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-The Project Gutenberg eBook of Der Bürger, by Leonhard Frank
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
-most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
-of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you
-will have to check the laws of the country where you are located before
-using this eBook.
-
-Title: Der Bürger
-
-Author: Leonhard Frank
-
-Release Date: January 14, 2022 [eBook #67161]
-
-Language: German
-
-Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team
- at https://www.pgdp.net. This book was produced from images
- made available by the HathiTrust Digital Library.
-
-*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER ***
-
-
- LEONHARD FRANK / DER BÜRGER
-
-
- LEONHARD FRANK
-
-
-
-
- DER BÜRGER
-
-
- ROMAN
-
- 1.-44. TAUSEND
-
-
- DER MALIK-VERLAG / BERLIN
-
-
- DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET
-
-
-
-
- I
-
-
-Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ‚Wenn noch ein Auto
-kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die
-Broschüre ... Ehrenwort?‘
-
-„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las wieder den Titel der
-philosophischen Abhandlung. Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der
-Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt. Der Zeiger
-stand knapp vor fünf.
-
-Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei und war weg. Die Uhr
-hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten.
-
-Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ‚Was wird mein Vater
-sagen, wenn ich sie kaufe? ... Und was würde er sagen, wenn er wüßte,
-daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder würde er
-verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden
-ginge?‘
-
-Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las
-den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und
-fühlte, während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte, daß
-sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand
-neben ihm.
-
-Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte:
-Ich kann auch jetzt noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler
-eben gelächelt? Über mich?
-
-Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte,
-sonndurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen
-Regenbogen schlugen.
-
-‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‘
-
-Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück.
-
-‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch
-in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‘
-
-Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens, Karl Lenz, Sohn eines
-Universitätsprofessors. Jetzt natürlich kann ich nicht hinein, dachte
-Jürgen und ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine Bonne an.
-Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von
-selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber.
-
-Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige Gesicht stolz
-erhoben, in verhaltenem Trabe ein kleines Mädchen im Knieröckchen so
-feurig auf dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten, nackten
-Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe machte sofort Halt, als der im
-Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden
-Hampelmann ausstreckte.
-
-Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld
-feurig an der Stelle weiter und sah, Brust vorgestreckt, über den
-abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich
-aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut
-im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.
-
-Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen
-von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte.
-Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit durchzogen
-von einem bisher nie empfundenen Gefühle, zu Karl Lenz sagte: „Man muß
-Empörer werden.“
-
-„Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?“
-
-Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen Beine an, beschämt empor
-zu Jürgen, in dem, unter dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder
-versank. Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den Konditorladen
-eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte Treppe hinauf.
-
-Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer
-vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott
-gäbe.
-
-Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der
-Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und die Tante sagt: ‚Nein, so einen
-unselbständigen Jungen, wie du einer bist, gibt’s nicht mehr. Ein
-Unglück für deinen Vater!‘
-
-Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der Verachtung weiter
-quälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich habe doch gestern zum Professor
-gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein
-guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater! Meiner Ansicht nach
-dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‘
-
-Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du gewagt?‘
-
-Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ‚Wie
-kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht?‘, bei der Tante
-in Schutz nehmen: ‚Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen
-Ansichten.‘
-
-Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar keine Schande für
-die Familie.‘
-
-Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich ein ‚Schmähliches Etwas‘
-genannt habe ... Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig
-behandeln. Unbegreiflich!‘ Jürgen lächelte bescheiden.
-
-Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu
-geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß,
-zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses, sagte: „Ich werde ihn
-in den Staatsdienst stecken. Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder
-so etwas Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft, unvernünftig
-und lebensuntüchtig ist er.“
-
-Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern
-gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam.
-
-„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen
-liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele“, sagte Herr
-Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht
-funkelten. ‚Auch die Seele deiner Frau hast du so lange mit dem Lineal
-gemessen, bis dieses leidensfähige Gemüt einging wie ein krankes
-Vögelchen‘, dachte er und sagte es nicht.
-
-Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab. „Wie gehts ihm? Wie ist
-mein Bruder?“
-
-„Unvernünftig, meine Liebe!“ Herr Philippi wollte fortstelzen.
-
-Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende Mann so einen
-Sohn haben muß! Wir schämen uns seiner ... Heute sagte der Vater zu ihm:
-Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste für dich ... Und das ist auch
-meine Meinung.“
-
-Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens,
-betrachtete, als zähle er sie, schweigend die mit der Brennschere
-sorgfältig gedrehten, an Stirn und Schläfen platt angedrückten,
-schwarzen zwölf Fragezeichen. „Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr
-Bruder sterben sollte? ... Kann ich mit Jürgen sprechen?“
-
-„Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ‚Die
-Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns‘. Sprechen können Sie ihn
-jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.“
-
-Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. „Hören Sie!
-Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht
-einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines
-Tages – er war vier Jahre, es war auf dem Geflügelmarkt – sagte er
-plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie
-bei andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘ sagte er und lockte: ‚Bi bi bi
-bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen ... Sollte man das für möglich
-halten? Diese Unselbständigkeit! ... Er ist ganz seiner Mutter
-nachgeschlagen. Auch sie war so lebensuntüchtig. Hatte Angst vor Mäusen
-– ich habe ja auch schreckliche Angst vor Mäusen –; aber als einmal eine
-Maus gefangen worden war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus
-ertränkt wurde.“
-
-Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten
-Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte
-er sie kräftig und sagte: „Bi bi bi bi! Adieu!“
-
-Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige Minuten strengen
-Gesichtes an Jürgens Tür. Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er
-anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange
-Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne.
-‚Folglich bin ich Atheist.‘ Dann erst quälte er sich den deutschen
-Aufsatz ab.
-
-Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das
-Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte.
-
-Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb
-keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der
-Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte:
-„Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen ... Mein Bruder war
-ein bedeutender Mann.“ Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt.
-
-„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld haben ... Mit viel
-Geduld und Strenge gehts vielleicht.“
-
-Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausgeleitet.
-„Jürgens schwankende Seele ... Seine Unsicherheit“, vernahmen die
-Zurückbleibenden.
-
-„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß die Augen auf. „Bin
-ich Atheist, schreibt der Junge. Und gestern diese Geschichte mit
-Abraham!“
-
-Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn: „Das Leben wird dem Burschen
-diese Gedanken schon abschleifen ... Gut und schnell auffassen tut er
-ja.“
-
-„Bei mir nicht“, sagte der Mathematikprofessor und hielt die Hand
-erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche Faulheit und schlossen
-die Konferenz.
-
-Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und
-unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging dann, vor Schuldgefühl
-vornüberhängend, mit der aufrechten Tante nachhause, wo Weihrauchwolken
-standen.
-
-Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins Sterbezimmer, in dem der
-Vater, bekränzt und kerzenumstanden, schon auf der Bahre lag, schlug das
-Kreuz und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des Toten Gesicht zu
-deuten: „An dir hat er keine Freude gehabt. Das kannst du jetzt in
-deinem ganzen Leben nicht mehr gut machen ... Bete! Drei Vaterunser! Und
-dann komm und iß.“
-
-Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten Rücken. Die still
-brennenden Kerzen beleuchteten des Vaters Gesicht, das in
-Unzufriedenheit erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht.
-
-Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte er, das wächserne
-Gesicht im Blick, die gefalteten, toten Hände zu berühren. Und wich
-zurück, als er das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte.
-
-Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei Vaterunser zu beten.
-Kein Wort fiel ihm ein. Seine flehende Hand wollte die äußerste Spitze
-des Leintuches berühren. Und sank kraftlos zurück.
-
-Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht.
-
-Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft in Jürgens Kopf und
-schleuderte die Worte ab: ‚Na, du schmähliches Etwas!‘
-
-„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen verächtlich und wandte,
-irr blickend, Kopf und Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht
-er, sondern der Tote habe gesagt: Na, du schmähliches Etwas!
-
-Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante hinter sich, kniete er
-ausgeliefert und verloren, schief und tränenlos im Zimmer.
-
-„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante, ergriff seine Hand
-und führte ihn hinaus.
-
-Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über seine Gefühle zu
-gewinnen. In die Träume schickte die vergewaltigte Seele drohende
-Ungeheuer. Der Vater stand immer daneben.
-
-Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, empfing ihn die Tante,
-schüttelte verächtlich den Kopf und gab ihm Briefe mit an die
-Professoren, in denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem
-bedeutenden Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht bat.
-
-In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder gedemütigt zu werden,
-drehte Jürgen Kopf und Schultern weg, als im Zimmer plötzlich Herr
-Philippi stand. „... Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich immer
-noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen gehalten? Selbst wenn es so
-wäre, dürften Sie ihm das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter,
-kranker Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte. So einer ist
-leicht blind und ungerecht.“
-
-Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf immer tiefer gesunken.
-
-Der Vater ist tot ... Seine Autorität lebt, dachte Herr Philippi. Und
-log: „Ich habe Ihnen etwas von Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem
-Tode war ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie immer im
-Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf einen vorüberfliegenden
-Vogelschwarm ... Es waren Stare“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich
-sagte Ihr Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens
-furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? Das ist mir ein Rätsel.‘ ...
-Er wußte es nämlich tatsächlich selbst nicht ... ‚Denn ich bin mir ja in
-Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘, wie sagte er doch, ‚ein
-ausgezeichneter und sogar sehr kluger Junge ist ... Das muß man ihm bei
-Gelegenheit einmal sagen‘.“
-
-Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, als er auch die
-Autorität der Tante zu erschlagen versuchte: „Und dieses alte Mädchen,
-Ihre Tante! Aus der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. So
-eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! Das ist übrigens die
-volle Wahrheit ... Besuchen Sie mich einmal.“
-
-‚Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen unsere Kinder nicht
-hungern, nicht arbeiten; wir asphaltieren ihnen mit Körperpflege,
-reichlichem Essen, höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine
-breite, glatte Straße ins Leben ... Die psychischen Ungeheuer, die sie
-in die Seelen stoßen, zählen nicht. Da fallen die allerhand Autoritäten
-über so einen Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel mit Sand
-mehr Phantasie und Geist offenbart, als sie in ihrem ganzen Leben, seine
-Selbständigkeit und wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘,
-dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor der Tante stand.
-
-Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten, steil aufgerichtet. „Ich
-habe alles gehört. Du hast keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine
-Schularbeiten sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine Erziehung.“
-
-Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel! Du bist ja
-vollkommen ahnungslos ... Das ist übrigens die volle Wahrheit.“
-
-Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens Mund blieb in
-übergroßem Schrecken geöffnet. „Was hast du gesagt? Wiederhole, was du
-eben gesagt hast!“
-
-„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall der Überzeugung riß der
-Tante die Empörung ins Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren
-gehört habe?“
-
-Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen zu haben, bekam
-irrblickende Augen.
-
-„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich mitteilen. Du
-übergibst ihm den Brief. Und jetzt ... Pfui!“
-
-Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte Jürgen ein paar Tropfen
-auf seinem Gesichte kalt werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte.
-
-Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in seinem Körper. Er trat
-ans Fenster, starrte in den Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln
-steckten still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten
-klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. Abgerissene Worte. Jemand
-spielte Ziehharmonika.
-
-Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob die linke Schulter, die
-rechte, rhythmisch die Beine. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten
-Tanz.
-
-Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher als gewöhnlich, ohne
-Brief geduckt aus dem Hause, begann plötzlich zu laufen, rannte,
-galoppierte weit aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan
-und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg und glotzte blöd
-hinein, kehrte um und kam, verschwitzt und keuchend, noch rechtzeitig im
-Schulzimmer an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten Bleistift
-auf das Katheder klopfte.
-
-Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift zusammen, der in
-dieser Stellung immer etwas Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor
-zog die Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘ Jürgen hatte das
-Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß wie ein schwarzer Mond und
-schlage nicht mehr.
-
-„Leo Seidel! ... Sie wissen, daß Ihr Vater Sie leider aus dem Gymnasium
-herausnehmen muß. Umstände halber! ... Euer bisheriger Schulkamerad
-verläßt euch heute. Er muß verdienen ... Leo Seidel, Armut ist keine
-Schande.“
-
-Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins Tintenfaß.
-
-„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten ... In Amerika, zum
-Beispiel, soll das öfter vorkommen“, sagte der Professor und lächelte.
-„Diesen Vormittag bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er, mit
-einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und deutete mit dem Daumen
-zur Tür: „Dann treten Sie in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“
-
-Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten Kinderwagen reitet
-das Mädchen auf dem Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das
-Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den abgezehrten
-Proletarierjungen an.
-
-„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? ... Nun? Heraus damit!“
-
-Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft auf. Seine gelähmten
-Lippen stammelten: „Ich wollte nichts sagen.“
-
-„Karl Lenz! ... Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer Fingerhakeln
-geübt; erklären Sie uns jetzt den Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand
-ein kleines Modell. „Nichts? ... Setzen Sie sich. Und lassen Sie sichs
-von Leo Seidel erklären.“
-
-Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen wurde und der
-Professor mit den kleinen Bleigewichten des Modells spielte, erklärte
-die einsame Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges.
-
-Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht geäußert zu haben,
-brüllte in Gedanken: ‚Nur weil Seidels Vater arm ist? Das ist gemein.
-Gemein! ... Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor an,
-bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden Flaschenzüge gebraucht?“
-
-„Flaschenzüge?“
-
-„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? ... Leo Seidel, sagen Sie es ihm.“
-
-„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner Arbeiter mit einem
-Flaschenzuge ...“
-
-„Mit Hilfe!“
-
-„... mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die Höhe winden, die
-zehnmal so schwer sind wie der Arbeiter. Infolge der Übersetzung!“
-
-‚Infolge der Übersetzung‘, sollte Jürgen wiederholen, hatte aber
-‚Überrumplung‘ gesagt.
-
-Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf dem Heimwege, wo alle
-sich von Leo Seidel, der vielleicht schon morgen einen Handwagen durch
-die Stadt schieben mußte, abgesondert hielten.
-
-Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. Nur in Gedanken
-trat er mit kühner Ritterlichkeit zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der
-andern nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren.
-
-Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich schweigende Tante nicht.
-Schickte das Dienstmädchen, mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am
-nächsten Morgen dem Herrn Professor zu übergeben.
-
-Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft finden, Seidel zu
-besuchen. In der Kellerstube stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben
-des schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu lassen, als
-schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel saß still am Fenster und sah
-hinaus in den stinkenden Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und
-Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich, der sich im
-selben Moment zum erstenmal in seinem Leben frei fühlte.
-
-Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte, konnte
-scherzen: „In der biblischen Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe
-alles, was du hast, und ... Aber nicht deshalb gebe ich dir das Buch.
-Denn ich glaube ja gar nicht an Gott.“
-
-Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen dessen unerwünschter
-Ankunft der Vater den Sohn aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann
-zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in verschiedenen Größen,
-bleich und blutleer, standen reglos da, mit großen Augen.
-
-„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken an mich. Hast eine Freude
-... mit hundertsiebenunddreißig Illustrationen.“
-
-Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er voraussichtlich bald der
-Klassenfünfte geworden wäre.
-
-Und Jürgen rief: „Also deshalb, weil dein Vater kein Geld hat, mußt du
-Hausdiener werden, anstatt vielleicht ... Minister. Das ist ja! Alles
-was recht ist!“
-
-„Mein Gott, was redet ihr Buben!“ Die Wöchnerin spuckte in den Napf.
-„Was ihr redet!“
-
-Jürgen redete sich in Zorn hinein: „Absolut! Das ist maßlos ungerecht.
-Gemein ist das. Einfach hundsgemein! Wahrhaftig, das sage ich jedem,
-ders hören will.“ Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen.
-
-Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den Knaben: „Mein Gott, das
-sind ja lauter Dummheiten.“
-
-„Nehmen wir an“, sagte Herr Philippi, „es sei schon von vornherein eine
-Dummheit gewesen von dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen
-Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“
-
-„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! ... Postdirektor werden kann! Wer
-kanns wissen?“
-
-„Ganz recht, wer kanns wissen. Mancher Dummkopf wird Professor; manch
-kluger Kopf muß sich eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das
-heutzutage. Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben. Man muß sich
-schon überlegen, ob man Hoffnungen wecken soll, denen von vornherein die
-Armut schwer im Wege liegt ... Da eröffnen sich verschiedenerlei wüste
-Perspektiven.“
-
-„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie wäre. Sie sind reich.“
-
-Alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht den Mut dazu.“ Und
-schwankend zwischen Abweisung und Güte: „Du gehst jetzt nachhause,
-verstehst du, nachhause, und hältst alles aus. Verschwinde!“
-
-Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die Weltgeschichte zurück.
-Und einen Tag später stand die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der
-Mitschüler.
-
-Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch Vorrücken ausgefüllt
-worden.
-
-„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“ Karl Lenz machte das
-Backsteintragen vor, krümmte den Rücken, ächzte.
-
-„Und so las er Roßballen auf.“ Adolf Sinsheimer, Sohn eines reichen
-Knopffabrikanten, tat, als habe er einen Besen in der Hand, und log:
-„Ich sah, wie Seidel die Straße kehrte ... Die frischen Roßballen kehrte
-er zusammen.“
-
-Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem Gelächter, stimmte ein,
-ohne zu wissen, weshalb die andern lachten.
-
-„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine Weltgeschichte?“ Alle
-sahen Jürgen erwartungsvoll an, hielten das Lachen noch zurück.
-
-Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler: „Zum
-Roßballensammeln braucht man, weiß Gott, keine Weltgeschichte.“
-
-Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte noch: „Zuhause bei ihm
-...“ Er hielt sich die Nase zu. „Und jetzt dazu noch Roßballen!“ Alle
-hielten sich die Nase zu.
-
-Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühle, nicht mehr allein
-zu stehen. Und Jürgen nahm sich vor, von nun an immer und in allem so zu
-sein, wie die andern. Das würde das Leben leicht machen.
-
-Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an seinem Platze, in einem
-neuen Anzug, das Gesicht verschlossen.
-
-‚Warum, warum habe ich das getan!‘ Jürgens Körper bewegte sich
-selbsttätig nachhause, ins Wohnzimmer.
-
-„Erst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst du an deine
-Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter am Stramintischläufer ‚An
-Gottes Segen ist alles gelegen‘. Mit dem Schnabel hielt diese von
-Rosengirlanden durchzogene Wortkette ein Papagei, der noch unfertig in
-der Mitte saß.
-
-Der Satz – im Reichstag sei wieder ein Antrag zur Einführung einer hohen
-Vermögenssteuer gestellt worden – kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich
-allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi gesprochen.
-Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. Ich! Ich habe das
-veranlaßt. Hilfe! Ich!‘
-
-‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat zu mir gehalten. Der
-hat Mut. Hat mich gerettet. Ihr habt mich verraten.‘
-
-‚Und ich? ... Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante irr an. „Wie schrecklich!“
-
-„Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter! Zuerst die
-Todesanzeigen!“
-
-„Man muß gut sein ... So lange gut sein, bis man etwas Schlechtes gar
-nicht mehr zu tun vermag.“
-
-„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem Papagei einen grünen Faden
-durch das Auge. „Alle Todesanzeigen!“
-
-„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“ ‚Weshalb hat Herr Philippi
-mir nicht gesagt, daß er Seidel helfen werde. Dann wäre ich vielleicht
-nicht so furchtbar gemein gewesen ... Jetzt ist alles verloren.‘
-
-Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen gerufen worden
-war.
-
-Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht mit den Worten:
-„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“, blickte die Nadel an, die
-im Papageienauge steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing,
-umklammerte in Gedanken mit beiden Händen ein Messer und drückte es
-langsam in seine Brust.
-
-Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte schon nach einigen
-Wochen Leo Seidel weichen, der sich bald zum Primus in die Höhe
-arbeitete und, da er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der
-ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher Retter war, erfuhr
-Seidel nie. Auch dann nicht, als er sich eines Tages mit der ganzen
-Klasse gegen Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, die er
-bei sich zuhause absolut nicht finden könne.
-
-Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden Drucke der Einsamkeit
-wiederholt zu seinen Mitschülern und, vor Ekel, sich angebiedert zu
-haben, immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den Mitschülern.
-Schloß sich endlich enger dem Sohne des Knopffabrikanten an, zu dem ihn
-anfangs der gemeinsame Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen hatte
-und später seine immer stärker werdende Bewunderung von Adolf
-Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb der Schule wie ein Erwachsener ohne
-Schwierigkeit mit dem Leben fertig zu werden.
-
-„Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts; wenn du aber eine
-Geliebte hast und zu ihr sagen kannst: Heute nacht, meine Liebe, bin ich
-verhindert, tut mir leid, der Klub geht denn doch vor – dann erst bist
-du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise jedoch wird man in den
-Klub junger Kaufleute erst nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich
-werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener natürlich!“
-
-„Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?“
-
-„Dann ist man ein Esel, heutzutage ... Sag mal, aber ehrlich, wie oft
-warst du schon krank?“
-
-„Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.“
-
-„Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante Männerkrankheit, wie
-oft du die gehabt hast!“
-
-„Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich weiß nur nicht, was
-du meinst.“
-
-Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke und Refraingesang
-klangen durch das beleuchtete, offene Fenster herunter. Adolf sang
-gleich mit:
-
- „Es haben zwei ne ganze Nacht
- Zusammen in einem Bett verbracht.
- Was ham se wohl gemacht?“
-
-Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das plötzlich zum Sturm
-anwuchs, galt dem Vortragenden, der auf dem Podium stand und wortlos
-demonstrierte, was die beiden gemacht haben.
-
-„Es geht doch nichts über lustige junge Leute“, sagte zu seiner
-verschwitzten, verstaubten Frau ein ziegenbärtiger, mit Waldlaub
-geschmückter Sonntagsausflügler und schob den Kinderwagen weiter.
-
-Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger Stimme. Das Klaviergepauke
-trug den Refrain herunter: „Was ham se wohl gemacht?“
-
-„Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?“
-
- „Bei Nacht und auch bei Licht ...“
-
-Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte Jürgen zögernd: „Drückt
-dich auch alles so? Ich meine, deinetwegen und auch wegen der andern.
-Das ganze Leben, so wie es ist?“
-
- „Gebetet, gebetet ham se nicht!“
-
-„Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken! Der Kragen, der Schuh
-drückt.“ Er streckte den Fuß vor: „Wirklich, beinahe jeder angemessene
-Schuh drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze einmal hinauf.
-Warte du hier.“
-
-Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam und ging davon, bis zu der
-Ansammlung waldlaubbehangener Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien,
-Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt, verschwitzt und grün,
-stillgeworden unter der zischenden Bogenlampe standen und den Anblick
-eines Mannes auf sich wirken ließen.
-
-Der lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum auf den Lippen,
-langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause, auf dessen Schaufenster
-erhabene Goldbuchstaben verkündeten: Kapital und Goldreserven 500
-Millionen.
-
-Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch: „Epileptischer
-Anfall! Man muß die Daumen herausziehen. Dann vergeht der Anfall.“
-
-Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen Blick die über ihn
-gebeugten Gesichter und richtete sich, von zehn Armen unterstützt,
-sitzlings auf, ließ den Kopf hängen: „Das macht alles nur das Elend. Ich
-wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das Nötige nicht ... Alles
-nur das Elend!“
-
-Jürgen wurde von Ekel gepackt. Er simuliert, dachte er und stieß brutal
-durch den Kreis.
-
-Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf. Auch damals lag auf dem
-Pflaster ein Mann: jung, mit eleganter, blutiger Wäsche,
-strenggebügelten, großkarierten Hosen, Brillantringe an den Fingern und
-Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist aufgerissen, die Brust
-freigelegt.
-
-‚Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen Augen starrten gläsern. Das
-war echt und entsetzlich; der vorhin hat simuliert ... Aber wie
-furchtbar muß es ihm gegangen sein, bis er sich entschloß, so schamlos
-Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor den vielen Menschen
-... Es wird ja vollkommen gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur
-simuliert war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller, daß er
-nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen sein.‘
-
-Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er zurück. Der Platz war
-leer, die Bogenlampe zischte nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß.
-Jürgen lief umher, suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause und
-sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich sah er den Bettler liegen.
-
- „Beim Sang der Nachtigallen
- Ist Urselchen gefallen.
- Wohl über große Steine?“
-
-schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter.
-
-„Nein über, nein unter Karlchens Beine!“
-
-„Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub, und singt so ein Lied.
-Wie furchtbar! ... Nun, und jetzt?“ fragte Jürgen, ging weiter. „Ist
-wieder etwas dazu gekommen, zu allem andern? ... Man muß unausgesetzt
-wach sein, bis man zu etwas Schlechtem gar nicht mehr fähig ist.“ Das
-war ein Gelübde.
-
-Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte, daß er, obwohl es
-Sonntag und zehn Uhr abends war, die Hausglocke des Lackierermeisters
-zog.
-
-„... Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich auch bis morgen
-Zeit gehabt; aber ich ging gerade hier vorbei ...“
-
-„Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?“
-
-‚Betteln gestattet‘, geht nicht, dachte Jürgen. ‚Betteln erwünscht‘,
-geht auch nicht. „Schreiben Sie – auf eine hübsche Tafel: ‚Hier wird
-Armen gegeben‘.“
-
-„Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst dich wundern, mein
-Junge.“
-
-„Nein, die andern werden sich wundern.“
-
-„Das wird wahr sein! Nun, also wie denn? ... Weiß auf schwarz? Oder
-schwarz auf weiß? Man kann auch etwas Farbiges machen. Oder
-Goldschrift?“
-
-„Vielleicht Gold auf schwarz?“
-
-„Schön. Macht sich gut ... ‚Hier wird Armen gegeben‘, nicht wahr? Mein
-Gott, so einen Unsinn hab’ ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir
-glauben.“
-
-Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die Tafel am Gartenzaun
-fest, an der Rückseite des Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab
-dem Dienstmädchen Geld. „Wird das für einen Monat reichen?“
-
-Die goldenen Worte ‚Hier wird Armen gegeben‘ glänzten schön. Darunter
-hatte Jürgen einen Zettel geklebt, auf dem stand ‚Zwischen neun und elf
-Uhr vormittags‘. Das war die Zeit, während der die Tante täglich in der
-Kirche saß.
-
-In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein junger Hund, langgeworden
-und immer in so unruhvoller Eile, daß der vornüberhängende Körper einen
-schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete, stolperte Jürgen in die
-Jünglingstage, in seinen siebzehnten Frühling hinein, fragenden Blickes
-beständig und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt suchend nach
-der erlösenden Antwort.
-
-Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen Mädchen, die im
-öffentlichen Parke ihren Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn.
-Seidenblauer Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete,
-billardglatte Rasenflächen und knospende Baumkronen gespannt. Alte
-Gouvernanten sahen rosig aus.
-
-Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos weiter eilen oder
-verweilen solle, blickte Jürgen sich um, sog den Blumenduft ein. Wind
-schüttelte die langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er sie aus
-der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige, in den Schultern noch
-eckige Katharina – Tochter des Universitätsprofessors Lenz – betrachten
-zu können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet, fremden Blickes die
-jubelnden Kinder beobachtete, bis sie Jürgens unverwandten Blick fühlte.
-Da sah sie erst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange Goldfische
-aus den Schlinggewächsen langsam zur Wasseroberfläche zogen, langsam
-wieder in die Tiefe, und las dann weiter in dem Buche.
-
-Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Die
-Himmelsbläue über ihr sprang mit.
-
-Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume, Teich, Fontäne und
-umkreiste dabei in immer kleiner werdendem Abstande die Lesende, deren
-ganzer Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde, je näher
-Jürgen kam.
-
-Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung: „Das sind Karpfen,
-richtige Karpfen. Man kann sie essen.“ Unheimlich dumm, daß ich das
-sagte, dachte er und setzte sich.
-
-Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt zur Buchseite.
-
-Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit ihrem, in dem
-frühzeitige Bewußtheit noch mit Mädchenscheu zu kämpfen hatte.
-
-Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie das zukünftige Ich in
-ihrem Blicke stand, losgespalten von der lieblichen Kindlichkeit, mit
-der sie den Rock über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl
-erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand er das
-erstemal in seinem Leben ganz plötzlich rückhaltloses Vertrauen. Dies
-kam mehr in Blick und Ton zum Ausdruck, als in seinen Worten.
-
-Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und Antwort im Innersten der
-Umwelt. Frage und Antwort. Und eine Frage Katharinas, auf die er
-antworten konnte: „Vielleicht trägt man alles Erlebte in sich. Das reißt
-uns hin und her. Und täglich und stündlich kommt Neues hinzu, und alles
-ist furchtbar. Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.“
-
-Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge mit ihm
-spazierengehen. Katharina erhob sich sofort. Er überragte sie um
-Kopfeslänge. Sie verschwanden in dem streng beschnittenen Laubgang von
-Korneliuskirschen.
-
-Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig gebogenen Nacken
-und, da sie aufsah, auf ihren kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie
-stehen und wandten erbebend sich ab.
-
-„Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat mir viel von Ihnen
-erzählt. Auch das von der Weltgeschichte! Er ist dumm. Er begreift gar
-nichts.“
-
-Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er die Tafel ‚Hier wird Armen
-gegeben‘ an den Gartenzaun angeschlagen habe. „Aber das sprach sich so
-schnell herum, daß noch in der selben Woche an einem einzigen Vormittag
-mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt weiß ich natürlich schon, daß
-all das gar nichts nützt. Und wenn meine Tante die Tafel nicht
-heruntergenommen hätte, würde ich selbst es getan haben ... Was aber
-soll man denn tun?“
-
-Erst nach zwei langen Minuten und als läse sie es von ihren Schuhspitzen
-ab: „Es gibt nur eines: man muß sich opfern, muß sich selbst ganz und
-gar aufopfern.“
-
-„Das ist, das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da sagen ... Aber
-wie? Wie soll man sich aufopfern?“
-
-Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen und auch heute ihren
-täglichen, vom Arzte verschriebenen Spaziergang im Öffentlichen Parke
-gemacht hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein und
-auf die Bank zurück, auf der sie saß, und raffte ihren Häkelbeutel
-zusammen, schoß nach in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen
-bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos weg von Katharina.
-
-In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam Jürgen zu dem Schlusse,
-erst nachdem er für immer aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina
-wieder vor die Augen treten.
-
-Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden drohte, mußte der
-Hausarzt die Behandlung dem Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen
-war des Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, daß er
-eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken weich darbieten
-konnte.
-
-Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden Medizinflaschen zur
-Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch auf, in das sie des toten Vaters
-‚Letztwillige Verfügungen über Jürgen‘ geschrieben hatte, und begann das
-viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen.
-
-Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten hinein.
-
-„... Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen ab, den letzten
-Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren
-Geschichte bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt
-werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen Vaters zu erziehen und
-ihn Beamter werden zu lassen, da er die Fähigkeit zu etwas Größerem nach
-meines seligen Bruders Meinung nicht hat ... So ists, Jürgen, siehst du.
-Nun werde mir bald wieder gesund ... Wenn du auch nicht so bist, wie du
-sein könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich an,
-streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: „Du hast ja wieder
-Fieber.“
-
-Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte lachte.
-
-Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der Rückfall war kurz und
-heftig.
-
-Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, dessen früherer
-Wille, sich durch die Wirrnisse der Jugend durchzuschlagen, unterbunden
-war. Die Tante äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie ihn
-fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch ‚Ja‘ oder ‚Nein‘. Niemals
-‚Nein‘, wenn ein ‚Ja‘ erwartet wurde.
-
-Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, selbst viel
-jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs er gleichsam über sich selbst
-hinaus, wurde lang und sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende
-Examen verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, stundenlang
-flußaufwärts.
-
-Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend nach, da hier das
-Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich war, der vielen großen,
-quadratischen Wasserlöcher wegen.
-
-In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung, durch große
-Schnelligkeit seine seelische Gebundenheit lösen zu können, sauste
-Jürgen an den unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern vorbei,
-bis die Nacht ihn überraschte.
-
-Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der Fluß dagegen zog
-einen mächtigen Bogen, so daß Jürgen zu Fuß schneller nachhause gekommen
-wäre, als auf dem Eise.
-
-Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre Messer in die Hand
-gegeben und ihn vor das Tunnelloch getrieben hatte, veranlaßte ihn auch
-jetzt, blind in die Gefahr hineinzurennen.
-
-Die Fischer waren schon lange heimgegangen. Jürgen stand dunkel in der
-unwirklichen Helligkeit, die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm
-entfernt war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. Tierische Laute
-stieß Jürgen aus, während er als schwarzer rechter Winkel stadtwärts
-sauste.
-
-War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, dann klang sein wilder
-Schrei der Genugtuung in die Einsamkeit.
-
-Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, links und rechts von ihm,
-manchmal unerwartet dicht vor ihm.
-
-Angespannt und stumm geworden, zog er seine Bogen um den Tod herum.
-
-
-
-
- II
-
-
-Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor zu, der die lange
-Entlassungsrede hielt. Endlich stieg sein Brustkorb hoch, der
-Zeigefinger deutete zum Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die
-Schlußworte kamen.
-
-Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben, tüchtige, brave Männer
-werden. Der Zeigefinger deutete noch zum Fenster hinaus. Es war
-vollkommen still geworden. „Geachtete Männer!“ Da sanken Finger und
-Brustkorb. Und die Entlassenen brachen los von den Bänken.
-
-Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer dünner, drang noch einmal,
-wieder stärker geworden, von der Straße aus mit der Sonne durch das
-Fenster zu den leeren Bänken herein. Und verebbte schnell.
-
-In die Stille des leeren Schulsaales klang eine Stimme, die aus dem
-Gitter der Dampfheizung zu kommen schien: „Ich möchte mich noch bedanken
-für alles, was die Herren Professoren in den Jahren meiner Schulzeit
-Gutes an mir getan haben.“ Ah, ihr niederträchtigen Schufte, setzte Leo
-Seidel in Gedanken hinzu und trat weg von der Dampfheizung, schob seine
-Schulter unter die ausgestreckte Hand des Rektors: „Wenn der Herr Rektor
-jetzt auch noch die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg
-zu ebnen ...“
-
-„Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen. Das ist doch
-einleuchtend.“
-
-‚Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener genommen
-werden.‘
-
-„Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen Sie. Ich habe
-schon gesprochen ... Machen Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter
-Mann.“
-
-Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt, verbeugten sich in
-höflicher Erregung immer weiter von der offenen Tür weg.
-
-Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem Rahmen oval heraussprang, denn
-er trug seit Jahren ein schwarzes Seidenband straff über die
-wegstehenden Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen
-sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen, daß er das Band
-abnehmen mußte. Sofort wurden beide Ohren lebendig, schnellten nach
-vorne. „Jetzt, mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das
-bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich. Morgen kaufe ich mir
-einen steifen Hut und trete dem Klub junger Kaufleute bei ... Man ist
-ganz unter sich im Klub. Keine Weiber!“
-
-Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der Tante durch, daß er
-nicht Staatsbeamter werden muß, sondern Philosophie studieren darf,
-schreibt eine Abhandlung, die ungeheueres Aufsehen macht, und wird
-daraufhin zum Bürgermeister gewählt. „... Das ist Glück!“
-
-„Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück ist.“ Während Adolf
-Sinsheimer von den Anzügen sprach, die er sich machen lassen werde,
-wurde Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend Arbeiter
-beschäftigt sind, und bestimmt mit einem Federzuge, daß alle
-zwanzigtausend Arbeiter, alle Beamten und er selbst von jetzt an ganz
-gleichmäßig am Gewinn beteiligt werden.
-
-Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ‚Aber ich bitte Sie, Herr Direktor
-...‘
-
-‚Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‘ Und Jürgen schickt den
-alten Buchhalter freundlich, aber entschlossen fort.
-
-„Zuhause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären: Du, unter uns
-gesagt, ohne Lackschuhe und Frack bringst du mich nicht auf den
-Abiturientenball ... Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –, ich sage
-dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit unseren Tanzstundengänschen
-abgeben werde. Kann mir nicht passieren!“
-
-‚Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das heißt, in unserer Fabrik
-– etwas zustößt, dann bekommt er eine Rente sein Lebenlang.‘
-
-„Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos tanzen können.
-Oder hast du etwas gegen einen Busen einzuwenden? Ich nicht.“
-
-Als Adolf sich verabschiedet hatte – „Ich werde Gelegenheit nehmen, dir
-heute nachmittag meinen Besuch abzustatten“ –, dachte Jürgen darüber
-nach, weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in seinem Leben
-ernstlich über das Dasein und die Not der andern nachgedacht hatte.
-‚Weshalb nicht schon Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als ich
-nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause die zornige
-Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte Töne einer Ziehharmonika
-hörte?‘
-
-Bisher habe er doch immer nur, und auch dann nur veranlaßt durch ein
-qualvolles persönliches Erlebnis, über sich selbst und seine eigene Not
-nachgedacht; und in jener Minute, ohne jeden äußeren Anlaß und
-unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum Phinchen, dieses
-gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen, ihr Lebenlang in der Küche
-stehen, Stiegen, Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen
-müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel nie lese, gute
-Bücher gar nicht verstehe, während die Tante und er die sorgfältig
-zubereiteten Speisen verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete
-Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen könnten, wenn sie
-wollten; warum die siebzehnhundert Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre
-an bis zum Tode täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des
-Herrn Hommes arbeiten müßten, während ungezählte tausende junger Männer
-und Mädchen, die wenig oder nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und
-gepflegt täglich spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so schwere,
-täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten hatten – und die
-Wohlhabenden zum Teil recht angenehme oder gar keine; warum es überhaupt
-Reiche und Arme gab, und warum der arm und der reich war; warum die
-Armen tun mußten, was die Reichen wollten; ob all das ein Naturgesetz
-oder menschliche Willkür war.
-
-Seit jener rätselhaften Sekunde hing er in einem Gedankennetz und suchte
-vergebens den Mittelpunkt, von dem aus die Grundursache der Gemeinheit
-des ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden könnte.
-
-Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten: „Alles liegt hübsch klar
-und geordnet vor dir ... Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem
-hübschen, kleinen Städtchen. Das ist dein Lebensweg. Ich bin so
-glücklich.“
-
-Jürgens Kopf nickte. ‚Du taugst zu nichts anderem.‘ Wut wollte
-herausbrechen. Und wurde zu einem schiefen, gefährlichen Lächeln,
-während die Tante sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen.
-
-„Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile fällen über
-andere.“
-
-Das Dienstmädchen war halbwegs in der Stube stehengeblieben, die Hände
-gefaltet.
-
-„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes ... Bringen
-Sie diesmal auch eine Flasche Wein, Phinchen.“
-
-Das besonders feine Damasttischtuch, das selten benutzte schwere
-Familienbesteck, die Feierlichkeit der Tante und Jürgens Bemerkung
-machten, daß das Mahl steif und schweigsam verlief.
-
-„Und wenn du nachher Amtsrichter bist“, begann bei der Süßspeise die
-Tante in gütigem Tonfall, als ob sie Jürgens Weigerung gar nicht
-vernommen hätte, „wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade die
-strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner Mitmenschen einbringt.
-Du wirst ein geachteter Mann sein. Und das ist die Hauptsache: Ein Mann,
-der sein sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal nicht mehr da
-sein werde. Die Pflicht vor allem!“
-
-Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein sterbe gewiß noch lange
-nicht. Die Tante deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Brosche: „Meine
-Brust harmoniert nicht.“ Und Jürgen fragte: „Aber was ist Pflicht?“
-
-„Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß seine Pflicht tun ...
-Bringen Sie noch etwas Kompott ... Du willst nicht Amtsrichter werden?
-Ich sage: du mußt es werden. Du willst keine Urteile fällen? Du mußt
-Urteile fällen. Denn dein Vater hat dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich
-sage nochmals: Die Pflicht vor allem!“
-
-„Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht dadurch, daß er seine
-täglich in der Equipage spazierenfahrende Gattin zu Pferde begleitet?
-Wer bestimmt, daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter ist, in
-die Hommessche Fabrik zu gehen? Und wer sagt mir, ob es meine Pflicht
-ist, Amtsrichter zu werden und Urteile zu fällen über andere ...“
-
-„Dein seliger Vater und ich!“
-
-„... oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich auszureiten und andere
-für mich arbeiten zu lassen?“
-
-„Das sind Dummheiten.“ Die Tante faltete ihre Serviette genau zusammen.
-„Räumen Sie ab!“ Und stieg voran in Jürgens Zimmerchen.
-
-Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem, in ovalen Rahmen,
-symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien
-der Familie Kolbenreiher hingen. In der Mitte ein Jugendbildnis des
-Vaters. Die Tante rückte das schon genau in der Tischmitte stehende
-Resedasträußchen, das sie zur Feier des Tages im Garten geschnitten
-hatte, in die Tischmitte, zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch,
-zurecht. „Du wirst also in eine vornehme Verbindung eintreten. Du trägst
-eine Mütze, eine grüne oder eine schöne blaue, lernst Schießen und
-Fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen Mut zu stählen und
-weil das dazugehört ... Jetzt nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu
-bekommst du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird bald sein,
-und nachher kriegst du alles.“
-
-Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus ihrem
-Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes Leben sich gestalten werde: –
-daß er in soundso viel Jahren diesen und diesen, später einen noch
-höheren und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen werde,
-mit soundso viel Gehalt, gelangte zu dem Lebensalter, in dem er einen
-Orden bekommen würde, und ging über zur Pensionierung. „So will es dein
-Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst du als ein Mann begraben,
-von dem deine Kollegen sagen werden: er soll uns ein schönes Vorbild
-sein und bleiben ... Mehr kann man vom Leben nicht verlangen, Jürgen.
-Mein Großvater sagte einmal zu mir: Man kann die Achtung, die ein Mensch
-im Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges messen.“
-
-Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter Amtsrichter zu
-werden, weit hinaus, stieg in wenigen Sekunden zu einer weltberühmten
-Leuchte der Wissenschaft empor, nahm eine Brust voll höchster Orden, die
-er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei Bürgermeister, ließ
-sich in den Reichstag wählen und übernahm das Ministerpräsidium. Alle
-Bürger grüßten ihn tief. Dann sah er sich voller Freude seinen
-kolossalen Leichenzug an.
-
-„Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein geachteter Mann sein
-...“
-
-Unversehens, wie die Uhr aufhört zu ticken, starb in Jürgen die
-Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude krachte lautlos zusammen.
-
-„Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür vom Leben das andere
-... Und unsern Garten und mich hast du ja auch noch“, sagte die Tante
-und ging. Adolf Sinsheimer war eingetreten.
-
-Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel. „Mein Alter hat
-sich mir erklärt. Wir haben uns geeinigt über die Zukunft, die ich
-ergreife.“
-
-‚Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten mißtraue, weil sie
-mich am allermeisten gequält haben, von mir fordern, ein geachteter Mann
-zu werden, sollte mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden.
-Vielleicht ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter Mann
-geworden ist.‘ „Welche ergreifst du denn?“
-
-„Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme Aufstieg unserer
-Industrie hat Deutschlands Weltgeltung begründet ... Mein Vater ist
-übrigens genau derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang
-die Chose zeigen, in die ich eintrete ... Übrigens, rauchst du? Dieses
-Etui habe ich mir heute zugelegt. Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll
-... Herein!“ rief Adolf schnarrend.
-
-Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen stehen. Die Kaffeekanne
-dampfte. Ächzend schlug er das Bein über. „Aber ich bitte, treten Sie
-doch näher ... Trinkst du denn dieses Weibergesüff?“
-
-„Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen“, sagte er, als Phinchen
-gegangen war. Und auf der Treppe: „Ein Mädchen, das immer gleich lacht,
-ist verliebt ... Unser Prokurist ist übrigens genau der selben Meinung.“
-Sie gingen die Straße hinunter.
-
-„Und in wen wäre sie denn verliebt?“ Jürgen sah steif geradeaus.
-
-„In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.“ Er schnallte das
-Ohrenband ab. „Dies hier ... weg damit!“ Und schleuderte es auf den
-Asphalt. Die Ohren erholten sich. „Es fällt einem verteufelt leicht, bei
-einem so jungen Ding Eindruck zu schinden“, sagte er noch und griff an
-seinen rosaseidenen Schlips. Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales
-Schülerkravättchen zurecht.
-
-„So, dort ists.“ Adolf deutete über den Platz auf das mächtige Eckhaus.
-
-„Knöpfe“ stand in meterhohen Buchstaben weithin sichtbar zwischen allen
-vier Stockwerken. Und auf dem Firmenschild: Simon Eberlein, Größtes
-Knopfexporthaus Europas, Alle Sorten Knöpfe.
-
-„Hier trete ich als Volontär ein. Nun? ... Halt, erst von hier aus
-ansehen! Ein ungeheuerer Betrieb, mußt du wissen! Handelsbeziehungen
-überall hin! ... Amerika! Jetzt komm!“
-
-Am Arm führte er Jürgen über den Platz, bis vor den elektrischen Aufzug,
-der an der Außenseite des Gebäudes angebracht war, und las vor: „3000 kg
-und Führer. Verstehst du, damit können 3000 kg Knöpfe befördert werden
-... Stelle dir das vor!“
-
-„Das ist allerdings kolossal“, sagte Jürgen träumerisch.
-
-„Na, einfach grandios!“ Vorsichtig zog er ihn zu den Parterrefenstern,
-die bis zur Hälfte mit grasgrünen Schutzgitterchen beschlagen waren.
-
-In gleichartig eingerichteten Bureaus arbeiteten junge Schreiber. An
-Tafeln, die siebenmal den Arbeitssaal durchquerten, etikettierten flinke
-Mädchenhände Knöpfe auf Akkord. Knopfmustertafeln bedeckten alle Wände.
-Die Schiebetür in der Rückwand war offen. Dahinter befand sich ein
-ebensolcher Saal, und durch ihn durch sahen Jürgen und Adolf in einen
-dritten Arbeitssaal hinein, in dem, durch die Perspektive verkleinert,
-die Menschen sich wie Insekten bewegten.
-
-Ein Schreiber sauste durch die Seitentür herein in den ersten Saal,
-pfeilschnell durch und hinaus. Unterm Hoftor stand der Lagerist, einen
-Pack Frachtbriefe in den Händen, und rief monoton Zeichen und Nummern.
-Der Arbeiter wiederholte singend, und die Fuhrleute karrten die
-aufgerufenen Knopfkisten zum bereitstehenden Lastwagen.
-
-„Riskieren wirs und gehen ins Café? Ich habe Geld.“
-
-„Übrigens, andernfalls hätte ich dir auch aushelfen können. Ich stehe
-dir zur Verfügung. Genügt dir das?“
-
-„Ich habe ja.“
-
-Adolfs Stirn bekam Falten. „Aber ich bitte dich, unter Freunden! Ich bin
-gerade bei Kasse.“
-
-Jürgen öffnete seinen Beutel. „Da, sieh selbst! Habe ja genug.“
-
-„Jürgen, du bist geradezu beleidigend. Nimm diese Summe ... Ich könnte
-sonst unter keinen Umständen den Verkehr länger mit dir aufrecht
-erhalten.“ Adolfs Hände und Schultern bekräftigten: „Wir sind doch heute
-nachgerade keine Gymnasiasten mehr, gewissermaßen.“ Er öffnete die Tür.
-„Bitte, nach dir!“
-
-Am Stammtisch qualmten Skatspieler, die alle Glatzen hatten; eine
-spanische Wand sonderte ein Kaffeekränzchen – neun, mit farbigen
-Kapotthüten geschmückte, papageienhafte Damen – ab von den stillen
-Zeitungslesern. Der Ober bediente geschäftsfreudig und schwungvoll,
-stand manchmal reglos auf seinem erhöhten Beobachtungsposten neben dem
-Büfett, wachsam das Lokal im Blick. Ein Fenstertisch, mit der Aussicht
-auf das Knopfexporthaus, war frei.
-
-Der Pikkolo stand, ein Bein elegant übergeschlagen, reglos in genau der
-selben Haltung wie der Ober, und wand sich auf dessen Augenwink hin
-schwungvoll und geschäftsfreudig um die Tischecken herum zu den
-Freunden; er war erst seit zehn Tagen Pikkolo.
-
-„Was befehlen die Herren?“ Die schwiegen. Und der Pikkolo rasselte
-heraus: „Bier, Wein, Kaffee, Tee, Schokolade ... Eis, Punsch, Glühwein,
-Limonade.“ Achtungsvoll betrachtete er die Schweißtropfen, die auf den
-Stirnen der Freunde hervortraten. Und fühlte seine Überlegenheit im
-selben Maße wachsen, wie die Ratlosigkeit der beiden zunahm, wiederholte
-singend sein Gedicht.
-
-Adolf bestellte zwei Glas Glühwein und zwei Glas Grenadine und sagte,
-nachdem der Pikkolo an das Büfett gestürzt war: „Ich habe Glühwein und
-Grenadine für uns bewerkstelligt. Du gestattest doch!“
-
-Der Pikkolo ließ unterwegs das Tablett, wie von einer Meereswelle
-mitgeführt, aus der Tiefe weich in die Höhe steigen, wieder abwärts
-schwimmen und knirschend auf die Marmorplatte auflaufen, ohne einen
-Tropfen zu verschütten.
-
-„Die Grenadine schmeckt wie der Buchdeckel der Biblischen Geschichte,
-weißt du, wenn man daran geleckt hat“, sagte Jürgen und verzog das
-Gesicht.
-
-Als die Freunde sich am dampfenden Glühwein die Zungen verbrannt und im
-Bad des heißen Sonnenscheins die Zigarillos angezündet hatten, erlangte
-Adolf die Fassung wieder, lehnte sich zurück, sah zum Knopfgebäude
-hinüber. „Du hattest Gelegenheit, die Parterresäle in Augenschein zu
-nehmen. Der selbe Betrieb wickelt sich in allen vier Stockwerken ab. Und
-unterm Dach sowie im Keller befinden sich ebenfalls gigantische
-Knopflager ... Das muß man sich nur vorstellen: Das ganze Riesengebäude
-vollgestopft mit lauter Knöpfen. Alle Sorten, notabene!“
-
-Von der Sonnenhitze mit Glühwein und Zigarillos war Jürgen übel
-geworden: Das Knopflager wurde lebendig, verwandelte sich in ein
-ungeheures Meer schwarzer Schwabenkäfer, die an allen Wänden auf- und
-übereinander krabbelten. In nebelhafter Ferne hörte er die begeisterte
-Stimme Adolfs.
-
-„Alle, absolut alle Arten Knöpfe! Ich werde mir eine Knopfsammlung
-anlegen. Sie wird die größte der Welt sein. Lückenlos! Denn, überlege –
-welcher Knopfsammler hätte, wie ich, diese Gelegenheit ... Und meine
-zukünftigen Kollegen da drüben, bei denen das gewissermaßen der Fall
-wäre, denken vermutlich wieder nicht daran, sich eine Knopfsammlung
-anzulegen.“
-
-Der Ober schwebte einen halben Meter über dem Fußboden durch das Lokal.
-Jürgen wagte Adolfs wegen nicht, die Zigarillos wegzuwerfen. Den Stumpen
-im Mundwinkel, das Gesicht von kaltem Schweiße beschlagen, sah er mit
-dem verzerrten Ausdruck lächelnden Wohlbehagens seinen Freund an.
-
-Der entwickelte den Plan seines Vaters, eines großen Knopffabrikanten,
-welcher sich mit der Idee trug, seiner Fabrik ein eigenes
-Knopfexporthaus anzugliedern, nachdem Adolf bei der Konkurrenz den
-Betrieb gründlich kennengelernt habe. „Da hast du meine Zukunft. Mein
-Weg läuft pfeilgrad empor ... in logischer Folgerichtigkeit,
-gewissermaßen ... Industrie und Handel, mein Lieber! Alles andere ist
-Romantik.“
-
-Sie sahen zum Fenster hinaus; die Pferde vor dem Exporthaus zogen an;
-die hochgetürmten sauberen Knopfkisten rollten fort, dem nahen
-Güterbahnhof zu.
-
-Der Knopflastwagen, das ganze Café, Skatspieler, Messinglüster,
-Sammetbänke kreisten wie eine Berg- und Talbahn um Jürgen herum. Er
-wollte beiläufig seine schon in wenigen Jahren zu erwartende Wahl zum
-Bürgermeister erwähnen und sagte krampfhaft gleichgültig: „Es wäre jetzt
-vielleicht gar nicht unangenehm, ein wenig hinaus in die schöne, frische
-Luft zu gehen.“
-
-Vor dem Café sah Jürgen, wie eine gepflegte Dame auf einen Krüppel
-zuging, dem der rechte Arm und das linke Bein fehlten. Die Frau des
-Krüppels nahm die Banknote sofort an sich und stellte der sekündlich
-aufblitzenden Wut ihres Mannes einen notgestählten Blick entgegen. Der
-skrofulöse Säugling auf ihrem Arme unterbrach den stummen Kampf durch
-Geschrei. Dann zog die Familie weiter. Langsam, böse, farblos.
-
-Nachdem der offene Wagen der Trambahn die verkehrsreichen Straßen
-durchfahren, die letzten Häuser und den mächtigen Gaskessel hinter sich
-gelassen hatte und in nun ungehinderter Fahrt durch sanfthügeliges
-Wiesenland der Endstation entgegensauste, von kühler Luft durchzogen,
-röteten sich Jürgens Wangen wieder.
-
-Ein Herr, alt, grau, steif, wie aus grauem Pappendeckel zusammengeklebt,
-wackelte steif hin und her.
-
-„Auch wenn andere Plätze frei sind, fahren alte Leute nicht mit den
-Augen zur Fahrtrichtung ... Die Jungen immer!“
-
-„Das ist eleganter Blödsinn.“ Adolf saß lässig zurückgelehnt, Bein
-übergeschlagen.
-
-„Die Alten wollen gar nichts Neues mehr sehen. Die blicken immer in die
-Vergangenheit.“
-
-„Glatter Unsinn! Direkt eleganter Blödsinn!“
-
-„Die Jungen wollen sehen, wohin die Fahrt geht.“
-
-Die Alleebäume flogen plötzlich nicht mehr nach rückwärts. Der Wagen
-hielt bei der Endstation im Knirschen der Bremsen. Stille, in die hinein
-ein Vogel zwitscherte.
-
-Der Führer blieb allein zurück, setzte sich in den Straßengraben. Der
-Wagen stand beziehungslos in der Landschaft. Der Tag war heiß und lang
-gewesen.
-
-Jürgen, schnell in Harmonie mit der Natur, wollte durch den Wald
-heimwärts gehen, während Adolf, zu abrupt ins Grün gestellt, unwillige
-Blicke den Ackerfurchen zuwarf und vorschlug, wieder mit der Straßenbahn
-zurückzufahren.
-
-Die schon versinkende Sonne ließ noch Feuer aus den Fenstern der Stadt
-schlagen. Das sanftgewellte Land lag weit hingebreitet. Die fernen
-Wälder schienen nur handhoch zu sein. Der herauftönende Pfiff der
-Papierfabrik stieß die Arbeiter zu den Toren hinaus. Schon stand ein
-grüner Stern am Himmel. Liebespaare, umschlungen, gingen vorüber, der
-heraufkommenden Sommernacht entgegen.
-
-„Kein Zweifel, die sind schwer verliebt. Du natürlich bemerkst das
-nicht.“ Adolf setzte sich mit dem Rücken gegen die Fahrtrichtung und
-forderte: „Sitze du auch so!“
-
-Da fiel Jürgen ein, daß er eigentlich gegen seinen Willen zurückfuhr.
-„Ich sitze so.“
-
-„Eleganter Blödsinn! Das gibst du doch zu?“
-
-„Nein, das gebe ich nicht zu. Das gebe ich nicht zu“, sagte er noch beim
-Betreten der Küche vor sich hin und blickte die feuchten, vollen
-Schultern Phinchens an, die, im Unterrock und Hemd, glühend am
-Bügelbrett stand.
-
-Sein Kopf blieb klar; das unbekannte Gefühl fuhr ihm nur in die Beine.
-Phinchen konnte vor Aufregung die entblößte, aufsteigende Brust nicht
-bedecken.
-
-Da kreischte die Haustür. Jürgen taumelte aus der Küche hinaus.
-
-„Du mußt von jetzt an immer hübsch vollkommen bekleidet sein. Der junge
-Herr ist kein Kind mehr.“ Die Tante demonstrierte an ihrer Brosche.
-„Dies da und auch deine Schultern, überhaupt das alles darf man nicht
-sehen. So dick und nur einen Unterrock! Das ist nicht schicklich.“ Der
-Unterrock könne gewiß einmal aufgehen. Dann stehe sie im Hemd vor dem
-jungen Herrn.
-
-Sie nahm aus dem Küchenschrank eine neue Kerze, zog mit dem Messer
-sorgfältig einen Riß herum – drei Zentimeter unter dem Docht – und stieg
-in Jürgens Zimmerchen hinauf.
-
-Wortlos steckte sie die Kerze in den silbernen Leuchter und zündete an.
-Dann deutete sie auf den Riß. „Wenn sie bis hierher abgebrannt ist, mußt
-du aufhören zu lesen ... Das Bücherlesen im Bett und überhaupt das
-Ideale, das, was du Ideale nennst, muß auf ein schickliches Maß
-zurückgeführt werden.“
-
-Jürgen beobachtete, wie das Flämmchen erstarkte, endlich senkrecht stand
-und wieder flackerte, als die Tante weitersprach. „Und morgen zeichne
-ich nur zweieinhalb Zentimeter zum Lesen an. Übermorgen wieder etwas
-weniger. Und allmählich liest du überhaupt nicht mehr im Bett, siehst du
-... Auch deine Mutter las immer im Bett. Dein Vater hat es ihr
-abgewöhnt. Wer nicht selbst streng ist gegen sich, gegen den muß es ein
-anderer sein ... Deine Mutter hat dich machen lassen, was du wolltest.
-Verzogen, verwöhnt hat sie dich. Das soll eine Mutter nicht tun.“
-
-„Das kannst du ja gar nicht wissen; du warst ja nie Mutter.“ Staunend
-beobachtete er, wie ihr ganzes Gesicht – auch die Stirn – sich dunkel
-rötete. Der Mund stand offen. In unbegreiflicher Fassungslosigkeit
-verließ sie das Zimmer.
-
-Jürgen nahm das Bild seiner Mutter von der Wand, betrachtete lange den
-angsterfüllten Mädchenblick, den schmerzlichen Mund, der zu lächeln
-versuchte, und lehnte die Photographie gegen den Leuchter.
-
-Im Bücherregal standen nur Reisebeschreibungen und Abenteuerromane in
-bilderreichen Umschlägen. Mit der ‚Schreckenvollen Reise in das
-Erdinnere‘ stieg Jürgen ins Bett, passierte zusammen mit dem kühnen
-Abenteurer auf dem Floße die zerklüftete Felsenspalte, geriet plötzlich
-in ein Loch und sauste auf gischtigen Wassermassen beinahe senkrecht in
-die Erde hinein. Es wurde nachtstill im Hause.
-
-Dicke Finsternis umgibt Jürgen und sein Fahrzeug, das mit den immer
-gewaltiger brausenden Gewässern in rasendster Geschwindigkeit in die
-Tiefe stößt – volle zwölf Tage lang –, unter der ständigen
-fürchterlichen Gefahr, zu zerschellen.
-
-Plötzlich verlangsamt sich die wilde Fahrt: Jürgen flößt aus einer
-Felsspalte heraus und, ganz wider Erwarten sanft, hinein in einen
-wunderbar stillen See im Erdinnern, an dessen Ufern menschenähnliche
-Geschöpfe mit Kuhköpfen stehen.
-
-Grüne, fremde Helligkeit liegt über dem Tale und den milden Wäldern,
-obwohl kein Himmel vorhanden ist.
-
-Der Abenteurer durchforscht vorsichtig das Tal nach gefährlichen Wilden,
-macht ungewöhnlich wichtige Entdeckungen und überlegt endlich, wie er
-mit seinem Floß auf dem senkrecht herabrasenden Gewässer aus dem
-Erdinnern wieder zur Erdoberfläche hinauffahren könne.
-
-Heißgelesen, sah auch Jürgen nachdenklich auf. Und bemerkte mit
-Schrecken, daß die Kerze still bis über die Hälfte herabgebrannt war.
-
-Während er dann im Traume papageiengroße, fliegende Edelsteine fing und
-mit kuhköpfigen Menschenwesen, die sich plötzlich in lauter geachtete
-Männer verwandelten, in bösen Kämpfen lag, streifte Adolf
-Glacéhandschuhe über, ging in den ‚Klub junger Kaufleute‘ und wurde vom
-Vorsitzenden auch den neuen Mitgliedern, Adolfs bisherigen
-Schulkameraden, mit feierlicher Korrektheit vorgestellt.
-
-Einige Wochen später lag auf Jürgens Nachtkästchen eine Geschichte der
-Philosophie, in der schon viele Zettelchen mit Anmerkungen steckten.
-
-Die Abiturienten hatten sich getrennt in zwei Gruppen, die weiterhin
-nicht mehr miteinander in Berührung kamen: Ein Teil studierte und hatte
-andere Interessen als die Fabrikantensöhne, die in die Geschäfte ihrer
-Väter eintraten.
-
-Leo Seidel arbeitete im Magistratsgebäude, im städtischen
-Wohnungsnachweisbureau, dessen trübe Fenster gegen die Nordseite des
-immer sonnelosen Lichthofes standen.
-
-Das Mißbehagen der Kollegen war von Monat zu Monat größer geworden.
-Jeden Morgen hatten sie, beim Eintritt in das Bureau, Leo Seidel schon
-heißgeschrieben am Pulte vorgefunden.
-
-Vor allem Herr Hohmeier, ein Beamter, der sehr langsam arbeitete und
-seiner Dienstzeit nach am nächsten daran war, vorzurücken, lebte seit
-Monaten beständig in der Angst, daß der bei größtem Fleiße und
-unangreifbarer Gewissenhaftigkeit auch noch ungewöhnlich schnell
-arbeitende Leo Seidel den Buchstaben M zugeteilt bekommen werde, was der
-zahllosen zu bewältigenden Müllers und Maiers wegen eine Beförderung
-außerhalb der Reihe, ein Überspringen Hohmeiers bedeutet haben würde.
-
-Noch besorgte Seidel den ungefährlichen Buchstaben Y, wurde
-infolgedessen bei seinen Abschreibearbeiten nie gestört und benutzte,
-zusammen mit dem jüngsten Kollegen, der gleichzeitig angestellt worden
-war, ein Doppelpult, über dem nur eine Gasflamme brannte.
-
-Die Herren Neubert und Hohmeier hatten jeder ein Pult für sich – mit je
-einer Gasflamme. Über Herrn Anks Pult befand sich, entsprechend seinem
-höheren Dienstgrad, ein zweiflammiger Gasarm mit grünen Lichtblenden.
-Und vor des Herrn Bureauleiters Pult stand zudem noch ein drehbarer
-Schreibsessel, auf dem ein dienstliches Lederkissen lag. Auch war sein
-Löschblattbügel bedeutend breiter.
-
-Dieses festgefügte Dienstschema zu sprengen, die niederen Dienstgrade zu
-überspringen, war Seidels Bestreben. Das allmähliche Vorrücken bis zum
-breiteren Löschblattbügel wollte er sich ersparen.
-
-Das war seinen Kollegen nicht entgangen.
-
-Der Tag, an dem die Katastrophe sich ereignete, begann damit, daß Herr
-Hohmeier begann, sich zu schneuzen, indem er Kanzleibogen und den
-schmalen Löschblattbügel zur Seite räumte und das Taschentuch erst
-sorgsam auf die Schreibtischplatte breitete.
-
-Unterdessen trat beim Schalter ein Pelerinenkünstler von einem Fuße auf
-den andern, rastlos wie ein Mensch, der ein natürliches Bedürfnis
-besetztseinshalber meistern muß, und beobachtete, wie Herr Hohmeier das
-Taschentuch erst mit einem großen Hausschlüssel, dann mit dem
-Löschblattbügel beschwerte. Und als er endlich nach der Adresse seines
-Freundes fragen konnte, erfuhr er, daß die Polizei selbst schon lange
-nach diesem Kunstmaler Ferdinand Wiederschein fahnde.
-
-„Wir haben herausbekommen, daß dieser Maler seit vielen Wochen jede
-Nacht in einem andern Bett schläft. Indem er nämlich jeden Morgen sein
-Handtäschchen wieder mitnimmt und sich, wenn die Schlafenszeit
-herannaht, ein neues Unterkommen sucht für die Nacht ... Der meldet sich
-nicht einmal an bei uns.“
-
-Der Diener entleerte den Neun-Uhr-Kohleneimer in den alten eisernen
-Füllofen, auf dem Eva, schon rotglühend, Adam den rotglühenden Apfel
-reichte. Des Künstlers Gelächter knallte durch das Bureau.
-
-„Da gibt es aber nichts zu lachen. Das ist eine ernste Sache. Wenns alle
-so machten, welch eine Unordnung hätten wir dann hier.“ Herr Hohmeier
-redete noch vor sich hin, als er schon dabei war, das Taschentuch
-schneuzfertig über die gespreizten Finger zu hängen, wie ein
-Zauberkünstler, der fragt: ‚Wohin soll ich das Goldstück verschwinden
-lassen?‘
-
-Während der Vesperviertelstunde sammelten sich viele Leute in dem
-dunklen Wartezimmer an. Die Beamten aßen ruhig weiter, ungestört vom
-Leben, das nur bis zum Schalterfenster herankam.
-
-Die Ungeduldigen hüstelten, scharrten mit den Füßen, klopften endlich an
-das Schiebefenster. Der ganze Schalterraum stand voll Menschen.
-
-Und als die Uhr Viertel elf schlug und Herr Hohmeier zum Schalter trat,
-stellte es sich heraus, daß einige wieder gegangen waren, und die
-gebliebenen neun Auskunftsuchenden unter Buchstaben C bis G fielen und
-somit Herrn Hohmeier unterstanden.
-
-Der fragte freundlich, wer zuerst dagewesen sei. Darüber entstand
-Streit. Viele waren zuerst dagewesen. Da drückte ein schwarzer
-Kohlenhändler alle anderen in die Ecken und verlangte die Adresse einer
-Familie, die umgezogen sei, ohne vorher die Kohlenrechnung bezahlt zu
-haben.
-
-Während Herr Hohmeier mit dem Zeigefinger die Fächer des Regals nach dem
-Personalakt abtippte, den Akt nicht fand, setzte der Streit im
-Schalterraum von neuem ein. Schließlich vereinigte der Zorn alle
-Streitenden gegen die Beamten.
-
-Wieder dachte Seidel darüber nach, ob außer ihm wohl noch ein Mensch auf
-der Welt durch so eine teuflische Kleinigkeit wie die, daß es nur wenige
-Namen mit dem Anfangsbuchstaben Ypsilon gab, daran verhindert sein
-würde, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen.
-
-Herr Hohmeier trat noch einmal zum Kohlenhändler, fragte ihn, ob er den
-Namen denn auch richtig aufgeschrieben habe. Alle schimpften, streckten
-die Zettel durch das Schalterloch.
-
-„Sie erlauben, Herr Hohmeier, daß ich Ihnen helfe.“ Seidel sammelte die
-Zettel ein.
-
-„Nein, ich kann das nicht erlauben. Bitte sehr, Herr Seidel, ich erlaube
-das nicht ... Es sind meine Buchstaben.“
-
-Die Wartenden schrien dazwischen. Der Bureauvorsteher, der von dem
-Tumulte aus seinem Vesperzimmerchen herausgelockt worden war, verfügte,
-daß die beiden jungen Herren dies eine Mal mithelfen sollten.
-„Ausnahmsweise!“
-
-Unter unheilvollem Schweigen des bleichgewordenen Herrn Hohmeier
-wickelte sich das Geschäft jetzt glatt ab.
-
-Herr Hohmeier war nicht fähig, zu arbeiten. Ein ungeheurer innerlicher
-Aufruhr machte ihn blind. Die beinahe immer gegenwärtige Vorstellung,
-daß er sich am Tage seiner Beförderung eine goldene Brille kaufen und
-nach der übernächsten Beförderung sich mit dem neben ihm gealterten
-Mädchen einstweilen wenigstens verloben werde, schob sich auch jetzt
-hartnäckig in den Vordergrund. Immer wieder sah er sich, goldbebrillt,
-vor dem Traualtare stehen. So daß über eine Stunde vergangen war, bevor
-er gefunden hatte, was Seidel endlich einmal klar und deutlich gesagt
-werden müsse.
-
-„Der sehr bedauerliche Vorfall von vorhin bedarf dringend der
-Aufklärung. Ich, meinerseits, muß Ihnen sagen, daß in diesem Bureau ein
-Sichvordrängen – ich könnte mich auch noch schärfer ausdrücken – nichts
-nützt ...“
-
-„Und ich muß Sie bitten, mich nicht bei der Arbeit zu stören.“
-
-„... denn wenn alle Beamten hier in diesem Bureau gewissenhaft ihre
-Pflicht tun – und das kann als sicher angenommen werden –, so daß keiner
-entlassen wird, werden Sie, Herr Seidel, in acht Jahren an meinem Pulte
-sitzen und in zwölf Jahren am Pulte des Herrn Ank ... Unterdessen werde
-ich an Herrn Anks Pult gesessen haben. Herr Ank an des Herrn
-Bureauleiters Pult. Und der Herr Bureauleiter wird, seinen Dienstjahren
-entsprechend, eine höhere Stelle in einem anderen Bureau einnehmen ...
-Es gibt in diesem Gebäude sehr viele Bureaus, die wir zu durchlaufen
-haben, ehe wir pensioniert werden. Ein Durchbrechen dieser Ordnung gibt
-es nicht. Das wollte ich Ihnen gesagt haben.“ Bebenden Mundes ging er an
-sein Pult zurück.
-
-Und Leo Seidel, der schon am Anfang dieser plastischen Darstellung sich
-gesagt hatte, daß in einem Magistratsbureau das Wort ‚Freie Bahn dem
-Tüchtigen‘ ganz offenbar keine Gültigkeit habe, und daß somit ein
-schnelleres Vorrücken nahezu ausgeschlossen sei, schrieb noch am Abend
-des selben Tages peinlich sauber sein Entlassungsgesuch.
-
- * * * * *
-
-Die meterlange Tabakspfeife wie einen Offiziersdegen geschultert,
-kratzfußte der Korpsstudent Karl Lenz abgehackt und streng vor seinem
-früheren Schulkameraden Jürgen und fragte ihn, welchem Korps er
-angehöre.
-
-„Ich studiere Philosophie, wie du weißt. Seit einem Jahre!“ sagte Jürgen
-stolz. „Einer Verbindung gehöre ich nicht an ... Ich wollte Herrn
-Professor Lenz meinen Besuch machen.“
-
-Der noch immer in steifer Verbeugung stehende Korpsstudent zuckte mit
-dem Kopf nach vorn, und seinem Mund entfuhr, als er die Lippen öffnete,
-ein knallender Ton: „Gehören Sie nicht an? ... Vor allem: Ihnen zur
-Kenntnis, daß mein Vater vor einer Woche zum Geheimrat ernannt worden
-ist.“ Er machte linksum und blickte, dem Gast den Rücken zugekehrt,
-paffend zum Fenster hinaus.
-
-Die wirkliche Welt um Jürgen versank. Alles natürliche Denken und Fühlen
-verschwand. Erst nach minutenlanger Pause sagte er: „Da gratuliere ich.“
-
-Der Student antwortete mit einer weißen Dampfwolke, die an der
-Fensterscheibe hinaufstieg, rührte sich nicht. Und Jürgen saß plötzlich
-in einer glänzenden Studentengesellschaft, hatte ebenfalls eine grüne
-Mütze forsch im Nacken sitzen, das Couleurband schräg über der Brust.
-Alle trinken ihm zu. Er ist geehrt, geachtet, spielt eine Rolle. Kommt
-Karl Lenz und starrt ihn herausfordernd an. Jürgen starrt zurück. Und
-springt auf. Schweigen. Alle springen auf. Kartenwechsel. Jürgen schlägt
-sich tadellos. Phinchen ist totenbleich vor Bewunderung. Und die Tante
-läßt sich den ganzen Vorgang erzählen.
-
-‚Er also starrt mich an. Nun, du kennst mich ja, Tante, und weißt, daß
-in diesem Falle die Forderung meinerseits unvermeidlich war. Meine
-Kommilitonen und ich zechen erst noch die ganze Nacht durch, als ob gar
-nichts geschehen wäre. Dann fährt die ganze Bande per Auto mit hinaus
-ins Wäldchen; sie warten im Wirtshaus auf mich. Ich also trete an,
-frisch und munter, wie aus dem Bade gestiegen.‘
-
-‚Mein Gott, Jürgen, hattest du denn gar keine Angst?‘
-
-‚Aber Tante! ... Also, er bekommt den besseren Platz, steht im Schatten
-eines Baumes, ich mit dem Gesicht gegen die Sonne ... Na, und schon beim
-ersten Gang – schwere Abfuhr natürlich.‘ ‚Nun, und jetzt?‘ ‚Gott, jetzt
-natürlich ehrenvolle Versöhnung. Denn wenn einmal Blut geflossen ist ...
-Je, das Hallo, als ich zurück in die Kneipe kam! Ja. Nun aber genug
-davon!‘
-
-Der breitspurig und noch immer reglos am Fenster stehende Student war
-von blauem Dampfe eingehüllt. Aus dem Nebenzimmer erklang Gläserklirren.
-Er schnellte sofort herum, glotzte seinem Gast ins Gesicht.
-
-Da knallte auch Jürgen mit den Absätzen. Die ineinander verkrampften
-Hände schüttelten sich. Beide Oberkörper zuckten mehrere Male ruckartig
-und schiefseitwärts aufeinander zu, bis, durch die Handkuppelung
-hergestellt, die wagrechte Zickzacklinie der zwei Ober- und Unterarme in
-Stirnhöhe feierlich verharrte.
-
-Und während Jürgen sich auf das Kanapee zurückverbeugte, verbeugte der
-Student sich der Tür zu und ging in sein danebenliegendes Zimmer, wo auf
-dem Tisch drei Glas Bier für ihn bereitstanden.
-
-Der Student hatte die Begrüßungsmaske mit in sein Zimmer getragen. Jetzt
-erst fiel sie von seinem Gesicht herunter. Und der Ausdruck dumpfer,
-wilder Konzentration nahm Platz, während er, das Bierglas in der einen,
-die Taschenuhr in der linken Hand, wartete, bis der Sekundenzeiger die
-Zahl Eins erreichte. Schon vorher war sein Mund ein großes Loch
-geworden. Plötzlich glotzten die Augen stier und tränten: das Bier
-stürzte in den Magen. „Bierjunge!“ Und das leere Glas knallte auf den
-Tisch.
-
-Mit dem Worte ‚Bierjunge‘ spritzte ein Teil des Bieres im Bogen wieder
-heraus, während die Augen auf den Sekundenzeiger starrten. Das Gesicht
-des Studenten, der auf dem letzten Kommers von seinem Korpsbruder beim
-Bierjungen-Trinken besiegt worden war, verzog sich kläglich: er hatte
-mehr als eine Sekunde zu lange gebraucht.
-
-„Ich habe wieder geschluckt. Ich schlucke noch. Das ist mein ganzer
-Fehler.“ Energisch trainierte er weiter: Der Sekundenzeiger erreichte
-die Eins. Großes Loch. Leeres Glas. Ein furchtbarer Brüllton:
-„Bierjunge!“
-
-Wieder schnellte der im Nebenzimmer sitzende Jürgen erschrocken von der
-Kanapeelehne nach vorn und horchte gespannt. Wenige Sekunden später
-langte von oben herab die Hand des Herrn Geheimrat Lenz auf Jürgens
-Schulter. „Nun, mein Freund, welchem Korps gehören Sie an?“
-
-„Bierjunge!“
-
-„Ah, der Junge übt. Ja, schön ist die Jugend.“ Der Geheimrat Lenz trank
-gern Moselwein.
-
-Was wird geschehen, wenn ich gestehe, daß ich keiner Verbindung
-angehöre, dachte Jürgen. Und sein Mund sagte: „Ich halte das für
-überflüssig.“
-
-Die väterliche Hand rutschte von Jürgens Schulter herab und legte sich
-in die Hüfte des Geheimrats. Der Unterleib schien in die Brust
-hinaufzusteigen. Die Augen fragten: Was wollen Sie dann bei mir?
-
-Endlich sagte der Geheimrat: „Junger Mann, nur wer einem Korps angehört,
-lernt die oberste aller Pflichten, die ihn erst befähigt, später zu den
-Ersten, zu den Führern seines Volkes zu gehören: die schwere, aber
-schöne und erhabene Pflicht des Gehorsams, das freie Beugen vor der
-Autorität, ohne welche nichts in der Welt bestehen kann ... bestehen
-kann. Die Narben im Gesicht des Korpsstudenten sind die Bürgschaft
-dafür, daß der ganze Mann, der für seine und für des Korps Ehre ohne zu
-zucken dem Gegner mit blanker Waffe gegenüber gestanden hat, auch
-später, wenns einmal so weit ist und Gott es will, bis zum letzten
-Blutstropfen dem Vaterlande die Treue halten wird, wenn es gilt, die
-Ehre des Reiches zu wahren ... Aber außerdem: wie wollen Sie
-vorwärtskommen? Wie anders wollen Sie es zu einer geachteten,
-einflußreichen Stellung bringen? ... Denken Sie an Ihren Vater. Er war
-mein Freund. Wir gehörten dem selben Korps an. Er war ein Mann.“
-
-Und ist, wie ich jetzt weiß, zusammengebrochen und kaputtgegangen, weil
-er nicht erreichte, Vortragender Rat im Ministerium zu werden, dachte
-Jürgen.
-
-Und glitt, während er durch die Straßen ging, noch eine halbe Stunde
-lang weiter auf dem glatten Gleis, das der Geheimrat vor ihn hingelegt
-hatte. Bei einem kleinen Kolonialwarenladen, in dessen Schaufenster ein
-langbärtiger Zwerg aus Gips eine Zigarre rauchte, blieb er stehen.
-
-Haß und Ekel vor dem Jürgen, der in des Studenten Zimmer das imaginäre
-Duell ausgefochten hatte, packten ihn so plötzlich und so heftig, daß er
-sich auf das Mäuerchen setzen mußte, auf dem das Schaufenster ruhte.
-„Welch ein erbärmliches, widerliches, feiges Schwein bist du!“ rief er
-dem Zwerg im Schaufenster zu. Jede Bewegung, jedes Wort, das jener
-Jürgen gesprochen hatte, folterte den Jürgen, der, brennend vor Scham,
-auf dem Mäuerchen saß.
-
-Da schwenkte, Lack-, Glacé- und Hosenfalten-glatt, Adolf Sinsheimer um
-die Ecke, nahm schon in der Ferne feierlich den Zylinder ab.
-Unwillkürlich hatte auch Jürgen feierlich gegrüßt.
-
-„Große Aufregung im Hause Lenz, was?“ fragte Adolf, nachdem er erfahren
-hatte, wo Jürgen gewesen war. „Wirklich nichts bemerkt? Dann wissen die
-es einfach noch nicht ... Gestern nämlich ist Katharina von zuhause
-durchgebrannt. Schlankweg zu den Anarchisten! Die fabriziert jetzt
-Bomben. Auch eine Beschäftigung! ... Übrigens, du gestattest doch, daß
-ich mich bedecke?“
-
-„Weshalb solltest du deinen Zylinder in der Hand halten!“ Jürgen war
-wütend.
-
-„Ein ereignisvolles Jahr! Man entwickelt sich schneller, als man
-geglaubt hat. Ich sitze längst im Direktionsbureau. Rechte Hand des
-Chefs! Und was das Leben anlangt, mein Lieber, da akzeptiere ich keine
-mehr, die nicht tadellos gewachsen ist. Vor allem die Beine! Kann mir
-nicht mehr passieren.“
-
-Was ist da zu tun – er entwickelt sich, dachte Jürgen und blickte Adolf
-nach, der frisch und glatt davonschritt. ‚Was ist da zu tun.‘
-
-Plötzlich stand Adolf wieder vor ihm. „Leo Seidel war bei mir. Total
-zusammengeklappt! Mein Alter hätte ihn ja als Schreiber in unserer
-Buchhaltung angestellt. Er aber erkundigte sich nach den
-Aufstiegsmöglichkeiten. Was sagst du dazu? ... Mein Alter fragte ihn, ob
-er ihm vielleicht Prokura erteilen solle. Schwuppdich – war er draußen
-... Später erfuhr ich, daß er zu allen früheren Mitschülern läuft, deren
-alte Herren, wie er glaubt, ihm einen Posten mit – husch, die Lerche! –
-Aufstiegsmöglichkeiten verschaffen könnten.“
-
-Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen hatte ihm vorgeschlagen, er
-solle mit ihm zusammen einen Bund der Empörer gründen. Seidel hatte
-geantwortet, dazu sei er nicht dumm genug. Und der Rektor hatte Seidel
-geantwortet, einem derart unbescheidenen Menschen, der aus
-Unzufriedenheit leichtfertig sein Glück verscherzt habe, noch einmal
-eine Stelle zu verschaffen, müsse er prinzipiell ablehnen.
-
-Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner in der Buchhaltung
-beschäftigt gewesen. Aber auch in diesem großen Bankhause waren die Wege
-zu den zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre lang und
-führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen unübersteigbar hohen Mauern
-durch.
-
-Seidel hatte bald erkannt, daß hier alle Angestellten nicht nur
-unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos auch flink wie die
-Kreisel waren; daß es Hohmeiers hier überhaupt nicht gab; und daß
-niemand Bankangestellter werden und bleiben durfte, der Bankier werden
-wollte.
-
-Der schwindsüchtige Briefträger und seine Frau waren gestorben, die vier
-jüngeren Geschwister in das Waisenhaus gebracht worden.
-
-Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das Hofzimmer, in dem Seidel
-sein ganzes Leben vom Tage der Geburt an in immer gleicher Armut
-verbracht hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen Möbel so
-lange in der Holzlage einzustellen, bis er einen Altwarenhändler fand,
-der auch den armseligsten Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt.
-
-Den nach Begleichung der letzten Vierteljahrsmiete und der Schulden beim
-Kolonialwarenhändler und Bäcker von dem Erlöse der Wohnungseinrichtung
-übriggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der Tasche, das Herz kalt
-vor Energie und zielbewußter Willenskraft, von Wehmut, Feigheit und
-schwächlichen Überlegungen nicht gehemmt, verließ Leo Seidel um acht Uhr
-früh für immer seiner Jugend stinkenden Hof, in dem nie etwas schön
-gewesen war, außer einem Büschel Löwenzahn, der, kümmerlich und zäh,
-jedes Jahr in der gepflasterten Ecke geblüht hatte.
-
-Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten geführt; es war,
-jenseits von Gefühlsüberschwang, ein gehorsam arbeitender Muskel und
-wurde vom Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren Willens
-machte.
-
-Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich das Obdachlosenheim,
-stand er blank auf der Straße, völlig auf sich selbst gestellt.
-
-Herabgesunkener Morgennebel, der nur die Dächer der zwei nächsten Häuser
-links und rechts von Seidel freiließ, hatte die Straße, die wenigen
-Passanten und alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in grau.
-Und erklärte sich selbst, weshalb für ihn Grund zum Jammern nicht
-vorhanden sei: Er habe Zeit, sei jung und gesund und bereit,
-rücksichtslos seinem Ziele entgegenzugehen.
-
-Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei abzustecken, sondierte er
-vorstellungskräftig die Idee eines Friseurgehilfen, der darauf
-spekuliert, in das Geschäft einer Friseurswitwe einzutreten mit dem
-Ziele, die Witwe zu heiraten und Geschäftsinhaber zu werden; einen
-jungen Handlungsgehilfen ließ er mit der reizlosen Tochter des Chefs zum
-Standesamt gehen und ihn in einem dunklen, duftgeschwängerten Laden ein
-warmes Drogistenglück bis zum Tode genießen. Unbelasteten Gemütes
-folgerte Seidel, daß auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im
-Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen Grenzen
-erarbeiten könnte.
-
-Er trennte sich von dem Ziele des Friseurgehilfen, vom Drogisten, und
-wandte sich seiner Laufbahn zu, die zwar noch kleiner und unsicherer als
-die eines Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten und Maschen
-habe, durch die er durchschlüpfen zu können hoffe, worauf die Laufbahn
-in Form einer Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten aller
-Art ansteigen und in der Berliner Börse enden werde. Dann breitete sich
-das Leben aus: Jedes Wort des Finanziers Leo Seidel hat Gewicht; eine
-von ihm verweigerte Unterschrift verursacht Beklemmung und Katastrophen
-in den Bankhäusern.
-
-Seidels Augen schlossen sich halb. Er flüsterte: „Aus eigener Kraft!
-Keiner meiner Mitschüler wird sich mit mir vergleichen können; sie alle
-werden hinter mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden.“
-
-Er befand sich auf dem Wege zu dem Platz, wo die Schaubudengerüste
-aufgestellt wurden für den am folgenden Tage beginnenden großen
-Jahrmarkt. Er dachte, gegen die hier beschäftigten verkommenen
-Existenzen werde ein gewissenhafter Mensch ganz besonders scharf
-abstechen und, über sie hinweg, bei einem Schaubuden- oder
-Karussellbesitzer schnell zu einer Vertrauensstellung gelangen können.
-Außerdem sei er hier nicht, wie der Droschkengaul, zwischen zwei
-Deichseln gespannt, da allerlei Möglichkeiten, auszubrechen, sich
-ergeben würden.
-
-Seine kantige, gewaltig breite Stirn bildete zusammen mit dem sehr
-spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges Dreieck. Das Dreieck war mit
-alten Sommersprossen dicht besetzt. Aber auch in bezug auf seine
-Streberei hatte er in der Schule den Spitznamen „Sprosse“ bekommen. „Von
-Sprosse zu Sprosse.“
-
-Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette hinter dem Ohr, rissen
-Pflastersteine heraus, hockten, in Morgennebel gehüllt, auf den
-Gerüsten, nagelten, schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fügte
-sich wie immer ineinander.
-
-Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewissenhaftigkeit sicher mehr
-zu erreichen als in einem Magistratsbureau, dachte Seidel und fing vor
-dem grünen Wagen den Schiffschaukelbesitzer ab, zog den Hut.
-„Verzeihung, ich möchte fragen, ob Sie noch eine Hilfskraft bei Ihrem
-Unternehmen brauchen.“
-
-Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen Herrn an, die saubere
-Wäsche. „Ich verstehe nicht recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte
-zur Bedienung von vier Schiffen ... Aber Sie? Was wollen Sie?“
-
-„Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen ... Was ist das: Adjunkte?“
-
-„So heißen die Burschen bei den Schiffschaukeln ... Zwei sind vorgestern
-eingesteckt worden. Acht Wochen Gefängnis! Hatten wieder geklaut. Aber
-schon bevor sie bei mir waren“, setzte er schnell hinzu.
-
-„Demnach können Sie mich also brauchen?“
-
-Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe: „Freundchen ... haben
-Sie Papiere? Waren Sie schon einmal bei so was? ... Zuerst müssen Sie
-mir einmal nachweisen, daß Sie nicht von der Polizei gesucht werden ...
-Und vor allem möchte ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht
-werden.“
-
-Da reichte Seidel dem Manne sein Abiturientenzeugnis und das
-Entlassungszeugnis vom Stadtmagistrat, das den Vermerk über Seidels
-Tüchtigkeit, Fleiß und Gewissenhaftigkeit enthielt.
-
-Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während seiner vierzigjährigen
-Jahrmarktstätigkeit schon alle möglichen Existenzen untergekommen.
-
-„Auf meine Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln könnten Sie sich
-verlassen.“
-
-„Da wären Sie der erste, auf dessen Gewissenhaftigkeit beim
-Geldeinsammeln ich mich verlassen würde. Aber brauchen kann ich Sie.“ Er
-stieg, von Seidel, gefolgt, in den grünen Wagen, in dem, transportfest,
-die zwölf funkelnden Schiffe standen.
-
-Der kräftige Bursche mit Ledergurt, rotem Sweater und einem großen,
-pflaumenblauen, herzförmigen Mal auf der Backe tat, als habe er beim
-Putzen der Messingteile keine Pause gemacht. Der Besitzer schickte ihn
-hinaus. „Hier, das Handgeld.“
-
-„Handgeld brauche ich nicht ... Ihre Schiffschaukel scheint übrigens
-ganz neu zu sein ... Wenn Sie zufrieden sind mit mir, werden Sie mir
-meinen Lohn schon geben.“
-
-Das hatte der Mann noch nicht erlebt. Beinahe verlegen sagte er: „Ja,
-ich habe die modernste Schiffschaukel der Messe. Kostete mich ein
-Vermögen! Das will verdient sein. Sie ist einen Meter siebenzig höher
-als die der Konkurrenz ... Können Sie morgen früh antreten?“
-
-Schnellen Schrittes ging Seidel zu dem Altwarenhändler und holte den
-Gegenstand ab, den er nicht mitverkauft hatte.
-
-„Das einzige noch einigermaßen brauchbare Stück! Der ganze übrige
-Plunder ist vollkommen wertlos“, wiederholte der Mann, der am Tage
-vorher heftig und erfolglos um den Besitz dieses Gegenstandes gekämpft
-hatte. „Elender Plunder!“
-
-„Wie kann eine Wohnungseinrichtung, in der eine große Familie
-fünfundvierzig Jahre gelebt hat, plötzlich ganz wertlos sein!“ Seidel
-nahm den in braunes Packpapier eingewickelten Gegenstand unter den Arm.
-Stand eine Stunde später im Studierzimmer vor Jürgen, erklärte, auf
-dessen Fragen hin, mit drei Sätzen, welche Arbeit und weshalb er sie
-angenommen und welches Ziel er habe. „Ich will zu Geld kommen, reich
-werden. Sehr reich! Reicher als ihr alle seid!“
-
-„Bei einer Schiffschaukel? Du, ein mehr als gewissenhafter Mensch!“
-
-„So verkommen würdest du niemals, wie? Was würden die Leute sagen? ...
-Mir jedoch ist das einerlei. Muß mir gleich sein! Gutbürgerliche Gefühle
-und Sentimentalitäten kann ich mir nicht erlauben. Ich brauche
-Bewegungsfreiheit, um alle Möglichkeiten ausnützen zu können. Im
-Magistratsbureau und auch in irgendeiner anderen festen Stellung gibt es
-keine Möglichkeiten für mich. Bin kein Fabrikantensohn ... Ich will mein
-Ziel erreichen. Und ich werde es erreichen. Und dann werde ich erst
-recht rücksichtslos sein.“
-
-„Dein Haß ist ja recht schön ...“
-
-„Wieso ist er schön?“
-
-„Nun, ich kann deinen Haß begreifen; aber Reichtum ist doch kein
-erstrebenswertes Ziel. Was bist du, was hast du, wenn du reich bist und
-die Armen wie bisher arm bleiben und überhaupt alles so bleibt, wie es
-ist? Dann gehörst du bestenfalls zu denen, die gehaßt werden. Wem
-nützest du damit?“
-
-„Mir!“ Aller Haß, der in einem Menschenkörper Raum hat, sammelte sich in
-Seidels Blick, gerichtet auf Jürgen, der immer sorgfältig gekleidet
-gewesen war, nie gehungert, regelmäßig gebadet und die Demütigungen der
-Armut nie erfahren hatte. „Du machst Worte. Du weißt doch sehr gut, was
-Reichsein bedeutet!“
-
-„Ich war in anderer Hinsicht immer so arm wie du. In unserer Zeit sind
-die Menschen arm. Alle! Auch die Reichen, glaube ich. Furchtbar arm!“
-
-Da konnte Seidel nur die Lippen verziehen. „Und was für ein Ziel hast
-du?“
-
-„Ich weiß nichts. Gar nichts! ... Das Ganze ist unerträglich. Ich sage:
-das Ganze muß ganz und gar anders werden.“
-
-„Nun, dann wird es ja wohl anders werden.“ Dabei schälte er das
-Packpapier herunter von dem poliertem, zartgebauten Nähtischchen seiner
-Mutter und bat, Jürgen möge es für ihn aufbewahren.
-
-„Wenn du schon alle Beziehungen zu deinem bisherigen Leben abbrichst,
-was hängst du dich da an das Nähtischchen? Dieser Art Gefühle können dir
-– einem Menschen, der solche Ziele hat – doch nur hinderlich sein. Oder
-sollten Rücksichtslosigkeit und Sentimentalität einander vielleicht doch
-nicht ausschließen?“ Jürgen hätte nicht sagen können, weshalb er Seidel
-diesen Hieb versetzte.
-
-„Mit dem Ding sind meine einzigen schönen Kindheitserinnerungen
-verbunden. Wenn die Mutter flickte, saß ich am Boden, durfte mit dem
-Einsatz spielen.“ Er schob die Fächerschublade wieder hinein ... „Na,
-heb’s auf ... Zweifellos wird die ganze Bande auf die Messe kommen, um
-mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen. Mögen sie kommen!“ Die Lippen
-bebten. Die Sommersprossen traten stärker hervor, so weiß war das
-Gesicht geworden.
-
-‚Vielleicht wird er ein sehr reicher, geachteter Mann werden; im
-Magistratsbureau würde er ein mittelloser geachteter Mann geworden sein
-... Rein äußerliche Rangstufen: arm, wohlhabend, reich, sehr reich, sehr
-reich und gebildet, Millionär ohne, Millionär mit Geschmack und Kultur,
-Großfinanzier – die innere Linie ist bei allen die selbe. So ist heute
-das Leben ... Und ich? Wie stehts mit mir? Was soll, was will ich
-werden? Was und wie will ich sein? Wie werde ich in zwanzig Jahren
-sein?‘ Jürgen fand keine Antwort.
-
-Das jüngste Mitglied des von Jürgen gegründeten Bundes der Empörer, ein
-vor dem Abiturientenexamen stehender Gymnasiast, hatte bei der
-Gründungssitzung erklärt, einer sei zuviel auf der Welt, entweder müsse
-er sich oder den Geschichtsprofessor vergiften. Und war von seiner
-Ansicht nicht abzubringen gewesen durch Jürgens Entgegnung, daß dann ja
-immer noch einige tausend Geschichtsprofessoren am Leben bleiben würden.
-
-Als einige Tage später auch noch die zwei andern Mitglieder,
-fünfundzwanzigjährige, halb verhungerte Burschen, die behaupteten, als
-Matrosen und Goldgräber schon die ganze Welt gesehen zu haben, in der
-Villa erschienen waren, versehen mit einem Drahtreif voll Sperrhaken und
-entschlossen, die Wocheneinnahme eines Metzgermeisters, der jeden
-Freitag verreist sei, unter Führung ihres Vorsitzenden und mit Hilfe der
-Sperrhaken zu holen, war der Vorsitzende Jürgen aus dem Bunde der
-Empörer ausgetreten.
-
-Die Aussprache mit einem schon älteren Manne, der sechzehn im Zimmer
-frei umherfliegende Kanarienvögel und eine Bulldogge besaß, aus
-Liebhaberei auch vorgedruckte Postkarten täuschend kolorierte und
-behauptet hatte, er halte die Fäden der anarchistischen Bewegung der
-ganzen Welt in seiner Hand, in Mexiko dürfte, entzündet durch zwei
-seiner Chiffretelegramme, die Geschichte demnächst platzen, war von
-Jürgen nach drei Minuten abgebrochen worden.
-
-In der Jahresversammlung des Vereins für Bevölkerungspolitik und
-Säuglingsschutz, in der die Damen beschlossen hatten, uneheliche
-Wöchnerinnen und Kinder in das Heim prinzipiell nicht mehr aufzunehmen,
-war Jürgens Frage an das Leben ebenso unbeantwortet geblieben, wie durch
-die Rede des Rektors am Grabe des jüngsten Mitglieds des Bundes der
-Empörer, jenes Gymnasiasten, der sich am Tage nach dem mißglückten
-Examen erhängt hatte.
-
-Nach achtmaliger Anwesenheit in den kostbar, geschmack- und weihevoll
-eingerichteten Räumen der ‚Schule zur innerlichen Vervollkommnung‘, wo
-brillantengeschmückten alten Damen, langhaarigen Jünglingen und
-kurzhaarigen Mädchen von sehr gebildeten Menschen empfohlen wurde, das
-Beste von Laotse mit dem Besten von Buddha zu vereinen und diese höhere
-Einheit zur Richtschnur ihres Seelenlebens zu machen, war Jürgen, der
-geäußert hatte, die Weisheit dieser Richtschnur bestehe ganz offenbar
-darin, die eigene Seele zu maniküren und sich um die Not der andern
-nicht zu kümmern, sei also handfester Egoismus und von irgendwelcher
-Hingabe noch weiter entfernt als der Unsinn des Bulldoggenbesitzers mit
-den Kanarienvögeln und Chiffretelegrammen, höflich und leise ersucht
-worden, den ‚Stillen Stunden innerer Einkehr‘ von nun an fern zu
-bleiben, worauf er mit steigender Sympathie wieder an die zwei hungrigen
-Goldgräber mit den Sperrhaken gedacht hatte.
-
-Von einem Philosophiestudenten war Jürgen einem dunklen, sehr schönen
-jungen Mädchen asiatischen Gesichtsschnittes vorgestellt worden, das
-ungeniert sich sofort fast ganz entkleidet und schreitend zu tanzen
-begonnen hatte, die dünnen Finger zu Boden gespreizt und das verzückte
-Gesicht emporgerichtet. Noch genau ein Jahr werde sie, hingegeben ihrer
-Kunst, ganz abgeschlossen von der Welt leben und dann durch ihren Tanz
-die Menschheit erlösen. Sie werde in den Kirchen tanzen. In der Ecke war
-ein schwarzer junger Mann gesessen und hatte ihr geglaubt.
-
-In der Erkenntnis, daß die Weigerung, Leichenteile zu fressen,
-vielleicht erst in tausend Jahren Bestandteil einer von jeglicher
-Barbarei befreiten Lebensordnung, zur Zeit aber nur Sache des
-Geschmackes einzelner und gewiß nicht das tauglichste Mittel sein könne,
-den Kampf gegen das Ganze und das Umstürzen erfolgversprechend zu
-beginnen, war Jürgen, zur Genugtuung der Tante, schon nach einer Woche
-vom Vegetarismus wieder zurückgekehrt zum Fleische.
-
-Die Entwürfe zweier Dramen, des Inhalts, daß einem anständigen
-Zeitgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts nur die tragische Wahl bleibe,
-Selbstmord zu begehen oder völlig bewußt selbst ein Raubtier zu werden,
-hatte er schon vor einem halben Jahre auf der bewaldeten Höhe verbrannt
-und war liegengeblieben neben der Asche, lesend in einem Buche, dessen
-weltberühmter Autor erklärte, wenn die Besitzenden ganz freiwillig nur
-all ihres Besitzes und ihrer Macht über die Nichtbesitzenden, sowie alle
-zusammen nur jeglicher Lüge entsagen würden, sei in der selben Stunde
-die Menschheit erlöst.
-
-‚Das dürfte wahr sein; fragt sich nur, welche Maus und auf welche Weise
-sie der Menschheit, dieser milliardenfüßigen Katze, die Schelle anhängen
-soll, welche bewirkt, daß wir in allem wahrhaftig sein können‘, hatte
-Jürgen damals gedacht.
-
-War auf dem Rückwege, sinnend und suchend und rat- und hoffnungslos und
-nur, um nichts unversucht zu lassen, zu den aus Nord- und Süddeutschland
-stammenden vier Jünglingen gegangen, die zusammen mit drei Mädchen nahe
-der Stadt vor kurzem eine Siedlung gegründet hatten.
-
-Staunen und Begeisterung über den kameradschaftlich freien Ton zwischen
-diesen hellblickenden Mädchen und schwerarbeitenden Jünglingen und über
-die geistig großartige Lebensauffassung, die in dem Zeichen
-unbekümmerter Jugendkraft und befreiend humorvoller Ablehnung des Ganzen
-stand, hatten Jürgen erfüllt.
-
-Ein Siedler mit großer Rundbrille in einem mageren, noch unfertigen,
-nicht ganz hautreinen Gesicht hatte den beglückt durch die
-Nacht heimwärts Marschierenden eingeholt und ihm einen Stoß
-Aufklärungsschriften mitgegeben, darunter eine von den Siedlern
-gemeinsam geschriebene und im Selbstverlage erschienene Broschüre
-‚Kapitalismus, Universität und freie Jugend‘ und ein vierseitiges
-Werbeflugblatt ‚An die Gesinnungsgenossen‘, dessen erster Satz lautete:
-„Wir haben der Universität, dieser kapitalistischen Bedürfnisanstalt,
-die Rückseite gezeigt und im Vorfrühling mit zusammengepumptem Gelde
-einen verlotterten Bauernhof gekauft, der, obgleich mit Hypotheken
-gegenwärtig noch schwer belastet ...“ Der Schlußsatz lautete: „Unsere
-Siedlung ist eine kleine Insel im großen Stunk.“
-
-Vernachlässigung des Universitätsbesuches, Verzweiflung und Drohungen
-der Tante, Ablieferung der Kollegiengelder an die Siedler, die dringend
-Saatgut gebraucht hatten, mühevolle Feld- und Gartenarbeit und an den
-Abenden stundenlange, heftig geführte Diskussionen, aufregend und
-beglückend für Jürgen und oft sehr gefährlich für den Weiterbestand der
-Siedlung, waren gefolgt.
-
-Tag und Nacht offene Fenster. In den Stuben je ein Feldbett, ein
-Handköfferchen und sonst nichts. Die Wände, hell gestrichen, leuchteten
-blau, grün, rosa.
-
-„Morgen kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg herunter.“
-
-Wie lebendig das klingt, hatte Jürgen gedacht. ‚... kommt Lili mit ihrem
-Kinde aus dem Gebirg herunter.‘
-
-Anfangs waren die Siedler in allen Versammlungen als Sprecher
-aufgetreten und hatten die anwesenden Bürger verblüfft und gereizt durch
-ihre respektlosen Reden gegen Staat und Kirche, Schule, Ehe, Eigentum,
-Zins- und Hypothekenräuberei.
-
-Der kirchenfeindliche Verein ‚Gedankenfreiheit und Feuertod‘, der seit
-Jahren erfolglos um die Genehmigung kämpfte, sein schon erbautes
-Krematorium in Betrieb setzen zu dürfen, hatte, nachdem in der
-öffentlichen Protestversammlung von dem Siedler mit der Rundbrille
-erklärt worden war, er persönlich habe ja gar nichts dagegen
-einzuwenden, wenn die Anwesenden sich schon morgen einäschern ließen,
-nur glaube er nicht, daß dadurch der große Stunk merklich vermindert
-werden würde, die Polizei auf Siedler und Siedlung aufmerksam gemacht.
-
-Kartoffelernte, Hypothekenzinsforderungen, Herbstbeginn, kürzer werdende
-Tage, in dem selben Maße verlängerte, immer heftiger werdende
-Diskussionen. Und eines Tages waren die Handköfferchen und Lili mit dem
-Kinde und die Siedler verschwunden gewesen, unter Zurücklassung der
-sieben Feldbetten, die, zusammengeklappt und aufeinandergeschichtet, in
-dem offenen Schuppen lagen.
-
-Der Bauer hatte seine Kommoden, wandbreiten Eichenschränke und
-Riesenfederbetten wieder eingestellt, die grünen, rosa und blauen Wände
-dunkel schabloniert und die Heiligenbilder aufgehängt.
-
-Einige Wochen später war von dem Siedler mit der Rundbrille eine
-Postkarte aus Berlin gekommen: Die Siedlung sei aufgeflogen. Die Gründe,
-eine schwere Menge, könne Jürgen sich ja denken. Lili habe sich noch
-nicht entschließen können; aber er sei Mitglied der sozialistischen
-Partei geworden. Und damit Punkt.
-
-Wenn Jürgen an diesen Herbstabenden, da es im vornehmen Villenviertel
-schon ganz still war, am Fenster saß und, zurückdenkend an sein
-ergebnisloses Fragen und Suchen, hinaushorchte in die Nacht, vernahm er
-die fernher dringenden Töne der Drehorgeln.
-
-Die fünfzig verschiedenen Melodien zusammen erregten bei manchem
-Besucher schon Schwindelgefühl, wenn er auf dem Jahrmarkt noch gar nicht
-angelangt war. Paukenschläge und Trompetenstöße drangen siegreich durch.
-
-Alles drehte sich, funkelte und flog. Die Mädchen klammerten sich an
-ihre Liebhaber an, schrien auf, wenn die Berg- und Talbahn in die Tiefe
-sauste, im rosa beleuchteten Tunnel verschwand. Und an der
-farbensprühenden Budenreihe entlang zog die schwarze Menschenmenge. Alle
-Ausrufer waren schon heiser, luden hinreißend liebenswürdig ein. Die
-Konkurrenz war groß.
-
-Trotzdem hatte sich Herr Rudolf Schmied in seinem grünen Wagen zu einem
-Schläfchen niedergelegt und Seidel die Aufsicht und das Geldeinsammeln
-anvertraut. Denn tags zuvor, in früher Morgenstunde, als noch kein
-Budenbesitzer, kein Adjunkt dagewesen war, der die Einnahme hätte
-kontrollieren können, hatte Seidel kassiert, sich vom Lehrer der
-Knabenklasse, die geschaukelt hatte, eine Empfangsbestätigung ausstellen
-lassen und Geld und Schein gewissenhaft Herrn Rudolf Schmied
-abgeliefert.
-
-Dieser Empfangsschein hatte wie tödliches Gift auf das Mißtrauen des
-Herrn Schmied gewirkt. Die Adjunkten vermuteten in Seidel einen
-Verwandten des Herrn Schmied, unterordneten sich ihm, lieferten willig
-die Einnahme ab.
-
-Die immer besetzten zwölf Schiffe der schönen, besonders hohen Schaukel
-flogen unausgesetzt. Die sieben der alten, niedrigen Schaukel daneben
-hingen fast immer reglos. Die Adjunkte luden brüllend ein; der
-Orgelspieler drehte wie besessen: alle drängten vorbei zur hohen
-Schaukel.
-
-Seidel blickte starr ins Publikum und befahl, als er Herrn Hohmeier
-entdeckte, gleichgültigen Gesichtes dem Adjunkten mit dem pflaumenblauen
-Herzen auf der Backe, der von seinen Kollegen ‚Das Herz‘ genannt wurde,
-das letzte Schiff in der Reihe anzuhalten, da die Tour zu Ende sei.
-
-Schon preßte ein anderer Adjunkt, der ein abschreckend großes,
-pferdekopfähnliches Gesicht hatte, das Anhaltbrett gegen den Kiel des
-allmählich sich totschaukelnden Schiffes. Eine neue Tour begann. Seidel
-sammelte ein. Der Magistratsbeamte ließ ihn nicht aus den Augen, die vor
-Hohn und Genuß funkelten. Auch die zukünftige Braut des Herrn Hohmeier
-machte große Augen. Sie hatte ein ganz mageres, blasses Gesichtchen.
-
-„Das Riesenweib! Wie sie ißt! Wie sie trinkt! Wie sie schläft!
-Brustumfang 154! Alles andere dementsprechend! Kolossal! Jedem Besucher
-erlaubt, nachzuprüfen! Brustumfang 154!“ schrie der Ausrufer links neben
-der Schiffschaukel.
-
-Und ein anderer: „Hopp hopp hopp hopp hopp!“ Der ritt ohne Pferd dem
-Publikum einen eleganten Trab vor zugunsten des ‚Hippodrom von Eder, wo
-reiten kann ein jeder‘.
-
-Ein kleiner, verhärmt aussehender Budenbesitzer, auf dessen Schulter ein
-abgerichteter Rabe saß, der Kopf und Beine und flügellahme Schwingen
-ruhelos bewegte, sagte zu Jürgen: „Treten Sie ein: Hier wird jedes
-Menschen Sehnsucht erfüllt.“
-
-Plötzlich stand Jürgen, der blicklos den verhärmten Alten anblickte, mit
-Katharina Lenz in dem Laubgang beschnittener Korneliuskirschen. Die
-Tante führt ihn am Arme weg von Katharina.
-
-Wüßte ich, was ich will, dachte er, dann würde ich jetzt Katharina
-aufsuchen; aber ich weiß heute nicht mehr, als ich damals wußte.
-
-Bei der kleinen Schiffsschaukel entstand Tumult; sie wurde plötzlich von
-Fahrgästen gestürmt: Der Besitzer hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem
-stand: ‚Hier kostet die Tour den halben Preis‘. Höhnisch blickte er zu
-Seidel hinüber, dessen Schiffe jetzt reglos hingen.
-
-Seidel stürzte zum Besitzer. Der rieb sich entsetzt den Schlaf aus den
-Augen, wollte ebenfalls für den halben Preis schaukeln lassen.
-
-„Wenn Sie das tun, kommt man zwar wieder zu Ihnen, weil unsere Schaukel
-höher ist, aber die Einnahme würde fortan nur die Hälfte betragen. Ihre
-Schaukel wäre entwertet.“
-
-„Und so verdiene ich gar nichts. Schreiben Sie sofort ein Plakat. Das
-Herz soll helfen.“ Er tanzte vor Aufregung.
-
-„Ich mache Ihnen den Vorschlag ...“
-
-„Nichts! Nichts! Schnell, Freundchen! Die Zeit vergeht.“
-
-„Wollen Sie riskieren, heute abend keinen Pfennig mehr einzunehmen, wenn
-Sie dafür an den folgenden Tagen wieder die volle Einnahme haben
-würden?“
-
-Herr Rudolf Schmied warf die Arme: „Was? Wie? Was? Wie ist das?“
-
-„Lassen Sie ganz umsonst schaukeln.“
-
-Da schrie Herr Schmied mit vollen Lungen so lange nach dem
-Halben-Preis-Plakat, bis Seidel ihm auseinandersetzte, dann müsse auch
-der andere umsonst schaukeln lassen, aber es käme darauf an, wer es
-länger aushielte. „Sie sind ein wohlhabender Mann; der Konkurrent steht
-vor dem Bankerott. Sie warten ganz einfach, bis er zu Ihnen kommt und
-bittet, daß beiderseits wieder um den ganzen Preis geschaukelt werden
-soll.“
-
-Herrn Rudolf Schmieds altes Messegesicht leuchtete.
-
-Seidel rief Das Herz, das Pferdegesicht und die andern Adjunkte in den
-Wagen. Viele hundert kleine, improvisierte Billetts wurden eiligst
-geschnitten, gestempelt. Und auf dem gewaltigen Plakat stand: ‚Wer ein
-Billett hat, fährt ganz umsonst in Rudolf Schmieds modernster und
-höchster Schaukel der Welt‘.
-
-Das Herz brüllte, schleuderte die Zettelchen ins Publikum. Das nahm die
-Schaukel im Sturm. Seidel beobachtete die Konkurrenzschiffe, die sich
-entleerten und nicht mehr füllten.
-
-Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Das Hinüber- und Zurückbrüllen der
-beiden Besitzer hatte das ganze Messepublikum angezogen. Viele
-Budenbesitzer kamen geeilt, zu erfahren, was ihnen das Publikum entzog.
-In der ersten Reihe stand Herr Hohmeier.
-
-Eine Viertelstunde später kostete die Tour wieder den ganzen Preis.
-Seidel hatte im Wagen des Herrn Schmied die Verhandlungen geleitet.
-
-Der Besitzer der Berg- und Talbahn, des größten Unternehmens der Messe,
-fing Seidel ab, legte ihm die Hand auf die Schulter: „Ich brauche eine
-Hilfe. Wollen Sie Geschäftsführer bei mir werden? ... Das haben Sie
-großartig gemacht.“
-
-„Ich bin bei Herrn Schmied angestellt.“
-
-„Ich zahle Ihnen das Dreifache.“
-
-„Ich mache voraussichtlich schon morgen eine eigne Bude auf ... Aber
-eine Idee will ich Ihnen verkaufen für Ihr Unternehmen!“
-
-„Das wäre?“
-
-„Schreiben Sie eine Erklärung, daß Sie mir Zweihundert bezahlen, wenn
-Sie meine Idee ausführen.“
-
-„Hundert!“
-
-„Zweihundert!“
-
-Seidel steckte den Zettel ein. „Bei Ihnen fahren hauptsächlich
-Liebespärchen, weil sie in den scharfen Kurven gegeneinander geworfen
-werden.“
-
-„Das stimmt. Darauf spekuliert die Konstruktion.“
-
-„Und dann noch wegen des Tunnels. In diesem Tunnel verschwinden die
-Pärchen besonders gern. Das habe ich beobachtet.“
-
-„Aber sicher!“
-
-„Der Tunnel ist mit roten Glühlämpchen erhellt ...“
-
-„Natürlich! Rosa!“ sagte der Mann mit großer Gebärde.
-
-„Lassen Sie morgen von Ihrem Maschinisten eine Vorrichtung anbringen,
-die den Kontakt unterbricht, so daß es eine Sekunde dunkel wird im
-Tunnel, dann wieder hell, dunkel ... Die Liebespärchen werden sich
-danach richten.“
-
-Strahlend trat Herr Rudolf Schmied zu den beiden.
-
-Seidel ging auf seinen Posten zurück, rief Das Herz zu sich. Der war der
-Sohn eines bankerottgewordenen Schaubudenbesitzers, dessen Tiere
-krepiert waren. Seidel hatte erfahren, daß Das Herz den schwer zu
-erlangenden Gewerbeschein besaß und jederzeit eine Bude aufmachen
-konnte. „Was für Tiere waren es denn?“
-
-Das Herz schrie in großer Erregung: „Eine Riesenschildkröte und ein
-Flußpferd. Sie tanzten zusammen Menuett.“
-
-Seidel überlegte, ob ein Mensch mit einem Pferdegesicht beim Publikum
-Erfolg haben würde. Das Herz erklärte sich bereit, den Gewerbeschein
-beizusteuern; das Pferdegesicht stellte sich selbst zur Verfügung; Leo
-Seidel die Idee und das Geld. Fehlte noch die Bude.
-
-Die stand unbenützt neben der Hauptattraktion der Messe: ‚Herrn August
-Schichtels Spezialitäten- und Zaubertheater‘, dessen Zulauf enorm war.
-Wer das Unglück hatte, seinen Platz neben Herrn Schichtel zu bekommen,
-konnte kein Geschäft machen. Deshalb hatte der Besitzer der Bude gar
-nicht eröffnet.
-
-Der verhärmte Alte, dessen von niemand beachtete Bude rechts neben dem
-Zaubertheater stand, zeigte, als Jürgen, schon heimwärtsstrebend, noch
-einmal vorbeiging, wieder einladend die Handfläche: „Hier wird jedes
-Menschen Sehnsucht erfüllt. Treten Sie ein.“
-
-Einige Tage später schritt Jürgen, der, aus Neugier, zu erfahren,
-welcher Art die Genüsse seiner früheren Mitschüler seien, Adolf
-Sinsheimer versprochen hatte, am Monatsersten mit in eine Weinkneipe zu
-gehen, auf das verwahrloste Vorstadthaus zu, vor dem Adolf, drei junge
-Kaufleute und der Magistratsbeamte Hohmeier schon wartend unter der
-roten Laterne standen.
-
-Aus fünf Brusttaschen stand je ein farbiges Tüchlein empor. Blasse und
-gerötete Gesichter. Auf allen die gleiche fiebrige Erregung und
-Spannung. Die vier waren im kaufmännischen Klub gewesen, hatten Herrn
-Hohmeier auf der Straße getroffen und mitgeschleppt.
-
-Sie wollten, zur Feier des Monatsersten, die Animierkneipe mit
-Damenbedienung besuchen.
-
-„Aber nur eine Flasche zusammen! Das habt ihr mir versprochen“, sagte
-der Magistratsbeamte, schloß den obersten Knopf des Gehrocks. Und folgte
-als letzter, während Adolf die Führung übernahm, resolut voranschritt,
-hinein in das schmale Kneipchen, das noch vor einer Woche ein
-Bäckerladen gewesen war.
-
-Jetzt waren die drei Glühbirnen mit roten Papierschirmen verhängt, die
-Brotlaibregale mit schön verkapselten Weinflaschen spärlich gefüllt, und
-der Ladentisch hatte sich in ein nickelbeschlagenes, glanzsprühendes,
-mit künstlichen Blumen und Weintrauben reich geschmücktes Büfett
-verwandelt, hinter dem der Wirt saß und zum zehnten Male die
-Abendzeitung las.
-
-Jürgen glaubte in ihm den Sklavenhalter zu erkennen, den Held einer
-Seeräubergeschichte, die er als Gymnasiast gelesen hatte. Des
-Sklavenhändlers tintenschwarzer Bart, die Riesenglatze, die Hakennase
-waren da. Nur die Peitsche fehlte; ihre Stelle nahm die Abendzeitung
-ein. Unsichtbar von ihm geleitet, gerieten seine drei von Seide und
-Schminke bunten Kellnerinnen mit den Weinkarten in Bewegung.
-
-Der einzige Gast, außer den Kaufleuten, ein schon total betrunkener
-Fabrikschreiner ohne Halskragen, schaukelte den Kopf knapp über der
-Tischplatte hin und her, riß ihn in den Nacken und schrie in die falsche
-Richtung: „Da komm her!“
-
-Die Älteste ging zu ihm, ließ ein bißchen an sich herumgreifen, so
-lange, bis er einen Geldschein auf den Tisch knallte. Strich ihm über
-das Haar, in dem noch die Holzteilchen steckten, und gab ihrer jungen
-Schwester einen Augenwink. Die brachte eine neue Flasche.
-
-Der Magistratsbeamte beugte sich auf die Tischplatte. „Eine zusammen!
-Ich denke, wir nehmen die billigste.“ Und er legte den auf ihn kommenden
-Teil der Rechnung gleich auf den Tisch.
-
-Erschrocken nahm Adolf das Geld wieder weg. „Das ist mein Teil“, sagte
-der Magistratsbeamte deutlich.
-
-Der Arbeiter glotzte auf seine neue Flasche, glotzte die Älteste an.
-„Jetzt komm aber auch her!“
-
-Kopfschüttelnd lächelte sie den Kaufleuten zu, gab den Augenwink ihrer
-jungen Schwester, die, noch ungeschickt und verlegen, zum Arbeiter ging
-und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. Er griff ihr an die Brust,
-die noch nicht vorhanden war, und brüllte: „Die andere!“
-
-„Für uns auch ein Gläschen?“ fragte die Älteste mit einem Blick, der
-allen fünfen in die Augen traf. Und Adolf gewann die Fassung wieder.
-„Aber selbstverständlich!“
-
-Sie entleerte die Flasche in drei Gläser und goß noch fünf Gläser voll
-bis zum Rand, so daß plötzlich drei leere Flaschen auf dem Tische
-standen.
-
-Der Magistratsbeamte beugte sich vor und seitwärts über drei Oberkörper
-weg, holte sich ein Glas mit Wein aus der ersten Flasche und stellte es
-bedeutungsvoll vor sich hin.
-
-„Schmeckt, was?“ sagte die Älteste, da Adolf den Wein kennerisch mit der
-Zunge prüfte. Er schüttete Zigaretten in ihre Hand, und seine Kollegen
-gaben ihr Geld, damit sie das Riesenorchestrion spielen lasse.
-
-Das nahm die ganze Rückwand ein, reichte bis zur Decke. Begann zu
-rasseln, knackte: ein farbiger Husarenleutnant aus Holz, den Taktstock
-im Händchen, schob sich, ruckweise, wie das rotseidene Vorhängchen
-auseinanderging, in den Vordergrund und dirigierte das von Trommelwirbel
-umdonnerte Flötensolo.
-
-Der Wirt stand reglos und groß hinter dem Büfett. Sein Bart ging mit der
-Dunkelheit zusammen. Die Glatze hing losgelöst und weiß über dem Büfett.
-
-Der Arbeiter lallte, goß ein, goß in das überlaufende Glas, bis die
-Flasche leer war, stülpte den Flaschenhals ins Glas und schimpfte, in
-der Einsicht, mit seinem Wochenlohn gegen die vornehmen Herren nicht
-aufkommen zu können, hoffnungslos in eine leere Ecke hinein. „Noch eine
-Flasche!“ schrie er verzweifelt.
-
-Und die Älteste stand augenblicklich hinter ihm, überredete ihn, erst
-das Geld zu geben, schob es wieder zurück. „Das langt nicht zu. Geh
-heim. Hast genug getrunken.“
-
-Schwankend und drohend erhob er sich. Der Wirt stand groß vor ihm,
-hinter dem Wirt die Älteste mit der Mütze des Arbeiters.
-
-Halb geschoben, torkelte er hinaus, ausgebeutelt und betrogen von seiner
-Sehnsucht nach Glanz und nach einer Frau, die keinen verbrauchten Körper
-hatte und keine schmutzige Flanellunterwäsche trug.
-
-Die Älteste, noch bei der Tür, breitete die Arme aus. „Jetzt sagt mir,
-was hat so ein Arbeiter in einer Weinstube zu suchen.“
-
-Das selbe fragten die Kaufleute. Sie zog aus ihrem Busen pornographische
-Photographien, auf denen sie selbst in verschiedenen Stellungen nackt
-abgebildet war, zusammen mit einem Herrn im Frack. Es standen schon neun
-leere Flaschen auf dem Tisch. Die Gläser der Mädchen waren immer beinahe
-gleichzeitig voll und leer.
-
-„Aber natürlich bringen Sie noch Wein!“ rief Adolf und ließ die Bilder
-durch seine heißen Hände laufen. „Aber natürlich bringen Sie noch!“
-echoten die andern.
-
-Hinter dem Büfett hing in einem Ring ein Kübel; vom Boden des Kübels
-lief ein Schlauch weg in die jeweilig darunterstehende Flasche. Nachdem
-die Mädchen ihre vollen Gläser in den Kübel entleert hatten, besorgte
-der Wirt mit diesem Weine das Füllen der Flaschen. Und die Mädchen
-stellten den Wein wieder auf den Tisch.
-
-Das Orchestrion spielte ununterbrochen. Die vier Köpfe, eng
-aneinandergepreßt, blieben über die Photographien geneigt, bis die
-Älteste die Bilder wegnahm. Das Wort ‚Sekt‘ fiel. Jürgen legte einen
-Geldschein in Adolf Sinsheimers Hand und verließ die Weinstube. Die
-andern bemerkten es kaum.
-
-Plötzlich fühlte der Magistratsbeamte sich beim Halse gepackt. Die
-ineinander verschlungenen Weiber- und Männerkörper schaukelten hin und
-her nach der Melodie des Flötensolos. Der Sekt floß. Die Flaschen
-schwebten selbständig vom Büfett herüber auf den Tisch. Floß eine Stunde
-lang im Kreislauf: aus den Flaschen in die Gläser, von da in den Kübel,
-durch den Schlauch in die Flaschen und wieder in die Gläser, bis der
-kühl und reglos neben dem Kübel stehende Wirt den Wink zur Vorsicht gab.
-
-Da lösten sich die Mädchen allmählich los. Die junge Schwester blieb auf
-des Magistratsbeamten Schoß liegen. Sie war betrunken. Der Wirt schickte
-ihr einen Blick, der sie ernüchterte.
-
-Ein Schub Studenten trat ein, setzte sich an den Tisch, an dem der
-Arbeiter gesessen hatte.
-
-Des Magistratsbeamten geschweifter Mund schnappte auf und zu, und
-plötzlich warf er die dürren Arme hoch und behauptete: so lebe er, so
-lebe er, so lebe er alle Tage.
-
-Die Älteste stand schon bei den Studenten, lächelte kopfschüttelnd über
-die Kaufleute und nahm die Bestellung entgegen. Die Studenten blickten
-belustigt hinüber.
-
-„Pardon!“ drohte Adolf, der seinen früheren Mitschüler, Karl Lenz, nicht
-erkannte. Der Wirt kam groß aus dem Büfett heraus.
-
-„... so leben wir alle Tage“, sang der Magistratsbeamte immer noch. Und
-die Älteste präsentierte die Rechnung.
-
-Die fünf Monatsgehälter reichten nicht. Der halbe Tisch stand voll Wein-
-und Sektflaschen. Adolf warf noch eine Banknote auf den Tisch, an dessen
-Stirnseite der Wirt stand und die drei Worte sprach: „Das langt nicht.“
-
-Alle standen schwankend und ausgeliefert, wollten nach ihren Mänteln
-greifen. „Sie müssen mir Ihren Ring zum Pfande da lassen.“ Der Wirt
-stellte den Zeigefinger steil auf die Rechnung. Die Studenten
-beobachteten gespannt die Szene.
-
-Adolf zog den Brillantring vom Finger. „Darüber muß ich eine Quittung
-bekommen!“ Und blickte, trotz seines Rausches, verblüfft auf die schon
-ausgefüllte Quittung, die der Wirt sofort vor ihn hinlegte.
-
-Schritt für Schritt ging er hinter den Abziehenden nach, schloß die Tür
-leise und mit Kraft und zog sich hinter das Büfett zurück, stellte eine
-leere Flasche unter den Kübel. Diesmal war es eine Rotweinflasche.
-
-Die Älteste atmete hoch auf, ließ den Busen fallen: „Diese Kaufleutchen!
-Wollen elegante Herren spielen und können dann nicht bezahlen.“ Sie
-breitete die Arme aus: „Jetzt sagt mir, was haben solche Bürschchen in
-einer Weinstube zu suchen?“
-
-Karl Lenz stimmte ihr bei. Daraufhin auch die andern. Sie goß den
-Rotwein ein. „Auch für uns ein Gläschen?“
-
-„Aber selbstverständlich!“ Und dann ging er ernsten Gesichtes erst
-hinaus in das Klosett und nahm das Couleurband ab; die andern hatten,
-dem Koment gemäß, ihre Couleurbänder nicht an.
-
-Die Älteste goß neun Gläser voll: es waren sechs Studenten. Die junge
-Schwester richtete den Tisch der Kaufleute für neue Gäste her. Und der
-Wirt rückte den Kübel zurecht.
-
-Daß dies besonders herrliche Genüsse wären, wert, ihretwegen auch nur
-den Bruchteil selbst eines blödsinnigen Ideals aufzugeben, kann gewiß
-niemand behaupten; aber auch nicht, daß es keine begehrenswerteren
-Genüsse gäbe, dachte Jürgen auf dem Heimwege durch die schlafende Stadt.
-
-Vor dem kleinen Café in der noch belebten Hauptstraße stand wieder der
-Krüppel und neben ihm, reglos, grau und böse, die Frau, auf dem Arme den
-skrofulösen Säugling.
-
-‚Daß einer um den Preis, Liebschaften zu haben mit schönen, gepflegten
-Frauen, oder um der Macht und des Erfolges willen Verrat übt an allem,
-was ihm in der Jugend teuer war, wäre schon eher zu begreifen.‘
-
-Und plötzlich entsann er sich des Abends, da er, geladen bei einer der
-vornehmsten Familien des Landes, solchen Frauen begegnet und Zeuge
-geworden war von Gesprächen zwischen Großbankiers, die über Weltpolitik,
-Eisenbahnbauten und den wahrscheinlichen Zeitpunkt eines neuen Krieges
-in leichtem Plaudertone gesprochen, und zwischen berühmten
-Schriftstellern, die über die Schönheit eines Goethezitates und sogar
-über den Satzbau des Zitates länger als eine Stunde äußerst
-beziehungsreich und sehr klug und geistvoll diskutiert hatten. Das ist
-Macht, das ist Kultur, hatte er damals gedacht.
-
-‚Aber kann denn durch diese Macht und durch diesen Geist das Meer von
-Tränen, kann denn dadurch das würgende, würgende Menschenleid beseitigt
-werden? Ich glaube es nicht. Was aber soll man tun?‘ Bedrückten Herzens
-schloß er die rückwärtige Gartentür auf, an die er das Schild angebracht
-hatte: ‚Hier wird Armen gegeben‘.
-
-Seine Fragen an das Leben fanden keine Antworten; nur die allzu glatten
-der Schulkameraden und der Tante. Oft – wenn er sah, wie die früheren
-Mitschüler jenseits aller Zweifel lebten – hatte der Vereinsamte, wie
-einmal in der Schule, den Wunsch gehabt, auch so zu werden, wie die
-andern waren, das Fragen und das Suchen aufzugeben und sich der
-Tantenauffassung anzuschließen. Diese Stunden nannte Jürgen
-Schicksalspausen.
-
-Er saß am Fenster, hatte noch Kopfschmerzen von dem Wein, sah die
-Animierkneipe. Schweinerei! dachte er, betrachtete mit inbrünstigem
-Hasse der Tante Lebensarbeit: die unverwüstlichen gehäkelten Deckchen,
-die alle Möbelstücke drückten. Der Perpendikel tickte ruhevoll das Wort
-‚rich–tig, rich–tig‘.
-
-‚In diesem Zimmer „Schweinerei“ zu sagen, ist unmöglich. Da hört die Uhr
-auf zu ticken, die Deckchen gleiten von Sesseln, Tisch, Kommode, und die
-Heiligenbilder fallen von den Wänden.‘
-
-Eine lange halbe Stunde wurde kein Wort gesprochen. Die Tante häkelte.
-Die Älteste zeigt die Photographien.
-
-„Schweinerei!“ brüllte Jürgen, erwartete die Zimmerrevolution, sah die
-böse herausgedrückten Augen der Tante. Die Szene von früher wiederholte
-sich:
-
-„Was hast du gesagt?“
-
-„Ich habs doch nur gedacht.“
-
-„Du lügst mir wieder ins Gesicht hinein?“
-
-„Wenn doch diese verdammte Uhr endlich aufhören würde zu ticken!“
-
-Sie machte eine barsch abschließende Handbewegung und stellte die
-Häkelnadel senkrecht gegen ihn: „Wenn du erst in Amt und Würden sein
-wirst ...“
-
-Sein ganzer Körper wurde gemauerter Widerstand. „Niemals! Ich studiere
-Philosophie.“
-
-Zuerst legte sie die Häkelarbeit weg, griff nach der Stickerei und stach
-langsam die Nadel von unten in den Stickrahmen, zog sie senkrecht hoch.
-„Du weißt, dein Vater will ...“
-
-„Er ist ja tot. Tot!“
-
-„... daß du Amtsrichter wirst.“
-
-Sein Gesicht verzog sich zu einer Lachfratze. Und in die Pause hinein
-gestand er: „Ich studiere seit einem Jahre, studierte von Anfang an
-Philosophie. Überhaupt nie eine andere Vorlesung gehört!“
-
-Da saß sie aufrecht, faltete übertrieben ruhig die Hände im Schoß: „In
-diesem Falle würdest du nicht einen Pfennig mehr von mir bekommen. Von
-was also wolltest du leben? ... Philosophie? Was willst du denn werden?“
-
-Er sah das Schäfchen auf dem Heiligenbilde an. „Werden?“ Die Uhr tickte:
-‚rich–tig, rich–tig‘.
-
-„Nun, was also? Alle deine Schulkameraden wissen längst, was sie werden
-wollen.“
-
-Plötzlich schlug seine Ratlosigkeit in Wut um. Er brach in die Knie,
-preßte beide Fäuste an den Hinterkopf und brüllte wild: „Nichts weiß
-ich! Landstreicher werde ich. Ich gehe auf die Landstraße. Ein Gauner
-werde ich, wenn du mich noch länger quälst.“
-
-Der Kniende stierte auf die Krüppelfamilie, die grau, elend, schemenhaft
-vor der Dunkelheit stand. Auch den skrofulösen Säugling auf der Mutter
-Arm sah Jürgen. Kniend rutschte er auf die imaginäre Gruppe zu und zur
-Tür hinaus.
-
-Erst oben in seinem Zimmer kam die Wut voll zum Ausbruch. Zuletzt riß er
-die Waschschüssel mit beiden Händen in die Höhe und schmetterte sie auf
-den Fußboden. Die Stirn blutete. Das Zimmer war verwüstet.
-
-Allmählich wurde der vom Weinen Gestoßene still. Er saß, Arme
-verschränkt, Kopf darauf, am Tisch. Tränen und Speichel vermischten sich
-auf der Tischplatte. So blieb er hocken.
-
-Plötzlich deutete er durch den Fußboden auf das Heiligenbild im
-Wohnzimmer und verlangte ausdrücklich: „Das Lämmchen muß dem
-Heiligenbild weggenommen und der Krüppelfamilie vor die Füße gesetzt
-werden.“
-
-‚Der arme Jürgen! Sie haben ihn so lange gequält, bis er irrsinnig
-wurde‘, ließ er Katharina Lenz sagen, ahmte eine Kinderstimme nach,
-schmollte trotzig und weinerlich: „Man muß das Lämmchen zur
-Krüppelfamilie tun.“
-
-‚Wie man ihn gequält hat! Jetzt ist der Arme irrsinnig‘, klagte
-Katharina.
-
-Und er schauspielerte: „Das Lämmchen gehört zu der Krüppelfamilie ...
-Bäh, bäh, bäh!“ Müdigkeit drückte des Erschöpften Wange auf die
-Tischplatte. Noch einmal hob er das von Tränen und Blut verschmierte
-Gesicht, rief trotzig und blöd: „Bäh!“ und schlief ein.
-
-Da erschien, grün und aufgetrieben wie ein Ertrunkener, der Vater hinter
-dem Stuhle, tippte Jürgen auf die Schulter und sagte leise und
-lächelnden, weitgeöffneten Mundes, so daß alle Zähne bleckten: „Na, du
-schmähliches Etwas.“ Dabei drehte der Vater des Jahrmarktes riesige,
-vieltausendstimmige Drehorgel, deren Töne fernher drangen durch den
-warmen Herbstabend.
-
-Der Kontakt im Tunnel der Berg- und Talbahn funktionierte schon. Die
-Bude links neben dem Zaubertheater war mit Hilfe von Ölfarbe in einen
-alten Stall umgewandelt, aus dessen Luke Heu hervorquoll. Der Kopf des
-mit kosmetischen Mitteln hergerichteten ‚Pferdegesichtes‘ sah sehr
-abnorm aus.
-
-Das Herz brüllte in das Riesenhorn, das Seidel hatte machen lassen:
-„Hier ist zu sehen der Mensch mit dem Pferdekopf! Die größte Abnormität
-der Welt! Er frißt Heu wie Brot! Hafer ist ihm das liebste! ... Man höre
-ihn wiehern.“
-
-Blies mächtig ins Horn, starrte, Hand am Ohr, ins Publikum: Aus der Bude
-erklang das brünstige Wiehern des Pferdegesichtes.
-
-Auch Jürgen, der außerhalb der Stadt auf der bewaldeten Höhe stundenlang
-am selben Flecke reglos gelegen war und sich nach dreißig Schritten,
-gepeinigt von Unruhe und Ratlosigkeit, wieder in das Moos hatte fallen
-lassen, den Blick fernaus gerichtet, dem Flußlauf nach, in das weite
-Land, dem Meere zu, ganz und gar erfüllt von dem Wunsche, aller Last zu
-entlaufen, hinaus in ein Leben der Ungebundenheit, wurde auf dem
-Heimwege angezogen von den Drehorgelmelodien, die, wie in der
-Knabenzeit, in ihm das Gefühl wieder erwachen ließen, daß hier die
-Freiheit sei.
-
-Das ist das selbe Gefühl, das den sechsjährigen Sohn des Geheimrates
-sagen läßt: ‚Ich will Droschkenkutscher werden‘, dachte er und
-betrachtete den Stall. Rechts stand: Eingang; links: Ausgang. In der
-Mitte saß Leo Seidel vor der grünen Drahtgitterkasse.
-
-Ihn jedoch hat nicht dieses Gefühl vor die Schaubude gesetzt, dachte
-Jürgen, wollte schon durch die Menge durch, die drei Stufen hinauf,
-Seidel zu begrüßen, erinnerte sich in dieser Sekunde der Weltgeschichte
-und seines letzten Gespräches mit Seidel und verließ den Jahrmarkt.
-
-Seidel hatte Jürgen nicht bemerkt; er war sehr beschäftigt. Wenn die
-Leute sahen, wie das aus der Luke heraushängende Heu sich bewegte,
-siegte bei vielen die Neugierde, einen Menschen mit einem Pferdegesicht
-beim Heufressen zu beobachten, so daß die Bude immer guten Zulauf hatte.
-
-In der Hand die Rechnungen für Ölfarbanstrich, innere Ausstattung,
-Riesenhorn und Stallmeisterlivree, die Das Herz trug, und im Kopfe die
-Idee, daß nur derjenige zu Geld kommen könne, der andere für sich
-arbeiten lasse, stellte der kapitalkräftige Seidel Herz und
-Pferdegesicht am Wochenschlusse vor die Wahl, entweder Mitinhaber zu
-bleiben und während der ganzen Messedauer auf jeglichen Verdienst zu
-verzichten – denn diese Rechnungen müßten erst gewissenhaft bezahlt
-werden –, oder alle Mitinhaberrechte abzutreten und sofort
-Angestelltengehalt zu beziehen.
-
-Das Herz schrie: „Der Gewerbeschein war mein einziges Erbe.“ Das
-Pferdegesicht erklärte, nicht jeder könne seine Visage als Pferdekopf
-für Geld ausstellen, und jeden Tag bis Mitternacht Heu zu fressen, sei
-auch keine Kleinigkeit. Die grüne Drahtgitterkasse, in der die
-Wocheneinnahme lag, klappte zu.
-
-Da wählten die beiden das Geld in die Hand. Seidel war Alleininhaber.
-
-Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt darüber nach,
-wo er eine breitere Basis für seinen spekulativen Geist finden könnte.
-
-Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem mächtigen Backsteinbau
-zurück: dem Zirkus, der den ganzen Winter über in der Stadt blieb und
-während der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen hatte.
-
-Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen einigen
-Budenbesitzern und dem Zirkusunternehmer bestanden, und schlug diesem
-vor, Familienbilletts zu ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die
-Jahresmesse in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der herkömmlichen
-und deshalb nicht mehr wirksamen Zirkusplakate ein von einem guten
-Künstler zu entwerfendes modernes Plakat kleben lassen.
-
-Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts wissen. Die Billettidee
-hatte er selbst gehabt und war schon dabei, sie auszuführen. Aber es
-gelang Seidel, einige für seine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit
-Zirkuskünstlern zu machen.
-
-Bald darauf behauptete Adolf Sinsheimer, er habe Leo Seidel, im Pelz,
-den Zylinder auf dem Kopfe, im Vorraume des Berliner Wintergartens
-gesehen, in Gesellschaft von eleganten Damen und Varietékünstlern.
-
-Und so konnten einige Jahre später seine früheren Kollegen vom
-Stadtmagistrat und die Schulkameraden, von denen die meisten zu dieser
-Zeit schon jung verheiratete Männer waren, nicht allzu sehr darüber
-verwundert sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht lange Impresario
-geblieben war, als kaufmännischer Direktor des riesigen Wanderzirkus in
-die Heimatstadt zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im eigenen
-Wagen fuhr.
-
-Zu jener Zeit war Herr Hohmeier eben bis zum breiteren Löschblattbügel
-vorgerückt und wollte sich verheiraten.
-
-Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und hatte nur eine
-Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt.
-
-Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen- und dann im
-Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem Erfolge tätig gewesen und
-deshalb noch einmal in das ihm vertraute Fach zurückgekehrt war, an der
-Börse sehr gewinnreich mit Baumwolle spekuliert. Er war seit Jahren
-Abonnent volkswirtschaftlicher, bank- und börsentechnischer
-Zeitschriften.
-
-Er studierte die Preisschwankungen des Marktes nicht wie der
-Großindustrielle oder Börsianer, die, das Risiko zu vermindern, sich mit
-ihren Abschlüssen von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten
-orientieren; er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden Kurven
-der Export- und Importziffern aller Länder, verfolgte genau die hieraus
-sich ergebenden inner- und außerpolitischen Spannungen, täuschte sich
-selten über den Zeitpunkt hereinbrechender Wirtschaftskrisen – eine
-Fähigkeit, die ihn nicht nur vor Verlusten geschützt, sondern ihm seine
-bisher größten Gewinne eingebracht hatte – und wartete, in jeder
-Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die Situation, die es ihm
-gestatten würde, unter möglichster Ausschaltung des Risikos die Hand auf
-das ganz große Geschäft zu legen.
-
-Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu haben, die
-Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen.
-
-
-
-
- III
-
-
-„Sie sind ja in der Brodstraße.“ Der Portier setzte sich wieder auf das
-Bänkchen.
-
-„Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?“
-
-„Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt eins. Kommt von einem
-Geschäftsgang zurück, liest die eingelaufene Post, da trifft ihn der
-Schlag ... Auch ein Unglück für die Familie!“
-
-Jürgen überwand seine Scheu, ein Haus zu betreten, in dem ein Toter lag,
-stieg die Treppe hinauf, vorbei an dem farbigen Treppenhausfenster, auf
-dem Wilhelm Tell im Ausfall stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen
-von den blonden Locken.
-
-Im Vorzimmer kämpfte Gulaschduft mit Medizingeruch. „Herr Adolf kommt
-gleich“, sagte das Dienstmädchen und drehte eine schwach und rot
-brennende Birne an im Salon.
-
-Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar schwer, füllten
-ihn. Zahllose Nippesgegenstände posierten, miauten, sangen, tanzten
-Menuett auf allen erdenklichen Plätzchen und Kanten. Jürgen wand sich
-bis zu einem Stuhle durch, dessen hohe Lehne, gebildet durch zwei
-vielfach geschwungene, schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer
-Wasserrose abschloß, in der ein Frosch saß, das Krönchen auf dem Kopfe.
-
-Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände, begann schließlich zu
-zählen: vier meterhohe Petroleumlampen – Geschenke, die niemals gebrannt
-hatten –, eine große Anzahl nie benutzter Tee-, Kaffee- und
-Likörservice, entdeckte nachträglich noch zwei hohe, glänzende Gestelle,
-die er erst auch für Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte:
-Nachbildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken Birnen, Äpfel,
-Trauben, aus farbigem Tuche, lagen. An der Wand hing, zwischen dem
-Dackel, der, das weiße Zipfeltuch um den Kopf, an Zahnweh leidet, und
-dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt, ein kleiner Elefant, der
-den Rüssel hin und her schleuderte. Das Ziffernblatt auf seiner Stirn
-stellte Afrika dar.
-
-Unvermittelt schlug der Gedanke ein, daß vielleicht im Zimmer nebenan
-der Tote liege. Um sich abzulenken, nahm Jürgen den Bronzelöwen in die
-Hand, der, schleichend zusammengekauert, Tatzen auf dem Rande, die Zunge
-dürstend in die Aschenschale streckte. Stand auf, sah umher, drehte am
-Schalter. Mit dem Verlöschen der Birne schwankten alle Möbel, wie
-betrunken, auf Jürgen zu und versanken in der Finsternis. Er fand den
-Schalter nicht wieder.
-
-Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im Salon liegen,
-schneeweiß aufgebahrt und mit genau der selben Kopfhaltung wie die
-seines Vaters. Schnell drehte er sich einige Male um sich selbst,
-bemüht, die Leiche des Vaters nicht im Rücken zu haben, und streckte die
-Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker aus.
-
-Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen Jürgens Kopf: Adolf hatte
-eintreten wollen. „Na, sag mal, sitzt du im Dunkeln! ... Lina!
-Donnerwetter, Lina!“ Sie kam gesprungen. Jürgen wollte aufklären.
-
-„Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn nicht der ganze Lüster
-angeknipst, wenn Besuch da ist! ... Bringen Sie Tokaier.“
-
-Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig schritt er auch noch in
-die andern drei Ecken: Immer mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und
-am gewaltigen Lüster. Die tausend Gegenstände standen tot im weißen
-Lichte. „So, nun mache dirs bequem.“
-
-Jürgen setzte sich wieder auf den hochlehnigen Schwanenstuhl und sprach
-das Tokaierglas prostend erhoben, verlegen sein Beileid aus über den
-entsetzlichen Unglücksfall, der Adolf betroffen habe.
-
-„Das passiert meinem alten Herrn öfter. Es geht ihm schon wieder besser.
-Er hat schon etwas Gulasch gegessen. Jetzt schläft er.“
-
-Nachdem die beiden weggegangen waren, schritt das Mädchen von Schalter
-zu Schalter und stürzte den Salon wieder in das schwarze Nichts.
-
-Auf der Straße zog Adolf mit weißen Litzen besetzte Glacéhandschuhe an
-und machte beim Sprechen abgehackte Viertelsdrehungen auf Jürgen zu, wie
-ein Leutnant, der mit einer Dame spazierengeht. Sein Vater habe diesen
-Morgen Ärger gehabt, wegen einer Zahlung an eine Londoner Bank. Es habe
-sich zwar nur um einige zehntausend Pfund gehandelt. „Eine Bagatelle,
-gewiß! Aber wenn sie momentan nicht flüssig zu machen sind? ... Geht er
-heute früh dieser Sache halber fort, kommt schon aufgeregt nachhause, da
-findet er ein Schreiben aus dem Kriegsministerium, des Inhalts, daß wir
-...“ Er blieb stehen, hob den Spazierstock wie eine Kerze: „Diskretion?“
-
-„Vielleicht sagst du mir lieber nichts.“
-
-„Aber bitte, dein Wort genügt mir ... daß wir den Auftrag erhalten
-haben, den neuen Armeeknopf zu liefern. Begreifst du, was das bedeutet?
-... Ahnungslos öffnet mein Alter das zweite amtliche Schreiben, liest,
-daß er zum Kommerzienrat ernannt worden ist: schwuppdich – Schlaganfall
-... Bitte, nach dir.“
-
-Schwungvoll ließ der schon zum Kellner emporgerückte, seinen Ober jetzt
-mit vollkommenster Sicherheit kopierende frühere Pikkolo das Tablett mit
-den Wassergläsern auf die Marmorplatte auflaufen. Das Knopfexporthaus
-stand wuchtig und still gegenüber in der Abendruhe.
-
-Ein starker Tourenwagen hielt vor dem Café. Ein blonder Herr trat ein.
-Adolf verbeugte sich steif und tief und flüsterte: „Sechzigpferdig! Ein
-Klubmitglied! Sohn des Maschinenfabrikanten Heller ... Die haben ihrem
-Werke kürzlich noch eine Abteilung angegliedert, in der ausschließlich
-Eisenbahnweichen fabriziert werden. Staatsaufträge, mußt du wissen! Auch
-die scheinen die nötigen Verbindungen zu haben. Enorm reiche Leute!“
-
-Jürgen wurde die Seele schwer bei dem Gedanken, daß seit jenem ersten
-Kaffeehausbesuch schon soviel Zeit vergangen war und er noch immer
-unklar und ziellos dahinlebe. Abwesend sah er in das glänzende Gesicht,
-von der Krawattenperle zum seidenen Tüchlein, das glatt und grün aus der
-Brusttasche wuchs.
-
-„Gestern übrigens – ich unterhalte mich nicht ungern mit dem jungen
-Heller – erzählte er mir im Klub, er habe den Ingenieur, der das
-Einrichten der Weichenfabrik überwacht und geleitet hat, husch, die
-Lerche! rausgeschmissen.“
-
-„Fort möchte ich! Weg von Europa! Weg von dem Ganzen! ... Vielleicht
-wenn ich Dolmetscher werden könnte in China!“ Und plötzlich erfüllt von
-Zorn und Hohn: „Bist du schon weit mit deiner Knopfsammlung?“
-
-„Unsinn! Das war ja Kinderei. Hast du eine Ahnung! Es gibt, rein
-menschlich genommen, nichts, das mir gleichgültiger wäre als Knöpfe ...
-Ich sammle etwas ganz anderes.“
-
-Er beugte sich zu Jürgens Ohr, flüsterte und lehnte sich wieder zurück.
-„Von jeder, die ich gehabt habe! ... Kannst dir die Sammlung einmal
-ansehen.“
-
-„Weshalb hat er ihn denn hinausgeworfen?“
-
-„Überall liegt ein Zettel bei, mit dem Vornamen der Betreffenden und dem
-Datum.“
-
-„Wenn er doch das Einrichten der Fabrik leitete!“
-
-„Ja, und gleich hinterher hat er die Arbeiter zum Streik aufgehetzt. Ein
-Blutroter nämlich, verrückter Weltverbesserer, weißt du, Bombenschmeißer
-und so ... Zeichnet, konstruiert, wählt aus, baut um, rennt und
-schwitzt, bis das Werk steht – soll übrigens ein brauchbarer Techniker
-und Organisator sein –, dann hetzt er die Leute auf ... So etwas gibts
-noch, heutzutage, trotz des enormen Aufschwungs unserer Industrie.“
-
-„Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht, daß trotz des
-Aufschwunges unserer Industrie die große Mehrheit aller Menschen zu
-schwer arbeiten muß und dabei kaum das Nötigste zum Leben hat, vor allem
-aber jeglicher Möglichkeit, ihre geistigen Anlagen auszubilden,
-jeglicher Entwicklungsmöglichkeit vollständig beraubt ist? Im Gegensatz
-zu anderen, die essen, leben und sich bilden können – wie zum Beispiel
-wir –, selbst wenn sie wenig oder nichts arbeiten!“
-
-„Deine Sorgen! Übrigens: ich muß auch arbeiten. Und wie wir geschwitzt
-haben, mein Alter und ich, betreffs des Armeeknopfes! Du solltest nur
-ein einziges Mal eine Kalkulation für solch eine Riesenlieferung machen
-müssen, da würde dir das Nichtvorhandensein sämtlicher und noch einiger
-Dutzend mehr Entwicklungsmöglichkeiten anderer Leute schnuppe sein.“
-
-Wer weiß überhaupt, dachte Jürgen, weshalb der eine denkt und der andere
-niemals zu selbständigem Denken, nie zu einer eigenen Meinung kommt und
-deshalb auch nie zu einem Proteste gegen das Bestehende? Ist da die
-verschiedene Konstitution entscheidend? Oder das Leben, wie es ist, die
-Ordnung, die Lebensordnung? Oder alles zusammen? ... Das ist ein tiefes
-Problem. Das sind Fragen, schwer zu beantworten ... Und wer jetzt dazu
-noch überlegt, daß ganz offenbar diejenigen, die nicht selbständig
-denken, die Uneigenen, diese Ordnung bestimmen, dem Leben das Gesicht
-geben, der muß zugeben: Alles, das Ganze, ist verkehrt. Das Ganze!
-
-„Jeder Armeeknopf muß x-mal durch die Maschine laufen. Dazu die
-Berechnung des Rohmaterials, der Kapitalsverzinsung, der Arbeitslöhne.
-Wenn du zu hoch kalkulierst, bekommst du den Auftrag nicht; und wenn du
-dich bei solch einem Riesenauftrag verrechnest, bist du pleite.“
-
-Den kleinen Finger weggespreizt, zog er das grüne Tüchlein aus der
-Brusttasche und wischte sich die trockene Stirn. „Was sagtest du vorhin?
-Dolmetscher in China? Kannst du denn chinesisch? Es gibt meines Wissens
-und gewissermaßen nicht ein Dutzend Leute in Deutschland, die chinesisch
-können.“
-
-„Gerade deshalb glaube ich ja, daß ich leicht einen Dolmetscherposten in
-China bekommen könnte“, sagte Jürgen, der bis vor zehn Minuten niemals
-daran gedacht hatte, Dolmetscher in China werden zu wollen.
-
-„Ich kann ja schon ziemlich chinesisch“, begann er auf der Straße von
-neuem. „Ich lerne nämlich seit Jahren in einer alten Grammatik, die ich
-unter den Büchern meines Vaters gefunden habe ... Zum Beispiel als
-Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft in China! ... Nur weg von
-Europa!“
-
-„Solltest du nicht Amtsrichter werden? ... Schön, werde du Dolmetscher!
-Nichts als Romantik, mein Lieber, sauere Romantik! ... Na, mein Ziel
-kennst du ja. In einigen Monaten ist das neue Knopfexporthaus unserer
-Knopffabrik angegliedert. Runde Sache! Konzentration, mein Junge! Aber
-davon verstehst du ja nichts ... Im übrigen – lebe ich, amüsiere mich
-und, um es glatt herauszusagen, vergrößere meine Sammlung weiblicher
-Geschlechtshaare. Später ... natürlich heiraten!“ Er war mit der
-Bankierstochter Elisabeth Wagner, einer früheren Mitschülerin
-Katharinas, verlobt.
-
-Der schwere Wagen hielt. Der Fabrikantensohn stieg aus und die
-läuferbelegte Treppe hinauf. Auch Jürgen und Adolf waren vor dem
-Klubhause angelangt.
-
-„So einfach, wie du dir das vorstellst, erhält man Staatsaufträge
-natürlich nicht. Da sind, abgesehen von der Kalkulation, noch ganz
-andere Kräfte im Spiel, Kräfte, sage ich dir ... Für tausend Knöpfe
-werden bezahlt“, rief er plötzlich mit starker Stimme und nannte die
-Summe, „und hundertachtzig Millionen sind bestellt ... Rechne aus! Mein
-verflossener Chef wird platzen vor Ärger über den Kommerzienratstitel.
-Und obendrein, schwuppdich! schnappten wir ihm noch den kolossalen
-Staatsauftrag weg. Kurzum: es geht, husch, die Lerche! schnurstracks in
-die Höhe. Merkst du das?“
-
-„Schwuppdich!“ murmelte Jürgen; er hatte gar nicht zugehört.
-
-Da klang, wie damals, Klaviergepauke und Refraingesang durch das offene
-Fenster. Und Adolf, beide Arme weit ausgebreitet, Stock in der einen,
-Glacés in der andern Hand, sang mit in übersprudelnder Lebensfreude:
-
- „Es haben zwei ne ganze Nacht
- Zusammen in einem Bett verbracht.
- Was ham se wohl gemacht?“
-
-Während Jürgen die Stadt durchquerte, verlobte auch er sich. Katharinas
-Vater, Herr Geheimrat Lenz, löste die Verlobung wieder, weil Jürgen ein
-brotloser Philosoph und nicht bei einer schlagenden Verbindung war.
-
-Am Arme ihres Gemahls – einer berühmten Persönlichkeit – geht Katharina
-vorüber an Jürgen, ihrem früheren Verlobten, der, total heruntergekommen
-und versoffen, die Straße kehrt. Bleibt stehen, ergriffen von Mitleid.
-‚Sieh mal, wie furchtbar traurig! Er war mein Jugendfreund. Schenke ihm
-doch etwas.‘
-
-Ihr Mann ist sehr edel, gibt seine ganze Brieftasche dem demütig
-Dankenden, an dessen abgezehrtem Gesicht die Tränen herunterrollen.
-
-Auch Katharina schluchzt, legt ihre Hand auf die seine, die den Besen
-hält, und sieht ihren Mann an: ‚Jürgen war nicht immer so. Denke das ja
-nicht. Wenn du wüßtest, welch wunderbarer Mensch er gewesen ist! Hätte
-ich ihn sonst geliebt? Keineswegs immer so! Zum Beispiel ernannte ihn
-die Regierung, obwohl er anfangs nur ein untergeordneter Dolmetscher
-war, seiner ganz außerordentlichen Fähigkeiten wegen zum deutschen
-Gesandten in China.‘
-
-Da verschwand Katharinas Mann. Nicht dieser, sondern Jürgen ist mit ihr
-verheiratet, empfängt die phantastisch wunderbar gekleideten
-chinesischen Würdenträger, von denen vor lauter tiefen Verbeugungen
-beständig nur die Rücken zu sehen sind. Der Saal hat keine Decke. Das
-Sternenfirmament blitzt über dem glänzenden Feste des deutschen
-Gesandten. Der Reichskanzler hat für außerordentliche diplomatische
-Dienste an Jürgen ein Danktelegramm geschickt. ‚Empfehlen Sie mich auch
-Ihrer Frau Gemahlin.‘
-
-‚Katharina, der Kanzler läßt sich dir empfehlen.‘
-
-‚Das alles habe ich nur dir zu verdanken, Jürgen.‘
-
-Der Aufschrei einer Frau und das Schimpfen und heftige Läuten des
-Trambahnführers stießen ihn zurück in die Wirklichkeit. Er befand sich
-in einem ihm gänzlich fremden Stadtteil.
-
-„Wenn diese schweinischen Träumereien jetzt nicht endlich aufhören,
-knalle ich mich nieder. Das ist ja Onanie“, schrie er plötzlich
-wutentstellten Gesichtes, in dem, ebenso plötzlich, grenzenlose
-Verwunderung sich auftat, als er bemerkte, daß er vor dem Hause stand,
-in welchem der Ingenieur wohnte.
-
-Jetzt erst erinnerte Jürgen sich wieder, daß er Adolf nach der Adresse
-gefragt und auf dem Wege durch die Stadt zweimal Straßenschilder gesucht
-hatte, in diese Seitenstraßen eingebogen und einmal sogar ein Stück
-Weges wieder zurückgegangen war, ohne sich des Grundes bewußt geworden
-zu sein.
-
-Außerdem ist Katharina ja von zuhause weggelaufen, wird sich also von
-dem Herrn Geheimrat nichts mehr dreinreden lassen, dachte er, schon
-wieder traumversunken, beim Hinaufsteigen, las auf einem weißen Kärtchen
-den handgeschriebenen Namen des Ingenieurs. ‚Was soll ich ihn denn
-fragen? Was soll ich sagen?‘
-
-Da hatte er schon geläutet. Die schweigsame Wirtin, deren Unterlippe
-mürrisch auf das Kinn herabhing, führte ihn in das große, helle Zimmer.
-Der Ingenieur saß am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. „Setze dich.“
-
-Jürgen setzte sich. Betrachtete die hellgelben, leeren Wände.
-
-„In den Sessel!“
-
-Er stand auf und setzte sich in den modernen, bequemen Ledersessel, vor
-das vollgestopfte Bücherregal, neben dem mehrere Stöße fremdsprachiger
-Zeitungen auf dem glänzenden Parkettboden standen. ‚Was soll ich sagen?
-Verflucht, das ist ja wie in der Schule ... Was will ich überhaupt?‘
-
-Lange und nachdenklich sah er den schreibgekrümmten Rücken an. ‚Wenn ich
-das wüßte, würde ich nicht hier sein.‘
-
-„Genossin, dein Artikel war in einem wichtigen Punkte schlecht. Du
-solltest den betreffenden Abschnitt noch einmal bei Marx nachlesen. ‚Die
-Klassenkämpfe in Frankreich‘. Auch bei Engels ‚Ursprung der Familie‘
-gibt es darüber eine sehr aufschlußreiche Stelle.“
-
-Jürgen nahm sich vor, diese zwei Bücher gleich zu kaufen. ‚Aber so geht
-das ja nicht weiter. Schließlich verrät er mir noch Geheimnisse.‘
-
-„Bei Marx nämlich ist die Problemstellung folgendermaßen“, sagte der
-Ingenieur und wandte sich um. „Entschuldigen Sie! Ich erwartete jemand.“
-Er hatte unveränderlich junge Augen in einem männlich fertigen Gesicht,
-das als Abschluß einen kleinen Spitzbart braucht, der auch vorhanden
-war.
-
-Jürgen stand auf. Da klingelte das Telephon. Während der Ingenieur
-horchte und sprach und horchte, verwarf Jürgen zehn verschiedene
-Gesprächsanfänge. Wünschte sich fort. Vernahm, wie der Ingenieur das
-Höhrrohr wieder auflegte. „Also, was wollen Sie?“
-
-„Fragen, was ich mit meinem Leben anfangen soll ... Ich bin doch nun
-einmal da“, antwortete er in einem Tone, als ob er gestanden hätte: Ich
-habe das Verbrechen begangen, nun machen Sie mit mir, was Sie wollen.
-
-Bleich und rot in einem vor Ärger über seine Verlegenheit, blickte er
-den Ingenieur wütend an.
-
-„Ja. Aber du solltest mich doch nicht wegen jeder Kleinigkeit anrufen,
-Genosse“, sagte der Ingenieur, der schon wieder verlangt worden war, in
-den Apparat hinein.
-
-‚Ich frage ihn, ob ich Philosophie oder meinethalben Astronomie
-studieren soll, und geh meiner Wege. Denn zu erklären, um was es sich
-eigentlich handelt – diese ganze Qual –, ist einfach unmöglich.‘
-
-„Und außerdem wurde eben mitgeteilt“, meldete der Hilfsredakteur, der
-im fünften Stocke des Druckereigebäudes in dem winzigen
-Redaktionszimmerchen saß, ein Stück Brot in der Linken, das Höhrrohr
-in der Rechten, „daß die Regierung beschlossen habe, dem
-Auslieferungsverlangen der spanischen Regierung nachzukommen.“
-
-„Das wäre der erste Fall dieser Art“, entgegnete ungläubig der
-Ingenieur. „Der Mann hat aus ganz offensichtlich politischen Motiven den
-Polizeipräsidenten erschossen.“
-
-Ich kann ihn doch nicht fragen: Was soll ich tun, um die Welt zu
-erlösen? dachte Jürgen.
-
-„Und politische Verbrecher werden bekanntlich nicht ausgeliefert.“
-
-Der Hilfsredakteur legte das Brot weg, ergriff ein Papier. „Es ist eine
-amtliche Depesche, in der das Attentat als gemeines Verbrechen
-dargestellt wird. Übermorgen wird er von hier abtransportiert zur
-Grenze.“
-
-‚Aber so ersticke ich eines Tages noch in diesem zähen Sumpf, wenn nicht
-etwas geschieht.‘
-
-„Ich werde noch vor Mitternacht eine Notiz über den Fall in die
-Redaktion schicken für die morgige Nummer.“
-
-Der ist mitten drin in der Umsturzbewegung, dachte, plötzlich entflammt,
-Jürgen und sah leuchtenden Blickes den Ingenieur an. „Vielleicht können
-Sie mir doch raten, was ich beginnen soll“, sagte er, als ob er das, was
-er nur gedacht hatte, ausgesprochen hätte. „Einen Weg zeigen! Ich tue
-alles. Ich bin nicht feige!“
-
-Der durch viele Publikationen im ganzen Lande bekanntgewordene
-sozialistische Agitator, vor dem schon öfters idealistisch gesinnte
-junge Menschen gesessen hatten, im Blick die Frage, was sie mit ihrem
-Idealismus anfangen sollten, fragte mit mehr Interesse im Ton, als er
-hatte: „Haben Sie schon Arbeiterversammlungen besucht?“ und lehnte seine
-Taschenuhr gegen das Tintenfaß.
-
-„Ich nicht. Aber mein Bekannter! ... Er hatte eine Siedlung gegründet.
-Jetzt ist er Mitglied der sozialistischen Partei, und da wird er wohl
-...“ sagte Jürgen und errötete tief, als er sah, daß der Agitator ein
-Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.
-
-„Die Siedlung war vollkommen kommunistisch ... Auch diese Siedler
-konnten es einfach nicht ertragen, das Leben, so wie es ist ... Alles
-zusammen, das Ganze! ist ja eine einzige ungeheuerliche
-Niederträchtigkeit.“
-
-„Wenn Sie sich dessen nur auch späterhin bewußt bleiben! Dann ist es
-ganz gleich, welchen Beruf Sie wählen. Wichtig ist dieses Bewußtsein.
-Möchten Sie das nie vergessen.“
-
-„Das Bewußtsein?“
-
-„Der Mensch kann auch sein Bewußtsein, nämlich das, was er in der
-Jugend, als noch Protestierender, schon erkannt und sogar tief empfunden
-und erlitten hatte, mit den Jahren vergessen.“
-
-Jürgen lauschte hinein in sein dunkles Gefühls-Ich. „Er kann, ich
-verstehe Sie schon, in eine gefährliche Schicksalspause
-hineinschlingern, ja? und in dieser Schicksalspause den Kampf aufgeben:
-alles verraten, was er erstrebt hatte.“
-
-Der Agitator steckte die Uhr ein. „Höchste Zeit! Sie kommt nicht mehr.
-Wahrscheinlich ist sie von der Redaktion aus direkt ins ‚Paradies‘
-gefahren ... Ungefähr das meine ich. Schicksalspause ... Wie die das
-Mädchen ausnützen! Muß die Artikel schreiben und die Zeitung dann auch
-noch verkaufen.“
-
-„Dann kommt das Geldzusammenscharren. Und wenn dann einer eine Zeitlang
-tüchtig, das heißt: brutal genug und nur auf seinen eigenen Vorteil
-bedacht war, ist er – husch, die Lerche! wie mein Schulfreund sagt – auf
-Kosten unterdrückter Elendsmenschen ein geachteter Mann.“
-
-„Aus solchen geachteten Männern besteht die herrschende Klasse.“
-
-„Ich habe nämlich erfahren, weshalb Ihnen gekündigt wurde. Sie sind
-Sozialist?“ Und ob er ihn noch ein Stück begleiten dürfe, fragte Jürgen
-auf der Straße. „Sie glauben also, daß im Sozialismus alles von Grund
-auf besser werden würde?“
-
-Der Agitator sprang auf die anfahrende Straßenbahn. „Ich glaube, daß
-jede Zeitepoche in sich ihre durch den Stand der Produktionskräfte
-bedingte Aufgabe trägt, die zu erfüllen der zeitbedingte Inhalt des
-Idealismus aller Kampf- und Opferbereiten ist, und daß die Aufgabe
-unseres Jahrhunderts in der Abschaffung des Privateigentums an den
-Produktionsmitteln besteht, in der Überführung der Produktionsmittel in
-gesellschaftliches Eigentum, in der Verwirklichung des Sozialismus auf
-dem Wege des Klassenkampfes ... Und was die idealistisch gesinnte
-bürgerliche Jugend unseres Jahrhunderts anlangt, glaube ich, daß sie den
-wahren, weil zeitbedingten, Inhalt ihres Idealismus eben auch nur in dem
-Kampfe um die Verwirklichung des Sozialismus, Seite an Seite mit der
-Arbeiterklasse, finden kann ... Das gilt auch für Sie persönlich. Alle
-anderen Befreiungs- und Erlösungsideen sind Nebel und Wolken in
-verschiedener Beleuchtung und werden von der bürgerlichen Front glatt
-verdaut, ja, von ihr selbst gestartet und als Fangangeln ausgelegt.“
-
-Erst in dieser Sekunde, da er das echte Interesse des Agitators fühlte,
-erkannte Jürgen, daß es anfangs nicht ganz echt gewesen war. Das
-erstemal in meinem Leben, dachte er, gibt ein ernstzunehmender Mensch
-mir einen ernstgemeinten Rat, und ich weiß mit diesem Rate nichts
-anzufangen. Verstehe ihn gar nicht. Überführung der Produktionsmittel in
-gesellschaftliches Eigentum? Er hätte ebensogut sagen können: Der Inhalt
-des Idealismus eines jungen Menschen unserer Zeit kann nur darin
-bestehen, daß er lernt, ohne Führer den Montblanc zu besteigen oder das
-Vaterunser von rückwärts zu beten. Jürgen war ernüchtert.
-
-„Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Die idealistisch gesinnte
-bürgerliche Jugend steht und kämpft gegen die Arbeiterklasse, gegen die
-Verwirklichung des Sozialismus, und damit gegen den nächsten großen
-Schritt zur Befreiung der Menschheit, gegen des Menschen nächsten
-Schritt zu sich selbst. Diese Jugend erkennt ihre Aufgabe nicht und
-gerät deshalb in die tollsten Verirrungen.“
-
-So allmählich, wie die Trambahn den Prachtstraßen, dem Prunkviertel
-entrückt und in die Elendszeilen der verluderten, nackten Mietskasernen
-vorgerückt war, hatten die gutgekleideten Fahrgäste für
-schlechtgekleidete den Wagen geräumt, der nun, überfüllt mit Arbeitern
-und Fabrikmädchen, seine schmutzige Ladung weiterschleppte durch das
-Viertel, wo die Not stand in ihrer ganzen Größe. Hier rollten keine
-Gummiequipagen, keine Autos mehr. Der Parfümduft gepflegter Damen war
-niedergeschlagen und aufgefressen worden von dem dicken Schweißgestank
-der Armut. In dem Wagen, wo noch kurz vorher weiße und frische Gesichter
-mondgleich geschienen hatten, hingen jetzt graue Antlitze im Dunst,
-hautüberzogene Schädel mit tief in die Höhlen versunkenen Augen, die
-blickten.
-
-Zwei Menschheiten: eine Menschheit war ausgestiegen; die andere
-Menschheit war eingestiegen.
-
-Ein winziger, ganz weißer Schoßhund, von einer vergeßlichen Dame im
-Wagen zurückgelassen, bekam irrblickende Augen und bellte die fremde,
-die andere Menschheit an.
-
-Jürgen betrachtete zwei Männerhände, und als er das dazugehörige Gesicht
-suchte, sah er, daß diese rissigen, hornhäutigen, übergroßen
-Männerfäuste einem jungen Arbeitermädchen angehörten. Neben ihr wackelte
-der Oberkörper eines bärtigen alten Briefträgers, in dessen zerklüftetes
-Wachsgesicht das Ersteigen von millionenmal vier Stockwerken
-eingezeichnet war, steif und haltlos hin und her.
-
-„Nun sind wir direkt und mitten in das soziale Problem hineingefahren.
