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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75525 ***
+
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+Anmerkungen zur Transkription
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist
+~so ausgezeichnet~. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist =so
+markiert= und in fett gesetzter Text ist _so markiert_.
+
+Der Übersichtlichkeit halber wurde die Buchwerbung am Ende des Buches
+zusammengefasst.
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
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+Die vom Niederrhein
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+Roman in zwei Büchern
+
+von
+
+Rudolf Herzog
+
+
+[Illustration]
+
+
+Stuttgart und Berlin 1903
+
+~J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger~
+
+G. m. b. H.
+
+Alle Rechte vorbehalten
+
+
+Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
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+Walter Bloem
+
+zu eigen
+
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+Erstes Buch
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+Erstes Kapitel
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+Schiefergrau schob der Rhein seine Wassermassen an Düsseldorf vorbei.
+Er zwängte sich stöhnend durch die Joche der alten Schiffsbrücke und
+entpreßte den Bohlen und Planken der bauchigen Brückenkähne denselben
+hellsingenden, melancholischen Ton, den einst der lustige Bergwind
+dem Holze entlockte, als es noch mit quellenden, steigenden Säften
+auf einsamen Nordlandshöhen oder grünen Schwarzwaldgipfeln seine
+Kronen wiegte. Ausströmend fand er seine Gelassenheit zurück, trieb
+schwerfällig an dem roten Schloßturm der schönen Jakobe von Baden
+vorüber, der als altes Wahrzeichen der Stadt in die neue Zeit mit ihrer
+alles glättenden, die Erinnerungen auslöschenden Verschönerungssucht
+glücklich sich hinübergerettet hat, und nahm die Parade ab über
+einen zusammengewürfelten Haufen baufällig scheinender Hütten und
+Baracken, die sich wie eine Zigeunerhorde an die massigen Hüften ihrer
+Nährmutter, den kalt und erhaben seine Umgebung beherrschenden Bau der
+Kunstakademie, herandrängten. Dann tauschte er kurz Red’ und Antwort
+mit dem leisquellenden Wasser des Sicherheitshafens, überströmte
+kräftig den Rand der Golzheimer Insel, große Lachen in dem sandigen
+Boden zurücklassend, und entschwand nahe Kaiserswerth, der alten,
+efeuumsponnenen Feste, die einst Pipin erbaute und die die Entführung
+des vierten Heinrich sah, in einem scharfen Bogen gen Holland.
+
+Unaufhörlich ging der Regen nieder. In der Nacht hatte er begonnen, und
+jetzt, nachdem die Glocken der Stadt längst Mittag verkündet hatten,
+zeigte er sich noch keineswegs zur Rast gewillt. Wer aus dem Rheintor
+heraustrat, sah Strom und Ebene, soweit der Blick reichte, in einen
+engmaschigen, grauen Schleier gehüllt, der nur dicht über dem Wasser
+eine langgestreckte, silberne Kante aufwies, den zitternden Reflex, den
+der beständige scharfe Anprall der Regentropfen auf der Wasserfläche
+schuf. Die Häuser der Ortschaft Oberkassel jenseit der Schiffbrücke —
+»auf der anderen Seit’« sagt der Eingeborene — waren nur als dunkle
+Schattenmassen erkennbar, und die Pappeln, Erlen und Weiden, die dem
+Stromlauf folgen und dem Bild des Niederrheins den besonderen Charakter
+geben, geisterten nur wie spindeldürre Finger durch die Luft, wenn eine
+schwächliche Brise den Regen zu Tal drückte.
+
+Die ganze Atmosphäre war gesättigt mit jener feuchten, weichlichen
+Wärme, die das Menschenblut zur Unrast treibt.
+
+Kein Ton als das einförmige Triefen des Regens, das Singen des
+Brückenholzes und zeitweilig ein dumpfes Aufbegehren der drängenden
+Wassermassen im Strombett oder an den Bordschwellen.
+
+Jetzt zitterten die sentimental näselnden Laute einer Handharmonika
+hindurch. In der Deckskajüte eines am Kai verankerten Schleppkahnes
+rekelte sich die lange, verwitterte Gestalt des Schiffers auf dem
+Rücken. Über den Kopf hielt er mit ausgestreckten Armen die Harmonika,
+auf der er schläfrig allerlei Volksweisen improvisierte, wie sie just
+unter dem Griff der hin und her stolpernden Finger herauskamen. Durch
+das weitgeöffnete Hemd lugte unbekümmert die zottig behaarte Brust, ein
+schmaler Gurt schnürte die englischen Lederhosen über den Hüften kraus
+zusammen, an den Füßen, die in graublauen Socken staken, tanzten im
+Takt der Musik rote Plüschpantoffeln.
+
+»Lambert!« tönte rufend eine Frauenstimme aus dem Unterdecksraum.
+
+Der Schiffer war viel zu faul, eine Antwort zu geben.
+
+Ein Kopf wurde in der Treppenluke sichtbar.
+
+»Wat machste, Lambert?«
+
+»Musik,« tönte es lakonisch zurück.
+
+»Ach e nee,« machte die Frau höhnisch verwundert und kletterte nach
+oben, »wat du nich sagst! Ich hatt’ jejlaubt, du tätst schnarchen!«
+
+»Domm’ Grielächer,« schimpfte der Rheinschiffer, drehte ihr seine
+Kehrseite zu und versuchte, auf dem Bauche liegend, weiterzuspielen.
+
+Die Frau prüfte das Wetter.
+
+»Jesus Maria Jusepp, wat es dat en Leid! Et rejent un et rejent.«
+
+»Kuns’stück,« entgegnete verächtlich der Harmonikaspieler und zog die
+Register zu einem kläglichen Gewimmer. Mehr sagte er nicht.
+
+Die Frau sah über die Achsel zurück und wartete.
+
+»Du,« sagte sie nach einer Weile, in der nur noch das Surren des Regens
+vernehmlich war, und tippte den Gefährten mit dem holzbeschuhten Fuß
+in die Seite, »spürste noch nix oder spürste jet? Mr kann sich an de
+eigene Schlauheit verfresse, wenn mr kein Lust hat. Wat es dat also mit
+dem ›Kuns’stück‹?«
+
+»Och, Tring,« höhnte der Ehegatte, »ich jlöw, du bis us Dülken
+jebürtig, wo die Gecke herkomme. Solang ich auf dem Rhing fahr un mein
+Vader un mein Bestevader: wenn mr von Kölle zu Tal kommt, oder von
+Wesel zu Berg, un et e su rejent wie heut, am heilige Sonntag et e su
+rejent, na, wat es dann?« Er machte eine schlappe Viertelwendung und
+gähnte. »Domm’ Dier, die Sank-Sebastian-Brüder in Düsseldorf feiern
+Schützenfest! Den ihre Schutzpatron, dat is ene brave Heilige. Dä will
+nich, dat en Malör passiert, deshalb speuzt er ihne dat Pulver naß.«
+
+»Da tät ich doch hinlaufe und mich aufnehme lasse in die Brüderschaft.«
+
+»Ich hau dat nich nüdig.«
+
+»Ah so! E nee — — jewiß nicht — —« machte die Vierschrötige maliziös.
+Und mit einem Achselzucken: »ful’ Thommes!«
+
+Dann retirierte sie, mit den Holzpantoffeln klappernd, lachend unter
+Deck.
+
+Der Schiffer gab sich gar nicht erst die Mühe, über ihre Reden
+nachzudenken. Er blinzelte noch einmal nach dem Häusergewirr der
+Altstadt, über deren Dächern der Regen wie ein Dampf lag, und schlief
+ein. Er hielt seinen Sonntag. — —
+
+Über die Kaimauer gelehnt, hatte ein junger Mann den Diskurs der
+beiden belustigt mit angehört. Der Regen füllte die Krempe seines
+Hutes und rann an dem schwarzglänzenden, eleganten Gummimantel glatt
+herab. Er achtete nicht darauf. Das schmalgeschnittene Gesicht — eher
+das eines Knaben als eines Neunzehnjährigen — war durch das Wetter
+leicht gerötet, das dichte, braune Haar klebte auf der Stirn, die
+dunkelgrauen Augen blickten klar und fest. Diese Augen machten die
+feine Jugendlichkeit der Züge wieder wett. Sie verliehen eine Reife,
+die von den weichen, knabenhaften Bewegungen seltsam abstach.
+
+Der junge Spaziergänger richtete sich auf. Er schüttelte sich, daß
+die Tropfen ihn umzischten, und sog dann mit Nüstern und Lungen den
+charakteristischen Duft des Rheintals ein, den Duft, der zwischen Teer
+und Algen die Mitte hält.
+
+»Düsseldorfer Luft!« dachte er stolz. »Ich glaub’, ich würde zu Grunde
+gehen, wenn mir die auf die Dauer entzogen werden sollt’.«
+
+Er dehnte und reckte Arme und Körper.
+
+»Was die Leute nur immer von der Schönheit des Oberrheins fabeln! Diese
+Spießbürger haben nur Sinn für das, was ihnen recht augenfällig auf dem
+Präsentierteller entgegengetragen wird. Aber hier? Wenn’s dort hinten
+über die weiten, einsamen Wiesen huscht, über die Wasserarme, um die
+Erlenbestände? Und der Horizont ganz, ganz fern — —. Was liegt da alles
+drin an Unerklärlichem, Schönem, Sehnsuchtsvollem — an Poesie — —.
+Schreien möcht’ man, schreien!«
+
+Er fuhr sich mit dem nassen Rockärmel über das erhitzte Gesicht; das
+kühlte ihn auf der Stelle ab.
+
+»Na ja,« dachte er weiter, »bist schon ein rechter Heimatsmensch, dem
+die Scholle nicht von der Stiefelsohle geht!«
+
+Er lauschte.
+
+Aus der Ferne klangen die verwehten Töne eines marschierenden
+Musikkorps. Nur die große Trommel und die Becken brachen sich vorläufig
+Bahn.
+
+»Bumm, bumm, bumm — — —«
+
+»Zingda, zingda, zingda, zingda!«
+
+»Aha, der Schützenzug! Nun geht’s auf den Festplatz. Die Kirmeß gehört
+dazu, die gehört zur Volkspoesie des Niederrheins. Vorwärts, ›Hans der
+Träumer‹!«
+
+Und der junge, hübsche Mensch versenkte die Hände in den schräg
+anliegenden Taschen seines Gummimantels und schritt im Takt der
+unablässig herüberdröhnenden Paukenschläge, den Kopf zur Abwehr des
+Regens leicht vorgebeugt, die Melodie des Schützenmarsches pfeifend,
+den Kai entlang. Er umging die Schleife des Sicherheitshafens,
+konnte sich nicht enthalten, die wenigen Schritte zum Eiskellerberg
+hinaufzuspringen, um noch einmal das Auge über das in den Konturen
+verschwimmende Rheinpanorama schweifen zu lassen, und durchquerte
+darauf die Anlagen des Hofgartens, um die kürzeste Straße nach dem
+Festplatz auf dem Golzheimer Gelände zu gewinnen.
+
+Das Straßenbild hatte sich mit einem Schlage verändert. Die gute
+Düsseldorfer Bürgerschaft, vor allem der hier von alters her kräftig
+gedeihende Mittelstand, stets bereit, jede öffentliche Lustbarkeit
+als eine Art ausgedehnten Familienfestes zu begehen, hatte kaum die
+ersten Klänge der Schützenmusik vernommen, als sie auch schon mit Kind
+und Kegel den Ausmarsch begann. Der Regen genierte nicht. Gerade er
+trug dazu bei, den niederrheinischen Witz zu üben, wenn eine Hausehre
+couragiert die Kleider hochnahm, um sich durch die nassen Grasrabatten
+einen Weg zu bahnen, wenn ein Unglücklicher verzweifelt seinem Hut
+nachsetzte oder ein umgekippter Regenschirm sich in die Lüfte hob.
+
+»Achtung, Pitter, die Menagerie vom Festplatz hält nich dicht. Süch
+ens: der Storch im Salat!«
+
+»Wat denn! Dat is ’ne Störchin! Awer ’ne komplette.«
+
+»Ach so, Sie sind dat, Frau Schmitz? Nix för ongot!«
+
+»Da — —! Da! — Da ging ’ne Hot heidi! Kß! Kß! Kß!«
+
+Schweißgebadet stürzte der Besitzer vorbei. Ein allgemeines »Ah«
+empfing ihn.
+
+»Schnelllöper, Schnelllöper!! — Akurat wie Fritz Käpernick! Un alles
+omsünst. Et werd nich emol affjesammelt.«
+
+Der umgekippte, vom Winde hochgehobene Regenschirm wurde von der
+Menschenkolonne mit staunendem: »Luffballon — —! Hurra: Luffballon!«
+begrüßt.
+
+»Minsch, Minsch,« kreischte einer aus der Menge, »wat ham’mer en Freud!«
+
+Und sofort fiel der ganze Chorus ein: »Wat ham’mer en Freud!«
+
+Alles elektrisiert. Sommerliche Karnevalsstimmung.
+
+Und von der Flanke her immer näher, dröhnender und gellender, die Musik.
+
+»Bumm, bumm, bumm — — —«
+
+»Zingda, zingda, zingda, zingda!« — —
+
+Der junge Naturschwärmer vom Rheinkai befand sich bald inmitten der
+Menschenstauung, die an der Ehrenpforte zwischen dem eigentlichen
+Schützenplatz und der mit Jahrmarktbuden und Schaustellungen jeder
+Art besetzten Festwiese den Einzug der Sankt Sebastianus- und der
+ihr verwandten Gilden erwartete. Altem Brauche nach hatten die
+Schützenbrüderschaften am Vormittag das Hochamt gehört. Nun zogen
+sie heran, mit Gott und der Welt eines frohen Sinns. Die »gedienten«
+Leute faßten Tritt, die übrigen stampften lachend und plaudernd
+hinterdrein, die Beine in weißen Leinenhosen, »Porzellanbuxen«, wie
+sie der Volkswitz nennt, dazu schwarzer Bratenrock und Zylinder
+aller Dimensionen. Auch grünes Jägerhabit und Lodenhut mischte sich
+darunter. Die Büchse geschultert, die Musik vor den Fahnenzügen
+verteilt, dahinter der Schützenkönig des vergangenen Jahres, ein
+biederer Handwerksmeister mit einer fast über seine Kräfte gehenden
+Hoheitsmiene, mehr einem Fürsten von Gottes Gnaden ähnlich als dem
+Menschenpack, dem er morgen wieder die Schuhe flecken und sohlen würde,
+so schwand der Zug — Gewerbetreibende, Kaufleute, Künstler — mit einer
+Salve derber Zurufe und lustiger Grußworte überschüttet, durch die
+Ehrenpforte, um sich bald darauf an den Schießständen zu verteilen
+und das Königsschießen für das neue Schützenjahr zu beginnen. Wer von
+den Zuschauern Karten für den Schützenplatz erworben hatte, drängte
+nach. Der Rest, meist junges Volk aller Stände, verteilte sich auf
+der Festwiese, auf der jetzt, nach Beendigung des nachmittaglichen
+Gottesdienstes, die Bierzelte eröffnet wurden, die Jahrmarktsbuden
+zur Schau einluden, die Karussells ihre verstimmten Orgeln auf die
+Nerven losließen, die Clownkapelle des Kölner Hänneschentheaters ihre
+ohrenzerreißende Musik anhob, die Glocken bimmelten und die Aufrufer
+mit heiserer, in der Fistel jäh versagender Stimme unermüdlich das
+schiebende, stoßende, lachende, kreischende Publikum zum Besuch
+anfeuerten: »Hier herein, meine Herrschaften! Das muß man gesehen
+haben! Das muß man mitgemacht haben! Das muß man seinen Kindern und
+Kindeskindern erzählen können! Das gehört unbedingt zur Bildung!
+Herein, meine Herrschaften; das größte Schwein der Welt für zehn
+Pfennige — —!«
+
+»Hallo, Steinherr, hierher!«
+
+Der junge Mann im Gummimantel, der strahlend vor Vergnügen im
+dichtesten Trubel eingekeilt stand, hob sich auf den Zehen, um über die
+Köpfe der anderen hinweg die Rufenden zu erspähen. Jetzt hatte er sie
+entdeckt und winkte ihnen mit der Hand zu.
+
+»Ich kann hier nicht heraus!« rief er. »Keine Möglichkeit.«
+
+Aber schon hatte einer der außerhalb des Ringes stehenden jungen Herren
+einen anderen auf die Schulter gehoben, der nun von oben herab mit
+seinem Spazierstock nach Steinherr angelte.
+
+»Schnappen Sie zu, Steinherr! Wir ziehen.«
+
+»Das Angeln an dieser Stelle ist verboten!« schrie einer aus der Menge.
+
+»Awer doch niemals för de Jeistlichkeit. Die hat dat Angelprivileg,«
+mischte sich ein anderer ein.
+
+»Wo is denn hier Jeistlichkeit?«
+
+»Sühst du denn nich? Dat Jungken hät doch ’ne lange Rock, so schwarz
+wie nur ’ne Deuwel oder ’ne Kaplan.«
+
+»Oha!« rief dem Spottvogel ein dritter zu, »komm du nur morjen in die
+Beicht’. Dir kann’t sehr jut gehen!«
+
+Dann ließ man Steinherr bereitwillig durch. Ein keckes Wort ist
+am leichtlebigen Niederrhein eine bessere Hilfe als Obrigkeit und
+Schutzmannschaft.
+
+Der junge Mann war lachend zu seinen Freunden getreten.
+
+»Guten Tag, meine Herren. Was? Ein fideles Leben hier. Sie haben
+wirklich Glück mit Ihrer Garnisonstadt. Wollen Sie mich auf Ihren
+Bummel mitnehmen?«
+
+Die jungen Leutnants in elegantem Zivil — ein paar Neununddreißiger und
+ein paar Fünfter Ulanen — die, wie das ganze Offizierkorps, im Hause
+des Großindustriellen Steinherr fleißig verkehrten, nahmen den Sohn des
+Hauses in ihre Mitte und zogen weiter auf Abenteuer aus, wie der Tag es
+gebot.
+
+»Na, wenn Sie zu Ostern Ihr Abitur haben, Steinherr, werden Sie doch
+auch bei uns bleiben. Welchem Regiment wollen Sie denn die Ehre
+schenken?«
+
+Hans Steinherr schüttelte den Kopf.
+
+»Sprechen wir um Gottes willen nicht davon. Ich habe genug darüber zu
+Hause zu hören. Es ist ja selbstverständlich eine hohe Ehre, Offizier
+zu sein, aber — aber es gibt doch auch noch andere hohe Ehren.«
+
+»I natürlich! Zum Beispiel: Sohn des Hauses Steinherr zu sein.«
+
+»Die schönste Frau Düsseldorfs zur Mama zu haben.«
+
+»Und selbst ein so verteufelt hübscher Bengel —«
+
+»Stopp, stopp, meine Herren; ich akzeptiere nur die Ehre, die meine
+Mama betrifft.«
+
+Er nahm dankend, etwas verlegen, den Hut ab. Die jungen Offiziere
+warfen übermütig salutierend die Hand an die Hutkrempe. —
+
+Die Julisonne arbeitete sich nun doch noch durch. Ihre Strahlen
+brachen in die letzten Regenschauer, und alle Feuchtigkeit, die noch
+zwischen den grauen Wolkenfetzen und dem morastigen Erdboden schwebte,
+wurde aufgesogen. Ein prachtvoller Regenbogen, in den klarsten Farben
+prangend, spannte sich von der Golzheimer Insel bis weit hinein in die
+Stadt Düsseldorf.
+
+Die jungen Leute hatten die Zeltgassen durchquert, sehr feierlich das
+Kölner Hänneschentheater und etwas weniger ehrerbietig die Riesendame
+besichtigt, hatten sich elektrisieren und photographieren lassen, dann,
+um die Kraft der Muskeln zu erproben, ein Dutzendmal »den kleinen
+Lukas gehauen« und sich kindisch gefreut, wenn unter dem schweren
+Hammerschlag die Metallscheibe an der Stange emporsauste und an der
+Spitze die Glocke anschlug. Sie hatten in den Schießbuden holländische
+Tonpfeifen zerschossen und allerlei sonderliche Artigkeiten mit den
+Schießbudenmädels ausgetauscht, waren juchzend auf dem Karussell
+gefahren, immer zu zweit auf dem mächtigen Rücken eines hölzernen
+Löwen oder einer springenden Pantherkatze, und hatten so viel Allotria
+getrieben, wie überschüssige Jugendlust unter dem Eindruck einer
+Festwiese, sinnverwirrenden Lärms und ausgelassenster Kirmesfreiheit es
+nur vermag.
+
+Hans Steinherr war immer mitgezogen. Er lärmte nicht, wie die
+übrigen, aber er genoß innerlich alles und jedes doppelt. Sein feines
+Knabengesicht glühte, seine Nasenflügel spannten sich, sein Herz
+hämmerte vor Lust. In ihm quoll etwas empor, was er noch nie mit
+solcher Macht gespürt hatte. Es war ein Kraftgefühl ohnegleichen,
+ein Gefühl, etwas Unerhörtes zu vollbringen. Noch nie hatte er so
+die Freiheit genossen, so stark den Puls des Lebens empfunden. Ein
+reiches Muttersöhnchen, hatte er sich zumeist mit einem Blick aus
+der Vogelschau begnügt und das Fehlende dem Spiel der Phantasie zur
+Ergänzung überlassen. Nun stand er dem Volksleben Brust an Brust
+gegenüber, fein farbendurstiger Sinn trank sich einen Rausch, sein
+niederrheinisch Blut, das so schön in Zucht und Ordnung gehalten worden
+war, klopfte ihm von den Fingerspitzen bis in die Schläfen.
+
+Eine mächtige Wasserlache hatte sich diesseit des Engpasses, der
+schmalen Landzunge, die das Inselterrain mit dem Stadtgebiet verband,
+angesammelt. Drüben stand ein junges Mädchen, braun wie eine Kastanie,
+dem Alter nach ein Kind, fünfzehnjährig. Aber das fadendünne
+Sommerkleid, das erste fußlange wohl, das sie trug, spannte sich schon
+unter dem Druck heimlich drängender Formen. Der altmodisch breite
+Schäferhut aus gebleichtem Stroh saß auf einem Paar Flechten, deren
+volle Enden bis in die Kniekehlen schlugen. Sie ließ die verträumten
+Augen über die breite Wasserlache nach dem lärmenden Zeltlager
+schweifen und pendelte mit dem kleinen Fuß, der in derbem Leder stak,
+über den Rand der Sandleiste.
+
+Steinherrs Gesellschaft war herangekommen und rief dem hübschen Kinde
+Scherzworte zu. Einer begann das Lied von den zwei Königskindern:
+
+ »Sie konnten beisammen nicht kommen,
+ Das Wasser war viel zu tief.«
+
+Da setzte Hans Steinherr, einer impulsiven Regung nachgebend, im
+Sprungschritt durch das Wasser, daß die Tropfen ihm um die Ohren
+flogen, erreichte atemlos den jenseitigen Rand, schlang den Arm um
+die Kniee der überrumpelten Kleinen, hob das heftig sich wehrende
+Geschöpfchen empor und watete zurück, unbekümmert darum, daß das
+aufklatschende Wasser ihm die Beinkleider verdarb und ihm in die
+Stiefel rann.
+
+Die jungen Offiziere begleiteten als einzige Zuschauer den Vorgang
+mit lautem Hallo. Aber das zarte Ding erwies sich als eine ungefügige
+Wildkatze. Es packte den ungerufenen Ritter, der sich in der Rolle
+des heiligen Christophorus versuchte, mit beiden kleinen nervigen
+Fäusten in den Stirnlocken und bedrängte ihn so heftig, daß er fast
+zum Straucheln kam. Es wurde ihm purpurn vor den Augen. Er spürte
+das stürmende Blut des jugendlichen Mädchenkörpers dicht über seinem
+eigenen jugendlichen Herzen, das sich mit einem fremden im Schlag
+verschmolz. Das war etwas noch nie Empfundenes. Noch nie hatten seine
+Knabenhände ein Mädchen berührt. Tausend Gefühle durchwühlten ihn in
+Sekundenschnelle, ließen Duft, Klang und Farbe in ihm entstehen, regten
+ihn an und verwirrten ihn durch ihre Süße, schlugen ihn gleichzeitig
+zum Ritter und nahmen ihm die Kraft.
+
+»Ruhig, du, oder ich küß dich!« stieß er plötzlich hervor.
+
+Er wußte selbst nicht, woher er die Worte genommen hatte.
+
+Jetzt setzte er sie am anderen Ufer ab und wischte sich aufatmend die
+Stirn. Seine Hand war blutig, als er sie zurückzog.
+
+»Die kleine Hexe hat Sie gekratzt?«
+
+Er nickte, verlegen lachend. Daß sie ihn auch empfindlich mit den
+strampelnden Füßen getreten hatte, behielt er für sich.
+
+Aus den Augenwinkeln sah er scheu nach seiner kleinen Dame, die trotzig
+Kehrt gemacht hatte, im Begriff, durch das Wasser wieder zurückzuwaten.
+Er trat zögernd auf sie zu, und sie streifte mit einem hastigen
+Seitenblick die Schramme auf seiner Stirn, dicht unter den lockigen
+Haarsträhnen.
+
+»Nun?« fragte er mit angenommenem Knabenhochmut.
+
+»Ich will hier nicht sein,« brachte sie hervor, und die dunkelblauen
+Kinderaugen verschleierten sich.
