Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwillkürlich, triebhaft,
-ursprünglich, urwüchsig, freimütig, unverstellt, ungezwungen. Dann
-ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverdorben, unschuldig,
-treuherzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig,
-schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich
-schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben „tumb“
-im guten altdeutschen Sinne oder „dumm“ im neudeutschen schlechten
-bedeuten, konnte kindisch sowohl wie kindlich heißen, unvernünftig
-wie unvernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das
-nicht unverschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump erscheinen?
-Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig
-zu nennen, in einem recht lächerlichen Sinne? Unberechnet richtiger
-unüberlegt, unbesonnen, unbedacht, unverständig? Hat nicht jegliches
-Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht
-gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur
-gemeinplätzig ist! Kann das Ungekünstelte nicht das Kunstlose sein,
-und das Kunstlose das Unkünstlerische! Und der Unverbildete: ist er<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span>
-nicht meistens &mdash; oder der Biedermann wohl stets &mdash; auch ungebildet,
-ungesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus
-nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa
-was die Franzosen <span class="antiqua">bête</span> titulieren.</p>
-
-<p>Das alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war
-ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt; das grenzte
-doch arg ans bewußte Unbewußte. Ich war naiv genug gewesen, meinen
-gesunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch
-naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bißchen
-als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht
-nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich
-erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja
-der Kulturberuf obliegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich
-selber gewisse Naivitäten um des menschlichen Selbstbewußtseins willen
-vernünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt,
-von meiner bewußten Vernunft genasführt fühlte, so mußte ich wohl oder
-übel nun doch versuchen, das Unbewußte zu Rate zu ziehen.</p>
-
-<p>Also beschloß ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten
-Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt
-herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer
-Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer
-heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, daß womöglich auch
-sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine unerreichbare
-Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe,
-der von sämtlichen deutschen Professoren als das Non-plus-ultra
-moderner Naivität wie klassischer Kultur deklariert war, überhaupt als
-ein Muster an Harmonie; bei Shakespear war die schon zweifelhaft. Also
-ließ ich mir den Geist Goethe kommen.</p>
-
-<p>Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man gemein<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span>hin zu meinen
-geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen
-Geist zu besitzen, wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits
-besessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen,
-d.&nbsp;h. das Bewußtsein dieses Wissens, sodaß nur das Unterbewußtsein
-noch weiß, von welchem geistigen Überbewußtsein man selbstvergessen
-besessen ist, und dann läßt man sozusagen im Schlaf diesen überbewußten
-Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen erwacht. Die
-Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und
-läßt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen.
-Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muß dem Medium immer
-erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen;
-zweitens auch sehr unzuverlässig, denn das Medium &mdash; naiv wie es ist &mdash;
-verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewußtsein mit dem genialen
-Überbewußtsein und schwindelt dann dummes Zeug zusammen; drittens auch
-noch recht kostspielig, von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt
-bequemer, besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit
-seines Selbstbewußtseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas
-Weingeist. Man darf dabei nur nicht unterlassen, die Autosuggestion
-darauf einzurichten, daß man sich an die Äußerungen seiner geistvollen
-Selbstentäußerung nachträglich noch zu erinnern vermag.</p>
-
-<p>Das tat ich denn auch und merkte alsbald, wie sich Goethens Geist auf
-mich niederließ. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor
-mir in einem solennen, bis an die Kravatte zugeknöpften, goldgestickten
-Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und ließ ein
-höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich
-gleichfalls. Darauf <em class="gesperrt">Er</em>, mit gänzlich lautloser Stimme: Ich bin
-zur Stelle, was wünschen Sie?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>, mit ganz ebenso lautloser Stimme: Euer Excellenz wollen
-gütigst verzeihen, daß ich mir so im Geist unterstehe,<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span> Ihre erhabene
-Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer
-ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne
-Euer Excellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig
-bildungsbeflissenen Menschheit harmonische Kultur zu erlangen vermag,
-sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische
-Talent, völlig naiv gewähren läßt.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsern höchst
-schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Euer Excellenz wollen gütigst glauben, daß ich des
-Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten
-Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewußten
-Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer
-Excellenz eigene Schriften. Allein ich hoffe mir unbewußt eine
-klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines
-weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu gewinnen vermochte.
-Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Excellenz verewigtem
-Geist vermutlich nicht bewußt sein wird, die Begriffe „naiv“ und
-„sentimental“ nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor
-Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den Geistern von heute diese
-heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit,
-die ungleich gefühlvoller war als die jetzige und deshalb auf eine
-heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf bedacht
-sein mußte. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte
-verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre,
-Ironische; und wo der Herr Hofrat v. Schiller beinahe geneigt war,
-das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst
-trefflichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt geschätzt.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die
-Begriffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gärung
-gediehen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Begriffe in
-solcher Gärung, daß gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich
-die Klärung eintreten wird. Euer Excellenz dürfen überzeugt sein, daß
-dieser gedeihliche Prozeß, der nach Meinung der vorgeschrittensten
-Geister von Excellenz selber inauguriert ist, zugleich auch den
-unterbewußten Beweggrund meines überbewußten Anliegens bildet. Es kann
-sich wohl Niemand mehr verhehlen, daß Herrn v. Schillers gestrenge
-Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen
-gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt,
-sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers bezogen wird.
-Wie Excellenz selbst schon in den Gesprächen mit dem jungen Herrn
-Eckermann bemerkten, daß keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen
-Bestand haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam
-hervorgewachsen ist, so dürfte auch kein im Sinne Schillers naiver
-Dichter zu finden sein, der ohne sentimentalische Mitgift ein
-menschliches Herz zu erobern vermöchte. Weswegen denn Schillers
-sentimentalstes Gedicht &mdash; „seid umschlungen, Millionen“ &mdash; heute für
-sein naivstes gilt, manchem Kenner sogar für allzu naiv. Und daß bei
-Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das
-ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte,
-ohne von sämtlichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler
-Naturverfälscher gebrandmarkt zu werden.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht
-der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu
-bekritteln?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Der kritische Disput um die Griechen ist allerdings im
-letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständlich geworden, daß ihre
-überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt
-und mehr denn jemals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt
-geworden, daß die Antike zu keiner Zeit so<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> idealiter naiv war, wie
-Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, daß insbesondere neben
-Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach
-aller Forschung durchaus für einen Sentimentaliker ansprechen muß,
-einen elegischen Ironiker vom dämonischen Schlage des Lords Byron,
-des erlauchten Freundes Euer Excellenz. Auch hat sich bestätigt,
-was Excellenz ahnten, daß nämlich der Dichter, der die Balladen der
-prähomerischen Tradition in die zwei großen Epen organisierte, kein
-plötzlich emporgeschossener Sprößling eines kindlich urwüchsigen
-Zeitalters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich
-noch patriarchalen, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und
-wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem
-epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben
-kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn
-ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwürdigen Hintersinn
-gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität,
-der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Äschylos mit
-sentimentalster Leidenschaft auftrotzt. Ist das nun blos naiver
-Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen
-Konflikten der Griechen ein problematischer Aufklärungskampf um
-Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum
-raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur
-kapriziösesten Persifflage?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine ungemeine
-Frage. Und da denn alles Ungemeine auch allgemeine Bedeutung hat,
-verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Haben Euer Excellenz annehmen können, ich wollte mir zum
-Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Mephisto
-geschrieben&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und wenn ich Excellenz recht verstehe, haben Sie<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> dennoch
-auch den Faust schreiben können, samt Gretchen und dem Famulus Wagner,
-und die Einen so naiv wie die Andern&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser
-höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Verwunderung wahrnahm.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das
-Sentimentalische noch auch das Problematische ausschließt? Und wie
-verträgt sich das Raffinierte damit?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der
-Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch
-Einfalt gern die Berechnung heranzieht, sobald sich der natürliche
-Sinn in Hinsicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon
-verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlauheit oder
-Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Betracht das Naive das
-durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit
-dem Raffinierten, das doch auf deutsch sowohl das Geläuterte wie auch
-das Abgeklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen übeln
-Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abgefeimte,
-Durchtriebene, Geriebene.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch
-ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive
-der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während
-doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewußter Verstand meine
-überbewußte Vernunft nicht betrügt, Beides in sich vereinigen und
-irgendwodurch bemessen muß, um harmonisch und kulturell zu wirken. Denn
-etwa zu sagen, daß jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das
-würde doch fast schon nichtssagend sein.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn
-wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit
-abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen;
-wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein
-zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr
-Professor Nietzsche erschienen, der mir mit überaus gütigem Eifer eine
-Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem er zuvörderst auf die Autoren
-des Neuen Testamentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und
-zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst
-würdigen Stil, der sich teils an dem Evangelisten Johannes, teils an
-dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist
-an Luther gebildet hatte, und mit einem äußerst gewaltigen Pathos, das
-mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr
-Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, von Natur aus
-wie auch von Kunst wegen, und war zugleich doch raffiniert.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine
-Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr
-Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch
-vortrefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser
-neuester Dichter sprach. Indessen muß wohl alles Naive in einer Art
-Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als
-wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung <em class="gesperrt">Andre</em>
-betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur
-Verstellung innewohnt, die jeder Erwachsene leicht durchschaut, doch
-welche ihn umso reizender anmutet, je inniger sich die kindliche Seele
-über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist
-freilich das Reizende nicht das Bedeutende.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: So müßte denn wohl das höchste Genie, insofern es<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> die
-klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in
-jedem Betracht erhaben sein, ob nun geläutert durch Kultur, ob aus
-natürlicher Lauterkeit.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten
-Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in
-seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber
-vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen,
-wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit
-ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Napoleon auf St. Helena.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, daß gerade die
-bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschauung nicht pflegten,
-vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere
-strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten
-einschränkt, wenn nicht ausschließt.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, daß der blinde
-Naturtrieb durch Künstlergeist sehend werden möchte.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der
-genialen Natur ausmachen. Sonst müßte, scheint mir, ein Burns einen
-Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muß bitten, mein sehr
-werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiel zu lassen.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des
-Beispiels halber noch zu bemerken, daß auch bei den anderen hohen
-Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen &mdash; bei Sophokles
-wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespear wie Rabelais,
-Cervantes wie Swift, Lionardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie
-Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beethoven &mdash; das Naive
-überall höchstens die Rolle des rührigen Mägdleins im Königsschloß
-spielt, wo nicht blos des handlichen Prügelknaben, und meistens zu gar
-keinem Vorschein tritt; wohingegen es sich bei<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> vielen sehr reizenden,
-jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht
-und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer
-nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus
-dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die
-naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der
-heutigen Menschheit nichts mehr bedeuten und deshalb gern übersehen
-werden. Es müßte auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich
-widersinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstlerseelen, die
-doch von dem ewig währenden Kampf zwischen Menschenvernunft und blindem
-Naturtrieb am allerheftigsten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein
-kindlich einfältiges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten,
-anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Ausgleich jener
-Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu erwirken. Oder denkt ein hoher
-Geist anders darüber?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich
-offenbar nicht bewußt, daß aller zeitweilige Wert eines Kunstwerkes
-dessen dauernde Fortwirkung nicht erklärt, daß folglich nach
-vernünftiger Schätzung sein löblicher Inhalt an Kultur dem natürlichen
-Gehalt wohl beigeordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art
-unbewußtem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unterbewußte oder
-überbewußte Sinnentäuschung, daß ein deutscher Klassiker hier so
-romantisch redet?!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, befremdet: Was für ein Klassiker?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persönliche aus dem
-Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker??</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der
-Geisterwelt unbekannt sein?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit Mühe seinen Verdruß beherrschend: Da habe ich nun den
-deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, daß klassische
-Nationalautoren in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange
-sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in
-allen Stücken zu einer soliden nationalen Kultur gesammelt hat; habe
-wieder und wieder nachgewiesen, daß inzwischen das originale Talent
-nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, daß
-überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit
-für eine glückliche Bildung sei. Und nun kommt diese widerspruchsvolle
-Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl
-wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch
-solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend
-auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen
-zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte
-Anerkennung zu finden, muß ich hier die reizende Botschaft vernehmen,
-daß ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst
-unerfreulich, Herr Doktor!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Euer Excellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges
-auszusprechen; indessen könnte das Widerspruchsvolle, obwohl es gewiß
-nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Wahrhafte sein.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, merklich betroffen: Wie meinen Sie das?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn Excellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr
-Persönliches zu berühren&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, an dem untersten Frackknopf nestelnd: Es hat mich von jeher
-nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will
-heißen, mit dem gehörigen Anstand.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Nun, der Name Goethe gilt eben heute als Inbegriff
-deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer
-Einheit, nach einer persönlichen Harmonie mit dem sozialen
-Kulturinstinkt.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht
-von Harmonie, bevor man nicht alle Dissonanzen vernommen und begriffen
-hat!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Man hat sie alle so fleißig begriffen, daß heute im neuen
-Deutschen Reich kein Skribifax zu finden sein dürfte, der seinen
-absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht
-mit irgend einem beiläufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen
-Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit einer Miene leidvoller Dumpfheit: So hat man mich eben
-schlecht begriffen.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämlich ein wenig zu naiv.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln: Sie scheinen mir
-recht raffiniert, mein wertester Freund.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher.
-Denn inzwischen hat sich unser Volk immerhin doch auf einen gewissen
-Grad politischer Einheit zusammengerafft; und wenn dennoch seine
-soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum
-jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster
-Ehrfurcht auf eine Persönlichkeit, die &mdash; ob sie im Einzelnen noch so
-triebhaft von natürlichen Dissonanzen bewegt war &mdash; doch im Ganzen
-als ein beharrliches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb
-nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber, scheint mir,
-ist eben die Wirkung, die von jedem erhabenen Künstler ausgeht und
-allen erhebenden Kunstwerken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den
-sie enthalten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der
-ewige Ausbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt
-Natürliches, ein allge<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span>mein menschlich Notwendiges, von innerstem Grund
-aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher
-Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird denn doch
-wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzuordnen sein, der
-sich an seinem jeweiligen Zustand trüglich-vergnüglich genügen läßt.
-Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen
-Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer
-wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre
-jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat
-und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch,
-am wenigsten aber der geniale. Sollte das nicht, so wahrhaft menschlich
-es ist, doch vielleicht auch ein göttlich Wahres sein?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit hellstem Lächeln: So sei es denn! &mdash; Nur gebe man auch
-dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: In welchem Sinne soll ich das nehmen?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem
-gewissen Verstande, der sich verteufelt betriebsam zeigt und den
-edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven
-wurzelt. Man hüte sich vor der Reflexion, die den Wurzelboden zerwühlt
-wie ein Maulwurf!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wodurch das
-ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so
-unhold befangen wird, daß ein Unwirksames daraus entsteht?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer noch schalkhaft: So <em class="gesperrt">könnte</em> es sein.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den
-naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische
-Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von
-Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, daß er gründlichst über
-sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin
-das gewiß recht<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt
-ist, daß er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor
-es ihm reif zur Abfassung war.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und
-wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, daß es
-Zweierlei ist, über Gefühle nachzudenken oder über die Darstellung von
-Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen,
-das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach
-Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger
-Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingibt, und
-wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste
-hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre
-in seinem bewußtlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewußtsein dem
-sinnreichen Willen unterwirft.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Also sollte wirklich der Dichter des Faust, des Tasso
-und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den
-Wahlverwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der
-Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage
-zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen
-künstlerischer und menschlicher Weisheit, zwischen Geist und Vernunft,
-zwischen Dichtung und Wahrheit?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: <em class="gesperrt">Bei den
-Müttern!</em>&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: <em class="gesperrt">Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter
-der verklärten Väter!</em>&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachstum des Geistes
-gedeihlich sein?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein
-Geist die Grenze entdecken, wo Licht und Dunkel einander durchdringen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder
-und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie
-ein unfaßbarer Eishauch jedem bedeutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht
-grade das Offenbarende sein, das den dumpfen Stoff erst zum klaren
-Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert?
-Und mag immerhin das Unbewußte der unergründliche Mutterboden aller
-schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über
-Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche
-Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem
-geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Abergeschwätz?!
-Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer
-bewußtlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er
-es nicht zugleich recht bewußt über den passenden Leisten schlägt.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit gleichgiltigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein
-guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewußter drauflos
-schlüge.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüßte, wäre er dann
-nicht ein besserer Schuster?! Und um wieviel mehr erst der sinnreiche
-Künstler, der unzählige einzelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes
-Ganzes veranschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, daß
-er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe
-weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff
-die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die
-beliebigen Bildgefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet!
-Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, daß sich jeder Künstler
-und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur dadurch auszeichnet, in
-welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewußte bei ihm bewußt
-wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft
-voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span>
-reizendes Ding von wirklicher Vollkommenheit? Ich glaube, weil sein
-Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige
-Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in
-holdseliger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das er
-höchst naiv seinem eigensten, blos sogenannten Mutterwitz zuschreibt;
-ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf
-mit der gern empfänglichen Mutter Natur.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstande könnte
-es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Vernunft sich erst recht
-die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag
-der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft
-Einzelne planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich
-unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen
-und halten.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen
-starken Gedanken aushalten. Bei Shakespear strotzt selbst der Narr von
-Gedanken.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl
-das Närrische sein!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist?
-hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich
-nachzuweisen, daß das gesamte Kunstwerk „Hamlet“ auf einem bestimmten
-Gedankengrund steht, um den der Dichter gewußt haben muß.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, stutzig: Da wäre ich aber wahrlich gespannt. Sie sind
-überaus eigensinnig, Herr Doktor!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Nur in Euer Excellenz eigenem Sinne. Denn wie Excellenz
-selbst einmal kommentierten, wollte Shakespear hier eine Seele
-schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewußt auf sich nehmen
-will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen,
-der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie
-Excellenz gleichfalls<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> und mehr als einmal dargelegt haben, nicht im
-Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn
-sich also das Positive hier nicht in dem sogenannten Helden des Dramas
-findet, muß man es wohl in dem Drama selbst, d.&nbsp;h. in dem Ausgleich
-der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der
-Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert,
-auf diese Ergänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen
-Vaters, zum Schluß den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den
-verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio,
-das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese
-ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius,
-gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem gewissen Grade aktiv
-wirkt. Da muß sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe
-in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem
-der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie
-Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf
-solche seinen Zeitgenossen erbauliche Grundgedanken gestellt sehen, auf
-die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den
-psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter
-Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem
-naiven Pathos ins urteilslose Gemüt zu schleudern, wie dem populären
-Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschenkenner
-&mdash; sehr oft bis zum Cynismus fein &mdash; blieb er sich überall bewußt,
-daß diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln,
-je unlöslicher sie dem Verstande scheinen, verfädelt unter ein buntes
-Gewebe von dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und
-Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn
-man wie Hamlet Wahnsinn heuchelt, so wäre es sicherlich ganzer Irrsinn,
-wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen,<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> er habe sich ebenso selbst
-betrogen und nicht vielmehr genau gewußt, warum er uns über diesen
-Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel läßt.
-Sollte er das nicht einfach gewollt haben, um uns recht sinnfällig
-anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die
-klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten
-droht?!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, wieder die Hand in den Busen steckend: Ich sehe, mein
-Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und
-freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen
-gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist
-wie Shakespear bewußt war, ohne daß es ihm Schaden tat, könnte minder
-kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenigstens nicht
-für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für
-sich behielten.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit ergetztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt,
-mein Teurer!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv
-brutalen Achilleus den raffiniert dolosen Odysseus ausspielt, wie er
-diesen Kontrast zwischen Intelligenz und Instinkt noch mit allerlei
-Parallelpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden
-Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Polyphem und hündisch
-verschlagenen Thersites, von den tolldreisten Lustweibern Helena und
-Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann
-da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles blos aus
-bewußtlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, sichtlich des trockenen Tones satt: <span class="antiqua">Credo quia absurdum
-est.</span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen
-des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> dunkeln Zeiten
-her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König
-zusammenbefand. Da mußte der Volksredner, der er war, wohl <span class="antiqua">nolens
-volens</span> darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in
-ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber
-noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundern.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch
-dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet
-doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her,
-und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Gewande der
-feinsten Gesittung.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit nicht ohne
-etlichen Hokuspokus auf ihrer Würde bestehen kann, warum dann die
-seelische Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung?
-Als ob unser hochbestrebtes Bewußtsein nicht zum mindesten ebenso
-rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste
-drangvollste Unbewußte, das uns mit jedem Kohlkopf gemein ist! Als ob
-nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfaßt, ins
-Eigentümliche durchgebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins
-menschlich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine
-Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die
-Entwickelung des Bewußtseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist,
-Verstand oder Sinn, Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder
-Logik taufen! Und zeigt nicht die ganze mannigfache Formenfolge der
-Lebewesen ein <em class="gesperrt">stetes Stufenstreben der Geisteskraft, sich immer
-wahrnehmbarer auszugestalten</em>?!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie
-denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die
-hinter einem Feuerwerk steckt?</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in
-unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet blos.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm &mdash; unter solcher
-Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den
-dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, daß
-eine Schöpferkraft dasein muß, wenn eine Schöpfung werden soll.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich
-die Erfahrungen aus meinem bewußten Dasein nicht täuschen, in seinem
-jeweiligen Denkzustand durchaus nicht so holdselig zu sein, wie er
-sich später in unserm Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen
-Zustand geistig verklärt; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt
-sein, sich diese Dumpfheit jedesmal so rasch wie möglich vom Halse zu
-schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde
-Gedankendrangsal so unausstehlich bedrückt und befangen, wie der
-Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lächelnd den Knopf
-in die Westentasche: Es freut mich, Teuerster, wie Sie das sagen, mit
-solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, daß Sie
-fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher
-Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren
-Schriften zu sprechen; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen,
-wenn sich ein eigenwilliger Geist auch einer eigenen Sprache bediente.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist??</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, augenblicks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom
-<em class="gesperrt">beherrschten</em> Eigenwillen!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er
-alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann
-war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich
-selber zeitlebens behutsam auswich!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafür
-bewundert!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron wars
-Kraft, ihn riß Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang
-wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine
-Heldentat Byrons heranreicht.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit noch stärkeren Klopftönen: Er hätte euch wohl noch mehr
-enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte eintreiben können. Er hatte das
-Zeug zu einem Shakespear, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte
-nur heldisch, sobald man sein Selbstbewußtsein mit härtestem Stachel
-zum Trotz aufreizte; er war nicht über sein Schicksal erhaben.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Er war es immerhin bis zu dem Grade, daß er das alles im
-Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich
-erschöpft!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten
-allzu naiv gefolgt?!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst
-raffiniert, werter Freund!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch
-eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von
-allerlei krampfhaftem Spuk heimgesucht, wie man das fast jedem
-kraftvollen Geist mit biederem Gruseln als krankhaft nachsagt, und wie
-ja auch Sie, verehrtester Genius, mehrfach von sich selbst berichtet
-haben. Ich entdeckte jedoch, daß sich diese Visionen, Somnambulismen
-und Katalepsieen immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft
-nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer,
-Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span>
-meine poetische Phantasie leider oft zu holdselig faullenzen ließ;
-also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen
-Unterwelt, die über ihr Bestes bewußt werden wollte. Ich habe mir dann
-durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das
-gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft,
-ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche
-Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange
-Audienz.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter
-Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der
-zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine
-Geliebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so
-emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, wunderlich durch mein Zimmer blickend: Da mache ich Ihrer
-jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kompliment.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht,
-Verehrter; ganz und gar nicht. Es muß wohl ein jeder kräftige Künstler
-zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten
-verhält wie das aufmerksam hingebungsvolle Weib zur unbequemlich
-kopfscheuen Jungfrau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von
-ihrer beschränkten Eitelkeit läßt, so verharren auch die meisten
-Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale
-Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch
-okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansteht, dem
-Abenteurer und Volksführer, dem politischen oder religiösen Redner,
-als dem künstlerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer
-des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen
-willfahren muß, mit einer überlegenen Ruhe. Da<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span> wird denn natürlich, um
-diese Ruhe bis ins drangvolle Innerste auszudehnen, auch die Vernunft
-je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und
-wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib
-beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger
-Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und er darf sich mit heiterem Dank bewußt sein, daß dieser
-Glückwunsch ins Centrum des Lebens trifft, und somit auch unseres
-Kunstgespräches.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, immer verklärter um sich blickend: Wir sprechen wohl einst
-noch gewisser darüber&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Doch ist uns schon jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß zwar
-das naive Gemüt die Axe ist, an die auch die genialste Natur mit
-allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische,
-der andre ins Triviale verläuft; daß aber <em class="gesperrt">die geistige Reflexion
-die formbestimmende Triebkraft</em> ist und umso harmonischer auf die
-Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste
-der Persönlichkeit auf ein centrales Gleichgewicht ordnet&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen
-die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren
-und Inseln des Erdballs&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ich</em>: Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so
-natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich gibt,
-auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie
-Kleist zu den Vätern dahinmuß&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Er</em>, spukhaft aus weiter Ferne lachend: Sie sind in der Tat
-höchst naiv, lieber Dehmel&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben
-Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen
-bewußteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten
-pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft
-Naive kuriert.</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span></p>
-
-<h3 id="Kultur_und_Rasse">Kultur und Rasse</h3>
-
-<p class="center">Ein Gespräch zwischen Künstlern</p>
-
-</div>
-
-<p class="mtop2">Ein deutscher Dichter und ein jüdischer Maler waren einander in
-Verehrung zugetan, trotz oder wegen ihrer sehr verschiedenen Begabung.
-Den Maler reizten simple Motive, die er mit räumlich packender Rhythmik
-in verwickeltem Lichtspiel zu zeigen verstand; der Dichter ließ sich
-umgekehrt meistens von komplizierten Impulsen anregen, die er bei
-rhythmisch lebhaftestem Tempo in unvermutet einfachen Zusammenklang
-zu setzen wußte. Gemeinsam war ihnen also nur, was allen vollkommenen
-Künstlern gemeinsam ist: ein stark beweglicher Scharfsinn bei
-gründlicher Gemütsruhe. Das gab dem persönlichen Charakter des Juden
-eine sprunghafte Schlagfertigkeit, die sich mit Vorliebe hinter der
-Maske berlinischer Fopperei versteckte; an dem Deutschen dagegen prägte
-es sich in einer hartnäckigen Spannkraft aus, die sich nach Art des
-märkischen Landvolkes gern etwas nückeboldig stellte.</p>
-
-<p>Als Leute, deren Zeit kostbar war, sahen sie einander nur selten;
-aber jeder verfolgte des Andern Arbeiten mit angelegentlicher
-Aufmerksamkeit. Nun hatte der Maler ein Bild ausgestellt, dessen
-dramatisches Pathos beträchtlich von seiner sonst mehr lyrischen Verve
-abstach und infolgedessen viel Kopfschütteln erregte; da konnte der
-Dichter nicht unterlassen, ihn doch einmal wieder zu besuchen, um
-ihm für diesen neuen Beweis seiner rastlosen Entwicklungskraft ein
-respektvolles Kompliment zu sagen.</p>
-
-<p>Das Gemälde zeigte ein nacktes Weib von mänadischer Gelenkigkeit,
-wie es sich auf verwühltem Lager über einem stiernackigen,
-wollustgeschwächten Kerl hochreckt, in der Rechten irgend etwas
-Blankes wie eine sieghafte Waffe hebend, bis zu den Hüften vom
-Zwielicht des Morgens und einer Kerzenflamme beglänzt, während sich
-der schlaftrunkene Mann an<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> ihrem Schooß im Halbschatten wälzt. So
-nahm sich die Geberde des Weibes wie ein geschmeidiger Hohn auf
-die rohe Kraft aus, wie ein Sieg wachsamer Geistesgegenwart über
-plump verschlafene Sinnlichkeit, ein fleischgewordener Triumph der
-raffinierten Intelligenz über den brutalen Instinkt, mit einfachster
-Wucht in feinste Beleuchtung gerückt. Der Maler hatte das große Werk
-„Judith und Holofernes“ getauft, obwohl es lediglich durch die Idee
-auf die biblische Legende zurückwies. Kein orientalischer Teppich
-verliebreizte das Lager, und die Mänade konnte nach ihrem Typus
-irgendeine zigeunernde russische Fürstin oder deutsche Prinzessin sein,
-der Mann ein x-beliebiger braver Zirkusathlet. Der deutsche Dichter
-wollte jedoch von diesem Gesichtspunkt nichts merken lassen, sondern
-sprach vor allem seine Bewunderung über die schwungvolle Raumwirkung
-aus; worauf sich folgende Unterhaltung entspann.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Der Jüdische Maler</em>: Na ja, sehr schön. Aber nicht wahr, die
-Hauptsache ist doch: das Ding hat Rasse von oben bis unten!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Der Deutsche Dichter</em>: Wenn Sie also doch davon sprechen wollen,
-dann muß ich Ihnen offen gestehen, ich sehe eher etwas allgemein
-Menschliches.</p>
-
-<p>D. J. M. Sie sind wohl allgemein übergeschnappt? So’was kann doch blos
-einer, der Jude ist, machen!</p>
-
-<p>D. D. D. In der Tat blos Einer, nämlich Sie.</p>
-
-<p>D. J. M. Na ja, weil ich eben noch Vollblut bin; die Andern sind
-meistenteils schon alle so ins allgemein Menschliche vermanscht.</p>
-
-<p>D. D. D. Ich glaube nicht mehr an das Rassendogma; wenigstens nicht,
-soweit es seelische Werte und geistige Leistungen begründen soll. Bei
-den künstlichen Tierrassen ist das von selbst ausgeschlossen, denn die
-züchtet ja erst der menschliche Geist. Aber auch die natürliche Rasse
-kann höchstens für körper<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span>bauliche Eigenschaften eine Grundbedingung
-sein, eine neben mancherlei andern; vielleicht aber gar keine
-Grundbedingung, sondern immer nur ein Endergebnis aus langen seelischen
-Sonderbestrebungen einer Gemeinschaft beliebiger Einzelkörper gegen
-die gefährliche Umwelt, eine Art Schutzmarke auf Gegenseitigkeit,
-die dann wieder neue Arten herbeiführen kann, durch neue Anlässe zur
-Gemeinschaftsbildung. Wie soll denn durch Rasse, dies allerallgemeinste
-Merkmal oberflächlicher Unterscheidung, die künstlerische Begabung
-erklärt werden, die allereigentümlichste Sonderlichkeit, die nur von
-den gründlichsten Kennern geistiger Werte vollkommen erkannt und
-gewürdigt wird, gleichviel von welchem Rassekörper!</p>
-
-<p>D. J. M. Sie haben sich da ’ne lange Strippe von Geist und Seele
-zusammengedreht. Aber ich will Ihnen mal was sagen, ganz einfach, ohne
-Textilapparat: Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! und das kann
-blos ein Rassekerl! Ich meine, so richtig dumm und geil; <span class="antiqua">cum grano
-salis</span>, wissen Sie.</p>
-
-<p>D. D. D. Und wahnsinnig! Gleichfalls <span class="antiqua">cum grano salis</span>.</p>
-
-<p>D. J. M. Und ein Frechdachs! Sie wollen mich wohl uzen, Verehrter?</p>
-
-<p>D. D. D. Ich wollte Ihrer gesalzenen Weisheit blos einen
-rassepsychologischen Wink geben, aus welchem Pökelfaß sie stammt. Dumm,
-geil und verrückt &mdash; das ist der Künstler, wie er heute bei allen
-Professoren der höheren Zoologie im Buch steht.</p>
-
-<p>D. J. M. Na, ich meinte natürlich nur: während er Kunst macht! Im Leben
-kann er der klügste Geschäftsmann und bravste Familienvater sein; je
-klüger und braver, umso besser für ihn.</p>
-
-<p>D. D. D. Also während er Kunst macht, soll er gewissermaßen seine
-besseren menschlichen Qualitäten an den Nagel der Theoretik hängen. Ich
-fürchte nur, daß er dann zugleich seine besseren Rassequalitäten mit
-weghängt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span></p>
-
-<p>D. J. M. Nanu, so plötzlich? Sie haben doch eben ganz deutlich gesagt,
-Sie glauben an solche Qualitäten nicht!</p>
-
-<p>D. D. D. Ich nicht; aber Rassetheoretiker glauben, daß Familiensinn und
-Lebensklugheit die besonderen jüdischen Tugenden sind.</p>
-
-<p>D. J. M. Ja natürlich! Was blieb uns denn auch weiter übrig, solange
-wir im Ghetto hockten&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>D. D. D. und nachdem in aller Herren Ländern aus einigen tollkühnen
-Nomadenstämmen, die wahrscheinlich auch bereits nur zur Hälfte echte
-Semiten gewesen sind, allmählich eine brave Sippschaft von allerlei
-Krethi und Plethi geworden war.</p>
-
-<p>D. J. M. Also Karnickel- und Hasen-Hecke. Na ja, das stimmt, da haben
-die Antisemiten ganz Recht: das ist heute genau solche jüdische
-Spezialität, wie’s auch deutsches Vettermichelpack gibt. Aber was
-hat das speziell mit Kunst zu tun? Die verdolmetscht doch eben das
-Generelle! Da entpuppt sich das ursemitisch Rassige wieder.</p>
-
-<p>D. D. D. Merkwürdig nur, daß das alte Volk Israel, solange sein
-Hauptstamm wirklich noch reinrassig war, d.&nbsp;h. längstens bis etwa zur
-Zeit Samuelis, fast gar keine Kunst hervorgebracht hat; die spärlichen
-religiösen Psalmen, die vielleicht in die Zeit vor David zurückreichen,
-sind doch wohl erst embryonische Dichtkunst.</p>
-
-<p>D. J. M. Nebbich! Das war ihnen doch verboten! Siehe Moses: Ihr sollt
-euch kein Bildnis noch Gleichnis machen.</p>
-
-<p>D. D. D. Mir deucht, in einem kunstfähigen Volk hätte solch Verbot
-garnicht erst laut werden können. Was meinen Sie wohl, was die Griechen
-gesagt hätten, wäre Solon ihnen mit so’was gekommen! Das haben sich
-nicht mal die Deutschen bieten lassen, die doch, solange sie reine
-Germanen waren, gleichfalls kein nennenswertes Kunstvolk gewesen sind;
-und<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> dasselbe gilt von den alten Römern. Überhaupt: betrachten Sie’s
-mal historisch! Die sogenannte reine Kunst entsteht überall erst in
-Mischvölkern, also wo mehrere Rassen einander kreuzen und &mdash; mag man
-das nun einen günstigen Zufall oder „Ergänzung passender Anlagen“
-nennen &mdash; eine neue zu bilden beginnen. Da tritt dann die Kunst
-gleichsam vorbildnerisch auf, aus Verlangen nach neuem Menschentum.</p>
-
-<p>D. J. M. Meschugge ist Trumpf! Oder sind Sie wirklich verrückt?</p>
-
-<p>D. D. D. Ja, ich will wirklich einmal so verrückt sein, die physische
-Rasse als Element für psychische Phänomene gelten zu lassen. Dann
-wüßte ich nicht, wodurch aus so einfacher Ursache ein so mannigfach
-lebensvolles Ding, wie es jedes starke Kunstwerk doch ist, auf
-natürliche Weise entspringen sollte, es müßten denn <em class="gesperrt">mehrere</em>
-solche Elemente in dem Künstler verbunden sein. Der machtvollste
-Künstler wäre dann der, in dessen Familie sich nach und nach alle
-Kulturrassen abgelagert hätten. Aber Sie sehn mich ja weiß-Gott an, als
-ob Sie mich für irrsinnig hielten.</p>
-
-<p>D. J. M. Nein, dichten Sie nur ruhig so weiter! Ich habe mir blos Ihr
-Gesicht angesehn. Ich werde mal fix ’ne Skizze von machen; Sie sehn
-ganz apart aus, wenn Sie so dichten. Und das mit der Rassenablagerung,
-das kann ja auf Ihr Gesicht ganz gut stimmen.</p>
-
-<p>D. D. D. Ahah, Sie meinen, ich rede <span class="antiqua">pro domo</span>?</p>
-
-<p>D. J. M. Na, ich habe neulich mal wo gelesen, Sie sollen ja so’ne Art
-Slawe sein, aus Wendisch-Buchholz oder so her.</p>
-
-<p>D. D. D. Da könnte ich Ihnen nun leicht beweisen, daß ich ein
-waschechter Deutscher bin, bis ins 17. Jahrhundert zurück. Meine
-väterlichen Vorfahren waren niederschlesische Handwerker, ein paar
-Schmiede, ein Zimmermeister, ein Seiler, ein Tierarzt und ein Laborant;
-meine mütterlichen teils märkische Bauern, teils thüringische Beamten
-und Fabrikanten, mit<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span> einem rheinischen Nebenzweig. Die Familiennamen
-haben in allen Linien den sogenannten reinen Klang: außer meinem eignen
-deutschdämligen Namen noch Fließschmidt, Hillmann, Weidner, Zahn,
-Oehme, Eule und Eyle. Nur in dritter Linie, von Vaters Seite, kommt
-der slawisch klingende Name Tschorsch vor; doch ist er wahrscheinlich
-aus deutschem Georg oder Jörge vertschechisiert, oder vielleicht aus
-französischem George verdeutscht. Ich könnte mich also vor jedem
-Teutobold mindestens ebenso gut als Germanen aufspielen, wie man
-Luthers böhmakisches Gesicht oder Bismarcks wendischen Rundschädel ins
-Germanische umdichten will; bin aber trotzdem überzeugt, daß ich &mdash; wie
-mehr oder weniger jeder Deutsche seit der Völkerwanderung &mdash; nicht blos
-slawisches und keltisches, sondern wahrscheinlich auch romanisches und
-vielleicht sogar mongolisches Blut in meinen werten Adern beherberge.</p>
-
-<p>D. J. M. Da säße ich also da „mit’s Talent“, als so’n kümmerliches
-semitisches Inzuchtgewächs.</p>
-
-<p>D. D. D. Ja, wenn Sie wirklich ein echter Hebräer wären?</p>
-
-<p>D. J. M. Na, hören Sie mal, erlauben Sie mal, ich soll Sie wohl wegen
-Verleumdung verklagen?! Wollen Sie etwa meine leiblichen Urgroßmütter
-für lauter Herodiäser erklären?</p>
-
-<p>D. D. D. Oh, zwei bis dreie genügen wohl schon; und wenn ihre Gatten
-Herodesse waren, werden Sie’s ihnen wohl nicht verdenken.</p>
-
-<p>D. J. M. Na, Spaß beiseite! Ihr Schädel wirkt propper; Sie sitzen
-faktisch briljant Modell. Sitzen Sie jetzt mal ein bißchen stille! Sehn
-Sie sich mal derweil meine Augenbrauen und Nasenwurzel und Stirnbogen
-an! Sehn Sie: so’was, das gibts nicht bei allgemeinem Menschmansch, das
-ist ganz apartes Rasseprodukt.</p>
-
-<p>D. D. D. Mag schon sein; die Oberstirn scheint mir vlämische Rasse, die
-Augenknochen spanische. Ihre Familie ist ja<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> wohl zum Teil aus Spanien
-über Holland gekommen; und der belgische Architekt Van de Velde hat
-einen ganz ähnlichen Gesichtsschnitt, obgleich er wahrhaftig kein Jude
-ist.</p>
-
-<p>D. J. M. Nein, wahrhaftig nicht. Aber apart ist er auch. Faktisch ’n
-ganz famoses Kerlchen; rassig bis in die Fingerspitzen. Wer weiß,
-vielleicht ist er <em class="gesperrt">doch</em> ’n Jude!</p>
-
-<p>D. D. D. Sagen Sie mal, Sie Rassemensch: Sie haben doch englische
-Vollblutpferde gemalt. Halten Sie die etwa nicht für rassig?</p>
-
-<p>D. J. M. Na, und ob! Ach so, Sie möchten mich wieder döppen?! Na
-aber, das hab ich doch gleich blos gemeint: da hat sich eben die
-angelsächsische mit arabisch-türkischer Zucht gekreuzt und schließlich
-’ne neue Rasse gebildet. Aber sein Sie mal jetzt ’ne Sekunde lang
-stille; mir stimmt was nicht an Ihrer Stirn. Einen Moment blos, ich
-werds gleich haben. Faktisch ’ne ganz verflixte Stirne; von vorne
-breit wie’n heraldischer Bulle, und im Profil schlank retour wie’n
-Lämmergeier &mdash; Sie wollen gewiß auch ’ne neue Rasse gründen! &mdash; Bitte,
-blos’n Moment noch, dann bin ich so weit! &mdash; So: jetzt los auf die
-Weltgeschichte! Dichten Sie bitte ungeniert weiter!</p>
-
-<p>D. D. D. Also &mdash; Tatsache ist doch Folgendes: Ob nun im alten Ägypten
-und Hellas, oder im mittelalterlichen China und Indien, oder im
-späteren Japan und Persien, oder in der europäischen Renaissance &mdash;
-eingerechnet die Vorstufen, byzantinische wie maurische, romanische wie
-gotische &mdash; überall sind die kurzen Epochen höchster künstlerischer
-Kultur erst dann reinlich hervorgetreten, wenn sich durch Kriegs-
-oder Handelszüge verschiedene Volksstämme oder Nationen innig
-miteinander befaßt und neue Staats- oder Standesformen, Herrschafts-
-oder Gesellschaftsklassen durch Mischheiraten angebahnt hatten. Sogar
-bei den verschollenen amerikanischen Kulturen ist von der Forschung
-festgestellt, daß die großen Tempel der Azteken und Inka erst nach
-langwierigen Eroberungskämpfen zwischen<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span> diversen indianischen Rassen
-entstanden. Und heute, wo sich in Nordamerika aus dem allgemeinen
-Menschmansch, wie Sie zu sagen belieben, eine neue weiße Rasse langsam
-herausschält: erst heute zeigen sich dort auch die Anfänge einer
-spezifischen Yankeekunst, recht respektabel bereits in der Poesie und
-in der profanen Architektur, passabel auch in der Malerei. Nun aber
-gar das moderne Europa! Woher denn auf einmal seit etwa 50 Jahren
-die Hochflut aller möglichen neuen oder doch neu-sein-wollenden
-Kunstrichtungen, von Skandinavien und Rußland bis Frankreich und
-Spanien?! Sollte es blos ein Zufall sein, was auch hier wieder
-unverkennbar vorausging: die Durcheinanderwürfelung aller Nationen
-durch die Napoleonischen Kriege, die Entfesselung internationaler
-Tendenzen durch Handel, Industrie und Technik, die enorme Steigerung
-des Völkerverkehrs durch die Eisenbahnen und andre Transportreformen,
-und zu alledem noch als wahrer Rassenextrakt eine Fülle nie dagewesener
-Mischungsversuche durch die Emanzipation der Juden!</p>
-
-<p>D. J. M. Sieht ja ungeheuer verführerisch aus, Ihre Destille von
-Menschenblut. Aber wissen Sie: Kunstrichtungen, unter uns gesagt,
-das sind doch wohl eigentlich immer die Künstler. Na, und <em class="gesperrt">die</em>
-Künstler, die Richtung machen, das sind eben die paar urigen Kerls,
-die sozusagen noch koscheres Blut genug haben. Sehn Sie sich doch
-mal selber im Spiegel! Haben ’ne richtige deutsche „Schusterneese“.
-Brauchen mir garkeine Flappe zu machen; Goethe hatte auch solchen
-Zinken.</p>
-
-<p>D. D. D. Und hatte außerdem Augen und Lippen, wie man sie sonst nur an
-italiänischen Frauen sieht.</p>
-
-<p>D. J. M. Sie, sagen Sie das blos nicht zu laut! Sonst steigen Ihnen die
-Deutschen aufs Dach.</p>
-
-<p>D. D. D. Wie kommt es denn aber, daß die Deutschen, solange sie
-„sozusagen noch koscheres Blut genug“ hatten, also längstens bis etwa
-zur Zeit Karls des Großen, keinen einzigen<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> namhaften Dichter gezeitigt
-haben, von anderen Künsten garnicht zu reden! Wo doch die Griechen
-schon vor der geschichtlichen Zeit mit Amphion, Eumolpos und Musäos,
-Orpheus, Homer und Hesiod paradieren. Sind das auch nur fingierte
-Namen, so beweisen sie doch das Volksbedürfnis nach vorbildlichen
-Kulturpersonen; nämlich die Griechen hatten sich damals schon mit
-allerhand fremdem Volk gemischt, von Illyrien bis Asien und Ägypten.
-Und wie kommt es, daß all die winzigen Rassen, die wir heute noch
-wirklich rein nennen dürfen, entweder weil sie von Hause aus keine
-Anlage zur Vermischung hatten, vielleicht auch blos keine Gelegenheit,
-oder weil sie erstarrte Mischrassen sind, also die sogenannten wilden
-Völker &mdash; vom Pescheräh bis zum Eskimo, vom Australneger bis zum
-kapländischen Buschmann, vom indischen Paria bis zum Sioux-Indianer &mdash;
-gar kein Kulturgenie im Leibe haben, geschweige hohe Kunstbegabung?</p>
-
-<p>D. J. M. Na, Sie! das liegt doch klar auf der Hand. Wo alles die reine
-Unzucht ist, kann keine reine Zucht draus werden. Natürlich muß mal
-erst Mischung kommen, damit sich die bessere Rasse selbst auskennen
-lernt&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>D. D. D. und dann dieselbe reine Unzucht weiter treibt?</p>
-
-<p>D. J. M. Nein, Sie müssen mich nicht für’n Bählamm halten. Natürlich
-kapert sie dann allmählich auch die besseren Elemente der andern Rasse.</p>
-
-<p>D. D. D. Sehr richtig! Was ich vorhin schon sagte.</p>
-
-<p>D. J. M. Nanu? Das ist doch nichts allgemein Menschliches! Allgemein
-menschlich ist leider Gottes, daß sich auch schlechte Elemente mit
-einmischen.</p>
-
-<p>D. D. D. Das würde ich lieber allgemein hündisch nennen.</p>
-
-<p>D. J. M. Auch recht! Meinethalben! Sie müssen’s ja wissen. Sie sind ja
-wohl auf Erotik geaicht.</p>
-
-<p>D. D. D. Ja; von den Rasseschweinen nämlich. Eigentlich kommt mirs auf
-bessere Leser an.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span></p>
-
-<p>D. J. M. Na, sein Sie nur friedlich! Ich meinte ja grade: wenn der
-viehische Kuddelmuddel zu doll wird, dann gibts eben so’n paar bessere
-Menschen, wie die richtigen Künstler doch wohl sind, und in denen muckt
-was dagegen „uff“. Was muckt denn da uff, Sie Mann mit’s Talent? Doch
-wohl das Tröpfchen stärkere Rasse, das Sie noch irgendwo im Gemächte
-haben! Das nenne ich Reaktion der Persönlichkeit <em class="gesperrt">gegen</em> das
-allgemein Menschliche! Da zeigt sich eben die reine Natur!</p>
-
-<p>D. D. D. Schön; immerhin sind wir schon einig darüber, daß man mehrere
-Rassen im Blut haben muß, damit sich eine davon als die stärkere fühlen
-und mit ihrer „reinen Natur“ hervortun kann. Aber nun bitte, sagen
-Sie mal: es ist doch eine sehr seltsame „Reaktion“, daß z. B. Sie
-enragierter Jude die norddeutsche Landschaft samt ihrem Volksschlag,
-von Hamburg bis hinter Amsterdam, mit solcher natürlichen Kraft gemalt
-haben, wie bis jetzt noch kein holsteinscher oder friesischer Künstler.
-Warum hat denn Ihre Persönlichkeit, will sagen Ihre reine Natur, nicht
-lieber semitisch reagiert? Und warum hat z. B. der Holländer Rembrandt
-so wenig germanisch reagiert, daß er seine Motive und Modelle mit
-Vorliebe aus dem Judenviertel nahm?</p>
-
-<p>D. J. M. Ja wissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll: das hab ich mich
-auch schon manchmal gefragt. Auch warum ich blos blonde Weiber liebe.</p>
-
-<p>D. D. D. Das ist nicht so sonderbar, wie es scheint; grade die
-sogenannten Kulturrassen sind seit jeher auf Weiberraub ausgegangen,
-offenbar weil eben nur durch Blutmischung Kultur entwickelt und
-fortgepflanzt werden kann. Übrigens ist Ihre Judith doch dunkelhaarig,
-wenn auch keineswegs von semitischem Typ.</p>
-
-<p>D. J. M. Na, solch Biest, das soll man doch eben nicht lieben! das kann
-man meinthalben vor Haß bewundern!</p>
-
-<p>D. D. D. Ja, und sehn Sie, mir gehts grade umgekehrt:<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span> Ich stamme aus
-durchweg blauäugigen und überwiegend blonden Familien und liebe die
-dunkeln jüdischen Frauen. Ich finde bei keiner andern Art Weib so viel
-hellen Geist mit seelischer Glut verbunden. Es gibt ja freilich auch
-da böse Kreuzottern und allerhand gute Gänse und Schäflein; aber die
-besseren sind doch geborene Heldinnen, Richterinnen und Priesterinnen,
-um nicht zu sagen Göttinnen.</p>
-
-<p>D. J. M. Sie, jetzt schwärmen Sie aber, weiß der Herrgott, wie’n
-erotischer Muselmann!</p>
-
-<p>D. D. D. Oder vielleicht, von christlichem Standpunkt betrachtet,
-wie ein heroischer Jesuit &mdash; blos daß ich keine himmlische Jungfrau,
-sondern möglichst viel irdische Musterweiber züchten möchte. Und da
-dürfte ein bißchen Menschenliebe doch vielleicht etwas fruchtbarer sein
-als der beliebte Rasseninstinkt, der sich meistens doch recht zuchtlos
-geberdet und in der Regel nur als Vorwand dient, um den gemeinen
-Menschlichkeiten des Hasses und Neides nach Willkür zu frönen.</p>
-
-<p>D. J. M. Nun, bei Licht besehn, wird wohl jeder Künstler auf <em class="gesperrt">die</em>
-Art Modelle versessen sein, die seinen Instinkt am kräftigsten auf sein
-Talent hindirigiert, also aufs rein Persönliche.</p>
-
-<p>D. D. D. Und seine Phantasie aufs allgemein Menschliche; um nicht zu
-sagen Göttliche.</p>
-
-<p>D. J. M. Ach was, Phantasie ist doch keine Kunst! Phantasie ist immer
-blos Notbehelf.</p>
-
-<p>D. D. D. Sie wollen wohl sagen: <em class="gesperrt">noch</em> keine Kunst, und auch
-blos immer ein Notbehelf! wie <em class="gesperrt">jeder</em> naturelle Impuls bloßer
-Notbehelf zur Kunstschöpfung ist, z. B. auch der Rasseninstinkt.