-Mit der Elektrischen! ... Nur dies allein (auch das gilt für Sie
-persönlich), nur den Übertritt zur Arbeiterklasse, nur diesen letzten
-Schritt verzeiht der Bürger uns Bürgersöhnen nicht. Denn er weiß, daß
-wir erst dann gefährlich werden können ... Geist, christliche
-Menschenliebe, Helfenwollen, Ändernwollen, erlaubt der Bürger noch. Da
-lächelt er noch. Ja, alles das nimmt er sogar für sich selbst in
-Anspruch. Denn er ist sozusagen für den Fortschritt. Aber nur ja nicht
-das! Nur ja nicht tatsächlich ändern! Da wird er wild. Da demaskiert er
-sich. Da läßt er verfolgen, einsperren und, unter Umständen, erschießen
-und erschlagen.“
-
-Die drei aneinandergekoppelten Wagen, vollgestopft mit Arbeitern, die
-bis auf die Trittbretter herausquollen, überholten lose zusammenhängende
-Arbeitertrupps, die sichtbar alle dem selben Ziele zustrebten. Immer
-wieder hörte Jürgen den Schrei: „Zum Paradies!“ Der Schaffner kassierte.
-
-Der Agitator, der schweigend vor sich hingeblickt hatte, machte eine
-Bewegung, als schüttle er etwas von sich ab. „Es ist nichts zu machen.“
-Und da Jürgen fragte, teilte er ihm den Inhalt der Depesche mit.
-
-„Und was geschieht dann mit dem Attentäter?“
-
-„Er wird hingerichtet.“
-
-„So ... Wird hingerichtet.“
-
-Vorüber an einer geschlossen und zielhaft marschierenden Gruppe
-Schutzleute. Krachend vorbei an einem Kanalloch, um das herum
-Proletarierkinder Ringelreigen tanzten.
-
-Fabrikmädchen, die halb geschlafen hatten, erwachten im Ruck: Alle
-Fahrgäste und die grau herbeiströmenden Arbeitermassen drängten hinein
-in das ‚Paradies‘, das schon überfüllt war.
-
-Galerien und Balkone, von denen die Menschenleiber, übereinandergetürmt,
-gleich Gewächsen aufstiegen, stürzten nicht hernieder. An den Tischen:
-Oberkörper neben Oberkörper, überragt von denen, die, dicke
-Menschenschnüre bildend, dichtgedrängt in den Zwischengängen standen.
-Gebärden der Erregung durchschnitten Stimmengeschwirr und Rauch, hinter
-dem die Wandmalereien verschwammen: paradiesische Wesen, die alles im
-Überflusse hatten.
-
-Plötzlich hörte und sah Jürgen, der eine Sekunde die Augen geschlossen
-hatte, gewaltige, kilometerbreite, gischtige Wassermassen aus blauer
-Höhe herabklatschen: sah zehntausend klatschende Menschenhände und in
-weiter Ferne, auf dem Podium, einen Mann.
-
-Da schwoll sein Herz, und das nie empfundene Gefühl rückhaltloser
-Hingabe erfüllte ihn ganz. Sympathie für den Mann, der das Vertrauen
-dieser fünftausend Hoffenden besaß. Hingabe an diese fünftausend
-Vertrauenden. Stürmischen Herzens streckte er die Hand dem jungen
-Zeitungsverkäufer hin, der rief: „Die Befreiung! Die Befreiung!“
-
-Arbeitsschwarze Hände griffen nach den Blättern, die er über den Kopf
-hochhalten mußte. Ein Zögernder fragte: „Was kostet die Befreiung?“
-
-„Genossinnen! Genossen! Euer gemeinsamer Kampf, der Klassenkampf, die
-Gemeinsamkeit all derer, die durch ihr Klassenschicksal die gegebenen
-und unbedingten Feinde des Kapitalismus sind, dieses Gemeinsame, Euer
-Klassenbewußtsein, ist der unerschöpfliche Quell Eurer Kraft: Kraftquell
-für jeden und für das Vertrauen jedes einzelnen auf seine Kraft“,
-erklang fernher die Stimme des Redners.
-
-Und Jürgen fragte: ‚Ist das so? ... Ich werde dahinter kommen, ob und
-weshalb das so ist.‘ Ihm entgegen drängte noch einmal der junge
-Zeitungsverkäufer, auf dem Arme den Stoß, der bis zu seinem Ohre
-reichte. „Du hast nicht bezahlt.“ Und da Jürgen, verwirrt, ihm in das
-Antlitz sah: „Zwanzig! ... Umsonst gibts nichts.“
-
-„Zwanzig?“ Der Zögernde blickte wieder den schweißtriefenden Kellner an
-und überlegte, ob er ‚Die Befreiung‘ oder ein Glas Bier kaufen solle,
-als wäre beides zusammen unmöglich.
-
-Da erkannte Jürgen an einer Kopfbewegung des Redners den Agitator, der
-von Monopolisierung, Akkumulation und Mehrwert sprach, worunter Jürgen
-sich nichts vorstellen konnte.
-
-„Dazu noch das arbeitslose Einkommen, geschluckt von Aktienbesitzern,
-die in gar keiner Weise arbeiten in dem Betriebe, von dem sie die
-Dividenden beziehen. Ich lasse mein Kapital arbeiten, sagt der
-Aktienbesitzer, der auf dem Kanapee liegt, die Kurse studiert, wie die
-Spinne im Netz in der Börse lauert, erstklassig durch das Leben
-glitscht, aber den Rasen nicht betritt, kein Holz im Walde stiehlt,
-sondern für Recht und Ordnung ist.“
-
-Die fünftausend saßen reglos, horchten und blickten, als hielten sie mit
-ihren Händen den Erdball.
-
-„In den Betrieben schuften Männer und Frauen jahraus, jahrein, von früh
-bis abends an den Maschinen, machen vom vierzehnten bis zum sechzigsten
-Lebensjahre immer die selben Handgriffe, aus denen Zahnbürsten,
-Lokomotiven, Stecknadeln, Überseedampfer, Schreibmaschinen, Schuhe,
-Leintücher entstehen; in behaglichen oder eleganten, geschmackvollen
-oder geschmacklosen Wohnungen sitzen Herren und Damen, deren
-Lebensarbeit darin besteht, das Dasein zu genießen, ins Theater zu
-fahren, über Kunst und Literatur dumm oder klug zu reden, Kulturträger
-zu sein, ihr Dienstpersonal zu schikanieren und ihre Kinder falsch zu
-erziehen und reich zu verheiraten, Leute, die einen Betrieb nie betreten
-haben, es seien denn Modegeschäfte und Sekt-, Tanz-, Bordell- oder
-sonstige Nachtbetriebe gewesen, gepflegte Zeitgenossen, die keinen Dunst
-davon haben, wie Zahnbürsten fabriziert werden, oder wie ein Webstuhl
-aussieht, und beziehen Dividenden von einer Bürstenfabrik oder einer
-Leinenweberei, während die Kinder der Bürstenmacher nicht einmal wissen,
-daß die Benutzung einer Zahnbürste zur Erhaltung der Zähne beiträgt, und
-die Leinenweber für ihre armseligen, stinkenden Betten keine Leintücher
-kaufen können.“
-
-Auch meine Tante besitzt eine Schatulle, gefüllt mit Aktien, sie, die in
-ihrem ganzen Leben nie etwas anderes gemacht hat, als diese qualvollen
-Häkeldeckchen, dachte Jürgen.
-
-„So kommt es, daß euch, wenn ihr an einem Werktag, während der
-Arbeitszeit – um elf Uhr früh, um vier Uhr nachmittags – durch die
-Geschäftsstraßen einer Großstadt geht, die vor Arbeit brüllt und dampft,
-Tausende und Tausende und Tausende hübsch und elegant gekleideter,
-gepflegter Mädchen, Frauen und junger Männer begegnen. Das sind die
-Töchter – höhere Töchter –, die Gattinnen, die Söhnchen. Sie arbeiten
-nicht; aber sie essen dennoch, und nicht Kutteln mit Sauce. Kaufen ein,
-geben viel Geld aus, damit die Arbeiter ihr Brot verdienen können,
-versteht ihr, wohnen bequem und hygienisch, hören Konzerte, können
-ausgezeichnet tanzen und zur Not Gesetzesparagraphen auswendig lernen,
-die gegen Arbeiter anzuwenden den künftigen Staatsanwälten und Richtern
-dann nicht schwer fällt. Sie sind die Angehörigen ihrer Aktien
-besitzenden Gatten und Väter, leben von dem Mehrwert, der den
-Werktätigen abgepreßt wird, und haben, im allerbesten Falle, ein
-mitleidiges, staunendes Lächeln für demonstrierende Arbeiter, von deren
-Schweiß und Not und Tod sie leben.“
-
-Aber nicht den schwächsten Reflex des Bewußtseins, daß sie von dem
-Schweiße dieser Arbeiter leben, dachte Jürgen. Das weiß ich bestimmt.
-Sind weltenweit entfernt von diesem Bewußtsein.
-
-„Und die Kirche liefert die entsprechende Religion: Du sollst nicht. Du
-sollst, sollst nicht, sollst! Kürzer: Das Eigentum ist heilig.“
-
-„Im Diesseits“, sagte heiter lächelnd ein neben Jürgen stehender
-Arbeiter. „Im Jenseits gibts nämlich keine Rittergüter, Bergwerke,
-Webereien und Möbelfabriken.“
-
-Wer da war in diesem Saale, plötzlich fühlte Jürgen sich mit jedem
-einzelnen und mit allen zugleich wie durch ein unbegreifliches Wunder
-verbunden. Der Haß dieser fünftausend war sein Haß, ihre Hoffnung, ihr
-Ziel waren seine Hoffnung, sein Ziel. Und da geschah es, daß seine
-lebenslange Unsicherheit und Hilflosigkeit der Umwelt gegenüber
-urplötzlich verschwanden und das kraftspendende Gemeinschaftsempfinden
-so mächtig in ihm entstand, daß er an sich halten mußte, nicht
-loszubrüllen vor innerem Jubel.
-
-‚Da wurde ich vierundzwanzig Jahre alt und ahnte nicht, was
-Selbstbewußtsein ist. Fühlte es nicht! Fühlte es nicht, wegen meiner
-unfruchtbaren Einsamkeit, angesichts dieses verruchten Geschehens, dem
-gegenüber der einzelne sich nimmermehr zurechtfinden kann oder, findet
-er sich zurecht, verloren ist. So oder so! Denn das Zurechtfinden
-innerhalb dieses Ganzen bedeutet, wie immer es geschieht, menschlich den
-Untergang ... Jetzt geht der Kampf an. Kampf bis zum Tode!‘
-
-„Der Klassenkampf! Neueste Nummer! Der Klassenkampf! Die Befreiung!
-Neueste Nummer: Der Klassenkampf!“
-
-Das Herz schlug nicht mehr. In den Fingerspitzen fühlte er den letzten
-Schlag, anstürmend, als wolle das Blut herausspringen. So starrte er das
-verschwitzte, kompakte Antlitz an, den gebogenen Nacken, den kleinen,
-festen Mund, der rief: „Die Befreiung! Der Klassenkampf!“
-
-Da war Katharina schon wieder verschwunden im überfüllten Zwischengang.
-Er sah nur noch den über ihrem Kopfe schwebenden ‚Klassenkampf‘. Und
-noch in diesem selben Augenblick zog ein endlos langer Zug
-arbeitsunfähig gewordener alter Männer und Frauen grau und düster durch
-Jürgens Sehnsucht, gleichberechtigt neben Katharina zu stehen.
-
-Sekunden später war das Arbeiterversorgungsheim gegründet. Alles
-funktionierte tadellos. Alle Zeitungen schrieben darüber. Jürgen
-empfängt eine Deputation des Berliner Magistrats. Die Herren tragen die
-Zylinder in der Hand. Vier Herren. Der schmalste, feinste hat einen
-Scheitel, von der Stirn bis zum Nacken, und führt das Wort.
-
-Gewiß, Jürgen sei bereit, auch in Berlin so ein Versorgungsheim zu
-organisieren. Warum nicht! Natürlich müsse er erst die besonderen
-Verhältnisse an Ort und Stelle studieren. ‚Die Konstellation
-gewissermaßen, Sie verstehen! Außerdem haben andere Stadtverwaltungen
-sich schon früher bei mir gemeldet, müssen Sie wissen. Und wer zuerst
-kommt – nicht wahr ...‘
-
-Vier Verbeugungen, die vor Befangenheit und Freude darüber, daß Jürgen
-den Herren die Ehre zuteil werden läßt, einen Witz zu machen, schief
-ausfallen. Sogar die Münder lächeln schief. Und der schmale, feine
-Wortführer sagt: ‚Natürlich, hahaha! gewiß, der mahlt zuerst!‘
-
-‚Und jetzt, meine Herren ...‘ Die vier ziehen sich sofort zurück. Auch
-die Tante, die respektvoll dabeigestanden war, verläßt leise das Zimmer,
-den mit Arbeit Überlasteten nicht länger zu stören. Katharina, am
-Schreibtisch lehnend, sieht Jürgen bewundernd an.
-
-Tausendfaches Händeklatschen. Alle schoben sich der Ausgangstür zu.
-Jürgen erreichte, halb getragen, die Straße, schwitzend und begeistert.
-Stand vor der Wirklichkeit, die vier Schutzleute vor das ‚Paradies‘
-gestellt hatte, stumm und blickend. Die Proletarierkinder tanzten noch
-immer Ringelreigen, herum um das dampfende Kanalloch.
-
-Senkrecht sauste Jürgen aus seiner Kirchturmhöhe herab auf das reale
-Pflaster, empfangen von Ekel und Selbsthaß, weil er wieder geträumt und
-sich wieder hatte achten und bewundern lassen. Mit einem innerlichen,
-einem wilden Sprunge langte er wieder an bei sich selbst. ‚Ich werde dir
-das abgewöhnen. Werde dir das abgewöhnen!‘
-
-Die Masse spülte ihn weiter. Jürgen entfaltete den ‚Klassenkampf‘.
-
-Arbeiter, die den Lesenden überholten, wandten sich um nach ihm. Einige
-legten, wenn er aufsah, den Finger an die Mütze.
-
-Offenbar ein zäher, langwieriger, trockener Kampf; aber das Ziel, das
-Ziel – es ist unerhört ... Ob ich herausfinden werde, was schlecht ist
-an ihrem Artikel? dachte Jürgen und las Katharinas Artikel noch einmal
-von Anfang an.
-
-Plötzlich vernahm er, stehend im Straßenlärm, deutlich das Summen einer
-großen Fliege, blickte erstaunt auf und bemerkte, daß er vor dem
-‚Platzwirt‘ stand, einer Zuhälter- und Verbrecherkneipe, vor der er,
-sooft er vorbeigegangen war, immer tiefes Grauen empfunden, und die zu
-betreten er nie gewagt hatte.
-
-Als er die Tür öffnete, hatte er zuerst die Empfindung, in einen
-riesigen Fabriksaal geraten zu sein, so ungeheuer war der Lärm. Auch die
-Töne des alten Klaviers konnten nur vereinzelt durchdringen.
-
-An den vor Alter bucklig gewordenen Wänden hing gar nichts. Vom
-Schanktisch bei der Tür liefen fünf lange Reihen zwischenraumlos
-nebeneinander stehender Tische nach rückwärts und verschwanden im Qualm.
-Kein einziger Stuhl. Zehn Bankreihen: dicht besetzt von Straßenmädchen,
-Zuhältern, verunglückten oder zu alt gewordenen Artisten und Arbeitern,
-obdachlosen früheren Angehörigen der bürgerlichen Klasse verschiedenster
-Berufe, durch den Konkurrenzkampf heraus- und, ohne Station zu machen
-bei der Arbeiterklasse, gleich hinuntergeschleudert ins
-Lumpenproletariat, und zum größten Teile Existenzen, die infolge langer
-Arbeitslosigkeit rettungslos in Verbrechen versunken und ertrunken
-waren.
-
-Ohne Gesprächsunterbrechung wurde für Jürgen mit selbstverständlicher
-Bereitwilligkeit Platz gemacht, noch enger zusammengerückt. Nur ein
-kurzer Blick, prüfend, ob Jürgen ein Spitzel sei.
-
-Schon stand das Bier vor ihm. Und die Hand des Kellners verlangte das
-Geld.
-
-Niemand wunderte sich über den sorgfältig gekleideten Gast; es kam
-öfters vor, daß elegante Bummler, Frackherren, oft sogar mit ihren
-Damen, nach Ball- oder Barschluß als letzte Sensation diese Kneipe
-besuchten.
-
-Aus den erregten, gespannten und gierigen Gesichtern, aus den
-Gesprächsfetzen und wilden Gesten, aus dem ganzen Gebaren stach vor
-allem anderen deutlich das eine hervor: Alles ist erlaubt, nur darf man
-sich nicht fassen lassen. Hier saßen ausschließlich Existenzen, die das
-Grundgesetz der bürgerlichen Ordnung, ‚Das Eigentum ist heilig‘,
-verletzt hatten, für immer außerhalb jeder Ordnung des Geschehens
-standen und, die drohende Katastrophe unausgesetzt vor Augen, gierig und
-eisern bestrebt waren, das Letztmögliche noch aus dem Leben
-herauszufetzen, bevor sie von der Faust der Krankheit oder des Gesetzes
-gepackt werden würden. Jeder war über jeden orientiert. Mancher konnte
-manchen ins Zuchthaus bringen. Keiner tat es.
-
-Neben manchem stand das Schafott. Es handelte sich nur darum, das
-Schafott nicht besteigen zu müssen. Polizeispitzel, auch in der
-echtesten Verkleidung von den Gästen erkannt, konnten es nicht wagen,
-sich hier sehen zu lassen, es sei denn in großer Anzahl bei einer
-Razzia. Entsicherte Revolver. Hände hoch. So wurden von Zeit zu Zeit die
-Lokalbesucher ausgekämmt. Der ‚Platzwirt‘ war Lieferant des
-Scharfrichters und der Zuchthäuser. In die Privatangelegenheiten seiner
-Gäste mischte er sich nicht hinein. Die Grenze des Erlaubten war in
-seinem Lokal sehr weit gezogen und durfte nicht um einen Millimeter
-überschritten werden. Er hielt auf Ordnung im stürmischen Aufruhr.
-Jürgen war betäubt.
-
-Der ‚Hinausschmeißer‘, ein scheinbar ganz unbeschäftigt neben dem
-Schanktisch emporragender athletischer Brustkasten, machte zwei Schritte
-auf einen eben eingetretenen alten Mann zu, packte ihn von hinten und
-wortlos beim Rockkragen und zwischen den Beinen und trug ihn schweigend
-vor sich her, bis zur Tür, stieß ihn hinaus. Und stand sofort wieder
-reglos am Schanktisch, den Tumult im Blick: Dem Hinausgeworfenen war das
-Lokal verboten. Er hatte einmal die Wurst nicht bezahlt und damit die
-Grenze des Erlaubten überschritten. Der Hinauswurf war von vielen
-gesehen, von keinem beachtet worden. Das Tosen hatte nicht ausgesetzt.
-
-Jürgen gegenüber saß neben einem Mann ein junges Straßenmädchen, den
-grünen Hühnerflügelhut schief auf dem Kopfe. Beide hatten sich noch
-nicht gerührt. Beide stützten beide Ellbogen auf die bierverschmierte
-Tischplatte, an der die Eßbestecke angekettet waren. An dem
-gleichartigen, bösen Schweigen erkannte Jürgen, daß die beiden
-zusammengehörten.
-
-Rechts neben dem Schweigenden hockte männlich breit eine Frau, deren
-ganzes Gesicht – auch die Stirn – schwarzblau war wie eine
-Gewitterwolke, und erzählte, ohne sich an jemand besonderen zu wenden,
-unaufhörlich, daß sie arbeitslos sei, und weshalb sie arbeitslos
-geworden sei. Ein arbeitsloser, schwindsüchtig aussehender junger Mensch
-verzog die Lippen, kaum bemerkbar, als habe er schon keine Lust und
-keine Kraft mehr, noch verächtlich zu lächeln, richtete langsam den
-Oberkörper auf, sah Jürgen an, der sich erst jetzt dieses fahlen
-Gesichtes und des haßerfüllten Blickes, dem er kurz vorher in der
-Arbeiterversammlung mehrere Male ausgesetzt gewesen war, wieder entsann.
-
-Ein erst vor wenigen Tagen nach langjährigem Aufenthalte in Amerika
-zurückgekehrter, heruntergekommener Aristokrat sagte über die
-blauschwarze Frau weg ohne jeden Übergang zu Jürgen: „Da gehe ich
-gestern die große Allee hinunter. Was wollen Sie, ich gehe einfach
-spazieren. Auf einmal sehe ich eine elegante Equipage stehen. Davor zwei
-Pferde. Pferde! Ich verstehe mich darauf. Für Pferde interessiere ich
-mich. Auch jetzt noch ... Und wer, denken Sie, sitzt drin? ... Meine
-Mutter. Mächtig elegant! Ich habe sie erst gar nicht erkannt. Nun, ich
-trete zu ihr an den Wagen. Das ist doch klar. Ist das nicht menschlich?
-
-‚Woher kommst du?‘ fragt sie mich. Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus
-vor der Stadt gekommen sein könnte.
-
-‚Aus Amerika! Am Montag!‘
-
-‚Hast du denn Geld. Von mir kriegst du keines.‘
-
-‚Ich hab doch kein Geld.‘
-
-‚So‘, sagt sie und gibt dem Lakai das Zeichen. Fort ist sie ... Das ist
-doch gemein. Ist das nicht gemein? ... Fünf Jahre!“ Er wandte sich
-sofort zu einer anderen Gruppe.
-
-Der Schweigende richtete sich auf, holte wortlos und weit aus und
-knallte dem Straßenmädchen neben sich die Faust auf den. Mund. Dann
-stützte er beide Ellbogen wieder auf den Tisch.
-
-Auch das Mädchen, das beinahe rückwärts von der Bank gestürzt wäre,
-stützte wieder die Ellbogen auf den Tisch. Beide saßen genau wie vorher.
-Schwiegen genau wie vorher. Kein Wort war gefallen. Der Streit lag
-weiter zurück. Ihre Oberlippe war sekündlich zu einer schiefen
-Geschwulst geworden, daß die Zähne hervorsahen.
-
-„Da gehe ich gestern die große Allee hinunter ... Elegante Equipage
-stehen ...“
-
-„Equipage stehen“, hörte Jürgen den Aristokraten am Nebentisch erzählen.
-Krachendes Antwortgelächter übertönte für einen Moment den Tumult.
-
-Der Aristokrat lachte mit. „... Gerade, als ob ich eben vom Waldhaus
-zurückgekehrt wäre ... Aber ist das nicht gemein?“
-
-„Schlag sie tot! Hau sie nieder!“
-
-Noch leichenblaß, sah Jürgen die zwei Schweigenden an. Die Frau mit dem
-blauschwarzen Gesicht rief: „Seit zwanzig Jahren trag ich Backstein. Und
-jetzt bin ich arbeitslos. Und weshalb? Was meinst du wohl, weshalb?“ Der
-Schwindsüchtige verzog die Lippen. Sie bekam keine Antwort. Viele waren
-arbeitslos und wußten, weshalb. „Jetzt passen Sie auf, jetzt kommt unser
-Fotz-Hobel-Quartett“, rief sie Jürgen zu.
-
-Und der sah die vier Männer an, die ihre Mundharmonikas auf die
-Handfläche stauchten. Der eine Spieler, ein stark schielender, kleiner,
-ungewöhnlich breitschulteriger Mann mit kantiger Stirn, machte mit der
-linken Faust anfeuernde Bewegungen. Das Getöse im Lokal verminderte sich
-nicht. Der Schielende hetzte sich und die drei andern Spieler in das
-immer wilder werdende Tempo hinein. Die vier Oberkörper, die
-eingezogenen Köpfe spielten hingerissen mit. Die Gesichter flammten.
-
-Drei zwischen Krücken baumelnde Krüppelkörper zogen langsam vorüber an
-Jürgen und am Quartett. Das Tempo stieg unter des Schielenden Führung
-rasend an. Sie fanden nicht mehr Zeit, die Oberkörper mitzuschaukeln;
-nur die Gesichter zuckten noch knapp im Rhythmus. Der Schielende
-stampfte hetzend mit dem Absatz den Takt. Der Vortrag endete wie
-abgehauen. Der Orkan stand wie vorher im Lokal.
-
-Jürgen hörte einen dumpfen Ton: Wieder hatte die Faust des Schweigenden
-den hochaufgeschwollenen Mund des Mädchens getroffen. Dann saßen beide
-wieder reglos, die Ellbogen aufgestützt.
-
-Die Frau mit dem schwarzblauen Gesicht spuckte, über den Tisch weg,
-scharf an Jürgens Wange vorbei. Eine dünne, weiße Wursthaut flog nach
-und platschte glatt auf den schwarzen Fußboden neben den Schleim.
-
-Der Schweigende schob, als ob nichts geschehen wäre, seiner Freundin die
-abgezogene Wurst hin. Das Mädchen rührte sich nicht. Die geplatzte
-Oberlippe glich einem daumendicken, blauen Wurm.
-
-Jürgen war vor dem an seinem Munde vorbeifliegenden Schleim
-zurückgezuckt und starrte, plötzlich grau am ganzen Körper, den an
-Jahren noch jungen Mann an, der sich bückte, die mit schwarzem Sande
-verschmierte Wursthaut vom Fußboden wieder abzog und in den Mund
-steckte. Mit der ganzen Handfläche schob er nach, kaute zahnlos und
-ging, auf dem Boden nach Abfällen suchend, langsam weiter. Die Menschen
-sah er nicht an. Nur den Fußboden. Apathisch, wie ein wandelnder Toter.
-Und als ihm vom Schweigenden die verschmähte Wurst zugeworfen wurde,
-versuchte er gar nicht, sie aufzufangen; er ließ sie gegen seine Brust
-prallen und erst zu Boden fallen. Strümpfe, Weste, Rock, Hemd hatte er
-nicht an. Nur Hosen und darüber einen Mantel. Seine Augen waren
-verschleimt und tot. Die Unterlippe, nach außen gedreht, hing
-unbeweglich, schief und drei Finger breit herab.
-
-Mit Entsetzen sondergleichen fühlte Jürgen: Dieses kranke Stück Fleisch
-will nur noch Essen zugeführt bekommen, während der Wilde und sogar
-jeder Hund, auch der elendeste, mit seinem Blicke Zuneigung verlangen
-und geben kann. Das ist Kultur, dachte er. Kultur.
-
-Stunden vergingen, und immer mehr neue Gäste kamen, Hände in den
-Hosentaschen, Schultern fröstelnd hochgezogen: Obdachlose. Der
-Hinausschmeißer musterte prüfend jedes fahle Gesicht, schob im Laufe der
-Nacht zwei Burschen und ein junges Mädchen, das die Arme hoffnungslos
-hängen ließ, wieder hinaus.
-
-Der Schweigende rüttelte die Geschlagene am Arm, forderte sie so auf,
-jetzt wieder gut zu sein.
-
-Was mag sie alles gedacht haben in dieser langen Nacht? dachte Jürgen.
-Was ihr geschehen ist, als sie noch ein Kindchen war? Oder was ihr noch
-bevorsteht in diesem Leben? ... Und der Attentäter, er wird
-hingerichtet.
-
-Mit einer Schulterbewegung schüttelte die noch immer aufgestützt
-Sitzende die Hand ab, lächelte aber dabei schief und entgegenkommend.
-
-„Dann eben du die Hälfte und ich die Hälfte“, gab er halb nach. „Her mit
-dem Geld!“
-
-Aufrührerischer, mitreißender Gesang, vom Quartett begleitet, erfüllte
-unvermittelt und donnernd das Lokal. Alle brüllten mit. Die nach außen
-gedrehte Unterlippe hing unbeweglich auf das Kinn herab. Er suchte,
-bückte sich.
-
-„Das war doch nur menschlich! Ist das nicht gemein?“ fragte der
-Aristokrat den Hinausschmeißer, der, das Lokal im Blick, am Bierfaß
-lehnte und keine Antwort gab.
-
-Ich also werde mich nicht dabei beruhigen, daß ich fähig bin, die
-Schönheit eines Goetheschen Wortes zu empfinden, dachte Jürgen, als er
-gegen Osten schritt, wo schon die zarte Morgenröte stieg.
-
-Auf eine Gruppe Nachtarbeiter zu, die das Trambahngleis ausbesserten und
-eben die Azetylenlampen verlöschten, da das graue Tageslicht schon
-erstarkte. Ein Mann im Mantel beaufsichtigte die Arbeiter, die mit
-wuchtigen Rundschlägen Eisenkeile in den Asphalt trieben.
-
-Zwei Herren, die wie Oberförster aussahen und aus einer
-Abendgesellschaft zu kommen schienen, blieben stehen. „Wie brav sie
-wieder arbeiten!“ Und gingen weiter. Wenige Tage vorher war ein Streik
-mit einer Niederlage der Arbeiterschaft beendet worden.
-
-Auch Jürgen ging vorüber. „In Wirklichkeit sind es ja nur die Hetzer,
-während die Arbeiter selbst“, hörte Jürgen, „im großen ganzen ...“
-
-Ging aus der Stadt hinaus, am Flußufer hin. Auf der Quaimauer saß ein
-junger Mensch. Diesmal erkannte Jürgen sofort das leichenfahle Gesicht
-des Schwindsüchtigen, der den Abend vorher in der Arbeiterversammlung
-und später beim ‚Platzwirt‘ gewesen war: Ein Gesicht, in dem der Haß
-sich schon in Verzweiflung und die Verzweiflung sich schon in
-Gleichgültigkeit abgewandelt hatte.
-
-Der Schwindsüchtige pfiff leise, ließ die Beine über dem fließenden
-Wasser baumeln. „Guten Morgen“, sagte Jürgen und setzte sich neben ihn,
-die Beine ebenfalls wasserwärts gestreckt. Von der anderen Seite näherte
-sich ein einarmiger Invalide, saß auch nieder und begann Geld zu zählen.
-
-Der Schwindsüchtige pfiff, zwinkerte, den Kopf schief gestellt, die
-glühende Morgendämmerung an, zum Bettler hin und spuckte in großem Bogen
-aus, pfiff weiter, gleichgültig.
-
-Auch Jürgen tat gleichgültig: „Schönes Wasser. Sind Sie immer hier?“
-
-„Oder wo anders!“ Er lächelte höhnisch. Dann ließ er sich doch herbei:
-„Arbeitslos! Seit ... Ah, die Saubande! Ich scheiß auf alles.“ Blickte
-wieder gewöhnlich drein. Dann biß er in einen unreifen Apfel. Die Säure
-zog ihm das Gesicht zusammen.
-
-Vorsichtig fragte Jürgen: „Wollen Sie etwas zum Essen holen? Wurst?“
-
-Der einarmige Bettler war noch immer mit Zählen beschäftigt. Er
-kicherte, nachdem der Schwindsüchtige mit Jürgens Geldschein
-fortgegangen war. „Den haben Sie gesehen. Der kommt nimmer. Iiiii! die
-Gauner kenne ich ... Und der dort, der jetzt da kommt, den schauen Sie
-sich an, das ist Herr Knipp. Der hat ausgerechnet, daß er von seinem
-Steinbruch, wenn er immer nur soviel brechen läßt, wie er fürs tägliche
-Leben braucht, bis zu seinem achtzigsten Jahr leben kann, ohne selbst
-was tun zu müssen. Deshalb läßt er seit Jahr und Tag nur zwei Leute im
-Steinbruch arbeiten. Er selber angelt seit Jahr und Tag. Der will nur
-angeln. Nichts als angeln! Und pfeifen kann der, sag ich Ihnen! Er hat
-nämlich ein Klavier. Darauf spielt er, ganz ohne Noten, und pfeift dazu.
-Schon in aller Früh! Sie können sich nicht vorstellen, wie der pfeifen
-kann. Das klingt wie Geigen und Flöten. Die Arbeiter, wenn sie früh in
-die Fabrik gehen, bleiben stehen und horchen ... Und dann angelt er. Den
-ganzen Tag. Sogar manchmal nachts.“
-
-Herr Knipp hatte umständlich geschnupft, schäkerte freundlich und ganz
-für sich allein mit dem Wurme, der sich am Angelhaken bäumte: „Warte
-doch, warte doch ... Er kanns nicht erwarten.“ Dann beobachtete er,
-zufrieden mit der Welt, den schaukelnden Schwimmer. Herr Knipp war erst
-einundvierzig Jahre alt.
-
-„Der kommt nimmer ... Ihr Geld ist futsch.“
-
-Gleich darauf erschien der Arbeitslose, aus einer anderen als der
-erwarteten Richtung kommend, in der Ferne.
-
-„Jetzt sagt er, er hätts Geld verloren.“
-
-„Um zwanzig Brot. Die Wurst kost vierzig.“ Er packte das armlange Stück
-aus, zählte das übriggebliebene Geld auf Jürgens Handfläche.
-„Pferdewurst! Die ist billiger. Und besser ist sie auch.“
-
-Der Krüppel blickte von der Wurst weg schief wasserwärts, in der
-Erwartung, daß seine Verdächtigung dem Arbeitslosen mitgeteilt werden
-würde, und bekam, als Jürgen, anstatt zu denunzieren, ihn zum Mitessen
-aufforderte, in seine bösen, einsamen Augen einen Blick wie ein
-Findelkind, dem unvermittelt gesagt wird, seine Mutter sei gefunden und
-stehe vor der Tür. Seit Jahren nicht mehr aufgestiegene Schamröte
-veränderte das verwüstete Gesicht. Er klemmte das Taschenmesser zwischen
-die Knie, zog die Klinke hoch und schnitt sich ein Stück Wurst ab.
-
-Der schwindsüchtige Arbeitslose kaute langsam, den Blick über den Fluß
-weg ins weite, dämmerige Hügelland gerichtet. Herr Knipp, dem noch viele
-tausend Tage zur Verfügung standen, atmete zeitlos.
-
-Die Straßen waren noch menschenleer. Vor dem Gefängnis stand eine
-Droschke. Stand schwarz in der Dämmerung vor dem düsteren Gebäude.
-Kutscher und Pferd regten sich nicht.
-
-‚Sicher! Ganz sicher! Sie transportieren ihn heute schon ... Vielleicht
-um etwaige Befreiungsversuche unmöglich zu machen?‘
-
-Erst nach einer langen halben Stunde schritten zwei dunkelgekleidete
-Kriminalbeamte, zwischen sich einen bartlosen jungen Mann in hellbraunem
-Anzuge, durch das Tor zur Droschke. Der eine ging um die Droschke herum.
-Sie stiegen durch beide Türen gleichzeitig ein, als der Gefangene schon
-saß.
-
-Die einzigen Geräusche, die Jürgen vernahm in der schlafenden Stadt,
-waren das Klappern der Räder und das Klopfen seines Herzens. ‚Die
-Regierung beschließt: Auslieferung. Die Regierungsmitglieder schlafen
-jetzt. Aber in dieser Droschke fahren zwei beamtete Henker und dieser
-Mensch zum Bahnhof.‘
-
-Vorüber am Hauptportale, Gleis entlang, Richtung Rangierbahnhof, bis zu
-einem einzelnen Personenwagen, der auf dem dritten Gleis stand. Hinter
-dem Rangierbahnhof ertönten Pufferknall und die langgezogenen Rufe der
-Eisenbahnarbeiter, die den Zug erst zusammenstellten.
-
-Jürgen beobachtete, wie die drei einstiegen, wie der eine Beamte wieder
-ausstieg, zwischen dem Gleis auf das Bahnhofsgebäude zuschritt, hinein
-in das Restaurant.
-
-Alles wie im Traume: Hinweg über die Gleise. In den Wagen. Stück durch
-den Laufgang. Schiebetür zurück, auf der ‚Dienstabteil‘ stand. Sprung
-auf die Bank. Und von oben herab auf den breiten Rücken des Beamten,
-der, stehend, durch das geschlossene Fenster geblickt hatte.
-
-„Los! Renn! Renn! ... Los!“
-
-Der schmalgesichtige Attentäter blieb so reglos in der Ecke sitzen, als
-ginge ihn diese Sache gar nichts an, schüttelte verneinend den Kopf.
-
-Der Mund des Beamten zischte vor Kraftanstrengung. Er bekam einen Arm
-frei. Griff in die Tasche nach dem Revolver.
-
-Mit dem angesammelten Zorn seines ganzen Lebens schleuderte Jürgen den
-Beamten von sich, daß dessen Kopf und Oberkörper durch die zerkrachende
-Fensterscheibe schossen, stürzte aus dem Wagen, über die Gleise, durch
-die Bahnhofsanlage, Häuser entlang. Vernahm einen Trillerpfiff, schon
-fernher.
-
-Ruhigen Schrittes ging er in einen offenen Lagerplatz, in dem mehrere
-Möbelwagen und viele andere Fuhrwerke standen, und setzte sich auf einen
-Handwagen. Eine Schar Hühner eilte sofort auf ihn zu.
-
-‚Die Rechnung ist einfach: Der eine war im Bahnhofsrestaurant; der
-andere konnte mir nicht nach, weil er den Gefangenen nicht verlassen
-durfte. Außerdem war ich, bis er seinen Kopf befreit hatte, schon weg.‘
-Dabei zerbrach Jürgen das Brotstückchen, das er in seiner Tasche
-gefunden hatte, und streute die Krümel unter die übereinandersteigenden
-und -fliegenden Hühner.
-
-‚Und jetzt? ... Jetzt wird er hingerichtet.‘
-
-Erst als Jürgen, heimwärtsschreitend, schon mehrere Querstraßen hinter
-sich hatte, rannte der Beamte, der in der Restauration gewesen war, über
-den Bahnhofsplatz, in der Hand den Browning.
-
-Zierlich gekleidete Zofen eilten im gepflegten Villenviertel an Jürgen
-vorbei. Gebadete Damen in hübschen Morgenkleidern nahmen das Frühstück
-und sonnten sich im Liegestuhl auf den Balkonen. Die Gärten dufteten.
-
-Ich scheiß auf all das. Das Ganze ist gemein, dachte Jürgen und klinkte
-die Tür auf. Die Tante, erzürnt, weil er die Nacht außer Haus zugebracht
-hatte, ging grußlos an ihm vorüber. ‚Auf alles!‘ dachte er und schlief
-sofort ein.
-
-„Und ich erkläre Ihnen, das ist ausgeschlossen.“
-
-Aber der feine, schmale Frackherr, mit dem Scheitel von der Stirn bis
-zum Nacken, ein Herrchen, nur so groß wie ein Tintenfaß, ein winziges
-Frackherrchen, verbeugt sich, lächelt höflich und sicher und sagt: „Ich
-bin die Achtung. Bin das Ganze. Und ich erkläre Ihnen: Ich sitze in
-Ihrem Hinterkopfe.“
-
-„Sie stehen ja vor mir.“
-
-„Und sitze gleichzeitig verborgen in Ihnen. Bin Ich und bin die Achtung.
-Bin das Ganze und bin Sie, weil ich in Ihrem Hinterkopfe sitze.“
-
-Da erwachte er. Es war ein Uhr nachmittags. Die Tante stand vor seinem
-Bett. Ohne Einleitung und als lese sie wieder den letzten Willen des
-Vaters aus ihrem Haushaltungsbuch vor: „Auf das Haus, in dem du geboren
-wurdest, und auch auf die drei Miethäuser habe ich deinem Vater schon
-vor zwanzig Jahren die Hypotheken geliehen. Die Häuser gehörten schon zu
-Lebzeiten deines Vaters ganz und gar mir. Er hat dir nichts
-hinterlassen. Du solltest dich also nicht länger, als unbedingt nötig
-ist, von mir ernähren lassen. Das ist eine Schande. Steh auf und geh in
-dein Kolleg.“
-
-Er stützte sich auf, sah die Tante an, schwieg noch zwei Sekunden: „Ich
-verzichte auf dein Geld. Ich lebe und bin da. Das Weitere wird sich
-finden. Und jetzt geh, bitte ... Also geh schon!“
-
-Es waren nicht die Worte selbst, nicht Sinn und Inhalt der Worte, es war
-das an Jürgen bisher nie bemerkte einfache, ruhige Kraftbewußtsein, das
-hinter den Worten stand und die Macht der Tante über ihren Neffen
-verdunsten ließ.
-
-Er kleidete sich sofort an. Ging aus der Stadt hinaus, auf der
-Landstraße hin. Rückblickend auf sein Leben, ziellos weiter durch den
-heißen, weißen Staub, mit sich tragend das lastende Gefühl, daß dies die
-Stunde sei, die seines Daseins folgenschwerste Entscheidung in sich
-berge: die Möglichkeit, daß heute sein Leben in zwei Teile gespalten
-werde.
-
-Die alte Sehnsucht nach der Landstraße, die er seit Jahren in sich trug,
-die Sehnsucht nach den Hafenstädten und fernen Erdteilen, der Wunsch,
-allen Qualen, allen Pflichten zu entlaufen, schritt hinter ihm her,
-schob ihn immer weiter auf der Landstraße hin.
-
-Der Wiesenabhang links von Jürgen war von der Sonne braun gebrannt. Die
-Luft zitterte vor Hitze. Kein Bauer auf dem Felde. Kein Vogel pfiff. Die
-Mittagssonnenstrahlen sengten senkrecht herab auf die menschenleere
-Landschaft.
-
-„Und die weiße Straße geht in der Sonne vor Einsamkeit sich selbst
-entlang“, flüsterte Jürgen. Und glaubte, in dieser Sekunde den tiefsten
-Sinn des Menschendaseins erkannt zu haben und zu fühlen. Tat einen
-langen Blick noch auf die weiße Landstraße, weit hinaus.
-
-Und wandte sich, schritt schnellen Schrittes zurück und in die
-Arbeiterversammlung, deren Ankündigung er im ‚Klassenkampf‘ gelesen
-hatte.
-
-
-
-
- IV
-
-
-Jürgen kassierte den Zins ein bei den Parteien der drei Mietskasernen,
-zu deren Verwalter die Tante ihn unversehens gemacht hatte, füllte neue
-Mietsverträge aus, beaufsichtigte das Tapezieren einer Wohnung, ging
-zwischendurch ins Kolleg. An den Abenden in Arbeiterversammlungen.
-
-Eine neue Partei verlangte, daß die Küche frisch geweißt werde. Nach der
-Tante Meinung war die Küche noch weiß genug. Jürgen mußte vermitteln. Er
-sah, wie nie vorher in seinem Leben, von Angesicht zu Angesicht die Not.
-Wurde gegen seinen Willen Zeuge von Haßausbrüchen zwischen
-Proletarierehepaaren, sah machtlos zu, wie abgearbeitete, machtlose
-Väter ihren Zorn an den machtlosen Kindern ausließen; wie
-Gerichtsvollzieher letzte Stücke pfändeten; mußte Mietzins verlangen von
-Arbeiterfrauen, in deren Augen unvertreibbar Gram und Sorge hockten, und
-Mietzins für ein Zimmer – nicht vier Meter im Quadrat –, in dem Mann und
-Frau, zwei erwachsene Söhne und zwei erwachsene Töchter in drei
-stinkenden Betten die Nächte, ihr Leben verbrachten.
-
-Der Tapezierer war fertig. Jürgen blickte die Wand an. Die knallroten
-Rosen der neuen Tapete wurden lebendig, kreisten wie ein Feuerwerksrad.
-‚Tragisch – so eine Rosenwohnung! Viele tausend Rosen, und wenn dann die
-Leute darin leben ... stinkts!‘
-
-Vor dem Hause, herum um das Kanalgitter, drehten sich drei fahle
-Proletarierkinder im Ringelreigen. In der Mitte kniete eine Vierjährige
-und machte das zum Spiel gehörige Märchengesicht.
-
-‚Für diese Kinder scheint das Kanalloch der Mittelpunkt zu sein, wie das
-reich ausgestattete Spielzimmer der Mittelpunkt für die andern Kinder
-ist. Daß die Faust der Armut auch die Kinder würgt, das hat mich schon
-als Gymnasiast empört ... Und die Kinder, neben denen die Gouvernante
-geht? ‚Mademoiselle Katharina, Sie dürfen nicht mit den Armen
-schlenkern. Mademoiselle Katharina, Sie dürfen sich nicht umsehen. Beim
-Atmen müssen Sie die Lippen geschlossen halten, Mademoiselle Katharina.‘
-
-Es war die Stunde, da die proletarische Jugend, weil sie eigentlich
-schon zuhause hätte sein müssen, in der heißesten Spiellust
-zusammengetan ist. Geschrei durch Straßen. Erhitzte Gesichter. Gespannte
-Knabenkörper, in Fluchtstellung atemlos den Verfolger erwartend.
-
-‚Die dürfen mit den Armen schlenkern. Umsehen dürfen die sich auch. Und
-den Mund können sie aufreißen, so weit sie wollen.‘
-
-Abendglocken läuteten, verklangen. Arbeiter marschierten heimwärts. Der
-warme Sommerhimmel dämmerte der Nacht entgegen. Laternen funkten auf.
-Der Tag war schön gewesen.
-
-‚Es ist doch schön – man begreifts nur meistens nicht.‘
-
-Viele Geschäfte waren noch beleuchtet. Aus anderen strömten schon die
-bleichen Ladnerinnen, sahen in den Himmel und streiften dabei die
-Handschuhe über. Ein Invalide, der seinen verkrüppelten Fuß, der wie
-eine verkümmerte Hand aussah, nackt auf dem Gehweg liegen hatte, hob die
-Mütze zu Jürgen empor. „Du wirst nicht wollen, daß ich leide“, sang ein
-hemdärmeliger Tenor im vierten Stock tragischen Tones vergnügt zum
-Fenster hinaus.
-
-An dem Theater rollten Autos vor und ab. Toiletten stiegen aus. Ein
-zahnloser Menschenmund rief: „...tung mit den neuesten Kursberichten!“
-Der aus den Zugangsstraßen immer neu genährte Zug derer, die aus den
-Werkstätten, aus den Fabriken kamen, marschierte vorüber. Alle schritten
-im gleichen Tempo, nahmen Jürgen mit.
-
-Über eine eiserne Kanalbrücke, neben der ein Schiffer auf dem Deck im
-Kochtopf rührte. Vorüber an einem Bureau, in dem zwei beleuchtete,
-einander belauernde Tuchgrossistengesichter noch einen Abschluß
-ausfochten. Aus offenen Kneipentüren schlug schlechter Fettgeruch
-heraus.
-
-Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute
-Stellen, lange, verfaulende Bretterzäune (eine Ratte verschwand), Ziegen
-auf dem Heimtrieb, ein Schuppen, Gestank. Das kleine Fenster hing nah
-der Erde rotleuchtend in der Finsternis. Die Haustür war nur angelehnt.
-
-„... Denn überall haben in Wirklichkeit die Monopolisten die ganze
-Macht: eine Macht, so unbeschränkt, daß auch die Schule, Kanzel, Presse,
-öffentliche Meinung, Polizei, Militär, Justiz, der ganze Staat ihr Staat
-ist und die Regierungen in allen Vaterländern nur die Schatten der
-Monopolinhaber sind, Schatten, die, wie der Schatten eines beweglichen
-Gegenstandes, jede Bewegung dieser Allmächtigen mitmachen müssen. Schon
-stehen die Monopolinhaber aller Vaterländer wieder vor dem Knopf, und
-die Schatten blicken unverwandt auf die Monopolinhaber, bereit und
-gezwungen, den Krieg – Krieg um Rohstoffquellen, Eisenbahnkonzessionen,
-Absatzmärkte, um den Weltprofit – zu erklären in dem Moment, da jene auf
-den Knopf drücken“, schloß der Agitator, der unter dem dösenden Gaslicht
-auf einem Küchenhocker saß, seinen Vortrag.
-
-Katharinas Zimmer war sehr niedrig. Der Agitator erhob sich, vorsichtig,
-um mit dem Kopfe nicht anzustoßen an den Gasarm. „Nicht nur für einzelne
-Menschen, Genosse Jürgen, auch für das Proletariat gibt es, da die
-ökonomischen Voraussetzungen zur Ablösung der kapitalistischen
-Konkurrenz-Profitwirtschaft durch die proletarische Bedarfswirtschaft
-längst gegeben sind, immer wieder das, was du Schicksalspause nennst –
-weltpolitische Situationen nämlich, in denen das Proletariat sich
-entscheiden kann für die soziale Revolution oder für einen
-imperialistischen Krieg, in dem Millionen fallen. Das Weltproletariat
-steht immer wieder in dieser Schicksalspause. Wie wird es sich das
-nächste Mal entscheiden?“
-
-Und während er seine Notizen einsteckte: „Der Genosse Jürgen! ... Unsere
-Bezirksführer! Und hier: Unser Vertrauensmann.“
-
-Die neun standen an der Wand lang, hockten auf dem Fußboden und dem
-Fenstersims. Zwei rauchten aus kurzen Pfeifen den Tabak, dessen
-dunkelblauer Qualm, von dem Spaziergänger unverhofft im Freien
-eingeatmet, gut riecht und im Zimmer wie Gift beißt.
-
-Jürgens Augen folgten dem Blicke des Agitators, der lächelnd sagte: „Ihr
-beide kennt einander ja schon sehr lange, hast du mir erzählt.“
-
-Katharinas Gesicht, das außerhalb des Lichtkreises hinter der
-Schreibmaschine im Schatten hing, sah übermüdet aus. Neben ihr stand ein
-grauer Emailteller mit kaltgewordenem Kraut und kaltgewordenen
-Fettbrocken, an der Rückwand ein Gaskocher und ihr schmales Eisenbett.
-
-Fühlbar stand die Wirkung des Vortrages im Zimmer und sichtbar in den
-Blicken der neun Bezirksführer.
-
-Ein noch junger Holzarbeiter, dessen Gesicht, eingetrocknet und kleiner
-geworden, schon einer gedörrten Frucht glich, sagte, leicht werde es ihm
-nicht fallen, an die Genossen in seinem Bezirke alles das klar und
-faßlich weiterzugeben. „Aber faßlich muß es sein, sonst verstehts
-niemand.“
-
-Der Vertrauensmann, ein dunkelgesichtiger, stoppelbärtiger
-Metallarbeiter, an dessen rechter Hand zwei Finger fehlten, streckte
-diese Hand vor: „Vier Hauptpunkte mußt du festhalten“, sagte er, zählte
-an den Fingern her und mußte schon wieder beim Daumen beginnen: „Und
-viertens, daß die Arbeiterschaft gegen einen derartig gewaltigen
-Machtblock eben nur bei schärfster Disziplin und überhaupt nur durch
-eine ganz starke Organisation etwas ausrichten kann.“
-
-Unter dem Sims, mit dem Rücken gegen die Fensterwand, saß auf dem
-Fußboden ein schon bejahrter Kartonnagenarbeiter. Seine Hand rückte
-ununterbrochen und selbsttätig unsichtbare Gegenstände zehn Zentimeter
-seitwärts: Die arbeitende Hand machte den Griff, den sie ein Leben lang
-von früh bis abends in der Papier- und Kartonnagenfabrik des Herrn
-Hommes gemacht hatte.
-
-„Beruhig du dich nur. Die Genossen in deinem Bezirk werden dich schon
-verstehen. Was dir deiner Lebtag auf die Haut brennt, das begreifst du
-leicht“, sagte er und setzte sich auf die arbeitende Hand, die sich
-Sekunden später wieder befreite und weiter ihre Arbeit tat.
-
-„Wegen der Frauenlandeskonferenz! Weil sie eben in dieser Woche in vier
-Versammlungen das Referat hatte. Und auch sonst viel Arbeit, Sitzungen,
-Schreibereien und so ... Jetzt mußt du ein paar Tage ausspannen,
-Genossin Lenz.“
-
-„Ich brauche nur Schlaf. Fünf Stunden!“
-
-„Ja, ja, Schlaf“, sagte der Kartonnagenarbeiter und setzte sich wieder
-auf seine tätige Hand.
-
-Katharina wandte das Gesicht Jürgen zu. Und es schien, als habe sie den
-Blick, mit den sie ihn vor acht Jahren im öffentlichen Parke angesehen
-hatte, in ihre Augen zurückgeholt. Sie lächelte, und hinter diesem
-Lächeln stand die Antwort auf seine damalige Frage: ‚Aber wie? Wie soll
-man sich aufopfern?‘
-
-„Der ist erst fünf Tage später abtransportiert worden.“
-
-Dann hörte Jürgen, wie der Metallarbeiter zu den zwei Pfeifenrauchern
-sagte: „Weil der Kriminaler, der mit dem Kopf ins Fenster gefallen ist,
-dabei ein Aug eingebüßt hat und deshalb die Reise nicht mitmachen
-konnte.“ Und trat zu den Dreien in die Fensterecke. Auch der Agitator
-war hinzugetreten.
-
-„Wenn sie den packen – unter fünf Jahr gehts nicht ab“, sagte der
-Metallarbeiter noch.
-
-Der Holzarbeiter mit dem vertrockneten, kleiner gewordenen Gesicht
-sprach schriftdeutsch: „In der Zeitung stand: Ein gutgekleideter,
-ungefähr fünfundzwanzigjähriger Mensch, Kaufmann oder Student,
-augenscheinlich ohne Kopfbedeckung.“
-
-Und der Agitator: „Auch heute waren wieder Kriminalbeamte im
-Parteibureau ... In diese romantischen Polizeischädel geht es nicht
-hinein, daß die Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung nicht darin
-besteht, Attentate zu organisieren und Attentäter gewaltsam zu
-befreien.“
-
-Die Mütze hatte ich in der Tasche, dachte Jürgen und fragte: „Was sagten
-Sie eben?“
-
-„Das Gefühl der Empörung übrigens, das diesen jungen Menschen zu dem
-Befreiungsversuch veranlaßte, ist dasselbe, das in allen Klassenkämpfern
-lebendig ist; aber die müssen, so schwer das ihnen auch wird, ihre
-Empörung oft in sich zurückhalten“, fuhr der Agitator fort, Blick vor
-sich hin gerichtet und in einem Tone, als dachte er, wie sehr viel
-leichter das Leben sein würde, wenn der Kampf um den Sozialismus in
-derartigen Taten bestehen könnte, anstatt in der jahrelangen,
-lebenslangen, zermürbenden, täglichen Hingabe.
-
-„Ja, aber dazu noch wöchentlich zweimal Bildungskurs in der
-Jugendorganisation!“ rief bei der Rückwand ein Bezirksführer. Zwei
-andere sprachen über den letzten Lohnkampf, der die Transportarbeiter
-sehr geschwächt habe. Im Stock erklang das in sich erstickende Geschrei
-eines Säuglings.
-
-Unter dem Brustbein empfand Jürgen einen immer schwerer werdenden Druck,
-als stecke er bis zum Kinn in dickflüssiger Moorerde.
-
-„Wollen wir anfangen?“ fragte der Agitator. Und Katharina hob den Deckel
-von der Schreibmaschine.
-
-Die zehn schritten durch die Finsternis, vor sich die fensterlosen
-Rückseiten schmaler, turmhoher, freistehender Mietskasernen: tote
-Silhouetten. Ein langer Güterzug kroch aus dem Arbeiterviertel heraus,
-ins flache Land hinein. Wasserglanz in dunkler Ferne und das gedämpfte
-Rasseln eines Schleppers, der eine Reihe Frachtschiffe stadtwärts zog.
-Der lange Pfiff der Lokomotive schlug einen Bogen durch die Nacht.
-
-Geschrei brach ihnen entgegen, stieg an: ein Knäuel Wutgebrüll. Über
-allem die Frauenstimme, die wie die Verzweiflung selber schrie. Und als
-die zehn den Lichtkegel, der aus dem Parterrefenster auf die Straße
-fiel, erreicht hatten und ihn durchschritten, war es drinnen völlig
-still. Drückende Stille. Und dann Wimmern, Weinen, gestoßen
-ausbrechendes Geheul, fessellos, als weine die Verzweifelte alle Not
-ihres Lebens und das Leben selbst aus sich heraus.
-
-Darüber entstand ein Gespräch. Ob der Mann die Frau und weshalb er sie
-wohl geschlagen habe, und warum sie gar so arg flenne. „Die Gründe kennt
-man“, sagte der Holzarbeiter.
-
-„Ja, das sind im Grunde immer die selben.“
-
-„Wie schön die Nacht ist.“
-
-„Ja, wenn man so marschiert.“
-
-Die neuen Backsteinhäuser des wachsenden Arbeiterviertels, gleichförmig,
-unverputzt, wie über Nacht hingestellt – lineare Straßen, bei den
-Feldern endend wie abgehauen –, stießen feuchten Kalkgeruch ab. Kein
-Fenster war erleuchtet. Die Arbeiter schliefen schon. Vor einer alten
-Villa, die eingeholt und überholt worden war von der wachsenden Stadt,
-stand ein Schutzmann mit einem Polizeihund.
-
-Das Weinen war verendet. Die Schritte hallten im Gleichmaß.
-
-„Aber Parteimitglied wurde ich – das sind jetzt sechsundzwanzig Jahre
-her“, erzählte der Kartonnagenarbeiter. „Seitdem hat sich viel
-geändert.“
-
-Sechsundzwanzig Jahre, dachte Jürgen. Sechsundzwanzig Jahre.
-
-Hohe, leuchtende Fenster, fünf lange Reihen übereinander, traten aus der
-Dunkelheit heraus. Die zehn schritten hinein in das Klipp-Klapp-Geräusch
-der Transmissionen: die Nachtschicht bei der Arbeit.
-
-„Heut ist die Partei eine Macht ... Wenns auch langsam geht ...
-Mitbestimmungsrecht ... Die straffe Organisation ... Ja, viel Arbeit
-gewesen“, vernahm Jürgen, der mit dem Holzarbeiter und dem
-Metallarbeiter einige Schritte voraus war.
-
-Schweigend über die kleine Eisenbrücke. Durch den kühlen Teergeruch. Auf
-der äußersten Spitze des zugebretteten Frachtschiffes im Kanal stand ein
-winziger Hund, der blickte. Schon durchbrach dort und hier das
-Lichtermeer die Baumkronen.
-
-Jürgen konnte nicht durchatmen, als wären seine Lungen luftgefüllt und
-hermetisch verschlossen. Konnte nur vom Halse weg atmen. ‚Lebenslang
-außerhalb des Lebens zu stehen, bedeutet es. Und nur ein winziges
-Teilchen der großen Bewegung zu sein und gewesen zu sein.‘ Der Druck in
-seiner Brust wich nicht.
-
-Sie gerieten in die Menge hinein, die das Theater verließ und dem Korso
-zustrebte. Es war erst zehn Uhr. Vor allen Cafés saßen die Gäste im
-Freien. Auch vor dem Grandhotel ruhten elegante Herren und elegante
-Damen in Korbsesseln und genossen die herrliche Sommernacht. Auf der
-funkelnden Weinterrasse, blumenüberhangen, von der Straße leicht
-abgesondert durch Lorbeerbäume, rollten die Kellner lautlos die
-Servierwagen an und ab, tranchierten Geflügel, öffneten Weinflaschen. Zu
-Verbeugungen erstarrte Fragen. Das Streichquartett spielte diskret.
-
-Die vier Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster spritzten weißes
-Licht in die Menge – Studenten, junge Kaufleute, Fremde und Offiziere
-mit ihren Kokotten und Damen –, die straßauf, straßab bummelte, in so
-gemächlichem Tempo, daß die zehn wie ein marschierender Fremdkörper
-wirkten. Vor dem Juwelier blieben sie stehen. Alle zehn. Jürgen mit dem
-Blick zur Weinterrasse.
-
-Plötzlich bekam er einen Schlag gegen das Herz. Sagte zweimal den Satz:
-„Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.“ Sah an sich hinunter,
-überzeugte sich, daß er sorgfältig gekleidet war, und drehte sich wieder
-um zum Schaufenster.
-
-„Also, auf morgen!“ rief der Holzarbeiter noch zurück und lächelte
-bekannt und dennoch fremd.
-
-Die erste Geige sprang mit einem unerwarteten, funkelnden Saltomortale
-aus der Begleitung heraus, jubelnd empor. Ein übriggebliebener Gedanke
-irrte noch in Jürgen umher, wurde immer wieder zurückgestoßen, schrie
-lautlos und gellend das Wort ‚Schicksalspause‘. „Das ist es ja nicht.
-Das ist ja unwichtig“, murmelte Jürgen und zog die Handschuhe über.
-
-Erst als er schon vor einem weißgedeckten Tischchen auf der Weinterrasse
-saß, gegenüber zwei schweigsamen, schönen Engländerinnen, bemerkte er
-Adolf Sinsheimer und noch drei Schulkameraden, die, elegant
-zurückgelehnt, ihre seidenen Strümpfe sehen ließen und, die ganzen
-Oberkörper langsam vorbeugend, Jürgen grüßten. Er setzte sich zu ihnen.
-
-Stand sechs Stunden später auf der Straße. Die Vögel pfiffen schon. Die
-Menschen schliefen noch. „Nun, und jetzt? ... Ich war betrunken.“
-
-Er dachte, von Ekel geschüttelt, an die Szene in dem orientalischen
-Salon, in dem er mit den Schulkameraden gewesen war. Sah die Amsel an,
-die auf dem Staketenzaun saß. Seine Knie wurden weich. Er mußte sich auf
-die Steintreppe setzen. „Das Ganze hat nicht mehr und nicht weniger zu
-bedeuten, als mein imaginäres Duell mit Karl Lenz.“
-
-Die Amsel sperrte weit den gelben Schnabel auf: „Das stimmt. Und stimmt
-doch nicht.“
-
-„Denn einmal, meinst du, nicht wahr ...“
-
-„Eben das meine ich!“
-
-Jürgen hatte das Empfinden, in die Tiefe zu stürzen, und fuhr aus dem
-Schlummer. „Wenn das so weiter geht, werde ich einmal nichts mehr selbst
-entscheiden können. Das Schicksal wird mir keine Pause mehr gewähren.“
-
-Am Nachmittag – sie hatten eben Kaffee getrunken – blickte Jürgen
-nachdenklich die im Sessel schlummernde Tante an, lehnte sich auch in
-den Sessel zurück, Wange auf dem gehäkelten Schutzdeckchen.
-
-Die Heiligenbilder an den Wänden hielten die segnenden Hände erhoben
-über die beiden. Auch der Vogel im Käfig ließ die Schlafhäutchen über
-die Augen herab. Die blauen und silbernen und goldenen, kopfgroßen
-Glaskugeln im Garten funkelten in der Nachmittagssonne. Eine Wolke zog
-still am Himmel hin. Der Perpendikel sagte: Rich...tig, rich...tig.
-
-Das fadendünne Drahtseil lief von Jürgens bequemem Backenstuhl weg, in
-viel tausend Meter Höhe vorbei an den in Not und Kampf Stehenden dieser
-Welt. Jeder hielt sein gepeinigtes Herz in der Hand. Da, wo das Seil
-endete – in ungeheuer weiter Ferne –, leuchtete Katharinas Stube. Auf
-Jürgen zu, in blauer, gefährlicher Höhe, bewegten sich die neun
-Proletarier und erwarteten Jürgen so gläubig, daß er nicht widerstehen
-konnte, das fadendünne, schwindelhohe Seil ebenfalls zu besteigen.
-
-Ein paar Meter vor ihm balancierte, vom Absturze bedroht, ein Mensch auf
-dem Seile. Jürgen erkannte in dem gefährlich Schwankenden sich selbst,
-rief sich an in kaltem Schrecken.
-
-Da marschiert er mit den neun Proletariern den Korso hinauf, sieht die
-promenierende Menge, die vier lichtspritzenden Bogenlampen über des
-Juweliers Schaufenster. Hört die Streichmusik, erkennt die Melodie.
-
-Die Schicksalspause tritt ein.
-
-‚Also, auf morgen!‘ sagt der Holzarbeiter.
-
-Diese photographische Genauigkeit! Ich sah im Traume sogar die gelbe
-Rose in Adolfs Knopfloch, deren tatsächliches Vorhandensein mir gestern
-nicht einmal in der Wirklichkeit bewußt geworden war, denkt Jürgen, der
-träumte, erwacht zu sein. Steckt sich die Rose ins Knopfloch.
-
-Sitzt mit Adolf Sinsheimer und den drei Schulkameraden auf der
-Weinterrasse. Plötzlich verdichten sich die vier Körper in einen Körper,
-auf dessen Hals die vier Köpfe stecken.
-
-Alle vier Gesichter haben den selben zotigen Zug um den Mund, denkt
-Jürgen. ‚Wie Männer, wenn sie eine wehrlose Frau auf der Straße ansehen.
-Den selben, das Menschenauge schändenden Blick, den kein Tier dieser
-Erde hat.‘
-
-Alle vier Münder gleichzeitig sprechen ein furchtbares Wort: Ein
-Menschenschrei, gefangen im Kellergewölbe. Dann nimmt der Vierköpfige
-ein kleines Küchenmesser mit brauner Holzschale aus der Westentasche und
-stemmt Jürgens Schädeldecke auf.
-
-Die Hauptmasse des Gehirns reißt er mit der Hand heraus. Das
-Hängengebliebene kratzt er mit dem Küchenmesser sorgfältig ab.
-
-Dabei hört der zu maßlosem Entsetzen Erstarrte die erste Geige im
-Weinrestaurant jubelnd in die Höhe steigen.
-
-Der Vierköpfige wickelt ein sorgfältig verpacktes, neues Gehirn aus, um
-das herum – wie um eine Sektflasche die Steuerbanderole – das
-Fabrikzeichen klebt, preßt es in Jürgens offenen Kopf hinein und paßt
-die Schädeldecke wieder auf.
-
-Schmerz und Entsetzen verschwinden augenblicklich.
-
-Die Schulkameraden sind jetzt wieder alle vier da. Als fünfter sitzt
-Jürgen bei ihnen, spricht wie sie, denkt, lacht wie sie, hat den selben
-zotigen Zug um den Mund, den selben Blick, weiß das alles und fühlt sich
-wohl dabei.
-
-Nur der Menschenschrei im Kellergewölbe, der wie gefangener Gesang
-klagend weiter tönt, stört ihn. Deshalb leert er die bis zum Rande mit
-Sekt gefüllte große, weiße Kaffeekanne auf einen Zug. Steht plötzlich in
-dem orientalisch ausgestatteten Salon, in dem fünf halbbekleidete
-Mädchen auf Ottomanen liegen. Schaudert zurück, weil die Brüste mit
-kurzhaarigem Pelze bewachsen sind. Und erwachte wirklich.
-
-Der Vogel und die Tante schliefen noch. Und die still am Himmel
-hinziehende Wolke hatte noch nicht einmal die Krone des Nußbaumes im
-Garten passiert. Die selbe Fliege saß noch auf der weißen Kaffeekanne
-und saugte an dem selben Tropfen, der an dem Schnabel hing.
-
-Als ob der Entschluß, der seinem ganzen weiteren Leben eine andere
-Richtung geben mußte, sekündlich in Jürgens Empfinden übergegangen wäre,
-hatte sich mit dem Entschlusse unversehens sein ganzes Körpergefühl
-verwandelt. Gang und Glieder waren schwer geworden. Alles Gewesene und
-die Umwelt hatten an Gewicht verloren.
-
-Jürgen, entschlossen, sich auf sich zu nehmen, verließ, ein schweres
-Ganzes, die Villa, um nicht mehr zurückzukehren.
-
-Sein Gefühl wußte, was er auf sich nahm. Dieses Gefühlsbewußtsein
-lastete von dem ersten Schritte an, den er außerhalb des Gartens tat, so
-schwer in ihm, als hätte es seit Jahren sein Wesen bestimmt. Das
-Bisherige war versunken. Dahin gab es kein Zurück mehr.
-
-Er möge ein bißchen warten, rief Katharina durch die verschlossene Tür,
-trat schnell vom Arbeitstisch weg in die Mitte des dunklen
-Balkenkreuzes, das den Fußboden vierteilte.
-
-Beide Hände in den Taschen des Sweaters, blickte sie prüfend rundum in
-ihrem großen Parterrezimmer, ohne sich vom Platze zu bewegen. Die
-geblümte Tapete, älter als Katharina, war mit vielen kreisrunden
-Rostflecken übersät, an vielen Stellen gesprungen und mit Markenpapier
-zusammengeklebt. Nur eine Gasflamme brannte an dem Doppelarm.
-
-Nachdenklich strich sie sich mit dem dünnen Mittelfinger über die
-braune, gebogene Braue, berührte dabei die Lippe mit der Zungenspitze,
-wie vor Jahren an dem Abend, da sie, stehend in ihrem Mädchenzimmer, den
-Entschluß, für immer das Elternhaus zu verlassen, gefaßt und sofort
-ausgeführt hatte.
-
-Auch jetzt machte sie diese Doppelgebärde, als habe sie einen Entschluß
-gefaßt, entzündete den zweiten Glühstrumpf, schloß das Fenster, von dem
-aus die fernblinkenden roten und blauen Lichter des Rangierbahnhofes und
-der Eisenbahnwerkstätte zu sehen waren, und zog den Vorhang zu. Mehr
-Verschönerungsmöglichkeiten gab es nicht.
-
-Im Zimmer, nun abgeschlossen von der Außenwelt, war es ganz still. Nur
-das Herz klopfte. Schon mittenweges zur Tür, kehrte sie noch einmal um,
-setzte sich, Hand auf dem Herzen, und staunte.
-
-Hinter der verschlossenen Tür stand Jürgen in schwerer Ruhe.
-
-Sie schob, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, beide Hände sofort wieder
-in die Sweatertaschen, erkannte an Jürgens Blick sofort, daß der Grund
-seines Besuches ein anderer war, und nahm die Hände wieder heraus.
-
-Er hatte ihr nicht die Hand gereicht. Er saß schwer am Tisch und
-erzählte, ohne Einleitung, sachlich und ohne Scham, als schildere er das
-Erlebnis eines andern, was sich gestern mit ihm ereignet hatte. Dabei
-machte seine Hand, die schwer auflag, kleine verstärkende Bewegungen.
-Auch als er, bemüht, sich und ihr das gestern Geschehene verständlich zu
-machen, in großen Zügen sein bisheriges Leben erzählte, schilderte er
-die Leiden, die Demütigungen und die nicht durchgekämpften Kämpfe des
-Kindes und Jünglings so, als spräche er von einem beliebigen anderen.
-
-So ergab sich, während sie die Abendsuppe bereitete auf dem Gaskocher,
-der auf einem niedrigen Kistchen stand, so daß sie öfters in tiefer
-Kniebeuge sitzen mußte, ein Gespräch über Einzel-Ich und Umwelt.
-
-Einst, vor Jahren, als sie noch nicht Sozialistin gewesen sei, habe sie
-sich vorgestellt, was geschehen würde, wenn einmal eine ganze Generation
-nicht als machtlose Kinder, sondern, ungebrochen durch falsche
-Erziehung, Autorität und Umwelt, gleich als Zwanzigjährige geboren
-werden und so auf dem Kampfplatz erscheinen würde. Mit der Kraft ihres
-unverbogenen Wesens würde diese Generation ohne Schwierigkeit das Ganze
-über den Haufen werfen.
-
-„Leider aber kommt der Mensch als wehrloser Säugling auf die Welt“,
-schloß sie und lächelte froh, als sei diese Wehrlosigkeit das
-Erfreulichste, das dem Säugling geschehen könne. Das Herz klopfte nicht
-mehr.
-
-Sie gab sich Mühe, besonders gut zu kochen, fragte, ob er die Hafersuppe
-lieber dick oder dünn, süß oder weniger süß esse.
-
-„Das ist mir ganz gleich. Ich habe noch niemals Hafersuppe gegessen.“ Er
-beobachtete, wie sie herumhantierte, sich tief zu Boden beugte, wieder
-senkrecht stand. ‚Glatt und fest wie ein junges Baumstämmchen, junges
-Nußbaumstämmchen‘, fiel ihm ein.
-
-Sie stand, ein rechter Winkel, über den Gaskocher gebeugt. Von jetzt an
-wirst du vermutlich sehr oft Hafersuppe essen, dachte sie, während sie
-die zwei dampfenden, zu vollen Suppenteller vorsichtig durch das Zimmer
-trug zum Tisch, der am Fenster stand.
-
-Jürgen, tief dabei, die Summe seines bisherigen Erlebens, Erleidens,
-Erkennens zu ziehen, bereitet und gewillt, von nun an klaren Bewußtseins
-zu handeln, bedurfte in dieser Stunde, da er im Rückblick auf sein Leben
-schon und erst den Aufbruch zu sich selbst begann, noch des Verweilens
-bei den Ursachen, bestrebt, ihr Ineinandergreifen fehlerlos zu erkennen.
-
-Er dachte: Der Sozialismus muß sich auf allen Gebieten des Lebens mit
-absoluter Notwendigkeit und Ausschließlichkeit ergeben aus dem Wahnsinn
-des Bestehenden. Die Rechnung muß stimmen. Und sagte:
-
-„Es gibt nicht nur eine herrschende Klasse und unterdrückte Klassen; es
-gibt auch eine jeweils herrschende Generation, die durch alle Klassen
-durchgeht: Alle Erwachsenen nämlich, die, machtstrotzend, mit Hilfe der
-bestehenden Seelenmord-Gesellschaftsordnung, in der sie selbst tödlich
-verstrickt und untergegangen sind, die heranwachsenden Generationen
-abwürgen, entselbsten ... In diesem Sinne bilden alle Erwachsenen
-zusammen eine granitene Einheit, einen Wall, gegen den die
-Heranwachsenden vergebens anrennen, so lange anrennen, bis sie selbst
-entselbstete, lebende Leichen sind und Teile des Walles bilden gegen die
-neu heranwachsenden Generationen.“
-
-Sie stand rückwärts und rieb, betrachtete den Löffel, rieb weiter,
-hauchte ihn an. Der verzinnte Blechlöffel bekam keinen Glanz.
-
-„Denn wenn es auch eine Tatsache ist, daß jeder Mensch als ‚Reines Ich‘
-geboren wird, ist es eine ebenso unumstößliche Tatsache, daß das Reine
-Ich ganz und gar unentwickelt, ganz und gar versunken und verschüttet
-und ertötet ist im Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts ... Aber wie
-steht es mit der Entwicklungsmöglichkeit des Ich im Proletarierkinde?
-Wie verhalten sich Umwelt und proletarische Eltern zu dem Ich im
-proletarischen Kinde und umgekehrt?“
-
-Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Katharina stand noch einmal
-auf, kramte lange in einer Schublade und legte dann eine Papierserviette
-vor Jürgen hin.
-
-„Das ist aber eine sehr wichtige Frage. Auch hier müßte die Rechnung
-stimmen.“
-
-Wahrscheinlich könne auch diese Frage nur von dem Standpunkte aus, daß
-es eine herrschende und eine ausgebeutete Klasse gäbe, richtig
-beantwortet werden, sagte Katharina. „Vielleicht sollte man diese Frage
-so stellen: Was erhält das bürgerliche Kind von der Umwelt dafür, daß es
-seinen Protest, sein Wesentlichstes: sein Ich und damit sein Schöpfertum
-und die Fähigkeit, das Leben auch psychisch zu erleben, aufgibt, sich
-unterordnet, sich der Umwelt anpaßt, selbst zu einem Teile der Umwelt
-wird gegen noch Protestierende? Und was tauscht das proletarische Kind
-gegen die Aufgabe seines schöpferischen Ich ein? Was widerfährt dem
-Bürgerkinde, wenn es versucht, zu kämpfen, zu protestieren? Und was
-geschieht in diesem Falle dem proletarischen Kinde? Erhalten beide und
-geschieht beiden das gleiche?“
-
-Sie hörten, wie jemand absprang, das Fahrrad gegen die Mauer lehnte.
-Eine Sekunde später trat der junge Arbeiter ein, atmend, verschwitzt und
-seelenruhig lächelnd. „Die ganze Belegschaft der Hommesschen
-Papierfabrik ist in den Streik getreten, Genossin Lenz.“ Er wischte sich
-mit dem Taschentuch rund um den Hals. „Der Genosse Ingenieur läßt dir
-sagen, du sollst morgen früh um sieben Uhr in der Redaktion sein.“ Und
-da sie nickte, war er draußen.
-
-Sie rief ihn zurück. Ob die Werkmeister und Vorarbeiter mitstreikten?
-
-„Ah, wo werden denn diese Arschkriecher mitstreiken! Er will ja auch
-auswärtige Streikbrecher heranziehen. Aber unsere Streikposten stehen
-schon. Auch am Bahnhof! Die Polizei, selbstverständlich, ist auch schon
-aufmarschiert!“
-
-„Da möchte ich gleich Streikposten stehen“, sagte Jürgen, „gegen Herrn
-Hommes.“
-
-„Das besorgen die Betriebsgenossen schon selber.“ Sie setzten sich
-wieder. Und da Jürgen mit den Augen fragte, fuhr sie fort:
-
-„So gewiß es ist, daß die Natur die Trennung der Menschen in Klassen,
-das heißt: die Verhunzung des Menschen durch die kapitalistische
-Gesellschaftsordnung, immer wieder aufhebt durch das Hervorbringen
-körperlich und geistig vollwertiger Kinder bürgerlicher und
-proletarischer Eltern, so unzweifelhaft ergibt sich aus dem, was ist,
-daß die Trennung in Klassen auf bürgerliche und proletarische Kinder
-total verschieden wirkt.“
-
-Unversehens war die Gefühlsschwere von Jürgen gewichen. Entlastet atmete
-er aus. „Was dem Bürgerkinde, das sich nicht anpassen will, geschieht,
-weiß niemand besser als du und ich“, sagte er, im Blicke tiefe Freude
-über die schwer errungene persönliche Befreiung. „Ein zeitlebens
-seelisch gefährdeter Mensch, Irrenhaus oder Selbstmord! Oder,
-bestenfalls, als Dreißigjähriger ein zuckendes Nervenbündel! ... Und für
-die anderen, für die übergroße Mehrzahl, für diejenigen Bürgerkinder
-nämlich, die den Kampf gegen die Umwelt sofort aufgeben, ist das
-Nichtmehrprotestieren, das Sichaufgeben, das Sichanpassen
-gleichbedeutend mit Bequemlichkeit, kampflosem Siegen, mit der
-uneingeschränkten Möglichkeit, sich zu bilden, mit glattem Emporkommen
-in eine bevorzugte Stellung, mit standesgemäßer Heirat, mit Reichtum,
-Macht, Geachtetwerden, kurz: mit dem vollen Genusse des Lebens ... Die
-geben ihr Ich hin, tauschen aber dafür alles ein, was das Leben bietet.“
-Er schob den nicht ganz geleerten Teller auf die Seite.
-
-Durch die rückwärtige Tür trat Katharinas Wirtin ein, stellte einen Krug
-voll Wasser neben das schmale Eisenbett. „Schläft der Genosse hier? Die
-letzte 54 ist nämlich weg ... Dann bringe ich die Decke.“
-
-„Er schläft doch nicht hier“, sagte Katharina. „Nein, nein, er schläft
-nicht hier.“
-
-Und Jürgen fuhr schnell fort: „Das Sichanpassen des Bürgerkindes wäre
-demnach gleichbedeutend mit dem vollen Lebensgenusse eines Angehörigen
-der herrschenden Klasse. Dieser Angepaßte ist dann zwar in keiner Weise
-mehr er selbst, ist eine Ich-Leiche, aber eine geachtete, mächtige,
-herrschende, die das Leben, wie es ist, mitbestimmt und dieses Leben
-genießt. Eine Leiche, die lebt und gut lebt! Von dieser Seite ist also
-gewiß nichts zu erwarten für die Befreiung.“
-
-„Wenn aber die Umwelt“, sagte Katharina, „sich Kindern gegenüber sieht,
-denen sie, im Gegensatze zu den bürgerlichen Kindern, für das
-Sichanpassen nichts zu geben hätte als Not, Qual, Prügel in jeglicher
-Form, die Verweigerung aller Bildungsmöglichkeiten und des
-Lebensgenusses, nichts als Hunger, Kälte, Schmutz, Arbeitenmüssen für
-andere und Demütigungen auf allen Wegen? ... Das Proletarierkind, das
-geneigt ist, sich der Umwelt anzupassen, wird von der Umwelt selbst,
-wird durch die herrschende Klasse und deren Staat immer wieder in den
-Protest gegen die Umwelt zurückgestoßen. Dieser brutale, unaufhörliche
-Stoß verleiht und erleichtert dem proletarischen Kinde die Möglichkeit,
-etwas mehr von seinem Ich zu bewahren. Die Proletarier kommen aus dem
-Proteste nie ganz heraus, können folglich ihr Ich nie ganz verlieren und
-sind auch mit aus diesem Grunde als Klasse schöpferisch und dazu
-bestimmt, im Gange der Geschichte über die unschöpferisch gewordene
-bürgerliche Klasse hochzusteigen ... Aber erst in der klassenlosen
-Gesellschaft tritt dein Reines Ich auf den Plan, wird es jedem Einzelnen
-verstattet sein, er selbst zu werden und zu sein.“
-
-Jürgen sah den Vierköpfigen, hob langsam den Kopf, empor aus dem
-Lauschen und seinen Vorstellungen, blickte, den Gedanken erst
-formulierend, Katharina an: „Auf der einen Seite also, in der
-kapitalistischen Gesellschaft, meinst du: ungeheuerlichste Ungleichheit
-in materieller Hinsicht und eine vielleicht noch ungeheuerlichere
-blödsinnige Gleichheit aller im Geistigen ...“
-
-„Ja, und das wird Individualismus genannt.“
-
-„... auf der anderen Seite, in der klassenlosen Gesellschaft: materielle
-Gleichheit für alle und infolgedessen, nicht wahr, infolgedessen im
-Geistigen absolute individuelle Verschiedenheit jedes Einzelnen von
-jedem Einzelnen. Jeder ein Reines Ich! Ein schöpferischer Mensch!“
-
-„Und das wird die öde Gleichmacherei der Sozialisten genannt ...
-Zwischen diesen zwei Extremen liegt allerdings zunächst die Revolution.“
-
-„Wie unsäglich wunderbar das sein wird: Die Seele, die ihr Ich durch den
-Körper gewinnt und im Gleichgewicht in sich selber ruht.“
-
-Beide schwiegen. In die Stille klang wieder das in sich erstickende
-Geschrei des Säuglings. Fernher tönten Pufferknall und die monotonen
-Rufe der Eisenbahnarbeiter, die einen Zug zusammenstellten.
-
-Dieser Befreiungsversuch war ein herrlicher Seitensprung, dachte er
-stolz, lächelte gerührt, wie über eine teure Jugenderinnerung. Und trat
-in seinem Gefühle wieder ein in die Reihen der Millionen, die sich auf
-dem langen, generationenlangen Marsche befanden.
-
-„Dein Zimmer – diese drückende Decke, das kleine Fenster – ist wie ein
-niederstirniges Gesicht“, sagte er, empfand plötzlich wieder Druck über
-dem Herzen.
-
-„Ja, wir leben vergraben, geduckt, nur von uns selbst und der Idee
-beschirmt ... Bist du nun sicher, daß die Rechnung stimmt?“
-
-„Das solltest doch du am ehesten begreifen, daß ich, da hinter mir nicht
-der materielle Druck stand, der die Massen klassenbewußt macht, zum Teil
-auch auf dem Wege über den Verstand zum Sozialismus kommen mußte. Das
-Gefühl war vorher, war ja immer da.“
-
-„Wie wir einander wiederfanden, du und ich! ... Wie schön, wie wunderbar
-ist das!“
-
-Da schlug das Glück durch ihn durch, legte Jürgens Hand um ihren Nacken.
-So stand er, Blick in ihrem Blick, nahe seine Lippen dem kleinen, festen
-Mund. Ihr Körper gab nach, antwortete frei.
-
-Dann sagte Jürgen, halb fragend: „Wo ich heute nacht schlafen werde, bei
-wem, das weiß ich freilich nicht.“
-
-
-
-
- V
-
-
-„... und auch deshalb, damit Du nicht glauben solltest, ich sei
-verunglückt, ertrunken, ermordet worden (ich habe mich, im Gegenteil,
-vor dem Ertrinken, vor dem Erstickungstode gerettet), teilte ich Dir
-meinen Eintritt in die sozialistische Partei und den Entschluß mit,
-nicht mehr zurückzukehren.
-
-Wie noch vor kurzem kein Mensch, und wäre er der klügste auf der Welt
-gewesen, mir hätte begreiflich machen können, daß ich nur durch diesen
-Schritt mein Dasein in Einklang zu bringen vermöchte mit den Tatsachen
-des Lebens, so könnte ich die Beweggründe dieses Schrittes auch Dir
-nicht begreiflich machen, so wenig wie Herrn Papierfabrikant Hommes,
-Geheimrat Lenz, Bankier Wagner, den Professoren, Studenten, Söhnen und
-Töchtern, das heißt: allen diesen klugen, gebildeten Menschen Deiner
-Kreise, für welche die sozialistischen Arbeiter Existenzen sind, die
-alles gleichmachen und verteilen, nichts arbeiten, sich täglich
-betrinken wollen, und diejenigen, die sich zu den Sozialisten gesellen,
-schwachsinnige Schwärmer, Narren oder Verbrecher, ja sogar Verräter an
-dem Ideale.
-
-Wenn ich versuchen wollte, Dir zu erklären, daß der Sozialismus, über
-alles Materielle hinaus, auch eine gewaltige Kulturbewegung ist und
-verwirklicht werden muß, soll nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen,
-müßte ich ein dickes Buch schreiben, und auch dann würdest Du nichts
-begreifen. Denn sogar Menschen meiner Wesensart vermögen die Größe und
-geschichtliche Notwendigkeit des Sozialismus erst dann ganz zu erkennen,
-nachdem sie den kleinen, aber entscheidenden Schritt, den Sprung gemacht
-haben – hinüber zur Arbeiterklasse, in ihr leben und zusammen mit ihr
-kämpfen.
-
-Ich habe den Sprung gemacht. Gräme Dich nicht darüber. Glaube mir, liebe
-Tante, daß dies allein für mich die Rettung sein konnte vor dem
-furchtbarsten, dem geistigen Tode. Daß dies allein die Rettung sein kann
-für jeden.
-
-Und glaube mir auch, daß ich, würde ich einmal wieder zurückkehren zu
-jenen, die mit Blindheit geschlagen sind und offenbar nur noch durch
-eine Art Staroperation sehend werden können, ein Verräter an mir selbst,
-Verräter an der Idee geworden wäre: ein verlorener Mensch, gleich allen
-Angehörigen der bürgerlichen Jugend, deren Tugenden durch die Erziehung
-in Schule und Elternhaus beschnitten werden auf das schickliche Maß, das
-ein gutes Fortkommen gewährleistet, und deren solchergestalt noch übrig
-gebliebener Idealismus auf der Universität von der tätigen Hingabe an
-die fließende Wirklichkeit vollends abgelenkt, mit falschen,
-überkommenen, erstarrten Inhalten gefüllt und dem Staate dienstbar
-gemacht wird, dessen Institutionen sich mit ganzer Wucht gegen
-diejenigen richten, durch deren Hände Arbeit die Existenz dieses
-Staates, Reichtum und Zivilisation des Landes und auch die Ausbildung
-der entselbsteten bürgerlichen Jugend, sowie deren ausschließliche
-Beschäftigung in den Bezirken des, wenn auch verfälschten,
-sterilgewordenen Geistes erst ermöglicht wird.“
-
-Den letzten Satz strich Jürgen wieder weg und schickte den Brief an die
-Tante.
-
-Er wohnte sei Monaten in dem Loch, das durch eine Tür mit Katharinas
-Zimmer verbunden war. Das windschiefe Fenster ging auf einen Rattenhof
-hinaus, in dem Küchenabfälle und allerlei Unrat seit Jahren faulten und
-stanken und tagsüber zwanzig Proletarierkinder an ihrer Welt bauten.
-
-Katharina und Jürgen führten gemeinsamen Haushalt. Ein Anzug nach dem
-andern, die Uhr, die Hemden waren, auf dem Wege über das Pfandhaus, zu
-Holz und Kohle, Kartoffeln, Wurst und Brot geworden.
-
-Seit dem Tage, da die Tante zum erstenmal den Namen Jürgen Kolbenreiher
-in Verbindung mit einer öffentlichen Arbeiterversammlung, gerichtet
-gegen den Papierfabrikanten Hommes, im Abendblatt gelesen hatte,
-eingepfeilt zwischen Schimpfworte, Hohn, Verleumdungen und verbrämt mit
-Bedauern für die hochachtbare alte Patrizierfamilie, die schon im 15.
-Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe, waren die
-Bittbriefe, des Inhaltes, Jürgen möge vernünftig werden, sich wieder
-darauf besinnen, was er sich selbst, seinem Stande und seiner Erziehung
-schuldig sei, ausgeblieben.
-
-Durch den Streik der Papierarbeiter waren eine kleine Lohnerhöhung und
-für die stillenden Kartonnagenarbeiterinnen die Erlaubnis, ohne
-Lohnabzug dreimal täglich je fünf Minuten ihre Säuglinge befriedigen zu
-dürfen, erkämpft worden. Vier Streikposten, die in eine Schlägerei mit
-Polizisten und auswärtigen Arbeitswilligen geraten waren, saßen,
-verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, in Tateinheit mit Störung
-der öffentlichen Ordnung, noch im Gefängnis und zwei schwerverletzte
-Streikposten lagen noch im Krankenhause. Herr Papierfabrikant
-Hommes hatte eine Summe ‚Für wohltätige Zwecke oder sonstige
-Kulturbestrebungen‘ gestiftet.
-
-Die Zeit ging hin. Jürgen hatte schon in vielen Versammlungen
-gesprochen. Leitete seit einem Jahre den Bildungskurs des Bezirkes, in
-dem er wohnte. In den Nächten schrieb er an einem Schriftchen: ‚An die
-bürgerliche Jugend‘. Denn auch jetzt noch stockte sein Herz, wenn er der
-Ereignisse gedachte, die ihn zum Schreiben dieses Aufrufes an die Jugend
-veranlaßt hatten.
-
-Vor dem Staatsgebäude fünfzigtausend Proletarier, demonstrierend für die
-Forderung, daß es jedem freistehen solle, seine Kinder am
-Religionsunterricht in der Schule teilnehmen zu lassen oder nicht; vor
-den demonstrierenden Arbeitern die Polizeikette, und hinter den
-Polizisten, aufgerufen von den Professoren, die ganze studentische
-Jugend, demonstrierend für die Beibehaltung des Religionszwanges.
-
-‚Mußte der Student denn nicht zusammen mit der Arbeiterschaft eintreten
-für die Freiheit des Gedankens, wenn er nicht sich selbst aufgeben
-wollte in seinem geistigen Bestande? Und was sind die Ursachen der
-Schande, daß er es nicht tat?‘
-
-Suchend nach den Ursachen saß er an dem als Schreibtisch dienenden
-Küchentisch. Das Licht von links. Freute sich des Tages über das Licht
-von links und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er durch eine
-Rohrverlängerung mit Hilfe eines seiner Genossen über den Schreibtisch
-montiert hatte.
-
-Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte, spielten im Hofe die
-Ratten, läutete fein das Glöckchen, das ein Proletarierjunge einer Ratte
-um den Hals gehängt hatte.
-
-‚Und im Zimmer nebenan atmet Katharina, die ich liebe. Viel mehr Glück
-kann man vom Leben nicht erwarten!‘ Er berührte den Bleistift zärtlich
-mit den Lippen. Weil Katharina ihn vielleicht einmal in die Hand nehmen
-würde.
-
-In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen in die Stille klang und
-die Sätze ihm gelangen, fühlte Jürgen sich und sein Ich organisch
-eingereiht in das Geschehen.
-
-Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genossen und Katharina,
-denen es damals gelungen war, durch die Polizeikette durchzuschlüpfen
-und, unter Hohn und Prügel seitens der Studenten, Flugblätter zu
-verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung der öffentlichen
-Ruhe, in Verbindung mit Aufreizung zum Klassenhaß. Die drei hatten je
-sechs Monate Gefängnis bekommen und saßen schon. Katharina, deren
-Vernehmung und Schlußrede als Sensation von den Zeitungen abgedruckt
-worden waren, verbrämt mit Bemerkungen tiefsten Bedauerns für Herrn
-Geheimrat Lenz, sollte am nächsten Tage in das Gefängnis.
-
-Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als er das Klappern des
-Waschgeschirres vernahm, klopfte er. Katharina war noch nicht
-angekleidet. Und wie beide, stehend, in der Umarmung verharrten, erhob
-sich in der Ecke Katharinas schmutziggelber, langhaariger Schnauz,
-schritt langsam herbei und blieb, als gehöre er zu allem, was geschah,
-dazu, vor ihnen stehen, den Blick zu Boden gerichtet.
-
-Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl auf das
-Fenstersims, brach sich, huschte schräg an der Wand entlang und verfing
-sich in der Ecke.
-
-Um acht Uhr mußte sie im Gefängnis sein. Sie saß, im Hemd, auf ihren
-Händen auf dem Bettrand. Der Schnauz war im Hofe bei den Ratten.
-
-Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle sorgen, daß für die
-drei Genossen gesammelt werde. Des einen Mutter habe nichts zu essen,
-solange der Sohn im Gefängnis sei.
-
-„Nach dem Examen nehme ich sofort eine Stellung an als
-Verwaltungsbeamter in einem großen Betriebe. Dann werden auch wir eine
-bessere Wohnung haben und regelmäßige Einkünfte. Und ich werde obendrein
-noch enger bei den Arbeitern sein als jetzt. Wir werden heiraten, um
-unnötige Scherereien zu vermeiden ... Überhaupt – ein Glück haben wir,
-ein Glück! ... Es wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, zwanzig
-Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen sein. Was wir alles
-erleben werden! Ungeheuer viel! Wir sind Lebensgefährten. Katharina,
-welch ein Glück! ... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung an.“
-
-Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt Blumen malen zu lernen
-und für Buddha zu schwärmen, begonnen hatte, das Mehrwertgesetz und die
-Kapitalskonzentration zu studieren, sagte, wie er, der als
-linksgerichteter Sozialist bekannt sei, dessen Name schon oft in den
-Zeitungen gestanden habe, ernstlich glauben könne, in irgendeinem
-Großbetriebe angestellt zu werden.
-
-„Nun, dann eben nicht!“ Sie blickten einander an, bis das selbe Lächeln
-in beider Gesichter entstand und sie wieder gleich auf gleich waren.
-
-„Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!“
-
-Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann, dachte Katharina.
-
-Auf dem Wege bis vor das Gefängnistor erlebten sie eine Stunde
-vollkommensten Verbundenseins, wie nur zwei Menschen es verstattet sein
-kann, deren Liebe vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe
-Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle.
-
-„Über alle Begriffe schön kann das Leben sein.“ In ausbrechender Freude
-schlug sie die Arme um ihn. Wandte sich, zog die Glocke. Und wurde von
-dem schwarzen Tore geschluckt.
-
-„Wo ist die Einsamkeit? ... Ah, meine Herren, es gibt keine Einsamkeit.
-Nicht einmal eine Trennung!“ frohlockte Jürgen und ging an seine Arbeit.
-
-Ob der Herr in Reichtum oder im Elend lebt, aus einem warmen
-Teppichzimmer in eines mit feuchten Wänden und verfaulendem Fußboden
-übersiedeln muß, ob er Erfolge erringt oder vom Leben Nackenschläge
-bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und Schande gerät – der
-Hund hängt seinem Herrn immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund,
-dachte Jürgen. ‚Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt zu werden
-von dem, dem seine Sympathie gehört.‘
-
-Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelassen heiteres Tier gewesen, hatte
-am zweiten Tage das unruhvolle Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar
-nicht mehr an, fraß nicht mehr, leckte manchmal etwas Wasser und kroch
-wieder in seine Ecke zurück. Jürgen mußte ihn gewaltsam füttern.
-
-Der ‚Aufruf an die bürgerliche Jugend‘ war erschienen. Bei dem letzten
-Besuche, den Jürgen im Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der
-einzugehen drohte, mitzunehmen.
-
-Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der Schwanzflosse
-aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit dickem Bauch und kleinem, rotem
-Kopfe, ein vollblütiger, fünfzigjähriger Mann, höflich und
-zurückhaltend, gab nach minutenlangem, von bedauerndem Achselzucken und
-erschrecktem Augenaufschlagen begleiteten Erklärungen und Fragen,
-zwischen die er eine Serie korrekten Lächelns gleichmäßig verteilte –
-Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, sondern eines Menschen
-mit Herz und Gewissen, der aber leider an Pflicht und Gefängnisordnung
-gebunden ist –, schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des Hundes.
-Beugte sich plötzlich herab und tätschelte wehmütigen Mundes das Tier.
-Und dann kam, als sei er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu
-lange im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die knappe
-Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig in die Wangen zurückgezogener
-Mundwinkel. Und sofort wieder das erschreckte Augenaufschlagen.
-
-Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene Steintreppe
-hinaufstieg, der festen Überzeugung, daß der Gefängnisdirektor früher
-oder später ins Irrenhaus kommen werde.
-
-Im Stocke stank es scharf nach Abort. Die Wärterin – lippenloser,
-strichdünner Mund im festen Gesicht – schloß eine Tür auf. Sie schritten
-durch einen großen Saal, in dem zwanzig zweimeterbreite, dreimeterlange
-und zweimeterhohe, engmaschige Drahtgitterzellen nebeneinander standen.
-Dazwischen die Gänge, wie in einer Menagerie. In jeder Drahtzelle eine
-Gefangene. Frauen, junge Mädchen und, gleich bei der Eingangstür, in
-zwei nebeneinanderstehenden Käfigen je eine Siebzigjährige. Alle in
-grauen Leinensäcken. Der Raum zwischen den gleichhohen Zellen und der
-Saaldecke war leer.
-
-Einige Gefangene schritten auf das Leben zu: drückten die Gesichter
-gegen das Drahtgeflecht. Blickende Augen. Eine Siebzehnjährige mit
-verwüstetem Gesicht lockte mit Zeigefinger und Daumen und sagte zweimal:
-„Schnauzel!“ Der Schnauz wedelte mit dem Schwanzstumpf.
-
-„Den ganzen Tag macht sie sichs“, rief die Siebzigjährige der Wärterin
-nach. „Immer hat das jung Luder die Finger unterm Rock.“
-
-Sie schritten durch die entgegengesetzte Tür hinaus, in einen langen
-Gang, an dessen Ende rot ein Gaslicht brannte. Links und rechts:
-Zellentür neben Zellentür, jede mit einem Beobachtungsfenster.
-
-Schon als die Wärterin den Schlüssel suchte, stellte der Schnauz die
-Vorderpfoten gegen die Zellentür. Sein Maul öffnete sich, die Zunge
-erschien, Spitze nach oben gebogen.
-
-Wimmernd schlüpfte er, durch die Beine durch, voran. Und es wäre
-Katharina unmöglich gewesen, ihn nicht zuerst zu begrüßen. Denn seine
-Liebe war stürmischer. So stürmisch, daß er unter Katharinas
-Liebkosungen nicht lange stillhalten konnte, sondern hin- und herrasen
-mußte, von der Fensterwand zur Zellentür, beim Wenden jedesmal
-ausglitschend auf dem glatten Betonboden.
-
-Sogar der strichdünne, lippenlose Mund ließ Zähne sehen.
-
-Sie hatten einander nur die Hand gereicht. Setzen konnte Jürgen sich
-nicht. Die Pritsche blieb tagsüber an die Wand geschnallt.
-
-„Heute war bei mir, hergeschickt natürlich von meinem Vater, der
-Irrenarzt.“
-
-Die Wärterin stand bei der Tür, ohne sich anzulehnen, blickte blicklos.
-
-„Das ist so zu verstehen, daß meinem Vater eine geisteskranke Tochter
-lieber wäre als die Schande, eine Sozialistin zur Tochter zu haben ...
-Ich ging auf das Gerede gar nicht erst ein, schickte ihn gleich wieder
-fort, was ihn natürlich auch nicht von meinem Gesundsein überzeugte.“
-
-Der Schnauz hatte sich etwas beruhigt. Er lag, offenen Maules atmend,
-die Vorderpfoten vorgestreckt, blickend auf den Betonboden, überzeugt,
-daß seine Leiden nun zu Ende seien: er hierbleiben oder Katharina
-mitgehen werde. Auch sie steckte in einem grauen Leinensack, etwas
-kleidsamer gemacht dadurch, daß sie die Bluse beim Hals eingeschlagen
-hatte.
-
-Bei dem ersten Tone, den die Wärterin sprach, erhob sich der Schnauz und
-bellte. Die Versicherungen Katharinas, daß sie in einer Woche kommen
-werde, nützten nichts. Der Schnauz stemmte sich mit allen Vieren und
-mußte so von Jürgen hinausgeschleift werden.
-
-„Das ist nicht erlaubt.“ Die Wärterin deutete auf den schwachen
-Schatten, durch dessen Vorhandensein das Vorhandensein von Brüsten
-vermutet werden konnte. „Immer wenn der zu Besuch kommt – diese
-Dummheit!“
-
-Katharina nahm den Einschlag heraus, so daß der Sack wieder rund um den
-Hals anschloß.
-
-„Sie können es gar nicht erwarten, was! ... Direktor melden“, hörte
-Katharina noch. Die Tür fiel ins Schloß.
-
-Schon überquerte Jürgen den Hof, halb springend, um noch vor Ablauf der
-Besuchszeit die Männerabteilung zu erreichen. Blieb aber plötzlich
-stehen: Durch das Tor rollte, gezogen von zwei schweren Pferden, ein
-auch oben zugebretterter Kastenwagen, aus dem rückwärts ein starkes
-Gestänge ragte, gleich einem Stück Eisenbahngleis, stabilisiert durch
-ein eisernes Querstück an der Stirnseite. Der Fuhrmann pfiff. Der Wagen
-rollte durch das sich eben auftuende zweite Tor in den Hof der
-Männerabteilung und weiter durch das dritte Tor in den Zuchthaushof, in
-dem am nächsten Morgen eine Hinrichtung stattfinden sollte.
-
-Sekündlich hatten alle Empfindungen Jürgens Körper verlassen. Er wollte
-die Genossen mit seinem Zustand nicht zu belasten, umkehren, konnte aber
-nichts wollen. Selbsttätig trugen die Beine ihn weiter, der Tür zu.
-
-So schritt er, in den Knien kraftlos, zusammen mit zwei Wärtern, die
-eine Art Tragbahre, beladen mit mehr als hundert Weißblechschüsseln,
-schleppten, den Gang vor.
-
-Der Wärter, der Jürgen führte, ein großer, alter Mann, der, im Rücken
-gebogen, mit jedem knieweichen Schritt, den er tat, müden Blickes auf
-sein Leben zu treten schien, schloß wortlos die Zellentür auf und
-gleichzeitig reichte wortlos ein Essenträger die verrostete Blechschale
-Jürgens jungem Genossen, der den Inhalt, eine schwarze Brühe, wortlos in
-den Abortkübel goß. Die Brotscheibe legte er auf den Klapptisch.
-
-„Das Zeug zu saufen hat gar keinen Wert.“ Er geriet beim Erblicken
-Jürgens sofort in Erregung. „Die Brüh soll das Abendessen vorstellen.
-Mittags gibts einen Mansch, den du frißt, weil du mußt. Und morgens die
-selbe Zichorienbrüh und auch ein Stück Brot. Das ist alles.“
-
-„Sie dürfen nicht über das Essen schimpfen zu einem Besuch.“
-
-„Ein paar Monate hältst du das ja aus. Aber da sind viele ...“
-
-„Wenn Sie davon weitersprechen ...“
-
-„... die schon lang sitzen und noch viele Jahre sitzen müssen.“
-
-„... muß der Besuch sofort raus aus der Zelle.“
-
-„Die, also die müssen verhungern. Die müssen glatt verrecken. Du machst
-dir keinen Begriff, Genosse, wie die Leute aussehen.“
-
-„Sie haben zu schweigen jetzt!“
-
-„Darüber mußt du in unserer Zeitung schreiben, Genosse!“ rief er Jürgen
-nach, der die Nummern der Zellen nannte, in denen seine zwei anderen
-Genossen waren. Der Wärter schritt schon auf die Treppe zu. „Die
-Besuchszeit ist vorbei.“
-
-Der grüne Wagen, in dem die Gefangenen vom Polizei- und vom
-Untersuchungsgefängnis in das ständige Gefängnis überführt werden, war
-eben angekommen. Zehn Verurteilte, Frauen und Männer, standen in dem
-Bureauraum, wo die Personalien aufgenommen wurden. Die Gefangenen mußten
-ihre letzten Habseligkeiten abgeben, die männlichen auch ihre
-Hosenträger abknöpfen. Wärter schleuderten den Gefangenen die graue
-Anstaltskleidung in die Arme. Gesprochen wurde nichts.
-
-Die Maschine funktioniert, dachte Jürgen und schritt der Ausgangstür zu.
-Da schoß ein schon älterer, stoppelbärtiger Mann mit schwärenbesetztem
-Gesicht und verschleimten Augen aus dem Bureau heraus, zuckte suchend
-hin und her, spähenden Blickes, der blitzhell offenbarte, daß er die
-Hölle, in die er kommen sollte, schon kannte, und schoß Jürgen nach,
-bestrebt, auch die aussichtsloseste Situation nicht unversucht
-vorübergehen zu lassen, um der Freiheit willen. Denn war er erst in der
-Zelle, dann gab es keine Zufallsmöglichkeiten mehr.
-
-Die Wärter lachten. Unwirsch stieß ihn einer zurück.
-
-Mit seinem letzten Blick fing Jürgen noch das Lächeln des Sträflings
-auf, der damit den Wärtern gegenüber seinem mißglückten Fluchtversuche
-die Ernsthaftigkeit nehmen wollte. Und dieses bebende Lächeln schien
-Jürgen das Grauenvollste von allem zu sein. Die schwere Tür drückte ihn
-hinaus.
-
-Geblendet stand er im Sonnenschein. Ging langsam weiter. Neben ihm
-tappte, Hinterteil und Schwanzstumpf kläglich eingezogen, der Schnauz.
-Jürgen hob ihn auf. „Etwas muß der Mensch doch in den Armen haben.“ Der
-zitternde Hund bohrte, stürmisch drängend, seinen Kopf unter Jürgens
-Rock.
-
-‚Wieviel Städte gibt es? Und wieviel Gefängnisse in jeder Stadt? Wieviel
-Zellen in jedem Gefängnis? ... Und in jeder Zelle ein Mensch! In jeder
-Zelle das, was von einem Menschen übriggeblieben ist! Hunderttausende
-Menschenreste! Und in der einen Zelle dort hinten einer, der weiß, daß
-ihm morgen früh – um fünf? um sechs? um viertelsieben? er weiß die
-Minute nicht, weiß sie nicht – der Kopf abgeschlagen wird! ... Kultur!‘
-
-Die Machtlosigkeit zog alles Blut aus Jürgens Adern und setzte sich als
-dunkler Druck unter das Brustbein. ‚Diese Bestien! ... Aber wer ist
-schuld? Der Gefängnisdirektor? Der Richter? Der Staatsanwalt? Oder gar
-die Gefangenen? ... Sie so wenig wie der Steinbrucharbeiter, der die
-Steine bricht, und wie der Maurer, der sie zum Gefängnis fügt, und nicht
-mehr als diese der Schlosser, der vor das Zellenfenster das Eisengitter
-einzementiert, hinter welchem den Klassengenossen das Leben vergeht. Es
-gibt keinen Verantwortlichen ... Der Staat? Der Staat ist ein
-Machtinstrument gegen die menschliche Gemeinschaft. Ist keine Person. Du
-findest im bürgerlichen Staate keinen Verantwortlichen. Du greifst in
-die Luft ... Die Ordnung der Dinge, sie ist schuld.‘
-
-Auf dem Tische lag wieder ein Brief von der Tante. Er schob ihn
-ungelesen weg. Auch als Katharina schon zurückgekommen war – Jürgen
-hatte den Fußboden geschruppt, ein Buch verkauft, für das Geld ein paar
-Blumen gekauft, das kniehohe, eiserne Glühteufelchen geheizt, denn es
-war an den Abenden schon kühl –, lag der Brief noch ungeöffnet zwischen
-den Papieren.
-
-Der Schnauz war wieder heiter geworden. Den Winter über schrieb Jürgen
-Artikel für das Arbeiterblatt, hielt sozialwissenschaftliche Vorträge im
-Bildungskurs, sprach in Versammlungen. Die Kollegs besuchte Jürgen
-unregelmäßig.
-
-So lebte er in seinen sechsundzwanzigsten Frühling hinein, ohne
-irgendwelche Beziehungen zu seinem früheren Leben, auch innerlich durch
-nichts mehr gefesselt an die Erlebnisse in seiner Jugend. Denn in dieser
-Zeit überfielen ihn auch die Angstträume nicht mehr, wie früher fast
-jede Nacht, da der Vater, die Professoren, die Tante machtstrotzend ihn
-angeblickt hatten und er, der Erwachsene, als Kind bebend in der
-Zimmerecke gekauert war, ohnmächtig ausgeliefert; andere Träume, von
-Jürgen bisher nie erlebt, schoben sich ein. Kampfträume, aus denen er
-siegreich und erfrischt hervorging.
-
-Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt in Angst zu erbeben,
-auch dem Vater ins Gesicht gelacht und des Vaters Hand mit dem drohend
-deutenden Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte, war dessen
-Macht ganz gebrochen gewesen. Erst nach diesem Erwachen hatte Jürgen
-ganz sicher gewußt, daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung
-völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume der Vater erschienen.
-
-‚Jetzt erst entscheidet nicht mehr ein fremder Wille in mir meine
-Handlungen. Und dazu mußte ich sechsundzwanzig Jahre alt werden ...
-Jetzt keuche ich einen anderen endlosen Berg hinauf; aber ... ich
-selbst, ich selbst keuche ihn hinauf. Ich selbst habe mich dafür
-entschieden, frei entschieden, diesen Weg zu gehen; nicht das Fremde in
-mir zwingt mich.‘
-
-‚Es denken und fühlen die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todesstunde
-Gedanken und Gefühle, die nicht sie selbst denken und fühlen: es begehen
-die allermeisten Menschen bis zu ihrer Todessekunde Handlungen, die
-nicht sie selbst tun; die Summe der Ermordungen, an ihrem Wesen verübt
-von den Autoritäten, dieser Zwingherren der Seele, denkt, fühlt,
-handelt.‘
-
-Noch nach Jahren erinnerte Jürgen sich jenes Morgens, da er zum ersten
-Male die ruhige Sicherheit empfunden hatte, durch nichts Fremdes mehr
-vergewaltigt, sondern ganz und gar Selbstherrscher seines Gefühlslebens
-zu sein. Dieser Wendepunkt seines Daseins war begleitet gewesen von der
-unbegreiflich lastlosen Empfindung, seine Vergangenheit liege nicht mehr
-hinter ihm, sondern vor ihm.
-
-Kopf in die Linke gestützt, war er seitwärts am Schreibtisch gesessen,
-mit dem Blicke zur Verbindungstür, und hatte gedacht: Von nun an gibt es
-für mich keine Abwälzung der Verantwortung mehr durch den Hinweis auf
-die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden. Es können neue Wunden mir
-geschlagen werden von der Umwelt; aber alte Wunden für mein künftiges
-Tun und Unterlassen verantwortlich zu machen, geht nicht mehr an. Ich
-stehe am Anfang meines Ich. Um so gewaltiger die Verantwortung! Wie
-ungeheuer wäre der Verrat erst solch eines Menschen, der sein gewonnenes
-Ich verkaufen würde um des Lebensgenusses willen, angesichts allein nur
-der einen Tatsache, daß jene hunderttausende Gefangenen nur ein einziges
-winziges Feld des millionenfeldigen Schachbrettes der Leiden füllen!
-
-Kindergeschrei im Hofe. Frühlingssonne, die den letzten Rest des
-schmutzigen Altschnees schmolz. Aus der lecken Dachrinne fielen in
-Pendelregelmäßigkeit die schweren Tropfen, blitzten vorbei an Jürgens
-Fenster und platschten in die Pfütze. Im Zimmer nebenan klapperte die
-Maschine. Katharina arbeitete. Sie arbeitete immer.
-
-Auch Jürgen trug in sich das Gefühl, daß in einer Lebensordnung, in der
-fast jeder Genuß des einen nur auf Kosten eines anderen zu gewinnen sei,
-der Sozialist alles, was er an Leben gewönne, nur auf Kosten seiner
-Hingabe an die Idee gewinnen könne.
-
-‚Aber was ist Pflicht? habe ich als Abiturient die Tante gefragt ... Wir
-stecken, zusammen mit den Entrechteten, tief unten in der Spitze, in der
-tiefsten Tiefe eines gewaltig großen Trichters. Oben ist der Trichter
-erdenbreit, oben ist das Leben. Und nur zusammen mit den Entrechteten
-dürfen wir vorwärtsschreiten, nach oben, wo das Leben ist. Das
-Bewußtsein, dieses Bewußtsein ist alles. Weh dem, der seine Pflicht
-verletzt; der die verläßt, die in schweren Leiden und Kämpfen nur in
-qualvoll langgezogener Spirale aufwärts zu gehen vermögen, im
-millionenfältigen Schritt der Massen ... Jetzt weiß ich, was Pflicht
-ist.‘
-
-Wenn Jürgen zurückdachte an den Abend, da er, Kopf in die Linke
-gestützt, diese Gedanken gedacht hatte, schien es ihm, als sei erst eine
-Woche vergangen.
-
-Im Bildungskurs immer die selben Gesichter, die selben Fragen und
-Einwände. Der Verlauf der Versammlungen immer der selbe. Ein
-halbgewonnener Streik. Einer, durch den eine winzige Lohnerhöhung
-erkämpft worden war. Und wieder ein verlorener Streik. Dazwischen eine
-Demonstration. (Der Agitator und einige Genossen waren verhaftet
-worden.) Bildungskurs. Versammlungen. Kämpfe kleiner und kleinster Art.
-Enttäuschungen. Und wieder Bildungskurs. Versammlungen.
-
-Ein Tag wie der andere, und alle grau. Die Zeit flog, entschwand seinem
-Gefühle so schnell, als ob sie stehe, gar nicht vergehe. Es gab kein
-Ereignis, von dem, erinnernd, er hätte sagen können: das erfrischte
-mich. Es war, als ob seither erst ein Tag vergangen wäre, der in
-rasender Schnelligkeit sich selbst immer wieder einhole und so
-Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fresse.
-
-So stand er in der immer gleichen Grauheit des immer gleichen Tages.
-
-Anfangs hatten sich durch seine Verbundenheit mit Katharina in dieser
-Eintönigkeit die großen Stunden aufgetan, Minuten, Blicksekunden von
-solcher Tiefe des Glücks, daß die Erfüllung der ältesten Sehnsucht des
-Menschen – die Überwindung der schicksalhaften Einsamkeit, die jedes
-Lebewesen dieser Erde trennt vom andern – ihm zuteil geworden war. Aber
-die Erinnerung daran, daß er dies Unfaßbare des Daseins einmal geschaut
-hatte, und auch das Wissen, daß dieses Entrücktsein nur solchen
-verstattet sein konnte, deren Verbundenheit vertieft ist durch ihre
-gemeinsame Hingabe an die Idee, war verblaßt.
-
-Jürgen stand am Schreibtisch. Seine Hand legte einen Bleistift hin, nahm
-ihn wieder, legte ihn hin, nahm ihn. ‚Immer das selbe zu tun, das selbe
-zu tun, selbe zu tun und nichts zu erleben, da verflackert die Flamme
-... Jahrelange Hingabe, ausschließlich durch sich selbst genährt! Ist
-sie menschenmöglich?‘
-
-Er hätte schon fort sein müssen, um rechtzeitig in die Redaktion zu
-kommen. „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage ... Wo war
-das? Tatsächlich, ungefähr so leben die. Und wir leben so. Das ist ein
-Leben!“
-
-Wieder tropfte die lecke Dachrinne. Die Proletarierkinder tobten im
-Hofe, wo der graue Haselnußstrauch schon braunviolette Knospen trug.
-Wieder war ein Jahr vorbei.
-
-‚Innere Vertrocknung. Ja, ja, innere Vertrocknung.‘ Er horchte auf das
-Klappern der Maschine. ‚Dieses Mädchen, Menschenkind, Menschheitskind
-mit dem großen, milden, starken Herzen, lebenslänglich hingegeben der
-Idee, ganz und gar!‘
-
-Die Erschütterung ging durch den ganzen Mann durch. „Das Leben, sein
-Leben hinzugeben, auf einmal, ist ein Nichts ... Da drinnen sitzt die
-Größe. Die Größe bei der kleinen Arbeit! Das Kleine, das Tägliche, das
-Treue, täglich, durch Jahre, durch Jahre im Dienste der Idee getan, ist
-die Größe. Der Held ist tot. Der Held gehört vergangenen Jahrhunderten
-an ... Katharina sitzt, wie der Verurteilte, lebenslänglich im
-Gefängnis. Hat sich selbst verurteilt ... Verteile, wie sie, ein Leben
-lang deine Hingabe auf jährlich dreihundertfünfundsechzig Tage – erst
-dann hebe stillen Blickes die Hand in Stirnhöhe, wenn gerufen wird: Wer
-noch vermehrte die Zahl der vielen, auf deren dargebrachtem Leben ich,
-die Menschheit, in die Befreiung schritt? ... Ich weiß, daß dies, daß
-dies die wahre Größe ist“, flüsterte er bebenden Mundes.
-
-Blickte, umstanden von Grauheit, zurück auf die Grauheit der vergangenen
-Jahre, suchenden, tastenden, flehenden Blickes auf die Grauheit
-künftiger Tage. Und hatte, Minuten später, unversehens den verluderten
-Backsteinwürfel verlassen, durch die Hintertür.
-
-Schritt, von Lebensgier gestoßen, hinaus. Dem Walde zu. Hinaus über
-fette Schollenäcker. Atmete und schritt. Ihm entgegen stürzte das Leben.
-
-Birken – butterzartes Hellgrün – säumten den Wald, dessen
-billionenknospiges Geäste violett im Frühlingsdampfe stand.
-
-Der grüne Tunnelberg, strotzend von Brombeer und Schlehdorn, Brennessel,
-Felsmoos, zugeflogenen jungen Birken, wilden Obstbäumen und allerlei
-Grün – ein wild und dicht bewachsener Riesenrücken, in der Sonne
-funkelnd und glitzernd –, war schweißnaß.
-
-Jürgen stand vor dem schwarzen Tunnelloch, blickte hinein, forschend,
-wie zurück in seine Vergangenheit. „Bis hierher rannte ich, damals, als
-die Tante mich angespuckt hatte. Wollte ich mich überfahren lassen? Da
-war ich fünfzehn Jahre alt“, sagte er, ergriffen von Sympathie für den
-Knaben. „Spuckt ihm ins Gesicht, dem Jungen. So ein Mistvieh! ... Nun,
-diese Ungeheuer in mir sind tot.“
-
-Dies war nun schon seine vierte Wanderung in diesem Frühling. Immer war
-er vollgesogen, erfrischt, verdreckt und ausgehungert zurückgekehrt. Und
-Katharina hatte gesagt: „Das solltest du öfters tun.“
-
-Einmal, schon vor Wochen, waren beide zusammen gewandert. Wachstum und
-Grün, noch gebunden, erst als Verheißung über den unabsehbaren
-Buchenwäldern. Schäumende Bäche, nasse Täler, Nebeldämpfe, die wie Rauch
-und Erde rochen, hatten Kälte verbreitet, in der schon die Glut des
-Kommenden prickelnd enthalten gewesen war.
-
-Neugierig, was zu sehen sein werde, waren sie seitwärts aus einem von
-noch kahlem Gesträuche überhangenen Hohlweg emporgestiegen und auf die
-Landstraße gekommen, die, eben und linealgerade, weit, weit hinaus und
-zuletzt wie ein weißer Pfeil in den geheimnisvollen Horizont stieß.
-
-Die Vorstellung: ein Mensch geht aus der Stadt hinaus, geht auf der
-Landstraße hin, läßt alles hinter sich, alle Qualen, alle Pflichten,
-geht immer weiter, weiter auf der Landstraße hin – hatte Jürgen, der
-Jüngling, jahrelang in sich getragen.
-
-Katharina saß auf dem Kilometerstein, Jürgen neben ihr auf dem
-Baumstumpf. Durchwärmte Körper und kalte Wangen, die vor Hitze
-prickelten.
-
-Während sie Brot und Wurst aßen, hing Jürgen jener alten Sehnsucht nach.
-„Wenn wir beide jetzt einfach losgingen, da hinaus, jetzt auf der
-Stelle, und ohne jemals umzukehren, immer weiter, du und ich, fort,
-immer weiter fort!“
-
-„Ohne Zahnbürste, ohne Nachthemd, ohne Ausweispapiere“, hatte Katharina
-lächelnd geantwortet. „Ohne Wohin! Nur zusammen!“
-
-„Ja, du und ich! Ohne Geld! Ohne Rückblick! Nicht mehr dies und das,
-nicht jenes, nicht die Redaktion, der Bildungskurs, nicht Doktorexamen
-und Ausweispapiere – nur der Mensch ist die Instanz. Wir, der Mensch,
-gehen und lassen, endlich! endlich! den Menschen atmen, fühlen, tun,
-erleben. Nur ihn! ... Müde, übermüdet, klopfen wir an ein Bauernhaus und
-bitten um ein Nachtlager.
-
-‚Wer seid ihr?‘
-
-‚Der Mensch!‘
-
-Wir kommen in eine kleine Stadt, mitten hinein in das verfilzte Mein und
-Dein, und sagen: ‚Der Mensch ist da.‘
-
-Ungeheures Erstaunen! Alle geben uns, was wir brauchen. Denn in tiefster
-Heimlichkeit haben alle den Menschen erwartet, an dessen Kommen sie
-schon gar nicht mehr geglaubt hatten.“
-
-„Der Mensch ist aber noch nicht da, Jürgen. Den gibt es noch nicht, kann
-es noch nicht geben. Mensch zu sein, kann dem Einzelnen erst dann
-verstattet sein, wenn es allen verstattet sein wird ... Welch
-furchtbaren Verrat an der Idee wir begehen würden!“
-
-„Du sprichst so ernst, als ob ich wirklich alles rücksichtslos
-abschütteln und auf dieser Landstraße weiterwandern wollte, hinaus in
-das Leben ... Würdest du darunter leiden?“
-
-Wie seltsam tief ergriffen und dennoch heiter sie mich da angeblickt
-hat, erinnerte Jürgen sich und glaubte Katharinas Worte wieder zu
-vernehmen, die gesagt hatte:
-
-„Muß denn nicht gerade der Mensch, der, sein Ich um jeden Preis zu
-gewinnen, jeder Pflicht entläuft, indem er, um des Lebensgenusses
-willen, rücksichtslos sein eigenes Ich zur obersten Instanz erhebt, sein
-Ich ganz und gar verlieren? Muß nicht gerade in dem Menschen, der
-ausschließlich seinen Wünschen und Begierden folgt, der Mensch ganz und
-gar untergehen? Und wird der Mensch und das in diesem Zeitalter
-verstattete Maß an Ich nicht erhalten bleiben nur in dem, der sie
-erfüllt: die Pflicht?“
-
-Langsam hob er den Kopf, tat, wie damals, noch einen Blick in die
-wunderbare Ferne. Wandte sich wie gezogen um, starrte in das schwarze
-Tunnelloch: „Das ist die Pflicht ... Wenn ich mich nicht schon
-entschieden hätte, müßte ich mich doch wieder, doch wieder ... ich müßte
-mich doch wieder für die Pflicht entscheiden.“
-
-„Doch wieder! Doch wieder!“ Trotzig wiederholte er im Schrittakt diese
-Worte. Während der letzten Jahre war Jürgen seiner Gedanken und Gefühle
-so sicher gewesen, daß er sie auch jetzt nicht kontrollierte.
-
-Vor ihm lag sanft gewellt die Hochebene: Schollenäcker, Frühsaatflächen,
-weit hingebreitet, braun und grün. In der Nähe erklang Frauenlachen, dem
-eine baßtiefe Lachsalve folgte: Auf dem nächstgelegenen Hügel saßen die
-Fabrikantensöhne und -töchter beim Picknick. Am Fuße des Hügels standen
-sechs Kraftwagen, darunter der postgelbe des Bankiers Wagner.
-
-Hand in Hand sprangen zwei weißgekleidete Mädchen herab, die in Jürgen
-den Bräutigam der einen, der zu Fuß hatte nachkommen wollen, vermuteten.
-
-Enttäuschung, Lächeln und ein kurzer Schmerzensschrei in einem. Gestützt
-auf ihre Freundin und auf Jürgen, hinkte die Braut, die sich den Fuß
-übertreten hatte, zurück.
-
-‚Und wenn ich ganz abgerissen wäre, würde mir das auch nichts
-ausmachen.‘ Die ausgefranst gewesene letzte Hose seines letzten Anzuges
-war zu einer kurzen Hose zurechtgeschneidert und von den Abfällen war
-ein Hinterteil frisch aufgesetzt worden, in Breechesschwung.
-
-Adolf Sinsheimer kam lustig entgegen, in der vorgestreckten Hand eine
-gebratene Hühnerkeule für den Erwarteten. Sein Mund öffnete sich.
-
-„Tut schon nicht mehr weh“, sagte die Braut beruhigend.
-
-Aber die vorgestreckte Hand ließ die Hühnerkeule senkrecht fallen. „Das
-ist Jürgen Kolbenreiher; und hier: Elisabeth Wagner, meine Braut“,
-stellte er, während er den Knochen wieder aufhob, das andere Mädchen
-vor, das auf dem Herwege Jürgen in keiner Weise beachtet hatte und nun,
-zu plötzlich überrascht, in unverhohlener Spannung ihn ansah.
-
-Jürgen war für Elisabeth Wagner so lange vollkommen uninteressant
-gewesen, bis sie erfahren hatte, daß ihre Mitschülerin Katharina ihn
-liebe. Seitdem hielt sie Jürgen, da Katharina schon im Institut für ein
-unzugängliches, wählerisches Mädchen gehalten worden war, für einen ganz
-besonders interessanten, bedeutenden Menschen, dessen Bekanntschaft
-machen zu dürfen sie seitdem immer wieder Drohungen, Spott und alle
-Mittel ihres überlegenen Verstandes dem Bräutigam gegenüber angewandt
-hatte.
-
-Sofort begann sie von Katharina zu sprechen, die zwar zwei Jahre älter,
-aber im selben Institut mit ihr gewesen sei. Und auch als sie bewundernd
-ausrief, wie Katharina es nur ertragen könne, im Gefängnis zu sitzen,
-fühlte Jürgen, daß die Bewunderung ihm galt.
-
-Erst viel später gestand er sich ein, daß er, nur um Elisabeths
-Interesse noch zu steigern, versucht hatte, sich gleich wieder zu
-verabschieden.
-
-Mit leisem Schmollen, das ihrem kühlen Wesen fremd war, bat sie, er möge
-doch mit zur Gesellschaft kommen. „Adolf, bitte du ihn!“ Sie hielt
-Jürgens Hand fest.
-
-„Na, so komm doch mit ... Aber wenn du nicht willst ...“ Jetzt erst
-bemerkte Adolf, daß er den staubigen Hühnerfuß wieder aufgehoben hatte,
-und schleuderte ihn seitwärts ins Feld, blickte dabei wütend seine Braut
-an.
-
-Das angenehme Machtgefühl ließ Jürgen mitgehen. Die drei setzten sich,
-etwas abgesondert von den andern, auf die Wolldecke.
-
-„Gebratenes Huhn und Rotwein, im Freien genossen – darüber hinaus gibt
-es nichts.“ Die andere Braut sagte dem Genießer, wer der Gast sei, dann
-wurde es auch auf dieser Wolldecke stiller.
-
-Die fünfundzwanzig gepflegten, gesunden Menschen gehörten den reichsten
-Familien der Stadt, die Männer fast alle Jürgens Generation an:
-Fabrikantensöhne, die in den Geschäften der Väter arbeiteten oder sie
-schon selbständig führten, wie Adolf die Knopffabrik und das
-angegliederte Knopfexporthaus.
-
-„Tüchtige Kerle! Daß der dort sich schon einen Namen in der Wissenschaft
-gemacht hat, weißt du ja. Unser Abiturientenjahrgang kann sich sehen
-lassen. Einer ist sogar schon Reichstagsabgeordneter. Der war ja immer
-einer der besten Schüler.“
-
-Elisabeth begann von Literatur zu sprechen, lobte ein jüngst
-erschienenes Buch. Jürgen, ausgehungert, aß schweigend und viel.
-
-Streitsüchtig nannte Adolf eine Anzahl so schlechter Bücher, die er für
-weit besser halte, daß Elisabeth lachen mußte. Und zu Jürgen, mit einem
-Blick des Einverständnisses: „Davon versteht er gar nichts.“
-
-Die sechs Kraftwagen rollten langsam hügelaufwärts. Nachdem Elisabeth
-erzählt hatte, daß sie erst vor ein paar Tagen wieder Jürgens Tante
-besucht habe, die bedenklich krank sei, sprach Adolf sehr orientiert von
-der Wirtschaftslage des Landes. „Die ganze Dichterei ist mir, offen
-gestanden, natürlich recht gleichgültig, und was du treibst – Arbeiter
-verhetzen, Bomben fabrizieren, wie? – ist gar der reine Blödsinn ...
-Sieh dir an, was unsere Industrie auf dem Weltmarkte gilt, und werde
-vernünftig! Das ist der Rat eines Menschen, der kein Jüngling mehr ist,
-sondern die Verantwortung für das Wohl und Wehe von sechshundert
-Angestellten und Arbeitern ganz allein zu tragen hat. Meine Freunde
-hier, sieh dir sie an – lauter tüchtige Menschen! Der eine im Bankfach,
-andere in der Industrie oder in der Wissenschaft, in der Politik,
-Menschen, die sich und ihr Vaterland vorwärtsbringen ... Und Leo Seidel
-– erinnerst du dich noch an den Sohn des Briefträgers? Die
-Weltgeschichte, weißt du! Der ist heute, nachdem er eine Zeitlang
-Impresario und weiß der Teufel was alles gewesen war, Bankier in Berlin.
-Sitzt im Aufsichtsrat von einem Dutzend großer Aktiengesellschaften.
-Eine tolle Karriere! In ein paar Jahren kann er durch das Geben oder
-Verweigern seiner Unterschrift die Börse beeinflussen. Würde mich nicht
-wundern ... Wirklich, solltest meinen Rat befolgen und die Augen auch
-aufmachen.“
-
-Jürgen lächelte das Lächeln eines Menschen, der seiner Sache sicher ist,
-diesen Rat nicht nötig hat, und gab keine Antwort, reichte beiden die
-Hand, schlug Elisabeths Bitte, im Wagen mit zurückzufahren, ab und
-schritt, nach einer knappen Verbeugung zur Gesellschaft hin, waldwärts.
-
-‚Wie schloß Adolf seinen Hymnus auf sich und auf die Stellung unserer
-Industrie in der Welt?: Nur wer auf irgendeinem Gebiete etwas leistet,
-hat Macht. Und nur dem Mächtigen gehört das Leben.‘
-
-‚Das stimmt. Aber wer sind die Mächtigen und was für Eigenschaften
-müssen sie besitzen, um mächtig werden zu können? ... Es gibt eine
-bestimmte große Anzahl solcher, die schon oben geboren werden und sich
-eben weiter vorwärtsbringen, wie geölt; eine kleine Anzahl Leo Seidels,
-die nicht nur über Verstand, Begabung und eiserne Gesundheit, sondern
-auch über eine ganz besonders große Portion Brutalität,
-Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit verfügen müssen, um durch die
-erdenbreite Eisenplatte, die auf den Rücken der Millionen lastet, durch-
-und hinaufkommen zu können. Außerdem gibt es noch einige Jürgens, die
-oben sein könnten, aber heruntergehen und nur auf der Leiter des Verrats
-an der Idee wieder hinaufzusteigen vermöchten ... So liegt die ganze
-Drahtleitung.‘
-
-Innerlich grau geworden, starrte er den sechs Kraftwagen nach, die,
-schon in weiter Ferne, eben um den Fuß eines bewaldeten Hügels
-herumsausten, auf der Höhe wieder erschienen und, ein sich
-schlängelnder, dünner, schwarzer Strich, im Blau verschwanden.
-
-‚Im Auto würde man aus der tiefsten Tiefe des Trichters, in dem das
-Proletariat kämpft und krepiert, sehr schnell heraus und nach oben
-kommen, wo das Leben ist ... Ja, ich brauchte sogar nur einen einzigen
-Gedanken zu denken, den Gedanken: Jeder für sich! Oder: Vervollkommnung
-der Persönlichkeit! Und schon würde ich oben sein.‘
-
-Erfüllt von Widerwillen gegen alles, gegen das Leben und gegen sein
-Leben, gegen die Ausflügler und gegen den Bildungskurs, den er heute
-abend noch abzuhalten hatte, langte er vor der Haustür an. ‚Die Jugend
-scheint bei mir vorüber zu sein. Die Jugend! Man wird älter und alt!‘ Er
-nahm dem Postboten einen Brief ab. Die ungelenke Handschrift war ihm
-nicht bekannt: Phinchen flehte, er solle kommen, die Tante sei noch
-immer sehr krank. Und weshalb er auf den letzten Brief nicht geantwortet
-habe.
-
-„Jetzt wirst du großen Hunger haben.“
-
-„Nicht einmal! Ich habe ja ... Ich habe eigentlich wenig Appetit ...
-Hier, lies den Brief!“
-
-„Fühlst du dich nicht wohl? Ich meine, weil du nicht hungrig bist.“
-
-„Doch, ich bin ganz gesund ... Aber, was meinst du, soll ich da tun?“
-
-„Weshalb solltest du sie nicht besuchen!“
-
-Während des ganzen eineinhalbstündigen Vertrages, den Jürgen im
-Bildungskurse hielt, fühlte er sich gepeinigt von dem Bewußtsein, seine
-Begegnung mit den Ausflüglern Katharina verschwiegen zu haben. Erst
-gegen Morgen, nach einer in unruhigem Halbschlafe verbrachten Nacht,
-schlief Jürgen ein.
-
-Und stand um zwölf Uhr vor der Villa, die er vier Jahre nicht mehr
-gesehen hatte. Die Tante saß, in Decken gehüllt, im Lehnstuhl. Phinchens
-Gesicht, glücklich lächelnd, war tränennaß geworden beim Erblicken
-Jürgens.
-
-Es sei, wie immer, die Brust, antwortete die Tante. Sie trug, wie immer,
-ihr schwarzseidenes Spitzenkopftuch, sah ganz unverändert aus. Bei dem
-linken Ohre beginnend, über Schläfe und Stirn, bis zum rechten Ohr,
-lagen, platt angedrückt wie immer, die mit der Brennschere sorgfältig
-gedrehten schwarzen zwölf Fragezeichen.
-
-Erst in diesem Zimmer, wo der Fußboden so rein war wie der Vorhang und
-so funkelte wie die Fensterscheiben und die polierten Möbel, fühlte
-Jürgen, sitzend an dem einladend gedeckten Tisch, wie heruntergekommen
-er in seinem letzten Anzuge aussehen müsse.
-
-Die Tante sprach nicht, fragte nicht. Und bemerkte alles. War entsetzt
-über Jürgens Aussehen. ‚Seine Manschetten sind ausgefranst, die
-Hemdbrust und der Kragen ungewaschen. Diese Stiefel! Die Absätze sind
-schiefgetreten bis zur Kappe.‘
-
-Und ohne Überleitung, als ob sie, während Jürgen aß, an nichts anderes
-gedacht hätte: „Ich würde ... wir würden noch einen zweiten Stock
-aufsetzen lassen. Ihr würdet oben wohnen. Die Grundmauern der Villa sind
-stark.“
-
-„Wer soll oben wohnen.“
-
-„Wenn du heiraten würdest.“
-
-Jürgen schüttelte den Kopf. ‚Es ist doch zu toll!‘ Antwortete nicht, aß
-weiter. Er saß mit dem Rücken zur Tante. Der Lehnstuhl stand am Fenster
-in der Sonne.
-
-„Und wenn ich sterbe, könnt ihr unten Wohnzimmer, Eßzimmer und Salon
-haben, im Stock Empfangsräume, und oben schlafen ... Phinchen würde ja
-auch bei euch sein ... Und der Garten. Der schöne Garten!“
-
-Phinchen versuchte, das Weinen zu verschlucken, heulte los und rannte
-mit der vollen Schüssel wieder hinaus. Es war still. Die Tante blickte
-Jürgens Rücken an, sah durchs Fenster auf den blühenden Magnolienbaum,
-wieder Jürgens Rücken an. „Aber wissen müßte ich, wem ich mein sauer
-erworbenes Vermögen hinterlasse. Denn so schwer es mir auch fallen würde
-...“
-
-Er legte die Gabel, mit der er ein Stück Fleisch von der Platte hatte
-nehmen wollen, wieder zurück, wandte sich langsam um. „Du müßtest mich
-enterben, was?“
-
-„So furchtbar schwer mir das auch fallen würde!“
-
-„Und du glaubst, daß ich mich ... Glaubst du denn wirklich, daß ich mich
-mit so etwas bestechen lasse?“
-
-Die Tante strich sich über die Augen, legte die Hand an das Kinn, sah
-weg. Und Jürgen drehte sich wieder um zum Tisch. So stehts denn doch
-noch nicht mit mir, dachte er. Und, plötzlich im Tiefsten betroffen:
-‚Was war das? Was war das? Was?‘
-
-„Ich sage dir nur, was mein Herz mir eingibt.“ Die Tante redete weiter.
-Er hörte nichts mehr. ‚Was war das? ... Wie also stehts denn mit mir?‘
-
-So sitzt sie immer, wenn sie einem Plane nachhängt, dachte er auf der
-Straße. Er wußte nicht, wann und wie er die Villa verlassen hatte. ‚Wie
-ging ich denn weg? ... Was war das? Wie also stehts mit mir? ...
-Streicht sich mit der Hand erst über die Augen und dann bleiben ihre
-Fingerspitzen am Kinn haften. So macht sie es immer. Da sitzt dieses
-winzige, gelbgesichtige Persönchen im Lehnsessel und macht Pläne: über
-das morgige Mittagessen, oder ob sie ihr Vermögen, ihr sauer erworbenes,
-vergrößern kann, wenn sie dieses oder jenes Wertpapier kauft oder
-verkauft, oder über den Tag der nächsten großen Wäsche, oder über mein
-zukünftiges Leben. Wenn sie Schlitzaugen hätte, würde sie ganz so
-aussehen wie eine alte Chinesin.‘
-
-Plötzlich blieb er stehen. ‚Alles das stimmt. Ist aber ganz unwichtig;
-wichtig ist, zu wissen, was eigentlich mit mir los ist ... Was will ich
-denn?‘ Die weiße, linealgerade Landstraße schoß wie ein Pfeil in den
-geheimnisvollen Horizont. ‚Das ist Unsinn. Das Fortlaufen ist Unsinn ...
-Aber das Gefühl, das hinter diesem Wunsche steht, ist kein Unsinn.
-Dieses Gefühl bin ... ich, ist der Mensch in mir, so wie er ist ... Wie
-er offenbar nun einmal ist!‘
-
-Und dann geschah es, daß Jürgens Körper selbsttätig auf die Bank in der
-Anlage zuschritt, sich setzte. Und nun: Hände weg von allem! Alle
-Muskeln entspannt! Alles Denken und jede Selbstbeobachtung aufgegeben!
-Den Willen ausgeschaltet! Weg mit dem Bewußtsein! Der Mensch, er allein!
-soll sagen, was er will, dachte Jürgen noch und schloß, bereit, zur
-Kenntnis zu nehmen, was auch kommen möge, ganz entspannten Wesens die
-Lider.
-
-Anfangs kam nichts. Knapp vor den Augen farbige Pünktchen im Grau. Er
-saß in der Mitte seines Lebens, in dem nichts war. Saß so still, so
-leblos, daß ein Vogel anflog, auf der Banklehne zwitschernd hüpfte,
-wieder abflog.
-
-Menschen und Gesichtsausdrücke, Menschengruppen, eine Flußlandschaft:
-Lebensbilder, die vor langer Zeit Jürgens Gefühl getroffen hatten und
-deren Sinn ihm unerkennbar blieb, tauchten auf, schemenhaft, verblaßt,
-und versanken wieder. „Das ist nebensächlich“, flüsterte er einige Male.
-
-Ferne Stadtgeräusche, kaum hörbar von Hupentönen durchstoßen: Das Leben
-der Gegenwart, die Arbeit, die ihren Gang ging, laut und leise. Bei der
-Bank war es still.
-
-Ein schwarzgekleideter Herr dreht die Schulter halb rückwärts, grüßt,
-etwas hochmütig, nach der Seite hin. Viele Herren und dekolletierte
-Damen bewegen sich unter den lichtblitzenden Riesenkronleuchtern im
-großen Saale. Alle grüßen den Schwarzgekleideten. Blicke, achtungsvolle,
-neidische, prüfende, folgen ihm.
-
-‚Der Schulkamerad, der sich in der Wissenschaft schon einen Namen
-gemacht hat ... Mag er!‘
-
-Sie essen nicht, trinken nicht; sie gehen umher, blicken dem
-Schwarzgekleideten nach, sprechen über ihn und warten. ‚Nein, Musik ist
-keine da.‘
-
-Jürgen, in knappsitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in
-Schultern und Brust, beherrschtes, natürliches, berechtigtes
-Selbstbewußtsein in Blick und Worten, tritt ein, spricht leicht und
-freundlich mit seinen Partnern, die schnell wechseln, sich unauffällig
-an ihn heranmachen. Keiner hat ein eigenes Gesicht. Der auf der
-Anlagenbank sitzende Jürgen sieht und fühlt nur sich, nur den seines
-Geistes und seiner Kraft und Macht bewußten Frackherrn-Jürgen, der
-höflich zuhört, knapp und freundlich antwortet.
-
-Der andere Schwarzgekleidete schrumpft zusammen, drückt sich unbeachtet
-an der Seite umher. Der Mittelpunkt ist Jürgen. Denjenigen, die sich an
-ihn nicht heranwagen, geht er selbst entgegen, begrüßt sie
-liebenswürdig, nicht herablassend, nicht hochmütig. ‚Wer eine Leistung
-vollbracht hat, wer etwas leistet, ist nicht hochmütig, hat es ja auch
-nicht nötig, hochmütig zu sein.‘
-
-Alle sprechen von ihm. Aller Blicke sind auf ihn gerichtet. Jürgen ist
-so sehr Mittelpunkt, daß er sich bemüht, weniger Mittelpunkt zu sein,
-das Interesse etwas auf den anderen Schwarzgekleideten abzulenken, wofür
-er verhaltenes Lächeln der Bewunderung erntet. Sein Wille, sein Geist
-wirken in allen, bestimmen Gedanken, Gefühle und Mienen aller
-Anwesenden.
-
-Jürgen lehnte nicht mehr, entspannt, Augen geschlossen, in der Bankecke;
-gleichzeitig mit dem Eintritt des Frackherrn-Jürgen in den Saal hatte er
-sich aufgerichtet, war mit seinen Gefühlen in den Eingetretenen
-hineingeschlüpft. Seine Schultern und seine Hände, sein Gesicht hatten
-alle Bewegungen und das Mienenspiel des andern mitgemacht.
-
-Er saß, alle Muskeln gespannt, vorgebeugt, starrte auf den grünen
-Bretterzaun, in den er das Bild seines Wunsches hineingesehen hatte. Und
-als er plötzlich nur noch den grünen Bretterzaun sah, strich seine Hand
-über die Augen und blieb, wie die der Tante, am Kinn haften.
-
-‚Das also wünsche ich ... wünscht er: der Mensch in mir.‘
-
-Langsam lehnte er sich wieder zurück. ‚Aber welcher Art ist denn seine
-Leistung? Was hat er ... was habe ich ... also, ich meine, was möchte
-ich denn eigentlich leisten? ... Ist ja ganz gleich, was einer leistet,
-wenn er nur überhaupt auf irgendeinem Gebiete, ganz gleich welchem,
-etwas leistet und Macht und Einfluß gewinnt.‘
-
-Eine Stunde später saß er untätig an seinem Küchentisch. Der Artikel,
-den er zu schreiben hatte, langweilte ihn. ‚Immer wieder der selbe
-Artikel!‘ Seine Hand legte den Bleistift hin, wurde zur Stütze für den
-Kopf. Der Frackherr-Jürgen tritt in den großen Saal. Das Bild verschwand
-sofort wieder.
-
-Denn im Nebenzimmer begann das Klappern der Maschine. Der Haß gegen das
-Klappern sickerte in jeden Herzschlag hinein. Im besonnten Hofe war es
-vollkommen still. Die Proletarierkinder trieben sich im Walde umher. Von
-den alten, faulenden Küchenabfällen stiegen Dämpfe auf. Das Fenster
-stand offen.
-
-Plötzlich vernahm der reglos Sitzende das feine Klingeln. Horchte.
-Blickte. Vernahm es wieder. Maßlose Wut stieg in ihm auf. Mit äußerster
-Vorsicht griff er nach dem Schotterstein, der ihm als Papierbeschwerer
-diente, schlich auf den Zehenspitzen unhörbar zum Fenster, stand, die
-Hand wurfbereit erhoben.
-
-Da hörte die Maschine auf zu klappern. Katharina trat ein. „Wollen wir
-... Was machst du denn da?“
-
-„So sei doch still!“ brüllte er ihr ins Gesicht, drehte sich wieder um
-und schleuderte voller Wut den Schotterstein in die Richtung, wo er die
-Ratte vermutete. „Das verdammte Vieh! Dieses unerträgliche Geklingel!“
-
-„Das Klingeln war dir doch immer so angenehm in den Nächten, wenn du
-schriebst, und jetzt, auf einmal ...“
-
-„Ja, jetzt, auf einmal! Siehst du, jetzt, auf einmal!“
-
-„Ich wollte dich eben fragen, ob wir heute, weil der Tag so schön ist –
-einen Spaziergang in den Park, hatte ich gedacht. Aber wenn du so bist
-... So warst du noch nie zu mir ... Dann tippe ich lieber weiter.“ Sie
-schritt zur Verbindungstür. Er, vornüberstürzend, ihr nach.
-
-Später saßen sie, versöhnt, im öffentlichen Parke, in dem sie vor elf
-Jahren das erstemal miteinander gesprochen hatten, von Duft und Farben,
-Blumen, spielenden Kindern, Himmelsbläue und Gouvernanten umgeben, wie
-heute.
-
-„Seither ist jene Generation groß geworden und schon in die Privilegien
-der damaligen Väter nachgerückt“, sagte Katharina. „Und die Last liegt
-heute wie damals auf den andern.“
-
-„Ja, wo sind die Erfolge der Arbeiterschaft! Nichts! Der Sozialismus
-schwebt nach wie vor in blauer Ferne.“
-
-„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete ruhigen Tones Katharina.
-
-Auf dem Reitwege, nur durch eine brusthohe Buchshecke von dem Parke
-getrennt, galoppierte eine Gruppe Damen und Herren vorüber. Die beiden
-saßen reglos und schwiegen. Auf der breiten Fahrstraße rollten
-Equipagen, überholt von einzelnen Reitern.
-
-„Es ist am besten, wir kriechen wieder in unser Loch zurück“, sagte
-Jürgen, dessen Wesen zweigeteilt war wie eine Schleudergabel.
-
-Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich sich selbst. Das lange,
-postgelbe Automobil des Bankiers Wagner rollte vorüber. Die zwei Damen,
-in die Polster zurückgelehnt, machten eine Spazierfahrt durch den Duft.
-Eine dunkle Riesenfaust preßte Jürgens Herz zusammen, als er Elisabeth
-erkannte, die sich umwandte und prüfenden Blickes die beiden ansah. Sie
-war eben bei der Tante zu Besuch gewesen.
-
-„Das ist Elisabeth Wagner“, sagte Katharina. „Elisabeth war im Institut
-eines der klügsten Mädchen gewesen ... Gestern wurde erzählt, das
-Bankhaus Wagner stehe vor dem Zusammenbruch. Ich habe es von den
-Genossen in der Hommesschen Papierfabrik erfahren. Der Betrieb würde im
-Falle eines Zusammenbruches geschlossen werden müssen. Elisabeths
-Bräutigam hat die Verlobung gelöst. Ein konsequenter Herr!“
-
-Schwuppdich, dachte Jürgen.
-
-„Aber hast du das andere Mädchen gesehen. Sie ist wunderschön. Eine
-Jugendfreundin von mir. Der Garten ihrer Eltern stößt an den Garten
-meiner Eltern. Von ihr kann ich dir eine traurige Geschichte erzählen.
-Die traurigste Geschichte, die ich kenne!“
-
-„Nein, nein, nicht umkehren!“ bat Katharinas schöne Jugendfreundin und
-legte scheuen Blickes ihre Hand auf Elisabeths Hand. Aber der Chauffeur
-hatte die Schleife schon genommen. Das Auto rollte sehr langsam auf die
-beiden zu.
-
-„Kennst du sie denn? Elisabeth hat dir zugenickt.“
-
-„Wieso denn mir!“ sagte Jürgen. „Nun, und die traurige Geschichte von
-der andern?“
-
-Da wandte auch diese sich um und blickte, wie zurück in ihre Kindheit,
-gefühlsschwer Katharina an, die erzählte:
-
-„Bis zu unserem siebzehnten Jahre waren wir immer zusammen, jeden Tag
-viele Stunden. Wir haben einander das Versprechen gegeben, uns ganz
-aufzuopfern, auch nie einem Manne anzugehören. Wir wollten die Welt
-erlösen. Um jeden Preis!“
-
-„Das wollen sehr viele in ihrer Jugend.“
-
-„Ja, und später lächeln sie darüber ... Wenn sie nur über die Art, wie
-sie helfen oder die Welt ändern wollten, lächeln würden, hätten sie ja
-ganz recht; aber sie lächeln, weil sie es überhaupt tun wollten. Sie
-lächeln nicht nur über den Inhalt ihres Idealismus; sie lächeln über den
-Idealismus ihrer Jugend überhaupt.“
-
-Und dann sagte Katharina, rätselhaft tief bewegt, den Satz vor sich hin:
-„Viele Menschen tragen als Kinder in den Augen ein Ideal, das erstrebt
-zu haben sie später lächeln macht; und doch wiegt vielleicht allein die
-Tatsache, daß sie dieses Ideal einmal wenigstens erstrebt hatten,
-schwerer als alle Ziele, die sie später tatsächlich erreichten.“
-
-„Wie du das sagst! Es wird einem kalt. Wie du das sagst!“
-
-„Dieses Mädchen ... du machst dir keinen Begriff, welch leidensfähiges,
-mildes Herz sie hatte. Und jetzt – wie lebt sie! Sie ist mit dem
-Oberstaatsanwalt verlobt.“
-
-„Ist das die Geschichte? Ist sie das?“
-
-„Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.“ Und dann erzählte sie
-doch: Die Mutter ihrer Jugendfreundin, eine sehr gebildete, reiche Frau,
-habe ihre Tochter ganz bewußt zur Wohltätigkeit erzogen. Immer habe das
-Kind den Armen die Gaben reichen müssen.
-
-„Und da geschah es einmal – und dies ist die Geschichte –, daß das Kind
-von seiner Mutter in den Garten geschickt wurde, einer alten
-Bittgängerin ein abgetragenes Kleidungsstück zu bringen. Da bricht das
-Kind, wie es unter dem Blicke der Alten steht, vor Trauer und Scham, daß
-es geben und die Weißhaarige von ihm empfangen muß, in Schluchzen aus,
-läßt das Geschenk fallen, läuft weinend zurück, kann und kann nicht
-beruhigt werden, schluchzt sich in eine Krankheit hinein ... Von dieser
-Zeit an hat es sich nie mehr zu solchen Wohltätigkeitshandlungen
-brauchen lassen. Denk an, da war sie sechs Jahre alt. Ihr Herz wußte
-schon alles ... Und jetzt? Wie furchtbar, wie tragisch ist das Leben,
-daß selbst solch ein Wesen so erkranken, solch ein Herz so verhärten
-konnte.“
-
-Eine ungeheuere Erregung, die er mühsam zu unterdrücken versuchte, hielt
-Jürgen gepackt. Nur um etwas zu sagen, fragte er: „Und wenn ihr einander
-begegnet, grüßt ihr euch nicht?“
-
-„Wie sollten wir! Jeder lebt auf einem anderen Planeten.“
-
-Lebt auf einem anderen Planeten, flüsterte Jürgen innerlich. In weniger
-als einer Sekunde war der Saal mit dem Frackherrn-Jürgen aufgetaucht und
-wieder verschwunden gewesen.
-
-Und plötzlich glaubte Jürgen, seine Schädeldecke hebe sich ab vor
-Grauen. Denn er wußte nicht, ob er selbst oder ob ein anderer in ihm
-gedacht, gefühlt und gesagt hatte: ‚Wie entsetzlich! Dann ist er
-unüberbrückbar auch von Katharina getrennt! ... Wer hat das gedacht?‘
-fragte er. ‚Das habe nicht ich gedacht.‘
-
-„Es ist im Grunde die Geschichte aller in ihrer Jugend idealistisch
-gewesenen Menschen“, hörte er Katharina sagen. „Du folgst deinen
-Wünschen und Begierden gegen das bessere Wissen deines Herzens, betrügst
-dein Bewußtsein, dein Ich, indem du nach Besitz, Macht, Erfolg, Genuß
-und Achtung strebst, dann kann es geschehen, daß du viel erreichst oder
-auch zugrunde gehst, in bürgerlicher Schande oder in bürgerlichen hohen
-Ehren ertrinkst, oder vielleicht in der Familienbequemlichkeit und einer
-– mittleren Stellung untergehst ...“
-
-‚Das nun sollte mir nicht passieren.‘
-
-„... daß du Automobile, betreßte Diener, eine Villa, verschönt durch
-edle Kunstwerke und Bücher, die du nicht nur hast sondern auch
-verstehst, daß du Fabriken, Ruhm, Achtung, Frauen, einen Kassenschrank
-voll Aktien und Gewalt über Tausende von Menschen eroberst ...“
-
-‚Das will er, der Mensch, der Frackherr in mir.‘
-
-„... aber in jedem Falle mußt du – und dies ist die Tragik des Menschen
-unseres Zeitalters – das Bewußtsein von der Wirklichkeit, wie sie sein
-könnte und wie sie ist, mußt du dein Bewußtsein, die Leidensfähigkeit
-und Güte deines Kindheitherzens und damit dein Ich, deinen Idealismus
-verlieren, der in unserem Zeitalter nur in dem hingabebereiten Kampfe um
-den Sozialismus seinen Inhalt haben kann.“
-
-Und das weiß mein Bewußtsein, dachte Jürgen. Und hatte plötzlich gesagt:
-„Dagegen kann ich nicht einmal etwas einwenden.“
-
-Zuerst schwieg Katharina. Dann wich sie mit dem Oberkörper seitwärts,
-sah Jürgen betroffen an: „Weshalb solltest denn du dagegen etwas
-einwenden?“
-
-Zum zweitenmal empfand Jürgen in seinem Herzen Zorn gegen Katharina und
-schwieg.
-
-Erst auf dem Heimwege – die freistehende Mietskaserne kam schon in
-Sicht: „Die Tante hat gesagt, es hänge noch ein ganz guter Anzug von mir
-im Schrank.“
-
-„Den solltest du dir holen, wenn sie ihn dir gibt ... Ich habe damals,
-als ich wegging von zuhause, fast nichts mitgenommen. Aber wenn ich die
-Sachen jetzt holen wollte, die würden mir nichts geben.“
-
-„Ach nein, so ist sie nicht. Enterben, vielleicht ja; aber sonst ...“
-
-Einige Tage sprachen sie selten miteinander; Jürgen hatte in Gegenwart
-Katharinas das Gefühl, auf Luft zu gehen, und wich ihr aus, sooft er
-konnte.
-
-Eines Abends, als er diesen Zustand qualvoller Spannung nicht länger
-mehr ertragen konnte, sagte er: „Wer bis zu seinem dreißigsten Jahre
-noch nichts geleistet und erreicht hat, wird auch später nichts mehr
-erreichen.“ Er stand am Schreibtisch, Katharina neben ihm, mit dem
-Rücken gegen das Fenster. Sie antwortete nicht.
-
-„So wird man schließlich vierzig. Und was kann dann noch viel
-Erfreuliches kommen! Dann ist das Leben in der Hauptsache vorüber ...
-Natürlich, wer ganz bedingungslos glaubt an den Sozialismus ... Wer
-einfach glaubt!“
-
-„Was willst du denn erreichen, Jürgen?“
-
-„Das ist es ja eben. Ich bin kein Jüngling mehr. Man wird doch immer
-älter – und älter ... Eh man sich versieht, ist das Leben vorbei, nicht
-wahr?“
-
-Katharina antwortete nicht mehr. Sie ging langsam auf die Verbindungstür
-zu, ging durch, schloß die Tür. Sie stand in ihrem Zimmer. Sie legte die
-Hand aufs Herz. Sie wußte alles.
-
-Jürgen sah, durch die verschlossene Tür durch, Katharina stehen, so wie
-sie stand. Preßte die Hand auf das rasend klopfende Herz. Zuckte auf die
-Tür zu. Wollte nachstürzen.
-
-Zuckte zwischen der Verbindungstür und der Ausgangstür wie ein von
-Verfolgern eingekreister Flüchtling im Zickzack hin und her. Und stürzte
-mit einem innerlichen, furchtbaren Todesschrei aus dem Hause.
-
-Rannte aus der Stadt hinaus, querfeldein, über Schollenäcker zum
-Bahndamm, zwischen den Schienen weiter, bis vor das schwarze Tunnelloch.
-
-Diesmal blieb er nicht stehen und kehrte er nicht um. „Fort! Fort!
-Fort!“ befahl der Herzschlag, jagte ihn den Schienen nach, hinein in die
-Finsternis.
-
-Er stolperte. Seine Hände streiften den Boden. Er empfand darüber
-Befriedigung. Raste weiter, stieß mit dem Kopf gegen die Mauer. Und
-blieb keuchend stehen. In undurchdringliche Nacht gestellt, erblickte er
-plötzlich seine Genossen, klein und weiß. Katharina blickt verächtlich
-ihn an, deutet mit dem Finger auf ihn.
-
-„Fort! Fort!“ schrie der Herzschlag. Vor sich, weit in der Ferne, sah
-Jürgen ein rotes Tunnellämpchen. Nach zwei Sprüngen war er schon daran
-vorbei, stolperte, stürzte. Und blieb hocken, dicht neben dem Lämpchen,
-das jetzt weit hinter ihm in der Finsternis schwebte.
-
-Glotzend hob er den Kopf, sah die schneeweißen, starren Gesichter seiner
-Genossen. Duckte den Kopf zwischen die Schultern, schloß die Augen. Sah
-die schneeweiße Gruppe der Genossen. Katharina dreht sich kalt und
-gleichgültig weg.
-
-‚Wie sie mich verachtet!‘
-
-Die Schienen im Tunnel begannen zu lispeln.
-
-Gierig suchte Jürgen nach jemand, der ihn nicht verachtete. Sitzt sofort
-bei der Gesellschaft auf dem besonnten Hügel, neben Adolf und Elisabeth.
-Die Tante und der Vater treten hinter dem Busch vor, blicken ihn
-achtungsvoll an.
-
-Plötzlich steht Phinchen vor Jürgen im Tunnel, große Liebe im Gesicht.
-
-‚Phinchen, bin ich ein Verräter? Ja oder nein? Wer hat recht: Katharina
-oder ich? Sage mir nur ruhig die Wahrheit. Ich halte alles aus.‘
-
-‚Sie haben recht, lieber Herr Jürgen. Sind ein unendlich guter Mensch.
-Ich weiß, wie sehr Sie schon als Kind und Jüngling gekämpft und gelitten
-haben.‘ Phinchen kniet nieder.
-
-‚Brauchst nicht zu knien vor mir. Ach nein, vor mir braucht kein Mensch
-zu knien.‘ Und er steht im großen Saale, beherrschte Kraft in Blick und
-Miene, begrüßt seine Bewunderer ohne Herablassung und Hochmut.
-
-Katharina, schneeweiß, schreitet im Tunnel vorüber, auf die schneeweiße
-Gruppe der Genossen zu. Des Hockenden Kopf sank wieder zwischen die
-Schultern, tief auf die Brust.
-
-Das Lispeln der Schienen war vernehmlicher geworden. Die Luft im Tunnel
-zitterte leise. Jürgen schluchzte. Warme Tränen rollten.
-
-Die Schienen sangen lauter und stählern. Ganz plötzlich bebte der Tunnel
-so stark, daß Wassertropfen von der Decke fielen. Einer patschte kalt
-auf Jürgens Hand.
-
-Er horchte in sekündlichem Entsetzen auf das rapid stärker werdende
-Geräusch, sprang auf.
-
-Da knallte der Donnerschlag in den Tunnel. Der ganze Berg wankte. Die
-glänzenden Schienen wurden zu roten Fühlern eines Riesentieres, die
-Fühler wurden immer länger, strahlten sausend auf Jürgen zu.
-
-Er rannte ihnen entgegen, den Ausgang zu gewinnen. Ein ungeheurer Tumult
-erfüllte zerstörerisch den Tunnel, umtoste Jürgen und zwang ihn,
-stehenzubleiben. „... Bin ich verloren?“
-
-Die Lokomotive krachte auf ihn los.
-
-Jürgen fühlte, wie seine Haare weiß wurden, gab sich auf und starb.
-
-Unabänderlich donnerte der Zug auf seiner vorgeschriebenen Bahn weiter.
-Das Geräusch wurde mit einem Schlage hell.
-
-Noch eine Weile sangen die Schienen. Sandkörnchen fielen in die betäubte
-Stille.
-
-Ein Mensch lag im Tunnel auf dem Gesicht. Für ihn hatte sich zwischen
-Leben und Tod ein Drittes eingeschoben, das nicht Leben war und nicht
-Tod.
-
-Jürgen war bei vollem Bewußtsein und wußte dabei nicht, ob er noch
-existiere. Seine Augen starrten und erblickten nichts. Der Angstgedanke:
-‚Wenn ich jetzt schreie und höre meinen Schrei nicht, bin ich tot‘,
-verhinderte ihn, zu schreien.
-
-In dieses zeit-, raum- und vorstellungslose Nichts hinein erklang, da
-Jürgen als einziges erdhaftes Ding plötzlich das rote Tunnellämpchen
-erblickte, sein tierisch wilder Schrei nach dem Leben.
-
-Von den Flammen des Lebens emporgerissen, drehte er sich, den Ausgang zu
-gewinnen, einigemal im Kreise und begann schreiend zu rennen, in
-gieriger Sehnsucht nach dem wilden Nußbaum, der beim Tunneleingang
-stand.
-
-Galoppierte in rasendem Tempo die Dunkelheit hinter sich und hinein in
-eine fremde Gegend: Er war auf der anderen Seite des Tunnels
-herausgekommen. In der Höhe stand still die zerfallende Burgruine, Erker
-vornübergeneigt, als müsse er jeden Augenblick stürzen.
-
-Jürgen blickte in das schwarze Tunnelloch zurück, klopfte dabei
-automatisch den Kohlenstaub von seinem Anzug, strich sich über die
-Haare. ‚Sie werden weiß geworden sein ... Daran wird Katharina erkennen,
-wie ich gekämpft und gelitten habe. Möge sie nur sehen, wie sehr!‘
-
-Blickte noch einmal hinein in den Tunnel. „Entronnen!“ sagte er.
-„Entronnen!“ Und wandte sich um. Da war die Welt, fern und nah. Sonne,
-Blau, Grün und Fluß.
-
-Der Herr solle nur über das Großdorf machen. Von dort aus führe der Weg
-direkt in die Stadt, sagte die verhutzelte Häuslerin und schob den
-ächzenden Schubkarren weiter, auf dem eine hohe Ladung Fallholz lag.
-
-Jürgen wußte den Weg; er hatte nur gefragt, um eine Menschenstimme zu
-hören. ‚Nur wer dem Tode entronnen ist, der, nur der weiß, was leben
-heißt ... O, Anfang! O, Leben! O, Grashalm! O, Glück des Atmens!‘
-
-So schritt er aus. ‚Komme, was will – ich lebe!‘ Als der hohe
-Backsteinwürfel in Sicht kam, dachte er: Was sie sagen wird, daß ich mit
-dem Leben davongekommen bin?
-
-„Wunderst dich, wie ich aussehe, was? Der Anzug, das Loch im Knie!“ Und
-er erzählte.
-
-Sie aber hatte die schwerste Stunde ihres Daseins erlitten und
-durchlitten und hatte aufgegeben und hinweggehen lassen, was nicht zu
-halten war.
-
-„Kommt der Zug auf mich zugerast“, wiederholte er. „Es ist total
-finster. Zermalmt er mich?“ Gierig suchte er Liebe und Schreck in ihrem
-Gesicht.
-
-Sie war in dieser Stunde innerlich so grau und alt geworden, daß sie
-geglaubt hatte, für den Geliebten nicht einmal mehr Verachtung empfinden
-zu können. Und nun schlug sie, verletzend gleichgültigen Gesichtes, doch
-verachtungsvoll zurück: „Wenn man sich eng gegen die Mauer preßt, was
-kann da passieren!“ Auch dies noch ist ja überflüssig. Weshalb sagte ich
-es. Weshalb rede ich noch, dachte sie. Und fühlte ihr wimmerndes Herz.
-
-„Verstehst du denn nicht ...“
-
-„Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich.“ Entschlossen, auf sich zu
-nehmen, was unabänderlich war, sah sie ihn an, und ihr Blick fragte:
-‚Was soll also jetzt geschehen? Was suchst du noch hier?‘
-
-„Wie ich nur zugerichtet bin!“ Er zeigte auf das Loch in der Hose. Und
-da sie schwieg und weiter fragte:
-
-„Jetzt wird es Zeit, daß ich mir den andern Anzug hole ... Wir könnten
-uns später in der Stadt treffen, dann in die Redaktion gehen und
-zusammen nachhause.“
-
-Und als er fort war, dachte sie doch darüber nach, ob es keine
-Möglichkeit gebe, ihn zu halten, ihn zum Ausharren zu bewegen. ‚Dadurch
-vielleicht, daß ich mit rücksichtsloser Klarheit ausspreche, was ist?‘
-
-Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch, blickte blicklos in das Zimmer,
-in dem, mächtig wie nie vorher, unvertreibbar die Vereinsamung stand.
-‚Aber er ist sich ja klar; er kann ja nicht genommen werden wie ein
-unklarer Mensch mit phantastisch idealistischen Vorstellungen und
-Zielen, dessen Idealismus zersplittert, sobald er mit der harten
-Wirklichkeit zusammenstößt. Jürgen kennt ja die Wirklichkeit, denn er
-hatte den Inhalt seines Idealismus in dem Kampfe um den Sozialismus
-gefunden.‘
-
-„Das Bad ist fertig. Die Wäsche habe ich auf den Stuhl gelegt. Die
-Schuhe stehen darunter“, sagte, glückstrahlend, Phinchen zu Jürgen.
-„Unterdessen bügle ich den Anzug auf. Er ist noch sehr schön.“
-
-‚Immer wieder sagte er: Man wird alt ... Und etwas erreichen will er.
-Etwas werden. Einfluß gewinnen und Macht. Er will geachtet sein ... von
-denen, deren Achtung entwürdigend ist für den, der sie genießt ...
-Genießt. Er will genießen, leben ... Dies sind auch bei allen anderen
-die Motive des Abfalls, des Verrates an der Idee, ob die Verräter nun
-klar oder unklar, Sozialisten oder Phantasten waren. ‚Jeder für sich‘
-wird, uneingestanden, ihre Weltanschauung.‘
-
-Auch als Jürgen, gebadet, in frischer Wäsche und in dem gutsitzenden,
-schwarzen Anzug, die Treppe herunter auf das Wohnzimmer zuschritt, saß
-Katharina noch am Tische, reglos. ‚Auch das alles weiß Jürgen selbst.
-Deshalb muß und kann nur er selbst entscheiden ... Er hat entschieden.‘
-
-„Ja, ich erwarte Besuch. Elisabeth Wagner und ihre Freundin. Wenn ich
-gewußt hätte, daß du kommst, würde ich abgesagt haben.“
-
-Er stand vor dem gedeckten Kaffeetisch. Ich kann ja gehen ... Die
-Freundin wird wohl das schöne Mädchen sein, das in seiner Jugend ...
-dachte er und fragte.
-
-„Ja, sie ist sehr schön und mit dem Herrn Oberstaatsanwalt verlobt ...
-Auch dein Schulfreund, Karl Lenz ... Ist er älter als du?“
-
-„Zwei Jahre. Er war nämlich so blöd, daß er im Gymnasium zweimal
-sitzenbleiben mußte. Aber was ist mit ihm?“
-
-„Schon Staatsanwalt geworden! Vor vierzehn Tagen. Denk an, so jung!“
-
-‚Das sollte ja auch ich werden. Oder Amtsrichter! Dem bin ich
-entronnen.‘
-
-„Deshalb glaubte ich, Karl Lenz müsse ein besonders fähiger Schüler
-gewesen sein.“
-
-„Das nicht; aber Angehöriger der vornehmsten Verbindung.“ Jetzt
-verschwinde ich, dachte er, als die Wohnungsglocke läutete. Und fragte:
-„Geht es dir besser?“ Warf einen Blick in den Spiegel, der einen knapp,
-sorgfältig und schwarzgekleideten Herrn zeigte. „Die Wäsche, die von mir
-noch da ist, könntest du mir schon spendieren“, sagte er, schalkhaft
-lächelnd.