+
+Da hob er sie, als könnte das gar nicht anders sein, zum zweiten Male
+auf und trug sie stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, zurück. Sie
+schien ihm schwerer als vorhin, obwohl sie sich nicht regte. Drüben
+setzte er sie behutsam ab. Einen Herzschlag lang standen sie sich
+schweigend und verstört gegenüber und sahen sich an. Dann nahm er, wie
+er es im Salon seiner schönen Mama zu tun pflegte, die Mädchenhand, die
+noch in der seinen lag, und führte sie an die Lippen.
+
+Hui, flog die Kleine davon, als wäre sie nie gewesen. Die Zöpfe
+flatterten hinter ihr drein und sprühten Funken in der tiefstehenden
+Sonne. Fort war sie.
+
+Und Hans Steinherr, ohne sich um die zurückbleibende Gesellschaft
+zu kümmern, die bereits mit einem Rudel flügger Mädel kokettierte,
+wandte der Festwiese den Rücken und ging den Weg zurück, den er am
+Nachmittag gekommen war. Durch den Hofgarten schritt er und über den
+Eiskellerberg, immer weiter, den abendlich stillen Kai entlang, den
+geliebten Rhein zu Füßen, nichts hörend, nichts sehend; mit den Augen
+eines, der unvermutet in die Wunder eines Feenlandes geblickt.
+
+Als er die Schiffbrücke erreicht hatte, betrat er, noch immer ganz
+versunken in seinen rätselhaften Zustand, die schwanken Bohlen. Er
+hatte schon ein paar Schritte zurückgelegt, als er hinter sich einen
+kurzen, groben Zuruf vernahm. Er fuhr zusammen, wachte auf und wandte
+sich um. Was wollte denn nur der gestikulierende Mensch von ihm?
+
+»Sie, jong Här, dat Brückengeld schaffen Sie allein auch nich aus der
+Welt!«
+
+Ach so, er hatte vergessen, den Brückenzoll zu entrichten. Brückenzoll?
+Wo war er denn und wohin wollte er nur? Unter ihm plauderte der Rhein
+so geschäftig, wie er ihn nie glaubte gehört zu haben: Neuigkeiten,
+Heimlichkeiten. Und er dachte: Sag’s nur laut, Alter, ich versteh’ dich
+doch. Dabei lächelte er ganz still in sich hinein, denn er wußte gar
+nichts. Nur so verwandt fühlte er sich plötzlich mit all dem Leben und
+Weben der Natur um sich her, so vertraut, so zugehörig.
+
+Er kehrte zum Brückenhäuschen zurück, ließ sich, während er den Zoll
+entrichtete, ruhig den mißtrauisch prüfenden Blick des Einnehmers
+gefallen und nahm den Weg wieder auf. Mit einem Male zuckte ihm ein
+Marschtempo in den Beinen. Und sofort streckte er den schlanken Leib,
+richtete sich auf der Brücke zusammen und marschierte in dröhnendem
+Taktschritt ab. Dabei sang er aus voller Kehle.
+
+Der Wärter sah ihm kopfschüttelnd nach.
+
+»De hät bereits Öwerfracht,« meinte er zum Einnehmer und machte mit dem
+zerkauten Ende seines Pfeifenstiels eine bezeichnende Geste nach der
+Gegend des Schützenplatzes.
+
+Hans Steinherr aber schritt unbekümmert seines Wegs. Er hatte sein
+Marschtempo noch beibehalten, als er schon längst in den Fußweg linker
+Hand eingebogen war und in den Rheinwiesen wanderte. Seinen ganzen
+Vorrat von Volksliedern sang er herunter. Wie die Glieder einer Kette
+ließ er sie aneinander anschließen, ob sie passen wollten oder nicht.
+Er fühlte sich kindisch wie ein Abcschütze und abgeklärt wie ein Greis.
+Wie seltsam weich die Luft war! Wie Samt. Und gerade so war’s in seinem
+Innern. Ganz, ganz weich .... Und mitten in seiner Freude ertappte er
+sich dabei, wie er ein paarmal heftig schluckte. — So bemitleidenswert
+kam er sich plötzlich vor, trotz seiner Gehobenheit.
+
+»Heißa, heißa!« schrie er laut hinaus und begann ein tolles Rennen.
+Diese verrückte Sommerabendstimmung wollte er schon unterkriegen.
+
+Nun stand er, festgebannt. Vor ihm flammte ein Hochofen des
+Industriedorfes Heerdt, aber doch nur wie ein Widerschein der feurigen
+Lohe, die über der altertümlichen Stadt Neuß und ihrem ragenden Dome
+lag.
+
+Die untergehende Sonne.
+
+Mit gefalteten Händen stand er, den Hut unterm Arm, feierlich,
+unbeweglich, staunend, als hätte er nie zuvor das Himmelsschauspiel
+genossen. Tönten nicht auch Harmonien um ihn her? Er horchte gespannt
+und erschauerte. Was war das? Hatten sich seine Sinne verfeinert?
+Konnte er die Sonne singen hören und die Farben gleichsam als Duft
+empfinden? Seit wann, seit wann — —? Darüber grübelte er nach und hörte
+sein Herz schwere Schläge tun.
+
+Der Sonnenball war gesunken und entschwunden. Aber die Luft war noch
+vollgesogen von dem Licht, das erst mählich zerfloß. Dann blinzelten
+ein paar Sterne, und das Wasser warf ihr Bild zurück. Es sah aus, als
+ob auf dem Rhein Irrlichter schwämmen, kein Hauch weit und breit.
+
+Behutsam, als ob er den Gottesfrieden nicht stören dürfe, glitt Hans
+Steinherr auf einen Weidenbaum zu, der in phantastischer Gestaltung aus
+dem Ufersande ragte. Hier stand er, den Arm um den Stamm geschlungen
+und lauschte. Er belauschte die neue Welt, die sich vor ihm aufgetan
+und die ihn doch vor kurzem noch die alte dünkte. Und er belauschte den
+neuen Menschen, der sich da heimlich in ihm regte und dehnte und alles
+mit seinem Wesen zu erfüllen trachtete.
+
+In der Ferne sah er ein Licht auftauchen. Es kam stromab und wuchs
+schnell heran. Jetzt unterschied er die Laterne eines Dampfers, der
+verspätet zum Hafen eilte. Morgen, in junger Sonne, würde er seine
+Fahrt zu Tal wieder aufnehmen, dem Meere zu. Mit können — mit können!
+Und mit den Atemzügen des Rheins, mit den leisen, schmalen Wellen, die
+das Ufer küßten und entflohen und wiederkamen und wiederkamen, ohne
+sich greifen zu lassen, durchzitterte ihn die Sehnsucht nach dem Leben.
+
+Er war ganz wach, so wach, daß er sogar den Rhythmus des Rheins mit dem
+Rhythmus seines Herzens verglich. Das däuchte ihn so wunderlich, daß er
+am liebsten laut über sich selbst gelacht hätte. Aber er traute sich
+nicht. Er hatte auch gar keine Zeit dazu, denn er mußte ja die Rhythmen
+in Worte kleiden. Er mußte, mußte! Es war ein Zwang und eine Befreiung.
+Süß, herb; trotzig, weich. Dann sprach er eine Weile atemlos vor sich
+hin, und plötzlich sprang er auf.
+
+Beschämt; selig. Heiß bis unter die Haarwurzeln.
+
+Er, Hans Steinherr, der Primaner, der Ostern ins Examen steigen würde,
+hatte ein Gedicht vollbracht, sein erstes, allererstes — —! Es handelte
+vom Rhein, dem alten, dem geliebten Rhein. Und — überdies noch von — —
+Liebe — Liebe? Was war denn das für ein Begriff? Wie? He? Antwort!
+
+»Ach was, ich weiß nicht,« lachte Hans laut hinaus, und einem neuen
+jähen Übermutsdrange folgend, rannte er wie ein Füllen durch die
+im Mondschein glänzende Wiese und rastete nicht, bis er den ersten
+Tanzsaal Oberkassels an der Schiffsbrücke erreicht hatte, aus dem
+Juchzen und Stampfen in die Nacht hinaus scholl.
+
+»Wenn die Mama ihren wohlerzogenen Sohn so sehen würde,« dachte er.
+»Sie würde es nicht glauben.«
+
+»Und ich glaub’s fast selber nicht,« fügte er laut hinzu. »Herr Gott,
+ich war doch den ganzen Nachmittag in Gesellschaft von Offizieren. Bis
+— nun — bis — Ach, was geht mich die kleine Kröte an? Frech war sie
+und — Donnerwetter, wie lieb so ’n Ding ist, wie — wie — — Hans, du
+hast einen Schwips!«
+
+Nun wollte er sich vor Lachen ausschütten. Er war wie ausgewechselt.
+Dann hörte er aufmerksam der Tanzmusik zu, die aus den geöffneten
+Fenstern des Wirtshauses drang; ganz ernsthaft, als horchte er auf eine
+Offenbarung. Er unterschied deutlich die Uniformen der Husaren, der
+Ulanen, der Infanteristen, sah die gebräunten Gesichter der wackeren
+rheinischen Jungens, die, stolz auf ihr »zweierlei Tuch«, den Ballsaal
+beherrschten und den Kopf so dicht über die brennendroten Wangen ihrer
+Tänzerinnen gereckt hielten, daß diese nicht wußten wohin damit, um den
+vielen genierlichen Tanzküßchen zu entgehen. Mitten im Saale entstand
+eine Stockung. Ein Zivilist hatte die Kühnheit gehabt, von der Schönen
+eines kleinen, windigen Neununddreißigers eine Extratour zu begehren.
+Der Soldat lehnte verächtlich ab. Ein Wortwechsel folgte, in dem der
+Soldat »Rheinkadett« und der Zivilist »Sandhase« schimpfte; eine kurze,
+aber umso schnellere Prügelei — und alles tanzte mit verdoppelter
+Hingebung weiter. Die Leute hatten nicht viel Zeit, sie mußten
+pünktlich, zur Sekunde, in den Kasernen sein.
+
+Hans Steinherr lauschte mit glänzenden Augen. Was war das für ein Tag!
+Und heute mittag erst hatte er ein Loblied auf das niederrheinische
+Land angestimmt und sich einen Heimatsmenschen genannt. Kannte er denn
+diese Heimat? Mit Ausnahme der Szenerie? War das nicht vielleicht, rein
+äußerlich, der ererbte Stolz auf die Vaterstadt, auf sein Düsseldorf
+gewesen?
+
+Und plötzlich packte ihn der Wunsch nach lauter, lustiger Kumpanei.
+
+Es fiel ihm ein, daß er sich als Schüler des Gymnasiums des
+Wirtshausbesuches zu enthalten habe. Bisher hatte er das nicht als
+Entbehrung empfunden. Zu Hause herrschte genug geselliges Treiben,
+und die Mama liebte keine Extravaganzen an ihrem Sohne. In diesem
+Augenblicke kam ihm das gesellschaftliche Leben daheim wie bestellte
+Schablonenarbeit vor. Er hätte die Komplimente und Gesprächsthemen
+am Schnürchen hersagen können. Alles sehr hübsch, sehr witzig sogar.
+Aber das wahrhaft Rassige, das durch alle sieben Himmel Jauchzende,
+das Ursprüngliche fehlte. Der Inhalt und Ausdruck der Jugend. — Hans
+verspürte zum ersten Male seine neunzehn Jahre.
+
+»Verwünschtes Pennal,« murrte er. »Na warte, noch ein Semester, und ich
+habe dich für ewig im Rücken.«
+
+Wohin also nun?
+
+Ihm fiel der »Malkasten« ein. Sein Vater gehörte der
+Künstlergesellschaft als passives Mitglied an. Bei Tisch hatte er davon
+gesprochen, heute abend, wenn das Wetter sich klären würde, im Garten
+des Malkastens, dem alten, schönen Jacobischen Park, in dem auch Goethe
+einst gelustwandelt, mit einigen Herren eine Bowle zu trinken.
+
+Also zum »Malkasten«, so schnell ihn die Füße trugen.
+
+Der Brückenwärter auf der Düsseldorfer Seite, an dem er vorüberrannte,
+schien ihn wiederzuerkennen. »Hä ’s ömmer noch jeck,« knurrte er und
+machte ironisch einen Sprung beiseite. —
+
+Außer Atem langte Hans vor dem Malkasten an. Hastig öffnete er das
+Gittertor und prallte heftig gegen einen Herrn, der es ebenso eilig zu
+haben schien, hinauszukommen, wie der andere hinein.
+
+»Hoppla, Verehrtester!« rief der Herr lachend und faßte ihn mit beiden
+Händen um die Taille. »Um ein Haar, und Sie hätten sich ins Unglück
+gestürzt. Sagen Sie mal, Sie wollen doch nicht ernsthaft da hinein?
+Zu den Neunmalweisen in der phrygischen Mütze mit der Troddel dran?
+Junger, junger Mann!«
+
+»Das beabsichtige ich freilich,« versetzte Hans Steinherr kurz.
+
+Der andere aber ließ sich durch den Ton des Gekränktseins nicht
+abschrecken. Er führte den Jüngling unter die nächste Laterne und sah
+ihm mit gemachtem Ernst eindringlich in die Augen. Dabei parodierte
+er die Schülerszene des Faust: »Ihr seid allhier erst kurze Zeit
+und kommet voll Ergebenheit. — Denn ich sah Sie noch nie vordem,
+Verehrtester. — Ihr kommt mit allem guten Mut, leidlichem Geld und
+frischem Blut. Möchtet gern was Rechts hier außen lernen. — Sehen
+Sie, wenn ich der Mephistopheles wäre, für den sie mich da drinnen
+verschreien, so müßte ich jetzt mit Salbung sagen: Da seid Ihr eben
+recht am Ort. Aber das wäre verdammt gelogen. Weisheit ist nicht
+verdaulicher, wenn sie altbacken genossen wird. Und nun entscheiden
+Sie sich. Wollen Sie hinein zu den Perücken, die Simson, als er die
+Philister erschlug, übersah, weil er sie für Haubenstöcke hielt, oder
+wollen Sie mit mir, in irgend eine Vagabundenschenke, aber unter
+Geschöpfe Gottes, die lebendiges Fleisch auf dem Gebein haben.«
+
+»Vorwärts,« bestimmte Hans und schob resolut den Arm in den des
+Unbekannten. Nach den vielen Wundern des Tages hatte er das Verwundern
+verlernt. Zudem: der Mann imponierte ihm.
+
+Der aber streifte den schnell Vertraulichen von oben herab mit einem
+kurzen, prüfenden Blick und schritt, ohne von seinem Begleiter
+vorderhand weiter Notiz zu nehmen, eine italienische Opernarie summend,
+durch die Straßen, die zur Altstadt führten.
+
+Hans Steinherr hatte unterwegs Gelegenheit genug, den ihm so plötzlich
+bescherten Wandergefährten mit Muße zu betrachten. Es war eine
+schlanke, sehnige Figur, nach neuester Mode gekleidet. Aber die Eleganz
+wurde mit solcher Selbstverständlichkeit getragen, daß sie nicht weiter
+auffiel. Der Kopf war der eines vornehmen Mannes; scharf geschnitten,
+mit vorspringender Hakennase, unter die sich ein weicher, blonder
+Schnurrbart schmiegte; mit blauen, echten Germanenaugen, deren Blick
+Kühnheit und Intelligenz, und einem Munde, dessen weiche und doch
+charakteristische Linie Lebenslust und Spottsucht verriet. Das Alter
+war unbestimmbar. Vielleicht, daß die Schätzung von vierzig Jahren die
+richtige war, doch sah der Fremde jünger aus. Hans war es übrigens,
+als müßte er die auffallend vornehme Erscheinung schon des öfteren in
+Düsseldorf gesehen haben.
+
+Vor ihnen lag die Ratingerstraße, winklig und unregelmäßig, mit
+ihren engbrüstigen Gebäuden, vorspringenden Erkern und altmodischen
+Giebeldächern im Mondlicht einem Bilde gleich, das aus der
+Versunkenheit längst entschwundener Zeiten emporgestiegen schien. Ihre
+Schritte hallten auf dem holprigen Pflaster und weckten das Echo an der
+Häuserzeile entlang.
+
+»Was meinen Sie, Verehrtester, dieser Ausschank macht einen höchst
+vertrauenswürdigen Eindruck.«
+
+Hans fand zwar im stillen, daß das gepriesene Haus eher einer
+Räuberherberge ähnlich sähe, aber er nickte energisch und trat hinter
+seinem Begleiter ein.
+
+In dem Tabaksqualm, der, in dichten Streifen übereinander lagernd,
+die Stube füllte, hielt es schwer, die Umgebung festzustellen.
+Erst, als sie hinter einem weiß gescheuerten Tisch auf handfesten
+Holzstühlen saßen, gelang es Hans allmählich, sich zu orientieren.
+Das Zimmer war mäßig groß, die Decke aus schweren Balken gebildet,
+die Alter und Rauch tiefbraun gebeizt hatten, die Wände zeigten
+kaum eine Handbreit der ehemaligen weißen Tünche, mit Kohle, Rötel
+und Farbe hatten sich Generationen werdender Maler hier =al fresco=
+verewigt. Neben dem Eingang prangte das primitive, peinlich sauber
+gehaltene Büfett, hinter dem das Wirtspaar thronte, der »Baas« in
+gestrickter Weste und schneeweißen Hemdärmeln, die »jung’ Frau«, eine
+behäbige Matrone, mit weißer Latzschürze über dem mächtigen Busen.
+Ein Küferjunge mit vorgeschnalltem Lederstück bediente. Von der Decke
+hingen große Petroleumlampen nieder, um die sich der Tabakrauch wie der
+Hof um die Mondscheibe sammelte. Sie leuchteten nieder auf Gerechte
+und Ungerechte, auf gestikulierende Arbeitsleute im Sonntagstaat und
+auf gesetzte Bürger; und unter diese mischten sich Prachtexemplare
+von Düsseldorfer Künstlern, trunkfeste Männer, die mit lautem,
+nimmermüdem Humor die ganze Wirtschaft dirigierten. Man neckte sich
+und log sich gegenseitig die unglaublichsten Geschichten vor, mit
+glänzenden Schalksaugen den Reinfall des Gegners erwartend, und irgend
+einer bestellte immer wieder eine Runde des köstlich bitterlichen,
+einheimischen Bieres. Der gehobenen Künstleratmosphäre entsprechend,
+trugen die beliebtesten Speisen — die Speisekarte wies die stattliche
+Auswahl von vier Nummern auf — besonders vollklingende Namen. Hans
+Steinherr wunderte sich, wie häufig am Büfett »ein halber Hahn«
+beordert wurde, bis er dahinter kam, daß dies hochtönende Gericht aus
+einem halben Roggenbrötchen mit Holländer Käse bestand.
+
+Hansens Begleiter schien hier eine wohlbekannte und von allen
+respektierte Erscheinung zu sein. Die älteren Maler begrüßten ihn
+mit kräftigem Händedruck und ebenso kräftigem Scherzwort. Einige der
+jüngeren, die sonst der Ansicht huldigten, das echte Künstlertum müsse
+unbedingt durch rauhbeinige Manieren bewiesen werden, verstiegen sich
+sogar zu einer Bewegung, die eine Verbeugung ausdrücken sollte.
+
+Hans traute seinen Augen nicht. Der Kellnerjunge brachte eine Flasche
+Sekt, und keiner der mundfertigen demokratischen Geister ringsum schien
+gegen diese Reglementswidrigkeit auch nur das geringste einzuwenden zu
+haben. Der Gastgeber schenkte die beiden Gläser voll und stieß mit dem
+jungen Manne an.
+
+»Entschuldigen Sie,« stotterte Hans, »ich habe mich noch nicht
+vorgestellt — —«
+
+»Sind Sie ein anständiger Kerl? Na also! Ich bin’s auch, schmeichle ich
+mir. Prosit!«
+
+Aber Hans fand es dennoch passender, seinen Namen zu nennen.
+
+»So, so — —. Steinherr. Hm. Übrigens, wenn Ihnen so viel an der
+Etiketteaufschrift gelegen ist: von Springe. Sagen Sie mal,
+junger Freund, Sie sind ein Sohn der hochedlen Firma Steinherr,
+Grafenbergerchaussee? Und wollen Maler werden?«
+
+»Ich habe noch nicht daran gedacht,« antwortete Hans bescheiden.
+»Vorläufig werde ich zu Ostern ins Abiturientenexamen steigen.«
+
+Herr von Springe fuhr erstaunt mit dem Stuhl gegen die Wand.
+
+»Wie? Was? Hör’ ich recht? Ein Pennäler? Sie schlagen sich noch mit
+Fibel und Schiefertafel herum? Und ich Volksverführer hielt Sie für
+einen wackeren Lehrling des heiligen Lukas und schleppe Ihre zarte
+Jugend in diesen Rauchfang? Ah, ich werde Ihrer Frau Mama morgen eine
+Entschuldigungsvisite machen, damit es keine strammen Hosen setzt.
+Bitte tausendmal um Verzeihung.«
+
+Purpurne Röte stieg in dem feinen Gesicht des jungen Mannes auf. Dann,
+sich gewaltsam beherrschend, sagte er so ruhig, wie es ihm nur möglich
+wurde: »Sie schmeichelten sich vorhin, auch ohne Namensetikettierung
+als anständiger Mensch zu erscheinen. Nach diesem Überfall muß ich
+freilich annehmen, daß der Schein trügt. Guten Abend.«
+
+Aber der Effekt seiner Rede entsprach nicht seinen Erwartungen. Herr
+von Springe lachte, daß die Gäste von ihren Stühlen auffuhren.
+
+»Bravo, bravo, gut gebrüllt, Löwe! So lieb’ ich meine Pappenheimer!
+Das Kerlchen hat, weiß Gott, Rasse. Hier geblieben, mein Junge, kein
+schiefes Maul mehr gezogen, du hast vollkommen recht, ich bin ein
+Verbrecher und gebe dir hiermit feierlichst eine Ehrenerklärung.«
+
+Er hielt ihm das Glas hin, und, halb widerstrebend, halb
+unwiderstehlich angezogen von dem bannenden Wesen des lachenden Mannes
+vor ihm, stieß der junge Heißsporn an.
+
+Bevor eine Stunde vergangen war, hatte Hans Steinherr dem Fremden
+mit den sieghaften Augen alle die rätselvollen Eindrücke des Tages
+anvertraut, die sein junges Leben erregt hatten wie nie zuvor. Auch das
+Gedichtchen stammelte er, und von Springe lachte nicht. Er ließ nur
+seine Augen über ihn hinblitzen, und die Freude an der Unberührtheit
+dieser jungen Seele, die unbewußt zu Taten drängte, stand ihm auf der
+Stirn.
+
+»Du bist ein Dichter, mein Sohn.«
+
+»Ich möchte ein Künstler werden, Herr von Springe. Sie — Sie müssen ein
+großer Künstler sein.«
+
+»Herzlichen Dank für die gute Meinung.«
+
+»Spotten Sie nicht über mich. Aber wer als Mensch so über den
+Situationen steht —«
+
+»Kindskopf, was weißt du davon!«
+
+Er blickte schweigend in sein Sektglas.
+
+»Die Hauptsache ist, für den Künstler und den Menschen, den Humor an
+der Sache nicht verlieren.«
+
+»Darf ich Sie besuchen?« schmeichelte Hans.
+
+»Du darfst. Aber jetzt zu Bett, Kleiner, deine Schlafenszeit muß längst
+da sein.«
+
+Und sie gingen.
+
+ * * * * *
+
+So endete der ereignisvollste Tag in Hans Steinherrs bisherigem Leben.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Zweites Kapitel
+
+
+Der alte Philipp Steinherr, Fabrikbesitzer und Stadtverordneter, hatte
+klein angefangen. Grauköpfige Düsseldorfer Bürger erinnerten sich
+sehr wohl noch der kleinen Blechschmiede auf freiem Felde beim Dorfe
+Bilk, in der er als junger Mann selbst das Handwerk ausgeübt. Mit
+nie rastendem Ehrgeiz hatte er seinen Hammer geführt. Seine Bildung
+hatte er mit zähem Eifer in abendlichen Fortbildungsschulen und durch
+unablässiges Selbststudium vervollkommnet. Kein Gebiet der über Nacht
+emporblühenden Technik durfte ihm verschlossen bleiben, sein Spürsinn
+witterte das goldene Zeitalter, das die Technik zur Wissenschaft und
+diese Wissenschaft zur Macht stempeln würde, er sah bereits die neue
+Morgenröte und richtete sich auf ihren Empfang ein, als alles um ihn
+her noch im Gleise der alten, guten Zeit fortschlenderte, mit echt
+rheinischem Leichtsinn die Tage hinnahm, wie sie kamen, und — als
+Hauptsache dieses Erdendaseins — die Feste feierte, wie sie fielen.
+Philipp Steinherr hatte wenig Feste gefeiert. Seine Gedanken waren
+zeitlebens auf den Erwerb gerichtet gewesen, auf den Erwerb mit allen
+Mitteln, die er für seinen Zweck tauglich befand. Der aber war eben
+der Erwerb, der Konkurrenzkampf, der Aufstieg aus den Niederungen
+des Lebens zu den Höhen der Besitzenden. Das Wort des Marschalls von
+Danzig, der auf die hochmütige Frage eines Junkers, ob er sich in der
+Zahl der Ahnen mit ihm messen könne, schlagend erwiderte: »Nein, aber
+ich ~bin~ ein Ahne,« hatte ihn nicht mehr losgelassen, als er es bei
+der Lektüre eines Buches gefunden. Der Ahnherr seines Geschlechtes
+wollte er werden, der bei der Arbeit grübelnde Blechschmied, obwohl er
+damals noch den Gedanken an Hochzeit machen mit einem geringschätzenden
+Lächeln abtat. Eins aber wußte er: ein neues Wappenschild richtet
+man am leichtesten auf heruntergerissenen alten auf, im Kampf der
+Schlachten wie im Kampf der Industrie. Nur keine Sentimentalitäten beim
+Geschäft! Man konnte über Leichen schreiten und dennoch ein achtbarer
+Mann bleiben.
