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-The Project Gutenberg eBook of Meine Reise um die Welt. Zweite Abteilung,
-by Mark Twain
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Meine Reise um die Welt. Zweite Abteilung
-
-Author: Mark Twain
-
-Release Date: November 5, 2021 [eBook #66673]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at
- https://www.pgdp.net
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEINE REISE UM DIE WELT. ZWEITE
-ABTEILUNG ***
-
-
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-
- Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter oder
- unterstrichener Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua
- gesetzter Text ist ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so
- dargestellt=.
-
- Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
- Buches.
-
-
-
-
- Mark Twains
-
- Humoristische Schriften
-
- Neue Folge. 4. Band
-
-
-
-
- Meine
- Reise um die Welt
-
- Von
-
- Mark Twain
-
- Autorisiert
-
- Zweite Abteilung
-
- Inhalt:
-
- Indien. -- Südafrika.
-
- [Illustration]
-
- Stuttgart
- Verlag von Robert Lutz
- 1903.
-
-
-
-
-Alle Rechte vorbehalten.
-
-
-Druck von A. Bonz’ Erben in Stuttgart.
-
-
-
-
-Inhalt der 2. Abteilung.
-
-
-_Indien._
-
-Kapitel 1--7. Seite 7--103.
-
-Auf der ›Oceana‹ nach Ceylon. -- Colombo. -- Trachten und Kleider.
--- Bombay. -- Ein indisches Hotel. -- Die indische Krähe. --
-Lohnverhältnisse. -- Manuel und Satan. -- Der Besuch des Gottes. --
-Beim Fürsten des Palitanastaats. -- Die Türme des Schweigens. -- Eine
-Dschaina-Gesandtschaft. -- Allerlei Hautfarbe. -- Eine Hindu-Hochzeit.
--- Im Bahnhof und auf der Eisenbahn. -- Beim Gaikowar von Baroda.
-
-Kapitel 8--18. Seite 104--256.
-
-Die Thugs. -- Von Bombay nach Allahabad. -- Die Suttis. -- Major
-Sleeman und die indische Witwe. -- ›Pyjamas‹. -- Indische Dörfer.
--- Der geduldige Hindu. -- Die Messe von Allahabad. -- Ein Bungalow
-in Benares. -- Indische Religionen. -- Wegweiser für die Pilger in
-Benares. -- Das Gangeswasser. -- Der Verbrennungsplatz der Leichen. --
-Auf der Moschee. -- Der Gott Sri 108 und sein Schüler. -- Kalkutta und
-das Denkmal von Ochterlony. -- Nach Dardschiling im Himalaja. -- Der
-Bazar der Tibetaner. -- Eine Talfahrt auf der Draisine. -- Raubtiere
-und Schlangen. -- Der indische Aufstand. -- Tadsch Mahal. -- Weitere
-Reise durch Indien. -- Satans Entlassung. -- Der Festzug in Jeypore.
-
-_Südafrika._
-
-Kapitel 19--23. Seite 257--330.
-
-Wonne und Erholung auf einer Seefahrt in den Tropen. -- Die Insel
-Mauritius. -- Verwüstungen des Cyklone. -- Europäische Kolonien. --
-Die Delagoa-Bai. -- Im Hafen von Durban. -- Ein Trappistenkloster.
--- Politische Zustände in Transvaal. -- Die Johannesburger und
-Jamesons Einfall. -- Südafrikanische Goldfelder. -- Die Buren. -- Der
-Diamantkrater bei Kimberley. -- Große Diamanten. -- Im Bureau der De
-Beers-Gesellschaft. -- Cecil Rhodes. -- Kapstadt. -- Rückfahrt nach
-England.
-
-
-
-
-Erstes Kapitel.
-
- Vergib und vergiß! Das ist nicht schwer, wenn man’s nur
- recht versteht: Wir sollen unbequeme Pflichten vergessen
- und uns vergeben, daß wir sie vergessen haben. Bei strenger
- Übung und festem Willen gewöhnt man sich leicht daran.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-_Montag, 23. Dezember 1895._ Von Sydney nach Ceylon in dem P. und O.
-Dampfer ›Oceana‹ abgesegelt. Die Mannschaft besteht aus Laskaren, den
-ersten, die ich je gesehen habe. Sie tragen weißbaumwollene Unterröcke
-und Beinkleider, einen roten Schal als Gürtel; auf dem Kopf einen
-Strohhut ohne Krempe; gehen barfuß; Gesichtsfarbe dunkelbraun, Haar
-kurz, glatt und schwarz; schöner Schnurrbart, glänzend, seidenweich
-und tiefschwarz. Sanfte, gute Gesichter; willige, gehorsame Leute,
-auch arbeitstüchtig. Doch sagt man, daß sie in der Stunde der Gefahr
-vor Angst völlig den Kopf verlieren. Sie kommen von Bombay und der
-benachbarten Küste.
-
-Die ›Oceana‹ ist ein großes, prächtig ausgestattetes Schiff, das
-alle Bequemlichkeit bietet; es hat geräumige Promenadendecks, große
-Zimmer und eine gut ausgewählte Offiziersbibliothek, was nicht häufig
-vorkommt ... Zu den Mahlzeiten wird man durch Hornsignale gerufen, wie
-auf Kriegsschiffen; man ist froh das schreckliche Gong einmal los zu
-sein ... Wir haben drei große Katzen an Bord, sehr leutselige Bummler,
-die sich auf dem ganzen Schiff herumtreiben; die weiße Katze folgt
-dem Proviantmeister überallhin wie ein Hund; auch ein Korb mit jungen
-Kätzchen ist da. Wenn das Schiff in den Hafen kommt, sei es in England,
-Indien oder Australien, so begibt sich der eine Kater ans Land, um zu
-sehen, wie es seinen verschiedenen Familien ergeht, und man bekommt
-ihn erst wieder zu Gesicht, wenn das Schiff im Begriff ist, die Anker
-zu lichten. Woher er das Datum der Abfahrt weiß, kann niemand sagen;
-vermutlich kommt er täglich nach dem Hafendamm und sieht sich um; wenn
-viel Gepäck an Bord geschafft wird und die Passagiere sich einfinden,
-merkt er daran, daß es auch für ihn Zeit ist, wieder das Schiff zu
-besteigen. Wenigstens glauben das die Matrosen ...
-
-_Tischgespräche_: Ein Passagier äußerte: »Meinen Sie, echter Mokka
-werde in der ganzen Welt verkauft? Denkt gar nicht daran! Sehr wenige
-Fremde, außer dem Kaiser von Rußland, bekommen in ihrem ganzen
-Leben auch nur eine Bohne davon zu sehen.« Ein anderer Mann sagte:
-»Australischer Wein hat in Australien keinen Absatz. Man schickt
-ihn nach Frankreich, von wo er als französische Sorte zurückkommt,
-dann kaufen ihn die Leute.« -- Ich habe oft behaupten hören, daß der
-französische Rotwein, welchen New York trinkt, meist in Kalifornien
-gekeltert wird. Auch erinnerte ich mich, was mir Professor S. einmal
-über Veuve Cliquot erzählt hat. Er war bei einem großen Weinhändler zu
-Besuch, dessen Wohnort nicht weit von jenem berühmten Weinberg lag, und
-sein Wirt fragte ihn, ob in Amerika viel Veuve Cliquot getrunken würde.
-
-»O ja,« erwiderte S., »außerordentlich viel.«
-
-»Kann man die Marke leicht bekommen?«
-
-»Ohne alle Schwierigkeit; sämtliche Hotels erster und zweiter Klasse
-führen sie.«
-
-»Was bezahlt man dafür?«
-
-»Je nach dem Hotel fünfzehn bis zwanzig Franken die Flasche.«
-
-»Was für ein glückliches Land! Hier an Ort und Stelle kostet sie
-mindestens hundert Franken.«
-
-»Nein!«
-
-»Doch!«
-
-»Sie glauben also, daß wir drüben bei uns nicht echten Veuve Cliquot
-trinken?«
-
-»Keine Rede. Seit Columbus’ Zeiten ist noch nicht eine einzige Flasche
-vom echten Gewächs nach Amerika gekommen. Der Weinberg, welcher es
-liefert, ist so klein, daß er nicht allzuviele Flaschen ergibt, und der
-Ertrag wird alljährlich einer einzigen Person zugeschickt -- dem Kaiser
-von Rußland. Er kauft die ganze Ernte zum voraus, mag sie klein oder
-groß sein.«
-
- * * * * *
-
-_4. Januar 1896._ Weihnachten in Melbourne, Neujahr in Adelaide.
-Wiedersehen mit den meisten Bekannten in beiden Städten ... Jetzt
-liegen wir hier in Westaustralien vor Albany im König Georgs Sund. Es
-ist ein ganz vom Land eingeschlossener Hafen oder vielmehr eine Reede
--- anscheinend sehr geräumig, aber kein tiefes Wasser. Ringsum kahle
-Felsen und zerklüftete Hügelketten. Die Schiffe kommen jetzt in Menge
-an, alles strömt nach der Goldgegend. Die Zeitungen wissen wunderbare
-Dinge zu berichten, wie sie immer im Umlauf sind, wenn neue Goldfelder
-entdeckt werden. Zum Beispiel: Ein junger Mann hatte eine Parzelle in
-Besitz genommen, von der er die Hälfte für fünf Pfund verkaufen wollte;
-aber, es fand sich kein Liebhaber. Vierzehn Tage lang harrte er aus,
-trotz Hunger und Not, dann stieß er auf eine Goldader und verkaufte die
-Grube für 10000 Pfund ... Gegen Sonnenuntergang erhob sich eine frische
-Brise, und wir lichteten den Anker. Aus der kleinen tiefen Wasserlache,
-auf der wir schwammen, führte ein schmaler, dicht mit Bojen besetzter
-Kanal ins Meer hinaus. Ich blieb auf Deck, um zu sehen, wie unser
-großes Schiff bei dem starken Wind die Durchfahrt bewerkstelligen
-werde. Auf der Kommandobrücke stand der Kapitän, ein wahrer Riese,
-neben ihm ein kleiner Lotse in prächtiger Uniform mit Goldschnüren; auf
-dem Vorderdeck ein weißer Maat, ein paar Quartiermeister und eine bunte
-Menge Laskaren, zur Arbeit gerüstet. Unser Heck war gerade auf den
-Eingang des Kanals gerichtet, das Schiff mußte also in der Wasserlache
-eine vollständige Schwenkung machen, und das war bei solchem Wind
-keine Kleinigkeit. Aber es gelang ganz prächtig mit Hilfe eines
-Klüvers. Wir wühlten zwar viel Schlamm auf, kamen aber nicht auf den
-Grund und drehten uns in der eigenen Wasserspur um -- anscheinend ein
-Ding der Unmöglichkeit. Als wir die Drehung glücklich gemacht hatten
-und der Schiffsschnabel nach dem Kanal zu stand, lag die erste Boje
-kaum noch hundert Meter vor uns. Es war mir eine Lust gewesen, das
-Manöver mit anzusehen; die übrigen Passagiere verzehrten inzwischen ihr
-Mittagbrot, meines kam der P. und O. Gesellschaft zugute ... Es zeigen
-sich noch mehr Katzen. Smythe sagt, das englische Gesetz befiehlt, auf
-der Fahrt Katzen mitzunehmen; er wußte von einem Fall, wo das Schiff
-nicht unter Segel gehen durfte, bis man sich ein paar verschafft hatte.
-Die Rechnung kam auch gleich mit: »Preis für zwei Katzen -- zwanzig
-Schillinge« ... Wir haben einen Geier an Bord mit kahlem rotem Kopf von
-seltsamer Form; am Körper hat er hier und da rote Stellen ohne Federn,
-seine großen, schwarzen Augen sind von fleischigen, brennendroten
-Rändern umgeben. Er sieht wie ein vollkommener Wüstling aus, wie ein
-gewissenloser, eigensüchtiger Räuber und Mörder. Und doch bringt der
-Vogel nichts Lebendiges um. Weshalb mag ihm die Natur nur eine so
-grimmige Außenseite gegeben haben, die gar nicht zu seinem unschuldigen
-Geschäft paßt! Er nährt sich nämlich nur von Aas, das ihm um so besser
-zusagt, je älter es ist. Trüge er ein schäbiges, schwarzes Federkleid,
-so wäre alles in Ordnung; er gliche dann einem Leichenbestatter und
-sein Aeußeres würde mit seiner Beschäftigung im Einklang stehen. Der
-Geier stammt aus der öffentlichen Menagerie von Adelaide, einer großen
-und sehr interessanten Sammlung.
-
- * * * * *
-
-_5. Januar._ Um neun Uhr morgens kamen wir am Kap Leeuwin (Löwin)
-vorüber und mußten nun, nach der ganz westlichen Fahrt längs dem
-Südrande von Australien, unsere Richtung ändern. Wir fahren in einer
-schrägen, nordwestlichen Linie nach Ceylon hinauf. Je höher wir kommen,
-um so heißer wird es, aber kühl ist es auch hier nicht gerade.
-
- * * * * *
-
-_13. Januar._ Eine unerträgliche Hitze. Der Aequator kommt immer
-näher; die Entfernung beträgt nur noch acht Grad. Da ist Ceylon!
-O, wie wunderschön! Welche tropische Pracht, welcher Reichtum
-üppigen Laubwerks! Die Hauptstadt Colombo ist ganz orientalisch und
-unaussprechlich reizend ...
-
-In unserm vornehmen Schiff kleiden sich die Passagiere zu Mittag
-um. Die schönen, buntfarbigen Toiletten der Damen passen ganz zu der
-hochfeinen Ausstattung aller Räume und dem strahlenden Glanz der
-elektrischen Beleuchtung. Auf dem stürmischen Atlantischen Ozean sieht
-man die Passagiere nie im Gesellschaftsanzug. Höchstens einen Mann,
-der sich aber nur einmal während der langen Reise blicken läßt -- am
-Abend ehe das Schiff in den Hafen kommt, wenn das Konzert stattfindet
-mit Dilettanten-Geheul und Deklamationen. Er übernimmt meist die
-Tenorpartie ... Sonderbarerweise ist an Bord viel Cricket gespielt
-worden; das Promenadendeck wurde mit Netzen überspannt, so daß der Ball
-nicht ins Wasser fallen konnte. Das Spiel nahm einen guten Fortgang und
-gewährte die nötige An- und Aufregung ... Jetzt sagen wir der ›Oceana‹
-Lebewohl.
-
- * * * * *
-
-_14. Januar._ Hotel Bristol. Der Diener Namens Brampy ist ein flinker,
-sanfter, lachender, brauner Singhalese mit schönem, glänzend schwarzem
-Haar. Er trägt es wie ein Mädchen zurückgekämmt, in einen Knoten
-geschlungen und mit dem Schildpattkamm aufgesteckt. Brampy ist schlank
-und hübsch von Gestalt. Unter der Jacke hat er ein weißes, baumwollenes
-Gewand an, das ihm ohne Gürtel vom Hals bis zu den Füßen herabfällt.
-Weder er noch sein Anzug hat irgend etwas Männliches; es ist eine
-ordentliche Verlegenheit sich vor ihm auszukleiden.
-
-Wir fuhren nach dem Markt und benutzten zum erstenmal den japanischen
-Jinrickscha, einen leichten Karren, den ein Eingeborener zieht.
-Anfänglich geht die Fahrt gut von statten, aber für den Mann ist es
-eine sauere Arbeit, er ist nicht stark genug. Nach der ersten halben
-Stunde hört das Vergnügen auf, der Mann tut einem leid; man hat Mitleid
-mit ihm, wie mit einem müden Pferde und kann an nichts anderes mehr
-denken. Solche Rickschas sind in Menge vorhanden, und die Taxe ist
-unglaublich billig.
-
-Vor Jahren war ich in Kairo; da ist man im Orient -- aber doch nicht
-ganz, weil man eine unbestimmte Empfindung hat, daß noch etwas mangelt.
-In Ceylon ist das anders, dort fehlt nichts mehr. Der Orient und die
-Tropenwelt finden sich da in größter Vollkommenheit vereinigt und unser
-natürliches Gefühl sagt uns, daß diese zwei zusammen gehören. Nein, man
-vermißte gar nichts. Alle Kostüme waren echt, desgleichen die schwarzen
-und braunen Menschen in ihrer unbewußten Nacktheit. Die Gaukler waren
-da, mit dem unvermeidlichen Korb, den Schlangen, der Manguste und
-allen Vorkehrungen, um aus dem Samenkorn einen Baum mit Laubwerk und
-reifen Früchten emporwachsen zu lassen. Ueberall sah man Blumen und
-Pflanzen, die man zwar aus Abbildungen kannte, aber in Wirklichkeit
-nie erblickt hatte, weil diese seltenen, wunderbaren und köstlichen
-Gewächse nur in der heißen Zone, am Aequator, gedeihen. Auch wußte man,
-daß in der nächsten Umgegend die tödlichen Giftschlangen und grimmigen
-Raubtiere hausen, samt den Affen und wilden Elefanten. In der Luft lag
-eine Schwüle, wie sie nur in den Tropen vorkommt, eine erstickende
-Hitze, von unbekannten Blumendüften geschwängert; dann verbreitete
-sich plötzlich eine purpurne Finsternis, aus welcher grelle Blitze
-zuckten; der Donner krachte, der Regen goß in Strömen -- gleich darauf
-lachte wieder alles im Sonnenschein. Und weit ab, im undurchdringlichen
-Dschungel und dem fernen Gebirge lagen die verfallenen Städte und alten
-Tempelruinen als geheimnisvolle Ueberbleibsel von der Herrlichkeit
-vergessener Tage und einer verschwundenen Menschenrasse. Auch dies
-Bewußtsein war unentbehrlich, wenn es einem wirklich orientalisch zu
-Mute werden sollte, denn dabei darf vor allem der Eindruck des Düstern,
-Rätselhaften und Altertümlichen nicht fehlen.
-
-Die Fahrt durch die Stadt und am Seestrande entlang war wie ein
-Traumbild von tropischem Glanz, Blütenpracht und orientalischem
-Farbenreichtum. Die zu Fuß einherwandelnden Gruppen von Männern,
-Frauen, Knaben, Mädchen und kleinen Kindern glühten wie Feuerflammen
-in ihrer strahlenden Gewandung. Alle Farben des Regenbogens und
-leuchtender Blitze mischten sich hier aufs wunderbarste und
-verschmolzen zur wohltuendsten Harmonie. Nirgends fühlte sich das Auge
-verletzt durch zu grelle Töne, keine Farbe stach unangenehm von der
-andern ab; auch wenn verschiedene Gruppen in Berührung kamen, wurde
-die wunderbare Farbenwirkung nicht im mindesten gestört. Die Kleider
-waren aus dünnem, zartem, sich weich anschmiegendem Seidenstoff, meist
-in ganz bestimmten, satten Farben: ein prächtiges Grün, ein prächtiges
-Blau, ein prächtiges Gelb, ein prächtiges Lila, ein prächtiges Rubinrot
-von leuchtendem Glanz -- so zogen sie in zahllosem Gewimmel, in Massen,
-scharenweise vorüber, glühend, blitzend, strahlend -- dazwischen alle
-Augenblicke ein so blendendes Feuerrot, daß einem das Herz im Leibe
-lachte und man den Atem anhielt vor Staunen. Und wie anmutig waren
-diese Trachten! Oft bestand der ganze Anzug einer Frau nur in der
-Schärpe, die sie um den Kopf und Leib gewunden hatte, oder der Mann
-hatte einen Turban auf und ein paar Lappen nachlässig um die Hüften
-geschwungen. Bei beiden kam die dunkle glänzende Haut dazwischen
-ungehindert zum Vorschein, und immer erfreute der Anblick der Gestalten
-Auge und Herz.
-
-Noch heutigen Tages sehe ich dies köstliche Panorama in seiner
-überschwenglichen Farbenfülle und dem Schmelz der bunten Schattierungen
-vor mir; die geschmeidigen, halb unbekleideten Gestalten, die schönen
-braunen Gesichter, die anmutigen Stellungen und freien, zwanglosen
-Bewegungen, bei denen von Förmlichkeit und Steifheit keine Rede war.
-
-Aber ach, da kam ein schriller Mißklang in diesen paradiesischen
-Zaubertraum: Aus der Tür einer Missionsschule schritten paarweise
-sechzehn kleine, fromme, gesetzte, schwarze Christenmädchen in
-europäischem Anzug. Ganz so ausstaffiert hätte man sie an einem
-Sommersonntag in jedem englischen oder amerikanischen Dorfe sehen
-können. Wie namenlos häßlich waren diese Kleider! Abscheulich,
-barbarisch, geschmacklos, unanmutig, alle Gefühle verletzend! Ich
-blickte auf die Kleider meiner Damen: sie glichen in vergrößertem
-Maßstab genau den greulichen Verunstaltungen, mit denen man jene
-armen, kleinen, mißhandelten Geschöpfe quälte -- ich schämte mich, mit
-Frau und Tochter auf der Straße zu gehen. Nun sah ich meine eigene
-Kleidung an und schämte mich vor mir selber.
-
-Aber was hilft es -- wir müssen uns darein ergeben unsere Kleider zu
-tragen wie sie sind und können ihre Daseinsberechtigung nicht leugnen.
-Freilich dienen sie dazu, gerade das auszuposaunen, was wir verbergen
-möchten -- unsere Unaufrichtigkeit und versteckte Eitelkeit. Wir
-heucheln für Anmut, Wohlgestalt und Farbenglanz eine Geringschätzung,
-die wir nicht haben, und ziehen die häßlichen Kleider an, um diese
-Lüge glaubhaft zu machen und weiter zu verbreiten. Doch täuschen
-wir damit unsere Nächsten nicht, und wenn wir nach Ceylon kommen,
-werden wir alsbald inne, daß wir uns nicht einmal selbst zu täuschen
-vermögen. Ja, gestehen wir es nur: wir lieben leuchtende Farben
-und anmutige Trachten, und wenn wir sie zu Hause bei einem Festzug
-sehen können, achten wir weder Regen noch Sturm und beneiden die
-geschmückten Teilnehmer. Wir gehen ins Theater, staunen die Kostüme
-an und sind betrübt, daß wir uns nicht auch so kleiden können. Beehrt
-uns der König mit einer Einladung zum Hofball, so betrachten wir
-die prächtigen Uniformen und strahlenden Ordenszeichen mit wahrem
-Hochgenuß. Wird uns gestattet, einer kaiserlichen Cour beizuwohnen,
-so schließen wir uns vorher zu Hause ein, stolzieren stundenlang in
-unserm schönen Gala-Anzug einher, bewundern uns im Spiegel und fühlen
-uns unaussprechlich glücklich. Auch jeder Beamte im Stabe jedes
-Gouverneurs im demokratischen Amerika macht es ebenso mit seiner
-neuen Staatsuniform, und wenn man nicht aufpaßt, um ihn rechtzeitig
-zu hindern, läßt er sich gewiß auch darin photographieren. So oft ich
-die Diener des Lord-Mayors sehe, fühle ich mich unzufrieden mit meinem
-Lose. Kurz und gut: unsere Kleider sind seit hundert Jahren nichts als
-Lug und Trug gewesen. Sie sind ebenso unwahr wie unschön und vollkommen
-geeignet unser inneres Scheinwesen und moralisches Verderben ins rechte
-Licht zu stellen.
-
-Der kleine braune Junge, den ich zuletzt unter den sich drängenden
-Scharen von Colombo bemerkte, hatte nichts an, außer einem um die
-Hüften geschlungenen Bindfaden, aber in meiner Erinnerung bildet der
-ehrliche Mangel seiner Bekleidung einen wohltuenden Gegensatz zu der
-widerwärtig scheinheiligen Vermummung, in welche man die farbigen
-Dämchen aus der Sonntagsschule gesteckt hatte.
-
-
-
-
-Zweites Kapitel.
-
- Im Wohlstand kann man an seinen Grundsätzen am besten
- festhalten.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-_14. Januar abends._ -- Die ›Rosetta‹, mit der wir absegeln, ist ein
-schlechtes altes Schiff, das man versichern und untergehen lassen
-sollte. Auch hier, wie auf der ›Oceana‹, hält man die Mittagstoilette
-für eine Art frommer Pflicht. Aber dergleichen vornehme Formen stehen
-in grellem Gegensatz zu der Aermlichkeit der schäbigen Ausstattung des
-Fahrzeugs ... Wenn man zum Nachmittagstee eine Limonenscheibe haben
-möchte, muß man erst am Schenktisch eine Anweisung unterzeichnen. Und
-dabei kostet das Faß Limonen vierzehn Cents.
-
- * * * * *
-
-_18. Januar._ Nachdem wir das Arabische Meer durchschifft haben, sind
-wir jetzt dicht an Bombay, das wir noch heute abend erreichen sollen.
-
- * * * * *
-
-_20. Januar._ Bombay! -- wie ein Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹,
-entzückend, verwirrend, bezaubernd! Es ist eine ungeheure Stadt, mit
-etwa einer Million Einwohnern, meist braune Leute; die wenigen Weißen,
-die man zerstreut unter der Masse der Bevölkerung findet, kommen gegen
-alle die dunkeln Gesichter kaum in Betracht. Hier ist es Winter: ein
-himmlisches Juniwetter und frisches, köstliches Sommerlaub. Im Schatten
-der großen prächtigen Baumreihe dem Hotel gegenüber sitzen malerische
-Gruppen von Eingeborenen beiderlei Geschlechts; der Gaukler im Turban
-mit den Schlangen und Zauberkünsten ist natürlich dabei. Den ganzen
-Tag sieht man die verschiedenartigsten Trachten zu Fuß und zu Wagen
-vorüberziehen; es ist, als könnte man nie müde werden, diese endlosen
-Wandelbilder, dies glänzende und stets wechselnde Schauspiel zu
-betrachten ... Die fest eingekeilte Masse der Eingeborenen im großen
-Bazar bot einen wunderbaren Anblick; es war ein Meer von buntfarbigen
-Turbans und faltigen Gewändern, zu dem die fremdartigen, prunkvollen
-indischen Bauwerke gerade den richtigen Hintergrund bildeten. Bei
-Sonnenuntergang folgte ein anderes Schauspiel: eine Fahrt am Seestrande
-bis zur Malabar-Spitze, wo Lord Sandhurst, der Gouverneur der
-Präsidentschaft Bombay, wohnt. Auf der ersten Hälfte des Weges, den
-alle Welt fährt, steht ein schöner Parsenpalast neben dem andern. Die
-Privatequipagen der reichen Engländer und vornehmen Eingeborenen haben
-außer dem Kutscher noch drei Bediente in wundervollen orientalischen
-Livreen. Zwei davon, prächtig anzuschauen, stehen als beturbante
-Statuen hintenauf. Manchmal nehmen die öffentlichen Fuhrwerke
-dergleichen überschüssige Diener mit: einen zum Fahren, einen um neben
-dem Kutscher zu sitzen und ihm zuzusehen, und einen, der hinten auf
-dem Tritt steht und schreit, wenn jemand im Wege ist; wenn niemand da
-ist, schreit er auch, um nicht aus der Uebung zu kommen. Das alles
-bringt Leben und Bewegung mit und erhöht den Gesamteindruck von Hast,
-Schnelligkeit und Verwirrung.
-
-In der Nähe der ›Läster-Spitze‹ -- ein sehr bezeichnender Name -- sind
-Felsen, auf denen man bequem sitzen kann, um nach der einen Seite
-hin den herrlichen Blick auf das Meer zu genießen und auf der andern
-die Menge der schön geschmückten Wagen bei der Hin- oder Rückfahrt
-vorbeirasseln und -jagen zu sehen; dort haben die Frauen wohlhabender
-Parsen in Gruppen Platz genommen, wahre Blumenbeete voll Farbenglanz,
-ein unwiderstehlich fesselndes Bild. Trab, trab, trab, kommt es die
-Straße entlang, einzeln, zu zweien, in Gruppen und Abteilungen --
-das sind Arbeiterscharen, Männer und Frauen, aber nicht gekleidet
-wie bei uns. Der Mann, meist eine große, stolze Athletengestalt, hat
-außer seinem Lendentuch nicht einen Fetzen an, seine Gesichtsfarbe ist
-dunkelbraun, auf der glatten Haut, die wie Atlas glänzt, treten die
-Muskeln in Wülsten hervor, als ob Eier darunter lägen. Die Frau ist
-gewöhnlich schlank und wohlgebildet, kerzengerade wie ein Blitzableiter
-und trägt nur _ein_ Kleidungsstück -- einen langen, hellfarbigen
-Stoffstreifen, den sie um Kopf und Leib windet, fast bis zu den Knieen
-herunter, und der sich so fest wie ihre eigene Haut an den Körper
-schmiegt. Füße und Beine sind nackt, desgleichen die Arme, bis auf
-die Gehänge von losen, verschlungenen Silberringen an den Armen und
-Fußgelenken. Auch in der Nase trägt sie Schmuck und glänzende Ringe an
-den Fußzehen. Beim Schlafengehen wird sie ihr Geschmeide wohl ablegen;
-mehr kann sie nicht ausziehen, sonst würde sie sich erkälten. Man sieht
-sie meist mit einem großen, schön geformten Wasserkrug von blankem
-Metall, den sie mit erhobenem Arm auf dem Kopfe festhält. Aufrecht,
-würdevoll und doch mit leichtem, anmutigem Gang kommt sie daher;
-ihr gebogener Arm und der blanke Krug erhöhen noch die malerische
-Wirkung und machen sie zu einer wahren Zierde für die Straße. Unsere
-Arbeiterfrauen können es ihr darin auch nicht entfernt gleichtun.
-
-Farben, wohin man blickt, entzückende, bezaubernde Farben, rings umher
-und längs der gewundenen Straße an der großen, bunt schillernden Bucht,
-bis man das Haus des Gouverneurs erreicht. Dort stehen, den Turban auf
-dem Kopf, die großen Chuprassies, die eingeborenen Diener in ihren
-feuerroten Gewändern an der Eingangspforte gruppiert und bilden den
-theatralischen Schluß des prächtigen Schauspiels. O, wäre ich doch ein
-Chuprassy!
-
-Ja, das ist Indien! Das Land der Romantik und der Träume, wo
-fabelhafter Reichtum und fabelhafte Armut wohnt, das Land der Pracht
-und Herrlichkeit, der Lumpen, der Paläste und elenden Hütten, der Pest
-und Hungersnot, der Schutzgeister und Riesen, wo Aladdins Lampe, Tiger,
-Elefanten, die Kobra, der Dschungel zu finden sind, wo hunderterlei
-Völker in hunderterlei Sprachen reden, das tausend Religionen und zwei
-Millionen Götter hat. Indien ist die Wiege des Menschengeschlechts,
-der Geburtsort der menschlichen Sprache, die Mutter der Geschichte,
-die Großmutter der Sage, die Urgroßmutter der Ueberlieferung; was
-für andere Völker graues Altertum ist, zählt zu Indiens jüngster
-Vergangenheit. Es ist das einzige Land unter der Sonne, das für den
-Fürsten und den Bettler, den Gebildeten und den Unwissenden, den Weisen
-und den Toren, den Sklaven und den Freien den gleichen, unzerstörbaren
-Reiz hat. Alle Menschen möchten es sehen, und wer es einmal auch nur
-flüchtig geschaut hat, würde die Wonne dieses Anblicks nicht für alles
-Schaugepränge eintauschen, das der gesamte übrige Erdball zu bieten
-vermag.
-
-Selbst jetzt, nach Ablauf eines Jahres, ist mir die sinnverwirrende
-Freude jener Tage in Bombay noch vollkommen gegenwärtig, und ich hoffe,
-sie wird mich nie verlassen. Es war alles ganz neu und ungewohnt; auch
-warteten die Ueberraschungen nicht erst bis zum nächsten Morgen, sie
-waren da, sobald wir das Hotel betraten. In den Hallen und Vorsälen
-wimmelte es von braunen Eingeborenen mit Turban, Fez oder gestickter
-Mütze, die in baumwollenem Gewand barfuß durcheinander liefen oder
-ruhig auf dem Boden saßen und hockten. Einige schwatzten mit großem
-Nachdruck, andere saßen still und träumerisch da; im Speisezimmer stand
-hinter dem Stuhl jedes Gastes sein farbiger Aufwärter, angekleidet wie
-in einem Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹.
-
-Unsere Zimmer waren nach vorn hinaus in einem oberen Stock. Ein
-Weißer -- es war ein handfester Deutscher -- führte uns hinauf und
-nahm drei Hindus mit, um alles in Ordnung zu bringen. Etwa vierzehn
-andere folgten in langem Zuge mit dem Handgepäck; jeder trug nicht mehr
-als ein Stück, was es auch sein mochte. Ein starker Eingeborener trug
-meinen Ueberzieher, ein anderer einen Sonnenschirm, der dritte eine
-Schachtel Zigarren, der vierte einen Roman, und der letzte kam nur
-noch mit einem Fächer beladen daher. Sie taten das alles mit großem
-Ernst und Eifer; von vorn bis hinten war in dem ganzen Zuge auf keinem
-Gesicht ein Lächeln zu sehen. Jeder einzelne wartete, ruhig, geduldig
-und ohne die geringste Eile zu verraten, bis er ein Kupferstück
-erhielt, dann verneigte er sich ehrfurchtsvoll, legte die Finger an die
-Stirn und ging seiner Wege. Diese Leute scheinen sanften und milden
-Gemüts zu sein; es lag etwas Rührendes in ihrem Verhalten, das zugleich
-für sie einnahm.
-
-Eine große Glastür führte zum Balkon hinaus. Sie sollte geputzt oder
-verriegelt werden -- was weiß ich -- und ein Hindu kniete auf dem
-Boden, um die Arbeit zu tun. Anscheinend machte er seine Sache ganz
-ordentlich, aber das mußte wohl nicht der Fall sein, denn die Miene des
-Deutschen verriet Unzufriedenheit, und ohne ein Wort der Erklärung
-schlug er den Hindu plötzlich derb ins Gesicht und sagte ihm dann erst,
-was er falsch gemacht hatte. Der Diener nahm die Züchtigung demütig
-und schweigend hin; auch zeigte weder sein Gesichtsausdruck noch
-sein Wesen überhaupt den geringsten Groll. Mir schien es eine wahre
-Schande, so etwas in unserer Gegenwart zu tun; seit fünfzig Jahren
-hatte ich solchen Auftritt nicht erlebt. Urplötzlich fühlte ich mich
-in meine Knabenzeit zurückversetzt und mir fiel ein, daß dies ja die
-gewöhnliche Art sei, wie man einem Sklaven seine Wünsche begreiflich
-machte -- eine Tatsache, die mir ganz entfallen war. Damals hatte ich
-diese Methode richtig und natürlich gefunden, denn ich war von klein
-auf daran gewöhnt und glaubte, man mache das nirgends anders; aber ich
-erinnere mich recht gut, daß mir bei solchen stumm ertragenen Schlägen
-der Empfänger stets leid tat und ich mich für den Strafenden schämte.
-Mein Vater war ein edler, gütiger Mann, sehr ernst und enthaltsam, von
-strengster Gerechtigkeit und Redlichkeit, ein rechtschaffener Charakter
-durch und durch. Zwar war er nicht Mitglied irgend einer Kirche, sprach
-auch nie von religiösen Dingen und nahm an den frommen Freuden seiner
-presbyterianischen Familie keinen Anteil, doch schien er das nicht als
-Entbehrung zu empfinden. Er hat mich, so lange er lebte, nur zweimal
-körperlich gezüchtigt und gar nicht hart. Einmal, weil ich ihn belogen
-hatte -- was mich höchlich überraschte und mir sein gutes Zutrauen
-bewies, denn es war keineswegs mein erster Versuch gewesen. Mich schlug
-er, wie gesagt, nur zweimal und seine anderen Kinder gar nicht; aber
-unsern kleinen gutmütigen Sklaven Lewis ohrfeigte er häufig für die
-geringfügigste Ungeschicklichkeit oder ein kleines Versehen. Mein Vater
-hatte von Geburt an unter Sklaven gelebt, und wenn er sie schlug, so
-tat er das nach damaliger Sitte, gegen seine Natur. -- Als ich zehn
-Jahre alt war, sah ich einmal, wie ein Mann einem Sklaven im Zorn ein
-Stück Eisenerz an den Kopf warf, weil er etwas ungeschickt gemacht
-hatte -- als ob das ein Verbrechen wäre. Es sprang von seinem Schädel
-ab, und der Mensch fiel hin, ohne einen Laut von sich zu geben. Nach
-einer Stunde war er tot. -- Ich wußte wohl, daß der Herr das Recht
-hatte, seinen Sklaven zu töten, wenn er wollte, aber doch kam es mir
-erbärmlich vor und eigentlich unstatthaft, wiewohl ich nicht gescheit
-genug gewesen wäre, um zu erklären, was unrecht daran sei, wenn man
-mich gefragt hätte. Niemand in unserm Dorf billigte jene Mordtat, aber
-es war natürlich nicht viel davon die Rede.
-
-Merkwürdig, wie der Gedanke Raum und Zeit überspringen kann! Eine
-Sekunde lang war mein ganzes Ich in dem kleinen Dorf von Missouri
-auf der andern Halbkugel der Erde; jene vergessenen Bilder von vor
-fünfzig Jahren standen mir lebendig vor Augen, und alles übrige versank
-gänzlich vor meinem Bewußtsein. In der nächsten Sekunde war ich schon
-wieder in Bombay, während die Backe des knieenden Dieners noch von der
-Ohrfeige brannte. Bis zur Knabenzeit -- fünfzig Jahre -- zurück ins
-Alter -- abermals fünfzig, und ein Flug um den ganzen Erdball -- alles
-in einem Zeitraum von zwei Sekunden!
-
-Verschiedene Eingeborene -- ich weiß nicht mehr wie viele -- begaben
-sich nun in mein Schlafzimmer, brachten alles in Ordnung und
-befestigten das Moskitonetz. Dann legte ich mich zu Bett, um meine
-Erkältung rascher los zu werden. Es war etwa neun Uhr abends und an
-Ruhe gar nicht zu denken. Drei Stunden lang dauerte das Geschrei und
-Gekreisch der Eingeborenen in der Vorhalle noch ununterbrochen fort,
-auch das sammetweiche Getrappel ihrer behenden, nackten Füße hörte
-nicht auf. Nein, dieser Lärm! Alle Bestellungen und Botschaften wurden
-drei Treppen hinunter geschrieen; es klang wie Aufruhr, Meuterei,
-Revolution. Auch noch andere Geräusche kamen hinzu: von Zeit zu Zeit
-ein furchtbarer Krach, als ob Dächer einfielen, Fenster zerbrächen,
-Leute ermordet würden. Dann hörte man die Krähen krächzen, hohnlachen,
-fluchen; Kanarienvögel kreischten, Affen schimpften, Papageien
-plapperten, zuletzt erscholl wieder ein teuflisches Gelächter, gefolgt
-von Dynamitexplosionen. Bis Mitternacht hatte ich alle nur erdenklichen
-Schreckschüsse über mich ergehen lassen und wußte nun, daß mich nichts
-mehr überraschen und stören konnte -- ich war auf alles gefaßt. Da trat
-plötzlich Ruhe ein -- eine tiefe, feierliche Stille, die bis fünf Uhr
-morgens dauerte.
-
-Dann ging der Spektakel aber von neuem los. Und wer hat ihn angefangen?
-Die indische Krähe, dieser Vogel aller Vögel. Mit der Zeit lernte ich
-ihn näher kennen und war dann ganz in ihn vernarrt. Ich glaube, er ist
-der durchtriebenste Spitzbube, der Federn trägt und dabei so lustig
-und selbstzufrieden wie kein anderer. Ein solcher Vogel konnte nicht
-mit einemmal zu dem geschaffen werden, was er ist: unvordenkliche
-Zeitalter haben an seiner Entwicklung gearbeitet. Er ist öfter
-wiedergeboren als der Gott Schiwa und hat bei jeder Seelenwanderung
-etwas zurückbehalten und es seinem Wesen einverleibt. Im Verlauf seines
-stufenweisen Fortschritts, seines glorreichen Vorwärtsschreitens zu
-schließlicher Vollendung, ist er ein Spieler gewesen, ein zuchtloser
-Priester, ein Komödiant, ein zänkisches Weib, ein Schuft, ein Spötter,
-ein Lügner, ein Dieb, ein Spion, ein Angeber, ein käuflicher Politiker,
-ein Schwindler, ein berufsmäßiger Heuchler, ein bezahlter Patriot, auch
-Reformator, Vorleser, Anwalt, Verschwörer, Rebell, Royalist, Demokrat;
-er hat sich überall eingemischt, sich unehrerbietig und zudringlich
-benommen, hat ein gottloses, sündhaftes Leben geführt, bloß weil es ihm
-das größte Gaudium machte. Und das Ergebnis der stetigen Ansammlung
-aller verwerflichsten Eigenschaften ist merkwürdigerweise, daß er
-weder Sorge, noch Kummer, noch Reue kennt; sein Leben ist eine einzige
-Kette von Wonne und Glückseligkeit, und er wird seiner Todesstunde
-ruhig entgegengehen, da er weiß, daß er vielleicht als Schriftsteller
-oder dergleichen wiedergeboren wird, um sich dann womöglich als noch
-größerer Schwerenöter behaglicher zu fühlen denn je zuvor.
-
-Wenn die Krähe mit großen Schritten breitbeinig einherkommt, dann
-seitlich ein paar kräftige Hopser macht, eine unverschämte, pfiffige
-Miene aufsetzt und den Kopf schlau auf die Seite legt, erinnert sie an
-die amerikanische Amsel. Doch ist sie viel größer und lange nicht so
-schlank und wohlgebaut; auch ihr schäbiger grau und schwarzer Rock hat
-natürlich nicht den herrlichen Metallglanz, in dem das Federkleid der
-Amsel prangt. Die Krähe ist ein Vogel, der nicht schweigen kann; er
-zankt, schwatzt, lacht, schnarrt, spottet und schimpft beständig. Seine
-Ansicht äußert er über alles, auch wenn es ihn gar nichts angeht, mit
-größter Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit. Er nimmt sich nicht erst
-Zeit nachzudenken, weil er keine Gelegenheit vorbeigehen lassen will,
-ohne seine Meinung zum Besten zu geben, selbst wenn es sich gerade um
-etwas ganz anderes handelt.
-
-Ich glaube, die indische Krähe hat keinen Feind unter den Menschen. Sie
-wird weder von Weißen noch Mohammedanern belästigt, und der Hindu tötet
-schon aus religiösen Rücksichten überhaupt kein Geschöpf; er schont das
-Leben der Schlangen, Tiger, Flöhe und Ratten. Wenn ich an einem Ende
-auf dem Balkon saß, pflegten sich die Krähen auf dem Gitter am andern
-Ende zu versammeln und ihre Bemerkungen über mich zu machen; nach und
-nach flogen sie näher herzu, bis ich sie fast mit der Hand erreichen
-konnte. Da saßen sie und unterhielten sich ohne Scham und Scheu über
-meine Kleider, mein Haar, meine Gesichtsfarbe und vermutlich auch über
-meinen Charakter, Beruf und politischen Standpunkt, und wie ich nach
-Indien gekommen sei, was ich schon alles getan hätte, wie viele Tage
-mir zur Verfügung ständen, warum ich noch nicht an den Galgen gekommen
-wäre, ob es mir noch lange glücken würde, dem Strick zu entgehen, ob
-es da, wo ich herkäme, noch mehr Leute meines Schlages gäbe, und so
-immer fort, bis ich es vor Verlegenheit nicht länger aushalten konnte
-und sie wegscheuchte. Darauf kreisten sie eine Weile in der Luft, unter
-Geschrei, Gespött und Hohngelächter, kamen dann wieder auf das Gitter
-geflogen und fingen die ganze Geschichte noch einmal von vorne an.
-
-In wahrhaft überlästiger Weise zeigten sie aber ihre gesellige Neigung,
-wenn es etwas zu essen gab. Ohne daß man ihnen erst zuzureden brauchte,
-kamen sie auf den Tisch geflogen und halfen mir mein Frühstück
-verzehren. Als ich einmal ins Nebenzimmer ging und sie allein ließ,
-schleppten sie alles fort, was sie nur tragen konnten, und obendrein
-lauter für sie ganz nutzlose Dinge. Man macht sich keinen Begriff
-davon, in welcher Unzahl sie in Indien vorkommen, und der Lärm, den sie
-verursachen, ist nicht zu beschreiben. Ich glaube, sie kosten dem Land
-mehr als die Regierung, und das ist keine Kleinigkeit. Doch leisten sie
-auch etwas dafür, und zwar durch ihre bloße Gegenwart. Wenn man ihre
-lustige Stimme nicht mehr zu hören bekäme, so würde die ganze Gegend
-einen trübseligen Anstrich erhalten.
-
-
-
-
-Drittes Kapitel.
-
- Durch Übung lernt man leicht Unglück ertragen -- das
- Unglück anderer Leute, meine ich.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-In unsicherm Glanz, wie das Mondlicht am Rande des Horizonts
-erscheint, so tauchten die alten Träume von Indiens Herrlichkeit
-allmählich wieder in meinem Bewußtsein auf. Das Bild, das mir in den
-Knabenjahren lebendig vor der Seele gestanden hatte, als ich noch in
-den Märchen des Orients schwelgte, erwachte wieder mit tausend längst
-vergessenen Einzelheiten. Zum Beispiel, die barbarische Pracht und die
-großartigen, volltönenden Fürstentitel, bei denen einem das Wasser im
-Munde zusammenläuft: Nizam von Hyderabad, Maharadscha von Travancore,
-Nabob von Jubbelpore, Begum von Bhopal, Nawab von Mysore, Raja von
-Gulnare, Abkoond von Swat, Rao von Rohilkund, Gaikawar von Baroda.
-Namen wachsen überhaupt dort im Lande wie Pilze. Der große Gott Wischnu
-hat ihrer hundertundacht ganz besonders heilige -- sozusagen nur zum
-Feiertagsgebrauch. Ich habe die hundertundacht Namen Wischnus einmal
-alle auswendig gelernt, aber ich konnte sie nicht behalten und weiß
-jetzt keinen einzigen mehr davon.
-
-Romantische Begebenheiten knüpfen sich noch heutigen Tages an die
-Namen jener indischen Fürsten, gerade wie in alten Zeiten. Kurz vor
-unserer Ankunft war ein solcher Roman vor einem englischen Gerichtshof
-in Bombay zur Verhandlung gekommen: Ein junger sechzehnjähriger Prinz
-hatte seine Güter, Titel und Würden vierzehn Jahre lang unbehelligt
-genossen. Da ward plötzlich behauptet, daß er gar kein Fürstensohn,
-sondern ein armes Bauernkind sei, welches man in die fürstliche Wiege
-eingeschmuggelt hatte, als der wahre Erbe im Alter von drittehalb
-Jahren gestorben war. Genau derselbe Stoff, der so vielen alten
-orientalischen Geschichten zu Grunde liegt.
-
-Umgekehrt ging es mit dem Thron des Gaikawar von Baroda, für den
-sich eine Zeitlang kein Erbe fand, bis man ihn in der Person eines
-Bauernknaben erkannte, der, seiner hohen Abkunft unbewußt, im Schmutz
-der Dorfstraße spielte. Sein Stammbaum war jedoch ganz in Ordnung, er
-erwies sich als der wirkliche Prinz und herrscht seitdem unangefochten
-in seinem Reich.
-
-Auf ähnliche Weise ist kürzlich der Erbe eines andern indischen
-Fürstenhauses aufgefunden worden. Seit vierzehn Generationen hatten
-seine Vorfahren in niedrigem Stande gelebt. Aber man entdeckte seinen
-fürstlichen Ahnen in dem Verzeichnis eines der großen Wallfahrtsorte
-der Hindus, wo die Herrscher ihren Namen und das Datum ihres Besuchs
-einzuschreiben pflegen. Der eigentliche Zweck dieser Sitte ist, daß man
-über die religiösen Angelegenheiten der Fürsten Buch führen und ihr
-Seelenheil sichern kann; aber auch die Richtigkeit ihres Stammbaums
-läßt sich aus solcher Liste feststellen, wodurch sie noch besonderen
-Wert erhält.
-
-Wenn ich jetzt an Bombay denke, glaube ich in ein Kaleidoskop zu sehen;
-ich höre das Klirren der Glasstückchen, wenn die schönen Bilder
-wechseln und auseinander fallen, um sich zu immer neuen Formen und
-Figuren zu vereinigen, bei deren Anblick jeder Nerv in mir vor Wonne
-erbebt und Schauer des Entzückens durch meine Glieder rieseln. Die
-ganz verschiedenartigen Erinnerungsbilder ziehen immer in gleicher
-Reihenfolge, rasch wie ein Traum, an mir vorüber; sie lassen mir das
-Gefühl zurück, als hätte das wirkliche Erlebnis kaum eine Stunde
-gedauert, während es oft gewiß mehrere Tage in Anspruch genommen hat.
-
-Die Wandelbilder beginnen mit der Wahl eines eingeborenen Dieners,
-eines ›Trägers‹, bei der man sehr sorgfältig zu Werke gehen muß, denn
-solange er sein Amt versieht, kommt er uns fast so nahe auf den Leib,
-wie unsere eigenen Kleider.
-
-In Indien wird der Tag damit eröffnet, daß der ›Träger‹ an die
-Schlafzimmertür klopft und dazu eine gewisse Formel hersagt, welche
-ausdrücken soll, daß das Bad bereit ist. Es kommt uns vor als ob sie
-gar keinen Sinn hätte, aber das ist nur, weil man noch nicht an das
-Träger-Englisch gewöhnt ist. Erst mit der Zeit lernt man es verstehen.
-
-Wo diese Sprache herstammt, ist ein Geheimnis; jedenfalls wird man
-auf Erden nichts Aehnliches finden und im Paradiese erst recht
-nicht -- möglicherweise aber unter den Verdammten. Man mietet einen
-›Träger‹, sobald man den Boden Indiens betritt, denn niemand, ob
-Mann oder Weib, kann ohne ihn bestehen. Er ist Bote, Kammerdiener,
-Zimmermädchen, Aufwärter, Kurier, Jungfer -- alles in einer Person. Bei
-seinem Eintritt bringt er, außer einem grobleinenen Wäschesack auch
-eine Decke mit; er schläft auf den Steinfliesen vor der Stubentür;
-wo und wann er seine Mahlzeiten hält, ist unbekannt; man weiß nur,
-daß er im Hause kein Essen bekommt, mag man in einem Hotel wohnen
-oder als Gast in einer Privatfamilie. Er bezieht einen hohen Lohn
--- nach indischen Begriffen -- und sorgt selbst für seine Kost und
-Kleidung. Wir hatten in drittehalb Monaten drei ›Träger‹, der erste
-erhielt monatlich 30 Rupien -- etwa 27 Cents täglich -- die beiden
-andern 40 Rupien den Monat. Eine fürstliche Bezahlung! In Indien
-erhält der eingeborene Weichensteller auf der Eisenbahn höchstens
-7 Rupien monatlich, desgleichen der eingeborene Bediente in einem
-Privathaus, und der Knecht auf dem Lande nur 4 Rupien. Die beiden
-ersteren beköstigen und kleiden sich und ihre Familien selbst; ob das
-der Knecht bei dem Monatslohn von 1 Dollar 8 Cents auch tut, möchte
-ich bezweifeln. Vermutlich nährt ihn das Land, und mit seinem Verdienst
-bestreitet er den Unterhalt der Familie, nebst einer kleinen Abgabe
-für den Priester. Kleidung und Wohnung der Seinigen kosten nichts; sie
-leben in einer selbsterbauten Erdhütte, für die sie schwerlich Miete
-zahlen und tragen die ersten besten Lumpen; bei Knaben ist selbst das
-nicht vonnöten. Uebrigens sind für den Tagelöhner auf dem Lande jetzt
-gute Zeiten, er hat nicht immer ein so üppiges Leben geführt. Als der
-Hauptbevollmächtigte der Provinzen des Innern unlängst die Klagen einer
-Abordnung von Eingeborenen in einem amtlichen Erlaß als unbegründet
-zurückwies, erinnerte er sie daran, daß vor kurzem der Tagelohn noch
-eine halbe Rupie monatlich betragen habe, täglich nicht ganz einen
-Cent, $ 2.90 im Jahr. Wenn ein solcher Lohnarbeiter eine große Familie
-hatte -- und mit diesem Reichtum beschenkt der Himmel die armen
-Eingeborenen ohne Ausnahme -- so konnte er bei strengster Sparsamkeit
-vielleicht 15 Cents vom Ertrag seiner Jahresarbeit erübrigen. Eine
-Schuld von $ 13.50 hätte er in 90 Jahren abtragen können, wenn er Leben
-und Gesundheit behielt. Man stelle sich nur einmal vor, was das sagen
-will: Indien hat verhältnismäßig wenige Städte; fast das ganze Land
-ist mit unabsehbaren Feldern bedeckt, die durch Lehmmauern von einander
-getrennt sind. Die ungeheure Masse der Bevölkerung besteht also
-einzig und allein aus landwirtschaftlichen Arbeitern. Kennt man diese
-Tatsachen, so erhält man erst einen Begriff von der grenzenlosen Armut,
-die sich hier ansammeln muß.
-
-Der erste Diener, der sich bei uns meldete, wartete unten und schickte
-seine Zeugnisse herauf; es war am Morgen nach unserer Ankunft in
-Bombay. Wir prüften sie sorgfältig und fanden nichts daran auszusetzen,
-bis auf das eine: sie waren alle von Amerikanern ausgestellt. Wir sind
-ein zu gutmütiges Volk und bringen es nicht übers Herz, einem armen
-Menschen, der sein Brot verdienen muß, durch unser Urteil zu schaden.
-So erwähnen wir in dem Zeugnis nur seine guten Eigenschaften, ja,
-wir preisen sie nicht selten über Gebühr, und lassen die schlechten
-auf sich beruhen. Ueber diese stumme Lüge machen wir uns keine
-Gewissensbisse, und doch ist sie im Grunde verächtlicher als eine
-ausgesprochene Unwahrheit, mit der man die Leute nicht so leicht
-betrügt, weil sie sich durchschauen läßt. In Frankreich ist das
-anders; dort hat man wenigstens die Entschuldigung, daß ein Herr
-dem entlassenen Diener ein gutes Zeugnis geben und seine Fehler
-verschweigen _muß_, er mag wollen oder nicht. Erwähnt man zum Schutz
-für den nächsten Brotherrn die Untugenden des Dieners, so kann er auf
-Schadenersatz klagen, und der Gerichtshof erkennt seine Forderungen an,
-ja, er erteilt dem wahrheitsliebenden Herrn noch eine derbe Rüge, weil
-er versucht hat, einen armen Menschen um sein Brot zu bringen und ihm
-den guten Ruf abzuschneiden. -- Ich würde dergleichen nicht behaupten,
-wüßte ich es nicht aus dem Munde eines berühmten französischen Arztes,
-eines geborenen Parisers, der mir sagte, das sei nicht nur allgemein
-bekannt, sondern er selber habe in dieser Hinsicht sehr schlimme
-persönliche Erfahrungen gemacht.
-
-Die reisenden Amerikaner hatten, wie gesagt, den Manuel X. in seinem
-Zeugnis so warm empfohlen, daß Sankt Petrus selbst ihn darauf hin
-zum Himmelstor eingelassen hätte, wenn der Heilige, wie ich vermute,
-mit den Gepflogenheiten meiner Landsleute nicht gerade sehr vertraut
-ist. Der Diener war als ein Ausbund von Geschicklichkeit in allen
-Künsten seines vielgestaltigen Berufs geschildert. Mit ganz besonderem
-Entzücken wurde seine ausgezeichnete Kenntnis des Englischen erwähnt,
-was mich sehr freute, denn ich hoffte, es würde doch etwas Wahres
-daran sein.
-
-Einen Diener mußten wir unverzüglich haben; die Meinigen nahmen Manuel
-daher für eine Woche zur Probe an und schickten ihn zu mir herauf. Ich
-hütete wegen meines Bronchialkatarrhs das Zimmer und sehnte mich nach
-einer kleinen Abwechslung und Unterhaltung. Da kam mir Manuel gerade
-recht. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, groß und schlank, hielt sich
-aus gewohnheitsmäßiger Ehrerbietung etwas vornüber gebeugt, hatte
-ein Gesicht von europäischem Schnitt, kohlschwarzes Haar, ein paar
-sanfte, fast furchtsame schwarze Augen, eine sehr dunkle Hautfarbe und
-ein glattgeschorenes Kinn. Anders als barhaupt und barfuß habe ich
-ihn während seiner Dienstwoche bei uns nie gesehen; die europäischen
-Kleider, welche er anhatte, waren schlecht, dünn und sehr abgetragen.
-
-So stand er vor mir, verbeugte sich zum Gruß mit dem ganzen Oberkörper
-nach der feierlichen Art der Inder und berührte seine Stirn mit den
-Fingerspitzen der rechten Hand.
-
-»Offenbar bist du ein Hindu, Manuel,« sagte ich, »aber du hast einen
-spanischen Namen -- wie kommt das?«
-
-Der Diener machte ein verblüfftes Gesicht; er hatte nichts verstanden
-und wollte es sich doch nicht merken lassen.
-
-»Name Manuel. Ja Herr,« antwortete er gelassen.
-
-»Das weiß ich, aber woher hast du ihn?«
-
-»O ja, vermutlich. Wird wohl so sein. Vater heißt ebenso, Mutter nicht.«
-
-Ich versuchte mich einfacher auszudrücken, um von diesem gelehrten
-Engländer verstanden zu werden, und sprach sehr langsam und deutlich:
-
-»Von -- wem -- hat -- dein -- Vater -- seinen -- Namen?«
-
-»O, der --« sein Gesicht erhellte sich -- »er Christ sein,
-portugiesischer -- wohnen in Goa. Ich geboren Goa. Mutter nicht
-Portugiesin -- Mutter Eingeborene -- Brahminenkaste -- oberste Stufe --
-keine Kaste so hoch wie diese. Ich auch hochgeborener Brahmine. Auch
-Christ, wie Vater -- hoher christlicher Brahmine, Herr -- Heilsarmee.«
-
-Diese Worte brachte er stotternd und schwerfällig heraus. Dann kam es
-plötzlich wie Begeisterung über ihn und er erging sich in einem langen
-Schwall unverständlicher Reden.
-
-»Höre auf,« unterbrach ich ihn. »Hindustani verstehe ich nicht.«
-
-»Nicht Hindustani, Herr -- Englisch. Ich sprechen Englisch immer, den
-ganzen Tag, manchmal.«
-
-»Gut, so lasse ich mir’s gefallen; es ist zwar nicht was ich nach
-deinem Zeugnis erwartet und gehofft hatte, doch ist es verständlich.
-Schmücke es nicht weiter aus. Sprachverschnörkelungen, die den Sinn
-beeinträchtigen, sind mir verhaßt.«
-
-»Herr?«
-
-»Das war nur eine allgemeine Bemerkung. Aber sage mir, wie kommst du zu
-deinem Englisch? Hast du es gelernt, oder ist es nur eine Gabe Gottes?«
-
-Manuel zögerte mit der Antwort.
-
-»Ja,« sagte er dann in frommem Ton. »Er sehr gut. Christengott
-sehr gut, Hindugott auch sehr gut. Zwei Millionen Hindugott, ein
-Christengott. Gehören alle mein, zwei Millionen und ein Gott -- ich
-haben sehr viele. Manchmal ich beten zu sie allezeit, gehen jeden Tag
-an Altar, geben Geld; gut für mich -- macht mich besserer Mann, gut für
-meine Kinder auch, verdammt gut.«
-
-Nun fing er wieder an, allerhand unzusammenhängendes Zeug zu schwatzen,
-bis ich unserm Gespräch ein Ende machte und ihm befahl, das Badezimmer
-in Ordnung zu bringen und den Boden aufzuwischen -- ich wollte ihn los
-sein. Er tat als verstünde er mich, nahm meine Kleider aus dem Schrank
-und begann sie zu bürsten. Endlich, nachdem ich ihm meine Wünsche
-noch mehrmals in immer einfacheren Worten kundgetan, begriff er was
-ich wollte. Er ging hin und holte einen Kuli, um die Arbeit zu tun.
-Wenn er sie selbst verrichtete, erklärte er mir, würde er das Gesetz
-seiner Kaste übertreten und sich verunreinigen. Er könne sich dann nur
-mit großer Not und Schwierigkeit wieder zu Ehren bringen. Dergleichen
-Arbeit sei den höheren Kasten streng verboten, sie müßte von den Hindus
-der untersten Kaste, den verachteten Sudras getan werden.
-
-Darin hatte Manuel vollkommen recht. Auch haben sich die armen Sudras
-anscheinend seit Jahrhunderten in ihr elendes Los ergeben, das sie
-sozusagen von Anbeginn der Welt dem Schimpf und der Bedrückung
-preisgibt. In den Verordnungen des Manu (900 v. Chr.) steht, daß
-wenn sich ein Sudra _nicht auf einen niedrigeren Platz setzt als der
-Höhergestellte, er verbannt und gebrandmarkt werden soll_ ... beleidigt
-er ein Mitglied der höheren Kaste, _so wird er mit dem Tode bestraft_.
-Hört er zu, wenn die heiligen Bücher vorgelesen werden, so soll ihm
-_siedendes Oel in die Ohren gegossen werden_; lernt er Stellen davon
-auswendig, _so bringt man ihn um_; verheiratet er seine Tochter an
-einen Brahminen, _so fährt der Gatte in die Hölle_, weil er sich
-durch die Berührung mit einem so unendlich tief unter ihm stehenden
-Weibe verunreinigt hat. Auch ist es dem Sudra verboten, _Reichtum zu
-erwerben_. »Der Hauptbestandteil der indischen Bevölkerung« (heute
-auf 300000000 geschätzt) sagt Bukle »sind die Sudras -- die Arbeiter,
-Landbauer und Erzeuger des Wohlstands, und doch hat schon der Name
-Sudra eine verächtliche Bedeutung.«
-
-Den armen alten Manuel konnten wir nicht gebrauchen; er mochte wohl
-schon zu bejahrt für uns sein. Ueber seine Langsamkeit wollte man
-schier verzweifeln und seine Vergeßlichkeit überstieg alle Grenzen. Um
-eine Besorgung in der nächsten Straße zu machen, blieb er zwei Stunden
-aus und vergaß unterwegs, was er holen sollte. Zum Packen eines Koffers
-brauchte er eine Ewigkeit und wenn er schließlich damit zustande
-kam, war der Inhalt ein unbeschreibliches Chaos. Auch die Aufwartung
-bei Tische besorgte er schlecht, und das ist ein sehr wesentlicher
-Mangel, denn wer sich in einem indischen Hotel nicht auf seinen eigenen
-Diener verlassen darf, ist übel dran und muß meist hungrig von Tische
-aufstehen. Sein Englisch verstanden wir ebensowenig wie er das unsrige,
-und als sich herausstellte, daß er selbst nicht verstand was er sagte,
-war es hohe Zeit uns von ihm zu trennen. Fortschicken mußte ich ihn,
-das ließ sich nicht ändern, aber ich tat es so sanft und freundlich,
-wie ich irgend konnte. »Wir müssen scheiden,« sagte ich, »doch hoffe
-ich, daß wir uns in einer bessern Welt wiederfinden.« Die kleine
-Unwahrheit nahm ich mir nicht übel, sie kostete nichts und ersparte ihm
-eine Kränkung.
-
-Sobald er fort war, fiel mir eine Last vom Herzen, ich fühlte frische
-Kraft und neuen Mut, meine Unternehmungslust wuchs und ich war bereit
-zu allen Taten. Da kam auch schon Manuels neu gemieteter Nachfolger
-hereingeflitzt; er berührte seine Stirn, flog hierhin und dorthin auf
-sammetweichen Sohlen, brachte in fünf Minuten das ganze Zimmer in die
-musterhafteste Ordnung und stand dann ehrerbietig da, weitere Befehle
-erwartend. Potztausend, was war das für ein rühriges Kerlchen! Eine
-wahre Erquickung nach der schläfrigen alten Schnecke, dem Manuel. Vom
-ersten Augenblick an hing mein ganzes Herz voll Liebe und Bewunderung
-an dem zweibeinigen, flinken, schwarzen Geschöpfchen, diesem
-Inbegriff von Tatkraft, Schnelligkeit und Zuversicht, diesem klugen,
-freundlichen, reizenden kleinen Teufel mit den blitzenden Augen. Das
-flammendrote Fez mit der feurigen Troddel, das ihm oben auf dem Kopfe
-saß und wie eine brennende Kohle glühte, kleidete ihn zum Entzücken.
-
-»Wir werden gut zusammen auskommen,« sagte ich mit innerlichster
-Befriedigung. »Wie heißt du?«
-
-Er wickelte seinen Namen der ganzen Länge nach mit geläufiger Zunge ab.
-
-»Warte, laß mich meine Auswahl treffen, zum täglichen Gebrauch -- den
-Rest versparen wir uns auf den Sonntag. Sage mir’s noch einmal, aber
-abteilungsweise.«
-
-Er tat es; doch war kein kurzer Name darunter, außer Mausa, was mir
-nicht passend schien; es erinnerte an Maus und war zu sanft und still
-und viel zu unscheinbar für sein prächtiges Wesen.
-
-»Mausa ist kurz genug,« sagte ich nach einiger Ueberlegung, »aber
-es gefällt mir nicht; es hat weder Saft noch Kraft und ist nicht
-bezeichnend genug -- in solchen Dingen bin ich sehr empfindlich. Was
-meinst du, wenn wir dich Satan nennten?«
-
-»Ja Herr -- Satan, sehr guter Name.«
-
-Es klopfte an der Tür; mit einem Sprunge war Satan dort, ein paar
-Worte auf Hindustani wurden gewechselt, dann schlüpfte er hinaus. Drei
-Minuten später stand er in militärischer Haltung wieder vor mir und
-wartete auf meine Anrede.
-
-»Was gibt es, Satan?«
-
-»Gott ist da, wünschen Sie zu sprechen.«
-
-»Wer?«
-
-»Gott. Ich ihn sollen hereinführen?«
-
-»Wie ist denn das möglich? -- ich -- ich weiß wirklich nicht -- so ganz
-unvorbereitet -- erkläre mir doch -- ein so ungewöhnlicher Besuch --«
-
-»Hier seine Karte, Herr.«
-
-War es nicht merkwürdig, schrecklich und staunenerregend, daß eine so
-hohe Persönlichkeit mich armen Sterblichen besuchen wollte, und mir
-wie ein gewöhnlicher Mensch seine Karte hereinschickte -- obendrein
-durch Satan? -- Es schien mir ein völlig verwirrendes, undenkbares
-Zusammentreffen. Aber wir waren ja in Indien, dem Märchenlande; es gibt
-nichts, was dort nicht geschehen könnte!
-
-Die Unterredung fand statt. Satan hatte ganz recht. Mein Besucher war
-in den Augen seiner Anhänger wirklich ein Gott und wurde von ihnen
-als solcher in aller Demut verehrt und angebetet. An der Göttlichkeit
-seines Amtes und Ursprungs zu zweifeln, liegt ihnen ferne. Sie glauben
-an ihn, bringen ihm Gaben und Opfer dar und erlangen von ihm Vergebung
-ihrer Sünden. Seine Person und alles was diese betrifft, ist ihnen
-heilig; sie kaufen sich von dem Barbier die abgeschnittenen Fingernägel
-des Gottes, fassen sie in Gold und tragen sie als kostbare Amulette.
-
-Ich versuchte eine ruhige Unterhaltung mit ihm zu führen, aber
-ich brachte es nicht zustande. Hättet ihr es tun können? -- Meine
-Aufregung, Verwunderung und Neugier waren zu groß; ich verschlang ihn
-förmlich mit den Augen. Es war ein Gott, ein wirklicher, anerkannter
-und beglaubigter Gott, den ich da vor mir sah; seine Person, sein
-Anzug bis in die kleinsten Einzelheiten, hatte ein überwältigendes
-Interesse für mich. »Was für ein Unterschied!« dachte ich: »selbst
-der höchstgestellte Mensch muß sich am Zoll der Ehrerbietung und
-Höflichkeit genügen lassen, den man ihm darbringt, aber _er_ ist der
-Empfänger weit köstlicherer Geistesgaben -- vor ihm kniet man, ihn
-betet man an! Männer und Frauen legen die Sorgen und Kümmernisse eines
-schwerbeladenen Herzens ihm zu Füßen nieder und er verleiht ihnen
-Trost und Frieden, so daß sie geheilt von dannen gehen.«
-
-In diesem Augenblick sagte mein erhabener Gast im einfachsten Tone von
-der Welt:
-
-»Was mir an der Lebensweisheit Ihres Huckleberry Finn am besten
-gefällt, ist --« und dann fuhr er fort, mir sein literarisches Urteil
-auf klare und verständige Weise auseinander zu setzen.
-
-O, was für wunderbare Ueberraschungen erlebt man doch in Indien! Ich
-gestehe, daß ich nicht ohne Ehrgeiz bin und gehofft hatte, Könige,
-Präsidenten und Kaiser würden mich lesen -- aber _so hoch_ hatte ich
-mich in meinen Erwartungen nie verstiegen. Wollte ich leugnen, daß mich
-das unendlich beglückte, so wäre es falsche Bescheidenheit. Selbst die
-größte Anerkennung von seiten eines Menschen hätte mir nicht solche
-Freude gemacht, das bekenne ich ganz offen.
-
-Mein Gast blieb über eine halbe Stunde da und war sehr höflich und
-liebenswürdig. Die göttliche Würde besteht schon lange in seiner
-Familie, seit wann weiß ich nicht. Er ist eine mohammedanische Gottheit
-und nimmt auf Erden den Rang eines persischen Prinzen ein, der in
-gerader Linie vom Propheten abstammt. Er ist hübsch und noch recht
-jung -- für einen Gott -- fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt.
-Die göttliche Größe trägt er mit Ruhe und Gelassenheit, wie es sich
-für seinen erhabenen Beruf ziemt, und dabei sprach er das Englische
-geläufig und rein, wie ein geborener Engländer. Ich glaube nicht, daß
-ich übertreibe; ich hatte vorher noch nie einen Gott gesehen, und er
-machte mir einen sehr günstigen Eindruck. Als er sich erhob um Abschied
-zu nehmen, ging die Tür auf, ich sah draußen ein rotes Fez aufleuchten
-und hörte die ehrerbietige Frage:
-
-»Soll Satan Gott hinausbegleiten?«
-
-»Ja.« -- Die beiden unzusammengehörigen Wesen verschwanden vor meinen
-Blicken, Satan ging voraus und der _Andere_ folgte ihm.
-
-[Illustration]
-
-
-
-
-Viertes Kapitel.
-
- Glück zu ertragen verstehen nur wenige. Ich meine andrer
- Leute Glück.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Das nächste Bild in meiner Erinnerung ist das Gouverneurshaus auf der
-Malabar-Spitze, wo man von den Fenstern und großen Balkons weit ins
-Meer hinausblickt. Seine Exzellenz, der Gouverneur der Präsidentschaft
-Bombay, wohnt dort ganz nach europäischer Art, in einem Staatspalast,
-der zugleich ein behagliches Heim ist; nur die Leibwache und die Diener
-sind Eingeborene. Da war England vertreten mit seiner Macht und den
-Errungenschaften seiner modernen Zivilisation; überall herrschten
-stille Farben und gediegener Geschmack, ruhige Würde und Vornehmheit.
-
-Nun folgte ein Bild altindischer Kultur in der Behausung von Kumar
-Shri Samatsinhji Bahadur, dem Fürsten des Palitana-Staats. Bei unserm
-Besuch sahen wir auch dessen Sohn und Erben nebst seinem Schwesterchen.
-Die hübsche braune kleine Elfe war zart gebaut, sehr ernsthaft, reizend
-anzuschauen und gekleidet wie der zierlichste Schmetterling. Sie machte
-uns zwar ein freundliches Gesicht, doch zog sie es anfänglich vor,
-ihres Vaters Hand nicht loszulassen, um die Fremden erst näher kennen
-zu lernen und zu sehen, wie weit man ihnen trauen dürfe. Die niedliche
-kleine Märchenprinzessin mochte etwa acht Jahre alt sein; in drei oder
-vier Jahren mußte sie also nach indischem Brauch heiraten. Dann war ihr
-freies Leben in Luft und Sonnenschein zu Ende und von einem Verkehr
-mit männlichen Besuchern durfte nicht mehr die Rede sein. Gleich ihrer
-Mutter wird sie sich auf Lebenszeit im Frauengemach einschließen, sich
-aus angeerbter Gewohnheit glücklich fühlen und ihre Beschränkung weder
-als lästigen Zwang noch als trübselige Gefangenschaft ansehen.
-
-In seinen Mußestunden unterhält sich der Fürst mit einem Spiel --
-aber davon will ich lieber nicht reden; ich könnte es doch nicht so
-beschreiben, daß man es versteht. Es ist sehr verwickelt, und obgleich
-ich mir alle Mühe gab es zu begreifen, gelang es mir doch nicht; man
-sagt, daß nur ein Inder das Spiel erlernen kann. Meine Frau und
-Tochter besuchten unterdessen die Fürstin im Frauengemach -- eine
-liebenswürdige Dame, die fließend Englisch spricht. -- Auch einen
-Turban zu winden war ich nicht imstande; es sieht so einfach und leicht
-aus, als wäre es gar keine Kunst, das beruht jedoch auf Täuschung. Der
-Inder nimmt das eine Ende eines vierzig bis fünfzig Fuß langen und etwa
-einen Fuß breiten, dünnen, zarten Gewebes in beide Hände, windet es
-sorgfältig fest um den Kopf, wobei er den Stoff mehrmals dreht -- in
-ein paar Minuten ist das Kunstwerk regelrecht vollendet und sitzt wie
-angegossen.
-
-Wir interessierten uns sehr für die fürstliche Garderobe, die
-Edelsteine und das schön geformte, prächtig verzierte Silbergerät.
-Letzteres wird bei den Mahlzeiten gebraucht und im übrigen stets
-verschlossen gehalten; nur der erste Diener und der Fürst selber
-haben Schlüssel zum Silberschrank. Der Zweck dieser Maßregel ist aber
-keineswegs den Silberschatz zu hüten, sondern vermutlich den Fürsten
-vor einer Verunreinigung zu schützen, welcher seine Kaste ausgesetzt
-wäre, wenn Diener aus einer niederen Kaste die Gefäße berührten;
-vielleicht fürchtet seine Hoheit auch Gift! Ich glaube ein besoldeter
-Vorkoster muß jede Speise versuchen, ehe der Fürst sie genießt. Das ist
-eine alte, weise Sitte im Orient, die gar manchen Vorkoster an Stelle
-seines Herren ins Jenseits brachte, denn natürlich ist es der Koch, der
-das Gift in das Essen tut. Wäre ich ein indischer Fürst, so würde ich
-mit dem Koch speisen und die Stelle des Vorkosters eingehen lassen.
-
-Alle Zeremonien flößen mir stets Interesse ein; auch mit dem indischen
-Morgengruß ist eine solche verbunden: Der Sohn berührt dabei
-ehrfurchtsvoll des Vaters Stirn mit einem kleinen silbernen Röhrchen,
-das in Saft getaucht wird, welcher einen roten Punkt zurückläßt;
-hierauf segnet der Vater den Sohn. Wenn wir uns damit begnügen, Guten
-Morgen zu sagen, so paßt das zwar zu unsern formlosen Gewohnheiten,
-aber für den Orient wäre es lange nicht umständlich und feierlich genug.
-
-Beim Schluß unseres angenehmen Besuchs legte man uns noch, wie es
-die Sitte verlangt, große gelbe Blumenkränze um den Hals und versah
-uns mit Betelnüssen zum Kauen. Dann begaben wir uns aus diesem
-farbenprächtigen, sonnigen Leben nach einem Schauplatz ganz anderer
-Art, nach den ›Türmen des Schweigens‹, wohin die Parsen ihre Toten
-bringen. Der Name hat einen erhabenen eindrucksvollen Klang, über dem
-die Stille des Todes schwebt. Wenn wir von Grabhügel, Grabgewölbe,
-Gottesacker und Friedhof reden, so haben diese Wörter zwar auch, durch
-die sich daran knüpfenden Gedanken, eine feierliche Bedeutung für uns
-gewonnen, aber so majestätisch tönen sie doch nicht an unser Ohr.
-
-Auf einer Anhöhe, mitten in einem tropischen Paradies von Blumen und
-Laubwerk, fern vom lärmenden Weltgetriebe, standen die ›Türme des
-Schweigens‹ da; ringsum breiteten sich große Haine von Kakaopalmen
-aus, dann die Stadt in meilenweitem Umkreis, dahinter das von Schiffen
-wimmelnde Meer, und über allem schwebte dieselbe lautlose Stille,
-welche droben den Platz der Toten umgab. Die Geier hatten sich
-eingestellt; sie saßen am Rande des niedrigen festen Turmes in einem
-großen Kreise dichtgedrängt, regungslos, wie aus Stein gemeißelt -- und
-warteten. Man war fast versucht, sie für leblose Bildwerke zu halten.
-Plötzlich traten die Anwesenden -- es mochten etwa zwanzig Personen
-zugegen sein -- ehrfurchtsvoll beiseite, und das Gespräch verstummte.
-Ein Leichenzug bewegte sich durch das große Gartentor nach dem Turme
-hin. Der Tote lag auf einer flachen Bahre mit einem weißen Tuche
-bedeckt, sonst aber unbekleidet; zwischen den Leichenträgern und dem
-Trauergefolge ließ man einen Abstand von dreißig Fuß. Die paarweise
-einherschreitenden Leidtragenden, in weiße Gewänder gehüllt, waren je
-zwei und zwei mit Stricken oder Tüchern zusammengebunden -- das heißt,
-im bildlichen Sinne -- eigentlich hielt nur jeder ein Ende in der Hand.
-Hinter dem Zuge führte man einen Hund an der Leine. Als die Trauernden
-unweit des Turmes angelangt waren -- es darf außer den Trägern mit der
-Leiche kein Mensch näher kommen als bis auf dreißig Fuß -- kehrten sie
-wieder um und begaben sich nach einem kleinen Tempel im Garten, um für
-den abgeschiedenen Geist zu beten. Die Träger schlossen indessen die
-Tür auf, welche den einzigen Gang zum Turme bildet und verschwanden
-drinnen vor unsern Blicken. Nach einer Weile kamen sie wieder heraus,
-Bahre und Leichentuch tragend, und verschlossen die Tür. Nun erhoben
-sich die Geier im Kreise, schlugen mit den Flügeln und schossen in den
-Turm hinunter, um die Leiche zu verzehren. Als der ganze Schwarm wenige
-Minuten später wieder davonflog, blieb nur das völlig abgenagte Skelett
-zurück.
-
-Der Gedanke, welcher bei einem Parsenbegräbnis allen Bestimmungen zu
-Grunde liegt, ist die Reinheit. Nach den Lehren des Zoroaster sind
-die Elemente Erde, Feuer und Wasser geheiligt und dürfen nicht durch
-Berührung eines Leichnams befleckt werden. Daher kann man die Toten
-weder verbrennen noch begraben, auch ist jedem untersagt, eine Leiche
-zu berühren oder den Turm zu betreten, in dem sie liegt. Nur den von
-Amtswegen dazu bestimmten Männern wird dies gestattet; sie erhalten
-hohen Lohn, führen jedoch ein einsames, trübseliges Leben, denn sie
-müssen allen Umgang mit andern Genossen meiden, weil sie sich durch
-ihren Verkehr mit den Toten verunreinigen; wer sich zu ihnen gesellt,
-wird gleichfalls befleckt. Bei ihrer Rückkehr aus dem Turm wechseln
-sie ihre Kleider in einem innerhalb der Tore gelegenen, besonders dazu
-bestimmten Gebäude. Den Anzug, welchen sie getragen haben, lassen sie
-dort zurück, denn er ist unrein und darf nicht mit hinausgenommen, noch
-überhaupt wieder benützt werden. Zu jedem Begräbnis kommen die Träger
-in neuen Kleidern. Kein menschliches Wesen, außer den angestellten
-Leichenträgern, hat je einen ›Turm des Schweigens‹ nach dessen
-Einweihung betreten, bis auf einen einzigen Fall. Es ist jetzt gerade
-hundert Jahre her, da drang einmal ein Europäer hinter den Trägern ins
-Innere des Turmes, um seine rohe Neugier an dem verbotenen Anblick
-des geheimnisvollen Ortes zu sättigen. Name und Stand des frechen
-Eindringlings sind unbekannt geblieben; da er jedoch für sein schweres
-Vergehen keine andere Strafe seitens der Regierung der Ostindischen
-Kompagnie erhalten hat, als einen öffentlichen Verweis, so liegt die
-Vermutung nahe, daß es ein Europäer aus angesehener Familie war. In
-dem amtlichen Schreiben, welches jene feierliche Rüge enthielt, wurde
-zugleich jedem, der sich künftig einer ähnlichen Uebertretung schuldig
-machte, angekündigt, man werde ihn, falls er im Dienst der Kompagnie
-stehe, sofort entlassen; Mitglieder des Kaufmannsstandes dagegen
-sollten ihre Handelsberechtigung verlieren und aus Indien verbannt
-werden.
-
-Die ›Türme des Schweigens‹ sind im Verhältnis zu ihrem Umfang nicht
-hoch. Will man sich einen ungefähren Begriff von ihrer Form machen, so
-stelle man sich einen Gasometer vor, der bis zur Hälfte seiner Höhe mit
-festen Granitsteinen ausgemauert ist, durch welche man in der Mitte
-einen breiten und tiefen Schacht gebohrt hat. Ringsum auf dem Mauerwerk
-liegen die Toten in flachen, rinnenartigen Vertiefungen, welche wie
-die Speichen eines Rades in schräger Richtung nach dem Brunnen zu
-auslaufen und ihm das Regenwasser zuführen, das durch unterirdische
-Kanäle mit Kohlenfiltern wieder abgeleitet wird.
-
-Hat das Skelett einen Monat lang, dem Regen und der glühenden Sonne
-ausgesetzt, im Turm gelegen, so ist es vollkommen trocken und rein.
-Dann kommen dieselben Träger behandschuht wieder, fassen es mit einer
-Zange an und werfen es in den Schacht, wo es in Staub zerfällt.
-Andere Völker scheiden ihre Toten voneinander und bewahren die
-Standesunterschiede noch im Grabe. Sie bestatten die Leichen von
-Königen, Staatsmännern, Generälen, in Tempeln und Pantheons, wie es
-ihrem Range gebührt, und die Leichen der Armen und gemeinen Leute an
-Orten, die ihrem niedern Stande angemessen sind. Die Parsen dagegen
-glauben, daß im Tode alle Menschen gleich sind. Zum Zeichen ihrer
-Armut trägt man sie nackt in die Grube, zum Zeichen ihrer Gleichheit
-wirft man die Gebeine der Reichen, der Armen, der Berühmten und
-der Unbekannten zusammen in denselben Brunnenschacht. Bei einem
-Parsenbegräbnis sieht man keine Wagen; wer sich daran beteiligt, sei
-er reich oder arm, muß zu Fuße gehen, mag die Entfernung auch noch
-so groß sein. Seitdem die Parsen vor zweihundert Jahren, durch die
-mohammedanischen Eroberer vertrieben, aus Persien nach jener Gegend
-Indiens eingewandert sind, hat sich in den fünf vorhandenen ›Türmen des
-Schweigens‹ der Staub aller ihrer Männer, Frauen und Kinder vermischt,
-die in Bombay und dessen Umgegend gestorben sind.
-
-Was der Hund bei dem Begräbnis bedeutet, weiß niemand mehr recht zu
-erklären; er soll bei den alten Parsen ein heiliges Tier gewesen sein,
-das die abgeschiedenen Seelen zum Himmel geleitete. Der Hund, den ich
-damals sah, machte mir einen tiefen Eindruck, er war ja ein Rätsel,
-zu dem der Schlüssel verloren gegangen ist. Traurig und mit gesenktem
-Kopf kam er daher, als sei er bemüht, sich das Sinnbild ins Gedächtnis
-zurückzurufen, welches vorzustellen man ihn vor grauen Jahren
-beauftragt hatte. Das heilige Feuer, das in der Nähe brennt, bekam ich
-nicht zu sehen; die ursprüngliche Flamme soll seit zweihundert Jahren
-nicht erloschen sein.
-
-Die Parsen behaupten, daß ihre Art der Totenbestattung der wirksamste
-Schutz für die Lebenden ist. Weder Krankheitskeime noch Fäulnis, noch
-irgend welche Unreinigkeit wird dadurch verbreitet; keine Hülle, kein
-Kleidungsstück, das dem Toten angehört hat, darf wieder mit einem
-Lebenden in Berührung kommen. Nichts geht von den Türmen des Schweigens
-aus, was der Welt draußen Schaden zu bringen vermöchte. Wir können
-den Parsen nur recht geben. In gesundheitlicher Beziehung hat ihr
-System dieselben Vorzüge wie die Leichenverbrennung. Wir nähern uns
-jetzt langsam aber sicher dieser Bestattungsart. Daß sich die Wandlung
-rasch vollziehen wird, kann man nicht erwarten, aber wenn sie nur
-allmählich und stetig fortschreitet, so genügt das vollständig. Ist die
-Leichenverbrennung erst einmal zur allgemeinen Regel geworden, so wird
-unser Grauen davor verschwinden; auch die Toten zu begraben würde uns
-Schauer erregen, wenn wir uns vergegenwärtigen wollten, was im Grabe
-vorgeht.
-
-Die Parsen sind eine merkwürdige Volksgemeinde. In Bombay leben etwa
-60000 und halb so viel im übrigen Indien, aber was ihnen an Zahl
-abgeht, ersetzen sie durch ihre Bedeutung. Sie sind hochgebildet,
-tatkräftig, unternehmend, reich, dem Fortschritt huldigend, und nicht
-einmal die Juden zeigen sich so freigebig und wohltätig gegen jedermann
-ohne Unterschied. Viele Hospitäler für Menschen und Tiere sind von den
-Parsen erbaut und mit reichen Geldmitteln ausgestattet worden. Sie
-sowohl als ihre Frauen haben eine stets offene Hand, wo es sich um
-irgend einen großen und guten Zweck handelt. In politischer Hinsicht
-bilden sie eine Macht, welche der Regierung wesentliche Unterstützung
-gewährt. Die Lehren ihrer Religion sind rein und erhaben, sie halten
-unverbrüchlich an ihnen fest und richten ihr ganzes Leben danach ein.
-
-Ehe wir den Garten der ›Türme des Schweigens‹ verließen, warfen wir
-noch einen Blick auf die wundervolle Aussicht, welche Ebene, Stadt
-und Meer uns boten. Das letzte, was mir dabei ins Auge fiel, war ein
-natürliches Sinnbild des Todes: auf einem freien Platz im Garten saß
-ein Geier auf dem abgesägten Stumpf eines hohen, schlanken Palmbaums.
-Er verharrte regungslos in seiner Stellung, wie ein Steinbild auf einer
-Säule; dabei hatte er einen förmlichen Grabesblick, der ganz zu der
-Stimmung des Ortes paßte.
-
-
-
-
-Fünftes Kapitel.
-
- Es gibt einen alten goldenen Spruch, welcher lautet: »Wohl
- dir, wenn du beim Aufstieg zum Hügel des Glücks keinem
- Freunde begegnest.«
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Zunächst wurden wir von Bekannten nach einem Dschain-Tempel
-mitgenommen; er war nicht groß und mit vielen flatternden Wimpeln
-geschmückt, die an Flaggenstangen befestigt sind; auf den Zinnen des
-Daches stehen ringsum eine Unmenge kleiner Götzenbilder. In der Mitte
-des innern Raumes sagte ein einsamer Dschain laut seine Gebete her
-und ließ sich durch unsere Gegenwart in keiner Weise stören. Seine
-Andacht galt einem kleinen, sitzenden, rosig gefärbten Götzen, der sich
-etwa zwölf Fuß vor ihm befand und einer schlecht geformten Wachsfigur
-glich. Mr. Gandhi, der dem Kongreß der Weltreligionen in Chicago
-als Abgeordneter beigewohnt hat, setzte uns die Lehren der Dschaina
-in trefflichem Englisch auseinander, aber was er sagte ist meinem
-Gedächtnis entschwunden. Ich weiß nur noch, daß sich ihre religiösen
-Vorstellungen in erhabene Formen kleiden, und grobe Sinnlichkeit
-ihnen fremd ist. Wie sich das mit der Anbetung des rohen Götzenbildes
-vereinbaren läßt, kann ich nicht erklären. Vermutlich stellt dieses
-ein Wesen dar, das nach vielhundertjährigen Seelenwanderungen, bei
-stetiger Zunahme an Frömmigkeit und Tugend, zuletzt zu einem Heiligen,
-einer Art Gottheit geworden ist, welche die Anbetung stellvertretend
-entgegennimmt, um sie der Himmelsbehörde zu übermitteln. So denke ich
-es mir wenigstens.
-
-Von dort begaben wir uns nach Mr. Premchand Roychands Bungalow im
-Love Lane, Byculla, wo ein indischer Fürst, der kürzlich von der
-Kaiserin Viktoria zum Ritter des indischen Sternordens ernannt worden
-war, die Abgesandten der Dschaina empfangen wollte, welche ihm wegen
-dieser hohen Ehre ihre Glückwünsche darbrachten. Selbst der größte
-indische Fürst verschmäht die Auszeichnung nicht; er erläßt seinen
-Untertanen die Steuern und gibt viel Geld aus zur Verbesserung der
-öffentlichen Zustände, wenn er dafür die Ritterwürde erlangen kann.
-Alljährlich verleiht die Kaiserin verschiedenen einheimischen Fürsten
-zum Lohn für ihre Verdienste den Stern von Indien und teilt zugleich
-Kanonen an sie aus, welche sie beim Salutschießen abfeuern dürfen.
-Ein kleiner Fürst hat drei oder vier Kanonen, die ihm den Ehrengruß
-bringen, und mit der Bedeutung des Fürsten nimmt auch die Zahl seiner
-Kanonen zu, bis auf elf Stück, ja vielleicht haben manche noch mehr,
-aber das weiß ich nicht bestimmt. Mir ist gesagt worden, daß wenn ein
-vier Kanonen-Fürst die fünfte erhält, seine Umgebung sehr darunter
-leidet, denn solange ihm die Sache noch neu ist, möchte er bei jeder
-Gelegenheit Salutschüsse haben, und die ohrenzerreißende Musik will
-gar kein Ende nehmen. Wie viele Kanonen so große Herrscher wie der
-Nizam von Hyderabad und der Gaikawar von Baroda haben, vermag ich, wie
-gesagt, nicht anzugeben.
-
-Als wir das Bungalow betraten, fanden wir die große Halle im Erdgeschoß
-bereits voller Menschen, und noch immer kamen neue Wagen vorgefahren.
-Die Versammlung bot ein hübsches Schauspiel; alles funkelte und blitzte
-wie bei einem Feuerwerk, so bunt waren die Kostüme und so glänzend
-die Farben. Ganz besonders merkwürdig fand ich die Ausstellung der
-verschiedenen Turbans. Ihre wunderbare Mannigfaltigkeit erklärte sich
-dadurch, daß die Mitglieder der Dschaina-Gesandtschaft aus allen Teilen
-Indiens stammten und jeder einen Turban trug, wie er in seiner Gegend
-Sitte war.
-
-Ich würde dort gern eine Konkurrenz-Ausstellung von christlichen
-Trachten und Kopfbedeckungen veranstaltet haben. Dazu hätte ich nur
-alle indische Herrlichkeit aus einer Hälfte des Raumes zu entfernen und
-diese mit Christen aus Amerika, England und den Kolonien anzufüllen
-brauchen, welche Hüte und Kleider trugen, wie sie vor zwanzig,
-vierzig, fünfzig Jahren Mode waren oder wie man sie heutzutage hat.
-Es wäre eine greuliche Sammlung gewesen, ein Anblick von ausgesuchter
-Scheußlichkeit. Auch die weiße Gesichtsfarbe hätte ihr Teil dazu
-beigetragen. Sie kommt uns zwar nicht gerade unleidlich vor, solange
-wir uns unter lauter Weißen befinden, sehen wir sie aber zusammen
-mit einer Menge brauner oder schwarzer Gesichter, so wird uns
-augenblicklich klar, daß nur die Gewohnheit sie erträglich macht. Eine
-schwarze oder braune Haut ist fast immer schön, eine weiße nur sehr
-selten. Will man sich hiervon überzeugen, so braucht man nur an einem
-Wochentage in Paris, New York oder London eine Straße hinunterzugehen
--- nicht gerade im vornehmsten Viertel -- und sich zu merken, wie
-vielen Menschen mit gutem Teint man auf einer etwa meilenlangen Strecke
-begegnet. Neben dunkeln Gesichtern sehen die weißen ausgewaschen,
-ungesund, oft förmlich gespensterhaft aus. Schon als Knabe hatte ich
-daheim, zur Sklavenzeit vor dem Bürgerkrieg, Gelegenheit gehabt diese
-Beobachtung zu machen. Wahrhaft bewundernswert erschien mir aber die
-prächtige schwarze Haut der südafrikanischen Zulus aus Durban, die wie
-Atlas glänzte. Ich sehe sie noch vor mir, diese schwarzen Athleten,
-wie sie mit den Rickschas vor dem Hotel auf Kundschaft warteten.
-Die schönen Gestalten waren nur wenig verhüllt durch die leichte
-Sommerkleidung, deren schneeiges Weiß das tiefe Schwarz der Neger um
-so mehr hervortreten ließ. In Gedanken vergleiche ich jene Zulu-Gruppe
-mit den Bleichgesichtern, die soeben an meinem Fenster in London
-vorübergehen:
-
-_Erste Dame_: Gesichtsfarbe: neues Pergament.
-
-_Zweite_: Altes Pergament.
-
-_Dritte_: Weiß und rot; sehr hübsch.
-
-_Ein Mann_: Graues Gesicht mit roten Flecken.
-
-_Ein anderer Mann_: Ungesunde, schuppige Haut.
-
-_Mädchen_: Blaßgelb mit Sommersprossen.
-
-_Alte Frau_: Weißlichgrau.
-
-_Metzgerbursche_: Stark gerötetes Gesicht.
-
-_Gelbsüchtiger Mann_: Helle Senffarbe.
-
-_Aeltere Dame_: Farblose Haut mit zwei großen Muttermälern.
-
-_Aelterer Mann_ (dem Trunk ergeben): Kartoffelnase in einem welken, von
-feuerroten Falten durchzogenen Gesicht.
-
-_Gesunder junger Herr_: Schöner, frischer Teint.
-
-_Kranker junger Herr_: Weiß, wie ein Gespenst.
-
-Die Hautfarbe unzähliger Menschen ist nur eine matte, charakterlose
-Abschattierung dessen, was wir fälschlich ›weiß‹ zu nennen pflegen.
-Manche Gesichter sind mit Pusteln bedeckt oder tragen sonstige
-Zeichen eines ungesunden Blutes, während andere grell abstechende
-Narben und Flecken haben. Im Gesicht des weißen Mannes läßt sich
-nichts verbergen; durch alle erdenklichen Zufälligkeiten werden seine
-Reize beeinträchtigt. Die Damen schminken und pudern sich, brauchen
-Schönheitswasser, Arsenik, und mancherlei Mittel um die Haut zu
-glätten; sie streicheln und schmeicheln, sie schmieren und wirtschaften
-an ihr herum und geben sich unsägliche Mühe sie zu verschönern. Alles
-umsonst. Doch liefern ihre Anstrengungen uns den besten Beweis, welche
-geringe Meinung sie von der Beschaffenheit der Haut im allgemeinen
-haben. Was sie sich nachzuahmen bestreben, gewährt die Natur nur sehr,
-sehr wenigen. Von hundert Personen haben neunundneunzig gewiß einen
-schlechten Teint, und wie lange vermag der Hundertste, dem ein guter
-verliehen ist, sich denselben zu erhalten? Höchstens zehn Jahre.
-
-Nein, der Zulu ist entschieden im Vorteil. Er hat von Anfang an seine
-schöne Gesichtsfarbe und behält sie, solange er lebt. Und wie angenehm
-und wohltuend für das Auge ist erst das bestimmte, glatte, fleckenlose
-Braun des Inders; es braucht keine Farbe zu scheuen, es paßt zu allen
-und erhöht ihren Reiz. Daß sich der Durchschnittsteint des Weißen mit
-dieser wundervollen, köstlichen Färbung auch nur entfernt vergleichen
-ließe, davon kann gar keine Rede sein.
-
-Doch kehren wir zum Bungalow zurück. Am prächtigsten gekleidet waren
-einige Kinder. Von den leuchtenden Farben ihrer kostbaren Stoffe und
-den Edelsteinen, mit denen sie behangen waren, ging ein förmlicher
-Strahlenglanz aus. Man hielt sie für Mädchen, und doch waren es Knaben,
-Natsch-Tänzer von Beruf. Einzeln, zu zweien oder zu vieren standen sie
-auf und tanzten und sangen zu den unheimlichen Klängen der Begleitung.
-Ihre Stellungen und Bewegungen waren höchst anmutig und kunstvoll, aber
-die Stimmen scharf und unangenehm und die Melodien größtenteils sehr
-eintönig.
-
-Nicht lange, so erhob sich draußen ein lautes Hurra und Jubelrufen. Es
-galt dem Fürsten, der mit Gefolge seinen feierlichen Einzug hielt. Er
-war ein stattlicher Herr in wundervollem Kostüm, bedeckt mit Schnüren
-von Perlen und Edelsteinen; unter letzteren befanden sich einige
-Smaragde von erstaunlicher Größe, die in ganz Bombay wegen ihrer
-Schönheit und Kostbarkeit berühmt sind; das Auge konnte sich gar nicht
-satt daran sehen. Auch der kleine Prinz, der den Fürsten begleitete,
-war eine strahlende Erscheinung.
-
-Langwierige Zeremonien fanden nicht statt. Der Fürst schritt mit
-ernster Würde und Majestät auf seinen Thron zu, neben welchem der des
-Prinzen stand. Feierlich saßen die beiden da, während sich rechts und
-links von ihnen das Gefolge gruppierte. Es war das getreue Abbild
-einer Schaustellung, wie wir sie oft in Büchern beschrieben finden.
-Seit Salomo einst die Königin von Saba empfing und seine Schätze vor
-ihr ausbreitete, haben die Fürsten aller Zeiten es für ihre Pflicht
-gehalten, sich mit solchem Gepränge zu zeigen.
-
-Der Führer der Dschaina-Abordnung verlas seine Glückwunschadresse und
-steckte sie dann in ein schön verziertes Silberrohr, das er dem Fürsten
-ehrfurchtsvoll überreichte, worauf dieser es ohne weiteres einem seiner
-Beamten einhändigte. Ich will die Adresse hier mitteilen, denn es ist
-interessant zu sehen, wofür die Untertanen eines indischen Fürsten
-unter der heutigen englischen Herrschaft ihrem Monarchen alles zu
-danken haben. Zur Zeit seines Großvaters, vor anderthalb Jahrhunderten,
-als sich England noch nicht in die indische Verwaltung einmischte,
-hätte man sich bei der Dankadresse sehr kurz fassen können. In jenen
-Tagen der Freiheit würde das Volk dem Fürsten gedankt haben:
-
-1. Daß er nicht aus bloßer Laune zu viele seiner Untertanen erschlagen
-habe.
-
-2. Daß er sie nicht durch Erhebung willkürlicher Abgaben gänzlich
-ausgesogen und der Hungersnot preisgegeben habe.
-
-3. Daß er nicht unter nichtigem Vorwand die Reichen getötet und ihr
-Vermögen eingezogen habe.
-
-4. Daß er die Angehörigen des Königshauses nicht getötet, geblendet,
-eingekerkert oder verbannt habe, um seinen Thron gegen Verschwörungen
-zu sichern.
-
-5. Daß er sich nicht habe bestechen lassen, irgend einen seiner
-Untertanen heimlich den Banden berufsmäßiger Thugs zu überliefern,
-damit sie ihn im Hinterhof des Fürstenschlosses nach Belieben ermorden
-und ausplündern konnten.
-
-Das waren die gebräuchlichsten Maßregeln der Fürsten in alter Zeit;
-aber diese sowohl wie einige andere, nicht minder harte, sind unter
-der englischen Herrschaft schon längst abgeschafft worden. Bessere
-Mittel und Zwecke sind seitdem an ihre Stelle getreten, wie uns die
-Glückwunschadresse der Dschaina sofort beweisen wird. Dieselbe lautete:
-
- »Allergnädigster Fürst! -- Wir, die unterzeichneten Mitglieder
- der Dschaina-Gemeinde von Bombay, nähern uns Eurer Hoheit mit
- aufrichtiger Freude, um wegen der kürzlich erfolgten Ernennung
- Eurer Hoheit zum Ritter des erhabenen Sternordens von Indien,
- unsere herzlichsten Glückwünsche darzubringen. Vor zehn Jahren
- durften wir Eure Hoheit unter Umständen in dieser Stadt
- willkommen heißen, welche in der Geschichte Ihrer Herrschaft
- eine denkwürdige Episode bezeichnen; denn ohne die Besonnenheit
- und Großmut, welche Eure Hoheit in den Verhandlungen zwischen
- dem Palitana Dunbar und der Dschain-Gemeinde an den Tag
- legten, hätte der versöhnliche Geist unseres Volkes keine
- Frucht tragen können. Das war der erste Schritt Eurer Hoheit
- bei Uebernahme der Verwaltung, durch welchen Sie sich nicht nur
- die dankbare Anerkennung der Dschain-Gemeinde, sondern auch
- der Regierung von Bombay gesichert haben. Nachdem nun Eure
- Hoheit zehn Jahre lang alle Erfahrung, Kraft und Fähigkeit
- in den Dienst der Verwaltung gestellt hat, ist Eurer Hoheit
- verdientermaßen die erhabene und ehrenvolle Auszeichnung der
- Ernennung zum Ritter des Sternordens zu teil geworden, den
- kein anderer Fürst vom Range Eurer Hoheit, soviel wir wissen,
- je zuvor erhalten hat. Wir können Eurer Hoheit die untertänige
- Versicherung geben, daß wir auf diese Ehrenbezeigung aus der
- Hand Ihrer Majestät, unserer gnädigsten Kaiserin und Königin,
- nicht weniger stolz sind als Eure Hoheit selbst. Wir verdanken
- Eurer Hoheit während dieser zehn Jahre die Einrichtung vieler
- Faktoreien, Schulen, Hospitäler und dergleichen im Staate,
- und wir hoffen, daß Eure Hoheit noch lange mit Weisheit und
- bewährter Umsicht über das Volk herrschen werde, um die vielen
- von Eurer Hoheit gütigst angebahnten Reformen auch künftig
- in Gnaden zu fördern. Indem wir nochmals unsere wärmsten
- Glückwünsche aussprechen, verharren wir als Eurer Hoheit
- untertänigste Diener.«
-
-Faktoreien, Schulen, Hospitäler, Reformen! Das sind die Sachen, welche
-die Fürsten Indiens neuerdings unterstützen und wofür sie Orden und
-Kanonen erhalten!
-
-Auf die Adresse antwortete der Fürst kurz und bündig, dann unterhielt
-er sich noch ein paar Augenblicke mit dem einen oder andern der Gäste
-auf Englisch und mit mehreren Beamten in einer indischen Sprache;
-zuletzt wurden, wie gewöhnlich, Kränze verteilt und die Festlichkeit
-war zu Ende.
-
-
-
-
-Sechstes Kapitel.
-
- Jeder Mensch hat ein Geburtsrecht auf etwas, das alle
- seine andern Besitztümer überdauert -- es ist sein letzter
- Atemzug.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Am selben Abend, gegen Mitternacht, wohnten wir noch einem andern
-Feste bei, nämlich einer Hindu-Hochzeit, oder richtiger gesagt, einer
-Verlobungsfeier. Bisher hatte sich auf den Straßen, durch die wir
-fuhren, stets ein buntes, malerisches Schauspiel entfaltet, sie waren
-von einer zahlreichen, lärmenden Menge angefüllt gewesen; jetzt fand
-nichts dergleichen statt. Es herrschte überall Totenstille; selbst das
-Geschrei der Krähen war verstummt. Aber leer konnte man die Straßen
-doch nicht nennen, denn auf dem Boden lagen schlafende Eingeborene zu
-Hunderten, der Länge nach ausgestreckt und bis über den Kopf fest in
-Decken gewickelt. So starr und regungslos lagen sie da, daß man sie für
-Tote halten konnte.
-
-Damals hatte die Pest, welche jetzt in Bombay wütet, noch nicht ihren
-Einzug in die Stadt gehalten. Heute[1] stehen die Läden verödet da, die
-Hälfte der Bewohner hat die Flucht ergriffen und die Zurückgebliebenen
-kommen massenhaft an der Krankheit um. Ohne Zweifel sehen die Straßen
-jetzt bei Tage so aus wie damals zur Nachtzeit. Als wir immer weiter
-in dem Hindu-Viertel vordrangen und in enge, düstere Gassen gelangten,
-mußten wir sehr behutsam fahren, weil der Wagen beinah nicht Raum genug
-fand, um zwischen den Schläfern durchzukommen, die sich allenthalben
-gelagert hatten. Von Zeit zu Zeit huschte eine Schar Ratten in dem
-ungewissen Dämmerschein dicht vor den Hufen der Pferde vorüber --
-dieselben Ratten, welche jetzt in Bombay die Pest von Haus zu Haus
-schleppen. Die Kaufläden sind nur eine Art Verschläge -- kleine Buden,
-die nach der Straße zu offen stehen. Man hatte die Waren fortgenommen
-und ganze Familien schliefen auf den Ladentischen, meist beim Schein
-einer Oellampe. Es sah aus wie eine Totenwacht.
-
- [1] Der Verfasser schrieb dies 1897.
-
-Endlich bogen wir um eine Ecke und hatten eine förmlich strahlende
-Beleuchtung vor uns. Das Haus der Braut war in ein Lichtmeer von
-Gasflammen getaucht, welche die mannigfaltigsten Figuren bildeten.
-Auch drinnen prangte alles in hellstem Glanze -- Kostüme, Spiegel,
-Beleuchtung, Farben brachten im Verein mit der ganzen Ausschmückung
-der Räume eine so feenhafte Wirkung hervor, als hätte sie Aladdins
-Wunderlampe hergezaubert.
-
-Die Braut war ein zierlich gebautes, schmuckes kleines Ding von zwölf
-Jahren, sehr kostbar gekleidet, aber mehr wie ein Knabe. Sie bewegte
-sich ungezwungen unter den Gästen oder blieb stehen, um sich mit
-diesem oder jenem zu unterhalten und ihren Hochzeitsschmuck befühlen
-und bewundern zu lassen. Am schönsten fand ich eine Schnur großer
-Diamanten, an welcher ein prächtiger Smaragd hing.
-
-Der Bräutigam war nicht zugegen; er beging eine besondere
-Verlobungsfeier in seinem väterlichen Hause. Wie man mir sagte, mußte
-sowohl er wie die Braut eine Woche lang alle Abend Gäste empfangen,
-welche fast die ganze Nacht hindurch im Hochzeitshause blieben. Dann
-heirateten sich die Brautleute, falls sie noch am Leben waren. Die
-Kinder zählten beide zwölf Jahre -- ein ältliches Paar nach indischen
-Begriffen -- sie hätten schon seit einem Jahre verheiratet sein sollen;
-einem Fremden kamen sie freilich noch jung genug vor.
-
-Etwas nach Mitternacht erschienen ein paar berühmte und hochgeschätzte
-Natsch-Tänzerinnen in den prachtvollen Sälen, um ihre Kunst zu zeigen.
-Zu ihrem Gesang und Tanz machten Männer auf sonderbaren Instrumenten
-eine unheimliche, lärmende Musik, bei deren Klängen mich eine Gänsehaut
-überlief. Ein Tanz der Mädchen sollte einen Schlangenzauber darstellen.
-Mir schien zwar die Flötenbegleitung, welche dazu ertönte, wenig
-geeignet, irgend etwas zu bezaubern, doch versicherte mir ein vornehmer
-Hindu, daß die Schlangen solche Musik sehr lieben; sie kommen aus
-ihren Höhlen heraus und lauschen ihr mit allen Zeichen von Wonne und
-Wohlbehagen. Bei einer Vorstellung in seinem Garten, sagte er, seien
-einmal sechs Schlangen von den Tönen der Flöte herbeigelockt worden und
-man hätte sie nicht bewegen können sich wieder zu entfernen, bevor die
-Musik zu Ende war. Ihre gefährliche Nähe war zwar keinem Anwesenden
-erwünscht, weil sie sich frech und allzu vertraulich benahmen, aber
-natürlich wollte niemand sie töten, denn der Hindu hält es für Sünde,
-irgend ein Geschöpf umzubringen.
-
-Gegen zwei Uhr morgens verließen wir die Festlichkeit. Unterwegs sah
-ich noch ein Bild, das sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt hat.
-Eine glänzend erleuchtete Vorhalle, zu der mehrere Treppenstufen
-emporführten, überall schwarze Gesichter und gespenstische, weiße
-Gewänder; in ihrer Mitte eine wahre Riesengestalt, den Turban auf dem
-Haupte, mit einem Namen, der zu ihrer Größe paßte: Rao Bahadur Baskirao
-Balinkanje Pitale, Vakeel seiner Hoheit des Gaikawar von Baroda. Der
-Mann gehörte notwendigerweise zur Vervollständigung des Gemäldes,
-aber wenn er Smith hieße, hätte es den ganzen Eindruck verdorben. Auf
-beiden Seiten der engen Straße hatte man die Häuser in der bei den
-Hindus gebräuchlichen Weise illuminiert. Viele Dutzende von Gläsern
-mit brennenden Lichtern waren wenige Zoll von einander auf großen
-Lattengestellen befestigt, so daß sie leuchtende Sterne bildeten, deren
-Strahlenglanz sich grell von dem schwarzen Hintergrund abhob. Als wir
-weiter durch die düstern Gassen fuhren, verschmolzen in der Ferne alle
-Sternbilder zu einer einzigen Lichtmasse, die wie eine große Sonne in
-der Finsternis glühte.
-
-Dann folgte wieder jene tiefe Stille; Ratten huschten über den Weg,
-überall lagen unbewegliche Gestalten auf der Erde und rechts und links
-sah man die offenen Buden gleich Särgen, in denen Leichen zu liegen
-schienen, welche von flackernden Totenlampen unheimlich beleuchtet
-wurden. Seitdem ist ein Jahr vergangen, und wenn ich die Kabeldepeschen
-aus Indien lese, meine ich das alles mit eigenen Augen im voraus
-gesehen zu haben, wie in einem prophetischen Traum. Die eine Depesche
-lautet: »In dem Stadtteil der Eingeborenen stocken die Geschäfte,
-die meisten Läden sind geschlossen. Man hört nur Klagelaute und den
-Schritt der Leichenträger, alles übrige Leben scheint erstorben.« In
-einer andern heißt es: »325000 Bewohner haben die Stadt verlassen, und
-verbreiten die Pest über das ganze Land.« Drei Tage später kommt die
-Nachricht: »Die Einwohnerschaft ist auf die Hälfte herabgesunken.«
-Die Flüchtlinge haben die Epidemie in Karachi eingeschleppt. »220
-Krankheitsfälle, 214 Tote.« Tags darauf: »52 neue Fälle, sämtlich mit
-tödlichem Verlauf.«
-
-So fürchterliche Verwüstungen wie der ›Schwarze Tod‹ vermag keine
-Krankheit anzurichten, es gibt keine, welche ähnliches Grauen und
-Entsetzen im Gefolge hat. Wir können uns von dem Schrecken, der in
-solcher verpesteten Stadt herrscht, nur eine schwache Vorstellung
-machen. Zwar gibt die wilde Flucht einer halben Million Einwohner
-Zeugnis von ihrem Seelenzustand, aber wer schildert die Qual und
-Todesangst derer, die zurückbleiben müssen und sich rettungslos dem
-unaufhaltsam nahenden Verhängnis preisgegeben sehen?
-
-Indien ist einzig in seiner Art und es hat das alleinige Recht auf
-verschiedene Spezialitäten von überwältigender Großartigkeit. Wenn
-irgend ein Land sonst eine Merkwürdigkeit besitzt, ist sie doch nicht
-sein ausschließliches Eigentum; man findet das Gegenstück in einem
-andern Lande. Aber Indien hat Wunderdinge erzeugt, die ihm allein
-gehören, niemand wagt sein Patentrecht anzutasten, Nachahmungen sind
-gänzlich ausgeschlossen. Und dabei welche Größenverhältnisse, welche
-Majestät! Wie fremdländisch und unheimlich sind die meisten dieser
-Erfindungen.
-
-Von dem Schwarzen Tod haben wir schon gesprochen. Er ist Indiens
-eigenstes Werk. In Indien wurde dieser mächtige Fürst der Schrecken
-geboren.
-
-Auch den Wagen des Juggernaut hat sich Indien ausgedacht. Desgleichen
-die Suttis. Es leben noch Menschen, zu deren Zeit sich achthundert
-Witwen in einem Jahre, freiwillig und unter Frohlocken, mit den
-Leichen ihrer Ehemänner verbrennen ließen. Noch in diesem Jahre würden
-es abermals achthundert tun, wenn die britische Regierung es ihnen
-gestattete.
-
-Auch eine Hungersnot wie in Indien gibt es nirgends. Wenn anderswo
-Mangel eintritt, ist es ein verhältnismäßig unbedeutendes,
-vorübergehendes Ereignis; die indische Hungersnot aber bricht herein
-gleich einer verheerenden Flut und tötet Millionen, wo an andern Orten
-Hunderte sterben würden.
-
-Indien hat zwei Millionen Götter und betet sie sämtlich an. In
-religiöser Beziehung sind alle andern Länder Bettler und Indien der
-einzige Millionär.
-
-Alles nimmt dort einen Riesenmaßstab an -- sogar die indische Armut hat
-nirgends auf Erden ihresgleichen. Der Reichtum aber verfügt über solche
-Schätze, daß man für die größten Summen ganz kurze Wörter erfinden
-mußte. Um hunderttausend auszudrücken, sagt man ein _~lakh~_, und ein
-_~crore~_ bedeutet zehn Millionen.
-
-Im Innern seiner Granitberge hat Indien, mit namenloser Geduld,
-Dutzende von großen Tempeln in den Fels gehauen, sie durch großartige
-Säulenhallen und Statuen geschmückt und ihre ewigen Mauern mit stolzen
-Gemälden bedeckt. Es hat sich starke Burgen von solchem Umfang
-errichtet, daß selbst die großen Musterfestungen der übrigen Welt
-dagegen wie Spielzeug aussehen. Seine Paläste sind aus dem erlesensten
-Baumaterial und mit so viel Feinheit und Kunstfertigkeit ausgeführt,
-daß man sie anstaunt wie Wunderwerke; um eins seiner Grabmäler -- den
-Tadsch-Mahal -- zu sehen, reisen die Menschen rund um die Erde. Achtzig
-Völker, die achtzig Sprachen reden, bewohnen das Land, ihre Zahl
-beläuft sich auf dreihundert Millionen.
-
-Und zu Indiens merkwürdigsten Eigentümlichkeiten gehört noch das
-Kastenwesen und das Geheimnis aller Geheimnisse -- die satanische
-Genossenschaft der Thugs.
-
-Im Anfang aller Dinge hatte Indien einen Vorsprung vor der ganzen
-übrigen Welt. Es besaß die früheste Kultur, die erste Anhäufung
-materieller Reichtümer, eine Menge der tiefsten Denker, der größten
-Weisen, Fruchtbarkeit des Bodens, reiche Bergwerke und große Wälder.
-Hätte man da nicht meinen sollen, es würde seine Führerschaft auch
-ferner behaupten und eines Tages, statt sich in Demut einem fremden
-Machthaber zu unterwerfen, selbst die Welt beherrschen und jeder
-Nation, jedem Volksstamm der Erde Gesetze vorschreiben? -- Und doch
-ist eine solche Oberherrschaft Indiens von jeher unmöglich gewesen. Wo
-es achtzig Völkerschaften und Hunderte von Regierungen gibt, kann von
-einheitlicher Macht nicht die Rede sein. Das Hauptgeschäft des Lebens
-wird Kampf und Streit, gemeinsame Ziele und Zwecke sind ausgeschlossen;
-aus solchen Elementen entsteht keine Weltherrschaft. Nicht nur durch
-die Verschiedenartigkeit der Sprachen, sondern vor allem durch das
-Kastenwesen mag die Zersplitterung entstanden sein. Dadurch wurde
-das Volk in einzelne Schichten geteilt und diese wieder in Ober- und
-Unterschichten, welche kein Gefühl der Zusammengehörigkeit miteinander
-verband. Bei solchen Zuständen war eine gesunde Entwicklung der
-Vaterlandsliebe völlig undenkbar.
-
-Hätte es in Indien nicht so viele Reiche und Völker gegeben, so würden
-auch die Thugs dort schwerlich haben entstehen und gedeihen können.
-An jeder Grenze wurden Reisende und Kaufleute fortwährend belästigt,
-denn überall stießen sie auf Wächter und Zollhäuser; Dolmetscher,
-welche alle Sprachen verstanden, gab es so gut wie gar nicht, auch
-herrschte ein fortgesetzter Kriegszustand bald in diesen bald in jenen
-Reichen. Das alles hinderte die Sicherheit des allgemeinen Verkehrs und
-öffnete dem Räuberwesen Tür und Tor -- was jedem gescheiten Menschen,
-den seine angeborene Neigung zu diesem Beruf trieb, auf der Stelle
-einleuchten mußte. Da es nun in Indien durchaus nicht an klugen Leuten
-fehlte, die sich zum Räuberwesen hingezogen fühlten, bildete sich auf
-ganz natürliche Weise die Genossenschaft der Thugs, um einem längst
-empfundenen Bedürfnis zu entsprechen.
-
-Um welche Zeit das geschehen ist, weiß niemand; vermutlich schon
-vor Jahrhunderten. Was uns am meisten dabei Wunder nimmt ist, daß
-es gelingen konnte, die unheilvolle Verbindung so lange geheim zu
-halten. Englische Kaufleute hatten schon seit zweihundert Jahren in
-Indien Handel getrieben, ohne je etwas davon zu hören, und doch wurden
-alljährlich Tausende in ihrer nächsten Nähe von den Thugs umgebracht.
-
-Daß es auch amtliche Berichte über die Thugs gibt, habe ich erst
-neuerdings erfahren. Es war mir von großem Wert, das betreffende
-Schriftstück eine Zeitlang zur Einsicht zu erhalten.
-
-
-
-
-Siebentes Kapitel.
-
- Feind und Freund müssen zusammen wirken, um unserm Herzen
- wehe zu tun; der eine streut die Verleumdung aus, der
- andere hinterbringt sie uns.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-_Aus dem Tagebuch. 28. Januar._ -- Wir machen jetzt
-Reisevorbereitungen, die hauptsächlich in der Anschaffung von Betten
-bestehen. Im Schlafwagen der Eisenbahn, manchmal auch in Privathäusern
-und in neun Zehnteln aller Hotels muß man Betten mitbringen. Das ist
-unbegreiflich und doch wahr. Die Einrichtung stammt aus alter Zeit
-und ist jetzt anscheinend unnötig, aber sie hat seltsamerweise alle
-Zustände überlebt, die sie einst zur Notwendigkeit machten. Als sie
-eingeführt wurde, gab es weder Eisenbahnen noch Hotels; der Weiße
-machte seine gelegentlichen Reisen zu Pferde oder im Ochsenwagen und
-fand die Nachtherberge auf einer der kleinen Poststationen, welche
-die Regierung in gewissen Entfernungen von einander anlegen ließ
--- sie boten ein Obdach, weiter nichts. Wer ein Bett haben wollte,
-mußte selbst dafür sorgen. Jetzt wohnen die ansässigen Engländer
-in geräumigen, bequem eingerichteten Häusern, und es muß sich
-ganz sonderbar ausnehmen, wenn ein halbes Dutzend Gäste in solche
-moderne Wohnung mit Decken und Kopfkissen einziehen, die sie überall
-herumwerfen. Doch der Mensch findet sich in alles, sobald es Sitte und
-Brauch ist.
-
-Man kann die Betten, nebst einem Behälter aus Gummistoff im ersten
-besten Laden kaufen. Das hat nicht die geringste Schwierigkeit.
-
- * * * * *
-
-_30. Januar._ Vor Abgang des Zuges bot der Bahnhof ein merkwürdiges
-Schauspiel. Das Gebäude ist sehr groß, aber es war als hätte sich dort
-die ganze Welt versammelt: eine Hälfte drinnen, die andere draußen,
-alle mit berghohen Bettstücken und anderm Gepäck beladen. Beide Hälften
-versuchten zu gleicher Zeit aneinander vorbei durch eine enge Tür zu
-kommen. Diese zwei Menschenströme bestanden aus sanften, geduldigen,
-langmütigen Eingeborenen, unter denen sehr wenige Weiße verstreut
-waren. Nur die Hindu-Diener der Europäer legten zeitweise ihre
-natürliche Sanftmut ab und maßten sich das Vorrecht der Weißen an, alle
-Farbigen beiseite zu schieben, um rascher für sich Bahn zu machen. Es
-war eine Schande, wie herrisch und unverschämt sich zum Beispiel unser
-Satan dabei benahm. Vermutlich ist er auf einer früheren Stufe der
-Seelenwanderung ein fanatischer Thug gewesen.
-
-Drinnen im Bahnhof fluteten Massen von Eingeborenen, in sämtliche
-Farben des Regenbogens gekleidet, nach allen Seiten wirr durcheinander.
-Voll Eifer und Hast, in der Angst sich zu verspäten, strömten sie
-nach den langen Wagenreihen hin, wo sie im Innern mit ihren Packen
-und Bündeln verschwanden, von immer neuen Menschenfluten gefolgt.
-Und mitten in diesem Wirrwarr und Getöse saßen -- anscheinend in
-voller Gemütsruhe -- zahlreiche Gruppen von Farbigen auf den nackten
-Steinfliesen: schlanke, braune Mädchen, alte, graue, runzlige Weiber,
-kleine Kinder mit weichen Gliedern, alte und junge Männer und braune
-Knaben; lauter arme Leute, aber der weibliche Teil, sowohl groß wie
-klein, mit billigen, glänzenden Ringen an Nase, Zehen, Armen und
-Beinen geschmückt, die vermutlich ihren einzigen Reichtum ausmachten.
-Schweigend und geduldig saßen sie da mit ihren armseligen Bündeln,
-Körben und Hausgeräten und warteten auf ihren Zug, der zu irgend einer
-Stunde des Tages oder der Nacht abfahren würde. Sie hatten die Zeit
-nicht gut berechnet, aber was schadete das -- vom Schicksal war es so
-über sie verhängt, wozu sich da beunruhigen? Zeit hatten sie vollauf,
-endlose Stunden lagen vor ihnen, und was geschehen sollte, würde
-geschehen -- keine Macht der Erde konnte es beschleunigen.
-
-Die Eingeborenen reisten dritter Klasse für ein unglaublich billiges
-Fahrgeld. Man packte sie eng zusammen in Wagen, von denen jeder etwa
-fünfzig Personen fassen konnte. So geschah es oft, daß Brahminen der
-höchsten Kaste in persönliche Berührung mit Leuten aus der niedrigsten
-Kaste gebracht und folglich verunreinigt wurden, was natürlich jedem in
-die Verhältnisse Eingeweihten höchst anstößig vorkam. Es konnte sich
-leicht ereignen, daß ein Brahmine, der keine Rupie besaß, dicht neben
-den reichen Erbherrn aus einer niedern Kaste zu stehen kam, welcher
-Inhaber eines alten, mehrere Ellen langen Titels war. Trotz seiner
-erhabenen Würde mußte der arme Brahmine sich darein ergeben, denn falls
-einer von beiden Erlaubnis erhielt, bei den geheiligten Weißen Platz zu
-nehmen, so war es sicherlich nicht er, sondern der unwürdige Reiche.