-
-‚Das Geld hätten wir schon aufgetrieben. Wenn ihm unser Leben zu
-ärmlich, zu leer war, wir hätten etwas besser wohnen, manchmal ausgehen,
-mehr Bücher kaufen, im ganzen etwas besser leben können. Der Ingenieur
-tut es ja auch. Gewiß ein guter Genosse! Eine Grenze nach unten, eine
-Grenze nach oben – in der Mitte genug Spielraum, nicht so erlebnisarm zu
-sein. Verkehr mit einigen sympathischen, klugen Menschen. Auch eine
-kleine Reise hin und wieder. Innere Erfrischung. Jeder braucht sie. All
-das würden keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gewesen sein ... Aber
-das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. Er hat den Kampf aufgegeben.
-Er paßt sich dem Leben an ... Aber mir, mir, warum hat er mir das
-angetan. Warum hast du mir das angetan.‘
-
-Gesicht neigte sich langsam auf die verschränkten Arme. Der ganze Körper
-verzuckte im Weinen. Sie wimmerte immer den selben Ton. Ließ sich
-versinken, ganz und gar preisgegeben dem Schmerze.
-
-Nach einer Weile tappte der Schnauz zu ihr, berührte sie mit der Pfote.
-Und da sie reglos blieb, legte er sich in die Zimmermitte, Kopf auf den
-vorgestreckten Pfoten. Drehte hin und wieder, ohne den Kopf zu heben,
-die Augen zu ihr hin.
-
-„Plötzlich kommt der Zug angerast ... angerast. Zermalmt er mich? Wohin
-springe ich? Es war total finster.“
-
-„Allmächtiger!“ rief die Tante. Und Elisabeth: „Ich wäre vor Schreck
-gestorben.“ Dabei lächelte sie und horchte gespannt; ihre grauen Augen
-schienen zu sehen, wie das Eisenungetüm den Menschenkörper zermalmte.
-Unter der zarten Haut ihres Halses tickte der Herzschlag.
-
-Jürgen unterdrückte die Genugtuung und sagte leichthin, auch er habe
-geglaubt, seine Haare seien weiß geworden.
-
-„Und das erzählt er so, als ob er selbst gar nicht daran beteiligt
-gewesen wäre“, sagte Elisabeth, mit anerkennendem Wechselblick zwischen
-Jürgen und der Tante, die sich aufrichtete, einen geradeliegenden
-Kaffeelöffel geradelegte und glatt heraus sagte: „An allem ist nur
-dieses Mädchen schuld.“
-
-„Aber Tante, sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst.“
-
-„Und wenn du überfahren worden wärest!?“
-
-„Nun, nun, ich brauchte mich ja nur eng gegen die Mauer zu pressen, was
-konnte da viel passieren ... Natürlich“ – und er sah heiter lächelnd
-Elisabeth an – „denkt man in so einem Augenblick nicht an das
-Nächstliegende.“
-
-„Das eine weiß ich: dein ganzes Unglück ist dieses Mädchen.“
-
-Geschmacklos ist sie nicht, dachte Jürgen, da Elisabeth sich sofort auf
-Katharinas Seite stellte durch ein Lächeln des Einverständnisses mit
-ihm. „Das sollten Sie nicht sagen; Katharina ist doch immerhin ein
-ungewöhnlicher Mensch, den man nicht mit dem gewöhnlichen Maße messen
-darf.“
-
-„Davon versteht die Tante nichts“, sagte Jürgen in dem selben Tonfall,
-wie damals auf dem Hügel Elisabeth zu Jürgen gesagt hatte, von Literatur
-verstehe Adolf nichts.
-
-Warme Sympathie und Achtung für Katharina erfüllte ihn und wohltuender
-Stolz auf sie, die zusammengesunken und versunken in Schmerz und
-Vereinsamung am Tische saß und weinte und nur und immer wieder das eine
-dachte: Warum, warum hat er mir das angetan.
-
-Die Tante wurde mutig: „Daran kannst du sehen, wohin dich diese
-Beziehung noch bringen würde ... hätte bringen können. Einfach in den
-Tod! ... Ein zu verrücktes, ein ... unordentliches Mädchen, finden Sie
-nicht auch?“
-
-„Sie sollten nicht so streng sein gegen Katharina, die doch wirklich
-nicht so beurteilt werden kann wie irgendein dummes bürgerliches
-Mädchen.“
-
-Jürgen zeigte die Miene eines Menschen, der es sich erlauben kann,
-Dummheiten anzuhören, ohne zu widersprechen. Übrigens, auch Elisabeth
-scheint keine bürgerliche Gans zu sein, dachte er.
-
-„Nichts als Unruhe, ewige Unruhe kommt dabei ... würde dabei ... wäre
-dabei herausgekommen.“
-
-„Die ist zäh“, sagte Jürgen, kräftig lachend, als die Tante aus dem
-Zimmer war, sich umzuziehen für den Kirchgang. „Die gibt den Kampf nicht
-so leicht auf. Jetzt glaubt sie, schon gesiegt zu haben in dieser Sache,
-in der sie nie siegen kann. Niemals!“
-
-Mit einem Blicke nahm Elisabeth den Kampf offen auf. So daß Jürgen nach
-langem Blick- und Wortgeplänkel schließlich fragen konnte: „Und Adolf?“
-
-„Er ist mir zu dumm. Einfach zu dumm!“ sagte sie, strahlend vor
-ehrlicher Überzeugung. Und ob Jürgen sie begleiten wolle, sie müsse
-Einkäufe machen.
-
-Auch Katharina ging, in der Hand das in Papier eingewickelte belegte
-Brot, das sie abends in der Redaktion essen wollte, durch die
-Geschäftsstraße. Der Schreck schlug durch ihren ganzen Körper durch. So
-stand sie, gedeckt von der kauf- und schaulustigen Menschenmenge, die,
-ein geschecktes, langes, vielhundertfüßiges Tier, langsam an den
-Auslagen entlang kroch, und sah, wie Elisabeth Jürgen an der Schulter
-faßte, ihn vor ein Spielwarenschaufenster führte.
-
-An der Art des Nebeneinanderstehens erkannte Katharina, daß sie schon
-eine Gegnerin bekommen hatte, berührte mit der Zungenspitze nachdenklich
-ihre Lippen und ging weiter.
-
-Immerzu sah sie die zwei vor dem Schaufenster stehen, sah Elisabeths
-zartgegliederte, weiße Hand auf Jürgens schwarzem Rücken liegen und
-dachte sich den deutenden Zeigefinger dazu. ‚Was sie ihm wohl gezeigt
-haben mag? Eine Puppe? Ein Schaukelpferd?‘
-
-Die ganze Straße hinunter interessierte Katharina sich dafür, auf was
-wohl Elisabeth Jürgen aufmerksam gemacht habe, stellte sich die
-Gegenstände eines Spielwarenschaufensters vor. Erst als sie mit dem
-innern Blick plötzlich des Geliebten Gesicht sah, stellte sie sich der
-Hauptsache. Der schneidende Schmerz zwang sie, Hand auf dem Herzen,
-stehenzubleiben. ‚Und jetzt? Was ist jetzt? Soll ich ... soll ich
-kämpfen um ihn?‘
-
-Aber das Bewußtsein, daß Jürgen ja nicht ihr, sondern sich selbst und
-seiner Hingabe entlaufen sei, und daß sie, was sie durch den Kampf um
-ihn gewönne, nur auf Kosten ihrer Hingabe gewinnen könne, stieß
-Katharina hinein in die graue Hoffnungslosigkeit.
-
-Dennoch stand sie zur verabredeten Zeit an der Straßenecke, gepeinigt
-von dem Bewußtsein, daß sie, in ihrem persönlichen Leben nun so ganz und
-gar verarmt, noch die Gebende sein müsse. Denn der Fraueninstinkt sagte
-ihr, daß Jürgen nur deshalb für Elisabeth interessant und begehrenswert
-sei, weil er mit der als merkwürdig und unnahbar geltenden Katharina
-befreundet war. ‚Wenn sie seine Frau wird, hat er das mir zu verdanken.
-Wie entsetzlich!‘ Katharina fror bei diesem Gedanken.
-
-Sorgfältig gekleidet, durch Bad, reine Wäsche und durch das
-Beisammensein mit Elisabeth erfrischt, schritt er, beherrschte Kraft in
-den Gliedern, lebensfroh dem verabredeten Orte zu, sah Katharina stehen,
-sah sekündlich den unüberschreitbaren Abgrund, den seine momentanen
-Gefühle zwischen ihm und Katharina aufrissen, blieb stehen, stand an dem
-Rande des Abgrundes, der nur gleichzeitig mit diesen neuen Gefühlen
-verschwinden konnte, die schon nicht mehr verschwinden konnten, tappte
-über den Rand des Abgrundes hinaus, stand und schritt auf Luft. Wildes,
-besinnungsloses Aufsiezustürzen kam in seinen Gang und falsche
-Wiedersehensfreude und gleichzeitig Scham in sein Gesicht.
-
-Sie aber stand, ein Mensch, grau und wissend und bewußt, und nahm auf
-sich ihr Schicksal. So blickte sie ihn an.
-
-„Wie die leben, die Bürger! Die, ah, die wissen schon, was sie wollen
-... Aber was alles sie zusammenredet, die Tante, du machst dir keinen
-Begriff ... Für die ist alles höchst einfach.“
-
-„Deine Tante will, daß es dir gut gehe; sie will, daß du Elisabeth
-Wagner heiratest.“ Sie horchte auf sein falsch-herzhaftes Lachen und
-fühlte: Wie weit, wie weit ist er schon weg.
-
-„Wahrhaftig, du sagst es. Genau das will sie ... So ein Unsinn! ... Hab
-mich aber ganz gut mit ihr unterhalten. Sie ist nicht dumm, weißt du,
-und eigentlich gar nicht bürgerlich ... Ein liebenswürdiges Geschöpf.“
-
-„Ja, Jürgen, sie ist ein kluges Mädchen, ein liebenswertes Mädchen.“
-
-„Kennst du sie denn so gut, weil du sagst, sie sei ein liebenswertes
-Mädchen?“
-
-„Weshalb denn kein liebenswertes Mädchen, Jürgen, weshalb nicht
-liebenswert“, sagte Katharina in schwerem Leid und dachte: Wie wiegen
-die Worte so schwer ... fallen wie Blei.
-
-„Sie hat sogar deine Partei ergriffen, hat dich verteidigt.“
-
-‚Wie ist es möglich, daß er mich so beleidigt.‘ Die Häuser neigten sich;
-die Straße drehte sich um Katharina herum. Sie mußte sich festhalten an
-Jürgen, nicht zu versinken in dem schwarzen Nebel vor ihren Augen.
-
-„Du arbeitest zuviel; solltest dich schonen, etwas mehr schonen.“
-
-Da riß ihr Blick, in dem nicht Zorn und nicht einmal mehr Verachtung
-war, alle Masken und jede Selbstbelügung weg und traf ihn so, daß er
-plötzlich vor der Tatsache stand.
-
-Seine Stimme war rauh: „Entscheide du!“ ‚Laß mich leben oder knalle mich
-nieder; aber entscheide du!‘ schrie, völlig preisgegeben, sein Wesen.
-Die Augen glotzten.
-
-Sie schwieg, bewegte den Kopf nicht. Nichts rührte sich an ihr und in
-ihr. Ihr Blick blieb blicklos.
-
-Und Jürgen wußte, daß auf der Welt nur er allein entscheiden konnte,
-gestand zum erstenmal sich ein, daß er sich schon entschieden hatte.
-„Geh, Katharina, geh, geh du nachhause jetzt, Katharina.“ Seine Stimme
-ertrank in innerlichem Weinen. „Schlafe gut.“
-
-„Schlafe du auch gut.“
-
-Das war der Abschied.
-
-Ihr Leben öffnete sich bis in die frühen Kindheitstage. Sie sah die
-lange Kette des Leides und der Hingabe. Sah, was ihr noch verstattet und
-beschieden sein konnte. Sie nahm ihr Leben an die Brust.
-
-„Du auch, schlafe du auch gut“, flüsterte Jürgen immerzu und mußte dem
-Zwange folgen, immer in die Mitte der Steinplatten zu treten, mit denen
-der Gehweg belegt war. Um nicht auf eine Ritze zu treten, mußte er drei
-ganz kleine Schritte machen. „Schlafe du auch gut.“ Und einen Sprung, da
-eine große Platte kam. „Du auch gut.“
-
-Überquerte halb die Straße, lief zwischen den Schienen weiter. Die
-Straßenbahn kam auf ihn zugesaust. „Entscheide dich! Entscheide dich!“
-schrie er, gepackt von dem Zwange, die Schienen erst verlassen zu
-dürfen, nachdem er bis zehn gezählt hatte. „... zwei ... fünf ... acht,
-neun, zehn ...“
-
-„Noch bis fünfzehn!“ schrie er. Zählte: „... zwölf, dreizehn, vierzehn
-...“
-
-Und erwachte zwei Tage später im Schlafzimmer der Tante, Kopf und Beine
-in dicken Verbänden. Elisabeth saß bei ihm.
-
-
-
-
- VI
-
-
-Duftlose Blumen standen im Krankenzimmer. Phinchen trug ihr Glück auf
-den Zehenspitzen, auch wenn sie im Keller oder im Dachboden war. ‚Die
-Pflege muß besser sein, als im besten Sanatorium‘, stand auf
-unsichtbaren Tafeln. In der Villa wurde nur noch geflüstert. Wenn die
-Tante einen Auftrag zu erteilen hatte, schlich sie, balancierend, auf
-Phinchens rund sich öffnenden Mund zu. Jürgen war unumschränkter Herr
-und zugleich das Kind im Hause, wohlbehütet Tag und Nacht.
-
-Im Garten schaffte der Frühling. Wenn Jürgen auf dem Sonnenbalkon im
-Liegestuhl ruhte, an warmen Tagen stundenlang wachträumend vor sich
-hindöste, sah er, wie das Sein, das Leben, die Sträucher in sich leise
-zuckten, wie ein Blättchen sich aufrollte, der Sonne entgegen.
-
-Halb fühlte und halb dachte er: Mein Leben steigt noch einmal von Grund
-auf an. Eine zweite Kindheit! Mein Leben rollt sich auf, so sanft, so
-mild.
-
-Im Halbschlafe ging er über Brücken, immer wieder von neuem und immer
-weiter über Brücken. ‚In dieser Gegend gibts nur Brücken. Nichts als
-Brücken!‘
-
-Keine Schärfe war in dem Geschwächten. Kein Wunsch berührte ihn. Alle
-Kämpfe, alle Leiden lagen weit zurück. Katharina lebte ganz verblaßt in
-blauer Ferne.
-
-Seine weichen, beglückenden Seelenstimmungen, die Wohlgefühle der
-Gesundung und seine unbestrittene Macht über die Tante, die den
-Zurückgekehrten wie einen tausend Gefahren entronnenen,
-schwerverwundeten Krieger betreute, erhielten ihren Grundgehalt von dem
-Gefühle: ‚Ich habe diese Ruhe mir verdient!‘ Alles fügte sich
-widerstandslos ineinander.
-
-„Ich verabschiede mich von Katharina“, konnte Jürgen ohne
-Erinnerungsschwierigkeit erzählen, als er, frei von den Verbänden,
-heiler Haut und Elisabeth am Arme, dem weißgedeckten Kaffeetisch unter
-dem Nußbaum zuschritt, „verabschiede mich wie immer: Gute Nacht,
-Katharina, schlafen Sie gut. Wie man eben so sagt, nicht wahr. Schlafen
-Sie auch gut, antwortet sie mir. Und ich gehe die Straße hinunter,
-beschäftigt mit einem Gedanken, allerdings mit einem jener
-entscheidenden Gedanken, – ich nenne sie Mittelpunktgedanken – die uns
-das ganze Leben plötzlich von einer völlig neuen Seite sehen und
-verstehen lassen.“
-
-Auch an dem Unglücksfall ist dieses entsetzliche Mädchen mit ihren
-verrückten Ideen schuld, hatte die Tante, als Jürgen ins Haus gebracht
-worden war, zu Phinchen gesagt. Jetzt ließen Angst und Scheu vor dem
-Zurückgekehrten nicht einmal die Erinnerung daran, daß sie dies gesagt
-hatte, in ihr aufkommen.
-
-Bereit, den Satz nicht zu Ende zu sprechen, sagte sie vorsichtig:
-„So tiefsinnige Gespräche sind vielleicht nichts für einen
-Rekonvaleszenten.“
-
-„Die Tante hat ein Kind bekommen. Das päppelt sie“, spottete Jürgen, der
-in Gegenwart Elisabeths nicht als Kind behandelt und nicht bemitleidet
-sein wollte.
-
-„Du hast viel gelitten, Jürgen.“
-
-Sein Blick, in dem Zorn sich schon ankündigte, ließ die Tante sofort
-verstummen. Sie häkelte schweigend weiter an dem Sesselschoner und
-häkelte weiter an ihrem Plane. Ihr Bankier hatte sie lachend beruhigt
-über den Stand des Bankhauses Wagner; dieses Gerücht sei nur ein
-Börsenmanöver der Konkurrenz gewesen.
-
-Zwar ist die Familie Wagner sehr jung, der Vater des Bankiers noch
-Häusermakler gewesen, dachte die Tante. ‚Die Geschichte der Familie
-Kolbenreiher dagegen kann bis in die Anfänge des fünfzehnten
-Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Aber mit der Zeit werden auch junge
-Familien alt.‘ Dabei horchte sie auf die Stimme Jürgens, der selbst das
-Gefühl hatte, selten so mühelos geistvoll gesprochen zu haben.
-
-Von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke voller Ruhe, blickte sie
-Jürgen und Elisabeth nach, der kein Mensch ansehen konnte, daß noch ihr
-Großvater ein kleiner, schmieriger Häusermakler gewesen war.
-
-„Und jetzt zeigen Sie mir Ihr Knabenzimmer.“
-
-„Das liegt aber sehr versteckt, oben, unter dem Dach. Dort vermutet uns
-niemand.“
-
-Sie gab ihm seinen Erobererblick zurück.
-
-„Ich selbst habe es seit vier Jahren nicht mehr betreten“, sagte Jürgen
-und betrachtete die ovalen Photographien der Familie Kolbenreiher, die,
-zu einem großen Oval geordnet, über dem schmalen Kanapee hingen.
-
-Vom Fenster aus sahen sie den Nußbaum und den Kaffeetisch, wo die Tante,
-ein winziger, schwarzer Punkt, häkelnd saß.
-
-Wortlos blickte er Elisabeth an, schritt zur Tür, schloß ab.
-
-Sie trug ein blaßblaues Seidenkleid, stand mit dem Rücken gegen das
-Fenster, die Hände auf das Sims gestützt. Der Herzschlag tickte unter
-der zarten, weißen Haut am Halse. Ihr Haar war blond, heller an den
-Stellen, die Luft und Sonne ausgesetzt blieben, und in den Tiefen
-gelblichgrün, gleich unreifem Getreide.
-
-Einen kaum bemerkbaren rosa Schimmer im ganzen Gesicht und den blendend
-klaren Blick fest auf Jürgen gerichtet, sagte sie, selbstbewußt die
-Schulter leise zuckend, ihm wortlos, daß es nur geschah, weil auch sie
-es wolle.
-
-Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt, genau wie
-vorher, und fragte: „Liebst du Katharina noch?“ dachte er: Daß sie das
-nicht vorher gefragt hat, ist großartig von ihr. „Unsinn! Katharina lebt
-sozusagen auf einem anderen Planeten ... Jetzt müssen wir aber
-hinuntergehen, sonst merkt die Tante, was los ist.“
-
-„Und wenn auch!“ sagte mit aufrichtiger Geringschätzung dieser
-Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen, das, ohne viel eigenes Bemühen
-lebensklug geworden, ein glatt funktionierendes Gehirn fertig
-mitbekommen zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls- und
-Gewissenskonflikte nie gekannt hatte und, jenseits aller Selbstbelügung,
-sich und anderen offen eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse
-habe als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsse.
-
-„Du bist großartig. Wer und was immer sich uns beiden in den Weg stellt,
-wir werden siegen.“ Sie gingen in gleicher Höhe auf der selben Fläche
-einander entgegen und standen, Körper an Körper, Mund auf Mund gepreßt,
-
-während Katharina, zusammengerollt wie ein krankes Tier, in den Kleidern
-auf dem Bette lag. Der Fensterladen war geschlossen, das Zimmer
-nachtfinster. Nur ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem
-Fußboden und auf dem Strahle der Schnauz. Ihr Gefühls-Ich,
-auseinandergerissen, offen, zuckte bei der leisesten Berührung, bei
-jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie irgendeinen Gegenstand sah, der ihm
-gehörte, den Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare Schuhe,
-die wie immer in der Ecke standen.
-
-Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann nicht Schaden nehmen
-würde an ihrer Seele, wenn sie dem schweren Leid ganz rückhaltlos sich
-preisgebe, ließ sie niemand zu sich, keinen Trost; sie betäubte sich und
-ihren Schmerz nicht mit Leben, nicht mit Arbeit. Lag Tag und Nacht auf
-dem Bett, hineingewühlt in das Leid, kämpfend um die Genesung, um ihr
-Leben.
-
-Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen, dem sie
-rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen sie der Einsamkeit den Raum
-verstellt hatte.
-
-Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina, an dem Tage, da sie
-sich schwanger fühlte, zum ersten Male wieder über den Kopf des
-bettelnden Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten Behandlung
-sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und, da Katharina ihn schon wieder
-nicht mehr beachtete, sich niederlegte, Schnauze auf den Vorderpfoten,
-in vergrollendem Vorwurfe.
-
-Noch ein paar Wochen – der Fensterladen war wieder offen, sie hatte
-wieder begonnen, zu arbeiten – hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem
-er erkannt habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen werden
-konnten, entwürdigend und wertlos seien, zurückkehren zu der Pflicht,
-die sein Bewußtsein ihm zum Schicksal mache.
-
-Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen treuen Leidens und immer
-gleicher treuer Arbeit entstand in ihr der neue Anfang. Schon konnte es
-geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener Freude in den Augen
-trug, wenn sie in eine Arbeiterversammlung kam und die Sympathie ihrer
-grüßenden Genossen fühlte.
-
-Schon als er noch bettlägerig gewesen war, hatte Jürgen, einig mit der
-Tante, daß dies das zunächst Allerwichtigste sei, sich auf das
-Doktorexamen vorbereitet.
-
-Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen hatte der flehenden Tante
-endlich mit den Worten: „In des Teufels Namen!“ nachgegeben. Und
-Elisabeth hatte sich ihre Einwilligung zu einer kirchlichen Trauung von
-ihrem Vater abkaufen lassen durch ein Brillantgehänge.
-
-Lorbeerbäume bildeten eine Gasse vom Hochzeitswagen bis zum Altar, vor
-dem die Brautleute knieten, in großem Halbkreise umgeben von den
-Verwandten und Bekannten beider Familien.
-
-„Verdammte Komödie!“ flüsterte heiter der Kniende, und Elisabeth drückte
-zum Einverständnis Jürgens Arm und senkte das Haupt, das Lächeln zu
-verbergen. Das sah aus, als horche sie ergriffen den Worten des
-Geistlichen.
-
-Während der Trauung sang ein Gemischter Chor mit Orgelbegleitung:
-„Himmel erhöre, erhöre das Flehen: Liebe laß walten im Heime der
-Gatten.“
-
-Fast alle Damen und Herren, die damals auf dem Hügel Rotwein und
-Brathuhn genossen hatten, auch zwei Universitätsprofessoren, der junge
-Wissenschaftler, ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen
-Elisabeth Verkehr pflegte, saßen an der Festtafel, die, in Hufeisenform,
-die ganze Breite des Wagnerschen Gesellschaftssaales einnahm und mit
-zwölf, aus Treibhausveilchen nachgebildeten, riesigen Hufnägeln
-geschmückt war. Diese Idee stammte von Jürgens Schwiegermutter.
-
-Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das Halbrund hinein, genau in
-der Mitte des Hufeisens, so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten,
-mit dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen vermag.
-
-Wurde am seitlichen Haken von Presse, Wissenschaft und Kunst ein Witz
-gemacht in bezug auf die Neuvermählten, dann langte er, zwinkernd
-weitergegeben, sehr schnell beim rechten Seitenhaken an, wo er in das
-Gespräch über das mögliche Fallen oder Steigen eines Börsenpapieres ein
-Loch riß, das sich nach zwei Sekunden wieder schloß.
-
-„In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung: Jeder Arbeiter
-ist seines Lohnes wert“, wiederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne
-erhobenen Zeigefinger nicht sprechen konnte.
-
-Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens Schwiegermutter zum
-zweitenmal die Träumerei von Schumann. Die servierenden Diener hatten
-weiße Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der reichste Mann, ein
-Hütten- und Walzwerkbesitzer, aß beinahe nichts; er war leberkrank,
-dottergelb, trank Brunnen und hatte noch kein Wort gesprochen. Seine
-knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende, sehr begehrte schöne
-Tochter legte ihm die sorgfältig ausgewählten winzigen Bissen vor.
-
-Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke Papierfabrikant Hommes. Der
-sah beständig aus, als müsse er jeden Augenblick niesen, und hörte dabei
-aufmerksam einem Gummifabrikanten zu, welcher bewies, daß und warum
-infolge der schon nicht mehr schönen Preissteigerung des Rohmaterials
-ein glattes Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man müsse sich
-winden, nichts als winden.
-
-Herr Hommes griff langsam nach dem Westenknopf des Gummifabrikanten, als
-wolle er sich anklammern, um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und
-sagte: „Wer etwas wirklich Großes erreichen will, der muß borniert
-sein.“
-
-An der Börsianerecke stieg das Wort ‚Montanaktien‘ und konnte, wie die
-auf dem Springbrünnchen tanzende, silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis
-der reiche Leberkranke den Wasserstrahl abdrehte: „Mit den
-Flitzautomobilaktien könnte in nächster Zeit eine schnittige Veränderung
-eintreten.“
-
-„Schnittig“, murmelte Jürgen. Um ihn herum ging etwas vor, das das Leben
-zu sein schien. „Das Ganze ist unerträglich ekelhaft. Wir machen das
-nicht länger mit“, flüsterte er. „Ich mache das nicht bis zum Schluß
-mit.“
-
-Der Ausspruch des reichen Leberkranken wurde an der Börsianerecke auf
-Hintergründe und Fallen untersucht. „Wer andern eine Grube gräbt“,
-vernahm Jürgen. „Natürlich, erst wägen, dann wagen, das ist klar.“
-
-„No, was sag ich!“ rief der Schwiegervater. „Eine Hand wäscht die
-andere. So stehts eben auch mit diesem Papier.“
-
-Schweinezucht, das wolle er Jürgen gestehen, sei das einzige, aber auch
-das einzige, mit dem noch verdient werden könne, versicherte ein
-Landwirt, der wegen seines jugendlichen Aussehens Mühe hatte,
-respektabel zu erscheinen. Es ginge ja auch alles so weit ganz gut.
-Nicht umsonst habe er die Landwirtschaftshochschule durchgemacht. Er
-bringe System in die Sache. „Aber, sehen Sie, es fehlt einem doch etwas.
-Ich weiß selbst nicht recht, was. Man ist unbefriedigt. Die Seele,
-wissen Sie, die Seele, möchte ich sagen, kommt zu kurz.“
-
-Der Gummifabrikant versuchte vergebens, den Leberkranken über die
-Flitzautomobilaktien auszuholen. Auch an der Börsianerecke wurde noch
-gedeutet und geforscht und behauptet, doppelt genäht halte besser.
-
-„No, was sag ich!“
-
-„Das Volk will keine Freiheit; das Volk will Brot. Fressen und Saufen
-will das Volk, glauben Sie mir“, sagte Herr Hommes, hinein in Jürgens
-wutbleiches Gesicht.
-
-Der gab keine Antwort. ‚Dieser Fettwanst, dessen Leben in Fressen,
-Saufen und Huren besteht, könnte, auch wenn er seine Meinung revidieren
-müßte, ja doch keinerlei Konsequenzen ziehen.‘
-
-Herr Hommes hielt sich an der Tischplatte fest, warf, geöffneten Mundes,
-den Kopf in den Nacken, stieß ihn nach vorn, nieste aber nicht, sondern
-sagte: „Sie, ah, Sie werden sehr bald meiner Ansicht sein.“
-
-Jürgen umklammerte das Handgelenk Elisabeths, den Wutausbruch zu
-unterdrücken, während ihr ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte.
-Und dann, hilfsbereit: „Wenn du willst, verschwinden wir jetzt
-unauffällig.“
-
-Da erhob sich Herr Wagner. Er begann seine Rede mit einer Verbeugung zu
-dem Platze hin, wo die Tante, die plötzlich wieder krank geworden und
-schon lang nachhause gefahren war, anfangs gesessen hatte.
-
-Er sei sich der hohen Ehre wohl bewußt, die darin liege, daß seine
-Tochter dem letzten Sproß der alteingesessenen Patrizierfamilie
-Kolbenreiher angetraut worden sei, sozusagen eingeheiratet habe in die
-Familie Kolbenreiher, die schon einmal im fünfzehnten Jahrhundert der
-Stadt einen Bürgermeister geschenkt habe. Seine Familie hingegen sei
-noch jung, aber zukunftsreich. Wie ein junges, gutes Papier!
-
-„Jung und alt verbindet sich miteinander.“ Dabei käme das Richtige
-heraus, was unser Vaterland nötig habe. „Solidität, in Verbindung mit
-jungfrischem Wagemut ... Die Fusion ist vollzogen.“ Der Erfolg werde
-nicht ausbleiben.
-
-„Und die Ehe? ... Es ist mit der Ehe wie mit der Spekulation an der
-Börse. Licht und Schatten! Sonne und Wolken! Die Aktien steigen und
-fallen. Das ist nun einmal so. Es kommt eben darauf an“, rief mit
-starker Stimme Herr Wagner, der schon etwas zu viel getrunken hatte, „in
-treuer Liebe auszuharren, auch wenn einmal eine Baisse den Ehehimmel
-bewölkt ... Es kommt auch wieder eine Hausse.“ Ja, es sei sogar
-besonders wichtig, gerade aus der Baisse Gewinn und Lehren zu ziehen.
-
-Er hatte sich so in den Vergleich verfilzt, daß auch das Schlußhoch auf
-die Neuvermählten zur Hälfte der Börsenspekulation galt. Alle standen.
-
-Jürgens Gesicht war leinenweiß. Lieber ein gebrochenes Rückgrat, als ein
-gebogenes, dachte er, entschlossen, nicht zu antworten auf die Rede
-seines Schwiegervaters. Und da er sich als erster setzte, Elisabeth mit
-hartem Griffe neben sich zog, setzten sich auch die andern. Die Diener
-reichten schwarzen Kaffee, Likör und lange Zigarren.
-
-Plötzlich gab Jürgen, ohne zu wissen wem, vielen Menschen die Hand.
-„Leben Sie wohl.“ Sein Körper bewegte sich automatisch von einem zum
-andern, endlich auch auf Elisabeth zu. Er reichte ihr die Hand: „Leben
-Sie wohl.“
-
-Alle brachen in Gelächter aus. Auch Elisabeth war verblüfft über ihren
-Mann, der in der Eile und Verwirrung es fertig brachte, seiner Frau vor
-der Hochzeitsreise Lebewohl zu sagen.
-
-Noch einen Augenblick blieben die beiden unter dem Türrahmen stehen. Da
-näherte sich Jürgens Ohr ein rundes Gesicht mit rundgestutztem Bart,
-goldbebrillten, zwinkernden Augen und gespitztem Munde, der flüsterte:
-„Viel Vergnügen!“ Mit den Armen balancierend, schlich der Rundkopf auf
-den Fußspitzen zum Hufeisen zurück.
-
-Sie reisten zuerst nach dem Süden, wo es im Winter Frühling ist.
-
-Einige Tage später wurde Katharina von einem Knaben entbunden.
-
-Nach zehn in Paris und Rom verbrachten Wochen kamen die Neuvermählten in
-die südliche Hafenstadt, die mit ihren Orangenbuden, Bazaren und
-Säulenkolonnaden, durchschwirrt von Matrosen, Chinesen, Negern,
-vornehmen Fremden, müden Auswanderern und dem Geschrei in zwanzig
-verschiedenen Sprachen, mit dem Salz- und Teergeruch, Sirenengebrüll und
-dem Mastgewirr der Ozeanriesen gelb in der Sonne lag, wie ein dem
-unendlichen Meere entstiegener, wahr gewordener Traum eines Knaben, der
-Eltern, Lehrern, allen Qualen der Jugend, allen Fesseln und Berufen
-entfliehen möchte, hinaus in die unbändige Herrlichkeit.
-
-Sie fuhren in der Droschke, überdacht von einem rot- und weißgestreiften
-Riesensonnenschirm, hotelwärts, vorüber an einer langen, immer neu
-genährten Reihe Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus der Tabakfabrik
-kamen. Blusen und Umschlagtücher waren farbig, die Gesichter schlaff und
-fahl.
-
-Jürgen sah weg. Und konnte dennoch nicht verhindern, daß er, als sie
-schon im Zimmer waren, plötzlich dachte: Da besitzt irgendein Herr
-Hommes eine Fabrik.
-
-„In sechsundfünfzig Stunden könnten wir in Afrika sein.“ Jürgen bekam
-keine Antwort. Elisabeth war auf der Ottomane eingeschlafen.
-
-‚Durch dieses Wesen gehen Welt und Dasein in immer gleich unendlich
-breitem Strome durch, von ihr genossen in jeglicher Sekunde, ohne Vor-
-und Rückblick, ohne Rücksicht und Bedenken.‘
-
-Elisabeth atmete tief und ruhig und war schön und jung und gesund. Die
-Sonne, gebrochen durch die herabgelassene Jalousie, zeichnete ein
-leuchtendes, gestreiftes Fell auf das Morgenkleid der Schlafenden. Es
-war warm. Fernher brüllte die Sirene. Die Mimosen dufteten.
-
-‚Wie sie atmet! ... Gut, fahren wir nach Afrika! Nach New York! Nach
-Indien! Telegramme um Geld! Einstweilen überhaupt nicht zurückkehren!
-Komme, was kommt! Elisabeth würde zu allem Ja sagen, ohne Besinnen. Ein
-herrliches, wunderbares, einfach organisiertes Tier, das lebt, einfach
-lebt. Bedenkenlos, glatt und kühl wie ein Fisch. Durch und durch kühl!‘
-„... Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht“, summte
-Jürgen. ‚Nur in der Nacht wird sie heiß. Da kennt sie keine Grenzen ...
-Sie ist ein vorgeschobener Posten der Lebenskraft.‘
-
-„Es haben zwei ne ganze Nacht zusammen in einem Bett verbracht – was ham
-se wohl gemacht?“
-
-Da sah Jürgen einen Herrn in der Vorhalle eines großen Pariser Hotels
-stehen. Der Herr stürzt auf Elisabeth zu, sitzt mit ihr, beständig
-schwebend in einer Wolke von Lebenslust, im Theater, in Restaurants,
-Boulevard-Cafés, Kabaretts. Tritt in Elisabeths Schlafzimmer.
-
-Abneigung erfaßt plötzlich den im Sessel lehnenden Jürgen gegen den
-Jürgen, der durch Paris und Rom schwirrt, sich um nichts kümmert, als
-nur um sich und seine Genüsse, im Schlafanzug in das Schlafzimmer
-Elisabeths tritt, heiter in der Hafenstadt ankommt.
-
-„Er betäubt sich ... Widerlich! ... Wo kommt der hin, was wird aus dem,
-wenn er so weiter macht ... Das bin nicht ich. Das ist ein ganz
-anderer“, flüsterte der im Sessel Sitzende. „Sonderbar. Sonderbar.“
-
-Bewußt wechselte Jürgen die Blickrichtung, sah durchs Fenster auf das
-glitzernde Meer hinaus, um den andern nicht mehr zu sehen. ‚Auch er ein
-vorgeschobener Posten! Das ist die Natur, das Tier, die Lebenskraft, die
-den treibt, die ... mich treibt, sie, die um der Fortpflanzung, der
-Arterhaltung willen, die Geschlechter zueinander treibt und, ihr Ziel zu
-erreichen, bereit ist, uns Menschen zu ausnahmslos jeder Schufterei zu
-veranlassen.‘
-
-Elisabeth bewegte sich: ihre Hand fand im Schlafe durch das Morgenkleid
-durch zu der sich entblößenden Brust.
-
-‚Und sie hat Erfolg, die Lebenskraft. Denn sie zahlt als letzten Preis
-dieses einzigartige Gefühl. Zahlt es Tieren und Menschen, Frauen und
-Männern, Katzen und Katern, Elisabeth und mir. Mögen die andern, die
-vielen, verrecken, sie kümmert sich um nichts. Der Mensch ist noch nicht
-da. Sie kann nicht warten, bis der Mensch da ist. Das ist die ganze
-Erklärung. Eine naturwissenschaftlich einwandfreie Erklärung!‘
-
-Die Hotelglocke rief zum Mittagessen. Auf den Zehenspitzen schlich er
-über den Teppich, berührte sanft Elisabeths Schulter. Sie erwachte ohne
-jeden Schreck, schlug die Augen auf, so einfach, so klar. ‚Sie hat gar
-keine Untiefen in sich. Sie ist so, wie sie ist. Im Schlafen, wie im
-Erwachen und im Wachen.‘
-
-Aber das ist noch viel sonderbarer. Wie seltsam! Das ist unheimlich,
-dachte der an der Tafel sitzende Jürgen, weil er jetzt auch den an der
-Tafel sitzenden, sich unterhaltenden, lachenden Jürgen beobachtete,
-scharf und genau beobachtete.
-
-‚Wir sind also zwei. Ich sehe mir zu. Mir selbst! ... Aber das bin ja
-gar nicht ich. Ich sehe ja ... ihm zu. Bin ich, der zusieht, ich? Oder
-ist er ich?‘
-
-„Gut, machen wir!“ Elisabeth hatte gewünscht, am Abend auf die Höhe zu
-steigen und zuzusehen, wie die Sonne ins Meer sinkt.
-
-‚Auf die Dauer natürlich halte ich das nicht aus. Wir müssen uns
-vereinigen, eins werden. Wenn wir uns nicht einigen können, dann muß
-einer weichen: der andere oder ich.‘
-
-‚Du standest schon am Anfang deines Ich.‘
-
-Wer hat das gedacht? dachte erschauernd Jürgen und goß dabei Wein ins
-Glas. „Dir auch?“ ‚Das habe eben nicht ich gedacht. Hat das der andere
-gedacht? Oder ein Dritter?‘
-
-Er fror im Rückenmark. Gierig leerte er pausenlos hintereinander zwei
-Glas Wein.
-
-‚Ich befinde mich offenbar in einem Übergangsstadium. In einem
-Entwicklungsstadium. Ich entwickle mich. Das soll in meinem Alter noch
-vorkommen. Ich muß trachten, in ein erträgliches Verhältnis zu mir zu
-kommen. Denn ich muß ja leben mit mir.‘ Auch die Stirn hatte sich
-gerötet.
-
-Nach Sonnenuntergang saßen sie auf der Terrasse des Hafenrestaurants.
-Zwei Männer schleppten einen wassertriefenden Bastkorb voll Austern
-zwischen den Tischen durch in die Küche. Straßenhändler boten den Gästen
-Kämme, Stickereien, Elfenbeinschnitzereien an. Der Himmel, die Luft, das
-Meer, das Leben des Hafens und der Straße fluteten durch das vornehme
-Restaurant durch. Alle Grenzen waren verwischt. Musik spielte. An der
-Hausmauer gegenüber wechselten die kinematographischen Bilder, genossen
-von der dicken Menschenmenge.
-
-Sie aßen Austern. Die kosteten nicht viel mehr als Brot. Tranken eine
-Flasche Champagner dazu. Ein kleines, dickes Mädchen, achtjährig,
-Kastagnetten in den Händchen, schmale Papierschleifen – blau, rot, grün
-– im Haar und auf dem Röckchen, das die nackten, dicken Schenkelchen
-freiließ, trat an den Tisch und begann zu tanzen, sang ein Bordellied
-dazu, hob das Röckchen hinten hob das Röckchen vorne, spreizte im
-Tanztakt die Beinchen auseinander, mit obszöner Gebärde.
-
-Ein nach dieser Seite vorgeschobener Posten der Lebenskraft, dachte
-Jürgen. ‚Ihr sind alle Mittel recht, wenn sie nur zum Ziele führen.‘ Er
-fühlte in den Gelenken eine Lähmung, die nicht unangenehm war. Elisabeth
-strich zärtlich über den Kopf der Kleinen.
-
-Eine Stunde später saß sie, den Rücken Jürgen zugekehrt, schon
-entkleidet vor ihren Kämmen und Bürsten. Das offene Haar leuchtete gelb.
-Durch den Spiegel nickte sie Jürgen zu, gab ihrer Schulter einen Kuß,
-der ihm galt.
-
-‚Ich habe eine schöne Frau.‘ Er streckte sich. ‚In das Leben soll man
-Grübeleien über Entwicklung und Dasein nicht hineintragen. Das Leben
-entwickelt sich ganz von selbst.‘
-
-Der Hafen schlief. Das Meer sang gleichtönig, ruhevoll und groß. Die
-Mimosen dufteten stärker in die warme Nacht. Wie in allen Nächten sang
-auch in dieser Nacht in der Ferne ein Mädchen.
-
-Eine Fabrikstraße, nebelgrau und doch trostlos deutlich. Gestalten,
-einzeln, in Gruppen, in endlosen Reihen, schritten im Morgengrauen in
-unabänderlich vorbestimmter Richtung auf das riesenhafte, graue
-Fabriktor zu. Immer neue Millionen marschierten heran, grau,
-gespenstisch-lautlos, und verschwanden im Fabriktor der Welt.
-
-‚Und du standest schon am Anfang deines Ich.‘
-
-Elisabeth wandte sich um nach Jürgen, der schwer atmete. Seine
-Gesichtshaut zuckte und war gespannt, als habe sie, wie eine
-Ballonhülle, einen ungeheuren Atmosphärendruck auszuhalten. Ein Mensch
-schlief.
-
-Elisabeth berührte den Stöhnenden. Wie ein vom Tode Erweckter richtete
-er sich auf. Eine ewige Sekunde lang war letzte Bereitschaft in seinem
-Antlitz.
-
-„Dein Gesicht sah gar nicht aus wie ein Gesicht. Sah aus wie ein
-Gefängnis, wie eine Faust.“ Sie schlüpfte zu ihm unter die Decke. „Was
-träumtest du?“
-
-„Weiß nicht. Weiß nicht.“ Er wußte es nicht. „Wie du duftest!“ Er riß,
-aus der Tiefe seines Wesens zurückgekehrt, wild das Leben an sich.
-
-Erst viele Monate nach der Rückkehr – in seinen Tagen tat sich schon die
-leere, tote Einsamkeit auf, die weder durch Genüsse, noch durch Arbeit
-zu überwinden war – wurde Jürgen in einer großen Gesellschaft an
-Katharina erinnert. Adolf Sinsheimer zog ihn in eine Nische. „Warst du
-wieder einmal da? ... Nun, in dem orientalischen Salon! Ich sage dir, da
-sind jetzt vier Mädchen! Die sind mit 99½ Salben gerieben. Die eine
-sieht übrigens Katharina Lenz verblüffend ähnlich. Also verblüffend! ...
-Sie hat ein Kind bekommen.“
-
-„Wer hat ein Kind bekommen?“
-
-„Katharina. Einen Sohn! Die Familie tut, als ob sie das gar nichts
-anginge. Frau Geheimrat Lenz soll vor Gram gestorben sein ... Wann gehen
-wir in den Salon?“
-
-Eine endlos lange Sekunde hatte Jürgen das Empfinden, in seinem Kopfe
-kreise mit vertausendfachter Schnelligkeit Schläfen-sprengend ein kalter
-Blitz. Das ganze neue Leben lag in Scherben. Jürgen stieg heraus aus den
-Trümmern, die Freitreppe hinunter, schritt, gestoßen von etwas, das in
-gleichem Schritt und Tritt hinter ihm her ging, durch die Stadt.
-
-Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser kleiner. Unbebaute
-Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das kleine Fenster hing nah der
-Erde rot leuchtend in der Finsternis.
-
-Die Nacht war warm, das Fenster geöffnet. Er hörte Stimmen, mehrere
-Männerstimmen, eine Antwort Katharinas, sah, wie sie, in der Hand einen
-weißen Teller, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag.
-
-Jürgen glaubte den Agitator zu erkennen, der, die Hand vorgestreckt,
-etwas zu dem Metallarbeiter sagte. Vernahm Katharinas Lachen. Das klang
-so geheimnisvoll mild in die Sommernacht.
-
-Die Schreibmaschine begann zu klappern. Der Agitator diktierte.
-
-‚Das ist eine Welt für sich ... Welch ungeheuere innere Veränderung in
-mir wäre nötig, einzutreten ... Die Haustür ist nur angelehnt.‘
-
-Drei Arbeiter traten aus der Tür. Jürgen war verschwunden.
-
-Erst nach Tagen gelang es ihm, sich zu beruhigen mit dem Gedanken, daß
-es Katharina vielleicht besser gehe als ihm. ‚Sie hat nicht diese
-Scherereien wie ich. Muß sich nicht mit diesem Gesindel herumbalgen. Sie
-hat ihre Genossen. Sie lebt ihrer Idee.‘ In dieser Zeit faßte er den
-Plan, ein großes Werk zu schreiben, betitelt: ‚Volkswirtschaft und
-Einzelseele‘.
-
-Jürgen hatte den ganzen Vormittag in dem gut durchwärmten
-Direktionsbureau gearbeitet. Als er hinaustrat in den schneidend kalten,
-schneidend hellen Wintertag, tränten seine Augen, so daß er einen
-Laternenpfahl und den Oberkörper und den Kopf eines Spaziergängers
-doppelt und dreifach sah.
-
-In dieser Sekunde hatte Jürgen das erstemal den Gedanken, daß nicht nur
-er selbst sondern jeder Mensch aus mehreren, innerlich tatsächlich
-vorhandenen Menschen bestehe, die, wie der mit tränenden Augen gesehene
-verdreifachte Spaziergänger, hintereinander und ineinander geschalt, in
-den Menschen steckten, dachten, wahrnahmen, fühlten und gegeneinander
-kämpften.
-
-Während er der Trambahnhaltestelle zuschritt, sah er auf die zwanzig
-Monate seines neuen Lebens und seiner neuen Tätigkeit zurück. War von
-Jürgen, dem Teilhaber des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher, in
-Erfüllung seiner Pflicht und Aufgabe, die Interessen des Hauses und der
-Kunden zu schützen, die Weisung erteilt worden, an der Börse Papiere zu
-kaufen oder zu verkaufen, dann hatte ein anderer Jürgen klaren
-Bewußtseins gesagt: Es bleibt eine in alle Ewigkeit unverrückbare
-Tatsache, daß dieser Gewinn ein Teil des Mehrwertes ist, abgepreßt dem
-Proletariat, zugunsten des Rentiers Hummel und des Bankhauses Wagner und
-Kolbenreiher.
-
-‚Also auch zu meinen Gunsten. Ich also lebe von dem Mehrwert, bereichere
-mich an dem Mehrwert, den andere hervorbringen. Und ich bin mir dessen
-voll bewußt.‘
-
-‚Nicht du bist dir dessen bewußt, sondern ich.‘
-
-‚Wer ich? Wer ist sich dessen bewußt?‘
-
-‚Ich! Ich bin schon nicht mehr du.‘
-
-Es hatte sich anfangs sehr oft ereignet, daß der bewußte Jürgen ganz
-über den Teilhaber-Jürgen vorgetreten war, ihn hinter sich gedrückt, die
-Schreibfeder auf das Tintenfaß zurückgelegt und glatt herausgesagt
-hatte: „Aber das ist ja Raub, lieber Schwiegervater. Ich mache das nicht
-mit, Herr Hummel.“
-
-‚Und jetzt machte der leberkranke Hütten- und Walzwerkbesitzer das
-Geschäft.‘ Auf diesen Worten schiebt der Teilhaber sich wieder in den
-Vordergrund, stemmt die Faust auf den Schreibtisch, gibt seine
-Direktiven und denkt: Das Leben ist Kampf. Wer die Waffen fallen läßt,
-über den geht es hinweg. So ist das Leben. Und dem Proletariat, das
-sowieso der Leidtragende ist, kann es gleichgültig sein, wer den Gewinn
-hat.
-
-‚Aber dir kann es nicht gleichgültig sein.‘
-
-‚Es ist sogar immer noch besser, ich habe den Vorteil als der
-Leberkranke, der nicht einmal weiß, was er tut, keine Ahnung davon hat,
-daß er sich bereichert an dem Schweiße und an dem Blute der
-Arbeitenden.‘
-
-‚Was der Hüttenbesitzer tut, ist kein Freibrief für dich. Außerdem wäre
-es auf jeden Fall für dich, für dein Selbst, für dein Menschentum immer
-noch besser, der andere, der gar nicht weiß, daß er ein Schuft ist, zöge
-den Gewinn, als du, der du auf diese Weise rettungslos erst zum bewußten
-Schuft und schließlich auch zu einem ahnungslosen, selbstgerechten
-Schuft werden, endlich nur noch Teilhaber, nichts anderes mehr als ein
-Teilhaber sein würdest.‘
-
-Das soll mir nicht passieren. Aber es könnte allerdings passieren,
-dachte Jürgen. Und ich müßte auch dies auf mich nehmen. Das Leben ist
-hart.
-
-Und plötzlich vernahm er deutlich den Satz: „Die Massen, eingespannt in
-das graue Joch, müssen noch die Lerche hassen, die emporsteigt ins Blau
-... Und dich kümmert es nicht. Das ist es, verstehst du, daß es dich
-nicht kümmert.“
-
-„Hinter dem steckt etwas“, wurde in bezug auf Jürgen gesagt, wenn er, in
-knappsitzendem Frack, beherrschte Kraft in Schultern und Gliedern,
-beherrschten Geist in Wort und Blick, in großer Gesellschaft war, aller
-Augen auf sich ziehend, genau so, wie er sich damals in den grünen
-Bretterzaun hineingesehen hatte.
-
-Nachdem er im Parteiblatt gelesen hatte, daß nur durch freiwillige Gaben
-die Zeitung noch gehalten werden könne, spendete er eine große Summe und
-bekam einen Dankbrief von der Bezirksleitung.
-
-Den Dankbrief in der Hand, wendet er sich um zu seinem Bewußtsein, das
-keine Antwort gab. Es war in dieser Zeit schon etwas getrübt gewesen.
-
-‚Ich werde der Arbeiterbewegung auf andere Weise als früher nützen.
-Zweifellos kann ich, mit meinem Einfluß und meinen Verbindungen, der
-Bewegung weitaus mehr nützen, als es der Student konnte, der nichts
-hatte, nichts war und nichts bedeutete.‘ Und er legte den Dankbrief in
-die Schublade.
-
-Der Schwiegervater war eingetreten. Erhobenen Zeigefingers. „Sowohl der
-Rentier Hummel als auch wir haben einen großen Verlust erlitten. Dabei
-lag dieses Geschäft doch vollkommen klar. Und wir hatten unsere
-Informationen früher als die andern.“
-
-„Mir war dieses Geschäft zu unsauber.“
-
-„Die Bank besteht seit fünfunddreißig Jahren. Von Unsauberkeit keine
-Spur!“
-
-Der Teilhaber lehnte sich zurück in den Sessel und ließ ganz bewußt das
-Bewußtsein vortreten. Das war schon trüb wie eine Wasserfläche, auf der
-ölige Flüssigkeit irisiert, rückt über den Teilhaber vor und spricht von
-Recht, Moral und Gerechtigkeit. „Das Geschäft war mir zu unmoralisch.
-Viele kleine Leute würden durch unsere Schuld ihr Geld verloren haben.
-Ich stehe auf dem Boden der Gerechtigkeit.“
-
-Erst nach einigen Sekunden konnte der staunende Herr Wagner den
-Zeigefinger heben: „Der gute Ruf unseres Hauses wurzelt in der
-Gerechtigkeit. Aber sichere Geschäfte einfach nicht zu machen, geht
-nicht an. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Du kennst meine
-Weltanschauung. Wir haben eine beträchtliche Summe und obendrein Herrn
-Hummel, der seit zwanzig Jahren mit uns arbeitet, als Kunden verloren,
-weil du diese scheinbar entwerteten Papiere nicht gekauft hast. Die
-‚Leber‘ natürlich hat sie sofort und samt und sonders aufgekauft. Der
-lacht.“
-
-„Das allerdings stimmt“, sagte der Teilhaber, „daß die kleinen Leute nun
-trotzdem um ihr Geld gekommen sind.“
-
-„No, was sag ich!“
-
-Es war aber auch schon vorgekommen, daß Herr Wagner erhobenen
-Zeigefingers zu seiner Frau hatte sagen können: „Der Schwiegersohn hat
-eine Nase, eine Nase ... Wir Alten können uns zur Ruhe setzen. Kein
-Mensch hätte aus der Presse und aus den Reden im Reichstag herauszulesen
-vermocht, daß an ein Gesetz über neue Schutzzölle auch nur gedacht
-werde. Hast du etwas von einem Gesetz gelesen, von Schutzzoll? Nicht die
-leiseste Andeutung. Aber er, der Junge, dieser Junge, mit seiner
-Vergangenheit und seinem Interesse für Politik, seinen Beziehungen zur
-Arbeiterbewegung, die unsereins überhaupt nicht beachtet, hat
-zugegriffen zu einem Zeitpunkt, als die geriebensten Füchse sich noch in
-Baisse festlegten ... No, was sag ich.“
-
-Am ersten Mai des vergangenen Jahres war Jürgen im Auto in den
-Demonstrationszug hineingeraten und steckengeblieben, beschossen von
-Blicken noch gefesselten Hohnes und Hasses.
-
-‚In der Straßenbahn kann ich mich ebenso mit meinen Gedanken
-beschäftigen. Brauche nicht im Wagen zu fahren.‘
-
-Das schon weit nach rückwärts gedrückte Bewußtsein fand die Sekunde
-Zeit, zu sagen: Das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht.
-
-Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, dachte er, stieg aus, ging
-die zweihundert Schritte bis zur Villa. Und teilte der Tante, während er
-die eingelaufene Post durchsah, nebenbei mit, daß in den zwei Jahren,
-seitdem er ihr Bankier sei, ihr gesamtes Vermögen sich schon fast
-verdoppelt habe.
-
-‚Da irrt er sich. Das gesamte nicht.‘ Sie hatte ihm nur die schwer zu
-verheimlichenden Papiere anvertraut und den größeren Teil ihrer Aktien
-bei ihrem alten Bankier gelassen. „Du hast dein Erbe verdoppelt“, sagte
-die gelb, zerfallen und schweratmend im Lehnsessel Versunkene.
-
-Und er erlebte wieder, wie immer, wenn die Tante das Wort ‚erben‘
-aussprach, in Gedanken diese merkwürdige Viertelstunde in dem roten
-Plüschsalon der Konditorei, sah deutlich die drei erregt durcheinander
-sprechenden Damen, den kleinen Hut der Jungen, der nur aus Veilchen
-bestanden hatte.
-
-„Glaubt, sie sterbe, beichtet nach heftigem Widerstreben endlich doch
-dem Geistlichen, daß sie als zwanzigjähriges Mädchen einen einzigen
-Fehltritt ...“
-
-„Wer kann das heute noch kontrollieren, ob es der einzige war.“
-
-„... begangen und heimlich einen Sohn geboren hat. Fragt auch ihren
-Rechtsanwalt, ob das Kind Erbanspruch habe.“
-
-„Wie das Geheimnis dann unter die Leute gekommen ist ...“
-
-„Die Pflegerin im Nebenzimmer soll die Beichte mitangehört haben.“
-
-„... weiß man nicht genau. Die Menschen können ja kein Geheimnis für
-sich behalten.“
-
-„Sonst würde man diese Geschichte vielleicht überhaupt nie erfahren
-haben, wenn die Pflegerin ...“
-
-„Ganz genau kenne ich die Einzelheiten auch heute noch nicht“, hatte die
-Junge gesagt.
-
-„Denken Sie an, siebzig Jahre ist sie jetzt. Und nie hat ein Mensch auch
-nur den leisesten Verdacht gehabt, müssen Sie wissen. Das Kind wird ins
-Ausland in heimliche Pflege gegeben, müssen Sie wissen ...“
-
-„Eines Tages entläuft das Kind, geht durch.“
-
-„Wahrscheinlich, weil es schlecht behandelt wurde, Sie verstehen.“
-
-„Die Pflegemutter stirbt.“
-
-„Auf diese Weise hat man ... Ist verschollen ... nie etwas ... Kein
-Lebenszeichen mehr! ... von dem Fehltritt erfahren ... Als ob sie
-Jungfrau wäre! ... Ja, was sagen Sie dazu ... Wo mag das arme Kind jetzt
-sein.“
-
-Ein fünfzigjähriger Mann torkelt betrunken, verdreckt, heruntergekommen
-auf einer amerikanischen Landstraße, wirft die Arme, schimpft auf die
-Welt. Wird erstochen. Erleidet als Matrose Schiffbruch, ertrinkt.
-Krepiert im Berliner Obdachlosenheim. Schuftet nach dem Taylorsystem
-in Chicago. Ist Gelegenheitsarbeiter im Newyorker Hafen.
-Magistratsschreiber in einer kleinen deutschen Stadt. Während diesen
-drei Damen das Kind gegenwärtig ist wie ein Schweißausbruch, hatte
-Jürgen heiter gedacht.
-
-„Das arme Kind muß doch ... Diese Schande für die bisher so
-hochgeachtete ... gefunden werden ... alteingesessene Familie
-Kolbenreiher.“
-
-Und war, getroffen von diesem unverhofften Stoß, beinahe vom Stuhl
-gefallen.
-
-Nie in ihrem ganzen Dasein hatte die Tante, die nach der Beichte völlig
-unerwarteterweise wieder gesund geworden war, etwas so tief und
-schmerzlich bereut wie diese Beichte. Nicht einmal das Jugenderlebnis
-selbst. Nie in seinem Leben war Jürgen vor einem Menschen gestanden, der
-so bis in die tiefsten Tiefen erschüttert, so fassungslos gelacht hätte
-wie Elisabeth. Und nie in seinem Leben hätte Jürgen es für möglich
-gehalten, dieses Gefühl der Rührung und Sympathie für die Tante
-empfinden zu können.
-
-Auch sie wollte leben. Und wurde nur ein einziges Mal vom Leben
-gestreift, dachte er auch jetzt, wie er die Tante ansah, die einer
-uralten, zähen, endlich zerfallenden Eichbaumwurzel glich. ‚Wie hat sie
-mich gepeinigt! Wie ganz und gar ist das Geschöpf, ist der Mensch, der
-sich damals von dem Geliebten umfangen ließ, versunken und ertrunken.
-Welch Dasein!‘
-
-Seit dem Schlage, den sie selbst der Familienehre zugefügt hatte, war
-die Kraft der Tante gebrochen gewesen. Ihre zwölf Fragezeichen waren
-weiß geworden. „Bald erbst du alles“, sagte sie, flackernden Blickes,
-richtete den gelben Totenschädel auf.
-
-Und Jürgen dachte: Wenn nicht das Kind eines Tages doch noch erscheint
-und sagt: Da bin ich. Der Erbe bin ich.
-
-Er stieg in den Lift, der eingebaut, fuhr in den zweiten Stock hinauf,
-der aufgesetzt worden war, und dachte dabei an sein Kind.
-
-Immer, wenn er an den Sohn der Tante erinnert wurde – und dies geschah
-häufig, denn Elisabeth brach auch jetzt noch oft in Lachen unvermittelt
-aus –, dachte er an den Sohn Katharinas, der Geld zu schicken er nicht
-wagte.
-
-‚Zu dem Sohn der Tante, der wahrscheinlich gar nicht mehr lebt, und,
-lebte er noch, nicht die leiseste Ahnung hätte, wessen Sohn er ist, eine
-Verbindung herzustellen, wäre leichter als zu meinem Sohne, der eine
-Gehstunde von hier entfernt im Waschkorb liegt ... Oder kann er schon
-laufen? ... Sie lebt ja tatsächlich auf einem anderen Planeten.‘
-„Merkwürdiges Mädchen“, murmelte Jürgen und trat, da er Elisabeths helle
-Stimme vernahm, in den Salon, dessen Tapete farbig schmetterte.
-
-Zwischen ornamental geschwungenen, riesigen Schwertlilien und
-Wasserrosen – blau, rot, violett – und giftgrünem Schilf auf Goldgrund,
-der den See darstellte, versuchte alle Quadratmeter der selbe Faun die
-selbe Nymphe zu fangen und konnte sie nie erwischen. Dreiunddreißig
-Nymphen hatte Jürgen gezählt.
-
-Der Salon erinnerte ihn an den der Frau Knopffabrikant Sinsheimer, wo
-ihn die Furcht vor der Leiche des Vaters angesprungen hatte. Denn außer
-den reichgeschnitzten schwarzen, unverrückbar schweren Eichenholzmöbeln
-– zum Platzen dicke schwarzgebeizte Putten schleppten, himmlisch
-lachend, ohne jede Anstrengung riesige Füllhörner von links nach rechts,
-oben um die Prachtstücke herum, und die in der Mitte obenauf sitzenden
-Putten spielten dazu die Flöte – standen und lagen auch hier viele
-singende, musizierende, miauende, tanzende Hochzeitsgeschenke und
-Gebrauchsgegenstände, die nicht benutzbar waren, darunter ein
-Riesenkäfig, in dem ein ausgestopfter Papagei saß, der alles hatte, was
-er zum Leben brauchte: Wassernapf, Futternapf, gefüllt mit Wicken aus
-Holz, und – beladen mit nagelneuen Birnen, Trauben, Äpfeln und
-Pfirsichen aus farbigem Tuch – die zwei silbernen Tafelaufsätze in
-Eiffelturmform, von Frau Sinsheimer als Hochzeitsgeschenk geschickt,
-genau so gut erhalten, wie sie sich bei ihrem eigenen Hochzeitstag
-eingestellt hatten. Zwei große künstliche Palmen, auf Ständern mit
-gelben Storchenbeinen, verdunkelten das Fenster.
-
-„Ich wiederhole: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“,
-erklärte gekränkt Frau Wagner, die, während die Neuvermählten auf der
-Hochzeitsreise gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen
-Verbreitung des Klatsches sterbenskrank geworden, im Bett gelegen war,
-ganz allein das Einrichten der Wohnung besorgt hatte.
-
-„In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine große Anzahl
-Fabelwesen, aber keinen Gaul“, versicherte launisch Elisabeth und sah
-umher: Vom nie benutzten Kohlenkasten, schwarz lackiert, auf dem die
-heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, bis zu dem zwei
-Meter hohen seidenen Wandschirm, auf dem ein gestickter, lebensgroßer
-Storch das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog,
-schwang der Elefant den Rüssel feierlich-langsam hin und her. Das
-Ziffernblatt in seiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau
-Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch gewesen war,
-telegraphisch in der Fabrik bestellt.
-
-Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon. Und das Bewußtsein, das hinter
-Jürgen herschritt, in gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in
-der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher zum Waschkorb
-ging, in dem der Sohn lag.
-
-Katharina befand sich in weiter Ferne, aber überaus deutlich sichtbar;
-nicht so verblaßt wie damals, als Jürgen gesundend im Liegestuhl gelegen
-hatte. „Das wechselt.“
-
-„Was wechselt?“ fragte Elisabeth.
-
-„Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst, dann wieder heiter. Ein
-andermal, ich möchte sagen: in gespaltener Stimmung.“
-
-„Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre dies anders.“
-
-Frau Wagner durchblätterte noch das in gepreßtes Schweinsleder gebundene
-und mit einem winzigen goldenen Hängeschlößchen versehene Album, das die
-repräsentablen Ahnen der Familie Wagner enthielt. Herren ließen den
-Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid bewundern. Die Photographieaugen
-blickten. Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht im Leben, die
-Faust auf der Kante des zerbrechlich zarten Tischchens. Damen, die
-Frisuren schulterwärts geneigt, Augen halb geschlossen, zeigten, daß sie
-ohne Ideale nicht leben konnten. Kinder standen noch im Kampf mit der
-Natürlichkeit.
-
-Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte Gesicht eines
-degenüberquerten Studenten in Wichs kam auf das Gesicht einer alten Frau
-im Totenbett zu liegen. ‚So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt sind
-sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.‘ Frau Wagner sah umher, den
-Kopf aufgestützt.
-
-Eine halbe Stunde später, als Jürgen vorbeiging, sah er Frau Wagner noch
-immer sitzen im Salon, den Kopf gestützt wie vorher, reglos und traurig.
-Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben.
-
-‚Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein. Wir werden uns eben an
-die tausend Zentner schwere Einrichtung und an die Menagerie gewöhnen
-müssen; haben uns ja schon daran gewöhnt. Das ist ja auch unwichtig. Das
-Leben stellt andere Aufgaben.‘
-
-Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie nicht. Fand nichts, das
-wert gewesen wäre, sich dafür einzusetzen. Auch heute hatte die tote
-Einsamkeit, die um und in ihm stand und das ganze Haus durchdrang, ihn
-eine Stunde früher als nötig fortgetrieben.
-
-Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend blickte sie in die
-Richtung der Mutter Gottes; die gelben, dünnknochigen Finger hielten die
-geöffnete Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere
-aufhob.
-
-Jürgen liebte es, in die Schreinerwerkstatt neben der Haltestelle
-einzutreten und, plaudernd mit dem alten Meister, den Gesellen bei der
-Arbeit zuzusehen, bis der Trambahnwagen kam. Eine Schreinerwerkstätte,
-die Hobelspäne, der Holz- und Leimgeruch waren für Jürgen der riechbare
-und sichtbare Ausdruck eines einfachen, lebenswarmen Daseins, wie er es,
-seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht hätte.
-
-„Ihre Mutter war noch gar nicht auf der Welt und von Ihnen selbst, mein
-Gott, keine Spur, damals, als mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern
-gemacht hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante war so ein
-huschiges Springerchen von zehn Jahren.“
-
-„Wie war denn meine Tante als Kind?“ fragte Jürgen, plötzlich wieder von
-Sympathie ergriffen.
-
-„Da, sehen Sie ihn an: der Sägbock war ihr Reitpferd. Auf dem selbigen
-Sägbock ist sie geritten jeden Tag. Und so manches Mal war sie einfach
-verschwunden. Nicht zu finden! Da haben wir sie gar oft aus den
-Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinvergraben, ganz und gar
-zugedeckt und ist dann plötzlich wie ein kleiner Teufel rausgefahren.
-Wollt nie nachhaus. Hat gestrampft und geheult ... Wild war sie. Ein
-Wildes Kind! Schwer zu erziehen.“
-
-„Was Sie sagen!“
-
-„Das Leben hat nachher das seine getan ... Da kommt Ihr Wagen.“
-
-Jürgen zeigte die Abonnementkarte dem Schaffner, der lächelnd abwinkte:
-„Gilt schon! Wir kennen ja einander.“
-
-‚Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt nicht für möglich
-gehalten.‘
-
-„Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte nicht mehr zu zeigen.
-Jetzt fahren Sie seit zwei Jahren täglich viermal.“
-
-‚Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind so werden kann, wie die
-Tante geworden ist, vom Leben so ruiniert werden konnte, da kann man von
-Verantwortung des einzelnen ja überhaupt nicht mehr reden. Die
-Verhältnisse sind schuld. Sicher auch bei Katharinas schöner
-Jugendfreundin mit dem leidensfähigen, milden Herzen, daß sie so lala
-eine Gesellschaftsdame und die Frau des Oberstaatsanwaltes wurde ...
-Oder doch nicht die Verhältnisse? ... Wer könnte entscheiden, ob ein
-Mensch die Kraft gehabt hätte, weiter zu kämpfen und zu leiden, oder ob
-stärker als seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden
-Begierden waren? Es gehört heutzutage schon sehr viel Kraft dazu, sich
-selbst im Leben vorwärts zu bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der
-Allgemeinheit auf sich zu nehmen und vorwärts zu bringen! ... Man setze
-erst sich selbst durch und stelle dann sich und seinen Einfluß und seine
-Macht in den Dienst der Allgemeinheit.‘
-
-‚Und was wird unterdessen, während du dich durchsetzt, so lala mit dir,
-mit dem Bankier Kolbenreiher, geschehen?‘ fragte mit schon kaum mehr
-vernehmbarer Stimme das weit zurückgedrückte Bewußtsein. Und stieß
-plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber, von Jürgen nur dunkel
-vernommen und empfunden, nicht gleich vordrang bis an den Bezirk des
-neuen Bewußtseins, das in diesen Jahren immer häufiger Sieger geblieben
-war.
-
-Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten Tiefe seines Wesens,
-stieg empor als Hinweis auf eine unentrinnbare Todesgefahr, und Jürgen
-wurde sekundenlang innerlich gelähmt, so ganz und gar wie in der
-vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im Albtraum ihn gelähmt und
-unwiderstehlich gezwungen hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch
-lebend, er selber gelegen war.
-
-„Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke?“
-
-Und während der Schaffner sinnend „Zehn, nein, schon elf Jahre!“ sagte,
-wiederholte in verzweifeltem Ansturme das zurückgedrückte Bewußtsein zum
-dritten Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte im Rückenmark,
-wie damals in der Hafenstadt.
-
-„Bastgeflecht ist sehr praktisch, hält lange, was?“
-
-„Ja, das gibt aus.“ Auch der Schaffner prüfte mit seiner starken Hand
-anerkennend das Bastgeflecht der Sitzlehne und schritt dabei hinaus auf
-die hintere Plattform, legte den Zeigefinger an die Mütze, und das junge
-Bureaumädchen schob ihre Abonnementkarte wieder in das Handtäschchen,
-sah ernsten Blickes ihr Leben an. Die Alleebäume flogen nach rückwärts.
-
-Das sind nur die Nerven, dachte Jürgen, mit bezug auf die Drohung ...
-Zwei Jahre! Muß endlich auf ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen.
-Eine Reise! Das habe ich mir verdient ... Diese warmen wunderbaren
-Herbsttage! Das wird schön sein.
-
-Als die Allee endete, die Straßen enger, der Wagenverkehr und der Lärm
-stärker, die Luft schlechter geworden waren, setzte das Bureaumädchen
-sich in den Wagen, dankte mit ernstem Nicken für den Gruß ihres Chefs
-und begann in einem Buche zu lesen. Sie war die Tochter eines in der
-Papierfabrik des Herrn Hommes beschäftigten Hilfsarbeiters und seit
-ihrem sechzehnten Jahre in der Buchhaltung des Bankhauses Wagner und
-Kolbenreiher angestellt.
-
-Am Vormittag hatte er persönlich die Jahresabrechnung über das Vermögen
-der Tante in der Buchhaltung geholt und dabei das Mädchen zum erstenmal
-gesehen. ‚Jetzt sitzt sie genau so in sich verschlossen da und liest,
-wie die fünfzehnjährige Katharina im öffentlichen Parke gesessen hatte.
-Der selbe stillbewußte, ernste Blick, wie Katharina ihn heute noch hat.
-Nur jünger ist sie. Selbstverständlich viel jünger! Äußerlich überhaupt
-ganz anders. Die Gestalt ist etwas voller. Aber dieser Blick! ... Neue
-Jugend wächst heran und nimmt den Kampf auf‘, hatte er plötzlich
-gedacht.
-
-‚Hübsch ist sie. Sehr hübsch! ... Nur eine Geldfrage ... Allerdings ein
-ernstes Geschöpf ... Gerade deshalb ungewöhnlich anziehend ... Ihrem
-Chef würde sie nicht widerstehen können.‘ Er entkleidete sie.
-
-Eine zwei Zentner schwere, weißhaarige Frau mit gewaltigem Busen stieg
-ein, setzte sich Jürgen gegenüber.
-
-‚Der Hilfsarbeiter hat nichts als diese Tochter, die ihrem Chef
-gegenüber wehrlos ist.‘
-
-‚Dafür – für die Verhältnisse – bin nicht ich verantwortlich ... Das
-Leben brennt, ist wild und schön und da, gelebt zu werden.‘ Und er
-überlegte, wo und wie er seine hübsche junge Angestellte verführen
-könne. „Weshalb lachen Sie?“ fragte er freundlich die dicke Frau.
-
-„Das ist jetzt einunddreißig Jahre her“, sagte die Alte und streckte
-lächelnd beide Hände vor. „Herr Kolbenreiher, ich war die erste, die Sie
-in den Händen gehabt hat. So groß waren Sie.“
-
-Alle Fahrgäste lächelten über die alte Hebamme. Das Mädchen wandte ein
-Blatt um, sah auf und Jürgen an, lächelte auch.
-
-„Was tat ich denn? Wie war ich?“ ‚Es geht doch nicht. Das könnte einen
-öffentlichen Skandal geben. Und auch die Autorität ginge flöten.‘
-
-„Gebrüllt haben Sie. Gebrüllt, sag ich Ihnen, nicht anders, als ob Sie
-am Kreuz hingen. Sie wollten nicht. O, Sie wollten absolut nicht.“
-
-Auch der Schaffner grinste. „Endstation! ... Genossin, heut abend ist
-Bezirksversammlung. Erinnere auch deinen Vater“, sagte er zu dem
-Bureaumädchen.
-
-„Es ist aber doch ganz gut gegangen. Sind ein schöner, großer Herr
-geworden. Ein prachtvoller Herr!“
-
-Leider muß ich auf meine Stellung Rücksicht nehmen. Ich bin der Chef.
-Die Autorität muß gewahrt bleiben, dachte er, während er hinter dem
-Mädchen auf die Bank zuschritt. Der livrierte Portier riß die Tür auf.
-
-„Niemand kann alle seine Wünsche und Begierden erfüllen. Außerdem ist
-die Sache die“, sagte, blätternd im Telephonbuch, Jürgen und bat um die
-Nummer Adolf Sinsheimers, „daß ich das selbe ungefährlicher haben kann
-und sogar ganz bedeutend reizvoller, falls dieses Mädchen in dem
-orientalischen Salon tatsächlich Katharina ähnlich sieht.“
-
-Heute abend könne er nicht zum Essen nachhause kommen, teilte er
-telephonisch Elisabeth mit, die daraufhin ihrem gegenwärtigen Geliebten,
-einem Maler, sofort telephonisch mitteilte, daß sie heute abend wieder
-auf eine Stunde zu ihm ins Atelier kommen werde.
-
-Wie damals vor der Animierkneipe, standen die vier Schulkameraden schon
-wartend vor dem Portal, das auf den Nacken zweier marmorierter
-Gipsherkulesse ruhte. Adolf hob den Spazierstock wie eine Kerze. „Ich
-habe uns schon angemeldet ... Noch die selbe Wirtin, eine alte Hure! Du
-erinnerst dich, Jürgen, wir sind damals vom Korsorestaurant aus
-hingegangen. Aber andere Damen! In jedem Zimmer zwei Waschschüsseln!
-Dabei doch dezente Aufmachung! Schon wie in Berlin!“
-
-Jürgen erkannte das von Säulen getragene, mit Gipsmarmorplatten
-ausgeschlagene Stiegenhaus wieder. Eine flackernde Kerze, eine hohe
-Frisur, zwei schwarze Riesenaugen und ein violetter Schlafrock kamen
-lautlos die Treppe herunter. Die geschminkte Wirtin legte sofort den
-Zeigefinger an den Mund, stieg voran.
-
-„Hols der Teufel, diese Leisetreterei! Warum knipsen wir denn die
-Nachtbeleuchtung nicht an!“ rief in dem Poltertone seines alten
-Batteriechefs, der ihm Vorbild war, der Artillerieoffizier.
-
-Die Wirtin legte den Zeigefinger an den Mund. Der Referendar versteckte
-seine Brieftasche in der Geheimtasche des Westenfutters und lächelte.
-
-„Weil eben ein Menschengesicht zu lächeln vermag“, sagte Jürgen vor sich
-hin und gedachte mit Erinnerungszärtlichkeit des Jürgen, der damals, um
-über seine knabenhafte Unsicherheit wegzutäuschen, die Mädchen wie ein
-erfahrener Lebemann begrüßt hatte. Heute trat er so gelassen in den
-orientalischen Salon, wie er als Chef in das Direktionsbureau der Bank
-trat.
-
-Alles spielte sich nahe den Teppichen ab. Niedrige Tischchen. Die
-Mädchen saßen und lagen auf Ottomanen und auf Polstern am Boden.
-
-„Na, ihr Racker! Brust heraus!“ rief der Artillerieoffizier in dem Tone
-seines Batteriechefs und schnallte gewichtig den Säbel ab, mit den
-Gebärden eines Mannes, der nur mit Pferden und Rekruten zu tun haben
-will.
-
-„Sagen Sie mal, wie gehts denn! Sind ja ne richtiggehende Schönheit.“
-Adolf hatte sich, seitdem er Alleininhaber des Knopfexporthauses war,
-angewöhnt, schnoddrig wie ein Berliner zu sprechen und sich ganz so zu
-benehmen wie seine Vorbilder: die Berliner Großexporteure, mit denen er
-in Geschäftsverbindung stand.
-
-Das auf der Ottomane liegende Mädchen streckte ihm die Patschhand hin.
-Auch sie – schwarzhaarig und bernsteingelb – sah orientalisch aus,
-kokettierte lässig mit ihrer weichen Hüfte, die sich aus dem
-orangefeurigen, geschlitzten Schlafrock langsam herauswölbte.
-
-„Sind ne süße Krabbe!“
-
-Jürgen schüttelte den Kopf: ‚Nicht Adolf Sinsheimer, sondern der
-Berliner Exporteur spricht.‘
-
-Der Artillerieoffizier stand, batteriecheffest, auf gespreizten Beinen,
-nahm die Mütze ab und wischte sich ächzend die Stirn, die ganz
-schweißfrei war und zweigeteilt: unten tiefbraun, wie das Gesicht, oben
-knabenweiß.
-
-Sieht aus wie ein alter Kinderschänder, dachte Jürgen, als der livrierte
-Diener – stilles, glattes Fuchsgesicht – den Champagner brachte. Der
-Diener hatte zusammen mit der Wirtin die Pension gegründet und
-finanziert und bezog die Hälfte des Reingewinnes.
-
-Sie saßen in der gepolsterten Ecke. „Ich komme dir“, sagte, Schultern
-zurückgezogen, Kopf vorgestreckt, das Sektglas unter der Achselhöhle,
-der Referendar zu Adolf, dessen Orientalin, Hüfte hochgewölbt,
-zusammengerollt in der Ecke lag und mit den mächtigen, weichen Schenkeln
-lockte.
-
-„Ein Dutzend Flaschen Rotspon wäre mir lieber als dieses Weibergesüff.“
-Der Batteriechef trank ex, hieb das zarte Glas auf die Tischplatte, hob
-mit rauhbeinig-väterlicher Gebärde die erst siebzehnjährige Blondine auf
-seinen Schoß und drückte das Köpfchen an seine breite Brust.
-
-Der Referendar wählte die Älteste und Schönste, ein
-vierundzwanzigjähriges kühles Wesen, das ein Bankkonto besaß und erst
-vor zehn Minuten zu einem Mann, der gerne noch eine Stunde geblieben
-wäre, gesagt hatte: „Ich muß tüchtig sein.“ Beide saßen zurückgelehnt,
-Arm in Arm.
-
-Der Referendar sprach von Staatsanwalt Karl Lenz. „... Und nächste Woche
-hat er einen Mordprozeß. Wenn es ihm gelingt, ein Todesurteil zu
-erzielen, ist seine Karriere gesichert. Dann gehts aufwärts.“ Er zuckte
-nach vorne, Sektglas unter der Achselhöhle: „Ich komme dir.“
-
-‚Solch ein Staatsschafskopf zu werden wie der, hat auch mir geblüht.‘
-Jürgen mußte lächeln über das Gebaren seiner Schulkameraden. ‚Nicht der
-Referendar A., sondern der Referendar überhaupt, nicht der
-Knopfexporteur S., sondern der Exporteur und der Artillerieoffizier
-überhaupt sitzen hier und haben Gefühle‘, dachte er. ‚Und später werden
-nicht einmal Referendar, Exporteur und der rauhe Artillerieoffizier
-überhaupt die Mädchen umarmen, sondern sie allein, die Lebenskraft, sie
-ganz allein wird die Umarmende sein.‘
-
-Die Flügeltür tat sich auf. Und Jürgen, der sich soigniert und dabei
-freimütig benommen hatte wie einer, der das Leben kennt und ihm seinen
-Lauf läßt, wich zurück.
-
-Herein schritt Katharina, reichte spitzig die Hand und setzte sich neben
-Jürgen.
-
-Verblüfft betrachtete er den gebogenen Nacken, den kleinen, festen Mund.
-Fürchtete sofort, daß er, wenn sie zu sprechen begänne, diese
-vollkommene Illusion verlieren würde.
-
-„Hab ich zu viel versprochen?!“ rief Adolf Sinsheimer, dessen Hand auf
-der gewölbten Hüfte der Bernsteingelben lag. „Na, was hab ich gesagt!“
-
-Gedankenschnell, plötzlich, ganz plötzlich verwandelte sich seine Furcht
-in die atembeklemmende Furcht, sie könnte auch im Ton der Stimme
-Katharina sein. Dann müßte ich diese Schweine niederschlagen, dachte er
-erbebend, stellte sich in seinem Gefühle schützend vor Katharina. Und
-gleichzeitig brach in die Gefühlsleere und tote Einsamkeit der letzten
-Jahre die Sehnsucht ein mit solcher Gewalt, daß sein ganzer Körper
-sekundenlang von Lähmung befallen war.
-
-Die Augen waren nicht mehr in dem orientalischen Salon; sahen Katharinas
-Mädchengestalt.
-
-Sie steht unter dem Gasarm. Sie bewegt sich. Wendet ihm voll das Gesicht
-zu. Ihre Lippen bewegen sich. Auch Jürgens bebende Lippen bewegten sich.
-Es war, als hätte er in dieser Sekunde wieder das Unfaßbare des Daseins
-geschaut.
-
-Die Bernsteingelbe schnellte empor, wiederholte lachend und so laut, daß
-alle es hörten, was Adolf Sinsheimer von ihr verlangt habe für seine
-Sammlung.
-
-Nicht der bewußte Gedanke, daß er dann Teilhaberschaft, Stellung und
-Macht, alles, was er seither erreicht hatte, aufgeben müsse, führte
-Jürgens Hand; die Hand griff ganz selbsttätig zum Champagnerglas. Er
-leerte und füllte, leerte und glotzte, leerte.
-
-Auch die andern tranken viel und schnell. Hände griffen. Mädchen
-schrien. Wehrten sich und gaben sich.
-
-Jürgen, total betrunken, empfand nichts mehr. Füllte. Leerte. Glotzte
-die Doppelgängerin an, deren Mund beständig in kaum bemerkbarer Ironie
-verzogen blieb. Sie trug die Haare kurz.
-
-Plötzlich schoß ein spitzes Etwas in ihm empor. Die beiden Wesen
-verdichteten sich in eines. Schwankend stand er auf.
-
-Die Paare verschwanden in die nur durch dünne Kunststeinwände
-voneinander getrennten Zimmer der Mädchen.
-
-„Katharina, Wunderbare!“ lallte, plötzlich tränennaß, der Betrunkene und
-griff nach der Doppelgängerin, in deren Gesicht die Ironie unverhohlenem
-Widerwillen gewichen war.
-
-Gleichgültigen Blickes ließ sie das Hemd fallen.
-
-„Deine Augen, ach, deine Augen!“
-
-Körper stürzte sich auf Körper. Vergewaltigtes Gefühl brach durch und
-brüllte: „Katharina!“
-
-Der Artillerieoffizier im Zimmer nebenan polterte auch jetzt: „Na, du
-kleiner Racker!“ Als ob nicht er und nicht sein Batteriechef, der ihm
-Vorbild war, sondern der schon seit Hunderten von Jahren verweste
-Urbatteriechef bei der siebzehnjährigen Blondine liege.
-
-Das Fuchsgesicht trat in den verlassenen orientalischen Salon, horchte
-unbewegten Antlitzes auf die Geräusche in den vier Zimmern, öffnete das
-Fenster und betrachtete die in weiter Ferne im Sternenhimmel hängenden
-großen, leuchtenden Glasquadrate der Malerateliers, die alle im selben
-Stadtviertel waren.
-
-Hinter einem dieser leuchtenden Quadrate lag, blond und schon
-entkleidet, Elisabeth auf dem breiten Renaissancebett ihres Geliebten,
-eines kleinen, geschmeidigen Südländers, blauschwarz behaart.
-
-Als das Fuchsgesicht die Mokkatassen in den Salon trug, stand der
-Referendar im Zimmer schon vor dem Spiegel und zog sich ihn wieder,
-genau in der Mitte, von der Stirn bis zum Nacken. Das Mädchen
-betrachtete ihre polierten Nägel, interesselos und eiskalt den
-Referendar. Und er, durch den Spiegel, interesselos und eiskalt sie.
-
-Eine halbe Stunde später schloß das Fuchsgesicht, Zeigefinger am Munde,
-leise die Haustür auf und ließ die Schulkameraden hinaus. Adolf griff an
-seine Krawatte, die tadellos gebunden war. Ohne eine Flasche Rotspon
-intus zu haben, lege er sich nicht in die Falle, sagte der
-Artillerieoffizier. Und Jürgen, wieder nüchtern, in soignierter Haltung,
-verbarg ein Lächeln über das Gehaben des Artilleristen.
-
-Elisabeth lag im weißseidenen Schlafrock lesend auf der Ottomane,
-reichte ihm frei und liebenswürdig die Hand, offenen Blickes. Wo er denn
-herkomme. Sie war so einfach und frisch wie die große Birne, die, von
-Phinchen am Nachmittag im Garten gepflückt, in Reichweite auf dem Tische
-lag. Das spitzige Messer lag daneben.
-
-Diese reine Atmosphäre in meinem Hause, dachte Jürgen.
-
-„Ich war auch weg heute abend. Eine Stunde bei den Eltern“, sagte
-Elisabeth frei und ungezwungen, so ganz erfüllt von sich und ihrem
-Selbstrecht auf Genuß, daß auch diese Lüge wie die reine Wahrheit ihr
-von den Lippen ging. Prüfte dabei mit den Fingern ihre Brustspitzen, die
-noch rosig waren. Und fragte wieder: „Weshalb bekomme ich kein Kind?“
-Sie wünschte, viele Kinder zu bekommen. „Und jetzt habe ich gebadet.“
-
-„Gut unterhalten? Wie wars bei den Eltern?“, ‚Das übrigens soll mir
-nicht wieder passieren, daß ich zusammen mit solchen an Fäden gezogenen
-Hampelmännern so wohin gehe ... Alle Menschen werden an Fäden gezogen.
-Wer oder was ist es, das im Mittelpunkt des Lebens hockt und die Fäden
-zieht?‘ „Nun?“
-
-„Immer das selbe! Der Vater sprach von Geld und von der Börse, von Geld,
-von der Börse ... Weißt du, es ist keine Luft mehr dort in der großen
-Wohnung. Er kann nichts greifen. Alle Gegenstände weichen zurück. Er
-langweilt sich fürchterlich, seitdem er sich vom Geschäft zurückgezogen
-hat. Sein Leben hat keinen Inhalt mehr.“
-
-„Wie wir das letztemal zusammen dort waren, äußerte er doch, er möchte
-ein kleines Gut kaufen und es selbst bewirtschaften. ‚Natur, Natur,
-Gras, Rüben‘, sagte er. Weshalb tut er das nicht?“
-
-„Papa würde auf dem Lande in acht Tagen vor Langeweile schwermütig
-werden. Und auch so wird er schwermütig. Für Bücher, Kunst, Musik, was
-unsereinem oft über leere Stunden hinweghilft, interessiert er sich
-nicht; davon trennt ihn sein ganzes Leben, das er auf der Börse
-zugebracht hat. Für Frauen ist er zu alt. Bleiben noch die Mahlzeiten.
-Aber er darf nur das wenigste essen. Bleibt die Langeweile. Ich sage
-dir, bald wird er wieder ins Geschäft kommen. Er hälts nicht aus.“
-
-„Altgewordene amerikanische Kapitalisten, die sich in dieser Lage
-befinden, verstehen es, sich einen Lebensinhalt zu verschaffen: Sie
-werden moralisch. Was sie jedoch nicht hindert, ihr Vermögen auch
-weiterhin sehr geschickt und ertragreich zu verwalten!“ sagte ironisch
-lächelnd Jürgen.
-
-Mit einem elastischen Ruck setzte Elisabeth sich aufrecht. „Vor ein paar
-Jahren war ich mit den Eltern in einem Sanatorium. Da war ein großer
-Arbeitshof. Die alten Herren Exporteure, Bankiers und Geheimräte, in
-Badekostüm, scheußlich fett oder abschreckend mager und behaart, solche
-Hängebäuche! mußten Holz sägen, Sand in Schubkarren schaufeln. Sie
-karrten ihn über den Hof in die andere Ecke, leerten ihn aus,
-schaufelten den selben Sand wieder ein, schafften ihn zurück. Aus, ein,
-hin, her! Immer den selben Sand! ... Schrecklich! Bei dieser Arbeit
-würde ich verrückt werden.“
-
-„In China wurden Schwerverbrecher damit bestraft, daß sie derartige
-sinnlose Arbeiten verrichten mußten ... Viele, scheinbar ganz normal
-gewesene Bürger werden ja auch verrückt. Schwermütig und so! Wissen
-nichts mit sich anzufangen, treiben sich in Sanatorien und
-Nervenheilanstalten herum oder kehren, wie du sagst, ins Geschäft zurück
-und treten weiter die Geldmühle, bis sie an Arterienverkalkung sterben.
-Diese alten Verdiener! ... Das soll uns nicht passieren, wie?“
-
-Er ließ sich vor der Ottomane auf ein Knie nieder. „Glaubst du“, fragte
-er, Blick in ihrem Blicke, langsam und lächelnd, „daß ich jetzt noch
-baden kann?“
-
-Im Schlafzimmer hing über dem Doppelbett eine rote Ampel, auf der ein
-gläserner Amor kniete. Den Bogen hielt er noch in den Händchen. Den
-Glaspfeil – Richtung Liebespaar –, der bei brennender roter Ampel
-blauleuchtend geworden war, hatte Jürgen schon vor Jahren, gleich nach
-der Rückkehr von der Hochzeitsreise, in der ersten Nacht abgebrochen. Es
-gäbe Grenzen.
-
-Elisabeth lag schon im Bett, Hände unterm Kopf, als Jürgen aus dem Bade
-kam. Lächelnd so im Spiel des Lebens drehte sie die helleuchtende
-Nachttischlampe ab, lächelnd er die andere. Die Ampel glühte rot auf.
-
-Was ist ein Jahr, wenn jeder Tag dem andern gleicht und das Leben ohne
-Härten ist ... Ein Tag nur! Ein unbewußter Atemzug! dachte Jürgen nach
-einem Jahre, das, ausgefüllt mit Arbeit im Bureau, mit Theaterbesuchen,
-Bilderkäufen, Mahlzeiten, roter Ampel, Bureau, im Fluge vergangen war.
-Die Zeit stand, so schnell verging sie. Das Vermögen wuchs. Jürgens
-Ansehen stieg.
-
-„Du sitzt im Lehnstuhl oder liegst im Bett, und über Nacht bist du um
-soundso viel reicher geworden“, sagte Jürgen scherzend zur Tante, die
-antwortete: „Du erbst alles.“
-
-Herr Wagner erschien wieder jeden Tag pünktlich im Bureau. Grund zum
-Klagen gab ihm sein Teilhaber schon lange nicht mehr. „Unser Schwieger
-ist ein braver, tüchtiger Mensch. Die Interessen des Hauses und der
-Kunden gehen ihm über alles“, konnte er oft zu seiner Frau sagen, die
-immer wieder erwähnte: „Aber, daß sie mit der Wohnungseinrichtung nicht
-zufrieden sind, das ist ... also das versteh ich nicht. Nun, wenn er nur
-wenigstens im Geschäft tüchtig ist.“
-
-Und dies hatte sich wie von selbst gemacht. Allmählich und unversehens
-war das Leben zum Gleis geworden, auf dem Jürgen durch die Jahre rollte.
-
-Er war bekannt als großzügiger Philantrop und Mäcen, hatte mit
-unfehlbarem Stilverstande schon eine ganze Anzahl Antiquitäten und
-Bilder gesammelt und sie einstweilen in einem unbewohnten Raum der Villa
-verwahrt, denn er wollte das alte Palais, das auf dem stillen, größten
-Platze der Stadt stand, erwerben und nach seinem Geschmacke einrichten.
-
-„Einer sammelt, sein leeres Dasein auszufüllen, Pfennige, die älter
-sind, als er selbst, oder kostbare Werke alter oder hervorragende neuer
-Kunst, oder macht Bastelarbeiten, die im Laufe von Jahren ein
-faustgroßes Schweizerhäuschen mit Alm, Sennerinnen, Kühen und
-fensterlnden Burschen werden“, sagte er zu einem befreundeten
-Fabrikanten, der eine Riesenvilla voll alter, gotischer Holzplastiken
-besaß.
-
-„Ja, mein Lieber, etwas muß der Mensch doch haben. Außerdem: ich kaufe
-billig“, rief der Fabrikant. „Dann machts Freude. Wer nicht aufs Geld
-sieht, der natürlich bekommt heutzutage eine tadellose Sammlung, ganz
-gleich welcher Art, auch fix und fertig ins Haus geliefert.“
-
-„Einer macht Buddhas Wort ‚Geh an der Welt vorüber, es ist nichts‘, zu
-seiner Weltanschauung, und bleibt in seiner Prachtwohnung mit Bad,
-Warmwasser, Dampfheizung und allem Komfort. Ein anderer gibt, vielleicht
-gar um das Stimmchen zu beruhigen, Summen für Wohltätigkeitszwecke oder
-unterstützt begabte junge Künstler. Ich tue beides und sammle
-obendrein“, schloß er in Selbstironie.
-
-Und wenige Monate später sagte er zu dem selben Fabrikanten: „Die
-Lebensauffassung des Bürgers ist folgende: Jeder tue seine Pflicht.
-Dadurch arbeitet jeder für jeden. Das greift ineinander. So entstehen
-Reichtum und Kultur des Landes, numerierte Häuser, in denen die Menschen
-leben, Küchen, Geschirr, Schränke voll Wäsche, asphaltierte Straßen,
-Schulen, Ruhe und Ordnung. Weil jeder seine Pflicht tut. Und
-Obdachlosenheime, Polizei, Gerichtshöfe und Zuchthäuser sind da für
-diejenigen, die ihre Pflicht nicht tun ... Schön. Mag sein, daß er recht
-hat. Unsereiner aber unterscheidet sich von denen, die geradezu platzen
-vor Selbstgerechtigkeit. Denn Wissen und Geist und Besitz verpflichten
-zu mehr.“
-
-Und er legte die Hand auf die Krokodilledermappe, in der die Notizen zu
-seinem geplanten Werke ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘ lagen. Nach dem
-Essen las er die Abendzeitung.
-
-Seine Tage rückten auch weiterhin, gesichert und getragen von Gewohnheit
-und Achtung, ohne schmerzliche Ereignisse durch ihn durch und hinter
-ihn, wie eine verkehrsreiche Straße vorbeirollt und zurückbleibt.
-
-Nur noch in den Träumen stand manchmal das vergewaltigte Ich auf, schrie
-seine grauenvolle Drohung, die nicht mehr bis in das neue Bewußtsein
-vordringen konnte. Die Entfernung war schon zu groß, und zwischen dem
-drohenden Ich und dem inneren Ohre Jürgens stand das Erleben vieler
-Jahre, das, zusammen mit der Millionenfältigkeit des unausgesetzten
-Strebens nach Erfolg, Genuß und Achtung, das neue Bewußtsein gebildet
-hatte. Ein fugenloser Schutzwall.
-
-Das Ich drohte. Der Träumende stöhnte. Sah die graue Straße, auf der die
-Millionen dem Fabriktore der Welt zuschritten, grau und
-gespenstisch-lautlos. Sah den Gaskocher, neben dem Katharina steht, kaum
-bemerkbare Ironie im Blick. Und fleht sie an: „Laß deine Haare wieder
-wachsen. Was ist dir denn geschehen, sag, mir, was ist dir geschehen.“
-
-Elisabeth blickte kopfschüttelnd das wildverzerrte Gesicht an, hinter
-dem das vergewaltigte Ich erfolglos um sein Dasein rang und Tränen durch
-die geschlossenen Lider schickte, weckte den Stöhnenden, der nicht mehr
-wußte, was er geträumt hatte.
-
-Erleichtert aufatmend, lächelte er das Leben an, das neben ihm lag. Im
-Garten schrien die Vögel. Auch die tausend Tapetenvögelchen des sonnigen
-Schlafzimmers zwitscherten.
-
-„Was bist du für ein Mensch, du lächelst mit Tränen in den Augen.“
-
-Und Jürgen, wie er ihren duftenden Kopf sanft zu sich zog: „So ist das
-Leben: zum Lachen und zum Weinen in einem.“ Der Druck war ganz gewichen.
-
-Nach dem Frühstück und dem Bade ging er in den Garten, sog genießend die
-warme, aromatische Luft ein, betrachtete über den Zaun weg des Nachbars
-frisch gegossene Salatbeete, die funkelnd unter der Sonne lagen, blieb
-vor jedem Rosenstämmchen stehen, freute sich über die kopfgroßen,
-farbigen Glaskugeln, die, von der Sonne getroffen, sein Gesicht
-daumengroß widerspiegelten, und bekam Lust, an der Wasserleitung
-weiterzuarbeiten, die anzulegen er vor einiger Zeit begonnen hatte, um
-seinen Garten mit einer Wasserkunst zu schmücken. Der Arzt hatte Jürgen
-körperliche Arbeit anempfohlen.
-
-Das Graben und Schaufeln tat ihm wohl. Die zwölf auf Stangen steckenden
-Glaskugeln bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Wasserkunst steigen
-sollte. Die Brunnenfigur, ein lebensgroßer Jüngling in Bronze, erworben
-von einem jungen, unterstützungsbedürftigen Bildhauer, kniete schon,
-Kopf geneigt, Hände im Rücken, als wäre er gefesselt, unter dem
-Schneeballenbusch.
-
-Im Garten nebenan sang der Nachbar die Nationalhymne. Elisabeth, in
-leichtem Sommerkleide, sah vom Liegestuhl aus ihrem gesunden, starken
-Manne zu. Phinchen servierte Butterbrote auf dem Tisch unter dem
-Nußbaum, unter dem die Tante häkelnd gesessen hatte. Sie lag im Bett und
-konnte nicht sterben.
-
-Hemdärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt, die Zigarre im Munde,
-betrachtete Jürgen zufrieden seine Arbeit. „Nächstes Jahr werden auch
-wir ein Stück Nutzgarten anlegen: Gemüse- und Salatbeete, etwas
-Beerenobst. Körperliche Arbeit erhält gesund. Man muß vorbeugen, weißt
-du.“
-
-Vögel huschten von Busch zu Busch. Die Amsel schnappte einen Wurm aus
-der frisch aufgeworfenen Erde, überquerte, nah dem Boden, den ganzen
-Garten und verschwand unter dem Schneeballenbusch.
-
-Das Zwölfuhrläuten zahlreicher Kirchenglocken vereinigte sich über der
-Stadt, strahlte auseinander, hinaus zu den Gärten. Jürgen legte – wie im
-Bureau den Federhalter – pünktlich den Spaten aus der Hand. Nach dem
-Mittagessen schlief er. Die Zeitung war seiner Hand entfallen.
-
-Saß dann am Schreibtisch vor der geöffneten Krokodilledermappe. Rechts
-stand eine Miniatur-Schillerbüste, geschmückt mit einem winzigen
-Lorbeerkranz, links der Tintenwischer – ein farbiges Tuchhähnchen mit
-Glasaugen – und in der Mitte das Tintenfaß: ein sich hochaufbäumender
-Bronzehirsch, auf dessen Geweih sieben Federhalter lagen. „Nun aber an
-die Arbeit!“ rief er und rieb die Hände.
-
-In der Ferne ertönte eine Kindertrompete. Vorsichtig nahm er den
-eheringgroßen Lorbeerkranz vom Haupte Schillers herunter, betrachtete
-ihn genau, schob ihn auf seinen Finger, streckte sich, daß der Körper
-knackte und der Mund ein eigroßes Loch wurde, ergriff wieder den
-Federhalter und sah hinaus, wo der Sonntagnachmittag stand, der,
-zerteilt in Billionen Teilchen, durch das Fenster und durch alle Ritzen
-und Wände hereindrang.
-
-„Sogar die Sonne scheint anders als an Werktagen, und alle Geräusche
-haben einen anderen Klang. Einen ekelhaften Klang! Unerträglich! Man ist
-wehrlos ... Da stehe ich also sozusagen auf der Höhe des Lebens, habe
-keine Sorgen, keine Schmerzen, und weiß nichts anzufangen mit dieser
-Höhe ... Sogar die Spatzen zwitschern Sonntags anders als in der Woche“,
-sagte, dunklen Druck in der Brust, Jürgen und öffnete ein Buch, legte es
-wieder weg, ergriff den Federhalter. Plötzlich glaubte er, deutlich
-gesehen zu haben, daß das Tintenfaß höhnisch gelächelt hatte. „Unsinn!“
-rief er zornig sich selbst zu.
-
-Der Wunsch nach dem Montag, nach der gewohnten Bureauarbeit und dem
-gewohnten Aufenthalt in der Börse huschte durch ihn durch. Jürgen hätte
-nicht sagen können, weshalb und wann er an das Fenster getreten war. Die
-Fichtengruppe im Garten stand reglos. Ein hängender Ast störte die
-Symmetrie. ‚Auch morgen wird dieser Ast genau so wegstehen und
-übermorgen auch und auch noch in zehn Jahren. Dieser stupide Sonntag
-bringt einen um jeden Gedanken. Ah! und diese mörderische
-Zimmereinrichtung!‘
-
-Der Himmel war gleichmäßig blau und sah aus, als ob er nie mehr
-nachtdunkel werden würde. In fernen Geräuschen schwammen die Töne der
-Kindertrompete. Im Garten sang der Nachbar. Jürgen hob die linke
-Schulter, hob die rechte Schulter, das linke Bein, das rechte. Die
-Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz. Die Glaskugeln standen
-reglos.
-
-Der hin- und herschwingende Elefantenrüssel im Salon zog weiße Fäden und
-blieb schief hängen. Jürgen sah deutlich den schiefhängenden
-Perpendikel. Gähnend und die Hände über dem Kopfe erhoben, wie ein
-Gefangener, der unter entsichertem Revolver abgeführt wird, ging er in
-den Salon, sah blöd auf den funktionierenden Perpendikel.
-
-Die Sonntagsgeräusche drangen auch durch das offene Fenster in das
-Wohnzimmer, wo Elisabeth sich langweilte. „Nun, also was? Zu den Alten?
-Oder im Park spazierengehen? ... Daß du aber auch diese unverständliche
-Abneigung gegen das Autofahren hast!“
-
-„Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden, Herzchen“, sagte er
-gähnend. „Übrigens, wenn du willst, können wir auch fahren. Laß euer
-Auto kommen ... Auch langweilig!“
-
-„Die rosa Studie und mein Porträt hängen schon seit Donnerstag. Außerdem
-noch zwanzig seiner besten Arbeiten.“ Und sie sprach von den großen
-Fortschritten, die ihr Geliebter gemacht habe. „Gehen wir in die
-Ausstellung!“
-
-„Warum nicht gleich zum Zahnarzt!“
-
-„Oder sonst jemand besuchen?“
-
-Der Schlund der grauen Leere verschlang alle Vorschläge.
-
-„Wen denn besuchen! Die sitzen sicher auch alle zuhause und wissen
-nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Ein Glück, daß nicht alle Tage
-Sonntag ist ... Gehen wir in den Zirkus! Da tritt heute zum erstenmal
-eine Akrobatin auf, die, Kopf voran, weißt du, aus sechsundzwanzig Meter
-Höhe herunterspringt in ein Bassin, das nur vier Meter lang und
-hundertfünfzig Zentimeter breit ist. Denk an: dieses winzige Loch in der
-Manege und dabei diese riesige Höhe! Unbegreiflich! Das sollte gar nicht
-erlaubt werden. Das Bassin ist mit scharfkantigem Winkeleisen eingefaßt.
-Wenn das Mädchen nur um fünf Zentimeter fehl springt, schlägt es sich
-Schulter und Arm vom Körper weg. Aber aufregend wird die Sache sein.
-Jedenfalls besser, als hier zu sitzen.“
-
-Die Zauntür drückte die beiden hinaus. Jürgen sah zurück in den
-gepflegten Garten, betrachtete das glänzende Messingschild, auf dem nur
-‚Kolbenreiher‘ stand, und zog den Hut vor der Tante, die, starr
-blickend, wie ein altes Bild im Fensterrahmen schwebte.
-
-Nachdem die Akrobatin von dem zehn Meter und von dem fünfzehn Meter
-hohen Standplatze aus gesprungen und wieder am Seil emporgezogen worden
-war zu dem sechsundzwanzig Meter hohen Standplatz dicht unter der
-Zirkuskuppel, von der aus gesehen die Manege einem am Boden liegenden
-Kinderreifen und das Bassin einem schwarzen Bleistiftstrich glichen,
-erklärte Jürgen ausführlich, jetzt liege die Gefahr sogar noch weniger
-darin, das schmale Bassin zu verfehlen, als vielmehr darin, daß das
-Mädchen sich durch die gewaltige Wucht des Sturzes den Kopf auf dem
-Grunde des Bassins zerschellen müsse, wenn sie nicht, im Wasser
-angelangt, im entscheidenden Bruchteil der Sekunde blitzschnell die
-Drehung zurück zur Wasseroberfläche ausführe.
-
-Die Musik schwieg. Das Publikum verstummte. Die Akrobatin blickte
-hinunter auf den Bleistiftstrich, in den hinein sie sich stürzen mußte,
-breitete die Arme aus. Frauen sahen weg. Auch Elisabeth sah weg.
-
-„Langweilig ist das nicht. Du siehst, sogar ein Sonntagnachmittag kann
-ausgefüllt werden“, sagte Jürgen,
-
-während die Tante mit einer ihr ganz fremden Bangigkeit die Bibel
-aufschlug und Sätze las, die, vor grauen Zeiten ersonnen, oft von ihr
-gelesen, gehört, ausgesprochen und gesungen, ihr auch jetzt nichts
-sagten. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, litt unter der
-Angstbeklemmung, daß dann alle sie betrachten würden und sie vielleicht
-ein ganz anderes Gesicht haben werde als sie habe.
-
-Und während der Mädchenkörper in der Luft eine weiche Drehung machte
-und, Kopf voran, Hände wie betend zusammengelegt, gleich einem bleiernen
-Fische an der obersten Galerie und an der erhöht sitzenden Musikkapelle
-vorbei senkrecht in die Tiefe stürzte, dem schwarzen Strich und dem
-rapid größer werdenden Sägmehlkreis in verzehnfachter Schnelligkeit
-entgegen, blickte die Tante noch einmal auf das breit vor ihr liegende
-Land hinaus, das in der Ferne schon von der rötlichen Dämmerung genommen
-wurde, und schaukelte plötzlich in sich zusammen.
-
-„Die hocken immer zuhause, die Alten. Sicher würden auch sie sich hier
-unterhalten und zerstreuen“, sagte Jürgen in den Beifallssturm hinein,
-während die Tante, unveränderten Gesichtes, bewußtlos auf dem Boden lag.
-
-Der Arzt wurde geholt, machte einen Aderlaß. Die Tante erholte sich. Um
-zehn Uhr lagen alle drei im Bett. Elisabeth stand noch einmal auf, ein
-frisches Nachthemd anzuziehen. Und als sie aus dem alten herausgestiegen
-und in das frische noch nicht hineingeschlüpft war, ließ Jürgen, an die
-Gewohnheit gespannt wie ein Pferd an die Droschke, die rote Ampel
-aufleuchten.
-
-Am andern Tage, einige Stunden vor ihrem Ableben, bekam die Tante noch
-Besuch. Auf dem Tablett lagen schon siebenundzwanzig Orangen.
-Atembenommen, schon schwarz beschattet vom Tode, hatte die Tante
-hocherfreut für die Früchte gedankt.
-
-Auf fünf Uhr war der Geistliche mit den Ministranten bestellt, die
-letzte Ölung zu erteilen. Die Sterbende überwand ihre tödliche Schwäche
-und richtete sich noch einmal auf im Bett. „Vielleicht spreche ich jetzt
-das letztemal mit dir, Jürgen.“
-
-„Du stirbst nicht, Tante, Unsinn!“
-
-„... letztemal mit dir. Ich habe immer meine Pflicht getan. An dir,
-Jürgen, und überhaupt. Vor allem an dir! Du bist ein geachteter Mann
-geworden. Das hast du zum Teil auch mir zu verdanken. Weißt du noch, wie
-das kam? ... Ein sehr geachteter Mann!“
-
-Alles Blut verließ Jürgens Gesicht. Sie bemerkte seine Blässe und
-Verwirrung nicht, schilderte, mühsam stammelnd, wo er hingekommen wäre,
-wenn er das, was er Opferbereitschaft und Hingabe genannt habe, weiter
-verfolgt hätte. „So aber kann ich ruhig sterben.“
-
-Jürgen hörte nichts mehr. Sie zog seinen Kopf neben sich auf das Kissen,
-nahm ihm das Wort ab, daß er auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen
-werde. „Merke dir: was man einem Sterbenden in die Hand verspricht, muß
-man halten.“
-
-Jürgen wußte nicht, was er versprochen hatte. Vergangenheit und
-Gegenwart stürzten ineinander. Er hörte auch nicht, daß die Tante von
-ihren bisher verheimlichten Aktien sprach.
-
-„Diese Wertpapiere darfst du nur dann verkaufen, wenn mein Bankier dazu
-rät. Vor allem: Lasse die Hypotheken auf den großen Häusern stehen! Und
-lasse nicht so viel herrichten! Reparaturen und Handwerker kosten Geld.“
-
-„Da muß ich ja Hypothekenzinsen bezahlen“, sagte Jürgens Mund vom Kissen
-weg.
-
-Ihre Hand blieb auf seinem Kopfe. „Aber die Grundbesitzsteuer ist viel
-höher als die Zinsen, die man für Hypotheken bezahlen muß. Deshalb
-belastet man ein Haus so hoch wie möglich mit Hypotheken“, erklärte sie,
-unterbrochen von Atemnot, „legt das Geld in Wertpapieren an und bezahlt
-mit den Zinsen die Hypothekenzinsen. Dafür hat man keine
-Grundbesitzsteuer zu zahlen, weil einem die Häuser gar nicht gehören.“
-
-„Unsere Häuser gehören mir nicht?“
-
-„Nur scheinbar nicht! Man besitzt sie nur scheinbar nicht.“ Sie konnte
-vor Schwäche nicht mehr sprechen.
-
-Die Flurglocke hatte geläutet. Weihrauchduft drang ins Zimmer. Jürgen
-wollte die Tante beruhigen, war aber so verwirrt, daß er sagte: „Also
-mit den Zinsen von den Wertpapieren bezahle ich die Grundbesitzsteuer.“
-
-„Nein, die Hypothekenzinsen!“
-
-„Aber es gibt doch viel bessere Kapitalsanlagen. Weshalb soll ich denn
-...“
-
-„Laß dirs von meinem Rechtsanwalt erklären.“
-
-„... soll ich denn unbedingt Hypotheken aufnehmen, wenn ich Geld und
-Wertpapiere besitze, die viel besser ...“
-
-„Rechtsanwalt“, flüsterte die Tante.
-
-Der Geistliche und die Ministranten traten ein. Das Weihrauchfaß
-überquerte dreimal das Bett. „Vor der Pforte der Hölle bewahre ihre
-Seele. Dominus vobiscum. Et cum spiritu tuo.“
-
-Die ganze Villa roch noch nach Weihrauch, als Jürgen, im Gehrock und
-schwarz behandschuht, von der Beerdigung zurückkam. Das weiße
-Taschentuch in der einen, den Zylinder in der rechten Hand, so am Rande
-gefaßt, daß er einen Gummiball hätte auffangen können, stand er im
-Sterbezimmer.
-
-Auch eine Woche später, nachdem ihm vom Rechtsanwalt schon eröffnet
-worden war, daß die Tante das dreifache an erwartetem Barvermögen
-hinterlassen hatte, stand noch ein schwacher Weihrauchduft in den
-Zimmern und erinnerte Jürgen an des Vaters Todestag, an die Seelennot,
-Unsicherheit, an die Kämpfe der Jugend, auf die er, stehend nun auf dem
-festen, breiten, gefahrlosen Boden der Gegenwart, lächelnd
-zurückblickte.
-
-Da unten taumelt ein empfindsamer Jüngling umher, getroffen von einem
-Worte, in Verzweiflung und Leid versetzt durch einen Blick. In
-ununterbrochene Qualen gestellt durch das Leben, wie es ist. Durch eine
-jugendliche Sehnsucht nach unerfüllbaren Idealen und nach der Wahrheit,
-die es nicht gibt, streift den Jüngling sogar öfters der Tod ... Hier
-sitzt der Mann im Sessel. In Sicherheit. Unverwundbar. Und nicht eine
-Sekunde der Gegenwart wird ihm, wie früher, vergällt und gestohlen von
-der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren.
-
-‚Und sogar aus dem Sozialismus, aus dieser grauen Sackgasse, in der ich
-vier Jahre steckte, habe ich wieder herausgefunden ... Jetzt wenn der
-Vater mich sehen könnte, er würde nicht mehr sagen: Na, du schmähliches
-Etwas!‘
-
-An dem großen Gesellschaftsabend des Herrn Papierfabrikanten Hommes, der
-ersten Festlichkeit, die Jürgen nach dem ereignislos vergangenen
-Trauerjahr besuchte, ließ ein früherer Mitschüler, der als
-naturalisierter Engländer zwanzig Jahre ununterbrochen in den englischen
-Kolonien gelebt und eine große Baumwollexportfirma gegründet hatte, sich
-dem Bankier Jürgen Kolbenreiher vorstellen, der auch auf diesem Feste
-für viele der Mittelpunkt war.
-
-„Wie erging es Ihrem Herrn Bruder? Ich habe nämlich zusammen mit Ihrem
-Herrn Bruder das hiesige Gymnasium besucht ... Verzeihung, ich weiß ja
-nichts. Bin ja ohne jeden Kontakt gewesen“, setzte der Engländer sofort
-hinzu, als er Jürgens betroffen fragenden Blick bemerkte, und
-entschuldigte sich, da er durch seine Frage offenbar eine schmerzliche
-Erinnerung wachgerufen habe.
-
-Jürgen hob die Schulter. Seine Augen suchten. „Ich habe keinen Bruder.“
-
-Aber solch einen Streich könne sein Gedächtnis ihm doch nicht spielen;
-er sei ja jahrelang mit einem Mitschüler Kolbenreiher in dem selben
-Klassenzimmer gesessen. „Ich sehe ihn heute noch leibhaftig vor mir. Ein
-schwärmerischer Jüngling, höchst eigenartig! Ein liebenswerter, ein sehr
-gefährdeter Mensch, dachte ich noch oft in späteren Jahren ... Er war
-also nicht Ihr Bruder? Offenbar eine Namensgleichheit!“
-
-Die glänzenden Toiletten, der Kronleuchter, Streichquartett,
-Champagnertischchen schwankten. Jürgens Gesicht fiel ein, war grau
-geworden. „Habe ich mich denn so verändert, so furchtbar verändert, daß
-Sie in mir ... in mir jenen gar nicht mehr zu erkennen vermögen?“
-
-„Also Sie selbst!“ rief, freudig erstaunt, der Engländer. „Das hätte
-ich, das allerdings hätte ich nie vermutet. Ich gratuliere, gratuliere
-wirklich von Herzen ... Wie man sich irren kann! Ich habe nämlich
-gedacht – in den Kolonien ist unsereiner ja recht einsam und denkt viel
-an die Jugendzeit zurück – habe oft gedacht, dieser Mensch wird entweder
-ein ganz abseitiges Leben führen, vielleicht auch irgendeine große Tat
-vollbringen, wenn die Situation das zuläßt – im Krieg und so – oder er
-wird zugrunde gehen. Und nun – wie ich mich freue! ... Übrigens nur ein
-Beweis mehr dafür, wie sehr die Menschen, alle Menschen, sich mit den
-Jahren verändern, sich innerlich sozusagen festigen!“
-
-An diesem Abend betrank Jürgen sich so, daß er in das Fremdenzimmer des
-Herrn Hommes gebracht werden und Elisabeth allein nachhause fahren
-mußte. Nach einer mehrwöchigen Reise, ziellos in Europa umher, saß er
-wieder im Direktionsbureau. Im Nebenraum unterhielten sich zwei
-Bankbeamte.
-
-Vor einem Jahre sei er an den Alimenten noch unverhofft vorbeigekommen.
-Das Kind sei gestorben. Aber kürzlich sei sein Mädchen wieder Mutter
-geworden.
-
-Auch Elisabeth war schwanger. Jürgen freute sich auf das Kind, stellte
-sich vor, wie es aussehen, ob es ihm oder ihr gleichen werde. Blauäugig?
-Oder braun? dachte er. Und horchte auf die Worte des Beamten, der seinem
-Kollegen genau vorrechnete, wie wenig ihm von seinem Gehalte bleiben
-werde, nach Abzug der Alimente. „Das halte ich nicht aus.“
-
-Gewandt schlüpfte der Beamte in sein elegantes Mäntelchen. „Heute feiere
-ich Abschied von der Jugend. Ich heirate. Sie hat nichts, ich habe
-nichts. Sechs versilberte Kaffeelöffel sind der Grundstein unseres
-Glückes.“
-
-Er steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch. „Extra für heute
-gekauft. Leichtsinnig, was? ... Vor diesem Glück habe ich jetzt schon
-Angst. Du schläfst Nacht für Nacht neben und mit deiner Frau. Immer mit
-der selben! Du siehst sie halb angezogen, unfrisiert, im Schlafrock –
-wenn sie einen hat –, ißt mit ihr, sprichst mit ihr. Und nicht nur von
-Veilchen und Tanz, mein Lieber! Das Prickelnde ist bald dahin. In jeder
-Ehe! Man gewöhnt sich. Dann liebt man eben außerhalb herum, wie? ...
-Aber kann denn ich mir das leisten, bei meinem Gehalt? Du mußt Blumen
-kaufen, die Zeche bezahlen. Am Ende bestellt sie sich auch noch etwas zu
-essen. Das kostet dann ein Heidengeld ... Unserem Chef natürlich, dem
-jungen Chef mit der gespickten Brieftasche und dem Scheckbuch, dem kann
-die Gewohnheit nichts anhaben. Der kann sich jede kaufen. Unsereiner
-aber muß, wenn er heiratet, glatt Abschied nehmen von der Jugend.“
-
-Mir also, meint er, kann die Gewohnheit nichts anhaben, dachte Jürgen
-noch in der Straßenbahn, suchte zuhause Elisabeth in allen Räumen und
-fand sie endlich im Schlafzimmer, wo sie erblaßt auf dem Bettrand saß.
-Ihr Leib stand stark vor.
-
-Tagelang schrie Elisabeth in Schmerzen, schrie die lange Nacht durch, in
-den trüben Morgen hinein, bis der Arzt sie von einer toten Frühgeburt
-entbunden hatte.
-
-Die blutigen Messer und Geburtszangen lagen noch auf dem Tisch. Der
-schweißtriefende. Arzt wollte ein letztes Mittel anwenden, die
-Entbundene zu retten, da stieß sie ihn weg von ihrem zerrissenen Leib.
-Ein neuer Blutstrom schoß ins Bett. Der Arzt breitete ein Tuch über die
-verwüstete Tote und ließ die Arme sinken, ging hinaus in den
-herbstlichen Garten zu Jürgen. Der Himmel hing voll Regen. Der Garten
-war naß, die Luft kalt.
-
-Einige Tage später – Elisabeth war schon begraben, Jürgen umwickelte
-Rosenstämmchen mit Stroh – sagte er leise vor sich hin: „Das Geld ist
-mir doch sicher ganz gleichgültig. Wie kam ich nur auf diesen
-abscheulichen Gedanken?“
-
-Der Gedanke war, flüchtiger als ein Vogel, der den Blick schneidet,
-gleichzeitig mit anderen Gedanken aufgetaucht und wieder verschwunden.
-‚Da das Kind tot ist, fällt die Mitgift mir zu.‘
-
-‚Ein böser Gedanke. Enthält aber eine juristisch einwandfreie Tatsache
-... Kein Mensch hat die Macht, das Entstehen eines Gedankens zu
-erzwingen oder zu verhindern.‘ Er sah empor zur beschädigten Dachrinne,
-von der dicke Tropfen schnell hintereinander herunterfielen, immer auf
-die selbe Stelle, wie damals im Rattenhof. Hing die Bastfäden über einen
-Ast und rief Phinchen zu, sie müsse den Spengler holen. „Die Dachrinne
-ist leck. Siehst du, dort oben.“
-
-Jahrelang trug Jürgen sich mit dem Gedanken, wieder zu heiraten. Auch
-der Schwiegervater redete ihm zu, nannte sogar einige Töchter vornehmer
-Familien. Er solle endlich das Palais kaufen, hübsch einrichten.
-Repräsentieren.
-
-„Ich finde aber“, sagte Jürgen lachend zu Phinchen, „faktisch nicht die
-Zeit, eine Frau zu lieben.“ Kundenkreis und Finanzaktionen des
-Bankhauses Wagner und Kolbenreiher vermehrten und vergrößerten sich in
-immer schneller werdendem Tempo.
-
-Jürgen verkehrte in Familien, wo nur von Geld gesprochen wurde. Und in
-Familien, die so reich geworden waren, daß es schon wieder für unvornehm
-galt, von Geld zu sprechen, anstatt von Humanität und Wohltätigkeit,
-Kunst, Mystik, Kultur und Goethe. Hohe Räume, stilvoll, von erlesenstem
-Geschmacke. Wertvolle Gemälde, märchenhafte Bedienung. Junge Künstler,
-die unterstützt wurden. Geistvolle Gespräche. Und Beklemmung für die
-Gäste, die noch nicht so reich waren.
-
-Zu diesen gehörte der Berliner Bankier Leo Seidel nicht; seine Worte
-wurden an dem Herrenabend, den Jürgen zu Ehren seines für wenige Tage in
-die Heimatstadt zurückgekehrten früheren Mitschülers gab, von den
-Börsianern ebenso vorsichtig gewogen und auf Fallen untersucht, wie die
-des reichen, leberkranken Hütten- und Walzwerkbesitzers auf Jürgens
-Hochzeit gewendet und gewogen worden waren.
-
-Der noch nicht vierzigjährige Seidel, tadellos unauffällig gekleidet,
-sah viel älter aus, und als könne er von nun an nicht mehr älter werden.
-Es schien, als sei das winzige sommersprossige Dreieck mit dem
-erreichten Ziele von nun an stationär.
-
-Seidel, im Ziele sitzend, sichtlich uninteressiert an den Meinungen
-dieser von ihm weit überholten Fabrikanten und Bankleute, die einzuholen
-vor zwanzig Jahren sein größter Ehrgeiz gewesen war, zeigte nicht, daß
-diese Stunden für ihn nur ein Opfer an Zeit bedeuteten, und sprach
-dennoch nicht einen Satz mehr, als die Höflichkeit gebot.
-
-Er entsann sich, daß er vor zehn Jahren, erst auf dem Wege zum Ziel,
-erfüllt von altem Hasse gegen diese vornehmen Bürgerfamilien, noch
-Befriedigung gefunden hatte in der Vorstellung, daß er, der gedemütigte
-Briefträgerssohn, sich eine dieser Töchter seiner Heimatstadt zur Frau
-wählen werde.
-
-Mit dem Erreichen des Zieles war dieser Haß vergangen und
-Interesselosigkeit entstanden. Außerdem hatte er, wie Jürgen, längst die
-Erfahrung gemacht, daß jede verheiratete Frau dieser Kreise zu gewinnen
-war, wenn auch nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt.
-
-In Pensionen ging auch Jürgen, obwohl er seit Jahren verwitwet war,
-nicht mehr. „Diese Mädchen sind entweder arme Tierchen, nur auf Geld
-aus, also erotisch an uns völlig uninteressiert, folglich langweilig;
-oder sentimentale Unschuldslämmer, verglichen mit unseren Damen der
-Gesellschaft, die voller Nervenraffinements und zu allem imstande sind“,
-hatte er auf Adolf Sinsheimers wiederholte Bitte, wieder einmal mit in
-den orientalischen Salon zu gehen, geantwortet.
-
-Nach dem Mahle standen Jürgen und Seidel, in der Hand die Mokkatassen,
-abseits, zwischen sich die hohe Standuhr, deren Ticken das Gespräch für
-die noch an der langen Tafel sitzenden Börsianer unverständlich machte,
-und Seidel nannte kurz den Grund seines Hierseins. Er sei gezwungen, den
-schon eingeleiteten Zusammenschluß einiger großer Bankinstitute zu
-paralysieren: seinerseits einen großen Finanzkonzern zu organisieren.
-
-Jürgen hatte einige Male genickt. „Ich selbst erwäge schon seit geraumer
-Zeit diesen Plan, habe auch schon vorgearbeitet. Ein nicht
-unbeträchtlicher Teil der betreffenden Werte ist schon in meinen
-Händen.“ Er sah seine Gäste an, sah Leo Seidel an. „Man wird reicher und
-reicher ... Wozu?“
-
-„Man muß die Urprodukte, die Erdschätze, in die Hand bekommen. Die
-Kohle! Wer sie hat, kontrolliert schließlich die ganze Produktion.“
-
-„Sag mal“, begann nach einer Pause Jürgen entschlossenen Tones, zuckend
-mit der Schulter, als habe er sich selbst versichert, daß es ihm gleich
-sei, was Seidel über ihn wegen des folgenden denken werde, „weshalb
-eigentlich ist es nun dein Ziel, die Urprodukte, die Kontrolle über die
-ganze Wirtschaft in die Hand zu bekommen, oder, mit andern Worten, der
-mächtigste Mann des Landes zu werden? Welche Idee – hinaus über den
-Wunsch, persönliche Begierden jeglicher Art stillen zu können, was zu
-tun du ja schon längst imstande bist – verfolgest du dabei?“
-
-Seidel blickte nachdenklich vor sich hin.
-
-„Macht um der Macht selbst willen? Oder die Erkenntnis, daß geschluckt
-wird, wer nicht selbst schluckt? Oder um deiner Kinder willen, wenn du
-welche hast? Das alles hat doch mit einer positiven Idee nichts zu tun.“
-
-„Aber auch zur Erlangung der Kontrolle über Kohle, Brennstoffe, Erze
-wäre der geplante Zusammenschluß eine wesentliche Voraussetzung.“
-
-„Und das Sichabfinden damit, daß infolge der Konkurrenzjagd von Zeit zu
-Zeit ein Krieg und der Tod einiger Hunderttausend oder Millionen eben
-naturnotwendig, die Schattenseite sei, der aber die moderne Zivilisation
-als Plus gegenüberstehe, ist doch ebenfalls keine tragfähige Grundlage
-für eine Idee, für eine Lebensordnung, mit der auf die Dauer der Mensch
-sich abfinden könnte, sondern, scheint mir, nicht mehr als eine
-peinliche Mischung von Fatalismus und Zynismus.“
-
-Seidel, der gar nicht mehr zugehört hatte, zeigte ein flüchtiges
-Höflichkeitslächeln und schrieb etwas in sein Notizbuch.
-
-„Willst du mir nicht antworten? Oder weißt du keine Antwort auf meine
-Frage?“
-
-Rückwärts an der langen Tafel war es plötzlich still geworden. „Ein
-Straßenmädchen ging mit einem Juden ...“
-
-„Das Nähtischchen deiner Mutter steht noch in meinem Bodenraum.
-Erinnerst du dich? Das sind jetzt zwanzig Jahre her.“
-
-„Ich erwarte dich also morgen im Hotel oder bringe dir die Unterlagen in
-die Bank.“
-
-Das Lachen des Herrn Hommes platzte wie das dunkle Brüllen einer
-Autohupe in die Stille. „Kenn ihn schon! Aber erzählen Sie nur weiter.“
-
-„Auch einen großen Teil der Produktion chemischer Artikel würden wir
-kontrollieren, falls die Fusion zustande käme.“ Seidel nannte die
-Fabrik, Gesamtzahl und Kursstand der Aktien, von denen die in Frage
-stehenden Banken nach der Fusion die Mehrheit haben würden.
-
-Jürgen blickte nach rückwärts auf die acht grauweißen Hinterköpfe, denen
-gegenüber acht weinrote Gesichter im Zigarrenqualm hingen. „Ja, wir
-könnten für viele chemische Artikel, Farben und vor allem für die
-wichtigsten Arzneimittel die Preise bestimmen ... Gewiß keine
-Kleinigkeit!“
-
-Herr Wagner ergriff den Arm des Herrn Hommes, deutete mit dem Daumen
-über die Schulter zurück auf Seidel: „Er hat verdient.“
-
-„Ich weiß eine andere Fassung: Der selbe Jude kommt in ein Bordell ...“
-
-„Kenn ich!“ rief Herr Hommes und brüllte los.
-
-Seidel erwähnte die Krankheit, von der die Arbeiter dieser chemischen
-Fabrik befallen wurden. Es sei sehr schwer, Leute zu bekommen. Nur durch
-hohe Gefahrprämien seien sie an die Siedkessel heranzubringen. Diese
-Geschichte habe sogar schon auf den Kurs gedrückt.
-
-„Ich hörte davon. Die Leute werden gelb. Es ist aber keine Gelbsucht.
-Auch alle Schleimhäute entzünden sich. Schwere Augenkrankheiten! Die
-Arbeiterinnen bekommen keine Kinder mehr, werden vollkommen steril.“
-
-„Und eines Tages war die Pleite da“, schloß der Fabrikant, der die Villa
-voll gotischer Holzplastiken besaß. „Eben eine zu gewagte Spekulation!“
-
-„No, was sag ich!“
-
-„Es sind ja Erfindungen gemacht worden“, sagte Seidel und schrieb und
-las dabei weiter in seinem Notizbuch. „Die Fabrikleitung hat diese
-Erfindungen auch erworben. Aber die Konstruktion und Erhaltung dieser
-Schutzapparatur würde riesige Summen verschlingen. Auch wertvolle
-Nebenprodukte und Abgase würden durch die Einschaltung dieser
-Schutzapparate verlorengehen.“
-
-„Nein, nein, uns fehlt nichts“, antwortete Herr Wagner beruhigend auf
-Jürgens Frage. Und zu Herrn Hommes: „Womit? Das mußt du dir von ihm
-selber verraten lassen. Ich sag nur: er hat verdient.“
-
-„Daß die Leute diese unheimliche Krankheit bekommen, weil Schutzapparate
-nicht in Betrieb gesetzt werden, ist ein bißchen drückend für
-denjenigen, der die Aktien besitzt und die Dividenden bezieht.“
-
-Seidel zeigte sein flüchtiges Lächeln. „Möchtest du zusammen mit mir
-wieder einen Bund der Empörer gründen? ... Noch eine Sekunde!“ bat er
-und zog Jürgen wieder neben die Standuhr. „Weshalb ich außerdem
-hierhergekommen bin. Kannst mir vielleicht einen Rat geben. Ich möchte –
-es leben ja auch noch viele Leute hier, die meine Eltern gekannt haben;
-aber auch sonst! – ich möchte eine Stiftung machen. Säuglingsheim,
-Krankenhaus oder ein Kunstmuseum. Meiner Heimatstadt, weißt du!“
-
-Jürgen griff sofort mit beiden Händen rückwärts nach dem Rauchtischchen;
-dennoch fiel er, beinschwach geworden vor eruptivem Lachen, in den
-Sessel. Er hielt die Hand hoch, Zeigefinger und Daumen zusammengepreßt,
-als ob er ein Ungeziefer gefangen hätte. „Ein Krankenhaus für ... für
-die Heimatstadt!“
-
-Hände an die Seitenlehnen angeklammert, Oberkörper zurückgeworfen,
-starrte er, durchschüttert von Lachen, atembenommen Leo Seidel an,
-dessen Gesicht so weiß geworden war, daß die alten Sommersprossen
-stärker hervortraten, wie damals, da er Jürgen das Nähtischchen seiner
-Mutter zum Aufbewahren übergeben und gesagt hatte: „Zweifellos wird die
-ganze Bande auf den Jahrmarkt kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt
-zu sehen.“
-
-„Und obendrein ist das auch die Antwort. Das ganze Systemchen ist steril
-geworden. Wie die Arbeiterinnen, die nicht mehr gebären können ... Für
-die Heimatstadt!“ Des Lachenden zuckende Schulter stieß an die Standuhr,
-die metallisch tönte.
-
-An der Tafel erklang vielstimmiges, speckiges Gemecker. Sechzehn rote
-Gesichter drehten sich den beiden zu. Sechzehn Paar Augen fragten. Und
-Herr Hommes rief: „Wir wollen ihn auch hören.“
-
-„Gut, du stiftest ein Säuglingsheim für die Kinder, die von den
-Arbeiterinnen nicht geboren werden können, ich ein Krankenhaus für
-diejenigen, die gestorben sind, weil sie die teueren Arzneimittel nicht
-bezahlen konnten, und zusammen stiften wir ein Kunstmuseum, von wegen
-der Kultur.“
-
-Seine linke Gesichtshälfte lachte noch. Er hakte ein, zog ihn zur Tafel.
-Dort legte er die Hand auf Seidels Schulter. „Soeben sagte mir Herr Leo
-Seidel, der bekanntlich ein Kind unserer Stadt ist, daß er seiner
-Heimatgemeinde ein mit allen hygienischen Errungenschaften
-eingerichtetes Säuglingsheim in beliebiger Größe stiften wird ... Aus
-... aus Anhänglichkeit.“
-
-Er leerte sein Glas. Füllte und leerte. Begann wieder zu lachen. Trank.
-‚Dieser harte, mächtige Mann – ein kleines Schuftchen, ein winziges
-Ungeziefer, das in seiner Heimatstadt noch ganz besonders geachtet
-werden will ... als Wohltäter!‘
-
-Herr Hommes bedeckte Mund und Nase mit der Hand, warf den Kopf in den
-Nacken und dann tief zur Tischplatte, als müsse er niesen, nieste nicht;
-er sagte zu Herrn Wagner: „Da muß er aber groß verdient haben.“
-
-„No, was sag ich!“
-
-‚Entzündete Augen, entzündete Schleimhäute, Eierstöcke, Knochen, Lungen,
-entzündete Maschinengewehre und Schwergeschütze, entzündete Seelen,
-eiternde Seelen – und ein Krankenhaus für alle, finanziert mit Kapital,
-das entstanden ist durch das Systemchen, welches diese planetare
-Entzündung verursachte. Das ist die Antwort. Hoppla, das ist sie ... Und
-die Fusion wird zustande kommen. Und die Kontrolle über die wichtigsten
-Arzneimittel. Und ich werde noch mächtiger werden. Und das ist nicht zu
-ändern. Es gibt keinen Ausweg. Mir kann nichts passieren – denn ich bin
-schwerlich zu entlausen, denkt mit Recht die Laus.‘
-
-Er saß abseits rittlings auf dem Stuhle und glotzte vergnügt. Stellte
-das geleerte Glas auf den Fußboden. ‚Eiternde Seelen‘, begann er wieder,
-diesmal von rückwärts, und zählte an den Fingern her, wie der
-Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand. Sah plötzlich eine
-Riesenebene, auf der Millionen Menschen reglos blickten. Die Gesichter
-derer, die am allerweitesten, die kilometerweit zurückstanden, waren
-größer als die der Nächststehenden. Alle Gesichter waren gelb.
-
-„Gelb! Gelb! Gelb! ... Bin ich denn in China? ... Wollte ja Dolmetscher
-in China werden.“
-
-Er stürzte vom Stuhle. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel ein Hammer
-aus Gummi.
-
-
-
-
- VII
-
-
-Phinchen mußte sich strecken, um mit der Bürste den Rockkragen erreichen
-zu können. Wie jeden Morgen trat Jürgen, als probiere er eine neue Hose
-an, einigemal am Platze, sich richtig in den Anzug hineinzudrücken, nahm
-den Spazierstock aus Phinchens Hand und verließ pünktlich die Villa. Der
-Schaffner, im Laufe der vierzehn Jahre auf dieser Strecke ergraut, half
-dem schwer gewordenen täglichen Fahrgast in den Wagen.
-
-Unwillkürlich rückte Jürgen etwas ab von einem dürftig gekleideten
-Manne, dem die Nase fehlte. Außer diesem Arbeiter saß im Wagen ein
-kleines Mädchen, das, die Augen angstvoll vergrößert, seine Hausaufgabe
-im Katechismus repetierte und immer wieder begann: „Aber Jesus sprach:
-Lasset die Kindlein zu mir kommen ...“
-
-Der Schaffner kassierte. Der Nasenlose hatte kein Geld.
-
-„Aber Jesus sprach ...“
-
-„Dann müssen Sie aussteigen.“
-
-Der Nasenlose, entschlossen, sitzen zu bleiben, geriet in Erregung. Er
-sei monatelang arbeitslos gewesen. Wenn er nicht mitfahren dürfe, komme
-er zu spät und erhalte die Aushilfsstelle nicht. Alle Qualen seines
-Lebens sammelten und verwandelten sich in Widerstand und Zorn gegen den
-Schaffner.
-
-Auch der war wütend geworden, gab das Haltesignal. „Wie kann einer
-einsteigen, wenn er das Fahrgeld nicht hat! So etwas gibts nicht.“ Der
-Wagen hielt. „Wenn ich Sie ohne Schein mitfahren lasse, verliere ja ich
-meine Stelle.“
-
-„Wenn einer arbeiten will!“ schrie verzweifelt der Mann und schimpfte
-los auf die reichen Nichtstuer, die nicht nötig hätten, zu arbeiten.
-
-„Auf! Sie müssen aussteigen.“ Er mußte den sich Wehrenden am Arme packen
-und aus dem Wagen hinausdrücken.
-
-„Aber Jesus sprach ...“ lernte das Mädchen in so großer Angst, die
-Hausaufgabe in der Schule nicht hersagen zu können, daß es von der
-ganzen Szene nichts bemerkte.
-
-Auch Jürgen, der die Kursberichte gelesen und dabei, tief beunruhigt, an
-den Traum der letzten Nacht gedacht hatte, wußte nicht, weshalb des
-Schaffners Lippen und die Hand, die die Zange hielt, bebten. Automatisch
-zog er die Abonnementskarte, in die seine Jugendphotographie eingeklebt
-war. ‚Welch ein fürchterlicher, fürchterlicher Traum!‘
-
-Der Schaffner war noch zornig. „Sie sollten auch einmal ein neues Bild
-einkleben. Das sind ja gar nicht mehr Sie.“ Er hielt die Photographie
-prüfend von sich weg. „Das ist ja ein ganz anderer, könnte man glauben.“
-
-Jürgen blickte auf die Augen des Jünglingsbildes, die aus ungeheurer
-Ferne groß und ernst zurückblickten. Das Gesicht des Nasenlosen tauchte
-neben dem Fenster mit Sprungregelmäßigkeit auf und nieder.
-
-‚Träume seien nun einmal nichts als Schäume, sagt der Hausarzt ... Ist
-aber auch dieser entsetzliche Traum nur flaumleichter Abfall des Lebens
-und ohne tiefere Bedeutung?‘ Selbst jetzt noch, während der Fahrt durch
-den sonnigen Tag, stockte Jürgens Herz:
-
-Er steht, befrackt, weiß behandschuht und im Halbkreise umgeben von den
-zwölf schwarzgekleideten Zeugen, in der Mitte des festlich erleuchteten
-Gesellschaftssaales vor dem Hinrichtungsblock, tritt zurück, hebt das
-Beil - und läßt es hineinsausen in den Nacken. Der Kopf geht nicht
-herunter. Und jetzt erst sieht er, daß er selbst, als Student, am Blocke
-kniet und von sich selbst hingerichtet werden muß, im Namen des Lebens,
-wie es ist. Gezwungen von den Blicken der zwölf stummen Zeugen, muß
-Jürgen noch einige Male in die furchtbare Nackenwunde hineinschlagen,
-bis der Kopf Jürgens, des Studenten, herunterfällt. Die Streichmusik
-endet.
-
-Tirolerinnen, die schiefe Münder haben, reichen lebendes Fruchteis. Um
-nicht essen zu müssen von diesem schauerlichen, lebenden Eise, wühlt
-Jürgen sich durch die empört nachblickenden Damen und Herren durch,
-flüchtet die Treppe hinunter und stürzt in fliegender Eile durch die
-menschenleeren Mondstraßen heimwärts, durch den schimmernden Garten.
-
-Da kniet, an Stelle der Brunnenfigur, der Rumpf in der Mitte des
-Bassins, Hände im Rücken gefesselt, symmetrisch umstanden von den zwölf
-auf Stangen steckenden, farbigen, kopfgroßen Glaskugeln, die jetzt die
-zwölf Hinrichtungszeugen sind, und aus dem Halsstumpfe steigt das Blut
-als Springbrünnchen empor. Die Symmetrie wird gestört durch Jürgens
-Jünglingskopf, der anstelle der gelben Glaskugel auf der Stange steckt
-und die grauenvolle Drohung ausspricht.
-
-„In Vollmondnächten sollten Sie nicht bei unverhängten Fenstern
-schlafen. Auch abends keine schweren Speisen essen. Die verursachen
-gleichfalls Albträume“, hatte der Hausarzt gesagt.
-
-Das Schulmädchen stieg aus, schlug auf der Straße den Katechismus wieder
-auf und lernte weiter. Jürgen saß allein im Wagen. Er überlegte, welche
-Weisungen er heute dem Prokuristen zu geben habe für die Börse.
-Plötzlich fletschte er, Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, die
-zusammengebissenen Zähne, drehte den Kopf seitwärts und bewegte die
-Lippen, als verhandle er mit einem hinter ihm Stehenden, der Befehle
-erteile, die Jürgen nicht befolgen könne.
-
-Erst als er hinaus auf die rückwärtige Plattform trat und mit dem
-Schaffner eine Unterhaltung begann, entspannte sich sein Gesicht wieder.
-
-Angefangen hatten diese Zustände vor einem Jahre. Er geht spazieren und
-muß plötzlich stehenbleiben, hat Atembeschwerden, ist nicht imstande, an
-einem Ecksteine oder an einem Baume oder an einem Laternenpfahle, der
-sich durch nichts von anderen Laternenpfählen unterscheidet,
-vorüberzugehen. Kopf seitwärts gedreht, Zähne gefletscht, kämpft er
-gegen das Unsichtbare, das unausführbare Befehle erteilt.
-
-Schnell tritt er in den nächsten Laden, setzt sich, studiert die
-Gesichter der Kunden, unterhält sich mit der Verkäuferin und bittet sie,
-ihm sechs besonders hartborstige Zahnbürsten in die Villa zu schicken.
-In dem unbewohnten Raume der Villa, wo auch die Antiquitäten und Gemälde
-für das Palais aufbewahrt waren, hatte sich im Laufe des letzten Jahres
-auf diese Weise ein großes Lager verschiedenster Artikel angesammelt.
-
-Gleich vielen Menschen, kann auch Jürgen es nicht ertragen, daß auf der
-Straße jemand hinter ihm geht. Auch am hellen Tage muß er stehenbleiben,
-interessiert eine Fassade betrachten oder schnell in einen Laden
-eintreten.
-
-Außerhalb der Stadt, wo keine Leute sind, spazierenzugehen, wagte Jürgen
-schon lange nicht mehr. Jemand geht hinter ihm her. Jürgen dreht sich um
-und wieder um und ganz um sich selbst. Immer steht in seinem Rücken der
-Andere. Und da Jürgen nicht in einen Laden flüchten kann, wirft er sich
-zu Boden.
-
-Einmal hatte er sich durch Adolf Sinsheimer retten können vor dem
-Verfolger. Er steht, Zähne gefletscht, in menschenleerer Landschaft
-unter den unausführbaren Befehlen des Unsichtbaren. Da erblickt er den
-Jugendfreund, der, in der Hand ein Notizbuch voll Rechnungen, an einem
-Baume lehnt und gedankenversunken die ferne Hügelkette betrachtet, als
-dichte oder zeichne er. Damals war das Unternehmen des Knopffabrikanten
-dem Konkurse nahe gewesen.
-
-Jürgen macht einige Fluchtsprünge auf den Jugendfreund zu und bittet
-flehend den Erschreckenden: „Verkaufe mir deinen Bleistift.“
-
-„Weshalb verkaufen? ... Hier, nimm ihn!“ Und er will ihm den goldenen
-Patentbleistift in die Hand drücken.
-
-„Unmöglich! Das ist ganz unmöglich!“ Jürgen zwingt den Schulfreund, die
-Banknote zu nehmen, und steckt, befreit aufatmend, den Bleistift ein.
-
-Die Straßenbahn hielt. Der Wagenführer drehte die Kurbel heraus.
-„Endstation“, sagte der Schaffner zweimal zu Jürgen, der verzerrten
-Gesichtes über die Schulter zurücksprach und nicht aussteigen konnte.
-
-Junge Beamte eilten durch die Gänge, grüßten den Chef. Er ahmte die
-Stimme des Hausarztes nach: „Abends nur ein paar weichgekochte Eier
-essen. Wachsweich! Auch schadet es nicht, wenn Sie täglich dreimal etwas
-Brom nehmen.“
-
-Das Bromsalzglas stand auf dem Schreibtisch. Sooft Jürgen die Feder in
-die Tinte stach, sah er das Salzglas, das herauszuwachsen schien aus dem
-Nacken des verheirateten Beamten, der, reglos wie ein Eingeschlafener
-auf das Pult gebeugt, vor seinem Chef saß, schon Vater dreier Kinder
-war, Sorgenfalten im grauen Gesicht hatte und keine Veilchen mehr im
-Knopfloch trug.
-
-Auf das Bankgebäude wurde ohne Betriebsunterbrechung ein Stockwerk
-aufgesetzt. Während des Vergrößerungsumbaues mußte Jürgen mit drei
-Angestellten zusammen in einem Raume arbeiten. Ringsum, fern und nah,
-auf dem Dache und in allen Stockwerken wurde gehämmert, geschrien,
-gekratzt, gesägt, gehobelt.
-
-In dem Bureau selbst stand katastrophenferne Ruhe.
-
-Jürgen tauchte die Feder ein. Und wie er schreiben will, steht auf dem
-Pulte anstelle des Tintenfasses ein winziges, lebendiges Herrchen, das
-sich höflich verbeugt und lächelnd auf das Bromsalzglas deutet, mit
-einem feingegliederten Zeigefingerchen.
-
-Jürgen kann nicht atmen, fletscht die Zähne, taucht die Feder noch
-einmal ein. Sticht sie auf den Kopf des Herrchens, das zum Tintenfaß
-zusammenschrumpft. Und wie Jürgen schreiben will, steht es wieder
-lebendig da, höflich vorgebeugt. Das Zeigefingerchen deutet, das
-Mündchen lächelt und sagt:
-
-„Mit Bromsalz kann eine Menschenseele nicht zum Schweigen gebracht
-werden. Ich versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als
-neunundneunzig Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele reden,
-durch ihre Seele in gar keiner Weise mehr gestört werden, weil sie sie
-schon längst eingetauscht haben gegen Dinge, die ihren Marktwert haben
-...“
-
-Das ist wahr, dachte Jürgen. Das ist wahr.
-
-„... so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen die Seele spielend
-leicht durch den allerstärksten Schutzwall durchschlüpfen und ihr
-vorbestimmtes Recht verlangen kann.“
-
-Das Herrchen legte das Händchen an den Mund, als habe es ein tiefes
-Geheimnis zu offenbaren: „Die Seele will fließen. Und fließt unter
-Umständen bei gewissen Individuen selbst auf die Gefahr hin,
-überzufließen und alles in Verwirrung zu bringen. Denken Sie nur an die
-vielen, vielen Irrenhäuser, die es gibt auf dieser Erde. Voll!
-Überfüllt! Wer bezahlen kann, kommt in die erste Klasse und kann seine
-Seele preisentsprechend behandeln lassen ... Nun, das ist ja Nebensache,
-der Preis nämlich, wenn er auch in unserem Zeitalter bei allem die
-Hauptsache ist. Aber verzeihen Sie die Abschweifung.“
-
-Jürgen strich sich über die Augen, blickte zum Fenster hinaus. „Was
-heißt Abschweifung! Das ist eine Halluzination. Nein, es ist nur eine
-Sinnestäuschung. Und das nicht einmal, ich habe nur, wie der Arzt sagte,
-zu viel gegessen. Oder ich bin übermüdet. Es sind nur die Nerven. Dieser
-Umbau macht einen ja ganz verrückt.“
-
-Er schielte auf das Tintenfaß. Das stand leblos, schwarz, breit und
-niedrig an seinem Platze. Dennoch ertönte eine Stimme: „Wenn die Seele
-überfließt und spricht, nennen das die Ärzte eine Halluzination.“
-
-„Ich werde mich aber jetzt doch einmal von einem Nervenarzt untersuchen
-lassen!“
-
-„Das hilft Ihnen nicht“, behauptete, schülterchenzuckend, das Herrchen.
-Es saß auf dem Löschblattbügel, ein Beinchen übergeschlagen, und sah
-nicht aus, als ob es bald weggehen würde.
-
-Der verheiratete Beamte wechselte die Schutzärmel, damit sie sich im
-Laufe der Jahre gleichmäßig abnützen sollten. Er war aus Erfahrung klug
-geworden. Ihm konnte es nicht mehr passieren, jahrelang einen schwarzen
-und einen grünen Schutzärmel tragen zu müssen, wie einmal in seiner
-Jugend, da er es unterlassen hatte, den schneller sich abnutzenden
-rechten Schutzärmel Öfters mit dem linken zu wechseln.
-
-Die beiden noch farbig schillernden, eleganten jungen Beamten, die vor
-Jürgen an einem Doppelpulte saßen, machten einander mit den Beinen
-aufmerksam auf die Pedanterie ihres älteren Kollegen.
-
-Jürgen übergab seine Weisungen für die Börse dem Prokuristen, einem
-runden Manne, dessen Lippen immer aussahen, als habe er eben eine fette
-Speise gegessen.
-
-„Sagte es denn eben wirklich: Sie standen schon am Anfang Ihres Ich.
-Oder sagte ich selbst das?“ Jürgen konnte nicht ermitteln, ob er selbst
-sprach.
-
-„Ich, natürlich, ich bins, der spricht! Niemand anderer als ich sagte:
-Sie standen schon am Anfang Ihres Ich.“
-
-„Dieses Wort ist doch von mir. Ich selbst habe diesen Gedanken in genau
-der selben Formulierung vor Jahren einmal ausgesprochen.“
-
-„Wie meinen?“ fragte der Prokurist.
-
-Drei schreibgekrümmte Rücken und zwei starr blickende Augen, die einmal
-des Verheirateten Nacken, das Salzglas, dann wieder das Tintenfaß
-doppelt sahen. „In meinem Hinterkopf geht etwas vor sich; nicht in der
-Stirn.“
-
-„Ich bins, der vor sich geht.“
-
-„Und was wird mit mir geschehen?“
-
-„Sie sind nicht mehr vorhanden.“
-
-Die Stirn knallte auf die Schreibtischplatte. Die Bureauwände neigten
-sich lautlos auf ihn zu. Er sah die ineinander verschwimmenden
-Gegenstände vervielfacht und hatte das mit Übelkeit verbundene
-Empfinden, alles Blut vergehe in seinem Körper.
-
-Der Prokurist sprang herbei, das Wasserglas in der dicken Hand, richtete
-den Haltlosen auf.
-
-„Kaufen Sie! Kaufen Sie!“
-
-„Selbstverständlich! Wird geschehen! Seien Sie ohne Sorge ... Hier, ein
-Schluck Wasser.“
-
-„Nein, irgend etwas! Für mich! Kaufen Sie ... Vielleicht Orangen. Was
-Sie wollen!“
-
-Der Prokurist eilte zur Tür. Jürgens Lippen waren weiß. In seinem
-Hinterkopfe klopfte dunkel der Hammer aus Gummi. „Möglichst schnell“,
-schrie er, Zähne gebleckt, dem Prokuristen nach.
-
-„Das hilft Ihnen nicht mehr.“
-
-„Die Stimme klingt, als spräche jemand mit mir aus weiter, weiter Ferne
-und doch aus nächster Nähe. Sie klingt wie ein telephonisches
-Ferngespräch. Mir ist, als spräche ich mit einem Wesen, das ich in
-Qualen liebte ... Bitte“, sagte Jürgen, bebend in Angst vor der
-Erfüllung seiner Bitte und so laut, daß die Beamten aufblickten, „legen
-Sie jede Verkleidung ab.“
-
-Da sah er nichts Gegenständliches mehr, keine Augen; er sah einen Blick,
-nicht von Augen entsandt. Nur den Blick selbst, der unversehens zu dem
-ernsten Blicke des Jünglingsbildes in der Abonnementskarte wurde und,
-vergehend, weit zurückwich.
-
-Heiß durchzogen und atembenommen starrte er dem vergehenden, ergreifend
-ernsten Blicke nach, beobachtete, Zähne gefletscht und Kopf seitwärts
-gedreht, wie der Blick sich in das Herrchen verwandelte, das sich so
-schnell erhob, daß der Löschblattbügel schaukelte.
-
-„Das war mein erster offizieller Besuch.“ Es blickte auf die Bureauuhr.
-„Fünf Minuten vor zwölf.“ (Der Verheiratete nahm schon die Schutzärmel
-ab). „Existenzen Ihresgleichen gibt es in dieser Sekunde auf der Erde
-...“ Das Herrchen nannte eine Zahl, die riesengroß und winzig klein in
-einem war und wie ein anklagendes Wort klang, gesprochen in der
-Nachtstille.
-
-„Sie sind in allen Schichten und Lagern zu finden. Ich besuche sie alle.
-Jeden zu seiner Zeit. Es sind Universitätsprofessoren darunter, die als
-Studenten noch die Bereitschaft zur Hingabe in den Augen trugen.
-Industrielle, die als Jünglinge Gedichte gemacht haben. Hohe Geistliche,
-die in das falsche Christentum reisten. Dichter, die um des Erfolges und
-des Ruhmes willen von dem Protest und der Gesinnung weg in den Erfolg
-und Ruhm und immer tiefer in das Publikum hineinreisten. Männer, die
-sich der Wissenschaft hingegeben hatten und aus ihr später ein Geschäft
-machten, ein Namensschild mit Titel, angeschlagen an der Haustür. Und
-Existenzen Ihresgleichen, die Sozialisten waren und Bürger wurden.
-Verruchte Existenzen! Denn sie konnten, kraft naturverliehener Kraft,
-sich durch das heucheleidurchwirkte, blutnasse, dicke, dichte Dickicht
-dieses Jahrhunderts durchschlagen zu dem Bewußtsein, daß die im Zeichen
-befreiter Arbeit stehende menschliche Gemeinschaft, in der die Seele ihr
-Ich durch den Körper gewinnen und im Gleichgewicht in sich selber ruhen
-kann, erkämpft werden muß, sollen die lebenden und kommenden
-Generationen bewahrt bleiben vor Krieg und Hungerbarbarei, dem Wahnsinn,
-vor dem großen Tode!“
-
-‚Ich muß mir das Ganze notieren, so kann ich es nicht behalten‘. „...
-Unmöglich! Unmöglich!“ rief er, ohne den Blick vom Stenogrammblock zu
-erheben, die Linke abwehrend ausgestreckt, dem Prokuristen zu, der einen
-Stoß Papiere in den Händen hielt, erstaunt sich die Lippen leckte und,
-auf den Zehenspitzen rückwärtsgehend, wieder verschwand.
-
-„Jeden zu seiner Zeit. Einmal bin ich ein Herbsttag, ein welkes Blatt,
-das vom Baume fällt und bei einem ruhmverkalkten Dichter plötzlich die
-Frage auslöst: Habe ich alles verraten, was in der Jugend mir teuer war?
-Die Frage, die zugleich die Antwort und der Beweis ist. Manchmal
-schreite ich in ein Buch hinein, werde zu einem Satze, der in dem
-Lesenden blitzhaft die Gewissensfrage auslöst. Manchmal bin ich ein
-Traum. (Wie bei Ihnen zum Beispiel. Auch kann ich der Umbau eines
-Bankgebäudes sein).“
-
-Oder ein Engländer, der fragt: Wie geht es Ihrem Herrn Bruder? dachte
-Jürgen und stenographierte auch diese Erinnerung.
-
-„Ich bin ein zwanzigjähriges Mädchen, das im Kampfe gegen die Umwelt
-steht und durch ihre Verachtung in dem Abtrünnigen die Sekunde aufreißt,
-in der er den tragischen Rückblick tun muß. Manchmal werde ich durch
-einen Ton in grauer, leerer Stunde zur Gewissensfrage. Durch den Ton
-einer Kindertrompete! Ich bin ein regnerischer Tag, verhindere einen
-Ausflug in den Genuß und werde so zum Tage des Versinkens in den Ekel
-vor sich selbst. Oft bin ich ein Sonntagnachmittag. Ich werde als Bild
-an der Wand zur Gewissensfrage und als Spaziergang in menschenleerer
-Landschaft, wo es keine Läden gibt. Ich steige als Weinrausch in das
-Herz eines Satten, und er sinkt in die Selbsterkenntnis hinein. Es kann
-einer seinen Teppich ansehen und plötzlich aus dem Muster, das ich bin,
-die Gewissensfrage herauslesen, grauenvoll deutlich. Manchem wird der
-Rückblick zum Konflikt, der ihn ins Irrenhaus bringt.“
-
-Das Herrchen deutete: „Das ist Ihr Fall.“
-
-Jürgen schauerte im Rückenmark.
-
-„Andere glauben, sich in Selbstgerechtigkeit hineinretten zu können.
-Viele ertrinken völlig in ihr und erleiden die Strafe erst in spätem
-Alter, wenn sie eines Tages, veranlaßt durch mich, die Nichtigkeit ihres
-Lebens einsehen müssen und, entsetzt über ihr verdrecktes, mit Achtung,
-Gemeinheit, Lüge, Erfolg, Ruhm und Selbstgerechtigkeit poliertes Dasein,
-an einer Kugel, an einem Stricke oder an Ekel vor sich selbst sterben.
-Auch die feinste Selbstbelügung schützt den Verräter nicht. Keiner kann
-in Selbstgerechtigkeit sein Leben beschließen. Dies vermögen nur
-diejenigen, die schon als wehrlose Kinder ganz entselbstet, enticht,
-entseelt werden konnten, sich der Umwelt anpaßten und dafür das Leben,
-wie es ist, eintauschten, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie die Kraft
-hatten, sich das Kostbarste und Leidvollste auf Erden zu erkämpfen: das
-Bewußtsein.“
-
-„Wer vermöchte zu entscheiden, ob stärker als die Verhältnisse und
-größer als meine Begierden die Kraft in mir war, weiter zu kämpfen! Was
-ist der Beweis meines Verrates?“
-
-„Wer fragen muß: Bin ich ein Verräter, der ist es; Ihrem Schwiegervater
-fällt dies gar nicht ein. Die Frage enthält schon die Antwort und den
-Beweis des Verrates.“
-
-Diese Worte trafen ihn mit solcher Beweiskraft, daß er minutenlang die
-Fähigkeit, zu denken, vollkommen verlor. Auch das Klopfen im Hinterkopfe
-hatte geendet.
-
-Die Bureauuhr schlug zwölf. Die drei Beamtenoberkörper richteten sich
-auf. Drei Federhalter wurden weggelegt.
-
-Auch Jürgen legte den Federhalter weg, richtete sich auf. Vor seinen
-Augen schwebten rundum und durcheinander blitzweiße, goldumränderte
-Sternchen, als ob er mit dem Kopfe nach unten aufgehängt gewesen wäre.
-Eine Fliege glitt auf weißem Papier schnell vom Tintenfaß zum
-Löschblattbügel.
-
-„Wieviel Beine hat eigentlich eine Fliege? Vier oder sechs? ... Da wurde
-ich zweiundvierzig Jahre alt und weiß nicht, wieviel Beine eine Fliege
-hat. Was bin ich doch für ein Dummkopf! Sitze da und grüble seit Stunden
-über diesen Unsinn nach. Kann mir doch vollkommen gleichgültig sein“,
-sagte er und horchte befreit auf den stärker gewordenen Straßenlärm, den
-die dem Suppenteller Zueilenden verursachten. Die Glocken der Trambahnen
-läuteten stärker.
-
-„Es muß ja nicht gleich morgen sein, aber bei Gelegenheit sollten Sie
-sich einmal neu photographieren lassen. Sie sind zu verändert“, sagte
-freundlich der Schaffner und gab die Abonnementkarte zurück. „Das hier
-ist ein junger Mensch, während Sie doch schon in die besten Mannesjahre
-kommen.“
-
-Der grauhaarige Bürger, der neben Jürgen saß, schob den
-zusammengerollten Fahrschein unter den Ehering.
-
-Ja, die liegen Gott sei Dank noch vor mir ... Kann mich ja
-photographieren lassen, bei Gelegenheit, dachte er, stieg aus. Und ging,
-im selben Tempo wie jeden Tag, die zweihundert Schritte bis zur Villa.
-Summend durch den Garten, auf die farbigen Glaskugeln zu.
-
-Den Bruchteil einer Sekunde stutzte er vor den Glaskugeln. Es war ein
-grauer Tag. Die Glaskugeln standen öd in ihren eigenen Farben. Im Garten
-regte sich nichts.
-
-Der Mantel hing sich von selbst an den Haken. Die bereitstehenden
-Hausschuhe schlüpften über Jürgens Füße. Gewohnheitsmäßig zupfte er das
-Tischtuch zurecht. Die Schüsseln entleerten sich.
-
-Das Kanapee gab mit den vertrauten Tönen dem Körper nach. Die Augen
-lasen die Mittagszeitung.
-
-Bis sechs Uhr im Bureau. Dann im Garten. Wachsweiche Eier zum
-Abendessen. Von neun bis zehn Uhr die Abendzeitung. Auf den Rat des
-Arztes hin punkt zehn Uhr ins Bett. Am langen Sonntagnachmittag die
-gewohnte Billardpartie mit dem befreundeten Fabrikanten, der die
-Sammlung gotischer Plastiken besaß. Montag ins Bureau.
-
-So verging noch eine kurze Zeit, bis eines Tages die Abendzeitung
-ausblieb.
-
-Punkt neun erklang das Stöhnen des Kanapees, zusammen mit Jürgens
-wohligem A-Seufzer. Seine Hand griff automatisch nach der Abendzeitung,
-die seit Jahren immer an der selben Stelle auf dem Tische bereit gelegen
-war, und griff in die Leere.
-
-Die Zeit bekam ein Loch, das sich durch das Rufen nach Phinchen vorerst
-noch einmal schloß. „Wo ist das Abendblatt?“
-
-„Die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.“
-
-„So, die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen. Das Blatt wurde nicht
-eingeworfen, wie? Du hast nichts gehört?“
-
-„Nein, es wurde nicht eingeworfen. Die Zeitungsfrau ist wahrscheinlich
-am Hause vorübergegangen.“
-
-„Du meinst also, die Zeitungsfrau sei vorübergegangen.“
-
-„Sie hat zweifellos vergessen, die Zeitung einzuwerfen. Ging am Hause
-vorüber.“ Als er das Wort ‚vorüber‘ aussprach, schlug er sich, das
-Gähnen zu verdecken, einige Male leicht auf den Mund, so daß das Wort in
-mehrere Laute getrennt wurde. Dieses Geräusch erinnerte ihn an das
-Geräusch, das der leerlaufende Motor verursacht, wenn die Trambahn hält.
-(Der Schaffner gibt ihm die Abonnementkarte zurück.)
-
-‚Gut, kann ja ein neues Bild machen lassen, bei Gelegenheit ... Den
-Fahrschein zusammengerollt unter den Ehering zu schieben, ist übrigens
-ganz praktisch. Man hat ihn gleich, wenn der Kontrolleur kommt.‘ Seine
-Hand griff nach dem Abendblatt. „... Ah so!“
-
-Er versuchte, das Loch, das die Zeit bekommen hatte, auszufüllen, indem
-er das linke Bein über das rechte schlug und heiter zu summen begann.
-Sobald er still lag, war das Loch wieder da. Groß, schwarz, endlos.
-
-Der grüne Hügel, wo vor vierzehn Jahren die Fabrikantensöhne und
--töchter Huhn und Rotwein genossen hatten, schob sich in das Loch,
-verschwand wieder. Er dachte: Was jetzt, zwischen neun und zehn Uhr, in
-der Welt alles vor sich geht ... Gewiß sehr viel.
-
-Warf das rechte über das linke, legte den Kopf auf die harte Sofalehne,
-dann auf das weiche Kissen. Betrachtete die Tapetenblumen. (‚Einer sieht
-seinen Teppich an, und das Muster, das ich bin ...‘) Er warf sich herum.
-Das Kanapee ächzte. Er begann zu pfeifen.
-
-Plötzlich wurde er, bei dem Gedanken, hier zu liegen und eine Stunde zu
-pfeifen, von solchem Grauen gepackt, daß er, mit noch pfiffgespitztem
-Munde, versteinert die Decke anstarrte.
-
-„Sie hätte nur die Zeitung einwerfen brauchen, dann könnte ich mich
-zerstreuen. Zerstreuen ... Früher konnte ich in Gesellschaft gehen oder
-ins Varieté, in den Zirkus, ins Theater, in die Oper. Andere gehen in
-ihr Stammlokal, in die Gesangvereinsprobe, zum Kegeln, spielen Karten
-... Das ist eine Zerstreuerei! Ganz Europa zerstreut sich.“ Er pfiff
-wieder.
-
-„Aber die andern, die schon als wehrlose Kinder – Sie wissen schon: die
-leben, wenn sie kegeln.“
-
-Da öffnete sich der pfiffgespitzte Mund; Jürgen glaubte zu fühlen und zu
-sehen, wie hinter seiner Stirn die schwarzen Buchstaben zu der Frage
-entstanden: „Wer hat das gesagt?“
-
-Er schnellte in Sitzstellung empor und brüllte ins totenstille Zimmer
-hinein: „Wer hat das gesagt? Wer?“
-
-Die Amsel verließ, heftig flatternd, auf einem scharfen Pfiff den
-Mauerefeu beim Fenster. „Wer? Die Amsel? Wer hat das gesagt?“
-
-Von den an der Decke kreisenden Fliegen fiel eine auf die Tischplatte.
-Und Jürgen, Oberkörper lauernd vorgebeugt, Hand fangbereit gekrümmt,
-flüsterte: „Muß doch einmal ...“ Die Gefangene drückte gegen das
-Faustinnere.
-
-Schneller als eine Fliege vorbeizuckt, wich das Interesse, zu erfahren,
-wieviel Beine sie hat, der Frage, was ihn noch retten könne.
-
-„Für Sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden wahnsinnig werden.“
-
-Langsam ließ er sich auf das Kanapee zurücksinken. „Wahnsinnig?
-Weshalb?“ Fuhr sofort wieder in Sitzstellung auf. „Was? Wer hat gesagt,
-ich würde wahnsinnig werden? Wer? Das habe nicht ich gesagt. Wer hat das
-gesagt? Wer! Wer!“ Plötzlich brüllte er wild: „Die Abendzeitung! Ich
-will die Abendzeitung. Alle haben ihre Abendzeitung. Die Abendzeitung!
-Die Abendzeitung!“ Wut entstellte sein Gesicht.
-
-„Auch die Zeitung würde Ihnen nichts mehr nützen.“
-
-Pünktlich auf die Minute trat, wie jeden Abend, Phinchen ein und zog die
-Wanduhr auf: Die zwei Bleigewichte berührten den Rand des
-Ziffernblattes.
-
-„Dann ist es jetzt genau halb zehn“, sagte Jürgen, als Phinchen wieder
-draußen war. „Ich brauche gar nicht hinzusehen. Genau halb zehn ... Und
-morgen abend um halb zehn ist die Uhr abgelaufen und die Gewichte hängen
-unten. Dann ist ein Tag vorbei. Die Uhr wird aufgezogen. Und übermorgen
-um halb zehn hängen die Gewichte wieder unten. Dann ist wieder ein Tag
-vorbei. Sie wird aufgezogen ... Aufgezogen ...“
-
-„Und dann ist das Leben vorbei.“
-
-„Ja, dann ist das Leben vorbei ... Und doch fahre ich morgen ins Bureau
-und übermorgen. Und dann kommt der Sonntag. Und dann der Montag. Der
-Samstag. Ich arbeite, mache Pläne. Fusion. Werde reicher und reicher.
-Die Jahre vergehen ...“
-
-Und dann kam die Frage nach dem Sinn und nach dem Ziele, die Frage nach
-der Idee, nach dem Zwecke, für den zu arbeiten und zu kämpfen sein
-Lebensinhalt sei.
-
-Sein Inneres und die Umwelt – alles war grau und leer. Er wartete.
