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-The Project Gutenberg EBook of Die Vergiftung, by Maria Lazar
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Die Vergiftung
-
-Author: Maria Lazar
-
-Release Date: August 1, 2020 [EBook #62801]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE VERGIFTUNG ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This file was
-made from scans of public domain material at Austrian
-Literature Online.
-
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- Maria Lazar
-
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-
- DIE VERGIFTUNG
-
-
- 1920
- LEIPZIG - E. P. TAL & Co., VERLAG - WIEN
-
-
- Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten.
- Copyright 1920 by E. P. Tal & Co., Verlag Leipzig und Wien.
-
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-
-
- Die Tür
-
-
-Eine braune Holztür, glatt, mit vielen dunklen Flecken. Eine Tür wie sie
-überall ist, überall ist. Eine Tür --
-
-Nein, eine dunkle Macht, feindlich, glatt, mit vielen dunklen Flecken.
-Das schlägt ins Gesicht, dem ganzen Körper entgegen. Eine Schicht, eine
-dünne, harte Wand.
-
-Und da verloren sich die schmiegsamen Formen ihres Leibes. Das
-Immerweitertasten ihrer Hände blieb stecken. Sie wurde platt
-zusammengedrückt zu einer Fläche, einem Ding, aus dem nur der ungeheure
-Schrecken herausgestiegen war und draußen stehen blieb, verwundert.
-
-Als sie über die Treppe des Alltagshauses ging, trat sie in die Abdrücke
-der hundert geschäftigen Füße, die täglich hier vorüberliefen.
-
-Wieso war sie überhaupt dahergekommen? Immer daher gekommen und nur da
-her, daß alles übrige draußen liegen blieb?
-
-Heute drang das Licht blendend durch Steine und die erstarrte Haut ihres
-Leibes. Von den Blättern troff es, grell und heiß, und duftete nach dem
-Blut aller, die auf der Straße gingen. Das Blau war zu tief,
-zusammengedichtet aus trotzigen Kräften.
-
-Ach, die furchtbare Helle. Und in sie hineingelegt die Tür, mit den
-dunkelbraunen Flecken. Die sich niemals, aber auch niemals einschlagen
-läßt.
-
-Diese Tür war schon damals gewesen, als sie so klein war, daß sie den
-Kopf ganz nach hinten legen mußte, um die ersten Stockfenster zu sehen.
-War es die Tür aus dem Kinderzimmer heraus oder von der Küche in den
-dunklen Gang, an die sie sich nicht zu hämmern traute, als man sie
-einmal dort eingesperrt hatte? Die Tür, die sich nie und nie zertrümmern
-läßt.
-
-Wievielmal schon hatte sie diese Türe geöffnet, mit Händen, die dem
-eigenen Sieg nicht glauben wollen. Nur ein leichter Druck auf die Klinke
--- und hatte doch immer den Mut gehabt, zu wissen, daß diese Türe einmal
-verschlossen sein muß. Jedesmal hatte sie den einen gräßlichen Moment
-erlebt, der heute Wahrheit geworden war -- verschlossen.
-
-Heute, es ist ja gar nicht heute. Das war schon immer, das hat sie ja
-schon hunderttausendmal erlebt. Tritt man nicht aus der Zeit heraus,
-wenn dann eine Stunde kommt, die sich einbildet, die erste zu sein. Ein
-Heute, das ewig ist -- ein Schritt aus dem warmen Leben -- vielleicht
-ist ihr deshalb so entsetzlich kalt. Und sie muß die Augen schließen,
-während das Sonnenlicht des Tages die Wimpern versengt.
-
-Verschlossen -- undurchdringlich.
-
-Sie geht durch Straßen, wo die Nachmittagsröte die Mauern frißt. Und
-weiß: Der breiten Kastanie vor seinem Fenster ist heute ein Ast
-abgehauen worden. Blendend weiß bietet sich die Wunde der gierigen
-Sommersonne dar.
-
-Sie kann nie mehr weiter tasten. Steht fest, undurchdringlich --
-verschlossen.
-
-Ich muß denken, sagte Ruth. Sie nahm den Brief, der in seine Tür
-geklemmt war und dachte: Ein zu kleines Kouvert. Und warum macht er dem
-R bei Ruth so einen Schnörkel? Eine wütende Lust überkam sie, den Brief
-von sich zu werfen, irgendwohin, vielleicht in den Straßengraben. Und
-dann nie mehr ... Aber sie hielt ihn fest und ging so lange, bis die
-erste Dämmerung sich mit dem Staub der Großstadt mischte, der in die
-Höhe stieg, langsam, leise und unerbittlich.
-
-Es schlug neun Uhr vom Kirchturm. Sie dachte: Mutter ist böse, wenn ich
-zu spät zum Abendessen komme. Und Richard macht seine verwunderten
-Augen. Ich will sie nicht ärgern. Aber ich bin nur so elend, wie sie gar
-nicht wissen, daß man sein kann.
-
-Sie spürte den Essensgeruch der aus der Küche quoll, als die Köchin
-öffnete. Und war gespannt was es gäbe, während ihr die Tränen in die
-Augen traten, daß sie jetzt daran denken könne.
-
-Sie sah nicht auf Mutter und Bruder, während sie schweigend würgte. Sie
-hörte nicht die Nörgeleien der Schwester. Sie schluckte eilig große,
-trockene Bissen hinunter und fragte sich nur: Was habe ich? Sie wußte es
-nicht mehr.
-
-Aber als sie in ihr Zimmer trat, schrie der Spiegel seinen Namen. Und
-sie sah ihr Bild darin, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte,
-bevor sie weggegangen war, heute. Die Bücher auf dem Tisch, die
-vernachlässigt und zusammengeworfen waren, und die zerrissene Mappe
-atmeten seinen Duft aus. Und von dem seidengelben Lampenschirm herab
-träufelten in weichen Farben ihre nächtlichen Gedanken.
-
-Sie öffnete den Brief. Und las verächtlich seine großen Lügen.
-
-Der Spiegel schrie seinen Namen. Sie sah sich drinnen, wie sie sich den
-Schleier vorgebunden hatte. Wird sie so nie mehr zu ihm gehen.
-
-Aber ja, morgen geht sie zu ihm, ganz so wie sonst. Was hat sie nur
-heute. Der Brief ist ja so einfach zu verstehen. Warum soll er denn
-nicht einmal verhindert sein, geschäftlich.
-
-Ruth las den Brief noch einmal. Die lächerliche Schlinge des R und die
-kriecherische Windung des L in Liebe.
-
-Er lügt. Aber das macht ja nichts, das wußte sie schon immer. Und doch
--- sie kann nicht mehr.
-
-O Gott, was ist nur geschehen? Was ist mit ihr? Durch das Fenster
-strahlt die warme Sommernacht, wie eine Fülle leuchtender
-Versprechungen. Die Welt ist hell. Sie war bis jetzt nur in einer
-dunklen Stube. Dunkle Stühle, dunkle Flecken an der dunklen Tür. Die
-Welt ist hell. Ihre Glieder, ihr armer vergessener Körper schreien nach
-Licht. Sie kniet am Boden. Ihre Zähne beißen in die Tischkante, oh, daß
-sie nicht aufschluchzt.
-
-Sie will denken. Sie weiß, daß seine Augen durch alle Mauern auf sie
-sehen. Aber ihre Hand sagt nein, ihr Knie schlägt in trotzigen Stößen
-auf die Diele.
-
-Ihr Hirn schmerzt vor Sehnsucht nach ihm, ihre Zähne beißen in die
-Tischkante.
-
-So lange sie denkt, gehört sie ihm. Aber da ist noch etwas an ihr, das
-nicht denkt. Das treibt, das schlägt, das stößt, das treibt sie zu ...
-
-Er stand vor dem Spiegel mit dem zu dicken Rahmen, der alles verdüsterte
-und doch so hervorstach, als wolle er es nicht zugeben, daß eine
-eigentümliche Frechheit von dem bespritzten Glas ausging.
-
- * * * * *
-
-Er stand vor dem Spiegel und sah aufmerksam auf seine schlecht rasierten
-hageren Backen. Auf die etwas zigeunerhafte Locke, die über die Stirn
-hing. Sie war nur zu licht, um wild zu sein.
-
-Er stand vor dem Spiegel und versuchte die Regelmäßigkeit seiner
-schmalen Züge zu genießen, durch die die zu weit nach hinten liegende
-Stirn durchfuhr, wie ein querer Strich in einer regelmäßigen Zeichnung.
-Seine Schultern standen zu weit nach hinten, künstlich steif. Sie
-wollten offen und frei erscheinen. Aber die Augen lagen tief versteckt.
-Die Pupillen waren nicht in sich abgeschlossen, sie liefen über,
-ausstrahlend und doch wie verirrt in das Weiße des Auges.
-
-Er stand vor dem Spiegel und der zusammengepreßte Mund, mit den dunklen,
-schmalen Zähnen erkannte alle Schwächen der kraftlos weichen Hände, die
-sich auf den Rücken legten, während die Schultern sich nach hinten
-streckten, gewaltsam, künstlich.
-
-Als Ruth zur Tür hereinkam, saß er vor dem Pianino und spielte eine
-Beethoven-Sonate. Er trat ihr entgegen mit beiden ausgestreckten Händen.
--- Du kommst spät, sagte er liebenswürdig spöttisch. Aber seine Augen
-blickten böse in eine Ecke des Zimmers.
-
-Ruth erschrak. Wie immer legte sich der süßlichherbe Geruch der Räume,
-den sie nie wo anders getroffen hatte, betäubend um ihre Stirn. Sie
-lachte dann: Ja, denk nur, wieso, ich bin einen verkehrten Weg gegangen.
-
--- Du hast nicht kommen wollen, sagte er langsam und schwer.
-
-Alles stand still. Das Zimmer stand still, jeder Stuhl, selbst die Uhr,
-die sonst immer zu laut schnarrte. Etwas lebte nicht mehr, es war etwas
-gestorben, jetzt, in dieser Minute, etwas Furchtbares war ausgesprochen
-worden.
-
-Ruth dachte: Weinen können. Sie sah die hochmütigen Globen auf dem
-Wandregal, die alle staubig waren. Und die sattgelben Minerale auf dem
-unordentlichen Schreibtisch.
-
-Er rückte ihr den Stuhl zurecht, wie immer. Immer denselben Stuhl.
-
--- Aber was sagst du denn da? lachte Ruth. Es war ihr schlankes frohes
-Kinderlachen, das so seltsam hinaufkletterte über die grau verschossenen
-Wände, die zu hoch waren.
-
--- Mein Kind, sagte er, mit überschlagenen Beinen und fremden Augen, ich
-habe dich seit drei Wochen nicht gesehen und heute kommst du zu spät.
-
--- Du mußt mir erzählen, stöhnte Ruth, alles was da war, alles was du
-erlebt hast, was du gearbeitet hast.
-
--- Ruth, sagte er. Und sie haßte ihn. Spürte den Schnörkel in der
-Schlinge des R.
-
-Sie sah seine weißen, kraftlosen Hände. Wußte, daß sie diese Hände
-niemals vermissen könne. Seine Krawatte war zerschlissen.
-
-Eine heiße Welle stieg in ihr empor, würgte die Kehle. Aber sie war so
-müde. Hilf mir, sagte sie.
-
-Vor ihr war eine große, schwere Wage. Eine Schale war voll eiserner
-Gewichte, schwer und kalt. Die andere leer, ganz leer und hoch oben,
-mutterseelenallein.
-
-Die ganze Welt war aus dem Gleichgewicht durch diese Wage. Und durch die
-Disharmonie seiner Bewegungen. So wie er jetzt die Zigarre zum Munde
-führte.
-
--- Du kannst mich eben nicht mehr aushalten, sagte er langsam. Nein, er
-wußte nichts, er konnte ihr nicht helfen.
-
-Er erzählte ihr von seinem neuesten chemischen Experiment. Und sah sie
-an, als wäre sie eine schillernde Phiole.
-
-Ihr Gehirn wollte mitarbeiten, aber wieder wehrten sich ihre Hände, ihre
-Knie, ihr Blut dagegen.
-
-Die Nacht war hereingebrochen.
-
-Du, sagte Ruth plötzlich, als er ihr seine letzten Tage schilderte, wie
-er sich elend in Gasthäusern herumgetrieben. Hör' auf. Ihre Stimme klang
-hart und hell. Sie sprang auf und nahm seine Hand. Und ein grenzenloses
-Mitleid, ein Schmerz, der sich selber zerbrach, lähmten ihren Atem. --
-Jetzt geh ich und komme nicht mehr. Deine Tür war verschlossen,
-letztesmal. Sie war immer verschlossen. Lüg nicht! Vielleicht weißt du
-es nicht. Ach, diese Kälte herinnen. Und ich liebe dich. Hörst du mich
-nicht. Das ganze Zimmer hört mich ja. Die Bäume draußen hören mich. So
-hör mich.
-
--- Ich höre, mein Kind, sagte er und sie stampfte mit dem Fuß, weil er
-mein Kind sagte.
-
--- Du weißt, daß ich seit zwei Jahren für dich gelebt habe, fuhr sie
-fort und ihre Stimme überschlug sich. Aber ich sage dir, ich spüre eine
-Erschöpfung, eine Gefahr, ich bin zu voll von dir, ich kann dich nicht
-mehr ertragen. O, was tust du mit mir.
-
--- Wohin willst du, sagte er und nahm einen Zug aus seiner Zigarre.
-
--- Fort, schrie Ruth. Was bin ich dir? Eine Phiole mehr für deine
-Experimente.
-
--- Törichtes Kind, sprach er und seine Stimme war schwarz in der lauen
-Nacht. Fort -- du kannst nicht mehr fort. Du warst die Phiole für mein
-kostbarstes Experiment. In dir habe ich mich selber experimentiert.
-
-In diesem Augenblick sah Ruth vor sich auf dem Schreibtisch ein
-schmales, scharf geschliffenes Messer liegen.
-
--- Wohin willst du, fragte er und vertrat ihr den Weg zur Türe. Du
-Kleine, die du die ganze Last eines verbrauchten Lebens in dir trägst.
-
-Ruth roch Blut. Oder waren das seine Chemikalien.
-
--- Nein, sagte sie. Und ging hinaus ohne ihm die Hand zu geben.
-
-Im Stiegenhaus brannte grellrot elektrisches Licht. Und die Straße
-lärmte.
-
-
-
-
- Der Kleiderkasten
-
-
-Ruth erwachte. Durch das Fenster stieß peinigend laut Licht. Es kam von
-drüben, von der fahlgelben Hofmauer, zerbrochen und unverschämt schrill.
-Es saugte die Menschen aus ihren Betten, aus ihren Häusern, ihren
-Gewohnheiten. Und weil heute Sonntag war, liefen sie alle hinaus. In
-eine Freiheit, die zu hell war. Daß die großen grünen Blätter schon
-verdeckt lagen von Staub und zu viel erlebt haben. Wie das schmerzt. Und
-alle schreien. Irgendwo wird Bier ausgeschenkt.
-
-Dasselbe Licht kroch über die Gegenstände ihres Zimmers, die sonst
-dunkel waren. Sie traten heraus aus sich selbst, aus ihrem farblosen
-Dasein und jede Kontur wurde scharf und kam weit hervor.
-
-Es war nicht zum Aushalten. Ruth sprang auf. Sie ließ die Jalousie
-herunter und war erleichtert, als die Eisenstangen auf dem Fensterbrett
-aufschlugen. Dann legte sie sich wieder in das zerwühlte Bett,
-obendrauf, den Kopf weit nach hinten.
-
-Vor ihr stand der Kirschholzkasten. Der liebe, lichte, gerade
-Kirschholzkasten.
-
-Tisch und Stühle und vor allem das dunkle Bücherbrett trugen noch sein
-Gepräge. Sie waren immer nur dagewesen, um zu warten, daß sie zu ihm
-gehe. Und wenn sie wieder kam, waren sie voll Warten für das nächstemal.
-Und nur voll Warten.
-
-Aber der lichte Kirschholzkasten war schon früher dagewesen. Sie sah
-starr auf ihn mit halbgeschlossenen Lidern. Um die anderen nicht zu
-sehen.
-
-Der Kasten hatte etwas vom lieben Gott. Ganz bestimmt. Von dem lieben
-Gott, vor dem man die Hände faltet, um zu ihm zu beten. Der einen weißen
-Bart hat. Und man braucht nur brav zu sein und es kann einem gar nichts
-geschehen. Er schmeckt nach Zuckerlämmchen, die zu Ostern verkauft
-werden. Und auch ein bißchen verstaubt.
-
-Dieser liebe, breitlinige Kasten war einmal groß, so groß, daß man nicht
-bis zum Schlüssel reichen konnte. Und alles war darin, was man nur
-brauchte.
-
-Ruth bäumte sich auf. Der liebe Gott war tot. In dem lichten
-Kirschholzkasten hing eine Menge dunkler Stoffe. Die rochen alle ein
-wenig nach fremden Chemikalien, süßlich herb. Stundenlang war sie
-gesessen, den Kopf in diesen Kleidern vergraben, um den geheimnisvollen
-Duft einzusaugen. Nein, sie wird den Kasten nie mehr aufsperren können.
-
-Sie betrachtete mißtrauisch ihre braunen Kinderhände. Mit den kurzen
-Fingern, die noch niemals etwas sein wollten und noch niemals etwas
-festgehalten hatten, immer nur alles fragend betastet. Rochen sie nicht
-in ihrem Innern, ganz drinnen in der Handfläche, aus den Poren heraus
-nach ihm? Sie dachte an das Versinken in seinen großen, zu weißen Händen
-und ihr wurde übel. Ihre widerspenstig flockigen Haare rochen ja auch
-nach dort -- ist sie denn ganz von ihm durchzogen, vergiftet --
-
-Sie wird ein Bad nehmen. Und sich die Haare waschen mit sehr viel Seife.
-Das wird nützen. Und die Möbel heute gut abstauben, mit einem neuen
-Staubtuch.
-
-O Gott, wenn sie nicht auf den Kasten sieht, sieht sie überall ihn,
-nein, nicht ihn und auch nicht seine Augen, nur seinen Blick. Der dunkel
-ist und wie ein Band sich um ihre Glieder legt. Den sie nicht versteht
-und nie verstanden hat, weil er aus einem Land kommt, das sie nicht
-kennt. Dessen Unkörperlichkeit sie verzweifeln ließ und dem sie nun
-entflieht, von heute an.
-
-Es ist merkwürdig, dachte Ruth, daß ich die ganze Nacht geschlafen habe.
-Es ist überhaupt merkwürdig, daß man bei einem großen Unglück doch ganz
-bleibt, wie sonst. Nur alles andere wird anders.
-
-Und wieder sieht sie auf den hellen freundlichen Kasten. Und vergleicht
-ihn mit dem lieben Gott. Sie möchte die Hände falten, ganz wie damals.
-Und kann es nicht mehr. Und fürchtet sich, ganz wie damals.
-
-Denn da ist sie wieder, die alte Kinderangst, über die sie schon
-hinweggegangen zu sein glaubte mit hochmütig erwachsenem Schritt. Die
-Angst, die die Nacht fürchtet und die blasse Frühlingsdämmerung. Die
-sich krümmt unter der Eintönigkeit des Mittags. Die Angst, die auf der
-Schulbank hockt neben dem patzenschwarzen Tintenfaß, den strengen
-Scheitel der Lehrerin streift, die nach zerkauten Federstielen schmeckt
-und liniertem Papier, die Angst, die aufschreit in einsamen Nächten und
-keinen Ausweg findet durch den fest verschlossenen Mund. Die von
-Leichenzügen träumt und alle Pest und Hungersnot der Jugendbüchereien
-durchlebt hat.
-
-Wer ist sie heute? Was war sie seit der Zeit, als sie in kurzen Röcken
-über die Gassen lief und das Zopfband verlor? Ist sie bestohlen,
-beraubt?
-
-Nein, Ruth wußte es, sie war mißhandelt worden. Eine zarte Hülle blieb
-übrig, die leben wollte. Und was war in ihr? Was roch wie die lebendig
-gewordene Wissenschaft? Was klebte an ihren Händen, in ihren Haaren, in
-ihren Kleidern? Was füllte den lieben, alten Kasten?
-
-Da wird sie sich einer furchtbaren Gefahr bewußt: Leer werden. Leer --
-was heißt das, was ist das? Leer -- das sind die Augen in Totenschädeln.
-
-Sie will nach der goldenen Fülle greifen. Und das Licht kann nicht
-herein und dahinter steht das Nichts, das Leere.
-
-Leer -- das heißt ihn verlieren, ihn verloren haben. Und die Wucht
-seiner Schmerzen, die Qualen seiner Einsamkeit.
-
-Hoch aufgerichtet steht sie vor dem Bett. Sie sieht an sich herunter.
-Bis zu den schlanken, braunen Knöcheln. Und haßt sich.
-
-Leer -- das ist das Stück vom Fenster hinab bis zu dem harten Pflaster.
-Worauf die Menschen ihren grünen Schleim spucken und das die Hunde
-beschmutzen.
-
-Frei sein und leer sein und weniger als elend sein --
-
--- Fräulein Ruth sollen zum Frühstück kommen. -- Ruth sah das große
-überkräftige Stubenmädchen mit der hohen vergnügten Stimme. Und wußte:
-heute abends geht sie aus, da wartet einer unten auf sie, vielleicht der
-vom letztenmal oder auch ein anderer.
-
--- Ruth, rief die Mutter aus dem Nebenzimmer. -- Ich komme, antwortete
-sie mit einer Stimme, die voll Musik und Jubel war.
-
-Mutter stand in der Sonne. Und Mutter war lebendigstes Gewesensein.
-
- * * * * *
-
-Mutter ging alle Morgen nachsehen, ob das Mädchen gut aufgeräumt habe.
-Sie ließ keinen Stuhl so stehen, wie diese ihn gestellt hatte. Mutter
-wollte ein eigenes Haus haben, wie sie sagte. Ob dieses Haus besser war,
-als alle anderen, ist nicht bestimmt. Aber daß es anders war als alle
-anderen, daß es ihr eigen war und nur durchtränkt von der kindhaften
-Unruhe ihrer zu langen Finger, die niemals jung gewesen sein konnten,
-daß ihr Haus fremd und versperrt war allen, die nicht ihres Blutes
-waren, das hatte sie erreicht. Und Ruth empfand es mit einem Stolz, der
-sich selbst nicht anerkennen will.
-
-Mutter küßte Ruth, wie man ein Stück Eigentum küßt oder ein Stück von
-sich selbst. Und Ruth fühlte die Schmerzen der vergangenen Nacht ganz
-klein werden und wollte weinen.
-
-Mutter frühstückte nicht mit. Sie war nie imstande eine Mahlzeit durch
-sitzen zu bleiben. Sie mußte immer rasch noch etwas anderes tun.
-
-Mutter war groß. Aber nicht groß genug für das, was sie der Welt zeigen
-wollte. Deshalb schien sie fast klein.
-
-Und auch ihre Wohnung war groß. Aber zu klein, um sich vor allen
-zurückziehen zu können. Denn das wollte sie. Deshalb waren die hohen
-Räume eng und drückend.
-
-Als Ruth mit dem schmalen, silbernen Brotmesser das Brot schnitt,
-empfand sie einen seltsamen Besitzerstolz und dachte: zuhause sein.
-
-Sie hatte keinen anderen Wunsch, als Mutters Kleid zwischen beide Hände
-fassen zu können, ganz, ganz fest. Wie gut war es, daß Mutter immer so
-alte Kleider trug. Und schon wollte sie aufspringen und Mutter alles
-sagen --
-
-Da kam Richard herein. Nein, sie konnte nicht. Richard war zu klug. Und
-Richard war Mutters Sohn. Von so etwas konnte sie nie zu Mutter
-sprechen.
-
-Und Martha war Mutters Tochter. Martha war häßlich und verbittert. Wenn
-sie die Tür aufmachte, war das Zimmer voll Lärm. Da konnte Ruth von so
-etwas doch nie zu Mutter sprechen.
-
-Ruth wußte nicht, daß Mutters Leben nur Enttäuschung war, die nicht
-eingestanden werden durfte. Und daß Mutter so grenzenlos arm war, weil
-sie nie den Mut gehabt hatte, das zu erkennen.
-
-Mutter war so klug, daß sie die Dinge nicht wirklich sah, sondern in
-Karikatur auf dem Hintergrund ihrer Wünsche und Vorurteile. Aber sie sah
-sie alle bis auf eines: Das war sie selbst. Sie wußte so wenig von ihrer
-eigenen Existenz wie ein ganz kleines Kind. Und ahnte nicht, daß sie
-selber auch etwas beigetragen habe in der Symphonie der Ereignisse, die
-ihr enges, tiefes Dasein bildeten.
-
-In ihrer Jugend hatte sie nur eines gekannt: Die Pose. Die Verwandten
-und Freunde, ja selbst der Kutscher ihres väterlichen Hauses sprachen
-mit Handbewegungen, wie Schauspieler in ihren Rollen. Das hatten sie von
-ihrem Vater gelernt. Dessen ganzes Leben ein großer Faltenwurf war.
-Hinter dem steckte nichts als Jagd und Rausch und etwas Verwesung. Aber
-ihre Mutter war träge.
-
-Sie hatte nie den Mann gefunden, den sie lieben konnte. Das wäre auch
-nicht so nötig gewesen, nur hätte sie sich Zeit nehmen sollen, ihn zu
-suchen. Denn nur dann hätte sie sich entwickeln können.
-
-Aber sie zerschnitt sich alle Möglichkeit weiterzukommen, indem sie in
-früher Jugend einen Mann heiratete, der vielleicht ein Heiliger geworden
-wäre, wenn sie ihn unter Menschen gelassen hätte. Denn er liebte die
-Welt mit der zarten, naiven Freude junger Knaben, die an einem
-Frühlingstag ein blühendes Tal durchstreifen. Aber sie hielt ihn als
-Eigentum, wie ihr Vater Pferde und Bediente gehalten hatte. Sie sperrte
-ihn ein in Räume, die von ihren Atemzügen übersättigt waren. Daß seine
-weiche Menschlichkeit zur Seite treten mußte und sein säurenscharfer
-Verstand allein ihn beherrschte. Er rechnete Tage und Monate und Jahre.
-Als seine große Erfindung fast fertig war, starb er. Aber noch eine
-Stunde vor seinem Tod erzählte er das Märchen vom Schneewittchen. Denn
-er hatte immer Königstöchter geliebt, die eigentlich kleine Mädchen
-waren und in rote Äpfel bissen. Die ein bißchen Puppentheater an sich
-hatten.
-
-Ruth hatte Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen. Weil Mutter alles
-war, weil Mutters große, vielgliedrige Hände auf ihren Augen gelegen
-waren, wenn sie zu Vaters Schreibtisch sehen wollte.
-
-Als sie noch ganz klein war, hatte er sie einmal in eine Konditorei
-geführt. Es war ein schneidend kalter Wintertag und ein elendes
-Geschäftchen in der Vorstadt. Dort kaufte er Bonbons, einen großen Sack
-voll großer, dicker, gelber, malziger Bonbons. Und gab sie ihr mit dem
-vergessen gütigen Lächeln, mit dem Christus das Brot an die
-Zehntausenden verteilt. Da wurde sie traurig. Am Abend saß er an seinem
-Schreibtisch und Mutter schalt mit der Köchin. Ruth ging in das dunkle
-Vorzimmer, steckte den Kopf in seinen Winterrock und küßte, küßte das
-weiche, kalte Tuch. Später sagte Richard: -- Gib mir davon. -- Sie hielt
-den Sack fest zu. -- Du bist geizig, sagte Richard. -- Gib! -- Sie
-preßte den Sack an sich. Da schlug er sie. Sie weinte. Er zerriß das
-Papier. Aber sie kämpfte um jedes einzelne Bonbon. Und legte alle unter
-ihren Kopfpolster. So war Vater. Aber Richard konnte das nie verstehen.
-Und sie hatte viel Respekt vor Richard. Fast noch mehr als vor Mutter.
-
-Am Abend sagte Mutter: -- Warum bist du noch nicht angezogen. In einer
-Stunde müssen wir im Theater sein.
-
-Ruth dachte an den Kleiderkasten. An den dunklen Duft, der aus ihm
-herausströmen soll. Und sie empfindet das dunkle Band, das von weither
-kommt und sich um alle ihre Glieder legt, schmiegt, sich einschneidet in
-die furchtsame Haut.
-
-Und sie weiß, wenn sie das blaue Seidenkleid anzieht, ist sie morgen
-wieder bei ihm.
-
--- Ich gehe nicht ins Theater, antwortete sie. Und blieb allein in der
-Wohnung. Da geht sie aus, sich zu suchen. Sie schleicht, sie kriecht
-fast durch die Zimmer. Sie betastet die Stühle mit den verbogenen Füßen,
-die überflüssigen Vasen, den Samt der Vorhänge. Überall war Mutter. Und
-noch Richards Bücher. Und ein paar gestopfte Handschuhe von Martha. Aber
-Ruth war nirgends.
-
-Da überfiel sie eine Qual, die sie zu Boden schlug, sich wie ein Strick
-um ihren Hals legte und würgte ...
-
-Mutter kam von Lohengrin und war entzückt, wie immer. Sie liebte derbe
-Romantik und laute Musik. Dann sang sie den Hochzeitsmarsch mit ihrer
-kräftigen Stimme. Ruth sah sie an wie eine Fremde.
-
-Richard war zufrieden, wie nach einer gut überstandenen Prüfung. Und
-Martha jammerte, daß ihr Schal ein Loch bekommen hatte. Ruth war nur
-ganz verwundert.
-
-Aber dann setzte sie sich auf Mutters Bett, tief hinein. Sie starrte in
-das schläferige Weiß des Linnens und wünschte sich klein zu sein und
-Fieber zu haben.
-
-Mutter sagte: -- Aber jetzt geh schlafen. Und warum bist du heute so
-blaß? Was hast du denn? Geh nur schlafen und gib mir noch vorher meinen
-Roman.
-
-Richard meinte gähnend: -- Möchte nur wissen, warum du deinen Sitz hast
-verfallen lassen. So was Dummes.
-
-Ruth wußte nur: -- Wenn ich den Kasten aufmachen muß, werde ich
-wahnsinnig. Da ist ein Abgrund drinnen, der stürzt über mich, der
-erdrückt mich durch seine Leere. Und dann wissen sie alles. Oh, die
-Schande. Dann bin ich ausgezogen. Nackt vor allen. Auf der Straße. Mein
-Körper ist voll eiternder Wunden, oh, die Schande.
-
-Der liebe, lichte Kirschholzkasten stand glatt in ihrem dunklen Zimmer.
-
-Nach zwei Tagen sagte das Stubenmädchen: -- Wenn Fräulein Ruth nicht den
-Kasten aufmachen, kann ich den grauen Mantel nicht zum Putzen tragen.
-
-Die Schande.
-
-Und Mutter sagte: -- Wenn du den Schlüssel verloren hast, lasse ich den
-Schlosser holen.
-
-Die Schande.
-
-Sie weinte heraus: -- Ich will nicht.
-
--- Ich glaube wirklich, du bist krank, meinte Mutter.
-
-Aber Richard rief aus dem Nebenzimmer: -- Geh, mach dich nur nicht
-interessant.
-
-Oh, die entsetzliche Schande.
-
-Und sie wird sich zwingen lassen.
-
-Was tut sie nur den ganzen Tag. Sie geht herum und erklärt es ihm, ihm,
-zu dem sie nie mehr kommen wird. Sie macht ihm alles begreiflich, er
-versteht es, er weiß es, er weiß ja alles. Wie kommt es nur, daß er ihr
-so ähnlich ist. Oder sie ihm --
-
-Sie nimmt zum zehntenmal ein neues Staubtuch und wischt alle Möbel ihres
-Zimmers ab. Damit sein Duft doch endlich weggehe. Und wäscht sich dann
-die Hände mit kochend heißem Wasser.
-
-Am nächsten Abend sagte die Mutter: -- Wenn du dir morgen nicht ein
-anderes Kleid anziehst und den Kasten aufsperrst, so hol ich den
-Schlosser. Also überleg es dir.
-
-Ruth stand an ihrem Fenster und sah in die schmutziglaue Sommernacht
-hinunter und fühlte: Warum kann Mutter, die den Lohengrin so gern hat,
-die so nobel ist, wenn Gäste kommen, so zu mir sein? Warum stehe ich
-hier und schau auf eine staubige Straße, wo doch draußen die vielen
-Felder sind mit den endlosen Schienen -- in die Ferne gleiten -- und
-warum --
-
--- Ich muß jetzt Bett machen, sagte das Stubenmädchen und zündete das
-grelle elektrische Licht an. Ruth sah auf sie. Auf ihre kräftigen Arme,
-die fast aus der Bluse quollen, ihre übermütig starken Hüften, ihre
-brennend heißen Wangen. -- Hören sie, Agnes, sagte sie heiser und ging
-ganz nahe zu ihr ... Sie waren jetzt unten, da beim Haustor und er war
-dabei, o bitte, sagen Sie nicht nein, ich habe Sie ja gesehen ... Nein,
-Sie müssen nicht schreien, aber sagen Sie mir doch bitte, war es der
-selbe, mit dem ich Ihnen begegnet bin, damals, Sie wissen schon, wie ich
-im Konzert war, aber so sagen Sie doch. -- Nein, sagte Agnes, mehr
-verblüfft als verlegen. -- Aber eines, Agnes, müssen Sie mir noch sagen.
-War es schön, unten jetzt, meine ich, war das schön -- Oh Gott, sagte
-Agnes, nein, das ist nichts für Sie, Fräulein. -- Hören Sie, Agnes, und
-Ruth kämpfte mit ihrem Atem, Sie haben so starke Arme. Agnes, liebe
-Agnes, ich habe meinen Kastenschlüssel verloren. Mama ist sehr böse.
-Nehmen Sie das Küchenmesser, das große, und machen Sie mir den Kasten
-auf, nicht wahr, Sie tun es. Aber leise, ich geh einstweilen in das
-Speisezimmer. Und kein Wort davon, Agnes, Sie verstehen. Die Kleider
-hängen Sie über Nacht ins Vorzimmer, aber es darf niemand davon wissen,
-und zeitlich früh wieder herein, o ja, Agnes, Sie verstehen, sie tun es
-gleich --
-
--- Ich verstehe schon, Fräulein Ruth, sagte Agnes mit blödem Lachen.
-
-
-
-
- Die Mutter
-
-
-Ich liebe Mutter, dachte Ruth. Kein Mensch weiß, wie groß sie ist und
-stolz. Es ist schade, daß das niemand weiß. Aber ich kann es ja auch
-nicht vertragen, daß sie die Türen zuwirft und durch die Zimmer läuft.
-Daß sie mit dem Mädchen schreit.
-
-Sie flüchtete in Gärten. In kleine, engbrüstige Vorstadtgärten mit
-zerrauften Büschen und wackligen Bänken. Mit großen Sandhaufen voll
-schmutziger Kinder.
-
-Sie ging hin, weil sie dort noch niemals, niemals gewesen war. Und saß
-brutheiße Sommernachmittage durch und versuchte nur an Mutter zu denken
-und ihn zu vergessen.
-
-Denn noch immer verfolgte sie sein Blick wie ein dunkles Band, das so
-weich war, wie das Innere seiner Hand, so daß man nichts wünscht, als
-sich hineinlegen zu können und nichts mehr weiß von Steinen und Bergen.
-Wie im Sand vor dem Meer.
-
-Als sie einmal so saß, den Kopf in den Händen, mitten unter
-Proletarierfrauen und Ladenmädchen, setzte sich jemand ganz nahe neben
-sie. Sie fühlte nur immer den Blick, das Band, wie es sich um ihre
-Stirne legte und alle Nerven, den Rücken hinunter strich. Jemand sagte
-zu ihr: -- Fräulein, gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze. Neben ihr
-war ein Commis voyageur mit aufgewirbelten Schnurrbartspitzchen und rot
-geblümter Krawatte. Noch empfand sie den weichen Abgrund, der zu tief
-war, um zu duften und sah sich doch hier unter kleinen Leuten, im
-kleinen täglichen Leben, rundherum der graue Spielsand. Sie lachte ihrem
-Nachbarn ins Gesicht, laut und plötzlich, daß er zurückfuhr. Dann ging
-sie. Hinter ihr schimpften die Proletarierfrauen.
-
-Sie mußte immer von zuhause weggehen. Denn, wenn sie zuhause war, liebte
-sie Mutter nicht und das war doch schon ganz unmöglich.
-
-Mutter sagte zu Richard: -- Man sollte doch sehen, wo das Kind sich
-herumtreibt. Sonst dachte sie nicht weiter an Ruth. Nur in der Nacht
-wachte sie manchmal auf und wurde unruhig. Sie meinte, das käme von
-ihren angegriffenen Nerven und nahm Schlafpulver.
-
-Daß etwas ihr Fremdes in Ruth vorging, wußte sie. Soweit sie überhaupt
-wissen konnte, was sie nicht wissen wollte. Und sie wollte nichts
-wissen, was sie nicht seit ihrem zwölften Jahr kannte und besaß. Das
-beleidigte sie schon durch seine bloße Existenz.
-
-Für sie war Ruth das Kind. Das etwas verträumte Kind, das sie unbedingt
-liebte, weil es ihr Kind war, das sie bemitleidete, weil es das Kind
-ihres Mannes war. Und das sie deshalb schützen zu müssen glaubte.
-
-Solange Ruth klein war, sagte sie mit Stolz zu allen Verwandten: -- Das
-Kind wird ganz wie ich. Und Ruth war fast ebenso angesehen im Hause wie
-Richard. Aber mit zehn Jahren enttäuschte sie ihre Mutter zum erstenmal.
-Von da an immer wieder.
-
-Sie ging mit Mutter an einem naßkalten Novembertag durch die Stadt,
-Einkäufe machen. Sie war traurig, weil alle Leute in den Geschäften
-unfreundlich waren, die Herren dicke Tröpfchen im Bart hatten und die
-Damen in zu kleinen Schuhen gingen, die sicher weh taten. Weil sie eine
-erfrorene Nase hatte und einen häßlichen Hut. Deshalb dachte sie an ein
-Schloß im Hochsommer und zerbrach sich den Kopf, wie sie dort
-Rosensträucher und Marmorbrunnen verteilen sollte. Da kam ein Bettler.
-Er war so wie alle anderen Bettler auf der Welt. Die selbe verkrüppelte
-Demut, die Geschäfte macht und ihre Krücken schwingt. Schamloses Elend.
-Mutter sagte: -- Gib ihm zwei Kreuzer. -- Nein, erwiderte das Kind, ich
-mag nicht. -- Was, rief die Mutter entsetzt, warum? Oh, du bist
-schlecht. -- Ja, sagte sie, ich bin nicht gut, ich kann alle Bettler
-nicht leiden.
-
-Damals war Mutter sehr böse. Und Ruth sagte zuhause: -- Wenn ich alle
-Bettler wirklich gern hätte, müßten sie zu mir kommen, aber ganz. Und
-ich möchte ihnen nie Kreuzer schenken, aber ich mag sie gar nicht. -- Da
-schlug Mutter sie und Richard und Martha waren voll Verachtung.
-
-Denn man mußte gut sein zuhause. Das war wie ein Dogma. Richard schenkte
-jedem Bettler etwas und Martha nähte Puppenkleider für Armeleutekinder.
-
-Als Ruth zwölf Jahre alt war, sagte sie lächelnd zu ihren Freundinnen:
--- Natürlich sind wir Juden, aber schon lang getauft, doch das macht
-nichts aus.
-
-Als sie vierzehn Jahre alt war, erklärte sie: -- Unsere Möbel sind
-häßlich. -- Ich lüge oft, nicht gern aber doch oft. -- Wenn ich ganz arm
-wäre, würde ich sicher einbrechen.
-
-Da wußte man in der Familie: das Kind ist dumm. Man muß sie zum
-Schweigen bringen, sonst macht es nichts.
-
-Und Ruth glaubte, daß sie dumm sei. Nur kränkte es sie gar nicht. Sie
-konnte einfach nie auf die Idee kommen, anders sein zu wollen, als sie
-war. Höchstens, daß sie sich wünschte, strähnenglatte blonde Haare zu
-haben und eine griechische Nase.
-
-Hier aber war die erste große Spaltung zwischen ihr und Mutter. Denn
-Mutter fühlte zu genau, wie sehr Ruth ihr Kind war, um diese
-Aufrichtigkeit zu gestatten. Sie empfand es als eine Verletzung.
-
-Ruth sagte einmal auf jemanden: Den liebe ich, den möchte ich auf der
-Stelle heiraten. Ich glaube wirklich, ich könnte mich wahnsinnig in ihn
-verlieben. -- Aber schämst du dich nicht, rief die Mutter.
-
-Mutter schämte sich immer. Weil sie einen so unmäßigen Stolz in sich
-trug. Was dieser Stolz wollte, wußte sie eigentlich selbst nicht, er
-hatte etwas sinn- und zweckloses. Er erinnerte an die hohen Zimmer, die
-man in den Achtzigerjahren baute, deren Größe etwas Leeres und Zugiges
-an sich hat. Und die nie auszufüllen sind, weil die Kostbarkeiten, nach
-denen sie verlangen, gar nicht aufgetrieben werden können.
-
-Das, was Mutter wollte, existierte nicht. Und deshalb war sie arm
-geblieben in der Fülle ihrer zügellos reichen Empfindungen.
-
-Wenn Ruth in der Nacht sich im Bett aufrichtete und sie war plötzlich
-ganz wer anderer als am Tage, so daß sie ihre eigenen Bewegungen mit
-süßem Mitleid und verborgener Zärtlichkeit beobachtete, dann war es
-genau so, wie wenn sie Mutter beim Schreibtisch sitzen sah, mit einer
-Unzahl Rechnungen, bei denen sie sich fortwährend irrte und die sie doch
-so genau nahm. Oder wie wenn sie einem nackten Säugling zuschaute, wie
-er sinnlos mit den winzigen Füßen in die Luft strampelt.
-
-Mutters Reserve der Menschheit gegenüber war nur etwas rein
-gedankliches, äußerlich war sie allen vollkommen ausgeliefert. Ihre
-Haare steckten immer schief. Der Mund war zu voll. Die Unterlippe hing
-herunter. Das war aber nicht notwendig. Es war nur, weil Mutter eben so
-gar nicht verstand, in den Spiegel zu schauen.
-
-Ihre dunkelsehnigen Arme hätten Erdarbeit leisten sollen. Ihr kräftiger
-Körper brauchte Bergluft. So daß er fast hinfällig scheinen konnte in
-den Zimmern der Großstadt.
-
-Mutter hatte sich nicht erziehen können und deshalb ihre eigenen Kinder
-nicht, weil die ihr zu ähnlich waren. Aber sie hatte einen jüngeren
-Bruder, der weich und bildsamer war als Lehm. Er war Musiker, er war
-Dichter, er war Maler. Und endigte als Zeichenlehrer in einer
-Mittelschule. Sie hatte ihm zu viel geholfen.
-
-Ihre eigenen Talente hatte Mutter verschleudert. In ihrer Jugend war sie
-die wildeste Tänzerin der Stadt. Und trug doch immer abgetretene Schuhe.
-
-Onkel Gustav wuchsen die Haare zu lang in den Nacken. Nur ein ganz klein
-wenig, so daß man es bei anderen Menschen gar nicht bemerkt hätte. Aber
-bei ihm schien es viel zu viel zu sein. Er wurde in der Familie verlacht
-und als Narr behandelt. Und lächelte dann demütig. Ruth ging an ihm
-vorbei. Sie konnte Bettler nicht leiden.
-
-Mutters Kommode war das interessanteste Stück im ganzen Haus. Zweimal im
-Jahr wurde sie »groß« aufgeräumt. Kein Mensch durfte ins Zimmer kommen,
-nur Gustav und Ruth waren zur Hilfe kommandiert. Weil Gustav so schön
-die einzelnen Päckchen einwickeln und mit Spagat zusammenbinden konnte.
-Und weil Ruth es lieber tat, als ins Theater gehen. Der dumpfe
-Lawendelgeruch erweckte in ihr eine müde Erinnerung an Geheimnisse, die
-sie einmal gekannt hatte, aber nun nie und nimmermehr erfahren durfte.
-
-An einem langweiligen Sonntagnachmittag mit Regentropfen rief die Mutter
-Gustav und Ruth zum großen Aufräumen. Ruth kam widerwillig, sie hatte
-sich stumpf geschlafen und eine fade Sattheit klebte in ihren Haaren,
-die heute gar nicht unternehmungslustig um die Stirne herumstanden,
-sondern schläfrig nach hinten lagen. Als Mutter die großen Schubladen
-aufzog, mit ihren zu hastigen, etwas blinden Bewegungen, bekam Ruth
-einen dumpfen Druck in den Kopf von starkem Lawendelgeruch und wie im
-Zorn sagte sie: -- Alt. Gustav sah verwundert auf. Er hatte die
-Hemdärmeln aufgestreift und seine kleine, gedrungene Gestalt, die gerne
-dick sein wollte, aber nie dazu kam, weil er ja immer hungerte, war auf
-dem Sprung, Mutters Wünsche zu erfüllen. Er knüpfte alle die braunen,
-grauen, gelben, weißen Päckchen auf und schichtete ihren Inhalt
-sorgfältig auf dem Boden hin. Ruth rührte sich nicht und sagte plötzlich
-zu Mutter: -- Ich möchte Seidenpapier kaufen, weißes und einfärbige
-Bänder. Nicht so in irgend ein Papier und Spagat. -- Was fällt dir ein,
-das wäre viel zu teuer. --
-
-Ruth verstand das nicht. Sie legte sich auf einen Teppich und wühlte wie
-sonst in alten Photographien hochschöpfiger Damen und befrackter Herren
-mit Zylindern. In Wickelkindbildern, wo alle immer in der gleichen Weise
-auf dem Bauche liegen. Es langweilte sie.
-
-Gustav pfiff. Er pfiff wunderschön.
-
-Ruth durchstöberte Briefe, die wie gestochen aussahen auf vergilbtem
-Papier. Sie suchte etwas. Sie suchte etwas, um aus der gräßlichen Leere
-des Sonntagnachmittags herauszukommen. Und weil es doch ganz und gar
-unmöglich war, daß die geliebte, geheimnisvolle Kommode nichts anderes
-barg als dieses öde Zeug. Nein, bestimmt nicht. Nicht einmal die
-Schäferinnenspieluhr kam ihr sehenswert vor oder das Stammbuch der
-Urgroßmutter.
-
-Mutter zeigte ihnen einen Liebesbrief, den sie bekommen hatte, als sie
-sechzehn Jahre alt war. Es war der Brief eines überspannten Gymnasiasten
-und schloß mit Selbstmordgedanken. Mutter war sehr stolz darauf. Aber
-Ruth fand ihn so überflüssig aufzuheben, wie Großvaters Brautbriefe an
-Großmutter. Sie wurde zornig. Und sie bekam Angst.
-
-Denn da war noch mehr in dieser Kommode. Mutter log. Sie, Ruth, wußte
-es. Da drinnen lag ein zerbrochenes Schicksal, ein Ruin, ein Kampf gegen
-den Irrsinn. Mit dunklen Blicken sah Ruth auf den grauen Scheitel der
-Mutter, wie sie eben vor ihr kniete. Sie fühlte ein kaltes,
-entsetzliches Alter in ihren jungen Händen, das alles wußte, das man
-nicht mehr täuschen konnte. Und ihr Mund war greisenhaft erbittert.
-
-Mutter staubte soeben eine graue Pappschachtel ab, die mit einem
-goldenen Bändchen zusammengebunden war, als das Dienstmädchen sie rief.
--- Das laß stehen, sagte sie zu Ruth und ging hinaus. Ruth warf sich auf
-die Schachtel. Gustav kehrte ihr den Rücken zu. Sie streifte das Band
-los, schob den Deckel weg, seine Schrift -- und der große Schnörkel bei
-»Liebe«. Eine dunkle Tür tat sich auf. Sie bekam einen brennenden Schlag
-auf die Hand. Und da wurde es licht, schreiend licht, grell, schmerzhaft
-...
-
-Mutter schrie etwas, das sie nicht verstehen konnte. Und nahm die Briefe
-und ging hinaus, wutentstellt.
-
--- Onkel Gustav, sagte Ruth ruhig und ernst und totenblaß. Von wem waren
-diese Briefe?
-
-Gustav zitterte am ganzen Leib: -- Warum machst du solche Sachen, wenn
-Mutter es verbietet. Von wem die Briefe sind. Ich weiß es wirklich
-nicht, wirklich nicht.
-
--- Onkel Gustav, wiederholte Ruth und trat ganz nahe zu ihm hin. Du
-weißt das alles. Aber wenn du es nicht sagen willst, wenn du dich nicht
-traust, so werde ich es sagen: in diesen Menschen war Mutter verliebt.
-
-Ihre Stimme klang wie höhnende Beleidigung in dem dämmernden Zimmer. Die
-Worte fielen abgehackt in das Dunkle und Mutters Rechenbücher lagen auf
-dem Schreibtisch im hintersten Winkel.
-
--- Danach habe ich dich nicht fragen wollen. Aber eines mußt du mir
-sagen, wann war es, du? -- und sie kniete neben ihm und krallte die
-Finger ein in seinen willenlosen Arm -- wann? war ich damals schon groß,
-wie alt, ein kleines Kind? sag, du mußt!
-
--- Du warst ganz klein, eben zur Welt gekommen.
-
-Ruth sah vor sich einen Horizont, der in gerader Richtung in die Höhe
-steigt. Wo es nicht rechts gibt, nicht links, nur das Oben. Und das
-Oben, der Blick, das Band, das glatte, weiche Band.
-
--- Weiter, sagte sie hart -- und früher?
-
--- Er sagte dein Schicksal voraus aus den Sternen, erzählte Gustav, der
-ins Schwätzen kam, -- als Mutter dich erwartete. Deshalb ist er auch so
-viel zu euch gekommen.
-
-Ruth empfand in sich eine graue, steinschwere Halle, die sich selbst
-erdrücken wollte und nur getragen wurde durch ihre entsetzliche, hohe
-Leere. Wo verschnörkelte Stühle an den Wänden standen, ganz vereinzelt
-und wo etwas von ihr war, ein Hauch, ehe sie selbst noch war, und wo er
-war, voll und ganz, nur daß man ihn nicht sehen konnte. Diese Halle, die
-sie aus den frühen, angstvollen Dämmerstunden kannte.
-
--- Wann ging er weg, fragte sie kurz. -- Bald darauf. Er nahm ein Teil
-von der Erfindung deines Vaters und verwendete sie für seine Zwecke. Er
-hat viel damit erreicht. Aber natürlich wollte ihn dein Vater nicht mehr
-sehen. Er ist übrigens von selbst nicht gekommen und --
-
--- Schweig, unterbrach sie ihn. Sie fühlte sich umgeben von lauter
-schwarzen, weichen Bändern und Spagatschnüren, die alle ineinander
-übergingen. Fesseln, Fesseln.
-
-Und aus ungeheurer Tiefe heraus quillt dunkel empor eine formlose Masse.
-Die sie nicht modeln darf.
-
-Sie ist machtlos.
-
--- Ruth, bat Gustav erschrocken, wenn Mutter davon erfährt. Nein, das
-tust du mir nicht an. Nicht wahr, gewiß nicht. Überdies, das was du von
-verliebt sagst, ist natürlich dummes Zeug. Mutter war sehr gekränkt. Er
-war doch ein Freund von ihr. Auch von deinem Vater. Und er war jünger
-als sie. Und überhaupt, deine Mutter war nie verliebt, überhaupt nicht.
-Wie du nur so etwas sagen kannst. Du bist wirklich ein Fratz --
-
--- Und du ein Esel. -- Glühende Zornestränen standen in ihren Augen.
-
-Sie trat an das Fenster. Unten wurden die ersten Gaslaternen angezündet.
-Sie stöhnte: was kann ich Mutter geben, was kann ich ihr schenken, alles
-schenken, meiner lieben, armen Mutter, Mutter, Mutter --
-
-Zum Abendessen kam Mutter mit verweinten Augen. Ruths Hände wurden
-eiskalt. Und eine harte Wut überkam sie. Sie haßte alle Weinenden. Nie
-konnte Mutter ihr das zeigen. Nein, pfui, das war eine Schande, nein.
-
--- Was hast du Mutter wieder geärgert, zankte Richard über den Tisch
-hinüber.
-
--- O nichts, erwiderte sie achselzuckend. Wenn Mama so empfindlich ist
--- ich kann nichts dafür.
-
-Sie ging in den nächsten Tagen, in den nächsten Monaten an ihrer Mutter
-vorbei, ohne sie zu sehen. Aber in den Nächten erlebte sie alle ihre
-Schmerzen hundertfach wieder. Sie vergaß die eigene Sehnsucht vor der
-Sehnsucht, an der Mutter litt, die eigenen Qualen vor Mutters Qualen und
-ihren großen Zorn vor Mutters unsäglichem Schmerz, der ja so nicht zum
-Ausdenken furchtbar sein mußte, weil er nicht wagte sich zu erkennen,
-sich einzugestehen, weil Mutter täglich über den Rechenbüchern saß und
-die Liebe zu ihren Kindern für ihren einzig würdigen Lebenstrieb
-erklärte. Und der doch so an der Oberfläche war, daß Mutter es sie sehen
-ließ, als sie weinte. Nein, deshalb mußte sie Mutter bei Tag ausweichen.
-Und wieder in die kleinen Vorstadtgärten fliehen.
-
-Zuhause aber wurde sie unerträglich.
-
-Als Mutter einmal einem Gast bei Tisch eine glänzende Schilderung
-Großvaters gab, der ein Kavalier war vom Scheitel bis zur Sohle, nur von
-Geld habe er freilich wenig verstanden, warf Ruth ein: -- er muß ein
-roher, betrunkener Mensch gewesen sein. Daß er seine Bedienten geprügelt
-hat, finde ich ekelhaft und ich ärgere mich noch heute darüber, daß er
-das ganze Vermögen verspielt hat. Es ist doch gräßlich unintelligent,
-wenn einem fremde Pferde mehr wert sind als die eigenen Kinder.
-
-Und Ruth sagte, wenn Mutter Hexenglauben und Wahrsagerwesen als
-Schwindel und Unsinn verdammte: -- Ich glaube bestimmt an alles
-Übernatürliche -- obwohl sie überhaupt nichts glaubte und ihr Leben
-nahm, wie der Tag es hinstreute, mit einem Grauen, das zu tief war, um
-über sich selber nachzudenken.
-
-Und Ruth sagte: -- Ich gehe in die Kirche, nicht weil ich muß, sondern
-damit die Leute sehen, daß wir auch Christen sind. -- Dabei ging sie
-überhaupt nie zur Kirche.
-
-In diesen Tagen konnte sie nichts essen als altes Brot und harte,
-unzerbeißbare Dinge, an denen sie sich die Kiefer wund riß. Ein
-fortwährendes Übelsein drückte ihr den Magen leer. Und die große
-Bosheit, die in ihr war, würgte die Kehle, zerfraß die Haut und zehrte
-an den braunen Kinderhänden.
-
-Sie wußte nicht, ob diese Bosheit etwas ihr eigenes war. Oder ob sie sie
-mitgebracht hatte aus dem Zimmer mit der braunen Holztür. Oder ob es die
-Bosheit des Schicksals war, das sie zwang, Sprachrohr zu sein für ein
-unterdrücktes Leben, unterdrückte Sehnsucht und unterdrückte Kraft. Nur
-Sprachrohr oder war noch etwas in ihr, das ihr die Augen offen hielt mit
-großen, weichen, weißen Händen. Daß sie nicht einmal blinzeln konnte und
-nur die heißen Tränen brennen fühlte.
-
-Sie ließ von dem müden Druck der Spätsommernächte den Kopf in ihr
-kleines Kissen pressen. Und sie bohrte das Gesicht hinein, um nicht
-denken zu müssen. Sie sehnte sich maßlos nach einer Bonne, die sie als
-dreijähriges Kind gepflegt hatte und täglich vor dem Einschlafen an
-ihrem Bett gesessen war. Wenn die wieder hier sein könnte, wäre alles
-besser. Sie wußte nicht mehr, wie das Mädchen ausgesehen hatte, aber sie
-erinnerte sich an eine kühle, behutsame Hand und weiße Mullgardinen vor
-dem Fenster.
-
-Wenn sie aber Mutters Stimme aus dem Nebenzimmer hörte, sagte sie
-halblaut in das heißgehauchte Kissen hinein: er ist ein Schuft -- ich
-liebe ihn -- er hat Vater bestohlen -- ich liebe ihn -- er hat uns
-gemordet -- ich liebe ihn -- er hat unsere Zimmer trüb und drückend
-gemacht und unser Leben mißtrauisch und eng -- ich liebe ihn -- er sucht
-das Böse, weil das Licht ihn verlassen hat -- ich liebe ihn -- ich habe
-ihn immer geliebt -- ich liebe --
-
-So das Sprachrohr. Und unter dem Bett lag, staubdick geschichtet,
-wehrlose Wut.
-
-
-
-
- Onkel Gustav
-
-
-Onkel Gustav war klein. Er war nur ein ganz wenig kleiner als die andern
-und doch glaubte er, an ihnen hinaufsehen zu müssen. Er spielte Geige.
-Um ein klein wenig schlechter, als man spielen muß, um ein helles Leben
-zu haben. Er malte. Und es hätte nur eines Funkens Kraft, eines
-Fußtritts Persönlichkeit bedurft und er wäre ein großer Künstler
-geworden. So war er klein, sogar sehr klein.
-
-Ein Sprung und er hätte den Gipfel erreicht. Zu diesem Sprung kam er
-nie. Und so blieb er hoch oben hängen, über dem Abgrund. Und die von
-unten lachten ihn aus.
-
-Als Onkel Gustav drei Jahre alt war, waren es seine Zartheit, seine
-rührend fragende Stimme, seine samtenen, etwas zu großen Augen, die
-seine träge Mutter das erstemal in ihrem Leben lebendig machten.
-
-Sein Vater behandelte ihn wie einen überempfindlichen Rassehund. Die
-Mutter liebte seine glänzenden Locken. Und die große Schwester stürzte
-sich auf ihn in zügelloser Leidenschaft. Die vielleicht nicht ganz ihm
-galt, sondern auch der Freude zu herrschen, herrschen zu dürfen über
-einen andern, während ihre fordernden Finger sich krümmten unter der
-Zuchtrute des väterlichen Hauses.
-
-Onkel Gustavs zarte, etwas bräunliche Haut hatte einen leicht verwelkten
-Geruch an sich. Der angenehm war, wie der Duft ermüdeter Rosen. Und
-lähmte.
-
-Vor dem Hause seiner Kindheit war ein tropisch üppiger Garten gewesen.
-Und alles wurde verspielt.
-
-Gustav wußte nie, was wirklich um ihn vorging. Das teilte er mit der
-Schwester. Sein Zuhause war ein Königschloß, Vater der König, Mutter die
-Königin, ganz wie im Kindermärchen. Und die große Schwester erklärte ihm
-die Welt. Die richtig gezeichnet war, nur mit zu langen Strichen. So daß
-überall spitze Ecken waren und Anhängsel. Doch das konnte er nicht
-wissen.
-
-Er hatte eine runde Kopfform. Eine runde, etwas kindische Nase, runde
-Augen. Er geigte in weichen, abgerundeten Tönen, die nicht zu Ende
-kommen wollten. Mischte auf seinen Bildern mollige, runde Wolken
-ineinander und seine griechischen Vokabeln bissen eine in die andere,
-immer im Kreis.
-
-Im Gymnasium war er durchgefallen. Vater verachtete ihn. Mutter weinte.
-Die Schwester erklärte, er sei ein Künstler und die Prüfer gehören
-gehenkt.
-
-Die Dienstboten verspotteten ihn. Seine Kameraden gingen mit ihm um wie
-mit einem verwachsenen Kind. Aber er hatte einen Freund, der groß und
-stark war, etwas zu klug und ganz gemein blond. Der studierte ihn genau.
-Bis er mit derselben nachlässigen Gebärde die Schulbücher über den Tisch
-warf, die Haare, genau wie er, etwas zu lang in den Nacken trug und eine
-ebenso tolle Zusammensetzung französischer Gassenhauer pfeifen konnte.
-Dann verließ er ihn. Er galt für sehr interessant. Und kam bei allen
-Prüfungen durch.
-
-Alte Damen hatten ein unverschämtes Bedürfnis, sich Gustavs anzunehmen.
-Der Kondukteur der Straßenbahn behandelte ihn mitleidig lächelnd, weil
-er ihm zu viel Trinkgeld gab.
-
-Aber alle Hunde hatten ihn gern. Weil er nicht besser sein wollte als
-sie. Er liebkoste sie wie eine fremde, seltsame Sache, der man nicht zu
-nahe gehen dürfe, er respektierte sie. Als er sehr klein war, sagte er
-den großen Jagdhunden seines Vaters »Sie«. Später sprach er nicht mehr
-mit den Hunden. Er wußte, daß sie ihn nicht verstanden. Aber er lebte
-mit ihnen und sie durften ihr eigenes Leben führen. Was ihm versagt war.
-Das wußte er nicht. Sie saßen neben ihm beim Schreibtisch, wenn er
-schrieb, neben ihm, wenn er aß, sie lagen neben seinem Bett. Sie hatten
-alle keine Namen. Aber seine Schwester gab ihnen englische Sportsnamen.
-Er konnte nichts dagegen machen.
-
-Junge Frauen liebten ihn plötzlich und stürmisch. Ja, sie verehrten ihn
-sogar. Er sah in jeder eine Mutter Gottes. Und sie waren sein Stolz.
-
-Er hatte eine Schreibtischlade voll Liebesbriefen. Davon wußte die
-Schwester nichts. Er hob das nicht auf aus Eitelkeit. Aber wenn er
-hungrig war und erfroren, nahm er sie vor und wurde warm und glücklich.
-Er lebte von dem Glauben der Frauen an ihn, der immer gar zu rasch
-verflogen war. Das wußte er nicht. Als er achtzehn Jahre war, verliebte
-sich eine blonde, junge Wilde in ihn. Sein Vater wollte ihn gerade durch
-die Schule zwingen. Sie kam ins Haus und erklärte wutsprühend, er
-brauche keine Prüfungen, er käme in die Fabrik ihres Vaters, er sei
-geboren, Massen zu lenken, so wie er unlängst mit dem Werkführer
-gesprochen ...
-
-Es gab Augenblicke in Gustavs Dasein, die wie rote Raketen emporstiegen,
-leuchtend, hoch. Und dieses falsche Feuer durfte sein Leben erwärmen.
-Denn er hatte ein gläubiges Herz.
-
-So ein Augenblick war es, als sie, die blonde, junge Wilde vor seinem
-Vater stand. Sie war überflutet von einer weißgelben Märzsonne. Und
-draußen schmolz der Schnee. Sie schlug mit ihrer etwas zu großen Faust
-auf den Tisch, daß die Gläser klirrten und die dunklen Eichenmöbel ganz
-verwundert schienen. Vater war auch ganz verwundert. Und er selbst war
-so glücklich, daß er vergaß, um was es sich handelte.
-
-Dann war er drei Wochen verlobt. Länger ließ es die Schwester nicht zu.
-Denn sie wußte ja, daß er ein großer Künstler werden würde. Und da
-glaubte er es auch. Die blonde, junge Wilde heiratete später einen
-Ofenröhrenfabrikanten.
-
-Gustav konnte nicht über die Straße gehen, ohne daß sich ein blondes
-Mädel an seine Rocktaschen hing. Und er liebte sie alle. Nur wußte er
-nicht, sollte er sich so benehmen, wie seine Freunde es taten oder sich
-der strengen Moral der Schwester fügen. Während er sich das überlegte,
-verschwand das blonde Mädel.
-
-Eine grobknochige Malerin hatte ihn in einer Ausstellung untergebracht,
-sechs Wochen lag er in ihrem Atelier herum, als ihr erklärter Liebling.
-Ihre Freundinnen stutzten seine zu langen Locken. Und ihre wilden
-Umarmungen standen wie riesige Raketen auf seinem Lebenshimmel. Dann
-holte ihn die Schwester. Die Malerin reiste nach Paris.
-
-Sein Zimmer wurde immer enger. Vater und Mutter waren tot. Das viele
-Geld fort. Er wußte nie genau, wie es gekommen war. Er bastelte eine
-eigene Liegestatt für seinen großen Terrier. Schrieb eine
-rechtsphilosophische Abhandlung, lernte indisch. Des Abends ging er zu
-seiner Schwester. Sie setzte ihm auseinander, er sei ein verfolgter
-Märtyrer seiner Kunst. Sie schmiedete die schwierigsten Intriguen gegen
-seine Feinde, schickte ihn zu großen Herren betteln. Schrieb Gesuche für
-ihn. Er empfand ihre Geschäftigkeit angenehm um sich herumspülen, wie
-lauwarmes Wasser. Und steckte die Finger hinein und spielte drinnen mit
-den Zehen. Trank Limonade und hielt die Kinder auf seinem Schoß. Nach
-jedem neuen Schicksalsentwurf, den sie machte, ging er lächelnd
-nachhause. Seine dunkle, schmutzige Straße beleuchteten grellrote, kalte
-Lichtfetzen. Und in seinem Zimmer waren Wanzen.
-
--- Du mußt nicht so ungeduldig sein, sagte er zu der Schwester, wenn sie
-klagte und in verzweifelt großen Schritten durch das Zimmer jagte, --
-nein, schau, eigentlich sind wir -- er sagte immer wir -- stark im
-Hinaufsteigen begriffen. Die Exzellenz hat mir versprochen, ich bekomme
-die Violinstunden bei dem jungen Prinzen. Also, bin ich dort, dann ist
-alles fertig. Ich spiele im Salon vor. Lauter Fürsten und solche Leute.
-Man arrangiert ein Wohltätigkeitskonzert. Ich bin dabei. Dann kann
-überhaupt niemand anderer für die Dirigentenstelle in Betracht kommen.
-Setze ich dann erst meine Kompositionen durch -- du wirst schon sehen.
-Überdies habe ich die größten Aussichten, daß meine Feuilletons gedruckt
-werden. Ich habe zwar erst eines, aber die andern sind fertig im Kopf.
-Wart' nur, nächstens bring ich dir die Zeitung.
-
-Eines Abends kam er bleich vor Erregung: -- Ich bin an einem technischen
-Unternehmen beteiligt. Eine Riesensache. Ich darf es nicht näher sagen.
-Ich glaube, ich habe auch schon eine Erfindung gemacht. Aeroplan.
-
-Drei Monate später hatte er sein letztes Geld verloren. Ein Zufall
-verschaffte ihm eine Stelle als Zeichenlehrer in einer Provinzstadt. Die
-Schwester war böse. Warum hatte er ihren Rat nicht befolgt, nicht das
-Gymnasium gemacht?
-
-Gustav kam in eine Welt, die aus Fabrikschloten bestand und holprigen
-Gassen. Grauem Nebel, einem grauen Haus, feucht riechenden Kleidern,
-kaltem Rauch. Er mußte täglich eine halbe Stunde in der Früh in die
-Schule gehen. Mit zerrissenen Sohlen und fadem Kaffeegeschmack. Er ging
-durch eine gerade, lange Straße voll Schwerfuhrwerken mit fluchenden
-Kutschern, schrillen Schulkinderschreien, Papierfetzen. Er fürchtete
-sich vor seinen Vorgesetzten, wie als Kind vor den Lehrern. Er konnte
-die Vorschriften so wenig erlernen, wie als Kind die Aufgaben. Er
-fürchtete sich vor seinen Schülern, die ihn verachteten, weil er mit
-ihnen höflich war.
-
-In der Stadt hieß es allgemein, er schreibe ein Drama. Ein ganz
-modernes, verrücktes. Er bekam vier Liebesbriefe von höheren Töchtern.
-Die er sorgfältig aufhob in der bewußten Lade.
-
-Die Tochter seiner Hausfrau liebte ihn. Sie war stark geschnürt und
-hatte Blumen auf dem Hut, die aussahen wie von Papier. Und sie brachte
-ihm täglich das Frühstück. Auch bat sie ihn, ihr Zeichnungen zu machen,
-nach Photographien gewesener Liebhaber. Was er geschickt und sorgfältig
-ausführte. Aber sie war nie ganz zufrieden. Er merkte es nicht. Aus der
-Bluse heraus guckte färbige Unterwäsche.
-
-Eines Abends war er bei seinem Direktor eingeladen. Das Zimmer war zum
-Ersticken rauchig. Die Frau des Direktors hatte eine hart abgerundete
-Stimme. Sie sprach sehr laut. Und am meisten mit einem breitschultrigen
-Mathematikprofessor. Von Gustavs Anwesenheit schien sie überhaupt nichts
-zu bemerken. Gustav dachte: unangenehm, daß sie so eine weiße Haut hat.
-Wie ein frisch enthülltes Denkmal. Oder Stiegen, die einen schwindeln
-machen. Auch schaut sie nach allen Seiten auf einmal, als ob sie
-vierfach schielte. Wie sie wohl aussieht wenn sie schläft ... Und dann
-sehnte er sich nach seinem Terrier und dachte nach, ob der Ofen in
-seinem Zimmer schon ausgegangen sein wird, bis er nach Hause kommt. Als
-er fort ging und schlaftrunken über die dunklen Stiegen taumelte, rief
-ihm die Direktorsfrau nach: -- Hallo, Sie, Herr Zeichenlehrer, oder wie
-Sie heißen, vergessen Sie Ihren Hut nicht, da, gute Nacht! -- Er fühlte
-einen heftigen Schlag auf das Hinterhaupt und am nächsten Morgen eilte
-er sich, in die Schule zu kommen, vielleicht steht die Frau des
-Direktors beim Fenster, vielleicht geht sie gerade Einkäufe machen ...
-vielleicht ...
-
-Er erzählte den Jungen von der griechischen Kunst, daß selbst die
-Dümmsten und Klotzigsten Augen und Ohren aufrissen. Er sprang über das
-Reck im Turnsaal und kaufte seinem Hund eine Extrafleischportion. Er
-merkte nicht, daß der Nebel ihm ins Zimmer kroch und der Ofen rauchte.
-
-Zu Weihnachten bat ihn der Direktor, seine Frau zu zeichnen. Er saß in
-einem warmen Zimmer, mit glatten, dunklen Möbeln und loderndem Kamin.
-Brand, raketenroter Brand. Vor dem Fenster der geradwegige Schulgarten,
-abgerundet im Schnee. Sie saß vor ihm mit einer Handarbeit, weiß und
-überreif, wie eine süße, tropische, wie eine ungekannte, ungeahnte
-Frucht. Das Zimmer roch nach Mandelblüten. Und ihr Haar war schwarz und
-zu glatt nach hinten gelegt.
-
--- Sehen Sie, sagte er, hier kann man zeichnen. Das ist doch was anderes
-als zuhause, immer kalt, und wenn ich meinen Hund nicht hätte, -- es kam
-ihm vor, als ob er etwas Unpassendes gesagt hätte, er wurde dunkelrot
-und machte einen Strich quer durch die ersten Umrisse ihres großzügigen
-Gesichtes. Sie sah ihn an, beobachtend, wie ein neues Möbelstück, ob es
-brauchbar wäre. Und er dachte: nein, die hält mich nicht für groß, nein,
-die hebt mich nicht in den Himmel, sie traut mir gar nichts zu, rein gar
-nichts. Und sie hat recht. Einen Augenblick dachte er in glühendem Haß
-an seine Schwester. Und dann: Es ist alles eins. Aber ich zeichne sie
-jetzt nur einmal und dann nie mehr. Ich zeichne sie, wie sie ist, o so
-ganz, wie sie ist.
-
-Und aus dem grauweißen Papier heraus wuchsen, Zug um Zug, unterdrückte
-Entbehrung und uneingestandene Wünsche. Der bleiche Widerschein ihres
-Körpers und Mandelduft. Das Gefängnisgitter ihres Kinderbettes und der
-Brief, mit dem sie die Werbung ihres Mannes beantwortet hatte. Gustav
-wußte alles und er, der nur sein eigenes unechtes Bild gekannt hatte und
-die blonden Madonnen mit den Liebesbriefen, er sah ein Leben vor sich
-und wieder aufwachen und bluten unter seinen Händen.
-
--- Bring dem Herrn Professor eine Schale Tee, sagte sie zu ihrem kleinen
-Sohn, der etwas hervorstehende Augen hatte, wie sein Vater. Ihre Stimme
-war wie Schläge gegen das Hinterhaupt. Da war die Zeichnung fertig.
-
-Sie wurde rot, als sie sie sah. Und sagte nur Danke. Gustav ging.
-
-Er traf sie das nächstemal Anfang Mai in der Dämmerung auf dem Friedhof.