-Der Zug hatte eine endlose Reihe solcher Wagen dritter Klasse, denn
-die Hindus reisen in ganzen Horden. Was für eine erbärmliche Nacht
-mögen sie da drinnen verlebt haben.
-
-Als wir bei unserm Wagen anlangten, fanden wir Satan und Barney
-mit ihrem Gefolge von Hindus, welche Bettstücke, Sonnenschirme und
-Zigarrenkisten trugen, schon in voller Tätigkeit. Barney war eine
-Abkürzung; unsern zweiten Diener bei seinem eigentlichen Namen zu
-nennen hätte zuviel Zeit gekostet. Wir fanden die innere Einrichtung
-des Coupés keineswegs unbehaglich, aber von einer Einfachheit, wie
-man sie selbst in Frankreich und Italien nicht kennt. Die Wände
-aus billigen, zum Teil rohen Brettern gezimmert, mit dunkler Farbe
-angestrichen ohne alle Verzierung. Der Boden war ohne Decke, aber nur
-zu bald sollte fingerdicker Staub darauf liegen. An einer Seite des
-Coupés befand sich ein Netz zur Aufnahme des Handgepäcks, auf der
-entgegengesetzten eine Tür, die immer wieder aufsprang, man mochte sie
-schließen so oft man wollte; sie führte in einen kleinen Toiletteraum,
-wo man sein Handtuch aufhängen konnte, falls man eins hatte. Man
-kauft die Handtücher mit den Betten, auf der Eisenbahn werden keine
-geliefert. An jeder Seite der Wand lief der ganzen Länge nach ein
-breites Ledersofa hin, und über demselben hing an Riemen ein flaches
-Schlafbrett mit ledernem Ueberzug; es wird nachts heruntergelassen
-und bei Tage an der Wand fest gemacht, wo es niemand im Wege ist. So
-bleibt der große Mittelraum frei und man kann sich ungehindert darin
-ausbreiten. Eine so bequeme Einrichtung habe ich noch in keinem Lande
-gefunden, auch ist man ganz ungestört, weil meistens nur zwei Fahrgäste
-in einem Coupé sitzen; aber selbst vier Personen haben hinreichend
-Platz, ohne einander im geringsten zu beengen. Sogar auf unsern
-amerikanischen Eisenbahnen, die sonst besser sind als alle andern,
-fühlt man sich nicht so gemütlich wie hier, weil zu viele Reisende in
-einem Wagen fahren.
-
-Ueber den Sofas befanden sich längs des ganzen Coupés große
-blaugefärbte Fensterscheiben. Das blaue Licht sollte die Augen vor dem
-blendenden Sonnenschein schützen, und wer Luft haben wollte, ließ die
-Fenster herunter. Zwei Oellampen an der Decke brannten so hell, daß man
-lesen konnte, wollte man es dunkel haben, so zog man einen Schirm aus
-grünem Stoff davor.
-
-Während wir vor der Abfahrt draußen noch mit Freunden sprachen,
-ordneten Barney und Satan drinnen unser Handgepäck, samt Büchern,
-Früchten und Sodawasserflaschen in den Netzen; die Bettsäcke und das
-schwere Gepäck schafften sie in das Waschkabinett, hingen Mäntel,
-Sonnenhelme und Handtücher auf die Haken und befestigten die beiden
-Schlafbretter an der Wand; dann nahmen sie ihre eigenen Betten auf die
-Schulter und begaben sich nach der dritten Klasse.
-
-So waren wir nun in dem hübschen, großen, hellen, luftigen und
-behaglichen Raum ganz für uns, konnten nach Belieben auf- und abgehen,
-uns hinsetzen und schreiben oder bequem ausgestreckt lesen und rauchen.
-Die Mitteltür am vorderen Ende des Coupés führte in ein zweites, genau
-ebenso eingerichtetes, das meine Frau und Tochter inne hatten. Als wir
-gegen neun Uhr abends an einer Station hielten, fanden sich Barney und
-Satan wieder ein; sie schnallten die großen Bettsäcke auf und ordneten
-die Matratzen, Bettücher, bunten wollenen Decken und Kopfkissen auf den
-Sofas beider Coupés zu einem vollständigen Lager. Zimmermädchen gibt es
-in Indien nicht, offenbar ist weibliche Bedienung dort ganz unbekannt.
-Zuletzt schlossen die Diener die Verbindungstür, räumten flink bei uns
-auf, legten unsere Nachthemden aufs Bett, stellten die Pantoffeln
-zurecht und zogen sich wieder in ihr Quartier zurück.
-
- * * * * *
-
-_31. Januar._ Mir war das alles ganz neu und ich fühlte mich so
-behaglich, daß ich solange wie möglich wach blieb und einen Bericht
-über die merkwürdigen Thugs las. Sie folgten mir auch in meine Träume
-und wollten mich erdrosseln. Ihr Anführer war der riesengroße Hindu,
-welcher mir bei meiner Rückkehr von jener Verlobungsfeier um zwei Uhr
-nachts in der grellen Beleuchtung einen so malerischen Eindruck gemacht
-hatte -- Rao Bahadur Baskirao Balinkanje Pitale, Vakeel des Gaikawar
-von Baroda. Durch ihn war mir die Einladung seines Herrn überbracht
-worden, welche mich nach Baroda rief, um dem Fürsten eine Vorlesung
-zu halten; ich war auf dem Wege dahin, und jetzt behandelte mich der
-Mensch so schlecht! Aber im Traum ist ja alles möglich.
-
-_Baroda._ -- Wir kamen um sieben Uhr morgens an, als es eben dämmerte.
-Es war ungemütlich, zu so früher Stunde an einem fremden Orte
-auszusteigen, zumal die matt schimmernden Laternen im Bahnhof uns
-den Eindruck machten, als sei es noch Nacht. Allein die Herren, die
-sich mit großer Dienerschaft zu unserm Empfang eingefunden hatten,
-ließen uns keine Zeit zum Besinnen. Bald waren wir draußen, dann
-ging es rasch weiter im milden Dämmerlicht und binnen kurzem hatte
-man uns alle behaglich untergebracht. Zahlreiche Diener standen zu
-unserer Verfügung, deren Aufseher so vornehme Beamte waren, daß es
-uns ordentlich in Verlegenheit setzte. Wir fügten uns jedoch der
-Landessitte, das Benehmen der Herren war höchst verbindlich und
-gastfreundlich, sie sprachen einheimisches Englisch, es ging alles
-vortrefflich und das Frühstück kam uns sehr gelegen.
-
-Jenseits der Wiese sah man durch das offene Fenster einen indischen
-Brunnen; zwei Ochsen gingen mit langsamen Schritten den allmählich
-abfallenden Weg herauf und hinunter, um Wasser zu ziehen. Das
-Klagegestöhn der Maschine unterbrach die Stille, es waren nicht gerade
-melodische Laute, aber doch lag eine sanfte, träumerische Schwermut
-darin, als wehklagten abgeschiedene Geister und als würden alte
-Erinnerungen wieder lebendig; denn natürlich pflegten die Thugs ihre
-Opfer in jenen Brunnen zu werfen, nachdem sie ihnen den Garaus gemacht
-hatten.
-
-Nach dem Frühstück begann für uns ein sehr ereignisreicher Tag. Wir
-fuhren auf gewundenen Pfaden durch einen ungeheuren Park mit stolzen
-Waldbäumen, dicht verschlungenen Dschungels und einem Gewirr von
-allerlei reizenden Gewächsen. An einer Stelle stürmten plötzlich
-drei große graue Affen quer über den Weg. Das war keine angenehme
-Ueberraschung; solche Bestien gehören in eine Menagerie, in der Wildnis
-machen sie einen unnatürlichen Eindruck und sind nicht an ihrem Platze.
-
-Mit der Zeit erreichten wir die Stadt und fuhren mitten hindurch. Sie
-war ganz und gar indisch, vermodert und zerfallen und schien über alle
-Begriffe alt zu sein. Höchst merkwürdig fanden wir die Häuser, deren
-ganze Vorderseite mit schön verschlungener Holzschnitzerei geschmückt
-war, die der feinsten Spitzenarbeit glich, und außerdem mit rohen
-Bildwerken, welche Elefanten, Fürsten und Götter in den schreiendsten
-Farben darstellten.
-
-In den engen, winkligen Gassen lag im Erdgeschoß ein Laden am andern;
-die winzigen Buden waren über und über mit unglaublichem Krimskrams
-angefüllt, der verkauft werden sollte, oder es hockten darin fast
-völlig nackte Eingeborene bei ihrer Arbeit; sie klopften, hämmerten,
-verlöteten und bronzierten allerlei, sie nähten, kochten, maßen Korn ab
-und mahlten es oder besserten Götzenbilder aus; gleichzeitig wälzte
-sich eine zerlumpte, lärmende Menschenschar unter den Hufen unserer
-Pferde und allenthalben umher. Und dazu diese Gerüche, diese Dünste,
-dieser Gestank! Es war alles wundervoll und entzückend!
-
-Man stelle sich einmal vor, wie es sein muß, wenn ein Zug Elefanten
-durch solche enge Straßen schreitet, auf beiden Seiten anstößt und
-die Farbe von den Häusern wetzt. Wie groß müssen die Tiere und wie
-klein dagegen die Gebäude aussehen! Und wenn die Elefanten gar in
-ihren glänzenden Hof-Schabracken einherkommen, welcher Abstand gegen
-diese schmutzige, armselige Umgebung! Liefe nun einmal ein Elefant
-in rasender Wut durch diese Stadtteile und schlüge nach rechts und
-links mit dem Rüssel um sich, wie sollten ihm da die Menschenmassen
-ausweichen? Daß Elefanten manchmal Wutanfälle bekommen ist ja eine
-erwiesene Sache.
-
-Wie alt mag die Stadt wohl sein? Man kommt an massiven Bauwerken und
-Denkmälern vorbei, die so zerfallen und abgelebt aussehen, so müde
-und altersschwach, so verstört und verdummt vor lauter Anstrengung
-sich an Dinge zu erinnern, die sie längst vergessen hatten, ehe es
-überhaupt eine Geschichte gab, daß man meinen sollte, sie stünden seit
-Erschaffung der Welt auf ihrem Fleck. Baroda ist eins der ältesten
-Reiche Indiens; es hat sich von jeher durch barbarische Pracht und
-Herrlichkeit und die unermeßlichen Schätze seiner Fürsten berühmt
-gemacht.
-
-Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten, fuhren wir lange durch
-offenes Gelände an abgelegenen Dörfern vorbei, die ganz von tropischen
-Pflanzen überwuchert waren. Ueberall herrschte Sabbatstille und man
-hatte das Gefühl tiefster Einsamkeit, denn die Eingeborenen glitten wie
-Geister vorüber, man vernahm keinen Tritt ihrer nackten Füße; andere
-sah man gleich Traumgestalten in der Ferne verschwinden. Dann und wann
-zog eine Reihe stattlicher Kamele auf den leisen Sohlen, die ihnen die
-Natur verliehen hat, geräuschlos an uns vorbei -- ein interessanter
-Anblick. Nur einmal ward die tiefe Ruhe dieses Paradieses unterbrochen,
-als ein Zug eingeborener Strafgefangener mit dem Aufseher daherkam und
-wir das Klirren ihrer Ketten vernahmen. An einem entlegenen Orte ruhte
-ein heiliger Mann unter einem Baum -- ein nackter, schwarzer Fakir. Er
-war nichts als Haut und Knochen und über und über mit weißlichgrauer
-Asche bestreut.
-
-Nach einiger Zeit kamen wir zu den Elefantenställen und ich machte
-einen Spazierritt. Man forderte mich dazu auf; ich selbst hatte nicht
-das geringste Verlangen danach, aber ich tat es doch, damit man nicht
-denken sollte, ich hätte Angst -- was allerdings der Fall war. Auf
-Befehl kniet der Elefant nieder -- erst mit einem Vorderbein, dann mit
-dem andern -- man steigt die Leiter hinauf in die Howdah, das Zelt auf
-seinem Rücken, dann erhebt er sich wieder -- erst eine Seite, dann die
-andere -- gerade wie ein Schiff über die Wogen fährt; wenn er dann
-mit Riesenschritten umhergeht, erinnert auch sein Schwanken an die
-Bewegung eines Schiffes. Sein Treiber, der Mahout, bohrt ihm mit einem
-großen, eisernen Stachelstock in den Hinterkopf; man verwundert sich
-über des Mannes Kühnheit und erwartet jeden Augenblick, daß der Elefant
-die Geduld verlieren wird, aber es geschieht nichts dergleichen. Der
-Treiber redet dem Elefanten die ganze Zeit über mit leiser Stimme
-zu; dieser scheint ihn auch zu verstehen und ganz vergnügt zu sein,
-er gehorcht wenigstens jedem Befehl aufs bereitwilligste. Unter
-den fünfundzwanzig Elefanten waren zwei so große, wie sie mir noch
-nie vorgekommen sind. Hätte ich geglaubt, daß ich mir die Furcht
-abgewöhnen könnte, so würde ich mir einen davon hinter dem Rücken der
-Polizei angeeignet haben.
-
-In dem Howdah-Haus sah ich viele silberne Sessel, auch einen von Gold
-und einen von altem Elfenbein; Kissen und Baldachine waren aus reichen,
-kostbaren Stoffen. Die Garderobe der Elefanten befand sich gleichfalls
-dort: ungeheuere Sammetdecken mit schwerer Goldstickerei, silberne und
-goldene Glocken, welche mit Stricken aus kostbarem Metall befestigt
-werden, und riesige Reifen von massivem Gold, die der Elefant an
-den Fußgelenken trägt, wenn er sich aus Staatsrücksichten bei einer
-Prozession beteiligt.
-
-Die Kronjuwelen bekamen wir leider nicht zu sehen, worüber wir
-sehr enttäuscht waren, denn ihre Menge und Kostbarkeit ist so
-außerordentlich, daß sie die zweitgrößte Sammlung in Indien bilden.
-Statt dessen zeigte man uns irrtümlicherweise den neuen Palast, mit
-dessen Besichtigung wir alle Zeit verschwendeten, die uns noch zur
-Verfügung stand. Das war sehr schade, denn der neue Palast ist ein
-europäisch-amerikanischer Mischmasch, von dem sich nur sagen läßt, daß
-er Unsummen gekostet hat. Nach Indien paßt er ganz und gar nicht; es
-ist eine Frechheit von ihm, sich dort einzudrängen. Der Baumeister
-hat zu seinem Glück rechtzeitig die Flucht ergriffen. Hier wären die
-Thugs am Platze gewesen; man hat doch unrecht getan, sie ganz zu
-unterdrücken. Der alte Palast dagegen ist orientalisch, wundervoll und
-wie für das Land geschaffen. Er wäre schon groß, wenn er nur aus der
-mächtigen Halle bestände, in denen die Durbars, die Staatsaudienzen
-des Fürsten stattfinden. Zu Vorlesungen ist sie nicht geeignet wegen
-der verschiedenen Echos, aber für Durbars und sonstige Staatsaktionen,
-zu denen man sie braucht, ist sie ausgezeichnet. Wenn die Halle mir
-gehörte, würde ich jeden Tag ein Durbar halten und nicht nur zweimal im
-Jahre, wie es hier geschieht.
-
-Der Fürst ist ein gebildeter Herr, er besitzt europäische Kultur
-und ist fünfmal in Europa gewesen. Man sagt, daß dies ein kostbares
-Vergnügen für ihn ist, da er sich manchmal bei der Ueberfahrt genötigt
-sieht aus Gefäßen zu trinken, deren sich auch andere Leute bedienen,
-und das verunreinigt seine Kaste. Um wieder zu Ehren zu kommen muß er
-nach verschiedenen berühmten Hindutempeln wallfahrten und dort ganze
-Vermögen opfern. Seine Untertanen sind sehr fromm, wie alle Hindus, und
-würden sich nicht zufrieden geben, solange ihr Fürst unrein ist.
-
-Wenn wir auch die Juwelen nicht besichtigen konnten, so haben wir
-doch die silberne und die goldene Kanone des Fürsten gesehen -- es
-schienen mir Sechspfünder zu sein. Sie werden nur bei ganz besondern
-Staatsangelegenheiten zum Salutschießen gebraucht. Ein Ahnherr des
-jetzigen Gaikawar ließ die silberne Kanone anfertigen und einer
-seiner Nachfolger bestellte eine goldene, um ihn auszustechen.
-Derartige Geschütze passen vortrefflich nach Baroda, wo man seit
-alter Zeit Schaugepränge in großem Stil geliebt hat. Für Rajahs und
-Vizekönige, die dort zum Besuch kamen, veranstaltete man oft Tiger- und
-Elefantenkämpfe, Illuminationen und Elefanten-Prozessionen von wahrhaft
-großartiger Pracht.
-
-Was ist dagegen unser Zirkus mit all seiner Herrlichkeit! --
-
-
-
-
-Achtes Kapitel.
-
- Hätte der Mensch immer Gelegenheit zum Morden, wenn ihn
- Mordlust überfällt, so kämen viele an den Galgen.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-_Auf der Eisenbahn._ Vor fünfzig Jahren, in meiner Knabenzeit, drangen
-in unser entlegenes, schwach bevölkertes Mississippi-Tal sagenhafte
-Gerüchte von einer Genossenschaft berufsmäßiger Mörder, die in Indien
-hausen sollte, einem Lande, das uns tatsächlich ebenso fern lag wie
-die Sterne, die droben am Himmel funkelten. Man erzählte, es gäbe dort
-eine Sekte, deren Mitglieder sich Thugs nennten und zu Ehren eines
-Gottes, dem sie dienten, den Wanderern an einsamen Orten aufzulauern
-und sie umzubringen pflegten. Jeder hörte diesen Geschichten gern zu,
-aber man glaubte sie nicht, oder doch nur mit Vorbehalt. Man nahm an,
-daß sie sich auf dem weiten Wege bis zu uns lawinenartig vergrößert
-hätten, auch waren sie bald wieder verschollen. Da erschien Eugène Sues
-›Ewiger Jude‹ und machte eine Zeitlang viel von sich reden. Eine Figur
-des Romans ist ›Feringhea‹, der furchtbare, geheimnisvolle Inder, ein
-Häuptling der Thugs, glatt, listig und todbringend wie eine Schlange.
-Durch ihn wurde das Interesse für die Thugs von neuem erweckt, aber
-nach kurzer Zeit schlief es abermals ein und zwar auf immer.
-
-Dies mag wohl auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, doch war
-es der natürliche Lauf der Dinge, wenigstens auf unserer Halbkugel.
-Was man von den Thugs wußte, stammte der Hauptsache nach aus einem
-Regierungsbericht, von dem in Amerika schwerlich jemals etwas verlautet
-ist. Man pflegt dergleichen amtliche Schriftstücke nicht ohne weiteres
-in Umlauf zu setzen; nur gewissen Leuten läßt man sie zukommen, und ob
-diese sie lesen ist noch sehr die Frage. Ich selbst habe vor einigen
-Tagen zum allererstenmal von diesem Bericht gehört und ihn mir zu
-verschaffen gewußt. Er fesselt mich ungemein und macht jene alten
-Märchen aus meinen Knabenjahren zur Wirklichkeit.
-
-Major Sleeman, der in Indien diente, hat das Thug-Buch, von dem ich
-rede, im Jahr 1839 abgefaßt. Es wurde 1840 in Kalkutta herausgegeben,
-ein dicker, plumper Band, der uns zwar keine hohe Meinung vom damaligen
-Stand der Buchdruckerkunst beibringt, aber vielleicht als Erzeugnis
-einer amtlichen Druckerei aus alter Zeit und fernen Landen gar nicht
-so übel war. Dem Major fiel die Riesenaufgabe zu, Indien von den
-Thugs zu befreien und er hat sie mit siebzehn Gehilfen, die unter
-seiner Oberleitung standen, glücklich vollbracht. Die Reinigung der
-Augiasställe war nichts dagegen.
-
-Damals schrieb Hauptmann Valencey in einer Zeitung, die in Madras
-erschien: »Wenn der Tag kommt, an dem jenes weit verbreitete Uebel
-in Indien ausgerottet und nur noch dem Namen nach bekannt ist, wird
-dies viel dazu beitragen, die britische Herrschaft im Orient auf ewige
-Zeiten zu befestigen.«
-
-Er hat die Größe und Schwierigkeit des Werkes, durch dessen Vollendung
-sich England ein unsterbliches Verdienst erworben hat, in keiner Weise
-überschätzt.
-
-Von dem Vorhandensein der furchtbaren Sekte waren die britischen
-Behörden schon seit 1810 unterrichtet, doch ahnte kein Mensch ihre
-weite Ausdehnung; man legte ihr nur geringe Bedeutung bei und erst
-1830 wurden systematische Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung getroffen.
-Damals war es Major Sleeman gelungen, den Thug-Häuptling Eugène Sues
-in seine Gewalt zu bekommen, und der furchtbare Feringhea ließ sich
-bewegen Kronzeuge zu werden. Die Enthüllungen, die er machte, waren
-so ungeheuerlicher Art, daß sie Sleeman ganz unglaublich schienen.
-Er hatte in dem Wahn gelebt, er kenne sämtliche Verbrecher in seinem
-Bezirk und hatte die schlimmsten höchstens für Diebe und Spitzbuben
-gehalten. Feringhea machte dem Major jedoch klar, daß er die ganze
-Zeit über von Scharen berufsmäßiger Mörder umgeben gewesen sei, die
-ihre Opfer in seiner nächsten Nähe begruben. Sleeman hielt das für
-Hirngespinste, aber Feringhea sagte: »Komm und siehe selbst!« Er
-führte ihn an eine Grube, in der hundert Leichname lagen, erzählte ihm
-alle näheren Umstände ihrer Ermordung und nannte die Namen der Thugs,
-welche die Tat vollbracht hatten. Sleeman traute seinen Augen kaum;
-er nahm einige von jenen Thugs gefangen und stellte Einzelverhöre mit
-ihnen an, nachdem er Sorge getragen, daß sie sich nicht unter einander
-verständigen konnten. Auf die unbeglaubigten Aussagen eines Inders
-wollte er sich nicht verlassen. Aber, o Schrecken! die gesammelten
-Zeugnisse ergaben nicht nur, daß Feringhea die Wahrheit geredet hatte,
-sondern lieferten zugleich den Beweis, daß die Banden der Thugs in
-ganz Indien ihr furchtbares Gewerbe trieben. Nun tat die Regierung
-ernstliche Schritte zur Vertilgung der Sekte und man verfolgte
-sie zehn Jahre lang mit unerbittlicher Strenge, bis sie gänzlich
-ausgerottet war. Eine Räuberbande nach der andern wurde gefangen, vor
-Gericht gestellt und bestraft. Ueberall spürte man die Thugs in ihren
-Schlupfwinkeln auf und machte Jagd auf sie. Die Regierung brachte alle
-ihre Geheimnisse ans Licht und ließ die Namen sämtlicher Mitglieder
-der Banden, sowie den Geburtsort und Wohnplatz jedes einzelnen aufs
-genauste verzeichnen.
-
-Die Thugs waren Anbeter des Gottes Bhowanee, dem sie alle Wanderer
-opferten, welche ihnen in die Hände fielen. Die Sachen der Getöteten
-behielten sie jedoch für sich: dem Gotte war nur an dem Leichnam etwas
-gelegen. Bei der Aufnahme in die Sekte fanden feierliche Zeremonien
-statt; jeder neue Bekenner wurde unterwiesen, wie er die Erdrosselung
-mit dem heiligen Tuch zu vollziehen habe, doch war ihm erst nach langer
-Uebung gestattet, selbständig handelnd vorzugehen. Nur ein erfahrener
-Würger war im stande, die Erdrosselung so rasch zu bewerkstelligen,
-daß der dem Tode Geweihte auch keinen Laut mehr von sich geben konnte;
-jeder dumpfe Schrei, jedes Stöhnen, Seufzen oder Schnappen nach Luft
-mußte verhindert werden. In einem Augenblick schlang sich das Tuch
-um den Hals des Opfers, es ward plötzlich zusammengezogen, der Kopf
-fiel lautlos nach vorn, die Augen traten aus ihren Höhlen und alles
-war vorüber. Vornehmlich gaben die Thugs wohl acht, daß sie auf keinen
-Widerstand stießen, auch forderten sie ihr Opfer meist auf sich
-niederzusetzen, weil sich das Geschäft so am bequemsten verrichten ließ.
-
-Alle Zustände und Einrichtungen Indiens waren den Thugs ausnehmend
-günstig: Eine öffentliche Fahrgelegenheit gab es nicht, man konnte auch
-kein Gefährt mieten. Der Reisende mußte zu Fuß gehen, wenn er nicht
-einen Ochsenwagen benützen oder sich ein Pferd für die Gelegenheit
-kaufen konnte. Sobald er die Grenze seines kleinen Fürstentums
-überschritten hatte, war er unter Fremden; dort kannte ihn niemand,
-er blieb unbeachtet, kein Mensch vermochte mehr anzugeben, wohin er
-seine Schritte gelenkt hatte. Weder in Städten noch Dörfern pflegte der
-Reisende einzukehren; er hielt außerhalb derselben Rast und schickte
-seine Diener in den Ort, um Lebensmittel zu kaufen. Einzelne Höfe
-gab es nicht; auf der öden Strecke zwischen zwei Dörfern fiel der
-Wanderer dem Feinde leicht zur Beute, besonders da er meist bei Nacht
-weiterzog, um der Hitze zu entgehen. Unterwegs gesellten sich häufig
-Fremdlinge zu ihm und boten ihm an, zu gegenseitigem Schutz die Fahrt
-gemeinsam fortzusetzen; das waren meistens Thugs, wie der Wanderer
-bald zu seinem Verderben erfuhr. Die Güterbesitzer, die eingeborene
-Polizei, die kleinen Fürsten, die Dorfrichter und Zollwächter steckten
-oft mit den Räubern unter einer Decke, gewährten ihnen Schutz und
-Obdach und lieferten ihnen die Reisenden aus, um Anteil an der Beute
-zu haben. Dadurch ward es der Regierung zuerst fast unmöglich gemacht
-die Uebeltäter zu fangen, weil die wachsamen Freunde ihnen zur Flucht
-verhalfen. Und so zogen denn handeltreibende Leute aus allen Kasten
-und Ständen, paarweise oder in Gruppen, schutzlos, bei schweigender
-Nacht, auf den Pfaden des weiten Ländergebiets einher, Kostbarkeiten,
-Geld, Juwelen, kleine Seidenballen, Gewürze und allerlei Waren mit sich
-führend -- es war ein Paradies für die Thugs.
-
-Bei Eintritt des Herbstes pflegte die Genossenschaft ihre zum
-voraus verabredeten Zusammenkünfte zu halten. Um sich untereinander
-zu verständigen brauchten die Thugs, selbst wenn sie aus den
-verschiedensten Gebieten stammten, keine Dolmetscher wie andere Völker.
-Sie hatten ihre eigene Sprache und geheime Zeichen, an denen sich
-die Genossen erkannten; alle waren untereinander befreundet, selbst
-die Unterschiede der Kaste und Religion traten in den Hintergrund, wo
-Hingebung an den Beruf ins Spiel kam. Der Moslem und der Hindu aus
-höherer oder niederer Kaste, standen sich als Thugs gleich Brüdern
-treulich zur Seite.
-
-War eine Bande versammelt, so ward Gottesdienst gehalten und man
-wartete auf die Omen. Das Geschrei verschiedener Tiere hatte eine gute
-oder schlechte Vorbedeutung, wie jedermann wußte. Erfolgte ein böses
-Omen, so gab man das Vorhaben auf und die Leute gingen wieder nach
-Hause.
-
-Schwert und Tuch galten als heilige Symbole der Thugs. Das Schwert
-beteten sie daheim an, ehe sie zur Versammlung gingen, und das Tuch,
-mit dem sie ihre Opfer würgten, verehrten sie gemeinschaftlich. Meist
-verrichtete der Häuptling der Bande die religiösen Zeremonien selbst,
-nur die Kaets beauftragten damit gewisse angestellte Erwürger, Chaurs
-genannt. Diese Kaets hielten so streng an ihren gottesdienstlichen
-Gebräuchen fest, daß es nur dem Chaur gestattet war, die geheiligten
-Gefäße und was sie sonst dabei benützten, anzurühren.
-
-Zwei charakteristische Merkmale sind dem Raubsystem der Thugs
-besonders eigen: die größte Vorsicht, Ausdauer und Geduld bei
-Verfolgung der Beute und gänzliche Erbarmungslosigkeit im Moment der
-Tat.
-
-Vor allem richteten sie ihr Augenmerk darauf, daß sie an Zahl der
-Reisegesellschaft, welcher ihr Angriff galt, mindestens vierfach
-überlegen waren. Offene Feindseligkeiten vermieden sie und überfielen
-ihre Opfer nur, wenn diese nichts Böses ahnten. Oft reisten sie
-tagelang in ihrer Gesellschaft und suchten durch allerlei Künste ihr
-Vertrauen und ihre Freundschaft zu gewinnen. Sobald ihnen dies gelungen
-war, gingen sie an ihr eigentliches Geschäft: Zuerst wurden ein paar
-Thugs vorausgeschickt, um bei dunkler Nacht den günstigsten Schauplatz
-für die Ermordung zu wählen und die _Gräber zu graben_. Wenn die
-übrigen den Ort erreichten, ward unter dem Vorwand, etwas zu rasten
-und eine Pfeife zu rauchen, Halt gemacht. Man schlug der Gesellschaft
-vor, sich niederzusetzen. Auf einen Wink des Hauptmanns nahmen einige
-Thugs den Reisenden gegenüber Platz, andere setzten sich neben sie und
-fingen ein Gespräch mit ihnen an, während die geübtesten Würger sich,
-des verabredeten Zeichens harrend, in ihrem Rücken aufstellten. Dies
-Zeichen war gewöhnlich irgend eine alltägliche Bemerkung: »Bringt den
-Tabak,« oder etwas derart. Oft verging noch eine beträchtliche Zeit,
-nachdem jeder der Handelnden seinen bestimmten Platz eingenommen hatte;
-der Hauptmann wartete erst, ob auch alles ganz sicher sei. Unterdessen
-spann sich die Unterhaltung einförmig weiter; düstere Gestalten
-huschten im Hintergrund hierhin und dorthin bei dem ungewissen
-Dämmerschein; die Nacht war still und friedlich und die Reisenden
-überließen sich arglos der angenehmen Ruhe, ohne zu ahnen, daß die
-Todesengel sie von allen Seiten umgaben. Jetzt war der Augenblick da;
-das verhängnisvolle Wort: »Bringt den Tabak,« wurde gesprochen. Sofort
-entstand eine rasche aber lautlose Bewegung. Im gleichen Moment hielten
-die Männer, welche neben den Reisenden saßen, ihre Hände fest, die vor
-ihnen ergriffen ihre Füße und taten einen kräftigen Ruck, während ein
-Mörder jedem Opfer von hinten das Tuch um den Kopf schlang und zuzog
--- der Kopf des Erdrosselten sank auf die Brust, das Trauerspiel war
-zu Ende. Nun wurden die Leichen ausgeplündert, und in den Gräbern
-verscharrt; darauf packte man die Beute zusammen, die mitgenommen
-werden sollte. Nachdem dann die Thugs noch zum Schluß dem Gotte
-Bhowanee ihren frommen Dank dargebracht hatten, zogen sie weiter, um
-noch mehr heilige Taten zu verrichten.
-
-Aus Major Sleemans Bericht ergibt sich, daß die Reisenden meist in
-kleiner Anzahl beisammen waren, in der Regel nicht mehr als zwei,
-drei oder vier. Die Thugs dagegen zogen in Banden von zehn, fünfzehn,
-fünfundzwanzig, vierzig, sechzig, hundert, hundertfünfzig, zweihundert,
-zweihundertundfünfzig Mann umher, ja, es wird sogar eine Bande von
-dreihundertzehn Mann erwähnt. Bei solcher starken Ueberzahl kann man
-ihren Fang nicht besonders groß nennen, wenn man bedenkt, daß sie
-durchaus nicht wählerisch waren, sondern wo und wie sie konnten jeden
-umbrachten, ob reich oder arm, oft sogar Kinder. Manchmal töteten
-sie auch Frauen, aber das galt für sündhaft und brachte Unglück. Die
-günstige Jahreszeit für ihre Raubzüge dauerte sechs bis acht Monate.
-In einem solchen Jahrgang töteten zum Beispiel die sechs Banden
-von Bundelkund und Gwalior, welche zusammen 712 Köpfe zählten, 210
-Menschen. Die Thugs von Malwa und Kandeisch waren 702 Mann stark und
-mordeten 232. Die Kandeisch- und Berar-Banden, 963 Mann, brachten 385
-Leute um.
-
-Bettler gelten in Indien für heilig, und manche Banden schonten ihr
-Leben, andere dagegen mordeten nicht nur sie, sondern sogar den Fakir,
-diesen Inbegriff aller Heiligkeit, der nichts als Haut und Knochen ist,
-sich Staub und Schmutz auf das buschige Haupthaar streut und seinen
-nackten Körper über und über mit Asche bepudert, daß er aussieht wie
-ein Gespenst. Mancher Fakir verließ sich jedoch allzu fest auf seine
-unverletzliche Heiligkeit. Von einem solchen Fall wird uns in Sleemans
-Buch unter andern Großtaten Feringheas berichtet. Er war einmal mit
-vierzig Thugs ausgezogen und sie hatten schon neununddreißig Männer und
-eine Frau getötet, ehe der Fakir zum Vorschein kam.
-
-»Wir näherten uns Doregow,« lautete der Bericht, »trafen auf drei
-Brahminen, dann auf einen Fakir zu Pferde, der sich ganz mit Zucker
-bekleistert hatte, um die Fliegen herbeizulocken, von denen er über und
-über bedeckt war. Wir jagten ihn fort und töteten die drei andern.
-
-»Hinter Doregow stieß der Fakir nochmals zu unserer Gesellschaft und
-zog mit uns bis Raojana; wir begegneten sechs Hindus, die von Bombay
-nach Nagpore wollten. Den Fakir vertrieben wir durch Steinwürfe,
-töteten die sechs Leute in ihrem Lager und begruben sie im Gebüsch.
-
-»Am nächsten Tage stellte sich der Fakir wieder ein; erst in Mana
-wurden wir ihn los. Hinter dem Orte trafen wir drei Sepoys und hatten
-fast den Platz erreicht, der zu ihrer Ermordung bestimmt war, als der
-Fakir abermals erschien. Nun endlich riß uns die Geduld und wir gaben
-Mithoo, einem unserer Gefährten, fünf Rupien, daß er ihn umbringen und
-die Sünde auf sich nehmen sollte. Alle vier wurden erdrosselt, also
-auch der Fakir. In seinem Gepäck fanden sich zu unserer Ueberraschung
-dreißig Pfund Korallen, dreihundert fünfzig Schnüre kleine Perlen,
-fünfzehn Schnüre große Perlen und ein vergoldetes Halsband.«
-
-Ob wohl Mithoo, der allein die Sünde trug, sich die unerwartete
-Beute ganz aneignen durfte, oder ob er sie mit den Gefährten teilen
-mußte und nur die Sünde für sich behielt? -- Wie schade, daß der
-Regierungsbericht uns gerade diesen interessanten Umstand verschweigt!
-
-Feringhea fürchtete sich selbst nicht vor den Mächtigen der Erde. Einen
-Elefantentreiber des Rajahs von Oodeypore erdrosselte er ohne weiteres.
-Er hat auf jenem Raubzug nicht weniger als hundert Männer und fünf
-Frauen umgebracht.
-
-Unter den Unglücklichen, welche den Thugs zum Opfer fielen, waren
-Personen jeden Standes und Ranges; nur den Weißen taten sie nichts zu
-Leide. Die Liste verzeichnet:
-
-Eingeborene, Soldaten, Fakirs, Bettler, Träger des heiligen Wassers,
-Zimmerleute, Hausierer, Schneider, Schmiede, eingeborene Polizisten,
-Kuchenbäcker, Stallknechte, Pilger, Chuprassies, Weber, Priester,
-Bankiers, Schatz-Träger, Kinder, Kuhhirten, Gärtner, Ladenbesitzer,
-Palankin-Träger, Landleute, Ochsentreiber, Diener, die Beschäftigung
-suchten, Frauen, die sich verdingen wollten, Schafhirten,
-Bogenschützen, Aufwärter, Bootsleute, Händler, Grasmäher.
-
-Selbst einen fürstlichen Koch verschonten sie nicht, ebenso wenig
-den Wasserträger des Herrschers über alle Fürsten und Könige, des
-Generalgouverneurs von Indien. Ja, eine Bande war sogar grausam genug,
-armen, herumziehenden Komödianten das Leben zu nehmen, und trotzdem sie
-auf demselben Raubzug auch noch einen Fakir und zwölf Bettler töteten,
-beschützte sie ihr Gott Bhowanee: Sie wollten einen Mann im Walde
-erdrosseln, während gerade viele Leute in der Nähe vorbeigingen, zogen
-aber die Schlinge nicht fest genug, und der Mann stieß einen lauten
-Schrei aus. Da ließ Bhowanee im gleichen Augenblick ein Kamel durch das
-Dickicht brechen, dessen Gebrüll den Angstschrei übertönte, und ehe der
-Mann den Mund wieder öffnen konnte, war sein Atem entflohen.
-
-Die Kuh ist in Indien ein so heiliges Tier, daß schon ihren Hirten
-zu töten für frevelhaft gilt. Das wußten die Thugs recht gut, aber
-bisweilen war ihr Blutdurst so groß, daß sie dennoch einige Kuhhirten
-umbrachten. Ein Thug, der solche Missetat verübt hatte, bekennt:
-
-»Unser Glaube verbietet das aufs strengste; es kann nur Unheil daraus
-entstehen. Ich lag nachher zehn Tage am Fieber darnieder. Tötet man
-einen Mann, der eine Kuh führt, so bringt es Unglück; hat er keine Kuh
-bei sich, dann schadet es nichts.« Ein anderer Thug, der bei dieser
-Gelegenheit die Füße des Opfers gehalten hatte, fürchtete für sich
-keine schlimmen Folgen, »weil das Mißgeschick für solche Tat immer nur
-den Erwürger selbst, nicht seine Gehilfen bedroht, und wenn er deren
-auch hundert gehabt hätte.«
-
-Während vieler Menschenalter durchwanderten Tausende von Thugs Indien
-in allen Richtungen. Ihr Räuberhandwerk war zu einem Beruf geworden,
-der sich vom Vater auf den Sohn und Enkel forterbte. Von sechzehn
-Jahren an konnte ein Knabe schon Mitglied der Verbindung werden, und
-siebzigjährige Greise waren noch in voller Tätigkeit.
-
-Was fesselte die Leute aber an ihr Mordgeschäft, worin bestand der Reiz
-desselben? Teils trieb sie offenbar Frömmigkeit, teils Beutegier dazu,
-aber das Hauptinteresse scheint doch das Vergnügen an der Jagd selbst
-gewesen zu sein, die Mordlust, welche auch dem weißen Manne im Blute
-steckt. Meadows Taylor schreibt in seinem Roman: ›Bekenntnisse eines
-Thug‹:
-
-»Wie leidenschaftlich liebt ihr Engländer nicht die Jagd! Ganze Wochen
-und Monate widmet ihr diesem aufregenden Zeitvertreib. Um Tiger,
-Panther, Büffel oder Eber zu töten, strengt ihr eure ganze Tatkraft an,
-ja ihr setzt selbst das Leben aufs Spiel. Wir Thugs aber verfolgen ein
-weit edleres Wild!«
-
-Vielleicht liegt hierin wirklich der Schlüssel des Rätsels, das
-die Entstehung und Verbreitung der furchtbaren Sekte umgibt. Dem
-Menschengeschlecht im großen und ganzen ist die Mordgier eigen, es
-ergötzt sich am Töten lebender Geschöpfe wie an einem Schauspiel.
-Wir weißen Leute sind nur etwas verfeinerte Thugs, denen ihr dünner
-Anstrich von Zivilisation wie ein lästiger Zwang erscheint. Als Thugs
-haben wir uns vor noch gar nicht so langer Zeit an den Metzeleien
-der römischen Arena ergötzt und später an dem Feuertod, welcher
-zweifelhaften Christen durch rechtgläubige Christen auf öffentlichem
-Marktplatz bereitet wurde. Noch jetzt gehen wir mit den Thugs in
-Spanien oder in Nimes zu den blutigen Greueln der Stiergefechte hinaus.
-Keiner unserer Reisenden, welches Geschlechts oder welcher Religion
-er auch sein mag, hat je der Anziehungskraft der spanischen Arena zu
-widerstehen vermocht, wenn sich ihm Gelegenheit bot, dem Schauspiel
-beizuwohnen. Auch zur Jagdzeit sind wir fromme Thugs: wir hetzen das
-harmlose Wild und töten es mit Wonne. Aber _einen_ Fortschritt haben
-wir doch gemacht. Zwar ist er nur winzig und kaum der Rede wert, so
-daß wir nicht nötig hätten besonders stolz darauf zu sein, aber es
-ist immerhin ein Fortschritt zu nennen, daß es uns nicht mehr Freude
-macht, hilflose Menschen niederzumetzeln oder zu verbrennen. Von diesem
-höheren Standpunkt aus können wir mit selbstgefälligem Schaudern
-auf die indischen Thugs herabsehen; auch dürfen wir zuversichtlich
-hoffen, daß einst der Tag erscheinen wird, an dem unsere Nachkommen in
-künftigen Jahrhunderten mit ähnlichen Gefühlen auf uns herabschauen.
-
-
-
-
-Neuntes Kapitel.
-
- Der Kummer ist sich selbst genug; aber um eine Freude voll
- und ganz zu genießen, muß man jemand haben, mit dem man sie
- teilen kann.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Wir fuhren mit dem Nachtzug von Bombay nach Allahabad. In Indien ist es
-Landessitte, das Reisen am Tage möglichst zu vermeiden; dabei ist nur
-der Uebelstand, daß man sich zwar die beiden Sofas ›sichern‹ kann, wenn
-man sie vorausbestellt, aber man erhält keinerlei Fahrkarte oder Marke,
-durch welche man sein Eigentumsrecht zu beweisen vermag, falls dasselbe
-in Zweifel gezogen wird. Das Wort ›besetzt‹ erscheint am Fenster des
-Coupés, aber für wen weiß niemand. Kommt mein Satan mit meinem Barney
-an, ehe ein anderer Diener zur Stelle ist, legen sie meine Betten auf
-die beiden Sofas und stehen Wache bis wir eintreffen, dann geht alles
-gut. Verlassen sie aber den Posten um eine Besorgung zu machen, so
-können sie bei der Rückkehr finden, daß unsere sämtlichen Bettstücke
-auf die oberen Schlafbretter befördert worden sind, und ein paar andere
-Dämonen das Lager ihrer Herren auf unsern Sofas bereitet haben, vor
-denen sie Wache halten.
-
-Dieses System lehrt uns Höflichkeit und Rücksicht üben, doch gestattet
-es auch unberechtigte Uebergriffe. Ein junges Mädchen pflegt einer
-älteren Dame, wenn diese später kommt, den Sofaplatz einzuräumen, den
-die Dame meist mit freundlichem Danke annimmt. Aber bisweilen geht es
-dabei auch anders zu. Als wir im Begriff waren Bombay zu verlassen,
-lagen die Reisetaschen meiner Tochter auf ihrem Sofaplatz. Da kam im
-letzten Augenblick eine amerikanische Dame mittleren Alters in das
-Coupé gestürmt, hinter ihr die mit dem Gepäck beladenen eingeborenen
-Träger. Sie schalt, brummte, knurrte und versuchte sich möglichst
-unausstehlich zu machen, was ihr auch gelang. Ohne ein Wort der
-Erklärung warf sie Reisekorb und Tasche meiner Tochter auf das obere
-Brett und pflanzte sich breit auf das Sofa hin.
-
-Bei einem unserer Ausflüge verließen wir, Smythe und ich, auf einer
-Station unser Coupé, um etwas auf und ab zu gehen; als wir zurückkamen,
-fanden wir Smythes Betten im Hängebrett, und ein englischer
-Kavallerie-Offizier lag lang und bequem ausgestreckt auf dem Sofa, wo
-Smythe noch soeben geschlafen hatte.
-
-Es ist abscheulich, daß dergleichen unsereinem Spaß bereitet, aber wir
-sind nun einmal so geschaffen. Wäre das Mißgeschick meinem ärgsten
-Feinde zugestoßen, es hätte mir kein größeres Vergnügen machen können.
-Wir freuen uns alle, wenn es andern Leuten schlecht geht, ohne daß
-wir Unbequemlichkeiten davon haben. Smythes Aerger machte mich so
-glücklich, daß ich gar nicht einschlafen konnte, weil ich mich in
-Gedanken zu sehr daran ergötzte. Er glaubte natürlich, der Offizier
-hätte den Raub selber begangen, während ihn der Diener zweifellos
-ohne Wissen seines Herrn ausgeführt hatte. Den Groll über diesen
-Vorfall bewahrte Smythe getreulich im Herzen; er schmachtete nach
-einer Gelegenheit, sich dafür an irgend jemand schadlos zu halten,
-und dies Verlangen ward ihm bald darauf in Kalkutta erfüllt. Von dort
-unternahmen wir eine vierundzwanzigstündige Fahrt nach Dardschiling.
-Da aber der Generaldirektor Barclay alle Vorkehrungen getroffen
-hatte, damit wir es unterwegs recht bequem haben sollten -- wie
-Smythe versicherte -- so beeilten wir uns nicht allzusehr auf den
-Zug zu kommen. Im Bahnhof herrschte, wie gewöhnlich in Indien, ein
-entsetzliches Gewühl, ein unbeschreiblicher Lärm und Wirrwarr. Der
-Zug war übermäßig lang, denn sämtliche Eingeborene des Landes reisten
-irgendwohin; die Bahnbeamten wußten nicht, wo ihnen der Kopf stand und
-wie sie alle die aufgeregten Leute, die sich verspätet hatten, noch
-unterbringen sollten. Wo das für uns bestimmte Coupé war, konnte uns
-niemand sagen; keiner hatte Befehl erhalten dafür zu sorgen. Das war
-eine große Enttäuschung, auch hatte es ganz den Anschein als würde
-die Hälfte unserer Gesellschaft zurückbleiben müssen; da kam Satan
-spornstreichs angerannt, um zu melden, daß er ein Coupé gefunden habe,
-in dem noch ein Hängebrett und ein Sofa leer waren. Dort hatte er unser
-Gepäck hineingeschafft und uns das Lager bereitet. Wir stiegen eilends
-ein. Der Zug war gerade im Fortfahren, und die Schaffner schlugen
-eine Waggontür nach der andern zu, als ein Beamter des ostindischen
-Zivildienstes, unser guter Freund, atemlos gelaufen kam. »Ueberall habe
-ich nach Ihnen gesucht,« rief er. »Wie kommen Sie hierher? Wissen Sie
-denn nicht --«
-
-Indem fuhr der Zug ab, und der Schluß des Satzes entging uns. Jetzt
-kam für Smythe die Gelegenheit seinen Racheplan auszuführen. Er nahm
-sofort seine Betten vom Schlafbrett, tauschte sie gegen diejenigen
-aus, welche herrenlos auf dem Sofa mir gegenüber lagen und begab sich
-seelenvergnügt zur Ruhe. Gegen zehn Uhr nachts hielten wir irgendwo und
-ein großer Engländer, der wie ein hoher Militär aussah, stieg bei uns
-ein. Wir taten, als schliefen wir. Trotz der verdunkelten Lampen war es
-aber hell genug, daß wir sehen konnten, welche Ueberraschung sich in
-seinen Zügen malte. Hoch aufgerichtet stand er da, starrte sprachlos
-auf Smythe herab und versuchte die Lage der Dinge zu begreifen. Nach
-einer Weile sagte er:
-
-»Nein, so was!« -- weiter nichts.
-
-Aber es war mehr als genug und leicht verständlich. Es sollte heißen:
-»So was ist doch unerhört! Eine solche Unverschämtheit ist mir mein
-Lebtag noch nicht vorgekommen.«
-
-Er setzte sich auf seinen Koffer; wir aber schielten wohl zwanzig
-Minuten lang mit halbgeschlossenen Augen zu ihm hinüber und
-beobachteten, wie ihn die Bewegung des Zuges rüttelte und schüttelte.
-Sobald wir an eine Station kamen, erhob er sich; wir hörten ihn noch im
-Fortgehen murmeln: »Ich muß ein leeres Sofa finden, sonst warte ich bis
-zum nächsten Zuge!«
-
-Bald darauf kam sein Diener, um das Gepäck zu holen.
-
-So war denn Smythes alte Wunde geheilt und sein Rachdurst gestillt.
-Aber schlafen konnte er ebensowenig wie ich; unser Wagen war ein
-ehrwürdiger, alter Kasten voller Schäden und Gebrechen. Die Tür ins
-Waschkabinett zum Beispiel schlug fortwährend an und spottete aller
-unserer Bemühungen sie zu befestigen. Als der Morgen dämmerte, standen
-wir wie zerschlagen auf, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Auch jener
-Engländer war auf der Station ausgestiegen und wir hörten, wie jemand
-zu ihm sagte:
-
-»Also haben Sie Ihre Fahrt doch nicht unterbrochen?«
-
-»Nein,« lautete die Antwort, »der Schaffner konnte mir ein Coupé
-anweisen, das zwar bestellt aber nicht besetzt worden war. Ich bekam
-einen großen Salonwagen für mich ganz allein, wahrhaft fürstlich,
-versichere ich Ihnen. Ein solcher Glücksfall ist mir noch nie
-begegnet.«
-
-Natürlich war das unser Wagen. Wir siedelten sogleich mit der ganzen
-Familie dahin über. Den Herrn Engländer lud ich jedoch ein zu bleiben,
-was er auch annahm. Ein sehr liebenswürdiger Mann, Oberst bei der
-Infanterie. Daß Smythe ihm sein Lager geraubt hat, erfuhr er nicht; er
-glaubt, Smythes Diener hätten es ohne Wissen seines Herrn getan. Man
-half ihm zu dieser Ueberzeugung und störte ihn nicht darin.
-
-In Indien werden die Züge ausschließlich von Eingeborenen bedient, auch
-alle Stationsbeamten -- außer an Hauptplätzen -- sind Eingeborene,
-desgleichen die Polizisten und die Angestellten im Post- und
-Telegraphendienst. Lauter sehr freundliche und gefällige Leute. Eines
-Tages war ich aus dem Schnellzug gestiegen, um mich mit Entzücken an
-dem Schauspiel zu weiden, das jede große Station in Indien bietet.
-Die bunten Scharen der Eingeborenen, welche auf dem breiten Perron
-rastlos durcheinander wirbelten, fesselten mich dergestalt, daß ich
-alles andere darüber vergaß. Als ich mich umwandte sah ich, daß mein
-Zug soeben zum Bahnhof hinausfuhr. Ich wollte mich ruhig hinsetzen, um
-den nächsten Zug abzuwarten, wie ich es zu Hause getan hätte; an eine
-andere Möglichkeit dachte ich nicht. Da trat ein eingeborener Beamter,
-der eine grüne Flagge in der Hand hielt, höflich auf mich zu: »Wollten
-Sie nicht mit dem Zuge weiter?« fragte er.
-
-Als ich dies bejahte, ließ er seine Flagge wehen, der Zug kam zurück,
-und er half mir mit solcher Ehrerbietung einsteigen, als wäre ich der
-Generaldirektor selber gewesen. Ein gutherziges Volk, diese Hindus!
-Unfreundliche, mürrische Mienen, welche Bosheit und schlechte Gemütsart
-verraten, sind eine solche Seltenheit, daß es mir oft vorkam, als müsse
-ich die Mordgeschichten der Thugs geträumt haben. Freilich wird es auch
-unter den Indern schlechte Menschen geben, aber jedenfalls in großer
-Minderzahl. Eins ist gewiß: es ist das interessanteste Volk in der
-ganzen Welt und dabei unerklärlich und unbegreiflich in seinem Wesen
-wie kein anderes. Sein Charakter, seine Geschichte, seine Religion,
-seine Sitten sind voller Rätsel, die nur noch unverständlicher werden,
-wenn man uns Aufschluß darüber gibt. Weshalb und auf welche Weise so
-seltsame Dinge wie die verschiedenen Kasten, die Thugs, die Suttis
-entstanden sein können, geht über unsere Begriffe.
-
-Für die Sitte der Witwenverbrennung hat man zum Beispiel folgende
-Erklärung: Eine Frau, die ihr Leben freiwillig hingibt, wenn ihr Gatte
-stirbt, wird augenblicklich wieder mit ihm vereinigt, und sie genießen
-fortan im Himmel zusammen ewige Freuden; die Familie errichtet ihr
-ein Denkmal oder einen Tempel und hält ihr Andenken in hohen Ehren.
-Der Opfertod der Frau verleiht auch allen ihren Angehörigen eine
-besondere Auszeichnung in den Augen des Volkes, die sich dauernd auf
-ihre Nachkommenschaft vererbt. Bleibt sie dagegen am Leben, so erwartet
-sie Schmach und Schande; wieder verheiraten kann sie sich nicht,
-die Familie verachtet sie und sagt sich von ihr los; freundlos und
-verlassen fristet sie ihr jammervolles Dasein.
-
-Daß sie es vorzieht solchem Elend durch den Tod zu entfliehen, ist
-sehr begreiflich. Aber was der Ursprung dieser seltsamen Sitte ist,
-bleibt trotzdem ein Rätsel. Vielleicht wurde sie auf Befehl der Götter
-eingeführt; aber haben diese auch bestimmt, daß man eine so grausame
-Todesart wählen sollte? Hätte ein sanfterer Tod nicht dieselben Dienste
-getan? Kein Mensch weiß darauf eine Antwort.
-
-Man wäre geneigt anzunehmen, daß die Witwen sich überhaupt nicht
-freiwillig verbrennen ließen, sondern es nur nicht wagten sich der
-öffentlichen Meinung zu widersetzen. Dieser Standpunkt läßt sich
-jedoch unmöglich festhalten; er stimmt nicht mit den geschichtlichen
-Tatsachen überein. Major Sleeman erzählt in einem seiner Bücher einen
-höchst charakteristischen Fall:
-
-Als er im März 1828 die Verwaltung am Nerbuddastrom übernahm, beschloß
-er kühn, dem Zug seines mitleidigen Herzens zu folgen und die Suttis
-auf eigene Verantwortung in seinem Bezirk zu verbieten. Daß sie acht
-Monate später auf Befehl der Ostindischen Regierung gänzlich untersagt
-werden würden, konnte er nicht voraussehen. Am 24. November -- einem
-Dienstag -- starb Omed Sing Opaddia, das Haupt einer der angesehensten
-und zahlreichsten Brahminenfamilien der Gegend, und eine Abordnung
-seiner Söhne und Enkel erschien vor Sleeman, mit der Bitte, der alten
-Witwe zu gestatten sich mit der Leiche ihres Gemahls verbrennen zu
-lassen. Der Major drohte jedoch, jeden streng zu bestrafen, der seinem
-Befehl zuwider handeln und der Selbstverbrennung der Witwe Vorschub
-leisten würde. Er stellte eine Polizeiwache am Nerbudda-Ufer auf, wo
-die fünfundsechzigjährige Witwe schon seit dem frühen Morgen bei ihrem
-Toten saß und wartete. Als die abschlägige Antwort eintraf, blieb sie
-Tag und Nacht am Rande des Wassers sitzen, ohne zu essen und zu trinken.
-
-Am folgenden Morgen wurde die Leiche ihres Gemahls in einer etwa acht
-Quadratfuß breiten und drei bis vier Fuß tiefen Grube in Anwesenheit
-von mehreren tausend Zuschauern verbrannt. Hierauf watete die Witwe
-nach einem nackten Felsen im Bette der Nerbudda; alle Fremden hatten
-sich zerstreut, nur ihre Söhne und Enkel blieben in ihrer Nähe,
-während die übrigen Anverwandten des Majors Haus umringten, um ihn
-zu überreden, sein Verbot zurückzunehmen. Die Witwe widerstand allen
-Bitten der Ihrigen, die sie sehr liebten und ihr Leben zu erhalten
-wünschten, sie verweigerte jede Nahrung und blieb auf dem nackten
-Felsen sitzen, der sengenden Sonnenhitze bei Tag und der strengen
-Kälte bei Nacht ausgesetzt, nur mit einem dünnen Stück Zeug über der
-Schulter. Am Donnerstag setzte sie, zum Beweis, daß nichts sie von
-ihrem Vorhaben abbringen könne, die Dhadscha, einen groben, roten
-Turban auf und brach ihre Armbänder in Stücke, wodurch sie gesetzlich
-für tot galt und auf immer aus ihrer Kaste ausgeschlossen war. Hätte
-sie jetzt noch das Leben erwählen wollen, so konnte sie nie mehr zu
-ihrer Familie zurückkehren. Sleeman wußte sich keinen Rat. Wenn sich
-die Frau zu Tode hungerte, so war ihre Familie beschimpft und die
-Aermste starb unter langsameren Qualen, als wenn man ihr gestattete
-sich zu verbrennen. Als der Major sie am vierten Tage nach dem Tode
-ihres Mannes noch mit der Dhadscha auf dem Kopfe an derselben Stelle
-sitzen fand, redete er sie an. Sie sagte ihm mit großer Gelassenheit,
-daß sie entschlossen sei, ihre Asche mit der ihres verstorbenen Gatten
-zu mischen; sie würde geduldig seine Erlaubnis abwarten, überzeugt,
-Gott werde ihr Kraft geben, ihr Dasein bis dahin zu fristen, obgleich
-sie weder essen noch trinken wolle. Dann blickte sie nach der Sonne,
-die eben über der Nerbudda aufging und sagte ruhig: »Meine Seele weilt
-schon fünf Tage lang bei der meines Gatten, in der Nähe jener Sonne,
-nur meine irdische Hülle ist noch übrig, und ich weiß, du wirst bald
-gestatten, daß sie sich in jener Grube mit seiner Asche vermischt, weil
-es nicht in deinem Wesen und Brauch ist, die Qual einer armen, alten
-Frau mutwillig zu verlängern.«
-
-Sleeman versicherte ihr, es sei sein Wunsch und seine Pflicht sie zu
-retten und zu erhalten. Er wolle den Ihrigen die Schmach ersparen für
-ihre Mörder zu gelten. Doch sie erwiderte, deswegen sei sie unbesorgt.
-Ihre Kinder hätten alles mögliche getan, um sie zu bewegen unter ihnen
-zu leben. »Hätte ich eingewilligt, so würden sie mich geliebt und
-geehrt haben, das weiß ich. Doch übergebe ich sie alle deiner Obhut und
-gehe zu meinem Gatten Omed Sing Opaddia, mit dessen Asche die meinige
-sich schon dreimal auf dem Scheiterhaufen vermischte.«
-
-Dies bezog sich auf die Seelenwanderung. Sie waren nach ihrer
-Ueberzeugung schon dreimal als Mann und Weib auf Erden gewesen.
-Seit sie ihre Armbänder zerbrochen und den roten Turban aufgesetzt
-hatte, hielt sie sich für bereits gestorben, sonst hätte sie nicht so
-unehrerbietig sein können, den Namen ihres Gatten auszusprechen. Es war
-das erstemal in ihrem Leben, daß sie dies tat, denn in Indien nennt
-keine Frau, aus welchem Stande sie auch sei, jemals den Namen ihres
-Mannes.
-
-Sleeman hoffte noch immer sie zu überreden. Er drohte ihr, die
-Regierung werde die steuerfreien Güter, von denen ihre Familie so lange
-gelebt habe, einziehen; auch werde kein Stein den Platz bezeichnen,
-wo sie sterbe, im Fall sie auf ihrem Entschluß beharre. Bliebe sie
-aber am Leben, so solle eine glänzende Wohnung unter den Tempeln ihrer
-Ahnen für sie gebaut und eine schöne Summe zu ihrem Unterhalt bestimmt
-werden. Aber sie lächelte nur, streckte den Arm aus und sagte: »Mein
-Puls hat lange aufgehört zu schlagen, mein Geist ist entwichen; ich
-werde bei dem Verbrennen nicht leiden. Wenn du einen Beweis willst, so
-laß Feuer bringen und sieh, wie es diesen Arm verzehrt, ohne daß es mir
-Schmerz verursacht.«
-
-Da der Major erkannte, daß alle seine Bemühungen vergebens waren, ließ
-er die Oberhäupter der Familie rufen und erklärte ihnen, er werde
-gestatten, daß sich die Witwe verbrennen dürfe, wenn sie sich alle
-durch eine feierliche Urkunde verpflichten wollten, in ihrer Familie
-nie wieder eine Sutti zu halten. Sie gingen darauf ein und die Schrift
-ward aufgesetzt und unterzeichnet. Als man der Witwe am Sonnabend gegen
-Mittag den Beschluß verkündete, zeigte sie sich hocherfreut. Um drei
-Uhr waren die Zeremonien des Badens vorüber, und in der Grube brannte
-ein helles Feuer. Fast fünf Tage hatte die Frau ohne Speise und Trank
-zugebracht; als sie vom Felsen ans Ufer kam, netzte sie erst ihr Tuch
-im Wasser des heiligen Stromes, denn ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre
-sie durch jeden Schatten, der auf sie fiel, verunreinigt worden. Von
-ihrem ältesten Sohn und einem Neffen gestützt schritt sie nach dem
-Feuer hin, eine Entfernung von etwa 150 Metern.
-
-Wachen waren aufgestellt, und niemand durfte sich auf fünf Schritt
-nähern. Sie kam mit ruhigem freudevollem Gesicht herbei, blieb einmal
-stehen, schaute aufwärts und sagte: »Warum hat man mich fünf Tage
-von dir, mein Gatte, entfernt gehalten?« Als sie zu den Wachen kam,
-blieben ihre Begleiter zurück; sie schritt noch einmal um die Grube,
-hielt einen Augenblick inne und während sie ein Gebet murmelte, warf
-sie einige Blumen ins Feuer. Dann trat sie ruhig und standhaft bis an
-den Rand, stieg mitten in die Flamme, setzte sich nieder und lehnte
-sich zurück als ruhe sie auf einem Lager; ohne einen Schrei auszustoßen
-oder ein Zeichen des Schmerzes von sich zu geben, wurde sie vom Feuer
-verzehrt.
-
-Das ist schön und großartig! Es erfüllt uns mit Ehrfurcht und
-Hochachtung. Was der altgewohnten Sitte ihre unwiderstehliche Macht
-verlieh war die Riesenkraft eines Glaubens, welcher durch immer neue
-Todesopfer lebendig erhalten wurde. Aber, wie die ersten Witwen dazu
-kamen, die Sitte einzuführen, bleibt in Dunkel gehüllt.
-
-Sleeman sagt, daß bei der Witwenverbrennung gewöhnlich einige
-Musikinstrumente spielten, aber nicht, wie man gemeinhin glaubt, um das
-Geschrei der Märtyrerin zu ersticken, sondern um zu verhüten, daß ihre
-letzten Worte gehört werden; denn diese galten für prophetisch, und
-wenn sie Unglück weissagten, hielt man es für besser, daß die Lebenden
-darüber in Unkenntnis blieben.
-
-
-
-
-Zehntes Kapitel.
-
- Er hatte viel mit Aerzten zu tun gehabt und sagte: Es gibt
- nur ein Mittel um gesund zu bleiben, man muß essen was
- einem nicht schmeckt, trinken, was man nicht mag und tun,
- was man lieber bleiben ließe.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Es war eine lange Reise, zwei Nächte und anderthalb Tage von Bombay
-ostwärts nach Allahabad, aber sehr interessant und nicht ermüdend.
-Das heißt, zuerst fühlte ich mich höchst unbehaglich, aber daran
-waren die ›Pyjamas‹ schuld. Dieser lästige Nachtanzug besteht aus
-Jacke und Beinkleidern; er ist entweder von Seide oder aus einem
-rauhen, kratzigen, dünnen Wollstoff, der einem die Haut reibt wie
-Sandpapier. Die Hosen haben Elefantenbeine und eine Elefantentaille,
-keine Knöpfe am Bund, sondern eine Schnur, um die überflüssige Weite
-zusammenzuziehen; die lose Jacke wird vorn zugeknöpft. In einer warmen
-Nacht sind einem die Pyjamas zu heiß, und man friert darin, wenn
-die Nacht kalt ist. Ich wollte nicht gegen die Sitte verstoßen und
-versuchte es mit dem Kleidungsstück, aber es war mir unerträglich, ich
-mußte es wieder ablegen. Der Unterschied zwischen Tag- und Nachtanzug
-ist nicht groß genug. In einem Nachthemd fühlt man sich wohlig und
-erfrischt, von beengendem Zwang erlöst, frei und ungebunden. Statt
-dessen hatte ich die erstickende, bedrückende, aufreibende und quälende
-Empfindung, angekleidet im Bette zu liegen. Während der warmen Hälfte
-der Nacht bekam ich von der rauhen Wolle ein solches Jucken auf der
-Haut, daß ich wie gekocht und im Fieber dalag; verfiel ich auf kurze
-Zeit in Schlaf, so peinigten mich Träume, wie die Verdammten sie
-haben mögen -- oder haben sollten. In der kalten Hälfte der Nacht
-fand ich aber keine Zeit zum Schlafen, weil ich genug damit zu tun
-hatte, mir wollene Decken zu stehlen. Aber was nützen wollene Decken
-unter solchen Umständen? Je mehr man aufeinander häuft, um so fester
-korkt man die Kälte ein, daß sie nicht heraus kann. Die Beine werden
-einem zu Eisklumpen und man weiß genau, wie es sein wird, wenn man
-eines Tages im Grabe liegt. Sobald ich einen Augenblick zu Verstande
-kam, entledigte ich mich der Pyjamas und genoß mein Leben fortan auf
-vernünftige und behagliche Weise.
-
-Der Tag fängt auf dem Lande in Indien früh an. Endlos dehnt sich die
-vollkommen flache Ebene im grauen Dämmerlicht nach allen Seiten aus.
-Schmale, festgetretene Fußpfade durchziehen sie überall; nur von Zeit
-zu Zeit ragt auf der ungeheuern Fläche eine Gruppe gespenstischer
-Bäume empor, zum Zeichen, daß da ein Dorf liegt. Auf den Pfaden
-sieht man allenthalben braune, hagere, nackte Männergestalten und
-schlanke Frauen, die an ihr Tagewerk eilen; die Frauen mit kupfernen
-Wassergefäßen auf dem Kopf, die Männer mit der Hacke in der Hand.
-Uebrigens ist der Mann nicht ganz nackt, einen weißen Lappen hat er
-immer um; dies Lendentuch ist eine Art Binde, ein weißer Strich auf
-seiner braunen Person, wie der Silberbeschlag, der mitten um ein
-Pfeifenrohr läuft. Trägt er noch einen luftigen, bauschigen Turban,
-dann ist das der zweite Strich. »Ein Mensch, dessen Kleidung aus einem
-Turban und einem Taschentuch besteht,« so beschreibt Miß Gordon
-Cumming sehr richtig den Eingeborenen.
-
-Den ganzen Tag lang fährt man durch die einförmige, staubfarbene
-Ebene, an den verstreuten Baumgruppen und den Lehmhütten der Dörfer
-vorbei. Daß Indien nicht überall schön ist, läßt sich nicht leugnen,
-und doch übt es einen unwiderstehlich bestrickenden Zauber aus. Woher
-das kommt ist schwer zu sagen; man hat nur das unbestimmte Gefühl, daß
-es der uralte, geschichtliche Boden ist, dem dieser Reiz entspringt.
-Die Wüsten Australiens und die starren Eisfelder Grönlands besitzen
-keine solche Macht über uns; wir sehen sie in ihrer ganzen Kahlheit und
-Häßlichkeit, weil sie keine ehrwürdige Geschichte haben, die uns von
-menschlichen Leiden und Freuden in längst vergangenen Jahrhunderten
-erzählt.
-
-Auf der langen Fahrt bis Allahabad kamen wir nur an Dörfern vorbei,
-die innerhalb verfallener Mauern lagen. Ein solches indisches Dorf
-ist nicht schön; ein Teil der schmutzfarbenen Lehmhütten ist meist
-vom Regen verwittert, so daß sie vermoderten Ruinen gleichen. Auch
-Viehherden und Ungeziefer leben innerhalb der Mauern, wie mir scheint,
-denn ich sah dort Kühe und Ochsen ein- und ausgehen, und so oft ich
-einen der Dorfbewohner gewahrte, juckte er sich. Letzteres ist zwar
-nur ein Indizienbeweis, aber ich glaube, daß er schwerlich trügt.
-
-Mich interessierten die indischen Dörfer, weil ich in Major Sleemans
-Büchern allerlei darüber gelesen hatte. Er schildert die Teilung
-der Arbeit, die unter der Bevölkerung herrscht. Der Grund und Boden
-Indiens, sagt er, bestehe aus lauter einzelnen Feldern, die zu
-den Dörfern gehören. Neun Zehntel der ganzen Einwohnerschaft sind
-Ackerbauer und wohnen in den Dörfern. Doch hält sich jedes Dorf auch
-gewisse bezahlte Arbeiter, Handwerker und andere Leute zum allgemeinen
-Dienst, deren Geschäft in der Familie bleibt und sich von Vater auf
-Sohn weiter erbt. Solche Berufsarten sind: Priester, Grobschmied,
-Zimmermann, Rechnungsführer, Waschmann, Korbflechter, Töpfer, Wächter,
-Barbier, Schuhmacher, Klempner, Zuckerbäcker, Weber, Färber u. a. m. Zu
-Sleemans Zeit gab es auch viele Hexen, und aus praktischen Gründen ließ
-niemand seine Tochter gern in eine Familie heiraten, zu der keine Hexe
-gehörte. Man brauchte ihre guten Dienste, um die Kinder vor dem Unheil
-zu schützen, das ihnen sonst die Hexen der Nachbarfamilien ohne Zweifel
-angetan hätten.
-
-Der Beruf der Hebamme blieb stets in der Familie des Korbflechters.
-Seiner Frau gehörte das Amt, mochte sie etwas davon verstehen oder
-nicht. Ihre Einnahme war nicht so groß: für einen Knaben erhielt sie
-25 Cents, und halb so viel für ein Mädchen. Die Geburt einer Tochter
-kam unerwünscht, wegen der furchtbaren Kosten, die sie mit der Zeit
-verursachen würde. Sobald sie alt genug war, um der Sitte gemäß
-Kleider tragen zu müssen, galt es für eine Schande, wenn die Familie
-sie nicht verheiratete. Den Vater brachte jedoch die Heirat der
-Tochter an den Bettelstab, denn er mußte, nach altem Herkommen, beim
-Hochzeitsgepränge und dem Festschmaus alles verausgaben, was er besaß
-und entlehnen konnte, so daß er vielleicht nie wieder im stande war
-sich emporzuarbeiten.
-
-Aus Furcht vor solchem unvermeidlichen Ruin tötete man in früherer
-Zeit viele Mädchen gleich nach der Geburt, bis England die grausame
-Sitte mit eiserner Strenge abschaffte. »Bei dem Spiel der Dorfkinder,«
-sagt Sleeman, »hörte man niemals Mädchenstimmen.« Schon aus dieser
-gelegentlichen Bemerkung läßt sich entnehmen, wie allgemein der
-Mädchenmord in Indien verbreitet war.
-
-Das Hochzeitsgepränge besteht nach wie vor im Lande, weshalb auch noch
-hie und da neugeborene Mädchen umgebracht werden, aber ganz heimlich,
-weil die Regierung sehr wachsam ist und jede Uebertretung des Gesetzes
-mit strengen Strafen bedroht.
-
-In einigen Teilen Indiens gibt es in den Dörfern noch drei besondere
-Angestellte. Erstens den Astrologen, der dem Bauer sagt, wann er säen
-und pflanzen, eine Reise machen oder ein Weib nehmen soll, wann er
-ein Kind erwürgen, einen Hund entlehnen, auf einen Baum steigen, eine
-Ratte fangen und seinen Nachbar betrügen darf, ohne die Rache des
-Himmels auf sein Haupt zu ziehen. Auch die Träume legt er ihm aus,
-falls der Mann nicht klug genug ist, sie sich selbst aus der Mahlzeit
-zu erklären, die er vor Schlafengehen zu sich genommen hat. Die beiden
-andern Angestellten sind der Tiger- und der Hagelbeschwörer. Ersterer
-hält die Tiger fern, wenn er kann und bezieht auf alle Fälle sein
-Gehalt; letzterer beschützt das Dorf vor Hagelschlag oder gibt an,
-aus welchem Grund sein Geschäft mißlungen sei und läßt sich denselben
-Lohn bezahlen, mag der Hagel kommen oder ausbleiben. Wer in Indien
-seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann, muß wirklich auf den Kopf
-gefallen sein.
-
-Auch die Gewerkvereine und der Boykott sind alte indische
-Einrichtungen. Es gibt eben nichts, was nicht dort seinen Ursprung
-hätte. »Die Straßenkehrer,« sagt Sleeman, »zählen zur niedrigsten
-Kaste; alle andern Kasten verachten sie und ihr Amt, aber sie selbst
-sind stolz darauf und dulden keine Eingriffe in ihr Monopol. Das
-Recht, in einem gewissen Stadtteil die Straßen zu kehren, gehört einem
-bestimmten Mitglied der Kaste an; wagt sich ein anderes Mitglied in
-diesen Bezirk, so wird es ausgestoßen -- niemand darf mehr aus seiner
-Pfeife rauchen oder aus seinem Kruge trinken -- der Missetäter kann die
-Wiederaufnahme in die Kaste nur dadurch erlangen, daß er für sämtliche
-Straßenkehrer ein Festmahl veranstaltet. Beleidigt ein Hausbesitzer
-den Straßenkehrer seines Bezirks, so bleibt aller Abfall und Kehricht
-solange bei ihm liegen, bis er den Mann wieder versöhnt hat, kein
-anderer Straßenkehrer getraut sich den Schmutz fortzuschaffen. Die
-Bürger der Städte müssen sich von diesen Leuten oft unglaublich viel
-gefallen lassen; ja die Tyrannei, welche die Innung der Straßenkehrer
-ausübt, ist noch heutigen Tages eins der größten Hindernisse aller
-sanitären Reformen in Indien. Zwingen kann man diese Menschen nicht,
-denn kein Hindu oder Muselmann würde ihre Arbeit verrichten, und
-sollte es ihm das Leben kosten; nicht einmal prügeln würde er den
-widerspenstigen Straßenkehrer, um sich nicht zu verunreinigen.«
-
-Allahabad bedeutet die ›Stadt Gottes‹. Das Hindu-Viertel habe ich nicht
-gesehen; der englische Teil der Stadt hat schöne, breite Alleen und
-auf Raumersparnis ist gar keine Rücksicht genommen. Alle Einrichtungen
-lassen auf Luxus und Bequemlichkeit schließen; mir scheint, die Leute
-führen dort ein so heiteres, sorgloses Leben, wie man es nur bei einem
-guten Gewissen haben kann, wenn diesem ein genügendes Konto auf der
-Bank zur Seite steht.
-
-Am Morgen nach unserer Ankunft in Allahabad stand ich in aller Frühe
-auf und ging auf der Veranda, die rings um das Haus läuft, an den
-schlafenden Dienern vorbei, die bis über die Ohren in ihre wollenen
-Decken gewickelt, vor der Tür ihrer Herren lagen. Ich glaube, kein
-indischer Diener schläft jemals in einem Zimmer. Vor einer Tür sah ich
-einen Hindu kauern. Die gelben Schuhe seines Herrn waren geputzt und
-bereit gestellt; nun hatte er nichts mehr zu tun als zu warten, bis
-er gerufen würde. Es war bitter kalt, aber der Mensch blieb geduldig
-und regungslos wie ein Steinbild auf demselben Fleck. Ich konnte es
-kaum mit ansehen. Gern hätte ich zu ihm gesagt: »Stehe doch auf und
-mache dir Bewegung, um dich zu erwärmen, was hockst du da in der
-Eiseskälte, das verlangt niemand von dir.« Allein mir fehlten die
-Wörter. Die einzige Redensart, die mir einfiel war »Jeldy jow,« und
-was sie bedeutete, wußte ich nicht. So ging ich denn notgedrungen
-stumm vorbei, entschlossen nicht mehr an den Menschen zu denken; aber
-seine nackten Beine und Füße kamen mir nicht aus dem Sinn und zwangen
-mich immer wieder, die Sonnenseite zu verlassen und bis zu dem Punkt
-zurückzugehen, wo ich ihn sehen konnte. Eine Stunde verging, ohne daß
-er seine Stellung auch nur im geringsten veränderte. Ob das Sanftmut
-und Geduld, Seelenstärke oder Gleichgültigkeit verriet, will ich nicht
-entscheiden; aber der Anblick quälte mich und verdarb mir den ganzen
-Morgen. Nach zwei Stunden riß ich mich endlich aus seiner Nähe los;
-mochte er sich nun allein weiter kasteien so viel er wollte. Bis dahin
-war er um keines Haares Breite von seinem Platz gewichen; ich sehe ihn
-noch immer deutlich vor mir und werde die Erinnerung wohl ewig mit
-mir herumtragen. Wenn ich von der Geduld und Ergebung der Inder bei
-ungerechter Behandlung, in Schmerz und Unglück lese, so steigt sein
-Bild vor mir auf. »Jeldy jow!« (mach daß du weiter kommst!) ruft man
-dem Inder in seiner Not seit ungezählten Jahrhunderten zu. Hätte ich
-es nur damals auch gesagt, es wäre gerade das Richtige gewesen; aber
-leider war mir, wie gesagt, die Bedeutung des Wortes entfallen.
-
-Im Morgenlicht unternahmen wir eine lange zum Teil wunderschöne Fahrt
-nach der Festung. Der Weg führte unter hohen Bäumen an Häusergruppen
-und am Dorfbrunnen vorbei, wo man zu andern Tageszeiten malerische
-Scharen von Eingeborenen fortwährend lachend und schwatzend hin- und
-hergehen sieht. Diesmal trafen wir sie bei ihren Waschungen; die
-kräftigen Männer ließen das klare Wasser reichlich über die braunen
-Körper strömen, ein erfrischender Anblick, der meinen Neid erregte,
-denn die Sonne hatte sich schon an ihr Geschäft gemacht, den Tag
-über tüchtig in Indien einzuheizen. Viele Hindus nahmen ein solches
-Morgenbad; die Frühstückstunde nahte heran, und kein Hindu darf essen,
-ehe er die vorgeschriebene Waschung beendet hat.
-
-Als wir in die heiße Ebene kamen, wimmelte es auf allen Pfaden von
-Wallfahrern und Wallfahrerinnen. Hinter der Festung, wo die heiligen
-Ströme Ganges und Jumna ineinander fließen, sollte eine der großen
-religiösen Messen Indiens gehalten werden. Eigentlich gibt es drei
-heilige Ströme; der dritte fließt zwar unter der Erde und niemand
-hat ihn gesehen, aber das schadet nichts, wenn man nur weiß, daß
-er da ist. Die Pilger stammten aus den verschiedensten Gegenden
-Indiens; einige waren monatelang unterwegs gewesen; arm, hungrig und
-abgemattet, waren sie bei Staub und Hitze geduldig weiter gewandert,
-von unerschütterlichem Glauben und Vertrauen gestützt und aufrecht
-erhalten. Jetzt strahlten alle vor Glück und Zufriedenheit, denn bald
-winkte ihnen der reichste Lohn für ihre Mühsal. Sie sollten Läuterung
-von jeder Sünde und Unreinheit in dem heiligen Wasser finden, welches
-alles was es berührt, sogar Totes und Verwestes, rein machen kann. Wie
-wunderbar ist doch die Kraft eines Glaubens, welcher Alte und Schwache,
-Junge und Leidende treibt, ohne Zaudern und ohne Klage die unerhörten
-Anstrengungen einer solchen Reise, samt allen Entbehrungen, die sie mit
-sich bringt, geduldig auf sich zu nehmen! Ob es aus Furcht geschieht
-oder aus Liebe, weiß ich nicht, aber was auch immer der Beweggrund
-sein mag, die Sache selbst ist für uns kühle Verstandesmenschen
-vollkommen unbegreiflich. Nur wenige auserlesene Naturen unter den
-Weißen besäßen einen ähnlichen Opfermut; wir übrigen wissen genau, daß
-wir außer stande wären, uns dazu aufzuschwingen. Da wir aber alle die
-Selbstaufopferung gern im Munde führen, so darf ich hoffen, daß wir
-wenigstens groß genug denken, um sie bei dem Hindu würdigen zu können.
-
-Jedes Jahr strömen zwei Millionen Eingeborene zu dieser Messe herbei.
-Wie viele die Reise antreten und unterwegs vor Alter, Mühsal, Krankheit
-und Mangel sterben, weiß niemand. Alle zwölf Jahre ist ein besonderes
-Gnadenjahr, und die Pilger kommen in noch größeren Massen gezogen,
-das ist schon seit undenklichen Zeiten so gewesen. Man sagt übrigens,
-daß es für den Ganges nur noch _ein_ zwölftes Jahr geben wird, dann
-soll dieser heiligste aller Flüsse seine Kraft verlieren und erst nach
-Jahrhunderten werden die Pilger wieder zu seinen Ufern wallfahrten,
-wenn die Brahminen verkünden, daß er seine Heiligkeit wiedergewonnen
-hat. Was die Priester damit bezwecken, daß sie sich diese Goldmine
-verschließen, kann ich nicht sagen. Aber mir ist nicht bange, sie
-werden wohl wissen was sie tun. Ehe man sich’s versieht werden sie
-dem Volk der Inder eine Ueberraschung bereiten, welche beweist, daß
-sie ihren Vorteil nicht aus den Augen gelassen haben, als sie auf den
-Marktwert des Ganges verzichteten.
-
-Wir begegneten vielen Eingeborenen, welche heiliges Wasser aus den
-Flüssen geholt hatten. Man bietet es in ganz Indien zum Verkauf aus,
-auch soll es oft bei Hochzeiten becherweise verteilt werden.
-
- * * * * *
-
-Die Festung ist ein ungeheueres, altes Gebäude und hat in religiöser
-Beziehung Erlebnisse der mannigfaltigsten Art zu verzeichnen. In dem
-großen Hof steht seit über zweitausend Jahren ein Monolith mit einer
-buddhistischen Inschrift. Vor dreihundert Jahren wurde die Festung von
-einem mohammedanischen Kaiser erbaut und nach dem Ritus seiner Religion
-eingeweiht; auch ein Hindutempel mit unterirdischen Gängen voller
-Heiligtümer und Götzenbilder befindet sich daselbst, und seitdem die
-Festung den Engländern gehört, besitzt sie eine christliche Kirche. So
-ist für das Seelenheil aller gesorgt.
-
-Von den hohen Wällen schauten wir auf die heiligen Flüsse hinab, die
-sich an diesem Punkt vereinigen. Das Wasser des blaßgrauen Jumna
-sieht klar und rein aus, der schlammige Ganges aber ist trübe, gelb
-und schmutzig. Auf der schmalen, gebogenen Landzunge zwischen den
-Flüssen erhob sich eine Zeltstadt mit zahllosen, wehenden Wimpeln und
-großen Scharen von Pilgern. Man hatte Mühe dorthin zu gelangen, aber
-interessant war es, sobald man unten ankam, wenn auch sehr unruhig.
-Eine ganze Welt bewegte sich dort in rastloser, lärmender Tätigkeit,
-teils mit religiösen, teils mit kaufmännischen Angelegenheiten
-beschäftigt. Die Mohammedaner fluchen und verkaufen, während die Hindus
-kaufen und beten, denn die Messe ist zugleich ein Jahrmarkt und ein
-religiöses Fest. Eine Unmenge von Leuten badete, betete und trank
-das heilige Wasser; kranke Pilger kamen von weither im Palankin, um
-durch ein Bad Heilung von ihrem Uebel zu finden oder an den gesegneten
-Ufern zu sterben und sicher in den Himmel zu kommen. Auch viele Fakirs
-waren da; sie hatten sich ganz mit Asche bestreut und ihr Haar mit
-Kuhdünger zusammengeklebt, denn die Kuh und alles was von ihr stammt
-ist heilig. Der gute Hindubauer malt oft die Wand seiner Hütte mit dem
-Dünger an oder formt daraus allerlei Figuren, mit denen er den Estrich
-des Fußbodens verziert. In den Zelten saßen auch ganze Familien bei
-einander, die schrecklich und wunderbar bemalt waren und nach ihrer
-Stellung und Gruppierung zu urteilen, die Angehörigen großer Gottheiten
-vorstellten. Ein heiliger Mann saß dort schon Wochen lang nackt auf
-spitzen Eisenstäben und schien sich gar nichts daraus zu machen.
-Ein anderer Heiliger stand den ganzen Tag auf einem Fleck und hielt
-seine abgezehrten Arme regungslos in die Höhe; er soll das schon seit
-Jahren tun. Neben jedem dieser frommen Büßer lag ein Tuch am Boden,
-auf das milde Spenden gelegt wurden; selbst die ärmsten Leute gaben
-eine Kleinigkeit in der Hoffnung, das Opfer werde ihnen Segen bringen.
-Zuletzt kam noch eine Prozession nackter, heiliger Männer singend
-vorbeigezogen -- da riß ich mich los und ging meiner Wege.
-
-
-
-
-Elftes Kapitel.
-
- Wer sich seiner Sittsamkeit rühmt, gleicht einer Statue mit
- dem Feigenblatt.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Die Reise nach Benares nahm nur wenige Stunden in Anspruch. Wir machten
-sie bei Tage; der Staub spottete aller Beschreibung -- er legte sich in
-einer dicken, aschgrauen Schicht auf den Menschen und verwandelte ihn
-in einen Fakir, bei dem nur der Kuhdünger und die Heiligkeit fehlte.
-Nachmittags hatten wir in Mogul-Serai Wagenwechsel -- ich glaube,
-so heißt der Ort -- und mußten zwei Stunden auf den Zug nach Benares
-warten. Wir hätten auch einen andern Wagen nehmen und nach der heiligen
-Stadt fahren können, aber dann wären wir um die schöne Wartezeit
-gekommen. In andern Ländern ist ein langer Aufenthalt auf einer Station
-unangenehm und ermüdend, aber in Indien hat man kein Recht, sich über
-Mangel an Unterhaltung zu beklagen. Das Gewimmel der Eingeborenen in
-ihrem bunten Schmuck, das Gedränge, das Leben, der Wirrwarr, der stets
-wechselnde Glanz der verschiedenen Trachten -- wo fände man Worte, um
-diesen Anblick in seinem ganzen Zauber zu schildern! Die zweistündige
-Wartezeit verging nur allzu schnell. Ein besonders interessantes
-Schauspiel gewährte uns noch ein eingeborener kleiner Fürst aus
-den Hinterwäldern mit seiner Ehrengarde, einer Bande von fünfzig
-dunkeln Barbaren, zerlumpt aber sehr farbenprächtig und mit rostigen
-Feuersteingewehren bewaffnet. Ich hätte es nicht für möglich gehalten,
-daß die bunte Mannigfaltigkeit des Gesamtbildes noch irgend welchen
-Zuwachs erhalten könnte, als aber dieser ›Falstaff mit seinen Gesellen‹
-anmarschiert kam, trat alles andere dagegen in den Hintergrund.
-
-Mit der Zeit fuhren wir ab und erreichten bald die Vorstädte von
-Benares, dann mußten wir wieder warten. Auch hier gab es etwas
-zu beobachten, nämlich eine Gruppe kleiner Palankins. An solchem
-Leinwandkasten hat man nicht viel zu sehen, wenn er leer ist; sitzt
-aber eine Dame darin, so erwacht unser Interesse. Die Kasten,
-welche etwas abseits standen, waren dreiviertel Stunden lang den
-erbarmungslosen Strahlen der Sonne preisgegeben. Ihre Insassen mußten
-kerzengerade darin ausharren, sie hatten keinen Raum, um ihre Glieder
-zu strecken; da es jedoch Haremsdamen waren, die ihr Lebtag in der
-Gefangenschaft ihres Frauengemachs schmachten müssen, so machte es
-ihnen vielleicht weniger aus. Wenn die Haremsdamen auf Reisen gehen,
-trägt man sie in solchen Leinwandkasten bis zur Bahn, und im Zuge
-werden sie vor allen Blicken verborgen. Viele Leute bedauern sie, und
-früher tat ich das auch ganz aus freien Stücken, doch jetzt zweifle ich
-stark, ob das Mitgefühl überhaupt angebracht ist. Während wir in Indien
-waren, machten einige gutherzige Europäer in einer Stadt den Vorschlag,
-man möchte den Haremsdamen einen großen Park zur Verfügung stellen, wo
-sie in sicherer Abgeschlossenheit unverschleiert umhergehen könnten,
-um sich an Luft und Sonnenschein zu erfreuen, wie noch nie in ihrem
-Leben. Obgleich man die wohlwollende Absicht nicht verkannte, welche
-dem Plan zu Grunde lag, so wurde er doch im Namen der Haremsdamen
-auf das entschiedenste abgelehnt. Sie hatten den Gedanken offenbar
-höchst anstößig gefunden, etwa wie wenn man Europäerinnen auffordern
-wollte, sich in mangelhafter und wenig anständiger Bekleidung in einem
-abgelegenen Privatpark zusammen zu finden. So verschieden sind die
-Begriffe von Schicklichkeit!
-
-Major Sleeman schildert einmal die Entrüstung einer Dame aus vornehmer
-Kaste, als sie ein paar englische Mädchen unverschleiert über die
-Straße gehen sah. Der Anblick verletzte ihr Anstandsgefühl aufs tiefste
-und sie begriff nicht, wie jemand so schamlos sein könne, sich über
-alle Regeln hinwegzusetzen und seine Person auf solche Art zur Schau zu
-stellen. Dabei waren aber die Beine der sittlich empörten Dame bis weit
-über die Kniee entblößt. Kein Zweifel, sowohl die jungen Engländerinnen
-als die indische Dame waren die Lauterkeit und Sittsamkeit selbst; sie
-betrachteten die Sache nur von verschiedenem Standpunkt aus. Da es nun
-Millionen verschiedener Regeln über Sitte und Anstand gibt, so ist auch
-der Standpunkt der Menschen ein millionenfach verschiedener und keiner
-kann den seinigen ohne Schaden mit dem eines andern vertauschen. Ich
-glaube, alle menschlichen Regeln sind mehr oder weniger blödsinnig,
-aber das schadet nichts. Wie die Sachen jetzt stehen ist in den
-Irrenhäusern nur so viel Platz als man für die vernünftigen Menschen
-brauchen würde; wollten wir alle Verrückten einsperren, so würde uns
-bald das nötige Baumaterial mangeln. --
-
-Man hat eine weite Fahrt durch die Vorstädte von Benares, ehe man das
-Hotel erreicht. Ueberall sieht es trübselig aus. Staubiges, dürres
-Land, zertrümmerte Tempel, eingesunkene Gräber, verfallene Lehmmauern,
-ärmliche Hütten; wohin man blickt Altersschwäche und Dürftigkeit.
-Zehntausend Hungerjahre sind vonnöten, um einen solchen Zustand
-hervorzubringen. Das Hotel sah recht behaglich aus, aber wir zogen vor,
-in einem etwas entfernten Nebenbau zu wohnen, der einstöckig war wie
-ein Bungalow und rings von einer Veranda umgeben. Es gibt zwar Türen in
-Indien, aber ich möchte wohl wissen wozu! Schließen kann man sie nicht,
-und gewöhnlich hängt ein Vorhang in der Oeffnung, zum Schutz gegen die
-grelle Sonne. Doch dringt hier niemand unbefugt in die Privatgemächer
-ein und man ist sicher, nicht gestört zu werden. Weiße Leute lassen
-sich natürlich vorher anmelden, und die eingeborenen Diener zählen
-nicht mit. Sie gleiten barfuß und geräuschlos herein und stehen mitten
-im Zimmer, ehe man sich’s versieht. Zuerst bekommt man einen Schreck
-und gerät manchmal in Verlegenheit, aber man muß sich darein finden und
-wird es mit der Zeit gewöhnt.
-
-In unserm ›Compound‹, dem eingezäunten Hof, stand ein heiliger
-Feigenbaum, auf dem ein Affe wohnte. Für den Baum interessierte ich
-mich anfangs sehr, denn es war der berühmte ›Peepul‹, in dessen
-Schatten man keine Lüge sagen kann; er bestand jedoch die Probe
-nicht, und ich ging enttäuscht von dannen. Nicht weit davon war ein
-Brunnen, aus dem ein paar Ochsen stundenlang, unter leisem Knarren
-der Winde, Wasser heraufzogen; die Kleidung der beiden Hindus, welche
-dies Geschäft beaufsichtigten, bestand wie gewöhnlich aus ›Turban und
-Taschentuch‹. Außer dem Baum und Brunnen war im Hofe nichts zu sehen,
-und mir machte die vollkommene Ruhe und Einsamkeit nach dem ewigen Lärm
-und Gewirr den wohltuendsten Eindruck.
-
-Wir bewohnten unser Bungalow ganz allein und gingen zu Tische in das
-Hotel, wo die übrigen Gäste abgestiegen waren. Angenehmer hätten wir
-es gar nicht haben können. Zu jedem Zimmer gehörte das gewöhnliche Bad,
-ein Raum von zehn bis zwölf Fuß im Quadrat, mit einer ausgemauerten und
-gepflasterten Vertiefung in der Mitte. Wasser gab es so viel man wollte
-und es wäre herrlich gewesen, hätte man nur bei der Hitze das warme
-Wasser ganz fortlassen und ein kaltes Bad nehmen dürfen, aber das war
-verboten, weil es der Gesundheit schädlich ist. Man warnt den Fremden
-davor, in Indien kalt zu baden; doch selbst die klügsten Fremden sind
-töricht genug, den guten Rat nicht zu befolgen und müssen es büßen. Ich
-war der klügste Tor, der in jenem Jahre des Weges kam. Zwar bin ich
-jetzt noch klüger -- aber leider zu spät!
-
-Benares hat mich nicht getäuscht. Es verdient seinen Ruf als große
-Sehenswürdigkeit. An einer tiefen Bucht des Ganges amphitheatralisch
-auf einem Hügel erbaut, den es ganz bedeckt, bildet es eine feste
-Masse, die nach allen Richtungen hin von labyrinthartig verschlungenen
-Spalten durchzogen wird, welche Straßen vorstellen. Mit seinen hohen
-schlanken Minarets und den beflaggten Tempelkuppeln und Spitzen gewährt
-die Stadt vom Fluß aus gesehen einen höchst malerischen Anblick. Es
-wimmelt darin wie in einem Ameisenhaufen; ein Wirrwarr ohne gleichen
-herrscht in den engen Straßen. Auch die heilige Kuh läuft dort nach
-Belieben umher, holt sich ihren Zehnten aus den Kornläden, ist überall
-im Wege und eine große Plage für alle Welt, weil man sie nicht
-belästigen darf.
-
-Benares ist zweimal so alt wie die Geschichte, Ueberlieferung und Sage
-zusammengenommen. In Mr. Parkers klar und übersichtlich geschriebenem
-›Führer durch Benares‹ steht, daß nach Anschauung der Hindus die
-Erschaffung der Welt dort ihren Anfang genommen hat. Mitten in das
-uferlose Meer stellte der gute Gott Wischnu ein aufrechtes ›Lingam‹
-hin, das zuerst nicht größer war als ein Ofenrohr; allmählich
-erweiterte er es, bis es zehn Meilen im Durchmesser hatte. Da ihm
-aber das noch immer nicht genügte, baute er die ganze Erdkugel herum.
-Also liegt Benares in ihrem Mittelpunkt, und das wird als ein Vorzug
-angesehen.
-
-Die Geschichte der Stadt ist sowohl in geistlicher als in weltlicher
-Beziehung höchst wechselvoll gewesen. Ursprünglich herrschten die
-Brahmanen dort viele Jahrhunderte lang, dann trat in neuerer Zeit,
-vor etwa 2500 Jahren Buddha auf, und während zwölf Jahrhunderten war
-Benares buddhistisch. Die Brahmanen bekamen jedoch abermals die
-Oberhand und haben sich seitdem nicht wieder verdrängen lassen. In
-den Augen der Hindus ist die Stadt unbeschreiblich heilig, aber sie
-ist auch ebenso ungesund und riecht ganz pestilenzialisch. Benares
-gilt als Hauptquartier des Brahmanismus, und die Priester bilden ein
-Achtel seiner Gesamtbevölkerung, doch sind ihrer nicht zu viel, da ganz
-Indien für ihren Unterhalt sorgt. Aus allen Himmelsgegenden drängen
-sich die Pilger herbei, um mit ihren Ersparnissen die Taschen der
-Priester zu füllen. Der Strom der frommen Spenden versiegt nie. So eine
-Priesterstelle am Ufer des Ganges ist der einträglichste Posten von der
-Welt. Ihr heiliger Inhaber sitzt sein Lebenlang in großem Staat unter
-seinem Regenschirm, segnet alle Pilger, steckt seine Gebühren ein und
-wird fett und reich dabei; die Stelle erbt sich von Vater auf Sohn
-weiter und weiter durch alle Zeiten hindurch und bleibt als dauernder,
-gewinnbringender Besitz in der Familie.
-
-Als mir ein amerikanischer Missionar in Bombay sagte, die Zahl aller
-protestantischen Missionare in Indien beliefe sich auf 640, kam mir
-das zuerst sehr viel vor. Nachher überlegte ich mir die Sache. _Ein_
-Missionar auf 500000 Eingeborene, das ist ja so gut wie nichts; wenn
-die 640 gegen das wohlverschanzte Lager von 300000000 anmarschieren,
-ist doch das Verhältnis gar zu ungleich, die Uebermacht zu groß.
-In Benares allein hätten 640 Missionare alle Hände voll zu tun, um
-gegen die 8000 Brahmanenpriester aufzukommen, die ihnen feindlich
-gegenüberstehen. Unsere Missionare haben von jeher in alle Teile der
-Welt eine starke Ausrüstung von Hoffnung und Vertrauen mitgenommen.
-Die besitzt auch Mr. Parker, sonst würde er nicht aus statistischen
-Angaben, welche andern Mathematikern höchst bedenklich erscheinen, so
-günstige Schlüsse ziehen. Er sagt zum Beispiel:
-
-»Während der letzten Jahre haben die Scharen der Pilger fortwährend
-zugenommen, wie wir aus sicherer Quelle wissen. Aber diese religiöse
-Erweckung -- wenn man den Ausdruck gebrauchen darf -- trägt alle Spuren
-des Todes an sich. Es ist nur noch ein krampfhaftes Ringen, ehe die
-völlige Auflösung eintritt.«
-
-Auf ähnliche Weise hat man bei uns seit Jahrhunderten den Untergang
-der römisch-katholischen Macht vorausgesagt. Oft schon waren wir ganz
-bereit sie zu Grabe zu tragen, und doch mußte die Bestattung aus
-allerlei Gründen -- weil das Wetter zu schlecht war oder dergleichen --
-immer wieder verschoben werden. Durch diese Erfahrung klug geworden,
-sollten wir, meine ich, erst abwarten, bis sich der Leichenzug in
-Bewegung setzt, ehe wir den Hut in die Hand nehmen, um uns am Begräbnis
-des Brahmanismus zu beteiligen. Eine Religion zu Grabe zu tragen ist
-offenbar eine der ungewissesten Unternehmungen auf dieser Welt.
-
-Gern hätte ich mir irgend welchen Begriff von der Theologie der Inder
-gemacht, aber die Sache war allzu verwickelt und die Schwierigkeiten
-unüberwindlich. Nicht einmal über das Abc kommt man hinaus. Es gibt
-eine Dreieinigkeit -- Brahma, Wischnu und Schiwa -- scheinbar von
-einander unabhängige Mächte, aber ganz sicher ist das nicht, denn in
-einem Tempel steht ein Bildwerk, das alle drei Gottheiten in einer
-Person zusammenfaßt. Jeder der drei Götter hat mehrere Benennungen, er
-hat auch Frauen mit verschiedenen Namen und Kinder, die bald so bald
-so heißen; dadurch entsteht eine heillose Verwirrung, aus der man sich
-in keiner Weise zurechtfinden kann. Ein Versuch, sich die Scharen der
-niederen Gottheiten einzuprägen, ist nicht der Mühe wert; ihre Unmenge
-ist allzu groß.
-
-Will man sich einiges sparen, so könnte man füglich den obersten von
-allen Göttern, Brahma, ganz beiseite lassen, denn er scheint keine
-große Rolle in Indien zu spielen. Am meisten Verehrung genießen Schiwa
-und Wischnu nebst ihren sämtlichen Angehörigen. Schiwas Symbol, das
-›Lingam‹, mit welchem Wischnu die Schöpfung begann, wird allgemein
-angebetet; man begegnet ihm in Benares auf Schritt und Tritt, das Volk
-bekränzt es mit Blumen und bringt ihm Gaben dar. Meist sieht es aus wie
-ein aufrecht stehender Stein in Form eines länglichen Fingerhuts und
-Mr. Parker sagt, daß es mehr ›Linga‹ als Einwohner in Benares gibt.
-
-Die Stadt hat viele mohammedanische Moscheen, und Hindutempel ohne
-Zahl. Diese wunderlich geformten, mit reichen Steinornamenten
-versehenen Pagoden füllen alle Straßen. Aber auch der Ganges selbst, ja
-jeder einzelne Wassertropfen darin gilt als Heiligtum. Das Hauptprodukt
-von Benares, dieser heiligsten aller heiligen Städte, für welche der
-fromme Hindu eine unbegrenzte Liebe und Verehrung empfindet, ist
-_Religion_. Alle andern Erzeugnisse des Bodens oder Gewerbefleißes
-haben im Vergleich hierzu nicht die geringste Bedeutung.
-
-»Wenn der Pilger,« sagt Mr. Parker, »der sich vor Alter und Müdigkeit
-fast nicht mehr auf den Füßen zu halten vermag, schweißtriefend, vom
-Staub geblendet und halbtot vor Erschöpfung, der Backofenhitze seines
-Eisenbahnwagens entsteigt und kaum den heiligen Boden berührt hat, so
-hebt er die abgezehrten Hände empor und ruft mit frommer Begeisterung:
-›Kaschi ji ki jai -- jai -- jai! Heiliges Kaschi (Benares), sei mir
-gegrüßt! Heil, Heil dir!‹ Erwähnt ein Europäer in irgend einer fernen
-Stadt Indiens gelegentlich im Bazar, daß er früher einmal in Benares
-gewohnt hat, so werden gleich Stimmen laut, welche Glück und Segen auf
-sein Haupt herabwünschen. Denn, wer in Benares geweilt hat, ist der
-Seligste aller Sterblichen.«
-
-Liest man diese rührende Beschreibung, so erscheinen dagegen unsere
-eigenen religiösen Gefühle farblos und kalt. Da nun aber die Religion
-ihr Leben aus dem Herzen schöpft und nicht aus dem Kopfe, so werden wir
-das von Mr. Parker angekündigte Begräbnis des Brahmanismus wohl noch
-auf unbestimmte Zeit vertagen müssen.
-
-
-
-
-Zwölftes Kapitel.
-
- Wer einem Volk seinen Aberglauben vorschreibt, hat mehr
- Einfluß als wer ihm seine Gesetze macht, oder seine Gesänge.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Die Stadt Benares ist eine einzige große Kirche, eine Art religiöser
-Bienenstock, in dem jede Zelle als Tempel, Altar oder Moschee dient.
-In diesem großen theologischen Vorratshaus kann man sich alle nur
-erdenklichen irdischen oder himmlischen Güter verschaffen.
-
-Ich will hier einen Wegweiser für den Pilger zusammenstellen, aus dem
-sich erkennen läßt, wie brauchbar, wie nützlich und vollständig dieses
-Religions-System ist. Wer mit dem ernstlichen Wunsch, seine geistliche
-Wohlfahrt zu fördern, nach Benares geht, wird es mir Dank wissen. Daß
-die Tatsachen, die ich angebe, richtig sind, unterliegt keinem Zweifel;
-ich habe sie teils in Mr. Parkers ›Führer durch Benares‹ gefunden,
-teils hat er sie mir bei unserer mündlichen Unterhaltung mitgeteilt.
-
-1. _Reinigung._ -- Bei Sonnenaufgang gehe zum Ganges hinab, bade dort,
-bete und trinke etwas Wasser. Dies dient zur allgemeinen Läuterung.
-
-2. _Schutz gegen den Hunger._ Um dich im Kampf gegen dies traurige
-Erdenübel zu stärken, verrichte eine kurze Andacht im Tempel der Kuh.
-Am Eingang steht ein Bildnis von Ganesch, einem Sohne des Gottes
-Schiwa, das einen Elefantenkopf auf einem menschlichen Körper trägt,
-Gesicht und Hände sind aus Silber. Bete es an und gehe dann weiter auf
-eine bedeckte Veranda, in der roh geschnitzte, häßliche Götzenbilder
-stehen. Dort findest du Andächtige, die mit Hilfe ihrer Lehrer in
-den heiligen Büchern lesen. Gib eine Beisteuer zu ihrem Unterhalt
-und betritt dann den Tempel, einen düstern, übelriechenden Raum voll
-heiliger Kühe und Bettler. Letzteren spende ein Almosen und küsse allen
-Kühen, die frei herumlaufen, ehrfurchtsvoll den Schwanz, denn dieser
-ist ganz besonders heilig; tust du das, so wirst du an selbigem Tage
-keinen Hunger leiden.
-
-3. _Der Freund des armen Mannes._ -- Diesen Gott mußt du zunächst
-anbeten. Er wohnt im Grunde eines steinernen Brunnens im Tempel zu
-Dalbhyesvar, der im Schatten eines hohen Peepul-Baumes auf einem
-Felsvorsprung am Ganges steht. Gehe daher zum Fluß zurück. Der ›Freund
-des armen Mannes‹ ist der Gott weltlichen Glückes im allgemeinen und
-außerdem auch ein Regengott. Er wird dir irdische Güter gewähren, wenn
-du ihn anbetest, oder einen Regenguß -- vielleicht auch beides. Er ist
-Schiwa unter fremdem Namen und weilt in Form eines steinernen ›Lingam‹
-auf dem Grunde des Brunnens. Begieße ihn mit Gangeswasser und er wird
-dir zum Dank für die Huldigung seine Gaben spenden. Kommt der Regen
-nicht gleich, so gieße immer mehr Wasser in den Brunnen, bis er ganz
-voll ist. Dann bleibt der Regen gewiß nicht aus.
-
-4. _Fieber._ Der Kedar Ghaut ist eine breite steinerne Treppe, die zum
-Fluß hinabführt. Auf halber Höhe findest du einen Behälter, in dem
-das Schmutzwasser zusammenläuft. Trinke davon soviel du willst, es
-vertreibt das Fieber.
-
-5. _Blattern._ -- Gehe von da geradeswegs nach dem Haupt-Ghaut.
-Stromaufwärts kommst du an ein kleines weißgetünchtes Gebäude; es
-ist ein Tempel, welcher der Göttin der Blattern, Sitala, geheiligt
-ist. Doch findest du nur ihre Stellvertreterin, dort hinter einem
-Metallschirm, eine rohe menschliche Gestalt, der du Anbetung erweisen
-sollst.
-
-6. _Der Schicksalsbrunnen._ -- Den suche zunächst auf. Er gehört zum
-Dandpan-Tempel, der in der Stadt liegt. Durch ein viereckiges Loch im
-Mauerwerk fällt von oben das Licht herein. Tritt mit scheuer Ehrfurcht
-herzu, denn es handelt sich hier um die wichtigsten Dinge. Beuge dich
-nieder und schaue hinein. Sind die Schicksalsgötter deinem Leben
-günstig, so erblickst du dein Antlitz tief unten im Brunnen. Haben
-sie dein Verderben beschlossen, so verhüllt plötzlich eine Wolke die
-Sonne und du kannst nichts sehen. Dann hast du kaum noch ein halbes
-Jahr zu leben. Vielleicht stehst du schon an des Todes Tür. Verliere
-keine Zeit, laß ab von dieser Welt, bereite dich auf das Jenseits. Dazu
-bietet sich dir die beste Gelegenheit dicht nebenan. Wende dich um und
-bete zu dem Bilde des großen Schicksalsgottes Maha Kal, das sichert
-dein Glück im künftigen Leben. Ist dein Atem noch nicht entflohen, so
-mache einen letzten Versuch, ob dir nicht eine kleine Verlängerung
-deines Lebens auf Erden gewährt wird. Die Möglichkeit ist nicht
-ausgeschlossen, denn in dem wundervoll eingerichteten Vorratshaus für
-weltliche und geistliche Güter kann man alles haben. Laß dich
-
-7. -- nach dem _Lebensbrunnen_ tragen. Er ist im Vorhof des verfallenen
-ehrwürdigen Briddhkal-Tempels, der zu den ältesten Heiligtümern von
-Benares gehört. An einem Steinbilde des Affengottes Hanuman vorbei,
-gelangt man auf den mit Trümmern bedeckten Höfen zu einer seichten
-Zisterne mit stehendem Wasser. Sie riecht wie der beste Limburger
-Käse; der Schmutz von den Waschungen aller Kranken und Aussätzigen hat
-sich dort angesammelt. Aber was tut das? Bade dich darin mit Dank und
-Andacht, denn dies ist der Jungbrunnen, das ›Wasser des langen Lebens‹.
-Dein graues Haar wird verschwinden mit allen Runzeln; Gliederweh,
-Sorgenlast und Altersschwäche werden von dir abfallen; jung, frisch,
-elastisch, und begierig den Wettlauf des Lebens von neuem zu beginnen,
-entsteigst du dem Bade. Natürlich stürmen nun auch die mannigfachen
-Träume und Wünsche der holden Jugendzeit wieder auf dich ein. Deshalb
-gehe dahin, wo du
-
-8. -- die _Erfüllung der Wünsche_ findest, nämlich in den
-Kemeschwar-Tempel, welcher Schiwa, dem Herrn der Wünsche geweiht
-ist und hole dir die Gewährung der deinigen. Liegt dir etwas an
-Götzenbildern, so kannst du dort in den zahllosen Tempeln genug zu
-sehen bekommen, um ein ganzes Museum auszustaffieren. Vermutlich wirst
-du nun mit neuem Eifer anfangen Sünden zu begehen; ich kann dir daher
-nur raten, häufig eine Stätte aufzusuchen, wo du
-
-9. _zeitweilige Reinigung von Sünden_ erhältst. Dies ist der Brunnen
-des Ohr-Rings, der weihevollste Ort in ganz Benares, das Allerheiligste
-in der Vorstellung des Volkes, dem man sich nur in tiefster Ehrfurcht
-nahen darf. Das Wasserbecken ist mit einem Gitter umgeben, zu dem
-steinerne Treppen hinabführen. Natürlich ist das Wasser nicht rein; wie
-wäre das möglich, da fortwährend Menschen darin baden. Wie lange man
-auch dort stehen mag, immer sieht man die Sünder in ununterbrochener
-Reihe hinab- und heraufsteigen. Mit Sünde beladen gehen sie hinunter
-und frei von Schuld kommen sie wieder herauf. »Der Lügner, der Dieb,
-der Mörder, der Ehebrecher, waschen sich hier und werden rein,« sagt
-Mr. Parker in seinem Buch. Gut, daß ich Mr. Parker kenne und glaube was
-er sagt; hätte jemand anderes das behauptet, so würde ich ihm raten,
-sofort ins Wasser hinunterzusteigen und sich tüchtig abzuwaschen. --
-Jugend, langes Leben, Sündenreinheit sind zwar köstliche Gaben, aber
-das ist noch nicht genug. Vor allem mußt du dich
-
-10. _deiner Seligkeit versichern_. Das kannst du auf mancherlei Art.
-Erstens, wenn du im Ganges ertrinkst, aber das ist nicht angenehm.
-Oder du stirbst in Benares; dabei ist jedoch zu bedenken, daß du gerade
-außerhalb der Stadt sein könntest, wenn dein letztes Stündlein kommt.
-Am sichersten ist eine Wallfahrt rund um die Stadt. Du mußt sie barfuß
-machen und der Weg ist vierundvierzig Meilen lang, weil er eine Strecke
-weit über Land führt, so daß der Marsch wohl fünf bis sechs Tage
-dauern kann. An Gesellschaft wird es dir aber nicht mangeln. Scharen
-beglückter Pilger ziehen dieselbe Straße; der Farbenglanz ihrer Kleider
-gewährt dir ein schönes Schauspiel, auch erheitern ihre Loblieder und
-heiligen Triumphgesänge dir das Herz und lassen dich keine Ermüdung
-spüren. Von Zeit zu Zeit triffst du auf einen Tempel, wo du ausruhen
-und dich mit Speise erfrischen kannst. Ist deine Wallfahrt zu Ende, so
-hast du dir die Seligkeit sicher erworben. Aber du wirst ihrer doch
-vielleicht nicht teilhaftig, außer wenn du
-
-11. _deine Erlösung eintragen_ lässest. -- Dies kannst du im Sakhi
-Binayak Tempel tun. Du darfst es ja nicht versäumen, weil du sonst
-nicht beweisen kannst, daß du die Pilgerfahrt wirklich gemacht hast,
-falls man es dir einst bestreiten sollte. Ueber der Tür dieses
-Heiligtums, das hinter dem Kuh-Tempel liegt, ist ein rotes Bildnis
-von Ganesch mit dem Elefantenkopf, dem Sohn und Erben des Gottes
-Schiwa, der sozusagen Kronprinz des theologischen Kaisertums ist.
-Der Gott im Tempel hat das Amt deine Wallfahrt einzutragen und sich
-für dich zu verbürgen. Ihn selber bekommst du zwar nicht zu sehen,
-aber ein Brahmane empfängt dich, besorgt dein Geschäft und läßt sich
-das Geld dafür auszahlen. Falls er letzteres vergißt, darfst du ihn
-daran erinnern. Er weiß jetzt, daß deine Seligkeit gesichert ist, aber
-natürlich möchtest du es auch gern selbst erfahren, dazu brauchst du nur
-
-12. an den _Brunnen zur Kenntnis der Seligkeit_ zu gehen. Er ist dicht
-beim Goldenen Tempel. Da steht ein Stier aus einem einzigen schwarzen
-Marmorblock gemeißelt und viel größer als irgend ein lebendiger Stier,
-der dir jemals vorgekommen ist; auch ein Bildnis von Schiwa wird dort
-gezeigt, eine große Seltenheit! Sein Lingam hast du vielleicht schon
-fünfzehntausendmal gesehen, aber dies hier ist Schiwa selbst und
-man sagt, das Porträt sei sehr ähnlich. Es hat drei Augen; so viele
-besitzt kein anderer Gott. Ueber dem Brunnen ist ein schöner steinerner
-Baldachin, der auf vierzig Säulen ruht; wie allenthalben in Benares,
-beten auch hier Scharen von andächtigen Pilgern. Das heilige Wasser
-wird ihnen eingelöffelt, und dabei durchströmt sie zugleich die klare
-und feste Zuversicht ihrer Erlösung. Man sieht es ihnen am Gesicht an,
-daß sie das höchste Glück gefunden haben, welches es auf Erden gibt,
-dem sich keine andere Freude vergleichen läßt. Wer das Wasser getrunken
-und seine Einzahlung gemacht hat, was sollte der noch begehren? Gold,
-Edelsteine, Macht oder Ruhm? -- In einem Augenblick ist das alles
-nichtig und wertlos geworden und zu Staub und Asche zerfallen. Die Welt
-hat dem Menschen nichts mehr zu bieten, sie muß sich ihm gegenüber für
-bankerott erklären. --
-
-Ich will nicht behaupten, daß alle Pilger ihre Andacht immer genau
-in der Reihenfolge verrichten, wie mein Wegweiser sie angibt, aber
-es wäre gar nicht so übel, wenn sie es täten. Sie hätten dann
-einige feste Anhaltspunkte, ein bestimmtes Ziel und brauchten ihre
-gottesdienstlichen Uebungen nicht aufs Geratewohl zu betreiben: Das
-Gangesbad am Morgen erregt des Pilgers Eßlust; sie vergeht ihm, wenn
-er die Kuhschwänze küßt. Nun sehnt er sich nach weltlichen Gütern; er
-eilt hin und gießt Wasser auf Schiwas Symbol. Das sichert ihm sein
-irdisches Glück, bringt ihm aber auch einen Regenschauer, von dem
-er das Fieber bekommt. Zur Heilung trinkt er das Schmutzwasser am
-Khedar Ghaut, das Fieber verläßt ihn, aber er bekommt die Blattern.
-Um zu wissen, welche Wendung es mit ihm nehmen wird, geht er zum
-Dandpan-Tempel und sieht in den Brunnen hinab. Die Sonne umwölkt sich,
-sie zeigt ihm, daß er dem Tode nahe ist. Was kann er da Besseres tun,
-als sich seine Seligkeit im Jenseits zu sichern? Das geschieht mit
-Hilfe des großen Schicksalsgottes. Nun ist ihm der Himmel gewiß, er
-wird daher vermutlich Sorge tragen, noch solange wie möglich auf Erden
-zu bleiben. In dieser Absicht geht er zum Briddhkal-Tempel und gewinnt
-Jugend und langes Leben durch ein Bad in der scheußlichen Pfütze, die
-selbst eine Mikrobe umbringen würde. Die Sündenlust erwacht mit der
-Jugend von neuem; er sucht den Tempel der ›Erfüllung der Wünsche‹ auf,
-um sein Verlangen zu stillen. Im Brunnen des Ohr-Rings reinigt er sich
-dann von Zeit zu Zeit von Sünden und stärkt sich zu ferneren verbotenen
-Genüssen. Da er aber ein Mensch ist, kann er sich der Zukunftsgedanken
-nicht entschlagen. Deshalb macht er die große Wallfahrt rund um die
-Stadt, sichert sich seine Erlösung, läßt sie eintragen und verschafft
-sich noch die persönliche Gewißheit seines künftigen Heils durch einen
-Gang nach dem Brunnen zur ›Kenntnis der Seligkeit‹. -- Nun ist er aller
-Sorgen ledig, er kann tun und lassen was er will und genießt einen
-Vorzug, den er einzig und allein seiner Religion verdankt: Sollte er
-hinfort auch noch Millionen Sünden begehen, so schadet es nichts und
-niemand kann ihm etwas dafür anhaben.
-
-So ist das ganze System klar und übersichtlich zusammengestellt und
-läßt an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig; ich möchte es allen
-empfehlen, denen die andern Religionen zu anspruchsvoll in ihren
-Forderungen erscheinen und zu beschwerlich für die kurze Spanne unseres
-mühevollen Erdenlebens.
-
-Aber ich will niemand durch falsche Vorspiegelungen täuschen und so
-muß ich noch eines Umstands erwähnen, der in meinem Wegweiser fehlt.
-Trotz aller Mühe und Kosten, die sich der Pilger gemacht hat, kann sein
-ganzes Werk zu Schanden werden, wenn er zufällig auf das andere Ufer
-des Ganges gerät und dort stirbt. Er würde dann sofort wieder lebendig
-werden, jedoch in der Gestalt eines Esels. Gegen die Verwandlung in
-einen Esel hat der Hindu aber eine merkwürdige Abneigung -- und doch
-wäre es für ihn gar kein schlechter Tausch. Er fände dadurch Erlösung
-aus der sklavischen Abhängigkeit von 2000000 Göttern und 20000000
-Priestern, Fakirn, heiligen Bettlern und andern frommen Bazillen; auch
-der Hindu-Hölle könnte er entfliehen und desgleichen dem Hindu-Himmel.
-Würde sich der Hindu nur aller dieser Vorteile bewußt, er ginge sofort
-über den Ganges und stürbe am andern Ufer.
-
-Benares ist ein religiöser Vulkan. In seinen Eingeweiden sind die
-theologischen Kräfte schon seit Jahrtausenden geschäftig; es donnert
-und grollt und kracht, es wühlt und erbebt, es brodelt und kocht, es
-flammt und raucht darin ohne Unterlaß. Am Fuß des Kraters aber haben
-kleine Gruppen von Missionaren voller Hoffnung Posten gefaßt. Sie
-gehören zu den Missionsgesellschaften der Baptisten, der Wesleyaner,
-der Londoner Mission, der Kirchenmission, der Zenana-Bibelmission und
-der Heilsmission. Die Haupterfolge erzielen sie in ihren Schulen unter
-den Kindern. Das ist auch sehr natürlich, denn erwachsene Menschen
-halten sich überall mit Vorliebe an das Religionsbekenntnis, in dem sie
-erzogen worden sind.
-
-
-
-
-Dreizehntes Kapitel.
-
- Runzeln sollten nur die zurückgebliebenen Spuren des
- Lachens sein.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-In einem der Tempel von Benares sahen wir einen frommen Mann, der
-auf seltsame Weise »schaffte, daß er selig würde«. Er hatte einen
-ungeheuern Klumpen Lehm neben sich liegen und knetete daraus winzige
-Götter, kaum größer als eine Erbse; in jeden steckte er ein Reiskorn,
-vermutlich an Stelle des Lingams. Die Arbeit ging ihm bei der großen
-Uebung, die er hatte, sehr schnell von der Hand; täglich verfertigte
-er zweitausend solche Götter und warf sie dann in den heiligen
-Gangesstrom. Für dies fromme Werk wurde ihm hohe Anerkennung von allen
-Gläubigen zu teil -- und viele Kupfermünzen. So hatte er ein sicheres
-Einkommen auf Erden und erwarb sich zugleich einen Ehrenplatz im
-Jenseits.
-
-Von der Flußseite gesehen, gewährt Benares einen herrlichen Anblick.
-Drei Meilen weit sind die hohen Felsenufer von oben bis hinunter
-zum Wasserspiegel mit lauter prachtvollen und malerischen Bauwerken
-besetzt; der Fels selbst ist ganz verschwunden, Tempel, Hallen, Paläste
-wechseln miteinander in bunter Reihe und viele breite Treppen aus
-Marmorquadern führen zum Fluß hinab. Ueberall ist Leben und Bewegung;
-in alle Farben des Regenbogens gekleidet, strömt die Menge die Stufen
-herauf und hinunter, oder drängt sich auf den langgestreckten Terrassen
-am Uferrand, wie ein großer wandelnder Blumengarten.
-
-Alle jene Prachtbauten sind Werke der Frömmigkeit. Die Paläste gehören
-eingeborenen Fürsten, deren Heimat meist fern von Benares ist. Doch
-kommen sie von Zeit zu Zeit zur heiligen Stadt, um sich Seele und
-Leib durch den Anblick ihres angebeteten Ganges und ein Bad in seinen
-Fluten zu erquicken. Auch die schönen Treppen sind fromme Stiftungen,
-so gut wie die zahllosen, reich geschmückten kleinen Tempel, durch
-deren Errichtung sich die wohlhabenden Hindus irdisches Ansehen und
-die Hoffnung auf künftige Belohnung erwerben. Ein reicher Christ, der
-bedeutende Summen für religiöse Zwecke verwendet, ist eine Seltenheit;
-aber unter den Hindus lebt niemand, der seiner Religion nicht die
-größten Geldopfer brächte. Auch bei uns gibt der Arme etwas für die
-Kirche aus, behält jedoch noch das Nötigste zu seinem Lebensunterhalt
-zurück. Der arme Inder bringt sich dagegen täglich für seine Religion
-an den Bettelstab. Trotz seiner vielen frommen Spenden bleibt dem
-reichen Hindu noch immer genug an weltlichen Gütern übrig und er erntet
-obendrein hohen Ruhm; aber der arme Hindu ist wirklich zu bemitleiden:
-er gibt alles hin, was er hat, und es trägt ihm doch keine Ehre ein.