-Lange.
-
-„Aber ich bin ein geachteter Mann.“
-
-„Einmal sagten Sie, dies sei die größte menschliche Katastrophe.“
-
-„Kann sein! Kinderei! Lassen wir das einstweilen. Jetzt will ich erst
-einmal Bilanz machen. Dann werde ich überlegen, was zu tun ist. Ich will
-methodisch vorgehen. Reich, sehr reich und geachtet, gebildeter und
-wissender, kultivierter als die meisten und imstande, mir jeden Genuß,
-den das Leben bietet, zu verschaffen.“
-
-„Sie haben also alles schon erreicht, was den andern von Jugend an als
-Ziel vorschwebt und zum Sarg wird für diejenigen, die das Ziel erreicht
-haben. Was also ist der Zweck? Was Ihr Ziel?“
-
-„Auch bin ich nicht schmutzig, nicht geizig. Im Gegenteil; ein Zehntel
-der Summe, die ich für Wohltätigkeitszwecke gegeben habe, würde genügen,
-daß ein halbes Dutzend Männer mit Frauen und Kindern ein vollkommen
-sorgenloses Leben in eigenem Hause führen und selbst in kleinerem
-Ausmaße wohltätig sein könnten.“
-
-„Das stimmt. Zum Teil wahrscheinlich auch daher die große Achtung, die
-Sie genießen und vor sich selbst haben.“
-
-„Auch möglich! Aber das ist, wie gesagt, jetzt Nebensache, die Achtung.“
-
-„Nee, die ist mit die Hauptsache.“
-
-Jürgen machte eine ärgerliche Abwehrbewegung mit der Hand. „Nun, wenn
-Sie wollen, ich pfeife auf die Achtung. Ich könnte, wenn ich auf der
-selben Linie weiterschreiten würde, noch mächtiger, einflußreicher und
-in noch weiteren Kreisen geachtet werden.“
-
-„Das können nur die Bewußtseinslosen, deren Weltanschauung in den drei
-Worten besteht: Jeder für sich; Sie aber können das nicht. Denn Ihr
-Bewußtsein sagt Ihnen, daß Sie nicht das geringste zur Verwirklichung
-des unverrückbaren Menschheitszieles beizutragen vermöchten, auch wenn
-Sie, weiterschreitend auf dem Jeder-für-sich-Wege, der mächtigste Mann
-des Landes werden würden.“
-
-„Ich will ja auch gar nicht fortschreiten auf diesem ziellosen Wege.“
-
-„Nicht Sie wollen nicht, sondern ich will nicht. Ich! Ich lasse nicht
-zu, daß Sie in dem bisherigen Trott weitermachen. Sie selbst können gar
-nicht mehr wollen oder nicht wollen. Sie sind nur noch eine
-Willensmaske.“
-
-Jürgen preßte beide Fäuste an den Kopf. „Seit einiger Zeit führe ich
-fortwährend Selbstgespräche. Nun, und wenn auch! Viele Menschen führen
-Selbstgespräche.“
-
-„Sie aber führen Gespräche mit Ihrem Selbst.“
-
-Jürgen sah auf. „Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß ich ohne Ziel, ohne
-Idee, ohne Zweck nicht weiterleben kann. Das halte ich nicht aus. Ich
-halte diesen Zustand einfach nicht mehr aus.“
-
-„Dies ist es, was Sie von dem Vollbürger unterscheidet. Der hält diesen
-Zustand sehr gut aus. Denn sein Ziel ist: Haben, haben, haben und immer
-noch mehr haben. Und er bleibt in der Regel gesund dabei. Fragt sich
-nur, ob diese seine Gesundheit nicht die Krankheit ist, an der die
-Menschheit zugrunde geht.“
-
-„Daß an dieser Gesundheit die Menschheit zugrunde geht, scheint mir gar
-keine Frage mehr zu sein. Ich habe da“, flüsterte Jürgen, „zweifellos
-einen richtigen Gedanken ausgesprochen ... Wie steht es aber damit, daß
-trotz dieser tödlichen Gesundheit es offenbar keinen Menschen gibt, der
-ohne Ideal zu leben vermöchte. Ausnahmslos jeder, den ich kenne, und sei
-er der übelste, habgierigste, härteste Schuft, hat sein Ideal, und wenn
-es auch nur Selbstbelügung ist. Mittel zur Beruhigung des Gewissens.“
-
-Zuerst blickte Jürgen mit zugekniffenen Augen mißtrauisch seitwärts, wie
-einer, der sich vergewissern will, ob er nicht beobachtet wird. Langsam
-richtete er sich auf. Die Hand wurde auf der Tischplatte zur Faust. Auf
-der Stirn entstand die Energiefalte. So saß er, reglos, alle Muskeln
-gespannt, plötzlich ganz erfüllt von dem Entschlusse, mit der
-Niederschrift seines seit langem geplanten Lebenswerkes ‚Volkswirtschaft
-und Einzelseele‘ zu beginnen. „Das ist meine Rettung.“ Freude rötete
-sein Gesicht.
-
-Und wie er den Kopf hob, sah er auf der gegenüberstehenden Wand ein
-winziges, höhnisches Lächeln.
-
-Senkte sofort den Kopf. Durch dieses Werk werde ich zu meinem kleinen
-Teile dem Fortschritt und der Erkenntnis der Menschheit dienen können,
-dachte er, schielte zur Wand, wo wie ein Bild das höhnische Lächeln
-hing.
-
-„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihr tönendes, tiefes Gefasel
-über Moral, Gerechtigkeit, Humanität, Ideal und Seele in bezug auf die
-Volkswirtschaft nicht zulassen, sondern während der Niederschrift mit
-einer Hartnäckigkeit ohnegleichen immer wieder darauf hinweisen werde,
-daß es sich um die Moral und die Gerechtigkeit der herrschenden Klasse,
-der Nutznießer des bestehenden Produktions- und Verteilungssystemes
-handelt, welches den entscheidenden mörderischen Einfluß hat auf das
-Wesen und das Sein, das Kranksein und das Nichtsein auch der
-Einzelseele.“
-
-Jürgens hervortretende Augen starrten rettungsuchend umher. Schlaff
-geworden, sank er in die Kanapeecke. „Keine Möglichkeit der Hingabe? Ich
-sehne mich so sehr danach.“
-
-„Diese Sehnsucht entspringt schon dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus
-bringen wird.“
-
-„Ich will, ich will zurück zu mir ... Ich fühle, ich fühle ...“
-
-„Sie ... denken Gefühle. Sie können weder vor- noch rückwärts.“
-
-„Eine tote Mitte? Das halte ich nicht aus. Ich werde wahnsinnig.“
-
-„Wahnsinnig! Sie sind gestellt.“
-
-„Eingekreist?“
-
-„Eingekreist! Das, was Sie während der letzten vierzehn Jahre waren,
-können Sie nicht länger mehr sein; so, wie Sie als Kämpfender waren,
-nicht mehr werden. Sie sind nicht mehr vorhanden. Sie sind nicht mehr
-Sie.“
-
-„Das hat auch der Trambahnschaffner gesagt.“
-
-„Aus dem heraus habe ich gesprochen.“
-
-„Sind Sie auch die Abendzeitung, die nicht gekommen ist?“
-
-„Ich bin das Nichtgekommensein der Abendzeitung und habe auch aus dem
-Trambahnschaffner herausgesprochen. Der sogenannte normale Bürgersmann
-hört aus des Schaffners Worten ‚Das sind ja gar nicht mehr Sie‘ nur
-heraus, daß sein Bart länger oder grauer geworden ist.“
-
-„Wenn Sie ich sind und aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen haben,
-dann habe ja ich selbst aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen und
-zugleich als Fahrgast seine Worte vernommen. Seine? Ihre? Oder meine?
-Ich weiß nicht. Bin ganz verwirrt.“
-
-„Sie haben Ihre eigenen Worte vernommen, die der Trambahnschaffner, aus
-dem ich sprach, gesprochen hat.“
-
-Angsterregung riß Jürgen vom Kanapee auf. „Wer denkt das alles? Ich Will
-wissen, wer da denkt.“
-
-„Ihr Bewußtsein.“
-
-„Wer spricht die ganze Zeit mit mir? Ich höre Stimmen.“
-
-„Wahnsinnige hören Stimmen.“
-
-„Und ich bin nicht wahnsinnig. Bin nicht wahnsinnig! Ich bin der Bankier
-Jürgen Kolbenreiher. Und ich brauche nur nicht mehr in das Bureau zu
-gehen, brauche nur da wieder anzuknüpfen, wo ich vor vierzehn Jahren
-abgebrochen habe, dann werde ich wieder ein Ziel haben, werde
-hingebungsvoll kämpfen, und alles wird gut sein.“
-
-„Auch dieser Wunsch entspringt dem Konflikt, der Sie ins Irrenhaus
-bringen wird.“
-
-„Suchet, so werdet Ihr finden, heißt es in der Schrift.“ Jürgen
-lauschte, das Gesicht seitwärts gedreht. Im Nachbargarten ertönte eine
-Lachsalve.
-
-„Ich muß Schluß machen, Schluß! und sofort neu anfangen. Auf der Stelle!
-Vor allem: ich gehe nicht mehr in die Bank. Schluß!“
-
-Er war aufgesprungen, lauschte nach innen, was der Strom der Gefühle ihm
-zuerst bringen werde:
-
-Schreibmaschinen klapperten. Der Mahagoniaufzug stieg lautlos empor.
-Angestellte eilten durch die Gänge des Bankgebäudes. Der Prokurist
-verbeugte sich, reichte Jürgen die wichtigen Telegramme.
-
-Angewidert von dem eigentümlichen Geruch des Bankgebäudes, schob er das
-ganze Geschäft von sich weg, wartete auf den Strom der Gefühle. Die Frau
-des befreundeten Fabrikanten, eine junge, schöne Blondine, die zu Jürgen
-in die Villa gekommen und von ihm verführt worden war, tritt ein, nimmt,
-wie damals, den Schleier ab. Das sah, wie damals, aus, als ob sie sich
-entkleidete. Jürgen schüttelte abwehrend den Kopf.
-
-Das Billardbrett tauchte grün auf. Jürgen hatte nur noch einen
-schwierigen Stoß zu machen. Der gelang ihm. Er hatte die Partie
-gewonnen. Der Freund mußte bezahlen.
-
-Jürgen lächelte zu Boden. „Das war eine interessante Partie“, flüsterte
-er erfreut und machte seinem Freunde noch eine Serie schwierigster Stöße
-vor.
-
-Die Billardbälle wurden immer größer, kopfgroß, wurden zu den farbigen
-Glaskugeln. Erst als er im roten Ball seinen abgeschlagenen
-Studentenkopf erkannte, der lächelte, so daß nicht ein Billardball,
-sondern ein gefährliches Lächeln kopfgroß über das grüne Tuch hopste,
-ließ er das Queue sinken.
-
-In tiefster Bestürzung flehte er um ein Gefühl aus der Vergangenheit. Er
-empfand nichts, ließ sich, gebrochen und ergeben, in den Sessel sinken.
-‚Ich gehe eben morgen wieder ins Bureau und übermorgen und in zwanzig
-Jahren auch noch.‘ „Unmöglich!“ rief er. „Unmöglich!“
-
-Da stieg die Wut hoch in ihm. Um die innere Leere zu füllen, stieß er
-starke Worte aus: „Blutig ans Kreuz geschlagen! Proletarier aller Länder
-...! Sturm! Untergang!“ Er empfand nichts dabei. Brüllte wahllos:
-„Kinderbewahranstalt! Apfelknecht! Reifeisen!“
-
-„Was, Apfelknecht? Nun, weshalb nicht auch Apfelknecht! Jetzt erst
-recht: Apfelknecht! Apfelknecht! Apfelknecht!“
-
-Entstellt vor Wut, raste er durch alle Zimmer durch in den Salon.
-Zwischen dem schwarzlackierten, nie benutzten Kohlenkasten, auf den die
-heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, und dem
-gestickten Wandschirmstorch, der das Wickelkissen mit den drei
-Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog, schwang der Perpendikel hin und her.
-
-Vor übergroßer Wut ganz ruhig geworden, schritt er zur Uhr und riß mit
-einem Ruck den Perpendikel heraus, schleuderte ihn durchs Fenster in das
-Springbrunnenbassin. Die Amsel zuckte aus dem Garten hinaus. „Das wäre
-das“, frohlockte er, hob die meterhohe Vase über den Kopf empor und
-schmetterte sie zu Boden. Die Nippsachen flogen an die Wand. Die Fenster
-klirrten. Er demolierte die ganze Einrichtung. Rückte den schweren
-Eichenholzschrank von der Wand, betrachtete die Zerstörung. „Nun, nun“,
-sagte er ratlos und schob den Schrank wieder zurück.
-
-Schluchzen stieß ihn. Da fühlte er sich innerlich berührt und ließ sich
-führen, hinauf in das Zimmerchen, das er als Kind und Jüngling bewohnt
-hatte. In der Hand den silbernen Leuchter, den nach bestandenem
-Abiturientenexamen die Tante ihm mit den Worten geschenkt hatte: ‚Wenn
-ich tot bin, bekommst du alles‘, betrat er scheu die Kammer, in der seit
-vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen war.
-
-Über dem versessenen Lederkanapee hingen noch, oval gerahmt und
-symmetrisch zu einem großen Oval geordnet, die vergilbten Photographien
-der Familie Kolbenreiher. Und auf dem Bücherbrett standen verstaubt die
-Reisebeschreibungen in bilderreichen Umschlägen. Die Luft war stockig
-wie in einer Totenkammer.
-
-Der große, schwer gewordene Mann blickte, tief erschüttert von dem
-Besuche bei seiner Jugend, atembenommen die verblaßten Wände an und
-seinen riesenhaften Schatten. Und begann, traumwandlerisch, sich wie ein
-Jüngling zu benehmen, räumte, durchbebt von innerlichem Weinen, die
-Bücher heraus, ordnete sie wieder hinein und schlich, den Zeigefinger am
-gespitzten Munde, mit der ‚Schreckensvollen Reise ins Erdinnere‘ zum
-Kanapee. Ein irr-schlaues Lächeln im Gesicht, erhob er sich noch einmal,
-zog mit seinem Taschenmesser einen Riß um die Kerze herum, zwei
-Zentimeter unter dem Docht, und begann zu lesen.
-
-„Nein, nein, ach, nein, das hilft Ihnen nicht.“
-
-Jürgen blickte auf. Die Stimme hatte so traurig und mitleidig geklungen.
-„Das hilft mir nicht“, flüsterte er weinend. „Das hilft mir nicht.“
-
-Vor ihm lag, weit hingebreitet, ein fremdes Stück Land, entzweigespalten
-durch einen gewaltigen Abgrund. Rechts war eine blanke Asphaltfläche. In
-deren Mitte stand ein gelbes Streichholzschächtelchen. Alle
-Schulkameraden, Geschäftsfreunde und Bekannten Jürgens schritten auf das
-gelbe Schächtelchen zu, in dem eine Banknote lag. Auf dem Schächtelchen
-stand das Wort ‚Achtung‘. Von allen Seiten kamen sie herbei und
-verbeugten sich vor dem Streichholzschächtelchen, stießen einander weg,
-verbeugten sich.
-
-Auf der andern Seite des Abgrundes: eine milde Wiese. Darauf weidet
-ruhig ein altes Pferd. Weiter rückwärts ist die Wiese wild, und da, wo
-sie mit dem Himmel zusammengeht, sind Jugend, Begeisterung, Ziele,
-feurig beleuchtete Gesichter: Jünglinge, die unter Hingabe ihres Lebens
-sich bemühen, das Pferd, das die Liebe ist, über den gewaltigen Abgrund
-weg zu den Bürgern zu schaffen.
-
-„Die bemerken es ja gar nicht. Und aus diesem unheimlichen Grunde ist es
-den Jünglingen ganz unmöglich, das Pferd über den Abgrund
-herüberzuschaffen“, sagte Jürgen.
-
-Da wurde seine Hand gezwungen, ein Streichholzschächtelchen zu entleeren
-und eine Banknote hineinzulegen. Er stellte das Schächtelchen auf den
-Fußboden, verbeugte sich. Die Fäuste zur Brust hochgehoben, sprang er in
-gleichmäßigem Trabe um das Schächtelchen herum. Die Villa zitterte.
-Jürgen keuchte und schwitzte, verbeugte sich, rannte weiter im Kreise.
-
-Die Uhr schlug zehn. Die Macht der Gewohnheit beendete sofort den Tanz.
-„Schlafen“, sagte er, verzerrten Gesichtes gähnend und keuchend in
-einem. Griff nach dem Leuchter.
-
-Stand bei der Tür, als ob er eben eingetreten wäre. Sein Kopf war frei.
-„Ich muß die Kammer einmal gründlich durchlüften lassen“, sagte er und
-ging in das Schlafzimmer.
-
-Punkt acht Uhr betrat er am andern Morgen das Bureau.
-
-Erst nachdem er einen halben Kanzleibogen vollgeschrieben hatte, hörte
-er mitten im Worte auf. „Ich wollte ja nicht mehr ins Bureau gehen ...
-Aber ist denn das möglich? Halte ich das aus? Oder halte ich das nicht
-aus?“
-
-„Weder – noch!“
-
-Da wurden die drei Beamten von einem Knall in die Höhe gerissen: Jürgen
-hatte das Tintenfaß durch das zerbrechende Fenster hinunter in den
-Lichthof geschleudert. Ein Tintentropfen rollte langsam an der Stirn
-herunter, am tobsüchtig glotzenden Auge vorbei, über die dicke Backe.
-
-„Wenn Sie solche Sachen machen, zieht man Ihnen ja die Zwangsjacke an.
-Nun sind Sie selbst aber schon eine Zwangsjacke von Ihrem Selbst. Sie
-würden also über die Zwangsjacke eine Zwangsjacke angezogen bekommen.
-Bedenken Sie, welch entsetzliche Hilflosigkeit.“ Die Stimme hatte
-vorwurfsvoll und dabei sehr milde geklungen.
-
-„Jawohl, da ist es schon besser, ich gehe wieder“, sagte Jürgen und
-griff nach seinem Hute. Die zwei jungen Beamten machten unabgewandten
-Blickes mit den Beinen einander aufmerksam.
-
-Von einer fremden, hinter seinem Rücken stehenden Macht wurde Jürgen
-durch die Straßen geschoben zum Nervenarzt.
-
-Bein übergeschlagen, beide Ellbogen so auf die Sessellehnen gestützt,
-daß die gefalteten Hände und das Kinn vor der Brust zusammentrafen,
-hörte der schweigende Neurologe dem Patienten zu. Und Jürgen empfand
-Dankbarkeit diesem Manne gegenüber, der offenbar alles schon zu wissen
-schien und sich dennoch alles erzählen ließ.
-
-„Na“, unterbrach der Professor und schnellte, ein abschließendes,
-vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht, vor, griff nach Jürgens Puls.
-Der Sprungdeckel des goldenen Chronometers gab mit einem beruhigenden
-Knacken das Ziffernblatt frei. Die Arztaugen blickten zur Decke.
-
-Das Herrchen saß schwarz auf dem Tintenfaß aus schwarzem Marmor und
-schüttelte verneinend und mitleidig das Köpfchen.
-
-„Und jetzt die Zunge!“ Jürgen streckte die Zunge heraus.
-
-„Sie sind vollblütig und haben leider trotzdem, ich sage es Ihnen auf
-den Kopf zu, täglich Suppe gegessen, Fleisch, auch Eier! Stimmt das?“
-
-„Wachsweiche Eier zu essen, hat mein Hausarzt mir geraten.“
-
-Das überhörte der Professor. „So viel über Ihren körperlichen Zustand.
-Und was Ihren seelischen Zustand betrifft, über den, wie Sie sich
-ausdrückten, Sie keine Kontrolle mehr zu haben glauben, so ist dazu zu
-sagen, daß es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, einen seelischen
-Zustand in Ihrem Sinne gar nicht gibt, aus dem einfachen Grunde, weil
-es, streng naturwissenschaftlich gesprochen, verstehen Sie, eine Seele,
-in dem Sinne, wie Sie sie auffassen, nicht gibt.“
-
-Er blickte Jürgen ermunternd an, als wolle er sagen: Sehen Sie, so
-einfach ist diese Sache, wenn man sie wissenschaftlich betrachtet.
-
-„Es gibt nur Körper, Herr Kolbenreiher, Körper, angefangen bei dem mit
-Vernunft und Bewußtsein bedachten, höchst entwickelten Tier, nämlich dem
-Menschen, zurück über den Affen, das Pferd, den Esel, den Hund, den
-Wurm, die Schnake, die Laus (wenn Sie gestatten), die Pflanze und den
-leblosen Dingen, die, ebenso wie die Pflanzen, die Tiere und wir, aus
-Atomen bestehen. Das ist, von der Naturwissenschaft aufgebaut und bis in
-die letzten Winkel durchleuchtet, der für uns glasklar gewordene Kosmos,
-in dem die mittelalterliche Hypothese ‚Seele‘, wie Sie sie auffassen,
-keinen Raum mehr hat.“
-
-Jürgen warf schnell einen Blick Richtung Tintenfaß, das schwarz und
-glänzend auf seinem Platze stand.
-
-„Sie, Herr Kolbenreiher, sind ein intelligenter Patient; anderen
-gegenüber würde ich mich zu solchen Erklärungen nicht herbeilassen.
-Repetieren wir: Es gibt also erstens vernunftlose Atomverdichtungen und
-zweitens vernunftbegabte Atomverdichtungen, von denen die
-höchstentwickelte Verdichtung der Mensch ist. Wir haben es demnach nicht
-mit der Zweiteilung ‚Seele und Körper‘ zu tun, wie Ihr Herrchen
-behauptet ...“
-
-„In dieser Form habe ich das nie behauptet“, sagte das Herrchen.
-
-„... sondern mit der Einheit ‚Körper‘, der von Vernunft bewegt wird, und
-zwar von der Zentralstation aus, dem Gehirn. Sie, Herr Kolbenreiher,
-sind eine vernunftbegabte Atomverdichtung, merken Sie sich das, und eine
-Einheit. Das heißt, Ihre Vernunft, Ihr Bewußtsein, Ihr Ich kann nicht,
-wie Sie mir da erzählen, für sich allein sprechen, auf der Straße
-spazierengehen, einen Separatspaziergang machen oder Sie besuchen und,
-sagen wir: ein Bankkonto besitzen; sondern Sie besitzen infolge Ihrer
-Vernunft ein Bankkonto.“
-
-„Aber ich habe die Kontrolle über mein Bewußtsein verloren.“
-
-Der Arzt erhob sich. „Das werden wir schon wieder deichseln. Sie sind
-Bankier. Sie machen sich nützlich. Dienen durch Ihre Leistung der
-Allgemeinheit. Das sollte Ihr Selbstbewußtsein stärken. Sind allerdings
-vollblütig. Also vorerst: keine Fleischsuppen, keine Eierspeisen. Vor
-dem Schlafengehen kalte Waschungen und, wie Ihr Hausarzt sagt, etwas
-Brom ... Ordnung. Arbeit. Hin und wieder etwas Zerstreuung, eine hübsche
-Frau. Sie verstehen. Das ist das Leben. Freuen Sie sich, daß es diese
-dunkle Kalamität ‚Seele‘ in Ihrem Sinne nicht gibt.“
-
-Auch das Frackherrchen erhob sich.
-
-„Dort, sehen Sie, dort steht es.“ Zurückweichend deutete Jürgen auf das
-Tintenfaß.
-
-Der Professor nahm es in die Hand. „Was ist das?“
-
-„Ach, nichts von Bedeutung. Das bin nur ich. Eine Kleinigkeit! Nur zwei
-Buchstaben: I–ch. Nicht der Rede wert“, sagte, bescheiden lächelnd, das
-Herrchen.
-
-Und der Arzt: „Nun, was ist das?“
-
-„Das ist ein Tintenfaß.“
-
-„Na, sehen Sie, jetzt müssen Sie selbst lachen.“
-
-Jürgen trug die Lachfratze durch die Straßen.
-
-„Glauben Sie mir, Ihnen kann auch der nicht helfen.“
-
-Dennoch ging Jürgen unverzüglich zu einem Psychiater, erzählte ihm
-alles, auch alles, was der Professor gesagt hatte. „Aber diese ganze
-Auffassung ...“
-
-„Sie haben Recht. Verglichen mit der modernen Seelenforschung, ist die
-Auffassung des Herrn Kollegen etwas primitiv ... Ja, Herr Kolbenreiher,
-die Behandlung dürfte wahrscheinlich Jahre in Anspruch nehmen. Wir
-müssen Ihre ganze Kindheit durchforschen. Erst, nachdem die schweren,
-von Ihnen total vergessenen Kindheitserlebnisse ...“
-
-Das Frackherrchen winkte ab: „Ach, hören Sie auf, Herr Doktor.“
-
-„Wie meinen?“
-
-„Ich habe nichts gesagt.“
-
-„... welche zweifellos die Ursache Ihrer Krankheit sind, Ihnen
-vollkommen bewußt geworden sein werden und Sie sie mit der
-Kritikfähigkeit des Verstandes eines Zweiundvierzigjährigen ...“
-
-„Aber Doktor! Ein Mensch, der, um nur das eine zu nennen, im Traume dem
-Vater ins Gesicht gelacht hat, ein Mensch also, der die fremden Mächte
-in seiner Seele besiegen, sich das Bewußtsein erkämpfen und an den
-Anfang seines Ich gelangen konnte, kann nicht mehr die in Kindheit und
-Jugend empfangenen Wunden verantwortlich machen.“
-
-„Ja“, sagte fein lächelnd der Psychiater, „sagen Sie das nicht.“
-
-„Was?“ fragte Jürgen.
-
-„Was Sie eben sagten.“
-
-„Ich habe nichts gesagt.“
-
-Das Frackherrchen lächelte.
-
-Auch Jürgen lächelte verschmitzt. „Also, in bezug auf die
-Kindheitserlebnisse wenigstens sind wir einer Meinung.“
-
-„Dann ists ja gut. Kommen Sie morgen zu mir.“
-
-„Nein. Denn mir können auch Sie nicht helfen.“
-
-„Das sollten Sie, wie gesagt, nicht so ohne weiteres sagen.“
-
-„Was?“
-
-„Daß auch ich ... Denn diese Kindheitser...“
-
-„Steckenpferd!“
-
-Der Psychiater hob die Augenbrauen und notierte das Wort ‚Steckenpferd‘.
-„...erlebnisse, vor allem natürlich die sexuellen ...“
-
-„Gehn wir!“ sagte brüderlichen Tones das Frackherrchen aus Jürgens
-Munde. „Guten Tag, Herr Doktor.“
-
-Aus dem Gymnasium, in dem auch er neun Jahre gesessen hatte, platzten
-mit Geschrei die Jünglinge. Fragende, junge Augen. Feurige Gesichter.
-Biegsame, junge Körper, Bücher unterm Arm, dem Leben schräg
-entgegengestreckt.
-
-„Deshalb muß ich jetzt gleich zum Photographen gehen.“ Weshalb das
-Erblicken der Gymnasiasten ihn veranlaßte, zum Photographen zu gehen,
-hätte Jürgen nicht sagen können. Plötzlich sah er eine tiefe Verbeugung
-und folgte der einladenden Photographenhand.
-
-Während er vor der Linse saß, betrachtete er die lebensgroßen
-Brustbilder, deren tote Augen auf ihn zurückblickten. „Ob man diese
-Jugendphotographie wohl auch vergrößern kann?“
-
-Der Photograph prüfte das verblichene Jugendbildnis, das Jürgen
-darstellte, wie er im Garten am Nußbaum lehnte, unter dem die Tante
-gehäkelt hatte. „Aber mit Vergnügen! Geht großartig!“
-
-„Nicht nur Brustbild? Ganz in Lebensgröße? Auch mit den Beinen?“
-
-„Das allerdings hat bis jetzt noch niemand gewünscht. Aber es ist zu
-machen ... O, das kommt vielfach vor, daß die Herrschaften sich
-vergrößern lassen. Gerade die Jugendphotographien immer will man
-vergrößert haben. Erst vor einigen Wochen kam Herr Geheimrat Lenz – sehr
-berühmter Mann, wie Sie wissen – und bestellte eine Vergrößerung nach
-seinem Jugendbildnis. Zwanzig Jahre! Nicht mehr zu erkennen! Kein Mensch
-würde glauben, daß Herr Geheimrat Lenz einmal so ausgesehen hat. Und
-dies ist der Sohn: Herr Oberstaatsanwalt Karl Lenz. Er ist, gemessen am
-griechischen Schönheitsideal, zu dick geworden ... Zu sehen, wie man
-früher war, macht Spaß, nicht? ... Nur etwas verblaßt, verwischt,
-sozusagen vergangen sehen die Vergrößerungen von Jugendbildern aus. Aber
-sie haben gewissermaßen etwas Traumschönes. Traumschön! Das ist das
-richtige Wort ... Etwas höher den Kopf ...“
-
-Vor dem Schlafengehen nahm Jürgen Brom, wusch sich kalt ab, schlief
-fest, träumte schwer, wußte am Morgen nicht mehr, was er geträumt hatte,
-erschien pünktlich im Bureau. Die Beamten beobachteten ihn unausgesetzt.
-
-Auf dem Rückwege zur Haltestelle blieb Jürgen stehen, berührte mit
-seinem Spazierstockgriff die Brust des Partners, der nicht da war, und
-erklärte: „Die Sache verhält sich anders. Hören Sie gut zu“, ging
-weiter, nach der Seite hin sprechend. Seine Hände gestikulierten. Er
-blieb stehen. Lachte. „Das war ein Witz.“ „Aber ein recht guter Witz“,
-sagte der Partner. „Nun, es geht“, gab Jürgen zu, schritt aus. „Sehen
-Sie, da sprach ich letzthin mit Katharina ...“
-
-„Was sagte ich eben?“ fragte er entsetzt sich selbst und zog den Kopf
-ein, schwieg.
-
-Und schon nach zehn Schritten begann er ein neues Gespräch. Der Partner
-konnte ein fremder Mensch sein, den Jürgen kurz vorher in der Bank
-gesprochen, ein Kind, das ihm nachgesehen hatte, die schon längst
-verweste Tante. Jürgen, der Student, war anfangs nur sekundenlang der
-Partner des zweiundvierzigjährigen Jürgen. Denn Jürgen versah den
-Studenten sofort mit einem Vollbart, setzte ihm eine Brille auf, zog ihm
-einen Pelzmantel an, so daß er an einen fremden Herrn seine Worte
-richten konnte. Aber späterhin wehrte sich der Jüngling erfolgreich
-gegen die Verkleidung, ließ Mantel, Brille und Bart fallen, wurde
-gedankenschnell zum Studenten und erklärte mit ruhiger Stimme dem
-Zweiundvierzigjährigen: „Sie sind ein ganz niederträchtiges,
-verräterisches Nichts.“
-
-„Warum bin ich ein Nichts? Erlauben Sie mir!“
-
-Der Student, der die abgeschnittene Hose trug, auf die das Hinterteil
-aufgenäht war in Breechesschwung, wies genau nach, weshalb Jürgen ein
-Nichts sei, hielt eine feurige Rede, geriet in Begeisterung. Jürgen
-hörte verzückt zu und versuchte, selbst in dieser Tonart
-weiterzusprechen: von Hingabe, Kampf und Zielen.
-
-„Halt, das sage ich. Ich sage das. Sie haben nicht das Recht, so zu
-sprechen. Sie haben dieses Recht verwirkt.“
-
-Da ließ Jürgen dem Studenten sofort wieder einen Vollbart wachsen. Aber
-als er ins Wohnzimmer trat, erblickte er den Studenten, der lebensgroß
-an der Wand lehnte. Etwas verschwommen, fern, vergangen. Und ungeheuer
-gegenwärtig.
-
-„Das ist ja großartig“, rief Jürgen frisch, stellte den Spazierstock in
-die Ecke und sich selbst vor das Bild. „Du gefällst mir ... Je, je,
-weshalb denn gar so ernst! Schlechte Geschäfte?“
-
-Die Photographie antwortete nicht.
-
-„Nein, nein, entschuldige. Ein Scherz! Soll nicht mehr vorkommen.“ Er
-schritt zur Tür, wollte Phinchen rufen und ihr das Bild zeigen.
-
-„Sind nicht vorhanden.“
-
-„Wer ist nicht vorhanden?“ Jürgen war herumgeschnellt; ganz deutlich
-hatte er die drei Worte gehört, die laut und tonlos gesprochen worden
-waren. Er starrte hinaus in den Garten. Da war niemand. Auf den
-Zehenspitzen schlich er zum Bilde zurück, wiederholte gedankenverloren:
-„Wer? Wer ist nicht vorhanden?“ Ging zur Tür, Phinchen zu rufen.
-
-„Sie sind nicht vorhanden.“
-
-Er ließ die Türklinke los und trat, beide Hände in den Hüften, wieder
-knapp vor das Bild hin. „Nein, Sie, mein Lieber, Sie sind nicht
-vorhanden. Sie sind ganz gewöhnliches Bromsilberpapier. Verstanden!“
-
-„Ich bin da. Ich bin.“ Die Photographie deutete mit dem Zeigefinger auf
-Jürgens Brust: „Sie dagegen nicht. Was von Ihnen da ist, bin ich. Aber
-ich habe mit Ihnen nichts mehr gemein. Also sind Sie gar nicht mehr
-vorhanden.“
-
-Da packte Jürgen die schmal gerahmte Photographie und stellte sie mit
-der Bildseite gegen die Wand. „Und was sind Sie jetzt, he? Nichts als
-Pappe! Ganz gemeine graue Pappe!“ Er trat zurück.
-
-Und sah, von unermeßlichem Entsetzen geschüttelt, zu, wie das Bild auf
-der Papprückwand erschien, und hörte die bekannten Worte: „Ich
-versichere Ihnen, so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig
-Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele schmusen, in gar
-keiner Weise mehr von ihrer Seele gestört werden, so wahr ist es, daß
-bei gewissen Individuen in gewissen Momenten die Seele spielend leicht
-durch den Schutzwall durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht
-verlangen kann.“ Die Photographielippen hatten sichtbar die Worte
-geformt.
-
-„Du Lump bist nichts als Pappe“, brüllte Jürgen, stürzte hinaus, zerrte
-Phinchen vor das Bild. „Dreh es um! ... Wer ist das?“
-
-„Das ist der gnädige Herr, wie er jung war.“ Phinchen bekam vor Rührung
-nasse Augen.
-
-„Also ich bin das, nicht wahr, ich?“
-
-„Wie Sie jung waren.“
-
-„Das heißt doch aber: ich bin es. Ich!“
-
-„Ja, wie Sie früher waren.“
-
-„Jetzt sage mir: wen hast du lieber, den da oder mich?“
-
-„Sie natürlich, gnädiger Herr! Das ist ja nur eine Photographie.“
-
-„Das ist ein Irrtum. Ich bin er. Und er ist ein Nichts.“
-
-Jürgen führte Phinchen schnell in die Küche. „Sag mir, Phinchen, hast du
-ihn sprechen hören, den da drinnen? ... Nein, schweige! Ich will nichts
-wissen.“
-
-Schnelle Schritte stellten ihn wieder vor das Bild hin. „Hör mal, du
-bist nichts als eine Photographie und kostest mich soundso viel. Mit
-Rahmen ... Hier ist die Rechnung.“
-
-„Sie irren sich. Ich bin alles, was Sie verraten haben, und koste Ihnen
-den Verstand.“
-
-„Das wollen wir sehen.“ Er stieg sofort ins Bad, duschte sich
-minutenlang kalt ab, schluckte Brom und legte sich ins Bett.
-
-Die Photographie stand im dunklen Wohnzimmer. Lebensgroß. Jürgen saß
-aufrecht im Bett und glotzte durch sechs Wände durch auf die
-Photographie.
-
-„Sie hat Augen. Sie blickt ... Kann man einen Blick photographieren? Ob
-wohl mein Blick von damals auch mitphotographiert, ganz genau, wie er
-war, mitphotographiert worden ist? ... Und das, was hinter dem Blicke
-ist? Was hinter einem Jünglingsblicke ist?: Sehnsucht, Bereitschaft zur
-Hingabe, die großen Gefühle – die Seele? Wurde damals auch meine Seele
-mitphotographiert?“
-
-Jürgen sah deutlich den Jünglingsblick, der als große Frage an das Leben
-in den Augen stand.
-
-Ohne die photographierte Frage an das Leben aus den Augen zu lassen,
-legte er den Kopf langsam und sanft auf das Kissen, schlief ein. Und im
-Schlafe war nichts auf der Welt, als seine Augen und die zwei
-photographierten Augen. Die Blicke der zwei Augenpaare trafen sich
-stundenlang, bis dieses lautlose Sichtreffen der Blicke Jürgen aus dem
-Schlafe hob.
-
-Die brennende Kerze in der Hand, schlich er ins Wohnzimmer, vor das Bild
-hin. „Und wenn ich nun“, sagte er und nahm das Bild aus dem Rahmen,
-„mich in den Rahmen stelle?“
-
-Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden. Eine Weile blieb er
-vollkommen reglos im Rahmen stehen und starrte wild auf den
-gegenüberstehenden Jüngling.
-
-Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang Jürgen, wieder aus dem
-Rahmen herauszutreten. Überwältigt von der Unerbittlichkeit des
-Jünglingsblickes, brach er vor dem Bilde in die Knie. „In dir lebt das
-ewig unverrückbare Ziel.“
-
-Die Kerze in der einen, die Photographie in der andern Hand, stieg er
-hinauf in das Zimmerchen, das er als Jüngling bewohnt hatte, lehnte das
-Bild an die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte und fortgehen
-wollte, stieg aus den seit Jahren verschütteten Gefühlen ein Strom von
-Hilfsbereitschaft auf. „Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein
-Lebenlang stehen.“
-
-Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte ab, nach vorne, daß es
-einen rechten Winkel bildete, dann bei den Knien nach rückwärts und
-setzte die Photographie auf das Kanapee.
-
-Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im Schlafzimmer an. Und
-hatte, wie er stöhnend und wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das
-von Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich getrennt zu
-sein von sich, von seiner Jugend, die im modrigen Studentenzimmer auf
-dem Kanapee saß.
-
-Andern Tages wollte er auf der Straße schon den Hut ziehen vor Herrn
-Fabrikbesitzer Hommes, der grußlos vorüberschritt. Jürgen blieb stehen,
-Hand auf dem tobenden Herzen. „Sieht er – sieht man mich nicht? Bin ich
-unsichtbar? ... Ich bin doch aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn,
-Hände.“ Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen, preßte das
-Gelenk.
-
-Da öffnete sich sein Mund in grenzenlosem Entsetzen: die umfassende Hand
-war zur Faust geworden: kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte
-er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur Faust.
-
-„Nicht mehr vorhanden?“ fragte er, hob die Augenbrauen. „Überhaupt nicht
-mehr?“ Er pfiff bedeutsam. „Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht
-mehr da. Ist einfach weg? Ist Luft? Und das nicht einmal? Ein glattes
-Nichts?“
-
-Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die Spitze hinein in seinen
-Schenkel, wollte vor Freude über den Schmerz schon einen Triumphschrei
-ausstoßen. Und fühlte nichts.
-
-Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der Wunde herum, fühlte
-nichts.
-
-Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter Körper nachhause und
-legte sich auf das Kanapee.
-
-„Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in die Küche und Phinchen
-sieht mich nicht?“
-
-Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der Bankdiener im Zimmer.
-Der Herr Prokurist lasse fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht
-ins Bureau komme.
-
-„Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn fragen? Wissen Sie denn,
-wo Herr Kolbenreiher sich momentan aufhält?“
-
-Und da der Diener den Mund aufsperrte: „Ich bin nicht vorhanden, nicht
-anwesend, ich bin nicht da, kann also auch nicht in die Bank kommen.“
-
-„Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher seien verreist.“
-
-„Ah!“ rief Jürgen, als der Diener fort war. „Vielleicht bin ich nur
-verreist. Einfach verreist! Nach Italien! Paris! So wirds sein.“
-
-Jürgens Gesicht wurde flach; die Augen sprangen vor. Er stürzte in die
-Küche. „Hilf mir, Phinchen, rate mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die
-Welt ist groß. Was soll ich tun, ihn zu finden ... Rufe schnell den
-Diener zurück.“
-
-Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder in das Zimmer führte:
-„Besorgen Sie mir einen Reisepaß. Aber auf den Namen Jürgen
-Kolbenreiher!“ Er zwinkerte schlau. „Wenn Sie sich geschickt anstellen,
-merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst es bin.“
-
-„Das ist gar nicht schwer“, sagte der Diener und ging. Phinchen weinte.
-
-„Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen, sein Vermögen zu
-verlieren, aber sich selbst zu verlieren erträgt kein Mensch.“
-
-„Das ertragen die andern großartig; aber, zum Beispiel, das Vermögen zu
-verlieren, ertragen sie nicht. Und aus diesem einfachen und unheimlichen
-Grunde ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die sind
-nicht vorhanden und haben davon nicht die leiseste Ahnung.“
-
-Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an die Schläfen, noch einmal
-zu kontrollieren, ob sein Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen.
-Kein Kopf war dazwischen. Jürgen stieß einen kurzen Schrei aus. Und lag
-leichenstill bis in die Nacht hinein. Der Reisepaß war schon gebracht
-worden.
-
-Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich nichts. Der volle Mond
-hing am Himmel. Jürgen schlich ins Arbeitszimmer, einige Minuten später
-durch den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den Türpfosten, an den
-er die Tafel ‚Hier wird Armen gegeben‘ angebracht hatte, und las:
-
-„Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzugeben vermag, erhält
-jede gewünschte Summe. Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit,
-Bewußtsein und Hingabe gekauft.“
-
-Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte seinen Reisekoffer,
-wusch sich, kleidete sich um.
-
-Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer, vor den mannshohen
-Ankleidespiegel. Die Hand am Schalter, wartete er erst einige Sekunden,
-bevor er das Licht andrehte.
-
-Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie vor Freude, hob dabei
-den linken Arm.
-
-Das Spiegelbild hob den Arm nicht.
-
-Jetzt erst bemerkte er, daß im Spiegel der Jürgen stand, der, in knapp
-sitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte Kraft in Schultern, Brust und
-Blick, die Blicke aller im Saale Anwesenden auf sich zog: der Jürgen,
-den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu erstrebendes Ziel in den
-grünen Bretterzaun hineingesehen hatte.
-
-Jürgen hob die Augenbrauen, pfiff, tanzte, schnitt Grimassen, ballte die
-Fäuste. Das Frackherrspiegelbild rührte sich nicht. Das Entsetzen war
-ungeheuer.
-
-Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige Sekunden, drehte an,
-stierte in den Spiegel.
-
-Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den Knopf.
-
-Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet hatte, trat sofort
-ein, wurde vor den Spiegel gezerrt. Ob sie ihn sehe?
-
-Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im Spiegel stehe. Sein
-wütendes Fragen und ihr jammervolles Deuten dauerten so lange, bis
-Jürgen, durchblitzt von einem letzten Rettungsgedanken, langsam sagte:
-„Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins Bett lege, dann muß ich doch
-fühlen, daß ich bin. Denn dies, es ist das starke Gefühl.“
-
-Phinchen ließ die Arme sinken, war bereit.
-
-„Aber mit wem denn? Ich bin ja nicht. Hab ja keine Arme zum Umarmen ...
-Weißt du, Phinchen, die Hauptsache ist, daß ich wieder ein Fetzchen
-Gefühl bekomme. Gefühl! Dann suche ich ihn. Dann finde ich ihn auch.
-Geh, Phinchen, geh!“
-
-Bis zum Morgen lag er mit offenen Augen im dunklen Schlafzimmer.
-
-Der Kolonialwarenhändler von nebenan und der Antiquitätenhändler, der in
-der Hauptstraße des Villenviertels eine Filiale hatte, sahen Jürgens
-Zettel zuerst. Arbeiter und Weiber, Kinder, auf dem Wege in die Schule,
-Milch- und Semmelausträger sammelten sich an. Der Antiquitätenhändler
-machte einen Witz über die neue Konkurrenz. Das Gelächter drang bis zu
-Jürgen hinauf.
-
-Der stritt sich mit einem Fremden herum, der seine Gefühle nicht
-verkaufen, sondern sie nur gegen andere Gefühle eintauschen wollte.
-
-„Aber ich besitze ja keine ... Hören Sie“, er faßte den Fremden bei der
-Schulter, „ich gebe Ihnen mein gesamtes Vermögen gegen etwas Gefühl,
-gegen ein Bruchstückchen Begeisterung, gegen den leisesten Hinweis auf
-ein Ziel. Nur ein bißchen Bewußtsein! Ich bitte Sie.“
-
-„Geht nicht! Gefühl hin – Gefühl her! Hingabe gegen Hingabe!“
-
-Jürgen warf die Hände vor: „Meine Villa, die drei Mietskasernen, meinen
-ganzen Aktienbesitz, meine Stellung und Macht, mein Geachtetsein, alles
-will ich Ihnen geben und will dafür nur mich.“
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-Vor dem Hause ertönte stürmisches Gelächter. Das klang wie fernes
-Möwengeschrei. Der Antiquitätenhändler witzelte: „Ankauf gut erhaltener
-Ideale. Stil Louis XVI.“
-
-Auch der Nachbar war hinzugetreten, las den Zettel. „Da ist etwas nicht
-in Ordnung“, sagte er und klinkte die Gartentür auf.
-
-Jürgen horchte auf das vielfüßige Getrappel, nahm seinen Koffer, stürzte
-die Vordertreppe hinunter und davon.
-
-Im Auto fuhr er – Oberkörper vorgebeugt, als gelte es, ein Rennen zu
-gewinnen – zum Bahnhof. „Was kostet die Fahrkarte nach Paris?“
-
-Der Schalterbeamte nannte die Summe, griff in das Billettregal.
-
-„Und nach Rom? ... Nach Odessa?“
-
-„Wohin also?“
-
-„Zu mir! ... Verzeihung – es könnte ja sein –, wissen Sie vielleicht
-zufällig, ob Jürgen Kolbenreiher momentan in Berlin oder in Wien ist?“
-
-„Wie meinen?“
-
-„In London oder Madrid?“
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-„Was? Wer? Was wollen Sie?“
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-„Um Himmels willen – in New York?“
-
-Der Schalterbeamte starrte wütend.
-
-Und Jürgen sagte: „Sie wundern sich? Tun Sie das nicht! Auch Sie können
-nicht wissen, wo und was Sie sind, in Rom oder in Chikago, Matrose in
-der südlichen Hafenstadt oder Schreiber in einer Beamtenstube
-Norddeutschlands, die Sie nie betreten haben. Oder sitzen Sie in
-hunderttausend Schalterkästen gleichzeitig? Keine Ahnung haben Sie.
-Kommen Sie mit! Denn hier in diesem Schalterkasten werden Sie sich nie
-finden. Oder glauben Sie gar, Sie seien Sie? ... Bruder, verwandt mit
-mir durch dein Schicksal, steige heraus aus deinem Kasten. Denn hier
-kannst du dich bis an das Ende deines Lebens niemals finden. Suche dich
-... Suchet, so werdet Ihr finden ... Aber dir, ich weiß es, dir Armen
-ist nicht einmal das Suchen verstattet.“
-
-Eilige Reisende drängten Jürgen vom Schalter weg. Die Abfahrt eines
-Zuges wurde ausgerufen. Jürgen sprang in ein Abteil dritter Klasse.
-
-Zu der alten, verhärmten Arbeiterfrau, die ihm gegenübersaß, sagte er
-noch, er suche, was jeder Mensch auf dieser Erde lebenslang suche. Und
-schlief ein. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als streite er heftig mit
-jemand.
-
-Die Frau glaubte, Jürgen friere, betrachtete erst eine Weile mitleidig
-und unschlüssig das zerklüftete Gesicht. Dann wagte sie es doch, ihre
-Wolldecke vorsichtig über seine Knie zu breiten.
-
-
-
-
- VIII
-
-
-Wochenlang wußte niemand, wo er war. Phinchen, von neugierigen Nachbarn
-befragt über das scheue Verhalten Jürgens in der letzten Zeit,
-verweigerte jede Auskunft. Und Herr Wagner, bestrebt, unliebsame
-Gerüchte, die das Ansehen der Bank schädigen könnten, nicht aufkommen zu
-lassen, sprach von einer wichtigen Geschäftsreise so vorsichtig und
-wortkarg, als würde schon ein einziges schlechtgewähltes Wort
-Riesenverluste für die Bank bedeuten.
-
-Endlich erzählte ein Kunde, er habe Jürgen in Rom gesehen – nannte Tag
-und Stunde – und zwei Tage später noch einmal in der Halle des selben
-Hotels, leider nur sehr flüchtig, da Jürgen, offenbar in besonders
-dringenden Geschäften, in größter Eile auf das wartende Auto
-zugeschritten sei.
-
-Herr Wagner machte ein wissendes Gesicht. Und schwieg auch dann noch,
-leise zwinkernd, als ein Pariser Geschäftsfreund ruhig lächelnd
-behauptete, das sei nicht gut möglich, denn an dem dazwischenliegenden
-Tage habe er selbst in Paris im Direktionsbureau sich mit Jürgen
-unterhalten und persönlich ihm eine große Summe gegen einen Scheck des
-Hauses Wagner und Kolbenreiher ausbezahlt. „Das war am ...“
-
-„Stimmt!“ unterbrach Herr Wagner. „Beides stimmt. Es gibt Fälle, meine
-Herren, wo die Geschäftskonstellation unsereinen zwingt, schneller als
-eine Schwalbe zu sein.“
-
-Der Zeigefinger sank. Was aber, wenn jetzt noch einer kommt und
-behauptet, er habe ihn um die selbe Zeit in London gesehen? dachte Herr
-Wagner,
-
-während Jürgen, in der Droschke ungeduldig vorgebeugt, überdacht von
-einem rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, vom Bahnhof der
-südlichen Hafenstadt in das Hotel fuhr, in dem er vor vierzehn Jahren
-als Neuvermählter mit Elisabeth gewohnt hatte.
-
-Ein Servierkellner verscheuchte mit der Serviette Fliegen von den
-blumengeschmückten, weißgedeckten Tischchen. Gegenüber schliefen zwei
-braungebrannte Männer auf den breiten Steinstufen im Schatten des
-Palastes.
-
-„Sagen Sie mir, aber aufrichtig: ist Herr Jürgen Kolbenreiher im Hause?“
-
-Zurückweichend drehte der Kellner sich um sich selbst und schlug dabei
-mit der Serviette heftig in die Luft nach einer großen Bremse. „Ich
-werde sofort nachsehen.“
-
-Der dicke, befrackte Oberkellner blieb, den Zahnstocher noch im Munde,
-im kühlen Hausflur stehen, zeigte Jürgen, der draußen im Sonnenbrande
-stand, fragend und verneinend beide Handflächen und deutete plötzlich
-und schwungvoll mit beiden Händen einladend flurwärts.
-
-„Nicht dagewesen? ... Ist das Zimmer Nummero 7, mit Aussicht auf den
-Hafen, frei? ... Dieses Zimmer nämlich hätte er genommen“, sagte er beim
-Hinaufgehen. Und erkannte sofort den geblumten Überzug der Ottomane
-wieder.
-
-Setzte sich in den Sessel. Plötzlich sah er, wie damals, Jürgen mit
-Elisabeth in der Halle eines Pariser Hotels stehen. ‚Das bin ja gar
-nicht ich. Das ist ein ganz anderer. Nicht der, den ich suche ... Wenn
-ich wenigstens nur den finden würde, der hier in diesem Zimmer gesessen
-hatte. Denn auch der wußte, daß der in Paris herumlebende Schuft nicht
-Jürgen war. Aber wo, wo ist er, der dies wußte? Wo?‘
-
-„Hier ist er also nicht? In diesem Zimmer wohnt er nicht?“
-
-„Dieses Zimmer ist frei, Herr.“
-
-„Aber es war doch nicht immer frei! Sagen Sie mir – aber denken Sie
-scharf nach –: ist Herr Jürgen Kolbenreiher nicht doch hier gewesen in
-der letzten Zeit? Dieser selbe Herr Kolbenreiher nämlich, der vor
-vierzehn Jahren einige Tage in diesem Zimmer gewohnt hat mit seiner
-Frau! Mit einem Fisch! Sie erinnern sich! Unveränderlich in ihrem Wesen.
-Kühl! Kühl! Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe erwacht ...
-Er bezahlte damals – ich erinnere mich genau –, da er anderes Geld nicht
-hatte, Ihnen persönlich die Rechnung in Mark.“
-
-„Eine blonde Dame? Mark! Ah, Mark! ... Der Herr ist damals gleich
-abgereist und seither nicht mehr hier gewesen.“
-
-„Abgereist?“ Jürgen fuhr sofort zum Bahnhof und reiste ab. Mit dem
-ersten Zuge, der ausgerufen wurde. Endstation Berlin.
-
-Wurde achtzehn Stunden später von den hastig und zielbewußt
-Auseinanderstrebenden mitgerissen durch die Berliner Bahnhofshalle und
-hinausgestellt auf den Platz, zwischen brüllende Zeitungsverkäufer,
-schnelle Radler, brüllende Autos, hetzende Fußgänger, und verharrte
-reglos: eine Achse, um die herum das Leben der flachen Stadt sauste.
-
-Auf dem Potsdamer Platz, dem Mittelstück verkehrreichster Straßen, stand
-der Schutzmann, das Blasinstrument am Munde, die Hand dirigierend
-erhoben.
-
-„Die Richtung! Bitte! Ich bitte. Die Richtung! Welche Richtung führt zu
-mir?“ fragte er den Schutzmann.
-
-Der antwortete: „Nicht stehen bleiben! Vorwärts!“
-
-„Im Gegenteil! Das Ganze Halt! Ich sage Ihnen, auf diese Weise nähern
-die Menschen sich, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang so weiter rasen,
-nicht um einen Millimeter dem Ziele, während vielleicht ich, ah, glauben
-Sie mir ...“
-
-Der Schutzmann hielt, als schwöre er zu Jürgens Worten, die Hand
-erhoben, senkte sie: Zeitbesessene Menschengruppen, Straßenbahnen,
-überfüllte, dunkelbrüllende Riesenautobusse, springende Häuser, nahmen
-das Rennen wieder auf, die Leipziger Straße hinauf, schwemmten Jürgen
-mit, der, ein Lächeln unbegreiflicher Zuversicht im Antlitz, mitten auf
-dem Fahrdamm schritt.
-
-Autos, von rückwärts und von vorne kommend, sausten auf ihn zu und,
-sekündlich ausweichend, in unvermindertem Tempo vorbei, knapp, daß nicht
-handbreit Zwischenraum geblieben war. Chauffeure glotzten wütend,
-schimpften, waren weg. Passanten staunten.
-
-Das Lächeln der Zuversicht verschwand. „Unverwundbar? Luft? Nicht
-vorhanden? Autos fahren durch mich durch!“ Beide Handflächen schnellten
-zu den Schläfen, fanden keinen Kopf. Das graue Entsetzen stieß ihn
-weiter.
-
-Menschen, einer flüchtenden, schwarzen Tierherde gleich, rannten, von
-der Straße weg, eine Treppe hinunter, rissen Jürgen mit, hinab in das
-mit Reklamebildern austapezierte Erdmaul, hinein in die verhalten
-bebende Maschine.
-
-Eingeklemmt zwischen Passagiere, die, vorausblickend, in Gedanken schon
-bei ihrer Zielstation angelangt waren, sauste Jürgen unter der Stadt
-durch, flüsterte, die Hand am Munde, in ein Menschenohr: „Alles rennt
-und hetzt, hin und her, kreuz und quer, Tag und Jahr. Komisch und
-bedeutsam! Denn – denn die Banken schießen auf. Neue Stockwerke werden
-aufgesetzt, Kutscherkneipen umgebaut zu Wechselstuben. Dies, ich sage
-Ihnen, dies ist das Zeichen.“ Er hob, wie vorhin der Schutzmann, die
-Hand, warnend, als wolle er aufmerksam machen auf eine heranrollende
-ungeheure Katastrophe.
-
-Die Bahn sauste empor, über eine gespreizte Eisenbrücke. Jürgen wurde
-auf den Asphalt gestellt, blickte umher. Trambahnen, Hoch- und
-Stadtbahnzüge kreuzten einander, spien Menschenmassen aus, nahmen andere
-auf.
-
-Zum beschäftigten Hotelportier sagte er in falscher Gleichgültigkeit, er
-sei und heiße Jürgen Kolbenreiher. „Hier, mein Paß! Überzeugen Sie
-sich!“ „Gilt schon!“ Füllte den Meldezettel aus.
-
-Und hüpfte in seinem Zimmer vor Vergnügen, den Portier getäuscht zu
-haben. „Was die andern können, kann auch ich. Auch ich kann ein
-Vorhandensein vortäuschen, das keines ist. Muß mich nur auch
-selbstbewußt benehmen, darf niemand merken lassen, daß ich nicht bin.
-Denn jemandem, der nicht ist, gibt niemand Auskunft. Und ich werde viele
-nach mir fragen, werde lange nach mir suchen müssen, eh ich mich finde.“
-
-Er horchte auf das Brausen der Stadt. Das klang wie das Bellen von
-Millionen vor Hunger irrsinnig gewordener Hunde.
-
-Plötzlich sah er deutlich, wie Jürgen langsam durch eine Straße ging,
-vorbei an einem Hutgeschäft, und im Gewühle verschwand. Konnte nicht
-ermitteln, ob er diese Straße und dieses Hutgeschäft in Paris, Berlin
-oder Rom gesehen hatte.
-
-„Es gibt so viele, ach, so viele Straßen und so viele Hutgeschäfte auf
-der Welt.“ Mutlos ließ er sich in den Sessel sinken.
-
-„Was mag er jetzt denken? Was fühlte er in dieser Sekunde?“ Jürgen zog
-die Uhr. „Wenn ich ihn gefunden habe, frage ich ihn, was er in diesem
-Augenblick, um dreiviertel sechs, gedacht hat. Ach, wie wunderbar wäre
-es, zu wissen, was ich gegenwärtig denke ... Der Mensch denkt. Welch
-unbegreifliches Wunder ist das Denken! ... Daß er aber auch gleich
-wieder verschwunden ist! Wird schwer zu finden sein. Ich muß mir ein
-System ausdenken. Ein Schema. Ich muß systematisch vorgehen.“
-
-Mit Bedacht setzte er die Maske der Gleichgültigkeit und Sicherheit auf,
-schritt zur Klingel. Und kramte dann doch, das Gesicht abgewendet, im
-Koffer, als er zum Kellner sagte: „Bitte, bringen Sie mir einen
-Stadtplan ... Sie können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie
-wollen.“
-
-„Ausgezeichnet! Das habe ich ausgezeichnet gemacht. Denn ein Mensch, der
-ein Schinkenbrot verzehren kann, ist vorhanden. Das ist klar. ‚Sie
-können mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.‘
-Großartig! Dieses ‚Wenn Sie wollen‘ war sehr gut.“
-
-Und als der Kellner den Stadtplan brachte und ein Brot mit Wurst, da
-Schinken nicht im Hause sei, tat Jürgen verdrießlich. „Ich hätte lieber
-Schinken gegessen. Nun, es kann auch Wurst sein.“ Der Kellner wollte
-gehen.
-
-„Einen Augenblick!“ Er schnitt ein Stück ab, steckte es vor des Kellners
-Augen in den Mund. „Wieviel Einwohner hat Berlin? Ich suche nämlich
-jemand“, sagte er und kaute eifrig für des Kellners Augen. „Deshalb habe
-ich mir den Stadtplan bringen lassen. Die Wurst ist übrigens sehr gut.
-Sehr gut! ... Und morgen bringen Sie mir zum Frühstück warme Milch und
-eine Semmel. Nur etwas warme Milch! Ich habe nämlich einen schwachen
-Magen.“
-
-„Sehr gut gemacht! Bewundernswert! Nur etwas warme Milch. Ich habe
-nämlich einen schwachen Magen.“ Er hüpfte. „Es wird. Es wird.“
-
-Eifrig studierte er den Stadtplan, zog Blaustiftstriche von
-Schmargendorf nach Wilmersdorf, über Charlottenburg weg nach Rixdorf,
-bohrte auf das e von Steglitz ein i und kicherte: „Stieglitz“. Trillerte
-wie ein Stieglitz. Trillerte noch, als er schon im Bett lag. Und
-trillerte sich lustig und hoffnungsvoll in den Schlaf hinein.
-
-Erwachte morgens mit dem Rufe: „Hahaha, einen schwachen Magen! O, hätte
-ich nur einen schwachen Magen, ein Magengeschwür, qualvoll und
-lebensgefährlich. Wäre doch immerhin ein Magen.“
-
-Trank hastig die warme Milch und stellte, die staunenden Augen
-vergrößert, die leere Tasse auf den Tisch. „Aber ich trank ja eben
-Milch. Ich! Ich trank. Ein Mensch trank Milch. Also muß dieser Mensch
-doch einen Magen haben und muß ein Mensch, muß vorhanden sein.“
-
-Da lächelte er ein schlaues, anerkennendes Lächeln, als habe er einen
-besonders fein angelegten Betrug durchschaut. „Ist es mir also
-tatsächlich gelungen, sogar mir selbst vorzutäuschen, ich hätte einen
-Magen. Wunderbar! Kein Mensch wird merken, daß ich nicht vorhanden bin.“
-
-Langsam und vorsichtig, um nichts zu verschütten, trug er die leere
-Tasse zum Kübel, leerte die nicht vorhandene Milch aus, hörte das
-Plätschern. Und riß sich zusammen. „Jetzt aber los!“
-
-Es war erst sieben Uhr. Die starke Luft stand noch unverbraucht in den
-Straßen. Jürgen hatte große Eile, sprang in Stadtbahnzüge, die schon
-angefahren waren, wurde von der Untergrundbahn im Westen abgesetzt, von
-der Straßenbahn quer durch die ganze Stadt nach Berlin N getragen, auf
-dem Dache eines Autobusses nach Wilmersdorf zurück.
-
-Sein Schema benutzte er nicht. Denn immer, wenn er planvoll vorgehen
-wollte, fürchtete er, Jürgen werde zu der Zeit, da er ihn in Berlin O
-suche, in Berlin W sein. Er fragte viele Vorübereilende, ob sie wüßten,
-wo Jürgen Kolbenreiher sich momentan aufhalte.
-
-„Der Vortragskünstler? Ah, das Weinrestaurant mit der Bar?“
-
-„Nein, ein sehr entfernt Bekannter von mir.“
-
-„Und ich soll wissen, wo der ist?! Sind Sie wahnsinnig!“
-
-„Ja.“
-
-„Frechheit!“ Der Wütende sauste weiter.
-
-Nach vielen verständnislosen Rückfragen des dicken Dienstmannes, der auf
-seinem Bänkchen saß, sagte Jürgen: „Vielleicht ist er in Odessa.“
-
-„Na, denn fahren Sie man nach Odessa.“
-
-„Können vielleicht Sie mir sagen ...“
-
-„Keine Zeit!“
-
-„Er hat ... keine ... Zeit.“ Traurig blickte er den Händen nach, die den
-Weg hinter sich schaufelten.
-
-Wurde von den Hetzenden da- und dorthin gewiesen, angeschrien,
-stehengelassen, von Bummlern ausgelacht. Durchstreifte Restaurants,
-Kaffeehäuser, Kirchen, Warenhäuser, Kutscherkneipen, wurde in das
-Reichstagsgebäude nicht hineingelassen und aus einem Automatenrestaurant
-herausgeworfen, weil er, anstatt in den Schlitz, die Metallmarke dem
-verblüfften Kellner in den Mund geschoben hatte.
-
-Als er nach langer Fahrt vor dem Meldeamt ankam, war es schon
-geschlossen. Als erster stand er um zwei Uhr wieder vor dem
-Schalterfenster, bekam einen Zettel zum Ausfüllen. Sog den Staub- und
-Papiergeruch ein. Riecht wie in unserer Buchhaltung, dachte er. Und
-reichte, bebend vor Erwartung, den Zettel dem Beamten.
-
-Der unterhielt sich mit seinem Kollegen, schimpfte über die schlechte
-Beleuchtung, stand plötzlich reglos und sah aus, als denke er.
-
-‚Alle Menschen denken in jeder Sekunde ihres ganzen Lebens irgend etwas.
-Nur ich ...‘ „Was denken Sie momentan?“
-
-„Nichts“, bekannte mechanisch der Beamte. Dann erst staunte er und
-begann zu suchen.
-
-„Ist er hier gemeldet?“ fragte Jürgen gierig. „Kolbenreiher mit H!“
-
-Der Beamte gab keine Antwort; er unterhielt sich weiter mit seinem
-Kollegen über die Tatsache, daß ein Teppichgeschäft in Berlin N den
-Mitgliedern der Beamtenorganisation zehn Prozent Rabatt gewähre, fragte,
-ob er diesen Rabatt wohl auch bekäme, wenn er nur zwei ganz einfache
-Bettvorleger kaufe. „Wenn nicht, würde ich lieber Strohmatten nehmen.
-Kosten kaum die Hälfte.“
-
-„Und halten auch vierzehn Tage!“
-
-„Haben Sie den Personalakt gefunden?“ Jürgen streckte den Oberkörper
-durch das Schalterquadrat.
-
-„Man darf eben nicht mit den Schuhen darauftreten ... Nun, wenn man früh
-aufsteht ...“
-
-„Ist er hier gemeldet?“
-
-„... hat man ja in Berlin keine Schuhe an ... Nein, ein Jürgen
-Kolbenreiher ist bei uns nicht gemeldet.“ Das Schalterfenster klatschte
-knapp vor Jürgens Stirn herunter.
-
-‚Vielleicht lebt er einfach unangemeldet. Ich natürlich weiß am
-allerwenigsten, ob er dazu fähig ist.‘
-
-Vollkommen gefühl- und empfindungslos geworden, stand er in der
-verkehrreichen Straße, gleich einem zu Eis erstarrten Gegenstand, der in
-der lebendigen, sengenden Sonne steht und nicht schmilzt.
-
-In allen Menschengesichtern, die an ihm vorbei auf Körpern straßauf,
-straßab getragen wurden, stand, ob sie sprachen oder schwiegen, lachten
-oder dachten, die selbe eisesstarre Einsamkeit.
-
-So unabänderlich einsam, wie die Fliege, die, mit dem dicken Kopf voran,
-im Zickzack durch die Luft zuckt, dachte Jürgen und beugte sich,
-durchschüttert plötzlich von wunderbarem Wehgefühl, hinab zu zwei
-kleinen Kindern, die im Erdrund eines Baumes hockten und, in den Augen
-noch das volle Leben, hingegeben mit Steinchen spielten.
-
-‚Und in zehn Jahren wird die große, lebendige, schmerzliche Sehnsucht
-kommen, in weiteren zehn Jahren auch für sie die unlebendige graue
-Einsamkeit, da auch sie gleich allen dann die Sehnsucht nicht mehr haben
-werden.‘
-
-Ihn trieb die Sehnsucht, wiedererstanden in ihm durch das Erblicken der
-zwei noch im Fluß des Lebens spielverbundenen Kinder, weiter straßauf,
-straßab.
-
-„Ja, der wohnt dort in dem gelben Haus.“
-
-Das Herz blieb stehen. Klopfte noch immer nicht wieder. Begann in
-rasendem Tempo zu hämmern. Die Schläfen, graukalt geworden, stiegen über
-den Kopf empor. Todesangst packte und erfüllte ihn bei der Vorstellung,
-ihm, den er verraten und verkauft hatte, in die Augen zu blicken.
-
-Der am ganzen Körper Zitternde wußte, daß er auf der Stelle tot
-zusammenbrechen werde, angesichts des Andern; dennoch trug letzte
-Bereitschaft, die Glieder lösend selig ihn durchströmte, Jürgen auf das
-gelbe Haus zu, bis vor das Porzellanschild.
-
-Er sank, sank, sank. Stand endlich, Beine und Füße aus Blei, auf dem
-Asphalt und las wieder und wieder den nur ähnlich klingenden Namen.
-
-Alles Leben, das ganze Gewicht seines Körpers schien in den Beinen zu
-sein, so schwer waren sie geworden, als er sich weiterschleppte, toten
-Blickes.
-
-Die Detektei erreichte Jürgen noch knapp vor Bureauschluß. Mit dem
-ersten Blick schätzte der Inhaber den gut gekleideten Kunden auf die
-Vermögensverhältnisse hin ein, bemerkte schon nach zehn Sekunden, daß
-der vor ihm stand, den er suchen sollte, ließ sich eine Anzahlung geben.
-Am Morgen hatte Jürgen zu seiner Verwunderung gegen einen Scheck,
-unterschrieben mit dem Namen Jürgen Kolbenreiher, anstandslos eine große
-Summe ausbezahlt bekommen. „Haben Sie Hoffnung?“
-
-„Aber gewiß doch! Von der Hoffnung lebt man heutzutage ... Wie wärs mit
-einer Extraprämie, Herr ... Pardon, wie ist Ihr Name?“
-
-Und da Jürgen den Kopf schüttelte: „Ich habe keinen.“
-
-„Den wollen Sie nicht sagen, verstehe schon. Das kommt bei uns öfters
-vor ... Mit einer besonderen Prämie, die Sie demjenigen meiner Leute
-auszubezahlen hätten, der den Aufenthaltsort dieses Schuftes nachweist.“
-
-„Er ist kein Schuft. Im Gegenteil: wir sind Schufte!“
-
-„Erlauben Sie! Gewöhnlich sind meine Auftraggeber sehr achtbare Leute,
-die irgendeinen Schuft suchen lassen.“
-
-„Glauben Sie mir, es ist genau umgekehrt.“
-
-„Wie also sieht dieser Herr Jürgen Kolbenreiher denn nun eigentlich aus,
-im großen ganzen? ... Sie wohnen doch im Hotel, nicht wahr?“
-
-„Ich habe im Hotel einen falschen Namen angegeben. Den Namen desjenigen,
-den ich suche. Sie verstehen?“
-
-„Verstehe schon!“
-
-„Ich bin nämlich ... Ach nein, ich bin nicht. Das heißt, ich wollte
-sagen: ich bin inkognito hier, ganz und gar inkognito ... Wie Jürgen
-Kolbenreiher jetzt aussieht, das weiß kein Mensch auf der Welt. Denn es
-ist ganz unmöglich, zu wissen, wie ich aussehen würde, wenn ich so
-geworden wäre, wie ich bin. Das ist ja das Hoffnungslose.“
-
-„Nichts ist hoffnungslos. Ich habe schon schwerere Fälle mit gutem
-Erfolge zu Ende geführt. Beruhigen Sie sich. Nur Ruhe! Ich selbst werde
-den Fall bearbeiten. Und was die Extraprämie anlangt, so ist sie fällig,
-nachdem Sie selbst zugegeben haben werden, daß dieser von Ihnen gesuchte
-Jürgen Kolbenreiher gefunden ist. Welche Summe also ...?“
-
-„Jede Summe! Meine Villa, drei Mietkasernen, ein Riesenvermögen in
-Wertpapieren. Nehmen Sie alles, was ich habe, und geben Sie mir dafür
-Ihn!“
-
-Hinausbegleitet, verließ Jürgen das Bureau, nicht weniger Hoffnung im
-Herzen als der Detektiv, der, tief in Grübelei versunken, einen
-Bratensaucetropfen von seinem seidenen Rockaufschlag abkratzte, an die
-Villa, die Mietkasernen, an das Riesenvermögen dachte und keine Lust
-mehr hatte, des Dienstmädchens Alimentationsfall zu bearbeiten.
-
-Jürgen stand schon vor einer Plakatsäule, an der ein roter Zettel
-klebte, mit der Aufschrift: ‚Es geschieht alles, was du willst, nur
-kehre zurück.‘ Im Auto fuhr er in das Plakatinstitut.
-
-„Mit jedem Tausend mehr, das Sie drucken lassen, steigt die
-Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Herrn Kolbenreiher finden.“ Der
-Unternehmer ließ die Augenbrauen fallen. „Das ist doch klar, nich?“
-
-„Fünftausend? ... Zwanzigtausend?“
-
-„Sind besser als zehntausend! Jetzt die genaue Beschreibung.“
-
-„Die gibts nicht.“ Er zog die Jugendphotographie aus der Tasche. „Hier
-ist das Bild dieses Menschen. Mein Jugendbild! Aber jetzt kann Jürgen
-Kolbenreiher unmöglich so aussehen. Und auch nicht so.“ Er deutete auf
-sein Gesicht.
-
-„Sagten Sie vorhin nicht, Sie selbst seien Jürgen Kolbenreiher?“
-
-„War ich! Bin ich wieder, wenn ich ihn gefunden habe.“
-
-„Hören Sie mal, einem Schwachsinnigen nehme ich kein Geld ab. Nee, ich
-bin doch keen Schnapphahn. Hab ich nich nötig ... Greifen Sie sich an
-den Kopf und sagen Sie sich: Da hab ich mich.“
-
-„Wenn das so einfach wäre! Wenn ich einen Kopf hätte!“
-
-„Na, denn rin in die Gummizelle!“
-
-Die Konkurrenz machte das Geschäft. Und schon am folgenden Tage war an
-allen Plakatsäulen zu lesen, welche Summe demjenigen ausbezahlt werde,
-der den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers angeben könne. Auf den
-knallroten Zetteln klebte Jürgens Photographie, die eigens zu diesem
-Zwecke aufgenommen worden war. Ein gewisser Anhaltspunkt sei die
-Photographie ja doch, hatte der Plakatmann gesagt.
-
-Den ganzen Tag durchquerte Jürgen suchend die Stadt. Niemand erkannte
-ihn. Der Detektiv machte den Versuch, das Geld zu verdienen. Einen
-Irrenarzt brachte er gleich mit ins Hotel.
-
-Jürgen zeigte den beiden seine Jugendphotographie. „Nehmen Sie an,
-dieser Mensch wäre auf dem Wege, den zu gehen er als seine Pflicht
-erkannt hatte, weitergeschritten, vierzehn Jahre älter geworden: wie
-würde er dann jetzt aussehen? Sicher nicht so wie ich ... Schaffen Sie
-mir den richtigen Mann bei, dann bezahle ich.“
-
-„Ich habe den richtigen Mann für Sie mitgebracht. Der wird Ihnen fix
-klarmachen, daß Sie selbst der Gesuchte sind“, sagte resolut der
-Detektiv. „Nicht wahr, Herr Doktor?“
-
-Der grinste. „So einfach wird das nicht sein.“
-
-Der Detektiv wurde energisch: „Sie müssen sich untersuchen lassen.“ Und
-der Doktor zog die Uhr. „Also, erst mal Ihren Puls, bitte.“
-
-„Was Puls! Meinen Puls? Sind Sie nicht bei Sinnen! Puls? Wenn ich einen
-Puls hätte!“
-
-„Nur los!“ rief der Detektiv, ging zu auf Jürgen, der zurückwich, die
-Bronzefigur vom Schreibtisch nahm.
-
-Als der Psychiater eine halbe Stunde später mit zwei Wärtern und einem
-Schutzmann zurückkam, war Jürgen schon in ein anderes Hotel
-übergesiedelt.
-
-Auf das Protokoll des Arztes hin wurde eine Anzahl Schutzleute
-ausgeschickt auf einen Streifzug durch die Hotels, Pensionen,
-Absteigquartiere, den Irren zu suchen, während dieser hoffnungsfroh die
-Stadt durchquerte, sich selbst zu suchen.
-
-„Kennen Sie einen Herrn Jürgen Kolbenreiher? Möglicherweise trägt er –
-ich, selbstverständlich, weiß das nicht – einen Schnurrbart.“
-
-Der Angeredete fragte zurück: „Verzeihung, sind Sie Schutzmann? In
-meinem Hotel waren nämlich heute Schutzleute, die einen entsprungenen
-Irren namens Kolbenreiher suchten. Viele Schutzleute durchsuchen ganz
-Berlin nach diesem Verrückten.“
-
-„Viele? ... Wunderbar! Sie werden mich sicher finden.“
-
-Getragen von Zuversicht, schritt er federnd und pfeifend auf das kleine
-Hotel zu, in dem er die letzte Nacht geschlafen hatte. Die
-Vorüberhetzenden, die Schutzleute, Chauffeure, alle blickenden
-Menschenaugen, alle Menschen auf der Erde suchten ihn.
-
-Da sah er wieder diese von einer unsichtbaren Last erdrückte Frau, der
-er schon am Morgen und noch einmal gegen Abend des selben Tages beinahe
-an der selben Stelle begegnet war, und die anzusprechen und nach sich zu
-fragen er nicht gewagt hatte, wegen der erstarrten Hoffnungslosigkeit in
-ihrem Antlitz.
-
-Die Frau, deren Lebensgefährte vor zwei Tagen gestorben war, trug, in
-Blick und Gang schon wie körperlos geworden, seit zwei Tagen die Last
-der hoffnungslosen Vereinsamung ziellos im Kreise immer um den selben
-Häuserblock herum.
-
-Das bange Gefühl, diese Frau sei in ihrem armen Herzen so ertötet, daß
-sie nicht mehr geben und nicht mehr empfangen könne, verhinderte ihn
-auch jetzt wieder daran, einmal bei der Hoffnungslosigkeit anzufragen,
-nachdem alle von Hoffnungen und Zielen noch Erfüllten ihm nicht hatten
-helfen können.
-
-Nur den Bruchteil einer Sekunde sah sie Jürgens bangen Blick auf sich
-gerichtet. Ein stöhnendes Schluchzen brach aus. Drei Töne. Dann trug
-sie, wieder starren Gesichtes, weiter langsam durch die Straße ihre
-hoffnungslose Vereinsamung.
-
-Vor dem Hotel sprach der Portier mit einem Schutzmann. Zurückweichend
-blieb Jürgen stehen, bewegte den Zeigefinger vor der Brust verneinend
-hin und her, pfiff, die Brauen hochgezogen, einen Ton und kehrte um.
-
-„Die suchen ja mich, den Falschen, den Scheinjürgen, den Scheckfälscher,
-den, der im Hotel den Namen Kolbenreiher auf den Meldezettel schrieb.
-Sie suchen das Nichts, das sich anmaßte, zu sein.“
-
-Die Angst, festgenommen und eingesperrt zu werden und sich dann nicht
-mehr suchen zu können, jagte ihn fort. In ein anderes Hotel zu gehen
-wagte er nicht. Er wagte nicht mehr, sich sehen zu lassen. Ganz
-plötzlich sah er keine Möglichkeit mehr, sich zu finden.
-
-„Eingekreist! ... Im Freien schlafen! Eingekreist!“
-
-Ein letzter Rest von Hoffnung, Hilfe zu finden bei der Hoffnungslosen,
-trieb ihn ihr nach, die Straße hinunter, die in den Tiergarten mündete.
-Sein Gesicht war in Abwehr verzerrt. Die Zähne bleckten.
-
-Sein Körper fiel auf die erste Bank, die am Spreekanal stand. Die
-Vereinsamte neben ihm hatte sich nicht gerührt. Sie ängstigte sich
-nicht. Sie blickte blicklosstarr auf das Leben, das weiter ging, hinweg
-über ihr Leben: Zwei Stadtbahnzüge, leuchtende Lineale, schoben sich
-aneinander vorbei, durch die Nacht.
-
-Sah das Sterbezimmer, wo der, mit dem zusammen sie in Kampf und Leid des
-Lebens ein Leben gelebt hatte, noch auf dem Bette lag, weiß zugedeckt,
-bis zum Kinn.
-
-Am Tone schon des ersten Wortes, das sie sprach, fühlte Jürgen, daß
-neben ihm das Schicksal saß.
-
-Zu Füßen der beiden regte sich leise das Leben: streifte das Wasser die
-Mauer.
-
-Sie hob die kraftlose Hand. Sie sagte, verzuckenden, tränenrauhen,
-warnenden Tones, als warne sie jeden einzelnen dieser Erde: „Kein hartes
-Wort kann mehr zurückgenommen werden.“
-
-Erschlossen plötzlich und schmerzlich berührt von der erhabenen Größe
-dieses schicksalhaften Leids der Hoffnungslosigkeit, berührte er die
-Schulter der Vereinsamten.
-
-Sofort brach sie in stöhnendes Weinen aus. „So früh gestorben, weil er
-für diese Zeit zu gütig war. Zu gütig war.“ Stand schwer auf. „Zu viel,
-zu viel ist mir geschehen.“ Und ging. Das Dunkel nahm sie.
-
-Vor dem reglos Sitzenden, der schmerzlich bewegt den verklingenden
-Schritten lauschte, ankerte neben der kleinen Eisenbrücke im Kanal ein
-Frachtschiff, auf dessen äußerster Spitze unter dem roten Signallicht
-ein junger Hund stand, der aufmerksam blickte. Und wie damals, da er,
-kommend aus Katharinas Zimmer, zusammen mit den neun Bezirksführern
-stadtwärts marschiert war, wehte auch jetzt kühler Teergeruch, und durch
-die Baumkronen schimmerten die Lichter der Stadt.
-
-Entbunden durch seine tiefempfundene Hilfsbereitschaft, die ihm
-verstattet hatte, das eigene Leid zurückzustellen, und verstärkt noch
-durch das erinnerungsträchtige Landschaftsbild, war in Jürgen plötzlich
-Sehnsucht nach Katharina und zugleich mit dieser brennenden Sehnsucht
-das Gefühl, körperlich vorhanden zu sein, mit solch blitzhafter
-Schnelligkeit entstanden, als ob es ihm nie entschwunden gewesen wäre.
-
-So gewaltig war die Freude, daß ihm nicht Kraft blieb, den Freudeschrei
-auszustoßen. Weichheit tat sich milde in ihm auf. Tränen drangen durch
-die Lider. Machtvoll zog die Hoffnung in ihn ein.
-
-„Schnauzl“, flüsterte er zärtlich und lockte mit Daumen und Zeigefinger.
-
-Der Hund erhob sich, wedelte mit dem Schwanzstumpf, lief, zutraulich
-wimmernd, auf dem Bordrand hin und her, stand, blickte, bellte
-verlangend einen Ton. Stille ringsum.
-
-„Ein Hund und am Himmel die Sterne. Das ist zu viel und zu wenig für den
-Menschen. Zu wenig und zu viel. Der Mensch leidet ... Er erkenne im
-Leide und kämpfe!“ sagte Jürgen. Das war wie ein Gelübde.
-
-Ohne Eile, ohne Weile schritt er stadtwärts, zum Bahnhofe. Und fuhr mit
-dem nächsten Zuge zurück in die Heimatstadt. Seine Haare waren ergraut,
-Gesicht und Körper ganz vom Fleische gefallen.
-
-Einige Tage nach seiner Rückkehr – Herr Wagner und drei Ärzte waren bei
-Jürgen gewesen – stand in der Zeitung, Herr Kolbenreiher, Teilhaber der
-bekannten Bankfirma (deren Stammhaus übrigens schon in den nächsten
-Tagen in neuer, verschönerter und bedeutend vergrößerter Gestalt dem
-Parteienverkehre übergeben werden würde), habe sich durch seine
-unermüdliche und hingebungsvolle Arbeit eine Nervenentzündung zugezogen,
-die zwar sehr schmerzhaft, aber bei der kräftigen Konstitution des
-Patienten nach Ansicht der Ärzte allein schon durch Ruhe und den
-Aufenthalt in frischer Luft rasch zu beheben sei, so daß Herr
-Kolbenreiher seine bewährte Arbeitskraft bald wieder in den Dienst der
-Firma werde stellen können.
-
-Auch Jürgen las diese Notiz. Ihn interessierte nur das Wort
-‚Konstitution‘. Er fragte Phinchen, ob sie glaube, daß er ein
-konstitutioneller Schuft oder ein Schuft aus freier Entscheidung, also
-ein für seinen Verrat verantwortlicher Schuft sei, der die Kraft gehabt
-hätte, keiner zu werden. Er stand unter dem Türrahmen der Küche und
-blickte gespannt in das fassungslos zurückfragende Gesicht. „Was meinst
-du, Phinchen?“
-
-Unabgewendeten Blickes ließ Phinchen den Spüllappen fallen, trocknete,
-wie immer, wenn Jürgen die Küche betrat, gewohnheitsmäßig die violetten
-Hände an der Schürze ab. Der Jammer um ihren abgezehrten Herrn gab ihr
-die Worte, Jürgen sei immer der beste Mensch von der Welt gewesen;
-sicher habe er niemals absichtlich Böses getan.
-
-Da geriet er in Erregung. „Dann wäre ja alles hoffnungslos. Denn wie
-könnte ich aus diesem Wuste menschlicher Niedertracht herausfinden, wenn
-ich ohne Schuld, ganz ohne eigenes Zutun hineingeraten wäre ... Aber du
-kannst das ja nicht wissen. Sechzehn – und jetzt bist du vierzig. Hast
-dein Leben in dieser Küche verbracht.“
-
-Wochenlang verließ Jürgen das Haus nicht. Er kleidete sich gar nicht
-mehr an, aß und schlief außer jeder Regel. Manchmal wandte er sich mit
-einer Frage an Phinchen, deren Herz die Antwort gab.
-
-Sehnsucht und Grübelei kreisten immer um den selben Punkt. Auf der Welt
-war nichts als er und der Panzerplattenturm, vor dem er grübelnd saß und
-stand und lag und kniete, dieses Panzerplattengewölbe in ihm selbst,
-zudem er Einlaß suchte und nicht fand.
-
-Zäh, gequält und unverdrossen machte er sich jeden Tag und jede Nacht
-von neuem an die Aufgabe. Jeden Gedanken dachte, jeden Schritt machte
-der Wahnsinn mit. Und auf dem Tisch lag der Revolver.
-
-Schon hatte er die Fähigkeit erworben, sich im Wachtraum und auch im
-tiefsten Schlaftraum zu beobachten. In der Finsternis unterirdischer
-Gewölbe, durch die er traumsicher schritt, traf er den Andern, den er
-suchte, führte mit ihm traurig geflüsterte Wechselreden. Im Blick des
-Andern stand sehnsuchtslose Bereitschaft. „Geh und miß!“
-
-„Ja, messen! Ich werde messen. Dies ist das Mittel.“ Da saß er aufrecht
-im Bett: blickte die Schranktür an. „Messen?“
-
-So ausschließlich lebte er seiner Aufgabe, daß es ihm trotz
-Unterbrechung des Traumes auch diesmal gelang, die Fortsetzung des
-Traumes zu träumen, in das Gewölbe, das tief unter dem Leben lag,
-zurückzugelangen, vor die Augen des Andern, die sehnsuchtslos und
-unerbittlich ihn anblickten.
-
-Jürgen wußte, daß er nicht fragen dürfe, was er messen solle. Und als er
-flüsternd dennoch fragte, verschwand das Gesicht. Logikferne Gebilde
-zuckten auf, verzuckten in Finsternis. Lichtbündel verzischten in
-Finsternis, aus der sekündlich wieder Licht aufspritzte.
-
-Da schoß eine dicke, schmerzhaft weiße Lichtfontäne auf, in deren Mitte
-unirdisch weiß das Wesentliche lebte, das, im Tiefsten ihn
-durchschauernd, plötzlich sein eigen wurde.
-
-Inbrünstig bemühte er sich, das Wissen vom Wesentlichen aus dem
-Halbschlafe heraus in das Wachsein herüberzuretten, öffnete mit großer
-Vorsicht wiederholt die Lider, nur einen Millimeter: Immer war das
-Wesentliche weg und nur die Schranktür da.
-
-Und als er ganz erwacht aufrecht im Bette saß, wußte er nicht mehr, wann
-und wie und durch wen ihm der Rat zuteil geworden war, noch einmal, wie
-in der Jugend, eine Wanderung durch die Menschheit zu machen,
-unverstellten Blickes.
-
-„Dann werde ich wieder dorthin gelangen, wo ich schon war. O,
-Bewußtsein!“ Sein sehnsuchtsvoller Freudeschrei riß ihn aus dem Bett.
-
-Bereit, jedes Leid und selbst den Tod zu erleiden, verließ er das Haus,
-in der Tasche den entsicherten Revolver.
-
-Der Sonntagmorgen tat sich vor ihm auf. Glocken läuteten. Ein roter
-Sonnenschirm überquerte die Straße. An Jürgen vorbei marschierte eine
-Knabenklasse, in Viererreihen streng geordnet und geführt vom Lehrer,
-der kommandierte: „Links! Rechts! Links! Rechts!“
-
-„Wenn die Schwerter blitzen und die Kugeln fliegen ...“ „Links! Rechts!“
-
-An dem Lehrer sah Jürgen das erstemal dieses Gebilde, das im Rücken
-hing, verkümmert, eingeschrumpft, vertrocknet. „Das ist, mitgeboren,
-aber ganz verödet, das Eigene, das in gar keiner Wechselwirkung mehr zu
-seinem Träger steht“, flüsterte er und ließ sich auf den Lehrer zugehen.
-„Auch Sie machen sich mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen, und
-ich kann Ihnen sagen, weshalb.“
-
-Erst als er den Lehrer schüttelte und in das empörte Gesicht sagte: „An
-einem entsetzlichen Verbrechen! Denn Sie lassen sich als Seelenmörder
-gebrauchen“, stutzte der Lehrer, riß sich los, eilte der Klasse nach und
-richtete die in Unordnung geratenen Viererreihen wieder aus mit dem
-Kommando: „Links! Rechts!“
-
-Von einem visionären Blitz erleuchtet, sah Jürgen sämtliche
-Knabenklassen Europas, die, kommandiert von den Lehrern, auf einer
-Riesenebene in linearer Ordnung kreuz und quer umhermarschierten und
-unter Geschützesbrüllen unversehens Infanterieregimenter wurden.
-Ununterbrochen stiegen die erstickten Seelen aus den strenggeschlossenen
-Schülerquadraten in die Höhe und verschwanden mit klagendem Gesange.
-
-„Wohin?“ fragte Jürgen. „Wohin sind sie verschwunden?“ Er stand, noch
-durchzogen von der Vision, reglos und entrückt, bis drei alte Herren ihm
-in das Blickfeld hineinspazierten. Der eine erzählte etwas, verteidigte
-sein ablehnendes Verhalten. „Da kam es darauf an, ein Charakter zu
-sein.“
-
-„Sie aber haben keinen Charakter. Denn was würde geschehen, wenn Sie Ihr
-Vermögen, Ihre Stellung, Ihre Privilegien und die Achtung der geachteten
-Männer verlören? Wo bliebe dann Ihr Charakter? Sie, meine Herren, sind
-Charaktermasken.“ Und er deutete auf die eingetrockneten Gebilde, die
-sich mit den dreien fortbewegten.
-
-Als habe eine Hand ihn durch die vielen Straßen hin geführt, stand
-plötzlich, die düsteren Fensterlöcher quadratiert mit dicken
-Eisenstäben, vor ihm das Gefängnis, ein steingewordener Schrei.
-
-Dunklen Druck in der Brust, blickte Jürgen die zufriedenen
-Sonntagsspaziergänger an. „Sie gehen vorüber, unberührten Gemütes.“ In
-seiner Brust stand das ganze wuchtende Gebäude.
-
-Und er schritt, stehend vor der Mauer, wieder durch die Gänge, Gänge,
-die in seinem Herzen waren, durch den Saal, in dem die engmaschigen
-Drahtgitterkäfige standen, jeder ein menschliches Wesen trennend von den
-menschlichen Wesen.
-
-‚Schnauzl!‘ lockt mit Zeigefinger und Daumen die verwüstete
-Siebzehnjährige. Katharinas Schnauz wedelt kläglich mit dem
-Schwanzstumpf.
-
-Qualvolle Machtlosigkeit, wie damals, preßte Jürgens Herz zusammen.
-
-Die Zellentür tut sich auf. Vor ihm steht Katharina im grauen
-Gefängniskleid, das verschönt ist durch den ordnungswidrigen Einschlag
-beim Halse. Der kleine, feste Mund lächelt froh.
-
-Stürmische Liebe, wie damals, brach in Jürgen los. Da blickt Katharina
-gleichgültig und kalt ihn an. (‚Auch kann ich ein Mädchen sein, das im
-Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihr verächtliches Abweisen ...‘)
-
-Mit beiden Händen griff Jürgen in die Luft und taumelte gegen die
-Gefängnismauer, blickte flehend Katharinas Blick an, der lautlos sprach:
-‚Nimm erst von neuem auf dich alle Qualen!‘
-
-Zwei paar Arme, an denen Spazierstöcke baumelten, breiteten sich aus,
-fielen schenkelwärts. Schultern zuckten. Jürgen betrachtete die
-eingeschrumpften Gebilde. „Auch ganz und gar entselbstet!“ Und folgte,
-berührt von dem Interesse des Leidensgenossen für die Leidensgenossen,
-den zwei Männern.
-
-„Da bin ich ganz deiner Meinung, Vorstand“, wiederholte der zweite
-Vorstand und ließ den ersten Vorstand vorangehen, hinein in das
-Gesangvereinslokal, in dem die Tenor- und Baßtische schon voll besetzt
-waren.
-
-Unbemerkt stand Jürgen hinter dem großen Kachelofen. Aus dem Gastzimmer
-klangen, durch die geschlossene Tür durch, die Klüpfelschläge des
-Wirtes, der den Hahn in das Bierfaß schlug.
-
-Er habe die außerordentliche Singprobe einberufen, weil das
-hochverehrliche Gründungsmitglied, Herr Simon Ott, im Sterben liege. „Er
-liegt in den letzten Zügen.“
-
-In diesem Moment wurde Jürgen von einer Möwe besucht. Lautlos. Sie stand
-vor ihm, glich einer nordischen Frau – groß, hellblond – und hatte ein
-gefühlsentferntes, vollkommen seelenloses Gesicht.
-
-Jenseits aller Verwunderung sagte Jürgen zu ihr: „Nur wußte ich bis
-jetzt nicht, daß Möwen schöne, kühle Frauen sind.“
-
-Die Möwe antwortete nicht, blickte auf das weite, kalte Meer hinaus.
-Auch Jürgen blickte auf das Meer hinaus.
-
-„Deshalb müssen wir rechtzeitig das Trauerlied einstudieren, das am
-Grabe gesungen werden soll, damit wir uns nicht wieder blamieren.“
-
-„Er ist ja noch gar nicht tot!“
-
-Ein kleiner, dürrer, bebrillter Schuhmachermeister schoß vom Stuhle
-empor und forderte etwas mehr Pietät. Er war der Schriftführer.
-
-„Wenn er doch noch lebt!“
-
-„Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich bitte also den Herrn
-Dirigenten, das Trauerlied vorzunehmen.“ Der Vorstand breitete die Arme
-aus: „Oder sollen wir uns wieder blamieren?“
-
-Der zweite Vorstand erhob sich, klopfte ans Bierglas: „Ich bin ganz der
-Meinung unseres ersten Herrn Vorstandes ... Wenn ein altes Mitglied, ein
-Veteran des Männergesanges, stirbt, kann er verlangen, daß das Lied, das
-wir an seinem Grabe singen, vorher ordentlich geprobt wird. Und die Ehre
-unseres Vereins steht auch nicht so bombenfest, daß wir uns wieder
-blamieren dürften, wie das letztemal.“
-
-Die Möwenfrau trug in den reglosen Augen einen Blick, als schaue sie das
-unabänderliche Schicksal.
-
-Der Brillenschuster verteilte schon die Gesangbücher. Die zehn Bässe
-gruppierten sich um das Klavier herum. „Dort unten ist Friede“,
-intonierte der Dirigent. Und die Bässe setzten ein: „Im kühlen Haus.“
-
-„Nur die Bässe singen, bitte ich mir aus. Warten Sie, bis Sie daran
-kommen.“ Der Brillenschuster hatte mitgesummt. Er sang den ersten Tenor.
-
-„Es ruhet der Schläfer vom Leben aus.“
-
-Gabelförmige Schwingen kamen fühlergleich und steif vorne aus der
-Körpermitte der Möwenfrau heraus, verschwanden wieder. Sie bewegte sich
-wie ein Vogel, der zum Fluge anhebt, sah mit inhaltslosen, blauen Augen
-Jürgen an, der dachte: Will sie fort?
-
-„Und über dem Hügel: sum, sum, sum, sum.“
-
-„Mehr piano! Nicht: sum, sum, sum, sum; sondern: sum, sum, sum, sum ...
-Sie, meine Herren, sind doch keine Schmeißfliegen; Bienen summen viel
-zarter.“
-
-Plötzlich sah Jürgen vierzig zur Decke gerichtete Augenpaare, vierzig
-eirund geöffnete Münder und an den Rücken der Sänger, die jetzt im
-Halbkreise alle um das Klavier herumstanden, die vierzig eingetrockneten
-Gebilde.
-
-Die Schwingen kamen gabelförmig vorne aus der Leibesmitte der Möwenfrau
-heraus; Jürgen setzte sich darauf und schwebte, den Kopf an die
-nebelumflorte, schöne Brust der Frau gelehnt, über das kalte, weite
-Meer, ruhend in der Überzeugung, daß er zu dem unbekannten Orte gelangen
-werde, wo sein Bewußtsein auf ihn warte.
-
-Die Möwenfrau selbst darf, da sie erstickte Seelen fortträgt, natürlich
-keine Seele haben, dachte Jürgen während des lautlosen Fluges. Und sagte
-zu ihr: „Wenn ich nun dem Arzte erklären würde, daß auch diese Sänger
-ganz und gar entselbstet sind, und daß ihre Seelen, von dir und deinen
-Schwestern hingebracht, irgendwo im Weltenraume schmerzlich warten, in
-ungeheuerer Einsamkeit, würde er mir nicht glauben, sondern behaupten,
-mein Zustand habe sich verschlimmert ... Die Psychiater sind doch zu
-dumm. Glauben Sie das nicht auch?“
-
-Die Möwenfrau antwortete nicht, flog weiter, leicht vorgebeugt. Ihre
-Augen hatten sich während der ganzen Zeit nicht bewegt. Ihr
-Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert.
-
-Weil sie eben keinen Gesichtsausdruck hat, dachte Jürgen und drehte das
-Gesicht nach oben, blickte ihr in die Augen.
-
-Ringsum war nur noch Wasser und Nebel.
-
-Jürgen wußte nicht und dachte auch nicht darüber nach, wie er
-hierhergelangt war. Er saß auf der Bank in der Anlage, gegenüber dem
-grünen Bretterzaune, in den er vor vierzehn Jahren als erstrebenswertes
-Ziel den Frackherrnjürgen hineingesehen hatte.
-
-Ein Lächeln tiefinnerster Sicherheit erhellte sein Antlitz, als er,
-jeden Willen ausschaltend, alle Muskeln entspannte, in dem Bestreben,
-wie damals wieder nur die Begierden, nur den Menschen in sich sprechen
-zu lassen, um zu erfahren, was der Mensch in ihm ersehne.
-
-Der Bretterzaun blieb Bretterzaun und leer. „Dieses nicht! Dieses
-wenigstens begehrt er nicht mehr“, flüsterte Jürgen. „Was aber ersehnt
-es, mein Herz?“
-
-Er schloß die Augen und lauschte und wartete und fühlte nichts. Die
-Lider der inneren Augen blieben geschlossen. Da saß er, reglos, leid-
-und freudlos, leblos.
-
-Leiser Wind bewegte die Baumkronen. Schläfriges Zwitschern eines Vogels
-im Sonnenbrand. In der Ferne brauste die Stadt.
-
-„Das ist die weiße Sekunde“, flüsterte Jürgen in plötzlicher Erregung.
-Denn er sah sich schreiten. Und die Straßen wurden enger, dunkler, die
-Häuser kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun. Das
-kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis.
-
-„Die Haustür, sie ist nur angelehnt. O, einzutreten, heimzufinden,
-zurück zu mir!“
-
-Ein Knall riß ihn empor. Zwei Soldaten warfen die Köpfe nach links und
-grüßten, Hand an der Mütze, die starr glotzenden Augen herausgedrückt,
-den Offizier.
-
-„Geh mit!“ Er ging mit. Folgte dem Offizier in den Stadtpark, wo die
-Militärkapelle spielte und die geputzte Menschenmenge promenierte in dem
-sonndurchwirkten Laubgang alter Bäume.
-
-Jürgen wurde oft und achtungsvoll gegrüßt und dankte nie. Lange
-beobachtete er einen Jüngling, der, im Blick noch die große Frage an das
-Leben, die eleganten Kaufleute, Studenten, Offiziere und Beamten
-betrachtete, schüchtern und ganz erfüllt von der Sehnsucht, ebenso
-elegant, fertig und sicher, Blume im Knopfloch, hier spazieren zu
-können.
-
-„Spucken Sie auf dieses Ziel“, sagte er lächelnd und deutete auf die
-Promenierenden. „Vielleicht werden Sie dann nicht in der Leere ersterben
-sondern in Qualen leben.“
-
-Vorbei promenierte eine Gruppe Studenten, welche, Armmuskeln gespannt,
-Ellbogen weggestreckt, ihre roten Mützen knapp an der Brust langsam
-herunter bis zum Knie und ebenso krampfhaft-feierlich wieder kopfwärts
-führten, während die Gegrüßten das selbe mit ihren grünen Mützen taten,
-die zerhauenen Biergesichter starr ins Profil zu den Rotmützen gestellt.
-
-„Kampf und Vernichtung dieser Ordnung, die solche Söhne hervorbringt!
-Wehe, sie sind die Söhne ihrer Väter! Wehe, sie werden zu Staatsanwälten
-und zu Richtern werden! Ihrem Kopf und Herz sind Kultur und Fortschritt
-der Menschheit anheimgegeben? Nie! Nie! Niemals! Sie alle werden Jürgens
-werden. Bestenfalls!“ Er lachte in Hohn und Ekel vor sich selbst.
-
-Da schritten, in dem Tempo von Menschen, die woher kommen und einem
-Ziele zustreben, Katharina, der Agitator, der Metallarbeiter mit der
-verstümmelten Hand und der Holzarbeiter, dessen verhutzeltes Gesicht
-nicht mehr viel größer war als eine Faust, wie ein Fremdkörper durch die
-gespreizt promenierende Menge.
-
-Ein riesengroßes, sammetschwarzes Tuch verhing den ganzen Himmel. Und
-als es wieder dämmerhell wurde und Laubgang, Blumenrondells,
-Musikkapelle und Spaziergänger sich drehend ineinander türmten, wußte
-Jürgen nicht mehr, wen er gesehen hatte.
-
-Knapp vor ihm begegneten sich wieder die Studenten, die erst kurz vorher
-einander gegrüßt hatten, und führten, da vielleicht ein noch nicht
-gegrüßter Student zu der einen oder der andern Gruppe gekommen sein
-konnte, wieder die Mützen hart an der Brust herunter, die Gesichter ins
-Profil gestellt.
-
-Mit einem jähen Satz sprang Jürgen dazwischen, faßte mit großer
-Handbewegung die ganze Menge zusammen in Eine Person und begann zu
-brüllen, in maßloser Wut.
-
-Erst viel später – er stand schon, ohne zu wissen, wie er dorthin
-gelangt war, vor der Kirche, brausende Orgeltöne drückten die
-Kirchgänger aus dem Portal heraus und um ihn herum – erinnerte er sich
-der Einzelheiten des Tumultes, den er verursacht hatte durch seine
-Ansprache.
-
-Seine Zähne bleckten in Haß und Abwehr beim Erblicken der Kirchgänger.
-„Ein- und das selbe Gesicht, dort wie hier, weltenweit entfernt von dem
-Bewußtsein, das zum Schwanz verkümmert ist.“
-
-Die Mitglieder sämtlicher Gesangvereine Europas standen und sangen
-in seinem Gehirn; die Verwandlung aller Knabenklassen in
-geschützdurchdonnerte Infanterieregimenter vollzog sich schmerzhaft
-hinter seiner Stirn; Studenten soffen und fochten und zogen die Mützen
-in seinem Hinterkopf; Millionen Bürger zuckten, begleitet von
-Militärmusik und Orgelspiel, ablehnend die Schultern, breiteten
-bedauernd die Arme aus, daß Jürgens Schläfen zu platzen drohten.
-
-Er wühlte sich durch die Menge, sprang durch ein Durchhaus und stand,
-zuckend in allen Nerven, in einer menschenleeren, immer sonnelosen, vor
-Feuchtigkeit grünen Gasse.
-
-„Nieder!“ zischte er, beide Fäuste an die Schläfen gepreßt. „Nieder!
-Nieder mit dem Ganzen!“
-
-In der feuchten Gasse war es still wie in einem Abgrund. „Aber wie?
-Durch welche Macht? Durch welches Mittel?“
-
-Plötzlich glaubte er, starrend auf den Streifen irisierenden Schaumes,
-der aus der feuchten Mauer quoll, das einzige Mittel werde ihm in der
-nächsten Sekunde einfallen. Beide Arme ausgebreitet, Hände gegen die
-Mauer gepreßt, stand er wie ein Gekreuzigter, lauschend und wartend. Der
-menschengefüllte Stadtpark tat sich auf. Sofort war das ganze Bild
-wieder mit dem sammetschwarzen Tuch verhangen. Erinnerungsqual versank
-in Schwindelgefühl, aus dem, so unentrinnbar wie damals, als er bei der
-Straßenkreuzung Abschied genommen hatte von Katharina, der Zwang
-emporwuchs, genau gezählte zehnmal durch die feuchte Gasse zu gehen.
-Hin, her, hin.
-
-„Achtmal“, zählte er, blickte hinaus, wo die Sonne schien, ballte die
-Fäuste, in dem Bemühen, die Gasse vorher verlassen zu können. Da riß es
-ihn herum. Geduckt marschierte er weiter.
-
-In der Kellerwohnung schlug ein Mann seine Frau. Wildes Geschrei. Das
-fahle Gesicht des weinenden Söhnchens erschien am eisenvergitterten
-Fensterquadrat knapp über dem Pflaster.
-
-„Und in zwanzig Jahren schlägt das Söhnchen seine Frau, und deren
-Söhnchen weint“, flüsterte Jürgen und durchwanderte zum zehnten Male die
-schimmelgrüne Gasse. „Welche Macht könnte das verhindern?“
-
-„Wissen Sie es? ... Alles hat seine Ursache. Glauben Sie nicht auch, daß
-alles seine Ursache hat?“ fragte er auf dem sonnigen Kirchplatz einen
-schnurrbärtigen Rentier, in dessen Mund eine sorgfältig angerauchte,
-dicke Meerschaumspitze steckte.
-
-„Man muß die Ursachen erkennen, dann findet man auch das Mittel. Glauben
-Sie nicht auch?“ Und als der Rentier den Kopf schüttelte:
-
-„Sie sind ein Raucher, nicht wahr? Nichts als ein Raucher! Sie kann man
-mit der Bezeichnung ‚Raucher‘ benennen. Sie sind harmlos. Tun niemandem
-etwas.“
-
-Der Rentier ging weiter. Ein Dampfwölkchen stieg empor, zerflatterte.
-Noch ein Dampfwölkchen stieg empor.
-
-„Oder sind er und die Millionen seinesgleichen vielleicht doch
-Raubtierchen? Selbstgerechte, zufriedene, ihres Raubes sichere
-Raubtierchen?“
-
-Ein uraltes Männchen, das auf dem speckigen Rockaufschlag am speckigen
-Bändchen einen Kriegsorden trug, überquerte trippelnd die Straße. Das
-vertrocknete Gebilde machte jedes Schrittchen des Alten mit.
-
-„Wie konnten Sie es ertragen, achtzig Jahre nicht eine Sekunde Sie zu
-sein, nicht einen Atemzug lang Ihr eigenes Leben zu leben? ... Nur in
-der Kindheit, in der Kindheit! Erinnern Sie sich noch?“
-
-Das Männchen hob mühsam den schweren Kopf: „Oj, oj, ein schlimmes
-Leben!“ und trippelte weiter.
-
-Täglich, vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht hinein, beobachtete
-und erlitt Jürgen das Leben, suchte er – begleitet von Wahnsinn und
-Revolver und immer bereit zum Schusse in das Herz – Bewußtsein und Weg.
-Wurde in seinem Kampfe, der in zweifachem Sinn ein Kampf um Sein oder
-Nichtsein war, noch wochenlang beständig hin und her geschleudert
-zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
-
-„Wo ist das Herz?“ hatte er einen Arzt gefragt.
-
-„Zwischen der vierten und fünften Rippe, von oben gezählt.“
-
-Und hatte, zuhause angelangt, an seinem abgezehrten Brustkorb die
-Einschußstelle abgetastet, entschlossen, nicht eine Sekunde länger zu
-leben, wenn keine Hoffnung mehr sei.
-
-Beobachtend lauschte er dem Leben und dabei immer in sich selbst hinein,
-folgte, ein zum Tode und zum Leben Entschlossener, jedem Fingerzeig, den
-die Umwelt gab, sprach mit Kindern und mit Greisen, mit Soldaten und mit
-Pferden. Das Erblicken eines Hundes, der, von einer Frau fortgezerrt,
-auf Jürgen zugestrebt war, veranlaßte ihn, sofort zum Hundehändler zu
-gehen.
-
-„Haben Sie einen Schnauz, der alles erträgt, nur nicht die Trennung von
-dem, dem seine Sympathie gehört?“
-
-Im sonnigen Hofe stand reglos ein junger, schwarzer Dackel, der, mit
-allen Vieren gleichzeitig, plötzlich hochflog, in der Luft herum, und
-wieder reglos stand, die verdrehten Augen auf Jürgen gerichtet.
-
-„Einen Schnauz nicht. Aber das Mistvieh können Sie billig haben, mitsamt
-der Leine.“
-
-„Er hat gute Augen. Wird er mit mir gehen?“ Der reglose Dackel starrte
-auf eine Fliege, hüpfte auf sie zu, starrte in den Himmel.
-
-„Der geht mit jedem.“
-
-Freudig bellend zerrte der Dackel, die Schnauze am Boden, Jürgen hinter
-sich her, aus dem Hofe hinaus.
-
-Von dieser Stunde an unternahm Jürgen täglich weite Fußtouren. Er
-beachtete nicht Sonnenbrand, nicht Regen und hatte keine örtlichen
-Ziele. Für ihn gab es Tag und Nacht, ob er wanderte und sann oder
-schlief und träumte, nur das eine Ziel. Alles und nichts war ihm
-Wegweiser. Er existierte zwischen dem Ziele, das, ein farbloses,
-winziges Pünktchen in immer gleicher Entfernung am Horizont: seine große
-Hoffnung, und dem Schuß ins Herz, der die Erlösung von dem Wahnsinn:
-seine letzte Freiheit war.
-
-Der alte Landarbeiter, krummgebogen von der Lebensarbeit, rückte die
-Mütze und deutete: „Ihr Hund jagt. Wenn ihn der Forstaufseher vor den
-Lauf bekommt, schießt er ihn.“
-
-Aus dem hochstehenden Kleefeld tauchten, wie bei einem flüchtenden
-Känguruh, abwechselnd Kopf und Hinterteil des Dackels empor, der die
-Kleespitzen übersprang und bei jedem Satze mit den Vorderpfoten tief
-einfiel. Jürgen horchte auf das scharfe, verzweifelte Bellen.
-
-Und da geschah es, daß Jürgen, dem jede Sekunde Zeit unschätzbar teuer
-war, der um keinen Preis, den dieses Leben zu bieten hatte, eine Sekunde
-lang das Suchen nach sich selbst unterbrochen hätte, dieses große Suchen
-auf Leben und Tod unterbrach, um erst den gefährdeten Hund zu suchen.
-
-„Was ist der Mensch und was der Sinn, der ihn bewegt? Wer vermöchte zu
-sagen, weshalb im Opfer der tiefste Sinn des Menschendaseins ruht?“
-flüsterte Jürgen, als er wieder auf dem Wege war, und begann zu weinen,
-laut und schrankenlos, in plötzlicher, wunderbarer Befreiung.
-
-Der Hund dackelte neben dem Schluchzenden her, hügelan, zum Waldrand.
-Vor Jürgen lag die Tiefebene, unübersehbar weit und breit.
-
-Zahllose junge Menschen, Mädchen, gebunden fragenden Blickes,
-Gymnasiasten, Studenten aller Nationen, standen dichtgedrängt, wartend
-auf das Wort. Immer neue Züge, endlos, traten aus den Wäldern heraus,
-tauchten hinter den fernen und fernsten Hügelketten auf. Millionen
-füllten die Tiefebene. Auf der Schulter eines jeden Einzelnen kauerte
-ein unheimlich und böse blickendes Tier. Aller Augen waren auf Jürgen
-gerichtet.
-
-„Folgt euren Vätern nicht, den alten Verdienern!“
-
-Da bäumten sich die Tiere, bleckten die Zähne, sträubten die
-Rückenhaare, schlugen ihre Krallen in die Schultern der stöhnenden
-Jugend, stießen grauenvolle Töne aus, die Schreck und Machtlosigkeit
-verursachten im Blick und im Gesichte der Jugend.
-
-„Stoßt sie herunter von euren Schultern! Reißt sie heraus aus eurem
-Gefühle! ... Macht euren guten Müttern Sorge! Erkennt eure Aufgabe, und
-dann erfüllet sie! Tut ihr das nicht, dann geht ihr zugrunde, so oder
-so“, begann Jürgen die große Rede an die Jugend, die zu einer
-Darstellung seines Lebens wurde und immer wieder von neuem in der
-Warnung gipfelte, nicht so zu tun, wie er getan habe.
-
-Stunden später blickte Jürgen, sitzend am Fensterplatz des kleinen Cafés
-und vor sich schon das Glas voll dampfenden Glühweines, dunkel fragend
-hinüber auf das Knopfexporthaus und wußte nicht, wie und wann und
-weshalb er hierher gekommen war.
-
-Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war das immer wieder geschehen,
-daß Jürgen bei den Wanderungen in und außerhalb der Stadt unversehens
-sich an Stellen befunden hatte, die durch Erlebnisse in der
-Vergangenheit für ihn bedeutsam geworden waren.
-
-Da steht ein Mensch plötzlich vor einem schwarzen Tunnelloch, ganz
-erfüllt von dem Gefühle, vor diesem Tunnelloch schon einmal gestanden zu
-haben in einem früheren Dasein. Er sitzt auf einem Kilometerstein,
-sinnend und tief im Leben, und Strauch und Baum, der stille Waldsaum und
-die schnurgerade Landstraße, die wie ein weißer Pfeil sich in den fernen
-Horizont verliert, sind rätselhaft vertraut dem unruhvollen Herzen.
-
-Die Wand, die Jürgens Blick in das Gewesene verstellte, rückt lautlos
-weg, und auf ihn brechen die Erinnerungen ein, so plötzlich und mit so
-lebendiger Gewalt, daß Jürgen in Abwehr schreit und bebt, gepackt von
-Angst, erdrückt zu werden von dieser Fülle, von des Bewußtseins
-blitzesschneller Wiederkehr.
-
-Um nicht Schaden zu nehmen an der Seele, bemüht sich der von Glück und
-Sein Durchblitzte und Durchstürmte, das wiederkehrende Bewußtsein bewußt
-nur stückweise in sich einzulassen, lenkt sich ab, zählt, entlang dem
-Waldsaum, genau dreihundert Tannenstämme. Zählt und zählt, bebt und
-schluchzt und zählt, bedrängt von dem anstürmenden, von Stamm zu Stamm
-nachdrängenden Bewußtsein, das eine Sturmflut schmerzhaft lebendiger
-Erinnerungen mitführt, die ihm zum großen Rückblick werden, tief zurück
-in das Gewesene.
-
-Viele Tage und in Maß und Abwehr durchwachte Nächte waren vergangen, ehe
-Jürgen sich bereitet und stark genug gefühlt hatte, bewußt
-Erinnerungsorte aufzusuchen. Wieder sitzt er eine ganze Nacht in der
-Verbrecherkneipe und liest von den verwüsteten Gesichtern das schon
-Gewußte und das Bewußtsein des Verrates, den er begangen hat, sich von
-neuem in die Seele und weiß, schweren Herzens, wieder: ‚Wer in diesem
-Leben nicht tief im Leide und im Kampfe steht, steht tief in Schuld.‘
-
-Die Straßenkreuzung, wo er Abschied genommen hatte von Katharina, glüht
-und brennt. Lange steht er, zögert er. Und plötzlich überquert er sie
-doch, in fliegender Eile, Schauer im Rückenmark.
-
-In dem Maße, wie er das Bewußtsein wiedergewinnt, bricht auch das Leben
-in seiner Milliardenfältigkeit, die zu empfangen und zu begreifen der
-Mensch ein Menschenalter zur Verfügung hat, wieder in ihn ein, stoßweise
-und mit solcher Wucht, daß er, bebend wie der Auferstandene, vor Sonne,
-Blau und Lärm steht, vor dem kleinen Leben der Straße, den schweren
-Pferden, die arbeitstreu das Backsteinfuhrwerk bauwärts ziehen, vor dem
-Sperling, der auf dem Pflaster hüpft und in die Ritzen pickt.
-
-Den Dackel an der Leine, schritt Jürgen aus der Stadt hinaus, auf der
-Quaimauer flußentlang, vorüber an einer Reihe Proletarierfrauen, die,
-kniend am Ufer, farbige Wäsche wuschen, an durchnäßten Kindern vorbei,
-die Hafenanlagen bauten aus Sand und Dreck.
-
-Die letzten Häuser blieben zurück. Der Fluß glitt blau und grün entlang
-der sanften Hügelkette. Am Ende der Quaimauer stand ein Angler. Jürgen
-schritt wie im Traume auf ihn zu. Er wunderte sich nicht. „Sind Sie Herr
-Knipp?“
-
-„Das ist mein Name.“ Hinter Herrn Knipp lag auf dem Damm ein besonders
-langer Reserveangelstock modernster Konstruktion. Auch einen neuen
-Rucksack aus braunem Segeltuch mit Lederbesatz hatte er sich angeschafft
-und einen Feldstuhl. Der Angler war erst achtundfünfzig Jahre alt und
-sah, wie er so dastand, zufrieden mit sich und der Welt, ganz
-unverändert aus, als ob seither kein Tag vergangen wäre.
-
-Wie damals saß Jürgen auf der Quaimauer, Beine flußwärts gestreckt.
-Millionen kleiner Mücken standen in der drückenden Schwüle knapp über
-der Wasserfläche. In der Nähe pochte die Stadt. Die Zeit stand still und
-glitt zurück.
-
-„Erinnern Sie sich noch des arbeitslosen Schwindsüchtigen, mit dem ich
-hier gesessen hatte?“
-
-Ruhevoll hob Herr Knipp die Angelschnur heraus und senkte sie in schönem
-Schwunge wieder in das glucksende Wasser. „Heute beißen sie gut an, weil
-ein Wetter im Anzuge ist ... Der Bursch lebt schon lange nicht mehr. Der
-war ein Unzufriedener. Den hat die Unruhe aufgezehrt, die
-Unzufriedenheit mit dem Gang der Welt. Schließlich hat er noch geklaut,
-kam ins Gefängnis und ist auch drin gestorben.“
-
-Ein Mensch, überschlafen, träge, nimmt sich ein dutzendmal vor, endlich
-aus dem Bett zu steigen, und bleibt immer wieder liegen. Unversehens
-sind seine Beine außerhalb des Bettes. Wie in diesem Trägen vielerlei
-zusammen das plötzliche Aufstehen bewirkt hat, ohne daß das treibende
-Vielerlei ihm ganz bewußt geworden wäre, tauchten auch in Jürgen die
-Fahrt mit dem Agitator zur Arbeiterversammlung im ‚Paradies‘, die
-fünftausend Arbeitergesichter, das fahle Gesicht des Schwindsüchtigen,
-Katharinas Rufe: ‚Die Befreiung!‘ und seine Empfindungen und Gedanken an
-jenem Abend nur schemenhaft und unkontrolliert auf; dennoch verursachte
-all dies zusammen, in Verbindung mit des Anglers Worten, in Jürgen, der
-sich sofort erhob, plötzlich das feste Gefühl, er habe sich nun lange
-genug ausschließlich mit sich beschäftigt.
-
-Und aus einer ganz andersartigen Unruhe als der, die ihn veranlaßt
-hatte, den erinnerungsträchtigen Angelplatz aufzusuchen, löste sich
-sofort der Gedanke, Bewußtsein und Erkenntnis dürften nicht um ihrer
-selbst willen erstrebt und gepflegt werden.
-
-„Es ist erfüllt. Nun ist es Zeit“, sagte Jürgen, freudigen und schweren
-Herzens zugleich, als er zielbewußt weiter schritt.
-
-Der wolken- und sonnenlose Himmel sah krank aus. Die Landschaft glich
-einem schlechten, leblosen Riesengemälde. Der Dackel zögerte, blieb
-stehen, legte sich in die Straßenmitte. Die Vögel waren verschwunden.
-Kein Ton. Jürgen betrachtete das meterhohe Getreidefeld. Die völlige
-Reglosigkeit der Halme und Ähren machte auf ihn den Eindruck der
-Unnatürlichkeit und Schaurigkeit. Erst als Jürgen schon weit voraus war,
-erhob sich der Hund.
-
-Vereinzelte Tropfen fielen schwer in die Wind- und Luftlosigkeit. Als
-wäre der Himmel zu spannungslos und matt, den Sturm zu entfesseln,
-endete der Regen wieder. In der Nähe schrie ein Tier angstvoll dreimal.
-Und eine Sekunde später durchzuckte der trockene Blitz das ganze Tal.
-
-Wie auf ein Zeichen mit dem Taktstock bewegten sich alle Ähren
-gleichzeitig. Das Tal begann zu singen. Blitze aus weiter Ferne zogen
-schwachen Donner nach. Der Apfelbaum fröstelte. Ein alter Lappen machte
-einen Sprung quer über die Straße, blieb einen Windstoß lang
-ausgebreitet in halber Höhe gegen das Getreidefeld gepreßt und fegte,
-knapp über den Ähren, davon.
-
-Jürgen hatte die Feldhütte noch nicht erreicht, da krachte der erste
-Donnerschlag, begleitet von schräg herabplatzenden Wassermassen. Der
-Dackel saß zu Füßen Jürgens und bellte hinaus in den Wolkenbruch.
-
-Als Felder, Wald und Fluß, das ganze Tal, im Wetter verschwunden
-gewesen, wie aus dem Nichts wieder entstanden, ging Jürgen auf eine
-weiße, unübersteigbar hohe Mauer zu, schnellen Schrittes, im Antlitz das
-Lächeln der Befreiung.
-
-Das schwere Bohlentor öffnete sich, eine Droschke fuhr heraus. Jürgen
-lief ein paar Schritte, sprang durch das Tor, hinein in die
-Irrenanstalt. Das Tor schlug zu. „Führen Sie mich zum Arzt.“
-
-Der stand noch in der Freihalle, kam schon geeilt.
-
-„Sie warten wohl schon lange auf mich?“
-
-„Aber nein! Das heißt, ich freue mich natürlich sehr, Sie zu sehen, Herr
-Kolbenreiher ... Beruhigen Sie sich! Bleiben Sie hier! Nur Ruhe!“ rief
-er beschwörend Jürgen zu, der ruhig lächelnd zurückblickte.
-
-Der patschnasse Dackel kam, die Leine hinter sich herschleifend,
-angerast, bellte vorwurfsvoll an dem geschlossenen Tor hinauf und
-drückte sich, auf der Hinterbacke sitzend, Vorderpfoten aufgestellt,
-gegen die Mauer, blinzelte unzufrieden in den noch mit schwarzblauen
-Wolken verhängten Himmel. Rasch hintereinander krachten zwei
-Donnerschläge.
-
-„Was kostet jetzt der Aufenthalt in Ihrem Hause, mit voller
-Verpflegung?“
-
-„Das richtet sich nach der Lage und Einrichtung des Zimmers. Sozusagen
-nach der Klasse. Dreierlei Preise!“
-
-„Wie bei der Eisenbahn!“
-
-„Wir berechnen Ihnen den Aufenthalt und selbstverständlich auch die
-Behandlung so kulant wie möglich. Sie wollen und werden ja auch wieder
-gesund werden.“ Der Arzt nannte die Summen.
-
-„Und lebenslänglich?“
-
-„Das verbilligt die Sache allerdings noch erheblich.“
-
-„Dann am besten lebenslänglich, was?“
-
-„Sehr vernünftig!“
-
-„Nicht wahr! ... Sind viele Kranke hier?“
-
-„O, ganz besetzt! Sehr interessante Patienten!“
-
-„Und alle nicht bei sich?“
-
-„Dies allerdings dürfte für alle so ziemlich zutreffen, im großen ganzen
-... So kommen Sie doch schon her!“ rief er dem Oberwärter zu.
-
-„Ich wollte, Herr Doktor, ich wollte diese Mauer, diese hohe Mauer, mir
-nur einmal von innen ansehen. Ich danke schön. Guten Tag, Herr Doktor“,
-sagte Jürgen, kehrte um und schritt zum Tore hinaus.
-
-„Entronnen!“ Auf der Brücke zog er den Revolver und ließ ihn senkrecht
-hinunterfallen in das Wasser. „Entronnen!“ In den Schultern fühlte er
-das Leben und die Kraft zu neuem Anfang.
-
-Jürgen fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation, erreichte Minuten
-später die Haustür. Sie war nur angelehnt.
-
-„Ja, was denken Sie! Die ist nie zuhaus“, sagte Katharinas Wirtin.
-„Jetzt ist das nicht mehr so wie früher. Jeden Tag Versammlungen! Und
-dann noch in die Redaktion. Jetzt erscheint die Zeitung ja täglich. Und
-wenn sie ja einmal da ist, sitzt sie gleich die halbe Nacht an der
-Schreibmaschine. Jetzt gibts viel Arbeit. Ein Buch schreibt sie auch. So
-dick! Das soll gedruckt werden.“
-
-Ein volles Bücherregal nahm die ganze Längswand ein. Auch ein Teppich
-verschönte das Zimmer. Auf dem Tische lag ein gedruckter Handzettel: Die
-Aufforderung zum Besuche der heutigen Massenversammlung im ‚Paradies‘.
-
-Gegenüber dem ‚Paradies‘ standen zwei Schutzleute, unter dem Eingangstor
-drei Arbeiter, die sich lebhaft unterhielten, und neben einem Stoße
-Broschüren ein vierzehnjähriger Knabe, der sicheren Blickes auf Jürgen
-zuschritt: „Der Kampf um den Sozialismus!“
-
-Jürgen kaufte die Broschüre. „Wer spricht heute Abend?“
-
-„Meine Mutter: die Genossin Lenz.“
-
-‚Halt! Halt! Das ist zu viel, zu viel Glück, zu viel Glück.‘ Bebend
-blickte er auf Katharinas Sohn, der äußerlich ganz und gar so aussah,
-wie der Gymnasiast Jürgen, der vor dem Buchladen gestanden und nicht den
-Mut gehabt hatte, einzutreten und die Broschüre zu kaufen.
-
-Mit den drei Arbeitern trat Jürgen in den Saal, schloß leise die Tür.
-Fernher klang in die Stille die Stimme Katharinas.
-
-
-
-
- Werke von Leonhard Frank
-
-
- DIE RÄUBERBANDE
-
- Roman 20. Tausend
-
- Im Insel-Verlag, Leipzig
-
-
- DIE URSACHE
-
- Roman 20. Tausend
-
- Im Insel-Verlag, Leipzig
-
-
- DER MENSCH IST GUT
-
- Gebunden. 25. Tausend
-
- Rascher-Verlag, Zürich
-
- Volksausgabe: 80. Tausend
-
- Kiepenheuer Verlag, Potsdam
-
-
- Copyright by DER MALIK-VERLAG, Berlin 1924
- Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und
- der Übersetzung, vorbehalten. Druck der Spamerschen
- Buchdruckerei in Leipzig
-
-
-
-
- Anmerkungen zur Transkription
-
-
-Der Verfasser hat offenbar Absatzumbrüche mitten in Sätzen, meist vor
-dem Wort _während_, absichtlich eingefügt, zum Beispiel auf Seite 204,
-Seite 250 oder Seite 310. Dies wurde belassen wie in der Druckvorlage.
-
-Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
-
-*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER BÜRGER ***
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-<title>The Project Gutenberg eBook of Der Bürger, by Leonhard Frank</title>
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-<body>
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<p style='text-align:center; font-size:1.2em; font-weight:bold'>The Project Gutenberg eBook of <span lang='de' xml:lang='de'>Der Bürger</span>, by Leonhard Frank</p>
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
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-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
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-at <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>. If you
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-
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:1em; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Title: <span lang='de' xml:lang='de'>Der Bürger</span></p>
-<p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em'>Author: Leonhard Frank</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Release Date: January 14, 2022 [eBook #67161]</p>
-<p style='display:block; text-indent:0; margin:1em 0'>Language: German</p>
- <p style='display:block; margin-top:1em; margin-bottom:0; margin-left:2em; text-indent:-2em; text-align:left'>Produced by: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.</p>
-<div style='margin-top:2em; margin-bottom:4em'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER BÜRGER</span> ***</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="halftitle">
-LEONHARD FRANK / DER BÜRGER
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
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-</p>
-
-<h1 class="title">
-DER BÜRGER
-</h1>
-
-<p class="subt">
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-</p>
-
-<div class="centerpic logo">
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-
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-1.-44. TAUSEND
-</p>
-
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-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="ded">
-DER BÜRGERLICHEN JUGEND GEWIDMET
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="I">
-<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
-I
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher:
-‚Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr
-fünf schlägt, geh ich hinein und kaufe die Broschüre
-... Ehrenwort?‘
-</p>
-
-<p>
-„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las
-wieder den Titel der philosophischen Abhandlung.
-Seine Hand, die das Geld hielt, war naß. Der Blick
-zuckte fortwährend von der Broschüre zum Ziffernblatt.
-Der Zeiger stand knapp vor fünf.
-</p>
-
-<p>
-Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen
-vorbei und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen.
-Jürgen wollte eintreten.
-</p>
-
-<p>
-Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück.
-‚Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe? ...
-Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie
-kaufen will und dazu den Mut nicht habe? ... Oder
-würde er verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen
-in den Laden ginge?‘
-</p>
-
-<p>
-Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft,
-kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große
-Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte,
-während er sich „Feigling! Elender Feigling!“ schimpfte,
-daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das
-Phantom des Vaters stand neben ihm.
-</p>
-
-<p>
-Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand.
-Und Jürgen dachte: Ich kann auch jetzt
-<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
-noch hinein. Aber sofort! ... Hat der Buchhändler
-eben gelächelt? Über mich?
-</p>
-
-<p>
-Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt
-über die gepflegte, sonndurchwirkte Anlage weg,
-in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen
-schlugen.
-</p>
-
-<p>
-‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht
-hinein.‘
-</p>
-
-<p>
-Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen
-Laden zurück.
-</p>
-
-<p>
-‚Jetzt! ... Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe,
-wird das Leben auch in Zukunft mit mir
-machen, was es will. Das ist klar.‘
-</p>
-
-<p>
-Da erschien bei der Kirche ein Mitschüler Jürgens,
-Karl Lenz, Sohn eines Universitätsprofessors. Jetzt
-natürlich kann ich nicht hinein, dachte Jürgen und
-ging mit Karl Lenz in die Anlage, sah abwesend eine
-Bonne an. Die gestärkten Röcke strotzten, und der
-elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten
-Sandwege am Tulpenrondell vorüber.
-</p>
-
-<p>
-Knapp hinter dem Kinderwagen ritt, das frischbackige
-Gesicht stolz erhoben, in verhaltenem Trabe
-ein kleines Mädchen im Knieröckchen so feurig auf
-dem Steckenpferde, daß die langen, schön gewölbten,
-nackten Schenkel sichtbar wurden. Die Gruppe
-machte sofort Halt, als der im Wagen strampelnde
-Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden
-Hampelmann ausstreckte.
-</p>
-
-<p>
-Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter
-Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter
-und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen,
-abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der
-sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte
-<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
-und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes
-den Reichtum bestaunte.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem
-Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen
-erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel
-fragend sah er empor zu Jürgen, der, plötzlich breit
-durchzogen von einem bisher nie empfundenen Gefühle,
-zu Karl Lenz sagte: „Man muß Empörer werden.“
-</p>
-
-<p>
-„Warum Empörer? Wegen dieses Ferkels?“
-</p>
-
-<p>
-Der Junge blickte seine schwarzen, skrofulösen
-Beine an, beschämt empor zu Jürgen, in dem, unter
-dem Grinsen des Mitschülers, das Eigene wieder versank.
-Verwirrt ging er, während Karl Lenz in den
-Konditorladen eintrat, heimwärts, geduckt die teppichbelegte
-Treppe hinauf.
-</p>
-
-<p>
-Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß
-Jürgen in seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft
-und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter
-der Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und
-die Tante sagt: ‚Nein, so einen unselbständigen Jungen,
-wie du einer bist, gibt’s nicht mehr. Ein Unglück
-für deinen Vater!‘
-</p>
-
-<p>
-Preisgegeben ließ er sich von den Gespenstern der
-Verachtung weiter quälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich
-habe doch gestern zum Professor gesagt: Abraham,
-der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich
-ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer
-Vater! Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen
-Befehl auch gar nicht geben.‘
-</p>
-
-<p>
-Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du
-gewagt?‘
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet
-<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
-hatte: ‚Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten,
-sträflichen Ansicht?‘, bei der Tante in Schutz
-nehmen: ‚Ihr Neffe hat öfters solche erstaunlich selbständigen
-Ansichten.‘
-</p>
-
-<p>
-Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar
-keine Schande für die Familie.‘
-</p>
-
-<p>
-Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich
-ein ‚Schmähliches Etwas‘ genannt habe ... Wie
-konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig
-behandeln. Unbegreiflich!‘ Jürgen lächelte bescheiden.
-</p>
-
-<p>
-Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers
-wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen
-hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß,
-zu Herrn Philippi, einem alten Freunde des Hauses,
-sagte: „Ich werde ihn in den Staatsdienst stecken.
-Ein kleiner, verschrullter Amtsrichter oder so etwas
-Ähnliches! Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft,
-unvernünftig und lebensuntüchtig ist er.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf
-und Schultern gedemütigt seitwärts und hob die
-Brauen, daß die Stirn Falten bekam.
-</p>
-
-<p>
-„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so
-jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß
-einer unfertigen Seele“, sagte Herr Philippi. Die
-Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht
-funkelten. ‚Auch die Seele deiner Frau hast du so
-lange mit dem Lineal gemessen, bis dieses leidensfähige
-Gemüt einging wie ein krankes Vögelchen‘,
-dachte er und sagte es nicht.
-</p>
-
-<p>
-Auf dem Gange fing die Tante Herrn Philippi ab.
-„Wie gehts ihm? Wie ist mein Bruder?“
-</p>
-
-<p>
-„Unvernünftig, meine Liebe!“ Herr Philippi wollte
-fortstelzen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
-Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende
-Mann so einen Sohn haben muß! Wir
-schämen uns seiner ... Heute sagte der Vater zu
-ihm: Du kommst in ein Bureau. Das ist das beste
-für dich ... Und das ist auch meine Meinung.“
-</p>
-
-<p>
-Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen
-des alten Mädchens, betrachtete, als zähle er sie,
-schweigend die mit der Brennschere sorgfältig gedrehten,
-an Stirn und Schläfen platt angedrückten,
-schwarzen zwölf Fragezeichen. „Dann erziehen wohl
-Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte? ... Kann
-ich mit Jürgen sprechen?“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, ich erziehe ihn. Er schreibt gerade seinen
-deutschen Aufsatz: ‚Die Bedeutung der Tinte im
-Dienste des Kaufmanns‘. Sprechen können Sie ihn
-jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten
-werden.“
-</p>
-
-<p>
-Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht.
-„Hören Sie! Jürgen war schon als ganz kleiner
-Junge so ängstlich, daß er nicht einmal zu sprechen
-wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren.
-Eines Tages – er war vier Jahre, es war auf dem
-Geflügelmarkt – sagte er plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das
-war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie bei
-andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘ sagte er und
-lockte: ‚Bi bi bi bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen ...
-Sollte man das für möglich halten? Diese Unselbständigkeit!
-... Er ist ganz seiner Mutter nachgeschlagen.
-Auch sie war so lebensuntüchtig. Hatte Angst vor
-Mäusen – ich habe ja auch schreckliche Angst vor
-Mäusen –; aber als einmal eine Maus gefangen worden
-war, weinte seine Mutter stundenlang, weil die Maus
-ertränkt wurde.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
-Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am
-gehäkelten Spitzenkragen gepackt hielt und noch
-immer nicht sprach. Da schüttelte er sie kräftig und
-sagte: „Bi bi bi bi! Adieu!“
-</p>
-
-<p>
-Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige
-Minuten strengen Gesichtes an Jürgens Tür. Der saß
-glühend am Tisch und schrieb, da er anderes Papier
-nicht gleich gefunden hatte, in das Schulheft eine lange
-Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott
-nicht geben könne. ‚Folglich bin ich Atheist.‘ Dann
-erst quälte er sich den deutschen Aufsatz ab.
-</p>
-
-<p>
-Und übergab das Heft am Montag dem Professor,
-der die Beweise für das Nichtexistieren Gottes fand
-und sie dem Religionslehrer schickte.
-</p>
-
-<p>
-Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz
-und hatte nur deshalb keine schlimmen Folgen für
-Jürgen, weil die Tante plötzlich an der Stirnseite des
-Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte:
-„Herrn Kolbenreiher hat soeben der Schlag getroffen
-... Mein Bruder war ein bedeutender Mann.“
-Ihre Hand wanderte, wurde mitleidig geschüttelt.
-</p>
-
-<p>
-„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren viel Geduld
-haben ... Mit viel Geduld und Strenge gehts vielleicht.“
-</p>
-
-<p>
-Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde
-sie hinausgeleitet. „Jürgens schwankende Seele ...
-Seine Unsicherheit“, vernahmen die Zurückbleibenden.
-</p>
-
-<p>
-„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß
-die Augen auf. „Bin ich Atheist, schreibt der Junge.
-Und gestern diese Geschichte mit Abraham!“
-</p>
-
-<p>
-Der Geschichtsprofessor beruhigte ihn: „Das Leben
-wird dem Burschen diese Gedanken schon abschleifen
-... Gut und schnell auffassen tut er ja.“
-</p>
-
-<p>
-„Bei mir nicht“, sagte der Mathematikprofessor und
-<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
-hielt die Hand erhoben. Sie rügten noch seine außerordentliche
-Faulheit und schlossen die Konferenz.
-</p>
-
-<p>
-Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der
-Tante. Furchtsam und unbeachtet stand Jürgen daneben.
-Und ging dann, vor Schuldgefühl vornüberhängend,
-mit der aufrechten Tante nachhause, wo
-Weihrauchwolken standen.
-</p>
-
-<p>
-Gegen Abend zog sie den willenlos Folgenden ins
-Sterbezimmer, in dem der Vater, bekränzt und kerzenumstanden,
-schon auf der Bahre lag, schlug das Kreuz
-und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des
-Toten Gesicht zu deuten: „An dir hat er keine Freude
-gehabt. Das kannst du jetzt in deinem ganzen Leben
-nicht mehr gut machen ... Bete! Drei Vaterunser!
-Und dann komm und iß.“
-</p>
-
-<p>
-Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten
-Rücken. Die still brennenden Kerzen beleuchteten
-des Vaters Gesicht, das in Unzufriedenheit
-erstarrt war, als habe ihn auch der Tod enttäuscht.
-</p>
-
-<p>
-Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte
-er, das wächserne Gesicht im Blick, die gefalteten,
-toten Hände zu berühren. Und wich zurück, als er
-das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte.
-</p>
-
-<p>
-Ganz langsam kniete er nieder, die befohlenen drei
-Vaterunser zu beten. Kein Wort fiel ihm ein. Seine
-flehende Hand wollte die äußerste Spitze des Leintuches
-berühren. Und sank kraftlos zurück.
-</p>
-
-<p>
-Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht.
-</p>
-
-<p>
-Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft
-in Jürgens Kopf und schleuderte die Worte ab:
-‚Na, du schmähliches Etwas!‘
-</p>
-
-<p>
-„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen
-verächtlich und wandte, irr blickend, Kopf und
-<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
-Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht er,
-sondern der Tote habe gesagt: Na, du schmähliches
-Etwas!
-</p>
-
-<p>
-Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante
-hinter sich, kniete er ausgeliefert und verloren, schief
-und tränenlos im Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante,
-ergriff seine Hand und führte ihn hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen versuchte gar nicht mehr, Übersicht über
-seine Gefühle zu gewinnen. In die Träume schickte
-die vergewaltigte Seele drohende Ungeheuer. Der
-Vater stand immer daneben.
-</p>
-
-<p>
-Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ,
-empfing ihn die Tante, schüttelte verächtlich den
-Kopf und gab ihm Briefe mit an die Professoren, in
-denen sie für Jürgen, der leider nicht seinem bedeutenden
-Vater nachgeschlagen sei, um Nachsicht
-bat.
-</p>
-
-<p>
-In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder
-gedemütigt zu werden, drehte Jürgen Kopf und Schultern
-weg, als im Zimmer plötzlich Herr Philippi
-stand. „... Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich
-immer noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen
-gehalten? Selbst wenn es so wäre, dürften Sie ihm
-das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter, kranker
-Mann, der den Glauben an das Gute eingebüßt hatte.
-So einer ist leicht blind und ungerecht.“
-</p>
-
-<p>
-Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf
-immer tiefer gesunken.
-</p>
-
-<p>
-Der Vater ist tot ... Seine Autorität lebt, dachte
-Herr Philippi. Und log: „Ich habe Ihnen etwas von
-Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem Tode war
-ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie
-<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
-immer im Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf
-einen vorüberfliegenden Vogelschwarm ... Es waren
-Stare“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich sagte Ihr
-Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens
-furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich?
-Das ist mir ein Rätsel.‘ ... Er wußte es nämlich tatsächlich
-selbst nicht ... ‚Denn ich bin mir ja in
-Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘,
-wie sagte er doch, ‚ein ausgezeichneter und sogar sehr
-kluger Junge ist ... Das muß man ihm bei Gelegenheit
-einmal sagen‘.“
-</p>
-
-<p>
-Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln,
-als er auch die Autorität der Tante zu erschlagen versuchte:
-„Und dieses alte Mädchen, Ihre Tante! Aus
-der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen.
-So eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos!
-Das ist übrigens die volle Wahrheit ... Besuchen
-Sie mich einmal.“
-</p>
-
-<p>
-‚Diese Bürgeraristokratie sagt sich: Wir lassen
-unsere Kinder nicht hungern, nicht arbeiten; wir
-asphaltieren ihnen mit Körperpflege, reichlichem Essen,
-höherem Unterricht und Geld, mit viel Geld eine breite,
-glatte Straße ins Leben ... Die psychischen Ungeheuer,
-die sie in die Seelen stoßen, zählen nicht.
-Da fallen die allerhand Autoritäten über so einen
-Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel
-mit Sand mehr Phantasie und Geist offenbart, als sie
-in ihrem ganzen Leben, seine Selbständigkeit und
-wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘,
-dachte der Alte auf der Straße, während Jürgen vor
-der Tante stand.
-</p>
-
-<p>
-Sie blickte beim Sprechen hinaus in den Garten,
-steil aufgerichtet. „Ich habe alles gehört. Du hast
-<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
-keine Zeit, Herrn Philippi zu besuchen. Deine Schularbeiten
-sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine
-Erziehung.“
-</p>
-
-<p>
-Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel!
-Du bist ja vollkommen ahnungslos ... Das ist übrigens
-die volle Wahrheit.“
-</p>
-
-<p>
-Die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens
-Mund blieb in übergroßem Schrecken geöffnet. „Was
-hast du gesagt? Wiederhole, was du eben gesagt
-hast!“
-</p>
-
-<p>
-„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall
-der Überzeugung riß der Tante die Empörung ins
-Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren
-gehört habe?“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen, überzeugt, diese Worte nicht gesprochen
-zu haben, bekam irrblickende Augen.
-</p>
-
-<p>
-„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich
-mitteilen. Du übergibst ihm den Brief. Und jetzt ...
-Pfui!“
-</p>
-
-<p>
-Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte
-Jürgen ein paar Tropfen auf seinem Gesichte kalt
-werden und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Hitze und Kälte wechselten einigemal schnell in
-seinem Körper. Er trat ans Fenster, starrte in den
-Garten. Die farbigen, kopfgroßen Glaskugeln steckten
-still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbargarten
-klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber.
-Abgerissene Worte. Jemand spielte Ziehharmonika.
-</p>
-
-<p>
-Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob
-die linke Schulter, die rechte, rhythmisch die Beine.
-Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz.
-</p>
-
-<p>
-Am Montagmorgen schlich er, eine Stunde früher
-<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
-als gewöhnlich, ohne Brief geduckt aus dem Hause,
-begann plötzlich zu laufen, rannte, galoppierte weit
-aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, hügelan
-und -ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg
-und glotzte blöd hinein, kehrte um und kam, verschwitzt
-und keuchend, noch rechtzeitig im Schulzimmer
-an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten
-Bleistift auf das Katheder klopfte.
-</p>
-
-<p>
-Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift
-zusammen, der in dieser Stellung immer etwas
-Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor zog die
-Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘ Jürgen
-hatte das Gefühl, sein Herz sei so rund und so groß
-wie ein schwarzer Mond und schlage nicht mehr.
-</p>
-
-<p>
-„Leo Seidel! ... Sie wissen, daß Ihr Vater Sie
-leider aus dem Gymnasium herausnehmen muß. Umstände
-halber! ... Euer bisheriger Schulkamerad verläßt
-euch heute. Er muß verdienen ... Leo Seidel,
-Armut ist keine Schande.“
-</p>
-
-<p>
-Der Sohn des Briefträgers blickte beschämt ins
-Tintenfaß.
-</p>
-
-<p>
-„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten ...
-In Amerika, zum Beispiel, soll das öfter vorkommen“,
-sagte der Professor und lächelte. „Diesen Vormittag
-bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er, mit
-einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und
-deutete mit dem Daumen zur Tür: „Dann treten Sie
-in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“
-</p>
-
-<p>
-Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten
-Kinderwagen reitet das Mädchen auf dem
-Steckenpferd in gezähmter Pferdeungeduld durch das
-Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte Jürgen den
-abgezehrten Proletarierjungen an.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
-„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? ... Nun?
-Heraus damit!“
-</p>
-
-<p>
-Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft
-auf. Seine gelähmten Lippen stammelten: „Ich wollte
-nichts sagen.“
-</p>
-
-<p>
-„Karl Lenz! ... Sie haben vorhin mit Adolf Sinsheimer
-Fingerhakeln geübt; erklären Sie uns jetzt den
-Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand ein kleines
-Modell. „Nichts? ... Setzen Sie sich. Und lassen
-Sie sichs von Leo Seidel erklären.“
-</p>
-
-<p>
-Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen
-wurde und der Professor mit den kleinen
-Bleigewichten des Modells spielte, erklärte die einsame
-Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen litt unter der Feigheit, seine Meinung nicht
-geäußert zu haben, brüllte in Gedanken: ‚Nur weil
-Seidels Vater arm ist? Das ist gemein. Gemein! ...
-Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor
-an, bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden
-Flaschenzüge gebraucht?“
-</p>
-
-<p>
-„Flaschenzüge?“
-</p>
-
-<p>
-„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? ... Leo Seidel,
-sagen Sie es ihm.“
-</p>
-
-<p>
-„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner
-Arbeiter mit einem Flaschenzuge ...“
-</p>
-
-<p>
-„Mit Hilfe!“
-</p>
-
-<p>
-„... mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die
-Höhe winden, die zehnmal so schwer sind wie der
-Arbeiter. Infolge der Übersetzung!“
-</p>
-
-<p>
-‚Infolge der Übersetzung‘, sollte Jürgen wiederholen,
-hatte aber ‚Überrumplung‘ gesagt.
-</p>
-
-<p>
-Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf
-dem Heimwege, wo alle sich von Leo Seidel, der vielleicht
-<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
-schon morgen einen Handwagen durch die
-Stadt schieben mußte, abgesondert hielten.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten.
-Nur in Gedanken trat er mit kühner Ritterlichkeit
-zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der andern
-nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren.
-</p>
-
-<p>
-Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich
-schweigende Tante nicht. Schickte das Dienstmädchen,
-mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am nächsten
-Morgen dem Herrn Professor zu übergeben.
-</p>
-
-<p>
-Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft
-finden, Seidel zu besuchen. In der Kellerstube
-stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben des
-schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu
-lassen, als schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel
-saß still am Fenster und sah hinaus in den stinkenden
-Hof. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und
-Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich,
-der sich im selben Moment zum erstenmal in seinem
-Leben frei fühlte.
-</p>
-
-<p>
-Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte,
-konnte scherzen: „In der biblischen
-Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe alles,
-was du hast, und ... Aber nicht deshalb gebe
-ich dir das Buch. Denn ich glaube ja gar nicht an
-Gott.“
-</p>
-
-<p>
-Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen
-dessen unerwünschter Ankunft der Vater den Sohn
-aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann
-zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in
-verschiedenen Größen, bleich und blutleer, standen
-reglos da, mit großen Augen.
-</p>
-
-<p>
-„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken
-<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
-an mich. Hast eine Freude ... mit hundertsiebenunddreißig
-Illustrationen.“
-</p>
-
-<p>
-Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er
-voraussichtlich bald der Klassenfünfte geworden wäre.
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen rief: „Also deshalb, weil dein Vater
-kein Geld hat, mußt du Hausdiener werden, anstatt
-vielleicht ... Minister. Das ist ja! Alles was recht ist!“
-</p>
-
-<p>
-„Mein Gott, was redet ihr Buben!“ Die Wöchnerin
-spuckte in den Napf. „Was ihr redet!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen redete sich in Zorn hinein: „Absolut! Das
-ist maßlos ungerecht. Gemein ist das. Einfach hundsgemein!
-Wahrhaftig, das sage ich jedem, ders hören will.“
-Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen.
-</p>
-
-<p>
-Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den
-Knaben: „Mein Gott, das sind ja lauter Dummheiten.“
-</p>
-
-<p>
-„Nehmen wir an“, sagte Herr Philippi, „es sei
-schon von vornherein eine Dummheit gewesen von
-dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen
-Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! ... Postdirektor
-werden kann! Wer kanns wissen?“
-</p>
-
-<p>
-„Ganz recht, wer kanns wissen. Mancher Dummkopf
-wird Professor; manch kluger Kopf muß sich
-eine Kugel in den Kopf schießen. So ist das heutzutage.
-Und so wird es auch noch einige Zeit bleiben.
-Man muß sich schon überlegen, ob man Hoffnungen
-wecken soll, denen von vornherein die Armut schwer
-im Wege liegt ... Da eröffnen sich verschiedenerlei
-wüste Perspektiven.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie
-wäre. Sie sind reich.“
-</p>
-
-<p>
-Alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht
-<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
-den Mut dazu.“ Und schwankend zwischen Abweisung
-und Güte: „Du gehst jetzt nachhause, verstehst du,
-nachhause, und hältst alles aus. Verschwinde!“
-</p>
-
-<p>
-Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die
-Weltgeschichte zurück. Und einen Tag später stand
-die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der Mitschüler.
-</p>
-
-<p>
-Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch
-Vorrücken ausgefüllt worden.
-</p>
-
-<p>
-„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“
-Karl Lenz machte das Backsteintragen vor, krümmte
-den Rücken, ächzte.
-</p>
-
-<p>
-„Und so las er Roßballen auf.“ Adolf Sinsheimer,
-Sohn eines reichen Knopffabrikanten, tat, als habe
-er einen Besen in der Hand, und log: „Ich sah, wie
-Seidel die Straße kehrte ... Die frischen Roßballen
-kehrte er zusammen.“
-</p>
-
-<p>
-Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem
-Gelächter, stimmte ein, ohne zu wissen, weshalb die
-andern lachten.
-</p>
-
-<p>
-„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßballen eine
-Weltgeschichte?“ Alle sahen Jürgen erwartungsvoll
-an, hielten das Lachen noch zurück.
-</p>
-
-<p>
-Da erlachte Jürgen sich die Achtung seiner Mitschüler:
-„Zum Roßballensammeln braucht man, weiß
-Gott, keine Weltgeschichte.“
-</p>
-
-<p>
-Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte
-noch: „Zuhause bei ihm ...“ Er hielt sich die Nase
-zu. „Und jetzt dazu noch Roßballen!“ Alle hielten
-sich die Nase zu.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühle,
-nicht mehr allein zu stehen. Und Jürgen nahm
-sich vor, von nun an immer und in allem so zu sein,
-wie die andern. Das würde das Leben leicht machen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
-Am nächsten Morgen saß Leo Seidel wieder an
-seinem Platze, in einem neuen Anzug, das Gesicht
-verschlossen.
-</p>
-
-<p>
-‚Warum, warum habe ich das getan!‘ Jürgens
-Körper bewegte sich selbsttätig nachhause, ins Wohnzimmer.
-</p>
-
-<p>
-„Erst lies mir aus der Zeitung vor! Dann gehst
-du an deine Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter
-am Stramintischläufer ‚An Gottes Segen ist alles gelegen‘.
-Mit dem Schnabel hielt diese von Rosengirlanden
-durchzogene Wortkette ein Papagei, der
-noch unfertig in der Mitte saß.
-</p>
-
-<p>
-Der Satz – im Reichstag sei wieder ein Antrag
-zur Einführung einer hohen Vermögenssteuer gestellt
-worden – kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich
-allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi
-gesprochen. Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen.
-Ich! Ich habe das veranlaßt. Hilfe! Ich!‘
-</p>
-
-<p>
-‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat
-zu mir gehalten. Der hat Mut. Hat mich gerettet.
-Ihr habt mich verraten.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Und ich? ... Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante
-irr an. „Wie schrecklich!“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist ja einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter!
-Zuerst die Todesanzeigen!“
-</p>
-
-<p>
-„Man muß gut sein ... So lange gut sein, bis man
-etwas Schlechtes gar nicht mehr zu tun vermag.“
-</p>
-
-<p>
-„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem
-Papagei einen grünen Faden durch das Auge. „Alle
-Todesanzeigen!“
-</p>
-
-<p>
-„Gott, dem Allmächtigen, hat es gefallen ...“
-‚Weshalb hat Herr Philippi mir nicht gesagt, daß er
-Seidel helfen werde. Dann wäre ich vielleicht nicht
-<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
-so furchtbar gemein gewesen ... Jetzt ist alles verloren.‘
-</p>
-
-<p>
-Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen
-gerufen worden war.
-</p>
-
-<p>
-Er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht
-mit den Worten: „Gott, dem Allmächtigen, hat
-es gefallen ...“, blickte die Nadel an, die im Papageienauge
-steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing,
-umklammerte in Gedanken mit beiden Händen
-ein Messer und drückte es langsam in seine Brust.
-</p>
-
-<p>
-Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte
-schon nach einigen Wochen Leo Seidel weichen, der
-sich bald zum Primus in die Höhe arbeitete und, da
-er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der
-ganzen Klasse gefürchtet wurde. Wer sein eigentlicher
-Retter war, erfuhr Seidel nie. Auch dann nicht,
-als er sich eines Tages mit der ganzen Klasse gegen
-Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach,
-die er bei sich zuhause absolut nicht finden könne.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen flüchtete aus dem immer schwerer werdenden
-Drucke der Einsamkeit wiederholt zu seinen Mitschülern
-und, vor Ekel, sich angebiedert zu haben,
-immer wieder zu sich selbst zurück und wieder zu den
-Mitschülern. Schloß sich endlich enger dem Sohne
-des Knopffabrikanten an, zu dem ihn anfangs der gemeinsame
-Haß gegen die Mathematikstunde hingezogen
-hatte und später seine immer stärker werdende
-Bewunderung von Adolf Sinsheimers Fähigkeit, außerhalb
-der Schule wie ein Erwachsener ohne Schwierigkeit
-mit dem Leben fertig zu werden.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn du eine Geliebte hast, ist das noch gar nichts;
-wenn du aber eine Geliebte hast und zu ihr sagen kannst:
-Heute nacht, meine Liebe, bin ich verhindert, tut
-<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
-mir leid, der Klub geht denn doch vor – dann erst
-bist du ein Mann, gewissermaßen. Bedauerlicherweise
-jedoch wird man in den Klub junger Kaufleute erst
-nach dem Abiturientenexamen aufgenommen. Ich
-werde dir das Klubhaus zeigen. Livrierte Diener
-natürlich!“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn man aber gar nicht Kaufmann wird?“
-</p>
-
-<p>
-„Dann ist man ein Esel, heutzutage ... Sag mal,
-aber ehrlich, wie oft warst du schon krank?“
-</p>
-
-<p>
-„Dreimal: Scharlach, Masern und Halsentzündung.“
-</p>
-
-<p>
-„Du bist ein Säugling, gewissermaßen. Die elegante
-Männerkrankheit, wie oft du die gehabt hast!“
-</p>
-
-<p>
-„Vielleicht habe ich sie schon sehr oft gehabt; ich
-weiß nur nicht, was du meinst.“
-</p>
-
-<p>
-Sie waren vor dem Klubhause angelangt. Klaviergepauke
-und Refraingesang klangen durch das beleuchtete,
-offene Fenster herunter. Adolf sang gleich mit:
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">„Es haben zwei ne ganze Nacht</p>
- <p class="verse">Zusammen in einem Bett verbracht.</p>
- <p class="verse">Was ham se wohl gemacht?“</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Das vereinzelte, noch unterdrückte Lachen, das
-plötzlich zum Sturm anwuchs, galt dem Vortragenden,
-der auf dem Podium stand und wortlos demonstrierte,
-was die beiden gemacht haben.
-</p>
-
-<p>
-„Es geht doch nichts über lustige junge Leute“,
-sagte zu seiner verschwitzten, verstaubten Frau ein
-ziegenbärtiger, mit Waldlaub geschmückter Sonntagsausflügler
-und schob den Kinderwagen weiter.
-</p>
-
-<p>
-Oben sang der junge Kaufmann mit speckiger
-Stimme. Das Klaviergepauke trug den Refrain herunter:
-„Was ham se wohl gemacht?“
-</p>
-
-<p>
-„Kalte Umschläge, meinst du, was, gegen die Halsentzündung?“
-</p>
-
-<div class="poem-container">
-<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">„Bei Nacht und auch bei Licht ...“</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Mitten in das stürmische Gelächter hinein fragte
-Jürgen zögernd: „Drückt dich auch alles so? Ich
-meine, deinetwegen und auch wegen der andern. Das
-ganze Leben, so wie es ist?“
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">„Gebetet, gebetet ham se nicht!“</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-„Unsinn! Ich bitte dich, was soll denn drücken!
-Der Kragen, der Schuh drückt.“ Er streckte den Fuß
-vor: „Wirklich, beinahe jeder angemessene Schuh
-drückt. Aber elegant, was? Übrigens, ich spitze
-einmal hinauf. Warte du hier.“
-</p>
-
-<p>
-Da drehte Jürgen sich elefantenhaft langsam und
-ging davon, bis zu der Ansammlung waldlaubbehangener
-Sonntagsausflügler, Kleinbürgerfamilien,
-Ladenmädchen mit ihren Freunden, die, verstaubt,
-verschwitzt und grün, stillgeworden unter der zischenden
-Bogenlampe standen und den Anblick eines
-Mannes auf sich wirken ließen.
-</p>
-
-<p>
-Der lag, Augen geschlossen, schwer atmend, Schaum
-auf den Lippen, langgestreckt im Staub, vor einem Bankhause,
-auf dessen Schaufenster erhabene Goldbuchstaben
-verkündeten: Kapital und Goldreserven 500 Millionen.
-</p>
-
-<p>
-Der Kleinbürger mit dem Ziegenbart sagte energisch:
-„Epileptischer Anfall! Man muß die Daumen herausziehen.
-Dann vergeht der Anfall.“
-</p>
-
-<p>
-Sofort streifte der Mann mit einem blitzschnellen
-Blick die über ihn gebeugten Gesichter und richtete
-sich, von zehn Armen unterstützt, sitzlings auf, ließ
-den Kopf hängen: „Das macht alles nur das Elend.
-Ich wollte mit der Straßenbahn fahren, hatte aber das
-Nötige nicht ... Alles nur das Elend!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen wurde von Ekel gepackt. Er simuliert,
-dachte er und stieß brutal durch den Kreis.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
-Ein Erlebnis aus seiner frühen Jugend stieg auf.
-Auch damals lag auf dem Pflaster ein Mann: jung,
-mit eleganter, blutiger Wäsche, strenggebügelten,
-großkarierten Hosen, Brillantringe an den Fingern
-und Schaum auf den Lippen. Die seidene Weste ist
-aufgerissen, die Brust freigelegt.
-</p>
-
-<p>
-‚Bei dem war der Schaum blutrot. Die offenen
-Augen starrten gläsern. Das war echt und entsetzlich;
-der vorhin hat simuliert ... Aber wie furchtbar muß
-es ihm gegangen sein, bis er sich entschloß, so schamlos
-Theater zu spielen, sich dermaßen zu demütigen vor
-den vielen Menschen ... Es wird ja vollkommen
-gleichgültig, ob seine Krankheit echt oder nur simuliert
-war; im Gegenteil, es ist unendlich viel grauenvoller,
-daß er nur simulierte. Denn wie muß es ihm gegangen
-sein.‘
-</p>
-
-<p>
-Bestürzt über seine Gedankenlosigkeit, rannte er
-zurück. Der Platz war leer, die Bogenlampe zischte
-nicht mehr, leuchtete ruhig und weiß. Jürgen lief umher,
-suchte vergebens, stand wieder vor dem Bankhause
-und sah die erhabenen Buchstaben an. Deutlich
-sah er den Bettler liegen.
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">„Beim Sang der Nachtigallen</p>
- <p class="verse">Ist Urselchen gefallen.</p>
- <p class="verse">Wohl über große Steine?“</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-schallte der Gesang vom Klubzimmer herunter.
-</p>
-
-<p>
-„Nein über, nein unter Karlchens Beine!“
-</p>
-
-<p>
-„Und daran geht man vorüber, hinauf in den Klub,
-und singt so ein Lied. Wie furchtbar! ... Nun, und
-jetzt?“ fragte Jürgen, ging weiter. „Ist wieder etwas
-dazu gekommen, zu allem andern? ... Man muß unausgesetzt
-wach sein, bis man zu etwas Schlechtem
-gar nicht mehr fähig ist.“ Das war ein Gelübde.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
-Da hatte er einen Gedanken, der ihn so erleichterte,
-daß er, obwohl es Sonntag und zehn Uhr abends war,
-die Hausglocke des Lackierermeisters zog.
-</p>
-
-<p>
-„... Gewiß, Sie haben recht. Es hätte selbstverständlich
-auch bis morgen Zeit gehabt; aber ich ging
-gerade hier vorbei ...“
-</p>
-
-<p>
-„Also, was für eine Tafel soll ich denn schreiben?“
-</p>
-
-<p>
-‚Betteln gestattet‘, geht nicht, dachte Jürgen.
-‚Betteln erwünscht‘, geht auch nicht. „Schreiben Sie
-– auf eine hübsche Tafel: ‚Hier wird Armen gegeben‘.“
-</p>
-
-<p>
-„Und die willst du wirklich aufhängen? Du wirst
-dich wundern, mein Junge.“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, die andern werden sich wundern.“
-</p>
-
-<p>
-„Das wird wahr sein! Nun, also wie denn? ...
-Weiß auf schwarz? Oder schwarz auf weiß? Man
-kann auch etwas Farbiges machen. Oder Goldschrift?“
-</p>
-
-<p>
-„Vielleicht Gold auf schwarz?“
-</p>
-
-<p>
-„Schön. Macht sich gut ... ‚Hier wird Armen gegeben‘,
-nicht wahr? Mein Gott, so einen Unsinn hab’
-ich auch noch nie geschrieben, kannst du mir glauben.“
-</p>
-
-<p>
-Mit Hilfe des Dienstmädchens nagelte Jürgen die
-Tafel am Gartenzaun fest, an der Rückseite des
-Hauses, wo die Tante selten hinkam, und gab dem
-Dienstmädchen Geld. „Wird das für einen Monat
-reichen?“
-</p>
-
-<p>
-Die goldenen Worte ‚Hier wird Armen gegeben‘
-glänzten schön. Darunter hatte Jürgen einen Zettel
-geklebt, auf dem stand ‚Zwischen neun und elf Uhr
-vormittags‘. Das war die Zeit, während der die Tante
-täglich in der Kirche saß.
-</p>
-
-<p>
-In Gliedern und Gelenken unbeherrscht wie ein
-junger Hund, langgeworden und immer in so unruhvoller
-<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
-Eile, daß der vornüberhängende Körper einen
-schlotternden spitzen Winkel zum Boden bildete,
-stolperte Jürgen in die Jünglingstage, in seinen siebzehnten
-Frühling hinein, fragenden Blickes beständig
-und vergebens in sich selbst und bei der Umwelt
-suchend nach der erlösenden Antwort.
-</p>
-
-<p>
-Maiwind und Spiellust wehten gepflegten, langbeinigen
-Mädchen, die im öffentlichen Parke ihren
-Reifen nachjagten, die Röcke bis zum Kinn. Seidenblauer
-Frühlingshimmel war über Tulpen- und Hyazinthenbeete,
-billardglatte Rasenflächen und knospende
-Baumkronen gespannt. Alte Gouvernanten sahen
-rosig aus.
-</p>
-
-<p>
-Unschlüssig, ob er, wie auf dem Wege hierher, ziellos
-weiter eilen oder verweilen solle, blickte Jürgen
-sich um, sog den Blumenduft ein. Wind schüttelte die
-langen, störrischen Zotteln. Einige Male mußte er
-sie aus der Stirn streichen, um die fünfzehnjährige,
-in den Schultern noch eckige Katharina – Tochter
-des Universitätsprofessors Lenz – betrachten zu
-können, die, sichtbar vom Leben schon gezeichnet,
-fremden Blickes die jubelnden Kinder beobachtete, bis
-sie Jürgens unverwandten Blick fühlte. Da sah sie
-erst in den Teich, wo alte Karpfen und armlange
-Goldfische aus den Schlinggewächsen langsam zur
-Wasseroberfläche zogen, langsam wieder in die Tiefe,
-und las dann weiter in dem Buche.
-</p>
-
-<p>
-Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich
-sich selbst. Die Himmelsbläue über ihr
-sprang mit.
-</p>
-
-<p>
-Mit gemachtem Interesse betrachtete Jürgen Bäume,
-Teich, Fontäne und umkreiste dabei in immer kleiner
-werdendem Abstande die Lesende, deren ganzer
-<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
-Körper, obwohl sie reglos saß, sichtbar spröder wurde,
-je näher Jürgen kam.
-</p>
-
-<p>
-Unvermittelt und aus noch fünf Schritt Entfernung:
-„Das sind Karpfen, richtige Karpfen. Man kann sie
-essen.“ Unheimlich dumm, daß ich das sagte, dachte
-er und setzte sich.
-</p>
-
-<p>
-Sie las weiter, das Gesicht interessiert schief gestellt
-zur Buchseite.
-</p>
-
-<p>
-Da traf sein ratlos bittender Blick zusammen mit
-ihrem, in dem frühzeitige Bewußtheit noch mit Mädchenscheu
-zu kämpfen hatte.
-</p>
-
-<p>
-Als ob diese dunkle Last der Bewußtheit, die wie
-das zukünftige Ich in ihrem Blicke stand, losgespalten
-von der lieblichen Kindlichkeit, mit der sie den Rock
-über die Knie hinunterzupfte, in Jürgen das Gefühl
-erschlossen hätte, ihr schicksalsverwandt zu sein, empfand
-er das erstemal in seinem Leben ganz plötzlich
-rückhaltloses Vertrauen. Dies kam mehr in Blick
-und Ton zum Ausdruck, als in seinen Worten.
-</p>
-
-<p>
-Um die beiden herum war die Umwelt. Rede und
-Antwort im Innersten der Umwelt. Frage und Antwort.
-Und eine Frage Katharinas, auf die er antworten
-konnte: „Vielleicht trägt man alles Erlebte
-in sich. Das reißt uns hin und her. Und täglich und
-stündlich kommt Neues hinzu, und alles ist furchtbar.
-Alles! Das ganze Leben, so wie es ist.“
-</p>
-
-<p>
-Und als brächte dies Erleichterung, bat er, sie möge
-mit ihm spazierengehen. Katharina erhob sich sofort.
-Er überragte sie um Kopfeslänge. Sie verschwanden
-in dem streng beschnittenen Laubgang von Korneliuskirschen.
-</p>
-
-<p>
-Er blickte hinunter auf ihren gebräunten, eigenwillig
-gebogenen Nacken und, da sie aufsah, auf ihren
-<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
-kleinen, festen Mund. Erbebend blieben sie stehen
-und wandten erbebend sich ab.
-</p>
-
-<p>
-„Ich weiß schon genug über Sie. Mein Bruder hat
-mir viel von Ihnen erzählt. Auch das von der Weltgeschichte!
-Er ist dumm. Er begreift gar nichts.“
-</p>
-
-<p>
-Das Vertrauen ließ ihn erzählen, daß er die Tafel
-‚Hier wird Armen gegeben‘ an den Gartenzaun angeschlagen
-habe. „Aber das sprach sich so schnell herum,
-daß noch in der selben Woche an einem einzigen
-Vormittag mehr als dreihundert Bettler kamen. Jetzt
-weiß ich natürlich schon, daß all das gar nichts nützt.