+
+Das hatte Philipp Steinherr in seinem ganzen Leben bewiesen. Als junger
+dreißigjähriger Meister erfand er ein billigeres Fabrikationssystem.
+Er unterbot die Marktpreise so lange, bis er die kleinen Betriebe
+in der Runde zum Auffliegen gebracht oder von sich abhängig gemacht
+hatte. Er sog die Kräfte seiner Leute bis zum letzten Blutstropfen
+aus, entledigte sich ohne Bedenken der verbrauchten, ohne sich über
+das weitere Schicksal der abgerackerten Alten auch nur einen Gedanken
+zu machen, und arbeitete, um jeden bösen Leumund zu verstopfen
+und gleichzeitig seine Leute zur Hergabe der letzten Muskelkraft
+anzuspornen, mitten unter ihnen mit nie versagender Rüstigkeit. Wenn er
+an Sonn- und Feiertagen die Messe gehört, gebeichtet und kommuniziert
+hatte, verschloß er sich tagsüber in seinem kleinen Laboratorium, um
+Versuche über Versuche anzustellen, und saß Abends über seinen Büchern
+oder trieb Sprachstudien.
+
+Die Kriegsjahre 1864 und 1866 trugen ihm große Lieferungsaufträge ein.
+Er hatte durch Zufall die Bekanntschaft eines vornehmen Herrn gemacht,
+der sich zuweilen hier draußen auf den Feldern erging. Wenigstens
+erschien ihm dazumal der Herr sehr vornehm. Er besaß die kordialen
+Allüren des etwas heruntergekommenen Edelmannes, die für die unteren
+Stände stets etwas Bestechendes haben. Dem Meister erzählte er, daß
+er inspizieren gehe, ob man ihm in der Nacht sein Königreich nicht
+fortgetragen hätte. Einst habe das ganze Wiesen- und Ackerland, so
+weit das Auge reiche, seinen Vorfahren gehört, aber der Letzte dieser
+Biedermänner, sein Herr Vater, habe so gründlich damit aufgeräumt,
+daß ihm zu tun fast nichts mehr übrigbliebe. Dieser kleine Fetzen
+Land, einen Steinwurf groß und völlig unkultivierbar, sei der Rest
+eines einst fürstlichen Vermögens. Vorläufig aber immer noch viel zu
+geräumig, um sich jetzt schon darin begraben zu lassen.
+
+Dieser lustige Junker, stets in Geldverlegenheit und nie in Sorge um
+den kommenden Tag, wurde der Mittelsmann zwischen Philipp Steinherr und
+den Militärbehörden. Die Konnexionen aus den Zeiten der Väter hatten
+noch vorgehalten, dem Sprossen der alten, niederrheinischen Familie
+ein paar kleine Gefälligkeiten zu erweisen. Als die Schlacht von
+Königgrätz geschlagen war, hatte Philipp Steinherr den Grundstock zu
+seinem Vermögen gelegt. Nun konnte er daran denken, eine vorteilhafte
+Ehe zu schließen. Ihm, dem Fabrikanten, standen die Häuser offen. Er
+heiratete eine blutjunge Dame, die ihm zwar keine Barmittel, dafür aber
+einen hochgeachteten Düsseldorfer Namen als Mitgift einbrachte. Er
+hatte ganz richtig gerechnet. Diese Verbindung brachte ihn vorwärts.
+
+Frau Margot beschenkte ihn im nächstfolgenden Jahre mit einem Sohne
+und schien damit ihre Pflichten als erledigt zu betrachten. Sie
+richtete sich mehr und mehr auf die Weltdame ein, was für die im
+Grunde gut spießbürgerlichen Kreise der Stadt immerhin ein Ereignis
+war, erhöhte ihre Bedeutung in den Augen der Damenwelt noch durch
+einen wöchentlichen »Jour«, zu dem sich bald die jungen Offiziere der
+Garnison und die bessergestellten Elemente der Künstlerschaft drängten,
+schöngeisterte und flirtete und gewöhnte sich bald an, ihren wenig
+unterhaltenden Mann lediglich als notwendiges Übel zu betrachten.
+
+Der aber lächelte nur zu dem Tun und Treiben seiner kindischen
+Gemahlin. Er brauchte ja die Leute, die sie um sich sammelte und durch
+Koketterien zu fesseln wußte, dann aber — so sehr er sich gegen das
+Eingeständnis sträubte, fürchtete er sich auch ein klein wenig vor
+der spöttisch überlegenen Miene der jungen Frau, die so trefflich den
+Unterschied zwischen Geburt und Erziehung anzudeuten wußte und ihm die
+mangelnde Lebensart fast greifbar zur Erkenntnis zu bringen vermochte.
+So ließ er sie gewähren, lebte fürder als Hofmarschall neben ihr hin
+und machte aus jeder Not eine zinstragende Tugend.
+
+Der Deutsch-französische Krieg brachte den gewaltigen Umschwung und
+Aufschwung in der Industrie, den Philipp Steinherr seit Jahren
+vorausgesehen hatte. Die große Zeit fand ihn vorbereitet. Ganz in der
+Stille war ihm ein epochemachendes neues Verfahren in der Herstellung
+von Eisenblech geglückt. Als der Tag von Sedan vorüber war und die
+deutschen Armeen auf Paris rückten, ging auch er zum Angriff über,
+kühl wie ein Börsenspieler. Es galt, so schnell wie möglich Terrain
+anzukaufen, das beste, das sich zu großen Fabriksanlagen eignete. Mit
+mathematischer Sicherheit rechnete er aus: war erst der Krieg siegreich
+beendet, würde eine wilde Spekulation losbrechen und die Werte der
+Grundstücke ums Vielfache multiplizieren. Dem galt es zuvorzukommen. Er
+hatte sein Bargeld und den Kredit für die sofortige, jeden Mitbewerb
+überflügelnde Inangriffnahme und steigernde Unterhaltung eines weit um
+sich greifenden Betriebs nötiger.
+
+Aber die Bauern von Bilk waren mißtrauisch. Sie wollten zu Kriegszeiten
+keine Grund- und Bodengeschäfte machen. Ihr Instinkt gab ihnen
+Witterung von größeren Verdiensten. Schon nach wenigen Tagen merkte
+Steinherr, daß ein schlauer Spekulant gleich ihm an der Arbeit war,
+denn die Bauern nannten unerhörte Preise. Bis zum Winter schlug er
+sich mit der hartnäckigen Bande herum, dann gab er es auf. Jedoch nur,
+um nachdrücklich einen anderen Plan durchzuführen, den er bisher nur,
+einem feinbohrenden Schamgefühl nachgebend, in ganz einsamen Stunden zu
+streicheln gewagt hatte.
+
+Durch die Freunde seiner Frau, die zur Zernierungsarmee gehörten,
+hatte er die unumstößlichsten Nachrichten, daß der Fall von Paris nur
+noch eine Frage von Tagen sein könne. Da opferte er skrupellos die
+Regungen der Freundschaft. Der fröhliche Mittelsmann, der ihm einst
+durch die Verschaffung von Armeelieferungen zur Grundlegung seines
+Wohlstandes verholfen hatte, mußte mit seinem Erbe daran glauben. Das
+»Königreich«, die paar Hufen Landes, lagen zu beiden Seiten des Bilker
+Baches langhin gestreckt. Sie waren, wenn die Industrie zur Blüte
+gelangte, weitaus das günstigste Terrain, nahe genug den Bahnhöfen der
+Bergisch-Märkischen und der Köln-Mindener Bahn, um sich an diese durch
+kurze Anschlußgleise anzugliedern.
+
+Philipp Steinherr verließ an diesem Tage die Fabrik vor Feierabend. Er
+begab sich auf dem kürzesten Weg nach Hause, sicher, den Freund als
+lustigen Gesellschafter seiner Frau anzutreffen. Er hatte sich nicht
+getäuscht.
+
+»Du kommst so früh schon?« begrüßte ihn Frau Margot.
+
+»Ich verspürte Lust, ein Stündchen zu verplaudern. Hast du Nachricht
+von deinem Heinrich?« wandte er sich an den Gast.
+
+»Soeben überbrachte ich der schönen Hausfrau Botschaft von meinem
+Jungen. Zum Leutnant befördert, vor dem Feinde, und als Marschsoldat
+ausgerückt. Ja, mein Lieber, so weit hätten wir es mit kaum zwanzig
+Jahren nicht gebracht, das ist meine Erziehung! Von meinem Alten — Gott
+hab’ ihn selig — hatte ich, als ich zwanzig zählte, nichts, als mein
+Königreich im Bilker Feld und einen gehörigen Schuß von seinem Podagra
+im Blut.«
+
+»Und wenn er zurückkommt? Was wird er beginnen?«
+
+»Er wird sich dieser schönen Hausfrau zu Füßen legen, ganz wie bisher.
+Das ist ~auch~ meine Erziehung,« und er küßte galant die Hand der
+jungen Frau.
+
+»Margot wird,« entgegnete Steinherr, »vorausgesetzt, daß sie
+ernstliches Interesse an dem hoffnungsvollen jungen Manne nimmt, die
+Tändeleien abstellen und für seine Zukunft bedacht sein. Wie ich weiß,
+bereitet sich Heinrich vor, die Kunstakademie zu besuchen.«
+
+»Ach du leew Herrgöttche!« seufzte der Sorglose humoristisch, »der Jong
+wird Möler, un der Alte hät auch nix! Die Rechnung wird schon auf die
+Dauer stimmen.«
+
+»Ich will dir einen Vorschlag machen,« sagte Steinherr nachdenklich.
+
+»Lieber Freund,« fiel der andere lachend ein, »wenn du mir etwas pumpen
+willst — gnädige Frau verzeihen wohl diese gräßliche Wendung des
+Gespräches — so muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß, solange
+mein Heinz und ich dieser schönen Frau um die Wette den Hof machen, wir
+uns nicht noch obendrein von dem Gatten besolden lassen können.«
+
+Frau Margot lachte wie eine Turteltaube und reichte dem Schwerenöter
+die Hand zum Kuß. Sie empfand den lustigen Kavalierdienst des Alten
+fast so entzückend wie die heißen Huldigungen des Jungen, der ihr
+Gespiele gewesen war.
+
+»Pardon,« sagte Steinherr kalt, »ich dachte, du könntest, wenn es sich
+um die Zukunft deines Sohnes handelt, auch einmal fünf Minuten ernst
+sein. Ich beabsichtige nicht im Traume, dir etwas zu schenken, aber ein
+für dich profitables Geschäft möchte ich dir vorschlagen. Wirklich, aus
+Freundschaft.«
+
+»Aus Freundschaft? Ein Geschäft? Meines Jungen wegen? Hm, das läßt sich
+hören.«
+
+»Wieviel, glaubst du, wird die Ausbildung deines Sohnes kosten?«
+
+»Na, gut wär’ es, wenn man zweitausend Taler bar in der Hand hätte.
+Aber die paar Zinsen, die ich beziehe, lassen nicht daran denken.«
+
+»Siehst du,« sagte Steinherr und zog seine Brieftasche heraus, »ich
+möchte dir, deinem Jungen und meiner Frau, ja auch mir, eine Freude
+machen und dich bitten, mir dein Königreich zu verkaufen. Ich habe Lust
+auf ein Stückchen Feld. Vielleicht, daß ich mir einen Gemüsegarten und
+eine Grasbleiche dort anlege, einige Obstbäume und eine hübsche Laube.
+Margot wünschte sich lange schon derartiges. Hier sind zweitausend
+Taler. Einverstanden?«
+
+Der joviale Freund stutzte. Dann lachte er schallend hinaus.
+
+»Philippus, du machst Witze? Da lebst du nicht mehr lange, alter Sohn!
+Einen Gemüsegarten von fünf Morgen, für euch zwei Leute, denn das Baby
+rechnet noch nicht mit. Und ich verstehe doch recht: Gemüsegarten?
+Auf einem Stück Land, auf dem der Herrgott nur nackte Schnecken und
+Regenwürmer wachsen läßt. O Philippus, du dauerst mich!«
+
+Steinherr lachte mit. Dann, ernst werdend, meinte er ruhig: »Das
+Bedauern schenk’ ich dir gern. Jeder Mensch hat seine Marotte.«
+
+»Wie? Du sprichst im Ernst? Du wolltest wirklich?«
+
+»Hier liegen die zweitausend Taler. Wenn du einverstanden bist, kann
+die Regierung deines Königreichs morgen schon auf mich übergegangen
+sein.«
+
+Der Freund hatte sich erhoben und ging im Zimmer auf und ab.
+
+»Philippus,« sagte er dann und blieb vor Steinherr stehen, »du meinst
+es gut mit mir. Und ich — hm — ich werde dir jetzt wie ein ganz
+gemeiner, undankbarer und gieriger Rabe erscheinen. Aber, siehst du,
+wenn ich auch ein einigermaßen flottes Tuch bin: etwas bin ich doch
+auch meinem Jungen schuldig. Na, also kurz: Glaubst du nicht, daß das
+Land da draußen nach dem Krieg Grundstückswert bekommen wird, daß sich
+die Stadt ganz dort hinüber ausdehnen wird? Wenn erst die Milliarden
+ins Land kommen, wird selbst die ordinärste Plebs von der Bauwut
+befallen werden, geschweige denn die Mammonspächter und die Herren von
+der Industrie.«
+
+»Ah — du mißtraust mir? Gut, gut.«
+
+»Sagt’ ich es nicht? Nun bin ich der schäbige Rabe! Donnerlütsch,
+Minsch! Ich? Einem Freunde mißtrauen? Ich wende mich an Sie, schöne
+Hausfrau. Bin ich denn wirklich schon so tief gesunken?«
+
+Da er nicht weiter wußte, nahm er seinen Marsch durch das Zimmer wieder
+auf. Ganz kleinlaut, weil ihn das Gefühl peinigte, nicht ritterlich
+verfahren zu sein, fügte er nur hinzu: »Ich meinte ja auch bloß, wegen
+der Kriegsentschädigung. Vielleicht hast du die Folgen davon noch gar
+nicht so ins Auge gefaßt. Ich Tagedieb habe ja genügend Zeit dazu,
+Luftschlösser zu bauen und in meinem Königreich nach Gold zu schürfen.«
+
+Steinherr setzte die überlegene Miene des Geschäftsmannes auf.
+
+»Ihr werdet euch mit euren Milliardenerwartungen gründlich in
+die Nesseln setzen. Der Beweis? Nun, was hat uns das Siegesjahr
+Sechsundsechzig gebracht? Das trägt ein Hund auf dem Schwanze fort.
+Dem Herrn von Bismarck schien es doch geratener, die gute Laune des
+Herrn Nachbarn für künftige Zeiten zu schonen. In Geldangelegenheiten
+sind alle Leute nun einmal am kitzlichsten. Frankreich gegenüber wird
+der Herr von Bismarck zum guten Schluß auch keine andere Politik
+einschlagen. Die deutsch gewesenen Provinzen zurück, sonst aber den
+französischen Geldbeutel nach Möglichkeit geschont. Er wirft jetzt nur
+mit Zahlen um sich, um nachher durch seine Großmut umso nachhaltiger
+zu versöhnen. Übrigens würde auch England eine solche Schröpfung
+Frankreichs nicht zulassen. Zum dritten und letzten aber: wer bürgt
+dir dafür, daß dieser Krieg so bald zu Ende geht und ~wie~ er zu Ende
+geht? Die Franzosen stempeln ihn zum Volkskrieg. Schau mal nach dem
+Norden, nach Amiens zum Beispiel, welche Heeresmassen dieser Monsieur
+Faidherbe da wieder aus dem Boden gestampft hat. Eure Milliarden
+haben einstweilen nur auf dem Monde Kurs. Hier unten könnt ihr damit
+verhungern.«
+
+Er trommelte einen kurzen Marsch auf dem Tisch. Dann trat Stille ein.
+
+Diese Stille wirkte auf den Hausfreund beklemmend. Er räusperte sich,
+schritt nach der schönen Hausfrau, die ihm zulächelte, nach dem
+Hausherrn, der mit einer geradezu beleidigenden Gelangweiltheit nach
+der Decke starrte und die Daumen umeinanderlaufen ließ, räusperte sich
+nochmals und trat dann entschieden vor.
+
+»Philippus,« sagte er, »wir kennen uns jetzt ein halbes Dutzend Jahre.
+Ich hab’ dir, wie du behauptest, ein paar Gefälligkeiten erwiesen.
+Du mir auch. Als Geschäftsleute wären wir ja — nehmen wir mal so an
+— quitt; aber als Freunde — nee! Schön. So muß das ja auch sein. Und
+nun, wo du mir deine Freundschaft mal wieder da offenbaren willst, wo
+sie bei anderen Leuten aufhört, am Portemonnaiechen, da komme ich, ich
+netter Bruder, dir mit allerhand Eigennützigkeiten, die sich weiß Gott
+im Ohre eines Fremden beinahe wie Verdächtigungen ausnehmen müßten. Gib
+mir deine Hand, du wackerer Eisenblechmensch, und laß mich sie drücken.
+Nichts wie Vertrauen hab’ ich zu dir, Vertrauen und Dankbarkeit. ’raus
+mit dem kalten Mammon und der warmen Liebe! Dafür sei es zehnmal
+dein, mein Königreich. Nur noch die Zustimmung meines Jungen, und das
+Geschäft ist perfekt und die Thronfolge geregelt.«
+
+Er schüttelte Steinherr die Hand, daß die Gelenke knackten.
+
+»Heinrichs Zustimmung?« meinte der Geschäftsmann nachdenklich. »Hältst
+du denn die für nötig?«
+
+»Du wirst mich vielleicht auslachen. Aber es war nun einmal mein
+Ehrgeiz — und du weißt, in diesem Artikel unterhalte ich nur ein
+bescheidenes Lager — daß der Junge zum wenigsten eine Scholle
+Heimatsboden sein eigen nennen sollte. Daß ich es konnte, das war ja
+auch für mich ein sogenanntes ›erhebendes Bewußtsein‹. Grundbesitzer!
+Na ja ... =Tempora mutantur=. Da bin ich nun zu Ende mit meinem
+Latein.«
+
+Philipp Steinherr bemerkte die Weichheit des Freundes mit Besorgnis.
+Jetzt nur keine Sentimentalität aufkommen lassen, sondern Trumpf
+spielen!
+
+»Ja,« machte er kopfschüttelnd, »wenn du das deinem Sohn schreibst,
+wird er in dem ganzen Handel natürlich nichts als ein Opfer sehen, das
+du ihm darbringen willst, sich an Großmut nicht übertreffen lassen
+wollen und dankend verzichten.«
+
+»Entschuldige, aber für so’n Jammermann wirst du mich doch wohl nicht
+halten.«
+
+»Hm — — was meinst du, wenn — wenn — meine Frau ihm schriebe? Sie malt
+ihm seine Zukunft, den Künstlerruhm, den er sich erringen kann, und —
+na, das wird sie schon selbst am besten wissen. Wie denkst du, Margot?«
+
+»Herr Heinrich wird mir gewiß folgen,« sagte Frau Margot träumerisch.
+Was verstand sie von den Geschäften der Männer!
+
+»Bis ans Ende der Welt, bis in die Hölle, nee, nee, bis in den Himmel,
+das Leckermaul!« begeisterte sich der lebensfrohe Causeur, heilfroh,
+daß er nicht mehr von Geschäften zu reden brauchte. »Und ich alter
+Krippensetzer werde das Fingerlecken haben. O Philippus, weshalb
+mußtest du dir eine so charmante Frau nehmen!«
+
+Philipp Steinherr hatte eine Flasche Rheinwein beordert.
+
+»Trinken wir auf eine glückliche Zukunft,« sagte er bedeutsam.
+
+Doch der andere hatte, den gefüllten Römer in der Hand, vor der Frau
+des Hauses das Knie gebeugt.
+
+»Majestät,« sprach er, »ich habe bisher nur Eurer Schönheit gehuldigt.
+Lasset mich heute als erster Euch huldigen als der Herrscherin meines
+Euch zu Füßen liegenden Königreichs. Ich bin Euer Gefangener. Lang lebe
+und blühe Königin Margot die Erste!«
+
+Die alte, fröhliche Haut ahnte nicht, daß er wirklich eingefangen war.
+
+Eine Woche später traf Antwort aus dem Lager vor Paris ein. Heinrich
+dankte der Jugendfreundin für das große Vertrauen, das sie in ihn setze
+und dessen er sich durch seine Kunst und durch seine Anhänglichkeit
+würdig zeigen werde.
+
+Das Terrain am Bilker Bach ging in den Besitz Philipp Steinherrs über.
+
+Es folgte der Fall von Paris und der Friedensschluß. Wie ein Sturmwind
+kam die neue Zeit ins Land, das Kapital wurde mobil, die Städte
+empfanden ihre Enge und reckten sich und dehnten sich aus, industrielle
+Unternehmungen schossen überall zu Dutzenden empor und suchten der
+Bauspekulation den besten Boden abzugewinnen, und die Grundstückswerte
+verdoppelten, verdreifachten, verzehnfachten sich.
+
+In Philipp Steinherrs neuen, mächtigen Eisenwerken dampften die
+Schlote bei Tag und Nacht. Er war der erste auf dem Platze gewesen.
+Und als nach wenigen Jahren das einst so einsame Terrain durch lange
+Straßenzüge der Stadt angegliedert war, als sich die Spekulation durch
+die unsinnigen, überhetzten Ausgaben zu Grunde gerichtet hatte und das
+mangelnde oder festgelegte Kapital auch der Industrie den gewaltigen
+Rückschlag brachte: Philipp Steinherr spürte nichts von schwerer Zeit.
+Er wuchs und wuchs und war längst Millionär, bevor sein Sohn Hans die
+ersten Gymnasialklassen hinter sich hatte.
+
+Von dem einstigen Freunde wußte der mit Ehrenämtern überladene Mann
+seit langem nichts mehr. Der Name klang im Steinherrschen Hause wie das
+Märchen von der Blechschmiede, die einem Gerüchte nach der Hausherr
+einstmals draußen im Feld bewirtschaftet haben sollte. An dem Tage —
+und der Tag war sehr schnell gekommen — an dem der einstige Besitzer
+des »Königreichs« erfahren hatte, daß er mit kalter Überlegung um
+hunderttausend Mark geprellt worden war, hatte er das Steinherrsche
+Haus zum letzten Male betreten. Er war gekommen, seinen Sohn abzuholen,
+der ahnungslos mit dem Fabrikanten plauderte und nicht dabei vergaß,
+Frau Margot anzuschwärmen.
+
+»Heinrich,« hatte der alte Junker gelassen gesagt, »mach der Dame dein
+Kompliment, wie es sich für einen Kavalier gebührt. Und dann setz
+deinen Hut auf, bevor du an dem kleinen Spitzbuben da vorübergehst, —
+wie es sich für einen Kavalier gebührt!«
+
+Der Vater war dem Sohne mit der Tat vorangegangen. Er hatte sich
+zeremoniell vor Frau Margot verbeugt, sich umgewandt, den Hut auf
+den Kopf gesetzt und war an Philipp Steinherr vorüber zur Türe
+hinausgeschritten, als sähe er in Luft. Und der Sohn, der bei aller
+leichten Sinnesart und den Zechgewohnheiten seines Erzeugers die
+unbedingte Ehrenhaftigkeit seines alten Herrn kannte, war ihm, ohne zu
+fragen, mit demselben Zeremoniell, auf den Hacken gefolgt.
+
+Trotz des überlauten Lachens ihres Gatten über die »Komödiantenallüren«
+hatte Frau Margot doch des Gefühls sich nicht erwehren können, daß in
+diesem scheinbaren Komödiantentum eine erkleckliche Dosis überlegenen
+Rittersinns gelegen habe. Sie empfand die Demütigung umso stärker,
+als die beiden einstigen Freunde und Verehrer den Grund des Bruches
+mit keinem Wort in der Öffentlichkeit laut werden ließen und nicht im
+Traume daran dachten, die gesellschaftliche Stellung der Steinherrs zu
+gefährden. Von diesen armen Schluckern einfach übersehen zu werden,
+hatte sie beschämt, ihre Eitelkeit verletzt und ihren Zorn erregt.
+Diese Wunde wollte sich auch im Laufe der Zeit nicht schließen.
+
+Hin und wieder hörte sie über die originelle Zigeunerwirtschaft der
+beiden reden, die hinfort wie Kameraden zusammen hausten, las in den
+Zeitungen von dem wachsenden Ruhm des Jungen, der in seiner Kunst mehr
+und mehr ein Eigener wurde, oder stand wohl auch in den Ausstellungen
+vor seinen Bildern, die bei aller Realistik einen bannenden
+Farbenrausch zur Schau trugen. Dann fühlte sie ein feines, feines
+Bohren in ihrem Herzen, das wie aus weiter Ferne sich meldete. Und wenn
+sie darüber grübelte, tauchte aus verschollenen Jugendtagen das Bild
+eines Jünglings vor ihr auf, dessen heißes Knabentum sie einst geliebt
+hatte. Die verwöhnte Weltdame, die seit Jahren die Grenzen ihrer Jugend
+künstlich zu erweitern trachtete, fand in solchen Stunden keinen Spott
+über ihre Gefühle. Ein einziges Mal in ihrem so rein äußerlichen Leben
+hatte die Liebe sie gestreift. Die Liebe zu ihrem Pagen.
+
+Sie hatte sie geopfert, aus Bequemlichkeit, aus Egoismus; in der
+Hoffnung auf Ersatz.