-Kunst ist eben nur als Kulturprodukt schätzbar; und als solches will
-sie uns seelische Reize, die von Natur stets sehr mannichfaltig und
-herz-und-sinneverwirrend sind, in geistig beherrschter Einheit zeigen.</p>
-
-<p>D. J. M. Na ja, das ist ja wohl selbstverständlich. Aber sein Sie mal
-wieder ’n Moment lang stille; Sie nickköppen im<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span>mer, wenn Sie reden.
-Ihre Nase ist doch nicht ganz so einfach, wie sie von vorne besehen
-aussieht. Von links, das ist ja freilich wahr, ists ’ne richtige
-brave Schusterneese; aber von rechts, da könnte sie ebensogut einen
-spanischen Torero zieren, oder ’nen polnischen Insurgenten, oder sonst
-so’was Mannichfaltiges ..... So, bitte: phantasieren Sie weiter!</p>
-
-<p>D. D. D. Mit der Nase, das wird wohl daran liegen, daß sie nicht mehr
-ihre natürliche Form hat; sie ist mir mehrmals in meiner Studentenzeit
-auf der Mensur zerhauen worden. Aber das soll ja wohl ebenfalls ein
-germanisches Rassemerkmal sein.</p>
-
-<p>D. J. M. Sie, nun ulken Sie mal gefälligst nicht! Ich bin wirklich
-gespannt, ob Sie leugnen wollen, daß jedes Volk einen eignen Stil
-produziert; und den machen doch wohl die einzelnen Künstler, wenn
-auch jeder daneben noch seine aparte persönliche Manier kultiviert.
-Übrigens, unter uns gesagt, imponiert mir die primitive Kultur von
-irgend so’nem Kaffernstamm verhältnismäßig millionenmal mehr als unser
-europäischer Knaatsch; so’n Maori oder Botokude hat im kleinen Finger
-mehr Stilgefühl, als der ganze Michelangelo mitsamt der Sixtinischen
-Kapelle.</p>
-
-<p>D. D. D. Verhältnismäßig ist das auch meine Meinung; nur taxiere ich,
-scheint’s, die Verhältnisse anders. Zunächst ist Volk und Rasse doch
-wohl Zweierlei. Jene Volkshorden, die noch reinrassig sind, haben’s
-leicht, einen reinen Stil zu bewahren, nicht wegen ihrer reinen Rasse,
-sondern bei ihren beschränkten Bedürfnissen, und weil wiegesagt in
-rein bleibenden Rassen die Nötigung zur Entwickelung ausbleibt.
-Lassen Sie solch ein simples Völkchen mit irgend einer Kulturnation
-in nähere Berührung kommen: was geschieht? Sofort entsagt es seinem
-natürlichen Stilgefühl und behängt sich mit importiertem Tand, genau
-wie der Bauer bei uns mit Stadtkram. Warum denn, trotz allem reinen
-Instinkt? Doch wohl nur aus der<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> dumpfen Empfindung heraus, daß ihm
-da, im großen Ganzen genommen, etwas wesentlich Wertvolleres zuteil
-wird; blos vermag seine Unbildung nicht zu erkennen, daß es an ihm ein
-wertloses Einzelnes wird, zu seinem Wesen Unpassendes. Sehr Ähnliches
-aber vollzieht sich auch in den gebildeten Schichten der großen Völker,
-die wiegesagt durch Rassenmischung und andre natürliche Nötigungen in
-einer fortwährenden Entwickelung ihrer kulturellen Bedürfnisse leben.
-Da wird grade selbst das genialste Talent, weil es den geistigen Bedarf
-seiner Zeit bis in alle Seelengründe begreift, immerfort zwischen
-überlieferten und erst entstehenden Formtrieben pendeln, wird also wohl
-niemals im einzelnen Werk ein ganz vollkommenes Gleichgewicht zwischen
-traditionellem Stil und individueller Manier herstellen. Was soll uns
-da noch der Aberglaube, daß irgend ein besonderer Volksgeist diese fort
-und fort wechselnden Stile erzeugt, oder gar eine Extra-Rassenseele?
-Grade die Ornamentik der wilden Rassen zeigt ja sogar in getrennten
-Erdteilen eine oft auch Kenner täuschende Gleichförmigkeit; und die
-Stile der Kulturnationen sind nirgends blos in Einem Land, sondern
-jedesmal zu gleicher Zeit bei mehreren Völkern Brauch gewesen. Daraus
-folgt einerseits: Stil entsteht aus einem allgemein menschlichen
-Anpassungstrieb an bestimmte neue Lebensbedingungen, der sich am
-schnellsten, stärksten und deutlichsten eben immer in den Künstlern
-regt. Und andrerseits, mein verehrter Mitmensch: die stilistische
-Mißgeburt eines Michelangelo ist millionenmal wertvoller für die
-künftige Menschheit, d.&nbsp;h. geistvoller, seelenvoller, formvoller, als
-selbst die vollkommenste Tätowierung eines melanesischen Malermeisters.</p>
-
-<p>D. J. M. Na ja selbstverständlich; alles was recht ist. Aber sagen Sie
-mal: hab ich Ihnen schon mal meine kleine Sammlung Nanking-Porzellan
-gezeigt?</p>
-
-<p>D. D. D. Ja; es sind kostbare Stücke darunter.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span></p>
-
-<p>D. J. M. Wunder! Hat auch ein kostbar Stück Geld gekostet. Aber was ich
-eigentlich sagen wollte: kennen Sie auch alte Delfter Fayencen?</p>
-
-<p>D. D. D. Einigermaßen; und nun soll ich wohl eingestehen, der Holländer
-hab’s dem Chinesen nachmachen wollen und wegen seiner Rasse nicht
-fertig gekrigt?</p>
-
-<p>D. J. M. Ach was, Blech! Fayence ist natürlich kein Porzellan. Aber daß
-er bei der Nachmacherei ganz was Anderes aus den Mustern gemacht hat,
-was in seiner Art ebenso kostbar ist, und daß nachher, als die Delfter
-Muster dann in Japan weiter nachgemacht wurden, ditto was Anderes draus
-geworden ist &mdash; was sagen Sie <em class="gesperrt">dazu</em>, Sie deutscher Dichter?!</p>
-
-<p>D. D. D. Darauf könnte ich erstens erwidern, daß es japanische
-Ornamente genug gibt, die man für holländische oder chinesische
-ansprechen würde, wenn man ihren örtlichen Ursprung nicht wüßte oder
-aus Nebenumständen erriete. Wie man z. B. auch das Buch Ruth, wenn
-es nicht in der Bibel stünde und hebräische Nomenklatur an sich
-trüge, für ein wahres Schatzkästlein altdeutscher Treuherzigkeit,
-Rechtschaffenheit und Innigkeit ausgeben dürfte. Und der im Schädelbau
-sehr germanische Schiller könnte nach seinem gesamten Sprachbau viel
-eher ein Landsmann von Racine, Rousseau und Victor Hugo sein, als
-von Hans Sachs, Grimmelshausen und Heinrich v. Kleist. Überhaupt:
-wenn man ohne Vorurteil nachprüft, beruht die ganze Beweismethode
-der rassendogmatischen Kunstgeschichte auf dem bekannten Fehlschluß
-<span class="antiqua">post propter</span>, oder sogar blos auf Tautologie. Eine konstant
-gewordene Verbindung gewisser Eigenschaften benamst man „Rasse“, und
-im Handumdrehn wird dann die Benamsung zur innersten Ursache dieser
-Konstanz und womöglich auch noch der Eigenschaften; also etwa wie nach
-Onkel Bräsig die große Armut der kleinen Leute von der großen Povertee
-herkommt.</p>
-
-<p>D. J. M. Dadurch wird aber die Konstanz doch bestätigt,<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span> die Tatsache
-des Rassencharakters. Freilich gibts überall Ausnahmen; die beweisen
-aber bekanntlich die Regel.</p>
-
-<p>D. D. D. Wenn sie nicht etwa auf anderweite, minder bekannte Regeln
-hinweisen! &mdash; Und deswegen möchte ich zweitens einwenden: weil Fayence
-„natürlich kein Porzellan“ ist, und weil der menschliche Kunstsinn aus
-zweierlei Stoff natürlich auch zweierlei Formen entwickelt, deswegen
-hat sich den Delfter Töpfermeistern trotz ihrer asiatischen Vorbilder
-schließlich von selbst ein neuer Stil aufgedrängt. Aber nicht blos
-deswegen allein, sondern jetzt will ich drittens gern zugeben: wenn ich
-auch nicht an einen beständigen Volksgeist auf Grund einer Rassenseele
-glaube, so doch an bestimmte zeitweilige Volksbedürfnisse, die sich
-auf die verschiedensten Ursachen, ideelle wie materielle, zurückführen
-lassen, z. B. moralische, religiöse, politische, ökonomische,
-klimatische, territoriale. Es wird noch viel zu wenig beachtet, und
-selbst Taine hat es nicht bis zu Ende gedacht, was Himmel und Erde,
-Luft und Licht, Landschaft und Witterung, Arbeit und Müßiggang,
-Reichtum und Armut, Freiheit und Knechtschaft aus der Menschenseele
-machen. Man verpflanze ein paar Millionen Britten nach Spanien und
-pferche sie in die katholische Kirche, und in 100 Jahren schon wird ihr
-Rassecharakter bis zur Unkenntlichkeit verwandelt sein; die Assyrer,
-Babylonier und Römer haben ja diese Art Politik an den Juden recht
-gründlich praktiziert. Aber auch im Gebiet seiner Heimat verändert der
-Mensch fortwährend den Erdboden, und der Boden rückwirkend ihn; wo
-einst Urwald war, ist heut Gartenland, oder wo Gärten waren, Wüste.
-Das geht freilich beträchtlich langsamer vor sich, als die seltene
-plötzliche Volksübersiedlung in ein ganz neues Wohngebiet; und da auf
-beständigem Heimatsboden auch die kulturelle Tradition beständiger
-bleibt, daher scheint das jeweilige Volksbedürfnis den Zeitgenossen
-so wunderbar urwüchsig, als stamme es von einem besondern, durchs
-Blut vererbten Rasseninstinkt. So mag<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span> denn mancher Stil in der Tat,
-obgleich auch er nur dem menschlichen Anpassungstrieb einiger weniger
-Künstler entsprang, einem alten Volksbedürfnis entsprechen. Ich sage
-absichtlich: mancher Stil, d.&nbsp;h. durchaus nicht all und jeder, der
-nachträglich eine populäre oder nationale Geltung erlangt. Denn in dem
-Kunstbedarf der Kulturnationen sind zwei sehr verschiedene Arten Kunst
-begehrt; da ist einerseits die große Masse &mdash; aber ich glaube, ich
-langweile Sie!</p>
-
-<p>D. J. M. O bitte, wieso denn! Ich male ja. Und Ihr Mund sieht allemal
-sehr forsch aus, wenn Sie sich so für die Menschheit aufregen. Sie
-sollen mal sehn, Ihr Porträt wird gut.</p>
-
-<p>D. D. D. Also einerseits, wollte ich sagen, die große Masse der
-allgemeinen Gebrauchsgegenstände, vom kleinsten Topf bis zum ganzen
-Wohnhaus: deren Formung unterliegt in der Tat mit ziemlicher
-Dauerhaftigkeit der populären Tradition. Und weil hier die Form ganz
-überwiegend von körperlichen Bedürfnissen abhängt, so mag dabei auch
-die physische Rasse einigermaßen merklich mitwirken, wenigstens in
-reinrassigen Völkern, oder wo vielleicht eine ältere Mischrasse noch
-die Oberhand hat über jüngeres Mischvolk, wie z. B. in Rußland und
-in Teilen von China. Ich freilich möchte auch das bezweifeln; denn
-wenn wirklich irgend eine Art Formtrieb auf spezifischem Rassetalent
-beruhte, dann wäre völlig unbegreiflich, wieso dieser Trieb in manchem
-Volk abstirbt, trotzdem die Rasse im Volke noch fortlebt. Wie kurzlebig
-war die Kultur der Hellenen, und doch gibt es heute noch griechische
-Bauern genug, deren Körperbau ganz den antiken Typ hat!</p>
-
-<p>D. J. M. Blos leider mit türkischem Blut verkleistert! Und schließlich
-wird Jeder mal altersschwach.</p>
-
-<p>D. D. D. Das sagt man ja freilich auch Völkern nach, und es würde
-vielleicht sogar ganz vernünftig sein, wenn wirklich jeder Grieche von
-heute schon als Greis aus dem Mutterleib<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span> käme. Aber dem Rassenelement
-soll doch seelische Urkraft innewohnen; und seit wann werden Urkräfte
-altersschwach? Der Kunsttrieb in einem Tizian ist erst zugleich mit
-ihm selber gestorben! Er hat mit 99 Jahren gewiß nicht mehr wie als
-Jüngling gemalt, aber gemalt hat er bis zuletzt.</p>
-
-<p>D. J. M. Ja gewiß! Sehn Sie wohl! Was hab ich gesagt? Der war eben
-nicht vermuselmanscht!</p>
-
-<p>D. D. D. Na, wer weiß! Venedig lag nicht so weit von den Harems. Und er
-soll ja, unter uns gesagt, ein halb Dutzend Gattinnen totgeliebt haben;
-mehr dürfte wohl auch kein Türke leisten! &mdash; Doch Spaß beiseite, und
-Schutt auf die Griechen! Aber die Araber und die Perser, die noch bis
-in die Renaissance hinein selbständige Kulturformen schufen und sich
-seitdem nicht mehr so reichlich wie früher mit anderen Rassen gekreuzt
-haben, sind heute gleichfalls barbarisiert. <em class="gesperrt">Es sind wirtschaftlich
-verlotterte Völker, infolge der Unzulänglichkeit ihrer humanen Ideale,
-denn die rächt sich stets auch sozialpolitisch.</em> Solche Völker
-vermögen dann nicht einmal in den gewöhnlichsten Kunstgewerben ihre
-stilistische Tradition auf alter Höhe zu erhalten, geschweige daß sie
-die andre Art Kunst, die aus rein seelischen Bedürfnissen stammt,
-noch irgendwie schöpferisch betreiben. Und nun die Hauptsache: diese
-andre Art Kunst weist wiederum zwei durchaus verschiedene, zwar
-sinnlich vielfach verbundene, aber geistig ganz gesonderte Spielarten
-auf: die der Unterhaltung und die der Erhebung. Mag sein, daß die
-<em class="gesperrt">unterhaltenden</em> Künste, die ja die eigentlich populären sind,
-noch Rückschlüsse auf die Rasse erlauben, zwar kaum des Künstlers,
-doch vielleicht seiner Kundschaft. Denn auch diese Künste wurzeln
-noch halb im Gewerbe, vom Volkslied der alten Bänkelsänger bis zum
-modernen Familienroman, vom Nationaltanz bis zur Salon-Akrobatik,
-vom Rüpelspiel bis zum ehrsamen Rührstück, vom ungeschlachten
-Jahrmarktsbild bis zum allerleckersten Eßzimmer-Stillleben. Sie hängen<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span>
-direkt vom Bedürfnis des Alltags ab, sie betreiben den Zeitvertreib
-als Geschäft, sie behandeln das sinnliche Leben als Selbstzweck, sie
-müssen gemeinverständlich sein, sie zielen mit einfachsten geistigen
-Reizen auf körperliche Erregungen, auf Augenweide und Ohrenschmaus,
-auf Zwerchfell- und Tränendrüsenkitzel, auf Herz- und Nieren- und
-Rückenmarksgruseln; also wird ihre Form wohl auch zum Teil von
-denselben Naturkräften mitbestimmt, die dem menschlichen Körper den
-groben Stempel einer beständigen Rasse aufdrücken.</p>
-
-<p>D. J. M. Na, was Andres hab ich doch niemals behauptet!</p>
-
-<p>D. D. D. Nun aber die freieren, reineren Künste, die ich vorhin die
-<em class="gesperrt">erhebenden</em> nannte, weil sie höher hinauswollen als das sinnliche
-Dasein: was hat der Volkskörper damit zu schaffen? Er dient ihnen
-höchstens als Mittel zum Zweck; hier herrscht ganz und gar nur die
-Schöpfermacht der begeisterten und begeisternden Seele. Diese Künstler
-bewerben sich nicht um Volksgunst, sie betreiben das innere Wachstum
-der Menschheit. Da will der Geist die Nerven des Leibes nicht blos
-mit flüchtigen Reizen liebkosen, sondern innigst mit seinem Liebreiz
-befruchten, bis in die feinsten Gehirnzellenfasern, die kein Vivisektor
-je auskennen wird, weil immer noch welche nachwachsen werden. Da
-empfängt die Form kaum noch indirekt von der populären Tradition ihren
-Stil; denn das durch und durch Maßgebende ist da eben die befreiende
-Leidenschaft, die neues Menschentum schaffen will, dieselbe göttliche
-Leidenschaft, aus der auch die religiösen Visionen, die sozialen und
-nationalen Phantome, kurz alle Ideale entspringen. Sie tritt immer
-zuerst nur im Einzelgeist auf, ist nie und nirgends dem Volk gleich
-willkommen, muß überall erst im Kampf mit der Welt ihre rätselhafte
-Kraft erweisen, die an jedem Widerstand wächst und reift. Ja, sie
-stammt sogar aus dem Widerstand: aus dem Zwiespalt zwischen Mensch und
-Natur, den die Kultur über<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span>brücken möchte, und der sich im schaffenden
-Einzelgeist als Konflikt mit den Masseninstinkten auftut. Oder meinen
-Sie etwa, daß Ihre Judith, an der Sie sich Jahrelang abgequält haben,
-sofort begeisterten Zuspruch fände, wenn Ihr verehrliches Publikum aus
-lauter koscheren Juden bestünde?</p>
-
-<p>D. J. M. Gott der Gerechte! Dann doch schon lieber aus lauter
-gemischten ollen Hellenen.</p>
-
-<p>D. D. D. Ja, die hättens Ihnen erst recht gesteckt; den Phidias
-wenigstens haben sie wegen Gottlosigkeit aus Athen weggegrault, und
-der Äschylos wurde so kujoniert, daß er ebenfalls ausgewandert ist.
-Die deutschen Schulmeister sind zwar der gütigen Meinung, daß jeder
-Spießbürger von Athen ein Zeitgenosse des Perikles war und begeistert
-in die Tragödie ging; er ging aber hin, weil’s Staatspflicht war,
-weil ihm das Eintrittsgeld ausgezahlt wurde, weil er den berühmten
-Obolus krigte, durch den ein paar raffinierte Patrizier die primitive
-Kirmeßbühne zur sozialpolitischen Anstalt entwickelten. Begeistert
-war man vielleicht für den Chortanz, für die bachantische Satyrposse,
-für die religiösen Prozessionen, und was sonst noch an festlichem
-Schaugepränge mit dem Drama seit Alters zusammenhing. Begeistert war
-man für alle Gymnastik, wie mans heute für Zirkus und Variété ist,
-oder in Spanien fürs Stiergefecht. Das Volk begeistert sich immer blos
-für <span class="antiqua">panis et circenses</span> von selbst; das war im antiken Athen und
-Rom ganz wie im modernen Paris und Madrid. Die Plebs will sich einfach
-delektieren; zwar möglichst variabel, doch immer simpel. Das Erhabene,
-wenn es nicht altersgrau war, beschmiß der athenische Bildungspöbel
-mit genau solchem kritischen Schnodderwitz, wie heute der berlinische;
-Beweis die Aristophanische Posse, die diesen Witz mit genialer
-Selbstironie in die poetische Sphäre erhob. Die Kunst des geläuterten
-Menschengeistes, die sich aus instinktiven Konflikten zu ästhetischen
-Harmonieen hinaufringt, liegt ursprünglich stets nur im Bedürfnis
-kompli<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span>zierter Persönlichkeiten, schon dem Wesen der Motive nach; sie
-wird überall erst durch die Liebhaber dem Volksgeschmack allmählich
-vermittelt, und mit gründlichem Erfolg nur dann, wenn die Vermittler
-zur herrschenden Klasse gehören oder sonstwie in Amt und Würden
-sitzen, z. B. auf dem Schulmeisterthron. An Ihrer Judith hat sichs ja
-deutlich gezeigt; wer sieht denn da heute das geistige Pathos hinter
-der sinnlichen Attitüde? Selbst der gebildete Durchschnittskenner hat
-einstweilen noch keine leise Ahnung von dem allgemein menschlichen Wert
-dieser Geste; er besieht sich den naturalistischen Akt.</p>
-
-<p>D. J. M. Ist mir ja ungemein schmeichelhaft alles; aber eigentlich
-muß ich ehrlich bekennen, ich hatte selber noch keine Ahnung davon.
-Ich denke beim Malen an nichts Allgemeines, ich will immer was ganz
-Besonderes machen. Sie sehn doch, ich zeichne hier Ihre Visage, und Sie
-reden das Blaue vom Himmel herunter. Kommt mir ja alles sehr gottvoll
-vor, und mein sogenannter Menschengeist denkt sich ja auch allerlei
-dabei; aber bilden Sie sich nun faktisch ein, davon soll was auf Ihr
-Porträt abfärben? Ich sage Ihnen, <em class="gesperrt">die</em> Sorte Geist hat mir noch
-keinen Bleistiftstrich machen helfen!</p>
-
-<p>D. D. D. Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Aber Ihre Kohlenskizze
-da würde doch vielleicht etwas anders ausfallen, wenn ich hier stumm
-wie ein Fakir säße oder tragische Verse deklamierte.</p>
-
-<p>D. J. M. Alles was recht ist: Sie döppen mich wirklich gut.</p>
-
-<p>D. D. D. Man weiß nämlich nachträglich nie so genau, was man bei jedem
-Bleistiftstrich denkt. Ich habe Sie übrigens im Verdacht, Sie legen’s
-drauf an, sich döppen zu lassen; dann wäre also <em class="gesperrt">Ich</em> der Gedöppte.</p>
-
-<p>D. J. M. Ja, eigentlich gehts ja auf keine Kuhhaut, was einem beim
-Malen so durch den Grips geht. Ich hab’s auch<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> wahrhaftig schon immer
-gesagt: ich pfeiff aufs Geschäft, ich bin Idealist!</p>
-
-<p>D. D. D. Das ist wohl schließlich jeder Künstler, und sogar jeder
-echte Kunsthandwerker, auch wenn er nicht so laut pfeifen kann. Und
-das allein schon beweist zur Genüge, wie wenig im Grunde das Talent
-mit einer bestimmten Rasse zu tun hat. Der Rasseninstinkt, wenn er
-ehrlich ist, hat ja nicht das mindeste Interesse an irgend einem
-Ideal, das über die Reinrassigkeit hinausgeht; das ist ihm ja gradezu
-gefährlich. Selbst schon das nationale Ideal, das sich vielleicht noch
-am ehesten auf primitive Instinkte stützt, muß seinem politischen
-Wesen nach von Hause aus darauf bedacht sein, sich mit <em class="gesperrt">mehreren</em>
-Rassen abzufinden; denn es gibt kein einziges Staatsgebilde, dessen
-Volkskörper nicht aus wenigstens zwei verschiedenen Stammvölkern
-aufgebaut ist, aus Eroberern und Unterworfenen. Und nun gar die
-humaneren Ideale; die entstehen doch eben aus der Sehnsucht, uns
-über die rohen Zwangsgewalten der Naturinstinkte hinwegzusetzen,
-und diese Sehnsucht stak schon im simpelsten Schnörkel, mit dem
-der Urmensch an seinem Beilgriff oder am Rand seines Trinkgefäßes
-den Zweck der Notdurft verkleidete. Wenn man also unsern höchsten
-Kulturprodukten wirklich noch Rassenelemente als Formkräfte unterlegen
-wollte, dann könnten es immer nur Mischungsverhältnisse sein, die
-grade den harmonischen Stil in die originale Manier hineinbrächten.
-Denn nur aus vielfachen Blutmischungen ließe sich allenfalls die
-Zeugung jener komplizierten Temperamente erklären, die überhaupt das
-Bedürfnis empfinden, die Dissonanzen, Kontraste und Konflikte ihres
-persönlichen Seelenlebens um der Menschheit willen zu harmonisieren.
-Das gilt sogar von dem populärsten, dem ökonomischen Idealismus,
-den man heute speziell den sozialen nennt; auch dessen Formen und
-Reformen sind ursprünglich immer nur Hirngespinnste von einigen
-wenigen Menschenfreunden, die das Volk bekannt<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span>lich zu kreuzigen
-pflegt, bevor es sie vergöttern lernt. Und wer hat denn die nationale
-Idee, die von Bismarcks Gnaden realisiert und dann von seinen
-Kreaturen zur patriotischen Phrase verpöbelt wurde, dem deutschen
-Michel eingetrichtert? Etliche edle Brauseköpfe des europäischen
-Völkerfrühlings, ein paar Poeten, Philosophen und Legislatoren, durch
-den Tyrannen Bonaparte zu glühender Freiheitsliebe erregt, die von
-den hohen Obrigkeiten so rasch wie möglich abgekühlt wurde, während
-der sogenannte Volksgeist von selber kalte Füße krigte! Lesen Sie nur
-nach, wie die Kleist und Arndt, die Fichte und Schleiermacher, die Jahn
-und Görres ihre Hoffnungen auf Deutschland zu Grabe trugen, wie die
-Scharnhorst und Gneisenau Undank ernteten, wie selbst der Freiherr vom
-Stein und Blücher um den Sinn ihrer Taten betrogen wurden! Oder wenn
-Sie noch mehr Beweise wünschen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>D. J. M. Nein, Gott soll schützen, ich schwitze schon! &mdash; Und
-überhaupt: ich bin nämlich fertig. Die Skizze ist wirklich gut
-geworden. Wenn Sie erlauben, möcht ich jetzt einpacken.</p>
-
-<p>D. D. D. Na, darf man sie denn nicht erst mal sehen?</p>
-
-<p>D. J. M. Ja, wenn sie fertig ist, wissen Sie! Ich wollte blos sagen:
-für heut bin ich fertig. Wenn Sie wieder mal herkommen, mach ich sie
-weiter. Sie ist wirklich nicht schlecht; Sie können mirs glauben! &mdash;
-Na, wenns sein muß: bitte, treten Sie näher!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>D. D. D..... Da scheint unsre Disputation aber doch etwas heftig
-abgefärbt zu haben. Ich sehe ja aus wie’n Federvieh, das Ihr Teckel
-zwischen den Zähnen gehabt hat. Aber ich sag’s ja: schließlich bin
-<em class="gesperrt">Ich</em> der Gedöppte.</p>
-
-<p>D. J. M. Ja, nicht wahr? da merkt selbst ’n Kaffer die Rassenmischung!
-&mdash; Man kann’s auch von weiter weg besehn. „Is ’ne Nummer“, wie sie im
-Zirkus sagen; der reine „Kraftmélange-Akt“!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p>
-
-<p>D. D. D. Mir deucht aber: mehr Mélange als Kraft. Sie wollen’s wohl in
-den Papierkorb packen?</p>
-
-<p>D. J. M. Was? Wieso denn? Sie sind wohl nicht von hier, mein Herr?! Das
-verkauf ich an irgend ein Museum! Sie sollen mal sehn, Sie deutscher
-Dichter: wenn Sie erst in der Nationalgalerie hängen!</p>
-
-<p>D. D. D. Nein, im Ernst: die Skizze scheint mir wirklich mißglückt. Sie
-haben zuviel an mein Geschwätz gedacht.</p>
-
-<p>D. J. M. Ach ja richtig, Sie sind ja nicht fürs Nationale. Und nun
-denken Sie einfach, ich mache Spaß, weil Sie meinen, ich sei ein
-Franzosenschüler!</p>
-
-<p>D. D. D. So einfach pflege ich nicht zu denken.</p>
-
-<p>D. J. M. Na, oder ein allgemein menschlicher Jude! Ich habe doch
-ziemlich deutlich gehört, daß Sie aufs Nationale pfeifen.</p>
-
-<p>D. D. D. Da haben Sie ziemlich vorbeigehört.</p>
-
-<p>D. J. M. Nanu? Sie haben doch deutlich gesagt&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p>D. D. D. daß die Nation keine Kunst erzeugt. Damit ist doch aber
-durchaus nicht geleugnet, daß die Kunst nationalen Charakter annehmen
-kann. Selbst der weiseste Künstler bleibt der Narr seines Mitgefühls.</p>
-
-<p>D. J. M. <em class="gesperrt">Die</em> Logik ist mir etwas zu kringlig.</p>
-
-<p>D. D. D. Nun, es ist doch dieselbe Leidenschaft, dieselbe
-schöpferische Begierde, derselbe göttliche Sinn oder Wahnsinn, woher
-die Menschennatur kulturelle Ideen und die Volksmasse nationale
-Tendenzen empfängt, überhaupt alle irgendwie universalen Illusionen und
-Phantasmen. Es ist immer wieder die ewig gleiche, Ungleiches einende
-Einbildungskraft, die auch im Kunstwerk dem Einzelwesen harmonischen
-Allgemeinwert verleiht; nur die Intressensphären liegen verschieden.
-Warum sollten sich die aber nicht berühren können und unter Umständen
-miteinander verbinden? Vielleicht ist sogar zu gewissen Zeiten die
-eine der andern Nothelferin. Wenigstens zeigt die Ge<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span>schichte der
-Menschheit, daß immer, wenn in den rührigsten Völkern neue humane
-Ideale entstehen, daß dann zugleich auch die nationalen am ungestümsten
-aufbegehren; womit ich natürlich nicht sagen will, daß das nun ewig so
-bleiben muß.</p>
-
-<p>D. J. M. Und da denken Sie also, die beiden Aale verwickeln sich so mit
-den Schwänzen zusammen, daß der Mensch die göttliche Sehnsucht krigt,
-einen einzigen Aal draus zu phantasieren?</p>
-
-<p>D. D. D. Nein, so verwickelt denken wahrscheinlich blos Bandwürmer.</p>
-
-<p>D. J. M. Na, wovon krigt man denn aber den dollen Gieper auf so’was
-allgemein Göttliches? Irgendwovon muß der doch kommen!</p>
-
-<p>D. D. D. Ja, da müßten Sie mir schon wirklich erlauben „das Blaue vom
-Himmel herunter zu reden“. Von der Rasse kann doch wohl lediglich der
-Gieper auf allgemein Tierisches kommen; und von irgend sonstwelchen
-Formationen der irdischen Materie, ob’s nun klimatische Ortsumstände
-oder soziale Zeitumstände sind, werden Sie diese ewige Sehnsucht
-nach harmonischer Umformung der Natur erst recht nicht hinreichend
-ableiten können. Wenn sich die überhaupt noch logisch ergründen und
-mechanisch begreifen läßt, dann müssen wir schon den mystischen
-Äther der Herren Physiker psychisch ausdeuten: unsre Abstammung von
-der Sonnenmaterie, die rhythmodynamische Struktur der kosmischen
-Centralsysteme, die sogenannte Harmonie der Sphären, den Einfluß
-der schwingenden Sternenwelten auf unser eigenes kleines Gestirn,
-all die bewegten siderischen und planetarischen Konstellationen,
-die bis in den Erdball hinein vibrieren und sich als wechselnde
-Innervationspotenzen, als beseelende und begeisternde Kräfte, den
-Erdbewohnern einverleiben. Oder halten Sie’s etwa für Aberglauben,
-daß immer, wenn sich die Menschenwelt zu erhabenen Kraftanstrengungen
-aufrafft, zu Völkerwanderungen, Staats<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span>umwälzungen, Befreiungskriegen,
-Entdeckungsfahrten, Glaubenskämpfen und andern Kulturekstasen, daß dann
-immer zugleich auch in der Naturwelt gewaltige Katastrophen ausbrechen,
-Erdbeben, Springfluten, Wirbelstürme, Heuschreckenschwärme, mikrobische
-Epidemieen, vulkanische Eruptionen und dergleichen, begleitet von
-seltsamen Himmelserscheinungen, ungewöhnlichen Meteoren, Kometen,
-Nordlichtern, Sonnenfinsternissen?!</p>
-
-<p>D. J. M. Da’s faktisch so ist, wird’s wohl so sein. Es rumort ja auch
-jetzt wieder allenthalben.</p>
-
-<p>D. D. D. Und also wird sich wohl auch kein Künstler, selbst wenn er’s
-mit stärkstem Eigensinn wollte, den jeweils zeitbewegenden Kräften,
-die sich als Ideale äußern, entziehen oder verschließen können. Und
-wenn in unserer ebenso stark nationalen wie internationalen Epoche
-ein schöpferischer Geist auf dem norddeutschen Weltteil mit seiner
-reichsdeutschen Staatsbürgerhand allgemein-menschliche Werte malt, und
-zwar aus rein malerischer Lust zur Sache: dann ist er nicht blos ein
-wertvoller Maler, sondern zugleich, auch wenn er ein Jude ist und in
-Paris auf die Schule ging, einer der reinsten deutschen Künstler, die
-sich je in der Nationalgalerie aufhängen ließen.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Der Jüdische Maler</em>: Na sehn Sie, das freut mich! Und offen
-gesagt: das hab ich von Ihnen blos hören wollen!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Der Deutsche Dichter</em>: Oh meine Ahnung! Ich Michel! Sie Schurke!
-&mdash; Das soll wohl heißen, der Mohr kann gehen?!</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Der Maler</em>: Blos, er muß versprechen wiederzukommen! Und das
-nächste Mal, da mal’ich ihn <em class="gesperrt">besser</em>.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Der Dichter</em>: Und ich singe ein Loblied aufs Rassige...</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span></p>
-
-<h2 class="versteckt" id="Schauspiele" title="Schauspiele"></h2>
-
-</div>
-
-<h3 id="Die_Menschenfreunde">Die Menschenfreunde<br />
-<span class="s5">Drama in drei Akten</span><br />
-<span class="s6">Zweite Ausgabe</span></h3>
-
-<p class="s5 center">Copyright 1917 <em class="gesperrt">S. Fischer</em>,
-Verlag.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span></p>
-
-<p class="center padtop3 break-before"><em class="gesperrt">Personen</em>:</p>
-
-<div class="centre-container">
- <div class="centred">
- <div class="item"><em class="gesperrt">Christian Wach</em>, ein Multimillionär.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Justus Wach</em>, sein Vetter, Kriminalkommissar.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em>, Wirtschafterin bei Christian.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Geheimer Sanitätsrat.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Oberbürgermeister.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Oberregierungsrat.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Regierungspräsident.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Ein Minister.</em></div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="regie padtop1"><em class="gesperrt">Alle</em> männlichen Personen treten in schwarzem Gehrock auf,
-die Wirtschafterin in schwarz-und-weißer Schwesterntracht. Der
-Dialog hat <em class="gesperrt">langsames Tempo</em>.</p>
-
-<p class="center mtop2"><em class="gesperrt">Zeit</em>:</p>
-
-<p class="center">Sommer, Herbst, Winter 1913,<br />
-alle drei Akte vormittags.</p>
-
-<p class="center mtop2"><em class="gesperrt">Ort</em>:</p>
-
-<p class="center">Empfangszimmer bei Christian Wach.</p>
-
-<p class="regie padtop1">Sehr einfach ausgestattet, fast dürftig, mit altmodischen
-Möbeln. Nirgends Spiegel noch Bilder; nur in der Mitte der
-Hintergrundswand, über einem halbhohen Bücherbord, hängt das
-Porträt einer älteren Dame mit hageren Zügen und auffälligen
-Augen, lebensgroße verblaßte Photographie. Links im Hintergrund
-Eingangstür, vorn ein schlichter Kamin mit Standuhr. In der
-Seitenwand rechts ein Fenster mit verschossenen Vorhängen; daneben
-ein Lehnstuhl aus dunklem Korbgeflecht und ein kleiner Lesetisch.
-In der Mitte des Zimmers ein größerer runder Tisch mit drei Stühlen
-aus dunklem Holz. Rechts und links immer vom Zuschauer aus.</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span></p>
-
-<h4 class="padtop1" id="Erster_Akt">Erster Akt</h4>
-
-</div>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(sitzt lesend am Fenster, von der Vormittagssonne beglänzt)</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Also auch der Galneggy hat seine Milliarde mit Menschenschinderei
-erworben &mdash; eh er Millionen verschenken konnte &mdash; (<span class="regie">nickt vor sich hin
-und klappt das Buch zu</span>) &mdash; schauerlich! &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(tritt ins Zimmer, einen hellroten Rosenstrauß in der einen Hand,
-in der andern eine weiße Serviette und schlichte blaue Glasvase)</p>
-
-<p>So, Herr Christian, wenn Sie auch schelten, ich gratuliere zum
-fünfzigsten Geburtstag. Kostet nur dreißig Penning bitte; der ganze
-Markt war voll Bauernrosen, ich konnt der Sommerfreude nit widerstehn,
-und dem erquickenden Geruch. (<span class="regie">Sie legt die Serviette auf den
-Tisch, setzt die Vase mit dem Strauß darauf.</span>) Nun machen Sie mal
-ein helles Gesicht, wie sich’s gehört zu den schönen Blumen und dem
-Geburtstagssonnenschein!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(ist aufgestanden und hat das Buch in den Wandbord
-gestellt)</p>
-
-<p>Ich danke dir, Anne, du meinst es gut; aber du weißt, mich peinigt
-solche Verschwendung. Für die dreißig Pfennige hättest du besser einem
-Bettelkind etwas zu essen gekauft.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja, das hätt sich wohl mehr gefreut als Sie. Ach, Herr Christian, geb
-Ihnen Gott ein bißchen Kindersinn zurück! Dann würden Sie bald auch
-wieder gesund werden.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(unruhig hin und her, Kopf gesenkt, Hände auf dem Rücken, in der
-Erregtheit zuweilen stotternd, aber stets mit Zurückhaltung)</p>
-
-<p>Lala-laß das Gerede, ich bin nicht krank; ich spüre blos, daß ich alt
-werde.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Weil Sie nicht auf mich hören, Sie junger Mann. Mich drücken meine
-Jahre nicht; und könnt doch fast Ihre Mutter<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span> sein, mit meinen beinah
-sechsundsechzig. Nehmen Sie sich ein Kind ins Haus, wenn Sie durchaus
-keine Frau nehmen wollen!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Bist doch auch ledig geblieben, alte Anne.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ich &mdash; was wissen denn Sie davon? Blos daß mich leider keiner heiraten
-wollt, mit meinem Huckepack auf’m Rücken; da hab ich halt Kinder und
-Kranke gepflegt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Dein Rücken ist nicht viel krummer als meiner. Was siehst du mich
-wieder so auffällig an?!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja, nehm Ihnen Gott Ihren Huckepack von der <em class="gesperrt">Seele</em>&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(heftig)</p>
-
-<p>Lala-laß mich in Ruhe mit deinem Gott! (<span class="regie">sich bezwingend</span>) sein Reich
-ist nicht von dieser Welt. &mdash; (<span class="regie">Nach dem Porträt hinüberdeutend</span>) Geh,
-stell den Strauß da auf den Sims.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Was! meine Rosen da unter das Bild?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Geh, tu mir die Liebe, ich bitte dich.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Neun Jahre liegt sie nun unter der Erde, und immer noch spukt sie Ihnen
-im Hirn, als hätten Sie Angst vor ihrem geizigen Blick. Das ist ja
-Narrheit, Herr Christian!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, das ist Dankbarkeit, Anne, versteh doch! Du weißt, ich habe seit
-Tante Brigittens T-Tod über das menschliche Elend nachdenken lernen;
-und wenn ich nun die v-vielen Millionen, die sie mir hinterlassen hat,
-nicht grade in ihrem sparsamen Sinne verwende.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Gott sei Dank&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>dann muß ich ihr doch tatsächlich im stillen gewissermaßen Abbitte
-leisten; sozusagen als ihr Scha-Schuldiger, wie’s im Vahaha-haterunser
-heißt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Spotten Sie nicht, Herr Christian! Und meinen Rosenstrauß stell ich
-<em class="gesperrt">nicht</em> da hinüber. Hab ihn auch garnit blos Ihnen zulieb gekauft.
-Wenn nachher die Herrn gratulieren kommen</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Was soll das heißen! ich hab dir ausdrücklich gesagt, daß du niemand
-vorlassen sollst!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Doch nur die Herren von der Regierung; die kann man doch nit vor den
-Kopf stoßen. Und dann muß es hier doch ein bißchen freundlich aussehn.
-Auch ein Fläschchen Tokayer hab ich noch mitgebracht; man muß doch ein
-Gläschen Wein anbieten.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(mit dem Fuß aufstampfend)</p>
-
-<p>Du wirst mich w-wirklich noch krank machen, Anne! Du trägst die
-Faffa-Falasche zum Krämer zurück! (<span class="regie">Da Anne Miene zum Widerspruch
-macht</span>) Du trägst sie zurück! ich will’s, sag ich dir!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Wenn ich Sie damit beruhigen kann &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(wieder durchs Zimmer wandernd)</p>
-
-<p>Wenn ich mir selber keinen W-Wein spendiere, bin ich dem Bürgermeister
-auch keinen schuldig! &mdash; Kannst die Flasche aber für <em class="gesperrt">Dich</em>
-dabehalten. Hast wenig genug vom Leben bei mir.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ihr gutes Herz in Ehren, Herr Christian; ich hab noch nichts entbehrt
-bei Ihnen. Aber trotz all Ihrer Wohltätigkeit: manchmal scheint’s fast,
-die selige Tante hat Ihnen auch was von ihrem Geiz vererbt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Scheint’s fast? Ha-hat sie? Was scheint dir denn sonst noch?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Wenn ich denk, wie Sie früher mitteilsam waren! Der Herr Sanitätsrat
-ist auch der Meinung: wenn Sie ab und zu ein Gläschen sich gönnen
-wollten, das würd Sie wieder umgänglich machen. (<span class="regie">Auf die Bibliothek
-weisend</span>) Ihre Bücher machen Sie blos immer menschenscheuer; Sie
-sprechen ja manchmal Tagelang kein überflüssiges Wörtchen mehr.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Also meine einzige Freude gönnst du mir nicht; die l-letzte, die ich
-mir noch erlaube!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Aber nein, wie Sie reden &mdash; ich mein doch blos: Sie holen sich
-<em class="gesperrt">keine</em> Freude draus. Über Büchern läßt man den Kopf hängen; man
-holt sich blos seine eignen Grillen draus.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(wieder aufstampfend)</p>
-
-<p>Schweig! &mdash; Schweig, sag’ ich dir, ich hab genug! &mdash; Ich hab mir das
-l-l-längst schon selber gesagt; ich werde morgen die Bücher verkaufen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Aber liebster bester Herr Christian!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich <em class="gesperrt">werd’s</em>, sag ich dir!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Jaja doch, gewiß doch. Aber bitte, lieber Herr Christian, quälen
-Sie nicht mich dumme Person; nehmen Sie mir zuliebe Ruh an! Kommen
-Sie, setzen Sie sich in den Lehnstuhl; rennen Sie nicht so herum
-immerfort. Glauben Sie mir, ich kenn Ihre Nerven; wozu war ich denn
-Krankenschwester.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du sollst mich nicht so a-ansehn, Anne!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Kommen Sie, sein Sie nit so verbiestert &mdash; der Herr Sanitätsrat hält’s
-auch nit für gut &mdash; (<span class="regie">nötigt ihn währenddem in den Korbstuhl</span>).
-So, jetzt hole ich Ihnen ein Buch &mdash; (<span class="regie">draußen elektrisches
-Klingelzeichen</span>). O schad, da sind die Herren wohl schon &mdash; nehmen Sie
-Ruh an, Herr Christian &mdash; (<span class="regie">ab nach links</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(allein)</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Schauerliche Komödie &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(läßt zwei Herren eintreten)</p>
-
-<p>Bitte, Herr Oberbürgermeister &mdash; bitte, Herr Oberregierungsrat &mdash;
-(<span class="regie">dann wieder ab.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(hat sich erhoben, weist auf die Stühle am Mitteltisch)</p>
-
-<p>Willkommen, meine Herren, nehmen Sie Platz; was verschafft mir die
-ungewöhnliche Ehre?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p class="regie">(stehen bleibend)</p>
-
-<p>Die Ehre liegt ganz auf unserer Seite, verehrter Herr Kommerzienrat.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(ebenso)</p>
-
-<p>Heute tatsächlich auf unsrer Seite; tatsächlich, Herr Kommerzienrat.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Ich habe den angenehmen Auftrag, Ihnen im Namen der Bürgerschaft
-und der übergeordneten Ratspersonen die ergebensten aufrichtigsten
-Glückwünsche zu Ihrem fünfzigsten Jahrestag auszusprechen. In der
-festen Hoffnung, daß es Ihnen, hochzuverehrender Herr Kommerzienrat,
-noch Jahrzehnte lang beschieden sein werde, Ihre gemeinnützige
-Gesinnung mit unverminderter Kraft zu betätigen, und um die
-Dankbarkeit öffentlich kundzutun, mit der wir zu dem selbstlosen
-Menschenfreund aufblicken (<span class="regie">Christian Wach zuckt merklich zusammen,
-stützt sich auf die Stuhllehne rechts des Tisches</span>) &mdash; zu dem Stifter
-sovieler Wohlfahrts- und Bildungs-Anstalten &mdash;: haben wir einstimmig
-beschlossen, Sie am heutigen Tage zum Ehrenbürger unserer Haupt-
-und Residenzstadt zu ernennen. In Rücksicht aber auf Ihre bekannte
-Abneigung gegen persönliche Celebrationen, glaubten wir Abstand nehmen
-zu sollen von den üblichen Förmlichkeiten, und ich erlaube mir deshalb,
-die Ernennungsurkunde hiermit in denkbar einfachster Form zu Ihren
-Händen gelangen zu lassen. (<span class="regie">Er überreicht ihm eine Rolle und schüttelt
-ihm gewichtig die Rechte.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p>
-
-<p>Im Namen nicht nur der Regierungsorgane, sondern auch Seiner
-Königlichen Hoheit des Großherzogs, darf ich Sie, Herr Kommerzienrat,
-als Erster zu dieser Ernennung beglückwünschen. Seine Königliche Hoheit
-haben zugleich geruht, Ihnen in Anerkennung Ihrer Verdienste um das
-allgemeine Wohl den Kronenorden der obersten Klasse mit der Kette zu
-verleihen. Sie wissen, wieviel Aufmerksamkeit unser gnädiger Herr den
-sozialen Bestrebungen widmet, und daß es mehr als eine Förmlichkeit
-ist, wenn jemand in unserem Staatswesen einen solchen Ansporn zu
-weiterer Betätigung seiner Menschenfreundlichkeit empfängt. (<span class="regie">Er
-überreicht ihm ein Kästchen und verneigt sich.</span>)</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>Meine Herren, ich danke untertänigst. Ich fühle mich in Wahrheit
-beschämt und b-bitte es als einen Beweis meiner Ergriffenheit
-anzusehen, wenn ich diese hu-hu-huldvollen Ehrenzeichen vor dem Bilde
-derjenigen Person niederlege, auf deren wirtschaftliche Tüchtigkeit
-ich meine sogenannten Verdienste zurückführen muß &mdash; (<span class="regie">er legt beides
-auf den Bücherbord unter das Porträt</span>). M-M-Menschenfreunde sind wir
-wohl alle nur, soweit es unsre Selbstsucht zuläßt; und was bedeutet
-ein bißchen Wohltäterei in der ungeheuren W-Wüste des menschlichen
-Elends! Sie hat höchstens den Wert eines Grashälmchens, an das sich die
-Hoffnung klammern kann, daß <em class="gesperrt">mehr</em> Haha-Halme nachwachsen werden.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p>
-
-<p>Also ein vorbildlicher Wert, der immer weiter und höher zunehmen kann,
-und somit der höchsten Beachtung aller Strebsamen würdig.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(sich wieder auf die Stuhllehne stützend)</p>
-
-<p>Ich verstehe, Herr Oberregierungsrat &mdash; und das wird mir ein Ansporn,
-wie Sie gütigst sagten, zu weiterer Betä-tä-tätigung sein; obgleich
-die unverminderte Kraft, von der Sie, Herr Oberbürgermeister, mit
-Ihrer bekannten Freundlichkeit sprachen, leider an die selbstsüchtigen
-Schranken meiner angegriffenen N-N-Nerven gebunden ist. Bitte, wollen
-wir uns nicht setzen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>In Rücksicht auf Ihre werte Gesundheit möchte ich meinerseits
-vorziehen, mich jetzt ergebenst zu empfehlen; nicht ohne dem herzlichen
-Wunsche Ausdruck zu geben, daß es Ihnen bald wieder vergönnt sein
-möge, an den geselligen Freuden Ihrer Mitbürger einigermaßen
-teilzunehmen. Ich habe im Anschluß an die Sitzung, in der wir Ihre
-Ehrung beschlossen, die Ge<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span>legenheit wahrgenommen, einen neuen Verein
-zu gründen, der alle wohlgesinnten Elemente unserer strebsamen
-Landeshauptstadt allmählich konsolidieren soll: die Gesellschaft der
-Menschenfreunde! Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch Sie, verehrter
-Herr Ehrenbürger, demnächst als Mitglied begrüßen zu dürfen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>Außerordentlich schmeichelhaft. Aber verzeihen Herr Oberbürgermeister:
-meine N-Nerven erlauben mir wirklich nicht, an solchen
-m-menschenfreundlichen Sitzungen mit der nötigen Ausdauer teilzunehmen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Nun, wenn auch nicht im Augenblick, es wird uns jederzeit aufrichtig
-freuen, einen so würdigen Mitbürger in unserem Bunde willkommen zu
-heißen. Und deshalb bleibt es mein inniger Wunsch, der allseits
-mitempfunden wird, Ihre baldige Wiederherstellung im engeren Kreise
-feiern zu können. (<span class="regie">Er schüttelt ihm abermals die Hand.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Regierungsrat</em></p>
-
-<p>Ich schließe mich diesem Wunsche an, unbeschadet der hohen Achtung, die
-Ihre stoischen Lebensgrundsätze jedem eifrigen Staatsbürger abnötigen.