-Und wenn meine Tante die Tafel nicht heruntergenommen
-hätte, würde ich selbst es getan haben ...
-Was aber soll man denn tun?“
-</p>
-
-<p>
-Erst nach zwei langen Minuten und als läse sie es
-von ihren Schuhspitzen ab: „Es gibt nur eines: man
-muß sich opfern, muß sich selbst ganz und gar aufopfern.“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist, das ist kolossal, ganz kolossal, was Sie da
-sagen ... Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?“
-</p>
-
-<p>
-Schon eine Weile bekam die Tante, die seit Wochen
-und auch heute ihren täglichen, vom Arzte verschriebenen
-Spaziergang im Öffentlichen Parke gemacht
-hatte, keinen Atem mehr. Endlich stürzte sie zu Bewußtsein
-und auf die Bank zurück, auf der sie saß,
-und raffte ihren Häkelbeutel zusammen, schoß nach
-in den Laubgang, packte den sie überragenden Jürgen
-bei der Hand und führte ihn entschlossen und wortlos
-weg von Katharina.
-</p>
-
-<p>
-In durchwachten, verzweiflungsvollen Nächten kam
-Jürgen zu dem Schlusse, erst nachdem er für immer
-aus dem Hause gelaufen sei, könne er Katharina
-wieder vor die Augen treten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
-Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden
-drohte, mußte der Hausarzt die Behandlung dem
-Spezialisten überlassen. Erst nach Wochen war des
-Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung,
-daß er eines Morgens, beim Erwachen, sich allen Eindrücken
-weich darbieten konnte.
-</p>
-
-<p>
-Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden
-Medizinflaschen zur Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch
-auf, in das sie des toten Vaters ‚Letztwillige Verfügungen
-über Jürgen‘ geschrieben hatte, und begann
-das viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen.
-</p>
-
-<p>
-Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten
-hinein.
-</p>
-
-<p>
-„... Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen
-ab, den letzten Sproß der alteingesessenen
-Patrizierfamilie Kolbenreiher, deren Geschichte bis in
-den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts zurückverfolgt
-werden kann, nach dem Willen seines unvergessenen
-Vaters zu erziehen und ihn Beamter werden
-zu lassen, da er die Fähigkeit zu etwas Größerem
-nach meines seligen Bruders Meinung nicht hat ...
-So ists, Jürgen, siehst du. Nun werde mir bald wieder
-gesund ... Wenn du auch nicht so bist, wie du sein
-könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich
-an, streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken:
-„Du hast ja wieder Fieber.“
-</p>
-
-<p>
-Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte
-lachte.
-</p>
-
-<p>
-Die Ärzte wurden geholt, Eisbeutel aufgelegt. Der
-Rückfall war kurz und heftig.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling,
-dessen früherer Wille, sich durch die Wirrnisse der
-<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
-Jugend durchzuschlagen, unterbunden war. Die Tante
-äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur, wenn sie
-ihn fragte, antwortete er, ganz nach Wunsch ‚Ja‘ oder
-‚Nein‘. Niemals ‚Nein‘, wenn ein ‚Ja‘ erwartet wurde.
-</p>
-
-<p>
-Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen,
-selbst viel jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs
-er gleichsam über sich selbst hinaus, wurde lang und
-sehr stark. Das Lernen für das bevorstehende Examen
-verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh,
-stundenlang flußaufwärts.
-</p>
-
-<p>
-Die eisbrechenden Fischer schimpften ihm wütend
-nach, da hier das Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich
-war, der vielen großen, quadratischen
-Wasserlöcher wegen.
-</p>
-
-<p>
-In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung,
-durch große Schnelligkeit seine seelische
-Gebundenheit lösen zu können, sauste Jürgen an den
-unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern
-vorbei, bis die Nacht ihn überraschte.
-</p>
-
-<p>
-Schnurgerade führte die Landstraße stadtwärts; der
-Fluß dagegen zog einen mächtigen Bogen, so daß
-Jürgen zu Fuß schneller nachhause gekommen wäre,
-als auf dem Eise.
-</p>
-
-<p>
-Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre
-Messer in die Hand gegeben und ihn vor das Tunnelloch
-getrieben hatte, veranlaßte ihn auch jetzt, blind
-in die Gefahr hineinzurennen.
-</p>
-
-<p>
-Die Fischer waren schon lange heimgegangen.
-Jürgen stand dunkel in der unwirklichen Helligkeit,
-die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm entfernt
-war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise.
-Tierische Laute stieß Jürgen aus, während er als
-schwarzer rechter Winkel stadtwärts sauste.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
-War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten,
-dann klang sein wilder Schrei der Genugtuung in die
-Einsamkeit.
-</p>
-
-<p>
-Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher,
-links und rechts von ihm, manchmal unerwartet dicht
-vor ihm.
-</p>
-
-<p>
-Angespannt und stumm geworden, zog er seine
-Bogen um den Tod herum.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="II">
-II
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-Ungeduldig hörten die Abiturienten dem Rektor
-zu, der die lange Entlassungsrede hielt. Endlich stieg
-sein Brustkorb hoch, der Zeigefinger deutete zum
-Fenster. Sofort fühlten alle, daß jetzt die Schlußworte
-kamen.
-</p>
-
-<p>
-Sie sollten denn hinaustreten ins ernste Leben,
-tüchtige, brave Männer werden. Der Zeigefinger
-deutete noch zum Fenster hinaus. Es war vollkommen
-still geworden. „Geachtete Männer!“ Da sanken
-Finger und Brustkorb. Und die Entlassenen brachen
-los von den Bänken.
-</p>
-
-<p>
-Der Lärm entfernte sich rollend, wurde immer
-dünner, drang noch einmal, wieder stärker geworden,
-von der Straße aus mit der Sonne durch das Fenster
-zu den leeren Bänken herein. Und verebbte schnell.
-</p>
-
-<p>
-In die Stille des leeren Schulsaales klang eine
-Stimme, die aus dem Gitter der Dampfheizung zu
-kommen schien: „Ich möchte mich noch bedanken
-für alles, was die Herren Professoren in den Jahren
-meiner Schulzeit Gutes an mir getan haben.“ Ah,
-<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
-ihr niederträchtigen Schufte, setzte Leo Seidel in Gedanken
-hinzu und trat weg von der Dampfheizung,
-schob seine Schulter unter die ausgestreckte Hand
-des Rektors: „Wenn der Herr Rektor jetzt auch noch
-die große Güte haben wollten, mir den weitern Lebensweg
-zu ebnen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Nicht jeder Deutsche kann die Universität besuchen.
-Das ist doch einleuchtend.“
-</p>
-
-<p>
-‚Denn woher sollten sonst die Briefträger und Hausdiener
-genommen werden.‘
-</p>
-
-<p>
-„Aber die Schreiberstelle beim Stadtmagistrat bekommen
-Sie. Ich habe schon gesprochen ... Machen
-Sie mir Ehre. Werden auch Sie ein geachteter Mann.“
-</p>
-
-<p>
-Die Professoren ließen dem Rektor den Vortritt,
-verbeugten sich in höflicher Erregung immer weiter
-von der offenen Tür weg.
-</p>
-
-<p>
-Adolf Sinsheimers Gesicht, das aus einem Rahmen
-oval heraussprang, denn er trug seit Jahren ein
-schwarzes Seidenband straff über die wegstehenden
-Ohren gespannt, damit sie sich mit der Zeit anlegen
-sollten, war während der Prüfung so aufgedunsen,
-daß er das Band abnehmen mußte. Sofort wurden
-beide Ohren lebendig, schnellten nach vorne. „Jetzt,
-mein Lieber, geht das Leben an. Weißt du, was das
-bedeutet: das Leben? Ich bin grandios glücklich.
-Morgen kaufe ich mir einen steifen Hut und trete
-dem Klub junger Kaufleute bei ... Man ist ganz
-unter sich im Klub. Keine Weiber!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen setzt nach einem hartnäckigen Kampfe mit der
-Tante durch, daß er nicht Staatsbeamter werden muß,
-sondern Philosophie studieren darf, schreibt eine Abhandlung,
-die ungeheueres Aufsehen macht, und wird daraufhin
-zum Bürgermeister gewählt. „... Das ist Glück!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
-„Du kannst dich darauf verlassen, daß das Glück
-ist.“ Während Adolf Sinsheimer von den Anzügen
-sprach, die er sich machen lassen werde, wurde
-Jürgen Besitzer einer Fabrik, in der zwanzigtausend
-Arbeiter beschäftigt sind, und bestimmt mit einem
-Federzuge, daß alle zwanzigtausend Arbeiter, alle
-Beamten und er selbst von jetzt an ganz gleichmäßig
-am Gewinn beteiligt werden.
-</p>
-
-<p>
-Der alte Buchhalter sagt bestürzt: ‚Aber ich bitte
-Sie, Herr Direktor ...‘
-</p>
-
-<p>
-‚Genug! Ich will das so. Das ist nur gerecht.‘ Und
-Jürgen schickt den alten Buchhalter freundlich, aber
-entschlossen fort.
-</p>
-
-<p>
-„Zuhause werde ich meinem Alten ganz kalt erklären:
-Du, unter uns gesagt, ohne Lackschuhe und
-Frack bringst du mich nicht auf den Abiturientenball
-... Hör mal, Jürgen – aber Diskretion bitte –,
-ich sage dir, daß ich mich auf dem Ball nicht mit
-unseren Tanzstundengänschen abgeben werde. Kann
-mir nicht passieren!“
-</p>
-
-<p>
-‚Und wenn einem von euch in meiner Fabrik – das
-heißt, in unserer Fabrik – etwas zustößt, dann bekommt
-er eine Rente sein Lebenlang.‘
-</p>
-
-<p>
-„Ich halte mich glatt an die Schönheiten, die tadellos
-tanzen können. Oder hast du etwas gegen einen
-Busen einzuwenden? Ich nicht.“
-</p>
-
-<p>
-Als Adolf sich verabschiedet hatte – „Ich werde
-Gelegenheit nehmen, dir heute nachmittag meinen
-Besuch abzustatten“ –, dachte Jürgen darüber nach,
-weshalb er vor einigen Tagen zum ersten Male in
-seinem Leben ernstlich über das Dasein und die Not
-der andern nachgedacht hatte. ‚Weshalb nicht schon
-Jahre vorher? Weshalb gerade an dem Abend, als
-<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
-ich nach dem Essen im Garten stand und im Nachbarhause
-die zornige Männerstimme und gleichzeitig vereinzelte
-Töne einer Ziehharmonika hörte?‘
-</p>
-
-<p>
-Bisher habe er doch immer nur, und auch dann
-nur veranlaßt durch ein qualvolles persönliches Erlebnis,
-über sich selbst und seine eigene Not nachgedacht;
-und in jener Minute, ohne jeden äußeren Anlaß
-und unerforschlicherweise plötzlich darüber, warum
-Phinchen, dieses gutmütige und nicht dumme Dienstmädchen,
-ihr Lebenlang in der Küche stehen, Stiegen,
-Schuhe und Fenster putzen, Schlafzimmer aufräumen
-müsse, häßlich gekleidet und ungebildet sei, zum Beispiel
-nie lese, gute Bücher gar nicht verstehe, während
-die Tante und er die sorgfältig zubereiteten Speisen
-verzehren, die von Phinchen sorgfältig geplättete
-Wäsche tragen und Shakespeare oder Goethe lesen
-könnten, wenn sie wollten; warum die siebzehnhundert
-Arbeiter von ihrem vierzehnten Jahre an bis zum Tode
-täglich von früh bis abends in der Papierfabrik des
-Herrn Hommes arbeiten müßten, während ungezählte
-tausende junger Männer und Mädchen, die wenig oder
-nichts arbeiteten, hübsch gekleidet und gepflegt täglich
-spazierengehen konnten; warum die Arbeiter so
-schwere, täglich und stündlich zu erfüllende Pflichten
-hatten – und die Wohlhabenden zum Teil recht angenehme
-oder gar keine; warum es überhaupt Reiche
-und Arme gab, und warum der arm und der reich
-war; warum die Armen tun mußten, was die Reichen
-wollten; ob all das ein Naturgesetz oder menschliche
-Willkür war.
-</p>
-
-<p>
-Seit jener rätselhaften Sekunde hing er in einem
-Gedankennetz und suchte vergebens den Mittelpunkt,
-von dem aus die Grundursache der Gemeinheit des
-<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
-ganzen Lebens, die ihn bedrückte, verstanden werden
-könnte.
-</p>
-
-<p>
-Die Tante empfing ihn freudig mit den Worten:
-„Alles liegt hübsch klar und geordnet vor dir ...
-Du wirst Staatsbeamter. Amtsrichter in einem
-hübschen, kleinen Städtchen. Das ist dein Lebensweg.
-Ich bin so glücklich.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgens Kopf nickte. ‚Du taugst zu nichts anderem.‘
-Wut wollte herausbrechen. Und wurde zu einem
-schiefen, gefährlichen Lächeln, während die Tante
-sich feierlich erhob, das Tischgebet zu sprechen.
-</p>
-
-<p>
-„Ich werde nicht Amtsrichter. Ich will keine Urteile
-fällen über andere.“
-</p>
-
-<p>
-Das Dienstmädchen war halbwegs in der Stube
-stehengeblieben, die Hände gefaltet.
-</p>
-
-<p>
-„Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen
-Geistes ... Bringen Sie diesmal auch eine Flasche
-Wein, Phinchen.“
-</p>
-
-<p>
-Das besonders feine Damasttischtuch, das selten
-benutzte schwere Familienbesteck, die Feierlichkeit
-der Tante und Jürgens Bemerkung machten, daß das
-Mahl steif und schweigsam verlief.
-</p>
-
-<p>
-„Und wenn du nachher Amtsrichter bist“, begann
-bei der Süßspeise die Tante in gütigem Tonfall, als
-ob sie Jürgens Weigerung gar nicht vernommen hätte,
-„wirst du erst so recht einsehen, daß eben gerade
-die strenge Pflichterfüllung dir die Achtung deiner
-Mitmenschen einbringt. Du wirst ein geachteter Mann
-sein. Und das ist die Hauptsache: Ein Mann, der sein
-sicheres Auskommen hat! – Auch wenn ich einmal
-nicht mehr da sein werde. Die Pflicht vor allem!“
-</p>
-
-<p>
-Phinchen brachte hervor, das gnädige Fräulein
-sterbe gewiß noch lange nicht. Die Tante deutete mit
-<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
-dem Zeigefinger auf ihre Brosche: „Meine Brust harmoniert
-nicht.“ Und Jürgen fragte: „Aber was ist
-Pflicht?“
-</p>
-
-<p>
-„Das weiß doch jeder Mensch. Jeder Mensch muß
-seine Pflicht tun ... Bringen Sie noch etwas Kompott
-... Du willst nicht Amtsrichter werden? Ich
-sage: du mußt es werden. Du willst keine Urteile
-fällen? Du mußt Urteile fällen. Denn dein Vater hat
-dich zum Amtsrichter bestimmt. Ich sage nochmals:
-Die Pflicht vor allem!“
-</p>
-
-<p>
-„Erfüllt der Papierfabrikant Hommes seine Pflicht
-dadurch, daß er seine täglich in der Equipage spazierenfahrende
-Gattin zu Pferde begleitet? Wer bestimmt,
-daß es die Pflicht der siebzehnhundert Arbeiter
-ist, in die Hommessche Fabrik zu gehen? Und
-wer sagt mir, ob es meine Pflicht ist, Amtsrichter zu
-werden und Urteile zu fällen über andere ...“
-</p>
-
-<p>
-„Dein seliger Vater und ich!“
-</p>
-
-<p>
-„... oder in der Fabrik zu arbeiten, oder täglich
-auszureiten und andere für mich arbeiten zu lassen?“
-</p>
-
-<p>
-„Das sind Dummheiten.“ Die Tante faltete ihre
-Serviette genau zusammen. „Räumen Sie ab!“ Und
-stieg voran in Jürgens Zimmerchen.
-</p>
-
-<p>
-Er mußte sich auf das Kanapee setzen, über dem,
-in ovalen Rahmen, symmetrisch zu einem großen
-Oval geordnet, die vergilbten Photographien der
-Familie Kolbenreiher hingen. In der Mitte ein Jugendbildnis
-des Vaters. Die Tante rückte das schon genau
-in der Tischmitte stehende Resedasträußchen, das sie
-zur Feier des Tages im Garten geschnitten hatte, in
-die Tischmitte, zupfte ihr Geschenk, das Papageiüberhandtuch,
-zurecht. „Du wirst also in eine vornehme
-Verbindung eintreten. Du trägst eine Mütze,
-<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
-eine grüne oder eine schöne blaue, lernst Schießen und
-Fechten, natürlich nicht zu echt, eben nur, um deinen
-Mut zu stählen und weil das dazugehört ... Jetzt
-nimm diesen Leuchter! Den Partner dazu bekommst
-du, wenn ich einmal unter der Erde liege. Das wird
-bald sein, und nachher kriegst du alles.“
-</p>
-
-<p>
-Dann schilderte sie fließend, als lese sie wieder aus
-ihrem Haushaltungsbuch vor, wie Jürgens ganzes
-Leben sich gestalten werde: – daß er in soundso viel
-Jahren diesen und diesen, später einen noch höheren
-und zuletzt den Beamtengrad eines Amtsrichters erreichen
-werde, mit soundso viel Gehalt, gelangte zu
-dem Lebensalter, in dem er einen Orden bekommen
-würde, und ging über zur Pensionierung. „So will
-es dein Vater. Wenn du deine Pflicht erfüllst, wirst
-du als ein Mann begraben, von dem deine Kollegen
-sagen werden: er soll uns ein schönes Vorbild sein
-und bleiben ... Mehr kann man vom Leben nicht
-verlangen, Jürgen. Mein Großvater sagte einmal
-zu mir: Man kann die Achtung, die ein Mensch im
-Leben genoß, an der Länge seines Leichenzuges
-messen.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen schoß über das Lebensziel, ein pensionierter
-Amtsrichter zu werden, weit hinaus, stieg in wenigen
-Sekunden zu einer weltberühmten Leuchte der Wissenschaft
-empor, nahm eine Brust voll höchster Orden,
-die er nicht einmal beachtete, entgegen, wurde nebenbei
-Bürgermeister, ließ sich in den Reichstag wählen
-und übernahm das Ministerpräsidium. Alle Bürger
-grüßten ihn tief. Dann sah er sich voller Freude
-seinen kolossalen Leichenzug an.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, Jürgen, so ist es: seine Pflicht tun und ein
-geachteter Mann sein ...“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
-Unversehens, wie die Uhr aufhört zu ticken, starb
-in Jürgen die Begeisterung. Das grandiose Zukunftsgebäude
-krachte lautlos zusammen.
-</p>
-
-<p>
-„Das erste gibst du dem Leben und bekommst dafür
-vom Leben das andere ... Und unsern Garten und
-mich hast du ja auch noch“, sagte die Tante und ging.
-Adolf Sinsheimer war eingetreten.
-</p>
-
-<p>
-Er lag im Großvaterstuhl wie der Lord im Klubsessel.
-„Mein Alter hat sich mir erklärt. Wir haben
-uns geeinigt über die Zukunft, die ich ergreife.“
-</p>
-
-<p>
-‚Daß gerade diejenigen, denen ich am allermeisten
-mißtraue, weil sie mich am allermeisten gequält haben,
-von mir fordern, ein geachteter Mann zu werden, sollte
-mir eine Warnung sein, ein solcher zu werden. Vielleicht
-ist man ganz und gar verloren, wenn man ein geachteter
-Mann geworden ist.‘ „Welche ergreifst du denn?“
-</p>
-
-<p>
-„Industrie, mein Lieber, Industrie! Nur der enorme
-Aufstieg unserer Industrie hat Deutschlands Weltgeltung
-begründet ... Mein Vater ist übrigens genau
-derselben Meinung. Ich werde dir nachher beim Spaziergang
-die Chose zeigen, in die ich eintrete ... Übrigens,
-rauchst du? Dieses Etui habe ich mir heute zugelegt.
-Du rauchst nicht? Aber das ist ja toll ... Herein!“
-rief Adolf schnarrend.
-</p>
-
-<p>
-Phinchen blieb, verlegen lächelnd, im Türrahmen
-stehen. Die Kaffeekanne dampfte. Ächzend schlug
-er das Bein über. „Aber ich bitte, treten Sie doch
-näher ... Trinkst du denn dieses Weibergesüff?“
-</p>
-
-<p>
-„Die ist verliebt, kannst dich darauf verlassen“,
-sagte er, als Phinchen gegangen war. Und auf der
-Treppe: „Ein Mädchen, das immer gleich lacht, ist
-verliebt ... Unser Prokurist ist übrigens genau der
-selben Meinung.“ Sie gingen die Straße hinunter.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
-„Und in wen wäre sie denn verliebt?“ Jürgen sah
-steif geradeaus.
-</p>
-
-<p>
-„In uns natürlich! In einen Mann, gewissermaßen.“
-Er schnallte das Ohrenband ab. „Dies hier ... weg
-damit!“ Und schleuderte es auf den Asphalt. Die
-Ohren erholten sich. „Es fällt einem verteufelt leicht,
-bei einem so jungen Ding Eindruck zu schinden“,
-sagte er noch und griff an seinen rosaseidenen Schlips.
-Da rückte auch Jürgen sein fingerschmales Schülerkravättchen
-zurecht.
-</p>
-
-<p>
-„So, dort ists.“ Adolf deutete über den Platz auf
-das mächtige Eckhaus.
-</p>
-
-<p>
-„Knöpfe“ stand in meterhohen Buchstaben weithin
-sichtbar zwischen allen vier Stockwerken. Und auf
-dem Firmenschild: Simon Eberlein, Größtes Knopfexporthaus
-Europas, Alle Sorten Knöpfe.
-</p>
-
-<p>
-„Hier trete ich als Volontär ein. Nun? ... Halt,
-erst von hier aus ansehen! Ein ungeheuerer Betrieb,
-mußt du wissen! Handelsbeziehungen überall hin! ...
-Amerika! Jetzt komm!“
-</p>
-
-<p>
-Am Arm führte er Jürgen über den Platz, bis vor
-den elektrischen Aufzug, der an der Außenseite des
-Gebäudes angebracht war, und las vor: „3000 kg und
-Führer. Verstehst du, damit können 3000 kg Knöpfe
-befördert werden ... Stelle dir das vor!“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist allerdings kolossal“, sagte Jürgen träumerisch.
-</p>
-
-<p>
-„Na, einfach grandios!“ Vorsichtig zog er ihn zu
-den Parterrefenstern, die bis zur Hälfte mit grasgrünen
-Schutzgitterchen beschlagen waren.
-</p>
-
-<p>
-In gleichartig eingerichteten Bureaus arbeiteten
-junge Schreiber. An Tafeln, die siebenmal den Arbeitssaal
-durchquerten, etikettierten flinke Mädchenhände
-<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
-Knöpfe auf Akkord. Knopfmustertafeln bedeckten
-alle Wände. Die Schiebetür in der Rückwand war
-offen. Dahinter befand sich ein ebensolcher Saal, und
-durch ihn durch sahen Jürgen und Adolf in einen
-dritten Arbeitssaal hinein, in dem, durch die Perspektive
-verkleinert, die Menschen sich wie Insekten bewegten.
-</p>
-
-<p>
-Ein Schreiber sauste durch die Seitentür herein in
-den ersten Saal, pfeilschnell durch und hinaus. Unterm
-Hoftor stand der Lagerist, einen Pack Frachtbriefe in
-den Händen, und rief monoton Zeichen und Nummern.
-Der Arbeiter wiederholte singend, und die Fuhrleute
-karrten die aufgerufenen Knopfkisten zum bereitstehenden
-Lastwagen.
-</p>
-
-<p>
-„Riskieren wirs und gehen ins Café? Ich habe
-Geld.“
-</p>
-
-<p>
-„Übrigens, andernfalls hätte ich dir auch aushelfen
-können. Ich stehe dir zur Verfügung. Genügt dir
-das?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe ja.“
-</p>
-
-<p>
-Adolfs Stirn bekam Falten. „Aber ich bitte dich,
-unter Freunden! Ich bin gerade bei Kasse.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen öffnete seinen Beutel. „Da, sieh selbst!
-Habe ja genug.“
-</p>
-
-<p>
-„Jürgen, du bist geradezu beleidigend. Nimm diese
-Summe ... Ich könnte sonst unter keinen Umständen
-den Verkehr länger mit dir aufrecht erhalten.“ Adolfs
-Hände und Schultern bekräftigten: „Wir sind doch
-heute nachgerade keine Gymnasiasten mehr, gewissermaßen.“
-Er öffnete die Tür. „Bitte, nach dir!“
-</p>
-
-<p>
-Am Stammtisch qualmten Skatspieler, die alle
-Glatzen hatten; eine spanische Wand sonderte ein
-Kaffeekränzchen – neun, mit farbigen Kapotthüten
-<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
-geschmückte, papageienhafte Damen – ab von den
-stillen Zeitungslesern. Der Ober bediente geschäftsfreudig
-und schwungvoll, stand manchmal reglos
-auf seinem erhöhten Beobachtungsposten neben dem
-Büfett, wachsam das Lokal im Blick. Ein Fenstertisch,
-mit der Aussicht auf das Knopfexporthaus, war
-frei.
-</p>
-
-<p>
-Der Pikkolo stand, ein Bein elegant übergeschlagen,
-reglos in genau der selben Haltung wie der Ober, und
-wand sich auf dessen Augenwink hin schwungvoll und
-geschäftsfreudig um die Tischecken herum zu den
-Freunden; er war erst seit zehn Tagen Pikkolo.
-</p>
-
-<p>
-„Was befehlen die Herren?“ Die schwiegen. Und
-der Pikkolo rasselte heraus: „Bier, Wein, Kaffee,
-Tee, Schokolade ... Eis, Punsch, Glühwein, Limonade.“
-Achtungsvoll betrachtete er die Schweißtropfen,
-die auf den Stirnen der Freunde hervortraten.
-Und fühlte seine Überlegenheit im selben Maße wachsen,
-wie die Ratlosigkeit der beiden zunahm, wiederholte
-singend sein Gedicht.
-</p>
-
-<p>
-Adolf bestellte zwei Glas Glühwein und zwei Glas
-Grenadine und sagte, nachdem der Pikkolo an das
-Büfett gestürzt war: „Ich habe Glühwein und Grenadine
-für uns bewerkstelligt. Du gestattest doch!“
-</p>
-
-<p>
-Der Pikkolo ließ unterwegs das Tablett, wie von einer
-Meereswelle mitgeführt, aus der Tiefe weich in die
-Höhe steigen, wieder abwärts schwimmen und knirschend
-auf die Marmorplatte auflaufen, ohne einen
-Tropfen zu verschütten.
-</p>
-
-<p>
-„Die Grenadine schmeckt wie der Buchdeckel der
-Biblischen Geschichte, weißt du, wenn man daran geleckt
-hat“, sagte Jürgen und verzog das Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Als die Freunde sich am dampfenden Glühwein
-<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
-die Zungen verbrannt und im Bad des heißen Sonnenscheins
-die Zigarillos angezündet hatten, erlangte
-Adolf die Fassung wieder, lehnte sich zurück, sah
-zum Knopfgebäude hinüber. „Du hattest Gelegenheit,
-die Parterresäle in Augenschein zu nehmen. Der selbe
-Betrieb wickelt sich in allen vier Stockwerken ab.
-Und unterm Dach sowie im Keller befinden sich ebenfalls
-gigantische Knopflager ... Das muß man sich
-nur vorstellen: Das ganze Riesengebäude vollgestopft
-mit lauter Knöpfen. Alle Sorten, notabene!“
-</p>
-
-<p>
-Von der Sonnenhitze mit Glühwein und Zigarillos
-war Jürgen übel geworden: Das Knopflager
-wurde lebendig, verwandelte sich in ein ungeheures
-Meer schwarzer Schwabenkäfer, die an allen Wänden
-auf- und übereinander krabbelten. In nebelhafter
-Ferne hörte er die begeisterte Stimme Adolfs.
-</p>
-
-<p>
-„Alle, absolut alle Arten Knöpfe! Ich werde mir
-eine Knopfsammlung anlegen. Sie wird die größte
-der Welt sein. Lückenlos! Denn, überlege – welcher
-Knopfsammler hätte, wie ich, diese Gelegenheit ...
-Und meine zukünftigen Kollegen da drüben, bei denen
-das gewissermaßen der Fall wäre, denken vermutlich
-wieder nicht daran, sich eine Knopfsammlung anzulegen.“
-</p>
-
-<p>
-Der Ober schwebte einen halben Meter über dem
-Fußboden durch das Lokal. Jürgen wagte Adolfs
-wegen nicht, die Zigarillos wegzuwerfen. Den Stumpen
-im Mundwinkel, das Gesicht von kaltem Schweiße
-beschlagen, sah er mit dem verzerrten Ausdruck
-lächelnden Wohlbehagens seinen Freund an.
-</p>
-
-<p>
-Der entwickelte den Plan seines Vaters, eines großen
-Knopffabrikanten, welcher sich mit der Idee trug,
-seiner Fabrik ein eigenes Knopfexporthaus anzugliedern,
-<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
-nachdem Adolf bei der Konkurrenz den Betrieb
-gründlich kennengelernt habe. „Da hast du
-meine Zukunft. Mein Weg läuft pfeilgrad empor ...
-in logischer Folgerichtigkeit, gewissermaßen ... Industrie
-und Handel, mein Lieber! Alles andere ist
-Romantik.“
-</p>
-
-<p>
-Sie sahen zum Fenster hinaus; die Pferde vor dem
-Exporthaus zogen an; die hochgetürmten sauberen
-Knopfkisten rollten fort, dem nahen Güterbahnhof zu.
-</p>
-
-<p>
-Der Knopflastwagen, das ganze Café, Skatspieler,
-Messinglüster, Sammetbänke kreisten wie eine
-Berg- und Talbahn um Jürgen herum. Er wollte beiläufig
-seine schon in wenigen Jahren zu erwartende
-Wahl zum Bürgermeister erwähnen und sagte krampfhaft
-gleichgültig: „Es wäre jetzt vielleicht gar nicht
-unangenehm, ein wenig hinaus in die schöne, frische
-Luft zu gehen.“
-</p>
-
-<p>
-Vor dem Café sah Jürgen, wie eine gepflegte
-Dame auf einen Krüppel zuging, dem der rechte Arm
-und das linke Bein fehlten. Die Frau des Krüppels
-nahm die Banknote sofort an sich und stellte der
-sekündlich aufblitzenden Wut ihres Mannes einen
-notgestählten Blick entgegen. Der skrofulöse Säugling
-auf ihrem Arme unterbrach den stummen Kampf
-durch Geschrei. Dann zog die Familie weiter. Langsam,
-böse, farblos.
-</p>
-
-<p>
-Nachdem der offene Wagen der Trambahn die
-verkehrsreichen Straßen durchfahren, die letzten
-Häuser und den mächtigen Gaskessel hinter sich
-gelassen hatte und in nun ungehinderter Fahrt durch
-sanfthügeliges Wiesenland der Endstation entgegensauste,
-von kühler Luft durchzogen, röteten sich
-Jürgens Wangen wieder.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
-Ein Herr, alt, grau, steif, wie aus grauem Pappendeckel
-zusammengeklebt, wackelte steif hin und her.
-</p>
-
-<p>
-„Auch wenn andere Plätze frei sind, fahren alte
-Leute nicht mit den Augen zur Fahrtrichtung ...
-Die Jungen immer!“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist eleganter Blödsinn.“ Adolf saß lässig zurückgelehnt,
-Bein übergeschlagen.
-</p>
-
-<p>
-„Die Alten wollen gar nichts Neues mehr sehen.
-Die blicken immer in die Vergangenheit.“
-</p>
-
-<p>
-„Glatter Unsinn! Direkt eleganter Blödsinn!“
-</p>
-
-<p>
-„Die Jungen wollen sehen, wohin die Fahrt geht.“
-</p>
-
-<p>
-Die Alleebäume flogen plötzlich nicht mehr nach
-rückwärts. Der Wagen hielt bei der Endstation im
-Knirschen der Bremsen. Stille, in die hinein ein Vogel
-zwitscherte.
-</p>
-
-<p>
-Der Führer blieb allein zurück, setzte sich in den
-Straßengraben. Der Wagen stand beziehungslos in
-der Landschaft. Der Tag war heiß und lang gewesen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen, schnell in Harmonie mit der Natur, wollte
-durch den Wald heimwärts gehen, während Adolf,
-zu abrupt ins Grün gestellt, unwillige Blicke den
-Ackerfurchen zuwarf und vorschlug, wieder mit der
-Straßenbahn zurückzufahren.
-</p>
-
-<p>
-Die schon versinkende Sonne ließ noch Feuer aus
-den Fenstern der Stadt schlagen. Das sanftgewellte
-Land lag weit hingebreitet. Die fernen Wälder schienen
-nur handhoch zu sein. Der herauftönende Pfiff der
-Papierfabrik stieß die Arbeiter zu den Toren hinaus.
-Schon stand ein grüner Stern am Himmel. Liebespaare,
-umschlungen, gingen vorüber, der heraufkommenden
-Sommernacht entgegen.
-</p>
-
-<p>
-„Kein Zweifel, die sind schwer verliebt. Du natürlich
-bemerkst das nicht.“ Adolf setzte sich mit dem
-<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
-Rücken gegen die Fahrtrichtung und forderte: „Sitze
-du auch so!“
-</p>
-
-<p>
-Da fiel Jürgen ein, daß er eigentlich gegen seinen
-Willen zurückfuhr. „Ich sitze so.“
-</p>
-
-<p>
-„Eleganter Blödsinn! Das gibst du doch zu?“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, das gebe ich nicht zu. Das gebe ich nicht
-zu“, sagte er noch beim Betreten der Küche vor sich
-hin und blickte die feuchten, vollen Schultern Phinchens
-an, die, im Unterrock und Hemd, glühend am
-Bügelbrett stand.
-</p>
-
-<p>
-Sein Kopf blieb klar; das unbekannte Gefühl fuhr
-ihm nur in die Beine. Phinchen konnte vor Aufregung
-die entblößte, aufsteigende Brust nicht bedecken.
-</p>
-
-<p>
-Da kreischte die Haustür. Jürgen taumelte aus der
-Küche hinaus.
-</p>
-
-<p>
-„Du mußt von jetzt an immer hübsch vollkommen
-bekleidet sein. Der junge Herr ist kein Kind mehr.“
-Die Tante demonstrierte an ihrer Brosche. „Dies
-da und auch deine Schultern, überhaupt das alles darf
-man nicht sehen. So dick und nur einen Unterrock!
-Das ist nicht schicklich.“ Der Unterrock könne gewiß
-einmal aufgehen. Dann stehe sie im Hemd vor dem
-jungen Herrn.
-</p>
-
-<p>
-Sie nahm aus dem Küchenschrank eine neue Kerze,
-zog mit dem Messer sorgfältig einen Riß herum –
-drei Zentimeter unter dem Docht – und stieg in
-Jürgens Zimmerchen hinauf.
-</p>
-
-<p>
-Wortlos steckte sie die Kerze in den silbernen Leuchter
-und zündete an. Dann deutete sie auf den Riß.
-„Wenn sie bis hierher abgebrannt ist, mußt du aufhören
-zu lesen ... Das Bücherlesen im Bett und überhaupt
-das Ideale, das, was du Ideale nennst, muß auf
-ein schickliches Maß zurückgeführt werden.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
-Jürgen beobachtete, wie das Flämmchen erstarkte,
-endlich senkrecht stand und wieder flackerte, als die
-Tante weitersprach. „Und morgen zeichne ich nur
-zweieinhalb Zentimeter zum Lesen an. Übermorgen
-wieder etwas weniger. Und allmählich liest du überhaupt
-nicht mehr im Bett, siehst du ... Auch deine
-Mutter las immer im Bett. Dein Vater hat es ihr abgewöhnt.
-Wer nicht selbst streng ist gegen sich,
-gegen den muß es ein anderer sein ... Deine Mutter
-hat dich machen lassen, was du wolltest. Verzogen,
-verwöhnt hat sie dich. Das soll eine Mutter nicht tun.“
-</p>
-
-<p>
-„Das kannst du ja gar nicht wissen; du warst ja
-nie Mutter.“ Staunend beobachtete er, wie ihr ganzes
-Gesicht – auch die Stirn – sich dunkel rötete. Der
-Mund stand offen. In unbegreiflicher Fassungslosigkeit
-verließ sie das Zimmer.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen nahm das Bild seiner Mutter von der Wand,
-betrachtete lange den angsterfüllten Mädchenblick, den
-schmerzlichen Mund, der zu lächeln versuchte, und
-lehnte die Photographie gegen den Leuchter.
-</p>
-
-<p>
-Im Bücherregal standen nur Reisebeschreibungen
-und Abenteuerromane in bilderreichen Umschlägen.
-Mit der ‚Schreckenvollen Reise in das Erdinnere‘
-stieg Jürgen ins Bett, passierte zusammen mit dem
-kühnen Abenteurer auf dem Floße die zerklüftete
-Felsenspalte, geriet plötzlich in ein Loch und sauste
-auf gischtigen Wassermassen beinahe senkrecht in die
-Erde hinein. Es wurde nachtstill im Hause.
-</p>
-
-<p>
-Dicke Finsternis umgibt Jürgen und sein Fahrzeug,
-das mit den immer gewaltiger brausenden Gewässern
-in rasendster Geschwindigkeit in die Tiefe stößt –
-volle zwölf Tage lang –, unter der ständigen fürchterlichen
-Gefahr, zu zerschellen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
-Plötzlich verlangsamt sich die wilde Fahrt: Jürgen
-flößt aus einer Felsspalte heraus und, ganz wider Erwarten
-sanft, hinein in einen wunderbar stillen See
-im Erdinnern, an dessen Ufern menschenähnliche Geschöpfe
-mit Kuhköpfen stehen.
-</p>
-
-<p>
-Grüne, fremde Helligkeit liegt über dem Tale und
-den milden Wäldern, obwohl kein Himmel vorhanden
-ist.
-</p>
-
-<p>
-Der Abenteurer durchforscht vorsichtig das Tal
-nach gefährlichen Wilden, macht ungewöhnlich wichtige
-Entdeckungen und überlegt endlich, wie er mit
-seinem Floß auf dem senkrecht herabrasenden Gewässer
-aus dem Erdinnern wieder zur Erdoberfläche
-hinauffahren könne.
-</p>
-
-<p>
-Heißgelesen, sah auch Jürgen nachdenklich auf.
-Und bemerkte mit Schrecken, daß die Kerze still
-bis über die Hälfte herabgebrannt war.
-</p>
-
-<p>
-Während er dann im Traume papageiengroße,
-fliegende Edelsteine fing und mit kuhköpfigen Menschenwesen,
-die sich plötzlich in lauter geachtete
-Männer verwandelten, in bösen Kämpfen lag, streifte
-Adolf Glacéhandschuhe über, ging in den ‚Klub junger
-Kaufleute‘ und wurde vom Vorsitzenden auch den
-neuen Mitgliedern, Adolfs bisherigen Schulkameraden,
-mit feierlicher Korrektheit vorgestellt.
-</p>
-
-<p>
-Einige Wochen später lag auf Jürgens Nachtkästchen
-eine Geschichte der Philosophie, in der schon
-viele Zettelchen mit Anmerkungen steckten.
-</p>
-
-<p>
-Die Abiturienten hatten sich getrennt in zwei Gruppen,
-die weiterhin nicht mehr miteinander in Berührung
-kamen: Ein Teil studierte und hatte andere Interessen
-als die Fabrikantensöhne, die in die Geschäfte ihrer
-Väter eintraten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
-Leo Seidel arbeitete im Magistratsgebäude, im
-städtischen Wohnungsnachweisbureau, dessen trübe
-Fenster gegen die Nordseite des immer sonnelosen
-Lichthofes standen.
-</p>
-
-<p>
-Das Mißbehagen der Kollegen war von Monat zu
-Monat größer geworden. Jeden Morgen hatten sie,
-beim Eintritt in das Bureau, Leo Seidel schon heißgeschrieben
-am Pulte vorgefunden.
-</p>
-
-<p>
-Vor allem Herr Hohmeier, ein Beamter, der sehr
-langsam arbeitete und seiner Dienstzeit nach am
-nächsten daran war, vorzurücken, lebte seit Monaten
-beständig in der Angst, daß der bei größtem Fleiße
-und unangreifbarer Gewissenhaftigkeit auch noch
-ungewöhnlich schnell arbeitende Leo Seidel den
-Buchstaben M zugeteilt bekommen werde, was der
-zahllosen zu bewältigenden Müllers und Maiers wegen
-eine Beförderung außerhalb der Reihe, ein Überspringen
-Hohmeiers bedeutet haben würde.
-</p>
-
-<p>
-Noch besorgte Seidel den ungefährlichen Buchstaben
-Y, wurde infolgedessen bei seinen Abschreibearbeiten
-nie gestört und benutzte, zusammen mit
-dem jüngsten Kollegen, der gleichzeitig angestellt
-worden war, ein Doppelpult, über dem nur eine
-Gasflamme brannte.
-</p>
-
-<p>
-Die Herren Neubert und Hohmeier hatten jeder ein
-Pult für sich – mit je einer Gasflamme. Über Herrn
-Anks Pult befand sich, entsprechend seinem höheren
-Dienstgrad, ein zweiflammiger Gasarm mit grünen
-Lichtblenden. Und vor des Herrn Bureauleiters Pult
-stand zudem noch ein drehbarer Schreibsessel, auf
-dem ein dienstliches Lederkissen lag. Auch war sein
-Löschblattbügel bedeutend breiter.
-</p>
-
-<p>
-Dieses festgefügte Dienstschema zu sprengen, die
-<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
-niederen Dienstgrade zu überspringen, war Seidels
-Bestreben. Das allmähliche Vorrücken bis zum
-breiteren Löschblattbügel wollte er sich ersparen.
-</p>
-
-<p>
-Das war seinen Kollegen nicht entgangen.
-</p>
-
-<p>
-Der Tag, an dem die Katastrophe sich ereignete,
-begann damit, daß Herr Hohmeier begann, sich zu
-schneuzen, indem er Kanzleibogen und den schmalen
-Löschblattbügel zur Seite räumte und das Taschentuch
-erst sorgsam auf die Schreibtischplatte breitete.
-</p>
-
-<p>
-Unterdessen trat beim Schalter ein Pelerinenkünstler
-von einem Fuße auf den andern, rastlos wie ein
-Mensch, der ein natürliches Bedürfnis besetztseinshalber
-meistern muß, und beobachtete, wie Herr Hohmeier
-das Taschentuch erst mit einem großen Hausschlüssel,
-dann mit dem Löschblattbügel beschwerte.
-Und als er endlich nach der Adresse seines Freundes
-fragen konnte, erfuhr er, daß die Polizei selbst schon
-lange nach diesem Kunstmaler Ferdinand Wiederschein
-fahnde.
-</p>
-
-<p>
-„Wir haben herausbekommen, daß dieser Maler
-seit vielen Wochen jede Nacht in einem andern Bett
-schläft. Indem er nämlich jeden Morgen sein Handtäschchen
-wieder mitnimmt und sich, wenn die
-Schlafenszeit herannaht, ein neues Unterkommen
-sucht für die Nacht ... Der meldet sich nicht einmal
-an bei uns.“
-</p>
-
-<p>
-Der Diener entleerte den Neun-Uhr-Kohleneimer
-in den alten eisernen Füllofen, auf dem Eva, schon
-rotglühend, Adam den rotglühenden Apfel reichte.
-Des Künstlers Gelächter knallte durch das Bureau.
-</p>
-
-<p>
-„Da gibt es aber nichts zu lachen. Das ist eine ernste
-Sache. Wenns alle so machten, welch eine Unordnung
-hätten wir dann hier.“ Herr Hohmeier redete noch
-<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
-vor sich hin, als er schon dabei war, das Taschentuch
-schneuzfertig über die gespreizten Finger zu hängen,
-wie ein Zauberkünstler, der fragt: ‚Wohin soll ich das
-Goldstück verschwinden lassen?‘
-</p>
-
-<p>
-Während der Vesperviertelstunde sammelten sich
-viele Leute in dem dunklen Wartezimmer an. Die
-Beamten aßen ruhig weiter, ungestört vom Leben,
-das nur bis zum Schalterfenster herankam.
-</p>
-
-<p>
-Die Ungeduldigen hüstelten, scharrten mit den Füßen,
-klopften endlich an das Schiebefenster. Der ganze
-Schalterraum stand voll Menschen.
-</p>
-
-<p>
-Und als die Uhr Viertel elf schlug und Herr Hohmeier
-zum Schalter trat, stellte es sich heraus, daß
-einige wieder gegangen waren, und die gebliebenen
-neun Auskunftsuchenden unter Buchstaben C bis G
-fielen und somit Herrn Hohmeier unterstanden.
-</p>
-
-<p>
-Der fragte freundlich, wer zuerst dagewesen sei.
-Darüber entstand Streit. Viele waren zuerst dagewesen.
-Da drückte ein schwarzer Kohlenhändler alle anderen
-in die Ecken und verlangte die Adresse einer Familie,
-die umgezogen sei, ohne vorher die Kohlenrechnung
-bezahlt zu haben.
-</p>
-
-<p>
-Während Herr Hohmeier mit dem Zeigefinger die
-Fächer des Regals nach dem Personalakt abtippte,
-den Akt nicht fand, setzte der Streit im Schalterraum
-von neuem ein. Schließlich vereinigte der Zorn alle
-Streitenden gegen die Beamten.
-</p>
-
-<p>
-Wieder dachte Seidel darüber nach, ob außer ihm wohl
-noch ein Mensch auf der Welt durch so eine teuflische
-Kleinigkeit wie die, daß es nur wenige Namen mit dem
-Anfangsbuchstaben Ypsilon gab, daran verhindert sein
-würde, sich auszuzeichnen und vorwärtszukommen.
-</p>
-
-<p>
-Herr Hohmeier trat noch einmal zum Kohlenhändler,
-<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
-fragte ihn, ob er den Namen denn auch richtig
-aufgeschrieben habe. Alle schimpften, streckten die
-Zettel durch das Schalterloch.
-</p>
-
-<p>
-„Sie erlauben, Herr Hohmeier, daß ich Ihnen helfe.“
-Seidel sammelte die Zettel ein.
-</p>
-
-<p>
-„Nein, ich kann das nicht erlauben. Bitte sehr,
-Herr Seidel, ich erlaube das nicht ... Es sind meine
-Buchstaben.“
-</p>
-
-<p>
-Die Wartenden schrien dazwischen. Der Bureauvorsteher,
-der von dem Tumulte aus seinem Vesperzimmerchen
-herausgelockt worden war, verfügte,
-daß die beiden jungen Herren dies eine Mal mithelfen
-sollten. „Ausnahmsweise!“
-</p>
-
-<p>
-Unter unheilvollem Schweigen des bleichgewordenen
-Herrn Hohmeier wickelte sich das Geschäft
-jetzt glatt ab.
-</p>
-
-<p>
-Herr Hohmeier war nicht fähig, zu arbeiten. Ein
-ungeheurer innerlicher Aufruhr machte ihn blind.
-Die beinahe immer gegenwärtige Vorstellung, daß er sich
-am Tage seiner Beförderung eine goldene Brille
-kaufen und nach der übernächsten Beförderung sich
-mit dem neben ihm gealterten Mädchen einstweilen
-wenigstens verloben werde, schob sich auch jetzt hartnäckig
-in den Vordergrund. Immer wieder sah er
-sich, goldbebrillt, vor dem Traualtare stehen. So daß über
-eine Stunde vergangen war, bevor er gefunden hatte,
-was Seidel endlich einmal klar und deutlich gesagt
-werden müsse.
-</p>
-
-<p>
-„Der sehr bedauerliche Vorfall von vorhin bedarf
-dringend der Aufklärung. Ich, meinerseits, muß Ihnen
-sagen, daß in diesem Bureau ein Sichvordrängen –
-ich könnte mich auch noch schärfer ausdrücken –
-nichts nützt ...“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
-„Und ich muß Sie bitten, mich nicht bei der Arbeit
-zu stören.“
-</p>
-
-<p>
-„... denn wenn alle Beamten hier in diesem Bureau
-gewissenhaft ihre Pflicht tun – und das kann als
-sicher angenommen werden –, so daß keiner entlassen
-wird, werden Sie, Herr Seidel, in acht Jahren an
-meinem Pulte sitzen und in zwölf Jahren am Pulte
-des Herrn Ank ... Unterdessen werde ich an Herrn
-Anks Pult gesessen haben. Herr Ank an des Herrn
-Bureauleiters Pult. Und der Herr Bureauleiter wird,
-seinen Dienstjahren entsprechend, eine höhere Stelle
-in einem anderen Bureau einnehmen ... Es gibt in
-diesem Gebäude sehr viele Bureaus, die wir zu durchlaufen
-haben, ehe wir pensioniert werden. Ein Durchbrechen
-dieser Ordnung gibt es nicht. Das wollte
-ich Ihnen gesagt haben.“ Bebenden Mundes ging er
-an sein Pult zurück.
-</p>
-
-<p>
-Und Leo Seidel, der schon am Anfang dieser plastischen
-Darstellung sich gesagt hatte, daß in einem
-Magistratsbureau das Wort ‚Freie Bahn dem Tüchtigen‘
-ganz offenbar keine Gültigkeit habe, und daß
-somit ein schnelleres Vorrücken nahezu ausgeschlossen
-sei, schrieb noch am Abend des selben Tages peinlich
-sauber sein Entlassungsgesuch.
-</p>
-
-<p class="tb">
-&nbsp;
-</p>
-
-<p class="noindent">
-Die meterlange Tabakspfeife wie einen Offiziersdegen
-geschultert, kratzfußte der Korpsstudent Karl
-Lenz abgehackt und streng vor seinem früheren Schulkameraden
-Jürgen und fragte ihn, welchem Korps er
-angehöre.
-</p>
-
-<p>
-„Ich studiere Philosophie, wie du weißt. Seit einem
-Jahre!“ sagte Jürgen stolz. „Einer Verbindung gehöre
-<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
-ich nicht an ... Ich wollte Herrn Professor Lenz
-meinen Besuch machen.“
-</p>
-
-<p>
-Der noch immer in steifer Verbeugung stehende
-Korpsstudent zuckte mit dem Kopf nach vorn, und
-seinem Mund entfuhr, als er die Lippen öffnete, ein
-knallender Ton: „Gehören Sie nicht an? ... Vor
-allem: Ihnen zur Kenntnis, daß mein Vater vor einer
-Woche zum Geheimrat ernannt worden ist.“ Er
-machte linksum und blickte, dem Gast den Rücken
-zugekehrt, paffend zum Fenster hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Die wirkliche Welt um Jürgen versank. Alles natürliche
-Denken und Fühlen verschwand. Erst nach
-minutenlanger Pause sagte er: „Da gratuliere ich.“
-</p>
-
-<p>
-Der Student antwortete mit einer weißen Dampfwolke,
-die an der Fensterscheibe hinaufstieg, rührte
-sich nicht. Und Jürgen saß plötzlich in einer glänzenden
-Studentengesellschaft, hatte ebenfalls eine grüne
-Mütze forsch im Nacken sitzen, das Couleurband schräg
-über der Brust. Alle trinken ihm zu. Er ist geehrt, geachtet,
-spielt eine Rolle. Kommt Karl Lenz und starrt ihn
-herausfordernd an. Jürgen starrt zurück. Und springt
-auf. Schweigen. Alle springen auf. Kartenwechsel.
-Jürgen schlägt sich tadellos. Phinchen ist totenbleich
-vor Bewunderung. Und die Tante läßt sich den ganzen
-Vorgang erzählen.
-</p>
-
-<p>
-‚Er also starrt mich an. Nun, du kennst mich ja,
-Tante, und weißt, daß in diesem Falle die Forderung
-meinerseits unvermeidlich war. Meine Kommilitonen
-und ich zechen erst noch die ganze Nacht durch, als
-ob gar nichts geschehen wäre. Dann fährt die ganze
-Bande per Auto mit hinaus ins Wäldchen; sie warten
-im Wirtshaus auf mich. Ich also trete an, frisch und
-munter, wie aus dem Bade gestiegen.‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
-‚Mein Gott, Jürgen, hattest du denn gar keine
-Angst?‘
-</p>
-
-<p>
-‚Aber Tante! ... Also, er bekommt den besseren
-Platz, steht im Schatten eines Baumes, ich mit dem
-Gesicht gegen die Sonne ... Na, und schon beim
-ersten Gang – schwere Abfuhr natürlich.‘ ‚Nun,
-und jetzt?‘ ‚Gott, jetzt natürlich ehrenvolle Versöhnung.
-Denn wenn einmal Blut geflossen ist ...
-Je, das Hallo, als ich zurück in die Kneipe kam! Ja.
-Nun aber genug davon!‘
-</p>
-
-<p>
-Der breitspurig und noch immer reglos am Fenster
-stehende Student war von blauem Dampfe eingehüllt.
-Aus dem Nebenzimmer erklang Gläserklirren. Er
-schnellte sofort herum, glotzte seinem Gast ins Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Da knallte auch Jürgen mit den Absätzen. Die
-ineinander verkrampften Hände schüttelten sich.
-Beide Oberkörper zuckten mehrere Male ruckartig
-und schiefseitwärts aufeinander zu, bis, durch die
-Handkuppelung hergestellt, die wagrechte Zickzacklinie
-der zwei Ober- und Unterarme in Stirnhöhe feierlich
-verharrte.
-</p>
-
-<p>
-Und während Jürgen sich auf das Kanapee zurückverbeugte,
-verbeugte der Student sich der Tür zu
-und ging in sein danebenliegendes Zimmer, wo auf
-dem Tisch drei Glas Bier für ihn bereitstanden.
-</p>
-
-<p>
-Der Student hatte die Begrüßungsmaske mit in sein
-Zimmer getragen. Jetzt erst fiel sie von seinem Gesicht
-herunter. Und der Ausdruck dumpfer, wilder
-Konzentration nahm Platz, während er, das Bierglas
-in der einen, die Taschenuhr in der linken Hand,
-wartete, bis der Sekundenzeiger die Zahl Eins erreichte.
-Schon vorher war sein Mund ein großes Loch geworden.
-Plötzlich glotzten die Augen stier und tränten:
-<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
-das Bier stürzte in den Magen. „Bierjunge!“ Und
-das leere Glas knallte auf den Tisch.
-</p>
-
-<p>
-Mit dem Worte ‚Bierjunge‘ spritzte ein Teil des Bieres
-im Bogen wieder heraus, während die Augen auf den
-Sekundenzeiger starrten. Das Gesicht des Studenten,
-der auf dem letzten Kommers von seinem Korpsbruder
-beim Bierjungen-Trinken besiegt worden war,
-verzog sich kläglich: er hatte mehr als eine Sekunde
-zu lange gebraucht.
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe wieder geschluckt. Ich schlucke noch.
-Das ist mein ganzer Fehler.“ Energisch trainierte er
-weiter: Der Sekundenzeiger erreichte die Eins. Großes
-Loch. Leeres Glas. Ein furchtbarer Brüllton: „Bierjunge!“
-</p>
-
-<p>
-Wieder schnellte der im Nebenzimmer sitzende
-Jürgen erschrocken von der Kanapeelehne nach vorn
-und horchte gespannt. Wenige Sekunden später
-langte von oben herab die Hand des Herrn Geheimrat
-Lenz auf Jürgens Schulter. „Nun, mein Freund,
-welchem Korps gehören Sie an?“
-</p>
-
-<p>
-„Bierjunge!“
-</p>
-
-<p>
-„Ah, der Junge übt. Ja, schön ist die Jugend.“
-Der Geheimrat Lenz trank gern Moselwein.
-</p>
-
-<p>
-Was wird geschehen, wenn ich gestehe, daß ich
-keiner Verbindung angehöre, dachte Jürgen. Und
-sein Mund sagte: „Ich halte das für überflüssig.“
-</p>
-
-<p>
-Die väterliche Hand rutschte von Jürgens Schulter
-herab und legte sich in die Hüfte des Geheimrats.
-Der Unterleib schien in die Brust hinaufzusteigen.
-Die Augen fragten: Was wollen Sie dann bei mir?
-</p>
-
-<p>
-Endlich sagte der Geheimrat: „Junger Mann,
-nur wer einem Korps angehört, lernt die oberste aller
-Pflichten, die ihn erst befähigt, später zu den Ersten,
-<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
-zu den Führern seines Volkes zu gehören: die schwere,
-aber schöne und erhabene Pflicht des Gehorsams,
-das freie Beugen vor der Autorität, ohne welche
-nichts in der Welt bestehen kann ... bestehen kann.
-Die Narben im Gesicht des Korpsstudenten sind die
-Bürgschaft dafür, daß der ganze Mann, der für seine
-und für des Korps Ehre ohne zu zucken dem Gegner
-mit blanker Waffe gegenüber gestanden hat, auch
-später, wenns einmal so weit ist und Gott es will,
-bis zum letzten Blutstropfen dem Vaterlande die
-Treue halten wird, wenn es gilt, die Ehre des Reiches
-zu wahren ... Aber außerdem: wie wollen Sie vorwärtskommen?
-Wie anders wollen Sie es zu einer
-geachteten, einflußreichen Stellung bringen? ... Denken
-Sie an Ihren Vater. Er war mein Freund. Wir
-gehörten dem selben Korps an. Er war ein Mann.“
-</p>
-
-<p>
-Und ist, wie ich jetzt weiß, zusammengebrochen
-und kaputtgegangen, weil er nicht erreichte, Vortragender
-Rat im Ministerium zu werden, dachte
-Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-Und glitt, während er durch die Straßen ging,
-noch eine halbe Stunde lang weiter auf dem glatten
-Gleis, das der Geheimrat vor ihn hingelegt hatte.
-Bei einem kleinen Kolonialwarenladen, in dessen
-Schaufenster ein langbärtiger Zwerg aus Gips eine
-Zigarre rauchte, blieb er stehen.
-</p>
-
-<p>
-Haß und Ekel vor dem Jürgen, der in des Studenten
-Zimmer das imaginäre Duell ausgefochten hatte,
-packten ihn so plötzlich und so heftig, daß er sich auf
-das Mäuerchen setzen mußte, auf dem das Schaufenster
-ruhte. „Welch ein erbärmliches, widerliches,
-feiges Schwein bist du!“ rief er dem Zwerg im Schaufenster
-zu. Jede Bewegung, jedes Wort, das jener
-<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
-Jürgen gesprochen hatte, folterte den Jürgen, der,
-brennend vor Scham, auf dem Mäuerchen saß.
-</p>
-
-<p>
-Da schwenkte, Lack-, Glacé- und Hosenfalten-glatt,
-Adolf Sinsheimer um die Ecke, nahm schon in der
-Ferne feierlich den Zylinder ab. Unwillkürlich hatte
-auch Jürgen feierlich gegrüßt.
-</p>
-
-<p>
-„Große Aufregung im Hause Lenz, was?“ fragte
-Adolf, nachdem er erfahren hatte, wo Jürgen gewesen
-war. „Wirklich nichts bemerkt? Dann wissen
-die es einfach noch nicht ... Gestern nämlich ist
-Katharina von zuhause durchgebrannt. Schlankweg
-zu den Anarchisten! Die fabriziert jetzt Bomben.
-Auch eine Beschäftigung! ... Übrigens, du gestattest
-doch, daß ich mich bedecke?“
-</p>
-
-<p>
-„Weshalb solltest du deinen Zylinder in der Hand
-halten!“ Jürgen war wütend.
-</p>
-
-<p>
-„Ein ereignisvolles Jahr! Man entwickelt sich
-schneller, als man geglaubt hat. Ich sitze längst im
-Direktionsbureau. Rechte Hand des Chefs! Und
-was das Leben anlangt, mein Lieber, da akzeptiere
-ich keine mehr, die nicht tadellos gewachsen ist.
-Vor allem die Beine! Kann mir nicht mehr passieren.“
-</p>
-
-<p>
-Was ist da zu tun – er entwickelt sich, dachte
-Jürgen und blickte Adolf nach, der frisch und glatt
-davonschritt. ‚Was ist da zu tun.‘
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich stand Adolf wieder vor ihm. „Leo Seidel
-war bei mir. Total zusammengeklappt! Mein Alter
-hätte ihn ja als Schreiber in unserer Buchhaltung
-angestellt. Er aber erkundigte sich nach den Aufstiegsmöglichkeiten.
-Was sagst du dazu? ... Mein
-Alter fragte ihn, ob er ihm vielleicht Prokura erteilen
-solle. Schwuppdich – war er draußen ... Später
-erfuhr ich, daß er zu allen früheren Mitschülern läuft,
-<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
-deren alte Herren, wie er glaubt, ihm einen Posten
-mit – husch, die Lerche! – Aufstiegsmöglichkeiten
-verschaffen könnten.“
-</p>
-
-<p>
-Auch bei Jürgen war Seidel gewesen. Jürgen hatte
-ihm vorgeschlagen, er solle mit ihm zusammen einen
-Bund der Empörer gründen. Seidel hatte geantwortet,
-dazu sei er nicht dumm genug. Und der Rektor
-hatte Seidel geantwortet, einem derart unbescheidenen
-Menschen, der aus Unzufriedenheit leichtfertig
-sein Glück verscherzt habe, noch einmal eine Stelle
-zu verschaffen, müsse er prinzipiell ablehnen.
-</p>
-
-<p>
-Einige Monate war Seidel bei dem Bankier Wagner
-in der Buchhaltung beschäftigt gewesen. Aber auch
-in diesem großen Bankhause waren die Wege zu den
-zäh verteidigten einträglichen Posten zwanzig Jahre
-lang und führten, gezogen mit dem Lineal, zwischen
-unübersteigbar hohen Mauern durch.
-</p>
-
-<p>
-Seidel hatte bald erkannt, daß hier alle Angestellten
-nicht nur unangreifbar gewissenhaft, sondern ausnahmslos
-auch flink wie die Kreisel waren; daß es
-Hohmeiers hier überhaupt nicht gab; und daß niemand
-Bankangestellter werden und bleiben durfte,
-der Bankier werden wollte.
-</p>
-
-<p>
-Der schwindsüchtige Briefträger und seine Frau
-waren gestorben, die vier jüngeren Geschwister in das
-Waisenhaus gebracht worden.
-</p>
-
-<p>
-Die neue Mietpartei war schon eingezogen in das
-Hofzimmer, in dem Seidel sein ganzes Leben vom
-Tage der Geburt an in immer gleicher Armut verbracht
-hatte. Es war ihm erlaubt worden, die altersschwachen
-Möbel so lange in der Holzlage einzustellen,
-bis er einen Altwarenhändler fand, der auch den armseligsten
-Gegenstand nicht für ganz wertlos hielt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
-Den nach Begleichung der letzten Vierteljahrsmiete
-und der Schulden beim Kolonialwarenhändler und
-Bäcker von dem Erlöse der Wohnungseinrichtung
-übriggebliebenen winzigen Rest des Geldes in der
-Tasche, das Herz kalt vor Energie und zielbewußter
-Willenskraft, von Wehmut, Feigheit und schwächlichen
-Überlegungen nicht gehemmt, verließ Leo
-Seidel um acht Uhr früh für immer seiner Jugend
-stinkenden Hof, in dem nie etwas schön gewesen war,
-außer einem Büschel Löwenzahn, der, kümmerlich
-und zäh, jedes Jahr in der gepflasterten Ecke geblüht
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Seidels Herz hatte ihn niemals zu den gelben Blüten
-geführt; es war, jenseits von Gefühlsüberschwang,
-ein gehorsam arbeitender Muskel und wurde vom
-Gehirn regiert, das Seidel zum Träger eines zielklaren
-Willens machte.
-</p>
-
-<p>
-Losgeschnitten von der Vergangenheit, vor sich
-das Obdachlosenheim, stand er blank auf der Straße,
-völlig auf sich selbst gestellt.
-</p>
-
-<p>
-Herabgesunkener Morgennebel, der nur die Dächer
-der zwei nächsten Häuser links und rechts von Seidel
-freiließ, hatte die Straße, die wenigen Passanten und
-alle Geräusche verschlungen. Seidel stand grau in
-grau. Und erklärte sich selbst, weshalb für ihn Grund
-zum Jammern nicht vorhanden sei: Er habe Zeit,
-sei jung und gesund und bereit, rücksichtslos seinem
-Ziele entgegenzugehen.
-</p>
-
-<p>
-Um dieses Zieles Inhalt und Ausmaß einwandfrei
-abzustecken, sondierte er vorstellungskräftig die Idee
-eines Friseurgehilfen, der darauf spekuliert, in das Geschäft
-einer Friseurswitwe einzutreten mit dem Ziele,
-die Witwe zu heiraten und Geschäftsinhaber zu
-<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
-werden; einen jungen Handlungsgehilfen ließ er mit
-der reizlosen Tochter des Chefs zum Standesamt
-gehen und ihn in einem dunklen, duftgeschwängerten
-Laden ein warmes Drogistenglück bis zum Tode
-genießen. Unbelasteten Gemütes folgerte Seidel, daß
-auch er in irgendein Geschäft eintreten und sich im
-Laufe der Zeit ein auskömmliches Dasein in bescheidenen
-Grenzen erarbeiten könnte.
-</p>
-
-<p>
-Er trennte sich von dem Ziele des Friseurgehilfen,
-vom Drogisten, und wandte sich seiner Laufbahn zu,
-die zwar noch kleiner und unsicherer als die eines
-Drogistengehilfen beginne, aber Lücken und Spalten
-und Maschen habe, durch die er durchschlüpfen zu
-können hoffe, worauf die Laufbahn in Form einer
-Spirale unter zäh zu überwindenden Schwierigkeiten
-aller Art ansteigen und in der Berliner Börse enden
-werde. Dann breitete sich das Leben aus: Jedes Wort
-des Finanziers Leo Seidel hat Gewicht; eine von ihm
-verweigerte Unterschrift verursacht Beklemmung und
-Katastrophen in den Bankhäusern.
-</p>
-
-<p>
-Seidels Augen schlossen sich halb. Er flüsterte:
-„Aus eigener Kraft! Keiner meiner Mitschüler wird
-sich mit mir vergleichen können; sie alle werden hinter
-mir zurückbleiben, obwohl sie geebnete Wege vorfanden.“
-</p>
-
-<p>
-Er befand sich auf dem Wege zu dem Platz, wo die
-Schaubudengerüste aufgestellt wurden für den am
-folgenden Tage beginnenden großen Jahrmarkt. Er
-dachte, gegen die hier beschäftigten verkommenen
-Existenzen werde ein gewissenhafter Mensch ganz
-besonders scharf abstechen und, über sie hinweg,
-bei einem Schaubuden- oder Karussellbesitzer schnell
-zu einer Vertrauensstellung gelangen können. Außerdem
-<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
-sei er hier nicht, wie der Droschkengaul, zwischen
-zwei Deichseln gespannt, da allerlei Möglichkeiten,
-auszubrechen, sich ergeben würden.
-</p>
-
-<p>
-Seine kantige, gewaltig breite Stirn bildete zusammen
-mit dem sehr spitzen Kinn ein beinahe gleichwinkliges
-Dreieck. Das Dreieck war mit alten Sommersprossen
-dicht besetzt. Aber auch in bezug auf seine
-Streberei hatte er in der Schule den Spitznamen
-„Sprosse“ bekommen. „Von Sprosse zu Sprosse.“
-</p>
-
-<p>
-Burschen in verblichenen Sweaters, die Zigarette
-hinter dem Ohr, rissen Pflastersteine heraus, hockten,
-in Morgennebel gehüllt, auf den Gerüsten, nagelten,
-schrien, schraubten die Holzteile fest. Alles fügte sich
-wie immer ineinander.
-</p>
-
-<p>
-Hier ist durch Fleiß und vor allem durch Gewissenhaftigkeit
-sicher mehr zu erreichen als in einem
-Magistratsbureau, dachte Seidel und fing vor dem
-grünen Wagen den Schiffschaukelbesitzer ab, zog
-den Hut. „Verzeihung, ich möchte fragen, ob Sie
-noch eine Hilfskraft bei Ihrem Unternehmen brauchen.“
-</p>
-
-<p>
-Verdutzt sah der Mann den solid gekleideten jungen
-Herrn an, die saubere Wäsche. „Ich verstehe nicht
-recht. Ich brauche zwar noch zwei Adjunkte zur Bedienung
-von vier Schiffen ... Aber Sie? Was wollen Sie?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich leiste jede Arbeit, die Sie verlangen ... Was
-ist das: Adjunkte?“
-</p>
-
-<p>
-„So heißen die Burschen bei den Schiffschaukeln ...
-Zwei sind vorgestern eingesteckt worden. Acht Wochen
-Gefängnis! Hatten wieder geklaut. Aber schon bevor
-sie bei mir waren“, setzte er schnell hinzu.
-</p>
-
-<p>
-„Demnach können Sie mich also brauchen?“
-</p>
-
-<p>
-Der Mann hob abwehrend beide Hände in Kopfhöhe:
-„Freundchen ... haben Sie Papiere? Waren
-<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
-Sie schon einmal bei so was? ... Zuerst müssen Sie
-mir einmal nachweisen, daß Sie nicht von der
-Polizei gesucht werden ... Und vor allem möchte
-ich wissen, weshalb Sie von der Polizei gesucht werden.“
-</p>
-
-<p>
-Da reichte Seidel dem Manne sein Abiturientenzeugnis
-und das Entlassungszeugnis vom Stadtmagistrat,
-das den Vermerk über Seidels Tüchtigkeit,
-Fleiß und Gewissenhaftigkeit enthielt.
-</p>
-
-<p>
-Der Mann wunderte sich nicht. Ihm waren während
-seiner vierzigjährigen Jahrmarktstätigkeit schon alle
-möglichen Existenzen untergekommen.
-</p>
-
-<p>
-„Auf meine Gewissenhaftigkeit beim Geldeinsammeln
-könnten Sie sich verlassen.“
-</p>
-
-<p>
-„Da wären Sie der erste, auf dessen Gewissenhaftigkeit
-beim Geldeinsammeln ich mich verlassen würde.
-Aber brauchen kann ich Sie.“ Er stieg, von Seidel,
-gefolgt, in den grünen Wagen, in dem, transportfest,
-die zwölf funkelnden Schiffe standen.
-</p>
-
-<p>
-Der kräftige Bursche mit Ledergurt, rotem Sweater
-und einem großen, pflaumenblauen, herzförmigen Mal
-auf der Backe tat, als habe er beim Putzen der Messingteile
-keine Pause gemacht. Der Besitzer schickte
-ihn hinaus. „Hier, das Handgeld.“
-</p>
-
-<p>
-„Handgeld brauche ich nicht ... Ihre Schiffschaukel
-scheint übrigens ganz neu zu sein ... Wenn Sie zufrieden
-sind mit mir, werden Sie mir meinen Lohn
-schon geben.“
-</p>
-
-<p>
-Das hatte der Mann noch nicht erlebt. Beinahe
-verlegen sagte er: „Ja, ich habe die modernste Schiffschaukel
-der Messe. Kostete mich ein Vermögen!
-Das will verdient sein. Sie ist einen Meter siebenzig
-höher als die der Konkurrenz ... Können Sie morgen
-früh antreten?“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
-Schnellen Schrittes ging Seidel zu dem Altwarenhändler
-und holte den Gegenstand ab, den er nicht
-mitverkauft hatte.
-</p>
-
-<p>
-„Das einzige noch einigermaßen brauchbare Stück!
-Der ganze übrige Plunder ist vollkommen wertlos“,
-wiederholte der Mann, der am Tage vorher heftig
-und erfolglos um den Besitz dieses Gegenstandes gekämpft
-hatte. „Elender Plunder!“
-</p>
-
-<p>
-„Wie kann eine Wohnungseinrichtung, in der eine
-große Familie fünfundvierzig Jahre gelebt hat, plötzlich
-ganz wertlos sein!“ Seidel nahm den in braunes
-Packpapier eingewickelten Gegenstand unter den Arm.
-Stand eine Stunde später im Studierzimmer vor Jürgen,
-erklärte, auf dessen Fragen hin, mit drei Sätzen,
-welche Arbeit und weshalb er sie angenommen und
-welches Ziel er habe. „Ich will zu Geld kommen,
-reich werden. Sehr reich! Reicher als ihr alle seid!“
-</p>
-
-<p>
-„Bei einer Schiffschaukel? Du, ein mehr als gewissenhafter
-Mensch!“
-</p>
-
-<p>
-„So verkommen würdest du niemals, wie? Was
-würden die Leute sagen? ... Mir jedoch ist das einerlei.
-Muß mir gleich sein! Gutbürgerliche Gefühle
-und Sentimentalitäten kann ich mir nicht erlauben.
-Ich brauche Bewegungsfreiheit, um alle Möglichkeiten
-ausnützen zu können. Im Magistratsbureau und auch
-in irgendeiner anderen festen Stellung gibt es keine
-Möglichkeiten für mich. Bin kein Fabrikantensohn ...
-Ich will mein Ziel erreichen. Und ich werde es erreichen.
-Und dann werde ich erst recht rücksichtslos
-sein.“
-</p>
-
-<p>
-„Dein Haß ist ja recht schön ...“
-</p>
-
-<p>
-„Wieso ist er schön?“
-</p>
-
-<p>
-„Nun, ich kann deinen Haß begreifen; aber Reichtum
-<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
-ist doch kein erstrebenswertes Ziel. Was bist
-du, was hast du, wenn du reich bist und die Armen
-wie bisher arm bleiben und überhaupt alles so bleibt,
-wie es ist? Dann gehörst du bestenfalls zu denen, die
-gehaßt werden. Wem nützest du damit?“
-</p>
-
-<p>
-„Mir!“ Aller Haß, der in einem Menschenkörper
-Raum hat, sammelte sich in Seidels Blick, gerichtet
-auf Jürgen, der immer sorgfältig gekleidet gewesen war,
-nie gehungert, regelmäßig gebadet und die Demütigungen
-der Armut nie erfahren hatte. „Du machst
-Worte. Du weißt doch sehr gut, was Reichsein bedeutet!“
-</p>
-
-<p>
-„Ich war in anderer Hinsicht immer so arm wie du.
-In unserer Zeit sind die Menschen arm. Alle! Auch
-die Reichen, glaube ich. Furchtbar arm!“
-</p>
-
-<p>
-Da konnte Seidel nur die Lippen verziehen. „Und
-was für ein Ziel hast du?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich weiß nichts. Gar nichts! ... Das Ganze ist
-unerträglich. Ich sage: das Ganze muß ganz und gar
-anders werden.“
-</p>
-
-<p>
-„Nun, dann wird es ja wohl anders werden.“ Dabei
-schälte er das Packpapier herunter von dem poliertem,
-zartgebauten Nähtischchen seiner Mutter und bat,
-Jürgen möge es für ihn aufbewahren.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn du schon alle Beziehungen zu deinem bisherigen
-Leben abbrichst, was hängst du dich da an
-das Nähtischchen? Dieser Art Gefühle können dir –
-einem Menschen, der solche Ziele hat – doch nur
-hinderlich sein. Oder sollten Rücksichtslosigkeit
-und Sentimentalität einander vielleicht doch nicht
-ausschließen?“ Jürgen hätte nicht sagen können,
-weshalb er Seidel diesen Hieb versetzte.
-</p>
-
-<p>
-„Mit dem Ding sind meine einzigen schönen Kindheitserinnerungen
-verbunden. Wenn die Mutter flickte,
-<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
-saß ich am Boden, durfte mit dem Einsatz spielen.“
-Er schob die Fächerschublade wieder hinein ... „Na,
-heb’s auf ... Zweifellos wird die ganze Bande auf die
-Messe kommen, um mich als Schiffschaukeladjunkt
-zu sehen. Mögen sie kommen!“ Die Lippen bebten.
-Die Sommersprossen traten stärker hervor, so weiß
-war das Gesicht geworden.
-</p>
-
-<p>
-‚Vielleicht wird er ein sehr reicher, geachteter Mann
-werden; im Magistratsbureau würde er ein mittelloser
-geachteter Mann geworden sein ... Rein äußerliche
-Rangstufen: arm, wohlhabend, reich, sehr reich, sehr
-reich und gebildet, Millionär ohne, Millionär mit Geschmack
-und Kultur, Großfinanzier – die innere
-Linie ist bei allen die selbe. So ist heute das Leben ...
-Und ich? Wie stehts mit mir? Was soll, was will
-ich werden? Was und wie will ich sein? Wie werde
-ich in zwanzig Jahren sein?‘ Jürgen fand keine
-Antwort.
-</p>
-
-<p>
-Das jüngste Mitglied des von Jürgen gegründeten
-Bundes der Empörer, ein vor dem Abiturientenexamen
-stehender Gymnasiast, hatte bei der Gründungssitzung
-erklärt, einer sei zuviel auf der Welt, entweder
-müsse er sich oder den Geschichtsprofessor vergiften.
-Und war von seiner Ansicht nicht abzubringen gewesen
-durch Jürgens Entgegnung, daß dann ja immer
-noch einige tausend Geschichtsprofessoren am Leben
-bleiben würden.
-</p>
-
-<p>
-Als einige Tage später auch noch die zwei andern
-Mitglieder, fünfundzwanzigjährige, halb verhungerte
-Burschen, die behaupteten, als Matrosen und Goldgräber
-schon die ganze Welt gesehen zu haben, in der
-Villa erschienen waren, versehen mit einem Drahtreif
-voll Sperrhaken und entschlossen, die Wocheneinnahme
-<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
-eines Metzgermeisters, der jeden Freitag
-verreist sei, unter Führung ihres Vorsitzenden und mit
-Hilfe der Sperrhaken zu holen, war der Vorsitzende
-Jürgen aus dem Bunde der Empörer ausgetreten.
-</p>
-
-<p>
-Die Aussprache mit einem schon älteren Manne,
-der sechzehn im Zimmer frei umherfliegende Kanarienvögel
-und eine Bulldogge besaß, aus Liebhaberei auch
-vorgedruckte Postkarten täuschend kolorierte und
-behauptet hatte, er halte die Fäden der anarchistischen
-Bewegung der ganzen Welt in seiner Hand, in Mexiko
-dürfte, entzündet durch zwei seiner Chiffretelegramme,
-die Geschichte demnächst platzen, war von Jürgen
-nach drei Minuten abgebrochen worden.
-</p>
-
-<p>
-In der Jahresversammlung des Vereins für Bevölkerungspolitik
-und Säuglingsschutz, in der die
-Damen beschlossen hatten, uneheliche Wöchnerinnen
-und Kinder in das Heim prinzipiell nicht mehr aufzunehmen,
-war Jürgens Frage an das Leben ebenso
-unbeantwortet geblieben, wie durch die Rede des
-Rektors am Grabe des jüngsten Mitglieds des Bundes
-der Empörer, jenes Gymnasiasten, der sich am Tage
-nach dem mißglückten Examen erhängt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Nach achtmaliger Anwesenheit in den kostbar, geschmack-
-und weihevoll eingerichteten Räumen der
-‚Schule zur innerlichen Vervollkommnung‘, wo brillantengeschmückten
-alten Damen, langhaarigen Jünglingen
-und kurzhaarigen Mädchen von sehr gebildeten
-Menschen empfohlen wurde, das Beste von Laotse
-mit dem Besten von Buddha zu vereinen und diese
-höhere Einheit zur Richtschnur ihres Seelenlebens
-zu machen, war Jürgen, der geäußert hatte, die Weisheit
-dieser Richtschnur bestehe ganz offenbar darin,
-die eigene Seele zu maniküren und sich um die Not
-<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
-der andern nicht zu kümmern, sei also handfester
-Egoismus und von irgendwelcher Hingabe noch weiter
-entfernt als der Unsinn des Bulldoggenbesitzers mit
-den Kanarienvögeln und Chiffretelegrammen, höflich
-und leise ersucht worden, den ‚Stillen Stunden
-innerer Einkehr‘ von nun an fern zu bleiben, worauf
-er mit steigender Sympathie wieder an die zwei
-hungrigen Goldgräber mit den Sperrhaken gedacht
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Von einem Philosophiestudenten war Jürgen einem
-dunklen, sehr schönen jungen Mädchen asiatischen
-Gesichtsschnittes vorgestellt worden, das ungeniert
-sich sofort fast ganz entkleidet und schreitend zu
-tanzen begonnen hatte, die dünnen Finger zu Boden
-gespreizt und das verzückte Gesicht emporgerichtet.
-Noch genau ein Jahr werde sie, hingegeben ihrer
-Kunst, ganz abgeschlossen von der Welt leben und
-dann durch ihren Tanz die Menschheit erlösen. Sie
-werde in den Kirchen tanzen. In der Ecke war ein
-schwarzer junger Mann gesessen und hatte ihr geglaubt.
-</p>
-
-<p>
-In der Erkenntnis, daß die Weigerung, Leichenteile
-zu fressen, vielleicht erst in tausend Jahren Bestandteil
-einer von jeglicher Barbarei befreiten Lebensordnung,
-zur Zeit aber nur Sache des Geschmackes
-einzelner und gewiß nicht das tauglichste Mittel sein
-könne, den Kampf gegen das Ganze und das Umstürzen
-erfolgversprechend zu beginnen, war Jürgen, zur Genugtuung
-der Tante, schon nach einer Woche vom
-Vegetarismus wieder zurückgekehrt zum Fleische.
-</p>
-
-<p>
-Die Entwürfe zweier Dramen, des Inhalts, daß
-einem anständigen Zeitgenossen des zwanzigsten
-Jahrhunderts nur die tragische Wahl bleibe, Selbstmord
-<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
-zu begehen oder völlig bewußt selbst ein Raubtier
-zu werden, hatte er schon vor einem halben Jahre
-auf der bewaldeten Höhe verbrannt und war liegengeblieben
-neben der Asche, lesend in einem Buche,
-dessen weltberühmter Autor erklärte, wenn die Besitzenden
-ganz freiwillig nur all ihres Besitzes und ihrer
-Macht über die Nichtbesitzenden, sowie alle zusammen
-nur jeglicher Lüge entsagen würden, sei in der selben
-Stunde die Menschheit erlöst.
-</p>
-
-<p>
-‚Das dürfte wahr sein; fragt sich nur, welche Maus
-und auf welche Weise sie der Menschheit, dieser
-milliardenfüßigen Katze, die Schelle anhängen soll,
-welche bewirkt, daß wir in allem wahrhaftig sein können‘,
-hatte Jürgen damals gedacht.
-</p>
-
-<p>
-War auf dem Rückwege, sinnend und suchend und
-rat- und hoffnungslos und nur, um nichts unversucht
-zu lassen, zu den aus Nord- und Süddeutschland
-stammenden vier Jünglingen gegangen, die zusammen
-mit drei Mädchen nahe der Stadt vor kurzem eine
-Siedlung gegründet hatten.
-</p>
-
-<p>
-Staunen und Begeisterung über den kameradschaftlich
-freien Ton zwischen diesen hellblickenden
-Mädchen und schwerarbeitenden Jünglingen und über
-die geistig großartige Lebensauffassung, die in dem
-Zeichen unbekümmerter Jugendkraft und befreiend
-humorvoller Ablehnung des Ganzen stand, hatten
-Jürgen erfüllt.
-</p>
-
-<p>
-Ein Siedler mit großer Rundbrille in einem mageren,
-noch unfertigen, nicht ganz hautreinen Gesicht hatte
-den beglückt durch die Nacht heimwärts Marschierenden
-eingeholt und ihm einen Stoß Aufklärungsschriften
-mitgegeben, darunter eine von den Siedlern gemeinsam
-geschriebene und im Selbstverlage erschienene
-<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
-Broschüre ‚Kapitalismus, Universität und freie Jugend‘
-und ein vierseitiges Werbeflugblatt ‚An die Gesinnungsgenossen‘,
-dessen erster Satz lautete: „Wir
-haben der Universität, dieser kapitalistischen Bedürfnisanstalt,
-die Rückseite gezeigt und im Vorfrühling
-mit zusammengepumptem Gelde einen verlotterten
-Bauernhof gekauft, der, obgleich mit Hypotheken
-gegenwärtig noch schwer belastet ...“ Der Schlußsatz
-lautete: „Unsere Siedlung ist eine kleine Insel im
-großen Stunk.“
-</p>
-
-<p>
-Vernachlässigung des Universitätsbesuches, Verzweiflung
-und Drohungen der Tante, Ablieferung der
-Kollegiengelder an die Siedler, die dringend Saatgut
-gebraucht hatten, mühevolle Feld- und Gartenarbeit
-und an den Abenden stundenlange, heftig geführte
-Diskussionen, aufregend und beglückend für Jürgen
-und oft sehr gefährlich für den Weiterbestand der
-Siedlung, waren gefolgt.
-</p>
-
-<p>
-Tag und Nacht offene Fenster. In den Stuben je
-ein Feldbett, ein Handköfferchen und sonst nichts.
-Die Wände, hell gestrichen, leuchteten blau, grün,
-rosa.
-</p>
-
-<p>
-„Morgen kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg
-herunter.“
-</p>
-
-<p>
-Wie lebendig das klingt, hatte Jürgen gedacht.
-‚... kommt Lili mit ihrem Kinde aus dem Gebirg
-herunter.‘
-</p>
-
-<p>
-Anfangs waren die Siedler in allen Versammlungen
-als Sprecher aufgetreten und hatten die anwesenden
-Bürger verblüfft und gereizt durch ihre respektlosen
-Reden gegen Staat und Kirche, Schule, Ehe, Eigentum,
-Zins- und Hypothekenräuberei.
-</p>
-
-<p>
-Der kirchenfeindliche Verein ‚Gedankenfreiheit und
-<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
-Feuertod‘, der seit Jahren erfolglos um die Genehmigung
-kämpfte, sein schon erbautes Krematorium in
-Betrieb setzen zu dürfen, hatte, nachdem in der
-öffentlichen Protestversammlung von dem Siedler
-mit der Rundbrille erklärt worden war, er persönlich
-habe ja gar nichts dagegen einzuwenden, wenn die
-Anwesenden sich schon morgen einäschern ließen,
-nur glaube er nicht, daß dadurch der große Stunk
-merklich vermindert werden würde, die Polizei auf
-Siedler und Siedlung aufmerksam gemacht.
-</p>
-
-<p>
-Kartoffelernte, Hypothekenzinsforderungen, Herbstbeginn,
-kürzer werdende Tage, in dem selben Maße verlängerte,
-immer heftiger werdende Diskussionen. Und
-eines Tages waren die Handköfferchen und Lili mit
-dem Kinde und die Siedler verschwunden gewesen,
-unter Zurücklassung der sieben Feldbetten, die, zusammengeklappt
-und aufeinandergeschichtet, in dem
-offenen Schuppen lagen.
-</p>
-
-<p>
-Der Bauer hatte seine Kommoden, wandbreiten
-Eichenschränke und Riesenfederbetten wieder eingestellt,
-die grünen, rosa und blauen Wände dunkel
-schabloniert und die Heiligenbilder aufgehängt.
-</p>
-
-<p>
-Einige Wochen später war von dem Siedler mit der
-Rundbrille eine Postkarte aus Berlin gekommen:
-Die Siedlung sei aufgeflogen. Die Gründe, eine schwere
-Menge, könne Jürgen sich ja denken. Lili habe sich
-noch nicht entschließen können; aber er sei Mitglied
-der sozialistischen Partei geworden. Und damit Punkt.
-</p>
-
-<p>
-Wenn Jürgen an diesen Herbstabenden, da es im
-vornehmen Villenviertel schon ganz still war, am
-Fenster saß und, zurückdenkend an sein ergebnisloses
-Fragen und Suchen, hinaushorchte in die Nacht, vernahm
-er die fernher dringenden Töne der Drehorgeln.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
-Die fünfzig verschiedenen Melodien zusammen erregten
-bei manchem Besucher schon Schwindelgefühl,
-wenn er auf dem Jahrmarkt noch gar nicht angelangt
-war. Paukenschläge und Trompetenstöße drangen
-siegreich durch.
-</p>
-
-<p>
-Alles drehte sich, funkelte und flog. Die Mädchen
-klammerten sich an ihre Liebhaber an, schrien auf, wenn
-die Berg- und Talbahn in die Tiefe sauste, im rosa beleuchteten
-Tunnel verschwand. Und an der farbensprühenden
-Budenreihe entlang zog die schwarze Menschenmenge.
-Alle Ausrufer waren schon heiser, luden
-hinreißend liebenswürdig ein. Die Konkurrenz war groß.
-</p>
-
-<p>
-Trotzdem hatte sich Herr Rudolf Schmied in seinem
-grünen Wagen zu einem Schläfchen niedergelegt und
-Seidel die Aufsicht und das Geldeinsammeln anvertraut.
-Denn tags zuvor, in früher Morgenstunde,
-als noch kein Budenbesitzer, kein Adjunkt dagewesen
-war, der die Einnahme hätte kontrollieren können,
-hatte Seidel kassiert, sich vom Lehrer der Knabenklasse,
-die geschaukelt hatte, eine Empfangsbestätigung
-ausstellen lassen und Geld und Schein gewissenhaft
-Herrn Rudolf Schmied abgeliefert.
-</p>
-
-<p>
-Dieser Empfangsschein hatte wie tödliches Gift
-auf das Mißtrauen des Herrn Schmied gewirkt. Die
-Adjunkten vermuteten in Seidel einen Verwandten
-des Herrn Schmied, unterordneten sich ihm, lieferten
-willig die Einnahme ab.
-</p>
-
-<p>
-Die immer besetzten zwölf Schiffe der schönen, besonders
-hohen Schaukel flogen unausgesetzt. Die
-sieben der alten, niedrigen Schaukel daneben hingen
-fast immer reglos. Die Adjunkte luden brüllend ein;
-der Orgelspieler drehte wie besessen: alle drängten
-vorbei zur hohen Schaukel.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
-Seidel blickte starr ins Publikum und befahl, als
-er Herrn Hohmeier entdeckte, gleichgültigen Gesichtes
-dem Adjunkten mit dem pflaumenblauen Herzen
-auf der Backe, der von seinen Kollegen ‚Das Herz‘
-genannt wurde, das letzte Schiff in der Reihe anzuhalten,
-da die Tour zu Ende sei.
-</p>
-
-<p>
-Schon preßte ein anderer Adjunkt, der ein abschreckend
-großes, pferdekopfähnliches Gesicht hatte,
-das Anhaltbrett gegen den Kiel des allmählich sich
-totschaukelnden Schiffes. Eine neue Tour begann.
-Seidel sammelte ein. Der Magistratsbeamte ließ ihn
-nicht aus den Augen, die vor Hohn und Genuß funkelten.
-Auch die zukünftige Braut des Herrn Hohmeier
-machte große Augen. Sie hatte ein ganz mageres,
-blasses Gesichtchen.
-</p>
-
-<p>
-„Das Riesenweib! Wie sie ißt! Wie sie trinkt!
-Wie sie schläft! Brustumfang 154! Alles andere dementsprechend!
-Kolossal! Jedem Besucher erlaubt,
-nachzuprüfen! Brustumfang 154!“ schrie der Ausrufer
-links neben der Schiffschaukel.
-</p>
-
-<p>
-Und ein anderer: „Hopp hopp hopp hopp hopp!“
-Der ritt ohne Pferd dem Publikum einen eleganten
-Trab vor zugunsten des ‚Hippodrom von Eder, wo
-reiten kann ein jeder‘.
-</p>
-
-<p>
-Ein kleiner, verhärmt aussehender Budenbesitzer,
-auf dessen Schulter ein abgerichteter Rabe saß, der
-Kopf und Beine und flügellahme Schwingen ruhelos
-bewegte, sagte zu Jürgen: „Treten Sie ein: Hier wird
-jedes Menschen Sehnsucht erfüllt.“
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich stand Jürgen, der blicklos den verhärmten
-Alten anblickte, mit Katharina Lenz in dem Laubgang
-beschnittener Korneliuskirschen. Die Tante führt
-ihn am Arme weg von Katharina.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
-Wüßte ich, was ich will, dachte er, dann würde ich
-jetzt Katharina aufsuchen; aber ich weiß heute nicht
-mehr, als ich damals wußte.
-</p>
-
-<p>
-Bei der kleinen Schiffsschaukel entstand Tumult;
-sie wurde plötzlich von Fahrgästen gestürmt: Der
-Besitzer hatte ein Plakat ausgehängt, auf dem stand:
-‚Hier kostet die Tour den halben Preis‘. Höhnisch
-blickte er zu Seidel hinüber, dessen Schiffe jetzt reglos
-hingen.
-</p>
-
-<p>
-Seidel stürzte zum Besitzer. Der rieb sich entsetzt
-den Schlaf aus den Augen, wollte ebenfalls für den
-halben Preis schaukeln lassen.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn Sie das tun, kommt man zwar wieder zu
-Ihnen, weil unsere Schaukel höher ist, aber die Einnahme
-würde fortan nur die Hälfte betragen. Ihre
-Schaukel wäre entwertet.“
-</p>
-
-<p>
-„Und so verdiene ich gar nichts. Schreiben Sie sofort
-ein Plakat. Das Herz soll helfen.“ Er tanzte vor
-Aufregung.
-</p>
-
-<p>
-„Ich mache Ihnen den Vorschlag ...“
-</p>
-
-<p>
-„Nichts! Nichts! Schnell, Freundchen! Die Zeit
-vergeht.“
-</p>
-
-<p>
-„Wollen Sie riskieren, heute abend keinen Pfennig
-mehr einzunehmen, wenn Sie dafür an den folgenden
-Tagen wieder die volle Einnahme haben würden?“
-</p>
-
-<p>
-Herr Rudolf Schmied warf die Arme: „Was? Wie?
-Was? Wie ist das?“
-</p>
-
-<p>
-„Lassen Sie ganz umsonst schaukeln.“
-</p>
-
-<p>
-Da schrie Herr Schmied mit vollen Lungen so lange
-nach dem Halben-Preis-Plakat, bis Seidel ihm auseinandersetzte,
-dann müsse auch der andere umsonst
-schaukeln lassen, aber es käme darauf an, wer es
-länger aushielte. „Sie sind ein wohlhabender Mann;
-<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
-der Konkurrent steht vor dem Bankerott. Sie warten
-ganz einfach, bis er zu Ihnen kommt und bittet,
-daß beiderseits wieder um den ganzen Preis geschaukelt
-werden soll.“
-</p>
-
-<p>
-Herrn Rudolf Schmieds altes Messegesicht leuchtete.
-</p>
-
-<p>
-Seidel rief Das Herz, das Pferdegesicht und die
-andern Adjunkte in den Wagen. Viele hundert
-kleine, improvisierte Billetts wurden eiligst geschnitten,
-gestempelt. Und auf dem gewaltigen Plakat stand:
-‚Wer ein Billett hat, fährt ganz umsonst in Rudolf
-Schmieds modernster und höchster Schaukel der Welt‘.
-</p>
-
-<p>
-Das Herz brüllte, schleuderte die Zettelchen ins
-Publikum. Das nahm die Schaukel im Sturm. Seidel
-beobachtete die Konkurrenzschiffe, die sich entleerten
-und nicht mehr füllten.
-</p>
-
-<p>
-Ein ungeheurer Tumult erhob sich. Das Hinüber-
-und Zurückbrüllen der beiden Besitzer hatte das ganze
-Messepublikum angezogen. Viele Budenbesitzer kamen
-geeilt, zu erfahren, was ihnen das Publikum entzog.
-In der ersten Reihe stand Herr Hohmeier.
-</p>
-
-<p>
-Eine Viertelstunde später kostete die Tour wieder
-den ganzen Preis. Seidel hatte im Wagen des Herrn
-Schmied die Verhandlungen geleitet.
-</p>
-
-<p>
-Der Besitzer der Berg- und Talbahn, des größten
-Unternehmens der Messe, fing Seidel ab, legte ihm die
-Hand auf die Schulter: „Ich brauche eine Hilfe.
-Wollen Sie Geschäftsführer bei mir werden? ... Das
-haben Sie großartig gemacht.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich bin bei Herrn Schmied angestellt.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich zahle Ihnen das Dreifache.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich mache voraussichtlich schon morgen eine eigne
-Bude auf ... Aber eine Idee will ich Ihnen verkaufen
-für Ihr Unternehmen!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
-„Das wäre?“
-</p>
-
-<p>
-„Schreiben Sie eine Erklärung, daß Sie mir Zweihundert
-bezahlen, wenn Sie meine Idee ausführen.“
-</p>
-
-<p>
-„Hundert!“
-</p>
-
-<p>
-„Zweihundert!“
-</p>
-
-<p>
-Seidel steckte den Zettel ein. „Bei Ihnen fahren
-hauptsächlich Liebespärchen, weil sie in den scharfen
-Kurven gegeneinander geworfen werden.“
-</p>
-
-<p>
-„Das stimmt. Darauf spekuliert die Konstruktion.“
-</p>
-
-<p>
-„Und dann noch wegen des Tunnels. In diesem
-Tunnel verschwinden die Pärchen besonders gern.
-Das habe ich beobachtet.“
-</p>
-
-<p>
-„Aber sicher!“
-</p>
-
-<p>
-„Der Tunnel ist mit roten Glühlämpchen erhellt
-...“
-</p>
-
-<p>
-„Natürlich! Rosa!“ sagte der Mann mit großer
-Gebärde.
-</p>
-
-<p>
-„Lassen Sie morgen von Ihrem Maschinisten eine
-Vorrichtung anbringen, die den Kontakt unterbricht,
-so daß es eine Sekunde dunkel wird im Tunnel, dann
-wieder hell, dunkel ... Die Liebespärchen werden
-sich danach richten.“
-</p>
-
-<p>
-Strahlend trat Herr Rudolf Schmied zu den beiden.
-</p>
-
-<p>
-Seidel ging auf seinen Posten zurück, rief Das Herz
-zu sich. Der war der Sohn eines bankerottgewordenen
-Schaubudenbesitzers, dessen Tiere krepiert waren.
-Seidel hatte erfahren, daß Das Herz den schwer zu
-erlangenden Gewerbeschein besaß und jederzeit eine
-Bude aufmachen konnte. „Was für Tiere waren es
-denn?“
-</p>
-
-<p>
-Das Herz schrie in großer Erregung: „Eine Riesenschildkröte
-und ein Flußpferd. Sie tanzten zusammen
-Menuett.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
-Seidel überlegte, ob ein Mensch mit einem Pferdegesicht
-beim Publikum Erfolg haben würde. Das
-Herz erklärte sich bereit, den Gewerbeschein beizusteuern;
-das Pferdegesicht stellte sich selbst zur
-Verfügung; Leo Seidel die Idee und das Geld. Fehlte
-noch die Bude.
-</p>
-
-<p>
-Die stand unbenützt neben der Hauptattraktion
-der Messe: ‚Herrn August Schichtels Spezialitäten-
-und Zaubertheater‘, dessen Zulauf enorm war. Wer
-das Unglück hatte, seinen Platz neben Herrn Schichtel
-zu bekommen, konnte kein Geschäft machen. Deshalb
-hatte der Besitzer der Bude gar nicht eröffnet.
-</p>
-
-<p>
-Der verhärmte Alte, dessen von niemand beachtete
-Bude rechts neben dem Zaubertheater stand,
-zeigte, als Jürgen, schon heimwärtsstrebend, noch
-einmal vorbeiging, wieder einladend die Handfläche:
-„Hier wird jedes Menschen Sehnsucht erfüllt. Treten
-Sie ein.“
-</p>
-
-<p>
-Einige Tage später schritt Jürgen, der, aus Neugier,
-zu erfahren, welcher Art die Genüsse seiner früheren
-Mitschüler seien, Adolf Sinsheimer versprochen hatte,
-am Monatsersten mit in eine Weinkneipe zu gehen,
-auf das verwahrloste Vorstadthaus zu, vor dem Adolf,
-drei junge Kaufleute und der Magistratsbeamte Hohmeier
-schon wartend unter der roten Laterne standen.
-</p>
-
-<p>
-Aus fünf Brusttaschen stand je ein farbiges Tüchlein
-empor. Blasse und gerötete Gesichter. Auf allen die
-gleiche fiebrige Erregung und Spannung. Die vier
-waren im kaufmännischen Klub gewesen, hatten
-Herrn Hohmeier auf der Straße getroffen und mitgeschleppt.
-</p>
-
-<p>
-Sie wollten, zur Feier des Monatsersten, die Animierkneipe
-mit Damenbedienung besuchen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
-„Aber nur eine Flasche zusammen! Das habt ihr
-mir versprochen“, sagte der Magistratsbeamte, schloß
-den obersten Knopf des Gehrocks. Und folgte als
-letzter, während Adolf die Führung übernahm, resolut
-voranschritt, hinein in das schmale Kneipchen, das
-noch vor einer Woche ein Bäckerladen gewesen war.
-</p>
-
-<p>
-Jetzt waren die drei Glühbirnen mit roten Papierschirmen
-verhängt, die Brotlaibregale mit schön verkapselten
-Weinflaschen spärlich gefüllt, und der
-Ladentisch hatte sich in ein nickelbeschlagenes,
-glanzsprühendes, mit künstlichen Blumen und Weintrauben
-reich geschmücktes Büfett verwandelt, hinter
-dem der Wirt saß und zum zehnten Male die Abendzeitung
-las.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen glaubte in ihm den Sklavenhalter zu erkennen,
-den Held einer Seeräubergeschichte, die er als Gymnasiast
-gelesen hatte. Des Sklavenhändlers tintenschwarzer
-Bart, die Riesenglatze, die Hakennase
-waren da. Nur die Peitsche fehlte; ihre Stelle nahm
-die Abendzeitung ein. Unsichtbar von ihm geleitet,
-gerieten seine drei von Seide und Schminke bunten
-Kellnerinnen mit den Weinkarten in Bewegung.
-</p>
-
-<p>
-Der einzige Gast, außer den Kaufleuten, ein schon
-total betrunkener Fabrikschreiner ohne Halskragen,
-schaukelte den Kopf knapp über der Tischplatte hin
-und her, riß ihn in den Nacken und schrie in die falsche
-Richtung: „Da komm her!“
-</p>
-
-<p>
-Die Älteste ging zu ihm, ließ ein bißchen an sich
-herumgreifen, so lange, bis er einen Geldschein auf
-den Tisch knallte. Strich ihm über das Haar, in dem
-noch die Holzteilchen steckten, und gab ihrer jungen
-Schwester einen Augenwink. Die brachte eine neue
-Flasche.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
-Der Magistratsbeamte beugte sich auf die Tischplatte.
-„Eine zusammen! Ich denke, wir nehmen
-die billigste.“ Und er legte den auf ihn kommenden
-Teil der Rechnung gleich auf den Tisch.
-</p>
-
-<p>
-Erschrocken nahm Adolf das Geld wieder weg.
-„Das ist mein Teil“, sagte der Magistratsbeamte
-deutlich.
-</p>
-
-<p>
-Der Arbeiter glotzte auf seine neue Flasche, glotzte
-die Älteste an. „Jetzt komm aber auch her!“
-</p>
-
-<p>
-Kopfschüttelnd lächelte sie den Kaufleuten zu,
-gab den Augenwink ihrer jungen Schwester, die,
-noch ungeschickt und verlegen, zum Arbeiter ging
-und sich von ihm auf den Schoß ziehen ließ. Er griff
-ihr an die Brust, die noch nicht vorhanden war, und
-brüllte: „Die andere!“
-</p>
-
-<p>
-„Für uns auch ein Gläschen?“ fragte die Älteste
-mit einem Blick, der allen fünfen in die Augen traf.
-Und Adolf gewann die Fassung wieder. „Aber selbstverständlich!“
-</p>
-
-<p>
-Sie entleerte die Flasche in drei Gläser und goß noch
-fünf Gläser voll bis zum Rand, so daß plötzlich drei
-leere Flaschen auf dem Tische standen.
-</p>
-
-<p>
-Der Magistratsbeamte beugte sich vor und seitwärts
-über drei Oberkörper weg, holte sich ein Glas
-mit Wein aus der ersten Flasche und stellte es bedeutungsvoll
-vor sich hin.
-</p>
-
-<p>
-„Schmeckt, was?“ sagte die Älteste, da Adolf den
-Wein kennerisch mit der Zunge prüfte. Er schüttete
-Zigaretten in ihre Hand, und seine Kollegen gaben ihr
-Geld, damit sie das Riesenorchestrion spielen lasse.
-</p>
-
-<p>
-Das nahm die ganze Rückwand ein, reichte bis zur
-Decke. Begann zu rasseln, knackte: ein farbiger
-Husarenleutnant aus Holz, den Taktstock im Händchen,
-<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
-schob sich, ruckweise, wie das rotseidene Vorhängchen
-auseinanderging, in den Vordergrund und
-dirigierte das von Trommelwirbel umdonnerte Flötensolo.
-</p>
-
-<p>
-Der Wirt stand reglos und groß hinter dem Büfett.
-Sein Bart ging mit der Dunkelheit zusammen. Die
-Glatze hing losgelöst und weiß über dem Büfett.
-</p>
-
-<p>
-Der Arbeiter lallte, goß ein, goß in das überlaufende
-Glas, bis die Flasche leer war, stülpte den Flaschenhals
-ins Glas und schimpfte, in der Einsicht, mit
-seinem Wochenlohn gegen die vornehmen Herren
-nicht aufkommen zu können, hoffnungslos in eine
-leere Ecke hinein. „Noch eine Flasche!“ schrie er
-verzweifelt.
-</p>
-
-<p>
-Und die Älteste stand augenblicklich hinter ihm,
-überredete ihn, erst das Geld zu geben, schob es
-wieder zurück. „Das langt nicht zu. Geh heim.
-Hast genug getrunken.“
-</p>
-
-<p>
-Schwankend und drohend erhob er sich. Der Wirt
-stand groß vor ihm, hinter dem Wirt die Älteste mit
-der Mütze des Arbeiters.
-</p>
-
-<p>
-Halb geschoben, torkelte er hinaus, ausgebeutelt
-und betrogen von seiner Sehnsucht nach Glanz und
-nach einer Frau, die keinen verbrauchten Körper
-hatte und keine schmutzige Flanellunterwäsche trug.
-</p>
-
-<p>
-Die Älteste, noch bei der Tür, breitete die Arme aus.
-„Jetzt sagt mir, was hat so ein Arbeiter in einer Weinstube
-zu suchen.“
-</p>
-
-<p>
-Das selbe fragten die Kaufleute. Sie zog aus ihrem
-Busen pornographische Photographien, auf denen sie
-selbst in verschiedenen Stellungen nackt abgebildet
-war, zusammen mit einem Herrn im Frack. Es standen
-schon neun leere Flaschen auf dem Tisch. Die Gläser
-<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
-der Mädchen waren immer beinahe gleichzeitig voll
-und leer.
-</p>
-
-<p>
-„Aber natürlich bringen Sie noch Wein!“ rief Adolf
-und ließ die Bilder durch seine heißen Hände laufen.
-„Aber natürlich bringen Sie noch!“ echoten die
-andern.
-</p>
-
-<p>
-Hinter dem Büfett hing in einem Ring ein Kübel;
-vom Boden des Kübels lief ein Schlauch weg in die
-jeweilig darunterstehende Flasche. Nachdem die
-Mädchen ihre vollen Gläser in den Kübel entleert
-hatten, besorgte der Wirt mit diesem Weine das Füllen
-der Flaschen. Und die Mädchen stellten den Wein
-wieder auf den Tisch.
-</p>
-
-<p>
-Das Orchestrion spielte ununterbrochen. Die vier
-Köpfe, eng aneinandergepreßt, blieben über die Photographien
-geneigt, bis die Älteste die Bilder wegnahm.
-Das Wort ‚Sekt‘ fiel. Jürgen legte einen Geldschein
-in Adolf Sinsheimers Hand und verließ die Weinstube.
-Die andern bemerkten es kaum.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich fühlte der Magistratsbeamte sich beim
-Halse gepackt. Die ineinander verschlungenen Weiber-
-und Männerkörper schaukelten hin und her nach
-der Melodie des Flötensolos. Der Sekt floß. Die
-Flaschen schwebten selbständig vom Büfett herüber
-auf den Tisch. Floß eine Stunde lang im Kreislauf:
-aus den Flaschen in die Gläser, von da in den Kübel,
-durch den Schlauch in die Flaschen und wieder in die
-Gläser, bis der kühl und reglos neben dem Kübel
-stehende Wirt den Wink zur Vorsicht gab.
-</p>
-
-<p>
-Da lösten sich die Mädchen allmählich los. Die junge
-Schwester blieb auf des Magistratsbeamten Schoß
-liegen. Sie war betrunken. Der Wirt schickte ihr einen
-Blick, der sie ernüchterte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
-Ein Schub Studenten trat ein, setzte sich an den
-Tisch, an dem der Arbeiter gesessen hatte.
-</p>
-
-<p>
-Des Magistratsbeamten geschweifter Mund schnappte
-auf und zu, und plötzlich warf er die dürren Arme
-hoch und behauptete: so lebe er, so lebe er, so lebe
-er alle Tage.
-</p>
-
-<p>
-Die Älteste stand schon bei den Studenten, lächelte
-kopfschüttelnd über die Kaufleute und nahm die Bestellung
-entgegen. Die Studenten blickten belustigt
-hinüber.
-</p>
-
-<p>
-„Pardon!“ drohte Adolf, der seinen früheren Mitschüler,
-Karl Lenz, nicht erkannte. Der Wirt kam
-groß aus dem Büfett heraus.
-</p>
-
-<p>
-„... so leben wir alle Tage“, sang der Magistratsbeamte
-immer noch. Und die Älteste präsentierte die
-Rechnung.
-</p>
-
-<p>
-Die fünf Monatsgehälter reichten nicht. Der halbe
-Tisch stand voll Wein- und Sektflaschen. Adolf warf
-noch eine Banknote auf den Tisch, an dessen Stirnseite
-der Wirt stand und die drei Worte sprach: „Das
-langt nicht.“
-</p>
-
-<p>
-Alle standen schwankend und ausgeliefert, wollten
-nach ihren Mänteln greifen. „Sie müssen mir Ihren
-Ring zum Pfande da lassen.“ Der Wirt stellte den
-Zeigefinger steil auf die Rechnung. Die Studenten
-beobachteten gespannt die Szene.
-</p>
-
-<p>
-Adolf zog den Brillantring vom Finger. „Darüber
-muß ich eine Quittung bekommen!“ Und blickte,
-trotz seines Rausches, verblüfft auf die schon ausgefüllte
-Quittung, die der Wirt sofort vor ihn hinlegte.
-</p>
-
-<p>
-Schritt für Schritt ging er hinter den Abziehenden
-nach, schloß die Tür leise und mit Kraft und zog
-sich hinter das Büfett zurück, stellte eine leere Flasche
-<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
-unter den Kübel. Diesmal war es eine Rotweinflasche.
-</p>
-
-<p>
-Die Älteste atmete hoch auf, ließ den Busen fallen:
-„Diese Kaufleutchen! Wollen elegante Herren spielen
-und können dann nicht bezahlen.“ Sie breitete die
-Arme aus: „Jetzt sagt mir, was haben solche Bürschchen
-in einer Weinstube zu suchen?“
-</p>
-
-<p>
-Karl Lenz stimmte ihr bei. Daraufhin auch die
-andern. Sie goß den Rotwein ein. „Auch für uns ein
-Gläschen?“
-</p>
-
-<p>
-„Aber selbstverständlich!“ Und dann ging er ernsten
-Gesichtes erst hinaus in das Klosett und nahm
-das Couleurband ab; die andern hatten, dem Koment
-gemäß, ihre Couleurbänder nicht an.
-</p>
-
-<p>
-Die Älteste goß neun Gläser voll: es waren sechs
-Studenten. Die junge Schwester richtete den Tisch
-der Kaufleute für neue Gäste her. Und der Wirt
-rückte den Kübel zurecht.
-</p>
-
-<p>
-Daß dies besonders herrliche Genüsse wären, wert,
-ihretwegen auch nur den Bruchteil selbst eines blödsinnigen
-Ideals aufzugeben, kann gewiß niemand
-behaupten; aber auch nicht, daß es keine begehrenswerteren
-Genüsse gäbe, dachte Jürgen auf dem Heimwege
-durch die schlafende Stadt.
-</p>
-
-<p>
-Vor dem kleinen Café in der noch belebten Hauptstraße
-stand wieder der Krüppel und neben ihm,
-reglos, grau und böse, die Frau, auf dem Arme den
-skrofulösen Säugling.
-</p>
-
-<p>
-‚Daß einer um den Preis, Liebschaften zu haben
-mit schönen, gepflegten Frauen, oder um der Macht
-und des Erfolges willen Verrat übt an allem, was ihm
-in der Jugend teuer war, wäre schon eher zu begreifen.‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
-Und plötzlich entsann er sich des Abends, da er,
-geladen bei einer der vornehmsten Familien des Landes,
-solchen Frauen begegnet und Zeuge geworden
-war von Gesprächen zwischen Großbankiers, die
-über Weltpolitik, Eisenbahnbauten und den wahrscheinlichen
-Zeitpunkt eines neuen Krieges in leichtem
-Plaudertone gesprochen, und zwischen berühmten
-Schriftstellern, die über die Schönheit eines Goethezitates
-und sogar über den Satzbau des Zitates länger
-als eine Stunde äußerst beziehungsreich und sehr klug
-und geistvoll diskutiert hatten. Das ist Macht, das
-ist Kultur, hatte er damals gedacht.
-</p>
-
-<p>
-‚Aber kann denn durch diese Macht und durch
-diesen Geist das Meer von Tränen, kann denn dadurch
-das würgende, würgende Menschenleid beseitigt werden?
-Ich glaube es nicht. Was aber soll man tun?‘
-Bedrückten Herzens schloß er die rückwärtige Gartentür
-auf, an die er das Schild angebracht hatte: ‚Hier
-wird Armen gegeben‘.
-</p>
-
-<p>
-Seine Fragen an das Leben fanden keine Antworten;
-nur die allzu glatten der Schulkameraden und
-der Tante. Oft – wenn er sah, wie die früheren Mitschüler
-jenseits aller Zweifel lebten – hatte der Vereinsamte,
-wie einmal in der Schule, den Wunsch gehabt,
-auch so zu werden, wie die andern waren, das
-Fragen und das Suchen aufzugeben und sich der
-Tantenauffassung anzuschließen. Diese Stunden nannte
-Jürgen Schicksalspausen.
-</p>
-
-<p>
-Er saß am Fenster, hatte noch Kopfschmerzen von
-dem Wein, sah die Animierkneipe. Schweinerei!
-dachte er, betrachtete mit inbrünstigem Hasse der
-Tante Lebensarbeit: die unverwüstlichen gehäkelten
-Deckchen, die alle Möbelstücke drückten. Der
-<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
-Perpendikel tickte ruhevoll das Wort ‚rich–tig,
-rich–tig‘.
-</p>
-
-<p>
-‚In diesem Zimmer „Schweinerei“ zu sagen, ist
-unmöglich. Da hört die Uhr auf zu ticken, die Deckchen
-gleiten von Sesseln, Tisch, Kommode, und die
-Heiligenbilder fallen von den Wänden.‘
-</p>
-
-<p>
-Eine lange halbe Stunde wurde kein Wort gesprochen.
-Die Tante häkelte. Die Älteste zeigt die
-Photographien.
-</p>
-
-<p>
-„Schweinerei!“ brüllte Jürgen, erwartete die Zimmerrevolution,
-sah die böse herausgedrückten Augen
-der Tante. Die Szene von früher wiederholte sich:
-</p>
-
-<p>
-„Was hast du gesagt?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habs doch nur gedacht.“
-</p>
-
-<p>
-„Du lügst mir wieder ins Gesicht hinein?“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn doch diese verdammte Uhr endlich aufhören
-würde zu ticken!“
-</p>
-
-<p>
-Sie machte eine barsch abschließende Handbewegung
-und stellte die Häkelnadel senkrecht gegen ihn:
-„Wenn du erst in Amt und Würden sein wirst ...“
-</p>
-
-<p>
-Sein ganzer Körper wurde gemauerter Widerstand.
-„Niemals! Ich studiere Philosophie.“
-</p>
-
-<p>
-Zuerst legte sie die Häkelarbeit weg, griff nach der
-Stickerei und stach langsam die Nadel von unten in
-den Stickrahmen, zog sie senkrecht hoch. „Du weißt,
-dein Vater will ...“
-</p>
-
-<p>
-„Er ist ja tot. Tot!“
-</p>
-
-<p>
-„... daß du Amtsrichter wirst.“
-</p>
-
-<p>
-Sein Gesicht verzog sich zu einer Lachfratze. Und
-in die Pause hinein gestand er: „Ich studiere seit
-einem Jahre, studierte von Anfang an Philosophie.
-Überhaupt nie eine andere Vorlesung gehört!“
-</p>
-
-<p>
-Da saß sie aufrecht, faltete übertrieben ruhig die
-<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
-Hände im Schoß: „In diesem Falle würdest du nicht
-einen Pfennig mehr von mir bekommen. Von was
-also wolltest du leben? ... Philosophie? Was willst
-du denn werden?“
-</p>
-
-<p>
-Er sah das Schäfchen auf dem Heiligenbilde an.
-„Werden?“ Die Uhr tickte: ‚rich–tig, rich–tig‘.
-</p>
-
-<p>
-„Nun, was also? Alle deine Schulkameraden wissen
-längst, was sie werden wollen.“
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich schlug seine Ratlosigkeit in Wut um. Er
-brach in die Knie, preßte beide Fäuste an den Hinterkopf
-und brüllte wild: „Nichts weiß ich! Landstreicher
-werde ich. Ich gehe auf die Landstraße. Ein Gauner
-werde ich, wenn du mich noch länger quälst.“
-</p>
-
-<p>
-Der Kniende stierte auf die Krüppelfamilie, die grau,
-elend, schemenhaft vor der Dunkelheit stand. Auch
-den skrofulösen Säugling auf der Mutter Arm sah
-Jürgen. Kniend rutschte er auf die imaginäre Gruppe
-zu und zur Tür hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Erst oben in seinem Zimmer kam die Wut voll zum
-Ausbruch. Zuletzt riß er die Waschschüssel mit beiden
-Händen in die Höhe und schmetterte sie auf den Fußboden.
-Die Stirn blutete. Das Zimmer war verwüstet.
-</p>
-
-<p>
-Allmählich wurde der vom Weinen Gestoßene still.
-Er saß, Arme verschränkt, Kopf darauf, am Tisch.
-Tränen und Speichel vermischten sich auf der Tischplatte.
-So blieb er hocken.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich deutete er durch den Fußboden auf das
-Heiligenbild im Wohnzimmer und verlangte ausdrücklich:
-„Das Lämmchen muß dem Heiligenbild
-weggenommen und der Krüppelfamilie vor die Füße
-gesetzt werden.“
-</p>
-
-<p>
-‚Der arme Jürgen! Sie haben ihn so lange gequält,
-bis er irrsinnig wurde‘, ließ er Katharina Lenz sagen,
-<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
-ahmte eine Kinderstimme nach, schmollte trotzig und
-weinerlich: „Man muß das Lämmchen zur Krüppelfamilie
-tun.“
-</p>
-
-<p>
-‚Wie man ihn gequält hat! Jetzt ist der Arme irrsinnig‘,
-klagte Katharina.
-</p>
-
-<p>
-Und er schauspielerte: „Das Lämmchen gehört zu
-der Krüppelfamilie ... Bäh, bäh, bäh!“ Müdigkeit
-drückte des Erschöpften Wange auf die Tischplatte.
-Noch einmal hob er das von Tränen und Blut verschmierte
-Gesicht, rief trotzig und blöd: „Bäh!“ und
-schlief ein.
-</p>
-
-<p>
-Da erschien, grün und aufgetrieben wie ein Ertrunkener,
-der Vater hinter dem Stuhle, tippte Jürgen
-auf die Schulter und sagte leise und lächelnden, weitgeöffneten
-Mundes, so daß alle Zähne bleckten: „Na,
-du schmähliches Etwas.“ Dabei drehte der Vater des
-Jahrmarktes riesige, vieltausendstimmige Drehorgel,
-deren Töne fernher drangen durch den warmen Herbstabend.
-</p>
-
-<p>
-Der Kontakt im Tunnel der Berg- und Talbahn
-funktionierte schon. Die Bude links neben dem Zaubertheater
-war mit Hilfe von Ölfarbe in einen alten Stall
-umgewandelt, aus dessen Luke Heu hervorquoll. Der
-Kopf des mit kosmetischen Mitteln hergerichteten
-‚Pferdegesichtes‘ sah sehr abnorm aus.
-</p>
-
-<p>
-Das Herz brüllte in das Riesenhorn, das Seidel hatte
-machen lassen: „Hier ist zu sehen der Mensch mit dem
-Pferdekopf! Die größte Abnormität der Welt! Er
-frißt Heu wie Brot! Hafer ist ihm das liebste! ...
-Man höre ihn wiehern.“
-</p>
-
-<p>
-Blies mächtig ins Horn, starrte, Hand am Ohr, ins
-Publikum: Aus der Bude erklang das brünstige Wiehern
-des Pferdegesichtes.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
-Auch Jürgen, der außerhalb der Stadt auf der bewaldeten
-Höhe stundenlang am selben Flecke reglos
-gelegen war und sich nach dreißig Schritten, gepeinigt
-von Unruhe und Ratlosigkeit, wieder in das Moos hatte
-fallen lassen, den Blick fernaus gerichtet, dem Flußlauf
-nach, in das weite Land, dem Meere zu, ganz und gar
-erfüllt von dem Wunsche, aller Last zu entlaufen, hinaus
-in ein Leben der Ungebundenheit, wurde auf dem Heimwege
-angezogen von den Drehorgelmelodien, die, wie
-in der Knabenzeit, in ihm das Gefühl wieder erwachen
-ließen, daß hier die Freiheit sei.
-</p>
-
-<p>
-Das ist das selbe Gefühl, das den sechsjährigen Sohn
-des Geheimrates sagen läßt: ‚Ich will Droschkenkutscher
-werden‘, dachte er und betrachtete den Stall.
-Rechts stand: Eingang; links: Ausgang. In der Mitte
-saß Leo Seidel vor der grünen Drahtgitterkasse.
-</p>
-
-<p>
-Ihn jedoch hat nicht dieses Gefühl vor die Schaubude
-gesetzt, dachte Jürgen, wollte schon durch die
-Menge durch, die drei Stufen hinauf, Seidel zu begrüßen,
-erinnerte sich in dieser Sekunde der Weltgeschichte
-und seines letzten Gespräches mit Seidel
-und verließ den Jahrmarkt.
-</p>
-
-<p>
-Seidel hatte Jürgen nicht bemerkt; er war sehr
-beschäftigt. Wenn die Leute sahen, wie das aus der
-Luke heraushängende Heu sich bewegte, siegte bei
-vielen die Neugierde, einen Menschen mit einem
-Pferdegesicht beim Heufressen zu beobachten, so daß
-die Bude immer guten Zulauf hatte.
-</p>
-
-<p>
-In der Hand die Rechnungen für Ölfarbanstrich,
-innere Ausstattung, Riesenhorn und Stallmeisterlivree,
-die Das Herz trug, und im Kopfe die Idee,
-daß nur derjenige zu Geld kommen könne, der andere
-für sich arbeiten lasse, stellte der kapitalkräftige Seidel
-<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
-Herz und Pferdegesicht am Wochenschlusse vor die
-Wahl, entweder Mitinhaber zu bleiben und während
-der ganzen Messedauer auf jeglichen Verdienst zu verzichten
-– denn diese Rechnungen müßten erst gewissenhaft
-bezahlt werden –, oder alle Mitinhaberrechte
-abzutreten und sofort Angestelltengehalt zu
-beziehen.
-</p>
-
-<p>
-Das Herz schrie: „Der Gewerbeschein war mein
-einziges Erbe.“ Das Pferdegesicht erklärte, nicht jeder
-könne seine Visage als Pferdekopf für Geld ausstellen,
-und jeden Tag bis Mitternacht Heu zu fressen, sei
-auch keine Kleinigkeit. Die grüne Drahtgitterkasse,
-in der die Wocheneinnahme lag, klappte zu.
-</p>
-
-<p>
-Da wählten die beiden das Geld in die Hand. Seidel
-war Alleininhaber.
-</p>
-
-<p>
-Während er einlud und kassierte, grübelte er unausgesetzt
-darüber nach, wo er eine breitere Basis
-für seinen spekulativen Geist finden könnte.
-</p>
-
-<p>
-Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem
-mächtigen Backsteinbau zurück: dem Zirkus, der den
-ganzen Winter über in der Stadt blieb und während
-der vier Wochen langen Jahresmesse schlechte Einnahmen
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Seidel benutzte die losen Beziehungen, die zwischen
-einigen Budenbesitzern und dem Zirkusunternehmer
-bestanden, und schlug diesem vor, Familienbilletts zu
-ermäßigten Preisen zu verkaufen, solange die Jahresmesse
-in der Stadt sei. Auch solle er an Stelle der
-herkömmlichen und deshalb nicht mehr wirksamen
-Zirkusplakate ein von einem guten Künstler zu entwerfendes
-modernes Plakat kleben lassen.
-</p>
-
-<p>
-Von einem modernen Plakat wollte der Mann nichts
-wissen. Die Billettidee hatte er selbst gehabt und war
-<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
-schon dabei, sie auszuführen. Aber es gelang Seidel,
-einige für seine Zukunft wichtige Bekanntschaften mit
-Zirkuskünstlern zu machen.
-</p>
-
-<p>
-Bald darauf behauptete Adolf Sinsheimer, er habe
-Leo Seidel, im Pelz, den Zylinder auf dem Kopfe, im
-Vorraume des Berliner Wintergartens gesehen, in Gesellschaft
-von eleganten Damen und Varietékünstlern.
-</p>
-
-<p>
-Und so konnten einige Jahre später seine früheren
-Kollegen vom Stadtmagistrat und die Schulkameraden,
-von denen die meisten zu dieser Zeit schon jung verheiratete
-Männer waren, nicht allzu sehr darüber verwundert
-sein, daß eines Tages Leo Seidel, der nicht
-lange Impresario geblieben war, als kaufmännischer
-Direktor des riesigen Wanderzirkus in die Heimatstadt
-zurückkehrte, im ersten Hotel abstieg und im
-eigenen Wagen fuhr.
-</p>
-
-<p>
-Zu jener Zeit war Herr Hohmeier eben bis zum
-breiteren Löschblattbügel vorgerückt und wollte sich
-verheiraten.
-</p>
-
-<p>
-Der Besitzer des Zirkusunternehmens kränkelte und
-hatte nur eine Tochter. Sie war siebzehn Jahre alt.
-</p>
-
-<p>
-Kurz vorher hatte Seidel, der längere Zeit im Weizen-
-und dann im Stabeisengroßhandel mit nicht besonderem
-Erfolge tätig gewesen und deshalb noch einmal
-in das ihm vertraute Fach zurückgekehrt war,
-an der Börse sehr gewinnreich mit Baumwolle spekuliert.
-Er war seit Jahren Abonnent volkswirtschaftlicher,
-bank- und börsentechnischer Zeitschriften.
-</p>
-
-<p>
-Er studierte die Preisschwankungen des Marktes
-nicht wie der Großindustrielle oder Börsianer, die,
-das Risiko zu vermindern, sich mit ihren Abschlüssen
-von Tag zu Tag nach den Markt- und Börsenberichten
-orientieren; er verglich seit Jahren die an- und abschwellenden
-<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
-Kurven der Export- und Importziffern
-aller Länder, verfolgte genau die hieraus sich ergebenden
-inner- und außerpolitischen Spannungen,
-täuschte sich selten über den Zeitpunkt hereinbrechender
-Wirtschaftskrisen – eine Fähigkeit, die ihn nicht
-nur vor Verlusten geschützt, sondern ihm seine bisher
-größten Gewinne eingebracht hatte – und wartete,
-in jeder Hinsicht gerüstet, seit langem nur auf die
-Situation, die es ihm gestatten würde, unter möglichster
-Ausschaltung des Risikos die Hand auf das ganz
-große Geschäft zu legen.
-</p>
-
-<p>
-Schon jetzt glaubte Seidel begründete Hoffnung zu
-haben, die Siebzehnjährige nicht heiraten zu müssen.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="III">
-III
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-„Sie sind ja in der Brodstraße.“ Der Portier setzte
-sich wieder auf das Bänkchen.
-</p>
-
-<p>
-„Wo Herr Knopffabrikant Sinsheimer wohnt?“
-</p>
-
-<p>
-„Den hat der Schlag getroffen. Heute mittag. Punkt
-eins. Kommt von einem Geschäftsgang zurück, liest
-die eingelaufene Post, da trifft ihn der Schlag ...
-Auch ein Unglück für die Familie!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen überwand seine Scheu, ein Haus zu betreten,
-in dem ein Toter lag, stieg die Treppe hinauf, vorbei
-an dem farbigen Treppenhausfenster, auf dem Wilhelm
-Tell im Ausfall stand, bereit, den Apfel herunterzuschießen
-von den blonden Locken.
-</p>
-
-<p>
-Im Vorzimmer kämpfte Gulaschduft mit Medizingeruch.
-„Herr Adolf kommt gleich“, sagte das Dienstmädchen
-und drehte eine schwach und rot brennende
-Birne an im Salon.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
-Eichenmöbel, reich geschnitzt, schwarz und unverrückbar
-schwer, füllten ihn. Zahllose Nippesgegenstände
-posierten, miauten, sangen, tanzten Menuett
-auf allen erdenklichen Plätzchen und Kanten. Jürgen
-wand sich bis zu einem Stuhle durch, dessen hohe
-Lehne, gebildet durch zwei vielfach geschwungene,
-schwarzgebeizte Schwanenhälse, mit einer Wasserrose
-abschloß, in der ein Frosch saß, das Krönchen auf
-dem Kopfe.
-</p>
-
-<p>
-Ohne sich zu rühren, musterte er die Gegenstände,
-begann schließlich zu zählen: vier meterhohe Petroleumlampen
-– Geschenke, die niemals gebrannt
-hatten –, eine große Anzahl nie benutzter Tee-,
-Kaffee- und Likörservice, entdeckte nachträglich noch
-zwei hohe, glänzende Gestelle, die er erst auch für
-Lampen hielt, dann aber als Tafelaufsätze erkannte:
-Nachbildungen des Eiffelturmes, auf dessen Stockwerken
-Birnen, Äpfel, Trauben, aus farbigem Tuche,
-lagen. An der Wand hing, zwischen dem Dackel, der,
-das weiße Zipfeltuch um den Kopf, an Zahnweh leidet,
-und dem Kätzchen, das mit dem Wollknäuel spielt,
-ein kleiner Elefant, der den Rüssel hin und her schleuderte.
-Das Ziffernblatt auf seiner Stirn stellte Afrika
-dar.
-</p>
-
-<p>
-Unvermittelt schlug der Gedanke ein, daß vielleicht
-im Zimmer nebenan der Tote liege. Um sich abzulenken,
-nahm Jürgen den Bronzelöwen in die Hand,
-der, schleichend zusammengekauert, Tatzen auf dem
-Rande, die Zunge dürstend in die Aschenschale
-streckte. Stand auf, sah umher, drehte am Schalter.
-Mit dem Verlöschen der Birne schwankten alle Möbel,
-wie betrunken, auf Jürgen zu und versanken in der
-Finsternis. Er fand den Schalter nicht wieder.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
-Da sah er in einem Blitze der Angst die Leiche im
-Salon liegen, schneeweiß aufgebahrt und mit genau
-der selben Kopfhaltung wie die seines Vaters. Schnell
-drehte er sich einige Male um sich selbst, bemüht, die
-Leiche des Vaters nicht im Rücken zu haben, und
-streckte die Hand frierend hinter sich nach dem Türdrücker
-aus.
-</p>
-
-<p>
-Der Elefant trompetete. Die Tür knallte gegen
-Jürgens Kopf: Adolf hatte eintreten wollen. „Na,
-sag mal, sitzt du im Dunkeln! ... Lina! Donnerwetter,
-Lina!“ Sie kam gesprungen. Jürgen wollte
-aufklären.
-</p>
-
-<p>
-„Ist ja alles sehr schön! Aber weshalb wird denn
-nicht der ganze Lüster angeknipst, wenn Besuch da
-ist! ... Bringen Sie Tokaier.“
-</p>
-
-<p>
-Seine Hand hatte den Schalter gefunden. Zornig
-schritt er auch noch in die andern drei Ecken: Immer
-mehr Birnen glühten auf an Kandelabern und am
-gewaltigen Lüster. Die tausend Gegenstände standen
-tot im weißen Lichte. „So, nun mache dirs bequem.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen setzte sich wieder auf den hochlehnigen
-Schwanenstuhl und sprach das Tokaierglas prostend
-erhoben, verlegen sein Beileid aus über den entsetzlichen
-Unglücksfall, der Adolf betroffen habe.
-</p>
-
-<p>
-„Das passiert meinem alten Herrn öfter. Es geht
-ihm schon wieder besser. Er hat schon etwas Gulasch
-gegessen. Jetzt schläft er.“
-</p>
-
-<p>
-Nachdem die beiden weggegangen waren, schritt das
-Mädchen von Schalter zu Schalter und stürzte den
-Salon wieder in das schwarze Nichts.
-</p>
-
-<p>
-Auf der Straße zog Adolf mit weißen Litzen besetzte
-Glacéhandschuhe an und machte beim Sprechen abgehackte
-Viertelsdrehungen auf Jürgen zu, wie ein
-<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
-Leutnant, der mit einer Dame spazierengeht. Sein
-Vater habe diesen Morgen Ärger gehabt, wegen einer
-Zahlung an eine Londoner Bank. Es habe sich zwar nur
-um einige zehntausend Pfund gehandelt. „Eine Bagatelle,
-gewiß! Aber wenn sie momentan nicht flüssig zu
-machen sind? ... Geht er heute früh dieser Sache
-halber fort, kommt schon aufgeregt nachhause, da
-findet er ein Schreiben aus dem Kriegsministerium,
-des Inhalts, daß wir ...“ Er blieb stehen, hob den
-Spazierstock wie eine Kerze: „Diskretion?“
-</p>
-
-<p>
-„Vielleicht sagst du mir lieber nichts.“
-</p>
-
-<p>
-„Aber bitte, dein Wort genügt mir ... daß wir
-den Auftrag erhalten haben, den neuen Armeeknopf
-zu liefern. Begreifst du, was das bedeutet? ...
-Ahnungslos öffnet mein Alter das zweite amtliche
-Schreiben, liest, daß er zum Kommerzienrat ernannt
-worden ist: schwuppdich – Schlaganfall ... Bitte,
-nach dir.“
-</p>
-
-<p>
-Schwungvoll ließ der schon zum Kellner emporgerückte,
-seinen Ober jetzt mit vollkommenster Sicherheit
-kopierende frühere Pikkolo das Tablett mit den
-Wassergläsern auf die Marmorplatte auflaufen. Das
-Knopfexporthaus stand wuchtig und still gegenüber
-in der Abendruhe.
-</p>
-
-<p>
-Ein starker Tourenwagen hielt vor dem Café. Ein
-blonder Herr trat ein. Adolf verbeugte sich steif und
-tief und flüsterte: „Sechzigpferdig! Ein Klubmitglied!
-Sohn des Maschinenfabrikanten Heller ... Die
-haben ihrem Werke kürzlich noch eine Abteilung angegliedert,
-in der ausschließlich Eisenbahnweichen
-fabriziert werden. Staatsaufträge, mußt du wissen!
-Auch die scheinen die nötigen Verbindungen zu haben.
-Enorm reiche Leute!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
-Jürgen wurde die Seele schwer bei dem Gedanken,
-daß seit jenem ersten Kaffeehausbesuch schon soviel
-Zeit vergangen war und er noch immer unklar und
-ziellos dahinlebe. Abwesend sah er in das glänzende
-Gesicht, von der Krawattenperle zum seidenen Tüchlein,
-das glatt und grün aus der Brusttasche wuchs.
-</p>
-
-<p>
-„Gestern übrigens – ich unterhalte mich nicht
-ungern mit dem jungen Heller – erzählte er mir im
-Klub, er habe den Ingenieur, der das Einrichten der
-Weichenfabrik überwacht und geleitet hat, husch, die
-Lerche! rausgeschmissen.“
-</p>
-
-<p>
-„Fort möchte ich! Weg von Europa! Weg von dem
-Ganzen! ... Vielleicht wenn ich Dolmetscher werden
-könnte in China!“ Und plötzlich erfüllt von Zorn
-und Hohn: „Bist du schon weit mit deiner Knopfsammlung?“
-</p>
-
-<p>
-„Unsinn! Das war ja Kinderei. Hast du eine
-Ahnung! Es gibt, rein menschlich genommen, nichts,
-das mir gleichgültiger wäre als Knöpfe ... Ich sammle
-etwas ganz anderes.“
-</p>
-
-<p>
-Er beugte sich zu Jürgens Ohr, flüsterte und lehnte
-sich wieder zurück. „Von jeder, die ich gehabt habe!
-... Kannst dir die Sammlung einmal ansehen.“
-</p>
-
-<p>
-„Weshalb hat er ihn denn hinausgeworfen?“
-</p>
-
-<p>
-„Überall liegt ein Zettel bei, mit dem Vornamen
-der Betreffenden und dem Datum.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn er doch das Einrichten der Fabrik leitete!“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, und gleich hinterher hat er die Arbeiter zum
-Streik aufgehetzt. Ein Blutroter nämlich, verrückter
-Weltverbesserer, weißt du, Bombenschmeißer und
-so ... Zeichnet, konstruiert, wählt aus, baut um,
-rennt und schwitzt, bis das Werk steht – soll übrigens
-ein brauchbarer Techniker und Organisator sein –,
-<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
-dann hetzt er die Leute auf ... So etwas gibts noch,
-heutzutage, trotz des enormen Aufschwungs unserer
-Industrie.“
-</p>
-
-<p>
-„Hast du denn schon einmal darüber nachgedacht,
-daß trotz des Aufschwunges unserer Industrie die
-große Mehrheit aller Menschen zu schwer arbeiten
-muß und dabei kaum das Nötigste zum Leben hat,
-vor allem aber jeglicher Möglichkeit, ihre geistigen
-Anlagen auszubilden, jeglicher Entwicklungsmöglichkeit
-vollständig beraubt ist? Im Gegensatz zu anderen,
-die essen, leben und sich bilden können – wie zum
-Beispiel wir –, selbst wenn sie wenig oder nichts
-arbeiten!“
-</p>
-
-<p>
-„Deine Sorgen! Übrigens: ich muß auch arbeiten.
-Und wie wir geschwitzt haben, mein Alter und ich,
-betreffs des Armeeknopfes! Du solltest nur ein einziges
-Mal eine Kalkulation für solch eine Riesenlieferung
-machen müssen, da würde dir das Nichtvorhandensein
-sämtlicher und noch einiger Dutzend mehr Entwicklungsmöglichkeiten
-anderer Leute schnuppe sein.“
-</p>
-
-<p>
-Wer weiß überhaupt, dachte Jürgen, weshalb der
-eine denkt und der andere niemals zu selbständigem
-Denken, nie zu einer eigenen Meinung kommt und deshalb
-auch nie zu einem Proteste gegen das Bestehende?
-Ist da die verschiedene Konstitution entscheidend?
-Oder das Leben, wie es ist, die Ordnung, die Lebensordnung?
-Oder alles zusammen? ... Das ist ein
-tiefes Problem. Das sind Fragen, schwer zu beantworten
-... Und wer jetzt dazu noch überlegt, daß
-ganz offenbar diejenigen, die nicht selbständig denken,
-die Uneigenen, diese Ordnung bestimmen, dem
-Leben das Gesicht geben, der muß zugeben: Alles,
-das Ganze, ist verkehrt. Das Ganze!
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
-„Jeder Armeeknopf muß x-mal durch die Maschine
-laufen. Dazu die Berechnung des Rohmaterials, der
-Kapitalsverzinsung, der Arbeitslöhne. Wenn du zu
-hoch kalkulierst, bekommst du den Auftrag nicht;
-und wenn du dich bei solch einem Riesenauftrag verrechnest,
-bist du pleite.“
-</p>
-
-<p>
-Den kleinen Finger weggespreizt, zog er das grüne
-Tüchlein aus der Brusttasche und wischte sich die
-trockene Stirn. „Was sagtest du vorhin? Dolmetscher
-in China? Kannst du denn chinesisch? Es gibt meines
-Wissens und gewissermaßen nicht ein Dutzend Leute
-in Deutschland, die chinesisch können.“
-</p>
-
-<p>
-„Gerade deshalb glaube ich ja, daß ich leicht einen
-Dolmetscherposten in China bekommen könnte“, sagte
-Jürgen, der bis vor zehn Minuten niemals daran gedacht
-hatte, Dolmetscher in China werden zu wollen.
-</p>
-
-<p>
-„Ich kann ja schon ziemlich chinesisch“, begann er
-auf der Straße von neuem. „Ich lerne nämlich seit
-Jahren in einer alten Grammatik, die ich unter den
-Büchern meines Vaters gefunden habe ... Zum Beispiel
-als Dolmetscher bei der deutschen Gesandtschaft
-in China! ... Nur weg von Europa!“
-</p>
-
-<p>
-„Solltest du nicht Amtsrichter werden? ... Schön,
-werde du Dolmetscher! Nichts als Romantik, mein
-Lieber, sauere Romantik! ... Na, mein Ziel kennst
-du ja. In einigen Monaten ist das neue Knopfexporthaus
-unserer Knopffabrik angegliedert. Runde Sache!
-Konzentration, mein Junge! Aber davon verstehst du
-ja nichts ... Im übrigen – lebe ich, amüsiere mich und,
-um es glatt herauszusagen, vergrößere meine Sammlung
-weiblicher Geschlechtshaare. Später ... natürlich heiraten!“
-Er war mit der Bankierstochter Elisabeth
-Wagner, einer früheren Mitschülerin Katharinas, verlobt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
-Der schwere Wagen hielt. Der Fabrikantensohn
-stieg aus und die läuferbelegte Treppe hinauf. Auch
-Jürgen und Adolf waren vor dem Klubhause angelangt.
-</p>
-
-<p>
-„So einfach, wie du dir das vorstellst, erhält man
-Staatsaufträge natürlich nicht. Da sind, abgesehen
-von der Kalkulation, noch ganz andere Kräfte im
-Spiel, Kräfte, sage ich dir ... Für tausend Knöpfe
-werden bezahlt“, rief er plötzlich mit starker Stimme
-und nannte die Summe, „und hundertachtzig Millionen
-sind bestellt ... Rechne aus! Mein verflossener Chef
-wird platzen vor Ärger über den Kommerzienratstitel.
-Und obendrein, schwuppdich! schnappten wir
-ihm noch den kolossalen Staatsauftrag weg. Kurzum:
-es geht, husch, die Lerche! schnurstracks in die Höhe.
-Merkst du das?“
-</p>
-
-<p>
-„Schwuppdich!“ murmelte Jürgen; er hatte gar
-nicht zugehört.
-</p>
-
-<p>
-Da klang, wie damals, Klaviergepauke und Refraingesang
-durch das offene Fenster. Und Adolf, beide
-Arme weit ausgebreitet, Stock in der einen, Glacés
-in der andern Hand, sang mit in übersprudelnder
-Lebensfreude:
-</p>
-
-<div class="poem-container">
- <div class="poem">
- <div class="stanza">
- <p class="verse">„Es haben zwei ne ganze Nacht</p>
- <p class="verse">Zusammen in einem Bett verbracht.</p>
- <p class="verse">Was ham se wohl gemacht?“</p>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="noindent">
-Während Jürgen die Stadt durchquerte, verlobte
-auch er sich. Katharinas Vater, Herr Geheimrat Lenz,
-löste die Verlobung wieder, weil Jürgen ein brotloser
-Philosoph und nicht bei einer schlagenden Verbindung
-war.
-</p>
-
-<p>
-Am Arme ihres Gemahls – einer berühmten Persönlichkeit
-– geht Katharina vorüber an Jürgen,
-<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
-ihrem früheren Verlobten, der, total heruntergekommen
-und versoffen, die Straße kehrt. Bleibt stehen, ergriffen
-von Mitleid. ‚Sieh mal, wie furchtbar traurig! Er
-war mein Jugendfreund. Schenke ihm doch etwas.‘
-</p>
-
-<p>
-Ihr Mann ist sehr edel, gibt seine ganze Brieftasche
-dem demütig Dankenden, an dessen abgezehrtem Gesicht
-die Tränen herunterrollen.
-</p>
-
-<p>
-Auch Katharina schluchzt, legt ihre Hand auf die
-seine, die den Besen hält, und sieht ihren Mann an:
-‚Jürgen war nicht immer so. Denke das ja nicht.
-Wenn du wüßtest, welch wunderbarer Mensch er gewesen
-ist! Hätte ich ihn sonst geliebt? Keineswegs
-immer so! Zum Beispiel ernannte ihn die Regierung,
-obwohl er anfangs nur ein untergeordneter Dolmetscher
-war, seiner ganz außerordentlichen Fähigkeiten
-wegen zum deutschen Gesandten in China.‘
-</p>
-
-<p>
-Da verschwand Katharinas Mann. Nicht dieser,
-sondern Jürgen ist mit ihr verheiratet, empfängt die
-phantastisch wunderbar gekleideten chinesischen Würdenträger,
-von denen vor lauter tiefen Verbeugungen
-beständig nur die Rücken zu sehen sind. Der Saal hat
-keine Decke. Das Sternenfirmament blitzt über dem
-glänzenden Feste des deutschen Gesandten. Der
-Reichskanzler hat für außerordentliche diplomatische
-Dienste an Jürgen ein Danktelegramm geschickt.
-‚Empfehlen Sie mich auch Ihrer Frau Gemahlin.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Katharina, der Kanzler läßt sich dir empfehlen.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Das alles habe ich nur dir zu verdanken, Jürgen.‘
-</p>
-
-<p>
-Der Aufschrei einer Frau und das Schimpfen und
-heftige Läuten des Trambahnführers stießen ihn zurück
-in die Wirklichkeit. Er befand sich in einem ihm
-gänzlich fremden Stadtteil.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn diese schweinischen Träumereien jetzt nicht
-<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
-endlich aufhören, knalle ich mich nieder. Das ist ja
-Onanie“, schrie er plötzlich wutentstellten Gesichtes,
-in dem, ebenso plötzlich, grenzenlose Verwunderung
-sich auftat, als er bemerkte, daß er vor dem Hause
-stand, in welchem der Ingenieur wohnte.
-</p>
-
-<p>
-Jetzt erst erinnerte Jürgen sich wieder, daß er Adolf
-nach der Adresse gefragt und auf dem Wege durch
-die Stadt zweimal Straßenschilder gesucht hatte, in
-diese Seitenstraßen eingebogen und einmal sogar ein
-Stück Weges wieder zurückgegangen war, ohne sich
-des Grundes bewußt geworden zu sein.
-</p>
-
-<p>
-Außerdem ist Katharina ja von zuhause weggelaufen,
-wird sich also von dem Herrn Geheimrat nichts mehr
-dreinreden lassen, dachte er, schon wieder traumversunken,
-beim Hinaufsteigen, las auf einem weißen Kärtchen
-den handgeschriebenen Namen des Ingenieurs.
-‚Was soll ich ihn denn fragen? Was soll ich sagen?‘
-</p>
-
-<p>
-Da hatte er schon geläutet. Die schweigsame Wirtin,
-deren Unterlippe mürrisch auf das Kinn herabhing,
-führte ihn in das große, helle Zimmer. Der Ingenieur saß
-am Schreibtisch, mit dem Rücken zur Tür. „Setze dich.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen setzte sich. Betrachtete die hellgelben,
-leeren Wände.
-</p>
-
-<p>
-„In den Sessel!“
-</p>
-
-<p>
-Er stand auf und setzte sich in den modernen, bequemen
-Ledersessel, vor das vollgestopfte Bücherregal,
-neben dem mehrere Stöße fremdsprachiger Zeitungen
-auf dem glänzenden Parkettboden standen. ‚Was
-soll ich sagen? Verflucht, das ist ja wie in der Schule
-... Was will ich überhaupt?‘
-</p>
-
-<p>
-Lange und nachdenklich sah er den schreibgekrümmten
-Rücken an. ‚Wenn ich das wüßte, würde
-ich nicht hier sein.‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
-„Genossin, dein Artikel war in einem wichtigen
-Punkte schlecht. Du solltest den betreffenden Abschnitt
-noch einmal bei Marx nachlesen. ‚Die Klassenkämpfe
-in Frankreich‘. Auch bei Engels ‚Ursprung der
-Familie‘ gibt es darüber eine sehr aufschlußreiche Stelle.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen nahm sich vor, diese zwei Bücher gleich zu
-kaufen. ‚Aber so geht das ja nicht weiter. Schließlich
-verrät er mir noch Geheimnisse.‘
-</p>
-
-<p>
-„Bei Marx nämlich ist die Problemstellung folgendermaßen“,
-sagte der Ingenieur und wandte sich um.
-„Entschuldigen Sie! Ich erwartete jemand.“ Er hatte
-unveränderlich junge Augen in einem männlich fertigen
-Gesicht, das als Abschluß einen kleinen Spitzbart
-braucht, der auch vorhanden war.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen stand auf. Da klingelte das Telephon.
-Während der Ingenieur horchte und sprach und
-horchte, verwarf Jürgen zehn verschiedene Gesprächsanfänge.
-Wünschte sich fort. Vernahm, wie der Ingenieur
-das Höhrrohr wieder auflegte. „Also, was
-wollen Sie?“
-</p>
-
-<p>
-„Fragen, was ich mit meinem Leben anfangen soll ...
-Ich bin doch nun einmal da“, antwortete er in einem
-Tone, als ob er gestanden hätte: Ich habe das Verbrechen
-begangen, nun machen Sie mit mir, was Sie
-wollen.
-</p>
-
-<p>
-Bleich und rot in einem vor Ärger über seine Verlegenheit,
-blickte er den Ingenieur wütend an.
-</p>
-
-<p>
-„Ja. Aber du solltest mich doch nicht wegen jeder
-Kleinigkeit anrufen, Genosse“, sagte der Ingenieur,
-der schon wieder verlangt worden war, in den Apparat
-hinein.
-</p>
-
-<p>
-‚Ich frage ihn, ob ich Philosophie oder meinethalben
-Astronomie studieren soll, und geh meiner Wege.
-<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
-Denn zu erklären, um was es sich eigentlich handelt
-– diese ganze Qual –, ist einfach unmöglich.‘
-</p>
-
-<p>
-„Und außerdem wurde eben mitgeteilt“, meldete
-der Hilfsredakteur, der im fünften Stocke des Druckereigebäudes
-in dem winzigen Redaktionszimmerchen saß,
-ein Stück Brot in der Linken, das Höhrrohr in der
-Rechten, „daß die Regierung beschlossen habe, dem
-Auslieferungsverlangen der spanischen Regierung nachzukommen.“
-</p>
-
-<p>
-„Das wäre der erste Fall dieser Art“, entgegnete
-ungläubig der Ingenieur. „Der Mann hat aus ganz
-offensichtlich politischen Motiven den Polizeipräsidenten
-erschossen.“
-</p>
-
-<p>
-Ich kann ihn doch nicht fragen: Was soll ich tun,
-um die Welt zu erlösen? dachte Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-„Und politische Verbrecher werden bekanntlich
-nicht ausgeliefert.“
-</p>
-
-<p>
-Der Hilfsredakteur legte das Brot weg, ergriff ein
-Papier. „Es ist eine amtliche Depesche, in der das
-Attentat als gemeines Verbrechen dargestellt wird.
-Übermorgen wird er von hier abtransportiert zur
-Grenze.“
-</p>
-
-<p>
-‚Aber so ersticke ich eines Tages noch in diesem
-zähen Sumpf, wenn nicht etwas geschieht.‘
-</p>
-
-<p>
-„Ich werde noch vor Mitternacht eine Notiz über
-den Fall in die Redaktion schicken für die morgige
-Nummer.“
-</p>
-
-<p>
-Der ist mitten drin in der Umsturzbewegung, dachte,
-plötzlich entflammt, Jürgen und sah leuchtenden Blickes
-den Ingenieur an. „Vielleicht können Sie mir doch
-raten, was ich beginnen soll“, sagte er, als ob er das,
-was er nur gedacht hatte, ausgesprochen hätte. „Einen
-Weg zeigen! Ich tue alles. Ich bin nicht feige!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
-Der durch viele Publikationen im ganzen Lande bekanntgewordene
-sozialistische Agitator, vor dem schon
-öfters idealistisch gesinnte junge Menschen gesessen
-hatten, im Blick die Frage, was sie mit ihrem Idealismus
-anfangen sollten, fragte mit mehr Interesse im
-Ton, als er hatte: „Haben Sie schon Arbeiterversammlungen
-besucht?“ und lehnte seine Taschenuhr gegen
-das Tintenfaß.
-</p>
-
-<p>
-„Ich nicht. Aber mein Bekannter! ... Er hatte
-eine Siedlung gegründet. Jetzt ist er Mitglied der
-sozialistischen Partei, und da wird er wohl ...“
-sagte Jürgen und errötete tief, als er sah, daß der
-Agitator ein Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.
-</p>
-
-<p>
-„Die Siedlung war vollkommen kommunistisch ...
-Auch diese Siedler konnten es einfach nicht ertragen,
-das Leben, so wie es ist ... Alles zusammen, das
-Ganze! ist ja eine einzige ungeheuerliche Niederträchtigkeit.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn Sie sich dessen nur auch späterhin bewußt
-bleiben! Dann ist es ganz gleich, welchen Beruf Sie
-wählen. Wichtig ist dieses Bewußtsein. Möchten Sie
-das nie vergessen.“
-</p>
-
-<p>
-„Das Bewußtsein?“
-</p>
-
-<p>
-„Der Mensch kann auch sein Bewußtsein, nämlich
-das, was er in der Jugend, als noch Protestierender,
-schon erkannt und sogar tief empfunden und erlitten
-hatte, mit den Jahren vergessen.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen lauschte hinein in sein dunkles Gefühls-Ich.
-„Er kann, ich verstehe Sie schon, in eine gefährliche
-Schicksalspause hineinschlingern, ja? und in dieser
-Schicksalspause den Kampf aufgeben: alles verraten,
-was er erstrebt hatte.“
-</p>
-
-<p>
-Der Agitator steckte die Uhr ein. „Höchste Zeit!
-<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
-Sie kommt nicht mehr. Wahrscheinlich ist sie von der
-Redaktion aus direkt ins ‚Paradies‘ gefahren ... Ungefähr
-das meine ich. Schicksalspause ... Wie die das
-Mädchen ausnützen! Muß die Artikel schreiben und
-die Zeitung dann auch noch verkaufen.“
-</p>
-
-<p>
-„Dann kommt das Geldzusammenscharren. Und
-wenn dann einer eine Zeitlang tüchtig, das heißt:
-brutal genug und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht
-war, ist er – husch, die Lerche! wie mein
-Schulfreund sagt – auf Kosten unterdrückter Elendsmenschen
-ein geachteter Mann.“
-</p>
-
-<p>
-„Aus solchen geachteten Männern besteht die
-herrschende Klasse.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe nämlich erfahren, weshalb Ihnen gekündigt
-wurde. Sie sind Sozialist?“ Und ob er ihn
-noch ein Stück begleiten dürfe, fragte Jürgen auf der
-Straße. „Sie glauben also, daß im Sozialismus alles
-von Grund auf besser werden würde?“
-</p>
-
-<p>
-Der Agitator sprang auf die anfahrende Straßenbahn.
-„Ich glaube, daß jede Zeitepoche in sich ihre
-durch den Stand der Produktionskräfte bedingte Aufgabe
-trägt, die zu erfüllen der zeitbedingte Inhalt des
-Idealismus aller Kampf- und Opferbereiten ist, und
-daß die Aufgabe unseres Jahrhunderts in der Abschaffung
-des Privateigentums an den Produktionsmitteln
-besteht, in der Überführung der Produktionsmittel
-in gesellschaftliches Eigentum, in der Verwirklichung
-des Sozialismus auf dem Wege des
-Klassenkampfes ... Und was die idealistisch gesinnte
-bürgerliche Jugend unseres Jahrhunderts anlangt,
-glaube ich, daß sie den wahren, weil zeitbedingten,
-Inhalt ihres Idealismus eben auch nur in dem Kampfe
-um die Verwirklichung des Sozialismus, Seite an Seite
-<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
-mit der Arbeiterklasse, finden kann ... Das gilt auch
-für Sie persönlich. Alle anderen Befreiungs- und Erlösungsideen
-sind Nebel und Wolken in verschiedener
-Beleuchtung und werden von der bürgerlichen Front
-glatt verdaut, ja, von ihr selbst gestartet und als
-Fangangeln ausgelegt.“
-</p>
-
-<p>
-Erst in dieser Sekunde, da er das echte Interesse
-des Agitators fühlte, erkannte Jürgen, daß es anfangs
-nicht ganz echt gewesen war. Das erstemal in meinem
-Leben, dachte er, gibt ein ernstzunehmender Mensch
-mir einen ernstgemeinten Rat, und ich weiß mit
-diesem Rate nichts anzufangen. Verstehe ihn gar
-nicht. Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches
-Eigentum? Er hätte ebensogut sagen
-können: Der Inhalt des Idealismus eines jungen Menschen
-unserer Zeit kann nur darin bestehen, daß er
-lernt, ohne Führer den Montblanc zu besteigen oder
-das Vaterunser von rückwärts zu beten. Jürgen war
-ernüchtert.
-</p>
-
-<p>
-„Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Die
-idealistisch gesinnte bürgerliche Jugend steht und
-kämpft gegen die Arbeiterklasse, gegen die Verwirklichung
-des Sozialismus, und damit gegen den nächsten
-großen Schritt zur Befreiung der Menschheit, gegen
-des Menschen nächsten Schritt zu sich selbst. Diese
-Jugend erkennt ihre Aufgabe nicht und gerät deshalb
-in die tollsten Verirrungen.“
-</p>
-
-<p>
-So allmählich, wie die Trambahn den Prachtstraßen,
-dem Prunkviertel entrückt und in die Elendszeilen
-der verluderten, nackten Mietskasernen vorgerückt
-war, hatten die gutgekleideten Fahrgäste für schlechtgekleidete
-den Wagen geräumt, der nun, überfüllt
-mit Arbeitern und Fabrikmädchen, seine schmutzige
-<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
-Ladung weiterschleppte durch das Viertel, wo die Not
-stand in ihrer ganzen Größe. Hier rollten keine
-Gummiequipagen, keine Autos mehr. Der Parfümduft
-gepflegter Damen war niedergeschlagen und aufgefressen
-worden von dem dicken Schweißgestank
-der Armut. In dem Wagen, wo noch kurz vorher
-weiße und frische Gesichter mondgleich geschienen
-hatten, hingen jetzt graue Antlitze im Dunst, hautüberzogene
-Schädel mit tief in die Höhlen versunkenen
-Augen, die blickten.
-</p>
-
-<p>
-Zwei Menschheiten: eine Menschheit war ausgestiegen;
-die andere Menschheit war eingestiegen.
-</p>
-
-<p>
-Ein winziger, ganz weißer Schoßhund, von einer
-vergeßlichen Dame im Wagen zurückgelassen, bekam
-irrblickende Augen und bellte die fremde, die andere
-Menschheit an.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen betrachtete zwei Männerhände, und als er
-das dazugehörige Gesicht suchte, sah er, daß diese
-rissigen, hornhäutigen, übergroßen Männerfäuste
-einem jungen Arbeitermädchen angehörten. Neben
-ihr wackelte der Oberkörper eines bärtigen alten
-Briefträgers, in dessen zerklüftetes Wachsgesicht das
-Ersteigen von millionenmal vier Stockwerken eingezeichnet
-war, steif und haltlos hin und her.
-</p>
-
-<p>
-„Nun sind wir direkt und mitten in das soziale
-Problem hineingefahren. Mit der Elektrischen! ...
-Nur dies allein (auch das gilt für Sie persönlich), nur
-den Übertritt zur Arbeiterklasse, nur diesen letzten
-Schritt verzeiht der Bürger uns Bürgersöhnen nicht.
-Denn er weiß, daß wir erst dann gefährlich werden
-können ... Geist, christliche Menschenliebe, Helfenwollen,
-Ändernwollen, erlaubt der Bürger noch. Da
-lächelt er noch. Ja, alles das nimmt er sogar für sich
-<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
-selbst in Anspruch. Denn er ist sozusagen für den
-Fortschritt. Aber nur ja nicht das! Nur ja nicht
-tatsächlich ändern! Da wird er wild. Da demaskiert
-er sich. Da läßt er verfolgen, einsperren und, unter
-Umständen, erschießen und erschlagen.“
-</p>
-
-<p>
-Die drei aneinandergekoppelten Wagen, vollgestopft
-mit Arbeitern, die bis auf die Trittbretter herausquollen,
-überholten lose zusammenhängende Arbeitertrupps,
-die sichtbar alle dem selben Ziele zustrebten.
-Immer wieder hörte Jürgen den Schrei: „Zum Paradies!“
-Der Schaffner kassierte.
-</p>
-
-<p>
-Der Agitator, der schweigend vor sich hingeblickt
-hatte, machte eine Bewegung, als schüttle er etwas
-von sich ab. „Es ist nichts zu machen.“ Und da
-Jürgen fragte, teilte er ihm den Inhalt der Depesche
-mit.
-</p>
-
-<p>
-„Und was geschieht dann mit dem Attentäter?“
-</p>
-
-<p>
-„Er wird hingerichtet.“
-</p>
-
-<p>
-„So ... Wird hingerichtet.“
-</p>
-
-<p>
-Vorüber an einer geschlossen und zielhaft marschierenden
-Gruppe Schutzleute. Krachend vorbei
-an einem Kanalloch, um das herum Proletarierkinder
-Ringelreigen tanzten.
-</p>
-
-<p>
-Fabrikmädchen, die halb geschlafen hatten, erwachten
-im Ruck: Alle Fahrgäste und die grau herbeiströmenden
-Arbeitermassen drängten hinein in das
-‚Paradies‘, das schon überfüllt war.
-</p>
-
-<p>
-Galerien und Balkone, von denen die Menschenleiber,
-übereinandergetürmt, gleich Gewächsen aufstiegen,
-stürzten nicht hernieder. An den Tischen:
-Oberkörper neben Oberkörper, überragt von denen,
-die, dicke Menschenschnüre bildend, dichtgedrängt
-in den Zwischengängen standen. Gebärden der Erregung
-<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
-durchschnitten Stimmengeschwirr und Rauch,
-hinter dem die Wandmalereien verschwammen: paradiesische
-Wesen, die alles im Überflusse hatten.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich hörte und sah Jürgen, der eine Sekunde die
-Augen geschlossen hatte, gewaltige, kilometerbreite,
-gischtige Wassermassen aus blauer Höhe herabklatschen:
-sah zehntausend klatschende Menschenhände
-und in weiter Ferne, auf dem Podium, einen Mann.
-</p>
-
-<p>
-Da schwoll sein Herz, und das nie empfundene Gefühl
-rückhaltloser Hingabe erfüllte ihn ganz. Sympathie
-für den Mann, der das Vertrauen dieser fünftausend
-Hoffenden besaß. Hingabe an diese fünftausend
-Vertrauenden. Stürmischen Herzens streckte
-er die Hand dem jungen Zeitungsverkäufer hin, der
-rief: „Die Befreiung! Die Befreiung!“
-</p>
-
-<p>
-Arbeitsschwarze Hände griffen nach den Blättern,
-die er über den Kopf hochhalten mußte. Ein Zögernder
-fragte: „Was kostet die Befreiung?“
-</p>
-
-<p>
-„Genossinnen! Genossen! Euer gemeinsamer Kampf,
-der Klassenkampf, die Gemeinsamkeit all derer, die
-durch ihr Klassenschicksal die gegebenen und unbedingten
-Feinde des Kapitalismus sind, dieses Gemeinsame,
-Euer Klassenbewußtsein, ist der unerschöpfliche
-Quell Eurer Kraft: Kraftquell für jeden und für das
-Vertrauen jedes einzelnen auf seine Kraft“, erklang
-fernher die Stimme des Redners.
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen fragte: ‚Ist das so? ... Ich werde
-dahinter kommen, ob und weshalb das so ist.‘ Ihm
-entgegen drängte noch einmal der junge Zeitungsverkäufer,
-auf dem Arme den Stoß, der bis zu seinem
-Ohre reichte. „Du hast nicht bezahlt.“ Und da
-Jürgen, verwirrt, ihm in das Antlitz sah: „Zwanzig! ...
-Umsonst gibts nichts.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
-„Zwanzig?“ Der Zögernde blickte wieder den
-schweißtriefenden Kellner an und überlegte, ob er
-‚Die Befreiung‘ oder ein Glas Bier kaufen solle, als
-wäre beides zusammen unmöglich.
-</p>
-
-<p>
-Da erkannte Jürgen an einer Kopfbewegung des
-Redners den Agitator, der von Monopolisierung,
-Akkumulation und Mehrwert sprach, worunter Jürgen
-sich nichts vorstellen konnte.
-</p>
-
-<p>
-„Dazu noch das arbeitslose Einkommen, geschluckt
-von Aktienbesitzern, die in gar keiner Weise arbeiten
-in dem Betriebe, von dem sie die Dividenden beziehen.
-Ich lasse mein Kapital arbeiten, sagt der Aktienbesitzer,
-der auf dem Kanapee liegt, die Kurse studiert,
-wie die Spinne im Netz in der Börse lauert,
-erstklassig durch das Leben glitscht, aber den Rasen
-nicht betritt, kein Holz im Walde stiehlt, sondern
-für Recht und Ordnung ist.“
-</p>
-
-<p>
-Die fünftausend saßen reglos, horchten und blickten,
-als hielten sie mit ihren Händen den Erdball.
-</p>
-
-<p>
-„In den Betrieben schuften Männer und Frauen
-jahraus, jahrein, von früh bis abends an den Maschinen,
-machen vom vierzehnten bis zum sechzigsten
-Lebensjahre immer die selben Handgriffe, aus denen
-Zahnbürsten, Lokomotiven, Stecknadeln, Überseedampfer,
-Schreibmaschinen, Schuhe, Leintücher entstehen;
-in behaglichen oder eleganten, geschmackvollen
-oder geschmacklosen Wohnungen sitzen Herren
-und Damen, deren Lebensarbeit darin besteht, das
-Dasein zu genießen, ins Theater zu fahren, über Kunst
-und Literatur dumm oder klug zu reden, Kulturträger
-zu sein, ihr Dienstpersonal zu schikanieren und ihre
-Kinder falsch zu erziehen und reich zu verheiraten,
-Leute, die einen Betrieb nie betreten haben, es seien
-<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
-denn Modegeschäfte und Sekt-, Tanz-, Bordell- oder
-sonstige Nachtbetriebe gewesen, gepflegte Zeitgenossen,
-die keinen Dunst davon haben, wie Zahnbürsten fabriziert
-werden, oder wie ein Webstuhl aussieht, und beziehen
-Dividenden von einer Bürstenfabrik oder einer
-Leinenweberei, während die Kinder der Bürstenmacher
-nicht einmal wissen, daß die Benutzung einer Zahnbürste
-zur Erhaltung der Zähne beiträgt, und die
-Leinenweber für ihre armseligen, stinkenden Betten
-keine Leintücher kaufen können.“
-</p>
-
-<p>
-Auch meine Tante besitzt eine Schatulle, gefüllt mit
-Aktien, sie, die in ihrem ganzen Leben nie etwas
-anderes gemacht hat, als diese qualvollen Häkeldeckchen,
-dachte Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-„So kommt es, daß euch, wenn ihr an einem Werktag,
-während der Arbeitszeit – um elf Uhr früh, um
-vier Uhr nachmittags – durch die Geschäftsstraßen
-einer Großstadt geht, die vor Arbeit brüllt und dampft,
-Tausende und Tausende und Tausende hübsch und
-elegant gekleideter, gepflegter Mädchen, Frauen und
-junger Männer begegnen. Das sind die Töchter –
-höhere Töchter –, die Gattinnen, die Söhnchen. Sie
-arbeiten nicht; aber sie essen dennoch, und nicht
-Kutteln mit Sauce. Kaufen ein, geben viel Geld aus,
-damit die Arbeiter ihr Brot verdienen können, versteht
-ihr, wohnen bequem und hygienisch, hören
-Konzerte, können ausgezeichnet tanzen und zur Not
-Gesetzesparagraphen auswendig lernen, die gegen
-Arbeiter anzuwenden den künftigen Staatsanwälten
-und Richtern dann nicht schwer fällt. Sie sind die
-Angehörigen ihrer Aktien besitzenden Gatten und
-Väter, leben von dem Mehrwert, der den Werktätigen
-abgepreßt wird, und haben, im allerbesten Falle, ein
-<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
-mitleidiges, staunendes Lächeln für demonstrierende
-Arbeiter, von deren Schweiß und Not und Tod sie leben.“
-</p>
-
-<p>
-Aber nicht den schwächsten Reflex des Bewußtseins,
-daß sie von dem Schweiße dieser Arbeiter
-leben, dachte Jürgen. Das weiß ich bestimmt. Sind
-weltenweit entfernt von diesem Bewußtsein.