-Er ging gerne auf dem Friedhof spazieren mit seinem Hund. Er liebte
-Zypressen und fühlte sich so seltsam unbehelligt.
-
-Die Blätter dufteten nach dem Sich-schon-geöffnet-haben. Die Erde auf
-den offenen Gräbern war tiefschwarz. Sie kam ihm entgegen, schimmernd
-und licht, wie ein ganz weites und reiches Ährenfeld in der Julisonne.
-Ein Schlag auf den Hinterkopf. Er küßte ihre Hand, langsam und
-vorsichtig. Sie sah auf dem Weg vor sich dicke, runde Kieselsteine. Die
-hervorstehenden Augen ihres Mannes. Aber ringsum die Blätter waren grün
-und zart und jung und die Erde schwarz. Sie nahm seinen weichen,
-knabenhaft lockigen Kopf und küßte ihn. Große leuchtende Rakete. Und
-jeder ging seines Weges.
-
-Am andern Tag warf ihn seine Hausfrau hinaus. Er hatte nicht beachtet,
-daß ihre Tochter ihm durch nunmehr schon zwei Wochen das Frühstück nicht
-brachte. Er war ein unanständiger Mensch. Und der Hund machte alles
-schmutzig. Auch wollte ein anderer einziehen.
-
-In der Schule hatte er staatsfeindliche Reden geführt. Sein verrücktes
-Drama kam ewig nicht zum Vorschein. Er ging herum wie in berauschtem
-Schlaf, in einer andern Welt. Was ihm diese Welt nicht verzeihen konnte.
-Er war gar nicht so dumm, wie er aussah, zum mindesten machte er keine
-genügenden Dummheiten. Er zog ohne Recht die Aufmerksamkeit auf sich.
-Das war unverschämt. Er beantwortete einen Backfischbrief höflich und
-herzlich. Die Eltern fingen ihn auf. Die Empörung stieg. Er wurde
-hinausgeworfen.
-
-Als er seine kleine Stube räumte mit dem zu kleinen Eisenofen, der immer
-rauchte, weinte er. Er weinte, wie ein kleines Kind, hilflos und lange
-mit großen Tränen, bis sein Gesicht verschwollen war und sein Denken
-verdumpft. Und er schaute aus dem papierverklebten Fensterchen über
-gleichgültige Dächer und Schornsteine in den grauen Nebel. Der das erste
-war, was er in seinem Leben frei und allein gesehen hatte. Denn hier war
-die Schwester nicht dabei gewesen. Und der fade Ruß deckte nur eine
-weiße üppige Blässe, ein unendliches Ährenfeld weit, weit dahinter im
-Winde.
-
-Er konnte nicht atmen in den letzten Tagen. In seiner Kehle saß das
-Hierbleibenwollen. Er verteidigte sich gegen niemanden, er sprach mit
-niemandem, er haßte niemanden, er sorgte nur für das Essen seines
-Hundes. Er liebte jedes Schild den weiten Schulweg entlang. Die
-Buchstaben standen schwarz und steif auf dem nicht mehr weißen
-Hintergrund.
-
-Es war unmöglich abzureisen. Es war unmöglich zu bleiben.
-
-Und er sah sie nicht mehr.
-
-Da traf er einen erwachsenen Schüler auf der Straße, der ihn grüßte.
-Einen großen, etwas dummen Menschen mit treuen Bewegungen. Er sprach mit
-ihm. Und bat ihn, ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er kaufte ein Billet. So
-mußte er reisen.
-
-Und er sah sie nicht mehr.
-
-Er saß in der Bahn an einem nachtschwarzen Nachmittag, in dem stickigen
-Dritter-Klasse-Kupee, zusammengepfercht mit Fabriksarbeitern und
-wichtigen Kleinbürgern. Unten fror man entsetzlich in den Füßen und oben
-fraß sich schmieriger Zigarrenrauch ins Gesicht, der noch den Speichel
-aller der ungepflegten Münder in sich hatte.
-
-Gustav fühlte sich hier wieder groß. Er wußte, daß alle die Leute um ihn
-herum nicht einmal ahnen konnten, welche Schmerzen er litt. Er fühlte
-sein Schicksal unbändig schwer und mächtig vorne auf den Schienen
-liegen. Die Lokomotive stapfte mit ihrem eisenharten Leib darüber hin.
-
-Eine süße Wollust betäubte ihn. Sein Vater mußte einmal eine sehr schöne
-Frau geliebt haben. Und er schlief ein.
-
-Dann war er wieder ein kleiner, verschreckter Bettler, der zu seiner
-Schwester ging und sich von ihr auszanken ließ mit harten Worten. Deren
-Ungerechtigkeit er wohl kannte. Und die er nicht beantwortete.
-
-Er verstand nicht, sich zu ernähren. Und auch nicht, zu verhungern. So
-ließ er sich in die Mittelschule der Stadt hineinprotegieren und ging
-Mittwoch und Samstag zu seiner Schwester essen. Dort war er nicht mehr,
-als Mutters Bruder, ein höheres Wesen, sondern trotzdem er Mutters
-Bruder war, ein trauriger Narr. Man war gut mit ihm. Und Richard und
-Martha wurden sehr herablassend.
-
-Eines Tages, als er einige Heller mehr hatte als nichts, ging er an
-einer kleinen Ansichtskartenhandlung vorbei. Das ganze Fenster war voll
-grellfarbiger Gebirgslandschaften, schmachtender Mädchenköpfe,
-Blumenstücke, Liebesszenen. Er liebte Ansichtskarten. In seinem Zimmer
-hingen immer abwechselnd sechs Stück an der nackten Wand. Nicht mehr und
-nicht weniger. Mit Reißnägeln befestigt.
-
-Er ging in das Geschäft und unterhandelte lang mit der kleinen, blonden
-Verkäuferin. Dann kaufte er ein weißes Kaninchen auf grasgrünem
-Hintergrund. Obwohl er selbst es häßlich fand.
-
-Er kam wieder jede Woche, jeden Tag. Gisa, die kleine Verkäuferin, hatte
-zu wenige und zu lichte Haare und dumme kleine Zähne, die übereinander
-lagen. Sie war nicht mehr ganz jung und doch kindlich zart. Sie liebte
-ihn und er fror alle Abende allein in seinem dunklen Zimmer.
-
-Er zeichnete Ansichtskarten für das Geschäft. Eines Abends, als sie ihm
-zusah, küßte er sie auf die Stirne. Sie lehnte sich an ihn und sagte,
-sie seien verlobt und ihr häuslicher Herd werde ein Paradies sein, wie
-keines in der Welt. Er war erstaunt und sehr glücklich.
-
-Sie waren lange verlobt. Sie verehrte seinen Geist und seine Kunst und
-plapperte ihm alles nach. Es kam drollig heraus, in ihrem Deutsch, das
-vom Dialekt nicht ganz zu reinigen war.
-
-Er war glücklich. Nur konnte er zornig werden, wenn ihr Bruder, ein
-Soldat, nach Wirtshaus roch und ihre Mutter wollene Strümpfe auf den
-Tisch legte, auf dem eine goldene Vase mit verwelkten Gräsern stand.
-Dann schlug er auf den Tisch mit der Faust. Sie weinte hysterisch und zu
-laut.
-
-Sie hätten sicher geheiratet, wenn er das Geheimnis ihrer Verlobung
-nicht doch zu zeitlich Mutter verraten hätte. Sie zog ihn vor das Grab
-seines Vaters und beschwor ihn, seinen toten Eltern diese Schmach nicht
-anzutun. An sein väterliches Haus zu denken. An seine Erziehung. Er floh
-vor ihr. Sie ließ nicht locker. Sie holte ihn von der Schule ab, sie
-lauerte des Abends auf ihn vor der Haustür. Es kam zu häßlichen Szenen
-zwischen ihr und Gisa, wo er kaum die einzelnen Worte verstand und sich
-fragte, ob man denn so schreien könne, ohne betrunken zu sein.
-
-Und Mutter siegte. Mutter war die Stärkere. Mutter war sehr stark.
-
-Er aber schrieb, als alles endgültig vorüber war, seinen ersten und
-einzigen Brief an die Frau des Direktors. Er wollte ja nur wissen, ob
-sie lebe, ob sie gesund sei, ganz gewiß gesund. Es war vielleicht ein
-wunderbarer Brief. Der nie beantwortet wurde.
-
-Das war vor einigen Jahren. Seither führte man Gustav nicht in das
-Zimmer, wenn Gäste da waren.
-
- * * * * *
-
-Ruth ging an einem staubigen Spätsommerabend durch den großen,
-öffentlichen Park. Die Blätter hingen welk an den Bäumen, zu kraftlos,
-um sich abzubröckeln. Und zogen alle Säfte nach unten. Während graue
-Dämmerung die Wipfel drückte.
-
-Auf den braungelben, eisernen Klappsesseln saßen in langen Alleen
-Liebespaare. Die Sesselfrau humpelte zwischen ihnen herum und
-kontrollierte sie. Und jedes hatte ein Gegenüber. Das saß schon dort
-seit Mai und nichts hatte sich geändert.
-
-Vom Kaffeehaus herüber spielte die Kapelle Ouvertüren und
-Operettenlieder. Eintönig und zu rasch. Alles war hier so langsam und
-müde. Runde, dunkle Holzreifen trennten den Rasen vom Weg. Aber der Kies
-lag verstreut noch weit im grauen Gras.
-
-Ruth dachte daran, daß sie möglichst spät nach Hause kommen wollte. Daß
-sie vergessen hatte, die Schuhe vom Schuster abzuholen. Daß sie ihren
-neuen Koh-i-noor verloren hatte.
-
-Ihre Sohlen spürten, daß sie bei jedem Schritt in dem zerwühlten Sand
-etwas hinter sich ließen, das dunkel war und weich und wenn man ganz
-hinsah, tief hinunterging. Abgrund. Und ein chemischer Geruch aus
-trübgelben Phiolen. Eine Beethovensonate, die gerade verklang und doch
-lebte, obwohl sie ohne Verständnis gespielt worden war.
-
--- Guten Abend, Onkel Gustav, sagte Ruth, tottraurig. -- Guten Abend,
-Ruth, bist du auch hier. -- Der große Terrier preßte sich dicht an
-seinen rechten Fuß.
-
-Sie setzten sich in eine Allee, in die das gelbe Licht der Gaskandelaber
-nicht mehr dringen konnte. Ruth zeichnete mit der Fußspitze in dem
-bleichen Sand runde, dunkle Furchen. Sie sagte: -- Weiß Gott, wer da
-heute schon ausgespuckt hat!
-
-Der Terrier bekam auch einen Stuhl und legte den Kopf auf Onkel Gustavs
-Schulter.
-
-Sie dachte, es sei doch langweilig hier zu sitzen mit Onkel Gustav und
-was wohl Richard dazu sagen möchte.
-
-Da sagte Onkel Gustav leise: -- Sie werden böse sein, wenn du zu spät
-zum Abendessen kommst.
-
--- Ach was, jetzt bleib ich hier. Was mir schon daran liegt. -- Das
-solltest du nicht tun, Ruth, sagte Onkel Gustav mit sanfter, fast
-demütiger Stimme. -- Warum kränkst du Mutter in letzter Zeit so viel?
-
-Ruth ärgerte sich rasend über diese, seine Stimme. -- Was soll ich tun,
-sagte sie hart, mir alles gefallen lassen, so wie du?
-
-Onkel Gustav schwieg. Dann murmelte er: -- Du hast recht. Und dann
-wieder, nach einer Pause. -- Nimm dich in acht!
-
-Sie schämte sich für ihre Worte. Und flüsterte nur: -- Aber du.
-
--- Ich, Ruth, -- und sie spürte sein Lächeln durch die Dunkelheit, daß
-ihr war, als könne sie nie wieder froh werden. -- Nein, mit mir ist
-nichts mehr zu machen. Du mußt jetzt nichts andres sagen, Ruth, nein
-wirklich nicht. Nicht heute. Vielleicht bei Tage, wenn wir uns auf der
-Straße treffen oder wenn ich bei euch bin und Richard ist unverschämt
-mit mir. Dann weiß ich auch nicht, was ich jetzt weiß, denn ich bin sehr
-schwach.
-
--- Aber so reiß dich doch los, schrie Ruth, daß der Terrier erschrocken
-auffuhr.
-
-Die Gebüsche hinter ihnen waren näher gekrochen. Legten sich ihnen fast
-auf den Rücken mit all der toten Hitze, die sie den Sommer durch
-verschluckt hatten. Ganz nahe. Und schwer.
-
--- Du mußt acht geben! wiederholte Onkel Gustav dumpf. Und ihr war, als
-sähe sie dicht neben sich, in einem alten verblichenen Spiegel, ihr
-eigenes Bild. Kaltes Grauen machte die Finger steif.
-
--- Von mir darfst du nicht sprechen, fuhr er fort. Stell dir einen
-Wurzelbund vor, den die Erde ganz fest in sich hineingefressen hat. Nie
-mehr herausziehen. Manchmal glaub' ich, es gibt irgendwo um mich herum
-ein Fenster, wenn ich da durchsehen könnte, ich sähe alles richtig. Aber
-Mutter hat das nicht zugelassen. Ich mußte alles durch ihr Fenster
-sehen. Das ist nicht aus reinem Glas. Deshalb haben meine Bilder auch
-etwas Verzeichnetes. Du mußt achtgeben, Ruth! Wie du mir da
-entgegengekommen bist, ich bin erschrocken; du hast mir so ähnlich
-geschaut, es war derselbe Rhythmus im Schritt, eigentlich kein Rhythmus.
-
--- Onkel Gustav, ich habe dich sehr lieb.
-
-Es war ganz dunkel geworden. Und die nächsten Bäume in der Allee standen
-wie wachende Ungeheuer, riesengroß, verworren, unankämpfbar.
-
--- Ich fürchte mich, sagte Ruth in der entsetzlichen, toten
-Beklommenheit. Hier, vor allem. Aber noch mehr, wenn wir weggehen. Die
-Menschen drüben im Kaffeehaus bei der Musik, sie sind nur dort so glatt
-und unschädlich. Wenn sie jetzt hieherkämen, sie wären wie die Räuber im
-Wald, Verbrecher --
-
-Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Und er sagte keuchend, kaum hörbar: --
-Die Blätter faulen im Erdboden, damit die Wurzeln Nahrung bekommen. Die
-Tiere fressen einander auf. Und die Menschen, Ruth, sind alle Mörder.
-Aber unsere Nächsten -- hörst du, Ruth, hörst du, -- unsere Nächsten,
-das sind unsere nächsten Mörder. Doch das darfst du Mutter niemals
-sagen!
-
-
-
-
- Mittagessen
-
-
-Bevor man zu Tische ging, rückte Mutter alle Teller noch einmal zurecht
-und die Stühle mit den ledergepreßten Lehnen. Dann stand alles schief.
-
-Ruth haßte unaufgeräumte Zimmer. Wie schmutziges Wasser, Ungeziefer,
-weggeworfene Zahnstocher. Ihr war jeden Morgen übel. Sie konnte nie das
-Frühstück essen. Immer empfand sie eine dumpfe Verantwortung in sich:
-mach' es gut, mach' es rein, mach' es hell. Aber der Widerwille ihrer
-braunen Kinderfinger, die sich weiche Öle wünschten, hinderte sie an
-jedem Handgriff. Wenn das Mädchen dann aufgeräumt hatte, fand sie alles
-kalt, leer und fremd. Mutter sagte: -- Warum hilfst du nie mit? -- Sie
-gab mit ihren ungemessenen Bewegungen der Wohnung »den letzten
-Anstrich«, wie sie es nannte. Und dann -- nun dann stand eben alles
-schief. Aus den Dingen heraus kroch eine seltsame verborgene Unruhe.
-Alle Ecken wurden zu lang, Ruths Gestalt zu schmal, zu knochig in den
-hohen Räumen -- tastend und auch schon verzeichnet.
-
-Wie hatte Onkel Gustav gesagt: -- nimm dich in acht! Vor wem, vor Mutter
--- vor Onkel Gustav -- dunklen Zimmern -- dämmernden Spätsommergärten --
-vor ihrem eigenen flüchtenden Spiegelbild -- vor wem?
-
-Was war geschehen? Mutter rückte heute die Teller zurecht. Die große
-Speisezimmeruhr, mit ihrem lichtmetallisch harten Klang streckte den
-langen Zeiger auf fünf bis vier Minuten vor Eins. Also genau wie immer.
-Sie, Ruth, stand beim Fenster, die Zeitung in der Hand, die sie doch nie
-las -- genau wie immer.
-
-Kann man denn da gar nichts machen? Die breite, bürgerlich grüne
-Hängelampe zerschlagen, etwas in sie hineinwerfen. Am liebsten die
-eigene lebendige Faust. Oder die dummen Suppenlöffel neben den
-geduldigen Suppentellern. Etwas machen, das hineinfährt, wie ein Blitz,
-wie ein Schrecken, wie eine Erlösung in dieses Wie-immer.
-
-Und sie hatte es ja nie gewußt. Sie saß dort an dem großen
-Familientisch, immer an demselben Platz. Viele Jahre hindurch. Und war
-klein und zart und viel zu jung -- ganz wie immer. Sie hatte es nie
-gewußt.
-
-Als Kind hatte sie geweint in der Frühlingsdämmerung. Und sich geekelt,
-wenn Mutter beim Essen über die schlechte Köchin gejammert hatte. Aber
-dann kam das große, das einzige Gefühl. Noch lag der Druck der grauen
-Alltäglichkeit tief in ihr eingegraben in weichem Grund. Aber hoch
-darüber hinaus jauchzte eine selige Hingabe. Was sonst um sie vorging,
-ließ sie ruhig, kostbar verantwortungslos ruhig. Ihr Leben war ein
-Rahmen geworden, der sich fest und unwillkürlich krampfhaft um das seine
-schloß, zärtlich, ohne nachdenken zu müssen, kostbar verantwortungslos.
-
-Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt? Die arbeitet und
-wühlt, denkt, denkt, denkt. Aus müdem Halbdunkel herausgerissen, sieht
-sie alles mit lichtgepeinigten Augen, grell, schreiend grell, laut.
-Höhnend scharfe, wilde Konturen, zu lange Ecken, zu runde Bogen --
-
-Es ist ein Verbrechen begangen worden. Etwas Schlimmeres. Etwas noch nie
-Geschehenes. Ein Mensch hat sich verloren und sucht sich. Und weiß es
-und denkt das durch, ganz durch ...
-
-Noch einmal ging Mutter um den Tisch und rückte die Teller zurecht und
-die ledergepreßten Stühle. Und alles stand schief.
-
-Sie, Ruth, lehnte am Fenster. Sie wußte es. Und wußte, warum Onkel
-Gustav nichts weiter geworden war, als ein trauriger Narr. Wußte, daß
-sie selbst, wenn sie jetzt mithelfen wollte bei den Tellern, es genau so
-machen müßte wie Mutter, so ungeschickt und doch selbstzufrieden. Daß
-sie Mutters ungeduldige Nasenflügel hatte, Mutters dunkle Brauen.
-
-Sie fürchtet Mutter maßlos. Sie fürchtet sich. Sie möchte sich schlagen,
-weil sie Mutters Kind ist.
-
-Onkel Gustav war da. Wie jeden Samstag. Er hatte einen Freund
-mitgebracht. Der war so unscheinbar, daß Ruth ihn erst nach der Suppe
-bemerkte und auch da nur, weil Mutter gar so höflich war. Man nannte ihn
-von und dann etwas mit »-berg«. Gustav sagte Norbert und du. Er hatte
-tadellos gepflegte Nägel und einen festgeklebten hellbraunen Scheitel.
-
-Richard erzählte vom Geschäft. Die geringste Kleinigkeit war wichtig und
-wurde mit Aufmerksamkeit angehört.
-
-Draußen fällt ein grauer, dünner Regen. So sitzen jetzt an jedem
-Mittagstisch die Männer und erzählen ihre Wichtigkeiten. Am Abend gehen
-sie in das Kaffeehaus und erzählen sie ihren Freunden. Das ist alles.
-
-Onkel Gustav sollte den Kopf nicht so vorsichtig zur Seite legen. Das
-ist eine Gemeinheit. Wie sagte er vorgestern: Nimm dich in acht. Das hat
-er gewagt. Er hat es gewagt, sie zu durchschauen. Dumm wie er ist. Und
-jetzt schielt er nur so mitleidig auf sie her.
-
-Sie senkt den Kopf tief über den Teller. Sinkt ganz in sich zusammen.
-Und ißt irgend was, das schmeckt wie graugrüner Kohl. Ist aber etwas
-anderes. Sie hört das Klappern der Bestecke und das sinnlose, etwas
-faule Durcheinander der anderen über sich. So daß sie wieder fühlt, sie
-ist ganz klein und krank und liegt im Nebenzimmer in Mutters riesigem
-Bett. Die Tür ist offen, damit man sie schreien hört, wenn sie etwas
-braucht. Sie wundert sich über das Aufschlagen der Gabeln in dem
-Porzellan, das die kaum verständlichen Redebrocken drinnen begleitet.
-Sie möchte schreien und etwas verlangen und traut sich doch nicht.
-
-Sie fragte Onkel Gustav, ob er letztesmal gut nach Hause gekommen sei.
-Es war doch zu gemütlich im Park. Überdies hätte sie einen Haufen
-Knochen für seinen Terrier gesammelt. Er solle sie nur vor dem Fortgehen
-daran erinnern. Sie wird ihm auch ein Buch zeigen --
-
-Sie fragte Martha, was die Schneiderin von ihrem neuen Kleid gesagt
-habe. Ob es bald fertig sei. Und wie es aussehe so auf dem Kleiderhaken.
-Ob es ihr schon ein bißchen ähnlich sehe --
-
-Sie erzählte Richard, daß sein Buch, das er gestern gesucht habe, in
-ihrem Zimmer liege, sie wisse selbst nicht wieso --
-
-Sie bat Mutter, nicht zu vergessen, die Konzertkarten holen zu lassen --
-
-Sie fragte den neuen Gast, ob er gern Kartoffelsuppe esse. Und ob er
-noch Gemüse haben wolle --
-
-Sie wußte: Wenn ich jetzt schweige, hört man mein Besteck allein auf dem
-Teller. In was für einem häßlichen Rhythmus es darauf klopft. Gefräßig.
-Deshalb muß ich reden. Alle reden. Wäre es nicht besser, man würde mit
-den Füßen strampeln?
-
-Der neue Gast spricht von seiner Braut. Das heißt, Onkel Gustav spricht
-von ihr. Aber es ist klar, daß er eine Braut hat. So jemand hat immer
-eine Braut. Und dann kommt die Hochzeit mit Myrte und Schleier.
-
-Was ist dort oben, nahe der Decke und doch tief unten --
-
-Ist es der Rauch aus Onkel Gustavs ewig ausgehender Zigarre. Aber nein,
-der raucht ja doch nicht. Man ist erst bei der Mehlspeise. Große, gelbe
-Patzen, glitschig in einer lichten Eiersauce.
-
-Nein, es ist nicht Rauch, aber grau und massig, ineinander überlaufend,
-ohne Grenzen. Schwergewichtig und doch oben schwebend. Zu bleich, um es
-wirklich sehen zu können. Und doch da. Verbunden mit allen Adern, allen
-Sehnen, durch die Fingerspitzen hindurch --
-
-Es steigt auf aus Richards kühlen, vorsichtigen Gelenken, wie er langsam
-die Mehlspeise zerlegt.
-
-Aus den hundetreu furchtsamen Augen des Fremden.
-
-Aus Marthas abgetragener Samtbluse.
-
-Aus Onkel Gustavs rundem Rücken, aus Mutters lauten Reden.
-
-Es steigt auf aus ihr selbst, aus Ruth, aus ihrem farblos
-schlafsuchenden Vormittag. Und dort oben ist es eng hineingefügt,
-schlangenartig umwickelt von all dem anderen, festgebissen.
-
-Hier um den Tisch herum glaubt jeder, daß er etwas für sich ist. Richard
-vor allem, der so klug ist, daß Mutter immer sagt, er muß Bankdirektor
-werden oder Finanzminister. Aber das ist gar nicht wahr. Richard gehört
-dazu, genau so wie alle anderen, die hier um den runden Tisch schwatzen.
-Die sich ähnlicher sind als die eintönigen Ledersessel, auf denen sie
-sitzen.
-
-Da oben ballt es sich zusammen. Viele Kleinschicksale -- ein
-Kleinschicksal.
-
-Da oben schwingt es in einem kraftlosen Rhythmus. Selbstbewußt. In dem
-selben Rhythmus, in dem man in das Geschäft geht oder in das Amt oder in
-die Schule, wenn man brav gelernt hat. In dem man zum Traualtar geht, wo
-man eine anständige Partie macht, in dem man Sonntags am Korso seinen
-neuen Hut zeigt, in dem man sich zum Geburtstag gratuliert, in dem man
-hinter dem Sarg seiner Lieben geht, in dem man ins Himmelreich hinein
-trottet, in dem man --
-
-Agnes zerbrach ein Glas. Ein flüchtiger Sonnenstrahl stahl sich durch
-den feinen sprühenden Regen über das verschobene Tischtuch.
-
-Gott sei Dank. Es schadet auch nichts, daß Mutter und Martha böse
-Gesichter machten. Auch nichts, daß sie drei Tage darüber unglücklich
-sein werden. Gott sei Dank.
-
-Ruth nickte dem Herrn Norbert von -- und dann kommt etwas mit »berg«,
-strahlend zu. Der brauchte doch nicht auch betrübt sein über das
-zerbrochene Glas. Er sah sehr unglücklich drein. Wahrscheinlich mehr aus
-Höflichkeit. Oder vielleicht wegen irgend etwas anderem.
-
-Diese Agnes war doch wirklich nicht salonfähig. Zu kräftig. Wenn sie bei
-der Tür hereinkam, mußte eigentlich etwas umfallen in den hohen,
-schmächtigen Räumen. Durch die bloße Anwesenheit ihrer saftvollen Arme.
-Sicher hatte sie an den Kerl gedacht mit den aufgewirbelten, schwarzen
-Schnurrbartspitzen. Der immer in der Küche steckte und den Hut nie
-herunternahm. Einen riesengroßen, hellgrauen Deckel, der schief über dem
-linken Ohr saß, immer ganz gleichmäßig schief über dem linken Ohr. Toll
-einfach. Morgen ist Sonntag, sie geht mit ihm zum Karussel, mit
-knallblauem Seidenhut und das Werkel spielt --
-
-Ruth pfiff, wie man von Tisch aufstand, einen Gassenhauer und konnte
-trotz Mutters Entsetzen so nicht aufhören, daß sie in ihr Zimmer lief,
-um weiter zu pfeifen. Dort riß sie das Fenster auf. Die Sonne schien
-hell.
-
-Norbert sagte mit seiner zu leisen, fast näselnden Stimme zu Gustav: --
-Deine Nichte Ruth scheint etwas -- nun -- etwas aus der Art zu schlagen.
-
--- Ruth? ... Gustav war ungeheuer erstaunt -- Ruth, die ist doch wie wir
-alle. Er betonte das »wir« mit einer gewissen gesättigten Befriedigung.
-Allerdings, sie ist sehr kindisch und ganz unreif, eigentlich viel zu
-unreif für ihr Alter, denk nur, schon zwanzig Jahre. Man weiß gar nicht,
-was mit ihr anfangen. Übrigens, findest du, daß sie mir ähnlich ist? --
-Nein.
-
-
-
-
- Geld
-
-
-Mutter war nicht zum Glück geboren. Aber sie hätte eine entthronte
-Königin werden müssen. Und in Schmerz und Größe schwelgen. So war sie
-kleinlich und mißtrauisch, zankte mit der Köchin um jeden Heller. Und
-wurde dann bestohlen, wie überhaupt von allen Leuten des unteren
-Standes. Weil ihre Stimme so befehlend schroff war, daß sie sie für
-mächtig, Ehrerbietung fordernd und hassenswert hielten.
-
-Auch Ruth hielt Mutter für mächtig, für allmächtig. Sie stand himmelhoch
-über den Dienstboten und Bonnen. Sie besaß die Schlüssel zum
-Wäschekasten, zu jener blendenden Fülle weichen, weißen Leinens, die zu
-sehen allein schon schläfrig macht wie ein zu heißes Bad. Sie besaß
-jeden Silberlöffel, jede Schüssel, jedes Glas Milch so intensiv und
-eigentumsdurchsättigt wie fanatische Sammler ihre Kunstschätze. Und war
-daher reich in einer Dürftigkeit, die sie selber am schmerzlichsten
-empfand.
-
-Ruth fuhr einmal als kleines Kind mit ihrer Schwester und einer Bonne in
-einem Eisenbahnkupee. Es war eine Sommerfrischenreise. Da sagte Martha
-mit ihrer überlegenen Stimme: -- Nein, wissen Sie, in dieses Hotel
-können wir nicht gehen, da sind lauter reiche Leute. -- Ein ungeheures
-Erstaunen hinderte Ruth damals am Fragen. So waren sie nicht reich? Aber
-wieso, sie hungerten doch nicht? Und Mutter trug schwarze Seidenkleider;
-was das nur heißen sollte? Sie glaubte, mißverstanden zu haben.
-
-Auch als sie schon erwachsen war, liebte sie einen Radiergummi mehr als
-ihre goldene Uhr, konnte sie Festtagskleider nicht leiden und verlor
-immer ihr Taschengeld.
-
-Geld war und blieb ihr etwas unbedingt Schmutziges. Etwas, das schon
-durch tausend häßliche Hände gegangen war, über Wirtshausfußboden
-rollte. Mutter besaß es in ungezählten Mengen. Es war nur ein Prinzip,
-daß sie damit knauserte. Aber Martha war geizig und das war viel
-schlimmer. Nur Richard war nobel. Er lächelte immer verächtlich, wenn
-man von Geld sprach.
-
-Ruth hatte kein Gefühl für Zahlenverhältnisse. Den Unterschied zwischen
-hundert, tausend, hunderttausend begriff sie so wenig, wie ein
-Unmusikalischer die Differenzen in der Tonreihe. Das war ein Erbe von
-Mutter. Nur daß diese es sich niemals zugeben wollte und um wenige
-Heller trauerte, während sie Tausende verschleuderte.
-
-Aber Ruth schenkte mit Leidenschaft. Nicht aus Güte oder um anderen eine
-Freude zu machen. Einen Gegenstand verschenken, heißt, ihn ganz von sich
-losreißen, sich auf ewig von ihm trennen, ihn ins Ungewisse schicken.
-Und das war herrlich, war Abenteuer, Tat und Befreiung. Sie gab ihre
-liebste Bluse plötzlich dem Stubenmädchen und wenn eine Freundin auf
-Besuch kam, war nichts im Zimmer, auch das am liebsten gehegte, sicher
-vor plötzlichem Ausgestoßenwerden.
-
--- Es ist schade, daß man in unserer Religion keine richtigen Opfer mehr
-bringt, sagte sie einmal.
-
-Jedes Kleid, jedes Buch, jeder Sessel ihres Zimmers waren ihr persönlich
-eigen. Aber nicht im selben Sinn wie der Mutter, die alles an sich riß.
-Sie gab sich den Dingen hin und füllte sie so voll mit ihren dämmernden
-Gedanken, daß ihre Umgebung manchmal vernebelt wurde, übersättigt vom
-eigenen Selbst. Und sie mußte plötzlich auf die Straße laufen, stöhnend
-vor Sehnsucht nach dem ganz Fremden.
-
-Dieses Selbst in allen Dingen verschleuderte sie mit wollüstiger Freude
-und Grauen. Sie war immer unbeschreiblich reich dabei. Wenn etwas sie in
-Grenzen hielt, war es die Dankbarkeit der Beschenkten. Sie schämte sich
-darüber. Danken war sich erniedrigen. Und ein heißer Zorn wühlte in ihr,
-wenn alle anderen nicht größer waren als sie. Sie wollte das Kleinste
-sein, denn sie suchte das Oben. Wie sagte doch Onkel Gustav zu seinem
-Freunde: -- sehr kindisch -- und sehr unreif -- eigentlich viel zu
-unreif für ihr Alter.
-
-Ruth bewunderte alle Menschen, die stehlen konnten. Jemandem eine Münze
-aus der Geldbörse zu nehmen, war für sie ein Wagnis, ein Heldenstück,
-das ihr immer unmöglich sein würde. Ein Eingriff in fremdes Reich, ein
-Festnehmen von feindlichen Objekten -- schwieriger, als einen nassen
-Salamander in der Hand zu halten.
-
-Ruth verbrachte den ganzen Sommer in den engbrüstigen Vorstadtgärten,
-zwischen Ladenschwengeln, Proletarierfrauen und klebrigen Kindern. Man
-konnte dieses Jahr keine Sommerfrische aufsuchen. Mutter war im Winter
-krank gewesen und mußte im Frühling eine Reise machen. So war nicht
-genug Geld da, noch einmal fortzufahren.
-
-Als Ruth zum ersten Mal davon reden hörte, daß sie heuer nicht wegfahren
-müsse, hatte sie laut aufgejubelt. Aber Mutter weinte eine halbe Woche.
-
-Von Ruth war ein Alpdruck weggefallen. Wie eine drohende Gefahr,
-unaufhaltsam näher rückend, empfand sie den ganzen Winter durch: Es
-kommt ein Tag, da muß ich fort. Man zwingt mich dazu. Fort. Man reißt
-mich aus meinem Zimmer. Meine Gedanken stecken noch in den Stuhlbeinen,
-auf der Hauptstraße liegt etwas ganz Besonderes von mir, ich muß alle
-Tage vorübergehen, meine Adern sind verwoben mit dem Himmel über unserem
-Dach und dann soll ich fort. Und sie haben die Macht, mich zu zwingen.
-Nein, ich liebe mein Zimmer nicht, es ist mir zu eng, zu sehr mit mir
-verwachsen. Aber fortmüssen und drei Monate in einem ganz fremden Raum
-sein, wo vielleicht ein pensionierter General gewohnt hat oder eine
-schmutzige Frau. Und sie haben die Macht, mich zu zwingen.
-
-Sie wußte nicht, daß jeder Mensch mit seiner täglichen Umgebung
-organisch verbunden ist. Daß ein Weiterrücken im Raum auch ein
-Weiterrücken im Leben sein muß. Und doch stöhnte sie unter dem Zwang.
-
-Von dem Fenster seines Zimmers hatte sie einen weiten, hohen Himmel
-gesehen. Mit verschwommenen Kirchtürmen. Das war ihr Horizont, ihre
-Ferne, ihr Land gewesen.
-
- * * * * *
-
-Und nun saß sie in den staubgeschwängerten Vorstadtgärten. Ihre müden
-Blicke wuschen den Ruß von den welkenden Blättern. Sie dachte an einen
-Wald, eine grünsatte, schwelgende Fülle. Die schlank hinansteigt in
-abendhelles Blau. Und sie mußte hier sein.
-
-Ihre Strümpfe waren grau vom Staub, ihre Schuhe alt und faltig. Neben
-ihr auf der Bank erzählte ein Dienstmädchen einem anderen, sie habe
-fünfzig Kronen Lohn monatlich. Wenn sie aber mehr bekäme -- sie roch
-nach Schweiß.
-
-Im Sand lag ein vertretener Kupferkreuzer. Zwischen Kinderschaufeln und
-Blechkübeln. Und es rollte ein ferner Donner.
-
-Ruth ekelte der Kreuzer. Sie dachte an eine durchlöcherte Hosentasche.
-Aber sie konnte nicht wegsehen. Sie starrte auf den Kreuzer, bis sie ihn
-doppelt sah und dann dreifach und dann vierfach und dann immer mehr,
-immer mehr ...
-
-Eine einzige ineinander rollende Masse. Schmutzig kupfergelb. Schmeckt
-wie geschmolzenes Metall.
-
-Ruths Schuh hatte einen Riß, quer mitten durch. Er sah wohl aus wie eine
-Falte. Aber es war ein Riß. Quer mitten durch.
-
-Sie stand auf und ging durch die Straßen, wo die größten, üppigsten
-Geschäfte waren. Schon wurden die Lichter angezündet. Gierig
-aufflackernde, rote kleine Scheinwerfer.
-
-Ruth dachte: Über meinen Schuh geht ein Riß -- keine Falte -- über meine
-Hand geht ein Riß -- ist das Schmutz -- und über mein Gesicht --
-vielleicht ist das Blut.
-
-Sie ging hinter einer üppigen, blonden Kokotte. Nachgezogen von ihren
-wunderbaren, geraden, feinen Absätzen, die nicht einen Millimeter zu
-hoch oder zu niedrig waren. Eine keuchende Lust überkam sie, das weiche,
-eng anliegende Leder zu fühlen, zu streicheln, an sich zu locken.
-
-Das Parfüm roch betäubend nach unaufrichtigen Blumen. Ruth dachte: -- Es
-ist abscheulich, aber teuer. Furchtbar teuer. Ungezählte schmierige
-Kupferkreuzer. Und die lichte Flasche, auf hellrosa Seide gelegt mit der
-durchsichtigen Flüssigkeit. Ich möchte sie nicht berühren. Aber teuer.
-Nicht auszudenken teuer. Und ihre Schminke -- ich könnte sie niemals
-darauf küssen -- ist auch so teuer, oder noch mehr. Wie ich sie
-verachte. Aber die gelben Schuhe möchte ich besitzen --
-
-Ein paar große, schwere Regentropfen klatschten auf das schleimige
-Pflaster. In den Häusern flammten protzig die Lichter auf. Schmiegsame
-Vorhänge wurden zugezogen.
-
-Die große Blonde ging in ein großes Haus. Über breite Stiegen mit dicken
-Teppichen. Vornehme Damen kamen ihnen entgegen mit großnetzigen
-Schleiern vor den Gesichtern.
-
-Sie gingen durch eine große Glastür. Es roch betäubend nach Seife,
-dickem Parfüm, warmen Haaren. Ein Friseur. Ein schlankes junges Mädchen
-in vergilbter Seidenbluse, mit zu hellem, großgewellten Schopf fragte
-Ruth, was sie wünsche. Ruth antwortete automatisch was ihre Vorgängerin
-sagte. Und wie diese wurde sie in eine Zelle geführt, wo ein
-gelbmarmorner Waschtisch in die Wand eingelassen war.
-
-Eine Welle mattweißen Schaums ging über ihr Gesicht, über ihren Kopf,
-über die Wurzeln der Haare. Sie empfand den Duft durch die
-Scheitelknochen dringen, sich in das Hirn einfressen. Ihre Nerven
-dehnten sich weich und ringförmig. Das junge Mädchen hatte schlanke
-Hände mit spitzen Fingern, die nicht mehr ganz ihr eigen waren. So sehr
-schmeckten sie nach tausenderlei weichen Wassern.
-
-Ruth dachte: -- Sie ist sicher arm. Aber sie darf den ganzen Tag hier
-sein und ihre Hände sind schön und unnahbar. Am Abend geht sie nicht
-nachhause. Wo sie da hingeht --
-
-Die schmutzige Kupfermasse aus dem Sand war gelb geworden und lockte wie
-verwischtes Gold in der marmornen Waschschüssel.
-
-Sie spricht nicht mit mir, -- wußte Ruth, -- weil ich ein verwaschenes
-altes Kleid trage. Es ist auch zu eng, das merkt sie sicher. Wenn sie
-erst den Riß über meinem Schuh sähe, oder ist es nur eine Falte? -- Ruth
-schämte sich maßlos.
-
-In der Zelle daneben aber plauderte die große Blonde lustig darauf los
-mit einem von den anderen jungen Mädchen. Sie schwatzten wie zwei
-Schulfreundinnen, von denen die eine ein besseres Zeugnis bekommen hat
-als die andere und sich daher etwas herausnehmen darf -- aber sie tut es
-nicht viel. Die Blonde sprach immer von einem Er -- Ruth spürte, daß er
-ein Monokel trug und manikürte Nägel hatte -- und die Blonde kicherte
-fortwährend. Die kleine Friseurin daneben sagte immer strahlend und
-bewundernd: -- Aber gnädige Frau und dann sprach man von einem Armband.
-Ruth sah wieder in der marmorgelben Waschschüssel eine Fülle von
-Kristallen, in denen sich das Licht brach, so daß die Farbenmenge
-schwindeln machte. Sie wußte, das gibt es alles, zwei Häuser weit weg,
-bei dem großen Juwelier. Ich brauche nur hinzugehen. Aber nein, ich habe
-ja kein Geld -- und ein entsetzlicher Schrecken durchfuhr sie, ob sie
-dem Friseur auch werde zahlen können. Sie dachte sich Unsummen aus, die
-es kosten müsse, ja müsse, und getraute sich nicht, ihr abgegriffenes
-Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen. Wie der Mörder auf das
-Todesurteil, wartete sie auf den Augenblick, in dem sie vor dem
-glattrasierten Herrn bei der Kassa stehen mußte.
-
-Die Blonde daneben plapperte noch rascher und glückseliger. Ruth dachte
-in ihrer Herzensangst: Herrgott, ist sie dumm. Wenn ich nur einmal in
-meinem Leben so hirnverbrannt dumm sein dürfte. Ich könnte mich dann gar
-nicht so fürchten vor dem geschniegelten Kerl dorten. So dumm sein --
-das hieße ausruhen.
-
-Sie zahlte den Preis fast weinend vor Aufregung. Drückte in die kühlen
-Hände des jungen Mädchens ein fürstliches Trinkgeld. Und stürzte davon
-wie ein ertappter Bettler.
-
-Auf der Treppe griff sie sich unter den Hut. Da war etwas Fremdes. Waren
-es die kühlen, langen Nadeln, die ihr das Mädchen in den Knoten gesteckt
-hatte. Waren es ihre eigenen, weichen Haare, die noch warm dufteten. Und
-sie sehnte sich das Haar lösen zu können und den Kopf hineinzuwühlen.
-
-Nur nicht nach Hause gehen. Dort lagen Mutters Rechenbücher. Die Lampe
-über dem Speisezimmertisch hatte einen fahlgrünen Schirm. Nur um Gottes
-Willen nicht nach Hause. Die Gassen waren alle rot, die Schaufenster
-waren rot und die Frauen in den großen Straßen hatten rote Wangen. Hier
-grüßten sich alle, hier kannten sich alle und die Luft war rot und
-weich.
-
-Zwischen den Pflastersteinen lockte es schmutzig kupfergelb. Aber in den
-ledernen Handtäschchen der Damen blinkte es silberhell. In den
-Geschäften lag dick geschichtet lichte Seide, wunderbares, braunrotes
-Holz, fremde Blütenkelche, zarte Porzellanteller, flaumig weiche Hüte,
-Diamantarmbänder ...
-
-Heute bemerkte Ruth, daß sie langsamer ging als alle andern Leute. Sie
-fühlte einen Taumel fremder Geschäftigkeit um sich, dem sie nicht
-gewachsen war. Sie suchte mitzukommen. Sie hatte doch ein Recht darauf.
-Sie empfand ihre duftenden Haare in einer wilden Glückseligkeit. Sie
-wollte mitkommen. Ihre Schultern schmerzten vor Müdigkeit. Quer über den
-einen Schuh lief ein Riß.
-
-Blendend helle Buchstaben zogen sie an: Kino. Sie ging hinein, rasch,
-sehr rasch, flüchtend vor den zu roten Straßen und verbarg ihre Schuhe
-unter dem dunklen Sitz.
-
-Neben ihr dampften verschwitzte Kleider, gewürztes Essen, unreine Haare.
-Das Orchester spielte Richards Lieblingswalzer.
-
-Der Graf kam. Er fuhr in einem Auto, fast erstickt von der Blütenfülle,
-die er im Arm trug. Er hatte fabelhaft gerade, lange Beine. Und ein
-glattes Gesicht, zu sehr rasiert. Der Rauch aus seiner Zigarette mußte
-kostbar sein.
-
-Die Tochter des amerikanischen Milliardärs trug lange Korkzieherlocken
-und strahlte mit blendend weißen Zähnen. Ihr Körper war schlank und frei
-wie nach einem lauen, spielenden Bad. Sie kochte den Tee für sich und
-den Grafen in einem bauchigen Samowar. Dieser Tee war sicher
-bernsteinklar und duftete durch das Zimmer, das dumpf gemacht war mit
-weißen Fellen und samtenen Vorhängen.
-
-Ruth liebte die Milliardärstochter. Liebte den Grafen. Schielte mit
-dumpfer Wut auf das verkrümmte Ladenfräulein neben sich, das an den
-Nägeln kaute und schnalzte.
-
-Der Freund des Grafen, ebenso glatt, ebenso wohlgebaut. Nur trug er
-einen Schlapphut. War also ein Künstler.
-
-Das Atelier. Köstliche, großgeblümte Teppiche. Glatter weißer Marmor.
-Hinter den Riesenfenstern Aussicht bis an das Meer. Sonnenaufgang.
-
-Der Park des Milliardärs in Rom. Eine zitternde, flimmernde, prickelnde
-Blätterfülle. Kleine, schlanke Zypressen. Sonnenflecken auf der Erde,
-verstreut wie flache Goldgulden. Puccini. Die Milliardärstochter reitet
-auf einem Schimmel. Lange Korkzieherlocken, rechts der Graf, links sein
-Freund. Hinten ein Diener. Der riecht auch nach Parfüm, wie die Blonde
-heute auf der Gasse.
-
-In der Pause sagte Ruths Nachbarin zu jemand in der hinteren Reihe: --
-Ja, jetzt hat er halt eine Lungenentzündung. Ich komme gerade aus dem
-Spital. Was soll man machen? Aber schön ist es, das Stück.
-
-Und Ruth dachte: -- Der Mann im Spital hat sicher sein ganzes Leben in
-einer Kellerwohnung gelebt. Moder und Schweiß. Vielleicht hat er
-Schuhriemen gemacht für den Grafen. Oder Zaumzeug für seine Pferde. Aber
-die Milliardärstochter geht nicht in das Kino, wenn der Graf krank ist.
-Obwohl sie ihn mit seinem Freund betrügt.
-
-Ihr schwindelte. Sie empfand einen Abgrund zwischen sich und der
-Nachbarin. Zwischen sich und dem Boy, der grinsend Perolin versprengte.
-Zwischen sich und dem Grafen, der eigentlich genau so aussah, wie der
-Friseur an der Kasse, nur daß er so gut angezogen war. Und einen Abgrund
-vor der Milliardärstochter, die genau so strahlende Zähne hatte, wie die
-große Blonde.
-
-Nichts als Abgründe, Löcher, Klüfte, Leersein und Alleinsein. Es gibt
-irgendwo ein dunkles Zimmer. Schillernde Phiolen.
-
-Die Musik setzte wieder ein mit jenem Auftakt, der so lange und
-proletarisch vielversprechend auf den zweiten warten läßt. Nein, nicht
-mehr.
-
-Sie ging langsam nachhause. Die Gassen waren dunkler geworden, das Licht
-bleicher. Und zwischen den Pflastersteinen war nicht ein Kupferkreuzer.
-Nur Schmutz.
-
-Über Ruths linken Schuh lief ein Riß. Es war bestimmt keine Falte, es
-war ein Riß.
-
-Sie wünschte sich den ganzen Abend: ich möchte Seidenstrümpfe haben, wie
-die Milliardärstochter und die Blonde. Und weiche, lederne Schuhe. Aber
-ein anderes Gesicht. Vielleicht mein Gesicht. Oder noch ein anderes.
-
-Zuhause behandelte man sie mit stummer Verachtung. Sie kam nie mehr
-zurecht zu den Mahlzeiten. Sie ergab sich einem sträflichen Müßiggang,
-den Richard nicht vergaß, wenigstens einmal des Tages um die Ecke herum
-zu erwähnen.
-
-Mutter schüttelte trostlos den Kopf und sagte zu Martha: -- Es nützt
-alles nichts. Sie wird ganz wie Gustav, er ist nicht umsonst ihr Onkel.
-Und Vater war auch so. Wie das alles zu mir kommt?
-
-Ruth wusch sich von nun an zehnmal des Tages die Hände mit fast zu
-heißem Wasser. Sie trug es heimlich in ihr Zimmer, kannenweise. Niemand
-durfte davon wissen, o Gott nein, es war etwas Unrechtes, das sie damit
-tat, etwas wie stehlen. Denn wenn sie die Hände ganz tief in die
-Waschschüssel steckte und das heiße Wasser durch alle Poren in sich
-hineinströmen ließ, schlossen sich ihre Augen und sie fühlte sich über
-Marmorstufen in ein tiefes, warmes Bad hinuntersteigen.
-
-Sie mißhandelte ihr Zimmer. Es war häßlich. Alte, verschnörkelte Möbel.
-Ein Teppich, der nicht mehr rein zu bekommen war. Der Lampenschirm aus
-zerschlissener Seide. Sie stülpte ihn verkehrt auf den Boden, rückte den
-Tisch schief in eine Ecke. -- Schämst du dich nicht, wie dein Zimmer
-aussieht, sagte Mutter.
-
-Sie stand vom Tisch auf, weil Agnes mit einem verbundenen Finger
-servierte.
-
-Sie wollte nicht mit Mutter auf die Straße gehen, weil Mutters Mantel
-schon sechs Jahre alt war.
-
-Sie warf Marthas mit farbiger Seide gestopfte Handschuhe in den Herd.
-
-Und sie schenkte Agnes ihre neuesten Schuhe.
-
-Es war alles gleichgültig, alles eins. Je mehr zugrunde ging, desto
-besser. Wozu die Heller sparen, wenn man Tausende braucht. Dann war man
-armselig und fast lächerlich, wie Mutter. Aber sie, Ruth, wollte lieber
-ganz elend sein, betteln gehen.
-
-Die Welt lag hinter der harteckigen Wohnung. Auf den langen, gierigen
-Schienen rollten die Lokomotiven. Schleppten hinten in den Waggons
-glückliche Menschen in dunklen, einfachen Kleidern, deren Schnitt allein
-ein Vermögen kostete. Die legten ihre wunderbaren Schuhe auf samtene
-Kissen. Und dann saßen sie in hochwandigen Speisesälen und sahen hinaus
-über ungemessene Entfernungen.
-
-Geld haben heißt weiterkommen. Weiterrücken im Raum. Und das heißt,
-weiterrücken im Leben. Und sie steckte in ihrer Wohnung, eingekeilt
-zwischen Mutter, Martha, Richard und jetzt auch Norbert. Denn Norbert
-war sehr viel da. Mutter liebte ihn.
-
-Einmal ging sie Martha ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Norbert erbot
-sich, sie zu begleiten. Sie war unordentlich angezogen, in alten
-Kleidern, die ihr schlecht saßen. Sie ging durch die elegantesten
-Straßen. Vielleicht eben deshalb. Und weil Norbert dabei war.
-
-Sie traten in eine der ersten Parfümerien. -- Hier wollen sie etwas
-kaufen? fragte Norbert ganz erschrocken. -- Ja, warum nicht?
-
-Sie wählte ein halbes Dutzend der kostbarsten Seifen. Es überstieg weit
-den schmächtigen Inhalt ihres Portemonnaies. -- Ich habe mein Geld
-vergessen, können Sie für mich zahlen? Norbert zahlte aus seiner
-biederen Geldbörse.
-
-Auf der Straße sagte sie, totenbleich vor Erregung, heiser: -- Wissen
-Sie, was ich da in meiner Tasche habe? Noch eine Seife, hellviolett, ich
-habe sie aus dem Korb gestohlen.
-
--- Um Gottes Willen, aber das ist doch nicht ihr Ernst.
-
--- Doch, sehen Sie, hier. Ist sie nicht wunderbar. Und so weich. Die
-behalte ich mir, die gehört mir, mir ganz allein. -- Fräulein Ruth,
-nein, das ist nicht möglich, nein, kommen Sie, gehen wir zurück, gehen
-wir. -- Gewiß nicht, ich glaube gar, Sie fürchten sich, mit mir zu
-gehen? Bitte. -- Nein, aber Ruth, so etwas dürfen Sie doch nicht tun,
-Herrgott, das ist ja furchtbar. -- Ach, lachte Ruth, das mache ich immer
--- und fast schämte sie sich, so zu lügen. Sie hielt die Seife
-krampfhaft fest mit der Hand umschlossen, daß die Schulter schmerzte.
-Und war stolz darauf. Ein gieriges Habenmüssen preßte ihr die Zähne
-zusammen.
-
-Sie gingen durch trübe, nachmittagsstille Gassen, die sonnenlos waren
-und arbeitsgewohnt. Norbert sah die ganze Zeit zu Boden und war
-dunkelrot. Dann stotterte er: -- Wenn Sie die Seife haben wollen und
-haben müssen, Ruth, und Sie haben vielleicht kein Geld mehr -- Sie
-lachte grell und höhnisch: -- Nein, wie Sie um meine Seele besorgt sind.
-
-Und dachte: Du kleinseliger Krämer du, du ahnungsloser. -- Lassen Sie
-das, Norbert, -- fuhr sie fort, -- es steht nicht dafür. Es nützt doch
-nichts. Ich habe es vom Großvater. Der hat auch alle seine Pferde
-verspielt. Mutter sagt immer, mit mir nimmt es ein schlechtes Ende. Wenn
-ich dann ganz heruntergekommen bin und so bettelarm, daß ich einen
-grauen Lappen um den Kopf binden muß, wenn es schneit, wenn ich dann so
-ganz richtig elend bin, komm ich zu Ihnen. Sie geben mir dann etwas aus
-ihrer Börse, nicht wahr? -- Ich werde Ihnen immer alles geben, Fräulein
-Ruth, aber Sie sollen nicht so sprechen. -- Vielleicht komme ich auch
-ins Kriminal, wer kann es wissen. Aber Norbert, eines, können Sie sich
-vorstellen, daß man etwas haben muß, so unbedingt haben muß, daß man
-einem andern auch Böses tut, ihn umbringt, für Geld umbringt? Können Sie
-sich das vorstellen, o, so sagen Sie doch. -- Ruth, Sie sind krank. --
-Warum denn? sowas steht doch alle Tage in der Zeitung und die Leute sind
-gar nicht alle krank.
-
-Nach einer Weile sagte er noch einmal bestimmt und ohne sie anzusehen:
--- Wir tragen die Seife jetzt zurück. Wenn Sie das Geld nicht nehmen
-wollen. Es war ein Irrtum.
-
-Ruth warf die Seife einem verkrüppelten Bettler, der an der Mauer
-lehnte, in den Hut und sprach im Vorübergehen: -- Er soll sich auch
-einmal mit etwas Gutem waschen können. Und sie sah Norbert nicht mehr an
-und gab ihm nicht die Hand zum Abschied.
-
-In den nächsten Tagen aber trauerte sie um das Stück Seife, wie um ein
-Stück verlorene Seligkeit. Sie haßte Norbert. Einmal hatte sie es gewagt
-und er hatte alles verdorben. Und warum -- weil er dumm war, grenzenlos
-dumm. Sie holte lauter Detektivromane aus der Leihbibliothek und
-verschlang sie.
-
-Sie versuchte Geld zu nehmen aus der Lade der Köchin. Aber es war wieder
-ganz unmöglich.
-
-Sie fühlte sich umgeben von einer erstickenden Masse schmutzig gelben
-Metalls. Das nach Schweiß stank und den Duft exotischer Blüten in sich
-trug und ein Rauschen von seidenen Röcken.
-
-Marthas Kasten war immer doppelt versperrt. Sie trug die Schlüssel mit
-sich in einem uralten Handtäschchen. Ruth verachtete sie deshalb. Denn
-was war schon in dem Kasten, wenn man ihn aufbrechen wollte? Wäsche mit
-gehäkelten Spitzen und ein paar ziemlich abgelegene Liebesbriefe. Eine
-Nagelschere und ein Nähkästchen und vielleicht noch eine Photographie.
-Nein, davon hätte Ruth nichts haben wollen.
-
-Und von Richards Sachen erst recht nicht. Die waren alle abgebürstet und
-ordnungsgemäß aufgestellt. Numeriert. Vom ersten Schulzeugnis an bis zur
-letzten Tagebuchseite. Denn Richard führte ein Tagebuch. Das war sehr
-genau. Es standen alle Einnahmen und Ausgaben darinnen.
-
-Mutters Besitztümer aber steckten in vierfach verbundenen Papiersäckchen
-und rochen nach Lawendel.
-
-Ruth wollte und mußte etwas haben. Etwas Außergewöhnliches, etwas
-unsagbar Schönes, etwas Wunderbares, etwas noch nie Dagewesenes,
-wenigstens noch nicht in ihren düsteren Zimmern.
-
-Als sie ihr nächstes Taschengeld bekam, ging sie durch die ganze Stadt
-es zu suchen. Als es schon Abend war, fand sie in einer Auslage einen
-Korb voll tiefroter Rosen. Festgeschlossen hingen sie schwer in den
-schlanken, wiegenden Stengeln. Und die wenigen Blätter, die schon offen
-waren, waren weich und dunkel in ihrem Innern, daß sie Ruths Kopf zur
-Seite senken ließen und die Augen schließen.
-
-Sie kaufte sechs von den schönsten, strich mit den Händen über die
-heißen, großen Stacheln und ging mit federnden Schritten nach Hause.
-
-Im Speisezimmer stand Richard unter der fahlgrünen Lampe und hielt eine
-Rechnung in den Händen. Mutter lief erregt um den Tisch und Martha
-stellte verdrossen die Gläser auf.
-
--- Was ist das Ruth, fragte Richard -- eine Rechnung für vier paar
-Lederhandschuhe? Er war ganz ruhig, zog nur die Augenbrauen ungeheuer
-verwundert in die Höhe. Aber seine Stimme war häßlich vor Zorn.
-
-Mutter rang die Hände.
-
--- Ich weiß nicht, sagte Ruth atemlos. -- Du weißt nicht und was hast Du
-da? Was sind das für Rosen, Ruth? Du bist wohl verrückt. Du weißt nicht,
-was du tust. Wie treibst du dich denn herum?
-
--- Laß die Rosen, sie gehören mir.
-
--- Dir, dir gehören sie? Ja, was gehört denn überhaupt Dir? Du stiehlst.
-Du stiehlst Mutter das Geld aus der Tasche. Sollen die Handschuhe
-vielleicht Dir gehören? Und diese Rosen? --
-
-Ruth dachte: Er nimmt mir alles. Alles. Aber er hat eine wohlgefüllte
-Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb, silberweiß, blaue Scheine. Nur die
-Rosen soll er nicht nehmen, die Rosen nicht. Wenn er wirklich danach
-greift --
-
-Sie war umgeben von einer schwarzen, kochenden Masse. Und erstickt griff
-sie nach dem Brotmesser auf dem Tisch und schleuderte es --
-
-Ein Kreischen, ein Stoßen --
-
-Sie war allein in ihren Zimmer.
-
-Von der Straßenlaterne strömte weißgelbes Licht herein. Aber der Zorn
-tanzte noch in kochend schwarzen Klumpen um sie herum, würgte die Kehle,
-machte ihre Hände gierig.
-
-Sie fuhr hinein in die blassen Fensterscheiben. Mitten durch.
-
-Aus ihrer Handfläche quoll es langsam heraus, dunkelrot. Sie war ganz
-ruhig.
-
-Aus immer mehr Stellen heraus, immer mehr. Das Blut fiel zu Boden,
-langsam, in dicken Tropfen.
-
-Und ihre Augen wurden satt.
-
-Da waren irgendwo heiße, durstende Glieder, die sich zur Ruhe strecken
-konnten. Und ausgekühlte Marmorbäder. Und verlöschte, grellrote Lichter.
-
-Zu ihren Füßen lagen viele Münzen. Kupferne, silberne, goldene. Die
-rollten nicht mehr durcheinander. Die lagen ganz kalt, eine über der
-anderen.
-
-Und das Blut fiel zu Boden, langsam, in dicken Tropfen. Und das Geld
-fraß das Blut.
-
-
-
-
- Gott
-
-
-Als Ruth so klein war, daß das Kindermädchen sie sitzend auf dem Arm
-trug und ihr der eigene Matrosenkragen wie eine riesige, abenteuerliche
-Fläche erschien, sah sie an einem Abend ein Kreuz im Wald. In den Tannen
-hing verstecktes Gewitter. Und das Kreuz wuchs aus der felsigen Erde.
-Ruth fürchtete sich.
-
-In der Nacht nahm Mutter sie zu sich in das Bett. Am Morgen hatte sie
-Fieber. Man zog ihr ein frisches, kühles Hemd an, legte sie in Mutters
-riesige Polster hinein und Mutter küßte und streichelte sie.
-
-Wenn Ruth krank war, den ganzen Tag in Mutters Zimmer liegen durfte und
-von unten herauf jede von Mutters ungeduldigen, viel zu vielen
-Bewegungen beobachten konnte, war sie ganz zufrieden. Dann vergaß ihr
-kleines Hirn mit den Schwierigkeiten des Tages zu kämpfen, den grell
-bemalten Tapetenblumen, den Vorsprüngen auf Mutters kompliziertem
-Luster, der widerhaarigen Zahnbürste. Dann legte sie ihr kleines Haupt
-tief nach hinten und alle ihre kleinen Gedanken in Mutters zu große,
-harte Hände.
-
-Mutter war groß. Mutter war allmächtig. Mutter war unfehlbar. Mutter war
-gütig. Mutter war edel und -- Mutter war gekränkt, mißhandelt von aller
-Welt. Deshalb wollte Ruth nicht mit den andren Kindern im Park spielen,
-keinem fremden Menschen die Hand reichen, deshalb fürchtete sie sich vor
-den Hunden. Weil ihre Mutter unter diesen allen leiden mußte.
-
-Ruth küßte im Geheimen Mutters Hausschuhe. Schluchzte die ganze Nacht
-durch, wenn Mutter vergessen hatte, zuletzt an ihr Bett zu kommen. Und
-starb vor würgender Sehnsucht, wenn Mutter auf acht Tage verreist war.
-Aber das durfte niemand wissen.
-
-Richard durfte das nicht wissen, ach nein, er war ja so klug. Gewiß, er
-liebte Mutter. Aber er trug alle seine Empfindungen sorgsam eingeordnet
-in seiner schwarzledernen Brieftasche und zusammengepreßt wie die
-Banknoten.
-
-Martha liebte Mutter nicht. Obwohl sie an Mutters Geburtstag am
-eifrigsten den Tisch deckte. Aber alle Morgen stritt sie mit Mutter mit
-einer schrillen Stimme. Zu ihren Freundinnen nannte sie Mutter nur
-»sie«.
-
-Zu Mutter flüchtete Ruth sich, als sie die große Angst bekam vor dem
-großen Gott im Himmel oben. Der gar nicht half, wenn man zu ihm betete.
-Der seinen lieben, wunderbaren Sohn am Kreuz hatte verbluten lassen, der
-es duldete, daß es eine Hölle gibt, während es ihm dort oben am besten
-geht. Der die Menschen in den Spitälern sterben läßt und noch will, daß
-man dankbar dafür ist.
-
-Ruth bekam eine Bonne, deren winziger Koffer voll war mit Marienbildern
-und Rosenkränzen. Die führte Ruth in alle Kirchen. Sie fror stundenlang
-in den kalten, zu hohen Räumen mit den dunkel nassen Mauern. Weihrauch
-versperrte ihr die Kehle und der Kirchendiener hatte schmutzige
-Pantoffel. Vorne am Altar war Christus gekreuzigt. Rostige Nägel
-durchbohrten die Knochen. Das Blut war geronnen. Und er konnte nie und
-nie herunterfallen.
-
-So hing er in allen Kirchen und die Menschen beteten um schönes Wetter
-und Glück bei ihren Geschäften. Ach, wie arm war er. Für alle hatte er
-sterben müssen, und keiner liebte ihn.
-
-Eines abends stritt Mutter mit Vater. Es war so ein kleiner häßlicher
-Grund, daß Ruth ihn vergessen wollte, nein, nie mehr daran denken. Vater
-schwieg. Mutter warf Vaters Zeichnungen auf den Boden. Vater schwieg.
-Ruth schlich aus dem Zimmer. In dem kleinen Gang neben der Küche drückte
-sie die Stirne an das Fenster und betete: Lieber Christus, ich habe dich
-lieb. Ich bete nicht, ich will nichts von dir, ich habe dich nur lieb
-... An diesem Abend kam Mutter nicht zum Gutenachtkuß. Ruth rief nicht
-nach ihr. Aber sie hatte ein rotgoldenes Christusbild unter dem
-Kopfkissen.
-
-Sie wollte Nonne werden. In der Abenddämmerung in niederen Kreuzgängen
-wandeln und über das Meer schauen und Christus lieben.
-
-In die Messe mochte sie doch nie gehen. Wie entsetzlich war es, zu
-denken, daß der fettige Geistliche da vorne das reinste Blut trank. Wenn
-es auch für die ganze Welt gut war, es war eine ungeheure Grausamkeit --
-ein Verbrechen -- und daß das alle Morgen geschah ...
-
-Ruth besaß ein Kinderbuch, in dem opferten die Chinesen grell gemalten,
-glotzäugigen Buddhas. Vor diesem Buch graute ihr. Und vor den fetten
-Altären der katholischen Kirchen.
-
-Zu Hause aber steckte sie ihren liebsten Bleistift in den Ofen -- Opfer
-für Christus.
-
-Dem lieben Gott versprach sie alle Tage ein Gebet mehr. Was anderes
-konnte sie ihm nicht geben. Als es zu viel wurde, gab sie es überhaupt
-auf. Und von dieser Stunde an stand sie nicht mehr gut mit ihm.
-
-Aber sie küßte den schmutzigen Steinboden im Stiegenhaus. Christus zu
-liebe.
-
-Dann bekam sie eine andere Bonne. Mit sehr roten Wangen und gekräuselten
-Haaren, die alle Nacht zwei Stunden lang mit der Brennschere bearbeitet
-wurden. Diese Bonne liebte Ruth sehr. Sie erzählte ihr ungeheuer viel
-von einer Baronin, die schon zweimal verheiratet war und Ruths
-Schuhnummer hatte und alle Monate vier Paar Schuhe brauchte. Eines
-Nachmittags führte sie Ruth zu der Baronin. Das Zimmer war voll mit
-parfümiertem Rauch und schweren Teppichen. In einem Erker saß die
-Baronin neben einer riesigen Palme. Sie trug einen grauseidenen
-Schlafrock. Seine Falten krochen über ihre müde, duftende Haut. Sie
-sprach lange mit der Bonne und liebkoste Ruths Zöpfchen. Sie schenkte
-Ruth ein Bonbon. Ruth schlief diesen Abend ein, das Bonbon in der Hand,
-das am nächsten Morgen als zähe Masse die kleine Faust verklebte.
-
-Sie schrieb den Anfangsbuchstaben des Namens der Baronin auf die
-Löschblätter in allen Heften. Als die Bonne plötzlich fortgehen mußte,
-weinte sie die Nacht durch.
-
-In einem großen Hotel liebte sie einen gazellenschönen, argentinischen
-Knaben. Sie sprach nie ein Wort mit ihm, dachte gar nicht an diese
-Möglichkeit. Aber sie zählte die Stunden, bis sie ihn wieder in den
-Speisesaal kommen sehen könnte, neben seiner überüppigen Mutter.
-
-An einem lichtgoldenen Frühlingstag sah sie auf dem Markt einen Korb
-weißer Hyazinthen. Kaum erblühter, strahlend weißer, schlanker
-Hyazinthen. Sie hatte kein Geld. Was sollte sie tun? Sagen, daß sie
-diese Hyazinthen haben mußte, sehen mußte, einatmen mußte. Nein,
-niemals, so etwas spricht man nicht aus. Das ist etwas so ungehöriges,
-wie die Dinge, die in den verbotenen Büchern stehen. Über so etwas
-schweigt man. Und wenn es nur wäre, um nicht ausgelacht zu werden. Das
-aber ist Schande und Schändung. Das ist so wie der gepeinigte Christus
-an jeder Wegkreuzung.
-
-Im Sommer darauf bemerkte sie zum erstenmal, wie sich das saftige Grün
-der Buchenblätter in die Sonnenbläue des Himmels schmiegt. Und sie
-berührte schüchtern das Waldgras, das hoch und gebogen war, während auf
-den Felsen die Erde duftete. -- Geh nicht in den Wald, sagte die Mutter,
-dort sind Holzhauer und Schlangen.
-
-In diesem Sommer wuchs Ruth überraschend schnell und bekam kräftige,
-braune Arme.
-
-Im nächsten Winter entbrannte sie in wilder Leidenschaft für Napoleon.
-Der mit gekreuzten Armen über die Menschen gegangen war und sie
-zertreten hatte.
-
-Damals war es, daß Ruth eine Macht über sich fühlte, die sie fausthart
-in die Knie zwang. Und von der ihre weichen, unentwickelten Gelenke sich
-in sehnsüchtiger Wollust kneten ließen. Sie wollte nicht lieben, nicht
-Liebe empfangen, aber unterworfen werden.
-
-Im hintersten Winkel des Kleiderkastens war ein wunderliches Gemisch von
-Kostbarkeiten: Eine falsche Rose, die Mutter getragen hatte als sie
-einmal in das Theater ging und so besonders schön war. Gepreßte Zyklamen
-aus dem Buchenwald. Das rotgoldene Christusbild. Eine Unterschrift der
-Baronin aus einem Brief an die Bonne. Ein Ausschnitt aus einem
-französischen Werk über Napoleon. Und das Wort Beethoven mit roter Tinte
-auf die verkehrte Seite einer Visitkarte geschrieben.
-
-Wenn Ruth ihren Kasten zusammenräumte, wischte sie diese Dinge mit einem
-Batisttaschentuch ab. Jedes war einzeln in weißes Seidenpapier gewickelt
-und mit Christbaumschnüren zugebunden. Ruth rührte aber keines gerne an.
-Sie fürchtete den Tag, wo ein quälendes Gewissen sie dazu trieb, alles
-frisch zu ordnen und neu einzuwickeln. Sie wusch sich vorher dreimal die
-Hände und fürchtete, daß ein unreiner Atemzug diese Heiligtümer
-beleidigen könnte.
-
-Denn das alles waren Heiligtümer, nicht Erinnerungsstücke. Kleine,
-nichtige Gegenstände, vollgetränkt mit dem Empfinden einer
-überströmenden Liebe. Und als Christus, als die Baronin, als Napoleon
-Ruth fremd geworden waren, behielten die einzelnen Dinge doch ihre
-seltsame Macht. Ja, diese Macht war sogar gewachsen, wenn das Ideal tot
-war. Und noch unbegreiflicher, furchteinflößender geworden. Es war
-besser, man berührte diese Gegenstände nicht, ging ihnen aus dem Weg und
-sperrte den Kasten zu. Wodurch allerdings auch der Schlüssel lebendig
-wurde und schwer zu behandeln.
-
-Es kam noch vielerlei dazu. Schmächtige Seidenfransen, die sie einem
-Freund Richards, einem langlockig, grobbeinigen Menschen von seinem
-Kragenschoner weggeschnitten hatte. Ein weißblondes Haar der
-Englischlehrerin. Und noch vieles andere. Es gibt keine Kirche, die so
-viele Reliquien hat wie Ruths Kleiderkasten.
-
-Einmal saß Ruth bei dem Speisezimmertisch und sollte eine Schulaufgabe
-machen. Mutter saß mit ihren Rechenbüchern daneben. Da kam ein
-Dienstmädchen herein, die Mutter einst wegen Diebstahls hinausgeworfen
-hatte. Die brachte ihr Kind. Mutter schob alle Rechenbücher beiseite und
-nahm den Säugling auf den Arm und küßte und hätschelte ihn. Ruth sah
-sich wieder ganz klein und der Mutter so nackt und hilflos überlassen,
-wie dem lieben Gott selbst. Sie zeichnete Mutters Kopf in ihr Schulheft.
-
-Onkel Gustav erklärte, sie sei ein Genie. Mutter war stolz. Sie hatte in
-ihrer Jugend selbst viel gemalt, große, bunte, talentierte Bilder. Man
-schickte sie in eine Zeichenschule. Und dort war Hilde.
-
-Wenn die Sonne aufgeht, brechen alle Pflanzen aus der Erde und die
-Steine werden licht. Denn das ist die große Kraft.
-
-Wenn Hilde in das Zimmer kam, wurde der Raum weiter und höher. Und durch
-alle Muskeln zuckte Ungeduld und Sprungkraft. Denn sie besaß große
-Kraft.
-
-Sie sehen, hieß einen Trunk frischen Wassers tun. Und vor Ruth sanken
-die schwerblütigen Vorhänge der elterlichen Wohnung in einen fetzigen
-Haufen zusammen. Und sie verstand, daß es wichtiger war Fensterscheiben
-zu zerschlagen als einem Bettler ein paar Kreuzer zu schenken. Denn die
-Sonne muß hereingelassen werden. Sie ist die große Kraft.
-
-Mit Hilde konnte man nicht sprechen. Ihre Nähe war grell und fast
-schmerzhaft laut. Ruth flüchtete vor ihr. Alle Reliquien durften
-verstauben.