-(<span class="regie">Er verneigt sich.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(die Herren zur Tür geleitend)</p>
-
-<p>Ich danke ebenso aufrichtig, meine Herren, und wiederhole die
-ehrer-b-bietige Bitte, auch bei den zuständigen Stellen meinen Dank
-auszurichten. Ich werde wiegesagt bestrebt sein, mich in der „allseits“
-gewünschten Weise nach wie vor zu betä-hä-hä-hätigen. (<span class="regie">Er verneigt
-sich gleichfalls und schließt die Tür hinter ihnen, setzt sich dann
-matt an den Mitteltisch</span>) &mdash; &mdash; Grauenhaft &mdash; &mdash; (<span class="regie">Er nickt vor sich
-hin, blickt zu dem Porträt empor</span>) Du rächst dich gut &mdash; &mdash; (<span class="regie">Es
-klopft, er schrickt auf</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(behutsam näher tretend)</p>
-
-<p>Es ist <em class="gesperrt">noch</em> jemand draußen, Herr Christian.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Was soll das! Untersteh dich nicht&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(verhalten)</p>
-
-<p>Der Herr Justus! Er wollt sich nicht abweisen lassen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Was! Vetter Justus? der Leu-te-tenant?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(wie vorher)</p>
-
-<p>Ja. Das heißt: er ist doch jetzt Polizeikommissar &mdash; (<span class="regie">sie drehn sich
-beide prall um, da die Tür aufgeht</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(tritt gelassen ein, mit einer Aktenmappe unterm Arm)</p>
-
-<p>Du mußt mir schon einmal erlauben&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(während Anne beklommen hinausgeht und die noch offene Tür wieder
-schließt)</p>
-
-<p>Du bist mir natürlich durchaus willkommen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>So? &mdash; Ich erhebe nicht den Anspruch.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun, dann ist deine Aufrichtigkeit mir willkommen. Offne Arme kannst
-du wohl nicht erwarten, nachdem du damals unsern Verkehr, unser
-verwandtschaftliches Band, um Geldes willen zerschnitten hast.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Meinst du? &mdash; Aber du erlaubst wohl, daß ich mich setze. (<span class="regie">Er nimmt
-Platz auf dem linken Stuhl, legt die Mappe auf den Tisch.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Aber natürlich; b-bitte höflichst. (<span class="regie">Sich gleichfalls setzend</span>) Fühle
-mich heute auch etwas matt; ein außerordentlich warmer Tag.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Und obendrein deine Ehrenlast. Alle Zeitungen sind ja wieder des Lobes
-voll. Wird dir allmählich wohl doch etwas drückend?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Darf ich lieber fragen, w-was dich zu mir führt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>O, traust du mir also garnicht zu, daß ich blos die uneigennützige
-Absicht habe, dir auch mal wieder zu gratulieren, dem musterhaften
-Menschenfreund, der mich Schuldenmacher dazu gebracht hat, den
-schrecklichen bunten Rock auszuziehen und ein nützlicher Mitmensch
-in Schwarzgrau zu werden? &mdash; (<span class="regie">Seine Hand auf die Mappe legend</span>)
-Wirklich, ich habe jetzt allen Grund, der rühmlichen Betätigung deiner
-Nächstenliebe dankbar zu sein.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Bitte, laß das; mir sind diese Phrasen peinlich.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Mein Lieber, ich kenne deine Art Ehrgeiz. Du hast schon als Schuljunge
-Äpfel gestohlen, obgleich du dir aus Äpfeln nichts machtest, blos um
-uns Freunde damit zu begönnern und dich an deiner Großmut zu weiden;
-vielleicht auch an deiner Kühnheit und Schlauheit, denn erwischen
-ließest du dich ja nie. Ich habe dich schon damals durchschaut.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>So? &mdash; Meinst du? (<span class="regie">Lächelnd</span>) Nun, vielleicht hast du Recht. Aber
-inzwischen wirst du wohl <em class="gesperrt">auch</em> ein A-A-Andrer geworden sein.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ja, seit neun Jahren ungefähr; dank deiner Betätigung wiegesagt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und hast du dich wirklich nun ausgesöhnt mit deinem b-bürgerlichen
-Beruf?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(legt lächelnd wieder die Hand auf die Mappe)</p>
-
-<p>Ja, seit einem Monat etwa vollkommen. Und einigermaßen auch früher
-schon. Was blieb mir schließlich denn<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span> andres übrig; Schulden konnt ich
-doch keine mehr machen, nachdem du die ganze Erbschaft mir weggefischt
-hattest, kurz bevor ich zum Hauptmann aufrücken sollte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun, ich habe a-auch nicht das werden können, wonach ich als Jüngling
-Verlangen trug; Geld hatte ich ja von Hause aus noch weniger zu
-erwarten als du. (<span class="regie">Auf seine Bücher hinüberweisend</span>) Du weißt sehr
-gut, wie ich drauf brannte, die Sta-taatswissenschaften zu studieren,
-Sozialpolitik, Nationalökonomie, und es sogar ein paar Semester lang
-durchhielt; bis Tante Brigittens harter Kopf mich zwang, mir als
-B-Bankbeamter mein Brot zu verdienen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ja, du warst ihrer Begönnerung würdig. Ich hab ihr die Faust unters
-Kinn gehalten, als sie ihren Mann zu Tode gepeinigt hatte und ihn dann
-einscharren ließ wie einen Bettler, den reichsten Grubenbesitzer des
-Landes; du zogst es vor, ihr die Krallen zu streicheln.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sie hat sich selbst noch viel mehr gepeinigt; du solltest nicht über
-Handlungen urteilen, für die dir jedes M-Mitgefühl mangelt. Und
-notabene: auf ihr Testament konntest du doch im Ernst wohl nicht
-rechnen, nach deiner Gleichgiltigkeit &mdash; ge-l-linde gesagt &mdash; bei ihrem
-lalala-langen Krankenlager.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nein, zum Erbschleicher war ich mir allerdings zu schade. Seit wann
-stotterst du übrigens?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(ist vom Stuhl aufgefahren)</p>
-
-<p>Ich ver-b-bitte mir deine Brutalitäten! &mdash; (<span class="regie">Sich bezwingend</span>) Denkst
-du, es war mir ein Vergnügen, die Launen der alten<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span> ge-l-lähmten Person
-zu ertragen? ihre Heftigkeit, ihre Wutanfälle? dreizehn Jahre lang, Tag
-für Tag!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Nein, das denke ich keineswegs &mdash; bei deiner Art Menschenfreundlichkeit.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(fängt wieder an durchs Zimmer zu wandern)</p>
-
-<p>Und deine Schulden hätt ich dir gern bezahlt, wärst du damit zufrieden
-gewesen, statt mir Millionen abpressen zu wollen, für die ich b-bessere
-Anwendung wußte. Bin auch jetzt noch bereit dazu, falls du nicht
-blos gekommen bist, um mir aufs B-Butterbrot zu streichen, daß du
-dich selber seit einem Monat von deinen Gläubigern befreit hast;
-(<span class="regie">lächelnd</span>) das wolltest du doch wohl andeuten.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nein. Aber ich danke für Gnadenbrocken von deinem Butterbrot, werter
-Vetter.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ja, wozu reibst du dich dann an mir? Und worauf bist du eigentlich
-neidisch? &mdash; Was ha-habe ich denn von all meinem Reichtum? Hat er
-mich etwa davor bewahrt, v-vorzeitig graue Haare zu kriegen? Ich lebe
-wie ein Mönch in der Wüste, und trotzdem ist mein M-Magen krank,
-meine Milz beklommen, mein H-Herzschlag verhaspelt, meine Nerven von
-Schlaflosigkeit zerrüttet&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Dein Gehirn von Gewissensbissen zerfressen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Deinetwegen? &mdash; (<span class="regie">Stehen bleibend</span>) Du dauerst mich&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(steht nun gleichfalls auf, tritt dicht an Christian heran)</p>
-
-<p>Solltest du nie befürchtet haben, daß ein gewisser <em class="gesperrt">Brief</em>
-entdeckt werden könnte?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(weicht unwillkürlich etwas zurück &mdash; dann spottkalt)</p>
-
-<p>Ah, Herr Polizeikommissar&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>In der Tat &mdash; das ist mein Beruf &mdash; mit dem ich mich jetzt vollkommen
-ausgesöhnt habe &mdash; seit einem Monat wiegesagt, als ich in einer
-auswärtigen Chemikalienfabrik &mdash; (<span class="regie">er unterbricht sich, greift nach
-der Mappe</span>) &mdash; aber wollen wir uns nicht wieder setzen? an diesem
-„außerordentlich warmen Tag“? &mdash; (<span class="regie">er nimmt Platz, während Christian
-stehen bleibt und sich fest auf eine Stuhllehne stützt, die er bei dem
-Wort „Chemikalienfabrik“ umklammert hat</span>) &mdash; also als ich in einer
-Chemikalienfabrik einen ungetreuen Buchhalter festnehmen sollte und
-bei Durchsicht der Bureaupapiere zufällig einen Geschäftsbrief fand,
-worin ein gewisser Christian Wach, laut seiner aufgedruckten Adresse
-angeblich Apothekenbesitzer, eine Partie Medikamente bestellt hat,
-darunter auch einige heftige Gifte, etwa fünf Wochen vor dem Tode
-(<span class="regie">auf das Porträt weisend</span>) seiner teuren Erbtante Brigitte. (<span class="regie">Wieder
-die Hand auf die Mappe legend</span>) Hier hab ich das menschenfreundliche
-Schriftstück.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Sehr verbunden für dieses Geburtstagsvergnügen, auf das du dich also
-vier Wochen lang in aller Stille prä-pa-pariert hast.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ja, zufällig ungefähr ebenso lange, wie du dich vor genau neun Jahren
-auf <em class="gesperrt">Dein</em> Geburtstagsvergnügen „präpapariert“ hast.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ja, es gibt spaßhafte Zufälle &mdash; (<span class="regie">es klopft</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(tritt ein und meldet)</p>
-
-<p>Der Herr Geheime Sanitätsrat&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(ihr ohne Umstände folgend)</p>
-
-<p>Ja, Ihrem alten Hausfreund dürfen Sie nicht verwehren, Ihnen heute
-die Glückshand zu schütteln, verehrter Ehrenbürger und Ritter vom
-Kronenorden! &mdash; (<span class="regie">Überrascht</span>) Aber was seh ich? ist’s möglich? Herr
-Justus! &mdash; Pardon, Herr Leutnant, die alte Gewohnheit. Haben sich also
-zur Feier des Tages endlich ausgesöhnt mit dem reichen Herrn Vetter?</p>
-
-<p class="regie">(Anne blickt forschend von einem zum andern.)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(ist aufgestanden, immer eine Hand auf der Mappe)</p>
-
-<p>Schon möglich, Herr Geheimrat; zur Feier des Tages.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(ihm die Rechte schüttelnd)</p>
-
-<p>Na, das freut mich, freut mich; edel sei der Mensch! Haben schließlich
-doch wohl Respekt gekrigt (<span class="regie">mit Verneigung zu Christian hin</span>) vor der
-segensreichen Betätigung.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(aufstampfend)</p>
-
-<p>Kommen Sie auch noch angequäkt mit dieser verfluchten (<span class="regie">absichtlich</span>)
-Be-täterä-tätigung? Das ist ja wirklich zum Krämpfekriegen! Wie kann
-ein Mensch mit etwas Geschmack dies Schandwort auf die Zunge nehmen!
-diesen A-Anschmierer-Ausdruck für alles Getue, das den Namen Tat nicht
-verdient!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Aber mein lieber Kommerzienrat, was haben Sie denn, was erregen Sie
-sich? Denken Sie bitte an Ihre Nerven! Kommen Sie, setzen wir uns
-gemütlich, und geben Sie mir mal endlich die Hand! (<span class="regie">Es geschieht, und
-auch Justus setzt sich.</span>) So &mdash; ja aber, Sie zittern ja, als ständen
-Sie im Staatsexamen. Und was ist denn los mit Ihren Pupillen? Da muß
-ich doch gleich mal Reflexprobe machen. Schwester Anne, holen Sie mal
-einen Spiegel.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(hat inzwischen die Vase mit dem Rosenstrauß unter das Porträt
-gestellt)</p>
-
-<p>Aber nein, Herr Geheimrat wissen doch: der Herr Kommerzienrat will
-keine Spiegel um sich.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(sich an die Stirn tippend)</p>
-
-<p>Ja so &mdash; jawohl &mdash; Moralpsychose; <span class="antiqua">hypochondria stoica</span> sozusagen.
-Na, werde mal morgen genauer vorsprechen, bringe dann meine Lupe mit;
-die wird Ihrem strengen Gewissen nicht wehtun, Sie geschworener Feind
-aller Eitelkeit! &mdash; Was sagen Sie denn zu der neuen Gesellschaft, die
-der Bürgermeister zusammentrommelt? Mich hat er natürlich auch breit
-geschlagen; na, ein bißchen Menschenfreund ist ja Jeder.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich meinesteils bin nicht für Trommelreklame.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Ja, Sie können sich’s leisten, drauf zu pfeifen. (<span class="regie">Aufstehend</span>) Dann
-also bis morgen, werter Freund; muß jetzt weiter zu meinen andern
-Patienten. Bitte Platz zu behalten, Herr Leutnant; wünsche allerseits
-Frieden auf Erden &mdash; (<span class="regie">winkt heiter mit beiden Händen Abschied, und
-Anne begleitet ihn hinaus, während die Vettern sitzen bleiben, Justus
-links am Tisch, Christian rechts</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du scheinst dein Gesicht nicht gern zu betrachten&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(die Arme verschränkend)</p>
-
-<p>Ich habe in der Tat Bessers zu tun.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du kannst ja niemand mehr grad in die Augen sehn.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Glaubst du, Herr Untersuchungsbeamter? (<span class="regie">Er fixiert ihn, bis Justus
-beiseite blickt</span>) &mdash; &mdash; Durchschaust du die Menschen immer so?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ja, deine Selbstbeherrschungskunst &mdash; man könnte auch sagen:
-Verstellungskunst &mdash; war von jeher bewundernswert.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und einer besseren Sache würdig.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Der Spott wird dir bald vergehn, teurer Vetter.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Es scheint, du legst enormen Wert auf dein pa-papierenes Dokument. Das
-hältst du wohl für einen Indicienbeweis?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nein, das allein würde nur beinahe genügen. Aber (<span class="regie">auf seine Mappe
-tippend</span>) ich habe hier noch ein andres Papier; nämlich deinen
-Empfangsschein, Herr Apotheker, über die eingetroffene Giftsendung&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du hast dich tatsächlich gut präpariert&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Es freut mich, daß du nicht länger heuchelst. Du darfst die Maske
-ungeniert lüften.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(immer sehr gemessen)</p>
-
-<p>Du freust dich etwas vorschnell, mein Lieber. Du scheinst meine
-„Schlauheit“ trotz aller Anerkennung noch immer für recht kindlich zu
-halten. Vor neun Jahren, werter Herr M-Menschenkenner, war ich wohl
-doch nicht mehr Schulbub genug, mich dem Spiel des Zufalls so plump
-auszusetzen, wenn ich kein reines Gewissen hatte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>O, das Spiel des Zufalls ist allemal plump. Damals konntest du ja
-nicht ahnen, also auch noch nicht damit rechnen, daß dein<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span> Edelmut
-mich veranlassen würde, (<span class="regie">spitzig</span>) Detektivoffizier zu werden,
-geschweige (<span class="regie">an seine Mappe tippend</span>) daß dies für jeden andern Finder
-unscheinbare Wertpapier gerade mir in die Hand fallen könnte. Nur Das
-trieb dein feines Spiel in den Plumpsack der sogenannten Schicksalshand.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nenn’s lieber gleich den Finger Gottes, dann kommst du dir noch
-wichtiger vor. Hähähä-hältst du mich im Ernst für so närrisch, daß
-ich mir solche Tat auf die Seele geladen hätte, blos um die Millionen
-unsrer alten Tante etwas früher unter die Leute zu streuen? Denn ihr
-Testament lag ja schon da für mich.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Blos: sie hätte es doch vielleicht ändern können. Und am Krankenbett
-warten, wer weiß wie lange, vielleicht nochmals „dreizehn Jahre lang“,
-ist in der Tat kein vergnügliches Geschäft, selbst für die edelsten
-Wohltäter nicht. Tante Brigitte war damals nur fünf Jahre älter, als du
-heute geworden bist, und hatte trotz ihrer Lähmung recht zähe Nerven.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und deshalb soll ich so sinnlos gewesen sein, so sinnlos und so ruchlos
-zugleich, mir einen M-Mord aufs Gewissen zu wälzen? Und das, denkst du,
-wird dir irgendwer glauben?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>O, das Gewissen beißt immer erst nachträglich; deine Frage klang
-ziemlich wund. Auch glauben die Schwurgerichte gern, daß ein
-Bankbeamter sich nicht ohne Zweck falsche Briefbogen drucken läßt und
-Apothekerwaaren bestellt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du hast dich wohl nie mit &mdash; Selbstmordgedanken getragen?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(scharf)</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Vor</em> meiner Enterbung <em class="gesperrt">nicht</em>, lieber Vetter! &mdash; Übrigens
-kannst du dir deine verblüffenden Fragen für die Gerichtsverhandlung
-aufsparen; für das Zeugenverhör zum Beispiel.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du denkst dir also, ich habe es fertig gebracht, den Sanitätsrat
-sowohl wie die alte Anne über die Todesursache zu täuschen, meinem
-Opfer kaltblütig die Augen zuzudrücken, die L-Leiche hohnlächelnd
-einzusargen, und dann hier in dem Haus, wo sie aufgebahrt lag, mich
-triumphierend festzusetzen &mdash; (<span class="regie">er steht auf, mit Erregtheit um sich
-weisend</span>) hier! sieh dich um! zwischen diesen öden Wänden, wo sie einst
-geatmet hat! hier seit neun Jahren es auszuhalten! immer von ihren
-Möbeln umgeben! immer ihr B-Bild vor meinem Blick! ihre Pflegerin mir
-zur Seite, eigens dabehalten zur steten Erinnrung! &mdash; Das, meinst du,
-habe ich auf mich genommen, ich maskierter Schurke, um einer Erbschaft
-willen, von der ich mir keinen Genuß vergönne, keine Annehmlichkeit,
-nicht die kleinste Erholung, blos Nahrung für meinen Großmutsdünkel!
-&mdash; Du traust mir wirklich merkwürdige Kunststücke zu. (<span class="regie">Er ist hinter
-seinen Stuhl getreten und stützt sich wieder auf die Lehne.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ja, die Verbrecher halten sich gern für Helden, die ihrer Tat überlegen
-sind, und liebäugeln mit dem Erinnerungswurm. Manche brüsten sich so
-lange im stillen, bis sie sich schließlich laut verraten; fromme Leute
-nennen das Gottes Stimme. (<span class="regie">Merkend, daß Christian nach dem Porträt
-starrt</span>) Du redest wohl <em class="gesperrt">öfters</em> mit dem Bild da?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du stellst starke Ansprüche an meine Geduld.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Immerhin scheinst du so geneigt
-zum Verhandeln, daß du darüber das Stottern verlernt hast.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Nun, vielleicht war auch das nur Maske; man lernt dabei seine Zunge
-hüten. &mdash; Wie hoch taxierst du denn deine Entdeckung?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelt ebenso)</p>
-
-<p>Möchtest du nicht etwas deutlicher fragen?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun, mein gesamter Vermögensrest beträgt noch etwa zwanzig Millionen,
-nach Abzug der Reservedepots für meine letzten Stiftungen. Um mir
-die Plackerei vom Ha-Halse zu halten, die du als A-A-A-Amtsperson
-(<span class="regie">er stampft auf, dann wieder gemessen</span>) mit dem Plunder da anzetteln
-könntest, und um meine innerste Menschlichkeit nicht vor dem Pöbel
-entblößen zu müssen, biete ich dir den vierten Teil; das sind also rund
-zwei Millionen mehr, als du mir damals abverlangtest.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Deine Menschlichkeit ist seitdem &mdash; beträchtlich großmütiger geworden;
-ich erkenne das an, obgleich ich’s erwartet habe. Aber du mußt mir
-schon erlauben, deine bekannte Opferwilligkeit</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Gut, ich lege noch eine Million zu. Sechs Millionen &mdash; das ist mein
-letztes Wort!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du hast mich mißverstanden, mein Teurer; du mußt nicht denken, ich sei
-deinesgleichen, weil ich jetzt im schwarzen Rock<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> vor dir sitze. Du
-hast mich aus meiner Bahn gestoßen, du opferwilliger Ehrenbürger! Du
-erntest den Lohn deiner Heldentaten, wenn ich dir nun dazu verhelfe,
-in der Sträflingsjacke vor mir zu stehn! Jawohl, edler Vetter:
-Gerechtigkeit will ich! die Welt von deinesgleichen säubern! das ist
-<em class="gesperrt">meine</em> Art Menschenfreundlichkeit!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Deine Gerechtigkeit braucht sich nicht zu ereifern; ich begreife, daß
-du dich rächen willst.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Sehr scharfsinnig, dein Begriffsvermögen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Willst du mich trotzdem noch ruhig anhören? Nur eine kleine Weile noch?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Bitte; ich habe warten gelernt. Außerdem zappelst du sehr ergötzlich im
-Netz.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich könnte sagen, mein Anerbieten sei nur eine Maske gewesen, um
-dein Pflichtgefühl auf die Probe zu stellen. Aber gesetzt, ich hätte
-w-wirklich die ungewöhnliche Tat vollbracht, deren du mich für fähig
-hältst: ich hätte eine bejahrte Person, die nichts mehr konnte als sich
-und andere quälen, mit ihrer Krankheit, mit ihrer Ha-Hartherzigkeit,
-mit ihrer hähähä-hämischen Habgier (<span class="regie">er ballt die Fäuste, dann wieder
-ruhig</span>) &mdash; die hätte ich aus dem Wege geräumt nach jahrelangem
-Gewissenskampf &mdash; hä-hätte dann wie ein Asket versucht, meine heimliche
-Gewalttat zu sühnen &mdash; hätte sie hier in meiner Einsamkeit, in der
-Nacht meines Schweigens schwerer gebüßt, als sich’s ein Schuldloser
-träumen läßt, &mdash; hätte immer weiter diese Erblast geschleppt, die ich
-nur für ein Hirngespinnst verwalte &mdash; für eine M-Menschheit, die ich
-zu spät durchschaute, die nichts<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> ist als ein marternder Schemen &mdash;:
-verlangst du <em class="gesperrt">noch</em> mehr Gerechtigkeit?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du vergißt, ich bin nicht mehr Leutnant genug, um deiner heroischen
-Märtyrer-Pose einiges Verständnis zu widmen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Aber vielleicht verstehst du, daß ich inzwischen manches anders ansehen
-lernte. Vielleicht war mein Abscheu gegen dein früheres Handwerk &mdash;
-deinen Beruf, wenn du das lieber hörst &mdash; nur Verbohrtheit eines
-B-Büchermenschen. Vielleicht ist mir die Erkenntnis gekommen, daß auch
-Nächstenliebe zur Hartherzigkeit führt, wenn sie die Allernächsten
-vergißt über ihrem fernen Ziel. Ich bin dein Schuldner, ich weiß es
-lange; deshalb empört mich deine Beschuldigung nicht. Und deshalb &mdash;
-nur deshalb, Justus! hörst du? &mdash; wiederhole ich mein Anerbieten.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Zu spät, Euer Gnaden; einen Monat zu spät.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du irrst. Ich habe schon letzte Weihnacht &mdash; denn dies (<span class="regie">auf sein Herz
-deutend</span>) W-Wrack wird nicht lange mehr Stand halten &mdash; mein Testament
-beim Notar hinterlegt; darin stehst du mit dem Betrag verzeichnet, den
-du einst von mir gefordert hast. Ich biete dir jetzt das Doppelte, weil
-ich dir mehr verdarb, als ich ahnte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(auf seine Mappe schlagend)</p>
-
-<p>Zum Teufel, <em class="gesperrt">alles</em> verdarbst du mir! Willst du mich <em class="gesperrt">jetzt</em>
-noch mit Großmut beschwindeln? Dein Testament, wenn’s wahr ist, ist
-mir ein Wisch! Ein Verbrecher wie du hat sein Erbrecht verwirkt! Kein
-Pfennig von deinem Mammon gehört dir! Wo nimmst du die Stirn her, mich
-beschwatzen zu wollen; du verrätst dich ja selber mit jedem Wort!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(tritt ihm langsam näher)</p>
-
-<p>Ah &mdash; du hoffst auf den ganzen Rest meiner Erbschaft. Verrechne
-dich nicht; nimm Vernunft an, Justus! Vergiß nicht, ich sprach nur
-bedingungsweise! Es hat sich schon m-mancher die Hand verstaucht, der
-zu sehr auf die Gerechtigkeit pochte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich poche nur auf die Mappe hier. (<span class="regie">Er nimmt sie unter den Arm und
-steht auf.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du kannst dir also garnicht die Möglichkeit denken, daß ich jene
-Giftsendung für mich selbst kommen ließ? daß ich mich wand vor Scham
-und Verzweiflung unter den frevelhaften Wünschen, die ich &mdash; jawohl,
-ich bekenn es dir &mdash; unablässig in mir w-wuchern fühlte am Krankenbett
-meiner Quälerin?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Eine Möglichkeit zieht die andere nach.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und wenn nun die Zeugen für <em class="gesperrt">mich</em> aussagen? &mdash; Willst du nicht
-wenigstens die Anne erst hören?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Der kannst du viel vorgemunkelt haben. Aber wenn dir’s Vergnügen macht,
-dich in ihrem Beisein verhaften zu lassen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(nähert sich der Tür)</p>
-
-<p>Ich tu’s um Deinetwillen, Justus&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich warne nur vor Fluchtversuch! Das Haus ist auf beiden Seiten
-umstellt&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(ruft zur Tür hinaus)</p>
-
-<p>Anne &mdash; (<span class="regie">tritt dann neben den Bücherbord, lehnt sich an und
-verschränkt die Arme</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(kommt, macht die Tür zu, beklommen)</p>
-
-<p>Was ist, Herr Christian?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Der Herr Kommerzienrat will verreisen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich bitte dich nochmals: nimm Vernunft an.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(beide Hände hebend)</p>
-
-<p>Oh, Herr Justus, wie schauen Sie drein! &mdash; (<span class="regie">Ihm näher tretend</span>) Ich
-beschwör Sie, was wollen Sie tun! &mdash; (<span class="regie">Von ihm wegweichend</span>) Einen
-Blutsverwandten ins Elend stoßen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ah, Sie wissen, worum es sich handelt?!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(noch weiter wegtretend, bis vor den Tisch)</p>
-
-<p>Ich? was soll ich wissen? ich seh nur Ihr Auge drohn. Ich kenn Sie ja
-beide von Jugend auf. Ich weiß nur, was ich als Kind gelernt hab: Mein
-ist die Rache, spricht der Herr!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Verzeihung, Schwester Anne, <em class="gesperrt">der</em> Herr ist mir <em class="gesperrt">fremd</em>. Und
-dem grauen Sünder da wohl erst recht. Mein Herr ist der Staat! mit
-seinen Gesetzen!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Einen Leidenden wollen Sie quälen? Spüren Sie’s nicht, wie er bebt bis
-ins Herz?!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Laß gut sein, Anne; es ist genug. Zum letzten Mal, Vetter: ich biet dir
-die Hand.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich verbitte mir deine &mdash; bestechenden Gesten!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(sich reckend)</p>
-
-<p>Nun, dann Kampf! Hüt dich! Ich bin bereit.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Sehr gnädig. Im Namen des Gesetzes: ich verhafte dich, Christian Wach.
-(<span class="regie">Die Tür öffnend</span>) Wenn’s gefällig, du hast den Vortritt &mdash; (<span class="regie">sie
-schreiten beide langsam hinaus</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(die Hände faltend, leise)</p>
-
-<p>Herr, erbarme dich seiner Seele &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="regie">(Vorhang)</p>
-
-<div class="section">
-
-<h4 class="padtop1" id="Zweiter_Akt">Zweiter Akt</h4>
-
-</div>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(an die Stuhllehne rechts des Tisches gestützt, zu dem Porträt
-hinaufstarrend)</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Jawohl, du hast dich in mir verrechnet &mdash; von jeher, du Vampyr
-&mdash; du zwingst mich nicht. (<span class="regie">Sich die Hand auf den Kopf legend, schwer
-lächelnd</span>) Hier diesen Geheimschrank öffnet keiner; jetzt weiß ich’s
-endlich, kein Mensch bezwingt mich. (<span class="regie">Es klopft an die Tür, und Anne
-tritt ein, bringt einen bunten Asternstrauß</span>) &mdash; &mdash; Also soll’s wieder
-losgehn mit der Verschwendung, du unverbesserliche Person?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(die Vase mit dem Strauß auf den Tisch stellend)</p>
-
-<p>Ja, das hab ich mir gestern Abend schon vorgenommen, als Sie heimkamen
-aus der &mdash; der&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Untersuchungshaft meinst du; sag’s nur getrost.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Nein, solch häßlich Wort, das paßt heut nit; aus der Prüfungszeit wollt
-ich sagen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und siehst mich dabei schon wieder an, als müßt ich dem Himmel dafür
-auf den Knieen danken.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>War’s nicht auch eine Segenszeit? Als Sie hinein mußten, blühten die
-Rosen; mögen die Herbstblumen noch mehr Segen bringen!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du sollst mich nicht so ansehn, Anne. (<span class="regie">Sich an den Tisch setzend, wie
-erschöpft</span>) Aber lieb ist dein Strauß; und diesmal ohne Dornen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Geb’s Gott, Herr Christian, geb’s Gott! Aber Sie schauen nit dornlos
-drein; Sie müssen jetzt wieder zu Kräften kommen. Gelt, ich darf Ihnen
-etwas Stärkendes bringen; ein Gläschen Wein! das macht Appetit!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wein &mdash;? Kein Tropfen kommt mir ins Haus!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Nur ein Gläschen Tokayer; ich hab die Flasch noch.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>So &mdash; also für mich &mdash; &mdash; (<span class="regie">nimmt plötzlich ihre Hand</span>) o Anne, Anne
-(<span class="regie">und preßt seine Stirn hinein</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja, sollt ich denn schwelgen, während Sie fasten mußten? (<span class="regie">Behutsam
-über sein Haar streichend</span>) Sie müssen Ihr Herz erleichtern, Herr
-Christian.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(schiebt sie sanft weg, steht auf)</p>
-
-<p>Nein, mach mich nicht weich; es war nur ein Augenblick. Nichts wird an
-meinem Leben geändert! Wenn du dir etwa einbildest, die Haft habe mich
-mürbe gemacht&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>O hätt sie nur! &mdash; Nein, ich bild mir nix ein.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sie hat mich im Gegenteil ruhig gemacht &mdash; (<span class="regie">er wendet sich ab, geht
-nach dem Fenster</span>) innerst ruhig; das mußt du doch merken (<span class="regie">läßt sich
-in den Korbstuhl nieder</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(ihm folgend)</p>
-
-<p>Das würd’ mich ja freuen, innerst freuen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Warum hast du denn so geweint im Gerichtssaal, als ich das Geständnis
-ablegte, ich wollte (<span class="regie">an das Porträt weisend</span>) die da wirklich
-vergiften, wenn mich das Schicksal &mdash; du weißt, der Schlaganfall, der
-sie in ihrer Erregtheit hinraffte &mdash; nicht gnädig davor bewahrt hätte?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja, wie sollt ich denn da nit weinen, als Sie das so gewaltig
-aussagten, mit solchem Entsetzen vor sich selber! Sogar von den Herren
-Geschwornen und Richtern schneuzten sich welche vor großer Rührung.
-Und ich hab doch alles einst miterlebt; ich kenn doch Ihr Herz, Herr
-Christian!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(abermals aufstehend)</p>
-
-<p>Nun, der Sanitätsrat war garnicht gerührt; der hat einfach den
-Schlaganfall bezeugt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(ihm wieder durchs Zimmer folgend)</p>
-
-<p>Ja freilich, natürlich; das tat ich ja auch!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und konntest vor Schluchzen nicht weiter reden. (<span class="regie">Plötzlich sich
-umdrehend, Auge in Auge</span>) Du glaubst wohl nicht, daß es ein
-Schlaganfall war?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(zurückweichend)</p>
-
-<p>O &mdash; wie fragen Sie frevelhaft! &mdash; Was ich beschworen hab, glaube ich
-auch. Und was ich außerdem glaube, o möchten Sie’s fühlen &mdash;: wir sind
-allesamt Werkzeuge Gottes &mdash; der eine so, der andre so&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(ist an den Kamin getreten)</p>
-
-<p>Mich friert, Anne; im Gefängnis war’s wärmer. Von morgen an bitte mußt
-du heizen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Aber ich kann doch natürlich gleich!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, ich sagte: von morgen an. (<span class="regie">Sich wieder an den Mitteltisch
-setzend</span>) Ich bekomme Besuch heut, für den ich Kälte brauche.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Aber gelt, doch ein Gläschen Tokayer! Wirklich, Herr Christian, es wird
-Ihnen gut tun.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich bitte dich ernstlich, mach mich nicht wild! W-Wein macht
-schwatzhaft, ich hasse das! &mdash; Aber damit du deinen Willen krigst:
-Vetter Justus hat mich gestern nach der Freisprechung fragen lassen,
-ob er heute Vormittag herkommen dürfe &mdash; dann kannst du deine Flasche
-kredenzen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>O welche Fügung &mdash; sehn Sie, auch dem hat Ihre Prüfungsstunde das
-Herz gerührt! &mdash; O, und ich hab’s ja noch garnit bestellt: der Herr
-Regierungspräsident, der hat sich auch vorhin anmelden lassen. Sehn
-Sie, wie alle Menschen sich beugen, wenn sie den Finger Gottes spüren!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du beurteilst die Menschen nach Dir, gute Anne. Sie kriechen zu
-Kreuz vor meinem <em class="gesperrt">Geld</em>; und sind gerührt davon, wie’s mich
-<em class="gesperrt">drückt</em>.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Nein, nein, das sagt nur Ihr Groll auf Herrn Justus. Man hat Sie doch
-einstimmig freigesprochen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ja, weil man keine Beweise hatte. Weil man auf Staatsunkosten mal
-gnädig sein konnte. Weil man dem berühmten Menschenfreund zeigen
-wollte: wir kennen zwar jetzt deine giftige Seele, aber wir sind keine
-Unmenschen deinesgleichen, wir zahlen dir deine Wohltaten heim. Ein
-Geächteter bin ich ihnen! Meinst du, ich habe das nicht gemerkt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>O, wenn Sie nicht alles so schwarz ansehn möchten! Die Menschen sind
-lieber gut als schlecht; will jeder nur abwälzen, was ihn drückt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Mein <em class="gesperrt">Geld</em> drückt mich; begreifst du das nicht? &mdash; Übrigens:
-vorgestern ist da eine Witwe wegen Diebstahls verurteilt worden, die
-kleine Kinder zu Hause hat. Du wirst dir ihre Adresse verschaffen, und
-wenn sie aus dem Gefängnis kommt, richtest du ihr einen Laden ein;
-irgend ein Geschäft, das ihr paßt. Inzwischen nimm dich der Kinder an,
-daß man sie nicht ins Armenhaus sperrt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Gern, Herr Christian! O, wie gut Sie</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Schwatz nicht, Anne; die Frau scheint mir tüchtig! Sie hat den
-Diebstahl ziemlich fein eingefädelt, erzählte mir mein Rechtsanwalt. Es
-macht mir Spaß, ihr Vertrauen zu schenken.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(sich zu ihm neigend)</p>
-
-<p>Warum verhehlen Sie Ihr Herz? Warum schenken Sie nicht auch mir
-Vertrauen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(abermals aufstehend)</p>
-
-<p>Ich kann mich noch garnicht wieder hier eingewöhnen; bitte, hilf
-mir den Lehnstuhl herüber setzen. &mdash; (<span class="regie">Während sie den Stuhl an den
-Mitteltisch tragen</span>) Es scheint, du bist jetzt stärker als ich. &mdash;
-(<span class="regie">Platz anweisend</span>) Nein hierhin, den Rücken gegen die Wand; ich mag
-das Bild heut nicht immerfort sehn.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(den überschüssigen Holzstuhl ans Fenster stellend)</p>
-
-<p>Ja, das hätt längst schon hinaus gemußt. Darf ich’s nicht endlich
-weghängen jetzt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Was soll das wieder! l-laß dies Gepurre! Ich weiß besser, was ich ihr
-schuldig bin. (<span class="regie">Sich setzend</span>) Wenn sie auch unleidlich war, das ist
-vorbei. Daß du’s ihr immer noch nachträgst, ich versteh nicht, wie sich
-das mit deinem Christentum reimt; du hast sie doch früher bemitleidet.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Die Toten haben das nicht mehr nötig; mir ist nur um die Lebendigen
-bang.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du sollst mich nicht so ansehn, Anne! &mdash; Wahrhaftig, manchmal machst
-du Augen, grad wie die Tante in ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span> Sterbestunde; so merkwürdig in
-die Ferne fragend. &mdash; (<span class="regie">Wiederum aufstehend</span>) Ich will mich doch lieber
-dorthin setzen; sonst denkst du wohl wirklich, ich fürcht mich vor ihr.
-(<span class="regie">Er schiebt den Lehnstuhl rechts neben den Tisch, Anne stellt einen
-andern Stuhl nach hinten.</span>) Nicht wahr, das hast du doch eben gedacht?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ich glaub an keine Gespenstermärchen. Es hat sich jeder genug vor sich
-selber zu fürchten&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(sich setzend)</p>
-
-<p>Ja, du hast Recht: Gespenstermärchen &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Nun fangen Sie wieder zu grübeln an. Ach, wenn Sie doch dahinter kämen,
-daß <em class="gesperrt">alle</em> Selbstbespiegelung eitel ist, nit blos im Spiegel an
-der Wand.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Laß, Anne; das verstehst du nicht. Ich muß mich erst wieder zurecht
-finden hier.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ich fühl doch aber, wie Ihnen das schwer fällt; und möcht die Last doch
-tragen helfen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, geh jetzt; ich muß das allein überlegen. Ich habe schon selbst
-daran gedacht, du warst vielleicht die rechte Person, mir den Rest des
-Vermögens ver-p-pulvern zu helfen; ich werde das nächstens mit dir
-besprechen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>O, nicht das Geld, Herr Christian; fassen Sie doch Vertrauen zu mir!
-Erleichtern Sie Ihre bedrückte Seele! Wie eine Mutter bitt ich zu Gott
-darum; das wird Sie auch wieder gesund machen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(aufstampfend)</p>
-
-<p>Ich sag dir, l-laß das &mdash; geh &mdash; bring mich nicht auf! &mdash; (<span class="regie">Ruhiger</span>)
-Stell die Flasche für den Justus bereit; aber bring sie erst, wenn
-ich’s dir sage! &mdash; (<span class="regie">Während Anne langsam zur Tür geht</span>) Und ich dank
-dir für deinen Asternstrauß; ich dank dir für alles, alles &mdash; hörst du?
-(<span class="regie">Da Anne an der Türschwelle zögert</span>) Nun, laß gut sein, geh jetzt; was
-stehst du noch&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(mit feierlichem Ausdruck, gedämpft)</p>
-
-<p>Und nähmest du Flügel der Morgenröte und flüchtetest übers äußerste
-Meer, so würde dich meine Hand doch erreichen, spricht der Herr, dein
-<em class="gesperrt">Erbarmer</em> &mdash; (<span class="regie">sie geht hinaus</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(sich erhebend, mit abwehrender Handbewegung)</p>
-
-<p>Gespenstermärchen &mdash; &mdash; (<span class="regie">Er nimmt den Strauß und stellt ihn unter
-das Bild.</span>) Ihr zwingt mich nicht &mdash; ihr kennt mich nicht &mdash; niemand!
-&mdash; (<span class="regie">Draußen elektrisches Klingelzeichen; er gibt sich Haltung, tritt
-neben den Lehnstuhl. Dann geht die Tür auf, und es erscheinen: der
-Regierungspräsident und der Oberbürgermeister</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p>
-
-<p class="regie">(nach gegenseitiger leichter Verbeugung)</p>
-
-<p>Verzeihung, wenn ich stören sollte, und bitte doch Platz zu behalten,
-Herr Rat; Sie werden sich leider noch etwas erschöpft fühlen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>Nicht sonderlich, Herr Regierungspräsident; ich müßte lügen, wenn ich
-Ja sagen wollte. In unsern Gefängnissen lebt sich’s bequemer, als es
-mancher bei sich zu Hause hat.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Ich möchte es lieber doch nicht versuchen. Aber um zur Sache zu
-kommen: ich stehe vor Ihnen auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit
-unsers gnädigsten Herrn, zugleich im Auf<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span>trag des Ministeriums, um
-Ihnen unverzüglich Ihre Ernennung zum <em class="gesperrt">Geheimen</em> Kommerzienrat
-anzuzeigen. Die Regierung will damit ausdrücken und vor der
-Öffentlichkeit bekunden: erstens ihre Teilnahme an dem glücklichen
-Ausgang eines Prozesses, der soviel peinliches Aufsehn erregt hat,
-zweitens ihr unverkürztes Vertrauen in den gemeinnützigen Charakter
-eines Mannes, der für die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit seinen
-persönlichen Ruf gewagt hat. Nach der erschütternden Seelenbeichte, die
-Sie vor dem Gerichtshof abgelegt haben, soll Ihnen diese Anerkennung
-eine dauernde Aufrichtung geben (<span class="regie">er verbeugt sich mit Gemessenheit</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Sie soll mir wohl auch, Herr Präsident, eine dauernde Richtung geben.
-Ich danke Ihnen ehrerbietigst und bitte diesen (<span class="regie">sich verneigend</span>)
-untertänigen Dank auch höheren Ortes zu vermelden, erstens für die
-Teilnahme, zweitens für das &mdash; „unverkürzte Vertrauen“. Ich werde mich,
-soweit es noch in meinen kurzen Kräften steht, dieses Vertrauens würdig
-zu machen versuchen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Davon ist jedermann überzeugt, Herr Geheimrat. Ich habe mich nicht
-blos mit eingefunden, um Ihnen zu der neuen Würde meinen Glückwunsch
-darzubringen (<span class="regie">er verbeugt sich gleichfalls gemessen</span>) &mdash; ich komme
-zuvörderst in Vertretung des Ausschusses der Bürgerschaft, sodann noch
-besonders als erster Vorsitzender der Gesellschaft der Menschenfreunde,
-um Ihnen das allgemeine Bedauern über diese Anklage auszusprechen,
-die zwar amtlich genügend begründet war, aber deren augenscheinliche
-Unhaltbarkeit schließlich sogar der Herr Staatsanwalt zugab. Sie dürfen
-davon durchdrungen sein, daß niemand in den maßgebenden Kreisen bei
-Ihrer stets betätig<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span>ten Menschenliebe einen anderen Ausgang erwartet
-hatte, und daß die Untersuchung der Leichenreste Ihrer verewigten Frau
-Tante lediglich als Formalität, wie sie die Rechtspflege unvermeidlich
-erfordert, vorgenommen werden mußte. Es stand wohl jedem von vornherein
-fest, wenigstens jedem Wohlgesinnten, daß das Gift nicht mehr entdeckt
-werden konnte &mdash; das heißt, ich wollte natürlich sagen: überhaupt nicht
-entdeckt werden konnte</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p>
-
-<p class="regie">(sehr rasch)</p>
-
-<p>Überhaupt natürlich&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(sehr langsam)</p>
-
-<p>Überhaupt &mdash; &mdash; Ich danke verbindlichst, Herr Oberbürgermeister. Darf
-ich nicht bitten, Platz zu nehmen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p>
-
-<p>Es tut mir außerordentlich leid, aber meine Zeit ist heute gemessen.
-(<span class="regie">Sich verbeugend</span>) Ich empfehle mich, Herr Geheimer Rat.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(ebenso)</p>
-
-<p>Ich empfehle mich, Herr Präsident.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p>
-
-<p>Begleiten Sie mich, Herr Oberbürgermeister?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Ich habe noch eine Kleinigkeit mit dem Herrn Geheimrat zu erörtern.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Präsident</em></p>
-
-<p>Also auf Wiedersehn, meine Herrn &mdash; (<span class="regie">er verbeugt sich nochmals, geht
-ab</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Ich möchte mich nur in aller Kürze &mdash; doch ich bitte zunächst um
-Entschuldigung: Sie werden sich hoffentlich nicht verletzt<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span> gefühlt
-haben, weil ich vorhin ein wenig im Ausdruck fehlgriff&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>O, wie dürfte ich mich verletzt fühlen &mdash; nach allem, was geschehen ist
-&mdash; da Sie es doch so aufrichtig meinten&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Ja, dessen dürfen Sie sich versichert halten; aufrichtig, verehrter
-Herr Geheimrat! Und deshalb &mdash; (<span class="regie">da Christian Wach auf die Stühle
-weist</span>) nein danke, ich will mich wiegesagt nur in aller Kürze
-erkundigen &mdash;: Wenn es Ihnen etwa erwünscht sein sollte, daß Ihr
-mißliebiger Verwandter, der zwar in amtlicher Eigenschaft, aber
-offensichtlich nur aus Feindseligkeit gegen Sie vorgegangen ist, aus
-seinem Amte entfernt werde, dann will ich Ihnen diese Genugtuung gern
-bei dem Herrn Polizeidirektor erwirken.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>Sehr freundlich, Herr Oberbürgermeister. Aber ich bitte Sie „sich
-versichert zu halten“: mein Vetter handelte nur aus dem Pflichtgefühl,
-das eine Eigentümlichkeit unsrer (<span class="regie">lächelnd</span>) etwas starrköpfigen
-Familie ist.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Nun, ich meinte blos: wenn sein Aufenthalt hier, in unserer traulichen
-Residenzstadt, Ihnen jetzt vielleicht unliebsam aufstoßen sollte: eine
-zeitweilige Strafversetzung würde ihm ohnehin wohl gebühren für seinen
-fruchtlosen Übereifer.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Also hätte er doch vielleicht fruchten können? &mdash; Nein, im Ernst,
-ich bitte sogar inständig, meinem Vetter jegliche Gunst zuzuwenden,
-die seine Vorgesetzten ihm zollen würden, wenn er nicht zufällig
-<em class="gesperrt">mich</em> beamtseifert hätte. Es wäre mir<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span> wirklich sehr unliebsam,
-wenn man ihn grade mir zuliebe für eine Verdächtigung strafen wollte,
-die sein Beruf ihm aufnötigte, und die anfangs &mdash; nicht wahr, ich irre
-wohl nicht &mdash; auch andern eifrigen Amtspersonen und Menschenfreunden
-begründet erschien. Er ist gestraft genug durch den Mißerfolg; nicht zu
-reden von dem Erbschaftsverlust, den er einst durch mich erlitten hat,
-wenn auch nur wegen seines eigenen Starrsinns.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Ich bewundre die Selbstlosigkeit, Herr Geheimrat, mit der Sie nach
-dieser herben Erprobung Ihrer mitmenschlichen Gefühle die Angelegenheit
-ins Auge fassen. Und ich darf mich also der Hoffnung hingeben, Sie
-werden auch unserm Gemeinwesen gegenüber Ihre rühmlichst bekannte
-Gesinnung nach wie vor betätigen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>In der Tat, ich werde nach Kräften versuchen, mich auch fernerhin zu
-betä-hähähätigen &mdash; (<span class="regie">sich an die Kehle fassend</span>) Verzeihung, mein
-Nervenübel meldet sich wieder. &mdash; Aber wollen wir uns nicht doch lieber
-setzen? Vielleicht ein Gläschen Wein gefällig? Denn Sie lieben doch die
-geselligen Freuden.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>O danke, danke, bedaure aufrichtig; muß mich heute leider besonders
-beeilen. Aufrichtig, verehrter Herr Geheimrat! &mdash; Also wiegesagt, um
-mich kurz zu fassen: ich wünsche allseitige Wiederherstellung unseres
-guten Einvernehmens und Ihrer so wertvollen Gesundheit. (<span class="regie">Er verbeugt
-sich würdevollst.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>Ich werde wiegesagt bestrebt sein &mdash; (<span class="regie">er verbeugt sich etwas weniger
-und läßt den Bürgermeister hinausgehn, ohne ihm das Geleit zu geben;
-sinkt dann in den Lehnstuhl und nickt vor sich hin</span>) &mdash; &mdash; „Aufrichtig,
-verehrter Herr Geheimrat“ &mdash; &mdash; (<span class="regie">es klopft, die alte Anne erscheint</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Kann der Herr Justus jetzt eintreten?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Natürlich. Weshalb fragst du erst?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Soll ich den Wein gleich mitbringen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du sollst tun bitte, was ich dir sagte. Ich werde schon rufen, wenn’s
-an der Zeit ist. (<span class="regie">Anne geht &mdash; Justus erscheint; tritt zögernd näher,
-bleibt halbwegs stehen</span>) &mdash; &mdash; Nun? diesmal ohne Aktenmappe? &mdash; Sehr
-liebenswürdig; bitte setz dich. (<span class="regie">Während Justus an den Tisch tritt</span>)
-Willst dich wohl teilnehmend erkundigen, wie mir der Spaß bekommen ist?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich muß deinen Spott leider hinnehmen, Vetter; oder vielmehr, ich nehme
-ihn gern hin. Ich habe das ehrliche Bedürfnis, dich um Verzeihung zu
-bitten für die Kränkung, die ich dir leider antat in meinem blinden
-Haß. Die alte Anne hatte ganz Recht: schließlich sind wir doch
-Blutsverwandte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich habe schon soviel Ehrlichkeit heut genossen, daß ich dir auch die
-deine verzeihe. Also nochmals: nimm endlich Platz.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(setzt sich links des Tisches)</p>
-
-<p>Ich begreife deine mißtrauische Laune. Aber sie kann mich nicht
-hindern, dir zu bekennen, daß sich meine Meinung über deinen Charakter
-von innerstem Grund aus geändert hat. Du hast mich entwaffnet &mdash; ganz
-und gar &mdash; bis unter die nackte Haut sozusagen &mdash; sodaß ich mich vor
-mir selber schämte&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Armer Vetter, wie stockend du redest; du hast dich wieder mal gut
-präpariert. Beruhige dich: ich werde dir’s nicht vergessen, wenn ich
-nächstens mein Testament neu verfasse. Oder brauchst du gleich einen
-Vorschuß drauf?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich muß mir’s gefallen lassen, wenn du mich demütigst; aber du brauchst
-es nicht noch mehr zu tun, als ich es wahrlich selbst schon tat. Es
-ist mir nicht leicht geworden, Christian, mich dermaßen zu überwinden,
-daß ich einem Menschen Abbitte leiste, den ich glaubte verachten zu
-dürfen. Ich hab’s mir natürlich überlegt, und weiß alles, was du mir
-einwenden kannst; aber mir deucht, auch du könntest wissen, nach meinem
-ganzen Verhalten bei dieser Erbschaftsgeschichte, daß ich es nicht aus
-Berechnung tue.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, du bist ja Justus, auf deutsch der Gerechte. Nun, es freut
-mich ehrlich, wenn du erkannt hast, daß die Rachsucht ein schlechtes
-Geschäft ist; man verrechnet sich leicht, wenn man gar zu eifrig ist.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich gebe zu, ich wollte mich rächen. Aber ich glaube, ein Mensch wie du
-wird es menschlich verstehen können, daß ich mich einigermaßen gereizt
-dazu fühlte. Und jedenfalls: ich bereue es jetzt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ja, das Lebensgeschäft macht uns alle mürbe, selbst den schneidigsten
-Rechenmeister.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du legst mir wirklich falsche Beweggründe unter.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>O, jeder rechnet auf seine Weise, auch wer die Erbschleicher glaubt
-„verachten zu dürfen“. Du stößt wohl jetzt auf allerlei Schwierigkeiten
-in deiner amtlichen Regeldetri?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Es schmerzt mich um Deinetwillen, Christian, daß du dich boshafter
-stellst, als du bist. Oder fühlst du mir’s in der Tat nicht an, daß
-auch ich aus reiner Wahrheitsliebe meine menschliche Schwachheit
-bekenne? Ich <em class="gesperrt">kann</em> dich nicht für so fühllos halten; jetzt nicht
-mehr, du hast mich überwältigt. Dein letztes Bekenntnis vor Gericht hat
-mich ergriffen wie noch nichts im Leben.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Aber dann gönne mir doch den reinen Triumph, den meine
-Selbstbeherrschungskunst &mdash; „man könnte auch sagen: Verstellungskunst“
-&mdash; über deine Schwachheit errungen hat. Nicht wahr, auf diesen
-ehrlichen Kunstgriff war deine Menschenkenntnis nicht vorbereitet?