-</p>
-
-<p>
-„Und die Kirche liefert die entsprechende Religion:
-Du sollst nicht. Du sollst, sollst nicht, sollst! Kürzer:
-Das Eigentum ist heilig.“
-</p>
-
-<p>
-„Im Diesseits“, sagte heiter lächelnd ein neben
-Jürgen stehender Arbeiter. „Im Jenseits gibts nämlich
-keine Rittergüter, Bergwerke, Webereien und
-Möbelfabriken.“
-</p>
-
-<p>
-Wer da war in diesem Saale, plötzlich fühlte Jürgen
-sich mit jedem einzelnen und mit allen zugleich wie
-durch ein unbegreifliches Wunder verbunden. Der
-Haß dieser fünftausend war sein Haß, ihre Hoffnung,
-ihr Ziel waren seine Hoffnung, sein Ziel. Und da geschah
-es, daß seine lebenslange Unsicherheit und Hilflosigkeit
-der Umwelt gegenüber urplötzlich verschwanden
-und das kraftspendende Gemeinschaftsempfinden
-so mächtig in ihm entstand, daß er an sich halten
-mußte, nicht loszubrüllen vor innerem Jubel.
-</p>
-
-<p>
-‚Da wurde ich vierundzwanzig Jahre alt und ahnte
-nicht, was Selbstbewußtsein ist. Fühlte es nicht!
-Fühlte es nicht, wegen meiner unfruchtbaren Einsamkeit,
-angesichts dieses verruchten Geschehens, dem
-gegenüber der einzelne sich nimmermehr zurechtfinden
-kann oder, findet er sich zurecht, verloren ist.
-So oder so! Denn das Zurechtfinden innerhalb dieses
-Ganzen bedeutet, wie immer es geschieht, menschlich
-den Untergang ... Jetzt geht der Kampf an. Kampf
-bis zum Tode!‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
-„Der Klassenkampf! Neueste Nummer! Der Klassenkampf!
-Die Befreiung! Neueste Nummer: Der
-Klassenkampf!“
-</p>
-
-<p>
-Das Herz schlug nicht mehr. In den Fingerspitzen
-fühlte er den letzten Schlag, anstürmend, als wolle
-das Blut herausspringen. So starrte er das verschwitzte,
-kompakte Antlitz an, den gebogenen
-Nacken, den kleinen, festen Mund, der rief: „Die Befreiung!
-Der Klassenkampf!“
-</p>
-
-<p>
-Da war Katharina schon wieder verschwunden im
-überfüllten Zwischengang. Er sah nur noch den
-über ihrem Kopfe schwebenden ‚Klassenkampf‘. Und
-noch in diesem selben Augenblick zog ein endlos langer
-Zug arbeitsunfähig gewordener alter Männer und
-Frauen grau und düster durch Jürgens Sehnsucht,
-gleichberechtigt neben Katharina zu stehen.
-</p>
-
-<p>
-Sekunden später war das Arbeiterversorgungsheim
-gegründet. Alles funktionierte tadellos. Alle Zeitungen
-schrieben darüber. Jürgen empfängt eine Deputation
-des Berliner Magistrats. Die Herren tragen die
-Zylinder in der Hand. Vier Herren. Der schmalste,
-feinste hat einen Scheitel, von der Stirn bis zum
-Nacken, und führt das Wort.
-</p>
-
-<p>
-Gewiß, Jürgen sei bereit, auch in Berlin so ein Versorgungsheim
-zu organisieren. Warum nicht! Natürlich
-müsse er erst die besonderen Verhältnisse an Ort
-und Stelle studieren. ‚Die Konstellation gewissermaßen,
-Sie verstehen! Außerdem haben andere
-Stadtverwaltungen sich schon früher bei mir gemeldet,
-müssen Sie wissen. Und wer zuerst kommt – nicht
-wahr ...‘
-</p>
-
-<p>
-Vier Verbeugungen, die vor Befangenheit und Freude
-darüber, daß Jürgen den Herren die Ehre zuteil werden
-<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
-läßt, einen Witz zu machen, schief ausfallen. Sogar
-die Münder lächeln schief. Und der schmale, feine
-Wortführer sagt: ‚Natürlich, hahaha! gewiß, der mahlt
-zuerst!‘
-</p>
-
-<p>
-‚Und jetzt, meine Herren ...‘ Die vier ziehen sich
-sofort zurück. Auch die Tante, die respektvoll dabeigestanden
-war, verläßt leise das Zimmer, den mit Arbeit
-Überlasteten nicht länger zu stören. Katharina, am
-Schreibtisch lehnend, sieht Jürgen bewundernd an.
-</p>
-
-<p>
-Tausendfaches Händeklatschen. Alle schoben sich
-der Ausgangstür zu. Jürgen erreichte, halb getragen,
-die Straße, schwitzend und begeistert. Stand vor der
-Wirklichkeit, die vier Schutzleute vor das ‚Paradies‘
-gestellt hatte, stumm und blickend. Die Proletarierkinder
-tanzten noch immer Ringelreigen, herum um
-das dampfende Kanalloch.
-</p>
-
-<p>
-Senkrecht sauste Jürgen aus seiner Kirchturmhöhe
-herab auf das reale Pflaster, empfangen von Ekel
-und Selbsthaß, weil er wieder geträumt und sich
-wieder hatte achten und bewundern lassen. Mit
-einem innerlichen, einem wilden Sprunge langte er
-wieder an bei sich selbst. ‚Ich werde dir das abgewöhnen.
-Werde dir das abgewöhnen!‘
-</p>
-
-<p>
-Die Masse spülte ihn weiter. Jürgen entfaltete den
-‚Klassenkampf‘.
-</p>
-
-<p>
-Arbeiter, die den Lesenden überholten, wandten
-sich um nach ihm. Einige legten, wenn er aufsah,
-den Finger an die Mütze.
-</p>
-
-<p>
-Offenbar ein zäher, langwieriger, trockener Kampf;
-aber das Ziel, das Ziel – es ist unerhört ... Ob ich
-herausfinden werde, was schlecht ist an ihrem Artikel?
-dachte Jürgen und las Katharinas Artikel noch einmal
-von Anfang an.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
-Plötzlich vernahm er, stehend im Straßenlärm,
-deutlich das Summen einer großen Fliege, blickte erstaunt
-auf und bemerkte, daß er vor dem ‚Platzwirt‘
-stand, einer Zuhälter- und Verbrecherkneipe,
-vor der er, sooft er vorbeigegangen war, immer tiefes
-Grauen empfunden, und die zu betreten er nie gewagt
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Als er die Tür öffnete, hatte er zuerst die Empfindung,
-in einen riesigen Fabriksaal geraten zu sein,
-so ungeheuer war der Lärm. Auch die Töne des alten
-Klaviers konnten nur vereinzelt durchdringen.
-</p>
-
-<p>
-An den vor Alter bucklig gewordenen Wänden
-hing gar nichts. Vom Schanktisch bei der Tür liefen
-fünf lange Reihen zwischenraumlos nebeneinander
-stehender Tische nach rückwärts und verschwanden
-im Qualm. Kein einziger Stuhl. Zehn Bankreihen:
-dicht besetzt von Straßenmädchen, Zuhältern, verunglückten
-oder zu alt gewordenen Artisten und Arbeitern,
-obdachlosen früheren Angehörigen der bürgerlichen
-Klasse verschiedenster Berufe, durch den Konkurrenzkampf
-heraus- und, ohne Station zu machen bei
-der Arbeiterklasse, gleich hinuntergeschleudert ins
-Lumpenproletariat, und zum größten Teile Existenzen,
-die infolge langer Arbeitslosigkeit rettungslos in
-Verbrechen versunken und ertrunken waren.
-</p>
-
-<p>
-Ohne Gesprächsunterbrechung wurde für Jürgen
-mit selbstverständlicher Bereitwilligkeit Platz gemacht,
-noch enger zusammengerückt. Nur ein kurzer
-Blick, prüfend, ob Jürgen ein Spitzel sei.
-</p>
-
-<p>
-Schon stand das Bier vor ihm. Und die Hand des
-Kellners verlangte das Geld.
-</p>
-
-<p>
-Niemand wunderte sich über den sorgfältig gekleideten
-Gast; es kam öfters vor, daß elegante Bummler,
-<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
-Frackherren, oft sogar mit ihren Damen, nach Ball-
-oder Barschluß als letzte Sensation diese Kneipe besuchten.
-</p>
-
-<p>
-Aus den erregten, gespannten und gierigen Gesichtern,
-aus den Gesprächsfetzen und wilden Gesten,
-aus dem ganzen Gebaren stach vor allem anderen
-deutlich das eine hervor: Alles ist erlaubt, nur darf
-man sich nicht fassen lassen. Hier saßen ausschließlich
-Existenzen, die das Grundgesetz der bürgerlichen
-Ordnung, ‚Das Eigentum ist heilig‘, verletzt hatten,
-für immer außerhalb jeder Ordnung des Geschehens
-standen und, die drohende Katastrophe unausgesetzt
-vor Augen, gierig und eisern bestrebt waren, das Letztmögliche
-noch aus dem Leben herauszufetzen, bevor
-sie von der Faust der Krankheit oder des Gesetzes
-gepackt werden würden. Jeder war über jeden
-orientiert. Mancher konnte manchen ins Zuchthaus
-bringen. Keiner tat es.
-</p>
-
-<p>
-Neben manchem stand das Schafott. Es handelte
-sich nur darum, das Schafott nicht besteigen zu
-müssen. Polizeispitzel, auch in der echtesten Verkleidung
-von den Gästen erkannt, konnten es nicht
-wagen, sich hier sehen zu lassen, es sei denn in großer
-Anzahl bei einer Razzia. Entsicherte Revolver. Hände
-hoch. So wurden von Zeit zu Zeit die Lokalbesucher
-ausgekämmt. Der ‚Platzwirt‘ war Lieferant des
-Scharfrichters und der Zuchthäuser. In die Privatangelegenheiten
-seiner Gäste mischte er sich nicht
-hinein. Die Grenze des Erlaubten war in seinem Lokal
-sehr weit gezogen und durfte nicht um einen Millimeter
-überschritten werden. Er hielt auf Ordnung im stürmischen
-Aufruhr. Jürgen war betäubt.
-</p>
-
-<p>
-Der ‚Hinausschmeißer‘, ein scheinbar ganz unbeschäftigt
-<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
-neben dem Schanktisch emporragender
-athletischer Brustkasten, machte zwei Schritte auf
-einen eben eingetretenen alten Mann zu, packte ihn
-von hinten und wortlos beim Rockkragen und zwischen
-den Beinen und trug ihn schweigend vor sich her,
-bis zur Tür, stieß ihn hinaus. Und stand sofort wieder
-reglos am Schanktisch, den Tumult im Blick: Dem
-Hinausgeworfenen war das Lokal verboten. Er hatte
-einmal die Wurst nicht bezahlt und damit die Grenze
-des Erlaubten überschritten. Der Hinauswurf war
-von vielen gesehen, von keinem beachtet worden. Das
-Tosen hatte nicht ausgesetzt.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen gegenüber saß neben einem Mann ein junges
-Straßenmädchen, den grünen Hühnerflügelhut schief
-auf dem Kopfe. Beide hatten sich noch nicht gerührt.
-Beide stützten beide Ellbogen auf die bierverschmierte
-Tischplatte, an der die Eßbestecke angekettet waren.
-An dem gleichartigen, bösen Schweigen erkannte Jürgen,
-daß die beiden zusammengehörten.
-</p>
-
-<p>
-Rechts neben dem Schweigenden hockte männlich
-breit eine Frau, deren ganzes Gesicht – auch die
-Stirn – schwarzblau war wie eine Gewitterwolke,
-und erzählte, ohne sich an jemand besonderen zu
-wenden, unaufhörlich, daß sie arbeitslos sei, und weshalb
-sie arbeitslos geworden sei. Ein arbeitsloser,
-schwindsüchtig aussehender junger Mensch verzog
-die Lippen, kaum bemerkbar, als habe er schon keine
-Lust und keine Kraft mehr, noch verächtlich zu
-lächeln, richtete langsam den Oberkörper auf, sah
-Jürgen an, der sich erst jetzt dieses fahlen Gesichtes
-und des haßerfüllten Blickes, dem er kurz vorher in
-der Arbeiterversammlung mehrere Male ausgesetzt
-gewesen war, wieder entsann.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
-Ein erst vor wenigen Tagen nach langjährigem
-Aufenthalte in Amerika zurückgekehrter, heruntergekommener
-Aristokrat sagte über die blauschwarze
-Frau weg ohne jeden Übergang zu Jürgen: „Da gehe
-ich gestern die große Allee hinunter. Was wollen Sie,
-ich gehe einfach spazieren. Auf einmal sehe ich eine
-elegante Equipage stehen. Davor zwei Pferde. Pferde!
-Ich verstehe mich darauf. Für Pferde interessiere
-ich mich. Auch jetzt noch ... Und wer, denken Sie,
-sitzt drin? ... Meine Mutter. Mächtig elegant! Ich
-habe sie erst gar nicht erkannt. Nun, ich trete zu ihr an
-den Wagen. Das ist doch klar. Ist das nicht menschlich?
-</p>
-
-<p>
-‚Woher kommst du?‘ fragt sie mich. Gerade, als
-ob ich eben vom Waldhaus vor der Stadt gekommen
-sein könnte.
-</p>
-
-<p>
-‚Aus Amerika! Am Montag!‘
-</p>
-
-<p>
-‚Hast du denn Geld. Von mir kriegst du keines.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Ich hab doch kein Geld.‘
-</p>
-
-<p>
-‚So‘, sagt sie und gibt dem Lakai das Zeichen.
-Fort ist sie ... Das ist doch gemein. Ist das nicht
-gemein? ... Fünf Jahre!“ Er wandte sich sofort zu
-einer anderen Gruppe.
-</p>
-
-<p>
-Der Schweigende richtete sich auf, holte wortlos
-und weit aus und knallte dem Straßenmädchen neben
-sich die Faust auf den. Mund. Dann stützte er beide
-Ellbogen wieder auf den Tisch.
-</p>
-
-<p>
-Auch das Mädchen, das beinahe rückwärts von der
-Bank gestürzt wäre, stützte wieder die Ellbogen auf
-den Tisch. Beide saßen genau wie vorher. Schwiegen
-genau wie vorher. Kein Wort war gefallen. Der
-Streit lag weiter zurück. Ihre Oberlippe war sekündlich
-zu einer schiefen Geschwulst geworden, daß die
-Zähne hervorsahen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
-„Da gehe ich gestern die große Allee hinunter ...
-Elegante Equipage stehen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Equipage stehen“, hörte Jürgen den Aristokraten
-am Nebentisch erzählen. Krachendes Antwortgelächter
-übertönte für einen Moment den Tumult.
-</p>
-
-<p>
-Der Aristokrat lachte mit. „... Gerade, als ob ich
-eben vom Waldhaus zurückgekehrt wäre ... Aber ist
-das nicht gemein?“
-</p>
-
-<p>
-„Schlag sie tot! Hau sie nieder!“
-</p>
-
-<p>
-Noch leichenblaß, sah Jürgen die zwei Schweigenden
-an. Die Frau mit dem blauschwarzen Gesicht rief:
-„Seit zwanzig Jahren trag ich Backstein. Und jetzt
-bin ich arbeitslos. Und weshalb? Was meinst du
-wohl, weshalb?“ Der Schwindsüchtige verzog die
-Lippen. Sie bekam keine Antwort. Viele waren
-arbeitslos und wußten, weshalb. „Jetzt passen Sie
-auf, jetzt kommt unser Fotz-Hobel-Quartett“, rief sie
-Jürgen zu.
-</p>
-
-<p>
-Und der sah die vier Männer an, die ihre Mundharmonikas
-auf die Handfläche stauchten. Der eine
-Spieler, ein stark schielender, kleiner, ungewöhnlich
-breitschulteriger Mann mit kantiger Stirn, machte
-mit der linken Faust anfeuernde Bewegungen. Das
-Getöse im Lokal verminderte sich nicht. Der Schielende
-hetzte sich und die drei andern Spieler in das
-immer wilder werdende Tempo hinein. Die vier Oberkörper,
-die eingezogenen Köpfe spielten hingerissen
-mit. Die Gesichter flammten.
-</p>
-
-<p>
-Drei zwischen Krücken baumelnde Krüppelkörper
-zogen langsam vorüber an Jürgen und am Quartett.
-Das Tempo stieg unter des Schielenden Führung
-rasend an. Sie fanden nicht mehr Zeit, die Oberkörper
-mitzuschaukeln; nur die Gesichter zuckten noch
-<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
-knapp im Rhythmus. Der Schielende stampfte
-hetzend mit dem Absatz den Takt. Der Vortrag endete
-wie abgehauen. Der Orkan stand wie vorher im Lokal.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hörte einen dumpfen Ton: Wieder hatte die
-Faust des Schweigenden den hochaufgeschwollenen
-Mund des Mädchens getroffen. Dann saßen beide
-wieder reglos, die Ellbogen aufgestützt.
-</p>
-
-<p>
-Die Frau mit dem schwarzblauen Gesicht spuckte,
-über den Tisch weg, scharf an Jürgens Wange vorbei.
-Eine dünne, weiße Wursthaut flog nach und platschte
-glatt auf den schwarzen Fußboden neben den Schleim.
-</p>
-
-<p>
-Der Schweigende schob, als ob nichts geschehen wäre,
-seiner Freundin die abgezogene Wurst hin. Das Mädchen
-rührte sich nicht. Die geplatzte Oberlippe glich
-einem daumendicken, blauen Wurm.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen war vor dem an seinem Munde vorbeifliegenden
-Schleim zurückgezuckt und starrte, plötzlich
-grau am ganzen Körper, den an Jahren noch
-jungen Mann an, der sich bückte, die mit schwarzem
-Sande verschmierte Wursthaut vom Fußboden wieder
-abzog und in den Mund steckte. Mit der ganzen Handfläche
-schob er nach, kaute zahnlos und ging, auf dem
-Boden nach Abfällen suchend, langsam weiter. Die
-Menschen sah er nicht an. Nur den Fußboden. Apathisch,
-wie ein wandelnder Toter. Und als ihm vom
-Schweigenden die verschmähte Wurst zugeworfen
-wurde, versuchte er gar nicht, sie aufzufangen; er
-ließ sie gegen seine Brust prallen und erst zu Boden
-fallen. Strümpfe, Weste, Rock, Hemd hatte er nicht
-an. Nur Hosen und darüber einen Mantel. Seine
-Augen waren verschleimt und tot. Die Unterlippe,
-nach außen gedreht, hing unbeweglich, schief und drei
-Finger breit herab.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
-Mit Entsetzen sondergleichen fühlte Jürgen: Dieses
-kranke Stück Fleisch will nur noch Essen zugeführt bekommen,
-während der Wilde und sogar jeder Hund, auch
-der elendeste, mit seinem Blicke Zuneigung verlangen
-und geben kann. Das ist Kultur, dachte er. Kultur.
-</p>
-
-<p>
-Stunden vergingen, und immer mehr neue Gäste
-kamen, Hände in den Hosentaschen, Schultern
-fröstelnd hochgezogen: Obdachlose. Der Hinausschmeißer
-musterte prüfend jedes fahle Gesicht,
-schob im Laufe der Nacht zwei Burschen und ein
-junges Mädchen, das die Arme hoffnungslos hängen
-ließ, wieder hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Der Schweigende rüttelte die Geschlagene am Arm,
-forderte sie so auf, jetzt wieder gut zu sein.
-</p>
-
-<p>
-Was mag sie alles gedacht haben in dieser langen
-Nacht? dachte Jürgen. Was ihr geschehen ist, als sie
-noch ein Kindchen war? Oder was ihr noch bevorsteht
-in diesem Leben? ... Und der Attentäter, er
-wird hingerichtet.
-</p>
-
-<p>
-Mit einer Schulterbewegung schüttelte die noch
-immer aufgestützt Sitzende die Hand ab, lächelte aber
-dabei schief und entgegenkommend.
-</p>
-
-<p>
-„Dann eben du die Hälfte und ich die Hälfte“, gab
-er halb nach. „Her mit dem Geld!“
-</p>
-
-<p>
-Aufrührerischer, mitreißender Gesang, vom Quartett
-begleitet, erfüllte unvermittelt und donnernd das
-Lokal. Alle brüllten mit. Die nach außen gedrehte
-Unterlippe hing unbeweglich auf das Kinn herab.
-Er suchte, bückte sich.
-</p>
-
-<p>
-„Das war doch nur menschlich! Ist das nicht gemein?“
-fragte der Aristokrat den Hinausschmeißer,
-der, das Lokal im Blick, am Bierfaß lehnte und keine
-Antwort gab.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
-Ich also werde mich nicht dabei beruhigen, daß ich
-fähig bin, die Schönheit eines Goetheschen Wortes
-zu empfinden, dachte Jürgen, als er gegen Osten
-schritt, wo schon die zarte Morgenröte stieg.
-</p>
-
-<p>
-Auf eine Gruppe Nachtarbeiter zu, die das Trambahngleis
-ausbesserten und eben die Azetylenlampen
-verlöschten, da das graue Tageslicht schon erstarkte.
-Ein Mann im Mantel beaufsichtigte die Arbeiter, die
-mit wuchtigen Rundschlägen Eisenkeile in den Asphalt
-trieben.
-</p>
-
-<p>
-Zwei Herren, die wie Oberförster aussahen und aus
-einer Abendgesellschaft zu kommen schienen, blieben
-stehen. „Wie brav sie wieder arbeiten!“ Und gingen
-weiter. Wenige Tage vorher war ein Streik mit einer
-Niederlage der Arbeiterschaft beendet worden.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen ging vorüber. „In Wirklichkeit sind
-es ja nur die Hetzer, während die Arbeiter selbst“,
-hörte Jürgen, „im großen ganzen ...“
-</p>
-
-<p>
-Ging aus der Stadt hinaus, am Flußufer hin. Auf
-der Quaimauer saß ein junger Mensch. Diesmal erkannte
-Jürgen sofort das leichenfahle Gesicht des
-Schwindsüchtigen, der den Abend vorher in der
-Arbeiterversammlung und später beim ‚Platzwirt‘
-gewesen war: Ein Gesicht, in dem der Haß sich schon
-in Verzweiflung und die Verzweiflung sich schon in
-Gleichgültigkeit abgewandelt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Der Schwindsüchtige pfiff leise, ließ die Beine über
-dem fließenden Wasser baumeln. „Guten Morgen“,
-sagte Jürgen und setzte sich neben ihn, die Beine
-ebenfalls wasserwärts gestreckt. Von der anderen
-Seite näherte sich ein einarmiger Invalide, saß auch
-nieder und begann Geld zu zählen.
-</p>
-
-<p>
-Der Schwindsüchtige pfiff, zwinkerte, den Kopf
-<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
-schief gestellt, die glühende Morgendämmerung an,
-zum Bettler hin und spuckte in großem Bogen aus,
-pfiff weiter, gleichgültig.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen tat gleichgültig: „Schönes Wasser.
-Sind Sie immer hier?“
-</p>
-
-<p>
-„Oder wo anders!“ Er lächelte höhnisch. Dann ließ
-er sich doch herbei: „Arbeitslos! Seit ... Ah, die
-Saubande! Ich scheiß auf alles.“ Blickte wieder gewöhnlich
-drein. Dann biß er in einen unreifen Apfel.
-Die Säure zog ihm das Gesicht zusammen.
-</p>
-
-<p>
-Vorsichtig fragte Jürgen: „Wollen Sie etwas zum
-Essen holen? Wurst?“
-</p>
-
-<p>
-Der einarmige Bettler war noch immer mit Zählen
-beschäftigt. Er kicherte, nachdem der Schwindsüchtige
-mit Jürgens Geldschein fortgegangen war.
-„Den haben Sie gesehen. Der kommt nimmer. Iiiii!
-die Gauner kenne ich ... Und der dort, der jetzt da
-kommt, den schauen Sie sich an, das ist Herr Knipp.
-Der hat ausgerechnet, daß er von seinem Steinbruch,
-wenn er immer nur soviel brechen läßt, wie er fürs
-tägliche Leben braucht, bis zu seinem achtzigsten
-Jahr leben kann, ohne selbst was tun zu müssen.
-Deshalb läßt er seit Jahr und Tag nur zwei Leute im
-Steinbruch arbeiten. Er selber angelt seit Jahr und
-Tag. Der will nur angeln. Nichts als angeln! Und
-pfeifen kann der, sag ich Ihnen! Er hat nämlich ein
-Klavier. Darauf spielt er, ganz ohne Noten, und
-pfeift dazu. Schon in aller Früh! Sie können sich
-nicht vorstellen, wie der pfeifen kann. Das klingt
-wie Geigen und Flöten. Die Arbeiter, wenn sie früh
-in die Fabrik gehen, bleiben stehen und horchen ...
-Und dann angelt er. Den ganzen Tag. Sogar manchmal
-nachts.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
-Herr Knipp hatte umständlich geschnupft, schäkerte
-freundlich und ganz für sich allein mit dem Wurme,
-der sich am Angelhaken bäumte: „Warte doch,
-warte doch ... Er kanns nicht erwarten.“ Dann
-beobachtete er, zufrieden mit der Welt, den schaukelnden
-Schwimmer. Herr Knipp war erst einundvierzig
-Jahre alt.
-</p>
-
-<p>
-„Der kommt nimmer ... Ihr Geld ist futsch.“
-</p>
-
-<p>
-Gleich darauf erschien der Arbeitslose, aus einer
-anderen als der erwarteten Richtung kommend, in
-der Ferne.
-</p>
-
-<p>
-„Jetzt sagt er, er hätts Geld verloren.“
-</p>
-
-<p>
-„Um zwanzig Brot. Die Wurst kost vierzig.“ Er
-packte das armlange Stück aus, zählte das übriggebliebene
-Geld auf Jürgens Handfläche. „Pferdewurst!
-Die ist billiger. Und besser ist sie auch.“
-</p>
-
-<p>
-Der Krüppel blickte von der Wurst weg schief
-wasserwärts, in der Erwartung, daß seine Verdächtigung
-dem Arbeitslosen mitgeteilt werden würde, und
-bekam, als Jürgen, anstatt zu denunzieren, ihn zum
-Mitessen aufforderte, in seine bösen, einsamen Augen
-einen Blick wie ein Findelkind, dem unvermittelt
-gesagt wird, seine Mutter sei gefunden und stehe vor
-der Tür. Seit Jahren nicht mehr aufgestiegene Schamröte
-veränderte das verwüstete Gesicht. Er klemmte
-das Taschenmesser zwischen die Knie, zog die Klinke
-hoch und schnitt sich ein Stück Wurst ab.
-</p>
-
-<p>
-Der schwindsüchtige Arbeitslose kaute langsam,
-den Blick über den Fluß weg ins weite, dämmerige
-Hügelland gerichtet. Herr Knipp, dem noch viele
-tausend Tage zur Verfügung standen, atmete zeitlos.
-</p>
-
-<p>
-Die Straßen waren noch menschenleer. Vor dem
-Gefängnis stand eine Droschke. Stand schwarz in
-<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
-der Dämmerung vor dem düsteren Gebäude. Kutscher
-und Pferd regten sich nicht.
-</p>
-
-<p>
-‚Sicher! Ganz sicher! Sie transportieren ihn heute
-schon ... Vielleicht um etwaige Befreiungsversuche
-unmöglich zu machen?‘
-</p>
-
-<p>
-Erst nach einer langen halben Stunde schritten zwei
-dunkelgekleidete Kriminalbeamte, zwischen sich
-einen bartlosen jungen Mann in hellbraunem Anzuge,
-durch das Tor zur Droschke. Der eine ging um die
-Droschke herum. Sie stiegen durch beide Türen
-gleichzeitig ein, als der Gefangene schon saß.
-</p>
-
-<p>
-Die einzigen Geräusche, die Jürgen vernahm in
-der schlafenden Stadt, waren das Klappern der Räder
-und das Klopfen seines Herzens. ‚Die Regierung
-beschließt: Auslieferung. Die Regierungsmitglieder
-schlafen jetzt. Aber in dieser Droschke fahren zwei
-beamtete Henker und dieser Mensch zum Bahnhof.‘
-</p>
-
-<p>
-Vorüber am Hauptportale, Gleis entlang, Richtung
-Rangierbahnhof, bis zu einem einzelnen Personenwagen,
-der auf dem dritten Gleis stand. Hinter dem Rangierbahnhof
-ertönten Pufferknall und die langgezogenen
-Rufe der Eisenbahnarbeiter, die den Zug
-erst zusammenstellten.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen beobachtete, wie die drei einstiegen, wie der
-eine Beamte wieder ausstieg, zwischen dem Gleis auf
-das Bahnhofsgebäude zuschritt, hinein in das Restaurant.
-</p>
-
-<p>
-Alles wie im Traume: Hinweg über die Gleise. In
-den Wagen. Stück durch den Laufgang. Schiebetür
-zurück, auf der ‚Dienstabteil‘ stand. Sprung auf die
-Bank. Und von oben herab auf den breiten Rücken
-des Beamten, der, stehend, durch das geschlossene
-Fenster geblickt hatte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
-„Los! Renn! Renn! ... Los!“
-</p>
-
-<p>
-Der schmalgesichtige Attentäter blieb so reglos in
-der Ecke sitzen, als ginge ihn diese Sache gar nichts
-an, schüttelte verneinend den Kopf.
-</p>
-
-<p>
-Der Mund des Beamten zischte vor Kraftanstrengung.
-Er bekam einen Arm frei. Griff in die Tasche
-nach dem Revolver.
-</p>
-
-<p>
-Mit dem angesammelten Zorn seines ganzen Lebens
-schleuderte Jürgen den Beamten von sich, daß dessen
-Kopf und Oberkörper durch die zerkrachende Fensterscheibe
-schossen, stürzte aus dem Wagen, über die
-Gleise, durch die Bahnhofsanlage, Häuser entlang.
-Vernahm einen Trillerpfiff, schon fernher.
-</p>
-
-<p>
-Ruhigen Schrittes ging er in einen offenen Lagerplatz,
-in dem mehrere Möbelwagen und viele andere
-Fuhrwerke standen, und setzte sich auf einen Handwagen.
-Eine Schar Hühner eilte sofort auf ihn zu.
-</p>
-
-<p>
-‚Die Rechnung ist einfach: Der eine war im Bahnhofsrestaurant;
-der andere konnte mir nicht nach,
-weil er den Gefangenen nicht verlassen durfte. Außerdem
-war ich, bis er seinen Kopf befreit hatte, schon
-weg.‘ Dabei zerbrach Jürgen das Brotstückchen,
-das er in seiner Tasche gefunden hatte, und streute
-die Krümel unter die übereinandersteigenden und
--fliegenden Hühner.
-</p>
-
-<p>
-‚Und jetzt? ... Jetzt wird er hingerichtet.‘
-</p>
-
-<p>
-Erst als Jürgen, heimwärtsschreitend, schon mehrere
-Querstraßen hinter sich hatte, rannte der Beamte,
-der in der Restauration gewesen war, über den Bahnhofsplatz,
-in der Hand den Browning.
-</p>
-
-<p>
-Zierlich gekleidete Zofen eilten im gepflegten Villenviertel
-an Jürgen vorbei. Gebadete Damen in hübschen
-Morgenkleidern nahmen das Frühstück und
-<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
-sonnten sich im Liegestuhl auf den Balkonen. Die
-Gärten dufteten.
-</p>
-
-<p>
-Ich scheiß auf all das. Das Ganze ist gemein,
-dachte Jürgen und klinkte die Tür auf. Die Tante,
-erzürnt, weil er die Nacht außer Haus zugebracht
-hatte, ging grußlos an ihm vorüber. ‚Auf alles!‘
-dachte er und schlief sofort ein.
-</p>
-
-<p>
-„Und ich erkläre Ihnen, das ist ausgeschlossen.“
-</p>
-
-<p>
-Aber der feine, schmale Frackherr, mit dem Scheitel
-von der Stirn bis zum Nacken, ein Herrchen, nur so
-groß wie ein Tintenfaß, ein winziges Frackherrchen,
-verbeugt sich, lächelt höflich und sicher und sagt:
-„Ich bin die Achtung. Bin das Ganze. Und ich erkläre
-Ihnen: Ich sitze in Ihrem Hinterkopfe.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie stehen ja vor mir.“
-</p>
-
-<p>
-„Und sitze gleichzeitig verborgen in Ihnen. Bin
-Ich und bin die Achtung. Bin das Ganze und bin Sie,
-weil ich in Ihrem Hinterkopfe sitze.“
-</p>
-
-<p>
-Da erwachte er. Es war ein Uhr nachmittags. Die
-Tante stand vor seinem Bett. Ohne Einleitung und
-als lese sie wieder den letzten Willen des Vaters aus
-ihrem Haushaltungsbuch vor: „Auf das Haus, in dem
-du geboren wurdest, und auch auf die drei Miethäuser
-habe ich deinem Vater schon vor zwanzig Jahren
-die Hypotheken geliehen. Die Häuser gehörten schon
-zu Lebzeiten deines Vaters ganz und gar mir. Er hat
-dir nichts hinterlassen. Du solltest dich also nicht
-länger, als unbedingt nötig ist, von mir ernähren lassen.
-Das ist eine Schande. Steh auf und geh in dein Kolleg.“
-</p>
-
-<p>
-Er stützte sich auf, sah die Tante an, schwieg noch
-zwei Sekunden: „Ich verzichte auf dein Geld. Ich
-lebe und bin da. Das Weitere wird sich finden. Und
-jetzt geh, bitte ... Also geh schon!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
-Es waren nicht die Worte selbst, nicht Sinn und
-Inhalt der Worte, es war das an Jürgen bisher nie
-bemerkte einfache, ruhige Kraftbewußtsein, das hinter
-den Worten stand und die Macht der Tante über ihren
-Neffen verdunsten ließ.
-</p>
-
-<p>
-Er kleidete sich sofort an. Ging aus der Stadt
-hinaus, auf der Landstraße hin. Rückblickend auf
-sein Leben, ziellos weiter durch den heißen, weißen
-Staub, mit sich tragend das lastende Gefühl, daß dies
-die Stunde sei, die seines Daseins folgenschwerste
-Entscheidung in sich berge: die Möglichkeit, daß
-heute sein Leben in zwei Teile gespalten werde.
-</p>
-
-<p>
-Die alte Sehnsucht nach der Landstraße, die er seit
-Jahren in sich trug, die Sehnsucht nach den Hafenstädten
-und fernen Erdteilen, der Wunsch, allen
-Qualen, allen Pflichten zu entlaufen, schritt hinter
-ihm her, schob ihn immer weiter auf der Landstraße
-hin.
-</p>
-
-<p>
-Der Wiesenabhang links von Jürgen war von der
-Sonne braun gebrannt. Die Luft zitterte vor Hitze.
-Kein Bauer auf dem Felde. Kein Vogel pfiff. Die
-Mittagssonnenstrahlen sengten senkrecht herab auf
-die menschenleere Landschaft.
-</p>
-
-<p>
-„Und die weiße Straße geht in der Sonne vor Einsamkeit
-sich selbst entlang“, flüsterte Jürgen. Und
-glaubte, in dieser Sekunde den tiefsten Sinn des
-Menschendaseins erkannt zu haben und zu fühlen.
-Tat einen langen Blick noch auf die weiße Landstraße,
-weit hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Und wandte sich, schritt schnellen Schrittes zurück
-und in die Arbeiterversammlung, deren Ankündigung
-er im ‚Klassenkampf‘ gelesen hatte.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="IV">
-<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
-IV
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-Jürgen kassierte den Zins ein bei den Parteien der
-drei Mietskasernen, zu deren Verwalter die Tante ihn
-unversehens gemacht hatte, füllte neue Mietsverträge
-aus, beaufsichtigte das Tapezieren einer Wohnung, ging
-zwischendurch ins Kolleg. An den Abenden in Arbeiterversammlungen.
-</p>
-
-<p>
-Eine neue Partei verlangte, daß die Küche frisch
-geweißt werde. Nach der Tante Meinung war die
-Küche noch weiß genug. Jürgen mußte vermitteln.
-Er sah, wie nie vorher in seinem Leben, von Angesicht
-zu Angesicht die Not. Wurde gegen seinen Willen
-Zeuge von Haßausbrüchen zwischen Proletarierehepaaren,
-sah machtlos zu, wie abgearbeitete, machtlose
-Väter ihren Zorn an den machtlosen Kindern ausließen;
-wie Gerichtsvollzieher letzte Stücke pfändeten; mußte
-Mietzins verlangen von Arbeiterfrauen, in deren
-Augen unvertreibbar Gram und Sorge hockten, und
-Mietzins für ein Zimmer – nicht vier Meter im Quadrat
-–, in dem Mann und Frau, zwei erwachsene
-Söhne und zwei erwachsene Töchter in drei stinkenden
-Betten die Nächte, ihr Leben verbrachten.
-</p>
-
-<p>
-Der Tapezierer war fertig. Jürgen blickte die Wand
-an. Die knallroten Rosen der neuen Tapete wurden
-lebendig, kreisten wie ein Feuerwerksrad. ‚Tragisch –
-so eine Rosenwohnung! Viele tausend Rosen, und
-wenn dann die Leute darin leben ... stinkts!‘
-</p>
-
-<p>
-Vor dem Hause, herum um das Kanalgitter, drehten
-sich drei fahle Proletarierkinder im Ringelreigen. In
-der Mitte kniete eine Vierjährige und machte das zum
-Spiel gehörige Märchengesicht.
-</p>
-
-<p>
-‚Für diese Kinder scheint das Kanalloch der Mittelpunkt
-<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
-zu sein, wie das reich ausgestattete Spielzimmer
-der Mittelpunkt für die andern Kinder ist. Daß
-die Faust der Armut auch die Kinder würgt, das hat
-mich schon als Gymnasiast empört ... Und die
-Kinder, neben denen die Gouvernante geht? ‚Mademoiselle
-Katharina, Sie dürfen nicht mit den Armen
-schlenkern. Mademoiselle Katharina, Sie dürfen sich
-nicht umsehen. Beim Atmen müssen Sie die Lippen
-geschlossen halten, Mademoiselle Katharina.‘
-</p>
-
-<p>
-Es war die Stunde, da die proletarische Jugend, weil
-sie eigentlich schon zuhause hätte sein müssen, in
-der heißesten Spiellust zusammengetan ist. Geschrei
-durch Straßen. Erhitzte Gesichter. Gespannte Knabenkörper,
-in Fluchtstellung atemlos den Verfolger erwartend.
-</p>
-
-<p>
-‚Die dürfen mit den Armen schlenkern. Umsehen
-dürfen die sich auch. Und den Mund können sie aufreißen,
-so weit sie wollen.‘
-</p>
-
-<p>
-Abendglocken läuteten, verklangen. Arbeiter marschierten
-heimwärts. Der warme Sommerhimmel
-dämmerte der Nacht entgegen. Laternen funkten auf.
-Der Tag war schön gewesen.
-</p>
-
-<p>
-‚Es ist doch schön – man begreifts nur meistens
-nicht.‘
-</p>
-
-<p>
-Viele Geschäfte waren noch beleuchtet. Aus anderen
-strömten schon die bleichen Ladnerinnen, sahen in
-den Himmel und streiften dabei die Handschuhe über.
-Ein Invalide, der seinen verkrüppelten Fuß, der wie
-eine verkümmerte Hand aussah, nackt auf dem Gehweg
-liegen hatte, hob die Mütze zu Jürgen empor.
-„Du wirst nicht wollen, daß ich leide“, sang ein hemdärmeliger
-Tenor im vierten Stock tragischen Tones
-vergnügt zum Fenster hinaus.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
-An dem Theater rollten Autos vor und ab. Toiletten
-stiegen aus. Ein zahnloser Menschenmund rief:
-„...tung mit den neuesten Kursberichten!“ Der aus
-den Zugangsstraßen immer neu genährte Zug derer,
-die aus den Werkstätten, aus den Fabriken kamen,
-marschierte vorüber. Alle schritten im gleichen
-Tempo, nahmen Jürgen mit.
-</p>
-
-<p>
-Über eine eiserne Kanalbrücke, neben der ein
-Schiffer auf dem Deck im Kochtopf rührte. Vorüber
-an einem Bureau, in dem zwei beleuchtete, einander
-belauernde Tuchgrossistengesichter noch einen Abschluß
-ausfochten. Aus offenen Kneipentüren schlug
-schlechter Fettgeruch heraus.
-</p>
-
-<p>
-Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser
-kleiner. Unbebaute Stellen, lange, verfaulende Bretterzäune
-(eine Ratte verschwand), Ziegen auf dem
-Heimtrieb, ein Schuppen, Gestank. Das kleine Fenster
-hing nah der Erde rotleuchtend in der Finsternis.
-Die Haustür war nur angelehnt.
-</p>
-
-<p>
-„... Denn überall haben in Wirklichkeit die Monopolisten
-die ganze Macht: eine Macht, so unbeschränkt,
-daß auch die Schule, Kanzel, Presse, öffentliche
-Meinung, Polizei, Militär, Justiz, der ganze Staat ihr
-Staat ist und die Regierungen in allen Vaterländern
-nur die Schatten der Monopolinhaber sind, Schatten,
-die, wie der Schatten eines beweglichen Gegenstandes,
-jede Bewegung dieser Allmächtigen mitmachen müssen.
-Schon stehen die Monopolinhaber aller Vaterländer
-wieder vor dem Knopf, und die Schatten blicken
-unverwandt auf die Monopolinhaber, bereit und gezwungen,
-den Krieg – Krieg um Rohstoffquellen,
-Eisenbahnkonzessionen, Absatzmärkte, um den Weltprofit
-– zu erklären in dem Moment, da jene auf den
-<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
-Knopf drücken“, schloß der Agitator, der unter dem
-dösenden Gaslicht auf einem Küchenhocker saß,
-seinen Vortrag.
-</p>
-
-<p>
-Katharinas Zimmer war sehr niedrig. Der Agitator
-erhob sich, vorsichtig, um mit dem Kopfe nicht anzustoßen
-an den Gasarm. „Nicht nur für einzelne Menschen,
-Genosse Jürgen, auch für das Proletariat gibt es, da
-die ökonomischen Voraussetzungen zur Ablösung der
-kapitalistischen Konkurrenz-Profitwirtschaft durch die
-proletarische Bedarfswirtschaft längst gegeben sind,
-immer wieder das, was du Schicksalspause nennst –
-weltpolitische Situationen nämlich, in denen das Proletariat
-sich entscheiden kann für die soziale Revolution
-oder für einen imperialistischen Krieg, in dem Millionen
-fallen. Das Weltproletariat steht immer wieder in dieser
-Schicksalspause. Wie wird es sich das nächste Mal
-entscheiden?“
-</p>
-
-<p>
-Und während er seine Notizen einsteckte: „Der
-Genosse Jürgen! ... Unsere Bezirksführer! Und
-hier: Unser Vertrauensmann.“
-</p>
-
-<p>
-Die neun standen an der Wand lang, hockten auf
-dem Fußboden und dem Fenstersims. Zwei rauchten
-aus kurzen Pfeifen den Tabak, dessen dunkelblauer
-Qualm, von dem Spaziergänger unverhofft im Freien
-eingeatmet, gut riecht und im Zimmer wie Gift
-beißt.
-</p>
-
-<p>
-Jürgens Augen folgten dem Blicke des Agitators,
-der lächelnd sagte: „Ihr beide kennt einander ja schon
-sehr lange, hast du mir erzählt.“
-</p>
-
-<p>
-Katharinas Gesicht, das außerhalb des Lichtkreises
-hinter der Schreibmaschine im Schatten hing, sah
-übermüdet aus. Neben ihr stand ein grauer Emailteller
-mit kaltgewordenem Kraut und kaltgewordenen
-<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
-Fettbrocken, an der Rückwand ein Gaskocher und
-ihr schmales Eisenbett.
-</p>
-
-<p>
-Fühlbar stand die Wirkung des Vortrages im Zimmer
-und sichtbar in den Blicken der neun Bezirksführer.
-</p>
-
-<p>
-Ein noch junger Holzarbeiter, dessen Gesicht, eingetrocknet
-und kleiner geworden, schon einer gedörrten
-Frucht glich, sagte, leicht werde es ihm nicht fallen,
-an die Genossen in seinem Bezirke alles das klar und
-faßlich weiterzugeben. „Aber faßlich muß es sein,
-sonst verstehts niemand.“
-</p>
-
-<p>
-Der Vertrauensmann, ein dunkelgesichtiger, stoppelbärtiger
-Metallarbeiter, an dessen rechter Hand zwei
-Finger fehlten, streckte diese Hand vor: „Vier Hauptpunkte
-mußt du festhalten“, sagte er, zählte an den
-Fingern her und mußte schon wieder beim Daumen
-beginnen: „Und viertens, daß die Arbeiterschaft gegen
-einen derartig gewaltigen Machtblock eben nur bei
-schärfster Disziplin und überhaupt nur durch eine
-ganz starke Organisation etwas ausrichten kann.“
-</p>
-
-<p>
-Unter dem Sims, mit dem Rücken gegen die Fensterwand,
-saß auf dem Fußboden ein schon bejahrter
-Kartonnagenarbeiter. Seine Hand rückte ununterbrochen
-und selbsttätig unsichtbare Gegenstände zehn
-Zentimeter seitwärts: Die arbeitende Hand machte
-den Griff, den sie ein Leben lang von früh bis abends
-in der Papier- und Kartonnagenfabrik des Herrn
-Hommes gemacht hatte.
-</p>
-
-<p>
-„Beruhig du dich nur. Die Genossen in deinem Bezirk
-werden dich schon verstehen. Was dir deiner Lebtag
-auf die Haut brennt, das begreifst du leicht“,
-sagte er und setzte sich auf die arbeitende Hand, die
-sich Sekunden später wieder befreite und weiter ihre
-Arbeit tat.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
-„Wegen der Frauenlandeskonferenz! Weil sie eben
-in dieser Woche in vier Versammlungen das Referat
-hatte. Und auch sonst viel Arbeit, Sitzungen, Schreibereien
-und so ... Jetzt mußt du ein paar Tage ausspannen,
-Genossin Lenz.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich brauche nur Schlaf. Fünf Stunden!“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, ja, Schlaf“, sagte der Kartonnagenarbeiter und
-setzte sich wieder auf seine tätige Hand.
-</p>
-
-<p>
-Katharina wandte das Gesicht Jürgen zu. Und es
-schien, als habe sie den Blick, mit den sie ihn vor acht
-Jahren im öffentlichen Parke angesehen hatte, in
-ihre Augen zurückgeholt. Sie lächelte, und hinter
-diesem Lächeln stand die Antwort auf seine damalige
-Frage: ‚Aber wie? Wie soll man sich aufopfern?‘
-</p>
-
-<p>
-„Der ist erst fünf Tage später abtransportiert worden.“
-</p>
-
-<p>
-Dann hörte Jürgen, wie der Metallarbeiter zu den
-zwei Pfeifenrauchern sagte: „Weil der Kriminaler,
-der mit dem Kopf ins Fenster gefallen ist, dabei ein
-Aug eingebüßt hat und deshalb die Reise nicht mitmachen
-konnte.“ Und trat zu den Dreien in die
-Fensterecke. Auch der Agitator war hinzugetreten.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn sie den packen – unter fünf Jahr gehts
-nicht ab“, sagte der Metallarbeiter noch.
-</p>
-
-<p>
-Der Holzarbeiter mit dem vertrockneten, kleiner
-gewordenen Gesicht sprach schriftdeutsch: „In der
-Zeitung stand: Ein gutgekleideter, ungefähr fünfundzwanzigjähriger
-Mensch, Kaufmann oder Student,
-augenscheinlich ohne Kopfbedeckung.“
-</p>
-
-<p>
-Und der Agitator: „Auch heute waren wieder Kriminalbeamte
-im Parteibureau ... In diese romantischen
-Polizeischädel geht es nicht hinein, daß die
-Aufgabe der modernen Arbeiterbewegung nicht darin
-<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
-besteht, Attentate zu organisieren und Attentäter
-gewaltsam zu befreien.“
-</p>
-
-<p>
-Die Mütze hatte ich in der Tasche, dachte Jürgen
-und fragte: „Was sagten Sie eben?“
-</p>
-
-<p>
-„Das Gefühl der Empörung übrigens, das diesen
-jungen Menschen zu dem Befreiungsversuch veranlaßte,
-ist dasselbe, das in allen Klassenkämpfern lebendig
-ist; aber die müssen, so schwer das ihnen auch wird,
-ihre Empörung oft in sich zurückhalten“, fuhr der
-Agitator fort, Blick vor sich hin gerichtet und in einem
-Tone, als dachte er, wie sehr viel leichter das Leben
-sein würde, wenn der Kampf um den Sozialismus in
-derartigen Taten bestehen könnte, anstatt in der jahrelangen,
-lebenslangen, zermürbenden, täglichen Hingabe.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, aber dazu noch wöchentlich zweimal Bildungskurs
-in der Jugendorganisation!“ rief bei der
-Rückwand ein Bezirksführer. Zwei andere sprachen
-über den letzten Lohnkampf, der die Transportarbeiter
-sehr geschwächt habe. Im Stock erklang das
-in sich erstickende Geschrei eines Säuglings.
-</p>
-
-<p>
-Unter dem Brustbein empfand Jürgen einen immer
-schwerer werdenden Druck, als stecke er bis zum Kinn
-in dickflüssiger Moorerde.
-</p>
-
-<p>
-„Wollen wir anfangen?“ fragte der Agitator. Und
-Katharina hob den Deckel von der Schreibmaschine.
-</p>
-
-<p>
-Die zehn schritten durch die Finsternis, vor sich
-die fensterlosen Rückseiten schmaler, turmhoher, freistehender
-Mietskasernen: tote Silhouetten. Ein langer
-Güterzug kroch aus dem Arbeiterviertel heraus, ins
-flache Land hinein. Wasserglanz in dunkler Ferne und
-das gedämpfte Rasseln eines Schleppers, der eine
-Reihe Frachtschiffe stadtwärts zog. Der lange Pfiff
-der Lokomotive schlug einen Bogen durch die Nacht.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
-Geschrei brach ihnen entgegen, stieg an: ein Knäuel
-Wutgebrüll. Über allem die Frauenstimme, die wie
-die Verzweiflung selber schrie. Und als die zehn den
-Lichtkegel, der aus dem Parterrefenster auf die Straße
-fiel, erreicht hatten und ihn durchschritten, war es
-drinnen völlig still. Drückende Stille. Und dann
-Wimmern, Weinen, gestoßen ausbrechendes Geheul,
-fessellos, als weine die Verzweifelte alle Not ihres
-Lebens und das Leben selbst aus sich heraus.
-</p>
-
-<p>
-Darüber entstand ein Gespräch. Ob der Mann die
-Frau und weshalb er sie wohl geschlagen habe, und
-warum sie gar so arg flenne. „Die Gründe kennt man“,
-sagte der Holzarbeiter.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, das sind im Grunde immer die selben.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie schön die Nacht ist.“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, wenn man so marschiert.“
-</p>
-
-<p>
-Die neuen Backsteinhäuser des wachsenden Arbeiterviertels,
-gleichförmig, unverputzt, wie über Nacht
-hingestellt – lineare Straßen, bei den Feldern endend
-wie abgehauen –, stießen feuchten Kalkgeruch ab.
-Kein Fenster war erleuchtet. Die Arbeiter schliefen
-schon. Vor einer alten Villa, die eingeholt und überholt
-worden war von der wachsenden Stadt, stand ein
-Schutzmann mit einem Polizeihund.
-</p>
-
-<p>
-Das Weinen war verendet. Die Schritte hallten im
-Gleichmaß.
-</p>
-
-<p>
-„Aber Parteimitglied wurde ich – das sind jetzt
-sechsundzwanzig Jahre her“, erzählte der Kartonnagenarbeiter.
-„Seitdem hat sich viel geändert.“
-</p>
-
-<p>
-Sechsundzwanzig Jahre, dachte Jürgen. Sechsundzwanzig
-Jahre.
-</p>
-
-<p>
-Hohe, leuchtende Fenster, fünf lange Reihen übereinander,
-traten aus der Dunkelheit heraus. Die zehn
-<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
-schritten hinein in das Klipp-Klapp-Geräusch der
-Transmissionen: die Nachtschicht bei der Arbeit.
-</p>
-
-<p>
-„Heut ist die Partei eine Macht ... Wenns auch
-langsam geht ... Mitbestimmungsrecht ... Die straffe
-Organisation ... Ja, viel Arbeit gewesen“, vernahm
-Jürgen, der mit dem Holzarbeiter und dem Metallarbeiter
-einige Schritte voraus war.
-</p>
-
-<p>
-Schweigend über die kleine Eisenbrücke. Durch
-den kühlen Teergeruch. Auf der äußersten Spitze des
-zugebretteten Frachtschiffes im Kanal stand ein
-winziger Hund, der blickte. Schon durchbrach dort
-und hier das Lichtermeer die Baumkronen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen konnte nicht durchatmen, als wären seine
-Lungen luftgefüllt und hermetisch verschlossen.
-Konnte nur vom Halse weg atmen. ‚Lebenslang
-außerhalb des Lebens zu stehen, bedeutet es. Und
-nur ein winziges Teilchen der großen Bewegung zu
-sein und gewesen zu sein.‘ Der Druck in seiner Brust
-wich nicht.
-</p>
-
-<p>
-Sie gerieten in die Menge hinein, die das Theater
-verließ und dem Korso zustrebte. Es war erst zehn
-Uhr. Vor allen Cafés saßen die Gäste im Freien.
-Auch vor dem Grandhotel ruhten elegante Herren
-und elegante Damen in Korbsesseln und genossen die
-herrliche Sommernacht. Auf der funkelnden Weinterrasse,
-blumenüberhangen, von der Straße leicht
-abgesondert durch Lorbeerbäume, rollten die Kellner
-lautlos die Servierwagen an und ab, tranchierten
-Geflügel, öffneten Weinflaschen. Zu Verbeugungen
-erstarrte Fragen. Das Streichquartett spielte diskret.
-</p>
-
-<p>
-Die vier Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster
-spritzten weißes Licht in die Menge – Studenten,
-junge Kaufleute, Fremde und Offiziere mit
-<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
-ihren Kokotten und Damen –, die straßauf, straßab
-bummelte, in so gemächlichem Tempo, daß die zehn
-wie ein marschierender Fremdkörper wirkten. Vor
-dem Juwelier blieben sie stehen. Alle zehn. Jürgen
-mit dem Blick zur Weinterrasse.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich bekam er einen Schlag gegen das Herz.
-Sagte zweimal den Satz: „Das ist es ja nicht. Das ist es
-ja nicht.“ Sah an sich hinunter, überzeugte sich, daß
-er sorgfältig gekleidet war, und drehte sich wieder
-um zum Schaufenster.
-</p>
-
-<p>
-„Also, auf morgen!“ rief der Holzarbeiter noch zurück
-und lächelte bekannt und dennoch fremd.
-</p>
-
-<p>
-Die erste Geige sprang mit einem unerwarteten,
-funkelnden Saltomortale aus der Begleitung heraus,
-jubelnd empor. Ein übriggebliebener Gedanke irrte
-noch in Jürgen umher, wurde immer wieder zurückgestoßen,
-schrie lautlos und gellend das Wort ‚Schicksalspause‘.
-„Das ist es ja nicht. Das ist ja unwichtig“,
-murmelte Jürgen und zog die Handschuhe über.
-</p>
-
-<p>
-Erst als er schon vor einem weißgedeckten Tischchen
-auf der Weinterrasse saß, gegenüber zwei schweigsamen,
-schönen Engländerinnen, bemerkte er Adolf
-Sinsheimer und noch drei Schulkameraden, die, elegant
-zurückgelehnt, ihre seidenen Strümpfe sehen ließen
-und, die ganzen Oberkörper langsam vorbeugend, Jürgen
-grüßten. Er setzte sich zu ihnen.
-</p>
-
-<p>
-Stand sechs Stunden später auf der Straße. Die
-Vögel pfiffen schon. Die Menschen schliefen noch.
-„Nun, und jetzt? ... Ich war betrunken.“
-</p>
-
-<p>
-Er dachte, von Ekel geschüttelt, an die Szene in
-dem orientalischen Salon, in dem er mit den Schulkameraden
-gewesen war. Sah die Amsel an, die auf
-dem Staketenzaun saß. Seine Knie wurden weich.
-<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
-Er mußte sich auf die Steintreppe setzen. „Das Ganze
-hat nicht mehr und nicht weniger zu bedeuten, als
-mein imaginäres Duell mit Karl Lenz.“
-</p>
-
-<p>
-Die Amsel sperrte weit den gelben Schnabel auf:
-„Das stimmt. Und stimmt doch nicht.“
-</p>
-
-<p>
-„Denn einmal, meinst du, nicht wahr ...“
-</p>
-
-<p>
-„Eben das meine ich!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hatte das Empfinden, in die Tiefe zu stürzen,
-und fuhr aus dem Schlummer. „Wenn das so weiter
-geht, werde ich einmal nichts mehr selbst entscheiden
-können. Das Schicksal wird mir keine Pause mehr gewähren.“
-</p>
-
-<p>
-Am Nachmittag – sie hatten eben Kaffee getrunken
-– blickte Jürgen nachdenklich die im Sessel schlummernde
-Tante an, lehnte sich auch in den Sessel zurück,
-Wange auf dem gehäkelten Schutzdeckchen.
-</p>
-
-<p>
-Die Heiligenbilder an den Wänden hielten die
-segnenden Hände erhoben über die beiden. Auch der
-Vogel im Käfig ließ die Schlafhäutchen über die Augen
-herab. Die blauen und silbernen und goldenen, kopfgroßen
-Glaskugeln im Garten funkelten in der Nachmittagssonne.
-Eine Wolke zog still am Himmel hin.
-Der Perpendikel sagte: Rich...tig, rich...tig.
-</p>
-
-<p>
-Das fadendünne Drahtseil lief von Jürgens bequemem
-Backenstuhl weg, in viel tausend Meter Höhe vorbei
-an den in Not und Kampf Stehenden dieser Welt.
-Jeder hielt sein gepeinigtes Herz in der Hand. Da,
-wo das Seil endete – in ungeheuer weiter Ferne –,
-leuchtete Katharinas Stube. Auf Jürgen zu, in blauer,
-gefährlicher Höhe, bewegten sich die neun Proletarier
-und erwarteten Jürgen so gläubig, daß er nicht widerstehen
-konnte, das fadendünne, schwindelhohe Seil
-ebenfalls zu besteigen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
-Ein paar Meter vor ihm balancierte, vom Absturze
-bedroht, ein Mensch auf dem Seile. Jürgen erkannte
-in dem gefährlich Schwankenden sich selbst, rief sich
-an in kaltem Schrecken.
-</p>
-
-<p>
-Da marschiert er mit den neun Proletariern den
-Korso hinauf, sieht die promenierende Menge, die vier
-lichtspritzenden Bogenlampen über des Juweliers Schaufenster.
-Hört die Streichmusik, erkennt die Melodie.
-</p>
-
-<p>
-Die Schicksalspause tritt ein.
-</p>
-
-<p>
-‚Also, auf morgen!‘ sagt der Holzarbeiter.
-</p>
-
-<p>
-Diese photographische Genauigkeit! Ich sah im
-Traume sogar die gelbe Rose in Adolfs Knopfloch,
-deren tatsächliches Vorhandensein mir gestern nicht
-einmal in der Wirklichkeit bewußt geworden war,
-denkt Jürgen, der träumte, erwacht zu sein. Steckt
-sich die Rose ins Knopfloch.
-</p>
-
-<p>
-Sitzt mit Adolf Sinsheimer und den drei Schulkameraden
-auf der Weinterrasse. Plötzlich verdichten
-sich die vier Körper in einen Körper, auf dessen Hals
-die vier Köpfe stecken.
-</p>
-
-<p>
-Alle vier Gesichter haben den selben zotigen Zug
-um den Mund, denkt Jürgen. ‚Wie Männer, wenn sie
-eine wehrlose Frau auf der Straße ansehen. Den selben,
-das Menschenauge schändenden Blick, den kein Tier
-dieser Erde hat.‘
-</p>
-
-<p>
-Alle vier Münder gleichzeitig sprechen ein furchtbares
-Wort: Ein Menschenschrei, gefangen im Kellergewölbe.
-Dann nimmt der Vierköpfige ein kleines
-Küchenmesser mit brauner Holzschale aus der Westentasche
-und stemmt Jürgens Schädeldecke auf.
-</p>
-
-<p>
-Die Hauptmasse des Gehirns reißt er mit der Hand
-heraus. Das Hängengebliebene kratzt er mit dem
-Küchenmesser sorgfältig ab.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
-Dabei hört der zu maßlosem Entsetzen Erstarrte
-die erste Geige im Weinrestaurant jubelnd in die
-Höhe steigen.
-</p>
-
-<p>
-Der Vierköpfige wickelt ein sorgfältig verpacktes,
-neues Gehirn aus, um das herum – wie um eine
-Sektflasche die Steuerbanderole – das Fabrikzeichen
-klebt, preßt es in Jürgens offenen Kopf hinein und
-paßt die Schädeldecke wieder auf.
-</p>
-
-<p>
-Schmerz und Entsetzen verschwinden augenblicklich.
-</p>
-
-<p>
-Die Schulkameraden sind jetzt wieder alle vier da.
-Als fünfter sitzt Jürgen bei ihnen, spricht wie sie,
-denkt, lacht wie sie, hat den selben zotigen Zug um
-den Mund, den selben Blick, weiß das alles und fühlt
-sich wohl dabei.
-</p>
-
-<p>
-Nur der Menschenschrei im Kellergewölbe, der wie
-gefangener Gesang klagend weiter tönt, stört ihn.
-Deshalb leert er die bis zum Rande mit Sekt gefüllte
-große, weiße Kaffeekanne auf einen Zug. Steht plötzlich
-in dem orientalisch ausgestatteten Salon, in
-dem fünf halbbekleidete Mädchen auf Ottomanen
-liegen. Schaudert zurück, weil die Brüste mit kurzhaarigem
-Pelze bewachsen sind. Und erwachte wirklich.
-</p>
-
-<p>
-Der Vogel und die Tante schliefen noch. Und die
-still am Himmel hinziehende Wolke hatte noch nicht
-einmal die Krone des Nußbaumes im Garten passiert.
-Die selbe Fliege saß noch auf der weißen Kaffeekanne
-und saugte an dem selben Tropfen, der an dem Schnabel
-hing.
-</p>
-
-<p>
-Als ob der Entschluß, der seinem ganzen weiteren
-Leben eine andere Richtung geben mußte, sekündlich
-in Jürgens Empfinden übergegangen wäre, hatte sich
-<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
-mit dem Entschlusse unversehens sein ganzes Körpergefühl
-verwandelt. Gang und Glieder waren schwer
-geworden. Alles Gewesene und die Umwelt hatten
-an Gewicht verloren.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen, entschlossen, sich auf sich zu nehmen, verließ,
-ein schweres Ganzes, die Villa, um nicht mehr
-zurückzukehren.
-</p>
-
-<p>
-Sein Gefühl wußte, was er auf sich nahm. Dieses
-Gefühlsbewußtsein lastete von dem ersten Schritte
-an, den er außerhalb des Gartens tat, so schwer in
-ihm, als hätte es seit Jahren sein Wesen bestimmt.
-Das Bisherige war versunken. Dahin gab es kein Zurück
-mehr.
-</p>
-
-<p>
-Er möge ein bißchen warten, rief Katharina durch
-die verschlossene Tür, trat schnell vom Arbeitstisch
-weg in die Mitte des dunklen Balkenkreuzes, das den
-Fußboden vierteilte.
-</p>
-
-<p>
-Beide Hände in den Taschen des Sweaters, blickte
-sie prüfend rundum in ihrem großen Parterrezimmer,
-ohne sich vom Platze zu bewegen. Die geblümte
-Tapete, älter als Katharina, war mit vielen kreisrunden
-Rostflecken übersät, an vielen Stellen gesprungen
-und mit Markenpapier zusammengeklebt. Nur eine
-Gasflamme brannte an dem Doppelarm.
-</p>
-
-<p>
-Nachdenklich strich sie sich mit dem dünnen Mittelfinger
-über die braune, gebogene Braue, berührte dabei
-die Lippe mit der Zungenspitze, wie vor Jahren
-an dem Abend, da sie, stehend in ihrem Mädchenzimmer,
-den Entschluß, für immer das Elternhaus zu
-verlassen, gefaßt und sofort ausgeführt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Auch jetzt machte sie diese Doppelgebärde, als habe
-sie einen Entschluß gefaßt, entzündete den zweiten Glühstrumpf,
-schloß das Fenster, von dem aus die fernblinkenden
-<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
-roten und blauen Lichter des Rangierbahnhofes
-und der Eisenbahnwerkstätte zu sehen
-waren, und zog den Vorhang zu. Mehr Verschönerungsmöglichkeiten
-gab es nicht.
-</p>
-
-<p>
-Im Zimmer, nun abgeschlossen von der Außenwelt,
-war es ganz still. Nur das Herz klopfte. Schon mittenweges
-zur Tür, kehrte sie noch einmal um, setzte sich,
-Hand auf dem Herzen, und staunte.
-</p>
-
-<p>
-Hinter der verschlossenen Tür stand Jürgen in
-schwerer Ruhe.
-</p>
-
-<p>
-Sie schob, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, beide
-Hände sofort wieder in die Sweatertaschen, erkannte
-an Jürgens Blick sofort, daß der Grund seines Besuches
-ein anderer war, und nahm die Hände wieder heraus.
-</p>
-
-<p>
-Er hatte ihr nicht die Hand gereicht. Er saß schwer
-am Tisch und erzählte, ohne Einleitung, sachlich und
-ohne Scham, als schildere er das Erlebnis eines andern,
-was sich gestern mit ihm ereignet hatte. Dabei
-machte seine Hand, die schwer auflag, kleine verstärkende
-Bewegungen. Auch als er, bemüht, sich
-und ihr das gestern Geschehene verständlich zu machen,
-in großen Zügen sein bisheriges Leben erzählte, schilderte
-er die Leiden, die Demütigungen und die nicht
-durchgekämpften Kämpfe des Kindes und Jünglings
-so, als spräche er von einem beliebigen anderen.
-</p>
-
-<p>
-So ergab sich, während sie die Abendsuppe bereitete
-auf dem Gaskocher, der auf einem niedrigen Kistchen
-stand, so daß sie öfters in tiefer Kniebeuge sitzen
-mußte, ein Gespräch über Einzel-Ich und Umwelt.
-</p>
-
-<p>
-Einst, vor Jahren, als sie noch nicht Sozialistin
-gewesen sei, habe sie sich vorgestellt, was geschehen
-würde, wenn einmal eine ganze Generation nicht als
-machtlose Kinder, sondern, ungebrochen durch falsche
-<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
-Erziehung, Autorität und Umwelt, gleich als Zwanzigjährige
-geboren werden und so auf dem Kampfplatz
-erscheinen würde. Mit der Kraft ihres unverbogenen
-Wesens würde diese Generation ohne Schwierigkeit
-das Ganze über den Haufen werfen.
-</p>
-
-<p>
-„Leider aber kommt der Mensch als wehrloser
-Säugling auf die Welt“, schloß sie und lächelte froh,
-als sei diese Wehrlosigkeit das Erfreulichste, das dem
-Säugling geschehen könne. Das Herz klopfte nicht
-mehr.
-</p>
-
-<p>
-Sie gab sich Mühe, besonders gut zu kochen, fragte,
-ob er die Hafersuppe lieber dick oder dünn, süß oder
-weniger süß esse.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist mir ganz gleich. Ich habe noch niemals
-Hafersuppe gegessen.“ Er beobachtete, wie sie herumhantierte,
-sich tief zu Boden beugte, wieder senkrecht
-stand. ‚Glatt und fest wie ein junges Baumstämmchen,
-junges Nußbaumstämmchen‘, fiel ihm ein.
-</p>
-
-<p>
-Sie stand, ein rechter Winkel, über den Gaskocher
-gebeugt. Von jetzt an wirst du vermutlich sehr oft
-Hafersuppe essen, dachte sie, während sie die zwei
-dampfenden, zu vollen Suppenteller vorsichtig durch
-das Zimmer trug zum Tisch, der am Fenster stand.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen, tief dabei, die Summe seines bisherigen Erlebens,
-Erleidens, Erkennens zu ziehen, bereitet und
-gewillt, von nun an klaren Bewußtseins zu handeln,
-bedurfte in dieser Stunde, da er im Rückblick auf sein
-Leben schon und erst den Aufbruch zu sich selbst begann,
-noch des Verweilens bei den Ursachen, bestrebt,
-ihr Ineinandergreifen fehlerlos zu erkennen.
-</p>
-
-<p>
-Er dachte: Der Sozialismus muß sich auf allen Gebieten
-des Lebens mit absoluter Notwendigkeit und
-Ausschließlichkeit ergeben aus dem Wahnsinn des
-<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
-Bestehenden. Die Rechnung muß stimmen. Und
-sagte:
-</p>
-
-<p>
-„Es gibt nicht nur eine herrschende Klasse und
-unterdrückte Klassen; es gibt auch eine jeweils herrschende
-Generation, die durch alle Klassen durchgeht:
-Alle Erwachsenen nämlich, die, machtstrotzend,
-mit Hilfe der bestehenden Seelenmord-Gesellschaftsordnung,
-in der sie selbst tödlich verstrickt und untergegangen
-sind, die heranwachsenden Generationen abwürgen,
-entselbsten ... In diesem Sinne bilden alle
-Erwachsenen zusammen eine granitene Einheit, einen
-Wall, gegen den die Heranwachsenden vergebens anrennen,
-so lange anrennen, bis sie selbst entselbstete,
-lebende Leichen sind und Teile des Walles bilden
-gegen die neu heranwachsenden Generationen.“
-</p>
-
-<p>
-Sie stand rückwärts und rieb, betrachtete den
-Löffel, rieb weiter, hauchte ihn an. Der verzinnte
-Blechlöffel bekam keinen Glanz.
-</p>
-
-<p>
-„Denn wenn es auch eine Tatsache ist, daß jeder
-Mensch als ‚Reines Ich‘ geboren wird, ist es eine
-ebenso unumstößliche Tatsache, daß das Reine Ich
-ganz und gar unentwickelt, ganz und gar versunken
-und verschüttet und ertötet ist im Bürger des zwanzigsten
-Jahrhunderts ... Aber wie steht es mit der Entwicklungsmöglichkeit
-des Ich im Proletarierkinde?
-Wie verhalten sich Umwelt und proletarische Eltern
-zu dem Ich im proletarischen Kinde und umgekehrt?“
-</p>
-
-<p>
-Darüber habe sie noch nicht nachgedacht. Katharina
-stand noch einmal auf, kramte lange in einer Schublade
-und legte dann eine Papierserviette vor Jürgen hin.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist aber eine sehr wichtige Frage. Auch hier
-müßte die Rechnung stimmen.“
-</p>
-
-<p>
-Wahrscheinlich könne auch diese Frage nur von
-<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
-dem Standpunkte aus, daß es eine herrschende und
-eine ausgebeutete Klasse gäbe, richtig beantwortet
-werden, sagte Katharina. „Vielleicht sollte man diese
-Frage so stellen: Was erhält das bürgerliche Kind
-von der Umwelt dafür, daß es seinen Protest, sein
-Wesentlichstes: sein Ich und damit sein Schöpfertum
-und die Fähigkeit, das Leben auch psychisch zu erleben,
-aufgibt, sich unterordnet, sich der Umwelt
-anpaßt, selbst zu einem Teile der Umwelt wird gegen
-noch Protestierende? Und was tauscht das proletarische
-Kind gegen die Aufgabe seines schöpferischen
-Ich ein? Was widerfährt dem Bürgerkinde, wenn es
-versucht, zu kämpfen, zu protestieren? Und was geschieht
-in diesem Falle dem proletarischen Kinde?
-Erhalten beide und geschieht beiden das gleiche?“
-</p>
-
-<p>
-Sie hörten, wie jemand absprang, das Fahrrad gegen
-die Mauer lehnte. Eine Sekunde später trat der junge
-Arbeiter ein, atmend, verschwitzt und seelenruhig
-lächelnd. „Die ganze Belegschaft der Hommesschen
-Papierfabrik ist in den Streik getreten, Genossin
-Lenz.“ Er wischte sich mit dem Taschentuch rund um
-den Hals. „Der Genosse Ingenieur läßt dir sagen,
-du sollst morgen früh um sieben Uhr in der Redaktion
-sein.“ Und da sie nickte, war er draußen.
-</p>
-
-<p>
-Sie rief ihn zurück. Ob die Werkmeister und Vorarbeiter
-mitstreikten?
-</p>
-
-<p>
-„Ah, wo werden denn diese Arschkriecher mitstreiken!
-Er will ja auch auswärtige Streikbrecher
-heranziehen. Aber unsere Streikposten stehen schon.
-Auch am Bahnhof! Die Polizei, selbstverständlich, ist
-auch schon aufmarschiert!“
-</p>
-
-<p>
-„Da möchte ich gleich Streikposten stehen“, sagte
-Jürgen, „gegen Herrn Hommes.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
-„Das besorgen die Betriebsgenossen schon selber.“
-Sie setzten sich wieder. Und da Jürgen mit den Augen
-fragte, fuhr sie fort:
-</p>
-
-<p>
-„So gewiß es ist, daß die Natur die Trennung der
-Menschen in Klassen, das heißt: die Verhunzung des
-Menschen durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung,
-immer wieder aufhebt durch das Hervorbringen
-körperlich und geistig vollwertiger Kinder
-bürgerlicher und proletarischer Eltern, so unzweifelhaft
-ergibt sich aus dem, was ist, daß die Trennung
-in Klassen auf bürgerliche und proletarische Kinder
-total verschieden wirkt.“
-</p>
-
-<p>
-Unversehens war die Gefühlsschwere von Jürgen
-gewichen. Entlastet atmete er aus. „Was dem
-Bürgerkinde, das sich nicht anpassen will, geschieht,
-weiß niemand besser als du und ich“, sagte er, im
-Blicke tiefe Freude über die schwer errungene persönliche
-Befreiung. „Ein zeitlebens seelisch gefährdeter
-Mensch, Irrenhaus oder Selbstmord! Oder,
-bestenfalls, als Dreißigjähriger ein zuckendes Nervenbündel!
-... Und für die anderen, für die übergroße
-Mehrzahl, für diejenigen Bürgerkinder nämlich, die
-den Kampf gegen die Umwelt sofort aufgeben, ist
-das Nichtmehrprotestieren, das Sichaufgeben, das
-Sichanpassen gleichbedeutend mit Bequemlichkeit,
-kampflosem Siegen, mit der uneingeschränkten Möglichkeit,
-sich zu bilden, mit glattem Emporkommen in
-eine bevorzugte Stellung, mit standesgemäßer Heirat,
-mit Reichtum, Macht, Geachtetwerden, kurz: mit
-dem vollen Genusse des Lebens ... Die geben ihr
-Ich hin, tauschen aber dafür alles ein, was das Leben
-bietet.“ Er schob den nicht ganz geleerten Teller auf
-die Seite.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
-Durch die rückwärtige Tür trat Katharinas Wirtin
-ein, stellte einen Krug voll Wasser neben das schmale
-Eisenbett. „Schläft der Genosse hier? Die letzte 54
-ist nämlich weg ... Dann bringe ich die Decke.“
-</p>
-
-<p>
-„Er schläft doch nicht hier“, sagte Katharina.
-„Nein, nein, er schläft nicht hier.“
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen fuhr schnell fort: „Das Sichanpassen
-des Bürgerkindes wäre demnach gleichbedeutend mit
-dem vollen Lebensgenusse eines Angehörigen der
-herrschenden Klasse. Dieser Angepaßte ist dann zwar
-in keiner Weise mehr er selbst, ist eine Ich-Leiche,
-aber eine geachtete, mächtige, herrschende, die das
-Leben, wie es ist, mitbestimmt und dieses Leben genießt.
-Eine Leiche, die lebt und gut lebt! Von dieser
-Seite ist also gewiß nichts zu erwarten für die Befreiung.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn aber die Umwelt“, sagte Katharina, „sich
-Kindern gegenüber sieht, denen sie, im Gegensatze
-zu den bürgerlichen Kindern, für das Sichanpassen
-nichts zu geben hätte als Not, Qual, Prügel in jeglicher
-Form, die Verweigerung aller Bildungsmöglichkeiten
-und des Lebensgenusses, nichts als Hunger, Kälte,
-Schmutz, Arbeitenmüssen für andere und Demütigungen
-auf allen Wegen? ... Das Proletarierkind, das
-geneigt ist, sich der Umwelt anzupassen, wird von der
-Umwelt selbst, wird durch die herrschende Klasse und
-deren Staat immer wieder in den Protest gegen die
-Umwelt zurückgestoßen. Dieser brutale, unaufhörliche
-Stoß verleiht und erleichtert dem proletarischen
-Kinde die Möglichkeit, etwas mehr von seinem Ich
-zu bewahren. Die Proletarier kommen aus dem Proteste
-nie ganz heraus, können folglich ihr Ich nie ganz
-verlieren und sind auch mit aus diesem Grunde
-<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
-als Klasse schöpferisch und dazu bestimmt, im Gange
-der Geschichte über die unschöpferisch gewordene
-bürgerliche Klasse hochzusteigen ... Aber erst in
-der klassenlosen Gesellschaft tritt dein Reines Ich
-auf den Plan, wird es jedem Einzelnen verstattet sein,
-er selbst zu werden und zu sein.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen sah den Vierköpfigen, hob langsam den
-Kopf, empor aus dem Lauschen und seinen Vorstellungen,
-blickte, den Gedanken erst formulierend,
-Katharina an: „Auf der einen Seite also, in der kapitalistischen
-Gesellschaft, meinst du: ungeheuerlichste
-Ungleichheit in materieller Hinsicht und eine vielleicht
-noch ungeheuerlichere blödsinnige Gleichheit aller im
-Geistigen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, und das wird Individualismus genannt.“
-</p>
-
-<p>
-„... auf der anderen Seite, in der klassenlosen Gesellschaft:
-materielle Gleichheit für alle und infolgedessen,
-nicht wahr, infolgedessen im Geistigen absolute
-individuelle Verschiedenheit jedes Einzelnen von
-jedem Einzelnen. Jeder ein Reines Ich! Ein schöpferischer
-Mensch!“
-</p>
-
-<p>
-„Und das wird die öde Gleichmacherei der Sozialisten
-genannt ... Zwischen diesen zwei Extremen
-liegt allerdings zunächst die Revolution.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie unsäglich wunderbar das sein wird: Die Seele,
-die ihr Ich durch den Körper gewinnt und im Gleichgewicht
-in sich selber ruht.“
-</p>
-
-<p>
-Beide schwiegen. In die Stille klang wieder das in
-sich erstickende Geschrei des Säuglings. Fernher
-tönten Pufferknall und die monotonen Rufe der
-Eisenbahnarbeiter, die einen Zug zusammenstellten.
-</p>
-
-<p>
-Dieser Befreiungsversuch war ein herrlicher Seitensprung,
-dachte er stolz, lächelte gerührt, wie über
-<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
-eine teure Jugenderinnerung. Und trat in seinem
-Gefühle wieder ein in die Reihen der Millionen, die sich
-auf dem langen, generationenlangen Marsche befanden.
-</p>
-
-<p>
-„Dein Zimmer – diese drückende Decke, das kleine
-Fenster – ist wie ein niederstirniges Gesicht“, sagte
-er, empfand plötzlich wieder Druck über dem Herzen.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, wir leben vergraben, geduckt, nur von uns
-selbst und der Idee beschirmt ... Bist du nun sicher,
-daß die Rechnung stimmt?“
-</p>
-
-<p>
-„Das solltest doch du am ehesten begreifen, daß ich,
-da hinter mir nicht der materielle Druck stand, der
-die Massen klassenbewußt macht, zum Teil auch
-auf dem Wege über den Verstand zum Sozialismus
-kommen mußte. Das Gefühl war vorher, war ja immer
-da.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie wir einander wiederfanden, du und ich! ...
-Wie schön, wie wunderbar ist das!“
-</p>
-
-<p>
-Da schlug das Glück durch ihn durch, legte Jürgens
-Hand um ihren Nacken. So stand er, Blick in ihrem
-Blick, nahe seine Lippen dem kleinen, festen Mund.
-Ihr Körper gab nach, antwortete frei.
-</p>
-
-<p>
-Dann sagte Jürgen, halb fragend: „Wo ich heute
-nacht schlafen werde, bei wem, das weiß ich freilich
-nicht.“
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="V">
-V
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-„... und auch deshalb, damit Du nicht glauben
-solltest, ich sei verunglückt, ertrunken, ermordet worden
-(ich habe mich, im Gegenteil, vor dem Ertrinken,
-vor dem Erstickungstode gerettet), teilte ich Dir meinen
-Eintritt in die sozialistische Partei und den Entschluß
-mit, nicht mehr zurückzukehren.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
-Wie noch vor kurzem kein Mensch, und wäre er der
-klügste auf der Welt gewesen, mir hätte begreiflich
-machen können, daß ich nur durch diesen Schritt
-mein Dasein in Einklang zu bringen vermöchte mit
-den Tatsachen des Lebens, so könnte ich die Beweggründe
-dieses Schrittes auch Dir nicht begreiflich
-machen, so wenig wie Herrn Papierfabrikant Hommes,
-Geheimrat Lenz, Bankier Wagner, den Professoren,
-Studenten, Söhnen und Töchtern, das heißt: allen
-diesen klugen, gebildeten Menschen Deiner Kreise, für
-welche die sozialistischen Arbeiter Existenzen sind,
-die alles gleichmachen und verteilen, nichts arbeiten,
-sich täglich betrinken wollen, und diejenigen, die sich
-zu den Sozialisten gesellen, schwachsinnige Schwärmer,
-Narren oder Verbrecher, ja sogar Verräter an dem
-Ideale.
-</p>
-
-<p>
-Wenn ich versuchen wollte, Dir zu erklären, daß
-der Sozialismus, über alles Materielle hinaus, auch eine
-gewaltige Kulturbewegung ist und verwirklicht werden
-muß, soll nicht die ganze Menschheit zugrunde gehen,
-müßte ich ein dickes Buch schreiben, und auch dann
-würdest Du nichts begreifen. Denn sogar Menschen
-meiner Wesensart vermögen die Größe und geschichtliche
-Notwendigkeit des Sozialismus erst dann ganz
-zu erkennen, nachdem sie den kleinen, aber entscheidenden
-Schritt, den Sprung gemacht haben –
-hinüber zur Arbeiterklasse, in ihr leben und zusammen
-mit ihr kämpfen.
-</p>
-
-<p>
-Ich habe den Sprung gemacht. Gräme Dich nicht
-darüber. Glaube mir, liebe Tante, daß dies allein für
-mich die Rettung sein konnte vor dem furchtbarsten,
-dem geistigen Tode. Daß dies allein die Rettung sein
-kann für jeden.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
-Und glaube mir auch, daß ich, würde ich einmal
-wieder zurückkehren zu jenen, die mit Blindheit geschlagen
-sind und offenbar nur noch durch eine Art
-Staroperation sehend werden können, ein Verräter an
-mir selbst, Verräter an der Idee geworden wäre: ein
-verlorener Mensch, gleich allen Angehörigen der bürgerlichen
-Jugend, deren Tugenden durch die Erziehung
-in Schule und Elternhaus beschnitten werden auf das
-schickliche Maß, das ein gutes Fortkommen gewährleistet,
-und deren solchergestalt noch übrig gebliebener
-Idealismus auf der Universität von der tätigen Hingabe
-an die fließende Wirklichkeit vollends abgelenkt,
-mit falschen, überkommenen, erstarrten Inhalten
-gefüllt und dem Staate dienstbar gemacht wird, dessen
-Institutionen sich mit ganzer Wucht gegen diejenigen
-richten, durch deren Hände Arbeit die Existenz
-dieses Staates, Reichtum und Zivilisation des Landes
-und auch die Ausbildung der entselbsteten bürgerlichen
-Jugend, sowie deren ausschließliche Beschäftigung in
-den Bezirken des, wenn auch verfälschten, sterilgewordenen
-Geistes erst ermöglicht wird.“
-</p>
-
-<p>
-Den letzten Satz strich Jürgen wieder weg und
-schickte den Brief an die Tante.
-</p>
-
-<p>
-Er wohnte sei Monaten in dem Loch, das durch
-eine Tür mit Katharinas Zimmer verbunden war.
-Das windschiefe Fenster ging auf einen Rattenhof
-hinaus, in dem Küchenabfälle und allerlei Unrat seit
-Jahren faulten und stanken und tagsüber zwanzig
-Proletarierkinder an ihrer Welt bauten.
-</p>
-
-<p>
-Katharina und Jürgen führten gemeinsamen Haushalt.
-Ein Anzug nach dem andern, die Uhr, die Hemden
-waren, auf dem Wege über das Pfandhaus, zu
-Holz und Kohle, Kartoffeln, Wurst und Brot geworden.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
-Seit dem Tage, da die Tante zum erstenmal den
-Namen Jürgen Kolbenreiher in Verbindung mit einer
-öffentlichen Arbeiterversammlung, gerichtet gegen
-den Papierfabrikanten Hommes, im Abendblatt gelesen
-hatte, eingepfeilt zwischen Schimpfworte, Hohn,
-Verleumdungen und verbrämt mit Bedauern für die
-hochachtbare alte Patrizierfamilie, die schon im
-15. Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt
-habe, waren die Bittbriefe, des Inhaltes, Jürgen
-möge vernünftig werden, sich wieder darauf besinnen,
-was er sich selbst, seinem Stande und seiner
-Erziehung schuldig sei, ausgeblieben.
-</p>
-
-<p>
-Durch den Streik der Papierarbeiter waren eine
-kleine Lohnerhöhung und für die stillenden Kartonnagenarbeiterinnen
-die Erlaubnis, ohne Lohnabzug dreimal
-täglich je fünf Minuten ihre Säuglinge befriedigen zu
-dürfen, erkämpft worden. Vier Streikposten, die in
-eine Schlägerei mit Polizisten und auswärtigen Arbeitswilligen
-geraten waren, saßen, verurteilt wegen schwerer
-Körperverletzung, in Tateinheit mit Störung der
-öffentlichen Ordnung, noch im Gefängnis und zwei
-schwerverletzte Streikposten lagen noch im Krankenhause.
-Herr Papierfabrikant Hommes hatte eine
-Summe ‚Für wohltätige Zwecke oder sonstige Kulturbestrebungen‘
-gestiftet.
-</p>
-
-<p>
-Die Zeit ging hin. Jürgen hatte schon in vielen Versammlungen
-gesprochen. Leitete seit einem Jahre den
-Bildungskurs des Bezirkes, in dem er wohnte. In
-den Nächten schrieb er an einem Schriftchen: ‚An die
-bürgerliche Jugend‘. Denn auch jetzt noch stockte
-sein Herz, wenn er der Ereignisse gedachte, die ihn
-zum Schreiben dieses Aufrufes an die Jugend veranlaßt
-hatten.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
-Vor dem Staatsgebäude fünfzigtausend Proletarier,
-demonstrierend für die Forderung, daß es jedem freistehen
-solle, seine Kinder am Religionsunterricht in
-der Schule teilnehmen zu lassen oder nicht; vor den
-demonstrierenden Arbeitern die Polizeikette, und
-hinter den Polizisten, aufgerufen von den Professoren,
-die ganze studentische Jugend, demonstrierend für die
-Beibehaltung des Religionszwanges.
-</p>
-
-<p>
-‚Mußte der Student denn nicht zusammen mit der
-Arbeiterschaft eintreten für die Freiheit des Gedankens,
-wenn er nicht sich selbst aufgeben wollte
-in seinem geistigen Bestande? Und was sind die Ursachen
-der Schande, daß er es nicht tat?‘
-</p>
-
-<p>
-Suchend nach den Ursachen saß er an dem als
-Schreibtisch dienenden Küchentisch. Das Licht von
-links. Freute sich des Tages über das Licht von links
-und in den stillen Nächten an dem Gasarm, den er
-durch eine Rohrverlängerung mit Hilfe eines seiner
-Genossen über den Schreibtisch montiert hatte.
-</p>
-
-<p>
-Wenn alles schlief und nur das Gaslicht summte,
-spielten im Hofe die Ratten, läutete fein das Glöckchen,
-das ein Proletarierjunge einer Ratte um den
-Hals gehängt hatte.
-</p>
-
-<p>
-‚Und im Zimmer nebenan atmet Katharina, die
-ich liebe. Viel mehr Glück kann man vom Leben nicht
-erwarten!‘ Er berührte den Bleistift zärtlich mit den
-Lippen. Weil Katharina ihn vielleicht einmal in die
-Hand nehmen würde.
-</p>
-
-<p>
-In diesen nächtlichen Stunden, da das Glöckchen
-in die Stille klang und die Sätze ihm gelangen, fühlte
-Jürgen sich und sein Ich organisch eingereiht in das
-Geschehen.
-</p>
-
-<p>
-Der Staatsanwalt hatte gegen die drei jungen Genossen
-<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
-und Katharina, denen es damals gelungen war,
-durch die Polizeikette durchzuschlüpfen und, unter
-Hohn und Prügel seitens der Studenten, Flugblätter
-zu verteilen, Anklage erhoben, ebenfalls wegen Störung
-der öffentlichen Ruhe, in Verbindung mit Aufreizung
-zum Klassenhaß. Die drei hatten je sechs
-Monate Gefängnis bekommen und saßen schon.
-Katharina, deren Vernehmung und Schlußrede als
-Sensation von den Zeitungen abgedruckt worden waren,
-verbrämt mit Bemerkungen tiefsten Bedauerns für
-Herrn Geheimrat Lenz, sollte am nächsten Tage in
-das Gefängnis.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen schrieb bis in den Morgen hinein. Erst als
-er das Klappern des Waschgeschirres vernahm, klopfte
-er. Katharina war noch nicht angekleidet. Und wie
-beide, stehend, in der Umarmung verharrten, erhob sich
-in der Ecke Katharinas schmutziggelber, langhaariger
-Schnauz, schritt langsam herbei und blieb, als gehöre
-er zu allem, was geschah, dazu, vor ihnen stehen, den
-Blick zu Boden gerichtet.
-</p>
-
-<p>
-Es war erst fünf Uhr. Schon fiel der erste Sonnenstrahl
-auf das Fenstersims, brach sich, huschte schräg
-an der Wand entlang und verfing sich in der Ecke.
-</p>
-
-<p>
-Um acht Uhr mußte sie im Gefängnis sein. Sie saß,
-im Hemd, auf ihren Händen auf dem Bettrand. Der
-Schnauz war im Hofe bei den Ratten.
-</p>
-
-<p>
-Später sprachen sie von anderen Dingen. Er solle
-sorgen, daß für die drei Genossen gesammelt werde.
-Des einen Mutter habe nichts zu essen, solange der
-Sohn im Gefängnis sei.
-</p>
-
-<p>
-„Nach dem Examen nehme ich sofort eine Stellung
-an als Verwaltungsbeamter in einem großen Betriebe.
-Dann werden auch wir eine bessere Wohnung haben
-<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
-und regelmäßige Einkünfte. Und ich werde obendrein
-noch enger bei den Arbeitern sein als jetzt. Wir werden
-heiraten, um unnötige Scherereien zu vermeiden ...
-Überhaupt – ein Glück haben wir, ein Glück! ... Es
-wird ein Jahr vergehen, es werden fünf Jahre, zwanzig
-Jahre vergehen, und immer werden wir zusammen
-sein. Was wir alles erleben werden! Ungeheuer viel!
-Wir sind Lebensgefährten. Katharina, welch ein Glück!
-... Sofort nach dem Examen nehme ich eine Stellung
-an.“
-</p>
-
-<p>
-Katharina, die schon als Siebzehnjährige, anstatt
-Blumen malen zu lernen und für Buddha zu schwärmen,
-begonnen hatte, das Mehrwertgesetz und die
-Kapitalskonzentration zu studieren, sagte, wie er,
-der als linksgerichteter Sozialist bekannt sei, dessen
-Name schon oft in den Zeitungen gestanden habe,
-ernstlich glauben könne, in irgendeinem Großbetriebe
-angestellt zu werden.
-</p>
-
-<p>
-„Nun, dann eben nicht!“ Sie blickten einander an,
-bis das selbe Lächeln in beider Gesichter entstand und
-sie wieder gleich auf gleich waren.
-</p>
-
-<p>
-„Deine Augen, Katharina, ach, deine Augen!“
-</p>
-
-<p>
-Wie unsagbar glücklich das eine Frau machen kann,
-dachte Katharina.
-</p>
-
-<p>
-Auf dem Wege bis vor das Gefängnistor erlebten sie
-eine Stunde vollkommensten Verbundenseins, wie nur
-zwei Menschen es verstattet sein kann, deren Liebe
-vertieft ist durch die gemeinsame Hingabe an die selbe
-Idee. Sie schritten in ihrem Gefühle.
-</p>
-
-<p>
-„Über alle Begriffe schön kann das Leben sein.“
-In ausbrechender Freude schlug sie die Arme um ihn.
-Wandte sich, zog die Glocke. Und wurde von dem
-schwarzen Tore geschluckt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
-„Wo ist die Einsamkeit? ... Ah, meine Herren,
-es gibt keine Einsamkeit. Nicht einmal eine Trennung!“
-frohlockte Jürgen und ging an seine Arbeit.
-</p>
-
-<p>
-Ob der Herr in Reichtum oder im Elend lebt, aus
-einem warmen Teppichzimmer in eines mit feuchten
-Wänden und verfaulendem Fußboden übersiedeln muß,
-ob er Erfolge erringt oder vom Leben Nackenschläge
-bekommt, hohe Ehren einheimst oder in Schimpf und
-Schande gerät – der Hund hängt seinem Herrn
-immer gleich an. So unvernünftig ist der Hund,
-dachte Jürgen. ‚Nur eines erträgt er offenbar nicht: getrennt
-zu werden von dem, dem seine Sympathie gehört.‘
-</p>
-
-<p>
-Katharinas Schnauz, bisher ein ausgelassen heiteres
-Tier gewesen, hatte am zweiten Tage das unruhvolle
-Fragen eingestellt; er blickte Jürgen gar nicht mehr
-an, fraß nicht mehr, leckte manchmal etwas Wasser
-und kroch wieder in seine Ecke zurück. Jürgen mußte
-ihn gewaltsam füttern.
-</p>
-
-<p>
-Der ‚Aufruf an die bürgerliche Jugend‘ war erschienen.
-Bei dem letzten Besuche, den Jürgen im
-Gefängnis machte, versuchte er, den Schnauz, der
-einzugehen drohte, mitzunehmen.
-</p>
-
-<p>
-Der Gefängnisdirektor, der aussah wie ein auf der
-Schwanzflosse aufrechtstehender, schwarzer Fisch mit
-dickem Bauch und kleinem, rotem Kopfe, ein vollblütiger,
-fünfzigjähriger Mann, höflich und zurückhaltend,
-gab nach minutenlangem, von bedauerndem
-Achselzucken und erschrecktem Augenaufschlagen
-begleiteten Erklärungen und Fragen, zwischen die er
-eine Serie korrekten Lächelns gleichmäßig verteilte –
-Lächeln nicht eines harten Gefängnisdirektors, sondern
-eines Menschen mit Herz und Gewissen, der aber
-leider an Pflicht und Gefängnisordnung gebunden
-<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
-ist –, schließlich die Erlaubnis zur Mitnahme des
-Hundes. Beugte sich plötzlich herab und tätschelte
-wehmütigen Mundes das Tier. Und dann kam, als sei
-er schon zu weit gegangen und Jürgen schon zu lange
-im Direktionszimmer geblieben, unerwartet schnell die
-knappe Verbeugung und sofort ein Lächeln wehmütig
-in die Wangen zurückgezogener Mundwinkel. Und sofort
-wieder das erschreckte Augenaufschlagen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen war, wie er mit dem Schnauz die abgetretene
-Steintreppe hinaufstieg, der festen Überzeugung, daß
-der Gefängnisdirektor früher oder später ins Irrenhaus
-kommen werde.
-</p>
-
-<p>
-Im Stocke stank es scharf nach Abort. Die Wärterin
-– lippenloser, strichdünner Mund im festen Gesicht –
-schloß eine Tür auf. Sie schritten durch einen großen
-Saal, in dem zwanzig zweimeterbreite, dreimeterlange
-und zweimeterhohe, engmaschige Drahtgitterzellen
-nebeneinander standen. Dazwischen die Gänge,
-wie in einer Menagerie. In jeder Drahtzelle eine Gefangene.
-Frauen, junge Mädchen und, gleich bei der
-Eingangstür, in zwei nebeneinanderstehenden Käfigen
-je eine Siebzigjährige. Alle in grauen Leinensäcken.
-Der Raum zwischen den gleichhohen Zellen
-und der Saaldecke war leer.
-</p>
-
-<p>
-Einige Gefangene schritten auf das Leben zu:
-drückten die Gesichter gegen das Drahtgeflecht.
-Blickende Augen. Eine Siebzehnjährige mit verwüstetem
-Gesicht lockte mit Zeigefinger und Daumen
-und sagte zweimal: „Schnauzel!“ Der Schnauz
-wedelte mit dem Schwanzstumpf.
-</p>
-
-<p>
-„Den ganzen Tag macht sie sichs“, rief die Siebzigjährige
-der Wärterin nach. „Immer hat das jung
-Luder die Finger unterm Rock.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
-Sie schritten durch die entgegengesetzte Tür hinaus,
-in einen langen Gang, an dessen Ende rot ein Gaslicht
-brannte. Links und rechts: Zellentür neben Zellentür,
-jede mit einem Beobachtungsfenster.
-</p>
-
-<p>
-Schon als die Wärterin den Schlüssel suchte, stellte
-der Schnauz die Vorderpfoten gegen die Zellentür.
-Sein Maul öffnete sich, die Zunge erschien, Spitze
-nach oben gebogen.
-</p>
-
-<p>
-Wimmernd schlüpfte er, durch die Beine durch,
-voran. Und es wäre Katharina unmöglich gewesen,
-ihn nicht zuerst zu begrüßen. Denn seine Liebe war stürmischer.
-So stürmisch, daß er unter Katharinas Liebkosungen
-nicht lange stillhalten konnte, sondern hin-
-und herrasen mußte, von der Fensterwand zur Zellentür,
-beim Wenden jedesmal ausglitschend auf dem glatten
-Betonboden.
-</p>
-
-<p>
-Sogar der strichdünne, lippenlose Mund ließ Zähne
-sehen.
-</p>
-
-<p>
-Sie hatten einander nur die Hand gereicht. Setzen
-konnte Jürgen sich nicht. Die Pritsche blieb tagsüber
-an die Wand geschnallt.
-</p>
-
-<p>
-„Heute war bei mir, hergeschickt natürlich von
-meinem Vater, der Irrenarzt.“
-</p>
-
-<p>
-Die Wärterin stand bei der Tür, ohne sich anzulehnen,
-blickte blicklos.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist so zu verstehen, daß meinem Vater eine
-geisteskranke Tochter lieber wäre als die Schande,
-eine Sozialistin zur Tochter zu haben ... Ich ging
-auf das Gerede gar nicht erst ein, schickte ihn gleich
-wieder fort, was ihn natürlich auch nicht von meinem
-Gesundsein überzeugte.“
-</p>
-
-<p>
-Der Schnauz hatte sich etwas beruhigt. Er lag,
-offenen Maules atmend, die Vorderpfoten vorgestreckt,
-<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
-blickend auf den Betonboden, überzeugt, daß
-seine Leiden nun zu Ende seien: er hierbleiben oder
-Katharina mitgehen werde. Auch sie steckte in
-einem grauen Leinensack, etwas kleidsamer gemacht
-dadurch, daß sie die Bluse beim Hals eingeschlagen
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Bei dem ersten Tone, den die Wärterin sprach, erhob
-sich der Schnauz und bellte. Die Versicherungen
-Katharinas, daß sie in einer Woche kommen werde,
-nützten nichts. Der Schnauz stemmte sich mit allen
-Vieren und mußte so von Jürgen hinausgeschleift
-werden.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist nicht erlaubt.“ Die Wärterin deutete auf
-den schwachen Schatten, durch dessen Vorhandensein
-das Vorhandensein von Brüsten vermutet werden
-konnte. „Immer wenn der zu Besuch kommt – diese
-Dummheit!“
-</p>
-
-<p>
-Katharina nahm den Einschlag heraus, so daß der
-Sack wieder rund um den Hals anschloß.
-</p>
-
-<p>
-„Sie können es gar nicht erwarten, was! ... Direktor
-melden“, hörte Katharina noch. Die Tür fiel ins
-Schloß.
-</p>
-
-<p>
-Schon überquerte Jürgen den Hof, halb springend,
-um noch vor Ablauf der Besuchszeit die Männerabteilung
-zu erreichen. Blieb aber plötzlich stehen:
-Durch das Tor rollte, gezogen von zwei schweren
-Pferden, ein auch oben zugebretterter Kastenwagen,
-aus dem rückwärts ein starkes Gestänge ragte, gleich
-einem Stück Eisenbahngleis, stabilisiert durch ein
-eisernes Querstück an der Stirnseite. Der Fuhrmann
-pfiff. Der Wagen rollte durch das sich eben auftuende
-zweite Tor in den Hof der Männerabteilung
-und weiter durch das dritte Tor in den Zuchthaushof,
-<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
-in dem am nächsten Morgen eine Hinrichtung stattfinden
-sollte.
-</p>
-
-<p>
-Sekündlich hatten alle Empfindungen Jürgens Körper
-verlassen. Er wollte die Genossen mit seinem Zustand
-nicht zu belasten, umkehren, konnte aber nichts wollen.
-Selbsttätig trugen die Beine ihn weiter, der Tür zu.
-</p>
-
-<p>
-So schritt er, in den Knien kraftlos, zusammen mit
-zwei Wärtern, die eine Art Tragbahre, beladen mit
-mehr als hundert Weißblechschüsseln, schleppten, den
-Gang vor.
-</p>
-
-<p>
-Der Wärter, der Jürgen führte, ein großer, alter
-Mann, der, im Rücken gebogen, mit jedem knieweichen
-Schritt, den er tat, müden Blickes auf sein
-Leben zu treten schien, schloß wortlos die Zellentür
-auf und gleichzeitig reichte wortlos ein Essenträger
-die verrostete Blechschale Jürgens jungem Genossen,
-der den Inhalt, eine schwarze Brühe, wortlos in den
-Abortkübel goß. Die Brotscheibe legte er auf den
-Klapptisch.
-</p>
-
-<p>
-„Das Zeug zu saufen hat gar keinen Wert.“ Er geriet
-beim Erblicken Jürgens sofort in Erregung. „Die
-Brüh soll das Abendessen vorstellen. Mittags gibts
-einen Mansch, den du frißt, weil du mußt. Und morgens
-die selbe Zichorienbrüh und auch ein Stück Brot.
-Das ist alles.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie dürfen nicht über das Essen schimpfen zu
-einem Besuch.“
-</p>
-
-<p>
-„Ein paar Monate hältst du das ja aus. Aber da
-sind viele ...“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn Sie davon weitersprechen ...“
-</p>
-
-<p>
-„... die schon lang sitzen und noch viele Jahre
-sitzen müssen.“
-</p>
-
-<p>
-„... muß der Besuch sofort raus aus der Zelle.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
-„Die, also die müssen verhungern. Die müssen glatt
-verrecken. Du machst dir keinen Begriff, Genosse,
-wie die Leute aussehen.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie haben zu schweigen jetzt!“
-</p>
-
-<p>
-„Darüber mußt du in unserer Zeitung schreiben,
-Genosse!“ rief er Jürgen nach, der die Nummern der
-Zellen nannte, in denen seine zwei anderen Genossen
-waren. Der Wärter schritt schon auf die Treppe zu.
-„Die Besuchszeit ist vorbei.“
-</p>
-
-<p>
-Der grüne Wagen, in dem die Gefangenen vom
-Polizei- und vom Untersuchungsgefängnis in das
-ständige Gefängnis überführt werden, war eben angekommen.
-Zehn Verurteilte, Frauen und Männer,
-standen in dem Bureauraum, wo die Personalien aufgenommen
-wurden. Die Gefangenen mußten ihre
-letzten Habseligkeiten abgeben, die männlichen auch
-ihre Hosenträger abknöpfen. Wärter schleuderten den
-Gefangenen die graue Anstaltskleidung in die Arme.
-Gesprochen wurde nichts.
-</p>
-
-<p>
-Die Maschine funktioniert, dachte Jürgen und schritt
-der Ausgangstür zu. Da schoß ein schon älterer,
-stoppelbärtiger Mann mit schwärenbesetztem Gesicht
-und verschleimten Augen aus dem Bureau heraus,
-zuckte suchend hin und her, spähenden Blickes, der
-blitzhell offenbarte, daß er die Hölle, in die er kommen
-sollte, schon kannte, und schoß Jürgen nach, bestrebt,
-auch die aussichtsloseste Situation nicht unversucht
-vorübergehen zu lassen, um der Freiheit willen. Denn
-war er erst in der Zelle, dann gab es keine Zufallsmöglichkeiten
-mehr.
-</p>
-
-<p>
-Die Wärter lachten. Unwirsch stieß ihn einer zurück.
-</p>
-
-<p>
-Mit seinem letzten Blick fing Jürgen noch das
-Lächeln des Sträflings auf, der damit den Wärtern
-<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
-gegenüber seinem mißglückten Fluchtversuche die
-Ernsthaftigkeit nehmen wollte. Und dieses bebende
-Lächeln schien Jürgen das Grauenvollste von allem
-zu sein. Die schwere Tür drückte ihn hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Geblendet stand er im Sonnenschein. Ging langsam
-weiter. Neben ihm tappte, Hinterteil und Schwanzstumpf
-kläglich eingezogen, der Schnauz. Jürgen hob
-ihn auf. „Etwas muß der Mensch doch in den Armen
-haben.“ Der zitternde Hund bohrte, stürmisch
-drängend, seinen Kopf unter Jürgens Rock.
-</p>
-
-<p>
-‚Wieviel Städte gibt es? Und wieviel Gefängnisse
-in jeder Stadt? Wieviel Zellen in jedem Gefängnis? ...
-Und in jeder Zelle ein Mensch! In jeder Zelle das, was
-von einem Menschen übriggeblieben ist! Hunderttausende
-Menschenreste! Und in der einen Zelle dort
-hinten einer, der weiß, daß ihm morgen früh – um fünf?
-um sechs? um viertelsieben? er weiß die Minute nicht,
-weiß sie nicht – der Kopf abgeschlagen wird! ... Kultur!‘
-</p>
-
-<p>
-Die Machtlosigkeit zog alles Blut aus Jürgens Adern
-und setzte sich als dunkler Druck unter das Brustbein.
-‚Diese Bestien! ... Aber wer ist schuld? Der
-Gefängnisdirektor? Der Richter? Der Staatsanwalt?
-Oder gar die Gefangenen? ... Sie so wenig wie der
-Steinbrucharbeiter, der die Steine bricht, und wie der
-Maurer, der sie zum Gefängnis fügt, und nicht mehr
-als diese der Schlosser, der vor das Zellenfenster das
-Eisengitter einzementiert, hinter welchem den Klassengenossen
-das Leben vergeht. Es gibt keinen Verantwortlichen
-... Der Staat? Der Staat ist ein Machtinstrument
-gegen die menschliche Gemeinschaft. Ist
-keine Person. Du findest im bürgerlichen Staate
-keinen Verantwortlichen. Du greifst in die Luft ...
-Die Ordnung der Dinge, sie ist schuld.‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
-Auf dem Tische lag wieder ein Brief von der Tante.
-Er schob ihn ungelesen weg. Auch als Katharina schon
-zurückgekommen war – Jürgen hatte den Fußboden
-geschruppt, ein Buch verkauft, für das Geld ein paar
-Blumen gekauft, das kniehohe, eiserne Glühteufelchen
-geheizt, denn es war an den Abenden schon kühl –,
-lag der Brief noch ungeöffnet zwischen den Papieren.
-</p>
-
-<p>
-Der Schnauz war wieder heiter geworden. Den
-Winter über schrieb Jürgen Artikel für das Arbeiterblatt,
-hielt sozialwissenschaftliche Vorträge im Bildungskurs,
-sprach in Versammlungen. Die Kollegs
-besuchte Jürgen unregelmäßig.
-</p>
-
-<p>
-So lebte er in seinen sechsundzwanzigsten Frühling
-hinein, ohne irgendwelche Beziehungen zu seinem
-früheren Leben, auch innerlich durch nichts mehr
-gefesselt an die Erlebnisse in seiner Jugend. Denn in
-dieser Zeit überfielen ihn auch die Angstträume nicht
-mehr, wie früher fast jede Nacht, da der Vater, die
-Professoren, die Tante machtstrotzend ihn angeblickt
-hatten und er, der Erwachsene, als Kind bebend in
-der Zimmerecke gekauert war, ohnmächtig ausgeliefert;
-andere Träume, von Jürgen bisher nie erlebt,
-schoben sich ein. Kampfträume, aus denen er siegreich
-und erfrischt hervorging.
-</p>
-
-<p>
-Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt
-in Angst zu erbeben, auch dem Vater ins Gesicht gelacht
-und des Vaters Hand mit dem drohend deutenden
-Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte,
-war dessen Macht ganz gebrochen gewesen. Erst nach
-diesem Erwachen hatte Jürgen ganz sicher gewußt,
-daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung
-völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume
-der Vater erschienen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
-‚Jetzt erst entscheidet nicht mehr ein fremder Wille
-in mir meine Handlungen. Und dazu mußte ich sechsundzwanzig
-Jahre alt werden ... Jetzt keuche ich
-einen anderen endlosen Berg hinauf; aber ... ich
-selbst, ich selbst keuche ihn hinauf. Ich selbst habe
-mich dafür entschieden, frei entschieden, diesen Weg
-zu gehen; nicht das Fremde in mir zwingt mich.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Es denken und fühlen die allermeisten Menschen
-bis zu ihrer Todesstunde Gedanken und Gefühle, die
-nicht sie selbst denken und fühlen: es begehen die
-allermeisten Menschen bis zu ihrer Todessekunde
-Handlungen, die nicht sie selbst tun; die Summe der
-Ermordungen, an ihrem Wesen verübt von den Autoritäten,
-dieser Zwingherren der Seele, denkt, fühlt,
-handelt.‘
-</p>
-
-<p>
-Noch nach Jahren erinnerte Jürgen sich jenes Morgens,
-da er zum ersten Male die ruhige Sicherheit empfunden
-hatte, durch nichts Fremdes mehr vergewaltigt,
-sondern ganz und gar Selbstherrscher seines Gefühlslebens
-zu sein. Dieser Wendepunkt seines Daseins
-war begleitet gewesen von der unbegreiflich lastlosen
-Empfindung, seine Vergangenheit liege nicht mehr
-hinter ihm, sondern vor ihm.
-</p>
-
-<p>
-Kopf in die Linke gestützt, war er seitwärts am
-Schreibtisch gesessen, mit dem Blicke zur Verbindungstür,
-und hatte gedacht: Von nun an gibt es für mich
-keine Abwälzung der Verantwortung mehr durch den
-Hinweis auf die in Kindheit und Jugend empfangenen
-Wunden. Es können neue Wunden mir geschlagen
-werden von der Umwelt; aber alte Wunden für mein
-künftiges Tun und Unterlassen verantwortlich zu
-machen, geht nicht mehr an. Ich stehe am Anfang
-meines Ich. Um so gewaltiger die Verantwortung!
-<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
-Wie ungeheuer wäre der Verrat erst solch eines Menschen,
-der sein gewonnenes Ich verkaufen würde um
-des Lebensgenusses willen, angesichts allein nur der
-einen Tatsache, daß jene hunderttausende Gefangenen
-nur ein einziges winziges Feld des millionenfeldigen
-Schachbrettes der Leiden füllen!
-</p>
-
-<p>
-Kindergeschrei im Hofe. Frühlingssonne, die den
-letzten Rest des schmutzigen Altschnees schmolz.
-Aus der lecken Dachrinne fielen in Pendelregelmäßigkeit
-die schweren Tropfen, blitzten vorbei an Jürgens
-Fenster und platschten in die Pfütze. Im Zimmer
-nebenan klapperte die Maschine. Katharina arbeitete.
-Sie arbeitete immer.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen trug in sich das Gefühl, daß in einer
-Lebensordnung, in der fast jeder Genuß des einen nur
-auf Kosten eines anderen zu gewinnen sei, der Sozialist
-alles, was er an Leben gewönne, nur auf Kosten seiner
-Hingabe an die Idee gewinnen könne.
-</p>
-
-<p>
-‚Aber was ist Pflicht? habe ich als Abiturient die
-Tante gefragt ... Wir stecken, zusammen mit den
-Entrechteten, tief unten in der Spitze, in der tiefsten
-Tiefe eines gewaltig großen Trichters. Oben ist der
-Trichter erdenbreit, oben ist das Leben. Und nur
-zusammen mit den Entrechteten dürfen wir vorwärtsschreiten,
-nach oben, wo das Leben ist. Das Bewußtsein,
-dieses Bewußtsein ist alles. Weh dem, der seine Pflicht
-verletzt; der die verläßt, die in schweren Leiden und
-Kämpfen nur in qualvoll langgezogener Spirale aufwärts
-zu gehen vermögen, im millionenfältigen Schritt
-der Massen ... Jetzt weiß ich, was Pflicht ist.‘
-</p>
-
-<p>
-Wenn Jürgen zurückdachte an den Abend, da er,
-Kopf in die Linke gestützt, diese Gedanken gedacht
-hatte, schien es ihm, als sei erst eine Woche vergangen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
-Im Bildungskurs immer die selben Gesichter, die
-selben Fragen und Einwände. Der Verlauf der Versammlungen
-immer der selbe. Ein halbgewonnener
-Streik. Einer, durch den eine winzige Lohnerhöhung
-erkämpft worden war. Und wieder ein verlorener
-Streik. Dazwischen eine Demonstration. (Der Agitator
-und einige Genossen waren verhaftet worden.)
-Bildungskurs. Versammlungen. Kämpfe kleiner und
-kleinster Art. Enttäuschungen. Und wieder Bildungskurs.
-Versammlungen.
-</p>
-
-<p>
-Ein Tag wie der andere, und alle grau. Die Zeit
-flog, entschwand seinem Gefühle so schnell, als ob
-sie stehe, gar nicht vergehe. Es gab kein Ereignis,
-von dem, erinnernd, er hätte sagen können: das erfrischte
-mich. Es war, als ob seither erst ein Tag vergangen
-wäre, der in rasender Schnelligkeit sich selbst
-immer wieder einhole und so Vergangenheit, Gegenwart
-und Zukunft fresse.
-</p>
-
-<p>
-So stand er in der immer gleichen Grauheit des immer
-gleichen Tages.
-</p>
-
-<p>
-Anfangs hatten sich durch seine Verbundenheit mit
-Katharina in dieser Eintönigkeit die großen Stunden
-aufgetan, Minuten, Blicksekunden von solcher Tiefe
-des Glücks, daß die Erfüllung der ältesten Sehnsucht
-des Menschen – die Überwindung der schicksalhaften
-Einsamkeit, die jedes Lebewesen dieser Erde trennt
-vom andern – ihm zuteil geworden war. Aber die
-Erinnerung daran, daß er dies Unfaßbare des Daseins
-einmal geschaut hatte, und auch das Wissen, daß dieses
-Entrücktsein nur solchen verstattet sein konnte, deren
-Verbundenheit vertieft ist durch ihre gemeinsame Hingabe
-an die Idee, war verblaßt.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen stand am Schreibtisch. Seine Hand legte
-<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
-einen Bleistift hin, nahm ihn wieder, legte ihn hin,
-nahm ihn. ‚Immer das selbe zu tun, das selbe zu tun,
-selbe zu tun und nichts zu erleben, da verflackert
-die Flamme ... Jahrelange Hingabe, ausschließlich
-durch sich selbst genährt! Ist sie menschenmöglich?‘
-</p>
-
-<p>
-Er hätte schon fort sein müssen, um rechtzeitig in
-die Redaktion zu kommen. „So leben wir, so leben wir,
-so leben wir alle Tage ... Wo war das? Tatsächlich,
-ungefähr so leben die. Und wir leben so. Das ist ein
-Leben!“
-</p>
-
-<p>
-Wieder tropfte die lecke Dachrinne. Die Proletarierkinder
-tobten im Hofe, wo der graue Haselnußstrauch
-schon braunviolette Knospen trug. Wieder war ein
-Jahr vorbei.
-</p>
-
-<p>
-‚Innere Vertrocknung. Ja, ja, innere Vertrocknung.‘
-Er horchte auf das Klappern der Maschine. ‚Dieses
-Mädchen, Menschenkind, Menschheitskind mit dem
-großen, milden, starken Herzen, lebenslänglich hingegeben
-der Idee, ganz und gar!‘
-</p>
-
-<p>
-Die Erschütterung ging durch den ganzen Mann
-durch. „Das Leben, sein Leben hinzugeben, auf einmal,
-ist ein Nichts ... Da drinnen sitzt die Größe. Die
-Größe bei der kleinen Arbeit! Das Kleine, das Tägliche,
-das Treue, täglich, durch Jahre, durch Jahre im
-Dienste der Idee getan, ist die Größe. Der Held ist
-tot. Der Held gehört vergangenen Jahrhunderten
-an ... Katharina sitzt, wie der Verurteilte, lebenslänglich
-im Gefängnis. Hat sich selbst verurteilt ...
-Verteile, wie sie, ein Leben lang deine Hingabe auf
-jährlich dreihundertfünfundsechzig Tage – erst dann
-hebe stillen Blickes die Hand in Stirnhöhe, wenn gerufen
-wird: Wer noch vermehrte die Zahl der vielen,
-auf deren dargebrachtem Leben ich, die Menschheit,
-<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
-in die Befreiung schritt? ... Ich weiß, daß dies, daß
-dies die wahre Größe ist“, flüsterte er bebenden
-Mundes.
-</p>
-
-<p>
-Blickte, umstanden von Grauheit, zurück auf die
-Grauheit der vergangenen Jahre, suchenden, tastenden,
-flehenden Blickes auf die Grauheit künftiger
-Tage. Und hatte, Minuten später, unversehens den
-verluderten Backsteinwürfel verlassen, durch die
-Hintertür.
-</p>
-
-<p>
-Schritt, von Lebensgier gestoßen, hinaus. Dem
-Walde zu. Hinaus über fette Schollenäcker. Atmete
-und schritt. Ihm entgegen stürzte das Leben.
-</p>
-
-<p>
-Birken – butterzartes Hellgrün – säumten den
-Wald, dessen billionenknospiges Geäste violett im
-Frühlingsdampfe stand.
-</p>
-
-<p>
-Der grüne Tunnelberg, strotzend von Brombeer
-und Schlehdorn, Brennessel, Felsmoos, zugeflogenen
-jungen Birken, wilden Obstbäumen und allerlei Grün
-– ein wild und dicht bewachsener Riesenrücken, in
-der Sonne funkelnd und glitzernd –, war schweißnaß.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen stand vor dem schwarzen Tunnelloch,
-blickte hinein, forschend, wie zurück in seine Vergangenheit.
-„Bis hierher rannte ich, damals, als die
-Tante mich angespuckt hatte. Wollte ich mich überfahren
-lassen? Da war ich fünfzehn Jahre alt“, sagte
-er, ergriffen von Sympathie für den Knaben. „Spuckt
-ihm ins Gesicht, dem Jungen. So ein Mistvieh! ...
-Nun, diese Ungeheuer in mir sind tot.“
-</p>
-
-<p>
-Dies war nun schon seine vierte Wanderung in
-diesem Frühling. Immer war er vollgesogen, erfrischt,
-verdreckt und ausgehungert zurückgekehrt. Und
-Katharina hatte gesagt: „Das solltest du öfters tun.“
-</p>
-
-<p>
-Einmal, schon vor Wochen, waren beide zusammen
-<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
-gewandert. Wachstum und Grün, noch gebunden,
-erst als Verheißung über den unabsehbaren Buchenwäldern.
-Schäumende Bäche, nasse Täler, Nebeldämpfe,
-die wie Rauch und Erde rochen, hatten Kälte
-verbreitet, in der schon die Glut des Kommenden
-prickelnd enthalten gewesen war.
-</p>
-
-<p>
-Neugierig, was zu sehen sein werde, waren sie seitwärts
-aus einem von noch kahlem Gesträuche überhangenen
-Hohlweg emporgestiegen und auf die Landstraße
-gekommen, die, eben und linealgerade, weit,
-weit hinaus und zuletzt wie ein weißer Pfeil in den geheimnisvollen
-Horizont stieß.
-</p>
-
-<p>
-Die Vorstellung: ein Mensch geht aus der Stadt
-hinaus, geht auf der Landstraße hin, läßt alles hinter
-sich, alle Qualen, alle Pflichten, geht immer weiter,
-weiter auf der Landstraße hin – hatte Jürgen, der
-Jüngling, jahrelang in sich getragen.
-</p>
-
-<p>
-Katharina saß auf dem Kilometerstein, Jürgen
-neben ihr auf dem Baumstumpf. Durchwärmte Körper
-und kalte Wangen, die vor Hitze prickelten.
-</p>
-
-<p>
-Während sie Brot und Wurst aßen, hing Jürgen
-jener alten Sehnsucht nach. „Wenn wir beide jetzt
-einfach losgingen, da hinaus, jetzt auf der Stelle, und
-ohne jemals umzukehren, immer weiter, du und ich,
-fort, immer weiter fort!“
-</p>
-
-<p>
-„Ohne Zahnbürste, ohne Nachthemd, ohne Ausweispapiere“,
-hatte Katharina lächelnd geantwortet.
-„Ohne Wohin! Nur zusammen!“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, du und ich! Ohne Geld! Ohne Rückblick!
-Nicht mehr dies und das, nicht jenes, nicht die Redaktion,
-der Bildungskurs, nicht Doktorexamen und
-Ausweispapiere – nur der Mensch ist die Instanz.
-Wir, der Mensch, gehen und lassen, endlich! endlich!
-<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
-den Menschen atmen, fühlen, tun, erleben. Nur ihn! ...
-Müde, übermüdet, klopfen wir an ein Bauernhaus
-und bitten um ein Nachtlager.
-</p>
-
-<p>
-‚Wer seid ihr?‘
-</p>
-
-<p>
-‚Der Mensch!‘
-</p>
-
-<p>
-Wir kommen in eine kleine Stadt, mitten hinein
-in das verfilzte Mein und Dein, und sagen: ‚Der Mensch
-ist da.‘
-</p>
-
-<p>
-Ungeheures Erstaunen! Alle geben uns, was wir
-brauchen. Denn in tiefster Heimlichkeit haben alle
-den Menschen erwartet, an dessen Kommen sie schon
-gar nicht mehr geglaubt hatten.“
-</p>
-
-<p>
-„Der Mensch ist aber noch nicht da, Jürgen. Den
-gibt es noch nicht, kann es noch nicht geben. Mensch
-zu sein, kann dem Einzelnen erst dann verstattet sein,
-wenn es allen verstattet sein wird ... Welch furchtbaren
-Verrat an der Idee wir begehen würden!“
-</p>
-
-<p>
-„Du sprichst so ernst, als ob ich wirklich alles rücksichtslos
-abschütteln und auf dieser Landstraße weiterwandern
-wollte, hinaus in das Leben ... Würdest
-du darunter leiden?“
-</p>
-
-<p>
-Wie seltsam tief ergriffen und dennoch heiter sie
-mich da angeblickt hat, erinnerte Jürgen sich und
-glaubte Katharinas Worte wieder zu vernehmen, die
-gesagt hatte:
-</p>
-
-<p>
-„Muß denn nicht gerade der Mensch, der, sein Ich
-um jeden Preis zu gewinnen, jeder Pflicht entläuft,
-indem er, um des Lebensgenusses willen, rücksichtslos
-sein eigenes Ich zur obersten Instanz erhebt, sein Ich
-ganz und gar verlieren? Muß nicht gerade in dem
-Menschen, der ausschließlich seinen Wünschen und
-Begierden folgt, der Mensch ganz und gar untergehen?
-Und wird der Mensch und das in diesem Zeitalter verstattete
-<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
-Maß an Ich nicht erhalten bleiben nur in dem,
-der sie erfüllt: die Pflicht?“
-</p>
-
-<p>
-Langsam hob er den Kopf, tat, wie damals, noch
-einen Blick in die wunderbare Ferne. Wandte sich
-wie gezogen um, starrte in das schwarze Tunnelloch:
-„Das ist die Pflicht ... Wenn ich mich nicht schon
-entschieden hätte, müßte ich mich doch wieder, doch
-wieder ... ich müßte mich doch wieder für die Pflicht
-entscheiden.“
-</p>
-
-<p>
-„Doch wieder! Doch wieder!“ Trotzig wiederholte
-er im Schrittakt diese Worte. Während der letzten
-Jahre war Jürgen seiner Gedanken und Gefühle so
-sicher gewesen, daß er sie auch jetzt nicht kontrollierte.
-</p>
-
-<p>
-Vor ihm lag sanft gewellt die Hochebene: Schollenäcker,
-Frühsaatflächen, weit hingebreitet, braun und
-grün. In der Nähe erklang Frauenlachen, dem eine
-baßtiefe Lachsalve folgte: Auf dem nächstgelegenen
-Hügel saßen die Fabrikantensöhne und -töchter beim
-Picknick. Am Fuße des Hügels standen sechs Kraftwagen,
-darunter der postgelbe des Bankiers Wagner.
-</p>
-
-<p>
-Hand in Hand sprangen zwei weißgekleidete Mädchen
-herab, die in Jürgen den Bräutigam der einen,
-der zu Fuß hatte nachkommen wollen, vermuteten.
-</p>
-
-<p>
-Enttäuschung, Lächeln und ein kurzer Schmerzensschrei
-in einem. Gestützt auf ihre Freundin und auf
-Jürgen, hinkte die Braut, die sich den Fuß übertreten
-hatte, zurück.
-</p>
-
-<p>
-‚Und wenn ich ganz abgerissen wäre, würde mir
-das auch nichts ausmachen.‘ Die ausgefranst gewesene
-letzte Hose seines letzten Anzuges war zu einer kurzen
-Hose zurechtgeschneidert und von den Abfällen war
-ein Hinterteil frisch aufgesetzt worden, in Breechesschwung.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
-Adolf Sinsheimer kam lustig entgegen, in der vorgestreckten
-Hand eine gebratene Hühnerkeule für
-den Erwarteten. Sein Mund öffnete sich.
-</p>
-
-<p>
-„Tut schon nicht mehr weh“, sagte die Braut beruhigend.
-</p>
-
-<p>
-Aber die vorgestreckte Hand ließ die Hühnerkeule
-senkrecht fallen. „Das ist Jürgen Kolbenreiher; und
-hier: Elisabeth Wagner, meine Braut“, stellte er,
-während er den Knochen wieder aufhob, das andere
-Mädchen vor, das auf dem Herwege Jürgen in keiner
-Weise beachtet hatte und nun, zu plötzlich überrascht,
-in unverhohlener Spannung ihn ansah.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen war für Elisabeth Wagner so lange vollkommen
-uninteressant gewesen, bis sie erfahren hatte, daß ihre
-Mitschülerin Katharina ihn liebe. Seitdem hielt sie
-Jürgen, da Katharina schon im Institut für ein unzugängliches,
-wählerisches Mädchen gehalten worden
-war, für einen ganz besonders interessanten, bedeutenden
-Menschen, dessen Bekanntschaft machen zu dürfen
-sie seitdem immer wieder Drohungen, Spott und
-alle Mittel ihres überlegenen Verstandes dem Bräutigam
-gegenüber angewandt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Sofort begann sie von Katharina zu sprechen, die
-zwar zwei Jahre älter, aber im selben Institut mit ihr
-gewesen sei. Und auch als sie bewundernd ausrief,
-wie Katharina es nur ertragen könne, im Gefängnis
-zu sitzen, fühlte Jürgen, daß die Bewunderung ihm
-galt.
-</p>
-
-<p>
-Erst viel später gestand er sich ein, daß er, nur um
-Elisabeths Interesse noch zu steigern, versucht hatte,
-sich gleich wieder zu verabschieden.
-</p>
-
-<p>
-Mit leisem Schmollen, das ihrem kühlen Wesen
-fremd war, bat sie, er möge doch mit zur Gesellschaft
-<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
-kommen. „Adolf, bitte du ihn!“ Sie hielt Jürgens
-Hand fest.
-</p>
-
-<p>
-„Na, so komm doch mit ... Aber wenn du nicht
-willst ...“ Jetzt erst bemerkte Adolf, daß er den
-staubigen Hühnerfuß wieder aufgehoben hatte, und
-schleuderte ihn seitwärts ins Feld, blickte dabei
-wütend seine Braut an.
-</p>
-
-<p>
-Das angenehme Machtgefühl ließ Jürgen mitgehen.
-Die drei setzten sich, etwas abgesondert von den andern,
-auf die Wolldecke.
-</p>
-
-<p>
-„Gebratenes Huhn und Rotwein, im Freien genossen
-– darüber hinaus gibt es nichts.“ Die andere
-Braut sagte dem Genießer, wer der Gast sei, dann wurde
-es auch auf dieser Wolldecke stiller.
-</p>
-
-<p>
-Die fünfundzwanzig gepflegten, gesunden Menschen
-gehörten den reichsten Familien der Stadt, die Männer
-fast alle Jürgens Generation an: Fabrikantensöhne,
-die in den Geschäften der Väter arbeiteten oder sie
-schon selbständig führten, wie Adolf die Knopffabrik
-und das angegliederte Knopfexporthaus.
-</p>
-
-<p>
-„Tüchtige Kerle! Daß der dort sich schon einen
-Namen in der Wissenschaft gemacht hat, weißt du ja.
-Unser Abiturientenjahrgang kann sich sehen lassen.
-Einer ist sogar schon Reichstagsabgeordneter. Der
-war ja immer einer der besten Schüler.“
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth begann von Literatur zu sprechen, lobte
-ein jüngst erschienenes Buch. Jürgen, ausgehungert,
-aß schweigend und viel.
-</p>
-
-<p>
-Streitsüchtig nannte Adolf eine Anzahl so schlechter
-Bücher, die er für weit besser halte, daß Elisabeth
-lachen mußte. Und zu Jürgen, mit einem Blick des
-Einverständnisses: „Davon versteht er gar nichts.“
-</p>
-
-<p>
-Die sechs Kraftwagen rollten langsam hügelaufwärts.
-<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
-Nachdem Elisabeth erzählt hatte, daß sie erst
-vor ein paar Tagen wieder Jürgens Tante besucht
-habe, die bedenklich krank sei, sprach Adolf sehr
-orientiert von der Wirtschaftslage des Landes. „Die
-ganze Dichterei ist mir, offen gestanden, natürlich recht
-gleichgültig, und was du treibst – Arbeiter verhetzen,
-Bomben fabrizieren, wie? – ist gar der reine Blödsinn
-... Sieh dir an, was unsere Industrie auf dem
-Weltmarkte gilt, und werde vernünftig! Das ist der
-Rat eines Menschen, der kein Jüngling mehr ist, sondern
-die Verantwortung für das Wohl und Wehe von sechshundert
-Angestellten und Arbeitern ganz allein zu tragen
-hat. Meine Freunde hier, sieh dir sie an – lauter
-tüchtige Menschen! Der eine im Bankfach, andere in
-der Industrie oder in der Wissenschaft, in der Politik,
-Menschen, die sich und ihr Vaterland vorwärtsbringen
-... Und Leo Seidel – erinnerst du dich noch an
-den Sohn des Briefträgers? Die Weltgeschichte, weißt
-du! Der ist heute, nachdem er eine Zeitlang Impresario
-und weiß der Teufel was alles gewesen war, Bankier
-in Berlin. Sitzt im Aufsichtsrat von einem Dutzend
-großer Aktiengesellschaften. Eine tolle Karriere! In
-ein paar Jahren kann er durch das Geben oder Verweigern
-seiner Unterschrift die Börse beeinflussen.
-Würde mich nicht wundern ... Wirklich, solltest
-meinen Rat befolgen und die Augen auch aufmachen.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen lächelte das Lächeln eines Menschen, der
-seiner Sache sicher ist, diesen Rat nicht nötig hat, und
-gab keine Antwort, reichte beiden die Hand, schlug
-Elisabeths Bitte, im Wagen mit zurückzufahren, ab
-und schritt, nach einer knappen Verbeugung zur Gesellschaft
-hin, waldwärts.
-</p>
-
-<p>
-‚Wie schloß Adolf seinen Hymnus auf sich und auf
-<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
-die Stellung unserer Industrie in der Welt?: Nur wer
-auf irgendeinem Gebiete etwas leistet, hat Macht. Und
-nur dem Mächtigen gehört das Leben.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Das stimmt. Aber wer sind die Mächtigen und was
-für Eigenschaften müssen sie besitzen, um mächtig
-werden zu können? ... Es gibt eine bestimmte große
-Anzahl solcher, die schon oben geboren werden und
-sich eben weiter vorwärtsbringen, wie geölt; eine kleine
-Anzahl Leo Seidels, die nicht nur über Verstand, Begabung
-und eiserne Gesundheit, sondern auch über
-eine ganz besonders große Portion Brutalität, Rücksichtslosigkeit
-und Gemeinheit verfügen müssen, um
-durch die erdenbreite Eisenplatte, die auf den Rücken
-der Millionen lastet, durch- und hinaufkommen zu können.
-Außerdem gibt es noch einige Jürgens, die oben
-sein könnten, aber heruntergehen und nur auf der
-Leiter des Verrats an der Idee wieder hinaufzusteigen
-vermöchten ... So liegt die ganze Drahtleitung.‘
-</p>
-
-<p>
-Innerlich grau geworden, starrte er den sechs Kraftwagen
-nach, die, schon in weiter Ferne, eben um den
-Fuß eines bewaldeten Hügels herumsausten, auf der
-Höhe wieder erschienen und, ein sich schlängelnder,
-dünner, schwarzer Strich, im Blau verschwanden.
-</p>
-
-<p>
-‚Im Auto würde man aus der tiefsten Tiefe des
-Trichters, in dem das Proletariat kämpft und krepiert,
-sehr schnell heraus und nach oben kommen, wo das
-Leben ist ... Ja, ich brauchte sogar nur einen einzigen
-Gedanken zu denken, den Gedanken: Jeder für
-sich! Oder: Vervollkommnung der Persönlichkeit!
-Und schon würde ich oben sein.‘
-</p>
-
-<p>
-Erfüllt von Widerwillen gegen alles, gegen das
-Leben und gegen sein Leben, gegen die Ausflügler
-und gegen den Bildungskurs, den er heute abend noch
-<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
-abzuhalten hatte, langte er vor der Haustür an. ‚Die
-Jugend scheint bei mir vorüber zu sein. Die Jugend!
-Man wird älter und alt!‘ Er nahm dem Postboten
-einen Brief ab. Die ungelenke Handschrift war ihm
-nicht bekannt: Phinchen flehte, er solle kommen,
-die Tante sei noch immer sehr krank. Und weshalb
-er auf den letzten Brief nicht geantwortet habe.
-</p>
-
-<p>
-„Jetzt wirst du großen Hunger haben.“
-</p>
-
-<p>
-„Nicht einmal! Ich habe ja ... Ich habe eigentlich
-wenig Appetit ... Hier, lies den Brief!“
-</p>
-
-<p>
-„Fühlst du dich nicht wohl? Ich meine, weil du
-nicht hungrig bist.“
-</p>
-
-<p>
-„Doch, ich bin ganz gesund ... Aber, was meinst
-du, soll ich da tun?“
-</p>
-
-<p>
-„Weshalb solltest du sie nicht besuchen!“
-</p>
-
-<p>
-Während des ganzen eineinhalbstündigen Vertrages,
-den Jürgen im Bildungskurse hielt, fühlte er sich gepeinigt
-von dem Bewußtsein, seine Begegnung mit
-den Ausflüglern Katharina verschwiegen zu haben.
-Erst gegen Morgen, nach einer in unruhigem Halbschlafe
-verbrachten Nacht, schlief Jürgen ein.
-</p>
-
-<p>
-Und stand um zwölf Uhr vor der Villa, die er vier
-Jahre nicht mehr gesehen hatte. Die Tante saß, in
-Decken gehüllt, im Lehnstuhl. Phinchens Gesicht,
-glücklich lächelnd, war tränennaß geworden beim Erblicken
-Jürgens.
-</p>
-
-<p>
-Es sei, wie immer, die Brust, antwortete die Tante.
-Sie trug, wie immer, ihr schwarzseidenes Spitzenkopftuch,
-sah ganz unverändert aus. Bei dem linken
-Ohre beginnend, über Schläfe und Stirn, bis zum
-rechten Ohr, lagen, platt angedrückt wie immer, die
-mit der Brennschere sorgfältig gedrehten schwarzen
-zwölf Fragezeichen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
-Erst in diesem Zimmer, wo der Fußboden so rein
-war wie der Vorhang und so funkelte wie die Fensterscheiben
-und die polierten Möbel, fühlte Jürgen,
-sitzend an dem einladend gedeckten Tisch, wie heruntergekommen
-er in seinem letzten Anzuge aussehen
-müsse.
-</p>
-
-<p>
-Die Tante sprach nicht, fragte nicht. Und bemerkte
-alles. War entsetzt über Jürgens Aussehen. ‚Seine
-Manschetten sind ausgefranst, die Hemdbrust und der
-Kragen ungewaschen. Diese Stiefel! Die Absätze sind
-schiefgetreten bis zur Kappe.‘
-</p>
-
-<p>
-Und ohne Überleitung, als ob sie, während Jürgen
-aß, an nichts anderes gedacht hätte: „Ich würde ...
-wir würden noch einen zweiten Stock aufsetzen lassen.
-Ihr würdet oben wohnen. Die Grundmauern der Villa
-sind stark.“
-</p>
-
-<p>
-„Wer soll oben wohnen.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn du heiraten würdest.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen schüttelte den Kopf. ‚Es ist doch zu toll!‘
-Antwortete nicht, aß weiter. Er saß mit dem Rücken
-zur Tante. Der Lehnstuhl stand am Fenster in der
-Sonne.
-</p>
-
-<p>
-„Und wenn ich sterbe, könnt ihr unten Wohnzimmer,
-Eßzimmer und Salon haben, im Stock Empfangsräume,
-und oben schlafen ... Phinchen würde
-ja auch bei euch sein ... Und der Garten. Der schöne
-Garten!“
-</p>
-
-<p>
-Phinchen versuchte, das Weinen zu verschlucken,
-heulte los und rannte mit der vollen Schüssel wieder
-hinaus. Es war still. Die Tante blickte Jürgens
-Rücken an, sah durchs Fenster auf den blühenden
-Magnolienbaum, wieder Jürgens Rücken an. „Aber
-wissen müßte ich, wem ich mein sauer erworbenes
-<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
-Vermögen hinterlasse. Denn so schwer es mir auch
-fallen würde ...“
-</p>
-
-<p>
-Er legte die Gabel, mit der er ein Stück Fleisch von
-der Platte hatte nehmen wollen, wieder zurück,
-wandte sich langsam um. „Du müßtest mich enterben,
-was?“
-</p>
-
-<p>
-„So furchtbar schwer mir das auch fallen würde!“
-</p>
-
-<p>
-„Und du glaubst, daß ich mich ... Glaubst du denn
-wirklich, daß ich mich mit so etwas bestechen lasse?“
-</p>
-
-<p>
-Die Tante strich sich über die Augen, legte die Hand
-an das Kinn, sah weg. Und Jürgen drehte sich wieder
-um zum Tisch. So stehts denn doch noch nicht mit
-mir, dachte er. Und, plötzlich im Tiefsten betroffen:
-‚Was war das? Was war das? Was?‘
-</p>
-
-<p>
-„Ich sage dir nur, was mein Herz mir eingibt.“
-Die Tante redete weiter. Er hörte nichts mehr. ‚Was
-war das? ... Wie also stehts denn mit mir?‘
-</p>
-
-<p>
-So sitzt sie immer, wenn sie einem Plane nachhängt,
-dachte er auf der Straße. Er wußte nicht, wann
-und wie er die Villa verlassen hatte. ‚Wie ging ich
-denn weg? ... Was war das? Wie also stehts mit
-mir? ... Streicht sich mit der Hand erst über die
-Augen und dann bleiben ihre Fingerspitzen am Kinn
-haften. So macht sie es immer. Da sitzt dieses winzige,
-gelbgesichtige Persönchen im Lehnsessel und macht
-Pläne: über das morgige Mittagessen, oder ob sie ihr
-Vermögen, ihr sauer erworbenes, vergrößern kann,
-wenn sie dieses oder jenes Wertpapier kauft oder verkauft,
-oder über den Tag der nächsten großen Wäsche,
-oder über mein zukünftiges Leben. Wenn sie Schlitzaugen
-hätte, würde sie ganz so aussehen wie eine alte
-Chinesin.‘
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich blieb er stehen. ‚Alles das stimmt. Ist
-<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
-aber ganz unwichtig; wichtig ist, zu wissen, was eigentlich
-mit mir los ist ... Was will ich denn?‘ Die
-weiße, linealgerade Landstraße schoß wie ein Pfeil
-in den geheimnisvollen Horizont. ‚Das ist Unsinn.
-Das Fortlaufen ist Unsinn ... Aber das Gefühl, das
-hinter diesem Wunsche steht, ist kein Unsinn. Dieses
-Gefühl bin ... ich, ist der Mensch in mir, so wie er
-ist ... Wie er offenbar nun einmal ist!‘
-</p>
-
-<p>
-Und dann geschah es, daß Jürgens Körper selbsttätig
-auf die Bank in der Anlage zuschritt, sich setzte.
-Und nun: Hände weg von allem! Alle Muskeln entspannt!
-Alles Denken und jede Selbstbeobachtung
-aufgegeben! Den Willen ausgeschaltet! Weg mit dem
-Bewußtsein! Der Mensch, er allein! soll sagen, was
-er will, dachte Jürgen noch und schloß, bereit, zur
-Kenntnis zu nehmen, was auch kommen möge, ganz
-entspannten Wesens die Lider.
-</p>
-
-<p>
-Anfangs kam nichts. Knapp vor den Augen farbige
-Pünktchen im Grau. Er saß in der Mitte seines
-Lebens, in dem nichts war. Saß so still, so leblos,
-daß ein Vogel anflog, auf der Banklehne zwitschernd
-hüpfte, wieder abflog.
-</p>
-
-<p>
-Menschen und Gesichtsausdrücke, Menschengruppen,
-eine Flußlandschaft: Lebensbilder, die vor langer Zeit
-Jürgens Gefühl getroffen hatten und deren Sinn ihm
-unerkennbar blieb, tauchten auf, schemenhaft, verblaßt,
-und versanken wieder. „Das ist nebensächlich“,
-flüsterte er einige Male.
-</p>
-
-<p>
-Ferne Stadtgeräusche, kaum hörbar von Hupentönen
-durchstoßen: Das Leben der Gegenwart, die
-Arbeit, die ihren Gang ging, laut und leise. Bei der
-Bank war es still.
-</p>
-
-<p>
-Ein schwarzgekleideter Herr dreht die Schulter halb
-<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
-rückwärts, grüßt, etwas hochmütig, nach der Seite hin.
-Viele Herren und dekolletierte Damen bewegen sich
-unter den lichtblitzenden Riesenkronleuchtern im
-großen Saale. Alle grüßen den Schwarzgekleideten.
-Blicke, achtungsvolle, neidische, prüfende, folgen ihm.
-</p>
-
-<p>
-‚Der Schulkamerad, der sich in der Wissenschaft
-schon einen Namen gemacht hat ... Mag er!‘
-</p>
-
-<p>
-Sie essen nicht, trinken nicht; sie gehen umher,
-blicken dem Schwarzgekleideten nach, sprechen über
-ihn und warten. ‚Nein, Musik ist keine da.‘
-</p>
-
-<p>
-Jürgen, in knappsitzendem Gesellschaftsanzug, beherrschte
-Kraft in Schultern und Brust, beherrschtes,
-natürliches, berechtigtes Selbstbewußtsein in Blick
-und Worten, tritt ein, spricht leicht und freundlich
-mit seinen Partnern, die schnell wechseln, sich unauffällig
-an ihn heranmachen. Keiner hat ein eigenes
-Gesicht. Der auf der Anlagenbank sitzende Jürgen
-sieht und fühlt nur sich, nur den seines Geistes und
-seiner Kraft und Macht bewußten Frackherrn-Jürgen,
-der höflich zuhört, knapp und freundlich antwortet.
-</p>
-
-<p>
-Der andere Schwarzgekleidete schrumpft zusammen,
-drückt sich unbeachtet an der Seite umher. Der Mittelpunkt
-ist Jürgen. Denjenigen, die sich an ihn nicht
-heranwagen, geht er selbst entgegen, begrüßt sie
-liebenswürdig, nicht herablassend, nicht hochmütig.
-‚Wer eine Leistung vollbracht hat, wer etwas leistet,
-ist nicht hochmütig, hat es ja auch nicht nötig, hochmütig
-zu sein.‘
-</p>
-
-<p>
-Alle sprechen von ihm. Aller Blicke sind auf ihn
-gerichtet. Jürgen ist so sehr Mittelpunkt, daß er sich
-bemüht, weniger Mittelpunkt zu sein, das Interesse
-etwas auf den anderen Schwarzgekleideten abzulenken,
-wofür er verhaltenes Lächeln der Bewunderung erntet.
-<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
-Sein Wille, sein Geist wirken in allen, bestimmen Gedanken,
-Gefühle und Mienen aller Anwesenden.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen lehnte nicht mehr, entspannt, Augen geschlossen,
-in der Bankecke; gleichzeitig mit dem
-Eintritt des Frackherrn-Jürgen in den Saal hatte er
-sich aufgerichtet, war mit seinen Gefühlen in den
-Eingetretenen hineingeschlüpft. Seine Schultern und
-seine Hände, sein Gesicht hatten alle Bewegungen
-und das Mienenspiel des andern mitgemacht.
-</p>
-
-<p>
-Er saß, alle Muskeln gespannt, vorgebeugt, starrte
-auf den grünen Bretterzaun, in den er das Bild seines
-Wunsches hineingesehen hatte. Und als er plötzlich
-nur noch den grünen Bretterzaun sah, strich seine
-Hand über die Augen und blieb, wie die der Tante,
-am Kinn haften.
-</p>
-
-<p>
-‚Das also wünsche ich ... wünscht er: der Mensch
-in mir.‘
-</p>
-
-<p>
-Langsam lehnte er sich wieder zurück. ‚Aber
-welcher Art ist denn seine Leistung? Was hat er ...
-was habe ich ... also, ich meine, was möchte ich denn
-eigentlich leisten? ... Ist ja ganz gleich, was einer
-leistet, wenn er nur überhaupt auf irgendeinem Gebiete,
-ganz gleich welchem, etwas leistet und Macht
-und Einfluß gewinnt.‘
-</p>
-
-<p>
-Eine Stunde später saß er untätig an seinem Küchentisch.
-Der Artikel, den er zu schreiben hatte, langweilte
-ihn. ‚Immer wieder der selbe Artikel!‘ Seine Hand
-legte den Bleistift hin, wurde zur Stütze für den Kopf.
-Der Frackherr-Jürgen tritt in den großen Saal. Das
-Bild verschwand sofort wieder.
-</p>
-
-<p>
-Denn im Nebenzimmer begann das Klappern der
-Maschine. Der Haß gegen das Klappern sickerte in
-jeden Herzschlag hinein. Im besonnten Hofe war es
-<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
-vollkommen still. Die Proletarierkinder trieben sich
-im Walde umher. Von den alten, faulenden Küchenabfällen
-stiegen Dämpfe auf. Das Fenster stand offen.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich vernahm der reglos Sitzende das feine
-Klingeln. Horchte. Blickte. Vernahm es wieder.
-Maßlose Wut stieg in ihm auf. Mit äußerster Vorsicht
-griff er nach dem Schotterstein, der ihm als Papierbeschwerer
-diente, schlich auf den Zehenspitzen unhörbar
-zum Fenster, stand, die Hand wurfbereit erhoben.
-</p>
-
-<p>
-Da hörte die Maschine auf zu klappern. Katharina
-trat ein. „Wollen wir ... Was machst du denn da?“
-</p>
-
-<p>
-„So sei doch still!“ brüllte er ihr ins Gesicht, drehte
-sich wieder um und schleuderte voller Wut den Schotterstein
-in die Richtung, wo er die Ratte vermutete.
-„Das verdammte Vieh! Dieses unerträgliche Geklingel!“
-</p>
-
-<p>
-„Das Klingeln war dir doch immer so angenehm
-in den Nächten, wenn du schriebst, und jetzt, auf einmal
-...“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, jetzt, auf einmal! Siehst du, jetzt, auf einmal!“
-</p>
-
-<p>
-„Ich wollte dich eben fragen, ob wir heute, weil der
-Tag so schön ist – einen Spaziergang in den Park,
-hatte ich gedacht. Aber wenn du so bist ... So warst
-du noch nie zu mir ... Dann tippe ich lieber weiter.“
-Sie schritt zur Verbindungstür. Er, vornüberstürzend,
-ihr nach.
-</p>
-
-<p>
-Später saßen sie, versöhnt, im öffentlichen Parke,
-in dem sie vor elf Jahren das erstemal miteinander
-gesprochen hatten, von Duft und Farben, Blumen,
-spielenden Kindern, Himmelsbläue und Gouvernanten
-umgeben, wie heute.
-</p>
-
-<p>
-„Seither ist jene Generation groß geworden und
-schon in die Privilegien der damaligen Väter nachgerückt“,
-<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
-sagte Katharina. „Und die Last liegt heute
-wie damals auf den andern.“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, wo sind die Erfolge der Arbeiterschaft! Nichts!
-Der Sozialismus schwebt nach wie vor in blauer
-Ferne.“
-</p>
-
-<p>
-„Das wollte ich damit nicht sagen“, entgegnete
-ruhigen Tones Katharina.
-</p>
-
-<p>
-Auf dem Reitwege, nur durch eine brusthohe Buchshecke
-von dem Parke getrennt, galoppierte eine Gruppe
-Damen und Herren vorüber. Die beiden saßen reglos
-und schwiegen. Auf der breiten Fahrstraße rollten
-Equipagen, überholt von einzelnen Reitern.
-</p>
-
-<p>
-„Es ist am besten, wir kriechen wieder in unser
-Loch zurück“, sagte Jürgen, dessen Wesen zweigeteilt
-war wie eine Schleudergabel.
-</p>
-
-<p>
-Die schenkeldicke Fontäne überholte unaufhörlich
-sich selbst. Das lange, postgelbe Automobil des Bankiers
-Wagner rollte vorüber. Die zwei Damen, in die
-Polster zurückgelehnt, machten eine Spazierfahrt
-durch den Duft. Eine dunkle Riesenfaust preßte
-Jürgens Herz zusammen, als er Elisabeth erkannte,
-die sich umwandte und prüfenden Blickes die beiden
-ansah. Sie war eben bei der Tante zu Besuch gewesen.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist Elisabeth Wagner“, sagte Katharina. „Elisabeth
-war im Institut eines der klügsten Mädchen gewesen
-... Gestern wurde erzählt, das Bankhaus
-Wagner stehe vor dem Zusammenbruch. Ich habe
-es von den Genossen in der Hommesschen Papierfabrik
-erfahren. Der Betrieb würde im Falle eines Zusammenbruches
-geschlossen werden müssen. Elisabeths
-Bräutigam hat die Verlobung gelöst. Ein konsequenter
-Herr!“
-</p>
-
-<p>
-Schwuppdich, dachte Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
-„Aber hast du das andere Mädchen gesehen. Sie
-ist wunderschön. Eine Jugendfreundin von mir. Der
-Garten ihrer Eltern stößt an den Garten meiner Eltern.
-Von ihr kann ich dir eine traurige Geschichte erzählen.
-Die traurigste Geschichte, die ich kenne!“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, nein, nicht umkehren!“ bat Katharinas
-schöne Jugendfreundin und legte scheuen Blickes ihre
-Hand auf Elisabeths Hand. Aber der Chauffeur hatte
-die Schleife schon genommen. Das Auto rollte sehr
-langsam auf die beiden zu.
-</p>
-
-<p>
-„Kennst du sie denn? Elisabeth hat dir zugenickt.“
-</p>
-
-<p>
-„Wieso denn mir!“ sagte Jürgen. „Nun, und die
-traurige Geschichte von der andern?“
-</p>
-
-<p>
-Da wandte auch diese sich um und blickte, wie
-zurück in ihre Kindheit, gefühlsschwer Katharina an,
-die erzählte:
-</p>
-
-<p>
-„Bis zu unserem siebzehnten Jahre waren wir immer
-zusammen, jeden Tag viele Stunden. Wir haben einander
-das Versprechen gegeben, uns ganz aufzuopfern,
-auch nie einem Manne anzugehören. Wir wollten die
-Welt erlösen. Um jeden Preis!“
-</p>
-
-<p>
-„Das wollen sehr viele in ihrer Jugend.“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, und später lächeln sie darüber ... Wenn sie nur
-über die Art, wie sie helfen oder die Welt ändern wollten,
-lächeln würden, hätten sie ja ganz recht; aber sie lächeln,
-weil sie es überhaupt tun wollten. Sie lächeln nicht
-nur über den Inhalt ihres Idealismus; sie lächeln über
-den Idealismus ihrer Jugend überhaupt.“
-</p>
-
-<p>
-Und dann sagte Katharina, rätselhaft tief bewegt,
-den Satz vor sich hin: „Viele Menschen tragen als
-Kinder in den Augen ein Ideal, das erstrebt zu haben
-sie später lächeln macht; und doch wiegt vielleicht
-allein die Tatsache, daß sie dieses Ideal einmal wenigstens
-<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
-erstrebt hatten, schwerer als alle Ziele, die sie
-später tatsächlich erreichten.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie du das sagst! Es wird einem kalt. Wie du das
-sagst!“
-</p>
-
-<p>
-„Dieses Mädchen ... du machst dir keinen Begriff,
-welch leidensfähiges, mildes Herz sie hatte. Und
-jetzt – wie lebt sie! Sie ist mit dem Oberstaatsanwalt
-verlobt.“
-</p>
-
-<p>
-„Ist das die Geschichte? Ist sie das?“
-</p>
-
-<p>
-„Eigentlich ist das schon die ganze Geschichte.“
-Und dann erzählte sie doch: Die Mutter ihrer Jugendfreundin,
-eine sehr gebildete, reiche Frau, habe ihre
-Tochter ganz bewußt zur Wohltätigkeit erzogen.
-Immer habe das Kind den Armen die Gaben reichen
-müssen.
-</p>
-
-<p>
-„Und da geschah es einmal – und dies ist die Geschichte
-–, daß das Kind von seiner Mutter in den
-Garten geschickt wurde, einer alten Bittgängerin ein abgetragenes
-Kleidungsstück zu bringen. Da bricht das
-Kind, wie es unter dem Blicke der Alten steht, vor
-Trauer und Scham, daß es geben und die Weißhaarige
-von ihm empfangen muß, in Schluchzen aus, läßt das
-Geschenk fallen, läuft weinend zurück, kann und
-kann nicht beruhigt werden, schluchzt sich in eine
-Krankheit hinein ... Von dieser Zeit an hat es sich
-nie mehr zu solchen Wohltätigkeitshandlungen
-brauchen lassen. Denk an, da war sie sechs Jahre
-alt. Ihr Herz wußte schon alles ... Und jetzt? Wie
-furchtbar, wie tragisch ist das Leben, daß selbst solch
-ein Wesen so erkranken, solch ein Herz so verhärten
-konnte.“
-</p>
-
-<p>
-Eine ungeheuere Erregung, die er mühsam zu unterdrücken
-versuchte, hielt Jürgen gepackt. Nur um
-<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
-etwas zu sagen, fragte er: „Und wenn ihr einander
-begegnet, grüßt ihr euch nicht?“
-</p>
-
-<p>
-„Wie sollten wir! Jeder lebt auf einem anderen
-Planeten.“
-</p>
-
-<p>
-Lebt auf einem anderen Planeten, flüsterte Jürgen
-innerlich. In weniger als einer Sekunde war der Saal
-mit dem Frackherrn-Jürgen aufgetaucht und wieder
-verschwunden gewesen.
-</p>
-
-<p>
-Und plötzlich glaubte Jürgen, seine Schädeldecke
-hebe sich ab vor Grauen. Denn er wußte nicht, ob
-er selbst oder ob ein anderer in ihm gedacht, gefühlt
-und gesagt hatte: ‚Wie entsetzlich! Dann ist er unüberbrückbar
-auch von Katharina getrennt! ... Wer
-hat das gedacht?‘ fragte er. ‚Das habe nicht ich gedacht.‘
-</p>
-
-<p>
-„Es ist im Grunde die Geschichte aller in ihrer
-Jugend idealistisch gewesenen Menschen“, hörte er
-Katharina sagen. „Du folgst deinen Wünschen und
-Begierden gegen das bessere Wissen deines Herzens,
-betrügst dein Bewußtsein, dein Ich, indem du nach
-Besitz, Macht, Erfolg, Genuß und Achtung strebst,
-dann kann es geschehen, daß du viel erreichst oder
-auch zugrunde gehst, in bürgerlicher Schande oder in
-bürgerlichen hohen Ehren ertrinkst, oder vielleicht
-in der Familienbequemlichkeit und einer – mittleren
-Stellung untergehst ...“
-</p>
-
-<p>
-‚Das nun sollte mir nicht passieren.‘
-</p>
-
-<p>
-„... daß du Automobile, betreßte Diener, eine
-Villa, verschönt durch edle Kunstwerke und Bücher,
-die du nicht nur hast sondern auch verstehst, daß du
-Fabriken, Ruhm, Achtung, Frauen, einen Kassenschrank
-voll Aktien und Gewalt über Tausende von
-Menschen eroberst ...“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
-‚Das will er, der Mensch, der Frackherr in mir.‘
-</p>
-
-<p>
-„... aber in jedem Falle mußt du – und dies ist
-die Tragik des Menschen unseres Zeitalters – das
-Bewußtsein von der Wirklichkeit, wie sie sein könnte
-und wie sie ist, mußt du dein Bewußtsein, die Leidensfähigkeit
-und Güte deines Kindheitherzens und
-damit dein Ich, deinen Idealismus verlieren, der in
-unserem Zeitalter nur in dem hingabebereiten Kampfe
-um den Sozialismus seinen Inhalt haben kann.“
-</p>
-
-<p>
-Und das weiß mein Bewußtsein, dachte Jürgen.
-Und hatte plötzlich gesagt: „Dagegen kann ich nicht
-einmal etwas einwenden.“
-</p>
-
-<p>
-Zuerst schwieg Katharina. Dann wich sie mit dem
-Oberkörper seitwärts, sah Jürgen betroffen an: „Weshalb
-solltest denn du dagegen etwas einwenden?“
-</p>
-
-<p>
-Zum zweitenmal empfand Jürgen in seinem Herzen
-Zorn gegen Katharina und schwieg.
-</p>
-
-<p>
-Erst auf dem Heimwege – die freistehende Mietskaserne
-kam schon in Sicht: „Die Tante hat gesagt,
-es hänge noch ein ganz guter Anzug von mir im
-Schrank.“
-</p>
-
-<p>
-„Den solltest du dir holen, wenn sie ihn dir gibt ...
-Ich habe damals, als ich wegging von zuhause, fast
-nichts mitgenommen. Aber wenn ich die Sachen jetzt
-holen wollte, die würden mir nichts geben.“
-</p>
-
-<p>
-„Ach nein, so ist sie nicht. Enterben, vielleicht ja;
-aber sonst ...“
-</p>
-
-<p>
-Einige Tage sprachen sie selten miteinander; Jürgen
-hatte in Gegenwart Katharinas das Gefühl, auf
-Luft zu gehen, und wich ihr aus, sooft er konnte.
-</p>
-
-<p>
-Eines Abends, als er diesen Zustand qualvoller
-Spannung nicht länger mehr ertragen konnte, sagte
-er: „Wer bis zu seinem dreißigsten Jahre noch nichts
-<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
-geleistet und erreicht hat, wird auch später nichts
-mehr erreichen.“ Er stand am Schreibtisch, Katharina
-neben ihm, mit dem Rücken gegen das Fenster. Sie
-antwortete nicht.
-</p>
-
-<p>
-„So wird man schließlich vierzig. Und was kann
-dann noch viel Erfreuliches kommen! Dann ist das
-Leben in der Hauptsache vorüber ... Natürlich,
-wer ganz bedingungslos glaubt an den Sozialismus ...
-Wer einfach glaubt!“
-</p>
-
-<p>
-„Was willst du denn erreichen, Jürgen?“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist es ja eben. Ich bin kein Jüngling mehr.
-Man wird doch immer älter – und älter ... Eh man
-sich versieht, ist das Leben vorbei, nicht wahr?“
-</p>
-
-<p>
-Katharina antwortete nicht mehr. Sie ging langsam
-auf die Verbindungstür zu, ging durch, schloß die
-Tür. Sie stand in ihrem Zimmer. Sie legte die Hand
-aufs Herz. Sie wußte alles.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen sah, durch die verschlossene Tür durch,
-Katharina stehen, so wie sie stand. Preßte die Hand
-auf das rasend klopfende Herz. Zuckte auf die Tür
-zu. Wollte nachstürzen.
-</p>
-
-<p>
-Zuckte zwischen der Verbindungstür und der Ausgangstür
-wie ein von Verfolgern eingekreister Flüchtling
-im Zickzack hin und her. Und stürzte mit einem
-innerlichen, furchtbaren Todesschrei aus dem Hause.
-</p>
-
-<p>
-Rannte aus der Stadt hinaus, querfeldein, über
-Schollenäcker zum Bahndamm, zwischen den Schienen
-weiter, bis vor das schwarze Tunnelloch.
-</p>
-
-<p>
-Diesmal blieb er nicht stehen und kehrte er nicht
-um. „Fort! Fort! Fort!“ befahl der Herzschlag,
-jagte ihn den Schienen nach, hinein in die Finsternis.
-</p>
-
-<p>
-Er stolperte. Seine Hände streiften den Boden. Er
-empfand darüber Befriedigung. Raste weiter, stieß
-<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
-mit dem Kopf gegen die Mauer. Und blieb keuchend
-stehen. In undurchdringliche Nacht gestellt, erblickte
-er plötzlich seine Genossen, klein und weiß. Katharina
-blickt verächtlich ihn an, deutet mit dem Finger
-auf ihn.
-</p>
-
-<p>
-„Fort! Fort!“ schrie der Herzschlag. Vor sich,
-weit in der Ferne, sah Jürgen ein rotes Tunnellämpchen.
-Nach zwei Sprüngen war er schon daran vorbei,
-stolperte, stürzte. Und blieb hocken, dicht neben dem
-Lämpchen, das jetzt weit hinter ihm in der Finsternis
-schwebte.
-</p>
-
-<p>
-Glotzend hob er den Kopf, sah die schneeweißen,
-starren Gesichter seiner Genossen. Duckte den Kopf
-zwischen die Schultern, schloß die Augen. Sah die
-schneeweiße Gruppe der Genossen. Katharina dreht
-sich kalt und gleichgültig weg.
-</p>
-
-<p>
-‚Wie sie mich verachtet!‘
-</p>
-
-<p>
-Die Schienen im Tunnel begannen zu lispeln.
-</p>
-
-<p>
-Gierig suchte Jürgen nach jemand, der ihn nicht
-verachtete. Sitzt sofort bei der Gesellschaft auf dem
-besonnten Hügel, neben Adolf und Elisabeth. Die
-Tante und der Vater treten hinter dem Busch vor,
-blicken ihn achtungsvoll an.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich steht Phinchen vor Jürgen im Tunnel,
-große Liebe im Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-‚Phinchen, bin ich ein Verräter? Ja oder nein?
-Wer hat recht: Katharina oder ich? Sage mir nur
-ruhig die Wahrheit. Ich halte alles aus.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Sie haben recht, lieber Herr Jürgen. Sind ein
-unendlich guter Mensch. Ich weiß, wie sehr Sie schon
-als Kind und Jüngling gekämpft und gelitten haben.‘
-Phinchen kniet nieder.
-</p>
-
-<p>
-‚Brauchst nicht zu knien vor mir. Ach nein, vor
-<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
-mir braucht kein Mensch zu knien.‘ Und er steht im
-großen Saale, beherrschte Kraft in Blick und Miene,
-begrüßt seine Bewunderer ohne Herablassung und
-Hochmut.
-</p>
-
-<p>
-Katharina, schneeweiß, schreitet im Tunnel vorüber,
-auf die schneeweiße Gruppe der Genossen zu. Des
-Hockenden Kopf sank wieder zwischen die Schultern,
-tief auf die Brust.
-</p>
-
-<p>
-Das Lispeln der Schienen war vernehmlicher geworden.
-Die Luft im Tunnel zitterte leise. Jürgen
-schluchzte. Warme Tränen rollten.
-</p>
-
-<p>
-Die Schienen sangen lauter und stählern. Ganz
-plötzlich bebte der Tunnel so stark, daß Wassertropfen
-von der Decke fielen. Einer patschte kalt auf Jürgens
-Hand.
-</p>
-
-<p>
-Er horchte in sekündlichem Entsetzen auf das rapid
-stärker werdende Geräusch, sprang auf.
-</p>
-
-<p>
-Da knallte der Donnerschlag in den Tunnel. Der ganze
-Berg wankte. Die glänzenden Schienen wurden zu roten
-Fühlern eines Riesentieres, die Fühler wurden immer
-länger, strahlten sausend auf Jürgen zu.
-</p>
-
-<p>
-Er rannte ihnen entgegen, den Ausgang zu gewinnen.
-Ein ungeheurer Tumult erfüllte zerstörerisch
-den Tunnel, umtoste Jürgen und zwang ihn, stehenzubleiben.
-„... Bin ich verloren?“
-</p>
-
-<p>
-Die Lokomotive krachte auf ihn los.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen fühlte, wie seine Haare weiß wurden, gab
-sich auf und starb.
-</p>
-
-<p>
-Unabänderlich donnerte der Zug auf seiner vorgeschriebenen
-Bahn weiter. Das Geräusch wurde mit
-einem Schlage hell.
-</p>
-
-<p>
-Noch eine Weile sangen die Schienen. Sandkörnchen
-fielen in die betäubte Stille.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
-Ein Mensch lag im Tunnel auf dem Gesicht. Für
-ihn hatte sich zwischen Leben und Tod ein Drittes
-eingeschoben, das nicht Leben war und nicht Tod.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen war bei vollem Bewußtsein und wußte dabei
-nicht, ob er noch existiere. Seine Augen starrten
-und erblickten nichts. Der Angstgedanke: ‚Wenn
-ich jetzt schreie und höre meinen Schrei nicht, bin
-ich tot‘, verhinderte ihn, zu schreien.
-</p>
-
-<p>
-In dieses zeit-, raum- und vorstellungslose Nichts
-hinein erklang, da Jürgen als einziges erdhaftes Ding
-plötzlich das rote Tunnellämpchen erblickte, sein
-tierisch wilder Schrei nach dem Leben.
-</p>
-
-<p>
-Von den Flammen des Lebens emporgerissen, drehte
-er sich, den Ausgang zu gewinnen, einigemal im
-Kreise und begann schreiend zu rennen, in gieriger
-Sehnsucht nach dem wilden Nußbaum, der beim
-Tunneleingang stand.
-</p>
-
-<p>
-Galoppierte in rasendem Tempo die Dunkelheit
-hinter sich und hinein in eine fremde Gegend: Er war
-auf der anderen Seite des Tunnels herausgekommen.
-In der Höhe stand still die zerfallende Burgruine,
-Erker vornübergeneigt, als müsse er jeden Augenblick
-stürzen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen blickte in das schwarze Tunnelloch zurück,
-klopfte dabei automatisch den Kohlenstaub von seinem
-Anzug, strich sich über die Haare. ‚Sie werden weiß
-geworden sein ... Daran wird Katharina erkennen,
-wie ich gekämpft und gelitten habe. Möge sie nur
-sehen, wie sehr!‘
-</p>
-
-<p>
-Blickte noch einmal hinein in den Tunnel. „Entronnen!“
-sagte er. „Entronnen!“ Und wandte sich
-um. Da war die Welt, fern und nah. Sonne, Blau,
-Grün und Fluß.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
-Der Herr solle nur über das Großdorf machen. Von
-dort aus führe der Weg direkt in die Stadt, sagte die
-verhutzelte Häuslerin und schob den ächzenden Schubkarren
-weiter, auf dem eine hohe Ladung Fallholz lag.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen wußte den Weg; er hatte nur gefragt, um
-eine Menschenstimme zu hören. ‚Nur wer dem Tode
-entronnen ist, der, nur der weiß, was leben heißt ...
-O, Anfang! O, Leben! O, Grashalm! O, Glück des
-Atmens!‘
-</p>
-
-<p>
-So schritt er aus. ‚Komme, was will – ich lebe!‘
-Als der hohe Backsteinwürfel in Sicht kam, dachte er:
-Was sie sagen wird, daß ich mit dem Leben davongekommen
-bin?