-
-Wir machten zwei- bis dreimal die gebräuchliche Fahrt flußaufwärts
-und abwärts, wobei wir auf dem Deck der großen Arche, die mit Rudern
-fortbewegt wird, unter einem Zeltdach auf Stühlen saßen. Ich hätte noch
-vielmals so hin- und herfahren können und zwar mit stets gesteigertem
-Interesse und Genuß, denn je öfter man die Paläste und Tempel sieht, um
-so mehr bewundert man sie, was ja bei dergleichen Prachtgebäuden der
-Fall ist. Auch den Badenden hätte ich gern noch länger zugeschaut; es
-war ein Vergnügen zu sehen, wie geschickt sie aus ihren Kleidern hinaus
-und wieder hereinschlüpften ohne zuviel von ihrer bronzefarbenen Haut
-zu zeigen; ihr frommes Gebärdenspiel und die andächtige Art, wie sie
-die Gebetskügelchen durch die Finger gleiten ließen, wäre mir nicht zum
-Ueberdruß geworden.
-
-Nur eins konnte ich kaum noch mit ansehen, nämlich wie sie sich den
-Mund mit dem scheußlichen Wasser ausspülten und es tranken. An einer
-Stelle, wo wir eine Weile anlegten, ergoß sich ein stinkender Strom
-aus einem Abzugskanal und machte das Wasser rings umher trübe und
-schmutzig; auch ein angeschwemmter Leichnam kreiste darin und tauchte
-auf und nieder. Zehn Schritte unterhalb aber, standen Männer, Frauen
-und hübsche junge Mädchen bis an die Brust im Wasser, schöpften es in
-der hohlen Hand und tranken. Ja, der Glaube kann Wunder wirken, davon
-erhielt ich hier den Beweis. Die Leute tranken das greuliche Zeug nicht
-etwa um ihren Durst zu löschen, sondern um Seele und Leib inwendig zu
-läutern. Nach ihrer Lehre macht das Gangeswasser augenblicklich alles
-was es berührt vollkommen rein. Deshalb nahmen sie weder an dem Schmutz
-des Abzugskanals noch an der Leiche den geringsten Anstoß; das heilige
-Wasser hatte sie ja berührt, sie waren so rein wie frisch gefallener
-Schnee und konnten niemand besudeln. Jener Anblick wird mir ewig
-unvergeßlich sein -- aber sehr gegen meinen Willen.
-
-Noch ein Wort über das schmutzige Gangeswasser, das doch alles zu
-reinigen vermag: Als wir mehrere Wochen später nach Agra kamen,
-hatte sich dort gerade ein Wunder zugetragen -- den Gelehrten war
-eine große wissenschaftliche Entdeckung geglückt. Durch dieselbe
-wurde festgestellt, daß das von uns vielgeschmähte Gangeswasser
-wirklich das mächtigste Reinigungsmittel der Welt ist. Eine bedeutende
-Errungenschaft der modernen Naturkunde! Man hatte sich schon längst
-darüber verwundert, daß die Cholera zwar in Benares häufig wütet, sich
-jedoch nie über den Stadtbezirk hinaus verbreitet. Mr. Henkin, ein von
-der Regierung zu Agra angestellter Naturforscher, beschloß das Wasser
-zu untersuchen. Er ging nach Benares und schöpfte Wasser am Ausfluß
-der Abzugskanäle in der Nähe der Badetreppen. Die Probe ergab, daß ein
-Kubikzentimeter dieses Wassers Millionen von Cholerabazillen enthielt;
-nach Ablauf von sechs Stunden waren sie alle tot. Nun zog Henkin
-einen schwimmenden Leichnam ans Land; in dem Wasser, das von diesem
-abtropfte, wimmelte es von Cholerakeimen, aber nach sechs Stunden lebte
-kein einziger mehr. Auch sämtliche Bazillen, die Henkin in großer
-Menge in das Gangeswasser brachte, starben unfehlbar innerhalb sechs
-Stunden. Er wiederholte denselben Versuch mehrmals mit reinem Wasser,
-das gänzlich bakterienfrei war. Sobald er Cholerakeime hineinbrachte,
-vermehrten sie sich massenhaft, und nach sechs Stunden lebten viele
-Millionen darin.
-
-Jahrhunderte lang sind die Hindus fest überzeugt gewesen, daß das
-Gangeswasser nicht nur vollkommen rein ist und durch nichts beschmutzt
-werden kann, sondern auch unfehlbar alles läutert, was damit in
-Berührung kommt. Weil sie das auch heutigen Tages noch glauben, trinken
-sie es und baden darin, ohne sich um schwimmende Leichen oder den
-_scheinbaren_ Schmutz zu kümmern. Durch die Wissenschaft belehrt,
-werden wir die Hindus jetzt wohl kaum noch deswegen verspotten dürfen,
-wie wir es seit vielen Generationen getan haben. Wie mögen sie wohl vor
-grauen Jahren hinter das Geheimnis des Wassers gekommen sein? Hatten
-sie vielleicht schon damals Bakteriologen? -- Wir wissen es nicht. Nur
-soviel wissen wir, daß sie bereits eine Zivilisation besaßen, als wir
-noch tief in der Barbarei steckten.
-
-Doch jetzt möchte ich von etwas anderem reden, nämlich von dem
-Verbrennungsplatz der Leichen. Fakirs pflegt man nicht zu verbrennen;
-sie bekommen, dank ihrer Heiligkeit, auch ohnedies im Jenseits einen
-guten Platz, wenn man sie den Wellen des geweihten Stromes übergibt.
-Wir sahen, wie man einen solchen frommen Bettler bis in die Mitte des
-Ganges ruderte und dort über Bord warf. Er war zwischen zwei großen
-Steinplatten festgeklemmt.
-
-Eine halbe Stunde lag unser Boot am Verbrennungsghat und wir sahen
-neun Leichen von den Flammen verzehren. Dann hatte ich ganz genug.
-Das Trauergefolge begleitet die Bahre durch die Stadt und bis hinab
-zum Ghat; dort überlassen die Träger den Toten mehreren Eingeborenen
-aus einer niederen Kaste, ›Doms‹ genannt, und die Trauernden begeben
-sich auf den Heimweg. Ich hörte kein Schluchzen, sah keine Tränen, der
-Abschied ging ruhig vor sich. Alle Ausbrüche von Kummer und Schmerz
-werden offenbar in häuslicher Zurückgezogenheit abgemacht. Die toten
-Frauen bringt man in einer roten, die Männer in einer weißen Umhüllung.
-Man legt sie am Uferrand ins Wasser, während der Holzstoß bereitet wird.
-
-Der erste Tote, welchen die ›Doms‹ auswickelten um ihn zu waschen, war
-ein wohlgenährter, stark gebauter, schöner alter Herr gewesen, dem
-man keine Krankheit ansah. Aus trockenem Holz wurde ein Haufen lose
-zusammengeschichtet, der Leichnam darauf gelegt und mit brennbaren
-Stoffen bedeckt. Dann begann ein nackter heiliger Mann, der etwas
-abseits auf einer Erhöhung saß, mit großem Nachdruck zu reden und zu
-schreien. Der Lärm dauerte eine ganze Weile und stellte vermutlich
-die Leichenpredigt vor. Einer der Leidtragenden war zurückgeblieben,
-als sich die andern entfernten, nämlich der Sohn des Verstorbenen, ein
-hübscher, brauner etwa zwölfjähriger Knabe mit ernster, gefaßter Miene.
-Er war in ein weißes, wallendes Gewand gekleidet und hatte die Pflicht,
-seinen Vater zu verbrennen. Man gab ihm eine Fackel in die Hand, und
-während er siebenmal langsam um den Holzstoß schritt, predigte der
-nackte Schwarze auf der Anhöhe noch lauter und ungestümer als zuvor.
-Als der Knabe den siebenten Rundgang beendet hatte, berührte er mit
-der Fackel zuerst seines Vaters Haupt und dann die Füße. Helle Flammen
-sprangen scharf knisternd empor, und der Knabe zog sich zurück. Der
-Hindu wünscht sich keine Tochter, weil ihre Hochzeit unerschwingliche
-Kosten verursacht, er wünscht sich einen Sohn, um einst im Tode auf
-ehrenvolle Art aus der Welt scheiden zu können. Und eine größere Ehre
-gibt es nicht für den Vater, als wenn ihm sein Sohn den Scheiterhaufen
-anzündet. Wer keinen Sohn hat, ist übel daran und sehr beklagenswert.
-Im Hinblick auf die Unsicherheit des menschlichen Lebens heiratet der
-Hindu schon als Knabe, um einen Sohn zu bekommen, der ihm nach dem Tode
-den letzten Dienst erweisen soll. Wird ihm kein Sohn geboren, so nimmt
-er einen Knaben an Kindesstatt an. Das genügt für alle Zwecke.
-
-Unterdessen nahm die Verbrennung jenes Leichnams und einiger andern
-ihren Fortgang. Es war ein grausiges Geschäft. Die Heizer blieben dabei
-nicht müßig; sie liefen flink umher, schürten das Feuer mit langen
-Stäben und warfen von Zeit zu Zeit mehr Holz hinein; auch hoben sie
-oft Schädel und Knochen in die Höhe, um sie zu zerschlagen und wieder
-in die Flammen zu stoßen, damit sie rascher von der Glut verzehrt
-würden. Ein widerwärtiger Anblick! Für die Hinterbliebenen hätte er
-unerträglich sein müssen. Mein Verlangen, die Leichenverbrennung zu
-sehen, war ohnehin nicht groß gewesen und wurde bald gänzlich gestillt.
-Aus Gesundheitsrücksichten wäre es zwar ratsam, die Feuerbestattung
-allgemein einzuführen, aber diese Form derselben wirkt höchst abstoßend
-und ist durchaus nicht empfehlenswert.
-
-Natürlich gilt das Feuer für heilig und muß bezahlt werden.
-Gewöhnliches Feuer ist verboten, weil es kein Geld einbrächte. Man
-sagte mir, daß eine einzige Person -- vermutlich ein Priester -- das
-Monopol besitzt, alles heilige Feuer zu liefern, für das er einen
-beliebigen Preis fordern kann. Mancher Leidtragende hat für eine
-Feuerbestattung schon tausend Rupien entrichtet. Von Indien aus ins
-Paradies zu kommen ist wirklich ein sehr kostspieliges Ding; man muß
-jede einzelne Kleinigkeit, die dazu gehört, teuer bezahlen, um die
-Priester zu mästen.
-
-In der Nähe des Verbrennungsplatzes stehen ein paar altersgraue
-Steine aus der Zeit, als die Sutti noch gestattet war. Ein Mann und
-eine Frau, die Hand in Hand miteinander gehen, sind roh in den Stein
-geschnitten, der die Stelle bezeichnet, wo die Witwe ehemals den
-Feuertod erlitten hat. Mr. Parker sagt auch, daß sich die Witwen noch
-heutigen Tages verbrennen lassen würden, wenn die englische Regierung
-es nicht strengstens untersagte. Jede Familie, die auf einen der
-kleinen Denksteine zeigen und sagen kann: »Hier hat sich unsre Ahnfrau
-verbrannt!« wird von allen beneidet.
-
-Ein seltsames Volk, diese Hindus! Alles Leben ist ihnen heilig, nur
-das des Menschen nicht. Selbst das Ungeziefer verschonen sie, und
-der fromme Dschain setzt sich auf keinen Stuhl, ohne ihn vorher
-abzuwischen, um ja auch nicht das winzigste Insekt zu töten. Es
-betrübt ihn, daß er Wasser trinken muß, weil der Inhalt seines Magens
-vielleicht den Mikroben nicht zuträglich sein könnte. Und doch ist
-Indien die Heimat der Thugs und der Sutti. Es wird unsereinem schwer,
-das zusammen zu reimen.
-
-Wir gingen auch zu dem Tempel der Thug-Göttin Bhowanee oder Kali oder
-Durga -- sie trägt alle diese Namen und noch viele andere. Sie ist die
-einzige Gottheit, der etwas Lebendiges geopfert wird; man schlachtet
-ihr Ziegenböcke. Affen wären billiger und sind überreichlich vorhanden.
-Da sie heilige Tiere sind, benehmen sie sich sehr unbescheiden und
-klettern überall herum, wo sie wollen. Der Tempel und die Vorhalle
-sind mit wunderschönen steinernen Ornamenten geschmückt, desto
-häßlicher ist das Götzenbild. Es ist wirklich kein Vergnügen Bhowanee
-anzusehen; sie hat ein Gesicht von Silber mit einer heraushängenden,
-hochrot angemalten, geschwollenen Zunge und trägt ein Halsband von
-Totenschädeln.
-
-Ueberhaupt sind die zahllosen Götzenbilder in Benares alle roh, häßlich
-und mißgestaltet. Die ganze Stadt ist voll davon; sie ängstigen einen
-nachts im Traum, und nirgends hat man Ruhe vor ihnen. Kann man ihren
-Anblick in den Tempeln nicht länger ertragen und geht zum Strom hinaus,
-so findet man dort riesengroße, mit bunten Farben bemalte Götzen
-nebeneinander am Ufer hingestreckt, und wo irgend noch Raum ist, steht
-ein Lingam. Schwerlich hat Wischnu vorausgesehen, was aus seiner Stadt
-werden würde, sonst hätte er sie Götzenheim oder Lingamburg genannt.
-
-Die höchsten Türme von Benares sind die beiden schlanken, weißen
-Minarets auf der Moschee des Aurengzib, die einem überall zuerst ins
-Auge fallen. Die Aussicht von oben ist wundervoll, doch wurde sie mir
-ganz durch einen großen, grauen Affen verdorben, der auf dem Dach der
-Moschee die wildesten Sprünge machte. Es ist kaum zu glauben, wie
-unvernünftig ein solches Tier ist! Der Affe schwang sich über dem
-gähnenden Abgrund durch den leeren Raum bis zu irgendeinem steinernen
-Vorsprung, der viel zu weit entfernt für ihn war, so daß er ihn nur mit
-knapper Not erreichte und sich mit den Zähnen festhalten mußte. Mich
-machte das so nervös, daß _ich_ immer nur nach dem Affen hinsah und die
-Aussicht ganz darüber vergaß. So oft er einen seiner tollkühnen Sätze
-ins Blaue hineintat, verging mir der Atem; wenn er nach einem Anhalt
-griff, klammerte ich mich selbst aus Mitgefühl krampfhaft fest und
-schnappte nach Luft, während er sich ganz gleichgültig und unbekümmert
-stellte. Wohl ein Dutzendmal kam er nur gerade noch mit dem Leben davon
-und beunruhigte mich dermaßen, daß ich ihn am liebsten auf der Stelle
-totgeschossen hätte; doch ging mich die Sache im Grunde ja gar nichts
-an.
-
-Die Aussicht möchte ich allen Fremden aufs dringendste empfehlen, was
-man davon genießt ist prachtvoll. Ganz Benares, der Fluß und die Gegend
-ringsum liegen ausgebreitet vor unsern Blicken da. Wenn nur der Affe
-nicht wäre! -- Mein Rat ist also: nehmt eine Flinte mit und seht euch
-die Aussicht an!
-
-Der nächste Anblick, der sich uns bot, war weniger aufregend:
-Ein Eingeborener malte ein Bild auf Wasser -- eine mir ganz neue
-Kunstleistung. Der Mann streute verschiedenfarbigen feinen Staub
-auf die Oberfläche eines Wasserbeckens und daraus entwickelte sich
-allmählich ein hübsches, zartes Gemälde, das durch einen Hauch wieder
-zerstört werden konnte. Es kam mir vor wie ein Gleichnis und Sinnbild,
-welches die Unbeständigkeit alles Irdischen predigt. Nach meinem vielen
-Umherstöbern unter den verfallenen Tempeln, die auf Ruinen standen,
-welche wiederum auf den Trümmern und Ruinen früherer Zeitalter erbaut
-gewesen waren, lag mir der Gedanke nahe, daß alle die gewaltigen
-Steinbauten in ihrer Art ganz ebenso vergänglich sind, wie Bilder, die
-man auf Wasser malt.
-
-In Benares ist es auch gewesen, wo der kühne Generalgouverneur von
-Ostindien, Warren Hastings, im Jahre 1781 mit knapper Not einer großen
-Gefahr entging. Mit einer Handvoll eingeborener Soldaten und drei
-jungen englischen Offizieren hatte er den Rajah Cheit Singh in seiner
-eigenen Festung gefangen genommen, weil dieser sich weigerte, eine
-Geldstrafe von 500000 Pfund Sterling zu bezahlen, die Hastings im Namen
-der Ostindischen Kompagnie über ihn verhängt hatte. So fest war damals
-seine Herrschaft in Indien begründet und so zuversichtlich rechneten
-die Engländer auf die oft erprobte Unterwürfigkeit des indischen
-Volkes, daß sie bei dem Zug in das entlegene Fürstentum, wo sie von
-aller Hilfe abgeschnitten waren, nur leere Kanonen mitnahmen und
-ihren Pulvervorrat zurückließen. Durch einen Zufall ward dies jedoch
-verraten, und nun brach ein Aufstand los, bei dem die drei Engländer
-samt den hilflosen Sepoys erschlagen wurden. Hastings selbst entkam
-im Dunkel der Nacht glücklich aus Benares. Vor Ablauf eines Monats
-kehrte er jedoch mit genügenden Streitkräften zurück, stellte Ruhe und
-Ordnung wieder her, entthronte den Rajah und gab dem Fürstentum einen
-andern Herrscher.
-
-In eine so kritische Lage hat sich Hastings nie wieder gebracht. Er
-war ein hochbegabter Mann, und wenn auch an seinem Namen mancher
-Flecken haftet, den nichts zu tilgen vermag, so läßt sich doch nicht
-bestreiten, daß er das indische Reich für England gerettet hat. Einen
-bessern Dienst hätte er aber zugleich auch der indischen Nation nicht
-leisten können, welche seit Jahrtausenden unter dem Druck einer
-erbarmungslosen Tyrannei geschmachtet hatte.
-
-
-
-
-Vierzehntes Kapitel.
-
- Es zeugt von Mangel an Ehrfurcht, wenn man den Gott anderer
- Menschen mißachtet.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-In Benares besuchte ich auch einen lebendigen Gott; es war der zweite,
-den ich zu sehen bekam. Von allen großen und kleinen Weltwundern, die
-mir je vorgekommen sind -- und ich habe, so viel ich weiß, fast alle
-besichtigt -- hat mir, glaube ich, nichts einen so überwältigenden
-Eindruck gemacht wie diese beiden Götter. Eine Erklärung hierfür zu
-finden fällt mir nicht schwer: Wenn wir etwas ein Wunder nennen, so tun
-wir das in der Regel nicht, weil es _uns_ außergewöhnlich erscheint,
-sondern weil _andere_ Leute etwas Besonderes darin sehen. Fast alle
-Wunder bekommen wir erst aus zweiter Hand. Ist ein Ding berühmt, so
-brennen wir vor Verlangen danach und wenn wir es sehen, erfüllt es
-stets unsere Erwartung. Der Anblick eines Gegenstandes, welcher in den
-Herzen einer großen Menschenzahl Begeisterung und Ehrfurcht entzündet
-oder ihre Liebe und Bewunderung weckt, gewährt uns einen Genuß, den
-wir mehr als alles andere schätzen. Wir fühlen uns hoch beglückt und
-dauernd bereichert, wir möchten die Erinnerung daran um keinen Preis
-hergeben.
-
-Wie manche Sehenswürdigkeit der Welt haben wir von tausend
-Schriftstellern unser Lebenlang mit Entzücken preisen hören! Wir
-pilgern um den Erdball, sind von ihrem Anblick berauscht und halten die
-Gefühle, welche uns überwältigen, für unsere eigenen, während wir nur
-von der Blume eines Weines trunken sind, der andern Leuten gehört. Aber
-alle Erdenherrlichkeit, die wir staunend erblicken, ist doch nichts
-im Vergleich zu einer Person, die lebt, atmet, redet, und von vielen
-Millionen Menschen in frommem, aufrichtigem, unerschütterlichem Glauben
-für einen Gott gehalten und in Demut angebetet wird.
-
-Als ich den Gott sah, war er sechzig Jahre alt. Er heißt Sri 108 Swami
-Bhaskarananda Saraswati; doch ist das nur _eine_ Form seines Namens,
-eine Abkürzung, wie man sie etwa im Gespräch mit ihm wählen würde.
-Wollte man ihm einen Brief schreiben, so würde es sich schon aus
-Höflichkeit empfehlen, eine längere Anrede zu gebrauchen; nicht etwa
-den ganzen Namen, aber wenigstens so viel davon:
-
-Sri 108 Matparamahansaparivraiakacharyaswamibhaskaranandasaraswati.
-
-Hochwohlgeboren auf der Adresse hinzuzufügen ist unnötig. Das Wort Sri,
-mit dem der ganze Schwall beginnt, ist an sich schon ein Ehrentitel.
-›108‹ gibt, glaube ich, die Zahl seiner übrigen Namen an. Da auch
-Wischnu 108 Namen hat, die er nur bei besonderen Gelegenheiten braucht,
-wird es wohl eine beliebte Sitte im Orden der Götter sein, sich
-solchen Extravorrat anzulegen. Aber auch ohne die 108 andern ist der
-abgekürzte Name schon ein recht hübsches Besitztum; er besteht aus 58
-Buchstaben, wenn ich mich nicht verzählt habe. Dagegen können selbst
-die längsten deutschen Wörter nicht aufkommen und sind ein für allemal
-vom Wettbewerb ausgeschlossen.
-
-Sri 108 S. B. Saraswati hat erreicht, was die Hindus den ›Zustand der
-Vollendung‹ nennen. Andere Hindus gelangen dazu nur durch zahllose
-Seelenwanderungen, bei welchen sie wieder und immer wieder in den
-verschiedensten Gestalten auf Erden geboren werden. Das ist eine
-langwierige Arbeit, die oft Jahrhunderte oder Jahrtausende in Anspruch
-nimmt, und bei der man allerlei Gefahr läuft. Man kann zum Beispiel,
-wie bereits erwähnt, das Unglück haben, einmal auf dem falschen Ufer
-des Ganges zu sterben und als Esel wieder zur Welt zu kommen, so
-daß man einen ganz neuen Anlauf nehmen und viele Entwicklungsstufen
-nochmals durchmachen muß. Von alledem ist Sri 108 S. B. S., als er
-zur Vollendung hindurchdrang, auf immer erlöst worden. Er nimmt
-nicht länger teil an dem Wesen dieser Welt; alles Irdische ist von
-ihm ausgeschieden, er ist vollkommen heilig und rein. Ja, er gehört
-überhaupt nicht mehr der Erde an, sondern steht ihr fremd gegenüber,
-ihre Schmerzen, Kümmernisse und Sorgen erreichen ihn nicht. Seine
-Heiligkeit kann durch nichts mehr entweiht, seine Reinheit durch nichts
-befleckt werden. Wenn er stirbt geht er zum Nirwana ein, wird in das
-Wesen der höchsten Gottheit mit aufgenommen und hat Frieden in Ewigkeit.
-
-Die heiligen Schriften der Inder lehren, wie man zu diesem Zustand
-emporklimmen kann, aber es kommt höchstens einmal in tausend Jahren
-vor, daß ein Prüfungskandidat ihn wirklich erreicht. Sri 108 hat
-sämtliche vorgeschriebene Stufen von Anfang bis zu Ende durchgemacht,
-und ihm bleibt nun nichts mehr zu tun übrig, als zu warten, bis er aus
-dieser Welt abberufen wird, von welcher sein Los getrennt ist und die
-ihm nichts mehr zu bieten hat. In der ersten Stufe war er ein Schüler
-und erwarb Kenntnis der heiligen Bücher. In der zweiten wurde er
-Bürger, Hausvorstand, Gatte und Vater. Dann nahm er, wie geboten ist,
-auf immer Abschied von seiner Familie und wanderte fort. Er zog in eine
-ferne Wüste und brachte die vorschriftsmäßige Zeit als Einsiedler zu.
-Darauf wurde er zunächst Bettler, »wie es die Schrift befiehlt«; er
-durchwanderte Indien und nährte sich von den Gaben der Mildtätigkeit.
-Vor einem Vierteljahrhundert erreichte er die höchste Reinheit, welche
-keines Gewandes bedarf, denn Nacktheit ist ihr Symbol. Er legte daher
-das Lendentuch ab, dessen er sich zuvor bedient hatte. Jetzt könnte
-er sich nach Belieben wieder damit gürten, denn ihn kann nichts mehr
-beflecken -- für gewöhnlich verschmäht er es jedoch.
-
-Ich glaube, das sind noch nicht alle Stufen, aber die andern fallen mir
-gerade nicht ein; jedenfalls hat er sie durchgemacht. Während seiner
-langen Prüfungszeit hörte er nicht auf, sich in frommer Weisheit zu
-vervollkommnen und Erklärungen der heiligen Bücher zu schreiben. Auch
-in religiöse Betrachtungen über Brahma hat er sich versenkt und das tut
-er noch.
-
-In ganz Indien wird sein Bildnis aus weißem Marmor verkauft; er bewohnt
-ein gutes Haus in Benares, das von einem schönen, großen Garten umgeben
-und eingerichtet ist, wie es seinem hohen Range zukommt. Auf der
-Straße kann er sich natürlich nicht blicken lassen. Für Götter wäre
-es in allen Ländern mit Unbequemlichkeiten verbunden, wenn sie frei
-umhergingen. Wollte jemand, den wir als Gott anerkennen und verehren,
-durch unsere Stadt spazieren und man erführe an welchem Tage, so
-würden alle Geschäfte stillstehen und der Verkehr ins Stocken geraten.
-
-Das Wohnhaus des Gottes ist zwar behaglich, aber doch in Anbetracht
-der Umstände sehr bescheiden. Er brauchte nur den Wunsch zu äußern,
-so würden ihm seine Anhänger mit Freuden einen Palast bauen. Manchmal
-empfängt er die Gläubigen einen Augenblick, spricht ihnen Trost zu
-und gibt ihnen seinen Segen; darauf küssen sie ihm die Füße und gehen
-beglückt von dannen. Da er ein Gott ist, legt er auf Rang und Stand
-keinen Wert, vor ihm sind alle Menschen gleich. Er empfängt wen er will
-oder verweigert seinen Anblick. Manchmal läßt er einen Fürsten vor
-und schickt den Bettler fort; ein andermal empfängt er den Bettler,
-und der Fürst muß seiner Wege gehen. Doch nimmt er überhaupt nur
-wenige Besucher irgendwelcher Klasse an, da er die Zeit für seine
-Betrachtungen zu Rate halten muß. Mr. Parker, den Missionar, würde er,
-glaube ich, jederzeit empfangen, weil er ihm leid tut. Er selbst tut
-aber Mr. Parker ebenso leid, und dies Mitgefühl ist gewiß ein Segen für
-alle beide.
-
-Bei unserer Ankunft mußten wir noch eine Weile im Garten herumstehen;
-die Aussichten waren nicht sehr günstig, denn Sri 108 S. B. S. hatte an
-diesem Tage alle Maharajas fortgeschickt und nur den gemeinen Pöbel
-empfangen; da wir nun weder das eine noch das andere waren, ließ sich
-nicht voraussagen, was wir zu erwarten hatten. Bald erschien jedoch ein
-Diener und sagte, es wäre schon recht, der Gott würde kommen.
-
-Ja, er kam wirklich und ich habe ihn gesehen, diesen Gegenstand der
-Anbetung für Millionen. Mich durchbebte ein nie gekanntes Gefühl -- ich
-wollte, es strömte mir noch durch die Adern. Und doch war er für mich
-kein Gott, sondern nur ein Schaustück. Der heilige Schauer, der mich
-durchzitterte, war nicht mein eigener; ich empfing ihn aus zweiter Hand
-von den unsichtbaren Millionen seiner Anbeter. Durch die Berührung mit
-ihrem Gott war ich in elektrische Verbindung mit ihrer Riesenbatterie
-geraten und bekam die ganze Ladung auf einmal zu fühlen.
-
-Sri 108 S. B. S. war groß und hager. Sein scharfgeschnittenes Gesicht
-hatte einen ungewöhnlich durchgeistigten Ausdruck und er sah mich mit
-dem tiefen Blick seiner Augen gütig an. Er schien viel älter als seine
-Jahre, aber das mochte wohl von seinen Studien und Betrachtungen, dem
-Fasten und Beten und dem harten Leben herrühren, das er als Einsiedler
-und Bettler geführt hatte. Empfängt er Eingeborene hohen oder niederen
-Ranges, so geht er ganz nackt; aber jetzt trug er ein weißes Tuch um
-die Lenden, ein Zugeständnis, das er vermutlich den Vorurteilen der
-Fremden machte.
-
-Sobald sich meine Verzückung etwas gelegt hatte, kamen wir gut
-miteinander aus, und er erwies sich mir als ein sehr angenehmer
-und freundlicher Gott. Er hatte viel vom Religionskongreß und der
-Weltausstellung in Chicago gehört und sprach mit großem Interesse
-darüber. Wenn die Leute in Indien auch von Amerika sonst nichts wissen,
-dies Ereignis ist ihnen bekannt, und sie werden Chicago sobald nicht
-vergessen.
-
-Zu meiner Freude schlug der Gott mir vor, ob wir nicht unsere
-Autographen austauschen wollten. Zufolge dieser zarten Aufmerksamkeit
-glaubte ich an ihn, wenn ich auch vorher meine Zweifel gehabt
-hatte. Er schrieb mir eine Widmung in sein Buch, das ich stets mit
-ehrfurchtsvoller Scheu betrachtete, obgleich die Wörter von rechts
-nach links gehen und ich es daher nicht lesen kann. Diese Art Bücher
-zu drucken, halte ich für ganz verkehrt. Das Werk enthält die von ihm
-verfaßten, umfangreichen Erklärungen zu den heiligen Schriften der
-Hindus; könnte ich sie entziffern, so würde ich selbst versuchen
-nach der Vollendung zu streben. Ich überreichte ihm ein Exemplar von
-Huckleberry Finn, weil ich glaubte, es würde ihm zur Abwechslung von
-seinen Betrachtungen über Brahma eine kleine Erholung sein. Er sah
-recht müde aus, und wenn ihm mein Buch auch vielleicht nichts nützt, so
-wird es ihm doch gewiß nichts schaden.
-
-Sri 108 S. B. S. hat einen Schüler, der unter ihm seine Studien
-betreibt -- Mina Bahadur Rana -- doch bekamen wir ihn nicht zu
-sehen. Er trägt Kleider und ist noch sehr unvollkommen. Eine kleine
-Abhandlung, die er über seinen Meister geschrieben hat, habe ich mir
-angeschafft. Es ist auch ein Holzschnitt darin, welcher Lehrer und
-Schüler zusammen auf einer Matte im Garten sitzend darstellt. Das Bild
-ist sehr gut getroffen und die Stellung genau dieselbe, welche Brahma
-mit Vorliebe einnimmt; man braucht dazu lange Arme und geschmeidige
-Beine; nur Götter können diese so übereinander schlagen -- Götter und
-der Kautschukmann. In der gleichen Stellung ist auch im Garten ein
-Marmorbild von Sri 108 S. B. S. in Lebensgröße zu sehen.
-
-Eine sonderbare Welt, in der wir leben -- und am allermerkwürdigsten
-geht es in Indien zu. Jener Schüler, Mina Bahadur Rana, ist ganz und
-gar kein gewöhnlicher Mensch, er besitzt eine außerordentliche Begabung
-und hohe Bildung; eine glänzende weltliche Laufbahn lag vor ihm. Noch
-vor zwanzig Jahren stand er im Dienst der Regierung von Nepal und
-nahm am Hofe des Vizekönigs von Indien eine hervorragende Stellung
-ein. Er war tüchtig in seinem Beruf, ein tiefer Denker, wohlhabend
-und kenntnisreich. Da ergriff ihn plötzlich das Verlangen, sich einem
-religiösen Leben zu weihen, er legte sein Amt nieder, wandte der
-Eitelkeit und allem Behagen dieser Welt den Rücken, zog sich in die
-Einsamkeit zurück und lebte in einer armen Hütte. Dort studierte er die
-heiligen Schriften und vertiefte sich in Betrachtungen über Tugend und
-Frömmigkeit, die er zu erringen strebte. Diese Art Religion gleicht
-der unsrigen. Christus hat den Reichen geboten ihre Güter den Armen
-zu geben und ihm nachzufolgen, nicht in weltlichem Wohlleben, sondern
-in Dürftigkeit. Unsere amerikanischen und englischen Millionäre tun
-das täglich und bezeugen so vor aller Welt den ungeheueren Einfluß der
-Religion; aber von manchen Leuten werden sie wegen dieser Entsagung
-und Pflichttreue verhöhnt und auch über Mina Bahadur Rana wird man
-spotten und sagen, er sei verrückt geworden. Gleich vielen Christen
-von edlem Charakter und hohen Geistesgaben hat auch er sich das
-Studium seiner heiligen Schriften und die Abfassung von Büchern zu
-ihrer Erklärung und Auslegung als Lebensaufgabe gewählt; er hat sich
-diesem Beruf mit aller Liebe hingegeben und ist fest überzeugt, daß
-es keine törichte, nutzlose Zeitverschwendung, sondern die würdigste
-und ehrenvollste Beschäftigung ist, der er sich widmen kann. Dennoch
-gibt es viele Leute, welche jene Christen verehren und preisen, den
-Inder aber einen Narren schelten. Das tue ich nicht. Er besitzt meine
-vollste Hochachtung und die biete ich ihm nicht als etwas Gemeines und
-Alltägliches dar, sondern als eine große Seltenheit und Kostbarkeit.
-Die gewöhnliche Hochachtung und Ehrfurcht, wie sie gang und gäbe ist,
-kostet nichts. Ehrfurcht vor dem, was uns selbst heilig ist: vor
-Eltern, Religion, Gesetz, Vaterland, Achtung vor unsern eigensten
-Ueberzeugungen, sind uns so natürliche Gefühle, daß wir ohne sie
-ebensowenig leben könnten, wie ohne zu atmen. Das Atemholen rechnet man
-sich aber nicht als persönliches Verdienst an. Schwer und verdienstvoll
-ist dagegen eine andere Art der Ehrfurcht, nämlich die Hochachtung,
-die wir aus freien Stücken den politischen und religiösen Anschauungen
-eines Menschen zollen, obgleich sie nicht die unsrigen sind. Wir können
-seine Götter nicht anbeten und seine Politik nicht teilen -- das
-erwartet auch niemand von uns; aber seinen Glauben an sie könnten wir
-doch achten, wenn es uns auch sauer wird; ja, wir könnten ihn selber
-achten, wollten wir uns rechte Mühe geben. Freilich, schwer ist es,
-ganz entsetzlich schwer, fast ein Ding der Unmöglichkeit, und deshalb
-versuchen wir es lieber gar nicht. Glaubt ein Mensch nicht wie wir
-glauben, so nennen wir ihn einen Toren, und dabei bleibt es. Das heißt
-in unsern Tagen, weil wir ihn jetzt nicht mehr verbrennen können.
-
-Als wir von dem Gott in Benares Abschied nahmen und uns entfernten,
-trafen wir am Gartentor mit einer Gruppe von Eingeborenen zusammen,
-welche ehrerbietig warteten -- ein Rajah, der aus einem entlegenen Teil
-Indiens kam und einige weniger vornehme Leute. Der Gott winkte sie zu
-sich heran, und im Hinausgehen sahen wir noch, wie der Rajah vor ihm
-kniete und demutsvoll seine heiligen Füße küßte.
-
-Eine bequeme Eisenbahnfahrt von siebzehn und einer halben Stunde
-brachte uns nach Kalkutta, der Hauptstadt Indiens, die zugleich auch
-die Hauptstadt von Bengalen ist. Die Bevölkerung besteht wie in Bombay
-aus fast einer Million Eingeborenen und einer kleinen Zahl Weißer.
-Kalkutta ist eine riesengroße und schöne Stadt, man nennt es die
-Stadt der Paläste. Es ist reich an geschichtlichen Erinnerungen und
-reich an britischen Errungenschaften auf militärischem, politischem
-und kaufmännischem Gebiet. Man bekommt dort die Früchte des Wirkens
-der beiden großen Helden Clive und Hastings zu genießen, aber das 250
-Fuß hohe Monument, welches man meilenweit in der Runde sieht, trägt
-den Namen Ochterlony. Mag man in Kalkutta sein wo man will, überall
-muß man an Ochterlony denken und sich den Kopf darüber zerbrechen,
-was das Denkmal wohl zu bedeuten hat. Gut, daß Clive nicht von den
-Toten zurückkommen kann, er würde sonst glauben, es sollte seinen Sieg
-bei Plassey verewigen und müßte zu seiner Kränkung erfahren, daß er
-sich geirrt hat. »Mit dreitausend Mann,« würde er sagen, »habe ich
-sechzigtausend bezwungen und das Reich gegründet, aber man hat mir
-kein Denkmal gesetzt. In der Schlacht bei Ochterlony hat der General
-vielleicht mit einem Dutzend Soldaten eine Billion Feinde geschlagen
-und die Welt errettet.«
-
-Aber das ist nicht richtig. Ochterlony war ein Mann, keine Schlacht. Er
-hat dem Lande auch gute und ehrenhafte Dienste geleistet, wie hundert
-andere tapfere, rechtschaffene und hochbegabte Engländer. Indien ist
-ein fruchtbarer Boden, um Männer zu erzeugen, die groß sind im Kriege
-wie im Frieden und bescheiden bei all ihrer Größe. Daß man ihnen
-Denkmäler setzt, erwarten sie nicht; auch Ochterlony hat das schwerlich
-getan -- wenigstens sicherlich nicht, ehe Clive und Hastings versorgt
-waren.
-
-Wollte man in Indien jedem zum Lohn für ausgezeichnete Taten, treue
-Pflichterfüllung und fleckenlosen Lebenswandel ein Denkmal setzen, es
-würde der Gegend ein einförmiges Ansehen geben. Die Handvoll Engländer
-regieren die Myriaden Inder anscheinend mit Leichtigkeit und ohne daß
-irgend welche Reibung entsteht. Sie können das, weil sie richtigen
-Takt, Tüchtigkeit und treffliche Verwaltungskunst besitzen, welche von
-gerechten, freisinnigen Gesetzen unterstützt wird, und weil sie den
-Eingeborenen stets Wort halten, wenn sie ihnen ein Versprechen gegeben
-haben.
-
-England liegt weit von Indien; man erfährt dort wenig von den großen
-Diensten, welche die indischen Beamten dem Lande leisten; denn der
-Ruhm wird durch Zeitungskorrespondenten verbreitet, und diese schickt
-England nicht nach Indien, sondern nach dem europäischen Festland, um
-über die Taten aller kleiner Fürsten und Herzöge Bericht zu erstatten,
-damit man weiß, wo sie auf Besuch sind und wen sie heiraten. Ein
-britischer Beamter kann oft dreißig oder vierzig Jahre in Indien
-gelebt haben und wegen seiner hohen Verdienste von einer Ehrenstufe
-zur andern gestiegen sein, bis er Vizekönig wird und ein großes Reich
-mit vielen Millionen Untertanen regiert. In jedem andern Lande wäre er
-ein berühmter Mann, aber, wenn er wieder nach England kommt, ist er im
-Grunde so gut wie unbekannt und zieht sich in ein bescheidenes Eckchen
-zurück. Erst nach seinem Tode liest man mit Staunen den Bericht über
-seine glänzende Laufbahn in irgend einer Londoner Zeitung.
-
-In Kalkutta gab es viel zu sehen, aber wir hatten nur wenig Zeit
-dazu. Die von Clive erbaute Festung, der große botanische Garten, die
-Spazierfahrt der vornehmen Welt auf dem Maidan und eine glänzende Revue
-der Garnison nebst den Manövern der eingeborenen Soldaten, bei denen
-alle Waffengattungen große militärische Tüchtigkeit bewiesen und deren
-Schluß die Erstürmung eines indischen Forts bildete -- das waren die
-Hauptsehenswürdigkeiten, die wir in Augenschein nahmen. Dann machten
-wir noch eine Lustfahrt auf dem Hugli und teilten unsere übrige Zeit
-zwischen geselligem Verkehr und dem indischen Museum. Letzteres ist
-eine wahre Schatzkammer für indische Altertümer, zu deren Besichtigung
-man mindestens einen Monat haben sollte; ja, ich könnte diese schönen
-und wunderbaren Dinge ein halbes Jahr lang ansehen, ohne daß sie ihren
-Reiz für mich verlieren würden.
-
-Es war Winter in Kalkutta, ›kaltes Wetter‹, wie uns jedermann
-versicherte. Aber, wer an 138° im Schatten gewöhnt ist, hat kein Urteil
-über dergleichen. Jedenfalls war dies kalte Wetter zu warm für die
-Fremden, und wir brachen deshalb nach Dardschiling am Himalaja auf. Es
-ist eine Reise von vierundzwanzig Stunden.
-
-
-
-
-Fünfzehntes Kapitel.
-
- Es gibt 869 verschiedene Arten der Lüge; aber nur eine von
- allen ist ausdrücklich verboten: »Du sollst nicht falsch
- Zeugnis reden wider deinen Nächsten.«
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-_Aus dem Tagebuch. 14. Februar._ Wir reisten nachmittags um 4.30 ab und
-fuhren bis zur Dämmerung durch tropische Vegetation; dann bestiegen wir
-ein Boot, das uns ans andere Ufer des Ganges brachte.
-
- * * * * *
-
-_15. Februar._ -- Mit der Sonne aufgestanden. Ein strahlender,
-frostkalter Morgen. Doppelte Flanellunterkleider machen sich notwendig.
-Die Gegend ist vollständig eben und dehnt sich in verschwommenen Farben
-weiter und immer weiter, bis ins Unendliche aus. -- Wie üppig, wie
-hoch und mächtig ist doch der Bambus mit seinem duftig zarten Laub!
-Wohin das Auge blickt, sieht man die baumartigen Gräser gleich riesigen
-Pflanzengeysern emporschießen, bis ihr grüner Sprühregen sich in der
-Ferne in Dunstwolken zu verwandeln scheint. Auch an Bananenfeldern
-kamen wir vorbei, wo der Sonnenschein die glasierte Oberfläche der
-großen niederhängenden Blätter streifte. Häufig sahen wir Palmenhaine
-und vereinzelte Exemplare dieser malerischen Familie, die eine
-wirkungsvolle Abwechslung in das Landschaftsbild brachten. An den hohen
-schlanken Stämmen hingen die Blätter zerrissen und zerfetzt umher,
-als wollte die Natur einen Regenschirm darstellen, der unversehens in
-einen Wirbelsturm geraten ist und es sich nicht merken lassen will.
-Und überall sahen wir im gedämpften Morgenlichte Dörfer auftauchen,
-zahllose Dörfer, die kein Ende nehmen wollten. Mit Stroh gedeckt, aus
-reinen, neuen Rohrmatten aufgebaut, lagen sie dichtgedrängt zwischen
-Palmengruppen und Bambusgräsern. In Abständen von kaum dreihundert
-Metern kamen immer neue dutzendweise zum Vorschein. Es war eine
-mächtige, viele hundert Meilen lange und breite Stadt, die aus lauter
-Dörfern bestand. Eine so ungeheure Stadt habe ich noch nie gesehen, es
-gibt keine zweite auf der ganzen Erde, und eine Einwohnerzahl hat sie,
-wie ein europäisches Königreich. Wir sahen diese Menschen auf beiden
-Seiten der Eisenbahn und vor uns, soweit das Auge reichte -- eine
-endlose Menge nackter Gestalten. Meile auf Meile flogen wir dahin, aber
-immer waren sie da, auf beiden Seiten und vor uns, die braunen nackten
-Männer und Knaben, die auf den Feldern ackerten und pflügten. Wir
-gewahrten kein einziges Weib, kein Mädchen bei der Feldarbeit, während
-der ganzen zweistündigen Fahrt.
-
-Wenn wir den armen Heiden die neueste Zivilisation bringen, sollten
-wir zugleich die Gelegenheit benützen, auch unsere Kultur durch einige
-ihrer barbarischen Sitten zu bereichern. Das Recht hierzu kann uns
-niemand bestreiten. Heben wir jene Völker auf eine höhere Stufe, so
-sind wir auch befugt, uns selbst mit ihrer Hilfe um neun oder zehn
-Grade aufwärts zu bringen. Vor Jahren verlebte ich einige Wochen in dem
-bayrischen Bade Tölz. Die Gegend ist katholisch, und nicht einmal in
-Benares ist die Bevölkerung so durch und durch religiös und so eifrig
-in ihrer Frömmigkeit, das erkennt man auf den ersten Blick. Damals
-schrieb ich in mein Tagebuch: »Gestern machten wir eine wunderschöne
-Spazierfahrt über Land; doch wurde mein Vergnügen durch den Anblick
-ehrwürdiger Großmütter mit grauen Haaren, die im Felde arbeiteten, sehr
-beeinträchtigt. Siebzig- und achtzigjährige Frauen mähten Korn, banden
-Garben oder luden das Heu auf den Wagen.«
-
-An andern Orten in Bayern sah ich, wie Weiber schwere mit Bierfässern
-beladene Karren zogen. In Oesterreich fand ich oft eine Frau neben
-einer Kuh an den Pflug gespannt, den ein Mann führte. Ich sah ein altes
-gebücktes Weib, zusammen mit einem Hunde angeschirrt, einen beladenen
-Schlitten über gepflasterte und ungepflasterte Straßen ziehen, während
-der Fuhrmann, ein kräftiger Mensch von kaum dreißig Jahren, nebenher
-ging und seine Pfeife rauchte. Auch die Wäscherinnen in Frankreich kann
-ich nicht vergessen, die bei strömendem Regen und so naßkaltem Wetter,
-daß man keinen Hund hinausjagen würde, in ihrer gewöhnlichen Kleidung
-vor meinen Hotelfenstern in der Rhone wuschen, bis die Dunkelheit ihrer
-Arbeit ein Ende machte. Dann kam ein starker Bursche -- vielleicht der
-Enkel der alten Großmutter -- im sichern Schutz seines Regenschirms,
-trocken und wohlbehalten auf einem Eselwagen gefahren und befahl den
-Weibern in herrischem Ton, die sechs schweren Körbe mit nasser Wäsche
-aufzuladen, die ein Mann kaum von der Stelle gebracht hätte. Die bis
-auf die Haut durchnäßten Frauen gehorchten ohne Murren, und während der
-Franzose vom Wagen stieg und ins Wirtshaus ging, wo ich ihn später bei
-einer Flasche Wein sitzen sah, trabten sie geduldig heimwärts hinter
-dem Karren drein.
-
-Doch ich kehre nach Indien zurück. Im Lauf des Nachmittags näherten wir
-uns dem Gebirge. Wir verließen den Hauptbahnzug und stiegen in eine
-Zweigbahn, die aus kleinen mit Leinwand gedeckten Wagen bestand, von
-denen jeder etwa für zwölf Personen Platz hatte. Wurden die Vorhänge
-aufgezogen, so saß man ganz im Freien, fühlte sich äußerst behaglich,
-konnte die frische Luft einatmen und sich nach allen Seiten umsehen.
-Es war eine Vergnügungsfahrt, nicht nur dem Namen nach, sondern in
-Wirklichkeit.
-
-Nach einer Weile hielten wir an einem kleinen hölzernen Bahngebäude
-mitten im dichten Walde unter großen Bäumen, Gebüsch und
-Schlingpflanzen in der Nähe eines düstern Dschungels. Hier haust der
-bengalische Königstiger in großer Menge und benimmt sich sehr frech und
-rücksichtslos. Von der einsamen kleinen Station wurde einmal folgende
-Depesche an den Bahnhofsinspektor in Kalkutta abgesandt: »Ein Tiger
-frißt eben den Bahnwärter auf der vorderen Veranda. Telegraphieren Sie
-mir Verhaltungsmaßregeln.«
-
-Ich ging dort zum erstenmal auf die Tigerjagd und tötete vierzehn
-Stück. Bald fuhren wir weiter, und der Zug klomm den Berg hinauf. An
-einer Stelle kamen sieben wilde Elefanten über die Schienen, aber zwei
-von ihnen liefen davon, ehe ich sie erreichen konnte. Die Fahrt im
-Gebirge beträgt vierzig Meilen und dauert acht Stunden. Sie sollte eine
-ganze Woche in Anspruch nehmen, weil sie so interessant, aufregend,
-wild und entzückend ist. Die tropische Vegetation war vollständig
-vertreten. Ich glaube der Dschungel enthielt Exemplare jeder seltenen
-oder merkwürdigen Baum- und Buschart, von der wir jemals gehört haben.
-Aus dieser Schatzkammer der Pflanzenwelt muß der ganze Erdball mit
-allen Gewächsen versehen worden sein, die für uns am köstlichsten und
-wertvollsten sind. Es ist reizend, wie sich der Weg fortwährend dreht
-und windet. Er führt bald unter hohen Felsenklippen hin und her, die
-in Laubwerk und Schlingpflanzen förmlich begraben sind, bald am Abhang
-unergründlich tiefer Schluchten entlang. Dabei begegnet man fort
-und fort endlosen Reihen malerisch aussehender Eingeborener, welche
-Lasten den Berg hinauftragen oder von ihrer Arbeit in den Teegärten
-droben zurückkehren. Einmal trafen wir auch auf einen Hochzeitszug im
-bunten Flitterstaat. Die hübsche, kindliche Braut guckte zwischen den
-Vorhängen ihres Palankins heraus und zeigte ihr Gesicht mit solchem
-Vergnügen, wie es nur junge und glückliche Menschen empfinden, wenn sie
-etwas Verbotenes tun.
-
-Wir kamen allmählich bis zu den Wolken hinauf und schauten von unserer
-luftigen Höhe hernieder auf ein wunderbares Bild: Von Wolkenschatten
-gefleckt, mit glänzenden Strömen durchzogen, lag die indische Ebene
-vollkommen flach, aber weich und anmutig in der glühenden Hitze da.
-Gerade unter uns, tiefer und immer tiefer, bis zum Tal hinab, schob
-sich ein Gewirr kahler Bergspitzen durcheinander, über welche sich
-Straßen und Pfade, gleich mattgelben, schmalen Bändern, in zahllosen
-deutlich erkennbaren Krümmungen und Windungen schlängelten.
-
-Als wir die Höhe von 6000 Fuß erreichten, umgab uns eine dichte
-Wolkenschicht, welche die übrige Welt vor unsern Blicken derart
-verhüllte, daß sie überhaupt nicht wieder zum Vorschein kam. Wir
-klommen nun noch 1000 Fuß höher, dann senkte sich der Weg und wir
-erreichten Dardschiling, das 6000 Fuß über der Ebene liegt.
-
-Auf unserer Fahrt hatten wir in vielen Gebirgsdörfern eine ganz
-neue Gattung Eingeborener zu sehen bekommen, die größtenteils dem
-kriegerischen Stamme der Ghurkas angehörten. Sie sind nicht groß, aber
-stark gebaut und voll Tatkraft, auch liefern sie die besten Soldaten
-unter den eingeborenen britischen Truppen. Ihre Frauen kamen uns
-scharenweise entgegen; sie kletterten den steilen Weg vom Tal bis zu
-ihrer Wohnstätte in den Bergen vierzig Meilen weit empor und hatten
-dabei noch schwere Körbe auf dem Rücken, zu deren besserem Halt sie ein
-Gurtband um die Stirn trugen. Wieviele hundert Pfund die Last wog, will
-ich gar nicht erst sagen; es würde mir doch niemand glauben. Es waren
-noch junge Frauen, die unter ihrer zentnerschweren Bürde so leicht
-einherschritten, als ob sie zum Tanze gingen. Man sagte mir, eine Frau
-könne ein Klavier auf dem Rücken den Berg hinan tragen, und das hätten
-schon viele getan. Wären es alte Frauen gewesen, so würde ich die
-Ghurkas für ebenso unzivilisiert halten wie die Europäer.
-
-Am Bahnhof von Dardschiling warten auf den Reisenden statt der
-Droschken eine Menge offener Särge, in die man steigt, um sich von
-Männern auf der Schulter die steilen Wege zur Stadt hinan tragen zu
-lassen.
-
-Oben fanden wir ein ziemlich behagliches Hotel, dessen Besitzer die
-Bequemlichkeit und Sorglosigkeit selber war. Er überläßt die Wirtschaft
-dem Heer seiner indischen Diener und kümmert sich um nichts. Das
-heißt, nein -- die Rechnung sieht er doch durch, und der Fremde wird
-wohl daran tun, seinem Beispiel zu folgen. Ein Bewohner des Hotels
-sagte mir, daß der Gipfel des Kinchinjunga oft von Wolken verhüllt
-wird, so daß die Fremden schon manchmal drei Wochen lang gewartet
-haben und zuletzt doch fortgehen mußten, ohne ihn zu Gesicht zu
-bekommen. Trotzdem waren sie nicht enttäuscht, denn als man ihnen die
-Hotelrechnung einhändigte, fanden sie diese so hoch, daß sie überzeugt
-waren, es könne überhaupt nichts Höheres auf dem Himalaja zu sehen
-geben. Doch das halte ich für erlogen.
-
-Nach meiner Vorlesung ging ich noch abends in das Klubhaus, wo es mir
-sehr gut gefiel. Wegen seiner hohen Lage bietet es umfassende Aussicht;
-man kann dreißig Meilen weit bis zur Grenze sehen, wo drei oder vier
-Länder zusammenstoßen, Nepal glaube ich und Tibet, die beiden andern
-weiß ich nicht mehr.
-
-Am nächsten Morgen, es war Sonntag, kamen Bekannte in aller Frühe
-mit Pferden, und unsere Gesellschaft unternahm einen Ritt nach
-dem Aussichtspunkt, von wo sich Kinchinjunga und Mount Everest am
-vorteilhaftesten darstellen. Ich zog jedoch vor, zu Hause zu bleiben,
-denn ich fand es kalt, und die Pferde waren mir so wie so fremd. Mit
-ein paar wollenen Decken und meiner Pfeife saß ich zwei Stunden lang
-am Fenster und sah wie die Sonne die Morgennebel vertrieb, wie sie die
-Schneespitzen eine nach der andern blaßrot und goldig malte und zuletzt
-den ganzen mächtigen Gebirgsstock in ein Meer der herrlichsten Farben
-tauchte.
-
-Der Kinchinjunga kam zwar nur dann und wann zum Vorschein, doch hob er
-sich jedesmal mit großer Klarheit gegen den Himmel ab. Er ragte 28000
-Fuß über der Meeresfläche in das blaue Gewölbe hinauf, meilenweit über
-mir, so hoch wie ich mein Lebtag kein Land gesehen hatte. Mount Everest
-ist noch 1000 Fuß höher, doch gehörte er nicht zu dem Haufen von
-Bergspitzen, die sich da vor mir auftürmten. Daß ich ihn nicht zu sehen
-bekam, machte mir keinen Kummer; ein Berg von so übermäßiger Höhe würde
-mir unangenehm gewesen sein.
-
-Von den Hinterfenstern des Hauses ging ich dann nach der Vorderseite,
-wo ich den Rest des Morgens damit verbrachte, die dunkelfarbigen
-Genossen der verschiedenen Stämme vorbeifluten zu sehen, die aus ihren
-fernen Heimstätten im Himalaja kamen.
-
-Jedes Alter und Geschlecht war vertreten und die Rassen waren mir ganz
-neu, obwohl die Tibetaner durch ihre Tracht an Chinesen erinnerten. Daß
-die Gebetsmühle häufig in Anwendung kam, brachte mir die Leute näher
--- ich fühlte mich ihnen verwandt. Auch wir lassen uns oft beim Gebet
-durch unsern Pfarrer vertreten; zwar wirbeln wir ihn nicht um einen
-Stock herum, doch ist das kein wesentlicher Unterschied. --
-
-Stundenlang sah ich den Strom an mir vorübereilen; schade, daß das
-seltsame, fesselnde Bild dort so gut wie verloren war. Hätte sich der
-bunte Schwarm durch die Städte Europas oder Amerikas ergossen, welches
-Labsal wäre es für die Menschen gewesen, denen das ewige Einerlei der
-Zirkusvorstellungen nicht mehr genügt. Was führte aber die Eingeborenen
-in solcher Unmenge herbei? -- Sie hatten sich aufgemacht, um den Bazar
-zu besuchen, wo sie Waren zum Verkauf ausbieten wollten. Später nahmen
-wir diesen fremdartigen Kongreß wilder Völkerschaften gleichfalls in
-Augenschein. Wir drängten uns hier und da durch die Menge und kamen
-zu dem Schluß, daß es schon allein um dieses Schauspiels willen der
-Mühe wert sein würde, von Kalkutta herzureisen, selbst wenn es keinen
-Kinchinjunga und Mount Everest auf der Welt gäbe.
-
-
-
-
-Sechzehntes Kapitel.
-
- Es gibt zwei Zeiten des Lebens, in denen der Mensch sich
- hüten sollte zu spekulieren: wenn seine Mittel es ihm nicht
- erlauben, und wenn sie es ihm erlauben.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Am Montag und Dienstag genossen wir bei Sonnenaufgang eine mittelgute
-Aussicht auf die großartige Gebirgslandschaft. Inzwischen hatten wir
-uns erfrischt und abgekühlt, so daß wir uns stark genug fühlten, es
-wieder mit der Hitze der unteren Welt aufzunehmen.
-
-Wir fuhren mit dem gewöhnlichen Zug noch die fünf Meilen bis zum
-höchsten Punkt hinauf, um von da aus die 35 Meilen lange Rückfahrt
-anzutreten. Wir bestiegen eine kleine sechssitzige, mit Leinwand
-überspannte Draisine, welche die Größe eines Schlittens hatte und so
-niedrig war, daß sie den Boden zu berühren schien. Eine Lokomotive
-oder sonstige Triebkraft brauchte sie auf den abschüssigen Wegen nicht,
-nur eine starke Bremse, um ihre Fahrgeschwindigkeit zu mäßigen, und
-damit war sie versehen. Man erzählte uns von einer Unglücksfahrt, die
-der Generalleutnant von Bengalen einmal mit solcher Draisine gemacht
-hat: Der Wagen war aus den Schienen gekommen und hatte die Insassen in
-den Abgrund geschleudert. Zwar ist die Geschichte gänzlich erfunden,
-doch verfehlte sie ihre Wirkung auf mich nicht, denn sie machte mich
-ängstlich. Ein Mensch der Angst hat ist aber nicht schlafmützig,
-sondern munter und aufgeweckt; seine Spannung bei einem neuen und
-gewagten Unternehmen wird durch die Furcht wesentlich erhöht. Daß
-ein Unfall leicht möglich war, lag auf der Hand: ein kleiner Stein,
-der aus Zufall auf die Schienen geriet oder in böswilliger Absicht
-dorthin gelegt wurde, genügte, um den Wagen an irgend einer scharfen
-Biegung zu entgleisen und nach Indien hinunter zu befördern. War auch
-der Generalleutnant der Gefahr entgangen, so gab mir das noch keine
-Bürgschaft dafür, daß ich ebensoviel Glück haben würde. Als ich dastand
-und von meiner luftigen Höhe hinabsah auf das indische Kaiserreich,
-das 7000 Fuß unter mir lag, kam es mir doch recht unangenehm und
-halsbrecherisch vor, aus dem Wagen in eine solche Tiefe geschleudert zu
-werden.
-
-Für mich war übrigens die Gefahr nicht groß. Wenn uns Unglück drohte,
-so befiel es jedenfalls Mr. Pugh, den Inspektor der indischen Polizei,
-unter dessen Schutz wir von Kalkutta heraufgekommen waren. Er hatte
-lange als Artillerieoffizier gedient, war nicht so ängstlich wie
-ich, und wollte uns, mit einem Ghurka und einem andern Eingeborenen,
-als Lotse in einer Draisine vorausfahren. Sahen wir seinen Wagen in
-den Abgrund stürzen, so brauchten wir nur so rasch wie möglich zu
-bremsen und uns nach einem andern Lotsen umzutun. Das war eine höchst
-zweckmäßige Einrichtung. Auch daß Mr. Barnard, der erste Ingenieur des
-Bergbezirks, die Leitung unseres Wagens übernahm, diente mir zu großer
-Beruhigung, denn er hatte die Fahrt schon sehr oft gemacht.
-
-Anscheinend war alles sicher, nur _ein_ Punkt blieb unentschieden: der
-fahrplanmäßige Zug sollte unmittelbar nach unserm Wagen abgelassen
-werden und konnte uns leicht über den Haufen rennen. Ich war im stillen
-überzeugt, es würde geschehen.
-
-Vor uns fiel die Straße steil ab und wand sich dann wie ein
-Korkzieher, um Klippen und an Abgründen entlang, tiefer und immer
-tiefer hinunter. Eine steile Rutschbahn, die in endlosen Krümmungen
-abwärts führt, hätte nicht ungemütlicher aussehen können.
-
-Jetzt ließ Mr. Pugh seine Flagge wehen und flog davon, wie der Pfeil
-vom Bogen, und ehe ich noch Zeit hatte, aus dem Wagen zu springen,
-fuhren wir ihm nach. Mich durchrieselte ein Schauer, wie ich ihn
-ähnlich nur bei meiner allerersten Schlittenfahrt von einem steilen
-Berggipfel empfunden habe. Der Atem verging mir, aber doch war es ein
-Gefühl himmlischer Lust, eine plötzliche ungeheuere Aufregung, eine
-Mischung von Todesangst und unaussprechlichem Entzücken, die für uns
-Menschen, glaube ich, die höchste Wonne auf Erden ist.
-
-Wie eine Schwalbe im Flug über den Boden schießt, so glitt der
-Lotsenwagen den Berg hinunter; leicht, rasch und anmutig schwebte er
-auf den geraden Strecken dahin und überwand spielend alle Biegungen
-und Krümmungen. Wir jagten ihm nach und flogen mit Blitzesschnelle an
-Vorgebirgen und Klippen vorbei; zuweilen hatten wir ihn fast eingeholt
--- wir hofften schon, es würde uns gelingen. Aber der Lotse trieb nur
-seinen Scherz mit uns; kaum kamen wir ihm in die Nähe, so ließ er die
-Bremse los, der Wagen tat einen Satz um die Ecke, und wenn wir ihn ein
-paar Sekunden später wieder zu Gesicht bekamen, sah er nicht größer
-als ein Schubkarren aus, so weit war er entfernt. Auch wir machten uns
-einen ähnlichen Spaß mit dem Eisenbahnzug. Oft stiegen wir aus, um
-Blumen zu pflücken oder am Abgrund sitzend die Aussicht zu bewundern;
-dann hörten wir plötzlich ein dumpfes Brüllen, das immer lauter
-wurde, und sahen den Zug hinter und über uns in Schlangenwindungen
-heranstürmen. Wir brauchten jedoch erst abzufahren, wenn die Lokomotive
-dicht bei uns war -- im Nu blieb sie weit dahinten. Sie mußte bei jeder
-Station Halt machen, und das gab uns immer wieder einen Vorsprung.
-Unsere Bremsvorrichtung war so ausgezeichnet, daß wir den Wagen auf dem
-steilsten Abhang augenblicklich zum Stillstand bringen konnten.
-
-Das wunderschöne Landschaftsbild bot die großartigste Abwechslung,
-und wir hatten alle Muße es zu betrachten, ohne daß uns der Zug dabei
-hinderlich war. Brauchte er die Straße für sich, so bogen wir rasch
-in ein anderes Geleise, ließen ihn vorbeifahren, holten ihn dann
-später ein und stachen ihn unsererseits wieder aus. Einmal hielten
-wir an, um den Gladstone-Felsen zu betrachten, auf dem die Natur im
-Laufe der Jahrtausende ein sprechend ähnliches Bildnis des ehrwürdigen
-englischen Staatsmannes gemeißelt hat, das als Huldigung für ihn gerade
-rechtzeitig fertig geworden ist.
-
-Wir sahen auch einen Banianen- oder Götzenbaum, welcher von seinen
-sechzig Fuß hohen Zweigen herab, säulenförmige Stützen zur Erde sandte;
-ganz wie der große, spinnebeinige Banianenbaum mit seiner Wildnis von
-Pflanzensäulen, den wir im botanischen Garten zu Kalkutta bewundert
-hatten. Auch ganz laublose Bäume fielen uns auf, deren zahllose Aeste
-und Zweige von einer Unmenge feurig leuchtender Schmetterlinge bedeckt
-schienen. Es waren aber in Wirklichkeit Blüten, welche scharlachroten
-Schmetterlingen täuschend ähnlich sahen.
-
-Als wir einige Meilen bergab gefahren waren, machten wir Halt, um eine
-tibetanische Theatervorstellung mit anzusehen, welche am Bergabhang
-unter freiem Himmel stattfand. Die Zuhörerschaft bestand aus Ghurkas,
-Tibetanern und andern absonderlichen Leuten. Ebenso fremdartig wie
-das Stück selbst, waren auch die Kostüme der Darsteller. Sie traten
-einer nach dem andern vor und begannen sich mit ungeheuerer Kraft und
-Schnelligkeit im Kreise zu drehen, was von den übrigen mit furchtbarem
-Lärm und Getöse begleitet wurde. Zuletzt wirbelte die ganze Truppe wie
-der Wind tanzend und singend umher und wühlte den Staub auf. Es war ein
-altes, berühmtes, geschichtliches Schauspiel, das die Leute aufführten;
-ein Chinese erklärte es mir auf Pidgin-Englisch, während es vor sich
-ging. Das Stück war schon ohne die Erklärung unverständlich genug, aber
-durch diese wurde sein Sinn erst recht dunkel. Als Drama mochte das
-alte, historische Kunstwerk wohl seine Mängel haben, aber betrachtete
-man es als wilde, barbarische Darstellung, so spottete es jeder Kritik.
-
-Weiter abwärts stiegen wir wieder aus, um zu beobachten, welche
-merkwürdige Schleife die Bahn hier macht. Als der Zug in die Kurve
-einbog, sahen wir die Lokomotive unter der Brücke verschwinden auf der
-wir standen, gleich darauf kam sie wieder zum Vorschein und jagte ihrem
-eigenen Schwanze nach; sie erreichte ihn, überholte ihn, lief an den
-letzten Wagen vorbei und begann nun ein Wettrennen mit dem hintern Ende
-des Zuges. Es kam mir vor wie eine Schlange, die sich selber auffrißt.
-
-Auf halber Höhe des Berges hielten wir eine Stunde Rast in Mr. Barnards
-Hause und nahmen Erfrischungen ein. Während wir auf der Veranda saßen
-und durch eine Lichtung des Waldes nach dem fernen Gebirgspanorama
-hinüberblickten, hätten wir fast gesehen, wie ein Leopard ein Kalb
-zerriß, (er hatte es tags zuvor getan). Es ist eine wilde, reizende
-Gegend. Ringsum in den Wäldern ertönte Vogelgesang, auch ein paar
-Vögel, die mir damals noch unbekannt waren, ließen ihr Lied erschallen:
-der Gehirnteufel und der Kupferschmied. Der Gehirnteufel fängt leise
-an zu singen, aber sein Ton wird beständig lauter und lauter, er
-steigt in spiralförmigen Windungen in die Höhe, immer schärfer, immer
-schneidender, quälender, schmerzhafter, unleidlicher, aufdringlicher,
-unerträglicher; zum Wahnsinn treibend, bohrt er sich tiefer und tiefer
-in des Hörers Kopf, bis zuletzt bei ihm eine Gehirnentzündung eintritt,
-die den Tod zur Folge hat. Ich bringe einige dieser Vögel mit nach
-Amerika, wo sie ohne Zweifel großes Aufsehen erregen werden; man
-glaubt, daß sie sich in unserm Klima so rasch vermehren lassen, wie die
-Kaninchen.
-
-Der Gesang des Kupferschmieds klingt in gewisser Entfernung wie
-Hammerschläge auf Granitgestein; geht man weiter, so nimmt das Hämmern
-einen metallischen Klang an, man meint, der Vogel bessere einen
-Kupferkessel aus. In noch größerer Entfernung klingt es zwar auch laut
-und kräftig, aber ganz als würden Fässer verspundet; merkwürdigerweise
-tönt das Klopfen in nächster Nähe sanft und melodisch, doch hört es gar
-nicht auf und wird zuletzt so einförmig, daß man aus der Haut fahren
-möchte; man fühlt sich unsäglich elend, der Kopf schmerzt einem zum
-Zerspringen und man verliert den Verstand. Auch diesen Vogel nehme ich
-mit und will ihn bei uns einbürgern.
-
-Neu gestärkt stiegen wir wieder in die Draisine und fuhren weiter den
-Berg hinunter; bald flogen wir, bald machten wir Halt, bis wir die
-Ebene erreichten und in den gewöhnlichen Personenzug nach Kalkutta
-einstiegen. Das war der genußreichste Tag, den ich auf Erden verlebt
-habe. Es gibt kein himmlischeres, aufregenderes, entzückenderes
-Vergnügen, als eine Fahrt in der Draisine vom Himalaja hinunter.
-Nichts, gar nichts läßt der wonnevolle Ausflug zu wünschen übrig, außer
-daß er statt fünfunddreißig Meilen mindestens fünfhundert Meilen lang
-sein möchte.
-
-
-
-
-Siebzehntes Kapitel.
-
- Gib deine Illusionen nicht auf. Hast du sie verloren, so
- magst du zwar noch dein Dasein fristen, aber _leben_ im
- eigentlichen Sinne kannst du nicht mehr.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-So weit ich es beurteilen kann, hat sich der Mensch mit der Natur um
-die Wette bemüht, Indien zu dem merkwürdigsten Lande zu machen, welches
-die Sonne bescheint. Unter all seinen Wundern habe ich bis jetzt eines
-noch unerwähnt gelassen, nämlich den großen Reichtum an blutgierigen
-Raubtieren, den es besitzt.
-
-Seit vielen Jahren ist die britische Regierung unausgesetzt bemüht
-gewesen, die gefährlichen wilden Tiere in Indien auszurotten. Sie
-hat es sich große Summen Geldes kosten lassen, doch kann man aus den
-jährlich von ihr veröffentlichten Listen ersehen, wie schwierig das
-Unternehmen ist.
-
-Diese amtlichen Berichte weisen eine ganz ähnliche Gleichförmigkeit
-auf, wie die statistischen Angaben über die Todesfälle und Todesarten
-in den Hauptstädten der Welt. Man braucht sich nur mit der
-betreffenden Statistik der letzten Jahre vertraut zu machen, um fast
-genau vorhersagen zu können, wie viele Menschen in London, Paris oder
-New York nächstes Jahr durch Selbstmord enden oder an der Schwindsucht,
-dem Krebs, der Tollwut sterben, wie viele aus dem Fenster fallen oder
-von Droschken überfahren werden. So läßt sich auch im indischen Reich
-mit Sicherheit aus den Verzeichnissen früherer Jahre schließen, wie
-viele Leute durch Bären, Wölfe oder Tiger im laufenden Jahre umkommen
-oder wie viele dieser Bestien von der Regierung erlegt werden. Ja man
-kann diese Zahlen mit ziemlicher Genauigkeit auf fünf Jahre im voraus
-berechnen.
-
-Mir liegt ein statistisches Verzeichnis aus sechs aufeinander folgenden
-Jahren vor, aus dem sich ergibt, daß der Tiger in Indien alljährlich
-800 und einige Personen tötet und die Regierung doppelt so viele Tiger.
-In sechs Jahren hat der Tiger 5000 Menschen weniger 50 umgebracht und
-die Regierung 10000 Tiger weniger 400.
-
-Der Wolf tötet etwa 700 Personen im Jahr, und 5000 von seinem Stamme
-fallen dafür zum Opfer; der Leopard bringt durchschnittlich 230 Leute
-um, verliert aber 3300 Anverwandte, und dem Bären kosten die 100
-Personen, die er im Jahre tötet, 1250 seiner eigenen Familie.
-
-Den gewaltigsten Kampf mit dem Menschen besteht jedoch der Elefant,
-der König des Dschungels; er verliert jährlich vier von seiner
-Genossenschaft, rächt sich aber durch den Tod von 45 Personen. Tiere
-bringt der Elefant nur wenige um, vielleicht 100 in sechs Jahren, meist
-die Pferde der Jäger; in demselben Zeitraum tötet der Tiger mehr als
-84000 Stück Vieh, der Leopard 100000, der Bär 4000, der Wolf 70000, die
-Hyäne mehr als 13000, andere Raubtiere 27000 und die Schlangen 19000,
-was die großartige Gesamtsumme von 300000 oder durchschnittlich 50000
-Stück im Jahr ausmacht. -- Die Regierung vertilgt während der nämlichen
-Zeit 3201234 Raubtiere und Schlangen. Zehn für eins.
-
-Die Schlangen töten viel lieber Menschen als Tiere, und es wimmelt
-in Indien von gefährlichen Giftschlangen. Die schlimmste, die es
-überhaupt gibt, ist die Kobra; gegen sie erscheint die Klapperschlange
-als das harmloseste Geschöpf von der Welt. Bei meinen statistischen
-Ermittelungen bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß die Raubtiere in
-sechs Jahren 20000 Personen töteten und die Schlangen 103000. In
-demselben Zeitraum vertilgt die Regierung 1073546 Schlangen. Es
-bleiben noch immer genug übrig.
-
-In Indien schwebt man beständig in Todesgefahr und kommt oft nur knapp
-mit dem Leben davon. In jenem Dschungel, wo ich so viele Elefanten und
-sechzehn Tiger erlegt habe, wurde ich von einer Kobra gebissen; die
-Wunde heilte jedoch wieder, was alle Welt in Erstaunen setzte. So etwas
-kommt in zehn Jahren höchstens einmal vor. Im gewöhnlichen Lauf der
-Dinge wäre schon nach einer Viertelstunde der Tod eingetreten.
-
- * * * * *
-
-Von Kalkutta aus verfolgten wir bei unserer Fahrt durch Indien eine
-Art Zickzackweg in nordwestlicher Richtung. Wir fuhren durch lange
-Strecken, die wie ein einziger Garten aussahen: viele Meilen weit war
-alles mit den schönen Blumen bedeckt, aus deren Saft das Opium bereitet
-wird, und bei Muzaffurpore gerieten wir mitten in die Indigokultur.
-Eine Zweigbahn sollte uns in der Nähe von Dinapore an den Ganges
-bringen, doch sie hielt an jedem Dorfe an, ohne daß jemand einstieg
-oder Fracht verladen wurde; überall schwatzten die Eingeborenen wer
-weiß wie lange mit ihren Freunden, die Zeit verstrich, und wir machten
-uns schon darauf gefaßt, statt sechs Stunden, eine Woche unterwegs zu
-bleiben. Da beschlossen die englischen Offiziere, diese Schneckenbahn
-in einen Schnellzug umzuwandeln. Sie gaben dem Lokomotivführer eine
-Rupie, und das Mittel half. Es ging nun wie der Wind; der Zug machte
-neunzig Meilen in der Stunde. Im Morgengrauen fuhren wir über den
-Ganges und erreichten noch glücklich unsern Anschluß. Bald waren wir
-wieder in Benares, und nach einem vierundzwanzigstündigen Aufenthalt an
-diesem merkwürdigen Hauptsitz der Frömmigkeit, setzten wir unsere Reise
-nach Lucknow fort, wo die Engländer während des indischen Aufstands
-im Jahre 1857 die großartigsten Beweise von Mut und Standhaftigkeit
-gegeben haben, welche die britische Geschichte jemals zu verzeichnen
-hatte.
-
-Die Hitze war unbeschreiblich, alles Gras auf der weiten Ebene versengt
-und verdorrt von der glühenden Sonne, der Boden mit gelblichem
-Staub bedeckt, der in Wolken durch die Luft wirbelte. Aber zu jener
-Schreckenszeit, als die Entsatztruppen nach dem belagerten Lucknow
-marschierten, herrschte noch eine ganz andere Temperatur -- 138 Grad
-Fahrenheit im Schatten.
-
-Es scheint jetzt eine ausgemachte Sache zu sein, daß eine der
-Hauptursachen des Aufstandes die Besitzergreifung des Königreichs
-Oudh durch die Ostindische Kompagnie war, eine Tat, welche Sir Henry
-Lawrence »die größte Ungerechtigkeit« nennt, »die je verübt worden
-ist«. -- Schon im Frühling 1857 machte sich ein aufrührerischer Geist
-in vielen eingeborenen Regimentern bemerkbar, der mit jedem Tag weiter
-um sich griff. Die jüngeren Offiziere nahmen die Sache sehr ernst; sie
-hätten den Ungehorsam gern sofort im Keime erstickt, doch fehlte ihnen
-die nötige Machtbefugnis. Die höheren Militärs waren meist bejahrte
-Männer, die längst nicht mehr hätten im aktiven Dienst sein sollen.
-Sie legten den etwaigen mißlichen Vorkommnissen wenig Wert bei, da sie
-große Stücke auf die eingeborenen Truppen hielten und nicht glaubten,
-daß diese sich durch irgend welche Umstände zur Empörung treiben lassen
-würden. Lächelnd hörten die Greise das unterirdische Grollen des
-Vulkans, auf dem sie standen und meinten, es habe nichts zu bedeuten.
-
-So hatten denn die Anstifter des Aufstandes völlig freie Hand.
-Ungehindert zogen sie von einem Lager zum andern, schilderten den
-eingeborenen Soldaten, wie ungerecht die Bedrückung des Volks durch
-die Engländer sei und fachten unversöhnlichen Groll und Rachedurst in
-allen Herzen an. Sie wurden überdies in ihrem Vorhaben durch zweierlei
-sehr wesentlich unterstützt: Zu Clives Zeiten waren die eingeborenen
-Truppen nur ungeordnete, schlecht bewaffnete Haufen gewesen, gegen
-welche die gutgeschulten englischen Soldaten, trotz ihrer Minderzahl,
-leichtes Spiel gehabt hatten. Jetzt bestand fast die ganze britische
-Kriegsmacht aus eingeborenen Regimentern, die wohlgeübt, trefflich
-bewehrt und von den Briten selbst in der Kriegführung unterrichtet
-waren; sie hatten alle Macht in Händen, denn die wenigen englischen
-Bataillone, über welche Indien verfügte, waren im ganzen Lande
-zerstreut. Noch größeren Einfluß auf die unzufriedenen Gemüter übte
-aber eine alte Prophezeiung, welche besagte, daß genau hundert Jahre
-nach der Schlacht, durch welche Clive das Reich gegründet hatte, die
-Macht der Briten in Indien von den Eingeborenen zerstört und ihrer
-Herrschaft ein Ende gemacht würde. Die eingeborenen Truppen hatten im
-allgemeinen eine heilsame Furcht vor den englischen Soldaten und würden
-vielleicht allen Ueberredungskünsten der Aufwiegler widerstanden haben,
-aber einer Prophezeiung vermag kein Inder sein Ohr zu verschließen.
-
-Der indische Aufstand brach am 10. Mai 1857 zu Mirat aus und
-hatte eine lange Reihe von Greueltaten im Gefolge. Nana Sahibs
-Niedermetzelung der wehrlosen Besatzung nach der Uebergabe von Cawnpore
-fand im Juni statt, und dann begann die lange Belagerung von Lucknow.
-England hat eine alte, ruhmvolle Kriegsgeschichte hinter sich, aber
-in keinem Abschnitt derselben erscheint es uns größer, als bei der
-Unterwerfung des Aufstandes. Die Briten wurden sozusagen im Schlafe
-überfallen; sie waren unvorbereitet und zählten nur wenige Tausend in
-einem Meer von feindlichen Völkerschaften. Monate mußten vergehen,
-bis die Nachricht England erreichte und Hilfe kam. Aber die tapfern
-Offiziere verloren keinen Augenblick durch Zaudern und Schwanken. Mit
-heldenhafter Entschlossenheit und Hingebung leisteten sie Widerstand
-gegen die erdrückende Uebermacht und führten den scheinbar völlig
-aussichtslosen Kampf zum glänzenden Siege.
-
-Ich habe alle denkwürdigen Orte besucht, welche damals Zeugen der
-entsetzlichsten Schreckensszenen und des größten Heldenmutes gewesen
-sind; auch das kostbare Denkmal über dem Brunnen in Cawnpore habe
-ich gesehen, in welchen Nana Sahib die verstümmelten Leichen der
-hingemordeten Frauen und Kinder werfen ließ. Das Andenken an die
-furchtbaren Leiden und Großtaten jener Zeit wird von den Nachkommen
-heilig gehalten und in treuer Erinnerung bewahrt.
-
-In Agra und später in Dehli sahen wir viele Forts, Moscheen und
-Grabmäler aus der Glanzzeit der mohammedanischen Kaiserherrschaft,
-welche an Größe, Pracht und Reichtum alles übertrafen, was die
-übrige Welt in dieser Beziehung zu bieten vermag. Die Kostbarkeit
-des Baumaterials und der Ausschmückung machen sie zu Wunderwerken
-ersten Ranges. Zum Glück hatte ich noch nicht viel darüber gelesen
-und folglich auch meine Phantasie nicht übermäßig erhitzt; ich konnte
-einen natürlichen und vernünftigen Maßstab anlegen und mich durch den
-herrlichen Anblick innerlich ergreifen, beglücken und erheben lassen,
-ohne Trauer und Enttäuschung zu empfinden.
-
-Ich will ihre Pracht und Schönheit nicht eingehend beschreiben; nur von
-einem dieser weltbekannten Bauwerke, dem berühmtesten von allen, dem
-Tadsch Mahal bei Agra möchte ich noch ein Wort sagen. Ich hatte mich
-im voraus viel zu viel mit den verschiedenen literarischen Ergüssen
-über den Tadsch beschäftigt. Jetzt sah ich ihn bei Tage und sah ihn im
-Mondlicht, von nah und von ferne; ich wußte, daß er ein Weltwunder war
-und seinesgleichen weder auf Erden hatte noch jemals haben würde --
-aber _mein_ Tadsch war es nicht. Meinen Tadsch hatte ich mir nach den
-Phantasiegebilden einer Schar leicht erregbarer Literaten erbaut, und
-er hatte sich so fest in meinem Kopfe eingenistet, daß er durch nichts
-wieder herauszubringen war.
-
-Wie hatten mir diese Schriftsteller aber den Tadsch geschildert? -- Ich
-will nur einige Auszüge wiedergeben: »Die innere Ausschmückung,« heißt
-es, »besteht aus kostbaren Steinen, Achat, Jaspis und dergleichen,
-mit denen jede vorspringende Stelle geschmückt ist -- in dekorativer
-Beziehung steht der Tadsch einzig in der Welt da -- er bildet die
-Grenze, wo die Baukunst aufhört und die Juwelierarbeit beginnt -- der
-Tadsch besteht ganz aus Marmor und Edelsteinen -- er ist mit reicher
-Mosaikarbeit aus Juwelen verziert, welche köstliche Blumenmuster bildet
--- der Tadsch ist ein Kunstwerk von vollendeter Schönheit -- ein
-Mausoleum von ungeheuerer Größe -- ein Marmor-Wunder mit Blumen aus
-Edelgestein u. s. w. --«
-
-Das ist alles wahr und richtig. Auch wissen die Schriftsteller
-selbst recht gut, wie es gemeint ist, denn sie kennen den Wert ihrer
-Worte. Der Leser aber faßt diese ganz anders auf. Er nimmt seine
-Einbildungskraft zu Hilfe, und ehe er sich’s versieht, erhebt sich vor
-seinen Blicken ein über und über mit Juwelen bedeckter Tadsch, so hoch
-wie das Matterhorn.
-
-Es ist mit solchen Beschreibungen ein eigenes Ding; sie stimmen zwar
-mit der Wahrheit überein, aber doch dienen die Worte meist nur dazu,
-die Tatsachen zu verdunkeln.
-
-Als ich den Niagarafall zum erstenmal sah, schaute ich gen Himmel, denn
-ich erwartete einen mindestens sechzig Meilen breiten und sechs Meilen
-hohen Wassersturz zu erblicken -- ein Atlantischer Ozean sollte sich
-meiner Meinung nach von einem Gipfel so hoch wie der Himalaja ergießen.
-Als ich statt dessen die kleine nasse Schürze gewahrte, die man zum
-Trocknen aufgehängt hatte, überwältigte mich die spielzeugartige
-Wirklichkeit dergestalt, daß ich auf der Stelle in Ohnmacht fiel.
-
-Niemals hätte ich weder dem Niagara noch dem Tadsch Mahal in die Nähe
-kommen sollen! Wäre ich meilenweit fortgeblieben, so würde ich mir
-meinen eigenen mächtigen Niagara, der vom Himmelsgewölbe herabstürzt,
-unversehrt erhalten haben, und mein Tadsch würde sich noch jetzt aus
-farbigen Nebelgebilden auf Regenbogen von Edelsteinen erbauen, die auf
-Säulenhallen aus Mondschein ruhen. Wer seiner Phantasie nicht Zaum und
-Zügel anlegen kann, sollte niemals ausziehen, um eins der berühmten
-Weltwunder mit Augen zu sehen. Seine Vorstellung davon wird immer
-mindestens vierzigmal besser und schöner sein als die Wirklichkeit.
-
-Vor vielen vielen Jahren habe ich mir in den Kopf gesetzt, daß der
-Tadsch unter den Kunstschöpfungen des Menschen, was Anmut, Schönheit,
-Glanz und Pracht betrifft, genau denselben Platz einnimmt, auf den
-unter den Schaustellungen der Natur der Rauhreif ein Anrecht hat. Ich
-habe den Tadsch niemals mit irgend einem Tempel oder Palast verglichen,
-welchen Menschenhand erbaut hat, er war für mich nichts mehr und nichts
-weniger als die architektonische Verkörperung des Rauhreifs.
-
-Hier in London sprach ich neulich einmal voll Begeisterung mit meinen
-englischen Freunden vom amerikanischen Rauhreif; aber sonderbarerweise
-hatten sie nie etwas davon gehört und verstanden mich nicht. Ein Herr
-sagte, er habe den Rauhreif noch in keinem Buch erwähnt gefunden.
-Das ist sehr sonderbar, aber ich erinnere mich auch nicht, je etwas
-darüber gelesen zu haben, während sich doch andere Naturerscheinungen
--- zum Beispiel die Färbung des amerikanischen Herbstlaubs -- der
-allgemeinsten Aufmerksamkeit erfreuen.
-
-Und doch erregt der Rauhreif jedesmal bei uns das größte Aufsehen.
-Wenn er kommt, fliegt die Kunde durch das ganze Haus von Zimmer zu
-Zimmer, und selbst der trägste Schläfer springt aus dem Bette, um
-ans Fenster zu eilen. Meist tritt er mitten im Winter ein und treibt
-sein Zauberwesen bei nächtlicher Stille und Dunkelheit. Ein feiner
-Sprühregen fällt viele Stunden lang auf die kahlen Zweige und Aeste
-der Bäume und gefriert daran fest. Bald ist der Stamm und das ganze
-Geäst, ja selbst das kleinste Zweiglein mit einer Kruste von klarem Eis
-überzogen, der Baum sieht aus wie ein Skelett aus kristallhellem Glas.
-Ueberall hängen Fransen von kleinen Eiszapfen herab, manchmal auch nur
-runde Perlen, gleich gefrorenen Tränen.
-
-In der Morgendämmerung hellt sich das Wetter auf, die Luft ist frisch
-und rein, der Himmel wolkenlos, es herrscht tiefe Stille, kein
-Windhauch erhebt sich. Schnell ist die Nachricht verbreitet; Große und
-Kleine kommen in Decken und Tücher gehüllt an das Fenster gestürzt, wo
-sie dicht aneinander gedrängt regungslos verharren und schweigend die
-feenhafte Erscheinung in den Anlagen betrachten. Alle wissen, was jetzt
-kommen wird und warten auf das Wunder. Man vernimmt keinen Laut, außer
-dem Ticken der Wanduhr, und eine Minute nach der andern verrinnt. Da
-schießt plötzlich die Sonne feurige Strahlen auf jeden der Geisterbäume
-und verwandelt ihn in lauter glitzernde funkelnde Diamanten. Die
-Zuschauer halten den Atem an, die Augen werden ihnen feucht, doch ihre
-Spannung läßt nicht nach -- es kommt noch mehr. Die Sonne steigt höher,
-sie überflutet den Baum vom höchsten Gipfel bis zum niedrigsten Ast
-mit einem weißen Strahlengewand, und dann geschieht urplötzlich ohne
-jede Vorbereitung das Wunder aller Wunder, das seinesgleichen nicht
-auf Erden hat: ein Windstoß bewegt auf einmal die Aeste und der ganze
-weiße Baum zerstäubt und sprüht nach rechts und links und überallhin
-funkelnde Edelsteine von allen nur denkbaren Farben. Wie er sich
-rüttelt und schüttelt wirbeln blitzende Rubinen, Smaragde, Diamanten
-und Saphire durch die Luft. Es ist das glänzendste, köstlichste,
-blendendste, feenhafteste Schauspiel, das man auf Erden haben kann --
-eine Erscheinung von so göttlicher, berauschender Schönheit und so
-unaussprechlichem, überirdischem Glanz, wie man sie außerhalb der
-Himmelstore schwerlich wieder zu sehen bekommt.
-
-Warum hat denn kein Maler je versucht, den Rauhreif auf die Leinwand
-zu zaubern? -- Farben und Pinsel müssen wohl außer stande sein,
-die Herrlichkeit dieser sonnendurchglühten Juwelen naturgetreu
-wiederzugeben. Eine größere Strahlenpracht findet man nirgends im
-Reiche der Schöpfung; unter den Menschenwerken aber läßt sich, nach
-meinem Gefühl, nur der Tadsch Mahal mit der Schönheit des Rauhreifs
-vergleichen.
-
-
-
-
-Achtzehntes Kapitel.
-
- Nimm dir vor, an jedem Tage etwas zu tun, wozu du keine
- Lust hast. Dann wird dir die Erfüllung deiner Pflichten
- bald keine Last mehr sein.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Wir wanderten nun zufriedenen Sinnes weiter durch das indische Land. In
-Lahore lieh mir der Vizestatthalter einen Elefanten. Eine so großartige
-Aufmerksamkeit hatte mir noch niemand erwiesen, und da es ein schönes,
-wohlerzogenes, leutseliges Tier war, fürchtete ich mich auch nicht
-vor ihm. Ich ritt sogar ganz zuversichtlich durch die engen Gassen
-im Stadtteil der Eingeborenen, wo alle Pferde beim Anblick meines
-Elefanten vor Schrecken scheu wurden, und die Kinder ihm fortwährend
-vor die Füße kamen. Er schritt mit mir majestätisch mitten auf der
-Straße einher und zwang alle Welt ihm auszuweichen oder sich die Folgen
-selbst zuzuschreiben. Ich glaube, mit der Zeit würde ich einen Ritt auf
-dem Elefanten jeder Beförderungsart vorziehen. Wer auf seinem Rücken
-thront, dem braucht vor keinem Zusammenstoß zu bangen, wie gewöhnlich
-beim Reiten oder Fahren. Auf dem hohen Platz genießt man das Bewußtsein
-großer Würde und eine wunderschöne Aussicht ins Weite; man kann aber
-auch allen Leuten in die Fenster sehen und wissen, was sie in ihren
-Familien treiben.
-
-Wir fuhren bis nach Rawal Pindi an der afghanischen Grenze und dann
-wieder zurück nach Dehli, um die alten wundervollen Bauwerke in
-Augenschein zu nehmen, ohne sie zu beschreiben. Wir suchten auch den
-Schauplatz des tollkühnen Angriffs auf, durch den die Briten beim
-indischen Aufstand Dehli mit Sturm nahmen und sich unsterblichen
-Ruhm erwarben. In dem Hause, wo damals das Hauptquartier des
-englischen Generals war, fanden wir gastliche Aufnahme und konnten
-uns von allen Reiseanstrengungen ausruhen. Die Besitzung gehörte
-jetzt einem Engländer, der so gänzlich zum Orientalen geworden war,
-daß er sogar einen Harem hatte. Ein weitherziger Mann, wie es wenige
-gibt: für seinen Harem hat er eine Moschee gebaut und für sich eine
-englische Kirche. Sein historisch interessantes Wohnhaus steht in
-einem großen Garten und ist von stattlichen Bäumen umgeben, in denen
-Affen hausen. Die Affen sind unverschämt und unternehmungslustig, sie
-kennen keine Furcht, überfallen das Haus bei jeder Gelegenheit und
-schleppen alles fort, was ihnen in die Hände fällt -- lauter Dinge,
-die sie nicht brauchen können. Eines Morgens, als der Hausherr sein
-Bad nahm, war das Fenster offen geblieben, und auf dem Sims stand
-ein Topf mit gelber Farbe, in welchem der Pinsel steckte. Ein paar
-Affen zeigten sich am Fenster, und um sie zu verscheuchen warf der
-Herr seinen Schwamm nach ihnen. Statt zu erschrecken kamen sie ins
-Zimmer gesprungen, bespritzten ihn über und über mit dem Farbenpinsel
-und jagten ihn hinaus. Darauf strichen sie die Wände, den Fußboden,
-den Wasserbehälter, die Fenster und Möbel gelb an; sie wollten eben
-auch noch das Ankleidezimmer auf gleiche Weise malen, als die Diener
-herbeikamen und sie vertrieben.
-
-Zwei dieser ungezogenen Gesellen stahlen sich morgens früh in mein
-Zimmer durch ein Fenster, dessen Läden ich nicht geschlossen hatte.
-Als ich aufwachte, sah ich den einen vor dem Spiegel stehen und sein
-Haar bürsten, während der andere sich meines Taschenbuchs bemächtigt
-hatte, die humoristischen Notizen las -- und weinte. Der Affe mit der
-Haarbürste kümmerte mich nicht, aber das Benehmen des andern kränkte
-mich tief; es kränkt mich heute noch. Ich warf meinen Schuh nach ihm
--- das hätte ich nicht tun sollen, denn unser Wirt hatte mir gesagt,
-man dürfe sich nie mit den Affen einlassen. Aus Rache bombardierten sie
-mich nun mit allen Sachen, die sie aufheben konnten, dann wollten sie
-noch mehr aus dem Badezimmer holen, aber ich warf rasch die Tür hinter
-ihnen ins Schloß.
-
- * * * * *
-
-Zu Jeypore in Rajputana machten wir einen längeren Aufenthalt. Wir
-wohnten dort in der kleinen Vorstadt der europäischen Beamten, welche
-einige Meilen von der Hindustadt entfernt liegt. Es waren überhaupt nur
-vierzehn Europäer da und wir fühlten uns ganz wie zu Hause.
-
-Der indische Diener ist in mancher Beziehung ein wahrer Schatz, nur
-muß man ihn beaufsichtigen, und das tun die Engländer. Wenn sie ihn
-ausschicken um eine Besorgung zu machen, genügt ihnen nicht, daß der
-Mann sagt, er hätte den Auftrag erfüllt. Schickte man uns Obst oder
-Gemüse, so kam immer eine Quittung mit, die wir unterzeichnen mußten,
-sonst hätten die Eßwaren vielleicht nicht den Ort ihrer Bestimmung
-erreicht. Stellte uns ein Herr seinen Wagen zur Verfügung, so stand auf
-dem Papier von dann und dann, bis dann und dann -- so daß der Kutscher
-und seine zwei oder drei Untergebenen uns nicht mit einem Teil der
-festgesetzten Zeit abspeisen konnten, um sich selbst mit dem Rest eine
-lustige Stunde zu machen.
-
-Wir wohnten sehr angenehm in unserm zweistöckigen Gasthaus mit dem
-großen Hof, den eine mannshohe Lehmmauer umgab. Die Gasthofsbesitzer,
-neun Hindubrüder, waren mit ihren Familien in einem einstöckigen
-Gebäude einquartiert, das auf einer Seite des Hofes lag; die Veranda
-sah man stets von Scharen hübscher brauner Kinder besetzt, zwischen
-denen mehrere Väter eingekeilt saßen und ihre Huka rauchten. Neben
-der Veranda stand ein Palmbaum, auf dem ein Affe sein einsames Leben
-führte; er sah immer traurig und schwermütig aus und die Krähen plagten
-ihn sehr.
-
-Daß die Kuh frei umherlief gab dem Hof ein ländliches Ansehen; auch
-ein Hund war da, der stets in der Sonne lag und schlief, so daß er den
-allgemeinen Eindruck von Ruhe und Stille verstärken half, wenn die
-Krähen einmal durch Abwesenheit glänzten. Diener in weißen, faltigen
-Gewändern gingen zwar fortwährend ab und zu, aber sie glitten nur wie
-Gespenster lautlos auf ihren nackten Füßen vorüber. Ein Stück die Gasse
-hinunter hauste ein Elefant unter einem hohen Baum. Er wiegte sich hin
-und her und streckte den Rüssel aus; bald bettelte er um Speise bei
-seiner braunen Herrin, bald schäkerte er mit den Kindern, die zu seinen
-Füßen spielten. Auch Kamele waren in der Nähe, aber sie gehen auf
-sammetweichen Sohlen und paßten ganz zu der friedlichen Heiterkeit der
-Umgebung.
-
-Nur eines machte mich unglücklich: Wir hatten unsern Satan verloren;
-er war zu meinem tiefsten Kummer kürzlich von uns geschieden und meine
-Trauer um ihn war groß. Noch jetzt, nach vielen Monaten, vermisse ich
-ihn schmerzlich. Nie werde ich vergessen, wie er alles im Umsehen
-fertig brachte, er flog nur so von einem Geschäft zum andern. Zwar
-machte er es nicht immer recht, aber _gemacht_ wurde es jedenfalls und
-zwar urplötzlich, ohne Zeitverlust. Man sagte ihm zum Beispiel: »Packe
-die Koffer und Handtaschen, Satan!«
-
-»Ja, Herr!«
-
-Dann entstand rasch ein Klopfen und Hämmern, ein Sausen und Brausen --
-Kleider, Jacken, Röcke und Stiefel wirbelten eine Zeitlang durch die
-Luft, und schon im nächsten Augenblick berührte Satan seine Stirn und
-verbeugte sich:
-
-»Alles fertig, Herr!«
-
-Es war unglaublich; mir wurde ordentlich schwindlig davon. Zwar
-zerknitterte er die Kleider sehr und hatte anfänglich keinen andern
-Plan bei der Arbeit, als jedes Ding in den falschen Koffer zu tun. Aber
-darin besserte er sich bald, obgleich er es sich nie ganz abgewöhnte.
-Noch bis zuletzt pflegte er in die der Literatur geheiligte Reisetasche
-allen Kram hineinzupfropfen, für den sich sonst kein bequemer Platz
-fand. Verbot man ihm das bei Todesstrafe, so geriet er nicht im
-geringsten aus der Fassung; er machte ein freundliches Gesicht, sagte:
-»Ja, Herr!« und tat es schon am nächsten Tage wieder.
-
-Satan war immer geschäftig; rechtzeitig waren die Zimmer aufgeräumt,
-die Stiefel glänzend gewichst, die Kleider gebürstet, die Waschschalen
-mit reinem Wasser gefüllt. Schon eine Stunde, ehe ich meinen
-Gesellschaftsanzug zur Vorlesung brauchte, lag alles für mich bereit
-und Satan kleidete mich von Kopf bis zu Fuß an, trotz meines festen
-Vorsatzes dies selbst zu tun, wie ich es mein Lebenlang gewohnt gewesen
-war.
-
-Er schien zum Herrschen geboren und tat nichts lieber als mit
-Untergebenen zu streiten, sie herunterzumachen und zu überschreien. Am
-meisten in seinem Element war er auf der Eisenbahn. Durch die dichteste
-Masse der Eingeborenen stieß und drängte er sich, bis der Weg für ihn
-und die neunzehn Kulis in seinem Gefolge frei war; jeder von ihnen trug
-irgend ein kleines Gepäckstück, einen Handkoffer, Sonnenschirm, Schal,
-Fächer oder dergleichen, keiner mehr als einen Gegenstand, und je
-länger der Zug, um so zufriedener war mein Satan. Meist steuerte er auf
-irgend einen bestellten Schlafwagen los, verschwor sich hoch und teuer,
-daß er uns gehöre und fing an des Besitzers Sachen hinauszubefördern.
-War unser eigener Wagen gefunden, so hatte er in zwei Minuten die
-Bündel aufgeschnallt, die Betten gemacht und alles zurecht gelegt;
-dann steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und verschaffte sich den
-köstlichen Genuß, auf seine Bande Kulis zu schimpfen und mit ihnen nach
-Herzenslust über die Bezahlung zu streiten, bis wir ankamen, dem Lärm
-ein Ende machten und ihm befahlen, die Leute zu befriedigen.
-
-Ich glaube, der kleine schwarze Teufel war der größte Krakeeler in
-ganz Indien, und das will viel sagen. Mir persönlich war sein Lärmen
-sehr angenehm, aber die Meinigen gerieten oft ganz außer sich darüber.
-Sie konnten sich nicht daran gewöhnen und fanden es unleidlich; es
-verstieß gegen alle ihre Begriffe von Wohlanständigkeit. Wenn wir
-noch sechshundert Meter weit von einem der großen Bahnhöfe waren,
-hörten wir oft einen wahren Heidenlärm, ein gellendes Geschrei und
-Gekreisch, ein Poltern und Wüten. Ich ergötzte mich dann sehr über den
-Höllenspektakel, aber meine Familie sagte voll tiefer Beschämung:
-
-»Da kannst du’s wieder hören -- das ist Satan! Weshalb gibst du ihm
-nicht seinen Laufpaß?«
-
-Und richtig -- mitten in dem riesigen Menschengewühl stand der kleine
-schwarze Knirps und zappelte an allen Gliedern, wie eine Spinne, die
-Bauchgrimmen hat. Seine schwarzen Augen blitzten, die Troddel auf
-seinem Fez tanzte in der Luft und sein Mund strömte ganze Fluten von
-Schelt- und Schimpfwörtern über die erstaunten Kulis aus, die um ihren
-Lohn bettelten.
-
-Ich war ganz verliebt in ihn, das leugne ich nicht; aber meine
-Angehörigen konnten kaum mehr von ihm sprechen ohne sich aufzuregen.
-Noch heutigen Tages bin ich untröstlich über seinen Verlust und wünsche
-ihn mir zurück, während bei ihnen das gerade Gegenteil stattfindet.
-Er war aus Surat gebürtig; zwischen seiner Vaterstadt und Manuels
-Geburtsort lagen zwanzig Breitegrade, aber der Abstand zwischen ihren
-Charakteren, ihrer beiderseitigen Gemütsart und Handlungsweise war noch
-unendlich viel größer. Manuel hatte ich gern; aber meinen Satan liebte
-ich. Sein wirklicher Name war so recht indisch, daß ich ihn nie recht
-begriffen habe, er klang wie Bunder Rao Ram Chunder Clam Chowder; für
-den Alltagsgebrauch war eine Abkürzung entschieden bequemer.
-
-Als er etwa zwei oder drei Wochen bei uns war, fing er an allerlei
-Mißgriffe zu begehen, die ich nur mit Mühe wieder gutmachen konnte. In
-der Nähe von Benares stieg er zum Beispiel auf einer Station aus, um zu
-sehen, ob er nicht mit irgend jemand Streit anfangen könnte. Nach der
-langen, ermüdenden Fahrt bedurfte er einer Erholung. Er fand auch was
-er suchte, setzte jedoch sein Spektakeln etwas zu lange fort, und der
-Zug fuhr ohne ihn ab. Da waren wir nun in der fremden Stadt und hatten
-kein Zimmermädchen -- eine große Unbequemlichkeit! Wir sagten ihm, das
-dürfe nicht wieder vorkommen, worauf er sich verbeugte und »Ja, Herr!«
-sagte, so lieb und freundlich wie immer.
-
-In Lucknow beging er den großen Irrtum sich zu betrinken. Ich sagte,
-der arme Mensch hätte das Fieber bekommen, und die Meinigen gaben ihm
-aus Mitgefühl und Besorgnis ein Chininpulver ein, das ihm wie Feuer
-in den Eingeweiden brannte. Die Gesichter, welche er dabei schnitt,
-brachten mir einen bessern Begriff vom Erdbeben in Lissabon bei,
-als alle Gemälde und Beschreibungen dieses Naturereignisses. Auch
-am nächsten Morgen war sein Rausch noch nicht verflogen, doch hätte
-ich der Familie seinen Zustand gewiß verbergen können, wäre er nur
-zu bewegen gewesen, noch ein Chininpulver einzunehmen. Aber obgleich
-er nicht recht bei Sinnen war, kam ihm doch dann und wann wieder ein
-lichter Augenblick. Er machte einen ungeschickten Versuch sich zu
-verbeugen und lallte mit unbeschreiblich dummem Lächeln: »Bitte nicht,
-Mem Saheb, bitte nicht, Missy Saheb, kein Pulver für Satan, bitte.«
-
-Eine innere Stimme verriet ihnen, daß er betrunken sei, und nun wurde
-ihm aufs bestimmteste angekündigt, man werde ihn augenblicklich
-entlassen, falls so etwas wieder vorkäme. »Bitte, bitte«, murmelte er
-in rührselig weinerlichem Ton unter vielen Verbeugungen.
-
-Es verging kaum eine Woche, da hatte sich der Unglücksmensch schon
-wieder betrunken und diesmal, o Jammer, nicht im Hotel, sondern im
-Privathause eines englischen Herrn und obendrein in Agra! Also mußte
-er fort. Als ich es ihm ankündigte, sagte er demutsvoll: »Ja, Herr!«
-machte seine Abschiedsverbeugung und verließ uns auf Nimmerwiederkehr.
-Gott weiß, ich hätte lieber hundert Engel hergegeben als diesen einen
-reizenden Teufel. Wie vornehm sah er aus, wenn er in einem feinen Hotel
-oder Privathaus Staat machen wollte! Er war dann vom Kopf bis zu den
-nackten Füßen ganz in schneeweißen Musselin gekleidet, hatte einen
-feuerroten, mit Goldfaden gestickten Gürtel um die Hüften, und auf dem
-Haupt einen seegrünen Turban, wie ihn nur der Großtürke trägt.
-
-Ein Lügner war er nicht; doch wird er wohl mit der Zeit einer werden.
-Einmal sagte er mir: als Knabe hätte er die Kokosnüsse immer mit den
-Zähnen aufgebissen. Als ich ihn fragte, wie er sie habe in den Mund
-stecken können, antwortete er, damals sei er sechs Fuß hoch gewesen
-und habe einen ungewöhnlich großen Mund gehabt. Um ihn in die Enge zu
-treiben, erkundigte ich mich, wie ihm denn der sechste Fuß abhanden
-gekommen wäre, worauf er erwiderte, ein Haus sei auf ihn gefallen
-und er habe seitdem seine frühere Statur nie wieder erlangen können.
--- Wenn ein sonst wahrheitsliebender Mensch sich einmal derartige
-Abschweifungen von dem wirklichen Sachverhalt gestattet, gerät er
-leicht immer tiefer in die Unwahrheit hinein, bis er schließlich zum
-Lügner wird.
-
-Satans Nachfolger war ein Moslemin -- Sahadat Mohammed Khan, ein sehr
-dunkler, sehr großer und sehr ernster Mann. Er trug lange faltige
-weiße Gewänder, schlich geräuschlos umher, sah aus wie ein Gespenst
-und sprach mit leiser Stimme. Wir waren mit ihm zufrieden, denn er tat
-seine Pflicht, aber wo _er_ schaltete und waltete schien die ganze
-Woche über Sonntag zu sein. Das war zu Satans Zeit anders gewesen.
-
- * * * * *
-
-Jeypore ist eine ganz indische Stadt, zeichnet sich aber durch
-mancherlei Einrichtungen aus, die es der europäischen Wissenschaft und
-dem europäischen Interesse für das Gemeinwohl verdankt. Ich erwähne
-nur eine reichliche Wasserversorgung durch Leitungen, welche auf
-Staatskosten angelegt sind; allerlei hygienische Vorkehrungen, die
-Jeypore zu einem für indische Verhältnisse ungewöhnlich gesunden Orte
-machen; einen herrlichen Lustgarten, wo der Eintritt an bestimmten
-Tagen nur den Frauen gestattet ist; Schulen, in denen die eingeborene
-Jugend in allen schönen und nützlichen Künsten unterwiesen wird,
-sowie einen neuen, prächtigen Palast, der ein höchst wertvolles und
-interessantes Museum enthält. Wenn der Maharaja kein Verständnis für
-solche wohltätige Einrichtungen hätte und sie nicht mit Geldmitteln
-unterstützte, würden sie nicht bestehen können; aber _er_ gilt für
-einen aufgeklärten und großmütigen Mann, der jedem Fortschritt
-zugänglich ist.
-
-Die Bauart von Jeypore ist höchst eigentümlich; es liegt innerhalb
-einer hohen mit Türmen besetzten Mauer und wird durch vollkommen
-gerade, über hundert Fuß breite Straßen in sechs Teile geteilt. Die
-lange Front der Häuser zeigt viele sehr anziehende architektonische
-Eigenheiten; kleine malerische Altane mit Säulen und mancherlei
-Zieraten unterbrechen überall die Einförmigkeit der geraden Linie;
-lauschige Nischen, Simse und vorspringende Erker fallen bald hier
-bald da ins Auge; auch sieht man an manchen Häusern merkwürdige
-Malereien, und das Ganze hat eine Färbung von schönem, zartem Rosa,
-wie Erdbeereis. Wer die breite Hauptstraße hinunterblickt, kann sich
-kaum vorstellen, daß sie aus wirklichen Gebäuden besteht. Man hat den
-Eindruck, als sähe man ein Gemälde oder Theaterkulissen.
-
-Diese Illusion war besonders stark an einem großen Tage, den wir in
-Jeypore erlebten: Ein reicher Hindu hatte auf seine Kosten eine Menge
-Götzenbilder anfertigen lassen, die um zehn Uhr morgens in feierlichem
-Zuge durch die Stadt gefahren wurden. Die langen Reihen der Dächer,
-die zahllosen Balkone, die phantastischen Vogelkäfige und behaglichen
-kleinen Nestchen an der Vorderseite der Häuser, waren dicht mit
-Eingeborenen besetzt. Jede dieser Gruppen bildete eine feste Masse, die
-in den glänzendsten Farben strahlend, sich prächtig gegen den blauen
-Himmel abhob und von der Sonne Indiens in ein feuriges Flammenmeer
-verwandelt wurde. Auch die breite Straße selbst war, so weit das
-Auge reichte, mit bunt geschmückten Menschen angefüllt, die alle
-durcheinander wimmelten, sich hierher und dorthin wälzten, sich bald
-vom Strom vorwärts treiben, bald im Kreise drehen ließen. Und dabei
-diese wundervollen Farben! Von den zartesten, blassesten, weichsten
-Schattierungen, bis zu den stärksten, lebhaftesten, grellsten und
-glänzendsten Tönen, als käme ein Riesenschwarm bunter Wickenblüten auf
-den Flügeln der Windsbraut einhergestürmt. Plötzlich teilte sich dieses
-Farbenmeer, um den majestätischen Zug der Elefanten durchzulassen,
-die mit ihrem prächtigsten Schmuck angetan, schwankenden Schrittes
-daherkamen, gefolgt von langen Reihen phantastischer Wagen und Karren,
-welche die verschiedenen Gruppen der ebenso seltsamen wie kostbaren
-Götzenbilder trugen. Den Schluß bildete der zahlreiche Nachtrab
-stattlicher Kamele mit ihren malerisch gekleideten Reitern.
-
-Alles war so neu und fremdartig, so unbeschreiblich eindrucksvoll und
-farbenprächtig, daß wir uns von dem fesselnden Anblick kaum loszureißen
-vermochten. Es war der sinnenberückendste Aufzug, den ich je gesehen
-habe, und etwas Aehnliches zu erblicken, wird mir schwerlich noch
-einmal im Leben zu teil werden.
-
-
-
-
-Neunzehntes Kapitel.
-
- Katzen haben ein zähes Leben,
- Lügen ein noch viel zäheres.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Ende März segelten wir von Kalkutta ab, hielten uns einen Tag in
-Madras, drei Tage in Ceylon auf und fuhren dann westwärts, nach der
-Insel Mauritius.
-
- * * * * *
-
-_Aus dem Tagebuch, 7. April._ -- Wir sind jetzt weit draußen auf der
-glatten Wasserwüste des Indischen Ozeans. Unter dem großen Leinwandzelt
-sitzt sich’s behaglich und friedlich im Schatten; wir führen ein Leben,
-das ganz ideal genannt werden kann.
-
-Unser Kapitän hat die Eigentümlichkeit, daß die Wahrheit in seinem
-Munde immer unglaubwürdig klingt, während ein ernster Schotte an
-unserer Tafel jede Lüge, die er vorbringt, wahrscheinlich zu machen
-weiß. Tut der Kapitän eine Aeußerung, so sehen sich die Zuhörer
-fragend an, jeder denkt: »Ist das auch wahr?« Stellt der Schotte eine
-Behauptung auf, so liest man in allen Blicken: »Wie interessant, wie
-merkwürdig!« Diese Tatsache läßt sich nur aus der verschiedenen Art und
-Weise beider Männer erklären. Der Kapitän trägt aus Schüchternheit und
-Mangel an Selbstvertrauen, bei den einfachsten Angaben, die er macht,
-eine ängstliche Miene zur Schau. Der Schotte sagt die offenkundigsten
-Lügen mit einem Schein strengster Wahrhaftigkeit, so daß man, selbst
-gegen besseres Wissen, gezwungen ist ihm zu glauben.
-
-Einmal erzählte uns der Schotte, er habe sich im Springbrunnen seines
-Gewächshauses einen zahmen fliegenden Fisch gehalten, der selbst für
-seinen Unterhalt sorgte, und sich in den umliegenden Feldern, Vögel,
-Frösche und Ratten zur Nahrung fing. Man sah deutlich, daß keiner der
-Tischgäste an dieser Geschichte zweifelte.
-
-Als dann später von Zollbelästigungen die Rede war, und der Kapitän
-berichtete, wie es ihm einmal in Neapel ergangen sei, tat er es mit so
-unsicherem Wesen, daß niemand seinen Worten Glauben schenkte.
-
-Er sagte: »Der Beamte fragte mich mehrmals, ob ich etwas Verzollbares
-bei mir hätte und sah mich sehr zweifelnd an, als ich es verneinte. Nun
-forderte mich ein Passagier auf, zum Abschied ein Glas Wein mit ihm zu
-trinken, was ich jedoch mit dem Bemerken ausschlug, ich hätte soeben an
-Bord einen Schluck Cognac genommen. Das hörte der Beamte und ließ sich
-einen Sixpence Zollgebühren für den Cognac bezahlen, ferner fünf Pfund
-Sterling als Strafe für undeklarierte Ware, fünf Pfund wegen falscher
-Angabe, daß ich nichts Verzollbares hätte, fünf Pfund, weil die Ware
-verborgen worden sei und fünf Pfund wegen unerlaubten Schmuggels. Alles
-in allem fünfundsechzig Pfund und Sixpence für solche Kleinigkeit.«
-
-Ich bin überzeugt, der Schotte sagt lauter Lügen und man glaubt ihm
-alles, während der Kapitän, so viel ich weiß, immer die Wahrheit
-spricht und doch für einen Lügner gehalten wird. Das ist fast so
-merkwürdig wie die Erfahrung, welche ich selbst als Schriftsteller in
-dieser Beziehung gemacht habe: ich konnte nie eine Lüge sagen, welche
-Zweifel erregte, noch eine Wahrheit, der jemand Glauben schenkte.
-
- * * * * *
-
-_10. April._ -- Die See ist blau wie das Mittelmeer, und das ist wohl
-eine der himmlischsten Farben, welche die Natur besitzt. --
-
-Wie wunderbar ist doch die verschwenderische Großmut, mit welcher
-die Natur ihre Geschöpfe bedacht hat! Das heißt, alle, mit Ausnahme
-des Menschen. Für die, welche fliegen, hat sie ein Haus gebaut, das
-vierzig Meilen hoch ist, den ganzen Erdball umgibt und ihnen kein
-Hindernis bietet. Denen, welche schwimmen, weist sie ein Gebiet an, wie
-es kein Kaiser besitzt, ein Gebiet, das vier Fünftel der Erde bedeckt
-und meilenweit in die Tiefe geht. Den Menschen dagegen speist die
-Natur mit allerlei Brocken und Ueberbleibseln der Schöpfung ab. Sie
-hat ihm nur die obere Schicht gegeben, die magere Haut, mit welcher
-ein Fünftel der Erde so dünn überzogen ist, daß überall die nackten
-Knochen hervorragen. Obendrein liefert die Hälfte seines Gebietes
-nichts als Schnee, Eis, Sand und Felsgestein. So verbleibt ihm denn
-nur noch ein Zehntel des ganzen Familienerbes als wirklich wertvoller
-Besitz. Er kann im Schweiße seines Angesichts kaum genug erwerben, um
-sein Leben zu fristen, denn er muß außerdem noch für den Unterhalt
-der Könige und Soldaten sorgen, und Pulver herbeischaffen, damit die
-Segnungen der Zivilisation weiter ausgebreitet werden. Und doch glaubt
-der Mensch, weil er nicht zu rechnen versteht, in seiner Einfalt und
-Selbstgefälligkeit, daß die Mutter Natur ihn als das wichtigste Glied
-der Familie betrachtet, daß er ihr Lieblingskind ist. Es müßte doch
-wahrlich selbst seinem blöden Verstande zuweilen auffallen, welche
-sonderbare Art sie hat, ihre Vorliebe zu beweisen.
-
- * * * * *
-
-_Nachmittags._ -- Der Kapitän hat uns soeben erzählt, es sei auf
-einer seiner Fahrten im Nördlichen Eismeer so kalt gewesen, daß der
-Schatten des Schiffsmaats auf dem Deck festfror, und man nur mit
-Gewalt zwei Drittel davon wieder loseisen konnte. Alle schwiegen bei
-dieser Mitteilung, niemand äußerte ein Wort, und der Kapitän ging ganz
-betreten davon. -- Er wird noch alle Lust verlieren, überhaupt etwas zu
-sagen.
-
-Es gibt doch nichts Ruhevolleres als einen Tag auf dem Tropenmeer:
-die blaue See ist glatt und ohne Bewegung, nur die schnelle Fahrt
-des Schiffes erzeugt einen frischen Lufthauch, und bis zum fernsten
-Horizont kann man nicht das kleinste Segel erspähen. Es kommen keine
-Briefe an, die gelesen und beantwortet werden müssen, man wird nicht
-durch Zeitungsnachrichten aufgeregt, durch Telegramme beunruhigt
-und erschreckt; die Welt liegt weit abseits, sie ist für uns nicht
-vorhanden -- anfangs verblaßte sie wie ein Traum, jetzt ist sie ins
-Wesenlose versunken. All ihr Arbeiten und Streben, ihr Glück und
-Unglück, ihre Wonne und Verzweiflung, ihre Freuden und Kümmernisse,
-ihre Sorgen und Qualen, haben nichts mehr mit unserem Leben zu
-schaffen, sie sind vorübergezogen wie ein Sturm, auf den tiefe
-Windstille gefolgt ist.
-
-Die in schneeweißes Linnen gekleideten Passagiere versammeln sich in
-Gruppen auf dem Deck; sie lesen, rauchen, spielen Karten, plaudern,
-halten ein Mittagsschläfchen, kurz tun was sie wollen. Auf andern
-Schiffen stellt man fortwährend Berechnungen an, wie lange die Fahrt
-noch dauern wird, auf diesen Meeren geschieht das höchst selten.
-Kein Mensch kümmert sich um das Anschlagebrett, wo die tägliche
-Fahrgeschwindigkeit verzeichnet wird, auch wettet man natürlich nicht
-auf den Lauf des Schiffes, wie das bei Reisen über den Atlantischen
-Ozean zu geschehen pflegt.
-
-Mir selbst ist es vollständig gleichgültig, wann wir in den Hafen
-kommen; auch habe ich noch keinen der andern Passagiere darnach fragen
-hören. Wenn es nach mir ginge, würden wir überhaupt nie mehr landen;
-denn dies Leben auf dem Wasser hat für mich einen unaussprechlichen
-Reiz. Da gibt es weder Ermüdung, noch Abspannung, noch Mißstimmung, man
-hat keine Sorge, keine Arbeit, keine Verantwortlichkeit. Wo wäre wohl
-auf dem Lande solches Behagen, solche Heiterkeit, solcher Friede und
-ein so volles Genügen zu finden? Hätte ich die Wahl, ich segelte endlos
-weiter auf diesem wundervollen Meer und schlüge meinen Wohnsitz nie
-wieder am festen Lande auf.
-
- * * * * *
-
-_Mittwoch 15. April._ -- Mauritius. -- Um zwei Uhr nachmittags gingen
-wir bei Port Louis vor Anker. Die Klippen und Spitzen der zerklüfteten
-Felsengruppen sind bis zum höchsten Gipfel hinauf bewaldet; auf der
-grünen Ebene liegen die Wohnhäuser zwischen tropischen Gebüschen
-verstreut. Hier ist der Schauplatz der Geschichte von Paul und Virginie.
-
- * * * * *
-
-_Donnerstag 16. April._ -- In Port Louis ans Land gegangen. Wir
-fanden in der kleinen Stadt die mannigfaltigsten Nationalitäten und
-Hautschattierungen, die uns bisher vorgekommen waren: Franzosen,
-Engländer, Chinesen, Araber, Afrikaner mit Wollköpfen oder glattem
-Haar, Ostindier, Mischlinge, Quadronen in den verschiedensten Trachten
-und Farben. -- Die Geschichte von Mauritius verzeichnet offenbar nur
-_eine_ wichtige Begebenheit, und diese hat sich obendrein niemals
-zugetragen. Ich meine den romantischen Aufenthalt von Paul und
-Virginie, welcher jedermann mit dem Namen der Insel vertraut machte,
-während ihre geographische Lage aller Welt verborgen blieb.
-
- * * * * *
-
-_18. April._ -- Dies ist das einzige Land auf Erden, wo man den Fremden
-nicht fragt: »Wie gefällt Ihnen unsere Gegend?« Alles Reden über die
-Insel geht von den Bewohnern selbst aus, der Reisende braucht nur
-zuzuhören und erhält allerlei Belehrung. Von einem Bürger erfährt er,
-daß Mauritius zuerst erschaffen wurde und dann der Himmel nach dem
-Vorbild von Mauritius. Ein anderer erklärt das für Uebertreibung und
-behauptet, man lebe in Mauritius durchaus nicht wie im Himmel; wer zum
-Beispiel nicht gezwungen wäre in Port Louis zu wohnen, würde sich den
-Aufenthaltsort gewiß nicht wählen.
-
-Ein Engländer sagte mir:
-
-»Die Insel ist bekannt wegen der ungewöhnlich langen Quarantäne, welche
-die Schiffe für nichts und wieder nichts halten müssen; dieselbe dauert
-oft drei bis vier Wochen. Einmal wurde sogar die Quarantäne über ein
-Schiff verhängt, weil der Kapitän als Knabe die Blattern gehabt habe.
-Außerdem war er auch Engländer. Der französische Einfluß ist von
-früherher noch immer am vorherrschendsten auf der Insel; die Zahl der
-Engländer ist gering und der Gouvernementsrat besteht fast nur aus
-Franzosen.
-
-»Die Bevölkerung beträgt etwa 375000. Die meisten sind Ostindier; außer
-ihnen gibt es Mischlinge und Neger, welche Abkömmlinge der Sklaven
-aus der Zeit der französischen Herrschaft sind; ferner Franzosen und
-Engländer. Die Mischlinge stammen aus Verbindungen von Weißen und
-Schwarzen, Mulatten, Quadronen oder Quarteronen; es sind daher alle
-nur denkbaren Schattierungen vertreten: ebenholzschwarz, mahagoni,
-kastanienbraun, fuchsrot, syrupfarben, dunkelbernsteingelb, hellgelb,
-crêmefarben, elfenbeinweiß und aschgrau. Letzteres ist die Farbe,
-welche der Angelsachse bei längerem Aufenthalt im Tropenklima annimmt.