-Ja ja, lieber Vetter, sie ist nicht so einfach, die Algebra der
-Verbrecherseele.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du wirst mich nicht irre machen mit deinen Scherzen. Ich werde nicht
-aufstehn von diesem Stuhl, bis du mir die Hand zur Verzeihung reichst,
-meinethalben auf Nimmerwiedersehn. Ich traue dir nicht die kleinliche
-Rachsucht zu, daß du die einzige Genugtuung ablehnen wirst, die ich dir
-in meiner erbärmlichen Lage, der Besiegte dem Sieger, noch bieten kann.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>O, du kannst noch allerlei von mir lernen, sogar im
-Satisfaktions-Comment. Ich gebe dir zum Beispiel den guten Rat, deine
-Rache nicht auf die lange Bank zu schieben; es ist dir schon einmal
-schlecht bekommen. Hättest du im Sommer<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span> nicht vier Wochen gewartet,
-um mir die scherzhafte Überraschung zu meinem Geburtstag zu bereiten:
-wer weiß, ob du jetzt der Besiegte wärest. Einem simpeln Kommerzienrat
-hätte man eher die Maske des Menschenfreunds abgerissen, als einem
-Ehrenbürger und Kronordensritter; die Behörden konnten es doch nicht
-wünschen, durch meine Verurteilung mit-ba-blamiert zu werden. Also
-lieber Justus, ich rate dir nochmals, deine geheimpolizeilichen
-Gerechtigkeitspläne nicht aus gar zu langer Hand weiter zu spinnen; du
-verwickelst dich sonst im eigenen Netz.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(aufstehend)</p>
-
-<p>Wenn du mich durchaus wegjagen willst: nun gut, du kannst es, dann sind
-wir quitt! Dann bist du <em class="gesperrt">nicht</em> der hochherzige Dulder, vor dem
-ich mich endlich beugen wollte! Dann bist du wirklich vom Fluch des
-Reichtums so bis ins Mark zuschanden gequält, daß du überall nur noch
-Schmarotzer witterst!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Dann bin ich der ehrlose Knecht meines Geldes, der nicht geduldig zum
-Pranger geschleift sein wollte! (<span class="regie">Gleichfalls aufstehend</span>) Dann bin ich
-der verworfene Heuchler, der nicht die gnädige Hand drücken will, die
-ihn dem Schandmaul des Pöbels p-preisgab! Dann bin ich der Schurke, der
-argwöhnische, der aus all die w-wohlfeilen Worte höhnt, womit wir unsre
-Untat beschönigen! Dann &mdash; ah: (<span class="regie">taumelnd</span>) hahahalt mich, Justus: das
-Herz!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(ihm beispringend)</p>
-
-<p>Verdammt ja, was ist &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Laß &mdash; es geht schon vorüber. &mdash; (<span class="regie">Sich setzend</span>) Es war
-nur ein kleines Erinnerungszeichen &mdash; (<span class="regie">lächelnd</span>) an meine
-Selbst<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span>beherrschung, weißt du. Laß dich’s nicht kümmern, setz
-dich wieder. &mdash; (<span class="regie">Da Justus zögert</span>) Was äffst du uns beide mit
-Großmutsgrimassen. Du mußt doch merken, wie gern ich mich aussprechen
-möchte; du bist doch sonst ein witziger Mensch. Also setz dich; hier
-hast du meine Hand.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich dank dir &mdash; (<span class="regie">gibt ihm die Rechte</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(ihn fixierend)</p>
-
-<p>Ich <em class="gesperrt">trau</em> dir! &mdash; Nun? Was zuckst du zurück?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du bist mir unheimlich, Christian&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Hahaherrlich! Siehst du, wie ich mich freue! das war doch endlich ein
-ehrliches Wort! &mdash; Aber im Ernst: hast du wirklich nicht gemerkt, wie
-ich brenne auf eine Aussprache, eine wirklich vertrauliche Aussprache,
-nach meiner unfreiwilligen Einsamkeit? Mit der alten Anne, so redlich
-sie ist, kann man doch blos das Einfachste reden; und andre Freunde hab
-ich ja nicht. &mdash; (<span class="regie">Es klopft, und Anne tritt mit dem Sanitätsrat ein</span>)
-&mdash; Ah, lieber Geheimrat, alter Freund, nett daß Sie auch auf den Busch
-klopfen kommen; ich fühle mich recht behaglich heute (<span class="regie">er weist auf die
-Stühle neben sich</span>).</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(hinter dem Tisch Platz nehmend)</p>
-
-<p>Kann mir’s denken, verehrtester Herr Kollege von der finanziellen
-Fakultät; traf eben den Bürgermeister, gratuliere &mdash; (<span class="regie">sich
-verneigend</span>) zu der neuen Würde und Würdigung. Ist ja ein wahrer
-Triumph der Gerechtigkeit; schade, daß Sie keine Zeitungen lesen.
-Die ganze Presse singt Ihnen Ho<span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span>sianna; selbst die Sozi blasen ins
-Jubelhorn. (<span class="regie">Zu Justus, der stehen geblieben ist</span>) Ich genier Sie doch
-nicht, Herr (<span class="regie">gedehnt</span>) Polizeikommissar &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Keineswegs, Herr Geheimer Sanitätsrat; ich wollte mich ohnehin
-empfehlen. Ich kam nur her, um meinem Vetter die gebührende Abbitte zu
-leisten.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, Justus, das darfst du mir jetzt nicht antun; ich muß dich
-tatsächlich noch etwas fragen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Dann nichts für ungut, Herr Leutnant, Sie kennen mich ja; (<span class="regie">ihm mit
-komischer Würde die Hand hinstreckend</span>) es irrt der Mensch, solang es
-geht&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Also bitte, im Ernst: Versöhnungsfeier &mdash; (<span class="regie">Justus gibt lässig dem
-Sanitätsrat die Hand und setzt sich wieder links des Tisches</span>). Bitte,
-Anne, du weißt ja (<span class="regie">sie nickt, geht hinaus</span>) &mdash; ich danke dir, Justus.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Aber Sie haben’s zu kalt hier im Zimmer; für Ihren Körper ist Kälte
-jetzt Gift! (<span class="regie">Christian zuckt ein wenig zusammen.</span>) Ah Pardon, das
-verflixte Prozeßwort; man wird es garnicht mehr los aus den Ohren, alle
-Zeitungen wimmeln von Vergiftungs-Wortspielen. Für einen Medizinmann
-recht amüsant; ich darf doch ruhig davon reden?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>O bitte &mdash; (<span class="regie">lächelnd</span>) seh ich denn unruhig aus?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Na, Verehrter, nur keine Fisimatenten; Ihre Ruhe ist mir nicht ganz
-geheuer. (<span class="regie">Inzwischen ist Anne zurückgekommen, setzt eine Platte mit
-Gläsern und Weinflasche auf den Tisch.</span>)</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun, dann wollen wir heizen, meine Herrn. Bitte, Anne, schänk ein</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat und Justus</em></p>
-
-<p>Nein danke &mdash; danke &mdash; (<span class="regie">strecken gleichzeitig rasch die Hand zur
-Abwehr</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>So enthaltsam auf einmal? Nun, Anne, dann mir nur. (<span class="regie">Lächelnd</span>) Es ist
-wirklich kein Gift drin, meine Herrn.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Aber Bester, empfindlich &mdash;? Na, Schwester Anne, dann sein Sie mal auch
-zu mir barmherzig (<span class="regie">er läßt sich gleichfalls einschänken</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Justus &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich bin’s zwar nicht mehr gewohnt vormittags. Aber&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(nachdem sie auch ihm eingeschänkt)</p>
-
-<p>Ist gern geschehen, Herr Justus.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(während Anne hinausgeht)</p>
-
-<p>Also dann, mein teuerster Herr Patient: wie gesagt, es lebe die
-Herzensbewegung! &mdash; (<span class="regie">Sie stoßen gemessen an und trinken</span>) &mdash; Denn wie
-gesagt: Ihre Ruhe gefällt mir nicht, kommt mir nach all dem Traraa
-etwas unheimlich vor. Hatte eigentlich von der vertrackten Affäre eine
-Art Nervenbelebung für Sie erwartet. Drückt Sie vielleicht ein geheimer
-Schmerz? Das heißt, verstehen Sie recht, ich meine: irgend ein Groll,
-ein verbissener Kummer? Nur nichts in sich fressen, Verehrter! Trinken
-Sie öfters ein Gläschen Champagner und sprechen Sie sich mit jemand
-aus, wenn die Geschichte Sie immer noch wurmt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ha-hörst du’s, Justus: ich soll mich gesund beichten! Vor Gericht, das
-genügte noch nicht! Also klopf mir mal gründlich aufs Gewissen!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Spotten Sie nur, das ist gut gegen Blutstockung; der Herr Vetter wird’s
-Ihnen nicht verargen. Wir müssen uns hüten, Verehrter, vor Apoplexie!
-Und bei Neurosen, so rätselhaft wie die Ihre, kann Herzenserleichterung
-Wunder tun. War mir schon im Prozeß höchst intressant, daß Sie
-plötzlich nicht mehr zu stottern brauchten. Also nochmals: nur keine
-Mördergrube!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(Justus zutrinkend)</p>
-
-<p>Haha-Heil dir also, du Wundertäter! &mdash; Aber, mein lieber Geheimrat,
-was reizt Sie blos, daß Sie mich durchaus gesund machen wollen? Meine
-Krankheit ist doch viel intressanter.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Na, erlauben Sie, Bester, bedenken Sie: ich bin doch immerhin
-Vorstandsmitglied der Gesellschaft der Menschenfreunde! Jahresbeitrag
-fufzig M, ungerechnet die Liebesmähler! &mdash; (<span class="regie">Er trinkt aus und steht
-eilfertig auf</span>) Also wohl bekomm’s, meine Herrn; mehr als guten
-Rat kann ich leider nicht geben &mdash; (<span class="regie">verbeugt sich lächelnd, geht
-händereibend ab</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun, so nachdenklich, Herr Gewissensrat? Trink doch, du sollst mich
-doch animieren!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Auf den neuen Charakter denn, Herr Geheimrat &mdash; (<span class="regie">blickt ihn forschend
-an und trinkt aus</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(ihm das Glas wieder füllend)</p>
-
-<p>in der alten Mördergrube, nicht wahr? &mdash; Du dachtest wohl wirklich im
-ersten Augenblick, ich wollte uns alle zusammen vergiften?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Offen gesagt, Vetter, ich würde dir dankbar sein, wenn du einen andern
-Ton zu mir anschlagen könntest. Ich bin vielleicht doch nicht „witzig“
-genug, um über derlei Scherze zu lachen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und wenn’s nun keine Scherze wären? Wenn ich nun doch vielleicht
-gemordet hätte, noch viel planmäßiger, als du dachtest? Wenn (<span class="regie">nach
-dem Porträt weisend</span>) der Schlaganfall meines Opfers kein Zufall war,
-sondern von mir herbeigeführt, um auf alle Fälle sicher zu gehn? Bist
-du noch garnicht auf den Einfall gekommen, daß man Wutanfälle künstlich
-bewirken kann?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Es scheint, du gefällst dir in der Rolle des skrupellosen Übermenschen.
-Du solltest mit solchen Gedanken nicht spielen in deinem überreizten
-Zustand. Du kannst dich doch unmöglich wohl dabei fühlen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Meinst du, die menschenfreundlichen Milliardäre, die in Amerika Kirchen
-und Schulen stiften und Krankenhäuser und Volksküchen, die zögen ihre
-Gefühle zu Rate, wenn sie mit ihren Börsenmanövern andere Menschen zu
-Grunde richten? Oder um ein Beispiel zu wählen, das deinem Opfersinn
-näher liegt: hat sich etwa der General Bonaparte, oder irgend ein
-andrer Schlachtenlenker, jemals mit Gewissensskrupeln über M-Massenmord
-abgegeben? Und doch bewundert ihn die christliche Menschheit; genau wie
-den großen Kaiser Karl, der zum höheren Ruhm seines Hahaha-Heilands ein
-ganzes Heer Heiden abschlachtete, oder den edlen Bürger Robespierre,<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span>
-der zu Ehren der Freiheit Tausende Mitbürger in den Kerker und aufs
-Schaffott spedierte. Ja, die menschliche Bestie ist sehr beflissen,
-heilige Zwecke zu erfinden, unter deren Nimbus sie sich austoben kann.
-(<span class="regie">Sein Glas hebend</span>) Trink, lieber Justus, und lerne l-lachen!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(während Christian trinkt und sich hastig das Glas wieder
-füllt)</p>
-
-<p>Du könntest dich auch auf Nero berufen, an dessen irrsinnigen
-Greueltaten sich der Pöbel im Kino noch heute entzückt. Trotzdem hält
-jeder anständige Mensch solchen großspurigen Bösewicht im Grunde für
-einen armen Teufel, der in die Besserungsanstalt gehörte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(auflachend)</p>
-
-<p>Hahahimmlisch! du bist ja ungemein witzig! Wahrhaftig,
-das Alleranständigste wäre, wir gingen <em class="gesperrt">alle</em> in die
-Besserungsanstalt; es ist für Hans Jedermann immer noch leichter,
-ein Engel in Menschengestalt zu werden als ein Teufel von
-Übermenschengröße. Aber du trinkst ja garnicht, du M-Menschheitsretter;
-zum Wohl, mein gütiger Beichtvater! (<span class="regie">Er trinkt mit sichtlicher
-Erregtheit.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(nur kurz Bescheid tuend)</p>
-
-<p>Zum Wohl &mdash; wenn dich die Beichte nicht reut. Vielleicht ist es dir in
-Wahrheit lieber, dich nicht weiter auszusprechen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Was weißt du von meiner Wahrheit, Mensch! (<span class="regie">Sich mäßigend, starr vor
-sich hin</span>) Was weiß ich schließlich selber davon.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Beruhige dich; ich will sie nicht wissen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wer kann denn die Wahrheit über sich sagen? Das Wahre ist immer nur,
-was man tut!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich will auch von deinen Taten nichts wissen. Ich bin durchaus nicht
-darauf versessen, mich in dein Vertrauen zu drängen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Aber du bleibst mit Vergnügen sitzen, weil meine Worte dein M-Mißtrauen
-ködern. Vergiß nicht, es sind blos &mdash; „Gedankenspiele“. (<span class="regie">Er trinkt
-wieder mit merklicher Hast.</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich bin geblieben, Christian, weil du mich etwas fragen wolltest.
-Wenn’s dir leid geworden ist, gehe ich gern.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Aber nein, das wirst du mir doch nicht antun, du reuevoller
-Blutsverwandter! Du mußt doch anstandshalber ein bißchen Mitleid
-haben mit meinem „überreizten Zustand“! Natürlich will ich dich etwas
-fragen, sehr viel sogar, du wirst dich wundern! Du mußt doch auch von
-Berufswegen einigen Anteil daran nehmen, wie der verfolgten Unschuld
-zumute ist! Nicht wahr, lieber Vetter, das mußt du doch?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Also &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du scheinst es ja garnicht erwarten zu können &mdash; (<span class="regie">er will wieder
-trinken, beherrscht sich aber</span>). Also: gesetzt zum Beispiel den Fall,
-dir kämen jetzt, nachdem sich dein Urteil über meinen Charakter
-geändert hat &mdash; von Grund aus geändert hat, wie du sagtest, &mdash; da
-käme dir nun ein D-Dokument in die Hand, womit du dem ho-hohohohen
-Gerichtshof den vollen Beweis erbringen könntest, daß ich mich in der
-Tat vor Jahren als Unmensch (<span class="regie">absichtlich</span>) betäterätätigt habe: was
-würdest du da tun, lieber Justus?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du wirst doch nicht im Ernst erwarten, daß ich auf solche wahnwitzige
-Frage eine vernünftige Antwort geben soll.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du meinst, ich würde jetzt nicht mehr ins Zuchthaus, sondern ins
-Irrenhaus gehören? Sehr freundlich, aber das scheint mir falsch; ich
-halte meine Vernunft für recht klar. Doch gesetzt, ich war wirklich so
-irrsinnig, aus allgemeiner M-Menschenliebe einen einzelnen Menschen
-zu morden, dann ist doch Irrsinn noch kein triftiger Grund, einen
-M-Mörder freizusprechen. Das wäre wohl höchstens dann vernünftig, wenn
-<em class="gesperrt">alle</em> Irren Mörder wären. Du bist doch jedenfalls der Ansicht,
-mindestens doch von Amtswegen, daß man verbrecherische Gelüste aus der
-Menschheit ausrotten müsse, und daß sich das nur durchsetzen läßt,
-wenn man die Verbrecher bestraft. Warum also einen M-Mörder schonen,
-der zufällig auch noch irrsinnig ist; den müßte man doch erst recht
-bestrafen, damit sich nicht etwa andre Irre ein reizendes Beispiel
-an ihm nehmen. Ja, wär’s noch ein Mammama-Massenmörder, vor dem sich
-die vernünftige Menschheit mit Staunen und Grauen verkriechen könnte!
-Aber ein ganz gewöhnlicher Gelegenheitsmörder: wozu denn den unter die
-Glasglocke setzen? &mdash; Ich glaube, du wirst mir zugeben müssen, daß
-meine überreizten Gedankenspiele ziemlich folgerichtig sind.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Unheimlich richtig &mdash; wie ich gleichfalls schon sagte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Ja, es ist schwer, sich verstehen zu lernen. (<span class="regie">Das Glas hebend</span>) Zum
-Wohl! so trink doch endlich aus!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(sein Glas mit der Hand bedeckend)</p>
-
-<p>Nein, danke; keinen Tropfen mehr.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du fürchtest wohl, du lernst mich zu gut verstehen? &mdash; (<span class="regie">Das Glas
-hinsetzend, ohne getrunken zu haben</span>) Soll ich dich lieber nicht weiter
-fragen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Ich fürchte, du wirst es nicht lassen können.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sehr wahr! Du fängst wirklich an zu verstehen! &mdash; Also gesetzt, du
-fändest irgend ein Schriftstück, das mein Verbrechen unwiderleglich
-bewiese &mdash; zum Beispiel ein Tagebuch von mir, das ich damals
-geschrieben hätte &mdash; in das ich alles verzeichnet hätte, was mich
-zu der Untat verführte &mdash; in dem ich mir Rechenschaft ablegte, über
-meine Gedanken und Gefühle, vor der Tat und nach der Tat &mdash; wie ich
-mit meinem Gewissen kämpfte, jahraus jahrein, von W-Woche zu Woche &mdash;
-wie ich mich prüfte und mich quälte mit meiner scha-hauderhaft klaren
-Vernunft &mdash; wie ich l-langsam die Feigheit überwand, die in unsern
-sittlichen Grundsätzen nistet &mdash; wie ich in allen Gründen und Abgründen
-meiner Seele herumstocherte, um die Gewürme der Angst und Reue, des
-E-Ekels und Dünkels zu zerquetschen &mdash; (<span class="regie">er hat sich krampfig ans Herz
-gegriffen</span>) &mdash;: würdest du jetzt noch w-willens sein, mich auf Grund
-eines solchen Bekenntnisses öffentlich zu brandmarken?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Aber lieber Christian, nimm’s nicht übel, verzeih mir meine Offenheit:
-das sind ja leere Hirngespinnste. Solch Tagebuch ist doch nicht
-vorhanden, also kann ich es auch nicht finden, also auch zu der Frage
-nicht Stellung nehmen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du meinst, weil du’s nicht gefunden hast bei deiner amtlichen
-Haussuchung hier? (<span class="regie">Lächelnd</span>) Hast wohl gründlichst an den Wänden
-geklopft? zum Beispiel (<span class="regie">nach dem Porträt weisend</span>) hinter dem Erbstück
-da! &mdash; Nun, vielleicht gibt es doch Verstecke, die selbst einem
-Detektivoffizier ein Buch mit sieben Siegeln sind.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(lachend)</p>
-
-<p>Da kann ich dich gründlichst beruhigen! In der alten Bude, die wir
-von Kindheit an kennen, ist mir kein Blättchen verborgen geblieben,
-geschweige ein ganzes Tagebuch.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun, die Mühe hättest du sparen können. Es wäre doch <em class="gesperrt">gar</em> zu
-gewöhnlich gewesen, ein solches Beweisstück hier aufzubewahren, wo
-jeder Schnüffler es finden konnte; für einen so harmlosen Bösewicht
-wirst du mich jetzt wohl nicht mehr halten. Aber gesetzt, ich hätte
-es anderswo, an ganz sicherer Stelle, hinterlegt, unter unantastbarem
-Siegel &mdash; zum Beispiel bei irgend einem Notar, oder in der Stahlkammer
-einer Bank, etwa als Anhang zu meinem T-Testament, das erst nach
-meinem seligen Tod gerichtlich geöffnet werden darf &mdash;: gesetzt, ich
-hätte meine Erben, zum Beispiel einen gewissen Justus, oder vielleicht
-auch die alte Anne, mit der Erlaubnis betrauen wollen, die Menschheit
-darüber aufzuklären, welch Scheusal dieser M-Menschenfreund war &mdash;
-mit welcher kaltblütigen Hihihi-Hinterlist er ein gebrechliches Weib
-umgarnte, wie er ihre Krankheit mit langsamen Reizmitteln nährte,
-ihren zügellos gewordenen Jähzorn bis zur Selbstzerrüttung aufpäppelte
-&mdash; wie er ihr schließlich seinen M-Mordplan enthüllte, daß sie vor
-ohn-m-m-mächtiger Wut</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(brüsk aufstehend und sich reckend)</p>
-
-<p>Genug! jetzt hab ich genug gehört! &mdash; Ich bedauere meine
-Gutgläubigkeit, ich speie auf deinen frechen Hohn. Du denkst, du bist
-jetzt sicher vor mir; du wirst dich irren, du kennst mich noch nicht!
-Ich werde nicht ruhen, bis du entlarvt bist; keinen Schritt mehr sollst
-du im Leben tun, hinter dem du nicht meine Augen spürst! Bei Tag und
-Nacht, ich werde dir nah sein: dein Doppelgänger, dein Alb, dein
-Gespenst&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(hat sich gleichfalls erhoben, ihm fiebrig in die Augen
-starrend)</p>
-
-<p>Du wirst mir „von Grund aus“ willkommen sein. Du wirst mir das höchste
-Vergnügen bereiten, nach dem ich im Leben getrachtet habe. Du wirst
-mir tagtäglich den vollen Genuß meiner M-Menschenwürde verschaffen!
-Du wirst mir der Hund sein, der bis zum Irrsinn nach meiner
-Gewissenspfeife tanzt! Du wirst</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich werde dein Spiegel sein! Du bist ja der bodenloseste Teufel, der
-sich jemals vor sich selber versteckt hat! Ich werde dir endlich einmal
-zeigen</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>dein wahres Antlitz! nicht wahr? ha-ha-hah! &mdash; Ist <em class="gesperrt">das</em> deine
-Reue, du „anständiger Mensch“?! <em class="gesperrt">Kenn</em> ich dich jetzt, du
-ehrlicher Vetter?! Ich kann dir noch mehr Verbrechen vorlügen, um
-dein M-Mitgefühl zu befriedigen! Ich sollte wohl gleich vor Rührung
-zerschmelzen ob deiner edlen „Gutgläubigkeit“? Hahahimmlisch, du
-entlarvter Engel, du Cherub der Gerechtigkeit! Hab ich dir „endlich
-einmal“ ins Herz geleuchtet? in die M-Mördergrube &mdash; hha-ha-ha &mdash; ah &mdash;
-(<span class="regie">sein Gelächter schlägt um in einen Wehlaut, er greift in die Luft und
-bricht zusammen</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(beugt sich über den Tisch vor, mit beiden Fäusten aufgestemmt,
-betrachtet kalt den Ohnmächtigen)</p>
-
-<p>&mdash; Diesmal scheint’s echt; &mdash; du traust dir zuviel zu, Bursche. &mdash; (<span class="regie">Er
-geht langsam zur Tür, öffnet, ruft</span>) Schwester Anne! &mdash; (<span class="regie">Er zieht
-seine Taschenuhr, überlegt</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Was ist? (<span class="regie">Erschreckend</span>) Um Gottes willen &mdash; (<span class="regie">sie eilt an den
-Lehnstuhl, nimmt Christians Kopf in den Arm, lockert ihm Kragen und
-Halsbinde</span>)</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(an der Tür bleibend)</p>
-
-<p>Dem Herrn ist der Wein wohl zu stark gewesen; ich werde den Sanitätsrat
-holen. Und den Notar; wie heißt er doch gleich?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Welcher Notar? Ich weiß ihn nicht. Der Herr sagt mir nichts von seinen
-Geschäften.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nun, dann nachher; auf bald, Schwester Anne. Wir müssen dem Herrn jetzt
-ein bißchen beistehn; wir wollen nachher darüber sprechen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Gewiß, Herr Justus, das wollen wir.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Also auf bald!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Auf bald, Herr Justus. &mdash; (<span class="regie">Nachdem Justus gegangen ist, leise</span>) Vater,
-hilf deinen schwachen Kindern &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="regie">(Vorhang)</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span></p>
-
-<h4 class="padtop1" id="Dritter_Akt">Dritter Akt</h4>
-
-</div>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(sitzt im Lehnstuhl hinter dem Mitteltisch, den Unterkörper in
-schwarze Decken gehüllt. Vor ihm liegen Geschäftspapiere, in denen
-er blättert und Zahlen nachrechnet, in der linken Hand einen
-Bleistift haltend. Man sieht, sein rechter Arm ist gelähmt, hängt
-in einer schwarzen Binde. Seine Stimme klingt untergraben.)</p>
-
-<p>&mdash; &mdash; Also noch knappe neun Millionen &mdash; (<span class="regie">den Bleistift hinlegend</span>)
-es geht zu Ende, Christian Wach. &mdash; (<span class="regie">Sich mühsam nach dem Porträt
-umwendend</span>) Deine Schatzgrube ist bald leer, alter Drachen! &mdash; (<span class="regie">Hand
-aufs Herz legend, schwer vor sich hin</span>) Und die Mördergrube wird immer
-voller &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Die alte Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(tritt in die Tür, ein winziges, aber sorgsam geschmücktes
-Weihnachtsbäumchen auftragend)</p>
-
-<p>So, Herr Christian, damit Sie doch merken, daß uns heute der Heiland
-geboren ist &mdash; (<span class="regie">vor ihn hintretend</span>) der Erlöser, lieber Herr
-Christian! &mdash; (<span class="regie">Das Bäumchen auf den Tisch stellend</span>) Gelt, ich darf es
-heut Abend uns anzünden; zu Heilig-Abend ist das keine Verschwendung.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Das hast du doch früher nicht getan. (<span class="regie">Lächelnd</span>) Du denkst wohl, jetzt
-bin ich hilflos genug, daß du mir neue Lichter aufstecken kannst?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja, ich hätt mir schon eher ein Herz fassen solln. Wir sind allesamt
-hilflos genug.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Besonders wenn wir’s uns einreden lassen. Ich halte mich lieber an das
-Sprichwort: hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Das ist auch für die
-Gottlosen brauchbar.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Es gibt noch ein ander Sprichwort, Herr Christian: Gott verläßt die
-Seinen nicht. Und mancher ist sein, der’s nicht wahr haben will.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wenn ich nicht wüßte, wie gut du’s meinst, könnt ich glauben, du dankst
-deinem Gott im stillen, daß er mich damals nach meiner Freisprechung
-(<span class="regie">auf seinen rechten Arm deutend</span>) mit dem Schlaganfall begnadet hat.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Seine Wege sind nicht die unsern.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Schon recht, schon recht; ich kenn deine Standreden. (<span class="regie">Auf den Stuhl
-zu seiner Linken weisend</span>) Komm, setz dich lieber, ich muß dir was
-sagen. Aber stell erst das Bäumchen einstweilen beiseite, sonst vergeht
-mir bis Abend die Freude daran. (<span class="regie">Während Anne es auf den Bücherbord
-trägt</span>) Ich habe gestern mit dem Notar mein Testament ins Reine
-gebracht (<span class="regie">er berührt die Papiere, schüttelt sich unwillkürlich</span>)
-&mdash; aber leg noch bitte etwas Holz aufs Feuer. Und wenn nachher der
-Minister kommt, legst du nochmals ein bißchen nach. Hat er nicht
-m-melden lassen, worum sich’s handelt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(ein paar Scheite in den Kamin legend)</p>
-
-<p>Es wird halt wegen der neuen Stiftung sein; die Grundsteinlegung der
-Radioklinik.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, das hab ich mir schon verbeten, daß sie auf meinen Namen getauft
-wird. Also komm jetzt, wir wollen uns aussprechen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(sich setzend, ihm in die Augen blickend)</p>
-
-<p>Ja, wenn Sie das wollten, Herr Christian&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Willst du mich wieder aufregen, Anne? Das kannst du dem Justus
-überlassen! &mdash; Er hat sich wohl jetzt mit dir ver<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span>schworen, meine werte
-S-Seele zu retten? Seitdem er hier mit im Hause wohnt, wird er von Tag
-zu Tag christlicher.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Auch der Herr Justus meint’s gut auf seine Weise.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Gewiß, versteht sich; und ich lohn’s ihm auf meine. Das eben will ich
-mit dir besprechen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Wenn Sie’s aber doch aufregt! grad immer das! Immer wieder diese
-unselige Erbschaft, diese Sorge um den morgigen Tag. Und grad zum
-Christfest; es hat doch Zeit.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein, Anne, mit meiner Zeit ist’s bald aus; kannst ruhig darüber reden
-mit mir. Meinst du, ich fürchte mich vor dem T-Tod? Was tut’s denn, ein
-bißchen früher zu sterben, als es ohne die Sorge vielleicht geschähe.
-Was heißt denn sterben? <em class="gesperrt">keine</em> Sorgen mehr haben! Kann man sich
-davor fürchten im Leben? Kann man das überhaupt begreifen? Ich kann
-meinen Tod mir nicht vorstellen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja: sie <em class="gesperrt">will</em> nit sterben, die ewige Seel&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Kommst du schon wieder mit deiner Gottesfurcht? Versteh doch, ich habe
-andere Sorgen!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(seine Linke streichelnd)</p>
-
-<p>Nicht Furcht, nicht Furcht: Gott will Vertrauen. Furchtbar ist blos die
-menschliche Selbstsucht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Dann sei also selbstlos und hör mir zu. (<span class="regie">Ein Schriftstück aus den
-Papieren nehmend</span>) Hier ist mein Vermögen drin verzeichnet. Es sind,
-nach Abzug aller Unterhaltsgelder für die bestehenden Stiftungen, noch
-etwa neun Millionen Mark. Davon habe ich drei dem Justus vermacht; den
-Rest, wenn du nichts dagegen hast, Dir.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Aber&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Laß mich erst ausreden, bitte. Du kannst damit machen, was du willst;
-kannst den Plunder verschenken, an wen du willst, meinethalben an den
-verkommensten Strolch. Nur die eine Bedingung ist dir gestellt: keinen
-Pfennig mehr darfst du für irgend eine dieser öffentlichen A-Anstalten
-stiften, die unter der Maske des Samariterdienstes eine Gesellschaft
-von Pharisäern züchten. Denn daß du’s nur weißt, liebe alte Anne:
-ich will dich nicht in Versuchung führen, ob deine Barmherzigkeit
-<em class="gesperrt">auch</em> am Ende in die allgemeine Herzlosigkeit umschlägt, die sich
-M-Menschenfreundlichkeit nennt. Selbst das größte Gefühl wird klein,
-wenn es sich aufputzt mit großen Begriffen; ein bißchen Güte von Mensch
-zu Mensch ist besser als alle Liebe zur Menschheit.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Das sagen Sie blos wieder, um sich zu quälen. Der gute Wille ist
-allzeit heilig.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wenn du also einverstanden bist, dann liegt es auch in deiner Hand,
-das Vermächtnis an Justus größer zu machen. Ich möchte mit ihm nicht
-darüber sprechen, und ich bitte auch dich inständig, es nicht vor
-meinem T-Tode zu tun; er denkt<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span> sonst, ich wolle ihn bestechen, und
-das würde die Versöhnung erschweren, die ich noch von ihm zu erlangen
-hoffe. Also nicht wahr, du schweigst darüber!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja gewiß, Herr Christian, gern.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du kannst dir ja immer überlegen, ob es vielleicht ein christliches
-Werk ist, ihm mehr als die drei Millionen zu geben, die er vor Jahren
-von mir verlangt hat; meinethalben das Doppelte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Was ist da groß zu überlegen? Was braucht ein einzelner Mensch soviel
-Geld? Es lädt ihm blos Ängste auf die Seele. Sie, Herr Christian,
-hätten’s auch leichter gehabt, wär nit die große Erbschaft gewesen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Du fühlst dich wohl nicht als „einzelner Mensch“?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(lachend)</p>
-
-<p>O, ich leichte Person! bei mir bleibt’s nit lang! Hier in der Näh gibts
-’ne ganze Straße, da konnt man in einer Nacht die Millionen los werden,
-damit das geschminkte Elend mal ein rechtschaffen Christfest feiern
-kann.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du hast’s ja gut vor; gib nur Acht, daß dir die Lichter nicht den Baum
-verbrennen. Glaub mir: was der Mensch auch tun mag aus Mitleid, es ist
-nie genug und immer zuviel. Du wirst vielleicht noch zufrieden sein,
-daß du dem Justus die Sorge aufpacken kannst, wie man das Geld am
-besten los wird.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Davor ist mir nit bang, dafür sorgt unser Herrgott; ist eitel Dunst
-um jegliche Guttat, die seine Welt verbessern will. Einfach wohltun,
-soviel man kann, aus <em class="gesperrt">Freud</em> am Wohltun, mehr kann man nit. Was
-würd denn der stolze Herr Justus sagen, wollt ich vor ihn hintreten und
-ihm was schenken? Nein, das geht nit; dem kann ich das nicht antun.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(langsam nach ihrer Hand tastend)</p>
-
-<p>Verzeih mir, Anne &mdash; ich hab dich zu spät erkannt &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Und wenn’s noch Zeit wär, Herr Christian &mdash; die andere Sorge auch los
-zu werden &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(sich aufraffend, rauh)</p>
-
-<p>Was soll das! Laß das! Ich sagte: zu spät!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(seine Linke mit beiden Händen ergreifend)</p>
-
-<p>Ich hab geschwiegen so viele Jahr lang, ich werd schweigen darüber bis
-ans Grab: sprechen Sie aus, was Ihnen das Herz abdrückt!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sei vernünftig, Anne, reg mich nicht auf! (<span class="regie">Lächelnd</span>) Du weißt, das
-verträgt der Geheimrat nicht.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ich bitt Sie, Herr Christian, liebster Herr: spotten Sie nicht, ich
-fleh Sie an! (<span class="regie">Zu ihm hinknieend</span>) Ich hab noch nie vor einem Menschen
-gekniet &mdash; ich beschwör Sie bei Ihrer Qual &mdash; (<span class="regie">mit beiden Händen nach
-dem Porträt weisend</span>) bei den Augen, die Sie verfolgen &mdash;: nehmen Sie
-nicht das Geheimnis mit hinüber!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Steh auf! du beschämst mich! Ich d-dulde das nicht! Der Justus hat dich
-ganz wirr gemacht! Steh auf, sag ich dir,<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> du machst mich zuschanden!
-Willst du mir <em class="gesperrt">noch</em> einen Schlaganfall einjagen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ich will Ihrer armen Seele beistehn! Die macht’s ja nur, daß der Körper
-büßt!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(wild seine Linke gen Himmel spreizend)</p>
-
-<p>Ist denn selbst die Barmherzigkeit eine Furie?! &mdash; (<span class="regie">Die Hand auf
-Annens Kopf senkend, sanft</span>) Was weißt du von meiner Buße, du Engel.
-Steh auf, du überhebst dich vor Demut. (<span class="regie">Die Hand an seine Stirn
-legend</span>) In dies Geheimfach dringt nur der Tod. (<span class="regie">Draußen elektrisches
-Klingelzeichen, während Anne sich erhebt</span>) &mdash; Geh, öffne; (<span class="regie">matt ihre
-Hand ergreifend</span>) du hast mir wohlgetan&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(küßt seine Stirn, dann mit traumhaftem Ausdruck)</p>
-
-<p>Denn uns ist heute der Heiland erschienen &mdash; (<span class="regie">legt beglückt ihre Hände
-vor die Brust und geht so leise nickend hinaus</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(wendet sich langsam nach dem Porträt um)</p>
-
-<p>Verfolgst du mich wirklich noch?! &mdash; (<span class="regie">Wendet sich langsam zurück,
-schließt die Augen; dann mit verklärtem Gesicht</span>) Bald nicht mehr &mdash; &mdash;
-(<span class="regie">Die Tür geht auf, Anne läßt den Minister und den Oberbürgermeister
-eintreten</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Der Minister</em></p>
-
-<p class="regie">(mit einer Verbeugung, der sich der Bürgermeister anschließt,
-während Anne Holz in den Kamin legt)</p>
-
-<p>Guten Tag, Herr Geheimer Rat; es tut mir leid, Sie stören zu müssen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian Wach</em></p>
-
-<p>Nicht im geringsten, Euer Excellenz. Wollen Sie nur entschuldigen, daß
-mein Zustand mir nicht erlaubt, den Herren geziemend entgegenzukommen.
-Darf ich bitten, Platz zu nehmen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p class="regie">(während Anne hinausgeht)</p>
-
-<p>Die Ehrerbietung erfordert zunächst, meinen Auftrag stehend zu
-erstatten. Auf Befehl Seiner Königlichen Hoheit, unsers gnädigsten
-Landesherrn, habe ich Ihnen, Herr Geheimer Rat, die persönliche
-Eröffnung zu machen: So sehr die Gesinnung zu würdigen ist, aus der Sie
-Ihre Namensverknüpfung mit dem von Ihnen gestifteten radioklinischen
-Institut ablehnen, kann doch des guten Beispiels wegen ein solches
-Geschenk nicht angenommen werden, ohne es durch ein rühmliches Zeichen
-der allgemeinen Erkenntlichkeit zu erwidern. Seine Königliche Hoheit
-haben daher geruht, in der Annahme, daß es Ihnen eine Weihnachtsfreude
-bereiten wird, Sie in den Adelsstand zu erheben; die Urkunde folgt
-heute Nachmittag. (<span class="regie">Sich auf den Stuhl links des Tisches setzend, mit
-lächelnder Unamtlichkeit</span>) Ich erlaube mir, Herr von Wach, Ihnen ohne
-Phrase zu sagen, daß ich Ihren Dank richtig ausrichten werde.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Es liegt meinem Selbstgefühl fern, Excellenz, mich gegen ein gütiges
-Wort zu wehren &mdash; (<span class="regie">sie reichen einander unwillkürlich die Hand</span>).</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></p>
-
-<p class="regie">(ist stehen geblieben, räuspert sich)</p>
-
-<p>Ich bin nicht blos erschienen, Herr Geheimrat von Wach, um Ihnen
-meinen aufrichtigen Glückwunsch zu der soeben vernommenen hohen
-Auszeichnung darzubringen; ich stehe hier zugleich in Vertretung der
-behördlichen Körperschaften unserer Haupt- und Residenzstadt, die
-auf mein sachliches Betreiben, trotz der persönlichen Widerstände
-gewisser starrköpfiger Mitbürger, den weitherzigen Beschluß gefaßt
-haben, zur dauernden Erinnerung an die gemeinnützige Betätigung Ihrer
-unentwegten Menschenliebe ein bedeutsames Merkmal zu errichten, sowohl
-um Ihnen selbst im Gedächtnis künftiger Zeiten und Geschlechter<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span>
-Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, als auch um andere Menschenfreunde
-zu gleicher Betätigung anzuleiten. In diesem überpersönlichen Sinne,
-hochzuverehrender Herr Geheimrat, soll Ihr in Öl gemaltes Porträt,
-und zwar von der Hand des bewährten Direktors unserer Kunstakademie,
-in unserem Rathause aufgehängt werden; und in Rücksicht auf Ihre so
-werte Gesundheit, deren baldige Wiederherstellung jeder Wohlgesinnte
-wünschen muß, bitte ich Sie, ihm mitzuteilen, zu welchen Stunden Sie
-ihm in der Festwoche die leider aus künstlerischen Gründen unumgänglich
-erforderlichen Modellsitzungen gewähren wollen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Sie dürfen überzeugt sein, Herr Oberbürgermeister, daß ich Ihren
-„weitherzigen Beschluß“ im vollen Umfang zu schätzen weiß, sowohl die
-überpersönliche Gerechtigkeit wie die persönlichen Widerstände. Ich
-meinesteils würde zwar am liebsten ebenso starrköpfigen Widerstand
-leisten; aber da ich nicht mehr kräftig genug zu dieser (<span class="regie">absichtlich</span>)
-Betäterätätigung bin, so bitte ich dem Herrn Akademiedirektor mit einem
-verbindlichen Gruß zu bestellen, daß er seine Staffelei wohl bald vor
-meiner L-Leiche wird aufschlagen können.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>Ich hoffe, verehrter Herr Geheimrat, Sie werden damit nicht sagen wollen</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p class="regie">(erregt)</p>
-
-<p>Ich will damit sagen, verehrter Herr Ober-b-bürgermeister, daß ich
-nach meinem Tod nicht verhindern kann, der M-Menschheit in Öl serviert
-zu werden; zu meinen L-Lebzeiten bin ich lalala-leider &mdash; (<span class="regie">sich
-zusammennehmend</span>) für <em class="gesperrt">diese</em> „sachliche“ Behandlung meiner
-nebensächlichen Person nicht ganz menschenfreundlich genug.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p class="regie">(sich in die Brust werfend)</p>
-
-<p>Ich hätte es kaum für möglich gehalten, daß eine so wohlerwogene Ehrung
-auf solche Verkennung stoßen würde. Zu meinem tiefsten Bedauern bleibt
-mir nur übrig, dies der Bürgerschaft zur Kenntnis zu bringen; und
-wenn ich mich jetzt hier verabschieden muß, so geschieht es mit dem
-Bewußtsein, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß ich des Beifalls der
-weitesten Kreise in diesem Falle gewiß sein darf. Ich empfehle mich
-Euer Excellenz &mdash; (<span class="regie">der Minister steht auf</span>) oder falls Sie mich zu
-begleiten gedenken</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Darf ich wohl bitten, Excellenz, noch einen Augenblick zu verweilen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p>Gern, Herr Geheimrat. Verzeihung, Herr Oberbürgermeister.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Bürgermeister</em></p>
-
-<p>So empfehle ich mich denn wiegesagt &mdash; (<span class="regie">man verbeugt sich gemessen &mdash;
-er geht gewichtig ab</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p class="regie">(indem er sich wieder setzt)</p>
-
-<p>Ich bin zu jeder Vermittlung bereit.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Es tut keine mehr not, (<span class="regie">lächelnd</span>) ich bin erledigt. (<span class="regie">Ernsthaft</span>) Ich
-wollte nur fragen, Excellenz: würden Sie wohl einem Sterbenden eine
-unumwundene Antwort geben?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p>Soweit das menschenmöglich ist&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Warum häuft man Ehren auf eine Person, die man doch für schändlich
-hält? Warum p-peinigt man mich mit Gnadenmienen, hinter denen der
-Abscheu grinst?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p>Die Ehre gilt niemals der Person, stets nur der Sache, der man dient.
-(<span class="regie">Lächelnd</span>) Das entschuldigt auch die Person, die uns soeben verlassen
-hat.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Also wir sind alle dazu verdammt, einander Böses zu tun im Kampf um das
-Gute?!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p>Wenn’s die Sache verlangt &mdash; jeder Sieg kostet Opfer&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Wo bleibt dann die Grenze zwischen Tat und Untat, Heldentum und
-Verbrechertum? Was berechtigt uns, Andre zu opfern?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p class="regie">(diskret ihm huldigend)</p>
-
-<p>Wohl was uns verpflichtet, uns selbst zu opfern. (<span class="regie">Aufstehend</span>) Wem es
-die innere Stimme sagt, der fragt wohl nicht nach dem Urteil der Welt.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Ich danke Euer Excellenz.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Minister</em></p>
-
-<p class="regie">(ihm die Hand hinstreckend)</p>
-
-<p>Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian von Wach</em></p>
-
-<p>Ihnen noch viele, Excellenz! &mdash; &mdash; (<span class="regie">Minister ab, an der Tür sich
-nochmals verneigend; Christian erwidert den Gruß, schließt dann die
-Augen und raunt vor sich hin</span>) Wem es die innere Stimme sagt &mdash;? &mdash;
-(<span class="regie">Es klopft, und Justus Wach tritt ein</span>) &mdash; &mdash; Nun, Justus, mein
-Spiegel, bist du schön blank heut?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(sich rechts des Tisches setzend)</p>
-
-<p>Macht es dir wirklich noch immer Vergnügen, mir das unbedachte Wort
-nachzutragen, das ich damals in der Erregtheit hinwarf?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wie sollte es nicht? Du bist doch noch immer bestrebt, mir mein wahres
-Gesicht zu zeigen. Das macht mir wirklich ein ungemeines Vergnügen;
-das einzige, das mir die Welt noch bietet. Ich bin dir auch wirklich
-dankbar dafür.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Also dazu hast du mich in dein Haus gelockt: dem Herrn Geheimrat als
-Hofnarr zu dienen. Und ich war einfältig genug, mir von der guten Anne
-aufschwatzen zu lassen, es sei dir ernstlich um eine Versöhnung zu tun.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Außerordentlich rührend bei deinem Beruf, dies Selbstbekenntnis deiner
-Einfalt. Seit wann bist du denn so versöhnlich gestimmt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Du weißt sehr gut, daß es mich reut, deinen Schlaganfall veranlaßt zu
-haben; wenn es auch ohne Absicht geschah.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ja, das hast du mir schon mehrmals gesagt. Aber nicht wahr: mein
-Tagebuch, das hast du noch immer nicht aufgespürt&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Hältst du es denn in der Tat für möglich, ich hätte bei einiger
-Überlegung nur eine Minute lang geglaubt, daß ein solches Geständnis
-vorhanden sei? Wenn du es je geschrieben hättest, wär es doch längst
-von dir vernichtet.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(wie zufällig die Hand auf seine Papiere legend)</p>
-
-<p>Und wenn es nun doch noch irgendwo läge?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich lasse mich nicht mehr zum Narren halten!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wenn es mir nun eine Wollust wäre, mit der Entdeckungsgefahr zu
-spielen? Wenn mich immerfort die L-Lust stachelte, die unersättlich
-marternde Lust, mein Geheimnis der Welt ins Gesicht zu schreien? und
-dabei die W-Wonne der Selbstbeherrschung, der Welt nicht den Gefallen
-zu tun! mich nicht knechten zu lassen von dieser B-Beichtsucht! diesem
-schamlosen Mitteilungstrieb, der uns alle zu armen Sündern macht! &mdash;
-Hast du dir das noch nie überlegt?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Wenn du mich etwa nötigen willst, Weihnachten anderswo zu feiern, dann
-bitte sage es mir doch offen! Die Anspielungen auf meinen Beruf werden
-mir nachgerade lästig.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du kannst dir also garnicht denken, daß ein M-Mörder ein ehrlicher
-Mensch sein kann?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich denke mir, daß du durch deinen Reichtum, weil du keine andre
-Beschäftigung hattest, zum Grillenfänger geworden bist. Nun tüftelst
-du dir aus allerlei Zufällen ein neunmalkluges Verbrechen zusammen,
-blos um dir nicht einzugestehen, daß dir glücklicherweise der Mut dazu
-fehlte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Deine Menschenkenntnis ist fast so gründlich wie deine gute Meinung
-von mir. In der Tat, Vetter: es ist tief beschämend, so als elender
-Mitmensch dazusitzen, wo man Teufel und Engel zugleich sein wollte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nun, die Märtyrer-Rolle hat auch ihre Glorie. Sonst hättest du wohl die
-Selbstquälerei nicht so lange ausgehalten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und wenn ich nun all die Jahre lang gegen die Versuchung angekämpft
-hätte, diese Qual mit eigner Hand abzu-b-brechen? (<span class="regie">Krampfhaft die Hand
-aufs Herz drückend</span>) Wenn’s mir nun zu erbärmlich gewesen wäre, so vor
-mir selbst in die B-Binsen zu gehn? Wenn ich lieber die Buße ertragen
-hätte, vor jedem unbe-bedachten Wörtchen zu beben, als diese B-Babbala
-&mdash; (<span class="regie">sich bezwingend, da Justus ihm Hilfe leisten will</span>) laß &mdash; ich
-danke &mdash; &mdash; ich wollte sagen: Blamage des Selbstmords.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich muß es wohl aufgeben, Christian, dein Gewissen zu beruhigen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Ja, wir haben <em class="gesperrt">beide</em> unsern Beruf verfehlt; du als Mitmensch, und
-ich als Unmensch.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich will dich wahrhaftig nicht aufregen, aber du zwingst mich ja dazu.