-</p>
-
-<p>
-„Wunderst dich, wie ich aussehe, was? Der Anzug,
-das Loch im Knie!“ Und er erzählte.
-</p>
-
-<p>
-Sie aber hatte die schwerste Stunde ihres Daseins
-erlitten und durchlitten und hatte aufgegeben und
-hinweggehen lassen, was nicht zu halten war.
-</p>
-
-<p>
-„Kommt der Zug auf mich zugerast“, wiederholte
-er. „Es ist total finster. Zermalmt er mich?“ Gierig
-suchte er Liebe und Schreck in ihrem Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Sie war in dieser Stunde innerlich so grau und alt
-geworden, daß sie geglaubt hatte, für den Geliebten
-nicht einmal mehr Verachtung empfinden zu können.
-Und nun schlug sie, verletzend gleichgültigen Gesichtes,
-doch verachtungsvoll zurück: „Wenn man sich eng
-gegen die Mauer preßt, was kann da passieren!“ Auch
-dies noch ist ja überflüssig. Weshalb sagte ich es.
-Weshalb rede ich noch, dachte sie. Und fühlte ihr
-wimmerndes Herz.
-</p>
-
-<p>
-„Verstehst du denn nicht ...“
-</p>
-
-<p>
-„Ich verstehe dich schon, ich verstehe dich.“ Entschlossen,
-auf sich zu nehmen, was unabänderlich war,
-<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
-sah sie ihn an, und ihr Blick fragte: ‚Was soll also
-jetzt geschehen? Was suchst du noch hier?‘
-</p>
-
-<p>
-„Wie ich nur zugerichtet bin!“ Er zeigte auf das
-Loch in der Hose. Und da sie schwieg und weiter
-fragte:
-</p>
-
-<p>
-„Jetzt wird es Zeit, daß ich mir den andern Anzug
-hole ... Wir könnten uns später in der Stadt treffen,
-dann in die Redaktion gehen und zusammen nachhause.“
-</p>
-
-<p>
-Und als er fort war, dachte sie doch darüber nach,
-ob es keine Möglichkeit gebe, ihn zu halten, ihn zum
-Ausharren zu bewegen. ‚Dadurch vielleicht, daß ich
-mit rücksichtsloser Klarheit ausspreche, was ist?‘
-</p>
-
-<p>
-Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch, blickte blicklos
-in das Zimmer, in dem, mächtig wie nie vorher, unvertreibbar
-die Vereinsamung stand. ‚Aber er ist sich
-ja klar; er kann ja nicht genommen werden wie ein
-unklarer Mensch mit phantastisch idealistischen Vorstellungen
-und Zielen, dessen Idealismus zersplittert,
-sobald er mit der harten Wirklichkeit zusammenstößt.
-Jürgen kennt ja die Wirklichkeit, denn er hatte
-den Inhalt seines Idealismus in dem Kampfe um den
-Sozialismus gefunden.‘
-</p>
-
-<p>
-„Das Bad ist fertig. Die Wäsche habe ich auf den
-Stuhl gelegt. Die Schuhe stehen darunter“, sagte,
-glückstrahlend, Phinchen zu Jürgen. „Unterdessen
-bügle ich den Anzug auf. Er ist noch sehr schön.“
-</p>
-
-<p>
-‚Immer wieder sagte er: Man wird alt ... Und
-etwas erreichen will er. Etwas werden. Einfluß gewinnen
-und Macht. Er will geachtet sein ... von
-denen, deren Achtung entwürdigend ist für den, der
-sie genießt ... Genießt. Er will genießen, leben ...
-Dies sind auch bei allen anderen die Motive des Abfalls,
-<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
-des Verrates an der Idee, ob die Verräter nun
-klar oder unklar, Sozialisten oder Phantasten waren.
-‚Jeder für sich‘ wird, uneingestanden, ihre Weltanschauung.‘
-</p>
-
-<p>
-Auch als Jürgen, gebadet, in frischer Wäsche und
-in dem gutsitzenden, schwarzen Anzug, die Treppe
-herunter auf das Wohnzimmer zuschritt, saß Katharina
-noch am Tische, reglos. ‚Auch das alles weiß
-Jürgen selbst. Deshalb muß und kann nur er selbst
-entscheiden ... Er hat entschieden.‘
-</p>
-
-<p>
-„Ja, ich erwarte Besuch. Elisabeth Wagner und
-ihre Freundin. Wenn ich gewußt hätte, daß du
-kommst, würde ich abgesagt haben.“
-</p>
-
-<p>
-Er stand vor dem gedeckten Kaffeetisch. Ich kann
-ja gehen ... Die Freundin wird wohl das schöne
-Mädchen sein, das in seiner Jugend ... dachte er
-und fragte.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, sie ist sehr schön und mit dem Herrn Oberstaatsanwalt
-verlobt ... Auch dein Schulfreund, Karl
-Lenz ... Ist er älter als du?“
-</p>
-
-<p>
-„Zwei Jahre. Er war nämlich so blöd, daß er im
-Gymnasium zweimal sitzenbleiben mußte. Aber was
-ist mit ihm?“
-</p>
-
-<p>
-„Schon Staatsanwalt geworden! Vor vierzehn Tagen.
-Denk an, so jung!“
-</p>
-
-<p>
-‚Das sollte ja auch ich werden. Oder Amtsrichter!
-Dem bin ich entronnen.‘
-</p>
-
-<p>
-„Deshalb glaubte ich, Karl Lenz müsse ein besonders
-fähiger Schüler gewesen sein.“
-</p>
-
-<p>
-„Das nicht; aber Angehöriger der vornehmsten
-Verbindung.“ Jetzt verschwinde ich, dachte er, als
-die Wohnungsglocke läutete. Und fragte: „Geht es
-dir besser?“ Warf einen Blick in den Spiegel, der
-<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
-einen knapp, sorgfältig und schwarzgekleideten Herrn
-zeigte. „Die Wäsche, die von mir noch da ist, könntest
-du mir schon spendieren“, sagte er, schalkhaft lächelnd.
-</p>
-
-<p>
-‚Das Geld hätten wir schon aufgetrieben. Wenn
-ihm unser Leben zu ärmlich, zu leer war, wir hätten
-etwas besser wohnen, manchmal ausgehen, mehr Bücher
-kaufen, im ganzen etwas besser leben können. Der
-Ingenieur tut es ja auch. Gewiß ein guter Genosse!
-Eine Grenze nach unten, eine Grenze nach oben –
-in der Mitte genug Spielraum, nicht so erlebnisarm
-zu sein. Verkehr mit einigen sympathischen, klugen
-Menschen. Auch eine kleine Reise hin und wieder.
-Innere Erfrischung. Jeder braucht sie. All das würden
-keine unüberwindlichen Schwierigkeiten gewesen sein ...
-Aber das ist es ja nicht. Das ist es ja nicht. Er hat
-den Kampf aufgegeben. Er paßt sich dem Leben
-an ... Aber mir, mir, warum hat er mir das angetan.
-Warum hast du mir das angetan.‘
-</p>
-
-<p>
-Gesicht neigte sich langsam auf die verschränkten
-Arme. Der ganze Körper verzuckte im Weinen. Sie
-wimmerte immer den selben Ton. Ließ sich versinken,
-ganz und gar preisgegeben dem Schmerze.
-</p>
-
-<p>
-Nach einer Weile tappte der Schnauz zu ihr, berührte
-sie mit der Pfote. Und da sie reglos blieb, legte
-er sich in die Zimmermitte, Kopf auf den vorgestreckten
-Pfoten. Drehte hin und wieder, ohne den Kopf
-zu heben, die Augen zu ihr hin.
-</p>
-
-<p>
-„Plötzlich kommt der Zug angerast ... angerast.
-Zermalmt er mich? Wohin springe ich? Es war
-total finster.“
-</p>
-
-<p>
-„Allmächtiger!“ rief die Tante. Und Elisabeth:
-„Ich wäre vor Schreck gestorben.“ Dabei lächelte
-sie und horchte gespannt; ihre grauen Augen schienen
-<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
-zu sehen, wie das Eisenungetüm den Menschenkörper
-zermalmte. Unter der zarten Haut ihres Halses tickte
-der Herzschlag.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen unterdrückte die Genugtuung und sagte
-leichthin, auch er habe geglaubt, seine Haare seien
-weiß geworden.
-</p>
-
-<p>
-„Und das erzählt er so, als ob er selbst gar nicht
-daran beteiligt gewesen wäre“, sagte Elisabeth, mit
-anerkennendem Wechselblick zwischen Jürgen und
-der Tante, die sich aufrichtete, einen geradeliegenden
-Kaffeelöffel geradelegte und glatt heraus sagte: „An
-allem ist nur dieses Mädchen schuld.“
-</p>
-
-<p>
-„Aber Tante, sprich nicht von Dingen, die du nicht
-verstehst.“
-</p>
-
-<p>
-„Und wenn du überfahren worden wärest!?“
-</p>
-
-<p>
-„Nun, nun, ich brauchte mich ja nur eng gegen die
-Mauer zu pressen, was konnte da viel passieren ...
-Natürlich“ – und er sah heiter lächelnd Elisabeth
-an – „denkt man in so einem Augenblick nicht an das
-Nächstliegende.“
-</p>
-
-<p>
-„Das eine weiß ich: dein ganzes Unglück ist dieses
-Mädchen.“
-</p>
-
-<p>
-Geschmacklos ist sie nicht, dachte Jürgen, da Elisabeth
-sich sofort auf Katharinas Seite stellte durch
-ein Lächeln des Einverständnisses mit ihm. „Das
-sollten Sie nicht sagen; Katharina ist doch immerhin
-ein ungewöhnlicher Mensch, den man nicht mit dem
-gewöhnlichen Maße messen darf.“
-</p>
-
-<p>
-„Davon versteht die Tante nichts“, sagte Jürgen
-in dem selben Tonfall, wie damals auf dem Hügel
-Elisabeth zu Jürgen gesagt hatte, von Literatur verstehe
-Adolf nichts.
-</p>
-
-<p>
-Warme Sympathie und Achtung für Katharina erfüllte
-<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
-ihn und wohltuender Stolz auf sie, die zusammengesunken
-und versunken in Schmerz und Vereinsamung
-am Tische saß und weinte und nur und immer wieder
-das eine dachte: Warum, warum hat er mir das angetan.
-</p>
-
-<p>
-Die Tante wurde mutig: „Daran kannst du sehen,
-wohin dich diese Beziehung noch bringen würde ...
-hätte bringen können. Einfach in den Tod! ... Ein
-zu verrücktes, ein ... unordentliches Mädchen, finden
-Sie nicht auch?“
-</p>
-
-<p>
-„Sie sollten nicht so streng sein gegen Katharina,
-die doch wirklich nicht so beurteilt werden kann wie
-irgendein dummes bürgerliches Mädchen.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen zeigte die Miene eines Menschen, der es
-sich erlauben kann, Dummheiten anzuhören, ohne
-zu widersprechen. Übrigens, auch Elisabeth scheint
-keine bürgerliche Gans zu sein, dachte er.
-</p>
-
-<p>
-„Nichts als Unruhe, ewige Unruhe kommt dabei ...
-würde dabei ... wäre dabei herausgekommen.“
-</p>
-
-<p>
-„Die ist zäh“, sagte Jürgen, kräftig lachend, als die
-Tante aus dem Zimmer war, sich umzuziehen für den
-Kirchgang. „Die gibt den Kampf nicht so leicht
-auf. Jetzt glaubt sie, schon gesiegt zu haben in dieser
-Sache, in der sie nie siegen kann. Niemals!“
-</p>
-
-<p>
-Mit einem Blicke nahm Elisabeth den Kampf offen
-auf. So daß Jürgen nach langem Blick- und Wortgeplänkel
-schließlich fragen konnte: „Und Adolf?“
-</p>
-
-<p>
-„Er ist mir zu dumm. Einfach zu dumm!“ sagte
-sie, strahlend vor ehrlicher Überzeugung. Und ob
-Jürgen sie begleiten wolle, sie müsse Einkäufe machen.
-</p>
-
-<p>
-Auch Katharina ging, in der Hand das in Papier
-eingewickelte belegte Brot, das sie abends in der
-Redaktion essen wollte, durch die Geschäftsstraße.
-<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
-Der Schreck schlug durch ihren ganzen Körper durch.
-So stand sie, gedeckt von der kauf- und schaulustigen
-Menschenmenge, die, ein geschecktes, langes, vielhundertfüßiges
-Tier, langsam an den Auslagen entlang
-kroch, und sah, wie Elisabeth Jürgen an der
-Schulter faßte, ihn vor ein Spielwarenschaufenster
-führte.
-</p>
-
-<p>
-An der Art des Nebeneinanderstehens erkannte
-Katharina, daß sie schon eine Gegnerin bekommen
-hatte, berührte mit der Zungenspitze nachdenklich
-ihre Lippen und ging weiter.
-</p>
-
-<p>
-Immerzu sah sie die zwei vor dem Schaufenster
-stehen, sah Elisabeths zartgegliederte, weiße Hand
-auf Jürgens schwarzem Rücken liegen und dachte
-sich den deutenden Zeigefinger dazu. ‚Was sie ihm
-wohl gezeigt haben mag? Eine Puppe? Ein Schaukelpferd?‘
-</p>
-
-<p>
-Die ganze Straße hinunter interessierte Katharina
-sich dafür, auf was wohl Elisabeth Jürgen aufmerksam
-gemacht habe, stellte sich die Gegenstände eines
-Spielwarenschaufensters vor. Erst als sie mit dem
-innern Blick plötzlich des Geliebten Gesicht sah,
-stellte sie sich der Hauptsache. Der schneidende
-Schmerz zwang sie, Hand auf dem Herzen, stehenzubleiben.
-‚Und jetzt? Was ist jetzt? Soll ich ...
-soll ich kämpfen um ihn?‘
-</p>
-
-<p>
-Aber das Bewußtsein, daß Jürgen ja nicht ihr,
-sondern sich selbst und seiner Hingabe entlaufen sei,
-und daß sie, was sie durch den Kampf um ihn gewönne,
-nur auf Kosten ihrer Hingabe gewinnen könne, stieß
-Katharina hinein in die graue Hoffnungslosigkeit.
-</p>
-
-<p>
-Dennoch stand sie zur verabredeten Zeit an der
-Straßenecke, gepeinigt von dem Bewußtsein, daß sie,
-<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
-in ihrem persönlichen Leben nun so ganz und gar verarmt,
-noch die Gebende sein müsse. Denn der Fraueninstinkt
-sagte ihr, daß Jürgen nur deshalb für Elisabeth
-interessant und begehrenswert sei, weil er mit der als
-merkwürdig und unnahbar geltenden Katharina befreundet
-war. ‚Wenn sie seine Frau wird, hat er das
-mir zu verdanken. Wie entsetzlich!‘ Katharina fror
-bei diesem Gedanken.
-</p>
-
-<p>
-Sorgfältig gekleidet, durch Bad, reine Wäsche und
-durch das Beisammensein mit Elisabeth erfrischt,
-schritt er, beherrschte Kraft in den Gliedern, lebensfroh
-dem verabredeten Orte zu, sah Katharina stehen,
-sah sekündlich den unüberschreitbaren Abgrund, den
-seine momentanen Gefühle zwischen ihm und Katharina
-aufrissen, blieb stehen, stand an dem Rande
-des Abgrundes, der nur gleichzeitig mit diesen neuen
-Gefühlen verschwinden konnte, die schon nicht mehr
-verschwinden konnten, tappte über den Rand des
-Abgrundes hinaus, stand und schritt auf Luft. Wildes,
-besinnungsloses Aufsiezustürzen kam in seinen Gang
-und falsche Wiedersehensfreude und gleichzeitig Scham
-in sein Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Sie aber stand, ein Mensch, grau und wissend und
-bewußt, und nahm auf sich ihr Schicksal. So blickte
-sie ihn an.
-</p>
-
-<p>
-„Wie die leben, die Bürger! Die, ah, die wissen
-schon, was sie wollen ... Aber was alles sie zusammenredet,
-die Tante, du machst dir keinen Begriff ...
-Für die ist alles höchst einfach.“
-</p>
-
-<p>
-„Deine Tante will, daß es dir gut gehe; sie will,
-daß du Elisabeth Wagner heiratest.“ Sie horchte auf
-sein falsch-herzhaftes Lachen und fühlte: Wie weit,
-wie weit ist er schon weg.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
-„Wahrhaftig, du sagst es. Genau das will sie ... So
-ein Unsinn! ... Hab mich aber ganz gut mit ihr unterhalten.
-Sie ist nicht dumm, weißt du, und eigentlich gar
-nicht bürgerlich ... Ein liebenswürdiges Geschöpf.“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, Jürgen, sie ist ein kluges Mädchen, ein liebenswertes
-Mädchen.“
-</p>
-
-<p>
-„Kennst du sie denn so gut, weil du sagst, sie sei
-ein liebenswertes Mädchen?“
-</p>
-
-<p>
-„Weshalb denn kein liebenswertes Mädchen, Jürgen,
-weshalb nicht liebenswert“, sagte Katharina in
-schwerem Leid und dachte: Wie wiegen die Worte so
-schwer ... fallen wie Blei.
-</p>
-
-<p>
-„Sie hat sogar deine Partei ergriffen, hat dich verteidigt.“
-</p>
-
-<p>
-‚Wie ist es möglich, daß er mich so beleidigt.‘
-Die Häuser neigten sich; die Straße drehte sich um
-Katharina herum. Sie mußte sich festhalten an Jürgen,
-nicht zu versinken in dem schwarzen Nebel vor
-ihren Augen.
-</p>
-
-<p>
-„Du arbeitest zuviel; solltest dich schonen, etwas
-mehr schonen.“
-</p>
-
-<p>
-Da riß ihr Blick, in dem nicht Zorn und nicht einmal
-mehr Verachtung war, alle Masken und jede Selbstbelügung
-weg und traf ihn so, daß er plötzlich vor der
-Tatsache stand.
-</p>
-
-<p>
-Seine Stimme war rauh: „Entscheide du!“ ‚Laß mich
-leben oder knalle mich nieder; aber entscheide du!‘ schrie,
-völlig preisgegeben, sein Wesen. Die Augen glotzten.
-</p>
-
-<p>
-Sie schwieg, bewegte den Kopf nicht. Nichts rührte
-sich an ihr und in ihr. Ihr Blick blieb blicklos.
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen wußte, daß auf der Welt nur er allein
-entscheiden konnte, gestand zum erstenmal sich ein,
-daß er sich schon entschieden hatte. „Geh, Katharina,
-<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
-geh, geh du nachhause jetzt, Katharina.“ Seine
-Stimme ertrank in innerlichem Weinen. „Schlafe gut.“
-</p>
-
-<p>
-„Schlafe du auch gut.“
-</p>
-
-<p>
-Das war der Abschied.
-</p>
-
-<p>
-Ihr Leben öffnete sich bis in die frühen Kindheitstage.
-Sie sah die lange Kette des Leides und der
-Hingabe. Sah, was ihr noch verstattet und beschieden
-sein konnte. Sie nahm ihr Leben an die Brust.
-</p>
-
-<p>
-„Du auch, schlafe du auch gut“, flüsterte Jürgen
-immerzu und mußte dem Zwange folgen, immer in die
-Mitte der Steinplatten zu treten, mit denen der Gehweg
-belegt war. Um nicht auf eine Ritze zu treten,
-mußte er drei ganz kleine Schritte machen. „Schlafe
-du auch gut.“ Und einen Sprung, da eine große
-Platte kam. „Du auch gut.“
-</p>
-
-<p>
-Überquerte halb die Straße, lief zwischen den
-Schienen weiter. Die Straßenbahn kam auf ihn zugesaust.
-„Entscheide dich! Entscheide dich!“ schrie
-er, gepackt von dem Zwange, die Schienen erst verlassen
-zu dürfen, nachdem er bis zehn gezählt hatte.
-„... zwei ... fünf ... acht, neun, zehn ...“
-</p>
-
-<p>
-„Noch bis fünfzehn!“ schrie er. Zählte: „... zwölf,
-dreizehn, vierzehn ...“
-</p>
-
-<p>
-Und erwachte zwei Tage später im Schlafzimmer
-der Tante, Kopf und Beine in dicken Verbänden.
-Elisabeth saß bei ihm.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="VI">
-VI
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-Duftlose Blumen standen im Krankenzimmer.
-Phinchen trug ihr Glück auf den Zehenspitzen, auch
-wenn sie im Keller oder im Dachboden war. ‚Die
-<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
-Pflege muß besser sein, als im besten Sanatorium‘,
-stand auf unsichtbaren Tafeln. In der Villa wurde
-nur noch geflüstert. Wenn die Tante einen Auftrag
-zu erteilen hatte, schlich sie, balancierend, auf Phinchens
-rund sich öffnenden Mund zu. Jürgen war
-unumschränkter Herr und zugleich das Kind im Hause,
-wohlbehütet Tag und Nacht.
-</p>
-
-<p>
-Im Garten schaffte der Frühling. Wenn Jürgen auf
-dem Sonnenbalkon im Liegestuhl ruhte, an warmen
-Tagen stundenlang wachträumend vor sich hindöste,
-sah er, wie das Sein, das Leben, die Sträucher in sich
-leise zuckten, wie ein Blättchen sich aufrollte, der
-Sonne entgegen.
-</p>
-
-<p>
-Halb fühlte und halb dachte er: Mein Leben steigt
-noch einmal von Grund auf an. Eine zweite Kindheit!
-Mein Leben rollt sich auf, so sanft, so mild.
-</p>
-
-<p>
-Im Halbschlafe ging er über Brücken, immer wieder
-von neuem und immer weiter über Brücken. ‚In
-dieser Gegend gibts nur Brücken. Nichts als Brücken!‘
-</p>
-
-<p>
-Keine Schärfe war in dem Geschwächten. Kein
-Wunsch berührte ihn. Alle Kämpfe, alle Leiden lagen
-weit zurück. Katharina lebte ganz verblaßt in blauer
-Ferne.
-</p>
-
-<p>
-Seine weichen, beglückenden Seelenstimmungen, die
-Wohlgefühle der Gesundung und seine unbestrittene
-Macht über die Tante, die den Zurückgekehrten wie
-einen tausend Gefahren entronnenen, schwerverwundeten
-Krieger betreute, erhielten ihren Grundgehalt
-von dem Gefühle: ‚Ich habe diese Ruhe mir verdient!‘
-Alles fügte sich widerstandslos ineinander.
-</p>
-
-<p>
-„Ich verabschiede mich von Katharina“, konnte
-Jürgen ohne Erinnerungsschwierigkeit erzählen, als
-er, frei von den Verbänden, heiler Haut und Elisabeth
-<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
-am Arme, dem weißgedeckten Kaffeetisch unter dem
-Nußbaum zuschritt, „verabschiede mich wie immer:
-Gute Nacht, Katharina, schlafen Sie gut. Wie man
-eben so sagt, nicht wahr. Schlafen Sie auch gut, antwortet
-sie mir. Und ich gehe die Straße hinunter,
-beschäftigt mit einem Gedanken, allerdings mit einem
-jener entscheidenden Gedanken, – ich nenne sie Mittelpunktgedanken
-– die uns das ganze Leben plötzlich
-von einer völlig neuen Seite sehen und verstehen
-lassen.“
-</p>
-
-<p>
-Auch an dem Unglücksfall ist dieses entsetzliche
-Mädchen mit ihren verrückten Ideen schuld, hatte
-die Tante, als Jürgen ins Haus gebracht worden war,
-zu Phinchen gesagt. Jetzt ließen Angst und Scheu
-vor dem Zurückgekehrten nicht einmal die Erinnerung
-daran, daß sie dies gesagt hatte, in ihr aufkommen.
-</p>
-
-<p>
-Bereit, den Satz nicht zu Ende zu sprechen, sagte
-sie vorsichtig: „So tiefsinnige Gespräche sind vielleicht
-nichts für einen Rekonvaleszenten.“
-</p>
-
-<p>
-„Die Tante hat ein Kind bekommen. Das päppelt
-sie“, spottete Jürgen, der in Gegenwart Elisabeths
-nicht als Kind behandelt und nicht bemitleidet sein
-wollte.
-</p>
-
-<p>
-„Du hast viel gelitten, Jürgen.“
-</p>
-
-<p>
-Sein Blick, in dem Zorn sich schon ankündigte, ließ
-die Tante sofort verstummen. Sie häkelte schweigend
-weiter an dem Sesselschoner und häkelte weiter an
-ihrem Plane. Ihr Bankier hatte sie lachend beruhigt
-über den Stand des Bankhauses Wagner; dieses Gerücht
-sei nur ein Börsenmanöver der Konkurrenz gewesen.
-</p>
-
-<p>
-Zwar ist die Familie Wagner sehr jung, der Vater
-des Bankiers noch Häusermakler gewesen, dachte die
-<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
-Tante. ‚Die Geschichte der Familie Kolbenreiher
-dagegen kann bis in die Anfänge des fünfzehnten Jahrhunderts
-zurückverfolgt werden. Aber mit der Zeit
-werden auch junge Familien alt.‘ Dabei horchte sie
-auf die Stimme Jürgens, der selbst das Gefühl hatte,
-selten so mühelos geistvoll gesprochen zu haben.
-</p>
-
-<p>
-Von den Zehenspitzen bis zur Schädeldecke voller
-Ruhe, blickte sie Jürgen und Elisabeth nach, der kein
-Mensch ansehen konnte, daß noch ihr Großvater ein
-kleiner, schmieriger Häusermakler gewesen war.
-</p>
-
-<p>
-„Und jetzt zeigen Sie mir Ihr Knabenzimmer.“
-</p>
-
-<p>
-„Das liegt aber sehr versteckt, oben, unter dem Dach.
-Dort vermutet uns niemand.“
-</p>
-
-<p>
-Sie gab ihm seinen Erobererblick zurück.
-</p>
-
-<p>
-„Ich selbst habe es seit vier Jahren nicht mehr betreten“,
-sagte Jürgen und betrachtete die ovalen
-Photographien der Familie Kolbenreiher, die, zu
-einem großen Oval geordnet, über dem schmalen
-Kanapee hingen.
-</p>
-
-<p>
-Vom Fenster aus sahen sie den Nußbaum und den
-Kaffeetisch, wo die Tante, ein winziger, schwarzer
-Punkt, häkelnd saß.
-</p>
-
-<p>
-Wortlos blickte er Elisabeth an, schritt zur Tür,
-schloß ab.
-</p>
-
-<p>
-Sie trug ein blaßblaues Seidenkleid, stand mit dem
-Rücken gegen das Fenster, die Hände auf das Sims
-gestützt. Der Herzschlag tickte unter der zarten,
-weißen Haut am Halse. Ihr Haar war blond, heller
-an den Stellen, die Luft und Sonne ausgesetzt blieben,
-und in den Tiefen gelblichgrün, gleich unreifem Getreide.
-</p>
-
-<p>
-Einen kaum bemerkbaren rosa Schimmer im ganzen
-Gesicht und den blendend klaren Blick fest auf Jürgen
-gerichtet, sagte sie, selbstbewußt die Schulter
-<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
-leise zuckend, ihm wortlos, daß es nur geschah, weil
-auch sie es wolle.
-</p>
-
-<p>
-Und als sie wieder am Fenster stand, Hände aufgestützt,
-genau wie vorher, und fragte: „Liebst du
-Katharina noch?“ dachte er: Daß sie das nicht vorher
-gefragt hat, ist großartig von ihr. „Unsinn! Katharina
-lebt sozusagen auf einem anderen Planeten ...
-Jetzt müssen wir aber hinuntergehen, sonst merkt die
-Tante, was los ist.“
-</p>
-
-<p>
-„Und wenn auch!“ sagte mit aufrichtiger Geringschätzung
-dieser Möglichkeit Elisabeth: ein Wesen,
-das, ohne viel eigenes Bemühen lebensklug geworden,
-ein glatt funktionierendes Gehirn fertig mitbekommen
-zu haben schien, Fragen an das Leben, Zweifel, Gefühls-
-und Gewissenskonflikte nie gekannt hatte und,
-jenseits aller Selbstbelügung, sich und anderen offen
-eingestand, daß sie für nichts anderes Interesse habe
-als für sich selbst, ihr Leben und ihre Genüsse.
-</p>
-
-<p>
-„Du bist großartig. Wer und was immer sich uns
-beiden in den Weg stellt, wir werden siegen.“ Sie gingen
-in gleicher Höhe auf der selben Fläche einander entgegen
-und standen, Körper an Körper, Mund auf Mund
-gepreßt,
-</p>
-
-<p>
-<a id="br1"></a>während Katharina, zusammengerollt wie ein krankes
-Tier, in den Kleidern auf dem Bette lag. Der Fensterladen
-war geschlossen, das Zimmer nachtfinster. Nur
-ein schneidend dünner Sonnenstrahl lag auf dem Fußboden
-und auf dem Strahle der Schnauz. Ihr Gefühls-Ich,
-auseinandergerissen, offen, zuckte bei der leisesten
-Berührung, bei jedem Gedanken an Jürgen: wenn sie
-irgendeinen Gegenstand sah, der ihm gehörte, den
-Bleistift, den Schotterstein, ein paar unbrauchbare
-Schuhe, die wie immer in der Ecke standen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
-Als gäbe der Instinkt ihr ein, daß sie nur dann
-nicht Schaden nehmen würde an ihrer Seele, wenn sie
-dem schweren Leid ganz rückhaltlos sich preisgebe, ließ
-sie niemand zu sich, keinen Trost; sie betäubte sich
-und ihren Schmerz nicht mit Leben, nicht mit Arbeit.
-Lag Tag und Nacht auf dem Bett, hineingewühlt
-in das Leid, kämpfend um die Genesung, um ihr
-Leben.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen war der erste, war der einzige Mensch gewesen,
-dem sie rückhaltlos vertraut und mit dem zusammen
-sie der Einsamkeit den Raum verstellt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Nach drei so durchkämpften Wochen strich Katharina,
-an dem Tage, da sie sich schwanger fühlte, zum
-ersten Male wieder über den Kopf des bettelnden
-Kameraden, der wegen der wochenlangen schlechten
-Behandlung sofort vorwurfsvoll zu bellen begann und,
-da Katharina ihn schon wieder nicht mehr beachtete,
-sich niederlegte, Schnauze auf den Vorderpfoten, in
-vergrollendem Vorwurfe.
-</p>
-
-<p>
-Noch ein paar Wochen – der Fensterladen war
-wieder offen, sie hatte wieder begonnen, zu arbeiten –
-hoffte Katharina, Jürgen werde, nachdem er erkannt
-habe, daß die Siege, die in dem anderen Lager errungen
-werden konnten, entwürdigend und wertlos seien,
-zurückkehren zu der Pflicht, die sein Bewußtsein ihm
-zum Schicksal mache.
-</p>
-
-<p>
-Mit den Monaten und den Tagen immer gleichen
-treuen Leidens und immer gleicher treuer Arbeit
-entstand in ihr der neue Anfang. Schon konnte es
-geschehen, daß Katharina ein Lächeln tiefempfundener
-Freude in den Augen trug, wenn sie in eine Arbeiterversammlung
-kam und die Sympathie ihrer grüßenden
-Genossen fühlte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
-Schon als er noch bettlägerig gewesen war, hatte
-Jürgen, einig mit der Tante, daß dies das zunächst
-Allerwichtigste sei, sich auf das Doktorexamen vorbereitet.
-</p>
-
-<p>
-Weihnachten war die kirchliche Trauung. Jürgen
-hatte der flehenden Tante endlich mit den Worten:
-„In des Teufels Namen!“ nachgegeben. Und Elisabeth
-hatte sich ihre Einwilligung zu einer kirchlichen Trauung
-von ihrem Vater abkaufen lassen durch ein Brillantgehänge.
-</p>
-
-<p>
-Lorbeerbäume bildeten eine Gasse vom Hochzeitswagen
-bis zum Altar, vor dem die Brautleute knieten,
-in großem Halbkreise umgeben von den Verwandten
-und Bekannten beider Familien.
-</p>
-
-<p>
-„Verdammte Komödie!“ flüsterte heiter der Kniende,
-und Elisabeth drückte zum Einverständnis Jürgens Arm
-und senkte das Haupt, das Lächeln zu verbergen. Das
-sah aus, als horche sie ergriffen den Worten des
-Geistlichen.
-</p>
-
-<p>
-Während der Trauung sang ein Gemischter Chor mit
-Orgelbegleitung: „Himmel erhöre, erhöre das Flehen:
-Liebe laß walten im Heime der Gatten.“
-</p>
-
-<p>
-Fast alle Damen und Herren, die damals auf dem
-Hügel Rotwein und Brathuhn genossen hatten, auch
-zwei Universitätsprofessoren, der junge Wissenschaftler,
-ein Chefredakteur und einige Künstler, mit denen
-Elisabeth Verkehr pflegte, saßen an der Festtafel,
-die, in Hufeisenform, die ganze Breite des Wagnerschen
-Gesellschaftssaales einnahm und mit zwölf,
-aus Treibhausveilchen nachgebildeten, riesigen Hufnägeln
-geschmückt war. Diese Idee stammte von
-Jürgens Schwiegermutter.
-</p>
-
-<p>
-Die Neuvermählten saßen, mit dem Blick in das
-<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
-Halbrund hinein, genau in der Mitte des Hufeisens,
-so daß ihre Beine den mittleren Haken bildeten, mit
-dem das Pferd Funken aus dem Pflaster zu schlagen
-vermag.
-</p>
-
-<p>
-Wurde am seitlichen Haken von Presse, Wissenschaft
-und Kunst ein Witz gemacht in bezug auf die
-Neuvermählten, dann langte er, zwinkernd weitergegeben,
-sehr schnell beim rechten Seitenhaken an,
-wo er in das Gespräch über das mögliche Fallen oder
-Steigen eines Börsenpapieres ein Loch riß, das sich
-nach zwei Sekunden wieder schloß.
-</p>
-
-<p>
-„In bezug auf das Bankfach bleibt meine Weltanschauung:
-Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert“,
-wiederholte Jürgens Schwiegervater, der ohne erhobenen
-Zeigefinger nicht sprechen konnte.
-</p>
-
-<p>
-Das Streichquartett spielte auf Wunsch von Jürgens
-Schwiegermutter zum zweitenmal die Träumerei
-von Schumann. Die servierenden Diener hatten weiße
-Handschuhe an. Das Hufeisen dampfte. Nur der
-reichste Mann, ein Hütten- und Walzwerkbesitzer, aß
-beinahe nichts; er war leberkrank, dottergelb, trank
-Brunnen und hatte noch kein Wort gesprochen. Seine
-knapp vor dem Sprunge in das volle Leben stehende,
-sehr begehrte schöne Tochter legte ihm die sorgfältig
-ausgewählten winzigen Bissen vor.
-</p>
-
-<p>
-Den beiden gegenüber saß der unförmig dicke
-Papierfabrikant Hommes. Der sah beständig aus, als
-müsse er jeden Augenblick niesen, und hörte dabei
-aufmerksam einem Gummifabrikanten zu, welcher
-bewies, daß und warum infolge der schon nicht mehr
-schönen Preissteigerung des Rohmaterials ein glattes
-Geschäft überhaupt nicht mehr möglich sei. Man
-müsse sich winden, nichts als winden.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
-Herr Hommes griff langsam nach dem Westenknopf
-des Gummifabrikanten, als wolle er sich anklammern,
-um beim Niesen nicht vom Stuhle zu fallen, und sagte:
-„Wer etwas wirklich Großes erreichen will, der muß
-borniert sein.“
-</p>
-
-<p>
-An der Börsianerecke stieg das Wort ‚Montanaktien‘
-und konnte, wie die auf dem Springbrünnchen tanzende,
-silberne Kugel, nicht mehr fallen, bis der reiche
-Leberkranke den Wasserstrahl abdrehte: „Mit den
-Flitzautomobilaktien könnte in nächster Zeit eine
-schnittige Veränderung eintreten.“
-</p>
-
-<p>
-„Schnittig“, murmelte Jürgen. Um ihn herum ging
-etwas vor, das das Leben zu sein schien. „Das Ganze
-ist unerträglich ekelhaft. Wir machen das nicht länger
-mit“, flüsterte er. „Ich mache das nicht bis zum
-Schluß mit.“
-</p>
-
-<p>
-Der Ausspruch des reichen Leberkranken wurde an
-der Börsianerecke auf Hintergründe und Fallen untersucht.
-„Wer andern eine Grube gräbt“, vernahm Jürgen.
-„Natürlich, erst wägen, dann wagen, das ist
-klar.“
-</p>
-
-<p>
-„No, was sag ich!“ rief der Schwiegervater. „Eine
-Hand wäscht die andere. So stehts eben auch mit
-diesem Papier.“
-</p>
-
-<p>
-Schweinezucht, das wolle er Jürgen gestehen, sei
-das einzige, aber auch das einzige, mit dem noch verdient
-werden könne, versicherte ein Landwirt, der
-wegen seines jugendlichen Aussehens Mühe hatte,
-respektabel zu erscheinen. Es ginge ja auch alles so
-weit ganz gut. Nicht umsonst habe er die Landwirtschaftshochschule
-durchgemacht. Er bringe System
-in die Sache. „Aber, sehen Sie, es fehlt einem doch
-etwas. Ich weiß selbst nicht recht, was. Man ist unbefriedigt.
-<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
-Die Seele, wissen Sie, die Seele, möchte ich
-sagen, kommt zu kurz.“
-</p>
-
-<p>
-Der Gummifabrikant versuchte vergebens, den Leberkranken
-über die Flitzautomobilaktien auszuholen.
-Auch an der Börsianerecke wurde noch gedeutet und
-geforscht und behauptet, doppelt genäht halte besser.
-</p>
-
-<p>
-„No, was sag ich!“
-</p>
-
-<p>
-„Das Volk will keine Freiheit; das Volk will Brot.
-Fressen und Saufen will das Volk, glauben Sie mir“,
-sagte Herr Hommes, hinein in Jürgens wutbleiches
-Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Der gab keine Antwort. ‚Dieser Fettwanst, dessen
-Leben in Fressen, Saufen und Huren besteht, könnte,
-auch wenn er seine Meinung revidieren müßte, ja
-doch keinerlei Konsequenzen ziehen.‘
-</p>
-
-<p>
-Herr Hommes hielt sich an der Tischplatte fest,
-warf, geöffneten Mundes, den Kopf in den Nacken,
-stieß ihn nach vorn, nieste aber nicht, sondern sagte:
-„Sie, ah, Sie werden sehr bald meiner Ansicht sein.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen umklammerte das Handgelenk Elisabeths,
-den Wutausbruch zu unterdrücken, während ihr
-ganzer Körper vor unterdrücktem Lachen zuckte.
-Und dann, hilfsbereit: „Wenn du willst, verschwinden
-wir jetzt unauffällig.“
-</p>
-
-<p>
-Da erhob sich Herr Wagner. Er begann seine Rede
-mit einer Verbeugung zu dem Platze hin, wo die
-Tante, die plötzlich wieder krank geworden und schon
-lang nachhause gefahren war, anfangs gesessen hatte.
-</p>
-
-<p>
-Er sei sich der hohen Ehre wohl bewußt, die darin
-liege, daß seine Tochter dem letzten Sproß der alteingesessenen
-Patrizierfamilie Kolbenreiher angetraut
-worden sei, sozusagen eingeheiratet habe in die Familie
-Kolbenreiher, die schon einmal im fünfzehnten
-<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
-Jahrhundert der Stadt einen Bürgermeister geschenkt
-habe. Seine Familie hingegen sei noch jung, aber zukunftsreich.
-Wie ein junges, gutes Papier!
-</p>
-
-<p>
-„Jung und alt verbindet sich miteinander.“ Dabei
-käme das Richtige heraus, was unser Vaterland nötig
-habe. „Solidität, in Verbindung mit jungfrischem
-Wagemut ... Die Fusion ist vollzogen.“ Der Erfolg
-werde nicht ausbleiben.
-</p>
-
-<p>
-„Und die Ehe? ... Es ist mit der Ehe wie mit der
-Spekulation an der Börse. Licht und Schatten! Sonne
-und Wolken! Die Aktien steigen und fallen. Das ist
-nun einmal so. Es kommt eben darauf an“, rief mit
-starker Stimme Herr Wagner, der schon etwas zu viel
-getrunken hatte, „in treuer Liebe auszuharren, auch
-wenn einmal eine Baisse den Ehehimmel bewölkt ...
-Es kommt auch wieder eine Hausse.“ Ja, es sei sogar
-besonders wichtig, gerade aus der Baisse Gewinn und
-Lehren zu ziehen.
-</p>
-
-<p>
-Er hatte sich so in den Vergleich verfilzt, daß auch
-das Schlußhoch auf die Neuvermählten zur Hälfte
-der Börsenspekulation galt. Alle standen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgens Gesicht war leinenweiß. Lieber ein gebrochenes
-Rückgrat, als ein gebogenes, dachte er,
-entschlossen, nicht zu antworten auf die Rede seines
-Schwiegervaters. Und da er sich als erster setzte,
-Elisabeth mit hartem Griffe neben sich zog, setzten
-sich auch die andern. Die Diener reichten schwarzen
-Kaffee, Likör und lange Zigarren.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich gab Jürgen, ohne zu wissen wem, vielen
-Menschen die Hand. „Leben Sie wohl.“ Sein Körper
-bewegte sich automatisch von einem zum andern,
-endlich auch auf Elisabeth zu. Er reichte ihr die Hand:
-„Leben Sie wohl.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
-Alle brachen in Gelächter aus. Auch Elisabeth war
-verblüfft über ihren Mann, der in der Eile und Verwirrung
-es fertig brachte, seiner Frau vor der Hochzeitsreise
-Lebewohl zu sagen.
-</p>
-
-<p>
-Noch einen Augenblick blieben die beiden unter dem
-Türrahmen stehen. Da näherte sich Jürgens Ohr ein
-rundes Gesicht mit rundgestutztem Bart, goldbebrillten,
-zwinkernden Augen und gespitztem Munde, der
-flüsterte: „Viel Vergnügen!“ Mit den Armen balancierend,
-schlich der Rundkopf auf den Fußspitzen
-zum Hufeisen zurück.
-</p>
-
-<p>
-Sie reisten zuerst nach dem Süden, wo es im Winter
-Frühling ist.
-</p>
-
-<p>
-Einige Tage später wurde Katharina von einem
-Knaben entbunden.
-</p>
-
-<p>
-Nach zehn in Paris und Rom verbrachten Wochen
-kamen die Neuvermählten in die südliche Hafenstadt,
-die mit ihren Orangenbuden, Bazaren und Säulenkolonnaden,
-durchschwirrt von Matrosen, Chinesen,
-Negern, vornehmen Fremden, müden Auswanderern
-und dem Geschrei in zwanzig verschiedenen Sprachen,
-mit dem Salz- und Teergeruch, Sirenengebrüll und
-dem Mastgewirr der Ozeanriesen gelb in der Sonne lag,
-wie ein dem unendlichen Meere entstiegener, wahr gewordener
-Traum eines Knaben, der Eltern, Lehrern,
-allen Qualen der Jugend, allen Fesseln und Berufen entfliehen
-möchte, hinaus in die unbändige Herrlichkeit.
-</p>
-
-<p>
-Sie fuhren in der Droschke, überdacht von einem
-rot- und weißgestreiften Riesensonnenschirm, hotelwärts,
-vorüber an einer langen, immer neu genährten
-Reihe Arbeiter und Arbeiterinnen, die aus der Tabakfabrik
-kamen. Blusen und Umschlagtücher waren
-farbig, die Gesichter schlaff und fahl.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
-Jürgen sah weg. Und konnte dennoch nicht verhindern,
-daß er, als sie schon im Zimmer waren, plötzlich
-dachte: Da besitzt irgendein Herr Hommes eine
-Fabrik.
-</p>
-
-<p>
-„In sechsundfünfzig Stunden könnten wir in Afrika
-sein.“ Jürgen bekam keine Antwort. Elisabeth war
-auf der Ottomane eingeschlafen.
-</p>
-
-<p>
-‚Durch dieses Wesen gehen Welt und Dasein in
-immer gleich unendlich breitem Strome durch, von
-ihr genossen in jeglicher Sekunde, ohne Vor- und
-Rückblick, ohne Rücksicht und Bedenken.‘
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth atmete tief und ruhig und war schön und
-jung und gesund. Die Sonne, gebrochen durch die
-herabgelassene Jalousie, zeichnete ein leuchtendes,
-gestreiftes Fell auf das Morgenkleid der Schlafenden.
-Es war warm. Fernher brüllte die Sirene. Die Mimosen
-dufteten.
-</p>
-
-<p>
-‚Wie sie atmet! ... Gut, fahren wir nach Afrika!
-Nach New York! Nach Indien! Telegramme um Geld!
-Einstweilen überhaupt nicht zurückkehren! Komme,
-was kommt! Elisabeth würde zu allem Ja sagen, ohne
-Besinnen. Ein herrliches, wunderbares, einfach organisiertes
-Tier, das lebt, einfach lebt. Bedenkenlos,
-glatt und kühl wie ein Fisch. Durch und durch kühl!‘
-„... Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die Liebe
-erwacht“, summte Jürgen. ‚Nur in der Nacht wird
-sie heiß. Da kennt sie keine Grenzen ... Sie ist ein
-vorgeschobener Posten der Lebenskraft.‘
-</p>
-
-<p>
-„Es haben zwei ne ganze Nacht zusammen in
-einem Bett verbracht – was ham se wohl gemacht?“
-</p>
-
-<p>
-Da sah Jürgen einen Herrn in der Vorhalle eines
-großen Pariser Hotels stehen. Der Herr stürzt auf
-Elisabeth zu, sitzt mit ihr, beständig schwebend in
-<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
-einer Wolke von Lebenslust, im Theater, in Restaurants,
-Boulevard-Cafés, Kabaretts. Tritt in Elisabeths
-Schlafzimmer.
-</p>
-
-<p>
-Abneigung erfaßt plötzlich den im Sessel lehnenden
-Jürgen gegen den Jürgen, der durch Paris und Rom
-schwirrt, sich um nichts kümmert, als nur um sich
-und seine Genüsse, im Schlafanzug in das Schlafzimmer
-Elisabeths tritt, heiter in der Hafenstadt
-ankommt.
-</p>
-
-<p>
-„Er betäubt sich ... Widerlich! ... Wo kommt der
-hin, was wird aus dem, wenn er so weiter macht ...
-Das bin nicht ich. Das ist ein ganz anderer“, flüsterte
-der im Sessel Sitzende. „Sonderbar. Sonderbar.“
-</p>
-
-<p>
-Bewußt wechselte Jürgen die Blickrichtung, sah
-durchs Fenster auf das glitzernde Meer hinaus, um
-den andern nicht mehr zu sehen. ‚Auch er ein vorgeschobener
-Posten! Das ist die Natur, das Tier,
-die Lebenskraft, die den treibt, die ... mich treibt,
-sie, die um der Fortpflanzung, der Arterhaltung willen,
-die Geschlechter zueinander treibt und, ihr Ziel zu
-erreichen, bereit ist, uns Menschen zu ausnahmslos
-jeder Schufterei zu veranlassen.‘
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth bewegte sich: ihre Hand fand im Schlafe
-durch das Morgenkleid durch zu der sich entblößenden
-Brust.
-</p>
-
-<p>
-‚Und sie hat Erfolg, die Lebenskraft. Denn sie zahlt
-als letzten Preis dieses einzigartige Gefühl. Zahlt es
-Tieren und Menschen, Frauen und Männern, Katzen
-und Katern, Elisabeth und mir. Mögen die andern,
-die vielen, verrecken, sie kümmert sich um nichts.
-Der Mensch ist noch nicht da. Sie kann nicht warten,
-bis der Mensch da ist. Das ist die ganze Erklärung.
-Eine naturwissenschaftlich einwandfreie Erklärung!‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
-Die Hotelglocke rief zum Mittagessen. Auf den
-Zehenspitzen schlich er über den Teppich, berührte
-sanft Elisabeths Schulter. Sie erwachte ohne jeden
-Schreck, schlug die Augen auf, so einfach, so klar.
-‚Sie hat gar keine Untiefen in sich. Sie ist so,
-wie sie ist. Im Schlafen, wie im Erwachen und im
-Wachen.‘
-</p>
-
-<p>
-Aber das ist noch viel sonderbarer. Wie seltsam!
-Das ist unheimlich, dachte der an der Tafel sitzende
-Jürgen, weil er jetzt auch den an der Tafel sitzenden,
-sich unterhaltenden, lachenden Jürgen beobachtete,
-scharf und genau beobachtete.
-</p>
-
-<p>
-‚Wir sind also zwei. Ich sehe mir zu. Mir selbst! ...
-Aber das bin ja gar nicht ich. Ich sehe ja ... ihm zu.
-Bin ich, der zusieht, ich? Oder ist er ich?‘
-</p>
-
-<p>
-„Gut, machen wir!“ Elisabeth hatte gewünscht,
-am Abend auf die Höhe zu steigen und zuzusehen,
-wie die Sonne ins Meer sinkt.
-</p>
-
-<p>
-‚Auf die Dauer natürlich halte ich das nicht aus.
-Wir müssen uns vereinigen, eins werden. Wenn wir
-uns nicht einigen können, dann muß einer weichen:
-der andere oder ich.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Du standest schon am Anfang deines Ich.‘
-</p>
-
-<p>
-Wer hat das gedacht? dachte erschauernd Jürgen
-und goß dabei Wein ins Glas. „Dir auch?“ ‚Das habe
-eben nicht ich gedacht. Hat das der andere gedacht?
-Oder ein Dritter?‘
-</p>
-
-<p>
-Er fror im Rückenmark. Gierig leerte er pausenlos
-hintereinander zwei Glas Wein.
-</p>
-
-<p>
-‚Ich befinde mich offenbar in einem Übergangsstadium.
-In einem Entwicklungsstadium. Ich entwickle
-mich. Das soll in meinem Alter noch vorkommen.
-Ich muß trachten, in ein erträgliches Verhältnis
-<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
-zu mir zu kommen. Denn ich muß ja leben
-mit mir.‘ Auch die Stirn hatte sich gerötet.
-</p>
-
-<p>
-Nach Sonnenuntergang saßen sie auf der Terrasse
-des Hafenrestaurants. Zwei Männer schleppten einen
-wassertriefenden Bastkorb voll Austern zwischen den
-Tischen durch in die Küche. Straßenhändler boten
-den Gästen Kämme, Stickereien, Elfenbeinschnitzereien
-an. Der Himmel, die Luft, das Meer, das Leben des
-Hafens und der Straße fluteten durch das vornehme
-Restaurant durch. Alle Grenzen waren verwischt.
-Musik spielte. An der Hausmauer gegenüber wechselten
-die kinematographischen Bilder, genossen von der
-dicken Menschenmenge.
-</p>
-
-<p>
-Sie aßen Austern. Die kosteten nicht viel mehr als
-Brot. Tranken eine Flasche Champagner dazu. Ein
-kleines, dickes Mädchen, achtjährig, Kastagnetten
-in den Händchen, schmale Papierschleifen – blau, rot,
-grün – im Haar und auf dem Röckchen, das die nackten,
-dicken Schenkelchen freiließ, trat an den Tisch und
-begann zu tanzen, sang ein Bordellied dazu, hob das
-Röckchen hinten hob das Röckchen vorne, spreizte im
-Tanztakt die Beinchen auseinander, mit obszöner
-Gebärde.
-</p>
-
-<p>
-Ein nach dieser Seite vorgeschobener Posten der
-Lebenskraft, dachte Jürgen. ‚Ihr sind alle Mittel
-recht, wenn sie nur zum Ziele führen.‘ Er fühlte in
-den Gelenken eine Lähmung, die nicht unangenehm war.
-Elisabeth strich zärtlich über den Kopf der Kleinen.
-</p>
-
-<p>
-Eine Stunde später saß sie, den Rücken Jürgen zugekehrt,
-schon entkleidet vor ihren Kämmen und
-Bürsten. Das offene Haar leuchtete gelb. Durch den
-Spiegel nickte sie Jürgen zu, gab ihrer Schulter einen
-Kuß, der ihm galt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
-‚Ich habe eine schöne Frau.‘ Er streckte sich.
-‚In das Leben soll man Grübeleien über Entwicklung
-und Dasein nicht hineintragen. Das Leben entwickelt
-sich ganz von selbst.‘
-</p>
-
-<p>
-Der Hafen schlief. Das Meer sang gleichtönig, ruhevoll
-und groß. Die Mimosen dufteten stärker in die
-warme Nacht. Wie in allen Nächten sang auch in
-dieser Nacht in der Ferne ein Mädchen.
-</p>
-
-<p>
-Eine Fabrikstraße, nebelgrau und doch trostlos
-deutlich. Gestalten, einzeln, in Gruppen, in endlosen
-Reihen, schritten im Morgengrauen in unabänderlich
-vorbestimmter Richtung auf das riesenhafte, graue
-Fabriktor zu. Immer neue Millionen marschierten
-heran, grau, gespenstisch-lautlos, und verschwanden
-im Fabriktor der Welt.
-</p>
-
-<p>
-‚Und du standest schon am Anfang deines Ich.‘
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth wandte sich um nach Jürgen, der schwer
-atmete. Seine Gesichtshaut zuckte und war gespannt,
-als habe sie, wie eine Ballonhülle, einen ungeheuren
-Atmosphärendruck auszuhalten. Ein Mensch schlief.
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth berührte den Stöhnenden. Wie ein vom
-Tode Erweckter richtete er sich auf. Eine ewige Sekunde
-lang war letzte Bereitschaft in seinem Antlitz.
-</p>
-
-<p>
-„Dein Gesicht sah gar nicht aus wie ein Gesicht.
-Sah aus wie ein Gefängnis, wie eine Faust.“ Sie
-schlüpfte zu ihm unter die Decke. „Was träumtest
-du?“
-</p>
-
-<p>
-„Weiß nicht. Weiß nicht.“ Er wußte es nicht.
-„Wie du duftest!“ Er riß, aus der Tiefe seines Wesens
-zurückgekehrt, wild das Leben an sich.
-</p>
-
-<p>
-Erst viele Monate nach der Rückkehr – in seinen
-Tagen tat sich schon die leere, tote Einsamkeit auf, die
-weder durch Genüsse, noch durch Arbeit zu überwinden
-<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
-war – wurde Jürgen in einer großen Gesellschaft
-an Katharina erinnert. Adolf Sinsheimer zog
-ihn in eine Nische. „Warst du wieder einmal da? ...
-Nun, in dem orientalischen Salon! Ich sage dir, da sind
-jetzt vier Mädchen! Die sind mit 99½ Salben gerieben.
-Die eine sieht übrigens Katharina Lenz verblüffend
-ähnlich. Also verblüffend! ... Sie hat ein
-Kind bekommen.“
-</p>
-
-<p>
-„Wer hat ein Kind bekommen?“
-</p>
-
-<p>
-„Katharina. Einen Sohn! Die Familie tut, als ob
-sie das gar nichts anginge. Frau Geheimrat Lenz
-soll vor Gram gestorben sein ... Wann gehen wir
-in den Salon?“
-</p>
-
-<p>
-Eine endlos lange Sekunde hatte Jürgen das Empfinden,
-in seinem Kopfe kreise mit vertausendfachter
-Schnelligkeit Schläfen-sprengend ein kalter Blitz. Das
-ganze neue Leben lag in Scherben. Jürgen stieg heraus
-aus den Trümmern, die Freitreppe hinunter, schritt,
-gestoßen von etwas, das in gleichem Schritt und Tritt
-hinter ihm her ging, durch die Stadt.
-</p>
-
-<p>
-Die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser
-kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun.
-Das kleine Fenster hing nah der Erde rot
-leuchtend in der Finsternis.
-</p>
-
-<p>
-Die Nacht war warm, das Fenster geöffnet. Er
-hörte Stimmen, mehrere Männerstimmen, eine Antwort
-Katharinas, sah, wie sie, in der Hand einen weißen
-Teller, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem
-der Sohn lag.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen glaubte den Agitator zu erkennen, der, die
-Hand vorgestreckt, etwas zu dem Metallarbeiter sagte.
-Vernahm Katharinas Lachen. Das klang so geheimnisvoll
-mild in die Sommernacht.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
-Die Schreibmaschine begann zu klappern. Der
-Agitator diktierte.
-</p>
-
-<p>
-‚Das ist eine Welt für sich ... Welch ungeheuere
-innere Veränderung in mir wäre nötig, einzutreten ...
-Die Haustür ist nur angelehnt.‘
-</p>
-
-<p>
-Drei Arbeiter traten aus der Tür. Jürgen war verschwunden.
-</p>
-
-<p>
-Erst nach Tagen gelang es ihm, sich zu beruhigen
-mit dem Gedanken, daß es Katharina vielleicht besser
-gehe als ihm. ‚Sie hat nicht diese Scherereien wie
-ich. Muß sich nicht mit diesem Gesindel herumbalgen.
-Sie hat ihre Genossen. Sie lebt ihrer Idee.‘ In dieser
-Zeit faßte er den Plan, ein großes Werk zu schreiben,
-betitelt: ‚Volkswirtschaft und Einzelseele‘.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hatte den ganzen Vormittag in dem gut
-durchwärmten Direktionsbureau gearbeitet. Als er
-hinaustrat in den schneidend kalten, schneidend hellen
-Wintertag, tränten seine Augen, so daß er einen
-Laternenpfahl und den Oberkörper und den Kopf
-eines Spaziergängers doppelt und dreifach sah.
-</p>
-
-<p>
-In dieser Sekunde hatte Jürgen das erstemal den
-Gedanken, daß nicht nur er selbst sondern jeder
-Mensch aus mehreren, innerlich tatsächlich vorhandenen
-Menschen bestehe, die, wie der mit tränenden
-Augen gesehene verdreifachte Spaziergänger,
-hintereinander und ineinander geschalt, in den Menschen
-steckten, dachten, wahrnahmen, fühlten und
-gegeneinander kämpften.
-</p>
-
-<p>
-Während er der Trambahnhaltestelle zuschritt, sah
-er auf die zwanzig Monate seines neuen Lebens und
-seiner neuen Tätigkeit zurück. War von Jürgen, dem
-Teilhaber des Bankhauses Wagner und Kolbenreiher,
-in Erfüllung seiner Pflicht und Aufgabe, die Interessen
-<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
-des Hauses und der Kunden zu schützen, die
-Weisung erteilt worden, an der Börse Papiere zu kaufen
-oder zu verkaufen, dann hatte ein anderer Jürgen
-klaren Bewußtseins gesagt: Es bleibt eine in alle
-Ewigkeit unverrückbare Tatsache, daß dieser Gewinn
-ein Teil des Mehrwertes ist, abgepreßt dem Proletariat,
-zugunsten des Rentiers Hummel und des
-Bankhauses Wagner und Kolbenreiher.
-</p>
-
-<p>
-‚Also auch zu meinen Gunsten. Ich also lebe von
-dem Mehrwert, bereichere mich an dem Mehrwert,
-den andere hervorbringen. Und ich bin mir dessen
-voll bewußt.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Nicht du bist dir dessen bewußt, sondern ich.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Wer ich? Wer ist sich dessen bewußt?‘
-</p>
-
-<p>
-‚Ich! Ich bin schon nicht mehr du.‘
-</p>
-
-<p>
-Es hatte sich anfangs sehr oft ereignet, daß der bewußte
-Jürgen ganz über den Teilhaber-Jürgen vorgetreten
-war, ihn hinter sich gedrückt, die Schreibfeder
-auf das Tintenfaß zurückgelegt und glatt herausgesagt
-hatte: „Aber das ist ja Raub, lieber Schwiegervater.
-Ich mache das nicht mit, Herr Hummel.“
-</p>
-
-<p>
-‚Und jetzt machte der leberkranke Hütten- und
-Walzwerkbesitzer das Geschäft.‘ Auf diesen Worten
-schiebt der Teilhaber sich wieder in den Vordergrund,
-stemmt die Faust auf den Schreibtisch, gibt seine
-Direktiven und denkt: Das Leben ist Kampf. Wer
-die Waffen fallen läßt, über den geht es hinweg. So
-ist das Leben. Und dem Proletariat, das sowieso
-der Leidtragende ist, kann es gleichgültig sein, wer
-den Gewinn hat.
-</p>
-
-<p>
-‚Aber dir kann es nicht gleichgültig sein.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Es ist sogar immer noch besser, ich habe den Vorteil
-als der Leberkranke, der nicht einmal weiß, was
-<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
-er tut, keine Ahnung davon hat, daß er sich bereichert
-an dem Schweiße und an dem Blute der Arbeitenden.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Was der Hüttenbesitzer tut, ist kein Freibrief für
-dich. Außerdem wäre es auf jeden Fall für dich, für
-dein Selbst, für dein Menschentum immer noch besser,
-der andere, der gar nicht weiß, daß er ein Schuft ist,
-zöge den Gewinn, als du, der du auf diese Weise rettungslos
-erst zum bewußten Schuft und schließlich
-auch zu einem ahnungslosen, selbstgerechten Schuft
-werden, endlich nur noch Teilhaber, nichts anderes
-mehr als ein Teilhaber sein würdest.‘
-</p>
-
-<p>
-Das soll mir nicht passieren. Aber es könnte allerdings
-passieren, dachte Jürgen. Und ich müßte auch
-dies auf mich nehmen. Das Leben ist hart.
-</p>
-
-<p>
-Und plötzlich vernahm er deutlich den Satz: „Die
-Massen, eingespannt in das graue Joch, müssen noch
-die Lerche hassen, die emporsteigt ins Blau ... Und
-dich kümmert es nicht. Das ist es, verstehst du, daß
-es dich nicht kümmert.“
-</p>
-
-<p>
-„Hinter dem steckt etwas“, wurde in bezug auf
-Jürgen gesagt, wenn er, in knappsitzendem Frack,
-beherrschte Kraft in Schultern und Gliedern, beherrschten
-Geist in Wort und Blick, in großer Gesellschaft
-war, aller Augen auf sich ziehend, genau so, wie er
-sich damals in den grünen Bretterzaun hineingesehen
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Nachdem er im Parteiblatt gelesen hatte, daß nur
-durch freiwillige Gaben die Zeitung noch gehalten
-werden könne, spendete er eine große Summe und
-bekam einen Dankbrief von der Bezirksleitung.
-</p>
-
-<p>
-Den Dankbrief in der Hand, wendet er sich um zu
-seinem Bewußtsein, das keine Antwort gab. Es war
-in dieser Zeit schon etwas getrübt gewesen.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
-‚Ich werde der Arbeiterbewegung auf andere
-Weise als früher nützen. Zweifellos kann ich, mit
-meinem Einfluß und meinen Verbindungen, der Bewegung
-weitaus mehr nützen, als es der Student
-konnte, der nichts hatte, nichts war und nichts bedeutete.‘
-Und er legte den Dankbrief in die Schublade.
-</p>
-
-<p>
-Der Schwiegervater war eingetreten. Erhobenen
-Zeigefingers. „Sowohl der Rentier Hummel als auch
-wir haben einen großen Verlust erlitten. Dabei lag
-dieses Geschäft doch vollkommen klar. Und wir
-hatten unsere Informationen früher als die andern.“
-</p>
-
-<p>
-„Mir war dieses Geschäft zu unsauber.“
-</p>
-
-<p>
-„Die Bank besteht seit fünfunddreißig Jahren. Von
-Unsauberkeit keine Spur!“
-</p>
-
-<p>
-Der Teilhaber lehnte sich zurück in den Sessel und
-ließ ganz bewußt das Bewußtsein vortreten. Das
-war schon trüb wie eine Wasserfläche, auf der ölige
-Flüssigkeit irisiert, rückt über den Teilhaber vor und
-spricht von Recht, Moral und Gerechtigkeit. „Das
-Geschäft war mir zu unmoralisch. Viele kleine Leute
-würden durch unsere Schuld ihr Geld verloren haben.
-Ich stehe auf dem Boden der Gerechtigkeit.“
-</p>
-
-<p>
-Erst nach einigen Sekunden konnte der staunende
-Herr Wagner den Zeigefinger heben: „Der gute Ruf
-unseres Hauses wurzelt in der Gerechtigkeit. Aber
-sichere Geschäfte einfach nicht zu machen, geht nicht
-an. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Du kennst
-meine Weltanschauung. Wir haben eine beträchtliche
-Summe und obendrein Herrn Hummel, der seit zwanzig
-Jahren mit uns arbeitet, als Kunden verloren, weil
-du diese scheinbar entwerteten Papiere nicht gekauft
-hast. Die ‚Leber‘ natürlich hat sie sofort und samt und
-sonders aufgekauft. Der lacht.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
-„Das allerdings stimmt“, sagte der Teilhaber, „daß
-die kleinen Leute nun trotzdem um ihr Geld gekommen
-sind.“
-</p>
-
-<p>
-„No, was sag ich!“
-</p>
-
-<p>
-Es war aber auch schon vorgekommen, daß Herr
-Wagner erhobenen Zeigefingers zu seiner Frau hatte
-sagen können: „Der Schwiegersohn hat eine Nase, eine
-Nase ... Wir Alten können uns zur Ruhe setzen. Kein
-Mensch hätte aus der Presse und aus den Reden im
-Reichstag herauszulesen vermocht, daß an ein Gesetz
-über neue Schutzzölle auch nur gedacht werde. Hast
-du etwas von einem Gesetz gelesen, von Schutzzoll?
-Nicht die leiseste Andeutung. Aber er, der Junge,
-dieser Junge, mit seiner Vergangenheit und seinem Interesse
-für Politik, seinen Beziehungen zur Arbeiterbewegung,
-die unsereins überhaupt nicht beachtet, hat
-zugegriffen zu einem Zeitpunkt, als die geriebensten
-Füchse sich noch in Baisse festlegten ... No, was
-sag ich.“
-</p>
-
-<p>
-Am ersten Mai des vergangenen Jahres war Jürgen
-im Auto in den Demonstrationszug hineingeraten und
-steckengeblieben, beschossen von Blicken noch gefesselten
-Hohnes und Hasses.
-</p>
-
-<p>
-‚In der Straßenbahn kann ich mich ebenso mit
-meinen Gedanken beschäftigen. Brauche nicht im
-Wagen zu fahren.‘
-</p>
-
-<p>
-Das schon weit nach rückwärts gedrückte Bewußtsein
-fand die Sekunde Zeit, zu sagen: Das ist es ja
-nicht. Das ist es ja nicht.
-</p>
-
-<p>
-Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden,
-dachte er, stieg aus, ging die zweihundert Schritte
-bis zur Villa. Und teilte der Tante, während er die
-eingelaufene Post durchsah, nebenbei mit, daß in
-<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
-den zwei Jahren, seitdem er ihr Bankier sei, ihr gesamtes
-Vermögen sich schon fast verdoppelt habe.
-</p>
-
-<p>
-‚Da irrt er sich. Das gesamte nicht.‘ Sie hatte ihm
-nur die schwer zu verheimlichenden Papiere anvertraut
-und den größeren Teil ihrer Aktien bei ihrem alten
-Bankier gelassen. „Du hast dein Erbe verdoppelt“,
-sagte die gelb, zerfallen und schweratmend im Lehnsessel
-Versunkene.
-</p>
-
-<p>
-Und er erlebte wieder, wie immer, wenn die Tante
-das Wort ‚erben‘ aussprach, in Gedanken diese merkwürdige
-Viertelstunde in dem roten Plüschsalon der
-Konditorei, sah deutlich die drei erregt durcheinander
-sprechenden Damen, den kleinen Hut der Jungen,
-der nur aus Veilchen bestanden hatte.
-</p>
-
-<p>
-„Glaubt, sie sterbe, beichtet nach heftigem Widerstreben
-endlich doch dem Geistlichen, daß sie als
-zwanzigjähriges Mädchen einen einzigen Fehltritt ...“
-</p>
-
-<p>
-„Wer kann das heute noch kontrollieren, ob es der
-einzige war.“
-</p>
-
-<p>
-„... begangen und heimlich einen Sohn geboren
-hat. Fragt auch ihren Rechtsanwalt, ob das Kind
-Erbanspruch habe.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie das Geheimnis dann unter die Leute gekommen
-ist ...“
-</p>
-
-<p>
-„Die Pflegerin im Nebenzimmer soll die Beichte mitangehört
-haben.“
-</p>
-
-<p>
-„... weiß man nicht genau. Die Menschen können
-ja kein Geheimnis für sich behalten.“
-</p>
-
-<p>
-„Sonst würde man diese Geschichte vielleicht überhaupt
-nie erfahren haben, wenn die Pflegerin ...“
-</p>
-
-<p>
-„Ganz genau kenne ich die Einzelheiten auch heute
-noch nicht“, hatte die Junge gesagt.
-</p>
-
-<p>
-„Denken Sie an, siebzig Jahre ist sie jetzt. Und nie
-<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
-hat ein Mensch auch nur den leisesten Verdacht gehabt,
-müssen Sie wissen. Das Kind wird ins Ausland
-in heimliche Pflege gegeben, müssen Sie wissen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Eines Tages entläuft das Kind, geht durch.“
-</p>
-
-<p>
-„Wahrscheinlich, weil es schlecht behandelt wurde,
-Sie verstehen.“
-</p>
-
-<p>
-„Die Pflegemutter stirbt.“
-</p>
-
-<p>
-„Auf diese Weise hat man ... Ist verschollen
-... nie etwas ... Kein Lebenszeichen mehr! ... von
-dem Fehltritt erfahren ... Als ob sie Jungfrau wäre! ...
-Ja, was sagen Sie dazu ... Wo mag das arme Kind
-jetzt sein.“
-</p>
-
-<p>
-Ein fünfzigjähriger Mann torkelt betrunken, verdreckt,
-heruntergekommen auf einer amerikanischen
-Landstraße, wirft die Arme, schimpft auf die Welt.
-Wird erstochen. Erleidet als Matrose Schiffbruch, ertrinkt.
-Krepiert im Berliner Obdachlosenheim. Schuftet
-nach dem Taylorsystem in Chicago. Ist Gelegenheitsarbeiter
-im Newyorker Hafen. Magistratsschreiber
-in einer kleinen deutschen Stadt. Während diesen
-drei Damen das Kind gegenwärtig ist wie ein Schweißausbruch,
-hatte Jürgen heiter gedacht.
-</p>
-
-<p>
-„Das arme Kind muß doch ... Diese Schande für
-die bisher so hochgeachtete ... gefunden werden ... alteingesessene
-Familie Kolbenreiher.“
-</p>
-
-<p>
-Und war, getroffen von diesem unverhofften Stoß,
-beinahe vom Stuhl gefallen.
-</p>
-
-<p>
-Nie in ihrem ganzen Dasein hatte die Tante, die nach
-der Beichte völlig unerwarteterweise wieder gesund
-geworden war, etwas so tief und schmerzlich bereut wie
-diese Beichte. Nicht einmal das Jugenderlebnis selbst.
-Nie in seinem Leben war Jürgen vor einem Menschen
-gestanden, der so bis in die tiefsten Tiefen erschüttert,
-<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
-so fassungslos gelacht hätte wie Elisabeth. Und nie
-in seinem Leben hätte Jürgen es für möglich gehalten,
-dieses Gefühl der Rührung und Sympathie für die
-Tante empfinden zu können.
-</p>
-
-<p>
-Auch sie wollte leben. Und wurde nur ein einziges
-Mal vom Leben gestreift, dachte er auch jetzt, wie er
-die Tante ansah, die einer uralten, zähen, endlich zerfallenden
-Eichbaumwurzel glich. ‚Wie hat sie mich
-gepeinigt! Wie ganz und gar ist das Geschöpf, ist der
-Mensch, der sich damals von dem Geliebten umfangen
-ließ, versunken und ertrunken. Welch Dasein!‘
-</p>
-
-<p>
-Seit dem Schlage, den sie selbst der Familienehre
-zugefügt hatte, war die Kraft der Tante gebrochen gewesen.
-Ihre zwölf Fragezeichen waren weiß geworden.
-„Bald erbst du alles“, sagte sie, flackernden Blickes,
-richtete den gelben Totenschädel auf.
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen dachte: Wenn nicht das Kind eines
-Tages doch noch erscheint und sagt: Da bin ich. Der
-Erbe bin ich.
-</p>
-
-<p>
-Er stieg in den Lift, der eingebaut, fuhr in den
-zweiten Stock hinauf, der aufgesetzt worden war, und
-dachte dabei an sein Kind.
-</p>
-
-<p>
-Immer, wenn er an den Sohn der Tante erinnert
-wurde – und dies geschah häufig, denn Elisabeth brach
-auch jetzt noch oft in Lachen unvermittelt aus –,
-dachte er an den Sohn Katharinas, der Geld zu schicken
-er nicht wagte.
-</p>
-
-<p>
-‚Zu dem Sohn der Tante, der wahrscheinlich gar
-nicht mehr lebt, und, lebte er noch, nicht die leiseste
-Ahnung hätte, wessen Sohn er ist, eine Verbindung
-herzustellen, wäre leichter als zu meinem Sohne, der
-eine Gehstunde von hier entfernt im Waschkorb liegt ...
-Oder kann er schon laufen? ... Sie lebt ja tatsächlich
-<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
-auf einem anderen Planeten.‘ „Merkwürdiges Mädchen“,
-murmelte Jürgen und trat, da er Elisabeths
-helle Stimme vernahm, in den Salon, dessen Tapete
-farbig schmetterte.
-</p>
-
-<p>
-Zwischen ornamental geschwungenen, riesigen
-Schwertlilien und Wasserrosen – blau, rot, violett –
-und giftgrünem Schilf auf Goldgrund, der den See darstellte,
-versuchte alle Quadratmeter der selbe Faun die
-selbe Nymphe zu fangen und konnte sie nie erwischen.
-Dreiunddreißig Nymphen hatte Jürgen gezählt.
-</p>
-
-<p>
-Der Salon erinnerte ihn an den der Frau Knopffabrikant
-Sinsheimer, wo ihn die Furcht vor der Leiche des
-Vaters angesprungen hatte. Denn außer den reichgeschnitzten
-schwarzen, unverrückbar schweren Eichenholzmöbeln
-– zum Platzen dicke schwarzgebeizte
-Putten schleppten, himmlisch lachend, ohne jede
-Anstrengung riesige Füllhörner von links nach rechts,
-oben um die Prachtstücke herum, und die in der Mitte
-obenauf sitzenden Putten spielten dazu die Flöte –
-standen und lagen auch hier viele singende, musizierende,
-miauende, tanzende Hochzeitsgeschenke und
-Gebrauchsgegenstände, die nicht benutzbar waren,
-darunter ein Riesenkäfig, in dem ein ausgestopfter
-Papagei saß, der alles hatte, was er zum Leben
-brauchte: Wassernapf, Futternapf, gefüllt mit Wicken
-aus Holz, und – beladen mit nagelneuen Birnen,
-Trauben, Äpfeln und Pfirsichen aus farbigem Tuch –
-die zwei silbernen Tafelaufsätze in Eiffelturmform, von
-Frau Sinsheimer als Hochzeitsgeschenk geschickt, genau
-so gut erhalten, wie sie sich bei ihrem eigenen
-Hochzeitstag eingestellt hatten. Zwei große künstliche
-Palmen, auf Ständern mit gelben Storchenbeinen,
-verdunkelten das Fenster.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
-„Ich wiederhole: Einem geschenkten Gaul schaut
-man nicht ins Maul“, erklärte gekränkt Frau Wagner,
-die, während die Neuvermählten auf der Hochzeitsreise
-gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen
-Verbreitung des Klatsches sterbenskrank geworden,
-im Bett gelegen war, ganz allein das Einrichten
-der Wohnung besorgt hatte.
-</p>
-
-<p>
-„In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine
-große Anzahl Fabelwesen, aber keinen Gaul“, versicherte
-launisch Elisabeth und sah umher: Vom nie
-benutzten Kohlenkasten, schwarz lackiert, auf dem
-die heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten gemalt
-war, bis zu dem zwei Meter hohen seidenen Wandschirm,
-auf dem ein gestickter, lebensgroßer Storch
-das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen aus
-dem Teiche zog, schwang der Elefant den Rüssel
-feierlich-langsam hin und her. Das Ziffernblatt in
-seiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau
-Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch
-gewesen war, telegraphisch in der Fabrik bestellt.
-</p>
-
-<p>
-Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon. Und
-das Bewußtsein, das hinter Jürgen herschritt, in
-gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in
-der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher
-zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag.
-</p>
-
-<p>
-Katharina befand sich in weiter Ferne, aber überaus
-deutlich sichtbar; nicht so verblaßt wie damals,
-als Jürgen gesundend im Liegestuhl gelegen hatte.
-„Das wechselt.“
-</p>
-
-<p>
-„Was wechselt?“ fragte Elisabeth.
-</p>
-
-<p>
-„Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst,
-dann wieder heiter. Ein andermal, ich möchte sagen:
-in gespaltener Stimmung.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
-„Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre
-dies anders.“
-</p>
-
-<p>
-Frau Wagner durchblätterte noch das in gepreßtes
-Schweinsleder gebundene und mit einem winzigen
-goldenen Hängeschlößchen versehene Album, das die
-repräsentablen Ahnen der Familie Wagner enthielt.
-Herren ließen den Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid
-bewundern. Die Photographieaugen blickten.
-Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht
-im Leben, die Faust auf der Kante des zerbrechlich
-zarten Tischchens. Damen, die Frisuren schulterwärts
-geneigt, Augen halb geschlossen, zeigten, daß sie ohne
-Ideale nicht leben konnten. Kinder standen noch im
-Kampf mit der Natürlichkeit.
-</p>
-
-<p>
-Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte
-Gesicht eines degenüberquerten Studenten in Wichs
-kam auf das Gesicht einer alten Frau im Totenbett
-zu liegen. ‚So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt
-sind sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.‘ Frau
-Wagner sah umher, den Kopf aufgestützt.
-</p>
-
-<p>
-Eine halbe Stunde später, als Jürgen vorbeiging,
-sah er Frau Wagner noch immer sitzen im Salon,
-den Kopf gestützt wie vorher, reglos und traurig.
-Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben.
-</p>
-
-<p>
-‚Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein.
-Wir werden uns eben an die tausend Zentner schwere
-Einrichtung und an die Menagerie gewöhnen müssen;
-haben uns ja schon daran gewöhnt. Das ist ja auch
-unwichtig. Das Leben stellt andere Aufgaben.‘
-</p>
-
-<p>
-Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie
-nicht. Fand nichts, das wert gewesen wäre, sich dafür
-einzusetzen. Auch heute hatte die tote Einsamkeit,
-die um und in ihm stand und das ganze Haus
-<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
-durchdrang, ihn eine Stunde früher als nötig fortgetrieben.
-</p>
-
-<p>
-Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend
-blickte sie in die Richtung der Mutter Gottes; die
-gelben, dünnknochigen Finger hielten die geöffnete
-Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere
-aufhob.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen liebte es, in die Schreinerwerkstatt neben
-der Haltestelle einzutreten und, plaudernd mit dem
-alten Meister, den Gesellen bei der Arbeit zuzusehen,
-bis der Trambahnwagen kam. Eine Schreinerwerkstätte,
-die Hobelspäne, der Holz- und Leimgeruch
-waren für Jürgen der riechbare und sichtbare Ausdruck
-eines einfachen, lebenswarmen Daseins, wie
-er es, seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht
-hätte.
-</p>
-
-<p>
-„Ihre Mutter war noch gar nicht auf der Welt und
-von Ihnen selbst, mein Gott, keine Spur, damals, als
-mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern gemacht
-hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante
-war so ein huschiges Springerchen von zehn Jahren.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie war denn meine Tante als Kind?“ fragte
-Jürgen, plötzlich wieder von Sympathie ergriffen.
-</p>
-
-<p>
-„Da, sehen Sie ihn an: der Sägbock war ihr Reitpferd.
-Auf dem selbigen Sägbock ist sie geritten jeden
-Tag. Und so manches Mal war sie einfach verschwunden.
-Nicht zu finden! Da haben wir sie gar oft aus
-den Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinvergraben,
-ganz und gar zugedeckt und ist dann plötzlich
-wie ein kleiner Teufel rausgefahren. Wollt nie nachhaus.
-Hat gestrampft und geheult ... Wild war sie.
-Ein Wildes Kind! Schwer zu erziehen.“
-</p>
-
-<p>
-„Was Sie sagen!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
-„Das Leben hat nachher das seine getan ... Da
-kommt Ihr Wagen.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen zeigte die Abonnementkarte dem Schaffner,
-der lächelnd abwinkte: „Gilt schon! Wir kennen ja
-einander.“
-</p>
-
-<p>
-‚Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt
-nicht für möglich gehalten.‘
-</p>
-
-<p>
-„Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte
-nicht mehr zu zeigen. Jetzt fahren Sie seit zwei
-Jahren täglich viermal.“
-</p>
-
-<p>
-‚Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind
-so werden kann, wie die Tante geworden ist, vom
-Leben so ruiniert werden konnte, da kann man von
-Verantwortung des einzelnen ja überhaupt nicht mehr
-reden. Die Verhältnisse sind schuld. Sicher auch bei
-Katharinas schöner Jugendfreundin mit dem leidensfähigen,
-milden Herzen, daß sie so lala eine Gesellschaftsdame
-und die Frau des Oberstaatsanwaltes wurde ...
-Oder doch nicht die Verhältnisse? ... Wer könnte
-entscheiden, ob ein Mensch die Kraft gehabt hätte,
-weiter zu kämpfen und zu leiden, oder ob stärker als
-seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden
-Begierden waren? Es gehört heutzutage schon sehr
-viel Kraft dazu, sich selbst im Leben vorwärts zu
-bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der Allgemeinheit
-auf sich zu nehmen und vorwärts zu bringen! ...
-Man setze erst sich selbst durch und stelle dann sich
-und seinen Einfluß und seine Macht in den Dienst der
-Allgemeinheit.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Und was wird unterdessen, während du dich durchsetzt,
-so lala mit dir, mit dem Bankier Kolbenreiher,
-geschehen?‘ fragte mit schon kaum mehr vernehmbarer
-Stimme das weit zurückgedrückte Bewußtsein. Und
-<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
-stieß plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber,
-von Jürgen nur dunkel vernommen und empfunden,
-nicht gleich vordrang bis an den Bezirk des neuen
-Bewußtseins, das in diesen Jahren immer häufiger
-Sieger geblieben war.
-</p>
-
-<p>
-Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten
-Tiefe seines Wesens, stieg empor als Hinweis auf eine
-unentrinnbare Todesgefahr, und Jürgen wurde sekundenlang
-innerlich gelähmt, so ganz und gar wie in
-der vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im
-Albtraum ihn gelähmt und unwiderstehlich gezwungen
-hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch lebend, er
-selber gelegen war.
-</p>
-
-<p>
-„Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke?“
-</p>
-
-<p>
-Und während der Schaffner sinnend „Zehn, nein,
-schon elf Jahre!“ sagte, wiederholte in verzweifeltem
-Ansturme das zurückgedrückte Bewußtsein zum dritten
-Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte
-im Rückenmark, wie damals in der Hafenstadt.
-</p>
-
-<p>
-„Bastgeflecht ist sehr praktisch, hält lange, was?“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, das gibt aus.“ Auch der Schaffner prüfte mit
-seiner starken Hand anerkennend das Bastgeflecht
-der Sitzlehne und schritt dabei hinaus auf die hintere
-Plattform, legte den Zeigefinger an die Mütze, und
-das junge Bureaumädchen schob ihre Abonnementkarte
-wieder in das Handtäschchen, sah ernsten
-Blickes ihr Leben an. Die Alleebäume flogen nach
-rückwärts.
-</p>
-
-<p>
-Das sind nur die Nerven, dachte Jürgen, mit bezug
-auf die Drohung ... Zwei Jahre! Muß endlich auf
-ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen. Eine
-Reise! Das habe ich mir verdient ... Diese warmen
-wunderbaren Herbsttage! Das wird schön sein.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
-Als die Allee endete, die Straßen enger, der Wagenverkehr
-und der Lärm stärker, die Luft schlechter
-geworden waren, setzte das Bureaumädchen sich in
-den Wagen, dankte mit ernstem Nicken für den Gruß
-ihres Chefs und begann in einem Buche zu lesen. Sie
-war die Tochter eines in der Papierfabrik des Herrn
-Hommes beschäftigten Hilfsarbeiters und seit ihrem
-sechzehnten Jahre in der Buchhaltung des Bankhauses
-Wagner und Kolbenreiher angestellt.
-</p>
-
-<p>
-Am Vormittag hatte er persönlich die Jahresabrechnung
-über das Vermögen der Tante in der
-Buchhaltung geholt und dabei das Mädchen zum
-erstenmal gesehen. ‚Jetzt sitzt sie genau so in sich
-verschlossen da und liest, wie die fünfzehnjährige
-Katharina im öffentlichen Parke gesessen hatte.
-Der selbe stillbewußte, ernste Blick, wie Katharina
-ihn heute noch hat. Nur jünger ist sie. Selbstverständlich
-viel jünger! Äußerlich überhaupt ganz anders.
-Die Gestalt ist etwas voller. Aber dieser Blick! ...
-Neue Jugend wächst heran und nimmt den Kampf
-auf‘, hatte er plötzlich gedacht.
-</p>
-
-<p>
-‚Hübsch ist sie. Sehr hübsch! ... Nur eine Geldfrage
-... Allerdings ein ernstes Geschöpf ... Gerade
-deshalb ungewöhnlich anziehend ... Ihrem Chef
-würde sie nicht widerstehen können.‘ Er entkleidete
-sie.
-</p>
-
-<p>
-Eine zwei Zentner schwere, weißhaarige Frau mit
-gewaltigem Busen stieg ein, setzte sich Jürgen gegenüber.
-</p>
-
-<p>
-‚Der Hilfsarbeiter hat nichts als diese Tochter, die
-ihrem Chef gegenüber wehrlos ist.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Dafür – für die Verhältnisse – bin nicht ich verantwortlich
-... Das Leben brennt, ist wild und schön
-<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
-und da, gelebt zu werden.‘ Und er überlegte, wo und
-wie er seine hübsche junge Angestellte verführen
-könne. „Weshalb lachen Sie?“ fragte er freundlich
-die dicke Frau.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist jetzt einunddreißig Jahre her“, sagte die
-Alte und streckte lächelnd beide Hände vor. „Herr
-Kolbenreiher, ich war die erste, die Sie in den Händen
-gehabt hat. So groß waren Sie.“
-</p>
-
-<p>
-Alle Fahrgäste lächelten über die alte Hebamme.
-Das Mädchen wandte ein Blatt um, sah auf und Jürgen
-an, lächelte auch.
-</p>
-
-<p>
-„Was tat ich denn? Wie war ich?“ ‚Es geht doch
-nicht. Das könnte einen öffentlichen Skandal geben.
-Und auch die Autorität ginge flöten.‘
-</p>
-
-<p>
-„Gebrüllt haben Sie. Gebrüllt, sag ich Ihnen, nicht
-anders, als ob Sie am Kreuz hingen. Sie wollten nicht.
-O, Sie wollten absolut nicht.“
-</p>
-
-<p>
-Auch der Schaffner grinste. „Endstation! ... Genossin,
-heut abend ist Bezirksversammlung. Erinnere
-auch deinen Vater“, sagte er zu dem Bureaumädchen.
-</p>
-
-<p>
-„Es ist aber doch ganz gut gegangen. Sind ein
-schöner, großer Herr geworden. Ein prachtvoller
-Herr!“
-</p>
-
-<p>
-Leider muß ich auf meine Stellung Rücksicht nehmen.
-Ich bin der Chef. Die Autorität muß gewahrt
-bleiben, dachte er, während er hinter dem Mädchen
-auf die Bank zuschritt. Der livrierte Portier riß die
-Tür auf.
-</p>
-
-<p>
-„Niemand kann alle seine Wünsche und Begierden
-erfüllen. Außerdem ist die Sache die“, sagte, blätternd
-im Telephonbuch, Jürgen und bat um die Nummer
-Adolf Sinsheimers, „daß ich das selbe ungefährlicher
-<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
-haben kann und sogar ganz bedeutend reizvoller, falls
-dieses Mädchen in dem orientalischen Salon tatsächlich
-Katharina ähnlich sieht.“
-</p>
-
-<p>
-Heute abend könne er nicht zum Essen nachhause
-kommen, teilte er telephonisch Elisabeth mit, die
-daraufhin ihrem gegenwärtigen Geliebten, einem Maler,
-sofort telephonisch mitteilte, daß sie heute abend wieder
-auf eine Stunde zu ihm ins Atelier kommen werde.
-</p>
-
-<p>
-Wie damals vor der Animierkneipe, standen die vier
-Schulkameraden schon wartend vor dem Portal, das
-auf den Nacken zweier marmorierter Gipsherkulesse
-ruhte. Adolf hob den Spazierstock wie eine Kerze.
-„Ich habe uns schon angemeldet ... Noch die selbe
-Wirtin, eine alte Hure! Du erinnerst dich, Jürgen,
-wir sind damals vom Korsorestaurant aus hingegangen.
-Aber andere Damen! In jedem Zimmer zwei Waschschüsseln!
-Dabei doch dezente Aufmachung! Schon
-wie in Berlin!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen erkannte das von Säulen getragene, mit Gipsmarmorplatten
-ausgeschlagene Stiegenhaus wieder.
-Eine flackernde Kerze, eine hohe Frisur, zwei schwarze
-Riesenaugen und ein violetter Schlafrock kamen
-lautlos die Treppe herunter. Die geschminkte Wirtin
-legte sofort den Zeigefinger an den Mund, stieg voran.
-</p>
-
-<p>
-„Hols der Teufel, diese Leisetreterei! Warum
-knipsen wir denn die Nachtbeleuchtung nicht an!“ rief
-in dem Poltertone seines alten Batteriechefs, der ihm
-Vorbild war, der Artillerieoffizier.
-</p>
-
-<p>
-Die Wirtin legte den Zeigefinger an den Mund. Der
-Referendar versteckte seine Brieftasche in der Geheimtasche
-des Westenfutters und lächelte.
-</p>
-
-<p>
-„Weil eben ein Menschengesicht zu lächeln vermag“,
-sagte Jürgen vor sich hin und gedachte mit Erinnerungszärtlichkeit
-<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
-des Jürgen, der damals, um über seine
-knabenhafte Unsicherheit wegzutäuschen, die Mädchen
-wie ein erfahrener Lebemann begrüßt hatte. Heute
-trat er so gelassen in den orientalischen Salon, wie er
-als Chef in das Direktionsbureau der Bank trat.
-</p>
-
-<p>
-Alles spielte sich nahe den Teppichen ab. Niedrige
-Tischchen. Die Mädchen saßen und lagen auf Ottomanen
-und auf Polstern am Boden.
-</p>
-
-<p>
-„Na, ihr Racker! Brust heraus!“ rief der Artillerieoffizier
-in dem Tone seines Batteriechefs und schnallte
-gewichtig den Säbel ab, mit den Gebärden eines
-Mannes, der nur mit Pferden und Rekruten zu tun
-haben will.
-</p>
-
-<p>
-„Sagen Sie mal, wie gehts denn! Sind ja ne richtiggehende
-Schönheit.“ Adolf hatte sich, seitdem er
-Alleininhaber des Knopfexporthauses war, angewöhnt,
-schnoddrig wie ein Berliner zu sprechen und sich ganz
-so zu benehmen wie seine Vorbilder: die Berliner
-Großexporteure, mit denen er in Geschäftsverbindung
-stand.
-</p>
-
-<p>
-Das auf der Ottomane liegende Mädchen streckte
-ihm die Patschhand hin. Auch sie – schwarzhaarig
-und bernsteingelb – sah orientalisch aus, kokettierte
-lässig mit ihrer weichen Hüfte, die sich aus dem orangefeurigen,
-geschlitzten Schlafrock langsam herauswölbte.
-</p>
-
-<p>
-„Sind ne süße Krabbe!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen schüttelte den Kopf: ‚Nicht Adolf Sinsheimer,
-sondern der Berliner Exporteur spricht.‘
-</p>
-
-<p>
-Der Artillerieoffizier stand, batteriecheffest, auf
-gespreizten Beinen, nahm die Mütze ab und wischte
-sich ächzend die Stirn, die ganz schweißfrei war und
-zweigeteilt: unten tiefbraun, wie das Gesicht, oben
-knabenweiß.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
-Sieht aus wie ein alter Kinderschänder, dachte Jürgen,
-als der livrierte Diener – stilles, glattes Fuchsgesicht
-– den Champagner brachte. Der Diener hatte
-zusammen mit der Wirtin die Pension gegründet und
-finanziert und bezog die Hälfte des Reingewinnes.
-</p>
-
-<p>
-Sie saßen in der gepolsterten Ecke. „Ich komme
-dir“, sagte, Schultern zurückgezogen, Kopf vorgestreckt,
-das Sektglas unter der Achselhöhle, der Referendar
-zu Adolf, dessen Orientalin, Hüfte hochgewölbt,
-zusammengerollt in der Ecke lag und mit den
-mächtigen, weichen Schenkeln lockte.
-</p>
-
-<p>
-„Ein Dutzend Flaschen Rotspon wäre mir lieber
-als dieses Weibergesüff.“ Der Batteriechef trank ex,
-hieb das zarte Glas auf die Tischplatte, hob mit
-rauhbeinig-väterlicher Gebärde die erst siebzehnjährige
-Blondine auf seinen Schoß und drückte das
-Köpfchen an seine breite Brust.
-</p>
-
-<p>
-Der Referendar wählte die Älteste und Schönste,
-ein vierundzwanzigjähriges kühles Wesen, das ein
-Bankkonto besaß und erst vor zehn Minuten zu einem
-Mann, der gerne noch eine Stunde geblieben wäre,
-gesagt hatte: „Ich muß tüchtig sein.“ Beide saßen
-zurückgelehnt, Arm in Arm.
-</p>
-
-<p>
-Der Referendar sprach von Staatsanwalt Karl
-Lenz. „... Und nächste Woche hat er einen Mordprozeß.
-Wenn es ihm gelingt, ein Todesurteil zu erzielen,
-ist seine Karriere gesichert. Dann gehts aufwärts.“
-Er zuckte nach vorne, Sektglas unter der
-Achselhöhle: „Ich komme dir.“
-</p>
-
-<p>
-‚Solch ein Staatsschafskopf zu werden wie der,
-hat auch mir geblüht.‘ Jürgen mußte lächeln über
-das Gebaren seiner Schulkameraden. ‚Nicht der
-Referendar A., sondern der Referendar überhaupt,
-<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
-nicht der Knopfexporteur S., sondern der Exporteur
-und der Artillerieoffizier überhaupt sitzen hier und
-haben Gefühle‘, dachte er. ‚Und später werden nicht
-einmal Referendar, Exporteur und der rauhe Artillerieoffizier
-überhaupt die Mädchen umarmen, sondern
-sie allein, die Lebenskraft, sie ganz allein wird die
-Umarmende sein.‘
-</p>
-
-<p>
-Die Flügeltür tat sich auf. Und Jürgen, der sich
-soigniert und dabei freimütig benommen hatte wie
-einer, der das Leben kennt und ihm seinen Lauf läßt,
-wich zurück.
-</p>
-
-<p>
-Herein schritt Katharina, reichte spitzig die Hand
-und setzte sich neben Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-Verblüfft betrachtete er den gebogenen Nacken,
-den kleinen, festen Mund. Fürchtete sofort, daß er,
-wenn sie zu sprechen begänne, diese vollkommene
-Illusion verlieren würde.
-</p>
-
-<p>
-„Hab ich zu viel versprochen?!“ rief Adolf Sinsheimer,
-dessen Hand auf der gewölbten Hüfte der
-Bernsteingelben lag. „Na, was hab ich gesagt!“
-</p>
-
-<p>
-Gedankenschnell, plötzlich, ganz plötzlich verwandelte
-sich seine Furcht in die atembeklemmende
-Furcht, sie könnte auch im Ton der Stimme Katharina
-sein. Dann müßte ich diese Schweine niederschlagen,
-dachte er erbebend, stellte sich in seinem
-Gefühle schützend vor Katharina. Und gleichzeitig
-brach in die Gefühlsleere und tote Einsamkeit der
-letzten Jahre die Sehnsucht ein mit solcher Gewalt,
-daß sein ganzer Körper sekundenlang von Lähmung
-befallen war.
-</p>
-
-<p>
-Die Augen waren nicht mehr in dem orientalischen
-Salon; sahen Katharinas Mädchengestalt.
-</p>
-
-<p>
-Sie steht unter dem Gasarm. Sie bewegt sich.
-<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
-Wendet ihm voll das Gesicht zu. Ihre Lippen bewegen
-sich. Auch Jürgens bebende Lippen bewegten sich.
-Es war, als hätte er in dieser Sekunde wieder das Unfaßbare
-des Daseins geschaut.
-</p>
-
-<p>
-Die Bernsteingelbe schnellte empor, wiederholte
-lachend und so laut, daß alle es hörten, was Adolf
-Sinsheimer von ihr verlangt habe für seine Sammlung.
-</p>
-
-<p>
-Nicht der bewußte Gedanke, daß er dann Teilhaberschaft,
-Stellung und Macht, alles, was er seither
-erreicht hatte, aufgeben müsse, führte Jürgens Hand;
-die Hand griff ganz selbsttätig zum Champagnerglas.
-Er leerte und füllte, leerte und glotzte, leerte.
-</p>
-
-<p>
-Auch die andern tranken viel und schnell. Hände
-griffen. Mädchen schrien. Wehrten sich und gaben
-sich.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen, total betrunken, empfand nichts mehr.
-Füllte. Leerte. Glotzte die Doppelgängerin an, deren
-Mund beständig in kaum bemerkbarer Ironie verzogen
-blieb. Sie trug die Haare kurz.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich schoß ein spitzes Etwas in ihm empor.
-Die beiden Wesen verdichteten sich in eines. Schwankend
-stand er auf.
-</p>
-
-<p>
-Die Paare verschwanden in die nur durch dünne
-Kunststeinwände voneinander getrennten Zimmer der
-Mädchen.
-</p>
-
-<p>
-„Katharina, Wunderbare!“ lallte, plötzlich tränennaß,
-der Betrunkene und griff nach der Doppelgängerin,
-in deren Gesicht die Ironie unverhohlenem
-Widerwillen gewichen war.
-</p>
-
-<p>
-Gleichgültigen Blickes ließ sie das Hemd fallen.
-</p>
-
-<p>
-„Deine Augen, ach, deine Augen!“
-</p>
-
-<p>
-Körper stürzte sich auf Körper. Vergewaltigtes Gefühl
-brach durch und brüllte: „Katharina!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
-Der Artillerieoffizier im Zimmer nebenan polterte
-auch jetzt: „Na, du kleiner Racker!“ Als ob nicht
-er und nicht sein Batteriechef, der ihm Vorbild war,
-sondern der schon seit Hunderten von Jahren verweste
-Urbatteriechef bei der siebzehnjährigen Blondine
-liege.
-</p>
-
-<p>
-Das Fuchsgesicht trat in den verlassenen orientalischen
-Salon, horchte unbewegten Antlitzes auf
-die Geräusche in den vier Zimmern, öffnete das
-Fenster und betrachtete die in weiter Ferne im Sternenhimmel
-hängenden großen, leuchtenden Glasquadrate
-der Malerateliers, die alle im selben Stadtviertel
-waren.
-</p>
-
-<p>
-Hinter einem dieser leuchtenden Quadrate lag,
-blond und schon entkleidet, Elisabeth auf dem breiten
-Renaissancebett ihres Geliebten, eines kleinen, geschmeidigen
-Südländers, blauschwarz behaart.
-</p>
-
-<p>
-Als das Fuchsgesicht die Mokkatassen in den Salon
-trug, stand der Referendar im Zimmer schon vor
-dem Spiegel und zog sich ihn wieder, genau in der
-Mitte, von der Stirn bis zum Nacken. Das Mädchen
-betrachtete ihre polierten Nägel, interesselos und eiskalt
-den Referendar. Und er, durch den Spiegel,
-interesselos und eiskalt sie.
-</p>
-
-<p>
-Eine halbe Stunde später schloß das Fuchsgesicht,
-Zeigefinger am Munde, leise die Haustür auf und ließ
-die Schulkameraden hinaus. Adolf griff an seine
-Krawatte, die tadellos gebunden war. Ohne eine
-Flasche Rotspon intus zu haben, lege er sich nicht
-in die Falle, sagte der Artillerieoffizier. Und Jürgen,
-wieder nüchtern, in soignierter Haltung, verbarg ein
-Lächeln über das Gehaben des Artilleristen.
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth lag im weißseidenen Schlafrock lesend auf
-<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
-der Ottomane, reichte ihm frei und liebenswürdig die
-Hand, offenen Blickes. Wo er denn herkomme. Sie
-war so einfach und frisch wie die große Birne, die, von
-Phinchen am Nachmittag im Garten gepflückt, in Reichweite
-auf dem Tische lag. Das spitzige Messer lag
-daneben.
-</p>
-
-<p>
-Diese reine Atmosphäre in meinem Hause, dachte
-Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-„Ich war auch weg heute abend. Eine Stunde bei
-den Eltern“, sagte Elisabeth frei und ungezwungen,
-so ganz erfüllt von sich und ihrem Selbstrecht auf Genuß,
-daß auch diese Lüge wie die reine Wahrheit ihr
-von den Lippen ging. Prüfte dabei mit den Fingern
-ihre Brustspitzen, die noch rosig waren. Und fragte
-wieder: „Weshalb bekomme ich kein Kind?“ Sie
-wünschte, viele Kinder zu bekommen. „Und jetzt
-habe ich gebadet.“
-</p>
-
-<p>
-„Gut unterhalten? Wie wars bei den Eltern?“,
-‚Das übrigens soll mir nicht wieder passieren, daß
-ich zusammen mit solchen an Fäden gezogenen Hampelmännern
-so wohin gehe ... Alle Menschen werden
-an Fäden gezogen. Wer oder was ist es, das im
-Mittelpunkt des Lebens hockt und die Fäden zieht?‘
-„Nun?“
-</p>
-
-<p>
-„Immer das selbe! Der Vater sprach von Geld und
-von der Börse, von Geld, von der Börse ... Weißt
-du, es ist keine Luft mehr dort in der großen Wohnung.
-Er kann nichts greifen. Alle Gegenstände weichen
-zurück. Er langweilt sich fürchterlich, seitdem
-er sich vom Geschäft zurückgezogen hat. Sein Leben
-hat keinen Inhalt mehr.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie wir das letztemal zusammen dort waren, äußerte
-er doch, er möchte ein kleines Gut kaufen und es selbst
-<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
-bewirtschaften. ‚Natur, Natur, Gras, Rüben‘, sagte er.
-Weshalb tut er das nicht?“
-</p>
-
-<p>
-„Papa würde auf dem Lande in acht Tagen vor
-Langeweile schwermütig werden. Und auch so wird
-er schwermütig. Für Bücher, Kunst, Musik, was
-unsereinem oft über leere Stunden hinweghilft, interessiert
-er sich nicht; davon trennt ihn sein ganzes
-Leben, das er auf der Börse zugebracht hat. Für
-Frauen ist er zu alt. Bleiben noch die Mahlzeiten.
-Aber er darf nur das wenigste essen. Bleibt die Langeweile.
-Ich sage dir, bald wird er wieder ins Geschäft
-kommen. Er hälts nicht aus.“
-</p>
-
-<p>
-„Altgewordene amerikanische Kapitalisten, die sich
-in dieser Lage befinden, verstehen es, sich einen
-Lebensinhalt zu verschaffen: Sie werden moralisch.
-Was sie jedoch nicht hindert, ihr Vermögen auch
-weiterhin sehr geschickt und ertragreich zu verwalten!“
-sagte ironisch lächelnd Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-Mit einem elastischen Ruck setzte Elisabeth sich
-aufrecht. „Vor ein paar Jahren war ich mit den
-Eltern in einem Sanatorium. Da war ein großer
-Arbeitshof. Die alten Herren Exporteure, Bankiers
-und Geheimräte, in Badekostüm, scheußlich fett oder
-abschreckend mager und behaart, solche Hängebäuche!
-mußten Holz sägen, Sand in Schubkarren
-schaufeln. Sie karrten ihn über den Hof in die andere
-Ecke, leerten ihn aus, schaufelten den selben Sand
-wieder ein, schafften ihn zurück. Aus, ein, hin, her!
-Immer den selben Sand! ... Schrecklich! Bei dieser
-Arbeit würde ich verrückt werden.“
-</p>
-
-<p>
-„In China wurden Schwerverbrecher damit bestraft,
-daß sie derartige sinnlose Arbeiten verrichten mußten ...
-Viele, scheinbar ganz normal gewesene Bürger werden
-<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
-ja auch verrückt. Schwermütig und so! Wissen nichts
-mit sich anzufangen, treiben sich in Sanatorien und
-Nervenheilanstalten herum oder kehren, wie du sagst,
-ins Geschäft zurück und treten weiter die Geldmühle,
-bis sie an Arterienverkalkung sterben. Diese alten Verdiener!
-... Das soll uns nicht passieren, wie?“
-</p>
-
-<p>
-Er ließ sich vor der Ottomane auf ein Knie nieder.
-„Glaubst du“, fragte er, Blick in ihrem Blicke,
-langsam und lächelnd, „daß ich jetzt noch baden
-kann?“
-</p>
-
-<p>
-Im Schlafzimmer hing über dem Doppelbett eine
-rote Ampel, auf der ein gläserner Amor kniete. Den
-Bogen hielt er noch in den Händchen. Den Glaspfeil
-– Richtung Liebespaar –, der bei brennender roter
-Ampel blauleuchtend geworden war, hatte Jürgen
-schon vor Jahren, gleich nach der Rückkehr von der
-Hochzeitsreise, in der ersten Nacht abgebrochen. Es
-gäbe Grenzen.
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth lag schon im Bett, Hände unterm Kopf,
-als Jürgen aus dem Bade kam. Lächelnd so im Spiel
-des Lebens drehte sie die helleuchtende Nachttischlampe
-ab, lächelnd er die andere. Die Ampel glühte
-rot auf.
-</p>
-
-<p>
-Was ist ein Jahr, wenn jeder Tag dem andern gleicht
-und das Leben ohne Härten ist ... Ein Tag nur!
-Ein unbewußter Atemzug! dachte Jürgen nach einem
-Jahre, das, ausgefüllt mit Arbeit im Bureau, mit
-Theaterbesuchen, Bilderkäufen, Mahlzeiten, roter Ampel,
-Bureau, im Fluge vergangen war. Die Zeit stand,
-so schnell verging sie. Das Vermögen wuchs. Jürgens
-Ansehen stieg.
-</p>
-
-<p>
-„Du sitzt im Lehnstuhl oder liegst im Bett, und über
-Nacht bist du um soundso viel reicher geworden“,
-<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
-sagte Jürgen scherzend zur Tante, die antwortete:
-„Du erbst alles.“
-</p>
-
-<p>
-Herr Wagner erschien wieder jeden Tag pünktlich
-im Bureau. Grund zum Klagen gab ihm sein Teilhaber
-schon lange nicht mehr. „Unser Schwieger ist
-ein braver, tüchtiger Mensch. Die Interessen des
-Hauses und der Kunden gehen ihm über alles“, konnte
-er oft zu seiner Frau sagen, die immer wieder erwähnte:
-„Aber, daß sie mit der Wohnungseinrichtung
-nicht zufrieden sind, das ist ... also das versteh ich
-nicht. Nun, wenn er nur wenigstens im Geschäft tüchtig
-ist.“
-</p>
-
-<p>
-Und dies hatte sich wie von selbst gemacht. Allmählich
-und unversehens war das Leben zum Gleis
-geworden, auf dem Jürgen durch die Jahre rollte.
-</p>
-
-<p>
-Er war bekannt als großzügiger Philantrop und
-Mäcen, hatte mit unfehlbarem Stilverstande schon
-eine ganze Anzahl Antiquitäten und Bilder gesammelt
-und sie einstweilen in einem unbewohnten Raum der
-Villa verwahrt, denn er wollte das alte Palais, das
-auf dem stillen, größten Platze der Stadt stand, erwerben
-und nach seinem Geschmacke einrichten.
-</p>
-
-<p>
-„Einer sammelt, sein leeres Dasein auszufüllen,
-Pfennige, die älter sind, als er selbst, oder kostbare
-Werke alter oder hervorragende neuer Kunst, oder
-macht Bastelarbeiten, die im Laufe von Jahren ein
-faustgroßes Schweizerhäuschen mit Alm, Sennerinnen,
-Kühen und fensterlnden Burschen werden“, sagte er
-zu einem befreundeten Fabrikanten, der eine Riesenvilla
-voll alter, gotischer Holzplastiken besaß.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, mein Lieber, etwas muß der Mensch doch
-haben. Außerdem: ich kaufe billig“, rief der Fabrikant.
-„Dann machts Freude. Wer nicht aufs Geld
-<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
-sieht, der natürlich bekommt heutzutage eine tadellose
-Sammlung, ganz gleich welcher Art, auch fix
-und fertig ins Haus geliefert.“
-</p>
-
-<p>
-„Einer macht Buddhas Wort ‚Geh an der Welt
-vorüber, es ist nichts‘, zu seiner Weltanschauung, und
-bleibt in seiner Prachtwohnung mit Bad, Warmwasser,
-Dampfheizung und allem Komfort. Ein anderer gibt,
-vielleicht gar um das Stimmchen zu beruhigen,
-Summen für Wohltätigkeitszwecke oder unterstützt
-begabte junge Künstler. Ich tue beides und sammle
-obendrein“, schloß er in Selbstironie.
-</p>
-
-<p>
-Und wenige Monate später sagte er zu dem
-selben Fabrikanten: „Die Lebensauffassung des Bürgers
-ist folgende: Jeder tue seine Pflicht. Dadurch arbeitet
-jeder für jeden. Das greift ineinander. So entstehen
-Reichtum und Kultur des Landes, numerierte Häuser,
-in denen die Menschen leben, Küchen, Geschirr,
-Schränke voll Wäsche, asphaltierte Straßen, Schulen,
-Ruhe und Ordnung. Weil jeder seine Pflicht tut. Und
-Obdachlosenheime, Polizei, Gerichtshöfe und Zuchthäuser
-sind da für diejenigen, die ihre Pflicht nicht
-tun ... Schön. Mag sein, daß er recht hat. Unsereiner
-aber unterscheidet sich von denen, die geradezu
-platzen vor Selbstgerechtigkeit. Denn Wissen und
-Geist und Besitz verpflichten zu mehr.“
-</p>
-
-<p>
-Und er legte die Hand auf die Krokodilledermappe,
-in der die Notizen zu seinem geplanten Werke ‚Volkswirtschaft
-und Einzelseele‘ lagen. Nach dem Essen
-las er die Abendzeitung.
-</p>
-
-<p>
-Seine Tage rückten auch weiterhin, gesichert und
-getragen von Gewohnheit und Achtung, ohne schmerzliche
-Ereignisse durch ihn durch und hinter ihn, wie
-eine verkehrsreiche Straße vorbeirollt und zurückbleibt.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
-Nur noch in den Träumen stand manchmal das vergewaltigte
-Ich auf, schrie seine grauenvolle Drohung,
-die nicht mehr bis in das neue Bewußtsein vordringen
-konnte. Die Entfernung war schon zu groß, und
-zwischen dem drohenden Ich und dem inneren Ohre
-Jürgens stand das Erleben vieler Jahre, das, zusammen
-mit der Millionenfältigkeit des unausgesetzten Strebens
-nach Erfolg, Genuß und Achtung, das neue Bewußtsein
-gebildet hatte. Ein fugenloser Schutzwall.
-</p>
-
-<p>
-Das Ich drohte. Der Träumende stöhnte. Sah die
-graue Straße, auf der die Millionen dem Fabriktore
-der Welt zuschritten, grau und gespenstisch-lautlos.
-Sah den Gaskocher, neben dem Katharina steht,
-kaum bemerkbare Ironie im Blick. Und fleht sie an:
-„Laß deine Haare wieder wachsen. Was ist dir denn
-geschehen, sag, mir, was ist dir geschehen.“
-</p>
-
-<p>
-Elisabeth blickte kopfschüttelnd das wildverzerrte
-Gesicht an, hinter dem das vergewaltigte Ich erfolglos
-um sein Dasein rang und Tränen durch die geschlossenen
-Lider schickte, weckte den Stöhnenden,
-der nicht mehr wußte, was er geträumt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Erleichtert aufatmend, lächelte er das Leben an, das
-neben ihm lag. Im Garten schrien die Vögel. Auch die
-tausend Tapetenvögelchen des sonnigen Schlafzimmers
-zwitscherten.
-</p>
-
-<p>
-„Was bist du für ein Mensch, du lächelst mit Tränen
-in den Augen.“
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen, wie er ihren duftenden Kopf sanft zu
-sich zog: „So ist das Leben: zum Lachen und zum
-Weinen in einem.“ Der Druck war ganz gewichen.
-</p>
-
-<p>
-Nach dem Frühstück und dem Bade ging er in
-den Garten, sog genießend die warme, aromatische
-Luft ein, betrachtete über den Zaun weg des Nachbars
-<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
-frisch gegossene Salatbeete, die funkelnd unter
-der Sonne lagen, blieb vor jedem Rosenstämmchen
-stehen, freute sich über die kopfgroßen, farbigen
-Glaskugeln, die, von der Sonne getroffen, sein Gesicht
-daumengroß widerspiegelten, und bekam Lust, an
-der Wasserleitung weiterzuarbeiten, die anzulegen er
-vor einiger Zeit begonnen hatte, um seinen Garten
-mit einer Wasserkunst zu schmücken. Der Arzt hatte
-Jürgen körperliche Arbeit anempfohlen.
-</p>
-
-<p>
-Das Graben und Schaufeln tat ihm wohl. Die zwölf
-auf Stangen steckenden Glaskugeln bildeten einen
-Kreis, in dessen Mitte die Wasserkunst steigen sollte.
-Die Brunnenfigur, ein lebensgroßer Jüngling in Bronze,
-erworben von einem jungen, unterstützungsbedürftigen
-Bildhauer, kniete schon, Kopf geneigt, Hände im
-Rücken, als wäre er gefesselt, unter dem Schneeballenbusch.
-</p>
-
-<p>
-Im Garten nebenan sang der Nachbar die Nationalhymne.
-Elisabeth, in leichtem Sommerkleide, sah
-vom Liegestuhl aus ihrem gesunden, starken Manne zu.
-Phinchen servierte Butterbrote auf dem Tisch unter
-dem Nußbaum, unter dem die Tante häkelnd gesessen
-hatte. Sie lag im Bett und konnte nicht sterben.
-</p>
-
-<p>
-Hemdärmel bis zu den Schultern aufgekrempelt,
-die Zigarre im Munde, betrachtete Jürgen zufrieden
-seine Arbeit. „Nächstes Jahr werden auch wir ein
-Stück Nutzgarten anlegen: Gemüse- und Salatbeete,
-etwas Beerenobst. Körperliche Arbeit erhält gesund.
-Man muß vorbeugen, weißt du.“
-</p>
-
-<p>
-Vögel huschten von Busch zu Busch. Die Amsel
-schnappte einen Wurm aus der frisch aufgeworfenen
-Erde, überquerte, nah dem Boden, den ganzen Garten
-und verschwand unter dem Schneeballenbusch.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
-Das Zwölfuhrläuten zahlreicher Kirchenglocken vereinigte
-sich über der Stadt, strahlte auseinander, hinaus
-zu den Gärten. Jürgen legte – wie im Bureau den
-Federhalter – pünktlich den Spaten aus der Hand.
-Nach dem Mittagessen schlief er. Die Zeitung war
-seiner Hand entfallen.
-</p>
-
-<p>
-Saß dann am Schreibtisch vor der geöffneten Krokodilledermappe.
-Rechts stand eine Miniatur-Schillerbüste,
-geschmückt mit einem winzigen Lorbeerkranz,
-links der Tintenwischer – ein farbiges Tuchhähnchen
-mit Glasaugen – und in der Mitte das Tintenfaß: ein
-sich hochaufbäumender Bronzehirsch, auf dessen Geweih
-sieben Federhalter lagen. „Nun aber an die Arbeit!“
-rief er und rieb die Hände.
-</p>
-
-<p>
-In der Ferne ertönte eine Kindertrompete. Vorsichtig
-nahm er den eheringgroßen Lorbeerkranz vom
-Haupte Schillers herunter, betrachtete ihn genau,
-schob ihn auf seinen Finger, streckte sich, daß der
-Körper knackte und der Mund ein eigroßes Loch
-wurde, ergriff wieder den Federhalter und sah hinaus,
-wo der Sonntagnachmittag stand, der, zerteilt in
-Billionen Teilchen, durch das Fenster und durch alle
-Ritzen und Wände hereindrang.
-</p>
-
-<p>
-„Sogar die Sonne scheint anders als an Werktagen,
-und alle Geräusche haben einen anderen Klang. Einen
-ekelhaften Klang! Unerträglich! Man ist wehrlos ...
-Da stehe ich also sozusagen auf der Höhe des Lebens,
-habe keine Sorgen, keine Schmerzen, und weiß nichts
-anzufangen mit dieser Höhe ... Sogar die Spatzen
-zwitschern Sonntags anders als in der Woche“, sagte,
-dunklen Druck in der Brust, Jürgen und öffnete ein
-Buch, legte es wieder weg, ergriff den Federhalter.
-Plötzlich glaubte er, deutlich gesehen zu haben, daß
-<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
-das Tintenfaß höhnisch gelächelt hatte. „Unsinn!“
-rief er zornig sich selbst zu.
-</p>
-
-<p>
-Der Wunsch nach dem Montag, nach der gewohnten
-Bureauarbeit und dem gewohnten Aufenthalt in der
-Börse huschte durch ihn durch. Jürgen hätte nicht
-sagen können, weshalb und wann er an das Fenster
-getreten war. Die Fichtengruppe im Garten stand
-reglos. Ein hängender Ast störte die Symmetrie.
-‚Auch morgen wird dieser Ast genau so wegstehen
-und übermorgen auch und auch noch in zehn Jahren.
-Dieser stupide Sonntag bringt einen um jeden Gedanken.
-Ah! und diese mörderische Zimmereinrichtung!‘
-</p>
-
-<p>
-Der Himmel war gleichmäßig blau und sah aus, als
-ob er nie mehr nachtdunkel werden würde. In fernen
-Geräuschen schwammen die Töne der Kindertrompete.
-Im Garten sang der Nachbar. Jürgen hob die linke
-Schulter, hob die rechte Schulter, das linke Bein, das
-rechte. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten
-Tanz. Die Glaskugeln standen reglos.
-</p>
-
-<p>
-Der hin- und herschwingende Elefantenrüssel im
-Salon zog weiße Fäden und blieb schief hängen. Jürgen
-sah deutlich den schiefhängenden Perpendikel.
-Gähnend und die Hände über dem Kopfe erhoben,
-wie ein Gefangener, der unter entsichertem Revolver
-abgeführt wird, ging er in den Salon, sah blöd auf den
-funktionierenden Perpendikel.
-</p>
-
-<p>
-Die Sonntagsgeräusche drangen auch durch das
-offene Fenster in das Wohnzimmer, wo Elisabeth sich
-langweilte. „Nun, also was? Zu den Alten? Oder
-im Park spazierengehen? ... Daß du aber auch
-diese unverständliche Abneigung gegen das Autofahren
-hast!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
-„Eine Grenze nach oben muß eingehalten werden,
-Herzchen“, sagte er gähnend. „Übrigens, wenn du
-willst, können wir auch fahren. Laß euer Auto
-kommen ... Auch langweilig!“
-</p>
-
-<p>
-„Die rosa Studie und mein Porträt hängen schon
-seit Donnerstag. Außerdem noch zwanzig seiner
-besten Arbeiten.“ Und sie sprach von den großen
-Fortschritten, die ihr Geliebter gemacht habe. „Gehen
-wir in die Ausstellung!“
-</p>
-
-<p>
-„Warum nicht gleich zum Zahnarzt!“
-</p>
-
-<p>
-„Oder sonst jemand besuchen?“
-</p>
-
-<p>
-Der Schlund der grauen Leere verschlang alle Vorschläge.
-</p>
-
-<p>
-„Wen denn besuchen! Die sitzen sicher auch alle
-zuhause und wissen nicht, was sie mit sich anfangen
-sollen. Ein Glück, daß nicht alle Tage Sonntag ist ...
-Gehen wir in den Zirkus! Da tritt heute zum erstenmal
-eine Akrobatin auf, die, Kopf voran, weißt du,
-aus sechsundzwanzig Meter Höhe herunterspringt in
-ein Bassin, das nur vier Meter lang und hundertfünfzig
-Zentimeter breit ist. Denk an: dieses winzige Loch in
-der Manege und dabei diese riesige Höhe! Unbegreiflich!
-Das sollte gar nicht erlaubt werden. Das
-Bassin ist mit scharfkantigem Winkeleisen eingefaßt.
-Wenn das Mädchen nur um fünf Zentimeter fehl springt,
-schlägt es sich Schulter und Arm vom Körper weg.
-Aber aufregend wird die Sache sein. Jedenfalls besser,
-als hier zu sitzen.“
-</p>
-
-<p>
-Die Zauntür drückte die beiden hinaus. Jürgen
-sah zurück in den gepflegten Garten, betrachtete das
-glänzende Messingschild, auf dem nur ‚Kolbenreiher‘
-stand, und zog den Hut vor der Tante, die, starr blickend,
-wie ein altes Bild im Fensterrahmen schwebte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
-Nachdem die Akrobatin von dem zehn Meter und
-von dem fünfzehn Meter hohen Standplatze aus gesprungen
-und wieder am Seil emporgezogen worden
-war zu dem sechsundzwanzig Meter hohen Standplatz
-dicht unter der Zirkuskuppel, von der aus gesehen
-die Manege einem am Boden liegenden Kinderreifen
-und das Bassin einem schwarzen Bleistiftstrich
-glichen, erklärte Jürgen ausführlich, jetzt liege die
-Gefahr sogar noch weniger darin, das schmale Bassin
-zu verfehlen, als vielmehr darin, daß das Mädchen
-sich durch die gewaltige Wucht des Sturzes den Kopf
-auf dem Grunde des Bassins zerschellen müsse, wenn
-sie nicht, im Wasser angelangt, im entscheidenden
-Bruchteil der Sekunde blitzschnell die Drehung zurück
-zur Wasseroberfläche ausführe.
-</p>
-
-<p>
-Die Musik schwieg. Das Publikum verstummte.
-Die Akrobatin blickte hinunter auf den Bleistiftstrich,
-in den hinein sie sich stürzen mußte, breitete
-die Arme aus. Frauen sahen weg. Auch Elisabeth
-sah weg.
-</p>
-
-<p>
-„Langweilig ist das nicht. Du siehst, sogar ein
-Sonntagnachmittag kann ausgefüllt werden“, sagte
-Jürgen,
-</p>
-
-<p>
-<a id="br2"></a>während die Tante mit einer ihr ganz fremden Bangigkeit
-die Bibel aufschlug und Sätze las, die, vor
-grauen Zeiten ersonnen, oft von ihr gelesen, gehört,
-ausgesprochen und gesungen, ihr auch jetzt nichts sagten.
-Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, litt unter
-der Angstbeklemmung, daß dann alle sie betrachten
-würden und sie vielleicht ein ganz anderes Gesicht
-haben werde als sie habe.
-</p>
-
-<p>
-Und während der Mädchenkörper in der Luft eine
-weiche Drehung machte und, Kopf voran, Hände wie
-<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
-betend zusammengelegt, gleich einem bleiernen Fische
-an der obersten Galerie und an der erhöht sitzenden
-Musikkapelle vorbei senkrecht in die Tiefe stürzte,
-dem schwarzen Strich und dem rapid größer werdenden
-Sägmehlkreis in verzehnfachter Schnelligkeit entgegen,
-blickte die Tante noch einmal auf das breit vor ihr
-liegende Land hinaus, das in der Ferne schon von der
-rötlichen Dämmerung genommen wurde, und schaukelte
-plötzlich in sich zusammen.
-</p>
-
-<p>
-„Die hocken immer zuhause, die Alten. Sicher
-würden auch sie sich hier unterhalten und zerstreuen“,
-sagte Jürgen in den Beifallssturm hinein, während die
-Tante, unveränderten Gesichtes, bewußtlos auf dem
-Boden lag.
-</p>
-
-<p>
-Der Arzt wurde geholt, machte einen Aderlaß. Die
-Tante erholte sich. Um zehn Uhr lagen alle drei im
-Bett. Elisabeth stand noch einmal auf, ein frisches
-Nachthemd anzuziehen. Und als sie aus dem alten
-herausgestiegen und in das frische noch nicht hineingeschlüpft
-war, ließ Jürgen, an die Gewohnheit gespannt
-wie ein Pferd an die Droschke, die rote Ampel
-aufleuchten.
-</p>
-
-<p>
-Am andern Tage, einige Stunden vor ihrem Ableben,
-bekam die Tante noch Besuch. Auf dem Tablett
-lagen schon siebenundzwanzig Orangen. Atembenommen,
-schon schwarz beschattet vom Tode, hatte die
-Tante hocherfreut für die Früchte gedankt.
-</p>
-
-<p>
-Auf fünf Uhr war der Geistliche mit den Ministranten
-bestellt, die letzte Ölung zu erteilen. Die Sterbende
-überwand ihre tödliche Schwäche und richtete sich
-noch einmal auf im Bett. „Vielleicht spreche ich jetzt
-das letztemal mit dir, Jürgen.“
-</p>
-
-<p>
-„Du stirbst nicht, Tante, Unsinn!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
-„... letztemal mit dir. Ich habe immer meine
-Pflicht getan. An dir, Jürgen, und überhaupt. Vor allem
-an dir! Du bist ein geachteter Mann geworden. Das
-hast du zum Teil auch mir zu verdanken. Weißt du
-noch, wie das kam? ... Ein sehr geachteter Mann!“
-</p>
-
-<p>
-Alles Blut verließ Jürgens Gesicht. Sie bemerkte
-seine Blässe und Verwirrung nicht, schilderte, mühsam
-stammelnd, wo er hingekommen wäre, wenn er das,
-was er Opferbereitschaft und Hingabe genannt habe,
-weiter verfolgt hätte. „So aber kann ich ruhig sterben.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hörte nichts mehr. Sie zog seinen Kopf
-neben sich auf das Kissen, nahm ihm das Wort ab,
-daß er auf dem eingeschlagenen Wege weitergehen
-werde. „Merke dir: was man einem Sterbenden in
-die Hand verspricht, muß man halten.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen wußte nicht, was er versprochen hatte. Vergangenheit
-und Gegenwart stürzten ineinander. Er
-hörte auch nicht, daß die Tante von ihren bisher verheimlichten
-Aktien sprach.
-</p>
-
-<p>
-„Diese Wertpapiere darfst du nur dann verkaufen,
-wenn mein Bankier dazu rät. Vor allem: Lasse die
-Hypotheken auf den großen Häusern stehen! Und lasse
-nicht so viel herrichten! Reparaturen und Handwerker
-kosten Geld.“
-</p>
-
-<p>
-„Da muß ich ja Hypothekenzinsen bezahlen“, sagte
-Jürgens Mund vom Kissen weg.
-</p>
-
-<p>
-Ihre Hand blieb auf seinem Kopfe. „Aber die Grundbesitzsteuer
-ist viel höher als die Zinsen, die man für
-Hypotheken bezahlen muß. Deshalb belastet man ein
-Haus so hoch wie möglich mit Hypotheken“, erklärte
-sie, unterbrochen von Atemnot, „legt das Geld in
-Wertpapieren an und bezahlt mit den Zinsen die
-Hypothekenzinsen. Dafür hat man keine Grundbesitzsteuer
-<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
-zu zahlen, weil einem die Häuser gar nicht gehören.“
-</p>
-
-<p>
-„Unsere Häuser gehören mir nicht?“
-</p>
-
-<p>
-„Nur scheinbar nicht! Man besitzt sie nur scheinbar
-nicht.“ Sie konnte vor Schwäche nicht mehr
-sprechen.
-</p>
-
-<p>
-Die Flurglocke hatte geläutet. Weihrauchduft drang
-ins Zimmer. Jürgen wollte die Tante beruhigen, war
-aber so verwirrt, daß er sagte: „Also mit den Zinsen
-von den Wertpapieren bezahle ich die Grundbesitzsteuer.“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, die Hypothekenzinsen!“
-</p>
-
-<p>
-„Aber es gibt doch viel bessere Kapitalsanlagen.
-Weshalb soll ich denn ...“
-</p>
-
-<p>
-„Laß dirs von meinem Rechtsanwalt erklären.“
-</p>
-
-<p>
-„... soll ich denn unbedingt Hypotheken aufnehmen,
-wenn ich Geld und Wertpapiere besitze, die viel
-besser ...“
-</p>
-
-<p>
-„Rechtsanwalt“, flüsterte die Tante.
-</p>
-
-<p>
-Der Geistliche und die Ministranten traten ein. Das
-Weihrauchfaß überquerte dreimal das Bett. „Vor der
-Pforte der Hölle bewahre ihre Seele. Dominus vobiscum.
-Et cum spiritu tuo.“
-</p>
-
-<p>
-Die ganze Villa roch noch nach Weihrauch, als
-Jürgen, im Gehrock und schwarz behandschuht, von
-der Beerdigung zurückkam. Das weiße Taschentuch
-in der einen, den Zylinder in der rechten Hand, so
-am Rande gefaßt, daß er einen Gummiball hätte auffangen
-können, stand er im Sterbezimmer.
-</p>
-
-<p>
-Auch eine Woche später, nachdem ihm vom Rechtsanwalt
-schon eröffnet worden war, daß die Tante das
-dreifache an erwartetem Barvermögen hinterlassen
-hatte, stand noch ein schwacher Weihrauchduft in
-<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
-den Zimmern und erinnerte Jürgen an des Vaters
-Todestag, an die Seelennot, Unsicherheit, an die
-Kämpfe der Jugend, auf die er, stehend nun auf dem
-festen, breiten, gefahrlosen Boden der Gegenwart,
-lächelnd zurückblickte.
-</p>
-
-<p>
-Da unten taumelt ein empfindsamer Jüngling umher,
-getroffen von einem Worte, in Verzweiflung und Leid
-versetzt durch einen Blick. In ununterbrochene
-Qualen gestellt durch das Leben, wie es ist. Durch
-eine jugendliche Sehnsucht nach unerfüllbaren Idealen
-und nach der Wahrheit, die es nicht gibt, streift den
-Jüngling sogar öfters der Tod ... Hier sitzt der Mann
-im Sessel. In Sicherheit. Unverwundbar. Und nicht
-eine Sekunde der Gegenwart wird ihm, wie früher,
-vergällt und gestohlen von der Sehnsucht nach dem
-Unerreichbaren.
-</p>
-
-<p>
-‚Und sogar aus dem Sozialismus, aus dieser grauen
-Sackgasse, in der ich vier Jahre steckte, habe ich
-wieder herausgefunden ... Jetzt wenn der Vater mich
-sehen könnte, er würde nicht mehr sagen: Na, du
-schmähliches Etwas!‘
-</p>
-
-<p>
-An dem großen Gesellschaftsabend des Herrn Papierfabrikanten
-Hommes, der ersten Festlichkeit, die
-Jürgen nach dem ereignislos vergangenen Trauerjahr
-besuchte, ließ ein früherer Mitschüler, der als naturalisierter
-Engländer zwanzig Jahre ununterbrochen in
-den englischen Kolonien gelebt und eine große Baumwollexportfirma
-gegründet hatte, sich dem Bankier
-Jürgen Kolbenreiher vorstellen, der auch auf diesem
-Feste für viele der Mittelpunkt war.
-</p>
-
-<p>
-„Wie erging es Ihrem Herrn Bruder? Ich habe
-nämlich zusammen mit Ihrem Herrn Bruder das
-hiesige Gymnasium besucht ... Verzeihung, ich weiß
-<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
-ja nichts. Bin ja ohne jeden Kontakt gewesen“,
-setzte der Engländer sofort hinzu, als er Jürgens betroffen
-fragenden Blick bemerkte, und entschuldigte
-sich, da er durch seine Frage offenbar eine schmerzliche
-Erinnerung wachgerufen habe.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hob die Schulter. Seine Augen suchten.
-„Ich habe keinen Bruder.“
-</p>
-
-<p>
-Aber solch einen Streich könne sein Gedächtnis ihm
-doch nicht spielen; er sei ja jahrelang mit einem Mitschüler
-Kolbenreiher in dem selben Klassenzimmer
-gesessen. „Ich sehe ihn heute noch leibhaftig vor mir.
-Ein schwärmerischer Jüngling, höchst eigenartig! Ein
-liebenswerter, ein sehr gefährdeter Mensch, dachte
-ich noch oft in späteren Jahren ... Er war also nicht
-Ihr Bruder? Offenbar eine Namensgleichheit!“
-</p>
-
-<p>
-Die glänzenden Toiletten, der Kronleuchter, Streichquartett,
-Champagnertischchen schwankten. Jürgens
-Gesicht fiel ein, war grau geworden. „Habe ich mich
-denn so verändert, so furchtbar verändert, daß Sie in
-mir ... in mir jenen gar nicht mehr zu erkennen vermögen?“
-</p>
-
-<p>
-„Also Sie selbst!“ rief, freudig erstaunt, der Engländer.
-„Das hätte ich, das allerdings hätte ich nie
-vermutet. Ich gratuliere, gratuliere wirklich von
-Herzen ... Wie man sich irren kann! Ich habe nämlich
-gedacht – in den Kolonien ist unsereiner ja recht
-einsam und denkt viel an die Jugendzeit zurück –
-habe oft gedacht, dieser Mensch wird entweder ein
-ganz abseitiges Leben führen, vielleicht auch irgendeine
-große Tat vollbringen, wenn die Situation das
-zuläßt – im Krieg und so – oder er wird zugrunde
-gehen. Und nun – wie ich mich freue! ... Übrigens
-nur ein Beweis mehr dafür, wie sehr die Menschen,
-<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
-alle Menschen, sich mit den Jahren verändern, sich
-innerlich sozusagen festigen!“
-</p>
-
-<p>
-An diesem Abend betrank Jürgen sich so, daß er
-in das Fremdenzimmer des Herrn Hommes gebracht
-werden und Elisabeth allein nachhause fahren mußte.
-Nach einer mehrwöchigen Reise, ziellos in Europa
-umher, saß er wieder im Direktionsbureau. Im Nebenraum
-unterhielten sich zwei Bankbeamte.
-</p>
-
-<p>
-Vor einem Jahre sei er an den Alimenten noch unverhofft
-vorbeigekommen. Das Kind sei gestorben. Aber
-kürzlich sei sein Mädchen wieder Mutter geworden.
-</p>
-
-<p>
-Auch Elisabeth war schwanger. Jürgen freute sich
-auf das Kind, stellte sich vor, wie es aussehen, ob es
-ihm oder ihr gleichen werde. Blauäugig? Oder braun?
-dachte er. Und horchte auf die Worte des Beamten,
-der seinem Kollegen genau vorrechnete, wie wenig
-ihm von seinem Gehalte bleiben werde, nach Abzug
-der Alimente. „Das halte ich nicht aus.“
-</p>
-
-<p>
-Gewandt schlüpfte der Beamte in sein elegantes
-Mäntelchen. „Heute feiere ich Abschied von der
-Jugend. Ich heirate. Sie hat nichts, ich habe nichts.
-Sechs versilberte Kaffeelöffel sind der Grundstein
-unseres Glückes.“
-</p>
-
-<p>
-Er steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch.
-„Extra für heute gekauft. Leichtsinnig, was? ...
-Vor diesem Glück habe ich jetzt schon Angst. Du
-schläfst Nacht für Nacht neben und mit deiner Frau.
-Immer mit der selben! Du siehst sie halb angezogen,
-unfrisiert, im Schlafrock – wenn sie einen hat –,
-ißt mit ihr, sprichst mit ihr. Und nicht nur von Veilchen
-und Tanz, mein Lieber! Das Prickelnde ist bald
-dahin. In jeder Ehe! Man gewöhnt sich. Dann liebt
-man eben außerhalb herum, wie? ... Aber kann
-<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
-denn ich mir das leisten, bei meinem Gehalt? Du mußt
-Blumen kaufen, die Zeche bezahlen. Am Ende bestellt
-sie sich auch noch etwas zu essen. Das kostet
-dann ein Heidengeld ... Unserem Chef natürlich,
-dem jungen Chef mit der gespickten Brieftasche und
-dem Scheckbuch, dem kann die Gewohnheit nichts
-anhaben. Der kann sich jede kaufen. Unsereiner aber
-muß, wenn er heiratet, glatt Abschied nehmen von
-der Jugend.“
-</p>
-
-<p>
-Mir also, meint er, kann die Gewohnheit nichts anhaben,
-dachte Jürgen noch in der Straßenbahn, suchte
-zuhause Elisabeth in allen Räumen und fand sie
-endlich im Schlafzimmer, wo sie erblaßt auf dem Bettrand
-saß. Ihr Leib stand stark vor.
-</p>
-
-<p>
-Tagelang schrie Elisabeth in Schmerzen, schrie die
-lange Nacht durch, in den trüben Morgen hinein, bis
-der Arzt sie von einer toten Frühgeburt entbunden
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Die blutigen Messer und Geburtszangen lagen noch
-auf dem Tisch. Der schweißtriefende. Arzt wollte ein
-letztes Mittel anwenden, die Entbundene zu retten,
-da stieß sie ihn weg von ihrem zerrissenen Leib. Ein
-neuer Blutstrom schoß ins Bett. Der Arzt breitete
-ein Tuch über die verwüstete Tote und ließ die Arme
-sinken, ging hinaus in den herbstlichen Garten zu
-Jürgen. Der Himmel hing voll Regen. Der Garten
-war naß, die Luft kalt.
-</p>
-
-<p>
-Einige Tage später – Elisabeth war schon begraben,
-Jürgen umwickelte Rosenstämmchen mit Stroh –
-sagte er leise vor sich hin: „Das Geld ist mir doch
-sicher ganz gleichgültig. Wie kam ich nur auf diesen
-abscheulichen Gedanken?“
-</p>
-
-<p>
-Der Gedanke war, flüchtiger als ein Vogel, der den
-<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
-Blick schneidet, gleichzeitig mit anderen Gedanken
-aufgetaucht und wieder verschwunden. ‚Da das Kind
-tot ist, fällt die Mitgift mir zu.‘
-</p>
-
-<p>
-‚Ein böser Gedanke. Enthält aber eine juristisch
-einwandfreie Tatsache ... Kein Mensch hat die
-Macht, das Entstehen eines Gedankens zu erzwingen
-oder zu verhindern.‘ Er sah empor zur beschädigten
-Dachrinne, von der dicke Tropfen schnell hintereinander
-herunterfielen, immer auf die selbe Stelle,
-wie damals im Rattenhof. Hing die Bastfäden über
-einen Ast und rief Phinchen zu, sie müsse den Spengler
-holen. „Die Dachrinne ist leck. Siehst du, dort oben.“
-</p>
-
-<p>
-Jahrelang trug Jürgen sich mit dem Gedanken,
-wieder zu heiraten. Auch der Schwiegervater redete
-ihm zu, nannte sogar einige Töchter vornehmer Familien.
-Er solle endlich das Palais kaufen, hübsch
-einrichten. Repräsentieren.
-</p>
-
-<p>
-„Ich finde aber“, sagte Jürgen lachend zu Phinchen,
-„faktisch nicht die Zeit, eine Frau zu lieben.“ Kundenkreis
-und Finanzaktionen des Bankhauses Wagner
-und Kolbenreiher vermehrten und vergrößerten sich
-in immer schneller werdendem Tempo.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen verkehrte in Familien, wo nur von Geld
-gesprochen wurde. Und in Familien, die so reich
-geworden waren, daß es schon wieder für unvornehm
-galt, von Geld zu sprechen, anstatt von Humanität
-und Wohltätigkeit, Kunst, Mystik, Kultur und Goethe.
-Hohe Räume, stilvoll, von erlesenstem Geschmacke.
-Wertvolle Gemälde, märchenhafte Bedienung. Junge
-Künstler, die unterstützt wurden. Geistvolle Gespräche.
-Und Beklemmung für die Gäste, die noch
-nicht so reich waren.
-</p>
-
-<p>
-Zu diesen gehörte der Berliner Bankier Leo Seidel
-<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
-nicht; seine Worte wurden an dem Herrenabend, den
-Jürgen zu Ehren seines für wenige Tage in die Heimatstadt
-zurückgekehrten früheren Mitschülers gab, von
-den Börsianern ebenso vorsichtig gewogen und auf
-Fallen untersucht, wie die des reichen, leberkranken
-Hütten- und Walzwerkbesitzers auf Jürgens Hochzeit
-gewendet und gewogen worden waren.
-</p>
-
-<p>
-Der noch nicht vierzigjährige Seidel, tadellos unauffällig
-gekleidet, sah viel älter aus, und als könne er
-von nun an nicht mehr älter werden. Es schien, als
-sei das winzige sommersprossige Dreieck mit dem erreichten
-Ziele von nun an stationär.
-</p>
-
-<p>
-Seidel, im Ziele sitzend, sichtlich uninteressiert an
-den Meinungen dieser von ihm weit überholten Fabrikanten
-und Bankleute, die einzuholen vor zwanzig
-Jahren sein größter Ehrgeiz gewesen war, zeigte nicht,
-daß diese Stunden für ihn nur ein Opfer an Zeit bedeuteten,
-und sprach dennoch nicht einen Satz mehr,
-als die Höflichkeit gebot.
-</p>
-
-<p>
-Er entsann sich, daß er vor zehn Jahren, erst auf
-dem Wege zum Ziel, erfüllt von altem Hasse gegen
-diese vornehmen Bürgerfamilien, noch Befriedigung
-gefunden hatte in der Vorstellung, daß er, der gedemütigte
-Briefträgerssohn, sich eine dieser Töchter
-seiner Heimatstadt zur Frau wählen werde.
-</p>
-
-<p>
-Mit dem Erreichen des Zieles war dieser Haß vergangen
-und Interesselosigkeit entstanden. Außerdem
-hatte er, wie Jürgen, längst die Erfahrung gemacht,
-daß jede verheiratete Frau dieser Kreise zu gewinnen
-war, wenn auch nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt.
-</p>
-
-<p>
-In Pensionen ging auch Jürgen, obwohl er seit Jahren
-verwitwet war, nicht mehr. „Diese Mädchen sind
-entweder arme Tierchen, nur auf Geld aus, also erotisch
-<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
-an uns völlig uninteressiert, folglich langweilig; oder
-sentimentale Unschuldslämmer, verglichen mit unseren
-Damen der Gesellschaft, die voller Nervenraffinements
-und zu allem imstande sind“, hatte er
-auf Adolf Sinsheimers wiederholte Bitte, wieder einmal
-mit in den orientalischen Salon zu gehen, geantwortet.
-</p>
-
-<p>
-Nach dem Mahle standen Jürgen und Seidel, in
-der Hand die Mokkatassen, abseits, zwischen sich die
-hohe Standuhr, deren Ticken das Gespräch für die
-noch an der langen Tafel sitzenden Börsianer unverständlich
-machte, und Seidel nannte kurz den Grund
-seines Hierseins. Er sei gezwungen, den schon eingeleiteten
-Zusammenschluß einiger großer Bankinstitute
-zu paralysieren: seinerseits einen großen Finanzkonzern
-zu organisieren.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hatte einige Male genickt. „Ich selbst erwäge
-schon seit geraumer Zeit diesen Plan, habe auch
-schon vorgearbeitet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil
-der betreffenden Werte ist schon in meinen Händen.“
-Er sah seine Gäste an, sah Leo Seidel an. „Man wird
-reicher und reicher ... Wozu?“
-</p>
-
-<p>
-„Man muß die Urprodukte, die Erdschätze, in die
-Hand bekommen. Die Kohle! Wer sie hat, kontrolliert
-schließlich die ganze Produktion.“
-</p>
-
-<p>
-„Sag mal“, begann nach einer Pause Jürgen entschlossenen
-Tones, zuckend mit der Schulter, als
-habe er sich selbst versichert, daß es ihm gleich sei,
-was Seidel über ihn wegen des folgenden denken
-werde, „weshalb eigentlich ist es nun dein Ziel, die
-Urprodukte, die Kontrolle über die ganze Wirtschaft
-in die Hand zu bekommen, oder, mit andern Worten,
-der mächtigste Mann des Landes zu werden? Welche
-<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
-Idee – hinaus über den Wunsch, persönliche Begierden
-jeglicher Art stillen zu können, was zu tun du
-ja schon längst imstande bist – verfolgest du dabei?“
-</p>
-
-<p>
-Seidel blickte nachdenklich vor sich hin.
-</p>
-
-<p>
-„Macht um der Macht selbst willen? Oder die Erkenntnis,
-daß geschluckt wird, wer nicht selbst
-schluckt? Oder um deiner Kinder willen, wenn du
-welche hast? Das alles hat doch mit einer positiven
-Idee nichts zu tun.“
-</p>
-
-<p>
-„Aber auch zur Erlangung der Kontrolle über
-Kohle, Brennstoffe, Erze wäre der geplante Zusammenschluß
-eine wesentliche Voraussetzung.“
-</p>
-
-<p>
-„Und das Sichabfinden damit, daß infolge der
-Konkurrenzjagd von Zeit zu Zeit ein Krieg und der
-Tod einiger Hunderttausend oder Millionen eben
-naturnotwendig, die Schattenseite sei, der aber die
-moderne Zivilisation als Plus gegenüberstehe, ist doch
-ebenfalls keine tragfähige Grundlage für eine Idee,
-für eine Lebensordnung, mit der auf die Dauer der
-Mensch sich abfinden könnte, sondern, scheint mir,
-nicht mehr als eine peinliche Mischung von Fatalismus
-und Zynismus.“
-</p>
-
-<p>
-Seidel, der gar nicht mehr zugehört hatte, zeigte
-ein flüchtiges Höflichkeitslächeln und schrieb etwas
-in sein Notizbuch.
-</p>
-
-<p>
-„Willst du mir nicht antworten? Oder weißt du
-keine Antwort auf meine Frage?“
-</p>
-
-<p>
-Rückwärts an der langen Tafel war es plötzlich
-still geworden. „Ein Straßenmädchen ging mit einem
-Juden ...“
-</p>
-
-<p>
-„Das Nähtischchen deiner Mutter steht noch in
-meinem Bodenraum. Erinnerst du dich? Das sind
-jetzt zwanzig Jahre her.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
-„Ich erwarte dich also morgen im Hotel oder bringe
-dir die Unterlagen in die Bank.“
-</p>
-
-<p>
-Das Lachen des Herrn Hommes platzte wie das
-dunkle Brüllen einer Autohupe in die Stille. „Kenn
-ihn schon! Aber erzählen Sie nur weiter.“
-</p>
-
-<p>
-„Auch einen großen Teil der Produktion chemischer
-Artikel würden wir kontrollieren, falls die Fusion zustande
-käme.“ Seidel nannte die Fabrik, Gesamtzahl und
-Kursstand der Aktien, von denen die in Frage stehenden
-Banken nach der Fusion die Mehrheit haben würden.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen blickte nach rückwärts auf die acht grauweißen
-Hinterköpfe, denen gegenüber acht weinrote
-Gesichter im Zigarrenqualm hingen. „Ja, wir könnten
-für viele chemische Artikel, Farben und vor allem für
-die wichtigsten Arzneimittel die Preise bestimmen ...
-Gewiß keine Kleinigkeit!“
-</p>
-
-<p>
-Herr Wagner ergriff den Arm des Herrn Hommes,
-deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück
-auf Seidel: „Er hat verdient.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich weiß eine andere Fassung: Der selbe Jude
-kommt in ein Bordell ...“
-</p>
-
-<p>
-„Kenn ich!“ rief Herr Hommes und brüllte los.
-</p>
-
-<p>
-Seidel erwähnte die Krankheit, von der die Arbeiter
-dieser chemischen Fabrik befallen wurden. Es sei
-sehr schwer, Leute zu bekommen. Nur durch hohe
-Gefahrprämien seien sie an die Siedkessel heranzubringen.
-Diese Geschichte habe sogar schon auf den
-Kurs gedrückt.
-</p>
-
-<p>
-„Ich hörte davon. Die Leute werden gelb. Es ist
-aber keine Gelbsucht. Auch alle Schleimhäute entzünden
-sich. Schwere Augenkrankheiten! Die Arbeiterinnen
-bekommen keine Kinder mehr, werden
-vollkommen steril.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
-„Und eines Tages war die Pleite da“, schloß der
-Fabrikant, der die Villa voll gotischer Holzplastiken
-besaß. „Eben eine zu gewagte Spekulation!“
-</p>
-
-<p>
-„No, was sag ich!“
-</p>
-
-<p>
-„Es sind ja Erfindungen gemacht worden“, sagte
-Seidel und schrieb und las dabei weiter in seinem Notizbuch.
-„Die Fabrikleitung hat diese Erfindungen
-auch erworben. Aber die Konstruktion und Erhaltung
-dieser Schutzapparatur würde riesige Summen
-verschlingen. Auch wertvolle Nebenprodukte und
-Abgase würden durch die Einschaltung dieser Schutzapparate
-verlorengehen.“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, nein, uns fehlt nichts“, antwortete Herr
-Wagner beruhigend auf Jürgens Frage. Und zu Herrn
-Hommes: „Womit? Das mußt du dir von ihm selber
-verraten lassen. Ich sag nur: er hat verdient.“
-</p>
-
-<p>
-„Daß die Leute diese unheimliche Krankheit bekommen,
-weil Schutzapparate nicht in Betrieb gesetzt
-werden, ist ein bißchen drückend für denjenigen, der
-die Aktien besitzt und die Dividenden bezieht.“
-</p>
-
-<p>
-Seidel zeigte sein flüchtiges Lächeln. „Möchtest du
-zusammen mit mir wieder einen Bund der Empörer
-gründen? ... Noch eine Sekunde!“ bat er und zog
-Jürgen wieder neben die Standuhr. „Weshalb ich
-außerdem hierhergekommen bin. Kannst mir vielleicht
-einen Rat geben. Ich möchte – es leben ja
-auch noch viele Leute hier, die meine Eltern gekannt
-haben; aber auch sonst! – ich möchte eine Stiftung
-machen. Säuglingsheim, Krankenhaus oder ein Kunstmuseum.
-Meiner Heimatstadt, weißt du!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen griff sofort mit beiden Händen rückwärts
-nach dem Rauchtischchen; dennoch fiel er, beinschwach
-geworden vor eruptivem Lachen, in den
-<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
-Sessel. Er hielt die Hand hoch, Zeigefinger und
-Daumen zusammengepreßt, als ob er ein Ungeziefer
-gefangen hätte. „Ein Krankenhaus für ... für die
-Heimatstadt!“
-</p>
-
-<p>
-Hände an die Seitenlehnen angeklammert, Oberkörper
-zurückgeworfen, starrte er, durchschüttert von
-Lachen, atembenommen Leo Seidel an, dessen Gesicht
-so weiß geworden war, daß die alten Sommersprossen
-stärker hervortraten, wie damals, da er
-Jürgen das Nähtischchen seiner Mutter zum Aufbewahren
-übergeben und gesagt hatte: „Zweifellos
-wird die ganze Bande auf den Jahrmarkt kommen,
-um mich als Schiffschaukeladjunkt zu sehen.“
-</p>
-
-<p>
-„Und obendrein ist das auch die Antwort. Das
-ganze Systemchen ist steril geworden. Wie die Arbeiterinnen,
-die nicht mehr gebären können ... Für
-die Heimatstadt!“ Des Lachenden zuckende Schulter
-stieß an die Standuhr, die metallisch tönte.
-</p>
-
-<p>
-An der Tafel erklang vielstimmiges, speckiges Gemecker.
-Sechzehn rote Gesichter drehten sich den
-beiden zu. Sechzehn Paar Augen fragten. Und Herr
-Hommes rief: „Wir wollen ihn auch hören.“
-</p>
-
-<p>
-„Gut, du stiftest ein Säuglingsheim für die Kinder,
-die von den Arbeiterinnen nicht geboren werden
-können, ich ein Krankenhaus für diejenigen, die gestorben
-sind, weil sie die teueren Arzneimittel nicht
-bezahlen konnten, und zusammen stiften wir ein
-Kunstmuseum, von wegen der Kultur.“
-</p>
-
-<p>
-Seine linke Gesichtshälfte lachte noch. Er hakte ein,
-zog ihn zur Tafel. Dort legte er die Hand auf Seidels
-Schulter. „Soeben sagte mir Herr Leo Seidel, der
-bekanntlich ein Kind unserer Stadt ist, daß er seiner
-Heimatgemeinde ein mit allen hygienischen Errungenschaften
-<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
-eingerichtetes Säuglingsheim in beliebiger
-Größe stiften wird ... Aus ... aus Anhänglichkeit.“
-</p>
-
-<p>
-Er leerte sein Glas. Füllte und leerte. Begann wieder
-zu lachen. Trank. ‚Dieser harte, mächtige Mann – ein
-kleines Schuftchen, ein winziges Ungeziefer, das in
-seiner Heimatstadt noch ganz besonders geachtet
-werden will ... als Wohltäter!‘
-</p>
-
-<p>
-Herr Hommes bedeckte Mund und Nase mit der
-Hand, warf den Kopf in den Nacken und dann tief
-zur Tischplatte, als müsse er niesen, nieste nicht; er
-sagte zu Herrn Wagner: „Da muß er aber groß verdient
-haben.“
-</p>
-
-<p>
-„No, was sag ich!“
-</p>
-
-<p>
-‚Entzündete Augen, entzündete Schleimhäute, Eierstöcke,
-Knochen, Lungen, entzündete Maschinengewehre
-und Schwergeschütze, entzündete Seelen, eiternde
-Seelen – und ein Krankenhaus für alle, finanziert mit
-Kapital, das entstanden ist durch das Systemchen,
-welches diese planetare Entzündung verursachte. Das
-ist die Antwort. Hoppla, das ist sie ... Und die Fusion
-wird zustande kommen. Und die Kontrolle über die
-wichtigsten Arzneimittel. Und ich werde noch mächtiger
-werden. Und das ist nicht zu ändern. Es gibt
-keinen Ausweg. Mir kann nichts passieren – denn ich
-bin schwerlich zu entlausen, denkt mit Recht die Laus.‘
-</p>
-
-<p>
-Er saß abseits rittlings auf dem Stuhle und glotzte
-vergnügt. Stellte das geleerte Glas auf den Fußboden.
-‚Eiternde Seelen‘, begann er wieder, diesmal von
-rückwärts, und zählte an den Fingern her, wie der
-Metallarbeiter mit der verstümmelten Hand. Sah
-plötzlich eine Riesenebene, auf der Millionen Menschen
-reglos blickten. Die Gesichter derer, die am
-allerweitesten, die kilometerweit zurückstanden, waren
-<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
-größer als die der Nächststehenden. Alle Gesichter
-waren gelb.
-</p>
-
-<p>
-„Gelb! Gelb! Gelb! ... Bin ich denn in China? ...
-Wollte ja Dolmetscher in China werden.“
-</p>
-
-<p>
-Er stürzte vom Stuhle. In seinem Hinterkopfe
-klopfte dunkel ein Hammer aus Gummi.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="VII">
-VII
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-Phinchen mußte sich strecken, um mit der Bürste
-den Rockkragen erreichen zu können. Wie jeden
-Morgen trat Jürgen, als probiere er eine neue Hose an,
-einigemal am Platze, sich richtig in den Anzug
-hineinzudrücken, nahm den Spazierstock aus Phinchens
-Hand und verließ pünktlich die Villa. Der
-Schaffner, im Laufe der vierzehn Jahre auf dieser Strecke
-ergraut, half dem schwer gewordenen täglichen Fahrgast
-in den Wagen.
-</p>
-
-<p>
-Unwillkürlich rückte Jürgen etwas ab von einem
-dürftig gekleideten Manne, dem die Nase fehlte. Außer
-diesem Arbeiter saß im Wagen ein kleines Mädchen,
-das, die Augen angstvoll vergrößert, seine Hausaufgabe
-im Katechismus repetierte und immer wieder begann:
-„Aber Jesus sprach: Lasset die Kindlein zu mir
-kommen ...“
-</p>
-
-<p>
-Der Schaffner kassierte. Der Nasenlose hatte kein
-Geld.
-</p>
-
-<p>
-„Aber Jesus sprach ...“
-</p>
-
-<p>
-„Dann müssen Sie aussteigen.“
-</p>
-
-<p>
-Der Nasenlose, entschlossen, sitzen zu bleiben, geriet
-in Erregung. Er sei monatelang arbeitslos gewesen.
-Wenn er nicht mitfahren dürfe, komme er zu
-<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
-spät und erhalte die Aushilfsstelle nicht. Alle Qualen
-seines Lebens sammelten und verwandelten sich in
-Widerstand und Zorn gegen den Schaffner.
-</p>
-
-<p>
-Auch der war wütend geworden, gab das Haltesignal.
-„Wie kann einer einsteigen, wenn er das Fahrgeld
-nicht hat! So etwas gibts nicht.“ Der Wagen
-hielt. „Wenn ich Sie ohne Schein mitfahren lasse,
-verliere ja ich meine Stelle.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn einer arbeiten will!“ schrie verzweifelt der
-Mann und schimpfte los auf die reichen Nichtstuer,
-die nicht nötig hätten, zu arbeiten.
-</p>
-
-<p>
-„Auf! Sie müssen aussteigen.“ Er mußte den sich
-Wehrenden am Arme packen und aus dem Wagen
-hinausdrücken.
-</p>
-
-<p>
-„Aber Jesus sprach ...“ lernte das Mädchen in so
-großer Angst, die Hausaufgabe in der Schule nicht
-hersagen zu können, daß es von der ganzen Szene
-nichts bemerkte.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen, der die Kursberichte gelesen und dabei,
-tief beunruhigt, an den Traum der letzten Nacht
-gedacht hatte, wußte nicht, weshalb des Schaffners
-Lippen und die Hand, die die Zange hielt, bebten.
-Automatisch zog er die Abonnementskarte, in die seine
-Jugendphotographie eingeklebt war. ‚Welch ein
-fürchterlicher, fürchterlicher Traum!‘
-</p>
-
-<p>
-Der Schaffner war noch zornig. „Sie sollten auch
-einmal ein neues Bild einkleben. Das sind ja gar nicht
-mehr Sie.“ Er hielt die Photographie prüfend von sich
-weg. „Das ist ja ein ganz anderer, könnte man glauben.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen blickte auf die Augen des Jünglingsbildes,
-die aus ungeheurer Ferne groß und ernst zurückblickten.
-Das Gesicht des Nasenlosen tauchte neben dem
-Fenster mit Sprungregelmäßigkeit auf und nieder.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
-‚Träume seien nun einmal nichts als Schäume, sagt
-der Hausarzt ... Ist aber auch dieser entsetzliche
-Traum nur flaumleichter Abfall des Lebens und ohne
-tiefere Bedeutung?‘ Selbst jetzt noch, während der
-Fahrt durch den sonnigen Tag, stockte Jürgens Herz:
-</p>
-
-<p>
-Er steht, befrackt, weiß behandschuht und im Halbkreise
-umgeben von den zwölf schwarzgekleideten
-Zeugen, in der Mitte des festlich erleuchteten Gesellschaftssaales
-vor dem Hinrichtungsblock, tritt zurück,
-hebt das Beil - und läßt es hineinsausen in den Nacken.
-Der Kopf geht nicht herunter. Und jetzt erst sieht
-er, daß er selbst, als Student, am Blocke kniet und
-von sich selbst hingerichtet werden muß, im Namen
-des Lebens, wie es ist. Gezwungen von den Blicken
-der zwölf stummen Zeugen, muß Jürgen noch einige
-Male in die furchtbare Nackenwunde hineinschlagen,
-bis der Kopf Jürgens, des Studenten, herunterfällt.
-Die Streichmusik endet.
-</p>
-
-<p>
-Tirolerinnen, die schiefe Münder haben, reichen
-lebendes Fruchteis. Um nicht essen zu müssen von
-diesem schauerlichen, lebenden Eise, wühlt Jürgen
-sich durch die empört nachblickenden Damen und
-Herren durch, flüchtet die Treppe hinunter und stürzt
-in fliegender Eile durch die menschenleeren Mondstraßen
-heimwärts, durch den schimmernden Garten.
-</p>
-
-<p>
-Da kniet, an Stelle der Brunnenfigur, der Rumpf
-in der Mitte des Bassins, Hände im Rücken gefesselt,
-symmetrisch umstanden von den zwölf auf Stangen
-steckenden, farbigen, kopfgroßen Glaskugeln, die jetzt
-die zwölf Hinrichtungszeugen sind, und aus dem Halsstumpfe
-steigt das Blut als Springbrünnchen empor.
-Die Symmetrie wird gestört durch Jürgens Jünglingskopf,
-der anstelle der gelben Glaskugel auf der
-<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
-Stange steckt und die grauenvolle Drohung ausspricht.
-</p>
-
-<p>
-„In Vollmondnächten sollten Sie nicht bei unverhängten
-Fenstern schlafen. Auch abends keine
-schweren Speisen essen. Die verursachen gleichfalls
-Albträume“, hatte der Hausarzt gesagt.
-</p>
-
-<p>
-Das Schulmädchen stieg aus, schlug auf der Straße
-den Katechismus wieder auf und lernte weiter. Jürgen
-saß allein im Wagen. Er überlegte, welche Weisungen
-er heute dem Prokuristen zu geben habe für die Börse.
-Plötzlich fletschte er, Mundwinkel in die Wangen
-zurückgezogen, die zusammengebissenen Zähne, drehte
-den Kopf seitwärts und bewegte die Lippen, als verhandle
-er mit einem hinter ihm Stehenden, der Befehle
-erteile, die Jürgen nicht befolgen könne.
-</p>
-
-<p>
-Erst als er hinaus auf die rückwärtige Plattform
-trat und mit dem Schaffner eine Unterhaltung begann,
-entspannte sich sein Gesicht wieder.
-</p>
-
-<p>
-Angefangen hatten diese Zustände vor einem Jahre.
-Er geht spazieren und muß plötzlich stehenbleiben,
-hat Atembeschwerden, ist nicht imstande, an einem
-Ecksteine oder an einem Baume oder an einem Laternenpfahle,
-der sich durch nichts von anderen Laternenpfählen
-unterscheidet, vorüberzugehen. Kopf seitwärts
-gedreht, Zähne gefletscht, kämpft er gegen das
-Unsichtbare, das unausführbare Befehle erteilt.
-</p>
-
-<p>
-Schnell tritt er in den nächsten Laden, setzt sich,
-studiert die Gesichter der Kunden, unterhält sich mit
-der Verkäuferin und bittet sie, ihm sechs besonders
-hartborstige Zahnbürsten in die Villa zu schicken.
-In dem unbewohnten Raume der Villa, wo auch die
-Antiquitäten und Gemälde für das Palais aufbewahrt
-waren, hatte sich im Laufe des letzten Jahres auf
-<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
-diese Weise ein großes Lager verschiedenster Artikel
-angesammelt.
-</p>
-
-<p>
-Gleich vielen Menschen, kann auch Jürgen es nicht
-ertragen, daß auf der Straße jemand hinter ihm geht.
-Auch am hellen Tage muß er stehenbleiben, interessiert
-eine Fassade betrachten oder schnell in einen
-Laden eintreten.
-</p>
-
-<p>
-Außerhalb der Stadt, wo keine Leute sind, spazierenzugehen,
-wagte Jürgen schon lange nicht mehr.
-Jemand geht hinter ihm her. Jürgen dreht sich um
-und wieder um und ganz um sich selbst. Immer steht
-in seinem Rücken der Andere. Und da Jürgen nicht
-in einen Laden flüchten kann, wirft er sich zu Boden.
-</p>
-
-<p>
-Einmal hatte er sich durch Adolf Sinsheimer retten
-können vor dem Verfolger. Er steht, Zähne gefletscht,
-in menschenleerer Landschaft unter den unausführbaren
-Befehlen des Unsichtbaren. Da erblickt er den
-Jugendfreund, der, in der Hand ein Notizbuch voll
-Rechnungen, an einem Baume lehnt und gedankenversunken
-die ferne Hügelkette betrachtet, als dichte
-oder zeichne er. Damals war das Unternehmen des
-Knopffabrikanten dem Konkurse nahe gewesen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen macht einige Fluchtsprünge auf den Jugendfreund
-zu und bittet flehend den Erschreckenden:
-„Verkaufe mir deinen Bleistift.“
-</p>
-
-<p>
-„Weshalb verkaufen? ... Hier, nimm ihn!“ Und
-er will ihm den goldenen Patentbleistift in die Hand
-drücken.
-</p>
-
-<p>
-„Unmöglich! Das ist ganz unmöglich!“ Jürgen
-zwingt den Schulfreund, die Banknote zu nehmen,
-und steckt, befreit aufatmend, den Bleistift ein.
-</p>
-
-<p>
-Die Straßenbahn hielt. Der Wagenführer drehte
-die Kurbel heraus. „Endstation“, sagte der Schaffner
-<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
-zweimal zu Jürgen, der verzerrten Gesichtes über die
-Schulter zurücksprach und nicht aussteigen konnte.
-</p>
-
-<p>
-Junge Beamte eilten durch die Gänge, grüßten den
-Chef. Er ahmte die Stimme des Hausarztes nach:
-„Abends nur ein paar weichgekochte Eier essen.
-Wachsweich! Auch schadet es nicht, wenn Sie täglich
-dreimal etwas Brom nehmen.“
-</p>
-
-<p>
-Das Bromsalzglas stand auf dem Schreibtisch. Sooft
-Jürgen die Feder in die Tinte stach, sah er das
-Salzglas, das herauszuwachsen schien aus dem Nacken
-des verheirateten Beamten, der, reglos wie ein Eingeschlafener
-auf das Pult gebeugt, vor seinem Chef
-saß, schon Vater dreier Kinder war, Sorgenfalten im
-grauen Gesicht hatte und keine Veilchen mehr im
-Knopfloch trug.
-</p>
-
-<p>
-Auf das Bankgebäude wurde ohne Betriebsunterbrechung
-ein Stockwerk aufgesetzt. Während des Vergrößerungsumbaues
-mußte Jürgen mit drei Angestellten
-zusammen in einem Raume arbeiten. Ringsum, fern und
-nah, auf dem Dache und in allen Stockwerken wurde gehämmert,
-geschrien, gekratzt, gesägt, gehobelt.
-</p>
-
-<p>
-In dem Bureau selbst stand katastrophenferne Ruhe.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen tauchte die Feder ein. Und wie er schreiben
-will, steht auf dem Pulte anstelle des Tintenfasses
-ein winziges, lebendiges Herrchen, das sich höflich
-verbeugt und lächelnd auf das Bromsalzglas deutet,
-mit einem feingegliederten Zeigefingerchen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen kann nicht atmen, fletscht die Zähne,
-taucht die Feder noch einmal ein. Sticht sie auf den
-Kopf des Herrchens, das zum Tintenfaß zusammenschrumpft.
-Und wie Jürgen schreiben will, steht es
-wieder lebendig da, höflich vorgebeugt. Das Zeigefingerchen
-deutet, das Mündchen lächelt und sagt:
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
-„Mit Bromsalz kann eine Menschenseele nicht zum
-Schweigen gebracht werden. Ich versichere Ihnen,
-so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig
-Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele
-reden, durch ihre Seele in gar keiner Weise mehr gestört
-werden, weil sie sie schon längst eingetauscht
-haben gegen Dinge, die ihren Marktwert haben ...“
-</p>
-
-<p>
-Das ist wahr, dachte Jürgen. Das ist wahr.
-</p>
-
-<p>
-„... so wahr ist es, daß bei gewissen Individuen die
-Seele spielend leicht durch den allerstärksten Schutzwall
-durchschlüpfen und ihr vorbestimmtes Recht
-verlangen kann.“
-</p>
-
-<p>
-Das Herrchen legte das Händchen an den Mund,
-als habe es ein tiefes Geheimnis zu offenbaren: „Die
-Seele will fließen. Und fließt unter Umständen bei
-gewissen Individuen selbst auf die Gefahr hin, überzufließen
-und alles in Verwirrung zu bringen. Denken
-Sie nur an die vielen, vielen Irrenhäuser, die es gibt
-auf dieser Erde. Voll! Überfüllt! Wer bezahlen
-kann, kommt in die erste Klasse und kann seine Seele
-preisentsprechend behandeln lassen ... Nun, das ist
-ja Nebensache, der Preis nämlich, wenn er auch in
-unserem Zeitalter bei allem die Hauptsache ist. Aber
-verzeihen Sie die Abschweifung.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen strich sich über die Augen, blickte zum
-Fenster hinaus. „Was heißt Abschweifung! Das ist
-eine Halluzination. Nein, es ist nur eine Sinnestäuschung.