-
-»Die meisten Bewohner von Mauritius kennen nichts als ihre Insel und
-haben weder viel gelernt noch gelesen -- außer der Bibel oft nur
-Paul und Virginie. Von diesem Roman werden jährlich viele Exemplare
-verkauft, und es gibt Leute, welche glauben, er wäre ein Teil der
-Bibel. Es ist das berühmteste Buch, das je über Mauritius geschrieben
-worden ist -- aber auch das einzige. Die drei Hauptländer der Erde
-sind nach Ansicht der Bürger: Judäa, Frankreich und Mauritius, und daß
-sie in einem der drei geboren sind, erfüllt sie mit Stolz. Rußland
-und Deutschland gehören, ihres Wissens, zu England und von letzterem
-haben sie keine große Meinung. Wer über die Vereinigten Staaten und den
-Aequator etwas hat verlauten hören, glaubt, das seien zwei Königreiche.
-
-»Der Buchhandel auf der Insel ist unbedeutend; für Bildung und
-Unterhaltung des Volks müssen die Zeitungen sorgen, welche aus zwei
-ureinfach gedruckten Seiten bestehen, die eine mit französischem, die
-andere mit englischem Text. Die englische Seite ist eine Uebersetzung
-der französischen; einen Korrekturleser gibt es nicht -- der Mann ist
-gestorben.
-
-»Und was steht darin? Wo nimmt man auf der kleinen, entlegenen Insel
-mitten im indischen Ozean täglich den Stoff her, um eine ganze
-Druckseite zu füllen? -- Den muß Madagaskar liefern, Madagaskar und
-Frankreich. Ratschläge, die man der Regierung erteilt und abfällige
-Bemerkungen über die englische Verwaltung bilden den übrigen Inhalt der
-Tagesblätter, deren Besitzer und Herausgeber französische Kreolen sind.
-
-»Das Französische ist Landessprache. Jeder muß es sprechen, er mag
-wollen oder nicht. Besonders ohne das Mischlings-Französisch, das die
-Leute mit den vielen verschiedenfarbigen Gesichtern reden, kann man
-sich hier gar nicht verständlich machen.
-
-»Mauritius war früher sehr wohlhabend, denn man macht hier den besten
-Zucker in der ganzen Welt. Aber zuerst verdarb der Suez-Kanal die
-Handelsverbindungen der Insel, und dann verschloß ihr der Rübenzucker
-mit Hilfe der Zuckerprämien den europäischen Markt. Viele der
-größten Zuckerpflanzer befinden sich in Geldverlegenheit und würden
-ihre Besitzungen gern für die Hälfte der Summen hergeben, die sie
-hineingesteckt haben. Wenn ein Land erst anfängt die Teekultur zu
-betreiben, so ist das ein sicheres Zeichen für den Rückgang seines
-Hauptprodukts, dafür liefern Bengalen und Ceylon den Beweis. Auch in
-Mauritius macht man jetzt Versuche mit der Teekultur.«
-
- * * * * *
-
-_20. April._ -- Der jährliche Cyklone richtet oft große Verwüstungen
-in den Zuckerfeldern an. Im Jahre 1892 wurden Hunderte von Menschen
-durch den Cyklone getötet oder zu Krüppeln gemacht, und der
-sündflutartige Regen, der dabei Port Louis überschwemmte, erzeugte
-großen Wassermangel. Das ist buchstäblich wahr, denn er zerstörte das
-Wasserwerk und die Leitungsröhren, und als sich die Flut verlaufen
-hatte, herrschte eine Zeitlang arge Not, weil man kein Wasser bekommen
-konnte. -- Die Wut jenes Wirbelsturms war fürchterlich; er machte
-ganze Straßen von Port Louis zu Trümmerhaufen, entwurzelte Bäume,
-deckte Dächer ab, schmetterte einen Obelisken zu Boden, riß Schiffe
-vom Anker los und schleuderte ein amerikanisches Fahrzeug bis in den
-Wald hinauf. Ueber eine Stunde lang krachte der Donner ohne Unterlaß,
-die Blitze zuckten und der Wind heulte -- es war ein Höllenlärm ohne
-gleichen. Dann trat plötzlich Ruhe ein, heller Sonnenschein und völlige
-Windstille; die Menschen wagten sich hinaus, um den Verwundeten
-beizustehen und nach ihren Freunden und Angehörigen zu suchen. Da brach
-der rasende Sturm unvermutet aus einer andern Himmelsgegend von neuem
-los und richtete vollends alles zu Grunde.
-
-Die Wege auf der Insel sind fest und eben, die Bungalows bequem
-ausgestattet, die Höfe sehr geräumig; längs der Fahrstraßen wachsen
-hohe grüne Bambushecken, und -- was ich noch nie gesehen habe --
-Hecken von roten und weißen Azaleen, die sich wunderhübsch ausnehmen.
-Mauritius ist ein einziger, großer, gartenähnlicher Park. Die wogenden
-Zuckerrohrfelder mit ihrem frischen Grün tun dem Auge wohl; überall
-entfaltet sich tropischer Pflanzenwuchs in üppigster Fülle, helles
-und dunkles Grün, dicht verschlungenes Unterholz von hohen Palmen
-überragt, große schattige Wälder mit klaren Flüssen, die sich bald im
-Dunkel verlieren, bald lustig wieder ans Tageslicht gesprungen kommen;
-auch kleine Berge mit spielzeugartigen Klippen und Felsengruppen hat
-Mauritius aufzuweisen und dann und wann einen Durchblick auf das Meer
-mit dem weißen Schaum der Brandung. Die Insel ist sehr hübsch in ihrer
-Art, doch fehlt ihr das Erhabene, Großartige, Geheimnisvolle, wie
-es unersteigliche Bergeshöhen mit Gipfeln, die in den Himmel ragen,
-und weite Fernsichten einer Gegend verleihen; der Gesamteindruck ist
-reizend, aber nicht überwältigend, er berührt uns angenehm, dringt aber
-nicht bis in die Tiefe der Seele.
-
-Als die Franzosen noch Mauritius besaßen, belästigten sie von dort aus
-die indischen Kauffahrteischiffe; deshalb nahm ihnen England die Insel
-fort und auch das benachbarte Bourbon. Letzteres gab es jedoch wieder
-an Frankreich heraus und ließ sich auch Madagaskar fortschnappen,
-was sehr zu beklagen ist. England hätte mit geringer Anstrengung die
-harmlosen Eingeborenen vor dem Unheil der französischen Zivilisation
-schützen können. Leider hat es das unterlassen, und jetzt ist es zu
-spät.
-
-Vor der Sünde, einen Raub an Frankreich zu begehen, hätte sich England
-schwerlich gescheut. Aller Grundbesitz sämtlicher Staaten der Erde
--- Amerika natürlich nicht ausgeschlossen -- besteht aus gestohlenem
-Gut, aus Ländereien, die andern Nationen gehörten, denen man sie
-entrissen hat. In Europa, Asien und Afrika ist jeder Fußbreit Land
-schon Millionen mal wieder und wieder gestohlen worden. Ein Verbrechen
-aber, das seit Jahrtausenden verübt wird, hört auf ein Verbrechen
-zu sein und wird zur Tugend. Das Gewohnheitsrecht ist stärker als
-jedes andere Gesetz. Auch werden ja heutzutage unter den christlichen
-Regierungen die allseitigen Pläne solchen Länderraubs ganz frei und
-offen verhandelt.
-
-Ohne Frage lassen die Zeichen der Zeit deutlich erkennen, welchen
-Verlauf die Sache nehmen wird: Alle noch unzivilisierten Länder der
-Erde müssen unter die Herrschaft der christlichen Staaten Europas
-kommen. Mir macht das keinen Kummer, im Gegenteil, ich freue mich
-darüber. Vor zweihundert Jahren wäre dies unabwendbare Geschick noch
-ein Unheil für die wilden Völker gewesen, aber jetzt wird es, unter
-gewissen Umständen, für manche ein Segen sein. Die Europäer sollen nur
-je eher je lieber alles Land in Besitz nehmen, damit Friede, Ordnung
-und Gerechtigkeit an die Stelle der Bedrückung, des Blutvergießens
-und der Gesetzlosigkeit tritt, unter der die Wilden Jahrhunderte lang
-geschmachtet haben. Wenn man bedenkt, was zum Beispiel Indien zu der
-Zeit gewesen ist, als die Hindus und die Mohammedaner es beherrschten,
-und wie es jetzt um das Land steht, wenn man an das frühere Elend der
-Millionen zurückdenkt, die heutzutage Schutz und eine menschenwürdige
-Behandlung genießen, so wird man zugeben müssen, daß es für Indien kein
-größeres Glück geben konnte, als unter britische Oberherrschaft zu
-kommen. Geht nun alles Land der wilden Völker in europäischen Besitz
-über, und müssen sie selbst sich den fremden Herrschern auf Gnade oder
-Ungnade unterwerfen, so wollen wir von Herzen hoffen und wünschen, daß
-alle Wilden bei dem Tausch nur gewinnen möchten.
-
-
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-
-Zwanzigstes Kapitel.
-
- In der Staatskunst bringe alle Formalitäten in Ordnung und
- kümmere dich nicht um die Moralitäten.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
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-_28. April._ -- Nach Afrika abgesegelt. -- ›Arundel Castle‹ ist das
-schönste Dampfboot, in dem ich auf diesen Meeren gefahren bin, es ist
-durch und durch modern und das will viel sagen. An einem Mangel, den
-man überall trifft, leidet aber auch dieses Schiff: die Betten lassen
-zu wünschen übrig. Es ist ein großer Fehler, daß man die Auswahl der
-Betten stets dem ersten besten Mann mit starkem Rückgrat anvertraut,
-statt einer zarten Frau dies Amt zu übertragen, die von Kindheit auf
-an Schlaflosigkeit und Gliederweh gelitten hat. Nichts ist sowohl
-diesseits wie jenseits des Ozeans eine größere Seltenheit, als Betten,
-welche allen Anforderungen entsprechen. Zwar sind sie in einigen
-Hotels der Erde zu finden, aber auf keinem Schiff, weder jetzt noch
-in vergangenen Zeiten. In der Arche Noäh waren die Betten geradezu
-niederträchtig, und darin liegt die Wurzel des Uebels. Noah hat die
-Mode eingeführt und die Welt wird sie mit geringen Abänderungen bis
-zur nächsten Sündflut beibehalten.
-
- * * * * *
-
-_8 Uhr abends._ -- An der Insel Bourbon vorbeigesegelt; ihr
-zerklüftetes, vulkanisches Gebirge hebt sich klar gegen den Himmel ab.
--- Wie töricht ist es doch, erholungsbedürftige Menschen nach Europa zu
-schicken. Das Rasseln von Stadt zu Stadt bei Rauch und Kohlendunst, das
-ewige Besichtigen von Schlössern und Galerien, ist doch kein Ausruhen
-zu nennen! Man trifft fortwährend alte und neue Bekannte, wird zum
-Frühstück, zu Mittag, zum Tee ausgebeten und erhält aufregende Briefe
-und Depeschen. Auch die Fahrt über den Atlantischen Ozean nützt nichts;
-die Reise ist zu kurz und das Meer zu unruhig. Wahre Heilung für Seele
-und Leib findet man nur auf dem friedlichen Indischen und dem Stillen
-Ozean, wo sich die Zeit so behaglich lang ausdehnt.
-
- * * * * *
-
-_2. Mai nachmittags._ -- Ein schönes großes Schiff in Sicht -- fast
-das erste, das wir auf der wochenlangen einsamen Seefahrt erblickt
-haben. Wir sind jetzt im Kanal von Mozambique zwischen Madagaskar und
-Südafrika und steuern in westlicher Richtung nach der Delagoabai.
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- * * * * *
-
-_Montag 4. Mai._ -- Wir dampfen langsam in die ungeheure Bai hinein;
-ihre Arme erstrecken sich weit ins Land, bis sie den Blicken
-entschwinden. Hier wäre Raum genug für sämtliche Schiffe der Welt, aber
-die Bai hat nur geringe Tiefe; oftmals zeigte unser Senkblei nicht mehr
-als viertehalb Faden.
-
-Eine 150 Fuß hohe und etwa eine Meile breite Felswand von stark
-rötlicher Färbung steigt senkrecht vor uns auf. Auf dem Tafelland
-über den roten Felsen sieht man Gruppen hübscher Häuser und Bäume,
-dazwischen die grüne, wellenförmige Ebene, wie in England. Siebzig
-Meilen lang, bis zur Grenze, gehört die Eisenbahn den Portugiesen
--- täglich fährt ein Personenzug -- weiterhin ist die Bahn Eigentum
-der Niederländischen Kompagnie. Haufenweise lagen die Frachtgüter am
-Strande umher; Schuppen, um sie unterzubringen, waren nicht vorhanden.
-Das ist echt portugiesisch -- Trägheit, Frömmigkeit, Armut und
-Unfähigkeit im schönsten Verein.
-
-Die Mannschaft der kleinen Boote und Schlepper besteht aus sehr
-muskulösen, kohlschwarzen Wollköpfen.
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- * * * * *
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-_Winter._ -- Der südafrikanische Winter hat eben angefangen, aber nur
-Sachverständige können ihn vom Sommer unterscheiden. Mir ist das sehr
-recht, denn ich habe den Sommer herzlich satt, der jetzt für uns schon
-ununterbrochen elf Monate lang dauert.
-
-Den Nachmittag brachten wir in Delagoabai am Ufer zu. Der Ort ist
-klein; er hat keine Sehenswürdigkeiten, keine Wagen. Die drei
-Rickschas waren Privateigentum, wir konnten sie nicht mieten. Die
-Portugiesen hier haben eine schöne braune Hautfarbe, wie einige unserer
-Indianerstämme; man sieht auch Schwarze mit länglicher Kopfform und
-sehr langem Kinn, wie die Neger in den Bilderbüchern, aber die meisten
-gleichen den Schwarzen in unsern Südstaaten, haben runde Gesichter mit
-platten Nasen und sind gutmütige, lustige Geschöpfe.
-
-Scharen schwarzer Weiber zogen vorüber mit zentnerschweren
-Frachtstücken auf dem Kopf. Sie waren Packträgerinnen und arbeiteten
-wie die stärksten Männer; doch mußten sie ihre ganze Kraft anstrengen,
-um die Last zu bewältigen, man sah, wie ihnen jedesmal beim Aufsetzen
-der Füße die Beine zitterten. Wenn sie unbeladen einherkommen, haben
-sie einen aufrechten Gang und eine ebenso schöne und stolze Haltung
-wie die Indianerinnen. Die Gewohnheit Lasten auf dem Kopf zu tragen,
-bringt das mit sich. -- Man sah keine bunten Farben, obgleich es hier
-viele Hindus gibt.
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- * * * * *
-
-_6. Mai. -- 3 Uhr nachmittags._ Ganz allmählich machte das Schiff
-langsamere Fahrt und dampfte vorsichtig und bedächtig in den hübschen
-Hafen von Durban in Südafrika ein.
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- * * * * *
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-_Aus dem Tagebuch. Hotel Royal._ -- Sehr behaglich; gutes Essen,
-gute Bedienung von Eingeborenen; ein sonderbares Gemisch von Altem
-und Neuem, Dorf und Stadt, Ureinfachheit und ihrem Gegenteil. Die
-elektrischen Glocken geben keinen Ton; der Aufseher im Bureau sagte
-mir, sie wären vermutlich in Unordnung geraten, weil einige klingelten
-und andere nicht. Als ich ihn fragte, ob es nicht ratsam wäre, sie in
-Ordnung zu bringen, sah er mich zweifelnd an, wie jemand der seiner
-Sache nicht gewiß ist -- stimmte mir dann aber doch bei.
-
- * * * * *
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-_7. Mai._ -- Um sechs Uhr klopft es laut an meine Tür: Ob meine Stiefel
-geputzt werden sollen? Eine Viertelstunde später wiederholtes Klopfen:
-Ob wir Kaffee wünschen? Nach abermals fünfzehn Minuten: das Bad für
-meine Frau ist fertig; gleich darauf: mein Bad ist fertig. Es klopft
-noch zweimal, weshalb weiß ich nicht mehr. Die Diener lärmen draußen
-und schreien einander bald dies bald das zu -- gerade wie in einem
-indischen Hotel.
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- * * * * *
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-_Abends._ -- Um vier Uhr nachmittags herrscht drückende Schwüle; eine
-halbe Stunde nach Sonnenuntergang zieht man den Sommerüberzieher an, um
-acht Uhr den Wintermantel. Daß Durban eine hübsche, saubere Stadt ist,
-sieht der Fremde von selbst, man braucht ihn nicht darauf aufmerksam
-zu machen. -- Die Rickschas werden von prächtig gewachsenen schwarzen
-Zulus gezogen, mit so überschüssiger Kraft, daß es ein wahres Vergnügen
-ist ihnen zuzusehen. Gutmütige Menschen -- wie sie lachen und ihre
-Zähne zeigen! Die Stunde kostet für eine Person 2 Schilling, für zwei
-Personen 3; jede Fahrt drei Pence für die Person. Ein Rickscha-Mann
-darf nicht trinken.
-
-Die Polizei besteht nur aus heidnischen Zulus; christliche werden
-nicht angestellt. Nach dem Abendläuten darf kein Eingeborener ohne Paß
-ausgehen. In Natal kommen auf einen Weißen zehn Schwarze. Die Weiber
-sind handfeste, rundliche Gestalten. Sie kämmen ihre Wolle auf dem
-Kopf in die Höhe und machen sie mit rotbraunem Lehm steif, daß sie
-stehen bleibt. Ist dieser Turm bis zur Hälfte gefärbt, so bedeutet es
-Verlobung; die verheiratete Frau färbt ihn ganz.
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- * * * * *
-
-_9. Mai._ -- Gestern machte ich mit Bekannten eine Ausfahrt. Sehr
-schöne Straßen über die Hügel, von wo man einen herrlichen Blick auf
-die ganze Stadt, den Hafen und das Meer genießt. Ueberall Wohnhäuser,
-von grünem Rasen und Buschwerk umgeben; hie und da bildet die brennend
-scharlachrote Euphorbia einen scharfen Gegensatz zu dem saftigen Grün
-ringsum; Kaktusbäume der verschiedensten Art in Kandelaberform und
-einer, dessen Zweige so verrenkt und gekrümmt sind, daß sie aussehen
-wie lauter graue, sich windende Schlangen. Auf allen Seiten sieht man
-eine Menge der prächtigsten, uns völlig unbekannten Bäume, einige mit
-so dichtem, dunkelgrünem Laub, daß sie sofort ins Auge fallen, trotz
-der vielen Orangenbäume daneben. Ein Baum hat wunderschöne rote,
-aufrechtstehende Büschel, die zwischen seiner grünen Blätterpracht
-leuchten wie feurige Kohlen. Auch Gummibäume sind da, und ein paar
-hochgewachsene Norfolktannen strecken ihre grünen Wedel himmelan, dann
-kommt wieder hohes Bambusgebüsch. Ich sah nur _einen_ Vogel; sie sind
-hier selten und singen nicht. Die Blumen haben wenig Duft, sie wachsen
-zu schnell. Nirgends habe ich eine so große Mannigfaltigkeit der
-herrlichsten Bäume gesehen wie hier, außer in der Nähe von Dardschiling
-im Himalaja. Vermutlich ist Natal der Garten von Südafrika, aber ich
-habe noch niemand dies Land so nennen hören.
-
- * * * * *
-
-Colenso war Bischof von Natal, als er durch seine Schriften einen
-solchen Sturm in der theologischen Welt erregte. Noch jetzt sind
-alle religiösen Angelegenheiten hier von großer Wichtigkeit. Die
-Sonntagsruhe wird eifersüchtig bewacht. Museen und dergleichen
-gefährliche Vergnügungsorte sind geschlossen. Eine Fahrt auf der Bai
-ist gestattet, aber das Cricketspiel gilt für sündhaft. Eine Zeitlang
-fanden Sonntags-Konzerte statt, bei denen kein Eintrittsgeld bezahlt
-wurde, sondern der Klingelbeutel herum ging. Dadurch kam jedoch so
-beunruhigend viel zusammen, daß man die Sache wieder eingehen ließ. In
-betreff der Säuglinge ist man sehr streng. Ein Geistlicher verweigerte
-einem Kinde das kirchliche Begräbnis, weil es nicht getauft worden
-war. Da ist der Hindu weitherziger. Er verbrennt kein Kind unter drei
-Jahren, weil er glaubt, daß es noch nicht der Läuterung bedarf.
-
-Zwei Stunden von Durban entfernt liegt ein großes Trappisten-Kloster,
-das ich in Gesellschaft von Mr. Milligan und Mr. Hunter, dem
-Generalinspektor der Staatseisenbahnen von Natal, in Augenschein nahm.
-Die beiden Herren kannten die Vorsteher des Klosters.
-
-Es war wirklich alles da, was man für so unglaublich hält, wenn man
-es in Büchern liest: die harte Arbeit, das Aufstehen zu unmöglichen
-Stunden, die karge Nahrung, das grobe Gewand, das harte Lager, das
-Verbot der menschlichen Rede, des geselligen Verkehrs, der Gegenwart
-irgend eines weiblichen Wesens, jeder Erholung, Abwechslung und
-Unterhaltung. Alles wurde durchgeführt -- es war kein Traum, keine
-Lüge. Aber selbst wenn man die Tatsache leibhaftig vor sich hatte,
-blieb sie ebenso unerklärlich. Es streitet zu sehr gegen die Natur, die
-Individualität des Menschen so gänzlich zu unterdrücken.
-
-Wie mag La Trappe nur herausgefunden haben, daß es Menschen gibt, die
-in solchem Elend einen Genuß finden? Hätte er mich oder dich um Rat
-gefragt, wir würden ihm versichert haben, daß sein Plan zu sehr aller
-Reize entbehrte und niemals verwirklicht werden könnte. Aber, da steht
-das Kloster und liefert den Beweis, was für ein Menschenkenner La
-Trappe gewesen ist. Er hat alles aus dem Leben verbannt, was das Herz
-wünscht und begehrt, und dennoch hat der Erfolg seit zweihundert Jahren
-sein Werk gekrönt und es wird ohne Zweifel auch ferner blühen und
-gedeihen.
-
-Wir Menschen lieben persönliche Auszeichnung -- dort im Kloster gibt
-es nichts dergleichen. Wir sind wählerisch in betreff der Speisen
--- die Mönche erhalten Bohnen, Brot und Tee und nicht einmal genug
-um sich satt zu essen. Wir betten uns gern weich -- sie liegen auf
-Sandmatratzen und haben zwar ein Kissen und eine Decke, aber keine
-Leintücher. Bei Tische lachen und plaudern wir gern in Gesellschaft von
-Freunden -- hier liest ein Mönch während der Mahlzeit laut aus einem
-frommen Buche vor und niemand spricht ein Wort. Wenn wir mit vielen
-Gefährten zusammen sind, so machen wir uns einen lustigen Abend und
-gehen spät zur Ruhe; hier begeben sich alle schweigend um acht Uhr zu
-Bett und obendrein im Dunkeln; sie brauchen nur die lose, braune Kutte
-abzulegen, da wäre ein Licht ganz unnötig. Wir schlafen gern in den Tag
-hinein -- hier stehen die Mönche nachts zweimal auf zum Gottesdienst
-und gehen um zwei Uhr morgens an ihr Tagewerk. Wir wünschen uns leichte
-Arbeit oder gar keine -- hier wird den ganzen Tag auf dem Felde
-geschafft oder in der Schmiede und andern Werkstätten, wo man Sattler-,
-Schuhmacher-, Tischlerarbeit und dergleichen betreibt. Wir lieben die
-Gesellschaft von Frauen und Mädchen -- die fehlt hier gänzlich. Wir
-sind gern von unsern Kindern umringt und scherzen und spielen mit ihnen
--- Kinder gibt es hier nicht. Es ist kein Billardtisch vorhanden, man
-hat keine Spiele im Freien, weder Konzert noch Theater, noch gesellige
-Freuden. Auch das Wetten ist hier verboten; wer in Zorn gerät darf
-seinen Aerger nicht am ersten besten auslassen, der ihm gerade in den
-Weg kommt; man darf sich kein Lieblingstier halten. Nicht einmal das
-Rauchen ist gestattet. Weder Tageblätter noch Zeitschriften werden hier
-gelesen. Wenn wir fern von der Heimat sind, möchten wir wissen, wie es
-unsern Eltern und Geschwistern ergeht und ob sie sich nach uns sehnen
--- hier erfährt man das nicht. Wir lieben freundliche Wohnungen, eine
-gefällige Einrichtung, hübsche Möbel, allerlei niedliche Sächelchen und
-schöne Farben -- hier ist alles kahl, armselig und düster. Was wünscht
-sich der Mensch nicht alles -- führt die Liste selbst weiter fort! --
-Aber was ihr auch nennen mögt, in diesem Kloster ist es nicht zu finden.
-
-Und zum Lohn für alle diese Entbehrungen kann man dort weiter nichts
-erwerben, wie mir gesagt wurde, als die Rettung seiner Seele.
-
-Es ist wirklich höchst sonderbar und unbegreiflich. Aber La Trappe
-kannte, wie gesagt, das Menschengeschlecht und den mächtigen Reiz, der
-in diesem reizlosen Dasein lag. Er wußte, daß auf manche Leute ein
-solches Leben um so größere Anziehungskraft übt, je abstoßender und
-unbehaglicher es ist.
-
-Das Mutterkloster wurde vor fünfzehn Jahren von deutschen Mönchen
-gegründet, die arm und fremd waren und keine Unterstützung fanden;
-jetzt besitzt es 15000 Morgen Land, baut Korn, Obst und Wein und
-betreibt alle möglichen Gewerbe. In seinen Werkstätten werden
-eingeborene Lehrlinge in den verschiedensten Handwerken unterrichtet,
-mit denen sie sich nach der Entlassung ihr Brot verdienen können, auch
-lehrt man sie Lesen und Schreiben. Elf Zweiganstalten des Klosters sind
-in ganz Südafrika verbreitet, in denen 1200 eingeborene Knaben und
-Mädchen christlich erzogen und zu tüchtigen Handwerkern ausgebildet
-werden. Von dem Wirken der protestantischen Mission unter den Heiden
-hat man in den kaufmännischen Kreisen der weißen Kolonisten meist keine
-hohe Meinung; ihre Zöglinge tragen den Spitznamen ›Reis-Christen‹,
-womit ungelernte Müßiggänger gemeint sind, die sich nur um äußerer
-Vorteile willen in die Kirche aufnehmen lassen. An der Tätigkeit dieser
-katholischen Mönche wird sich aber schwerlich etwas aussetzen lassen,
-und ich glaube, es hat auch noch niemand gewagt, sich abfällig darüber
-zu äußern.
-
- * * * * *
-
-_Dienstag 12. Mai._ -- Die Transvaal-Politik ist in große Verwirrung
-geraten. Zuerst jagte die schwere Verurteilung der Johannesburger
-Rädelsführer England einen großen Schrecken ein. Unmittelbar nachher
-veröffentlichte Krüger die Korrespondenz in Chiffreschrift, aus welcher
-hervorgeht, daß der Einfall in Transvaal von Cecil Rhodes und Beit mit
-der Absicht geplant worden ist, sich des Landes zu bemächtigen, um es
-dem englischen Reich einzuverleiben. Dies brachte einen Umschwung in
-den Gefühlen Englands hervor und entfesselte einen Sturm der Entrüstung
-gegen Rhodes und die Chartered Company, weil sie der britischen Ehre zu
-nahe getreten seien.
-
-Lange war ich außer stande klug aus der Sache zu werden -- sie war mir
-zu verwickelt. Aber endlich glaube ich durch Geduld und Nachdenken doch
-dahinter gekommen zu sein: Soviel ich verstehe, waren die Uitlanders
-und die andern Holländer unzufrieden, weil die Engländer ihnen nicht
-gestatteten an der Regierung teil zu nehmen, nur ihre Steuern durften
-sie bezahlen. Da geschah es, daß ~Dr.~ Krüger und ~Dr.~ Jameson, denen
-ihr ärztlicher Beruf nicht genug einbrachte, in das Matabeleland
-einfielen mit der Absicht, die Hauptstadt Johannesburg zu erobern und
-Frauen und Kinder als Geißeln gefangen zu halten, bis die Uitlanders
-und andere Buren ihnen und der Chartered Company die politischen
-Rechte zugestehen wollten, die man ihnen bisher vorenthalten hatte.
-Dieser kühne Plan wäre sicherlich gelungen, hätten sich nicht Cecil
-Rhodes, Mr. Beit und andere Häuptlinge der Matabele eingemischt
-und ihre Landsleute aufgereizt sich zu empören und Deutschland den
-Gehorsam aufzusagen. Nun stachelte letzteres wieder den König von
-Abessynien auf, die italienische Armee zu vernichten und Johannesburg
-zu überfallen. Das alles hatte Cecil Rhodes aber angestiftet, um die
-Aktien in die Höhe zu treiben.
-
-
-
-
-Einundzwanzigstes Kapitel.
-
- Man soll des Buren Fell nicht verkaufen, man fange ihn denn
- zuvor.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Als ich vor einem Jahr den letzten Paragraphen des vorigen Kapitels in
-mein Notizbuch kritzelte, tat ich es, um auf drastische Weise zweierlei
-zum Ausdruck zu bringen: Erstens, wie widersprechend die Berichte
-sind, welche der Fremde von den Einheimischen über die südafrikanische
-Politik erhält, und zweitens, was für ein Wirrwarr dadurch im Kopfe des
-Fremden entsteht.
-
-Ich sehe jetzt ein, daß ich damals den Zustand der Dinge naturgetreuer
-geschildert habe, als ich selber wußte. In jener unruhigen und
-aufgeregten Zeit konnten die dortigen Bürger unmöglich die
-südafrikanische Politik klar und vernünftig auffassen; nicht nur ihre
-persönlichen Interessen, sondern auch ihre politischen Vorurteile
-standen ihnen sehr dabei im Wege. Der Fremde aber war natürlich nicht
-im stande aus ihren verworrenen Mitteilungen klug zu werden und den
-Zusammenhang der Ereignisse zu begreifen.
-
-Mein Aufenthalt in Südafrika war nicht von langer Dauer. Als ich ankam
-befand sich das Land noch in der größten politischen Gärung. Vier
-Monate waren vergangen, seit Jameson mit 600 bewaffneten Reitern zum
-»Schutz der Frauen und Kinder in Johannesburg« die Grenze von Transvaal
-überschritten hatte. Am vierten Tage nach seinem Einmarsch besiegten
-ihn die Buren in einer Schlacht und führten ihn mit seinen Leuten
-gefangen nach der Hauptstadt Prätoria. Jameson und seine Offiziere
-waren zur Bestrafung an Großbritannien ausgeliefert und nach England
-eingeschifft worden, wo ihr Verhör stattfand. Inzwischen wurden in
-Johannesburg vierundsechzig der angesehensten Bürger als Jamesons
-Mitverschworene festgenommen. Präsident Krüger verurteilte die vier
-Haupträdelsführer zum Tode, die übrigen zu Gefängnis; er verwandelte
-jedoch die Strafen in längere oder kürzere Kerkerhaft, in welcher die
-vierundsechzig Leute damals noch schmachteten. Vor Mitte des Sommers
-waren alle wieder in Freiheit, außer zweien, welche sich weigerten ein
-Begnadigungsgesuch zu unterzeichnen. Achtundfünfzig von ihnen mußten
-eine Geldbuße von je 10000 Dollars zahlen und die vier Rädelsführer
-125000 Dollars per Mann; auf immer aus dem Lande verbannt wurde nur
-einer.
-
-Das war eine hochinteressante Zeit für den Fremden; ich schätzte mich
-glücklich, mitten in die Aufregung hineingekommen zu sein. Jedermann
-äußerte ohne Rückhalt seine Meinung und ich hoffte bestimmt, daß mir
-die ganze Angelegenheit, wenigstens von _einer_ Seite, binnen kurzem
-verständlich sein würde.
-
-Darin täuschte ich mich jedoch. Die Sache hatte so viel Eigenartiges,
-Schwieriges und Unerklärliches, daß ich ihrer nicht Herr wurde.
-Persönliche Beziehungen zu den Buren besaß ich nicht, die Anschauungen
-ihrer Partei blieben also für mich ein Geheimnis, soweit ich sie nicht
-aus den öffentlichen Bekanntmachungen erfuhr. Bald empfand ich denn
-auch das tiefste Mitgefühl für die Johannesburger, die im Kerker von
-Prätoria lagen, sowie für ihre Freunde und Angehörigen. Durch eifrige
-Erkundigungen bei letzteren hatte ich mich über alle Einzelheiten des
-Streits in Kenntnis gesetzt und glaubte sie zu verstehen; das heißt,
-von ihrem Gesichtspunkt aus und bis auf _einen_ Umstand: Was die
-Johannesburger durch eine bewaffnete Erhebung zu erreichen gedachten,
-schien niemand zu wissen.
-
-Im Laufe des folgenden Jahres wurde in die Verwirrung jener Tage
-genügendes Licht gebracht. ~Dr.~ Jameson ist vor den englischen
-Geschworenen erschienen; auch Cecil Rhodes und andere an dem
-feindlichen Einfall in Transvaal direkt oder indirekt beteiligte
-Personen haben ihre Aussage vor Gericht erstattet, desgleichen Lionel
-Philipps und sonstige Mitglieder der Johannesburger Reformpartei,
-welche die Revolution als totgeborenes Kind zur Welt brachten.
-Weitere Aufklärung erhielt ich auch durch verschiedene Bücher, deren
-Verfasser entweder für die Buren oder für Cecil Rhodes oder für die
-Johannesburger Partei nahmen. Nachdem ich nun alle jene Aussagen
-voreingenommener Zeugen nebst den einseitigen Darstellungen der Bücher
-gesammelt hatte, mischte ich sie gut durcheinander, knetete alles
-tüchtig durch und tat den Teig in meinen eigenen (vorurteilsvollen)
-Backtrog. Durch dies Verfahren bin ich schließlich der verwickelten
-südafrikanischen Frage doch noch auf den Grund gekommen. Ich weiß nun,
-daß es sich damit in Wahrheit folgendermaßen verhielt:
-
-1. Die Kapitalisten und sonstigen angesehenen Bürger von Johannesburg
-litten unter gewissen politischen und finanziellen Unbilden und Lasten,
-welche die Transvaal-Regierung ihnen auferlegte. Die Uitlanders
-bezahlten vier Fünftel aller Steuern, hatten kein Wahlrecht, konnten
-erst nach längerem Aufenthalt im Lande Staatsbürger werden und nach
-vierzehn Jahren in den ersten Volksraad gelangen, während die Buren
-alle höheren Aemter bekleideten und schon im Alter von sechzehn
-Jahren das volle Bürgerrecht hatten. So suchten denn die Uitlanders
-durch verschiedene Eingaben, Bittschriften und Vorschläge zu
-Gesetzesveränderungen auf friedlichem Wege eine Verbesserung ihrer Lage
-herbeizuführen.
-
-2. Cecil Rhodes, Ministerpräsident der Kapkolonie, Millionär, Gründer
-und Direktor der sogenannten Chartered Company, verfolgte schon seit
-einigen Jahren den Plan, alle südafrikanischen Staaten zu einem
-großen Reich unter dem Schutz und Schirm der britischen Flagge zu
-vereinigen. So benutzte er denn die Unzufriedenheit der Johannesburger
-Reformpartei, um sie zur gewaltsamen Empörung gegen die Burenregierung
-zu bewegen. Wenn es zu einem blutigen Zusammenstoß kam, konnte sich
-Großbritannien ins Mittel legen; das würden sich die Buren nicht
-gefallen lassen, und um sie für ihren Widerstand zu strafen, besetzte
-dann England selbstverständlich Transvaal und vereinigte es mit seinem
-übrigen südafrikanischen Länderbesitz. Der Plan war keineswegs aus der
-Luft gegriffen, sondern ganz verständig und ausführbar.
-
-Von seinem fernen Posten in Kapstadt aus wußte Rhodes die Mißstimmung
-der Uitlanders von Johannesburg auf geschickte Weise zu schüren;
-er half auch, sie mit Waffen zu versehen. Mehrere Kanonen und
-fünfzehnhundert Gewehre wurden, in großen Oelbehältern und Kohlenwagen
-versteckt, in die Stadt geschmuggelt. Im Dezember 1895 war das
-Reformkomite schon von Bitten zu Drohungen übergegangen, und der
-Ausbruch der Revolution schien nicht mehr fern.
-
-Rhodes hatte mit Jameson, dem Befehlshaber der Truppen der Chartered
-Company verabredet, daß dieser über die Grenze gehen und mit
-sechshundert Mann in Johannesburg einrücken solle. Vorher verlangte
-Jameson jedoch -- wahrscheinlich auf Veranlassung seines Herrn und
-Meisters -- das Reformkomite solle ihm eine förmliche Aufforderung
-schicken, der Stadt zu Hilfe zu kommen. So erhielt er den berühmten
-Brief, in dem er gebeten wird nach Johannesburg zu eilen, um sich der
-»schutzlosen Frauen und Kinder anzunehmen«. Das war kein schlechter
-Gedanke, denn die Verantwortlichkeit für den feindlichen Ueberfall
-wurde dadurch zum größten Teil der Reformpartei zugeschoben. Die
-Führer derselben mochten dies wohl zu ihrem Schrecken einsehen, denn
-sie wollten das verfängliche Schriftstück schon den Tag nach dessen
-Absendung an Jameson wieder zurück haben. Es wurde ihnen jedoch
-bedeutet, dazu sei es zu spät. Das Original des Briefes war schon an
-Rhodes nach der Kapstadt abgegangen. Doch hatte Jameson wohlweislich
-eine Abschrift zurückbehalten.
-
-In Johannesburg versuchte man nun mit aller Anstrengung, Jameson von
-der Ausführung des Planes abzubringen. Es herrschte Uneinigkeit in
-der Stadt; einige wollten Krieg, einige Frieden. Manche stimmten für
-eine neue Regierung, andere wünschten die alte beizubehalten und zu
-reformieren. Zu Gunsten einer kaiserlich-britischen Kolonialherrschaft
-die Regierung in Prätoria zu stürzen, hatten nur ganz einzelne im Sinn.
-Und doch trat das Gerücht von Stunde zu Stunde bestimmter auf, daß dies
-der Zweck sei, den Cecil Rhodes mit seinem unwillkommenen Beistand
-verfolge.
-
-Drei Tage lang ließ sich Jameson zurückhalten, dann beschloß er nicht
-länger zu warten. Ohne Befehl -- Rhodes hüllte sich in vorsichtiges
-Schweigen -- zerschnitt er die Telegraphendrähte am 29. Dezember und
-ging im Dunkel der Nacht über die Grenze. Er hatte 150 Meilen bis
-Johannesburg zurückzulegen und hoffte die Stadt ohne Hindernisse zu
-erreichen. Allein die Nachricht von seinem Einfall verbreitete sich wie
-ein Lauffeuer -- man hatte übersehen, daß _ein_ Telegraphendraht nicht
-zerschnitten worden war. Schon wenige Stunden später kamen die Buren
-von allen Seiten in Windeseile herbeigeritten, um ihn am Vordringen zu
-hindern.
-
-In Johannesburg herrschte Furcht und Schrecken; Frauen und Kinder
-wurden bei dem Nahen ihrer Retter eiligst nach Australien eingeschifft
-und die friedliebenden Bürger flüchteten scharenweise auf die
-Eisenbahnen. Wer zuerst da war hatte es am besten, er konnte sich
-einen Platz im Zuge sichern, wenn er ihn acht Stunden vor der Abfahrt
-besetzte.
-
-Rhodes telegraphierte den Johannesburger Brief mit dem rührenden
-Hilferuf ohne Zeitverlust an die Londoner Presse. Ein so altersgraues
-Dokument hatte das Kabel noch nie befördert; der Brief war schon vor
-zwei Monaten geschrieben, doch das wußte niemand, das falsche Datum
-lautete ja auf den 20. Dezember.
-
-Am Neujahrstag wurde Jameson von den Buren geschlagen; tags darauf
-streckte er die Waffen. Er trug die Abschrift des Briefes bei sich,
-und wenn er die Anweisung erhalten hatte, im Notfall dafür zu sorgen,
-daß das Schriftstück den Buren in die Hände fiele, so führte er
-den Befehl pünktlich aus. Man fand den Brief auf dem Schlachtfeld
-in Jamesons Satteltasche -- er war ohne jegliche Geheimschrift
-in englischer Sprache abgefaßt und mit dem Namen der beteiligten
-Personen unterzeichnet. Die Schuld an dem Einfall wurde dadurch auf
-die Reformpartei gewälzt, so paßte es in Rhodes’ Berechnung. Das
-Original war ja überdies in Amerika, in England und dem übrigen Europa
-bekannt, ehe Jameson seine Abschrift auf dem Schlachtfelde verlor.
-Letzterer wurde dadurch im Lauf einer einzigen Woche in England zu
-einem berühmten Helden gestempelt, in Prätoria zu einem Räuberhauptmann
-und in Johannesburg zu einem Narren und ehrlosen Verräter -- das alles
-hatte jener alte Brief bewirkt!
-
-Die Mitglieder der Reformpartei waren in einer schwierigen Lage
-gewesen. Hindernisse und Verwicklungen engten sie auf allen Seiten
-ein. Wie sollten sie ihren vielen und mannigfaltigen Obliegenheiten
-nachkommen? --
-
-1. Mußten sie ~Dr.~ Jamesons widerrechtlichen Einfall verdammen und
-ihm trotzdem beistehen.
-
-2. Waren sie genötigt der Burenregierung Treue zu schwören und den
-Rebellen Reitpferde zu liefern.
-
-3. Mußten sie alle offenen Feindseligkeiten gegen die Burenregierung
-verbieten und Waffen unter deren Gegner verteilen.
-
-4. Durften sie nicht in Zwiespalt mit der englischen Regierung geraten,
-mußten Jameson unterstützen und der Burenregierung entblößten Hauptes
-den neuen Fahneneid leisten.
-
-Sie entledigten sich dieser Pflichten so gut sie konnten; ja, sie
-erfüllten sie tatsächlich alle, nur nicht zu gleicher Zeit, sondern
-nacheinander; die gleichzeitige Erfüllung derselben wäre wirklich ein
-Ding der Unmöglichkeit gewesen.
-
-Bei der ganzen Angelegenheit hat für mich die militärische Frage
-ein größeres Interesse als die politische, denn ich habe immer eine
-besondere Vorliebe für den Krieg gehabt. Das heißt, ich meine für
-Reden über den Krieg und Erteilung militärischer Ratschläge. Wäre ich
-am Morgen nach der Grenzüberschreitung bei Jameson gewesen, ich hätte
-ihm geraten, wieder umzukehren. Die Truppen, die er befehligte, waren
-nicht alte, kriegstüchtige Briten, sondern größtenteils ungeübte junge
-Burschen. Wie sollten sie vom Pferde herab, im Gewühl der Schlacht
-sicher zielen und treffen? Das war unmöglich, besonders weil es gar
-nichts gab, wonach man schießen konnte, als Felsen, hinter denen nach
-altem Brauch und Herkommen die Buren steckten, denn auf freiem Felde
-kämpften sie niemals. Die dreihundert Scharfschützen der Buren hinter
-den Felsen konnten aber natürlich Jamesons Reitern übel mitspielen. Um
-im Kampf gegen die Buren Sieger zu bleiben, brauchten die Engländer
-nicht allein Mut, sondern auch Vorsicht, ganz wie wir beim Krieg gegen
-die Rothäute. Die tapfern Briten, die den verborgenen Buren offen
-entgegentraten, hatten sich die Folgen selbst zuzuschreiben.
-
-Das Land war voller Hügelketten, Klippenreihen, Bodensenkungen, Gräben
-und Moränen -- für Reitergefechte völlig unbrauchbar. Jameson feuerte
-seine Geschütze auf die Felsen ab -- er verdarb die guten Felsen
-und verschwendete seine Munition -- aber wieviel Schaden er auch
-anrichtete, die Buren zeigten sich nicht. Nun strömten seine Scharen
-in langer Linie kühn voran, die Buren schossen aus dem Hinterhalt und
-nach der ersten Salve waren zwanzig englische Sättel leer. Es dauerte
-nicht lange, so lagen sechzig Prozent der Angreifer tot oder verwundet
-am Boden; letztere wurden von den Buren gefangen in das Hospital nach
-Krügersdorp gebracht; sie selbst hatten nur vier Mann eingebüßt, von
-denen zwei aus Versehen durch ihre eigenen Leute getötet worden waren.
-Jamesons Truppen kamen den Buren überhaupt nicht nahe genug, um sie
-»rund um Transvaal herumzujagen«, wie sie geprahlt hatten. Nachdem auch
-ein letzter verzweifelter Angriff fehlgeschlagen war, ließ Jameson die
-weiße Flagge wehen und ergab sich.
-
-Die britische Methode der Kriegsführung läßt sich, wie gesagt, den
-Buren gegenüber durchaus nicht mit Glück anwenden. Wenn mir die
-Führung eines solchen Feldzugs übertragen worden wäre, hätte ich
-die Sache ganz anders angefangen. Den Charakter des Buren habe ich
-studiert: Am meisten schätzt er die Bibel, und sein Lieblingsessen ist
-›Biltong‹ -- an der Sonne getrocknete Fleischstreifen. Die liebt er
-leidenschaftlich, und es ist ihm auch gar nicht zu verdenken.
-
-Um die Buren zu bekriegen, wäre ich nur mit Flinten ausgezogen und
-hätte die schweren Kanonen zu Hause gelassen, die nur unnütz den Marsch
-aufhalten. Heimlich würde ich mich bei Nacht bis zu einer Stelle
-schleichen, die etwa eine Viertelmeile vom Lager der Buren entfernt
-ist, um dort eine fünfzig Fuß hohe Pyramide von Biltong und Bibeln zu
-bauen und meine Leute dahinter zu verbergen. Am nächsten Morgen würden
-die Buren Kundschafter ausschicken, der ganze Schwarm käme auf einmal
-herbeigestürmt, meine Truppen könnten sie umringen und Mann gegen Mann
-im freien Felde kämpfen. Dann würden sich die Verluste auf beiden
-Seiten etwas gleichmäßiger verteilen.
-
-
-
-
-Zweiundzwanzigstes Kapitel.
-
- Selbst die Tinte, mit der die Weltgeschichte geschrieben
- wird, ist nichts als flüssig gemachtes Vorurteil.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Der Herzog von Fife hat als Zeuge ausgesagt, daß Mr. Rhodes ihn
-betrogen habe. Mit den Johannesburgern hat es Mr. Rhodes ganz ebenso
-gemacht. Er hat sie ins Unglück gestürzt, ist aber selbst weit vom
-Schuß geblieben. Ein gescheiter Kopf war er von jeher, darüber sind
-alle einig. Nur einmal hätte man fast an dieser Tatsache irre werden
-können. Es war zur Zeit seines letzten Raubzugs im Matabele-Land; das
-Kabel verkündete laut, er sei unbewaffnet dahin gegangen, um einige
-feindliche Häuptlinge zu besuchen. Als man aber dies tollkühne Beginnen
-bei Lichte besah, stellte sich heraus, daß eine Dame teil daran
-genommen hatte, welche ebenfalls unbewaffnet war.
-
-Manche Leute glauben, Mr. Rhodes sei gleichbedeutend mit Südafrika;
-andere halten ihn nur für einen wichtigen Teil des Landes. Nach ihrer
-Meinung besteht Südafrika aus dem Tafelberg, den Diamantgruben, den
-Johannesburger Goldfeldern und Cecil Rhodes. Die Goldfelder sind
-wirklich höchst wunderbar. In sieben oder acht Jahren wuchs dort in
-der Wüste eine Stadt von 100000 Einwohnern empor, Schwarze und Weiße
-zusammengenommen; aber nicht etwa eine gewöhnliche Bergwerksstadt
-von hölzernen Baracken, sondern durch und durch aus dauerhafterem
-Baumaterial. Nirgends in der Welt findet man einen solchen Goldreichtum
-wie in der Umgegend von Johannesburg. Mr. Bonamici, mein dortiger
-Geschäftsführer, gab mir eine kleine Goldstufe, auf welcher
-statistische Angaben über den Goldertrag seit der frühesten Zeit bis
-Juli 1895 eingeritzt waren. Sie bekunden den Riesenfortschritt in der
-Ausbeute. Im Jahre 1888 belief sich der Ertrag auf 4162440 $; in den
-nächsten sechstehalb Jahren betrug die Totalsumme 17585894 $ und in dem
-einen Jahr bis Juni 1895 gewann man einen Goldwert von 45553700 $.
-
-Das Kapital für den Bergwerksbetrieb stammt aus England, die
-Grubeningenieure kommen aber aus Amerika; auch bei den Diamantgruben
-spielen sie die erste Rolle. Südafrika ist das Paradies für den
-wissenschaftlich gebildeten Hüttenmann. Die Amerikaner nehmen dort die
-besten Stellen ein und werden sie auch zu behaupten wissen; ihr Gehalt
-ist so hoch, wie es nicht ein einzelner, sondern eine ganze Familie von
-Ingenieuren in Amerika beziehen würde.
-
-Die Aktionäre der einträglichen Goldgruben erhalten bedeutende
-Dividenden, und doch ist das Gestein nicht sehr reich nach
-kalifornischen Begriffen; wenn eine Tonne den Wert von zehn oder
-zwölf Dollars liefert, ist man schon zufrieden. Das Gold ist so sehr
-mit unedlen Metallen versetzt, daß der Ertrag vor zwanzig Jahren
-nur etwa halb so groß gewesen wäre, als jetzt. Damals machte es
-sich nicht bezahlt, wenn man aus solchem Gestein noch etwas anderes
-als das grobkörnige reine Gold gewinnen wollte. Bei dem heutigen
-Cyanid-Verfahren aber beträgt die Gesamtausbeute an Gold in der ganzen
-Welt jährlich fünfzig Millionen mehr, die früher zu den Abfällen
-geworfen wurden.
-
-Das Cyanid-Verfahren war für mich ganz neu und sehr interessant; auch
-von den großartigen und kostspieligen Bergwerksmaschinen hatte ich
-manche noch nie gesehen; mit dem übrigen Betrieb der Goldbergwerke war
-ich jedoch völlig vertraut. Da ich früher einmal selbst Goldgräber
-gewesen bin, verstand ich gerade so viel davon wie die Leute in
-Johannesburg, nur nicht, wie man Geld damit erwirbt. Dagegen erfuhr
-ich viel Neues über die Buren, von denen ich noch nichts wußte. Was
-man mir dort sagte, wurde mir später auch in andern Teilen Südafrikas
-bestätigt. Fasse ich nun alle jene Berichte zusammen, so erhalte ich
-von dem Buren folgendes Bild:
-
-Er ist sehr fromm, entsetzlich unwissend, schwerfällig, eigensinnig,
-gastfrei, bigott und träge; schmutzig in seinen Gewohnheiten,
-ehrlich bei Unterhandlungen mit den Weißen, hartherzig gegen seine
-schwarzen Diener, ein guter Schütze und Reiter, der Jagd sehr ergeben;
-eifersüchtig auf seine politische Unabhängigkeit, ein guter Gatte
-und Vater. Die Buren leben ungern in Städten zusammengedrängt, sie
-lieben die Einsamkeit und Absonderung auf dem großen, entlegenen,
-menschenleeren ›Veld‹. Ihre Eßlust ist ungeheuer und sie sind nicht
-wählerisch bei Befriedigung derselben -- haben sie Schweinefleisch,
-Mais und Biltong in genügender Menge, so verlangen sie weiter
-nichts. Um ein Tanzvergnügen mitzumachen, bei dem auch die Nacht
-hindurch wacker geschmaust und gejubelt wird, scheuen sie einen
-tüchtigen Ritt nicht; aber zu einer Gebetsversammlung reiten sie gern
-noch zweimal so weit. Sie sind stolz auf ihre Abstammung von den
-Holländern und Hugenotten, stolz auf ihre religiöse und militärische
-Vergangenheit, auf die Großtaten ihres Volks in Südafrika -- ihre
-kühnen Entdeckungsreisen in feindliche und unbekannte Einöden, wo sie
-den Belästigungen der ihnen verhaßten Engländer entgehen konnten.
-Sie rühmen sich ihrer Siege über die Eingeborenen und die Briten,
-am meisten jedoch der persönlichen und überschwenglichen Gnade und
-Fürsorge, welche die Gottheit ihren Angelegenheiten allezeit hat zu
-teil werden lassen.
-
-Die Buren können durchschnittlich weder lesen noch schreiben, Zeitungen
-sind zwar vorhanden, aber niemand fragt danach; bis vor kurzem gab
-es keine Schulen, die Kinder lernten nichts. Was in der Welt Neues
-geschieht, ist dem Buren gleichgültig, es geht ihn nichts an. Das
-Steuerzahlen ist ihm verhaßt, und er lehnt sich dagegen auf. Seit
-drittehalb Jahrhunderten hat er in Südafrika stockstill gestanden
-und würde am liebsten bis ans Ende aller Zeiten auf demselben Fleck
-bleiben, denn die fortschrittlichen Gedanken der Uitlanders sind ihm
-ein Greuel. Zwar dürstet er nach Reichtum, wie andere Menschen auch,
-aber ein reicher Viehstand ist ihm lieber als schöne Kleider und
-Häuser, Gold und Diamanten. »Hätte man das Gold und die Diamanten doch
-nie entdeckt,« denkt er, »dann wäre der gottlose Fremdling nicht ins
-Land gekommen, der Unruhstifter mit seiner Sittenverderbnis!«
-
-Jeder, der Olive Schreiners Bücher kennt, wird was ich hier anführe in
-der Hauptsache bestätigt finden. Und daß sie ein ungünstiges Vorurteil
-für den Buren hat, ist ihr noch von niemand vorgeworfen worden.
-
-Was läßt sich nun aber nach alledem von dem Buren erwarten? Was
-kann aus solchem Stoff entstehen? Eine Gesetzgebung, sollte man
-meinen, welche die Religionsfreiheit einschränkt, dem Fremden die
-Wahlberechtigung und Wählbarkeit verweigert, den Bildungs- und
-Erziehungsanstalten wenig förderlich ist, die Goldproduktion
-einschränkt, das Eisenbahnnetz nicht erweitert, den Ausländer hoch
-besteuert und den Buren freiläßt.
-
-Die Uitlanders scheinen indessen ganz andere Dinge erwartet zu haben.
-Warum weiß ich nicht. Es ließ sich vernünftigerweise nichts anderes
-voraussehen. Ein runder Mensch paßt nicht gleich in ein viereckiges
-Loch; man muß ihm erst Zeit lassen, seine Form zu ändern. Gewisse
-Verbesserungen wurden schon vor Jamesons Ueberfall vorgenommen und
-seitdem ist noch manche Reform eingeführt worden. Es sitzen weise
-Männer im Rate der Transvaal-Regierung und ihnen ist der Fortschritt
-zu danken, welchem die große Masse der Buren bis jetzt noch kaum
-zugänglich ist. Wäre die Regierung weniger weise, so hätte sie Jameson
-aufgehängt und aus einem gewöhnlichen Piraten einen heiligen Märtyrer
-gemacht. Aber auch die Weisheit hat ihre Grenzen, und wenn man Mr.
-Rhodes jemals fängt, wird man ihn sicherlich aufknüpfen und zu einem
-Heiligen machen. Diese höchste aller menschlichen Würden sollte ihm
-noch verliehen werden, nachdem er schon alle übrigen Titel getragen
-hat, welche irdische Größen bezeichnen.
-
-Den Johannesburgern sind bereits viele ihrer ursprünglichen
-Forderungen bewilligt worden; auch ihre übrigen Beschwerden dürften mit
-der Zeit schwinden. Sie sollten froh sein, daß die Steuern, mit denen
-sie so unzufrieden waren, von der Burenregierung erhoben wurden, statt
-von ihrem Freunde Rhodes und seiner raubsüchtigen Südafrikanischen
-Gesellschaft; denn letztere nimmt die Hälfte von allem in Beschlag,
-was die Opfer ihrer Habgier beim Grubenbau gewinnen, sie begnügt sich
-nicht mit einem Prozentsatz. Stünden die Johannesburger unter _ihrer_
-Gerichtsbarkeit, sie wären längst im Armenhaus. Der Name Rhodesia ist
-gut gewählt, um das Land zu bezeichnen, wo Raub und Plünderung an der
-Tagesordnung sind und unter dem Schutz des Gesetzes nach Gutdünken
-betrieben werden können.
-
-Auf mehreren langen Fahrten lernten wir die Eisenbahnen der Kapkolonie
-kennen. Alle Einrichtungen sind bequem, man findet die größte
-Sauberkeit und in den Nachtzügen behagliche Betten. Es war Anfang Juni
-und Winterzeit: bei Tage eine angenehme Wärme, nachts frisch und kühl.
-Während man durch das Land fuhr, atmete man den ganzen Tag über mit
-Wonne die kräftige Luft und schaute auf die braune sammetweiche Ebene
-hinaus, an deren Horizont mattschimmernde Hügelketten wie in einem
-fernen Traumland zu verschwimmen schienen. Wie tief blickte man in den
-Himmel hinein mit seinen fremden, seltsamen Wolkengebilden, wie flutete
-ringsum der herrlichste Sonnenglanz in verschwenderischer Fülle! Für
-mich hatte der Veld im ersten Winterkleid einen ganz besonderen Reiz.
-Wir kamen durch weite Strecken, wo der Boden sich wellenförmig hebt
-und senkt und sich endlos ausdehnt, gleich dem Ozean. Von dem hellsten
-bis ins dunkelste Braun waren dort alle Schattierungen vertreten, die
-sich zum schönsten Orangegelb, Purpur und Scharlachrot wandelten, wo
-die Ebene mit den bewaldeten Hügeln und den nackten, roten Felsklippen
-zusammenfließt und der Himmel die Erde berührt.
-
-Ueberall, von Kapstadt bis Kimberley und von Kimberley bis Port
-Elizabeth und East London haben die Städte eine zahlreiche Bevölkerung
-von zahmen Eingeborenen. Man hatte sie nicht nur gezähmt, sondern
-vermutlich auch christianisiert, denn sie trugen die abscheuliche
-Kleidung, wie sie bei unsern christlichen zivilisierten Völkern
-Sitte ist. Einige von ihnen hätten sich sonst durch hervorragende
-Schönheit ausgezeichnet. Die häßlichen Kleider, der ihnen eigene
-schleppende Gang, das sorglose Lachen und ihre gutmütigen Gesichter
-mit dem zufriedenen, glücklichen Ausdruck machten sie zu einem
-täuschenden Ebenbild unserer amerikanischen Schwarzen. Wo nun alles
-andere vollkommen harmonisch und durch und durch afrikanisch war,
-kam plötzlich ein Schwarm solcher Eingeborenen gegangen, die gar
-nicht dorthin paßten. Sie brachten einen Mißklang in die Stimmung, es
-entstand ein halb afrikanisches, halb amerikanisches Gemisch und der
-ganze Eindruck war verdorben.
-
-An einem Sonntag sah ich in King Williams Town wohl ein Dutzend
-farbige Weiber, die nach neuster Mode kostbar und auffallend in die
-widersprechendsten und grellsten Farben gekleidet waren. Sie kamen über
-den großen, leeren Platz geschritten und zeigten in Gang und Miene jene
-schmachtende Vornehmtuerei, jenes innige Wohlgefallen an ihrem Putz,
-das ich so genau kannte und das für mich stets eine wahre Augenweide
-ist. Mir war, als sei ich nach fünfzigjähriger Trennung wieder unter
-guten alten Freunden und ich blieb stehen, um sie herzlich zu begrüßen.
-Sie brachen in ein kameradschaftliches Lachen aus, ihre weißen Zähne
-blitzten mir entgegen; alle antworteten auf einmal, doch verstand ich
-kein Wort von dem was sie sagten. Das verwunderte mich höchlich; es war
-mir auch nicht im Traum eingefallen, daß sie eine andere Sprache reden
-könnten als Amerikanisch.
-
-Auch die weichen, wohlklingenden Stimmen der afrikanischen Frauen
-erinnerten mich an die Sklavinnen aus meiner Kinderzeit. Ich folgte
-einigen bis in den Oranje-Freistaat, das heißt, durch die ganze
-Hauptstadt Bloemfontein, nur um den Laut ihrer Stimme und ihr lustiges
-Lachen zu hören.
-
-Auf unsern Eisenbahnfahrten durch das Land hatte ich Gelegenheit
-viele Buren zu sehen, die auf dem einsamen Veld leben. Eines Tages
-stiegen in einem Dorf hundert zusammen aus der dritten Klasse, um sich
-auf der Station gütlich zu tun. Ihr Anzug interessierte mich. Etwas
-so Häßliches an Form und unharmonischer Zusammenstellung der Farben
-war mir noch nicht vorgekommen. Der Anblick regte mich in seiner Art
-fast ebenso auf, wie das Schauspiel, welches mir die geschmackvollen
-Trachten und schönen glänzenden Gewänder auf den indischen Stationen
-bereitet hatten. Ein Mann trug Beinkleider aus geripptem Baumwollzeug
-von dem abscheulichsten verschossenen Gelbbraun, das ich je gesehen
-habe, und sie waren obendrein neu, die Farbe war absichtlich
-gewählt, nicht durch irgend ein Mißgeschick entstanden. Ein langer,
-vierschrötiger Lümmel hatte einen zerknitterten grauen Schlapphut mit
-breiter Krempe auf dem Kopf, rosinfarbene Hosen und einen scheußlichen,
-nagelneuen Tuchrock, der mit seinen wellenförmigen, breiten gelben
-und braunen Streifen ein Tigerfell nachahmen sollte. Nach meiner
-Meinung verdiente der Mensch gehängt zu werden; als ich aber den
-Stationsvorsteher fragte, ob sich das nicht bewerkstelligen ließe,
-verneinte er es auf grobe Weise und mit ganz unnötiger Heftigkeit. Im
-Fortgehen murmelte er noch etwas in den Bart, das wie ›Esel‹ klang;
-auch lenkte er die öffentliche Aufmerksamkeit auf mich und man zeigte
-mit Fingern nach mir. Das hat man davon, wenn man versucht etwas Gutes
-zu tun, es ist der Lohn der Welt!
-
-An jenem Tage erzählte mir ein Mitreisender im Zuge noch allerlei von
-den Buren. Er sagte, daß sie früh aufstehen und ihre Schwarzen an die
-Arbeit treiben (sie müssen die Herden draußen auf der Weide hüten),
-dann setzen sie sich hin um zu essen, zu rauchen und zu schlafen; gegen
-Abend überwachen sie das Melken u. dgl., essen, rauchen und schlafen
-wieder, und gehen bei Dunkelwerden wieder zu Bett in den wohlriechenden
-Kleidern, die sie den ganzen Tag über und an jedem Werktag seit Jahren
-getragen haben. Auch von ihrer bekannten Gastfreiheit wußte er ein
-Beispiel zu berichten: Einmal machte ein hochwürdiger Bischof von Amts
-wegen eine Reise durch den Veld, wo es keine Gasthäuser gibt. Zur Nacht
-kehrte er bei einem Buren ein, und als das Abendessen vorüber war, wies
-man ihm sein Bett an. Er war müde und angegriffen von seinem Tagewerk,
-kleidete sich aus und lag bald in tiefem Schlaf. In der Nacht ward ihm
-so eng und beklommen zu Mute, daß er erwachte; da sah er den alten
-Buren und seine dicke Frau rechts und links von ihm im Bett liegen; sie
-hatten alle ihre Kleider anbehalten und schnarchten laut. Ihm blieb
-nichts übrig als sich still zu verhalten und sein Geschick zu ertragen;
-er quälte sich wachend bis zur Morgendämmerung, dann schlummerte er
-noch ein Stündchen ein. Als er die Augen wieder aufschlug, war der alte
-Bur fort, aber die Frau lag noch an seiner Seite.
-
-
-
-
-Dreiundzwanzigstes Kapitel.
-
- Es gibt keinen Breitegrad auf der ganzen Erdkugel, der sich
- nicht einbildet, daß er eigentlich von Rechts wegen der
- Aequator sein solle.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Unter den Naturerscheinungen von Südafrika interessierte mich --
-nächst Mr. Rhodes -- der Diamantkrater am meisten. Die Goldfelder im
-›Rand‹ sind von erstaunlicher Größe; keine Goldgrube der Welt kann
-sich neben ihnen blicken lassen, aber, wie gesagt, den Betrieb kannte
-ich schon. Auch der Veld macht einen gewaltigen Eindruck, doch ist er
-im Grunde nur eine edlere, schönere Abart unserer großen Prairie. Die
-Eingeborenen boten mir viel Anziehendes aber wenig Neues, und in den
-Städten fand ich mich meist von Anfang an ohne Führer zurecht, denn
-ich kannte die Straßen auswendig, da ich sie unter andern Namen in den
-Städten anderer Länder genau so gesehen hatte. Nur die Diamantgruben
-waren für mich eine vollständige Neuheit, die mich ganz und gar
-gefangen nahm. Es leben nur wenige Leute, die den Diamanten in seiner
-Heimat besucht haben. Gold findet man an zahlreichen Orten, aber
-der Diamant ist nur an drei oder vier Stellen in der Welt heimisch;
-es lohnt wohl der Mühe um den Erdball zu segeln, wenn man dafür die
-kostbarste und auserlesenste Seltenheit aus der Schatzkammer der Natur
-zu sehen bekommt.
-
-Die Diamantlager bei Kimberley wurden im Jahre 1869 entdeckt; in
-Anbetracht der besonderen Umstände muß man sich nur verwundern, daß die
-Afrikaner sie nicht schon seit fünftausend Jahren kennen und ausbeuten.
-Man fand die ersten Diamanten offen auf der Oberfläche liegen; sie
-waren glatt und durchsichtig und schienen Feuer zu speien, wenn die
-Sonne sie bestrahlte. Hätte man nicht meinen sollen, der Wilde würde
-sie jederzeit höher geschätzt haben als alles andere auf der Welt,
-mit Ausnahme von Glasperlen? -- Seit zwei oder drei Jahrhunderten
-haben wir ihm sein Land, sein Vieh, seinen Nachbar und alles was
-er sonst noch zu verkaufen hatte, für Glasperlen abgehandelt. Es
-ist daher höchst verwunderlich, daß er sich den Diamanten gegenüber
-so gleichgültig verhalten hat; denn er muß sie, ohne Zweifel,
-unzähligemale aufgelesen haben. Daß die Afrikaner nicht versuchten
-sie an die Weißen zu verkaufen, ist sehr natürlich, denn die Weißen
-besaßen ja schon Glasperlen von viel gefälligerer Form in Hülle und
-Fülle. Aber die ärmeren Schwarzen, deren Mittel ihnen nicht erlaubten
-sich mit wirklichem Glas zu schmücken, hätten sich doch damit begnügen
-können die glitzernden Dinger zu tragen; sie wären dem weißen Händler
-aufgefallen, er hätte eine Probe mit nach Hause genommen und nachdem
-ihre Natur erkannt worden war, würden die Glücksjäger scharenweise nach
-Afrika geströmt sein. Die Weltgeschichte ist manchmal recht sonderbar,
-eines ihrer seltsamsten Vorkommnisse ist aber ohne Frage, daß man die
-Diamanten Jahrhunderte lang auf der Erde funkeln ließ, ohne daß sich
-irgend ein Mensch darum kümmerte.
-
-Durch einen Zufall wurde die Wahrheit endlich offenbar: In einer
-Burenhütte auf der weiten, einsamen Ebene bemerkte ein fremder
-Reisender, daß ein Kind mit einem glänzenden Gegenstand spielte. Man
-sagte ihm, es sei ein Glasstückchen, das auf dem Veld gefunden worden
-wäre. Er kaufte es für eine Kleinigkeit, nahm es mit, und da er kein
-ehrlicher Mann war, machte er einem anderen Fremdling weiß, es sei ein
-Diamant. Er ließ sich 125 Dollars dafür bezahlen und war so vergnügt
-über den ungerechten Handel, als ob er ein gutes Werk getan hätte. In
-Paris verkaufte der betrogene Fremde das vermeintliche Glasstück für
-10000 Dollars an einen Pfandverleiher; dieser ließ sich dafür von einer
-Gräfin 90000 Dollars zahlen; die Gräfin verkaufte es einem Bierbrauer
-für 800000 Dollars, der Bierbrauer ließ sich dafür vom König ein
-Herzogtum und einen Stammbaum verleihen und der König verpfändete den
-Diamanten. So hat sich die Sache in Wirklichkeit zugetragen.
-
-Die Kunde von der großen Entdeckung verbreitete sich mit
-Blitzesschnelle und das südafrikanische Diamantenfieber brach aus.
-Jener erste Reisende, der so unehrlich war, erinnerte sich auf einmal,
-daß er gesehen hatte, wie ein Fuhrmann auf steilem Wege sein Wagenrad
-mit einem Diamanten gehemmt hatte, der so groß war wie ein Kinderkopf.
-Sofort gab er alle andern Geschäfte auf und zog aus, um jenen Diamanten
-zu suchen. Dabei hatte er jedoch keineswegs die Absicht, irgend jemand
-wieder um 125 Dollars zu betrügen, denn er war unterdessen in sich
-gegangen.
-
-Wir wollen die Sache nun von ihrer lehrreichen Seite betrachten:
-Die Diamanten liegen nicht in fünfzig Meilen langen Felsschichten
-eingebettet, wie das Johannesburger Gold, sondern sie verteilen sich in
-den Schuttmassen, welche, wenn man so sagen will, den Schacht eines
-scharf abgegrenzten Brunnens ausfüllen; außerhalb der Brunnenwände
-finden sich keine Diamanten. Dieser Schacht ist nichts anderes als ein
-großer Krater, dessen Oberfläche mit Gras überwachsen ist und sich auf
-keine Weise von der Ebene ringsumher unterscheidet. Das Weideland über
-dem Diamantenkrater von Kimberley war groß genug, um einer Kuh Nahrung
-zu geben, und von der Weide, die im Innern verborgen war, hätte sich
-ein Königreich satt essen können. Aber die Kuh wußte nichts davon und
-verscherzte ihr Glück.
-
-Der Kimberley-Krater hat einen solchen Umfang, daß das römische
-Kolosseum Platz darin fände; wie weit sich die Einsenkung in die
-Tiefe erstreckt, weiß niemand, denn man ist noch nicht bis zum Boden
-des Kraters gekommen. Ursprünglich war das ganze senkrechte Loch mit
-einer festen, bläulichen Masse von vulkanischem Tuffstein angefüllt,
-in welcher sich die Diamanten verteilen gleich den Rosinen in einem
-Pudding. So tief wie sich das blaue Gestein in das Erdinnere erstreckt,
-wird man auch Diamanten darin finden.
-
-In der Nähe gibt es noch drei oder vier berühmte Krater, alle in
-einem Umkreis von kaum drei Meilen Durchmesser. Sie gehören der De
-Beers-Gesellschaft, die vor zwölf oder vierzehn Jahren von Mr. Rhodes
-gegründet wurde. Auch noch andere Krater, die zur Zeit das Gras
-bedeckt, sind Eigentum der De Beers, welche genau wissen, wo sie liegen
-und sie eines schönen Tages öffnen werden, wenn die Gelegenheit günstig
-ist.
-
-Anfänglich waren die Diamantenlager im Besitz des Oranje-Freistaats;
-aber durch eine wohlüberlegte ›Berichtigung‹ der Grenzlinie wurden
-sie der Kapkolonie einverleibt und kamen unter britische Herrschaft.
-Ein hoher Beamter des Freistaats sagte mir, man habe der Republik
-400000 Dollars Entschädigung, Schmerzensgeld, oder wie man es nennen
-will, ausgezahlt, und nach seiner Meinung hätte die Regierung klug
-daran getan, die Summe anzunehmen und jeden Streit zu vermeiden, da
-alle Macht auf der einen und alle Schwäche auf der anderen Seite war.
-Jetzt gräbt die De Beers-Gesellschaft wöchentlich Diamanten im Wert von
-400000 Dollars aus. Das Kapland hat zwar den Grund und Boden erhalten,
-aber nicht den Gewinn, denn die Gruben sind, wie gesagt, Eigentum von
-Mr. Rhodes, den Rothschilds und anderen De Beers-Leuten, die keine
-Abgaben bezahlen.
-
-Heutzutage stehen die Gruben unter Leitung der fähigsten
-amerikanischen Grubeningenieure und werden nach wissenschaftlichen
-Grundsätzen ausgebeutet. Großartige Maschinen sind in Tätigkeit,
-um das blaue Gestein zu zerkleinern, aufzuweichen und solange zu
-bearbeiten, bis jeder Diamant, den es enthält, aufgefunden und in
-Sicherheit gebracht worden ist. Ich sah den ›Konzentratoren‹ bei ihrer
-Arbeit zu; sie standen vor großen Behältern voll Schlamm, Wasser
-und unsichtbaren Diamanten, und man sagte mir, daß ein Mann täglich
-dreihundert Wagenladungen aufgeweichtes Gestein -- zu 1600 Pfund die
-Ladung -- durchrühren, auspumpen, zubereiten und in drei Wagenladungen
-Schlamm umwandeln könne. Man brachte in meinem Beisein die drei
-Wagenladungen Schlamm auf die Siebsetzmaschine, welche sie auf eine
-Viertelladung reinen, dunkelfarbigen Sandes reduzierte. Dann ging es
-zu den Sortier-Tischen, wo ich sah, wie die Arbeiter den Sand rasch
-und geschickt ausbreiteten, ihn hin- und herfegten und jeden Diamanten
-herausnahmen, den sie aufblitzen sahen. Ich beteiligte mich eine
-Weile daran und fand einen Diamanten, der halb so groß war wie eine
-Mandel. Dies Fischen ist sehr aufregend; mich durchbebte jedesmal
-ein Freudenschauer, wenn ich einen der funkelnden Steine aus dem
-dunkeln Sand hervorglänzen sah. Könnte ich mir doch dann und wann zum
-Festtagsspaß diesen Zeitvertreib machen!
-
-Natürlich fehlt es dabei auch nicht an Enttäuschungen. Zuweilen findet
-man einen Diamanten, der keiner ist, sondern nur ein Stück Bergkrystall
-oder ein ähnlich wertloses Ding. Der Sachverständige unterscheidet es
-meist von dem Edelstein, den es nachäffen will. Im Zweifelfall legt er
-es auf eine Eisenplatte und schlägt mit dem Schmiedehammer darauf. Ist
-es ein Diamant, so bleibt es heil und ganz, alles andere wird zu Pulver
-zermalmt. Diese Probe gefiel mir so sehr, daß ich immer wieder mit
-Vergnügen zusah, wie oft sie auch vorgenommen wurde. Man setzt dabei
-nichts aufs Spiel, und die Spannung ist ein großer Genuß.
-
-Die De Beers-Gesellschaft läßt täglich 8000 Wagenladungen -- etwa 6000
-Tonnen -- blaues Gestein verarbeiten und gewinnt daraus drei Pfund
-Diamanten, die in rohem Zustand einen Wert von 50000 bis 70000 Dollars
-haben. Nachdem sie geschliffen sind, wiegen sie weniger als ein Pfund,
-ihr Wert ist aber vier- bis fünfmal größer als vorher.
-
-Die ganze Ebene in jener Gegend ist einen Fuß hoch mit dem blauen
-Gestein bedeckt, so daß sie aussieht wie ein gepflügtes Feld. Die
-Gesellschaft läßt die Stücke ausbreiten, um sie längere Zeit der Luft
-auszusetzen, weil sie dann leichter zu bearbeiten sind, als wenn sie
-unmittelbar aus der Grube kommen. Würde der Betrieb jetzt eingestellt,
-so könnte man von dem Gestein, das dort auf dem Felde liegt, noch drei
-Jahre lang täglich 8000 Wagenladungen nach den Sortierwerken bringen.
-Die Felder sind eingezäunt, sie werden bewacht und nachts durch hohe
-elektrische Scheinwerfer beleuchtet, was sehr zweckmäßig ist, da dort
-Diamanten im Wert von fünfzig bis sechzig Millionen Dollars liegen und
-an unternehmungslustigen Dieben kein Mangel herrscht.
-
-Auch im Schmutz der Straßen von Kimberley sind Reichtümer verborgen.
-Vor einiger Zeit erteilte man den Bewohnern unbeschränkte Erlaubnis sie
-aufzuwaschen. Von allen Seiten strömten Leute herbei, die Arbeit wurde
-sehr gründlich verrichtet und eine reichliche Diamanternte gehalten.
-
-Die Grubenarbeiter sind Eingeborene, die zu vielen Hunderten in Hütten
-wohnen, welche innerhalb eines großen, umzäunten Hofes stehen. Es
-ist ein lustiges, gutmütiges Volk und sehr gefällig; der Kriegstanz,
-den sie vor uns aufführten, war das wildeste Schauspiel, das ich je
-gesehen habe. Während ihrer Dienstzeit, welche, wenn ich nicht irre, in
-der Regel drei Monate dauert, dürfen sie den Hof nicht verlassen. Sie
-steigen in den Schacht hinunter, tun ihre Arbeit, kommen wieder herauf,
-werden durchsucht und gehen zu Bett oder machen sich irgendwo eine
-Kurzweil auf dem Hofe. Das ist ihr Lebenslauf, tagaus, tagein.
-
-Man glaubt, daß es ihnen jetzt nur selten gelingt, Diamanten zu
-stehlen. Früher verschluckten sie dieselben oder erfanden andere
-Methoden sie zu verbergen. Aber der Weiße läßt sich jetzt schwer
-überlisten. Ein Mann schnitt sich sogar ins Bein und versteckte einen
-Diamanten in der Wunde, doch selbst dieser Kunstgriff schlug fehl. Wenn
-die Leute einen schönen, großen Diamanten finden, liefern sie ihn im
-allgemeinen lieber ab, statt ihn zu stehlen. Im erstern Falle erhalten
-sie eine Belohnung, im letzteren kommen sie höchstwahrscheinlich
-in Ungelegenheiten. Vor einigen Jahren fand ein Schwarzer in einer
-Grube, die nicht den De Beers gehörte, den Diamanten, von welchem man
-sagt, er sei der größte, den die Welt je gesehen habe. Zum Lohn dafür
-wurde er vom Dienst befreit, erhielt eine wollene Decke, ein Pferd
-und 500 Dollars. Das machte ihn zu einem Krösus; er konnte sich vier
-Weiber kaufen und behielt noch Geld übrig. Ein Eingeborener, der vier
-Weiber hat, braucht nicht mehr für seinen Unterhalt zu sorgen und keine
-Hand zur Arbeit zu rühren, er ist ein vollkommen unabhängiger Mensch.
-
-Jener Riesen-Diamant wiegt 971 Karat. Er soll so groß sein, wie ein
-Stück Alaun oder wie ein Mundvoll Zuckerkant, manche behaupten sogar,
-wie ein Klumpen Eis. Aber diese Angaben schienen mir unwichtig und
-obendrein unzuverlässig. Der Diamant hat einen Fehler im Innern,
-sonst würde er von völlig unerschwinglichem Werte sein. So wie er
-ist, schätzt man ihn auf 2000000 Dollars, folglich müßte er nach dem
-Schleifen 5000000 bis 8000000 Dollars kosten; wer den Diamanten jetzt
-kauft, kann also viel Geld ersparen. Er ist Eigentum eines Syndikats
-und hat bisher keinen zahlungsfähigen Käufer gefunden, so ist er denn
-ein totes Kapital, bringt nichts ein und hat, außer dem glücklichen
-Finder, noch niemand reich gemacht.
-
-Der Eingeborene fand ihn in einer Grube, welche im Kontrakt bearbeitet
-wurde. Das heißt, eine Gesellschaft hatte sich für eine bestimmte Summe
-und eine Abgabe vom Ertrag das Vorrecht erkauft, 5000000 Wagenladungen
-blaues Gestein aus der Grube zu holen. Bei der Spekulation war kein
-Gewinn erzielt worden; doch gerade am Tage, ehe der Kontrakt ablief,
-kam der Schwarze mit dem Diamanten angegangen. Auch die Diamantenfelder
-sind nicht arm an überraschenden Episoden, wie man sieht.
-
-Zwar wird der bekannte Koh-i-Noor mit Recht wegen seiner Größe und
-Kostbarkeit gepriesen, doch kann er sich nicht mit drei andern
-Diamanten messen, die zu den Kronjuwelen von Portugal und Rußland
-gehören sollen, und von denen einer den Wert von 20000000 Dollars hat,
-während der zweite auf 25000000 Dollars geschätzt wird und der dritte
-auf 28000000 Dollars.
-
-Das sind in der Tat wunderbare Diamanten -- mögen sie der Sage
-angehören oder der Wirklichkeit -- aber der Edelstein, mit welchem
-jener Fuhrmann, von dem ich oben sprach, auf dem steilen Weg seinen
-Wagen gehemmt hat, war doch noch viel größer. In Kimberley traf ich mit
-dem Manne zusammen, der vor achtundzwanzig Jahren selbst mit angesehen
-hatte, wie der Bur den Diamanten unter das Wagenrad schob. Als er
-mir versicherte, der Stein sei eine Billion Dollars wert, wenn nicht
-darüber, glaubte ich es ihm aufs Wort. Der Mann hat siebenundzwanzig
-Jahre seines Lebens darauf verwendet nach dem Diamanten zu suchen und
-wird wohl seiner Sache gewiß sein.
-
-Wer sich das langwierige, mühevolle und kostspielige Verfahren
-angesehen hat, durch welches die Diamanten aus der Tiefe der Erde
-ans Licht gefördert und von den Schlacken befreit werden, die sie
-einschließen, der sollte zum Schluß nicht verfehlen, dem Bureau
-der De Beers in Kimberley einen Besuch abzustatten, wo täglich der
-Ertrag der Gruben abgeliefert, gewogen, sortiert, geschätzt und bis
-zum Einschiffen in eisernen Schränken verwahrt wird. Ohne besondere
-Empfehlungen erhält niemand Einlaß an diesem Ort, und aus den
-zahlreichen Warnungstafeln und Schutzvorrichtungen, die allenthalben
-angebracht sind, können selbst bekannte und gutempfohlene Personen
-leicht ersehen, daß sie keine Diamanten stehlen dürfen, wenn sie sich
-nicht Unannehmlichkeiten aussetzen wollen.
-
-Wir sahen die Ausbeute jenes Tages in glänzenden kleinen Häufchen auf
-weißen Papierbogen liegen. Zwischen den einzelnen Diamanthäufchen
-war auf dem Tisch immer ein Fußbreit Raum gelassen. Der Tagesertrag
-stellte einen Wert von 70000 Dollars dar. Im Lauf eines Jahres kommen
-dort auf die Wage etwa eine halbe Tonne Diamanten, welche achtzehn
-bis zwanzig Millionen Dollars einbringen; der Profit beträgt ungefähr
-12000000 Dollars.
-
-Das Sortieren wird von jungen Mädchen besorgt; es ist eine hübsche,
-reinliche, nette, aber vermutlich recht qualvolle Arbeit. Täglich
-lassen die Mädchen reiche Schätze auf der Hand funkeln und durch die
-Finger gleiten und gehen doch abends so arm zu Bette, wie sie morgens
-aufgestanden sind, und das einen Tag wie alle Tage.
-
-Auch in ihrem Urzustand sind die Diamanten wunderhübsch anzusehen;
-sie haben verschiedene Formen, eine glatte Oberfläche und abgerundete
-Ränder, niemals scharfe Ecken. Es gibt Diamanten in allen Farben und
-Schattierungen, vom klarsten Weiß des Tautropfens bis zum wirklichen
-Schwarz; die meisten sind hell und strohfarben. Wenn sie so glatt
-und rund, so durchsichtig und schillernd daliegen, meint man einen
-Haufen Fruchtbonbons zu sehen. Mir schien, als müßten diese rohen
-Edelsteine weit schöner sein als geschliffene. Erst als eine Sammlung
-geschliffener Diamanten hereingebracht wurde, erkannte ich meinen
-Irrtum. Einem Rosen-Diamanten mit natürlichem Farbenspiel läßt sich
-an Schönheit nichts vergleichen, außer ein Ding, das ganz und gar
-nicht kostbar ist und ihm doch täuschend ähnlich sieht. Das ist vom
-Sonnenlicht durchglühtes Meerwasser, dessen Wellen den weißen Ufersand
-bespülen.
-
- * * * * *
-
-Noch vor Mitte Juli kamen wir nach Kapstadt, dem Endpunkt unserer
-Reise in Afrika. Nun waren wir ganz befriedigt, denn als wir den hohen
-Tafelberg über uns thronen sahen, wußten wir, daß wir alle großen
-südafrikanischen Sehenswürdigkeiten in Augenschein genommen hatten,
-außer Cecil Rhodes. -- Ich weiß wohl, das ist keine unbedeutende
-Ausnahme. Denn mag nun Mr. Rhodes der erhabene und verehrungswürdige
-Patriot und Staatsmann sein, für welchen ihn viele halten, oder der
-Teufel in Menschengestalt, für den ihn die übrige Welt ansieht,
-jedenfalls ist er die imposanteste Persönlichkeit im britischen Reich,
-außerhalb Englands: Wenn er auf dem Kap der Guten Hoffnung steht,
-fällt sein Schatten bis zum Zambesi. Er ist der einzige Kolonist in
-den britischen Besitzungen, dessen Kommen und Gehen allerwärts auf der
-Erde besprochen und verzeichnet wird, dessen Reden das Kabel unverkürzt
-nach allen Enden der Welt entsendet und der einzige Ausländer von nicht
-königlichem Geblüt, dessen Ankunft in London ebenso viel Aufsehen
-macht, wie eine Sonnenfinsternis.
-
-Daß er kein Findelkind des Glückes, sondern ein außerordentlicher
-Mensch ist, leugnen auch seine liebsten südafrikanischen Feinde nicht,
-soweit mir ihr Zeugnis bekannt ist. Die ganze Welt Südafrikas -- Freund
-wie Feind -- sieht mit ehrfurchtsvollem Schauer zu ihm empor. Dem einen
-Teil erscheint er als Bote Gottes, dem andern als ein Abgesandter
-des Satans; das Volk ist sein Eigentum, mit einem Hauch kann er es
-beglücken oder ins Verderben stürzen; viele beten ihn an, viele
-verabscheuen ihn, aber kein kluger Mann wagt ihm zu fluchen, und selbst
-die Unvorsichtigen tun es nur in leisem Flüsterton.
-
-Was verschafft ihm aber diese gefürchtete Oberhoheit? Ist es sein
-ungeheuerer Reichtum, von dessen Fettöpfen für eine Menge Menschen Lohn
-und Unterhalt herabträufeln, was sie zu einem willfährigen Untergebenen
-macht? Ist es seine persönliche Anziehungskraft und Ueberredungskunst,
-mit der er alles hypnotisiert, was in den Bannkreis seines Einflusses
-gerät? Sind es seine majestätischen Gedanken und Riesenpläne für
-die Machterweiterung des britischen Reiches, sein patriotischer und
-selbstloser Ehrgeiz? Will er den segensreichen Schutz und die gerechte
-Herrschaft Englands über die weiten Länder des heidnischen Afrikas
-ausbreiten, damit der dunkle Erdteil vom Ruhme des britischen Namens
-wiederstrahlt? Oder beansprucht er die Erde als sein Eigentum und
-halten seine Freunde so standhaft an ihm fest, weil sie glauben, er
-wird sie bekommen und auch ihnen etwas abgeben? -- Was auch immer des
-Rätsels Lösung ist, das Endresultat bleibt dasselbe.
-
-Jedenfalls steht die Tatsache fest, daß Rhodes tun kann was er will,
-ohne seine Herrschaft und seinen ungeheuern Anhang zu verlieren. Der
-Herzog von Fife sagt selbst, ›er habe ihn betrogen‹, doch läßt sich
-der Herzog in seiner Ergebenheit dadurch nicht irre machen. Rhodes
-bringt die Reformpartei durch seinen Einfall in Transvaal in große
-Not, aber die meisten glauben, er habe es gut gemeint. Er beklagt
-die schwerbesteuerten Johannesburger und macht sie sich zu Freunden;
-gleichzeitig verlangt er von seinen Ansiedlern in Rhodesia fünfzig
-Prozent und sichert sich dadurch ihr Vertrauen und ihre Zuneigung in
-solchem Maße, daß sie in Verzweiflung geraten, sobald sich nur das
-Gerücht verbreitet, die Chartered Company solle aufgelöst werden.
-Er fällt ins Land der Matabele ein, die er beraubt, erschlägt, und
-sich dienstbar macht; dafür wird er von allen Charter-Christen mit
-Lobsprüchen überhäuft. Er hat die Briten verführt, tonnenweise
-wertlose Charter-Papiere für Noten der Bank von England zu kaufen,
-und doch streuen ihm die Beraubten Weihrauch, als dem Gott künftigen
-Ueberflusses. Er hat alles getan, was sich irgend tun ließ, um seinen
-Sturz vorzubereiten; ein Dutzend großer Männer wären an seiner Stelle
-sicherlich zu Fall gekommen. Er aber steht bis zum heutigen Tage auf
-seiner schwindelnden Höhe unter dem Himmelsdom, als ein Wunder seiner
-Zeit, als das Geheimnis des Jahrhunderts; die eine Hälfte der Welt
-hält ihn für einen geflügelten Erzengel und die andere für einen
-geschwänzten Teufel.
-
-Ich bewundere ihn sehr, das gestehe ich ganz offen, und wenn seine Zeit
-kommt, will ich mir ein Ende von seinem hanfenen Strick zum Andenken
-kaufen.
-
-
-
-
-Vierundzwanzigstes Kapitel.
-
- Ich bin mehr gereist als irgend ein Mensch und habe die
- Entdeckung gemacht, daß selbst die Engel kein reines
- Englisch sprechen.
-
- _Querkopf Wilsons Kalender._
-
-
-Den majestätischen Tafelberg habe ich jedenfalls gesehen. Er ist 3000
-Fuß hoch; hat aber auch eine Höhe von 17000 Fuß. Man kann sich auf
-diese Zahlen verlassen, denn ich weiß sie aus dem Munde der zwei
-Bürger von Kapstadt, welche am besten darüber unterrichtet sind,
-weil sie sich das Studium des Tafelbergs zum Lebensberuf gemacht
-haben. Die Tafelbai wird so genannt, weil sie ganz eben ist. Das
-Schloß des kommandierenden Generals ist vor dreihundert Jahren von
-der Holländisch-Ostindischen Kompagnie erbaut worden. Auch die St.
-Simons-Bai habe ich gesehen, wo der Admiral wohnt, ferner war ich
-im Gouvernements-Haus und im Parlament, wo sich die Abgeordneten in
-zwei Sprachen stritten und sich in keiner verständigten. Ich besuchte
-den Klub und fuhr auf den schönen, gewundenen Straßen, die sich am
-Meeresufer und an den Bergen entlang ziehen, durch das Paradies, wo die
-Villen liegen. Auch in den hübschen alten holländischen Wohnhäusern aus
-früherer Zeit, die noch jetzt so behaglich sind, verweilte ich als Gast.
-
- * * * * *
-
-Am 15. Juli traten wir in dem ›Norman‹, einem prächtigen, trefflich
-ausgestatteten Schiff, die Rückfahrt nach England an, die kaum vierzehn
-Tage währte, und bei der wir uns nur in Madeira aufhielten. Eine solche
-Reise ist wie zum Ausruhen geschaffen für müde Leute, und deren hatten
-wir viele an Bord. Mir war zu Mute, als hätte ich statt ein Jahr lang,
-Jahrhunderte lang Vorlesungen gehalten, und die meisten Johannesburger
-auf unserm Schiff waren noch sehr angegriffen von ihrer fünfmonatlichen
-Einkerkerung im Gefängnis zu Prätoria.
-
-Unsere Reise um die Erde endigte am Landungsplatz von Southampton,
-wo sie vor dreizehn Monaten begonnen hatte. Eine Weltumsegelung in
-so kurzer Zeit schien mir eine schöne und große Tat, auf die ich mir
-heimlich nicht wenig einbildete. Aber nur einen Augenblick. Dann
-kam ein astronomischer Bericht von der Sternwarte und verdarb mir
-die ganze Freude: In der fernsten Ferne des Himmelsraumes war erst
-kürzlich ein neuer großer Weltkörper aufgetaucht, dessen Licht mit
-solcher Schnelligkeit reiste, daß es in ¹/₇ Sekunde die ganze Strecke
-durchmessen könnte, die ich zurückgelegt hatte. -- Des Menschen Stolz
-verlohnt sich nicht der Mühe; immer lauert etwas im Hinterhalt, das ihn
-zu Falle bringt.
-
-[Illustration]
-
-
-
-
- Die folgenden Ankündigungen des Verlags
- werden gefl. Beachtung empfohlen.
-
-
-
-
-Verlag von =Robert Lutz= in =Stuttgart=.
-
-
- =Bismarck-Anekdoten.= Heitere Szenen, Scherze und Charakterzüge
- aus dem Leben des ersten deutschen Reichskanzlers.
- Bearbeitet von =Fr. Schmidt-Hennigker=. 4. vermehrte Aufl.
- 239 S. Preis geh. M. 2.50 eleg. i. L. geb. M. 3.50.
-
-Das Buch enthält eine Fülle von Anekdoten, angefangen mit Bismarcks
-frühester Jugend und fortgeführt bis an seinen Lebensabend, und fesselt
-den Leser von Anfang bis zu Ende. Der Charakter des großen Deutschen
-Bismarck kann dem Leser nicht besser offenbart oder näher gerückt
-werden als durch diese zahlreichen kleinen Züge.
-
-
- =Humor Friedrichs des Großen.= Anekdoten, heitere Szenen und
- charakteristische Züge aus dem Leben König Friedrichs II.
- Bearb. von =Fr. Schmidt-Hennigker=. 5. vermehrte Aufl.
- 192 S. Preis geh. M. 2.--, eleg. i. L. geb. M. 3.--.
-
-
- =Marokkanische Geschichten= v. =A. J. Dawson=. Autoris.
- Uebersetzung von =Hans Lindner=. 2 Bände ~à~ M. 2.50
- brosch., M. 3.50 eleg. geb. -- Jeder Band einzeln käuflich.
-
-Das =Berliner Tageblatt= schreibt: »Diese Geschichten tragen den
-Stempel der Wahrheit und die echte maurische Farbe. Man liest da von
-schrecklichen Kerkern, von barbarischen Zuständen, kulturfeindlichen
-Sitten, seltsamen Menschenschicksalen, von fanatischen Anschauungen,
-und innerhalb dieser Bücher tauchen stolze Rassefiguren auf, verwegene
-Scheikhs, opfermutige Mädchen mit glutvollen Augen und hingebender
-Liebe, heißblütige Haremsdamen und fanatische Muselmänner. Alles,
-was diesem halbzivilisierten Volke seine Physiognomie gibt, bildet
-in diesem Buche die Steine zu einem charakteristischen Kulturbilde
-im farbenprächtigen Rahmen einer vom Sonnenlicht umflossenen
-Orientlandschaft.«
-
-
-Bret Harte’s
-
-Ausgewählte Erzählungen.
-
-In 4 Oktavbänden ~à~ M. 2.-- brosch., M. 3.-- eleg. geb.
-
-Jeder Band einzeln käuflich.
-
-=Inhalt=: Bd. I. =Drei Teilhaber.= Roman. -- Bd. II. =Jack Hamlin als
-Vermittler= u. a. Erz. -- Bd. III. =Das jüngste Fräulein Piper= u.
-a. Erz. -- Bd. IV. =Das Licht im Felsenkessel= nebst einigen kleinen
-Geschichten.
-
-Bret Harte ist neben Mark Twain in Europa der beliebteste und
-gelesenste Schriftsteller Amerikas. Er ist unerschöpflich in der
-Kunst, dem fernen Westen Amerikas eigentümliche Charakterfiguren und
-originelle Handlungen zu schaffen. Die Sammlung bringt eine Auswahl
-seiner besten Erzählungen der neueren Zeit und zumeist solche, die =zum
-erstenmale in deutscher Sprache= erscheinen. Bd. 3 und 4 befinden sich
-in Vorbereitung.
-
-
-=Trilby.= Roman von =G. du Maurier=.
-
-Deutsche Ausgabe. =11. Aufl.= Brosch. M. 4.50 geb. m. G. M. 5.50.
-
-Der Roman ist von internationaler Berühmtheit und hat namentlich auch
-in Deutschland einen großen Leserkreis gefunden. Der Reiz des Buches
-liegt nicht in dem Hypnotismus, der darin eine gewisse Bedeutung
-erlangt, sondern in der Herzlichkeit und Gemütlichkeit der Erzählung,
-die das menschliche Interesse in hohem Grade fesselt. Wir lachen und
-weinen in einer Gesellschaft interessanter und meist liebenswürdiger
-Menschen, welche sich um die Gestalt der seelenvollen Trilby
-gruppieren.
-
-
-Bekenntnisse eines Arztes.
-
-Von =W. Weressájew=.
-
-Einzige vom Verfasser genehmigte Uebersetzung von =Heinr. Johannson=.
-
-286 Seiten, nebst Porträt des Verfassers.
-
-=Preis geh. M. 2.--, in Leinwand geb. M. 3.--=,
-
--- 3. Auflage. (6. u. 7. Tausend.) --
-
-Peter Rosegger schreibt:
-
-»=Wieder einmal ein Buch, das in der ganzen zivilisierten Welt Aufsehen
-macht. Und mit Recht, es ist eines der ernstesten, redlichsten
-und nützlichsten Werke, die je geschrieben wurden.= Der Verfasser
-erzählt mit erschütterndem Freimut seine Erfahrungen als Arzt, seine
-Enttäuschungen, seine Mißerfolge, seine Verzweiflung an der Medizin
-und -- seine Hoffnung auf sie. Seitdem ich dieses Buch las, steht
-der ärztliche Beruf in meinen Augen größer da. Weressájew, der junge
-russische Arzt, gesteht ein, wie unendlich gering sein Können ist
-trotz unermüdlicher Studien und Forschungen, wie wenigen er geholfen,
-wie viele er durch sein Irren geschädigt, getötet hat! Und doch
-möchte ich gerade diesen Weressájew zu meinem Arzt wählen. Wenn alle
-Aerzte so wären wie der Verfasser dieses Buches, so gewissenhaft und
-so aufrichtig, dann würde der ärztliche Stand bei allen vernünftigen
-Leuten höher dastehen als jetzt.
-
-Der Verfasser der »Bekenntnisse eines Arztes« ist -- das sieht man auf
-jeder Seite -- =ein ganzer, ein guter und treuer Mensch. Aber er ist
-auch ein großer Schriftsteller. Sein Buch ist glänzend geschrieben.= Es
-hat in kurzer Zeit ungeheure Verbreitung erlangt, die es verdient.«
-
-
-Sherlock Holmes-Serie
-
-Gesammelte Detektivgeschichten
-
-von
-
-Conan Doyle
-
-Illustriert von Rich. Gutschmidt und anderen.
-
-=Vollständig in 6 Bänden= (ca. 1800 Seiten).
-
-=Preis brosch. M. 12.--, in Lwd. geb. M. 18.--= bei Bezug auf einmal;
-der einzelne Band kostet brosch. M. 2.25, in Lwd. geb. M. 3.25.
-
-Die Ausgabe bringt folgende Werke:
-
- I. Späte Rache.
-
- II. Das Zeichen der Vier.
-
- III. Der Bund der Rothaarigen u. A.
-
- IV. Das getupfte Band u. A.
-
- V. Fünf Apfelsinenkerne u. A.
-
- VI. Der Hund von Baskerville.
-
-_Jeder Leser_, auch der gebildetste und anspruchsvollste, wird an
-diesen _ausserordentlich fesselnden Geschichten_ grossen Gefallen
-finden und den scharfsinnigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen
-Sherlock Holmes’ seine Bewunderung zollen. Wer einmal eine dieser
-spannenden Erzählungen gelesen hat, der kann es sich nicht versagen,
-auch die andern kennen zu lernen.
-
-
-
-
-Mark Twains
-
-Ausgew. humoristische Schriften.
-
-
-Inhalt:
-
- Bd. I. =Tom Sawyers Streiche und Abenteuer.=
-
- Bd. II. =Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn.=
-
- Bd. III. =Skizzenbuch.=
-
- Bd. IV. { =Leben auf dem Mississippi.=
- { =Nach dem fernen Westen.=
-
- Bd. V. =Im Gold- und Silberland.=
-
- Bd. VI. =Reisebilder u. verschiedene Skizzen.=
-
-Preis des einzelnen Bandes M. 2.50 gebunden.
-
-Preis aller 6 Bände, zusammen bezogen, M. 13.50 gebunden.
-
-
-Neue Folge:
-
- Bd. I. =Tom Sawyers _Neue_ Abenteuer.=
-
- Bd. II. =Querkopf Wilson.=
-
- Bd. III./IV. =Meine Reise um die Welt.= 2 Abt.
-
- Bd. V. =Adams Tagebuch= u. a. Erzähl.
-
- Bd. VI. =Wie Hadleyburg verderbt wurde= u. a. Erzähl.
-
-Preis des _einzelnen_ Bandes M. 3.-- gebunden.
-
-Preis _aller_ 6 Bände, zusammen bezogen, M. 17.-- gebunden.
-
-
-
-
- Weitere Anmerkungen zur Transkription
-
-
- Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
- Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
-
- Korrekturen:
-
- S. 165: Janesch → Ganesch
- Eingang steht ein Bildnis von {Ganesch}
-
- S. 311: konnte → kannte
- denn ich {kannte} die Straßen auswendig
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEINE REISE UM DIE WELT. ZWEITE
-ABTEILUNG ***
-
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- Meine Reise um die Welt &ndash; Zweite Abteilung, by Mark Twain&mdash;A Project Gutenberg eBook
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-
-<div style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of Meine Reise um die Welt. Zweite Abteilung, by Mark Twain</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
-at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you
-are not located in the United States, you will have to check the laws of the
-country where you are located before using this eBook.
-</div>
-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: Meine Reise um die Welt. Zweite Abteilung</p>
-
-<div style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Mark Twain</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>Release Date: November 5, 2021 [eBook #66673]</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>Language: German</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>Character set encoding: UTF-8</div>
-
-<div style='display:block; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Produced by: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net</div>
-
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEINE REISE UM DIE WELT. ZWEITE ABTEILUNG ***</div>
-
-<div class="transnote">
-<p class="h2">Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Das Original ist in Fraktur gesetzt.
-Im Original gesperrter Text ist <em class="gesperrt">so ausgezeichnet</em>.
-Im Original in Antiqua gesetzter Text ist <em class="antiqua">so markiert</em>.
-</p>
-<p>Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich
-am <a href="#tnextra">Ende des Buches</a>.</p>
-</div>
-
-<div class="figcenter" id="cover">
- <img class="w80" src="images/cover.jpg" alt="Cover" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p class="center">Mark Twains</p>
-
-<p class="center larger">Humoristische Schriften</p>
-
-<p class="center">Neue Folge. 4. Band
-</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<h1><span class="smaller">Meine</span><br />
-Reise um die Welt</h1>
-
-<p class="center">Von</p>
-
-<p class="h2">Mark Twain</p>
-
-<p class="center smaller">Autorisiert</p>
-
-<p class="center">Zweite Abteilung</p>
-
-<p class="center smaller">Inhalt:<br />
-Indien. &ndash; Südafrika.</p>
-
-<div class="figcenter" id="signet">
- <img class="w15" src="images/signet.jpg" alt="Signet" />
-</div>
-
-<p class="center">Stuttgart<br />
-Verlag von Robert Lutz<br />
-1903.
-</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p class="center">Alle Rechte vorbehalten.</p>
-
-<p class="center p2 smaller">Druck von A. Bonz’ Erben in Stuttgart.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_v">[V]</span></p>
-<h2 class="nobreak" id="Inhalt_der_2_Abteilung">Inhalt der 2. Abteilung.</h2>
-</div>
-
-<p class="center p2"><b class="u">Indien.</b></p>
-
-<p class="center"><a href="#chap01">Kapitel 1&ndash;7. Seite 7&ndash;103.</a></p>
-
-<p>Auf der ›Oceana‹ nach Ceylon. &ndash; Colombo. &ndash; Trachten
-und Kleider. &ndash; Bombay. &ndash; Ein indisches Hotel. &ndash; Die indische
-Krähe. &ndash; Lohnverhältnisse. &ndash; Manuel und Satan. &ndash;
-Der Besuch des Gottes. &ndash; Beim Fürsten des Palitanastaats.
-&ndash; Die Türme des Schweigens. &ndash; Eine Dschaina-Gesandtschaft.
-&ndash; Allerlei Hautfarbe. &ndash; Eine Hindu-Hochzeit. &ndash; Im
-Bahnhof und auf der Eisenbahn. &ndash; Beim Gaikowar von
-Baroda.</p>
-
-<p class="center"><a href="#chap08">Kapitel 8&ndash;18. Seite 104&ndash;256.</a></p>
-
-<p>Die Thugs. &ndash; Von Bombay nach Allahabad. &ndash; Die Suttis.
-&ndash; Major Sleeman und die indische Witwe. &ndash; ›Pyjamas‹. &ndash;
-Indische Dörfer. &ndash; Der geduldige Hindu. &ndash; Die Messe von
-Allahabad. &ndash; Ein Bungalow in Benares. &ndash; Indische Religionen.
-&ndash; Wegweiser für die Pilger in Benares. &ndash; Das Gangeswasser.
-&ndash; Der Verbrennungsplatz der Leichen. &ndash; Auf der
-Moschee. &ndash; Der Gott Sri 108 und sein Schüler. &ndash; Kalkutta
-und das Denkmal von Ochterlony. &ndash; Nach Dardschiling im
-Himalaja. &ndash; Der Bazar der Tibetaner. &ndash; Eine Talfahrt<span class="pagenum" id="Seite_vi">[VI]</span>
-auf der Draisine. &ndash; Raubtiere und Schlangen. &ndash; Der indische
-Aufstand. &ndash; Tadsch Mahal. &ndash; Weitere Reise durch Indien.
-&ndash; Satans Entlassung. &ndash; Der Festzug in Jeypore.</p>
-
-<p class="center"><b class="u">Südafrika.</b></p>
-
-<p class="center"><a href="#chap19">Kapitel 19&ndash;23. Seite 257&ndash;330.</a></p>
-
-<p>Wonne und Erholung auf einer Seefahrt in den Tropen.
-&ndash; Die Insel Mauritius. &ndash; Verwüstungen des Cyklone. &ndash;
-Europäische Kolonien. &ndash; Die Delagoa-Bai. &ndash; Im Hafen von
-Durban. &ndash; Ein Trappistenkloster. &ndash; Politische Zustände in
-Transvaal. &ndash; Die Johannesburger und Jamesons Einfall. &ndash;
-Südafrikanische Goldfelder. &ndash; Die Buren. &ndash; Der Diamantkrater
-bei Kimberley. &ndash; Große Diamanten. &ndash; Im Bureau der
-De Beers-Gesellschaft. &ndash; Cecil Rhodes. &ndash; Kapstadt. &ndash; Rückfahrt
-nach England.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[7]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap01">Erstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Vergib und vergiß! Das ist nicht
-schwer, wenn man’s nur recht versteht:
-Wir sollen unbequeme Pflichten
-vergessen und uns vergeben, daß
-wir sie vergessen haben. Bei strenger
-Übung und festem Willen gewöhnt
-man sich leicht daran.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop"><em class="gesperrt">Montag, 23. Dezember 1895.</em> Von Sydney
-nach Ceylon in dem P. und O. Dampfer ›Oceana‹
-abgesegelt. Die Mannschaft besteht aus Laskaren,
-den ersten, die ich je gesehen habe. Sie tragen weißbaumwollene
-Unterröcke und Beinkleider, einen roten
-Schal als Gürtel; auf dem Kopf einen Strohhut ohne
-Krempe; gehen barfuß; Gesichtsfarbe dunkelbraun,
-Haar kurz, glatt und schwarz; schöner Schnurrbart,
-glänzend, seidenweich und tiefschwarz. Sanfte, gute
-Gesichter; willige, gehorsame Leute, auch arbeitstüchtig.<span class="pagenum" id="Seite_8">[8]</span>
-Doch sagt man, daß sie in der Stunde der
-Gefahr vor Angst völlig den Kopf verlieren. Sie
-kommen von Bombay und der benachbarten Küste.</p>
-
-<p>Die ›Oceana‹ ist ein großes, prächtig ausgestattetes
-Schiff, das alle Bequemlichkeit bietet; es
-hat geräumige Promenadendecks, große Zimmer und
-eine gut ausgewählte Offiziersbibliothek, was nicht
-häufig vorkommt … Zu den Mahlzeiten wird man
-durch Hornsignale gerufen, wie auf Kriegsschiffen;
-man ist froh das schreckliche Gong einmal los zu
-sein … Wir haben drei große Katzen an Bord,
-sehr leutselige Bummler, die sich auf dem ganzen
-Schiff herumtreiben; die weiße Katze folgt dem Proviantmeister
-überallhin wie ein Hund; auch ein Korb
-mit jungen Kätzchen ist da. Wenn das Schiff in
-den Hafen kommt, sei es in England, Indien oder
-Australien, so begibt sich der eine Kater ans Land,
-um zu sehen, wie es seinen verschiedenen Familien
-ergeht, und man bekommt ihn erst wieder zu Gesicht,
-wenn das Schiff im Begriff ist, die Anker zu lichten.
-Woher er das Datum der Abfahrt weiß, kann niemand
-sagen; vermutlich kommt er täglich nach dem
-Hafendamm und sieht sich um; wenn viel Gepäck
-an Bord geschafft wird und die Passagiere sich einfinden,
-merkt er daran, daß es auch für ihn Zeit<span class="pagenum" id="Seite_9">[9]</span>
-ist, wieder das Schiff zu besteigen. Wenigstens glauben
-das die Matrosen&nbsp;…</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Tischgespräche</em>: Ein Passagier äußerte:
-»Meinen Sie, echter Mokka werde in der ganzen
-Welt verkauft? Denkt gar nicht daran! Sehr
-wenige Fremde, außer dem Kaiser von Rußland,
-bekommen in ihrem ganzen Leben auch nur eine
-Bohne davon zu sehen.« Ein anderer Mann sagte:
-»Australischer Wein hat in Australien keinen Absatz.
-Man schickt ihn nach Frankreich, von wo er als
-französische Sorte zurückkommt, dann kaufen ihn
-die Leute.« &ndash; Ich habe oft behaupten hören, daß der
-französische Rotwein, welchen New York trinkt, meist
-in Kalifornien gekeltert wird. Auch erinnerte ich
-mich, was mir Professor S. einmal über Veuve
-Cliquot erzählt hat. Er war bei einem großen Weinhändler
-zu Besuch, dessen Wohnort nicht weit von
-jenem berühmten Weinberg lag, und sein Wirt fragte
-ihn, ob in Amerika viel Veuve Cliquot getrunken
-würde.</p>
-
-<p>»O ja,« erwiderte S., »außerordentlich viel.«</p>
-
-<p>»Kann man die Marke leicht bekommen?«</p>
-
-<p>»Ohne alle Schwierigkeit; sämtliche Hotels erster
-und zweiter Klasse führen sie.«</p>
-
-<p>»Was bezahlt man dafür?«</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[10]</span></p>
-
-<p>»Je nach dem Hotel fünfzehn bis zwanzig Franken
-die Flasche.«</p>
-
-<p>»Was für ein glückliches Land! Hier an Ort
-und Stelle kostet sie mindestens hundert Franken.«</p>
-
-<p>»Nein!«</p>
-
-<p>»Doch!«</p>
-
-<p>»Sie glauben also, daß wir drüben bei uns nicht
-echten Veuve Cliquot trinken?«</p>
-
-<p>»Keine Rede. Seit Columbus’ Zeiten ist noch
-nicht eine einzige Flasche vom echten Gewächs nach
-Amerika gekommen. Der Weinberg, welcher es liefert,
-ist so klein, daß er nicht allzuviele Flaschen
-ergibt, und der Ertrag wird alljährlich einer einzigen
-Person zugeschickt &ndash; dem Kaiser von Rußland.
-Er kauft die ganze Ernte zum voraus, mag sie
-klein oder groß sein.«</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">4. Januar 1896.</em> Weihnachten in Melbourne,
-Neujahr in Adelaide. Wiedersehen mit den
-meisten Bekannten in beiden Städten … Jetzt
-liegen wir hier in Westaustralien vor Albany im
-König Georgs Sund. Es ist ein ganz vom Land
-eingeschlossener Hafen oder vielmehr eine Reede &ndash;
-anscheinend sehr geräumig, aber kein tiefes Wasser.
-Ringsum kahle Felsen und zerklüftete Hügelketten.<span class="pagenum" id="Seite_11">[11]</span>
-Die Schiffe kommen jetzt in Menge an, alles strömt
-nach der Goldgegend. Die Zeitungen wissen wunderbare
-Dinge zu berichten, wie sie immer im Umlauf
-sind, wenn neue Goldfelder entdeckt werden. Zum
-Beispiel: Ein junger Mann hatte eine Parzelle in
-Besitz genommen, von der er die Hälfte für fünf
-Pfund verkaufen wollte; aber, es fand sich kein
-Liebhaber. Vierzehn Tage lang harrte er aus, trotz
-Hunger und Not, dann stieß er auf eine Goldader
-und verkaufte die Grube für 10&nbsp;000&nbsp;Pfund …
-Gegen Sonnenuntergang erhob sich eine frische Brise,
-und wir lichteten den Anker. Aus der kleinen tiefen
-Wasserlache, auf der wir schwammen, führte ein
-schmaler, dicht mit Bojen besetzter Kanal ins Meer
-hinaus. Ich blieb auf Deck, um zu sehen, wie unser
-großes Schiff bei dem starken Wind die Durchfahrt
-bewerkstelligen werde. Auf der Kommandobrücke
-stand der Kapitän, ein wahrer Riese, neben ihm ein
-kleiner Lotse in prächtiger Uniform mit Goldschnüren;
-auf dem Vorderdeck ein weißer Maat, ein
-paar Quartiermeister und eine bunte Menge Laskaren,
-zur Arbeit gerüstet. Unser Heck war gerade
-auf den Eingang des Kanals gerichtet, das Schiff
-mußte also in der Wasserlache eine vollständige
-Schwenkung machen, und das war bei solchem Wind<span class="pagenum" id="Seite_12">[12]</span>
-keine Kleinigkeit. Aber es gelang ganz prächtig
-mit Hilfe eines Klüvers. Wir wühlten zwar viel
-Schlamm auf, kamen aber nicht auf den Grund und
-drehten uns in der eigenen Wasserspur um &ndash; anscheinend
-ein Ding der Unmöglichkeit. Als wir die
-Drehung glücklich gemacht hatten und der Schiffsschnabel
-nach dem Kanal zu stand, lag die erste Boje
-kaum noch hundert Meter vor uns. Es war mir
-eine Lust gewesen, das Manöver mit anzusehen; die
-übrigen Passagiere verzehrten inzwischen ihr Mittagbrot,
-meines kam der P. und O. Gesellschaft zugute
-… Es zeigen sich noch mehr Katzen.
-Smythe sagt, das englische Gesetz befiehlt, auf
-der Fahrt Katzen mitzunehmen; er wußte von einem
-Fall, wo das Schiff nicht unter Segel gehen durfte,
-bis man sich ein paar verschafft hatte. Die Rechnung
-kam auch gleich mit: »Preis für zwei Katzen &ndash;
-zwanzig Schillinge« … Wir haben einen Geier an
-Bord mit kahlem rotem Kopf von seltsamer Form;
-am Körper hat er hier und da rote Stellen ohne
-Federn, seine großen, schwarzen Augen sind von
-fleischigen, brennendroten Rändern umgeben. Er
-sieht wie ein vollkommener Wüstling aus, wie ein
-gewissenloser, eigensüchtiger Räuber und Mörder.
-Und doch bringt der Vogel nichts Lebendiges um.<span class="pagenum" id="Seite_13">[13]</span>
-Weshalb mag ihm die Natur nur eine so grimmige
-Außenseite gegeben haben, die gar nicht zu seinem
-unschuldigen Geschäft paßt! Er nährt sich nämlich
-nur von Aas, das ihm um so besser zusagt, je älter
-es ist. Trüge er ein schäbiges, schwarzes Federkleid,
-so wäre alles in Ordnung; er gliche dann einem
-Leichenbestatter und sein Aeußeres würde mit seiner
-Beschäftigung im Einklang stehen. Der Geier stammt
-aus der öffentlichen Menagerie von Adelaide, einer
-großen und sehr interessanten Sammlung.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">5. Januar.</em> Um neun Uhr morgens kamen
-wir am Kap Leeuwin (Löwin) vorüber und mußten
-nun, nach der ganz westlichen Fahrt längs dem Südrande
-von Australien, unsere Richtung ändern. Wir
-fahren in einer schrägen, nordwestlichen Linie nach
-Ceylon hinauf. Je höher wir kommen, um so heißer
-wird es, aber kühl ist es auch hier nicht gerade.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">13. Januar.</em> Eine unerträgliche Hitze. Der
-Aequator kommt immer näher; die Entfernung beträgt
-nur noch acht Grad. Da ist Ceylon! O, wie
-wunderschön! Welche tropische Pracht, welcher Reichtum
-üppigen Laubwerks! Die Hauptstadt Colombo
-ist ganz orientalisch und unaussprechlich reizend&nbsp;…</p>
-
-<p>In unserm vornehmen Schiff kleiden sich die<span class="pagenum" id="Seite_14">[14]</span>
-Passagiere zu Mittag um. Die schönen, buntfarbigen
-Toiletten der Damen passen ganz zu der hochfeinen
-Ausstattung aller Räume und dem strahlenden Glanz
-der elektrischen Beleuchtung. Auf dem stürmischen
-Atlantischen Ozean sieht man die Passagiere nie im
-Gesellschaftsanzug. Höchstens einen Mann, der sich
-aber nur einmal während der langen Reise blicken
-läßt &ndash; am Abend ehe das Schiff in den Hafen
-kommt, wenn das Konzert stattfindet mit Dilettanten-Geheul
-und Deklamationen. Er übernimmt meist
-die Tenorpartie … Sonderbarerweise ist an
-Bord viel Cricket gespielt worden; das Promenadendeck
-wurde mit Netzen überspannt, so daß der Ball
-nicht ins Wasser fallen konnte. Das Spiel nahm
-einen guten Fortgang und gewährte die nötige An-
-und Aufregung … Jetzt sagen wir der ›Oceana‹
-Lebewohl.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">14. Januar.</em> Hotel Bristol. Der Diener
-Namens Brampy ist ein flinker, sanfter, lachender,
-brauner Singhalese mit schönem, glänzend schwarzem
-Haar. Er trägt es wie ein Mädchen zurückgekämmt,
-in einen Knoten geschlungen und mit dem Schildpattkamm
-aufgesteckt. Brampy ist schlank und hübsch
-von Gestalt. Unter der Jacke hat er ein weißes,
-baumwollenes Gewand an, das ihm ohne Gürtel<span class="pagenum" id="Seite_15">[15]</span>
-vom Hals bis zu den Füßen herabfällt. Weder er noch
-sein Anzug hat irgend etwas Männliches; es ist eine
-ordentliche Verlegenheit sich vor ihm auszukleiden.</p>
-
-<p>Wir fuhren nach dem Markt und benutzten zum
-erstenmal den japanischen Jinrickscha, einen leichten
-Karren, den ein Eingeborener zieht. Anfänglich geht
-die Fahrt gut von statten, aber für den Mann ist es
-eine sauere Arbeit, er ist nicht stark genug. Nach der
-ersten halben Stunde hört das Vergnügen auf, der
-Mann tut einem leid; man hat Mitleid mit ihm,
-wie mit einem müden Pferde und kann an nichts
-anderes mehr denken. Solche Rickschas sind in
-Menge vorhanden, und die Taxe ist unglaublich billig.</p>
-
-<p>Vor Jahren war ich in Kairo; da ist man im
-Orient &ndash; aber doch nicht ganz, weil man eine unbestimmte
-Empfindung hat, daß noch etwas mangelt.
-In Ceylon ist das anders, dort fehlt nichts mehr.
-Der Orient und die Tropenwelt finden sich da in
-größter Vollkommenheit vereinigt und unser natürliches
-Gefühl sagt uns, daß diese zwei zusammen
-gehören. Nein, man vermißte gar nichts. Alle
-Kostüme waren echt, desgleichen die schwarzen und
-braunen Menschen in ihrer unbewußten Nacktheit.
-Die Gaukler waren da, mit dem unvermeidlichen
-Korb, den Schlangen, der Manguste und allen Vorkehrungen,<span class="pagenum" id="Seite_16">[16]</span>
-um aus dem Samenkorn einen Baum
-mit Laubwerk und reifen Früchten emporwachsen zu
-lassen. Ueberall sah man Blumen und Pflanzen,
-die man zwar aus Abbildungen kannte, aber in
-Wirklichkeit nie erblickt hatte, weil diese seltenen,
-wunderbaren und köstlichen Gewächse nur in der
-heißen Zone, am Aequator, gedeihen. Auch wußte
-man, daß in der nächsten Umgegend die tödlichen
-Giftschlangen und grimmigen Raubtiere hausen, samt
-den Affen und wilden Elefanten. In der Luft lag
-eine Schwüle, wie sie nur in den Tropen vorkommt,
-eine erstickende Hitze, von unbekannten Blumendüften
-geschwängert; dann verbreitete sich plötzlich eine
-purpurne Finsternis, aus welcher grelle Blitze zuckten;
-der Donner krachte, der Regen goß in Strömen
-&ndash; gleich darauf lachte wieder alles im Sonnenschein.
-Und weit ab, im undurchdringlichen Dschungel und
-dem fernen Gebirge lagen die verfallenen Städte
-und alten Tempelruinen als geheimnisvolle Ueberbleibsel
-von der Herrlichkeit vergessener Tage und
-einer verschwundenen Menschenrasse. Auch dies Bewußtsein
-war unentbehrlich, wenn es einem wirklich
-orientalisch zu Mute werden sollte, denn dabei
-darf vor allem der Eindruck des Düstern, Rätselhaften
-und Altertümlichen nicht fehlen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_17">[17]</span></p>
-
-<p>Die Fahrt durch die Stadt und am Seestrande
-entlang war wie ein Traumbild von tropischem
-Glanz, Blütenpracht und orientalischem Farbenreichtum.
-Die zu Fuß einherwandelnden Gruppen von
-Männern, Frauen, Knaben, Mädchen und kleinen
-Kindern glühten wie Feuerflammen in ihrer strahlenden
-Gewandung. Alle Farben des Regenbogens
-und leuchtender Blitze mischten sich hier aufs wunderbarste
-und verschmolzen zur wohltuendsten Harmonie.
-Nirgends fühlte sich das Auge verletzt durch zu grelle
-Töne, keine Farbe stach unangenehm von der andern
-ab; auch wenn verschiedene Gruppen in Berührung
-kamen, wurde die wunderbare Farbenwirkung nicht
-im mindesten gestört. Die Kleider waren aus dünnem,
-zartem, sich weich anschmiegendem Seidenstoff,
-meist in ganz bestimmten, satten Farben: ein prächtiges
-Grün, ein prächtiges Blau, ein prächtiges Gelb,
-ein prächtiges Lila, ein prächtiges Rubinrot von
-leuchtendem Glanz &ndash; so zogen sie in zahllosem
-Gewimmel, in Massen, scharenweise vorüber, glühend,
-blitzend, strahlend &ndash; dazwischen alle Augenblicke ein
-so blendendes Feuerrot, daß einem das Herz im
-Leibe lachte und man den Atem anhielt vor Staunen.