-
-Hilde reiste nach Italien. Sie sah Hilde nicht mehr. Ein greller Funken
-hatte ihr Leben grell gemacht, ganz kurz, momentan. Sie war feige und
-blieb in der Dämmerung. Aber sie kannte das Licht. Und wartete.
-
-Während aus dem Graugelb leerer Nachmittage er herauswuchs, riesengroß
-und dunkel. Und sie saß bei ihm alle Wochen, alle Tage. Und trank die
-Worte abgelebter Erinnerungen, die noch leben möchten. Dumpfer
-Männernächte, die ihre Kinderhände weinen machten.
-
-Er war ein Gott. Die Maske fiel.
-
-Er war ein armer Mensch. Die Maske fiel.
-
-Er war ein Schuft. Wird noch eine Maske fallen.
-
- * * * * *
-
-Ruth saß am Sonntag in dem großen Dom. Die Orgel spielte und vor den
-brennenden Kerzen lag die Menge.
-
-Ruth hörte auf das ewig gleiche Thema der Orgel und wußte, daß draußen
-ein eintöniger Regen fiel. Die nassen Kleider der Leute stanken in den
-Weihrauch hinein. Sie saß ganz hinten, in einer dunklen Bank. Vor ihr
-war eine alte Dame in schwarzem Schleier. Die betete halblaut.
-
-Ruth dachte: mit wem spricht sie da. Gott -- das ist eine Maske mit
-gerader strenger Nase und weißem Bart. In jeder Spielwarenhandlung zu
-kaufen, wenn erst Fasching ist. Christus ist tot. Gekreuzigt. Sie soll
-sich nicht zum Narren halten lassen von den Reliquien hinter dem Gitter.
-Das sind Masken für nichts. Ich möchte meinen Schrank verbrennen. Mutter
-macht uns alle unglücklich, weil sie nicht glücklich sein kann. Das
-Muttersein ist Maske. Dahinter steckt ein furchtbarer Mensch. Und die
-Liebe bei der Baronin mit dem parfümierten Rauch macht Übligkeiten. Sie
-soll nicht lächeln. Es ist eine Krankheit in ihr. Maske. Napoleon hat
-die Welt unterworfen weil er die größte Maske trug. Alle Buchenblätter
-sind faul und die weißen Hyazinthen verwelkt, verkrümmt.
-
-Sie zog einen Taschenspiegel aus ihrem Handtäschchen. -- Da sitze ich in
-der Kirche bei der Komödie. Warum schrei ich denn nicht. O ich bin
-gesittet. Und mein Gesicht ist nicht verzerrt. Ich trage ja auch meine
-Maske. Aber die Augen sind furchtbar. Ich habe Angst vor mir.
-
-Ob Hilde auch eine Maske hat --
-
-Aber er trägt viele tausend Masken. Nein, er weiß gar nicht, welches
-sein wahres Gesicht sein könnte. Lauter weiche, schmiegsame Masken,
-innen etwas faul. Grünbleich und müde. Ach, und sich hineinlegen können
-und ausruhen ...
-
-Als sie aus dem Tor herausging, traf sie Onkel Gustav und Richard. Beide
-zogen den Hut vor der Kirche. -- Warum tut ihr das, sagte Ruth
-ärgerlich, ihr glaubt ja doch nichts.
-
--- Das macht man so, sagte Onkel Gustav verlegen.
-
--- Ruth, du bist wieder einmal dumm, erklärte Richard.
-
--- Aber ein Tier tut das nicht, sagte Ruth und streichelte Onkel Gustavs
-namenlosen Hund.
-
-
-
-
- Gute Familie
-
-
-Martha unterrichtete in der Schule, die Norberts jüngste Schwester
-besuchte. In der sie selbst ihre erste und letzte Bildung empfangen
-hatte und wo Ruth einmal fast hinausgeworfen worden war, weil sie
-öffentlich zu erklären wagte, vor der französischen Grammatik brauche
-man den lieben Gott nicht im Gebet anzurufen.
-
-Mutter hatte darauf gehalten, daß ihre Töchter diese Schule besuchten
-und keine andere. Es war die vornehmste Schule der Stadt, die
-Bureaukratenschule. Es galt als Zeichen von Ruths Dummheit, daß sie
-nicht einmal in dieser Schule gute Noten bekommen konnte.
-
-Ruth dachte niemals an ihre Schuljahre zurück. Sie mied den Weg, der an
-der Anstalt vorbeiführte. Sie empfand schon in der Nähe des Hauses den
-dumpfen Tintengeruch aller der Rehlederfleckchen, die zu besitzen dort
-so streng verlangt wurde und die sie immer verlor. Französische Verben,
-verwischte Diktate, alte Butterbrote, schwarze Clothschürzen mit
-knallblauem Rand und das unbedingte Bedürfnis, sich auf den Tisch zu
-setzen, jetzt, gerade jetzt, weil das so entsetzlich unpassend ist.
-
-Vor allem aber hielt sie ein wurmendes Schamgefühl zurück, wenn sie sich
-an diese Zeit erinnerte. Sie wollte nicht eines sein mit dem faulen,
-boshaften Fratzen, der der Mademoiselle alles nachwies, was sie in
-Geschichte falsch unterrichtete, ihre gefärbten Haare bewunderte und
-stundenlang darüber grübelte, was sie ihr Verletzendes sagen könne. Denn
-die Mademoiselle war dumm. Es war eine Unverschämtheit, andere belehren
-zu wollen, ohne klüger zu sein. Das einzige, was Ruth aus der Schule
-brachte, war ein glühender Haß auf den Kardinal Richelieu. Der bestimmt
-der Mademoiselle ähnlich gesehen haben mußte, ihre kaltadrige, rote
-Gesichtsfarbe gehabt hatte und ihre steifglänzenden Halskragen. Damals
-hatte Ruth den Haß gelernt. Nicht den hochlodernden, kämpfenden. Aber
-den sich ekelnden, nagenden, den man gegen Fleischfliegen hat und Maden.
-Den allerunbarmherzigsten.
-
-Und damals hatte Ruth die Roheit kennen gelernt, die nicht zögert, sich
-selbst zu beschmutzen. Als ein Kind der Schule gestorben war, kam der
-Literaturprofessor wankend in die Klasse. Er war ein kleiner,
-lächerlicher Mensch mit strohgelb in die Höhe stehenden Haaren. An die
-Tafel gelehnt, schluchzte er überlaut, wischte sich die Tränen ab mit
-einem blauen Taschentuch, schneuzte sich -- und dazu mußte ein Mädchen
-ein ganz blödsinniges Lesestück vorlesen. Da begannen alle Kinder zu
-lachen. Und Ruth mit ihnen, sie zerbiß ihr Taschentuch -- er weinte ja
-auch immer, wenn er von Theodor Körner sprach.
-
-O die viele, viele Schande, die sie dort erdulden mußte. Alle Morgen
-eine Krankheit erfinden, um nicht hinzugehen. In einer Zeit, wo der
-unbeugsame Kindersinn nach unbedingter Reinheit verlangt und der
-geringste Schmutzfleck ratlos macht und ausliefert.
-
-Konnte man je wieder rein werden, wenn man in diese Schule gegangen war?
-Wo alle unterdrückte Sinnlichkeit der vertrockneten Lehrerinnen unter
-den Bänken wieder erwuchs, aufgezogen von der schmierigen Neugier
-halbwüchsiger Kinder, die von Liebe nichts wissen dürfen. Ruth wurde
-später rot, wenn sie an die Gespräche dachte, die sie mit zwölf Jahren
-hören und führen mußte. Und dann wurde alles verraten. Und ein Kind
-wurde ausgeschult, weil es die Tochter einer Schauspielerin war.
-
-Nein, an diese Schule durfte man niemals zurückdenken. Ruth wich Martha
-aus, wenn sie des Morgens dorthin ging. Sie hätte sie bedauert, wenn sie
-sie nicht so maßlos verachtet hätte.
-
-Es war ganz selbstverständlich, daß Norberts Schwester diese Schule
-besuchte.
-
-Norbert kam nicht mehr bloß Samstag. Er kam auch Mittwoch. Jeden
-Mittwoch und Samstag zum Mittagessen. Vorher spielte er noch mit Gustav
-zwei Sonaten, eine neu und eine, die sie schon das letztemal gespielt
-hatten. Ruth kam an diesen Tagen immer zu spät nachhause.
-
-Ruth verachtete Norbert. Diese Verachtung war mit einem ihr sonst
-fremden Ekel untermischt. Der sich bis zur Wut steigern konnte, wenn er
-sie über den Tisch herüber ansah, hundetreu und Vertraulichkeit
-vortäuschend.
-
-Mutters Vorliebe für Norbert stieg immer mehr. Martha konnte gar nicht
-aufhören, mit Norbert zu sprechen. Er gab als Mitglied seiner Kaste
-etwas verächtlich Auskunft über die Familienchronik der Stadt -- aber
-immer als Mitglied seiner Kaste. Martha bekam hektisch rote Wangen. Ruth
-dachte: Mein Gott, wie wenn ich den Uilenspiegel von de Coster lese.
-Aber da ist es nicht ein Mensch, ein Volk, eine Welt, nur eine ehemalige
-Tanzstunde.
-
-Deshalb hatte sie Martha in den letzten Jahren beiseite liegen lassen.
-Neben ihr starb eine Seele in der Sehnsucht nach dem gelobten Land.
-
-Eines Mittags kam ihr auf der Straße ein ältliches Fräulein entgegen,
-trotz der lichten Sonne in einem langen, grauen Regenmantel. Scharfe
-Nase, weltfremde Augen, unter dem Arm eine Aktentasche. Ruth dachte:
-Lehrerin, die hat heute sicher ein ungezogenes Kind gequält. Vielleicht
-so eines wie ich war.
-
-Sie ging weiter. Um die Ecke herum begegnete ihr Martha, die eben aus
-der Schule kam. Sie hing sich hastig an Marthas Arm und fragte einige
-ganz überflüssige Fragen. Martha antwortete mürrisch. Ruth dachte: Um
-Gottes Willen, vielleicht sieht sie in ein paar Jahren so aus wie die
-andere, die Lehrerin von vorher. Nein, das ist unmöglich, das darf nicht
-sein.
-
-Derselbe glühendheiße Druck legte sich ihr zwischen die Brust, den sie
-als Kind empfunden hatte, als der Arzt sagte, daß Vater sterben müsse.
-Sie hatte sich in einem Kasten versteckt und schrie in sich hinein:
-unmöglich.
-
-So ging sie heute neben Martha. Bei einem Blumenweib blieb sie stehen
-und kaufte ein winziges Büschelchen Veilchen. -- Ruth, um diese
-Jahreszeit. Du fängst also schon wieder so an mit dem Geld. -- Nimm sie.
--- Unsinn. -- Bitte. -- Nein, könnte mir einfallen.
-
-Ruth hielt die Veilchen ganz tief unten. Nur nicht weinen vor Zorn. Pfui
-Teufel. Und Marthas Schleier hatte ein Loch quer über die Wange hin.
-Ach, was ging diese langweilige Person sie eigentlich an. Sie ließ die
-Veilchen in den Rinnstein fallen, knapp bevor sie in das Haustor traten
-und sprang voraus über die Stiegen.
-
-Dann aber schalt Mutter mit Martha kreischend laut und ungerecht. Ruth
-stand im Nebenzimmer mit geballten Fäusten. Mutter schrie. Martha
-schwieg. Ach, da war wieder der entsetzliche Druck, der brennende Druck
--- Angst --
-
-Ruth warf eine alte Porzellanvase zu Boden, daß die Splitter sprangen.
-Mutter stürzte wütend herein. Sie schüttelte Ruth und stampfte mit dem
-Fuß auf die Scherben. Aber sie war wieder gut mit Martha. Denn Martha
-jammerte mit.
-
-Ruth weinte so lange, daß sie am Abend krank war und in das Bett
-gesteckt wurde. Mutter brachte ihr besonders aufgegossenen Tee und
-setzte sich an den Bettrand wie in alten Zeiten. Aber Ruth drehte den
-Kopf weg. Das Licht schmerze sie. Plötzlich sagte sie: -- du hast Martha
-nicht gern. -- Was soll das heißen? -- Du hast Martha gar nicht gerne.
-Weil sie häßlich und unglücklich ist. Häßliche und unglückliche Menschen
-mag man nicht. Ich liebe Martha auch nicht, o nein. Aber ich will nicht
-mehr mit ihr streiten.
-
-Und nach einer Weile: -- Weißt du Mutter, eigentlich wünsche ich, daß
-Martha auch aus dem Fenster gesprungen wäre, wie ihre verrückte Freundin
-voriges Jahr. Wenn sie es heute noch tun wollte, ich glaube, ich würde
-ihr helfen und -- Ruth, Mutter stand vor dem Bett, dunkelrot -- du
-willst also, daß ich hinausgehe ... Nein Mutter, ich habe nur manchmal
-so Angst. Aber wenn du gehen willst, gib mir etwas zu lesen, irgendein
-Buch, nur etwas, was gerade auf dem Tisch liegt. -- Schillers Dramen? --
-Nein, nicht das. Wozu. Ich sage dir, heute Mittag habe ich auf der
-Straße im Sonnenschein eine Frau gesehen, viel, viel schlimmer als die
-Maria Stuart, bevor sie auf das Schafott geht. -- Du träumst. -- Nein,
-ich habe die Augen offen, sehr weit offen -- gute Nacht Mutter.
-
-Ruth versuchte nicht mehr, mit Martha zu sprechen. Aber in den nächsten
-Tagen vergaß Martha, als sie in das Theater ging, den Schlüssel ihres
-Kastens abzuziehen. Ruth schlich in ihr Zimmer. Ihr Herz klopfte in die
-Kehle hinauf. Sie verschloß die Türe. Sie dachte: jetzt mache ich etwas
-Niederträchtiges, Schmutziges. Aber ich kann ihm nicht entgehen, es
-geschieht von selbst, notwendig --
-
-Sie fand nichts, nein, sie fand gar nichts in dem Kasten, nicht einmal
-die Photographie, die sie erwartet hatte. Wozu sperrte denn Martha den
-Kasten immer auch dreifach zu. Nur ein Buch lag da, in Leder
-eingebunden, mit vorgedrucktem Datum, darinnen standen alle Theater,
-Vergnügungen, Bälle und Tänzer.
-
-Ruth empfand wieder den Geruch von Gaze, Spitzen, gebranntem Haar,
-Straußfedern und frischen Blumen, die alle nach Parfüm und Puder
-schmeckten. Jene festliche Erregung, die die ganze Familie bis zur
-Hausmeisterin hinunter beherrschte, wenn Martha mit Mutter auf einen
-Ball ging. Die ihr Kinderherz nicht schlafen ließ und an rauschende
-Seidenröcke denken und blonde Prinzessinnenlocken.
-
-Heute abends war sie mit Mutter allein beim Abendessen. Mutter sollte
-erzählen.
-
-Mutter tat das gerne, leichthin, ohne Ruths brennendes Interesse zu
-spüren. Ruth zerkrümmelte das Brot über das Tischtuch.
-
-Mutter sagte: -- Du brauchst nicht glauben, daß Martha immer so war, wie
-sie jetzt ist. Sie ist ein armes Mädchen, aber gut. Und du bist manchmal
-sehr abscheulich zu ihr, Ruth. Da ist Richard ganz anders. Er ist doch
-immer so rücksichtsvoll, das hat er bei Martha am besten gezeigt. Gott,
-das ist schon lange her und von so etwas spricht man lieber nicht mehr.
-Überhaupt zu dir, du könntest eine Bemerkung machen --
-
--- Natürlich. Ich verstehe nicht, warum du dann davon redest? Was es
-schon sein wird, sie wird eben ein Kind bekommen haben.
-
--- Ruth, so etwas sagst du zu mir? Wie du jetzt immer sprichst. Mit wem
-gehst du eigentlich um? Schon in der Schule hast du dir immer die
-Minderwertigsten ausgesucht. Bei Martha war das ganz anders. Wenn du
-wüßtest mit wem Martha verkehrt hat --
-
--- Das hat ja auch herrliche Folgen gehabt.
-
--- Martha war immer nur in den besten Familien eingeladen. Die Leute
-haben sich um sie gerissen. Sie war hübsch und liebenswürdig. Alle haben
-ihr den Hof gemacht, wie toll. Menschen wie Norbert --
-
--- O weh ...
-
--- Ja, das ist dir natürlich zu gut. Aber ich sage dir, Martha hat ein
-schönes Leben gehabt und war glücklich. Das verdankt sie mir.
-
-Ruth bückte sich, um die Serviette vom Boden aufzuheben.
-
--- Du weißt eben gar nichts. Wenn du eine Ahnung hättest, wer Martha
-heiraten wollte --
-
--- Und warum hat er es nicht getan?
-
-Mutter erzählte von dem jungen Baron, der Martha so sehr geliebt hatte.
-
-Ruth dachte: Sicher hat er ihr Blumen geschenkt beim Kotillon.
-
-Der Baron reiste ihnen nach, einen Sommer lang. Man wohnte in den
-feinsten Hotels, o, es kostete ein Vermögen. An der Ostsee. Martha trug
-nur Pariser Toiletten. Am Abend saß der Baron mit ihr und Mutter bei
-Champagner auf bis zwölf Uhr, jede Nacht bis zwölf --
-
-Ruth dachte: Warum ist sie nicht lieber am Strand mit ihm spazieren
-gegangen und hat ihn geküßt.
-
-Alle morgen standen Blumen auf dem Frühstückstisch. Und Martha wußte
-ihre Haltung zu bewahren --
-
-Ruth fragte: -- Warum?
-
-Aber Mutter erzählte weiter, stolz, glückselig.
-
-Sie waren allein in dem Bad. Ruth und Richard waren zu Hause. Der Baron
-hielt Vater für einen großen Unternehmer --
-
-Ruth dachte: Vaters arme Zeichnungen.
-
-Und dann im Herbst waren sie verlobt. -- Mutters Stimme brach fast ab.
--- Ganz richtig verlobt. Natürlich geheim. Aber er kam alle Tage zum
-Abendessen und war mit Richard eng befreundet. Richard hätte damals in
-ein Ministerium kommen können. Ach, es war herrlich ...
-
-Mutter schwieg. Ruth fragte: -- Nun, und? ... Und nichts.
-
--- Was heißt das?
-
--- Die Verhältnisse.
-
--- Die Verhältnisse also, das heißt, daß Vater kein Unternehmer war, daß
-ihr geschwindelt habt.
-
--- Ruth, was sagst du mir da? Mir, die ich immer dem Glück meiner Kinder
-gelebt habe. Richard sollte dich hören. Ja Richard überhaupt ... Wir
-fuhren zu Weihnachten in das Gebirge. Du hattest Keuchhusten. Erinnerst
-du dich --
-
--- Ja, da war der Tierarzt.
-
--- Richtig. Nun und wenn Richard nicht so energisch aufgetreten wäre.
-Martha war zu jeder Dummheit bereit. Der Landtölpel --
-
-Ruth sah vor sich den bärenhaft trotzigen Menschen, mit den zarten
-Händen und der Bauernsprache, auf dessen Rücken sie oft genug geritten
-war.
-
--- Mutter, das ist eine Gemeinheit.
-
-Richard und Martha kamen aus dem Theater nachhause. Norbert war auch
-dort gewesen. Ruth hatte Norbert am Abend vorher beleidigt. Richard
-sagte: -- Natürlich, du kannst immer nur rüpelhaft sein. Es ist wirklich
-schade, wenn ein Mensch aus guter Familie zu uns kommt.
-
-Ruth sprang auf: -- Ich glaube, ihr wißt alle nicht, wer Vater war.
-
-Und sie drehte Vaters Photographie an der Wand um.
-
-Am nächsten Tag suchte Ruth ein junges Mädchen auf, dessen Verkehr ihr
-von Mutter streng verboten war. Sie hatte sie in einer Nähschule kennen
-gelernt. Das junge Mädchen hatte grellrote Haare, die sie zu hoch
-hinaufgesteckt trug. Sie lebte mit ihrer Mutter in einem schäbigen
-Vorstadthaus, aber in der Wohnung waren viele Teppiche und Erker mit
-heimlichen Palmen. Sie verkehrten nur mit Offizieren.
-
-Ruth traf Mutter und Tochter, wie sie sich eben manikürten. Sie wurde
-mit überströmender Liebenswürdigkeit empfangen. Aber sie haßte manikürte
-Nägel, die rund und glatt sind, wie Klauen von Tieren. So war sie kühl,
-obwohl sie sich vorgenommen hatte, herzlich zu sein. Als Bella sich an
-den Toilettetisch setzte, wo die vielen silberglänzenden Schächtelchen
-waren und die rote Lampe darüberhing, bekam sie eine tolle Lust,
-mitzutun. Sie schmierte sich rotes, weißes, gelbes Puder vermischt über
-das Gesicht, bis Bellas Mutter in einen Lachkrampf ausbrach und sie in
-die Arbeit nahm.
-
-Als sie sich dann in dem Spiegel betrachtete, von der Seite her und
-verlegen vor sich selber, war das genau so, wie wenn sie sich vor Jahren
-mit Marthas Garderobe zur Jungfrau von Orleans drapiert hatte. Das war
-ja herrlich, so ganz jemand anderer zu sein, als man wirklich ist.
-Verlockend und spielerisch. Maske. Ein bißchen wie der liebe Gott mit
-dem weißen Bart. Nur daß die Schminke rot war.
-
-Und alle Lampen in diesem Haus waren rot. Sie fiel Bella um den Hals und
-beide tanzten durch das Zimmer.
-
-Dann kamen drei Herren. Zwei Offiziere und ein Theaterdirektor. Sie
-saßen in einem halbdunklen Raum und tranken Tee aus winzigen Tassen. Der
-Zigarettenrauch war klebrig schwer. Man konnte nicht mehr sehen, daß die
-Wände überfüllt waren mit Photographien, Bilderchen nackter Engel und
-trockenen Maiskolben.
-
-Aber es war sehr lustig. Direkt gemütlich. Ruth fühlte sich wunderbar
-wohl. Sie spielte ihre Rolle, als ob sie ihr von dem liebenswürdigen
-Theaterdirektor eigens einstudiert worden wäre. Eigentlich wußte sie
-nicht genau, ob nicht daneben ein Orchester spiele mit kreischenden
-Fiedeln und ein Boy unter ihr Perolin aufsprenge.
-
-Ein Leutnant mit etwas herunterhängender Unterlippe setzte sich an das
-Klavier und spielte eine abscheuliche Melodie. Bella sang dazu ein
-schmieriges Lied. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß und er küßte
-sie. Er hatte große, schwarzgerauchte Zähne. Ruth dachte an Norbert.
-Ekelhaft.
-
--- Ich muß nach Hause gehen. O man war sehr betrübt darüber. -- Aber ich
-komme bald wieder. Und Ruth setzte sich den Hut schief in die Stirne
-hinein und quer über ihr gerötetes Gesicht.
-
-Auf der Straße verfolgte sie ein Mann bis in ihr Haus.
-
-Bei Mutter war Besuch. Eine Freundin Mutters mit drei unverheirateten
-Töchtern. Die alte Frau machte eine verwunderte Bemerkung, daß Ruth so
-spät abends allein nachhause käme. Die drei Schwestern schielten
-eigentümlich auf den schiefsitzenden Hut. Und die Älteste öffnete den
-Mund, um etwas Boshaftes zu sagen. -- Da ging Ruth aus dem Zimmer. Ihr
-war ja so übel.
-
-Bella war glücklich. Die drei Mädchen da drinnen zankten sich alle
-Morgen. Gingen dann einträchtig den ganzen Vormittag Einkäufe machen für
-ihre unbedeutende Wirtschaft. Trafen bei dieser Gelegenheit Bekannte,
-die sie grüßten, mit denen sie sprachen. Nie ging eine allein auf der
-Gasse. Immer waren sie zu zweit oder zu dritt und gewöhnlich war die
-Mutter zwischen ihnen.
-
-Sie warteten ihr ganzes Leben, daß einer käme. Aber einer, der vornehm
-war. Eigentlich war es dasselbe wie bei der Prinzessin im Märchen. Und
-sie, Ruth, wartete auch. Nur daß sie so gar nicht wußte auf was. Bella
-war glücklich. Die hatte alle Tage ihren Leutnant. Aber der hatte
-schwarze Zähne.
-
-Martha war arm. Doch sie hatte einen Gott. Der saß an erster Stelle in
-einem hohen Amt. Vielleicht hatte er auch einen weißen Bart. Sie, Ruth,
-hatte keinen Gott mehr. Sie war wie Gustavs namenloser Hund. Aber sie
-konnte selbst eine Maske anziehen. Gott werden für Bella, für den
-Leutnant, für den Theaterdirektor. Vielleicht auch für Mutter. Es war
-eine Bosheit, wenn sie es nicht tat. Ach, wozu so viel denken,
-überhaupt, lieber Masken tragen und ganz anders sein -- und schlafen --
-sie streckte sich lang aus in ihrem zu kleinen Bett ...
-
-In der Nacht träumte sie von einem breitästigen Baum voll dichter,
-gelbwelkender Blätter und rosa Riesendolden. Sie stand auf der Brücke
-und der Baum war weit draußen in einem dunkelglatten See. Aber hinter
-ihm stieg ein Berg auf mit beschneiten Tannen und die Luft war bleich,
-wie im Winter. Der Baum hing voll schwerer rosa Blütendolden. Über die
-Brücke kam Mutter mit ihren gierig fordernden Bewegungen, die immer
-alles haben wollten und deshalb so ungeheuer armselig waren. Hinter ihr
-ging Martha in einem rosa Ballkleid. Aber die Augen waren geschlossen
-und die Wangen gelb. Ruth stand auf der Brücke und sie war ganz klein,
-hatte kurze weiße Socken an, ein weißes Matrosenkleid mit hellrosa
-Kragen. Oben auf dem Berg begann es sicher zu schneien. Und Mutters
-Haare waren weiß.
-
-Am nächsten Tag brachte Norbert eine Einladung seiner Mutter für die
-ganze Familie. Zu einer kleinen Gesellschaft, wie er leichthin sagte.
-Dabei sah er Ruth an. Ruth sagte: -- Ich gehe nicht in Gesellschaft.
-
-Aber nachher mußte sie gehen. Sie war die Jüngste und mußte Martha
-begleiten. Das sah so am besten aus. Mutter ließ ihr Abendkleid
-herrichten und kaufte Lederhandschuhe und Seidenstrümpfe. Da fand Ruth,
-daß die Sache eigentlich doch dafür stehe. Sie setzte sich vergnügt auf
-den Tisch und probierte die Seidenstrümpfe an. Richard kam in das
-Zimmer. Mutter rief: -- Ruth, schämst du dich nicht. -- Nein du hast sie
-mir ja gekauft, damit man sie sehen soll.
-
-Sie machte einen langen Spaziergang durch Kot und Regen und erklärte
-dann, die Strümpfe seien zerrissen und schmutzig, einfach unbrauchbar.
-Und sie ging ohne Seidenstrümpfe zu Norberts Eltern.
-
-Norberts Schwester war ein halberwachsenes Ding mit zu kurzer Oberlippe
-und vornehm tiefer Stimme. Sie grinste allen Gästen zu und war
-übertrieben freundlich mit einer unscheinbaren, dicklichen Freundin. Der
-Salon war verschnörkelt, Gold in braunem Holz, mindestens drei
-überflüssige Tische standen da und in der Ecke hing ein großer Makart.
-Sonst unzählige Photographien in kostbaren Rahmen und konventionelle
-Geschenksvasen.
-
-Ruth dachte: Ich möchte wissen, wer in diesem Raum zuhause ist. Norbert
-nicht, er tut nur so, wenn er die Zigaretten anbietet. Sonst aber paßt
-er noch besser an unser Klavier. Und seine Mutter auch nicht. Was für
-eine proletarisch dicke Nase sie doch hat und der lose, ungebändigte
-Mund -- nein, die habe ich mir ganz anders vorgestellt. Aber sein Vater
-hat einen eleganten, schneeweißen Scheitel. Und das ist auch alles.
-
-Norberts Braut kam zu ihr und war besonders freundlich. Sie war ein
-hübsches, liebes Mädchen mit gerader Nase und langen, hellgrauen Augen.
-Ruth fand, daß Norbert einen sehr vernünftigen Geschmack habe. Ihr
-gelblicher Spitzeneinsatz paßte wunderbar zu seiner grauen Weste.
-
-Ruth merkte wohl, daß man sie wie ein kleines Tier aus der Menagerie
-betrachtete. Weil ihr Kleid keinen Kragen hatte und die Haare
-eigenwillig um die Stirne herumstanden. Norberts Freunde schauten ihm
-eigentlich alle ähnlich. Lauter Menschen, die man erst monatelang sehen
-muß, um zu wissen, wie sie aussehen. Wenn man denen allen die Hände
-abschneiden wollte, man könnte die einzelnen Paare durcheinander werfen
-und sie wären nicht zu unterscheiden. Wie alle ihre Krawatten und
-Handschuhe. Ruth lachte bei dem Gedanken und wollte gähnen.
-
-Da kam ein Leutnant zur Tür herein mit herabhängender Unterlippe und
-dunklen Zähnen. Um Gotteswillen, was wollte der hier. Den hatte sie ja
-bei Bella getroffen. Nur daß er heute im Waffenrock war und ganz frisch
-rasiert.
-
-Er wurde mit Jubel begrüßt. Norberts Vater schüttelte ihm beide Hände.
-Er lächelte nach allen Seiten auf einmal. Aber vor Ruth verbeugte er
-sich dunkelrot vor Bestürzung. Sie sagte strahlend: -- Uns brauchen sie
-einander nicht vorzustellen, Norbert, wir kennen uns schon.
-
-Ruth war nicht mehr schläfrig. Ein Interesse, daß sie erwachen gefühlt
-hatte, als sie mit Bella und deren Freunden Tee trank, trieb sie unter
-die Leute. Sie schwatzte. Aber dabei verfolgte sie fortwährend den
-Leutnant. Er wich ihr aus.
-
-Man bat den Leutnant stürmisch, etwas auf dem Klavier zu begleiten.
-Neueste Chansons. Norberts Braut sollte singen. Sie hatte doch so eine
-entzückende, kleine Stimme. Aber er wollte heute nicht. Ruth trat vor
-und sagte, liebenswürdigst lächelnd, während ihre grünen Augen
-forderten: -- Du mußt -- Spielen Sie doch das von dem kleinen Hotel, Sie
-wissen schon.
-
-Und er trat vor und spielte es. Ja, spielte, was er bei Bella gespielt
-hatte, was Bella gesungen hatte. Und -- war denn das möglich? War das
-möglich, daß Norberts Braut dazu sang mit ihrer zarten Mädchenstimme,
-diese Worte? War es möglich, daß man rasend Beifall klatschte und
-Norberts Mutter duldsam lächelte, während sein eleganter Vater sich
-köstlich unterhielt? Nein, da war etwas, worüber man nachdenken mußte.
-
-Ruth setzte sich in eine Ecke. Gleich darauf kam der Leutnant. Er redete
-schlüpfrige Dinge und nahm ihre Hand. Sie ließ ihn gewähren, sie war
-interessiert, brennend interessiert.
-
--- Sagen Sie Herr Leutnant, singt man dieses Lied jetzt überall? -- Ja,
-es ist sehr beliebt. -- Ach, ich dachte, das singt nur Bella. Es ist
-abscheulich. -- Gnädiges Fräulein scheinen sehr streng zu sein. -- O
-nein, ich hasse nur schlechte Musik.
-
-Der Leutnant redete weiter. Dinge, süß wie zerlaufener Tortenüberguß und
-prickelnder Champagner. Eigentlich hatte er eine hübsche Nase und schöne
-Augen mit klugen Wimpern. Wenn nur der Mund nicht so schmierig gewesen
-wäre.
-
-Sie sprachen von dem Makartbild. Der Leutnant behauptete, in Norberts
-Zimmer hänge ein noch viel schöneres. Sie möge ihm doch folgen. Nein,
-dachte sie, ich bin doch zu neugierig. Und sie ging mit ihm. Aber sie
-ballte die Fäuste.
-
-Die Gesellschaft hatte sich zerstreut. Der Leutnant führte sie durch ein
-dunkles Zimmer in Norberts Zimmer. Er zündete kein Licht an. Und küßte
-sie.
-
-Ruth dachte in der Sekunde: Norbert -- wie er mich liebt -- sein Zimmer
--- die Braut -- das Lied -- also so ist das -- aber die schwarzen Zähne
--- so ist das -- Dabei schlug sie dem Leutnant mit der Faust ins
-Gesicht.
-
-Er schrie auf, halblaut. Dann flüsterte er: -- Gehen Sie, gehen Sie
-rasch. -- Sie sagte: -- Grüß Gott, Herr Leutnant und ging wieder in den
-Salon. Auf ihrer Hand war ein Blutfleck. Den wischte sie sorgsam ab in
-einem hellblauen Seidenvorhang. Dann mischte sie sich unter die jungen
-Mädchen.
-
-Norbert kam und legte den Arm um seine Braut. Man sprach von Musik. Ruth
-sagte: -- Onkel Gustav läßt Sie grüßen. Er hat eine ganze Menge Noten
-für Sie bei uns liegen lassen. Norberts Braut fragte interessiert: --
-Wer ist das? Ist das der sagenhafte Künstler, der so wunderbar Mozart
-spielt und den man niemals zu sehen bekommen kann.
-
-Norbert war dunkelrot. Ruth sah ihn aufmerksam an und sagte: -- Er hat
-heute nicht kommen können, weil er keinen reinen Kragen gehabt hat.
-Übrigens ist er kein Künstler, nur Zeichenlehrer an einer Mittelschule.
-Aber er ist mein Onkel.
-
-Norbert ging den Leutnant suchen. Er kam bestürzt wieder. Der Leutnant
-habe heftiges Nasenbluten und liege auf dem Sopha in seinem Zimmer. Ruth
-schlich sich an Norbert heran: -- Norbert, Sie dürfen niemanden etwas
-sagen, aber ich muß mir die Hände waschen. -- Jetzt gleich? -- Ja, aber
-schweigen Sie.
-
-Norbert führte Ruth in das Badezimmer. Sie standen sich gegenüber in dem
-weißgekachelten, grellen Raum, der voll heißem Dunst war. Ihre Haare
-verdeckten die grünen Augen, so dicht hingen sie in die Stirne. Sie sah
-ihn an. -- Wo ist heißes Wasser, ich möchte sehr heißes Wasser. -- Hier,
-aber was ist Ihnen, was haben Sie? -- Sehen Sie den Fleck da auf meiner
-Hand. Ich habe mich zuvor schon in einen Vorhang gewischt: Blut ist es.
-Vom Nasenbluten von ihrem Freund da. -- Ruth, nein. -- Doch, soll ich
-Ihnen den Vorhang zeigen? Im Salon rechts. Er hat mich geküßt in ihrem
-Zimmer und dann hat er auf einmal Nasenbluten bekommen. -- Nein.
-
-Er hatte sich abgewendet und seine hohe, zu gerade Gestalt wurde klein
-und verschwand im feuchtschweren Dunst. Aber irgend etwas stöhnte in dem
-Badezimmer.
-
-Ruth wusch sich die Hände mit einer Bürste, daß das Wasser sprühte. --
-Sie sollten Ihre Braut nicht solche Lieder singen lassen.
-
-Er schwieg. Und nach einer Weile: -- Überhaupt, was Sie für Freunde
-haben. Schämen Sie sich.
-
-Norbert wandte sich nicht um. Sie fühlte eine warme Welle um ihre Füße
-spielen, weich und kosend, die sich doch nicht traute, höher zu steigen.
-Er hielt den Kopf gesenkt. Sicher war er ganz rot. Warum schlug er sie
-denn nicht?
-
--- Norbert, schauen Sie mich doch an, ob ich auch ganz rein bin. Er
-richtete seine hundetreue dunklen Augen auf sie, langsam, verzweifelnd,
-ergeben. -- Auf Ihrem Schuh ist auch ein Fleck, Ruth. -- Ach, was soll
-ich jetzt tun? Mich wieder beklexen?
-
-Er kniete nieder und putzte ihr mit einem nassen Handtuch den Schuh,
-sehr sorgsam. Sie sah auf ihn herab und fühlte: immer habe ich
-gewünscht, es soll mir jemand Liebesgedichte machen. Aber das ist ja
-viel mehr. Und doch ist es furchtbar. Soll ich ihm sagen, daß ich den
-Leutnant geschlagen habe, oder soll ich ihn küssen, auf den braven
-Scheitel da -- ach, Christus, hilf mir --
-
-Da war Norbert fertig und sie gingen rasch wieder in den Salon.
-
-Am nächsten Tag kaufte sie ein paar japanische Nelken und erwartete
-Norbert vor seinem Amt. -- Ich muß Sie sprechen. -- Ruth, ich werde Sie
-nach Hause begleiten. -- Dort nicht, gehen wir in ein Kaffeehaus, ich
-will allein sein. -- Nein aber -- was würde Ihre Mutter sagen. -- Dann
-auf Wiedersehen ... -- Halt, Ruth, so bleiben Sie doch.
-
-Sie gingen zusammen in ein Kaffeehaus. Er schielte ängstlich auf alle
-Tische. -- Da, nehmen Sie die Nelken, sie gehören Ihnen. -- Mir, nein
-ich verstehe Sie nicht, wie können Sie nur ... -- Wahrscheinlich ist das
-auch nicht schicklich, aber nehmen Sie.
-
-Ruth sah über das nüchtern glatte Kaffeehaus, wo eben die ersten
-elektrischen Flammen angezündet wurden. Und wütend dachte sie: Herrgott,
-wenn ich nur eine Ahnung hätte, was ich dem Kerl habe sagen wollen.
-Nein, so was Dummes.
-
-Sie aß drei Portionen Eis nacheinander und er sah sie schweigend an.
-Dann sagte er: -- Sie müssen nicht kleinlich von mir denken, weil ich
-nicht in ein Kaffeehaus gehen wollte. Aber Ihre Mutter -- und ich bin
-doch auch verlobt. Aber Ruth, vielleicht wird das jetzt ganz anders
-werden --
-
--- Norbert, sprechen Sie nicht weiter, o bitte, gewiß nicht, Sie wollen
-eine riesige Dummheit sagen --
-
--- Ruth, Sie wissen doch alles --
-
--- Nein, ich weiß nichts, gar nichts. Nichts, Norbert. Ich bin Ihnen
-dankbar, daß Sie mir gestern den Schuh geputzt haben. Deshalb die
-Nelken. Und im übrigen -- ja, im übrigen, ich wollte Sie dringend
-bitten, sich Onkel Gustavs etwas mehr anzunehmen. Er hat eine schwere
-Bronchitis und liegt mutterseelenallein in seiner Dachkammer. Außerdem:
-er liebt Sie, weil Sie so elegant sind. Nicht wahr, Norbert, Ihr
-Großvater war doch Minister -- eigentlich könnten wir jetzt die Sitzung
-aufheben.
-
-Ruth besuchte Onkel Gustav noch an diesem Abend. Er lag in seinem
-ungeglätteten Bett. Neben seinem Kopf ein Öllämpchen und auf dem Boden
-davor der Hund. Der Hund war auch krank und hatte das Zimmer beschmutzt.
-
--- Onkel Gustav, wie kannst du das aushalten? Sie riß das Fenster auf.
-Er hustete furchtbar. -- Gib doch den Hund weg, wenn er krank ist. --
-Nein Ruth, daß du so etwas sagen kannst. -- Ich verstehe überhaupt
-nicht, wie man sich einen Hund halten kann. Es ist doch immer etwas
-Schmieriges im Zimmer. Ein Tier, mir graut vor allen Tieren. Schau nur
-die Schnauze, lang, spitz, mit den langen, spitzen Zähnen. Die ist doch
-zum Beißen da. -- Ruth, weißt du, daß du mir weh tust? ... Onkel Gustav
-richtete sich im Bett auf und seine großen, runden Kinderaugen glänzten
-noch mehr als sonst ... Natürlich ist es nur ein Tier. Aber er hat mich
-lieb. Weißt du, was das ist? O, vielleicht hast du es noch nie
-gebraucht. Ich will ja auch nicht seine Schnauze haben. Aber da ist eine
-große Treue neben mir, wenn ich so im Bett liege. Ein großes Gefühl. Du
-glaubst ja nicht an Gott, Ruth. Ich auch nicht. Aber an ein so großes
-Gefühl. Deshalb ziehe ich auch ruhig den Hut vor einer Kirche.
-
-Ruth sah auf die Schmutzpfütze des Hundes mitten im Zimmer und dachte:
-Nein, daß Norbert sich dazu hergegeben hat mir das Blut von dem Schuh zu
-wischen, mit einem Handtuch -- wie ekelhaft.
-
-Martha unterrichtete jeden Tag von acht bis ein Uhr die Kinder der guten
-Familien. Verstimmt kam sie zum Mittagessen nach Hause. Ruth versuchte
-nie mehr, mit ihr gut zu sein. Auch nicht, Mutter das Streiten mit
-Martha abzugewöhnen, da hätte sie viele Vasen zerbrechen müssen. Und sie
-erkannte mit schauderndem Entsetzen, daß alles Mitleid zu Verachtung
-wird, wenn es der Alltag abnützt. Da hilft kein Verstehen.
-
-Bella suchte sie nie mehr auf. Wozu noch --
-
-Norbert kam Mittwoch und Samstag zum Mittagessen. Eines Tages traf sie
-ihn auf der Straße, eingehängt in seinen Freund, den Leutnant.
-
-
-
-
- Brand
-
-
-Als Ruth das nächstemal Onkel Gustav besuchte, stand ein Mensch beim
-Fenster. Dessen grobe, breitästige Knochen preßten das Zimmer zusammen,
-ließen die Frühdämmerung nicht herein. Und von seinem Hinterkopf hingen
-die Haare kurz und strähnenglatt herunter.
-
-Onkel Gustav hustete so furchtbar, daß Ruth Schleim und Blut vor sich
-tanzen sah.
-
-Als der Fremde seine ungelenk hohe Gestalt rasch umwendete, war ihr, als
-fiele ein ungeheurer Knochenhaufen in sich zusammen und zersplittere auf
-dem Boden, steinhart.
-
-Onkel Gustav hustete. Blut und Schleim. Er konnte nicht sprechen. Der
-Mensch verbeugte sich linkisch hochmütig vor Ruth, murmelte etwas und
-ging fort.
-
--- Wer war das? fragt Ruth, als Onkel Gustav wieder still und erschöpft
-da lag. -- Ein Freund von mir, du kennst ihn nicht. -- Wie heißt er? --
-Thomas. -- Und noch? -- Wozu willst du das wissen? -- Ich bin eben
-neugierig, warum Mutter nicht wissen darf, daß er zu dir kommt. -- Das
-ist abscheulich von dir. Das sagst du nur um mich zu kränken. Jeder
-Mensch darf zu mir kommen, ich bin doch kein kleines Kind ... Er begann
-wieder zu husten.
-
--- Sei ruhig, Onkel Gustav, ich war wirklich nur neugierig. Weil er mir
-gefällt, dieser dein Freund oder was er ist. -- Er ist mein Freund.
-Ruth, wenn du den kennen würdest, wirklich kennen. -- Wie verhält sich
-Norbert zu ihm? -- Er hat ihn noch nicht gesehen. -- Ach so ... Gustav
-hustete wieder und Ruth stand auf, um fortzugehen. -- Was ist das für
-ein Ungeheuer? Sie nahm eine in graue Sackleinwand gebundene
-Riesenmappe, die auf dem Tisch lag. -- O weh, die hat Thomas vergessen.
--- Dann wird er sie wohl holen. Ruth wollte sich wieder setzen. -- Nein,
-er vergißt bestimmt ganz daran, und wenn er morgen in die Schule geht,
-hat er keine Hefte. Und wieder Unannehmlichkeiten. -- Weißt du was, ich
-möchte sie ihm bringen. Ich will sowieso noch spazieren gehen. -- Nein,
-Ruth, das geht nicht -- Onkel Gustav richtete sich ganz entsetzt auf --
-das kannst du nicht, nein wirklich nicht, auch ist es viel zu weit, er
-wohnt ganz draußen in der Vorstadt. -- Das macht mir gar nichts.
-
-Ruth hatte die Mappe schon unter dem Arm: -- rasch, die Adresse. Onkel
-Gustav hustete und sagte dann den Namen von Mutters ehemaliger
-Friseurin. Ruth lachte schrill: -- nein, mit was für Leuten du verkehrst
-... und sie sprang über die Stiegen.
-
-Die Luft war weich und frühlingshaft schwer. Wie um Mitternacht im Mai.
-Aber die kahlen Bäume waren herbstmatt und ergeben.
-
-Ruth lief durch die dunklen Gassen und fühlte, wie sie mit jedem Schritt
-in das Ungewisse hineintrat. Das weich und nachgiebig war wie ein
-verprügelter Hund. Und doch lockte und zog.
-
-Sie wollte den nacktsträhnigen, groben Kopf nicht berühren, nein,
-niemals, o um Gotteswillen nicht. Onkel Gustavs Husten schrie ihr nach.
-Ganz arme übermüdete Pferde hatten solche schwer hervorspringende
-Knochen. Deren Kraft um Mitleid schreit. Während die Muskeln zu schlaff
-sind, das Gerüst zu tragen.
-
-Nein, sie konnte nicht weiter. Eine wütende Angst hielt sie zurück, sie
-könne einem Kutscher begegnen, der seine Pferde prügelt, erbarmungslos
-über die steinige Straße, brüllend, schimpfend, fluchend und mit der
-Peitsche.
-
-Nein, sie wollte nicht weiter. Wie kam sie auch dazu, einem fremden
-Menschen seine Sachen in das Haus nachzutragen. Sie wird das
-Mappenungeheuer in einen Straßengraben werfen. Oder doch vielleicht
-zuerst hineinsehen -- ja, zuerst hineinsehen.
-
-Ruth ging in ein kleines Kaffeehaus, wo ein paar Dienstmänner und
-Kutscher Karten spielten. Sie setzte sich in eine halbdunkle Ecke und
-schämte sich. Bei einer unanständig dicken Kellnerin bestellte sie Tee.
-Und war verzweifelt über die schmierig braune Marmorplatte.
-
-Aber die Mappe. Ein armseliger zerbissener Bleistift rollt heraus. Und
-dann Schulhefte der dritten Volksschulklasse. Immer mehr Schulhefte. In
-jedem beginnt die Aufgabe: Alle Haustiere ...
-
-Ruth schließt die Mappe. Den Bleistift steckt sie zu sich. Sie muß
-Thomas seine Hefte bringen.
-
-Sie trat in das Ungewisse. Es wich und lockte. Und die Nacht war ganz
-dunkel.
-
-Das einstöckig verkrochene Haus lag weit draußen, am Rand der ersten
-fahlen Fabrikswiesen. Gelbrötliches Licht träufelte aus seinen niedrigen
-Fenstern. Das Ungewisse war nah und furchtbar.
-
-Eine fremde Wohnung suchen ist entsetzlich. Wie leicht läutet man bei
-fremden Menschen an und die sind dann böse. Und eigentlich war Thomas
-sogar auch ein fremder Mensch.
-
-Ein grünblasser Proletarierbub mit abstehenden Ohren öffnete Ruth die
-Türe. Es roch nach aufgewärmtem Essen. Im Zimmer war eine Nähmaschine.
-Darauf eine Petroleumlampe. Ein Mensch bei der Nähmaschine, in der
-Nähmaschine, ein Stück der Nähmaschine, in sie hineinverwachsen, bucklig
-verkrümmt, eng.
-
-Ruth dachte: Wieder weg, gleich --
-
-Da kam Thomas herein in blaugestreiften Hemdärmeln. Sie stotterte etwas,
-dunkelrot, besinnungslos verlegen. Der blasse Bub glotzte sie an. Thomas
-Schwester steckte den Kopf aus ihrem Buckel heraus. Er selbst war gar
-nicht erstaunt. Sagte fast grob: danke. Sie bemerkte, daß ihm ein großer
-Augenzahn fehle, daß eine schmutzige Unterhose auf dem Sessel neben ihr
-lag. Ihr ekelte wild.
-
-Eine Stimme, die weich war, wie die laue Nacht draußen, sagte: --
-Bleiben sie doch noch ein wenig und ruhen Sie sich aus. Sie sind ja ganz
-erhitzt.
-
-Das bucklige Ungeheuer. Ruth hätte ihr die zu langen, kranken Hände
-küssen wollen.
-
-Thomas und sein Bruder waren hinausgegangen. Die Nähmaschine ruhte. Und
-die Petroleumlampe war noch heruntergeschraubt.
-
-Thomas Schwester hatte stechend graue Augen mit müden Lidern. Sie sprach
-von Onkel Gustav wie von einem Halbgott und fragte sehr viel.
-
-Ruth dachte: Der große, schwarze Kasten in der Ecke dort schaut Thomas
-ähnlich. Er ist schön und mächtig, aber was da nur drinnen hängt. Ich
-möchte meine Kleider nicht hineingeben. Wie es hier riecht -- nach
-Baumwollstrümpfen, die nicht gewaschen werden.
-
-Thomas Mutter schlürfte herein. Sie hatte rote Wangen, als ob sie früher
-einmal geschminkt gewesen wäre und war furchtbar häßlich. Sie begrüßte
-Ruth als alte Bekannte und stellte graue Teller auf den ungedeckten
-Tisch.
-
-Thomas kam wieder in das Zimmer und schien sehr unzufrieden, daß Ruth
-noch da war. Sie sprang auf. Er begleitete sie vor die Haustüre, hinten
-im Hof bellte der Hund. Sie gab ihm die Hand und ihr war, als ergreife
-sie einen toten Knochen.
-
--- Ich danke Ihnen, sagte Thomas mit seiner zerbrochenen Stimme. -- Aber
-wir müssen jetzt zu Abend essen. Unser Petroleum reicht nur bis halb
-zehn.
-
-Sie hielt seine Hand noch fest und sah nur, wie er mit der anderen Hand
-an den Hals griff, der Daumen stand eigentümlich scharf weg wie die
-Klinge eines Messers.
-
-Ruth wußte, als sie nach Hause ging: Thomas kann als kleines Kind keine
-Milch bekommen haben. Nur zähes Fleisch von wilden, geschlachteten
-Tieren. Und sie sah während des Abendessens fortwährend auf Richards
-Hände, die wohl noch nie ein Tier geschlachtet hatten.
-
-Die kleine Weißnäherin Gertrud ließ sich den ganzen Abend durch von
-ihrer Mutter Ruths erste Kindheit schildern. Damals war die Friseurin
-oft in das Haus gekommen, o ja und die gnädige Frau hatte Perlen, eine
-endlose Kette hinunter. Ruth lag immer schon in ihrem weißlackierten
-Gitterbettchen und steckte die frischgebadeten Fingerchen durch das
-Netz. Und die gnädige Frau erzählte von Paris, immer von Paris, sie
-hatte auch Pariser Parfüm.
-
-Die Wangen der alten Friseurin glänzten wie frisch geschminkt. Gertrud
-fuhr mit feuchten Händen über die Tischplatte, daß große nasse Flecken
-auf dem Holz zurückblieben. Thomas starrte in seinen Teller und hielt
-mit aufgestützten Armen Gabel und Messer, kampfbereit. -- Was habt ihr
-mit den fremden Leuten, grollte er.
-
-Gertrud sagte: -- Das Leben. Ihre ermüdeten Augen starrten an ihnen
-vorbei. Sie empfand in diesem Augenblick: Nach Paris reisen -- in der
-Bahn liegen, einen zärtlichen Atem neben sich -- genießen -- oder: ganz
-klein sein und in einem weißen Gitterbett liegen mit geraden Gliedern,
-die wachsen dürfen.
-
-Gertruds Buckel war das Nest eines Vampyrs. Brut und Beutestatt. Alle
-unerlebten Träume, alle schäbigen Wirklichkeiten der Mutter steckten
-darin. Thomas' Schulstunden. Und die Reißbretter des kleinen Bruders,
-der in die Realschule gehen durfte und ein zufriedener Techniker werden
-sollte, werden mußte.
-
-Aber es war noch viel mehr in Gertruds Buckel. Ihre spinnenlangen,
-blauadrigen Finger nähten und trennten eigentlich gar nicht den ganzen
-Tag. Sie tasteten zum Fenster hinaus über die Rücken der Vorübergehenden
-nach neuem Leben. Und die schwangere Nachbarsfrau, die alle Tage sich
-erbrach und heulte, daß man es genau hören konnte, trug ein Kind, dessen
-Schicksale sie schon im Voraus empfand, wie ein hohes Glück.
-
-Gertrud schätzte den Wert ihres erwürgten Lebens wie ein Sterbender den
-letzten Atem. Seligkeit war die erste Morgensonne, die ihr in den dünnen
-Kaffee schien. Seligkeit der graue Tag voll wuchernder Gedanken. Sie
-nähte schöne Hemden, schmeichelnd glatte, aus Leinenbatist, aus Seide.
-Seligkeit, die anziehen zu dürfen. Seligkeit, alle Tage in die Schule
-gehen zu dürfen und hundert schmutzige Kinder zu unterrichten, wie
-Thomas. Welche Betätigung der eigenen Kraft. Wie herrlich für ihn, daß
-er sie alle erhalten durfte und es dem kleinen Bruder ermöglichen, etwas
-besseres zu werden -- das war Menschenglück.
-
-Thomas' Schulkinder saßen Nachmittage lang an Gertruds Nähmaschine. Sie
-erzählte ihnen vom lieben Gott und ratterte und nähte. Die Kinder waren
-zufrieden. Hier war jemand, der nichts von ihnen wollte. So streuten sie
-ihr das kleine, schmutzige Leben willig in den Schoß. Das sie nicht
-verstand und doch aufsaugte.
-
-Thomas merkte nichts davon. Er hielt Gertrud für eine Heilige. Denn sie
-liebte und stützte die verkommene Mutter, den tuberkulosen Bruder. Er
-wußte, daß, wenn sie eines abends nicht da wäre, die fettige
-Petroleumlampe nicht mehr brennen könnte, auch nicht bis halb zehn. Und
-dann wäre alles aus.
-
-Sie war die Liebe, und er beugte sich vor ihr. Aber er glaubte nicht an
-die Liebe. Er glaubte an das Wort.
-
-Das Wort war in ihm und in ihm war die Welt. Sprechen können -- dann
-müßte sein ungebadeter Körper rein werden.
-
-Er verbesserte alle Abende bis halb zehn Uhr die Schreibübungen der
-Kinder. Und dann mußte das Licht gelöscht werden. Zwei bis drei Hefte
-blieben noch zurück für den blassen Morgen. Aber daran war nichts zu
-ändern.
-
-Ruth empfand es in den nächsten Tagen zum erstenmal in ihrem Leben als
-peinlich mit entblößtem Hals herumzugehen. Sie legte sich einen alten
-Pelz von Martha um, der nach Kampfer roch und kitzelte. Und sie dachte:
-es müßte gut sein, zu wissen, daß man nie mehr im Leben einem Mann die
-Hand gibt. Was das nur ist, fremde Knochen -- ach nein, entsetzlich.
-
-Sie wollte nie mehr zu Thomas gehen. Wegen seiner Mutter. Was für
-struppige graugelbe Haare die hatte, diese Friseurin. Und dann, sie
-hatte das kleine, bucklige Ungeheuer in die Welt gesetzt. Wie konnte man
-so etwas verbrechen. Wenn ich Christus wäre, ich müßte zum Fenster
-hinausspringen nur weil Gertrud lebt, dachte Ruth. Und ekelte sich vor
-Thomas riesengroßer Zahnlücke.
-
-Eine Woche später war Ruth wieder bei Thomas. An dem ersten, kalten
-Wintertag, der ohne Schnee war, aber ganz voll Dämmerung. Die
-Nähmaschine ratterte. Thomas stand in der hintersten Ecke, bei dem
-winzigen Eisenofen. Er hatte den Deckel zurückgeschlagen und die roten
-Flammen verzerrten seine knochigen Züge. -- Ich komme Ihnen erzählen,
-daß es Onkel Gustav sehr schlecht geht. -- So.
-
--- Ja ich komme Ihnen das erzählen, Sie sind doch sein Freund, oder
-nicht? --
-
-Thomas ging in das Nebenzimmer. Ruth dachte wütend: Eigentlich könnte
-ich ja zu Norbert gehen. Gertrud blickte sich interessiert um. Da ging
-Ruth ihm nach.
-
-In seinem Zimmer standen zwei graue Eisenbetten. Und zwei eiserne
-Bücherregale. Und ein eiserner Ofen. Der Tisch war mit verschmierten
-Schulbüchern verdeckt und geometrischen Zeichnungen von dem Bruder.
-Nichts in diesem Raum gehörte Thomas. Nur seine eigenen massigen
-Knochen.
-
-Er starrte an ihr vorbei mit stumpfen toten Augen. Er sieht mich nicht,
-klagte Ruth, er sieht mich nicht, jubelte Ruth, er sieht mich nicht, er
-sieht überhaupt nicht heraus, er sieht hinein. Und sie bemerkte, daß
-sein proletarisch hoher Kopf aristokratisch lange, leidende Schläfen
-hatte.
-
--- Was machen Sie eigentlich da, fragte Ruth und sie setzte sich auf den
-Tisch, mitten in die Zeichnungen des Bruders und baumelte mit den
-Beinen. Den kahlen Wintermantel knöpfte sie auf. Und sie nahm sich vor,
-den stickigen Dunst ganz in sich einzusaugen und aus allen Poren
-wiederzugeben, dann müßte er sie spüren.
-
-Thomas ging hin und her, ohne sie noch einmal anzusehen. -- Höflich sind
-Sie nicht, lachte Ruth. -- Er blieb vor ihr stehen. -- Wozu auch.
-Glauben Sie, ich kann nicht, wenn ich will. Aber warum.
-
-Ruth dachte: Ich kann die Luft herinnen doch nicht so leicht einatmen.
-Sie zerdrückt mir die Lunge. Sie ist zu schwer. Schwer wie Thomas'
-Knochen, oder noch schwerer, ich kann nicht und um Gotteswillen, wer
-keucht, wer stöhnt da, wer erbricht sich, bin ich es selbst -- o wie
-schlecht ist mir --
-
--- Sie brauchen nicht zu erschrecken, sagte Thomas und setzte seine
-rastlosen Wanderungen um den Tisch fort. Die Frau von unserem Nachbar
-daneben erwartet ein Kind und das hören wir immer so genau.
-
--- Was ist noch in ihrem Zimmer, Thomas. -- Sie stand vor ihm, ihre
-grünen Augen waren ganz groß geworden.
-
--- Was noch -- O Thomas, Sie müssen furchtbare Nächte haben.
-
-Da küßte er ihr die Hand mit den groben, aufgesprungenen Lippen. Ihr
-graute. Sie wurde zornig. Und sie lief davon.
-
-Sie wollte nicht mehr zu Thomas gehen. Da sah sie ihn zwei Tage später
-auf der Straße. In den frühen, toten Nachmittagsstunden.
-
-Sie dachte: wenn ich ihm jetzt nicht entgegenspringe, er rennt dort in
-die Mauer hinein, zerschellt sich seine großen Knochen. Nein, wie er
-friert.
-
-Sie packte ihn beim Arm. -- Thomas, grüß Gott, aber warum haben Sie
-keinen Mantel, Teufel noch einmal!
-
-Er war ganz blau und sie wußte, ohne daß er antwortete, daß den einzigen
-Mantel der Familie der kleine Bruder trug.
-
-Sie begleitete ihn und kombinierte: Wenn Onkel Gustav stirbt, kann
-Thomas vielleicht den Wintermantel bekommen, oder ich stehle den von
-Richard. Der ist so gut wattiert. Ach, wenn ich nur nicht so feig wäre,
-ich müßte Onkel Gustav auch töten können, aber ich traue mich ja nicht.
-
-Thomas sagte: -- Mir ist gar nicht kalt, was fällt Ihnen ein. Aber man
-sollte mir nicht um halb zehn Uhr das Licht wegnehmen, nein, das sollte
-Mutter nicht. Und wir haben gar kein Geld mehr für nächste Woche.
-
-Ruth gab Gertrud ihr letztes bißchen Taschengeld. Gertrud nahm das
-bißchen mit Tränen in den Augen und verklärt.
-
-Als Weihnachten kam, wußte Ruth nicht, was sie Thomas schenken sollte.
-Sie verkaufte zwei goldene Ringe, die sie nie getragen hatte, und kaufte
-ihm dafür einen wunderschönen Band Schopenhauer. Sie half heuer nicht
-den Weihnachtsbaum putzen. Sie empfand zum erstenmal nicht die gespannte
-Erregung vor dem wunderbaren Abend, der doch alle Jahre der gleiche
-blieb. Sie empfand auch nicht, daß die Straßen anders waren als sonst,
-weil so viele frohe Menschen mit Paketen durcheinanderliefen. Sie wußte
-nur, daß Thomas bei der furchtbaren Kälte keinen Wintermantel besaß, daß
-der Band Schopenhauer in weiches, mattbraunes Leder eingebunden war.
-
-Sie nahm aus ihrem Schreibtisch noch rasch eine Schachtel Briefpapier
-für Gertrud und eine Rolle herrlichstes, weißes Kanzleipapier, auf das
-sie einst ihre Lebensgeschichte hatte schreiben wollen, aber das war
-schon lange her. Jetzt sollte es Thomas' Bruder bekommen, der immer
-klagte, er habe zu wenig Papier für seine deutschen Aufsätze und die
-langen mathematischen Formeln. Etwas Besseres hatte sie nicht.
-
-Gertrud schmückte den winzigen Weihnachtsbaum mit Silberketten vom
-vorigen Jahr. Sie humpelte vergnügt in der kalten Stube herum und sang
-ein Weihnachtslied. Auf dem Tisch standen noch von dem Mittagessen
-Teller mit übrig gebliebenem, gelbem Brei. Ruth ging rasch in Thomas'
-Zimmer.
-
-Er lag mit toten Augen über den Tisch hinüber, gierig, lauernd. Ruth
-legte das sattbleiche Kanzleipapier neben ihn hin.
-
-Ein Schrei, wie ein Tier, das nach Wasser sucht: -- Ruth, das bringst Du
-mir, Du weißt also, weißt alles, doch und Du glaubst daran, und noch
-kein Wort, noch immer kein Wort, aber du glaubst daran --
-
-Er lag vor ihr und umfaßte ihre Schenkel mit tastenden, greifenden,
-packenden, schaffenden Bewegungen. Er keuchte. Seine Hände waren feucht,
-er gurgelte mit halberstickter Kehle. Ruth graute und sie sagte weinend:
--- nicht wahr, jetzt schreiben Sie das Buch -- und sie streichelte
-seinen Kopf wie einem ganz kleinen Kind und küßte die aristokratisch
-hohen Schläfen. Jetzt ganz gewiß, ganz gewiß. Ihr ekelte vor seinen
-strähnig fetten Proletarierhaaren und sie streichelte seinen Kopf.
-
-Zuhause konnte sie das Licht der Weihnachtskerzen nicht vertragen. Die
-Stimmen der Verwandten machten sie rasend. Bei Tisch sagte Richard zu
-einem alten Onkel: -- gewiß ist ein rechter Künstler noch nie den
-widrigen Verhältnissen unterlegen. Im Gegenteil ...
-
-Ruth sagte: -- wo liegt die Statistik der Untergegangenen. Ich glaube
-bei der Mordstatistik im Strafgericht, nicht wahr, dort liegt das auf.
-
-Dann wurde ihr schlecht und sie mußte die ganze Nacht lang erbrechen.
-Das Zimmer war überheizt und sie empfand nur, wie sehr Thomas diese
-Nacht frieren müsse, denn sicher waren alle Kohlen für das
-Weihnachtszimmer aufgegangen. Vielleicht verbrannte er das weiße
-Kanzleipapier. Den Schopenhauer bekam ja Onkel Gustav, der war noch gar
-nicht tot. Nur wollte sie nie mehr zu Thomas gehen, ganz gewiß nie mehr.
-O, wie sie seine gierig schaffenden Hände fürchtete, grauenhaft war es
-und unverschämt gegen die Natur, gegen ihren eigenen Körper. Und die
-Frau daneben erbrach ja auch fortwährend, weil sie ein Kind erwartete.
-
-Sie bekam einen Brief von Gertrud: warum kommst Du nicht mehr? Thomas
-ist krank. Sie war zornig und ging nicht hin.
-
-Sie bekam einen Brief von Gertrud: warum kommst Du nicht mehr?
-
-Da kaufte sie ein Dutzend verschiedener Federn und tiefschwarze Tinte
-und ging wieder zu Thomas. Gertrud saß in der Nähmaschine und sah sie
-vorwurfsvoll an: Du hättest früher achtgeben sollen, Ruth. -- Worauf? --
-Thomas liebt Dich. -- Mach Dich nicht lächerlich. -- Doch Ruth, seit Du
-fortgeblieben bist, kann er nicht mehr unterrichten. Gestern hat er den
-Kleinen geschlagen. Denk Dir, Thomas und schlagen, wegen irgend eines
-kostbaren Papiers. -- Er hätte ihn erschlagen sollen, Ihr wißt alle
-nicht, was Thomas braucht. -- Ruth, ich verstehe Dich nicht -- Gertruds
-Stimme war so weich, daß Ruth mit dem Fuß darauf stampfen mußte. -- Und
-denke Dir, er will plötzlich um zwei Uhr nachts Licht brennen. Aber die
-Mutter hat doch kein Petroleum. Er streitet mit den Leuten in der
-Schule. Seit acht Tagen war er überhaupt nicht mehr dort ... Gertrud
-weinte. Ruth war ganz kalt: Gertrud, wer ist Dir lieber, Thomas oder die
-Mutter, oder der Kleine? -- Das weiß ich nicht, mir sind alle drei ganz
-gleich lieb. -- Dann kann ich Euch nicht helfen. -- Aber Thomas liebt
-Dich. -- Du bist dumm, näh deine Hemden weiter.
-
-Thomas kam aus seinem Zimmer und zog Ruth an beiden Handgelenken zu sich
-herein. -- Wo bist Du solange geblieben? Du hättest kommen sollen.
-Nichts als Farben -- Töne, mit der Hand zu greifen -- Worte noch nicht
--- Worte --
-
-Sie gab ihm Tinte und Federn. Er nahm eine Feder und kratzte sich einen
-tiefen Strich in die zerklüftete Hand: aus der Spitze muß es kommen,
-fließen, strömen -- Gesetz -- Ruth bleib da.
-
-Er hielt sie fest mit beiden Armen. -- Kannst Du beten? -- Nein. -- Das
-macht nichts. Bete, es darf nicht finster werden. Mutter darf das
-Petroleum nicht versperren. Der Bengel darf nicht nachhause kommen. Die
-Nähmaschine darf nicht rattern. So bet doch.
-
-Als es dunkel wurde, begleitete er sie nachhause. -- Man muß Licht
-sparen ... Und wieder die Bewegung an den Hals, der Daumen steht
-eigentümlich scharf weg, wie die Klinge eines Messers.
-
--- Siehst Du den Eckstein hinter der Straßenlaterne, die Biegung, die
-rund sein soll und doch eigentlich voll Ecken ist. Spürst Du. Wie meine
-Finger. Der Stein ist grau, so grau, daß unsere Augen daran sterben
-müßten. Aber das gelbe Licht aus der Laterne schleicht darauf -- mein
-Licht ist eigentlich größer. Und lauter Ecken, die aussehen wie
-Biegungen, Rundungen. Wie wir uns täuschen. Nur die Lügen sprechen sich
-leicht. Aber die Wahrheit ist furchtbar, sie ist das Wort, das war im
-Anfang. Hörst Du die eisigen Pfützen, wer hat je so sprechen können. Und
-unlängst in der Nacht war ich fließendes Wasser. Ich weiß, wie es tönt,
-übereinander fällt, ich weiß, wie es sich berührt ... Meine Stimme ist
-häßlich, vorne fehlt mir ein Zahn, ich weiß wie Dir das widersteht,
-Ruth, laß, aber weißt Du, was meine Hände können, über die weißen
-Flächen gleiten, nein, das ist nicht Schnee, es schneit ja heuer gar
-nicht. Aber erst sollen meine Fäuste den Reichen die Fenster
-einschlagen. Was machen sie bei dem elektrischen Licht. Bei dem vielen
-Licht. Meine Hände können doch Mutter das Petroleum nicht stehlen, da
-ist kein Mark in den Knochen. Der Hund heult die ganze Nacht im Hof und
-die Frau daneben erbricht sich noch immer die ganze Nacht ...
-
--- Thomas, wart doch, aber wart, ich werde Dich heiraten. Was Du da von
-dem Zahn gesagt hast, ist Unsinn. Ich habe nicht viel Geld, aber ein
-bißchen etwas muß mir Mutter schon geben. So viel, daß wir ein halbes
-Jahr, ja ein halbes Jahr schon in einem ruhigen, schönen Zimmer wohnen
-können. Nur ein Badezimmer noch daneben. Und du kannst schreiben, den
-ganzen Tag, auch in der Nacht. Ich werde eben im Badezimmer schlafen.
-Aber warten mußt Du, wart doch, Thomas, wart nur noch ein ganz klein
-wenig.
-
-Thomas stöhnte wie ein Pferd nach dem letzten Peitschenhieb. -- In der
-Schule haben sie mich hinausgeworfen. Ich kann dem Buben das Geld für
-seine Studien nicht mehr geben. Und Mutter muß leben und Gertrud, die
-Arme. Und in der Nacht müssen sie alle schlafen. Da heult der Hund.
-
-Er fuhr Ruth mit einer wilden Bewegung an den Hals. Der Daumen stand
-eigentümlich scharf weg, wie die Klinge eines Messers. Sie schrie.
-
--- Schweig, sagte er heiser, es ist ja nicht auf Deinem Hals. Auf meinem
-ist es. Die fremde Hand. Sie würgt noch nicht, aber sie wird es tun,
-sofort, gleich, jeden Moment und dann ganz. Sie würgt noch nicht. Und
-doch habe ich schon einen flammend roten Streifen da vorn auf meinem
-Hals.
-
-Ruth sah, daß alle Fenster der Wohnung dunkel waren. Und nahm Thomas mit
-sich in ihr Zimmer. Der Ofen glühte.
-
-Thomas warf sich auf dem Teppich der Länge nach nieder und starrte mit
-toten Augen in die Glut. Ruth blieb stehen und dachte: wie schön die
-wilden Knochen geordnet sind, wie schlank sie liegen. Thomas sagte: --
-meine Farbe ist mehr gelb, aber nicht so gelb, wie auf dem Eckstein.
-
-Ruth warf sich neben ihn vor das Feuer. Er preßte sie an sich, daß sie
-die Rippen brechen fühlte. Seine groben Lippen waren blutig
-aufgesprungen. Schon fast zerfetzt. Der eine Vorderzahn fehlte. Zurück
-um Gotteswillen. Sie riß sich los.
-
-Er stand vor ihr, seine Hände hingen herab. Eine große Knochenmasse,
-bereit, zusammenzufallen.
-
--- Ruth, sagte er langsam, ich danke Dir. Es ist so viel Wärme in Deinem
-Zimmer. Mich friert nicht mehr. Aus dem Mark der Knochen stößt sich die
-Kraft heraus -- heute abend wird --
-
-Er war schon lange fortgegangen. Ruth lag vor der erloschenen Glut auf
-genau demselben Fleck, wo er gelegen war. Und stöhnte: aus dem Mark der
-Knochen heraus. Thomas. Ein Kind. Von ihm ...
-
-Thomas ging aufrecht nachhause. Beim Abendessen teilte die Mutter vor:
-Kraut und jedem sein Stück Brot. Die Petroleumlampe brannte sehr
-schwach, tief heruntergeschraubt. Thomas sprach in sich hinein: heute
-abend wag ich es, heute endlich. Ich habe ihnen ja noch nie etwas
-weggenommen. Aber heute, das bißchen Petroleum, das werden sie mir schon
-geben, können sie gar nicht verweigern. Und der Bub schiebt sein Bett
-einfach herein. Aus der Straßensteinrundung heraus bricht das Wort.
-Schon ist es nahe, nahe --
-
--- Heute können wir zeitlich schlafen gehen, sagte die Mutter
-weinerlich, überhaupt jetzt, wo der Thomas so keine Hefte mehr zu
-korrigieren hat.
-
--- Muß ich wirklich aus der Schule heraus, fragte der blasse Bub.
-
--- Wird schon so sein, sagte die Mutter mürrisch. -- Warten wir es ab,
-sang Gertruds milde Stimme dazwischen und ihre Augen suchten Thomas,
-flehend, verzweifelnd und doch gleich wieder voll Vertrauen.