+
+Die elegante Frau mit den müden Zügen, die in ihrem Rosengarten draußen
+im Villenviertel der Grafenbergerchaussee unter einem Zeltdach ruhte,
+strich mechanisch mit der Hand über die Augenlider.
+
+»=Long, long ago= — —« murmelte sie. »Der Page ist jung geblieben und
+seine Königin wird alt. Wir hätten miteinander jung bleiben können ...«
+
+Sie schloß die Augen und horchte auf das feine, feine Bohren in ihrem
+Herzen, das wie aus weiter Ferne sich meldete — — —.
+
+Bei der Mittagstafel hatte ihr Sohn von seinem neuen Freunde erzählt.
+Der Name von Springe hatte die Konversation der Ehegatten verstummen
+gemacht.
+
+»Von Springe? — Ach, das war ja der tolle, alte Junker. Hm ...«
+
+»Von Springe?« — — Das war ja einst die Jugend ...
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Drittes Kapitel
+
+
+Auf der breiten, baumbestandenen Allee, der Hauptpromenade Düsseldorfs,
+auf welche die Nachmittagsonne heiß herniederbrannte, wurde es
+plötzlich lebendig. Es hatte soeben vier Uhr geschlagen. Das graue,
+kastenartige Gymnasium entließ seine Schutzbefohlenen.
+
+Sexta und Quinta stürmten zuerst hervor. Kleine Halbwilde, noch bar
+jeden wissenschaftlichen Ernstes, hatten sie bei dem ersten Luftzug,
+der sie traf, die tiefe Bedeutung der Deklination von =mensa= und der
+Konjugation von =amare= vergessen, erfüllten bereits Korridore und
+Schulhof mit ihrem Lärm, inszenierten schleunigst ein paar Raufereien,
+um den »Stärkeren« festzustellen, schlugen wild mit den am Riemen
+geschwungenen Tornistern um sich, sausten im Wettrennen über den
+aufstäubenden Reitweg, von den Schimpfworten der für die Lungen ihrer
+Pfleglinge besorgten Kindermädchen verfolgt, und trennten sich an
+den Straßenecken mit der würdevollen Grandezza ihrer vergötterten
+Lederstrumpfgestalten. Ein Knirps rief dem anderen das Stelldichein
+zu: »Mein großer Bruder Falkenauge wolle nicht vergessen, daß der
+springende Panther ihn erwartet. Die Hunde von Sioux sind auf dem
+Kriegspfad wider uns. Hör, Schrüwken, dene müsse mer ens ordentlich dat
+Fell verjücke.«
+
+Quarta und Tertia folgten. Hier hatte schon das Leben mit seinen
+Forderungen eingesetzt. Man tauschte Briefmarken, alte Münzen,
+Quarze; man handelte um all die tausend Dinge, die die unergründliche
+Hosentasche eines Lateinschülers nur zu fassen vermag. Einige ganz
+Betriebsame hielten sich abseits und besprachen den Plan einer
+Lotterie, in der ein lebendiges Eichhörnchen ausgelost werden sollte.
+Dieses Eichhörnchen demnächst zu fangen, war der Hauptpunkt der
+heimlichen Konferenz. Einer schlug eine aufregende Jagd im Ellerbusch
+vor. Ein Phlegmatiker wies darauf hin, daß an der Mühle in Wersten,
+ganz nahe der Stadt, ein Eichhörnchen frei in einem Kasten hinge und
+ein kleines Rad triebe. Es wäre doch viel bequemer und auch sicherer,
+wenn man — »Schuft!« hieß es empört. Aber man ging doch zunächst nach
+Wersten.
+
+Nun nahte Sekunda. Eine Gattung für sich. Mannbar gewordene Leute,
+ihren Empfindungen nach; dicht davor, bei Erlangung des Zeugnisses
+zum einjährigfreiwilligen Dienst ihre Bildung ein für allemal als
+abgeschlossen zu betrachten oder doch, sofern sie die Prima zu
+absolvieren gedachten, in dem erhebenden Gefühl, daß die Büffelei
+fürs Abiturientenexamen bei der immensen Länge der Zeit besser erst
+im nächsten Jahre vorzunehmen sei. Selbstverständlich sprach man nur
+vom »Weib«. Etwas Selbstverständlicheres gab es nicht, höchstens — die
+Verachtung für die, die nicht mitzusprechen vermochten. Man sprach
+über »meine, deine, seine Poussage« in der geläufigen Art, in der sich
+Besitzer von Serails unterhalten mögen. Nahte ein weibliches Wesen —
+und zählte es auch nicht mehr als zehn treubewachte Lenze —, so kniff
+man die Augen ein und zupfte nervös an der Haut über der Oberlippe.
+Dienstmädchen und das, was nicht die Töchterschule besuchte, galt
+als Freiwild. Hier waren Augenrollen und laute Bemerkungen am Platz.
+»Donnerwetter, gut gewachsen.« — »Unsinn, zu kurze Taille.«
+
+Den Beschluß machte Prima. Jünglinge von Erziehung, das reinste Produkt
+der neunmaligen Filtration einer neunklassigen Schule. Zwei Welten
+vereinigten sich in ihnen: die gegenwärtige, mit ihren jugendfrohen,
+schwärmerischen Idealen für die Freuden des jungen Lebens, die
+Schönheiten der Kunst und die Erhabenheiten der Dichtung, und die
+künftige, mit ihrem Hinweis auf den Beruf und die Stufenleiter der
+Erstrebungen. Diese Verschmelzung prägte sich deutlich in den Augen,
+den Bewegungen, der Haltung aus. Sonnenschein und Frühreife. Der
+künftige Student, der künftige Offizier, der künftige Kunstjünger wurde
+bereits markiert, unbewußt fast, aber dennoch untrüglich. Aufmerksame
+Beobachter vermochten selbst den gelinden Übergang zu den Feinheiten
+der Klassifizierungen zu erkennen, wie sie zwischen Korpsstudenten
+und Burschenschaftern, zwischen den Herren der Infanterie und der
+Kavallerie bestehen. Trotz ihrer Gemessenheit hatten sie im Rassigen
+die meiste Ähnlichkeit mit Sexta. Die Treffpunkte des Kreises
+offenbarten sich. Der Sturm war auch in ihnen lebendig, wie bei
+jenen Knirpsen, nur gezügelt durch die Erziehung; er war aufs neue
+lebendig geworden im Wonneschauer der Erwartung, an der Schwelle der
+zweiten Jugendhälfte. Ihre Disputationen waren von einer inneren
+Leidenschaftlichkeit erfüllt. Ihre Ansichten, ihre Aussprüche über
+antike Kunst und modernes Theater, über die soziale und pekuniäre
+Stellung eines Amtsrichters zu der eines Hauptmanns, über die
+Berechtigung eines philosophischen Systems, die Billigkeit einer Kneipe
+und die Tugend der Frauen waren kategorisch.
+
+Als einer der letzten verließ Hans Steinherr das Schulgebäude. Er ging
+allein, trug die Bücher unter den Arm geklemmt und schlenderte langsam
+die Allee entlang. Den weißen Strohhut in den Nacken gerückt, die Hände
+in den Taschen seines hellen Sommeranzuges, summte er vor sich hin und
+horchte, ob es ein Liedvers wurde.
+
+Ein paar Klassenkameraden schauten sich nach ihm um. Dann gingen sie
+weiter. Der junge Steinherr war den meisten von ihnen zu apart, er
+legte ihnen durch sein zurückhaltendes Wesen zu großen Zwang in der
+Unterhaltung auf.
+
+Als Hans dicht hinter ihnen in die Elberfelder Straße einbog, schwenkte
+einer der Primaner die Mütze und rief einem jungen Mädchen, das in
+diesem Augenblicke ihren Weg kreuzte, ein paar Worte zu. Hans blickte
+auf. Dann spannten sich seine Züge, er fühlte, daß er flammend rot
+wurde und daß sein Atem plötzlich ganz kurz geworden war. Instinktiv
+machte er eine Bewegung nach dem Hute, aber sein Arm blieb in der
+Luft hängen. Dabei starrte er auf das junge, schlanke Geschöpf in dem
+fadendünnen Sommerkleidchen, mit dem altmodischen Schäferhut auf den
+schwer herabhängenden Flechten, bis sie vorbei war. Sie hatte die Augen
+gesenkt gehalten, als sie an ihm vorüberschritt, aber eine leise Röte,
+die sich von den flaumweichen Wangen bis in den kleinen Halsausschnitt
+stahl, zeigte an, daß auch sie ihn bemerkt und erkannt hatte.
+
+Sein Abenteuer von der Golzheimer Insel ...
+
+Sie war verschwunden, und er atmete tief auf; und nochmals und wieder.
+Mitten auf dem Trottoir blieb er stehen, ließ sich von den Passanten
+stoßen und lächelte in die Luft hinein. Alles um ihn und in ihm
+streichelte und schmeichelte. Sein Wesen verspürte tausend kosende
+Berührungen und drängte unerklärlich, sie zu erwidern. Ein Unnennbares,
+eine grenzenlose Verwunderung lag über ihm ausgebreitet.
+
+Dann kam es ihm zum Bewußtsein, wie linkisch, wie überaus hölzern er
+sich soeben dem Kinde gegenüber benommen hatte. Und nun färbte die
+Scham seine Wangen so rot, wie vorhin die Überraschung. Er hätte sich
+prügeln mögen dafür, daß er nicht wenigstens den Hut heruntergerissen,
+gleichviel, ob sie seinen Gruß bemerken wollte oder nicht. Was war er
+doch für ein steifleinener Bursche! Ob sich das Ding insgeheim nicht
+über ihn lustig machen würde?
+
+Der Zorn rüttelte ihn gänzlich wach. Mit langen Schritten eilte er
+hinter seinen Klassenkameraden her und gesellte sich zu ihnen.
+
+»Heiß heute, was?« und er nahm seinen Hut ab und wischte sich die
+Stirn, um seine Verlegenheit zu bemänteln.
+
+»Nanu,« erwiderte der Angeredete erstaunt und ironisch, »ich dächte,
+deine so wohl temperierte Natur wäre über so was erhaben.«
+
+Hans ging über den Spott hinweg.
+
+»Doll heiß!« fuhr er fort. »Wie wär’s, Hüsgen, wenn wir nachher
+irgendwo eine Kneiperei veranstalteten?«
+
+»Was gefällig? Kneiperei? Steinherr und Kneiperei? Ich hab’ mich wohl
+verhört?«
+
+»Du hast ganz recht gehört. Natürlich, wenn du vor einem Anker Bier
+kneifst — —«
+
+»Nu schlag einer lang hin! Steinherr, wahrhaftig, ich glaub’s jetzt
+selber, daß dir heiß ist. Seit wann gestatten dir denn deine vornehmen
+Grundsätze solche Extravaganzen? O Steinherr, du steigst bergab,
+du mischest dich unter das Volk. Laß das gemeine Vergnügen uns
+gewöhnlicheren Sterblichen.«
+
+Der stämmige Bengel schüttelte wie in tiefem Schmerz das von einer
+Künstlermähne umwallte Haupt. Es amüsierte ihn königlich, den
+Kameraden, der sich von allen Streichen mehr als nötig und üblich
+zurückhielt, derb zu hänseln.
+
+»Hör mal, Hüsgen,« antwortete Steinherr ruhig, »du tust dich etwas
+groß. Ich hab’ zwar nicht das Zeug zu einem Kneipgenie, aber Leute wie
+dich trink’ ich, wenn ich will, dreimal unter den Tisch.«
+
+»Ach nee, wenn du willst? Wirklich? Schön, du sollst wollen. Daran
+kommst du jetzt nicht mehr vorbei.«
+
+»Gut. Heute abend.«
+
+»Heute abend kann ich nicht. Aber morgen.«
+
+»Du willst dich wohl präparieren? Oder hast du ein Rendezvous? Du
+grüßtest da vorhin so ’n kleines Mädel.«
+
+Hans Steinherr hielt inne. Diese tastende Diplomatie war ihm bisher
+fremd gewesen, und er ärgerte sich über sein Vorgehen. Aber er scheute
+sich, von dem großtuerischen Kameraden, der zu Ostern die Kunstakademie
+beziehen wollte, seiner zaghaften Neugier wegen verspottet zu werden.
+So wartete er denn mit Spannung auf die Antwort.
+
+»Ein kleines Mädel? Gott, ich kenn’ so viele. Wo denn?«
+
+»An der Ecke der Elberfelder Straße.«
+
+»Ach so — —. Du meinst den Hannes?«
+
+»Den Hannes? Ich sag’ dir doch, ich mein’ ein Mädel!«
+
+»Behaupte ich denn, daß es ein Junge ist? Hör doch zu, Mensch!«
+
+»Also Hannes heißt sie ...?«
+
+»Hannes.«
+
+Hans Steinherr gab sich einen Ruck. Er mußte mehr erfahren.
+
+»Und ihretwegen bist du heute abend nicht zu haben?« sagte er mit
+erzwungener Neckerei.
+
+»Wegen Hannes?« Der junge Kunstaspirant warf sich in die Brust. »Nee,
+Backfische sind nicht mein Schwarm. Ich muß schon was Reiferes haben,
+=à la= Rubens, verstehst du? Der wußte, was gut ist. Nicht dein
+Geschmack, wie? Du hast eben keine Ahnung!«
+
+»Und Hannes?« beharrte der andere.
+
+»Ach, Hannes! Hm, gewiß, wird sich schon auswachsen. Glaub’ schon, daß
+diese Linien eines Tages —«
+
+»Danach habe ich nicht gefragt.«
+
+Hans Steinherr stieß es fast herrisch hervor. Er hätte den plumpen
+Menschen plötzlich am Halse würgen mögen.
+
+Der sah ihn mit überlegenem Hohn an.
+
+»Ja, nach was dann? Entschuldige nur, wenn ich deiner keuschen Seele —«
+
+»Das ist ja Unsinn,« unterbrach ihn Hans kurz. »Also du triffst das
+Mädchen heute abend nicht?«
+
+»Natürlich treff’ ich sie. Sie kommt sogar zu uns. Der Künstlerverein
+Gaudeamus — lauter flotte Akademiker — hat zu Beginn des
+Wintersemesters große Feier. Zehnjähriges Bestehen! Ich werde offiziell
+zwar erst zu Ostern eintreten, weil mein Alter sich hat einreden
+lassen, das Abiturientenexamen sei erst der Schlüssel zum Leben,
+aber ich bin in der Stille doch schon Konkneipant. Als Haussohn!
+Die Gaudeamus-Brüder haben nämlich ihr Lokal bei meinem Alten. Du
+weißt vielleicht, daß wir eins der ältesten Düsseldorfer Wirtshäuser
+besitzen?«
+
+Hans Steinherr nickte. Der alte Hüsgen war eine stadtbekannte
+Persönlichkeit und ein wohlhabender Mann, der seinen Stolz darein
+setzte, seinen Jungen wie die der Vornehmsten das ganze Gymnasium
+durchlaufen zu lassen. Mochte er nachher werden, was er wollte.
+
+»Also ich werde zu dem Fest lebende Bilder stellen. Aber welche, die
+sich gewaschen haben. Die Kerle sollen Augen machen, was ich kann.
+Daher fang’ ich jetzt schon mit den Vorbereitungen an. Alles stilecht:
+Kostüme, Stellungen. Die Stellungen wollen probiert, die Kostüme
+entworfen und geschneidert sein. Das ist alles nicht so einfach, wenn
+man’s mit der Kunst ernst nimmt. Da hat nun meine Schwester den Hannes
+aufgestöbert, eine frühere Schulkollegin; gerad’ nix Feines von Haus
+aus, aber Schick und Geschmack hat der Balg.«
+
+Die anderen Kameraden hatten sich von ihnen getrennt. In Gedanken
+versunken schritt Steinherr neben dem stämmigen Wirtssohn her, der,
+stolz, sein Künstlertum proklamieren zu können, weitschweifig seine
+Pläne auseinandersetzte und die Schönheiten der Renaissance beschwor,
+als wäre er heute schon ihr Herr und Meister. Hans Steinherr hörte kaum
+hin. Während die Schlagworte an sein Ohr tönten, die sich von einer
+jungen Künstlergeneration auf die andere vererben, hatte ihn eine Idee
+erfaßt und ließ ihn nicht mehr los.
+
+»Du,« unterbrach er plötzlich den Redseligen, »könntest du mich nicht
+gebrauchen?«
+
+Sie waren am Wehrhahn angelangt, dicht vor dem Hüsgenschen Hause.
+
+Verblüfft machte Hüsgen Halt. Dann betrachtete er mißtrauisch die Miene
+des anderen, der den Kopf geneigt hielt und mit der Stiefelspitze
+Figuren beschrieb.
+
+»Steinherr,« sagte er endlich, »entweder, du hast heute eine Marotte,
+oder du willst dich gar lustig machen. Für beides findest du in deinen
+Kreisen bessere Gelegenheit. Adjüs.«
+
+Er wollte ins Haus, aber Steinherr faßte ihn am Ärmel.
+
+»Sei doch nicht gleich ein so grober Patron. Wenn ich dich höflich
+frage, kannst du mir doch wohl eine höfliche Antwort geben.«
+
+»Was?« rief Hüsgen und riß die Augen auf, »das war dein Ernst vorhin?
+Aber du hast doch früher keinen Schritt in unser Haus gesetzt? Die Bude
+und die Gesellschaft drin waren dir und deinesgleichen doch immer zu
+power. Hier verkehren wirklich keine Millionäre.«
+
+»Hüsgen,« erwiderte der Kamerad ernst, »bin ich dir so oberflächlich
+erschienen? Glaubst du nicht, daß ich mich oft genug danach gesehnt
+habe, mit euch herumzutollen? Früher, als wir noch jünger waren? Aber
+ihr ließt mich ja nie zu. Mein Anzug genierte euch. Also, wenn sich da
+so was wie eine Scheidewand aufgetan hat: ich bin doch nicht schuld.
+Oder hast du mir sonst was vorzuwerfen?«
+
+Der derbe Bursche biß sich auf die Lippe und blickte stumm vor sich
+nieder. Die Situation wurde ihm unbehaglich. Am liebsten hätte er sich
+durch einen Sprung in den Torweg gedrückt.
+
+»Nun?« beharrte Hans und trat ihm einen Schritt näher.
+
+»Mensch,« stotterte der Schulkamerad, »du — du — na, du warst uns eben
+zu vornehm.«
+
+»Und du, als werdender Künstler, sprichst auch heute noch solche
+inferiore Begriffe aus? Weiß Gott, und wenn ich keinen Knopf mehr an
+der Hose hätte, dazu wär’ ich zu stolz. Adieu, Hüsgen.«
+
+»Hör mal,« schrie es hinter ihm her, »komm um sechs!«
+
+Hans wandte sich um.
+
+»Ich will deine Anschauungen nicht verwirren,« rief er zurück.
+
+»Also um sechs!« brüllte der andere aus dem Torweg heraus, als ob
+der Einwand gar nicht bis zu ihm gedrungen wäre. »Aber gefälligst
+pünktlich! Adjüs!«
+
+Hans Steinherr schob den Strohhut in den Nacken und schritt wacker
+aus. Er kam sich mit einem Male so unternehmungslustig vor. Und dabei
+spürte er doch innerlich eine seltsame, wohlige Unruhe. Ah, war das
+wieder ein schöner Tag heute! In dem Garten, der die Steinherrsche
+Villa umschloß, dufteten die Rosen betäubend, die Jasminblüten lagen
+wie ungezählte weiße Sterne in den grünen Hecken, und der Springbrunnen
+sandte aus weitgeöffnetem Reiherschnabel eine Garbe Schaum in die
+sonnendurchzitterte Luft.
+
+Es war ganz still im Garten und im Hause. Mama war zum Kaffee zu einer
+Freundin gefahren; die Damen hatten jetzt, wo es bald zur Saison nach
+Ostende ging, so vieles miteinander zu besprechen. Der Vater war
+draußen in den Fabriken.
+
+Hans ließ sich den Kaffee in die Laube bringen. Er hatte eine
+vollerblühte Marschall Niel-Rose vom Zweige geschnitten und preßte
+sein Gesicht in den Blütenkelch. Um ihn her lebte und webte das leise
+summende Getön des Sommers.
+
+Hatte er geschlafen? Er war aufgesprungen und sah nach der Uhr. Fünf
+bereits. Der Kaffee stand noch immer unberührt und war kalt geworden.
+Er nahm einen Schluck, dehnte sich und ging schnellen Schrittes ins
+Haus. Auf seinem Zimmer setzte er sich sofort an den Arbeitstisch und
+nahm energisch die Bücher vor. Die Zeigefinger in die Ohren gesteckt,
+studierte er emsig sein Pensum für den morgigen Tag.
+
+Da schlug es sechs Uhr vom Kamin. Die durchdringenden Töne der
+Metallplatte mußten doch wohl zu seinem Bewußtsein gelangt sein. Er
+fuhr auf, starrte die Uhr an, schob die Bücher beiseite und griff
+nach seinem Hut. Doch er ging noch nicht. Den Hut in der Hand, stand
+er am Fenster und blickte hinaus. Wie der Garten prangte! Welch ein
+herrliches Besitztum war doch sein väterliches Heim! — — Im Garten
+rief eine kleine, schwarzbraune Amsel. Da lächelte er, ein unsicheres,
+zärtliches Knabenlächeln, und verließ langsam das Haus. Eine
+Straßenbahn fuhr vorüber. Er sprang auf die Plattform, und in wenigen
+Minuten erreichte er den Wehrhahn. Vor der Hüsgenschen Wirtschaft
+lauerte bereits der Haussohn.
+
+»Süch ens, der Steinherr!« tat er verwundert. »Hat dich die Frau Mama
+losgelassen? Na, komm nur ’rein, du wirst dir auch bei uns die Stiebel
+nicht schmutzig machen.«
+
+Hans folgte ihm durch den Torweg. Der mit Lorbeerbäumen und
+verstellbaren Hecken bestandene Hof, der sich anschloß, war dicht mit
+Menschen besetzt, die den Vespertrunk begannen. Durch die offene Tür
+des Schenklokals sah man die Ehegatten Hüsgen am weißgescheuerten
+Büfett mit Biergläsern und Butterbroten hantieren.
+
+»Willst du mich nicht deinen Eltern vorstellen?« fragte Hans bescheiden.
+
+»Vorstellen? Meinen Alten?« Hüsgen junior traute seinen Ohren nicht.
+»Mensch, du bist doch hier nicht bei Hofe.« Dann, in neu erwachtem
+Mißtrauen, zog er die Augenbrauen hoch. »Übrigens, wenn das ein Witz
+sein sollte — deine Witze verbitt’ ich mir.«
+
+Hans Steinherr schüttelte den Kopf.
+
+»Hüsgen, daß man im eigenen Hause nicht den Grobian spielt, einem
+Gastfreund gegenüber, das hätten dich auch mittlerweile deine
+griechischen Klassiker lehren können.«
+
+»Ach was, ein echter Künstler ist immer grob. Ich pfeife auf eure
+Finessen.«
+
+»Na, wenn du meinst, die Grobheit allein mache den Künstler, so kannst
+du deinen Eltern das Lehrgeld für die Akademie sparen.«
+
+»Gott, wie viel Worte wegen einer überflüssigen Form. Vatter! Mutter!«
+rief er zur Büfettür hinein, »ich hab’ hier einen Gast, den jungen
+Steinherr von der Grafenbergerchaussee.«
+
+Hans trat vor und verbeugte sich.
+
+»En Gläschen Bier jefällig?« fragte der biedere Alte und hob ein Glas
+an den Zapfhahn.
+
+Der Sohn des Hauses stieß den Schulgenossen ironisch in die Seite und
+grinste.
+
+»Och, Vatter,« wies die lebensgewandtere Wirtin den geschäftseifrigen
+Gatten zurecht, »dä jong Herr Steinherr is doch en Fründ von uns’
+Willibald. Freut mich sehr, Herr Steinherr,« fügte sie zierlich wie ein
+junges Mädchen hinzu, strich sich die Hand an der Schürze trocken und
+reichte sie dem jungen Manne zum Gruß. »Laßt euch als häufiger sehen.
+Gelt? — Un nich überarbeiten, Jüngkens.«
+
+Als die beiden jungen Leute die Treppe hinaufstiegen, lachte Willibald
+Hüsgen ziemlich respektlos.
+
+»Fein, so’ne Vorstellung, wie?« und er ahmte die Stimmen der Alten
+nach. »En Gläschen Bier jefällig? Freut mich sehr, Herr Steinherr ...«
+
+»Ich verstehe dich nicht,« sagte Hans entrüstet. »Wenn ich doch
+regelmäßiger in eurem Hause verkehren will, habe ich wohl deinen Eltern
+gegenüber zuallererst die Pflicht der Höflichkeit.«
+
+»Ah so, du willst regelmäßiger — —. Mir kann’s ja recht sein. Hier ist
+meine Bude, links, drück auf die Klinke. Der Herr segne deinen Eingang.«
+
+Sie waren ungefähr unter dem Dach angelangt. Hans tat, wie
+ihm geheißen, drückte die Klinke auf und trat ohne weiteres
+ein. »Donnerwetter!« entfuhr es ihm. Dann blickte er sich mit
+großen Augen um. Auf die weißgetünchten Wände war mit Kohle ein
+Bacchantenzug gezeichnet, übertrieben in den Formen, willkürlich in
+der Linienführung, aber keck und saftig im Entwurf. Die Zimmerecken
+waren mit mächtigen Bündeln Schilfkolben ausstaffiert, auf denen eine
+silbrige Staubschicht lag. Von der Decke herab hing ein Kronleuchter,
+der aus einem großen, mit Kerzen besteckten Faßreifen gebildet war; ein
+Uhu, in dessen weitgespreiztem, mottenzerzaustem Gefieder der Reifen
+zu ruhen schien, verlieh dem Beleuchtungsapparat einen phantastischen
+Reiz. Dicht an das Fenster war eine Staffelei gerückt, die einen
+gewaltigen Leinwandrahmen trug. Ob das Bild, das in satten Farben
+darauf begonnen war, eine Prozession oder eine blühende Kirschbaumallee
+vorstellen sollte, war noch nicht zu erkennen, der Meister erklärte
+es vorläufig für das Gelage des Sardanapal. »Weißt du,« setzte er
+belehrend hinzu, »hier taugen ja die Weiber nix. Zu schmal in den
+Hüften.«
+
+»Schafskopp,« sagte jemand trocken hinter der Leinwand.