-Und wie anmutig waren diese Trachten! Oft bestand
-der ganze Anzug einer Frau nur in der Schärpe, die<span class="pagenum" id="Seite_18">[18]</span>
-sie um den Kopf und Leib gewunden hatte, oder der
-Mann hatte einen Turban auf und ein paar Lappen
-nachlässig um die Hüften geschwungen. Bei beiden
-kam die dunkle glänzende Haut dazwischen ungehindert
-zum Vorschein, und immer erfreute der Anblick
-der Gestalten Auge und Herz.</p>
-
-<p>Noch heutigen Tages sehe ich dies köstliche Panorama
-in seiner überschwenglichen Farbenfülle und
-dem Schmelz der bunten Schattierungen vor mir;
-die geschmeidigen, halb unbekleideten Gestalten, die
-schönen braunen Gesichter, die anmutigen Stellungen
-und freien, zwanglosen Bewegungen, bei denen von
-Förmlichkeit und Steifheit keine Rede war.</p>
-
-<p>Aber ach, da kam ein schriller Mißklang in
-diesen paradiesischen Zaubertraum: Aus der Tür
-einer Missionsschule schritten paarweise sechzehn
-kleine, fromme, gesetzte, schwarze Christenmädchen
-in europäischem Anzug. Ganz so ausstaffiert hätte
-man sie an einem Sommersonntag in jedem englischen
-oder amerikanischen Dorfe sehen können. Wie
-namenlos häßlich waren diese Kleider! Abscheulich,
-barbarisch, geschmacklos, unanmutig, alle Gefühle
-verletzend! Ich blickte auf die Kleider meiner Damen:
-sie glichen in vergrößertem Maßstab genau
-den greulichen Verunstaltungen, mit denen man jene<span class="pagenum" id="Seite_19">[19]</span>
-armen, kleinen, mißhandelten Geschöpfe quälte &ndash;
-ich schämte mich, mit Frau und Tochter auf der
-Straße zu gehen. Nun sah ich meine eigene Kleidung
-an und schämte mich vor mir selber.</p>
-
-<p>Aber was hilft es &ndash; wir müssen uns darein
-ergeben unsere Kleider zu tragen wie sie sind und
-können ihre Daseinsberechtigung nicht leugnen. Freilich
-dienen sie dazu, gerade das auszuposaunen, was
-wir verbergen möchten &ndash; unsere Unaufrichtigkeit
-und versteckte Eitelkeit. Wir heucheln für Anmut,
-Wohlgestalt und Farbenglanz eine Geringschätzung,
-die wir nicht haben, und ziehen die häßlichen Kleider
-an, um diese Lüge glaubhaft zu machen und weiter
-zu verbreiten. Doch täuschen wir damit unsere Nächsten
-nicht, und wenn wir nach Ceylon kommen, werden
-wir alsbald inne, daß wir uns nicht einmal
-selbst zu täuschen vermögen. Ja, gestehen wir es
-nur: wir lieben leuchtende Farben und anmutige
-Trachten, und wenn wir sie zu Hause bei einem Festzug
-sehen können, achten wir weder Regen noch Sturm
-und beneiden die geschmückten Teilnehmer. Wir
-gehen ins Theater, staunen die Kostüme an und sind
-betrübt, daß wir uns nicht auch so kleiden können.
-Beehrt uns der König mit einer Einladung zum
-Hofball, so betrachten wir die prächtigen Uniformen<span class="pagenum" id="Seite_20">[20]</span>
-und strahlenden Ordenszeichen mit wahrem Hochgenuß.
-Wird uns gestattet, einer kaiserlichen Cour
-beizuwohnen, so schließen wir uns vorher zu Hause
-ein, stolzieren stundenlang in unserm schönen Gala-Anzug
-einher, bewundern uns im Spiegel und fühlen
-uns unaussprechlich glücklich. Auch jeder Beamte
-im Stabe jedes Gouverneurs im demokratischen
-Amerika macht es ebenso mit seiner neuen Staatsuniform,
-und wenn man nicht aufpaßt, um ihn rechtzeitig
-zu hindern, läßt er sich gewiß auch darin
-photographieren. So oft ich die Diener des Lord-Mayors
-sehe, fühle ich mich unzufrieden mit meinem
-Lose. Kurz und gut: unsere Kleider sind seit hundert
-Jahren nichts als Lug und Trug gewesen. Sie sind
-ebenso unwahr wie unschön und vollkommen geeignet
-unser inneres Scheinwesen und moralisches
-Verderben ins rechte Licht zu stellen.</p>
-
-<p>Der kleine braune Junge, den ich zuletzt unter
-den sich drängenden Scharen von Colombo bemerkte,
-hatte nichts an, außer einem um die Hüften geschlungenen
-Bindfaden, aber in meiner Erinnerung bildet
-der ehrliche Mangel seiner Bekleidung einen wohltuenden
-Gegensatz zu der widerwärtig scheinheiligen
-Vermummung, in welche man die farbigen Dämchen
-aus der Sonntagsschule gesteckt hatte.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[21]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap02">Zweites Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Im Wohlstand kann man an seinen Grundsätzen
-am besten festhalten.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p><em class="gesperrt">14. Januar abends.</em> &ndash; Die ›Rosetta‹, mit
-der wir absegeln, ist ein schlechtes altes Schiff, das
-man versichern und untergehen lassen sollte. Auch
-hier, wie auf der ›Oceana‹, hält man die Mittagstoilette
-für eine Art frommer Pflicht. Aber dergleichen
-vornehme Formen stehen in grellem Gegensatz
-zu der Aermlichkeit der schäbigen Ausstattung des
-Fahrzeugs … Wenn man zum Nachmittagstee
-eine Limonenscheibe haben möchte, muß man erst
-am Schenktisch eine Anweisung unterzeichnen. Und
-dabei kostet das Faß Limonen vierzehn Cents.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">18. Januar.</em> Nachdem wir das Arabische
-Meer durchschifft haben, sind wir jetzt dicht an Bombay,
-das wir noch heute abend erreichen sollen.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">20. Januar.</em> Bombay! &ndash; wie ein Märchen
-aus ›Tausend und eine Nacht‹, entzückend, verwirrend,
-bezaubernd! Es ist eine ungeheure Stadt, mit etwa
-einer Million Einwohnern, meist braune Leute; die<span class="pagenum" id="Seite_22">[22]</span>
-wenigen Weißen, die man zerstreut unter der Masse
-der Bevölkerung findet, kommen gegen alle die
-dunkeln Gesichter kaum in Betracht. Hier ist es
-Winter: ein himmlisches Juniwetter und frisches,
-köstliches Sommerlaub. Im Schatten der großen
-prächtigen Baumreihe dem Hotel gegenüber sitzen
-malerische Gruppen von Eingeborenen beiderlei Geschlechts;
-der Gaukler im Turban mit den Schlangen
-und Zauberkünsten ist natürlich dabei. Den ganzen
-Tag sieht man die verschiedenartigsten Trachten zu
-Fuß und zu Wagen vorüberziehen; es ist, als könnte
-man nie müde werden, diese endlosen Wandelbilder,
-dies glänzende und stets wechselnde Schauspiel zu
-betrachten … Die fest eingekeilte Masse der Eingeborenen
-im großen Bazar bot einen wunderbaren
-Anblick; es war ein Meer von buntfarbigen Turbans
-und faltigen Gewändern, zu dem die fremdartigen,
-prunkvollen indischen Bauwerke gerade den richtigen
-Hintergrund bildeten. Bei Sonnenuntergang folgte
-ein anderes Schauspiel: eine Fahrt am Seestrande
-bis zur Malabar-Spitze, wo Lord Sandhurst, der
-Gouverneur der Präsidentschaft Bombay, wohnt. Auf
-der ersten Hälfte des Weges, den alle Welt fährt,
-steht ein schöner Parsenpalast neben dem andern. Die
-Privatequipagen der reichen Engländer und vornehmen<span class="pagenum" id="Seite_23">[23]</span>
-Eingeborenen haben außer dem Kutscher
-noch drei Bediente in wundervollen orientalischen
-Livreen. Zwei davon, prächtig anzuschauen, stehen
-als beturbante Statuen hintenauf. Manchmal nehmen
-die öffentlichen Fuhrwerke dergleichen überschüssige
-Diener mit: einen zum Fahren, einen um
-neben dem Kutscher zu sitzen und ihm zuzusehen, und
-einen, der hinten auf dem Tritt steht und schreit,
-wenn jemand im Wege ist; wenn niemand da ist,
-schreit er auch, um nicht aus der Uebung zu kommen.
-Das alles bringt Leben und Bewegung mit und
-erhöht den Gesamteindruck von Hast, Schnelligkeit
-und Verwirrung.</p>
-
-<p>In der Nähe der ›Läster-Spitze‹ &ndash; ein sehr bezeichnender
-Name &ndash; sind Felsen, auf denen man
-bequem sitzen kann, um nach der einen Seite hin
-den herrlichen Blick auf das Meer zu genießen und
-auf der andern die Menge der schön geschmückten
-Wagen bei der Hin- oder Rückfahrt vorbeirasseln und
--jagen zu sehen; dort haben die Frauen wohlhabender
-Parsen in Gruppen Platz genommen, wahre Blumenbeete
-voll Farbenglanz, ein unwiderstehlich fesselndes
-Bild. Trab, trab, trab, kommt es die Straße entlang,
-einzeln, zu zweien, in Gruppen und Abteilungen
-&ndash; das sind Arbeiterscharen, Männer und<span class="pagenum" id="Seite_24">[24]</span>
-Frauen, aber nicht gekleidet wie bei uns. Der Mann,
-meist eine große, stolze Athletengestalt, hat außer
-seinem Lendentuch nicht einen Fetzen an, seine Gesichtsfarbe
-ist dunkelbraun, auf der glatten Haut,
-die wie Atlas glänzt, treten die Muskeln in Wülsten
-hervor, als ob Eier darunter lägen. Die Frau
-ist gewöhnlich schlank und wohlgebildet, kerzengerade
-wie ein Blitzableiter und trägt nur <em class="gesperrt">ein</em> Kleidungsstück
-&ndash; einen langen, hellfarbigen Stoffstreifen, den
-sie um Kopf und Leib windet, fast bis zu den Knieen
-herunter, und der sich so fest wie ihre eigene Haut
-an den Körper schmiegt. Füße und Beine sind nackt,
-desgleichen die Arme, bis auf die Gehänge von losen,
-verschlungenen Silberringen an den Armen und Fußgelenken.
-Auch in der Nase trägt sie Schmuck und
-glänzende Ringe an den Fußzehen. Beim Schlafengehen
-wird sie ihr Geschmeide wohl ablegen; mehr
-kann sie nicht ausziehen, sonst würde sie sich erkälten.
-Man sieht sie meist mit einem großen, schön geformten
-Wasserkrug von blankem Metall, den sie mit
-erhobenem Arm auf dem Kopfe festhält. Aufrecht,
-würdevoll und doch mit leichtem, anmutigem Gang
-kommt sie daher; ihr gebogener Arm und der blanke
-Krug erhöhen noch die malerische Wirkung und
-machen sie zu einer wahren Zierde für die Straße.<span class="pagenum" id="Seite_25">[25]</span>
-Unsere Arbeiterfrauen können es ihr darin auch nicht
-entfernt gleichtun.</p>
-
-<p>Farben, wohin man blickt, entzückende, bezaubernde
-Farben, rings umher und längs der gewundenen
-Straße an der großen, bunt schillernden Bucht,
-bis man das Haus des Gouverneurs erreicht. Dort
-stehen, den Turban auf dem Kopf, die großen Chuprassies,
-die eingeborenen Diener in ihren feuerroten
-Gewändern an der Eingangspforte gruppiert
-und bilden den theatralischen Schluß des prächtigen
-Schauspiels. O, wäre ich doch ein Chuprassy!</p>
-
-<p>Ja, das ist Indien! Das Land der Romantik
-und der Träume, wo fabelhafter Reichtum und
-fabelhafte Armut wohnt, das Land der Pracht und
-Herrlichkeit, der Lumpen, der Paläste und elenden
-Hütten, der Pest und Hungersnot, der Schutzgeister
-und Riesen, wo Aladdins Lampe, Tiger, Elefanten,
-die Kobra, der Dschungel zu finden sind, wo hunderterlei
-Völker in hunderterlei Sprachen reden, das
-tausend Religionen und zwei Millionen Götter hat.
-Indien ist die Wiege des Menschengeschlechts, der
-Geburtsort der menschlichen Sprache, die Mutter
-der Geschichte, die Großmutter der Sage, die Urgroßmutter
-der Ueberlieferung; was für andere Völker
-graues Altertum ist, zählt zu Indiens jüngster<span class="pagenum" id="Seite_26">[26]</span>
-Vergangenheit. Es ist das einzige Land unter der
-Sonne, das für den Fürsten und den Bettler, den
-Gebildeten und den Unwissenden, den Weisen und
-den Toren, den Sklaven und den Freien den gleichen,
-unzerstörbaren Reiz hat. Alle Menschen möchten
-es sehen, und wer es einmal auch nur flüchtig
-geschaut hat, würde die Wonne dieses Anblicks nicht
-für alles Schaugepränge eintauschen, das der gesamte
-übrige Erdball zu bieten vermag.</p>
-
-<p>Selbst jetzt, nach Ablauf eines Jahres, ist mir
-die sinnverwirrende Freude jener Tage in Bombay
-noch vollkommen gegenwärtig, und ich hoffe, sie wird
-mich nie verlassen. Es war alles ganz neu und
-ungewohnt; auch warteten die Ueberraschungen nicht
-erst bis zum nächsten Morgen, sie waren da, sobald
-wir das Hotel betraten. In den Hallen und Vorsälen
-wimmelte es von braunen Eingeborenen mit Turban,
-Fez oder gestickter Mütze, die in baumwollenem Gewand
-barfuß durcheinander liefen oder ruhig auf
-dem Boden saßen und hockten. Einige schwatzten mit
-großem Nachdruck, andere saßen still und träumerisch
-da; im Speisezimmer stand hinter dem Stuhl jedes
-Gastes sein farbiger Aufwärter, angekleidet wie in
-einem Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹.</p>
-
-<p>Unsere Zimmer waren nach vorn hinaus in<span class="pagenum" id="Seite_27">[27]</span>
-einem oberen Stock. Ein Weißer &ndash; es war ein
-handfester Deutscher &ndash; führte uns hinauf und nahm
-drei Hindus mit, um alles in Ordnung zu bringen.
-Etwa vierzehn andere folgten in langem Zuge mit
-dem Handgepäck; jeder trug nicht mehr als ein Stück,
-was es auch sein mochte. Ein starker Eingeborener
-trug meinen Ueberzieher, ein anderer einen Sonnenschirm,
-der dritte eine Schachtel Zigarren, der vierte
-einen Roman, und der letzte kam nur noch mit einem
-Fächer beladen daher. Sie taten das alles mit
-großem Ernst und Eifer; von vorn bis hinten war
-in dem ganzen Zuge auf keinem Gesicht ein Lächeln zu
-sehen. Jeder einzelne wartete, ruhig, geduldig und
-ohne die geringste Eile zu verraten, bis er ein Kupferstück
-erhielt, dann verneigte er sich ehrfurchtsvoll,
-legte die Finger an die Stirn und ging seiner Wege.
-Diese Leute scheinen sanften und milden Gemüts
-zu sein; es lag etwas Rührendes in ihrem Verhalten,
-das zugleich für sie einnahm.</p>
-
-<p>Eine große Glastür führte zum Balkon hinaus.
-Sie sollte geputzt oder verriegelt werden &ndash; was
-weiß ich &ndash; und ein Hindu kniete auf dem Boden,
-um die Arbeit zu tun. Anscheinend machte er seine
-Sache ganz ordentlich, aber das mußte wohl nicht
-der Fall sein, denn die Miene des Deutschen verriet<span class="pagenum" id="Seite_28">[28]</span>
-Unzufriedenheit, und ohne ein Wort der Erklärung
-schlug er den Hindu plötzlich derb ins Gesicht und
-sagte ihm dann erst, was er falsch gemacht hatte.
-Der Diener nahm die Züchtigung demütig und schweigend
-hin; auch zeigte weder sein Gesichtsausdruck
-noch sein Wesen überhaupt den geringsten Groll.
-Mir schien es eine wahre Schande, so etwas in
-unserer Gegenwart zu tun; seit fünfzig Jahren hatte
-ich solchen Auftritt nicht erlebt. Urplötzlich fühlte
-ich mich in meine Knabenzeit zurückversetzt und mir
-fiel ein, daß dies ja die gewöhnliche Art sei, wie
-man einem Sklaven seine Wünsche begreiflich machte
-&ndash; eine Tatsache, die mir ganz entfallen war. Damals
-hatte ich diese Methode richtig und natürlich
-gefunden, denn ich war von klein auf daran gewöhnt
-und glaubte, man mache das nirgends anders; aber
-ich erinnere mich recht gut, daß mir bei solchen
-stumm ertragenen Schlägen der Empfänger stets leid
-tat und ich mich für den Strafenden schämte. Mein
-Vater war ein edler, gütiger Mann, sehr ernst und
-enthaltsam, von strengster Gerechtigkeit und Redlichkeit,
-ein rechtschaffener Charakter durch und durch.
-Zwar war er nicht Mitglied irgend einer Kirche, sprach
-auch nie von religiösen Dingen und nahm an den
-frommen Freuden seiner presbyterianischen Familie<span class="pagenum" id="Seite_29">[29]</span>
-keinen Anteil, doch schien er das nicht als Entbehrung
-zu empfinden. Er hat mich, so lange er
-lebte, nur zweimal körperlich gezüchtigt und gar
-nicht hart. Einmal, weil ich ihn belogen hatte &ndash;
-was mich höchlich überraschte und mir sein gutes
-Zutrauen bewies, denn es war keineswegs mein
-erster Versuch gewesen. Mich schlug er, wie gesagt,
-nur zweimal und seine anderen Kinder gar nicht;
-aber unsern kleinen gutmütigen Sklaven Lewis ohrfeigte
-er häufig für die geringfügigste Ungeschicklichkeit
-oder ein kleines Versehen. Mein Vater hatte
-von Geburt an unter Sklaven gelebt, und wenn
-er sie schlug, so tat er das nach damaliger Sitte,
-gegen seine Natur. &ndash; Als ich zehn Jahre alt war, sah
-ich einmal, wie ein Mann einem Sklaven im Zorn
-ein Stück Eisenerz an den Kopf warf, weil er etwas
-ungeschickt gemacht hatte &ndash; als ob das ein Verbrechen
-wäre. Es sprang von seinem Schädel ab,
-und der Mensch fiel hin, ohne einen Laut von sich
-zu geben. Nach einer Stunde war er tot. &ndash; Ich
-wußte wohl, daß der Herr das Recht hatte, seinen
-Sklaven zu töten, wenn er wollte, aber doch kam es
-mir erbärmlich vor und eigentlich unstatthaft, wiewohl
-ich nicht gescheit genug gewesen wäre, um zu erklären,
-was unrecht daran sei, wenn man mich gefragt hätte.<span class="pagenum" id="Seite_30">[30]</span>
-Niemand in unserm Dorf billigte jene Mordtat,
-aber es war natürlich nicht viel davon die Rede.</p>
-
-<p>Merkwürdig, wie der Gedanke Raum und Zeit
-überspringen kann! Eine Sekunde lang war mein
-ganzes Ich in dem kleinen Dorf von Missouri auf
-der andern Halbkugel der Erde; jene vergessenen
-Bilder von vor fünfzig Jahren standen mir lebendig
-vor Augen, und alles übrige versank gänzlich vor
-meinem Bewußtsein. In der nächsten Sekunde war
-ich schon wieder in Bombay, während die Backe
-des knieenden Dieners noch von der Ohrfeige brannte.
-Bis zur Knabenzeit &ndash; fünfzig Jahre &ndash; zurück ins
-Alter &ndash; abermals fünfzig, und ein Flug um den
-ganzen Erdball &ndash; alles in einem Zeitraum von
-zwei Sekunden!</p>
-
-<p>Verschiedene Eingeborene &ndash; ich weiß nicht mehr
-wie viele &ndash; begaben sich nun in mein Schlafzimmer,
-brachten alles in Ordnung und befestigten das Moskitonetz.
-Dann legte ich mich zu Bett, um meine
-Erkältung rascher los zu werden. Es war etwa neun
-Uhr abends und an Ruhe gar nicht zu denken. Drei
-Stunden lang dauerte das Geschrei und Gekreisch
-der Eingeborenen in der Vorhalle noch ununterbrochen
-fort, auch das sammetweiche Getrappel ihrer
-behenden, nackten Füße hörte nicht auf. Nein, dieser<span class="pagenum" id="Seite_31">[31]</span>
-Lärm! Alle Bestellungen und Botschaften wurden
-drei Treppen hinunter geschrieen; es klang wie Aufruhr,
-Meuterei, Revolution. Auch noch andere Geräusche
-kamen hinzu: von Zeit zu Zeit ein furchtbarer
-Krach, als ob Dächer einfielen, Fenster zerbrächen,
-Leute ermordet würden. Dann hörte man
-die Krähen krächzen, hohnlachen, fluchen; Kanarienvögel
-kreischten, Affen schimpften, Papageien plapperten,
-zuletzt erscholl wieder ein teuflisches Gelächter,
-gefolgt von Dynamitexplosionen. Bis Mitternacht
-hatte ich alle nur erdenklichen Schreckschüsse
-über mich ergehen lassen und wußte nun, daß mich
-nichts mehr überraschen und stören konnte &ndash; ich
-war auf alles gefaßt. Da trat plötzlich Ruhe ein
-&ndash; eine tiefe, feierliche Stille, die bis fünf Uhr
-morgens dauerte.</p>
-
-<p>Dann ging der Spektakel aber von neuem los.
-Und wer hat ihn angefangen? Die indische Krähe,
-dieser Vogel aller Vögel. Mit der Zeit lernte ich
-ihn näher kennen und war dann ganz in ihn vernarrt.
-Ich glaube, er ist der durchtriebenste Spitzbube,
-der Federn trägt und dabei so lustig und
-selbstzufrieden wie kein anderer. Ein solcher Vogel
-konnte nicht mit einemmal zu dem geschaffen werden,
-was er ist: unvordenkliche Zeitalter haben an seiner<span class="pagenum" id="Seite_32">[32]</span>
-Entwicklung gearbeitet. Er ist öfter wiedergeboren
-als der Gott Schiwa und hat bei jeder Seelenwanderung
-etwas zurückbehalten und es seinem
-Wesen einverleibt. Im Verlauf seines stufenweisen
-Fortschritts, seines glorreichen Vorwärtsschreitens
-zu schließlicher Vollendung, ist er ein Spieler gewesen,
-ein zuchtloser Priester, ein Komödiant, ein zänkisches
-Weib, ein Schuft, ein Spötter, ein Lügner, ein Dieb,
-ein Spion, ein Angeber, ein käuflicher Politiker,
-ein Schwindler, ein berufsmäßiger Heuchler, ein bezahlter
-Patriot, auch Reformator, Vorleser, Anwalt,
-Verschwörer, Rebell, Royalist, Demokrat; er
-hat sich überall eingemischt, sich unehrerbietig und
-zudringlich benommen, hat ein gottloses, sündhaftes
-Leben geführt, bloß weil es ihm das größte Gaudium
-machte. Und das Ergebnis der stetigen Ansammlung
-aller verwerflichsten Eigenschaften ist
-merkwürdigerweise, daß er weder Sorge, noch Kummer,
-noch Reue kennt; sein Leben ist eine einzige
-Kette von Wonne und Glückseligkeit, und er wird
-seiner Todesstunde ruhig entgegengehen, da er weiß,
-daß er vielleicht als Schriftsteller oder dergleichen
-wiedergeboren wird, um sich dann womöglich als
-noch größerer Schwerenöter behaglicher zu fühlen
-denn je zuvor.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[33]</span></p>
-
-<p>Wenn die Krähe mit großen Schritten breitbeinig
-einherkommt, dann seitlich ein paar kräftige
-Hopser macht, eine unverschämte, pfiffige Miene aufsetzt
-und den Kopf schlau auf die Seite legt, erinnert
-sie an die amerikanische Amsel. Doch ist sie viel
-größer und lange nicht so schlank und wohlgebaut;
-auch ihr schäbiger grau und schwarzer Rock hat natürlich
-nicht den herrlichen Metallglanz, in dem das
-Federkleid der Amsel prangt. Die Krähe ist ein
-Vogel, der nicht schweigen kann; er zankt, schwatzt,
-lacht, schnarrt, spottet und schimpft beständig. Seine
-Ansicht äußert er über alles, auch wenn es ihn
-gar nichts angeht, mit größter Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit.
-Er nimmt sich nicht erst Zeit nachzudenken,
-weil er keine Gelegenheit vorbeigehen lassen
-will, ohne seine Meinung zum Besten zu geben, selbst
-wenn es sich gerade um etwas ganz anderes handelt.</p>
-
-<p>Ich glaube, die indische Krähe hat keinen Feind
-unter den Menschen. Sie wird weder von Weißen
-noch Mohammedanern belästigt, und der Hindu tötet
-schon aus religiösen Rücksichten überhaupt kein Geschöpf;
-er schont das Leben der Schlangen, Tiger,
-Flöhe und Ratten. Wenn ich an einem Ende auf
-dem Balkon saß, pflegten sich die Krähen auf dem
-Gitter am andern Ende zu versammeln und ihre<span class="pagenum" id="Seite_34">[34]</span>
-Bemerkungen über mich zu machen; nach und nach
-flogen sie näher herzu, bis ich sie fast mit der Hand
-erreichen konnte. Da saßen sie und unterhielten
-sich ohne Scham und Scheu über meine Kleider,
-mein Haar, meine Gesichtsfarbe und vermutlich auch
-über meinen Charakter, Beruf und politischen Standpunkt,
-und wie ich nach Indien gekommen sei, was
-ich schon alles getan hätte, wie viele Tage mir zur
-Verfügung ständen, warum ich noch nicht an den
-Galgen gekommen wäre, ob es mir noch lange
-glücken würde, dem Strick zu entgehen, ob es da,
-wo ich herkäme, noch mehr Leute meines Schlages
-gäbe, und so immer fort, bis ich es vor Verlegenheit
-nicht länger aushalten konnte und sie wegscheuchte.
-Darauf kreisten sie eine Weile in der
-Luft, unter Geschrei, Gespött und Hohngelächter,
-kamen dann wieder auf das Gitter geflogen und
-fingen die ganze Geschichte noch einmal von vorne an.</p>
-
-<p>In wahrhaft überlästiger Weise zeigten sie aber
-ihre gesellige Neigung, wenn es etwas zu essen gab.
-Ohne daß man ihnen erst zuzureden brauchte, kamen
-sie auf den Tisch geflogen und halfen mir mein
-Frühstück verzehren. Als ich einmal ins Nebenzimmer
-ging und sie allein ließ, schleppten sie alles
-fort, was sie nur tragen konnten, und obendrein<span class="pagenum" id="Seite_35">[35]</span>
-lauter für sie ganz nutzlose Dinge. Man macht sich
-keinen Begriff davon, in welcher Unzahl sie in Indien
-vorkommen, und der Lärm, den sie verursachen,
-ist nicht zu beschreiben. Ich glaube, sie kosten dem
-Land mehr als die Regierung, und das ist keine
-Kleinigkeit. Doch leisten sie auch etwas dafür, und
-zwar durch ihre bloße Gegenwart. Wenn man ihre
-lustige Stimme nicht mehr zu hören bekäme, so würde
-die ganze Gegend einen trübseligen Anstrich erhalten.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap03">Drittes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Durch Übung lernt man leicht Unglück
-ertragen &ndash; das Unglück anderer Leute,
-meine ich.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">In unsicherm Glanz, wie das Mondlicht am
-Rande des Horizonts erscheint, so tauchten die alten
-Träume von Indiens Herrlichkeit allmählich wieder
-in meinem Bewußtsein auf. Das Bild, das mir
-in den Knabenjahren lebendig vor der Seele gestanden
-hatte, als ich noch in den Märchen des
-Orients schwelgte, erwachte wieder mit tausend längst
-vergessenen Einzelheiten. Zum Beispiel, die barbarische<span class="pagenum" id="Seite_36">[36]</span>
-Pracht und die großartigen, volltönenden
-Fürstentitel, bei denen einem das Wasser im Munde
-zusammenläuft: Nizam von Hyderabad, Maharadscha
-von Travancore, Nabob von Jubbelpore, Begum
-von Bhopal, Nawab von Mysore, Raja von
-Gulnare, Abkoond von Swat, Rao von Rohilkund,
-Gaikawar von Baroda. Namen wachsen überhaupt
-dort im Lande wie Pilze. Der große Gott Wischnu
-hat ihrer hundertundacht ganz besonders heilige &ndash;
-sozusagen nur zum Feiertagsgebrauch. Ich habe die
-hundertundacht Namen Wischnus einmal alle auswendig
-gelernt, aber ich konnte sie nicht behalten
-und weiß jetzt keinen einzigen mehr davon.</p>
-
-<p>Romantische Begebenheiten knüpfen sich noch
-heutigen Tages an die Namen jener indischen Fürsten,
-gerade wie in alten Zeiten. Kurz vor unserer Ankunft
-war ein solcher Roman vor einem englischen
-Gerichtshof in Bombay zur Verhandlung gekommen:
-Ein junger sechzehnjähriger Prinz hatte seine Güter,
-Titel und Würden vierzehn Jahre lang unbehelligt
-genossen. Da ward plötzlich behauptet, daß er gar
-kein Fürstensohn, sondern ein armes Bauernkind
-sei, welches man in die fürstliche Wiege eingeschmuggelt
-hatte, als der wahre Erbe im Alter von drittehalb
-Jahren gestorben war. Genau derselbe Stoff,<span class="pagenum" id="Seite_37">[37]</span>
-der so vielen alten orientalischen Geschichten zu
-Grunde liegt.</p>
-
-<p>Umgekehrt ging es mit dem Thron des Gaikawar
-von Baroda, für den sich eine Zeitlang kein Erbe
-fand, bis man ihn in der Person eines Bauernknaben
-erkannte, der, seiner hohen Abkunft unbewußt,
-im Schmutz der Dorfstraße spielte. Sein
-Stammbaum war jedoch ganz in Ordnung, er erwies
-sich als der wirkliche Prinz und herrscht seitdem
-unangefochten in seinem Reich.</p>
-
-<p>Auf ähnliche Weise ist kürzlich der Erbe eines
-andern indischen Fürstenhauses aufgefunden worden.
-Seit vierzehn Generationen hatten seine Vorfahren
-in niedrigem Stande gelebt. Aber man entdeckte
-seinen fürstlichen Ahnen in dem Verzeichnis eines
-der großen Wallfahrtsorte der Hindus, wo die Herrscher
-ihren Namen und das Datum ihres Besuchs
-einzuschreiben pflegen. Der eigentliche Zweck dieser
-Sitte ist, daß man über die religiösen Angelegenheiten
-der Fürsten Buch führen und ihr Seelenheil
-sichern kann; aber auch die Richtigkeit ihres Stammbaums
-läßt sich aus solcher Liste feststellen, wodurch
-sie noch besonderen Wert erhält.</p>
-
-<p>Wenn ich jetzt an Bombay denke, glaube ich in
-ein Kaleidoskop zu sehen; ich höre das Klirren der<span class="pagenum" id="Seite_38">[38]</span>
-Glasstückchen, wenn die schönen Bilder wechseln und
-auseinander fallen, um sich zu immer neuen Formen
-und Figuren zu vereinigen, bei deren Anblick jeder
-Nerv in mir vor Wonne erbebt und Schauer des
-Entzückens durch meine Glieder rieseln. Die ganz
-verschiedenartigen Erinnerungsbilder ziehen immer
-in gleicher Reihenfolge, rasch wie ein Traum, an
-mir vorüber; sie lassen mir das Gefühl zurück, als
-hätte das wirkliche Erlebnis kaum eine Stunde gedauert,
-während es oft gewiß mehrere Tage in Anspruch
-genommen hat.</p>
-
-<p>Die Wandelbilder beginnen mit der Wahl eines
-eingeborenen Dieners, eines ›Trägers‹, bei der man
-sehr sorgfältig zu Werke gehen muß, denn solange
-er sein Amt versieht, kommt er uns fast so nahe
-auf den Leib, wie unsere eigenen Kleider.</p>
-
-<p>In Indien wird der Tag damit eröffnet, daß
-der ›Träger‹ an die Schlafzimmertür klopft und dazu
-eine gewisse Formel hersagt, welche ausdrücken soll,
-daß das Bad bereit ist. Es kommt uns vor als
-ob sie gar keinen Sinn hätte, aber das ist nur, weil
-man noch nicht an das Träger-Englisch gewöhnt
-ist. Erst mit der Zeit lernt man es verstehen.</p>
-
-<p>Wo diese Sprache herstammt, ist ein Geheimnis;
-jedenfalls wird man auf Erden nichts Aehnliches<span class="pagenum" id="Seite_39">[39]</span>
-finden und im Paradiese erst recht nicht &ndash; möglicherweise
-aber unter den Verdammten. Man mietet einen
-›Träger‹, sobald man den Boden Indiens betritt,
-denn niemand, ob Mann oder Weib, kann ohne ihn
-bestehen. Er ist Bote, Kammerdiener, Zimmermädchen,
-Aufwärter, Kurier, Jungfer &ndash; alles in einer
-Person. Bei seinem Eintritt bringt er, außer einem
-grobleinenen Wäschesack auch eine Decke mit; er schläft
-auf den Steinfliesen vor der Stubentür; wo und
-wann er seine Mahlzeiten hält, ist unbekannt; man
-weiß nur, daß er im Hause kein Essen bekommt, mag
-man in einem Hotel wohnen oder als Gast in einer
-Privatfamilie. Er bezieht einen hohen Lohn &ndash;
-nach indischen Begriffen &ndash; und sorgt selbst für
-seine Kost und Kleidung. Wir hatten in drittehalb
-Monaten drei ›Träger‹, der erste erhielt monatlich
-30&nbsp;Rupien &ndash; etwa 27&nbsp;Cents täglich &ndash; die beiden
-andern 40&nbsp;Rupien den Monat. Eine fürstliche Bezahlung!
-In Indien erhält der eingeborene Weichensteller
-auf der Eisenbahn höchstens 7&nbsp;Rupien
-monatlich, desgleichen der eingeborene Bediente in
-einem Privathaus, und der Knecht auf dem Lande
-nur 4&nbsp;Rupien. Die beiden ersteren beköstigen und
-kleiden sich und ihre Familien selbst; ob das der
-Knecht bei dem Monatslohn von 1&nbsp;Dollar 8&nbsp;Cents<span class="pagenum" id="Seite_40">[40]</span>
-auch tut, möchte ich bezweifeln. Vermutlich nährt
-ihn das Land, und mit seinem Verdienst bestreitet
-er den Unterhalt der Familie, nebst einer kleinen Abgabe
-für den Priester. Kleidung und Wohnung
-der Seinigen kosten nichts; sie leben in einer selbsterbauten
-Erdhütte, für die sie schwerlich Miete zahlen
-und tragen die ersten besten Lumpen; bei Knaben
-ist selbst das nicht vonnöten. Uebrigens sind für
-den Tagelöhner auf dem Lande jetzt gute Zeiten,
-er hat nicht immer ein so üppiges Leben geführt.
-Als der Hauptbevollmächtigte der Provinzen des
-Innern unlängst die Klagen einer Abordnung von
-Eingeborenen in einem amtlichen Erlaß als unbegründet
-zurückwies, erinnerte er sie daran, daß vor
-kurzem der Tagelohn noch eine halbe Rupie monatlich
-betragen habe, täglich nicht ganz einen Cent,
-$&nbsp;2.90 im Jahr. Wenn ein solcher Lohnarbeiter
-eine große Familie hatte &ndash; und mit diesem Reichtum
-beschenkt der Himmel die armen Eingeborenen
-ohne Ausnahme &ndash; so konnte er bei strengster Sparsamkeit
-vielleicht 15&nbsp;Cents vom Ertrag seiner Jahresarbeit
-erübrigen. Eine Schuld von $&nbsp;13.50
-hätte er in 90&nbsp;Jahren abtragen können, wenn er
-Leben und Gesundheit behielt. Man stelle sich nur
-einmal vor, was das sagen will: Indien hat verhältnismäßig<span class="pagenum" id="Seite_41">[41]</span>
-wenige Städte; fast das ganze Land
-ist mit unabsehbaren Feldern bedeckt, die durch Lehmmauern
-von einander getrennt sind. Die ungeheure
-Masse der Bevölkerung besteht also einzig und allein
-aus landwirtschaftlichen Arbeitern. Kennt man diese
-Tatsachen, so erhält man erst einen Begriff von der
-grenzenlosen Armut, die sich hier ansammeln muß.</p>
-
-<p>Der erste Diener, der sich bei uns meldete, wartete
-unten und schickte seine Zeugnisse herauf; es
-war am Morgen nach unserer Ankunft in Bombay.
-Wir prüften sie sorgfältig und fanden nichts daran
-auszusetzen, bis auf das eine: sie waren alle von
-Amerikanern ausgestellt. Wir sind ein zu gutmütiges
-Volk und bringen es nicht übers Herz, einem
-armen Menschen, der sein Brot verdienen muß,
-durch unser Urteil zu schaden. So erwähnen wir
-in dem Zeugnis nur seine guten Eigenschaften, ja,
-wir preisen sie nicht selten über Gebühr, und lassen
-die schlechten auf sich beruhen. Ueber diese stumme
-Lüge machen wir uns keine Gewissensbisse, und doch
-ist sie im Grunde verächtlicher als eine ausgesprochene
-Unwahrheit, mit der man die Leute nicht so leicht
-betrügt, weil sie sich durchschauen läßt. In Frankreich
-ist das anders; dort hat man wenigstens die
-Entschuldigung, daß ein Herr dem entlassenen Diener<span class="pagenum" id="Seite_42">[42]</span>
-ein gutes Zeugnis geben und seine Fehler verschweigen
-<em class="gesperrt">muß</em>, er mag wollen oder nicht. Erwähnt
-man zum Schutz für den nächsten Brotherrn die
-Untugenden des Dieners, so kann er auf Schadenersatz
-klagen, und der Gerichtshof erkennt seine Forderungen
-an, ja, er erteilt dem wahrheitsliebenden
-Herrn noch eine derbe Rüge, weil er versucht hat,
-einen armen Menschen um sein Brot zu bringen und
-ihm den guten Ruf abzuschneiden. &ndash; Ich würde dergleichen
-nicht behaupten, wüßte ich es nicht aus
-dem Munde eines berühmten französischen Arztes,
-eines geborenen Parisers, der mir sagte, das sei
-nicht nur allgemein bekannt, sondern er selber habe
-in dieser Hinsicht sehr schlimme persönliche Erfahrungen
-gemacht.</p>
-
-<p>Die reisenden Amerikaner hatten, wie gesagt,
-den Manuel X. in seinem Zeugnis so warm empfohlen,
-daß Sankt Petrus selbst ihn darauf hin zum
-Himmelstor eingelassen hätte, wenn der Heilige, wie
-ich vermute, mit den Gepflogenheiten meiner Landsleute
-nicht gerade sehr vertraut ist. Der Diener war
-als ein Ausbund von Geschicklichkeit in allen Künsten
-seines vielgestaltigen Berufs geschildert. Mit ganz
-besonderem Entzücken wurde seine ausgezeichnete
-Kenntnis des Englischen erwähnt, was mich sehr<span class="pagenum" id="Seite_43">[43]</span>
-freute, denn ich hoffte, es würde doch etwas Wahres
-daran sein.</p>
-
-<p>Einen Diener mußten wir unverzüglich haben;
-die Meinigen nahmen Manuel daher für eine Woche
-zur Probe an und schickten ihn zu mir herauf. Ich
-hütete wegen meines Bronchialkatarrhs das Zimmer
-und sehnte mich nach einer kleinen Abwechslung
-und Unterhaltung. Da kam mir Manuel gerade
-recht. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, groß und
-schlank, hielt sich aus gewohnheitsmäßiger Ehrerbietung
-etwas vornüber gebeugt, hatte ein Gesicht
-von europäischem Schnitt, kohlschwarzes Haar, ein
-paar sanfte, fast furchtsame schwarze Augen, eine
-sehr dunkle Hautfarbe und ein glattgeschorenes Kinn.
-Anders als barhaupt und barfuß habe ich ihn während
-seiner Dienstwoche bei uns nie gesehen; die
-europäischen Kleider, welche er anhatte, waren
-schlecht, dünn und sehr abgetragen.</p>
-
-<p>So stand er vor mir, verbeugte sich zum Gruß
-mit dem ganzen Oberkörper nach der feierlichen Art
-der Inder und berührte seine Stirn mit den Fingerspitzen
-der rechten Hand.</p>
-
-<p>»Offenbar bist du ein Hindu, Manuel,« sagte
-ich, »aber du hast einen spanischen Namen &ndash; wie
-kommt das?«</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[44]</span></p>
-
-<p>Der Diener machte ein verblüfftes Gesicht; er
-hatte nichts verstanden und wollte es sich doch nicht
-merken lassen.</p>
-
-<p>»Name Manuel. Ja Herr,« antwortete er
-gelassen.</p>
-
-<p>»Das weiß ich, aber woher hast du ihn?«</p>
-
-<p>»O ja, vermutlich. Wird wohl so sein. Vater
-heißt ebenso, Mutter nicht.«</p>
-
-<p>Ich versuchte mich einfacher auszudrücken, um
-von diesem gelehrten Engländer verstanden zu werden,
-und sprach sehr langsam und deutlich:</p>
-
-<p>»Von &ndash; wem &ndash; hat &ndash; dein &ndash; Vater &ndash;
-seinen &ndash; Namen?«</p>
-
-<p>»O, der&nbsp;&ndash;« sein Gesicht erhellte sich &ndash; »er
-Christ sein, portugiesischer &ndash; wohnen in Goa. Ich
-geboren Goa. Mutter nicht Portugiesin &ndash; Mutter
-Eingeborene &ndash; Brahminenkaste &ndash; oberste Stufe
-&ndash; keine Kaste so hoch wie diese. Ich auch hochgeborener
-Brahmine. Auch Christ, wie Vater
-&ndash; hoher christlicher Brahmine, Herr &ndash; Heilsarmee.«</p>
-
-<p>Diese Worte brachte er stotternd und schwerfällig
-heraus. Dann kam es plötzlich wie Begeisterung
-über ihn und er erging sich in einem langen Schwall
-unverständlicher Reden.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[45]</span></p>
-
-<p>»Höre auf,« unterbrach ich ihn. »Hindustani
-verstehe ich nicht.«</p>
-
-<p>»Nicht Hindustani, Herr &ndash; Englisch. Ich sprechen
-Englisch immer, den ganzen Tag, manchmal.«</p>
-
-<p>»Gut, so lasse ich mir’s gefallen; es ist zwar
-nicht was ich nach deinem Zeugnis erwartet und
-gehofft hatte, doch ist es verständlich. Schmücke es
-nicht weiter aus. Sprachverschnörkelungen, die den
-Sinn beeinträchtigen, sind mir verhaßt.«</p>
-
-<p>»Herr?«</p>
-
-<p>»Das war nur eine allgemeine Bemerkung.
-Aber sage mir, wie kommst du zu deinem Englisch?
-Hast du es gelernt, oder ist es nur eine Gabe Gottes?«</p>
-
-<p>Manuel zögerte mit der Antwort.</p>
-
-<p>»Ja,« sagte er dann in frommem Ton. »Er
-sehr gut. Christengott sehr gut, Hindugott auch
-sehr gut. Zwei Millionen Hindugott, ein Christengott.
-Gehören alle mein, zwei Millionen und ein
-Gott &ndash; ich haben sehr viele. Manchmal ich beten
-zu sie allezeit, gehen jeden Tag an Altar, geben
-Geld; gut für mich &ndash; macht mich besserer Mann,
-gut für meine Kinder auch, verdammt gut.«</p>
-
-<p>Nun fing er wieder an, allerhand unzusammenhängendes
-Zeug zu schwatzen, bis ich unserm Gespräch
-ein Ende machte und ihm befahl, das Badezimmer<span class="pagenum" id="Seite_46">[46]</span>
-in Ordnung zu bringen und den Boden aufzuwischen
-&ndash; ich wollte ihn los sein. Er tat als verstünde er
-mich, nahm meine Kleider aus dem Schrank und
-begann sie zu bürsten. Endlich, nachdem ich ihm
-meine Wünsche noch mehrmals in immer einfacheren
-Worten kundgetan, begriff er was ich wollte. Er
-ging hin und holte einen Kuli, um die Arbeit zu
-tun. Wenn er sie selbst verrichtete, erklärte er mir,
-würde er das Gesetz seiner Kaste übertreten und
-sich verunreinigen. Er könne sich dann nur mit
-großer Not und Schwierigkeit wieder zu Ehren
-bringen. Dergleichen Arbeit sei den höheren Kasten
-streng verboten, sie müßte von den Hindus der untersten
-Kaste, den verachteten Sudras getan werden.</p>
-
-<p>Darin hatte Manuel vollkommen recht. Auch
-haben sich die armen Sudras anscheinend seit Jahrhunderten
-in ihr elendes Los ergeben, das sie sozusagen
-von Anbeginn der Welt dem Schimpf und
-der Bedrückung preisgibt. In den Verordnungen
-des Manu (900 v. Chr.) steht, daß wenn sich ein
-Sudra <em class="gesperrt">nicht auf einen niedrigeren Platz
-setzt als der Höhergestellte, er verbannt
-und gebrandmarkt werden soll</em>
-… beleidigt er ein Mitglied der höheren Kaste,
-<em class="gesperrt">so wird er mit dem Tode bestraft</em>. Hört<span class="pagenum" id="Seite_47">[47]</span>
-er zu, wenn die heiligen Bücher vorgelesen werden,
-so soll ihm <em class="gesperrt">siedendes Oel in die Ohren
-gegossen werden</em>; lernt er Stellen davon auswendig,
-<em class="gesperrt">so bringt man ihn um</em>; verheiratet
-er seine Tochter an einen Brahminen, <em class="gesperrt">so fährt
-der Gatte in die Hölle</em>, weil er sich durch
-die Berührung mit einem so unendlich tief unter
-ihm stehenden Weibe verunreinigt hat. Auch ist es
-dem Sudra verboten, <em class="gesperrt">Reichtum zu erwerben</em>.
-»Der Hauptbestandteil der indischen Bevölkerung«
-(heute auf 300&nbsp;000&nbsp;000 geschätzt) sagt Bukle »sind
-die Sudras &ndash; die Arbeiter, Landbauer und Erzeuger
-des Wohlstands, und doch hat schon der Name
-Sudra eine verächtliche Bedeutung.«</p>
-
-<p>Den armen alten Manuel konnten wir nicht
-gebrauchen; er mochte wohl schon zu bejahrt für
-uns sein. Ueber seine Langsamkeit wollte man schier
-verzweifeln und seine Vergeßlichkeit überstieg alle
-Grenzen. Um eine Besorgung in der nächsten Straße
-zu machen, blieb er zwei Stunden aus und vergaß
-unterwegs, was er holen sollte. Zum Packen eines
-Koffers brauchte er eine Ewigkeit und wenn er
-schließlich damit zustande kam, war der Inhalt ein
-unbeschreibliches Chaos. Auch die Aufwartung bei
-Tische besorgte er schlecht, und das ist ein sehr wesentlicher<span class="pagenum" id="Seite_48">[48]</span>
-Mangel, denn wer sich in einem indischen
-Hotel nicht auf seinen eigenen Diener verlassen darf,
-ist übel dran und muß meist hungrig von Tische
-aufstehen. Sein Englisch verstanden wir ebensowenig
-wie er das unsrige, und als sich herausstellte,
-daß er selbst nicht verstand was er sagte, war es
-hohe Zeit uns von ihm zu trennen. Fortschicken
-mußte ich ihn, das ließ sich nicht ändern, aber ich
-tat es so sanft und freundlich, wie ich irgend konnte.
-»Wir müssen scheiden,« sagte ich, »doch hoffe ich,
-daß wir uns in einer bessern Welt wiederfinden.«
-Die kleine Unwahrheit nahm ich mir nicht übel,
-sie kostete nichts und ersparte ihm eine Kränkung.</p>
-
-<p>Sobald er fort war, fiel mir eine Last vom
-Herzen, ich fühlte frische Kraft und neuen Mut, meine
-Unternehmungslust wuchs und ich war bereit zu
-allen Taten. Da kam auch schon Manuels neu
-gemieteter Nachfolger hereingeflitzt; er berührte seine
-Stirn, flog hierhin und dorthin auf sammetweichen
-Sohlen, brachte in fünf Minuten das ganze Zimmer
-in die musterhafteste Ordnung und stand dann ehrerbietig
-da, weitere Befehle erwartend. Potztausend,
-was war das für ein rühriges Kerlchen! Eine wahre
-Erquickung nach der schläfrigen alten Schnecke, dem
-Manuel. Vom ersten Augenblick an hing mein<span class="pagenum" id="Seite_49">[49]</span>
-ganzes Herz voll Liebe und Bewunderung an dem
-zweibeinigen, flinken, schwarzen Geschöpfchen, diesem
-Inbegriff von Tatkraft, Schnelligkeit und Zuversicht,
-diesem klugen, freundlichen, reizenden kleinen
-Teufel mit den blitzenden Augen. Das flammendrote
-Fez mit der feurigen Troddel, das ihm
-oben auf dem Kopfe saß und wie eine brennende
-Kohle glühte, kleidete ihn zum Entzücken.</p>
-
-<p>»Wir werden gut zusammen auskommen,« sagte
-ich mit innerlichster Befriedigung. »Wie heißt du?«</p>
-
-<p>Er wickelte seinen Namen der ganzen Länge
-nach mit geläufiger Zunge ab.</p>
-
-<p>»Warte, laß mich meine Auswahl treffen, zum
-täglichen Gebrauch &ndash; den Rest versparen wir uns
-auf den Sonntag. Sage mir’s noch einmal, aber
-abteilungsweise.«</p>
-
-<p>Er tat es; doch war kein kurzer Name darunter,
-außer Mausa, was mir nicht passend schien; es
-erinnerte an Maus und war zu sanft und still
-und viel zu unscheinbar für sein prächtiges Wesen.</p>
-
-<p>»Mausa ist kurz genug,« sagte ich nach einiger
-Ueberlegung, »aber es gefällt mir nicht; es hat
-weder Saft noch Kraft und ist nicht bezeichnend
-genug &ndash; in solchen Dingen bin ich sehr empfindlich.
-Was meinst du, wenn wir dich Satan nennten?«</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_50">[50]</span></p>
-
-<p>»Ja Herr &ndash; Satan, sehr guter Name.«</p>
-
-<p>Es klopfte an der Tür; mit einem Sprunge
-war Satan dort, ein paar Worte auf Hindustani
-wurden gewechselt, dann schlüpfte er hinaus. Drei
-Minuten später stand er in militärischer Haltung
-wieder vor mir und wartete auf meine Anrede.</p>
-
-<p>»Was gibt es, Satan?«</p>
-
-<p>»Gott ist da, wünschen Sie zu sprechen.«</p>
-
-<p>»Wer?«</p>
-
-<p>»Gott. Ich ihn sollen hereinführen?«</p>
-
-<p>»Wie ist denn das möglich? &ndash; ich &ndash; ich weiß
-wirklich nicht &ndash; so ganz unvorbereitet &ndash; erkläre
-mir doch &ndash; ein so ungewöhnlicher Besuch&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>»Hier seine Karte, Herr.«</p>
-
-<p>War es nicht merkwürdig, schrecklich und staunenerregend,
-daß eine so hohe Persönlichkeit mich
-armen Sterblichen besuchen wollte, und mir wie ein
-gewöhnlicher Mensch seine Karte hereinschickte &ndash;
-obendrein durch Satan? &ndash; Es schien mir ein völlig
-verwirrendes, undenkbares Zusammentreffen. Aber
-wir waren ja in Indien, dem Märchenlande; es
-gibt nichts, was dort nicht geschehen könnte!</p>
-
-<p>Die Unterredung fand statt. Satan hatte ganz
-recht. Mein Besucher war in den Augen seiner Anhänger
-wirklich ein Gott und wurde von ihnen als<span class="pagenum" id="Seite_51">[51]</span>
-solcher in aller Demut verehrt und angebetet. An
-der Göttlichkeit seines Amtes und Ursprungs zu
-zweifeln, liegt ihnen ferne. Sie glauben an ihn,
-bringen ihm Gaben und Opfer dar und erlangen von
-ihm Vergebung ihrer Sünden. Seine Person und
-alles was diese betrifft, ist ihnen heilig; sie kaufen
-sich von dem Barbier die abgeschnittenen Fingernägel
-des Gottes, fassen sie in Gold und tragen sie
-als kostbare Amulette.</p>
-
-<p>Ich versuchte eine ruhige Unterhaltung mit ihm
-zu führen, aber ich brachte es nicht zustande. Hättet
-ihr es tun können? &ndash; Meine Aufregung, Verwunderung
-und Neugier waren zu groß; ich verschlang
-ihn förmlich mit den Augen. Es war ein Gott, ein
-wirklicher, anerkannter und beglaubigter Gott, den ich
-da vor mir sah; seine Person, sein Anzug bis in die
-kleinsten Einzelheiten, hatte ein überwältigendes Interesse
-für mich. »Was für ein Unterschied!« dachte
-ich: »selbst der höchstgestellte Mensch muß sich am
-Zoll der Ehrerbietung und Höflichkeit genügen lassen,
-den man ihm darbringt, aber <em class="gesperrt">er</em> ist der Empfänger
-weit köstlicherer Geistesgaben &ndash; vor ihm kniet man,
-ihn betet man an! Männer und Frauen legen die
-Sorgen und Kümmernisse eines schwerbeladenen Herzens
-ihm zu Füßen nieder und er verleiht ihnen Trost<span class="pagenum" id="Seite_52">[52]</span>
-und Frieden, so daß sie geheilt von dannen gehen.«</p>
-
-<p>In diesem Augenblick sagte mein erhabener Gast
-im einfachsten Tone von der Welt:</p>
-
-<p>»Was mir an der Lebensweisheit Ihres Huckleberry
-Finn am besten gefällt, ist&nbsp;&ndash;« und dann fuhr
-er fort, mir sein literarisches Urteil auf klare und
-verständige Weise auseinander zu setzen.</p>
-
-<p>O, was für wunderbare Ueberraschungen erlebt
-man doch in Indien! Ich gestehe, daß ich nicht ohne
-Ehrgeiz bin und gehofft hatte, Könige, Präsidenten
-und Kaiser würden mich lesen &ndash; aber <em class="gesperrt">so hoch</em>
-hatte ich mich in meinen Erwartungen nie verstiegen.
-Wollte ich leugnen, daß mich das unendlich
-beglückte, so wäre es falsche Bescheidenheit. Selbst die
-größte Anerkennung von seiten eines Menschen hätte
-mir nicht solche Freude gemacht, das bekenne ich
-ganz offen.</p>
-
-<p>Mein Gast blieb über eine halbe Stunde da
-und war sehr höflich und liebenswürdig. Die göttliche
-Würde besteht schon lange in seiner Familie,
-seit wann weiß ich nicht. Er ist eine mohammedanische
-Gottheit und nimmt auf Erden den Rang
-eines persischen Prinzen ein, der in gerader Linie
-vom Propheten abstammt. Er ist hübsch und noch
-recht jung &ndash; für einen Gott &ndash; fünfunddreißig<span class="pagenum" id="Seite_53">[53]</span>
-bis vierzig Jahre alt. Die göttliche Größe trägt er
-mit Ruhe und Gelassenheit, wie es sich für seinen
-erhabenen Beruf ziemt, und dabei sprach er das
-Englische geläufig und rein, wie ein geborener Engländer.
-Ich glaube nicht, daß ich übertreibe; ich
-hatte vorher noch nie einen Gott gesehen, und er
-machte mir einen sehr günstigen Eindruck. Als er
-sich erhob um Abschied zu nehmen, ging die Tür
-auf, ich sah draußen ein rotes Fez aufleuchten und
-hörte die ehrerbietige Frage:</p>
-
-<p>»Soll Satan Gott hinausbegleiten?«</p>
-
-<p>»Ja.« &ndash; Die beiden unzusammengehörigen
-Wesen verschwanden vor meinen Blicken, Satan ging
-voraus und der <em class="gesperrt">Andere</em> folgte ihm.</p>
-
-<div class="figcenter" id="illu-053">
- <img class="w15" src="images/illu-053.jpg" alt="Dekoration" />
-</div>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_54">[54]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap04">Viertes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Glück zu ertragen verstehen nur wenige.
-Ich meine andrer Leute Glück.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Das nächste Bild in meiner Erinnerung ist das
-Gouverneurshaus auf der Malabar-Spitze, wo man
-von den Fenstern und großen Balkons weit ins
-Meer hinausblickt. Seine Exzellenz, der Gouverneur
-der Präsidentschaft Bombay, wohnt dort ganz nach
-europäischer Art, in einem Staatspalast, der zugleich
-ein behagliches Heim ist; nur die Leibwache und die
-Diener sind Eingeborene. Da war England vertreten
-mit seiner Macht und den Errungenschaften
-seiner modernen Zivilisation; überall herrschten stille
-Farben und gediegener Geschmack, ruhige Würde
-und Vornehmheit.</p>
-
-<p>Nun folgte ein Bild altindischer Kultur in der
-Behausung von Kumar Shri Samatsinhji Bahadur,<span class="pagenum" id="Seite_55">[55]</span>
-dem Fürsten des Palitana-Staats. Bei unserm Besuch
-sahen wir auch dessen Sohn und Erben nebst
-seinem Schwesterchen. Die hübsche braune kleine
-Elfe war zart gebaut, sehr ernsthaft, reizend anzuschauen
-und gekleidet wie der zierlichste Schmetterling.
-Sie machte uns zwar ein freundliches Gesicht,
-doch zog sie es anfänglich vor, ihres Vaters Hand
-nicht loszulassen, um die Fremden erst näher kennen
-zu lernen und zu sehen, wie weit man ihnen trauen
-dürfe. Die niedliche kleine Märchenprinzessin mochte
-etwa acht Jahre alt sein; in drei oder vier Jahren
-mußte sie also nach indischem Brauch heiraten. Dann
-war ihr freies Leben in Luft und Sonnenschein
-zu Ende und von einem Verkehr mit männlichen Besuchern
-durfte nicht mehr die Rede sein. Gleich ihrer
-Mutter wird sie sich auf Lebenszeit im Frauengemach
-einschließen, sich aus angeerbter Gewohnheit glücklich
-fühlen und ihre Beschränkung weder als lästigen
-Zwang noch als trübselige Gefangenschaft ansehen.</p>
-
-<p>In seinen Mußestunden unterhält sich der Fürst
-mit einem Spiel &ndash; aber davon will ich lieber nicht
-reden; ich könnte es doch nicht so beschreiben, daß
-man es versteht. Es ist sehr verwickelt, und obgleich
-ich mir alle Mühe gab es zu begreifen, gelang es
-mir doch nicht; man sagt, daß nur ein Inder das<span class="pagenum" id="Seite_56">[56]</span>
-Spiel erlernen kann. Meine Frau und Tochter besuchten
-unterdessen die Fürstin im Frauengemach
-&ndash; eine liebenswürdige Dame, die fließend Englisch
-spricht. &ndash; Auch einen Turban zu winden war ich
-nicht imstande; es sieht so einfach und leicht aus,
-als wäre es gar keine Kunst, das beruht jedoch auf
-Täuschung. Der Inder nimmt das eine Ende eines
-vierzig bis fünfzig Fuß langen und etwa einen Fuß
-breiten, dünnen, zarten Gewebes in beide Hände,
-windet es sorgfältig fest um den Kopf, wobei er
-den Stoff mehrmals dreht &ndash; in ein paar Minuten
-ist das Kunstwerk regelrecht vollendet und sitzt
-wie angegossen.</p>
-
-<p>Wir interessierten uns sehr für die fürstliche
-Garderobe, die Edelsteine und das schön geformte,
-prächtig verzierte Silbergerät. Letzteres wird bei
-den Mahlzeiten gebraucht und im übrigen stets verschlossen
-gehalten; nur der erste Diener und der
-Fürst selber haben Schlüssel zum Silberschrank. Der
-Zweck dieser Maßregel ist aber keineswegs den Silberschatz
-zu hüten, sondern vermutlich den Fürsten
-vor einer Verunreinigung zu schützen, welcher seine
-Kaste ausgesetzt wäre, wenn Diener aus einer niederen
-Kaste die Gefäße berührten; vielleicht fürchtet
-seine Hoheit auch Gift! Ich glaube ein besoldeter<span class="pagenum" id="Seite_57">[57]</span>
-Vorkoster muß jede Speise versuchen, ehe der Fürst
-sie genießt. Das ist eine alte, weise Sitte im Orient,
-die gar manchen Vorkoster an Stelle seines Herren
-ins Jenseits brachte, denn natürlich ist es der Koch,
-der das Gift in das Essen tut. Wäre ich ein indischer
-Fürst, so würde ich mit dem Koch speisen und die
-Stelle des Vorkosters eingehen lassen.</p>
-
-<p>Alle Zeremonien flößen mir stets Interesse ein;
-auch mit dem indischen Morgengruß ist eine solche
-verbunden: Der Sohn berührt dabei ehrfurchtsvoll
-des Vaters Stirn mit einem kleinen silbernen Röhrchen,
-das in Saft getaucht wird, welcher einen roten
-Punkt zurückläßt; hierauf segnet der Vater den Sohn.
-Wenn wir uns damit begnügen, Guten Morgen zu
-sagen, so paßt das zwar zu unsern formlosen Gewohnheiten,
-aber für den Orient wäre es lange nicht
-umständlich und feierlich genug.</p>
-
-<p>Beim Schluß unseres angenehmen Besuchs legte
-man uns noch, wie es die Sitte verlangt, große
-gelbe Blumenkränze um den Hals und versah uns
-mit Betelnüssen zum Kauen. Dann begaben wir uns
-aus diesem farbenprächtigen, sonnigen Leben nach
-einem Schauplatz ganz anderer Art, nach den ›Türmen
-des Schweigens‹, wohin die Parsen ihre Toten
-bringen. Der Name hat einen erhabenen eindrucksvollen<span class="pagenum" id="Seite_58">[58]</span>
-Klang, über dem die Stille des Todes schwebt.
-Wenn wir von Grabhügel, Grabgewölbe, Gottesacker
-und Friedhof reden, so haben diese Wörter zwar
-auch, durch die sich daran knüpfenden Gedanken, eine
-feierliche Bedeutung für uns gewonnen, aber so majestätisch
-tönen sie doch nicht an unser Ohr.</p>
-
-<p>Auf einer Anhöhe, mitten in einem tropischen
-Paradies von Blumen und Laubwerk, fern vom
-lärmenden Weltgetriebe, standen die ›Türme des
-Schweigens‹ da; ringsum breiteten sich große Haine
-von Kakaopalmen aus, dann die Stadt in meilenweitem
-Umkreis, dahinter das von Schiffen wimmelnde
-Meer, und über allem schwebte dieselbe lautlose
-Stille, welche droben den Platz der Toten umgab.
-Die Geier hatten sich eingestellt; sie saßen am Rande
-des niedrigen festen Turmes in einem großen Kreise
-dichtgedrängt, regungslos, wie aus Stein gemeißelt
-&ndash; und warteten. Man war fast versucht, sie für
-leblose Bildwerke zu halten. Plötzlich traten die
-Anwesenden &ndash; es mochten etwa zwanzig Personen
-zugegen sein &ndash; ehrfurchtsvoll beiseite, und das Gespräch
-verstummte. Ein Leichenzug bewegte sich durch
-das große Gartentor nach dem Turme hin. Der
-Tote lag auf einer flachen Bahre mit einem weißen
-Tuche bedeckt, sonst aber unbekleidet; zwischen den<span class="pagenum" id="Seite_59">[59]</span>
-Leichenträgern und dem Trauergefolge ließ man
-einen Abstand von dreißig Fuß. Die paarweise einherschreitenden
-Leidtragenden, in weiße Gewänder
-gehüllt, waren je zwei und zwei mit Stricken oder
-Tüchern zusammengebunden &ndash; das heißt, im bildlichen
-Sinne &ndash; eigentlich hielt nur jeder ein Ende
-in der Hand. Hinter dem Zuge führte man einen
-Hund an der Leine. Als die Trauernden unweit
-des Turmes angelangt waren &ndash; es darf außer den
-Trägern mit der Leiche kein Mensch näher kommen
-als bis auf dreißig Fuß &ndash; kehrten sie wieder um
-und begaben sich nach einem kleinen Tempel im
-Garten, um für den abgeschiedenen Geist zu beten.
-Die Träger schlossen indessen die Tür auf, welche
-den einzigen Gang zum Turme bildet und verschwanden
-drinnen vor unsern Blicken. Nach einer Weile
-kamen sie wieder heraus, Bahre und Leichentuch
-tragend, und verschlossen die Tür. Nun erhoben sich
-die Geier im Kreise, schlugen mit den Flügeln und
-schossen in den Turm hinunter, um die Leiche zu verzehren.
-Als der ganze Schwarm wenige Minuten
-später wieder davonflog, blieb nur das völlig abgenagte
-Skelett zurück.</p>
-
-<p>Der Gedanke, welcher bei einem Parsenbegräbnis
-allen Bestimmungen zu Grunde liegt, ist die<span class="pagenum" id="Seite_60">[60]</span>
-Reinheit. Nach den Lehren des Zoroaster sind die
-Elemente Erde, Feuer und Wasser geheiligt und
-dürfen nicht durch Berührung eines Leichnams befleckt
-werden. Daher kann man die Toten weder verbrennen
-noch begraben, auch ist jedem untersagt,
-eine Leiche zu berühren oder den Turm zu betreten,
-in dem sie liegt. Nur den von Amtswegen dazu
-bestimmten Männern wird dies gestattet; sie erhalten
-hohen Lohn, führen jedoch ein einsames, trübseliges
-Leben, denn sie müssen allen Umgang mit andern
-Genossen meiden, weil sie sich durch ihren Verkehr
-mit den Toten verunreinigen; wer sich zu ihnen
-gesellt, wird gleichfalls befleckt. Bei ihrer Rückkehr
-aus dem Turm wechseln sie ihre Kleider in einem
-innerhalb der Tore gelegenen, besonders dazu bestimmten
-Gebäude. Den Anzug, welchen sie getragen
-haben, lassen sie dort zurück, denn er ist unrein und
-darf nicht mit hinausgenommen, noch überhaupt
-wieder benützt werden. Zu jedem Begräbnis kommen
-die Träger in neuen Kleidern. Kein menschliches
-Wesen, außer den angestellten Leichenträgern, hat
-je einen ›Turm des Schweigens‹ nach dessen Einweihung
-betreten, bis auf einen einzigen Fall. Es
-ist jetzt gerade hundert Jahre her, da drang einmal
-ein Europäer hinter den Trägern ins Innere des<span class="pagenum" id="Seite_61">[61]</span>
-Turmes, um seine rohe Neugier an dem verbotenen
-Anblick des geheimnisvollen Ortes zu sättigen. Name
-und Stand des frechen Eindringlings sind unbekannt
-geblieben; da er jedoch für sein schweres Vergehen
-keine andere Strafe seitens der Regierung
-der Ostindischen Kompagnie erhalten hat, als einen
-öffentlichen Verweis, so liegt die Vermutung nahe,
-daß es ein Europäer aus angesehener Familie war.
-In dem amtlichen Schreiben, welches jene feierliche
-Rüge enthielt, wurde zugleich jedem, der sich künftig
-einer ähnlichen Uebertretung schuldig machte, angekündigt,
-man werde ihn, falls er im Dienst der Kompagnie
-stehe, sofort entlassen; Mitglieder des Kaufmannsstandes
-dagegen sollten ihre Handelsberechtigung
-verlieren und aus Indien verbannt werden.</p>
-
-<p>Die ›Türme des Schweigens‹ sind im Verhältnis
-zu ihrem Umfang nicht hoch. Will man sich einen
-ungefähren Begriff von ihrer Form machen, so stelle
-man sich einen Gasometer vor, der bis zur Hälfte
-seiner Höhe mit festen Granitsteinen ausgemauert
-ist, durch welche man in der Mitte einen breiten
-und tiefen Schacht gebohrt hat. Ringsum auf dem
-Mauerwerk liegen die Toten in flachen, rinnenartigen
-Vertiefungen, welche wie die Speichen eines Rades
-in schräger Richtung nach dem Brunnen zu auslaufen<span class="pagenum" id="Seite_62">[62]</span>
-und ihm das Regenwasser zuführen, das durch
-unterirdische Kanäle mit Kohlenfiltern wieder abgeleitet
-wird.</p>
-
-<p>Hat das Skelett einen Monat lang, dem Regen
-und der glühenden Sonne ausgesetzt, im Turm gelegen,
-so ist es vollkommen trocken und rein. Dann
-kommen dieselben Träger behandschuht wieder, fassen
-es mit einer Zange an und werfen es in den Schacht,
-wo es in Staub zerfällt. Andere Völker scheiden
-ihre Toten voneinander und bewahren die Standesunterschiede
-noch im Grabe. Sie bestatten die Leichen
-von Königen, Staatsmännern, Generälen, in Tempeln
-und Pantheons, wie es ihrem Range gebührt,
-und die Leichen der Armen und gemeinen Leute an
-Orten, die ihrem niedern Stande angemessen sind.
-Die Parsen dagegen glauben, daß im Tode alle
-Menschen gleich sind. Zum Zeichen ihrer Armut
-trägt man sie nackt in die Grube, zum Zeichen ihrer
-Gleichheit wirft man die Gebeine der Reichen, der
-Armen, der Berühmten und der Unbekannten zusammen
-in denselben Brunnenschacht. Bei einem Parsenbegräbnis
-sieht man keine Wagen; wer sich daran
-beteiligt, sei er reich oder arm, muß zu Fuße gehen,
-mag die Entfernung auch noch so groß sein. Seitdem
-die Parsen vor zweihundert Jahren, durch die<span class="pagenum" id="Seite_63">[63]</span>
-mohammedanischen Eroberer vertrieben, aus Persien
-nach jener Gegend Indiens eingewandert sind, hat
-sich in den fünf vorhandenen ›Türmen des Schweigens‹
-der Staub aller ihrer Männer, Frauen und
-Kinder vermischt, die in Bombay und dessen Umgegend
-gestorben sind.</p>
-
-<p>Was der Hund bei dem Begräbnis bedeutet,
-weiß niemand mehr recht zu erklären; er soll bei
-den alten Parsen ein heiliges Tier gewesen sein,
-das die abgeschiedenen Seelen zum Himmel geleitete.
-Der Hund, den ich damals sah, machte mir
-einen tiefen Eindruck, er war ja ein Rätsel, zu dem
-der Schlüssel verloren gegangen ist. Traurig und
-mit gesenktem Kopf kam er daher, als sei er bemüht,
-sich das Sinnbild ins Gedächtnis zurückzurufen, welches
-vorzustellen man ihn vor grauen Jahren beauftragt
-hatte. Das heilige Feuer, das in der Nähe
-brennt, bekam ich nicht zu sehen; die ursprüngliche
-Flamme soll seit zweihundert Jahren nicht erloschen
-sein.</p>
-
-<p>Die Parsen behaupten, daß ihre Art der Totenbestattung
-der wirksamste Schutz für die Lebenden ist.
-Weder Krankheitskeime noch Fäulnis, noch irgend
-welche Unreinigkeit wird dadurch verbreitet; keine
-Hülle, kein Kleidungsstück, das dem Toten angehört<span class="pagenum" id="Seite_64">[64]</span>
-hat, darf wieder mit einem Lebenden in Berührung
-kommen. Nichts geht von den Türmen des Schweigens
-aus, was der Welt draußen Schaden zu bringen
-vermöchte. Wir können den Parsen nur recht geben.
-In gesundheitlicher Beziehung hat ihr System dieselben
-Vorzüge wie die Leichenverbrennung. Wir
-nähern uns jetzt langsam aber sicher dieser Bestattungsart.
-Daß sich die Wandlung rasch vollziehen
-wird, kann man nicht erwarten, aber wenn sie nur
-allmählich und stetig fortschreitet, so genügt das
-vollständig. Ist die Leichenverbrennung erst einmal
-zur allgemeinen Regel geworden, so wird unser
-Grauen davor verschwinden; auch die Toten zu begraben
-würde uns Schauer erregen, wenn wir uns vergegenwärtigen
-wollten, was im Grabe vorgeht.</p>
-
-<p>Die Parsen sind eine merkwürdige Volksgemeinde.
-In Bombay leben etwa 60&nbsp;000 und halb
-so viel im übrigen Indien, aber was ihnen an Zahl
-abgeht, ersetzen sie durch ihre Bedeutung. Sie sind
-hochgebildet, tatkräftig, unternehmend, reich, dem
-Fortschritt huldigend, und nicht einmal die Juden
-zeigen sich so freigebig und wohltätig gegen jedermann
-ohne Unterschied. Viele Hospitäler für Menschen
-und Tiere sind von den Parsen erbaut und mit
-reichen Geldmitteln ausgestattet worden. Sie sowohl<span class="pagenum" id="Seite_65">[65]</span>
-als ihre Frauen haben eine stets offene Hand, wo es
-sich um irgend einen großen und guten Zweck handelt.
-In politischer Hinsicht bilden sie eine Macht, welche
-der Regierung wesentliche Unterstützung gewährt. Die
-Lehren ihrer Religion sind rein und erhaben, sie
-halten unverbrüchlich an ihnen fest und richten ihr
-ganzes Leben danach ein.</p>
-
-<p>Ehe wir den Garten der ›Türme des Schweigens‹
-verließen, warfen wir noch einen Blick auf die wundervolle
-Aussicht, welche Ebene, Stadt und Meer
-uns boten. Das letzte, was mir dabei ins Auge fiel,
-war ein natürliches Sinnbild des Todes: auf einem
-freien Platz im Garten saß ein Geier auf dem abgesägten
-Stumpf eines hohen, schlanken Palmbaums.
-Er verharrte regungslos in seiner Stellung, wie
-ein Steinbild auf einer Säule; dabei hatte er einen
-förmlichen Grabesblick, der ganz zu der Stimmung
-des Ortes paßte.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[66]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap05">Fünftes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Es gibt einen alten goldenen Spruch,
-welcher lautet: »Wohl dir, wenn du
-beim Aufstieg zum Hügel des Glücks
-keinem Freunde begegnest.«</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Zunächst wurden wir von Bekannten nach
-einem Dschain-Tempel mitgenommen; er war nicht
-groß und mit vielen flatternden Wimpeln geschmückt,
-die an Flaggenstangen befestigt sind; auf den Zinnen
-des Daches stehen ringsum eine Unmenge kleiner
-Götzenbilder. In der Mitte des innern Raumes
-sagte ein einsamer Dschain laut seine Gebete her und
-ließ sich durch unsere Gegenwart in keiner Weise
-stören. Seine Andacht galt einem kleinen, sitzenden,
-rosig gefärbten Götzen, der sich etwa zwölf Fuß vor
-ihm befand und einer schlecht geformten Wachsfigur
-glich. Mr. Gandhi, der dem Kongreß der Weltreligionen
-in Chicago als Abgeordneter beigewohnt
-hat, setzte uns die Lehren der Dschaina in trefflichem
-Englisch auseinander, aber was er sagte ist meinem
-Gedächtnis entschwunden. Ich weiß nur noch, daß
-sich ihre religiösen Vorstellungen in erhabene Formen<span class="pagenum" id="Seite_67">[67]</span>
-kleiden, und grobe Sinnlichkeit ihnen fremd ist. Wie
-sich das mit der Anbetung des rohen Götzenbildes
-vereinbaren läßt, kann ich nicht erklären. Vermutlich
-stellt dieses ein Wesen dar, das nach vielhundertjährigen
-Seelenwanderungen, bei stetiger Zunahme
-an Frömmigkeit und Tugend, zuletzt zu einem Heiligen,
-einer Art Gottheit geworden ist, welche die
-Anbetung stellvertretend entgegennimmt, um sie der
-Himmelsbehörde zu übermitteln. So denke ich es
-mir wenigstens.</p>
-
-<p>Von dort begaben wir uns nach Mr. Premchand
-Roychands Bungalow im Love Lane, Byculla,
-wo ein indischer Fürst, der kürzlich von der Kaiserin
-Viktoria zum Ritter des indischen Sternordens ernannt
-worden war, die Abgesandten der Dschaina
-empfangen wollte, welche ihm wegen dieser hohen
-Ehre ihre Glückwünsche darbrachten. Selbst der
-größte indische Fürst verschmäht die Auszeichnung
-nicht; er erläßt seinen Untertanen die Steuern und
-gibt viel Geld aus zur Verbesserung der öffentlichen
-Zustände, wenn er dafür die Ritterwürde erlangen
-kann. Alljährlich verleiht die Kaiserin verschiedenen
-einheimischen Fürsten zum Lohn für ihre Verdienste
-den Stern von Indien und teilt zugleich Kanonen
-an sie aus, welche sie beim Salutschießen abfeuern<span class="pagenum" id="Seite_68">[68]</span>
-dürfen. Ein kleiner Fürst hat drei oder vier Kanonen,
-die ihm den Ehrengruß bringen, und mit
-der Bedeutung des Fürsten nimmt auch die Zahl
-seiner Kanonen zu, bis auf elf Stück, ja vielleicht
-haben manche noch mehr, aber das weiß ich nicht
-bestimmt. Mir ist gesagt worden, daß wenn ein vier
-Kanonen-Fürst die fünfte erhält, seine Umgebung
-sehr darunter leidet, denn solange ihm die Sache
-noch neu ist, möchte er bei jeder Gelegenheit Salutschüsse
-haben, und die ohrenzerreißende Musik will
-gar kein Ende nehmen. Wie viele Kanonen so große
-Herrscher wie der Nizam von Hyderabad und der
-Gaikawar von Baroda haben, vermag ich, wie gesagt,
-nicht anzugeben.</p>
-
-<p>Als wir das Bungalow betraten, fanden wir
-die große Halle im Erdgeschoß bereits voller Menschen,
-und noch immer kamen neue Wagen vorgefahren.
-Die Versammlung bot ein hübsches Schauspiel;
-alles funkelte und blitzte wie bei einem Feuerwerk,
-so bunt waren die Kostüme und so glänzend
-die Farben. Ganz besonders merkwürdig fand ich
-die Ausstellung der verschiedenen Turbans. Ihre
-wunderbare Mannigfaltigkeit erklärte sich dadurch,
-daß die Mitglieder der Dschaina-Gesandtschaft aus
-allen Teilen Indiens stammten und jeder einen<span class="pagenum" id="Seite_69">[69]</span>
-Turban trug, wie er in seiner Gegend Sitte war.</p>
-
-<p>Ich würde dort gern eine Konkurrenz-Ausstellung
-von christlichen Trachten und Kopfbedeckungen
-veranstaltet haben. Dazu hätte ich nur alle indische
-Herrlichkeit aus einer Hälfte des Raumes zu entfernen
-und diese mit Christen aus Amerika, England
-und den Kolonien anzufüllen brauchen, welche
-Hüte und Kleider trugen, wie sie vor zwanzig, vierzig,
-fünfzig Jahren Mode waren oder wie man sie
-heutzutage hat. Es wäre eine greuliche Sammlung
-gewesen, ein Anblick von ausgesuchter Scheußlichkeit.
-Auch die weiße Gesichtsfarbe hätte ihr Teil dazu
-beigetragen. Sie kommt uns zwar nicht gerade unleidlich
-vor, solange wir uns unter lauter Weißen
-befinden, sehen wir sie aber zusammen mit einer
-Menge brauner oder schwarzer Gesichter, so wird
-uns augenblicklich klar, daß nur die Gewohnheit sie
-erträglich macht. Eine schwarze oder braune Haut ist
-fast immer schön, eine weiße nur sehr selten. Will
-man sich hiervon überzeugen, so braucht man nur
-an einem Wochentage in Paris, New York oder London
-eine Straße hinunterzugehen &ndash; nicht gerade
-im vornehmsten Viertel &ndash; und sich zu merken, wie
-vielen Menschen mit gutem Teint man auf einer etwa
-meilenlangen Strecke begegnet. Neben dunkeln Gesichtern<span class="pagenum" id="Seite_70">[70]</span>
-sehen die weißen ausgewaschen, ungesund,
-oft förmlich gespensterhaft aus. Schon als Knabe
-hatte ich daheim, zur Sklavenzeit vor dem Bürgerkrieg,
-Gelegenheit gehabt diese Beobachtung zu
-machen. Wahrhaft bewundernswert erschien mir
-aber die prächtige schwarze Haut der südafrikanischen
-Zulus aus Durban, die wie Atlas glänzte.
-Ich sehe sie noch vor mir, diese schwarzen Athleten,
-wie sie mit den Rickschas vor dem Hotel auf Kundschaft
-warteten. Die schönen Gestalten waren nur
-wenig verhüllt durch die leichte Sommerkleidung,
-deren schneeiges Weiß das tiefe Schwarz der Neger
-um so mehr hervortreten ließ. In Gedanken vergleiche
-ich jene Zulu-Gruppe mit den Bleichgesichtern,
-die soeben an meinem Fenster in London vorübergehen:</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Erste Dame</em>: Gesichtsfarbe: neues Pergament.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Zweite</em>: Altes Pergament.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Dritte</em>: Weiß und rot; sehr hübsch.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ein Mann</em>: Graues Gesicht mit roten Flecken.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Ein anderer Mann</em>: Ungesunde, schuppige
-Haut.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Mädchen</em>: Blaßgelb mit Sommersprossen.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Alte Frau</em>: Weißlichgrau.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[71]</span></p>
-
-<p><em class="gesperrt">Metzgerbursche</em>: Stark gerötetes Gesicht.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Gelbsüchtiger Mann</em>: Helle Senffarbe.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Aeltere Dame</em>: Farblose Haut mit zwei
-großen Muttermälern.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Aelterer Mann</em> (dem Trunk ergeben): Kartoffelnase
-in einem welken, von feuerroten Falten
-durchzogenen Gesicht.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Gesunder junger Herr</em>: Schöner, frischer
-Teint.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Kranker junger Herr</em>: Weiß, wie ein
-Gespenst.</p>
-
-<p>Die Hautfarbe unzähliger Menschen ist nur eine
-matte, charakterlose Abschattierung dessen, was wir
-fälschlich ›weiß‹ zu nennen pflegen. Manche Gesichter
-sind mit Pusteln bedeckt oder tragen sonstige
-Zeichen eines ungesunden Blutes, während andere
-grell abstechende Narben und Flecken haben. Im
-Gesicht des weißen Mannes läßt sich nichts verbergen;
-durch alle erdenklichen Zufälligkeiten werden
-seine Reize beeinträchtigt. Die Damen schminken
-und pudern sich, brauchen Schönheitswasser, Arsenik,
-und mancherlei Mittel um die Haut zu glätten;
-sie streicheln und schmeicheln, sie schmieren und wirtschaften
-an ihr herum und geben sich unsägliche
-Mühe sie zu verschönern. Alles umsonst. Doch<span class="pagenum" id="Seite_72">[72]</span>
-liefern ihre Anstrengungen uns den besten Beweis,
-welche geringe Meinung sie von der Beschaffenheit
-der Haut im allgemeinen haben. Was sie sich nachzuahmen
-bestreben, gewährt die Natur nur sehr, sehr
-wenigen. Von hundert Personen haben neunundneunzig
-gewiß einen schlechten Teint, und wie lange
-vermag der Hundertste, dem ein guter verliehen ist,
-sich denselben zu erhalten? Höchstens zehn Jahre.</p>
-
-<p>Nein, der Zulu ist entschieden im Vorteil. Er
-hat von Anfang an seine schöne Gesichtsfarbe und
-behält sie, solange er lebt. Und wie angenehm und
-wohltuend für das Auge ist erst das bestimmte, glatte,
-fleckenlose Braun des Inders; es braucht keine Farbe
-zu scheuen, es paßt zu allen und erhöht ihren Reiz.
-Daß sich der Durchschnittsteint des Weißen mit
-dieser wundervollen, köstlichen Färbung auch nur
-entfernt vergleichen ließe, davon kann gar keine
-Rede sein.</p>
-
-<p>Doch kehren wir zum Bungalow zurück. Am
-prächtigsten gekleidet waren einige Kinder. Von den
-leuchtenden Farben ihrer kostbaren Stoffe und den
-Edelsteinen, mit denen sie behangen waren, ging
-ein förmlicher Strahlenglanz aus. Man hielt sie für
-Mädchen, und doch waren es Knaben, Natsch-Tänzer
-von Beruf. Einzeln, zu zweien oder zu vieren standen<span class="pagenum" id="Seite_73">[73]</span>
-sie auf und tanzten und sangen zu den unheimlichen
-Klängen der Begleitung. Ihre Stellungen
-und Bewegungen waren höchst anmutig und kunstvoll,
-aber die Stimmen scharf und unangenehm und
-die Melodien größtenteils sehr eintönig.</p>
-
-<p>Nicht lange, so erhob sich draußen ein lautes
-Hurra und Jubelrufen. Es galt dem Fürsten, der
-mit Gefolge seinen feierlichen Einzug hielt. Er war
-ein stattlicher Herr in wundervollem Kostüm, bedeckt
-mit Schnüren von Perlen und Edelsteinen;
-unter letzteren befanden sich einige Smaragde von
-erstaunlicher Größe, die in ganz Bombay wegen ihrer
-Schönheit und Kostbarkeit berühmt sind; das Auge
-konnte sich gar nicht satt daran sehen. Auch der kleine
-Prinz, der den Fürsten begleitete, war eine strahlende
-Erscheinung.</p>
-
-<p>Langwierige Zeremonien fanden nicht statt. Der
-Fürst schritt mit ernster Würde und Majestät auf
-seinen Thron zu, neben welchem der des Prinzen
-stand. Feierlich saßen die beiden da, während sich
-rechts und links von ihnen das Gefolge gruppierte.
-Es war das getreue Abbild einer Schaustellung,
-wie wir sie oft in Büchern beschrieben finden. Seit
-Salomo einst die Königin von Saba empfing und
-seine Schätze vor ihr ausbreitete, haben die Fürsten<span class="pagenum" id="Seite_74">[74]</span>
-aller Zeiten es für ihre Pflicht gehalten, sich mit
-solchem Gepränge zu zeigen.</p>
-
-<p>Der Führer der Dschaina-Abordnung verlas
-seine Glückwunschadresse und steckte sie dann in ein
-schön verziertes Silberrohr, das er dem Fürsten
-ehrfurchtsvoll überreichte, worauf dieser es ohne weiteres
-einem seiner Beamten einhändigte. Ich will
-die Adresse hier mitteilen, denn es ist interessant
-zu sehen, wofür die Untertanen eines indischen Fürsten
-unter der heutigen englischen Herrschaft ihrem
-Monarchen alles zu danken haben. Zur Zeit seines
-Großvaters, vor anderthalb Jahrhunderten, als sich
-England noch nicht in die indische Verwaltung einmischte,
-hätte man sich bei der Dankadresse sehr
-kurz fassen können. In jenen Tagen der Freiheit
-würde das Volk dem Fürsten gedankt haben:</p>
-
-<p>1. Daß er nicht aus bloßer Laune zu viele
-seiner Untertanen erschlagen habe.</p>
-
-<p>2. Daß er sie nicht durch Erhebung willkürlicher
-Abgaben gänzlich ausgesogen und der Hungersnot
-preisgegeben habe.</p>
-
-<p>3. Daß er nicht unter nichtigem Vorwand die
-Reichen getötet und ihr Vermögen eingezogen habe.</p>
-
-<p>4. Daß er die Angehörigen des Königshauses
-nicht getötet, geblendet, eingekerkert oder verbannt<span class="pagenum" id="Seite_75">[75]</span>
-habe, um seinen Thron gegen Verschwörungen zu
-sichern.</p>
-
-<p>5. Daß er sich nicht habe bestechen lassen, irgend
-einen seiner Untertanen heimlich den Banden berufsmäßiger
-Thugs zu überliefern, damit sie ihn im
-Hinterhof des Fürstenschlosses nach Belieben ermorden
-und ausplündern konnten.</p>
-
-<p>Das waren die gebräuchlichsten Maßregeln der
-Fürsten in alter Zeit; aber diese sowohl wie einige
-andere, nicht minder harte, sind unter der englischen
-Herrschaft schon längst abgeschafft worden. Bessere
-Mittel und Zwecke sind seitdem an ihre Stelle getreten,
-wie uns die Glückwunschadresse der Dschaina
-sofort beweisen wird. Dieselbe lautete:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>»Allergnädigster Fürst! &ndash; Wir, die unterzeichneten
-Mitglieder der Dschaina-Gemeinde
-von Bombay, nähern uns Eurer Hoheit mit
-aufrichtiger Freude, um wegen der kürzlich erfolgten
-Ernennung Eurer Hoheit zum Ritter
-des erhabenen Sternordens von Indien, unsere
-herzlichsten Glückwünsche darzubringen. Vor
-zehn Jahren durften wir Eure Hoheit unter
-Umständen in dieser Stadt willkommen heißen,
-welche in der Geschichte Ihrer Herrschaft eine
-denkwürdige Episode bezeichnen; denn ohne die
-Besonnenheit und Großmut, welche Eure Hoheit
-in den Verhandlungen zwischen dem Palitana
-Dunbar und der Dschain-Gemeinde an den Tag<span class="pagenum" id="Seite_76">[76]</span>
-legten, hätte der versöhnliche Geist unseres Volkes
-keine Frucht tragen können. Das war der
-erste Schritt Eurer Hoheit bei Uebernahme der
-Verwaltung, durch welchen Sie sich nicht nur
-die dankbare Anerkennung der Dschain-Gemeinde,
-sondern auch der Regierung von Bombay
-gesichert haben. Nachdem nun Eure Hoheit
-zehn Jahre lang alle Erfahrung, Kraft und
-Fähigkeit in den Dienst der Verwaltung gestellt
-hat, ist Eurer Hoheit verdientermaßen die erhabene
-und ehrenvolle Auszeichnung der Ernennung
-zum Ritter des Sternordens zu teil
-geworden, den kein anderer Fürst vom Range
-Eurer Hoheit, soviel wir wissen, je zuvor erhalten
-hat. Wir können Eurer Hoheit die untertänige
-Versicherung geben, daß wir auf diese
-Ehrenbezeigung aus der Hand Ihrer Majestät,
-unserer gnädigsten Kaiserin und Königin,
-nicht weniger stolz sind als Eure Hoheit selbst.
-Wir verdanken Eurer Hoheit während dieser
-zehn Jahre die Einrichtung vieler Faktoreien,
-Schulen, Hospitäler und dergleichen im Staate,
-und wir hoffen, daß Eure Hoheit noch lange
-mit Weisheit und bewährter Umsicht über das
-Volk herrschen werde, um die vielen von Eurer
-Hoheit gütigst angebahnten Reformen auch
-künftig in Gnaden zu fördern. Indem wir
-nochmals unsere wärmsten Glückwünsche aussprechen,
-verharren wir als Eurer Hoheit untertänigste
-Diener.«</p>
-</div>
-
-<p>Faktoreien, Schulen, Hospitäler, Reformen!
-Das sind die Sachen, welche die Fürsten Indiens<span class="pagenum" id="Seite_77">[77]</span>
-neuerdings unterstützen und wofür sie Orden und
-Kanonen erhalten!</p>
-
-<p>Auf die Adresse antwortete der Fürst kurz und
-bündig, dann unterhielt er sich noch ein paar Augenblicke
-mit dem einen oder andern der Gäste auf
-Englisch und mit mehreren Beamten in einer indischen
-Sprache; zuletzt wurden, wie gewöhnlich,
-Kränze verteilt und die Festlichkeit war zu Ende.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap06">Sechstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Jeder Mensch hat ein Geburtsrecht auf
-etwas, das alle seine andern Besitztümer
-überdauert &ndash; es ist sein letzter Atemzug.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Am selben Abend, gegen Mitternacht, wohnten
-wir noch einem andern Feste bei, nämlich einer Hindu-Hochzeit,
-oder richtiger gesagt, einer Verlobungsfeier.
-Bisher hatte sich auf den Straßen, durch die
-wir fuhren, stets ein buntes, malerisches Schauspiel
-entfaltet, sie waren von einer zahlreichen, lärmenden
-Menge angefüllt gewesen; jetzt fand nichts
-dergleichen statt. Es herrschte überall Totenstille;
-selbst das Geschrei der Krähen war verstummt. Aber<span class="pagenum" id="Seite_78">[78]</span>
-leer konnte man die Straßen doch nicht nennen, denn
-auf dem Boden lagen schlafende Eingeborene zu
-Hunderten, der Länge nach ausgestreckt und bis über
-den Kopf fest in Decken gewickelt. So starr und
-regungslos lagen sie da, daß man sie für Tote
-halten konnte.</p>
-
-<p>Damals hatte die Pest, welche jetzt in Bombay
-wütet, noch nicht ihren Einzug in die Stadt gehalten.
-Heute<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a> stehen die Läden verödet da, die Hälfte der
-Bewohner hat die Flucht ergriffen und die Zurückgebliebenen
-kommen massenhaft an der Krankheit
-um. Ohne Zweifel sehen die Straßen jetzt bei Tage
-so aus wie damals zur Nachtzeit. Als wir immer
-weiter in dem Hindu-Viertel vordrangen und in
-enge, düstere Gassen gelangten, mußten wir sehr behutsam
-fahren, weil der Wagen beinah nicht Raum
-genug fand, um zwischen den Schläfern durchzukommen,
-die sich allenthalben gelagert hatten. Von
-Zeit zu Zeit huschte eine Schar Ratten in dem ungewissen
-Dämmerschein dicht vor den Hufen der
-Pferde vorüber &ndash; dieselben Ratten, welche jetzt in
-Bombay die Pest von Haus zu Haus schleppen.
-Die Kaufläden sind nur eine Art Verschläge &ndash; kleine
-Buden, die nach der Straße zu offen stehen. Man<span class="pagenum" id="Seite_79">[79]</span>
-hatte die Waren fortgenommen und ganze Familien
-schliefen auf den Ladentischen, meist beim Schein
-einer Oellampe. Es sah aus wie eine Totenwacht.</p>
-
-<div class="footnotes">
-<div class="footnote">
-
-<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> Der Verfasser schrieb dies 1897.</p>
-</div>
-</div>
-
-<p>Endlich bogen wir um eine Ecke und hatten
-eine förmlich strahlende Beleuchtung vor uns. Das
-Haus der Braut war in ein Lichtmeer von Gasflammen
-getaucht, welche die mannigfaltigsten Figuren
-bildeten. Auch drinnen prangte alles in hellstem
-Glanze &ndash; Kostüme, Spiegel, Beleuchtung,
-Farben brachten im Verein mit der ganzen Ausschmückung
-der Räume eine so feenhafte Wirkung
-hervor, als hätte sie Aladdins Wunderlampe hergezaubert.</p>
-
-<p>Die Braut war ein zierlich gebautes, schmuckes
-kleines Ding von zwölf Jahren, sehr kostbar gekleidet,
-aber mehr wie ein Knabe. Sie bewegte sich
-ungezwungen unter den Gästen oder blieb stehen,
-um sich mit diesem oder jenem zu unterhalten und
-ihren Hochzeitsschmuck befühlen und bewundern zu
-lassen. Am schönsten fand ich eine Schnur großer
-Diamanten, an welcher ein prächtiger Smaragd hing.</p>
-
-<p>Der Bräutigam war nicht zugegen; er beging
-eine besondere Verlobungsfeier in seinem väterlichen
-Hause. Wie man mir sagte, mußte sowohl er wie
-die Braut eine Woche lang alle Abend Gäste empfangen,<span class="pagenum" id="Seite_80">[80]</span>
-welche fast die ganze Nacht hindurch im Hochzeitshause
-blieben. Dann heirateten sich die Brautleute,
-falls sie noch am Leben waren. Die Kinder
-zählten beide zwölf Jahre &ndash; ein ältliches Paar
-nach indischen Begriffen &ndash; sie hätten schon seit
-einem Jahre verheiratet sein sollen; einem Fremden
-kamen sie freilich noch jung genug vor.</p>
-
-<p>Etwas nach Mitternacht erschienen ein paar
-berühmte und hochgeschätzte Natsch-Tänzerinnen in
-den prachtvollen Sälen, um ihre Kunst zu zeigen.
-Zu ihrem Gesang und Tanz machten Männer auf
-sonderbaren Instrumenten eine unheimliche, lärmende
-Musik, bei deren Klängen mich eine Gänsehaut
-überlief. Ein Tanz der Mädchen sollte einen Schlangenzauber
-darstellen. Mir schien zwar die Flötenbegleitung,
-welche dazu ertönte, wenig geeignet, irgend
-etwas zu bezaubern, doch versicherte mir ein vornehmer
-Hindu, daß die Schlangen solche Musik sehr
-lieben; sie kommen aus ihren Höhlen heraus und
-lauschen ihr mit allen Zeichen von Wonne und Wohlbehagen.
-Bei einer Vorstellung in seinem Garten,
-sagte er, seien einmal sechs Schlangen von den Tönen
-der Flöte herbeigelockt worden und man hätte sie
-nicht bewegen können sich wieder zu entfernen, bevor
-die Musik zu Ende war. Ihre gefährliche Nähe<span class="pagenum" id="Seite_81">[81]</span>
-war zwar keinem Anwesenden erwünscht, weil sie
-sich frech und allzu vertraulich benahmen, aber natürlich
-wollte niemand sie töten, denn der Hindu hält
-es für Sünde, irgend ein Geschöpf umzubringen.</p>
-
-<p>Gegen zwei Uhr morgens verließen wir die
-Festlichkeit. Unterwegs sah ich noch ein Bild, das
-sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt hat. Eine
-glänzend erleuchtete Vorhalle, zu der mehrere Treppenstufen
-emporführten, überall schwarze Gesichter
-und gespenstische, weiße Gewänder; in ihrer Mitte
-eine wahre Riesengestalt, den Turban auf dem
-Haupte, mit einem Namen, der zu ihrer Größe paßte:
-Rao Bahadur Baskirao Balinkanje Pitale, Vakeel
-seiner Hoheit des Gaikawar von Baroda. Der Mann
-gehörte notwendigerweise zur Vervollständigung des
-Gemäldes, aber wenn er Smith hieße, hätte es den
-ganzen Eindruck verdorben. Auf beiden Seiten der
-engen Straße hatte man die Häuser in der bei den
-Hindus gebräuchlichen Weise illuminiert. Viele
-Dutzende von Gläsern mit brennenden Lichtern waren
-wenige Zoll von einander auf großen Lattengestellen
-befestigt, so daß sie leuchtende Sterne bildeten, deren
-Strahlenglanz sich grell von dem schwarzen Hintergrund
-abhob. Als wir weiter durch die düstern
-Gassen fuhren, verschmolzen in der Ferne alle Sternbilder<span class="pagenum" id="Seite_82">[82]</span>
-zu einer einzigen Lichtmasse, die wie eine
-große Sonne in der Finsternis glühte.</p>
-
-<p>Dann folgte wieder jene tiefe Stille; Ratten
-huschten über den Weg, überall lagen unbewegliche
-Gestalten auf der Erde und rechts und links sah man
-die offenen Buden gleich Särgen, in denen Leichen zu
-liegen schienen, welche von flackernden Totenlampen
-unheimlich beleuchtet wurden. Seitdem ist ein Jahr
-vergangen, und wenn ich die Kabeldepeschen aus Indien
-lese, meine ich das alles mit eigenen Augen im
-voraus gesehen zu haben, wie in einem prophetischen
-Traum. Die eine Depesche lautet: »In dem
-Stadtteil der Eingeborenen stocken die Geschäfte, die
-meisten Läden sind geschlossen. Man hört nur Klagelaute
-und den Schritt der Leichenträger, alles übrige
-Leben scheint erstorben.« In einer andern heißt es:
-»325&nbsp;000 Bewohner haben die Stadt verlassen, und
-verbreiten die Pest über das ganze Land.« Drei
-Tage später kommt die Nachricht: »Die Einwohnerschaft
-ist auf die Hälfte herabgesunken.« Die Flüchtlinge
-haben die Epidemie in Karachi eingeschleppt.
-»220 Krankheitsfälle, 214 Tote.« Tags darauf:
-»52 neue Fälle, sämtlich mit tödlichem Verlauf.«</p>
-
-<p>So fürchterliche Verwüstungen wie der ›Schwarze
-Tod‹ vermag keine Krankheit anzurichten, es gibt<span class="pagenum" id="Seite_83">[83]</span>
-keine, welche ähnliches Grauen und Entsetzen im Gefolge
-hat. Wir können uns von dem Schrecken, der in
-solcher verpesteten Stadt herrscht, nur eine schwache
-Vorstellung machen. Zwar gibt die wilde Flucht
-einer halben Million Einwohner Zeugnis von ihrem
-Seelenzustand, aber wer schildert die Qual und Todesangst
-derer, die zurückbleiben müssen und sich
-rettungslos dem unaufhaltsam nahenden Verhängnis
-preisgegeben sehen?</p>
-
-<p>Indien ist einzig in seiner Art und es hat
-das alleinige Recht auf verschiedene Spezialitäten
-von überwältigender Großartigkeit. Wenn irgend
-ein Land sonst eine Merkwürdigkeit besitzt, ist sie
-doch nicht sein ausschließliches Eigentum; man findet
-das Gegenstück in einem andern Lande. Aber Indien
-hat Wunderdinge erzeugt, die ihm allein gehören,
-niemand wagt sein Patentrecht anzutasten, Nachahmungen
-sind gänzlich ausgeschlossen. Und dabei
-welche Größenverhältnisse, welche Majestät! Wie
-fremdländisch und unheimlich sind die meisten dieser
-Erfindungen.</p>
-
-<p>Von dem Schwarzen Tod haben wir schon gesprochen.
-Er ist Indiens eigenstes Werk. In Indien
-wurde dieser mächtige Fürst der Schrecken geboren.</p>
-
-<p>Auch den Wagen des Juggernaut hat sich Indien<span class="pagenum" id="Seite_84">[84]</span>
-ausgedacht. Desgleichen die Suttis. Es leben
-noch Menschen, zu deren Zeit sich achthundert Witwen
-in einem Jahre, freiwillig und unter Frohlocken,
-mit den Leichen ihrer Ehemänner verbrennen ließen.
-Noch in diesem Jahre würden es abermals achthundert
-tun, wenn die britische Regierung es ihnen
-gestattete.</p>
-
-<p>Auch eine Hungersnot wie in Indien gibt es
-nirgends. Wenn anderswo Mangel eintritt, ist es
-ein verhältnismäßig unbedeutendes, vorübergehendes
-Ereignis; die indische Hungersnot aber bricht herein
-gleich einer verheerenden Flut und tötet Millionen,
-wo an andern Orten Hunderte sterben würden.</p>
-
-<p>Indien hat zwei Millionen Götter und betet
-sie sämtlich an. In religiöser Beziehung sind alle
-andern Länder Bettler und Indien der einzige
-Millionär.</p>
-
-<p>Alles nimmt dort einen Riesenmaßstab an &ndash;
-sogar die indische Armut hat nirgends auf Erden
-ihresgleichen. Der Reichtum aber verfügt über solche
-Schätze, daß man für die größten Summen ganz
-kurze Wörter erfinden mußte. Um hunderttausend
-auszudrücken, sagt man ein <em class="gesperrt-antiqua">lakh</em>, und ein <em class="gesperrt-antiqua">crore</em>
-bedeutet zehn Millionen.</p>
-
-<p>Im Innern seiner Granitberge hat Indien,<span class="pagenum" id="Seite_85">[85]</span>
-mit namenloser Geduld, Dutzende von großen Tempeln
-in den Fels gehauen, sie durch großartige Säulenhallen
-und Statuen geschmückt und ihre ewigen
-Mauern mit stolzen Gemälden bedeckt. Es hat sich
-starke Burgen von solchem Umfang errichtet, daß
-selbst die großen Musterfestungen der übrigen Welt
-dagegen wie Spielzeug aussehen. Seine Paläste sind
-aus dem erlesensten Baumaterial und mit so viel
-Feinheit und Kunstfertigkeit ausgeführt, daß man
-sie anstaunt wie Wunderwerke; um eins seiner Grabmäler
-&ndash; den Tadsch-Mahal &ndash; zu sehen, reisen
-die Menschen rund um die Erde. Achtzig Völker,
-die achtzig Sprachen reden, bewohnen das Land,
-ihre Zahl beläuft sich auf dreihundert Millionen.</p>
-
-<p>Und zu Indiens merkwürdigsten Eigentümlichkeiten
-gehört noch das Kastenwesen und das Geheimnis
-aller Geheimnisse &ndash; die satanische Genossenschaft
-der Thugs.</p>
-
-<p>Im Anfang aller Dinge hatte Indien einen
-Vorsprung vor der ganzen übrigen Welt. Es besaß
-die früheste Kultur, die erste Anhäufung materieller
-Reichtümer, eine Menge der tiefsten Denker, der
-größten Weisen, Fruchtbarkeit des Bodens, reiche
-Bergwerke und große Wälder. Hätte man da nicht
-meinen sollen, es würde seine Führerschaft auch<span class="pagenum" id="Seite_86">[86]</span>
-ferner behaupten und eines Tages, statt sich in Demut
-einem fremden Machthaber zu unterwerfen, selbst
-die Welt beherrschen und jeder Nation, jedem Volksstamm
-der Erde Gesetze vorschreiben? &ndash; Und doch
-ist eine solche Oberherrschaft Indiens von jeher unmöglich
-gewesen. Wo es achtzig Völkerschaften und
-Hunderte von Regierungen gibt, kann von einheitlicher
-Macht nicht die Rede sein. Das Hauptgeschäft
-des Lebens wird Kampf und Streit, gemeinsame
-Ziele und Zwecke sind ausgeschlossen; aus solchen
-Elementen entsteht keine Weltherrschaft. Nicht nur
-durch die Verschiedenartigkeit der Sprachen, sondern
-vor allem durch das Kastenwesen mag die Zersplitterung
-entstanden sein. Dadurch wurde das Volk in
-einzelne Schichten geteilt und diese wieder in Ober-
-und Unterschichten, welche kein Gefühl der Zusammengehörigkeit
-miteinander verband. Bei solchen
-Zuständen war eine gesunde Entwicklung der Vaterlandsliebe
-völlig undenkbar.</p>
-
-<p>Hätte es in Indien nicht so viele Reiche und
-Völker gegeben, so würden auch die Thugs dort
-schwerlich haben entstehen und gedeihen können. An
-jeder Grenze wurden Reisende und Kaufleute fortwährend
-belästigt, denn überall stießen sie auf Wächter
-und Zollhäuser; Dolmetscher, welche alle Sprachen<span class="pagenum" id="Seite_87">[87]</span>
-verstanden, gab es so gut wie gar nicht, auch
-herrschte ein fortgesetzter Kriegszustand bald in diesen
-bald in jenen Reichen. Das alles hinderte die Sicherheit
-des allgemeinen Verkehrs und öffnete dem Räuberwesen
-Tür und Tor &ndash; was jedem gescheiten
-Menschen, den seine angeborene Neigung zu diesem
-Beruf trieb, auf der Stelle einleuchten mußte. Da
-es nun in Indien durchaus nicht an klugen Leuten
-fehlte, die sich zum Räuberwesen hingezogen fühlten,
-bildete sich auf ganz natürliche Weise die Genossenschaft
-der Thugs, um einem längst empfundenen
-Bedürfnis zu entsprechen.</p>
-
-<p>Um welche Zeit das geschehen ist, weiß niemand;
-vermutlich schon vor Jahrhunderten. Was uns am
-meisten dabei Wunder nimmt ist, daß es gelingen
-konnte, die unheilvolle Verbindung so lange geheim
-zu halten. Englische Kaufleute hatten schon seit
-zweihundert Jahren in Indien Handel getrieben,
-ohne je etwas davon zu hören, und doch wurden
-alljährlich Tausende in ihrer nächsten Nähe von
-den Thugs umgebracht.</p>
-
-<p>Daß es auch amtliche Berichte über die Thugs
-gibt, habe ich erst neuerdings erfahren. Es war
-mir von großem Wert, das betreffende Schriftstück
-eine Zeitlang zur Einsicht zu erhalten.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[88]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap07">Siebentes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Feind und Freund müssen zusammen
-wirken, um unserm Herzen wehe zu
-tun; der eine streut die Verleumdung
-aus, der andere hinterbringt sie uns.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop"><em class="gesperrt">Aus dem Tagebuch. 28. Januar.</em> &ndash;
-Wir machen jetzt Reisevorbereitungen, die hauptsächlich
-in der Anschaffung von Betten bestehen. Im
-Schlafwagen der Eisenbahn, manchmal auch in Privathäusern
-und in neun Zehnteln aller Hotels muß
-man Betten mitbringen. Das ist unbegreiflich und
-doch wahr. Die Einrichtung stammt aus alter Zeit
-und ist jetzt anscheinend unnötig, aber sie hat seltsamerweise
-alle Zustände überlebt, die sie einst zur Notwendigkeit
-machten. Als sie eingeführt wurde, gab
-es weder Eisenbahnen noch Hotels; der Weiße machte
-seine gelegentlichen Reisen zu Pferde oder im Ochsenwagen
-und fand die Nachtherberge auf einer der
-kleinen Poststationen, welche die Regierung in gewissen
-Entfernungen von einander anlegen ließ &ndash;
-sie boten ein Obdach, weiter nichts. Wer ein Bett
-haben wollte, mußte selbst dafür sorgen. Jetzt wohnen<span class="pagenum" id="Seite_89">[89]</span>
-die ansässigen Engländer in geräumigen, bequem
-eingerichteten Häusern, und es muß sich ganz sonderbar
-ausnehmen, wenn ein halbes Dutzend Gäste
-in solche moderne Wohnung mit Decken und Kopfkissen
-einziehen, die sie überall herumwerfen. Doch
-der Mensch findet sich in alles, sobald es Sitte
-und Brauch ist.</p>
-
-<p>Man kann die Betten, nebst einem Behälter
-aus Gummistoff im ersten besten Laden kaufen. Das
-hat nicht die geringste Schwierigkeit.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">30. Januar.</em> Vor Abgang des Zuges bot
-der Bahnhof ein merkwürdiges Schauspiel. Das Gebäude
-ist sehr groß, aber es war als hätte sich dort
-die ganze Welt versammelt: eine Hälfte drinnen,
-die andere draußen, alle mit berghohen Bettstücken
-und anderm Gepäck beladen. Beide Hälften versuchten
-zu gleicher Zeit aneinander vorbei durch
-eine enge Tür zu kommen. Diese zwei Menschenströme
-bestanden aus sanften, geduldigen, langmütigen
-Eingeborenen, unter denen sehr wenige
-Weiße verstreut waren. Nur die Hindu-Diener der
-Europäer legten zeitweise ihre natürliche Sanftmut
-ab und maßten sich das Vorrecht der Weißen an,
-alle Farbigen beiseite zu schieben, um rascher für<span class="pagenum" id="Seite_90">[90]</span>
-sich Bahn zu machen. Es war eine Schande, wie
-herrisch und unverschämt sich zum Beispiel unser
-Satan dabei benahm. Vermutlich ist er auf einer
-früheren Stufe der Seelenwanderung ein fanatischer
-Thug gewesen.</p>
-
-<p>Drinnen im Bahnhof fluteten Massen von Eingeborenen,
-in sämtliche Farben des Regenbogens
-gekleidet, nach allen Seiten wirr durcheinander. Voll
-Eifer und Hast, in der Angst sich zu verspäten,
-strömten sie nach den langen Wagenreihen hin, wo
-sie im Innern mit ihren Packen und Bündeln verschwanden,
-von immer neuen Menschenfluten gefolgt.
-Und mitten in diesem Wirrwarr und Getöse
-saßen &ndash; anscheinend in voller Gemütsruhe &ndash; zahlreiche
-Gruppen von Farbigen auf den nackten Steinfliesen:
-schlanke, braune Mädchen, alte, graue, runzlige
-Weiber, kleine Kinder mit weichen Gliedern,
-alte und junge Männer und braune Knaben; lauter
-arme Leute, aber der weibliche Teil, sowohl groß
-wie klein, mit billigen, glänzenden Ringen an Nase,
-Zehen, Armen und Beinen geschmückt, die vermutlich
-ihren einzigen Reichtum ausmachten. Schweigend
-und geduldig saßen sie da mit ihren armseligen
-Bündeln, Körben und Hausgeräten und warteten
-auf ihren Zug, der zu irgend einer Stunde des<span class="pagenum" id="Seite_91">[91]</span>
-Tages oder der Nacht abfahren würde. Sie hatten
-die Zeit nicht gut berechnet, aber was schadete das
-&ndash; vom Schicksal war es so über sie verhängt, wozu
-sich da beunruhigen? Zeit hatten sie vollauf, endlose
-Stunden lagen vor ihnen, und was geschehen
-sollte, würde geschehen &ndash; keine Macht der Erde
-konnte es beschleunigen.</p>
-
-<p>Die Eingeborenen reisten dritter Klasse für ein
-unglaublich billiges Fahrgeld. Man packte sie eng
-zusammen in Wagen, von denen jeder etwa fünfzig
-Personen fassen konnte. So geschah es oft, daß
-Brahminen der höchsten Kaste in persönliche Berührung
-mit Leuten aus der niedrigsten Kaste gebracht
-und folglich verunreinigt wurden, was natürlich
-jedem in die Verhältnisse Eingeweihten höchst
-anstößig vorkam. Es konnte sich leicht ereignen,
-daß ein Brahmine, der keine Rupie besaß, dicht
-neben den reichen Erbherrn aus einer niedern Kaste
-zu stehen kam, welcher Inhaber eines alten, mehrere
-Ellen langen Titels war. Trotz seiner erhabenen
-Würde mußte der arme Brahmine sich darein ergeben,
-denn falls einer von beiden Erlaubnis erhielt,
-bei den geheiligten Weißen Platz zu nehmen, so war
-es sicherlich nicht er, sondern der unwürdige Reiche.
-Der Zug hatte eine endlose Reihe solcher Wagen<span class="pagenum" id="Seite_92">[92]</span>
-dritter Klasse, denn die Hindus reisen in ganzen
-Horden. Was für eine erbärmliche Nacht mögen
-sie da drinnen verlebt haben.</p>
-
-<p>Als wir bei unserm Wagen anlangten, fanden
-wir Satan und Barney mit ihrem Gefolge von
-Hindus, welche Bettstücke, Sonnenschirme und Zigarrenkisten
-trugen, schon in voller Tätigkeit. Barney
-war eine Abkürzung; unsern zweiten Diener
-bei seinem eigentlichen Namen zu nennen hätte zuviel
-Zeit gekostet. Wir fanden die innere Einrichtung
-des Coupés keineswegs unbehaglich, aber von einer
-Einfachheit, wie man sie selbst in Frankreich und
-Italien nicht kennt. Die Wände aus billigen, zum
-Teil rohen Brettern gezimmert, mit dunkler Farbe
-angestrichen ohne alle Verzierung. Der Boden war
-ohne Decke, aber nur zu bald sollte fingerdicker
-Staub darauf liegen. An einer Seite des Coupés
-befand sich ein Netz zur Aufnahme des Handgepäcks,
-auf der entgegengesetzten eine Tür, die immer wieder
-aufsprang, man mochte sie schließen so oft man
-wollte; sie führte in einen kleinen Toiletteraum,
-wo man sein Handtuch aufhängen konnte, falls man
-eins hatte. Man kauft die Handtücher mit den
-Betten, auf der Eisenbahn werden keine geliefert.
-An jeder Seite der Wand lief der ganzen Länge nach<span class="pagenum" id="Seite_93">[93]</span>
-ein breites Ledersofa hin, und über demselben hing
-an Riemen ein flaches Schlafbrett mit ledernem
-Ueberzug; es wird nachts heruntergelassen und bei
-Tage an der Wand fest gemacht, wo es niemand im
-Wege ist. So bleibt der große Mittelraum frei und
-man kann sich ungehindert darin ausbreiten. Eine
-so bequeme Einrichtung habe ich noch in keinem
-Lande gefunden, auch ist man ganz ungestört, weil
-meistens nur zwei Fahrgäste in einem Coupé sitzen;
-aber selbst vier Personen haben hinreichend Platz,
-ohne einander im geringsten zu beengen. Sogar
-auf unsern amerikanischen Eisenbahnen, die sonst
-besser sind als alle andern, fühlt man sich nicht so
-gemütlich wie hier, weil zu viele Reisende in einem
-Wagen fahren.</p>
-
-<p>Ueber den Sofas befanden sich längs des ganzen
-Coupés große blaugefärbte Fensterscheiben. Das
-blaue Licht sollte die Augen vor dem blendenden
-Sonnenschein schützen, und wer Luft haben wollte,
-ließ die Fenster herunter. Zwei Oellampen an der
-Decke brannten so hell, daß man lesen konnte, wollte
-man es dunkel haben, so zog man einen Schirm
-aus grünem Stoff davor.</p>
-
-<p>Während wir vor der Abfahrt draußen noch
-mit Freunden sprachen, ordneten Barney und Satan<span class="pagenum" id="Seite_94">[94]</span>
-drinnen unser Handgepäck, samt Büchern, Früchten
-und Sodawasserflaschen in den Netzen; die Bettsäcke
-und das schwere Gepäck schafften sie in das
-Waschkabinett, hingen Mäntel, Sonnenhelme und
-Handtücher auf die Haken und befestigten die beiden
-Schlafbretter an der Wand; dann nahmen sie ihre
-eigenen Betten auf die Schulter und begaben sich
-nach der dritten Klasse.</p>
-
-<p>So waren wir nun in dem hübschen, großen,
-hellen, luftigen und behaglichen Raum ganz für
-uns, konnten nach Belieben auf- und abgehen, uns
-hinsetzen und schreiben oder bequem ausgestreckt lesen
-und rauchen. Die Mitteltür am vorderen Ende des
-Coupés führte in ein zweites, genau ebenso eingerichtetes,
-das meine Frau und Tochter inne hatten.
-Als wir gegen neun Uhr abends an einer Station
-hielten, fanden sich Barney und Satan wieder ein;
-sie schnallten die großen Bettsäcke auf und ordneten
-die Matratzen, Bettücher, bunten wollenen Decken
-und Kopfkissen auf den Sofas beider Coupés zu
-einem vollständigen Lager. Zimmermädchen gibt
-es in Indien nicht, offenbar ist weibliche Bedienung
-dort ganz unbekannt. Zuletzt schlossen die Diener
-die Verbindungstür, räumten flink bei uns auf,
-legten unsere Nachthemden aufs Bett, stellten die<span class="pagenum" id="Seite_95">[95]</span>
-Pantoffeln zurecht und zogen sich wieder in ihr
-Quartier zurück.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">31. Januar.</em> Mir war das alles ganz neu
-und ich fühlte mich so behaglich, daß ich solange
-wie möglich wach blieb und einen Bericht über die
-merkwürdigen Thugs las. Sie folgten mir auch
-in meine Träume und wollten mich erdrosseln. Ihr
-Anführer war der riesengroße Hindu, welcher mir
-bei meiner Rückkehr von jener Verlobungsfeier um
-zwei Uhr nachts in der grellen Beleuchtung einen
-so malerischen Eindruck gemacht hatte &ndash; Rao Bahadur
-Baskirao Balinkanje Pitale, Vakeel des Gaikawar
-von Baroda. Durch ihn war mir die Einladung
-seines Herrn überbracht worden, welche mich
-nach Baroda rief, um dem Fürsten eine Vorlesung
-zu halten; ich war auf dem Wege dahin, und jetzt
-behandelte mich der Mensch so schlecht! Aber im
-Traum ist ja alles möglich.</p>
-
-<p><em class="gesperrt">Baroda.</em> &ndash; Wir kamen um sieben Uhr morgens
-an, als es eben dämmerte. Es war ungemütlich,
-zu so früher Stunde an einem fremden Orte auszusteigen,
-zumal die matt schimmernden Laternen im
-Bahnhof uns den Eindruck machten, als sei es noch
-Nacht. Allein die Herren, die sich mit großer Dienerschaft<span class="pagenum" id="Seite_96">[96]</span>
-zu unserm Empfang eingefunden hatten, ließen
-uns keine Zeit zum Besinnen. Bald waren wir
-draußen, dann ging es rasch weiter im milden Dämmerlicht
-und binnen kurzem hatte man uns alle
-behaglich untergebracht. Zahlreiche Diener standen
-zu unserer Verfügung, deren Aufseher so vornehme
-Beamte waren, daß es uns ordentlich in Verlegenheit
-setzte. Wir fügten uns jedoch der Landessitte,
-das Benehmen der Herren war höchst verbindlich
-und gastfreundlich, sie sprachen einheimisches Englisch,
-es ging alles vortrefflich und das Frühstück
-kam uns sehr gelegen.</p>
-
-<p>Jenseits der Wiese sah man durch das offene
-Fenster einen indischen Brunnen; zwei Ochsen gingen
-mit langsamen Schritten den allmählich abfallenden
-Weg herauf und hinunter, um Wasser zu ziehen.