-Warum bringst du das Unrecht, das ich dir antat, trotz meiner Abbitte
-immer wieder zur Sprache?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Vielleicht weil es mein „Gewissen beruhigt“, deine Gerechtigkeit wanken
-zu sehen. Wenn du sicher wüßtest, ich hatte gemordet, würdest du dann
-wohl noch geneigt sein, mir die Hand zur Versöhnung zu bieten?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Es gibt doch Morde, die sogar das Gericht verzeiht.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>In der Tat; du bist sehr entgegenkommend. Und die M-Massenmorde
-fürs Vaterland, daß heißt für Thron und Altar und Kapital, oder für
-Freiheit, Gleichheit, L-Lüderlichkeit oder son<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span>stige große Rosinen: die
-verherrlicht sogar die W-Weltgeschichte. Blos, das sind alles Morde aus
-Leidenschaft, aus Eifersucht, Rachsucht, Ehrgefühl, Pflichtgefühl; die
-freilich entschuldigt man edelmütig.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nun, wenn auch nicht grade vor Gericht, aber unter vier Augen
-betrachtet, ist wohl auch deine Art Menschenliebe eine entschuldbare
-Leidenschaft.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Aber Justus, ich werde irre an dir! Sollte ich endlich dein Herz
-erweicht haben?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(schroff)</p>
-
-<p>Wenn du mir keinen Glauben schenkst, beweisen läßt sich dergleichen
-nicht.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(die Hand auf seine Papiere legend)</p>
-
-<p>Wer weiß; ich könnte mich doch vielleicht „unter vier Augen“
-überzeugen, wie weit du mein Vertrauen ehrst.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>So? Könntest du das?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wenn ich wüßte, Justus, wie weit du dir selber trauen darfst? (<span class="regie">Da
-Justus Miene macht aufzufahren</span>) Bitte bleib sitzen, ich will dich
-nicht kränken. An deinen guten Willen glaube ich gern. Ich wollte dich
-sogar zum Christfest um einen kleinen L-Liebesdienst bitten.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Wenn es dir wirklich ernst darum ist &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(nimmt aus seinen Papieren ein mit fünf roten Siegeln
-verschlossenes Heft)</p>
-
-<p>Ich habe gestern mein Testament neu verfaßt; ich wollte<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span> dich bitten,
-hier das alte &mdash; (<span class="regie">draußen elektrisches Klingelzeichen</span>) ah, der
-Sanitätsrat; nun, dann nachher. &mdash; (<span class="regie">Das Heft wieder unter die
-Schriftstücke schiebend</span>) Ich bin sein besuchtester Patient, seitdem er
-mich nicht mehr retten kann. (<span class="regie">Anne läßt den Sanitätsrat eintreten</span>) &mdash;
-Willkommen, mein werter L-Lebensretter!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(während Anne an den Kamin geht und wieder Holz aufs Feuer
-legt)</p>
-
-<p>Danke, danke, mein teuerster Todeskandidat. (<span class="regie">Zu Justus, der
-aufgestanden ist</span>) Aber bitte doch Platz zu behalten. (<span class="regie">Sich
-gleichfalls setzend, links des Tisches</span>) Und bitte mich nicht
-mißzuverstehen. Todeskandidaten sind wir ja alle; Sie können mich noch
-gut überleben! &mdash; (<span class="regie">Christians linkes Handgelenk nehmend, sich nach
-Anne umdrehend</span>) Gelt, Schwester: der reine Methusalems-Puls! Sie
-messen den Blutdruck doch noch regelmäßig?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Gewiß, Herr Geheimrat; er ist etwas niedriger.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(während Anne hinausgeht)</p>
-
-<p>Natürlich! Blos Aufregung vermeiden! Bei Ihrer zähen Konstitution:
-wir werden schon wieder Lebensmut fassen! In der letzten Sitzung der
-Menschenfreunde hat man sogar darauf gewettet, Sie würden doch noch
-Mitglied werden.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sehr gütig; aber einstweilen scheint mir, der ehrlichste Menschenfreund
-ist der T-Tod.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Ja, der Mensch bleibt ewig ein Grillenfänger.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Haha-hörst du’s, Vetter? Jetzt muß ich’s wohl glauben.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(lachend)</p>
-
-<p>Die Diagnose stellt dir Jeder!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>„Jeder Wohlgesinnte!“ sagt der Herr Bürgermeister. (<span class="regie">Zu Christian</span>)
-Aber was hat denn der Biedermann? Begegnete mir bei der neuen Klinik
-und machte ein Gesicht wie ein Truthahn, als ich Ihren Namen nannte.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ist Ihnen vielleicht auch der Akademie-D-Direktor bei der neuen Klinik
-begegnet?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Aber Verehrtester, ruhig Blut! Sie werden sich doch nicht einbilden,
-ich hätte den Kitsch mit ausgeheckt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nein; aber jeder P-Pinsel bildet sich ein, er dürfe mich mit
-Berühmtheit beschmaddern, weil ich das selber schon reichlich besorgt
-habe.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Ja, der Mensch ist von Natur größenwahnsinnig. Aber wiegesagt: nur
-nichts tragisch nehmen! (<span class="regie">Zu Justus</span>) Nicht wahr, Herr Leutnant, Sie
-werden das Ihre tun, uns die Grillen vertreiben zu helfen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ja selbstverständlich! nach Kräften! mein Möglichstes!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p class="regie">(aufstehend)</p>
-
-<p>Also dann: gesundes Fest allerseits! Und nicht wahr: wenn das Herzchen
-doch wieder muckt: sind ja nur drei Schritte zu mir hinüber.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd, die Hand ins Leere schwenkend)</p>
-
-<p>Mancher geht auch ohne Schritte hinüber&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Sanitätsrat</em></p>
-
-<p>Ohoh! solche Witze darf <em class="gesperrt">ich</em> blos machen. (<span class="regie">Beiden Herren<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span>
-die Hand schüttelnd</span>) Na wiegesagt: gesegnete Mahlzeit &mdash; (<span class="regie">geht
-händereibend eilends ab</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Es scheint, die M-Menschenfreunde wollen mich jetzt zum eingebildeten
-Kranken stempeln.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Das könnte dir doch nur angenehm sein.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und wenn es mir nun &mdash; entsetzlich wäre?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Über diese Annahme darf ich wohl lächeln.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Wenn ich dir aber nun eingestände, wie es mich manchmal ekelt und reut,
-daß ich mich nicht verurteilen ließ? wie es mich damals b-bohrend
-drängte, öffentlich für die Tat einzutreten, zu der mir, wie du jetzt
-gütigst meinst, g-glücklicherweise der Mut gefehlt hat?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Dann müßtest du mir schon erlauben, auch <em class="gesperrt">diese</em> Einbildung zu
-belächeln.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Auch wenn ich w-wirklich gemordet hätte?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Dann doch erst recht, bei deiner Gemütsart.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Bei meiner Feigheit, willst du wohl sagen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nein, in diesem Falle: bei deiner Verstocktheit.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sehr schmeichelhaft, daß du die für so stark hältst. Aber die Reue
-kann ebenso stark sein, selbst im verstocktesten Misse<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span>täter. Dein
-bewunderter Bonaparte zum Beispiel: Haha-Hunderttausende hat er
-skrupellos auf seinen Schlachtfeldern umgebracht, aber der eine Duc
-d’Enghien, den er hi-hinterlistig hinrichten ließ, der wurmte ihn noch
-auf Sankt-Helena, trotz aller staatsklugen Entschuldigungsgründe. Die
-Vernunft mag noch so zielbewußt über das Gewissen hinwegschreiten, das
-Gemüt l-läßt sich nicht hintergehen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Nun, du merkst wohl, ich sprach dir blos zu Munde. Da es dir Spaß
-macht, dich selbst zu narren, will ich kein Spielverderber sein.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Also du hältst mich nicht für verstockt?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Sonst hättest du doch wohl kaum die Absicht, grade mir einen
-Liebesdienst anzuvertrauen.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(lächelnd)</p>
-
-<p>Sehr freundlich, daß du mich erinnerst. (<span class="regie">Das versiegelte Heft wieder
-vorholend</span>) Aber darf ich dich erst noch bitten, mir mit deiner
-m-möglichsten Offenheit eine Frage zu beantworten?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Und &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Gesetzt, ich hä-hätte den Mut gehabt, den du mir ehrlicherweise
-absprichst, &mdash; gesetzt, ich hätte t-trotzdem die Reue, die du mir
-anstandshalber nicht zutraust, &mdash; (<span class="regie">schwer die Hand auf das Heft
-legend</span>) gesetzt, ich würde es dir <em class="gesperrt">beweisen</em> &mdash; unter vier Augen,
-lieber Vetter &mdash; nicht vor Zeugen, Herr Ki-Kriminalkommissar &mdash;: wärest
-du dann noch bereit zu dem Liebesdienst?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Wie kann ich das wissen &mdash; ohne Beweis&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ist mein Anblick dir nicht Beweis genug?!&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Ich muß wohl verstummen, wenn du so fragst.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Du meinst, ein Verbrecher verdient kein Vertrauen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Wenn er bereut, vertraut ihm sogar der Richter.</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Und wenn dich nun ein solcher Verbrecher, dem die Reue aus jeder
-Grimasse stiert, den sie t-tausendfältig härter gestraft hat, als
-irgend ein Richter strafen kann &mdash; wenn dich der nun unter vier Augen
-bäte: (<span class="regie">wieder die Hand auf das Heft legend</span>) hier ist mein Geständnis,
-vernichte es! du hältst meine Seele in der Hand! du kannst sie aus der
-Verzweiflung retten! du siehst, es foltert mich stückweis zu T-Tode,
-daß ich ein einzig Mal unmenschlich war! du gibst mir den Glauben ans
-L-Leben zurück, ans Ewige Leben, an Gott und die Menschheit, <em class="gesperrt">wenn du
-m-menschlicher handelst als ich</em>&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(die Hand nach dem Heft ausstreckend)</p>
-
-<p>Ich soll es also &mdash; ins Feuer werfen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(überläßt es ihm lächelnd)</p>
-
-<p>Ja, Justus &mdash; zum Christfest wiegesagt &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(steht auf, macht einige Schritte nach dem Kamin hin, wendet sich
-plötzlich ruckhaft um)</p>
-
-<p>Und du denkst, so lasse ich mich begimpeln? Du bildest dir ein, ich
-durchschau nicht dein Lächeln? Du glaubst, du kannst mich (<span class="regie">nach dem
-Porträt weisend</span>) beschwatzen wie <em class="gesperrt">die</em> da und dann mich auslachen
-wie noch nie? Du Narr, der Andre zu narren meint! &mdash; (<span class="regie">Den Umschlag von
-den Heftblättern reißend und ihn vor Christians Füße schleudernd</span>)<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span>
-Hier: <em class="gesperrt">so</em> behandle ich dein Geständnis! kraft meines Amtes, du
-Auswurf der Menschheit! &mdash; (<span class="regie">Hastig die Blätter musternd</span>) Was? &mdash; wa
-&mdash; (<span class="regie">steht in sprachloser Verblüfftheit da</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Nun? Was sagt dir das leere Papier?&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(die Blätter zerfetzend und wegschmeißend)</p>
-
-<p>Ah, du Jammergestalt, du schandschnäuzige! (<span class="regie">Mit geballten Fäusten auf
-Christian los</span>) Du bist ja die raffinierteste Viper, die je den Erdball
-begeifert hat! (<span class="regie">Vor Christians Blick zurückzuckend</span>) Wenn mir nicht
-graute, dich anzurühren, ich schlüg dir die Zähne aus dem Giftmaul!
-(<span class="regie">Die Fäuste in die Hüften stemmend</span>) Ist denn kein Funken Scham in
-dir, so mein heiligstes Pflichtgefühl zu verhöhnen?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(endlich gell loslachend)</p>
-
-<p>Ha-ha-ha-hei &mdash; dein hei &mdash; hahahei &mdash; (<span class="regie">plötzlich krampfhaft nach Luft
-ringend, lallend</span>) heili &mdash; ha-heili &mdash; ha-hilf &mdash; hilf!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Dir &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(röchelnd)</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Hilf</em>, Justus! ich dank dir’s! ich sterbe! ich fühl’s!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Dann stirb, Giftmischer!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(mit brechender Stimme, unsäglich lächelnd)</p>
-
-<p>Hab Dank, du &mdash; M-Mörder! (<span class="regie">er sinkt zusammen</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(sich an die Brust fassend)</p>
-
-<p>Ich &mdash;? &mdash; (<span class="regie">Hart, mit abwälzender Handbewegung</span>) Lächerlich! &mdash; (<span class="regie">Er
-geht erhobenen Hauptes zur Tür; öffnet, ruft</span>) Anne! Schwester Anne! &mdash;
-(<span class="regie">Sie kommt, er zeigt auf Christian</span>) Sehen Sie nach, ob noch zu helfen
-ist; ich möchte den Arzt nicht unnütz bemühen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(auf die Papierfetzen deutend)</p>
-
-<p>Was ist geschehen? War <em class="gesperrt">das</em> die Versöhnung?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p>Rasch! helfen Sie lieber! Mir scheint, er regt sich&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(rechts des Tisches sich über Christian beugend, während Justus
-sich links auf die Stuhllehne stützt)</p>
-
-<p>Das Herz, das klopft noch &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p class="regie">(traumhaft)</p>
-
-<p>Anne, bist <em class="gesperrt">Du’s</em> &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ja, Herr Christian, ich; &mdash; nur still &mdash; nur nit bang&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sie sollen mich nicht so ansehn alle!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Nein, Herr Christian, niemand &mdash; nur ich! &mdash; (<span class="regie">Sich aufrichtend, mit
-unabweisbarer Frage</span>) Herr Justus &mdash;?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(von ihrem Blick bezwungen)</p>
-
-<p>Ja, dann ist’s meine Pflicht, den Arzt zu rufen &mdash; (<span class="regie">geht gesenkten
-Hauptes hinaus</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sind wir allein, Anne?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Ganz allein &mdash; (<span class="regie">sie legt ihren Arm um seine Schultern</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich seh noch immer die Augen alle &mdash; &mdash; nicht M-Menschenaugen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Engelaugen &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span></p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Sie wollen alle, ich soll es s-sagen &mdash; &mdash; nur einmal sagen&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Dann ist’s gesühnt &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich &mdash; hörst du, Anne?</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Gott</em> will es hören &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich &mdash; hilf doch, Anne!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p>Nur Gott kann helfen &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Christian</em></p>
-
-<p>Ich &mdash; ich &mdash; haha-habe &mdash; &mdash; (<span class="regie">jäh sich aufbäumend, schreiend</span>)
-<em class="gesperrt">Nein</em>, Gott &mdash; (<span class="regie">sich ans Herz greifend, selig lächelnd</span>) ich
-nicht! &mdash; (<span class="regie">er stürzt mit dem Gesicht auf den Tisch</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(faßt ihn bang bei der Schulter)</p>
-
-<p>Herr Christian &mdash; lieber Herr Christian &mdash; &mdash; (<span class="regie">neigt ihr Ohr an seine
-linke Seite, kniet dann ehrfürchtig neben ihm nieder, faltet die Hände
-zu stillem Gebet</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Justus</em></p>
-
-<p class="regie">(öffnet horchend die Tür, läßt sie offen, tritt leise ein, nähert
-sich verhalten dem Tisch, wartet bis Anne sich erhebt; dann mit
-heiser drängender Stimme)</p>
-
-<p>Hat er gebeichtet? was hat er gesagt? &mdash; (<span class="regie">Da Anne zurückweicht, barsch
-auf sie los</span>) Was hat er gesagt? ich treib Sie zum Zeugeneid!</p>
-
-<p class="person"><em class="gesperrt">Anne</em></p>
-
-<p class="regie">(noch einen Schritt zurücktretend, hoheitsvoll nach der Tür
-weisend)</p>
-
-<p>Gehen Sie endlich, Sie armer Mensch! &mdash; (<span class="regie">Justus, langsam sich an die
-Brust fassend, starrt auf den Toten</span>)&nbsp;&mdash;</p>
-
-<p class="regie padtop2">(Vorhang)</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p>
-
-<h3 id="Michel_Michael">Michel Michael<br />
-<span class="s5">Komödie in Versen</span><br />
-<span class="s6">Zweite Ausgabe</span></h3>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span></p>
-
-<p class="center padtop3 break-before"><em class="gesperrt">Personen</em>:</p>
-
-<div class="centre-container">
- <div class="centred">
- <div class="item"><em class="gesperrt">Michel Michael</em>, ein deutscher Bergarbeiter.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>, sein Mündel.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Die Frau Venus.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Tyll Eulenspiegel.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der getreue Eckart.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der Kaiser Rotbart.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>, ein Sozialdemokrat.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>, ein Ultramontaner.</div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der Bergrat.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der Landrat.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister.</em></div>
- <div class="item"><em class="gesperrt">Die Frau Bürgermeisterin.</em></div>
- <div class="item">Ein Kaplan.</div>
- <div class="item">Ein Pastor.</div>
- <div class="item">Drei Maschinenheizer.</div>
- <div class="item">Polizisten. Kobolde. Leute in Masken.</div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="center padtop1"><em class="gesperrt">Zeit und Ort</em>:</p>
-
-<p class="center">Eine Johannisnacht in einer mitteldeutschen Kreisstadt.</p>
-
-<p class="regie">(Rechts und links immer vom Zuschauer aus.)</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container break-before">
- <div class="poetry">
- <div class="person padtop1"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als
- Vorredner</em></div>
- <div class="regie">(von rechts kommend, in roter Gugeltracht mit
- Pritsche):</div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meine allergnädigsten Damen und sehr verehrlichen Herrn!</div>
- <div class="verse">Sie werden mirs wohl glauben: ich gefiele Ihnen gern.</div>
- <div class="verse">Aber mein Herr, der Dichter, hat mich leider ausersehn,</div>
- <div class="verse">Jedem eine Nase zu drehn.</div>
- <div class="verse">Wer weiß, vielleicht dreh ich ihm selber auch eine;</div>
- <div class="verse">indessen diese Nase hat &mdash; lange Beine.</div>
- <div class="verse">Zunächst nämlich soll ich mich erfrechen,</div>
- <div class="verse">über den Gang der Handlung im Voraus mit Ihnen zu sprechen.</div>
- <div class="verse">Sie sehn’s schon an mir, und merken mit Gruseln: huh,</div>
- <div class="verse">hier gehts offenbar geheimnisvoll zu.</div>
- <div class="verse">Meine Maske hat weder Haut noch Haar,</div>
- <div class="verse">blos ein unverschämtes Allerweltsspiegellöcherpaar</div>
- </div>
- <div class="regie">(er weist auf seine Augen)</div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und einen Schlitz für diese meine Zunge</div>
- </div>
- <div class="regie">(er streckt sie heraus)&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und darunter, ganz im Dunkeln, hängt mein Herz und meine Lunge.</div>
- <div class="verse">Damit mach ich meistens nichts weiter als den Wind,</div>
- <div class="verse">in den meine Worte gesprochen sind.</div>
- <div class="verse">Denn mit Worten, da die Worte im Kopf entstehn,</div>
- <div class="verse">kann der Mensch zwar herrlich andern Menschen den Kopf verdrehn;</div>
- <div class="verse">aber da es in der Welt, die sich um uns dreht,</div>
- <div class="verse">dennoch nicht nach unserm Kopf zugeht,</div>
- <div class="verse">so verläuft der Gang der Handlung auf den 2 mal 5 Beinen</div>
- <div class="verse">der Hauptpersonen, ausschließlich der meinen.</div>
- <div class="verse">Ich bin also kein großschnäuziger Tugendschweinigel,</div>
- <div class="verse">sondern heiße Tyll &mdash; mit Ypsilon bitte &mdash; Eulenspiegel;</div>
- <div class="verse">das heißt, ich husche als närrischer Kauz durch die Welt,</div>
- <div class="verse">der sich und andre närrische Käuze mit seinem Doppelspiegel prellt&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
- <div class="regie">(er weist wieder auf seine Augen).</div>
- <div class="stanza">
-<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span>
- <div class="verse">Was für Nebenpersonen noch drin herumlaufen,</div>
- <div class="verse">das ist ein kaum zu zählender Haufen;</div>
- <div class="verse">denn zu den Nebenpersonen um jede Menschenseele herum</div>
- <div class="verse">gehört bekanntlich das ganze p. p. Publikum&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
- <div class="regie">(er verbeugt sich).</div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Manche Person ist übrigens eigentlich keine;</div>
- <div class="verse">und zwei der Hauptpersonen sind im Grunde nur eine.</div>
- <div class="verse">Manche andre zählt mindestens fürn paar Schock;</div>
- <div class="verse">und die hauptpersönlichste natürlich steckt in Jedermanns Rock.</div>
- <div class="verse">Kurz, jegliche Seele tut alles, was sie kann;</div>
- <div class="verse">aha! es scheint, sie fangen schon an.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Vierstimmiger Gesang mit Lautenspiel</em></div>
-
- <div class="regie">(hinterm Vorhang):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir tragen alle ein Licht durch die Nacht,</div>
- <div class="verse mleft6">unter Tag.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(horcht und spricht parodierend nach):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie tragen alle ein Licht durch die Nacht.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Gesang</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir träumen von unerschöpflicher Pracht,</div>
- <div class="verse mleft6">über Tag.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(wie vorher):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie träumen von unerschöpflicher Pracht.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Gesang</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich;</div>
- <div class="verse mleft6">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie helfen ein Werk tun, ist keins ihm gleich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Gesang</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir machen das Erdreich zum Himmelreich;</div>
- <div class="verse mleft6">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie machen das Erdreich zum Himmelreich.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span>
- <div class="verse">Da verkriech ich mich schleunigst, ich armer Schuft;</div>
- <div class="verse">sonst sprengen sie mich am End in die Luft.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er dreht eine Nase, wickelt sich in den Vorhang, und diesen
- mit wegziehend verschwindet er rechts).</div>
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 class="padtop1" id="Erster_Aufzug">Erster Aufzug</h4>
-
-</div>
-
-<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: Altes kleines Landhaus mit Obstgärtchen. Rechts Wald
-und Gartenzaun. Links hinten das Haus. Vorn entlang Landstraße.
-An der Hauswand links ein Wegweiser, dessen drei Arme folgende
-Aufschriften tragen: Zur Stadt, Zur Grube, Feldweg. Am Gartentisch
-sitzen <em class="gesperrt">Michel Michael</em>, der <em class="gesperrt">rote Karl</em> und der
-<em class="gesperrt">schwarze Karl</em>; daneben steht <em class="gesperrt">Lise Lied</em> mit der Laute,
-in hellgrünem Sommerkleid und weißer Schürze.)</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="person padtop1"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(singt bei offener Bühne weiter, während die Andern nur den
-Kehrreim mitsummen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Einst fiel alles Leben vom Himmel herab,</div>
- <div class="verse center">über Tag.</div>
- <div class="verse center">Wir Bergleute schürfen’s aus dem Grab,</div>
- <div class="verse center">unter Tag.</div>
- <div class="verse center">Wir fördern’s herauf, das tote Gestein;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- <div class="verse center">Wir machen’s wieder zu Sonnenschein;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Männer stoßen mit ihren großen Schnapsgläsern an und trinken
- sie leer).</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel Michael</em></div>
-
- <div class="regie">(in schwarzer Gamaschenhose und weißem Hemd mit
- offenem Halskragen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So, Lise, nun hol uns noch jedem so ein Glas;</div>
- <div class="verse">denn die Bergmannskehle</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Weiß schon: ist mehr trocken als naß.</div>
- <div class="verse">O Michel!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Blos heut mal so’n kleinen Seelenwärmer;</div>
- <div class="verse">morgen fließt wieder Milch und Sauerbrunn durch die Därmer.</div>
- <div class="verse">Man muß sich doch für das nächtliche Fest vorbereiten.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span>
- <em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, und dann stöhnt ihr über die schweren Zeiten.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie geht mit den Gläsern und der Laute ins Haus.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(trägt gewöhnlichen schwarzen Jackettanzug, schwarzen Schlapphut
- und rote Krawatte):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also willst du wirklich nachher aufs Johannisfest?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Warum <em class="gesperrt">nicht</em>?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">O blos: weil der Michel sonst sich zehnmal bitten läßt,</div>
- <div class="verse">eh er einmal kommt. Aber ja: der Herr Bergrat hat’s gewunschen,</div>
- <div class="verse">da ists freilich ratsam, sich untertänigst mitzubepunschen.</div>
- <div class="verse">Sicher wittert man’s da oben so gut wie ich:</div>
- <div class="verse">manche Stimme in der Knappschaft schwört auf dich.</div>
- <div class="verse">Hast ein eigen Haus, bist bald Vorhäuer, kannst Leute dingen,</div>
- <div class="verse">möchtest dich gewiß gar zum Steiger aufschwingen;</div>
- <div class="verse">wirst morgen für ’ne Stütze von Thron und Altar gelten,</div>
- <div class="verse">und der Bergrat</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Hör mal, roter Karl: den lass ich nicht schelten.</div>
- <div class="verse">Er meint’s leutselig mit uns Arbeitern allzumal.</div>
- <div class="verse">Er bezahlt auch heute Nacht wieder Musik und Saal.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sehr wahr! und in vier Wochen ist Reichstagswahl.</div>
- <div class="verse">Du Schäfersohn läßt dir leicht was vormusizieren.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(trägt gleichfalls schwarzen Jackettanzug, aber steifen Hut,
-schwarze Krawatte und eine auffällig große Hornbrille mit
-dunkelblauen Gläsern):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, ich meine auch: man muß sich doch wohl etwas salvieren.</div>
- <div class="verse">Ich sage nichts gegen den Regierungskandidaten,</div>
- <div class="verse">aber der Herr Bergrat privatim ist doch sozusagen ein Teufelsbraten.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span>
- <div class="verse">Nicht etwa weil er &mdash; obzwar: auch das ist bedeutungsvoll&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">’ne jüdische Urgroßmutter gehabt haben soll.</div>
- <div class="verse">Aber was man so im stillen von seinem Lebenswandel hört&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du, hörst du’s, Michel? der Schwarze ist christlich empört!</div>
- <div class="verse">Fraglos ist er einzig drum aus der Stadt gekommen,</div>
- <div class="verse">um hier dem Heil deiner armen Seele zu frommen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Lise kommt mit den gefüllten Schnapsgläsern wieder.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoffte allerdings, Sie, Herr Namensvetter, nicht anzutreffen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(sein Glas nehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, gottvoll, wie sich die Menschen äffen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(ebenso):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nun, Gevatter Michael weiß, welche Tiere am lautesten kläffen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(mit ihnen anstoßend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Holla! Frieden, ihr Karle! Gäste solln sich vertragen!</div>
- <div class="verse">Muß ich junger Kerl das euch beiden alten sagen?</div>
- <div class="verse">Hie Knappschaft! Glückauf! Jeder Knappe im Schacht</div>
- <div class="verse">nehm sich vor falschen Wettern in Acht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glückauf, Jungfer Lise! auf das schöne Lied vom Himmel.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Männer trinken):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, das ist am schönsten <em class="gesperrt">ohne</em> euer Kümmelgebimmel.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sieh mal, roter Karl: deine Zukunftsrepublik,</div>
- <div class="verse">das ist doch auch ’ne Art Rattenfängermusik.</div>
- <div class="verse">Und sehn Sie, schwarzer Karl: Ihr Ewigkeitsparadies</div>
- <div class="verse">lockt wohl erst recht die liebe Maus zur Mies.</div>
- <div class="verse">Und derweil ihr Pfiffikusse so die Gegenwart vexiert,</div>
- <div class="verse">hat der dumme Michel sie längst sehre anderst kapiert.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span>
- <div class="verse">Denkt ihr, ich will blos drum heut aufs Maskenfest,</div>
- <div class="verse">weil der Bergrat da ein paar Sektproppen tanzen läßt?</div>
- <div class="verse">dann tät ich mich lieber mit euch hier draußen besaufen.</div>
- <div class="verse">Nein, ich will mein Haus an die Grubengesellschaft verkaufen</div>
- <div class="verse">und in die Stadt ziehn, werte Zeitgenossen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel, nein!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Ja, Lise; das ist nun mal beschlossen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er langt ein paar Schriftstücke aus der Brusttasche.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier, ich hab schon alles mit dem Rechtsanwalt aufgesetzt,</div>
- <div class="verse">und der Bergrat ist kein Knicker; besonders jetzt,</div>
- <div class="verse">wo sie doch die Vorstadtzeche weiter austeufen wollen</div>
- <div class="verse">und Platz brauchen für den neuen Wetterstollen,</div>
- <div class="verse">da wird er heut Nacht bei’ner Buddel Wein</div>
- <div class="verse">gern zu sprechen sein</div>
- <div class="verse">und mir die werte Unterschrift geben.</div>
- <div class="verse">Potz Taler, Lise! sollst sehn, das wird ein Leben!</div>
- <div class="verse">Na, was machst du denn fürn Sechsdreiergesicht?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mir ist bang um dich, Michel. O bitte, tu’s nicht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Achgottedoch! daß dir’s Herzchen nur nicht bricht!</div>
- <div class="verse">Brennst doch sonst drauf, mit in die Stadt zu fluttschen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber für immer?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Für immer tut kein Weibsbild muckschen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nimmt ihre Hand.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weißt du: wenn wir Abends hier manchmal so einsam sitzen</div>
- <div class="verse">und ich seh da drüben im Tal den großen Lichterknäul blitzen,</div>
- <div class="verse">die Bahnkörperlampen, die Schaufenster, die Straßenlaternen,</div>
- <div class="verse">wie sie wetteifern mit den Sternen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span>
- <div class="verse">und was hinter den erleuchteten Scheiben</div>
- <div class="verse">all die tausend Menschenköpfe wohl sinnen und treiben,</div>
- <div class="verse">was für Strahlen hin-und-herzucken zwischen ihnen</div>
- <div class="verse">aus den wunderlichen Instrumenten, Apparaten, Maschinen,</div>
- <div class="verse">elektrischen Drähten &mdash; (<span class="regie">er erhebt sich</span>)</div>
- <div class="verse mleft9">ich kann’s garnicht ganz sagen,</div>
- <div class="verse">wie das strahlt &mdash; und mittendurch rollen funkelnd die Wagen,</div>
- <div class="verse">wodrin Hoch und Niedrig zusammen übers Pflaster jagen,</div>
- <div class="verse">zu Festsälen, Theatern, Bibliotheken, Klubs, Volkshallen,</div>
- <div class="verse">kann sich jedermann immer höher bilden mit Allen&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">ja, dann fühl ichs wild: da <em class="gesperrt">bewegt</em> sich die Welt!</div>
- <div class="verse">so wild, du, daß mirs manchmal die Stirnadern schwellt!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er setzt sich und nimmt einen großen Schluck.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, Fräulein Lise: Sie können’s noch nicht ermessen:</div>
- <div class="verse">in der Stadt, da erwacht der Mensch zu edlern Interessen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nimmt gleichfalls einen großen Schluck.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja &mdash;! Nämlich auch die Kirchen nicht zu vergessen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er trinkt sein Glas leer.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(auf die Schriftstücke hauend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Kurzum, ich will mehr, als mein väterlich Erbteil begaffen,</div>
- <div class="verse">ich will mir auf eigne Faust meinen Fußboden schaffen;</div>
- <div class="verse"><em class="gesperrt">das</em> ist mein Intresse! Jawohl! Wirst es auch noch kapieren;</div>
- <div class="verse">wirst vielleicht dereinst noch in seidnen Kleidern stolzieren,</div>
- <div class="verse">in Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen,</div>
- <div class="verse">und an Einer Tafel mit dem Bergrat sitzen.</div>
- <div class="verse">Also Kopf hoch, Lise! maul nicht! du übertreibst es.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Michel, du bist ein Träumer &mdash; und bleibst es.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hat noch niemand unter meinen Träumen gelitten.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er trinkt Rest mit dem roten Karl.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Komm, bring uns lieber noch solchen lütten dritten</div>
- <div class="verse">und sing eins!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Darum allerdings möcht ich gleichfalls schön bitten.</div>
- <div class="verse">Das heißt, ums Singen mein’ich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Meinen Sie! ums Singen!</div>
- <div class="verse">O, euch sollt alle miteinander der Hörselberg verschlingen!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie stampft mit dem Fuß auf und rennt ins Haus.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hast sie doch wohl ein bißchen gar zu herrisch überrascht.</div>
- <div class="verse">Mich auch, muß ich sagen. Wer erst am Kapitalismus nascht&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(nochmals auf die Schriftstücke hauend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach was, Redensarten! Ich tue, was sich verintressiert.</div>
- <div class="verse">Ihr lauert blos immer und lamentiert.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er steckt die Papiere wieder in die Tasche.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel, Michel &mdash;: jeder Knappe im Schacht</div>
- <div class="verse">nehm sich vor falschen Wettern in Acht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Deren gibts allerdings manche auch <em class="gesperrt">über</em> Tag.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, wenns eure Trinksprüche täten, dann ging’s Schlag auf Schlag.</div>
- <div class="verse">Schwerenot! ihr macht einem wirklich den Feiertag schwül;</div>
- <div class="verse">und dabei ists ein Abend, wie feucht Moos so schön kühl.</div>
- <div class="verse">Hee, Lise! Racker! gleich kommst du! auf der Stelle!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich hol sie&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(er begibt sich durch die Gartenpforte vors Haus zur Tür)&nbsp;&mdash;</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(mit einer sehr großen Schnapsflasche ihm entgegen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Da habt ihr eure Intressenquelle!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie drückt ihm die Flasche in den Arm.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(heimlich, während der rote mit Michel gestikuliert):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Pst, Jungfer Lise, im Vertrauen! ich mein’s wirklich gut.</div>
- <div class="verse">Wenn der Michel nun, und sein Sie froh, daß ers tut,</div>
- <div class="verse">in die Stadt zieht: dann drängen sie ihn so Schritt für Schritt,</div>
- <div class="verse">daß er in das Kränzchen zur heiligen Elisabeth tritt!</div>
- <div class="verse">und Sie, Jungfer Lise, natürlich mit!</div>
- <div class="verse">Es ist vergnüglich, und lohnt sich, wie jede Christenpflicht.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, wenn Sie Eins mir versprechen als Christ; sonst nicht.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gern! Und?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Daß er nicht in die Stadt zieht, Sie Kirchenlicht!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie macht ihm einen Knix und verschwindet.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verflixte Hexe!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Also wirklich, Roter: gib dich endlich zufrieden:</div>
- <div class="verse">die hohen Herrn, die dienen mir blos, um vorerst mein Eisen zu schmieden.</div>
- <div class="verse">Nachher &mdash; &mdash; Was! die ganze Flasche schickt sie uns her?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(die Flasche auf den Tisch stellend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, die Jungfer scheint sehr entgegenkommend; sehr.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aha! sie will ihren Vormund mal wieder im stillen beschämen.</div>
- <div class="verse">Jetzt soll sie’s aber merken: ich kann mich bezähmen!</div>
- <div class="verse">Kein Schluck jetzt wird getrunken!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Hm&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">Nu ja&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft20">Ja, im Grunde</div>
- <div class="verse">soll der Mensch sich beherrschen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Besonders mit dem Munde.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie denkt gewiß, weil ich manchmal Händel anfange;</div>
- <div class="verse">und da ist ihr vor den fremden Stadtmenschen bange.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Oder vielleicht auch &mdash; hm &mdash; vor den Menschern.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft21">Wie?</div>
- <div class="verse">Ach so! Nein, Schwarzer: ich bin kein solches Vieh.</div>
- <div class="verse">Und sie kennt mich; wie Bruder und Schwester sich kennen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Könnt drum doch wohl so’n Fünkchen Eifersucht brennen.</div>
- <div class="verse">Woher hast du sie eigentlich so als Mündel genommen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, woher? &mdash; Aus fernem Süden wohl ist sie gekommen.</div>
- <div class="verse">Es war ein Abend wie heute. Da im Wald.</div>
- <div class="verse">Ich suchte Vogelnester, war so zwölf dreizehn Jahre alt,</div>
- <div class="verse">da hör ich auf einmal ein fremdländisch Lied erklingen;</div>
- <div class="verse">rein als wollt mich ein Bergquell tief aus der Erde durchdringen.</div>
- <div class="verse">Und wie ich mich leise im Moose näher stehle,</div>
- <div class="verse">sitzt da ein klein braun Mädel in einer Höhle,</div>
- <div class="verse">so klein noch, und barfuß, gewiß kaum sechs Jahr,</div>
- <div class="verse">einen Kranz wilde Efeuranken im Haar,</div>
- <div class="verse">und mit Augen, wie der Kuckuck fürwahr&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">ja, so saß sie unter dem Felsenhang</div>
- <div class="verse">und sang &mdash; und sang &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Konnte anfangs kein deutsches Wörtchen sagen,</div>
- <div class="verse">ließ sich nur ihren Namen, der hieß Lilith, abfragen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span>
- <div class="verse">aber weil sie sang, wo sie ging und stand,</div>
- <div class="verse">haben wir sie Lise Lied genannt;</div>
- <div class="verse">bis sie schließlich ganz unsre Sprache angenommen</div>
- <div class="verse">und vergessen hat, woher sie gekommen.</div>
- <div class="verse">Und da mein Vater starb, eh daß sie großjährig war,</div>
- <div class="verse">bin eben Ich jetzt ihr Vormund; bis zum neuen Jahr.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wird wahrscheinlich irgend ein verlaufen Zigeunerkind sein.</div>
- <div class="verse">Ward sie denn getauft?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">O! reichlich! mit Wasser und mit Wein.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da sollt man doch eigentlich eins drauf trinken.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hm. Ist Alles Gottesgabe.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Jawoll! pros’t Schinken:</div>
- <div class="verse">jetzt wird gefastet! und wenn ihr noch so druckst!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Leise:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie steht nämlich hinter der Gardine und luchst;</div>
- <div class="verse">ich kenn sie.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Scheint ja indertat recht schwesterlich aufzupassen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Je nun, ich muß sie doch im Haus schalten lassen;</div>
- <div class="verse">hütet auch heute Nacht wieder allein das Nest.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So &mdash; sie geht nicht mit aufs Johannisfest?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein; sonst würd sie mir doch vielleicht das Geschäft verleiden.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So, so&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span></p>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(an der Flasche fingernd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">jo, jo&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Und wie willst denn Du dich verkleiden?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich geh einfach in Vaters Schäferhut-und-rock</div>
- <div class="verse">und mit seinem langen Hirtenstock.</div>
- <div class="verse">Hat nun manch Jahr schon still in der Ecke gestanden,</div>
- <div class="verse">und strich früher wie’n Feldherrnstab hier herum in den Landen.</div>
- <div class="verse">Ja: kannst mirs glauben: gern zieh ich auch nicht heraus</div>
- <div class="verse">aus dem lieben alten Haus,</div>
- <div class="verse">wo ich von Kind auf jeden Holzpflock drin kenne.</div>
- <div class="verse">Aber wenn ich Morgen für Morgen zur Schicht auf die Zeche renne</div>
- <div class="verse">und ich denk mir, wir solln hier ewig so hocken,</div>
- <div class="verse">uns immer wieder denselben Alltagsbrei einbrocken&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">denn ihr, was wollt <em class="gesperrt">ihr</em> denn? blos lüstern aufmucken</div>
- <div class="verse">und euch dann untern öffentlichen Suppenlöffel ducken,</div>
- <div class="verse">zu dem schon jetzt alle Ja und Amen nicken,</div>
- <div class="verse">bis selbst die Bettelleute schließlich im Fett mitersticken&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">hrr, dann fühl ich’s heiß mir durch jede Pore toben:</div>
- <div class="verse">Luft!!! schenkt uns einen Krieg, ihr Herrn da oben!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er greift nach der Flasche, gießt sich das Glas voll und trinkt.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(sich bekreuzend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Josef-Maria, Krieg! Gevatter, das heißt Gott versuchen!</div>
- <div class="verse">Mit Verlaub &mdash; (<span class="regie">er gießt sich gleichfalls ein</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ja, erlaube, Michel: du hast leicht fluchen.</div>
- <div class="verse">Du bist noch jung, und kennst den Krieg nicht, und meinst voll Feuer,</div>
- <div class="verse">er sei ’ne Art Welteroberungsabenteuer.</div>
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Ist</em> er auch; und tät heute die Sturmtrommel schlagen</div>
- <div class="verse">ich würd meine Knochen wieder mit auf die Schanze tragen;</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span>
- <div class="verse">das steckt uns im Blut, uns Bestien. Ja, ’ne Wollust ist der Krieg,</div>
- <div class="verse">verhilft unsern Raubtiergelüsten zum Sieg;</div>
- <div class="verse">aber Glück, Michel, menschlich Glück schafft er keins.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Papperlapapp, Karl; ist dein Glück etwa meins?</div>
- <div class="verse">Halt keine Volksreden, Roter! trink lieber eins!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Ihm einschänkend und dann mit Beiden anstoßend:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glück, das ist ein Wort wie’ne Fliegenfalle;</div>
- <div class="verse">Glückauf! es lebe der Sirup für Alle!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie trinken.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(tritt lachend aus der Tür an die Hausecke):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wohl bekomm’s! &mdash; Ihr beherrscht euch aber lustig.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, du Kobold du! Seht ihr’s, da habt ihr’s, das wußt’ich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(tritt an den Gartentisch und nimmt die Flasche):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Will sie aber doch vor euch Selbstbeherrschern lieber verstecken.</div>
- <div class="verse">Gute Nacht, ihr Herrn! und laßt’s euch schön langsam schmecken!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie geht wieder ins Haus.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Potz Kuckuck&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Glaub mirs, Michel: du kennst die Kriegswut schlecht.</div>
- <div class="verse">Höchstens aus Notwehr ist sie ein Menschenrecht;</div>
- <div class="verse">das sollte man nicht als ein Glücksspiel verkündigen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, bei den heiligen Nothelfern allen: das heißt sich versündigen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verspielst blos deine Kraft, wenn du immer so überschäumst</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und dabei den Zukunftsstaat versäumst&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Auch die Gegenwart, Michel. Glaub mirs: du träumst!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das kommt, wenn man sich dem ewigen Heil verschließt</div>
- <div class="verse">und zuviel in den neuen Büchern liest.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nippt behutsam an seinem Glas.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, auch in den alten. Ich könnt euch manche Historie sagen,</div>
- <div class="verse">wie sichs hier in Wahrheit einstmals hat zugetragen,</div>
- <div class="verse">als unsre Väter im Herzgau von allen deutschen Landen</div>
- <div class="verse">hier zwischen der Wartburg und dem Blocksberg ihr Seelenheil fanden,</div>
- <div class="verse">zwischen dem Kyffhäuser und dem Hörselberg.</div>
- <div class="verse">Damals ging’s Handeln noch nicht so überzwerch</div>
- <div class="verse">mit Flausen und Klauseln und Staatsrücksichten wie heute;</div>
- <div class="verse">damals <em class="gesperrt">vermochten</em> noch stracks die aufstrebsamen Leute,</div>
- <div class="verse">mit der Faust oder Stirn ihren Hochsinn durchzudrücken,</div>
- <div class="verse">sich selbst und allen Nachkommen zum Entzücken.</div>
- <div class="verse">O, ich sag euch: hier so lesen von den glorreichen Zeiten,</div>
- <div class="verse">und die Dämmrung beginnt aus den Schatten der Zweige zu gleiten,</div>
- <div class="verse">daß die Buchstaben flimmern auf den vergilbten Seiten:</div>
- <div class="verse">schier leibhaftig seh ich sie dann Gestalt annehmen</div>
- <div class="verse">und einherschreiten, die gewaltigen Schemen,</div>
- <div class="verse">die gewappneten Herren aus trutzigem Bauerngeschlechte,</div>
- <div class="verse">die frommen Einsiedler, die klugen Schalksknechte,</div>
- <div class="verse">mit ihren blinkenden Schwertern, Kruzifixen, Helmzierden, Drommeten,</div>
- <div class="verse">gleich als wollten sie da aus dem Wald zu mir treten</div>
- <div class="verse">und mit mir beten &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was! Hier? Gestalten? hier unter diesen Bäumen?</div>
- <div class="verse">Nein, Gevatter Michael: es scheint wirklich, Sie träumen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nippt wieder ein Schlückchen.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na! dann seid ihr Beiden ja endlich einmal einig.</div>
- <div class="verse">Und könnt austrinken! Es wird dunkel, mein’ich.</div>
-</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist freilich Mondschein. Erstes Viertel, wie du siehst.</div>
- <div class="verse">Aber wenn du meinst &mdash; und dich unsre Gesellschaft verdrießt&nbsp;&mdash;</div>
-</div>
-
- <div class="regie">(Er trinkt aus.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, dann wollen wir wahrlich keine Zeit verlieren.</div>
-</div>
-
- <div class="regie">(Er trinkt ebenfalls aus.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, ich mein blos: ich muß mich doch zum Fest ausstaffieren.</div>
-</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(singt im Innern des Hauses, durchs Dachfenster sichtbar):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Willkommen, weißer Mond im Blauen,</div>
- <div class="verse center">allein!</div>
- <div class="verse center">Laß mich in Deine Heimat schauen,</div>
- <div class="verse center">sei mein!</div>
- <div class="verse center">Ich sitz im Dunkeln voll Geduld,</div>
- <div class="verse center">du scheinst!</div>
- <div class="verse center">O leuchte Jedem heim voll Huld,</div>
- <div class="verse center">dereinst!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie schließt das Fenster.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meiner Seel! wenn sie singt, dann ist sie der reine Engel.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, und winkt uns heim mit dem Tulpenstengel.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Im Haus wird Licht angesteckt, hinterm Dachfenster.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also, Michel, Glückauf; vielleicht siehst du mich noch um Mitternacht.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(gleichfalls aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Nu, es ist doch Maskenfreiheit angesagt</div>
- <div class="verse">und jeder wahlberechtigte Bürger nebst Familie eingeladen;</div>
- <div class="verse">da wirds ’nem alten Kriegsveteranen, denk ich, wohl auch nicht schaden.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Siehst du, Roter: das ist wacker! Wahrhaftig, das freut mich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Trotz dem Bergrat? &mdash; Na! ich will nicht hoffen, es reut dich.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er schüttelt ihm die Hand und geht langsam links ab.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich denk, ich komm auch.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">So.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Ja. Ich denk, es bringt Segen,</div>
- <div class="verse">unsre alte ehrwürdige Knappentracht wieder mal anzulegen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schön; stolper nur niemand nicht übern Degen!</div>
- <div class="verse">Glückauf, Gevatter!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er winkt ihm Abschied und geht ins Haus; der schwarze Karl folgt
- verdutzt dem roten.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Tyll Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(kommt von rechts aus dem Wald geschlichen, steigt über den Zaun
-auf die Gartenbank und ruft gedämpft):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Immer vorwärts, gnädiger Herr! die Luft ist jetzt rein.</div>
- <div class="verse">Nur das Jungfräulein wäscht sich im Kämmerlein.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Auch unten im Haus wird ein Fenster hell.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaiser Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(tritt aus dem Wald, in goldner Rüstung, mit geschlossnem Visier,
-sodaß nur sein langer Bart sichtbar ist):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hüt dich, Schalk: sie hat Augen, hurtig wie Eidechsen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der getreue Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(in schwarzer Kutte mit hohem Kreuzstab, die Kapuze tief ins
-Gesicht gezogen, sodaß nur sein weißer Bart hervorguckt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und könnt dich leicht wie den braven Michael behexen.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, der Michel, der ist gänzlich in sich selber versunken.</div>
- <div class="verse">Seht: er hat nicht mal sein Glas ausgetrunken.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(zu Eckart):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie stellen wirs an, Getreuer, ihm zu erscheinen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(von der Bank springend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hopp! wir erscheinen eben. Das genügt, sollt ich meinen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mir deucht, gnädiger Herr, der Schalk rät gut.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(nach dem unteren Fenster deutend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Seht: er ist ganz behext von &mdash; dem alten Schäferhut.</div>
- <div class="verse">Ach, er küßt ihn &mdash; (<span class="regie">ahmt den Kuß ulkig nach</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Darüber soll man nicht lachen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nun, dann werd ich uns mal ernstlich bemerkbar machen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er klappt mit der Pritsche an die Scheibe und klingelt dazu mit
-einer Schelle, die am linken Zipfel seiner Gugelkappe hängt;
-dieser Zipfel ist so lang, daß Eulenspiegel die Schelle in die
-Gürteltasche stecken kann, damit sie nicht von selbst klingelt,
-sondern nur wenn er sie herausnimmt.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel Michael</em></div>
-
- <div class="regie">(tritt in Schäfertracht auf die Schwelle, in blauem Rock und grauem
-Mantel, eine brennende Kerze in der Hand, sodaß die Scheibe nun
-dunkel ist):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wer klopft so spät und dringlich an meinem Fenster?</div>
- <div class="verse">Wer sind die Herren&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(wie ein Standbild aufs Schwert gestemmt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Gestalten&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Gestalten&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">(<span class="regie">mit Verbeugung</span>): sozusagen Gespenster.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Herren scheinen sehr spaßhaft gelaunt. Ich vermute,</div>
- <div class="verse">Sie wollen in die Stadt</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">mit dir auf die Maskenredute;</div>
- <div class="verse">wenn du uns den Weg zeigen willst. Denn merke dir:</div>
- <div class="verse">mit Gespenstern spricht man per Du und Ihr.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir kommen, Michel Michael, um dich aus deinem Unmut zu reißen;</div>
- <div class="verse">ich vom Hörselberg, der getreue Eckart geheißen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich habe bislang im Kyffhäuser meinen Rotbart beglotzt;</div>
- <div class="verse">nun hat mich dein Wagmut endlich heraufgetrotzt.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich brauch mich, Vetter Michel, wohl nicht vorzustelln.</div>
- <div class="verse">Ich bin überallher und starb bekanntlich in Mölln.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Das Dachfenster wird plötzlich dunkel.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weiß also nirgends mehr auf dieser Erde Bescheid,</div>
- <div class="verse">aber desto gründlicher in der Ewigkeit.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(<em class="gesperrt">Lise</em> kommt die Flurtreppe herab, wie früher gekleidet, doch
-ohne Schürze; tritt unbemerkt hinter Michel.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Willst du uns nun, hier wo sich die Wege verzweigen,</div>
- <div class="verse">die rechte Richtung durchs nächtliche Vaterland zeigen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">so wollen wir’s lohnen und dir zum guten Gelingen</div>
- <div class="verse">deines gewagten Geschäftes beispringen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">zum Verkauf deines Hauses&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Wie?? Ihr wißt??</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Daß der Herr Michael heute durchaus kein Träumer mehr ist.</div>
- </div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span></p>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Brauchst nicht starrstehn, als stünd hier der Antichrist;</div>
- <div class="verse">wir haben nur im Wald da vorhin ein wenig gelauscht.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel, tu’s nicht! Stehst ja jetzt schon wie ausgetauscht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was! du bist noch auf, Lise?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Soll wohl mit dir um die Wette träumen?</div>
- <div class="verse">Ich muß doch noch euer Teufelsgeschirr da beiseite räumen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie will an ihm vorbei in den Garten.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(ihr zuvorkommend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Auf Ihr Wohl, mein frommes Fräulein, den teuflischen Rest!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er spritzt ihn hoch in die Luft und überreicht ihr die Gläser.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dürfen wir hoffen, Sie wallfahrten auch mit aufs Fest?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Danke. Hab keine Lust. (<span class="regie">Leise</span>) Ich bitt dich, Michel, tu’s nicht!</div>
- <div class="verse">Was sind das für Leute?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(durch die hohle Hand):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Lockspitzel fürs Jüngste Gericht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(noch leiser):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sind wohl Grubenbesitzer aus dem Nachbarkreis.</div>
- <div class="verse ">Sei friedlich, Lise!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(ihm den Leuchter abnehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Ist mancher friedloser, als er weiß &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie geht mit den Gläsern und dem Licht ins Haus; ein andres
-Fenster als vorher wird hell.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Entschuldigen die Herrn: sie kommt wenig unter Leute,</div>
- <div class="verse">mein Mündel. Und ist voller Unruh heute.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(nach links zeigend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das dort unten, der Lichterhaufen, das ist wohl die Stadt?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, Herr. Nicht wahr: was das einen Andrang nach oben hat!</div>
- <div class="verse">Wie die Glanzpunkte einander immer übersteigen,</div>
- <div class="verse">überflügeln, und doch sich zusammentun zum Reigen;</div>
- <div class="verse">rein als möcht sich der Erdkreis da selber von Grund aus beschwingen,</div>
- <div class="verse">immer heller hinauf in den dunkeln Weltkreis zu dringen</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(pathetisch):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und nachher kopfüber wieder herunter zu springen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Der Eulenspiegel hat dir nur andeuten wollen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">daß es nun wohl Zeit sei, uns langsam hinunter zu trollen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja so! Ja. (<span class="regie">Ins Haus rufend</span>) Lise! bring mir mal Vaters Stock,</div>
- <div class="verse">den langen! &mdash; Ich hoffe, mein schlichter alter Rock</div>
- <div class="verse">paßt zu den Herren Gespenstern nicht schlecht amende?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vortrefflich, Vetter! Besonders (<span class="regie">leise</span>) zu meinem nagelneuen Hemde.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier, Michel.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(den Stock nehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">So! &mdash; Jetzt, ihr Herrn, sollt ihr sehn,</div>
- <div class="verse">ob der Michel versteht, durchs nächtliche Deutschland zu gehn</div>
- <div class="verse">und bis Tagesanbruch sein festlich Geschäft zu vollbringen</div>
- <div class="verse">und auch ohne euern Beistand</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">einen Rausch zu erringen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ei, gestrenges Fräulein, im Rausch wird die Herzenslust rege.</div>
- <div class="verse">Gute Nacht! Ich gönn euch ein rauschend Herz allerwege.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er verneigt sich und schreitet linkshin davon.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(ihm folgend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich schenk euch alles Rauschgold droben im Blauen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(ebenso):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich wünsch euch, allen himmlischen Festrausch zu schauen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(ihnen nachrufend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und ich euch ein höllisches Morgengrauen!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Ach, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Gute Nacht, du ewige Unruh du.</div>
- <div class="verse">Geh schön schlafen. Und schließ die Haustür hübsch zu.</div>
- <div class="verse">Wirst schon sehn, ich sorge für dich aufs väterlich beste;</div>
- <div class="verse">und übers Jahr kannst du auch mit auf solche Feste.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wirklich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ja wirklich, du. Aber jetzt laß mich gehn;</div>
- <div class="verse">horch, man hört schon Musik herüberwehn&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(eine ferne leise Walzermusik tönt bis zum Schluß des Aktes fort)&nbsp;&mdash;</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und die Herren da warten, es ist höchste Zeit.</div>
- <div class="verse">Also leg dich aufs Ohr und träum dir ein fein neu Kleid.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Indem er den Andern nacheilt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und schick deine Mucken heim, du! da auf die Mondsichel,</div>
- <div class="verse">du dumme Lise &mdash; (<span class="regie">er verschwindet</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(ihm mit beiden Händen einen Kuß nachwerfend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Du dummer Michel!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie huscht ins Haus, löscht das Licht, kommt gleich darauf wieder,
-in einen langen schwarzen Schleier gehüllt, ein silbernes Diadem
-mit flimmerndem Stern auf dem Haar, einen langen silbernen Stab
-in der Hand, der oben wie eine Wünschelrute gespalten ist, und
-verschließt die vom Mond beglänzte Tür. Dann sich reckend:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O ja, ich schließ zu. Und den Schlüssel, (<span class="regie">ihn hebend</span>) den sollst du erst finden,</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(ihn ins Mieder steckend)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">wenn dir die Sinne vor Unruh um mich schwinden,</div>
- <div class="verse">du Väterlicher! &mdash; Ja: berausch dich nur gut,</div>
- <div class="verse">du Lieber! Ich fühl’s, was dir braust im Blut.</div>
- <div class="verse">Ich folg dir, ich halt dich im Heimatland&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">O, er weiß noch, wie er sein Findelkind fand!</div>
- <div class="verse">wie’s ihn durchdrang, durchdrang, Herz, als er mich sah:</div>
- <div class="verse">wie ein Bergquell tief aus der Erde&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse mleft6">(<span class="regie">in Gesang ausbrechend</span>) ja &mdash;:</div>
- <div class="verse">so saß ich unter dem Felsenhang&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(linkshin davonschreitend, während der Vorhang sich schließt)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und sang &mdash; und sang &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><span class="s4">*</span></div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div>
-
- <div class="regie">(tritt aus dem Mittelspalt des Vorhangs, klingelt mit seinem
-Schellenzipfel):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meine Herrschaften, das Fest ist in vollem Schwung;</div>
- <div class="verse">selbstverständlich mit polizeilicher Genehmigung.</div>
- <div class="verse">Die ganze Stadt schwebt auf dem Gipfel der Seligkeit;</div>
- <div class="verse">einschließlich der beiderseitigen Geistlichkeit.</div>
- <div class="verse">Jeder darf sich also, ohne irgend eine Pflicht zu entheiligen,</div>
- <div class="verse">an der allgemeinen Begeisterung voll-und-ganz beteiligen.</div>
- <div class="verse">Das soll nicht etwa heißen, ich buhle um Ihre Gunst;</div>
- <div class="verse">sondern blos mein Herr, der Dichter, betreibt diese schändliche Kunst.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span>
- <div class="verse">Er betreibt sie leider mit höchst wohlgeziemenden Mitteln</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(das Gestampf einer Maschine wird hörbar)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und ist fest überzeugt, Sie finden nichts dran zu kritteln;</div>
- <div class="verse">wie Sie hören, sogar mit Dampfkraft und Elektrizität,</div>
- <div class="verse">weils ohne diese Errungenschaften heut nicht mehr geht.</div>
- <div class="verse">Dennoch muß ich sagen</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(eine laut schnarrende Stimme hinterm Vorhang wird hörbar)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">&mdash; na aber! das wird denn doch zu kräftig;</div>
- <div class="verse">ich bitte um Ruhe dadrinne! Hee! Sie begeistern sich zu heftig!</div>
- <div class="verse">Heda, Ruhe! oder ich ruf die Regie!</div>
- <div class="verse">Ich bin ein Gespenst, ich kann nicht so schrein wie Sie,</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(er schreit immer stärker)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie rattern ja lauter als die Dynamomaschine;</div>
- <div class="verse">bitte schließen Sie gefälligst Ihre Phrasenterrine!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Sie! hören Sie nicht? jetzt habe Ich das Wort!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Er hört nicht. Er rattert ruhig fort.</div>
- <div class="verse">Ich fürchte, über solchen voll-und-ganzen Begeisterungston</div>
- <div class="verse">verfügt nur eine wirkliche neuhochdeutsche Regierungsperson;</div>
- <div class="verse">jeder andre Geist krigte davon den Schlucken.</div>
- <div class="verse">Da muß ich braves altdeutsches Gespenst mich wohl ducken</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(er tut es)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und ehrerbietigst das Mundwerk der hohen Behörde enthüllen,</div>
- <div class="verse">damit Sie auch lernen, so begeistert zu brüllen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er schiebt geduckt den Vorhang linkshin auf und verkriecht sich im
-Vordergrund der Bühne.)</div>
-
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 class="padtop1" id="Zweiter_Aufzug">Zweiter Aufzug</h4>
-
-</div>
-
-<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: Eine Gartenwirtschaft mit elektrischen Ampeln,
-bunt voller Leute in Maskenkostümen, doch herrscht die schwarze
-Farbe vor. Im Hintergrund ein erleuchteter Tanzsaal. Rechts ein
-Laubengang mit Tischen und Stühlen, die grün und weiß gestrichen
-sind; auf dem vordersten Tisch ein weißes Tischtuch und ein Schild
-mit der Aufschrift „Reserviert!“ Links unter Bäumen ein langer
-Tisch, an dessen hinterem Ende der schnarrende <em class="gesperrt">Landrat</em>
-steht, mit aufgedrehten Schnauzbartspitzen, in schwarzer Halbmaske,
-Frack und Domino. An den Seiten dieses Tisches sitzen der
-<em class="gesperrt">Bergrat</em> und der <em class="gesperrt">Bürgermeister</em>, ähnlich maskiert, nur
-mit anderen Bärten, der Bergrat mit dunkelm spanischen Spitzbart,
-der Bürgermeister mit grauem Tintenwischer-Schnurrbart; dann die
-<em class="gesperrt">Frau Bürgermeisterin</em> und andre Damen in farbigen<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span> Masken,
-ein <em class="gesperrt">Kaplan</em> und ein <em class="gesperrt">Pastor</em> unmaskiert, der <em class="gesperrt">schwarze
-Karl</em> in Bergknappentracht mit Hornbrille, ihm gegenüber
-<em class="gesperrt">Michel Michael</em> ohne Maske, an der linken Ecke vorn. Die
-Honoratioren tragen Zylinderhüte; nur der Kaplan hat flachen
-Seidenhut. Hinter Michel stehen wie Wachtposten der <em class="gesperrt">Kaiser
-Rotbart</em> und der <em class="gesperrt">getreue Eckart</em>, immer mit geschlossnem
-Visier und Kapuze; und <em class="gesperrt">Eulenspiegel</em> hat sich zu seinen
-Füßen unter die Tischplatte gehockt. In der Mitte der Bühne ein
-Lindenbaum, hinter dessen Stamm <em class="gesperrt">Lise Lied</em> verborgen steht;
-davor eine grün und weiß gestrichene grade Bank ohne Lehne.