+
+Selbst der unverfrorene Willibald fand für einen Augenblick nicht das
+Gleichgewicht.
+
+»Sprach da nicht jemand?« flüsterte Hans Steinherr nach einer Pause.
+
+»I wo!« entgegnete der Haussohn grob, »da spielte jemand Flöte. Kommt
+heraus da, ihr Gesindel,« rief er und zerrte an dem Vorhang, der als
+Draperie von der Staffelei herabhing. »Müßt ihr Frauenzimmer denn die
+Ohren überall haben? Vorwärts!«
+
+Hinter dem Vorhang kicherte es. Dann wurde das Tuch zurückgeschlagen
+und ein sechzehnjähriges, derbes Mädel trat, flammend rot zwar, aber
+resolut vor.
+
+»Meine Schwester Malchen,« sagte der junge Künstler grimmig, »Herr
+Steinherr, Oberprima. Nanu, wo steckt denn der Hannes?«
+
+»Hier,« tönte eine feine Stimme, in der Scham und Trotz miteinander
+stritten. Das junge Mädchen war unbemerkt hinter dem Vorhang
+hervorgetreten und stand nun unbeweglich im Hintergrund des Zimmers.
+
+»Der Hannes,« sagte Hüsgen mit einer Gebärde zu Steinherr hin. Damit
+waren für ihn die Formalitäten erledigt.
+
+Hans Steinherr blickte verwirrt zu dem jungen Mädchen hinüber. Er sah,
+wie sie die Lippen fest aufeinander schloß, wie die dunkelblauen Augen
+einen Stahlglanz erhielten, und er trat rasch auf sie zu.
+
+»Hans Steinherr,« stellte er sich höflich vor und wartete auf Antwort.
+Aber sie antwortete nicht. Über ihrer Nasenwurzel grub sich die
+kindliche Trotzfalte nur noch tiefer, und der Blick, mit dem sie ihn
+feindlich streifte, nahm ihm den Rest von Unbefangenheit.
+
+»Ich glaube, mein Fräulein ...« stotterte er, »verzeihen Sie, Fräulein,
+ich habe mich noch —«
+
+Weiter kam er nicht. Die Kleine tat, als wäre er ihr gänzlich fremd,
+und Fräulein Malchen nahm keinen Anstand, vergnügt in ihr Taschentuch
+zu kichern. Herr Willibald aber machte auf seine Art reinen Tisch.
+
+»Ach, Steinherr, würdest du dir wohl merken, daß wir nicht hier sind,
+um einen Kontertanz zu probieren, sondern um Kostüme zu entwerfen.
+Schleppt mal den Tisch ans Fenster, ihr beide. Malchen, hol die
+Zeichnungen. Ich werde erklären.«
+
+Während er den Rock abstreifte und es sich in Hemdärmeln bequem machte,
+rückten Steinherr und seine kleine Feindin den Tisch aus der Ecke
+heran. Die Kleine nahm all ihre Kräfte zusammen, um nicht schwächlich
+zu erscheinen. Die junge Brust hob und senkte sich bei der ungewohnten
+Anstrengung.
+
+»Loslassen!« befahl Hans kurz. Und da sie nicht gewillt schien, zu
+gehorchen, setzte er den Tisch nieder.
+
+»Das ist doch keine Arbeit für Mädchen,« sagte er und sah sie an. Dann
+packte er den Tisch allein, drückte ihn gegen die Brust und schleppte
+ihn mit Aufbietung aller Kräfte ans Fenster.
+
+»Faulwams!« rief er dem Freunde zu.
+
+»Bitte sehr,« entgegnete Hüsgen gelassen, »einer muß dirigieren.«
+
+Hans schob den jungen Mädchen Stühle hin, stellte sich neben dem
+Kameraden auf und hörte mit freundlicher Geduld den im Grunde einfachen
+Erklärungen zu, die der Dozierende mit großer Wichtigkeit vortrug.
+
+»Ich denke, ihr habt mich begriffen,« schloß der Primaner seinen
+Vortrag. »Was die Renaissance ist, hab’ ich euch nun haarklein
+auseinandergesetzt. Das ist die Zeit der äußerlichen Pracht und
+der innerlichen großen Leidenschaften. Aber uns geht hier nur die
+Pracht an. Über die Leidenschaften reden wir später, wenn wir mit den
+Kostümproben beginnen können. Die trichter’ ich euch dann schon ein,
+die Leidenschaften. Hannes,« unterbrach er sich, »was fällt dir denn
+eigentlich ein, zu lachen?«
+
+Steinherr sah schnell zu der Gemaßregelten hinüber. Sie saß, den Kopf
+geneigt, und die Abendsonne lag voll auf ihren schweren Zöpfen, die
+in der roten Lichtflut wie Feuer gleißten. Ein Beben flog über die
+feine Gestalt. Und als dem jungen Manne einfiel, daß der ungeschlachte
+Hüsgen, der echte Bierwirtsprößling, diesem Geschöpf die Ausdrucksart
+der Leidenschaften einzutrichtern versprochen hatte, da konnte auch er
+nicht an sich halten und er brach in ein fröhliches Gelächter aus.
+
+»Am Lachen erkennt man die Dummen,« erklärte Willibald, nachdem er sich
+von der ersten Verblüffung erholt hatte. »Wenn ihr bedauernswerten
+Böotier keinen Sinn für die Kunst habt, so sagt es doch gleich. Dann
+brauch’ ich mich mit eurem Spatzenhirne doch nicht aufzuhalten.«
+
+Er wollte, tief gekränkt, seine Zeichnung zusammenklappen und sich
+erheben. Aber Steinherr hinderte ihn daran.
+
+»Entschuldige nur,« sagte er. »Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.
+Laß uns fortfahren. Oder — wenn du gestattest — laß mich an dem Entwurf
+der Skizzen teilnehmen. Vielleicht reicht mein Talent auch noch so
+weit.«
+
+»Was?« schrie Hüsgen und schlug auf den Tisch, »du Duckmäuser, du wirst
+auch Künstler? Weshalb hast du mir denn das nicht gleich gesagt?«
+
+»Ob ich Künstler werde?« wiederholte Hans Steinherr und ließ die
+Blicke auf den im Abendrot flammenden Flechten seiner stumm horchenden
+Nachbarin ruhen. »Ein echter Künstler? — — Ich fürchte, lieber Hüsgen,
+ich bin nicht grob genug dazu.«
+
+»Du,« sagte der verständnisvoll, »werde gefälligst nicht anzüglich. Das
+ist schlimmer als Grobheit.«
+
+Stillschweigend setzte sich Hans an den Tisch und griff nach den
+Zeichnungen. Es waren Kostümentwürfe im Stile des Cinquecento. Er
+vertiefte sich hinein, dachte nach und nahm, ohne zu fragen, den
+Bleistift auf. In feinen, sicheren Schraffierungen zeichnete er das
+Prunkgewand einer Florentinerin aus der Zeit der Medici.
+
+Willibald Hüsgen sah ihm sprachlos zu. Auch Hannes hatte sich an den
+Tisch gedrängt und blickte erst scheu, bald aber mit offenkundiger
+Bewunderung auf die schlanken, gepflegten Hände, die so leicht
+produzierten. Man hörte nur die Atemzüge der jungen Leute und das
+Stricheln des Bleistiftes.
+
+»Mensch,« brach endlich der zukünftige Akademiker das Schweigen,
+»Mensch, du kannst ja was.« Aber, als hätte er seiner Stellung
+als Kunstpapst dieses Kreises bereits etwas vergeben, fügte er in
+protegierendem Tone hinzu: »Gezeichnet kann man das zwar noch nicht
+nennen, das ist eher ein Gedicht. Na, wird schon noch werden. Geschmack
+hast du.«
+
+Fräulein Hannes maß den Redner mit einem spöttischen Blick, während
+Malchen auf Geheiß des Bruders die Gewandfetzen herbeischleppte.
+
+Hüsgen zeigte sie dem Kameraden.
+
+»Siehst du, das hier wird das Nachtgewand der Francesca von Rimini.
+Im Schnitt stimmt’s, und im übrigen ist das ja verteufelt einfach.
+Möcht’ wissen, was die Gans, die Male, dabei zu kichern hat. Himmel
+Wetter,« fuhr er drein, »hier handelt es sich doch um Kunst, nicht um
+ein altes Nachthemd!« Er zuckte die Achseln, überlegen, verächtlich,
+mitleidsvoll. »Also wir stellen ein großes, glänzendes, höfisches Bild,
+die Francesca als Fürstin; und ein feines, intimes: die Francesca
+mit ihrem Geliebten, wie sie gemeuchelt werden. Hannes übernimmt die
+Francesca. Das Nachtgewand hat sie bald fertig, sie kann nämlich
+Maschine nähen. Jeder muß für sich selber sorgen, streng nach meinen
+Skizzen,« flunkerte er, und mit der Schlauheit des Wirtssohnes, die
+Wirkung seiner Worte gespannt beobachtend, fügte er seelenruhig hinzu:
+»Der Liebhaber der Francesca, der schöne Paolo, steht natürlich im
+Vordergrund des Interesses. Um den werden sich alle reißen. Aber ich
+will ihn dir überlassen, Steinherr, weil du die richtige Figur dazu
+hast. Nun blamier’ mich bloß nicht mit deinen Kostümen. Knausern gibt’s
+hier nicht, wir müssen alle bluten. So, nun bedank dich mal.«
+
+Hans Steinherr schüttelte dem geriebenen Jüngling voll herzlicher
+Freude die Hand. Er dachte viel zu anständig, als daß er einen
+besondern Grund für diesen seltsam schnellen Freundschaftsbeweis
+geargwöhnt hätte, und er warf nur einen fragenden Blick auf das junge
+Mädchen, das durch viele Proben hindurch nun seine Partnerin werden
+würde. Hannes aber tat, als ob sie von den Beschlüssen nichts vernommen
+hätte. Sie saß über eine Handnähmaschine gebeugt und steppte das
+Nachtgewand der Francesca von Rimini. Das von Gesundheit strotzende
+Malchen hockte, die Hände im Schoß, auf einem Schemel vor ihr und sah
+ihr gähnend zu.
+
+»Malchen,« kommandierte der Bruder, »du kannst jetzt mal für Abendbrot
+sorgen. Bring Bier mit und spekulier, daß du ’n paar Zigarren aus der
+Groschenkiste schnappst.«
+
+»Dat dhun ich nich,« empörte sich Malchen. »Gang du nur selber
+spekulieren.«
+
+Der Bruder brummte etwas, was gerade nicht wie Bewunderung für die
+schwesterliche Tugend klang, und bequemte sich endlich, hinter der
+Voraufgegangenen das Zimmer zu verlassen.
+
+Hans und Hannes waren allein.
+
+Durch das offene Fenster kam die Dämmerung gezogen und spann ihre
+Schleier um die Gegenstände und die beiden Menschenkinder. Das Mädchen
+drehte mit verdoppeltem Eifer das Rädchen der Nähmaschine.
+
+»Sie werden sich die Augen verderben,« sagte Hans leise.
+
+Sie stand auf, trug die Handmaschine auf den Fenstertisch und setzte
+wortlos ihre Arbeit fort. Nur das Rädchen schnurrte und belebte die
+Stille.
+
+Hans gab den Gedanken an eine Unterhaltung auf. Er ließ sich am Tisch
+auf einen Stuhl nieder und sah ihr stumm auf die kleinen, fleißigen
+Finger. Zuweilen wagte er den Blick zu erheben und die feine Silhouette
+in sich aufzunehmen. Da stand das Rädchen still.
+
+»Das geniert,« sagte sie böse.
+
+»O nein,« antwortete er trotzig, »mich geniert das gar nicht.«
+
+Sie preßte die Lippen zusammen, und das Rädchen schnurrte weiter.
+
+Wie ein breiter Mondscheinstreifen zog der weiße Stoff unter der Nadel
+her. Der junge Mann folgte ihm mit den Blicken, und als die Kante
+knisternd sein Knie berührte, griff er ihn auf und ließ ihn gedankenlos
+durch die Hände gleiten. Dann fiel ihm ein: dieser selbe Stoff, dem er
+die Wärme seines Blutes mitgab, würde auf ihrem Körper ruhen, sich an
+ihre Glieder schmiegen. Und ganz lind und sacht, als beginge er ein
+heimliches Verbrechen, fing er an, das feine Linnen zu streicheln ...
+
+Übte sein beschleunigter Pulsschlag einen Rapport aus? Konnte die
+Leinwand, die ihm durch die schmeichelnden Hände glitt und zu den
+hurtigen Fingern der Arbeitenden eilte, sein Gefühl verraten? Das
+böse, gepreßte Lippenpaar des Mädchens wurde weicher, etwas Süßes,
+Fröhliches, fast Schelmisches huschte um den Mund. Noch einmal
+schnurrte das Rädchen. Dann stand es still.
+
+»Es ist dunkel,« murmelte sie und lehnte sich hintenüber. Aber die
+erwachte Weibsnatur horchte mit feinen Ohren, ob der vornehm gekleidete
+junge Herr das alte Gewebe weiter streicheln würde. —
+
+Auf der Treppe polterte das Geschwisterpaar. Nun flog die Tür auf, und
+greller Lampenschein überströmte das Gemach. Die Idylle war zu Ende.
+
+»Prost!« brüllte Hüsgen und stieß die Biergläser auf den Tisch.
+»Malchen bringt jet zum Müffeln. Zugelangt! Hier sind auch die
+Havannas. Kosten mich ~einen~ Griff und ~zwei~ Sekunden Angst. Es lebe
+die Kunst! Prost, Leute!«
+
+Es ging gegen zehn Uhr, als die Gäste des Hüsgenschen Ateliers sich
+verabschiedeten. Man hatte die regelmäßigen Zusammenkünfte auf Mittwoch
+und Samstag festgesetzt.
+
+Draußen, auf der abendstillen Straße, sah Hans Steinherr seine kleine
+Dame fragend an. Ohne von seinem Blick Notiz zu nehmen, neigte sie
+kurz den Kopf und ging an ihm vorbei. Er beeilte sich, ihr zu folgen,
+und hielt neben ihr Schritt, so sehr sie auch hastete. So zogen sie
+die Straße den Hofgarten entlang, der vom Duft der Sommernacht erfüllt
+war. Und hier faßte sich der große Junge ein Herz und bot dem graziös
+einherschreitenden Kind den Arm an.
+
+»Wohl nur, weil’s dunkel ist,« sagte sie ernsthaft.
+
+»Fräulein Hannes!« rief er gekränkt.
+
+»Glauben Sie an Sternschnuppen?« fragte sie schnell. »Man muß sich was
+wünschen. Da! — und da auch!«
+
+Und während er hastig in die Luft starrte, war sie verschwunden.
+
+»Gute Nacht!« rief er durch die hohlen Hände und horchte.
+
+Aus der Ferne tönte es lachend zurück: »Gut’ Nacht!« — — —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Viertes Kapitel
+
+
+Am nächsten Tage zog sich Hans Steinherr zum ersten Male seit Jahren
+in der Unterrichtsstunde eine Vermahnung zu. Er hatte auf den Vortrag
+des Mathematikprofessors nicht acht gehabt und wußte, als er aufgerufen
+wurde, nicht zu antworten. Bei einer eingehenden Prüfung, die der
+Professor sofort mit seinem Schüler veranstaltete, stellte es sich
+heraus, daß Hans nicht einmal die geringste Ahnung hatte, welches Thema
+überhaupt verhandelt worden war. Die ganze Oberprima staunte. Der
+Musterknabe des Gymnasiums hatte sich menschlich schwach erwiesen. Nur
+Hüsgen lachte. Und sofort entlud sich über sein Künstlerhaupt der Zorn
+des Schulgewaltigen. Aufgefordert, an Stelle Steinherrs den Vortrag
+inhaltlich wiederzugeben, hielt er zwar mit mächtigem Stimmaufgebot
+eine längere Rede, mußte sich jedoch bedeuten lassen, daß er sich hier
+durchaus nicht in einer Narrensitzung der Tonhalle befände, in der der
+albernste Mann der berühmteste Mann sei, sondern »verstehen Sie mich
+recht, Herr, in einem königlich preußischen Lehrinstitut, in dem der
+Anstand mit der Wissenschaft zu wetteifern hat! Sollte sich das eine
+oder das andere dieser Worte oder gar beide nicht in Ihrem Vokabularium
+befinden, so wird es mir eine Freude sein, Ihnen diese Begriffe vor
+dem Schlußexamen noch zu verdeutlichen«.
+
+Der stämmige Bursche hörte mit übertriebenem Interesse zu. Dann aber
+ließ er sich kopfschüttelnd und mit einer Miene auf seinen Platz
+nieder, die grenzenloses Mitleid mit der Auffassung des aufgeregten
+Pädagogen bekundete. Diesmal war es die Klasse, welche lachte.
+
+Hans Steinherr nahm sich vor, dem Professor nach Schulschluß eine
+Entschuldigung vorzutragen. Aber kaum war die Glocke des Pedells
+erklungen, als sich auch schon Hüsgen an ihn hängte, um seinen Witz an
+ihm zu üben.
+
+»Gratuliere, gratuliere. Du vermenschlichst dich in überraschender
+Weise. Glaube mir,« fügte er pathetisch hinzu, »die schöne Francesca
+und ihr Kavalier wußten auch nichts von Logarithmen, und sie waren
+dennoch glücklich.«
+
+Hans Steinherr konnte das Geschwätz nicht ertragen; er schüttelte den
+Kameraden an der nächsten Straßenecke ab und eilte nach Hause. Der
+Nachmittag war schulfrei. Er arbeitete mehrere Stunden hindurch mit
+einem Eifer, als gälte es, die Vergehen eines ganzen Semesters und
+nicht die eines einzigen Tages wieder gut zu machen. Im Garten ließ die
+kleine, schwarzbraune Amsel ihren Ruf ertönen. Sie störte ihn nicht.
+Dann, während er eine Pause machte, um sich das Erlernte zu überhören,
+vernahm er die Lockrufe deutlicher. Ruhig weiter memorierend ging er
+zum Fenster, öffnete es und begab sich an seinen Arbeitsplatz zurück.
+Jetzt machte er zwischen den Sätzen hin und wieder eine Pause. Er
+lauschte auf den kleinen Sänger. Mit dem Liede zog durch das offene
+Fenster der Duft des Gartens ...
+
+Der junge Stubengelehrte murmelte noch einige Worte seines Pensums.
+Dann lehnte er sich langsam in seinen Stuhl zurück, streckte sich
+wohlig und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
+
+So blieb er lange, und seine Träumereien setzten dort ein, wo sie am
+Morgen durch den Aufruf des Mathematikprofessors unterbrochen worden
+waren. — —
+
+»Wie schön ist es, jung zu sein,« wogte es in seinem Innern, und es
+stieg auf seine Lippen und formte sich zu Worten. Und mit tiefer
+Inbrunst sprach er sie aus und wiederholte sie: »Jung zu sein — immer,
+immer.«
+
+Konnte man diese Gefühle, die ihn durchströmten, diese Jugend, konnte
+man sie bannen?
+
+Er schauerte leicht, öffnete die Augen weit und setzte sich grübelnd am
+Tisch zurecht.
+
+Jung bleiben? — Wem war das geglückt, von allen Menschen, die er
+kannte? »Mama,« sprach er lächelnd vor sich hin; aber das Lächeln
+wollte nicht bleiben. Er war an diesem schweigenden Sommernachmittag
+merkwürdig hellsehend geworden. »Mama?« wiederholte er. Sie hieß heute
+noch in Freundes- und Besucherkreisen »die schöne Frau Margot«. Aber
+wirklich jung? Achtunddreißig Jahre ... Ja, ist denn das schon keine
+Jugend mehr?
+
+Es packte ihn eine Angst. Seine Mama, die er nie anders als jung und
+schön gekannt, sie hatte die Jugend nicht mehr? Und wenn es keine
+Jugend war, die sie antrieb, heiter, strahlend, lebendig zu sein, was
+war es dann?
+
+›Unrast‹, sprach es laut in ihm.
+
+Das Wort war da. Er erschrak darüber und suchte die Beweggründe.
+Doch es blieb ihm nur das Wort, so sehr er sich quälte, und wie
+einen körperlichen Schmerz empfand er plötzlich seine völlige
+Lebensunkenntnis.
+
+Er versuchte, an seinen Vater zu denken. Und wieder stand er vor einer
+Mauer. Sein Vater? Ob der überhaupt in seiner Jugend jung gewesen
+war? Zu einer Zeit selbst, in der Knaben aus Schilf und Haselholz
+Flöten schneiden? Nein, das Bild wollte keine Gestalt gewinnen. So
+weit er zurückdachte, er kannte seinen Vater nicht anders als mit
+derselben unveränderlichen, eisernen Miene des Mannes, für den es keine
+Überraschungen gibt, nie gegeben hat.
+
+Was aber ist das Leben ohne Überraschungen? philosophierte der
+junge Grübler. Mich hat es doch überrascht, und ich war noch nie so
+selig. Ist es denn erforderlich, ist es denn von einer willkürlichen
+Altersgrenze abhängig, daß das zu Ende geht?
+
+Er ging erregt im Zimmer auf und ab.
+
+Nein, nein, sagte er sich und suchte sich krampfhaft eine Hoffnung
+zuzuführen, das liegt an uns, das muß an uns liegen. An jedem
+einzelnen, wie er es anpackt, was er einsetzt, ob er den rechten Mut
+hat —.
+
+Und mit einem Male fiel ihm sein nächtliches Abenteuer am
+Schützenfesttage ein.
+
+Er sah den Mann am Gitter des Malkastens auftauchen und sich ohne
+weiteres von dem Fremden mit Beschlag belegt. Der feine, vornehme
+Kopf, die blauen, sieghaften Augen tauchten vor ihm auf. Er hörte
+die spottlustigen Worte in seinem Ohre klingen, die den Perücken
+den Respekt verweigerten. Und dennoch war es keine lustige Person,
+kein Allerweltskerl, der nach dem lachenden Applaus der Menge geizte.
+Das hatte ihm der Respekt gezeigt, der diesem Manne selbst in der
+buntgewürfelten Malerkneipe der Altstadt von Leuten entgegengebracht
+wurde, denen in der Kunst nie ein anderer Name heilig war als der
+eigene.
+
+Herr von Springe ...
+
+Der hatte die Jugend, und er zählte vierzig Jahre. Der würde sie haben,
+und wenn er das doppelte Alter erreicht hätte. Ob er sein Mentor werden
+würde, wenn er ihn bäte? Mit sehnsüchtigem Knabengesicht streckte er
+die Arme aus — —
+
+Im Arbeitszimmer des Vaters suchte er im Adreßbuch die Wohnung.
+»Immermannstraße.« Wenige Minuten später befand er sich auf dem Wege.
+
+Als er das Haus erreicht hatte, wollte ihm der Mut entweichen,
+einzutreten. Er ging einige Male vor der Haustür auf und ab, musterte
+verstohlen die Fenster und überlegte gerade, ob er nicht besser täte,
+den Besuch zu verschieben, als er auch schon mit zusammengebissenen
+Zähnen eine jähe Wendung machte und sich im Hausflur befand. An der
+Korridortür der ersten Etage waren zwei Namenschildchen übereinander
+angebracht: »Friedrich Leopold von Springe.« »Heinrich von Springe.«
+Ohne sich zu besinnen zog Hans Steinherr die Klingel.
+
+Kurz darauf ertönte ein kurzer, fester Schritt. Die Tür wurde geöffnet,
+und ein sehniger alter Herr mit kurzgehaltenem, schneeweißem Haar und
+aufgebürstetem, schneeweißem Schnurrbärtchen stand vor ihm.
+
+»Womit kann ich dienen?« fragte er und musterte mit seinen klaren Augen
+den Jüngling.
+
+»Ich möchte zu Herrn von Springe.«
+
+»Bin ich selber. Oder wünschen Sie die jüngere Auflage? Die ist auch zu
+haben. Bitte nur hereinzuspazieren.«
+
+Hans folgte dankend der Aufforderung. Der alte Herr in grauem Gehrock
+und weißer Weste war ihm sofort bekannt erschienen. Er hatte ihn zu
+Hunderten von Malen auf den Promenaden gesehen.
+
+»Heinrich,« rief der alte Herr und pochte an eine Türe, »Besuch für
+dich, mein Sohn.«
+
+»Eintreten!«
+
+Hans trat ein. Er stand in einem hohen, weiten Atelierraum und wagte
+kaum zu atmen. Eine gediegene Pracht strömte auf ihn ein, nirgendwo
+Überladung, aber jedes Stück unzweifelhaft echt und von erlesener Form,
+Möbel, Teppiche, Gobelins, Lampen und Leuchter, Vasen und Bronzen. Von
+den an den Wänden aufgestapelten Bildern waren einige zu übersehen:
+die rotglühende Campagna, der Triumphbogen des Titus, eine südliche
+Felsenlandschaft mit heranrollender See. Auf einer Staffelei stand ein
+Bild, an dem der Maler arbeitete: ein schweigender Park in purpurnen,
+braunen und gelben Tinten, die Sinfonie des in Schönheit sterbenden
+Herbstes.