-Das Klagegestöhn der Maschine unterbrach die Stille,
-es waren nicht gerade melodische Laute, aber doch
-lag eine sanfte, träumerische Schwermut darin, als
-wehklagten abgeschiedene Geister und als würden
-alte Erinnerungen wieder lebendig; denn natürlich
-pflegten die Thugs ihre Opfer in jenen Brunnen zu
-werfen, nachdem sie ihnen den Garaus gemacht hatten.</p>
-
-<p>Nach dem Frühstück begann für uns ein sehr
-ereignisreicher Tag. Wir fuhren auf gewundenen<span class="pagenum" id="Seite_97">[97]</span>
-Pfaden durch einen ungeheuren Park mit stolzen
-Waldbäumen, dicht verschlungenen Dschungels und
-einem Gewirr von allerlei reizenden Gewächsen. An
-einer Stelle stürmten plötzlich drei große graue
-Affen quer über den Weg. Das war keine angenehme
-Ueberraschung; solche Bestien gehören in eine
-Menagerie, in der Wildnis machen sie einen unnatürlichen
-Eindruck und sind nicht an ihrem Platze.</p>
-
-<p>Mit der Zeit erreichten wir die Stadt und fuhren
-mitten hindurch. Sie war ganz und gar indisch,
-vermodert und zerfallen und schien über alle Begriffe
-alt zu sein. Höchst merkwürdig fanden wir
-die Häuser, deren ganze Vorderseite mit schön verschlungener
-Holzschnitzerei geschmückt war, die der
-feinsten Spitzenarbeit glich, und außerdem mit rohen
-Bildwerken, welche Elefanten, Fürsten und Götter
-in den schreiendsten Farben darstellten.</p>
-
-<p>In den engen, winkligen Gassen lag im Erdgeschoß
-ein Laden am andern; die winzigen Buden
-waren über und über mit unglaublichem Krimskrams
-angefüllt, der verkauft werden sollte, oder es hockten
-darin fast völlig nackte Eingeborene bei ihrer Arbeit;
-sie klopften, hämmerten, verlöteten und bronzierten
-allerlei, sie nähten, kochten, maßen Korn
-ab und mahlten es oder besserten Götzenbilder aus;<span class="pagenum" id="Seite_98">[98]</span>
-gleichzeitig wälzte sich eine zerlumpte, lärmende Menschenschar
-unter den Hufen unserer Pferde und allenthalben
-umher. Und dazu diese Gerüche, diese Dünste,
-dieser Gestank! Es war alles wundervoll und
-entzückend!</p>
-
-<p>Man stelle sich einmal vor, wie es sein muß,
-wenn ein Zug Elefanten durch solche enge Straßen
-schreitet, auf beiden Seiten anstößt und die Farbe von
-den Häusern wetzt. Wie groß müssen die Tiere und
-wie klein dagegen die Gebäude aussehen! Und wenn
-die Elefanten gar in ihren glänzenden Hof-Schabracken
-einherkommen, welcher Abstand gegen diese
-schmutzige, armselige Umgebung! Liefe nun einmal
-ein Elefant in rasender Wut durch diese Stadtteile
-und schlüge nach rechts und links mit dem Rüssel
-um sich, wie sollten ihm da die Menschenmassen
-ausweichen? Daß Elefanten manchmal Wutanfälle
-bekommen ist ja eine erwiesene Sache.</p>
-
-<p>Wie alt mag die Stadt wohl sein? Man kommt
-an massiven Bauwerken und Denkmälern vorbei,
-die so zerfallen und abgelebt aussehen, so müde und
-altersschwach, so verstört und verdummt vor lauter
-Anstrengung sich an Dinge zu erinnern, die sie
-längst vergessen hatten, ehe es überhaupt eine Geschichte
-gab, daß man meinen sollte, sie stünden<span class="pagenum" id="Seite_99">[99]</span>
-seit Erschaffung der Welt auf ihrem Fleck. Baroda
-ist eins der ältesten Reiche Indiens; es hat sich
-von jeher durch barbarische Pracht und Herrlichkeit
-und die unermeßlichen Schätze seiner Fürsten berühmt
-gemacht.</p>
-
-<p>Als wir die Stadt hinter uns gelassen hatten,
-fuhren wir lange durch offenes Gelände an abgelegenen
-Dörfern vorbei, die ganz von tropischen Pflanzen
-überwuchert waren. Ueberall herrschte Sabbatstille
-und man hatte das Gefühl tiefster Einsamkeit,
-denn die Eingeborenen glitten wie Geister vorüber,
-man vernahm keinen Tritt ihrer nackten Füße;
-andere sah man gleich Traumgestalten in der Ferne
-verschwinden. Dann und wann zog eine Reihe stattlicher
-Kamele auf den leisen Sohlen, die ihnen die
-Natur verliehen hat, geräuschlos an uns vorbei &ndash;
-ein interessanter Anblick. Nur einmal ward die
-tiefe Ruhe dieses Paradieses unterbrochen, als ein
-Zug eingeborener Strafgefangener mit dem Aufseher
-daherkam und wir das Klirren ihrer Ketten
-vernahmen. An einem entlegenen Orte ruhte ein
-heiliger Mann unter einem Baum &ndash; ein nackter,
-schwarzer Fakir. Er war nichts als Haut und
-Knochen und über und über mit weißlichgrauer
-Asche bestreut.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[100]</span></p>
-
-<p>Nach einiger Zeit kamen wir zu den Elefantenställen
-und ich machte einen Spazierritt. Man forderte
-mich dazu auf; ich selbst hatte nicht das geringste
-Verlangen danach, aber ich tat es doch, damit
-man nicht denken sollte, ich hätte Angst &ndash; was allerdings
-der Fall war. Auf Befehl kniet der Elefant
-nieder &ndash; erst mit einem Vorderbein, dann mit dem
-andern &ndash; man steigt die Leiter hinauf in die Howdah,
-das Zelt auf seinem Rücken, dann erhebt er sich
-wieder &ndash; erst eine Seite, dann die andere &ndash; gerade
-wie ein Schiff über die Wogen fährt; wenn er dann
-mit Riesenschritten umhergeht, erinnert auch sein
-Schwanken an die Bewegung eines Schiffes. Sein
-Treiber, der Mahout, bohrt ihm mit einem großen,
-eisernen Stachelstock in den Hinterkopf; man verwundert
-sich über des Mannes Kühnheit und erwartet
-jeden Augenblick, daß der Elefant die Geduld
-verlieren wird, aber es geschieht nichts dergleichen.
-Der Treiber redet dem Elefanten die ganze Zeit
-über mit leiser Stimme zu; dieser scheint ihn auch
-zu verstehen und ganz vergnügt zu sein, er gehorcht
-wenigstens jedem Befehl aufs bereitwilligste. Unter
-den fünfundzwanzig Elefanten waren zwei so große,
-wie sie mir noch nie vorgekommen sind. Hätte
-ich geglaubt, daß ich mir die Furcht abgewöhnen<span class="pagenum" id="Seite_101">[101]</span>
-könnte, so würde ich mir einen davon hinter dem
-Rücken der Polizei angeeignet haben.</p>
-
-<p>In dem Howdah-Haus sah ich viele silberne
-Sessel, auch einen von Gold und einen von altem
-Elfenbein; Kissen und Baldachine waren aus reichen,
-kostbaren Stoffen. Die Garderobe der Elefanten
-befand sich gleichfalls dort: ungeheuere Sammetdecken
-mit schwerer Goldstickerei, silberne und goldene
-Glocken, welche mit Stricken aus kostbarem
-Metall befestigt werden, und riesige Reifen von massivem
-Gold, die der Elefant an den Fußgelenken
-trägt, wenn er sich aus Staatsrücksichten bei einer
-Prozession beteiligt.</p>
-
-<p>Die Kronjuwelen bekamen wir leider nicht zu
-sehen, worüber wir sehr enttäuscht waren, denn ihre
-Menge und Kostbarkeit ist so außerordentlich, daß
-sie die zweitgrößte Sammlung in Indien bilden.
-Statt dessen zeigte man uns irrtümlicherweise den
-neuen Palast, mit dessen Besichtigung wir alle Zeit
-verschwendeten, die uns noch zur Verfügung stand.
-Das war sehr schade, denn der neue Palast ist ein
-europäisch-amerikanischer Mischmasch, von dem sich
-nur sagen läßt, daß er Unsummen gekostet hat. Nach
-Indien paßt er ganz und gar nicht; es ist eine
-Frechheit von ihm, sich dort einzudrängen. Der<span class="pagenum" id="Seite_102">[102]</span>
-Baumeister hat zu seinem Glück rechtzeitig die Flucht
-ergriffen. Hier wären die Thugs am Platze gewesen;
-man hat doch unrecht getan, sie ganz zu
-unterdrücken. Der alte Palast dagegen ist orientalisch,
-wundervoll und wie für das Land geschaffen.
-Er wäre schon groß, wenn er nur aus der mächtigen
-Halle bestände, in denen die Durbars, die Staatsaudienzen
-des Fürsten stattfinden. Zu Vorlesungen
-ist sie nicht geeignet wegen der verschiedenen Echos,
-aber für Durbars und sonstige Staatsaktionen, zu
-denen man sie braucht, ist sie ausgezeichnet. Wenn
-die Halle mir gehörte, würde ich jeden Tag ein
-Durbar halten und nicht nur zweimal im Jahre,
-wie es hier geschieht.</p>
-
-<p>Der Fürst ist ein gebildeter Herr, er besitzt europäische
-Kultur und ist fünfmal in Europa gewesen.
-Man sagt, daß dies ein kostbares Vergnügen für
-ihn ist, da er sich manchmal bei der Ueberfahrt
-genötigt sieht aus Gefäßen zu trinken, deren sich auch
-andere Leute bedienen, und das verunreinigt seine
-Kaste. Um wieder zu Ehren zu kommen muß er nach
-verschiedenen berühmten Hindutempeln wallfahrten
-und dort ganze Vermögen opfern. Seine Untertanen
-sind sehr fromm, wie alle Hindus, und würden sich
-nicht zufrieden geben, solange ihr Fürst unrein ist.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[103]</span></p>
-
-<p>Wenn wir auch die Juwelen nicht besichtigen
-konnten, so haben wir doch die silberne und die
-goldene Kanone des Fürsten gesehen &ndash; es schienen
-mir Sechspfünder zu sein. Sie werden nur bei
-ganz besondern Staatsangelegenheiten zum Salutschießen
-gebraucht. Ein Ahnherr des jetzigen Gaikawar
-ließ die silberne Kanone anfertigen und einer
-seiner Nachfolger bestellte eine goldene, um ihn auszustechen.
-Derartige Geschütze passen vortrefflich
-nach Baroda, wo man seit alter Zeit Schaugepränge
-in großem Stil geliebt hat. Für Rajahs und Vizekönige,
-die dort zum Besuch kamen, veranstaltete man
-oft Tiger- und Elefantenkämpfe, Illuminationen und
-Elefanten-Prozessionen von wahrhaft großartiger
-Pracht.</p>
-
-<p>Was ist dagegen unser Zirkus mit all seiner
-Herrlichkeit!&nbsp;&ndash;</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_104">[104]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap08">Achtes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Hätte der Mensch immer Gelegenheit zum
-Morden, wenn ihn Mordlust überfällt, so
-kämen viele an den Galgen.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop"><em class="gesperrt">Auf der Eisenbahn.</em> Vor fünfzig Jahren,
-in meiner Knabenzeit, drangen in unser entlegenes,
-schwach bevölkertes Mississippi-Tal sagenhafte
-Gerüchte von einer Genossenschaft berufsmäßiger
-Mörder, die in Indien hausen sollte, einem
-Lande, das uns tatsächlich ebenso fern lag wie die
-Sterne, die droben am Himmel funkelten. Man erzählte,
-es gäbe dort eine Sekte, deren Mitglieder
-sich Thugs nennten und zu Ehren eines Gottes,
-dem sie dienten, den Wanderern an einsamen Orten
-aufzulauern und sie umzubringen pflegten. Jeder
-hörte diesen Geschichten gern zu, aber man glaubte
-sie nicht, oder doch nur mit Vorbehalt. Man nahm
-an, daß sie sich auf dem weiten Wege bis zu uns
-lawinenartig vergrößert hätten, auch waren sie bald
-wieder verschollen. Da erschien Eugène Sues ›Ewiger
-Jude‹ und machte eine Zeitlang viel von sich
-reden. Eine Figur des Romans ist ›Feringhea‹, der<span class="pagenum" id="Seite_105">[105]</span>
-furchtbare, geheimnisvolle Inder, ein Häuptling der
-Thugs, glatt, listig und todbringend wie eine
-Schlange. Durch ihn wurde das Interesse für die
-Thugs von neuem erweckt, aber nach kurzer Zeit
-schlief es abermals ein und zwar auf immer.</p>
-
-<p>Dies mag wohl auf den ersten Blick befremdlich
-erscheinen, doch war es der natürliche Lauf der Dinge,
-wenigstens auf unserer Halbkugel. Was man von
-den Thugs wußte, stammte der Hauptsache nach aus
-einem Regierungsbericht, von dem in Amerika
-schwerlich jemals etwas verlautet ist. Man pflegt
-dergleichen amtliche Schriftstücke nicht ohne weiteres
-in Umlauf zu setzen; nur gewissen Leuten läßt man
-sie zukommen, und ob diese sie lesen ist noch sehr die
-Frage. Ich selbst habe vor einigen Tagen zum
-allererstenmal von diesem Bericht gehört und ihn
-mir zu verschaffen gewußt. Er fesselt mich ungemein
-und macht jene alten Märchen aus meinen
-Knabenjahren zur Wirklichkeit.</p>
-
-<p>Major Sleeman, der in Indien diente, hat das
-Thug-Buch, von dem ich rede, im Jahr 1839 abgefaßt.
-Es wurde 1840 in Kalkutta herausgegeben, ein
-dicker, plumper Band, der uns zwar keine hohe Meinung
-vom damaligen Stand der Buchdruckerkunst beibringt,
-aber vielleicht als Erzeugnis einer amtlichen<span class="pagenum" id="Seite_106">[106]</span>
-Druckerei aus alter Zeit und fernen Landen gar nicht
-so übel war. Dem Major fiel die Riesenaufgabe zu,
-Indien von den Thugs zu befreien und er hat sie
-mit siebzehn Gehilfen, die unter seiner Oberleitung
-standen, glücklich vollbracht. Die Reinigung der Augiasställe
-war nichts dagegen.</p>
-
-<p>Damals schrieb Hauptmann Valencey in einer
-Zeitung, die in Madras erschien: »Wenn der Tag
-kommt, an dem jenes weit verbreitete Uebel in Indien
-ausgerottet und nur noch dem Namen nach bekannt
-ist, wird dies viel dazu beitragen, die britische Herrschaft
-im Orient auf ewige Zeiten zu befestigen.«</p>
-
-<p>Er hat die Größe und Schwierigkeit des Werkes,
-durch dessen Vollendung sich England ein unsterbliches
-Verdienst erworben hat, in keiner Weise
-überschätzt.</p>
-
-<p>Von dem Vorhandensein der furchtbaren Sekte
-waren die britischen Behörden schon seit 1810 unterrichtet,
-doch ahnte kein Mensch ihre weite Ausdehnung;
-man legte ihr nur geringe Bedeutung bei und
-erst 1830 wurden systematische Maßnahmen zu ihrer
-Unterdrückung getroffen. Damals war es Major
-Sleeman gelungen, den Thug-Häuptling Eugène
-Sues in seine Gewalt zu bekommen, und der furchtbare
-Feringhea ließ sich bewegen Kronzeuge zu werden.<span class="pagenum" id="Seite_107">[107]</span>
-Die Enthüllungen, die er machte, waren so
-ungeheuerlicher Art, daß sie Sleeman ganz unglaublich
-schienen. Er hatte in dem Wahn gelebt, er kenne
-sämtliche Verbrecher in seinem Bezirk und hatte die
-schlimmsten höchstens für Diebe und Spitzbuben gehalten.
-Feringhea machte dem Major jedoch klar,
-daß er die ganze Zeit über von Scharen berufsmäßiger
-Mörder umgeben gewesen sei, die ihre Opfer
-in seiner nächsten Nähe begruben. Sleeman hielt das
-für Hirngespinste, aber Feringhea sagte: »Komm und
-siehe selbst!« Er führte ihn an eine Grube, in
-der hundert Leichname lagen, erzählte ihm alle näheren
-Umstände ihrer Ermordung und nannte die
-Namen der Thugs, welche die Tat vollbracht hatten.
-Sleeman traute seinen Augen kaum; er nahm einige
-von jenen Thugs gefangen und stellte Einzelverhöre
-mit ihnen an, nachdem er Sorge getragen, daß sie sich
-nicht unter einander verständigen konnten. Auf die
-unbeglaubigten Aussagen eines Inders wollte er
-sich nicht verlassen. Aber, o Schrecken! die gesammelten
-Zeugnisse ergaben nicht nur, daß Feringhea
-die Wahrheit geredet hatte, sondern lieferten zugleich
-den Beweis, daß die Banden der Thugs in
-ganz Indien ihr furchtbares Gewerbe trieben. Nun
-tat die Regierung ernstliche Schritte zur Vertilgung<span class="pagenum" id="Seite_108">[108]</span>
-der Sekte und man verfolgte sie zehn Jahre lang
-mit unerbittlicher Strenge, bis sie gänzlich ausgerottet
-war. Eine Räuberbande nach der andern
-wurde gefangen, vor Gericht gestellt und bestraft.
-Ueberall spürte man die Thugs in ihren Schlupfwinkeln
-auf und machte Jagd auf sie. Die Regierung
-brachte alle ihre Geheimnisse ans Licht und ließ die
-Namen sämtlicher Mitglieder der Banden, sowie den
-Geburtsort und Wohnplatz jedes einzelnen aufs genauste
-verzeichnen.</p>
-
-<p>Die Thugs waren Anbeter des Gottes Bhowanee,
-dem sie alle Wanderer opferten, welche ihnen
-in die Hände fielen. Die Sachen der Getöteten
-behielten sie jedoch für sich: dem Gotte war nur an
-dem Leichnam etwas gelegen. Bei der Aufnahme
-in die Sekte fanden feierliche Zeremonien statt; jeder
-neue Bekenner wurde unterwiesen, wie er die Erdrosselung
-mit dem heiligen Tuch zu vollziehen habe,
-doch war ihm erst nach langer Uebung gestattet, selbständig
-handelnd vorzugehen. Nur ein erfahrener
-Würger war im stande, die Erdrosselung so rasch
-zu bewerkstelligen, daß der dem Tode Geweihte auch
-keinen Laut mehr von sich geben konnte; jeder dumpfe
-Schrei, jedes Stöhnen, Seufzen oder Schnappen nach
-Luft mußte verhindert werden. In einem Augenblick<span class="pagenum" id="Seite_109">[109]</span>
-schlang sich das Tuch um den Hals des
-Opfers, es ward plötzlich zusammengezogen, der Kopf
-fiel lautlos nach vorn, die Augen traten aus ihren
-Höhlen und alles war vorüber. Vornehmlich gaben
-die Thugs wohl acht, daß sie auf keinen Widerstand
-stießen, auch forderten sie ihr Opfer meist auf sich
-niederzusetzen, weil sich das Geschäft so am bequemsten
-verrichten ließ.</p>
-
-<p>Alle Zustände und Einrichtungen Indiens
-waren den Thugs ausnehmend günstig: Eine öffentliche
-Fahrgelegenheit gab es nicht, man konnte auch
-kein Gefährt mieten. Der Reisende mußte zu Fuß
-gehen, wenn er nicht einen Ochsenwagen benützen
-oder sich ein Pferd für die Gelegenheit kaufen konnte.
-Sobald er die Grenze seines kleinen Fürstentums
-überschritten hatte, war er unter Fremden; dort
-kannte ihn niemand, er blieb unbeachtet, kein Mensch
-vermochte mehr anzugeben, wohin er seine Schritte
-gelenkt hatte. Weder in Städten noch Dörfern
-pflegte der Reisende einzukehren; er hielt außerhalb
-derselben Rast und schickte seine Diener in den Ort,
-um Lebensmittel zu kaufen. Einzelne Höfe gab es
-nicht; auf der öden Strecke zwischen zwei Dörfern
-fiel der Wanderer dem Feinde leicht zur Beute, besonders
-da er meist bei Nacht weiterzog, um der Hitze<span class="pagenum" id="Seite_110">[110]</span>
-zu entgehen. Unterwegs gesellten sich häufig Fremdlinge
-zu ihm und boten ihm an, zu gegenseitigem
-Schutz die Fahrt gemeinsam fortzusetzen; das waren
-meistens Thugs, wie der Wanderer bald zu seinem
-Verderben erfuhr. Die Güterbesitzer, die eingeborene
-Polizei, die kleinen Fürsten, die Dorfrichter und
-Zollwächter steckten oft mit den Räubern unter einer
-Decke, gewährten ihnen Schutz und Obdach und lieferten
-ihnen die Reisenden aus, um Anteil an der Beute
-zu haben. Dadurch ward es der Regierung zuerst
-fast unmöglich gemacht die Uebeltäter zu fangen,
-weil die wachsamen Freunde ihnen zur Flucht verhalfen.
-Und so zogen denn handeltreibende Leute
-aus allen Kasten und Ständen, paarweise oder in
-Gruppen, schutzlos, bei schweigender Nacht, auf den
-Pfaden des weiten Ländergebiets einher, Kostbarkeiten,
-Geld, Juwelen, kleine Seidenballen, Gewürze
-und allerlei Waren mit sich führend &ndash; es war ein
-Paradies für die Thugs.</p>
-
-<p>Bei Eintritt des Herbstes pflegte die Genossenschaft
-ihre zum voraus verabredeten Zusammenkünfte
-zu halten. Um sich untereinander zu verständigen
-brauchten die Thugs, selbst wenn sie aus den verschiedensten
-Gebieten stammten, keine Dolmetscher
-wie andere Völker. Sie hatten ihre eigene Sprache<span class="pagenum" id="Seite_111">[111]</span>
-und geheime Zeichen, an denen sich die Genossen
-erkannten; alle waren untereinander befreundet,
-selbst die Unterschiede der Kaste und Religion traten
-in den Hintergrund, wo Hingebung an den Beruf
-ins Spiel kam. Der Moslem und der Hindu
-aus höherer oder niederer Kaste, standen sich als
-Thugs gleich Brüdern treulich zur Seite.</p>
-
-<p>War eine Bande versammelt, so ward Gottesdienst
-gehalten und man wartete auf die Omen.
-Das Geschrei verschiedener Tiere hatte eine gute
-oder schlechte Vorbedeutung, wie jedermann wußte.
-Erfolgte ein böses Omen, so gab man das Vorhaben
-auf und die Leute gingen wieder nach Hause.</p>
-
-<p>Schwert und Tuch galten als heilige Symbole
-der Thugs. Das Schwert beteten sie daheim an, ehe
-sie zur Versammlung gingen, und das Tuch, mit
-dem sie ihre Opfer würgten, verehrten sie gemeinschaftlich.
-Meist verrichtete der Häuptling der Bande
-die religiösen Zeremonien selbst, nur die Kaets
-beauftragten damit gewisse angestellte Erwürger,
-Chaurs genannt. Diese Kaets hielten so streng an
-ihren gottesdienstlichen Gebräuchen fest, daß es nur
-dem Chaur gestattet war, die geheiligten Gefäße
-und was sie sonst dabei benützten, anzurühren.</p>
-
-<p>Zwei charakteristische Merkmale sind dem Raubsystem<span class="pagenum" id="Seite_112">[112]</span>
-der Thugs besonders eigen: die größte Vorsicht,
-Ausdauer und Geduld bei Verfolgung der
-Beute und gänzliche Erbarmungslosigkeit im Moment
-der Tat.</p>
-
-<p>Vor allem richteten sie ihr Augenmerk darauf,
-daß sie an Zahl der Reisegesellschaft, welcher
-ihr Angriff galt, mindestens vierfach überlegen waren.
-Offene Feindseligkeiten vermieden sie und überfielen
-ihre Opfer nur, wenn diese nichts Böses ahnten.
-Oft reisten sie tagelang in ihrer Gesellschaft
-und suchten durch allerlei Künste ihr Vertrauen und
-ihre Freundschaft zu gewinnen. Sobald ihnen dies
-gelungen war, gingen sie an ihr eigentliches Geschäft:
-Zuerst wurden ein paar Thugs vorausgeschickt, um
-bei dunkler Nacht den günstigsten Schauplatz für
-die Ermordung zu wählen und die <em class="gesperrt">Gräber zu
-graben</em>. Wenn die übrigen den Ort erreichten,
-ward unter dem Vorwand, etwas zu rasten und eine
-Pfeife zu rauchen, Halt gemacht. Man schlug der Gesellschaft
-vor, sich niederzusetzen. Auf einen Wink
-des Hauptmanns nahmen einige Thugs den Reisenden
-gegenüber Platz, andere setzten sich neben sie und
-fingen ein Gespräch mit ihnen an, während die
-geübtesten Würger sich, des verabredeten Zeichens
-harrend, in ihrem Rücken aufstellten. Dies Zeichen<span class="pagenum" id="Seite_113">[113]</span>
-war gewöhnlich irgend eine alltägliche Bemerkung:
-»Bringt den Tabak,« oder etwas derart. Oft verging
-noch eine beträchtliche Zeit, nachdem jeder der
-Handelnden seinen bestimmten Platz eingenommen
-hatte; der Hauptmann wartete erst, ob auch alles
-ganz sicher sei. Unterdessen spann sich die Unterhaltung
-einförmig weiter; düstere Gestalten huschten
-im Hintergrund hierhin und dorthin bei dem ungewissen
-Dämmerschein; die Nacht war still und
-friedlich und die Reisenden überließen sich arglos
-der angenehmen Ruhe, ohne zu ahnen, daß die
-Todesengel sie von allen Seiten umgaben. Jetzt
-war der Augenblick da; das verhängnisvolle Wort:
-»Bringt den Tabak,« wurde gesprochen. Sofort entstand
-eine rasche aber lautlose Bewegung. Im gleichen
-Moment hielten die Männer, welche neben den
-Reisenden saßen, ihre Hände fest, die vor ihnen
-ergriffen ihre Füße und taten einen kräftigen Ruck,
-während ein Mörder jedem Opfer von hinten das
-Tuch um den Kopf schlang und zuzog &ndash; der Kopf
-des Erdrosselten sank auf die Brust, das Trauerspiel
-war zu Ende. Nun wurden die Leichen ausgeplündert,
-und in den Gräbern verscharrt; darauf
-packte man die Beute zusammen, die mitgenommen
-werden sollte. Nachdem dann die Thugs noch zum<span class="pagenum" id="Seite_114">[114]</span>
-Schluß dem Gotte Bhowanee ihren frommen Dank
-dargebracht hatten, zogen sie weiter, um noch mehr
-heilige Taten zu verrichten.</p>
-
-<p>Aus Major Sleemans Bericht ergibt sich, daß
-die Reisenden meist in kleiner Anzahl beisammen
-waren, in der Regel nicht mehr als zwei, drei oder
-vier. Die Thugs dagegen zogen in Banden von zehn,
-fünfzehn, fünfundzwanzig, vierzig, sechzig, hundert,
-hundertfünfzig, zweihundert, zweihundertundfünfzig
-Mann umher, ja, es wird sogar eine Bande von
-dreihundertzehn Mann erwähnt. Bei solcher starken
-Ueberzahl kann man ihren Fang nicht besonders groß
-nennen, wenn man bedenkt, daß sie durchaus nicht
-wählerisch waren, sondern wo und wie sie konnten
-jeden umbrachten, ob reich oder arm, oft sogar Kinder.
-Manchmal töteten sie auch Frauen, aber das
-galt für sündhaft und brachte Unglück. Die günstige
-Jahreszeit für ihre Raubzüge dauerte sechs bis acht
-Monate. In einem solchen Jahrgang töteten zum
-Beispiel die sechs Banden von Bundelkund und
-Gwalior, welche zusammen 712 Köpfe zählten, 210
-Menschen. Die Thugs von Malwa und Kandeisch
-waren 702 Mann stark und mordeten 232. Die
-Kandeisch- und Berar-Banden, 963 Mann, brachten
-385 Leute um.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_115">[115]</span></p>
-
-<p>Bettler gelten in Indien für heilig, und manche
-Banden schonten ihr Leben, andere dagegen mordeten
-nicht nur sie, sondern sogar den Fakir, diesen Inbegriff
-aller Heiligkeit, der nichts als Haut und
-Knochen ist, sich Staub und Schmutz auf das buschige
-Haupthaar streut und seinen nackten Körper über
-und über mit Asche bepudert, daß er aussieht wie
-ein Gespenst. Mancher Fakir verließ sich jedoch
-allzu fest auf seine unverletzliche Heiligkeit. Von
-einem solchen Fall wird uns in Sleemans Buch
-unter andern Großtaten Feringheas berichtet. Er
-war einmal mit vierzig Thugs ausgezogen und sie
-hatten schon neununddreißig Männer und eine Frau
-getötet, ehe der Fakir zum Vorschein kam.</p>
-
-<p>»Wir näherten uns Doregow,« lautete der
-Bericht, »trafen auf drei Brahminen, dann auf
-einen Fakir zu Pferde, der sich ganz mit
-Zucker bekleistert hatte, um die Fliegen herbeizulocken,
-von denen er über und über bedeckt
-war. Wir jagten ihn fort und töteten die
-drei andern.</p>
-
-<p>»Hinter Doregow stieß der Fakir nochmals zu
-unserer Gesellschaft und zog mit uns bis Raojana;
-wir begegneten sechs Hindus, die von Bombay nach
-Nagpore wollten. Den Fakir vertrieben wir durch<span class="pagenum" id="Seite_116">[116]</span>
-Steinwürfe, töteten die sechs Leute in ihrem Lager
-und begruben sie im Gebüsch.</p>
-
-<p>»Am nächsten Tage stellte sich der Fakir wieder
-ein; erst in Mana wurden wir ihn los. Hinter
-dem Orte trafen wir drei Sepoys und hatten fast
-den Platz erreicht, der zu ihrer Ermordung bestimmt
-war, als der Fakir abermals erschien. Nun
-endlich riß uns die Geduld und wir gaben Mithoo,
-einem unserer Gefährten, fünf Rupien, daß er ihn
-umbringen und die Sünde auf sich nehmen sollte.
-Alle vier wurden erdrosselt, also auch der Fakir.
-In seinem Gepäck fanden sich zu unserer Ueberraschung
-dreißig Pfund Korallen, dreihundert fünfzig
-Schnüre kleine Perlen, fünfzehn Schnüre große Perlen
-und ein vergoldetes Halsband.«</p>
-
-<p>Ob wohl Mithoo, der allein die Sünde trug,
-sich die unerwartete Beute ganz aneignen durfte,
-oder ob er sie mit den Gefährten teilen mußte und
-nur die Sünde für sich behielt? &ndash; Wie schade, daß
-der Regierungsbericht uns gerade diesen interessanten
-Umstand verschweigt!</p>
-
-<p>Feringhea fürchtete sich selbst nicht vor den
-Mächtigen der Erde. Einen Elefantentreiber des
-Rajahs von Oodeypore erdrosselte er ohne weiteres.
-Er hat auf jenem Raubzug nicht weniger<span class="pagenum" id="Seite_117">[117]</span>
-als hundert Männer und fünf Frauen umgebracht.</p>
-
-<p>Unter den Unglücklichen, welche den Thugs
-zum Opfer fielen, waren Personen jeden Standes
-und Ranges; nur den Weißen taten sie nichts zu
-Leide. Die Liste verzeichnet:</p>
-
-<p>Eingeborene, Soldaten, Fakirs, Bettler, Träger
-des heiligen Wassers, Zimmerleute, Hausierer,
-Schneider, Schmiede, eingeborene Polizisten, Kuchenbäcker,
-Stallknechte, Pilger, Chuprassies, Weber,
-Priester, Bankiers, Schatz-Träger, Kinder, Kuhhirten,
-Gärtner, Ladenbesitzer, Palankin-Träger, Landleute,
-Ochsentreiber, Diener, die Beschäftigung suchten,
-Frauen, die sich verdingen wollten, Schafhirten,
-Bogenschützen, Aufwärter, Bootsleute, Händler,
-Grasmäher.</p>
-
-<p>Selbst einen fürstlichen Koch verschonten sie
-nicht, ebenso wenig den Wasserträger des Herrschers
-über alle Fürsten und Könige, des Generalgouverneurs
-von Indien. Ja, eine Bande war sogar grausam
-genug, armen, herumziehenden Komödianten
-das Leben zu nehmen, und trotzdem sie auf demselben
-Raubzug auch noch einen Fakir und zwölf
-Bettler töteten, beschützte sie ihr Gott Bhowanee:
-Sie wollten einen Mann im Walde erdrosseln, während
-gerade viele Leute in der Nähe vorbeigingen,<span class="pagenum" id="Seite_118">[118]</span>
-zogen aber die Schlinge nicht fest genug, und der
-Mann stieß einen lauten Schrei aus. Da ließ Bhowanee
-im gleichen Augenblick ein Kamel durch das
-Dickicht brechen, dessen Gebrüll den Angstschrei übertönte,
-und ehe der Mann den Mund wieder öffnen
-konnte, war sein Atem entflohen.</p>
-
-<p>Die Kuh ist in Indien ein so heiliges Tier, daß
-schon ihren Hirten zu töten für frevelhaft gilt. Das
-wußten die Thugs recht gut, aber bisweilen war
-ihr Blutdurst so groß, daß sie dennoch einige Kuhhirten
-umbrachten. Ein Thug, der solche Missetat
-verübt hatte, bekennt:</p>
-
-<p>»Unser Glaube verbietet das aufs strengste; es
-kann nur Unheil daraus entstehen. Ich lag nachher
-zehn Tage am Fieber darnieder. Tötet man einen
-Mann, der eine Kuh führt, so bringt es Unglück; hat
-er keine Kuh bei sich, dann schadet es nichts.« Ein
-anderer Thug, der bei dieser Gelegenheit die Füße
-des Opfers gehalten hatte, fürchtete für sich keine
-schlimmen Folgen, »weil das Mißgeschick für solche
-Tat immer nur den Erwürger selbst, nicht seine Gehilfen
-bedroht, und wenn er deren auch hundert
-gehabt hätte.«</p>
-
-<p>Während vieler Menschenalter durchwanderten
-Tausende von Thugs Indien in allen Richtungen.<span class="pagenum" id="Seite_119">[119]</span>
-Ihr Räuberhandwerk war zu einem Beruf geworden,
-der sich vom Vater auf den Sohn und Enkel forterbte.
-Von sechzehn Jahren an konnte ein Knabe schon Mitglied
-der Verbindung werden, und siebzigjährige
-Greise waren noch in voller Tätigkeit.</p>
-
-<p>Was fesselte die Leute aber an ihr Mordgeschäft,
-worin bestand der Reiz desselben? Teils trieb sie
-offenbar Frömmigkeit, teils Beutegier dazu, aber
-das Hauptinteresse scheint doch das Vergnügen an
-der Jagd selbst gewesen zu sein, die Mordlust, welche
-auch dem weißen Manne im Blute steckt. Meadows
-Taylor schreibt in seinem Roman: ›Bekenntnisse
-eines Thug‹:</p>
-
-<p>»Wie leidenschaftlich liebt ihr Engländer nicht
-die Jagd! Ganze Wochen und Monate widmet ihr
-diesem aufregenden Zeitvertreib. Um Tiger, Panther,
-Büffel oder Eber zu töten, strengt ihr eure
-ganze Tatkraft an, ja ihr setzt selbst das Leben
-aufs Spiel. Wir Thugs aber verfolgen ein weit
-edleres Wild!«</p>
-
-<p>Vielleicht liegt hierin wirklich der Schlüssel des
-Rätsels, das die Entstehung und Verbreitung der
-furchtbaren Sekte umgibt. Dem Menschengeschlecht
-im großen und ganzen ist die Mordgier eigen, es
-ergötzt sich am Töten lebender Geschöpfe wie an<span class="pagenum" id="Seite_120">[120]</span>
-einem Schauspiel. Wir weißen Leute sind nur etwas
-verfeinerte Thugs, denen ihr dünner Anstrich von
-Zivilisation wie ein lästiger Zwang erscheint. Als
-Thugs haben wir uns vor noch gar nicht so langer
-Zeit an den Metzeleien der römischen Arena ergötzt
-und später an dem Feuertod, welcher zweifelhaften
-Christen durch rechtgläubige Christen auf öffentlichem
-Marktplatz bereitet wurde. Noch jetzt gehen
-wir mit den Thugs in Spanien oder in Nimes zu
-den blutigen Greueln der Stiergefechte hinaus.
-Keiner unserer Reisenden, welches Geschlechts oder
-welcher Religion er auch sein mag, hat je der Anziehungskraft
-der spanischen Arena zu widerstehen
-vermocht, wenn sich ihm Gelegenheit bot, dem Schauspiel
-beizuwohnen. Auch zur Jagdzeit sind wir
-fromme Thugs: wir hetzen das harmlose Wild und
-töten es mit Wonne. Aber <em class="gesperrt">einen</em> Fortschritt haben
-wir doch gemacht. Zwar ist er nur winzig und
-kaum der Rede wert, so daß wir nicht nötig hätten
-besonders stolz darauf zu sein, aber es ist immerhin
-ein Fortschritt zu nennen, daß es uns nicht mehr
-Freude macht, hilflose Menschen niederzumetzeln oder
-zu verbrennen. Von diesem höheren Standpunkt
-aus können wir mit selbstgefälligem Schaudern auf
-die indischen Thugs herabsehen; auch dürfen wir<span class="pagenum" id="Seite_121">[121]</span>
-zuversichtlich hoffen, daß einst der Tag erscheinen
-wird, an dem unsere Nachkommen in künftigen Jahrhunderten
-mit ähnlichen Gefühlen auf uns herabschauen.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap09">Neuntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Der Kummer ist sich selbst genug; aber
-um eine Freude voll und ganz zu genießen,
-muß man jemand haben, mit dem man sie
-teilen kann.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Wir fuhren mit dem Nachtzug von Bombay
-nach Allahabad. In Indien ist es Landessitte, das
-Reisen am Tage möglichst zu vermeiden; dabei ist
-nur der Uebelstand, daß man sich zwar die beiden
-Sofas ›sichern‹ kann, wenn man sie vorausbestellt,
-aber man erhält keinerlei Fahrkarte oder Marke,
-durch welche man sein Eigentumsrecht zu beweisen
-vermag, falls dasselbe in Zweifel gezogen wird.
-Das Wort ›besetzt‹ erscheint am Fenster des Coupés,
-aber für wen weiß niemand. Kommt mein Satan
-mit meinem Barney an, ehe ein anderer Diener zur
-Stelle ist, legen sie meine Betten auf die beiden<span class="pagenum" id="Seite_122">[122]</span>
-Sofas und stehen Wache bis wir eintreffen, dann
-geht alles gut. Verlassen sie aber den Posten um
-eine Besorgung zu machen, so können sie bei der Rückkehr
-finden, daß unsere sämtlichen Bettstücke auf
-die oberen Schlafbretter befördert worden sind, und
-ein paar andere Dämonen das Lager ihrer Herren
-auf unsern Sofas bereitet haben, vor denen sie
-Wache halten.</p>
-
-<p>Dieses System lehrt uns Höflichkeit und Rücksicht
-üben, doch gestattet es auch unberechtigte Uebergriffe.
-Ein junges Mädchen pflegt einer älteren
-Dame, wenn diese später kommt, den Sofaplatz einzuräumen,
-den die Dame meist mit freundlichem
-Danke annimmt. Aber bisweilen geht es dabei auch
-anders zu. Als wir im Begriff waren Bombay
-zu verlassen, lagen die Reisetaschen meiner Tochter
-auf ihrem Sofaplatz. Da kam im letzten Augenblick
-eine amerikanische Dame mittleren Alters in das
-Coupé gestürmt, hinter ihr die mit dem Gepäck beladenen
-eingeborenen Träger. Sie schalt, brummte,
-knurrte und versuchte sich möglichst unausstehlich
-zu machen, was ihr auch gelang. Ohne ein Wort
-der Erklärung warf sie Reisekorb und Tasche meiner
-Tochter auf das obere Brett und pflanzte sich breit
-auf das Sofa hin.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[123]</span></p>
-
-<p>Bei einem unserer Ausflüge verließen wir,
-Smythe und ich, auf einer Station unser Coupé,
-um etwas auf und ab zu gehen; als wir zurückkamen,
-fanden wir Smythes Betten im Hängebrett,
-und ein englischer Kavallerie-Offizier lag lang und
-bequem ausgestreckt auf dem Sofa, wo Smythe noch
-soeben geschlafen hatte.</p>
-
-<p>Es ist abscheulich, daß dergleichen unsereinem
-Spaß bereitet, aber wir sind nun einmal so geschaffen.
-Wäre das Mißgeschick meinem ärgsten
-Feinde zugestoßen, es hätte mir kein größeres Vergnügen
-machen können. Wir freuen uns alle, wenn
-es andern Leuten schlecht geht, ohne daß wir Unbequemlichkeiten
-davon haben. Smythes Aerger machte
-mich so glücklich, daß ich gar nicht einschlafen konnte,
-weil ich mich in Gedanken zu sehr daran ergötzte.
-Er glaubte natürlich, der Offizier hätte den Raub
-selber begangen, während ihn der Diener zweifellos
-ohne Wissen seines Herrn ausgeführt hatte. Den
-Groll über diesen Vorfall bewahrte Smythe getreulich
-im Herzen; er schmachtete nach einer Gelegenheit,
-sich dafür an irgend jemand schadlos zu halten,
-und dies Verlangen ward ihm bald darauf in Kalkutta
-erfüllt. Von dort unternahmen wir eine vierundzwanzigstündige
-Fahrt nach Dardschiling. Da<span class="pagenum" id="Seite_124">[124]</span>
-aber der Generaldirektor Barclay alle Vorkehrungen
-getroffen hatte, damit wir es unterwegs recht bequem
-haben sollten &ndash; wie Smythe versicherte &ndash; so
-beeilten wir uns nicht allzusehr auf den Zug zu kommen.
-Im Bahnhof herrschte, wie gewöhnlich in Indien,
-ein entsetzliches Gewühl, ein unbeschreiblicher
-Lärm und Wirrwarr. Der Zug war übermäßig
-lang, denn sämtliche Eingeborene des Landes reisten
-irgendwohin; die Bahnbeamten wußten nicht, wo
-ihnen der Kopf stand und wie sie alle die aufgeregten
-Leute, die sich verspätet hatten, noch unterbringen
-sollten. Wo das für uns bestimmte Coupé war,
-konnte uns niemand sagen; keiner hatte Befehl erhalten
-dafür zu sorgen. Das war eine große Enttäuschung,
-auch hatte es ganz den Anschein als würde
-die Hälfte unserer Gesellschaft zurückbleiben müssen;
-da kam Satan spornstreichs angerannt, um zu melden,
-daß er ein Coupé gefunden habe, in dem noch
-ein Hängebrett und ein Sofa leer waren. Dort
-hatte er unser Gepäck hineingeschafft und uns das
-Lager bereitet. Wir stiegen eilends ein. Der Zug
-war gerade im Fortfahren, und die Schaffner schlugen
-eine Waggontür nach der andern zu, als ein Beamter
-des ostindischen Zivildienstes, unser guter Freund,
-atemlos gelaufen kam. »Ueberall habe ich nach<span class="pagenum" id="Seite_125">[125]</span>
-Ihnen gesucht,« rief er. »Wie kommen Sie hierher?
-Wissen Sie denn nicht&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Indem fuhr der Zug ab, und der Schluß des
-Satzes entging uns. Jetzt kam für Smythe die
-Gelegenheit seinen Racheplan auszuführen. Er
-nahm sofort seine Betten vom Schlafbrett, tauschte
-sie gegen diejenigen aus, welche herrenlos auf dem
-Sofa mir gegenüber lagen und begab sich seelenvergnügt
-zur Ruhe. Gegen zehn Uhr nachts hielten
-wir irgendwo und ein großer Engländer, der wie
-ein hoher Militär aussah, stieg bei uns ein. Wir
-taten, als schliefen wir. Trotz der verdunkelten
-Lampen war es aber hell genug, daß wir sehen
-konnten, welche Ueberraschung sich in seinen Zügen
-malte. Hoch aufgerichtet stand er da, starrte sprachlos
-auf Smythe herab und versuchte die Lage der
-Dinge zu begreifen. Nach einer Weile sagte er:</p>
-
-<p>»Nein, so was!« &ndash; weiter nichts.</p>
-
-<p>Aber es war mehr als genug und leicht verständlich.
-Es sollte heißen: »So was ist doch unerhört!
-Eine solche Unverschämtheit ist mir mein
-Lebtag noch nicht vorgekommen.«</p>
-
-<p>Er setzte sich auf seinen Koffer; wir aber schielten
-wohl zwanzig Minuten lang mit halbgeschlossenen
-Augen zu ihm hinüber und beobachteten, wie ihn die<span class="pagenum" id="Seite_126">[126]</span>
-Bewegung des Zuges rüttelte und schüttelte. Sobald
-wir an eine Station kamen, erhob er sich;
-wir hörten ihn noch im Fortgehen murmeln: »Ich
-muß ein leeres Sofa finden, sonst warte ich bis zum
-nächsten Zuge!«</p>
-
-<p>Bald darauf kam sein Diener, um das Gepäck
-zu holen.</p>
-
-<p>So war denn Smythes alte Wunde geheilt und
-sein Rachdurst gestillt. Aber schlafen konnte er ebensowenig
-wie ich; unser Wagen war ein ehrwürdiger,
-alter Kasten voller Schäden und Gebrechen. Die
-Tür ins Waschkabinett zum Beispiel schlug fortwährend
-an und spottete aller unserer Bemühungen sie
-zu befestigen. Als der Morgen dämmerte, standen wir
-wie zerschlagen auf, um eine Tasse Kaffee zu trinken.
-Auch jener Engländer war auf der Station ausgestiegen
-und wir hörten, wie jemand zu ihm sagte:</p>
-
-<p>»Also haben Sie Ihre Fahrt doch nicht unterbrochen?«</p>
-
-<p>»Nein,« lautete die Antwort, »der Schaffner
-konnte mir ein Coupé anweisen, das zwar bestellt
-aber nicht besetzt worden war. Ich bekam einen
-großen Salonwagen für mich ganz allein, wahrhaft
-fürstlich, versichere ich Ihnen. Ein solcher Glücksfall
-ist mir noch nie begegnet.«</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[127]</span></p>
-
-<p>Natürlich war das unser Wagen. Wir siedelten
-sogleich mit der ganzen Familie dahin über. Den
-Herrn Engländer lud ich jedoch ein zu bleiben, was
-er auch annahm. Ein sehr liebenswürdiger Mann,
-Oberst bei der Infanterie. Daß Smythe ihm sein
-Lager geraubt hat, erfuhr er nicht; er glaubt, Smythes
-Diener hätten es ohne Wissen seines Herrn
-getan. Man half ihm zu dieser Ueberzeugung und
-störte ihn nicht darin.</p>
-
-<p>In Indien werden die Züge ausschließlich von
-Eingeborenen bedient, auch alle Stationsbeamten &ndash;
-außer an Hauptplätzen &ndash; sind Eingeborene, desgleichen
-die Polizisten und die Angestellten im Post-
-und Telegraphendienst. Lauter sehr freundliche und
-gefällige Leute. Eines Tages war ich aus dem
-Schnellzug gestiegen, um mich mit Entzücken an dem
-Schauspiel zu weiden, das jede große Station in
-Indien bietet. Die bunten Scharen der Eingeborenen,
-welche auf dem breiten Perron rastlos durcheinander
-wirbelten, fesselten mich dergestalt, daß ich
-alles andere darüber vergaß. Als ich mich umwandte
-sah ich, daß mein Zug soeben zum Bahnhof
-hinausfuhr. Ich wollte mich ruhig hinsetzen, um
-den nächsten Zug abzuwarten, wie ich es zu Hause
-getan hätte; an eine andere Möglichkeit dachte ich<span class="pagenum" id="Seite_128">[128]</span>
-nicht. Da trat ein eingeborener Beamter, der eine
-grüne Flagge in der Hand hielt, höflich auf mich
-zu: »Wollten Sie nicht mit dem Zuge weiter?«
-fragte er.</p>
-
-<p>Als ich dies bejahte, ließ er seine Flagge wehen,
-der Zug kam zurück, und er half mir mit solcher
-Ehrerbietung einsteigen, als wäre ich der Generaldirektor
-selber gewesen. Ein gutherziges Volk, diese
-Hindus! Unfreundliche, mürrische Mienen, welche
-Bosheit und schlechte Gemütsart verraten, sind eine
-solche Seltenheit, daß es mir oft vorkam, als müsse
-ich die Mordgeschichten der Thugs geträumt haben.
-Freilich wird es auch unter den Indern schlechte
-Menschen geben, aber jedenfalls in großer Minderzahl.
-Eins ist gewiß: es ist das interessanteste Volk
-in der ganzen Welt und dabei unerklärlich und unbegreiflich
-in seinem Wesen wie kein anderes. Sein
-Charakter, seine Geschichte, seine Religion, seine Sitten
-sind voller Rätsel, die nur noch unverständlicher
-werden, wenn man uns Aufschluß darüber gibt.
-Weshalb und auf welche Weise so seltsame Dinge
-wie die verschiedenen Kasten, die Thugs, die Suttis
-entstanden sein können, geht über unsere Begriffe.</p>
-
-<p>Für die Sitte der Witwenverbrennung hat man
-zum Beispiel folgende Erklärung: Eine Frau, die<span class="pagenum" id="Seite_129">[129]</span>
-ihr Leben freiwillig hingibt, wenn ihr Gatte stirbt,
-wird augenblicklich wieder mit ihm vereinigt, und sie
-genießen fortan im Himmel zusammen ewige Freuden;
-die Familie errichtet ihr ein Denkmal oder einen
-Tempel und hält ihr Andenken in hohen Ehren.
-Der Opfertod der Frau verleiht auch allen ihren
-Angehörigen eine besondere Auszeichnung in den
-Augen des Volkes, die sich dauernd auf ihre Nachkommenschaft
-vererbt. Bleibt sie dagegen am Leben,
-so erwartet sie Schmach und Schande; wieder
-verheiraten kann sie sich nicht, die Familie verachtet
-sie und sagt sich von ihr los; freundlos und verlassen
-fristet sie ihr jammervolles Dasein.</p>
-
-<p>Daß sie es vorzieht solchem Elend durch den
-Tod zu entfliehen, ist sehr begreiflich. Aber was
-der Ursprung dieser seltsamen Sitte ist, bleibt trotzdem
-ein Rätsel. Vielleicht wurde sie auf Befehl
-der Götter eingeführt; aber haben diese auch bestimmt,
-daß man eine so grausame Todesart wählen
-sollte? Hätte ein sanfterer Tod nicht dieselben
-Dienste getan? Kein Mensch weiß darauf eine
-Antwort.</p>
-
-<p>Man wäre geneigt anzunehmen, daß die Witwen
-sich überhaupt nicht freiwillig verbrennen ließen,
-sondern es nur nicht wagten sich der öffentlichen<span class="pagenum" id="Seite_130">[130]</span>
-Meinung zu widersetzen. Dieser Standpunkt läßt
-sich jedoch unmöglich festhalten; er stimmt nicht mit
-den geschichtlichen Tatsachen überein. Major Sleeman
-erzählt in einem seiner Bücher einen höchst
-charakteristischen Fall:</p>
-
-<p>Als er im März 1828 die Verwaltung am
-Nerbuddastrom übernahm, beschloß er kühn, dem
-Zug seines mitleidigen Herzens zu folgen und die
-Suttis auf eigene Verantwortung in seinem Bezirk
-zu verbieten. Daß sie acht Monate später auf Befehl
-der Ostindischen Regierung gänzlich untersagt
-werden würden, konnte er nicht voraussehen. Am
-24. November &ndash; einem Dienstag &ndash; starb Omed
-Sing Opaddia, das Haupt einer der angesehensten
-und zahlreichsten Brahminenfamilien der Gegend,
-und eine Abordnung seiner Söhne und Enkel erschien
-vor Sleeman, mit der Bitte, der alten Witwe zu
-gestatten sich mit der Leiche ihres Gemahls verbrennen
-zu lassen. Der Major drohte jedoch, jeden
-streng zu bestrafen, der seinem Befehl zuwider handeln
-und der Selbstverbrennung der Witwe Vorschub
-leisten würde. Er stellte eine Polizeiwache
-am Nerbudda-Ufer auf, wo die fünfundsechzigjährige
-Witwe schon seit dem frühen Morgen bei ihrem
-Toten saß und wartete. Als die abschlägige Antwort<span class="pagenum" id="Seite_131">[131]</span>
-eintraf, blieb sie Tag und Nacht am Rande des
-Wassers sitzen, ohne zu essen und zu trinken.</p>
-
-<p>Am folgenden Morgen wurde die Leiche ihres
-Gemahls in einer etwa acht Quadratfuß breiten
-und drei bis vier Fuß tiefen Grube in Anwesenheit
-von mehreren tausend Zuschauern verbrannt. Hierauf
-watete die Witwe nach einem nackten Felsen im
-Bette der Nerbudda; alle Fremden hatten sich zerstreut,
-nur ihre Söhne und Enkel blieben in ihrer
-Nähe, während die übrigen Anverwandten des Majors
-Haus umringten, um ihn zu überreden, sein Verbot
-zurückzunehmen. Die Witwe widerstand allen
-Bitten der Ihrigen, die sie sehr liebten und ihr
-Leben zu erhalten wünschten, sie verweigerte jede
-Nahrung und blieb auf dem nackten Felsen sitzen,
-der sengenden Sonnenhitze bei Tag und der strengen
-Kälte bei Nacht ausgesetzt, nur mit einem dünnen
-Stück Zeug über der Schulter. Am Donnerstag setzte
-sie, zum Beweis, daß nichts sie von ihrem Vorhaben
-abbringen könne, die Dhadscha, einen groben, roten
-Turban auf und brach ihre Armbänder in Stücke,
-wodurch sie gesetzlich für tot galt und auf immer aus
-ihrer Kaste ausgeschlossen war. Hätte sie jetzt noch
-das Leben erwählen wollen, so konnte sie nie mehr
-zu ihrer Familie zurückkehren. Sleeman wußte sich<span class="pagenum" id="Seite_132">[132]</span>
-keinen Rat. Wenn sich die Frau zu Tode hungerte,
-so war ihre Familie beschimpft und die Aermste
-starb unter langsameren Qualen, als wenn man ihr
-gestattete sich zu verbrennen. Als der Major sie
-am vierten Tage nach dem Tode ihres Mannes noch
-mit der Dhadscha auf dem Kopfe an derselben Stelle
-sitzen fand, redete er sie an. Sie sagte ihm mit
-großer Gelassenheit, daß sie entschlossen sei, ihre
-Asche mit der ihres verstorbenen Gatten zu mischen;
-sie würde geduldig seine Erlaubnis abwarten, überzeugt,
-Gott werde ihr Kraft geben, ihr Dasein bis
-dahin zu fristen, obgleich sie weder essen noch trinken
-wolle. Dann blickte sie nach der Sonne, die eben
-über der Nerbudda aufging und sagte ruhig: »Meine
-Seele weilt schon fünf Tage lang bei der meines
-Gatten, in der Nähe jener Sonne, nur meine irdische
-Hülle ist noch übrig, und ich weiß, du wirst bald
-gestatten, daß sie sich in jener Grube mit seiner
-Asche vermischt, weil es nicht in deinem Wesen und
-Brauch ist, die Qual einer armen, alten Frau mutwillig
-zu verlängern.«</p>
-
-<p>Sleeman versicherte ihr, es sei sein Wunsch
-und seine Pflicht sie zu retten und zu erhalten.
-Er wolle den Ihrigen die Schmach ersparen für
-ihre Mörder zu gelten. Doch sie erwiderte, deswegen<span class="pagenum" id="Seite_133">[133]</span>
-sei sie unbesorgt. Ihre Kinder hätten alles
-mögliche getan, um sie zu bewegen unter ihnen zu
-leben. »Hätte ich eingewilligt, so würden sie mich
-geliebt und geehrt haben, das weiß ich. Doch übergebe
-ich sie alle deiner Obhut und gehe zu meinem
-Gatten Omed Sing Opaddia, mit dessen Asche die
-meinige sich schon dreimal auf dem Scheiterhaufen
-vermischte.«</p>
-
-<p>Dies bezog sich auf die Seelenwanderung. Sie
-waren nach ihrer Ueberzeugung schon dreimal als
-Mann und Weib auf Erden gewesen. Seit sie ihre
-Armbänder zerbrochen und den roten Turban aufgesetzt
-hatte, hielt sie sich für bereits gestorben, sonst
-hätte sie nicht so unehrerbietig sein können, den Namen
-ihres Gatten auszusprechen. Es war das erstemal
-in ihrem Leben, daß sie dies tat, denn in
-Indien nennt keine Frau, aus welchem Stande sie
-auch sei, jemals den Namen ihres Mannes.</p>
-
-<p>Sleeman hoffte noch immer sie zu überreden.
-Er drohte ihr, die Regierung werde die steuerfreien
-Güter, von denen ihre Familie so lange gelebt habe,
-einziehen; auch werde kein Stein den Platz bezeichnen,
-wo sie sterbe, im Fall sie auf ihrem Entschluß
-beharre. Bliebe sie aber am Leben, so solle eine
-glänzende Wohnung unter den Tempeln ihrer Ahnen<span class="pagenum" id="Seite_134">[134]</span>
-für sie gebaut und eine schöne Summe zu ihrem
-Unterhalt bestimmt werden. Aber sie lächelte nur,
-streckte den Arm aus und sagte: »Mein Puls hat
-lange aufgehört zu schlagen, mein Geist ist entwichen;
-ich werde bei dem Verbrennen nicht leiden.
-Wenn du einen Beweis willst, so laß Feuer bringen
-und sieh, wie es diesen Arm verzehrt, ohne daß
-es mir Schmerz verursacht.«</p>
-
-<p>Da der Major erkannte, daß alle seine Bemühungen
-vergebens waren, ließ er die Oberhäupter
-der Familie rufen und erklärte ihnen, er werde gestatten,
-daß sich die Witwe verbrennen dürfe, wenn
-sie sich alle durch eine feierliche Urkunde verpflichten
-wollten, in ihrer Familie nie wieder eine Sutti
-zu halten. Sie gingen darauf ein und die Schrift
-ward aufgesetzt und unterzeichnet. Als man der
-Witwe am Sonnabend gegen Mittag den Beschluß
-verkündete, zeigte sie sich hocherfreut. Um drei Uhr
-waren die Zeremonien des Badens vorüber, und
-in der Grube brannte ein helles Feuer. Fast fünf
-Tage hatte die Frau ohne Speise und Trank zugebracht;
-als sie vom Felsen ans Ufer kam, netzte sie
-erst ihr Tuch im Wasser des heiligen Stromes, denn
-ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre sie durch jeden
-Schatten, der auf sie fiel, verunreinigt worden. Von<span class="pagenum" id="Seite_135">[135]</span>
-ihrem ältesten Sohn und einem Neffen gestützt schritt
-sie nach dem Feuer hin, eine Entfernung von etwa
-150 Metern.</p>
-
-<p>Wachen waren aufgestellt, und niemand durfte
-sich auf fünf Schritt nähern. Sie kam mit ruhigem
-freudevollem Gesicht herbei, blieb einmal stehen,
-schaute aufwärts und sagte: »Warum hat man mich
-fünf Tage von dir, mein Gatte, entfernt gehalten?«
-Als sie zu den Wachen kam, blieben ihre Begleiter
-zurück; sie schritt noch einmal um die Grube, hielt
-einen Augenblick inne und während sie ein Gebet
-murmelte, warf sie einige Blumen ins Feuer. Dann
-trat sie ruhig und standhaft bis an den Rand, stieg
-mitten in die Flamme, setzte sich nieder und lehnte sich
-zurück als ruhe sie auf einem Lager; ohne einen
-Schrei auszustoßen oder ein Zeichen des Schmerzes
-von sich zu geben, wurde sie vom Feuer verzehrt.</p>
-
-<p>Das ist schön und großartig! Es erfüllt uns
-mit Ehrfurcht und Hochachtung. Was der altgewohnten
-Sitte ihre unwiderstehliche Macht verlieh
-war die Riesenkraft eines Glaubens, welcher durch
-immer neue Todesopfer lebendig erhalten wurde.
-Aber, wie die ersten Witwen dazu kamen, die Sitte
-einzuführen, bleibt in Dunkel gehüllt.</p>
-
-<p>Sleeman sagt, daß bei der Witwenverbrennung<span class="pagenum" id="Seite_136">[136]</span>
-gewöhnlich einige Musikinstrumente spielten, aber
-nicht, wie man gemeinhin glaubt, um das Geschrei
-der Märtyrerin zu ersticken, sondern um zu verhüten,
-daß ihre letzten Worte gehört werden; denn
-diese galten für prophetisch, und wenn sie Unglück
-weissagten, hielt man es für besser, daß die Lebenden
-darüber in Unkenntnis blieben.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap10">Zehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Er hatte viel mit Aerzten zu tun gehabt
-und sagte: Es gibt nur ein Mittel um gesund
-zu bleiben, man muß essen was einem
-nicht schmeckt, trinken, was man nicht mag
-und tun, was man lieber bleiben ließe.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Es war eine lange Reise, zwei Nächte und
-anderthalb Tage von Bombay ostwärts nach Allahabad,
-aber sehr interessant und nicht ermüdend.
-Das heißt, zuerst fühlte ich mich höchst unbehaglich,
-aber daran waren die ›Pyjamas‹ schuld. Dieser
-lästige Nachtanzug besteht aus Jacke und Beinkleidern;
-er ist entweder von Seide oder aus einem
-rauhen, kratzigen, dünnen Wollstoff, der einem die
-Haut reibt wie Sandpapier. Die Hosen haben Elefantenbeine<span class="pagenum" id="Seite_137">[137]</span>
-und eine Elefantentaille, keine Knöpfe am
-Bund, sondern eine Schnur, um die überflüssige
-Weite zusammenzuziehen; die lose Jacke wird vorn
-zugeknöpft. In einer warmen Nacht sind einem
-die Pyjamas zu heiß, und man friert darin, wenn
-die Nacht kalt ist. Ich wollte nicht gegen die Sitte
-verstoßen und versuchte es mit dem Kleidungsstück,
-aber es war mir unerträglich, ich mußte es wieder
-ablegen. Der Unterschied zwischen Tag- und Nachtanzug
-ist nicht groß genug. In einem Nachthemd
-fühlt man sich wohlig und erfrischt, von beengendem
-Zwang erlöst, frei und ungebunden. Statt dessen
-hatte ich die erstickende, bedrückende, aufreibende und
-quälende Empfindung, angekleidet im Bette zu liegen.
-Während der warmen Hälfte der Nacht bekam
-ich von der rauhen Wolle ein solches Jucken auf
-der Haut, daß ich wie gekocht und im Fieber dalag;
-verfiel ich auf kurze Zeit in Schlaf, so peinigten
-mich Träume, wie die Verdammten sie haben mögen
-&ndash; oder haben sollten. In der kalten Hälfte
-der Nacht fand ich aber keine Zeit zum Schlafen,
-weil ich genug damit zu tun hatte, mir wollene Decken
-zu stehlen. Aber was nützen wollene Decken unter
-solchen Umständen? Je mehr man aufeinander
-häuft, um so fester korkt man die Kälte ein, daß<span class="pagenum" id="Seite_138">[138]</span>
-sie nicht heraus kann. Die Beine werden einem
-zu Eisklumpen und man weiß genau, wie es sein
-wird, wenn man eines Tages im Grabe liegt. Sobald
-ich einen Augenblick zu Verstande kam, entledigte
-ich mich der Pyjamas und genoß mein Leben
-fortan auf vernünftige und behagliche Weise.</p>
-
-<p>Der Tag fängt auf dem Lande in Indien früh
-an. Endlos dehnt sich die vollkommen flache Ebene
-im grauen Dämmerlicht nach allen Seiten aus.
-Schmale, festgetretene Fußpfade durchziehen sie überall;
-nur von Zeit zu Zeit ragt auf der ungeheuern
-Fläche eine Gruppe gespenstischer Bäume empor,
-zum Zeichen, daß da ein Dorf liegt. Auf den Pfaden
-sieht man allenthalben braune, hagere, nackte
-Männergestalten und schlanke Frauen, die an ihr
-Tagewerk eilen; die Frauen mit kupfernen Wassergefäßen
-auf dem Kopf, die Männer mit der Hacke
-in der Hand. Uebrigens ist der Mann nicht ganz
-nackt, einen weißen Lappen hat er immer um; dies
-Lendentuch ist eine Art Binde, ein weißer Strich auf
-seiner braunen Person, wie der Silberbeschlag, der
-mitten um ein Pfeifenrohr läuft. Trägt er noch einen
-luftigen, bauschigen Turban, dann ist das der zweite
-Strich. »Ein Mensch, dessen Kleidung aus einem
-Turban und einem Taschentuch besteht,« so beschreibt<span class="pagenum" id="Seite_139">[139]</span>
-Miß Gordon Cumming sehr richtig den Eingeborenen.</p>
-
-<p>Den ganzen Tag lang fährt man durch die
-einförmige, staubfarbene Ebene, an den verstreuten
-Baumgruppen und den Lehmhütten der Dörfer vorbei.
-Daß Indien nicht überall schön ist, läßt sich nicht
-leugnen, und doch übt es einen unwiderstehlich bestrickenden
-Zauber aus. Woher das kommt ist schwer
-zu sagen; man hat nur das unbestimmte Gefühl,
-daß es der uralte, geschichtliche Boden ist, dem dieser
-Reiz entspringt. Die Wüsten Australiens und die
-starren Eisfelder Grönlands besitzen keine solche
-Macht über uns; wir sehen sie in ihrer ganzen
-Kahlheit und Häßlichkeit, weil sie keine ehrwürdige
-Geschichte haben, die uns von menschlichen Leiden
-und Freuden in längst vergangenen Jahrhunderten
-erzählt.</p>
-
-<p>Auf der langen Fahrt bis Allahabad kamen
-wir nur an Dörfern vorbei, die innerhalb verfallener
-Mauern lagen. Ein solches indisches Dorf ist nicht
-schön; ein Teil der schmutzfarbenen Lehmhütten ist
-meist vom Regen verwittert, so daß sie vermoderten
-Ruinen gleichen. Auch Viehherden und Ungeziefer
-leben innerhalb der Mauern, wie mir scheint, denn
-ich sah dort Kühe und Ochsen ein- und ausgehen,
-und so oft ich einen der Dorfbewohner gewahrte,<span class="pagenum" id="Seite_140">[140]</span>
-juckte er sich. Letzteres ist zwar nur ein Indizienbeweis,
-aber ich glaube, daß er schwerlich trügt.</p>
-
-<p>Mich interessierten die indischen Dörfer, weil ich
-in Major Sleemans Büchern allerlei darüber gelesen
-hatte. Er schildert die Teilung der Arbeit, die
-unter der Bevölkerung herrscht. Der Grund und
-Boden Indiens, sagt er, bestehe aus lauter einzelnen
-Feldern, die zu den Dörfern gehören. Neun Zehntel
-der ganzen Einwohnerschaft sind Ackerbauer und
-wohnen in den Dörfern. Doch hält sich jedes Dorf
-auch gewisse bezahlte Arbeiter, Handwerker und andere
-Leute zum allgemeinen Dienst, deren Geschäft
-in der Familie bleibt und sich von Vater auf Sohn
-weiter erbt. Solche Berufsarten sind: Priester, Grobschmied,
-Zimmermann, Rechnungsführer, Waschmann,
-Korbflechter, Töpfer, Wächter, Barbier,
-Schuhmacher, Klempner, Zuckerbäcker, Weber, Färber
-u. a. m. Zu Sleemans Zeit gab es auch viele Hexen,
-und aus praktischen Gründen ließ niemand seine
-Tochter gern in eine Familie heiraten, zu der keine
-Hexe gehörte. Man brauchte ihre guten Dienste,
-um die Kinder vor dem Unheil zu schützen, das ihnen
-sonst die Hexen der Nachbarfamilien ohne Zweifel
-angetan hätten.</p>
-
-<p>Der Beruf der Hebamme blieb stets in der Familie<span class="pagenum" id="Seite_141">[141]</span>
-des Korbflechters. Seiner Frau gehörte das
-Amt, mochte sie etwas davon verstehen oder nicht.
-Ihre Einnahme war nicht so groß: für einen Knaben
-erhielt sie 25&nbsp;Cents, und halb so viel für ein Mädchen.
-Die Geburt einer Tochter kam unerwünscht,
-wegen der furchtbaren Kosten, die sie mit der Zeit
-verursachen würde. Sobald sie alt genug war, um
-der Sitte gemäß Kleider tragen zu müssen, galt es
-für eine Schande, wenn die Familie sie nicht verheiratete.
-Den Vater brachte jedoch die Heirat der
-Tochter an den Bettelstab, denn er mußte, nach altem
-Herkommen, beim Hochzeitsgepränge und dem Festschmaus
-alles verausgaben, was er besaß und entlehnen
-konnte, so daß er vielleicht nie wieder im
-stande war sich emporzuarbeiten.</p>
-
-<p>Aus Furcht vor solchem unvermeidlichen Ruin
-tötete man in früherer Zeit viele Mädchen gleich
-nach der Geburt, bis England die grausame Sitte
-mit eiserner Strenge abschaffte. »Bei dem Spiel
-der Dorfkinder,« sagt Sleeman, »hörte man niemals
-Mädchenstimmen.« Schon aus dieser gelegentlichen
-Bemerkung läßt sich entnehmen, wie allgemein
-der Mädchenmord in Indien verbreitet war.</p>
-
-<p>Das Hochzeitsgepränge besteht nach wie vor im
-Lande, weshalb auch noch hie und da neugeborene<span class="pagenum" id="Seite_142">[142]</span>
-Mädchen umgebracht werden, aber ganz heimlich,
-weil die Regierung sehr wachsam ist und jede Uebertretung
-des Gesetzes mit strengen Strafen bedroht.</p>
-
-<p>In einigen Teilen Indiens gibt es in den
-Dörfern noch drei besondere Angestellte. Erstens
-den Astrologen, der dem Bauer sagt, wann er säen
-und pflanzen, eine Reise machen oder ein Weib nehmen
-soll, wann er ein Kind erwürgen, einen Hund
-entlehnen, auf einen Baum steigen, eine Ratte
-fangen und seinen Nachbar betrügen darf, ohne die
-Rache des Himmels auf sein Haupt zu ziehen. Auch
-die Träume legt er ihm aus, falls der Mann nicht
-klug genug ist, sie sich selbst aus der Mahlzeit zu
-erklären, die er vor Schlafengehen zu sich genommen
-hat. Die beiden andern Angestellten sind der Tiger-
-und der Hagelbeschwörer. Ersterer hält die Tiger
-fern, wenn er kann und bezieht auf alle Fälle sein
-Gehalt; letzterer beschützt das Dorf vor Hagelschlag
-oder gibt an, aus welchem Grund sein Geschäft
-mißlungen sei und läßt sich denselben Lohn bezahlen,
-mag der Hagel kommen oder ausbleiben. Wer in Indien
-seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann,
-muß wirklich auf den Kopf gefallen sein.</p>
-
-<p>Auch die Gewerkvereine und der Boykott sind
-alte indische Einrichtungen. Es gibt eben nichts,<span class="pagenum" id="Seite_143">[143]</span>
-was nicht dort seinen Ursprung hätte. »Die
-Straßenkehrer,« sagt Sleeman, »zählen zur niedrigsten
-Kaste; alle andern Kasten verachten sie und
-ihr Amt, aber sie selbst sind stolz darauf und dulden
-keine Eingriffe in ihr Monopol. Das Recht, in einem
-gewissen Stadtteil die Straßen zu kehren, gehört
-einem bestimmten Mitglied der Kaste an; wagt sich
-ein anderes Mitglied in diesen Bezirk, so wird es
-ausgestoßen &ndash; niemand darf mehr aus seiner Pfeife
-rauchen oder aus seinem Kruge trinken &ndash; der Missetäter
-kann die Wiederaufnahme in die Kaste nur
-dadurch erlangen, daß er für sämtliche Straßenkehrer
-ein Festmahl veranstaltet. Beleidigt ein Hausbesitzer
-den Straßenkehrer seines Bezirks, so bleibt
-aller Abfall und Kehricht solange bei ihm liegen,
-bis er den Mann wieder versöhnt hat, kein anderer
-Straßenkehrer getraut sich den Schmutz fortzuschaffen.
-Die Bürger der Städte müssen sich von
-diesen Leuten oft unglaublich viel gefallen lassen;
-ja die Tyrannei, welche die Innung der Straßenkehrer
-ausübt, ist noch heutigen Tages eins der
-größten Hindernisse aller sanitären Reformen in
-Indien. Zwingen kann man diese Menschen nicht,
-denn kein Hindu oder Muselmann würde ihre Arbeit
-verrichten, und sollte es ihm das Leben kosten;<span class="pagenum" id="Seite_144">[144]</span>
-nicht einmal prügeln würde er den widerspenstigen
-Straßenkehrer, um sich nicht zu verunreinigen.«</p>
-
-<p>Allahabad bedeutet die ›Stadt Gottes‹. Das
-Hindu-Viertel habe ich nicht gesehen; der englische
-Teil der Stadt hat schöne, breite Alleen und auf
-Raumersparnis ist gar keine Rücksicht genommen.
-Alle Einrichtungen lassen auf Luxus und Bequemlichkeit
-schließen; mir scheint, die Leute führen dort ein
-so heiteres, sorgloses Leben, wie man es nur bei
-einem guten Gewissen haben kann, wenn diesem
-ein genügendes Konto auf der Bank zur Seite steht.</p>
-
-<p>Am Morgen nach unserer Ankunft in Allahabad
-stand ich in aller Frühe auf und ging auf
-der Veranda, die rings um das Haus läuft, an den
-schlafenden Dienern vorbei, die bis über die Ohren
-in ihre wollenen Decken gewickelt, vor der Tür ihrer
-Herren lagen. Ich glaube, kein indischer Diener
-schläft jemals in einem Zimmer. Vor einer Tür
-sah ich einen Hindu kauern. Die gelben Schuhe
-seines Herrn waren geputzt und bereit gestellt; nun
-hatte er nichts mehr zu tun als zu warten, bis er
-gerufen würde. Es war bitter kalt, aber der Mensch
-blieb geduldig und regungslos wie ein Steinbild auf
-demselben Fleck. Ich konnte es kaum mit ansehen.
-Gern hätte ich zu ihm gesagt: »Stehe doch auf<span class="pagenum" id="Seite_145">[145]</span>
-und mache dir Bewegung, um dich zu erwärmen,
-was hockst du da in der Eiseskälte, das verlangt niemand
-von dir.« Allein mir fehlten die Wörter. Die
-einzige Redensart, die mir einfiel war »Jeldy jow,«
-und was sie bedeutete, wußte ich nicht. So ging ich
-denn notgedrungen stumm vorbei, entschlossen nicht
-mehr an den Menschen zu denken; aber seine nackten
-Beine und Füße kamen mir nicht aus dem Sinn und
-zwangen mich immer wieder, die Sonnenseite zu
-verlassen und bis zu dem Punkt zurückzugehen, wo ich
-ihn sehen konnte. Eine Stunde verging, ohne daß
-er seine Stellung auch nur im geringsten veränderte.
-Ob das Sanftmut und Geduld, Seelenstärke oder
-Gleichgültigkeit verriet, will ich nicht entscheiden;
-aber der Anblick quälte mich und verdarb mir den
-ganzen Morgen. Nach zwei Stunden riß ich mich
-endlich aus seiner Nähe los; mochte er sich nun allein
-weiter kasteien so viel er wollte. Bis dahin war er
-um keines Haares Breite von seinem Platz gewichen;
-ich sehe ihn noch immer deutlich vor mir und werde
-die Erinnerung wohl ewig mit mir herumtragen.
-Wenn ich von der Geduld und Ergebung der Inder
-bei ungerechter Behandlung, in Schmerz und Unglück
-lese, so steigt sein Bild vor mir auf. »Jeldy
-jow!« (mach daß du weiter kommst!) ruft man dem<span class="pagenum" id="Seite_146">[146]</span>
-Inder in seiner Not seit ungezählten Jahrhunderten
-zu. Hätte ich es nur damals auch gesagt, es wäre
-gerade das Richtige gewesen; aber leider war mir,
-wie gesagt, die Bedeutung des Wortes entfallen.</p>
-
-<p>Im Morgenlicht unternahmen wir eine lange
-zum Teil wunderschöne Fahrt nach der Festung.
-Der Weg führte unter hohen Bäumen an Häusergruppen
-und am Dorfbrunnen vorbei, wo man
-zu andern Tageszeiten malerische Scharen von
-Eingeborenen fortwährend lachend und schwatzend
-hin- und hergehen sieht. Diesmal trafen wir sie
-bei ihren Waschungen; die kräftigen Männer ließen
-das klare Wasser reichlich über die braunen Körper
-strömen, ein erfrischender Anblick, der meinen Neid
-erregte, denn die Sonne hatte sich schon an ihr
-Geschäft gemacht, den Tag über tüchtig in Indien einzuheizen.
-Viele Hindus nahmen ein solches Morgenbad;
-die Frühstückstunde nahte heran, und kein Hindu
-darf essen, ehe er die vorgeschriebene Waschung beendet
-hat.</p>
-
-<p>Als wir in die heiße Ebene kamen, wimmelte
-es auf allen Pfaden von Wallfahrern und Wallfahrerinnen.
-Hinter der Festung, wo die heiligen
-Ströme Ganges und Jumna ineinander fließen,
-sollte eine der großen religiösen Messen Indiens<span class="pagenum" id="Seite_147">[147]</span>
-gehalten werden. Eigentlich gibt es drei heilige
-Ströme; der dritte fließt zwar unter der Erde und
-niemand hat ihn gesehen, aber das schadet nichts,
-wenn man nur weiß, daß er da ist. Die Pilger
-stammten aus den verschiedensten Gegenden Indiens;
-einige waren monatelang unterwegs gewesen; arm,
-hungrig und abgemattet, waren sie bei Staub und
-Hitze geduldig weiter gewandert, von unerschütterlichem
-Glauben und Vertrauen gestützt und aufrecht
-erhalten. Jetzt strahlten alle vor Glück und Zufriedenheit,
-denn bald winkte ihnen der reichste Lohn
-für ihre Mühsal. Sie sollten Läuterung von jeder
-Sünde und Unreinheit in dem heiligen Wasser finden,
-welches alles was es berührt, sogar Totes und
-Verwestes, rein machen kann. Wie wunderbar ist
-doch die Kraft eines Glaubens, welcher Alte und
-Schwache, Junge und Leidende treibt, ohne Zaudern
-und ohne Klage die unerhörten Anstrengungen einer
-solchen Reise, samt allen Entbehrungen, die sie mit
-sich bringt, geduldig auf sich zu nehmen! Ob es aus
-Furcht geschieht oder aus Liebe, weiß ich nicht, aber
-was auch immer der Beweggrund sein mag, die Sache
-selbst ist für uns kühle Verstandesmenschen vollkommen
-unbegreiflich. Nur wenige auserlesene Naturen
-unter den Weißen besäßen einen ähnlichen<span class="pagenum" id="Seite_148">[148]</span>
-Opfermut; wir übrigen wissen genau, daß wir außer
-stande wären, uns dazu aufzuschwingen. Da wir aber
-alle die Selbstaufopferung gern im Munde führen,
-so darf ich hoffen, daß wir wenigstens groß genug
-denken, um sie bei dem Hindu würdigen zu können.</p>
-
-<p>Jedes Jahr strömen zwei Millionen Eingeborene
-zu dieser Messe herbei. Wie viele die Reise
-antreten und unterwegs vor Alter, Mühsal, Krankheit
-und Mangel sterben, weiß niemand. Alle zwölf
-Jahre ist ein besonderes Gnadenjahr, und die Pilger
-kommen in noch größeren Massen gezogen, das ist
-schon seit undenklichen Zeiten so gewesen. Man sagt
-übrigens, daß es für den Ganges nur noch <em class="gesperrt">ein</em>
-zwölftes Jahr geben wird, dann soll dieser heiligste
-aller Flüsse seine Kraft verlieren und erst nach Jahrhunderten
-werden die Pilger wieder zu seinen Ufern
-wallfahrten, wenn die Brahminen verkünden, daß
-er seine Heiligkeit wiedergewonnen hat. Was die
-Priester damit bezwecken, daß sie sich diese Goldmine
-verschließen, kann ich nicht sagen. Aber mir ist nicht
-bange, sie werden wohl wissen was sie tun. Ehe man
-sich’s versieht werden sie dem Volk der Inder eine
-Ueberraschung bereiten, welche beweist, daß sie ihren
-Vorteil nicht aus den Augen gelassen haben, als sie
-auf den Marktwert des Ganges verzichteten.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[149]</span></p>
-
-<p>Wir begegneten vielen Eingeborenen, welche heiliges
-Wasser aus den Flüssen geholt hatten. Man
-bietet es in ganz Indien zum Verkauf aus, auch
-soll es oft bei Hochzeiten becherweise verteilt werden.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Die Festung ist ein ungeheueres, altes Gebäude
-und hat in religiöser Beziehung Erlebnisse der mannigfaltigsten
-Art zu verzeichnen. In dem großen
-Hof steht seit über zweitausend Jahren ein Monolith
-mit einer buddhistischen Inschrift. Vor dreihundert
-Jahren wurde die Festung von einem mohammedanischen
-Kaiser erbaut und nach dem Ritus seiner
-Religion eingeweiht; auch ein Hindutempel mit unterirdischen
-Gängen voller Heiligtümer und Götzenbilder
-befindet sich daselbst, und seitdem die Festung
-den Engländern gehört, besitzt sie eine christliche
-Kirche. So ist für das Seelenheil aller gesorgt.</p>
-
-<p>Von den hohen Wällen schauten wir auf die
-heiligen Flüsse hinab, die sich an diesem Punkt vereinigen.
-Das Wasser des blaßgrauen Jumna sieht
-klar und rein aus, der schlammige Ganges aber ist
-trübe, gelb und schmutzig. Auf der schmalen, gebogenen
-Landzunge zwischen den Flüssen erhob sich
-eine Zeltstadt mit zahllosen, wehenden Wimpeln
-und großen Scharen von Pilgern. Man hatte Mühe<span class="pagenum" id="Seite_150">[150]</span>
-dorthin zu gelangen, aber interessant war es, sobald
-man unten ankam, wenn auch sehr unruhig. Eine
-ganze Welt bewegte sich dort in rastloser, lärmender
-Tätigkeit, teils mit religiösen, teils mit kaufmännischen
-Angelegenheiten beschäftigt. Die Mohammedaner
-fluchen und verkaufen, während die Hindus
-kaufen und beten, denn die Messe ist zugleich ein
-Jahrmarkt und ein religiöses Fest. Eine Unmenge
-von Leuten badete, betete und trank das heilige
-Wasser; kranke Pilger kamen von weither im
-Palankin, um durch ein Bad Heilung von ihrem
-Uebel zu finden oder an den gesegneten Ufern zu
-sterben und sicher in den Himmel zu kommen. Auch
-viele Fakirs waren da; sie hatten sich ganz mit
-Asche bestreut und ihr Haar mit Kuhdünger zusammengeklebt,
-denn die Kuh und alles was von ihr
-stammt ist heilig. Der gute Hindubauer malt oft
-die Wand seiner Hütte mit dem Dünger an oder
-formt daraus allerlei Figuren, mit denen er den
-Estrich des Fußbodens verziert. In den Zelten
-saßen auch ganze Familien bei einander, die schrecklich
-und wunderbar bemalt waren und nach ihrer
-Stellung und Gruppierung zu urteilen, die Angehörigen
-großer Gottheiten vorstellten. Ein heiliger
-Mann saß dort schon Wochen lang nackt auf spitzen<span class="pagenum" id="Seite_151">[151]</span>
-Eisenstäben und schien sich gar nichts daraus zu
-machen. Ein anderer Heiliger stand den ganzen Tag
-auf einem Fleck und hielt seine abgezehrten Arme
-regungslos in die Höhe; er soll das schon seit Jahren
-tun. Neben jedem dieser frommen Büßer lag ein
-Tuch am Boden, auf das milde Spenden gelegt
-wurden; selbst die ärmsten Leute gaben eine Kleinigkeit
-in der Hoffnung, das Opfer werde ihnen Segen
-bringen. Zuletzt kam noch eine Prozession nackter,
-heiliger Männer singend vorbeigezogen &ndash; da riß
-ich mich los und ging meiner Wege.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap11">Elftes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Wer sich seiner Sittsamkeit rühmt, gleicht
-einer Statue mit dem Feigenblatt.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Die Reise nach Benares nahm nur wenige
-Stunden in Anspruch. Wir machten sie bei Tage;
-der Staub spottete aller Beschreibung &ndash; er legte
-sich in einer dicken, aschgrauen Schicht auf den Menschen
-und verwandelte ihn in einen Fakir, bei dem
-nur der Kuhdünger und die Heiligkeit fehlte. Nachmittags
-hatten wir in Mogul-Serai Wagenwechsel<span class="pagenum" id="Seite_152">[152]</span>
-&ndash; ich glaube, so heißt der Ort &ndash; und mußten
-zwei Stunden auf den Zug nach Benares warten.
-Wir hätten auch einen andern Wagen nehmen und
-nach der heiligen Stadt fahren können, aber dann
-wären wir um die schöne Wartezeit gekommen. In
-andern Ländern ist ein langer Aufenthalt auf einer
-Station unangenehm und ermüdend, aber in Indien
-hat man kein Recht, sich über Mangel an Unterhaltung
-zu beklagen. Das Gewimmel der Eingeborenen in
-ihrem bunten Schmuck, das Gedränge, das Leben,
-der Wirrwarr, der stets wechselnde Glanz der verschiedenen
-Trachten &ndash; wo fände man Worte, um
-diesen Anblick in seinem ganzen Zauber zu schildern!
-Die zweistündige Wartezeit verging nur allzu schnell.
-Ein besonders interessantes Schauspiel gewährte uns
-noch ein eingeborener kleiner Fürst aus den Hinterwäldern
-mit seiner Ehrengarde, einer Bande von
-fünfzig dunkeln Barbaren, zerlumpt aber sehr farbenprächtig
-und mit rostigen Feuersteingewehren bewaffnet.
-Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß
-die bunte Mannigfaltigkeit des Gesamtbildes noch
-irgend welchen Zuwachs erhalten könnte, als aber
-dieser ›Falstaff mit seinen Gesellen‹ anmarschiert
-kam, trat alles andere dagegen in den Hintergrund.</p>
-
-<p>Mit der Zeit fuhren wir ab und erreichten bald<span class="pagenum" id="Seite_153">[153]</span>
-die Vorstädte von Benares, dann mußten wir wieder
-warten. Auch hier gab es etwas zu beobachten, nämlich
-eine Gruppe kleiner Palankins. An solchem
-Leinwandkasten hat man nicht viel zu sehen, wenn
-er leer ist; sitzt aber eine Dame darin, so erwacht
-unser Interesse. Die Kasten, welche etwas abseits
-standen, waren dreiviertel Stunden lang den erbarmungslosen
-Strahlen der Sonne preisgegeben.
-Ihre Insassen mußten kerzengerade darin ausharren,
-sie hatten keinen Raum, um ihre Glieder zu strecken;
-da es jedoch Haremsdamen waren, die ihr Lebtag
-in der Gefangenschaft ihres Frauengemachs schmachten
-müssen, so machte es ihnen vielleicht weniger aus.
-Wenn die Haremsdamen auf Reisen gehen, trägt man
-sie in solchen Leinwandkasten bis zur Bahn, und
-im Zuge werden sie vor allen Blicken verborgen.
-Viele Leute bedauern sie, und früher tat ich das
-auch ganz aus freien Stücken, doch jetzt zweifle ich
-stark, ob das Mitgefühl überhaupt angebracht ist.
-Während wir in Indien waren, machten einige gutherzige
-Europäer in einer Stadt den Vorschlag, man
-möchte den Haremsdamen einen großen Park zur
-Verfügung stellen, wo sie in sicherer Abgeschlossenheit
-unverschleiert umhergehen könnten, um sich an
-Luft und Sonnenschein zu erfreuen, wie noch nie in<span class="pagenum" id="Seite_154">[154]</span>
-ihrem Leben. Obgleich man die wohlwollende Absicht
-nicht verkannte, welche dem Plan zu Grunde lag, so
-wurde er doch im Namen der Haremsdamen auf das
-entschiedenste abgelehnt. Sie hatten den Gedanken
-offenbar höchst anstößig gefunden, etwa wie wenn
-man Europäerinnen auffordern wollte, sich in mangelhafter
-und wenig anständiger Bekleidung in einem
-abgelegenen Privatpark zusammen zu finden. So
-verschieden sind die Begriffe von Schicklichkeit!</p>
-
-<p>Major Sleeman schildert einmal die Entrüstung
-einer Dame aus vornehmer Kaste, als sie ein paar
-englische Mädchen unverschleiert über die Straße
-gehen sah. Der Anblick verletzte ihr Anstandsgefühl
-aufs tiefste und sie begriff nicht, wie jemand so
-schamlos sein könne, sich über alle Regeln hinwegzusetzen
-und seine Person auf solche Art zur Schau zu
-stellen. Dabei waren aber die Beine der sittlich
-empörten Dame bis weit über die Kniee entblößt.
-Kein Zweifel, sowohl die jungen Engländerinnen
-als die indische Dame waren die Lauterkeit und
-Sittsamkeit selbst; sie betrachteten die Sache nur
-von verschiedenem Standpunkt aus. Da es nun
-Millionen verschiedener Regeln über Sitte und Anstand
-gibt, so ist auch der Standpunkt der Menschen
-ein millionenfach verschiedener und keiner kann den<span class="pagenum" id="Seite_155">[155]</span>
-seinigen ohne Schaden mit dem eines andern vertauschen.
-Ich glaube, alle menschlichen Regeln sind
-mehr oder weniger blödsinnig, aber das schadet nichts.
-Wie die Sachen jetzt stehen ist in den Irrenhäusern
-nur so viel Platz als man für die vernünftigen Menschen
-brauchen würde; wollten wir alle Verrückten
-einsperren, so würde uns bald das nötige Baumaterial
-mangeln.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Man hat eine weite Fahrt durch die Vorstädte
-von Benares, ehe man das Hotel erreicht. Ueberall
-sieht es trübselig aus. Staubiges, dürres Land, zertrümmerte
-Tempel, eingesunkene Gräber, verfallene
-Lehmmauern, ärmliche Hütten; wohin man blickt
-Altersschwäche und Dürftigkeit. Zehntausend Hungerjahre
-sind vonnöten, um einen solchen Zustand
-hervorzubringen. Das Hotel sah recht behaglich aus,
-aber wir zogen vor, in einem etwas entfernten Nebenbau
-zu wohnen, der einstöckig war wie ein Bungalow
-und rings von einer Veranda umgeben. Es
-gibt zwar Türen in Indien, aber ich möchte wohl
-wissen wozu! Schließen kann man sie nicht, und
-gewöhnlich hängt ein Vorhang in der Oeffnung,
-zum Schutz gegen die grelle Sonne. Doch dringt hier
-niemand unbefugt in die Privatgemächer ein und
-man ist sicher, nicht gestört zu werden. Weiße Leute<span class="pagenum" id="Seite_156">[156]</span>
-lassen sich natürlich vorher anmelden, und die eingeborenen
-Diener zählen nicht mit. Sie gleiten
-barfuß und geräuschlos herein und stehen mitten im
-Zimmer, ehe man sich’s versieht. Zuerst bekommt
-man einen Schreck und gerät manchmal in Verlegenheit,
-aber man muß sich darein finden und wird es
-mit der Zeit gewöhnt.</p>
-
-<p>In unserm ›Compound‹, dem eingezäunten
-Hof, stand ein heiliger Feigenbaum, auf dem ein
-Affe wohnte. Für den Baum interessierte ich mich
-anfangs sehr, denn es war der berühmte ›Peepul‹,
-in dessen Schatten man keine Lüge sagen kann; er
-bestand jedoch die Probe nicht, und ich ging enttäuscht
-von dannen. Nicht weit davon war ein
-Brunnen, aus dem ein paar Ochsen stundenlang,
-unter leisem Knarren der Winde, Wasser heraufzogen;
-die Kleidung der beiden Hindus, welche dies
-Geschäft beaufsichtigten, bestand wie gewöhnlich aus
-›Turban und Taschentuch‹. Außer dem Baum und
-Brunnen war im Hofe nichts zu sehen, und mir
-machte die vollkommene Ruhe und Einsamkeit nach
-dem ewigen Lärm und Gewirr den wohltuendsten
-Eindruck.</p>
-
-<p>Wir bewohnten unser Bungalow ganz allein
-und gingen zu Tische in das Hotel, wo die übrigen<span class="pagenum" id="Seite_157">[157]</span>
-Gäste abgestiegen waren. Angenehmer hätten wir
-es gar nicht haben können. Zu jedem Zimmer gehörte
-das gewöhnliche Bad, ein Raum von zehn
-bis zwölf Fuß im Quadrat, mit einer ausgemauerten
-und gepflasterten Vertiefung in der Mitte. Wasser
-gab es so viel man wollte und es wäre herrlich
-gewesen, hätte man nur bei der Hitze das warme
-Wasser ganz fortlassen und ein kaltes Bad nehmen
-dürfen, aber das war verboten, weil es der Gesundheit
-schädlich ist. Man warnt den Fremden
-davor, in Indien kalt zu baden; doch selbst die
-klügsten Fremden sind töricht genug, den guten Rat
-nicht zu befolgen und müssen es büßen. Ich war der
-klügste Tor, der in jenem Jahre des Weges kam.
-Zwar bin ich jetzt noch klüger &ndash; aber leider zu spät!</p>
-
-<p>Benares hat mich nicht getäuscht. Es verdient
-seinen Ruf als große Sehenswürdigkeit. An einer
-tiefen Bucht des Ganges amphitheatralisch auf einem
-Hügel erbaut, den es ganz bedeckt, bildet es eine
-feste Masse, die nach allen Richtungen hin von labyrinthartig
-verschlungenen Spalten durchzogen wird,
-welche Straßen vorstellen. Mit seinen hohen schlanken
-Minarets und den beflaggten Tempelkuppeln und
-Spitzen gewährt die Stadt vom Fluß aus gesehen
-einen höchst malerischen Anblick. Es wimmelt darin<span class="pagenum" id="Seite_158">[158]</span>
-wie in einem Ameisenhaufen; ein Wirrwarr
-ohne gleichen herrscht in den engen Straßen. Auch
-die heilige Kuh läuft dort nach Belieben umher,
-holt sich ihren Zehnten aus den Kornläden, ist überall
-im Wege und eine große Plage für alle Welt, weil
-man sie nicht belästigen darf.</p>
-
-<p>Benares ist zweimal so alt wie die Geschichte,
-Ueberlieferung und Sage zusammengenommen. In
-Mr. Parkers klar und übersichtlich geschriebenem
-›Führer durch Benares‹ steht, daß nach Anschauung
-der Hindus die Erschaffung der Welt dort ihren Anfang
-genommen hat. Mitten in das uferlose Meer
-stellte der gute Gott Wischnu ein aufrechtes ›Lingam‹
-hin, das zuerst nicht größer war als ein Ofenrohr;
-allmählich erweiterte er es, bis es zehn Meilen
-im Durchmesser hatte. Da ihm aber das noch immer
-nicht genügte, baute er die ganze Erdkugel herum.
-Also liegt Benares in ihrem Mittelpunkt, und das
-wird als ein Vorzug angesehen.</p>
-
-<p>Die Geschichte der Stadt ist sowohl in geistlicher
-als in weltlicher Beziehung höchst wechselvoll gewesen.
-Ursprünglich herrschten die Brahmanen dort
-viele Jahrhunderte lang, dann trat in neuerer Zeit,
-vor etwa 2500&nbsp;Jahren Buddha auf, und während
-zwölf Jahrhunderten war Benares buddhistisch. Die<span class="pagenum" id="Seite_159">[159]</span>
-Brahmanen bekamen jedoch abermals die Oberhand
-und haben sich seitdem nicht wieder verdrängen lassen.
-In den Augen der Hindus ist die Stadt unbeschreiblich
-heilig, aber sie ist auch ebenso ungesund und
-riecht ganz pestilenzialisch. Benares gilt als Hauptquartier
-des Brahmanismus, und die Priester bilden
-ein Achtel seiner Gesamtbevölkerung, doch sind ihrer
-nicht zu viel, da ganz Indien für ihren Unterhalt
-sorgt. Aus allen Himmelsgegenden drängen sich die
-Pilger herbei, um mit ihren Ersparnissen die Taschen
-der Priester zu füllen. Der Strom der frommen
-Spenden versiegt nie. So eine Priesterstelle am Ufer
-des Ganges ist der einträglichste Posten von der Welt.
-Ihr heiliger Inhaber sitzt sein Lebenlang in großem
-Staat unter seinem Regenschirm, segnet alle Pilger,
-steckt seine Gebühren ein und wird fett und reich
-dabei; die Stelle erbt sich von Vater auf Sohn weiter
-und weiter durch alle Zeiten hindurch und bleibt als
-dauernder, gewinnbringender Besitz in der Familie.</p>
-
-<p>Als mir ein amerikanischer Missionar in Bombay
-sagte, die Zahl aller protestantischen Missionare
-in Indien beliefe sich auf 640, kam mir das zuerst
-sehr viel vor. Nachher überlegte ich mir die Sache.
-<em class="gesperrt">Ein</em> Missionar auf 500&nbsp;000 Eingeborene, das ist ja
-so gut wie nichts; wenn die 640 gegen das wohlverschanzte<span class="pagenum" id="Seite_160">[160]</span>
-Lager von 300&nbsp;000&nbsp;000 anmarschieren,
-ist doch das Verhältnis gar zu ungleich, die Uebermacht
-zu groß. In Benares allein hätten 640 Missionare
-alle Hände voll zu tun, um gegen die 8000
-Brahmanenpriester aufzukommen, die ihnen feindlich
-gegenüberstehen. Unsere Missionare haben von
-jeher in alle Teile der Welt eine starke Ausrüstung
-von Hoffnung und Vertrauen mitgenommen. Die
-besitzt auch Mr. Parker, sonst würde er nicht aus
-statistischen Angaben, welche andern Mathematikern
-höchst bedenklich erscheinen, so günstige Schlüsse
-ziehen. Er sagt zum Beispiel:</p>
-
-<p>»Während der letzten Jahre haben die Scharen
-der Pilger fortwährend zugenommen, wie wir aus
-sicherer Quelle wissen. Aber diese religiöse Erweckung
-&ndash; wenn man den Ausdruck gebrauchen darf
-&ndash; trägt alle Spuren des Todes an sich. Es ist
-nur noch ein krampfhaftes Ringen, ehe die völlige
-Auflösung eintritt.«</p>
-
-<p>Auf ähnliche Weise hat man bei uns seit Jahrhunderten
-den Untergang der römisch-katholischen
-Macht vorausgesagt. Oft schon waren wir ganz
-bereit sie zu Grabe zu tragen, und doch mußte die
-Bestattung aus allerlei Gründen &ndash; weil das Wetter
-zu schlecht war oder dergleichen &ndash; immer wieder verschoben<span class="pagenum" id="Seite_161">[161]</span>
-werden. Durch diese Erfahrung klug geworden,
-sollten wir, meine ich, erst abwarten, bis
-sich der Leichenzug in Bewegung setzt, ehe wir den
-Hut in die Hand nehmen, um uns am Begräbnis
-des Brahmanismus zu beteiligen. Eine Religion
-zu Grabe zu tragen ist offenbar eine der ungewissesten
-Unternehmungen auf dieser Welt.</p>
-
-<p>Gern hätte ich mir irgend welchen Begriff von
-der Theologie der Inder gemacht, aber die Sache war
-allzu verwickelt und die Schwierigkeiten unüberwindlich.
-Nicht einmal über das Abc kommt man hinaus.
-Es gibt eine Dreieinigkeit &ndash; Brahma, Wischnu und
-Schiwa &ndash; scheinbar von einander unabhängige
-Mächte, aber ganz sicher ist das nicht, denn in einem
-Tempel steht ein Bildwerk, das alle drei Gottheiten in
-einer Person zusammenfaßt. Jeder der drei Götter
-hat mehrere Benennungen, er hat auch Frauen mit
-verschiedenen Namen und Kinder, die bald so bald so
-heißen; dadurch entsteht eine heillose Verwirrung,
-aus der man sich in keiner Weise zurechtfinden kann.
-Ein Versuch, sich die Scharen der niederen Gottheiten
-einzuprägen, ist nicht der Mühe wert; ihre
-Unmenge ist allzu groß.</p>
-
-<p>Will man sich einiges sparen, so könnte man
-füglich den obersten von allen Göttern, Brahma,<span class="pagenum" id="Seite_162">[162]</span>
-ganz beiseite lassen, denn er scheint keine große Rolle
-in Indien zu spielen. Am meisten Verehrung genießen
-Schiwa und Wischnu nebst ihren sämtlichen
-Angehörigen. Schiwas Symbol, das ›Lingam‹, mit
-welchem Wischnu die Schöpfung begann, wird allgemein
-angebetet; man begegnet ihm in Benares auf
-Schritt und Tritt, das Volk bekränzt es mit Blumen
-und bringt ihm Gaben dar. Meist sieht es aus wie
-ein aufrecht stehender Stein in Form eines länglichen
-Fingerhuts und Mr. Parker sagt, daß es mehr
-›Linga‹ als Einwohner in Benares gibt.</p>
-
-<p>Die Stadt hat viele mohammedanische Moscheen,
-und Hindutempel ohne Zahl. Diese wunderlich geformten,
-mit reichen Steinornamenten versehenen
-Pagoden füllen alle Straßen. Aber auch der Ganges
-selbst, ja jeder einzelne Wassertropfen darin gilt
-als Heiligtum. Das Hauptprodukt von Benares,
-dieser heiligsten aller heiligen Städte, für welche
-der fromme Hindu eine unbegrenzte Liebe und Verehrung
-empfindet, ist <em class="gesperrt">Religion</em>. Alle andern Erzeugnisse
-des Bodens oder Gewerbefleißes haben im
-Vergleich hierzu nicht die geringste Bedeutung.</p>
-
-<p>»Wenn der Pilger,« sagt Mr. Parker, »der sich
-vor Alter und Müdigkeit fast nicht mehr auf den
-Füßen zu halten vermag, schweißtriefend, vom Staub<span class="pagenum" id="Seite_163">[163]</span>
-geblendet und halbtot vor Erschöpfung, der Backofenhitze
-seines Eisenbahnwagens entsteigt und kaum den
-heiligen Boden berührt hat, so hebt er die abgezehrten
-Hände empor und ruft mit frommer Begeisterung:
-›Kaschi ji ki jai &ndash; jai &ndash; jai! Heiliges Kaschi
-(Benares), sei mir gegrüßt! Heil, Heil dir!‹ Erwähnt
-ein Europäer in irgend einer fernen Stadt
-Indiens gelegentlich im Bazar, daß er früher einmal
-in Benares gewohnt hat, so werden gleich Stimmen
-laut, welche Glück und Segen auf sein Haupt
-herabwünschen. Denn, wer in Benares geweilt hat,
-ist der Seligste aller Sterblichen.«</p>
-
-<p>Liest man diese rührende Beschreibung, so erscheinen
-dagegen unsere eigenen religiösen Gefühle
-farblos und kalt. Da nun aber die Religion ihr
-Leben aus dem Herzen schöpft und nicht aus dem
-Kopfe, so werden wir das von Mr. Parker angekündigte
-Begräbnis des Brahmanismus wohl noch auf
-unbestimmte Zeit vertagen müssen.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[164]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap12">Zwölftes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Wer einem Volk seinen Aberglauben vorschreibt,
-hat mehr Einfluß als wer ihm
-seine Gesetze macht, oder seine Gesänge.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p>Die Stadt Benares ist eine einzige große
-Kirche, eine Art religiöser Bienenstock, in dem jede
-Zelle als Tempel, Altar oder Moschee dient. In
-diesem großen theologischen Vorratshaus kann man
-sich alle nur erdenklichen irdischen oder himmlischen
-Güter verschaffen.</p>
-
-<p>Ich will hier einen Wegweiser für den Pilger zusammenstellen,
-aus dem sich erkennen läßt, wie
-brauchbar, wie nützlich und vollständig dieses Religions-System
-ist. Wer mit dem ernstlichen Wunsch,
-seine geistliche Wohlfahrt zu fördern, nach Benares
-geht, wird es mir Dank wissen. Daß die Tatsachen,
-die ich angebe, richtig sind, unterliegt keinem Zweifel;
-ich habe sie teils in Mr. Parkers ›Führer durch
-Benares‹ gefunden, teils hat er sie mir bei unserer
-mündlichen Unterhaltung mitgeteilt.</p>
-
-<p>1. <em class="gesperrt">Reinigung.</em> &ndash; Bei Sonnenaufgang gehe
-zum Ganges hinab, bade dort, bete und trinke etwas
-Wasser. Dies dient zur allgemeinen Läuterung.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_165">[165]</span></p>
-
-<p>2. <em class="gesperrt">Schutz gegen den Hunger.</em> Um dich
-im Kampf gegen dies traurige Erdenübel zu stärken,
-verrichte eine kurze Andacht im Tempel der Kuh.
-Am Eingang steht ein Bildnis von <span id="corr165">Ganesch</span>, einem
-Sohne des Gottes Schiwa, das einen Elefantenkopf
-auf einem menschlichen Körper trägt, Gesicht und
-Hände sind aus Silber. Bete es an und gehe dann
-weiter auf eine bedeckte Veranda, in der roh geschnitzte,
-häßliche Götzenbilder stehen. Dort findest
-du Andächtige, die mit Hilfe ihrer Lehrer in den
-heiligen Büchern lesen. Gib eine Beisteuer zu ihrem
-Unterhalt und betritt dann den Tempel, einen
-düstern, übelriechenden Raum voll heiliger Kühe und
-Bettler. Letzteren spende ein Almosen und küsse
-allen Kühen, die frei herumlaufen, ehrfurchtsvoll
-den Schwanz, denn dieser ist ganz besonders heilig;
-tust du das, so wirst du an selbigem Tage keinen
-Hunger leiden.</p>
-
-<p>3. <em class="gesperrt">Der Freund des armen Mannes.</em>
-&ndash; Diesen Gott mußt du zunächst anbeten. Er wohnt
-im Grunde eines steinernen Brunnens im Tempel
-zu Dalbhyesvar, der im Schatten eines hohen Peepul-Baumes
-auf einem Felsvorsprung am Ganges
-steht. Gehe daher zum Fluß zurück. Der ›Freund
-des armen Mannes‹ ist der Gott weltlichen Glückes<span class="pagenum" id="Seite_166">[166]</span>
-im allgemeinen und außerdem auch ein Regengott.
-Er wird dir irdische Güter gewähren, wenn du ihn
-anbetest, oder einen Regenguß &ndash; vielleicht auch
-beides. Er ist Schiwa unter fremdem Namen und
-weilt in Form eines steinernen ›Lingam‹ auf dem
-Grunde des Brunnens. Begieße ihn mit Gangeswasser
-und er wird dir zum Dank für die Huldigung
-seine Gaben spenden. Kommt der Regen nicht gleich,
-so gieße immer mehr Wasser in den Brunnen, bis er
-ganz voll ist. Dann bleibt der Regen gewiß nicht aus.</p>
-
-<p>4. <em class="gesperrt">Fieber.</em> Der Kedar Ghaut ist eine breite
-steinerne Treppe, die zum Fluß hinabführt. Auf
-halber Höhe findest du einen Behälter, in dem das
-Schmutzwasser zusammenläuft. Trinke davon soviel
-du willst, es vertreibt das Fieber.</p>
-
-<p>5. <em class="gesperrt">Blattern.</em> &ndash; Gehe von da geradeswegs
-nach dem Haupt-Ghaut. Stromaufwärts kommst du
-an ein kleines weißgetünchtes Gebäude; es ist ein
-Tempel, welcher der Göttin der Blattern, Sitala,
-geheiligt ist. Doch findest du nur ihre Stellvertreterin,
-dort hinter einem Metallschirm, eine rohe
-menschliche Gestalt, der du Anbetung erweisen sollst.</p>
-
-<p>6. <em class="gesperrt">Der Schicksalsbrunnen.</em> &ndash; Den suche
-zunächst auf. Er gehört zum Dandpan-Tempel, der
-in der Stadt liegt. Durch ein viereckiges Loch im<span class="pagenum" id="Seite_167">[167]</span>
-Mauerwerk fällt von oben das Licht herein. Tritt
-mit scheuer Ehrfurcht herzu, denn es handelt sich
-hier um die wichtigsten Dinge. Beuge dich nieder
-und schaue hinein. Sind die Schicksalsgötter
-deinem Leben günstig, so erblickst du dein
-Antlitz tief unten im Brunnen. Haben sie dein
-Verderben beschlossen, so verhüllt plötzlich eine Wolke
-die Sonne und du kannst nichts sehen. Dann hast
-du kaum noch ein halbes Jahr zu leben. Vielleicht
-stehst du schon an des Todes Tür. Verliere keine
-Zeit, laß ab von dieser Welt, bereite dich auf das
-Jenseits. Dazu bietet sich dir die beste Gelegenheit
-dicht nebenan. Wende dich um und bete zu
-dem Bilde des großen Schicksalsgottes Maha Kal,
-das sichert dein Glück im künftigen Leben. Ist dein
-Atem noch nicht entflohen, so mache einen letzten
-Versuch, ob dir nicht eine kleine Verlängerung deines
-Lebens auf Erden gewährt wird. Die Möglichkeit ist
-nicht ausgeschlossen, denn in dem wundervoll eingerichteten
-Vorratshaus für weltliche und geistliche
-Güter kann man alles haben. Laß dich</p>
-
-<p>7. &ndash; nach dem <em class="gesperrt">Lebensbrunnen</em> tragen.
-Er ist im Vorhof des verfallenen ehrwürdigen
-Briddhkal-Tempels, der zu den ältesten Heiligtümern
-von Benares gehört. An einem Steinbilde des<span class="pagenum" id="Seite_168">[168]</span>
-Affengottes Hanuman vorbei, gelangt man auf den
-mit Trümmern bedeckten Höfen zu einer seichten
-Zisterne mit stehendem Wasser. Sie riecht wie der
-beste Limburger Käse; der Schmutz von den
-Waschungen aller Kranken und Aussätzigen hat sich
-dort angesammelt. Aber was tut das? Bade dich
-darin mit Dank und Andacht, denn dies ist der Jungbrunnen,
-das ›Wasser des langen Lebens‹. Dein
-graues Haar wird verschwinden mit allen Runzeln;
-Gliederweh, Sorgenlast und Altersschwäche werden
-von dir abfallen; jung, frisch, elastisch, und begierig
-den Wettlauf des Lebens von neuem zu beginnen,
-entsteigst du dem Bade. Natürlich stürmen nun auch
-die mannigfachen Träume und Wünsche der holden
-Jugendzeit wieder auf dich ein. Deshalb gehe dahin,
-wo du</p>
-
-<p>8. &ndash; die <em class="gesperrt">Erfüllung der Wünsche</em> findest,
-nämlich in den Kemeschwar-Tempel, welcher Schiwa,
-dem Herrn der Wünsche geweiht ist und hole dir die
-Gewährung der deinigen. Liegt dir etwas an Götzenbildern,
-so kannst du dort in den zahllosen Tempeln
-genug zu sehen bekommen, um ein ganzes Museum
-auszustaffieren. Vermutlich wirst du nun mit neuem
-Eifer anfangen Sünden zu begehen; ich kann dir daher
-nur raten, häufig eine Stätte aufzusuchen, wo du</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[169]</span></p>
-
-<p>9. <em class="gesperrt">zeitweilige Reinigung von Sünden</em>
-erhältst. Dies ist der Brunnen des Ohr-Rings,
-der weihevollste Ort in ganz Benares, das Allerheiligste
-in der Vorstellung des Volkes, dem man
-sich nur in tiefster Ehrfurcht nahen darf. Das
-Wasserbecken ist mit einem Gitter umgeben, zu dem
-steinerne Treppen hinabführen. Natürlich ist das
-Wasser nicht rein; wie wäre das möglich, da fortwährend
-Menschen darin baden. Wie lange man
-auch dort stehen mag, immer sieht man die Sünder
-in ununterbrochener Reihe hinab- und heraufsteigen.
-Mit Sünde beladen gehen sie hinunter und frei von
-Schuld kommen sie wieder herauf. »Der Lügner,
-der Dieb, der Mörder, der Ehebrecher, waschen sich
-hier und werden rein,« sagt Mr. Parker in seinem
-Buch. Gut, daß ich Mr. Parker kenne und glaube
-was er sagt; hätte jemand anderes das behauptet,
-so würde ich ihm raten, sofort ins Wasser hinunterzusteigen
-und sich tüchtig abzuwaschen. &ndash; Jugend,
-langes Leben, Sündenreinheit sind zwar köstliche
-Gaben, aber das ist noch nicht genug. Vor allem
-mußt du dich</p>
-
-<p>10. <em class="gesperrt">deiner Seligkeit versichern</em>. Das
-kannst du auf mancherlei Art. Erstens, wenn du
-im Ganges ertrinkst, aber das ist nicht angenehm.<span class="pagenum" id="Seite_170">[170]</span>
-Oder du stirbst in Benares; dabei ist jedoch zu bedenken,
-daß du gerade außerhalb der Stadt sein
-könntest, wenn dein letztes Stündlein kommt. Am
-sichersten ist eine Wallfahrt rund um die Stadt.
-Du mußt sie barfuß machen und der Weg ist vierundvierzig
-Meilen lang, weil er eine Strecke weit über
-Land führt, so daß der Marsch wohl fünf bis sechs
-Tage dauern kann. An Gesellschaft wird es dir
-aber nicht mangeln. Scharen beglückter Pilger ziehen
-dieselbe Straße; der Farbenglanz ihrer Kleider gewährt
-dir ein schönes Schauspiel, auch erheitern
-ihre Loblieder und heiligen Triumphgesänge dir das
-Herz und lassen dich keine Ermüdung spüren. Von
-Zeit zu Zeit triffst du auf einen Tempel, wo du
-ausruhen und dich mit Speise erfrischen kannst. Ist
-deine Wallfahrt zu Ende, so hast du dir die Seligkeit
-sicher erworben. Aber du wirst ihrer doch vielleicht
-nicht teilhaftig, außer wenn du</p>
-
-<p>11. <em class="gesperrt">deine Erlösung eintragen</em> lässest.
-&ndash; Dies kannst du im Sakhi Binayak Tempel tun.
-Du darfst es ja nicht versäumen, weil du sonst
-nicht beweisen kannst, daß du die Pilgerfahrt wirklich
-gemacht hast, falls man es dir einst bestreiten
-sollte. Ueber der Tür dieses Heiligtums, das hinter
-dem Kuh-Tempel liegt, ist ein rotes Bildnis von<span class="pagenum" id="Seite_171">[171]</span>
-Ganesch mit dem Elefantenkopf, dem Sohn und Erben
-des Gottes Schiwa, der sozusagen Kronprinz
-des theologischen Kaisertums ist. Der Gott im Tempel
-hat das Amt deine Wallfahrt einzutragen und
-sich für dich zu verbürgen. Ihn selber bekommst
-du zwar nicht zu sehen, aber ein Brahmane empfängt
-dich, besorgt dein Geschäft und läßt sich das Geld
-dafür auszahlen. Falls er letzteres vergißt, darfst
-du ihn daran erinnern. Er weiß jetzt, daß deine
-Seligkeit gesichert ist, aber natürlich möchtest du
-es auch gern selbst erfahren, dazu brauchst du nur</p>
-
-<p>12. an den <em class="gesperrt">Brunnen zur Kenntnis der
-Seligkeit</em> zu gehen. Er ist dicht beim Goldenen
-Tempel. Da steht ein Stier aus einem einzigen
-schwarzen Marmorblock gemeißelt und viel
-größer als irgend ein lebendiger Stier, der dir jemals
-vorgekommen ist; auch ein Bildnis von Schiwa
-wird dort gezeigt, eine große Seltenheit! Sein Lingam
-hast du vielleicht schon fünfzehntausendmal gesehen,
-aber dies hier ist Schiwa selbst und man sagt,
-das Porträt sei sehr ähnlich. Es hat drei Augen;
-so viele besitzt kein anderer Gott. Ueber dem Brunnen
-ist ein schöner steinerner Baldachin, der auf
-vierzig Säulen ruht; wie allenthalben in Benares,
-beten auch hier Scharen von andächtigen Pilgern.<span class="pagenum" id="Seite_172">[172]</span>
-Das heilige Wasser wird ihnen eingelöffelt, und dabei
-durchströmt sie zugleich die klare und feste Zuversicht
-ihrer Erlösung. Man sieht es ihnen am Gesicht
-an, daß sie das höchste Glück gefunden haben, welches
-es auf Erden gibt, dem sich keine andere Freude
-vergleichen läßt. Wer das Wasser getrunken und
-seine Einzahlung gemacht hat, was sollte der noch
-begehren? Gold, Edelsteine, Macht oder Ruhm?
-&ndash; In einem Augenblick ist das alles nichtig und
-wertlos geworden und zu Staub und Asche zerfallen.
-Die Welt hat dem Menschen nichts mehr
-zu bieten, sie muß sich ihm gegenüber für bankerott
-erklären.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Ich will nicht behaupten, daß alle Pilger ihre
-Andacht immer genau in der Reihenfolge verrichten,
-wie mein Wegweiser sie angibt, aber es wäre gar nicht
-so übel, wenn sie es täten. Sie hätten dann einige
-feste Anhaltspunkte, ein bestimmtes Ziel und brauchten
-ihre gottesdienstlichen Uebungen nicht aufs
-Geratewohl zu betreiben: Das Gangesbad am Morgen
-erregt des Pilgers Eßlust; sie vergeht ihm,
-wenn er die Kuhschwänze küßt. Nun sehnt er sich
-nach weltlichen Gütern; er eilt hin und gießt Wasser
-auf Schiwas Symbol. Das sichert ihm sein irdisches
-Glück, bringt ihm aber auch einen Regenschauer, von<span class="pagenum" id="Seite_173">[173]</span>
-dem er das Fieber bekommt. Zur Heilung trinkt
-er das Schmutzwasser am Khedar Ghaut, das Fieber
-verläßt ihn, aber er bekommt die Blattern. Um zu
-wissen, welche Wendung es mit ihm nehmen wird,
-geht er zum Dandpan-Tempel und sieht in den
-Brunnen hinab. Die Sonne umwölkt sich, sie zeigt
-ihm, daß er dem Tode nahe ist. Was kann er da
-Besseres tun, als sich seine Seligkeit im Jenseits zu
-sichern? Das geschieht mit Hilfe des großen Schicksalsgottes.
-Nun ist ihm der Himmel gewiß, er wird
-daher vermutlich Sorge tragen, noch solange wie
-möglich auf Erden zu bleiben. In dieser Absicht
-geht er zum Briddhkal-Tempel und gewinnt Jugend
-und langes Leben durch ein Bad in der scheußlichen
-Pfütze, die selbst eine Mikrobe umbringen würde.
-Die Sündenlust erwacht mit der Jugend von neuem;
-er sucht den Tempel der ›Erfüllung der Wünsche‹
-auf, um sein Verlangen zu stillen. Im Brunnen des
-Ohr-Rings reinigt er sich dann von Zeit zu Zeit
-von Sünden und stärkt sich zu ferneren verbotenen
-Genüssen. Da er aber ein Mensch ist, kann er sich der
-Zukunftsgedanken nicht entschlagen. Deshalb macht
-er die große Wallfahrt rund um die Stadt, sichert sich
-seine Erlösung, läßt sie eintragen und verschafft
-sich noch die persönliche Gewißheit seines künftigen<span class="pagenum" id="Seite_174">[174]</span>
-Heils durch einen Gang nach dem Brunnen zur
-›Kenntnis der Seligkeit‹. &ndash; Nun ist er aller Sorgen
-ledig, er kann tun und lassen was er will und
-genießt einen Vorzug, den er einzig und allein seiner
-Religion verdankt: Sollte er hinfort auch noch Millionen
-Sünden begehen, so schadet es nichts und
-niemand kann ihm etwas dafür anhaben.</p>
-
-<p>So ist das ganze System klar und übersichtlich
-zusammengestellt und läßt an Vollständigkeit nichts
-zu wünschen übrig; ich möchte es allen empfehlen,
-denen die andern Religionen zu anspruchsvoll in
-ihren Forderungen erscheinen und zu beschwerlich für
-die kurze Spanne unseres mühevollen Erdenlebens.</p>
-
-<p>Aber ich will niemand durch falsche Vorspiegelungen
-täuschen und so muß ich noch eines
-Umstands erwähnen, der in meinem Wegweiser fehlt.
-Trotz aller Mühe und Kosten, die sich der Pilger
-gemacht hat, kann sein ganzes Werk zu Schanden
-werden, wenn er zufällig auf das andere Ufer des
-Ganges gerät und dort stirbt. Er würde dann sofort
-wieder lebendig werden, jedoch in der Gestalt eines
-Esels. Gegen die Verwandlung in einen Esel hat
-der Hindu aber eine merkwürdige Abneigung &ndash;
-und doch wäre es für ihn gar kein schlechter Tausch.
-Er fände dadurch Erlösung aus der sklavischen Abhängigkeit<span class="pagenum" id="Seite_175">[175]</span>
-von 2&nbsp;000&nbsp;000 Göttern und 20&nbsp;000&nbsp;000
-Priestern, Fakirn, heiligen Bettlern und andern
-frommen Bazillen; auch der Hindu-Hölle könnte er
-entfliehen und desgleichen dem Hindu-Himmel.
-Würde sich der Hindu nur aller dieser Vorteile
-bewußt, er ginge sofort über den Ganges und stürbe
-am andern Ufer.</p>
-
-<p>Benares ist ein religiöser Vulkan. In seinen
-Eingeweiden sind die theologischen Kräfte schon seit
-Jahrtausenden geschäftig; es donnert und grollt und
-kracht, es wühlt und erbebt, es brodelt und kocht, es
-flammt und raucht darin ohne Unterlaß. Am Fuß
-des Kraters aber haben kleine Gruppen von Missionaren
-voller Hoffnung Posten gefaßt. Sie gehören
-zu den Missionsgesellschaften der Baptisten, der Wesleyaner,
-der Londoner Mission, der Kirchenmission,
-der Zenana-Bibelmission und der Heilsmission. Die
-Haupterfolge erzielen sie in ihren Schulen unter
-den Kindern. Das ist auch sehr natürlich, denn erwachsene
-Menschen halten sich überall mit Vorliebe
-an das Religionsbekenntnis, in dem sie erzogen
-worden sind.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[176]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap13">Dreizehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Runzeln sollten nur die zurückgebliebenen
-Spuren des Lachens sein.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">In einem der Tempel von Benares sahen wir
-einen frommen Mann, der auf seltsame Weise
-»schaffte, daß er selig würde«. Er hatte einen ungeheuern
-Klumpen Lehm neben sich liegen und knetete
-daraus winzige Götter, kaum größer als eine
-Erbse; in jeden steckte er ein Reiskorn, vermutlich
-an Stelle des Lingams. Die Arbeit ging ihm bei
-der großen Uebung, die er hatte, sehr schnell von der
-Hand; täglich verfertigte er zweitausend solche Götter
-und warf sie dann in den heiligen Gangesstrom. Für
-dies fromme Werk wurde ihm hohe Anerkennung von
-allen Gläubigen zu teil &ndash; und viele Kupfermünzen.
-So hatte er ein sicheres Einkommen auf Erden und
-erwarb sich zugleich einen Ehrenplatz im Jenseits.</p>
-
-<p>Von der Flußseite gesehen, gewährt Benares
-einen herrlichen Anblick. Drei Meilen weit sind die
-hohen Felsenufer von oben bis hinunter zum Wasserspiegel
-mit lauter prachtvollen und malerischen
-Bauwerken besetzt; der Fels selbst ist ganz verschwunden,
-Tempel, Hallen, Paläste wechseln miteinander<span class="pagenum" id="Seite_177">[177]</span>
-in bunter Reihe und viele breite Treppen aus
-Marmorquadern führen zum Fluß hinab. Ueberall
-ist Leben und Bewegung; in alle Farben des Regenbogens
-gekleidet, strömt die Menge die Stufen herauf
-und hinunter, oder drängt sich auf den langgestreckten
-Terrassen am Uferrand, wie ein großer
-wandelnder Blumengarten.</p>
-
-<p>Alle jene Prachtbauten sind Werke der Frömmigkeit.
-Die Paläste gehören eingeborenen Fürsten,
-deren Heimat meist fern von Benares ist. Doch
-kommen sie von Zeit zu Zeit zur heiligen Stadt,
-um sich Seele und Leib durch den Anblick ihres
-angebeteten Ganges und ein Bad in seinen Fluten
-zu erquicken. Auch die schönen Treppen sind fromme
-Stiftungen, so gut wie die zahllosen, reich geschmückten
-kleinen Tempel, durch deren Errichtung sich die
-wohlhabenden Hindus irdisches Ansehen und die
-Hoffnung auf künftige Belohnung erwerben. Ein
-reicher Christ, der bedeutende Summen für religiöse
-Zwecke verwendet, ist eine Seltenheit; aber unter
-den Hindus lebt niemand, der seiner Religion nicht
-die größten Geldopfer brächte. Auch bei uns gibt
-der Arme etwas für die Kirche aus, behält jedoch
-noch das Nötigste zu seinem Lebensunterhalt zurück.