-
--- Was geht Ihr mich alle an, dachte Thomas, das Wort, aber ich muß erst
-um Petroleum bitten.
-
-Wieder lag die Hand auf seinem Hals. Aber nicht mehr ein Messer mit
-stumpfer Klinge. Lange Finger mit verschiebbaren Gelenken drückten sich
-in die Kehle hinein.
-
--- Gertrud, sagte er und zog sie in eine Ecke, gib mir alles Petroleum,
-was wir haben, heute Nacht, nur heute Nacht. -- Die Mutter hat den
-Schlüssel. Aber ich muß mit Dir reden, ob Du uns wirklich alle zugrunde
-richten willst, lieber, einziger Thomas, wenn Deine Schule -- Laß das
-jetzt, ich brauche Licht. -- Die Mutter hat das Petroleum. -- Mutter gib
-mir alles Petroleum. -- Geh schlafen. -- Mutter, nur heute. --
-
-Die alte Friseurin grinste höhnisch: -- hab keines mehr.
-
-Thomas wußte, es ist nicht wahr. Und war machtlos.
-
--- So geh ich zu den Nachbarn. -- Die schlafen. Die Frau hat Nachmittag
-ein Kind bekommen.
-
--- Gott ... Thomas brach auf seinem Bett zusammen. Gott war das Wort.
-Und das Wort durfte nicht gesprochen werden.
-
-Dunkel. Der Bub schnarcht und hustet abwechselnd. Die Hand --
-
-Nachtkälte kriecht durch das Fenster und Tagwärme schleicht in sie
-hinein. Die Hand legt sich an die Kehle, den Daumen eigentümlich scharf
-weg.
-
-Gertrud und die Mutter im Nebenzimmer atmen schwer. Stöhnen. Die Hand
-würgt.
-
-Schwarz. Aber aus den Knochen heraus, aus dem zarten Mark bricht es
-dunkel glühend, ächzend. Gestalt, Klang, tasten, berühren, drängen,
-steigen, sich heben. Die Poren saugt es hinaus in die kalte Luft. Und
-ist doch drinnen, noch im Mark, flammend rot, brennend --
-
-Ach wozu liegen, tot sein. Wer kann sterben, wenn das Innerste leben
-will.
-
-In schwarzen Ballen fällt es aus sich heraus, in blutigen Brocken.
-Gedrückt von fremden, arbeitsamen Fingern. Eine brühende Masse schwelt
-in den Gliedern. Kocht, brodelt und schmeißt sich nach oben --
-
-daß die Haut sich dehnt der steinharten Knochen.
-
-Gewalt.
-
-Und alle schlafen -- dunkel --
-
-Nein -- licht soll es werden -- licht -- hell -- grell.
-
-Er schleicht hinaus vor das Haus mit Katzentritten.
-
-Der Hund bellt -- heult --
-
-Alle schlafen -- aber das Wort kann nicht schlafen -- das Wort muß leben
--- lodern -- zerstören --
-
-Er klettert auf die Straßenlaterne, zerschlägt sie vorsichtig, entzündet
-die Fackel aus dem Schuppen, schlägt das Fenster ein -- Licht fällt in
-das Haus -- das Wort fällt in das Haus und der Dichter rast durch die
-dunklen Gassen.
-
- * * * * *
-
-Ruth fährt auf aus dem Schlaf. Sie trägt ein Kind im Leib. Ach nein. Die
-Feuerwehr ...
-
- * * * * *
-
-Der Säugling der Nachbarin ist verbrannt. Sonst wurde alles gerettet.
-Und die Teilnahme der ganzen Stadt wendet sich der Familie des
-geisteskranken Volksschullehrers zu.
-
-Ruth besuchte Thomas mit Onkel Gustav in seiner Zelle. Er saß
-zusammengekrümmt über einem leeren Papier. Seine Augen blickten nicht
-mehr in sich hinein, aber hinaus und in das Leere. Und seine Knochen
-waren ohne Mark. Leer.
-
--- Ruth, sagte er, denk bloß, alles ist verbrannt.
-
-Sie gingen. Onkel Gustav weinte. Ruth schwieg. Aber sie trug eine kleine
-Leiche in sich, fühlte die winzigen, angstverkrümmten Knochen.
-
-Drei Tage später kam der blasse Bub, rot geheult. Thomas war zum Fenster
-hinausgesprungen. Ruth nickte nur. Auf dem Steinpflaster liegt ein
-schwerer Knochenhaufen. Zerschmettert.
-
--- Sei ruhig, sagte sie zu dem aufgeregten Buben, was weinst du. Schäm
-dich.
-
-
-
-
- Eine Mutter
-
-
-Ruth sah einmal im dunklen Zimmer Mutter vor einer zerbrochenen Tasse
-stehen. Die Scherben zerschnitten die Luft, weiß, mit scharfen Kanten.
-Mutter starrte dumpf darauf hin. Ihre zerstückelten Bewegungen hingen
-herunter. Und in das trübe Grau der Augen wollte das Weiße
-hereinbrechen, mit scharfen Kanten.
-
-Das war lange her. Jetzt haßte Ruth Mutter, weil die alte Friseurin
-ihren Sohn zum Brandstifter hatte werden lassen.
-
-Mutter steckte sie als kleines Kind punkt acht Uhr in das Bett. Dann
-kaufte sie ihr Schulhefte, die viel zu breit liniert waren. Mutter
-glaubte einem boshaften Dienstmädchen mehr als ihr. Mutter zwang sie
-große Gläser mit gekochter Milch zu trinken, wo noch die Haut
-herumschwamm. Mutter ließ sie nächtelang bei geschlossenen Fensterladen
-schlafen, so daß sie glauben mußte, sie sei blind. Mutter durchblätterte
-ihre Bücher, die doch ihr allein gehörten. Mutter rückte den Tisch ihres
-Zimmers in die Mitte, obwohl er unbedingt an der Seite stehen mußte.
-Mutter löschte das Licht, wenn es zu spät wurde. Es war ja nur ein
-Zufall, daß sie nicht auch schon zum Fenster hinausgesprungen war --
-
-Mutter war schuld an dem entsetzlichen Brandunglück. War auch schuld,
-daß der arme Säugling elend umgekommen war. Mutter, die alle kleinen
-Kinder so sehr liebte.
-
-Ruth sah auf Mutters langfingerige Hände. Wieso hatten die keine roten
-Brandwunden. Nein, sie waren weiß und schlank, nur durch viele Falten
-und Sprünge zerklüftet. Von welcher Arbeit ...
-
-Mutter suchte die alte Friseurin selbst auf und tröstete sie, wie sie
-wortlos dasaß neben der Nähmaschine der Tochter. Ruth ging nicht mit.
-Man sprach von Thomas immer wie von einem Geisteskranken. Das war eine
-Unverschämtheit.
-
-Als Mutter nach Hause kam, hatte sie rotgeweinte Lider. Ruth stand in
-einer Fensternische, tief hineingepreßt in den dunkel samtenen Vorhang.
-Sie wollte schreien: -- ihr habt alle kein Recht um ihn zu trauern. Da
-sagte Mutter: ich weiß schon Ruth, daß du immer mit Thomas warst. Er war
-ein armer Narr. Aber du solltest dich schämen.
-
-Eine zorndurchschüttelte, blutende Faust -- oder ist das die Flamme --
-Thomas' Flamme -- Mutter brüllt auf.
-
-Onkel Gustav trug Ruth aus dem Zimmer. Riesenkraft war in seinen
-willenlosen Armen, wie er sie durch den langen Gang schleppte. Er zog
-sie in den Vorratsraum, wo ein Faß mit altem Kraut stand. Hier warf er
-sie auf den Boden.
-
-Er stand vor ihr weißblaß und sehr groß. -- Ruth, weißt du, was du getan
-hast. Du kannst es nicht wissen. Du hast Mutter schlagen wollen.
-
-Er ging hinaus und zog den Schlüssel ab.
-
-Ruth dachte nur: jetzt muß ich zum Fenster hinausspringen. Das ist
-selbstverständlich, natürlich. Ich brauche bloß auf den Stuhl dort zu
-steigen, es macht nichts, daß das eine Bein wackelt. Er trägt mich so
-weit. O, und dann stürze ich. Eine breiige Masse. Aber es tut sicher
-weh, furchtbar weh, furchtbar, nein, ich fürchte mich, um Gotteswillen,
-ich habe ja so gräßliche Angst --
-
-Sie kroch in den hintersten Winkel der Kammer. Sie bohrte den Kopf in
-die Steinfliesen. Verbrecher sein. So also war es. Das heißt vor allen
-Dingen ganz allein sein. Ganz allein. Aber das darf man doch nicht zu
-Ende denken. Jetzt gehen die Menschen aus den Geschäften nachhause. Man
-schließt die Laden so wie alle Tage. Und in den Straßen die
-gleichgültige Menge. Aber sie ist allein.
-
-Was war nur mit dem Mann, der seine Mutter geschlagen hatte. Als Kind
-hielt sie sich die Ohren zu, wenn man die Geschichte erzählte. Aber sie
-weiß es doch: die Hand war aus dem Grab herausgewachsen. Man hieb sie
-ab. Und sie wuchs immer wieder. Ruth sieht vor sich eine gelbe Steppe.
-Und aus ihr steht graugrün heraus die Leichenhand mit entsetzten
-Fingern. Oder ist das ihre Hand --
-
-Sie hat nicht den Mut zu sterben. Sie wird nie den Mut haben. Aber sie
-kann auch nicht leben. Denn sie kann nicht denken. So etwas kann man
-doch nicht denken, immer denken, immer denken.
-
-Mutter kam am späten Abend mit einer flackernden Kerze und wirren
-Haaren. -- Mutter, sagte Ruth mit toter Stimme, habe ich dich wirklich
-geschlagen? -- Nein Ruth, dazu ist es nicht -- Mutter wenn ich dich
-berührt habe, ich müßte sterben. Aber ich fürchte mich vor dem Tod. Und
-ich müßte sterben. Und du müßtest mir helfen.
-
-Mutter kniete zu ihr nieder und küßte sie.
-
-Am Abend setzte sich Mutter an Ruths Bett. Aber Ruth preßte die Lider zu
-in erstarrtem Entsetzen. Das Weiße in Mutters Augen war zerbrochen. So
-wie einmal vor langer Zeit eine Tasse. Und wie Thomas' Stimme, wenn er
-sagte: ich habe kein Licht. Ja, wie Thomas. Mutters suchender
-Mittelfingerknochen war wie bei Thomas, zu kräftig.
-
-Überhaupt, wie kommt sie dazu, Thomas gegen die Mutter zu verteidigen.
-Thomas ist gestorben, weil die Kraft in ihm nicht leben durfte. Er war
-stark. Und es ist gut, daß er tot ist. Aber Mutter ist schwach und ihre
-Kraft kann die Knochen nicht sprengen. Zerfrißt nur das Mark und macht
-die Gelenke schwippend nachgiebig. Mutters Leben --
-
-Ruth legte den Kopf in Mutters Hand und weinte. Aus den zerklüfteten
-Handrinnen stieg ihr ein wohlbekannter, warmer, ein nie beachteter Atem
-entgegen.
-
-Irgendwo liegt im Gras eine duftende Frucht. Und über das Mark des
-Baumstammes preßt sich eisenhart die dürre Rinde ...
-
-Mutter war auch einmal ganz klein gewesen. Man hatte ihr unmäßig große
-Schärpen über die weißen Kleidchen gebunden. Und sie saß in einem großen
-Kinderwagen, ganz allein.
-
-Sie trug ihr kleines Schicksal in krampfhaft zusammengeballten Fäusten.
-Und erreichte nie etwas, weil diese Fäuste immer zu schwer von dem
-kleinen Körper herunterhingen. Sie gewöhnte sich an den Mißerfolg und
-deshalb war ihr kein Ideal zu groß. Sie wollte Königin werden, dann
-Sängerin, und dann -- o, was sie alles werden sollte. Sie trug ihr
-ganzes Leben die Last von unzähligen untergegangenen Existenzen in sich.
-Und ihr Vater hatte alle Pferde verspielt.
-
-Sie hatte einmal einen Tag, vielleicht nur eine Stunde, oder nur eine
-Sekunde lang mit Ruths saugendem Blick aus sich herausgeschaut. Oder
-vielleicht nur einmal den Kopf hart und eckig zur Seite geworfen, wie
-Ruth es immer tat.
-
-Und sie hatte ihr eigenes, einziges Dasein gesucht. Dann heiratete sie.
-Dann gebar sie drei Kinder. Und dann war ihr nichts mehr von sich
-geblieben, als eine suchende Vergangenheit und drei neue, fremde
-Menschen.
-
-Die alte Friseurin träumte einst davon, die erste Tänzerin der Welt zu
-werden. Ihr häßlicher Sohn sprang aus dem Fenster und zerschmetterte
-sich in einem Gefängnishof, ohne daß sie je verstehen konnte, warum.
-Ihre mißgebildete Tochter nähte Hemden für vornehme Damen. Und nichts
-war von ihr übriggeblieben als das bißchen Schminke auf den
-eingefallenen Wangen, das sich nicht wegwaschen ließ. Das bißchen
-Schminke.
-
-Und die Kinder laufen wie Diebe in die Welt hinaus. Man kann ihnen das
-Eigentum nie mehr abnehmen. Denn es ist untrennbar, unkennbar verbunden
-mit fremden Säften, denen man sich einmal geschenkt hat.
-
-Ruth wurde sehr krank. Sie lag ein paar Wochen durch mit hohem Fieber
-und keuchendem Atem. Die graue Tapete ihres Zimmers wurde zu einer
-einzigen, ungeheuren Ebene, in die alles hineinversank wie in einen
-Moorboden. Müde und wohlig. Mutter saß Tag und Nacht an ihrem Bett mit
-überwachen Augen und Teelöffeln in der Hand. Ruth dachte: wenn ich
-wieder gesund bin, schenke ich Mutter das Schönste und Beste, das ich
-habe. Aber sie wußte nie, was das sei und wünschte sich auch gar nicht,
-bald gesund zu werden. Besser immer so liegen können. Und niemand kann
-einem Vorwürfe machen. Sogar Richard brachte ihr Veilchen.
-
-Als sie den ersten Tag wieder fieberfrei im Bett lag und Mutter ihr die
-Kissen gerade frisch gerichtet hatte, fragte sie: -- was möchtest du,
-daß aus mir werden soll? Mutter sah sie erstaunt an. -- Ja, ich kann
-doch nicht weiter so in den Tag hinein leben. -- Ich möchte, daß du
-glücklich wirst, Ruth. -- Wie ist das? -- Du mußt froh sein und gesund
-und auch heiraten. -- Weißt du Mutter, von Thomas hätte ich gerne ein
-Kind bekommen. -- Aber Ruth -- Nein, nicht böse sein, Mutter, bitte,
-bitte nicht. Ich möchte dir nur von Thomas erzählen, weil das so
-wunderschön war.
-
-Ruth erzählte von Thomas' Buch, als ob sie es schon hundertmal gelesen
-hätte. Mutter sagte: -- armes Kind. Und küßte sie. -- Aber du mußt jetzt
-schlafen. Sie löschte das Licht aus. Ruth fragte in das Dunkel hinein:
-warum arm ...
-
-Sie erwachte am nächsten Morgen sehr zeitlich. Mutter sagte im
-Nebenzimmer zu Martha: -- wir hätten eben besser auf sie acht geben
-müssen.
-
-Da sah Ruth hinter dem Fenster in der Frühdämmerung wieder die Hand des
-Mannes aus dem Grab wachsen, der seine Mutter geschlagen hatte. Nein, es
-waren viele, es waren unzählige solcher Hände. Sie sah diese Hände
-draußen vor dem Fenster und wußte: im Nebenzimmer wird jetzt eine
-ungeheure Schändlichkeit geflüstert. Ein Heiligtum wird besudelt. Dann
-geht Mutter in die Küche zu der Köchin und Martha in die Schule. Nein,
-das hatte Thomas nicht verdient.
-
-Sie wollte aufstehn und fliehen, weit, weit weg über sumpfige Wiesen und
-Felder. In das Graue hinein. Nur Mutter nicht mehr sehen. Und in der
-Kommode daneben liegen ja sorglich eingeordnet seine Briefe an Mutter.
-Mutters Seele steckt auch drinnen in den gelben Phiolen. Und richtig, in
-Mutters Bewegungen zerbricht sich dieselbe Disharmonie wie in seinen,
-wenn er die Zigarre zum Mund führte. Wie kann Mutter es wagen, ihr Leben
-bewachen zu wollen. Draußen wachsen die Hände aus den Gräbern. Aber das
-Weiße in Mutters Augen ist zerbrochen. Sie kann Mutter nicht helfen. Sie
-ist allein. Weiß Mutter das nicht? Die Nabelschnur, an der sie hing, ist
-längst zerrissen. Arme Mutter! -- Aus allen Gräbern wachsen die
-mörderischen Hände.
-
-Mutter sagte am Nachmittag zu Onkel Gustav: ich werde Ruths Leben von
-nun an zu lenken wissen. Ich muß ihr weiter helfen. Sie ist -- Laß das,
-antwortete Gustav müde. -- Das lassen? -- ja wozu bin ich denn sonst da
-...?
-
-Und sie saß bis in die Nacht hinein und berechnete ein neues Kleid für
-Ruth. Als es nach ihrer Angabe genäht war, hing Ruth es in die hinterste
-Kastenecke und zog es niemals an.
-
-
-
-
- Der Tod
-
-
-Mein Thomas hat auch nicht auf mich hören wollen, sagte die alte
-Friseurin weinerlich zu Mutter, während sie ihr das widerspenstige Haar
-zu bändigen versuchte.
-
-Wie hatte Onkel Gustav einmal gesagt, in traumhafter Sommerdämmerung:
-Unsere Nächsten -- das sind unsere nächsten Mörder. Und nun war die
-Wirklichkeit gekommen, winterkalt und hart. Und Ruth mochte sich die
-Augen mit den Fäusten zudrücken. Thomas hatte diese Wirklichkeit nie
-gesehen. Deshalb hatte er an ihr zugrunde gehen dürfen. Wie gut muß es
-sein, wenn alles ganz vorbei ist. Nichts mehr sehen, hören, tasten. Ihn
-schließt eine Wand ab von der Welt. Und er erstickt doch nicht mehr.
-
-Ruth saß an einem nebligen Schneeabend allein zu Hause bei dem großen
-Speisezimmertisch. Mit aufgestützten Armen. Ihre immer noch fiebermüden
-Glieder wollten nicht recht gehorchen, wollten sich legen, sich
-strecken, ganz ausdehnen. Durch die Fenster flimmerte gelb das Licht der
-Straßenlaterne. Draußen muß viel Schnee fallen.
-
-Und die lebendige Uhr hinter ihr zerschneidet die Zeit, metallhart. Aber
-der Kasten dort und die Stühle ringsherum rücken weit weg, fort in das
-Graue, daß sich die hohen Fensterkreuze dehnen müssen. Und nichts um sie
-als luftloser Abgrund. Weite. Leere. Da drinnen muß einmal eine Fliege
-ertrunken sein. Über Ruths Haupt hebt sich die Decke. Ihre Füße treten
-das oben. Noch saugt ihr Blick das Zimmer in sich. Noch kann ihr Blick
-die Weite überwinden. Noch. Aber das Lid wird ihn verdecken. Dann ist
-sie ganz allein.
-
-Wie Vater. Wie Thomas.
-
-Sie ist auch allein, wenn Mutter im Nebenzimmer mit Martha spricht. Wenn
-sie Richard und Gustav auf der Straße trifft oder mit Norbert
-zusammenkommt. Wenn sie einen Schutzmann nach einer Hausnummer fragt
-oder nicht weiß, wieviel Trinkgeld der Kellner bekommen soll. Ach, so
-allein, mit offenen Augen. Die alles sehen.
-
-Eine Woche später brachte man Ruth in ein Sanatorium wegen einer
-Operation. Sie war sehr müde. Aber auch sehr neugierig. Sie dachte: es
-ist doch unglaublich, daß man so einfach in mich hineinschneiden kann.
-Und man spritzt mir etwas unter die Nase und dann bin ich nicht mehr da.
-Wo ich nur sein werde. Ich muß sehr gut acht geben.
-
-Der Chirurg hatte ein schmales, feines Gesicht mit zu großem Kinn. Seine
-Hände waren grobknochig, wie von einem Fleischhauergehilfen. Aber er zog
-sich dann Gummihandschuhe an. Und seine Hände wurden zum Werkzeug, das
-ineinander beißt.
-
-Sechs junge Ärzte standen herum wie Schachfiguren. Und Schwestern
-leidend und demütig. Der Operationsraum war groß, zu licht, blitzend,
-spiegelnd. Ruth sah in den schneetoten Park hinunter, auf die uralten,
-schneebeladenen Bäume. Die Wintersonne stieß gegen die dicken Wolken.
-Ruth empfand die kühle Verzweiflung eines Sterbenden, der einmal, im
-ersten jungen Frühling dort unten gelegen sein mußte, mit zerfleischtem
-Körper eingepackt in weiße Tücher.
-
-So wie man sie jetzt einpackte. Sie wollte schreien: Was tut ihr mit
-mir? Da lag sie schon auf dem blanken Tisch: Sie spürte einen
-niederträchtigen Geruch sich in die Kehle hineinfressen, dachte: Ihr
-zwingt mich doch nicht --
-
-Da war sie aus sich heraus gestiegen und stand neben ihrem starren
-Körper. Sah sich selbst nackt und preisgegeben daliegen, sah jeden Zug
-ihres Gesichtes, das sie ja gar nicht gekannt hatte. Mit geschlossenen
-Lidern. Sah die strengen, furchtbar fremden Augen der Ärzte, die bloßen
-sehnigen Arme des Chirurgen, die Schwestern über die Instrumente gebeugt
-...
-
-Die weiße, glattgetünchte Wand riecht so sonderbar. Sie muß sehr hoch
-sein. Man kann gar nicht an ihr hinaufsehen. Und die Gelenke sind
-gefesselt, stöhnen unter eisernem Druck. Der auch von oben kommen muß.
-
-In den tiefblauen Himmel stößt sich ein weißer, steifer Ast.
-
-Neben Ruth steht eine Schwester mit bleichem Gesicht. Eine Schwester,
-die sie nie gesehen hat. Ein Ast, den sie nie gesehen hat. Eine Wand,
-die sie nie gesehen hat.
-
-Sie kann ihr Bett kaum überblicken. Dort am Fußende sitzt ja Mutter.
-Ihre Bluse ist zerdrückt. Wie unangenehm. Und sie lächelt so, als ob sie
-alles wüßte, genau wüßte, was sie ja gar nicht wissen kann.
-
-Sie ist in einer Welt, in der sie noch nie war. Sie muß einmal
-Ungeheures erlebt haben. Aber hier kann man davon nichts wissen. Darum
-liegt sie gefesselt an allen Gliedern, Sehnen und Gelenken, an allen
-Muskeln, allen Nerven. Vielleicht hat man ihr beide Füße weggeschnitten.
-Sie muß tasten. Sie kommt nicht bis dorthin.
-
-Mutter und die Schwester lächeln. Das ruchlose Lächeln der
-Nichtverstehenden. Sie will weinen vor Zorn. Und erbricht.
-
-Sie liegt stumm und verzweifelt, bis sie fragt: Ist mein neues Kleid
-schon gekommen? Dann gehört sie wieder der Welt, die von Mutters
-Rechenbüchern beherrscht wird und Richards verwunderten Augenbrauen.
-Aber irgendwo sind doch auch gelbe Phiolen und der Duft fremdartiger
-Chemikalien, ätzend, zersetzend.
-
-Ruth saß mit Mutter an dem gedeckten Tisch mit dem rotgestickten Milieu
-und den glotzäugigen Teetassen. Die Lampe brannte fetzig grün. Aber sie
-war ihr dankbar. Und den Teetassen und den fetten Butterbroten, die an
-Agnes kräftige Arme erinnerten. Wie das nach Alltag schmeckte. Und wie
-wunderbar sicher das war, wohlig geborgen. Sie möchte sich in die
-saftgrünen Vorhänge hinein verstecken und ein ganz dummes Backfischbuch
-lesen, wo es nur Schulsorgen gibt und wunderbare Bräutigame.
-
-In der Nacht kann sie nicht schlafen. Sie liest die Zeitung bis zur
-letzten Annonce. Das Zeitungsblatt schlägt eine Ecke nach oben, leckend.
-Sie löscht das Licht. So müde. Das Zeitungsblatt war leckend, saugend.
-Das Blatt ist eine rote, fleischige Tierzunge. Die Zunge saugt, leckt.
-
-Da ist nur noch die weiße, glattgetünchte Wand. Und der lange, gräßlich
-arme Tierkopf, der aus ihr herauskommt. Schmal. Die Augen arm, in sich
-geknechtet. Er schleckt mit schiefer, gieriger Zunge eine salzige
-Flüssigkeit von der blendenden Wandfläche. Er schleckt, leckt, saugt
-sich an --
-
-Sonst ist nichts mehr da. Der Kopf steht in die Luft hinaus, brüllt --
-
-Rechts steht ein Mann und links steht eine Frau. Ein Mann, eine Frau.
-Sie hält den großen Spitalslöffel in der Hand, sieht den Mann fragend
-an. Und er sagt mit unendlicher Geringschätzung: Gib. Was ist das ganze
-Leben denn mehr wert als ein Schluck Wasser für ein durstiges Maul.
-
-Der Tierkopf schleckt --
-
-Ruth saß schreiend im Bett. Mutter kam hereingestürzt. Ruth konnte nicht
-sagen was ihr fehle. Daß das lange, armselige Tiermaul alles war, die
-ganze Welt und immer weiter an der Wand saugen mußte. Nein, das konnte
-man nicht sagen und sie ließ sich fortwährend von den anderen die
-wichtigsten Zeitungsereignisse erzählen.
-
-Damals sehnte sie sich maßlos nach allen Menschen, die sie je gesehen
-hatte, am meisten nach einem kleinen, verwachsenen Stubenmädchen, das
-ihr vor Jahren Geschichten aus einem böhmischen Dorf erzählt hatte, wo
-die Kinder im Hemd im Dorfteich schwammen.
-
-Sie bettelte sich hinter der grauesten Alltäglichkeit durch. Sie
-verdurstete vor Sehnsucht, wieder in sie aufgenommen werden zu dürfen.
-In eine Sphäre von Geschäftsbesen, Kaffeetassen und Nachtwächtern. Ihr
-war jeder Schuhriemen wichtig.
-
-Norbert kam am nächsten Mittwoch. Aber ohne Onkel Gustav. Der lag wieder
-elend in seiner Dachkammer.
-
-Norbert war avanciert in seinem Amt. Er unterstand dem Vater seiner
-Braut. Alle gratulierten ihm. Ruth schüttelte ihm beide Hände. Er sah
-sie an, hundetreu, traurig.
-
-Nach dem Essen setzte er sich in ihr Zimmer auf das kleine, wacklige
-Kindersofa. Sie saß neben ihm und dachte: Warum bin ich jetzt nicht in
-Australien oder auf einem großen Schiff.
-
--- Nicht wahr, Ruth, Sie verachten mich? ... -- Ruth sah auf. -- Nein,
-warum denn? -- Weil ich avanciert bin. -- Was meinen Sie damit? -- Ach
-Ruth, Sie wissen ganz gut was ich meine.
-
-Ruth sah in den winterblauen Nachmittag hinaus und wußte auf einmal, was
-er meinte. Sie dachte: Und dann nach Australien mit einem großen Schiff.
-Sonnenuntergang weit hinten im Meer und weiße, wehende Schleier. Das
-wäre freilich etwas.
-
-Dann sah sie seine graue Weste und dachte an den Spitzeneinsatz der
-Braut und mußte fast lachen. -- Nein, Norbert, sagte sie hochmütig, ich
-verstehe Sie nicht.
-
-Aber sie sah ihn in der flimmernden Sonne eingezäunt in einer streng
-gekrümmten Linie. Seine Grenze. Über die durften seine treuen Hände
-nicht hinaus. Wenn er stirbt, dann wird die Linie zum Viereck und macht
-Wände und ist der Sarg.
-
-Ruth schauderte und einen Augenblick dachte sie: Ich muß ihm helfen,
-vielleicht ihn lieben. Aber sie verstand seinen beamtenbrav
-geschniegelten Kopf und ekelte sich vor der schnurgeraden Scheitellinie.
-Unmöglich. Da war die Grenze.
-
--- Wissen Sie schon, daß mein Freund, der Leutnant fast gestorben ist,
-sagte Norbert. -- Nein, wieso? -- In einem Duell wegen einer
-Ballettänzerin. Zwei Schüsse durch die Lunge.
-
-Ruth sah vor sich dicke rosa Schminke, rosa Ballettröckchen und rosa
-glatte Füße. Dazwischen blutend aufgedunsen die Lunge des Leutnants.
-Seine schwarzen Zähne. Das war der Tod.
-
-Am nächsten Tag kam die alte Friseurin heulend. Der Arzt habe gesagt,
-wenn ihr Bub nicht bald in eine Anstalt käme, sei seine Tuberkulose
-nicht mehr heilbar. Ruth schnitt sich mit den Nägeln in die Hände. Was
-schreit sie so, Thomas ist doch schon lange tot und das kleine
-Ungeheuer, die Nähmaschine ist ein Leichnam, der sich aufbläht mit den
-Erlebnissen anderer. Und was will der grüne Bub vom Leben. In einer
-Schreibstube geometrische Zeichnungen machen. Keiner kommt bis
-Australien.
-
-Mutter versprach, ihr Möglichstes zu tun. Am Abend sagte Ruth
-verzweifelt: -- Mutter, müssen wir denn alle sterben?
-
-Richard hatte sich verlobt. Mit Norberts Schwester. Ruth erinnerte sich:
-aufgestülpte Nase, aristokratisch tiefe Stimme, dicke kleine Freundin.
-Auch gut. Im übrigen war es ihr ziemlich gleichgültig.
-
-Einmal, während des Mittagessens, kam ein Mädchen, bleich, trostlos, das
-Richard sprechen wollte. Ruth hatte ihr die Türe geöffnet. Richard war
-bei seiner Verlobten. Das Mädchen stöhnte auf. Sie packte Ruth beim Arm:
-Helfen Sie mir. Ruth sah ihr in die hübschen Kinderaugen, die voll
-Tränen standen und führte sie in den Salon.
-
-Mutter kam dazu. Die alte Geschichte. Das Kanzleimädchen. Mutter weinte
-auf und versprach fast flehend zu helfen. Aber sie müsse schweigen, um
-Gottes willen.
-
-Als das Mädchen gegangen war, fragte Ruth: Wie willst du ihr helfen?
-Mutter sagte: Geld. Und Ruth haßte sie. Sie dachte an das winzige
-Geschöpf, das schon im Mutterleib erwürgt wurde von fremden Händen.
-Wirklich fremden Händen --
-
-Mutter weinte den ganzen Nachmittag durch: Daß sie keine Ahnung haben
-konnte. -- Mir hätte er es doch sagen können, mir, immer habe ich alles
-von ihm gewußt, seit er ein ganz kleiner Bub war. Da ist auch nur dieses
-Frauenzimmer schuld. Aber er hat mir ja geschworen --
-
-Ruth kam es lächerlich vor, daß Mutter jemals glauben konnte, Richards
-Vertraute zu sein. Aber Mutters Augen waren wieder so zerbrochen. Mit
-zornbebender Stimme sagte sie: -- Dazu bin ich doch da, um von euch
-alles zu wissen. Ruth ging aus dem Zimmer, etwas in ihr rief: Und dann
-bist du eben tot.
-
-Wo war Mutters Leben -- bei ihren drei Kindern, in Vaters Grab -- bei
-den gelben Phiolen --
-
-Ruth sagte zu Martha: -- Da bekommt Richard ein Kind und Mutter weiß es
-nicht einmal. Das ist wirklich eine Schmach, aber sie wird ja alles mit
-Geld gutmachen. -- Woher weißt du, daß das Kind zur Welt kommt? sagte
-Martha, lehrerinnenhaft überlegen. -- Martha, du gehörst auf den
-Scheiterhaufen.
-
-In der Nacht sah Ruth Martha auf der Straße, im Sonnenlicht, mit einem
-langen grauen Regenmantel. Ernst, streng und emsig, mit toten Augen und
-blauen Nägeln.
-
-So war sie denn von lauter Toten umgeben. Richard war ja auch tot. Er
-tat nur so überlegen. Aber sein Leben lag im Leib jenes jungen Mädchens
-und seine eigenen Finger erdrosselten es.
-
-Er steckte auch in einer Grenze, wie Norbert. Die lief weiter weg von
-ihm als bei diesem, aber sie war tief eingegraben. Er verstand sieben
-Sprachen. Er kannte alle Wagner-Opern. Er heiratete Norberts Schwester.
-Er eroberte sich einen guten Platz in der Welt. Er hatte einen großen
-Sarg.
-
-Ruth sehnte sich wieder unsäglich danach, tot zu sein wie Thomas. Nicht
-mehr scheinlebendig. Aber nur nicht sterben. Sterben tat ja sicher
-entsetzlich weh. Schon lange tot sein. Ohne denken, ohne Verantwortung
-für den nächsten Tag --
-
-An Onkel Gustav hatte man über Richards Verlobung ganz vergessen. Eines
-Tages kam seine Hausmeisterin mit sensationslüsternen Augen. Es gehe ihm
-sehr schlecht, er röchle furchtbar.
-
-Mutter weinte zuerst, ehe sie sich ankleidete, um hinzugehen. Ruth ging
-empört in ihr Zimmer.
-
-Sie wollte Onkel Gustav nicht mehr sehen. Was liegt ihr überhaupt an
-Onkel Gustav. Sie hat ihn immer verachtet. Sie wird sich heute nichts
-vormachen, so wie Mutter. Gewiß nicht.
-
-Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versuchte eine italienische
-Übersetzung zu schreiben. Ihr Geist war dabei. Aber in ihren Händen
-kochte ein fremder, fieberhafter Puls.
-
-Durch die Fasern des Fleisches gräbt sich, stößt sich blühende
-Lebenskraft. Aber ganz innen in ihrem Leib fällt etwas ab, bröckelt
-etwas ab, mürb und müde. Wer preßt ihr die Brust zusammen und würgt sie,
-daß sie husten muß -- Ist das Schleim und Blut -- Ist das ihre eigene
-Kehle --
-
-Über Ruths italienisches Übersetzungsbuch steigt wie Frühlingsatem empor
-die freche Liebe der jungen Wilden, die Gustav einmal an sich reißen
-wollte. Von der sie nie etwas gehört hat. Und es riecht nach faden,
-blonden Madonnenhaaren, Ansichtskarten mit weißen Kaninchen. In weiter
-Ferne leuchtet ein lichtes Ährenfeld im Juliwind, eine marmorbleiche
-Haut. Und die alte Geige lehnt an dem rußigen Eisenofen.
-
-In Ruths Knochen bricht etwas. Das Mark wird zerrissen. Ein Leben
-stirbt, das sie nie gekannt hat. Ein Leben, das sie mitgetragen hat in
-ahnungslosen Händen. Onkel Gustav stirbt.
-
-Ruth steht auf in erstarrtem Entsetzen. -- Agnes, ruft sie in die Küche
-hinein, singen sie nicht so laut, wir sterben heute.
-
-Sie geht durch die weißerstarrten Gassen. Deren grelles Gefunkel in der
-Sonne schmerzt. Der Himmel ist tief dunkelblau. Onkel Gustavs höchster
-Wunsch war immer, einmal nach Italien zu kommen. Der Schnee zerbricht
-unter ihren Schritten.
-
-Vor Gustavs Haustor will sie noch umkehren. Mutter wird sicher weinen.
-Richard und Martha machen traurige Gesichter. Norbert ist gewiß auch da.
-Nein, es ist unmöglich hinaufzugehen. Aber da ist noch Onkel Gustavs
-Hund. Sie kriecht über die Treppen.
-
-Onkel Gustav hat das Gesicht zur Wand gekehrt. Der Hund liegt auf seinen
-Füßen. Den läßt er nicht von sich. Aber sonst kennt er niemanden.
-
-Ruth will die weinenden, die gefaßten, die wichtigen Gesichter nicht
-sehen. Sie geht an das Fenster. Sie möchte es aufmachen. Aber sie ist
-gelähmt. Auf dem Fensterbrett steht eine halbgefüllte Teetasse mit
-schief abgebröckeltem Rand. Und ein rostiger Löffel. Es ist doch gut,
-daß Onkel Gustav stirbt.
-
-Der Arzt unterhandelte mit Richard und Martha, wie man Mutter am besten
-aus dem Zimmer bringen könne. Er hatte seine geschäftsmäßig traurige
-Miene. Ruth wollte sich nicht umwenden.
-
-Die Sonne war untergegangen, draußen in ferner Ebene.
-
-Onkel Gustav röchelte.
-
-Norbert trat zu ihr: Ruth -- Lassen Sie mich. -- Aber Ruth -- So lassen
-Sie mich doch, was wollen Sie von mir. Gehen Sie hin zu ihm. Legen Sie
-sich auf seine Füße. Wärmen Sie ihn.
-
-Onkel Gustav röchelte.
-
-Blut und Schleim.
-
-Es wurde ganz dunkel.
-
-Mutter war von Martha weggebracht worden. Der Arzt war fort. Norbert
-auch. Richard saß in einem Sessel, den Kopf in die Hände gestützt. Die
-schmierige Hausmeisterin machte sich an Gustavs Bett zu schaffen. Ruth
-stand unbewegbar erstarrt an dem Fenster.
-
-Da schrie der Hund.
-
-Ruth war bei Gustav. Aus seinem herabgefallenen Kiefer quoll das Blut
-auf die sterbende Brust. Ruth legte die Hand darauf. In Liebe. Dann
-brach sie zusammen. In Ekel ...
-
-Alles roch nach dem Leichenbitter, der vor Gustavs Türe stand. Auch die
-Blumen in der Blumenhandlung. Mutters schwarzgerändertes Taschentuch.
-Und das italienische Übersetzungsheft. Die dumpfen Kreppschleier.
-
-Alle sprachen lieb von Onkel Gustav. Ruth haßte alle. Nicht weil sie ihn
-gemordet hatten. Aber weil sie mit ihrem bißchen kläglichen Gernehaben
-protzten. Keiner kannte das große Erbarmen. Auch sie nicht mehr. Eine
-Sekunde lang hatte sie es empfunden. Seither war ihr, als trügen ihre
-Hände vernarbt Kreuzeswunden, mit rostigen Nägeln durchschlagen. Aber
-vernarbt.
-
-Sie trauerte nicht. Kam nicht einmal mit zum Leichenbegängnis. Ging zur
-selben Stunde mit dem namenlosen Hund spazieren. In einer blauen Bluse,
-durch taubelebte, klatschende Gassen.
-
-Sie bürstete den Hund und fütterte ihn. Aber sie hatte eine furchtbare
-Angst vor seiner langen, spitzigen Schnauze. Die dem schmalen Tiermaul
-an der weißgetünchten Wand immer ähnlicher wurde. Ach Gott, wie so
-ähnlich --
-
-In den verständnislosen, angstvollen Augen des Hundes lag der Schmerz
-einer geprügelten Welt. Und unendliche Sehnsucht. Wonach -- Nach dem
-Schluck Wasser --
-
-Wie einsam mußte Onkel Gustav gewesen sein.
-
-Ruth fürchtete sich vor den langen, spitzen Zähnen des Hundes. Er lief
-ihr nach auf Schritt und Tritt. Und sie konnte ihn nicht zu den andern
-zwingen. Die riefen ihn bei dem englischen Namen, den Mutter ihm gegeben
-hatte.
-
-In der Nacht lief er winselnd vor ihrer Türe hin und her, bis sie ihn in
-das Zimmer ließ. Dann schlief er in einer Ecke. Sie aber hielt die Augen
-weit offen vor Grauen. Dort lag das Tier.
-
-Fell, gierige Zähne, saugende Zunge.
-
-Das Tier atmete lauter und rascher als sie. Zerstörte den Rhythmus ihres
-Zimmers. Das war zum Stall geworden.
-
-Alle riefen den Hund bei dem englischen Namen. Er gehorchte keinem.
-
-Einmal riß sie ihn an dem Halsband zurück, als er aus dem Kübel trinken
-wollte. Da schnappte er nach ihr. Das Blut tropfte aus drei großen,
-tiefen Löchern in ihrer Hand. Ihrer schmalen, braunen, suchenden Hand.
-Wie sie diese Hand liebte. Ihre Hand. Ihre glatte Menschenhand.
-
-Sie bekümmerte sich nicht mehr um den Hund. Er folgte niemandem und
-Mutter ließ ihn vertilgen.
-
-An diesem Abend saßen sie alle unter der Speisezimmerlampe. Und Mutters
-Rechenbücher beherrschten die Mitte. Richard sagte: -- Der arme Kerl.
-Eigentlich bist du schuld an seinem Tod, Ruth. -- An Onkel Gustavs Tod?
--- Nein doch, ich meine den Hund. -- Ach so.
-
--- Hilf mir, Richard, sagte Mutter über den Tisch herüber. Ich kenne
-mich da nicht aus. -- Richard beugte sich über ihre Schulter. Dann sagte
-er mit traurigem Gesicht: -- Diese Rubrik können wir jetzt streichen.
-Und zog mit rotem Bleistift einen dicken Strich über eine halbe Seite.
-Ruth sah oben den Namen Gustav.
-
-Nein, das war unmöglich, nein, das konnte man doch nicht tun, mit rotem
-Bleistift, rotem Bleistift --
-
-Ruth sagt noch immer: Roter Bleistift, vor sich hin. Sie geht durch
-dunkle, frostdumpfe Gassen. Sie läuft. Sie fliegt.
-
-Jemand ist geschändet worden. Wer ist geschändet worden. Der Tod ist
-geschändet worden. Christus ist am Kreuz gestorben und man betet zu ihm
-um gutes Wetter. Gustav ist gestorben und man streicht die Ausgaben für
-ihn mit rotem Bleistift aus dem Einschreibebuch.
-
-Sie will nie mehr nachhause zurück. Lieber in ein Freudenhaus.
-
-Wer will nicht zurück -- Ihre Glieder tragen Mutters Ungeduld und Vaters
-Leiden. Richards Hochmut und Marthas Resignation geben ihr ihre
-Kopfhaltung, ihre kindische Würde. Als Onkel Gustav sterben mußte, war
-etwas in ihrem innersten Mark zerrissen.
-
-Jedes einzelne Blutgefäß spinnt einen langen Faden aus sich heraus in
-Mutters Hände hinein, die ja so fremd sind, so in sich zerbrochen. Aber
-eine Stimme schreit aus Ruths Kehle, die ist ganz neu. Vielleicht kommt
-sie von den Obstbäumen auf den wilden Feldern, die alle in ein paar
-Monaten blühen werden.
-
-Noch preßte die Kälte die Häuser zusammen. Und alle Menschen steckten in
-wollenen Jacken, deren Farbe nicht schön war.
-
-Ruth kauerte tagelang vor ihrem kleinen Ofen. Ihr Körper war steif
-geworden und ihr selber unbekannt. Vor diesem Ofen war Thomas an seinem
-letzten Abend gelegen. Und sie selbst. Und vielleicht noch ein dritter.
-
-Nun ist sie müde, nicht zum Sagen müde. Sie möchte sich die Haut von den
-Armen streifen. Sie möchte sich in sich hinein verkriechen und in einer
-dunklen Ecke verstecken. Allein sein. Sie kennt niemanden mehr. Was
-wollen alle diese von ihr, diese Lügner, die nur zum Schein ganz leben
-und an hundert Stellen getötet sind. Diese heimlichen Mörder
-untereinander.
-
-Wo ist ihre Grenze. Sie kann sie nicht erblicken. Sie späht um sich mit
-leeren Augen. Wer sieht aus ihr heraus? Wer wühlt mit bleichen,
-schweren, kraftlos vollen Händen in ihrem Hirn? Das alles kann sie doch
-allein so ganz unmöglich verstehen. Sie ist ja jung, in ihren Zehen
-federt die Sprungkraft ihrer Jahre.
-
-Sie möchte schon lange tot sein. Aber sie wird jetzt nicht sterben. Sie
-genießt nur die süße Müdigkeit und darf sie doch nicht bis an das Ende
-kosten. In ihr lebt ein Fremder, Mächtiger. Und denkt.
-
-So kauert sie vor dem verglühenden Ofen. Der immer weiter brennt.
-
-
-
-
- Vision
-
-
-Unter den hochkreuzigen Fenstern läuft die Straße. Die Straße, die alle
-gehen müssen. Die eine Straße. Der eine Weg.
-
-Pferdehufe schlagen das bucklige Pflaster. Wagenräder, die in sich
-zerbrechen, kratzen darüber hin. Und so viel Schuhe. Hochmütig spitze
-aus weichem Leder, behäbig breite, löcherige und Holzsandalen.
-
-Vielleicht sind alle die Eilenden lautlos. Und nur der rohe Stein lärmt.
-Poltert, rattert, zerschmettert -- in nichts.
-
-Die Luft war weich geworden und der Schnee schmolz in großen, brandigen
-Klumpen. Strähnig schleckte er sich über die Dächer. Schwamm in den
-braunen Pfützen. Die Schaufenster waren frisch gewaschen. Straßenlichter
-stritten mit langer Dämmerung.
-
-Das war schon immer gewesen. Ruth lag vor ihrem Fenster und getraute
-sich nicht, es zu öffnen. So war sie einen ganzen, langen Scharlach
-hindurch einmal an den Fenstern gelegen. Als sie so klein war, daß sie
-ein Fragezeichen von einem großen S nicht unterscheiden konnte. Und
-beide ineinander an das trübe Fensterglas zeichnete. Als sie zu Mutter
-betete und ihre Furcht vor der nahen Nacht unter erdachten Abenteuern
-vergrub.
-
-Nun lag sie an dem Fenster und wußte: Dieses junge Mädchen wird bald ein
-neues, lustig blaues Sommerkostüm bekommen. Der Mann dort schleppt die
-eine Achsel schwer. Er muß viele Lasten darauf getragen haben. Warum
-lebt die alte Frau noch, mit den traurigen weißen Haaren? Ob das kleine
-Mädchen mit der Springschnur auch so parkmüde ist, wie sie es immer war,
-nach den stundenmäßig eingeteilten Spaziergängen --
-
-Sie gingen alle in einem Rhythmus. Ruth spürte das gleichmäßige
-Aufschlagen der Sohlen -- jetzt -- und jetzt -- wieder -- und jetzt --
-wieder -- und jetzt. Ein Betrunkener johlte unten in dem Wirtshaus, daß
-man den sauren Weingeruch heraufwirbeln fühlte. Dann das Schweigen der
-Schritte -- jetzt -- und jetzt -- wieder und jetzt --
-
-Bis ein Lastwagen dieses Schweigen zerbricht, so daß tausend lebendige
-Splitter über den Rinnstein springen.
-
-Richard kommt die Straße herunter. Er trägt noch den steifen, schwarzen
-Hut, wie im Winter. Er weiß nicht, daß heute Sommer ist. Daß sich alle
-ungefesselten Glieder ausziehen müssen und dem durstenden Föhn anbieten.
-Mutter schlägt im Nebenzimmer eine Tür zu --
-
-Ruth suchte sich pfeifend ihren alten Strohhut aus einem eingekampferten
-Kasten. Schlug ihn platt auf den Tisch, daß das Geflecht knirschte. Und
-lief davon. Ohne Handschuhe.
-
-Lief durch die eine Straße. Den einen Weg.
-
-Wann war es das erste Mal, daß sie so gelaufen war? Daß ihre selig
-gläubigen Füße sie über Tiefen springen ließen, die zwischen den
-Pflastersteinen lauerten. Wann war es -- gestern -- heute -- morgen wird
-es sein --
-
-Die Erde ist schwanger von blühendem Leben. Und das Geborene ist tot.
-Und die Luft ist schwer zu atmen vor erstickten Keimen.
-
-Braungrün schwimmen die Pfützen im letzten Tageslicht. Die Laternen
-flimmern bloß.
-
-Ruth läuft den einen Weg. Die eine Straße. Es ist ja immer dieselbe
-eine. Mit jedem Schritt fällt ein Stück Last von ihren schmalen
-Schultern. In die tauende Erde. Aber sie kehrt nicht um, damit sie
-dieses Stück in den Boden hinein zertritt. Recht fest. Nein, sie läuft
-ja immer weiter.
-
-Ein Kutscher knallt mit der Peitsche. Ein altes Weib keift -- oder
-vielleicht erzählt sie nur. Aber immer weiter, immer weiter, den einen
-Weg. Die Straße ist ja furchtbar schrill, die Häuser haben so empörend
-scharfe Kanten, die die Luft zerschneiden, wie aufgestellte Messer.
-
-Aus den offenen Fenstern fällt eine grauweiße Masse heraus. Sind das
-schmutzige Leintücher -- Die wollen sie hindern am Weiterkommen auf dem
-einen Weg.
-
-Nein, diese vielen, empörend fremden, gleichgültigen Menschen. Da
-schmeißen sie die ganze Winterausdünstung auf die Straße herunter. Ihr
-entgegen. Diese vielen. Und sie sucht nur den einen.
-
-Wer sind die alle, die sie nicht lieben darf -- Diese Holzpuppen, die es
-wagen ihr Schuhe zu machen und Gesetze zu geben. Die nach Schweiß
-stinken und Bier. Sie sucht den einen.
-
-Sie will die alle ja gar nicht kennen, die da gierig an ihr
-vorbeilaufen. Sie weiß so schmerzhaft gut, was sie suchen, was sie
-niemals finden. Warum weiß sie es so gut. Sie will es gar nicht wissen.
-Will zu dem einen.
-
-Unverständige Kinder dulden stumm die Schmerzen der Eltern mit. Und
-heben, aufgewachsen, die Hand gegen ihre Erzeuger. Spitze Tiermäuler
-saugen die Menschenliebe von den Mittagstischen. Und Krieg liegt in den
-nahen Grenzen.
-
-Warum weiß sie das. Sie geht nur zu dem einen. Der weiß es auch.
-
-Die grauen Leintücher werden immer dichter. Man sollte die kantigen
-Häuser untergraben, sprengen, daß alles Geschirr aus den Fenstern
-stäubt, die blumigen Suppenschüsseln, die blauen Kochtöpfe. O, wie sie
-lachen wird. Mutter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Aber
-Thomas hätte auch gelacht. Die Grundmauern der Häusermassen sind lange
-nicht so fest wie die beschmutzten Ecksteine. Aber was braucht sie das
-zu wissen. Sie geht zu dem einen. Er soll es wissen.
-
-Man darf nicht warten bis die Häuser einfallen. Die große Fackel muß man
-nehmen, Thomas' Fackel. Die liegt bereit, nicht weit weg. Lichtzüngelnde
-Flammen sollen die grauen Leintücher zerfetzen. Hoch hinauf, das muß
-geschehen. Sie weiß es. Nein, sie wird es nicht lange mehr wissen. Sie
-läuft hin zu dem einen. Er soll es wissen.
-
-Da steht sie vor seinem Haus. Seine Fenster sind dunkel. Viel dunkler
-als die verschwommene Straße. Und ganz leer.
-
-Er ist also auch heraußen. Vielleicht geht er sogar hinter ihr, neben
-ihr. Sie kann nur den Kopf nicht wenden. Weil sie immer weiter gehen
-muß, geradeaus.
-
-Ihre Hände sind heute schwer und voll und weich und weiß. Die Schultern
-legen sich nach rückwärts, künstlich steif. Eine lichtbraune Locke, die
-gerne zigeunerhaft sein möchte, hängt in die Stirne.
-
-Wie jung der Winterfrühling ist. Und wie alt die Einsamkeit. Wohin
-gehen, wenn das Zimmer nur voll ist von einem selber. In den gelben
-Phiolen brodelt man selbst, verdickt, kondensiert.
-
-Es gibt Kaffeehäuser mit rauchigen Tischen und zahllosen Zeitungen. Dort
-sich niedersetzen. Die Kellnerinnen sind liebenswürdig, bedienen gerne.
-
-Eine dicke Brille schützt den scharfen Blick gut. Sie ist aus solidem
-Fensterglas. Besser in das hohe Weinglas schauen als um sich herum. Die
-Luft ist dick von grauen Leintüchern. In denen die kampfunfähigen
-Glieder schon oft sich vergraben haben.
-
-Zwei Commis spielen Billard. Die Glücklichen. Und jeder weiß, wohin er
-dann gehen wird. Die Glücklichen.
-
-Die Indianerhäuptlinge in den Knabenbüchern wußten auch immer wohin sie
-gingen, nach den furchtbaren Schlachten. Diese Leute langweilten sich
-nie. Dachten auch nie. Das hatten sie nicht notwendig. Sie lebten auf
-wilden Pferden in unabsehbaren Prärien. Wehendes Gras unter licht
-schwimmendem Himmel. Wo sind diese Füße -- Sechs Häuser weit weg von der
-Gasse. Aber die Füße sind steif. Und der Kopf arbeitet an einem
-mathematischen Problem.
-
-In den schmierigen Marmor des Kaffeehaustisches zeichnen schwere,
-bleiche Hände tote Formeln.
-
-Die weiche Luft, die zugig durch den Rauch schlägt, ärgert diese
-Formeln. Diese Formeln bekommen blühende Rundungen. Leberblümchen,
-Primeln -- o, nein, grinsend verzerrte Buchstaben.
-
-Die Knochen sind sehr schwer. Aber sie sind einander wohlerzogen
-angegliedert. Und bleich. Nicht roh durcheinander gebeutelt wie bei
-Thomas. Zum Glück -- oder Unglück.
-
-Sie gehören einem Menschen an, der im Parkett des Theaters sitzt und den
-Vorgängen auf der Bühne zusieht, sehr interessiert und sehr fremd. Aber
-zuhause wartet kein verschlossenes Zimmer auf ihn, vor dem er Angst hat,
-weil er nicht alle seine Geheimnisse kennt.
-
-Deshalb sehen die erlebnislosen Zuschauerblicke alles so genau, viel zu
-genau und verstehen alles genau, viel zu genau, wissen alles.
-
-An einem Sommerabend kniete einmal ein kleines Mädchen vor dem Tisch und
-biß in die Kante, daß das Holz zersplitterte. Ihre Seele lag nackt und
-zitternd einsam auf einem dunklen Seziertisch vor fremden, prüfenden
-Augen. Zerschnitten. Aber die Zähne zerbissen den alten Tisch. Kräftige
-Zähne. Ein fremdes kleines Mädchen.
-
-Durch die Kaffeehaustür geht eine üppige Frauensperson.
-Selbstgeschlossen in ihrer Reife. Rotblondes Haar und Lippen, die Geld
-fressen wollen. Der Hut wippt zu hoch, über einer häßlichen Stirne. Ihr
-nach.
-
-Ihr nach durch schlüpfrige Gassen und winkelige Höfe. Wie stolz sie
-geht, sie ist eine Königin der Erde. Karminrot geschminkt. Alle
-Königinnen sind karminrot geschminkt.
-
-Nicht die volle Hand berühren. Aber hinter ihr her gehen. Langsam,
-kostend.
-
-Sie geht auf ein Haus zu mit verschlossenen Laden. Im Parterre sind
-weiße Spitzenvorhänge und über dem Tor glüht brünstig die rote Laterne
---
-
--- Wohin will das Fräulein -- ein junger Kellner mit schwarzen Zähnen im
-grünbleichen Gesicht tritt ihr entgegen. Die Zähne des Leutnants. In der
-kleinen Halle stehen rote Korbsessel.
-
--- Entschuldigen Sie, sagte Ruth aufmerksam und langsam, ich glaube, ich
-bin in ein falsches Haus geraten. Lief dort nicht jemand über die
-Treppen mit zurückgelegten Schultern? --
-
-Ruth fuhr mit der Straßenbahn nachhause. Im roten, lärmenden
-Tabaksdunst. Ihre schmalen, braunen Hände spielten auf den Knien. Da
-waren noch die Narben von dem Hundebiß. Ihre Hände. Braun. Vielleicht
-auch etwas gelb von den Phiolen.
-
-Auf seinem Schreibtisch war einmal ein scharf geschliffenes Messer
-gelegen. Das schneidet gut. Es riecht nach Blut und Chemikalien.
-
-Soll sie sich das Messer holen? Die zarten Adern aufschneiden? Was kann
-das nützen. Von den feinsten Poren des Hirns aus durch den ganzen Körper
-strömen die müden Säfte eines verbrauchten Lebens. Gift.
-
-Das findet kein Messer. Er hat gut experimentiert. Die Phiole brodelt.
-
-Ruth sieht um sich. Aber in ihren entkleidenden Blicken leuchtet eine
-junge Kraft.
-
-
-
-
- Abrechnung
-
-
-Ich komme zu dir, sagte Ruth. Und seine Augen zitterten. Triumph.
-
-Das ganze Zimmer warf sich ihr entgegen in einer Staubwolke. Verweste
-Gedanken. Sie lächelte.
-
--- Wie ich mich freue, daß du wieder da bist. Er drückte liebenswürdig
-ihre Hände. Sie fühlte, daß sie müdbraune Handschuhe hatte. In den
-Schaufenstern der Juweliere liegen Diamantarmbänder.
-
-Auf dem unordentlichen Schreibtisch kollern sattgelb Minerale. Wo sind
-die Phiolen -- und das scharfgeschliffene Messer -- ist das Thomas'
-Messer --
-
--- Warum hast du die Fenster nicht offen? In den Gärten liegt Flieder.
-Doch nein, laß es.
-
-Ruth lächelte, während sie dachte: wozu die wirren Locken -- Er könnte
-genau so gut einen braven Scheitel haben wie Norbert.
-
-Und als er mit den großen, zerbrochenen Bewegungen die Zigarre anzündete
--- wie immer -- stürzte das Gleichgewicht der Frühlingsstraßen draußen
-in sich zusammen und zwischen den zersplitterten Pflastersteinen tanzte
-Bella mit Thomas. Aus Mutters Kommode taumelten Briefe --
-
--- Du sprichst gar nichts, sagte er. -- Du weißt alles, sagte sie.
-
-Dann schwiegen beide. Aber wie die Dämmerung so weit hereingekrochen
-war, daß das steifbeinige Zifferblatt der Uhr verschwimmen mußte, sagte
-Ruths Stimme, fremd und hell:
-
--- Du wartest, daß ich dir erzähle. Was soll ich dir erzählen? Es ist
-nichts geschehen. Es ist etwas Ungeheures geschehen. Ich trage bis heute
-die ganze Last deines verbrauchten Lebens in mir.
-
-Ich sehe deine weißen, mörderischen Hände. Wenn es auch dunkel ist.
-Warum hast du niemals Leberblümchen mit ihnen gepflückt oder Primeln.
-Stiefmütterchen, die zwischen den Bahnschwellen liegen. Warum bist du
-denn immer hinter den langweiligen Bahnschranken stehen geblieben und
-niemals mitgefahren in federnden Kissen. Deine Hände sind auf den weiß
-gestrichenen Schranken gelegen. Noch als du ein kleiner Junge warst und
-hinauf greifen mußtest. Sie haben sich nicht getraut, eure Kaninchen zu
-erwürgen. Obwohl sie es so gerne getan hätten. O, du hättest es tun
-sollen --
-
-Aber das Weiße in Mutters Augen ist zerbrochen. Ich weiß es.
-
-Ich weiß jetzt alles. Und ich fühle den Zorn, der deshalb in dir tobt.
-Und die blutlechzende Freude, mit der du mich wiederkommen siehst. Denn
-ich bin wiedergekommen.
-
-Weil ich deine feigen Nächte kenne. Deine Phiolen --
-
-Er war aufgesprungen und stand vor ihr, so groß und dunkel, daß die
-Dämmerung bleich werden mußte und verdrängt.
-
-Da sank sie in sich zusammen: -- Ich liebe deine Hände. Ich liebe deine
-Minerale. Ich liebe dein Gift -- dich --
-
-Er beugte sich über sie, tief, erdrückend.
-
-Sie bäumte sich auf. Und fühlte seine kampfbereiten Muskeln.
-
-Er keuchte: -- und --
-
-Sie neigte den Kopf: -- Ich habe mich ergeben ...
-
-Als sie wieder aufschaute stand er in einer Fensternische, bleicher als
-die Dämmerung. Und das Zimmer war weich geworden und willenlos
-ausdehnbar. Ohne Kampfkraft.
-
-Ruth stand auf und lächelte: -- Ich glaube, jetzt haben wir einander
-nichts mehr zu sagen.
-
-Und sie ging durch die nachtschweren Gassen, sich badend in dem
-blütenschwangeren Regen des Mai.
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
-Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-
- [S. 62]:
- ... Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt. ...
- ... Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt? ...
-
- [S. 62]:
- ... mit licht gepeinigten Augen, grell, schreiend grell, laut. ...
- ... mit lichtgepeinigten Augen, grell, schreiend grell, laut. ...
-
- [S. 86]:
- ... hat eine wohlgefühlte Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb, ...
- ... hat eine wohlgefüllte Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb, ...
-
- [S. 145]:
- ... soll. Mutter sah sie erstaunt an. -- Ja, ich kann doch nicht ...
- ... soll? Mutter sah sie erstaunt an. -- Ja, ich kann doch nicht ...
-
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Vergiftung, by Maria Lazar
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE VERGIFTUNG ***
-
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-<title>The Project Gutenberg eBook of Die Vergiftung, by Maria Lazar</title>
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- <!-- TITLE="Die Vergiftung" -->
- <!-- AUTHOR="Maria Lazar" -->
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- <!-- PUBLISHER="E. P. Tal & Co., Leipzig, Wien" -->
- <!-- DATE="1920" -->
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Die Vergiftung, by Maria Lazar
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
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-
-Title: Die Vergiftung
-
-Author: Maria Lazar
-
-Release Date: August 1, 2020 [EBook #62801]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: ISO-8859-1
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE VERGIFTUNG ***
-
-
-
-
-Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
-Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This file was
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-Literature Online.
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-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="aut">
-Maria Lazar
-</p>
-
-<h1 class="title">
-DIE VERGIFTUNG
-</h1>
-
-<p class="pub">
-1920<br />
-LEIPZIG - E. P. TAL &amp; Co., VERLAG - WIEN
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="cop">
-Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten.<br />
-Copyright 1920 by E. P. Tal &amp; Co., Verlag Leipzig und Wien.
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-1">
-<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
-Die Tür
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">ine</span> braune Holztür, glatt, mit vielen dunklen
-Flecken. Eine Tür wie sie überall ist, überall ist.
-Eine Tür &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Nein, eine dunkle Macht, feindlich, glatt, mit vielen
-dunklen Flecken. Das schlägt ins Gesicht, dem ganzen
-Körper entgegen. Eine Schicht, eine dünne, harte
-Wand.
-</p>
-
-<p>
-Und da verloren sich die schmiegsamen Formen
-ihres Leibes. Das Immerweitertasten ihrer Hände
-blieb stecken. Sie wurde platt zusammengedrückt zu
-einer Fläche, einem Ding, aus dem nur der ungeheure
-Schrecken herausgestiegen war und draußen stehen
-blieb, verwundert.
-</p>
-
-<p>
-Als sie über die Treppe des Alltagshauses ging,
-trat sie in die Abdrücke der hundert geschäftigen Füße,
-die täglich hier vorüberliefen.
-</p>
-
-<p>
-Wieso war sie überhaupt dahergekommen? Immer
-daher gekommen und nur da her, daß alles übrige draußen
-liegen blieb?
-</p>
-
-<p>
-Heute drang das Licht blendend durch Steine und
-die erstarrte Haut ihres Leibes. Von den Blättern troff
-es, grell und heiß, und duftete nach dem Blut aller,
-die auf der Straße gingen. Das Blau war zu tief, zusammengedichtet
-aus trotzigen Kräften.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
-Ach, die furchtbare Helle. Und in sie hineingelegt
-die Tür, mit den dunkelbraunen Flecken. Die sich niemals,
-aber auch niemals einschlagen läßt.
-</p>
-
-<p>
-Diese Tür war schon damals gewesen, als sie so
-klein war, daß sie den Kopf ganz nach hinten legen
-mußte, um die ersten Stockfenster zu sehen. War es
-die Tür aus dem Kinderzimmer heraus oder von der
-Küche in den dunklen Gang, an die sie sich nicht zu
-hämmern traute, als man sie einmal dort eingesperrt
-hatte? Die Tür, die sich nie und nie zertrümmern läßt.
-</p>
-
-<p>
-Wievielmal schon hatte sie diese Türe geöffnet, mit
-Händen, die dem eigenen Sieg nicht glauben wollen.
-Nur ein leichter Druck auf die Klinke &ndash; und hatte
-doch immer den Mut gehabt, zu wissen, daß diese Türe
-einmal verschlossen sein muß. Jedesmal hatte sie den
-einen gräßlichen Moment erlebt, der heute Wahrheit
-geworden war &ndash; verschlossen.
-</p>
-
-<p>
-Heute, es ist ja gar nicht heute. Das war schon
-immer, das hat sie ja schon hunderttausendmal erlebt.
-Tritt man nicht aus der Zeit heraus, wenn dann eine
-Stunde kommt, die sich einbildet, die erste zu sein.
-Ein Heute, das ewig ist &ndash; ein Schritt aus dem warmen
-Leben &ndash; vielleicht ist ihr deshalb so entsetzlich kalt.
-Und sie muß die Augen schließen, während das Sonnenlicht
-des Tages die Wimpern versengt.
-</p>
-
-<p>
-Verschlossen &ndash; undurchdringlich.
-</p>
-
-<p>
-Sie geht durch Straßen, wo die Nachmittagsröte
-die Mauern frißt. Und weiß: Der breiten Kastanie vor
-seinem Fenster ist heute ein Ast abgehauen worden.
-<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
-Blendend weiß bietet sich die Wunde der gierigen
-Sommersonne dar.
-</p>
-
-<p>
-Sie kann nie mehr weiter tasten. Steht fest, undurchdringlich
-&ndash; verschlossen.
-</p>
-
-<p>
-Ich muß denken, sagte Ruth. Sie nahm den Brief,
-der in seine Tür geklemmt war und dachte: Ein zu
-kleines Kouvert. Und warum macht er dem R bei Ruth
-so einen Schnörkel? Eine wütende Lust überkam sie,
-den Brief von sich zu werfen, irgendwohin, vielleicht
-in den Straßengraben. Und dann nie mehr ... Aber
-sie hielt ihn fest und ging so lange, bis die erste
-Dämmerung sich mit dem Staub der Großstadt mischte,
-der in die Höhe stieg, langsam, leise und unerbittlich.
-</p>
-
-<p>
-Es schlug neun Uhr vom Kirchturm. Sie dachte:
-Mutter ist böse, wenn ich zu spät zum Abendessen
-komme. Und Richard macht seine verwunderten Augen.
-Ich will sie nicht ärgern. Aber ich bin nur so elend,
-wie sie gar nicht wissen, daß man sein kann.
-</p>
-
-<p>
-Sie spürte den Essensgeruch der aus der Küche
-quoll, als die Köchin öffnete. Und war gespannt was
-es gäbe, während ihr die Tränen in die Augen traten,
-daß sie jetzt daran denken könne.
-</p>
-
-<p>
-Sie sah nicht auf Mutter und Bruder, während sie
-schweigend würgte. Sie hörte nicht die Nörgeleien der
-Schwester. Sie schluckte eilig große, trockene Bissen
-hinunter und fragte sich nur: Was habe ich? Sie wußte
-es nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-Aber als sie in ihr Zimmer trat, schrie der Spiegel
-seinen Namen. Und sie sah ihr Bild darin, wie sie sich
-<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
-den Schleier vorgebunden hatte, bevor sie weggegangen
-war, heute. Die Bücher auf dem Tisch, die vernachlässigt
-und zusammengeworfen waren, und die zerrissene
-Mappe atmeten seinen Duft aus. Und von dem seidengelben
-Lampenschirm herab träufelten in weichen
-Farben ihre nächtlichen Gedanken.
-</p>
-
-<p>
-Sie öffnete den Brief. Und las verächtlich seine
-großen Lügen.
-</p>
-
-<p>
-Der Spiegel schrie seinen Namen. Sie sah sich
-drinnen, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte.
-Wird sie so nie mehr zu ihm gehen.
-</p>
-
-<p>
-Aber ja, morgen geht sie zu ihm, ganz so wie
-sonst. Was hat sie nur heute. Der Brief ist ja so einfach
-zu verstehen. Warum soll er denn nicht einmal
-verhindert sein, geschäftlich.
-</p>
-
-<p>
-Ruth las den Brief noch einmal. Die lächerliche
-Schlinge des R und die kriecherische Windung des
-L in Liebe.
-</p>
-
-<p>
-Er lügt. Aber das macht ja nichts, das wußte sie
-schon immer. Und doch &ndash; sie kann nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-O Gott, was ist nur geschehen? Was ist mit ihr?
-Durch das Fenster strahlt die warme Sommernacht, wie
-eine Fülle leuchtender Versprechungen. Die Welt ist
-hell. Sie war bis jetzt nur in einer dunklen Stube.
-Dunkle Stühle, dunkle Flecken an der dunklen Tür.
-Die Welt ist hell. Ihre Glieder, ihr armer vergessener
-Körper schreien nach Licht. Sie kniet am Boden. Ihre
-Zähne beißen in die Tischkante, oh, daß sie nicht aufschluchzt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
-Sie will denken. Sie weiß, daß seine Augen durch
-alle Mauern auf sie sehen. Aber ihre Hand sagt nein,
-ihr Knie schlägt in trotzigen Stößen auf die Diele.
-</p>
-
-<p>
-Ihr Hirn schmerzt vor Sehnsucht nach ihm, ihre
-Zähne beißen in die Tischkante.
-</p>
-
-<p>
-So lange sie denkt, gehört sie ihm. Aber da ist
-noch etwas an ihr, das nicht denkt. Das treibt, das
-schlägt, das stößt, das treibt sie zu ...
-</p>
-
-<p>
-Er stand vor dem Spiegel mit dem zu dicken
-Rahmen, der alles verdüsterte und doch so hervorstach,
-als wolle er es nicht zugeben, daß eine eigentümliche
-Frechheit von dem bespritzten Glas ausging.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Er stand vor dem Spiegel und sah aufmerksam
-auf seine schlecht rasierten hageren Backen. Auf die
-etwas zigeunerhafte Locke, die über die Stirn hing. Sie
-war nur zu licht, um wild zu sein.
-</p>
-
-<p>
-Er stand vor dem Spiegel und versuchte die Regelmäßigkeit
-seiner schmalen Züge zu genießen, durch
-die die zu weit nach hinten liegende Stirn durchfuhr,
-wie ein querer Strich in einer regelmäßigen Zeichnung.
-Seine Schultern standen zu weit nach hinten, künstlich
-steif. Sie wollten offen und frei erscheinen. Aber die
-Augen lagen tief versteckt. Die Pupillen waren nicht
-in sich abgeschlossen, sie liefen über, ausstrahlend und
-doch wie verirrt in das Weiße des Auges.
-</p>
-
-<p>
-Er stand vor dem Spiegel und der zusammengepreßte
-Mund, mit den dunklen, schmalen Zähnen erkannte
-alle Schwächen der kraftlos weichen Hände,
-<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
-die sich auf den Rücken legten, während die Schultern
-sich nach hinten streckten, gewaltsam, künstlich.
-</p>
-
-<p>
-Als Ruth zur Tür hereinkam, saß er vor dem
-Pianino und spielte eine Beethoven-Sonate. Er trat ihr
-entgegen mit beiden ausgestreckten Händen. &ndash; Du
-kommst spät, sagte er liebenswürdig spöttisch. Aber
-seine Augen blickten böse in eine Ecke des Zimmers.
-</p>
-
-<p>
-Ruth erschrak. Wie immer legte sich der süßlichherbe
-Geruch der Räume, den sie nie wo anders getroffen
-hatte, betäubend um ihre Stirn. Sie lachte dann:
-Ja, denk nur, wieso, ich bin einen verkehrten Weg
-gegangen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du hast nicht kommen wollen, sagte er langsam
-und schwer.
-</p>
-
-<p>
-Alles stand still. Das Zimmer stand still, jeder
-Stuhl, selbst die Uhr, die sonst immer zu laut schnarrte.
-Etwas lebte nicht mehr, es war etwas gestorben, jetzt,
-in dieser Minute, etwas Furchtbares war ausgesprochen
-worden.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Weinen können. Sie sah die hochmütigen
-Globen auf dem Wandregal, die alle staubig
-waren. Und die sattgelben Minerale auf dem unordentlichen
-Schreibtisch.