+
+Heinrich von Springe wandte sich nach seinem Besucher um. Er erkannte
+ihn wohl nicht gleich, denn er kniff einen Augenblick das linke Auge
+ein und überlegte.
+
+»Aha,« machte er dann, »mein junger Freund, der Dichter.«
+
+»O, nicht doch —«
+
+»Nicht? Mir war doch so? Oder wollten Sie gar Anstreicher werden
+wie ich? Übrigens war das früher eine schöne Sitte, daß man den Gast
+nicht ausfragte, sondern sich einfach der Ehre seines Besuches freute.
+Gestatten Sie mir, ebenso zu verfahren.«
+
+Er legte Pinsel und Palette beiseite, rieb sich die Hände an einem
+seidenen Tuch und begrüßte den jungen Mann mit kräftigem Handschlag.
+
+»Schön, daß Sie Wort halten. Machen Sie es sich bequem und strecken Sie
+die Beine, so weit Sie wollen. Burg Springe ist stolz darauf, Sie in
+ihren Mauern zu beherbergen.«
+
+Er nahm ihm den Hut aus der Hand und drückte den Gast in einen tiefen
+Ledersessel.
+
+»Zigarette gefällig? Bitte, bitte, es ist mir eine Freude, Sie mit
+Feuer zu bedienen.«
+
+Nachdem auch er sich eine Zigarette angezündet hatte, nahm er dem
+Besucher gegenüber Platz, blies mit schweigendem Behagen ein paar
+Rauchringel in die Luft und meinte: »’n ja.«
+
+Hans rührte sich nicht. Er fühlte sich unsagbar wohl in dem tiefen,
+kühlen Lehnstuhl, in dem seine schlanke Gestalt fast verschwand,
+umgeben von Schätzen der Kunst und in Gesellschaft eines sicherlich
+hervorragenden Mannes, der ihn, den Unfertigen, Unbewährten, wie einen
+Gleichgestellten behandelte. Es hätte ihn nicht weiter gestört, wenn
+die Unterhaltung mit diesem einzigen »’n ja« beendet gewesen wäre. Nur
+hier bleiben dürfen. Sonst wünschte er nichts vom Augenblick.
+
+Der Maler betrachtete ihn lächelnd. Er spürte den Überschwang heraus,
+dem sich der hübsche Junge da hingab, und es gefiel ihm.
+
+»Ist Ihnen der Schützensonntag gut bekommen? Hoffentlich haben Sie
+wegen der späten Sitzung keine Unannehmlichkeiten zu Hause gehabt?«
+
+»Sie sind sehr freundlich, Herr von Springe. Als ich am nächsten Tage
+meinen Eltern von Ihnen erzählte, kam ich ohne Tadel weg. Ich war ja
+noch so begeistert.«
+
+»Sie junge Schwarmseele. — Man fand also nichts zu erinnern?«
+
+»O nein, kein Wort. Es wurde auch sogleich von Tisch aufgestanden.«
+
+»So, so. Man stand sogleich von Tisch auf .... Gut. Reden wir von etwas
+anderem. Sagen Sie mal, junger Freund, ich war an dem Abend wohl etwas
+unparlamentarisch. Oder ziehen Sie das klare, deutsche Wort ›ruppig‹
+vor? Nur heraus mit der Sprache, ich kann’s vertragen.«
+
+»Sie beschämen mich, Herr von Springe. Es war doch ein so wundervoller
+Abend.«
+
+»Ja, ja,« sagte Springe und stäubte mit dem kleinen Finger die Asche
+von seiner Zigarette, »ich entsinne mich. Ich hatte mich im Malkasten
+erbost, über eine Mitteilung, über einen Kumpan, der umgefallen war.«
+
+»Umgefallen?«
+
+»Ach so, das verstehen Sie nicht. Ich meine: der ›aus Gründen‹ eine
+Reverenz vor den Perücken gemacht hatte. Glauben Sie mir, man soll nie
+etwas aus Gründen tun.«
+
+»Pardon, jetzt versteh’ ich wirklich nicht.«
+
+»Na ja, es klingt paradox. Aber wenn der Mensch schon Gründe
+herbeiholen muß, fährt seine Ursprünglichkeit zum Teufel. So tun,
+so leben, weil man nicht anders kann, weil einen der Geist, die
+Stimmung, der Herzschlag ~so~ treibt und nicht anders, das ist das
+einzig Richtige, das einzig Menschenwürdige und nebenbei auch das
+einzig Vergnügliche im Leben. Und auf das Letzte kommt es nicht zuletzt
+an. Oder man spielt sich selbst die abgeschmackteste Komödie vor. Aus
+Gründen!«
+
+»Ich verstehe Sie,« sagte Hans, und es war ihm ganz feierlich zu Mute.
+
+Der andere bemerkte es und wechselte den Ton.
+
+»Fidel, fidel!« rief er und schlug ihn leicht aufs Knie. »Als ich Sie
+vor dem Malkasten sah, Einlaß begehrend, junger Freund, fuhr es mir
+durch den Kopf: diese junge Künstlerseele schnappst du denen da drinnen
+weg. Und nachher hatte ich die Ehre mit einem Herrn aus Oberprima.«
+
+»O, bitte, machen Sie sich nur über mich lustig. Vertreiben werden Sie
+mich deshalb doch nicht.«
+
+»Sieh mal an,« meinte der Maler gedehnt. Dann stand er langsam auf,
+strich seinem Gegenüber freundlich über das Haar und ging quer durch
+das Zimmer zu einer Glastür, die zu einer Veranda führte. Er öffnete
+sie und schaute hinaus.
+
+»Was der Bengel für eine zärtliche Stimme hat,« murmelte er. »Wie einst
+die kleine Margot. Und die hat getäuscht.«
+
+Er kam zurück und blieb vor dem Ledersessel stehen. Der junge Mann
+verspürte eine leichte Unruhe, als er den prüfenden Blick auf sich
+gerichtet fühlte. Er wollte sich erheben und fragte unsicher: »Habe ich
+vielleicht etwas Inkorrektes gesagt, Herr von Springe?«
+
+Springe drückte ihn in den Sessel zurück.
+
+»Inkorrektes? — Bleiben Sie ruhig sitzen, Kleiner. — Inkorrektes?
+Herrgott, sagen Sie so viel Inkorrektes, wie Sie wollen. Das wird mir
+mehr Spaß machen als die tadellosesten Erziehungsproben. Geben Sie
+sich, wie ~Sie~ sind, nicht wie andere sind. Allons!«
+
+»Dann,« sagte Hans und nahm einen mutigen Anlauf, »möchte ich Ihre
+Bilder sehen.«
+
+»So!« meinte der Maler mit lachender Selbstironie. »Wenn das inkorrekt
+sein soll — schmeichelhaft für mich ist das ja gerade nicht. Aber ich
+werde meiner Lebensweisheit nicht untreu werden. Kommen Sie, verehrter
+Kunstkritiker.«
+
+Er führte den jungen Mann, der mit hochrotem Kopf eine Erwiderung
+stammeln wollte, aber keine fand, im Atelier umher. Zu jedem Bilde, das
+er auf die Staffelei hob und in die richtige Beleuchtung rückte, gab er
+eine kurze Erklärung. »Gemalt in der Campagna, gemalt in Rom, gemalt
+an der sizilianischen Küste, gemalt im Park zu Versailles, wenigstens
+in der Studie; das übrige müssen Ihnen die Bilder sagen, oder es ist
+schade um die schöne Leinwand.«
+
+Hans gab keine Antwort. Er trat vor die Bilder hin und versenkte
+sich in ihre Sprache. Und ihm war, als ob es nicht die Sprache der
+Landschaften wäre, die aus den seltsam packenden Gemälden redete, als
+ob er die Sprache einer Menschenseele vernähme, die sich hier, fern dem
+lauten Marktgetriebe, zum Beten gefunden hätte. Wie konnte ein Mensch
+so tief empfinden, wie seine Empfindungen so leidenschaftlich zum
+Ausdruck bringen! Ein Mensch, der so spottlustig durchs Leben schritt,
+wie Herr von Springe!
+
+»Wie viel heimliche Liebe müssen Sie in sich tragen,« sagte er leise.
+»So kann nur ein Glücklicher malen.«
+
+Springe legte ihm den Arm um die Schulter.
+
+»Heimliche Liebe? Menschlein, Sie sind eine Poetennatur. Aber werden
+Sie erst älter, dann reden wir auch vom Glück. O, Sie süße Einfalt, als
+ob Liebe und Glück dasselbe wäre.«
+
+»Ist es das nicht?« fragte Hans verwirrt.
+
+»Doch, doch. Beruhigen Sie sich. Sie brauchen Ihre Erstlingsgedichte
+deshalb nicht gleich ins Feuer zu werfen. Aber wenn Sie eines Tages,
+was Gott verhüten möge, an einer Frau irre werden, die Sie geliebt
+haben, dann wundern Sie sich nicht, sofern Sie ein Künstler sind,
+daß Ihre Kunst tausendmal reicher wird. Das ist wie mit einem wilden
+Rosenstrauch, der aus den Schutthaufen verfallender Burgen seine
+prangendsten Blütenzweige treibt. Das Entgelt, das der Himmel zahlt.
+Für jeden Blutstropfen eine Doppelkrone. He, paßt Ihnen das nicht?«
+
+»Ich möchte doch lieber —«
+
+»Ihr Blut behalten? O ja, dafür gibt’s auch ein Rezept. Auf alles
+pfeifen, sobald man es richtig abtaxiert hat, und nicht heulen, wenn
+man herausfand, daß das hübsche Ding nur einen Groschenwert besaß. Das
+hält merkwürdig jung; und jung sein, das heißt lieben. Punktum, streu
+Sand drum.«
+
+»Darf ich Sie noch etwas fragen?« bat der junge Schüler zögernd.
+
+»Liebster, ich bin nicht allwissend. Sein Bündelchen Weisheit muß jeder
+vom Leben selber kaufen.«
+
+»Nur eins noch, bitte. Halten Sie — halten Sie viele Frauen für
+Groschenware?«
+
+»Kommen Sie doch mal ans Fenster,« sagte Springe nach einer Pause, »ich
+möchte Ihnen gern einmal in die Augen sehen. Also Sie sind bereits
+verliebt —.«
+
+»Nein, nein, nein,« wehrte der Errötende halb unverständlich ab.
+
+»Aha,« machte der Maler ironisch, »der Kampf der guten Erziehung mit
+der Stimme der Natur. Die Hauptsache ist, nicht feige sein.«
+
+»Ich bin nicht feige, ich schwör’ es Ihnen. Ich bin nur unwissend. Die
+Damen, die ich in Mamas Salon kennen lernte —«
+
+»Keine Beichte,« sagte Springe und strich ihm mit der Hand über das
+erhitzte Gesicht. »Und was die Groschenware betrifft, mein lieber,
+dummer Junge: Hüten Sie sich stets im Leben vor den Frauen, die
+Gefallsucht mit Liebe, und Sinnlichkeit mit Leidenschaft verwechseln.
+Das ist ganz verdammtes Kroppzeug aus dem Ramschbazar. Und nun hören
+Sie mal, Verehrungswürdiger, wenn Sie etwa vorhaben, hier auf Burg
+Springe sentimental zu werden, so werfe ich Sie samt Ihrer Kontrebande
+hinaus. Hausrecht! Verstanden?«
+
+Er trat auf die Veranda hinaus, die von Weinlaub dicht überwuchert war.
+Die Hände auf die Brüstung gestützt, schaute er in die Luft, in die
+sich das erste Dämmer mischte. Nach einer Weile wandte er sich wieder
+um. Aus seinen Augen lachte die sieghafte Fröhlichkeit.
+
+»Sehen Sie sich mal diesen Winkel an, Kleiner! Weinlaub oben, Weinlaub
+unten und Weinlaub von allen Seiten. Schreit das nicht förmlich nach
+einer Bowle? Und nachher kommt der Mondschein und setzt silberne
+Lichter auf den goldenen Wein. Und man schlürft lauter Schätze in sich
+hinein. Ah, das Zechen ist nicht die geringste Kunst. Menschen, die
+nicht zechen, sind mir verhaßt wie die Leisetreter, denn sie haben
+Angst, sich zu begeistern. Wir aber —« er unterbrach sich. »Na, wir
+wollen das doch lieber durch die ~Tat~ beweisen.«
+
+Er ging zur Tür und rief in den Korridor hinaus: »Herr Friedrich
+Leopold, Burggeist, Kellermeister, erscheine! Mr wolle en Böwlchen
+drinke.«
+
+Aus dem Nebenzimmer kam schmunzelnd der alte Herr.
+
+»Die Botschaft hör’ ich wohl, allein — apropos, würdest du mich mit
+deinem Gast bekannt machen?«
+
+»Herr Hans Steinherr. — Mein Vater.«
+
+»Steinherr?« wiederholte der alte Herr. »Hm, ja — — der Name ist mir ja
+nicht ganz unbekannt.«
+
+»Hans Steinherr, wohnhaft Grafenberger Chaussee, seines Zeichens
+Oberprimaner, in Zukunft ein großer oder ein kleiner Mann, wie’s
+fällt, in der Gegenwart aber mein Freund, mein jüngster Freund. Dieser
+Steckbrief, du lebensweiser Vater, wird deiner Menschenwürdigung
+genügen. Daraufhin schau dir das Objekt einmal genauer an.«
+
+»Da mein Sohn und ich Freunde sind,« sagte der alte, stramme Herr und
+schüttelte dem jungen Manne die Hand, »so sind seine Freunde meine
+Freunde. Also das wollen wir feiern. Das wäre jetzt die Hauptsache.«
+
+»Hören Sie nicht hin, was dieses leichtfertige Alter spricht!« lachte
+der Maler. »Seine Lebensweisheit ist vom Weine abhängig, echt und
+unverfälscht rheinländisch. Wenn die Bowle winkt, sind alle Menschen
+Brüder.«
+
+»Mein Sohn übertreibt schamlos,« widersprach der alte Herr würdig. »Er
+war’s, der nach der Bowle rief, ich aber war’s, der eintrat, um ruhig
+und sachlich zu zitieren: Die Botschaft hör’ ich wohl, allein —«
+
+»Allein —?« wiederholte Springe junior.
+
+»Allein mir fehlt der Wein,« vollendete Springe senior und zuckte
+bedauernd die Achseln.
+
+Die beiden Springes sahen sich in die Augen.
+
+»Behüter meiner zarten Jugend,« sagte der Junge endlich, »du gibst mir
+ein schlechtes Beispiel.«
+
+»Mein Sohn,« sagte der Alte, »ich habe dich bislang nur den Weg zur
+Tugend geführt. Schlechter Wein aber, oder sogar gar kein Wein, das ist
+keine Tugend.«
+
+»Die Weisheit deiner Jahre,« erwiderte der Junge, »ist
+bewunderungswürdig, und ich beuge mich voller Respekt. Aber ich
+argwöhne,« und er trat dicht vor ihn hin, »du hast die Tugend wieder
+einmal allein ausgeübt. Herr Friedrich Leopold von Springe, ich habe
+Sie im ernstlichen Verdacht, heimlich zu schnäpsen. Das ist Egoismus,
+mein Vater. Mit solchen Grundsätzen wird man nicht alt!«
+
+Das Gesicht des siebzigjährigen, frischen Herrn wetterleuchtete vor
+Vergnügen.
+
+»Heinrich,« sagte er, »wie würde ich meine Jugend so leichtsinnig
+aufs Spiel setzen. Außerdem: zur Liebe und zum Zechen genügt nie ein
+Menschenkind allein. Lerne das von deinem alten Vater.«
+
+»Also liebst du mich nicht mehr,« seufzte der Maler, »denn du nimmst
+mir die Gelegenheit, mit dir zu zechen.«
+
+»Es ist nicht meine Schuld,« verteidigte sich der alte Herr. »Ich
+war heute morgen persönlich bei Scheufgen, um einen ganz exquisiten
+kleinen, aber spritzigen Mosel zu bestellen. Und heute nach Tisch kommt
+so ein gallonierter Schuft und schleppt einen ganzen Korb Niersteiner
+an. Ich hab’ ihm nicht schlecht den Kopf gewaschen. ›Rheinwein? Mosel
+will ich!‹ hab’ ich ihn angedonnert, ›zum Teufel, ich bin doch ein
+Rheinländer!‹ Und was glaubst du? Der unverschämte Bursche packt
+seelenruhig seinen Korb aus und sagt schnippisch, ›die gnädige Frau
+habe das nun einmal so angeordnet‹. Die ›gnädige Frau‹! Die dicke
+Scheufgen! Na, da wurd’s selbst mir zu viel. Ich habe den arroganten
+Bengel kurz beim Schlafitchen genommen und ihn samt seinem Niersteiner
+vor die Tür befördert. ›Die gnädige Frau,‹ hab’ ich ihn angeblasen,
+›soll nächstens ihre Ohren besser aufsperren, oder ich such’ mir ein
+besseres Haus! Bestellen Sie das Ihrer Gnädigen!‹« Der alte Herr fuhr
+sich mit seinem rotseidenen Taschentuch über die Stirn. »Auf diese
+Weise, mein Sohn, wären wir nun ohne Wein.«
+
+Heinrich von Springe hatte mit merkwürdig interessierten Augen
+zugehört. Er ergriff die Hand des Vaters und schüttelte sie lange und
+kräftig.
+
+»Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Papa.«
+
+»Nicht wahr?« meinte der alte Herr; aber er fragte etwas kleinlaut,
+denn die Herzlichkeit des Dankes schien ihm nicht ganz im Einklang mit
+dem kleinen Vorkommnis zu stehen.
+
+»Selbstverständlich. Man darf sich nur nichts gefallen lassen. Dieses
+Volk möchte einem immer seinen schlechten Geschmack aufdrängen.
+Freilich, daß es unbedingt Mosel sein müßte —«
+
+»Aber ich hab’ ihn der alten Tante doch deutlich genug bezeichnet.«
+
+»Nee, Alterchen, bezeichnet hast du ihn nicht, und das mit der alten
+Tante stimmt auch nicht. Im Gegenteil: eine höchst scharmante Frau.
+Als sie gestern bei mir im Atelier war, um den Herbstzauber auf der
+Staffelei zu besichtigen, den sie, nebenbei gesagt, kaufen will —«
+
+»Was,« rief der alte Herr und riß die blanken Augen auf, »die Scheufgen
+will Bilder kaufen?«
+
+»Nein, lieber Papa,« sagte der Maler freundlich, »die Frau Präsident
+von Tondern. Als sie den ›Herbst‹ sah, meinte sie, da ich die Studien
+dazu im letzten Jahre gemalt hätte, müßte ich auch den Wein dieses
+gottgesegneten Jahrganges kennen lernen. Er sei zwar noch jung, aber
+schon gehaltvoll. Die Leute haben nämlich große Weingüter. Und heute
+schickt sie den Niersteiner. Brav, mein Vater, daß du das Unglück
+abgewendet hast. Dieser Umgang verdirbt unsere einfachen Sitten.«
+
+Die Kinnlade des alten Herrn war mit einem Ruck nach unten gegangen,
+der Mund stand auf, und die Augen hatten den Ausdruck eines erstaunten
+Vogels. Er tastete mit der einen Hand nach der Hand des Sohnes, während
+die andere das Taschentuch an die Augen führte. Das Antlitz abgewandt,
+verhüllte mit der freien Hand auch der Maler sein Gesicht. So standen
+sie lange, und ein Schweigen entstand, das für den unbeteiligten Gast
+doppelt peinlich war. Dann ging ein Zittern durch ihre Körper, ihre
+Schultern begannen zu zucken, immer heftiger machte sich das Toben der
+Gefühle bei Vater und Sohn bemerkbar — und plötzlich lagen sie sich in
+den Armen und lachten und lachten, daß es die Wände zu sprengen drohte.
+Ob die Affäre unliebsame Folgen haben könnte, daran dachte weder das
+Kind von Vater noch das Kind von Sohn. Selbst Hans wurde angesteckt,
+und er schmetterte sein jugendhelles Lachen in das Duett der beiden
+sonnigen Menschen. Burg Springe beherbergte drei wahrhaft Glückliche ...
+
+Draußen wurde an der Klingel gerissen.
+
+»Besuch,« sagte der alte Herr und wischte sich die tränenden Augen.
+»Den können wir brauchen.«
+
+Er ging selbst, um zu öffnen. Nach einer Weile steckte er den Kopf
+durch den Türspalt.
+
+»Diesmal,« verkündigte er, »ist es der richtige Scheufgen! Ich werde
+die Bowle gleich auf Eis stellen. Zweitens habe ich Herrn Professor
+Schack anzumelden. Er scheint mir ebenso reparatur- wie bowlebedürftig.«
+
+»Schack?« fragte der Maler schnell zurück. »I was! Herein mit Seiner
+professoralen Gnaden.«
+
+Hastig und aufgeregt trat ein Mann von einigen dreißig Jahren ins
+Atelier. Sein Gesicht war blaß, aber ausdrucksvoll und intelligent.
+Seine unruhigen Augen bekundeten eine starke Nervosität.
+
+»Guten Abend, Springe. Kann ich dich sprechen oder stör’ ich? Ah,
+Verzeihung, ich sehe, du hast Besuch.«
+
+»Guten Abend, Schack. Pardon, Pardon, man muß wohl jetzt Professor
+sagen. Ja, wenn dir hier die Luft nicht zu revolutionär ist? So ein
+frischgebackenes Professorenwesen hat das im Geruch wie eine Hofdame
+den Sozialdemokraten. Herr Steinherr — Herr ~Professor~ Schack.«
+
+Der Neuhinzugekommene erwiderte die Verbeugung des jungen Mannes
+zerstreut.
+
+»O,« sagte er hitzig, »ich kann auch wieder gehen. Ich dachte nur,
+ein Mensch deines Genres würde ein Verständnis für die Gründe haben,
+derentwegen ich die Stellung an der Akademie übernahm.«
+
+»Lieber Schack, ich habe schon als kleiner Junge nicht für die
+Geschichten geschwärmt, denen im Lesebuch eine Moral in Vers oder Prosa
+angehängt war. Wenn die Geschichte nicht für sich spricht, helfen alle
+Begründungen nichts. Wenigstens bei mir nicht. Du bist umgefallen. Was
+mich aber nicht hindert, mit dir als Menschen einen Becher zu leeren.
+In deinem Interesse schlage ich vor: Wir wollen auf die Terrasse gehen.
+Dort ist selbst für einen Akademieprofessor eine Luft, die sich neutral
+und höchst gebührlich aufführt. =Avanti, signore=.«
+
+Springe schob den aufgeregten Kollegen vor sich her und winkte Hans
+freundlich zu, ihnen zu folgen. Das letzte verlorene Sonnengeflimmer
+zitterte durch das Weinlaub und malte weiße Kringel auf den Tisch. Die
+Herren saßen in ihren Stühlen und sahen dem Spiele zu. Irgendwo in der
+Nachbarschaft wurde ein Klavier bearbeitet, und ein jugendlicher Chor
+intonierte das Rheinlied:
+
+ »Nur am Rhein, da will ich leben,
+ Nur am Rhein geboren sein — — —«
+
+Der Chor klang rauh und ungeschult, aber das verschlug den Sängern
+nichts. Die mangelnde Schönheit wurde durch Lungenkraft und
+Begeisterung hinlänglich ersetzt. Mitten in das Rheinlied hinein ließ
+ein Sohn der roten Erde trutzig das Westfalenlied ertönen:
+
+ »Du Land, wo meine Wiege stand,
+ O grüß dich Gott, Westfalenland!«
+
+Eine Pause entstand. Dann sangen die lustigen Brüder einträchtig
+miteinander:
+
+ »Der Herr Pappenheimer, der soll leben,
+ Der Herr Pappenheimer lebe hoch!
+ Beim Bier und beim Wein
+ Lust’ge Pappenheimer woll’n wir sein ...«
+
+»Das sind die Balduren,« nickte Springe, »goldenes, unverschämtes
+Künstlerblut. Die Kerle sind unverkennbar an ihren schrecklichen
+Stimmen. Aber sie haben den Teufel im Leib und fürchten sich nicht vor
+Gott und der Welt. Darum lieb’ ich sie!«
+
+»Jawohl,« knurrte der Professor, »nur vor der Malerei fürchten sie
+sich.«
+
+»Ach du lieber Himmel, wer am bravsten im Taglohn malt, ist deshalb
+nicht der größte Künstler.«
+
+»Soll das etwa auf mich gehen?« fuhr Professor Schack empor.
+
+»Dort naht der versöhnliche Geist Herrn Friedrich Leopolds mit
+dem Abendimbiß. Ich beanspruche einen Waffenstillstand zur
+Provianteinnahme.«
+
+Der alte Herr von Springe machte dem Geplänkel ein Ende. Mit der
+Zuvorkommenheit eines alten Ritters spielte er den Wirt, nötigte zum
+Zulangen und kredenzte in Gläsern verschiedener Formen und Farben den
+Wein. Als die Dunkelheit hereinbrach, entzündete er eine Ampel, die
+wie ein satter Rubin aus dem grünen Weinlaub über der Terrasse lugte,
+und holte eigenhändig die kristallene Bowlenschale. Man saß zu viert,
+feierlich, und kostete.
+
+»Ah!« machte Schack und tat einen leisen Schnalzer.
+
+»Das schmeckt wie flüssige Jugend,« bemerkte der alte Herr. »Davon kann
+man nie genug bekommen. Bitte auszutrinken.«
+
+Man trank und plauderte. Von der Kunst wurde kein Wort gesprochen. Nach
+dem vierten Glas aber wurde Professor Schack melancholisch.