-Ringsherum maskiertes Volk; darunter auch Kinder.)</p>
-
-<div class="poetry-container padtop1">
- <div class="poetry">
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(immer lauter schnarrend, um das Gestampf der Maschine zu
- übertönen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und demnach, da Sie merken -ä- bin zwar in Maske erschienen,</div>
- <div class="verse">aber -ä- unverkennbar: Ihr Landrat redet zu Ihnen&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">demnach, sag’ich, will ich hier -ä- in Ihrer festlichen Mitte,</div>
- <div class="verse">wo uns Alle nach guter, echter, alter Sitte</div>
- <div class="verse">sozusagen die brüderlichsten -äh- Gefühle beseelen,</div>
- <div class="verse">will ich, sag’ich, Jedem väterlichst anempfehlen,</div>
- <div class="verse">trotz allen, wie Schiller sagt, feindlichen Gewalten</div>
- <div class="verse">unentwegt unsre heiligsten Güter -ä- hochzuhalten.</div>
- <div class="verse">Und diese -ä- Gefühle &mdash; Gefühle, sag’ich &mdash; sollen uns auch geleiten,</div>
- <div class="verse">wenn wir in diesen unverzeihlich vaterlandslosen Zeiten</div>
- <div class="verse">demnächst, meine Herrn, wie Sie wissen, zur Wahlurne schreiten.</div>
- <div class="verse">Also, meine Herrn -äh- und Damen, wolln wir uns jetzt von den Stühlen</div>
- <div class="verse">zum Zeichen von unsern -ä- unsern -äh-</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(über den Tischrand weg):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">Hochgefühlen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">jawohl: von unsern vaterländischen Hochgefühlen&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">wollen wir uns, sag’ich, jetzt mit unsern Gläsern erheben:</div>
- <div class="verse">unser allverehrter Reichstagskandidat, der Herr Bergrat, er soll leben! hoch!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Chorgesang mit Musik</em></div>
-
- <div class="regie">(während der Landrat dem Bergrat die Hand schüttelt und Alle
-anstoßen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Dann noch immer das Geräusch der Maschine.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreizrudiment! da <em class="gesperrt">muß</em> ja’s Trommelfell reißen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Nach hinten schreiend:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Kerls, die Heizer, sollen die Tür zuschmeißen!</div>
- <div class="verse">Heda!!! Tür zu, sag’ ich! Sofort den Kesselraum schließen!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Man hört eine eiserne Tür zuklappen; das stampfende Geräusch
-verstummt.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bande! Frechheit! Da soll man nu Volksfest genießen.</div>
- <div class="verse">Unerhört! verstand kaum mein eigen Wort.</div>
- <div class="verse">Tun’s selbstredend extra, diese Sozi, uns hier zum Tort.</div>
- <div class="verse">Mußte schrein, daß mir jetzt noch’s Trommelfell klirrt.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach bitte, Herr Bürgermeister, Sie sorgen wohl gütigst beim Wirt,</div>
- <div class="verse">daß uns die Lichtmaschine, bitte, nicht wieder stört.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mit Vergnügen, Herr Bergrat.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Ja! bin wirklich empört!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er soll den Heizern ein Achtel Pilsner auflegen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gern, Herr Bergrat.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er entfernt sich mit der Volksmenge nach dem Tanzsaal.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Pros’t, Herr Corpsbruder! meinen volksfreundlichsten Segen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er trinkt dem Bergrat zu.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Diese Rasselbande! diese roten Radaugesellen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(hat wieder Platz genommen, stampft seine Weinflasche auf den
-Tisch):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mit Verlaub! Indessen: von wegen den Trommelfellen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(etwas schwerhörig):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Äh &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(unterm Tisch hervor):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Trommelfellen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">so im Kesselraum schuften, ist <em class="gesperrt">auch</em> kein Volksvergnügen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Volksvergnügen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Volksvergnügen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bravo, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Frau Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="regie">(auffällig bunt kostümiert, lorgnettierend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Entzückende Gruppe!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Gottvoll!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">Verfluchtige Lügen!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em> (<span class="regie">Fistel</span>) und <em class="gesperrt">Eckart</em> (<span class="regie">Baß</span>):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Lügen! <span class="mleft6">Lügen!</span></div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(Baryton):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Man soll nicht meinen, ihr Leute, man könne den Michel betrügen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Andern lachen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, wie reizend!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Köstlich!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Wie echt gemacht! So natürlich!</div>
- <div class="verse">so romantisch! so richtig sagenfigürlich!</div>
- <div class="verse">nicht wahr, Herr Pastor?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em></div>
-
- <div class="regie">(in schwarzem Gehrock, zugeknöpft, wohlbeleibt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">In der Tat, Frau Bürgermeisterin;</div>
- <div class="verse">ein Maskenscherz mit tiefem evangelischen Sinn.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="regie">(in schwarzer Sutane, noch beleibter):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Man könnte, Herr Amtsbruder, eher wohl katholischen sagen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also, meine Damen und Herrn, erlaub’ich mir vorzuschlagen,</div>
- <div class="verse">weil der biedre Zecher da Michel Michael heißt</div>
- <div class="verse">und offenbar erfüllt ist von wahrhaft volkstümlichem Geist:</div>
- <div class="verse">wir erteilen nachher dem deutschen Michel nebst Geisterbegleitung</div>
- <div class="verse">den Maskenpreis!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Alle</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Bravo!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(aufstehend und klingelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Und setzen’s in die Zeitung!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Selbstredend!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(sich vor ihm verbeugend und weiterklingelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Es lebe die hochwohlweisliche Volksfestleitung!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Im Saal fängt gedämpfte Tanzmusik an.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(ist gleichfalls aufgestanden):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Herr Bergrat spaßen sehr gütig; ja; und ich danke auch sehr.</div>
- <div class="verse">Aber, wie Herr Bergrat wissen, kam ich eigentlich her,</div>
- <div class="verse">um mein Haus&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div>
-
- <div class="regie">(während Lise Lied hinter dem Baum hervorschaut)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Haus &mdash; <span class="mleft5">Haus &mdash;</span></div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="regie">(die Vertragspapiere aus der Brusttasche holend)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Hier &mdash; ich bin so frei&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schon gut, lieber Michel; gewiß, kommt auch an die Reih.</div>
- <div class="verse">Jetzt muß ich erst tanzen gehn.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Zur Bürgermeisterin:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Gnädige Frau, darf ich bitten!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Verschiedene Paare, auch der Landrat mit einer Dame, ab nach dem
-Saal.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(die Papiere einsteckend und sich wieder setzend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verdammte, verquere, katzenfreundliche Sitten!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er stürzt ein Glas Wein hinunter.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Ja, Sitten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Sitten!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(hat bis dahin mit dem Kaplan getuschelt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gratuliere, Freund Gevatter; scheinst hier recht wohlgelitten.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Halt’s Maul!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(ganz hervortretend, dicht verschleiert, mit verstellter Stimme):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Michel Michael, laß dich zum ersten Mal warnen!</div>
- <div class="verse">schon beginnt der Stadtrausch deinen Geist zu umgarnen.</div>
- <div class="verse">Ich bin deine Glücksfee; bang von fern komm ich her,</div>
- <div class="verse">von den Sternen, durch die Nacht, übers gründunkle Meer,</div>
- <div class="verse">meinen Wünschelstab in bebender Hand,</div>
- <div class="verse">flüchtigen Fußes von Land zu Land,</div>
- <div class="verse">durch den Wald deiner Kindheit bin ich gegangen,</div>
- <div class="verse">in den Schooß der Berge trieb mich dein Glückverlangen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span>
- <div class="verse">bis zum Hörselgrund tief, wo Frau Venus wacht</div>
- <div class="verse">und den feurigen Quell der Jugendträume entfacht&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Michel Michael, jetzt durch meinen Mund</div>
- <div class="verse">tut dir die ewige Göttin kund:</div>
- <div class="verse">du sollst deiner lieben Heimat nicht untreu werden,</div>
- <div class="verse">damit du kein Flüchtling wirst auf Erden.</div>
- <div class="verse">Lebe wohl!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Halt, Flüchtling!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Halt, edle Fee! Nicht so schnell!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er läuft ihr nach; sie verschwinden im Hintergrund rechts.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du scheinst wahrlich kein Flüchtling, Glücksvogel Michael!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach was, Maskenschnack! Lachhaft! Lauter Alfanzerein!</div>
- <div class="verse">Hee, Bedienung!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Ein altdeutsch gekleideter Kellner erscheint und bringt auf seinen
-Wink eine neue Flasche.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Wer mag’s wohl gewesen sein?</div>
- <div class="verse">Die Jungfer Lise?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Schnack, sag’ich! Die liegt zu Hause im Bett!</div>
- <div class="verse">Verstanden?! &mdash; Höchstens etwa, daß sie ’ne <em class="gesperrt">Freundin</em> hätt</div>
- <div class="verse">und läßt ihrem Vormund heimlich so’n kleinen Stupps aufschwenken;</div>
- <div class="verse">braucht drum Niemand nichts Schlechtes von ihr zu denken!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel Michael, hüt dich vor des Hörselbergs Ränken!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, ich meine auch&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">wie??</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">das heißt, natürlich nur so im Allgemeinen;</div>
- <div class="verse">die bösesten Weibsbilder sind, die die besten scheinen.</div>
- <div class="verse">So zum Beispiel der Bergrat und die Frau Bürgermeistern.</div>
- <div class="verse">Da hilft kein Vertuschen mehr, kein Verkleistern;</div>
- <div class="verse">rein schon öffentlich tut sie’s ja mit ihm treiben.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meinethalben! Man soll mir mit Stadtklatsch vom Halse bleiben!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wohlgesprochen, mein Sohn. Jedoch, in dem städtischen Sündenschwarm</div>
- <div class="verse">braucht der Mensch eines Schutzpatrons starken Arm;</div>
- <div class="verse">du hast ihn schon lange nicht mehr im Beichtstuhl erprobt.</div>
- <div class="verse">Wirst hoffentlich trotzdem, wenn nun die Wahlschlacht tobt,</div>
- <div class="verse">wissen den rechten Schild hochzuhalten.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zu Gnaden, Ehrwürden; ich lass den alten Gott walten.</div>
- <div class="verse">Obgleich ich, verzeihn Sie, in meinem einfältigen Sinn</div>
- <div class="verse">eigentlich mehr für die Protestanten bin.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em></div>
-
- <div class="regie">(gleichfalls aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ein männliches Wort, lieber Freund! Und ich darf wohl hoffen,</div>
- <div class="verse">Sie wissen, auch unser Arm steht der christlichen Einfalt offen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Viel Ehre, Herr Pfarrer. Indeß, um Sie nicht zu vexieren:</div>
- <div class="verse">ich bin überhaupt fürs Protestieren.</div>
- <div class="verse">Wenn ich wählen <em class="gesperrt">müßt</em> zwischen Pastor und Kaplan,</div>
- <div class="verse">wär ich doch wohl lieber dem &mdash; Stärkeren untertan.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er verbeugt sich schwerfällig, dreht ihnen den Rücken und
-setzt sich ans andre Ende des Tisches; der <em class="gesperrt">Rotbart</em> und
-<em class="gesperrt">Eckart</em> folgen ihm, seine Flasche und sein Glas nachtragend.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em></div>
-
- <div class="regie">(zum Kaplan, der ebenfalls aufgestanden ist):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hm. Wer <em class="gesperrt">ist</em> nun der Stärkere von uns Beiden?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="regie">(die Hände über den Bauch faltend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich schätze, Herr Collega, wir lassen’s vom Publiko entscheiden.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Tanzmusik im Saal hört auf.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(zurückkommend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vetter Michel, ich habe den ganzen Stadtpark durch-und-durchgekuckt:</div>
- <div class="verse">deine Glücksfee scheint von der Hölle verschluckt.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Wahr dich, Schalk! daß der Michel nicht Flammen spuckt!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Währenddem kommt Maskengewühl aus dem Saal. Voran der
-<em class="gesperrt">Bergrat</em> und der <em class="gesperrt">Landrat</em>, hinter ihnen her der Kellner
-mit Sektkübel und Würfelbecher, zu dem reservierten Tisch hin im
-Vordergrund rechts.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(sich mit dem Taschentuch fächelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreiz! Doller Fez! Bewundre Sie. Ohne zu schmeicheln.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, man lernt allmählich die Volkstatze streicheln.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, ich danke!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(hat sich durch die Leute nach vorn gedrängt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Herr Bergrat &mdash; wenn Sie jetzt &mdash; ich will nicht behelligen&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">aber solche Unterschrift ist doch leicht zu bewerkstelligen&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">da Sie doch geneigt&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Aber bester Michael,</div>
- <div class="verse">Sie benehmen sich wirklich etwas auffällig schnell.</div>
- <div class="verse">Hat doch Zeit bis morgen.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Morgen muß ich arbeiten gehn!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(den Würfelbecher nehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, dann nachher! Jetzt bin ich beschäftigt, wie Sie sehn.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich &mdash; seh &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(erscheint im Hintergrund):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Michel Michael, ich warn dich zum zweiten Mal&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">horch: schon singen die Bergleut ein Spottlied im Saal&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Sprechgesang</em></div>
-
- <div class="regie">(auch Kinderstimmen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Der deutsche Michel, der hat sich verlaufen;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- <div class="verse center">Er will sein Haus an die Stadtleut verkaufen;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Ein Zug maskierter Bergknappen</em></div>
-
- <div class="regie">(kommt weitersingend aus dem Saal, geführt vom <em class="gesperrt">roten Karl</em>,
-der als Militär-Invalide maskiert ist, und begleitet von Kindern in
-blaugrauen Koboldtrachten mit Zippelmützen und weißen Bärten):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">O Michel, die Stadt hat ein Herz von Stein,</div>
- <div class="verse center">bald wirst du ein steinreiches Schindluder sein;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Drum, aus der Berge feurigem Herzensgrund,</div>
- <div class="verse">tut die Herrin der Zukunftsträume dir kund:</div>
- <div class="verse">Du sollst deine herzwarmen Augen heller aufmachen,</div>
- <div class="verse">dann wirst du zum goldensten Traum erwachen.</div>
- <div class="verse">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie verschwindet.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(seine Mütze abziehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ein alter Kriegsveteran, der um ein Almosen bettelt&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ah, roter Karl! <em class="gesperrt">Du</em> hast das angezettelt?!</div>
- <div class="verse">Ich sag dir: hüt dich! ich kenn dich! scher dich um Deine Sachen!</div>
- <div class="verse">der Michel läßt sich von <em class="gesperrt">niemand</em> zum Popanz machen!</div>
- <div class="verse">Merk dirs! Sonst: hier: bei meines Vaters Stock&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Maschine stampft plötzlich wieder los)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(den Würfelbecher aufstampfend und sich die Ohren zuhaltend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Kreizrudiment&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">man stopp&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Dumpfe Stimmen im Hintergrund</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">man stopp! man stopp! man stopp!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Platz da, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Platz! sonst gibts Flecke am Rock!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(<em class="gesperrt">Drei Maschinenheizer</em>, rußgeschwärzt, kommen mit
-geschulterten Schaufeln im Marschtritt nach vorn; Eulenspiegel
-klappt mit der Pritsche den Takt dazu.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Stopp! &mdash; (<span class="regie">Zum Bergrat</span>:) Euer Hochwohlgeboren haben die Gnade gehabt</div>
- <div class="verse">und uns mit einer Erfrischung</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">soufflierend</span>): kleinen Erfrischung</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">kleinen Erfrischung gelabt.</div>
- <div class="verse">Euer Hochwohlgeboren, wir danken Ihnen sehr</div>
- <div class="verse">und melden</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">wie vorher</span>): gehorsamst</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">gehorsamst: das Achtel ist bald leer.</div>
- <div class="verse">Euer Hochwohlgeboren wissen, die Nacht ist noch lang,</div>
- <div class="verse">und wir halten</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">ergebenst</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">ergebenst die Beleuchtung in Gang.</div>
- <div class="verse">Euer Hochwohlgeboren, wir möchten</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">mit unter</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center mleft11">mit untertänigstem Respekt</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">mal probieren</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Alle drei Heizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">mal probieren, ob auch Sekt uns schmeckt!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(vor sich hin):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Kreuzschwerebrett&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(aufstehend, räuspernd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Leute! Hört mal&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(steigt hinten auf einen Stuhl und klingelt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Hört, hört!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich bitte doch dringend, daß man den Geist des Festes nicht stört!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(nochmals klingelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich schließe mich dringend dem verehrten Herrn Vorredner an</div>
- <div class="verse">und verordne somit strengstens, so geisterhaft ich kann,</div>
- <div class="verse">auf Geheiß Seiner Allerhöchstgeistigen Majestät</div>
- <div class="verse">des weiland Kaisers Rotbart, weil er hier auf Gebet</div>
- <div class="verse">des annoch deutschen Michels auferstanden steht</div>
- <div class="verse">im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität,</div>
- <div class="verse">und weils ohne diese Errungenschaften nicht geht</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(mit Grabesstimme):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">in euerm erleuchteten Jahrhundert&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(mit Donnerstimme):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">über das er sich ungeheuer wundert&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">so verordnet er hiermit den Anstiftern der Beleuchtung</div>
- <div class="verse">zur weiteren nächtlichen Kesselraumbefeuchtung</div>
- <div class="verse">aus seiner johannisfestlichen Kellerei</div>
- <div class="verse">unter Aufsicht der hochwohlwürdigen Geisterpolizei</div>
- <div class="verse">einen Korb Henkell-trocken&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Ha! Hurra! Bravo! Hei!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir werden unverzüglich die nötigen Amtsbefehle geben.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er springt vom Stuhl und läuft nach dem Saal.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergknappen</em></div>
-
- <div class="regie">(während Michel sich auf den leeren Stuhl setzt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hurra! hoch! der deutsche Michel soll leben!</div>
- <div class="verse">leben! leben! und Kaiser Rotbart daneben!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Heizer und Knappen mit dem roten Karl nach links
-abmarschieren):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schwerebrett, Herr Corpsbruder! war ja ’ne nette Bescherung.</div>
- <div class="verse">Na, pros’t! Immerhin sozusagen ’ne soziale Belehrung.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie stoßen an und trinken Rest; zugleich klappt wieder die eiserne
-Tür, und das Geräusch der Maschine hört auf.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wird der Michelspaß nicht amende bedenklich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Unbesorgt. Der Mann ist absolut unverfänglich;</div>
- <div class="verse">hat sicher mit dem kleinen Putsch nichts zu tun.</div>
- <div class="verse">Etwas Dickkopf, aber sonst ein gemütliches Huhn;</div>
- <div class="verse">will mir blos partout sein bißchen Grundstück beibiegen.</div>
- <div class="verse">Ist auch preiswert; und wie die Chancen liegen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span>
- <div class="verse">müßt ich ihn sowieso bald aus seiner Waldbude schassen.</div>
- <div class="verse">Wollt ihn blos noch ’ne Zeitlang zappeln lassen;</div>
- <div class="verse">Sie verstehn.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Vollkommen. Blos diese -ä- Geistergestalten,</div>
- <div class="verse">die uns da eben die noble -ä- Abfuhr aufknallten&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, sonderbarer Scherz.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Schon mehr Impertinenz.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Tanzmusik wieder anfängt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vermutlich Herren von der linksseitigen Konkurrenz;</div>
- <div class="verse">scheint mir ratsam, hier niemand zur Entlarvung zu zwingen:&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie stehen auf, um sich nach dem Saal zu begeben.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(vom Maschinenhaus zurückkommend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gnädiger Herr, ich habe zu hinterbringen:</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(mit Trinkgeberde)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">der kaiserliche Geist beginnt schon ins Volk zu dringen.</div>
- <div class="verse">Held Michel, halt dich zum Hurraschrein bereit!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(steht brüsk auf, ein wenig schwankend, und steuert zu dem Bergrat
-hin):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Um Verzeihung, Herr Rat &mdash; in aller Bescheidenheit&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">aber es könnt sonst sein, Herr Rat, das Geschäft wird mir leid;&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">den Bittsteller machen, fällt mir von Hause aus schwer&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(sind ihm nachgeschritten):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">schwer &mdash; schwer&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So! Seh einer! &mdash; Na! Dann geben Sie mal her.</div>
- <div class="verse">Pardon, Herr Corpsbruder.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Bitte. (<span class="regie">Ab zum Saal.</span>)</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(die Vertragspapiere überreichend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Hier &mdash; zu dienen, Herr Rat&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(aus dem Laubengang tretend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel Michael, hör mich! Zum dritten Mal naht</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ruhe!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Holla, die Glücksfee! Halt, Göttin, halt!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er setzt ihr nach; sie verschwinden beide.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verzeihung, Herr Bergrat; sie drängt sich mit Gewalt</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wohl ein Schatz?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Gott bewahre, Herr Bergrat; nein, keine Spur.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(sich wieder an den reservierten Tisch setzend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wär doch keine Schande, Mann; delikate Figur!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Na, nehmen Sie Platz&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(die Papiere aufmachend und seinen Füllfederhalter herauslangend)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">aber Eins, mein Lieber, schick ich voraus:</div>
- <div class="verse">Sie müssen nicht denken, Sie wären der Herr im Haus.</div>
- <div class="verse">Ihre Scholle ist uns auf alle Fälle verfallen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie??</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Nun: wenn wir den Luftschacht etwas mehr seitwärts verstallen</div>
- <div class="verse">und legen ’ne Schutthalde vor Ihre Tür,</div>
- <div class="verse">dann gibt kein Mensch mehr ’ne Schippe Kooks dafür.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, aber&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(wieder hinter ihm Wache stehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">aber! &mdash; aber!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Da gibt’s nichts zu abern leider.</div>
- <div class="verse">Im Übrigen bin ich kein Halsabschneider.</div>
- <div class="verse">Kellner, noch’n Glas! &mdash; Wollte blos meinen Standpunkt klarmachen &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person">(Den Vertrag durchsehend:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein &mdash; aber &mdash; Bester &mdash; das ist ja rein zum Lachen:</div>
- <div class="verse">ich nannte Ihnen fünfzehntausend als unsern äußersten Preis,</div>
- <div class="verse">und hier stehn achtzehn?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ja, Herr Bergrat, weil &mdash;: ich weiß nicht, ob der Herr Bergrat weiß:</div>
- <div class="verse">mein Großahn war Grobschmied &mdash; und &mdash; und&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">während der Kellner das Glas bringt</span>): Na? Und?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Es geht eine alte Sage von Mund zu Mund &mdash;:</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Des Michel Michaels Haus steht auf eisernem Grund&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">könnte mancheiner Silber und Gold draus schlagen &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja! &mdash; Das heißt, Herr Rat, ich wollte damit nur sagen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(da der Bergrat ihm einschänkt)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">sehr gütig, Herr Rat&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Na, Michel: viel ist nicht zu profitieren.</div>
- <div class="verse">Aber &mdash; na gut: Lufthalber wollen wir’s mal riskieren.</div>
- <div class="verse">Also (<span class="regie">ihm zutrinkend</span>) Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Glückauf! (<span class="regie">er leert sein Glas.</span>)</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">(<span class="regie">unterschreibt</span>): So. Abgemacht. Hier:</div>
- <div class="verse">nun Sie! Nein, hier: auf dem andern Papier.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(nachdem er das Duplikat unterschrieben hat):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Uff. Heiß!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(hat das erste Schriftstück gefaltet und gibt es ihm zurück):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">So; bitte. Nun? sind Sie nun zufrieden?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(während jeder sein Schriftstück sorgfältig einsteckt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoh, Herr Bergrat, schon? Jetzt geht’s doch erst los, das Schmieden!</div>
- <div class="verse">das Glückschmieden mein’ ich. Hier die paar tausend Mark Geldeswert,</div>
- <div class="verse">die sind doch blos erst das erste Roheisen auf dem Herd;</div>
- <div class="verse">hoffe dereinst die Welt noch als Feinschmied untern Hammer zu kriegen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel Michael, laß nur das Feuer nicht verfliegen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist schon manche Glut zu Asche zerstoben auf Erden.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(Michels Glas wieder füllend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, ich rate auch, lieber Michel: nicht übermütig werden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Oh, Herr Rat &mdash; das sind blos so Volksfestgeberden.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sein Glas abermals leerend)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Auf Ihr Wohl, Herr Rat! &mdash; Ich muß schon den ganzen Abend denken:</div>
- <div class="verse">wie wir hier so sitzen auf den schönen Stühlen und Bänken,</div>
- <div class="verse">Hoch und Niedrig zusammen bei den guten Getränken,</div>
- <div class="verse">und fühlt sich jeder so recht mitbeglückt im Gewühl&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">das ist doch ein sehr erhebendes Gefühl!</div>
- <div class="verse">nicht wahr?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_310" id="Seite_310">[S. 310]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Hm. Ja. Sehr erhebend. Ja. Aber jetzt&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(kommt mit <em class="gesperrt">Lise Lied</em> Arm in Arm angetanzt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hurra, Vetter Michel, hier kommt dein Glück angesetzt!</div>
- <div class="verse">Hat sich endlich von mir am Schlafittchen kriegen lassen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Tanzmusik hört auf.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schalk, Schalk! des Michels Glück, das kann nur er selber fassen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(seine Brusttasche befühlend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, wahrhaftig!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Michel &mdash;!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">unwillkürlich</span>): Lise &mdash;! &mdash; (<span class="regie">Sich besinnend</span>) Ach nein; dumm Zeuch;</div>
- <div class="verse">was rührt dich, Michel?! &mdash; (<span class="regie">Auffahrend</span>) Schockschwerenot, ihr: was kümmert’s <em class="gesperrt">euch</em>?</div>
- <div class="verse">schert euch zum Teufel! (<span class="regie">setzt sich wieder und stiert ins Glas.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ha! Hörst du’s, Göttin? Verschmäht!</div>
- <div class="verse">Das fordert Rache! Rache! (<span class="regie">Den Würfelbecher nehmend</span>:)</div>
- <div class="verse mleft11">Soll ich mit diesem Gerät,</div>
- <div class="verse">kraft meiner spiritistischen Wupptizität,</div>
- <div class="verse">hehre Fee, ihn zerschmettern? &mdash; Nein? &mdash; Ach! das ist bitter.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O: eine Fee, die findet wohl zartere Ritter.</div>
- <div class="verse">Aber eine Glücksfee, die sollte sich eigentlich entschleiern;</div>
- <div class="verse">darf ich’s wagen?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_311" id="Seite_311">[S. 311]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Tanzpaare aus dem Saal kommen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Vielleicht, Herr Ritter &mdash; doch müssen wir <em class="gesperrt">ihn</em> erst feiern,</div>
- <div class="verse">der da selig in seiner Selbstherrlichkeit thront</div>
- <div class="verse">und die Dienste der Geister mit eitel Nichtachtung lohnt.</div>
- <div class="verse">Versteht Ihr, Ritter?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Stolze Fee, ich beuge in Demut das Knie (<span class="regie">er tut es</span>)</div>
- <div class="verse">und verstehe.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">dazwischentretend</span>): Aber Bergrat, was treiben Sie!</div>
- <div class="verse">Man ist sehr erstaunt&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">knieen bleibend</span>): Oh, gnädigste Frau, ich desgleichen!</div>
- <div class="verse">In der Johannisnacht</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">erlebt man Wunder und Zeichen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Wunder und Zeichen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Eine holde Fee stieg die Himmelsleiter herab</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">shocking!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">sich erhebend</span>): und gebeut uns mit ihrem Zauberstab,</div>
- <div class="verse">damit wir die Geister der Vor- und Nachwelt versöhnen,</div>
- <div class="verse">den deutschen Michel zum Weltherrn von ihren Gnaden zu krönen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Empörend!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Gottvoll, Bergrat!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_312" id="Seite_312">[S. 312]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Hurra, Michel! Jetzt heißt es erscheinen!</div>
- <div class="verse">Kopf hoch, Brust raus!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Stehst du auch fest auf den Beinen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoh! Ich? (<span class="regie">er stolpert</span>.)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Huch!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">(<span class="regie">brüllend</span>): Bombenfest, sollt ich meinen!!!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er stellt sich breitbeinig vor die Bank in der Mitte, während der
-Rotbart und Eckart hinter sie treten.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also &mdash; vielwerte Gäste!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Etliche Bengel in Koboldtracht</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">hurrra!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">und Zaungäste!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">hurrra!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">und Geister, bitte!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft24">Bitte!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Danke.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Hier steht er&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">steht er&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">in unsrer beglückten Mitte&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_313" id="Seite_313">[S. 313]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft24">Mitte&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">leibhaftig&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">leibhaftig&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">unter dem Lindenbaum&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft18">Lindenbaum&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">unser teurer deutscher Michel&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">hurrra&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft16">es ist kein Traum!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft24">Kein Traum.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreizrudiment zum Donner! Silenzium jetzt!!!</div>
- <div class="verse">Ruhe, Bengels! sonst werdt ihr rausgesetzt!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nimmt einem der Kobolde seine Zippelmütze weg und treibt die
-Schreihälse nach hinten.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weiter, Bergrat!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(Lisens Arm nehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Also &mdash; bezaubert von dieser Himmelserscheinung</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">unglaublich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">pßt &mdash;!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">und nach der offenbar völlig einstimmigen Meinung</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_314" id="Seite_314">[S. 314]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">aller Freunde und Freundinnen der höheren Sphären</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">wollen wir ihn jetzt zum Beherrscher der &mdash; Lüfte erklären!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">zum Alleinherrscher sämtlicher Zukunftsflugmaschinen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glücksgondeln, Traumschiffe und sonstiger Zeppelinen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Möge er immer flügger, lenkbarer</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">und bombenfester werden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und selig enden als Luftschloßbesitzer auf Erden!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(die Zippelmütze schwenkend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hurrra, deutscher Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Alle durcheinander</em></div>
-
- <div class="regie">(während Michel auf die Bank gehoben wird und ein Glas Wein in die
-Hand bekommt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Hurra! Hurra!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(an den Baumstamm gelehnt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Halt!!! Jetzt komm Ich an die Reih!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glückauf, Michel! (<span class="regie">trinkt ihm zu</span>.)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Schön Dank, Herr Bergrat! (<span class="regie">trinkt</span>.) Ja! Schön Dank fürs Geschrei!</div>
- <div class="verse">Denn der Michel nämlich &mdash; ja &mdash; kann viel Spaß vertragen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bravo, Michel! (<span class="regie">trinkt ihm zu.</span>)</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_315" id="Seite_315">[S. 315]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(immer wieder Bescheid trinkend, worauf ihm unter Gelächter immer
-wieder das Glas gefüllt wird, bald mit weißem, bald mit rotem Wein):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schön Dank, Herr Landrat! &mdash; Ja! &mdash; Aber &mdash; wollt ich sagen:</div>
- <div class="verse">kann auch Ernst machen! kann &mdash; kann sich lange ducken&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Wohl ihm, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schön Dank, Ehrwürden (<span class="regie">trinkt</span>) &mdash; Kann seine dummen Mucken</div>
- <div class="verse">&mdash; ja &mdash; vor euch Stadtleuten &mdash; ja &mdash; auch sein Heimweh verschlucken&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Hoch, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schön Dank, Herr Bürgermeister (<span class="regie">trinkt</span>) &mdash; Ja &mdash;: kann sich recken&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">kann auf einmal &mdash; ja: kann er &mdash; seine Hand ausstrecken&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">kann vielleicht dereinst noch &mdash; hupp &mdash; die ganze Welt in die Tasche stecken&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Heil, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schön Dank, Herr Pfarrer (<span class="regie">trinkt</span>) &mdash; Jawohl &mdash;: Luft &mdash; Erde &mdash; hupp &mdash; Meer&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">den ganzen Himmel &mdash; hupp &mdash; (<span class="regie">er fällt von der Bank herunter</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(wirft sich aufschreiend über ihn):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Michel!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">(<span class="regie">sehr laut</span>): Kellner! den Eiskübel her!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(während der Kellner Eiskübel und Tischtuch bringt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber teuerste Göttin, er hat sich ja nichts zerbrochen!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_316" id="Seite_316">[S. 316]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(während man Michel auf die Bank setzt und an den Baum lehnt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Kein Bein! Der fällt einfach auf seine gesunden Knochen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">aus der Zippel- der Zappel- der Zeppeline!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da! er macht eine ganz majestätische Miene!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, dann kann man ja endlich sozusagen die Krönung vollziehn!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er setzt Micheln die Zippelmütze auf, sodaß die Troddel ihm über
-die Nase herabbaumelt.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoch lebe unser Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Alle</em>:</div>
-
- <div class="regie">(während man ihm das Tischtuch wie einen Mantel umhängt)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Hoch! Hoch! Hoch!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">ernst</span>): Der Himmel erhalte ihn!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er mache ihm jede Bank zum Throne&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Throne&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">jede deutsche Zippelmütze zur Siegeskrone&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft18">Siegeskrone&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">jedes deutsche Stück Leinwand zum Hermelin&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft19">Hermelin&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">jeder deutsche Baum sei ein Baldachin&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft16">Baldachin&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_317" id="Seite_317">[S. 317]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(während man Michel lang auf die Bank streckt und das Tischtuch
-über ihn breitet):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">für den allerhöchsten, allerstärksten, allerlängsten, allergrößten</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="regie">(hinter dem Bergrat her, der die halb lachende halb schluchzende
-Lise nach rechts beiseite führt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, Sie Wüstling, Sie sollen das arme Kind nicht trösten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Pßßt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">und allerreichsten unter den Potentaten</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(halb erwachend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">wie &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">still, Michel &mdash; mit und ohne Staaten.</div>
- <div class="verse">Seht, hier ruht er&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">daheim im Weltgebrause;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">jetzt kann er selig&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">wie vorher</span>): Lise&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">ja, Michel&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">ich &mdash; will &mdash; nach Hause&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">ja, Michel&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">daheim im unendlichen Hafen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">zwischen Himmel und Erde und Hölle schlafen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_318" id="Seite_318">[S. 318]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">jenseits von euern Zeiten und Räumen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(mit wild phantastischer Geste):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und träumen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(ruhig, während der Vorhang sich schließt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">träumen &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><span class="s4">*</span></div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div>
-
- <div class="regie">(von links kommend, anfangs mit verhaltener Stimme):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ssst &mdash;: er träumt! &mdash; Eine Menschenseele im Traum</div>
- <div class="verse">ist ein schaurig Ding, ist ein Unding, ist verflochtner als ein Baum</div>
- <div class="verse">in alle Wurzelwirren und Wipfelwehen aus Staub und aus Licht,</div>
- <div class="verse">ist Feuer, Wasser, Luft, was sie will, und &mdash; ists nicht:</div>
- <div class="verse">verschlafnes Tier, wacher Gott, urweltvoller Stern, hohler Ball,</div>
- <div class="verse">allmächtig bis zur Ohnmacht, spielt sich auf als All.</div>
- <div class="verse">Wahrlich: einen Menschen im Traum belauschen, das heißt</div>
- <div class="verse">mitspielen mit einem höllisch lebenslustigen Geist.</div>
- <div class="verse">Ich und wir andern längst verstorbenen Geistergestalten,</div>
- <div class="verse">wir würden uns gern solcher spukhaften Tätigkeit enthalten&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(allmählich lauter)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">aber wir müssen uns, ach, noch immer zum Dienst der Menschheit hergeben;</div>
- <div class="verse">denn unser Herr, der Dichter, dieser Auchmensch, will davon leben.</div>
- <div class="verse">Dieser Teufel! Nicht genug, daß wir wirklich leibhaftig erschienen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_319" id="Seite_319">[S. 319]</a></span>
- <div class="verse">er läßt uns sogar noch als Hirngespinste nun dienen;</div>
- <div class="verse">oh, wär ich ein Mensch, ich glaube, mir graute vor mir.</div>
- <div class="verse">Aber da ich ganz Geist bin, und jetzt ein Doppelgeist schier,</div>
- <div class="verse">so kann ich Sie nicht mit derlei Halbgottsgefühlen beglücken,</div>
- <div class="verse">sondern drehe ihnen &mdash; den Gefühlen nämlich &mdash; im Geiste den Rücken.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er dreht sich mit hoch erhobenen Armen um und teilt mit beiden
-Händen den Vorhang.)</div>
-
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 class="padtop1" id="Dritter_Aufzug">Dritter Aufzug</h4>
-
-</div>
-
-<div class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: Große Höhle aus Bergkristall in weiß-und-grüner
-Flackerbeleuchtung. Rechts und links durcheinandergetürmte
-Pfeiler. In der Mitte des Hintergrundes, auf einer phantastischen
-Pyramide, thront <em class="gesperrt">Frau Venus</em>, ebenso vermummt wie Lise Lied;
-nur trägt sie lange weiße Glaßeehandschuhe, und ihr grünes Kleid
-ist aus funkelnder Seide, ihr schwarzer Schleier mit Diamanten
-besetzt. Zu Füßen des Throns, in Gesteinspalten, hocken schlafende
-<em class="gesperrt">Kobolde</em>, wieder blaugrau mit Zippelmützen und weißen Bärten.