-</p>
-
-<p>
-Er rückte ihr den Stuhl zurecht, wie immer. Immer
-denselben Stuhl.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Aber was sagst du denn da? lachte Ruth. Es
-war ihr schlankes frohes Kinderlachen, das so seltsam
-hinaufkletterte über die grau verschossenen Wände,
-die zu hoch waren.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
-&ndash; Mein Kind, sagte er, mit überschlagenen Beinen
-und fremden Augen, ich habe dich seit drei Wochen
-nicht gesehen und heute kommst du zu spät.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du mußt mir erzählen, stöhnte Ruth, alles was da
-war, alles was du erlebt hast, was du gearbeitet hast.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, sagte er. Und sie haßte ihn. Spürte den
-Schnörkel in der Schlinge des R.
-</p>
-
-<p>
-Sie sah seine weißen, kraftlosen Hände. Wußte,
-daß sie diese Hände niemals vermissen könne. Seine
-Krawatte war zerschlissen.
-</p>
-
-<p>
-Eine heiße Welle stieg in ihr empor, würgte die
-Kehle. Aber sie war so müde. Hilf mir, sagte sie.
-</p>
-
-<p>
-Vor ihr war eine große, schwere Wage. Eine Schale
-war voll eiserner Gewichte, schwer und kalt. Die
-andere leer, ganz leer und hoch oben, mutterseelenallein.
-</p>
-
-<p>
-Die ganze Welt war aus dem Gleichgewicht durch
-diese Wage. Und durch die Disharmonie seiner Bewegungen.
-So wie er jetzt die Zigarre zum Munde
-führte.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du kannst mich eben nicht mehr aushalten, sagte
-er langsam. Nein, er wußte nichts, er konnte ihr nicht
-helfen.
-</p>
-
-<p>
-Er erzählte ihr von seinem neuesten chemischen
-Experiment. Und sah sie an, als wäre sie eine
-schillernde Phiole.
-</p>
-
-<p>
-Ihr Gehirn wollte mitarbeiten, aber wieder wehrten
-sich ihre Hände, ihre Knie, ihr Blut dagegen.
-</p>
-
-<p>
-Die Nacht war hereingebrochen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
-Du, sagte Ruth plötzlich, als er ihr seine letzten
-Tage schilderte, wie er sich elend in Gasthäusern
-herumgetrieben. Hör&rsquo; auf. Ihre Stimme klang hart
-und hell. Sie sprang auf und nahm seine Hand. Und
-ein grenzenloses Mitleid, ein Schmerz, der sich selber
-zerbrach, lähmten ihren Atem. &ndash; Jetzt geh ich und
-komme nicht mehr. Deine Tür war verschlossen, letztesmal.
-Sie war immer verschlossen. Lüg nicht! Vielleicht
-weißt du es nicht. Ach, diese Kälte herinnen. Und ich
-liebe dich. Hörst du mich nicht. Das ganze Zimmer
-hört mich ja. Die Bäume draußen hören mich. So hör mich.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich höre, mein Kind, sagte er und sie stampfte
-mit dem Fuß, weil er mein Kind sagte.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du weißt, daß ich seit zwei Jahren für dich gelebt
-habe, fuhr sie fort und ihre Stimme überschlug sich.
-Aber ich sage dir, ich spüre eine Erschöpfung, eine
-Gefahr, ich bin zu voll von dir, ich kann dich nicht
-mehr ertragen. O, was tust du mit mir.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wohin willst du, sagte er und nahm einen Zug
-aus seiner Zigarre.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Fort, schrie Ruth. Was bin ich dir? Eine
-Phiole mehr für deine Experimente.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Törichtes Kind, sprach er und seine Stimme war
-schwarz in der lauen Nacht. Fort &ndash; du kannst nicht
-mehr fort. Du warst die Phiole für mein kostbarstes
-Experiment. In dir habe ich mich selber experimentiert.
-</p>
-
-<p>
-In diesem Augenblick sah Ruth vor sich auf dem
-Schreibtisch ein schmales, scharf geschliffenes Messer
-liegen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
-&ndash; Wohin willst du, fragte er und vertrat ihr den
-Weg zur Türe. Du Kleine, die du die ganze Last eines
-verbrauchten Lebens in dir trägst.
-</p>
-
-<p>
-Ruth roch Blut. Oder waren das seine Chemikalien.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Nein, sagte sie. Und ging hinaus ohne ihm die
-Hand zu geben.
-</p>
-
-<p>
-Im Stiegenhaus brannte grellrot elektrisches Licht.
-Und die Straße lärmte.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-2">
-<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
-Der Kleiderkasten
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">R</span><span class="postfirstchar">uth</span> erwachte. Durch das Fenster stieß peinigend
-laut Licht. Es kam von drüben, von der fahlgelben
-Hofmauer, zerbrochen und unverschämt schrill. Es saugte
-die Menschen aus ihren Betten, aus ihren Häusern, ihren
-Gewohnheiten. Und weil heute Sonntag war, liefen sie
-alle hinaus. In eine Freiheit, die zu hell war. Daß die
-großen grünen Blätter schon verdeckt lagen von Staub
-und zu viel erlebt haben. Wie das schmerzt. Und alle
-schreien. Irgendwo wird Bier ausgeschenkt.
-</p>
-
-<p>
-Dasselbe Licht kroch über die Gegenstände ihres
-Zimmers, die sonst dunkel waren. Sie traten heraus
-aus sich selbst, aus ihrem farblosen Dasein und jede
-Kontur wurde scharf und kam weit hervor.
-</p>
-
-<p>
-Es war nicht zum Aushalten. Ruth sprang auf. Sie
-ließ die Jalousie herunter und war erleichtert, als die
-Eisenstangen auf dem Fensterbrett aufschlugen. Dann
-legte sie sich wieder in das zerwühlte Bett, obendrauf,
-den Kopf weit nach hinten.
-</p>
-
-<p>
-Vor ihr stand der Kirschholzkasten. Der liebe,
-lichte, gerade Kirschholzkasten.
-</p>
-
-<p>
-Tisch und Stühle und vor allem das dunkle Bücherbrett
-trugen noch sein Gepräge. Sie waren immer nur
-dagewesen, um zu warten, daß sie zu ihm gehe. Und
-<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
-wenn sie wieder kam, waren sie voll Warten für das
-nächstemal. Und nur voll Warten.
-</p>
-
-<p>
-Aber der lichte Kirschholzkasten war schon früher
-dagewesen. Sie sah starr auf ihn mit halbgeschlossenen
-Lidern. Um die anderen nicht zu sehen.
-</p>
-
-<p>
-Der Kasten hatte etwas vom lieben Gott. Ganz
-bestimmt. Von dem lieben Gott, vor dem man die
-Hände faltet, um zu ihm zu beten. Der einen weißen
-Bart hat. Und man braucht nur brav zu sein und es
-kann einem gar nichts geschehen. Er schmeckt nach
-Zuckerlämmchen, die zu Ostern verkauft werden. Und
-auch ein bißchen verstaubt.
-</p>
-
-<p>
-Dieser liebe, breitlinige Kasten war einmal groß,
-so groß, daß man nicht bis zum Schlüssel reichen
-konnte. Und alles war darin, was man nur brauchte.
-</p>
-
-<p>
-Ruth bäumte sich auf. Der liebe Gott war tot. In
-dem lichten Kirschholzkasten hing eine Menge dunkler
-Stoffe. Die rochen alle ein wenig nach fremden
-Chemikalien, süßlich herb. Stundenlang war sie gesessen,
-den Kopf in diesen Kleidern vergraben, um
-den geheimnisvollen Duft einzusaugen. Nein, sie wird
-den Kasten nie mehr aufsperren können.
-</p>
-
-<p>
-Sie betrachtete mißtrauisch ihre braunen Kinderhände.
-Mit den kurzen Fingern, die noch niemals etwas
-sein wollten und noch niemals etwas festgehalten hatten,
-immer nur alles fragend betastet. Rochen sie nicht in
-ihrem Innern, ganz drinnen in der Handfläche, aus den
-Poren heraus nach ihm? Sie dachte an das Versinken
-in seinen großen, zu weißen Händen und ihr wurde
-<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
-übel. Ihre widerspenstig flockigen Haare rochen ja auch
-nach dort &ndash; ist sie denn ganz von ihm durchzogen,
-vergiftet &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie wird ein Bad nehmen. Und sich die Haare
-waschen mit sehr viel Seife. Das wird nützen. Und
-die Möbel heute gut abstauben, mit einem neuen
-Staubtuch.
-</p>
-
-<p>
-O Gott, wenn sie nicht auf den Kasten sieht, sieht
-sie überall ihn, nein, nicht ihn und auch nicht seine
-Augen, nur seinen Blick. Der dunkel ist und wie ein
-Band sich um ihre Glieder legt. Den sie nicht versteht
-und nie verstanden hat, weil er aus einem Land
-kommt, das sie nicht kennt. Dessen Unkörperlichkeit
-sie verzweifeln ließ und dem sie nun entflieht, von
-heute an.
-</p>
-
-<p>
-Es ist merkwürdig, dachte Ruth, daß ich die ganze
-Nacht geschlafen habe. Es ist überhaupt merkwürdig,
-daß man bei einem großen Unglück doch ganz bleibt,
-wie sonst. Nur alles andere wird anders.
-</p>
-
-<p>
-Und wieder sieht sie auf den hellen freundlichen
-Kasten. Und vergleicht ihn mit dem lieben Gott. Sie
-möchte die Hände falten, ganz wie damals. Und kann
-es nicht mehr. Und fürchtet sich, ganz wie damals.
-</p>
-
-<p>
-Denn da ist sie wieder, die alte Kinderangst, über
-die sie schon hinweggegangen zu sein glaubte mit
-hochmütig erwachsenem Schritt. Die Angst, die die
-Nacht fürchtet und die blasse Frühlingsdämmerung. Die
-sich krümmt unter der Eintönigkeit des Mittags. Die
-Angst, die auf der Schulbank hockt neben dem patzenschwarzen
-<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
-Tintenfaß, den strengen Scheitel der Lehrerin
-streift, die nach zerkauten Federstielen schmeckt und
-liniertem Papier, die Angst, die aufschreit in einsamen
-Nächten und keinen Ausweg findet durch den fest verschlossenen
-Mund. Die von Leichenzügen träumt und
-alle Pest und Hungersnot der Jugendbüchereien durchlebt
-hat.
-</p>
-
-<p>
-Wer ist sie heute? Was war sie seit der Zeit, als
-sie in kurzen Röcken über die Gassen lief und das
-Zopfband verlor? Ist sie bestohlen, beraubt?
-</p>
-
-<p>
-Nein, Ruth wußte es, sie war mißhandelt worden.
-Eine zarte Hülle blieb übrig, die leben wollte. Und
-was war in ihr? Was roch wie die lebendig gewordene
-Wissenschaft? Was klebte an ihren Händen, in ihren
-Haaren, in ihren Kleidern? Was füllte den lieben, alten
-Kasten?
-</p>
-
-<p>
-Da wird sie sich einer furchtbaren Gefahr bewußt:
-Leer werden. Leer &ndash; was heißt das, was ist das?
-Leer &ndash; das sind die Augen in Totenschädeln.
-</p>
-
-<p>
-Sie will nach der goldenen Fülle greifen. Und das
-Licht kann nicht herein und dahinter steht das Nichts,
-das Leere.
-</p>
-
-<p>
-Leer &ndash; das heißt ihn verlieren, ihn verloren haben.
-Und die Wucht seiner Schmerzen, die Qualen seiner
-Einsamkeit.
-</p>
-
-<p>
-Hoch aufgerichtet steht sie vor dem Bett. Sie sieht
-an sich herunter. Bis zu den schlanken, braunen Knöcheln.
-Und haßt sich.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
-Leer &ndash; das ist das Stück vom Fenster hinab bis
-zu dem harten Pflaster. Worauf die Menschen ihren
-grünen Schleim spucken und das die Hunde beschmutzen.
-</p>
-
-<p>
-Frei sein und leer sein und weniger als elend sein &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Fräulein Ruth sollen zum Frühstück kommen. &ndash;
-Ruth sah das große überkräftige Stubenmädchen mit der
-hohen vergnügten Stimme. Und wußte: heute abends
-geht sie aus, da wartet einer unten auf sie, vielleicht
-der vom letztenmal oder auch ein anderer.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, rief die Mutter aus dem Nebenzimmer. &ndash; Ich
-komme, antwortete sie mit einer Stimme, die voll Musik
-und Jubel war.
-</p>
-
-<p>
-Mutter stand in der Sonne. Und Mutter war
-lebendigstes Gewesensein.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Mutter ging alle Morgen nachsehen, ob das Mädchen
-gut aufgeräumt habe. Sie ließ keinen Stuhl so stehen,
-wie diese ihn gestellt hatte. Mutter wollte ein eigenes
-Haus haben, wie sie sagte. Ob dieses Haus besser war,
-als alle anderen, ist nicht bestimmt. Aber daß es anders
-war als alle anderen, daß es ihr eigen war und nur
-durchtränkt von der kindhaften Unruhe ihrer zu langen
-Finger, die niemals jung gewesen sein konnten, daß
-ihr Haus fremd und versperrt war allen, die nicht ihres
-Blutes waren, das hatte sie erreicht. Und Ruth
-empfand es mit einem Stolz, der sich selbst nicht
-anerkennen will.
-</p>
-
-<p>
-Mutter küßte Ruth, wie man ein Stück Eigentum
-küßt oder ein Stück von sich selbst. Und Ruth fühlte
-<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
-die Schmerzen der vergangenen Nacht ganz klein werden
-und wollte weinen.
-</p>
-
-<p>
-Mutter frühstückte nicht mit. Sie war nie imstande
-eine Mahlzeit durch sitzen zu bleiben. Sie mußte immer
-rasch noch etwas anderes tun.
-</p>
-
-<p>
-Mutter war groß. Aber nicht groß genug für das,
-was sie der Welt zeigen wollte. Deshalb schien sie
-fast klein.
-</p>
-
-<p>
-Und auch ihre Wohnung war groß. Aber zu klein,
-um sich vor allen zurückziehen zu können. Denn das
-wollte sie. Deshalb waren die hohen Räume eng und
-drückend.
-</p>
-
-<p>
-Als Ruth mit dem schmalen, silbernen Brotmesser
-das Brot schnitt, empfand sie einen seltsamen Besitzerstolz
-und dachte: zuhause sein.
-</p>
-
-<p>
-Sie hatte keinen anderen Wunsch, als Mutters
-Kleid zwischen beide Hände fassen zu können, ganz,
-ganz fest. Wie gut war es, daß Mutter immer so alte
-Kleider trug. Und schon wollte sie aufspringen und
-Mutter alles sagen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Da kam Richard herein. Nein, sie konnte nicht.
-Richard war zu klug. Und Richard war Mutters Sohn.
-Von so etwas konnte sie nie zu Mutter sprechen.
-</p>
-
-<p>
-Und Martha war Mutters Tochter. Martha war
-häßlich und verbittert. Wenn sie die Tür aufmachte,
-war das Zimmer voll Lärm. Da konnte Ruth von so
-etwas doch nie zu Mutter sprechen.
-</p>
-
-<p>
-Ruth wußte nicht, daß Mutters Leben nur Enttäuschung
-war, die nicht eingestanden werden durfte.
-<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
-Und daß Mutter so grenzenlos arm war, weil sie nie
-den Mut gehabt hatte, das zu erkennen.
-</p>
-
-<p>
-Mutter war so klug, daß sie die Dinge nicht wirklich
-sah, sondern in Karikatur auf dem Hintergrund
-ihrer Wünsche und Vorurteile. Aber sie sah sie alle
-bis auf eines: Das war sie selbst. Sie wußte so wenig
-von ihrer eigenen Existenz wie ein ganz kleines Kind.
-Und ahnte nicht, daß sie selber auch etwas beigetragen
-habe in der Symphonie der Ereignisse, die ihr enges,
-tiefes Dasein bildeten.
-</p>
-
-<p>
-In ihrer Jugend hatte sie nur eines gekannt: Die
-Pose. Die Verwandten und Freunde, ja selbst der
-Kutscher ihres väterlichen Hauses sprachen mit Handbewegungen,
-wie Schauspieler in ihren Rollen. Das hatten
-sie von ihrem Vater gelernt. Dessen ganzes Leben ein
-großer Faltenwurf war. Hinter dem steckte nichts als
-Jagd und Rausch und etwas Verwesung. Aber ihre
-Mutter war träge.
-</p>
-
-<p>
-Sie hatte nie den Mann gefunden, den sie lieben
-konnte. Das wäre auch nicht so nötig gewesen, nur
-hätte sie sich Zeit nehmen sollen, ihn zu suchen. Denn
-nur dann hätte sie sich entwickeln können.
-</p>
-
-<p>
-Aber sie zerschnitt sich alle Möglichkeit weiterzukommen,
-indem sie in früher Jugend einen Mann heiratete,
-der vielleicht ein Heiliger geworden wäre, wenn
-sie ihn unter Menschen gelassen hätte. Denn er liebte
-die Welt mit der zarten, naiven Freude junger Knaben,
-die an einem Frühlingstag ein blühendes Tal durchstreifen.
-Aber sie hielt ihn als Eigentum, wie ihr Vater
-<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
-Pferde und Bediente gehalten hatte. Sie sperrte ihn
-ein in Räume, die von ihren Atemzügen übersättigt
-waren. Daß seine weiche Menschlichkeit zur Seite treten
-mußte und sein säurenscharfer Verstand allein ihn beherrschte.
-Er rechnete Tage und Monate und Jahre.
-Als seine große Erfindung fast fertig war, starb er.
-Aber noch eine Stunde vor seinem Tod erzählte er
-das Märchen vom Schneewittchen. Denn er hatte immer
-Königstöchter geliebt, die eigentlich kleine Mädchen
-waren und in rote Äpfel bissen. Die ein bißchen Puppentheater
-an sich hatten.
-</p>
-
-<p>
-Ruth hatte Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen.
-Weil Mutter alles war, weil Mutters große, vielgliedrige
-Hände auf ihren Augen gelegen waren, wenn
-sie zu Vaters Schreibtisch sehen wollte.
-</p>
-
-<p>
-Als sie noch ganz klein war, hatte er sie einmal
-in eine Konditorei geführt. Es war ein schneidend kalter
-Wintertag und ein elendes Geschäftchen in der Vorstadt.
-Dort kaufte er Bonbons, einen großen Sack voll
-großer, dicker, gelber, malziger Bonbons. Und gab sie
-ihr mit dem vergessen gütigen Lächeln, mit dem
-Christus das Brot an die Zehntausenden verteilt. Da
-wurde sie traurig. Am Abend saß er an seinem Schreibtisch
-und Mutter schalt mit der Köchin. Ruth ging in
-das dunkle Vorzimmer, steckte den Kopf in seinen
-Winterrock und küßte, küßte das weiche, kalte Tuch.
-Später sagte Richard: &ndash; Gib mir davon. &ndash; Sie hielt den
-Sack fest zu. &ndash; Du bist geizig, sagte Richard. &ndash; Gib! &ndash;
-Sie preßte den Sack an sich. Da schlug er sie. Sie weinte.
-<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
-Er zerriß das Papier. Aber sie kämpfte um jedes
-einzelne Bonbon. Und legte alle unter ihren Kopfpolster.
-So war Vater. Aber Richard konnte das nie verstehen.
-Und sie hatte viel Respekt vor Richard. Fast noch mehr
-als vor Mutter.
-</p>
-
-<p>
-Am Abend sagte Mutter: &ndash; Warum bist du noch
-nicht angezogen. In einer Stunde müssen wir im Theater
-sein.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte an den Kleiderkasten. An den dunklen
-Duft, der aus ihm herausströmen soll. Und sie empfindet
-das dunkle Band, das von weither kommt und sich
-um alle ihre Glieder legt, schmiegt, sich einschneidet
-in die furchtsame Haut.
-</p>
-
-<p>
-Und sie weiß, wenn sie das blaue Seidenkleid anzieht,
-ist sie morgen wieder bei ihm.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich gehe nicht ins Theater, antwortete sie. Und
-blieb allein in der Wohnung. Da geht sie aus, sich
-zu suchen. Sie schleicht, sie kriecht fast durch die
-Zimmer. Sie betastet die Stühle mit den verbogenen
-Füßen, die überflüssigen Vasen, den Samt der Vorhänge.
-Überall war Mutter. Und noch Richards Bücher.
-Und ein paar gestopfte Handschuhe von Martha. Aber
-Ruth war nirgends.
-</p>
-
-<p>
-Da überfiel sie eine Qual, die sie zu Boden schlug,
-sich wie ein Strick um ihren Hals legte und würgte ...
-</p>
-
-<p>
-Mutter kam von Lohengrin und war entzückt, wie
-immer. Sie liebte derbe Romantik und laute Musik.
-Dann sang sie den Hochzeitsmarsch mit ihrer kräftigen
-Stimme. Ruth sah sie an wie eine Fremde.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
-Richard war zufrieden, wie nach einer gut überstandenen
-Prüfung. Und Martha jammerte, daß ihr Schal ein
-Loch bekommen hatte. Ruth war nur ganz verwundert.
-</p>
-
-<p>
-Aber dann setzte sie sich auf Mutters Bett, tief
-hinein. Sie starrte in das schläferige Weiß des Linnens
-und wünschte sich klein zu sein und Fieber zu haben.
-</p>
-
-<p>
-Mutter sagte: &ndash; Aber jetzt geh schlafen. Und warum
-bist du heute so blaß? Was hast du denn? Geh nur
-schlafen und gib mir noch vorher meinen Roman.
-</p>
-
-<p>
-Richard meinte gähnend: &ndash; Möchte nur wissen, warum
-du deinen Sitz hast verfallen lassen. So was Dummes.
-</p>
-
-<p>
-Ruth wußte nur: &ndash; Wenn ich den Kasten aufmachen
-muß, werde ich wahnsinnig. Da ist ein Abgrund drinnen,
-der stürzt über mich, der erdrückt mich durch seine
-Leere. Und dann wissen sie alles. Oh, die Schande.
-Dann bin ich ausgezogen. Nackt vor allen. Auf der
-Straße. Mein Körper ist voll eiternder Wunden, oh,
-die Schande.
-</p>
-
-<p>
-Der liebe, lichte Kirschholzkasten stand glatt in
-ihrem dunklen Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Nach zwei Tagen sagte das Stubenmädchen: &ndash; Wenn
-Fräulein Ruth nicht den Kasten aufmachen, kann ich
-den grauen Mantel nicht zum Putzen tragen.
-</p>
-
-<p>
-Die Schande.
-</p>
-
-<p>
-Und Mutter sagte: &ndash; Wenn du den Schlüssel verloren
-hast, lasse ich den Schlosser holen.
-</p>
-
-<p>
-Die Schande.
-</p>
-
-<p>
-Sie weinte heraus: &ndash; Ich will nicht.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich glaube wirklich, du bist krank, meinte Mutter.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
-Aber Richard rief aus dem Nebenzimmer: &ndash; Geh,
-mach dich nur nicht interessant.
-</p>
-
-<p>
-Oh, die entsetzliche Schande.
-</p>
-
-<p>
-Und sie wird sich zwingen lassen.
-</p>
-
-<p>
-Was tut sie nur den ganzen Tag. Sie geht herum
-und erklärt es ihm, ihm, zu dem sie nie mehr kommen
-wird. Sie macht ihm alles begreiflich, er versteht es,
-er weiß es, er weiß ja alles. Wie kommt es nur, daß
-er ihr so ähnlich ist. Oder sie ihm &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie nimmt zum zehntenmal ein neues Staubtuch
-und wischt alle Möbel ihres Zimmers ab. Damit sein
-Duft doch endlich weggehe. Und wäscht sich dann die
-Hände mit kochend heißem Wasser.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Abend sagte die Mutter: &ndash; Wenn du
-dir morgen nicht ein anderes Kleid anziehst und den
-Kasten aufsperrst, so hol ich den Schlosser. Also
-überleg es dir.
-</p>
-
-<p>
-Ruth stand an ihrem Fenster und sah in die
-schmutziglaue Sommernacht hinunter und fühlte:
-Warum kann Mutter, die den Lohengrin so gern hat,
-die so nobel ist, wenn Gäste kommen, so zu mir sein?
-Warum stehe ich hier und schau auf eine staubige
-Straße, wo doch draußen die vielen Felder sind mit
-den endlosen Schienen &ndash; in die Ferne gleiten &ndash;
-und warum &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich muß jetzt Bett machen, sagte das Stubenmädchen
-und zündete das grelle elektrische Licht an.
-Ruth sah auf sie. Auf ihre kräftigen Arme, die fast
-aus der Bluse quollen, ihre übermütig starken Hüften,
-<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
-ihre brennend heißen Wangen. &ndash; Hören sie, Agnes,
-sagte sie heiser und ging ganz nahe zu ihr ... Sie waren
-jetzt unten, da beim Haustor und er war dabei,
-o bitte, sagen Sie nicht nein, ich habe Sie ja
-gesehen ... Nein, Sie müssen nicht schreien, aber sagen
-Sie mir doch bitte, war es der selbe, mit dem
-ich Ihnen begegnet bin, damals, Sie wissen schon, wie
-ich im Konzert war, aber so sagen Sie doch. &ndash; Nein,
-sagte Agnes, mehr verblüfft als verlegen. &ndash; Aber
-eines, Agnes, müssen Sie mir noch sagen. War es
-schön, unten jetzt, meine ich, war das schön &ndash; Oh
-Gott, sagte Agnes, nein, das ist nichts für Sie,
-Fräulein. &ndash; Hören Sie, Agnes, und Ruth kämpfte mit
-ihrem Atem, Sie haben so starke Arme. Agnes, liebe
-Agnes, ich habe meinen Kastenschlüssel verloren.
-Mama ist sehr böse. Nehmen Sie das Küchenmesser,
-das große, und machen Sie mir den Kasten auf, nicht
-wahr, Sie tun es. Aber leise, ich geh einstweilen in
-das Speisezimmer. Und kein Wort davon, Agnes, Sie
-verstehen. Die Kleider hängen Sie über Nacht ins
-Vorzimmer, aber es darf niemand davon wissen, und
-zeitlich früh wieder herein, o ja, Agnes, Sie verstehen,
-sie tun es gleich &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich verstehe schon, Fräulein Ruth, sagte Agnes
-mit blödem Lachen.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-3">
-<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
-Die Mutter
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> liebe Mutter, dachte Ruth. Kein Mensch weiß,
-wie groß sie ist und stolz. Es ist schade, daß das
-niemand weiß. Aber ich kann es ja auch nicht vertragen,
-daß sie die Türen zuwirft und durch die
-Zimmer läuft. Daß sie mit dem Mädchen schreit.
-</p>
-
-<p>
-Sie flüchtete in Gärten. In kleine, engbrüstige
-Vorstadtgärten mit zerrauften Büschen und wackligen
-Bänken. Mit großen Sandhaufen voll schmutziger
-Kinder.
-</p>
-
-<p>
-Sie ging hin, weil sie dort noch niemals, niemals
-gewesen war. Und saß brutheiße Sommernachmittage
-durch und versuchte nur an Mutter zu denken und ihn
-zu vergessen.
-</p>
-
-<p>
-Denn noch immer verfolgte sie sein Blick wie ein
-dunkles Band, das so weich war, wie das Innere seiner
-Hand, so daß man nichts wünscht, als sich hineinlegen
-zu können und nichts mehr weiß von Steinen und
-Bergen. Wie im Sand vor dem Meer.
-</p>
-
-<p>
-Als sie einmal so saß, den Kopf in den Händen,
-mitten unter Proletarierfrauen und Ladenmädchen,
-setzte sich jemand ganz nahe neben sie. Sie fühlte nur
-immer den Blick, das Band, wie es sich um ihre Stirne
-legte und alle Nerven, den Rücken hinunter strich.
-Jemand sagte zu ihr: &ndash; Fräulein, gestatten, daß ich mich
-<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
-zu Ihnen setze. Neben ihr war ein Commis voyageur
-mit aufgewirbelten Schnurrbartspitzchen und rot geblümter
-Krawatte. Noch empfand sie den weichen Abgrund,
-der zu tief war, um zu duften und sah sich doch hier
-unter kleinen Leuten, im kleinen täglichen Leben,
-rundherum der graue Spielsand. Sie lachte ihrem
-Nachbarn ins Gesicht, laut und plötzlich, daß er
-zurückfuhr. Dann ging sie. Hinter ihr schimpften die
-Proletarierfrauen.
-</p>
-
-<p>
-Sie mußte immer von zuhause weggehen. Denn,
-wenn sie zuhause war, liebte sie Mutter nicht und das
-war doch schon ganz unmöglich.
-</p>
-
-<p>
-Mutter sagte zu Richard: &ndash; Man sollte doch sehen,
-wo das Kind sich herumtreibt. Sonst dachte sie nicht
-weiter an Ruth. Nur in der Nacht wachte sie manchmal
-auf und wurde unruhig. Sie meinte, das käme von
-ihren angegriffenen Nerven und nahm Schlafpulver.
-</p>
-
-<p>
-Daß etwas ihr Fremdes in Ruth vorging, wußte sie.
-Soweit sie überhaupt wissen konnte, was sie nicht
-wissen wollte. Und sie wollte nichts wissen, was sie
-nicht seit ihrem zwölften Jahr kannte und besaß. Das
-beleidigte sie schon durch seine bloße Existenz.
-</p>
-
-<p>
-Für sie war Ruth das Kind. Das etwas verträumte
-Kind, das sie unbedingt liebte, weil es ihr
-Kind war, das sie bemitleidete, weil es das Kind
-ihres Mannes war. Und das sie deshalb schützen zu
-müssen glaubte.
-</p>
-
-<p>
-Solange Ruth klein war, sagte sie mit Stolz zu
-allen Verwandten: &ndash; Das Kind wird ganz wie ich. Und
-<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
-Ruth war fast ebenso angesehen im Hause wie Richard.
-Aber mit zehn Jahren enttäuschte sie ihre Mutter zum
-erstenmal. Von da an immer wieder.
-</p>
-
-<p>
-Sie ging mit Mutter an einem naßkalten Novembertag
-durch die Stadt, Einkäufe machen. Sie war traurig,
-weil alle Leute in den Geschäften unfreundlich waren,
-die Herren dicke Tröpfchen im Bart hatten und die
-Damen in zu kleinen Schuhen gingen, die sicher weh
-taten. Weil sie eine erfrorene Nase hatte und einen
-häßlichen Hut. Deshalb dachte sie an ein Schloß im
-Hochsommer und zerbrach sich den Kopf, wie sie dort
-Rosensträucher und Marmorbrunnen verteilen sollte. Da
-kam ein Bettler. Er war so wie alle anderen Bettler
-auf der Welt. Die selbe verkrüppelte Demut, die
-Geschäfte macht und ihre Krücken schwingt. Schamloses
-Elend. Mutter sagte: &ndash; Gib ihm zwei Kreuzer.
-&ndash; Nein, erwiderte das Kind, ich mag nicht. &ndash; Was, rief
-die Mutter entsetzt, warum? Oh, du bist schlecht. &ndash;
-Ja, sagte sie, ich bin nicht gut, ich kann alle Bettler
-nicht leiden.
-</p>
-
-<p>
-Damals war Mutter sehr böse. Und Ruth sagte
-zuhause: &ndash; Wenn ich alle Bettler wirklich gern hätte,
-müßten sie zu mir kommen, aber ganz. Und ich möchte
-ihnen nie Kreuzer schenken, aber ich mag sie gar
-nicht. &ndash; Da schlug Mutter sie und Richard und Martha
-waren voll Verachtung.
-</p>
-
-<p>
-Denn man mußte gut sein zuhause. Das war wie
-ein Dogma. Richard schenkte jedem Bettler etwas und
-Martha nähte Puppenkleider für Armeleutekinder.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
-Als Ruth zwölf Jahre alt war, sagte sie lächelnd
-zu ihren Freundinnen: &ndash; Natürlich sind wir Juden, aber
-schon lang getauft, doch das macht nichts aus.
-</p>
-
-<p>
-Als sie vierzehn Jahre alt war, erklärte sie:
-&ndash; Unsere Möbel sind häßlich. &ndash; Ich lüge oft, nicht gern
-aber doch oft. &ndash; Wenn ich ganz arm wäre, würde
-ich sicher einbrechen.
-</p>
-
-<p>
-Da wußte man in der Familie: das Kind ist dumm.
-Man muß sie zum Schweigen bringen, sonst macht
-es nichts.
-</p>
-
-<p>
-Und Ruth glaubte, daß sie dumm sei. Nur kränkte
-es sie gar nicht. Sie konnte einfach nie auf die Idee
-kommen, anders sein zu wollen, als sie war. Höchstens,
-daß sie sich wünschte, strähnenglatte blonde Haare zu
-haben und eine griechische Nase.
-</p>
-
-<p>
-Hier aber war die erste große Spaltung zwischen
-ihr und Mutter. Denn Mutter fühlte zu genau, wie
-sehr Ruth ihr Kind war, um diese Aufrichtigkeit zu
-gestatten. Sie empfand es als eine Verletzung.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sagte einmal auf jemanden: Den liebe ich,
-den möchte ich auf der Stelle heiraten. Ich glaube
-wirklich, ich könnte mich wahnsinnig in ihn verlieben. &ndash;
-Aber schämst du dich nicht, rief die Mutter.
-</p>
-
-<p>
-Mutter schämte sich immer. Weil sie einen so
-unmäßigen Stolz in sich trug. Was dieser Stolz wollte,
-wußte sie eigentlich selbst nicht, er hatte etwas sinn-
-und zweckloses. Er erinnerte an die hohen Zimmer,
-die man in den Achtzigerjahren baute, deren Größe
-etwas Leeres und Zugiges an sich hat. Und die nie
-<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
-auszufüllen sind, weil die Kostbarkeiten, nach denen
-sie verlangen, gar nicht aufgetrieben werden können.
-</p>
-
-<p>
-Das, was Mutter wollte, existierte nicht. Und
-deshalb war sie arm geblieben in der Fülle ihrer
-zügellos reichen Empfindungen.
-</p>
-
-<p>
-Wenn Ruth in der Nacht sich im Bett aufrichtete
-und sie war plötzlich ganz wer anderer als am Tage,
-so daß sie ihre eigenen Bewegungen mit süßem Mitleid
-und verborgener Zärtlichkeit beobachtete, dann war
-es genau so, wie wenn sie Mutter beim Schreibtisch
-sitzen sah, mit einer Unzahl Rechnungen, bei denen
-sie sich fortwährend irrte und die sie doch so genau
-nahm. Oder wie wenn sie einem nackten Säugling
-zuschaute, wie er sinnlos mit den winzigen Füßen in
-die Luft strampelt.
-</p>
-
-<p>
-Mutters Reserve der Menschheit gegenüber war
-nur etwas rein gedankliches, äußerlich war sie allen
-vollkommen ausgeliefert. Ihre Haare steckten immer
-schief. Der Mund war zu voll. Die Unterlippe hing
-herunter. Das war aber nicht notwendig. Es war nur,
-weil Mutter eben so gar nicht verstand, in den Spiegel
-zu schauen.
-</p>
-
-<p>
-Ihre dunkelsehnigen Arme hätten Erdarbeit leisten
-sollen. Ihr kräftiger Körper brauchte Bergluft. So daß
-er fast hinfällig scheinen konnte in den Zimmern der
-Großstadt.
-</p>
-
-<p>
-Mutter hatte sich nicht erziehen können und deshalb
-ihre eigenen Kinder nicht, weil die ihr zu ähnlich
-waren. Aber sie hatte einen jüngeren Bruder, der
-<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
-weich und bildsamer war als Lehm. Er war Musiker,
-er war Dichter, er war Maler. Und endigte als
-Zeichenlehrer in einer Mittelschule. Sie hatte ihm zu
-viel geholfen.
-</p>
-
-<p>
-Ihre eigenen Talente hatte Mutter verschleudert.
-In ihrer Jugend war sie die wildeste Tänzerin der
-Stadt. Und trug doch immer abgetretene Schuhe.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav wuchsen die Haare zu lang in den
-Nacken. Nur ein ganz klein wenig, so daß man es bei
-anderen Menschen gar nicht bemerkt hätte. Aber bei
-ihm schien es viel zu viel zu sein. Er wurde in der
-Familie verlacht und als Narr behandelt. Und lächelte
-dann demütig. Ruth ging an ihm vorbei. Sie konnte
-Bettler nicht leiden.
-</p>
-
-<p>
-Mutters Kommode war das interessanteste Stück
-im ganzen Haus. Zweimal im Jahr wurde sie &bdquo;groß&ldquo;
-aufgeräumt. Kein Mensch durfte ins Zimmer kommen,
-nur Gustav und Ruth waren zur Hilfe kommandiert.
-Weil Gustav so schön die einzelnen Päckchen einwickeln
-und mit Spagat zusammenbinden konnte. Und
-weil Ruth es lieber tat, als ins Theater gehen. Der
-dumpfe Lawendelgeruch erweckte in ihr eine müde
-Erinnerung an Geheimnisse, die sie einmal gekannt
-hatte, aber nun nie und nimmermehr erfahren durfte.
-</p>
-
-<p>
-An einem langweiligen Sonntagnachmittag mit
-Regentropfen rief die Mutter Gustav und Ruth zum
-großen Aufräumen. Ruth kam widerwillig, sie hatte
-sich stumpf geschlafen und eine fade Sattheit klebte
-in ihren Haaren, die heute gar nicht unternehmungslustig
-<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
-um die Stirne herumstanden, sondern schläfrig
-nach hinten lagen. Als Mutter die großen Schubladen
-aufzog, mit ihren zu hastigen, etwas blinden Bewegungen,
-bekam Ruth einen dumpfen Druck in den
-Kopf von starkem Lawendelgeruch und wie im Zorn
-sagte sie: &ndash; Alt. Gustav sah verwundert auf. Er hatte
-die Hemdärmeln aufgestreift und seine kleine, gedrungene
-Gestalt, die gerne dick sein wollte, aber nie
-dazu kam, weil er ja immer hungerte, war auf dem
-Sprung, Mutters Wünsche zu erfüllen. Er knüpfte alle
-die braunen, grauen, gelben, weißen Päckchen auf und
-schichtete ihren Inhalt sorgfältig auf dem Boden hin.
-Ruth rührte sich nicht und sagte plötzlich zu Mutter:
-&ndash; Ich möchte Seidenpapier kaufen, weißes und einfärbige
-Bänder. Nicht so in irgend ein Papier und Spagat.
-&ndash; Was fällt dir ein, das wäre viel zu teuer. &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth verstand das nicht. Sie legte sich auf einen
-Teppich und wühlte wie sonst in alten Photographien
-hochschöpfiger Damen und befrackter Herren mit
-Zylindern. In Wickelkindbildern, wo alle immer in
-der gleichen Weise auf dem Bauche liegen. Es langweilte
-sie.
-</p>
-
-<p>
-Gustav pfiff. Er pfiff wunderschön.
-</p>
-
-<p>
-Ruth durchstöberte Briefe, die wie gestochen
-aussahen auf vergilbtem Papier. Sie suchte etwas. Sie
-suchte etwas, um aus der gräßlichen Leere des Sonntagnachmittags
-herauszukommen. Und weil es doch
-ganz und gar unmöglich war, daß die geliebte,
-geheimnisvolle Kommode nichts anderes barg als dieses
-<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
-öde Zeug. Nein, bestimmt nicht. Nicht einmal die
-Schäferinnenspieluhr kam ihr sehenswert vor oder das
-Stammbuch der Urgroßmutter.
-</p>
-
-<p>
-Mutter zeigte ihnen einen Liebesbrief, den sie
-bekommen hatte, als sie sechzehn Jahre alt war. Es
-war der Brief eines überspannten Gymnasiasten und
-schloß mit Selbstmordgedanken. Mutter war sehr stolz
-darauf. Aber Ruth fand ihn so überflüssig aufzuheben,
-wie Großvaters Brautbriefe an Großmutter. Sie wurde
-zornig. Und sie bekam Angst.
-</p>
-
-<p>
-Denn da war noch mehr in dieser Kommode. Mutter
-log. Sie, Ruth, wußte es. Da drinnen lag ein zerbrochenes
-Schicksal, ein Ruin, ein Kampf gegen den Irrsinn. Mit
-dunklen Blicken sah Ruth auf den grauen Scheitel der
-Mutter, wie sie eben vor ihr kniete. Sie fühlte ein
-kaltes, entsetzliches Alter in ihren jungen Händen, das
-alles wußte, das man nicht mehr täuschen konnte. Und
-ihr Mund war greisenhaft erbittert.
-</p>
-
-<p>
-Mutter staubte soeben eine graue Pappschachtel
-ab, die mit einem goldenen Bändchen zusammengebunden
-war, als das Dienstmädchen sie rief. &ndash; Das laß
-stehen, sagte sie zu Ruth und ging hinaus. Ruth warf
-sich auf die Schachtel. Gustav kehrte ihr den Rücken
-zu. Sie streifte das Band los, schob den Deckel
-weg, seine Schrift &ndash; und der große Schnörkel
-bei &bdquo;Liebe&ldquo;. Eine dunkle Tür tat sich auf. Sie bekam
-einen brennenden Schlag auf die Hand. Und da wurde
-es licht, schreiend licht, grell, schmerzhaft ...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
-Mutter schrie etwas, das sie nicht verstehen konnte.
-Und nahm die Briefe und ging hinaus, wutentstellt.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Onkel Gustav, sagte Ruth ruhig und ernst
-und totenblaß. Von wem waren diese Briefe?
-</p>
-
-<p>
-Gustav zitterte am ganzen Leib: &ndash; Warum machst
-du solche Sachen, wenn Mutter es verbietet. Von wem
-die Briefe sind. Ich weiß es wirklich nicht, wirklich
-nicht.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Onkel Gustav, wiederholte Ruth und trat ganz
-nahe zu ihm hin. Du weißt das alles. Aber wenn du es
-nicht sagen willst, wenn du dich nicht traust, so werde
-ich es sagen: in diesen Menschen war Mutter verliebt.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Stimme klang wie höhnende Beleidigung in
-dem dämmernden Zimmer. Die Worte fielen abgehackt
-in das Dunkle und Mutters Rechenbücher lagen auf
-dem Schreibtisch im hintersten Winkel.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Danach habe ich dich nicht fragen wollen. Aber
-eines mußt du mir sagen, wann war es, du? &ndash; und
-sie kniete neben ihm und krallte die Finger ein in
-seinen willenlosen Arm &ndash; wann? war ich damals
-schon groß, wie alt, ein kleines Kind? sag, du mußt!
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du warst ganz klein, eben zur Welt gekommen.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah vor sich einen Horizont, der in gerader
-Richtung in die Höhe steigt. Wo es nicht rechts gibt,
-nicht links, nur das Oben. Und das Oben, der Blick,
-das Band, das glatte, weiche Band.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Weiter, sagte sie hart &ndash; und früher?
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
-&ndash; Er sagte dein Schicksal voraus aus den Sternen,
-erzählte Gustav, der ins Schwätzen kam, &ndash; als Mutter
-dich erwartete. Deshalb ist er auch so viel zu euch
-gekommen.
-</p>
-
-<p>
-Ruth empfand in sich eine graue, steinschwere
-Halle, die sich selbst erdrücken wollte und nur getragen
-wurde durch ihre entsetzliche, hohe Leere. Wo verschnörkelte
-Stühle an den Wänden standen, ganz vereinzelt
-und wo etwas von ihr war, ein Hauch, ehe sie
-selbst noch war, und wo er war, voll und ganz, nur
-daß man ihn nicht sehen konnte. Diese Halle, die sie
-aus den frühen, angstvollen Dämmerstunden kannte.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wann ging er weg, fragte sie kurz. &ndash; Bald darauf.
-Er nahm ein Teil von der Erfindung deines Vaters und
-verwendete sie für seine Zwecke. Er hat viel damit
-erreicht. Aber natürlich wollte ihn dein Vater nicht
-mehr sehen. Er ist übrigens von selbst nicht gekommen
-und &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Schweig, unterbrach sie ihn. Sie fühlte sich umgeben
-von lauter schwarzen, weichen Bändern und
-Spagatschnüren, die alle ineinander übergingen. Fesseln,
-Fesseln.
-</p>
-
-<p>
-Und aus ungeheurer Tiefe heraus quillt dunkel
-empor eine formlose Masse. Die sie nicht modeln darf.
-</p>
-
-<p>
-Sie ist machtlos.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, bat Gustav erschrocken, wenn Mutter davon
-erfährt. Nein, das tust du mir nicht an. Nicht wahr,
-gewiß nicht. Überdies, das was du von verliebt sagst, ist
-natürlich dummes Zeug. Mutter war sehr gekränkt. Er
-<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
-war doch ein Freund von ihr. Auch von deinem Vater.
-Und er war jünger als sie. Und überhaupt, deine Mutter
-war nie verliebt, überhaupt nicht. Wie du nur so etwas
-sagen kannst. Du bist wirklich ein Fratz &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Und du ein Esel. &ndash; Glühende Zornestränen
-standen in ihren Augen.
-</p>
-
-<p>
-Sie trat an das Fenster. Unten wurden die ersten
-Gaslaternen angezündet. Sie stöhnte: was kann ich
-Mutter geben, was kann ich ihr schenken, alles schenken,
-meiner lieben, armen Mutter, Mutter, Mutter &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Zum Abendessen kam Mutter mit verweinten
-Augen. Ruths Hände wurden eiskalt. Und eine harte
-Wut überkam sie. Sie haßte alle Weinenden. Nie konnte
-Mutter ihr das zeigen. Nein, pfui, das war eine
-Schande, nein.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was hast du Mutter wieder geärgert, zankte
-Richard über den Tisch hinüber.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; O nichts, erwiderte sie achselzuckend. Wenn
-Mama so empfindlich ist &ndash; ich kann nichts dafür.
-</p>
-
-<p>
-Sie ging in den nächsten Tagen, in den
-nächsten Monaten an ihrer Mutter vorbei, ohne sie zu
-sehen. Aber in den Nächten erlebte sie alle ihre
-Schmerzen hundertfach wieder. Sie vergaß die eigene
-Sehnsucht vor der Sehnsucht, an der Mutter litt, die
-eigenen Qualen vor Mutters Qualen und ihren großen
-Zorn vor Mutters unsäglichem Schmerz, der ja so nicht
-zum Ausdenken furchtbar sein mußte, weil er nicht
-wagte sich zu erkennen, sich einzugestehen, weil Mutter
-täglich über den Rechenbüchern saß und die Liebe zu
-<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
-ihren Kindern für ihren einzig würdigen Lebenstrieb
-erklärte. Und der doch so an der Oberfläche war, daß
-Mutter es sie sehen ließ, als sie weinte. Nein, deshalb
-mußte sie Mutter bei Tag ausweichen. Und wieder in
-die kleinen Vorstadtgärten fliehen.
-</p>
-
-<p>
-Zuhause aber wurde sie unerträglich.
-</p>
-
-<p>
-Als Mutter einmal einem Gast bei Tisch eine glänzende
-Schilderung Großvaters gab, der ein Kavalier war vom
-Scheitel bis zur Sohle, nur von Geld habe er freilich
-wenig verstanden, warf Ruth ein: &ndash; er muß ein roher,
-betrunkener Mensch gewesen sein. Daß er seine Bedienten
-geprügelt hat, finde ich ekelhaft und ich ärgere
-mich noch heute darüber, daß er das ganze Vermögen
-verspielt hat. Es ist doch gräßlich unintelligent, wenn
-einem fremde Pferde mehr wert sind als die eigenen
-Kinder.
-</p>
-
-<p>
-Und Ruth sagte, wenn Mutter Hexenglauben und
-Wahrsagerwesen als Schwindel und Unsinn verdammte:
-&ndash; Ich glaube bestimmt an alles Übernatürliche &ndash; obwohl
-sie überhaupt nichts glaubte und ihr Leben nahm, wie
-der Tag es hinstreute, mit einem Grauen, das zu tief
-war, um über sich selber nachzudenken.
-</p>
-
-<p>
-Und Ruth sagte: &ndash; Ich gehe in die Kirche, nicht
-weil ich muß, sondern damit die Leute sehen, daß wir
-auch Christen sind. &ndash; Dabei ging sie überhaupt nie
-zur Kirche.
-</p>
-
-<p>
-In diesen Tagen konnte sie nichts essen als altes
-Brot und harte, unzerbeißbare Dinge, an denen sie sich
-<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
-die Kiefer wund riß. Ein fortwährendes Übelsein drückte
-ihr den Magen leer. Und die große Bosheit, die in
-ihr war, würgte die Kehle, zerfraß die Haut und zehrte
-an den braunen Kinderhänden.
-</p>
-
-<p>
-Sie wußte nicht, ob diese Bosheit etwas ihr eigenes
-war. Oder ob sie sie mitgebracht hatte aus dem
-Zimmer mit der braunen Holztür. Oder ob es die
-Bosheit des Schicksals war, das sie zwang, Sprachrohr
-zu sein für ein unterdrücktes Leben, unterdrückte
-Sehnsucht und unterdrückte Kraft. Nur Sprachrohr
-oder war noch etwas in ihr, das ihr die Augen offen
-hielt mit großen, weichen, weißen Händen. Daß sie
-nicht einmal blinzeln konnte und nur die heißen Tränen
-brennen fühlte.
-</p>
-
-<p>
-Sie ließ von dem müden Druck der Spätsommernächte
-den Kopf in ihr kleines Kissen pressen. Und sie
-bohrte das Gesicht hinein, um nicht denken zu müssen.
-Sie sehnte sich maßlos nach einer Bonne, die sie als dreijähriges
-Kind gepflegt hatte und täglich vor dem
-Einschlafen an ihrem Bett gesessen war. Wenn die
-wieder hier sein könnte, wäre alles besser. Sie wußte
-nicht mehr, wie das Mädchen ausgesehen hatte, aber
-sie erinnerte sich an eine kühle, behutsame Hand und
-weiße Mullgardinen vor dem Fenster.
-</p>
-
-<p>
-Wenn sie aber Mutters Stimme aus dem Nebenzimmer
-hörte, sagte sie halblaut in das heißgehauchte
-Kissen hinein: er ist ein Schuft &ndash; ich liebe ihn &ndash; er
-hat Vater bestohlen &ndash; ich liebe ihn &ndash; er hat uns
-gemordet &ndash; ich liebe ihn &ndash; er hat unsere Zimmer
-<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
-trüb und drückend gemacht und unser Leben mißtrauisch
-und eng &ndash; ich liebe ihn &ndash; er sucht das Böse, weil
-das Licht ihn verlassen hat &ndash; ich liebe ihn &ndash; ich habe
-ihn immer geliebt &ndash; ich liebe &ndash;
-</p>
-
-<p>
-So das Sprachrohr. Und unter dem Bett lag,
-staubdick geschichtet, wehrlose Wut.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-4">
-<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
-Onkel Gustav
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">O</span><span class="postfirstchar">nkel</span> Gustav war klein. Er war nur ein ganz
-wenig kleiner als die andern und doch glaubte er, an
-ihnen hinaufsehen zu müssen. Er spielte Geige. Um
-ein klein wenig schlechter, als man spielen muß, um
-ein helles Leben zu haben. Er malte. Und es hätte nur
-eines Funkens Kraft, eines Fußtritts Persönlichkeit bedurft
-und er wäre ein großer Künstler geworden. So
-war er klein, sogar sehr klein.
-</p>
-
-<p>
-Ein Sprung und er hätte den Gipfel erreicht. Zu
-diesem Sprung kam er nie. Und so blieb er hoch oben
-hängen, über dem Abgrund. Und die von unten
-lachten ihn aus.
-</p>
-
-<p>
-Als Onkel Gustav drei Jahre alt war, waren es
-seine Zartheit, seine rührend fragende Stimme, seine
-samtenen, etwas zu großen Augen, die seine träge
-Mutter das erstemal in ihrem Leben lebendig machten.
-</p>
-
-<p>
-Sein Vater behandelte ihn wie einen überempfindlichen
-Rassehund. Die Mutter liebte seine glänzenden
-Locken. Und die große Schwester stürzte sich auf ihn
-in zügelloser Leidenschaft. Die vielleicht nicht ganz
-ihm galt, sondern auch der Freude zu herrschen,
-herrschen zu dürfen über einen andern, während ihre
-fordernden Finger sich krümmten unter der Zuchtrute
-des väterlichen Hauses.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
-Onkel Gustavs zarte, etwas bräunliche Haut hatte
-einen leicht verwelkten Geruch an sich. Der angenehm
-war, wie der Duft ermüdeter Rosen. Und lähmte.
-</p>
-
-<p>
-Vor dem Hause seiner Kindheit war ein tropisch
-üppiger Garten gewesen. Und alles wurde verspielt.
-</p>
-
-<p>
-Gustav wußte nie, was wirklich um ihn vorging.
-Das teilte er mit der Schwester. Sein Zuhause war ein
-Königschloß, Vater der König, Mutter die Königin,
-ganz wie im Kindermärchen. Und die große Schwester
-erklärte ihm die Welt. Die richtig gezeichnet war, nur
-mit zu langen Strichen. So daß überall spitze Ecken
-waren und Anhängsel. Doch das konnte er nicht wissen.
-</p>
-
-<p>
-Er hatte eine runde Kopfform. Eine runde, etwas
-kindische Nase, runde Augen. Er geigte in weichen,
-abgerundeten Tönen, die nicht zu Ende kommen wollten.
-Mischte auf seinen Bildern mollige, runde Wolken ineinander
-und seine griechischen Vokabeln bissen eine
-in die andere, immer im Kreis.
-</p>
-
-<p>
-Im Gymnasium war er durchgefallen. Vater verachtete
-ihn. Mutter weinte. Die Schwester erklärte, er
-sei ein Künstler und die Prüfer gehören gehenkt.
-</p>
-
-<p>
-Die Dienstboten verspotteten ihn. Seine Kameraden
-gingen mit ihm um wie mit einem verwachsenen Kind.
-Aber er hatte einen Freund, der groß und stark war,
-etwas zu klug und ganz gemein blond. Der studierte
-ihn genau. Bis er mit derselben nachlässigen Gebärde
-die Schulbücher über den Tisch warf, die Haare, genau
-wie er, etwas zu lang in den Nacken trug und eine
-ebenso tolle Zusammensetzung französischer Gassenhauer
-<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
-pfeifen konnte. Dann verließ er ihn. Er galt für
-sehr interessant. Und kam bei allen Prüfungen durch.
-</p>
-
-<p>
-Alte Damen hatten ein unverschämtes Bedürfnis,
-sich Gustavs anzunehmen. Der Kondukteur der Straßenbahn
-behandelte ihn mitleidig lächelnd, weil er ihm zu
-viel Trinkgeld gab.
-</p>
-
-<p>
-Aber alle Hunde hatten ihn gern. Weil er nicht
-besser sein wollte als sie. Er liebkoste sie wie eine
-fremde, seltsame Sache, der man nicht zu nahe gehen
-dürfe, er respektierte sie. Als er sehr klein war, sagte
-er den großen Jagdhunden seines Vaters &bdquo;Sie&ldquo;. Später
-sprach er nicht mehr mit den Hunden. Er wußte, daß
-sie ihn nicht verstanden. Aber er lebte mit ihnen und
-sie durften ihr eigenes Leben führen. Was ihm versagt
-war. Das wußte er nicht. Sie saßen neben ihm beim
-Schreibtisch, wenn er schrieb, neben ihm, wenn er aß,
-sie lagen neben seinem Bett. Sie hatten alle keine
-Namen. Aber seine Schwester gab ihnen englische
-Sportsnamen. Er konnte nichts dagegen machen.
-</p>
-
-<p>
-Junge Frauen liebten ihn plötzlich und stürmisch.
-Ja, sie verehrten ihn sogar. Er sah in jeder eine Mutter
-Gottes. Und sie waren sein Stolz.
-</p>
-
-<p>
-Er hatte eine Schreibtischlade voll Liebesbriefen.
-Davon wußte die Schwester nichts. Er hob das nicht
-auf aus Eitelkeit. Aber wenn er hungrig war und erfroren,
-nahm er sie vor und wurde warm und glücklich.
-Er lebte von dem Glauben der Frauen an ihn, der
-immer gar zu rasch verflogen war. Das wußte er nicht.
-Als er achtzehn Jahre war, verliebte sich eine blonde,
-<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
-junge Wilde in ihn. Sein Vater wollte ihn gerade durch
-die Schule zwingen. Sie kam ins Haus und erklärte
-wutsprühend, er brauche keine Prüfungen, er käme in
-die Fabrik ihres Vaters, er sei geboren, Massen zu
-lenken, so wie er unlängst mit dem Werkführer gesprochen
-...
-</p>
-
-<p>
-Es gab Augenblicke in Gustavs Dasein, die wie
-rote Raketen emporstiegen, leuchtend, hoch. Und dieses
-falsche Feuer durfte sein Leben erwärmen. Denn er
-hatte ein gläubiges Herz.
-</p>
-
-<p>
-So ein Augenblick war es, als sie, die blonde,
-junge Wilde vor seinem Vater stand. Sie war überflutet
-von einer weißgelben Märzsonne. Und draußen schmolz
-der Schnee. Sie schlug mit ihrer etwas zu großen Faust
-auf den Tisch, daß die Gläser klirrten und die dunklen
-Eichenmöbel ganz verwundert schienen. Vater war auch
-ganz verwundert. Und er selbst war so glücklich, daß
-er vergaß, um was es sich handelte.
-</p>
-
-<p>
-Dann war er drei Wochen verlobt. Länger ließ es
-die Schwester nicht zu. Denn sie wußte ja, daß er ein
-großer Künstler werden würde. Und da glaubte er es
-auch. Die blonde, junge Wilde heiratete später einen
-Ofenröhrenfabrikanten.
-</p>
-
-<p>
-Gustav konnte nicht über die Straße gehen, ohne
-daß sich ein blondes Mädel an seine Rocktaschen hing.
-Und er liebte sie alle. Nur wußte er nicht, sollte er
-sich so benehmen, wie seine Freunde es taten oder sich
-der strengen Moral der Schwester fügen. Während er
-sich das überlegte, verschwand das blonde Mädel.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
-Eine grobknochige Malerin hatte ihn in einer
-Ausstellung untergebracht, sechs Wochen lag er in
-ihrem Atelier herum, als ihr erklärter Liebling. Ihre
-Freundinnen stutzten seine zu langen Locken. Und ihre
-wilden Umarmungen standen wie riesige Raketen auf
-seinem Lebenshimmel. Dann holte ihn die Schwester.
-Die Malerin reiste nach Paris.
-</p>
-
-<p>
-Sein Zimmer wurde immer enger. Vater und Mutter
-waren tot. Das viele Geld fort. Er wußte nie genau,
-wie es gekommen war. Er bastelte eine eigene Liegestatt
-für seinen großen Terrier. Schrieb eine rechtsphilosophische
-Abhandlung, lernte indisch. Des Abends
-ging er zu seiner Schwester. Sie setzte ihm auseinander,
-er sei ein verfolgter Märtyrer seiner Kunst. Sie schmiedete
-die schwierigsten Intriguen gegen seine Feinde, schickte
-ihn zu großen Herren betteln. Schrieb Gesuche für ihn.
-Er empfand ihre Geschäftigkeit angenehm um sich
-herumspülen, wie lauwarmes Wasser. Und steckte die
-Finger hinein und spielte drinnen mit den Zehen. Trank
-Limonade und hielt die Kinder auf seinem Schoß. Nach
-jedem neuen Schicksalsentwurf, den sie machte, ging er
-lächelnd nachhause. Seine dunkle, schmutzige Straße
-beleuchteten grellrote, kalte Lichtfetzen. Und in seinem
-Zimmer waren Wanzen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du mußt nicht so ungeduldig sein, sagte er zu
-der Schwester, wenn sie klagte und in verzweifelt
-großen Schritten durch das Zimmer jagte, &ndash; nein, schau,
-eigentlich sind wir &ndash; er sagte immer wir &ndash; stark im
-Hinaufsteigen begriffen. Die Exzellenz hat mir
-<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
-versprochen, ich bekomme die Violinstunden bei dem
-jungen Prinzen. Also, bin ich dort, dann ist alles fertig.
-Ich spiele im Salon vor. Lauter Fürsten und solche
-Leute. Man arrangiert ein Wohltätigkeitskonzert. Ich
-bin dabei. Dann kann überhaupt niemand anderer für
-die Dirigentenstelle in Betracht kommen. Setze ich dann
-erst meine Kompositionen durch &ndash; du wirst schon
-sehen. Überdies habe ich die größten Aussichten, daß
-meine Feuilletons gedruckt werden. Ich habe zwar erst
-eines, aber die andern sind fertig im Kopf. Wart&rsquo; nur,
-nächstens bring ich dir die Zeitung.
-</p>
-
-<p>
-Eines Abends kam er bleich vor Erregung: &ndash; Ich
-bin an einem technischen Unternehmen beteiligt. Eine
-Riesensache. Ich darf es nicht näher sagen. Ich glaube,
-ich habe auch schon eine Erfindung gemacht. Aeroplan.
-</p>
-
-<p>
-Drei Monate später hatte er sein letztes Geld verloren.
-Ein Zufall verschaffte ihm eine Stelle als Zeichenlehrer
-in einer Provinzstadt. Die Schwester war böse.
-Warum hatte er ihren Rat nicht befolgt, nicht das
-Gymnasium gemacht?
-</p>
-
-<p>
-Gustav kam in eine Welt, die aus Fabrikschloten
-bestand und holprigen Gassen. Grauem Nebel, einem
-grauen Haus, feucht riechenden Kleidern, kaltem Rauch.
-Er mußte täglich eine halbe Stunde in der Früh in die
-Schule gehen. Mit zerrissenen Sohlen und fadem Kaffeegeschmack.
-Er ging durch eine gerade, lange Straße
-voll Schwerfuhrwerken mit fluchenden Kutschern, schrillen
-Schulkinderschreien, Papierfetzen. Er fürchtete sich vor
-seinen Vorgesetzten, wie als Kind vor den Lehrern. Er
-<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
-konnte die Vorschriften so wenig erlernen, wie als
-Kind die Aufgaben. Er fürchtete sich vor seinen
-Schülern, die ihn verachteten, weil er mit ihnen
-höflich war.
-</p>
-
-<p>
-In der Stadt hieß es allgemein, er schreibe ein
-Drama. Ein ganz modernes, verrücktes. Er bekam vier
-Liebesbriefe von höheren Töchtern. Die er sorgfältig
-aufhob in der bewußten Lade.
-</p>
-
-<p>
-Die Tochter seiner Hausfrau liebte ihn. Sie war
-stark geschnürt und hatte Blumen auf dem Hut, die
-aussahen wie von Papier. Und sie brachte ihm täglich
-das Frühstück. Auch bat sie ihn, ihr Zeichnungen zu
-machen, nach Photographien gewesener Liebhaber. Was
-er geschickt und sorgfältig ausführte. Aber sie war nie
-ganz zufrieden. Er merkte es nicht. Aus der Bluse
-heraus guckte färbige Unterwäsche.
-</p>
-
-<p>
-Eines Abends war er bei seinem Direktor eingeladen.
-Das Zimmer war zum Ersticken rauchig. Die
-Frau des Direktors hatte eine hart abgerundete Stimme.
-Sie sprach sehr laut. Und am meisten mit einem breitschultrigen
-Mathematikprofessor. Von Gustavs Anwesenheit
-schien sie überhaupt nichts zu bemerken. Gustav
-dachte: unangenehm, daß sie so eine weiße Haut hat.
-Wie ein frisch enthülltes Denkmal. Oder Stiegen, die
-einen schwindeln machen. Auch schaut sie nach allen
-Seiten auf einmal, als ob sie vierfach schielte. Wie sie
-wohl aussieht wenn sie schläft ... Und dann sehnte
-er sich nach seinem Terrier und dachte nach, ob der
-Ofen in seinem Zimmer schon ausgegangen sein wird,
-<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
-bis er nach Hause kommt. Als er fort ging und schlaftrunken
-über die dunklen Stiegen taumelte, rief ihm
-die Direktorsfrau nach: &ndash; Hallo, Sie, Herr Zeichenlehrer,
-oder wie Sie heißen, vergessen Sie Ihren Hut nicht,
-da, gute Nacht! &ndash; Er fühlte einen heftigen Schlag auf
-das Hinterhaupt und am nächsten Morgen eilte er sich,
-in die Schule zu kommen, vielleicht steht die Frau des
-Direktors beim Fenster, vielleicht geht sie gerade Einkäufe
-machen ... vielleicht ...
-</p>
-
-<p>
-Er erzählte den Jungen von der griechischen Kunst,
-daß selbst die Dümmsten und Klotzigsten Augen und
-Ohren aufrissen. Er sprang über das Reck im Turnsaal
-und kaufte seinem Hund eine Extrafleischportion. Er
-merkte nicht, daß der Nebel ihm ins Zimmer kroch und
-der Ofen rauchte.
-</p>
-
-<p>
-Zu Weihnachten bat ihn der Direktor, seine Frau
-zu zeichnen. Er saß in einem warmen Zimmer, mit
-glatten, dunklen Möbeln und loderndem Kamin. Brand,
-raketenroter Brand. Vor dem Fenster der geradwegige
-Schulgarten, abgerundet im Schnee. Sie saß vor ihm
-mit einer Handarbeit, weiß und überreif, wie eine süße,
-tropische, wie eine ungekannte, ungeahnte Frucht. Das
-Zimmer roch nach Mandelblüten. Und ihr Haar war
-schwarz und zu glatt nach hinten gelegt.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Sehen Sie, sagte er, hier kann man zeichnen. Das
-ist doch was anderes als zuhause, immer kalt, und
-wenn ich meinen Hund nicht hätte, &ndash; es kam ihm vor,
-als ob er etwas Unpassendes gesagt hätte, er wurde
-dunkelrot und machte einen Strich quer durch die ersten
-<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
-Umrisse ihres großzügigen Gesichtes. Sie sah ihn an,
-beobachtend, wie ein neues Möbelstück, ob es brauchbar
-wäre. Und er dachte: nein, die hält mich nicht für
-groß, nein, die hebt mich nicht in den Himmel, sie
-traut mir gar nichts zu, rein gar nichts. Und sie hat
-recht. Einen Augenblick dachte er in glühendem Haß
-an seine Schwester. Und dann: Es ist alles eins. Aber
-ich zeichne sie jetzt nur einmal und dann nie mehr. Ich
-zeichne sie, wie sie ist, o so ganz, wie sie ist.
-</p>
-
-<p>
-Und aus dem grauweißen Papier heraus wuchsen,
-Zug um Zug, unterdrückte Entbehrung und uneingestandene
-Wünsche. Der bleiche Widerschein ihres
-Körpers und Mandelduft. Das Gefängnisgitter ihres
-Kinderbettes und der Brief, mit dem sie die Werbung
-ihres Mannes beantwortet hatte. Gustav wußte alles
-und er, der nur sein eigenes unechtes Bild gekannt
-hatte und die blonden Madonnen mit den Liebesbriefen,
-er sah ein Leben vor sich und wieder aufwachen und
-bluten unter seinen Händen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Bring dem Herrn Professor eine Schale Tee,
-sagte sie zu ihrem kleinen Sohn, der etwas hervorstehende
-Augen hatte, wie sein Vater. Ihre Stimme
-war wie Schläge gegen das Hinterhaupt. Da war die
-Zeichnung fertig.
-</p>
-
-<p>
-Sie wurde rot, als sie sie sah. Und sagte nur
-Danke. Gustav ging.
-</p>
-
-<p>
-Er traf sie das nächstemal Anfang Mai in der
-Dämmerung auf dem Friedhof. Er ging gerne auf dem
-<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
-Friedhof spazieren mit seinem Hund. Er liebte Zypressen
-und fühlte sich so seltsam unbehelligt.
-</p>
-
-<p>
-Die Blätter dufteten nach dem Sich-schon-geöffnet-haben.
-Die Erde auf den offenen Gräbern war tiefschwarz.
-Sie kam ihm entgegen, schimmernd und licht, wie
-ein ganz weites und reiches Ährenfeld in der Julisonne.
-Ein Schlag auf den Hinterkopf. Er küßte ihre
-Hand, langsam und vorsichtig. Sie sah auf dem Weg
-vor sich dicke, runde Kieselsteine. Die hervorstehenden
-Augen ihres Mannes. Aber ringsum die Blätter waren
-grün und zart und jung und die Erde schwarz. Sie
-nahm seinen weichen, knabenhaft lockigen Kopf und
-küßte ihn. Große leuchtende Rakete. Und jeder ging
-seines Weges.
-</p>
-
-<p>
-Am andern Tag warf ihn seine Hausfrau hinaus.
-Er hatte nicht beachtet, daß ihre Tochter ihm durch
-nunmehr schon zwei Wochen das Frühstück nicht brachte.
-Er war ein unanständiger Mensch. Und der Hund
-machte alles schmutzig. Auch wollte ein anderer einziehen.
-</p>
-
-<p>
-In der Schule hatte er staatsfeindliche Reden geführt.
-Sein verrücktes Drama kam ewig nicht zum
-Vorschein. Er ging herum wie in berauschtem Schlaf,
-in einer andern Welt. Was ihm diese Welt nicht verzeihen
-konnte. Er war gar nicht so dumm, wie er
-aussah, zum mindesten machte er keine genügenden
-Dummheiten. Er zog ohne Recht die Aufmerksamkeit
-auf sich. Das war unverschämt. Er beantwortete einen
-Backfischbrief höflich und herzlich. Die Eltern fingen
-ihn auf. Die Empörung stieg. Er wurde hinausgeworfen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
-Als er seine kleine Stube räumte mit dem zu
-kleinen Eisenofen, der immer rauchte, weinte er. Er
-weinte, wie ein kleines Kind, hilflos und lange mit
-großen Tränen, bis sein Gesicht verschwollen war und
-sein Denken verdumpft. Und er schaute aus dem papierverklebten
-Fensterchen über gleichgültige Dächer und
-Schornsteine in den grauen Nebel. Der das erste war,
-was er in seinem Leben frei und allein gesehen hatte.
-Denn hier war die Schwester nicht dabei gewesen. Und
-der fade Ruß deckte nur eine weiße üppige Blässe, ein
-unendliches Ährenfeld weit, weit dahinter im Winde.
-</p>
-
-<p>
-Er konnte nicht atmen in den letzten Tagen. In
-seiner Kehle saß das Hierbleibenwollen. Er verteidigte
-sich gegen niemanden, er sprach mit niemandem, er
-haßte niemanden, er sorgte nur für das Essen seines
-Hundes. Er liebte jedes Schild den weiten Schulweg
-entlang. Die Buchstaben standen schwarz und steif auf
-dem nicht mehr weißen Hintergrund.
-</p>
-
-<p>
-Es war unmöglich abzureisen. Es war unmöglich
-zu bleiben.
-</p>
-
-<p>
-Und er sah sie nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-Da traf er einen erwachsenen Schüler auf der
-Straße, der ihn grüßte. Einen großen, etwas dummen
-Menschen mit treuen Bewegungen. Er sprach mit ihm.
-Und bat ihn, ihn zum Bahnhof zu begleiten. Er kaufte
-ein Billet. So mußte er reisen.
-</p>
-
-<p>
-Und er sah sie nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-Er saß in der Bahn an einem nachtschwarzen Nachmittag,
-in dem stickigen Dritter-Klasse-Kupee, zusammengepfercht
-<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
-mit Fabriksarbeitern und wichtigen
-Kleinbürgern. Unten fror man entsetzlich in den Füßen
-und oben fraß sich schmieriger Zigarrenrauch ins
-Gesicht, der noch den Speichel aller der ungepflegten
-Münder in sich hatte.
-</p>
-
-<p>
-Gustav fühlte sich hier wieder groß. Er wußte,
-daß alle die Leute um ihn herum nicht einmal ahnen
-konnten, welche Schmerzen er litt. Er fühlte sein
-Schicksal unbändig schwer und mächtig vorne auf den
-Schienen liegen. Die Lokomotive stapfte mit ihrem
-eisenharten Leib darüber hin.
-</p>
-
-<p>
-Eine süße Wollust betäubte ihn. Sein Vater mußte
-einmal eine sehr schöne Frau geliebt haben. Und er
-schlief ein.
-</p>
-
-<p>
-Dann war er wieder ein kleiner, verschreckter
-Bettler, der zu seiner Schwester ging und sich von
-ihr auszanken ließ mit harten Worten. Deren Ungerechtigkeit
-er wohl kannte. Und die er nicht
-beantwortete.
-</p>
-
-<p>
-Er verstand nicht, sich zu ernähren. Und auch
-nicht, zu verhungern. So ließ er sich in die Mittelschule
-der Stadt hineinprotegieren und ging Mittwoch und
-Samstag zu seiner Schwester essen. Dort war er nicht
-mehr, als Mutters Bruder, ein höheres Wesen, sondern
-trotzdem er Mutters Bruder war, ein trauriger Narr.
-Man war gut mit ihm. Und Richard und Martha wurden
-sehr herablassend.