+
+»Lieber Springe,« sagte er und blickte finster in das schwimmende Gold
+seines Glases, »ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.«
+
+»Lieber Schack,« entgegnete der andere, »das ist der große Irrtum.
+Du bist nur dir allein Rechenschaft schuldig. Geht die Rechnung auf,
+umso besser für dich. Stolperst du über einen Fehler, so mußt du ihn
+korrigieren. Lediglich deinetwegen. Das ist’s.«
+
+»Ich weiß, worauf du hinzielst,« versetzte der junge Professor, »und
+ich will mich auch nicht entschuldigen. Aber menschlich verständlich
+will ich mich dir machen. Seit dem Tage, an dem ich dir im Malkasten
+mitteilte, daß ich zum Professor an der Akademie ernannt sei, meidest
+du mich. Du behauptest, ich wäre umgefallen, ich hätte — ja, ich
+hätte die Sünde wider den heiligen Geist begangen, weil ich meine
+individuelle Art des lieben Amtes wegen nach dem Akademiezopf regeln
+würde, langsam, aber sicher. Abgesehen davon, daß doch auch im anderen
+Lager Männer stehen —«
+
+»Entschuldige,« sagte Springe, »du willst da gerade einem landläufigen
+Irrtum Worte verleihen. Ich kenne kein anderes Lager, ich kenne nur
+Künstler! Ob sie auf die sogenannte alte oder auf die sogenannte
+neue Manier malen, das ist mir ganz egal. Die Hauptsache ist mir,
+ob sie die schöne Illusion erzielen. ~Wie~ sie das machen, ist mir
+Nebensache. Die Individualität ist die Hauptsache. Ein Gott läßt sich
+nicht in spanische Stiefel schnüren, oder es wird ein Götze. Ein
+Ölgötze in unserem Falle. Und obwohl du weißt, daß auf der Akademie
+augenblicklich mit Nachdruck schablonisiert wird, gehst du hin und
+wirst Helfershelfer.«
+
+Schack sah düster vor sich hin. Dann griff er nach seinem Glase, trank
+es aus und setzte sich aufrecht.
+
+»Du hast eins vergessen. Der heilige Geist, gegen den man sündigen
+kann, besteht nicht allein in der Kunst. Er ist hier, da und dort. Er
+ist überhaupt der reine Kautschukbegriff. Jeder arme Teufel legt ihn
+sich auf seine Art aus. Schwärmer behaupten, er sei die Liebe.« Er
+stand auf. »Auf die Gefahr hin: ich bin ein Schwärmer.«
+
+»Schack, alter Kamerad ...« Springe hatte sich schnell erhoben und den
+Aufgeregten sanft in den Sessel niedergedrückt. »Ich hatte ja keine
+Ahnung. Was ist denn los?«
+
+»Siehst du,« begann der Akademieprofessor, »ich habe gemalt, was das
+Zeug hielt. Nicht oberflächlich, das weißt du. Ich habe, um mich
+deines Ausdrucks zu bedienen, den Gott in mir wahrhaftig nicht in
+spanische Stiefel geschnürt. Ich wurde verlästert, verhöhnt, als
+Tempelschänder gebrandmarkt. Ich arbeitete fort. Als die Schreier
+meine Entschlossenheit sahen, verliefen sie sich allmählich. Auch die
+Kritik wagte sich jetzt hervor. Man nannte mich in den Zeitungen eine
+interessante Erscheinung. Aber Bilder kaufen — das war nicht. Ich
+war von den Perücken, die im lieben Düsseldorf einmal die Papstgewalt
+haben, nicht approbiert. Unterdes wurde ich achtunddreißig. Und mein
+Mädchen wurde auch nicht jünger. Springe,« fuhr er fort und griff nach
+der Hand des Freundes, »das — das ist das Schrecklichste. Sehen, wie
+die Jugend schwindet. An der Liebsten es sehen. An den kleinen Fältchen
+der getäuschten Sehnsucht, den schmalen Wangen, die die heimliche Angst
+blaß färbt, dem ergebungsvollen Blick der Entsagung. Springe, du hast
+nicht geliebt, sonst wüßtest du, daß man in solchen Augenblicken sein
+künstlerisches Gewissen für eine Handvoll Haselnüsse verkauft, daß
+man seine Individualität hinschmeißt wie einen alten Handschuh, daß
+man zu allem, aber auch zu allem bereit ist, um nur nicht hinsterben
+zu müssen, ohne die Jugend der Liebsten und damit die eigene gerettet
+zu haben. Ruft allesamt, ich sei umgefallen. Ich weiß das besser.
+Ich zahl’ der Welt mit gleicher Münze, und inzwischen küsse ich im
+Blumengarten meines stillen Mädels alle blassen Rosen wieder rot. Erst
+kommen wir selber!«
+
+Es war einen Augenblick still geworden auf der Terrasse.
+
+»Und du,« brach Springe das Schweigen, »willst deine Individualität
+hingeschmissen haben? Ich habe dich falsch beurteilt, denn du hast mir
+nie von deiner Freundin erzählt. Vielleicht,« fügte er lächelnd hinzu,
+»weil du mir kein Verständnis für die Liebe zutrautest. Aber,« er wurde
+wieder ernst, »dem geliebten Weib gehört nicht nur die Kunst, ihm
+gehört das Leben zuallererst. Jetzt habe ich keine Angst mehr um dich.
+Schack, deine Liebe soll leben.« — —
+
+Den alten Herrn und den jungen Gast hatten die beiden Maler gänzlich
+vergessen. Jetzt erhob sich der alte Herr und klingelte an sein Glas.
+
+»Liebe Freunde,« begann er, »ich möchte zu diesem Thema auch ein
+Wörtlein sagen. Freund Schack hat soeben die Angst vor dem Altwerden
+bekundet. Nun, er hat ja auch das Arkanum dagegen gefunden. Aber
+wenn das Arkanum auf die Dauer Wirkung haben soll, müssen Sie alle
+selbst das Beste dazu tun. Ich bin siebzig Jahre. Wie? Bin ich nicht
+ein Jüngling? Sind Sie der Meinung, daß ich je im Leben alt werden
+könne? Wollen Sie das Geheimnis wissen? Nun, es ist einfach. Werden
+Sie nie im Leben blasiert! Versuchen Sie auch nie, über das Leben zu
+philosophieren. Sie behalten jedesmal unrecht und haben eine Menge
+Zeit vertrödelt. Das Alpha und Omega dieses Daseins ist, zu wissen:
+~daß~ man lebt. Und es lohnt sich — glauben Sie das meiner langjährigen
+Erfahrung — am besten, daß man für diese kurze Erdenspanne so lacht und
+liebt, singt und trinkt, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Klappt
+einmal der Sargdeckel zu, und man entsinnt sich just in dieser Sekunde
+einer Seligkeit, die man abgewehrt hat, kriegt man noch im Grabe die
+Gelbsucht, und die schadet dem Teint. Ich meine natürlich den Teint der
+Erinnerung. Meine Freunde, es prangt und duftet die Sommernacht, und
+die Bowle nicht minder. Die Philister liegen in der Klappe und zetern
+über unsere Untugend. Die Tugend aber ist das Leben; mit ihm hört auch
+die schönste auf. Und diese Tugend wollen wir auf das kräftigste
+ausüben. Dann sind wir die Herren dieser Welt, dann sind wir die ewige
+Jugend. Bange machen gilt nicht. Prosit!«
+
+Der Akademieprofessor fiel dem alten Herrn schluchzend um den Hals.
+Die Erregtheit der letzten Stunden, die rasch getrunkene Bowle, die
+wunderbare Sommernachtstimmung und die prächtigen Menschen um ihn her —
+er konnte nicht anders, er bekam es mit der Rührung.
+
+Hans Steinherr hatte mäuschenstill dagesessen. Es war ihm heiß und
+kalt geworden, er hätte, ganz gegen die ihm anerzogenen Gewohnheiten,
+schreien und singen mögen, und plötzlich sprang auch er auf und fragte
+an, ob er ein Gedichtchen deklamieren dürfte, das ihm heute eingefallen
+sei.
+
+»Silentium! Silentium für den Dichter!«
+
+Und mit vor Erregung zitternder Stimme sprach der Jüngste des Kreises:
+
+ »Was nutzt der Kuß auf deinen Mund,
+ Wenn nicht dein Herz erglommen?
+ Tut sich der Lenz dem Blut nicht kund,
+ Was soll der Name frommen?
+
+ Und sehnst du dich, daß dir die Kunst
+ Entschleiert sich soll zeigen:
+ Lern fühlen nur mit inn’ger Brunst
+ Und laß die Lippe schweigen.
+
+ Gott ist im Sturm, im Frühlingswind
+ Und in der Früchte Samen.
+ Das Glück, du grübelnd Menschenkind,
+ Du bannst es nie mit Namen.
+
+ Tu auf das Herz zur Feierstund’,
+ Bekränze still die Pforte.
+ Dann regt sich’s auf der Seele Grund
+ Wie seltne Bibelworte.
+
+ Und ob dein Mund der lauten Welt
+ Ihr Wesen nie verkündet:
+ Wenn nur dein Herz die Zwiesprach hält,
+ So hast du es ergründet.
+
+ Das tiefste Glück, das du dir schufst,
+ Blieb immer ungesprochen.
+ Und wenn du es bei Namen rufst,
+ Sein Zauber ist gebrochen.«
+
+Blaß bis unter die Haarwurzeln wollte sich Hans setzen. Er war zu Ende.
+Aber Heinrich von Springe war hinter seinen Stuhl getreten und schloß
+den Jungen in seine Arme.
+
+»Hättest du das auch zu Hause, in einer eurer Gesellschaften
+vorgetragen?« fragte er ihn halblaut und sah ihm in die Augen.
+
+»Nein. Dort hätte ich es nie gekonnt. Hier fühl’ ich mich so, so — —«
+
+Springe küßte ihn auf den Mund. Das »Du« behielt er bei. —
+
+Der Akademieprofessor stellte nach einer Stunde fest, daß er den Rest
+seiner Energie für den Nachhauseweg nötig habe. Lachend führten ihn
+Springe und Steinherr die Treppe hinab. Der alte, fröhliche Herr folgte
+mit dem Licht, und er zitierte kräftig aus seinem Lieblingsdichter
+Wilhelm Busch für den Professor einen Abschiedsgruß.
+
+ »Einen Menschen namens Meyer
+ Schubbst’ man vor des Hauses Tor
+ Und man sagt’: Betrunken sei er,
+ Selber kam’s ihm nicht so vor.
+
+=A rivederci, a rivederci=, es lebe die Persönlichkeit!« —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+
+Bei Willibald Hüsgen wurde emsig geprobt. Die Kostüme waren im Laufe
+der Wochen fertig geworden, die Dekorationen von Willibalds Meisterhand
+entworfen und in ziemlich eigenmächtiger Weise auf große Papierrahmen
+gemalt. Der Künstler nannte das kurz: =al fresco=. Mutter Hüsgen
+hatte bereits den Saal herrichten müssen, der während des Semesters
+den Gaudeamusbrüdern zur Kneipe diente, und der Wirt, der »Baas«,
+ließ seinen Stammgästen gegenüber geheimnisvolle Worte fallen, um
+durchsickern zu lassen, was für ein Mordskerl sein Willibald sei, und
+»von der Mutter hätte der Jung’ das nu mal nich«.
+
+Zu Anfang September erklärte der selbstbewußte Arrangeur, daß die
+Vorstellung, wie es im Bühnenjargon heiße, nunmehr »stehe«. Das
+Knochengerüst wäre da, nun gelte es, Fleisch ansetzen. Bei der nächsten
+Probe am Samstag würde er mit der Durchgeistigung der Bilder beginnen.
+
+Hans blickte auf Hannes. Aber das Mädchen lachte nicht zu den
+protzenhaften Worten wie einst, da ihnen auf dem Dachstubenatelier Herr
+Willibald die Eintrichterung der Leidenschaft versprochen hatte. Es
+war seit jenem Tage und mit der Zeit fortschreitend eine so seltsame
+Änderung mit dem jungen Geschöpf vor sich gegangen, daß es der Umgebung
+hätte auffallen müssen, wäre diese egoistische Jugend nicht viel zu
+sehr von sich selbst in Anspruch genommen gewesen. Mechanisch folgte
+sie den Regievorschriften, mechanisch nahm sie ihre Stellungen ein und
+ahmte die Bewegungen nach, so daß der rücksichtslose Haussohn mehr als
+einmal ein Donnerwetter über die verdammte Steifheit der Frauenzimmer
+im allgemeinen und im besonderen über die Häupter der Versammelten
+schickte. Dann färbte sie sich blaß und rot, verharrte regungslos und
+wie im Trotz in ihrer eckigen Haltung, um, sobald die Probe ihr Ende
+erreicht hatte, in einem Temperamentsausbruch sondergleichen durch das
+Zimmer zu tollen.
+
+Hüsgen stand wie versteinert. Aber die Versteinerung wandelte sich bald
+zur wilden Wut.
+
+»Kröte,« schrie er »alberner Aff’, wenn du dir etwa einbildest, mich
+hier zum Narren zu halten, so soll doch gleich — Rausschmeißen werd’
+ich euch, rausschmeißen alle miteinander —!«
+
+»Du hältst sofort den Mund!« fiel ihm Hans Steinherr kategorisch ins
+Wort.
+
+Er war dicht an den Kameraden herangetreten, mit geballten Händen, und
+sah ihm herausfordernd in die Augen.
+
+»Untersteh dich, in diesem Tone fortzufahren. In meiner Gegenwart
+werden keine Damen beleidigt!«
+
+»Damen?« fragte Hüsgen höhnisch. »Du bist wohl jeck? Malchen, lach dich
+kapott, ihr seid ›Damen‹!«
+
+»Wie deine Schwester darüber denkt, muß sie selbst wissen. Aber
+Fräulein Hannes ist hier Gast, und das Gastrecht respektiert man.
+Zumal wenn der Gast dir zuliebe gekommen ist, um so selbstlos wie
+möglich sich für deinen persönlichen Ehrgeiz verwenden zu lassen.«
+
+»Ehrgeiz?« brauste Hüsgen auf. »Bist du übergeschnappt? Ihr versteht
+eben den Teufel von der Kunst!«
+
+»Dann stell deine lebenden Bilder gefälligst allein!«
+
+Einen Augenblick schien es, als sollten die lebenden Bilder wirklich
+lebendig werden. Aber der Geschäftsinstinkt des Wirtssohnes witterte
+noch rechtzeitig die Gefahr. Und knurrend lenkte Hüsgen ein, um sich im
+»Gaudeamus« den Triumph nicht entgehen zu lassen. Während die beiden
+Mädchen in einer Ecke beieinander hockten und Malchen verwundert die
+renitente Freundin anstarrte, versuchte der Akademieaspirant sich in
+der Fensternische vor dem Freunde reinzuwaschen.
+
+»Steinherr,« sagte er eindringlich, »du mußt das doch einsehen. Wir
+Künstler sind geradeaus. Wir legen nun einmal keinen Wert auf das
+Äußerliche, weil wir alles auf das Innerliche konzentrieren. Aber
+unsere Seele — Mensch, unsere Seele — —!«
+
+Hans maß den Redenden von oben bis unten.
+
+»Erzähle mir doch keinen Unsinn, an den du selber nicht glaubst. Der
+Geist macht den Körper, und Rauhbeinigkeit ist noch lange nicht das
+Erkennungszeichen für spartanische Tugend. Übrigens bist du noch gar
+kein Künstler.«
+
+»Was bin ich nicht?« versetzte Hüsgen atemlos.
+
+»Noch kein Künstler. Wenn du’s erst bist, sprichst du nicht mehr so
+viel davon.«
+
+»Ich —? Ich wäre kein —? Nu hört sich aber alles auf. Malchen, Hannes,
+kommt doch mal her! Ihr habt doch, weiß Gott, Verständnis! Malchen,
+du holst auf der Stelle mein Skizzenbuch. Und die Kreidezeichnungen
+bringst du her, die ich von Vatter gemacht hab’ und von Mutter. Im
+Schlafzimmer über dem Bett. Wenn die nich ähnlich sind! Aber laß man.
+Hier stehen doch die Dekorationen zur Francesca. Na? Wie? Ist das
+gemalt oder ist das geschwefelt und geflunkert? Ich kein Künstler! Aber
+der da, der da — Kuckt ihn euch an — das ist einer. Och! Och! Malchen,
+fix, hol mal en Kognak. Vatter is nich am Büfett.« —
+
+Diese Szenen, die sich mit geringen Variationen häufig genug
+wiederholten, waren Hans peinlicher, als er es sich gestehen mochte.
+Nicht seiner selbst wegen. Er merkte, wie der Verkehr im Hüsgenschen
+Wirtshaus sein allzu sensitives Empfinden abhärtete und seine weiche
+Männlichkeit robuster machte. Das war sicher ein Gewinn. Aber das
+Kavaliertum, das ihm im Salon seiner schönen Mama anerzogen worden war,
+ließ zuweilen beschämt die Flügel hängen. Er hätte ganz anders für
+seine kleine Dame eintreten mögen, aber die schien für die feineren
+Unterscheidungen des Verkehrs noch weniger Verständnis zu haben als der
+rüpelhafte Willibald. Mit übertriebener Hast nahm sie stets Partei für
+den triumphierenden Haussohn und blitzte mit ihren dunklen blauen Augen
+ihren Ritter wie einen Lästigen an. Wurden die Proben erneuert, so sah
+man ihr das Unbehagen an, den jungen Mann berühren zu müssen. Steif wie
+eine Gliederpuppe hielt sie die Arme gereckt, und des Regisseurs Zorn
+wurde mit Recht entfacht über diese »niederträchtige Versündigung an
+der Kunst«.
+
+Nachdem Hüsgen eines Tages erklärt hatte, daß sie nunmehr reif wären,
+um sich von Direktor Millowitsch für das Kölner Hänneschen-Theater
+engagieren zu lassen, und er nur noch einen und den allerletzten
+Versuch mit ihnen machen wollte, ordnete er für die nächste
+Zusammenkunft die erste Kostümprobe an.
+
+Willibald Hüsgen hatte einige junge Kunstschüler ins Vertrauen gezogen,
+da er zu dem Prunkbilde, der Hofhaltung der Francesca, eine Anzahl
+Ritter benötigte. Die jungen Leute erschienen, die Hosen über die
+Trikots gezogen, lachend und lärmend im Hause und begannen im Festraum
+ungeniert Toilette zu machen, während Francesca-Hannes und ihre
+Palastdame Malchen in einem Nebenzimmer letzte Hand an ihre Kostüme
+legten.
+
+Hans Steinherr betrachtete mit Verwunderung die Kostüme der Kumpane.
+Tausend Maskenschlachten schienen schon darin geschlagen worden
+zu sein, die Farben waren erblindet und verschossen, die Tuche
+mottenzerfressen und geflickt, und ein Duft ging von ihnen aus, der am
+Hofe der Malatesta kaum statthaft gewesen sein dürfte. Er wagte darüber
+eine Bemerkung an Hüsgen, der von einem wahren Begeisterungstaumel
+erfaßt zu sein schien.
+
+»Was? Blinde Farben? Mottenlöcher? — Ja, Mensch, begreifst du denn
+nicht? Das ist ja gerade das Echte! Himmeldonnerwetter, das ist echt!
+Das riecht man ja geradezu!«
+
+»Leider Gottes,« versetzte Hans und zog die Nasenflügel zusammen. »Aber
+es handelt sich doch nicht darum, was heute echt erscheint, sondern was
+damals echt ~war~. Und du darfst dich darauf verlassen, daß sich die
+Herrschaften damals mindestens so anständig anzogen und auf Sauberkeit
+hielten wie die gute Gesellschaft heute. Das hier aber — das ist doch
+der reine Anachronismus.«
+
+Willibald und die jungen Herren von der Akademie, die sich vor
+Entzücken über die »fabelhafte« Echtheit ihrer Gewandungen nicht
+zu lassen wußten und sich gegenseitig beschauten, betasteten und
+beschnüffelten, sahen sich sprachlos an. Der Horizont verfinsterte sich
+eine Weile. Dann meinte ein langer Akademiker wegwerfend: »Laßt den
+Kerl doch laufen, der hat ja keine Ahnung von echt!«
+
+Hans trat zurück. Er wollte heute keinen Streit; auch machten ihn die
+sonderbaren Käuze lachen.
+
+Das stilgerechte Kostüm aus purpurnem Samt, das sich eng an seinen
+schlanken Leib schmiegte, gab ihm ein fremdartiges Aussehen, und
+der feine Kopf mit dem braunen Haar erinnerte in der Tat an einen
+alten, seltenen Stich. Die purpurne Kappe mit den silberschillernden
+Reiherfedern saß fest im Gelock. Die Hände falteten sich über dem Griff
+des Degens.
+
+Hüsgen ließ die Stellungen einnehmen. Die jungen Akademiker
+fanden sich überraschend schnell in die Situation und bildeten in
+ritterlicher Attitüde den Hofstaat und die fremden Gesandtschaften.
+Die alte Tradition, die Düsseldorf von jeher den Ruhm zuspricht,
+unübertroffen im Arrangement lebender Bilder zu sein, wurde wie auf ein
+Zauberzeichen in diesen formlosen Burschen lebendig. Sie standen da
+mit dem Anstand von Adelsgeschlechtern, und die bunten Lumpen wurden
+zu Prachtgewändern. Jetzt führte Hüsgen als mißgestalteter, finsterer
+Gianciotto Malatesta sein Weib Francesca ein, und Totenstille
+herrschte. Jeder der jungen Künstler spürte die Macht der Schönheit.
+
+Das war Francesca. Blaß war sie wie eine weiße Rose, in deren Kelch
+eine Flamme sitzt. Das aufgenommene Haar lag wie Sonnengold auf der
+Stirn. Die mädchenhaften Formen des Körpers hoben sich unter dem
+reichbestickten Brokatgewand, und unter dem schweren Saume zeigten sich
+die scheuen, zierlichen Kinderfüße. Sie konnte nur langsam vorwärts
+schreiten, denn Fräulein Malchen als traute Gespielin hielt sich so
+würdevoll, daß sie die Schleppe der Fürstin, die sie trug, straff zog
+wie ein Sprungtuch.
+
+Malatesta geleitete Francesca zum Thronsessel und nahm neben ihr Platz.
+Zur Seite hinter ihr stand Hans Steinherr-Paolo, versunken in diesen
+Traum von Jugendschönheit. Jetzt hob Francesca den Kopf, und ihre
+Blicke begegneten den Blicken Paolos. In diesem Augenblicke dachten
+beide nicht an die Gestalten, die sie darzustellen hatten. Francesca
+sah das feingeschnittene, leidenschaftliche Jünglingsantlitz, ihre
+Augen hingen in rückhaltlosem Staunen an seiner Erscheinung und ließen
+sie nicht los. Und während Paolo mit halbgeöffneten Lippen den keuschen
+Duft ihrer Haare einatmete und sich mit Augen, in denen ein Suchen und
+Sehnen war, unwillkürlich näher beugte, schwellte ein tiefer Seufzer
+die Brust Francescas, und ein geheimnisvolles Lächeln zog durch ihren
+Blick. Das Lächeln des Mädchens, das das Weib in sich erwachen fühlt.
+
+»Bravo, bravo!« rief stürmisch die »Gesandtschaft« vor ihrem Thron.
+Ein Jubelgeschrei raste durch die jugendliche Versammlung, und
+Hüsgen-Malatesta versuchte auf seinem Thronsessel den Kopfstand.
+Gesandte und Mannen sprangen herzu und halfen dem überschwenglichen
+Fürsten wieder auf die Beine.
+
+»Habt ihr’s gesehen?« rief er. »Habt ihr’s gesehen? Diese Bewegung?
+Diesen Blick? Das war Musik, he? Eine ganze Geschichte in einer
+Sekunde. Das große Vergessen im Liebestrank!«
+
+Er stolzierte aufgeregt umher.
+
+»Was sagt ihr nun? Nix! das glaub’ ich — Aber wenn ihr einen bloßen
+Schimmer hättet, was mich das für Müh’ gekostet hat, den beiden
+das einzupauken. Innerlichkeit konzentrieren, hab’ ich gesagt,
+Innerlichkeit! Über Nacht ist es gekommen. Den Seinen gibt’s der Herr
+im Schlaf. Aber dieser Herr war ich. Und wenn ich die Blasphemie morgen
+am Tag dem Pater Servatius beichten sollt’ und mit hundert Rosenkränzen
+gepönt werd’! So, und nun bedankt ihr beiden euch bei mir, daß ich euch
+hab’ was lernen lassen. Vorwärts, umkleiden zum zweiten Bild.«
+
+Die beiden Mädchen waren ins Nebenzimmer geeilt. Hans Steinherr zog
+sich hinter die Bühne zurück, um seinen Anzug zu wechseln. Hüsgen warf
+als Rachegeist, der in der Nacht heimeilt, um die Untreue von Weib und
+Bruder zu bestrafen, einen weiten Mantel um die Schultern und nahm den
+blanken Stahl in die Faust. Alle Anwesenden, die in diesem Bilde nicht
+mitwirkten, hatten sich in den Hintergrund des Zimmers zurückzuziehen,
+das einstweilen verdunkelt wurde.
+
+Nun tastete sich Francesca zur Bühne. Hans-Paolo half ihr hinauf und
+nahm mit ihr die Pose ein. Hüsgen-Malatesta ließ, zusammengekauert wie
+ein sprungbereiter Tiger, den Degen schwirren.