-Zu beiden Seiten des Throns zerklüftete Grotten, mit Schnüren aus
-Bruchkristallen verhängt, hinter denen ein rotgelb glühender Glanz
-bald aufwärts bald abwärts quillt und strudelt, sodaß sie wie
-feuriges Netzgeflecht aussehn; hin und wieder zieht rötlicher Rauch
-durch die Höhle.)</div>
-
-<div class="poetry-container padtop1">
- <div class="poetry">
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(sofort, noch während der Vorhang sich öffnet, ins Knie sinkend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verzeiht, Göttin Venus: ich weiß zwar, Ihr glaubt es kaum:</div>
- <div class="verse">aber wirklich, wir sind Beide jetzt nichts als Traum&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">also entschuldigt den frechen Possenreißerstreich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(zögernd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wer dringt hier ein in mein heimlich Reich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nur ein armer Schalk namens Tyll, aber abgesandt</div>
- </div>
-
- <div class="regie"><em class="gesperrt">(er erhebt sich)</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">von Euerm mächtigsten Nachbarn im ganzen deutschen Land,</div>
- <div class="verse">von des Kaiser Rotbarts verewigter Majestät,</div>
- <div class="verse">der voll Unruh, Schönste, hinab in den Hörselberg späht,</div>
- <div class="verse">denn auch ihn treibt des Michels Traumblick her.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So vermelde des hohen Herrn Begehr,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_320" id="Seite_320">[S. 320]</a></span>
- <div class="verse">der so mächtig ist, daß ein stiller schlaftrunkner Mann</div>
- <div class="verse">seinen ewig wachen Willen verunruhen kann.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Oh, Frau Venus, Zaubrin, sehr gewaltig ist dein Bann,</div>
- <div class="verse">aber nimm in Gnaden die zarte Gewissensfrage hin:</div>
- <div class="verse">Traumschöpferin,</div>
- <div class="verse">warst du niemals von deinen Geschöpfen gebannt?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Schalk!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">So erfahre: des Michels Seele ist unauslöschlich entbrannt</div>
- <div class="verse">von all und jeder Machtsehnsucht Himmels und der Erden,</div>
- <div class="verse">heute Nacht soll sein Hauptwunsch entschieden werden.</div>
- <div class="verse">Du hast eine Flamme in seinem Blut angefacht,</div>
- <div class="verse">die hat all sein junges Hirn in Rausch und Aufruhr gebracht;</div>
- <div class="verse">nun kennt er sich selbst kaum vor lauter hochfliegenden Brünsten.</div>
- <div class="verse">Drum, erlauchte Göttin, dank deinen Zauberkünsten,</div>
- <div class="verse">sind die andern unsterblichen Hauptpersonen,</div>
- <div class="verse">die seit Alters in seiner Geisterwelt wohnen,</div>
- <div class="verse">aus ihrer gottseligen Ruhe (<span class="regie">klappt mit der Pritsche</span>) jählings mitaufgeschreckt &mdash;&mdash;</div>
- <div class="verse">und als der stärkste von seinen Schutzgeistern streckt</div>
- <div class="verse">der Kyffhäuserherr die gepanzerte Faust dir entgegen:</div>
- <div class="verse">Wenn du ebenso mächtig bist wie verwegen,</div>
- <div class="verse">mögest du ehrlichen Wettstreit mit ihm pflegen</div>
- <div class="verse">um des Michel Michaels wahres Seelenheil.</div>
- <div class="verse">Desgleichen mit mir für mein bescheiden Teil;</div>
- <div class="verse">du wirst es nicht weigern, erlauben wir uns zu hoffen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mein Reich steht allen Geistern, starken und schwachen, offen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, Gnädigste: offen wie ein Grab.</div>
- <div class="verse">Und dein zauberkräftiger Wünschelstab</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_321" id="Seite_321">[S. 321]</a></span>
- <div class="verse">glänzt empor über deine dunkeln Schleierfalten</div>
- <div class="verse">wie ein Irrsternschweif nach zwei Seiten gespalten,</div>
- <div class="verse">indessen die Weltküglein an den beiden Spitzen</div>
- <div class="verse">gar nach jeglicher Windrichtung drehbar blitzen.</div>
- <div class="verse">Ich seh’s, Vielgewandte, trotz unsern verhüllten Mienen;</div>
- <div class="verse">denn auch ich verstehe, Herrin, zweeen Welten zu dienen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So schwör ich bei diesem einen unlöslichen Ringe,</div>
- <div class="verse">kraft dessen mein Szepter die zwiegespaltene Schwinge</div>
- <div class="verse">der immer wieder sich verjüngenden Welt</div>
- <div class="verse">in der Schwebe hält:</div>
- <div class="verse">du nahst ungefährdet meinen vulkanischen Quellen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und meine Begleitung?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ist gefeit wie du vor den feuerbrünstigen Wellen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(tritt dem Thron etwas näher und klappt mit der Pritsche):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wohlan, edle Hexe! du siehst, wie stracks wir uns stellen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Zugleich sind der <em class="gesperrt">Rotbart</em> von links und <em class="gesperrt">Eckart</em>
-von rechts aus den Pfeilergängen getreten, Beide noch immer mit
-vermummten Gesichtern.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(auffahrend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ah, Schalk! du verkündetest mir der Wettkämpen zwei!</div>
- <div class="verse">jetzt seid ihr drei? &mdash; (<span class="regie">Wieder ruhig sich setzend</span>:)</div>
- <div class="verse">Nun, Eckart: du warst von jeher ein Schleichwegverfechter.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich war von jeher, Frau Venus, dein treuster Torwächter.</div>
- <div class="verse">Ich tue nichts wider dich, als am Eingang des Hörselbergs warnen;</div>
- <div class="verse">wer der Warnung trotzt, den magst du getrost umgarnen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und selbst für Göttinnen bleibt’s doch ein Akt der Huldigung immer,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_322" id="Seite_322">[S. 322]</a></span>
- <div class="verse">wenn sich drei Mannsleute mühn um ein Frauenzimmer.</div>
- <div class="verse">Sieh da, du lächelst! dein ganzer Schleier lacht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vor Dir, Eulenspiegel, hat wohl mein Ernst keine Macht.</div>
- <div class="verse">Und auch den Rotbart wird schwerlich ein trauerndes Weibsbild rühren.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoh, Huldin, wir hoffen noch innigst Eure Trauer zu spüren,</div>
- <div class="verse">wenn erst der Michel von uns Selbstbeherrschung annimmt.</div>
- <div class="verse">Inzwischen freilich sind wir herzlich wenig gestimmt,</div>
- <div class="verse">christliche Stufen zu Euerm heidnischen Thronsitz zu hobeln.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also kurz und gut: ich schlage vor, sein Seelenheil auszuknobeln.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er holt den Würfelbecher aus der Tasche und schüttelt ihn.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bester Wurf: Alles Eins!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er stülpt die Würfel auf einen Kristallblock.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Hier &mdash;: dreimal der nackte Spatz!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">In der Tat: ein unwiderleglicher Satz.</div>
- <div class="verse">Gib her!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Halt, Hexe! leg erst den Zauberstab nieder!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das versprach ich <em class="gesperrt">nie</em> wem.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Dann, Schalk, nimm den Becher wieder!</div>
- <div class="verse">Rasch! nimm ihn! rasch!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Die Unholdin wirft dir Pasch auf Pasch;</div>
- <div class="verse">so bliebe das Wettspiel in alle Ewigkeit gleich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich hätt ihn heimzahlen können, den schnöden Gauklerstreich;</div>
- <div class="verse">aber, Tyll, des Michels Seele gilt mir zu viel</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_323" id="Seite_323">[S. 323]</a></span>
- <div class="verse">für ein Würfelspiel!</div>
- <div class="verse">Ich sehe, Rotbart, zu meiner Freude: du nickst.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich fühle, Feindin, wie ehrlich du um dich blickst.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So hört meinen rückhaltlosen Bescheid:</div>
- <div class="verse">der Michel Michael selber löse im Traum unsern Streit!</div>
- <div class="verse">Wenn du Herrscher in seinem dir zugeweihten Land,</div>
- <div class="verse">du Wächter an deinem ihm geheiligten Stand,</div>
- <div class="verse">du Landstreicher da aus vogelfreien Bezirken,</div>
- <div class="verse">wenn ihr vermögt seiner Sehnsucht ein habhaftes Ziel zu erwirken,</div>
- <div class="verse">das ihm wettmacht den einen einzigen unruhvollen Bann,</div>
- <div class="verse">den meine Inbrunst, die verwunschne, ihm antun kann:</div>
- <div class="verse">so sei er hinfort, in Zeit und Ewigkeit,</div>
- <div class="verse">von mir befreit!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Seid ihrs zufrieden?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Zufrieden! <span class="mleft3">Zufrieden!</span></div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Nur unter der Sicherheit,</div>
- <div class="verse">daß dein Szepter, solange der Streit dich drängt,</div>
- <div class="verse">sein träumendes Haupt nicht berührt noch umkreist noch sonstwie lenkt.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Die</em> Sicherheit geb ich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Dann ruf ihn! die Wette <em class="gesperrt">hängt</em>.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(berührt die Kobolde mit dem Szepter):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Aufgewacht, Klopfgeister, aufgewacht!</div>
- <div class="verse mleft6">der Wunschquell sprudelt; öffnet den Schacht!</div>
- <div class="verse mleft6">Feuerfluß werde kristallene Flut!</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_324" id="Seite_324">[S. 324]</a></span>
- <div class="verse mleft6">Erde, enthölle dein Himmelsblut!</div>
- <div class="verse mleft6">verschlinge das Trübe, beschwinge das Reine!</div>
- <div class="verse mleft6">Erscheine, Michael, erscheine!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Kobolde haben die Kristallschnurgeflechte der rechten Grotte
-inzwischen geöffnet und eine ferne langsame Tanzmusik ertönt. Aus
-rötlichem Qualm auftauchend erscheint ein Zug schwarzgekleideter
-Gestalten. Voran <em class="gesperrt">fünf Kaplane</em>, im Gänsemarsch mit
-Polkaschritt. Dann je <em class="gesperrt">fünf Landräte und Bürgermeister</em>, die
-den schlafenden <em class="gesperrt">Michel Michael</em> auf seiner Bank einhertragen;
-er hat noch immer die Zippelmütze auf dem Kopf und ist mit dem
-Tischtuch an die Bank festgebunden, mit dickem Knoten auf der
-Brust, doch so, daß seine Arme frei sind. Hinterdrein <em class="gesperrt">fünf
-Pastoren</em>, wieder im Polkaschritt. Jeder Kaplan, Landrat,
-Bürgermeister, Pastor ist den vier übrigen zum Verwechseln ähnlich,
-in den gleichen Kostümen und Masken wie früher.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Landräte und Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Hier naht er, hier naht er,</div>
- <div class="verse mleft10">der Weltpotentater.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Kaplane und Pastoren</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Da liegt er im Wickel,</div>
- <div class="verse mleft10">das Hochmutskarnickel.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte und Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Du Großmaul! du Saufsack! du Raufbold! du Strolch!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Pastoren</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Jetzt kommt die Vergeltung, du Sündenmolch!</div>
- <div class="verse center">Rache!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Der Zug macht ruckhaft in vier Kolonnen Halt und stellt die
-Bank in der Mitte der Höhle nieder, Michels Füße dem Venusthron
-zugekehrt; zugleich wird die Grotte wieder verhängt, sodaß die
-Tanzmusik verstummt, und die Kobolde eilen auf ihre Sitze zurück.
-Michel liegt immerfort regungslos.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Erhebt ihn!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Äh &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Erhebt ihn!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Ja ja! hier pariert man aufs Wort!</div>
- <div class="verse">Immer artig, werte Herrn! hübsch kusch und apport!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_325" id="Seite_325">[S. 325]</a></span>
-
- <div class="regie">(Halblaut:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Held Michel, hier braucht dich blos das geheimste Lüstchen zu jucken,</div>
- <div class="verse">und wir sind allesamt deine tiefst leibeignen Haiducken.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Amtspersonen haben inzwischen, unter schreckhaften Bücklingen,
-die Bank mit Michel hochgekippt, sodaß sein ganzer Körper verdeckt
-steht; so dem Venusthron zugewandt, an die aufgerichtete Bank
-gebunden, bleibt er stehen, bis sich der Vorhang schließt, und nur
-ab und zu wird Arm oder Hand von ihm sichtbar.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier schützt dich mein Schwert, es ist allzeit unbestechlich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier stützt dich mein Kreuz, es ist unzerbrechlich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier nützt dir meine Pritsche, sie ist unüberwindlich;</div>
- <div class="verse">und deine Schlafmütze, sie ist unergründlich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(immer mit schlafbefangener Stimme):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wo &mdash; bin &mdash; ich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Im Reich deiner reinsten Kräfte.</div>
- <div class="verse">Hier siehst du im Glanz kristallklarer Säulenschäfte</div>
- <div class="verse">deine stärksten Schutzgeister tausendfältig sich spiegeln</div>
- <div class="verse">und dir ihre innerste Strahlenfülle entriegeln.</div>
- <div class="verse">Hier hast du für immer die Wahl zwischen ihnen und mir;</div>
- <div class="verse">hier bist du Alleinherr. (<span class="regie">Zu den Amtspersonen</span>:) Kniet nieder, ihr!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane</em></div>
-
- <div class="regie">(gehorchend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Herr, erbarme!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em></div>
-
- <div class="regie">(ebenso):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">dich unser!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em></div>
-
- <div class="regie">(aufmuckend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Himmelkreizrudiment!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(sie einzeln rasch mit der Pritsche duckend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nieder! nieder! nieder! nieder! nieder! Blitzelement!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_326" id="Seite_326">[S. 326]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(Michels Kopf mit dem Schwert berührend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich, Michel, kröne dein Haupt mit dem herrlichsten Mut,</div>
- <div class="verse">dem zu dir selbst; bewahre ihn gut!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(desgleichen mit dem Kreuzstab):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich, Michael, mit der heiligsten Macht,</div>
- <div class="verse">der über dich selbst; nimm sie wohl in Acht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich verhalte mich selbstverständlich ergebenst stille,</div>
- <div class="verse">denn die Hauptsache bleibt: es geschehe dein Wille!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Ihm ins Ohr:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wenn du willst, ist der ganze Weltrummel nichts als ’ne Flause.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich &mdash; will &mdash; nach Hause!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier <em class="gesperrt">bist</em> du’s!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Ewig!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Dies Haus kannst du nie verkaufen.</div>
- <div class="verse">Michel Michael, bald ist die Zeit abgelaufen,</div>
- <div class="verse">in der du den Raum der Geister heimlich erleuchtet siehst;</div>
- <div class="verse">wenn du willst, daß dein innerstes Heim sich erschließt,</div>
- <div class="verse">ich zeig dir’s!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Wer &mdash; bist &mdash; du?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(von feurigem Rauch verhüllt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Ich weiß nicht mehr.</div>
- <div class="verse">Wohl aus tiefem Süden kam ich einst her,</div>
- <div class="verse">wohl aus höchstem Norden: aus allen Zonen,</div>
- <div class="verse">wo Urvater Schmerz und Allmutter Wonne wohnen.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_327" id="Seite_327">[S. 327]</a></span>
- <div class="verse">Wohl der einsamen Glut seines Geistes bin ich entsprossen,</div>
- <div class="verse">wohl vom willigen Feuer ihrer Seele durchflossen</div>
- <div class="verse">in des Erdgrunds kreisenden Leib getropft,</div>
- <div class="verse">aus dem nun mein Himmelsblut flammt und flackert und drängt und klopft,</div>
- <div class="verse">aufbegehrlich durch deine, auch deine irdischen Adern hin&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hüt dich, hüt dich, Michael, vor der Teufelin!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">(<span class="regie">sich bekreuzend</span>): Teufelin!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schweigt, ihr Winsler!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Hab Dank! Ja, Gebieter, ich bin</div>
- <div class="verse">nur die Stimme, die aus dir selber lacht,</div>
- <div class="verse">wenn dein Mutwille hochlodert aus dem Kyffhäuserschacht.</div>
- <div class="verse">Ich, Eckart, brauche des Michels Haupt nicht mit wirren</div>
- <div class="verse">Machtsprüchen ewigen Heils zu kirren,</div>
- <div class="verse">nicht wie du, Freund Tyll, mit gleißenden Freiheitsblicken</div>
- <div class="verse">sein Hirn bestricken:</div>
- <div class="verse">ich rühre nur leise an sein Herz&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(sie senkt ihren Stab auf Michels Brust)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">seht, wie er aufzuckt! &mdash; Sag, Michel: <em class="gesperrt">Ist’s</em> Schmerz?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schmerz&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Ist’s Wonne?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Wonne&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Ist’s Heimweh nach dem Licht?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft25">Licht!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_328" id="Seite_328">[S. 328]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(ihren Stab wieder hebend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Fühlst</em> du nun des Blutes selige Unruhpflicht?</div>
- <div class="verse">Oder willst du leben &mdash; sprich &mdash; wie diese Machtstreber hier,</div>
- <div class="verse">ein Ruhestifter voll furchtsamer Gier?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(die Arme breitend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Göttin!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Gnade!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">mit der Pritsche klappend</span>): Ruhe!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeister</em></div>
-
- <div class="regie">(während sich die Kaplane bekreuzen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Gnade, Göttin!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Ruhe!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft18">Göttlichste Göttin!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft26">Ihr??</div>
- <div class="verse">Ihr meint eine Andre! Ihr meint die teuflische Fratze,</div>
- <div class="verse">die jene Diener des Heils da (<span class="regie">auf die Kaplane weisend</span>) mit plump geiler Tatze</div>
- <div class="verse">an die Wand euch malten; drum sitz ich im Trauerschleier.</div>
- <div class="verse">Aber auch euch treibt heimlich &mdash; wißt es! &mdash; mein mißgunstfreier</div>
- <div class="verse">Hauch, eure Ängste auszurasen</div>
- <div class="verse">und euren unreinen Atem irgendwie von euch zu blasen;</div>
- <div class="verse">drum habt ihr den Erdball zum Höllenkessel gemacht.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Kobolde mit dem Szepter streifend:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Auf, Klopfgeister! öffnet den Wetterschacht,</div>
- <div class="verse">durch den der Qualm ihrer Süchte zur Läuterung niederquillt!</div>
- <div class="verse">Jetzt, ihr Herrn, beseht, beseht euch das Ebenbild</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_329" id="Seite_329">[S. 329]</a></span>
- <div class="verse">eurer knechtischen Notdurft und krampfhaften Mühseligkeit,</div>
- <div class="verse">eurer zielbewußten Wohlfahrtsbeflissenheit,</div>
- <div class="verse">eurer mammonstollen Stoffwechselpracherei,</div>
- <div class="verse">eurer jammervollen Naturgesetzschacherei,</div>
- <div class="verse">des zivilisierten Barbaren würdigste Konkubine:</div>
- <div class="verse">da steht eure Göttin: die Maschine!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Kobolde haben währenddem das kristallene Flechtwerk der linken
-Grotte geöffnet, und schwarzgrauer Dampf ist herausgequollen.
-Nun wird ein feuriges Ofenloch sichtbar, neben dem der <em class="gesperrt">rote
-Karl</em> in seiner militärischen Maske zwischen maskierten
-<em class="gesperrt">Bergleuten</em> und rußschwarzen <em class="gesperrt">Heizern</em> hockt, und
-darüber eine Schwungradmaschine; zugleich hört man wieder das
-dumpfe Kolbengestampf, aber weniger laut als früher.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Landräte</em></div>
-
- <div class="regie">(sich die Ohren zuhaltend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreizru&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">(<span class="regie">tritt drohend vor</span>): man stopp!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Heizer und Bergleute</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">(<span class="regie">dumpf</span>): man stopp, man stopp, man stopp!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Jetzt kommt die Vergeltung! los, Genossen! hopp hopp!</div>
- <div class="verse center">Rache!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em></div>
-
- <div class="regie">(Schaufeln und Spitzhacken schwingend, bilden mit hoppsenden
-Tanzschritten einen Halbkreis um die Amtspersonen, die sich mit
-flehenden Geberden knierutschend um Michel zusammendrängen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir sind nicht mehr Menschen; wir dienen, wir dienen,</div>
- <div class="verse">lebend’ge Maschinen, den toten Maschinen.</div>
- <div class="verse">Jetzt wolln wir mal herrschen, mit Gewalt, mit Gewalt,</div>
- <div class="verse">wir armen Teufel in Menschengestalt.</div>
- <div class="verse center">Rache!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Landräte</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir flehn ehrerbietigst um Gnade, um Gnade.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Es wäre doch schade, jammerschade, jammerschade</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Landräte</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">um unsre christlich-germanische Staatskultur, Staatskultur.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_330" id="Seite_330">[S. 330]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">O Michel, o Michel, besinne dich nur!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(klopft laut mit dem Finger an die Rückseite von Michels Bank):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel, hörst du??</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Ich höre.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">So verschließ dir einstweilen die Ohren!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und verwechsle nicht Uns mit diesen vom Zeitgeist besessenen Toren!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, hör sie nur betteln, die dich mit städtischer Hoffahrt benebeln,</div>
- <div class="verse">um hinterrücks deinen bäurischen Waghals zu knebeln;</div>
- <div class="verse">seht, ihr Kriecher, jetzt schlägt sie über die Schnur,</div>
- <div class="verse">die tückische Glut eurer Unnatur!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Eine grelle Flamme pufft aus dem Ofenloch; die Amtspersonen fahren
-entsetzt in die Höhe und taumeln geblendet durcheinander.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie macht alles so hell,</div>
- <div class="verse">sie macht alles so schnell,</div>
- <div class="verse">daß eure lichtscheuen Sinne sich dran verbrennen,</div>
- <div class="verse">bis ihr nichts mehr könnt als blindwütig hasten und rennen:</div>
- <div class="verse">nun, ich will euch erlösen, ihr armen Irrlichtschürer.</div>
- <div class="verse">Los, ihr Hetzteufel alle, packt eure Verführer!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em></div>
-
- <div class="regie">(hinter den flüchtenden Amtspersonen her):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hetz hetz, ins Feuer!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kaplane und Landräte</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Erbarmen, Erbarmen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr Fettungeheuer!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Pastoren und Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Wir Armen, wir Armen!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_331" id="Seite_331">[S. 331]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em></div>
-
- <div class="regie">(nehmen einen Landrat und einen Kaplan am Kragen, während die
-übrigen in den Pfeilergängen verschwinden):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Ihr Schweinepriester, ihr Rindviehmagnaten,</div>
- <div class="verse center">jetzt singt Halleluja, jetzt werdt ihr gebraten!</div>
- <div class="verse center">marsch!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Sankt Michael, hilf uns!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Inhibieren Sie diesen Radau!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Sankt Eckart, bitt für uns bei der gnädigen Frau!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Fahr zur Hölle, Memme!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Höllaluja! marsch, marsch!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Ins Feuer!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">wird ins Ofenloch geschoben</span>): Au! au!!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sackerment &mdash; (<span class="regie">plötzlich sich losreißend</span>) Herr Corpsbruder!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(kommt sofort durch das Flechtwerk der rechten Grotte gehopst,
-maskiert wie früher):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">&mdash; wünschen?&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">(<span class="regie">während er wieder gepackt wird</span>): Na <em class="gesperrt">Hilfe</em>, kreuzsackerment!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(nach der linken Grotte hinübergaloppierend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bedaure! bin beschäftigt! im Dienst der Herrin! es brennt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="regie">(kommt plötzlich aus der rechten Grotte ihm nachgaloppiert):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach bitte, bitte, bitte! Na warte, ich werd dich schon kriegen!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_332" id="Seite_332">[S. 332]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Jawollja! marsch marsch! immer ran, verehrliche Fliegen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer</em></div>
-
- <div class="regie">(den Bergrat gleichfalls ins Feuer schiebend und die
-Bürgermeisterin hinterdrein):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Immer rin, immer rin, immer rin ins Vergniegen!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(zum Landrat):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Marsch marsch! immer schneidig!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Na, wenn’s sein muß, dann los!</div>
- <div class="verse">Platz da &mdash; (<span class="regie">er stürzt sich selbst in das Ofenloch</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Allerhand Achtung!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">So’n Schubbiak! so’n Gernegroß!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Still, Genossen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergleute</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Ohoh!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Ich sag euch: der Kerl hatte Schneid für drei!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die drei Heizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoh!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(ihm mit der Pritsche auf die Schulter klopfend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Nimm dir’n Beispiel dran, Roter! jetzt kommst Du an die Reih!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wa &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Zu dienen, Herr Volksbefreier! jetzt <em class="gesperrt">ist</em> man so frei.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zu Hilfe, Genossen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Heizer und Bergleute</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Hoh! ohoh!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_333" id="Seite_333">[S. 333]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14"><em class="gesperrt">Die</em> Zeit ist vorbei!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Oberheizer</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vorbei, du Schreihals! jetzt wird nicht mehr schwadroniert.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber Kameraden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Ein Bergmann</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Jawollja! hast uns lange genug kommandiert!</div>
- <div class="verse">Marsch ins Feuer!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die ganze Bande</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Marsch marsch, du Freiheitsverräter!</div>
- <div class="verse">du Rädelsführer! du Erzschuft! du Hauptattentäter!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zu Hilfe, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Der läßt sich erst recht nicht drillen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(mit besonders wuchtigem Tonfall):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier ist Jeder nur Bruchstück von Seinem Willen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und sein Wille ist, ihr Schächer: ich soll euch ein bißchen läutern!</div>
- <div class="verse">euch Alle!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Nachher könnt ihr säuberlich weitermeutern&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und einer den andern mit reinem Gewissen regieren&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und euch gegenseitig immer reiner kuli-kultivieren.</div>
- <div class="verse">Was meinst <em class="gesperrt">Du</em>, Michel?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(die Hand nach dem Feuerloch hebend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Marsch, marsch!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_334" id="Seite_334">[S. 334]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">Hinein, ihr Teufel, hinweg!</div>
- <div class="verse">Klopfgeister, schließt den Sündenversteck!</div>
- <div class="verse">Erde, enthölle dein Himmelsblut!</div>
- <div class="verse">Feuerfluß werde kristallene Flut,</div>
- <div class="verse">beschwinge die Zeiten, durchdringe die Räume,</div>
- <div class="verse">bringe Klarheit ins Reich der Träume!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Der rote Karl wird inzwischen samt seinen Genossen von den
-Kobolden an das Ofenloch gedrängt, und das Flechtwerk der Grotte
-schließt sich hinter ihnen, auch die Kobolde mitverbergend;
-zugleich verstummt das Geräusch der Maschine.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sag, Kyffhäuserherr, ist nun zur Genüge gestritten?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Frag den Michel, edle Feindin! du kennst die Geistersitten.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, du Herrlicher du, werd’s endlich inne:</div>
- <div class="verse">ich bin nur den Armsünderseelen die Teufelinne.</div>
- <div class="verse">Aus dem Samen, den ich Verschwenderin streue,</div>
- <div class="verse">keimt alles Künftige, alles Junge und Neue,</div>
- <div class="verse">jeder Traum von Schönheit und Kühnheit, von Freude und Ruhm,</div>
- <div class="verse">jeder Glaube an wahrhaftes Heiligtum.</div>
- <div class="verse">Wahrlich, Eckart, unser Wettstreit bleibt ewig gleich;</div>
- <div class="verse">denn dein wie mein ist das Erd- wie das Himmelreich.</div>
- <div class="verse">Also, Eulenspiegel, schür sie nur immer fort,</div>
- <div class="verse">die Hölle der Freiheit zwischen hier und dort!</div>
- <div class="verse">und sorge dafür, daß deine Schelle</div>
- <div class="verse">selbst in die verschlafensten Ohren gelle!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zu Befehl, gnädige Frau!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er hockt sich ans Fußende von Michels Bank.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ich nehm dich beim Wort auf der Stelle.</div>
- <div class="verse">Sprich, Michel: glaubst du an unsre Schutz- und Trutz-Einigkeit?</div>
- <div class="verse">und willst du ihr treu sein, treu sein in Lust und Leid?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_335" id="Seite_335">[S. 335]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Lust &mdash; und &mdash; Leid!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und willst du mir, was dein Mund so im Traum verspricht,</div>
- <div class="verse">auch beschwören von Augen- zu Augenlicht?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Augenlicht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, erkenne mich erst, du! &mdash; Weißt du nicht mehr:</div>
- <div class="verse">Fremd aus fernem Süden wohl kam ich einst her,</div>
- <div class="verse">so fremd, daß ein Schreck dein nordisches Blut durchlief,</div>
- <div class="verse">wie ein Bergquell wohl aus der Erde tief,</div>
- <div class="verse">eines Abends im Wald, war kaum sechs Jahr,</div>
- <div class="verse">einen Kranz wilde Efeuranken im Haar&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(sie lüftet lächelnd ihren Schleier)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">und mit Augen, wie der Kuckuk fürwahr&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(jäh emporgreifend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Lise!!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Ja, so saß ich unter dem Felsenhang</div>
- <div class="verse">und sang&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">und sang &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(nickt und verhüllt sich wieder):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und nun siehst du mich hier, wie du wünschtest, in seidnen Kleidern sitzen,</div>
- <div class="verse">mit Glaßeehandschuhen und Diamanten und ausländischen Spitzen;</div>
- <div class="verse">und gilt dir doch alldas in Wahrheit nicht einen Niet</div>
- <div class="verse">gegen ein einziges kleines heimatliches Lied</div>
- <div class="verse">von Herzensgrund</div>
- <div class="verse">aus meinem Mund&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_336" id="Seite_336">[S. 336]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">deinem Mund&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em></div>
-
- <div class="regie">(sich erhebend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Hört’s, Geister, hört’s! schlingt den Zauberreigen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Kobolde eilen von rechts wie links durch das Flechtwerk aus
-den Grotten herbei; eine leise Walzermusik beginnt von fern.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Raunt mein Gebet ihm ein in sein innigstes Eigen:</div>
- <div class="verse center">in Fleisch und Blut,</div>
- <div class="verse center">in Mark und Mut: &ensp;</div>
- <div class="verse center">Körperrausch werde Seelenglut!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie senkt ihr Szepter wieder auf Michels Brust, während der
-Rotbart mit dem Schwert und Eckart mit dem Kreuzstab sein Haupt
-berühren; zugleich beginnen die Kobolde ringelreih um die Bank zu
-schreiten, während Eulenspiegel am Fußende kauern bleibt.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel Michael! Mehr kann kein menschlicher Geist erwerben</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">gedämpft</span>): Geist erwerben</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">als ein Haus, das er heiligt für seine Erben!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">wie vorher</span>): seine Erben!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">als einen Hof, wo er spielt mit Weib und Kind!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Weib und Kind!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">als einen Herd, an dem er Frieden findt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Frieden findt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">eine Schwelle zum Himmel, wenn er den Kampf bestand</div>
- <div class="verse">für seine Muttererde, sein Vaterland!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_337" id="Seite_337">[S. 337]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div>
-
- <div class="regie">(allmählich lauter):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">seine Muttererde, sein Vaterland.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(alle zehn Finger hochspreizend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dieser Traum der Menschheit, Michel, hat vielerlei Enden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">vielerlei Enden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">laß dich nicht von Träumen, die eitel sind, blenden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">plötzlich niederknieend, Hände vors Gesicht</span>): blenden!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die ferne Tanzmusik hört auf.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bei dem Gott, dem der Geist deiner Väter entsprang&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">bei deines Namens hellem Erzengelklang&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(den Schellenzipfel gen Himmel hebend, doch noch nicht klingelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">bei der dunkeln Macht, über die ich weine und lache&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Frau Venus</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">erwache, Michael&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde und Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">aufspringend, Zippelmützen und Schellenzipfel schwenkend,</span></div>
- <div class="verse center"><span class="regie">während der Vorhang sich schließt</span>): erwache! &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><span class="s4">*</span></div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div>
-
- <div class="regie">(aus dem Mittelspalt des Vorhangs tretend, mit verlegenem
-Achselzucken):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er schläft immer noch. Was tun? &mdash; (<span class="regie">Aufhorchend</span>) Jetzt schnarcht er sogar.</div>
- <div class="verse">Das ist höchst bedenklich; denn wir laufen alle miteinander Gefahr,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_338" id="Seite_338">[S. 338]</a></span>
- <div class="verse">noch geisterhafter von ihm geträumt zu werden,</div>
- <div class="verse">und das könnte doch vielleicht unsern leiblichen Zustand gefährden.</div>
- <div class="verse">Ich würde ihn wecken; aber wer weiß, was passiert,</div>
- <div class="verse">wenn er unversehens seine Zippelmütze verliert</div>
- <div class="verse">und ernstlich nachdenkt über dies nächtliche Abenteuer.</div>
- <div class="verse">Auch unserm Herrn Dichter übrigens scheint das durchaus nicht geheuer;</div>
- <div class="verse">ich glaube, er fragt sich lieber schon garnicht mehr,</div>
- <div class="verse">wer jetzt wirklich Herr ist, wir oder er.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Hinterm Vorhang beginnt leise Tanzmusik.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aha! da läßt er gleich wieder den Fidelbogen schwingen;</div>
- <div class="verse">vermutlich, um den Gang der Handlung besser in Trab zu bringen.</div>
- <div class="verse">Seit wir dem Michel klarmachen mußten, was er im Grunde will,</div>
- <div class="verse">steht dem Herrn sein Wille ebenso gründlich still</div>
- <div class="verse">vor den unberechenbaren Folgen dieser Geisterstunde.</div>
- <div class="verse">Ich hör ihn bereits mit sperrangelweitem Munde</div>
- <div class="verse">um unsern Beistand gegen seinen schnarchenden Helden flehn;</div>
- <div class="verse">ja, so dreht sich der Weltlauf im Handumdrehn.</div>
- <div class="verse">Wenn nun der Michel träumen will bis zum Jüngsten Tage,</div>
- <div class="verse">was wird dann aus der ganzen tatsächlichen Lage?</div>
- <div class="verse">Sein Haus fällt der Grubengesellschaft in die Hände,</div>
- <div class="verse">und seine Glücksfee nimmt womöglich als alte Jungfer ein Ende;</div>
- <div class="verse">ich muß doch mal nachsehn, was sich da machen läßt.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er steckt einen Augenblick den Kopf in den Vorhangspalt.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Halt! er schnarcht nicht mehr. Er liegt bombenfest;</div>
- <div class="verse">nicht einmal seine Krone ist verschoben,</div>
- <div class="verse">und man hat ihn inzwischen sogar auf den Thron gehoben.</div>
- <div class="verse">Da heißt’s doppelt Vorsicht. Ich warne nochmals Jeden vor Schaden;</div>
- <div class="verse">denn Sie wissen, er ist reichlich mit allerlei Sprengstoff geladen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_339" id="Seite_339">[S. 339]</a></span>
- <div class="verse">und wie leicht kann der plötzlich ganz von selber loskrachen!</div>
- <div class="verse">Also werd ich ihm mal Platz für den Explosionsfall machen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er schiebt den Vorhang nach rechts beiseite.)</div>
-
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 class="padtop1" id="Vierter_Aufzug">Vierter Aufzug</h4>
-
-</div>
-
-<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: wie beim zweiten Aufzug. Doch ist jetzt die Bank
-mit dem <em class="gesperrt">angebundenen</em> Michel quer auf zwei zusammengerückte
-Tische gesetzt, die rechts unter dem Laubengang stehn; und
-überhaupt sieht alles ziemlich verrattert aus. Hinter Michel, auf
-Stühlen zu ebner Erde, sitzen der <em class="gesperrt">Rotbart</em> und <em class="gesperrt">Eckart</em>,
-ebenfalls schlafend; und an dem langen Tisch links schläft der
-<em class="gesperrt">schwarze Karl</em>, mit einer leeren Flasche im Arm. Vorn,
-unten vor Michel, sitzt und wacht <em class="gesperrt">Lise Lied</em>, noch immer
-als verschleierte Glücksfee; neben ihr steht der maskierte
-<em class="gesperrt">Bergrat</em>, mit zwei Sektgläsern in der Hand. Die leise Musik
-im Saal dauert fort; man sieht, es wird eine Cotillontour getanzt,
-und ab und zu huscht ein Pärchen heraus in die Büsche.)</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(prallt mit dem Vorhang an den Bergrat, sodaß dieser die Sektgläser
-fallen läßt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Oh Pardon, Herr Rat!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">O zum Teufel, Sie Tr&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Tr &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Sie &mdash; Traumspuk mein’ ich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Ah, danke höflichst, Sie Rr&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Sie Raumspuk mein’ich &mdash; und werde sofort das Glas neu erscheinen lassen;</div>
- <div class="verse">unterdeß dürften Scherben nicht schlecht zu dem Fräulein Glücksfee passen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also <em class="gesperrt">zwei</em> Gläser, bitte.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Nein, danke! Nichts mehr! nicht einen Tropfen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Halblaut zum Bergrat, etwas kokett):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, ich fühle mein Herz schon rasch genug klopfen.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_340" id="Seite_340">[S. 340]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also <em class="gesperrt">eins</em>, Herr Glücksrat?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Nein, danke gleichfalls! danke!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also keins. Glückauf, Spuk! (<span class="regie">Ab nach dem Saal.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">Lisens Schleier fassend</span>): O diese schwarze Schranke,</div>
- <div class="verse">wann wird sie endlich von dem klopfenden Herzchen weichen?!</div>
- <div class="verse">O wüßt ich den Preis, spröde Fee, für dies Glück ohnegleichen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht so stürmisch, Herr Ritter; Ihr werdet sogleich erschrecken.</div>
- <div class="verse">Ihr habt den Preis nämlich in der Tasche stecken.</div>
- <div class="verse">Ja ja! Und er ist nur ein Blatt Papier.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(seine Brieftasche herauslangend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber Herz, natürlich! Wie hoch soll der Check sein? Hier!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Check? was ist das? &mdash; Ach so! Hahahah! Nein, danke recht sehr;</div>
- <div class="verse">ich meinte &mdash; (<span class="regie">zupft an dem Vertragspapier; &mdash; plötzlich schreckhaft</span>) ogott! er hat sich gerührt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">den Vertrag rasch wieder einsteckend</span>): Was! Wer!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, Er! Wenn er aufwacht! Ach bitte, Herr Bergrat: schnell:</div>
- <div class="verse">bringen Sie mich heim!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ja natürlich, Schatz! In welches Hotel?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hotel? Nein, nach Hause!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Hause?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_341" id="Seite_341">[S. 341]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Ja bitte! geschwind!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hm &mdash; wer bist du denn?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ach, Herr Rat &mdash; blos dem Michel sein Pflegekind.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Tanzmusik setzt ab.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach so &mdash;! Hahahah! &mdash; Süßer Racker!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft16">Er darf mich hier nicht finden!</div>
- <div class="verse">Will ihn blos noch rasch von der Bank losbinden.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie tut es.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(erscheint im Hintergrund mit der noch immer maskierten
-Bürgermeisterin):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, schöne Frau; Sie sehn, man will schon verschwinden.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(Lisens Arm nehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also los!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="regie">(nach vorn eilend, während Eulenspiegel zurück in den Saal geht):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5"><span class="antiqua">Ah, monsieur</span>, Sie treiben’s ja rein schon zum Skandal!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><span class="antiqua">Oui, madame!</span> drum verlass ich auch das Lokal.</div>
- <div class="verse">Ihr Diener!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Empfehl mich, Madam!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Beiden nach rechts verschwinden):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Sie Dirne! Sie freches Stück!</div>
- <div class="verse">O, meine Nerven! &mdash; O Theodor, komm zurück!!!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie ist dabei auf den Stuhl gesunken, auf dem vorher Lise gesessen
-hat. Die Tanzmusik setzt wieder ein.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_342" id="Seite_342">[S. 342]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(erscheint mit dem etwas schwankenden Bürgermeister):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, Herr Bürgermeister &mdash; (<span class="regie">entfernt sich wieder</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div>
-
- <div class="regie">(gleichfalls noch immer maskiert, mit einigen Cotillon-Orden am
-Domino):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Aber Wally, was sollen die Leute denken!</div>
- <div class="verse">so mitten aus dem Cotillon abzuschwenken!</div>
- <div class="verse">ich bitt dich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">schluchzend</span>): Ach, Männe!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Ach, laß das Getu!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was?! &mdash; (<span class="regie">Kreischend</span>:) Pfui, du Flaps! du elender Fatzke du!</div>
- <div class="verse">Geh!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Aber Frauchen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Geh, sag ich! oder ich schrei!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Um Gottes willen &mdash; (<span class="regie">er schlägt sich nach rechts in die Büsche</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">(<span class="regie">schluchzend</span>): So’n Stiesel! Und riecht noch nach Bier dabei!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(erscheint im Hintergrund mit dem Kaplan):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, Ehrwürden &mdash; (<span class="regie">dann wieder ab in den Saal</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="regie">(auch schon ein bißchen schwankend, zur Bürgermeisterin):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ei, teuerstes Beichtkind, ei:</div>
- <div class="verse">so vereinsamt inmitten der Fröhlichkeit?</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nimmt einen Stuhl und setzt sich dicht neben sie.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, Ehrwürden, es gibt soviel Herzeleid!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_343" id="Seite_343">[S. 343]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="regie">(ihre Hand nehmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ei, ei&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">O fühlen Sie, wie ich zittre und bebe&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(sie drückt seine Hand an ihren Busen, während Michel oben hinter
-ihnen erwacht und unbemerkt sich allmählich auf seiner Bank
-zurechtsetzt)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">Ach&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">O hätt ich etwas, wofür ich lebe!</div>
- <div class="verse">mir ist manchmal so schwach, so unbeschreiblich schwach!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, ich fühl es&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Ach, wie das wohltut &mdash; ach&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">wie das wonnig klang, als Sie sagten: Ei, ei&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="regie">(weiterfühlend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ei, ei&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Ach, mir wird auf einmal so anders, so frei!</div>
- <div class="verse">wie das himmlisch ist, so getröstet zu werden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, da fühlt man das Paradies auf Erden&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach &mdash; wenn ich auch etwas abgehärmt scheine&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O &mdash; das sind ja gottgesegnete Beine&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(erscheint im Hintergrund mit dem Pastor):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bitte <em class="gesperrt">dort</em>, Herr Pastor&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_344" id="Seite_344">[S. 344]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(breit von oben herab zu dem Pärchen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10"><em class="gesperrt">Ihr Schweine</em>&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Huch &mdash; (<span class="regie">läuft nach rechts davon</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="regie">(ruhig aufstehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Was! Er Säufer erfrecht sich, hier fromme Gespräche zu stören?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(über die Stühle vom Tisch niedersteigend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Platz da, Pfaff!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(von Eulenspiegel wachgemacht, treten aus dem Laubengang):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Platz! <span class="mleft3">Platz!</span></div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">vor Michel zurückprallend</span>): Ah! Er soll von mir hören!</div>
- <div class="verse">Wart, Bursch! (<span class="regie">Ab in den Saal mit dem Pastor zusammen, der im Hintergrund
-gewartet hat.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Nun, hehrer Helde? zurück aus dem Geisterland?</div>
- <div class="verse">wie steht’s?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(ganz mit <em class="gesperrt">sich</em> beschäftigt, schlägt nach der Troddel der
-Zippelmütze):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Verdammtes Gebammel! (<span class="regie">und reißt sie sich vom Kopf.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">O aber! Solch Ehrenpfand,</div>
- <div class="verse">das schlägt man doch nicht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">die Mütze anstarrend</span>): Was ist das? was soll das? &mdash; Hee:</div>
- <div class="verse">wer tat das, Schwarzer?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der schwarze Karl</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">von Michel gerüttelt</span>): Hilfe! mein Portepee!</div>
- <div class="verse">Josef-Maria &mdash; (<span class="regie">ist aufstehend über seinen Degen gestolpert, fällt unter den
-Tisch und schläft weiter</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_345" id="Seite_345">[S. 345]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Viehklumpen! &mdash; Und Ich?? &mdash; O Vieh, Vieh, Vieh!!!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Mütze zerfetzend und zu Boden schleudernd:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schandlappen verfluchter! da lieg, du Infamie!</div>
- <div class="verse">O, ich Narr! ich Stadtnarr!!! (<span class="regie">Er faßt seinen Kopf mit beiden Händen;</span></div>
- <div class="verse mleft1"><span class="regie">die Tanzmusik setzt wieder ab</span>) Halt, Michel, halt!</div>
- <div class="verse">besinn dich, Mensch! &mdash; (<span class="regie">Er blickt scheu nach dem Rotbart und Eckart hinüber,
-tastet an seiner Brust herum, holt das Vertragspapier aus der Tasche, entfaltet es,
-starrt es kopfschüttelnd an.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(nimmt unterdessen Eckart beiseite):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Excellenz&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(und da dieser ihm rasch den Mund zuhält)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">ah, Pardon &mdash; aber gehn wir nicht bald?</div>
- <div class="verse">wir könnten leicht den rechten Moment verpassen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(ist zu ihnen getreten):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, wir dürfen den Mann <em class="gesperrt">nicht</em> in seinem Zorn verlassen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie’s beliebt, gnädiger Herr &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Wo <em class="gesperrt">ist</em> er? Er soll mir heraus!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Wer</em>, Michel, wer?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Dem ich hier mein Haus</div>
- <div class="verse">vorhin verschrieb ohne Sinn und Verstand!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er zerknautscht das Papier, will es wegwerfen, hält plötzlich inne
-und steckt’s in die Brusttasche.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Der</em>, Herr Vetter, ist leider inzwischen kurzerhand</div>
- <div class="verse">mit deiner Glücksfee durchgebrannt.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Tanzmusik setzt wieder ein.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_346" id="Seite_346">[S. 346]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(nimmt seinen Hut und Stock von dem Tisch unter der Bank):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr Herren! Ich bin nur ein Mann in geringem Kleid</div>
- <div class="verse">und mit Ehrfurcht im Leibe; aber was ihr auch seid,</div>
- <div class="verse">ich schätz mich zu wert, euern Schabernack einzustecken!</div>
- <div class="verse">Ich bin kein Hanswurst für naseweise Gecken,</div>
- <div class="verse">und im Wirtshaus ist jedermann nichts als Zechkumpan!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Auf die zerrissene Mütze deutend:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wer hat mir den Schimpf da angetan?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da mußt du <em class="gesperrt">den</em> dort fragen, Freund Grobian.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er zeigt nach hinten, wo eben der maskierte <em class="gesperrt">Landrat</em>
-erscheint, ganz mit Cotillon-Orden bepflastert, begleitet vom
-Kaplan und vom Pastor, alle drei den Hut auf dem Kopf und nicht
-mehr vollkommen fest auf den Beinen.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(sich gleichfalls den Hut aufstülpend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ahh, Herr!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(sich mit dem Taschentuch fächelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ä &mdash;: Ah &mdash;? was Ah?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Ich fordre Aufklärung, Herr!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Pahahäh! Ist ja gottvoll! &mdash; Na also, Sie Aufklärererr:</div>
- <div class="verse">erst mal Hut ab, wenn Sie hier um was bitten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mit Verlaub: mein Hut kehrt sich ganz nach Anderleuts Sitten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">mit Fistelton</span>): ja Sitten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">tief und schwer</span>): Sitten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreiz, Ruhe! &mdash; Das ist ja -äh- unerhört!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan und der Pastor</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Unerhört! Unerhört!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_347" id="Seite_347">[S. 347]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er besoffner Flegel, merk er sich: Wenn er das Fest weiterstört</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(den Hut kurz lüftend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Um Verzeihung, Herr Landrat: Wer <em class="gesperrt">ist</em> hier besoffen?</div>
- <div class="verse">Ich für <em class="gesperrt">mein</em> Teil hab meinen Rausch ausgeschloffen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(immer heftiger fächelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ruhe!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">wie vorher</span>): Sehr gern, Herr Landrat. Nur bitt ich noch diese Nacht</div>
- <div class="verse">um Antwort: Wer hat mich besoffen <em class="gesperrt">gemacht</em>?!</div>
- <div class="verse">Und im Übrigen bitte: hier leg ich hin,</div>
- <div class="verse">was ich etwa irgendwem dafür schuldig bin!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er langt eine Handvoll Geld aus der Hosentasche und wirft sie dem
-Landrat vor die Füße.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(etwas zurückweichend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber das ist ja ein ganz -ä- ganz unglaubliches Vieh!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Ja, ein Vieh!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ahh!!! (<span class="regie">hebt in heller Wut seinen Stock.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Halt, Michel! Halt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">bezwingt sich</span>): Ja, wahrhaftig: für die,</div>
- <div class="verse">die Biester da, ist mein Stock zu gut.</div>
- <div class="verse">Aber eh ich ihn heimtrag, ihr Kröten-und-Unkenbrut,</div>
- <div class="verse">soll euch doch mal erst, und müßt ich den Hals drum wagen,</div>
- <div class="verse">eine Menschenstimme ans Trommelfell schlagen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Der Landrat holt Notizbuch und Bleistift heraus.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, notieren Sie’s nur! ich stell’s gerne auch noch unter Eid!</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_348" id="Seite_348">[S. 348]</a></span>
- <div class="verse">O, mit welchem Brustkorb voll Feiertagsgläubigkeit</div>
- <div class="verse">kam ich heut auf dies Fest, dies Volksfest, her in die Stadt!</div>
- <div class="verse">Wie hatt ich mein einsames altes Waldnest satt!</div>
- <div class="verse">wie sah ich die Welt hier von neuen Lichtern leuchten,</div>
- <div class="verse">die mir alles Leben weiter und größer zu entfalten deuchten!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(halb zum Rotbart und Eckart hingewendet:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">wie war ich willens &mdash; die Herren da sind mir Zeugen&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">jedem überlegnen Geist mich mit Kopf und Kragen zu beugen!</div>
- <div class="verse">wie glaubt ich, daß hier, wo Männer zum Wahlkampf rüsten,</div>
- <div class="verse">die rechten, aufrechten Vorbilder ragen müßten,</div>
- <div class="verse">einen Kerl wie mich zu vornehmer Art anzuleiten!</div>
- <div class="verse">Und was fand ich? (<span class="regie">Zornschluchzend</span>:) Lauter Gemeinheiten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">dumpf</span>): Gemeinheiten.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na heul nicht, Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">hast höhere Obrigkeiten!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was?! Schwerebrett ja, was unterstehn Sie sich!</div>
- <div class="verse">Ich verbitt mir, meine Herrn da &mdash; wer <em class="gesperrt">sind</em> Sie eigentlich?!</div>
- <div class="verse">wie <em class="gesperrt">heißen</em> Sie?! (<span class="regie">Inzwischen hat sich im Hintergrund ein Haufen maskierter
-Leute versammelt, darunter das Bürgermeisterpaar Arm in Arm, und ein lärmender
-Wirrwarr drängt gegen den Rücken des Landrats.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Drei Bengelstimmen</em></div>
-
- <div class="regie">(plärren aus dem Gedränge):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">(<span class="regie">weinerlich</span>) Fritze! (<span class="regie">dreist</span>) Peter Paul! (<span class="regie">ruppig</span>) Ludewich!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreizrudiment, Herr Kaplan, da soll man nicht fluchen?!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(<em class="gesperrt">Drei Kobolde</em> kommen plötzlich zum Vorschein, der erste ohne
-Mütze und mit flennender Miene.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em> (<span class="regie">für sich</span>):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Träum ich?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_349" id="Seite_349">[S. 349]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Verflixte Bengels, was habt ihr hier noch zu suchen!</div>
- <div class="verse">Ehrwürden hat euch doch extra vorhin zu Bett gejagt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich auch, Herr Landrat!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster Kobold</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">weinerlich</span>): Ich will meine Mütze!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Waas?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter und dritter Kobold</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Mütze!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ja &mdash;! Mutter hat gesagt:</div>