-</p>
-
-<p>
-Eines Tages, als er einige Heller mehr hatte als
-nichts, ging er an einer kleinen Ansichtskartenhandlung
-<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
-vorbei. Das ganze Fenster war voll grellfarbiger Gebirgslandschaften,
-schmachtender Mädchenköpfe, Blumenstücke,
-Liebesszenen. Er liebte Ansichtskarten. In
-seinem Zimmer hingen immer abwechselnd sechs Stück
-an der nackten Wand. Nicht mehr und nicht weniger.
-Mit Reißnägeln befestigt.
-</p>
-
-<p>
-Er ging in das Geschäft und unterhandelte lang
-mit der kleinen, blonden Verkäuferin. Dann kaufte er
-ein weißes Kaninchen auf grasgrünem Hintergrund.
-Obwohl er selbst es häßlich fand.
-</p>
-
-<p>
-Er kam wieder jede Woche, jeden Tag. Gisa, die
-kleine Verkäuferin, hatte zu wenige und zu lichte Haare
-und dumme kleine Zähne, die übereinander lagen. Sie
-war nicht mehr ganz jung und doch kindlich zart. Sie
-liebte ihn und er fror alle Abende allein in seinem
-dunklen Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Er zeichnete Ansichtskarten für das Geschäft. Eines
-Abends, als sie ihm zusah, küßte er sie auf die Stirne.
-Sie lehnte sich an ihn und sagte, sie seien verlobt und
-ihr häuslicher Herd werde ein Paradies sein, wie keines
-in der Welt. Er war erstaunt und sehr glücklich.
-</p>
-
-<p>
-Sie waren lange verlobt. Sie verehrte seinen Geist
-und seine Kunst und plapperte ihm alles nach. Es kam
-drollig heraus, in ihrem Deutsch, das vom Dialekt nicht
-ganz zu reinigen war.
-</p>
-
-<p>
-Er war glücklich. Nur konnte er zornig werden,
-wenn ihr Bruder, ein Soldat, nach Wirtshaus roch und
-ihre Mutter wollene Strümpfe auf den Tisch legte, auf
-dem eine goldene Vase mit verwelkten Gräsern stand.
-<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
-Dann schlug er auf den Tisch mit der Faust. Sie weinte
-hysterisch und zu laut.
-</p>
-
-<p>
-Sie hätten sicher geheiratet, wenn er das Geheimnis
-ihrer Verlobung nicht doch zu zeitlich Mutter
-verraten hätte. Sie zog ihn vor das Grab seines Vaters
-und beschwor ihn, seinen toten Eltern diese Schmach
-nicht anzutun. An sein väterliches Haus zu denken. An
-seine Erziehung. Er floh vor ihr. Sie ließ nicht locker.
-Sie holte ihn von der Schule ab, sie lauerte des
-Abends auf ihn vor der Haustür. Es kam zu häßlichen
-Szenen zwischen ihr und Gisa, wo er kaum die einzelnen
-Worte verstand und sich fragte, ob man denn so
-schreien könne, ohne betrunken zu sein.
-</p>
-
-<p>
-Und Mutter siegte. Mutter war die Stärkere.
-Mutter war sehr stark.
-</p>
-
-<p>
-Er aber schrieb, als alles endgültig vorüber war,
-seinen ersten und einzigen Brief an die Frau des
-Direktors. Er wollte ja nur wissen, ob sie lebe, ob sie
-gesund sei, ganz gewiß gesund. Es war vielleicht ein
-wunderbarer Brief. Der nie beantwortet wurde.
-</p>
-
-<p>
-Das war vor einigen Jahren. Seither führte man
-Gustav nicht in das Zimmer, wenn Gäste da waren.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Ruth ging an einem staubigen Spätsommerabend
-durch den großen, öffentlichen Park. Die Blätter hingen
-welk an den Bäumen, zu kraftlos, um sich abzubröckeln.
-Und zogen alle Säfte nach unten. Während graue
-Dämmerung die Wipfel drückte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
-Auf den braungelben, eisernen Klappsesseln saßen
-in langen Alleen Liebespaare. Die Sesselfrau humpelte
-zwischen ihnen herum und kontrollierte sie. Und jedes
-hatte ein Gegenüber. Das saß schon dort seit Mai
-und nichts hatte sich geändert.
-</p>
-
-<p>
-Vom Kaffeehaus herüber spielte die Kapelle
-Ouvertüren und Operettenlieder. Eintönig und zu
-rasch. Alles war hier so langsam und müde. Runde,
-dunkle Holzreifen trennten den Rasen vom Weg. Aber
-der Kies lag verstreut noch weit im grauen Gras.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte daran, daß sie möglichst spät nach
-Hause kommen wollte. Daß sie vergessen hatte, die
-Schuhe vom Schuster abzuholen. Daß sie ihren neuen
-Koh-i-noor verloren hatte.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Sohlen spürten, daß sie bei jedem Schritt in
-dem zerwühlten Sand etwas hinter sich ließen, das
-dunkel war und weich und wenn man ganz hinsah,
-tief hinunterging. Abgrund. Und ein chemischer Geruch
-aus trübgelben Phiolen. Eine Beethovensonate, die
-gerade verklang und doch lebte, obwohl sie ohne Verständnis
-gespielt worden war.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Guten Abend, Onkel Gustav, sagte Ruth, tottraurig.
-&ndash; Guten Abend, Ruth, bist du auch hier. &ndash; Der
-große Terrier preßte sich dicht an seinen rechten Fuß.
-</p>
-
-<p>
-Sie setzten sich in eine Allee, in die das gelbe
-Licht der Gaskandelaber nicht mehr dringen konnte.
-Ruth zeichnete mit der Fußspitze in dem bleichen Sand
-runde, dunkle Furchen. Sie sagte: &ndash; Weiß Gott, wer da
-heute schon ausgespuckt hat!
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
-Der Terrier bekam auch einen Stuhl und legte
-den Kopf auf Onkel Gustavs Schulter.
-</p>
-
-<p>
-Sie dachte, es sei doch langweilig hier zu sitzen
-mit Onkel Gustav und was wohl Richard dazu sagen
-möchte.
-</p>
-
-<p>
-Da sagte Onkel Gustav leise: &ndash; Sie werden böse
-sein, wenn du zu spät zum Abendessen kommst.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ach was, jetzt bleib ich hier. Was mir schon daran
-liegt. &ndash; Das solltest du nicht tun, Ruth, sagte Onkel
-Gustav mit sanfter, fast demütiger Stimme. &ndash; Warum
-kränkst du Mutter in letzter Zeit so viel?
-</p>
-
-<p>
-Ruth ärgerte sich rasend über diese, seine Stimme.
-&ndash; Was soll ich tun, sagte sie hart, mir alles gefallen
-lassen, so wie du?
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav schwieg. Dann murmelte er: &ndash; Du
-hast recht. Und dann wieder, nach einer Pause. &ndash; Nimm
-dich in acht!
-</p>
-
-<p>
-Sie schämte sich für ihre Worte. Und flüsterte
-nur: &ndash; Aber du.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich, Ruth, &ndash; und sie spürte sein Lächeln durch die
-Dunkelheit, daß ihr war, als könne sie nie wieder froh
-werden. &ndash; Nein, mit mir ist nichts mehr zu machen. Du
-mußt jetzt nichts andres sagen, Ruth, nein wirklich
-nicht. Nicht heute. Vielleicht bei Tage, wenn wir uns
-auf der Straße treffen oder wenn ich bei euch bin und
-Richard ist unverschämt mit mir. Dann weiß ich auch
-nicht, was ich jetzt weiß, denn ich bin sehr schwach.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Aber so reiß dich doch los, schrie Ruth, daß
-der Terrier erschrocken auffuhr.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
-Die Gebüsche hinter ihnen waren näher gekrochen.
-Legten sich ihnen fast auf den Rücken mit all der
-toten Hitze, die sie den Sommer durch verschluckt
-hatten. Ganz nahe. Und schwer.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du mußt acht geben! wiederholte Onkel Gustav
-dumpf. Und ihr war, als sähe sie dicht neben sich, in
-einem alten verblichenen Spiegel, ihr eigenes Bild.
-Kaltes Grauen machte die Finger steif.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Von mir darfst du nicht sprechen, fuhr er
-fort. Stell dir einen Wurzelbund vor, den die Erde
-ganz fest in sich hineingefressen hat. Nie mehr herausziehen.
-Manchmal glaub&rsquo; ich, es gibt irgendwo um mich
-herum ein Fenster, wenn ich da durchsehen könnte,
-ich sähe alles richtig. Aber Mutter hat das nicht zugelassen.
-Ich mußte alles durch ihr Fenster sehen.
-Das ist nicht aus reinem Glas. Deshalb haben meine
-Bilder auch etwas Verzeichnetes. Du mußt achtgeben,
-Ruth! Wie du mir da entgegengekommen bist, ich bin erschrocken;
-du hast mir so ähnlich geschaut, es war
-derselbe Rhythmus im Schritt, eigentlich kein Rhythmus.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Onkel Gustav, ich habe dich sehr lieb.
-</p>
-
-<p>
-Es war ganz dunkel geworden. Und die nächsten
-Bäume in der Allee standen wie wachende Ungeheuer,
-riesengroß, verworren, unankämpfbar.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich fürchte mich, sagte Ruth in der entsetzlichen,
-toten Beklommenheit. Hier, vor allem. Aber
-noch mehr, wenn wir weggehen. Die Menschen drüben
-im Kaffeehaus bei der Musik, sie sind nur dort so
-<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
-glatt und unschädlich. Wenn sie jetzt hieherkämen, sie
-wären wie die Räuber im Wald, Verbrecher &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Und er sagte
-keuchend, kaum hörbar: &ndash; Die Blätter faulen im Erdboden,
-damit die Wurzeln Nahrung bekommen. Die
-Tiere fressen einander auf. Und die Menschen, Ruth,
-sind alle Mörder. Aber unsere Nächsten &ndash; hörst du,
-Ruth, hörst du, &ndash; unsere Nächsten, das sind unsere
-nächsten Mörder. Doch das darfst du Mutter niemals
-sagen!
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-5">
-<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
-Mittagessen
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">B</span><span class="postfirstchar">evor</span> man zu Tische ging, rückte Mutter alle
-Teller noch einmal zurecht und die Stühle mit den
-ledergepreßten Lehnen. Dann stand alles schief.
-</p>
-
-<p>
-Ruth haßte unaufgeräumte Zimmer. Wie schmutziges
-Wasser, Ungeziefer, weggeworfene Zahnstocher. Ihr
-war jeden Morgen übel. Sie konnte nie das Frühstück
-essen. Immer empfand sie eine dumpfe Verantwortung
-in sich: mach&rsquo; es gut, mach&rsquo; es rein, mach&rsquo; es hell. Aber
-der Widerwille ihrer braunen Kinderfinger, die sich
-weiche Öle wünschten, hinderte sie an jedem Handgriff.
-Wenn das Mädchen dann aufgeräumt hatte, fand sie alles
-kalt, leer und fremd. Mutter sagte: &ndash; Warum hilfst du
-nie mit? &ndash; Sie gab mit ihren ungemessenen Bewegungen
-der Wohnung &bdquo;den letzten Anstrich&ldquo;, wie sie es nannte.
-Und dann &ndash; nun dann stand eben alles schief. Aus
-den Dingen heraus kroch eine seltsame verborgene
-Unruhe. Alle Ecken wurden zu lang, Ruths Gestalt zu
-schmal, zu knochig in den hohen Räumen &ndash; tastend
-und auch schon verzeichnet.
-</p>
-
-<p>
-Wie hatte Onkel Gustav gesagt: &ndash; nimm dich in
-acht! Vor wem, vor Mutter &ndash; vor Onkel Gustav &ndash;
-dunklen Zimmern &ndash; dämmernden Spätsommergärten &ndash;
-vor ihrem eigenen flüchtenden Spiegelbild &ndash; vor
-wem?
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
-Was war geschehen? Mutter rückte heute die Teller
-zurecht. Die große Speisezimmeruhr, mit ihrem lichtmetallisch
-harten Klang streckte den langen Zeiger
-auf fünf bis vier Minuten vor Eins. Also genau
-wie immer. Sie, Ruth, stand beim Fenster, die Zeitung
-in der Hand, die sie doch nie las &ndash; genau wie
-immer.
-</p>
-
-<p>
-Kann man denn da gar nichts machen? Die breite,
-bürgerlich grüne Hängelampe zerschlagen, etwas in sie
-hineinwerfen. Am liebsten die eigene lebendige Faust.
-Oder die dummen Suppenlöffel neben den geduldigen
-Suppentellern. Etwas machen, das hineinfährt, wie ein
-Blitz, wie ein Schrecken, wie eine Erlösung in dieses
-Wie-immer.
-</p>
-
-<p>
-Und sie hatte es ja nie gewußt. Sie saß dort an
-dem großen Familientisch, immer an demselben Platz.
-Viele Jahre hindurch. Und war klein und zart und viel
-zu jung &ndash; ganz wie immer. Sie hatte es nie gewußt.
-</p>
-
-<p>
-Als Kind hatte sie geweint in der Frühlingsdämmerung.
-Und sich geekelt, wenn Mutter beim Essen
-über die schlechte Köchin gejammert hatte. Aber dann
-kam das große, das einzige Gefühl. Noch lag der Druck
-der grauen Alltäglichkeit tief in ihr eingegraben in
-weichem Grund. Aber hoch darüber hinaus jauchzte
-eine selige Hingabe. Was sonst um sie vorging, ließ
-sie ruhig, kostbar verantwortungslos ruhig. Ihr Leben
-war ein Rahmen geworden, der sich fest und unwillkürlich
-krampfhaft um das seine schloß, zärtlich, ohne
-nachdenken zu müssen, kostbar verantwortungslos.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
-Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt<a id="corr-5"></a>?
-Die arbeitet und wühlt, denkt, denkt, denkt.
-Aus müdem Halbdunkel herausgerissen, sieht sie alles
-mit <a id="corr-6"></a>lichtgepeinigten Augen, grell, schreiend grell, laut.
-Höhnend scharfe, wilde Konturen, zu lange Ecken, zu
-runde Bogen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Es ist ein Verbrechen begangen worden. Etwas
-Schlimmeres. Etwas noch nie Geschehenes. Ein Mensch
-hat sich verloren und sucht sich. Und weiß es und
-denkt das durch, ganz durch ...
-</p>
-
-<p>
-Noch einmal ging Mutter um den Tisch und rückte
-die Teller zurecht und die ledergepreßten Stühle. Und
-alles stand schief.
-</p>
-
-<p>
-Sie, Ruth, lehnte am Fenster. Sie wußte es. Und
-wußte, warum Onkel Gustav nichts weiter geworden
-war, als ein trauriger Narr. Wußte, daß sie selbst,
-wenn sie jetzt mithelfen wollte bei den Tellern, es
-genau so machen müßte wie Mutter, so ungeschickt
-und doch selbstzufrieden. Daß sie Mutters ungeduldige
-Nasenflügel hatte, Mutters dunkle Brauen.
-</p>
-
-<p>
-Sie fürchtet Mutter maßlos. Sie fürchtet sich. Sie
-möchte sich schlagen, weil sie Mutters Kind ist.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav war da. Wie jeden Samstag. Er
-hatte einen Freund mitgebracht. Der war so unscheinbar,
-daß Ruth ihn erst nach der Suppe bemerkte und auch
-da nur, weil Mutter gar so höflich war. Man nannte ihn
-von und dann etwas mit &bdquo;-berg&ldquo;. Gustav sagte Norbert
-und du. Er hatte tadellos gepflegte Nägel und einen
-festgeklebten hellbraunen Scheitel.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
-Richard erzählte vom Geschäft. Die geringste
-Kleinigkeit war wichtig und wurde mit Aufmerksamkeit
-angehört.
-</p>
-
-<p>
-Draußen fällt ein grauer, dünner Regen. So sitzen
-jetzt an jedem Mittagstisch die Männer und erzählen
-ihre Wichtigkeiten. Am Abend gehen sie in das Kaffeehaus
-und erzählen sie ihren Freunden. Das ist alles.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav sollte den Kopf nicht so vorsichtig
-zur Seite legen. Das ist eine Gemeinheit. Wie sagte er
-vorgestern: Nimm dich in acht. Das hat er gewagt. Er
-hat es gewagt, sie zu durchschauen. Dumm wie er ist.
-Und jetzt schielt er nur so mitleidig auf sie her.
-</p>
-
-<p>
-Sie senkt den Kopf tief über den Teller. Sinkt
-ganz in sich zusammen. Und ißt irgend was, das
-schmeckt wie graugrüner Kohl. Ist aber etwas anderes.
-Sie hört das Klappern der Bestecke und das sinnlose,
-etwas faule Durcheinander der anderen über sich. So
-daß sie wieder fühlt, sie ist ganz klein und krank und
-liegt im Nebenzimmer in Mutters riesigem Bett. Die
-Tür ist offen, damit man sie schreien hört, wenn sie
-etwas braucht. Sie wundert sich über das Aufschlagen
-der Gabeln in dem Porzellan, das die kaum verständlichen
-Redebrocken drinnen begleitet. Sie möchte schreien
-und etwas verlangen und traut sich doch nicht.
-</p>
-
-<p>
-Sie fragte Onkel Gustav, ob er letztesmal gut nach
-Hause gekommen sei. Es war doch zu gemütlich im
-Park. Überdies hätte sie einen Haufen Knochen für
-seinen Terrier gesammelt. Er solle sie nur vor dem Fortgehen
-daran erinnern. Sie wird ihm auch ein Buch zeigen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
-Sie fragte Martha, was die Schneiderin von ihrem
-neuen Kleid gesagt habe. Ob es bald fertig sei. Und
-wie es aussehe so auf dem Kleiderhaken. Ob es ihr
-schon ein bißchen ähnlich sehe &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie erzählte Richard, daß sein Buch, das er gestern
-gesucht habe, in ihrem Zimmer liege, sie wisse selbst
-nicht wieso &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie bat Mutter, nicht zu vergessen, die Konzertkarten
-holen zu lassen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie fragte den neuen Gast, ob er gern Kartoffelsuppe
-esse. Und ob er noch Gemüse haben wolle &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie wußte: Wenn ich jetzt schweige, hört man
-mein Besteck allein auf dem Teller. In was für einem
-häßlichen Rhythmus es darauf klopft. Gefräßig. Deshalb
-muß ich reden. Alle reden. Wäre es nicht besser, man
-würde mit den Füßen strampeln?
-</p>
-
-<p>
-Der neue Gast spricht von seiner Braut. Das heißt,
-Onkel Gustav spricht von ihr. Aber es ist klar, daß er
-eine Braut hat. So jemand hat immer eine Braut. Und
-dann kommt die Hochzeit mit Myrte und Schleier.
-</p>
-
-<p>
-Was ist dort oben, nahe der Decke und doch tief
-unten &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ist es der Rauch aus Onkel Gustavs ewig ausgehender
-Zigarre. Aber nein, der raucht ja doch nicht.
-Man ist erst bei der Mehlspeise. Große, gelbe Patzen,
-glitschig in einer lichten Eiersauce.
-</p>
-
-<p>
-Nein, es ist nicht Rauch, aber grau und massig,
-ineinander überlaufend, ohne Grenzen. Schwergewichtig
-und doch oben schwebend. Zu bleich, um es wirklich
-<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
-sehen zu können. Und doch da. Verbunden mit allen
-Adern, allen Sehnen, durch die Fingerspitzen hindurch &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Es steigt auf aus Richards kühlen, vorsichtigen
-Gelenken, wie er langsam die Mehlspeise zerlegt.
-</p>
-
-<p>
-Aus den hundetreu furchtsamen Augen des Fremden.
-</p>
-
-<p>
-Aus Marthas abgetragener Samtbluse.
-</p>
-
-<p>
-Aus Onkel Gustavs rundem Rücken, aus Mutters
-lauten Reden.
-</p>
-
-<p>
-Es steigt auf aus ihr selbst, aus Ruth, aus ihrem
-farblos schlafsuchenden Vormittag. Und dort oben ist
-es eng hineingefügt, schlangenartig umwickelt von all
-dem anderen, festgebissen.
-</p>
-
-<p>
-Hier um den Tisch herum glaubt jeder, daß
-er etwas für sich ist. Richard vor allem, der so klug
-ist, daß Mutter immer sagt, er muß Bankdirektor werden
-oder Finanzminister. Aber das ist gar nicht wahr.
-Richard gehört dazu, genau so wie alle anderen, die
-hier um den runden Tisch schwatzen. Die sich ähnlicher
-sind als die eintönigen Ledersessel, auf denen sie sitzen.
-</p>
-
-<p>
-Da oben ballt es sich zusammen. Viele Kleinschicksale
-&ndash; ein Kleinschicksal.
-</p>
-
-<p>
-Da oben schwingt es in einem kraftlosen Rhythmus.
-Selbstbewußt. In dem selben Rhythmus, in dem man in
-das Geschäft geht oder in das Amt oder in die Schule,
-wenn man brav gelernt hat. In dem man zum Traualtar
-geht, wo man eine anständige Partie macht, in dem
-man Sonntags am Korso seinen neuen Hut zeigt, in
-dem man sich zum Geburtstag gratuliert, in dem man
-<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
-hinter dem Sarg seiner Lieben geht, in dem man ins
-Himmelreich hinein trottet, in dem man &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Agnes zerbrach ein Glas. Ein flüchtiger Sonnenstrahl
-stahl sich durch den feinen sprühenden Regen
-über das verschobene Tischtuch.
-</p>
-
-<p>
-Gott sei Dank. Es schadet auch nichts, daß Mutter
-und Martha böse Gesichter machten. Auch nichts, daß
-sie drei Tage darüber unglücklich sein werden. Gott
-sei Dank.
-</p>
-
-<p>
-Ruth nickte dem Herrn Norbert von &ndash; und dann
-kommt etwas mit &bdquo;berg&ldquo;, strahlend zu. Der brauchte doch
-nicht auch betrübt sein über das zerbrochene Glas. Er
-sah sehr unglücklich drein. Wahrscheinlich mehr aus
-Höflichkeit. Oder vielleicht wegen irgend etwas anderem.
-</p>
-
-<p>
-Diese Agnes war doch wirklich nicht salonfähig.
-Zu kräftig. Wenn sie bei der Tür hereinkam, mußte
-eigentlich etwas umfallen in den hohen, schmächtigen
-Räumen. Durch die bloße Anwesenheit ihrer saftvollen
-Arme. Sicher hatte sie an den Kerl gedacht mit den
-aufgewirbelten, schwarzen Schnurrbartspitzen. Der immer
-in der Küche steckte und den Hut nie herunternahm.
-Einen riesengroßen, hellgrauen Deckel, der schief über
-dem linken Ohr saß, immer ganz gleichmäßig schief
-über dem linken Ohr. Toll einfach. Morgen ist Sonntag,
-sie geht mit ihm zum Karussel, mit knallblauem Seidenhut
-und das Werkel spielt &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth pfiff, wie man von Tisch aufstand, einen
-Gassenhauer und konnte trotz Mutters Entsetzen so
-nicht aufhören, daß sie in ihr Zimmer lief, um weiter
-<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
-zu pfeifen. Dort riß sie das Fenster auf. Die Sonne
-schien hell.
-</p>
-
-<p>
-Norbert sagte mit seiner zu leisen, fast näselnden
-Stimme zu Gustav: &ndash; Deine Nichte Ruth scheint etwas
-&ndash; nun &ndash; etwas aus der Art zu schlagen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth? ... Gustav war ungeheuer erstaunt &ndash;
-Ruth, die ist doch wie wir alle. Er betonte das &bdquo;wir&ldquo;
-mit einer gewissen gesättigten Befriedigung. Allerdings,
-sie ist sehr kindisch und ganz unreif, eigentlich viel zu
-unreif für ihr Alter, denk nur, schon zwanzig Jahre.
-Man weiß gar nicht, was mit ihr anfangen. Übrigens,
-findest du, daß sie mir ähnlich ist? &ndash; Nein.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-6">
-<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
-Geld
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">utter</span> war nicht zum Glück geboren. Aber sie
-hätte eine entthronte Königin werden müssen. Und in
-Schmerz und Größe schwelgen. So war sie kleinlich und
-mißtrauisch, zankte mit der Köchin um jeden
-Heller. Und wurde dann bestohlen, wie überhaupt von
-allen Leuten des unteren Standes. Weil ihre Stimme
-so befehlend schroff war, daß sie sie für mächtig,
-Ehrerbietung fordernd und hassenswert hielten.
-</p>
-
-<p>
-Auch Ruth hielt Mutter für mächtig, für allmächtig.
-Sie stand himmelhoch über den Dienstboten und
-Bonnen. Sie besaß die Schlüssel zum Wäschekasten,
-zu jener blendenden Fülle weichen, weißen Leinens,
-die zu sehen allein schon schläfrig macht wie ein zu
-heißes Bad. Sie besaß jeden Silberlöffel, jede Schüssel,
-jedes Glas Milch so intensiv und eigentumsdurchsättigt
-wie fanatische Sammler ihre Kunstschätze. Und
-war daher reich in einer Dürftigkeit, die sie selber am
-schmerzlichsten empfand.
-</p>
-
-<p>
-Ruth fuhr einmal als kleines Kind mit ihrer
-Schwester und einer Bonne in einem Eisenbahnkupee.
-Es war eine Sommerfrischenreise. Da sagte Martha mit
-ihrer überlegenen Stimme: &ndash; Nein, wissen Sie, in dieses
-Hotel können wir nicht gehen, da sind lauter reiche
-Leute. &ndash; Ein ungeheures Erstaunen hinderte Ruth damals
-<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
-am Fragen. So waren sie nicht reich? Aber wieso, sie
-hungerten doch nicht? Und Mutter trug schwarze
-Seidenkleider; was das nur heißen sollte? Sie glaubte,
-mißverstanden zu haben.
-</p>
-
-<p>
-Auch als sie schon erwachsen war, liebte sie einen
-Radiergummi mehr als ihre goldene Uhr, konnte sie
-Festtagskleider nicht leiden und verlor immer ihr
-Taschengeld.
-</p>
-
-<p>
-Geld war und blieb ihr etwas unbedingt Schmutziges.
-Etwas, das schon durch tausend häßliche Hände
-gegangen war, über Wirtshausfußboden rollte. Mutter
-besaß es in ungezählten Mengen. Es war nur ein
-Prinzip, daß sie damit knauserte. Aber Martha war
-geizig und das war viel schlimmer. Nur Richard war
-nobel. Er lächelte immer verächtlich, wenn man von
-Geld sprach.
-</p>
-
-<p>
-Ruth hatte kein Gefühl für Zahlenverhältnisse.
-Den Unterschied zwischen hundert, tausend, hunderttausend
-begriff sie so wenig, wie ein Unmusikalischer
-die Differenzen in der Tonreihe. Das war ein Erbe
-von Mutter. Nur daß diese es sich niemals zugeben
-wollte und um wenige Heller trauerte, während sie
-Tausende verschleuderte.
-</p>
-
-<p>
-Aber Ruth schenkte mit Leidenschaft. Nicht aus Güte
-oder um anderen eine Freude zu machen. Einen Gegenstand
-verschenken, heißt, ihn ganz von sich losreißen,
-sich auf ewig von ihm trennen, ihn ins Ungewisse
-schicken. Und das war herrlich, war Abenteuer, Tat
-und Befreiung. Sie gab ihre liebste Bluse plötzlich dem
-<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
-Stubenmädchen und wenn eine Freundin auf Besuch
-kam, war nichts im Zimmer, auch das am liebsten
-gehegte, sicher vor plötzlichem Ausgestoßenwerden.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Es ist schade, daß man in unserer Religion keine
-richtigen Opfer mehr bringt, sagte sie einmal.
-</p>
-
-<p>
-Jedes Kleid, jedes Buch, jeder Sessel ihres
-Zimmers waren ihr persönlich eigen. Aber nicht im
-selben Sinn wie der Mutter, die alles an sich riß. Sie
-gab sich den Dingen hin und füllte sie so voll mit
-ihren dämmernden Gedanken, daß ihre Umgebung
-manchmal vernebelt wurde, übersättigt vom eigenen
-Selbst. Und sie mußte plötzlich auf die Straße laufen,
-stöhnend vor Sehnsucht nach dem ganz Fremden.
-</p>
-
-<p>
-Dieses Selbst in allen Dingen verschleuderte sie
-mit wollüstiger Freude und Grauen. Sie war immer
-unbeschreiblich reich dabei. Wenn etwas sie in Grenzen
-hielt, war es die Dankbarkeit der Beschenkten. Sie
-schämte sich darüber. Danken war sich erniedrigen.
-Und ein heißer Zorn wühlte in ihr, wenn alle anderen
-nicht größer waren als sie. Sie wollte das Kleinste
-sein, denn sie suchte das Oben. Wie sagte doch
-Onkel Gustav zu seinem Freunde: &ndash; sehr kindisch &ndash;
-und sehr unreif &ndash; eigentlich viel zu unreif für ihr
-Alter.
-</p>
-
-<p>
-Ruth bewunderte alle Menschen, die stehlen
-konnten. Jemandem eine Münze aus der Geldbörse zu
-nehmen, war für sie ein Wagnis, ein Heldenstück, das
-ihr immer unmöglich sein würde. Ein Eingriff in fremdes
-Reich, ein Festnehmen von feindlichen Objekten &ndash;
-<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
-schwieriger, als einen nassen Salamander in der Hand
-zu halten.
-</p>
-
-<p>
-Ruth verbrachte den ganzen Sommer in den
-engbrüstigen Vorstadtgärten, zwischen Ladenschwengeln,
-Proletarierfrauen und klebrigen Kindern. Man konnte
-dieses Jahr keine Sommerfrische aufsuchen. Mutter war
-im Winter krank gewesen und mußte im Frühling eine
-Reise machen. So war nicht genug Geld da, noch
-einmal fortzufahren.
-</p>
-
-<p>
-Als Ruth zum ersten Mal davon reden hörte, daß
-sie heuer nicht wegfahren müsse, hatte sie laut aufgejubelt.
-Aber Mutter weinte eine halbe Woche.
-</p>
-
-<p>
-Von Ruth war ein Alpdruck weggefallen. Wie eine
-drohende Gefahr, unaufhaltsam näher rückend, empfand
-sie den ganzen Winter durch: Es kommt ein Tag, da
-muß ich fort. Man zwingt mich dazu. Fort. Man reißt
-mich aus meinem Zimmer. Meine Gedanken stecken
-noch in den Stuhlbeinen, auf der Hauptstraße liegt
-etwas ganz Besonderes von mir, ich muß alle Tage
-vorübergehen, meine Adern sind verwoben mit dem
-Himmel über unserem Dach und dann soll ich fort.
-Und sie haben die Macht, mich zu zwingen. Nein, ich
-liebe mein Zimmer nicht, es ist mir zu eng, zu sehr
-mit mir verwachsen. Aber fortmüssen und drei Monate
-in einem ganz fremden Raum sein, wo vielleicht ein
-pensionierter General gewohnt hat oder eine schmutzige
-Frau. Und sie haben die Macht, mich zu zwingen.
-</p>
-
-<p>
-Sie wußte nicht, daß jeder Mensch mit seiner
-täglichen Umgebung organisch verbunden ist. Daß ein
-<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
-Weiterrücken im Raum auch ein Weiterrücken im Leben
-sein muß. Und doch stöhnte sie unter dem Zwang.
-</p>
-
-<p>
-Von dem Fenster seines Zimmers hatte sie einen
-weiten, hohen Himmel gesehen. Mit verschwommenen
-Kirchtürmen. Das war ihr Horizont, ihre Ferne, ihr
-Land gewesen.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Und nun saß sie in den staubgeschwängerten
-Vorstadtgärten. Ihre müden Blicke wuschen den Ruß
-von den welkenden Blättern. Sie dachte an einen Wald,
-eine grünsatte, schwelgende Fülle. Die schlank hinansteigt
-in abendhelles Blau. Und sie mußte hier
-sein.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Strümpfe waren grau vom Staub, ihre Schuhe
-alt und faltig. Neben ihr auf der Bank erzählte ein
-Dienstmädchen einem anderen, sie habe fünfzig Kronen
-Lohn monatlich. Wenn sie aber mehr bekäme &ndash; sie roch
-nach Schweiß.
-</p>
-
-<p>
-Im Sand lag ein vertretener Kupferkreuzer.
-Zwischen Kinderschaufeln und Blechkübeln. Und es
-rollte ein ferner Donner.
-</p>
-
-<p>
-Ruth ekelte der Kreuzer. Sie dachte an eine
-durchlöcherte Hosentasche. Aber sie konnte nicht wegsehen.
-Sie starrte auf den Kreuzer, bis sie ihn doppelt
-sah und dann dreifach und dann vierfach und dann
-immer mehr, immer mehr ...
-</p>
-
-<p>
-Eine einzige ineinander rollende Masse. Schmutzig
-kupfergelb. Schmeckt wie geschmolzenes Metall.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
-Ruths Schuh hatte einen Riß, quer mitten durch.
-Er sah wohl aus wie eine Falte. Aber es war ein Riß.
-Quer mitten durch.
-</p>
-
-<p>
-Sie stand auf und ging durch die Straßen, wo die
-größten, üppigsten Geschäfte waren. Schon wurden
-die Lichter angezündet. Gierig aufflackernde, rote kleine
-Scheinwerfer.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Über meinen Schuh geht ein Riß &ndash;
-keine Falte &ndash; über meine Hand geht ein Riß &ndash; ist das
-Schmutz &ndash; und über mein Gesicht &ndash; vielleicht ist
-das Blut.
-</p>
-
-<p>
-Sie ging hinter einer üppigen, blonden Kokotte.
-Nachgezogen von ihren wunderbaren, geraden, feinen
-Absätzen, die nicht einen Millimeter zu hoch oder zu
-niedrig waren. Eine keuchende Lust überkam sie, das
-weiche, eng anliegende Leder zu fühlen, zu streicheln,
-an sich zu locken.
-</p>
-
-<p>
-Das Parfüm roch betäubend nach unaufrichtigen
-Blumen. Ruth dachte: &ndash; Es ist abscheulich, aber teuer.
-Furchtbar teuer. Ungezählte schmierige Kupferkreuzer.
-Und die lichte Flasche, auf hellrosa Seide gelegt mit
-der durchsichtigen Flüssigkeit. Ich möchte sie nicht berühren.
-Aber teuer. Nicht auszudenken teuer. Und ihre
-Schminke &ndash; ich könnte sie niemals darauf küssen &ndash;
-ist auch so teuer, oder noch mehr. Wie ich sie verachte.
-Aber die gelben Schuhe möchte ich besitzen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ein paar große, schwere Regentropfen klatschten
-auf das schleimige Pflaster. In den Häusern flammten
-<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
-protzig die Lichter auf. Schmiegsame Vorhänge wurden
-zugezogen.
-</p>
-
-<p>
-Die große Blonde ging in ein großes Haus. Über
-breite Stiegen mit dicken Teppichen. Vornehme Damen
-kamen ihnen entgegen mit großnetzigen Schleiern vor
-den Gesichtern.
-</p>
-
-<p>
-Sie gingen durch eine große Glastür. Es roch betäubend
-nach Seife, dickem Parfüm, warmen Haaren.
-Ein Friseur. Ein schlankes junges Mädchen in vergilbter
-Seidenbluse, mit zu hellem, großgewellten Schopf fragte
-Ruth, was sie wünsche. Ruth antwortete automatisch
-was ihre Vorgängerin sagte. Und wie diese wurde sie
-in eine Zelle geführt, wo ein gelbmarmorner Waschtisch
-in die Wand eingelassen war.
-</p>
-
-<p>
-Eine Welle mattweißen Schaums ging über ihr
-Gesicht, über ihren Kopf, über die Wurzeln der Haare.
-Sie empfand den Duft durch die Scheitelknochen dringen,
-sich in das Hirn einfressen. Ihre Nerven dehnten sich
-weich und ringförmig. Das junge Mädchen hatte schlanke
-Hände mit spitzen Fingern, die nicht mehr ganz ihr
-eigen waren. So sehr schmeckten sie nach tausenderlei
-weichen Wassern.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: &ndash; Sie ist sicher arm. Aber sie darf
-den ganzen Tag hier sein und ihre Hände sind schön
-und unnahbar. Am Abend geht sie nicht nachhause.
-Wo sie da hingeht &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Die schmutzige Kupfermasse aus dem Sand war
-gelb geworden und lockte wie verwischtes Gold in der
-marmornen Waschschüssel.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
-Sie spricht nicht mit mir, &ndash; wußte Ruth, &ndash; weil ich
-ein verwaschenes altes Kleid trage. Es ist auch zu eng,
-das merkt sie sicher. Wenn sie erst den Riß über
-meinem Schuh sähe, oder ist es nur eine Falte? &ndash;
-Ruth schämte sich maßlos.
-</p>
-
-<p>
-In der Zelle daneben aber plauderte die große
-Blonde lustig darauf los mit einem von den anderen
-jungen Mädchen. Sie schwatzten wie zwei Schulfreundinnen,
-von denen die eine ein besseres Zeugnis bekommen
-hat als die andere und sich daher etwas herausnehmen
-darf &ndash; aber sie tut es nicht viel. Die Blonde sprach
-immer von einem Er &ndash; Ruth spürte, daß er ein Monokel
-trug und manikürte Nägel hatte &ndash; und die Blonde
-kicherte fortwährend. Die kleine Friseurin daneben sagte
-immer strahlend und bewundernd: &ndash; Aber gnädige
-Frau und dann sprach man von einem Armband. Ruth
-sah wieder in der marmorgelben Waschschüssel eine
-Fülle von Kristallen, in denen sich das Licht brach, so
-daß die Farbenmenge schwindeln machte. Sie wußte,
-das gibt es alles, zwei Häuser weit weg, bei dem
-großen Juwelier. Ich brauche nur hinzugehen. Aber nein,
-ich habe ja kein Geld &ndash; und ein entsetzlicher Schrecken
-durchfuhr sie, ob sie dem Friseur auch werde zahlen
-können. Sie dachte sich Unsummen aus, die es kosten
-müsse, ja müsse, und getraute sich nicht, ihr abgegriffenes
-Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen. Wie der Mörder
-auf das Todesurteil, wartete sie auf den Augenblick,
-in dem sie vor dem glattrasierten Herrn bei der Kassa
-stehen mußte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
-Die Blonde daneben plapperte noch rascher und
-glückseliger. Ruth dachte in ihrer Herzensangst: Herrgott,
-ist sie dumm. Wenn ich nur einmal in meinem Leben
-so hirnverbrannt dumm sein dürfte. Ich könnte mich
-dann gar nicht so fürchten vor dem geschniegelten Kerl
-dorten. So dumm sein &ndash; das hieße ausruhen.
-</p>
-
-<p>
-Sie zahlte den Preis fast weinend vor Aufregung.
-Drückte in die kühlen Hände des jungen Mädchens ein
-fürstliches Trinkgeld. Und stürzte davon wie ein ertappter
-Bettler.
-</p>
-
-<p>
-Auf der Treppe griff sie sich unter den Hut. Da
-war etwas Fremdes. Waren es die kühlen, langen
-Nadeln, die ihr das Mädchen in den Knoten gesteckt
-hatte. Waren es ihre eigenen, weichen Haare, die
-noch warm dufteten. Und sie sehnte sich das Haar
-lösen zu können und den Kopf hineinzuwühlen.
-</p>
-
-<p>
-Nur nicht nach Hause gehen. Dort lagen Mutters
-Rechenbücher. Die Lampe über dem Speisezimmertisch
-hatte einen fahlgrünen Schirm. Nur um Gottes Willen
-nicht nach Hause. Die Gassen waren alle rot, die
-Schaufenster waren rot und die Frauen in den großen
-Straßen hatten rote Wangen. Hier grüßten sich alle,
-hier kannten sich alle und die Luft war rot und weich.
-</p>
-
-<p>
-Zwischen den Pflastersteinen lockte es schmutzig
-kupfergelb. Aber in den ledernen Handtäschchen der
-Damen blinkte es silberhell. In den Geschäften lag dick
-geschichtet lichte Seide, wunderbares, braunrotes Holz,
-fremde Blütenkelche, zarte Porzellanteller, flaumig weiche
-Hüte, Diamantarmbänder ...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
-Heute bemerkte Ruth, daß sie langsamer ging als
-alle andern Leute. Sie fühlte einen Taumel fremder
-Geschäftigkeit um sich, dem sie nicht gewachsen war.
-Sie suchte mitzukommen. Sie hatte doch ein Recht
-darauf. Sie empfand ihre duftenden Haare in einer
-wilden Glückseligkeit. Sie wollte mitkommen. Ihre
-Schultern schmerzten vor Müdigkeit. Quer über den
-einen Schuh lief ein Riß.
-</p>
-
-<p>
-Blendend helle Buchstaben zogen sie an: Kino.
-Sie ging hinein, rasch, sehr rasch, flüchtend vor den
-zu roten Straßen und verbarg ihre Schuhe unter dem
-dunklen Sitz.
-</p>
-
-<p>
-Neben ihr dampften verschwitzte Kleider, gewürztes
-Essen, unreine Haare. Das Orchester spielte Richards
-Lieblingswalzer.
-</p>
-
-<p>
-Der Graf kam. Er fuhr in einem Auto, fast erstickt
-von der Blütenfülle, die er im Arm trug. Er hatte fabelhaft
-gerade, lange Beine. Und ein glattes Gesicht, zu
-sehr rasiert. Der Rauch aus seiner Zigarette mußte
-kostbar sein.
-</p>
-
-<p>
-Die Tochter des amerikanischen Milliardärs trug
-lange Korkzieherlocken und strahlte mit blendend weißen
-Zähnen. Ihr Körper war schlank und frei wie nach einem
-lauen, spielenden Bad. Sie kochte den Tee für sich und
-den Grafen in einem bauchigen Samowar. Dieser Tee
-war sicher bernsteinklar und duftete durch das Zimmer,
-das dumpf gemacht war mit weißen Fellen und samtenen
-Vorhängen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
-Ruth liebte die Milliardärstochter. Liebte den Grafen.
-Schielte mit dumpfer Wut auf das verkrümmte Ladenfräulein
-neben sich, das an den Nägeln kaute und
-schnalzte.
-</p>
-
-<p>
-Der Freund des Grafen, ebenso glatt, ebenso wohlgebaut.
-Nur trug er einen Schlapphut. War also ein
-Künstler.
-</p>
-
-<p>
-Das Atelier. Köstliche, großgeblümte Teppiche.
-Glatter weißer Marmor. Hinter den Riesenfenstern
-Aussicht bis an das Meer. Sonnenaufgang.
-</p>
-
-<p>
-Der Park des Milliardärs in Rom. Eine zitternde,
-flimmernde, prickelnde Blätterfülle. Kleine, schlanke
-Zypressen. Sonnenflecken auf der Erde, verstreut wie
-flache Goldgulden. Puccini. Die Milliardärstochter reitet
-auf einem Schimmel. Lange Korkzieherlocken, rechts
-der Graf, links sein Freund. Hinten ein Diener. Der
-riecht auch nach Parfüm, wie die Blonde heute auf der
-Gasse.
-</p>
-
-<p>
-In der Pause sagte Ruths Nachbarin zu jemand in
-der hinteren Reihe: &ndash; Ja, jetzt hat er halt eine Lungenentzündung.
-Ich komme gerade aus dem Spital. Was
-soll man machen? Aber schön ist es, das Stück.
-</p>
-
-<p>
-Und Ruth dachte: &ndash; Der Mann im Spital hat
-sicher sein ganzes Leben in einer Kellerwohnung gelebt.
-Moder und Schweiß. Vielleicht hat er Schuhriemen gemacht
-für den Grafen. Oder Zaumzeug für seine Pferde.
-Aber die Milliardärstochter geht nicht in das Kino, wenn
-der Graf krank ist. Obwohl sie ihn mit seinem Freund
-betrügt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
-Ihr schwindelte. Sie empfand einen Abgrund zwischen
-sich und der Nachbarin. Zwischen sich und dem Boy,
-der grinsend Perolin versprengte. Zwischen sich und
-dem Grafen, der eigentlich genau so aussah, wie der
-Friseur an der Kasse, nur daß er so gut angezogen
-war. Und einen Abgrund vor der Milliardärstochter, die
-genau so strahlende Zähne hatte, wie die große Blonde.
-</p>
-
-<p>
-Nichts als Abgründe, Löcher, Klüfte, Leersein und
-Alleinsein. Es gibt irgendwo ein dunkles Zimmer.
-Schillernde Phiolen.
-</p>
-
-<p>
-Die Musik setzte wieder ein mit jenem Auftakt,
-der so lange und proletarisch vielversprechend auf den
-zweiten warten läßt. Nein, nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-Sie ging langsam nachhause. Die Gassen waren
-dunkler geworden, das Licht bleicher. Und zwischen
-den Pflastersteinen war nicht ein Kupferkreuzer. Nur
-Schmutz.
-</p>
-
-<p>
-Über Ruths linken Schuh lief ein Riß. Es war bestimmt
-keine Falte, es war ein Riß.
-</p>
-
-<p>
-Sie wünschte sich den ganzen Abend: ich möchte
-Seidenstrümpfe haben, wie die Milliardärstochter und
-die Blonde. Und weiche, lederne Schuhe. Aber ein
-anderes Gesicht. Vielleicht mein Gesicht. Oder noch
-ein anderes.
-</p>
-
-<p>
-Zuhause behandelte man sie mit stummer Verachtung.
-Sie kam nie mehr zurecht zu den Mahlzeiten.
-Sie ergab sich einem sträflichen Müßiggang, den Richard
-nicht vergaß, wenigstens einmal des Tages um die
-Ecke herum zu erwähnen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
-Mutter schüttelte trostlos den Kopf und sagte zu
-Martha: &ndash; Es nützt alles nichts. Sie wird ganz wie Gustav,
-er ist nicht umsonst ihr Onkel. Und Vater war auch
-so. Wie das alles zu mir kommt?
-</p>
-
-<p>
-Ruth wusch sich von nun an zehnmal des Tages
-die Hände mit fast zu heißem Wasser. Sie trug es
-heimlich in ihr Zimmer, kannenweise. Niemand durfte
-davon wissen, o Gott nein, es war etwas Unrechtes,
-das sie damit tat, etwas wie stehlen. Denn wenn sie
-die Hände ganz tief in die Waschschüssel steckte und
-das heiße Wasser durch alle Poren in sich hineinströmen
-ließ, schlossen sich ihre Augen und sie fühlte sich über
-Marmorstufen in ein tiefes, warmes Bad hinuntersteigen.
-</p>
-
-<p>
-Sie mißhandelte ihr Zimmer. Es war häßlich. Alte,
-verschnörkelte Möbel. Ein Teppich, der nicht mehr rein
-zu bekommen war. Der Lampenschirm aus zerschlissener
-Seide. Sie stülpte ihn verkehrt auf den Boden, rückte
-den Tisch schief in eine Ecke. &ndash; Schämst du dich
-nicht, wie dein Zimmer aussieht, sagte Mutter.
-</p>
-
-<p>
-Sie stand vom Tisch auf, weil Agnes mit einem
-verbundenen Finger servierte.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte nicht mit Mutter auf die Straße gehen,
-weil Mutters Mantel schon sechs Jahre alt war.
-</p>
-
-<p>
-Sie warf Marthas mit farbiger Seide gestopfte
-Handschuhe in den Herd.
-</p>
-
-<p>
-Und sie schenkte Agnes ihre neuesten Schuhe.
-</p>
-
-<p>
-Es war alles gleichgültig, alles eins. Je mehr zugrunde
-ging, desto besser. Wozu die Heller sparen,
-wenn man Tausende braucht. Dann war man armselig
-<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
-und fast lächerlich, wie Mutter. Aber sie, Ruth, wollte
-lieber ganz elend sein, betteln gehen.
-</p>
-
-<p>
-Die Welt lag hinter der harteckigen Wohnung.
-Auf den langen, gierigen Schienen rollten die Lokomotiven.
-Schleppten hinten in den Waggons glückliche Menschen
-in dunklen, einfachen Kleidern, deren Schnitt allein ein
-Vermögen kostete. Die legten ihre wunderbaren Schuhe
-auf samtene Kissen. Und dann saßen sie in hochwandigen
-Speisesälen und sahen hinaus über ungemessene Entfernungen.
-</p>
-
-<p>
-Geld haben heißt weiterkommen. Weiterrücken im
-Raum. Und das heißt, weiterrücken im Leben. Und sie
-steckte in ihrer Wohnung, eingekeilt zwischen Mutter,
-Martha, Richard und jetzt auch Norbert. Denn Norbert
-war sehr viel da. Mutter liebte ihn.
-</p>
-
-<p>
-Einmal ging sie Martha ein Geburtstagsgeschenk
-kaufen. Norbert erbot sich, sie zu begleiten. Sie war
-unordentlich angezogen, in alten Kleidern, die ihr
-schlecht saßen. Sie ging durch die elegantesten Straßen.
-Vielleicht eben deshalb. Und weil Norbert dabei war.
-</p>
-
-<p>
-Sie traten in eine der ersten Parfümerien. &ndash; Hier
-wollen sie etwas kaufen? fragte Norbert ganz erschrocken.
-&ndash; Ja, warum nicht?
-</p>
-
-<p>
-Sie wählte ein halbes Dutzend der kostbarsten
-Seifen. Es überstieg weit den schmächtigen Inhalt ihres
-Portemonnaies. &ndash; Ich habe mein Geld vergessen, können
-Sie für mich zahlen? Norbert zahlte aus seiner biederen
-Geldbörse.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
-Auf der Straße sagte sie, totenbleich vor Erregung,
-heiser: &ndash; Wissen Sie, was ich da in meiner Tasche
-habe? Noch eine Seife, hellviolett, ich habe sie aus
-dem Korb gestohlen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Um Gottes Willen, aber das ist doch nicht ihr
-Ernst.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Doch, sehen Sie, hier. Ist sie nicht wunderbar.
-Und so weich. Die behalte ich mir, die gehört mir, mir
-ganz allein. &ndash; Fräulein Ruth, nein, das ist nicht möglich,
-nein, kommen Sie, gehen wir zurück, gehen wir. &ndash;
-Gewiß nicht, ich glaube gar, Sie fürchten sich, mit mir
-zu gehen? Bitte. &ndash; Nein, aber Ruth, so etwas dürfen
-Sie doch nicht tun, Herrgott, das ist ja furchtbar. &ndash;
-Ach, lachte Ruth, das mache ich immer &ndash; und fast
-schämte sie sich, so zu lügen. Sie hielt die Seife krampfhaft
-fest mit der Hand umschlossen, daß die Schulter
-schmerzte. Und war stolz darauf. Ein gieriges Habenmüssen
-preßte ihr die Zähne zusammen.
-</p>
-
-<p>
-Sie gingen durch trübe, nachmittagsstille Gassen,
-die sonnenlos waren und arbeitsgewohnt. Norbert sah
-die ganze Zeit zu Boden und war dunkelrot. Dann
-stotterte er: &ndash; Wenn Sie die Seife haben wollen und
-haben müssen, Ruth, und Sie haben vielleicht kein Geld
-mehr &ndash; Sie lachte grell und höhnisch: &ndash; Nein, wie Sie
-um meine Seele besorgt sind.
-</p>
-
-<p>
-Und dachte: Du kleinseliger Krämer du, du ahnungsloser.
-&ndash; Lassen Sie das, Norbert, &ndash; fuhr sie fort, &ndash;
-es steht nicht dafür. Es nützt doch nichts. Ich habe es
-vom Großvater. Der hat auch alle seine Pferde verspielt.
-<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
-Mutter sagt immer, mit mir nimmt es ein schlechtes
-Ende. Wenn ich dann ganz heruntergekommen bin und
-so bettelarm, daß ich einen grauen Lappen um den
-Kopf binden muß, wenn es schneit, wenn ich dann so
-ganz richtig elend bin, komm ich zu Ihnen. Sie geben
-mir dann etwas aus ihrer Börse, nicht wahr? &ndash; Ich
-werde Ihnen immer alles geben, Fräulein Ruth, aber Sie
-sollen nicht so sprechen. &ndash; Vielleicht komme ich auch
-ins Kriminal, wer kann es wissen. Aber Norbert, eines,
-können Sie sich vorstellen, daß man etwas haben muß,
-so unbedingt haben muß, daß man einem andern auch
-Böses tut, ihn umbringt, für Geld umbringt? Können
-Sie sich das vorstellen, o, so sagen Sie doch. &ndash; Ruth,
-Sie sind krank. &ndash; Warum denn? sowas steht doch
-alle Tage in der Zeitung und die Leute sind gar nicht
-alle krank.
-</p>
-
-<p>
-Nach einer Weile sagte er noch einmal bestimmt
-und ohne sie anzusehen: &ndash; Wir tragen die Seife jetzt
-zurück. Wenn Sie das Geld nicht nehmen wollen. Es
-war ein Irrtum.
-</p>
-
-<p>
-Ruth warf die Seife einem verkrüppelten Bettler,
-der an der Mauer lehnte, in den Hut und sprach im
-Vorübergehen: &ndash; Er soll sich auch einmal mit etwas
-Gutem waschen können. Und sie sah Norbert nicht
-mehr an und gab ihm nicht die Hand zum Abschied.
-</p>
-
-<p>
-In den nächsten Tagen aber trauerte sie um das
-Stück Seife, wie um ein Stück verlorene Seligkeit. Sie
-haßte Norbert. Einmal hatte sie es gewagt und er hatte
-alles verdorben. Und warum &ndash; weil er dumm war,
-<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
-grenzenlos dumm. Sie holte lauter Detektivromane aus
-der Leihbibliothek und verschlang sie.
-</p>
-
-<p>
-Sie versuchte Geld zu nehmen aus der Lade der
-Köchin. Aber es war wieder ganz unmöglich.
-</p>
-
-<p>
-Sie fühlte sich umgeben von einer erstickenden
-Masse schmutzig gelben Metalls. Das nach Schweiß
-stank und den Duft exotischer Blüten in sich trug und
-ein Rauschen von seidenen Röcken.
-</p>
-
-<p>
-Marthas Kasten war immer doppelt versperrt. Sie
-trug die Schlüssel mit sich in einem uralten Handtäschchen.
-Ruth verachtete sie deshalb. Denn was war
-schon in dem Kasten, wenn man ihn aufbrechen
-wollte? Wäsche mit gehäkelten Spitzen und ein paar
-ziemlich abgelegene Liebesbriefe. Eine Nagelschere und
-ein Nähkästchen und vielleicht noch eine Photographie.
-Nein, davon hätte Ruth nichts haben wollen.
-</p>
-
-<p>
-Und von Richards Sachen erst recht nicht. Die
-waren alle abgebürstet und ordnungsgemäß aufgestellt.
-Numeriert. Vom ersten Schulzeugnis an bis zur letzten
-Tagebuchseite. Denn Richard führte ein Tagebuch.
-Das war sehr genau. Es standen alle Einnahmen und
-Ausgaben darinnen.
-</p>
-
-<p>
-Mutters Besitztümer aber steckten in vierfach
-verbundenen Papiersäckchen und rochen nach Lawendel.
-</p>
-
-<p>
-Ruth wollte und mußte etwas haben. Etwas Außergewöhnliches,
-etwas unsagbar Schönes, etwas Wunderbares,
-etwas noch nie Dagewesenes, wenigstens noch
-nicht in ihren düsteren Zimmern.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
-Als sie ihr nächstes Taschengeld bekam, ging sie
-durch die ganze Stadt es zu suchen. Als es schon
-Abend war, fand sie in einer Auslage einen Korb voll
-tiefroter Rosen. Festgeschlossen hingen sie schwer in
-den schlanken, wiegenden Stengeln. Und die wenigen
-Blätter, die schon offen waren, waren weich und dunkel
-in ihrem Innern, daß sie Ruths Kopf zur Seite senken
-ließen und die Augen schließen.
-</p>
-
-<p>
-Sie kaufte sechs von den schönsten, strich mit
-den Händen über die heißen, großen Stacheln und
-ging mit federnden Schritten nach Hause.
-</p>
-
-<p>
-Im Speisezimmer stand Richard unter der fahlgrünen
-Lampe und hielt eine Rechnung in den Händen. Mutter
-lief erregt um den Tisch und Martha stellte verdrossen
-die Gläser auf.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was ist das Ruth, fragte Richard &ndash; eine
-Rechnung für vier paar Lederhandschuhe? Er war ganz
-ruhig, zog nur die Augenbrauen ungeheuer verwundert
-in die Höhe. Aber seine Stimme war häßlich vor Zorn.
-</p>
-
-<p>
-Mutter rang die Hände.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich weiß nicht, sagte Ruth atemlos. &ndash; Du
-weißt nicht und was hast Du da? Was sind das für
-Rosen, Ruth? Du bist wohl verrückt. Du weißt nicht,
-was du tust. Wie treibst du dich denn herum?
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Laß die Rosen, sie gehören mir.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Dir, dir gehören sie? Ja, was gehört denn
-überhaupt Dir? Du stiehlst. Du stiehlst Mutter das Geld
-aus der Tasche. Sollen die Handschuhe vielleicht Dir
-gehören? Und diese Rosen? &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
-Ruth dachte: Er nimmt mir alles. Alles. Aber er
-hat eine <a id="corr-9"></a>wohlgefüllte Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb,
-silberweiß, blaue Scheine. Nur die Rosen soll er
-nicht nehmen, die Rosen nicht. Wenn er wirklich
-danach greift &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie war umgeben von einer schwarzen, kochenden
-Masse. Und erstickt griff sie nach dem Brotmesser auf
-dem Tisch und schleuderte es &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ein Kreischen, ein Stoßen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie war allein in ihren Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Von der Straßenlaterne strömte weißgelbes Licht
-herein. Aber der Zorn tanzte noch in kochend schwarzen
-Klumpen um sie herum, würgte die Kehle, machte ihre
-Hände gierig.
-</p>
-
-<p>
-Sie fuhr hinein in die blassen Fensterscheiben.
-Mitten durch.
-</p>
-
-<p>
-Aus ihrer Handfläche quoll es langsam heraus,
-dunkelrot. Sie war ganz ruhig.
-</p>
-
-<p>
-Aus immer mehr Stellen heraus, immer mehr. Das
-Blut fiel zu Boden, langsam, in dicken Tropfen.
-</p>
-
-<p>
-Und ihre Augen wurden satt.
-</p>
-
-<p>
-Da waren irgendwo heiße, durstende Glieder, die
-sich zur Ruhe strecken konnten. Und ausgekühlte
-Marmorbäder. Und verlöschte, grellrote Lichter.
-</p>
-
-<p>
-Zu ihren Füßen lagen viele Münzen. Kupferne,
-silberne, goldene. Die rollten nicht mehr durcheinander.
-Die lagen ganz kalt, eine über der anderen.
-</p>
-
-<p>
-Und das Blut fiel zu Boden, langsam, in dicken
-Tropfen. Und das Geld fraß das Blut.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-7">
-<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
-Gott
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">ls</span> Ruth so klein war, daß das Kindermädchen sie
-sitzend auf dem Arm trug und ihr der eigene Matrosenkragen
-wie eine riesige, abenteuerliche Fläche erschien,
-sah sie an einem Abend ein Kreuz im Wald. In den
-Tannen hing verstecktes Gewitter. Und das Kreuz
-wuchs aus der felsigen Erde. Ruth fürchtete sich.
-</p>
-
-<p>
-In der Nacht nahm Mutter sie zu sich in das Bett.
-Am Morgen hatte sie Fieber. Man zog ihr ein frisches,
-kühles Hemd an, legte sie in Mutters riesige Polster
-hinein und Mutter küßte und streichelte sie.
-</p>
-
-<p>
-Wenn Ruth krank war, den ganzen Tag in Mutters
-Zimmer liegen durfte und von unten herauf jede von Mutters
-ungeduldigen, viel zu vielen Bewegungen beobachten
-konnte, war sie ganz zufrieden. Dann vergaß ihr
-kleines Hirn mit den Schwierigkeiten des Tages zu
-kämpfen, den grell bemalten Tapetenblumen, den Vorsprüngen
-auf Mutters kompliziertem Luster, der widerhaarigen
-Zahnbürste. Dann legte sie ihr kleines Haupt
-tief nach hinten und alle ihre kleinen Gedanken in
-Mutters zu große, harte Hände.
-</p>
-
-<p>
-Mutter war groß. Mutter war allmächtig. Mutter
-war unfehlbar. Mutter war gütig. Mutter war edel und
-&ndash; Mutter war gekränkt, mißhandelt von aller Welt.
-Deshalb wollte Ruth nicht mit den andren Kindern im
-<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
-Park spielen, keinem fremden Menschen die Hand
-reichen, deshalb fürchtete sie sich vor den Hunden.
-Weil ihre Mutter unter diesen allen leiden mußte.
-</p>
-
-<p>
-Ruth küßte im Geheimen Mutters Hausschuhe.
-Schluchzte die ganze Nacht durch, wenn Mutter vergessen
-hatte, zuletzt an ihr Bett zu kommen. Und
-starb vor würgender Sehnsucht, wenn Mutter auf acht
-Tage verreist war. Aber das durfte niemand wissen.
-</p>
-
-<p>
-Richard durfte das nicht wissen, ach nein, er war
-ja so klug. Gewiß, er liebte Mutter. Aber er trug alle
-seine Empfindungen sorgsam eingeordnet in seiner
-schwarzledernen Brieftasche und zusammengepreßt wie
-die Banknoten.
-</p>
-
-<p>
-Martha liebte Mutter nicht. Obwohl sie an Mutters
-Geburtstag am eifrigsten den Tisch deckte. Aber alle
-Morgen stritt sie mit Mutter mit einer schrillen Stimme.
-Zu ihren Freundinnen nannte sie Mutter nur &bdquo;sie&ldquo;.
-</p>
-
-<p>
-Zu Mutter flüchtete Ruth sich, als sie die große Angst
-bekam vor dem großen Gott im Himmel oben. Der
-gar nicht half, wenn man zu ihm betete. Der seinen
-lieben, wunderbaren Sohn am Kreuz hatte verbluten
-lassen, der es duldete, daß es eine Hölle gibt, während
-es ihm dort oben am besten geht. Der die Menschen
-in den Spitälern sterben läßt und noch will, daß man
-dankbar dafür ist.
-</p>
-
-<p>
-Ruth bekam eine Bonne, deren winziger Koffer
-voll war mit Marienbildern und Rosenkränzen. Die
-führte Ruth in alle Kirchen. Sie fror stundenlang in
-den kalten, zu hohen Räumen mit den dunkel nassen
-<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
-Mauern. Weihrauch versperrte ihr die Kehle und der
-Kirchendiener hatte schmutzige Pantoffel. Vorne am
-Altar war Christus gekreuzigt. Rostige Nägel durchbohrten
-die Knochen. Das Blut war geronnen. Und er
-konnte nie und nie herunterfallen.
-</p>
-
-<p>
-So hing er in allen Kirchen und die Menschen
-beteten um schönes Wetter und Glück bei ihren
-Geschäften. Ach, wie arm war er. Für alle hatte er
-sterben müssen, und keiner liebte ihn.
-</p>
-
-<p>
-Eines abends stritt Mutter mit Vater. Es war so
-ein kleiner häßlicher Grund, daß Ruth ihn vergessen
-wollte, nein, nie mehr daran denken. Vater schwieg.
-Mutter warf Vaters Zeichnungen auf den Boden. Vater
-schwieg. Ruth schlich aus dem Zimmer. In dem kleinen
-Gang neben der Küche drückte sie die Stirne an das
-Fenster und betete: Lieber Christus, ich habe dich lieb.
-Ich bete nicht, ich will nichts von dir, ich habe dich
-nur lieb ... An diesem Abend kam Mutter nicht
-zum Gutenachtkuß. Ruth rief nicht nach ihr. Aber sie
-hatte ein rotgoldenes Christusbild unter dem Kopfkissen.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte Nonne werden. In der Abenddämmerung
-in niederen Kreuzgängen wandeln und über das Meer
-schauen und Christus lieben.
-</p>
-
-<p>
-In die Messe mochte sie doch nie gehen. Wie
-entsetzlich war es, zu denken, daß der fettige Geistliche
-da vorne das reinste Blut trank. Wenn es auch für die
-ganze Welt gut war, es war eine ungeheure Grausamkeit
-&ndash; ein Verbrechen &ndash; und daß das alle Morgen
-geschah ...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
-Ruth besaß ein Kinderbuch, in dem opferten
-die Chinesen grell gemalten, glotzäugigen Buddhas.
-Vor diesem Buch graute ihr. Und vor den fetten
-Altären der katholischen Kirchen.
-</p>
-
-<p>
-Zu Hause aber steckte sie ihren liebsten Bleistift
-in den Ofen &ndash; Opfer für Christus.
-</p>
-
-<p>
-Dem lieben Gott versprach sie alle Tage ein
-Gebet mehr. Was anderes konnte sie ihm nicht geben.
-Als es zu viel wurde, gab sie es überhaupt auf. Und
-von dieser Stunde an stand sie nicht mehr gut mit ihm.
-</p>
-
-<p>
-Aber sie küßte den schmutzigen Steinboden im
-Stiegenhaus. Christus zu liebe.
-</p>
-
-<p>
-Dann bekam sie eine andere Bonne. Mit sehr
-roten Wangen und gekräuselten Haaren, die alle Nacht
-zwei Stunden lang mit der Brennschere bearbeitet
-wurden. Diese Bonne liebte Ruth sehr. Sie erzählte ihr
-ungeheuer viel von einer Baronin, die schon zweimal
-verheiratet war und Ruths Schuhnummer hatte und
-alle Monate vier Paar Schuhe brauchte. Eines Nachmittags
-führte sie Ruth zu der Baronin. Das Zimmer
-war voll mit parfümiertem Rauch und schweren
-Teppichen. In einem Erker saß die Baronin neben
-einer riesigen Palme. Sie trug einen grauseidenen
-Schlafrock. Seine Falten krochen über ihre müde,
-duftende Haut. Sie sprach lange mit der Bonne und
-liebkoste Ruths Zöpfchen. Sie schenkte Ruth ein
-Bonbon. Ruth schlief diesen Abend ein, das Bonbon
-in der Hand, das am nächsten Morgen als zähe
-Masse die kleine Faust verklebte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
-Sie schrieb den Anfangsbuchstaben des Namens der
-Baronin auf die Löschblätter in allen Heften. Als
-die Bonne plötzlich fortgehen mußte, weinte sie die
-Nacht durch.
-</p>
-
-<p>
-In einem großen Hotel liebte sie einen gazellenschönen,
-argentinischen Knaben. Sie sprach nie ein
-Wort mit ihm, dachte gar nicht an diese Möglichkeit.
-Aber sie zählte die Stunden, bis sie ihn wieder in den
-Speisesaal kommen sehen könnte, neben seiner überüppigen
-Mutter.
-</p>
-
-<p>
-An einem lichtgoldenen Frühlingstag sah sie auf
-dem Markt einen Korb weißer Hyazinthen. Kaum
-erblühter, strahlend weißer, schlanker Hyazinthen. Sie
-hatte kein Geld. Was sollte sie tun? Sagen, daß sie
-diese Hyazinthen haben mußte, sehen mußte, einatmen
-mußte. Nein, niemals, so etwas spricht man nicht aus.
-Das ist etwas so ungehöriges, wie die Dinge, die in
-den verbotenen Büchern stehen. Über so etwas schweigt
-man. Und wenn es nur wäre, um nicht ausgelacht zu
-werden. Das aber ist Schande und Schändung. Das
-ist so wie der gepeinigte Christus an jeder Wegkreuzung.
-</p>
-
-<p>
-Im Sommer darauf bemerkte sie zum erstenmal,
-wie sich das saftige Grün der Buchenblätter in die
-Sonnenbläue des Himmels schmiegt. Und sie berührte
-schüchtern das Waldgras, das hoch und gebogen war,
-während auf den Felsen die Erde duftete. &ndash; Geh
-nicht in den Wald, sagte die Mutter, dort sind
-Holzhauer und Schlangen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
-In diesem Sommer wuchs Ruth überraschend schnell
-und bekam kräftige, braune Arme.
-</p>
-
-<p>
-Im nächsten Winter entbrannte sie in wilder Leidenschaft
-für Napoleon. Der mit gekreuzten Armen über
-die Menschen gegangen war und sie zertreten hatte.
-</p>
-
-<p>
-Damals war es, daß Ruth eine Macht über sich
-fühlte, die sie fausthart in die Knie zwang. Und von
-der ihre weichen, unentwickelten Gelenke sich in sehnsüchtiger
-Wollust kneten ließen. Sie wollte nicht lieben,
-nicht Liebe empfangen, aber unterworfen werden.
-</p>
-
-<p>
-Im hintersten Winkel des Kleiderkastens war ein
-wunderliches Gemisch von Kostbarkeiten: Eine falsche
-Rose, die Mutter getragen hatte als sie einmal in das
-Theater ging und so besonders schön war. Gepreßte
-Zyklamen aus dem Buchenwald. Das rotgoldene Christusbild.
-Eine Unterschrift der Baronin aus einem Brief an die
-Bonne. Ein Ausschnitt aus einem französischen Werk
-über Napoleon. Und das Wort Beethoven mit roter
-Tinte auf die verkehrte Seite einer Visitkarte geschrieben.
-</p>
-
-<p>
-Wenn Ruth ihren Kasten zusammenräumte, wischte
-sie diese Dinge mit einem Batisttaschentuch ab. Jedes
-war einzeln in weißes Seidenpapier gewickelt und mit
-Christbaumschnüren zugebunden. Ruth rührte aber
-keines gerne an. Sie fürchtete den Tag, wo ein
-quälendes Gewissen sie dazu trieb, alles frisch zu
-ordnen und neu einzuwickeln. Sie wusch sich vorher
-dreimal die Hände und fürchtete, daß ein unreiner
-Atemzug diese Heiligtümer beleidigen könnte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
-Denn das alles waren Heiligtümer, nicht Erinnerungsstücke.
-Kleine, nichtige Gegenstände, vollgetränkt mit
-dem Empfinden einer überströmenden Liebe. Und als
-Christus, als die Baronin, als Napoleon Ruth fremd
-geworden waren, behielten die einzelnen Dinge doch
-ihre seltsame Macht. Ja, diese Macht war sogar gewachsen,
-wenn das Ideal tot war. Und noch unbegreiflicher,
-furchteinflößender geworden. Es war besser, man
-berührte diese Gegenstände nicht, ging ihnen aus dem
-Weg und sperrte den Kasten zu. Wodurch allerdings
-auch der Schlüssel lebendig wurde und schwer zu
-behandeln.
-</p>
-
-<p>
-Es kam noch vielerlei dazu. Schmächtige Seidenfransen,
-die sie einem Freund Richards, einem langlockig,
-grobbeinigen Menschen von seinem Kragenschoner
-weggeschnitten hatte. Ein weißblondes Haar
-der Englischlehrerin. Und noch vieles andere. Es gibt
-keine Kirche, die so viele Reliquien hat wie Ruths
-Kleiderkasten.
-</p>
-
-<p>
-Einmal saß Ruth bei dem Speisezimmertisch und
-sollte eine Schulaufgabe machen. Mutter saß mit ihren
-Rechenbüchern daneben. Da kam ein Dienstmädchen
-herein, die Mutter einst wegen Diebstahls hinausgeworfen
-hatte. Die brachte ihr Kind. Mutter schob
-alle Rechenbücher beiseite und nahm den Säugling auf
-den Arm und küßte und hätschelte ihn. Ruth sah sich
-wieder ganz klein und der Mutter so nackt und hilflos
-überlassen, wie dem lieben Gott selbst. Sie zeichnete
-Mutters Kopf in ihr Schulheft.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
-Onkel Gustav erklärte, sie sei ein Genie. Mutter
-war stolz. Sie hatte in ihrer Jugend selbst viel gemalt,
-große, bunte, talentierte Bilder. Man schickte sie in eine
-Zeichenschule. Und dort war Hilde.
-</p>
-
-<p>
-Wenn die Sonne aufgeht, brechen alle Pflanzen
-aus der Erde und die Steine werden licht. Denn das
-ist die große Kraft.
-</p>
-
-<p>
-Wenn Hilde in das Zimmer kam, wurde der Raum
-weiter und höher. Und durch alle Muskeln zuckte
-Ungeduld und Sprungkraft. Denn sie besaß große
-Kraft.
-</p>
-
-<p>
-Sie sehen, hieß einen Trunk frischen Wassers tun.
-Und vor Ruth sanken die schwerblütigen Vorhänge
-der elterlichen Wohnung in einen fetzigen Haufen
-zusammen. Und sie verstand, daß es wichtiger war
-Fensterscheiben zu zerschlagen als einem Bettler ein
-paar Kreuzer zu schenken. Denn die Sonne muß hereingelassen
-werden. Sie ist die große Kraft.