-Der arme Inder bringt sich dagegen täglich für seine<span class="pagenum" id="Seite_178">[178]</span>
-Religion an den Bettelstab. Trotz seiner vielen frommen
-Spenden bleibt dem reichen Hindu noch immer
-genug an weltlichen Gütern übrig und er erntet
-obendrein hohen Ruhm; aber der arme Hindu ist
-wirklich zu bemitleiden: er gibt alles hin, was er
-hat, und es trägt ihm doch keine Ehre ein.</p>
-
-<p>Wir machten zwei- bis dreimal die gebräuchliche
-Fahrt flußaufwärts und abwärts, wobei wir
-auf dem Deck der großen Arche, die mit Rudern
-fortbewegt wird, unter einem Zeltdach auf Stühlen
-saßen. Ich hätte noch vielmals so hin- und herfahren
-können und zwar mit stets gesteigertem Interesse
-und Genuß, denn je öfter man die Paläste und
-Tempel sieht, um so mehr bewundert man sie, was ja
-bei dergleichen Prachtgebäuden der Fall ist. Auch
-den Badenden hätte ich gern noch länger zugeschaut;
-es war ein Vergnügen zu sehen, wie geschickt sie aus
-ihren Kleidern hinaus und wieder hereinschlüpften
-ohne zuviel von ihrer bronzefarbenen Haut zu zeigen;
-ihr frommes Gebärdenspiel und die andächtige
-Art, wie sie die Gebetskügelchen durch die Finger gleiten
-ließen, wäre mir nicht zum Ueberdruß geworden.</p>
-
-<p>Nur eins konnte ich kaum noch mit ansehen,
-nämlich wie sie sich den Mund mit dem scheußlichen
-Wasser ausspülten und es tranken. An einer Stelle,<span class="pagenum" id="Seite_179">[179]</span>
-wo wir eine Weile anlegten, ergoß sich ein stinkender
-Strom aus einem Abzugskanal und machte das
-Wasser rings umher trübe und schmutzig; auch ein
-angeschwemmter Leichnam kreiste darin und tauchte
-auf und nieder. Zehn Schritte unterhalb aber, standen
-Männer, Frauen und hübsche junge Mädchen bis
-an die Brust im Wasser, schöpften es in der hohlen
-Hand und tranken. Ja, der Glaube kann Wunder
-wirken, davon erhielt ich hier den Beweis. Die
-Leute tranken das greuliche Zeug nicht etwa um ihren
-Durst zu löschen, sondern um Seele und Leib inwendig
-zu läutern. Nach ihrer Lehre macht das
-Gangeswasser augenblicklich alles was es berührt
-vollkommen rein. Deshalb nahmen sie weder an
-dem Schmutz des Abzugskanals noch an der Leiche
-den geringsten Anstoß; das heilige Wasser hatte sie
-ja berührt, sie waren so rein wie frisch gefallener
-Schnee und konnten niemand besudeln. Jener Anblick
-wird mir ewig unvergeßlich sein &ndash; aber sehr
-gegen meinen Willen.</p>
-
-<p>Noch ein Wort über das schmutzige Gangeswasser,
-das doch alles zu reinigen vermag: Als
-wir mehrere Wochen später nach Agra kamen, hatte
-sich dort gerade ein Wunder zugetragen &ndash; den Gelehrten
-war eine große wissenschaftliche Entdeckung<span class="pagenum" id="Seite_180">[180]</span>
-geglückt. Durch dieselbe wurde festgestellt, daß das
-von uns vielgeschmähte Gangeswasser wirklich das
-mächtigste Reinigungsmittel der Welt ist. Eine bedeutende
-Errungenschaft der modernen Naturkunde!
-Man hatte sich schon längst darüber verwundert, daß
-die Cholera zwar in Benares häufig wütet, sich jedoch
-nie über den Stadtbezirk hinaus verbreitet. Mr.
-Henkin, ein von der Regierung zu Agra angestellter
-Naturforscher, beschloß das Wasser zu untersuchen.
-Er ging nach Benares und schöpfte Wasser am Ausfluß
-der Abzugskanäle in der Nähe der Badetreppen.
-Die Probe ergab, daß ein Kubikzentimeter dieses
-Wassers Millionen von Cholerabazillen enthielt;
-nach Ablauf von sechs Stunden waren sie alle tot.
-Nun zog Henkin einen schwimmenden Leichnam ans
-Land; in dem Wasser, das von diesem abtropfte,
-wimmelte es von Cholerakeimen, aber nach sechs
-Stunden lebte kein einziger mehr. Auch sämtliche
-Bazillen, die Henkin in großer Menge in das Gangeswasser
-brachte, starben unfehlbar innerhalb sechs
-Stunden. Er wiederholte denselben Versuch mehrmals
-mit reinem Wasser, das gänzlich bakterienfrei
-war. Sobald er Cholerakeime hineinbrachte,
-vermehrten sie sich massenhaft, und nach sechs Stunden
-lebten viele Millionen darin.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_181">[181]</span></p>
-
-<p>Jahrhunderte lang sind die Hindus fest überzeugt
-gewesen, daß das Gangeswasser nicht nur vollkommen
-rein ist und durch nichts beschmutzt werden
-kann, sondern auch unfehlbar alles läutert, was damit
-in Berührung kommt. Weil sie das auch heutigen
-Tages noch glauben, trinken sie es und baden darin,
-ohne sich um schwimmende Leichen oder den <em class="gesperrt">scheinbaren</em>
-Schmutz zu kümmern. Durch die Wissenschaft
-belehrt, werden wir die Hindus jetzt wohl
-kaum noch deswegen verspotten dürfen, wie wir es
-seit vielen Generationen getan haben. Wie mögen
-sie wohl vor grauen Jahren hinter das Geheimnis
-des Wassers gekommen sein? Hatten sie vielleicht
-schon damals Bakteriologen? &ndash; Wir wissen es
-nicht. Nur soviel wissen wir, daß sie bereits eine
-Zivilisation besaßen, als wir noch tief in der Barbarei
-steckten.</p>
-
-<p>Doch jetzt möchte ich von etwas anderem reden,
-nämlich von dem Verbrennungsplatz der Leichen.
-Fakirs pflegt man nicht zu verbrennen; sie bekommen,
-dank ihrer Heiligkeit, auch ohnedies im Jenseits
-einen guten Platz, wenn man sie den Wellen
-des geweihten Stromes übergibt. Wir sahen, wie
-man einen solchen frommen Bettler bis in die Mitte
-des Ganges ruderte und dort über Bord warf. Er<span class="pagenum" id="Seite_182">[182]</span>
-war zwischen zwei großen Steinplatten festgeklemmt.</p>
-
-<p>Eine halbe Stunde lag unser Boot am Verbrennungsghat
-und wir sahen neun Leichen von den
-Flammen verzehren. Dann hatte ich ganz genug.
-Das Trauergefolge begleitet die Bahre durch die
-Stadt und bis hinab zum Ghat; dort überlassen
-die Träger den Toten mehreren Eingeborenen aus
-einer niederen Kaste, ›Doms‹ genannt, und die Trauernden
-begeben sich auf den Heimweg. Ich hörte kein
-Schluchzen, sah keine Tränen, der Abschied ging
-ruhig vor sich. Alle Ausbrüche von Kummer und
-Schmerz werden offenbar in häuslicher Zurückgezogenheit
-abgemacht. Die toten Frauen bringt man
-in einer roten, die Männer in einer weißen Umhüllung.
-Man legt sie am Uferrand ins Wasser,
-während der Holzstoß bereitet wird.</p>
-
-<p>Der erste Tote, welchen die ›Doms‹ auswickelten
-um ihn zu waschen, war ein wohlgenährter, stark
-gebauter, schöner alter Herr gewesen, dem man keine
-Krankheit ansah. Aus trockenem Holz wurde ein
-Haufen lose zusammengeschichtet, der Leichnam darauf
-gelegt und mit brennbaren Stoffen bedeckt. Dann
-begann ein nackter heiliger Mann, der etwas abseits
-auf einer Erhöhung saß, mit großem Nachdruck zu
-reden und zu schreien. Der Lärm dauerte eine ganze<span class="pagenum" id="Seite_183">[183]</span>
-Weile und stellte vermutlich die Leichenpredigt vor.
-Einer der Leidtragenden war zurückgeblieben, als sich
-die andern entfernten, nämlich der Sohn des Verstorbenen,
-ein hübscher, brauner etwa zwölfjähriger
-Knabe mit ernster, gefaßter Miene. Er war in ein
-weißes, wallendes Gewand gekleidet und hatte die
-Pflicht, seinen Vater zu verbrennen. Man gab ihm
-eine Fackel in die Hand, und während er siebenmal
-langsam um den Holzstoß schritt, predigte der nackte
-Schwarze auf der Anhöhe noch lauter und ungestümer
-als zuvor. Als der Knabe den siebenten Rundgang
-beendet hatte, berührte er mit der Fackel zuerst
-seines Vaters Haupt und dann die Füße. Helle
-Flammen sprangen scharf knisternd empor, und der
-Knabe zog sich zurück. Der Hindu wünscht sich
-keine Tochter, weil ihre Hochzeit unerschwingliche
-Kosten verursacht, er wünscht sich einen Sohn, um
-einst im Tode auf ehrenvolle Art aus der Welt
-scheiden zu können. Und eine größere Ehre gibt es
-nicht für den Vater, als wenn ihm sein Sohn den
-Scheiterhaufen anzündet. Wer keinen Sohn hat, ist
-übel daran und sehr beklagenswert. Im Hinblick
-auf die Unsicherheit des menschlichen Lebens heiratet
-der Hindu schon als Knabe, um einen Sohn zu bekommen,
-der ihm nach dem Tode den letzten Dienst<span class="pagenum" id="Seite_184">[184]</span>
-erweisen soll. Wird ihm kein Sohn geboren, so
-nimmt er einen Knaben an Kindesstatt an. Das
-genügt für alle Zwecke.</p>
-
-<p>Unterdessen nahm die Verbrennung jenes Leichnams
-und einiger andern ihren Fortgang. Es war
-ein grausiges Geschäft. Die Heizer blieben dabei
-nicht müßig; sie liefen flink umher, schürten das
-Feuer mit langen Stäben und warfen von Zeit zu
-Zeit mehr Holz hinein; auch hoben sie oft Schädel
-und Knochen in die Höhe, um sie zu zerschlagen und
-wieder in die Flammen zu stoßen, damit sie rascher
-von der Glut verzehrt würden. Ein widerwärtiger
-Anblick! Für die Hinterbliebenen hätte er unerträglich
-sein müssen. Mein Verlangen, die Leichenverbrennung
-zu sehen, war ohnehin nicht groß gewesen
-und wurde bald gänzlich gestillt. Aus Gesundheitsrücksichten
-wäre es zwar ratsam, die Feuerbestattung
-allgemein einzuführen, aber diese Form
-derselben wirkt höchst abstoßend und ist durchaus
-nicht empfehlenswert.</p>
-
-<p>Natürlich gilt das Feuer für heilig und muß bezahlt
-werden. Gewöhnliches Feuer ist verboten, weil
-es kein Geld einbrächte. Man sagte mir, daß eine
-einzige Person &ndash; vermutlich ein Priester &ndash; das
-Monopol besitzt, alles heilige Feuer zu liefern, für<span class="pagenum" id="Seite_185">[185]</span>
-das er einen beliebigen Preis fordern kann. Mancher
-Leidtragende hat für eine Feuerbestattung schon
-tausend Rupien entrichtet. Von Indien aus ins
-Paradies zu kommen ist wirklich ein sehr kostspieliges
-Ding; man muß jede einzelne Kleinigkeit, die dazu gehört,
-teuer bezahlen, um die Priester zu mästen.</p>
-
-<p>In der Nähe des Verbrennungsplatzes stehen
-ein paar altersgraue Steine aus der Zeit, als die
-Sutti noch gestattet war. Ein Mann und eine Frau,
-die Hand in Hand miteinander gehen, sind roh
-in den Stein geschnitten, der die Stelle bezeichnet,
-wo die Witwe ehemals den Feuertod erlitten hat.
-Mr. Parker sagt auch, daß sich die Witwen noch
-heutigen Tages verbrennen lassen würden, wenn
-die englische Regierung es nicht strengstens untersagte.
-Jede Familie, die auf einen der kleinen
-Denksteine zeigen und sagen kann: »Hier hat sich
-unsre Ahnfrau verbrannt!« wird von allen beneidet.</p>
-
-<p>Ein seltsames Volk, diese Hindus! Alles Leben
-ist ihnen heilig, nur das des Menschen nicht.
-Selbst das Ungeziefer verschonen sie, und der fromme
-Dschain setzt sich auf keinen Stuhl, ohne ihn vorher
-abzuwischen, um ja auch nicht das winzigste Insekt
-zu töten. Es betrübt ihn, daß er Wasser trinken
-muß, weil der Inhalt seines Magens vielleicht den<span class="pagenum" id="Seite_186">[186]</span>
-Mikroben nicht zuträglich sein könnte. Und doch ist
-Indien die Heimat der Thugs und der Sutti. Es
-wird unsereinem schwer, das zusammen zu reimen.</p>
-
-<p>Wir gingen auch zu dem Tempel der Thug-Göttin
-Bhowanee oder Kali oder Durga &ndash; sie trägt
-alle diese Namen und noch viele andere. Sie ist
-die einzige Gottheit, der etwas Lebendiges geopfert
-wird; man schlachtet ihr Ziegenböcke. Affen wären
-billiger und sind überreichlich vorhanden. Da sie
-heilige Tiere sind, benehmen sie sich sehr unbescheiden
-und klettern überall herum, wo sie wollen. Der
-Tempel und die Vorhalle sind mit wunderschönen
-steinernen Ornamenten geschmückt, desto häßlicher ist
-das Götzenbild. Es ist wirklich kein Vergnügen Bhowanee
-anzusehen; sie hat ein Gesicht von Silber mit
-einer heraushängenden, hochrot angemalten, geschwollenen
-Zunge und trägt ein Halsband von
-Totenschädeln.</p>
-
-<p>Ueberhaupt sind die zahllosen Götzenbilder in
-Benares alle roh, häßlich und mißgestaltet. Die ganze
-Stadt ist voll davon; sie ängstigen einen nachts im
-Traum, und nirgends hat man Ruhe vor ihnen.
-Kann man ihren Anblick in den Tempeln nicht
-länger ertragen und geht zum Strom hinaus, so
-findet man dort riesengroße, mit bunten Farben<span class="pagenum" id="Seite_187">[187]</span>
-bemalte Götzen nebeneinander am Ufer hingestreckt,
-und wo irgend noch Raum ist, steht ein Lingam.
-Schwerlich hat Wischnu vorausgesehen, was aus
-seiner Stadt werden würde, sonst hätte er sie Götzenheim
-oder Lingamburg genannt.</p>
-
-<p>Die höchsten Türme von Benares sind die beiden
-schlanken, weißen Minarets auf der Moschee des
-Aurengzib, die einem überall zuerst ins Auge fallen.
-Die Aussicht von oben ist wundervoll, doch wurde
-sie mir ganz durch einen großen, grauen Affen verdorben,
-der auf dem Dach der Moschee die wildesten
-Sprünge machte. Es ist kaum zu glauben,
-wie unvernünftig ein solches Tier ist! Der Affe
-schwang sich über dem gähnenden Abgrund durch
-den leeren Raum bis zu irgendeinem steinernen
-Vorsprung, der viel zu weit entfernt für ihn war,
-so daß er ihn nur mit knapper Not erreichte und
-sich mit den Zähnen festhalten mußte. Mich machte
-das so nervös, daß <em class="gesperrt">ich</em> immer nur nach dem Affen
-hinsah und die Aussicht ganz darüber vergaß. So
-oft er einen seiner tollkühnen Sätze ins Blaue hineintat,
-verging mir der Atem; wenn er nach einem
-Anhalt griff, klammerte ich mich selbst aus Mitgefühl
-krampfhaft fest und schnappte nach Luft, während
-er sich ganz gleichgültig und unbekümmert<span class="pagenum" id="Seite_188">[188]</span>
-stellte. Wohl ein Dutzendmal kam er nur gerade
-noch mit dem Leben davon und beunruhigte mich
-dermaßen, daß ich ihn am liebsten auf der Stelle
-totgeschossen hätte; doch ging mich die Sache im
-Grunde ja gar nichts an.</p>
-
-<p>Die Aussicht möchte ich allen Fremden aufs
-dringendste empfehlen, was man davon genießt ist
-prachtvoll. Ganz Benares, der Fluß und die Gegend
-ringsum liegen ausgebreitet vor unsern Blicken
-da. Wenn nur der Affe nicht wäre! &ndash; Mein Rat ist
-also: nehmt eine Flinte mit und seht euch die Aussicht
-an!</p>
-
-<p>Der nächste Anblick, der sich uns bot, war weniger
-aufregend: Ein Eingeborener malte ein Bild
-auf Wasser &ndash; eine mir ganz neue Kunstleistung.
-Der Mann streute verschiedenfarbigen feinen Staub
-auf die Oberfläche eines Wasserbeckens und daraus
-entwickelte sich allmählich ein hübsches, zartes Gemälde,
-das durch einen Hauch wieder zerstört werden
-konnte. Es kam mir vor wie ein Gleichnis und
-Sinnbild, welches die Unbeständigkeit alles Irdischen
-predigt. Nach meinem vielen Umherstöbern unter
-den verfallenen Tempeln, die auf Ruinen standen,
-welche wiederum auf den Trümmern und Ruinen
-früherer Zeitalter erbaut gewesen waren, lag mir<span class="pagenum" id="Seite_189">[189]</span>
-der Gedanke nahe, daß alle die gewaltigen Steinbauten
-in ihrer Art ganz ebenso vergänglich sind,
-wie Bilder, die man auf Wasser malt.</p>
-
-<p>In Benares ist es auch gewesen, wo der kühne
-Generalgouverneur von Ostindien, Warren Hastings,
-im Jahre 1781 mit knapper Not einer großen Gefahr
-entging. Mit einer Handvoll eingeborener
-Soldaten und drei jungen englischen Offizieren hatte
-er den Rajah Cheit Singh in seiner eigenen Festung
-gefangen genommen, weil dieser sich weigerte, eine
-Geldstrafe von 500&nbsp;000&nbsp;Pfund Sterling zu bezahlen,
-die Hastings im Namen der Ostindischen Kompagnie
-über ihn verhängt hatte. So fest war damals seine
-Herrschaft in Indien begründet und so zuversichtlich
-rechneten die Engländer auf die oft erprobte Unterwürfigkeit
-des indischen Volkes, daß sie bei dem
-Zug in das entlegene Fürstentum, wo sie von aller
-Hilfe abgeschnitten waren, nur leere Kanonen mitnahmen
-und ihren Pulvervorrat zurückließen. Durch
-einen Zufall ward dies jedoch verraten, und nun
-brach ein Aufstand los, bei dem die drei Engländer
-samt den hilflosen Sepoys erschlagen wurden. Hastings
-selbst entkam im Dunkel der Nacht glücklich
-aus Benares. Vor Ablauf eines Monats kehrte
-er jedoch mit genügenden Streitkräften zurück, stellte<span class="pagenum" id="Seite_190">[190]</span>
-Ruhe und Ordnung wieder her, entthronte den Rajah
-und gab dem Fürstentum einen andern Herrscher.</p>
-
-<p>In eine so kritische Lage hat sich Hastings nie
-wieder gebracht. Er war ein hochbegabter Mann,
-und wenn auch an seinem Namen mancher Flecken
-haftet, den nichts zu tilgen vermag, so läßt sich
-doch nicht bestreiten, daß er das indische Reich für
-England gerettet hat. Einen bessern Dienst hätte
-er aber zugleich auch der indischen Nation nicht leisten
-können, welche seit Jahrtausenden unter dem Druck
-einer erbarmungslosen Tyrannei geschmachtet hatte.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap14">Vierzehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Es zeugt von Mangel an Ehrfurcht,
-wenn man den Gott anderer Menschen
-mißachtet.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">In Benares besuchte ich auch einen lebendigen
-Gott; es war der zweite, den ich zu sehen bekam.
-Von allen großen und kleinen Weltwundern, die mir
-je vorgekommen sind &ndash; und ich habe, so viel ich
-weiß, fast alle besichtigt &ndash; hat mir, glaube ich,<span class="pagenum" id="Seite_191">[191]</span>
-nichts einen so überwältigenden Eindruck gemacht
-wie diese beiden Götter. Eine Erklärung hierfür
-zu finden fällt mir nicht schwer: Wenn wir etwas
-ein Wunder nennen, so tun wir das in der Regel
-nicht, weil es <em class="gesperrt">uns</em> außergewöhnlich erscheint, sondern
-weil <em class="gesperrt">andere</em> Leute etwas Besonderes darin
-sehen. Fast alle Wunder bekommen wir erst aus
-zweiter Hand. Ist ein Ding berühmt, so brennen
-wir vor Verlangen danach und wenn wir es sehen,
-erfüllt es stets unsere Erwartung. Der Anblick eines
-Gegenstandes, welcher in den Herzen einer großen
-Menschenzahl Begeisterung und Ehrfurcht entzündet
-oder ihre Liebe und Bewunderung weckt, gewährt
-uns einen Genuß, den wir mehr als alles andere
-schätzen. Wir fühlen uns hoch beglückt und dauernd
-bereichert, wir möchten die Erinnerung daran um
-keinen Preis hergeben.</p>
-
-<p>Wie manche Sehenswürdigkeit der Welt haben
-wir von tausend Schriftstellern unser Lebenlang mit
-Entzücken preisen hören! Wir pilgern um den Erdball,
-sind von ihrem Anblick berauscht und halten
-die Gefühle, welche uns überwältigen, für unsere
-eigenen, während wir nur von der Blume eines
-Weines trunken sind, der andern Leuten gehört. Aber
-alle Erdenherrlichkeit, die wir staunend erblicken, ist<span class="pagenum" id="Seite_192">[192]</span>
-doch nichts im Vergleich zu einer Person, die lebt,
-atmet, redet, und von vielen Millionen Menschen
-in frommem, aufrichtigem, unerschütterlichem Glauben
-für einen Gott gehalten und in Demut angebetet
-wird.</p>
-
-<p>Als ich den Gott sah, war er sechzig Jahre alt.
-Er heißt Sri 108 Swami Bhaskarananda Saraswati;
-doch ist das nur <em class="gesperrt">eine</em> Form seines Namens,
-eine Abkürzung, wie man sie etwa im Gespräch mit
-ihm wählen würde. Wollte man ihm einen Brief
-schreiben, so würde es sich schon aus Höflichkeit
-empfehlen, eine längere Anrede zu gebrauchen;
-nicht etwa den ganzen Namen, aber wenigstens
-so viel davon:</p>
-
-<p>Sri 108 Matparama&shy;hansapa&shy;rivraia&shy;kacharyas&shy;wamibhaska&shy;rananda&shy;saraswati.</p>
-
-<p>Hochwohlgeboren auf der Adresse hinzuzufügen
-ist unnötig. Das Wort Sri, mit dem der ganze
-Schwall beginnt, ist an sich schon ein Ehrentitel.
-›108‹ gibt, glaube ich, die Zahl seiner übrigen Namen
-an. Da auch Wischnu 108 Namen hat, die er
-nur bei besonderen Gelegenheiten braucht, wird es
-wohl eine beliebte Sitte im Orden der Götter sein,
-sich solchen Extravorrat anzulegen. Aber auch ohne
-die 108 andern ist der abgekürzte Name schon ein<span class="pagenum" id="Seite_193">[193]</span>
-recht hübsches Besitztum; er besteht aus 58 Buchstaben,
-wenn ich mich nicht verzählt habe. Dagegen
-können selbst die längsten deutschen Wörter nicht
-aufkommen und sind ein für allemal vom Wettbewerb
-ausgeschlossen.</p>
-
-<p>Sri 108&nbsp;S.&nbsp;B. Saraswati hat erreicht, was die
-Hindus den ›Zustand der Vollendung‹ nennen. Andere
-Hindus gelangen dazu nur durch zahllose Seelenwanderungen,
-bei welchen sie wieder und immer
-wieder in den verschiedensten Gestalten auf Erden
-geboren werden. Das ist eine langwierige Arbeit,
-die oft Jahrhunderte oder Jahrtausende in Anspruch
-nimmt, und bei der man allerlei Gefahr läuft.
-Man kann zum Beispiel, wie bereits erwähnt, das
-Unglück haben, einmal auf dem falschen Ufer des
-Ganges zu sterben und als Esel wieder zur Welt
-zu kommen, so daß man einen ganz neuen Anlauf
-nehmen und viele Entwicklungsstufen nochmals
-durchmachen muß. Von alledem ist Sri 108&nbsp;S.&nbsp;B.&nbsp;S.,
-als er zur Vollendung hindurchdrang, auf immer
-erlöst worden. Er nimmt nicht länger teil an dem
-Wesen dieser Welt; alles Irdische ist von ihm ausgeschieden,
-er ist vollkommen heilig und rein. Ja,
-er gehört überhaupt nicht mehr der Erde an, sondern
-steht ihr fremd gegenüber, ihre Schmerzen, Kümmernisse<span class="pagenum" id="Seite_194">[194]</span>
-und Sorgen erreichen ihn nicht. Seine Heiligkeit
-kann durch nichts mehr entweiht, seine Reinheit
-durch nichts befleckt werden. Wenn er stirbt geht
-er zum Nirwana ein, wird in das Wesen der höchsten
-Gottheit mit aufgenommen und hat Frieden in
-Ewigkeit.</p>
-
-<p>Die heiligen Schriften der Inder lehren, wie
-man zu diesem Zustand emporklimmen kann, aber es
-kommt höchstens einmal in tausend Jahren vor,
-daß ein Prüfungskandidat ihn wirklich erreicht. Sri
-108 hat sämtliche vorgeschriebene Stufen von Anfang
-bis zu Ende durchgemacht, und ihm bleibt nun
-nichts mehr zu tun übrig, als zu warten, bis er
-aus dieser Welt abberufen wird, von welcher sein
-Los getrennt ist und die ihm nichts mehr zu bieten
-hat. In der ersten Stufe war er ein Schüler und
-erwarb Kenntnis der heiligen Bücher. In der zweiten
-wurde er Bürger, Hausvorstand, Gatte und
-Vater. Dann nahm er, wie geboten ist, auf immer
-Abschied von seiner Familie und wanderte fort. Er
-zog in eine ferne Wüste und brachte die vorschriftsmäßige
-Zeit als Einsiedler zu. Darauf wurde er
-zunächst Bettler, »wie es die Schrift befiehlt«; er
-durchwanderte Indien und nährte sich von den Gaben
-der Mildtätigkeit. Vor einem Vierteljahrhundert<span class="pagenum" id="Seite_195">[195]</span>
-erreichte er die höchste Reinheit, welche keines Gewandes
-bedarf, denn Nacktheit ist ihr Symbol. Er
-legte daher das Lendentuch ab, dessen er sich zuvor
-bedient hatte. Jetzt könnte er sich nach Belieben
-wieder damit gürten, denn ihn kann nichts mehr
-beflecken &ndash; für gewöhnlich verschmäht er es
-jedoch.</p>
-
-<p>Ich glaube, das sind noch nicht alle Stufen, aber
-die andern fallen mir gerade nicht ein; jedenfalls
-hat er sie durchgemacht. Während seiner langen
-Prüfungszeit hörte er nicht auf, sich in frommer
-Weisheit zu vervollkommnen und Erklärungen der
-heiligen Bücher zu schreiben. Auch in religiöse Betrachtungen
-über Brahma hat er sich versenkt und
-das tut er noch.</p>
-
-<p>In ganz Indien wird sein Bildnis aus weißem
-Marmor verkauft; er bewohnt ein gutes Haus in
-Benares, das von einem schönen, großen Garten
-umgeben und eingerichtet ist, wie es seinem hohen
-Range zukommt. Auf der Straße kann er sich natürlich
-nicht blicken lassen. Für Götter wäre es
-in allen Ländern mit Unbequemlichkeiten verbunden,
-wenn sie frei umhergingen. Wollte jemand,
-den wir als Gott anerkennen und verehren, durch
-unsere Stadt spazieren und man erführe an welchem<span class="pagenum" id="Seite_196">[196]</span>
-Tage, so würden alle Geschäfte stillstehen und
-der Verkehr ins Stocken geraten.</p>
-
-<p>Das Wohnhaus des Gottes ist zwar behaglich,
-aber doch in Anbetracht der Umstände sehr bescheiden.
-Er brauchte nur den Wunsch zu äußern, so würden
-ihm seine Anhänger mit Freuden einen Palast bauen.
-Manchmal empfängt er die Gläubigen einen Augenblick,
-spricht ihnen Trost zu und gibt ihnen seinen
-Segen; darauf küssen sie ihm die Füße und gehen
-beglückt von dannen. Da er ein Gott ist, legt er
-auf Rang und Stand keinen Wert, vor ihm sind alle
-Menschen gleich. Er empfängt wen er will oder
-verweigert seinen Anblick. Manchmal läßt er einen
-Fürsten vor und schickt den Bettler fort; ein andermal
-empfängt er den Bettler, und der Fürst muß seiner
-Wege gehen. Doch nimmt er überhaupt nur wenige
-Besucher irgendwelcher Klasse an, da er die Zeit
-für seine Betrachtungen zu Rate halten muß. Mr.
-Parker, den Missionar, würde er, glaube ich, jederzeit
-empfangen, weil er ihm leid tut. Er selbst tut
-aber Mr. Parker ebenso leid, und dies Mitgefühl
-ist gewiß ein Segen für alle beide.</p>
-
-<p>Bei unserer Ankunft mußten wir noch eine Weile
-im Garten herumstehen; die Aussichten waren nicht
-sehr günstig, denn Sri 108&nbsp;S.&nbsp;B.&nbsp;S. hatte an diesem<span class="pagenum" id="Seite_197">[197]</span>
-Tage alle Maharajas fortgeschickt und nur den gemeinen
-Pöbel empfangen; da wir nun weder das
-eine noch das andere waren, ließ sich nicht voraussagen,
-was wir zu erwarten hatten. Bald erschien
-jedoch ein Diener und sagte, es wäre schon recht,
-der Gott würde kommen.</p>
-
-<p>Ja, er kam wirklich und ich habe ihn gesehen,
-diesen Gegenstand der Anbetung für Millionen. Mich
-durchbebte ein nie gekanntes Gefühl &ndash; ich wollte, es
-strömte mir noch durch die Adern. Und doch war
-er für mich kein Gott, sondern nur ein Schaustück.
-Der heilige Schauer, der mich durchzitterte, war
-nicht mein eigener; ich empfing ihn aus zweiter
-Hand von den unsichtbaren Millionen seiner Anbeter.
-Durch die Berührung mit ihrem Gott war
-ich in elektrische Verbindung mit ihrer Riesenbatterie
-geraten und bekam die ganze Ladung auf einmal
-zu fühlen.</p>
-
-<p>Sri 108&nbsp;S.&nbsp;B.&nbsp;S. war groß und hager. Sein
-scharfgeschnittenes Gesicht hatte einen ungewöhnlich
-durchgeistigten Ausdruck und er sah mich mit dem
-tiefen Blick seiner Augen gütig an. Er schien viel
-älter als seine Jahre, aber das mochte wohl von
-seinen Studien und Betrachtungen, dem Fasten und
-Beten und dem harten Leben herrühren, das er<span class="pagenum" id="Seite_198">[198]</span>
-als Einsiedler und Bettler geführt hatte. Empfängt
-er Eingeborene hohen oder niederen Ranges, so geht
-er ganz nackt; aber jetzt trug er ein weißes Tuch
-um die Lenden, ein Zugeständnis, das er vermutlich
-den Vorurteilen der Fremden machte.</p>
-
-<p>Sobald sich meine Verzückung etwas gelegt hatte,
-kamen wir gut miteinander aus, und er erwies sich
-mir als ein sehr angenehmer und freundlicher Gott.
-Er hatte viel vom Religionskongreß und der Weltausstellung
-in Chicago gehört und sprach mit großem
-Interesse darüber. Wenn die Leute in Indien auch
-von Amerika sonst nichts wissen, dies Ereignis ist
-ihnen bekannt, und sie werden Chicago sobald nicht
-vergessen.</p>
-
-<p>Zu meiner Freude schlug der Gott mir vor, ob
-wir nicht unsere Autographen austauschen wollten.
-Zufolge dieser zarten Aufmerksamkeit glaubte ich
-an ihn, wenn ich auch vorher meine Zweifel gehabt
-hatte. Er schrieb mir eine Widmung in sein Buch,
-das ich stets mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtete,
-obgleich die Wörter von rechts nach links gehen
-und ich es daher nicht lesen kann. Diese Art Bücher
-zu drucken, halte ich für ganz verkehrt. Das Werk
-enthält die von ihm verfaßten, umfangreichen Erklärungen
-zu den heiligen Schriften der Hindus;<span class="pagenum" id="Seite_199">[199]</span>
-könnte ich sie entziffern, so würde ich selbst versuchen
-nach der Vollendung zu streben. Ich überreichte
-ihm ein Exemplar von Huckleberry Finn,
-weil ich glaubte, es würde ihm zur Abwechslung
-von seinen Betrachtungen über Brahma eine kleine
-Erholung sein. Er sah recht müde aus, und wenn
-ihm mein Buch auch vielleicht nichts nützt, so wird
-es ihm doch gewiß nichts schaden.</p>
-
-<p>Sri 108&nbsp;S.&nbsp;B.&nbsp;S. hat einen Schüler, der
-unter ihm seine Studien betreibt &ndash; Mina Bahadur
-Rana &ndash; doch bekamen wir ihn nicht zu sehen. Er
-trägt Kleider und ist noch sehr unvollkommen. Eine
-kleine Abhandlung, die er über seinen Meister geschrieben
-hat, habe ich mir angeschafft. Es ist auch
-ein Holzschnitt darin, welcher Lehrer und Schüler
-zusammen auf einer Matte im Garten sitzend darstellt.
-Das Bild ist sehr gut getroffen und die
-Stellung genau dieselbe, welche Brahma mit Vorliebe
-einnimmt; man braucht dazu lange Arme und
-geschmeidige Beine; nur Götter können diese so übereinander
-schlagen &ndash; Götter und der Kautschukmann.
-In der gleichen Stellung ist auch im Garten ein Marmorbild
-von Sri 108&nbsp;S.&nbsp;B.&nbsp;S. in Lebensgröße
-zu sehen.</p>
-
-<p>Eine sonderbare Welt, in der wir leben &ndash; und<span class="pagenum" id="Seite_200">[200]</span>
-am allermerkwürdigsten geht es in Indien zu. Jener
-Schüler, Mina Bahadur Rana, ist ganz und gar
-kein gewöhnlicher Mensch, er besitzt eine außerordentliche
-Begabung und hohe Bildung; eine glänzende
-weltliche Laufbahn lag vor ihm. Noch vor zwanzig
-Jahren stand er im Dienst der Regierung von
-Nepal und nahm am Hofe des Vizekönigs von Indien
-eine hervorragende Stellung ein. Er war tüchtig
-in seinem Beruf, ein tiefer Denker, wohlhabend
-und kenntnisreich. Da ergriff ihn plötzlich das Verlangen,
-sich einem religiösen Leben zu weihen, er
-legte sein Amt nieder, wandte der Eitelkeit und
-allem Behagen dieser Welt den Rücken, zog sich in
-die Einsamkeit zurück und lebte in einer armen Hütte.
-Dort studierte er die heiligen Schriften und vertiefte
-sich in Betrachtungen über Tugend und Frömmigkeit,
-die er zu erringen strebte. Diese Art Religion
-gleicht der unsrigen. Christus hat den Reichen
-geboten ihre Güter den Armen zu geben und ihm
-nachzufolgen, nicht in weltlichem Wohlleben, sondern
-in Dürftigkeit. Unsere amerikanischen und englischen
-Millionäre tun das täglich und bezeugen so vor
-aller Welt den ungeheueren Einfluß der Religion;
-aber von manchen Leuten werden sie wegen dieser
-Entsagung und Pflichttreue verhöhnt und auch über<span class="pagenum" id="Seite_201">[201]</span>
-Mina Bahadur Rana wird man spotten und sagen,
-er sei verrückt geworden. Gleich vielen Christen
-von edlem Charakter und hohen Geistesgaben hat
-auch er sich das Studium seiner heiligen Schriften
-und die Abfassung von Büchern zu ihrer Erklärung
-und Auslegung als Lebensaufgabe gewählt; er hat
-sich diesem Beruf mit aller Liebe hingegeben und ist
-fest überzeugt, daß es keine törichte, nutzlose Zeitverschwendung,
-sondern die würdigste und ehrenvollste
-Beschäftigung ist, der er sich widmen kann.
-Dennoch gibt es viele Leute, welche jene Christen
-verehren und preisen, den Inder aber einen Narren
-schelten. Das tue ich nicht. Er besitzt meine vollste
-Hochachtung und die biete ich ihm nicht als etwas
-Gemeines und Alltägliches dar, sondern als eine
-große Seltenheit und Kostbarkeit. Die gewöhnliche
-Hochachtung und Ehrfurcht, wie sie gang und gäbe
-ist, kostet nichts. Ehrfurcht vor dem, was uns selbst
-heilig ist: vor Eltern, Religion, Gesetz, Vaterland,
-Achtung vor unsern eigensten Ueberzeugungen, sind
-uns so natürliche Gefühle, daß wir ohne sie ebensowenig
-leben könnten, wie ohne zu atmen. Das
-Atemholen rechnet man sich aber nicht als persönliches
-Verdienst an. Schwer und verdienstvoll ist dagegen
-eine andere Art der Ehrfurcht, nämlich die Hochachtung,<span class="pagenum" id="Seite_202">[202]</span>
-die wir aus freien Stücken den politischen
-und religiösen Anschauungen eines Menschen zollen,
-obgleich sie nicht die unsrigen sind. Wir können
-seine Götter nicht anbeten und seine Politik nicht
-teilen &ndash; das erwartet auch niemand von uns; aber
-seinen Glauben an sie könnten wir doch achten,
-wenn es uns auch sauer wird; ja, wir könnten
-ihn selber achten, wollten wir uns rechte Mühe
-geben. Freilich, schwer ist es, ganz entsetzlich schwer,
-fast ein Ding der Unmöglichkeit, und deshalb versuchen
-wir es lieber gar nicht. Glaubt ein Mensch
-nicht wie wir glauben, so nennen wir ihn einen
-Toren, und dabei bleibt es. Das heißt in unsern
-Tagen, weil wir ihn jetzt nicht mehr verbrennen
-können.</p>
-
-<p>Als wir von dem Gott in Benares Abschied nahmen
-und uns entfernten, trafen wir am Gartentor
-mit einer Gruppe von Eingeborenen zusammen,
-welche ehrerbietig warteten &ndash; ein Rajah, der aus
-einem entlegenen Teil Indiens kam und einige weniger
-vornehme Leute. Der Gott winkte sie zu
-sich heran, und im Hinausgehen sahen wir noch,
-wie der Rajah vor ihm kniete und demutsvoll seine
-heiligen Füße küßte.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[203]</span></p>
-
-<p>Eine bequeme Eisenbahnfahrt von siebzehn und
-einer halben Stunde brachte uns nach Kalkutta, der
-Hauptstadt Indiens, die zugleich auch die Hauptstadt
-von Bengalen ist. Die Bevölkerung besteht
-wie in Bombay aus fast einer Million Eingeborenen
-und einer kleinen Zahl Weißer. Kalkutta ist eine
-riesengroße und schöne Stadt, man nennt es die
-Stadt der Paläste. Es ist reich an geschichtlichen
-Erinnerungen und reich an britischen Errungenschaften
-auf militärischem, politischem und kaufmännischem
-Gebiet. Man bekommt dort die Früchte des
-Wirkens der beiden großen Helden Clive und Hastings
-zu genießen, aber das 250 Fuß hohe Monument,
-welches man meilenweit in der Runde sieht,
-trägt den Namen Ochterlony. Mag man in Kalkutta
-sein wo man will, überall muß man an Ochterlony
-denken und sich den Kopf darüber zerbrechen,
-was das Denkmal wohl zu bedeuten hat. Gut, daß
-Clive nicht von den Toten zurückkommen kann, er
-würde sonst glauben, es sollte seinen Sieg bei Plassey
-verewigen und müßte zu seiner Kränkung erfahren,
-daß er sich geirrt hat. »Mit dreitausend Mann,«
-würde er sagen, »habe ich sechzigtausend bezwungen
-und das Reich gegründet, aber man hat mir
-kein Denkmal gesetzt. In der Schlacht bei Ochterlony<span class="pagenum" id="Seite_204">[204]</span>
-hat der General vielleicht mit einem Dutzend
-Soldaten eine Billion Feinde geschlagen und die
-Welt errettet.«</p>
-
-<p>Aber das ist nicht richtig. Ochterlony war ein
-Mann, keine Schlacht. Er hat dem Lande auch
-gute und ehrenhafte Dienste geleistet, wie hundert
-andere tapfere, rechtschaffene und hochbegabte Engländer.
-Indien ist ein fruchtbarer Boden, um Männer
-zu erzeugen, die groß sind im Kriege wie im
-Frieden und bescheiden bei all ihrer Größe. Daß
-man ihnen Denkmäler setzt, erwarten sie nicht; auch
-Ochterlony hat das schwerlich getan &ndash; wenigstens
-sicherlich nicht, ehe Clive und Hastings versorgt waren.</p>
-
-<p>Wollte man in Indien jedem zum Lohn für
-ausgezeichnete Taten, treue Pflichterfüllung und
-fleckenlosen Lebenswandel ein Denkmal setzen, es
-würde der Gegend ein einförmiges Ansehen geben.
-Die Handvoll Engländer regieren die Myriaden Inder
-anscheinend mit Leichtigkeit und ohne daß irgend
-welche Reibung entsteht. Sie können das, weil sie
-richtigen Takt, Tüchtigkeit und treffliche Verwaltungskunst
-besitzen, welche von gerechten, freisinnigen
-Gesetzen unterstützt wird, und weil sie den Eingeborenen
-stets Wort halten, wenn sie ihnen ein
-Versprechen gegeben haben.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[205]</span></p>
-
-<p>England liegt weit von Indien; man erfährt
-dort wenig von den großen Diensten, welche die
-indischen Beamten dem Lande leisten; denn der Ruhm
-wird durch Zeitungskorrespondenten verbreitet, und
-diese schickt England nicht nach Indien, sondern nach
-dem europäischen Festland, um über die Taten aller
-kleiner Fürsten und Herzöge Bericht zu erstatten,
-damit man weiß, wo sie auf Besuch sind und wen
-sie heiraten. Ein britischer Beamter kann oft dreißig
-oder vierzig Jahre in Indien gelebt haben und
-wegen seiner hohen Verdienste von einer Ehrenstufe
-zur andern gestiegen sein, bis er Vizekönig
-wird und ein großes Reich mit vielen Millionen
-Untertanen regiert. In jedem andern Lande wäre
-er ein berühmter Mann, aber, wenn er wieder nach
-England kommt, ist er im Grunde so gut wie unbekannt
-und zieht sich in ein bescheidenes Eckchen
-zurück. Erst nach seinem Tode liest man mit Staunen
-den Bericht über seine glänzende Laufbahn in
-irgend einer Londoner Zeitung.</p>
-
-<p>In Kalkutta gab es viel zu sehen, aber wir
-hatten nur wenig Zeit dazu. Die von Clive erbaute
-Festung, der große botanische Garten, die Spazierfahrt
-der vornehmen Welt auf dem Maidan und
-eine glänzende Revue der Garnison nebst den Manövern<span class="pagenum" id="Seite_206">[206]</span>
-der eingeborenen Soldaten, bei denen alle
-Waffengattungen große militärische Tüchtigkeit bewiesen
-und deren Schluß die Erstürmung eines indischen
-Forts bildete &ndash; das waren die Hauptsehenswürdigkeiten,
-die wir in Augenschein nahmen. Dann
-machten wir noch eine Lustfahrt auf dem Hugli und
-teilten unsere übrige Zeit zwischen geselligem Verkehr
-und dem indischen Museum. Letzteres ist eine
-wahre Schatzkammer für indische Altertümer, zu
-deren Besichtigung man mindestens einen Monat
-haben sollte; ja, ich könnte diese schönen und wunderbaren
-Dinge ein halbes Jahr lang ansehen, ohne
-daß sie ihren Reiz für mich verlieren würden.</p>
-
-<p>Es war Winter in Kalkutta, ›kaltes Wetter‹,
-wie uns jedermann versicherte. Aber, wer an 138°
-im Schatten gewöhnt ist, hat kein Urteil über dergleichen.
-Jedenfalls war dies kalte Wetter zu warm
-für die Fremden, und wir brachen deshalb nach
-Dardschiling am Himalaja auf. Es ist eine Reise
-von vierundzwanzig Stunden.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[207]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap15">Fünfzehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Es gibt 869 verschiedene Arten der Lüge;
-aber nur eine von allen ist ausdrücklich verboten:
-»Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
-wider deinen Nächsten.«</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop"><em class="gesperrt">Aus dem Tagebuch. 14. Februar.</em>
-Wir reisten nachmittags um 4.30 ab und fuhren bis
-zur Dämmerung durch tropische Vegetation; dann
-bestiegen wir ein Boot, das uns ans andere Ufer
-des Ganges brachte.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">15. Februar.</em> &ndash; Mit der Sonne aufgestanden.
-Ein strahlender, frostkalter Morgen. Doppelte
-Flanellunterkleider machen sich notwendig. Die Gegend
-ist vollständig eben und dehnt sich in verschwommenen
-Farben weiter und immer weiter, bis ins
-Unendliche aus. &ndash; Wie üppig, wie hoch und mächtig
-ist doch der Bambus mit seinem duftig zarten Laub!
-Wohin das Auge blickt, sieht man die baumartigen
-Gräser gleich riesigen Pflanzengeysern emporschießen,
-bis ihr grüner Sprühregen sich in der Ferne
-in Dunstwolken zu verwandeln scheint. Auch an Bananenfeldern
-kamen wir vorbei, wo der Sonnenschein<span class="pagenum" id="Seite_208">[208]</span>
-die glasierte Oberfläche der großen niederhängenden
-Blätter streifte. Häufig sahen wir Palmenhaine
-und vereinzelte Exemplare dieser malerischen
-Familie, die eine wirkungsvolle Abwechslung
-in das Landschaftsbild brachten. An den hohen
-schlanken Stämmen hingen die Blätter zerrissen und
-zerfetzt umher, als wollte die Natur einen Regenschirm
-darstellen, der unversehens in einen Wirbelsturm
-geraten ist und es sich nicht merken lassen will.
-Und überall sahen wir im gedämpften Morgenlichte
-Dörfer auftauchen, zahllose Dörfer, die kein Ende
-nehmen wollten. Mit Stroh gedeckt, aus reinen,
-neuen Rohrmatten aufgebaut, lagen sie dichtgedrängt
-zwischen Palmengruppen und Bambusgräsern. In
-Abständen von kaum dreihundert Metern kamen
-immer neue dutzendweise zum Vorschein. Es war
-eine mächtige, viele hundert Meilen lange und breite
-Stadt, die aus lauter Dörfern bestand. Eine so ungeheure
-Stadt habe ich noch nie gesehen, es gibt
-keine zweite auf der ganzen Erde, und eine Einwohnerzahl
-hat sie, wie ein europäisches Königreich.
-Wir sahen diese Menschen auf beiden Seiten der
-Eisenbahn und vor uns, soweit das Auge reichte
-&ndash; eine endlose Menge nackter Gestalten. Meile
-auf Meile flogen wir dahin, aber immer waren<span class="pagenum" id="Seite_209">[209]</span>
-sie da, auf beiden Seiten und vor uns, die braunen
-nackten Männer und Knaben, die auf den Feldern
-ackerten und pflügten. Wir gewahrten kein einziges
-Weib, kein Mädchen bei der Feldarbeit, während
-der ganzen zweistündigen Fahrt.</p>
-
-<p>Wenn wir den armen Heiden die neueste Zivilisation
-bringen, sollten wir zugleich die Gelegenheit
-benützen, auch unsere Kultur durch einige ihrer
-barbarischen Sitten zu bereichern. Das Recht hierzu
-kann uns niemand bestreiten. Heben wir jene Völker
-auf eine höhere Stufe, so sind wir auch befugt,
-uns selbst mit ihrer Hilfe um neun oder zehn Grade
-aufwärts zu bringen. Vor Jahren verlebte ich einige
-Wochen in dem bayrischen Bade Tölz. Die Gegend
-ist katholisch, und nicht einmal in Benares ist
-die Bevölkerung so durch und durch religiös und so
-eifrig in ihrer Frömmigkeit, das erkennt man auf
-den ersten Blick. Damals schrieb ich in mein Tagebuch:
-»Gestern machten wir eine wunderschöne Spazierfahrt
-über Land; doch wurde mein Vergnügen
-durch den Anblick ehrwürdiger Großmütter mit
-grauen Haaren, die im Felde arbeiteten, sehr beeinträchtigt.
-Siebzig- und achtzigjährige Frauen
-mähten Korn, banden Garben oder luden das Heu
-auf den Wagen.«</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[210]</span></p>
-
-<p>An andern Orten in Bayern sah ich, wie Weiber
-schwere mit Bierfässern beladene Karren zogen. In
-Oesterreich fand ich oft eine Frau neben einer Kuh
-an den Pflug gespannt, den ein Mann führte. Ich
-sah ein altes gebücktes Weib, zusammen mit einem
-Hunde angeschirrt, einen beladenen Schlitten über
-gepflasterte und ungepflasterte Straßen ziehen, während
-der Fuhrmann, ein kräftiger Mensch von kaum
-dreißig Jahren, nebenher ging und seine Pfeife
-rauchte. Auch die Wäscherinnen in Frankreich kann
-ich nicht vergessen, die bei strömendem Regen und so
-naßkaltem Wetter, daß man keinen Hund hinausjagen
-würde, in ihrer gewöhnlichen Kleidung vor
-meinen Hotelfenstern in der Rhone wuschen, bis
-die Dunkelheit ihrer Arbeit ein Ende machte. Dann
-kam ein starker Bursche &ndash; vielleicht der Enkel der
-alten Großmutter &ndash; im sichern Schutz seines Regenschirms,
-trocken und wohlbehalten auf einem Eselwagen
-gefahren und befahl den Weibern in herrischem
-Ton, die sechs schweren Körbe mit nasser Wäsche
-aufzuladen, die ein Mann kaum von der Stelle
-gebracht hätte. Die bis auf die Haut durchnäßten
-Frauen gehorchten ohne Murren, und während der
-Franzose vom Wagen stieg und ins Wirtshaus ging,
-wo ich ihn später bei einer Flasche Wein sitzen<span class="pagenum" id="Seite_211">[211]</span>
-sah, trabten sie geduldig heimwärts hinter dem
-Karren drein.</p>
-
-<p>Doch ich kehre nach Indien zurück. Im Lauf
-des Nachmittags näherten wir uns dem Gebirge.
-Wir verließen den Hauptbahnzug und stiegen in
-eine Zweigbahn, die aus kleinen mit Leinwand gedeckten
-Wagen bestand, von denen jeder etwa für
-zwölf Personen Platz hatte. Wurden die Vorhänge
-aufgezogen, so saß man ganz im Freien, fühlte
-sich äußerst behaglich, konnte die frische Luft einatmen
-und sich nach allen Seiten umsehen. Es war
-eine Vergnügungsfahrt, nicht nur dem Namen nach,
-sondern in Wirklichkeit.</p>
-
-<p>Nach einer Weile hielten wir an einem kleinen
-hölzernen Bahngebäude mitten im dichten Walde
-unter großen Bäumen, Gebüsch und Schlingpflanzen
-in der Nähe eines düstern Dschungels. Hier haust
-der bengalische Königstiger in großer Menge und
-benimmt sich sehr frech und rücksichtslos. Von der
-einsamen kleinen Station wurde einmal folgende
-Depesche an den Bahnhofsinspektor in Kalkutta abgesandt:
-»Ein Tiger frißt eben den Bahnwärter
-auf der vorderen Veranda. Telegraphieren Sie mir
-Verhaltungsmaßregeln.«</p>
-
-<p>Ich ging dort zum erstenmal auf die Tigerjagd<span class="pagenum" id="Seite_212">[212]</span>
-und tötete vierzehn Stück. Bald fuhren wir
-weiter, und der Zug klomm den Berg hinauf. An
-einer Stelle kamen sieben wilde Elefanten über die
-Schienen, aber zwei von ihnen liefen davon, ehe
-ich sie erreichen konnte. Die Fahrt im Gebirge
-beträgt vierzig Meilen und dauert acht Stunden.
-Sie sollte eine ganze Woche in Anspruch nehmen,
-weil sie so interessant, aufregend, wild und entzückend
-ist. Die tropische Vegetation war vollständig vertreten.
-Ich glaube der Dschungel enthielt Exemplare
-jeder seltenen oder merkwürdigen Baum- und
-Buschart, von der wir jemals gehört haben. Aus
-dieser Schatzkammer der Pflanzenwelt muß der ganze
-Erdball mit allen Gewächsen versehen worden sein,
-die für uns am köstlichsten und wertvollsten sind.
-Es ist reizend, wie sich der Weg fortwährend dreht
-und windet. Er führt bald unter hohen Felsenklippen
-hin und her, die in Laubwerk und Schlingpflanzen
-förmlich begraben sind, bald am Abhang
-unergründlich tiefer Schluchten entlang. Dabei begegnet
-man fort und fort endlosen Reihen malerisch
-aussehender Eingeborener, welche Lasten den Berg
-hinauftragen oder von ihrer Arbeit in den Teegärten
-droben zurückkehren. Einmal trafen wir auch
-auf einen Hochzeitszug im bunten Flitterstaat. Die<span class="pagenum" id="Seite_213">[213]</span>
-hübsche, kindliche Braut guckte zwischen den Vorhängen
-ihres Palankins heraus und zeigte ihr Gesicht
-mit solchem Vergnügen, wie es nur junge und
-glückliche Menschen empfinden, wenn sie etwas Verbotenes
-tun.</p>
-
-<p>Wir kamen allmählich bis zu den Wolken hinauf
-und schauten von unserer luftigen Höhe hernieder
-auf ein wunderbares Bild: Von Wolkenschatten gefleckt,
-mit glänzenden Strömen durchzogen, lag die
-indische Ebene vollkommen flach, aber weich und
-anmutig in der glühenden Hitze da. Gerade unter
-uns, tiefer und immer tiefer, bis zum Tal hinab,
-schob sich ein Gewirr kahler Bergspitzen durcheinander,
-über welche sich Straßen und Pfade, gleich
-mattgelben, schmalen Bändern, in zahllosen deutlich
-erkennbaren Krümmungen und Windungen
-schlängelten.</p>
-
-<p>Als wir die Höhe von 6000 Fuß erreichten,
-umgab uns eine dichte Wolkenschicht, welche die übrige
-Welt vor unsern Blicken derart verhüllte, daß sie
-überhaupt nicht wieder zum Vorschein kam. Wir
-klommen nun noch 1000 Fuß höher, dann senkte
-sich der Weg und wir erreichten Dardschiling, das
-6000 Fuß über der Ebene liegt.</p>
-
-<p>Auf unserer Fahrt hatten wir in vielen Gebirgsdörfern<span class="pagenum" id="Seite_214">[214]</span>
-eine ganz neue Gattung Eingeborener
-zu sehen bekommen, die größtenteils dem kriegerischen
-Stamme der Ghurkas angehörten. Sie sind
-nicht groß, aber stark gebaut und voll Tatkraft,
-auch liefern sie die besten Soldaten unter den eingeborenen
-britischen Truppen. Ihre Frauen kamen
-uns scharenweise entgegen; sie kletterten den steilen
-Weg vom Tal bis zu ihrer Wohnstätte in den Bergen
-vierzig Meilen weit empor und hatten dabei
-noch schwere Körbe auf dem Rücken, zu deren besserem
-Halt sie ein Gurtband um die Stirn trugen.
-Wieviele hundert Pfund die Last wog, will ich gar
-nicht erst sagen; es würde mir doch niemand glauben.
-Es waren noch junge Frauen, die unter ihrer
-zentnerschweren Bürde so leicht einherschritten, als
-ob sie zum Tanze gingen. Man sagte mir, eine
-Frau könne ein Klavier auf dem Rücken den Berg
-hinan tragen, und das hätten schon viele getan. Wären
-es alte Frauen gewesen, so würde ich die Ghurkas
-für ebenso unzivilisiert halten wie die Europäer.</p>
-
-<p>Am Bahnhof von Dardschiling warten auf den
-Reisenden statt der Droschken eine Menge offener
-Särge, in die man steigt, um sich von Männern
-auf der Schulter die steilen Wege zur Stadt hinan
-tragen zu lassen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[215]</span></p>
-
-<p>Oben fanden wir ein ziemlich behagliches Hotel,
-dessen Besitzer die Bequemlichkeit und Sorglosigkeit
-selber war. Er überläßt die Wirtschaft dem Heer
-seiner indischen Diener und kümmert sich um nichts.
-Das heißt, nein &ndash; die Rechnung sieht er doch
-durch, und der Fremde wird wohl daran tun, seinem
-Beispiel zu folgen. Ein Bewohner des Hotels sagte
-mir, daß der Gipfel des Kinchinjunga oft von Wolken
-verhüllt wird, so daß die Fremden schon manchmal
-drei Wochen lang gewartet haben und zuletzt doch
-fortgehen mußten, ohne ihn zu Gesicht zu bekommen.
-Trotzdem waren sie nicht enttäuscht, denn als man
-ihnen die Hotelrechnung einhändigte, fanden sie diese
-so hoch, daß sie überzeugt waren, es könne überhaupt
-nichts Höheres auf dem Himalaja zu sehen
-geben. Doch das halte ich für erlogen.</p>
-
-<p>Nach meiner Vorlesung ging ich noch abends in
-das Klubhaus, wo es mir sehr gut gefiel. Wegen
-seiner hohen Lage bietet es umfassende Aussicht;
-man kann dreißig Meilen weit bis zur Grenze sehen,
-wo drei oder vier Länder zusammenstoßen, Nepal
-glaube ich und Tibet, die beiden andern weiß ich
-nicht mehr.</p>
-
-<p>Am nächsten Morgen, es war Sonntag, kamen
-Bekannte in aller Frühe mit Pferden, und unsere<span class="pagenum" id="Seite_216">[216]</span>
-Gesellschaft unternahm einen Ritt nach dem Aussichtspunkt,
-von wo sich Kinchinjunga und Mount
-Everest am vorteilhaftesten darstellen. Ich zog jedoch
-vor, zu Hause zu bleiben, denn ich fand es kalt,
-und die Pferde waren mir so wie so fremd. Mit
-ein paar wollenen Decken und meiner Pfeife saß ich
-zwei Stunden lang am Fenster und sah wie die
-Sonne die Morgennebel vertrieb, wie sie die Schneespitzen
-eine nach der andern blaßrot und goldig
-malte und zuletzt den ganzen mächtigen Gebirgsstock
-in ein Meer der herrlichsten Farben tauchte.</p>
-
-<p>Der Kinchinjunga kam zwar nur dann und wann
-zum Vorschein, doch hob er sich jedesmal mit großer
-Klarheit gegen den Himmel ab. Er ragte 28&nbsp;000
-Fuß über der Meeresfläche in das blaue Gewölbe
-hinauf, meilenweit über mir, so hoch wie ich mein
-Lebtag kein Land gesehen hatte. Mount Everest
-ist noch 1000 Fuß höher, doch gehörte er nicht zu
-dem Haufen von Bergspitzen, die sich da vor mir
-auftürmten. Daß ich ihn nicht zu sehen bekam, machte
-mir keinen Kummer; ein Berg von so übermäßiger
-Höhe würde mir unangenehm gewesen sein.</p>
-
-<p>Von den Hinterfenstern des Hauses ging ich
-dann nach der Vorderseite, wo ich den Rest des
-Morgens damit verbrachte, die dunkelfarbigen Genossen<span class="pagenum" id="Seite_217">[217]</span>
-der verschiedenen Stämme vorbeifluten zu
-sehen, die aus ihren fernen Heimstätten im Himalaja
-kamen.</p>
-
-<p>Jedes Alter und Geschlecht war vertreten und
-die Rassen waren mir ganz neu, obwohl die Tibetaner
-durch ihre Tracht an Chinesen erinnerten.
-Daß die Gebetsmühle häufig in Anwendung kam,
-brachte mir die Leute näher &ndash; ich fühlte mich ihnen
-verwandt. Auch wir lassen uns oft beim Gebet
-durch unsern Pfarrer vertreten; zwar wirbeln wir
-ihn nicht um einen Stock herum, doch ist das kein
-wesentlicher Unterschied.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Stundenlang sah ich den Strom an mir vorübereilen;
-schade, daß das seltsame, fesselnde Bild
-dort so gut wie verloren war. Hätte sich der bunte
-Schwarm durch die Städte Europas oder Amerikas
-ergossen, welches Labsal wäre es für die Menschen
-gewesen, denen das ewige Einerlei der Zirkusvorstellungen
-nicht mehr genügt. Was führte aber die
-Eingeborenen in solcher Unmenge herbei? &ndash; Sie
-hatten sich aufgemacht, um den Bazar zu besuchen,
-wo sie Waren zum Verkauf ausbieten wollten. Später
-nahmen wir diesen fremdartigen Kongreß wilder
-Völkerschaften gleichfalls in Augenschein. Wir
-drängten uns hier und da durch die Menge und<span class="pagenum" id="Seite_218">[218]</span>
-kamen zu dem Schluß, daß es schon allein um dieses
-Schauspiels willen der Mühe wert sein würde, von
-Kalkutta herzureisen, selbst wenn es keinen Kinchinjunga
-und Mount Everest auf der Welt gäbe.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap16">Sechzehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Es gibt zwei Zeiten des Lebens, in denen
-der Mensch sich hüten sollte zu spekulieren:
-wenn seine Mittel es ihm nicht erlauben,
-und wenn sie es ihm erlauben.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Am Montag und Dienstag genossen wir bei
-Sonnenaufgang eine mittelgute Aussicht auf die
-großartige Gebirgslandschaft. Inzwischen hatten wir
-uns erfrischt und abgekühlt, so daß wir uns stark
-genug fühlten, es wieder mit der Hitze der unteren
-Welt aufzunehmen.</p>
-
-<p>Wir fuhren mit dem gewöhnlichen Zug noch
-die fünf Meilen bis zum höchsten Punkt hinauf, um
-von da aus die 35 Meilen lange Rückfahrt anzutreten.
-Wir bestiegen eine kleine sechssitzige, mit Leinwand
-überspannte Draisine, welche die Größe eines Schlittens
-hatte und so niedrig war, daß sie den Boden<span class="pagenum" id="Seite_219">[219]</span>
-zu berühren schien. Eine Lokomotive oder sonstige
-Triebkraft brauchte sie auf den abschüssigen Wegen
-nicht, nur eine starke Bremse, um ihre Fahrgeschwindigkeit
-zu mäßigen, und damit war sie versehen.
-Man erzählte uns von einer Unglücksfahrt,
-die der Generalleutnant von Bengalen einmal mit
-solcher Draisine gemacht hat: Der Wagen war aus
-den Schienen gekommen und hatte die Insassen in
-den Abgrund geschleudert. Zwar ist die Geschichte
-gänzlich erfunden, doch verfehlte sie ihre Wirkung
-auf mich nicht, denn sie machte mich ängstlich. Ein
-Mensch der Angst hat ist aber nicht schlafmützig, sondern
-munter und aufgeweckt; seine Spannung bei
-einem neuen und gewagten Unternehmen wird durch
-die Furcht wesentlich erhöht. Daß ein Unfall leicht
-möglich war, lag auf der Hand: ein kleiner Stein,
-der aus Zufall auf die Schienen geriet oder in
-böswilliger Absicht dorthin gelegt wurde, genügte,
-um den Wagen an irgend einer scharfen Biegung
-zu entgleisen und nach Indien hinunter zu befördern.
-War auch der Generalleutnant der Gefahr
-entgangen, so gab mir das noch keine Bürgschaft
-dafür, daß ich ebensoviel Glück haben würde. Als
-ich dastand und von meiner luftigen Höhe hinabsah
-auf das indische Kaiserreich, das 7000 Fuß unter<span class="pagenum" id="Seite_220">[220]</span>
-mir lag, kam es mir doch recht unangenehm und
-halsbrecherisch vor, aus dem Wagen in eine solche
-Tiefe geschleudert zu werden.</p>
-
-<p>Für mich war übrigens die Gefahr nicht groß.
-Wenn uns Unglück drohte, so befiel es jedenfalls Mr.
-Pugh, den Inspektor der indischen Polizei, unter
-dessen Schutz wir von Kalkutta heraufgekommen
-waren. Er hatte lange als Artillerieoffizier gedient,
-war nicht so ängstlich wie ich, und wollte uns, mit
-einem Ghurka und einem andern Eingeborenen, als
-Lotse in einer Draisine vorausfahren. Sahen wir
-seinen Wagen in den Abgrund stürzen, so brauchten
-wir nur so rasch wie möglich zu bremsen und uns
-nach einem andern Lotsen umzutun. Das war eine
-höchst zweckmäßige Einrichtung. Auch daß Mr. Barnard,
-der erste Ingenieur des Bergbezirks, die Leitung
-unseres Wagens übernahm, diente mir zu
-großer Beruhigung, denn er hatte die Fahrt schon
-sehr oft gemacht.</p>
-
-<p>Anscheinend war alles sicher, nur <em class="gesperrt">ein</em> Punkt
-blieb unentschieden: der fahrplanmäßige Zug sollte
-unmittelbar nach unserm Wagen abgelassen werden
-und konnte uns leicht über den Haufen rennen. Ich
-war im stillen überzeugt, es würde geschehen.</p>
-
-<p>Vor uns fiel die Straße steil ab und wand sich<span class="pagenum" id="Seite_221">[221]</span>
-dann wie ein Korkzieher, um Klippen und an Abgründen
-entlang, tiefer und immer tiefer hinunter.
-Eine steile Rutschbahn, die in endlosen Krümmungen
-abwärts führt, hätte nicht ungemütlicher aussehen
-können.</p>
-
-<p>Jetzt ließ Mr. Pugh seine Flagge wehen und
-flog davon, wie der Pfeil vom Bogen, und ehe
-ich noch Zeit hatte, aus dem Wagen zu springen,
-fuhren wir ihm nach. Mich durchrieselte ein Schauer,
-wie ich ihn ähnlich nur bei meiner allerersten Schlittenfahrt
-von einem steilen Berggipfel empfunden
-habe. Der Atem verging mir, aber doch war es
-ein Gefühl himmlischer Lust, eine plötzliche ungeheuere
-Aufregung, eine Mischung von Todesangst
-und unaussprechlichem Entzücken, die für uns Menschen,
-glaube ich, die höchste Wonne auf Erden ist.</p>
-
-<p>Wie eine Schwalbe im Flug über den Boden
-schießt, so glitt der Lotsenwagen den Berg hinunter;
-leicht, rasch und anmutig schwebte er auf den geraden
-Strecken dahin und überwand spielend alle
-Biegungen und Krümmungen. Wir jagten ihm nach
-und flogen mit Blitzesschnelle an Vorgebirgen und
-Klippen vorbei; zuweilen hatten wir ihn fast eingeholt
-&ndash; wir hofften schon, es würde uns gelingen.
-Aber der Lotse trieb nur seinen Scherz mit uns;<span class="pagenum" id="Seite_222">[222]</span>
-kaum kamen wir ihm in die Nähe, so ließ er die
-Bremse los, der Wagen tat einen Satz um die Ecke,
-und wenn wir ihn ein paar Sekunden später wieder
-zu Gesicht bekamen, sah er nicht größer als ein
-Schubkarren aus, so weit war er entfernt. Auch
-wir machten uns einen ähnlichen Spaß mit dem
-Eisenbahnzug. Oft stiegen wir aus, um Blumen
-zu pflücken oder am Abgrund sitzend die Aussicht zu
-bewundern; dann hörten wir plötzlich ein dumpfes
-Brüllen, das immer lauter wurde, und sahen den
-Zug hinter und über uns in Schlangenwindungen
-heranstürmen. Wir brauchten jedoch erst abzufahren,
-wenn die Lokomotive dicht bei uns war &ndash; im Nu
-blieb sie weit dahinten. Sie mußte bei jeder Station
-Halt machen, und das gab uns immer wieder
-einen Vorsprung. Unsere Bremsvorrichtung war
-so ausgezeichnet, daß wir den Wagen auf dem
-steilsten Abhang augenblicklich zum Stillstand
-bringen konnten.</p>
-
-<p>Das wunderschöne Landschaftsbild bot die großartigste
-Abwechslung, und wir hatten alle Muße
-es zu betrachten, ohne daß uns der Zug dabei hinderlich
-war. Brauchte er die Straße für sich, so bogen
-wir rasch in ein anderes Geleise, ließen ihn vorbeifahren,
-holten ihn dann später ein und stachen ihn<span class="pagenum" id="Seite_223">[223]</span>
-unsererseits wieder aus. Einmal hielten wir an,
-um den Gladstone-Felsen zu betrachten, auf dem
-die Natur im Laufe der Jahrtausende ein sprechend
-ähnliches Bildnis des ehrwürdigen englischen Staatsmannes
-gemeißelt hat, das als Huldigung für ihn
-gerade rechtzeitig fertig geworden ist.</p>
-
-<p>Wir sahen auch einen Banianen- oder Götzenbaum,
-welcher von seinen sechzig Fuß hohen Zweigen
-herab, säulenförmige Stützen zur Erde sandte; ganz
-wie der große, spinnebeinige Banianenbaum mit
-seiner Wildnis von Pflanzensäulen, den wir im botanischen
-Garten zu Kalkutta bewundert hatten. Auch
-ganz laublose Bäume fielen uns auf, deren zahllose
-Aeste und Zweige von einer Unmenge feurig
-leuchtender Schmetterlinge bedeckt schienen. Es waren
-aber in Wirklichkeit Blüten, welche scharlachroten
-Schmetterlingen täuschend ähnlich sahen.</p>
-
-<p>Als wir einige Meilen bergab gefahren waren,
-machten wir Halt, um eine tibetanische Theatervorstellung
-mit anzusehen, welche am Bergabhang
-unter freiem Himmel stattfand. Die Zuhörerschaft
-bestand aus Ghurkas, Tibetanern und andern absonderlichen
-Leuten. Ebenso fremdartig wie das
-Stück selbst, waren auch die Kostüme der Darsteller.
-Sie traten einer nach dem andern vor und begannen<span class="pagenum" id="Seite_224">[224]</span>
-sich mit ungeheuerer Kraft und Schnelligkeit
-im Kreise zu drehen, was von den übrigen mit furchtbarem
-Lärm und Getöse begleitet wurde. Zuletzt
-wirbelte die ganze Truppe wie der Wind tanzend
-und singend umher und wühlte den Staub auf. Es
-war ein altes, berühmtes, geschichtliches Schauspiel,
-das die Leute aufführten; ein Chinese erklärte es
-mir auf Pidgin-Englisch, während es vor sich ging.
-Das Stück war schon ohne die Erklärung unverständlich
-genug, aber durch diese wurde sein Sinn erst
-recht dunkel. Als Drama mochte das alte, historische
-Kunstwerk wohl seine Mängel haben, aber betrachtete
-man es als wilde, barbarische Darstellung,
-so spottete es jeder Kritik.</p>
-
-<p>Weiter abwärts stiegen wir wieder aus, um
-zu beobachten, welche merkwürdige Schleife die Bahn
-hier macht. Als der Zug in die Kurve einbog,
-sahen wir die Lokomotive unter der Brücke verschwinden
-auf der wir standen, gleich darauf kam
-sie wieder zum Vorschein und jagte ihrem eigenen
-Schwanze nach; sie erreichte ihn, überholte ihn, lief
-an den letzten Wagen vorbei und begann nun ein
-Wettrennen mit dem hintern Ende des Zuges. Es
-kam mir vor wie eine Schlange, die sich selber
-auffrißt.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_225">[225]</span></p>
-
-<p>Auf halber Höhe des Berges hielten wir eine
-Stunde Rast in Mr. Barnards Hause und nahmen
-Erfrischungen ein. Während wir auf der Veranda
-saßen und durch eine Lichtung des Waldes nach dem
-fernen Gebirgspanorama hinüberblickten, hätten wir
-fast gesehen, wie ein Leopard ein Kalb zerriß, (er
-hatte es tags zuvor getan). Es ist eine wilde, reizende
-Gegend. Ringsum in den Wäldern ertönte
-Vogelgesang, auch ein paar Vögel, die mir damals
-noch unbekannt waren, ließen ihr Lied erschallen:
-der Gehirnteufel und der Kupferschmied. Der Gehirnteufel
-fängt leise an zu singen, aber sein Ton
-wird beständig lauter und lauter, er steigt in spiralförmigen
-Windungen in die Höhe, immer schärfer,
-immer schneidender, quälender, schmerzhafter, unleidlicher,
-aufdringlicher, unerträglicher; zum Wahnsinn
-treibend, bohrt er sich tiefer und tiefer in des
-Hörers Kopf, bis zuletzt bei ihm eine Gehirnentzündung
-eintritt, die den Tod zur Folge hat. Ich
-bringe einige dieser Vögel mit nach Amerika, wo sie
-ohne Zweifel großes Aufsehen erregen werden; man
-glaubt, daß sie sich in unserm Klima so rasch vermehren
-lassen, wie die Kaninchen.</p>
-
-<p>Der Gesang des Kupferschmieds klingt in gewisser
-Entfernung wie Hammerschläge auf Granitgestein;<span class="pagenum" id="Seite_226">[226]</span>
-geht man weiter, so nimmt das Hämmern
-einen metallischen Klang an, man meint, der Vogel
-bessere einen Kupferkessel aus. In noch größerer
-Entfernung klingt es zwar auch laut und kräftig,
-aber ganz als würden Fässer verspundet; merkwürdigerweise
-tönt das Klopfen in nächster Nähe sanft
-und melodisch, doch hört es gar nicht auf und wird
-zuletzt so einförmig, daß man aus der Haut fahren
-möchte; man fühlt sich unsäglich elend, der Kopf
-schmerzt einem zum Zerspringen und man verliert
-den Verstand. Auch diesen Vogel nehme ich mit
-und will ihn bei uns einbürgern.</p>
-
-<p>Neu gestärkt stiegen wir wieder in die Draisine
-und fuhren weiter den Berg hinunter; bald flogen
-wir, bald machten wir Halt, bis wir die Ebene erreichten
-und in den gewöhnlichen Personenzug nach
-Kalkutta einstiegen. Das war der genußreichste Tag,
-den ich auf Erden verlebt habe. Es gibt kein himmlischeres,
-aufregenderes, entzückenderes Vergnügen,
-als eine Fahrt in der Draisine vom Himalaja hinunter.
-Nichts, gar nichts läßt der wonnevolle Ausflug
-zu wünschen übrig, außer daß er statt fünfunddreißig
-Meilen mindestens fünfhundert Meilen
-lang sein möchte.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_227">[227]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap17">Siebzehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Gib deine Illusionen nicht auf. Hast du
-sie verloren, so magst du zwar noch dein
-Dasein fristen, aber <em class="gesperrt">leben</em> im eigentlichen
-Sinne kannst du nicht mehr.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">So weit ich es beurteilen kann, hat sich der
-Mensch mit der Natur um die Wette bemüht, Indien
-zu dem merkwürdigsten Lande zu machen, welches
-die Sonne bescheint. Unter all seinen Wundern
-habe ich bis jetzt eines noch unerwähnt gelassen,
-nämlich den großen Reichtum an blutgierigen Raubtieren,
-den es besitzt.</p>
-
-<p>Seit vielen Jahren ist die britische Regierung
-unausgesetzt bemüht gewesen, die gefährlichen wilden
-Tiere in Indien auszurotten. Sie hat es sich große
-Summen Geldes kosten lassen, doch kann man aus
-den jährlich von ihr veröffentlichten Listen ersehen,
-wie schwierig das Unternehmen ist.</p>
-
-<p>Diese amtlichen Berichte weisen eine ganz ähnliche
-Gleichförmigkeit auf, wie die statistischen Angaben
-über die Todesfälle und Todesarten in den
-Hauptstädten der Welt. Man braucht sich nur mit<span class="pagenum" id="Seite_228">[228]</span>
-der betreffenden Statistik der letzten Jahre vertraut
-zu machen, um fast genau vorhersagen zu können,
-wie viele Menschen in London, Paris oder New York
-nächstes Jahr durch Selbstmord enden oder an der
-Schwindsucht, dem Krebs, der Tollwut sterben, wie
-viele aus dem Fenster fallen oder von Droschken
-überfahren werden. So läßt sich auch im indischen
-Reich mit Sicherheit aus den Verzeichnissen
-früherer Jahre schließen, wie viele Leute durch Bären,
-Wölfe oder Tiger im laufenden Jahre umkommen
-oder wie viele dieser Bestien von der Regierung
-erlegt werden. Ja man kann diese Zahlen mit
-ziemlicher Genauigkeit auf fünf Jahre im voraus
-berechnen.</p>
-
-<p>Mir liegt ein statistisches Verzeichnis aus sechs
-aufeinander folgenden Jahren vor, aus dem sich
-ergibt, daß der Tiger in Indien alljährlich 800
-und einige Personen tötet und die Regierung doppelt
-so viele Tiger. In sechs Jahren hat der Tiger
-5000 Menschen weniger 50 umgebracht und die Regierung
-10&nbsp;000 Tiger weniger 400.</p>
-
-<p>Der Wolf tötet etwa 700 Personen im Jahr,
-und 5000 von seinem Stamme fallen dafür zum
-Opfer; der Leopard bringt durchschnittlich 230 Leute
-um, verliert aber 3300 Anverwandte, und dem<span class="pagenum" id="Seite_229">[229]</span>
-Bären kosten die 100 Personen, die er im Jahre
-tötet, 1250 seiner eigenen Familie.</p>
-
-<p>Den gewaltigsten Kampf mit dem Menschen
-besteht jedoch der Elefant, der König des Dschungels;
-er verliert jährlich vier von seiner Genossenschaft,
-rächt sich aber durch den Tod von 45 Personen.
-Tiere bringt der Elefant nur wenige um, vielleicht
-100 in sechs Jahren, meist die Pferde der Jäger;
-in demselben Zeitraum tötet der Tiger mehr als
-84&nbsp;000 Stück Vieh, der Leopard 100&nbsp;000, der Bär
-4000, der Wolf 70&nbsp;000, die Hyäne mehr als 13&nbsp;000,
-andere Raubtiere 27&nbsp;000 und die Schlangen 19&nbsp;000,
-was die großartige Gesamtsumme von 300&nbsp;000 oder
-durchschnittlich 50&nbsp;000 Stück im Jahr ausmacht. &ndash;
-Die Regierung vertilgt während der nämlichen Zeit
-3&nbsp;201&nbsp;234 Raubtiere und Schlangen. Zehn für eins.</p>
-
-<p>Die Schlangen töten viel lieber Menschen als
-Tiere, und es wimmelt in Indien von gefährlichen
-Giftschlangen. Die schlimmste, die es überhaupt
-gibt, ist die Kobra; gegen sie erscheint die Klapperschlange
-als das harmloseste Geschöpf von der Welt.
-Bei meinen statistischen Ermittelungen bin ich zu dem
-Ergebnis gelangt, daß die Raubtiere in sechs Jahren
-20&nbsp;000 Personen töteten und die Schlangen 103&nbsp;000.
-In demselben Zeitraum vertilgt die Regierung<span class="pagenum" id="Seite_230">[230]</span>
-1&nbsp;073&nbsp;546 Schlangen. Es bleiben noch immer genug
-übrig.</p>
-
-<p>In Indien schwebt man beständig in Todesgefahr
-und kommt oft nur knapp mit dem Leben
-davon. In jenem Dschungel, wo ich so viele Elefanten
-und sechzehn Tiger erlegt habe, wurde ich
-von einer Kobra gebissen; die Wunde heilte jedoch
-wieder, was alle Welt in Erstaunen setzte. So etwas
-kommt in zehn Jahren höchstens einmal vor. Im
-gewöhnlichen Lauf der Dinge wäre schon nach einer
-Viertelstunde der Tod eingetreten.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Von Kalkutta aus verfolgten wir bei unserer
-Fahrt durch Indien eine Art Zickzackweg in nordwestlicher
-Richtung. Wir fuhren durch lange
-Strecken, die wie ein einziger Garten aussahen: viele
-Meilen weit war alles mit den schönen Blumen
-bedeckt, aus deren Saft das Opium bereitet wird,
-und bei Muzaffurpore gerieten wir mitten in die
-Indigokultur. Eine Zweigbahn sollte uns in der
-Nähe von Dinapore an den Ganges bringen, doch
-sie hielt an jedem Dorfe an, ohne daß jemand einstieg
-oder Fracht verladen wurde; überall schwatzten
-die Eingeborenen wer weiß wie lange mit ihren
-Freunden, die Zeit verstrich, und wir machten uns<span class="pagenum" id="Seite_231">[231]</span>
-schon darauf gefaßt, statt sechs Stunden, eine Woche
-unterwegs zu bleiben. Da beschlossen die englischen
-Offiziere, diese Schneckenbahn in einen Schnellzug
-umzuwandeln. Sie gaben dem Lokomotivführer eine
-Rupie, und das Mittel half. Es ging nun wie der
-Wind; der Zug machte neunzig Meilen in der
-Stunde. Im Morgengrauen fuhren wir über den
-Ganges und erreichten noch glücklich unsern Anschluß.
-Bald waren wir wieder in Benares, und
-nach einem vierundzwanzigstündigen Aufenthalt an
-diesem merkwürdigen Hauptsitz der Frömmigkeit, setzten
-wir unsere Reise nach Lucknow fort, wo die Engländer
-während des indischen Aufstands im Jahre
-1857 die großartigsten Beweise von Mut und Standhaftigkeit
-gegeben haben, welche die britische Geschichte
-jemals zu verzeichnen hatte.</p>
-
-<p>Die Hitze war unbeschreiblich, alles Gras auf
-der weiten Ebene versengt und verdorrt von der
-glühenden Sonne, der Boden mit gelblichem Staub
-bedeckt, der in Wolken durch die Luft wirbelte. Aber
-zu jener Schreckenszeit, als die Entsatztruppen nach
-dem belagerten Lucknow marschierten, herrschte noch
-eine ganz andere Temperatur &ndash; 138 Grad Fahrenheit
-im Schatten.</p>
-
-<p>Es scheint jetzt eine ausgemachte Sache zu sein,<span class="pagenum" id="Seite_232">[232]</span>
-daß eine der Hauptursachen des Aufstandes die Besitzergreifung
-des Königreichs Oudh durch die Ostindische
-Kompagnie war, eine Tat, welche Sir Henry
-Lawrence »die größte Ungerechtigkeit« nennt, »die
-je verübt worden ist«. &ndash; Schon im Frühling 1857
-machte sich ein aufrührerischer Geist in vielen eingeborenen
-Regimentern bemerkbar, der mit jedem
-Tag weiter um sich griff. Die jüngeren Offiziere
-nahmen die Sache sehr ernst; sie hätten den Ungehorsam
-gern sofort im Keime erstickt, doch fehlte
-ihnen die nötige Machtbefugnis. Die höheren Militärs
-waren meist bejahrte Männer, die längst nicht
-mehr hätten im aktiven Dienst sein sollen. Sie
-legten den etwaigen mißlichen Vorkommnissen wenig
-Wert bei, da sie große Stücke auf die eingeborenen
-Truppen hielten und nicht glaubten, daß diese sich
-durch irgend welche Umstände zur Empörung treiben
-lassen würden. Lächelnd hörten die Greise das unterirdische
-Grollen des Vulkans, auf dem sie standen
-und meinten, es habe nichts zu bedeuten.</p>
-
-<p>So hatten denn die Anstifter des Aufstandes
-völlig freie Hand. Ungehindert zogen sie von einem
-Lager zum andern, schilderten den eingeborenen Soldaten,
-wie ungerecht die Bedrückung des Volks durch
-die Engländer sei und fachten unversöhnlichen Groll<span class="pagenum" id="Seite_233">[233]</span>
-und Rachedurst in allen Herzen an. Sie wurden
-überdies in ihrem Vorhaben durch zweierlei sehr
-wesentlich unterstützt: Zu Clives Zeiten waren die
-eingeborenen Truppen nur ungeordnete, schlecht bewaffnete
-Haufen gewesen, gegen welche die gutgeschulten
-englischen Soldaten, trotz ihrer Minderzahl,
-leichtes Spiel gehabt hatten. Jetzt bestand
-fast die ganze britische Kriegsmacht aus eingeborenen
-Regimentern, die wohlgeübt, trefflich bewehrt und
-von den Briten selbst in der Kriegführung unterrichtet
-waren; sie hatten alle Macht in Händen, denn
-die wenigen englischen Bataillone, über welche Indien
-verfügte, waren im ganzen Lande zerstreut.
-Noch größeren Einfluß auf die unzufriedenen Gemüter
-übte aber eine alte Prophezeiung, welche besagte,
-daß genau hundert Jahre nach der Schlacht,
-durch welche Clive das Reich gegründet hatte, die
-Macht der Briten in Indien von den Eingeborenen
-zerstört und ihrer Herrschaft ein Ende gemacht würde.
-Die eingeborenen Truppen hatten im allgemeinen
-eine heilsame Furcht vor den englischen Soldaten
-und würden vielleicht allen Ueberredungskünsten der
-Aufwiegler widerstanden haben, aber einer Prophezeiung
-vermag kein Inder sein Ohr zu verschließen.</p>
-
-<p>Der indische Aufstand brach am 10. Mai 1857<span class="pagenum" id="Seite_234">[234]</span>
-zu Mirat aus und hatte eine lange Reihe von Greueltaten
-im Gefolge. Nana Sahibs Niedermetzelung der
-wehrlosen Besatzung nach der Uebergabe von Cawnpore
-fand im Juni statt, und dann begann die lange
-Belagerung von Lucknow. England hat eine alte,
-ruhmvolle Kriegsgeschichte hinter sich, aber in keinem
-Abschnitt derselben erscheint es uns größer, als bei
-der Unterwerfung des Aufstandes. Die Briten wurden
-sozusagen im Schlafe überfallen; sie waren unvorbereitet
-und zählten nur wenige Tausend in einem
-Meer von feindlichen Völkerschaften. Monate mußten
-vergehen, bis die Nachricht England erreichte und
-Hilfe kam. Aber die tapfern Offiziere verloren keinen
-Augenblick durch Zaudern und Schwanken. Mit
-heldenhafter Entschlossenheit und Hingebung leisteten
-sie Widerstand gegen die erdrückende Uebermacht und
-führten den scheinbar völlig aussichtslosen Kampf
-zum glänzenden Siege.</p>
-
-<p>Ich habe alle denkwürdigen Orte besucht, welche
-damals Zeugen der entsetzlichsten Schreckensszenen
-und des größten Heldenmutes gewesen sind; auch
-das kostbare Denkmal über dem Brunnen in Cawnpore
-habe ich gesehen, in welchen Nana Sahib die
-verstümmelten Leichen der hingemordeten Frauen
-und Kinder werfen ließ. Das Andenken an die<span class="pagenum" id="Seite_235">[235]</span>
-furchtbaren Leiden und Großtaten jener Zeit wird
-von den Nachkommen heilig gehalten und in treuer
-Erinnerung bewahrt.</p>
-
-<p>In Agra und später in Dehli sahen wir viele
-Forts, Moscheen und Grabmäler aus der Glanzzeit
-der mohammedanischen Kaiserherrschaft, welche an
-Größe, Pracht und Reichtum alles übertrafen, was
-die übrige Welt in dieser Beziehung zu bieten vermag.
-Die Kostbarkeit des Baumaterials und der Ausschmückung
-machen sie zu Wunderwerken ersten Ranges.
-Zum Glück hatte ich noch nicht viel darüber
-gelesen und folglich auch meine Phantasie nicht übermäßig
-erhitzt; ich konnte einen natürlichen und vernünftigen
-Maßstab anlegen und mich durch den herrlichen
-Anblick innerlich ergreifen, beglücken und
-erheben lassen, ohne Trauer und Enttäuschung
-zu empfinden.</p>
-
-<p>Ich will ihre Pracht und Schönheit nicht eingehend
-beschreiben; nur von einem dieser weltbekannten
-Bauwerke, dem berühmtesten von allen, dem
-Tadsch Mahal bei Agra möchte ich noch ein Wort
-sagen. Ich hatte mich im voraus viel zu viel mit
-den verschiedenen literarischen Ergüssen über den
-Tadsch beschäftigt. Jetzt sah ich ihn bei Tage und sah
-ihn im Mondlicht, von nah und von ferne; ich<span class="pagenum" id="Seite_236">[236]</span>
-wußte, daß er ein Weltwunder war und seinesgleichen
-weder auf Erden hatte noch jemals haben
-würde &ndash; aber <em class="gesperrt">mein</em> Tadsch war es nicht. Meinen
-Tadsch hatte ich mir nach den Phantasiegebilden
-einer Schar leicht erregbarer Literaten erbaut, und er
-hatte sich so fest in meinem Kopfe eingenistet, daß
-er durch nichts wieder herauszubringen war.</p>
-
-<p>Wie hatten mir diese Schriftsteller aber den
-Tadsch geschildert? &ndash; Ich will nur einige Auszüge
-wiedergeben: »Die innere Ausschmückung,«
-heißt es, »besteht aus kostbaren Steinen, Achat, Jaspis
-und dergleichen, mit denen jede vorspringende
-Stelle geschmückt ist &ndash; in dekorativer Beziehung
-steht der Tadsch einzig in der Welt da &ndash; er bildet
-die Grenze, wo die Baukunst aufhört und die Juwelierarbeit
-beginnt &ndash; der Tadsch besteht ganz aus
-Marmor und Edelsteinen &ndash; er ist mit reicher Mosaikarbeit
-aus Juwelen verziert, welche köstliche
-Blumenmuster bildet &ndash; der Tadsch ist ein Kunstwerk
-von vollendeter Schönheit &ndash; ein Mausoleum von
-ungeheuerer Größe &ndash; ein Marmor-Wunder mit
-Blumen aus Edelgestein u.&nbsp;s.&nbsp;w.&nbsp;&ndash;«</p>
-
-<p>Das ist alles wahr und richtig. Auch wissen
-die Schriftsteller selbst recht gut, wie es gemeint ist,
-denn sie kennen den Wert ihrer Worte. Der Leser<span class="pagenum" id="Seite_237">[237]</span>
-aber faßt diese ganz anders auf. Er nimmt seine
-Einbildungskraft zu Hilfe, und ehe er sich’s versieht,
-erhebt sich vor seinen Blicken ein über und
-über mit Juwelen bedeckter Tadsch, so hoch wie das
-Matterhorn.</p>
-
-<p>Es ist mit solchen Beschreibungen ein eigenes
-Ding; sie stimmen zwar mit der Wahrheit überein,
-aber doch dienen die Worte meist nur dazu, die
-Tatsachen zu verdunkeln.</p>
-
-<p>Als ich den Niagarafall zum erstenmal sah,
-schaute ich gen Himmel, denn ich erwartete einen mindestens
-sechzig Meilen breiten und sechs Meilen hohen
-Wassersturz zu erblicken &ndash; ein Atlantischer Ozean
-sollte sich meiner Meinung nach von einem Gipfel
-so hoch wie der Himalaja ergießen. Als ich statt
-dessen die kleine nasse Schürze gewahrte, die man
-zum Trocknen aufgehängt hatte, überwältigte mich
-die spielzeugartige Wirklichkeit dergestalt, daß ich
-auf der Stelle in Ohnmacht fiel.</p>
-
-<p>Niemals hätte ich weder dem Niagara noch dem
-Tadsch Mahal in die Nähe kommen sollen! Wäre
-ich meilenweit fortgeblieben, so würde ich mir meinen
-eigenen mächtigen Niagara, der vom Himmelsgewölbe
-herabstürzt, unversehrt erhalten haben, und
-mein Tadsch würde sich noch jetzt aus farbigen Nebelgebilden<span class="pagenum" id="Seite_238">[238]</span>
-auf Regenbogen von Edelsteinen erbauen,
-die auf Säulenhallen aus Mondschein ruhen.
-Wer seiner Phantasie nicht Zaum und Zügel anlegen
-kann, sollte niemals ausziehen, um eins der
-berühmten Weltwunder mit Augen zu sehen. Seine
-Vorstellung davon wird immer mindestens vierzigmal
-besser und schöner sein als die Wirklichkeit.</p>
-
-<p>Vor vielen vielen Jahren habe ich mir in den
-Kopf gesetzt, daß der Tadsch unter den Kunstschöpfungen
-des Menschen, was Anmut, Schönheit, Glanz
-und Pracht betrifft, genau denselben Platz einnimmt,
-auf den unter den Schaustellungen der Natur der
-Rauhreif ein Anrecht hat. Ich habe den Tadsch
-niemals mit irgend einem Tempel oder Palast verglichen,
-welchen Menschenhand erbaut hat, er war
-für mich nichts mehr und nichts weniger als die
-architektonische Verkörperung des Rauhreifs.</p>
-
-<p>Hier in London sprach ich neulich einmal voll
-Begeisterung mit meinen englischen Freunden vom
-amerikanischen Rauhreif; aber sonderbarerweise hatten
-sie nie etwas davon gehört und verstanden mich
-nicht. Ein Herr sagte, er habe den Rauhreif noch in
-keinem Buch erwähnt gefunden. Das ist sehr sonderbar,
-aber ich erinnere mich auch nicht, je etwas darüber
-gelesen zu haben, während sich doch andere<span class="pagenum" id="Seite_239">[239]</span>
-Naturerscheinungen &ndash; zum Beispiel die Färbung
-des amerikanischen Herbstlaubs &ndash; der allgemeinsten
-Aufmerksamkeit erfreuen.</p>
-
-<p>Und doch erregt der Rauhreif jedesmal bei uns
-das größte Aufsehen. Wenn er kommt, fliegt die
-Kunde durch das ganze Haus von Zimmer zu Zimmer,
-und selbst der trägste Schläfer springt aus
-dem Bette, um ans Fenster zu eilen. Meist tritt
-er mitten im Winter ein und treibt sein Zauberwesen
-bei nächtlicher Stille und Dunkelheit. Ein
-feiner Sprühregen fällt viele Stunden lang auf die
-kahlen Zweige und Aeste der Bäume und gefriert
-daran fest. Bald ist der Stamm und das ganze
-Geäst, ja selbst das kleinste Zweiglein mit einer Kruste
-von klarem Eis überzogen, der Baum sieht aus wie
-ein Skelett aus kristallhellem Glas. Ueberall hängen
-Fransen von kleinen Eiszapfen herab, manchmal
-auch nur runde Perlen, gleich gefrorenen
-Tränen.</p>
-
-<p>In der Morgendämmerung hellt sich das Wetter
-auf, die Luft ist frisch und rein, der Himmel wolkenlos,
-es herrscht tiefe Stille, kein Windhauch erhebt
-sich. Schnell ist die Nachricht verbreitet; Große und
-Kleine kommen in Decken und Tücher gehüllt an das
-Fenster gestürzt, wo sie dicht aneinander gedrängt<span class="pagenum" id="Seite_240">[240]</span>
-regungslos verharren und schweigend die feenhafte
-Erscheinung in den Anlagen betrachten. Alle wissen,
-was jetzt kommen wird und warten auf das Wunder.
-Man vernimmt keinen Laut, außer dem Ticken der
-Wanduhr, und eine Minute nach der andern verrinnt.
-Da schießt plötzlich die Sonne feurige Strahlen auf
-jeden der Geisterbäume und verwandelt ihn in lauter
-glitzernde funkelnde Diamanten. Die Zuschauer halten
-den Atem an, die Augen werden ihnen feucht,
-doch ihre Spannung läßt nicht nach &ndash; es kommt
-noch mehr. Die Sonne steigt höher, sie überflutet
-den Baum vom höchsten Gipfel bis zum niedrigsten
-Ast mit einem weißen Strahlengewand, und dann
-geschieht urplötzlich ohne jede Vorbereitung das Wunder
-aller Wunder, das seinesgleichen nicht auf
-Erden hat: ein Windstoß bewegt auf einmal die Aeste
-und der ganze weiße Baum zerstäubt und sprüht
-nach rechts und links und überallhin funkelnde Edelsteine
-von allen nur denkbaren Farben. Wie er sich
-rüttelt und schüttelt wirbeln blitzende Rubinen, Smaragde,
-Diamanten und Saphire durch die Luft.
-Es ist das glänzendste, köstlichste, blendendste, feenhafteste
-Schauspiel, das man auf Erden haben kann
-&ndash; eine Erscheinung von so göttlicher, berauschender
-Schönheit und so unaussprechlichem, überirdischem<span class="pagenum" id="Seite_241">[241]</span>
-Glanz, wie man sie außerhalb der Himmelstore
-schwerlich wieder zu sehen bekommt.</p>
-
-<p>Warum hat denn kein Maler je versucht, den
-Rauhreif auf die Leinwand zu zaubern? &ndash; Farben
-und Pinsel müssen wohl außer stande sein, die Herrlichkeit
-dieser sonnendurchglühten Juwelen naturgetreu
-wiederzugeben. Eine größere Strahlenpracht
-findet man nirgends im Reiche der Schöpfung; unter
-den Menschenwerken aber läßt sich, nach meinem
-Gefühl, nur der Tadsch Mahal mit der Schönheit
-des Rauhreifs vergleichen.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap18">Achtzehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Nimm dir vor, an jedem Tage etwas zu
-tun, wozu du keine Lust hast. Dann wird
-dir die Erfüllung deiner Pflichten bald keine
-Last mehr sein.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Wir wanderten nun zufriedenen Sinnes weiter
-durch das indische Land. In Lahore lieh mir
-der Vizestatthalter einen Elefanten. Eine so großartige
-Aufmerksamkeit hatte mir noch niemand erwiesen,
-und da es ein schönes, wohlerzogenes, leutseliges<span class="pagenum" id="Seite_242">[242]</span>
-Tier war, fürchtete ich mich auch nicht vor
-ihm. Ich ritt sogar ganz zuversichtlich durch die
-engen Gassen im Stadtteil der Eingeborenen, wo
-alle Pferde beim Anblick meines Elefanten vor
-Schrecken scheu wurden, und die Kinder ihm fortwährend
-vor die Füße kamen. Er schritt mit mir
-majestätisch mitten auf der Straße einher und zwang
-alle Welt ihm auszuweichen oder sich die Folgen
-selbst zuzuschreiben. Ich glaube, mit der Zeit würde
-ich einen Ritt auf dem Elefanten jeder Beförderungsart
-vorziehen. Wer auf seinem Rücken thront, dem
-braucht vor keinem Zusammenstoß zu bangen, wie
-gewöhnlich beim Reiten oder Fahren. Auf dem
-hohen Platz genießt man das Bewußtsein großer
-Würde und eine wunderschöne Aussicht ins Weite;
-man kann aber auch allen Leuten in die Fenster
-sehen und wissen, was sie in ihren Familien treiben.</p>
-
-<p>Wir fuhren bis nach Rawal Pindi an der afghanischen
-Grenze und dann wieder zurück nach Dehli,
-um die alten wundervollen Bauwerke in Augenschein
-zu nehmen, ohne sie zu beschreiben. Wir
-suchten auch den Schauplatz des tollkühnen Angriffs
-auf, durch den die Briten beim indischen Aufstand
-Dehli mit Sturm nahmen und sich unsterblichen
-Ruhm erwarben. In dem Hause, wo damals das<span class="pagenum" id="Seite_243">[243]</span>
-Hauptquartier des englischen Generals war, fanden
-wir gastliche Aufnahme und konnten uns von allen
-Reiseanstrengungen ausruhen. Die Besitzung gehörte
-jetzt einem Engländer, der so gänzlich zum
-Orientalen geworden war, daß er sogar einen Harem
-hatte. Ein weitherziger Mann, wie es wenige gibt:
-für seinen Harem hat er eine Moschee gebaut und
-für sich eine englische Kirche. Sein historisch interessantes
-Wohnhaus steht in einem großen Garten
-und ist von stattlichen Bäumen umgeben, in denen
-Affen hausen. Die Affen sind unverschämt und unternehmungslustig,
-sie kennen keine Furcht, überfallen
-das Haus bei jeder Gelegenheit und schleppen alles
-fort, was ihnen in die Hände fällt &ndash; lauter Dinge,
-die sie nicht brauchen können. Eines Morgens, als
-der Hausherr sein Bad nahm, war das Fenster offen
-geblieben, und auf dem Sims stand ein Topf mit
-gelber Farbe, in welchem der Pinsel steckte. Ein
-paar Affen zeigten sich am Fenster, und um sie zu
-verscheuchen warf der Herr seinen Schwamm nach
-ihnen. Statt zu erschrecken kamen sie ins Zimmer
-gesprungen, bespritzten ihn über und über mit dem
-Farbenpinsel und jagten ihn hinaus. Darauf strichen
-sie die Wände, den Fußboden, den Wasserbehälter, die
-Fenster und Möbel gelb an; sie wollten eben auch<span class="pagenum" id="Seite_244">[244]</span>
-noch das Ankleidezimmer auf gleiche Weise malen,
-als die Diener herbeikamen und sie vertrieben.</p>
-
-<p>Zwei dieser ungezogenen Gesellen stahlen sich
-morgens früh in mein Zimmer durch ein Fenster,
-dessen Läden ich nicht geschlossen hatte. Als ich
-aufwachte, sah ich den einen vor dem Spiegel stehen
-und sein Haar bürsten, während der andere sich
-meines Taschenbuchs bemächtigt hatte, die humoristischen
-Notizen las &ndash; und weinte. Der Affe mit
-der Haarbürste kümmerte mich nicht, aber das Benehmen
-des andern kränkte mich tief; es kränkt
-mich heute noch. Ich warf meinen Schuh nach ihm
-&ndash; das hätte ich nicht tun sollen, denn unser Wirt
-hatte mir gesagt, man dürfe sich nie mit den Affen
-einlassen. Aus Rache bombardierten sie mich nun
-mit allen Sachen, die sie aufheben konnten, dann
-wollten sie noch mehr aus dem Badezimmer holen,
-aber ich warf rasch die Tür hinter ihnen ins Schloß.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Zu Jeypore in Rajputana machten wir einen
-längeren Aufenthalt. Wir wohnten dort in der kleinen
-Vorstadt der europäischen Beamten, welche einige
-Meilen von der Hindustadt entfernt liegt. Es waren
-überhaupt nur vierzehn Europäer da und wir fühlten
-uns ganz wie zu Hause.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[245]</span></p>
-
-<p>Der indische Diener ist in mancher Beziehung
-ein wahrer Schatz, nur muß man ihn beaufsichtigen,
-und das tun die Engländer. Wenn sie ihn
-ausschicken um eine Besorgung zu machen, genügt
-ihnen nicht, daß der Mann sagt, er hätte den Auftrag
-erfüllt. Schickte man uns Obst oder Gemüse, so
-kam immer eine Quittung mit, die wir unterzeichnen
-mußten, sonst hätten die Eßwaren vielleicht
-nicht den Ort ihrer Bestimmung erreicht. Stellte uns
-ein Herr seinen Wagen zur Verfügung, so stand auf
-dem Papier von dann und dann, bis dann und dann
-&ndash; so daß der Kutscher und seine zwei oder drei
-Untergebenen uns nicht mit einem Teil der festgesetzten
-Zeit abspeisen konnten, um sich selbst mit dem
-Rest eine lustige Stunde zu machen.</p>
-
-<p>Wir wohnten sehr angenehm in unserm zweistöckigen
-Gasthaus mit dem großen Hof, den eine
-mannshohe Lehmmauer umgab. Die Gasthofsbesitzer,
-neun Hindubrüder, waren mit ihren Familien
-in einem einstöckigen Gebäude einquartiert, das
-auf einer Seite des Hofes lag; die Veranda sah
-man stets von Scharen hübscher brauner Kinder
-besetzt, zwischen denen mehrere Väter eingekeilt
-saßen und ihre Huka rauchten. Neben der Veranda
-stand ein Palmbaum, auf dem ein Affe sein einsames<span class="pagenum" id="Seite_246">[246]</span>
-Leben führte; er sah immer traurig und schwermütig
-aus und die Krähen plagten ihn sehr.</p>
-
-<p>Daß die Kuh frei umherlief gab dem Hof ein
-ländliches Ansehen; auch ein Hund war da, der stets
-in der Sonne lag und schlief, so daß er den allgemeinen
-Eindruck von Ruhe und Stille verstärken
-half, wenn die Krähen einmal durch Abwesenheit
-glänzten. Diener in weißen, faltigen Gewändern
-gingen zwar fortwährend ab und zu, aber sie glitten
-nur wie Gespenster lautlos auf ihren nackten Füßen
-vorüber. Ein Stück die Gasse hinunter hauste ein
-Elefant unter einem hohen Baum. Er wiegte sich
-hin und her und streckte den Rüssel aus; bald bettelte
-er um Speise bei seiner braunen Herrin, bald
-schäkerte er mit den Kindern, die zu seinen Füßen
-spielten. Auch Kamele waren in der Nähe, aber sie
-gehen auf sammetweichen Sohlen und paßten ganz
-zu der friedlichen Heiterkeit der Umgebung.</p>
-
-<p>Nur eines machte mich unglücklich: Wir hatten
-unsern Satan verloren; er war zu meinem tiefsten
-Kummer kürzlich von uns geschieden und meine
-Trauer um ihn war groß. Noch jetzt, nach vielen
-Monaten, vermisse ich ihn schmerzlich. Nie werde
-ich vergessen, wie er alles im Umsehen fertig brachte,
-er flog nur so von einem Geschäft zum andern.<span class="pagenum" id="Seite_247">[247]</span>
-Zwar machte er es nicht immer recht, aber <em class="gesperrt">gemacht</em>
-wurde es jedenfalls und zwar urplötzlich, ohne Zeitverlust.
-Man sagte ihm zum Beispiel: »Packe die
-Koffer und Handtaschen, Satan!«</p>
-
-<p>»Ja, Herr!«</p>
-
-<p>Dann entstand rasch ein Klopfen und Hämmern,
-ein Sausen und Brausen &ndash; Kleider, Jacken, Röcke
-und Stiefel wirbelten eine Zeitlang durch die Luft,
-und schon im nächsten Augenblick berührte Satan
-seine Stirn und verbeugte sich:</p>
-
-<p>»Alles fertig, Herr!«</p>
-
-<p>Es war unglaublich; mir wurde ordentlich
-schwindlig davon. Zwar zerknitterte er die Kleider
-sehr und hatte anfänglich keinen andern Plan bei
-der Arbeit, als jedes Ding in den falschen Koffer
-zu tun. Aber darin besserte er sich bald, obgleich er
-es sich nie ganz abgewöhnte. Noch bis zuletzt pflegte
-er in die der Literatur geheiligte Reisetasche allen
-Kram hineinzupfropfen, für den sich sonst kein bequemer
-Platz fand. Verbot man ihm das bei Todesstrafe,
-so geriet er nicht im geringsten aus der Fassung;
-er machte ein freundliches Gesicht, sagte: »Ja,
-Herr!« und tat es schon am nächsten Tage wieder.</p>
-
-<p>Satan war immer geschäftig; rechtzeitig waren
-die Zimmer aufgeräumt, die Stiefel glänzend gewichst,<span class="pagenum" id="Seite_248">[248]</span>
-die Kleider gebürstet, die Waschschalen mit
-reinem Wasser gefüllt. Schon eine Stunde, ehe ich
-meinen Gesellschaftsanzug zur Vorlesung brauchte,
-lag alles für mich bereit und Satan kleidete mich
-von Kopf bis zu Fuß an, trotz meines festen Vorsatzes
-dies selbst zu tun, wie ich es mein Lebenlang
-gewohnt gewesen war.</p>
-
-<p>Er schien zum Herrschen geboren und tat nichts
-lieber als mit Untergebenen zu streiten, sie herunterzumachen
-und zu überschreien. Am meisten in seinem
-Element war er auf der Eisenbahn. Durch die dichteste
-Masse der Eingeborenen stieß und drängte er
-sich, bis der Weg für ihn und die neunzehn Kulis
-in seinem Gefolge frei war; jeder von ihnen trug
-irgend ein kleines Gepäckstück, einen Handkoffer, Sonnenschirm,
-Schal, Fächer oder dergleichen, keiner
-mehr als einen Gegenstand, und je länger der Zug,
-um so zufriedener war mein Satan. Meist steuerte
-er auf irgend einen bestellten Schlafwagen los, verschwor
-sich hoch und teuer, daß er uns gehöre und
-fing an des Besitzers Sachen hinauszubefördern. War
-unser eigener Wagen gefunden, so hatte er in zwei
-Minuten die Bündel aufgeschnallt, die Betten gemacht
-und alles zurecht gelegt; dann steckte er den
-Kopf zum Fenster hinaus und verschaffte sich den<span class="pagenum" id="Seite_249">[249]</span>
-köstlichen Genuß, auf seine Bande Kulis zu schimpfen
-und mit ihnen nach Herzenslust über die Bezahlung
-zu streiten, bis wir ankamen, dem Lärm ein Ende
-machten und ihm befahlen, die Leute zu befriedigen.</p>
-
-<p>Ich glaube, der kleine schwarze Teufel war der
-größte Krakeeler in ganz Indien, und das will viel
-sagen. Mir persönlich war sein Lärmen sehr angenehm,
-aber die Meinigen gerieten oft ganz außer sich
-darüber. Sie konnten sich nicht daran gewöhnen und
-fanden es unleidlich; es verstieß gegen alle ihre Begriffe
-von Wohlanständigkeit. Wenn wir noch sechshundert
-Meter weit von einem der großen Bahnhöfe
-waren, hörten wir oft einen wahren Heidenlärm,
-ein gellendes Geschrei und Gekreisch, ein Poltern und
-Wüten. Ich ergötzte mich dann sehr über den Höllenspektakel,
-aber meine Familie sagte voll tiefer
-Beschämung:</p>
-
-<p>»Da kannst du’s wieder hören &ndash; das ist Satan!
-Weshalb gibst du ihm nicht seinen Laufpaß?«</p>
-
-<p>Und richtig &ndash; mitten in dem riesigen Menschengewühl
-stand der kleine schwarze Knirps und zappelte
-an allen Gliedern, wie eine Spinne, die Bauchgrimmen
-hat. Seine schwarzen Augen blitzten, die
-Troddel auf seinem Fez tanzte in der Luft und sein
-Mund strömte ganze Fluten von Schelt- und<span class="pagenum" id="Seite_250">[250]</span>
-Schimpfwörtern über die erstaunten Kulis aus,
-die um ihren Lohn bettelten.</p>
-
-<p>Ich war ganz verliebt in ihn, das leugne ich
-nicht; aber meine Angehörigen konnten kaum mehr
-von ihm sprechen ohne sich aufzuregen. Noch heutigen
-Tages bin ich untröstlich über seinen Verlust
-und wünsche ihn mir zurück, während bei ihnen das
-gerade Gegenteil stattfindet. Er war aus Surat
-gebürtig; zwischen seiner Vaterstadt und Manuels
-Geburtsort lagen zwanzig Breitegrade, aber der Abstand
-zwischen ihren Charakteren, ihrer beiderseitigen
-Gemütsart und Handlungsweise war noch unendlich
-viel größer. Manuel hatte ich gern; aber
-meinen Satan liebte ich. Sein wirklicher Name war
-so recht indisch, daß ich ihn nie recht begriffen habe,
-er klang wie Bunder Rao Ram Chunder Clam Chowder;
-für den Alltagsgebrauch war eine Abkürzung
-entschieden bequemer.</p>
-
-<p>Als er etwa zwei oder drei Wochen bei uns
-war, fing er an allerlei Mißgriffe zu begehen, die
-ich nur mit Mühe wieder gutmachen konnte. In der
-Nähe von Benares stieg er zum Beispiel auf einer
-Station aus, um zu sehen, ob er nicht mit irgend
-jemand Streit anfangen könnte. Nach der langen,
-ermüdenden Fahrt bedurfte er einer Erholung. Er<span class="pagenum" id="Seite_251">[251]</span>
-fand auch was er suchte, setzte jedoch sein Spektakeln
-etwas zu lange fort, und der Zug fuhr ohne ihn
-ab. Da waren wir nun in der fremden Stadt und
-hatten kein Zimmermädchen &ndash; eine große Unbequemlichkeit!
-Wir sagten ihm, das dürfe nicht wieder
-vorkommen, worauf er sich verbeugte und »Ja,
-Herr!« sagte, so lieb und freundlich wie immer.</p>
-
-<p>In Lucknow beging er den großen Irrtum sich
-zu betrinken. Ich sagte, der arme Mensch hätte das
-Fieber bekommen, und die Meinigen gaben ihm aus
-Mitgefühl und Besorgnis ein Chininpulver ein, das
-ihm wie Feuer in den Eingeweiden brannte. Die
-Gesichter, welche er dabei schnitt, brachten mir einen
-bessern Begriff vom Erdbeben in Lissabon bei, als
-alle Gemälde und Beschreibungen dieses Naturereignisses.
-Auch am nächsten Morgen war sein Rausch
-noch nicht verflogen, doch hätte ich der Familie seinen
-Zustand gewiß verbergen können, wäre er nur zu
-bewegen gewesen, noch ein Chininpulver einzunehmen.
-Aber obgleich er nicht recht bei Sinnen war,
-kam ihm doch dann und wann wieder ein lichter
-Augenblick. Er machte einen ungeschickten Versuch
-sich zu verbeugen und lallte mit unbeschreiblich dummem
-Lächeln: »Bitte nicht, Mem Saheb, bitte nicht,
-Missy Saheb, kein Pulver für Satan, bitte.«</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_252">[252]</span></p>
-
-<p>Eine innere Stimme verriet ihnen, daß er betrunken
-sei, und nun wurde ihm aufs bestimmteste
-angekündigt, man werde ihn augenblicklich entlassen,
-falls so etwas wieder vorkäme. »Bitte, bitte«,
-murmelte er in rührselig weinerlichem Ton unter
-vielen Verbeugungen.</p>
-
-<p>Es verging kaum eine Woche, da hatte sich der
-Unglücksmensch schon wieder betrunken und diesmal,
-o Jammer, nicht im Hotel, sondern im Privathause
-eines englischen Herrn und obendrein in Agra! Also
-mußte er fort. Als ich es ihm ankündigte, sagte er
-demutsvoll: »Ja, Herr!« machte seine Abschiedsverbeugung
-und verließ uns auf Nimmerwiederkehr.
-Gott weiß, ich hätte lieber hundert Engel hergegeben
-als diesen einen reizenden Teufel. Wie vornehm
-sah er aus, wenn er in einem feinen Hotel oder
-Privathaus Staat machen wollte! Er war dann
-vom Kopf bis zu den nackten Füßen ganz in schneeweißen
-Musselin gekleidet, hatte einen feuerroten,
-mit Goldfaden gestickten Gürtel um die Hüften, und
-auf dem Haupt einen seegrünen Turban, wie ihn
-nur der Großtürke trägt.</p>
-
-<p>Ein Lügner war er nicht; doch wird er wohl
-mit der Zeit einer werden. Einmal sagte er mir:
-als Knabe hätte er die Kokosnüsse immer mit den<span class="pagenum" id="Seite_253">[253]</span>
-Zähnen aufgebissen. Als ich ihn fragte, wie er sie
-habe in den Mund stecken können, antwortete er, damals
-sei er sechs Fuß hoch gewesen und habe einen
-ungewöhnlich großen Mund gehabt. Um ihn in
-die Enge zu treiben, erkundigte ich mich, wie ihm
-denn der sechste Fuß abhanden gekommen wäre, worauf
-er erwiderte, ein Haus sei auf ihn gefallen
-und er habe seitdem seine frühere Statur nie wieder
-erlangen können. &ndash; Wenn ein sonst wahrheitsliebender
-Mensch sich einmal derartige Abschweifungen
-von dem wirklichen Sachverhalt gestattet, gerät
-er leicht immer tiefer in die Unwahrheit hinein, bis
-er schließlich zum Lügner wird.</p>
-
-<p>Satans Nachfolger war ein Moslemin &ndash; Sahadat
-Mohammed Khan, ein sehr dunkler, sehr großer
-und sehr ernster Mann. Er trug lange faltige weiße
-Gewänder, schlich geräuschlos umher, sah aus wie
-ein Gespenst und sprach mit leiser Stimme. Wir
-waren mit ihm zufrieden, denn er tat seine Pflicht,
-aber wo <em class="gesperrt">er</em> schaltete und waltete schien die ganze
-Woche über Sonntag zu sein. Das war zu Satans
-Zeit anders gewesen.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Jeypore ist eine ganz indische Stadt, zeichnet
-sich aber durch mancherlei Einrichtungen aus, die<span class="pagenum" id="Seite_254">[254]</span>
-es der europäischen Wissenschaft und dem europäischen
-Interesse für das Gemeinwohl verdankt. Ich
-erwähne nur eine reichliche Wasserversorgung durch
-Leitungen, welche auf Staatskosten angelegt sind;
-allerlei hygienische Vorkehrungen, die Jeypore zu
-einem für indische Verhältnisse ungewöhnlich gesunden
-Orte machen; einen herrlichen Lustgarten, wo der
-Eintritt an bestimmten Tagen nur den Frauen gestattet
-ist; Schulen, in denen die eingeborene Jugend
-in allen schönen und nützlichen Künsten unterwiesen
-wird, sowie einen neuen, prächtigen Palast, der ein
-höchst wertvolles und interessantes Museum enthält.
-Wenn der Maharaja kein Verständnis für solche
-wohltätige Einrichtungen hätte und sie nicht mit
-Geldmitteln unterstützte, würden sie nicht bestehen
-können; aber <em class="gesperrt">er</em> gilt für einen aufgeklärten und großmütigen
-Mann, der jedem Fortschritt zugänglich ist.</p>
-
-<p>Die Bauart von Jeypore ist höchst eigentümlich;
-es liegt innerhalb einer hohen mit Türmen besetzten
-Mauer und wird durch vollkommen gerade, über
-hundert Fuß breite Straßen in sechs Teile geteilt.
-Die lange Front der Häuser zeigt viele sehr anziehende
-architektonische Eigenheiten; kleine malerische
-Altane mit Säulen und mancherlei Zieraten
-unterbrechen überall die Einförmigkeit der geraden<span class="pagenum" id="Seite_255">[255]</span>
-Linie; lauschige Nischen, Simse und vorspringende
-Erker fallen bald hier bald da ins Auge; auch sieht
-man an manchen Häusern merkwürdige Malereien,
-und das Ganze hat eine Färbung von schönem, zartem
-Rosa, wie Erdbeereis. Wer die breite Hauptstraße
-hinunterblickt, kann sich kaum vorstellen, daß
-sie aus wirklichen Gebäuden besteht. Man hat den
-Eindruck, als sähe man ein Gemälde oder Theaterkulissen.</p>
-
-<p>Diese Illusion war besonders stark an einem
-großen Tage, den wir in Jeypore erlebten: Ein
-reicher Hindu hatte auf seine Kosten eine Menge
-Götzenbilder anfertigen lassen, die um zehn Uhr
-morgens in feierlichem Zuge durch die Stadt gefahren
-wurden. Die langen Reihen der Dächer,
-die zahllosen Balkone, die phantastischen Vogelkäfige
-und behaglichen kleinen Nestchen an der Vorderseite
-der Häuser, waren dicht mit Eingeborenen besetzt.
-Jede dieser Gruppen bildete eine feste Masse, die in
-den glänzendsten Farben strahlend, sich prächtig gegen
-den blauen Himmel abhob und von der Sonne Indiens
-in ein feuriges Flammenmeer verwandelt
-wurde. Auch die breite Straße selbst war, so weit
-das Auge reichte, mit bunt geschmückten Menschen angefüllt,
-die alle durcheinander wimmelten, sich hierher<span class="pagenum" id="Seite_256">[256]</span>
-und dorthin wälzten, sich bald vom Strom vorwärts
-treiben, bald im Kreise drehen ließen. Und
-dabei diese wundervollen Farben! Von den zartesten,
-blassesten, weichsten Schattierungen, bis zu den stärksten,
-lebhaftesten, grellsten und glänzendsten Tönen,
-als käme ein Riesenschwarm bunter Wickenblüten
-auf den Flügeln der Windsbraut einhergestürmt.
-Plötzlich teilte sich dieses Farbenmeer, um den majestätischen
-Zug der Elefanten durchzulassen, die mit
-ihrem prächtigsten Schmuck angetan, schwankenden
-Schrittes daherkamen, gefolgt von langen Reihen
-phantastischer Wagen und Karren, welche die verschiedenen
-Gruppen der ebenso seltsamen wie kostbaren
-Götzenbilder trugen. Den Schluß bildete der
-zahlreiche Nachtrab stattlicher Kamele mit ihren malerisch
-gekleideten Reitern.</p>
-
-<p>Alles war so neu und fremdartig, so unbeschreiblich
-eindrucksvoll und farbenprächtig, daß wir uns
-von dem fesselnden Anblick kaum loszureißen vermochten.
-Es war der sinnenberückendste Aufzug,
-den ich je gesehen habe, und etwas Aehnliches zu
-erblicken, wird mir schwerlich noch einmal im Leben
-zu teil werden.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[257]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap19">Neunzehntes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>
-Katzen haben ein zähes Leben,<br />
-Lügen ein noch viel zäheres.
-</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Ende März segelten wir von Kalkutta ab, hielten
-uns einen Tag in Madras, drei Tage in Ceylon
-auf und fuhren dann westwärts, nach der Insel
-Mauritius.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Aus dem Tagebuch, 7. April.</em> &ndash; Wir
-sind jetzt weit draußen auf der glatten Wasserwüste
-des Indischen Ozeans. Unter dem großen Leinwandzelt
-sitzt sich’s behaglich und friedlich im Schatten;
-wir führen ein Leben, das ganz ideal genannt
-werden kann.</p>
-
-<p>Unser Kapitän hat die Eigentümlichkeit, daß
-die Wahrheit in seinem Munde immer unglaubwürdig
-klingt, während ein ernster Schotte an unserer
-Tafel jede Lüge, die er vorbringt, wahrscheinlich
-zu machen weiß. Tut der Kapitän eine Aeußerung,
-so sehen sich die Zuhörer fragend an, jeder denkt:
-»Ist das auch wahr?« Stellt der Schotte eine Behauptung
-auf, so liest man in allen Blicken: »Wie
-interessant, wie merkwürdig!« Diese Tatsache läßt
-sich nur aus der verschiedenen Art und Weise beider<span class="pagenum" id="Seite_258">[258]</span>
-Männer erklären. Der Kapitän trägt aus Schüchternheit
-und Mangel an Selbstvertrauen, bei den
-einfachsten Angaben, die er macht, eine ängstliche
-Miene zur Schau. Der Schotte sagt die offenkundigsten
-Lügen mit einem Schein strengster Wahrhaftigkeit,
-so daß man, selbst gegen besseres Wissen,
-gezwungen ist ihm zu glauben.</p>
-
-<p>Einmal erzählte uns der Schotte, er habe sich
-im Springbrunnen seines Gewächshauses einen zahmen
-fliegenden Fisch gehalten, der selbst für seinen
-Unterhalt sorgte, und sich in den umliegenden Feldern,
-Vögel, Frösche und Ratten zur Nahrung fing.