- <div class="verse">Fritze, hat sie gesagt&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter und dritter</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Dusselfritze!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">(<em class="gesperrt">weinerlich</em>): Dusselfritze&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">erst gehst du und holst deine Zippelmütze!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft18">Zippelmütze&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Dritter</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da liegt sie!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">verlegen sich wegdrehend</span>): Ä &mdash; bitte, Herr Bürgermeister!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er nimmt ihn beiseite, gestikuliert mit ihm.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster Kobold</em></div>
-
- <div class="regie">(hat die Mütze vom Boden genommen):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Kaputt &mdash; (<span class="regie">und läßt sie wieder fallen</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Na heul nicht, Fritze. Kuckt, kleine Geister,</div>
- <div class="verse">was <em class="gesperrt">hier</em> liegt!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_350" id="Seite_350">[S. 350]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Kobolde</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Geld! richt’ges Geld!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft16">und’n ganzer Haufen!</div>
- <div class="verse">Da grappscht! da könnt ihr zehn neue für kaufen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Während sie aufsammeln)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und sagt eurer Mutter: der deutsche Michel läßt grüßen,</div>
- <div class="verse">und die alte Schlafmütz, die hat er heut Nacht zerrissen.</div>
- <div class="verse">So; nu geht zu Bette!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster Kobold</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Dank schön.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Zweiter</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Hurrra!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Dritter</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">der deutsche Michel soll leben!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Erster und zweiter</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft18">leben! leben!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Kobolde verschwinden):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So, Herr Vetter; nun könnten wir uns auch wohl ins Nest begeben!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Tanzmusik macht wieder Pause.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir? &mdash; Ich hab meine Rechnung hier noch nicht klapp!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist geschenkt! Er kann jetzt abschwirren. Ab!</div>
- <div class="verse">Man kennt ihn!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Man soll ihn noch mehr kennen lernen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ein Diener des Friedens rät Ihnen, sich zu entfernen,</div>
- <div class="verse">Herr Michael. Wahrlich, Sie mißbrauchen</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_351" id="Seite_351">[S. 351]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schon gut, Herr Pastor; den muß man anders anhauchen.</div>
- <div class="verse">Marsch nach Hause, Bursche! (<span class="regie">Michel zuckt auf.</span>)</div>
- <div class="verse mleft12">Und sollt er sich weiter erfrechen,</div>
- <div class="verse">dann &mdash; (<span class="regie">er gibt dem Bürgermeister ein Zeichen</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Sofort, Herr Landrat! (<span class="regie">geht eilends ab.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(den Hut lüftend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Herr Pastor, ich will den Herrn Bergrat sprechen;</div>
- <div class="verse">wo <em class="gesperrt">ist</em> er?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Er hat hier garnichts zu wollen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wo <em class="gesperrt">ist</em> er?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(zurückweichend, etwas torkelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Kreuzschwerebrettnochmal, er soll sich nach Hause trollen!</div>
- <div class="verse">verstanden?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Michel Michael, halt deine Hand im Zaum!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bleib deiner mächtig, Mann; alles Andre ist Traum.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wo ist der Bergrat?! Er wird mir Rede stehn;</div>
- <div class="verse">er versteht mit uns Volk menschlich umzugehn.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Die Tanzmusik setzt wieder ein.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meine Herren und Damen! ich rufe Sie sämtlich zu Zeugen:</div>
- <div class="verse">ich habe -ä- Alles getan, um Exzessen vorzubeugen.</div>
- <div class="verse">Hab ich, meine Herren?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_352" id="Seite_352">[S. 352]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Herren</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Jawohl, Herr Landrat! Alles!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft18">fast übergebührlich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meine Damen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Chor der Damen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Jawohl, Herr Landrat!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bürgermeisterin</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">schon beinah unnatürlich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Demnach -ä- warn’ich den Delinquenten zum letzten Mal:</div>
- <div class="verse">derselbe hüte sich hierorts, in diesem -ä- städtischen Festlokal,</div>
- <div class="verse">vor Widerstand gegen die Staatsgewalt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie? &mdash; Ich seh hier nur Leute in allerhand Maskengestalt.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ruhe!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Wenn Sie wünschen, Herr Landrat, bin ich im Amtskleid erbötig</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja: Euresgleichen hat keine Maske erst nötig!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eine Dame</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hihihi&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Einige Herren</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">hähähä &mdash; hahahah&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Kaplan</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Un-er-hört!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Pastor</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Es scheint, Herr Collega, der Ärmste ist geistig gestört.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_353" id="Seite_353">[S. 353]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja! Sag er mal, Wertster: ihm brennt’s wohl im Kopp, das Stroh?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Darauf, Allerwertster, darauf antwort ich so &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(er kehrt ihm den Rücken und schlägt sich aufs Hinterteil; die
-Tanzmusik bricht quietschend ab, und ein langer starker Baßton
-erfolgt) &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Herren</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hă!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Damen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Ohh &mdash; &mdash; (<span class="regie">man fährt mit den Taschentüchern zur Nase und
-wendet sich ruckhaft von Michel weg.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber das schreit ja zum Himmel mit dem Rüpel da!</div>
- <div class="verse">Ist denn kein Gummiknüppel da?!</div>
- <div class="verse">Herr Bürgermeister!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">(<span class="regie">vom Hintergrund her</span>): Sofort, Herr Landrat!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft19">Ja bitte, fix!!</div>
- <div class="verse">Platz da, meine Damen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Vorwärts, Leute! da steht der Taugenix.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(<em class="gesperrt">Drei Polizisten</em> marschieren auf.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(mit der Pritsche klappend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Halt! Vorsicht! hier riecht’s nach Dynamit!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ruhe!!! Vorwärts, Kerls! Losungswort: Moabit!</div>
- <div class="verse">Los!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">Los, Leute!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_354" id="Seite_354">[S. 354]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(mit beiden Händen seinen Stock aufstemmend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Halt!! Noch steh ich Gewehr bei Fuß;</div>
- <div class="verse">aber wer den Michel anrührt, den haut er zu Mus!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Also Achtung! Plempen raus! Hoch das Bein! Immer druff!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Polizisten</em></div>
-
- <div class="regie">(blank ziehend und vorrückend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Immer druff! immer druff! immer druff&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">druff! knuff!!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(rennt sie mit quergenommenem Stock übern Haufen.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Damen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Huch &mdash; (<span class="regie">flüchten samt den Herren nach hinten; zugleich aber kommen <em class="gesperrt">drei
-andre Polizisten</em> von rechts aus dem Laubengang gestürzt, fallen Michel in den
-Rücken und nehmen ihn fest</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Polizisten</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du Luder! du Mistvieh! du Aas! Lumpenhund!</div>
- <div class="verse">Uff, Kanalje! Uff jetzt! Na warte: wir drehn dir die Knochen schon rund!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie zerren Michel vom Boden und drücken ihn in die Kniee; zwei
-Mann halten seine Füße gepackt, je zwei seinen rechten und linken
-Arm.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(wieder nähertretend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Stillgestanden! &mdash; So, Bursche: jetzt wird er wohl kirre sein.</div>
- <div class="verse">Legt ihm Handschellen an!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">(<span class="regie">aufbrüllend</span>): Nein!!! Nein, schrei ich! Nein!</div>
- <div class="verse">Beim ewigen Gott: lieber hackt mir die Arme vom Rumpf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ruhe!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Ich will Alles, was ich habe, mein Haus, Stiel und Stumpf,</div>
- <div class="verse">der Staatskasse schenken!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_355" id="Seite_355">[S. 355]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Schluß jetzt! (<span class="regie">Zu den Polizisten</span>) Tut eure Pflicht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Halt</em>! Das wird nicht geschehen! <em class="gesperrt">dem</em> Mann da <em class="gesperrt">nicht</em>!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Trage Jeder, der richtet, Scheu vor höherm Gericht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Waas! &mdash; Ja zum Teufel, da soll doch &mdash; das ist ja wahrhaftigen Gott</div>
- <div class="verse">das reine Anarchistenkomplott!</div>
- <div class="verse">Herr Bürgermeister!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Herr Landrat?&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(während die Beiden erregt zusammen tuscheln und der knieende
-Michel stumm mit den Polizisten ringt, zum Rotbart):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Gnädiger Herr, ists erlaubt,</div>
- <div class="verse">die Narrheit loszulassen gegen ein närrisches Haupt?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Tu, Schalk, was dein Witz und &mdash; dein Herz dir erlaubt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dank, Herr &mdash; (<span class="regie">er verneigt sich und eilt nach links davon</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div>
-
- <div class="regie">(vor Michel und seine Häscher tretend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Halt, Leute! &mdash; Arrestant Michel Michael,</div>
- <div class="verse">wir wollen Rücksicht nehmen auf Ihren submissen Gnaden-Apell</div>
- <div class="verse">und Sie einfach abführen lassen, ohne Verwendung von Handschellen,</div>
- <div class="verse">unter der Bedingung: Sie nennen Ihre Spießgesellen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bürgermeister</em></div>
-
- <div class="regie">(auf den Rotbart und Eckart hinüberweisend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">Wer sind diese Herren, mit denen Sie sich nicht scheuten,</div>
- <div class="verse">unsre vaterländische Feststimmung unziemlich auszubeuten?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_356" id="Seite_356">[S. 356]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(immer noch knieend, stier vor sich hin):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Deutschland &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Na <em class="gesperrt">wirds</em> bald?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme des roten Karls</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">man stopp!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Immer mehr Stimmen von draußen her</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">man stopp! man stopp! man stopp!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Zugleich wird wieder das dumpfe Geräusch der stampfenden Maschine
-hörbar.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Landrat</em></div>
-
- <div class="regie">(sich die Ohren zuhaltend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreizsackerment, tanzt denn heute der Deibel Galopp?!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Von links erscheinen <em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>, der <em class="gesperrt">rote Karl</em>
-in seiner Militär-Uniform, jetzt aber mit Schlapphut und ohne
-Gesichtsmaske, und die maskierten <em class="gesperrt">Bergknappen</em>; die meisten
-etwas angezecht, alle mit leeren Sektflaschen, die sie bedrohlich
-wie Keulen schwingen.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em></div>
-
- <div class="regie">(während Eulenspiegel mit der Pritsche den Takt dazu klopft):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Stopp! Hie Knappschaft!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza center">
- <div class="verse">Knappschaft!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Jeder Knappe im Schacht</div>
- <div class="verse">nehm sich vor falschen Wettern in Acht!</div>
- <div class="verse">Licht aus!!! (<span class="regie">Er haut seine beiden Flaschen aneinander zu Scherben; sofort
-erlöschen die elektrischen Ampeln. In der Dunkelheit geben jetzt nur die Laternchen
-an den Tschackos der Bergknappen spärliches Licht. Man sieht, wie sich Michel von
-seinen Häschern losreißt, seinen Stock ergreift und um sich schlägt. Dazu Gerassel
-von Säbeln und zerschmissenen Flaschen, Geschrei der flüchtenden Damen und Herren,
-und Eulenspiegels Pritschengeknalle.</span>)</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_357" id="Seite_357">[S. 357]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em></div>
-
- <div class="regie">(durch den Tumult hin und her trottend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12"><em class="gesperrt">Aus</em> das Licht! <em class="gesperrt">Aus</em> das Licht!</div>
- <div class="verse mleft12">Irrwischfunken zünden nicht!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Michel stimmt ein):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Sumpfgesindel! Unkenbrut!</div>
- <div class="verse mleft12">fang mal Feuer, faules Blut!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber Michel! Kerl! du verbläust ja mein Schwert!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Immer druff! Meines Vaters Stock ist zehn Schwerter wert!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Wert oder nicht, wert oder nicht,</div>
- <div class="verse mleft12">schlagt in Stücken, was zerbricht!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Sind zerbrochen alle Klingen,</div>
- <div class="verse mleft12">kann man noch den Knüppel schwingen!</div>
- <div class="verse mleft17">Sieg!!!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Man sieht im Hintergrund durch den Saal die letzten fliehenden
-Amtspersonen mit flüchtig aufflammenden Zündhölzchen rennen.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sieg! Hurra, Sieg!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Glückauf, Genossen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">Glückauf!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(mit Schellengebimmel):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Es lebe der ganze, allbeglückende Volksfestverlauf!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Nun, Held Michel, wie steht’s? vollständig heil und gesund?</div>
- <div class="verse">Laßt mal sehn! (<span class="regie">Die Bergknappen nehmen die Tschackos ab und beleuchten ihn
- mit den Grubenlichtern.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Mir fehlt blos ein guter Trunk zur Stund.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_358" id="Seite_358">[S. 358]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ih! &mdash; Na, dann mal her den Rest von der Kesselbefeuchtung!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, Wasser!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Ah, Wasser!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Hahahah! Pros’t!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(nochmals bimmelnd und nach draußen gewendet):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft20">Heeda! Beleuchtung!</div>
- <div class="verse">wo gibts hier Wasser?! Licht an!!! (<span class="regie">Die elektrischen Ampeln flammen
-zum Teil wieder auf; man sieht am Boden zerbrochene Flaschen, zertrampelte
-Zylinderhüte und zerrissene Maskenstücke liegen.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Aber erst sag ich Dank!</div>
- <div class="verse">Roter Karl, ich werd’s dir mein Lebenlang</div>
- <div class="verse">nicht vergessen! (<span class="regie">er schüttelt ihm die Hand.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Genossen, seht ihr?! was hab ich gesagt!</div>
- <div class="verse">jetzt ist er Unser! (<span class="regie">klopft ihm gnädig die Schulter.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Hurrra!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">zurücktretend</span>): Wie??</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Na, man unverzagt!</div>
- <div class="verse">Hurra schrein wir blos noch so aus alter Gewöhnung.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So &mdash;: Das also ist eure Menschenbrüderversöhnung:</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(draußen klappt plötzlich die eiserne Tür zu, und das Geräusch der
-Maschine verstummt)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">einen Mann aus den Klauen der Überzahl glücklich rauszukloppen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_359" id="Seite_359">[S. 359]</a></span>
- <div class="verse">um ihn dann in <em class="gesperrt">euern</em> Mehrheitsrachen zu stoppen &mdash;:</div>
- <div class="verse">die Sorte Brüderlichkeit, die ist mir zu gleich und frei!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(<em class="gesperrt">Ein Maschinenheizer</em>, unmaskiert, bringt ein Bierglas voll
-Wasser; Michel schiebt ihn unsanft beiseite.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weg da! Bleibt mir vom Leibe mit eurer Nothelferei!</div>
- <div class="verse">die könnt ich besser bei der Bergratsgesellschaft finden.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hoh! Frechheit! Haut ihn!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Ja, haut ihn, den Plumpsackblinden!</div>
- <div class="verse">Ihr habt viel gelernt von denen, die euch schinden,</div>
- <div class="verse">aber eins, darin sind sie euch doch noch voran:</div>
- <div class="verse">sie sehn blanke Pfennige nicht für Goldstücke an,</div>
- <div class="verse">sie wissen Bescheid über ihre eigne erbärmliche Kleinheit&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(zu Boden starrend, halb für sich:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Menschheit, dein Erbteil heißt Gemeinheit!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em></div>
-
- <div class="regie">(zumteil vom Leder ziehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was?! Lyncht ihn! spießt ihn! Du Scheißkerl! Schuft! Lausejunge!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(sein Schwert aus der Scheide reißend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zurück!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(einen großen Revolver aus der Kutte langend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Sonst ertönt hier eine noch lautere Zunge!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und, meine Herren, Sektproppen knallen doch angenehmer.</div>
- <div class="verse">Auch läßt sich der Rest der Ladung viel sicherer und bequemer</div>
- <div class="verse"><em class="gesperrt">ohne</em> Bratspießgefuchtel fürs Allgemeinwohl verwenden,</div>
- <div class="verse">zumal da sich Spieße leicht umdrehn unter Geisterhänden.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Einige Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hahahah!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_360" id="Seite_360">[S. 360]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ja, die Welt ist seit Alters voll scharfer Plempen;</div>
- <div class="verse">und wie bald, wie bald kann das Häuflein Gemeinheitskämpen,</div>
- <div class="verse">das vor Unserm Gemeinsinn ausriß mit Hasenbeinen,</div>
- <div class="verse">verstärkt als Werwolfshaufen wieder erscheinen!</div>
- <div class="verse">Also, meine Herren, verzeihn Sie: ich möchte meinen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hm &mdash; ja &mdash; verdammt ja &mdash; sehr wahr! &mdash; Weg!! Kommt, Kinder! Weg!</div>
- <div class="verse">Nach Hause!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Still, Genossen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Hoh! ohoh!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Aber Schwerenotdonnerblech,</div>
- <div class="verse">so hört doch!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Bergknappen</em></div>
-
- <div class="regie">(ihre Degen einsteckend und torkelbeinig nach links abziehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Blech! marsch! halt die Schnauze! sonst gibts’n Tritt!</div>
- <div class="verse">komm unsern Sekt aussaufen! marsch! nach Hause! komm mit!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der rote Karl</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dann sauft, Viecher &mdash; <span class="regie">(lauter)</span> Michel, wir sind noch nicht quitt! &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er schreitet langsam den Andern nach.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(da Michel mit seinem Stock am Boden herumbohrt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nun, Gevatter Helde? du schaust ja so tiefsinnig nieder.</div>
- <div class="verse">Es scheint, deine Zippelmütze bezaubert dich wieder.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Indem er sie auflangt:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie ist zwar ein bißchen stark ramponiert;</div>
- <div class="verse">aber vielleicht hast du jemand, der sie dir repariert?&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Bitte &mdash; (<span class="regie">er überreicht sie ihm</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_361" id="Seite_361">[S. 361]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(in sich gekehrt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Ja &mdash;: zur Erinnrung an diese Geisternacht&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">und zum Zeichen: der Michel ist aufgewacht!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist er?&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart und Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(während der Vorhang sich schließt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">aufgewacht &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><span class="s4">*</span></div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel als Zwischenredner</em></div>
-
- <div class="regie">(von links kommend, klappt mit der Pritsche):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hochgesinnte Gönner! (<span class="regie">bimmelt mit der Schelle</span>) sinnige Gönnerinnen!</div>
- <div class="verse">der Akt der Rache kann jetzt beginnen.</div>
- <div class="verse">Sie suchen wahrscheinlich bereits mit dem Opernglase</div>
- <div class="verse">nach der wohlverdienten, gespenstisch langen Nase,</div>
- <div class="verse">die ich unserm Dichter untertänigst in Aussicht stellte.</div>
- <div class="verse">Jedoch ich frage Sie: <em class="gesperrt">wäre</em> er dann der Geprellte?</div>
- <div class="verse">Nein, diesen Kopfverdreher müssen wir noch verdrehter anfassen.</div>
- <div class="verse">Er hat sich ohnehin zu Anfang gewiß nicht träumen lassen,</div>
- <div class="verse">hier als Nachtmützenhüter für Michels Haushalt zu enden;</div>
- <div class="verse">ich bitte ihm also Ihren wärmsten staatsbürgerlichen Beifall zu spenden,</div>
- <div class="verse">das wird seinen Weltbürger-Größenwahn gründlich vernichten.</div>
- <div class="verse">Er wollte drum &mdash; im Vertrauen gesagt &mdash; garnicht weiterdichten,</div>
- <div class="verse">aber da kennt er die Traumweltgesetzgebung schlecht:</div>
- <div class="verse">unser Herr und Meister, jetzt ist er unser Knecht!</div>
- <div class="verse">Soll uns etwa, ihm zu Gefallen, der Weltgeist spurlos verschlingen</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_362" id="Seite_362">[S. 362]</a></span>
- <div class="verse">und die deutsche Geheimpolizei immer mehr in Mißkredit bringen?</div>
- <div class="verse">Noch ahnt ja keine Seele, was wir in Wirklichkeit sind;</div>
- <div class="verse">an Geistererscheinungen glaubt doch kaum noch ein Kind.</div>
- <div class="verse">Vor allem sind wir &mdash; auf den Ausgang der Handlung gespannt;</div>
- <div class="verse">denn es ist doch für den Fortbestand</div>
- <div class="verse">der christlich-germanischen Menschheit die unumgänglichste Pflicht,</div>
- <div class="verse">daß der Michel seine Lise krigt.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Hinterm Vorhang rhythmisches Händegeklatsch.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da! man klatscht schon! &mdash; Heiliger Pritschenschall,</div>
- <div class="verse">das klappt ja, als wär bereits Hochzeitsball.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise Lied</em></div>
-
- <div class="regie">(singt hinterm Vorhang, und Eulenspiegel spricht horchend Zeile auf
-Zeile nach):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Tapp tapp, wer kommt da querfeldein?</div>
- <div class="verse center">Nur rasch, nur rasch, Herr Morgenschein,</div>
- <div class="verse center">Trab Trab!</div>
- <div class="verse center">Die Jungfer Tauduft putzt sich hier;</div>
- <div class="verse center">sie schlägt den Schleier auf vor dir,</div>
- <div class="verse center">klapp klapp!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(nachdem er die letzte Zeile wiederholt hat):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie schlägt vielleicht noch mehr auf, klapp;</div>
- <div class="verse">da geh ich diskreterweise ab.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er verschwindet nach links, den Vorhang mit wegziehend.)</div>
-
- </div>
-</div>
-
-<div class="section">
-
-<h4 class="padtop1" id="Fuenfter_Aufzug">Fünfter Aufzug</h4>
-
-</div>
-
-<p class="regie">(<em class="gesperrt">Bild</em>: wie beim ersten Aufzug. Am Gartentisch sitzt
-<em class="gesperrt">Lise</em> mit dem noch immer maskierten <em class="gesperrt">Bergrat</em>; Beide
-klatschen mit den Händen den Takt des Liedes. Sie hat den Schleier
-zurückgeschlagen, und ihr Wünschelstab steht an die Haustür
-gelehnt. Es ist noch erstes Morgengrauen; später wird der Himmel
-hinter den Bäumen heller und färbt sich schließlich mit goldner
-Röte.)</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_363" id="Seite_363">[S. 363]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(singt weiter):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Klapp klapp, sie lädt dich ein zum Tanz;</div>
- <div class="verse center">nur hol erst deinen goldnen Kranz,</div>
- <div class="verse center">Trab Trab!</div>
- <div class="verse center">Wer zu ihr will, muß früh aufstehn;</div>
- <div class="verse center">wer’s tut, dem patscht sie auf die Zehn,</div>
- <div class="verse center">schwapp!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(ihre Hände fassend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schwapp, gefangen! Jetzt fordr’ich Lösegeld.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das kann doch keiner zahlen, dem man die Hand festhält?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(sie freigebend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, Fräulein Lise: wirklich: Sie machen mich rein zum Kind.</div>
- <div class="verse">Sie tun ja viel stachliger, als Sie sind.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So? Wie bin ich denn?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Sie sind so zum küssen nett,</div>
- <div class="verse">so wie Dornröschen in ihrem moosgrünen Bett,</div>
- <div class="verse">als endlich der Ritter kam und sie nannten sich Du&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Halt, Herr Ritter: so spornstreichs gehts nur im Märchen zu.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber ich bitte doch schon die ganze Nacht so heiß</div>
- <div class="verse">wie ein Glühwurm, Schatz!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Herr Glühwurm, erst für den Schatz den Preis!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber Kind, du liegst ja wie’n Füchslein danach auf der Lauer.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, Herr Fuchs; sonst bleiben die Trauben sauer.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_364" id="Seite_364">[S. 364]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Liebes Fräulein Lise: hier, bitte, sehn Sie mein ehrlich Gesicht!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er will sich die Maske abnehmen.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(ihn nasenstübernd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, lieber nicht.</div>
- <div class="verse">Ich finde die meisten Herren maskiert viel netter.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Alle Wetter!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Ja aber, du Satansmädel:</div>
- <div class="verse">was spukt dir im Schädel!</div>
- <div class="verse">solch Grundstück ist doch kein Puppenlappen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja aber, Herr Satan, ich bin doch auch ein recht schmucker Happen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und blos, weil der &mdash; Vormund das Haus behalten soll?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was dachten <em class="gesperrt">Sie</em> denn?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Mädel, mach mich nicht toll!</div>
- <div class="verse">Sag, wo hast du den Schlüssel?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Nein wahrhaftig, den haben die Raben;</div>
- <div class="verse">ich muß ihn im Stadtpark verloren haben.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Liebes goldnes Mädel, ich hüll dich in Sammt und Seide!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Lieber toller Herr Bergrat: bitte, drei Schritt vom Kleide!</div>
- <div class="verse">Sonst zieh ich gleich wieder den schwarzen Schleier vor</div>
- <div class="verse">und stopf mir moosgrüne Watte ins Ohr.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_365" id="Seite_365">[S. 365]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(das Vertragspapier aus der Brusttasche nehmend und entfaltend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nun &mdash; dann hier, Fräulein Lise. Der Fuchs ist zwar manchmal ein Dieb,</div>
- <div class="verse">aber immer ein Ritter.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">O, <em class="gesperrt">das</em> &mdash; nein, ist <em class="gesperrt">das</em> aber lieb!</div>
- <div class="verse">Nein wirklich: das ist einfach lieb von Ihnen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und die Trauben?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Oh &mdash; die werden vielleicht noch Rosinen.</div>
- <div class="verse">Hier schenk ich Ihnen meinen aller-aller-unsauersten Kuß.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie küßt ihm die Hand und springt rasch weg; steckt das
-Vertragspapier dann ins Mieder.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das war aber ein sehr, sehr vormundhafter Genuß.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Auf ihr Mieder deutend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Darf ich nicht wenigstens beim Verschluß der Schatzkammer helfen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, das dürfen vorläufig nur im Mondschein die Elfen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, liebstes Fräulein Lise, sein Sie doch gut zu mir!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, liebstes Herrlein Bergrat&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Racker, ich sage dir:</div>
- <div class="verse">mach mich nicht wild, ich hau dich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Erst kriegen! erst kriegen!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(ihr nachsetzend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na wart du! ich werd dir die Hexenbeinchen schon biegen!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_366" id="Seite_366">[S. 366]</a></span>
-
- <div class="regie">(Zugleich erscheint von links <em class="gesperrt">Michel Michael</em>; hinter ihm
-<em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>, der <em class="gesperrt">Rotbart</em> und <em class="gesperrt">Eckart</em>. Lise
-sieht es und läßt sich vom Bergrat fangen.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(kraß auflachend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hahahah, ich &mdash; heut lern ich noch blocksberghoch fliegen &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">(<span class="regie">Dumpf</span>) O Lise &mdash; (<span class="regie">Zum Bergrat, wild:</span>) Weg jetzt!!! Marsch aus dem Garten, Sie&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(ihm ruhig nähertretend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Scheren Sie sich! Hier bin <em class="gesperrt">Ich</em> Herr!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft19">Wie &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(zusammenzuckend, sich abwendend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja so! &mdash; Verflucht ja&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Ja &mdash; jetzt bin <em class="gesperrt">Ich</em> es&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">(<span class="regie">spöttisch, halblaut</span>): So &mdash;?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach so; verdammt ja &mdash; (<span class="regie">wendet sich gleichfalls ab</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">reckt sich wieder</span>): Ich sag Ihnen, Mensch, sein Sie froh,</div>
- <div class="verse">daß mein Stock schon Arbeit gehabt hat heut Nacht!</div>
- <div class="verse">Aber nehmen Sie trotzdem, rat’ich, Ihr Corpus juris in Acht:</div>
- <div class="verse">bis zum Räumungstermin ist das Haus noch Mein!</div>
- <div class="verse">Also Marsch jetzt!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Aber Michel!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Schweig jetzt! Pack dich hinein!</div>
- <div class="verse">Wo ist der Schlüssel?!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_367" id="Seite_367">[S. 367]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Futsch.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Quatsch nicht!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Verloren.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Lüg nicht noch obendrein!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie werd ich denn das dem Herrn Vormund zu bieten wagen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(an der Türklinke rüttelnd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Himmelkreuz &mdash; (<span class="regie">will Lisens Stab zerschmeißen</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Nicht, Michel! nicht meinen Glücksstab zerschlagen!</div>
- <div class="verse">o bitte, nicht wüst sein &mdash; (<span class="regie">entwindet ihm den Stab</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">(<span class="regie">den Hut lüftend</span>): Fräulein Lise, ich will jetzt gehn;</div>
- <div class="verse">aber ich hoffe</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">auf Nimmerwiedersehn!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das dürfte wohl nicht von <em class="gesperrt">Ihnen</em> abhängen, denke ich.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(halblaut):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wer weiß, Herr Traubenräuber&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Ah! &mdash; Hüten Sie sich!</div>
- <div class="verse">Der Ritter Fuchs könnte leicht seine Zähne demaskieren.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(kitzelt ihn hinterrücks mit dem Gugelzipfel am Ohr):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dürft ich bitten, Herr Ritter, das mal dort drüben zu probieren?!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er weist höflichst zum Rotbart und Eckart hinüber, die sich nach
-rechts begeben haben.)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_368" id="Seite_368">[S. 368]</a></span>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Inzwischen, schönste Glücksfee, gratulier ich zum Luftschloßbefund;</div>
- <div class="verse">vielleicht, Herr Vetter, paßt mein Geheimschlüsselbund.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie machen vergebliche Versuche, die Tür aufzuschließen; Lise
-schneidet dem wütenden Michel Gesichter dabei.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(hat seinen Spazierstock vom Gartentisch geholt, tritt nun sehr
-förmlich vor die beiden Vermummten):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Herren wünschen? Und mit wem hab ich die Ehre?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(gedämpft, aber wuchtig):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wir wünschen, daß Niemand des Michel Michaels Hausstand versehre.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber ich muß doch sehr bitten&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Wir wünschen zum zweiten,</div>
- <div class="verse">daß Niemand uns nötige, unverhüllt einzuschreiten.</div>
- <div class="verse">Hier bitte &mdash; zur steten Erinnerung&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(er überreicht ihm zwei Visitenkarten und hebt einen Augenblick die
-Kapuze)&nbsp;&mdash;</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em></div>
-
- <div class="regie">(jetzt gleichfalls die Stimme dämpfend und vollkommen seine Haltung
-ändernd):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O bitte tausendmal um Entschuldigung!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Mit tiefer Verbeugung, erst vorm Rotbart, dann etwas knapper auch
-vor Eckart):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hätten Hoheit ahnen lassen, oder Excellenz,</div>
- <div class="verse">dies bescheidne Volksfest werde Sie aus der Residenz</div>
- <div class="verse">an unsern aufblühenden Industrieplatz locken&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, wir wünschen wiegesagt <em class="gesperrt">keine</em> großen Glocken.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zu Befehl, Hoheit.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Und wünschen, daß aus dem Wetterschacht</div>
- <div class="verse">dieser spaßhaften Nacht</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_369" id="Seite_369">[S. 369]</a></span>
- <div class="verse">keinerlei ernsthafte Schläge übertag entstehn;</div>
- <div class="verse">Sie lassen, Herr Bergrat, mir darüber Bericht zugehn!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Bergrat</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zu dienen, Excellenz.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Dann auf glückhaftes Wiedersehn &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er gibt dem Bergrat gemessen die Hand; dieser verneigt sich
-zweimal zum Abschied, zieht dann auch vor der Haustürgruppe den
-Hut, wofür Lise ihm eine Kußhand zuwirft, und verschwindet mit
-saurem Lächeln nach links.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(seinen Schlüsselbund einsteckend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, Gevatter, es scheint, du mußt bis zum Räumungstermin</div>
- <div class="verse">in dein Luftschloß entweder durch den Rauchfang ziehn,</div>
- <div class="verse">oder du nimmst hier den Garten als Himmelbett.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Oder</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Still, du Maulaff!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Gern, Herr Vormund; mein Maul ist nämlich sehr nett.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie geht und setzt sich an den Gartentisch, während Michel dem
-Bergrat nachstarrt.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em></div>
-
- <div class="regie">(hat sich mit Eckart wieder dem Haus genähert):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Oder, Michel, stimmt dich die <em class="gesperrt">Stadt</em> da so tief beschaulich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie deucht dir heute wohl ziemlich morgengraulich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em></div>
-
- <div class="regie">(über den Garten zum Himmel hinweisend, eindringlich):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schau lieber dorthin, wo sich aus höhern Gründen</div>
- <div class="verse">reinere Lichter aufs neue entzünden!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, ihr Herren! Und Nein! Euch will ichs gerne verkünden.</div>
- <div class="verse">Ihr habt mir beigestanden in dieser Sommerwendnacht,</div>
- <div class="verse">und die hat mein Grünjungengetreide reifer gemacht.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_370" id="Seite_370">[S. 370]</a></span>
- <div class="verse">Ja, ich <em class="gesperrt">sehe</em> ein neues Frührot entbrennen;</div>
- <div class="verse">aber drum, grad drum will ich <em class="gesperrt">nicht</em> mehr ins Blaue rennen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sein zerknautschtes Vertragspapier einen Augenblick herauslangend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich will mich mit meiner papiernen Habe aufmachen</div>
- <div class="verse">und nicht ruhn, bis auch Andre aus ihrem Papiertraum erwachen.</div>
- <div class="verse">Ich werde uns erdwüchsig Volk zusammenraffen,</div>
- <div class="verse">wir werden uns jeder Haus und Hof wieder schaffen,</div>
- <div class="verse">Erde, auf der wir mit Lust arbeiten</div>
- <div class="verse">und unsern Kindern ein greifbar Stück Vaterland bereiten;</div>
- <div class="verse">bis in die Städte hinein wird Garten an Garten einst prangen,</div>
- <div class="verse">wird aller Schöpfergeist edleren Boden empfangen,</div>
- <div class="verse">Frucht gegen Frucht tauschen, Saat gegen Saat,</div>
- <div class="verse">Tat für Tat.</div>
- <div class="verse">Und will er <em class="gesperrt">dazu</em> sein Handlangervolk befrein,</div>
- <div class="verse">dann soll auch der rote Karl mir willkommen sein:</div>
- <div class="verse">jeder, der ankommt mit einer lichtfrohen Kraft,</div>
- <div class="verse">bis wir das ganze Erdreich erleuchten, wir Neubauernschaft!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">die den alten Dunst aus der Pfeife pafft!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie??</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">O Vetter! dein Luftschloß wird immer &mdash; hm &mdash; allgemeiner.</div>
- <div class="verse">Du redst ja wie’n Buch von Hertzka oder Oppenheimer.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(vom Gartentisch her):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja &mdash; solch Mundwerk wie der Herr Vormund hat Keiner.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Michel Michael! willst du plötzlich auf Andre bauen?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wo blieb heut um Mitternacht dein Menschenvertrauen?</div>
- <div class="verse">Es war so zerfetzt wie dein Mützenflaus.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_371" id="Seite_371">[S. 371]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, ihr Herren, ihr kennt mich noch lange nicht aus!</div>
- <div class="verse">Hab ich nicht Euch, ihr Unbekannten, vertraut?</div>
- <div class="verse">Ich sag euch: Hundert Menschheiten stecken in jeder Haut!&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Seht dort: noch deutet der Himmel erst schüchtern mit Funken an,</div>
- <div class="verse">daß da eine Sonne auflodern will und kann!</div>
- <div class="verse">Horcht hier: noch rührt sich kein Vogelruf im Wald:</div>
- <div class="verse">in einer Stunde schmettert alles und schallt!</div>
- <div class="verse">So wird, wenn <em class="gesperrt">Einer</em> erst wagt, Haupt und Herz zu erheben,</div>
- <div class="verse">dieser Eine viel Andre mitbeleben,</div>
- <div class="verse">bis Alle aufglühn zu immer hellerem Geist,</div>
- <div class="verse">wie’s im Liede heißt:</div>
- <div class="verse center">Auf Erden ist immerfort jüngstes Gericht&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(singt halblaut, in derselben Melodie wie zu Anfang des Spiels):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">jüngstes Gericht&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse center">unter Tag.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Aus Schutt wird Feuer, wird Wärme, wird Licht&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(etwas lauter):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">wird Wärme, wird Licht&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse center">über Tag.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weiter!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(mit immer vollerer Stimme):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Wir schlagen aus jeglicher Schlacke noch Glut;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!</div>
- <div class="verse center">Wir ruhn erst, wenn Gottes Tagwerk ruht;</div>
- <div class="verse center">Glückauf!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Ja</em>, Herren!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_372" id="Seite_372">[S. 372]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ja, laß dir nur gründlich die Ohren vollsingen!</div>
- <div class="verse">Das wird dich auf immer gottvollere Sprünge bringen;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(durch die hohle Hand)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">man opfert fürn Nachthäubchen schließlich den rosigsten Morgen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dafür, Herr Haubenmatz, laß mich nur selber sorgen!</div>
- <div class="verse">Ich weiß jetzt mein Tag- und Nacht-Gebet,</div>
- <div class="verse">das keine Lichtmaschine mir mehr verdreht.</div>
- <div class="verse">So wird’s auch manch ander Manns- und Weibs-Herze wissen,</div>
- <div class="verse">das heut emporbegehrt aus den Zwielicht-Dämmernissen.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Nach der Stadt weisend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und wenn da unten die Herrschaften etwa dagegenfackeln,</div>
- <div class="verse">dann solln schließlich <em class="gesperrt">ihnen</em> die Zippelmützen wackeln!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dann wirds wohl Zeit, edler Helde, dir endlich Lebwohl zu sagen;</div>
- <div class="verse">sonst gehts womöglich erst mal Uns an den Kragen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, der Herr Vormund kann sich manchmal auch artig betragen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(nach einer Drohgeberde zu ihr hinüber):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Freilich wüßt ich gerne: wem bin ich zu Dank verpflichtet?</div>
- <div class="verse">Ihr Herren habt mich aus schwerer Schmach aufgerichtet.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Der Rotbart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dann mag deine Glücksfee dich weiter so dankbereit halten.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eckart</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schutzgeister <em class="gesperrt">müssen</em> geheimnisvoll walten.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Von rechts her ein Schnurr-und-Knattergeräusch.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Auch lockt uns plötzlich ein Zaubermaschinenduft:</div>
- <div class="verse">unser Kraftwagen verdirbt deine Morgenluft.</div>
- <div class="verse">Also, hehre Fee, bitte segne den Schicksalslauf!</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_373" id="Seite_373">[S. 373]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glückauf, ihr Geister!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Die Drei</em></div>
-
- <div class="regie">(sind inzwischen nach rechts geschritten):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse center">Glückauf! Glückauf! Glückauf!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie verschwinden nacheinander im Wald.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme Eulenspiegels</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich wünsch dir, Michel, noch manche erbauliche Luftschloßbestrebung!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme Eckarts</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nur zerstör nicht den Himmel mit deiner Erdreichbelebung!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Stimme des Rotbarts</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Denn, Michel: das Erbgut der Menschheit heißt Erhebung! &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Nochmals das Kraftwagen-Geräusch.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(ist an der Gartenpforte stehen geblieben, nähert sich nun dem
-Gartentisch):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, du Grasaff?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Na, Herr Vormund?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Dir fällt wohl’s Stehn heute schwer?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, Herr Vormund &mdash; (<span class="regie">erhebt sich</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">So &mdash; (<span class="regie">Aufstampfend</span>) Schockwetter, laß das Gesperr,</div>
- <div class="verse">du dumme Lise! &mdash; Was hast du dir denn gedacht</div>
- <div class="verse">mit deinem Gejachter, so in der Nacht?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich hab mir gedacht, so in der Nacht,</div>
- <div class="verse">ob der dumme Michel wohl endlich einmal aufwacht</div>
- <div class="verse">und alldas still mit nach Hause bringt,</div>
- <div class="verse">wovon die dumme Lise Lied immer singt.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_374" id="Seite_374">[S. 374]</a></span>
- <div class="verse">Und weil er so lange ist wer-weiß-wo geblieben,</div>
- <div class="verse">hab ich mir eben derweil ein bißchen die Zeit vertrieben.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mit solchem unstatthaften Patron!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist doch eine ganz stattliche Mannsperson.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der &mdash; getaufte Jud!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist doch ein sehr altmächtig, erdstark, auserwählt Blut.</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Mit bebender Frage:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weißt du nicht mehr:</div>
- <div class="verse">ich kam ja auch wohl aus fernem Süden einst her&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(indem sein Stock ihm entfällt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Lise!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Michel &mdash; &mdash; (<span class="regie">unsägliche Umarmung</span>) &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft1">(<span class="regie">stammelnd</span>): O, du all mein einziges, ewiges Herzbegehr&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">O, wie lange hast du mich nach dir suchen lassen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O, wie lange konnt ichs selber nicht fassen&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und nun stehn wir, wie’s einst am Anfang war:</div>
- <div class="verse">im Garten Eden, das erste Menschenpaar.</div>
- <div class="verse">Du meine Welt, du liebe Unruh du!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du meine Heimat &mdash; meine Ruh &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, Lise, ich hab so wundervoll heute von dir geträumt!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(sich halb aus seinen Armen lösend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und hast beinahe dabei dein wirkliches Wunder versäumt.</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_375" id="Seite_375">[S. 375]</a></span>
-
- <div class="regie">(Sie schreiten allmählich aus dem Garten vors Haus.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber vielleicht ist’s wahr, das Sprichwort&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">ach, sei kein Schaf&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(küßt ihn):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">ja: den Schafen gibt’s der Himmel im Schlaf.</div>
- <div class="verse">Weißt du, wo jetzt die Schwelle zu unserm Luftschloß steckt?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na sag’s mal!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">auf ihre Brust tippend</span>): Hier!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Ja, Herze! das hab ich eben entdeckt.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, wirklich!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Wirklich?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(am mittelsten Miederknopf drehend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Ja, hier!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft15">Da? &mdash; (<span class="regie">scheu</span>) in deinem Mieder?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja &mdash;! Vielleicht findst du da &mdash; auch den Schlüssel wieder.</div>
- <div class="verse">Such mal!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ach, Lise&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Sieh mal, das macht man so &mdash;:</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(sie nimmt seine Finger und öffnet damit zwei Knöpfe)&nbsp;&mdash;</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Siehst du, da <em class="gesperrt">ist</em> er &mdash; ganz warm&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(sie drückt ihm den Schlüssel in die Hand)</div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_376" id="Seite_376">[S. 376]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">(<span class="regie">an ihr niedersinkend</span>): O Lise! &mdash; Oh!&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, darum fällt man doch nicht gleich um in der Welt?!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Auf das Vertragspapier deuten, das zu Boden geflogen ist:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sieh: das Beste hast du noch garnicht gesehn, du Held!</div>
- <div class="verse">Komm, steh auf! (<span class="regie">Sie bückt sich und gibt ihm das aufgeschlagene Papier.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft1">(<span class="regie">sich erhebend</span>): Was?! Wie?! Ja, wie hast denn <em class="gesperrt">Du</em> das erfuchst?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, das hat der Grasaff dem Traubenfuchs abgeluchst.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du, Du &mdash;!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">(<span class="regie">fast streng</span>): Nein, Michel; gut sein! (<span class="regie">küßt ihn</span>)&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft14">Du unbezahlbarer Racker!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht wahr: mein „Maul“ versteht sich aufs Gold-im-Munde-Gegacker?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dann wolln wir aber das Teufelspapier gleich in tausend Stücke zerreißen</div>
- <div class="verse">und die Fetzen allen guten Geistern zuschmeißen!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er tut es; sie klatscht in die Hände dazu.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und meins hier auch! (<span class="regie">Er holt sein zerknautschtes Papier aus der Tasche und
-reißt die Zippelmütze dabei mir heraus.</span>)</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(nimmt sie vom Boden auf, während Michel das Papier zerreißt):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Nanu, du: was ist denn daas?</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O &mdash; das ist blos so’n kleiner Traumgeisterspaß&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_377" id="Seite_377">[S. 377]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Na, dann schließ mal auf, du; ich werd sie dir flicken!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(den Schlüssel ans Türschloß setzend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">In Unserm Haus, Du&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Du &mdash;! nicht wieder gleich in die Kniee knicken!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(die Tür breit aufsperrend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber den Trauerschleier erst ab!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er tritt von der Schwelle zurück zu ihr, nimmt ihr hastig Diadem
-und Schleier vom Haar, will beides auf die Erde werfen)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der soll heute Morgen für immer ins Grab!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber der Stern, der muß in mein Kämmerlein!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie wirft lachend das Diadem in den Hausflur.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und mein Glücksstab, Michel, hinterdrein!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Sie schleudert den Stab, den sie bis jetzt immer festhielt, in
-hohem Bogen durch die Tür; man hört ihn auf der Treppe poltern.)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">So! &mdash; (<span class="regie">Sie hebt winkend die Zippelmütze &mdash;: läßt plötzlich schreckhaft den Arm
-wieder sinken, da Michel wie entgeistert zurückweicht, die eine Hand aufs Herz pressend,
-die andre vor die Stirn schlagend.</span>)</div>
- <div class="verse mleft2">Aber <em class="gesperrt">was</em> denn, Michel?! Was träumt dir?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft20">Nein&nbsp;&mdash;</div>
- <div class="verse">Nein! &mdash; Sehr wirklich! &mdash; Dieses Haus ist <em class="gesperrt">nicht</em> mein!</div>
- <div class="verse">Du sollst mich nicht zu Unehr mit deinem Gewinke verführen;</div>
- <div class="verse">lieber will ich nie wieder ein Glied von dir berühren!</div>
- <div class="verse">Ich habe mein Wort, du, meinen Handschlag dem Mann da verpfändet;</div>
- <div class="verse">das wird nicht durch Weiberfingerspiel umgewendet!</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Auf die Papierfetzen weisend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da, die Schrift da, die kann der Wind verwehn;</div>
- <div class="verse">hier das Wort in mir, das bleibt ewig stehn!</div>
- <div class="verse">Und will mich der Bergrat noch heute aufs Straßenpflaster jagen,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_378" id="Seite_378">[S. 378]</a></span>
- <div class="verse">ich werde gehn, und müßt ich den ganzen Kram drin zerschlagen!</div>
- <div class="verse">Das ist einfach meine verfluchte Pflicht,</div>
- <div class="verse">schlicht und richt;</div>
- <div class="verse">ich hab sie mir selber zuzuschreiben.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aber</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Nichts „aber“! Willst du ’nen Hundsfott beweiben??</div>
- <div class="verse">Und gesetzt selbst, wir wollten’s so hündisch treiben:</div>
- <div class="verse">ich sag dir: macht sich der Mensch mal gemein,</div>
- <div class="verse">die Welt wird noch x-mal gemeiner dann sein.</div>
- <div class="verse">Heute Nacht der Bergrat gab mirs sehr dürr zu kauen:</div>
- <div class="verse">die Grubengesellschaft hat Alles hier sowieso in den Klauen.</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="regie">(für sich):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Fuchs&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em></div>
-
- <div class="regie">(sich reckend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Also bleibts dabei: Neu Land wird beschafft,</div>
- <div class="verse">wo keine Maulwurfshand uns die Wurzeln wegrafft!</div>
- <div class="verse">wo wir Kraft haben dürfen wie unsre Erdschollen</div>
- <div class="verse">und Luft und Licht schöpfen, soviel wir wollen!</div>
- <div class="verse">Und gibt die Heimat kein solches Land mehr her,</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(wild und weh:)</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">dann, Lise, dann tragen wir Deutschland übers Meer!</div>
- <div class="verse">Verstanden?!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dann, Michel, dann will ich nur beten,</div>
- <div class="verse">daß unsre Schutzgeister gnädigst dazwischentreten,</div>
- <div class="verse">du lieber, einziger, grenzenloser Mann!</div>
- <div class="verse">Denn wenn sie’s nichttun: (<span class="regie">beklommen</span>) wo soll denn dann</div>
- <div class="verse">unsre &mdash; Hochzeitsfeier sein? und wann?</div>
- </div>
-
-<span class="pagenum"><a name="Seite_379" id="Seite_379">[S. 379]</a></span>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft17">Wann? &mdash; Wann??&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(nimmt sie stürmisch auf beide Arme hoch)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nein, Michel, nicht!!!</div>
- </div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Michel</em>:</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Nein??&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(macht grimmig Miene, sie niederzusetzen)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Lise</em></div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">(<span class="regie">ihn bang umhalsend</span>): Ja, Michel, schnell &mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
-
- <div class="regie">(Er trägt sie über den schwarzen Schleier hinweg ins Haus; auf
-seinem Rücken baumelt in ihrer Hand die zerrissene Zippelmütze.)</div>
-
- <div class="person"><em class="gesperrt">Eulenspiegel</em></div>
-
- <div class="regie">(taucht aus dem Souffleurkasten auf, seinen Schellenzipfel
-schwingend):</div>
-
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Es lebe dein Stammhalter, Michel Michael!!!</em></div>
- </div>
-
- <div class="regie">(<em class="gesperrt">Vorhang</em>)</div>
-
- </div>
-</div>
-
-<p class="s4 center padtop1 mbot2">*&emsp;*&emsp;*</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<p class="center padtop5">*</p>
-
-</div>
-
-<p class="s5 center">Druck der<br />
-Spamerschen Buchdruckerei<br />
-in Leipzig</p>
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-End of the Project Gutenberg EBook of Gesammelte Werke in drei Bänden (3/3), by
-Richard Dehmel
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-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN DREI ***
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-Literary Archive Foundation
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