-</p>
-
-<p>
-Mit Hilde konnte man nicht sprechen. Ihre Nähe
-war grell und fast schmerzhaft laut. Ruth flüchtete vor
-ihr. Alle Reliquien durften verstauben.
-</p>
-
-<p>
-Hilde reiste nach Italien. Sie sah Hilde nicht mehr.
-Ein greller Funken hatte ihr Leben grell gemacht, ganz
-kurz, momentan. Sie war feige und blieb in der
-Dämmerung. Aber sie kannte das Licht. Und wartete.
-</p>
-
-<p>
-Während aus dem Graugelb leerer Nachmittage
-er herauswuchs, riesengroß und dunkel. Und sie saß
-bei ihm alle Wochen, alle Tage. Und trank die Worte
-abgelebter Erinnerungen, die noch leben möchten.
-<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
-Dumpfer Männernächte, die ihre Kinderhände weinen
-machten.
-</p>
-
-<p>
-Er war ein Gott. Die Maske fiel.
-</p>
-
-<p>
-Er war ein armer Mensch. Die Maske fiel.
-</p>
-
-<p>
-Er war ein Schuft. Wird noch eine Maske fallen.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Ruth saß am Sonntag in dem großen Dom. Die
-Orgel spielte und vor den brennenden Kerzen lag die
-Menge.
-</p>
-
-<p>
-Ruth hörte auf das ewig gleiche Thema der Orgel
-und wußte, daß draußen ein eintöniger Regen fiel. Die
-nassen Kleider der Leute stanken in den Weihrauch
-hinein. Sie saß ganz hinten, in einer dunklen Bank.
-Vor ihr war eine alte Dame in schwarzem Schleier. Die
-betete halblaut.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: mit wem spricht sie da. Gott &ndash;
-das ist eine Maske mit gerader strenger Nase und
-weißem Bart. In jeder Spielwarenhandlung zu kaufen,
-wenn erst Fasching ist. Christus ist tot. Gekreuzigt.
-Sie soll sich nicht zum Narren halten lassen von den
-Reliquien hinter dem Gitter. Das sind Masken für
-nichts. Ich möchte meinen Schrank verbrennen. Mutter
-macht uns alle unglücklich, weil sie nicht glücklich sein
-kann. Das Muttersein ist Maske. Dahinter steckt ein
-furchtbarer Mensch. Und die Liebe bei der Baronin mit
-dem parfümierten Rauch macht Übligkeiten. Sie soll
-nicht lächeln. Es ist eine Krankheit in ihr. Maske.
-Napoleon hat die Welt unterworfen weil er die größte
-<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
-Maske trug. Alle Buchenblätter sind faul und die
-weißen Hyazinthen verwelkt, verkrümmt.
-</p>
-
-<p>
-Sie zog einen Taschenspiegel aus ihrem Handtäschchen.
-&ndash; Da sitze ich in der Kirche bei der
-Komödie. Warum schrei ich denn nicht. O ich bin
-gesittet. Und mein Gesicht ist nicht verzerrt. Ich trage
-ja auch meine Maske. Aber die Augen sind furchtbar.
-Ich habe Angst vor mir.
-</p>
-
-<p>
-Ob Hilde auch eine Maske hat &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Aber er trägt viele tausend Masken. Nein, er weiß
-gar nicht, welches sein wahres Gesicht sein könnte.
-Lauter weiche, schmiegsame Masken, innen etwas faul.
-Grünbleich und müde. Ach, und sich hineinlegen können
-und ausruhen ...
-</p>
-
-<p>
-Als sie aus dem Tor herausging, traf sie Onkel
-Gustav und Richard. Beide zogen den Hut vor der
-Kirche. &ndash; Warum tut ihr das, sagte Ruth ärgerlich, ihr
-glaubt ja doch nichts.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Das macht man so, sagte Onkel Gustav
-verlegen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, du bist wieder einmal dumm, erklärte
-Richard.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Aber ein Tier tut das nicht, sagte Ruth und
-streichelte Onkel Gustavs namenlosen Hund.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-8">
-<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
-Gute Familie
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">artha</span> unterrichtete in der Schule, die Norberts
-jüngste Schwester besuchte. In der sie selbst ihre erste
-und letzte Bildung empfangen hatte und wo Ruth einmal
-fast hinausgeworfen worden war, weil sie öffentlich
-zu erklären wagte, vor der französischen Grammatik
-brauche man den lieben Gott nicht im Gebet anzurufen.
-</p>
-
-<p>
-Mutter hatte darauf gehalten, daß ihre Töchter
-diese Schule besuchten und keine andere. Es war die
-vornehmste Schule der Stadt, die Bureaukratenschule.
-Es galt als Zeichen von Ruths Dummheit, daß sie nicht
-einmal in dieser Schule gute Noten bekommen konnte.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte niemals an ihre Schuljahre zurück. Sie
-mied den Weg, der an der Anstalt vorbeiführte. Sie
-empfand schon in der Nähe des Hauses den dumpfen
-Tintengeruch aller der Rehlederfleckchen, die zu besitzen
-dort so streng verlangt wurde und die sie immer verlor.
-Französische Verben, verwischte Diktate, alte Butterbrote,
-schwarze Clothschürzen mit knallblauem Rand
-und das unbedingte Bedürfnis, sich auf den Tisch zu
-setzen, jetzt, gerade jetzt, weil das so entsetzlich unpassend
-ist.
-</p>
-
-<p>
-Vor allem aber hielt sie ein wurmendes Schamgefühl
-zurück, wenn sie sich an diese Zeit erinnerte.
-Sie wollte nicht eines sein mit dem faulen, boshaften
-<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
-Fratzen, der der Mademoiselle alles nachwies, was sie
-in Geschichte falsch unterrichtete, ihre gefärbten Haare
-bewunderte und stundenlang darüber grübelte, was sie
-ihr Verletzendes sagen könne. Denn die Mademoiselle
-war dumm. Es war eine Unverschämtheit, andere belehren
-zu wollen, ohne klüger zu sein. Das einzige,
-was Ruth aus der Schule brachte, war ein glühender
-Haß auf den Kardinal Richelieu. Der bestimmt der
-Mademoiselle ähnlich gesehen haben mußte, ihre kaltadrige,
-rote Gesichtsfarbe gehabt hatte und ihre steifglänzenden
-Halskragen. Damals hatte Ruth den Haß
-gelernt. Nicht den hochlodernden, kämpfenden. Aber
-den sich ekelnden, nagenden, den man gegen Fleischfliegen
-hat und Maden. Den allerunbarmherzigsten.
-</p>
-
-<p>
-Und damals hatte Ruth die Roheit kennen gelernt,
-die nicht zögert, sich selbst zu beschmutzen. Als ein
-Kind der Schule gestorben war, kam der Literaturprofessor
-wankend in die Klasse. Er war ein kleiner,
-lächerlicher Mensch mit strohgelb in die Höhe stehenden
-Haaren. An die Tafel gelehnt, schluchzte er überlaut,
-wischte sich die Tränen ab mit einem blauen Taschentuch,
-schneuzte sich &ndash; und dazu mußte ein Mädchen
-ein ganz blödsinniges Lesestück vorlesen. Da begannen
-alle Kinder zu lachen. Und Ruth mit ihnen, sie zerbiß
-ihr Taschentuch &ndash; er weinte ja auch immer, wenn er
-von Theodor Körner sprach.
-</p>
-
-<p>
-O die viele, viele Schande, die sie dort erdulden
-mußte. Alle Morgen eine Krankheit erfinden, um nicht
-hinzugehen. In einer Zeit, wo der unbeugsame Kindersinn
-<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
-nach unbedingter Reinheit verlangt und der geringste
-Schmutzfleck ratlos macht und ausliefert.
-</p>
-
-<p>
-Konnte man je wieder rein werden, wenn man in
-diese Schule gegangen war? Wo alle unterdrückte
-Sinnlichkeit der vertrockneten Lehrerinnen unter den
-Bänken wieder erwuchs, aufgezogen von der schmierigen
-Neugier halbwüchsiger Kinder, die von Liebe nichts
-wissen dürfen. Ruth wurde später rot, wenn sie an die
-Gespräche dachte, die sie mit zwölf Jahren hören und
-führen mußte. Und dann wurde alles verraten. Und ein
-Kind wurde ausgeschult, weil es die Tochter einer
-Schauspielerin war.
-</p>
-
-<p>
-Nein, an diese Schule durfte man niemals zurückdenken.
-Ruth wich Martha aus, wenn sie des Morgens
-dorthin ging. Sie hätte sie bedauert, wenn sie sie nicht
-so maßlos verachtet hätte.
-</p>
-
-<p>
-Es war ganz selbstverständlich, daß Norberts
-Schwester diese Schule besuchte.
-</p>
-
-<p>
-Norbert kam nicht mehr bloß Samstag. Er kam
-auch Mittwoch. Jeden Mittwoch und Samstag zum
-Mittagessen. Vorher spielte er noch mit Gustav zwei
-Sonaten, eine neu und eine, die sie schon das letztemal
-gespielt hatten. Ruth kam an diesen Tagen immer zu
-spät nachhause.
-</p>
-
-<p>
-Ruth verachtete Norbert. Diese Verachtung war
-mit einem ihr sonst fremden Ekel untermischt. Der sich
-bis zur Wut steigern konnte, wenn er sie über den
-Tisch herüber ansah, hundetreu und Vertraulichkeit
-vortäuschend.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
-Mutters Vorliebe für Norbert stieg immer mehr.
-Martha konnte gar nicht aufhören, mit Norbert zu
-sprechen. Er gab als Mitglied seiner Kaste etwas verächtlich
-Auskunft über die Familienchronik der Stadt &ndash;
-aber immer als Mitglied seiner Kaste. Martha bekam
-hektisch rote Wangen. Ruth dachte: Mein Gott, wie
-wenn ich den Uilenspiegel von de Coster lese. Aber
-da ist es nicht ein Mensch, ein Volk, eine Welt, nur
-eine ehemalige Tanzstunde.
-</p>
-
-<p>
-Deshalb hatte sie Martha in den letzten Jahren beiseite
-liegen lassen. Neben ihr starb eine Seele in der
-Sehnsucht nach dem gelobten Land.
-</p>
-
-<p>
-Eines Mittags kam ihr auf der Straße ein ältliches
-Fräulein entgegen, trotz der lichten Sonne in einem
-langen, grauen Regenmantel. Scharfe Nase, weltfremde
-Augen, unter dem Arm eine Aktentasche. Ruth dachte:
-Lehrerin, die hat heute sicher ein ungezogenes Kind
-gequält. Vielleicht so eines wie ich war.
-</p>
-
-<p>
-Sie ging weiter. Um die Ecke herum begegnete
-ihr Martha, die eben aus der Schule kam. Sie hing
-sich hastig an Marthas Arm und fragte einige ganz
-überflüssige Fragen. Martha antwortete mürrisch. Ruth
-dachte: Um Gottes Willen, vielleicht sieht sie in ein
-paar Jahren so aus wie die andere, die Lehrerin von
-vorher. Nein, das ist unmöglich, das darf nicht sein.
-</p>
-
-<p>
-Derselbe glühendheiße Druck legte sich ihr zwischen
-die Brust, den sie als Kind empfunden hatte, als der
-Arzt sagte, daß Vater sterben müsse. Sie hatte sich in
-<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
-einem Kasten versteckt und schrie in sich hinein:
-unmöglich.
-</p>
-
-<p>
-So ging sie heute neben Martha. Bei einem Blumenweib
-blieb sie stehen und kaufte ein winziges Büschelchen
-Veilchen. &ndash; Ruth, um diese Jahreszeit. Du fängst also
-schon wieder so an mit dem Geld. &ndash; Nimm sie. &ndash;
-Unsinn. &ndash; Bitte. &ndash; Nein, könnte mir einfallen.
-</p>
-
-<p>
-Ruth hielt die Veilchen ganz tief unten. Nur nicht
-weinen vor Zorn. Pfui Teufel. Und Marthas Schleier
-hatte ein Loch quer über die Wange hin. Ach, was
-ging diese langweilige Person sie eigentlich an. Sie
-ließ die Veilchen in den Rinnstein fallen, knapp bevor
-sie in das Haustor traten und sprang voraus über
-die Stiegen.
-</p>
-
-<p>
-Dann aber schalt Mutter mit Martha kreischend laut
-und ungerecht. Ruth stand im Nebenzimmer mit geballten
-Fäusten. Mutter schrie. Martha schwieg. Ach, da war
-wieder der entsetzliche Druck, der brennende Druck &ndash;
-Angst &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth warf eine alte Porzellanvase zu Boden, daß
-die Splitter sprangen. Mutter stürzte wütend herein. Sie
-schüttelte Ruth und stampfte mit dem Fuß auf die
-Scherben. Aber sie war wieder gut mit Martha. Denn
-Martha jammerte mit.
-</p>
-
-<p>
-Ruth weinte so lange, daß sie am Abend krank
-war und in das Bett gesteckt wurde. Mutter brachte ihr
-besonders aufgegossenen Tee und setzte sich an den
-Bettrand wie in alten Zeiten. Aber Ruth drehte den
-Kopf weg. Das Licht schmerze sie. Plötzlich sagte sie:
-<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
-&ndash; du hast Martha nicht gern. &ndash; Was soll das heißen? &ndash;
-Du hast Martha gar nicht gerne. Weil sie häßlich und
-unglücklich ist. Häßliche und unglückliche Menschen mag
-man nicht. Ich liebe Martha auch nicht, o nein. Aber
-ich will nicht mehr mit ihr streiten.
-</p>
-
-<p>
-Und nach einer Weile: &ndash; Weißt du Mutter, eigentlich
-wünsche ich, daß Martha auch aus dem Fenster gesprungen
-wäre, wie ihre verrückte Freundin voriges
-Jahr. Wenn sie es heute noch tun wollte, ich glaube,
-ich würde ihr helfen und &ndash; Ruth, Mutter stand vor
-dem Bett, dunkelrot &ndash; du willst also, daß ich hinausgehe
-... Nein Mutter, ich habe nur manchmal so Angst.
-Aber wenn du gehen willst, gib mir etwas zu lesen,
-irgendein Buch, nur etwas, was gerade auf dem Tisch
-liegt. &ndash; Schillers Dramen? &ndash; Nein, nicht das. Wozu.
-Ich sage dir, heute Mittag habe ich auf der Straße im
-Sonnenschein eine Frau gesehen, viel, viel schlimmer
-als die Maria Stuart, bevor sie auf das Schafott geht. &ndash;
-Du träumst. &ndash; Nein, ich habe die Augen offen, sehr
-weit offen &ndash; gute Nacht Mutter.
-</p>
-
-<p>
-Ruth versuchte nicht mehr, mit Martha zu sprechen.
-Aber in den nächsten Tagen vergaß Martha, als sie in
-das Theater ging, den Schlüssel ihres Kastens abzuziehen.
-Ruth schlich in ihr Zimmer. Ihr Herz klopfte in
-die Kehle hinauf. Sie verschloß die Türe. Sie dachte:
-jetzt mache ich etwas Niederträchtiges, Schmutziges.
-Aber ich kann ihm nicht entgehen, es geschieht von
-selbst, notwendig &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
-Sie fand nichts, nein, sie fand gar nichts in dem
-Kasten, nicht einmal die Photographie, die sie erwartet
-hatte. Wozu sperrte denn Martha den Kasten immer
-auch dreifach zu. Nur ein Buch lag da, in Leder
-eingebunden, mit vorgedrucktem Datum, darinnen
-standen alle Theater, Vergnügungen, Bälle und
-Tänzer.
-</p>
-
-<p>
-Ruth empfand wieder den Geruch von Gaze, Spitzen,
-gebranntem Haar, Straußfedern und frischen Blumen,
-die alle nach Parfüm und Puder schmeckten. Jene festliche
-Erregung, die die ganze Familie bis zur Hausmeisterin
-hinunter beherrschte, wenn Martha mit Mutter
-auf einen Ball ging. Die ihr Kinderherz nicht schlafen
-ließ und an rauschende Seidenröcke denken und blonde
-Prinzessinnenlocken.
-</p>
-
-<p>
-Heute abends war sie mit Mutter allein beim Abendessen.
-Mutter sollte erzählen.
-</p>
-
-<p>
-Mutter tat das gerne, leichthin, ohne Ruths brennendes
-Interesse zu spüren. Ruth zerkrümmelte das Brot über
-das Tischtuch.
-</p>
-
-<p>
-Mutter sagte: &ndash; Du brauchst nicht glauben, daß
-Martha immer so war, wie sie jetzt ist. Sie ist ein armes
-Mädchen, aber gut. Und du bist manchmal sehr abscheulich
-zu ihr, Ruth. Da ist Richard ganz anders. Er
-ist doch immer so rücksichtsvoll, das hat er bei Martha
-am besten gezeigt. Gott, das ist schon lange her
-und von so etwas spricht man lieber nicht mehr.
-Überhaupt zu dir, du könntest eine Bemerkung
-machen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
-&ndash; Natürlich. Ich verstehe nicht, warum du dann
-davon redest? Was es schon sein wird, sie wird eben
-ein Kind bekommen haben.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, so etwas sagst du zu mir? Wie du jetzt
-immer sprichst. Mit wem gehst du eigentlich um? Schon
-in der Schule hast du dir immer die Minderwertigsten
-ausgesucht. Bei Martha war das ganz anders. Wenn du
-wüßtest mit wem Martha verkehrt hat &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Das hat ja auch herrliche Folgen gehabt.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Martha war immer nur in den besten Familien
-eingeladen. Die Leute haben sich um sie gerissen. Sie
-war hübsch und liebenswürdig. Alle haben ihr den Hof
-gemacht, wie toll. Menschen wie Norbert &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; O weh ...
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ja, das ist dir natürlich zu gut. Aber ich sage
-dir, Martha hat ein schönes Leben gehabt und war
-glücklich. Das verdankt sie mir.
-</p>
-
-<p>
-Ruth bückte sich, um die Serviette vom Boden
-aufzuheben.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du weißt eben gar nichts. Wenn du eine Ahnung
-hättest, wer Martha heiraten wollte &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Und warum hat er es nicht getan?
-</p>
-
-<p>
-Mutter erzählte von dem jungen Baron, der Martha
-so sehr geliebt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Sicher hat er ihr Blumen geschenkt
-beim Kotillon.
-</p>
-
-<p>
-Der Baron reiste ihnen nach, einen Sommer lang.
-Man wohnte in den feinsten Hotels, o, es kostete ein
-Vermögen. An der Ostsee. Martha trug nur Pariser
-<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
-Toiletten. Am Abend saß der Baron mit ihr und Mutter
-bei Champagner auf bis zwölf Uhr, jede Nacht bis
-zwölf &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Warum ist sie nicht lieber am Strand
-mit ihm spazieren gegangen und hat ihn geküßt.
-</p>
-
-<p>
-Alle morgen standen Blumen auf dem Frühstückstisch.
-Und Martha wußte ihre Haltung zu bewahren &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth fragte: &ndash; Warum?
-</p>
-
-<p>
-Aber Mutter erzählte weiter, stolz, glückselig.
-</p>
-
-<p>
-Sie waren allein in dem Bad. Ruth und Richard
-waren zu Hause. Der Baron hielt Vater für einen großen
-Unternehmer &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Vaters arme Zeichnungen.
-</p>
-
-<p>
-Und dann im Herbst waren sie verlobt. &ndash; Mutters
-Stimme brach fast ab. &ndash; Ganz richtig verlobt. Natürlich
-geheim. Aber er kam alle Tage zum Abendessen und
-war mit Richard eng befreundet. Richard hätte damals
-in ein Ministerium kommen können. Ach, es war herrlich ...
-</p>
-
-<p>
-Mutter schwieg. Ruth fragte: &ndash; Nun, und? ...
-Und nichts.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was heißt das?
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Die Verhältnisse.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Die Verhältnisse also, das heißt, daß Vater
-kein Unternehmer war, daß ihr geschwindelt habt.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, was sagst du mir da? Mir, die ich immer
-dem Glück meiner Kinder gelebt habe. Richard sollte
-dich hören. Ja Richard überhaupt ... Wir fuhren zu
-Weihnachten in das Gebirge. Du hattest Keuchhusten.
-Erinnerst du dich &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
-&ndash; Ja, da war der Tierarzt.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Richtig. Nun und wenn Richard nicht so energisch
-aufgetreten wäre. Martha war zu jeder Dummheit bereit.
-Der Landtölpel &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah vor sich den bärenhaft trotzigen Menschen,
-mit den zarten Händen und der Bauernsprache, auf
-dessen Rücken sie oft genug geritten war.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Mutter, das ist eine Gemeinheit.
-</p>
-
-<p>
-Richard und Martha kamen aus dem Theater nachhause.
-Norbert war auch dort gewesen. Ruth hatte
-Norbert am Abend vorher beleidigt. Richard sagte:
-&ndash; Natürlich, du kannst immer nur rüpelhaft sein. Es ist
-wirklich schade, wenn ein Mensch aus guter Familie
-zu uns kommt.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sprang auf: &ndash; Ich glaube, ihr wißt alle nicht,
-wer Vater war.
-</p>
-
-<p>
-Und sie drehte Vaters Photographie an der Wand um.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Tag suchte Ruth ein junges Mädchen
-auf, dessen Verkehr ihr von Mutter streng verboten
-war. Sie hatte sie in einer Nähschule kennen gelernt.
-Das junge Mädchen hatte grellrote Haare, die sie zu
-hoch hinaufgesteckt trug. Sie lebte mit ihrer Mutter in
-einem schäbigen Vorstadthaus, aber in der Wohnung
-waren viele Teppiche und Erker mit heimlichen Palmen.
-Sie verkehrten nur mit Offizieren.
-</p>
-
-<p>
-Ruth traf Mutter und Tochter, wie sie sich eben
-manikürten. Sie wurde mit überströmender Liebenswürdigkeit
-empfangen. Aber sie haßte manikürte Nägel,
-die rund und glatt sind, wie Klauen von Tieren. So
-<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
-war sie kühl, obwohl sie sich vorgenommen hatte,
-herzlich zu sein. Als Bella sich an den Toilettetisch setzte,
-wo die vielen silberglänzenden Schächtelchen waren
-und die rote Lampe darüberhing, bekam sie eine tolle
-Lust, mitzutun. Sie schmierte sich rotes, weißes, gelbes
-Puder vermischt über das Gesicht, bis Bellas Mutter
-in einen Lachkrampf ausbrach und sie in die Arbeit nahm.
-</p>
-
-<p>
-Als sie sich dann in dem Spiegel betrachtete, von
-der Seite her und verlegen vor sich selber, war das
-genau so, wie wenn sie sich vor Jahren mit Marthas
-Garderobe zur Jungfrau von Orleans drapiert hatte.
-Das war ja herrlich, so ganz jemand anderer zu sein,
-als man wirklich ist. Verlockend und spielerisch. Maske.
-Ein bißchen wie der liebe Gott mit dem weißen Bart.
-Nur daß die Schminke rot war.
-</p>
-
-<p>
-Und alle Lampen in diesem Haus waren rot. Sie
-fiel Bella um den Hals und beide tanzten durch das
-Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Dann kamen drei Herren. Zwei Offiziere und ein
-Theaterdirektor. Sie saßen in einem halbdunklen Raum
-und tranken Tee aus winzigen Tassen. Der Zigarettenrauch
-war klebrig schwer. Man konnte nicht mehr
-sehen, daß die Wände überfüllt waren mit Photographien,
-Bilderchen nackter Engel und trockenen Maiskolben.
-</p>
-
-<p>
-Aber es war sehr lustig. Direkt gemütlich. Ruth
-fühlte sich wunderbar wohl. Sie spielte ihre Rolle, als
-ob sie ihr von dem liebenswürdigen Theaterdirektor
-eigens einstudiert worden wäre. Eigentlich wußte sie
-nicht genau, ob nicht daneben ein Orchester spiele mit
-<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
-kreischenden Fiedeln und ein Boy unter ihr Perolin
-aufsprenge.
-</p>
-
-<p>
-Ein Leutnant mit etwas herunterhängender Unterlippe
-setzte sich an das Klavier und spielte eine abscheuliche
-Melodie. Bella sang dazu ein schmieriges
-Lied. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß und er
-küßte sie. Er hatte große, schwarzgerauchte Zähne.
-Ruth dachte an Norbert. Ekelhaft.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich muß nach Hause gehen. O man war sehr
-betrübt darüber. &ndash; Aber ich komme bald wieder. Und
-Ruth setzte sich den Hut schief in die Stirne hinein
-und quer über ihr gerötetes Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Auf der Straße verfolgte sie ein Mann bis in
-ihr Haus.
-</p>
-
-<p>
-Bei Mutter war Besuch. Eine Freundin Mutters mit
-drei unverheirateten Töchtern. Die alte Frau machte
-eine verwunderte Bemerkung, daß Ruth so spät abends
-allein nachhause käme. Die drei Schwestern schielten
-eigentümlich auf den schiefsitzenden Hut. Und die
-Älteste öffnete den Mund, um etwas Boshaftes zu
-sagen. &ndash; Da ging Ruth aus dem Zimmer. Ihr war ja
-so übel.
-</p>
-
-<p>
-Bella war glücklich. Die drei Mädchen da drinnen
-zankten sich alle Morgen. Gingen dann einträchtig den
-ganzen Vormittag Einkäufe machen für ihre unbedeutende
-Wirtschaft. Trafen bei dieser Gelegenheit Bekannte,
-die sie grüßten, mit denen sie sprachen. Nie ging eine
-allein auf der Gasse. Immer waren sie zu zweit oder
-zu dritt und gewöhnlich war die Mutter zwischen ihnen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
-Sie warteten ihr ganzes Leben, daß einer käme.
-Aber einer, der vornehm war. Eigentlich war es dasselbe
-wie bei der Prinzessin im Märchen. Und sie, Ruth,
-wartete auch. Nur daß sie so gar nicht wußte auf was.
-Bella war glücklich. Die hatte alle Tage ihren Leutnant.
-Aber der hatte schwarze Zähne.
-</p>
-
-<p>
-Martha war arm. Doch sie hatte einen Gott. Der
-saß an erster Stelle in einem hohen Amt. Vielleicht
-hatte er auch einen weißen Bart. Sie, Ruth, hatte keinen
-Gott mehr. Sie war wie Gustavs namenloser Hund.
-Aber sie konnte selbst eine Maske anziehen. Gott
-werden für Bella, für den Leutnant, für den Theaterdirektor.
-Vielleicht auch für Mutter. Es war eine Bosheit,
-wenn sie es nicht tat. Ach, wozu so viel denken, überhaupt,
-lieber Masken tragen und ganz anders sein &ndash;
-und schlafen &ndash; sie streckte sich lang aus in ihrem zu
-kleinen Bett ...
-</p>
-
-<p>
-In der Nacht träumte sie von einem breitästigen
-Baum voll dichter, gelbwelkender Blätter und rosa
-Riesendolden. Sie stand auf der Brücke und der Baum
-war weit draußen in einem dunkelglatten See. Aber
-hinter ihm stieg ein Berg auf mit beschneiten Tannen
-und die Luft war bleich, wie im Winter. Der Baum
-hing voll schwerer rosa Blütendolden. Über die Brücke
-kam Mutter mit ihren gierig fordernden Bewegungen,
-die immer alles haben wollten und deshalb so ungeheuer
-armselig waren. Hinter ihr ging Martha in einem rosa
-Ballkleid. Aber die Augen waren geschlossen und die
-Wangen gelb. Ruth stand auf der Brücke und sie war
-<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
-ganz klein, hatte kurze weiße Socken an, ein weißes
-Matrosenkleid mit hellrosa Kragen. Oben auf dem Berg
-begann es sicher zu schneien. Und Mutters Haare
-waren weiß.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Tag brachte Norbert eine Einladung
-seiner Mutter für die ganze Familie. Zu einer kleinen
-Gesellschaft, wie er leichthin sagte. Dabei sah er Ruth
-an. Ruth sagte: &ndash; Ich gehe nicht in Gesellschaft.
-</p>
-
-<p>
-Aber nachher mußte sie gehen. Sie war die Jüngste
-und mußte Martha begleiten. Das sah so am besten
-aus. Mutter ließ ihr Abendkleid herrichten und kaufte
-Lederhandschuhe und Seidenstrümpfe. Da fand Ruth,
-daß die Sache eigentlich doch dafür stehe. Sie setzte
-sich vergnügt auf den Tisch und probierte die Seidenstrümpfe
-an. Richard kam in das Zimmer. Mutter rief:
-&ndash; Ruth, schämst du dich nicht. &ndash; Nein du hast sie mir
-ja gekauft, damit man sie sehen soll.
-</p>
-
-<p>
-Sie machte einen langen Spaziergang durch Kot
-und Regen und erklärte dann, die Strümpfe seien zerrissen
-und schmutzig, einfach unbrauchbar. Und sie
-ging ohne Seidenstrümpfe zu Norberts Eltern.
-</p>
-
-<p>
-Norberts Schwester war ein halberwachsenes Ding
-mit zu kurzer Oberlippe und vornehm tiefer Stimme.
-Sie grinste allen Gästen zu und war übertrieben freundlich
-mit einer unscheinbaren, dicklichen Freundin. Der
-Salon war verschnörkelt, Gold in braunem Holz,
-mindestens drei überflüssige Tische standen da und in
-der Ecke hing ein großer Makart. Sonst unzählige
-<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
-Photographien in kostbaren Rahmen und konventionelle
-Geschenksvasen.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Ich möchte wissen, wer in diesem
-Raum zuhause ist. Norbert nicht, er tut nur so, wenn
-er die Zigaretten anbietet. Sonst aber paßt er noch
-besser an unser Klavier. Und seine Mutter auch nicht.
-Was für eine proletarisch dicke Nase sie doch hat und
-der lose, ungebändigte Mund &ndash; nein, die habe ich
-mir ganz anders vorgestellt. Aber sein Vater hat einen
-eleganten, schneeweißen Scheitel. Und das ist auch alles.
-</p>
-
-<p>
-Norberts Braut kam zu ihr und war besonders
-freundlich. Sie war ein hübsches, liebes Mädchen mit
-gerader Nase und langen, hellgrauen Augen. Ruth fand,
-daß Norbert einen sehr vernünftigen Geschmack habe.
-Ihr gelblicher Spitzeneinsatz paßte wunderbar zu seiner
-grauen Weste.
-</p>
-
-<p>
-Ruth merkte wohl, daß man sie wie ein kleines
-Tier aus der Menagerie betrachtete. Weil ihr Kleid
-keinen Kragen hatte und die Haare eigenwillig um die
-Stirne herumstanden. Norberts Freunde schauten ihm
-eigentlich alle ähnlich. Lauter Menschen, die man erst
-monatelang sehen muß, um zu wissen, wie sie aussehen.
-Wenn man denen allen die Hände abschneiden wollte,
-man könnte die einzelnen Paare durcheinander werfen
-und sie wären nicht zu unterscheiden. Wie alle ihre
-Krawatten und Handschuhe. Ruth lachte bei dem Gedanken
-und wollte gähnen.
-</p>
-
-<p>
-Da kam ein Leutnant zur Tür herein mit herabhängender
-Unterlippe und dunklen Zähnen. Um Gotteswillen,
-<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
-was wollte der hier. Den hatte sie ja bei Bella
-getroffen. Nur daß er heute im Waffenrock war und
-ganz frisch rasiert.
-</p>
-
-<p>
-Er wurde mit Jubel begrüßt. Norberts Vater
-schüttelte ihm beide Hände. Er lächelte nach allen
-Seiten auf einmal. Aber vor Ruth verbeugte er sich
-dunkelrot vor Bestürzung. Sie sagte strahlend: &ndash; Uns
-brauchen sie einander nicht vorzustellen, Norbert, wir
-kennen uns schon.
-</p>
-
-<p>
-Ruth war nicht mehr schläfrig. Ein Interesse, daß
-sie erwachen gefühlt hatte, als sie mit Bella und deren
-Freunden Tee trank, trieb sie unter die Leute. Sie
-schwatzte. Aber dabei verfolgte sie fortwährend den
-Leutnant. Er wich ihr aus.
-</p>
-
-<p>
-Man bat den Leutnant stürmisch, etwas auf dem
-Klavier zu begleiten. Neueste Chansons. Norberts Braut
-sollte singen. Sie hatte doch so eine entzückende, kleine
-Stimme. Aber er wollte heute nicht. Ruth trat vor und
-sagte, liebenswürdigst lächelnd, während ihre grünen
-Augen forderten: &ndash; Du mußt &ndash; Spielen Sie doch das
-von dem kleinen Hotel, Sie wissen schon.
-</p>
-
-<p>
-Und er trat vor und spielte es. Ja, spielte, was
-er bei Bella gespielt hatte, was Bella gesungen hatte.
-Und &ndash; war denn das möglich? War das möglich, daß
-Norberts Braut dazu sang mit ihrer zarten Mädchenstimme,
-diese Worte? War es möglich, daß man rasend
-Beifall klatschte und Norberts Mutter duldsam lächelte,
-während sein eleganter Vater sich köstlich unterhielt?
-Nein, da war etwas, worüber man nachdenken mußte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
-Ruth setzte sich in eine Ecke. Gleich darauf kam
-der Leutnant. Er redete schlüpfrige Dinge und nahm
-ihre Hand. Sie ließ ihn gewähren, sie war interessiert,
-brennend interessiert.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Sagen Sie Herr Leutnant, singt man dieses Lied
-jetzt überall? &ndash; Ja, es ist sehr beliebt. &ndash; Ach, ich
-dachte, das singt nur Bella. Es ist abscheulich. &ndash;
-Gnädiges Fräulein scheinen sehr streng zu sein. &ndash; O
-nein, ich hasse nur schlechte Musik.
-</p>
-
-<p>
-Der Leutnant redete weiter. Dinge, süß wie zerlaufener
-Tortenüberguß und prickelnder Champagner.
-Eigentlich hatte er eine hübsche Nase und schöne
-Augen mit klugen Wimpern. Wenn nur der Mund nicht
-so schmierig gewesen wäre.
-</p>
-
-<p>
-Sie sprachen von dem Makartbild. Der Leutnant
-behauptete, in Norberts Zimmer hänge ein noch viel
-schöneres. Sie möge ihm doch folgen. Nein, dachte sie,
-ich bin doch zu neugierig. Und sie ging mit ihm. Aber
-sie ballte die Fäuste.
-</p>
-
-<p>
-Die Gesellschaft hatte sich zerstreut. Der Leutnant
-führte sie durch ein dunkles Zimmer in Norberts Zimmer.
-Er zündete kein Licht an. Und küßte sie.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte in der Sekunde: Norbert &ndash; wie er
-mich liebt &ndash; sein Zimmer &ndash; die Braut &ndash; das Lied &ndash;
-also so ist das &ndash; aber die schwarzen Zähne &ndash; so ist
-das &ndash; Dabei schlug sie dem Leutnant mit der Faust
-ins Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Er schrie auf, halblaut. Dann flüsterte er: &ndash; Gehen
-Sie, gehen Sie rasch. &ndash; Sie sagte: &ndash; Grüß Gott, Herr
-<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
-Leutnant und ging wieder in den Salon. Auf ihrer
-Hand war ein Blutfleck. Den wischte sie sorgsam ab
-in einem hellblauen Seidenvorhang. Dann mischte sie
-sich unter die jungen Mädchen.
-</p>
-
-<p>
-Norbert kam und legte den Arm um seine Braut.
-Man sprach von Musik. Ruth sagte: &ndash; Onkel Gustav läßt
-Sie grüßen. Er hat eine ganze Menge Noten für Sie
-bei uns liegen lassen. Norberts Braut fragte interessiert:
-&ndash; Wer ist das? Ist das der sagenhafte Künstler, der so
-wunderbar Mozart spielt und den man niemals zu sehen
-bekommen kann.
-</p>
-
-<p>
-Norbert war dunkelrot. Ruth sah ihn aufmerksam
-an und sagte: &ndash; Er hat heute nicht kommen können,
-weil er keinen reinen Kragen gehabt hat. Übrigens ist
-er kein Künstler, nur Zeichenlehrer an einer Mittelschule.
-Aber er ist mein Onkel.
-</p>
-
-<p>
-Norbert ging den Leutnant suchen. Er kam bestürzt
-wieder. Der Leutnant habe heftiges Nasenbluten und
-liege auf dem Sopha in seinem Zimmer. Ruth schlich
-sich an Norbert heran: &ndash; Norbert, Sie dürfen niemanden
-etwas sagen, aber ich muß mir die Hände waschen. &ndash;
-Jetzt gleich? &ndash; Ja, aber schweigen Sie.
-</p>
-
-<p>
-Norbert führte Ruth in das Badezimmer. Sie standen
-sich gegenüber in dem weißgekachelten, grellen Raum,
-der voll heißem Dunst war. Ihre Haare verdeckten die
-grünen Augen, so dicht hingen sie in die Stirne. Sie
-sah ihn an. &ndash; Wo ist heißes Wasser, ich möchte sehr
-heißes Wasser. &ndash; Hier, aber was ist Ihnen, was haben
-Sie? &ndash; Sehen Sie den Fleck da auf meiner Hand.
-<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
-Ich habe mich zuvor schon in einen Vorhang gewischt:
-Blut ist es. Vom Nasenbluten von ihrem Freund da.
-&ndash; Ruth, nein. &ndash; Doch, soll ich Ihnen den Vorhang zeigen?
-Im Salon rechts. Er hat mich geküßt in ihrem Zimmer
-und dann hat er auf einmal Nasenbluten bekommen. &ndash;
-Nein.
-</p>
-
-<p>
-Er hatte sich abgewendet und seine hohe, zu
-gerade Gestalt wurde klein und verschwand im feuchtschweren
-Dunst. Aber irgend etwas stöhnte in dem
-Badezimmer.
-</p>
-
-<p>
-Ruth wusch sich die Hände mit einer Bürste, daß
-das Wasser sprühte. &ndash; Sie sollten Ihre Braut nicht
-solche Lieder singen lassen.
-</p>
-
-<p>
-Er schwieg. Und nach einer Weile: &ndash; Überhaupt,
-was Sie für Freunde haben. Schämen Sie sich.
-</p>
-
-<p>
-Norbert wandte sich nicht um. Sie fühlte eine
-warme Welle um ihre Füße spielen, weich und kosend,
-die sich doch nicht traute, höher zu steigen. Er hielt
-den Kopf gesenkt. Sicher war er ganz rot. Warum
-schlug er sie denn nicht?
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Norbert, schauen Sie mich doch an, ob ich
-auch ganz rein bin. Er richtete seine hundetreue dunklen
-Augen auf sie, langsam, verzweifelnd, ergeben. &ndash; Auf
-Ihrem Schuh ist auch ein Fleck, Ruth. &ndash; Ach, was
-soll ich jetzt tun? Mich wieder beklexen?
-</p>
-
-<p>
-Er kniete nieder und putzte ihr mit einem nassen
-Handtuch den Schuh, sehr sorgsam. Sie sah auf ihn
-herab und fühlte: immer habe ich gewünscht, es soll
-mir jemand Liebesgedichte machen. Aber das ist ja
-<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
-viel mehr. Und doch ist es furchtbar. Soll ich ihm
-sagen, daß ich den Leutnant geschlagen habe, oder
-soll ich ihn küssen, auf den braven Scheitel da &ndash; ach,
-Christus, hilf mir &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Da war Norbert fertig und sie gingen rasch wieder
-in den Salon.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Tag kaufte sie ein paar japanische
-Nelken und erwartete Norbert vor seinem Amt. &ndash; Ich
-muß Sie sprechen. &ndash; Ruth, ich werde Sie nach Hause
-begleiten. &ndash; Dort nicht, gehen wir in ein Kaffeehaus,
-ich will allein sein. &ndash; Nein aber &ndash; was würde Ihre
-Mutter sagen. &ndash; Dann auf Wiedersehen ... &ndash; Halt,
-Ruth, so bleiben Sie doch.
-</p>
-
-<p>
-Sie gingen zusammen in ein Kaffeehaus. Er schielte
-ängstlich auf alle Tische. &ndash; Da, nehmen Sie die Nelken,
-sie gehören Ihnen. &ndash; Mir, nein ich verstehe Sie nicht,
-wie können Sie nur ... &ndash; Wahrscheinlich ist das auch
-nicht schicklich, aber nehmen Sie.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah über das nüchtern glatte Kaffeehaus, wo
-eben die ersten elektrischen Flammen angezündet wurden.
-Und wütend dachte sie: Herrgott, wenn ich nur eine
-Ahnung hätte, was ich dem Kerl habe sagen wollen.
-Nein, so was Dummes.
-</p>
-
-<p>
-Sie aß drei Portionen Eis nacheinander und er sah
-sie schweigend an. Dann sagte er: &ndash; Sie müssen nicht
-kleinlich von mir denken, weil ich nicht in ein Kaffeehaus
-gehen wollte. Aber Ihre Mutter &ndash; und ich bin
-doch auch verlobt. Aber Ruth, vielleicht wird das jetzt
-ganz anders werden &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
-&ndash; Norbert, sprechen Sie nicht weiter, o bitte,
-gewiß nicht, Sie wollen eine riesige Dummheit
-sagen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, Sie wissen doch alles &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Nein, ich weiß nichts, gar nichts. Nichts,
-Norbert. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir gestern
-den Schuh geputzt haben. Deshalb die Nelken. Und
-im übrigen &ndash; ja, im übrigen, ich wollte Sie dringend
-bitten, sich Onkel Gustavs etwas mehr anzunehmen.
-Er hat eine schwere Bronchitis und liegt mutterseelenallein
-in seiner Dachkammer. Außerdem: er liebt Sie,
-weil Sie so elegant sind. Nicht wahr, Norbert, Ihr Großvater
-war doch Minister &ndash; eigentlich könnten wir jetzt
-die Sitzung aufheben.
-</p>
-
-<p>
-Ruth besuchte Onkel Gustav noch an diesem
-Abend. Er lag in seinem ungeglätteten Bett. Neben
-seinem Kopf ein Öllämpchen und auf dem Boden davor
-der Hund. Der Hund war auch krank und hatte das
-Zimmer beschmutzt.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Onkel Gustav, wie kannst du das aushalten?
-Sie riß das Fenster auf. Er hustete furchtbar. &ndash; Gib
-doch den Hund weg, wenn er krank ist. &ndash; Nein Ruth,
-daß du so etwas sagen kannst. &ndash; Ich verstehe überhaupt
-nicht, wie man sich einen Hund halten kann. Es
-ist doch immer etwas Schmieriges im Zimmer. Ein Tier,
-mir graut vor allen Tieren. Schau nur die Schnauze,
-lang, spitz, mit den langen, spitzen Zähnen. Die ist
-doch zum Beißen da. &ndash; Ruth, weißt du, daß du mir
-weh tust? ... Onkel Gustav richtete sich im Bett auf
-<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
-und seine großen, runden Kinderaugen glänzten noch
-mehr als sonst ... Natürlich ist es nur ein Tier. Aber
-er hat mich lieb. Weißt du, was das ist? O, vielleicht
-hast du es noch nie gebraucht. Ich will ja auch nicht
-seine Schnauze haben. Aber da ist eine große Treue
-neben mir, wenn ich so im Bett liege. Ein großes
-Gefühl. Du glaubst ja nicht an Gott, Ruth. Ich auch
-nicht. Aber an ein so großes Gefühl. Deshalb ziehe ich
-auch ruhig den Hut vor einer Kirche.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah auf die Schmutzpfütze des Hundes mitten
-im Zimmer und dachte: Nein, daß Norbert sich dazu
-hergegeben hat mir das Blut von dem Schuh zu wischen,
-mit einem Handtuch &ndash; wie ekelhaft.
-</p>
-
-<p>
-Martha unterrichtete jeden Tag von acht bis ein
-Uhr die Kinder der guten Familien. Verstimmt kam
-sie zum Mittagessen nach Hause. Ruth versuchte nie
-mehr, mit ihr gut zu sein. Auch nicht, Mutter das
-Streiten mit Martha abzugewöhnen, da hätte sie viele
-Vasen zerbrechen müssen. Und sie erkannte mit
-schauderndem Entsetzen, daß alles Mitleid zu Verachtung
-wird, wenn es der Alltag abnützt. Da hilft kein Verstehen.
-</p>
-
-<p>
-Bella suchte sie nie mehr auf. Wozu noch &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Norbert kam Mittwoch und Samstag zum Mittagessen.
-Eines Tages traf sie ihn auf der Straße, eingehängt
-in seinen Freund, den Leutnant.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-9">
-<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
-Brand
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">ls</span> Ruth das nächstemal Onkel Gustav besuchte,
-stand ein Mensch beim Fenster. Dessen grobe, breitästige
-Knochen preßten das Zimmer zusammen, ließen
-die Frühdämmerung nicht herein. Und von seinem
-Hinterkopf hingen die Haare kurz und strähnenglatt
-herunter.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav hustete so furchtbar, daß Ruth
-Schleim und Blut vor sich tanzen sah.
-</p>
-
-<p>
-Als der Fremde seine ungelenk hohe Gestalt rasch
-umwendete, war ihr, als fiele ein ungeheurer Knochenhaufen
-in sich zusammen und zersplittere auf dem
-Boden, steinhart.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav hustete. Blut und Schleim. Er konnte
-nicht sprechen. Der Mensch verbeugte sich linkisch
-hochmütig vor Ruth, murmelte etwas und ging fort.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wer war das? fragt Ruth, als Onkel Gustav
-wieder still und erschöpft da lag. &ndash; Ein Freund von
-mir, du kennst ihn nicht. &ndash; Wie heißt er? &ndash; Thomas.
-&ndash; Und noch? &ndash; Wozu willst du das wissen? &ndash; Ich
-bin eben neugierig, warum Mutter nicht wissen darf,
-daß er zu dir kommt. &ndash; Das ist abscheulich von dir.
-Das sagst du nur um mich zu kränken. Jeder Mensch
-darf zu mir kommen, ich bin doch kein kleines
-Kind ... Er begann wieder zu husten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
-&ndash; Sei ruhig, Onkel Gustav, ich war wirklich nur
-neugierig. Weil er mir gefällt, dieser dein Freund oder
-was er ist. &ndash; Er ist mein Freund. Ruth, wenn du den
-kennen würdest, wirklich kennen. &ndash; Wie verhält sich
-Norbert zu ihm? &ndash; Er hat ihn noch nicht gesehen. &ndash;
-Ach so ... Gustav hustete wieder und Ruth stand
-auf, um fortzugehen. &ndash; Was ist das für ein Ungeheuer?
-Sie nahm eine in graue Sackleinwand gebundene Riesenmappe,
-die auf dem Tisch lag. &ndash; O weh, die hat
-Thomas vergessen. &ndash; Dann wird er sie wohl holen.
-Ruth wollte sich wieder setzen. &ndash; Nein, er vergißt
-bestimmt ganz daran, und wenn er morgen in die
-Schule geht, hat er keine Hefte. Und wieder Unannehmlichkeiten.
-&ndash; Weißt du was, ich möchte sie ihm
-bringen. Ich will sowieso noch spazieren gehen. &ndash;
-Nein, Ruth, das geht nicht &ndash; Onkel Gustav richtete
-sich ganz entsetzt auf &ndash; das kannst du nicht, nein
-wirklich nicht, auch ist es viel zu weit, er wohnt ganz
-draußen in der Vorstadt. &ndash; Das macht mir gar nichts.
-</p>
-
-<p>
-Ruth hatte die Mappe schon unter dem Arm: &ndash;
-rasch, die Adresse. Onkel Gustav hustete und sagte
-dann den Namen von Mutters ehemaliger Friseurin.
-Ruth lachte schrill: &ndash; nein, mit was für Leuten du
-verkehrst ... und sie sprang über die Stiegen.
-</p>
-
-<p>
-Die Luft war weich und frühlingshaft schwer. Wie
-um Mitternacht im Mai. Aber die kahlen Bäume waren
-herbstmatt und ergeben.
-</p>
-
-<p>
-Ruth lief durch die dunklen Gassen und fühlte,
-wie sie mit jedem Schritt in das Ungewisse hineintrat.
-<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
-Das weich und nachgiebig war wie ein verprügelter
-Hund. Und doch lockte und zog.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte den nacktsträhnigen, groben Kopf nicht
-berühren, nein, niemals, o um Gotteswillen nicht. Onkel
-Gustavs Husten schrie ihr nach. Ganz arme übermüdete
-Pferde hatten solche schwer hervorspringende
-Knochen. Deren Kraft um Mitleid schreit. Während die
-Muskeln zu schlaff sind, das Gerüst zu tragen.
-</p>
-
-<p>
-Nein, sie konnte nicht weiter. Eine wütende Angst
-hielt sie zurück, sie könne einem Kutscher begegnen,
-der seine Pferde prügelt, erbarmungslos über die
-steinige Straße, brüllend, schimpfend, fluchend und mit
-der Peitsche.
-</p>
-
-<p>
-Nein, sie wollte nicht weiter. Wie kam sie auch
-dazu, einem fremden Menschen seine Sachen in das
-Haus nachzutragen. Sie wird das Mappenungeheuer
-in einen Straßengraben werfen. Oder doch vielleicht
-zuerst hineinsehen &ndash; ja, zuerst hineinsehen.
-</p>
-
-<p>
-Ruth ging in ein kleines Kaffeehaus, wo ein paar
-Dienstmänner und Kutscher Karten spielten. Sie setzte
-sich in eine halbdunkle Ecke und schämte sich. Bei
-einer unanständig dicken Kellnerin bestellte sie Tee.
-Und war verzweifelt über die schmierig braune
-Marmorplatte.
-</p>
-
-<p>
-Aber die Mappe. Ein armseliger zerbissener Bleistift
-rollt heraus. Und dann Schulhefte der dritten Volksschulklasse.
-Immer mehr Schulhefte. In jedem beginnt
-die Aufgabe: Alle Haustiere ...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
-Ruth schließt die Mappe. Den Bleistift steckt sie
-zu sich. Sie muß Thomas seine Hefte bringen.
-</p>
-
-<p>
-Sie trat in das Ungewisse. Es wich und lockte.
-Und die Nacht war ganz dunkel.
-</p>
-
-<p>
-Das einstöckig verkrochene Haus lag weit draußen,
-am Rand der ersten fahlen Fabrikswiesen. Gelbrötliches
-Licht träufelte aus seinen niedrigen Fenstern. Das
-Ungewisse war nah und furchtbar.
-</p>
-
-<p>
-Eine fremde Wohnung suchen ist entsetzlich. Wie
-leicht läutet man bei fremden Menschen an und die
-sind dann böse. Und eigentlich war Thomas sogar
-auch ein fremder Mensch.
-</p>
-
-<p>
-Ein grünblasser Proletarierbub mit abstehenden
-Ohren öffnete Ruth die Türe. Es roch nach aufgewärmtem
-Essen. Im Zimmer war eine Nähmaschine.
-Darauf eine Petroleumlampe. Ein Mensch bei der Nähmaschine,
-in der Nähmaschine, ein Stück der Nähmaschine,
-in sie hineinverwachsen, bucklig verkrümmt,
-eng.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Wieder weg, gleich &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Da kam Thomas herein in blaugestreiften Hemdärmeln.
-Sie stotterte etwas, dunkelrot, besinnungslos
-verlegen. Der blasse Bub glotzte sie an. Thomas
-Schwester steckte den Kopf aus ihrem Buckel heraus.
-Er selbst war gar nicht erstaunt. Sagte fast grob:
-danke. Sie bemerkte, daß ihm ein großer Augenzahn
-fehle, daß eine schmutzige Unterhose auf dem Sessel
-neben ihr lag. Ihr ekelte wild.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
-Eine Stimme, die weich war, wie die laue Nacht
-draußen, sagte: &ndash; Bleiben sie doch noch ein wenig und
-ruhen Sie sich aus. Sie sind ja ganz erhitzt.
-</p>
-
-<p>
-Das bucklige Ungeheuer. Ruth hätte ihr die zu
-langen, kranken Hände küssen wollen.
-</p>
-
-<p>
-Thomas und sein Bruder waren hinausgegangen.
-Die Nähmaschine ruhte. Und die Petroleumlampe war
-noch heruntergeschraubt.
-</p>
-
-<p>
-Thomas Schwester hatte stechend graue Augen
-mit müden Lidern. Sie sprach von Onkel Gustav wie
-von einem Halbgott und fragte sehr viel.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Der große, schwarze Kasten in der
-Ecke dort schaut Thomas ähnlich. Er ist schön und
-mächtig, aber was da nur drinnen hängt. Ich möchte
-meine Kleider nicht hineingeben. Wie es hier riecht &ndash;
-nach Baumwollstrümpfen, die nicht gewaschen werden.
-</p>
-
-<p>
-Thomas Mutter schlürfte herein. Sie hatte rote
-Wangen, als ob sie früher einmal geschminkt gewesen
-wäre und war furchtbar häßlich. Sie begrüßte Ruth
-als alte Bekannte und stellte graue Teller auf den ungedeckten
-Tisch.
-</p>
-
-<p>
-Thomas kam wieder in das Zimmer und schien
-sehr unzufrieden, daß Ruth noch da war. Sie sprang
-auf. Er begleitete sie vor die Haustüre, hinten im Hof
-bellte der Hund. Sie gab ihm die Hand und ihr war,
-als ergreife sie einen toten Knochen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ich danke Ihnen, sagte Thomas mit seiner zerbrochenen
-Stimme. &ndash; Aber wir müssen jetzt zu Abend
-essen. Unser Petroleum reicht nur bis halb zehn.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
-Sie hielt seine Hand noch fest und sah nur, wie
-er mit der anderen Hand an den Hals griff, der
-Daumen stand eigentümlich scharf weg wie die Klinge
-eines Messers.
-</p>
-
-<p>
-Ruth wußte, als sie nach Hause ging: Thomas
-kann als kleines Kind keine Milch bekommen haben.
-Nur zähes Fleisch von wilden, geschlachteten Tieren.
-Und sie sah während des Abendessens fortwährend
-auf Richards Hände, die wohl noch nie ein Tier
-geschlachtet hatten.
-</p>
-
-<p>
-Die kleine Weißnäherin Gertrud ließ sich den
-ganzen Abend durch von ihrer Mutter Ruths erste
-Kindheit schildern. Damals war die Friseurin oft in das
-Haus gekommen, o ja und die gnädige Frau hatte
-Perlen, eine endlose Kette hinunter. Ruth lag immer
-schon in ihrem weißlackierten Gitterbettchen und
-steckte die frischgebadeten Fingerchen durch das Netz.
-Und die gnädige Frau erzählte von Paris, immer von
-Paris, sie hatte auch Pariser Parfüm.
-</p>
-
-<p>
-Die Wangen der alten Friseurin glänzten wie
-frisch geschminkt. Gertrud fuhr mit feuchten Händen
-über die Tischplatte, daß große nasse Flecken auf dem
-Holz zurückblieben. Thomas starrte in seinen Teller
-und hielt mit aufgestützten Armen Gabel und Messer,
-kampfbereit. &ndash; Was habt ihr mit den fremden Leuten,
-grollte er.
-</p>
-
-<p>
-Gertrud sagte: &ndash; Das Leben. Ihre ermüdeten Augen
-starrten an ihnen vorbei. Sie empfand in diesem Augenblick:
-Nach Paris reisen &ndash; in der Bahn liegen, einen
-<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
-zärtlichen Atem neben sich &ndash; genießen &ndash; oder:
-ganz klein sein und in einem weißen Gitterbett liegen
-mit geraden Gliedern, die wachsen dürfen.
-</p>
-
-<p>
-Gertruds Buckel war das Nest eines Vampyrs.
-Brut und Beutestatt. Alle unerlebten Träume, alle
-schäbigen Wirklichkeiten der Mutter steckten darin.
-Thomas&rsquo; Schulstunden. Und die Reißbretter des kleinen
-Bruders, der in die Realschule gehen durfte und
-ein zufriedener Techniker werden sollte, werden
-mußte.
-</p>
-
-<p>
-Aber es war noch viel mehr in Gertruds Buckel.
-Ihre spinnenlangen, blauadrigen Finger nähten und
-trennten eigentlich gar nicht den ganzen Tag. Sie
-tasteten zum Fenster hinaus über die Rücken der
-Vorübergehenden nach neuem Leben. Und die
-schwangere Nachbarsfrau, die alle Tage sich erbrach
-und heulte, daß man es genau hören konnte, trug ein
-Kind, dessen Schicksale sie schon im Voraus empfand,
-wie ein hohes Glück.
-</p>
-
-<p>
-Gertrud schätzte den Wert ihres erwürgten Lebens
-wie ein Sterbender den letzten Atem. Seligkeit war die
-erste Morgensonne, die ihr in den dünnen Kaffee
-schien. Seligkeit der graue Tag voll wuchernder
-Gedanken. Sie nähte schöne Hemden, schmeichelnd
-glatte, aus Leinenbatist, aus Seide. Seligkeit, die anziehen
-zu dürfen. Seligkeit, alle Tage in die Schule
-gehen zu dürfen und hundert schmutzige Kinder zu
-unterrichten, wie Thomas. Welche Betätigung der
-eigenen Kraft. Wie herrlich für ihn, daß er sie alle
-<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
-erhalten durfte und es dem kleinen Bruder ermöglichen,
-etwas besseres zu werden &ndash; das war Menschenglück.
-</p>
-
-<p>
-Thomas&rsquo; Schulkinder saßen Nachmittage lang an
-Gertruds Nähmaschine. Sie erzählte ihnen vom lieben
-Gott und ratterte und nähte. Die Kinder waren
-zufrieden. Hier war jemand, der nichts von ihnen
-wollte. So streuten sie ihr das kleine, schmutzige
-Leben willig in den Schoß. Das sie nicht verstand und
-doch aufsaugte.
-</p>
-
-<p>
-Thomas merkte nichts davon. Er hielt Gertrud für
-eine Heilige. Denn sie liebte und stützte die verkommene
-Mutter, den tuberkulosen Bruder. Er wußte,
-daß, wenn sie eines abends nicht da wäre, die fettige
-Petroleumlampe nicht mehr brennen könnte, auch nicht
-bis halb zehn. Und dann wäre alles aus.
-</p>
-
-<p>
-Sie war die Liebe, und er beugte sich vor ihr.
-Aber er glaubte nicht an die Liebe. Er glaubte an
-das Wort.
-</p>
-
-<p>
-Das Wort war in ihm und in ihm war die Welt.
-Sprechen können &ndash; dann müßte sein ungebadeter
-Körper rein werden.
-</p>
-
-<p>
-Er verbesserte alle Abende bis halb zehn Uhr die
-Schreibübungen der Kinder. Und dann mußte das
-Licht gelöscht werden. Zwei bis drei Hefte blieben
-noch zurück für den blassen Morgen. Aber daran war
-nichts zu ändern.
-</p>
-
-<p>
-Ruth empfand es in den nächsten Tagen zum
-erstenmal in ihrem Leben als peinlich mit entblößtem
-Hals herumzugehen. Sie legte sich einen alten Pelz
-<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
-von Martha um, der nach Kampfer roch und kitzelte.
-Und sie dachte: es müßte gut sein, zu wissen, daß
-man nie mehr im Leben einem Mann die Hand gibt.
-Was das nur ist, fremde Knochen &ndash; ach nein,
-entsetzlich.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte nie mehr zu Thomas gehen. Wegen
-seiner Mutter. Was für struppige graugelbe Haare die
-hatte, diese Friseurin. Und dann, sie hatte das kleine,
-bucklige Ungeheuer in die Welt gesetzt. Wie konnte
-man so etwas verbrechen. Wenn ich Christus wäre,
-ich müßte zum Fenster hinausspringen nur weil Gertrud
-lebt, dachte Ruth. Und ekelte sich vor Thomas riesengroßer
-Zahnlücke.
-</p>
-
-<p>
-Eine Woche später war Ruth wieder bei Thomas.
-An dem ersten, kalten Wintertag, der ohne Schnee
-war, aber ganz voll Dämmerung. Die Nähmaschine
-ratterte. Thomas stand in der hintersten Ecke, bei dem
-winzigen Eisenofen. Er hatte den Deckel zurückgeschlagen
-und die roten Flammen verzerrten seine
-knochigen Züge. &ndash; Ich komme Ihnen erzählen, daß
-es Onkel Gustav sehr schlecht geht. &ndash; So.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ja ich komme Ihnen das erzählen, Sie sind doch sein
-Freund, oder nicht? &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Thomas ging in das Nebenzimmer. Ruth dachte
-wütend: Eigentlich könnte ich ja zu Norbert gehen.
-Gertrud blickte sich interessiert um. Da ging Ruth
-ihm nach.
-</p>
-
-<p>
-In seinem Zimmer standen zwei graue Eisenbetten.
-Und zwei eiserne Bücherregale. Und ein eiserner Ofen.
-<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
-Der Tisch war mit verschmierten Schulbüchern verdeckt
-und geometrischen Zeichnungen von dem Bruder.
-Nichts in diesem Raum gehörte Thomas. Nur seine
-eigenen massigen Knochen.
-</p>
-
-<p>
-Er starrte an ihr vorbei mit stumpfen toten Augen.
-Er sieht mich nicht, klagte Ruth, er sieht mich nicht,
-jubelte Ruth, er sieht mich nicht, er sieht überhaupt
-nicht heraus, er sieht hinein. Und sie bemerkte,
-daß sein proletarisch hoher Kopf aristokratisch lange,
-leidende Schläfen hatte.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was machen Sie eigentlich da, fragte Ruth
-und sie setzte sich auf den Tisch, mitten in die
-Zeichnungen des Bruders und baumelte mit den Beinen.
-Den kahlen Wintermantel knöpfte sie auf. Und sie
-nahm sich vor, den stickigen Dunst ganz in sich einzusaugen
-und aus allen Poren wiederzugeben, dann
-müßte er sie spüren.
-</p>
-
-<p>
-Thomas ging hin und her, ohne sie noch einmal
-anzusehen. &ndash; Höflich sind Sie nicht, lachte Ruth. &ndash;
-Er blieb vor ihr stehen. &ndash; Wozu auch. Glauben Sie,
-ich kann nicht, wenn ich will. Aber warum.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte: Ich kann die Luft herinnen doch
-nicht so leicht einatmen. Sie zerdrückt mir die Lunge.
-Sie ist zu schwer. Schwer wie Thomas&rsquo; Knochen, oder
-noch schwerer, ich kann nicht und um Gotteswillen,
-wer keucht, wer stöhnt da, wer erbricht sich, bin ich
-es selbst &ndash; o wie schlecht ist mir &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Sie brauchen nicht zu erschrecken, sagte Thomas
-und setzte seine rastlosen Wanderungen um den Tisch
-<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
-fort. Die Frau von unserem Nachbar daneben erwartet
-ein Kind und das hören wir immer so genau.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was ist noch in ihrem Zimmer, Thomas. &ndash;
-Sie stand vor ihm, ihre grünen Augen waren ganz
-groß geworden.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was noch &ndash; O Thomas, Sie müssen furchtbare
-Nächte haben.
-</p>
-
-<p>
-Da küßte er ihr die Hand mit den groben, aufgesprungenen
-Lippen. Ihr graute. Sie wurde zornig.
-Und sie lief davon.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte nicht mehr zu Thomas gehen. Da sah
-sie ihn zwei Tage später auf der Straße. In den
-frühen, toten Nachmittagsstunden.
-</p>
-
-<p>
-Sie dachte: wenn ich ihm jetzt nicht entgegenspringe,
-er rennt dort in die Mauer hinein, zerschellt
-sich seine großen Knochen. Nein, wie er friert.
-</p>
-
-<p>
-Sie packte ihn beim Arm. &ndash; Thomas, grüß Gott,
-aber warum haben Sie keinen Mantel, Teufel noch
-einmal!
-</p>
-
-<p>
-Er war ganz blau und sie wußte, ohne daß er
-antwortete, daß den einzigen Mantel der Familie der
-kleine Bruder trug.
-</p>
-
-<p>
-Sie begleitete ihn und kombinierte: Wenn Onkel
-Gustav stirbt, kann Thomas vielleicht den Wintermantel
-bekommen, oder ich stehle den von Richard. Der ist
-so gut wattiert. Ach, wenn ich nur nicht so feig wäre,
-ich müßte Onkel Gustav auch töten können, aber ich
-traue mich ja nicht.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
-Thomas sagte: &ndash; Mir ist gar nicht kalt, was fällt
-Ihnen ein. Aber man sollte mir nicht um halb zehn
-Uhr das Licht wegnehmen, nein, das sollte Mutter
-nicht. Und wir haben gar kein Geld mehr für nächste
-Woche.
-</p>
-
-<p>
-Ruth gab Gertrud ihr letztes bißchen Taschengeld.
-Gertrud nahm das bißchen mit Tränen in den Augen
-und verklärt.
-</p>
-
-<p>
-Als Weihnachten kam, wußte Ruth nicht, was sie
-Thomas schenken sollte. Sie verkaufte zwei goldene
-Ringe, die sie nie getragen hatte, und kaufte ihm dafür
-einen wunderschönen Band Schopenhauer. Sie half
-heuer nicht den Weihnachtsbaum putzen. Sie empfand
-zum erstenmal nicht die gespannte Erregung vor dem
-wunderbaren Abend, der doch alle Jahre der gleiche
-blieb. Sie empfand auch nicht, daß die Straßen anders
-waren als sonst, weil so viele frohe Menschen mit
-Paketen durcheinanderliefen. Sie wußte nur, daß
-Thomas bei der furchtbaren Kälte keinen Wintermantel
-besaß, daß der Band Schopenhauer in weiches, mattbraunes
-Leder eingebunden war.
-</p>
-
-<p>
-Sie nahm aus ihrem Schreibtisch noch rasch eine
-Schachtel Briefpapier für Gertrud und eine Rolle
-herrlichstes, weißes Kanzleipapier, auf das sie einst
-ihre Lebensgeschichte hatte schreiben wollen, aber das
-war schon lange her. Jetzt sollte es Thomas&rsquo; Bruder
-bekommen, der immer klagte, er habe zu wenig Papier
-für seine deutschen Aufsätze und die langen mathematischen
-Formeln. Etwas Besseres hatte sie nicht.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
-Gertrud schmückte den winzigen Weihnachtsbaum
-mit Silberketten vom vorigen Jahr. Sie humpelte vergnügt
-in der kalten Stube herum und sang ein
-Weihnachtslied. Auf dem Tisch standen noch von dem
-Mittagessen Teller mit übrig gebliebenem, gelbem Brei.
-Ruth ging rasch in Thomas&rsquo; Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Er lag mit toten Augen über den Tisch hinüber,
-gierig, lauernd. Ruth legte das sattbleiche Kanzleipapier
-neben ihn hin.
-</p>
-
-<p>
-Ein Schrei, wie ein Tier, das nach Wasser sucht:
-&ndash; Ruth, das bringst Du mir, Du weißt also, weißt alles,
-doch und Du glaubst daran, und noch kein Wort, noch
-immer kein Wort, aber du glaubst daran &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Er lag vor ihr und umfaßte ihre Schenkel mit
-tastenden, greifenden, packenden, schaffenden Bewegungen.
-Er keuchte. Seine Hände waren feucht, er
-gurgelte mit halberstickter Kehle. Ruth graute und sie
-sagte weinend: &ndash; nicht wahr, jetzt schreiben Sie das
-Buch &ndash; und sie streichelte seinen Kopf wie einem
-ganz kleinen Kind und küßte die aristokratisch hohen
-Schläfen. Jetzt ganz gewiß, ganz gewiß. Ihr ekelte
-vor seinen strähnig fetten Proletarierhaaren und sie
-streichelte seinen Kopf.
-</p>
-
-<p>
-Zuhause konnte sie das Licht der Weihnachtskerzen
-nicht vertragen. Die Stimmen der Verwandten machten
-sie rasend. Bei Tisch sagte Richard zu einem alten
-Onkel: &ndash; gewiß ist ein rechter Künstler noch
-nie den widrigen Verhältnissen unterlegen. Im Gegenteil
-...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
-Ruth sagte: &ndash; wo liegt die Statistik der Untergegangenen.
-Ich glaube bei der Mordstatistik im Strafgericht,
-nicht wahr, dort liegt das auf.
-</p>
-
-<p>
-Dann wurde ihr schlecht und sie mußte die ganze
-Nacht lang erbrechen. Das Zimmer war überheizt und
-sie empfand nur, wie sehr Thomas diese Nacht frieren
-müsse, denn sicher waren alle Kohlen für das Weihnachtszimmer
-aufgegangen. Vielleicht verbrannte er das
-weiße Kanzleipapier. Den Schopenhauer bekam ja
-Onkel Gustav, der war noch gar nicht tot. Nur wollte
-sie nie mehr zu Thomas gehen, ganz gewiß nie mehr.
-O, wie sie seine gierig schaffenden Hände fürchtete,
-grauenhaft war es und unverschämt gegen die Natur,
-gegen ihren eigenen Körper. Und die Frau daneben
-erbrach ja auch fortwährend, weil sie ein Kind
-erwartete.
-</p>
-
-<p>
-Sie bekam einen Brief von Gertrud: warum
-kommst Du nicht mehr? Thomas ist krank. Sie war
-zornig und ging nicht hin.
-</p>
-
-<p>
-Sie bekam einen Brief von Gertrud: warum
-kommst Du nicht mehr?
-</p>
-
-<p>
-Da kaufte sie ein Dutzend verschiedener Federn
-und tiefschwarze Tinte und ging wieder zu Thomas.
-Gertrud saß in der Nähmaschine und sah sie vorwurfsvoll
-an: Du hättest früher achtgeben sollen,
-Ruth. &ndash; Worauf? &ndash; Thomas liebt Dich. &ndash; Mach
-Dich nicht lächerlich. &ndash; Doch Ruth, seit Du fortgeblieben
-bist, kann er nicht mehr unterrichten. Gestern
-hat er den Kleinen geschlagen. Denk Dir, Thomas und
-<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
-schlagen, wegen irgend eines kostbaren Papiers. &ndash;
-Er hätte ihn erschlagen sollen, Ihr wißt alle nicht, was
-Thomas braucht. &ndash; Ruth, ich verstehe Dich nicht &ndash;
-Gertruds Stimme war so weich, daß Ruth mit dem Fuß
-darauf stampfen mußte. &ndash; Und denke Dir, er will
-plötzlich um zwei Uhr nachts Licht brennen. Aber die
-Mutter hat doch kein Petroleum. Er streitet mit den
-Leuten in der Schule. Seit acht Tagen war er überhaupt
-nicht mehr dort ... Gertrud weinte. Ruth
-war ganz kalt: Gertrud, wer ist Dir lieber, Thomas
-oder die Mutter, oder der Kleine? &ndash; Das weiß ich
-nicht, mir sind alle drei ganz gleich lieb. &ndash; Dann
-kann ich Euch nicht helfen. &ndash; Aber Thomas liebt
-Dich. &ndash; Du bist dumm, näh deine Hemden
-weiter.
-</p>
-
-<p>
-Thomas kam aus seinem Zimmer und zog Ruth
-an beiden Handgelenken zu sich herein. &ndash; Wo bist
-Du solange geblieben? Du hättest kommen sollen.
-Nichts als Farben &ndash; Töne, mit der Hand zu greifen &ndash;
-Worte noch nicht &ndash; Worte &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie gab ihm Tinte und Federn. Er nahm eine
-Feder und kratzte sich einen tiefen Strich in die zerklüftete
-Hand: aus der Spitze muß es kommen,
-fließen, strömen &ndash; Gesetz &ndash; Ruth bleib da.
-</p>
-
-<p>
-Er hielt sie fest mit beiden Armen. &ndash; Kannst Du
-beten? &ndash; Nein. &ndash; Das macht nichts. Bete, es darf
-nicht finster werden. Mutter darf das Petroleum nicht
-versperren. Der Bengel darf nicht nachhause kommen.
-Die Nähmaschine darf nicht rattern. So bet doch.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
-Als es dunkel wurde, begleitete er sie nachhause.
-&ndash; Man muß Licht sparen ... Und wieder die
-Bewegung an den Hals, der Daumen steht eigentümlich
-scharf weg, wie die Klinge eines Messers.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Siehst Du den Eckstein hinter der Straßenlaterne,
-die Biegung, die rund sein soll und doch
-eigentlich voll Ecken ist. Spürst Du. Wie meine Finger.
-Der Stein ist grau, so grau, daß unsere Augen daran
-sterben müßten. Aber das gelbe Licht aus der Laterne
-schleicht darauf &ndash; mein Licht ist eigentlich größer.