-Und das nicht einmal, ich habe nur,
-wie der Arzt sagte, zu viel gegessen. Oder ich bin
-übermüdet. Es sind nur die Nerven. Dieser Umbau
-macht einen ja ganz verrückt.“
-</p>
-
-<p>
-Er schielte auf das Tintenfaß. Das stand leblos,
-schwarz, breit und niedrig an seinem Platze. Dennoch
-<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
-ertönte eine Stimme: „Wenn die Seele überfließt und
-spricht, nennen das die Ärzte eine Halluzination.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich werde mich aber jetzt doch einmal von einem
-Nervenarzt untersuchen lassen!“
-</p>
-
-<p>
-„Das hilft Ihnen nicht“, behauptete, schülterchenzuckend,
-das Herrchen. Es saß auf dem Löschblattbügel,
-ein Beinchen übergeschlagen, und sah nicht
-aus, als ob es bald weggehen würde.
-</p>
-
-<p>
-Der verheiratete Beamte wechselte die Schutzärmel,
-damit sie sich im Laufe der Jahre gleichmäßig abnützen
-sollten. Er war aus Erfahrung klug geworden.
-Ihm konnte es nicht mehr passieren, jahrelang einen
-schwarzen und einen grünen Schutzärmel tragen zu
-müssen, wie einmal in seiner Jugend, da er es unterlassen
-hatte, den schneller sich abnutzenden rechten
-Schutzärmel Öfters mit dem linken zu wechseln.
-</p>
-
-<p>
-Die beiden noch farbig schillernden, eleganten
-jungen Beamten, die vor Jürgen an einem Doppelpulte
-saßen, machten einander mit den Beinen aufmerksam
-auf die Pedanterie ihres älteren Kollegen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen übergab seine Weisungen für die Börse
-dem Prokuristen, einem runden Manne, dessen Lippen
-immer aussahen, als habe er eben eine fette Speise
-gegessen.
-</p>
-
-<p>
-„Sagte es denn eben wirklich: Sie standen schon am
-Anfang Ihres Ich. Oder sagte ich selbst das?“
-Jürgen konnte nicht ermitteln, ob er selbst sprach.
-</p>
-
-<p>
-„Ich, natürlich, ich bins, der spricht! Niemand
-anderer als ich sagte: Sie standen schon am Anfang
-Ihres Ich.“
-</p>
-
-<p>
-„Dieses Wort ist doch von mir. Ich selbst habe
-diesen Gedanken in genau der selben Formulierung
-vor Jahren einmal ausgesprochen.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
-„Wie meinen?“ fragte der Prokurist.
-</p>
-
-<p>
-Drei schreibgekrümmte Rücken und zwei starr
-blickende Augen, die einmal des Verheirateten Nacken,
-das Salzglas, dann wieder das Tintenfaß doppelt
-sahen. „In meinem Hinterkopf geht etwas vor sich;
-nicht in der Stirn.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich bins, der vor sich geht.“
-</p>
-
-<p>
-„Und was wird mit mir geschehen?“
-</p>
-
-<p>
-„Sie sind nicht mehr vorhanden.“
-</p>
-
-<p>
-Die Stirn knallte auf die Schreibtischplatte. Die
-Bureauwände neigten sich lautlos auf ihn zu. Er sah
-die ineinander verschwimmenden Gegenstände vervielfacht
-und hatte das mit Übelkeit verbundene Empfinden,
-alles Blut vergehe in seinem Körper.
-</p>
-
-<p>
-Der Prokurist sprang herbei, das Wasserglas in
-der dicken Hand, richtete den Haltlosen auf.
-</p>
-
-<p>
-„Kaufen Sie! Kaufen Sie!“
-</p>
-
-<p>
-„Selbstverständlich! Wird geschehen! Seien Sie
-ohne Sorge ... Hier, ein Schluck Wasser.“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, irgend etwas! Für mich! Kaufen Sie ...
-Vielleicht Orangen. Was Sie wollen!“
-</p>
-
-<p>
-Der Prokurist eilte zur Tür. Jürgens Lippen waren
-weiß. In seinem Hinterkopfe klopfte dunkel der
-Hammer aus Gummi. „Möglichst schnell“, schrie
-er, Zähne gebleckt, dem Prokuristen nach.
-</p>
-
-<p>
-„Das hilft Ihnen nicht mehr.“
-</p>
-
-<p>
-„Die Stimme klingt, als spräche jemand mit mir
-aus weiter, weiter Ferne und doch aus nächster Nähe.
-Sie klingt wie ein telephonisches Ferngespräch. Mir
-ist, als spräche ich mit einem Wesen, das ich in Qualen
-liebte ... Bitte“, sagte Jürgen, bebend in Angst vor
-der Erfüllung seiner Bitte und so laut, daß die Beamten
-aufblickten, „legen Sie jede Verkleidung ab.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
-Da sah er nichts Gegenständliches mehr, keine
-Augen; er sah einen Blick, nicht von Augen entsandt.
-Nur den Blick selbst, der unversehens zu dem ernsten
-Blicke des Jünglingsbildes in der Abonnementskarte
-wurde und, vergehend, weit zurückwich.
-</p>
-
-<p>
-Heiß durchzogen und atembenommen starrte er
-dem vergehenden, ergreifend ernsten Blicke nach,
-beobachtete, Zähne gefletscht und Kopf seitwärts gedreht,
-wie der Blick sich in das Herrchen verwandelte,
-das sich so schnell erhob, daß der Löschblattbügel
-schaukelte.
-</p>
-
-<p>
-„Das war mein erster offizieller Besuch.“ Es
-blickte auf die Bureauuhr. „Fünf Minuten vor
-zwölf.“ (Der Verheiratete nahm schon die Schutzärmel
-ab). „Existenzen Ihresgleichen gibt es in dieser Sekunde
-auf der Erde ...“ Das Herrchen nannte eine
-Zahl, die riesengroß und winzig klein in einem war
-und wie ein anklagendes Wort klang, gesprochen in
-der Nachtstille.
-</p>
-
-<p>
-„Sie sind in allen Schichten und Lagern zu finden.
-Ich besuche sie alle. Jeden zu seiner Zeit. Es sind
-Universitätsprofessoren darunter, die als Studenten
-noch die Bereitschaft zur Hingabe in den Augen
-trugen. Industrielle, die als Jünglinge Gedichte gemacht
-haben. Hohe Geistliche, die in das falsche
-Christentum reisten. Dichter, die um des Erfolges
-und des Ruhmes willen von dem Protest und der
-Gesinnung weg in den Erfolg und Ruhm und immer
-tiefer in das Publikum hineinreisten. Männer, die sich
-der Wissenschaft hingegeben hatten und aus ihr
-später ein Geschäft machten, ein Namensschild mit
-Titel, angeschlagen an der Haustür. Und Existenzen
-Ihresgleichen, die Sozialisten waren und Bürger
-<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
-wurden. Verruchte Existenzen! Denn sie konnten,
-kraft naturverliehener Kraft, sich durch das heucheleidurchwirkte,
-blutnasse, dicke, dichte Dickicht dieses
-Jahrhunderts durchschlagen zu dem Bewußtsein, daß
-die im Zeichen befreiter Arbeit stehende menschliche
-Gemeinschaft, in der die Seele ihr Ich durch den
-Körper gewinnen und im Gleichgewicht in sich selber
-ruhen kann, erkämpft werden muß, sollen die lebenden
-und kommenden Generationen bewahrt bleiben
-vor Krieg und Hungerbarbarei, dem Wahnsinn, vor
-dem großen Tode!“
-</p>
-
-<p>
-‚Ich muß mir das Ganze notieren, so kann ich es
-nicht behalten‘. „... Unmöglich! Unmöglich!“ rief er,
-ohne den Blick vom Stenogrammblock zu erheben,
-die Linke abwehrend ausgestreckt, dem Prokuristen
-zu, der einen Stoß Papiere in den Händen hielt, erstaunt
-sich die Lippen leckte und, auf den Zehenspitzen rückwärtsgehend,
-wieder verschwand.
-</p>
-
-<p>
-„Jeden zu seiner Zeit. Einmal bin ich ein Herbsttag,
-ein welkes Blatt, das vom Baume fällt und bei
-einem ruhmverkalkten Dichter plötzlich die Frage
-auslöst: Habe ich alles verraten, was in der Jugend
-mir teuer war? Die Frage, die zugleich die Antwort
-und der Beweis ist. Manchmal schreite ich in ein
-Buch hinein, werde zu einem Satze, der in dem Lesenden
-blitzhaft die Gewissensfrage auslöst. Manchmal
-bin ich ein Traum. (Wie bei Ihnen zum Beispiel. Auch
-kann ich der Umbau eines Bankgebäudes sein).“
-</p>
-
-<p>
-Oder ein Engländer, der fragt: Wie geht es Ihrem
-Herrn Bruder? dachte Jürgen und stenographierte
-auch diese Erinnerung.
-</p>
-
-<p>
-„Ich bin ein zwanzigjähriges Mädchen, das im
-Kampfe gegen die Umwelt steht und durch ihre Verachtung
-<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
-in dem Abtrünnigen die Sekunde aufreißt,
-in der er den tragischen Rückblick tun muß. Manchmal
-werde ich durch einen Ton in grauer, leerer Stunde
-zur Gewissensfrage. Durch den Ton einer Kindertrompete!
-Ich bin ein regnerischer Tag, verhindere
-einen Ausflug in den Genuß und werde so zum Tage
-des Versinkens in den Ekel vor sich selbst. Oft bin
-ich ein Sonntagnachmittag. Ich werde als Bild an
-der Wand zur Gewissensfrage und als Spaziergang in
-menschenleerer Landschaft, wo es keine Läden gibt.
-Ich steige als Weinrausch in das Herz eines Satten,
-und er sinkt in die Selbsterkenntnis hinein. Es kann
-einer seinen Teppich ansehen und plötzlich aus dem
-Muster, das ich bin, die Gewissensfrage herauslesen,
-grauenvoll deutlich. Manchem wird der Rückblick
-zum Konflikt, der ihn ins Irrenhaus bringt.“
-</p>
-
-<p>
-Das Herrchen deutete: „Das ist Ihr Fall.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen schauerte im Rückenmark.
-</p>
-
-<p>
-„Andere glauben, sich in Selbstgerechtigkeit hineinretten
-zu können. Viele ertrinken völlig in ihr und
-erleiden die Strafe erst in spätem Alter, wenn sie eines
-Tages, veranlaßt durch mich, die Nichtigkeit ihres
-Lebens einsehen müssen und, entsetzt über ihr verdrecktes,
-mit Achtung, Gemeinheit, Lüge, Erfolg,
-Ruhm und Selbstgerechtigkeit poliertes Dasein, an
-einer Kugel, an einem Stricke oder an Ekel vor sich
-selbst sterben. Auch die feinste Selbstbelügung
-schützt den Verräter nicht. Keiner kann in Selbstgerechtigkeit
-sein Leben beschließen. Dies vermögen
-nur diejenigen, die schon als wehrlose Kinder ganz
-entselbstet, enticht, entseelt werden konnten, sich
-der Umwelt anpaßten und dafür das Leben, wie es ist,
-eintauschten, im Gegensatz zu Ihnen, der Sie die Kraft
-<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
-hatten, sich das Kostbarste und Leidvollste auf Erden
-zu erkämpfen: das Bewußtsein.“
-</p>
-
-<p>
-„Wer vermöchte zu entscheiden, ob stärker als die
-Verhältnisse und größer als meine Begierden die Kraft
-in mir war, weiter zu kämpfen! Was ist der Beweis
-meines Verrates?“
-</p>
-
-<p>
-„Wer fragen muß: Bin ich ein Verräter, der ist es;
-Ihrem Schwiegervater fällt dies gar nicht ein. Die
-Frage enthält schon die Antwort und den Beweis des
-Verrates.“
-</p>
-
-<p>
-Diese Worte trafen ihn mit solcher Beweiskraft,
-daß er minutenlang die Fähigkeit, zu denken, vollkommen
-verlor. Auch das Klopfen im Hinterkopfe
-hatte geendet.
-</p>
-
-<p>
-Die Bureauuhr schlug zwölf. Die drei Beamtenoberkörper
-richteten sich auf. Drei Federhalter wurden
-weggelegt.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen legte den Federhalter weg, richtete
-sich auf. Vor seinen Augen schwebten rundum und
-durcheinander blitzweiße, goldumränderte Sternchen,
-als ob er mit dem Kopfe nach unten aufgehängt gewesen
-wäre. Eine Fliege glitt auf weißem Papier
-schnell vom Tintenfaß zum Löschblattbügel.
-</p>
-
-<p>
-„Wieviel Beine hat eigentlich eine Fliege? Vier
-oder sechs? ... Da wurde ich zweiundvierzig Jahre alt
-und weiß nicht, wieviel Beine eine Fliege hat. Was
-bin ich doch für ein Dummkopf! Sitze da und grüble
-seit Stunden über diesen Unsinn nach. Kann mir doch
-vollkommen gleichgültig sein“, sagte er und horchte
-befreit auf den stärker gewordenen Straßenlärm, den
-die dem Suppenteller Zueilenden verursachten. Die
-Glocken der Trambahnen läuteten stärker.
-</p>
-
-<p>
-„Es muß ja nicht gleich morgen sein, aber bei Gelegenheit
-<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
-sollten Sie sich einmal neu photographieren
-lassen. Sie sind zu verändert“, sagte freundlich der
-Schaffner und gab die Abonnementkarte zurück.
-„Das hier ist ein junger Mensch, während Sie doch
-schon in die besten Mannesjahre kommen.“
-</p>
-
-<p>
-Der grauhaarige Bürger, der neben Jürgen saß,
-schob den zusammengerollten Fahrschein unter den
-Ehering.
-</p>
-
-<p>
-Ja, die liegen Gott sei Dank noch vor mir ... Kann
-mich ja photographieren lassen, bei Gelegenheit,
-dachte er, stieg aus. Und ging, im selben Tempo wie
-jeden Tag, die zweihundert Schritte bis zur Villa.
-Summend durch den Garten, auf die farbigen Glaskugeln
-zu.
-</p>
-
-<p>
-Den Bruchteil einer Sekunde stutzte er vor den
-Glaskugeln. Es war ein grauer Tag. Die Glaskugeln
-standen öd in ihren eigenen Farben. Im Garten regte
-sich nichts.
-</p>
-
-<p>
-Der Mantel hing sich von selbst an den Haken.
-Die bereitstehenden Hausschuhe schlüpften über
-Jürgens Füße. Gewohnheitsmäßig zupfte er das Tischtuch
-zurecht. Die Schüsseln entleerten sich.
-</p>
-
-<p>
-Das Kanapee gab mit den vertrauten Tönen dem
-Körper nach. Die Augen lasen die Mittagszeitung.
-</p>
-
-<p>
-Bis sechs Uhr im Bureau. Dann im Garten. Wachsweiche
-Eier zum Abendessen. Von neun bis zehn Uhr
-die Abendzeitung. Auf den Rat des Arztes hin punkt
-zehn Uhr ins Bett. Am langen Sonntagnachmittag
-die gewohnte Billardpartie mit dem befreundeten
-Fabrikanten, der die Sammlung gotischer Plastiken
-besaß. Montag ins Bureau.
-</p>
-
-<p>
-So verging noch eine kurze Zeit, bis eines Tages
-die Abendzeitung ausblieb.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
-Punkt neun erklang das Stöhnen des Kanapees,
-zusammen mit Jürgens wohligem A-Seufzer. Seine
-Hand griff automatisch nach der Abendzeitung, die
-seit Jahren immer an der selben Stelle auf dem Tische
-bereit gelegen war, und griff in die Leere.
-</p>
-
-<p>
-Die Zeit bekam ein Loch, das sich durch das Rufen
-nach Phinchen vorerst noch einmal schloß. „Wo ist
-das Abendblatt?“
-</p>
-
-<p>
-„Die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.“
-</p>
-
-<p>
-„So, die Zeitungsfrau ist heute nicht gekommen.
-Das Blatt wurde nicht eingeworfen, wie? Du hast
-nichts gehört?“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, es wurde nicht eingeworfen. Die Zeitungsfrau
-ist wahrscheinlich am Hause vorübergegangen.“
-</p>
-
-<p>
-„Du meinst also, die Zeitungsfrau sei vorübergegangen.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie hat zweifellos vergessen, die Zeitung einzuwerfen.
-Ging am Hause vorüber.“ Als er das Wort
-‚vorüber‘ aussprach, schlug er sich, das Gähnen zu
-verdecken, einige Male leicht auf den Mund, so daß
-das Wort in mehrere Laute getrennt wurde. Dieses
-Geräusch erinnerte ihn an das Geräusch, das der leerlaufende
-Motor verursacht, wenn die Trambahn
-hält. (Der Schaffner gibt ihm die Abonnementkarte
-zurück.)
-</p>
-
-<p>
-‚Gut, kann ja ein neues Bild machen lassen, bei
-Gelegenheit ... Den Fahrschein zusammengerollt
-unter den Ehering zu schieben, ist übrigens ganz
-praktisch. Man hat ihn gleich, wenn der Kontrolleur
-kommt.‘ Seine Hand griff nach dem Abendblatt.
-„... Ah so!“
-</p>
-
-<p>
-Er versuchte, das Loch, das die Zeit bekommen
-hatte, auszufüllen, indem er das linke Bein über das
-<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
-rechte schlug und heiter zu summen begann. Sobald
-er still lag, war das Loch wieder da. Groß, schwarz,
-endlos.
-</p>
-
-<p>
-Der grüne Hügel, wo vor vierzehn Jahren die
-Fabrikantensöhne und -töchter Huhn und Rotwein
-genossen hatten, schob sich in das Loch, verschwand
-wieder. Er dachte: Was jetzt, zwischen neun und
-zehn Uhr, in der Welt alles vor sich geht ... Gewiß
-sehr viel.
-</p>
-
-<p>
-Warf das rechte über das linke, legte den Kopf auf
-die harte Sofalehne, dann auf das weiche Kissen.
-Betrachtete die Tapetenblumen. (‚Einer sieht seinen
-Teppich an, und das Muster, das ich bin ...‘) Er warf
-sich herum. Das Kanapee ächzte. Er begann zu pfeifen.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich wurde er, bei dem Gedanken, hier zu
-liegen und eine Stunde zu pfeifen, von solchem Grauen
-gepackt, daß er, mit noch pfiffgespitztem Munde,
-versteinert die Decke anstarrte.
-</p>
-
-<p>
-„Sie hätte nur die Zeitung einwerfen brauchen,
-dann könnte ich mich zerstreuen. Zerstreuen ...
-Früher konnte ich in Gesellschaft gehen oder ins
-Varieté, in den Zirkus, ins Theater, in die Oper.
-Andere gehen in ihr Stammlokal, in die Gesangvereinsprobe,
-zum Kegeln, spielen Karten ... Das ist eine
-Zerstreuerei! Ganz Europa zerstreut sich.“ Er pfiff
-wieder.
-</p>
-
-<p>
-„Aber die andern, die schon als wehrlose Kinder –
-Sie wissen schon: die leben, wenn sie kegeln.“
-</p>
-
-<p>
-Da öffnete sich der pfiffgespitzte Mund; Jürgen
-glaubte zu fühlen und zu sehen, wie hinter seiner
-Stirn die schwarzen Buchstaben zu der Frage entstanden:
-„Wer hat das gesagt?“
-</p>
-
-<p>
-Er schnellte in Sitzstellung empor und brüllte ins
-<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
-totenstille Zimmer hinein: „Wer hat das gesagt?
-Wer?“
-</p>
-
-<p>
-Die Amsel verließ, heftig flatternd, auf einem scharfen
-Pfiff den Mauerefeu beim Fenster. „Wer? Die
-Amsel? Wer hat das gesagt?“
-</p>
-
-<p>
-Von den an der Decke kreisenden Fliegen fiel eine
-auf die Tischplatte. Und Jürgen, Oberkörper lauernd
-vorgebeugt, Hand fangbereit gekrümmt, flüsterte:
-„Muß doch einmal ...“ Die Gefangene drückte gegen
-das Faustinnere.
-</p>
-
-<p>
-Schneller als eine Fliege vorbeizuckt, wich das
-Interesse, zu erfahren, wieviel Beine sie hat, der Frage,
-was ihn noch retten könne.
-</p>
-
-<p>
-„Für Sie gibt es keine Rettung mehr. Sie werden
-wahnsinnig werden.“
-</p>
-
-<p>
-Langsam ließ er sich auf das Kanapee zurücksinken.
-„Wahnsinnig? Weshalb?“ Fuhr sofort wieder in
-Sitzstellung auf. „Was? Wer hat gesagt, ich würde
-wahnsinnig werden? Wer? Das habe nicht ich gesagt.
-Wer hat das gesagt? Wer! Wer!“ Plötzlich
-brüllte er wild: „Die Abendzeitung! Ich will die
-Abendzeitung. Alle haben ihre Abendzeitung. Die
-Abendzeitung! Die Abendzeitung!“ Wut entstellte
-sein Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-„Auch die Zeitung würde Ihnen nichts mehr nützen.“
-</p>
-
-<p>
-Pünktlich auf die Minute trat, wie jeden Abend,
-Phinchen ein und zog die Wanduhr auf: Die zwei
-Bleigewichte berührten den Rand des Ziffernblattes.
-</p>
-
-<p>
-„Dann ist es jetzt genau halb zehn“, sagte Jürgen,
-als Phinchen wieder draußen war. „Ich brauche gar
-nicht hinzusehen. Genau halb zehn ... Und morgen
-abend um halb zehn ist die Uhr abgelaufen und die
-Gewichte hängen unten. Dann ist ein Tag vorbei.
-<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
-Die Uhr wird aufgezogen. Und übermorgen um halb
-zehn hängen die Gewichte wieder unten. Dann ist
-wieder ein Tag vorbei. Sie wird aufgezogen ... Aufgezogen
-...“
-</p>
-
-<p>
-„Und dann ist das Leben vorbei.“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, dann ist das Leben vorbei ... Und doch fahre
-ich morgen ins Bureau und übermorgen. Und dann
-kommt der Sonntag. Und dann der Montag. Der
-Samstag. Ich arbeite, mache Pläne. Fusion. Werde
-reicher und reicher. Die Jahre vergehen ...“
-</p>
-
-<p>
-Und dann kam die Frage nach dem Sinn und nach
-dem Ziele, die Frage nach der Idee, nach dem Zwecke,
-für den zu arbeiten und zu kämpfen sein Lebensinhalt sei.
-</p>
-
-<p>
-Sein Inneres und die Umwelt – alles war grau und
-leer. Er wartete. Lange.
-</p>
-
-<p>
-„Aber ich bin ein geachteter Mann.“
-</p>
-
-<p>
-„Einmal sagten Sie, dies sei die größte menschliche
-Katastrophe.“
-</p>
-
-<p>
-„Kann sein! Kinderei! Lassen wir das einstweilen.
-Jetzt will ich erst einmal Bilanz machen. Dann werde
-ich überlegen, was zu tun ist. Ich will methodisch
-vorgehen. Reich, sehr reich und geachtet, gebildeter
-und wissender, kultivierter als die meisten und imstande,
-mir jeden Genuß, den das Leben bietet, zu
-verschaffen.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie haben also alles schon erreicht, was den andern
-von Jugend an als Ziel vorschwebt und zum Sarg wird
-für diejenigen, die das Ziel erreicht haben. Was also
-ist der Zweck? Was Ihr Ziel?“
-</p>
-
-<p>
-„Auch bin ich nicht schmutzig, nicht geizig. Im
-Gegenteil; ein Zehntel der Summe, die ich für Wohltätigkeitszwecke
-gegeben habe, würde genügen, daß
-ein halbes Dutzend Männer mit Frauen und Kindern
-<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
-ein vollkommen sorgenloses Leben in eigenem Hause
-führen und selbst in kleinerem Ausmaße wohltätig
-sein könnten.“
-</p>
-
-<p>
-„Das stimmt. Zum Teil wahrscheinlich auch daher
-die große Achtung, die Sie genießen und vor sich selbst
-haben.“
-</p>
-
-<p>
-„Auch möglich! Aber das ist, wie gesagt, jetzt
-Nebensache, die Achtung.“
-</p>
-
-<p>
-„Nee, die ist mit die Hauptsache.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen machte eine ärgerliche Abwehrbewegung mit
-der Hand. „Nun, wenn Sie wollen, ich pfeife auf die
-Achtung. Ich könnte, wenn ich auf der selben Linie
-weiterschreiten würde, noch mächtiger, einflußreicher
-und in noch weiteren Kreisen geachtet werden.“
-</p>
-
-<p>
-„Das können nur die Bewußtseinslosen, deren Weltanschauung
-in den drei Worten besteht: Jeder für
-sich; Sie aber können das nicht. Denn Ihr Bewußtsein
-sagt Ihnen, daß Sie nicht das geringste zur Verwirklichung
-des unverrückbaren Menschheitszieles beizutragen
-vermöchten, auch wenn Sie, weiterschreitend
-auf dem Jeder-für-sich-Wege, der mächtigste Mann
-des Landes werden würden.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich will ja auch gar nicht fortschreiten auf diesem
-ziellosen Wege.“
-</p>
-
-<p>
-„Nicht Sie wollen nicht, sondern ich will nicht.
-Ich! Ich lasse nicht zu, daß Sie in dem bisherigen
-Trott weitermachen. Sie selbst können gar nicht
-mehr wollen oder nicht wollen. Sie sind nur noch eine
-Willensmaske.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen preßte beide Fäuste an den Kopf. „Seit
-einiger Zeit führe ich fortwährend Selbstgespräche.
-Nun, und wenn auch! Viele Menschen führen Selbstgespräche.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
-„Sie aber führen Gespräche mit Ihrem Selbst.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen sah auf. „Wie dem auch sei, Tatsache ist,
-daß ich ohne Ziel, ohne Idee, ohne Zweck nicht weiterleben
-kann. Das halte ich nicht aus. Ich halte diesen
-Zustand einfach nicht mehr aus.“
-</p>
-
-<p>
-„Dies ist es, was Sie von dem Vollbürger unterscheidet.
-Der hält diesen Zustand sehr gut aus. Denn
-sein Ziel ist: Haben, haben, haben und immer noch
-mehr haben. Und er bleibt in der Regel gesund dabei.
-Fragt sich nur, ob diese seine Gesundheit nicht die
-Krankheit ist, an der die Menschheit zugrunde geht.“
-</p>
-
-<p>
-„Daß an dieser Gesundheit die Menschheit zugrunde
-geht, scheint mir gar keine Frage mehr zu sein. Ich
-habe da“, flüsterte Jürgen, „zweifellos einen richtigen
-Gedanken ausgesprochen ... Wie steht es aber damit,
-daß trotz dieser tödlichen Gesundheit es offenbar
-keinen Menschen gibt, der ohne Ideal zu leben vermöchte.
-Ausnahmslos jeder, den ich kenne, und sei
-er der übelste, habgierigste, härteste Schuft, hat sein
-Ideal, und wenn es auch nur Selbstbelügung ist.
-Mittel zur Beruhigung des Gewissens.“
-</p>
-
-<p>
-Zuerst blickte Jürgen mit zugekniffenen Augen mißtrauisch
-seitwärts, wie einer, der sich vergewissern
-will, ob er nicht beobachtet wird. Langsam richtete
-er sich auf. Die Hand wurde auf der Tischplatte zur
-Faust. Auf der Stirn entstand die Energiefalte. So
-saß er, reglos, alle Muskeln gespannt, plötzlich ganz
-erfüllt von dem Entschlusse, mit der Niederschrift
-seines seit langem geplanten Lebenswerkes ‚Volkswirtschaft
-und Einzelseele‘ zu beginnen. „Das ist
-meine Rettung.“ Freude rötete sein Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Und wie er den Kopf hob, sah er auf der gegenüberstehenden
-Wand ein winziges, höhnisches Lächeln.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
-Senkte sofort den Kopf. Durch dieses Werk werde ich zu
-meinem kleinen Teile dem Fortschritt und der Erkenntnis
-der Menschheit dienen können, dachte er, schielte zur
-Wand, wo wie ein Bild das höhnische Lächeln hing.
-</p>
-
-<p>
-„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Ihr
-tönendes, tiefes Gefasel über Moral, Gerechtigkeit,
-Humanität, Ideal und Seele in bezug auf die Volkswirtschaft
-nicht zulassen, sondern während der Niederschrift
-mit einer Hartnäckigkeit ohnegleichen immer
-wieder darauf hinweisen werde, daß es sich um die Moral
-und die Gerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Nutznießer
-des bestehenden Produktions- und Verteilungssystemes
-handelt, welches den entscheidenden mörderischen
-Einfluß hat auf das Wesen und das Sein, das
-Kranksein und das Nichtsein auch der Einzelseele.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgens hervortretende Augen starrten rettungsuchend
-umher. Schlaff geworden, sank er in die
-Kanapeecke. „Keine Möglichkeit der Hingabe? Ich
-sehne mich so sehr danach.“
-</p>
-
-<p>
-„Diese Sehnsucht entspringt schon dem Konflikt,
-der Sie ins Irrenhaus bringen wird.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich will, ich will zurück zu mir ... Ich fühle, ich
-fühle ...“
-</p>
-
-<p>
-„Sie ... denken Gefühle. Sie können weder vor-
-noch rückwärts.“
-</p>
-
-<p>
-„Eine tote Mitte? Das halte ich nicht aus. Ich
-werde wahnsinnig.“
-</p>
-
-<p>
-„Wahnsinnig! Sie sind gestellt.“
-</p>
-
-<p>
-„Eingekreist?“
-</p>
-
-<p>
-„Eingekreist! Das, was Sie während der letzten vierzehn
-Jahre waren, können Sie nicht länger mehr sein; so,
-wie Sie als Kämpfender waren, nicht mehr werden. Sie
-sind nicht mehr vorhanden. Sie sind nicht mehr Sie.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
-„Das hat auch der Trambahnschaffner gesagt.“
-</p>
-
-<p>
-„Aus dem heraus habe ich gesprochen.“
-</p>
-
-<p>
-„Sind Sie auch die Abendzeitung, die nicht gekommen
-ist?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich bin das Nichtgekommensein der Abendzeitung
-und habe auch aus dem Trambahnschaffner herausgesprochen.
-Der sogenannte normale Bürgersmann
-hört aus des Schaffners Worten ‚Das sind ja gar
-nicht mehr Sie‘ nur heraus, daß sein Bart länger oder
-grauer geworden ist.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn Sie ich sind und aus dem Trambahnschaffner
-herausgesprochen haben, dann habe ja ich selbst aus
-dem Trambahnschaffner herausgesprochen und zugleich
-als Fahrgast seine Worte vernommen. Seine?
-Ihre? Oder meine? Ich weiß nicht. Bin ganz verwirrt.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie haben Ihre eigenen Worte vernommen, die
-der Trambahnschaffner, aus dem ich sprach, gesprochen
-hat.“
-</p>
-
-<p>
-Angsterregung riß Jürgen vom Kanapee auf. „Wer
-denkt das alles? Ich Will wissen, wer da denkt.“
-</p>
-
-<p>
-„Ihr Bewußtsein.“
-</p>
-
-<p>
-„Wer spricht die ganze Zeit mit mir? Ich höre
-Stimmen.“
-</p>
-
-<p>
-„Wahnsinnige hören Stimmen.“
-</p>
-
-<p>
-„Und ich bin nicht wahnsinnig. Bin nicht wahnsinnig!
-Ich bin der Bankier Jürgen Kolbenreiher. Und
-ich brauche nur nicht mehr in das Bureau zu gehen,
-brauche nur da wieder anzuknüpfen, wo ich vor
-vierzehn Jahren abgebrochen habe, dann werde ich
-wieder ein Ziel haben, werde hingebungsvoll kämpfen,
-und alles wird gut sein.“
-</p>
-
-<p>
-„Auch dieser Wunsch entspringt dem Konflikt,
-der Sie ins Irrenhaus bringen wird.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
-„Suchet, so werdet Ihr finden, heißt es in der
-Schrift.“ Jürgen lauschte, das Gesicht seitwärts gedreht.
-Im Nachbargarten ertönte eine Lachsalve.
-</p>
-
-<p>
-„Ich muß Schluß machen, Schluß! und sofort neu
-anfangen. Auf der Stelle! Vor allem: ich gehe nicht
-mehr in die Bank. Schluß!“
-</p>
-
-<p>
-Er war aufgesprungen, lauschte nach innen, was
-der Strom der Gefühle ihm zuerst bringen werde:
-</p>
-
-<p>
-Schreibmaschinen klapperten. Der Mahagoniaufzug
-stieg lautlos empor. Angestellte eilten durch die
-Gänge des Bankgebäudes. Der Prokurist verbeugte
-sich, reichte Jürgen die wichtigen Telegramme.
-</p>
-
-<p>
-Angewidert von dem eigentümlichen Geruch des
-Bankgebäudes, schob er das ganze Geschäft von sich
-weg, wartete auf den Strom der Gefühle. Die Frau
-des befreundeten Fabrikanten, eine junge, schöne Blondine,
-die zu Jürgen in die Villa gekommen und von
-ihm verführt worden war, tritt ein, nimmt, wie damals,
-den Schleier ab. Das sah, wie damals, aus, als ob sie
-sich entkleidete. Jürgen schüttelte abwehrend den
-Kopf.
-</p>
-
-<p>
-Das Billardbrett tauchte grün auf. Jürgen hatte
-nur noch einen schwierigen Stoß zu machen. Der gelang
-ihm. Er hatte die Partie gewonnen. Der Freund
-mußte bezahlen.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen lächelte zu Boden. „Das war eine interessante
-Partie“, flüsterte er erfreut und machte
-seinem Freunde noch eine Serie schwierigster Stöße
-vor.
-</p>
-
-<p>
-Die Billardbälle wurden immer größer, kopfgroß,
-wurden zu den farbigen Glaskugeln. Erst als er im
-roten Ball seinen abgeschlagenen Studentenkopf erkannte,
-der lächelte, so daß nicht ein Billardball,
-<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
-sondern ein gefährliches Lächeln kopfgroß über das
-grüne Tuch hopste, ließ er das Queue sinken.
-</p>
-
-<p>
-In tiefster Bestürzung flehte er um ein Gefühl aus der
-Vergangenheit. Er empfand nichts, ließ sich, gebrochen
-und ergeben, in den Sessel sinken. ‚Ich gehe eben morgen
-wieder ins Bureau und übermorgen und in zwanzig
-Jahren auch noch.‘ „Unmöglich!“ rief er. „Unmöglich!“
-</p>
-
-<p>
-Da stieg die Wut hoch in ihm. Um die innere Leere
-zu füllen, stieß er starke Worte aus: „Blutig ans
-Kreuz geschlagen! Proletarier aller Länder ...! Sturm!
-Untergang!“ Er empfand nichts dabei. Brüllte wahllos:
-„Kinderbewahranstalt! Apfelknecht! Reifeisen!“
-</p>
-
-<p>
-„Was, Apfelknecht? Nun, weshalb nicht auch
-Apfelknecht! Jetzt erst recht: Apfelknecht! Apfelknecht!
-Apfelknecht!“
-</p>
-
-<p>
-Entstellt vor Wut, raste er durch alle Zimmer durch
-in den Salon. Zwischen dem schwarzlackierten, nie benutzten
-Kohlenkasten, auf den die heilige Familie
-auf der Flucht nach Ägypten gemalt war, und dem
-gestickten Wandschirmstorch, der das Wickelkissen
-mit den drei Säuglingsköpfen aus dem Teiche zog,
-schwang der Perpendikel hin und her.
-</p>
-
-<p>
-Vor übergroßer Wut ganz ruhig geworden, schritt
-er zur Uhr und riß mit einem Ruck den Perpendikel
-heraus, schleuderte ihn durchs Fenster in das Springbrunnenbassin.
-Die Amsel zuckte aus dem Garten
-hinaus. „Das wäre das“, frohlockte er, hob die meterhohe
-Vase über den Kopf empor und schmetterte sie
-zu Boden. Die Nippsachen flogen an die Wand. Die
-Fenster klirrten. Er demolierte die ganze Einrichtung.
-Rückte den schweren Eichenholzschrank von der
-Wand, betrachtete die Zerstörung. „Nun, nun“, sagte
-er ratlos und schob den Schrank wieder zurück.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
-Schluchzen stieß ihn. Da fühlte er sich innerlich
-berührt und ließ sich führen, hinauf in das Zimmerchen,
-das er als Kind und Jüngling bewohnt hatte.
-In der Hand den silbernen Leuchter, den nach bestandenem
-Abiturientenexamen die Tante ihm mit
-den Worten geschenkt hatte: ‚Wenn ich tot bin,
-bekommst du alles‘, betrat er scheu die Kammer,
-in der seit vielen Jahren kein Mensch mehr gewesen
-war.
-</p>
-
-<p>
-Über dem versessenen Lederkanapee hingen noch,
-oval gerahmt und symmetrisch zu einem großen Oval
-geordnet, die vergilbten Photographien der Familie
-Kolbenreiher. Und auf dem Bücherbrett standen verstaubt
-die Reisebeschreibungen in bilderreichen Umschlägen.
-Die Luft war stockig wie in einer Totenkammer.
-</p>
-
-<p>
-Der große, schwer gewordene Mann blickte, tief
-erschüttert von dem Besuche bei seiner Jugend,
-atembenommen die verblaßten Wände an und seinen
-riesenhaften Schatten. Und begann, traumwandlerisch,
-sich wie ein Jüngling zu benehmen, räumte,
-durchbebt von innerlichem Weinen, die Bücher heraus,
-ordnete sie wieder hinein und schlich, den Zeigefinger
-am gespitzten Munde, mit der ‚Schreckensvollen
-Reise ins Erdinnere‘ zum Kanapee. Ein irr-schlaues
-Lächeln im Gesicht, erhob er sich noch einmal, zog
-mit seinem Taschenmesser einen Riß um die Kerze
-herum, zwei Zentimeter unter dem Docht, und begann
-zu lesen.
-</p>
-
-<p>
-„Nein, nein, ach, nein, das hilft Ihnen nicht.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen blickte auf. Die Stimme hatte so traurig und
-mitleidig geklungen. „Das hilft mir nicht“, flüsterte
-er weinend. „Das hilft mir nicht.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
-Vor ihm lag, weit hingebreitet, ein fremdes Stück
-Land, entzweigespalten durch einen gewaltigen Abgrund.
-Rechts war eine blanke Asphaltfläche. In
-deren Mitte stand ein gelbes Streichholzschächtelchen.
-Alle Schulkameraden, Geschäftsfreunde und Bekannten
-Jürgens schritten auf das gelbe Schächtelchen zu, in
-dem eine Banknote lag. Auf dem Schächtelchen stand
-das Wort ‚Achtung‘. Von allen Seiten kamen sie herbei
-und verbeugten sich vor dem Streichholzschächtelchen,
-stießen einander weg, verbeugten sich.
-</p>
-
-<p>
-Auf der andern Seite des Abgrundes: eine milde
-Wiese. Darauf weidet ruhig ein altes Pferd. Weiter
-rückwärts ist die Wiese wild, und da, wo sie mit dem
-Himmel zusammengeht, sind Jugend, Begeisterung,
-Ziele, feurig beleuchtete Gesichter: Jünglinge, die
-unter Hingabe ihres Lebens sich bemühen, das Pferd,
-das die Liebe ist, über den gewaltigen Abgrund weg
-zu den Bürgern zu schaffen.
-</p>
-
-<p>
-„Die bemerken es ja gar nicht. Und aus diesem
-unheimlichen Grunde ist es den Jünglingen ganz unmöglich,
-das Pferd über den Abgrund herüberzuschaffen“,
-sagte Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-Da wurde seine Hand gezwungen, ein Streichholzschächtelchen
-zu entleeren und eine Banknote hineinzulegen.
-Er stellte das Schächtelchen auf den Fußboden,
-verbeugte sich. Die Fäuste zur Brust hochgehoben,
-sprang er in gleichmäßigem Trabe um das Schächtelchen
-herum. Die Villa zitterte. Jürgen keuchte und schwitzte,
-verbeugte sich, rannte weiter im Kreise.
-</p>
-
-<p>
-Die Uhr schlug zehn. Die Macht der Gewohnheit
-beendete sofort den Tanz. „Schlafen“, sagte er, verzerrten
-Gesichtes gähnend und keuchend in einem. Griff
-nach dem Leuchter.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
-Stand bei der Tür, als ob er eben eingetreten wäre.
-Sein Kopf war frei. „Ich muß die Kammer einmal
-gründlich durchlüften lassen“, sagte er und ging in
-das Schlafzimmer.
-</p>
-
-<p>
-Punkt acht Uhr betrat er am andern Morgen das
-Bureau.
-</p>
-
-<p>
-Erst nachdem er einen halben Kanzleibogen vollgeschrieben
-hatte, hörte er mitten im Worte auf.
-„Ich wollte ja nicht mehr ins Bureau gehen ... Aber
-ist denn das möglich? Halte ich das aus? Oder halte
-ich das nicht aus?“
-</p>
-
-<p>
-„Weder – noch!“
-</p>
-
-<p>
-Da wurden die drei Beamten von einem Knall in
-die Höhe gerissen: Jürgen hatte das Tintenfaß durch
-das zerbrechende Fenster hinunter in den Lichthof
-geschleudert. Ein Tintentropfen rollte langsam an
-der Stirn herunter, am tobsüchtig glotzenden Auge
-vorbei, über die dicke Backe.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn Sie solche Sachen machen, zieht man Ihnen
-ja die Zwangsjacke an. Nun sind Sie selbst aber
-schon eine Zwangsjacke von Ihrem Selbst. Sie würden
-also über die Zwangsjacke eine Zwangsjacke angezogen
-bekommen. Bedenken Sie, welch entsetzliche
-Hilflosigkeit.“ Die Stimme hatte vorwurfsvoll und
-dabei sehr milde geklungen.
-</p>
-
-<p>
-„Jawohl, da ist es schon besser, ich gehe wieder“,
-sagte Jürgen und griff nach seinem Hute. Die zwei
-jungen Beamten machten unabgewandten Blickes mit
-den Beinen einander aufmerksam.
-</p>
-
-<p>
-Von einer fremden, hinter seinem Rücken stehenden
-Macht wurde Jürgen durch die Straßen geschoben
-zum Nervenarzt.
-</p>
-
-<p>
-Bein übergeschlagen, beide Ellbogen so auf die
-<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
-Sessellehnen gestützt, daß die gefalteten Hände und
-das Kinn vor der Brust zusammentrafen, hörte der
-schweigende Neurologe dem Patienten zu. Und
-Jürgen empfand Dankbarkeit diesem Manne gegenüber,
-der offenbar alles schon zu wissen schien und
-sich dennoch alles erzählen ließ.
-</p>
-
-<p>
-„Na“, unterbrach der Professor und schnellte, ein
-abschließendes, vertrauenerweckendes Lächeln im Gesicht,
-vor, griff nach Jürgens Puls. Der Sprungdeckel
-des goldenen Chronometers gab mit einem beruhigenden
-Knacken das Ziffernblatt frei. Die Arztaugen
-blickten zur Decke.
-</p>
-
-<p>
-Das Herrchen saß schwarz auf dem Tintenfaß aus
-schwarzem Marmor und schüttelte verneinend und
-mitleidig das Köpfchen.
-</p>
-
-<p>
-„Und jetzt die Zunge!“ Jürgen streckte die Zunge
-heraus.
-</p>
-
-<p>
-„Sie sind vollblütig und haben leider trotzdem, ich
-sage es Ihnen auf den Kopf zu, täglich Suppe gegessen,
-Fleisch, auch Eier! Stimmt das?“
-</p>
-
-<p>
-„Wachsweiche Eier zu essen, hat mein Hausarzt
-mir geraten.“
-</p>
-
-<p>
-Das überhörte der Professor. „So viel über Ihren
-körperlichen Zustand. Und was Ihren seelischen Zustand
-betrifft, über den, wie Sie sich ausdrückten,
-Sie keine Kontrolle mehr zu haben glauben, so ist
-dazu zu sagen, daß es, streng naturwissenschaftlich
-gesprochen, einen seelischen Zustand in Ihrem Sinne
-gar nicht gibt, aus dem einfachen Grunde, weil es,
-streng naturwissenschaftlich gesprochen, verstehen
-Sie, eine Seele, in dem Sinne, wie Sie sie auffassen,
-nicht gibt.“
-</p>
-
-<p>
-Er blickte Jürgen ermunternd an, als wolle er sagen:
-<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
-Sehen Sie, so einfach ist diese Sache, wenn man sie
-wissenschaftlich betrachtet.
-</p>
-
-<p>
-„Es gibt nur Körper, Herr Kolbenreiher, Körper,
-angefangen bei dem mit Vernunft und Bewußtsein
-bedachten, höchst entwickelten Tier, nämlich dem
-Menschen, zurück über den Affen, das Pferd, den
-Esel, den Hund, den Wurm, die Schnake, die Laus
-(wenn Sie gestatten), die Pflanze und den leblosen
-Dingen, die, ebenso wie die Pflanzen, die Tiere und
-wir, aus Atomen bestehen. Das ist, von der Naturwissenschaft
-aufgebaut und bis in die letzten Winkel
-durchleuchtet, der für uns glasklar gewordene Kosmos,
-in dem die mittelalterliche Hypothese ‚Seele‘, wie Sie
-sie auffassen, keinen Raum mehr hat.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen warf schnell einen Blick Richtung Tintenfaß,
-das schwarz und glänzend auf seinem Platze
-stand.
-</p>
-
-<p>
-„Sie, Herr Kolbenreiher, sind ein intelligenter
-Patient; anderen gegenüber würde ich mich zu solchen
-Erklärungen nicht herbeilassen. Repetieren wir: Es
-gibt also erstens vernunftlose Atomverdichtungen und
-zweitens vernunftbegabte Atomverdichtungen, von
-denen die höchstentwickelte Verdichtung der Mensch
-ist. Wir haben es demnach nicht mit der Zweiteilung
-‚Seele und Körper‘ zu tun, wie Ihr Herrchen behauptet
-...“
-</p>
-
-<p>
-„In dieser Form habe ich das nie behauptet“, sagte
-das Herrchen.
-</p>
-
-<p>
-„... sondern mit der Einheit ‚Körper‘, der von
-Vernunft bewegt wird, und zwar von der Zentralstation
-aus, dem Gehirn. Sie, Herr Kolbenreiher,
-sind eine vernunftbegabte Atomverdichtung, merken
-Sie sich das, und eine Einheit. Das heißt, Ihre Vernunft,
-<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
-Ihr Bewußtsein, Ihr Ich kann nicht, wie Sie
-mir da erzählen, für sich allein sprechen, auf der
-Straße spazierengehen, einen Separatspaziergang
-machen oder Sie besuchen und, sagen wir: ein Bankkonto
-besitzen; sondern Sie besitzen infolge Ihrer Vernunft
-ein Bankkonto.“
-</p>
-
-<p>
-„Aber ich habe die Kontrolle über mein Bewußtsein
-verloren.“
-</p>
-
-<p>
-Der Arzt erhob sich. „Das werden wir schon wieder
-deichseln. Sie sind Bankier. Sie machen sich nützlich.
-Dienen durch Ihre Leistung der Allgemeinheit. Das
-sollte Ihr Selbstbewußtsein stärken. Sind allerdings
-vollblütig. Also vorerst: keine Fleischsuppen, keine
-Eierspeisen. Vor dem Schlafengehen kalte Waschungen
-und, wie Ihr Hausarzt sagt, etwas Brom ... Ordnung.
-Arbeit. Hin und wieder etwas Zerstreuung, eine
-hübsche Frau. Sie verstehen. Das ist das Leben.
-Freuen Sie sich, daß es diese dunkle Kalamität ‚Seele‘
-in Ihrem Sinne nicht gibt.“
-</p>
-
-<p>
-Auch das Frackherrchen erhob sich.
-</p>
-
-<p>
-„Dort, sehen Sie, dort steht es.“ Zurückweichend
-deutete Jürgen auf das Tintenfaß.
-</p>
-
-<p>
-Der Professor nahm es in die Hand. „Was ist das?“
-</p>
-
-<p>
-„Ach, nichts von Bedeutung. Das bin nur ich.
-Eine Kleinigkeit! Nur zwei Buchstaben: I–ch. Nicht
-der Rede wert“, sagte, bescheiden lächelnd, das
-Herrchen.
-</p>
-
-<p>
-Und der Arzt: „Nun, was ist das?“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist ein Tintenfaß.“
-</p>
-
-<p>
-„Na, sehen Sie, jetzt müssen Sie selbst lachen.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen trug die Lachfratze durch die Straßen.
-</p>
-
-<p>
-„Glauben Sie mir, Ihnen kann auch der nicht helfen.“
-</p>
-
-<p>
-Dennoch ging Jürgen unverzüglich zu einem Psychiater,
-<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
-erzählte ihm alles, auch alles, was der Professor
-gesagt hatte. „Aber diese ganze Auffassung ...“
-</p>
-
-<p>
-„Sie haben Recht. Verglichen mit der modernen
-Seelenforschung, ist die Auffassung des Herrn Kollegen
-etwas primitiv ... Ja, Herr Kolbenreiher, die Behandlung
-dürfte wahrscheinlich Jahre in Anspruch
-nehmen. Wir müssen Ihre ganze Kindheit durchforschen.
-Erst, nachdem die schweren, von Ihnen
-total vergessenen Kindheitserlebnisse ...“
-</p>
-
-<p>
-Das Frackherrchen winkte ab: „Ach, hören Sie auf,
-Herr Doktor.“
-</p>
-
-<p>
-„Wie meinen?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe nichts gesagt.“
-</p>
-
-<p>
-„... welche zweifellos die Ursache Ihrer Krankheit
-sind, Ihnen vollkommen bewußt geworden sein
-werden und Sie sie mit der Kritikfähigkeit des Verstandes
-eines Zweiundvierzigjährigen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Aber Doktor! Ein Mensch, der, um nur das eine
-zu nennen, im Traume dem Vater ins Gesicht gelacht
-hat, ein Mensch also, der die fremden Mächte in seiner
-Seele besiegen, sich das Bewußtsein erkämpfen und
-an den Anfang seines Ich gelangen konnte, kann nicht
-mehr die in Kindheit und Jugend empfangenen Wunden
-verantwortlich machen.“
-</p>
-
-<p>
-„Ja“, sagte fein lächelnd der Psychiater, „sagen
-Sie das nicht.“
-</p>
-
-<p>
-„Was?“ fragte Jürgen.
-</p>
-
-<p>
-„Was Sie eben sagten.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe nichts gesagt.“
-</p>
-
-<p>
-Das Frackherrchen lächelte.
-</p>
-
-<p>
-Auch Jürgen lächelte verschmitzt. „Also, in bezug
-auf die Kindheitserlebnisse wenigstens sind wir einer
-Meinung.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
-„Dann ists ja gut. Kommen Sie morgen zu mir.“
-</p>
-
-<p>
-„Nein. Denn mir können auch Sie nicht helfen.“
-</p>
-
-<p>
-„Das sollten Sie, wie gesagt, nicht so ohne weiteres
-sagen.“
-</p>
-
-<p>
-„Was?“
-</p>
-
-<p>
-„Daß auch ich ... Denn diese Kindheitser...“
-</p>
-
-<p>
-„Steckenpferd!“
-</p>
-
-<p>
-Der Psychiater hob die Augenbrauen und notierte
-das Wort ‚Steckenpferd‘. „...erlebnisse, vor allem
-natürlich die sexuellen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Gehn wir!“ sagte brüderlichen Tones das Frackherrchen
-aus Jürgens Munde. „Guten Tag, Herr
-Doktor.“
-</p>
-
-<p>
-Aus dem Gymnasium, in dem auch er neun Jahre
-gesessen hatte, platzten mit Geschrei die Jünglinge.
-Fragende, junge Augen. Feurige Gesichter. Biegsame,
-junge Körper, Bücher unterm Arm, dem Leben
-schräg entgegengestreckt.
-</p>
-
-<p>
-„Deshalb muß ich jetzt gleich zum Photographen
-gehen.“ Weshalb das Erblicken der Gymnasiasten ihn
-veranlaßte, zum Photographen zu gehen, hätte Jürgen
-nicht sagen können. Plötzlich sah er eine tiefe Verbeugung
-und folgte der einladenden Photographenhand.
-</p>
-
-<p>
-Während er vor der Linse saß, betrachtete er die
-lebensgroßen Brustbilder, deren tote Augen auf ihn
-zurückblickten. „Ob man diese Jugendphotographie
-wohl auch vergrößern kann?“
-</p>
-
-<p>
-Der Photograph prüfte das verblichene Jugendbildnis,
-das Jürgen darstellte, wie er im Garten am Nußbaum
-lehnte, unter dem die Tante gehäkelt hatte.
-„Aber mit Vergnügen! Geht großartig!“
-</p>
-
-<p>
-„Nicht nur Brustbild? Ganz in Lebensgröße? Auch
-mit den Beinen?“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
-„Das allerdings hat bis jetzt noch niemand gewünscht.
-Aber es ist zu machen ... O, das kommt
-vielfach vor, daß die Herrschaften sich vergrößern
-lassen. Gerade die Jugendphotographien immer will
-man vergrößert haben. Erst vor einigen Wochen kam
-Herr Geheimrat Lenz – sehr berühmter Mann,
-wie Sie wissen – und bestellte eine Vergrößerung
-nach seinem Jugendbildnis. Zwanzig Jahre! Nicht
-mehr zu erkennen! Kein Mensch würde glauben, daß
-Herr Geheimrat Lenz einmal so ausgesehen hat. Und
-dies ist der Sohn: Herr Oberstaatsanwalt Karl Lenz.
-Er ist, gemessen am griechischen Schönheitsideal, zu
-dick geworden ... Zu sehen, wie man früher war,
-macht Spaß, nicht? ... Nur etwas verblaßt, verwischt,
-sozusagen vergangen sehen die Vergrößerungen
-von Jugendbildern aus. Aber sie haben gewissermaßen
-etwas Traumschönes. Traumschön! Das ist
-das richtige Wort ... Etwas höher den Kopf ...“
-</p>
-
-<p>
-Vor dem Schlafengehen nahm Jürgen Brom, wusch sich
-kalt ab, schlief fest, träumte schwer, wußte am Morgen
-nicht mehr, was er geträumt hatte, erschien pünktlich im
-Bureau. Die Beamten beobachteten ihn unausgesetzt.
-</p>
-
-<p>
-Auf dem Rückwege zur Haltestelle blieb Jürgen
-stehen, berührte mit seinem Spazierstockgriff die Brust
-des Partners, der nicht da war, und erklärte: „Die
-Sache verhält sich anders. Hören Sie gut zu“, ging
-weiter, nach der Seite hin sprechend. Seine Hände
-gestikulierten. Er blieb stehen. Lachte. „Das war
-ein Witz.“ „Aber ein recht guter Witz“, sagte der
-Partner. „Nun, es geht“, gab Jürgen zu, schritt aus.
-„Sehen Sie, da sprach ich letzthin mit Katharina ...“
-</p>
-
-<p>
-„Was sagte ich eben?“ fragte er entsetzt sich selbst
-und zog den Kopf ein, schwieg.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
-Und schon nach zehn Schritten begann er ein neues
-Gespräch. Der Partner konnte ein fremder Mensch
-sein, den Jürgen kurz vorher in der Bank gesprochen,
-ein Kind, das ihm nachgesehen hatte, die schon längst
-verweste Tante. Jürgen, der Student, war anfangs
-nur sekundenlang der Partner des zweiundvierzigjährigen
-Jürgen. Denn Jürgen versah den Studenten
-sofort mit einem Vollbart, setzte ihm eine Brille auf,
-zog ihm einen Pelzmantel an, so daß er an einen
-fremden Herrn seine Worte richten konnte. Aber
-späterhin wehrte sich der Jüngling erfolgreich gegen
-die Verkleidung, ließ Mantel, Brille und Bart fallen,
-wurde gedankenschnell zum Studenten und erklärte
-mit ruhiger Stimme dem Zweiundvierzigjährigen:
-„Sie sind ein ganz niederträchtiges, verräterisches
-Nichts.“
-</p>
-
-<p>
-„Warum bin ich ein Nichts? Erlauben Sie mir!“
-</p>
-
-<p>
-Der Student, der die abgeschnittene Hose trug, auf
-die das Hinterteil aufgenäht war in Breechesschwung,
-wies genau nach, weshalb Jürgen ein Nichts sei, hielt
-eine feurige Rede, geriet in Begeisterung. Jürgen
-hörte verzückt zu und versuchte, selbst in dieser Tonart
-weiterzusprechen: von Hingabe, Kampf und
-Zielen.
-</p>
-
-<p>
-„Halt, das sage ich. Ich sage das. Sie haben nicht
-das Recht, so zu sprechen. Sie haben dieses Recht
-verwirkt.“
-</p>
-
-<p>
-Da ließ Jürgen dem Studenten sofort wieder einen
-Vollbart wachsen. Aber als er ins Wohnzimmer trat,
-erblickte er den Studenten, der lebensgroß an der
-Wand lehnte. Etwas verschwommen, fern, vergangen.
-Und ungeheuer gegenwärtig.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist ja großartig“, rief Jürgen frisch, stellte
-<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
-den Spazierstock in die Ecke und sich selbst vor das
-Bild. „Du gefällst mir ... Je, je, weshalb denn gar
-so ernst! Schlechte Geschäfte?“
-</p>
-
-<p>
-Die Photographie antwortete nicht.
-</p>
-
-<p>
-„Nein, nein, entschuldige. Ein Scherz! Soll nicht
-mehr vorkommen.“ Er schritt zur Tür, wollte Phinchen
-rufen und ihr das Bild zeigen.
-</p>
-
-<p>
-„Sind nicht vorhanden.“
-</p>
-
-<p>
-„Wer ist nicht vorhanden?“ Jürgen war herumgeschnellt;
-ganz deutlich hatte er die drei Worte gehört,
-die laut und tonlos gesprochen worden waren.
-Er starrte hinaus in den Garten. Da war niemand.
-Auf den Zehenspitzen schlich er zum Bilde zurück,
-wiederholte gedankenverloren: „Wer? Wer ist nicht
-vorhanden?“ Ging zur Tür, Phinchen zu rufen.
-</p>
-
-<p>
-„Sie sind nicht vorhanden.“
-</p>
-
-<p>
-Er ließ die Türklinke los und trat, beide Hände in
-den Hüften, wieder knapp vor das Bild hin. „Nein,
-Sie, mein Lieber, Sie sind nicht vorhanden. Sie sind
-ganz gewöhnliches Bromsilberpapier. Verstanden!“
-</p>
-
-<p>
-„Ich bin da. Ich bin.“ Die Photographie deutete
-mit dem Zeigefinger auf Jürgens Brust: „Sie dagegen
-nicht. Was von Ihnen da ist, bin ich. Aber ich habe
-mit Ihnen nichts mehr gemein. Also sind Sie gar
-nicht mehr vorhanden.“
-</p>
-
-<p>
-Da packte Jürgen die schmal gerahmte Photographie
-und stellte sie mit der Bildseite gegen die
-Wand. „Und was sind Sie jetzt, he? Nichts als
-Pappe! Ganz gemeine graue Pappe!“ Er trat zurück.
-</p>
-
-<p>
-Und sah, von unermeßlichem Entsetzen geschüttelt,
-zu, wie das Bild auf der Papprückwand erschien, und
-hörte die bekannten Worte: „Ich versichere Ihnen,
-so wahr es ist, daß sehr viel mehr als neunundneunzig
-<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
-Prozent aller Zeitgenossen, die so viel von Seele
-schmusen, in gar keiner Weise mehr von ihrer Seele
-gestört werden, so wahr ist es, daß bei gewissen
-Individuen in gewissen Momenten die Seele spielend
-leicht durch den Schutzwall durchschlüpfen und ihr
-vorbestimmtes Recht verlangen kann.“ Die Photographielippen
-hatten sichtbar die Worte geformt.
-</p>
-
-<p>
-„Du Lump bist nichts als Pappe“, brüllte Jürgen,
-stürzte hinaus, zerrte Phinchen vor das Bild. „Dreh
-es um! ... Wer ist das?“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist der gnädige Herr, wie er jung war.“ Phinchen
-bekam vor Rührung nasse Augen.
-</p>
-
-<p>
-„Also ich bin das, nicht wahr, ich?“
-</p>
-
-<p>
-„Wie Sie jung waren.“
-</p>
-
-<p>
-„Das heißt doch aber: ich bin es. Ich!“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, wie Sie früher waren.“
-</p>
-
-<p>
-„Jetzt sage mir: wen hast du lieber, den da oder mich?“
-</p>
-
-<p>
-„Sie natürlich, gnädiger Herr! Das ist ja nur eine
-Photographie.“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist ein Irrtum. Ich bin er. Und er ist ein
-Nichts.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen führte Phinchen schnell in die Küche. „Sag
-mir, Phinchen, hast du ihn sprechen hören, den da
-drinnen? ... Nein, schweige! Ich will nichts wissen.“
-</p>
-
-<p>
-Schnelle Schritte stellten ihn wieder vor das Bild
-hin. „Hör mal, du bist nichts als eine Photographie
-und kostest mich soundso viel. Mit Rahmen ... Hier ist
-die Rechnung.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie irren sich. Ich bin alles, was Sie verraten
-haben, und koste Ihnen den Verstand.“
-</p>
-
-<p>
-„Das wollen wir sehen.“ Er stieg sofort ins Bad,
-duschte sich minutenlang kalt ab, schluckte Brom
-und legte sich ins Bett.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
-Die Photographie stand im dunklen Wohnzimmer.
-Lebensgroß. Jürgen saß aufrecht im Bett und glotzte
-durch sechs Wände durch auf die Photographie.
-</p>
-
-<p>
-„Sie hat Augen. Sie blickt ... Kann man einen
-Blick photographieren? Ob wohl mein Blick von damals
-auch mitphotographiert, ganz genau, wie er
-war, mitphotographiert worden ist? ... Und das,
-was hinter dem Blicke ist? Was hinter einem Jünglingsblicke
-ist?: Sehnsucht, Bereitschaft zur Hingabe,
-die großen Gefühle – die Seele? Wurde damals auch
-meine Seele mitphotographiert?“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen sah deutlich den Jünglingsblick, der als
-große Frage an das Leben in den Augen stand.
-</p>
-
-<p>
-Ohne die photographierte Frage an das Leben aus
-den Augen zu lassen, legte er den Kopf langsam und
-sanft auf das Kissen, schlief ein. Und im Schlafe war
-nichts auf der Welt, als seine Augen und die zwei
-photographierten Augen. Die Blicke der zwei Augenpaare
-trafen sich stundenlang, bis dieses lautlose
-Sichtreffen der Blicke Jürgen aus dem Schlafe hob.
-</p>
-
-<p>
-Die brennende Kerze in der Hand, schlich er ins
-Wohnzimmer, vor das Bild hin. „Und wenn ich nun“,
-sagte er und nahm das Bild aus dem Rahmen, „mich
-in den Rahmen stelle?“
-</p>
-
-<p>
-Das Nachthemd reichte bis zu den behaarten Waden.
-Eine Weile blieb er vollkommen reglos im Rahmen
-stehen und starrte wild auf den gegenüberstehenden
-Jüngling.
-</p>
-
-<p>
-Dessen ernster, vergangenheitsferner Blick zwang
-Jürgen, wieder aus dem Rahmen herauszutreten.
-Überwältigt von der Unerbittlichkeit des Jünglingsblickes,
-brach er vor dem Bilde in die Knie. „In dir
-lebt das ewig unverrückbare Ziel.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
-Die Kerze in der einen, die Photographie in der
-andern Hand, stieg er hinauf in das Zimmerchen, das
-er als Jüngling bewohnt hatte, lehnte das Bild an
-die Wand. Und als er den Türdrücker gefaßt hatte
-und fortgehen wollte, stieg aus den seit Jahren verschütteten
-Gefühlen ein Strom von Hilfsbereitschaft
-auf. „Kannst nicht immer stehen. Kannst nicht dein
-Lebenlang stehen.“
-</p>
-
-<p>
-Er knickte das lebensgroße Bild in der Rumpfmitte
-ab, nach vorne, daß es einen rechten Winkel bildete,
-dann bei den Knien nach rückwärts und setzte die
-Photographie auf das Kanapee.
-</p>
-
-<p>
-Tränennaß und fassungslos schluchzend kam er im
-Schlafzimmer an. Und hatte, wie er stöhnend und
-wimmernd in das Kopfkissen hineinklagte, das von
-Hoffnungslosigkeit durchbebte Gefühl, lebenslänglich
-getrennt zu sein von sich, von seiner Jugend, die im
-modrigen Studentenzimmer auf dem Kanapee saß.
-</p>
-
-<p>
-Andern Tages wollte er auf der Straße schon den
-Hut ziehen vor Herrn Fabrikbesitzer Hommes, der
-grußlos vorüberschritt. Jürgen blieb stehen, Hand
-auf dem tobenden Herzen. „Sieht er – sieht man
-mich nicht? Bin ich unsichtbar? ... Ich bin doch
-aus Fleisch und Knochen, habe Augen, Stirn, Hände.“
-Er umfaßte sein Handgelenk, wollte sich überzeugen,
-preßte das Gelenk.
-</p>
-
-<p>
-Da öffnete sich sein Mund in grenzenlosem Entsetzen:
-die umfassende Hand war zur Faust geworden:
-kein Handgelenk war in ihr. Noch einmal umfaßte
-er das Handgelenk. Wieder wurde die Hand zur
-Faust.
-</p>
-
-<p>
-„Nicht mehr vorhanden?“ fragte er, hob die Augenbrauen.
-„Überhaupt nicht mehr?“ Er pfiff bedeutsam.
-<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
-„Jürgen Kolbenreiher ist also überhaupt nicht
-mehr da. Ist einfach weg? Ist Luft? Und das nicht
-einmal? Ein glattes Nichts?“
-</p>
-
-<p>
-Hastig öffnete er das Taschenmesser, stach die
-Spitze hinein in seinen Schenkel, wollte vor Freude
-über den Schmerz schon einen Triumphschrei ausstoßen.
-Und fühlte nichts.
-</p>
-
-<p>
-Er bohrte tiefer, drehte die Messerspitze in der
-Wunde herum, fühlte nichts.
-</p>
-
-<p>
-Da marschierte sein in das Grauen hineingeduckter
-Körper nachhause und legte sich auf das Kanapee.
-</p>
-
-<p>
-„Was ist, wenn ich jetzt aufstehe, hinausgehe in
-die Küche und Phinchen sieht mich nicht?“
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich stand, von Phinchen hereingeführt, der
-Bankdiener im Zimmer. Der Herr Prokurist lasse
-fragen, ob Herr Kolbenreiher auch heute nicht ins
-Bureau komme.
-</p>
-
-<p>
-„Wo? Wo ist er? Sehen Sie ihn denn, da Sie ihn
-fragen? Wissen Sie denn, wo Herr Kolbenreiher sich
-momentan aufhält?“
-</p>
-
-<p>
-Und da der Diener den Mund aufsperrte: „Ich bin
-nicht vorhanden, nicht anwesend, ich bin nicht da,
-kann also auch nicht in die Bank kommen.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich werde also ausrichten, Herr Kolbenreiher
-seien verreist.“
-</p>
-
-<p>
-„Ah!“ rief Jürgen, als der Diener fort war. „Vielleicht
-bin ich nur verreist. Einfach verreist! Nach
-Italien! Paris! So wirds sein.“
-</p>
-
-<p>
-Jürgens Gesicht wurde flach; die Augen sprangen
-vor. Er stürzte in die Küche. „Hilf mir, Phinchen,
-rate mir, wie erfahre ich, wo er ist. Die Welt ist
-groß. Was soll ich tun, ihn zu finden ... Rufe schnell
-den Diener zurück.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
-Und als das entsetzte Mädchen den Diener wieder
-in das Zimmer führte: „Besorgen Sie mir einen Reisepaß.
-Aber auf den Namen Jürgen Kolbenreiher!“
-Er zwinkerte schlau. „Wenn Sie sich geschickt anstellen,
-merkts vielleicht niemand, daß nicht ich selbst
-es bin.“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist gar nicht schwer“, sagte der Diener und
-ging. Phinchen weinte.
-</p>
-
-<p>
-„Im Gegenteil! Sehr schwer! Man kann es ertragen,
-sein Vermögen zu verlieren, aber sich selbst
-zu verlieren erträgt kein Mensch.“
-</p>
-
-<p>
-„Das ertragen die andern großartig; aber, zum Beispiel,
-das Vermögen zu verlieren, ertragen sie nicht.
-Und aus diesem einfachen und unheimlichen Grunde
-ertragen sie es so leicht, sich selbst zu verlieren. Die
-sind nicht vorhanden und haben davon nicht die
-leiseste Ahnung.“
-</p>
-
-<p>
-Ganz langsam legte Jürgen beide Handflächen an
-die Schläfen, noch einmal zu kontrollieren, ob sein
-Kopf da sei. Die Handflächen trafen zusammen.
-Kein Kopf war dazwischen. Jürgen stieß einen kurzen
-Schrei aus. Und lag leichenstill bis in die Nacht hinein.
-Der Reisepaß war schon gebracht worden.
-</p>
-
-<p>
-Die Stadt schlief. In Haus und Garten rührte sich
-nichts. Der volle Mond hing am Himmel. Jürgen
-schlich ins Arbeitszimmer, einige Minuten später durch
-den Garten, heftete einen Kanzleibogen an den
-Türpfosten, an den er die Tafel ‚Hier wird Armen
-gegeben‘ angebracht hatte, und las:
-</p>
-
-<p>
-„Wer den Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers anzugeben
-vermag, erhält jede gewünschte Summe.
-Hier werden Begeisterung, unverbrauchte Wahrheit,
-Bewußtsein und Hingabe gekauft.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
-Befriedigt stieg er die Treppe hinauf und packte
-seinen Reisekoffer, wusch sich, kleidete sich um.
-</p>
-
-<p>
-Noch einmal schlich er in das dunkle Schlafzimmer,
-vor den mannshohen Ankleidespiegel. Die Hand am
-Schalter, wartete er erst einige Sekunden, bevor er das
-Licht andrehte.
-</p>
-
-<p>
-Lebensgroß erschien das Spiegelbild. Jürgen schrie
-vor Freude, hob dabei den linken Arm.
-</p>
-
-<p>
-Das Spiegelbild hob den Arm nicht.
-</p>
-
-<p>
-Jetzt erst bemerkte er, daß im Spiegel der Jürgen
-stand, der, in knapp sitzendem Gesellschaftsanzug,
-beherrschte Kraft in Schultern, Brust und Blick, die
-Blicke aller im Saale Anwesenden auf sich zog: der
-Jürgen, den er, sitzend auf der Anlagenbank, als zu
-erstrebendes Ziel in den grünen Bretterzaun hineingesehen
-hatte.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hob die Augenbrauen, pfiff, tanzte, schnitt
-Grimassen, ballte die Fäuste. Das Frackherrspiegelbild
-rührte sich nicht. Das Entsetzen war ungeheuer.
-</p>
-
-<p>
-Er drehte das Licht aus, verbrachte atemlos einige
-Sekunden, drehte an, stierte in den Spiegel.
-</p>
-
-<p>
-Im Spiegel war nichts. Jürgens Finger drückte den
-Knopf.
-</p>
-
-<p>
-Phinchen, die weinend vor der Schlafzimmertür gekniet
-hatte, trat sofort ein, wurde vor den Spiegel gezerrt.
-Ob sie ihn sehe?
-</p>
-
-<p>
-Händeringend beteuerte sie, daß er neben ihr im
-Spiegel stehe. Sein wütendes Fragen und ihr jammervolles
-Deuten dauerten so lange, bis Jürgen, durchblitzt
-von einem letzten Rettungsgedanken, langsam
-sagte: „Wenn ich mich jetzt mit dir zusammen ins
-Bett lege, dann muß ich doch fühlen, daß ich bin.
-Denn dies, es ist das starke Gefühl.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
-Phinchen ließ die Arme sinken, war bereit.
-</p>
-
-<p>
-„Aber mit wem denn? Ich bin ja nicht. Hab ja
-keine Arme zum Umarmen ... Weißt du, Phinchen,
-die Hauptsache ist, daß ich wieder ein Fetzchen Gefühl
-bekomme. Gefühl! Dann suche ich ihn. Dann
-finde ich ihn auch. Geh, Phinchen, geh!“
-</p>
-
-<p>
-Bis zum Morgen lag er mit offenen Augen im dunklen
-Schlafzimmer.
-</p>
-
-<p>
-Der Kolonialwarenhändler von nebenan und der
-Antiquitätenhändler, der in der Hauptstraße des
-Villenviertels eine Filiale hatte, sahen Jürgens Zettel
-zuerst. Arbeiter und Weiber, Kinder, auf dem Wege
-in die Schule, Milch- und Semmelausträger sammelten
-sich an. Der Antiquitätenhändler machte einen Witz
-über die neue Konkurrenz. Das Gelächter drang bis
-zu Jürgen hinauf.
-</p>
-
-<p>
-Der stritt sich mit einem Fremden herum, der seine
-Gefühle nicht verkaufen, sondern sie nur gegen andere
-Gefühle eintauschen wollte.
-</p>
-
-<p>
-„Aber ich besitze ja keine ... Hören Sie“, er faßte
-den Fremden bei der Schulter, „ich gebe Ihnen mein
-gesamtes Vermögen gegen etwas Gefühl, gegen ein
-Bruchstückchen Begeisterung, gegen den leisesten
-Hinweis auf ein Ziel. Nur ein bißchen Bewußtsein!
-Ich bitte Sie.“
-</p>
-
-<p>
-„Geht nicht! Gefühl hin – Gefühl her! Hingabe
-gegen Hingabe!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen warf die Hände vor: „Meine Villa, die drei
-Mietskasernen, meinen ganzen Aktienbesitz, meine
-Stellung und Macht, mein Geachtetsein, alles will ich
-Ihnen geben und will dafür nur mich.“
-</p>
-
-<p>
-Vor dem Hause ertönte stürmisches Gelächter.
-Das klang wie fernes Möwengeschrei. Der Antiquitätenhändler
-<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
-witzelte: „Ankauf gut erhaltener Ideale.
-Stil Louis XVI.“
-</p>
-
-<p>
-Auch der Nachbar war hinzugetreten, las den Zettel.
-„Da ist etwas nicht in Ordnung“, sagte er und klinkte
-die Gartentür auf.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen horchte auf das vielfüßige Getrappel, nahm
-seinen Koffer, stürzte die Vordertreppe hinunter und
-davon.
-</p>
-
-<p>
-Im Auto fuhr er – Oberkörper vorgebeugt, als
-gelte es, ein Rennen zu gewinnen – zum Bahnhof.
-„Was kostet die Fahrkarte nach Paris?“
-</p>
-
-<p>
-Der Schalterbeamte nannte die Summe, griff in das
-Billettregal.
-</p>
-
-<p>
-„Und nach Rom? ... Nach Odessa?“
-</p>
-
-<p>
-„Wohin also?“
-</p>
-
-<p>
-„Zu mir! ... Verzeihung – es könnte ja sein –,
-wissen Sie vielleicht zufällig, ob Jürgen Kolbenreiher
-momentan in Berlin oder in Wien ist?“
-</p>
-
-<p>
-„Wie meinen?“
-</p>
-
-<p>
-„In London oder Madrid?“
-</p>
-
-<p>
-„Was? Wer? Was wollen Sie?“
-</p>
-
-<p>
-„Um Himmels willen – in New York?“
-</p>
-
-<p>
-Der Schalterbeamte starrte wütend.
-</p>
-
-<p>
-Und Jürgen sagte: „Sie wundern sich? Tun Sie
-das nicht! Auch Sie können nicht wissen, wo und
-was Sie sind, in Rom oder in Chikago, Matrose in der
-südlichen Hafenstadt oder Schreiber in einer Beamtenstube
-Norddeutschlands, die Sie nie betreten
-haben. Oder sitzen Sie in hunderttausend Schalterkästen
-gleichzeitig? Keine Ahnung haben Sie. Kommen
-Sie mit! Denn hier in diesem Schalterkasten
-werden Sie sich nie finden. Oder glauben Sie gar,
-Sie seien Sie? ... Bruder, verwandt mit mir durch
-<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
-dein Schicksal, steige heraus aus deinem Kasten.
-Denn hier kannst du dich bis an das Ende deines
-Lebens niemals finden. Suche dich ... Suchet, so
-werdet Ihr finden ... Aber dir, ich weiß es, dir
-Armen ist nicht einmal das Suchen verstattet.“
-</p>
-
-<p>
-Eilige Reisende drängten Jürgen vom Schalter weg.
-Die Abfahrt eines Zuges wurde ausgerufen. Jürgen
-sprang in ein Abteil dritter Klasse.
-</p>
-
-<p>
-Zu der alten, verhärmten Arbeiterfrau, die ihm
-gegenübersaß, sagte er noch, er suche, was jeder
-Mensch auf dieser Erde lebenslang suche. Und schlief
-ein. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als streite er
-heftig mit jemand.
-</p>
-
-<p>
-Die Frau glaubte, Jürgen friere, betrachtete erst
-eine Weile mitleidig und unschlüssig das zerklüftete
-Gesicht. Dann wagte sie es doch, ihre Wolldecke vorsichtig
-über seine Knie zu breiten.
-</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="chapter" id="VIII">
-VIII
-</h2>
-
-</div>
-
-<p class="first">
-Wochenlang wußte niemand, wo er war. Phinchen,
-von neugierigen Nachbarn befragt über das scheue
-Verhalten Jürgens in der letzten Zeit, verweigerte
-jede Auskunft. Und Herr Wagner, bestrebt, unliebsame
-Gerüchte, die das Ansehen der Bank schädigen
-könnten, nicht aufkommen zu lassen, sprach von einer
-wichtigen Geschäftsreise so vorsichtig und wortkarg,
-als würde schon ein einziges schlechtgewähltes Wort
-Riesenverluste für die Bank bedeuten.
-</p>
-
-<p>
-Endlich erzählte ein Kunde, er habe Jürgen in Rom
-gesehen – nannte Tag und Stunde – und zwei Tage
-später noch einmal in der Halle des selben Hotels, leider
-<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
-nur sehr flüchtig, da Jürgen, offenbar in besonders
-dringenden Geschäften, in größter Eile auf das wartende
-Auto zugeschritten sei.
-</p>
-
-<p>
-Herr Wagner machte ein wissendes Gesicht. Und
-schwieg auch dann noch, leise zwinkernd, als ein
-Pariser Geschäftsfreund ruhig lächelnd behauptete,
-das sei nicht gut möglich, denn an dem dazwischenliegenden
-Tage habe er selbst in Paris im Direktionsbureau
-sich mit Jürgen unterhalten und persönlich
-ihm eine große Summe gegen einen Scheck des Hauses
-Wagner und Kolbenreiher ausbezahlt. „Das war
-am ...“
-</p>
-
-<p>
-„Stimmt!“ unterbrach Herr Wagner. „Beides
-stimmt. Es gibt Fälle, meine Herren, wo die Geschäftskonstellation
-unsereinen zwingt, schneller als
-eine Schwalbe zu sein.“
-</p>
-
-<p>
-Der Zeigefinger sank. Was aber, wenn jetzt noch
-einer kommt und behauptet, er habe ihn um die selbe
-Zeit in London gesehen? dachte Herr Wagner,
-</p>
-
-<p>
-<a id="br3"></a>während Jürgen, in der Droschke ungeduldig vorgebeugt,
-überdacht von einem rot- und weißgestreiften
-Riesensonnenschirm, vom Bahnhof der südlichen Hafenstadt
-in das Hotel fuhr, in dem er vor vierzehn Jahren
-als Neuvermählter mit Elisabeth gewohnt hatte.
-</p>
-
-<p>
-Ein Servierkellner verscheuchte mit der Serviette
-Fliegen von den blumengeschmückten, weißgedeckten
-Tischchen. Gegenüber schliefen zwei braungebrannte
-Männer auf den breiten Steinstufen im Schatten des
-Palastes.
-</p>
-
-<p>
-„Sagen Sie mir, aber aufrichtig: ist Herr Jürgen
-Kolbenreiher im Hause?“
-</p>
-
-<p>
-Zurückweichend drehte der Kellner sich um sich
-selbst und schlug dabei mit der Serviette heftig in
-<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
-die Luft nach einer großen Bremse. „Ich werde
-sofort nachsehen.“
-</p>
-
-<p>
-Der dicke, befrackte Oberkellner blieb, den Zahnstocher
-noch im Munde, im kühlen Hausflur stehen,
-zeigte Jürgen, der draußen im Sonnenbrande stand,
-fragend und verneinend beide Handflächen und
-deutete plötzlich und schwungvoll mit beiden Händen
-einladend flurwärts.
-</p>
-
-<p>
-„Nicht dagewesen? ... Ist das Zimmer Nummero 7,
-mit Aussicht auf den Hafen, frei? ... Dieses Zimmer
-nämlich hätte er genommen“, sagte er beim Hinaufgehen.
-Und erkannte sofort den geblumten Überzug
-der Ottomane wieder.
-</p>
-
-<p>
-Setzte sich in den Sessel. Plötzlich sah er, wie damals,
-Jürgen mit Elisabeth in der Halle eines Pariser
-Hotels stehen. ‚Das bin ja gar nicht ich. Das ist ein
-ganz anderer. Nicht der, den ich suche ... Wenn
-ich wenigstens nur den finden würde, der hier in
-diesem Zimmer gesessen hatte. Denn auch der wußte,
-daß der in Paris herumlebende Schuft nicht Jürgen
-war. Aber wo, wo ist er, der dies wußte? Wo?‘
-</p>
-
-<p>
-„Hier ist er also nicht? In diesem Zimmer wohnt
-er nicht?“
-</p>
-
-<p>
-„Dieses Zimmer ist frei, Herr.“
-</p>
-
-<p>
-„Aber es war doch nicht immer frei! Sagen Sie
-mir – aber denken Sie scharf nach –: ist Herr Jürgen
-Kolbenreiher nicht doch hier gewesen in der letzten
-Zeit? Dieser selbe Herr Kolbenreiher nämlich, der
-vor vierzehn Jahren einige Tage in diesem Zimmer
-gewohnt hat mit seiner Frau! Mit einem Fisch! Sie
-erinnern sich! Unveränderlich in ihrem Wesen. Kühl!
-Kühl! Nur in der Nacht, in der Nacht, wenn die
-Liebe erwacht ... Er bezahlte damals – ich erinnere
-<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
-mich genau –, da er anderes Geld nicht hatte,
-Ihnen persönlich die Rechnung in Mark.“
-</p>
-
-<p>
-„Eine blonde Dame? Mark! Ah, Mark! ... Der
-Herr ist damals gleich abgereist und seither nicht
-mehr hier gewesen.“
-</p>
-
-<p>
-„Abgereist?“ Jürgen fuhr sofort zum Bahnhof und
-reiste ab. Mit dem ersten Zuge, der ausgerufen wurde.
-Endstation Berlin.
-</p>
-
-<p>
-Wurde achtzehn Stunden später von den hastig und
-zielbewußt Auseinanderstrebenden mitgerissen durch
-die Berliner Bahnhofshalle und hinausgestellt auf den
-Platz, zwischen brüllende Zeitungsverkäufer, schnelle
-Radler, brüllende Autos, hetzende Fußgänger, und
-verharrte reglos: eine Achse, um die herum das Leben
-der flachen Stadt sauste.
-</p>
-
-<p>
-Auf dem Potsdamer Platz, dem Mittelstück verkehrreichster
-Straßen, stand der Schutzmann, das
-Blasinstrument am Munde, die Hand dirigierend erhoben.
-</p>
-
-<p>
-„Die Richtung! Bitte! Ich bitte. Die Richtung!
-Welche Richtung führt zu mir?“ fragte er den Schutzmann.
-</p>
-
-<p>
-Der antwortete: „Nicht stehen bleiben! Vorwärts!“
-</p>
-
-<p>
-„Im Gegenteil! Das Ganze Halt! Ich sage Ihnen,
-auf diese Weise nähern die Menschen sich, auch wenn
-sie ihr ganzes Leben lang so weiter rasen, nicht um
-einen Millimeter dem Ziele, während vielleicht ich,
-ah, glauben Sie mir ...“
-</p>
-
-<p>
-Der Schutzmann hielt, als schwöre er zu Jürgens
-Worten, die Hand erhoben, senkte sie: Zeitbesessene
-Menschengruppen, Straßenbahnen, überfüllte, dunkelbrüllende
-Riesenautobusse, springende Häuser, nahmen
-das Rennen wieder auf, die Leipziger Straße hinauf,
-<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
-schwemmten Jürgen mit, der, ein Lächeln unbegreiflicher
-Zuversicht im Antlitz, mitten auf dem
-Fahrdamm schritt.
-</p>
-
-<p>
-Autos, von rückwärts und von vorne kommend,
-sausten auf ihn zu und, sekündlich ausweichend, in
-unvermindertem Tempo vorbei, knapp, daß nicht
-handbreit Zwischenraum geblieben war. Chauffeure
-glotzten wütend, schimpften, waren weg. Passanten
-staunten.
-</p>
-
-<p>
-Das Lächeln der Zuversicht verschwand. „Unverwundbar?
-Luft? Nicht vorhanden? Autos fahren
-durch mich durch!“ Beide Handflächen schnellten
-zu den Schläfen, fanden keinen Kopf. Das graue Entsetzen
-stieß ihn weiter.
-</p>
-
-<p>
-Menschen, einer flüchtenden, schwarzen Tierherde
-gleich, rannten, von der Straße weg, eine Treppe hinunter,
-rissen Jürgen mit, hinab in das mit Reklamebildern
-austapezierte Erdmaul, hinein in die verhalten
-bebende Maschine.
-</p>
-
-<p>
-Eingeklemmt zwischen Passagiere, die, vorausblickend,
-in Gedanken schon bei ihrer Zielstation angelangt
-waren, sauste Jürgen unter der Stadt durch,
-flüsterte, die Hand am Munde, in ein Menschenohr:
-„Alles rennt und hetzt, hin und her, kreuz und quer,
-Tag und Jahr. Komisch und bedeutsam! Denn –
-denn die Banken schießen auf. Neue Stockwerke
-werden aufgesetzt, Kutscherkneipen umgebaut zu
-Wechselstuben. Dies, ich sage Ihnen, dies ist das
-Zeichen.“ Er hob, wie vorhin der Schutzmann, die
-Hand, warnend, als wolle er aufmerksam machen
-auf eine heranrollende ungeheure Katastrophe.
-</p>
-
-<p>
-Die Bahn sauste empor, über eine gespreizte Eisenbrücke.
-Jürgen wurde auf den Asphalt gestellt,
-<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
-blickte umher. Trambahnen, Hoch- und Stadtbahnzüge
-kreuzten einander, spien Menschenmassen aus,
-nahmen andere auf.
-</p>
-
-<p>
-Zum beschäftigten Hotelportier sagte er in falscher
-Gleichgültigkeit, er sei und heiße Jürgen Kolbenreiher.
-„Hier, mein Paß! Überzeugen Sie sich!“
-„Gilt schon!“ Füllte den Meldezettel aus.
-</p>
-
-<p>
-Und hüpfte in seinem Zimmer vor Vergnügen, den
-Portier getäuscht zu haben. „Was die andern können,
-kann auch ich. Auch ich kann ein Vorhandensein
-vortäuschen, das keines ist. Muß mich nur auch selbstbewußt
-benehmen, darf niemand merken lassen, daß
-ich nicht bin. Denn jemandem, der nicht ist, gibt
-niemand Auskunft. Und ich werde viele nach mir
-fragen, werde lange nach mir suchen müssen, eh ich
-mich finde.“
-</p>
-
-<p>
-Er horchte auf das Brausen der Stadt. Das klang
-wie das Bellen von Millionen vor Hunger irrsinnig
-gewordener Hunde.
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich sah er deutlich, wie Jürgen langsam durch
-eine Straße ging, vorbei an einem Hutgeschäft, und
-im Gewühle verschwand. Konnte nicht ermitteln, ob
-er diese Straße und dieses Hutgeschäft in Paris,
-Berlin oder Rom gesehen hatte.
-</p>
-
-<p>
-„Es gibt so viele, ach, so viele Straßen und so viele
-Hutgeschäfte auf der Welt.“ Mutlos ließ er sich in
-den Sessel sinken.
-</p>
-
-<p>
-„Was mag er jetzt denken? Was fühlte er in dieser
-Sekunde?“ Jürgen zog die Uhr. „Wenn ich ihn gefunden
-habe, frage ich ihn, was er in diesem Augenblick,
-um dreiviertel sechs, gedacht hat. Ach, wie
-wunderbar wäre es, zu wissen, was ich gegenwärtig
-denke ... Der Mensch denkt. Welch unbegreifliches
-<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
-Wunder ist das Denken! ... Daß er aber auch gleich
-wieder verschwunden ist! Wird schwer zu finden sein.
-Ich muß mir ein System ausdenken. Ein Schema.
-Ich muß systematisch vorgehen.“
-</p>
-
-<p>
-Mit Bedacht setzte er die Maske der Gleichgültigkeit
-und Sicherheit auf, schritt zur Klingel. Und
-kramte dann doch, das Gesicht abgewendet, im
-Koffer, als er zum Kellner sagte: „Bitte, bringen Sie
-mir einen Stadtplan ... Sie können mir auch ein
-Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie wollen.“
-</p>
-
-<p>
-„Ausgezeichnet! Das habe ich ausgezeichnet gemacht.
-Denn ein Mensch, der ein Schinkenbrot verzehren
-kann, ist vorhanden. Das ist klar. ‚Sie können
-mir auch ein Schinkenbrot mitbringen, wenn Sie
-wollen.‘ Großartig! Dieses ‚Wenn Sie wollen‘ war
-sehr gut.“
-</p>
-
-<p>
-Und als der Kellner den Stadtplan brachte und ein
-Brot mit Wurst, da Schinken nicht im Hause sei, tat
-Jürgen verdrießlich. „Ich hätte lieber Schinken gegessen.
-Nun, es kann auch Wurst sein.“ Der Kellner
-wollte gehen.
-</p>
-
-<p>
-„Einen Augenblick!“ Er schnitt ein Stück ab,
-steckte es vor des Kellners Augen in den Mund. „Wieviel
-Einwohner hat Berlin? Ich suche nämlich jemand“,
-sagte er und kaute eifrig für des Kellners
-Augen. „Deshalb habe ich mir den Stadtplan bringen
-lassen. Die Wurst ist übrigens sehr gut. Sehr gut! ...
-Und morgen bringen Sie mir zum Frühstück warme
-Milch und eine Semmel. Nur etwas warme Milch!
-Ich habe nämlich einen schwachen Magen.“
-</p>
-
-<p>
-„Sehr gut gemacht! Bewundernswert! Nur etwas
-warme Milch. Ich habe nämlich einen schwachen
-Magen.“ Er hüpfte. „Es wird. Es wird.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
-Eifrig studierte er den Stadtplan, zog Blaustiftstriche
-von Schmargendorf nach Wilmersdorf, über Charlottenburg
-weg nach Rixdorf, bohrte auf das e von Steglitz ein
-i und kicherte: „Stieglitz“. Trillerte wie ein Stieglitz.
-Trillerte noch, als er schon im Bett lag. Und trillerte
-sich lustig und hoffnungsvoll in den Schlaf hinein.
-</p>
-
-<p>
-Erwachte morgens mit dem Rufe: „Hahaha, einen
-schwachen Magen! O, hätte ich nur einen schwachen
-Magen, ein Magengeschwür, qualvoll und lebensgefährlich.
-Wäre doch immerhin ein Magen.“
-</p>
-
-<p>
-Trank hastig die warme Milch und stellte, die
-staunenden Augen vergrößert, die leere Tasse auf den
-Tisch. „Aber ich trank ja eben Milch. Ich! Ich
-trank. Ein Mensch trank Milch. Also muß dieser
-Mensch doch einen Magen haben und muß ein Mensch,
-muß vorhanden sein.“
-</p>
-
-<p>
-Da lächelte er ein schlaues, anerkennendes Lächeln,
-als habe er einen besonders fein angelegten Betrug
-durchschaut. „Ist es mir also tatsächlich gelungen,
-sogar mir selbst vorzutäuschen, ich hätte einen Magen.
-Wunderbar! Kein Mensch wird merken, daß ich nicht
-vorhanden bin.“
-</p>
-
-<p>
-Langsam und vorsichtig, um nichts zu verschütten,
-trug er die leere Tasse zum Kübel, leerte die nicht
-vorhandene Milch aus, hörte das Plätschern. Und riß
-sich zusammen. „Jetzt aber los!“
-</p>
-
-<p>
-Es war erst sieben Uhr. Die starke Luft stand noch
-unverbraucht in den Straßen. Jürgen hatte große
-Eile, sprang in Stadtbahnzüge, die schon angefahren
-waren, wurde von der Untergrundbahn im Westen
-abgesetzt, von der Straßenbahn quer durch die ganze
-Stadt nach Berlin N getragen, auf dem Dache eines
-Autobusses nach Wilmersdorf zurück.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
-Sein Schema benutzte er nicht. Denn immer, wenn
-er planvoll vorgehen wollte, fürchtete er, Jürgen
-werde zu der Zeit, da er ihn in Berlin O suche, in
-Berlin W sein. Er fragte viele Vorübereilende, ob sie
-wüßten, wo Jürgen Kolbenreiher sich momentan aufhalte.
-</p>
-
-<p>
-„Der Vortragskünstler? Ah, das Weinrestaurant
-mit der Bar?“
-</p>
-
-<p>
-„Nein, ein sehr entfernt Bekannter von mir.“
-</p>
-
-<p>
-„Und ich soll wissen, wo der ist?! Sind Sie wahnsinnig!“
-</p>
-
-<p>
-„Ja.“
-</p>
-
-<p>
-„Frechheit!“ Der Wütende sauste weiter.
-</p>
-
-<p>
-Nach vielen verständnislosen Rückfragen des dicken
-Dienstmannes, der auf seinem Bänkchen saß, sagte
-Jürgen: „Vielleicht ist er in Odessa.“
-</p>
-
-<p>
-„Na, denn fahren Sie man nach Odessa.“
-</p>
-
-<p>
-„Können vielleicht Sie mir sagen ...“
-</p>
-
-<p>
-„Keine Zeit!“
-</p>
-
-<p>
-„Er hat ... keine ... Zeit.“ Traurig blickte er den
-Händen nach, die den Weg hinter sich schaufelten.
-</p>
-
-<p>
-Wurde von den Hetzenden da- und dorthin gewiesen,
-angeschrien, stehengelassen, von Bummlern
-ausgelacht. Durchstreifte Restaurants, Kaffeehäuser,
-Kirchen, Warenhäuser, Kutscherkneipen, wurde in
-das Reichstagsgebäude nicht hineingelassen und aus
-einem Automatenrestaurant herausgeworfen, weil er,
-anstatt in den Schlitz, die Metallmarke dem verblüfften
-Kellner in den Mund geschoben hatte.
-</p>
-
-<p>
-Als er nach langer Fahrt vor dem Meldeamt ankam,
-war es schon geschlossen. Als erster stand er um
-zwei Uhr wieder vor dem Schalterfenster, bekam
-einen Zettel zum Ausfüllen. Sog den Staub- und
-<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
-Papiergeruch ein. Riecht wie in unserer Buchhaltung,
-dachte er. Und reichte, bebend vor Erwartung, den
-Zettel dem Beamten.
-</p>
-
-<p>
-Der unterhielt sich mit seinem Kollegen, schimpfte
-über die schlechte Beleuchtung, stand plötzlich reglos
-und sah aus, als denke er.
-</p>
-
-<p>
-‚Alle Menschen denken in jeder Sekunde ihres
-ganzen Lebens irgend etwas. Nur ich ...‘ „Was
-denken Sie momentan?“
-</p>
-
-<p>
-„Nichts“, bekannte mechanisch der Beamte. Dann
-erst staunte er und begann zu suchen.
-</p>
-
-<p>
-„Ist er hier gemeldet?“ fragte Jürgen gierig. „Kolbenreiher
-mit H!“
-</p>
-
-<p>
-Der Beamte gab keine Antwort; er unterhielt sich
-weiter mit seinem Kollegen über die Tatsache, daß
-ein Teppichgeschäft in Berlin N den Mitgliedern der
-Beamtenorganisation zehn Prozent Rabatt gewähre,
-fragte, ob er diesen Rabatt wohl auch bekäme, wenn
-er nur zwei ganz einfache Bettvorleger kaufe. „Wenn
-nicht, würde ich lieber Strohmatten nehmen. Kosten
-kaum die Hälfte.“
-</p>
-
-<p>
-„Und halten auch vierzehn Tage!“
-</p>
-
-<p>
-„Haben Sie den Personalakt gefunden?“ Jürgen
-streckte den Oberkörper durch das Schalterquadrat.
-</p>
-
-<p>
-„Man darf eben nicht mit den Schuhen darauftreten
-... Nun, wenn man früh aufsteht ...“
-</p>
-
-<p>
-„Ist er hier gemeldet?“
-</p>
-
-<p>
-„... hat man ja in Berlin keine Schuhe an ...
-Nein, ein Jürgen Kolbenreiher ist bei uns nicht gemeldet.“
-Das Schalterfenster klatschte knapp vor
-Jürgens Stirn herunter.
-</p>
-
-<p>
-‚Vielleicht lebt er einfach unangemeldet. Ich natürlich
-weiß am allerwenigsten, ob er dazu fähig ist.‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
-Vollkommen gefühl- und empfindungslos geworden,
-stand er in der verkehrreichen Straße, gleich einem
-zu Eis erstarrten Gegenstand, der in der lebendigen,
-sengenden Sonne steht und nicht schmilzt.
-</p>
-
-<p>
-In allen Menschengesichtern, die an ihm vorbei auf
-Körpern straßauf, straßab getragen wurden, stand,
-ob sie sprachen oder schwiegen, lachten oder dachten,
-die selbe eisesstarre Einsamkeit.
-</p>
-
-<p>
-So unabänderlich einsam, wie die Fliege, die, mit
-dem dicken Kopf voran, im Zickzack durch die Luft
-zuckt, dachte Jürgen und beugte sich, durchschüttert
-plötzlich von wunderbarem Wehgefühl, hinab zu zwei
-kleinen Kindern, die im Erdrund eines Baumes hockten
-und, in den Augen noch das volle Leben, hingegeben
-mit Steinchen spielten.
-</p>
-
-<p>
-‚Und in zehn Jahren wird die große, lebendige,
-schmerzliche Sehnsucht kommen, in weiteren zehn
-Jahren auch für sie die unlebendige graue Einsamkeit,
-da auch sie gleich allen dann die Sehnsucht nicht
-mehr haben werden.‘
-</p>
-
-<p>
-Ihn trieb die Sehnsucht, wiedererstanden in ihm
-durch das Erblicken der zwei noch im Fluß des Lebens
-spielverbundenen Kinder, weiter straßauf, straßab.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, der wohnt dort in dem gelben Haus.“
-</p>
-
-<p>
-Das Herz blieb stehen. Klopfte noch immer nicht
-wieder. Begann in rasendem Tempo zu hämmern.
-Die Schläfen, graukalt geworden, stiegen über den
-Kopf empor. Todesangst packte und erfüllte ihn bei
-der Vorstellung, ihm, den er verraten und verkauft
-hatte, in die Augen zu blicken.
-</p>
-
-<p>
-Der am ganzen Körper Zitternde wußte, daß er
-auf der Stelle tot zusammenbrechen werde, angesichts
-des Andern; dennoch trug letzte Bereitschaft, die
-<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
-Glieder lösend selig ihn durchströmte, Jürgen auf das
-gelbe Haus zu, bis vor das Porzellanschild.
-</p>
-
-<p>
-Er sank, sank, sank. Stand endlich, Beine und
-Füße aus Blei, auf dem Asphalt und las wieder und
-wieder den nur ähnlich klingenden Namen.
-</p>
-
-<p>
-Alles Leben, das ganze Gewicht seines Körpers
-schien in den Beinen zu sein, so schwer waren sie geworden,
-als er sich weiterschleppte, toten Blickes.
-</p>
-
-<p>
-Die Detektei erreichte Jürgen noch knapp vor
-Bureauschluß. Mit dem ersten Blick schätzte der Inhaber
-den gut gekleideten Kunden auf die Vermögensverhältnisse
-hin ein, bemerkte schon nach zehn Sekunden,
-daß der vor ihm stand, den er suchen sollte,
-ließ sich eine Anzahlung geben. Am Morgen hatte
-Jürgen zu seiner Verwunderung gegen einen Scheck,
-unterschrieben mit dem Namen Jürgen Kolbenreiher,
-anstandslos eine große Summe ausbezahlt bekommen.
-„Haben Sie Hoffnung?“
-</p>
-
-<p>
-„Aber gewiß doch! Von der Hoffnung lebt man
-heutzutage ... Wie wärs mit einer Extraprämie,
-Herr ... Pardon, wie ist Ihr Name?“
-</p>
-
-<p>
-Und da Jürgen den Kopf schüttelte: „Ich habe
-keinen.“
-</p>
-
-<p>
-„Den wollen Sie nicht sagen, verstehe schon. Das
-kommt bei uns öfters vor ... Mit einer besonderen
-Prämie, die Sie demjenigen meiner Leute auszubezahlen
-hätten, der den Aufenthaltsort dieses Schuftes
-nachweist.“
-</p>
-
-<p>
-„Er ist kein Schuft. Im Gegenteil: wir sind Schufte!“
-</p>
-
-<p>
-„Erlauben Sie! Gewöhnlich sind meine Auftraggeber
-sehr achtbare Leute, die irgendeinen Schuft
-suchen lassen.“
-</p>
-
-<p>
-„Glauben Sie mir, es ist genau umgekehrt.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
-„Wie also sieht dieser Herr Jürgen Kolbenreiher
-denn nun eigentlich aus, im großen ganzen? ... Sie
-wohnen doch im Hotel, nicht wahr?“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe im Hotel einen falschen Namen angegeben.
-Den Namen desjenigen, den ich suche. Sie verstehen?“
-</p>
-
-<p>
-„Verstehe schon!“
-</p>
-
-<p>
-„Ich bin nämlich ... Ach nein, ich bin nicht. Das heißt,
-ich wollte sagen: ich bin inkognito hier, ganz und gar inkognito
-... Wie Jürgen Kolbenreiher jetzt aussieht, das
-weiß kein Mensch auf der Welt. Denn es ist ganz unmöglich,
-zu wissen, wie ich aussehen würde, wenn ich so geworden
-wäre, wie ich bin. Das ist ja das Hoffnungslose.“
-</p>
-
-<p>
-„Nichts ist hoffnungslos. Ich habe schon schwerere
-Fälle mit gutem Erfolge zu Ende geführt. Beruhigen
-Sie sich. Nur Ruhe! Ich selbst werde den Fall bearbeiten.
-Und was die Extraprämie anlangt, so ist
-sie fällig, nachdem Sie selbst zugegeben haben werden,
-daß dieser von Ihnen gesuchte Jürgen Kolbenreiher
-gefunden ist. Welche Summe also ...?“
-</p>
-
-<p>
-„Jede Summe! Meine Villa, drei Mietkasernen, ein
-Riesenvermögen in Wertpapieren. Nehmen Sie alles,
-was ich habe, und geben Sie mir dafür Ihn!“
-</p>
-
-<p>
-Hinausbegleitet, verließ Jürgen das Bureau, nicht
-weniger Hoffnung im Herzen als der Detektiv, der,
-tief in Grübelei versunken, einen Bratensaucetropfen
-von seinem seidenen Rockaufschlag abkratzte, an die
-Villa, die Mietkasernen, an das Riesenvermögen dachte
-und keine Lust mehr hatte, des Dienstmädchens Alimentationsfall
-zu bearbeiten.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen stand schon vor einer Plakatsäule, an der
-ein roter Zettel klebte, mit der Aufschrift: ‚Es geschieht
-alles, was du willst, nur kehre zurück.‘ Im
-Auto fuhr er in das Plakatinstitut.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
-„Mit jedem Tausend mehr, das Sie drucken lassen,
-steigt die Wahrscheinlichkeit, daß Sie diesen Herrn
-Kolbenreiher finden.“ Der Unternehmer ließ die
-Augenbrauen fallen. „Das ist doch klar, nich?“
-</p>
-
-<p>
-„Fünftausend? ... Zwanzigtausend?“
-</p>
-
-<p>
-„Sind besser als zehntausend! Jetzt die genaue
-Beschreibung.“
-</p>
-
-<p>
-„Die gibts nicht.“ Er zog die Jugendphotographie
-aus der Tasche. „Hier ist das Bild dieses Menschen.
-Mein Jugendbild! Aber jetzt kann Jürgen Kolbenreiher
-unmöglich so aussehen. Und auch nicht so.“
-Er deutete auf sein Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-„Sagten Sie vorhin nicht, Sie selbst seien Jürgen
-Kolbenreiher?“
-</p>
-
-<p>
-„War ich! Bin ich wieder, wenn ich ihn gefunden
-habe.“
-</p>
-
-<p>
-„Hören Sie mal, einem Schwachsinnigen nehme ich
-kein Geld ab. Nee, ich bin doch keen Schnapphahn.
-Hab ich nich nötig ... Greifen Sie sich an den Kopf
-und sagen Sie sich: Da hab ich mich.“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn das so einfach wäre! Wenn ich einen Kopf
-hätte!“
-</p>
-
-<p>
-„Na, denn rin in die Gummizelle!“
-</p>
-
-<p>
-Die Konkurrenz machte das Geschäft. Und schon
-am folgenden Tage war an allen Plakatsäulen zu lesen,
-welche Summe demjenigen ausbezahlt werde, der den
-Aufenthaltsort Jürgen Kolbenreihers angeben könne.
-Auf den knallroten Zetteln klebte Jürgens Photographie,
-die eigens zu diesem Zwecke aufgenommen
-worden war. Ein gewisser Anhaltspunkt sei die
-Photographie ja doch, hatte der Plakatmann gesagt.
-</p>
-
-<p>
-Den ganzen Tag durchquerte Jürgen suchend die
-Stadt. Niemand erkannte ihn. Der Detektiv machte
-<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
-den Versuch, das Geld zu verdienen. Einen Irrenarzt
-brachte er gleich mit ins Hotel.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen zeigte den beiden seine Jugendphotographie.
-„Nehmen Sie an, dieser Mensch wäre auf dem Wege,
-den zu gehen er als seine Pflicht erkannt hatte, weitergeschritten,
-vierzehn Jahre älter geworden: wie würde
-er dann jetzt aussehen? Sicher nicht so wie ich ...
-Schaffen Sie mir den richtigen Mann bei, dann bezahle
-ich.“
-</p>
-
-<p>
-„Ich habe den richtigen Mann für Sie mitgebracht.
-Der wird Ihnen fix klarmachen, daß Sie selbst der
-Gesuchte sind“, sagte resolut der Detektiv. „Nicht
-wahr, Herr Doktor?“
-</p>
-
-<p>
-Der grinste. „So einfach wird das nicht sein.“
-</p>
-
-<p>
-Der Detektiv wurde energisch: „Sie müssen sich
-untersuchen lassen.“ Und der Doktor zog die Uhr.
-„Also, erst mal Ihren Puls, bitte.“
-</p>
-
-<p>
-„Was Puls! Meinen Puls? Sind Sie nicht bei
-Sinnen! Puls? Wenn ich einen Puls hätte!“
-</p>
-
-<p>
-„Nur los!“ rief der Detektiv, ging zu auf Jürgen,
-der zurückwich, die Bronzefigur vom Schreibtisch
-nahm.
-</p>
-
-<p>
-Als der Psychiater eine halbe Stunde später mit
-zwei Wärtern und einem Schutzmann zurückkam,
-war Jürgen schon in ein anderes Hotel übergesiedelt.
-</p>
-
-<p>
-Auf das Protokoll des Arztes hin wurde eine Anzahl
-Schutzleute ausgeschickt auf einen Streifzug durch
-die Hotels, Pensionen, Absteigquartiere, den Irren
-zu suchen, während dieser hoffnungsfroh die Stadt
-durchquerte, sich selbst zu suchen.
-</p>
-
-<p>
-„Kennen Sie einen Herrn Jürgen Kolbenreiher?
-Möglicherweise trägt er – ich, selbstverständlich,
-weiß das nicht – einen Schnurrbart.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
-Der Angeredete fragte zurück: „Verzeihung, sind
-Sie Schutzmann? In meinem Hotel waren nämlich
-heute Schutzleute, die einen entsprungenen Irren
-namens Kolbenreiher suchten. Viele Schutzleute
-durchsuchen ganz Berlin nach diesem Verrückten.“
-</p>
-
-<p>
-„Viele? ... Wunderbar! Sie werden mich sicher finden.“
-</p>
-
-<p>
-Getragen von Zuversicht, schritt er federnd und
-pfeifend auf das kleine Hotel zu, in dem er die letzte
-Nacht geschlafen hatte. Die Vorüberhetzenden, die
-Schutzleute, Chauffeure, alle blickenden Menschenaugen,
-alle Menschen auf der Erde suchten ihn.
-</p>
-
-<p>
-Da sah er wieder diese von einer unsichtbaren Last
-erdrückte Frau, der er schon am Morgen und noch
-einmal gegen Abend des selben Tages beinahe an der
-selben Stelle begegnet war, und die anzusprechen und
-nach sich zu fragen er nicht gewagt hatte, wegen der
-erstarrten Hoffnungslosigkeit in ihrem Antlitz.
-</p>
-
-<p>
-Die Frau, deren Lebensgefährte vor zwei Tagen
-gestorben war, trug, in Blick und Gang schon wie
-körperlos geworden, seit zwei Tagen die Last der
-hoffnungslosen Vereinsamung ziellos im Kreise immer
-um den selben Häuserblock herum.
-</p>
-
-<p>
-Das bange Gefühl, diese Frau sei in ihrem armen
-Herzen so ertötet, daß sie nicht mehr geben und nicht
-mehr empfangen könne, verhinderte ihn auch jetzt
-wieder daran, einmal bei der Hoffnungslosigkeit anzufragen,
-nachdem alle von Hoffnungen und Zielen
-noch Erfüllten ihm nicht hatten helfen können.
-</p>
-
-<p>
-Nur den Bruchteil einer Sekunde sah sie Jürgens
-bangen Blick auf sich gerichtet. Ein stöhnendes
-Schluchzen brach aus. Drei Töne. Dann trug sie,
-wieder starren Gesichtes, weiter langsam durch die
-Straße ihre hoffnungslose Vereinsamung.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
-Vor dem Hotel sprach der Portier mit einem Schutzmann.
-Zurückweichend blieb Jürgen stehen, bewegte
-den Zeigefinger vor der Brust verneinend hin und
-her, pfiff, die Brauen hochgezogen, einen Ton und
-kehrte um.
-</p>
-
-<p>
-„Die suchen ja mich, den Falschen, den Scheinjürgen,
-den Scheckfälscher, den, der im Hotel den
-Namen Kolbenreiher auf den Meldezettel schrieb. Sie
-suchen das Nichts, das sich anmaßte, zu sein.“
-</p>
-
-<p>
-Die Angst, festgenommen und eingesperrt zu werden
-und sich dann nicht mehr suchen zu können,
-jagte ihn fort. In ein anderes Hotel zu gehen wagte
-er nicht. Er wagte nicht mehr, sich sehen zu lassen.
-Ganz plötzlich sah er keine Möglichkeit mehr, sich
-zu finden.
-</p>
-
-<p>
-„Eingekreist! ... Im Freien schlafen! Eingekreist!“
-</p>
-
-<p>
-Ein letzter Rest von Hoffnung, Hilfe zu finden bei
-der Hoffnungslosen, trieb ihn ihr nach, die Straße
-hinunter, die in den Tiergarten mündete. Sein Gesicht
-war in Abwehr verzerrt. Die Zähne bleckten.
-</p>
-
-<p>
-Sein Körper fiel auf die erste Bank, die am Spreekanal
-stand. Die Vereinsamte neben ihm hatte sich
-nicht gerührt. Sie ängstigte sich nicht. Sie blickte
-blicklosstarr auf das Leben, das weiter ging, hinweg
-über ihr Leben: Zwei Stadtbahnzüge, leuchtende
-Lineale, schoben sich aneinander vorbei, durch
-die Nacht.
-</p>
-
-<p>
-Sah das Sterbezimmer, wo der, mit dem zusammen
-sie in Kampf und Leid des Lebens ein Leben gelebt
-hatte, noch auf dem Bette lag, weiß zugedeckt, bis
-zum Kinn.
-</p>
-
-<p>
-Am Tone schon des ersten Wortes, das sie sprach,
-fühlte Jürgen, daß neben ihm das Schicksal saß.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
-Zu Füßen der beiden regte sich leise das Leben:
-streifte das Wasser die Mauer.
-</p>
-
-<p>
-Sie hob die kraftlose Hand. Sie sagte, verzuckenden,
-tränenrauhen, warnenden Tones, als warne sie
-jeden einzelnen dieser Erde: „Kein hartes Wort
-kann mehr zurückgenommen werden.“
-</p>
-
-<p>
-Erschlossen plötzlich und schmerzlich berührt von
-der erhabenen Größe dieses schicksalhaften Leids der
-Hoffnungslosigkeit, berührte er die Schulter der Vereinsamten.
-</p>
-
-<p>
-Sofort brach sie in stöhnendes Weinen aus. „So
-früh gestorben, weil er für diese Zeit zu gütig war.
-Zu gütig war.“ Stand schwer auf. „Zu viel, zu viel
-ist mir geschehen.“ Und ging. Das Dunkel nahm sie.
-</p>
-
-<p>
-Vor dem reglos Sitzenden, der schmerzlich bewegt
-den verklingenden Schritten lauschte, ankerte neben
-der kleinen Eisenbrücke im Kanal ein Frachtschiff,
-auf dessen äußerster Spitze unter dem roten Signallicht
-ein junger Hund stand, der aufmerksam blickte.
-Und wie damals, da er, kommend aus Katharinas
-Zimmer, zusammen mit den neun Bezirksführern
-stadtwärts marschiert war, wehte auch jetzt kühler
-Teergeruch, und durch die Baumkronen schimmerten
-die Lichter der Stadt.
-</p>
-
-<p>
-Entbunden durch seine tiefempfundene Hilfsbereitschaft,
-die ihm verstattet hatte, das eigene Leid zurückzustellen,
-und verstärkt noch durch das erinnerungsträchtige
-Landschaftsbild, war in Jürgen plötzlich
-Sehnsucht nach Katharina und zugleich mit dieser
-brennenden Sehnsucht das Gefühl, körperlich vorhanden
-zu sein, mit solch blitzhafter Schnelligkeit entstanden,
-als ob es ihm nie entschwunden gewesen
-wäre.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
-So gewaltig war die Freude, daß ihm nicht Kraft
-blieb, den Freudeschrei auszustoßen. Weichheit tat
-sich milde in ihm auf. Tränen drangen durch die
-Lider. Machtvoll zog die Hoffnung in ihn ein.
-</p>
-
-<p>
-„Schnauzl“, flüsterte er zärtlich und lockte mit
-Daumen und Zeigefinger.
-</p>
-
-<p>
-Der Hund erhob sich, wedelte mit dem Schwanzstumpf,
-lief, zutraulich wimmernd, auf dem Bordrand
-hin und her, stand, blickte, bellte verlangend einen
-Ton. Stille ringsum.
-</p>
-
-<p>
-„Ein Hund und am Himmel die Sterne. Das ist
-zu viel und zu wenig für den Menschen. Zu wenig
-und zu viel. Der Mensch leidet ... Er erkenne im
-Leide und kämpfe!“ sagte Jürgen. Das war wie ein
-Gelübde.
-</p>
-
-<p>
-Ohne Eile, ohne Weile schritt er stadtwärts, zum
-Bahnhofe. Und fuhr mit dem nächsten Zuge zurück
-in die Heimatstadt. Seine Haare waren ergraut, Gesicht
-und Körper ganz vom Fleische gefallen.
-</p>
-
-<p>
-Einige Tage nach seiner Rückkehr – Herr Wagner
-und drei Ärzte waren bei Jürgen gewesen – stand
-in der Zeitung, Herr Kolbenreiher, Teilhaber der bekannten
-Bankfirma (deren Stammhaus übrigens schon
-in den nächsten Tagen in neuer, verschönerter und
-bedeutend vergrößerter Gestalt dem Parteienverkehre
-übergeben werden würde), habe sich durch seine unermüdliche
-und hingebungsvolle Arbeit eine Nervenentzündung
-zugezogen, die zwar sehr schmerzhaft,
-aber bei der kräftigen Konstitution des Patienten nach
-Ansicht der Ärzte allein schon durch Ruhe und den
-Aufenthalt in frischer Luft rasch zu beheben sei, so
-daß Herr Kolbenreiher seine bewährte Arbeitskraft bald
-wieder in den Dienst der Firma werde stellen können.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
-Auch Jürgen las diese Notiz. Ihn interessierte nur
-das Wort ‚Konstitution‘. Er fragte Phinchen, ob sie
-glaube, daß er ein konstitutioneller Schuft oder ein
-Schuft aus freier Entscheidung, also ein für seinen
-Verrat verantwortlicher Schuft sei, der die Kraft gehabt
-hätte, keiner zu werden. Er stand unter dem
-Türrahmen der Küche und blickte gespannt in das
-fassungslos zurückfragende Gesicht. „Was meinst du,
-Phinchen?“
-</p>
-
-<p>
-Unabgewendeten Blickes ließ Phinchen den Spüllappen
-fallen, trocknete, wie immer, wenn Jürgen die
-Küche betrat, gewohnheitsmäßig die violetten Hände
-an der Schürze ab. Der Jammer um ihren abgezehrten
-Herrn gab ihr die Worte, Jürgen sei immer der beste
-Mensch von der Welt gewesen; sicher habe er niemals
-absichtlich Böses getan.
-</p>
-
-<p>
-Da geriet er in Erregung. „Dann wäre ja alles
-hoffnungslos. Denn wie könnte ich aus diesem Wuste
-menschlicher Niedertracht herausfinden, wenn ich
-ohne Schuld, ganz ohne eigenes Zutun hineingeraten
-wäre ... Aber du kannst das ja nicht wissen. Sechzehn
-– und jetzt bist du vierzig. Hast dein Leben
-in dieser Küche verbracht.“
-</p>
-
-<p>
-Wochenlang verließ Jürgen das Haus nicht. Er
-kleidete sich gar nicht mehr an, aß und schlief außer
-jeder Regel. Manchmal wandte er sich mit einer
-Frage an Phinchen, deren Herz die Antwort gab.
-</p>
-
-<p>
-Sehnsucht und Grübelei kreisten immer um den
-selben Punkt. Auf der Welt war nichts als er und
-der Panzerplattenturm, vor dem er grübelnd saß und
-stand und lag und kniete, dieses Panzerplattengewölbe
-in ihm selbst, zudem er Einlaß suchte und nicht
-fand.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a>
-Zäh, gequält und unverdrossen machte er sich
-jeden Tag und jede Nacht von neuem an die Aufgabe.
-Jeden Gedanken dachte, jeden Schritt machte
-der Wahnsinn mit. Und auf dem Tisch lag der
-Revolver.
-</p>
-
-<p>
-Schon hatte er die Fähigkeit erworben, sich im
-Wachtraum und auch im tiefsten Schlaftraum zu beobachten.
-In der Finsternis unterirdischer Gewölbe,
-durch die er traumsicher schritt, traf er den Andern,
-den er suchte, führte mit ihm traurig geflüsterte
-Wechselreden. Im Blick des Andern stand sehnsuchtslose
-Bereitschaft. „Geh und miß!“
-</p>
-
-<p>
-„Ja, messen! Ich werde messen. Dies ist das
-Mittel.“ Da saß er aufrecht im Bett: blickte die
-Schranktür an. „Messen?“
-</p>
-
-<p>
-So ausschließlich lebte er seiner Aufgabe, daß es
-ihm trotz Unterbrechung des Traumes auch diesmal
-gelang, die Fortsetzung des Traumes zu träumen, in
-das Gewölbe, das tief unter dem Leben lag, zurückzugelangen,
-vor die Augen des Andern, die sehnsuchtslos
-und unerbittlich ihn anblickten.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen wußte, daß er nicht fragen dürfe, was er
-messen solle. Und als er flüsternd dennoch fragte,
-verschwand das Gesicht. Logikferne Gebilde zuckten
-auf, verzuckten in Finsternis. Lichtbündel verzischten
-in Finsternis, aus der sekündlich wieder Licht aufspritzte.
-</p>
-
-<p>
-Da schoß eine dicke, schmerzhaft weiße Lichtfontäne
-auf, in deren Mitte unirdisch weiß das Wesentliche
-lebte, das, im Tiefsten ihn durchschauernd,
-plötzlich sein eigen wurde.
-</p>
-
-<p>
-Inbrünstig bemühte er sich, das Wissen vom
-Wesentlichen aus dem Halbschlafe heraus in das
-<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a>
-Wachsein herüberzuretten, öffnete mit großer Vorsicht
-wiederholt die Lider, nur einen Millimeter:
-Immer war das Wesentliche weg und nur die Schranktür
-da.
-</p>
-
-<p>
-Und als er ganz erwacht aufrecht im Bette saß,
-wußte er nicht mehr, wann und wie und durch wen
-ihm der Rat zuteil geworden war, noch einmal, wie
-in der Jugend, eine Wanderung durch die Menschheit
-zu machen, unverstellten Blickes.
-</p>
-
-<p>
-„Dann werde ich wieder dorthin gelangen, wo ich
-schon war. O, Bewußtsein!“ Sein sehnsuchtsvoller
-Freudeschrei riß ihn aus dem Bett.
-</p>
-
-<p>
-Bereit, jedes Leid und selbst den Tod zu erleiden,
-verließ er das Haus, in der Tasche den entsicherten
-Revolver.
-</p>
-
-<p>
-Der Sonntagmorgen tat sich vor ihm auf. Glocken
-läuteten. Ein roter Sonnenschirm überquerte die
-Straße. An Jürgen vorbei marschierte eine Knabenklasse,
-in Viererreihen streng geordnet und geführt
-vom Lehrer, der kommandierte: „Links! Rechts!
-Links! Rechts!“
-</p>
-
-<p>
-„Wenn die Schwerter blitzen und die Kugeln
-fliegen ...“ „Links! Rechts!“
-</p>
-
-<p>
-An dem Lehrer sah Jürgen das erstemal dieses Gebilde,
-das im Rücken hing, verkümmert, eingeschrumpft,
-vertrocknet. „Das ist, mitgeboren, aber
-ganz verödet, das Eigene, das in gar keiner Wechselwirkung
-mehr zu seinem Träger steht“, flüsterte er
-und ließ sich auf den Lehrer zugehen. „Auch Sie
-machen sich mitschuldig an einem furchtbaren Verbrechen,
-und ich kann Ihnen sagen, weshalb.“
-</p>
-
-<p>
-Erst als er den Lehrer schüttelte und in das empörte
-Gesicht sagte: „An einem entsetzlichen Verbrechen!
-<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a>
-Denn Sie lassen sich als Seelenmörder gebrauchen“,
-stutzte der Lehrer, riß sich los, eilte der Klasse nach
-und richtete die in Unordnung geratenen Viererreihen
-wieder aus mit dem Kommando: „Links! Rechts!“
-</p>
-
-<p>
-Von einem visionären Blitz erleuchtet, sah Jürgen
-sämtliche Knabenklassen Europas, die, kommandiert
-von den Lehrern, auf einer Riesenebene in linearer
-Ordnung kreuz und quer umhermarschierten und unter
-Geschützesbrüllen unversehens Infanterieregimenter
-wurden. Ununterbrochen stiegen die erstickten Seelen
-aus den strenggeschlossenen Schülerquadraten in die
-Höhe und verschwanden mit klagendem Gesange.
-</p>
-
-<p>
-„Wohin?“ fragte Jürgen. „Wohin sind sie verschwunden?“
-Er stand, noch durchzogen von der
-Vision, reglos und entrückt, bis drei alte Herren ihm
-in das Blickfeld hineinspazierten. Der eine erzählte
-etwas, verteidigte sein ablehnendes Verhalten. „Da
-kam es darauf an, ein Charakter zu sein.“
-</p>
-
-<p>
-„Sie aber haben keinen Charakter. Denn was
-würde geschehen, wenn Sie Ihr Vermögen, Ihre Stellung,
-Ihre Privilegien und die Achtung der geachteten Männer
-verlören? Wo bliebe dann Ihr Charakter? Sie, meine
-Herren, sind Charaktermasken.“ Und er deutete
-auf die eingetrockneten Gebilde, die sich mit den
-dreien fortbewegten.
-</p>
-
-<p>
-Als habe eine Hand ihn durch die vielen Straßen
-hin geführt, stand plötzlich, die düsteren Fensterlöcher
-quadratiert mit dicken Eisenstäben, vor ihm
-das Gefängnis, ein steingewordener Schrei.
-</p>
-
-<p>
-Dunklen Druck in der Brust, blickte Jürgen die
-zufriedenen Sonntagsspaziergänger an. „Sie gehen
-vorüber, unberührten Gemütes.“ In seiner Brust
-stand das ganze wuchtende Gebäude.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a>
-Und er schritt, stehend vor der Mauer, wieder durch
-die Gänge, Gänge, die in seinem Herzen waren, durch
-den Saal, in dem die engmaschigen Drahtgitterkäfige
-standen, jeder ein menschliches Wesen trennend von
-den menschlichen Wesen.
-</p>
-
-<p>
-‚Schnauzl!‘ lockt mit Zeigefinger und Daumen die
-verwüstete Siebzehnjährige. Katharinas Schnauz wedelt
-kläglich mit dem Schwanzstumpf.
-</p>
-
-<p>
-Qualvolle Machtlosigkeit, wie damals, preßte Jürgens
-Herz zusammen.
-</p>
-
-<p>
-Die Zellentür tut sich auf. Vor ihm steht Katharina
-im grauen Gefängniskleid, das verschönt ist durch
-den ordnungswidrigen Einschlag beim Halse. Der
-kleine, feste Mund lächelt froh.
-</p>
-
-<p>
-Stürmische Liebe, wie damals, brach in Jürgen los.
-Da blickt Katharina gleichgültig und kalt ihn an.
-(‚Auch kann ich ein Mädchen sein, das im Kampfe
-gegen die Umwelt steht und durch ihr verächtliches
-Abweisen ...‘)
-</p>
-
-<p>
-Mit beiden Händen griff Jürgen in die Luft und
-taumelte gegen die Gefängnismauer, blickte flehend
-Katharinas Blick an, der lautlos sprach: ‚Nimm erst
-von neuem auf dich alle Qualen!‘
-</p>
-
-<p>
-Zwei paar Arme, an denen Spazierstöcke baumelten,
-breiteten sich aus, fielen schenkelwärts. Schultern
-zuckten. Jürgen betrachtete die eingeschrumpften
-Gebilde. „Auch ganz und gar entselbstet!“ Und
-folgte, berührt von dem Interesse des Leidensgenossen
-für die Leidensgenossen, den zwei Männern.
-</p>
-
-<p>
-„Da bin ich ganz deiner Meinung, Vorstand“, wiederholte
-der zweite Vorstand und ließ den ersten Vorstand
-vorangehen, hinein in das Gesangvereinslokal, in dem
-die Tenor- und Baßtische schon voll besetzt waren.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a>
-Unbemerkt stand Jürgen hinter dem großen Kachelofen.
-Aus dem Gastzimmer klangen, durch die geschlossene
-Tür durch, die Klüpfelschläge des Wirtes,
-der den Hahn in das Bierfaß schlug.
-</p>
-
-<p>
-Er habe die außerordentliche Singprobe einberufen,
-weil das hochverehrliche Gründungsmitglied, Herr
-Simon Ott, im Sterben liege. „Er liegt in den letzten
-Zügen.“
-</p>
-
-<p>
-In diesem Moment wurde Jürgen von einer Möwe
-besucht. Lautlos. Sie stand vor ihm, glich einer nordischen
-Frau – groß, hellblond – und hatte ein
-gefühlsentferntes, vollkommen seelenloses Gesicht.
-</p>
-
-<p>
-Jenseits aller Verwunderung sagte Jürgen zu ihr:
-„Nur wußte ich bis jetzt nicht, daß Möwen schöne,
-kühle Frauen sind.“
-</p>
-
-<p>
-Die Möwe antwortete nicht, blickte auf das weite,
-kalte Meer hinaus. Auch Jürgen blickte auf das Meer
-hinaus.
-</p>
-
-<p>
-„Deshalb müssen wir rechtzeitig das Trauerlied einstudieren,
-das am Grabe gesungen werden soll, damit
-wir uns nicht wieder blamieren.“
-</p>
-
-<p>
-„Er ist ja noch gar nicht tot!“
-</p>
-
-<p>
-Ein kleiner, dürrer, bebrillter Schuhmachermeister
-schoß vom Stuhle empor und forderte etwas mehr
-Pietät. Er war der Schriftführer.
-</p>
-
-<p>
-„Wenn er doch noch lebt!“
-</p>
-
-<p>
-„Aber es kann nicht mehr lange dauern. Ich bitte
-also den Herrn Dirigenten, das Trauerlied vorzunehmen.“
-Der Vorstand breitete die Arme aus: „Oder
-sollen wir uns wieder blamieren?“
-</p>
-
-<p>
-Der zweite Vorstand erhob sich, klopfte ans Bierglas:
-„Ich bin ganz der Meinung unseres ersten Herrn
-Vorstandes ... Wenn ein altes Mitglied, ein Veteran
-<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a>
-des Männergesanges, stirbt, kann er verlangen, daß
-das Lied, das wir an seinem Grabe singen, vorher
-ordentlich geprobt wird. Und die Ehre unseres Vereins
-steht auch nicht so bombenfest, daß wir uns
-wieder blamieren dürften, wie das letztemal.“
-</p>
-
-<p>
-Die Möwenfrau trug in den reglosen Augen einen
-Blick, als schaue sie das unabänderliche Schicksal.
-</p>
-
-<p>
-Der Brillenschuster verteilte schon die Gesangbücher.
-Die zehn Bässe gruppierten sich um das
-Klavier herum. „Dort unten ist Friede“, intonierte
-der Dirigent. Und die Bässe setzten ein: „Im kühlen
-Haus.“
-</p>
-
-<p>
-„Nur die Bässe singen, bitte ich mir aus. Warten
-Sie, bis Sie daran kommen.“ Der Brillenschuster
-hatte mitgesummt. Er sang den ersten Tenor.
-</p>
-
-<p>
-„Es ruhet der Schläfer vom Leben aus.“
-</p>
-
-<p>
-Gabelförmige Schwingen kamen fühlergleich und
-steif vorne aus der Körpermitte der Möwenfrau heraus,
-verschwanden wieder. Sie bewegte sich wie ein Vogel,
-der zum Fluge anhebt, sah mit inhaltslosen, blauen
-Augen Jürgen an, der dachte: Will sie fort?
-</p>
-
-<p>
-„Und über dem Hügel: sum, sum, sum, sum.“
-</p>
-
-<p>
-„Mehr piano! Nicht: sum, sum, sum, sum; sondern:
-sum, sum, sum, sum ... Sie, meine Herren, sind doch
-keine Schmeißfliegen; Bienen summen viel zarter.“
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich sah Jürgen vierzig zur Decke gerichtete
-Augenpaare, vierzig eirund geöffnete Münder und an
-den Rücken der Sänger, die jetzt im Halbkreise alle
-um das Klavier herumstanden, die vierzig eingetrockneten
-Gebilde.
-</p>
-
-<p>
-Die Schwingen kamen gabelförmig vorne aus der
-Leibesmitte der Möwenfrau heraus; Jürgen setzte sich
-darauf und schwebte, den Kopf an die nebelumflorte,
-<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a>
-schöne Brust der Frau gelehnt, über das kalte, weite
-Meer, ruhend in der Überzeugung, daß er zu dem
-unbekannten Orte gelangen werde, wo sein Bewußtsein
-auf ihn warte.
-</p>
-
-<p>
-Die Möwenfrau selbst darf, da sie erstickte Seelen
-fortträgt, natürlich keine Seele haben, dachte Jürgen
-während des lautlosen Fluges. Und sagte zu ihr:
-„Wenn ich nun dem Arzte erklären würde, daß auch
-diese Sänger ganz und gar entselbstet sind, und daß
-ihre Seelen, von dir und deinen Schwestern hingebracht,
-irgendwo im Weltenraume schmerzlich warten, in
-ungeheuerer Einsamkeit, würde er mir nicht glauben,
-sondern behaupten, mein Zustand habe sich verschlimmert
-... Die Psychiater sind doch zu dumm.
-Glauben Sie das nicht auch?“
-</p>
-
-<p>
-Die Möwenfrau antwortete nicht, flog weiter, leicht
-vorgebeugt. Ihre Augen hatten sich während der
-ganzen Zeit nicht bewegt. Ihr Gesichtsausdruck hatte
-sich nicht verändert.
-</p>
-
-<p>
-Weil sie eben keinen Gesichtsausdruck hat, dachte
-Jürgen und drehte das Gesicht nach oben, blickte ihr
-in die Augen.
-</p>
-
-<p>
-Ringsum war nur noch Wasser und Nebel.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen wußte nicht und dachte auch nicht darüber
-nach, wie er hierhergelangt war. Er saß auf der Bank
-in der Anlage, gegenüber dem grünen Bretterzaune,
-in den er vor vierzehn Jahren als erstrebenswertes
-Ziel den Frackherrnjürgen hineingesehen hatte.
-</p>
-
-<p>
-Ein Lächeln tiefinnerster Sicherheit erhellte sein Antlitz,
-als er, jeden Willen ausschaltend, alle Muskeln entspannte,
-in dem Bestreben, wie damals wieder nur die
-Begierden, nur den Menschen in sich sprechen zu lassen,
-um zu erfahren, was der Mensch in ihm ersehne.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a>
-Der Bretterzaun blieb Bretterzaun und leer. „Dieses
-nicht! Dieses wenigstens begehrt er nicht mehr“,
-flüsterte Jürgen. „Was aber ersehnt es, mein Herz?“
-</p>
-
-<p>
-Er schloß die Augen und lauschte und wartete und
-fühlte nichts. Die Lider der inneren Augen blieben
-geschlossen. Da saß er, reglos, leid- und freudlos,
-leblos.
-</p>
-
-<p>
-Leiser Wind bewegte die Baumkronen. Schläfriges
-Zwitschern eines Vogels im Sonnenbrand. In der
-Ferne brauste die Stadt.
-</p>
-
-<p>
-„Das ist die weiße Sekunde“, flüsterte Jürgen in
-plötzlicher Erregung. Denn er sah sich schreiten.
-Und die Straßen wurden enger, dunkler, die Häuser
-kleiner. Unbebaute Stellen. Der verfaulende Bretterzaun.
-Das kleine Fenster hing nah der Erde rotleuchtend
-in der Finsternis.
-</p>
-
-<p>
-„Die Haustür, sie ist nur angelehnt. O, einzutreten,
-heimzufinden, zurück zu mir!“
-</p>
-
-<p>
-Ein Knall riß ihn empor. Zwei Soldaten warfen
-die Köpfe nach links und grüßten, Hand an der Mütze,
-die starr glotzenden Augen herausgedrückt, den
-Offizier.
-</p>
-
-<p>
-„Geh mit!“ Er ging mit. Folgte dem Offizier in
-den Stadtpark, wo die Militärkapelle spielte und die
-geputzte Menschenmenge promenierte in dem sonndurchwirkten
-Laubgang alter Bäume.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen wurde oft und achtungsvoll gegrüßt und
-dankte nie. Lange beobachtete er einen Jüngling, der,
-im Blick noch die große Frage an das Leben, die
-eleganten Kaufleute, Studenten, Offiziere und Beamten
-betrachtete, schüchtern und ganz erfüllt von
-der Sehnsucht, ebenso elegant, fertig und sicher, Blume
-im Knopfloch, hier spazieren zu können.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a>
-„Spucken Sie auf dieses Ziel“, sagte er lächelnd
-und deutete auf die Promenierenden. „Vielleicht
-werden Sie dann nicht in der Leere ersterben sondern
-in Qualen leben.“
-</p>
-
-<p>
-Vorbei promenierte eine Gruppe Studenten, welche,
-Armmuskeln gespannt, Ellbogen weggestreckt, ihre
-roten Mützen knapp an der Brust langsam herunter
-bis zum Knie und ebenso krampfhaft-feierlich wieder
-kopfwärts führten, während die Gegrüßten das selbe
-mit ihren grünen Mützen taten, die zerhauenen Biergesichter
-starr ins Profil zu den Rotmützen gestellt.
-</p>
-
-<p>
-„Kampf und Vernichtung dieser Ordnung, die
-solche Söhne hervorbringt! Wehe, sie sind die Söhne
-ihrer Väter! Wehe, sie werden zu Staatsanwälten
-und zu Richtern werden! Ihrem Kopf und Herz
-sind Kultur und Fortschritt der Menschheit anheimgegeben?
-Nie! Nie! Niemals! Sie alle werden Jürgens
-werden. Bestenfalls!“ Er lachte in Hohn und Ekel
-vor sich selbst.
-</p>
-
-<p>
-Da schritten, in dem Tempo von Menschen, die
-woher kommen und einem Ziele zustreben, Katharina,
-der Agitator, der Metallarbeiter mit der verstümmelten
-Hand und der Holzarbeiter, dessen verhutzeltes
-Gesicht nicht mehr viel größer war als eine Faust, wie
-ein Fremdkörper durch die gespreizt promenierende
-Menge.
-</p>
-
-<p>
-Ein riesengroßes, sammetschwarzes Tuch verhing
-den ganzen Himmel. Und als es wieder dämmerhell
-wurde und Laubgang, Blumenrondells, Musikkapelle
-und Spaziergänger sich drehend ineinander türmten,
-wußte Jürgen nicht mehr, wen er gesehen hatte.
-</p>
-
-<p>
-Knapp vor ihm begegneten sich wieder die Studenten,
-die erst kurz vorher einander gegrüßt hatten,
-<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a>
-und führten, da vielleicht ein noch nicht gegrüßter
-Student zu der einen oder der andern Gruppe gekommen
-sein konnte, wieder die Mützen hart an der
-Brust herunter, die Gesichter ins Profil gestellt.
-</p>
-
-<p>
-Mit einem jähen Satz sprang Jürgen dazwischen,
-faßte mit großer Handbewegung die ganze Menge zusammen
-in Eine Person und begann zu brüllen, in
-maßloser Wut.
-</p>
-
-<p>
-Erst viel später – er stand schon, ohne zu wissen,
-wie er dorthin gelangt war, vor der Kirche, brausende
-Orgeltöne drückten die Kirchgänger aus dem Portal
-heraus und um ihn herum – erinnerte er sich der
-Einzelheiten des Tumultes, den er verursacht hatte
-durch seine Ansprache.
-</p>
-
-<p>
-Seine Zähne bleckten in Haß und Abwehr beim
-Erblicken der Kirchgänger. „Ein- und das selbe Gesicht,
-dort wie hier, weltenweit entfernt von dem Bewußtsein,
-das zum Schwanz verkümmert ist.“
-</p>
-
-<p>
-Die Mitglieder sämtlicher Gesangvereine Europas
-standen und sangen in seinem Gehirn; die Verwandlung
-aller Knabenklassen in geschützdurchdonnerte Infanterieregimenter
-vollzog sich schmerzhaft hinter
-seiner Stirn; Studenten soffen und fochten und zogen
-die Mützen in seinem Hinterkopf; Millionen Bürger
-zuckten, begleitet von Militärmusik und Orgelspiel,
-ablehnend die Schultern, breiteten bedauernd die
-Arme aus, daß Jürgens Schläfen zu platzen drohten.
-</p>
-
-<p>
-Er wühlte sich durch die Menge, sprang durch ein
-Durchhaus und stand, zuckend in allen Nerven, in
-einer menschenleeren, immer sonnelosen, vor Feuchtigkeit
-grünen Gasse.
-</p>
-
-<p>
-„Nieder!“ zischte er, beide Fäuste an die Schläfen
-gepreßt. „Nieder! Nieder mit dem Ganzen!“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a>
-In der feuchten Gasse war es still wie in einem Abgrund.
-„Aber wie? Durch welche Macht? Durch
-welches Mittel?“
-</p>
-
-<p>
-Plötzlich glaubte er, starrend auf den Streifen
-irisierenden Schaumes, der aus der feuchten Mauer
-quoll, das einzige Mittel werde ihm in der nächsten
-Sekunde einfallen. Beide Arme ausgebreitet, Hände
-gegen die Mauer gepreßt, stand er wie ein Gekreuzigter,
-lauschend und wartend. Der menschengefüllte Stadtpark
-tat sich auf. Sofort war das ganze Bild wieder mit
-dem sammetschwarzen Tuch verhangen. Erinnerungsqual
-versank in Schwindelgefühl, aus dem, so unentrinnbar
-wie damals, als er bei der Straßenkreuzung
-Abschied genommen hatte von Katharina, der Zwang
-emporwuchs, genau gezählte zehnmal durch die feuchte
-Gasse zu gehen. Hin, her, hin.
-</p>
-
-<p>
-„Achtmal“, zählte er, blickte hinaus, wo die Sonne
-schien, ballte die Fäuste, in dem Bemühen, die Gasse
-vorher verlassen zu können. Da riß es ihn herum.
-Geduckt marschierte er weiter.
-</p>
-
-<p>
-In der Kellerwohnung schlug ein Mann seine Frau.
-Wildes Geschrei. Das fahle Gesicht des weinenden
-Söhnchens erschien am eisenvergitterten Fensterquadrat
-knapp über dem Pflaster.
-</p>
-
-<p>
-„Und in zwanzig Jahren schlägt das Söhnchen seine
-Frau, und deren Söhnchen weint“, flüsterte Jürgen
-und durchwanderte zum zehnten Male die schimmelgrüne
-Gasse. „Welche Macht könnte das verhindern?“
-</p>
-
-<p>
-„Wissen Sie es? ... Alles hat seine Ursache. Glauben
-Sie nicht auch, daß alles seine Ursache hat?“ fragte
-er auf dem sonnigen Kirchplatz einen schnurrbärtigen
-Rentier, in dessen Mund eine sorgfältig angerauchte,
-dicke Meerschaumspitze steckte.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a>
-„Man muß die Ursachen erkennen, dann findet man
-auch das Mittel. Glauben Sie nicht auch?“ Und als
-der Rentier den Kopf schüttelte:
-</p>
-
-<p>
-„Sie sind ein Raucher, nicht wahr? Nichts als ein
-Raucher! Sie kann man mit der Bezeichnung ‚Raucher‘
-benennen. Sie sind harmlos. Tun niemandem etwas.“
-</p>
-
-<p>
-Der Rentier ging weiter. Ein Dampfwölkchen stieg
-empor, zerflatterte. Noch ein Dampfwölkchen stieg
-empor.
-</p>
-
-<p>
-„Oder sind er und die Millionen seinesgleichen vielleicht
-doch Raubtierchen? Selbstgerechte, zufriedene,
-ihres Raubes sichere Raubtierchen?“
-</p>
-
-<p>
-Ein uraltes Männchen, das auf dem speckigen Rockaufschlag
-am speckigen Bändchen einen Kriegsorden
-trug, überquerte trippelnd die Straße. Das vertrocknete
-Gebilde machte jedes Schrittchen des Alten mit.
-</p>
-
-<p>
-„Wie konnten Sie es ertragen, achtzig Jahre nicht
-eine Sekunde Sie zu sein, nicht einen Atemzug lang
-Ihr eigenes Leben zu leben? ... Nur in der Kindheit,
-in der Kindheit! Erinnern Sie sich noch?“
-</p>
-
-<p>
-Das Männchen hob mühsam den schweren Kopf:
-„Oj, oj, ein schlimmes Leben!“ und trippelte weiter.
-</p>
-
-<p>
-Täglich, vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht
-hinein, beobachtete und erlitt Jürgen das Leben, suchte
-er – begleitet von Wahnsinn und Revolver und immer
-bereit zum Schusse in das Herz – Bewußtsein und
-Weg. Wurde in seinem Kampfe, der in zweifachem
-Sinn ein Kampf um Sein oder Nichtsein war, noch
-wochenlang beständig hin und her geschleudert
-zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
-</p>
-
-<p>
-„Wo ist das Herz?“ hatte er einen Arzt gefragt.
-</p>
-
-<p>
-„Zwischen der vierten und fünften Rippe, von oben
-gezählt.“
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a>
-Und hatte, zuhause angelangt, an seinem abgezehrten
-Brustkorb die Einschußstelle abgetastet, entschlossen,
-nicht eine Sekunde länger zu leben, wenn
-keine Hoffnung mehr sei.
-</p>
-
-<p>
-Beobachtend lauschte er dem Leben und dabei
-immer in sich selbst hinein, folgte, ein zum Tode und
-zum Leben Entschlossener, jedem Fingerzeig, den die
-Umwelt gab, sprach mit Kindern und mit Greisen,
-mit Soldaten und mit Pferden. Das Erblicken eines
-Hundes, der, von einer Frau fortgezerrt, auf Jürgen
-zugestrebt war, veranlaßte ihn, sofort zum Hundehändler
-zu gehen.
-</p>
-
-<p>
-„Haben Sie einen Schnauz, der alles erträgt, nur
-nicht die Trennung von dem, dem seine Sympathie
-gehört?“
-</p>
-
-<p>
-Im sonnigen Hofe stand reglos ein junger, schwarzer
-Dackel, der, mit allen Vieren gleichzeitig, plötzlich
-hochflog, in der Luft herum, und wieder reglos stand,
-die verdrehten Augen auf Jürgen gerichtet.
-</p>
-
-<p>
-„Einen Schnauz nicht. Aber das Mistvieh können
-Sie billig haben, mitsamt der Leine.“
-</p>
-
-<p>
-„Er hat gute Augen. Wird er mit mir gehen?“
-Der reglose Dackel starrte auf eine Fliege, hüpfte auf
-sie zu, starrte in den Himmel.
-</p>
-
-<p>
-„Der geht mit jedem.“
-</p>
-
-<p>
-Freudig bellend zerrte der Dackel, die Schnauze
-am Boden, Jürgen hinter sich her, aus dem Hofe
-hinaus.
-</p>
-
-<p>
-Von dieser Stunde an unternahm Jürgen täglich
-weite Fußtouren. Er beachtete nicht Sonnenbrand,
-nicht Regen und hatte keine örtlichen Ziele. Für ihn
-gab es Tag und Nacht, ob er wanderte und sann oder
-schlief und träumte, nur das eine Ziel. Alles und
-<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a>
-nichts war ihm Wegweiser. Er existierte zwischen
-dem Ziele, das, ein farbloses, winziges Pünktchen in
-immer gleicher Entfernung am Horizont: seine große
-Hoffnung, und dem Schuß ins Herz, der die Erlösung
-von dem Wahnsinn: seine letzte Freiheit war.
-</p>
-
-<p>
-Der alte Landarbeiter, krummgebogen von der
-Lebensarbeit, rückte die Mütze und deutete: „Ihr
-Hund jagt. Wenn ihn der Forstaufseher vor den Lauf
-bekommt, schießt er ihn.“
-</p>
-
-<p>
-Aus dem hochstehenden Kleefeld tauchten, wie bei
-einem flüchtenden Känguruh, abwechselnd Kopf und
-Hinterteil des Dackels empor, der die Kleespitzen
-übersprang und bei jedem Satze mit den Vorderpfoten
-tief einfiel. Jürgen horchte auf das scharfe, verzweifelte
-Bellen.
-</p>
-
-<p>
-Und da geschah es, daß Jürgen, dem jede Sekunde
-Zeit unschätzbar teuer war, der um keinen Preis, den
-dieses Leben zu bieten hatte, eine Sekunde lang das
-Suchen nach sich selbst unterbrochen hätte, dieses
-große Suchen auf Leben und Tod unterbrach, um
-erst den gefährdeten Hund zu suchen.
-</p>
-
-<p>
-„Was ist der Mensch und was der Sinn, der ihn
-bewegt? Wer vermöchte zu sagen, weshalb im Opfer
-der tiefste Sinn des Menschendaseins ruht?“ flüsterte
-Jürgen, als er wieder auf dem Wege war, und begann
-zu weinen, laut und schrankenlos, in plötzlicher, wunderbarer
-Befreiung.
-</p>
-
-<p>
-Der Hund dackelte neben dem Schluchzenden her,
-hügelan, zum Waldrand. Vor Jürgen lag die Tiefebene,
-unübersehbar weit und breit.
-</p>
-
-<p>
-Zahllose junge Menschen, Mädchen, gebunden fragenden
-Blickes, Gymnasiasten, Studenten aller Nationen,
-standen dichtgedrängt, wartend auf das Wort.
-<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a>
-Immer neue Züge, endlos, traten aus den Wäldern
-heraus, tauchten hinter den fernen und fernsten Hügelketten
-auf. Millionen füllten die Tiefebene. Auf der
-Schulter eines jeden Einzelnen kauerte ein unheimlich
-und böse blickendes Tier. Aller Augen waren auf
-Jürgen gerichtet.
-</p>
-
-<p>
-„Folgt euren Vätern nicht, den alten Verdienern!“
-</p>
-
-<p>
-Da bäumten sich die Tiere, bleckten die Zähne,
-sträubten die Rückenhaare, schlugen ihre Krallen in
-die Schultern der stöhnenden Jugend, stießen grauenvolle
-Töne aus, die Schreck und Machtlosigkeit verursachten
-im Blick und im Gesichte der Jugend.
-</p>
-
-<p>
-„Stoßt sie herunter von euren Schultern! Reißt
-sie heraus aus eurem Gefühle! ... Macht euren guten
-Müttern Sorge! Erkennt eure Aufgabe, und dann erfüllet
-sie! Tut ihr das nicht, dann geht ihr zugrunde,
-so oder so“, begann Jürgen die große Rede an die
-Jugend, die zu einer Darstellung seines Lebens wurde
-und immer wieder von neuem in der Warnung gipfelte,
-nicht so zu tun, wie er getan habe.
-</p>
-
-<p>
-Stunden später blickte Jürgen, sitzend am Fensterplatz
-des kleinen Cafés und vor sich schon das Glas
-voll dampfenden Glühweines, dunkel fragend hinüber
-auf das Knopfexporthaus und wußte nicht, wie und
-wann und weshalb er hierher gekommen war.
-</p>
-
-<p>
-Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war das
-immer wieder geschehen, daß Jürgen bei den Wanderungen
-in und außerhalb der Stadt unversehens
-sich an Stellen befunden hatte, die durch Erlebnisse
-in der Vergangenheit für ihn bedeutsam geworden
-waren.
-</p>
-
-<p>
-Da steht ein Mensch plötzlich vor einem schwarzen
-Tunnelloch, ganz erfüllt von dem Gefühle, vor diesem
-<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a>
-Tunnelloch schon einmal gestanden zu haben in einem
-früheren Dasein. Er sitzt auf einem Kilometerstein,
-sinnend und tief im Leben, und Strauch und Baum, der
-stille Waldsaum und die schnurgerade Landstraße, die
-wie ein weißer Pfeil sich in den fernen Horizont verliert,
-sind rätselhaft vertraut dem unruhvollen Herzen.
-</p>
-
-<p>
-Die Wand, die Jürgens Blick in das Gewesene verstellte,
-rückt lautlos weg, und auf ihn brechen die
-Erinnerungen ein, so plötzlich und mit so lebendiger
-Gewalt, daß Jürgen in Abwehr schreit und bebt, gepackt
-von Angst, erdrückt zu werden von dieser Fülle,
-von des Bewußtseins blitzesschneller Wiederkehr.
-</p>
-
-<p>
-Um nicht Schaden zu nehmen an der Seele, bemüht
-sich der von Glück und Sein Durchblitzte und Durchstürmte,
-das wiederkehrende Bewußtsein bewußt nur
-stückweise in sich einzulassen, lenkt sich ab, zählt,
-entlang dem Waldsaum, genau dreihundert Tannenstämme.
-Zählt und zählt, bebt und schluchzt und
-zählt, bedrängt von dem anstürmenden, von Stamm
-zu Stamm nachdrängenden Bewußtsein, das eine
-Sturmflut schmerzhaft lebendiger Erinnerungen mitführt,
-die ihm zum großen Rückblick werden, tief
-zurück in das Gewesene.
-</p>
-
-<p>
-Viele Tage und in Maß und Abwehr durchwachte
-Nächte waren vergangen, ehe Jürgen sich bereitet
-und stark genug gefühlt hatte, bewußt Erinnerungsorte
-aufzusuchen. Wieder sitzt er eine ganze Nacht
-in der Verbrecherkneipe und liest von den verwüsteten
-Gesichtern das schon Gewußte und das Bewußtsein
-des Verrates, den er begangen hat, sich von neuem
-in die Seele und weiß, schweren Herzens, wieder: ‚Wer
-in diesem Leben nicht tief im Leide und im Kampfe
-steht, steht tief in Schuld.‘
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a>
-Die Straßenkreuzung, wo er Abschied genommen
-hatte von Katharina, glüht und brennt. Lange steht
-er, zögert er. Und plötzlich überquert er sie doch,
-in fliegender Eile, Schauer im Rückenmark.
-</p>
-
-<p>
-In dem Maße, wie er das Bewußtsein wiedergewinnt,
-bricht auch das Leben in seiner Milliardenfältigkeit,
-die zu empfangen und zu begreifen der Mensch ein
-Menschenalter zur Verfügung hat, wieder in ihn ein,
-stoßweise und mit solcher Wucht, daß er, bebend
-wie der Auferstandene, vor Sonne, Blau und Lärm
-steht, vor dem kleinen Leben der Straße, den schweren
-Pferden, die arbeitstreu das Backsteinfuhrwerk bauwärts
-ziehen, vor dem Sperling, der auf dem Pflaster
-hüpft und in die Ritzen pickt.
-</p>
-
-<p>
-Den Dackel an der Leine, schritt Jürgen aus der
-Stadt hinaus, auf der Quaimauer flußentlang, vorüber
-an einer Reihe Proletarierfrauen, die, kniend am Ufer,
-farbige Wäsche wuschen, an durchnäßten Kindern
-vorbei, die Hafenanlagen bauten aus Sand und Dreck.
-</p>
-
-<p>
-Die letzten Häuser blieben zurück. Der Fluß glitt
-blau und grün entlang der sanften Hügelkette. Am
-Ende der Quaimauer stand ein Angler. Jürgen schritt
-wie im Traume auf ihn zu. Er wunderte sich nicht.
-„Sind Sie Herr Knipp?“
-</p>
-
-<p>
-„Das ist mein Name.“ Hinter Herrn Knipp lag
-auf dem Damm ein besonders langer Reserveangelstock
-modernster Konstruktion. Auch einen neuen
-Rucksack aus braunem Segeltuch mit Lederbesatz
-hatte er sich angeschafft und einen Feldstuhl. Der
-Angler war erst achtundfünfzig Jahre alt und sah,
-wie er so dastand, zufrieden mit sich und der Welt,
-ganz unverändert aus, als ob seither kein Tag vergangen
-wäre.
-</p>
-
-<p>
-<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a>
-Wie damals saß Jürgen auf der Quaimauer, Beine
-flußwärts gestreckt. Millionen kleiner Mücken standen
-in der drückenden Schwüle knapp über der Wasserfläche.
-In der Nähe pochte die Stadt. Die Zeit stand
-still und glitt zurück.
-</p>
-
-<p>
-„Erinnern Sie sich noch des arbeitslosen Schwindsüchtigen,
-mit dem ich hier gesessen hatte?“
-</p>
-
-<p>
-Ruhevoll hob Herr Knipp die Angelschnur heraus
-und senkte sie in schönem Schwunge wieder in das
-glucksende Wasser. „Heute beißen sie gut an, weil
-ein Wetter im Anzuge ist ... Der Bursch lebt schon
-lange nicht mehr. Der war ein Unzufriedener. Den
-hat die Unruhe aufgezehrt, die Unzufriedenheit mit
-dem Gang der Welt. Schließlich hat er noch geklaut,
-kam ins Gefängnis und ist auch drin gestorben.“
-</p>
-
-<p>
-Ein Mensch, überschlafen, träge, nimmt sich ein
-dutzendmal vor, endlich aus dem Bett zu steigen,
-und bleibt immer wieder liegen. Unversehens sind
-seine Beine außerhalb des Bettes. Wie in diesem
-Trägen vielerlei zusammen das plötzliche Aufstehen
-bewirkt hat, ohne daß das treibende Vielerlei ihm
-ganz bewußt geworden wäre, tauchten auch in Jürgen
-die Fahrt mit dem Agitator zur Arbeiterversammlung
-im ‚Paradies‘, die fünftausend Arbeitergesichter, das
-fahle Gesicht des Schwindsüchtigen, Katharinas Rufe:
-‚Die Befreiung!‘ und seine Empfindungen und Gedanken
-an jenem Abend nur schemenhaft und unkontrolliert
-auf; dennoch verursachte all dies zusammen,
-in Verbindung mit des Anglers Worten, in
-Jürgen, der sich sofort erhob, plötzlich das feste Gefühl,
-er habe sich nun lange genug ausschließlich mit
-sich beschäftigt.
-</p>
-
-<p>
-Und aus einer ganz andersartigen Unruhe als der,
-<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a>
-die ihn veranlaßt hatte, den erinnerungsträchtigen
-Angelplatz aufzusuchen, löste sich sofort der Gedanke,
-Bewußtsein und Erkenntnis dürften nicht um
-ihrer selbst willen erstrebt und gepflegt werden.
-</p>
-
-<p>
-„Es ist erfüllt. Nun ist es Zeit“, sagte Jürgen, freudigen
-und schweren Herzens zugleich, als er zielbewußt
-weiter schritt.
-</p>
-
-<p>
-Der wolken- und sonnenlose Himmel sah krank
-aus. Die Landschaft glich einem schlechten, leblosen
-Riesengemälde. Der Dackel zögerte, blieb stehen,
-legte sich in die Straßenmitte. Die Vögel waren verschwunden.
-Kein Ton. Jürgen betrachtete das meterhohe
-Getreidefeld. Die völlige Reglosigkeit der Halme
-und Ähren machte auf ihn den Eindruck der Unnatürlichkeit
-und Schaurigkeit. Erst als Jürgen schon
-weit voraus war, erhob sich der Hund.
-</p>
-
-<p>
-Vereinzelte Tropfen fielen schwer in die Wind- und
-Luftlosigkeit. Als wäre der Himmel zu spannungslos
-und matt, den Sturm zu entfesseln, endete der Regen
-wieder. In der Nähe schrie ein Tier angstvoll dreimal.
-Und eine Sekunde später durchzuckte der trockene
-Blitz das ganze Tal.
-</p>
-
-<p>
-Wie auf ein Zeichen mit dem Taktstock bewegten
-sich alle Ähren gleichzeitig. Das Tal begann zu singen.
-Blitze aus weiter Ferne zogen schwachen Donner
-nach. Der Apfelbaum fröstelte. Ein alter Lappen
-machte einen Sprung quer über die Straße, blieb einen
-Windstoß lang ausgebreitet in halber Höhe gegen das
-Getreidefeld gepreßt und fegte, knapp über den
-Ähren, davon.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen hatte die Feldhütte noch nicht erreicht, da
-krachte der erste Donnerschlag, begleitet von schräg
-herabplatzenden Wassermassen. Der Dackel saß zu
-<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a>
-Füßen Jürgens und bellte hinaus in den Wolkenbruch.
-</p>
-
-<p>
-Als Felder, Wald und Fluß, das ganze Tal, im
-Wetter verschwunden gewesen, wie aus dem Nichts
-wieder entstanden, ging Jürgen auf eine weiße, unübersteigbar
-hohe Mauer zu, schnellen Schrittes, im Antlitz
-das Lächeln der Befreiung.
-</p>
-
-<p>
-Das schwere Bohlentor öffnete sich, eine Droschke
-fuhr heraus. Jürgen lief ein paar Schritte, sprang
-durch das Tor, hinein in die Irrenanstalt. Das Tor
-schlug zu. „Führen Sie mich zum Arzt.“
-</p>
-
-<p>
-Der stand noch in der Freihalle, kam schon geeilt.
-</p>
-
-<p>
-„Sie warten wohl schon lange auf mich?“
-</p>
-
-<p>
-„Aber nein! Das heißt, ich freue mich natürlich
-sehr, Sie zu sehen, Herr Kolbenreiher ... Beruhigen
-Sie sich! Bleiben Sie hier! Nur Ruhe!“ rief er beschwörend
-Jürgen zu, der ruhig lächelnd zurückblickte.
-</p>
-
-<p>
-Der patschnasse Dackel kam, die Leine hinter sich
-herschleifend, angerast, bellte vorwurfsvoll an dem
-geschlossenen Tor hinauf und drückte sich, auf der
-Hinterbacke sitzend, Vorderpfoten aufgestellt, gegen
-die Mauer, blinzelte unzufrieden in den noch mit
-schwarzblauen Wolken verhängten Himmel. Rasch
-hintereinander krachten zwei Donnerschläge.
-</p>
-
-<p>
-„Was kostet jetzt der Aufenthalt in Ihrem Hause,
-mit voller Verpflegung?“
-</p>
-
-<p>
-„Das richtet sich nach der Lage und Einrichtung
-des Zimmers. Sozusagen nach der Klasse. Dreierlei
-Preise!“
-</p>
-
-<p>
-„Wie bei der Eisenbahn!“
-</p>
-
-<p>
-„Wir berechnen Ihnen den Aufenthalt und selbstverständlich
-auch die Behandlung so kulant wie
-<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a>
-möglich. Sie wollen und werden ja auch wieder gesund
-werden.“ Der Arzt nannte die Summen.
-</p>
-
-<p>
-„Und lebenslänglich?“
-</p>
-
-<p>
-„Das verbilligt die Sache allerdings noch erheblich.“
-</p>
-
-<p>
-„Dann am besten lebenslänglich, was?“
-</p>
-
-<p>
-„Sehr vernünftig!“
-</p>
-
-<p>
-„Nicht wahr! ... Sind viele Kranke hier?“
-</p>
-
-<p>
-„O, ganz besetzt! Sehr interessante Patienten!“
-</p>
-
-<p>
-„Und alle nicht bei sich?“
-</p>
-
-<p>
-„Dies allerdings dürfte für alle so ziemlich zutreffen,
-im großen ganzen ... So kommen Sie doch schon
-her!“ rief er dem Oberwärter zu.
-</p>
-
-<p>
-„Ich wollte, Herr Doktor, ich wollte diese Mauer,
-diese hohe Mauer, mir nur einmal von innen ansehen.
-Ich danke schön. Guten Tag, Herr Doktor“, sagte
-Jürgen, kehrte um und schritt zum Tore hinaus.
-</p>
-
-<p>
-„Entronnen!“ Auf der Brücke zog er den Revolver
-und ließ ihn senkrecht hinunterfallen in das Wasser.
-„Entronnen!“ In den Schultern fühlte er das Leben
-und die Kraft zu neuem Anfang.
-</p>
-
-<p>
-Jürgen fuhr mit der Straßenbahn bis zur Endstation,
-erreichte Minuten später die Haustür. Sie war nur
-angelehnt.
-</p>
-
-<p>
-„Ja, was denken Sie! Die ist nie zuhaus“, sagte
-Katharinas Wirtin. „Jetzt ist das nicht mehr so wie
-früher. Jeden Tag Versammlungen! Und dann noch
-in die Redaktion. Jetzt erscheint die Zeitung ja täglich.
-Und wenn sie ja einmal da ist, sitzt sie gleich
-die halbe Nacht an der Schreibmaschine. Jetzt gibts
-viel Arbeit. Ein Buch schreibt sie auch. So dick!
-Das soll gedruckt werden.“
-</p>
-
-<p>
-Ein volles Bücherregal nahm die ganze Längswand
-ein. Auch ein Teppich verschönte das Zimmer. Auf
-<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a>
-dem Tische lag ein gedruckter Handzettel: Die Aufforderung
-zum Besuche der heutigen Massenversammlung
-im ‚Paradies‘.
-</p>
-
-<p>
-Gegenüber dem ‚Paradies‘ standen zwei Schutzleute,
-unter dem Eingangstor drei Arbeiter, die sich lebhaft
-unterhielten, und neben einem Stoße Broschüren ein
-vierzehnjähriger Knabe, der sicheren Blickes auf
-Jürgen zuschritt: „Der Kampf um den Sozialismus!“
-</p>
-
-<p>
-Jürgen kaufte die Broschüre. „Wer spricht heute
-Abend?“
-</p>
-
-<p>
-„Meine Mutter: die Genossin Lenz.“
-</p>
-
-<p>
-‚Halt! Halt! Das ist zu viel, zu viel Glück, zu viel
-Glück.‘ Bebend blickte er auf Katharinas Sohn, der
-äußerlich ganz und gar so aussah, wie der Gymnasiast
-Jürgen, der vor dem Buchladen gestanden und nicht
-den Mut gehabt hatte, einzutreten und die Broschüre
-zu kaufen.
-</p>
-
-<p>
-Mit den drei Arbeitern trat Jürgen in den Saal,
-schloß leise die Tür. Fernher klang in die Stille die
-Stimme Katharinas.
-</p>
-
-<p class="vspace">
-&nbsp;
-</p>
-
-<div class="ads">
-<p class="adh">
-Werke von Leonhard Frank
-</p>
-
-<p class="adb">
-DIE RÄUBERBANDE
-</p>
-
-<p class="ads">
-Roman 20. Tausend
-</p>
-
-<p class="ade">
-Im Insel-Verlag, Leipzig
-</p>
-
-<p class="adb">
-DIE URSACHE
-</p>
-
-<p class="ads">
-Roman 20. Tausend
-</p>
-
-<p class="ade">
-Im Insel-Verlag, Leipzig
-</p>
-
-<p class="adb">
-DER MENSCH IST GUT
-</p>
-
-<p class="ads">
-Gebunden. 25. Tausend
-</p>
-
-<p class="ade">
-Rascher-Verlag, Zürich
-</p>
-
-<p class="ads">
-Volksausgabe: 80. Tausend
-</p>
-
-<p class="ade">
-Kiepenheuer Verlag, Potsdam
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="frontmatter chapter">
-<p class="cop">
-Copyright by DER MALIK-VERLAG, Berlin 1924<br />
-Alle Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und<br />
-der Übersetzung, vorbehalten. Druck der Spamerschen<br />
-Buchdruckerei in Leipzig
-</p>
-
-</div>
-
-<div class="trnote chapter">
-<p class="transnote">
-Anmerkungen zur Transkription
-</p>
-
-<p>
-Der Verfasser hat offenbar Absatzumbrüche mitten in Sätzen, meist vor dem Wort <em>während</em>,
-absichtlich eingefügt, zum Beispiel auf <a href="#br1">Seite 204</a>, <a href="#br2">Seite 250</a> oder
-<a href="#br3">Seite 310</a>. Dies wurde belassen wie in der Druckvorlage.
-</p>
-
-<p>
-Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.
-</p>
-
-</div>
-
-
-<div lang='en' xml:lang='en'>
-<div style='display:block; margin-top:4em'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK <span lang='de' xml:lang='de'>DER BÜRGER</span> ***</div>
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-
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-forth in Section 3 below.
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-1.F.
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-</div>
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-Defect you cause.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg&#8482;
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; is synonymous with the free distribution of
-electronic works in formats readable by the widest variety of
-computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
-exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
-from people in all walks of life.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Volunteers and financial support to provide volunteers with the
-assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg&#8482;&#8217;s
-goals and ensuring that the Project Gutenberg&#8482; collection will
-remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg&#8482; and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
-Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation&#8217;s EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
-U.S. federal laws and your state&#8217;s laws.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation&#8217;s business office is located at 809 North 1500 West,
-Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
-to date contact information can be found at the Foundation&#8217;s website
-and official page at www.gutenberg.org/contact
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; depends upon and cannot survive without widespread
-public support and donations to carry out its mission of
-increasing the number of public domain and licensed works that can be
-freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
-array of equipment including outdated equipment. Many small donations
-($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
-status with the IRS.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-The Foundation is committed to complying with the laws regulating
-charities and charitable donations in all 50 states of the United
-States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
-considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
-with these requirements. We do not solicit donations in locations
-where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
-DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
-visit <a href="https://www.gutenberg.org/donate/">www.gutenberg.org/donate</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-While we cannot and do not solicit contributions from states where we
-have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
-against accepting unsolicited donations from donors in such states who
-approach us with offers to donate.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-International donations are gratefully accepted, but we cannot make
-any statements concerning tax treatment of donations received from
-outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
-methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
-ways including checks, online payments and credit card donations. To
-donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
-</div>
-
-<div style='display:block; font-size:1.1em; margin:1em 0; font-weight:bold'>
-Section 5. General Information About Project Gutenberg&#8482; electronic works
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
-Gutenberg&#8482; concept of a library of electronic works that could be
-freely shared with anyone. For forty years, he produced and
-distributed Project Gutenberg&#8482; eBooks with only a loose network of
-volunteer support.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Project Gutenberg&#8482; eBooks are often created from several printed
-editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
-the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
-necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
-edition.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-Most people start at our website which has the main PG search
-facility: <a href="https://www.gutenberg.org">www.gutenberg.org</a>.
-</div>
-
-<div style='display:block; margin:1em 0'>
-This website includes information about Project Gutenberg&#8482;,
-including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
-subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
-</div>
-
-</div>
-</div>
-</body>
-</html>
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