-Man sah deutlich, daß keiner der Tischgäste an dieser
-Geschichte zweifelte.</p>
-
-<p>Als dann später von Zollbelästigungen die Rede
-war, und der Kapitän berichtete, wie es ihm einmal in
-Neapel ergangen sei, tat er es mit so unsicherem
-Wesen, daß niemand seinen Worten Glauben schenkte.</p>
-
-<p>Er sagte: »Der Beamte fragte mich mehrmals,
-ob ich etwas Verzollbares bei mir hätte und sah
-mich sehr zweifelnd an, als ich es verneinte. Nun
-forderte mich ein Passagier auf, zum Abschied ein
-Glas Wein mit ihm zu trinken, was ich jedoch mit
-dem Bemerken ausschlug, ich hätte soeben an Bord
-einen Schluck Cognac genommen. Das hörte der Beamte<span class="pagenum" id="Seite_259">[259]</span>
-und ließ sich einen Sixpence Zollgebühren für
-den Cognac bezahlen, ferner fünf Pfund Sterling
-als Strafe für undeklarierte Ware, fünf Pfund wegen
-falscher Angabe, daß ich nichts Verzollbares hätte,
-fünf Pfund, weil die Ware verborgen worden sei
-und fünf Pfund wegen unerlaubten Schmuggels.
-Alles in allem fünfundsechzig Pfund und Sixpence
-für solche Kleinigkeit.«</p>
-
-<p>Ich bin überzeugt, der Schotte sagt lauter Lügen
-und man glaubt ihm alles, während der Kapitän,
-so viel ich weiß, immer die Wahrheit spricht und
-doch für einen Lügner gehalten wird. Das ist fast
-so merkwürdig wie die Erfahrung, welche ich selbst
-als Schriftsteller in dieser Beziehung gemacht habe:
-ich konnte nie eine Lüge sagen, welche Zweifel erregte,
-noch eine Wahrheit, der jemand Glauben schenkte.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">10. April.</em> &ndash; Die See ist blau wie das Mittelmeer,
-und das ist wohl eine der himmlischsten
-Farben, welche die Natur besitzt.&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>Wie wunderbar ist doch die verschwenderische
-Großmut, mit welcher die Natur ihre Geschöpfe bedacht
-hat! Das heißt, alle, mit Ausnahme des
-Menschen. Für die, welche fliegen, hat sie ein Haus
-gebaut, das vierzig Meilen hoch ist, den ganzen<span class="pagenum" id="Seite_260">[260]</span>
-Erdball umgibt und ihnen kein Hindernis bietet.
-Denen, welche schwimmen, weist sie ein Gebiet an,
-wie es kein Kaiser besitzt, ein Gebiet, das vier Fünftel
-der Erde bedeckt und meilenweit in die Tiefe geht.
-Den Menschen dagegen speist die Natur mit allerlei
-Brocken und Ueberbleibseln der Schöpfung ab. Sie
-hat ihm nur die obere Schicht gegeben, die magere
-Haut, mit welcher ein Fünftel der Erde so dünn
-überzogen ist, daß überall die nackten Knochen hervorragen.
-Obendrein liefert die Hälfte seines Gebietes
-nichts als Schnee, Eis, Sand und Felsgestein. So
-verbleibt ihm denn nur noch ein Zehntel des ganzen
-Familienerbes als wirklich wertvoller Besitz. Er
-kann im Schweiße seines Angesichts kaum genug
-erwerben, um sein Leben zu fristen, denn er muß
-außerdem noch für den Unterhalt der Könige und
-Soldaten sorgen, und Pulver herbeischaffen, damit
-die Segnungen der Zivilisation weiter ausgebreitet
-werden. Und doch glaubt der Mensch, weil er nicht
-zu rechnen versteht, in seiner Einfalt und Selbstgefälligkeit,
-daß die Mutter Natur ihn als das wichtigste
-Glied der Familie betrachtet, daß er ihr Lieblingskind
-ist. Es müßte doch wahrlich selbst seinem
-blöden Verstande zuweilen auffallen, welche sonderbare
-Art sie hat, ihre Vorliebe zu beweisen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_261">[261]</span></p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Nachmittags.</em> &ndash; Der Kapitän hat uns soeben
-erzählt, es sei auf einer seiner Fahrten im
-Nördlichen Eismeer so kalt gewesen, daß der Schatten
-des Schiffsmaats auf dem Deck festfror, und man
-nur mit Gewalt zwei Drittel davon wieder loseisen
-konnte. Alle schwiegen bei dieser Mitteilung,
-niemand äußerte ein Wort, und der Kapitän ging
-ganz betreten davon. &ndash; Er wird noch alle Lust
-verlieren, überhaupt etwas zu sagen.</p>
-
-<p>Es gibt doch nichts Ruhevolleres als einen Tag
-auf dem Tropenmeer: die blaue See ist glatt und
-ohne Bewegung, nur die schnelle Fahrt des Schiffes
-erzeugt einen frischen Lufthauch, und bis zum fernsten
-Horizont kann man nicht das kleinste Segel erspähen.
-Es kommen keine Briefe an, die gelesen
-und beantwortet werden müssen, man wird nicht
-durch Zeitungsnachrichten aufgeregt, durch Telegramme
-beunruhigt und erschreckt; die Welt liegt
-weit abseits, sie ist für uns nicht vorhanden &ndash;
-anfangs verblaßte sie wie ein Traum, jetzt ist sie
-ins Wesenlose versunken. All ihr Arbeiten und Streben,
-ihr Glück und Unglück, ihre Wonne und Verzweiflung,
-ihre Freuden und Kümmernisse, ihre Sorgen
-und Qualen, haben nichts mehr mit unserem
-Leben zu schaffen, sie sind vorübergezogen wie<span class="pagenum" id="Seite_262">[262]</span>
-ein Sturm, auf den tiefe Windstille gefolgt ist.</p>
-
-<p>Die in schneeweißes Linnen gekleideten Passagiere
-versammeln sich in Gruppen auf dem Deck;
-sie lesen, rauchen, spielen Karten, plaudern, halten
-ein Mittagsschläfchen, kurz tun was sie wollen. Auf
-andern Schiffen stellt man fortwährend Berechnungen
-an, wie lange die Fahrt noch dauern wird, auf
-diesen Meeren geschieht das höchst selten. Kein
-Mensch kümmert sich um das Anschlagebrett, wo die
-tägliche Fahrgeschwindigkeit verzeichnet wird, auch
-wettet man natürlich nicht auf den Lauf des Schiffes,
-wie das bei Reisen über den Atlantischen Ozean zu
-geschehen pflegt.</p>
-
-<p>Mir selbst ist es vollständig gleichgültig, wann
-wir in den Hafen kommen; auch habe ich noch keinen
-der andern Passagiere darnach fragen hören. Wenn
-es nach mir ginge, würden wir überhaupt nie mehr
-landen; denn dies Leben auf dem Wasser hat für
-mich einen unaussprechlichen Reiz. Da gibt es weder
-Ermüdung, noch Abspannung, noch Mißstimmung,
-man hat keine Sorge, keine Arbeit, keine Verantwortlichkeit.
-Wo wäre wohl auf dem Lande solches
-Behagen, solche Heiterkeit, solcher Friede und ein
-so volles Genügen zu finden? Hätte ich die Wahl,
-ich segelte endlos weiter auf diesem wundervollen<span class="pagenum" id="Seite_263">[263]</span>
-Meer und schlüge meinen Wohnsitz nie wieder am
-festen Lande auf.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Mittwoch 15. April.</em> &ndash; Mauritius. &ndash;
-Um zwei Uhr nachmittags gingen wir bei Port Louis
-vor Anker. Die Klippen und Spitzen der zerklüfteten
-Felsengruppen sind bis zum höchsten Gipfel
-hinauf bewaldet; auf der grünen Ebene liegen die
-Wohnhäuser zwischen tropischen Gebüschen verstreut.
-Hier ist der Schauplatz der Geschichte von Paul und
-Virginie.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Donnerstag 16. April.</em> &ndash; In Port Louis
-ans Land gegangen. Wir fanden in der kleinen
-Stadt die mannigfaltigsten Nationalitäten und Hautschattierungen,
-die uns bisher vorgekommen waren:
-Franzosen, Engländer, Chinesen, Araber, Afrikaner
-mit Wollköpfen oder glattem Haar, Ostindier, Mischlinge,
-Quadronen in den verschiedensten Trachten
-und Farben. &ndash; Die Geschichte von Mauritius verzeichnet
-offenbar nur <em class="gesperrt">eine</em> wichtige Begebenheit,
-und diese hat sich obendrein niemals zugetragen.
-Ich meine den romantischen Aufenthalt von Paul
-und Virginie, welcher jedermann mit dem Namen
-der Insel vertraut machte, während ihre geographische
-Lage aller Welt verborgen blieb.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_264">[264]</span></p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">18. April.</em> &ndash; Dies ist das einzige Land auf
-Erden, wo man den Fremden nicht fragt: »Wie
-gefällt Ihnen unsere Gegend?« Alles Reden über
-die Insel geht von den Bewohnern selbst aus, der
-Reisende braucht nur zuzuhören und erhält allerlei
-Belehrung. Von einem Bürger erfährt er, daß Mauritius
-zuerst erschaffen wurde und dann der Himmel
-nach dem Vorbild von Mauritius. Ein anderer erklärt
-das für Uebertreibung und behauptet, man lebe
-in Mauritius durchaus nicht wie im Himmel; wer
-zum Beispiel nicht gezwungen wäre in Port Louis
-zu wohnen, würde sich den Aufenthaltsort gewiß
-nicht wählen.</p>
-
-<p>Ein Engländer sagte mir:</p>
-
-<p>»Die Insel ist bekannt wegen der ungewöhnlich
-langen Quarantäne, welche die Schiffe für nichts
-und wieder nichts halten müssen; dieselbe dauert
-oft drei bis vier Wochen. Einmal wurde sogar die
-Quarantäne über ein Schiff verhängt, weil der Kapitän
-als Knabe die Blattern gehabt habe. Außerdem
-war er auch Engländer. Der französische Einfluß
-ist von früherher noch immer am vorherrschendsten
-auf der Insel; die Zahl der Engländer ist gering
-und der Gouvernementsrat besteht fast nur
-aus Franzosen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_265">[265]</span></p>
-
-<p>»Die Bevölkerung beträgt etwa 375&nbsp;000. Die
-meisten sind Ostindier; außer ihnen gibt es Mischlinge
-und Neger, welche Abkömmlinge der Sklaven
-aus der Zeit der französischen Herrschaft sind; ferner
-Franzosen und Engländer. Die Mischlinge stammen
-aus Verbindungen von Weißen und Schwarzen, Mulatten,
-Quadronen oder Quarteronen; es sind daher
-alle nur denkbaren Schattierungen vertreten: ebenholzschwarz,
-mahagoni, kastanienbraun, fuchsrot,
-syrupfarben, dunkelbernsteingelb, hellgelb, crêmefarben,
-elfenbeinweiß und aschgrau. Letzteres ist die
-Farbe, welche der Angelsachse bei längerem Aufenthalt
-im Tropenklima annimmt.</p>
-
-<p>»Die meisten Bewohner von Mauritius kennen
-nichts als ihre Insel und haben weder viel gelernt
-noch gelesen &ndash; außer der Bibel oft nur Paul und
-Virginie. Von diesem Roman werden jährlich viele
-Exemplare verkauft, und es gibt Leute, welche glauben,
-er wäre ein Teil der Bibel. Es ist das berühmteste
-Buch, das je über Mauritius geschrieben worden
-ist &ndash; aber auch das einzige. Die drei Hauptländer
-der Erde sind nach Ansicht der Bürger: Judäa,
-Frankreich und Mauritius, und daß sie in einem
-der drei geboren sind, erfüllt sie mit Stolz. Rußland
-und Deutschland gehören, ihres Wissens, zu<span class="pagenum" id="Seite_266">[266]</span>
-England und von letzterem haben sie keine große
-Meinung. Wer über die Vereinigten Staaten und
-den Aequator etwas hat verlauten hören, glaubt,
-das seien zwei Königreiche.</p>
-
-<p>»Der Buchhandel auf der Insel ist unbedeutend;
-für Bildung und Unterhaltung des Volks
-müssen die Zeitungen sorgen, welche aus zwei ureinfach
-gedruckten Seiten bestehen, die eine mit französischem,
-die andere mit englischem Text. Die englische
-Seite ist eine Uebersetzung der französischen;
-einen Korrekturleser gibt es nicht &ndash; der Mann ist
-gestorben.</p>
-
-<p>»Und was steht darin? Wo nimmt man auf der
-kleinen, entlegenen Insel mitten im indischen Ozean
-täglich den Stoff her, um eine ganze Druckseite zu
-füllen? &ndash; Den muß Madagaskar liefern, Madagaskar
-und Frankreich. Ratschläge, die man der Regierung
-erteilt und abfällige Bemerkungen über die
-englische Verwaltung bilden den übrigen Inhalt der
-Tagesblätter, deren Besitzer und Herausgeber französische
-Kreolen sind.</p>
-
-<p>»Das Französische ist Landessprache. Jeder
-muß es sprechen, er mag wollen oder nicht. Besonders
-ohne das Mischlings-Französisch, das die Leute
-mit den vielen verschiedenfarbigen Gesichtern reden,<span class="pagenum" id="Seite_267">[267]</span>
-kann man sich hier gar nicht verständlich machen.</p>
-
-<p>»Mauritius war früher sehr wohlhabend, denn
-man macht hier den besten Zucker in der ganzen
-Welt. Aber zuerst verdarb der Suez-Kanal die Handelsverbindungen
-der Insel, und dann verschloß ihr
-der Rübenzucker mit Hilfe der Zuckerprämien den
-europäischen Markt. Viele der größten Zuckerpflanzer
-befinden sich in Geldverlegenheit und würden
-ihre Besitzungen gern für die Hälfte der Summen
-hergeben, die sie hineingesteckt haben. Wenn ein Land
-erst anfängt die Teekultur zu betreiben, so ist das
-ein sicheres Zeichen für den Rückgang seines Hauptprodukts,
-dafür liefern Bengalen und Ceylon den
-Beweis. Auch in Mauritius macht man jetzt Versuche
-mit der Teekultur.«</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">20. April.</em> &ndash; Der jährliche Cyklone richtet
-oft große Verwüstungen in den Zuckerfeldern an. Im
-Jahre 1892 wurden Hunderte von Menschen durch
-den Cyklone getötet oder zu Krüppeln gemacht, und
-der sündflutartige Regen, der dabei Port Louis
-überschwemmte, erzeugte großen Wassermangel. Das
-ist buchstäblich wahr, denn er zerstörte das Wasserwerk
-und die Leitungsröhren, und als sich die Flut
-verlaufen hatte, herrschte eine Zeitlang arge Not,
-weil man kein Wasser bekommen konnte. &ndash; Die Wut<span class="pagenum" id="Seite_268">[268]</span>
-jenes Wirbelsturms war fürchterlich; er machte ganze
-Straßen von Port Louis zu Trümmerhaufen, entwurzelte
-Bäume, deckte Dächer ab, schmetterte einen
-Obelisken zu Boden, riß Schiffe vom Anker los
-und schleuderte ein amerikanisches Fahrzeug bis in
-den Wald hinauf. Ueber eine Stunde lang krachte
-der Donner ohne Unterlaß, die Blitze zuckten und der
-Wind heulte &ndash; es war ein Höllenlärm ohne gleichen.
-Dann trat plötzlich Ruhe ein, heller Sonnenschein
-und völlige Windstille; die Menschen wagten sich
-hinaus, um den Verwundeten beizustehen und nach
-ihren Freunden und Angehörigen zu suchen. Da
-brach der rasende Sturm unvermutet aus einer andern
-Himmelsgegend von neuem los und richtete
-vollends alles zu Grunde.</p>
-
-<p>Die Wege auf der Insel sind fest und eben, die
-Bungalows bequem ausgestattet, die Höfe sehr geräumig;
-längs der Fahrstraßen wachsen hohe grüne
-Bambushecken, und &ndash; was ich noch nie gesehen
-habe &ndash; Hecken von roten und weißen Azaleen, die
-sich wunderhübsch ausnehmen. Mauritius ist ein
-einziger, großer, gartenähnlicher Park. Die wogenden
-Zuckerrohrfelder mit ihrem frischen Grün tun
-dem Auge wohl; überall entfaltet sich tropischer
-Pflanzenwuchs in üppigster Fülle, helles und dunkles<span class="pagenum" id="Seite_269">[269]</span>
-Grün, dicht verschlungenes Unterholz von hohen
-Palmen überragt, große schattige Wälder mit
-klaren Flüssen, die sich bald im Dunkel verlieren,
-bald lustig wieder ans Tageslicht gesprungen kommen;
-auch kleine Berge mit spielzeugartigen Klippen
-und Felsengruppen hat Mauritius aufzuweisen
-und dann und wann einen Durchblick auf das Meer
-mit dem weißen Schaum der Brandung. Die Insel
-ist sehr hübsch in ihrer Art, doch fehlt ihr das
-Erhabene, Großartige, Geheimnisvolle, wie es unersteigliche
-Bergeshöhen mit Gipfeln, die in den
-Himmel ragen, und weite Fernsichten einer Gegend
-verleihen; der Gesamteindruck ist reizend, aber nicht
-überwältigend, er berührt uns angenehm, dringt aber
-nicht bis in die Tiefe der Seele.</p>
-
-<p>Als die Franzosen noch Mauritius besaßen,
-belästigten sie von dort aus die indischen Kauffahrteischiffe;
-deshalb nahm ihnen England die Insel fort
-und auch das benachbarte Bourbon. Letzteres gab
-es jedoch wieder an Frankreich heraus und ließ sich
-auch Madagaskar fortschnappen, was sehr zu beklagen
-ist. England hätte mit geringer Anstrengung die
-harmlosen Eingeborenen vor dem Unheil der französischen
-Zivilisation schützen können. Leider hat
-es das unterlassen, und jetzt ist es zu spät.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[270]</span></p>
-
-<p>Vor der Sünde, einen Raub an Frankreich zu
-begehen, hätte sich England schwerlich gescheut. Aller
-Grundbesitz sämtlicher Staaten der Erde &ndash; Amerika
-natürlich nicht ausgeschlossen &ndash; besteht aus gestohlenem
-Gut, aus Ländereien, die andern Nationen gehörten,
-denen man sie entrissen hat. In Europa,
-Asien und Afrika ist jeder Fußbreit Land schon
-Millionen mal wieder und wieder gestohlen worden.
-Ein Verbrechen aber, das seit Jahrtausenden verübt
-wird, hört auf ein Verbrechen zu sein und wird zur
-Tugend. Das Gewohnheitsrecht ist stärker als jedes
-andere Gesetz. Auch werden ja heutzutage unter den
-christlichen Regierungen die allseitigen Pläne solchen
-Länderraubs ganz frei und offen verhandelt.</p>
-
-<p>Ohne Frage lassen die Zeichen der Zeit deutlich
-erkennen, welchen Verlauf die Sache nehmen
-wird: Alle noch unzivilisierten Länder der Erde
-müssen unter die Herrschaft der christlichen Staaten
-Europas kommen. Mir macht das keinen Kummer,
-im Gegenteil, ich freue mich darüber. Vor zweihundert
-Jahren wäre dies unabwendbare Geschick
-noch ein Unheil für die wilden Völker gewesen, aber
-jetzt wird es, unter gewissen Umständen, für manche
-ein Segen sein. Die Europäer sollen nur je eher
-je lieber alles Land in Besitz nehmen, damit Friede,<span class="pagenum" id="Seite_271">[271]</span>
-Ordnung und Gerechtigkeit an die Stelle der Bedrückung,
-des Blutvergießens und der Gesetzlosigkeit
-tritt, unter der die Wilden Jahrhunderte lang geschmachtet
-haben. Wenn man bedenkt, was zum
-Beispiel Indien zu der Zeit gewesen ist, als die
-Hindus und die Mohammedaner es beherrschten, und
-wie es jetzt um das Land steht, wenn man an das
-frühere Elend der Millionen zurückdenkt, die heutzutage
-Schutz und eine menschenwürdige Behandlung
-genießen, so wird man zugeben müssen, daß es für
-Indien kein größeres Glück geben konnte, als unter
-britische Oberherrschaft zu kommen. Geht nun alles
-Land der wilden Völker in europäischen Besitz über,
-und müssen sie selbst sich den fremden Herrschern
-auf Gnade oder Ungnade unterwerfen, so wollen
-wir von Herzen hoffen und wünschen, daß alle Wilden
-bei dem Tausch nur gewinnen möchten.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[272]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap20">Zwanzigstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>In der Staatskunst bringe alle Formalitäten
-in Ordnung und kümmere dich nicht
-um die Moralitäten.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p><em class="gesperrt">28. April.</em> &ndash; Nach Afrika abgesegelt. &ndash;
-›Arundel Castle‹ ist das schönste Dampfboot, in dem
-ich auf diesen Meeren gefahren bin, es ist durch und
-durch modern und das will viel sagen. An einem
-Mangel, den man überall trifft, leidet aber auch dieses
-Schiff: die Betten lassen zu wünschen übrig. Es ist
-ein großer Fehler, daß man die Auswahl der Betten
-stets dem ersten besten Mann mit starkem Rückgrat
-anvertraut, statt einer zarten Frau dies Amt
-zu übertragen, die von Kindheit auf an Schlaflosigkeit
-und Gliederweh gelitten hat. Nichts ist sowohl
-diesseits wie jenseits des Ozeans eine größere Seltenheit,
-als Betten, welche allen Anforderungen entsprechen.
-Zwar sind sie in einigen Hotels der Erde
-zu finden, aber auf keinem Schiff, weder jetzt noch
-in vergangenen Zeiten. In der Arche Noäh waren
-die Betten geradezu niederträchtig, und darin liegt
-die Wurzel des Uebels. Noah hat die Mode eingeführt<span class="pagenum" id="Seite_273">[273]</span>
-und die Welt wird sie mit geringen Abänderungen
-bis zur nächsten Sündflut beibehalten.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">8 Uhr abends.</em> &ndash; An der Insel Bourbon
-vorbeigesegelt; ihr zerklüftetes, vulkanisches Gebirge
-hebt sich klar gegen den Himmel ab. &ndash; Wie töricht
-ist es doch, erholungsbedürftige Menschen nach Europa
-zu schicken. Das Rasseln von Stadt zu Stadt
-bei Rauch und Kohlendunst, das ewige Besichtigen
-von Schlössern und Galerien, ist doch kein Ausruhen
-zu nennen! Man trifft fortwährend alte und
-neue Bekannte, wird zum Frühstück, zu Mittag, zum
-Tee ausgebeten und erhält aufregende Briefe und
-Depeschen. Auch die Fahrt über den Atlantischen
-Ozean nützt nichts; die Reise ist zu kurz und das
-Meer zu unruhig. Wahre Heilung für Seele und
-Leib findet man nur auf dem friedlichen Indischen
-und dem Stillen Ozean, wo sich die Zeit so behaglich
-lang ausdehnt.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">2. Mai nachmittags.</em> &ndash; Ein schönes großes
-Schiff in Sicht &ndash; fast das erste, das wir auf
-der wochenlangen einsamen Seefahrt erblickt haben.
-Wir sind jetzt im Kanal von Mozambique zwischen
-Madagaskar und Südafrika und steuern in westlicher
-Richtung nach der Delagoabai.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_274">[274]</span></p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Montag 4. Mai.</em> &ndash; Wir dampfen langsam
-in die ungeheure Bai hinein; ihre Arme erstrecken
-sich weit ins Land, bis sie den Blicken entschwinden.
-Hier wäre Raum genug für sämtliche Schiffe der
-Welt, aber die Bai hat nur geringe Tiefe; oftmals
-zeigte unser Senkblei nicht mehr als viertehalb Faden.</p>
-
-<p>Eine 150 Fuß hohe und etwa eine Meile breite
-Felswand von stark rötlicher Färbung steigt senkrecht
-vor uns auf. Auf dem Tafelland über den roten
-Felsen sieht man Gruppen hübscher Häuser und
-Bäume, dazwischen die grüne, wellenförmige Ebene,
-wie in England. Siebzig Meilen lang, bis zur
-Grenze, gehört die Eisenbahn den Portugiesen &ndash;
-täglich fährt ein Personenzug &ndash; weiterhin ist die
-Bahn Eigentum der Niederländischen Kompagnie.
-Haufenweise lagen die Frachtgüter am Strande umher;
-Schuppen, um sie unterzubringen, waren nicht
-vorhanden. Das ist echt portugiesisch &ndash; Trägheit,
-Frömmigkeit, Armut und Unfähigkeit im schönsten
-Verein.</p>
-
-<p>Die Mannschaft der kleinen Boote und Schlepper
-besteht aus sehr muskulösen, kohlschwarzen Wollköpfen.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Winter.</em> &ndash; Der südafrikanische Winter hat
-eben angefangen, aber nur Sachverständige können<span class="pagenum" id="Seite_275">[275]</span>
-ihn vom Sommer unterscheiden. Mir ist das sehr
-recht, denn ich habe den Sommer herzlich satt, der
-jetzt für uns schon ununterbrochen elf Monate lang
-dauert.</p>
-
-<p>Den Nachmittag brachten wir in Delagoabai
-am Ufer zu. Der Ort ist klein; er hat keine Sehenswürdigkeiten,
-keine Wagen. Die drei Rickschas waren
-Privateigentum, wir konnten sie nicht mieten. Die
-Portugiesen hier haben eine schöne braune Hautfarbe,
-wie einige unserer Indianerstämme; man sieht
-auch Schwarze mit länglicher Kopfform und sehr
-langem Kinn, wie die Neger in den Bilderbüchern,
-aber die meisten gleichen den Schwarzen in unsern
-Südstaaten, haben runde Gesichter mit platten Nasen
-und sind gutmütige, lustige Geschöpfe.</p>
-
-<p>Scharen schwarzer Weiber zogen vorüber mit
-zentnerschweren Frachtstücken auf dem Kopf. Sie
-waren Packträgerinnen und arbeiteten wie die stärksten
-Männer; doch mußten sie ihre ganze Kraft
-anstrengen, um die Last zu bewältigen, man sah,
-wie ihnen jedesmal beim Aufsetzen der Füße die
-Beine zitterten. Wenn sie unbeladen einherkommen,
-haben sie einen aufrechten Gang und eine ebenso
-schöne und stolze Haltung wie die Indianerinnen.
-Die Gewohnheit Lasten auf dem Kopf zu tragen,<span class="pagenum" id="Seite_276">[276]</span>
-bringt das mit sich. &ndash; Man sah keine bunten Farben,
-obgleich es hier viele Hindus gibt.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">6. Mai. &ndash; 3 Uhr nachmittags.</em> Ganz
-allmählich machte das Schiff langsamere Fahrt und
-dampfte vorsichtig und bedächtig in den hübschen
-Hafen von Durban in Südafrika ein.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Aus dem Tagebuch. Hotel Royal.</em> &ndash;
-Sehr behaglich; gutes Essen, gute Bedienung von
-Eingeborenen; ein sonderbares Gemisch von Altem
-und Neuem, Dorf und Stadt, Ureinfachheit und ihrem
-Gegenteil. Die elektrischen Glocken geben keinen
-Ton; der Aufseher im Bureau sagte mir, sie wären
-vermutlich in Unordnung geraten, weil einige klingelten
-und andere nicht. Als ich ihn fragte, ob es
-nicht ratsam wäre, sie in Ordnung zu bringen, sah er
-mich zweifelnd an, wie jemand der seiner Sache
-nicht gewiß ist &ndash; stimmte mir dann aber doch bei.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">7. Mai.</em> &ndash; Um sechs Uhr klopft es laut an
-meine Tür: Ob meine Stiefel geputzt werden sollen?
-Eine Viertelstunde später wiederholtes Klopfen: Ob
-wir Kaffee wünschen? Nach abermals fünfzehn Minuten:
-das Bad für meine Frau ist fertig; gleich<span class="pagenum" id="Seite_277">[277]</span>
-darauf: mein Bad ist fertig. Es klopft noch zweimal,
-weshalb weiß ich nicht mehr. Die Diener
-lärmen draußen und schreien einander bald dies bald
-das zu &ndash; gerade wie in einem indischen Hotel.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Abends.</em> &ndash; Um vier Uhr nachmittags herrscht
-drückende Schwüle; eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang
-zieht man den Sommerüberzieher an, um
-acht Uhr den Wintermantel. Daß Durban eine
-hübsche, saubere Stadt ist, sieht der Fremde von
-selbst, man braucht ihn nicht darauf aufmerksam
-zu machen. &ndash; Die Rickschas werden von prächtig
-gewachsenen schwarzen Zulus gezogen, mit so überschüssiger
-Kraft, daß es ein wahres Vergnügen ist
-ihnen zuzusehen. Gutmütige Menschen &ndash; wie sie
-lachen und ihre Zähne zeigen! Die Stunde kostet
-für eine Person 2 Schilling, für zwei Personen 3;
-jede Fahrt drei Pence für die Person. Ein Rickscha-Mann
-darf nicht trinken.</p>
-
-<p>Die Polizei besteht nur aus heidnischen Zulus;
-christliche werden nicht angestellt. Nach dem Abendläuten
-darf kein Eingeborener ohne Paß ausgehen.
-In Natal kommen auf einen Weißen zehn Schwarze.
-Die Weiber sind handfeste, rundliche Gestalten. Sie
-kämmen ihre Wolle auf dem Kopf in die Höhe<span class="pagenum" id="Seite_278">[278]</span>
-und machen sie mit rotbraunem Lehm steif, daß
-sie stehen bleibt. Ist dieser Turm bis zur Hälfte
-gefärbt, so bedeutet es Verlobung; die verheiratete
-Frau färbt ihn ganz.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">9. Mai.</em> &ndash; Gestern machte ich mit Bekannten
-eine Ausfahrt. Sehr schöne Straßen über die Hügel,
-von wo man einen herrlichen Blick auf die ganze
-Stadt, den Hafen und das Meer genießt. Ueberall
-Wohnhäuser, von grünem Rasen und Buschwerk umgeben;
-hie und da bildet die brennend scharlachrote
-Euphorbia einen scharfen Gegensatz zu dem saftigen
-Grün ringsum; Kaktusbäume der verschiedensten Art
-in Kandelaberform und einer, dessen Zweige so verrenkt
-und gekrümmt sind, daß sie aussehen wie lauter
-graue, sich windende Schlangen. Auf allen Seiten
-sieht man eine Menge der prächtigsten, uns völlig
-unbekannten Bäume, einige mit so dichtem, dunkelgrünem
-Laub, daß sie sofort ins Auge fallen, trotz
-der vielen Orangenbäume daneben. Ein Baum hat
-wunderschöne rote, aufrechtstehende Büschel, die zwischen
-seiner grünen Blätterpracht leuchten wie feurige
-Kohlen. Auch Gummibäume sind da, und ein paar
-hochgewachsene Norfolktannen strecken ihre grünen
-Wedel himmelan, dann kommt wieder hohes Bambusgebüsch.<span class="pagenum" id="Seite_279">[279]</span>
-Ich sah nur <em class="gesperrt">einen</em> Vogel; sie sind
-hier selten und singen nicht. Die Blumen haben
-wenig Duft, sie wachsen zu schnell. Nirgends habe
-ich eine so große Mannigfaltigkeit der herrlichsten
-Bäume gesehen wie hier, außer in der Nähe von
-Dardschiling im Himalaja. Vermutlich ist Natal
-der Garten von Südafrika, aber ich habe noch niemand
-dies Land so nennen hören.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Colenso war Bischof von Natal, als er durch
-seine Schriften einen solchen Sturm in der theologischen
-Welt erregte. Noch jetzt sind alle religiösen
-Angelegenheiten hier von großer Wichtigkeit. Die
-Sonntagsruhe wird eifersüchtig bewacht. Museen
-und dergleichen gefährliche Vergnügungsorte sind geschlossen.
-Eine Fahrt auf der Bai ist gestattet, aber
-das Cricketspiel gilt für sündhaft. Eine Zeitlang
-fanden Sonntags-Konzerte statt, bei denen kein Eintrittsgeld
-bezahlt wurde, sondern der Klingelbeutel
-herum ging. Dadurch kam jedoch so beunruhigend
-viel zusammen, daß man die Sache wieder eingehen
-ließ. In betreff der Säuglinge ist man sehr streng.
-Ein Geistlicher verweigerte einem Kinde das kirchliche
-Begräbnis, weil es nicht getauft worden war.
-Da ist der Hindu weitherziger. Er verbrennt kein<span class="pagenum" id="Seite_280">[280]</span>
-Kind unter drei Jahren, weil er glaubt, daß es noch
-nicht der Läuterung bedarf.</p>
-
-<p>Zwei Stunden von Durban entfernt liegt ein
-großes Trappisten-Kloster, das ich in Gesellschaft
-von Mr. Milligan und Mr. Hunter, dem Generalinspektor
-der Staatseisenbahnen von Natal, in Augenschein
-nahm. Die beiden Herren kannten die
-Vorsteher des Klosters.</p>
-
-<p>Es war wirklich alles da, was man für so unglaublich
-hält, wenn man es in Büchern liest: die
-harte Arbeit, das Aufstehen zu unmöglichen Stunden,
-die karge Nahrung, das grobe Gewand, das
-harte Lager, das Verbot der menschlichen Rede, des
-geselligen Verkehrs, der Gegenwart irgend eines
-weiblichen Wesens, jeder Erholung, Abwechslung und
-Unterhaltung. Alles wurde durchgeführt &ndash; es war
-kein Traum, keine Lüge. Aber selbst wenn man
-die Tatsache leibhaftig vor sich hatte, blieb sie ebenso
-unerklärlich. Es streitet zu sehr gegen die Natur,
-die Individualität des Menschen so gänzlich zu unterdrücken.</p>
-
-<p>Wie mag La Trappe nur herausgefunden haben,
-daß es Menschen gibt, die in solchem Elend einen
-Genuß finden? Hätte er mich oder dich um Rat
-gefragt, wir würden ihm versichert haben, daß sein<span class="pagenum" id="Seite_281">[281]</span>
-Plan zu sehr aller Reize entbehrte und niemals verwirklicht
-werden könnte. Aber, da steht das Kloster
-und liefert den Beweis, was für ein Menschenkenner
-La Trappe gewesen ist. Er hat alles aus dem Leben
-verbannt, was das Herz wünscht und begehrt, und
-dennoch hat der Erfolg seit zweihundert Jahren sein
-Werk gekrönt und es wird ohne Zweifel auch ferner
-blühen und gedeihen.</p>
-
-<p>Wir Menschen lieben persönliche Auszeichnung
-&ndash; dort im Kloster gibt es nichts dergleichen. Wir
-sind wählerisch in betreff der Speisen &ndash; die Mönche
-erhalten Bohnen, Brot und Tee und nicht einmal
-genug um sich satt zu essen. Wir betten uns gern
-weich &ndash; sie liegen auf Sandmatratzen und haben
-zwar ein Kissen und eine Decke, aber keine Leintücher.
-Bei Tische lachen und plaudern wir gern
-in Gesellschaft von Freunden &ndash; hier liest ein Mönch
-während der Mahlzeit laut aus einem frommen Buche
-vor und niemand spricht ein Wort. Wenn wir mit
-vielen Gefährten zusammen sind, so machen wir uns
-einen lustigen Abend und gehen spät zur Ruhe; hier
-begeben sich alle schweigend um acht Uhr zu Bett
-und obendrein im Dunkeln; sie brauchen nur die
-lose, braune Kutte abzulegen, da wäre ein Licht
-ganz unnötig. Wir schlafen gern in den Tag hinein<span class="pagenum" id="Seite_282">[282]</span>
-&ndash; hier stehen die Mönche nachts zweimal auf
-zum Gottesdienst und gehen um zwei Uhr morgens
-an ihr Tagewerk. Wir wünschen uns leichte Arbeit
-oder gar keine &ndash; hier wird den ganzen Tag auf dem
-Felde geschafft oder in der Schmiede und andern
-Werkstätten, wo man Sattler-, Schuhmacher-, Tischlerarbeit
-und dergleichen betreibt. Wir lieben die
-Gesellschaft von Frauen und Mädchen &ndash; die fehlt
-hier gänzlich. Wir sind gern von unsern Kindern
-umringt und scherzen und spielen mit ihnen &ndash; Kinder
-gibt es hier nicht. Es ist kein Billardtisch vorhanden,
-man hat keine Spiele im Freien, weder
-Konzert noch Theater, noch gesellige Freuden. Auch
-das Wetten ist hier verboten; wer in Zorn gerät darf
-seinen Aerger nicht am ersten besten auslassen, der
-ihm gerade in den Weg kommt; man darf sich kein
-Lieblingstier halten. Nicht einmal das Rauchen ist
-gestattet. Weder Tageblätter noch Zeitschriften werden
-hier gelesen. Wenn wir fern von der Heimat
-sind, möchten wir wissen, wie es unsern Eltern und
-Geschwistern ergeht und ob sie sich nach uns sehnen
-&ndash; hier erfährt man das nicht. Wir lieben freundliche
-Wohnungen, eine gefällige Einrichtung, hübsche
-Möbel, allerlei niedliche Sächelchen und schöne Farben
-&ndash; hier ist alles kahl, armselig und düster. Was<span class="pagenum" id="Seite_283">[283]</span>
-wünscht sich der Mensch nicht alles &ndash; führt die
-Liste selbst weiter fort! &ndash; Aber was ihr auch nennen
-mögt, in diesem Kloster ist es nicht zu finden.</p>
-
-<p>Und zum Lohn für alle diese Entbehrungen kann
-man dort weiter nichts erwerben, wie mir gesagt
-wurde, als die Rettung seiner Seele.</p>
-
-<p>Es ist wirklich höchst sonderbar und unbegreiflich.
-Aber La Trappe kannte, wie gesagt, das Menschengeschlecht
-und den mächtigen Reiz, der in diesem
-reizlosen Dasein lag. Er wußte, daß auf manche
-Leute ein solches Leben um so größere Anziehungskraft
-übt, je abstoßender und unbehaglicher es ist.</p>
-
-<p>Das Mutterkloster wurde vor fünfzehn Jahren
-von deutschen Mönchen gegründet, die arm und fremd
-waren und keine Unterstützung fanden; jetzt besitzt
-es 15&nbsp;000 Morgen Land, baut Korn, Obst und Wein
-und betreibt alle möglichen Gewerbe. In seinen
-Werkstätten werden eingeborene Lehrlinge in den
-verschiedensten Handwerken unterrichtet, mit denen
-sie sich nach der Entlassung ihr Brot verdienen können,
-auch lehrt man sie Lesen und Schreiben. Elf
-Zweiganstalten des Klosters sind in ganz Südafrika
-verbreitet, in denen 1200 eingeborene Knaben und
-Mädchen christlich erzogen und zu tüchtigen Handwerkern
-ausgebildet werden. Von dem Wirken der<span class="pagenum" id="Seite_284">[284]</span>
-protestantischen Mission unter den Heiden hat man
-in den kaufmännischen Kreisen der weißen Kolonisten
-meist keine hohe Meinung; ihre Zöglinge tragen
-den Spitznamen ›Reis-Christen‹, womit ungelernte
-Müßiggänger gemeint sind, die sich nur um äußerer
-Vorteile willen in die Kirche aufnehmen lassen. An
-der Tätigkeit dieser katholischen Mönche wird sich
-aber schwerlich etwas aussetzen lassen, und ich glaube,
-es hat auch noch niemand gewagt, sich abfällig darüber
-zu äußern.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p><em class="gesperrt">Dienstag 12. Mai.</em> &ndash; Die Transvaal-Politik
-ist in große Verwirrung geraten. Zuerst jagte
-die schwere Verurteilung der Johannesburger Rädelsführer
-England einen großen Schrecken ein.
-Unmittelbar nachher veröffentlichte Krüger die Korrespondenz
-in Chiffreschrift, aus welcher hervorgeht,
-daß der Einfall in Transvaal von Cecil Rhodes
-und Beit mit der Absicht geplant worden ist, sich des
-Landes zu bemächtigen, um es dem englischen Reich
-einzuverleiben. Dies brachte einen Umschwung in
-den Gefühlen Englands hervor und entfesselte einen
-Sturm der Entrüstung gegen Rhodes und die Chartered
-Company, weil sie der britischen Ehre zu nahe
-getreten seien.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[285]</span></p>
-
-<p>Lange war ich außer stande klug aus der Sache
-zu werden &ndash; sie war mir zu verwickelt. Aber
-endlich glaube ich durch Geduld und Nachdenken doch
-dahinter gekommen zu sein: Soviel ich verstehe, waren
-die Uitlanders und die andern Holländer unzufrieden,
-weil die Engländer ihnen nicht gestatteten an der
-Regierung teil zu nehmen, nur ihre Steuern durften
-sie bezahlen. Da geschah es, daß <em class="antiqua">Dr.</em> Krüger und
-<em class="antiqua">Dr.</em> Jameson, denen ihr ärztlicher Beruf nicht genug
-einbrachte, in das Matabeleland einfielen mit der
-Absicht, die Hauptstadt Johannesburg zu erobern und
-Frauen und Kinder als Geißeln gefangen zu halten,
-bis die Uitlanders und andere Buren ihnen und der
-Chartered Company die politischen Rechte zugestehen
-wollten, die man ihnen bisher vorenthalten hatte.
-Dieser kühne Plan wäre sicherlich gelungen, hätten
-sich nicht Cecil Rhodes, Mr. Beit und andere Häuptlinge
-der Matabele eingemischt und ihre Landsleute
-aufgereizt sich zu empören und Deutschland den Gehorsam
-aufzusagen. Nun stachelte letzteres wieder
-den König von Abessynien auf, die italienische Armee
-zu vernichten und Johannesburg zu überfallen. Das
-alles hatte Cecil Rhodes aber angestiftet, um die
-Aktien in die Höhe zu treiben.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[286]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap21">Einundzwanzigstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Man soll des Buren Fell nicht verkaufen,
-man fange ihn denn zuvor.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Als ich vor einem Jahr den letzten Paragraphen
-des vorigen Kapitels in mein Notizbuch kritzelte,
-tat ich es, um auf drastische Weise zweierlei zum
-Ausdruck zu bringen: Erstens, wie widersprechend
-die Berichte sind, welche der Fremde von den Einheimischen
-über die südafrikanische Politik erhält,
-und zweitens, was für ein Wirrwarr dadurch im
-Kopfe des Fremden entsteht.</p>
-
-<p>Ich sehe jetzt ein, daß ich damals den Zustand
-der Dinge naturgetreuer geschildert habe, als ich
-selber wußte. In jener unruhigen und aufgeregten
-Zeit konnten die dortigen Bürger unmöglich die südafrikanische
-Politik klar und vernünftig auffassen;
-nicht nur ihre persönlichen Interessen, sondern auch
-ihre politischen Vorurteile standen ihnen sehr dabei
-im Wege. Der Fremde aber war natürlich nicht im
-stande aus ihren verworrenen Mitteilungen klug zu
-werden und den Zusammenhang der Ereignisse zu
-begreifen.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_287">[287]</span></p>
-
-<p>Mein Aufenthalt in Südafrika war nicht von
-langer Dauer. Als ich ankam befand sich das Land
-noch in der größten politischen Gärung. Vier Monate
-waren vergangen, seit Jameson mit 600 bewaffneten
-Reitern zum »Schutz der Frauen und Kinder in
-Johannesburg« die Grenze von Transvaal überschritten
-hatte. Am vierten Tage nach seinem Einmarsch
-besiegten ihn die Buren in einer Schlacht
-und führten ihn mit seinen Leuten gefangen nach der
-Hauptstadt Prätoria. Jameson und seine Offiziere
-waren zur Bestrafung an Großbritannien ausgeliefert
-und nach England eingeschifft worden, wo ihr
-Verhör stattfand. Inzwischen wurden in Johannesburg
-vierundsechzig der angesehensten Bürger als
-Jamesons Mitverschworene festgenommen. Präsident
-Krüger verurteilte die vier Haupträdelsführer
-zum Tode, die übrigen zu Gefängnis; er verwandelte
-jedoch die Strafen in längere oder kürzere Kerkerhaft,
-in welcher die vierundsechzig Leute damals
-noch schmachteten. Vor Mitte des Sommers waren
-alle wieder in Freiheit, außer zweien, welche sich
-weigerten ein Begnadigungsgesuch zu unterzeichnen.
-Achtundfünfzig von ihnen mußten eine Geldbuße
-von je 10&nbsp;000&nbsp;Dollars zahlen und die vier
-Rädelsführer 125&nbsp;000&nbsp;Dollars per Mann; auf<span class="pagenum" id="Seite_288">[288]</span>
-immer aus dem Lande verbannt wurde nur einer.</p>
-
-<p>Das war eine hochinteressante Zeit für den
-Fremden; ich schätzte mich glücklich, mitten in die
-Aufregung hineingekommen zu sein. Jedermann
-äußerte ohne Rückhalt seine Meinung und ich hoffte
-bestimmt, daß mir die ganze Angelegenheit, wenigstens
-von <em class="gesperrt">einer</em> Seite, binnen kurzem verständlich
-sein würde.</p>
-
-<p>Darin täuschte ich mich jedoch. Die Sache hatte
-so viel Eigenartiges, Schwieriges und Unerklärliches,
-daß ich ihrer nicht Herr wurde. Persönliche Beziehungen
-zu den Buren besaß ich nicht, die Anschauungen
-ihrer Partei blieben also für mich ein
-Geheimnis, soweit ich sie nicht aus den öffentlichen
-Bekanntmachungen erfuhr. Bald empfand ich denn
-auch das tiefste Mitgefühl für die Johannesburger,
-die im Kerker von Prätoria lagen, sowie für ihre
-Freunde und Angehörigen. Durch eifrige Erkundigungen
-bei letzteren hatte ich mich über alle Einzelheiten
-des Streits in Kenntnis gesetzt und glaubte
-sie zu verstehen; das heißt, von ihrem Gesichtspunkt
-aus und bis auf <em class="gesperrt">einen</em> Umstand: Was die
-Johannesburger durch eine bewaffnete Erhebung zu
-erreichen gedachten, schien niemand zu wissen.</p>
-
-<p>Im Laufe des folgenden Jahres wurde in die<span class="pagenum" id="Seite_289">[289]</span>
-Verwirrung jener Tage genügendes Licht gebracht.
-<em class="antiqua">Dr.</em> Jameson ist vor den englischen Geschworenen
-erschienen; auch Cecil Rhodes und andere an dem
-feindlichen Einfall in Transvaal direkt oder indirekt
-beteiligte Personen haben ihre Aussage vor Gericht
-erstattet, desgleichen Lionel Philipps und sonstige
-Mitglieder der Johannesburger Reformpartei, welche
-die Revolution als totgeborenes Kind zur Welt brachten.
-Weitere Aufklärung erhielt ich auch durch verschiedene
-Bücher, deren Verfasser entweder für die
-Buren oder für Cecil Rhodes oder für die Johannesburger
-Partei nahmen. Nachdem ich nun alle jene
-Aussagen voreingenommener Zeugen nebst den einseitigen
-Darstellungen der Bücher gesammelt hatte,
-mischte ich sie gut durcheinander, knetete alles tüchtig
-durch und tat den Teig in meinen eigenen (vorurteilsvollen)
-Backtrog. Durch dies Verfahren bin
-ich schließlich der verwickelten südafrikanischen Frage
-doch noch auf den Grund gekommen. Ich weiß nun,
-daß es sich damit in Wahrheit folgendermaßen
-verhielt:</p>
-
-<p>1. Die Kapitalisten und sonstigen angesehenen
-Bürger von Johannesburg litten unter gewissen politischen
-und finanziellen Unbilden und Lasten, welche
-die Transvaal-Regierung ihnen auferlegte. Die Uitlanders<span class="pagenum" id="Seite_290">[290]</span>
-bezahlten vier Fünftel aller Steuern, hatten
-kein Wahlrecht, konnten erst nach längerem Aufenthalt
-im Lande Staatsbürger werden und nach vierzehn
-Jahren in den ersten Volksraad gelangen, während
-die Buren alle höheren Aemter bekleideten
-und schon im Alter von sechzehn Jahren das volle
-Bürgerrecht hatten. So suchten denn die Uitlanders
-durch verschiedene Eingaben, Bittschriften und Vorschläge
-zu Gesetzesveränderungen auf friedlichem
-Wege eine Verbesserung ihrer Lage herbeizuführen.</p>
-
-<p>2. Cecil Rhodes, Ministerpräsident der Kapkolonie,
-Millionär, Gründer und Direktor der sogenannten
-Chartered Company, verfolgte schon seit
-einigen Jahren den Plan, alle südafrikanischen Staaten
-zu einem großen Reich unter dem Schutz und
-Schirm der britischen Flagge zu vereinigen. So benutzte
-er denn die Unzufriedenheit der Johannesburger
-Reformpartei, um sie zur gewaltsamen Empörung
-gegen die Burenregierung zu bewegen. Wenn
-es zu einem blutigen Zusammenstoß kam, konnte sich
-Großbritannien ins Mittel legen; das würden sich
-die Buren nicht gefallen lassen, und um sie für ihren
-Widerstand zu strafen, besetzte dann England selbstverständlich
-Transvaal und vereinigte es mit seinem
-übrigen südafrikanischen Länderbesitz. Der Plan war<span class="pagenum" id="Seite_291">[291]</span>
-keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern ganz
-verständig und ausführbar.</p>
-
-<p>Von seinem fernen Posten in Kapstadt aus wußte
-Rhodes die Mißstimmung der Uitlanders von Johannesburg
-auf geschickte Weise zu schüren; er half
-auch, sie mit Waffen zu versehen. Mehrere Kanonen
-und fünfzehnhundert Gewehre wurden, in
-großen Oelbehältern und Kohlenwagen versteckt, in
-die Stadt geschmuggelt. Im Dezember 1895 war
-das Reformkomite schon von Bitten zu Drohungen
-übergegangen, und der Ausbruch der Revolution
-schien nicht mehr fern.</p>
-
-<p>Rhodes hatte mit Jameson, dem Befehlshaber
-der Truppen der Chartered Company verabredet,
-daß dieser über die Grenze gehen und mit sechshundert
-Mann in Johannesburg einrücken solle. Vorher
-verlangte Jameson jedoch &ndash; wahrscheinlich auf
-Veranlassung seines Herrn und Meisters &ndash; das
-Reformkomite solle ihm eine förmliche Aufforderung
-schicken, der Stadt zu Hilfe zu kommen. So erhielt
-er den berühmten Brief, in dem er gebeten wird
-nach Johannesburg zu eilen, um sich der »schutzlosen
-Frauen und Kinder anzunehmen«. Das war kein
-schlechter Gedanke, denn die Verantwortlichkeit für
-den feindlichen Ueberfall wurde dadurch zum größten<span class="pagenum" id="Seite_292">[292]</span>
-Teil der Reformpartei zugeschoben. Die Führer
-derselben mochten dies wohl zu ihrem Schrecken einsehen,
-denn sie wollten das verfängliche Schriftstück
-schon den Tag nach dessen Absendung an Jameson
-wieder zurück haben. Es wurde ihnen jedoch bedeutet,
-dazu sei es zu spät. Das Original des
-Briefes war schon an Rhodes nach der Kapstadt
-abgegangen. Doch hatte Jameson wohlweislich eine
-Abschrift zurückbehalten.</p>
-
-<p>In Johannesburg versuchte man nun mit aller
-Anstrengung, Jameson von der Ausführung des
-Planes abzubringen. Es herrschte Uneinigkeit in
-der Stadt; einige wollten Krieg, einige Frieden.
-Manche stimmten für eine neue Regierung, andere
-wünschten die alte beizubehalten und zu reformieren.
-Zu Gunsten einer kaiserlich-britischen Kolonialherrschaft
-die Regierung in Prätoria zu stürzen, hatten
-nur ganz einzelne im Sinn. Und doch trat das
-Gerücht von Stunde zu Stunde bestimmter auf, daß
-dies der Zweck sei, den Cecil Rhodes mit seinem
-unwillkommenen Beistand verfolge.</p>
-
-<p>Drei Tage lang ließ sich Jameson zurückhalten,
-dann beschloß er nicht länger zu warten. Ohne
-Befehl &ndash; Rhodes hüllte sich in vorsichtiges Schweigen
-&ndash; zerschnitt er die Telegraphendrähte am 29.<span class="pagenum" id="Seite_293">[293]</span>
-Dezember und ging im Dunkel der Nacht über die
-Grenze. Er hatte 150 Meilen bis Johannesburg
-zurückzulegen und hoffte die Stadt ohne Hindernisse
-zu erreichen. Allein die Nachricht von seinem Einfall
-verbreitete sich wie ein Lauffeuer &ndash; man hatte
-übersehen, daß <em class="gesperrt">ein</em> Telegraphendraht nicht zerschnitten
-worden war. Schon wenige Stunden später
-kamen die Buren von allen Seiten in Windeseile herbeigeritten,
-um ihn am Vordringen zu hindern.</p>
-
-<p>In Johannesburg herrschte Furcht und Schrecken;
-Frauen und Kinder wurden bei dem Nahen ihrer
-Retter eiligst nach Australien eingeschifft und die
-friedliebenden Bürger flüchteten scharenweise auf die
-Eisenbahnen. Wer zuerst da war hatte es am besten,
-er konnte sich einen Platz im Zuge sichern, wenn er
-ihn acht Stunden vor der Abfahrt besetzte.</p>
-
-<p>Rhodes telegraphierte den Johannesburger
-Brief mit dem rührenden Hilferuf ohne Zeitverlust
-an die Londoner Presse. Ein so altersgraues Dokument
-hatte das Kabel noch nie befördert; der Brief
-war schon vor zwei Monaten geschrieben, doch das
-wußte niemand, das falsche Datum lautete ja auf
-den 20. Dezember.</p>
-
-<p>Am Neujahrstag wurde Jameson von den
-Buren geschlagen; tags darauf streckte er die Waffen.<span class="pagenum" id="Seite_294">[294]</span>
-Er trug die Abschrift des Briefes bei sich, und wenn
-er die Anweisung erhalten hatte, im Notfall dafür
-zu sorgen, daß das Schriftstück den Buren in die
-Hände fiele, so führte er den Befehl pünktlich aus.
-Man fand den Brief auf dem Schlachtfeld in Jamesons
-Satteltasche &ndash; er war ohne jegliche Geheimschrift
-in englischer Sprache abgefaßt und mit dem
-Namen der beteiligten Personen unterzeichnet. Die
-Schuld an dem Einfall wurde dadurch auf die Reformpartei
-gewälzt, so paßte es in Rhodes’ Berechnung.
-Das Original war ja überdies in Amerika,
-in England und dem übrigen Europa bekannt, ehe
-Jameson seine Abschrift auf dem Schlachtfelde verlor.
-Letzterer wurde dadurch im Lauf einer einzigen
-Woche in England zu einem berühmten Helden gestempelt,
-in Prätoria zu einem Räuberhauptmann
-und in Johannesburg zu einem Narren und ehrlosen
-Verräter &ndash; das alles hatte jener alte Brief
-bewirkt!</p>
-
-<p>Die Mitglieder der Reformpartei waren in einer
-schwierigen Lage gewesen. Hindernisse und Verwicklungen
-engten sie auf allen Seiten ein. Wie sollten
-sie ihren vielen und mannigfaltigen Obliegenheiten
-nachkommen?&nbsp;&ndash;</p>
-
-<p>1. Mußten sie <em class="antiqua">Dr.</em> Jamesons widerrechtlichen<span class="pagenum" id="Seite_295">[295]</span>
-Einfall verdammen und ihm trotzdem beistehen.</p>
-
-<p>2. Waren sie genötigt der Burenregierung Treue
-zu schwören und den Rebellen Reitpferde zu liefern.</p>
-
-<p>3. Mußten sie alle offenen Feindseligkeiten gegen
-die Burenregierung verbieten und Waffen unter
-deren Gegner verteilen.</p>
-
-<p>4. Durften sie nicht in Zwiespalt mit der englischen
-Regierung geraten, mußten Jameson unterstützen
-und der Burenregierung entblößten Hauptes
-den neuen Fahneneid leisten.</p>
-
-<p>Sie entledigten sich dieser Pflichten so gut sie
-konnten; ja, sie erfüllten sie tatsächlich alle, nur nicht
-zu gleicher Zeit, sondern nacheinander; die gleichzeitige
-Erfüllung derselben wäre wirklich ein Ding
-der Unmöglichkeit gewesen.</p>
-
-<p>Bei der ganzen Angelegenheit hat für mich die
-militärische Frage ein größeres Interesse als die
-politische, denn ich habe immer eine besondere Vorliebe
-für den Krieg gehabt. Das heißt, ich meine
-für Reden über den Krieg und Erteilung militärischer
-Ratschläge. Wäre ich am Morgen nach der Grenzüberschreitung
-bei Jameson gewesen, ich hätte ihm
-geraten, wieder umzukehren. Die Truppen, die er
-befehligte, waren nicht alte, kriegstüchtige Briten,
-sondern größtenteils ungeübte junge Burschen. Wie<span class="pagenum" id="Seite_296">[296]</span>
-sollten sie vom Pferde herab, im Gewühl der Schlacht
-sicher zielen und treffen? Das war unmöglich, besonders
-weil es gar nichts gab, wonach man schießen
-konnte, als Felsen, hinter denen nach altem Brauch
-und Herkommen die Buren steckten, denn auf freiem
-Felde kämpften sie niemals. Die dreihundert Scharfschützen
-der Buren hinter den Felsen konnten aber
-natürlich Jamesons Reitern übel mitspielen. Um
-im Kampf gegen die Buren Sieger zu bleiben, brauchten
-die Engländer nicht allein Mut, sondern auch
-Vorsicht, ganz wie wir beim Krieg gegen die Rothäute.
-Die tapfern Briten, die den verborgenen
-Buren offen entgegentraten, hatten sich die Folgen
-selbst zuzuschreiben.</p>
-
-<p>Das Land war voller Hügelketten, Klippenreihen,
-Bodensenkungen, Gräben und Moränen &ndash;
-für Reitergefechte völlig unbrauchbar. Jameson
-feuerte seine Geschütze auf die Felsen ab &ndash; er verdarb
-die guten Felsen und verschwendete seine Munition
-&ndash; aber wieviel Schaden er auch anrichtete,
-die Buren zeigten sich nicht. Nun strömten seine
-Scharen in langer Linie kühn voran, die Buren
-schossen aus dem Hinterhalt und nach der ersten
-Salve waren zwanzig englische Sättel leer. Es
-dauerte nicht lange, so lagen sechzig Prozent der<span class="pagenum" id="Seite_297">[297]</span>
-Angreifer tot oder verwundet am Boden; letztere
-wurden von den Buren gefangen in das Hospital
-nach Krügersdorp gebracht; sie selbst hatten nur
-vier Mann eingebüßt, von denen zwei aus Versehen
-durch ihre eigenen Leute getötet worden waren. Jamesons
-Truppen kamen den Buren überhaupt nicht
-nahe genug, um sie »rund um Transvaal herumzujagen«,
-wie sie geprahlt hatten. Nachdem auch
-ein letzter verzweifelter Angriff fehlgeschlagen war,
-ließ Jameson die weiße Flagge wehen und ergab sich.</p>
-
-<p>Die britische Methode der Kriegsführung läßt
-sich, wie gesagt, den Buren gegenüber durchaus nicht
-mit Glück anwenden. Wenn mir die Führung eines
-solchen Feldzugs übertragen worden wäre, hätte ich
-die Sache ganz anders angefangen. Den Charakter
-des Buren habe ich studiert: Am meisten schätzt er
-die Bibel, und sein Lieblingsessen ist ›Biltong‹
-&ndash; an der Sonne getrocknete Fleischstreifen. Die
-liebt er leidenschaftlich, und es ist ihm auch gar nicht
-zu verdenken.</p>
-
-<p>Um die Buren zu bekriegen, wäre ich nur mit
-Flinten ausgezogen und hätte die schweren Kanonen
-zu Hause gelassen, die nur unnütz den Marsch aufhalten.
-Heimlich würde ich mich bei Nacht bis zu
-einer Stelle schleichen, die etwa eine Viertelmeile<span class="pagenum" id="Seite_298">[298]</span>
-vom Lager der Buren entfernt ist, um dort eine fünfzig
-Fuß hohe Pyramide von Biltong und Bibeln
-zu bauen und meine Leute dahinter zu verbergen.
-Am nächsten Morgen würden die Buren Kundschafter
-ausschicken, der ganze Schwarm käme auf einmal
-herbeigestürmt, meine Truppen könnten sie umringen
-und Mann gegen Mann im freien Felde
-kämpfen. Dann würden sich die Verluste auf beiden
-Seiten etwas gleichmäßiger verteilen.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap22">Zweiundzwanzigstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Selbst die Tinte, mit der die Weltgeschichte
-geschrieben wird, ist nichts
-als flüssig gemachtes Vorurteil.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Der Herzog von Fife hat als Zeuge ausgesagt,
-daß Mr. Rhodes ihn betrogen habe. Mit den Johannesburgern
-hat es Mr. Rhodes ganz ebenso gemacht.
-Er hat sie ins Unglück gestürzt, ist aber selbst weit
-vom Schuß geblieben. Ein gescheiter Kopf war er
-von jeher, darüber sind alle einig. Nur einmal
-hätte man fast an dieser Tatsache irre werden können.
-Es war zur Zeit seines letzten Raubzugs im Matabele-Land;<span class="pagenum" id="Seite_299">[299]</span>
-das Kabel verkündete laut, er sei unbewaffnet
-dahin gegangen, um einige feindliche Häuptlinge
-zu besuchen. Als man aber dies tollkühne
-Beginnen bei Lichte besah, stellte sich heraus, daß
-eine Dame teil daran genommen hatte, welche ebenfalls
-unbewaffnet war.</p>
-
-<p>Manche Leute glauben, Mr. Rhodes sei gleichbedeutend
-mit Südafrika; andere halten ihn nur
-für einen wichtigen Teil des Landes. Nach ihrer
-Meinung besteht Südafrika aus dem Tafelberg, den
-Diamantgruben, den Johannesburger Goldfeldern
-und Cecil Rhodes. Die Goldfelder sind wirklich
-höchst wunderbar. In sieben oder acht Jahren wuchs
-dort in der Wüste eine Stadt von 100&nbsp;000 Einwohnern
-empor, Schwarze und Weiße zusammengenommen;
-aber nicht etwa eine gewöhnliche Bergwerksstadt
-von hölzernen Baracken, sondern durch
-und durch aus dauerhafterem Baumaterial. Nirgends
-in der Welt findet man einen solchen Goldreichtum
-wie in der Umgegend von Johannesburg.
-Mr. Bonamici, mein dortiger Geschäftsführer, gab
-mir eine kleine Goldstufe, auf welcher statistische Angaben
-über den Goldertrag seit der frühesten Zeit
-bis Juli 1895 eingeritzt waren. Sie bekunden den
-Riesenfortschritt in der Ausbeute. Im Jahre 1888<span class="pagenum" id="Seite_300">[300]</span>
-belief sich der Ertrag auf 4&nbsp;162&nbsp;440&nbsp;$; in den
-nächsten sechstehalb Jahren betrug die Totalsumme
-17&nbsp;585&nbsp;894&nbsp;$ und in dem einen Jahr bis Juni 1895
-gewann man einen Goldwert von 45&nbsp;553&nbsp;700&nbsp;$.</p>
-
-<p>Das Kapital für den Bergwerksbetrieb stammt
-aus England, die Grubeningenieure kommen aber aus
-Amerika; auch bei den Diamantgruben spielen sie
-die erste Rolle. Südafrika ist das Paradies für
-den wissenschaftlich gebildeten Hüttenmann. Die
-Amerikaner nehmen dort die besten Stellen ein und
-werden sie auch zu behaupten wissen; ihr Gehalt
-ist so hoch, wie es nicht ein einzelner, sondern eine
-ganze Familie von Ingenieuren in Amerika beziehen
-würde.</p>
-
-<p>Die Aktionäre der einträglichen Goldgruben erhalten
-bedeutende Dividenden, und doch ist das Gestein
-nicht sehr reich nach kalifornischen Begriffen;
-wenn eine Tonne den Wert von zehn oder zwölf
-Dollars liefert, ist man schon zufrieden. Das Gold
-ist so sehr mit unedlen Metallen versetzt, daß der
-Ertrag vor zwanzig Jahren nur etwa halb so groß
-gewesen wäre, als jetzt. Damals machte es sich
-nicht bezahlt, wenn man aus solchem Gestein noch
-etwas anderes als das grobkörnige reine Gold gewinnen
-wollte. Bei dem heutigen Cyanid-Verfahren<span class="pagenum" id="Seite_301">[301]</span>
-aber beträgt die Gesamtausbeute an Gold in der
-ganzen Welt jährlich fünfzig Millionen mehr, die
-früher zu den Abfällen geworfen wurden.</p>
-
-<p>Das Cyanid-Verfahren war für mich ganz neu
-und sehr interessant; auch von den großartigen und
-kostspieligen Bergwerksmaschinen hatte ich manche
-noch nie gesehen; mit dem übrigen Betrieb der Goldbergwerke
-war ich jedoch völlig vertraut. Da ich
-früher einmal selbst Goldgräber gewesen bin, verstand
-ich gerade so viel davon wie die Leute in
-Johannesburg, nur nicht, wie man Geld damit erwirbt.
-Dagegen erfuhr ich viel Neues über die Buren,
-von denen ich noch nichts wußte. Was man
-mir dort sagte, wurde mir später auch in andern
-Teilen Südafrikas bestätigt. Fasse ich nun alle jene
-Berichte zusammen, so erhalte ich von dem Buren
-folgendes Bild:</p>
-
-<p>Er ist sehr fromm, entsetzlich unwissend, schwerfällig,
-eigensinnig, gastfrei, bigott und träge;
-schmutzig in seinen Gewohnheiten, ehrlich bei Unterhandlungen
-mit den Weißen, hartherzig gegen seine
-schwarzen Diener, ein guter Schütze und Reiter, der
-Jagd sehr ergeben; eifersüchtig auf seine politische
-Unabhängigkeit, ein guter Gatte und Vater. Die
-Buren leben ungern in Städten zusammengedrängt,<span class="pagenum" id="Seite_302">[302]</span>
-sie lieben die Einsamkeit und Absonderung auf dem
-großen, entlegenen, menschenleeren ›Veld‹. Ihre Eßlust
-ist ungeheuer und sie sind nicht wählerisch bei
-Befriedigung derselben &ndash; haben sie Schweinefleisch,
-Mais und Biltong in genügender Menge, so verlangen
-sie weiter nichts. Um ein Tanzvergnügen
-mitzumachen, bei dem auch die Nacht hindurch wacker
-geschmaust und gejubelt wird, scheuen sie einen tüchtigen
-Ritt nicht; aber zu einer Gebetsversammlung
-reiten sie gern noch zweimal so weit. Sie sind
-stolz auf ihre Abstammung von den Holländern und
-Hugenotten, stolz auf ihre religiöse und militärische
-Vergangenheit, auf die Großtaten ihres Volks in
-Südafrika &ndash; ihre kühnen Entdeckungsreisen in feindliche
-und unbekannte Einöden, wo sie den Belästigungen
-der ihnen verhaßten Engländer entgehen
-konnten. Sie rühmen sich ihrer Siege über die
-Eingeborenen und die Briten, am meisten jedoch
-der persönlichen und überschwenglichen Gnade und
-Fürsorge, welche die Gottheit ihren Angelegenheiten
-allezeit hat zu teil werden lassen.</p>
-
-<p>Die Buren können durchschnittlich weder lesen
-noch schreiben, Zeitungen sind zwar vorhanden, aber
-niemand fragt danach; bis vor kurzem gab es keine
-Schulen, die Kinder lernten nichts. Was in der Welt<span class="pagenum" id="Seite_303">[303]</span>
-Neues geschieht, ist dem Buren gleichgültig, es geht
-ihn nichts an. Das Steuerzahlen ist ihm verhaßt,
-und er lehnt sich dagegen auf. Seit drittehalb Jahrhunderten
-hat er in Südafrika stockstill gestanden und
-würde am liebsten bis ans Ende aller Zeiten auf
-demselben Fleck bleiben, denn die fortschrittlichen Gedanken
-der Uitlanders sind ihm ein Greuel. Zwar
-dürstet er nach Reichtum, wie andere Menschen auch,
-aber ein reicher Viehstand ist ihm lieber als schöne
-Kleider und Häuser, Gold und Diamanten. »Hätte
-man das Gold und die Diamanten doch nie entdeckt,«
-denkt er, »dann wäre der gottlose Fremdling
-nicht ins Land gekommen, der Unruhstifter mit
-seiner Sittenverderbnis!«</p>
-
-<p>Jeder, der Olive Schreiners Bücher kennt, wird
-was ich hier anführe in der Hauptsache bestätigt
-finden. Und daß sie ein ungünstiges Vorurteil für
-den Buren hat, ist ihr noch von niemand vorgeworfen
-worden.</p>
-
-<p>Was läßt sich nun aber nach alledem von dem
-Buren erwarten? Was kann aus solchem Stoff
-entstehen? Eine Gesetzgebung, sollte man meinen,
-welche die Religionsfreiheit einschränkt, dem Fremden
-die Wahlberechtigung und Wählbarkeit verweigert,
-den Bildungs- und Erziehungsanstalten wenig<span class="pagenum" id="Seite_304">[304]</span>
-förderlich ist, die Goldproduktion einschränkt, das
-Eisenbahnnetz nicht erweitert, den Ausländer hoch
-besteuert und den Buren freiläßt.</p>
-
-<p>Die Uitlanders scheinen indessen ganz andere
-Dinge erwartet zu haben. Warum weiß ich nicht.
-Es ließ sich vernünftigerweise nichts anderes voraussehen.
-Ein runder Mensch paßt nicht gleich in
-ein viereckiges Loch; man muß ihm erst Zeit lassen,
-seine Form zu ändern. Gewisse Verbesserungen wurden
-schon vor Jamesons Ueberfall vorgenommen und
-seitdem ist noch manche Reform eingeführt worden.
-Es sitzen weise Männer im Rate der Transvaal-Regierung
-und ihnen ist der Fortschritt zu danken,
-welchem die große Masse der Buren bis jetzt noch
-kaum zugänglich ist. Wäre die Regierung weniger
-weise, so hätte sie Jameson aufgehängt und aus
-einem gewöhnlichen Piraten einen heiligen Märtyrer
-gemacht. Aber auch die Weisheit hat ihre
-Grenzen, und wenn man Mr. Rhodes jemals fängt,
-wird man ihn sicherlich aufknüpfen und zu einem
-Heiligen machen. Diese höchste aller menschlichen
-Würden sollte ihm noch verliehen werden, nachdem
-er schon alle übrigen Titel getragen hat, welche
-irdische Größen bezeichnen.</p>
-
-<p>Den Johannesburgern sind bereits viele ihrer<span class="pagenum" id="Seite_305">[305]</span>
-ursprünglichen Forderungen bewilligt worden; auch
-ihre übrigen Beschwerden dürften mit der Zeit
-schwinden. Sie sollten froh sein, daß die Steuern,
-mit denen sie so unzufrieden waren, von der Burenregierung
-erhoben wurden, statt von ihrem Freunde
-Rhodes und seiner raubsüchtigen Südafrikanischen
-Gesellschaft; denn letztere nimmt die Hälfte von allem
-in Beschlag, was die Opfer ihrer Habgier beim Grubenbau
-gewinnen, sie begnügt sich nicht mit einem
-Prozentsatz. Stünden die Johannesburger unter
-<em class="gesperrt">ihrer</em> Gerichtsbarkeit, sie wären längst im Armenhaus.
-Der Name Rhodesia ist gut gewählt, um das
-Land zu bezeichnen, wo Raub und Plünderung an
-der Tagesordnung sind und unter dem Schutz des
-Gesetzes nach Gutdünken betrieben werden können.</p>
-
-<p>Auf mehreren langen Fahrten lernten wir die
-Eisenbahnen der Kapkolonie kennen. Alle Einrichtungen
-sind bequem, man findet die größte Sauberkeit
-und in den Nachtzügen behagliche Betten. Es
-war Anfang Juni und Winterzeit: bei Tage eine
-angenehme Wärme, nachts frisch und kühl. Während
-man durch das Land fuhr, atmete man den
-ganzen Tag über mit Wonne die kräftige Luft und
-schaute auf die braune sammetweiche Ebene hinaus,
-an deren Horizont mattschimmernde Hügelketten wie<span class="pagenum" id="Seite_306">[306]</span>
-in einem fernen Traumland zu verschwimmen schienen.
-Wie tief blickte man in den Himmel hinein
-mit seinen fremden, seltsamen Wolkengebilden, wie
-flutete ringsum der herrlichste Sonnenglanz in verschwenderischer
-Fülle! Für mich hatte der Veld
-im ersten Winterkleid einen ganz besonderen Reiz.
-Wir kamen durch weite Strecken, wo der Boden
-sich wellenförmig hebt und senkt und sich endlos
-ausdehnt, gleich dem Ozean. Von dem hellsten bis
-ins dunkelste Braun waren dort alle Schattierungen
-vertreten, die sich zum schönsten Orangegelb, Purpur
-und Scharlachrot wandelten, wo die Ebene mit den
-bewaldeten Hügeln und den nackten, roten Felsklippen
-zusammenfließt und der Himmel die Erde berührt.</p>
-
-<p>Ueberall, von Kapstadt bis Kimberley und von
-Kimberley bis Port Elizabeth und East London haben
-die Städte eine zahlreiche Bevölkerung von zahmen
-Eingeborenen. Man hatte sie nicht nur gezähmt,
-sondern vermutlich auch christianisiert, denn sie trugen
-die abscheuliche Kleidung, wie sie bei unsern christlichen
-zivilisierten Völkern Sitte ist. Einige von
-ihnen hätten sich sonst durch hervorragende Schönheit
-ausgezeichnet. Die häßlichen Kleider, der ihnen
-eigene schleppende Gang, das sorglose Lachen und
-ihre gutmütigen Gesichter mit dem zufriedenen, glücklichen<span class="pagenum" id="Seite_307">[307]</span>
-Ausdruck machten sie zu einem täuschenden
-Ebenbild unserer amerikanischen Schwarzen. Wo
-nun alles andere vollkommen harmonisch und durch
-und durch afrikanisch war, kam plötzlich ein Schwarm
-solcher Eingeborenen gegangen, die gar nicht dorthin
-paßten. Sie brachten einen Mißklang in die
-Stimmung, es entstand ein halb afrikanisches, halb
-amerikanisches Gemisch und der ganze Eindruck war
-verdorben.</p>
-
-<p>An einem Sonntag sah ich in King Williams
-Town wohl ein Dutzend farbige Weiber, die nach
-neuster Mode kostbar und auffallend in die widersprechendsten
-und grellsten Farben gekleidet waren.
-Sie kamen über den großen, leeren Platz geschritten
-und zeigten in Gang und Miene jene schmachtende
-Vornehmtuerei, jenes innige Wohlgefallen an ihrem
-Putz, das ich so genau kannte und das für mich stets
-eine wahre Augenweide ist. Mir war, als sei ich
-nach fünfzigjähriger Trennung wieder unter guten
-alten Freunden und ich blieb stehen, um sie herzlich
-zu begrüßen. Sie brachen in ein kameradschaftliches
-Lachen aus, ihre weißen Zähne blitzten mir entgegen;
-alle antworteten auf einmal, doch verstand ich kein
-Wort von dem was sie sagten. Das verwunderte mich
-höchlich; es war mir auch nicht im Traum eingefallen,<span class="pagenum" id="Seite_308">[308]</span>
-daß sie eine andere Sprache reden könnten
-als Amerikanisch.</p>
-
-<p>Auch die weichen, wohlklingenden Stimmen der
-afrikanischen Frauen erinnerten mich an die Sklavinnen
-aus meiner Kinderzeit. Ich folgte einigen bis
-in den Oranje-Freistaat, das heißt, durch die ganze
-Hauptstadt Bloemfontein, nur um den Laut ihrer
-Stimme und ihr lustiges Lachen zu hören.</p>
-
-<p>Auf unsern Eisenbahnfahrten durch das Land
-hatte ich Gelegenheit viele Buren zu sehen, die auf
-dem einsamen Veld leben. Eines Tages stiegen in
-einem Dorf hundert zusammen aus der dritten Klasse,
-um sich auf der Station gütlich zu tun. Ihr Anzug
-interessierte mich. Etwas so Häßliches an Form
-und unharmonischer Zusammenstellung der Farben
-war mir noch nicht vorgekommen. Der Anblick regte
-mich in seiner Art fast ebenso auf, wie das Schauspiel,
-welches mir die geschmackvollen Trachten und
-schönen glänzenden Gewänder auf den indischen Stationen
-bereitet hatten. Ein Mann trug Beinkleider
-aus geripptem Baumwollzeug von dem abscheulichsten
-verschossenen Gelbbraun, das ich je gesehen
-habe, und sie waren obendrein neu, die Farbe war
-absichtlich gewählt, nicht durch irgend ein Mißgeschick
-entstanden. Ein langer, vierschrötiger Lümmel hatte<span class="pagenum" id="Seite_309">[309]</span>
-einen zerknitterten grauen Schlapphut mit breiter
-Krempe auf dem Kopf, rosinfarbene Hosen und einen
-scheußlichen, nagelneuen Tuchrock, der mit seinen
-wellenförmigen, breiten gelben und braunen Streifen
-ein Tigerfell nachahmen sollte. Nach meiner
-Meinung verdiente der Mensch gehängt zu werden;
-als ich aber den Stationsvorsteher fragte, ob sich
-das nicht bewerkstelligen ließe, verneinte er es auf
-grobe Weise und mit ganz unnötiger Heftigkeit. Im
-Fortgehen murmelte er noch etwas in den Bart, das
-wie ›Esel‹ klang; auch lenkte er die öffentliche Aufmerksamkeit
-auf mich und man zeigte mit Fingern
-nach mir. Das hat man davon, wenn man versucht
-etwas Gutes zu tun, es ist der Lohn der Welt!</p>
-
-<p>An jenem Tage erzählte mir ein Mitreisender
-im Zuge noch allerlei von den Buren. Er sagte,
-daß sie früh aufstehen und ihre Schwarzen an die
-Arbeit treiben (sie müssen die Herden draußen auf
-der Weide hüten), dann setzen sie sich hin um zu
-essen, zu rauchen und zu schlafen; gegen Abend überwachen
-sie das Melken u. dgl., essen, rauchen und
-schlafen wieder, und gehen bei Dunkelwerden wieder
-zu Bett in den wohlriechenden Kleidern, die sie den
-ganzen Tag über und an jedem Werktag seit Jahren
-getragen haben. Auch von ihrer bekannten Gastfreiheit<span class="pagenum" id="Seite_310">[310]</span>
-wußte er ein Beispiel zu berichten: Einmal
-machte ein hochwürdiger Bischof von Amts wegen
-eine Reise durch den Veld, wo es keine Gasthäuser
-gibt. Zur Nacht kehrte er bei einem Buren ein,
-und als das Abendessen vorüber war, wies man
-ihm sein Bett an. Er war müde und angegriffen
-von seinem Tagewerk, kleidete sich aus und lag bald
-in tiefem Schlaf. In der Nacht ward ihm so eng
-und beklommen zu Mute, daß er erwachte; da sah
-er den alten Buren und seine dicke Frau rechts und
-links von ihm im Bett liegen; sie hatten alle ihre
-Kleider anbehalten und schnarchten laut. Ihm blieb
-nichts übrig als sich still zu verhalten und sein
-Geschick zu ertragen; er quälte sich wachend bis zur
-Morgendämmerung, dann schlummerte er noch ein
-Stündchen ein. Als er die Augen wieder aufschlug,
-war der alte Bur fort, aber die Frau lag noch
-an seiner Seite.</p>
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p><span class="pagenum" id="Seite_311">[311]</span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="chap23">Dreiundzwanzigstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Es gibt keinen Breitegrad auf der ganzen
-Erdkugel, der sich nicht einbildet, daß er
-eigentlich von Rechts wegen der Aequator
-sein solle.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Unter den Naturerscheinungen von Südafrika
-interessierte mich &ndash; nächst Mr. Rhodes &ndash; der Diamantkrater
-am meisten. Die Goldfelder im ›Rand‹
-sind von erstaunlicher Größe; keine Goldgrube der
-Welt kann sich neben ihnen blicken lassen, aber, wie
-gesagt, den Betrieb kannte ich schon. Auch der Veld
-macht einen gewaltigen Eindruck, doch ist er im
-Grunde nur eine edlere, schönere Abart unserer großen
-Prairie. Die Eingeborenen boten mir viel Anziehendes
-aber wenig Neues, und in den Städten fand
-ich mich meist von Anfang an ohne Führer zurecht,
-denn ich <span id="corr311">kannte</span> die Straßen auswendig, da ich sie
-unter andern Namen in den Städten anderer Länder
-genau so gesehen hatte. Nur die Diamantgruben
-waren für mich eine vollständige Neuheit, die mich
-ganz und gar gefangen nahm. Es leben nur wenige
-Leute, die den Diamanten in seiner Heimat besucht
-haben. Gold findet man an zahlreichen Orten, aber<span class="pagenum" id="Seite_312">[312]</span>
-der Diamant ist nur an drei oder vier Stellen in der
-Welt heimisch; es lohnt wohl der Mühe um den
-Erdball zu segeln, wenn man dafür die kostbarste
-und auserlesenste Seltenheit aus der Schatzkammer
-der Natur zu sehen bekommt.</p>
-
-<p>Die Diamantlager bei Kimberley wurden im
-Jahre 1869 entdeckt; in Anbetracht der besonderen
-Umstände muß man sich nur verwundern, daß die
-Afrikaner sie nicht schon seit fünftausend Jahren
-kennen und ausbeuten. Man fand die ersten Diamanten
-offen auf der Oberfläche liegen; sie waren glatt
-und durchsichtig und schienen Feuer zu speien, wenn
-die Sonne sie bestrahlte. Hätte man nicht meinen
-sollen, der Wilde würde sie jederzeit höher geschätzt
-haben als alles andere auf der Welt, mit Ausnahme
-von Glasperlen? &ndash; Seit zwei oder drei Jahrhunderten
-haben wir ihm sein Land, sein Vieh, seinen
-Nachbar und alles was er sonst noch zu verkaufen
-hatte, für Glasperlen abgehandelt. Es ist daher
-höchst verwunderlich, daß er sich den Diamanten
-gegenüber so gleichgültig verhalten hat; denn er
-muß sie, ohne Zweifel, unzähligemale aufgelesen
-haben. Daß die Afrikaner nicht versuchten sie an
-die Weißen zu verkaufen, ist sehr natürlich, denn
-die Weißen besaßen ja schon Glasperlen von viel<span class="pagenum" id="Seite_313">[313]</span>
-gefälligerer Form in Hülle und Fülle. Aber die
-ärmeren Schwarzen, deren Mittel ihnen nicht erlaubten
-sich mit wirklichem Glas zu schmücken, hätten
-sich doch damit begnügen können die glitzernden Dinger
-zu tragen; sie wären dem weißen Händler aufgefallen,
-er hätte eine Probe mit nach Hause genommen
-und nachdem ihre Natur erkannt worden war,
-würden die Glücksjäger scharenweise nach Afrika geströmt
-sein. Die Weltgeschichte ist manchmal recht
-sonderbar, eines ihrer seltsamsten Vorkommnisse ist
-aber ohne Frage, daß man die Diamanten Jahrhunderte
-lang auf der Erde funkeln ließ, ohne daß
-sich irgend ein Mensch darum kümmerte.</p>
-
-<p>Durch einen Zufall wurde die Wahrheit endlich
-offenbar: In einer Burenhütte auf der weiten, einsamen
-Ebene bemerkte ein fremder Reisender, daß
-ein Kind mit einem glänzenden Gegenstand spielte.
-Man sagte ihm, es sei ein Glasstückchen, das auf
-dem Veld gefunden worden wäre. Er kaufte es
-für eine Kleinigkeit, nahm es mit, und da er kein
-ehrlicher Mann war, machte er einem anderen Fremdling
-weiß, es sei ein Diamant. Er ließ sich 125&nbsp;Dollars
-dafür bezahlen und war so vergnügt über
-den ungerechten Handel, als ob er ein gutes Werk
-getan hätte. In Paris verkaufte der betrogene<span class="pagenum" id="Seite_314">[314]</span>
-Fremde das vermeintliche Glasstück für 10&nbsp;000&nbsp;Dollars
-an einen Pfandverleiher; dieser ließ sich dafür
-von einer Gräfin 90&nbsp;000&nbsp;Dollars zahlen; die Gräfin
-verkaufte es einem Bierbrauer für 800&nbsp;000&nbsp;Dollars,
-der Bierbrauer ließ sich dafür vom König ein Herzogtum
-und einen Stammbaum verleihen und der König
-verpfändete den Diamanten. So hat sich die Sache
-in Wirklichkeit zugetragen.</p>
-
-<p>Die Kunde von der großen Entdeckung verbreitete
-sich mit Blitzesschnelle und das südafrikanische
-Diamantenfieber brach aus. Jener erste Reisende,
-der so unehrlich war, erinnerte sich auf einmal,
-daß er gesehen hatte, wie ein Fuhrmann auf
-steilem Wege sein Wagenrad mit einem Diamanten
-gehemmt hatte, der so groß war wie ein Kinderkopf.
-Sofort gab er alle andern Geschäfte auf und zog
-aus, um jenen Diamanten zu suchen. Dabei hatte
-er jedoch keineswegs die Absicht, irgend jemand wieder
-um 125&nbsp;Dollars zu betrügen, denn er war unterdessen
-in sich gegangen.</p>
-
-<p>Wir wollen die Sache nun von ihrer lehrreichen
-Seite betrachten: Die Diamanten liegen nicht
-in fünfzig Meilen langen Felsschichten eingebettet,
-wie das Johannesburger Gold, sondern sie verteilen
-sich in den Schuttmassen, welche, wenn man so sagen<span class="pagenum" id="Seite_315">[315]</span>
-will, den Schacht eines scharf abgegrenzten Brunnens
-ausfüllen; außerhalb der Brunnenwände finden sich
-keine Diamanten. Dieser Schacht ist nichts anderes
-als ein großer Krater, dessen Oberfläche mit Gras
-überwachsen ist und sich auf keine Weise von der
-Ebene ringsumher unterscheidet. Das Weideland
-über dem Diamantenkrater von Kimberley war groß
-genug, um einer Kuh Nahrung zu geben, und von
-der Weide, die im Innern verborgen war, hätte sich
-ein Königreich satt essen können. Aber die Kuh
-wußte nichts davon und verscherzte ihr Glück.</p>
-
-<p>Der Kimberley-Krater hat einen solchen Umfang,
-daß das römische Kolosseum Platz darin fände; wie
-weit sich die Einsenkung in die Tiefe erstreckt, weiß
-niemand, denn man ist noch nicht bis zum Boden
-des Kraters gekommen. Ursprünglich war das ganze
-senkrechte Loch mit einer festen, bläulichen Masse
-von vulkanischem Tuffstein angefüllt, in welcher sich
-die Diamanten verteilen gleich den Rosinen in einem
-Pudding. So tief wie sich das blaue Gestein in das
-Erdinnere erstreckt, wird man auch Diamanten
-darin finden.</p>
-
-<p>In der Nähe gibt es noch drei oder vier berühmte
-Krater, alle in einem Umkreis von kaum
-drei Meilen Durchmesser. Sie gehören der De Beers-Gesellschaft,<span class="pagenum" id="Seite_316">[316]</span>
-die vor zwölf oder vierzehn Jahren
-von Mr. Rhodes gegründet wurde. Auch noch andere
-Krater, die zur Zeit das Gras bedeckt, sind
-Eigentum der De Beers, welche genau wissen, wo sie
-liegen und sie eines schönen Tages öffnen werden,
-wenn die Gelegenheit günstig ist.</p>
-
-<p>Anfänglich waren die Diamantenlager im Besitz
-des Oranje-Freistaats; aber durch eine wohlüberlegte
-›Berichtigung‹ der Grenzlinie wurden sie der
-Kapkolonie einverleibt und kamen unter britische
-Herrschaft. Ein hoher Beamter des Freistaats sagte
-mir, man habe der Republik 400&nbsp;000&nbsp;Dollars Entschädigung,
-Schmerzensgeld, oder wie man es nennen
-will, ausgezahlt, und nach seiner Meinung hätte die
-Regierung klug daran getan, die Summe anzunehmen
-und jeden Streit zu vermeiden, da alle Macht auf
-der einen und alle Schwäche auf der anderen Seite
-war. Jetzt gräbt die De Beers-Gesellschaft wöchentlich
-Diamanten im Wert von 400&nbsp;000&nbsp;Dollars aus.
-Das Kapland hat zwar den Grund und Boden erhalten,
-aber nicht den Gewinn, denn die Gruben sind,
-wie gesagt, Eigentum von Mr. Rhodes, den Rothschilds
-und anderen De Beers-Leuten, die keine Abgaben
-bezahlen.</p>
-
-<p>Heutzutage stehen die Gruben unter Leitung der<span class="pagenum" id="Seite_317">[317]</span>
-fähigsten amerikanischen Grubeningenieure und werden
-nach wissenschaftlichen Grundsätzen ausgebeutet.
-Großartige Maschinen sind in Tätigkeit, um das
-blaue Gestein zu zerkleinern, aufzuweichen und solange
-zu bearbeiten, bis jeder Diamant, den es enthält,
-aufgefunden und in Sicherheit gebracht worden
-ist. Ich sah den ›Konzentratoren‹ bei ihrer Arbeit
-zu; sie standen vor großen Behältern voll Schlamm,
-Wasser und unsichtbaren Diamanten, und man sagte
-mir, daß ein Mann täglich dreihundert Wagenladungen
-aufgeweichtes Gestein &ndash; zu 1600&nbsp;Pfund
-die Ladung &ndash; durchrühren, auspumpen, zubereiten
-und in drei Wagenladungen Schlamm umwandeln
-könne. Man brachte in meinem Beisein die drei
-Wagenladungen Schlamm auf die Siebsetzmaschine,
-welche sie auf eine Viertelladung reinen, dunkelfarbigen
-Sandes reduzierte. Dann ging es zu den
-Sortier-Tischen, wo ich sah, wie die Arbeiter den
-Sand rasch und geschickt ausbreiteten, ihn hin- und
-herfegten und jeden Diamanten herausnahmen, den
-sie aufblitzen sahen. Ich beteiligte mich eine Weile
-daran und fand einen Diamanten, der halb so groß
-war wie eine Mandel. Dies Fischen ist sehr aufregend;
-mich durchbebte jedesmal ein Freudenschauer,
-wenn ich einen der funkelnden Steine aus<span class="pagenum" id="Seite_318">[318]</span>
-dem dunkeln Sand hervorglänzen sah. Könnte ich
-mir doch dann und wann zum Festtagsspaß diesen
-Zeitvertreib machen!</p>
-
-<p>Natürlich fehlt es dabei auch nicht an Enttäuschungen.
-Zuweilen findet man einen Diamanten,
-der keiner ist, sondern nur ein Stück Bergkrystall
-oder ein ähnlich wertloses Ding. Der Sachverständige
-unterscheidet es meist von dem Edelstein, den
-es nachäffen will. Im Zweifelfall legt er es auf
-eine Eisenplatte und schlägt mit dem Schmiedehammer
-darauf. Ist es ein Diamant, so bleibt es heil
-und ganz, alles andere wird zu Pulver zermalmt.
-Diese Probe gefiel mir so sehr, daß ich immer wieder
-mit Vergnügen zusah, wie oft sie auch vorgenommen
-wurde. Man setzt dabei nichts aufs Spiel, und die
-Spannung ist ein großer Genuß.</p>
-
-<p>Die De Beers-Gesellschaft läßt täglich 8000 Wagenladungen
-&ndash; etwa 6000 Tonnen &ndash; blaues Gestein
-verarbeiten und gewinnt daraus drei Pfund
-Diamanten, die in rohem Zustand einen Wert von
-50&nbsp;000 bis 70&nbsp;000&nbsp;Dollars haben. Nachdem sie geschliffen
-sind, wiegen sie weniger als ein Pfund,
-ihr Wert ist aber vier- bis fünfmal größer als
-vorher.</p>
-
-<p>Die ganze Ebene in jener Gegend ist einen<span class="pagenum" id="Seite_319">[319]</span>
-Fuß hoch mit dem blauen Gestein bedeckt, so daß sie
-aussieht wie ein gepflügtes Feld. Die Gesellschaft
-läßt die Stücke ausbreiten, um sie längere Zeit der
-Luft auszusetzen, weil sie dann leichter zu bearbeiten
-sind, als wenn sie unmittelbar aus der Grube kommen.
-Würde der Betrieb jetzt eingestellt, so könnte
-man von dem Gestein, das dort auf dem Felde liegt,
-noch drei Jahre lang täglich 8000 Wagenladungen
-nach den Sortierwerken bringen. Die Felder sind
-eingezäunt, sie werden bewacht und nachts durch
-hohe elektrische Scheinwerfer beleuchtet, was sehr
-zweckmäßig ist, da dort Diamanten im Wert von
-fünfzig bis sechzig Millionen Dollars liegen und an
-unternehmungslustigen Dieben kein Mangel herrscht.</p>
-
-<p>Auch im Schmutz der Straßen von Kimberley
-sind Reichtümer verborgen. Vor einiger Zeit erteilte
-man den Bewohnern unbeschränkte Erlaubnis sie
-aufzuwaschen. Von allen Seiten strömten Leute herbei,
-die Arbeit wurde sehr gründlich verrichtet und
-eine reichliche Diamanternte gehalten.</p>
-
-<p>Die Grubenarbeiter sind Eingeborene, die zu
-vielen Hunderten in Hütten wohnen, welche innerhalb
-eines großen, umzäunten Hofes stehen. Es
-ist ein lustiges, gutmütiges Volk und sehr gefällig;
-der Kriegstanz, den sie vor uns aufführten, war das<span class="pagenum" id="Seite_320">[320]</span>
-wildeste Schauspiel, das ich je gesehen habe. Während
-ihrer Dienstzeit, welche, wenn ich nicht irre, in der
-Regel drei Monate dauert, dürfen sie den Hof nicht
-verlassen. Sie steigen in den Schacht hinunter, tun ihre
-Arbeit, kommen wieder herauf, werden durchsucht und
-gehen zu Bett oder machen sich irgendwo eine Kurzweil
-auf dem Hofe. Das ist ihr Lebenslauf, tagaus,
-tagein.</p>
-
-<p>Man glaubt, daß es ihnen jetzt nur selten gelingt,
-Diamanten zu stehlen. Früher verschluckten
-sie dieselben oder erfanden andere Methoden sie zu
-verbergen. Aber der Weiße läßt sich jetzt schwer
-überlisten. Ein Mann schnitt sich sogar ins Bein
-und versteckte einen Diamanten in der Wunde, doch
-selbst dieser Kunstgriff schlug fehl. Wenn die Leute
-einen schönen, großen Diamanten finden, liefern sie
-ihn im allgemeinen lieber ab, statt ihn zu stehlen. Im
-erstern Falle erhalten sie eine Belohnung, im letzteren
-kommen sie höchstwahrscheinlich in Ungelegenheiten.
-Vor einigen Jahren fand ein Schwarzer in einer
-Grube, die nicht den De Beers gehörte, den Diamanten,
-von welchem man sagt, er sei der größte, den die
-Welt je gesehen habe. Zum Lohn dafür wurde er
-vom Dienst befreit, erhielt eine wollene Decke, ein
-Pferd und 500&nbsp;Dollars. Das machte ihn zu einem<span class="pagenum" id="Seite_321">[321]</span>
-Krösus; er konnte sich vier Weiber kaufen und behielt
-noch Geld übrig. Ein Eingeborener, der vier Weiber
-hat, braucht nicht mehr für seinen Unterhalt zu sorgen
-und keine Hand zur Arbeit zu rühren, er ist ein
-vollkommen unabhängiger Mensch.</p>
-
-<p>Jener Riesen-Diamant wiegt 971 Karat. Er
-soll so groß sein, wie ein Stück Alaun oder wie ein
-Mundvoll Zuckerkant, manche behaupten sogar, wie
-ein Klumpen Eis. Aber diese Angaben schienen
-mir unwichtig und obendrein unzuverlässig. Der
-Diamant hat einen Fehler im Innern, sonst würde
-er von völlig unerschwinglichem Werte sein. So
-wie er ist, schätzt man ihn auf 2&nbsp;000&nbsp;000&nbsp;Dollars,
-folglich müßte er nach dem Schleifen 5&nbsp;000&nbsp;000 bis
-8&nbsp;000&nbsp;000&nbsp;Dollars kosten; wer den Diamanten jetzt
-kauft, kann also viel Geld ersparen. Er ist Eigentum
-eines Syndikats und hat bisher keinen zahlungsfähigen
-Käufer gefunden, so ist er denn ein totes
-Kapital, bringt nichts ein und hat, außer dem glücklichen
-Finder, noch niemand reich gemacht.</p>
-
-<p>Der Eingeborene fand ihn in einer Grube, welche
-im Kontrakt bearbeitet wurde. Das heißt, eine Gesellschaft
-hatte sich für eine bestimmte Summe und
-eine Abgabe vom Ertrag das Vorrecht erkauft,
-5&nbsp;000&nbsp;000 Wagenladungen blaues Gestein aus der<span class="pagenum" id="Seite_322">[322]</span>
-Grube zu holen. Bei der Spekulation war kein
-Gewinn erzielt worden; doch gerade am Tage, ehe
-der Kontrakt ablief, kam der Schwarze mit dem
-Diamanten angegangen. Auch die Diamantenfelder
-sind nicht arm an überraschenden Episoden, wie
-man sieht.</p>
-
-<p>Zwar wird der bekannte Koh-i-Noor mit Recht
-wegen seiner Größe und Kostbarkeit gepriesen, doch
-kann er sich nicht mit drei andern Diamanten messen,
-die zu den Kronjuwelen von Portugal und Rußland
-gehören sollen, und von denen einer den Wert von
-20&nbsp;000&nbsp;000&nbsp;Dollars hat, während der zweite auf
-25&nbsp;000&nbsp;000&nbsp;Dollars geschätzt wird und der dritte
-auf 28&nbsp;000&nbsp;000&nbsp;Dollars.</p>
-
-<p>Das sind in der Tat wunderbare Diamanten
-&ndash; mögen sie der Sage angehören oder der Wirklichkeit
-&ndash; aber der Edelstein, mit welchem jener Fuhrmann,
-von dem ich oben sprach, auf dem steilen
-Weg seinen Wagen gehemmt hat, war doch noch
-viel größer. In Kimberley traf ich mit dem Manne
-zusammen, der vor achtundzwanzig Jahren selbst
-mit angesehen hatte, wie der Bur den Diamanten
-unter das Wagenrad schob. Als er mir versicherte,
-der Stein sei eine Billion Dollars wert, wenn nicht
-darüber, glaubte ich es ihm aufs Wort. Der Mann<span class="pagenum" id="Seite_323">[323]</span>
-hat siebenundzwanzig Jahre seines Lebens darauf
-verwendet nach dem Diamanten zu suchen und wird
-wohl seiner Sache gewiß sein.</p>
-
-<p>Wer sich das langwierige, mühevolle und kostspielige
-Verfahren angesehen hat, durch welches die
-Diamanten aus der Tiefe der Erde ans Licht gefördert
-und von den Schlacken befreit werden, die
-sie einschließen, der sollte zum Schluß nicht verfehlen,
-dem Bureau der De Beers in Kimberley
-einen Besuch abzustatten, wo täglich der Ertrag der
-Gruben abgeliefert, gewogen, sortiert, geschätzt und
-bis zum Einschiffen in eisernen Schränken verwahrt
-wird. Ohne besondere Empfehlungen erhält niemand
-Einlaß an diesem Ort, und aus den zahlreichen
-Warnungstafeln und Schutzvorrichtungen, die allenthalben
-angebracht sind, können selbst bekannte und
-gutempfohlene Personen leicht ersehen, daß sie keine
-Diamanten stehlen dürfen, wenn sie sich nicht Unannehmlichkeiten
-aussetzen wollen.</p>
-
-<p>Wir sahen die Ausbeute jenes Tages in glänzenden
-kleinen Häufchen auf weißen Papierbogen
-liegen. Zwischen den einzelnen Diamanthäufchen war
-auf dem Tisch immer ein Fußbreit Raum gelassen.
-Der Tagesertrag stellte einen Wert von 70&nbsp;000&nbsp;Dollars
-dar. Im Lauf eines Jahres kommen dort auf<span class="pagenum" id="Seite_324">[324]</span>
-die Wage etwa eine halbe Tonne Diamanten, welche
-achtzehn bis zwanzig Millionen Dollars einbringen;
-der Profit beträgt ungefähr 12&nbsp;000&nbsp;000&nbsp;Dollars.</p>
-
-<p>Das Sortieren wird von jungen Mädchen besorgt;
-es ist eine hübsche, reinliche, nette, aber vermutlich
-recht qualvolle Arbeit. Täglich lassen die
-Mädchen reiche Schätze auf der Hand funkeln und
-durch die Finger gleiten und gehen doch abends so
-arm zu Bette, wie sie morgens aufgestanden sind, und
-das einen Tag wie alle Tage.</p>
-
-<p>Auch in ihrem Urzustand sind die Diamanten
-wunderhübsch anzusehen; sie haben verschiedene Formen,
-eine glatte Oberfläche und abgerundete Ränder,
-niemals scharfe Ecken. Es gibt Diamanten in allen
-Farben und Schattierungen, vom klarsten Weiß des
-Tautropfens bis zum wirklichen Schwarz; die meisten
-sind hell und strohfarben. Wenn sie so glatt und
-rund, so durchsichtig und schillernd daliegen, meint
-man einen Haufen Fruchtbonbons zu sehen. Mir
-schien, als müßten diese rohen Edelsteine weit schöner
-sein als geschliffene. Erst als eine Sammlung geschliffener
-Diamanten hereingebracht wurde, erkannte
-ich meinen Irrtum. Einem Rosen-Diamanten mit
-natürlichem Farbenspiel läßt sich an Schönheit nichts
-vergleichen, außer ein Ding, das ganz und gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_325">[325]</span>
-kostbar ist und ihm doch täuschend ähnlich sieht. Das
-ist vom Sonnenlicht durchglühtes Meerwasser, dessen
-Wellen den weißen Ufersand bespülen.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Noch vor Mitte Juli kamen wir nach Kapstadt,
-dem Endpunkt unserer Reise in Afrika. Nun waren
-wir ganz befriedigt, denn als wir den hohen Tafelberg
-über uns thronen sahen, wußten wir, daß wir
-alle großen südafrikanischen Sehenswürdigkeiten in
-Augenschein genommen hatten, außer Cecil Rhodes.
-&ndash; Ich weiß wohl, das ist keine unbedeutende Ausnahme.
-Denn mag nun Mr. Rhodes der erhabene
-und verehrungswürdige Patriot und Staatsmann
-sein, für welchen ihn viele halten, oder der Teufel
-in Menschengestalt, für den ihn die übrige Welt
-ansieht, jedenfalls ist er die imposanteste Persönlichkeit
-im britischen Reich, außerhalb Englands:
-Wenn er auf dem Kap der Guten Hoffnung steht,
-fällt sein Schatten bis zum Zambesi. Er ist der einzige
-Kolonist in den britischen Besitzungen, dessen
-Kommen und Gehen allerwärts auf der Erde besprochen
-und verzeichnet wird, dessen Reden das Kabel
-unverkürzt nach allen Enden der Welt entsendet und
-der einzige Ausländer von nicht königlichem Geblüt,
-dessen Ankunft in London ebenso viel Aufsehen macht,
-wie eine Sonnenfinsternis.</p>
-
-<p><span class="pagenum" id="Seite_326">[326]</span></p>
-
-<p>Daß er kein Findelkind des Glückes, sondern
-ein außerordentlicher Mensch ist, leugnen auch seine
-liebsten südafrikanischen Feinde nicht, soweit mir ihr
-Zeugnis bekannt ist. Die ganze Welt Südafrikas
-&ndash; Freund wie Feind &ndash; sieht mit ehrfurchtsvollem
-Schauer zu ihm empor. Dem einen Teil erscheint
-er als Bote Gottes, dem andern als ein Abgesandter
-des Satans; das Volk ist sein Eigentum, mit einem
-Hauch kann er es beglücken oder ins Verderben stürzen;
-viele beten ihn an, viele verabscheuen ihn, aber
-kein kluger Mann wagt ihm zu fluchen, und selbst
-die Unvorsichtigen tun es nur in leisem Flüsterton.</p>
-
-<p>Was verschafft ihm aber diese gefürchtete Oberhoheit?
-Ist es sein ungeheuerer Reichtum, von dessen
-Fettöpfen für eine Menge Menschen Lohn und Unterhalt
-herabträufeln, was sie zu einem willfährigen
-Untergebenen macht? Ist es seine persönliche Anziehungskraft
-und Ueberredungskunst, mit der er alles
-hypnotisiert, was in den Bannkreis seines Einflusses
-gerät? Sind es seine majestätischen Gedanken und
-Riesenpläne für die Machterweiterung des britischen
-Reiches, sein patriotischer und selbstloser Ehrgeiz?
-Will er den segensreichen Schutz und die gerechte
-Herrschaft Englands über die weiten Länder des
-heidnischen Afrikas ausbreiten, damit der dunkle Erdteil<span class="pagenum" id="Seite_327">[327]</span>
-vom Ruhme des britischen Namens wiederstrahlt?
-Oder beansprucht er die Erde als sein Eigentum und
-halten seine Freunde so standhaft an ihm fest, weil
-sie glauben, er wird sie bekommen und auch ihnen
-etwas abgeben? &ndash; Was auch immer des Rätsels
-Lösung ist, das Endresultat bleibt dasselbe.</p>
-
-<p>Jedenfalls steht die Tatsache fest, daß Rhodes
-tun kann was er will, ohne seine Herrschaft und
-seinen ungeheuern Anhang zu verlieren. Der Herzog
-von Fife sagt selbst, ›er habe ihn betrogen‹, doch
-läßt sich der Herzog in seiner Ergebenheit dadurch
-nicht irre machen. Rhodes bringt die Reformpartei
-durch seinen Einfall in Transvaal in große Not,
-aber die meisten glauben, er habe es gut gemeint.
-Er beklagt die schwerbesteuerten Johannesburger und
-macht sie sich zu Freunden; gleichzeitig verlangt
-er von seinen Ansiedlern in Rhodesia fünfzig Prozent
-und sichert sich dadurch ihr Vertrauen und ihre Zuneigung
-in solchem Maße, daß sie in Verzweiflung
-geraten, sobald sich nur das Gerücht verbreitet, die
-Chartered Company solle aufgelöst werden. Er fällt
-ins Land der Matabele ein, die er beraubt, erschlägt,
-und sich dienstbar macht; dafür wird er von
-allen Charter-Christen mit Lobsprüchen überhäuft.
-Er hat die Briten verführt, tonnenweise wertlose<span class="pagenum" id="Seite_328">[328]</span>
-Charter-Papiere für Noten der Bank von England
-zu kaufen, und doch streuen ihm die Beraubten Weihrauch,
-als dem Gott künftigen Ueberflusses. Er hat
-alles getan, was sich irgend tun ließ, um seinen
-Sturz vorzubereiten; ein Dutzend großer Männer
-wären an seiner Stelle sicherlich zu Fall gekommen.
-Er aber steht bis zum heutigen Tage auf seiner
-schwindelnden Höhe unter dem Himmelsdom, als
-ein Wunder seiner Zeit, als das Geheimnis des
-Jahrhunderts; die eine Hälfte der Welt hält ihn
-für einen geflügelten Erzengel und die andere für
-einen geschwänzten Teufel.</p>
-
-<p>Ich bewundere ihn sehr, das gestehe ich ganz
-offen, und wenn seine Zeit kommt, will ich mir ein
-Ende von seinem hanfenen Strick zum Andenken
-kaufen.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<h2 class="nobreak" id="chap24">Vierundzwanzigstes Kapitel.</h2>
-</div>
-
-<div class="epi">
-<p>Ich bin mehr gereist als irgend ein Mensch
-und habe die Entdeckung gemacht, daß selbst
-die Engel kein reines Englisch sprechen.</p>
-<p class="right">
-<em class="gesperrt">Querkopf Wilsons Kalender.</em>
-</p>
-</div>
-
-<p class="drop">Den majestätischen Tafelberg habe ich jedenfalls
-gesehen. Er ist 3000 Fuß hoch; hat aber auch
-eine Höhe von 17&nbsp;000 Fuß. Man kann sich auf diese<span class="pagenum" id="Seite_329">[329]</span>
-Zahlen verlassen, denn ich weiß sie aus dem Munde
-der zwei Bürger von Kapstadt, welche am besten
-darüber unterrichtet sind, weil sie sich das Studium
-des Tafelbergs zum Lebensberuf gemacht haben. Die
-Tafelbai wird so genannt, weil sie ganz eben ist.
-Das Schloß des kommandierenden Generals ist vor
-dreihundert Jahren von der Holländisch-Ostindischen
-Kompagnie erbaut worden. Auch die St. Simons-Bai
-habe ich gesehen, wo der Admiral wohnt, ferner
-war ich im Gouvernements-Haus und im Parlament,
-wo sich die Abgeordneten in zwei Sprachen stritten
-und sich in keiner verständigten. Ich besuchte den
-Klub und fuhr auf den schönen, gewundenen Straßen,
-die sich am Meeresufer und an den Bergen entlang
-ziehen, durch das Paradies, wo die Villen liegen.
-Auch in den hübschen alten holländischen Wohnhäusern
-aus früherer Zeit, die noch jetzt so behaglich
-sind, verweilte ich als Gast.</p>
-
-<hr class="tb" />
-
-<p>Am 15. Juli traten wir in dem ›Norman‹, einem
-prächtigen, trefflich ausgestatteten Schiff, die Rückfahrt
-nach England an, die kaum vierzehn Tage
-währte, und bei der wir uns nur in Madeira aufhielten.
-Eine solche Reise ist wie zum Ausruhen
-geschaffen für müde Leute, und deren hatten wir<span class="pagenum" id="Seite_330">[330]</span>
-viele an Bord. Mir war zu Mute, als hätte ich
-statt ein Jahr lang, Jahrhunderte lang Vorlesungen
-gehalten, und die meisten Johannesburger auf unserm
-Schiff waren noch sehr angegriffen von
-ihrer fünfmonatlichen Einkerkerung im Gefängnis
-zu Prätoria.</p>
-
-<p>Unsere Reise um die Erde endigte am Landungsplatz
-von Southampton, wo sie vor dreizehn Monaten
-begonnen hatte. Eine Weltumsegelung in so
-kurzer Zeit schien mir eine schöne und große Tat,
-auf die ich mir heimlich nicht wenig einbildete. Aber
-nur einen Augenblick. Dann kam ein astronomischer
-Bericht von der Sternwarte und verdarb mir die
-ganze Freude: In der fernsten Ferne des Himmelsraumes
-war erst kürzlich ein neuer großer Weltkörper
-aufgetaucht, dessen Licht mit solcher Schnelligkeit
-reiste, daß es in <span class="frac"><sup>1</sup>/<sub>7</sub></span> Sekunde die ganze Strecke durchmessen
-könnte, die ich zurückgelegt hatte. &ndash; Des
-Menschen Stolz verlohnt sich nicht der Mühe; immer
-lauert etwas im Hinterhalt, das ihn zu Falle bringt.</p>
-
-<div class="figcenter" id="illu-330">
- <img class="w15" src="images/illu-330.jpg" alt="Dekoration" />
-</div>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<hr class="chap" />
-<p class="blockquot center">
-Die folgenden Ankündigungen des Verlags
-werden gefl. Beachtung empfohlen.
-</p>
-
-<hr class="chap" />
-</div>
-
-<div class="chapter">
-<p class="center">Verlag von <b>Robert Lutz</b> in <b>Stuttgart</b>.</p>
-</div>
-
-<div class="hang">
-
-<p><b class="s150">Bismarck-Anekdoten.</b> Heitere Szenen, Scherze
-und Charakterzüge aus
-dem Leben des ersten deutschen Reichskanzlers. Bearbeitet
-von <b>Fr. Schmidt-Hennigker</b>. 4. vermehrte Aufl. 239&nbsp;S.
-Preis geh. M.&nbsp;2.50 eleg. i. L. geb. M.&nbsp;3.50.</p>
-</div>
-
-<p>Das Buch enthält eine Fülle von Anekdoten, angefangen
-mit Bismarcks frühester Jugend und fortgeführt bis an seinen
-Lebensabend, und fesselt den Leser von Anfang bis zu Ende.
-Der Charakter des großen Deutschen Bismarck kann dem Leser
-nicht besser offenbart oder näher gerückt werden als durch diese
-zahlreichen kleinen Züge.</p>
-
-<div class="hang p2">
-
-<p><b class="s150">Humor Friedrichs des Großen.</b> Anekdoten,
-heitere Szenen und charakteristische Züge aus dem Leben
-König Friedrichs II. Bearb. von <b>Fr. Schmidt-Hennigker</b>.
-5. vermehrte Aufl. 192&nbsp;S. Preis geh. M.&nbsp;2.&ndash;, eleg.
-i. L. geb. M.&nbsp;3.&ndash;.</p>
-</div>
-
-<div class="hang p2">
-
-<p><b class="s150">Marokkanische Geschichten</b> v. <b>A. J. Dawson</b>.
-Autoris. Uebersetzung
-von <b>Hans Lindner</b>. 2 Bände <em class="antiqua">à</em> M.&nbsp;2.50 brosch.,
-M.&nbsp;3.50 eleg. geb. &ndash; Jeder Band einzeln käuflich.</p>
-</div>
-
-<p>Das <b>Berliner Tageblatt</b> schreibt: »Diese Geschichten tragen
-den Stempel der Wahrheit und die echte maurische Farbe. Man
-liest da von schrecklichen Kerkern, von barbarischen Zuständen,
-kulturfeindlichen Sitten, seltsamen Menschenschicksalen, von fanatischen
-Anschauungen, und innerhalb dieser Bücher tauchen stolze
-Rassefiguren auf, verwegene Scheikhs, opfermutige Mädchen
-mit glutvollen Augen und hingebender Liebe, heißblütige Haremsdamen
-und fanatische Muselmänner. Alles, was diesem halbzivilisierten
-Volke seine Physiognomie gibt, bildet in diesem
-Buche die Steine zu einem charakteristischen Kulturbilde im
-farbenprächtigen Rahmen einer vom Sonnenlicht umflossenen
-Orientlandschaft.«</p>
-
-<p class="h2">Bret Harte’s</p>
-
-<p class="center larger">Ausgewählte Erzählungen.</p>
-
-<p class="center smaller">In 4 Oktavbänden <em class="antiqua">à</em> M.&nbsp;2.&ndash; brosch., M.&nbsp;3.&ndash; eleg. geb.</p>
-
-<p class="center smaller">Jeder Band einzeln käuflich.</p>
-
-<p><b>Inhalt</b>: Bd. I. <b>Drei Teilhaber.</b> Roman. &ndash; Bd. II. <b>Jack
-Hamlin als Vermittler</b> u. a. Erz. &ndash; Bd. III. <b>Das jüngste
-Fräulein Piper</b> u. a. Erz. &ndash; Bd. IV. <b>Das Licht im Felsenkessel</b>
-nebst einigen kleinen Geschichten.</p>
-
-<p>Bret Harte ist neben Mark Twain in Europa der beliebteste
-und gelesenste Schriftsteller Amerikas. Er ist unerschöpflich in
-der Kunst, dem fernen Westen Amerikas eigentümliche Charakterfiguren
-und originelle Handlungen zu schaffen. Die Sammlung
-bringt eine Auswahl seiner besten Erzählungen der neueren Zeit
-und zumeist solche, die <b>zum erstenmale in deutscher Sprache</b> erscheinen.
-Bd. 3 und 4 befinden sich in Vorbereitung.</p>
-
-<p class="h2">Trilby. <span class="smaller">Roman von</span> G. du Maurier.</p>
-
-<p class="center smaller">Deutsche Ausgabe. <b>11. Aufl.</b> Brosch. M.&nbsp;4.50 geb. m. G. M.&nbsp;5.50.</p>
-
-<p>Der Roman ist von internationaler Berühmtheit und hat
-namentlich auch in Deutschland einen großen Leserkreis gefunden.
-Der Reiz des Buches liegt nicht in dem Hypnotismus, der darin
-eine gewisse Bedeutung erlangt, sondern in der Herzlichkeit und
-Gemütlichkeit der Erzählung, die das menschliche Interesse in
-hohem Grade fesselt. Wir lachen und weinen in einer Gesellschaft
-interessanter und meist liebenswürdiger Menschen, welche
-sich um die Gestalt der seelenvollen Trilby gruppieren.</p>
-
-<p class="h2">Bekenntnisse eines Arztes.</p>
-
-<p class="center">Von <b class="larger">W. Weressájew</b>.</p>
-
-<p class="center">Einzige vom Verfasser genehmigte Uebersetzung von<br />
-<b>Heinr. Johannson</b>.</p>
-
-<p class="center">
-286 Seiten, nebst Porträt des Verfassers.<br />
-<b>Preis geh. M.&nbsp;2.&ndash;, in Leinwand geb. M.&nbsp;3.&ndash;</b>,<br />
-&ndash; 3. Auflage. (6. u. 7. Tausend.)&nbsp;&ndash;
-</p>
-
-<p class="center"><span class="u">Peter Rosegger schreibt:</span></p>
-
-<p>»<b>Wieder einmal ein Buch, das in der ganzen zivilisierten
-Welt Aufsehen macht. Und mit Recht, es ist eines
-der ernstesten, redlichsten und nützlichsten Werke, die je
-geschrieben wurden.</b> Der Verfasser erzählt mit erschütterndem
-Freimut seine Erfahrungen als Arzt, seine Enttäuschungen,
-seine Mißerfolge, seine Verzweiflung an der Medizin und &ndash;
-seine Hoffnung auf sie. Seitdem ich dieses Buch las, steht der
-ärztliche Beruf in meinen Augen größer da. Weressájew, der
-junge russische Arzt, gesteht ein, wie unendlich gering sein Können
-ist trotz unermüdlicher Studien und Forschungen, wie wenigen
-er geholfen, wie viele er durch sein Irren geschädigt, getötet hat!
-Und doch möchte ich gerade diesen Weressájew zu meinem Arzt
-wählen. Wenn alle Aerzte so wären wie der Verfasser dieses
-Buches, so gewissenhaft und so aufrichtig, dann würde der ärztliche
-Stand bei allen vernünftigen Leuten höher dastehen als jetzt.</p>
-
-<p>Der Verfasser der »Bekenntnisse eines Arztes« ist &ndash; das
-sieht man auf jeder Seite &ndash; <b>ein ganzer, ein guter und treuer
-Mensch. Aber er ist auch ein großer Schriftsteller. Sein
-Buch ist glänzend geschrieben.</b> Es hat in kurzer Zeit ungeheure
-Verbreitung erlangt, die es verdient.«</p>
-
-<p class="h2">Sherlock Holmes-Serie</p>
-
-<p class="center">Gesammelte Detektivgeschichten</p>
-
-<p class="center smaller">von</p>
-
-<p class="center larger">Conan Doyle</p>
-
-<p class="center smaller">Illustriert von Rich. Gutschmidt und anderen.</p>
-
-<p class="center"><b>Vollständig in 6 Bänden</b> (ca. 1800 Seiten).</p>
-
-<p class="center"><b>Preis brosch. M.&nbsp;12.&ndash;, in Lwd. geb. M.&nbsp;18.&ndash;</b> bei Bezug
-auf einmal; der einzelne Band kostet brosch. M.&nbsp;2.25,
-in Lwd. geb. M.&nbsp;3.25.</p>
-
-<p>Die Ausgabe bringt folgende Werke:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>I. Späte Rache.</p>
-
-<p>II. Das Zeichen der Vier.</p>
-
-<p>III. Der Bund der Rothaarigen u. A.</p>
-
-<p>IV. Das getupfte Band u. A.</p>
-
-<p>V. Fünf Apfelsinenkerne u. A.</p>
-
-<p>VI. Der Hund von Baskerville.</p>
-</div>
-
-<p><em class="gesperrt">Jeder Leser</em>, auch der gebildetste und anspruchsvollste, wird
-an diesen <em class="gesperrt">ausserordentlich fesselnden Geschichten</em> grossen
-Gefallen finden und den scharfsinnigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen
-Sherlock Holmes’ seine Bewunderung zollen. Wer
-einmal eine dieser spannenden Erzählungen gelesen hat, der kann
-es sich nicht versagen, auch die andern kennen zu lernen.</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="chapter">
-<p class="h2" id="Mark_Twains">Mark Twains<br />
-<span class="smaller">Ausgew. humoristische Schriften.</span></p>
-</div>
-
-<p class="center">Inhalt:</p>
-
-<table summary="Buchtitel">
-<tr>
-<td>Bd. I.</td>
- <td><b>Tom Sawyers Streiche und Abenteuer.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. II.</td>
- <td><b>Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. III.</td>
- <td><b>Skizzenbuch.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td rowspan="2">Bd. IV. <span class="s200">{</span></td>
- <td><b>Leben auf dem Mississippi.</b></td>
-</tr>
-<tr>
- <td><b>Nach dem fernen Westen.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. V.</td>
- <td><b>Im Gold- und Silberland.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. VI.</td>
- <td><b>Reisebilder u. verschiedene Skizzen.</b></td>
-</tr>
-</table>
-
-<p class="center">
-Preis des einzelnen Bandes M.&nbsp;2.50 gebunden.<br />
-Preis aller 6 Bände, zusammen bezogen,
-M.&nbsp;13.50 gebunden.
-</p>
-
-<p class="center p2"><span class="u">Neue Folge:</span></p>
-
-<table summary="Buchtitel">
-<tr>
-<td>Bd. I.</td>
- <td><b>Tom Sawyers <em class="gesperrt">Neue</em> Abenteuer.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. II.</td>
- <td><b>Querkopf Wilson.</b></td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. III./IV.</td>
- <td><b>Meine Reise um die Welt.</b> 2 Abt.</td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. V.</td>
- <td><b>Adams Tagebuch</b> u. a. Erzähl.</td>
-</tr>
-<tr>
-<td>Bd. VI.</td>
- <td><b>Wie Hadleyburg verderbt wurde</b> u. a. Erzähl.</td>
-</tr>
-</table>
-
-<p class="center">
-Preis des <em class="gesperrt">einzelnen</em> Bandes M.&nbsp;3.&ndash; gebunden.<br />
-Preis <em class="gesperrt">aller</em> 6 Bände, zusammen bezogen,
-M.&nbsp;17.&ndash; gebunden.
-</p>
-
-<hr class="chap x-ebookmaker-drop" />
-
-<div class="transnote chapter" id="tnextra">
-
-<p class="h2">Weitere Anmerkungen zur Transkription</p>
-
-<p>Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
-Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.</p>
-
-<p>Korrekturen:</p>
-<div class="corr">
-<p>
-S. 165: Janesch → Ganesch<br />
-Eingang steht ein Bildnis von <a href="#corr165">Ganesch</a></p>
-<p>
-S. 311: konnte → kannte<br />
-denn ich <a href="#corr311">kannte</a> die Straßen auswendig</p>
-</div>
-</div>
-
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MEINE REISE UM DIE WELT. ZWEITE ABTEILUNG ***</div>
-<div style='text-align:left'>
-
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-</div>
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-</div>
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-</div>
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-</div>
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-</div>
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-or any Project Gutenberg&#8482; work, (b) alteration, modification, or
-additions or deletions to any Project Gutenberg&#8482; work, and (c) any
-Defect you cause.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
-goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
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-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
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-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
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+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/66673-h/images/illu-053.jpg b/old/66673-h/images/illu-053.jpg
deleted file mode 100644
index 66d6959..0000000
--- a/old/66673-h/images/illu-053.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/66673-h/images/illu-330.jpg b/old/66673-h/images/illu-330.jpg
deleted file mode 100644
index cbebcfd..0000000
--- a/old/66673-h/images/illu-330.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ
diff --git a/old/66673-h/images/signet.jpg b/old/66673-h/images/signet.jpg
deleted file mode 100644
index 0777aca..0000000
--- a/old/66673-h/images/signet.jpg
+++ /dev/null
Binary files differ