-Und lauter Ecken, die aussehen wie Biegungen,
-Rundungen. Wie wir uns täuschen. Nur die Lügen
-sprechen sich leicht. Aber die Wahrheit ist furchtbar,
-sie ist das Wort, das war im Anfang. Hörst Du die
-eisigen Pfützen, wer hat je so sprechen können. Und
-unlängst in der Nacht war ich fließendes Wasser. Ich
-weiß, wie es tönt, übereinander fällt, ich weiß, wie es
-sich berührt ... Meine Stimme ist häßlich, vorne
-fehlt mir ein Zahn, ich weiß wie Dir das widersteht,
-Ruth, laß, aber weißt Du, was meine Hände können,
-über die weißen Flächen gleiten, nein, das ist nicht
-Schnee, es schneit ja heuer gar nicht. Aber erst sollen
-meine Fäuste den Reichen die Fenster einschlagen.
-Was machen sie bei dem elektrischen Licht. Bei dem
-vielen Licht. Meine Hände können doch Mutter das
-Petroleum nicht stehlen, da ist kein Mark in den
-Knochen. Der Hund heult die ganze Nacht im Hof
-und die Frau daneben erbricht sich noch immer
-die ganze Nacht ...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
-&ndash; Thomas, wart doch, aber wart, ich werde Dich
-heiraten. Was Du da von dem Zahn gesagt hast, ist
-Unsinn. Ich habe nicht viel Geld, aber ein bißchen etwas
-muß mir Mutter schon geben. So viel, daß wir ein
-halbes Jahr, ja ein halbes Jahr schon in einem ruhigen,
-schönen Zimmer wohnen können. Nur ein Badezimmer
-noch daneben. Und du kannst schreiben, den ganzen
-Tag, auch in der Nacht. Ich werde eben im Badezimmer
-schlafen. Aber warten mußt Du, wart doch, Thomas,
-wart nur noch ein ganz klein wenig.
-</p>
-
-<p>
-Thomas stöhnte wie ein Pferd nach dem letzten
-Peitschenhieb. &ndash; In der Schule haben sie mich hinausgeworfen.
-Ich kann dem Buben das Geld für seine
-Studien nicht mehr geben. Und Mutter muß leben und
-Gertrud, die Arme. Und in der Nacht müssen sie alle
-schlafen. Da heult der Hund.
-</p>
-
-<p>
-Er fuhr Ruth mit einer wilden Bewegung an den
-Hals. Der Daumen stand eigentümlich scharf weg, wie
-die Klinge eines Messers. Sie schrie.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Schweig, sagte er heiser, es ist ja nicht auf
-Deinem Hals. Auf meinem ist es. Die fremde Hand.
-Sie würgt noch nicht, aber sie wird es tun, sofort,
-gleich, jeden Moment und dann ganz. Sie würgt noch
-nicht. Und doch habe ich schon einen flammend roten
-Streifen da vorn auf meinem Hals.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah, daß alle Fenster der Wohnung dunkel
-waren. Und nahm Thomas mit sich in ihr Zimmer. Der
-Ofen glühte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
-Thomas warf sich auf dem Teppich der Länge
-nach nieder und starrte mit toten Augen in die Glut.
-Ruth blieb stehen und dachte: wie schön die wilden
-Knochen geordnet sind, wie schlank sie liegen. Thomas
-sagte: &ndash; meine Farbe ist mehr gelb, aber nicht so gelb,
-wie auf dem Eckstein.
-</p>
-
-<p>
-Ruth warf sich neben ihn vor das Feuer. Er preßte
-sie an sich, daß sie die Rippen brechen fühlte. Seine
-groben Lippen waren blutig aufgesprungen. Schon fast
-zerfetzt. Der eine Vorderzahn fehlte. Zurück um Gotteswillen.
-Sie riß sich los.
-</p>
-
-<p>
-Er stand vor ihr, seine Hände hingen herab. Eine
-große Knochenmasse, bereit, zusammenzufallen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, sagte er langsam, ich danke Dir. Es ist so
-viel Wärme in Deinem Zimmer. Mich friert nicht mehr.
-Aus dem Mark der Knochen stößt sich die Kraft
-heraus &ndash; heute abend wird &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Er war schon lange fortgegangen. Ruth lag vor
-der erloschenen Glut auf genau demselben Fleck, wo
-er gelegen war. Und stöhnte: aus dem Mark der
-Knochen heraus. Thomas. Ein Kind. Von ihm ...
-</p>
-
-<p>
-Thomas ging aufrecht nachhause. Beim Abendessen
-teilte die Mutter vor: Kraut und jedem sein Stück
-Brot. Die Petroleumlampe brannte sehr schwach, tief
-heruntergeschraubt. Thomas sprach in sich hinein: heute
-abend wag ich es, heute endlich. Ich habe ihnen ja noch nie
-etwas weggenommen. Aber heute, das bißchen Petroleum,
-das werden sie mir schon geben, können sie gar nicht
-verweigern. Und der Bub schiebt sein Bett einfach
-<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
-herein. Aus der Straßensteinrundung heraus bricht das
-Wort. Schon ist es nahe, nahe &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Heute können wir zeitlich schlafen gehen, sagte
-die Mutter weinerlich, überhaupt jetzt, wo der Thomas
-so keine Hefte mehr zu korrigieren hat.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Muß ich wirklich aus der Schule heraus, fragte
-der blasse Bub.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wird schon so sein, sagte die Mutter mürrisch.
-&ndash; Warten wir es ab, sang Gertruds milde Stimme dazwischen
-und ihre Augen suchten Thomas, flehend,
-verzweifelnd und doch gleich wieder voll Vertrauen.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Was geht Ihr mich alle an, dachte Thomas, das
-Wort, aber ich muß erst um Petroleum bitten.
-</p>
-
-<p>
-Wieder lag die Hand auf seinem Hals. Aber nicht
-mehr ein Messer mit stumpfer Klinge. Lange Finger
-mit verschiebbaren Gelenken drückten sich in die
-Kehle hinein.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Gertrud, sagte er und zog sie in eine Ecke,
-gib mir alles Petroleum, was wir haben, heute Nacht,
-nur heute Nacht. &ndash; Die Mutter hat den Schlüssel.
-Aber ich muß mit Dir reden, ob Du uns wirklich alle
-zugrunde richten willst, lieber, einziger Thomas, wenn
-Deine Schule &ndash; Laß das jetzt, ich brauche Licht. &ndash;
-Die Mutter hat das Petroleum. &ndash; Mutter gib mir alles
-Petroleum. &ndash; Geh schlafen. &ndash; Mutter, nur heute. &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Die alte Friseurin grinste höhnisch: &ndash; hab keines mehr.
-</p>
-
-<p>
-Thomas wußte, es ist nicht wahr. Und war machtlos.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; So geh ich zu den Nachbarn. &ndash; Die schlafen.
-Die Frau hat Nachmittag ein Kind bekommen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
-&ndash; Gott ... Thomas brach auf seinem Bett
-zusammen. Gott war das Wort. Und das Wort durfte
-nicht gesprochen werden.
-</p>
-
-<p>
-Dunkel. Der Bub schnarcht und hustet abwechselnd.
-Die Hand &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Nachtkälte kriecht durch das Fenster und Tagwärme
-schleicht in sie hinein. Die Hand legt sich an
-die Kehle, den Daumen eigentümlich scharf weg.
-</p>
-
-<p>
-Gertrud und die Mutter im Nebenzimmer atmen
-schwer. Stöhnen. Die Hand würgt.
-</p>
-
-<p>
-Schwarz. Aber aus den Knochen heraus, aus dem
-zarten Mark bricht es dunkel glühend, ächzend. Gestalt,
-Klang, tasten, berühren, drängen, steigen, sich heben.
-Die Poren saugt es hinaus in die kalte Luft. Und ist
-doch drinnen, noch im Mark, flammend rot, brennend &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ach wozu liegen, tot sein. Wer kann sterben,
-wenn das Innerste leben will.
-</p>
-
-<p>
-In schwarzen Ballen fällt es aus sich heraus, in
-blutigen Brocken. Gedrückt von fremden, arbeitsamen
-Fingern. Eine brühende Masse schwelt in den Gliedern.
-Kocht, brodelt und schmeißt sich nach oben &ndash;
-</p>
-
-<p>
-daß die Haut sich dehnt der steinharten Knochen.
-</p>
-
-<p>
-Gewalt.
-</p>
-
-<p>
-Und alle schlafen &ndash; dunkel &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Nein &ndash; licht soll es werden &ndash; licht &ndash; hell
-&ndash; grell.
-</p>
-
-<p>
-Er schleicht hinaus vor das Haus mit Katzentritten.
-</p>
-
-<p>
-Der Hund bellt &ndash; heult &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
-Alle schlafen &ndash; aber das Wort kann nicht schlafen
-&ndash; das Wort muß leben &ndash; lodern &ndash; zerstören &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Er klettert auf die Straßenlaterne, zerschlägt sie
-vorsichtig, entzündet die Fackel aus dem Schuppen,
-schlägt das Fenster ein &ndash; Licht fällt in das Haus &ndash;
-das Wort fällt in das Haus und der Dichter rast durch
-die dunklen Gassen.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Ruth fährt auf aus dem Schlaf. Sie trägt ein Kind
-im Leib. Ach nein. Die Feuerwehr ...
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Der Säugling der Nachbarin ist verbrannt. Sonst
-wurde alles gerettet. Und die Teilnahme der ganzen
-Stadt wendet sich der Familie des geisteskranken
-Volksschullehrers zu.
-</p>
-
-<p>
-Ruth besuchte Thomas mit Onkel Gustav in seiner
-Zelle. Er saß zusammengekrümmt über einem leeren
-Papier. Seine Augen blickten nicht mehr in sich hinein,
-aber hinaus und in das Leere. Und seine Knochen
-waren ohne Mark. Leer.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Ruth, sagte er, denk bloß, alles ist verbrannt.
-</p>
-
-<p>
-Sie gingen. Onkel Gustav weinte. Ruth schwieg.
-Aber sie trug eine kleine Leiche in sich, fühlte die
-winzigen, angstverkrümmten Knochen.
-</p>
-
-<p>
-Drei Tage später kam der blasse Bub, rot geheult.
-Thomas war zum Fenster hinausgesprungen. Ruth
-nickte nur. Auf dem Steinpflaster liegt ein schwerer
-Knochenhaufen. Zerschmettert.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Sei ruhig, sagte sie zu dem aufgeregten Buben,
-was weinst du. Schäm dich.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-10">
-<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
-Eine Mutter
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">R</span><span class="postfirstchar">uth</span> sah einmal im dunklen Zimmer Mutter vor
-einer zerbrochenen Tasse stehen. Die Scherben zerschnitten
-die Luft, weiß, mit scharfen Kanten. Mutter
-starrte dumpf darauf hin. Ihre zerstückelten Bewegungen
-hingen herunter. Und in das trübe Grau der Augen
-wollte das Weiße hereinbrechen, mit scharfen Kanten.
-</p>
-
-<p>
-Das war lange her. Jetzt haßte Ruth Mutter, weil
-die alte Friseurin ihren Sohn zum Brandstifter hatte
-werden lassen.
-</p>
-
-<p>
-Mutter steckte sie als kleines Kind punkt acht Uhr
-in das Bett. Dann kaufte sie ihr Schulhefte, die viel zu
-breit liniert waren. Mutter glaubte einem boshaften
-Dienstmädchen mehr als ihr. Mutter zwang sie große
-Gläser mit gekochter Milch zu trinken, wo noch die
-Haut herumschwamm. Mutter ließ sie nächtelang bei
-geschlossenen Fensterladen schlafen, so daß sie glauben
-mußte, sie sei blind. Mutter durchblätterte ihre Bücher,
-die doch ihr allein gehörten. Mutter rückte den Tisch
-ihres Zimmers in die Mitte, obwohl er unbedingt an
-der Seite stehen mußte. Mutter löschte das Licht, wenn
-es zu spät wurde. Es war ja nur ein Zufall, daß sie
-nicht auch schon zum Fenster hinausgesprungen war &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Mutter war schuld an dem entsetzlichen Brandunglück.
-War auch schuld, daß der arme Säugling elend
-<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
-umgekommen war. Mutter, die alle kleinen Kinder so
-sehr liebte.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah auf Mutters langfingerige Hände. Wieso
-hatten die keine roten Brandwunden. Nein, sie waren
-weiß und schlank, nur durch viele Falten und Sprünge
-zerklüftet. Von welcher Arbeit ...
-</p>
-
-<p>
-Mutter suchte die alte Friseurin selbst auf und
-tröstete sie, wie sie wortlos dasaß neben der Nähmaschine
-der Tochter. Ruth ging nicht mit. Man sprach
-von Thomas immer wie von einem Geisteskranken. Das
-war eine Unverschämtheit.
-</p>
-
-<p>
-Als Mutter nach Hause kam, hatte sie rotgeweinte
-Lider. Ruth stand in einer Fensternische, tief hineingepreßt
-in den dunkel samtenen Vorhang. Sie wollte
-schreien: &ndash; ihr habt alle kein Recht um ihn zu trauern.
-Da sagte Mutter: ich weiß schon Ruth, daß du immer
-mit Thomas warst. Er war ein armer Narr. Aber du
-solltest dich schämen.
-</p>
-
-<p>
-Eine zorndurchschüttelte, blutende Faust &ndash; oder
-ist das die Flamme &ndash; Thomas&rsquo; Flamme &ndash; Mutter
-brüllt auf.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav trug Ruth aus dem Zimmer. Riesenkraft
-war in seinen willenlosen Armen, wie er sie durch
-den langen Gang schleppte. Er zog sie in den Vorratsraum,
-wo ein Faß mit altem Kraut stand. Hier warf er
-sie auf den Boden.
-</p>
-
-<p>
-Er stand vor ihr weißblaß und sehr groß. &ndash; Ruth,
-weißt du, was du getan hast. Du kannst es nicht wissen.
-Du hast Mutter schlagen wollen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
-Er ging hinaus und zog den Schlüssel ab.
-</p>
-
-<p>
-Ruth dachte nur: jetzt muß ich zum Fenster hinausspringen.
-Das ist selbstverständlich, natürlich. Ich
-brauche bloß auf den Stuhl dort zu steigen, es macht
-nichts, daß das eine Bein wackelt. Er trägt mich so
-weit. O, und dann stürze ich. Eine breiige Masse. Aber
-es tut sicher weh, furchtbar weh, furchtbar, nein, ich
-fürchte mich, um Gotteswillen, ich habe ja so gräßliche
-Angst &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie kroch in den hintersten Winkel der Kammer.
-Sie bohrte den Kopf in die Steinfliesen. Verbrecher
-sein. So also war es. Das heißt vor allen Dingen ganz
-allein sein. Ganz allein. Aber das darf man doch nicht
-zu Ende denken. Jetzt gehen die Menschen aus den
-Geschäften nachhause. Man schließt die Laden so wie
-alle Tage. Und in den Straßen die gleichgültige Menge.
-Aber sie ist allein.
-</p>
-
-<p>
-Was war nur mit dem Mann, der seine Mutter geschlagen
-hatte. Als Kind hielt sie sich die Ohren zu,
-wenn man die Geschichte erzählte. Aber sie weiß es
-doch: die Hand war aus dem Grab herausgewachsen.
-Man hieb sie ab. Und sie wuchs immer wieder. Ruth
-sieht vor sich eine gelbe Steppe. Und aus ihr steht
-graugrün heraus die Leichenhand mit entsetzten Fingern.
-Oder ist das ihre Hand &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie hat nicht den Mut zu sterben. Sie wird nie den
-Mut haben. Aber sie kann auch nicht leben. Denn sie
-kann nicht denken. So etwas kann man doch nicht
-denken, immer denken, immer denken.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
-Mutter kam am späten Abend mit einer flackernden
-Kerze und wirren Haaren. &ndash; Mutter, sagte Ruth mit
-toter Stimme, habe ich dich wirklich geschlagen? &ndash;
-Nein Ruth, dazu ist es nicht &ndash; Mutter wenn ich dich
-berührt habe, ich müßte sterben. Aber ich fürchte mich
-vor dem Tod. Und ich müßte sterben. Und du müßtest
-mir helfen.
-</p>
-
-<p>
-Mutter kniete zu ihr nieder und küßte sie.
-</p>
-
-<p>
-Am Abend setzte sich Mutter an Ruths Bett. Aber
-Ruth preßte die Lider zu in erstarrtem Entsetzen. Das
-Weiße in Mutters Augen war zerbrochen. So wie einmal
-vor langer Zeit eine Tasse. Und wie Thomas&rsquo;
-Stimme, wenn er sagte: ich habe kein Licht. Ja, wie
-Thomas. Mutters suchender Mittelfingerknochen war wie
-bei Thomas, zu kräftig.
-</p>
-
-<p>
-Überhaupt, wie kommt sie dazu, Thomas gegen die
-Mutter zu verteidigen. Thomas ist gestorben, weil die
-Kraft in ihm nicht leben durfte. Er war stark. Und es
-ist gut, daß er tot ist. Aber Mutter ist schwach und
-ihre Kraft kann die Knochen nicht sprengen. Zerfrißt
-nur das Mark und macht die Gelenke schwippend
-nachgiebig. Mutters Leben &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth legte den Kopf in Mutters Hand und weinte.
-Aus den zerklüfteten Handrinnen stieg ihr ein wohlbekannter,
-warmer, ein nie beachteter Atem entgegen.
-</p>
-
-<p>
-Irgendwo liegt im Gras eine duftende Frucht. Und
-über das Mark des Baumstammes preßt sich eisenhart
-die dürre Rinde ...
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
-Mutter war auch einmal ganz klein gewesen. Man
-hatte ihr unmäßig große Schärpen über die weißen
-Kleidchen gebunden. Und sie saß in einem großen
-Kinderwagen, ganz allein.
-</p>
-
-<p>
-Sie trug ihr kleines Schicksal in krampfhaft zusammengeballten
-Fäusten. Und erreichte nie etwas, weil
-diese Fäuste immer zu schwer von dem kleinen Körper
-herunterhingen. Sie gewöhnte sich an den Mißerfolg
-und deshalb war ihr kein Ideal zu groß. Sie wollte
-Königin werden, dann Sängerin, und dann &ndash; o, was
-sie alles werden sollte. Sie trug ihr ganzes Leben die
-Last von unzähligen untergegangenen Existenzen in sich.
-Und ihr Vater hatte alle Pferde verspielt.
-</p>
-
-<p>
-Sie hatte einmal einen Tag, vielleicht nur eine
-Stunde, oder nur eine Sekunde lang mit Ruths saugendem
-Blick aus sich herausgeschaut. Oder vielleicht nur einmal
-den Kopf hart und eckig zur Seite geworfen, wie
-Ruth es immer tat.
-</p>
-
-<p>
-Und sie hatte ihr eigenes, einziges Dasein gesucht.
-Dann heiratete sie. Dann gebar sie drei Kinder. Und
-dann war ihr nichts mehr von sich geblieben, als eine
-suchende Vergangenheit und drei neue, fremde Menschen.
-</p>
-
-<p>
-Die alte Friseurin träumte einst davon, die erste
-Tänzerin der Welt zu werden. Ihr häßlicher Sohn sprang
-aus dem Fenster und zerschmetterte sich in einem
-Gefängnishof, ohne daß sie je verstehen konnte, warum.
-Ihre mißgebildete Tochter nähte Hemden für vornehme
-Damen. Und nichts war von ihr übriggeblieben als das
-<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
-bißchen Schminke auf den eingefallenen Wangen, das
-sich nicht wegwaschen ließ. Das bißchen Schminke.
-</p>
-
-<p>
-Und die Kinder laufen wie Diebe in die Welt
-hinaus. Man kann ihnen das Eigentum nie mehr abnehmen.
-Denn es ist untrennbar, unkennbar verbunden
-mit fremden Säften, denen man sich einmal geschenkt hat.
-</p>
-
-<p>
-Ruth wurde sehr krank. Sie lag ein paar Wochen
-durch mit hohem Fieber und keuchendem Atem. Die
-graue Tapete ihres Zimmers wurde zu einer einzigen,
-ungeheuren Ebene, in die alles hineinversank wie in
-einen Moorboden. Müde und wohlig. Mutter saß Tag
-und Nacht an ihrem Bett mit überwachen Augen und
-Teelöffeln in der Hand. Ruth dachte: wenn ich wieder
-gesund bin, schenke ich Mutter das Schönste und Beste,
-das ich habe. Aber sie wußte nie, was das sei und
-wünschte sich auch gar nicht, bald gesund zu werden.
-Besser immer so liegen können. Und niemand kann
-einem Vorwürfe machen. Sogar Richard brachte ihr
-Veilchen.
-</p>
-
-<p>
-Als sie den ersten Tag wieder fieberfrei im Bett
-lag und Mutter ihr die Kissen gerade frisch gerichtet
-hatte, fragte sie: &ndash; was möchtest du, daß aus mir werden
-soll<a id="corr-22"></a>? Mutter sah sie erstaunt an. &ndash; Ja, ich kann doch nicht
-weiter so in den Tag hinein leben. &ndash; Ich möchte, daß
-du glücklich wirst, Ruth. &ndash; Wie ist das? &ndash; Du mußt
-froh sein und gesund und auch heiraten. &ndash; Weißt du
-Mutter, von Thomas hätte ich gerne ein Kind bekommen.
-&ndash; Aber Ruth &ndash; Nein, nicht böse sein, Mutter, bitte,
-<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
-bitte nicht. Ich möchte dir nur von Thomas erzählen,
-weil das so wunderschön war.
-</p>
-
-<p>
-Ruth erzählte von Thomas&rsquo; Buch, als ob sie es
-schon hundertmal gelesen hätte. Mutter sagte: &ndash; armes
-Kind. Und küßte sie. &ndash; Aber du mußt jetzt schlafen.
-Sie löschte das Licht aus. Ruth fragte in das Dunkel
-hinein: warum arm ...
-</p>
-
-<p>
-Sie erwachte am nächsten Morgen sehr zeitlich.
-Mutter sagte im Nebenzimmer zu Martha: &ndash; wir hätten
-eben besser auf sie acht geben müssen.
-</p>
-
-<p>
-Da sah Ruth hinter dem Fenster in der Frühdämmerung
-wieder die Hand des Mannes aus dem
-Grab wachsen, der seine Mutter geschlagen hatte. Nein,
-es waren viele, es waren unzählige solcher Hände. Sie
-sah diese Hände draußen vor dem Fenster und wußte:
-im Nebenzimmer wird jetzt eine ungeheure Schändlichkeit
-geflüstert. Ein Heiligtum wird besudelt. Dann geht
-Mutter in die Küche zu der Köchin und Martha in die
-Schule. Nein, das hatte Thomas nicht verdient.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte aufstehn und fliehen, weit, weit weg
-über sumpfige Wiesen und Felder. In das Graue hinein.
-Nur Mutter nicht mehr sehen. Und in der Kommode
-daneben liegen ja sorglich eingeordnet seine Briefe an
-Mutter. Mutters Seele steckt auch drinnen in den gelben
-Phiolen. Und richtig, in Mutters Bewegungen zerbricht
-sich dieselbe Disharmonie wie in seinen, wenn er die
-Zigarre zum Mund führte. Wie kann Mutter es wagen,
-ihr Leben bewachen zu wollen. Draußen wachsen die
-Hände aus den Gräbern. Aber das Weiße in Mutters
-<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
-Augen ist zerbrochen. Sie kann Mutter nicht helfen.
-Sie ist allein. Weiß Mutter das nicht? Die Nabelschnur,
-an der sie hing, ist längst zerrissen. Arme Mutter! &ndash;
-Aus allen Gräbern wachsen die mörderischen Hände.
-</p>
-
-<p>
-Mutter sagte am Nachmittag zu Onkel Gustav:
-ich werde Ruths Leben von nun an zu lenken wissen.
-Ich muß ihr weiter helfen. Sie ist &ndash; Laß das, antwortete
-Gustav müde. &ndash; Das lassen? &ndash; ja wozu bin ich denn
-sonst da ...?
-</p>
-
-<p>
-Und sie saß bis in die Nacht hinein und berechnete
-ein neues Kleid für Ruth. Als es nach ihrer Angabe
-genäht war, hing Ruth es in die hinterste Kastenecke
-und zog es niemals an.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-11">
-<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
-Der Tod
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Thomas hat auch nicht auf mich hören wollen,
-sagte die alte Friseurin weinerlich zu Mutter, während
-sie ihr das widerspenstige Haar zu bändigen versuchte.
-</p>
-
-<p>
-Wie hatte Onkel Gustav einmal gesagt, in traumhafter
-Sommerdämmerung: Unsere Nächsten &ndash; das
-sind unsere nächsten Mörder. Und nun war die Wirklichkeit
-gekommen, winterkalt und hart. Und Ruth
-mochte sich die Augen mit den Fäusten zudrücken.
-Thomas hatte diese Wirklichkeit nie gesehen. Deshalb
-hatte er an ihr zugrunde gehen dürfen. Wie gut muß
-es sein, wenn alles ganz vorbei ist. Nichts mehr sehen,
-hören, tasten. Ihn schließt eine Wand ab von der Welt.
-Und er erstickt doch nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-Ruth saß an einem nebligen Schneeabend allein
-zu Hause bei dem großen Speisezimmertisch. Mit aufgestützten
-Armen. Ihre immer noch fiebermüden Glieder
-wollten nicht recht gehorchen, wollten sich legen, sich
-strecken, ganz ausdehnen. Durch die Fenster flimmerte
-gelb das Licht der Straßenlaterne. Draußen muß viel
-Schnee fallen.
-</p>
-
-<p>
-Und die lebendige Uhr hinter ihr zerschneidet die
-Zeit, metallhart. Aber der Kasten dort und die Stühle
-ringsherum rücken weit weg, fort in das Graue, daß
-sich die hohen Fensterkreuze dehnen müssen. Und
-<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
-nichts um sie als luftloser Abgrund. Weite. Leere. Da
-drinnen muß einmal eine Fliege ertrunken sein. Über
-Ruths Haupt hebt sich die Decke. Ihre Füße treten
-das oben. Noch saugt ihr Blick das Zimmer in sich.
-Noch kann ihr Blick die Weite überwinden. Noch. Aber
-das Lid wird ihn verdecken. Dann ist sie ganz allein.
-</p>
-
-<p>
-Wie Vater. Wie Thomas.
-</p>
-
-<p>
-Sie ist auch allein, wenn Mutter im Nebenzimmer
-mit Martha spricht. Wenn sie Richard und Gustav auf
-der Straße trifft oder mit Norbert zusammenkommt.
-Wenn sie einen Schutzmann nach einer Hausnummer
-fragt oder nicht weiß, wieviel Trinkgeld der Kellner
-bekommen soll. Ach, so allein, mit offenen Augen.
-Die alles sehen.
-</p>
-
-<p>
-Eine Woche später brachte man Ruth in ein
-Sanatorium wegen einer Operation. Sie war sehr
-müde. Aber auch sehr neugierig. Sie dachte: es
-ist doch unglaublich, daß man so einfach in mich hineinschneiden
-kann. Und man spritzt mir etwas unter die
-Nase und dann bin ich nicht mehr da. Wo ich nur sein
-werde. Ich muß sehr gut acht geben.
-</p>
-
-<p>
-Der Chirurg hatte ein schmales, feines Gesicht mit
-zu großem Kinn. Seine Hände waren grobknochig, wie
-von einem Fleischhauergehilfen. Aber er zog sich dann
-Gummihandschuhe an. Und seine Hände wurden zum
-Werkzeug, das ineinander beißt.
-</p>
-
-<p>
-Sechs junge Ärzte standen herum wie Schachfiguren.
-Und Schwestern leidend und demütig. Der Operationsraum
-war groß, zu licht, blitzend, spiegelnd. Ruth sah
-<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
-in den schneetoten Park hinunter, auf die uralten,
-schneebeladenen Bäume. Die Wintersonne stieß gegen
-die dicken Wolken. Ruth empfand die kühle Verzweiflung
-eines Sterbenden, der einmal, im ersten jungen Frühling
-dort unten gelegen sein mußte, mit zerfleischtem Körper
-eingepackt in weiße Tücher.
-</p>
-
-<p>
-So wie man sie jetzt einpackte. Sie wollte schreien:
-Was tut ihr mit mir? Da lag sie schon auf dem blanken
-Tisch: Sie spürte einen niederträchtigen Geruch sich in
-die Kehle hineinfressen, dachte: Ihr zwingt mich doch
-nicht &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Da war sie aus sich heraus gestiegen und stand
-neben ihrem starren Körper. Sah sich selbst nackt und
-preisgegeben daliegen, sah jeden Zug ihres Gesichtes,
-das sie ja gar nicht gekannt hatte. Mit geschlossenen
-Lidern. Sah die strengen, furchtbar fremden Augen der
-Ärzte, die bloßen sehnigen Arme des Chirurgen, die
-Schwestern über die Instrumente gebeugt ...
-</p>
-
-<p>
-Die weiße, glattgetünchte Wand riecht so sonderbar.
-Sie muß sehr hoch sein. Man kann gar nicht an ihr
-hinaufsehen. Und die Gelenke sind gefesselt, stöhnen
-unter eisernem Druck. Der auch von oben kommen muß.
-</p>
-
-<p>
-In den tiefblauen Himmel stößt sich ein weißer,
-steifer Ast.
-</p>
-
-<p>
-Neben Ruth steht eine Schwester mit bleichem
-Gesicht. Eine Schwester, die sie nie gesehen hat. Ein
-Ast, den sie nie gesehen hat. Eine Wand, die sie nie
-gesehen hat.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
-Sie kann ihr Bett kaum überblicken. Dort am Fußende
-sitzt ja Mutter. Ihre Bluse ist zerdrückt. Wie unangenehm.
-Und sie lächelt so, als ob sie alles wüßte,
-genau wüßte, was sie ja gar nicht wissen kann.
-</p>
-
-<p>
-Sie ist in einer Welt, in der sie noch nie war. Sie
-muß einmal Ungeheures erlebt haben. Aber hier kann
-man davon nichts wissen. Darum liegt sie gefesselt an
-allen Gliedern, Sehnen und Gelenken, an allen Muskeln,
-allen Nerven. Vielleicht hat man ihr beide Füße weggeschnitten.
-Sie muß tasten. Sie kommt nicht bis dorthin.
-</p>
-
-<p>
-Mutter und die Schwester lächeln. Das ruchlose
-Lächeln der Nichtverstehenden. Sie will weinen vor Zorn.
-Und erbricht.
-</p>
-
-<p>
-Sie liegt stumm und verzweifelt, bis sie fragt: Ist
-mein neues Kleid schon gekommen? Dann gehört sie
-wieder der Welt, die von Mutters Rechenbüchern beherrscht
-wird und Richards verwunderten Augenbrauen.
-Aber irgendwo sind doch auch gelbe Phiolen und der
-Duft fremdartiger Chemikalien, ätzend, zersetzend.
-</p>
-
-<p>
-Ruth saß mit Mutter an dem gedeckten Tisch mit
-dem rotgestickten Milieu und den glotzäugigen Teetassen.
-Die Lampe brannte fetzig grün. Aber sie war
-ihr dankbar. Und den Teetassen und den fetten Butterbroten,
-die an Agnes kräftige Arme erinnerten. Wie
-das nach Alltag schmeckte. Und wie wunderbar sicher
-das war, wohlig geborgen. Sie möchte sich in die saftgrünen
-Vorhänge hinein verstecken und ein ganz
-dummes Backfischbuch lesen, wo es nur Schulsorgen
-gibt und wunderbare Bräutigame.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
-In der Nacht kann sie nicht schlafen. Sie liest die
-Zeitung bis zur letzten Annonce. Das Zeitungsblatt
-schlägt eine Ecke nach oben, leckend. Sie löscht das
-Licht. So müde. Das Zeitungsblatt war leckend, saugend.
-Das Blatt ist eine rote, fleischige Tierzunge. Die Zunge
-saugt, leckt.
-</p>
-
-<p>
-Da ist nur noch die weiße, glattgetünchte Wand.
-Und der lange, gräßlich arme Tierkopf, der aus ihr
-herauskommt. Schmal. Die Augen arm, in sich geknechtet.
-Er schleckt mit schiefer, gieriger Zunge eine salzige
-Flüssigkeit von der blendenden Wandfläche. Er schleckt,
-leckt, saugt sich an &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sonst ist nichts mehr da. Der Kopf steht in die
-Luft hinaus, brüllt &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Rechts steht ein Mann und links steht eine Frau.
-Ein Mann, eine Frau. Sie hält den großen Spitalslöffel
-in der Hand, sieht den Mann fragend an. Und er sagt
-mit unendlicher Geringschätzung: Gib. Was ist das
-ganze Leben denn mehr wert als ein Schluck Wasser
-für ein durstiges Maul.
-</p>
-
-<p>
-Der Tierkopf schleckt &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth saß schreiend im Bett. Mutter kam hereingestürzt.
-Ruth konnte nicht sagen was ihr fehle. Daß
-das lange, armselige Tiermaul alles war, die ganze Welt
-und immer weiter an der Wand saugen mußte. Nein,
-das konnte man nicht sagen und sie ließ sich fortwährend
-von den anderen die wichtigsten Zeitungsereignisse
-erzählen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
-Damals sehnte sie sich maßlos nach allen Menschen,
-die sie je gesehen hatte, am meisten nach einem kleinen,
-verwachsenen Stubenmädchen, das ihr vor Jahren Geschichten
-aus einem böhmischen Dorf erzählt hatte, wo
-die Kinder im Hemd im Dorfteich schwammen.
-</p>
-
-<p>
-Sie bettelte sich hinter der grauesten Alltäglichkeit
-durch. Sie verdurstete vor Sehnsucht, wieder in sie aufgenommen
-werden zu dürfen. In eine Sphäre von
-Geschäftsbesen, Kaffeetassen und Nachtwächtern. Ihr
-war jeder Schuhriemen wichtig.
-</p>
-
-<p>
-Norbert kam am nächsten Mittwoch. Aber ohne
-Onkel Gustav. Der lag wieder elend in seiner Dachkammer.
-</p>
-
-<p>
-Norbert war avanciert in seinem Amt. Er unterstand
-dem Vater seiner Braut. Alle gratulierten ihm. Ruth
-schüttelte ihm beide Hände. Er sah sie an, hundetreu,
-traurig.
-</p>
-
-<p>
-Nach dem Essen setzte er sich in ihr Zimmer auf
-das kleine, wacklige Kindersofa. Sie saß neben ihm
-und dachte: Warum bin ich jetzt nicht in Australien
-oder auf einem großen Schiff.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Nicht wahr, Ruth, Sie verachten mich? ... &ndash;
-Ruth sah auf. &ndash; Nein, warum denn? &ndash; Weil ich
-avanciert bin. &ndash; Was meinen Sie damit? &ndash; Ach Ruth,
-Sie wissen ganz gut was ich meine.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah in den winterblauen Nachmittag hinaus
-und wußte auf einmal, was er meinte. Sie dachte: Und
-dann nach Australien mit einem großen Schiff. Sonnenuntergang
-<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
-weit hinten im Meer und weiße, wehende
-Schleier. Das wäre freilich etwas.
-</p>
-
-<p>
-Dann sah sie seine graue Weste und dachte an
-den Spitzeneinsatz der Braut und mußte fast lachen. &ndash;
-Nein, Norbert, sagte sie hochmütig, ich verstehe
-Sie nicht.
-</p>
-
-<p>
-Aber sie sah ihn in der flimmernden Sonne eingezäunt
-in einer streng gekrümmten Linie. Seine Grenze.
-Über die durften seine treuen Hände nicht hinaus.
-Wenn er stirbt, dann wird die Linie zum Viereck und
-macht Wände und ist der Sarg.
-</p>
-
-<p>
-Ruth schauderte und einen Augenblick dachte sie:
-Ich muß ihm helfen, vielleicht ihn lieben. Aber sie
-verstand seinen beamtenbrav geschniegelten Kopf und
-ekelte sich vor der schnurgeraden Scheitellinie. Unmöglich.
-Da war die Grenze.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wissen Sie schon, daß mein Freund, der
-Leutnant fast gestorben ist, sagte Norbert. &ndash; Nein,
-wieso? &ndash; In einem Duell wegen einer Ballettänzerin.
-Zwei Schüsse durch die Lunge.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sah vor sich dicke rosa Schminke, rosa Ballettröckchen
-und rosa glatte Füße. Dazwischen blutend
-aufgedunsen die Lunge des Leutnants. Seine schwarzen
-Zähne. Das war der Tod.
-</p>
-
-<p>
-Am nächsten Tag kam die alte Friseurin heulend.
-Der Arzt habe gesagt, wenn ihr Bub nicht bald in eine
-Anstalt käme, sei seine Tuberkulose nicht mehr heilbar.
-Ruth schnitt sich mit den Nägeln in die Hände. Was
-schreit sie so, Thomas ist doch schon lange tot und
-<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
-das kleine Ungeheuer, die Nähmaschine ist ein Leichnam,
-der sich aufbläht mit den Erlebnissen anderer. Und
-was will der grüne Bub vom Leben. In einer Schreibstube
-geometrische Zeichnungen machen. Keiner kommt
-bis Australien.
-</p>
-
-<p>
-Mutter versprach, ihr Möglichstes zu tun. Am
-Abend sagte Ruth verzweifelt: &ndash; Mutter, müssen wir
-denn alle sterben?
-</p>
-
-<p>
-Richard hatte sich verlobt. Mit Norberts Schwester.
-Ruth erinnerte sich: aufgestülpte Nase, aristokratisch
-tiefe Stimme, dicke kleine Freundin. Auch gut. Im
-übrigen war es ihr ziemlich gleichgültig.
-</p>
-
-<p>
-Einmal, während des Mittagessens, kam ein Mädchen,
-bleich, trostlos, das Richard sprechen wollte. Ruth hatte
-ihr die Türe geöffnet. Richard war bei seiner Verlobten.
-Das Mädchen stöhnte auf. Sie packte Ruth beim Arm:
-Helfen Sie mir. Ruth sah ihr in die hübschen Kinderaugen,
-die voll Tränen standen und führte sie in
-den Salon.
-</p>
-
-<p>
-Mutter kam dazu. Die alte Geschichte. Das Kanzleimädchen.
-Mutter weinte auf und versprach fast flehend
-zu helfen. Aber sie müsse schweigen, um Gottes willen.
-</p>
-
-<p>
-Als das Mädchen gegangen war, fragte Ruth: Wie
-willst du ihr helfen? Mutter sagte: Geld. Und Ruth
-haßte sie. Sie dachte an das winzige Geschöpf, das
-schon im Mutterleib erwürgt wurde von fremden Händen.
-Wirklich fremden Händen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Mutter weinte den ganzen Nachmittag durch: Daß
-sie keine Ahnung haben konnte. &ndash; Mir hätte er es doch
-<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
-sagen können, mir, immer habe ich alles von ihm gewußt,
-seit er ein ganz kleiner Bub war. Da ist auch nur dieses
-Frauenzimmer schuld. Aber er hat mir ja geschworen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth kam es lächerlich vor, daß Mutter jemals
-glauben konnte, Richards Vertraute zu sein. Aber
-Mutters Augen waren wieder so zerbrochen. Mit zornbebender
-Stimme sagte sie: &ndash; Dazu bin ich doch da, um
-von euch alles zu wissen. Ruth ging aus dem Zimmer,
-etwas in ihr rief: Und dann bist du eben tot.
-</p>
-
-<p>
-Wo war Mutters Leben &ndash; bei ihren drei
-Kindern, in Vaters Grab &ndash; bei den gelben Phiolen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth sagte zu Martha: &ndash; Da bekommt Richard ein
-Kind und Mutter weiß es nicht einmal. Das ist wirklich
-eine Schmach, aber sie wird ja alles mit Geld gutmachen.
-&ndash; Woher weißt du, daß das Kind zur Welt
-kommt? sagte Martha, lehrerinnenhaft überlegen. &ndash;
-Martha, du gehörst auf den Scheiterhaufen.
-</p>
-
-<p>
-In der Nacht sah Ruth Martha auf der Straße, im
-Sonnenlicht, mit einem langen grauen Regenmantel.
-Ernst, streng und emsig, mit toten Augen und blauen
-Nägeln.
-</p>
-
-<p>
-So war sie denn von lauter Toten umgeben.
-Richard war ja auch tot. Er tat nur so überlegen. Aber
-sein Leben lag im Leib jenes jungen Mädchens und
-seine eigenen Finger erdrosselten es.
-</p>
-
-<p>
-Er steckte auch in einer Grenze, wie Norbert. Die
-lief weiter weg von ihm als bei diesem, aber sie war
-tief eingegraben. Er verstand sieben Sprachen. Er kannte
-alle Wagner-Opern. Er heiratete Norberts Schwester. Er
-<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
-eroberte sich einen guten Platz in der Welt. Er hatte
-einen großen Sarg.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sehnte sich wieder unsäglich danach, tot zu
-sein wie Thomas. Nicht mehr scheinlebendig. Aber nur
-nicht sterben. Sterben tat ja sicher entsetzlich weh.
-Schon lange tot sein. Ohne denken, ohne Verantwortung
-für den nächsten Tag &ndash;
-</p>
-
-<p>
-An Onkel Gustav hatte man über Richards Verlobung
-ganz vergessen. Eines Tages kam seine Hausmeisterin
-mit sensationslüsternen Augen. Es gehe ihm
-sehr schlecht, er röchle furchtbar.
-</p>
-
-<p>
-Mutter weinte zuerst, ehe sie sich ankleidete, um
-hinzugehen. Ruth ging empört in ihr Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollte Onkel Gustav nicht mehr sehen. Was
-liegt ihr überhaupt an Onkel Gustav. Sie hat ihn immer
-verachtet. Sie wird sich heute nichts vormachen, so wie
-Mutter. Gewiß nicht.
-</p>
-
-<p>
-Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versuchte
-eine italienische Übersetzung zu schreiben. Ihr Geist war
-dabei. Aber in ihren Händen kochte ein fremder, fieberhafter
-Puls.
-</p>
-
-<p>
-Durch die Fasern des Fleisches gräbt sich, stößt
-sich blühende Lebenskraft. Aber ganz innen in ihrem
-Leib fällt etwas ab, bröckelt etwas ab, mürb und müde.
-Wer preßt ihr die Brust zusammen und würgt sie, daß
-sie husten muß &ndash; Ist das Schleim und Blut &ndash; Ist das
-ihre eigene Kehle &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Über Ruths italienisches Übersetzungsbuch steigt
-wie Frühlingsatem empor die freche Liebe der jungen
-<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
-Wilden, die Gustav einmal an sich reißen wollte. Von
-der sie nie etwas gehört hat. Und es riecht nach faden,
-blonden Madonnenhaaren, Ansichtskarten mit weißen
-Kaninchen. In weiter Ferne leuchtet ein lichtes Ährenfeld
-im Juliwind, eine marmorbleiche Haut. Und die alte
-Geige lehnt an dem rußigen Eisenofen.
-</p>
-
-<p>
-In Ruths Knochen bricht etwas. Das Mark wird
-zerrissen. Ein Leben stirbt, das sie nie gekannt hat.
-Ein Leben, das sie mitgetragen hat in ahnungslosen
-Händen. Onkel Gustav stirbt.
-</p>
-
-<p>
-Ruth steht auf in erstarrtem Entsetzen. &ndash; Agnes,
-ruft sie in die Küche hinein, singen sie nicht so laut,
-wir sterben heute.
-</p>
-
-<p>
-Sie geht durch die weißerstarrten Gassen. Deren
-grelles Gefunkel in der Sonne schmerzt. Der Himmel
-ist tief dunkelblau. Onkel Gustavs höchster Wunsch
-war immer, einmal nach Italien zu kommen. Der Schnee
-zerbricht unter ihren Schritten.
-</p>
-
-<p>
-Vor Gustavs Haustor will sie noch umkehren.
-Mutter wird sicher weinen. Richard und Martha machen
-traurige Gesichter. Norbert ist gewiß auch da. Nein, es
-ist unmöglich hinaufzugehen. Aber da ist noch Onkel
-Gustavs Hund. Sie kriecht über die Treppen.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav hat das Gesicht zur Wand gekehrt.
-Der Hund liegt auf seinen Füßen. Den läßt er nicht
-von sich. Aber sonst kennt er niemanden.
-</p>
-
-<p>
-Ruth will die weinenden, die gefaßten, die wichtigen
-Gesichter nicht sehen. Sie geht an das Fenster. Sie
-möchte es aufmachen. Aber sie ist gelähmt. Auf dem
-<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
-Fensterbrett steht eine halbgefüllte Teetasse mit schief
-abgebröckeltem Rand. Und ein rostiger Löffel. Es ist
-doch gut, daß Onkel Gustav stirbt.
-</p>
-
-<p>
-Der Arzt unterhandelte mit Richard und Martha,
-wie man Mutter am besten aus dem Zimmer bringen
-könne. Er hatte seine geschäftsmäßig traurige Miene.
-Ruth wollte sich nicht umwenden.
-</p>
-
-<p>
-Die Sonne war untergegangen, draußen in ferner
-Ebene.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav röchelte.
-</p>
-
-<p>
-Norbert trat zu ihr: Ruth &ndash; Lassen Sie mich. &ndash;
-Aber Ruth &ndash; So lassen Sie mich doch, was wollen
-Sie von mir. Gehen Sie hin zu ihm. Legen Sie sich
-auf seine Füße. Wärmen Sie ihn.
-</p>
-
-<p>
-Onkel Gustav röchelte.
-</p>
-
-<p>
-Blut und Schleim.
-</p>
-
-<p>
-Es wurde ganz dunkel.
-</p>
-
-<p>
-Mutter war von Martha weggebracht worden. Der
-Arzt war fort. Norbert auch. Richard saß in einem
-Sessel, den Kopf in die Hände gestützt. Die schmierige
-Hausmeisterin machte sich an Gustavs Bett zu schaffen.
-Ruth stand unbewegbar erstarrt an dem Fenster.
-</p>
-
-<p>
-Da schrie der Hund.
-</p>
-
-<p>
-Ruth war bei Gustav. Aus seinem herabgefallenen
-Kiefer quoll das Blut auf die sterbende Brust. Ruth
-legte die Hand darauf. In Liebe. Dann brach sie zusammen.
-In Ekel ...
-</p>
-
-<p>
-Alles roch nach dem Leichenbitter, der vor Gustavs
-Türe stand. Auch die Blumen in der Blumenhandlung.
-<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
-Mutters schwarzgerändertes Taschentuch. Und das
-italienische Übersetzungsheft. Die dumpfen Kreppschleier.
-</p>
-
-<p>
-Alle sprachen lieb von Onkel Gustav. Ruth haßte
-alle. Nicht weil sie ihn gemordet hatten. Aber weil sie
-mit ihrem bißchen kläglichen Gernehaben protzten.
-Keiner kannte das große Erbarmen. Auch sie nicht
-mehr. Eine Sekunde lang hatte sie es empfunden. Seither
-war ihr, als trügen ihre Hände vernarbt Kreuzeswunden,
-mit rostigen Nägeln durchschlagen. Aber vernarbt.
-</p>
-
-<p>
-Sie trauerte nicht. Kam nicht einmal mit zum
-Leichenbegängnis. Ging zur selben Stunde mit dem
-namenlosen Hund spazieren. In einer blauen Bluse, durch
-taubelebte, klatschende Gassen.
-</p>
-
-<p>
-Sie bürstete den Hund und fütterte ihn. Aber sie
-hatte eine furchtbare Angst vor seiner langen, spitzigen
-Schnauze. Die dem schmalen Tiermaul an der weißgetünchten
-Wand immer ähnlicher wurde. Ach Gott,
-wie so ähnlich &ndash;
-</p>
-
-<p>
-In den verständnislosen, angstvollen Augen des
-Hundes lag der Schmerz einer geprügelten Welt. Und
-unendliche Sehnsucht. Wonach &ndash; Nach dem Schluck
-Wasser &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Wie einsam mußte Onkel Gustav gewesen sein.
-</p>
-
-<p>
-Ruth fürchtete sich vor den langen, spitzen Zähnen
-des Hundes. Er lief ihr nach auf Schritt und Tritt.
-Und sie konnte ihn nicht zu den andern zwingen. Die
-riefen ihn bei dem englischen Namen, den Mutter ihm
-gegeben hatte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
-In der Nacht lief er winselnd vor ihrer Türe hin
-und her, bis sie ihn in das Zimmer ließ. Dann schlief
-er in einer Ecke. Sie aber hielt die Augen weit offen
-vor Grauen. Dort lag das Tier.
-</p>
-
-<p>
-Fell, gierige Zähne, saugende Zunge.
-</p>
-
-<p>
-Das Tier atmete lauter und rascher als sie. Zerstörte
-den Rhythmus ihres Zimmers. Das war zum Stall geworden.
-</p>
-
-<p>
-Alle riefen den Hund bei dem englischen Namen.
-Er gehorchte keinem.
-</p>
-
-<p>
-Einmal riß sie ihn an dem Halsband zurück, als er
-aus dem Kübel trinken wollte. Da schnappte er nach
-ihr. Das Blut tropfte aus drei großen, tiefen Löchern
-in ihrer Hand. Ihrer schmalen, braunen, suchenden
-Hand. Wie sie diese Hand liebte. Ihre Hand. Ihre glatte
-Menschenhand.
-</p>
-
-<p>
-Sie bekümmerte sich nicht mehr um den Hund.
-Er folgte niemandem und Mutter ließ ihn vertilgen.
-</p>
-
-<p>
-An diesem Abend saßen sie alle unter der Speisezimmerlampe.
-Und Mutters Rechenbücher beherrschten
-die Mitte. Richard sagte: &ndash; Der arme Kerl. Eigentlich
-bist du schuld an seinem Tod, Ruth. &ndash; An Onkel
-Gustavs Tod? &ndash; Nein doch, ich meine den Hund. &ndash;
-Ach so.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Hilf mir, Richard, sagte Mutter über den Tisch
-herüber. Ich kenne mich da nicht aus. &ndash; Richard
-beugte sich über ihre Schulter. Dann sagte er mit
-traurigem Gesicht: &ndash; Diese Rubrik können wir jetzt
-streichen. Und zog mit rotem Bleistift einen dicken
-<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
-Strich über eine halbe Seite. Ruth sah oben den
-Namen Gustav.
-</p>
-
-<p>
-Nein, das war unmöglich, nein, das konnte man
-doch nicht tun, mit rotem Bleistift, rotem Bleistift &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth sagt noch immer: Roter Bleistift, vor sich
-hin. Sie geht durch dunkle, frostdumpfe Gassen. Sie
-läuft. Sie fliegt.
-</p>
-
-<p>
-Jemand ist geschändet worden. Wer ist geschändet
-worden. Der Tod ist geschändet worden. Christus ist
-am Kreuz gestorben und man betet zu ihm um gutes
-Wetter. Gustav ist gestorben und man streicht die Ausgaben
-für ihn mit rotem Bleistift aus dem Einschreibebuch.
-</p>
-
-<p>
-Sie will nie mehr nachhause zurück. Lieber in
-ein Freudenhaus.
-</p>
-
-<p>
-Wer will nicht zurück &ndash; Ihre Glieder tragen Mutters
-Ungeduld und Vaters Leiden. Richards Hochmut und
-Marthas Resignation geben ihr ihre Kopfhaltung, ihre
-kindische Würde. Als Onkel Gustav sterben mußte,
-war etwas in ihrem innersten Mark zerrissen.
-</p>
-
-<p>
-Jedes einzelne Blutgefäß spinnt einen langen Faden
-aus sich heraus in Mutters Hände hinein, die ja so fremd
-sind, so in sich zerbrochen. Aber eine Stimme schreit
-aus Ruths Kehle, die ist ganz neu. Vielleicht kommt
-sie von den Obstbäumen auf den wilden Feldern, die
-alle in ein paar Monaten blühen werden.
-</p>
-
-<p>
-Noch preßte die Kälte die Häuser zusammen. Und
-alle Menschen steckten in wollenen Jacken, deren Farbe
-nicht schön war.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
-Ruth kauerte tagelang vor ihrem kleinen Ofen.
-Ihr Körper war steif geworden und ihr selber unbekannt.
-Vor diesem Ofen war Thomas an seinem letzten Abend
-gelegen. Und sie selbst. Und vielleicht noch ein dritter.
-</p>
-
-<p>
-Nun ist sie müde, nicht zum Sagen müde. Sie
-möchte sich die Haut von den Armen streifen. Sie
-möchte sich in sich hinein verkriechen und in einer
-dunklen Ecke verstecken. Allein sein. Sie kennt
-niemanden mehr. Was wollen alle diese von ihr, diese
-Lügner, die nur zum Schein ganz leben und an hundert
-Stellen getötet sind. Diese heimlichen Mörder untereinander.
-</p>
-
-<p>
-Wo ist ihre Grenze. Sie kann sie nicht erblicken.
-Sie späht um sich mit leeren Augen. Wer sieht aus
-ihr heraus? Wer wühlt mit bleichen, schweren, kraftlos
-vollen Händen in ihrem Hirn? Das alles kann sie doch
-allein so ganz unmöglich verstehen. Sie ist ja jung, in
-ihren Zehen federt die Sprungkraft ihrer Jahre.
-</p>
-
-<p>
-Sie möchte schon lange tot sein. Aber sie wird
-jetzt nicht sterben. Sie genießt nur die süße Müdigkeit
-und darf sie doch nicht bis an das Ende kosten. In
-ihr lebt ein Fremder, Mächtiger. Und denkt.
-</p>
-
-<p>
-So kauert sie vor dem verglühenden Ofen. Der
-immer weiter brennt.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-12">
-<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
-Vision
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">U</span><span class="postfirstchar">nter</span> den hochkreuzigen Fenstern läuft die Straße.
-Die Straße, die alle gehen müssen. Die eine Straße.
-Der eine Weg.
-</p>
-
-<p>
-Pferdehufe schlagen das bucklige Pflaster. Wagenräder,
-die in sich zerbrechen, kratzen darüber hin. Und
-so viel Schuhe. Hochmütig spitze aus weichem Leder,
-behäbig breite, löcherige und Holzsandalen.
-</p>
-
-<p>
-Vielleicht sind alle die Eilenden lautlos. Und nur
-der rohe Stein lärmt. Poltert, rattert, zerschmettert &ndash;
-in nichts.
-</p>
-
-<p>
-Die Luft war weich geworden und der Schnee
-schmolz in großen, brandigen Klumpen. Strähnig schleckte
-er sich über die Dächer. Schwamm in den braunen
-Pfützen. Die Schaufenster waren frisch gewaschen.
-Straßenlichter stritten mit langer Dämmerung.
-</p>
-
-<p>
-Das war schon immer gewesen. Ruth lag vor ihrem
-Fenster und getraute sich nicht, es zu öffnen. So war
-sie einen ganzen, langen Scharlach hindurch einmal an
-den Fenstern gelegen. Als sie so klein war, daß sie
-ein Fragezeichen von einem großen S nicht unterscheiden
-konnte. Und beide ineinander an das trübe Fensterglas
-zeichnete. Als sie zu Mutter betete und ihre Furcht vor
-der nahen Nacht unter erdachten Abenteuern vergrub.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
-Nun lag sie an dem Fenster und wußte: Dieses
-junge Mädchen wird bald ein neues, lustig blaues
-Sommerkostüm bekommen. Der Mann dort schleppt die
-eine Achsel schwer. Er muß viele Lasten darauf getragen
-haben. Warum lebt die alte Frau noch, mit den
-traurigen weißen Haaren? Ob das kleine Mädchen mit
-der Springschnur auch so parkmüde ist, wie sie es immer
-war, nach den stundenmäßig eingeteilten Spaziergängen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie gingen alle in einem Rhythmus. Ruth spürte
-das gleichmäßige Aufschlagen der Sohlen &ndash; jetzt &ndash;
-und jetzt &ndash; wieder &ndash; und jetzt &ndash; wieder &ndash; und
-jetzt. Ein Betrunkener johlte unten in dem Wirtshaus,
-daß man den sauren Weingeruch heraufwirbeln fühlte.
-Dann das Schweigen der Schritte &ndash; jetzt &ndash; und jetzt
-&ndash; wieder und jetzt &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Bis ein Lastwagen dieses Schweigen zerbricht, so
-daß tausend lebendige Splitter über den Rinnstein
-springen.
-</p>
-
-<p>
-Richard kommt die Straße herunter. Er trägt noch
-den steifen, schwarzen Hut, wie im Winter. Er weiß
-nicht, daß heute Sommer ist. Daß sich alle ungefesselten
-Glieder ausziehen müssen und dem durstenden Föhn
-anbieten. Mutter schlägt im Nebenzimmer eine Tür zu &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth suchte sich pfeifend ihren alten Strohhut aus
-einem eingekampferten Kasten. Schlug ihn platt auf den
-Tisch, daß das Geflecht knirschte. Und lief davon. Ohne
-Handschuhe.
-</p>
-
-<p>
-Lief durch die eine Straße. Den einen Weg.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
-Wann war es das erste Mal, daß sie so gelaufen
-war? Daß ihre selig gläubigen Füße sie über Tiefen
-springen ließen, die zwischen den Pflastersteinen lauerten.
-Wann war es &ndash; gestern &ndash; heute &ndash; morgen wird
-es sein &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Die Erde ist schwanger von blühendem Leben.
-Und das Geborene ist tot. Und die Luft ist schwer zu
-atmen vor erstickten Keimen.
-</p>
-
-<p>
-Braungrün schwimmen die Pfützen im letzten Tageslicht.
-Die Laternen flimmern bloß.
-</p>
-
-<p>
-Ruth läuft den einen Weg. Die eine Straße. Es ist
-ja immer dieselbe eine. Mit jedem Schritt fällt ein Stück
-Last von ihren schmalen Schultern. In die tauende Erde.
-Aber sie kehrt nicht um, damit sie dieses Stück in den
-Boden hinein zertritt. Recht fest. Nein, sie läuft ja
-immer weiter.
-</p>
-
-<p>
-Ein Kutscher knallt mit der Peitsche. Ein altes
-Weib keift &ndash; oder vielleicht erzählt sie nur. Aber immer
-weiter, immer weiter, den einen Weg. Die Straße ist
-ja furchtbar schrill, die Häuser haben so empörend
-scharfe Kanten, die die Luft zerschneiden, wie aufgestellte
-Messer.
-</p>
-
-<p>
-Aus den offenen Fenstern fällt eine grauweiße
-Masse heraus. Sind das schmutzige Leintücher &ndash; Die
-wollen sie hindern am Weiterkommen auf dem einen Weg.
-</p>
-
-<p>
-Nein, diese vielen, empörend fremden, gleichgültigen
-Menschen. Da schmeißen sie die ganze Winterausdünstung
-auf die Straße herunter. Ihr entgegen. Diese
-vielen. Und sie sucht nur den einen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
-Wer sind die alle, die sie nicht lieben darf &ndash; Diese
-Holzpuppen, die es wagen ihr Schuhe zu machen und
-Gesetze zu geben. Die nach Schweiß stinken und Bier.
-Sie sucht den einen.
-</p>
-
-<p>
-Sie will die alle ja gar nicht kennen, die da gierig
-an ihr vorbeilaufen. Sie weiß so schmerzhaft gut, was
-sie suchen, was sie niemals finden. Warum weiß sie es
-so gut. Sie will es gar nicht wissen. Will zu dem einen.
-</p>
-
-<p>
-Unverständige Kinder dulden stumm die Schmerzen
-der Eltern mit. Und heben, aufgewachsen, die Hand
-gegen ihre Erzeuger. Spitze Tiermäuler saugen die
-Menschenliebe von den Mittagstischen. Und Krieg liegt
-in den nahen Grenzen.
-</p>
-
-<p>
-Warum weiß sie das. Sie geht nur zu dem einen.
-Der weiß es auch.
-</p>
-
-<p>
-Die grauen Leintücher werden immer dichter. Man
-sollte die kantigen Häuser untergraben, sprengen, daß
-alles Geschirr aus den Fenstern stäubt, die blumigen
-Suppenschüsseln, die blauen Kochtöpfe. O, wie sie
-lachen wird. Mutter schlägt die Hände über dem Kopf
-zusammen. Aber Thomas hätte auch gelacht. Die Grundmauern
-der Häusermassen sind lange nicht so fest wie
-die beschmutzten Ecksteine. Aber was braucht sie das
-zu wissen. Sie geht zu dem einen. Er soll es wissen.
-</p>
-
-<p>
-Man darf nicht warten bis die Häuser einfallen.
-Die große Fackel muß man nehmen, Thomas&rsquo; Fackel.
-Die liegt bereit, nicht weit weg. Lichtzüngelnde Flammen
-sollen die grauen Leintücher zerfetzen. Hoch hinauf, das
-muß geschehen. Sie weiß es. Nein, sie wird es nicht
-<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
-lange mehr wissen. Sie läuft hin zu dem einen. Er soll
-es wissen.
-</p>
-
-<p>
-Da steht sie vor seinem Haus. Seine Fenster sind
-dunkel. Viel dunkler als die verschwommene Straße.
-Und ganz leer.
-</p>
-
-<p>
-Er ist also auch heraußen. Vielleicht geht er sogar
-hinter ihr, neben ihr. Sie kann nur den Kopf nicht
-wenden. Weil sie immer weiter gehen muß, geradeaus.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Hände sind heute schwer und voll und weich und
-weiß. Die Schultern legen sich nach rückwärts, künstlich
-steif. Eine lichtbraune Locke, die gerne zigeunerhaft
-sein möchte, hängt in die Stirne.
-</p>
-
-<p>
-Wie jung der Winterfrühling ist. Und wie alt die
-Einsamkeit. Wohin gehen, wenn das Zimmer nur voll
-ist von einem selber. In den gelben Phiolen brodelt
-man selbst, verdickt, kondensiert.
-</p>
-
-<p>
-Es gibt Kaffeehäuser mit rauchigen Tischen und
-zahllosen Zeitungen. Dort sich niedersetzen. Die Kellnerinnen
-sind liebenswürdig, bedienen gerne.
-</p>
-
-<p>
-Eine dicke Brille schützt den scharfen Blick gut.
-Sie ist aus solidem Fensterglas. Besser in das hohe
-Weinglas schauen als um sich herum. Die Luft ist dick
-von grauen Leintüchern. In denen die kampfunfähigen
-Glieder schon oft sich vergraben haben.
-</p>
-
-<p>
-Zwei Commis spielen Billard. Die Glücklichen. Und
-jeder weiß, wohin er dann gehen wird. Die Glücklichen.
-</p>
-
-<p>
-Die Indianerhäuptlinge in den Knabenbüchern wußten
-auch immer wohin sie gingen, nach den furchtbaren
-Schlachten. Diese Leute langweilten sich nie. Dachten
-<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
-auch nie. Das hatten sie nicht notwendig. Sie lebten auf
-wilden Pferden in unabsehbaren Prärien. Wehendes
-Gras unter licht schwimmendem Himmel. Wo sind diese
-Füße &ndash; Sechs Häuser weit weg von der Gasse. Aber
-die Füße sind steif. Und der Kopf arbeitet an einem
-mathematischen Problem.
-</p>
-
-<p>
-In den schmierigen Marmor des Kaffeehaustisches
-zeichnen schwere, bleiche Hände tote Formeln.
-</p>
-
-<p>
-Die weiche Luft, die zugig durch den Rauch schlägt,
-ärgert diese Formeln. Diese Formeln bekommen blühende
-Rundungen. Leberblümchen, Primeln &ndash; o, nein, grinsend
-verzerrte Buchstaben.
-</p>
-
-<p>
-Die Knochen sind sehr schwer. Aber sie sind
-einander wohlerzogen angegliedert. Und bleich. Nicht
-roh durcheinander gebeutelt wie bei Thomas. Zum Glück
-&ndash; oder Unglück.
-</p>
-
-<p>
-Sie gehören einem Menschen an, der im Parkett
-des Theaters sitzt und den Vorgängen auf der Bühne
-zusieht, sehr interessiert und sehr fremd. Aber zuhause
-wartet kein verschlossenes Zimmer auf ihn, vor dem er
-Angst hat, weil er nicht alle seine Geheimnisse kennt.
-</p>
-
-<p>
-Deshalb sehen die erlebnislosen Zuschauerblicke
-alles so genau, viel zu genau und verstehen alles
-genau, viel zu genau, wissen alles.
-</p>
-
-<p>
-An einem Sommerabend kniete einmal ein kleines
-Mädchen vor dem Tisch und biß in die Kante, daß das
-Holz zersplitterte. Ihre Seele lag nackt und zitternd
-einsam auf einem dunklen Seziertisch vor fremden,
-prüfenden Augen. Zerschnitten. Aber die Zähne zerbissen
-<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
-den alten Tisch. Kräftige Zähne. Ein fremdes kleines
-Mädchen.
-</p>
-
-<p>
-Durch die Kaffeehaustür geht eine üppige Frauensperson.
-Selbstgeschlossen in ihrer Reife. Rotblondes
-Haar und Lippen, die Geld fressen wollen. Der Hut
-wippt zu hoch, über einer häßlichen Stirne. Ihr nach.
-</p>
-
-<p>
-Ihr nach durch schlüpfrige Gassen und winkelige
-Höfe. Wie stolz sie geht, sie ist eine Königin der Erde.
-Karminrot geschminkt. Alle Königinnen sind karminrot
-geschminkt.
-</p>
-
-<p>
-Nicht die volle Hand berühren. Aber hinter ihr
-her gehen. Langsam, kostend.
-</p>
-
-<p>
-Sie geht auf ein Haus zu mit verschlossenen Laden.
-Im Parterre sind weiße Spitzenvorhänge und über dem
-Tor glüht brünstig die rote Laterne &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wohin will das Fräulein &ndash; ein junger Kellner mit
-schwarzen Zähnen im grünbleichen Gesicht tritt ihr entgegen.
-Die Zähne des Leutnants. In der kleinen Halle
-stehen rote Korbsessel.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Entschuldigen Sie, sagte Ruth aufmerksam und
-langsam, ich glaube, ich bin in ein falsches Haus geraten.
-Lief dort nicht jemand über die Treppen mit zurückgelegten
-Schultern? &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Ruth fuhr mit der Straßenbahn nachhause. Im
-roten, lärmenden Tabaksdunst. Ihre schmalen, braunen
-Hände spielten auf den Knien. Da waren noch die Narben
-von dem Hundebiß. Ihre Hände. Braun. Vielleicht auch
-etwas gelb von den Phiolen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
-Auf seinem Schreibtisch war einmal ein scharf geschliffenes
-Messer gelegen. Das schneidet gut. Es riecht
-nach Blut und Chemikalien.
-</p>
-
-<p>
-Soll sie sich das Messer holen? Die zarten Adern
-aufschneiden? Was kann das nützen. Von den feinsten
-Poren des Hirns aus durch den ganzen Körper strömen
-die müden Säfte eines verbrauchten Lebens. Gift.
-</p>
-
-<p>
-Das findet kein Messer. Er hat gut experimentiert.
-Die Phiole brodelt.
-</p>
-
-<p>
-Ruth sieht um sich. Aber in ihren entkleidenden
-Blicken leuchtet eine junge Kraft.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="part-13">
-<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
-Abrechnung
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> komme zu dir, sagte Ruth. Und seine Augen
-zitterten. Triumph.
-</p>
-
-<p>
-Das ganze Zimmer warf sich ihr entgegen in einer
-Staubwolke. Verweste Gedanken. Sie lächelte.
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Wie ich mich freue, daß du wieder da bist. Er
-drückte liebenswürdig ihre Hände. Sie fühlte, daß sie
-müdbraune Handschuhe hatte. In den Schaufenstern
-der Juweliere liegen Diamantarmbänder.
-</p>
-
-<p>
-Auf dem unordentlichen Schreibtisch kollern sattgelb
-Minerale. Wo sind die Phiolen &ndash; und das
-scharfgeschliffene Messer &ndash; ist das Thomas&rsquo; Messer &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Warum hast du die Fenster nicht offen? In
-den Gärten liegt Flieder. Doch nein, laß es.
-</p>
-
-<p>
-Ruth lächelte, während sie dachte: wozu die wirren
-Locken &ndash; Er könnte genau so gut einen braven Scheitel
-haben wie Norbert.
-</p>
-
-<p>
-Und als er mit den großen, zerbrochenen Bewegungen
-die Zigarre anzündete &ndash; wie immer &ndash; stürzte
-das Gleichgewicht der Frühlingsstraßen draußen in sich
-zusammen und zwischen den zersplitterten Pflastersteinen
-tanzte Bella mit Thomas. Aus Mutters Kommode
-taumelten Briefe &ndash;
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du sprichst gar nichts, sagte er. &ndash; Du weißt
-alles, sagte sie.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
-Dann schwiegen beide. Aber wie die Dämmerung
-so weit hereingekrochen war, daß das steifbeinige Zifferblatt
-der Uhr verschwimmen mußte, sagte Ruths Stimme,
-fremd und hell:
-</p>
-
-<p>
-&ndash; Du wartest, daß ich dir erzähle. Was soll ich dir
-erzählen? Es ist nichts geschehen. Es ist etwas Ungeheures
-geschehen. Ich trage bis heute die ganze
-Last deines verbrauchten Lebens in mir.
-</p>
-
-<p>
-Ich sehe deine weißen, mörderischen Hände. Wenn
-es auch dunkel ist. Warum hast du niemals Leberblümchen
-mit ihnen gepflückt oder Primeln. Stiefmütterchen, die
-zwischen den Bahnschwellen liegen. Warum bist du
-denn immer hinter den langweiligen Bahnschranken
-stehen geblieben und niemals mitgefahren in federnden
-Kissen. Deine Hände sind auf den weiß gestrichenen
-Schranken gelegen. Noch als du ein kleiner Junge
-warst und hinauf greifen mußtest. Sie haben sich nicht
-getraut, eure Kaninchen zu erwürgen. Obwohl sie es
-so gerne getan hätten. O, du hättest es tun
-sollen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Aber das Weiße in Mutters Augen ist zerbrochen.
-Ich weiß es.
-</p>
-
-<p>
-Ich weiß jetzt alles. Und ich fühle den Zorn, der
-deshalb in dir tobt. Und die blutlechzende Freude, mit
-der du mich wiederkommen siehst. Denn ich bin wiedergekommen.
-</p>
-
-<p>
-Weil ich deine feigen Nächte kenne. Deine
-Phiolen &ndash;
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
-Er war aufgesprungen und stand vor ihr, so groß
-und dunkel, daß die Dämmerung bleich werden mußte
-und verdrängt.
-</p>
-
-<p>
-Da sank sie in sich zusammen: &ndash; Ich liebe deine
-Hände. Ich liebe deine Minerale. Ich liebe dein Gift &ndash;
-dich &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Er beugte sich über sie, tief, erdrückend.
-</p>
-
-<p>
-Sie bäumte sich auf. Und fühlte seine kampfbereiten
-Muskeln.
-</p>
-
-<p>
-Er keuchte: &ndash; und &ndash;
-</p>
-
-<p>
-Sie neigte den Kopf: &ndash; Ich habe mich ergeben ...
-</p>
-
-<p>
-Als sie wieder aufschaute stand er in einer Fensternische,
-bleicher als die Dämmerung. Und das Zimmer
-war weich geworden und willenlos ausdehnbar. Ohne
-Kampfkraft.
-</p>
-
-<p>
-Ruth stand auf und lächelte: &ndash; Ich glaube, jetzt
-haben wir einander nichts mehr zu sagen.
-</p>
-
-<p>
-Und sie ging durch die nachtschweren Gassen,
-sich badend in dem blütenschwangeren Regen des Mai.
-</p>
-
-<div class="trnote chapter">
-<p class="transnote">
-Anmerkungen zur Transkription
-</p>
-
-<p>
-Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
-Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
-</p>
-
-
-
-<ul>
-
-<li>
-... Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt<span class="underline">.</span> ...<br />
-... Wer hat ihr jetzt eine Maschine in den Kopf gesetzt<a href="#corr-5"><span class="underline">?</span></a> ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... mit <span class="underline">licht gepeinigten</span> Augen, grell, schreiend grell, laut. ...<br />
-... mit <a href="#corr-6"><span class="underline">lichtgepeinigten</span></a> Augen, grell, schreiend grell, laut. ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... hat eine <span class="underline">wohlgefühlte</span> Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb, ...<br />
-... hat eine <a href="#corr-9"><span class="underline">wohlgefüllte</span></a> Geldbörse in der Tasche. Kupfergelb, ...<br />
-</li>
-
-<li>
-... soll<span class="underline">.</span> Mutter sah sie erstaunt an. &ndash; Ja, ich kann doch nicht ...<br />
-... soll<a href="#corr-22"><span class="underline">?</span></a> Mutter sah sie erstaunt an. &ndash; Ja, ich kann doch nicht ...<br />
-</li>
-</ul>
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Die Vergiftung, by Maria Lazar
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE VERGIFTUNG ***
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-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
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-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
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-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
-www.gutenberg.org
-
-
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-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
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-volunteers and employees are scattered throughout numerous
-locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
-Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
-date contact information can be found at the Foundation's web site and
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