+
+»Licht!«
+
+Nur die Gasflamme über der Bühne strahlte hell auf. Ein unerwarteter
+Anblick:
+
+Paolo in weißem Samtwams. Das Wams über der Brust zerrissen, die
+nackte Brust von Blut gerötet. Francesca hält den Taumelnden fest.
+Das zarte Nachtgewand liegt wie ein Duft um den süßen Mädchenkörper.
+Ihr rotschillerndes Haar ist gelöst und schlingt sich um den Hals des
+Geliebten. Seinen Nacken umwindet ihr bloßer Arm, und mit der freien
+Hand wendet sie den zweiten todbringenden Degenstoß des wutschäumenden
+Malatesta auf sich. Und plötzlich, als sei auch sie getroffen von dem
+erlösenden Stahl, ließ sie den ausgestreckten Arm auf die Schulter des
+in die Kniee gebrochenen Geliebten niedersinken, und ihr Körper hing
+schwer und fest an dem seinen, als wären sie eins.
+
+Hans Steinherr tanzten Flammen vor den Augen. Er wußte nicht, wie ihm
+geschah. Alle Kraft hatte er nötig, den Mädchenkörper zu halten. Er
+preßte ihn mit Gewalt an sich, um ihn vor dem Niederfallen zu bewahren,
+und in die angstvolle Umschlingung hinein strömte eine Flut von
+unbekannter Süße hinüber und herüber. Er suchte ihre Augen, die starr
+die seinen suchten, sah ihren Mund wie blasse, verlangende Rosenblätter
+— dann sank ihr Kopf hintenüber, und er spürte ihre kühle, weiche Wange
+auf seiner entblößten Brust.
+
+»Vorhang!« schrie er mit erstickter Stimme in die Kulisse, und irgend
+einer, der herbeigesprungen war, ließ die Gardine fallen.
+
+»Was ist denn los?« rief Hüsgen ärgerlich und stolperte über die Bühne.
+»Die Bewegung war tadellos realistisch und du —«
+
+»Rufe sofort deine Mutter. Die anderen sollen in den Garten. Malchen
+bleibt im Zimmer und verhält sich ruhig. Schnell, du!«
+
+Die abgehackten Sätze kamen wie ein Kommando. Und Willibald Hüsgen
+duckte sich augenblicks, warf noch einen scheuen Blick auf das Mädchen,
+dessen Ohnmacht er jetzt erst gewahrte, und hieß die Gaffer das Zimmer
+räumen. Malchen trippelte an der Stubentür auf und ab und wartete
+angstvoll auf die Mutter, die der Bruder holen gegangen war.
+
+Auf der Bühne kniete Hans, den Kopf der kleinen Freundin in seinen Arm
+gebettet. Ihr durchsichtiges Gesichtchen war blutleer, und der schlanke
+Mädchenleib lag wie leblos gestreckt.
+
+»Nicht sterben,« flüsterte er, »nicht sterben. Durch dich hab’ ich ja
+erst zu leben begonnen. Das weißt du ja gar nicht. Du, Heinz Springe,
+der alte, prächtige Vater Springe, all die neuen Menschen — alles durch
+dich. Hörst du, kleiner Hannes?« Und es quoll in ihm empor, und ein
+heißer Tropfen hing sich an seine Wimper und fiel auf ihre Stirn. Da
+beugte er sich herab und küßte sie zärtlich, wie man eine Schwester
+küßt, auf die kalten Lippen. Wie eine Schwester? Ein Schauer durchrann
+ihn, und er wagte den Kuß nicht wieder. Wo nur Frau Hüsgen blieb ...
+
+Da kam sie; äußerlich erhitzt vom schnellen Treppensteigen, im Gemüt
+seelenruhig. Sie hatte die Essigflasche gleich mitgebracht und rief
+Malchen zur Hilfeleistung heran. Aber das alberne Mädel fürchtete sich
+und drückte sich zur Tür hinaus, um die Magd zu rufen.
+
+»Barmherzigkeit,« grollte die resolute Wirtin, »dat Kindchen stirbt uns
+noch unter die Hände weg. Fassen Sie mal an, jong Här. Sie sind jetz’
+Samariter, verstehn Sie mich. Dat hat mit dem sonstigen Anstand absolut
+nix zu tun.«
+
+Mit flinken Fingern öffnete sie dem jungen Mädchen das Gewand, legte
+einen essiggetränkten Lappen in die Herzgrube, einen essiggetränkten
+Schwamm auf die Schläfen, rieb und frottierte und hieß ihren
+Assistenten, die Arme des Mädchens im Takt auf und nieder zu heben.
+Hans folgte dem leisesten Wink. Er sah die hilflose, weiße Mädchenblume
+vor sich liegen in ihrer rührenden Schönheit, und ihm war feierlich zu
+Mute.
+
+Das Mädchen öffnete die Augen. Das Blut hatte zu kreisen begonnen, und
+das Leben war zurückgekehrt.
+
+»Weg!« sagte die Wirtin und machte dem jungen Manne eine energische
+Kopfbewegung. »Dat Samariterspiele is all jut, aber nu kömmt auch
+der menschliche Anstand retour. Jed’ Ding zu sein’ Zeit. Adjö, Herr
+Steinherr.«
+
+»Ich werde mich umkleiden und dann unten warten,« antwortete Hans,
+machte eine ehrerbietige Verbeugung und verließ, ohne sich umzuschauen,
+das Zimmer.
+
+Ruhig ging er später im Flur auf und ab. Wenn das Bild, das er vorhin
+gesehen, vor ihm auftauchte, war ihm, als ginge etwas Heiliges in ihm
+vor. Er wußte, daß er nie einen heiligeren Augenblick erleben würde.
+Wie ernst, wie glückselig ernst das stimmte. War das die Jugend?
+
+Aus dem Gärtchen im Hof hörte er die Kunstjünger schwatzen und lachen.
+Sie tranken das Wohl der lieblichen Francesca und ihre baldige
+Genesung. Das war auch eine Art, die elastische Jugend zu äußern. Aber
+er brauchte nicht zu trinken, um seine Begeisterung anzufachen.
+
+»Kleiner Hannes,« murmelte er, »kleiner, lieber Hannes! Weißt du noch?
+An dem Schützensonntag? Bis dahin war ich ein Kulturpflänzchen. An dem
+Tage lernte ich die Natur verstehen. Ach, wie das wohl tut — —. Lieber,
+kleiner Hannes!«
+
+Die Minuten dehnten sich ihm zu Stunden. Soeben noch ernst und
+abgeklärt, überfiel ihn jetzt aufs neue die Unruhe, und er horchte in
+das winklige Treppenhaus hinein, ob er auf den Stiegen ihren Schritt
+noch nicht vernähme. Sollte sich der Anfall wiederholt haben? Dann —
+ja, dann hatte er doch hier unten nicht herumzulungern, dann war doch
+sein Platz dort oben, dann gehörte er doch an die Seite der armen,
+kleinen Kameradin.
+
+Er hielt die Ungewißheit des Wartens nicht mehr aus. Zwei, drei Stufen
+auf einmal nehmend, sprang er die Treppen hinauf. Vor der Tür des
+Dachstubenateliers war ihm der Atem ausgegangen, aber er wartete die
+Beruhigung der Pulse nicht erst ab, er klopfte an und drückte auf die
+Klinke.
+
+Da saß Hannes, mit ihrem dünnen Sommerkleidchen angetan, am Tisch und
+trank aus einem Glase dunklen, roten Wein. Das Haar hing gelöst, um
+die Schläfen nicht zu drücken, an den schmalen Kinderwangen herab.
+Mutter Hüsgen hockte mit ihrer massigen Gestalt auf einem Schemel und
+ermunterte zum Trinken.
+
+Bei dem hastigen Eintritt des jungen Mannes hielt das Mädchen das Glas
+unbeweglich an den Lippen und starrte ihn an. Die Erinnerung kehrte
+zurück, und wo diese aussetzte, stellten sich ängstigende Vermutungen
+ein. Die Hand, die das Glas zum Munde führte, begann zu zittern, das
+Auge zu flirren und zu flimmern, und eine Glut stieg von der Kehle an
+über Wangen und Stirn, so dunkel und tief wie der rote Wein im Glase.
+Frau Hüsgen winkte dem jungen Manne ärgerlich ab.
+
+»Sachte, sachte! Dat jeht hier nich zu wie auf ene Bauernkirmeß:
+Flauwerden un jleich wieder Walzer. En bisken mehr Zartheit, jong Här.«
+
+»Ich wollte nur — — ich hatte nur solche Angst — des Fräuleins
+wegen — —« stotterte Hans. »Ich hielt’s da unten nicht mehr aus ...
+Entschuldigen Sie.«
+
+»Ich bin ganz wohl,« sagte die Kleine trotzig und senkte die Augen.
+
+»Schön,« entschied die Wirtin und erhob sich, »dann machst du jetzt,
+daß du in die Klappe kommst. Un Großmutter soll dich besser päpeln. Du
+bist jetzt in die Jahre, wo mr aufpassen muß. Jesses Maria,« seufzte
+sie, »wat is dat sein Lebtag ein Elend mit uns arm Frau’nsleut!«
+
+Ein schneller, scheuer Blick glitt aus den Augenwinkeln der Kleinen
+zu dem jungen Manne hinüber, der noch immer die Türklinke in der Hand
+hielt. Jetzt trat er näher und sagte, respektvoll zu Frau Hüsgen
+gewandt: »Wenn Sie gestatten, werde ich das Fräulein nach Hause
+bringen.«
+
+»Ich kann allein gehen,« wehrte das Mädchen hastig ab und stand im
+selben Augenblick aufrecht da.
+
+»Fräulein Hannes,« sagte Hans Steinherr ruhig, und er wunderte sich
+selbst über die Bestimmtheit seines Tones, »Sie werden diesmal
+vernünftig sein. Sie sind krank und haben sich denen zu fügen, die es
+gut mit Ihnen meinen.«
+
+Sie sah starr an ihm vorüber. Dann wandte sie sich mit einer seltsam
+matten Bewegung ab, nahm ihren Hut vom Wandhaken, nestelte achtlos fast
+ihr Haar darunter und reichte der Wirtin die Hand.
+
+»Ich dank’ Ihnen auch, Frau Hüsgen.«
+
+»Keine Ursach’, aber nich die Spur!« Die resolute Frau klopfte ihr die
+Backen. »Also du wirst mir hübsch gesund. Un vergiß nich, Großmutter zu
+grüßen, un sie soll übermorgen zum Waschen kommen.«
+
+Wieder der scheue Blick. Diesmal hatte ihn Hans Steinherr in den
+Augenwinkeln seiner Schutzbefohlenen aufblitzen sehen.
+
+Ach, die Kleine schämte sich, weil sie zu einer Waschfrau ging. Daher
+das Abwehren einer Begleitung. Und wenn schon zu einer Waschfrau;
+was war dabei? Die Ereignisse hatten in Hans die romantischen Sinne
+geweckt. Was ging ihn Rang und Stand der Menschen an.
+
+»Kommen Sie, Fräulein,« sagte er herzlich, »ich werde Sie bei Ihrer
+Großmama gut abliefern.«
+
+Sie schritt, ohne ihn anzusehen, an ihm vorbei und die Treppe hinab.
+So eilig, daß er sich sputen mußte, sie an der Toreinfahrt wieder zu
+erreichen. Hier aber nahm er sie fest bei der Hand und sah sie an.
+
+»Fräulein Hannes — —.«
+
+Dann zog er ihren Arm durch den seinen und führte sie behutsam die
+Straße entlang. Willenlos ging sie neben ihm her. Den Arm hielt sie
+steif wie eine Marionette.
+
+»Wo wohnen Sie?«
+
+»Pempelforterstraße.«
+
+»Nummer?«
+
+Sie nannte sie und schwieg sofort wieder. Die unregelmäßigen Schritte
+der beiden hallten durch den stillen, dunklen Abend. Es war spät
+geworden.
+
+»Sie dürfen so weit nicht zu Fuß gehen,« sagte Hans Steinherr nach
+einer Pause und blieb stehen. »Wir werden eine Droschke nehmen.«
+
+»Nein,« stieß sie hervor. »Ich will nicht.«
+
+»Wir werden es aber trotzdem tun,« meinte Hans ruhig, »oder fürchten
+Sie sich, mit mir in einer Droschke zu fahren?«
+
+»Fürchten —?« wiederholte sie gedehnt. »Ich will nur nicht; der
+Nachbarn wegen.«
+
+»Die liegen längst im Bett. Außerdem sind Sie Patientin. Ich wußte
+übrigens nicht, daß Sie keine Courage haben.«
+
+Nun wartete sie mit ihm, bis eine Droschke sichtbar wurde.
+
+»Fräulein Hannes,« sagte der junge Ritter verlegen, »ich — ich weiß
+wahrhaftig noch nicht, wie Sie eigentlich heißen. Sie — Sie gelten bei
+Hüsgens immer schlankweg als Fräulein Hannes. Schon Ihrer Großmama
+wegen muß ich das doch wissen.«
+
+Das junge Mädchen rührte sich nicht. Da hielt die Droschke vor ihnen.
+
+»Meine Großmutter heißt Frau Stahl,« murmelte sie. Dann ließ sie sich
+in den Wagen helfen, kauerte sich in die Polster und schloß sofort die
+Augen.
+
+Hans Steinherr saß ihr gegenüber. Ihre Kniee berührten sich. Wenn sich
+der Wagen einer Straßenlaterne näherte, beugte er sich vor und spähte
+in das regungslose Mädchenangesicht, das bei aller süßen Kindlichkeit
+der Formen einen Zug der Entschlossenheit zeigte. Wie rührend dieser
+Ausdruck wirkte — —. Und in der Brust des jungen Mannes regte sich ein
+zärtliches Empfinden und erregte ihn. Dieses Kind in die Arme nehmen,
+es streicheln und mit der Überlegenheit, die das männliche Bewußtsein
+gewährt, trösten und ihm kosend zureden: »Kleines, kleines Närrchen,
+so lächle doch! Du bist ja viel zu schwach, um ein Lebenskämpfer zu
+werden. Und es wäre so schade um dich und so traurig ...«
+
+Unbewußt hatte er begonnen, ihre herabhängenden Arme zu streicheln. Wie
+mager die Ärmchen geworden waren! Vor wenigen Monaten — das stand ihm
+noch deutlich vor Augen — hatte sich das Kleid straff um den vollen Arm
+gespannt. Sie hielt ganz still, als wäre die Berührung nicht einmal zu
+ihrer Wahrnehmung gedrungen. Da streichelte er ganz sacht ihre kalten
+Händchen. Und plötzlich fühlte er, wie sich ihre Finger um die seinen
+krampften.
+
+Der Wagen hielt vor einem niederen, baufälligen Hause an. Die beiden
+merkten es nicht. Sie saßen stumm und starr nebeneinander und hielten
+sich bei der Hand. Keines wagte sich zu bewegen. Aber beide waren sie
+blaß, und zwischen ihnen ging der Atem schmerzhaft schwer.
+
+Der Kutscher kletterte von seinem Bock herunter und öffnete den
+Wagenschlag.
+
+»Hier is dat Palaischen; un ich kriegen eine Mark un fünfzig, netto,
+ohne ’t Trinkgeld.«
+
+Hans sah verwundert auf. Hannes öffnete nur müde die Augen. Das
+Mädchen war so schwach, daß ihr junger Begleiter sie nur mit Mühe die
+ausgetretene Stiege, die zur oberen Wohnung führte, hinaufbringen
+konnte.
+
+»Großmutter!« rief sie oben. Dann wankte sie und fiel gegen Hans’
+Schulter.
+
+In der Stube wurde ein Stuhl zurückgestoßen. Die Tür öffnete sich
+und, eine Lampe in der weit vorgestreckten Hand, stand eine hagere,
+sehnige Greisin auf der Schwelle. Sie fand zuerst kein Wort. Ein
+schreckensstarrer Ausdruck war in ihre Augen getreten, und ein Zittern
+flog ihr durch Schultern und Arme, daß Lampenglocke und Lampenglas
+leise und schwirrend erklirrten.
+
+»Johanna! — Herr Gott, Johanna — — —«
+
+Sie fuhr sich mit der verarbeiteten Hand über die Augen. Eine Sekunde
+nur. Dann ging ein Ruck durch ihren alten Körper, sie richtete sich
+kerzengerade auf, schritt auf Hans zu und nahm ihm das Mädchen aus dem
+Arm.
+
+»Lassen Sie sie los! Wie kommen Sie dazu ...«
+
+Es war wie Gewittergrollen in dieser Stimme, und doch ein Ton, der wie
+eigenes Entsetzen klang. Hans aber empfand in diesem Augenblick nur
+das Gefühl eines blinden Respekts gegenüber dieser großen, kräftigen
+Greisin, deren Gesicht so dicht voll Falten und Runzeln stand wie ein
+engbeschriebener Runenstein. Er sah mit Erstaunen, wie die alte Frau
+das Mädchen aufhob und auf ihre Arme nahm, als wäre es ein Federchen,
+das sie trüge.
+
+»Ihre Enkelin,« berichtete er leise, »ist bei Hüsgens von einem
+Unwohlsein befallen worden. Eine Art Ohnmacht. Wenn Sie gestatten, Frau
+Stahl, bleibe ich noch hier. Vielleicht, daß Sie mich zum Arzt schicken
+möchten.«
+
+Die Greisin schenkte ihm keinen Blick. Mit zusammengepreßten Lippen,
+den schlaffen Leib der Enkelin fest an ihrer Brust, schritt sie
+schweren Fußes durch das Zimmer und verschwand in einer Nebenkammer.
+Hans war ihr in das erste Zimmer gefolgt. Hier blieb er stehen und
+wartete geduldig ihre Rückkehr ab.
+
+Der Raum diente als Wohnzimmer. Es war ein quadratisches Gelaß; eine
+dünn aufgerichtete Wand teilte es von der kleinen Küche ab. Aus
+der offen gebliebenen Tür der Nebenkammer fiel ein Lichtschein und
+beleuchtete fahl die alten Möbel. Einfache Strohstühle umstanden
+einen alten, ovalen Mahagonitisch; ein breiter Strohsessel mit
+buntbestickter, wollener Schlummerrolle schien das einzige Prunkstück.
+Auf dem Tisch lag ein schweres Buch, in dem die alte Frau wohl eben
+erst gelesen hatte. Hans erkannte es als die Bibel.
+
+Jetzt wurde die Kammertür geschlossen, und Hans stand im Dunklen.
+
+Er fand gar nichts Taktloses in der außergewöhnlichen Behandlung,
+die ihm zu teil wurde. Alles, was hier geschah, schien ihm so
+selbstverständlich und der ganzen Lage entsprechend, daß ihm nicht
+einfiel, sich zurückgesetzt zu fühlen. In dem Zupacken der Greisin,
+in der Art, mit der sie Beschlag auf das junge Mädchen legte, wie auf
+den Körper eines Verwundeten, den sie, einem altgermanischen Weibe
+ähnlich, der Schlacht da draußen entriß, hatte ein großer Zug gelegen,
+dessen Eindruck sich der so kurz beiseite Geschobene nicht zu entziehen
+vermochte. Dank, für ihn? In dem harten »Lassen Sie sie los« hatte
+die Antwort gelegen: Sie hat zu eurem Vergnügen beigetragen, in eurem
+Dienst ist das Kind zusammengebrochen, und an euch war es, ihr den Dank
+abzustatten. Daß ihr sie herschafftet, ist doch wohl die geringste
+Äußerung dieses Dankes.
+
+Der Lauschende hörte die alte Frau in der Kammer auf und ab gehen.
+Er hatte wohl eine halbe Stunde im Dunklen verbracht, als sich leise
+die Tür öffnete und die Greisin mit dem Licht erschien. Sie drückte
+behutsam die Tür ins Schloß und trug die Lampe auf den Tisch. Wortlos
+blieb sie an ihrem Sessel stehen und starrte in das Licht. Noch
+immer nahm sie von ihrem Besucher keine Notiz. Da glaubte Hans, sich
+bemerkbar machen zu müssen, und trat einen Schritt vor.
+
+Die alte Frau wendete den Kopf und sah ihn verständnislos an.
+
+»Ah,« machte sie dann, als ob sie sich besänne, »Sie sind noch da?«
+
+»Wie geht es dem Fräulein? Können Sie mich nicht zu irgend etwas
+gebrauchen, Frau Stahl?«
+
+»Sie schläft,« murmelte die Alte. »Wenn sie den Schlaf nachgeholt hat,
+wird sie gesund sein.«
+
+»Hat sich Fräulein Hannes überanstrengt?« fragte Hans leise.
+
+»Überanstrengt?« wiederholte die Frau, und ein harter Zug trat in ihr
+faltiges Gesicht. »Das fragen Sie mich? Ich sollte doch meinen, daß Sie
+das besser wissen müßten.«
+
+»Ich habe keine Ahnung,« stotterte Hans. »Wie sollt’ ich denn, Frau
+Stahl ...«
+
+»Natürlich nicht. Davon habt ihr keine Ahnung.«
+
+Die alte Frau ließ sich schwerfällig in ihren Sessel nieder. Dabei
+streifte ihre Hand die Bibel auf dem Tisch. Sie zog die Brauen
+zusammen, klappte das Buch zu und schob es von sich.
+
+»Wollen Sie mir nicht erklären, Frau Stahl — —? Weshalb das Fräulein
+leidet, meine ich.«
+
+Die alte Frau sah auf ihre Hände, die fest auf ihren Knieen lagen.
+
+»Ist das so schwer —?« murmelte sie. »Sie leidet am Leben. Das ist ihr
+Erbteil.«
+
+»Aber ihre Ohnmacht? Meine Fragen sind vielleicht ungeschickt.«
+
+Die Greisin hob den Kopf und sah ihn durchdringend an. Dann machte sie
+eine Bewegung und sagte: »Setzen Sie sich, wenn Sie müde sind. Also Sie
+wollen wissen —. Nun ja, Sie sollen es. Es wird gut für Sie sein; wer
+weiß, wofür. Da hat sie gesessen,« fuhr sie finster fort, »da hat sie
+gesessen, jede freie Stunde, bis in die Nacht hinein, und entworfen und
+gezeichnet nach einem kleinen Blättchen, auf dem ein Kostüm zu sehen
+war, und Stoffe hat sie angeschleppt und Zutaten und geschneidert,
+gebandelt und gebastelt. Und nie wurde es ihr schön und reich genug,
+immer wieder hat sie geändert und geprobt und mit einer Erregung daran
+gearbeitet, daß sie Essen und Schlafen vergaß. Ob sie ihr bißchen
+Kraft nötig hatte! Sechs Stunden im Tag sitzt sie im Atelier des
+alten, biblische Geschichten malenden Professors Kehren. Ich arbeite
+seit zehn Jahren in dem Hause und kenne die Leute. Einmal hat sie als
+Kind dem Professor zu einem Engelsköpfchen gestanden. Aber ich hatte
+Furcht wegen ihrer leicht erregten Phantasie und litt es nicht mehr.
+Doch der Hang und Drang nach dem Schönen, nach dem Vornehmen stak in
+ihr. Eines Abends, es war im Juni oder Juli, kommt sie atemlos nach
+Hause und erzählt mir, daß sie bei Hüsgens lebende Bilder stellen
+wollen. Sie soll die Fürstin darstellen und muß Gewänder haben. Und
+nun trotzte sie, und nun schmeichelte sie, und dann lief sie zum
+Professor und machte mit ihm aus, daß sie ihm jeden Tag zu einem großen
+Historienbilde stehen wollte, und ich gab es endlich zu, daß sie sich
+das Geld für ihre Kostüme verdiente, denn ich konnte nicht mehr gegen
+sie an. Das steckt im Blut.«
+
+Die alte Frau grübelte vor sich hin, als ob sie an andere Zeiten dächte.
+
+»Sie hat eine Erziehung gehabt, wie junge Mädchen aus gutem Hause,«
+fuhr sie nach einer Pause fort. »Das war vielleicht falsch und paßte
+nicht mehr für unsere jetzigen Verhältnisse. Aber es war das Kind
+meiner Tochter, die bessere Tage gesehen hatte, es war mein Fleisch und
+Blut, und auch ich« — sie lächelte trübe vor sich hin — »auch ich hatte
+in der Jugend die Sonne gesehen. Bis mein Mann starb. Bis ich als junge
+Beamtenfrau eine Witwenpension erhielt, die zu wenig zum Leben und zu
+viel zum Sterben war. Weshalb ich nichts anderes unternahm, weshalb ich
+so weit heruntergestiegen bin? Das — das — das steht auf einem anderen
+Blatt. Meine Tochter starb und hinterließ mir — ihre kleine Johanna.
+Und einen Stolz hatte ich doch behalten, einen Stolz, und wenn es der
+Hochmut aus alten Tagen war: ich wollte sie erziehen, wie bisher alle
+aus unserer Familie erzogen worden waren. Sie sollte mir nicht unter
+das Proletariat, weil bei Mutter und Großmutter das Unglück zu Besuch
+gekommen war. Wie jedes andere Bürgermädchen sollte sie werden, nicht
+mehr, aber auch nicht weniger. Das bißchen Unterhaltung bei Hüsgens
+hab’ ich ihr gerne gegönnt. Es ist ein rechtes Haus. Nicht zu hoch
+hinaus und doch gut bürgerlich. Dort gehen weder Lumpen aus und ein,
+noch Barone. Und nun kommt sie mir ins Haus gestürzt und alles in
+ihr ist auf den Kopf gestellt. Sie lacht, sie tanzt, sie singt. Dann
+spricht sie stundenlang wieder kein Wort. Endlich bekam ich’s doch
+heraus. Ihr ganzes verändertes Wesen, ihr neu erwachter Lernfleiß,
+ihr Streben, auf ihre Sprache zu achten, auf ihr Benehmen, auf ihre
+Kleidung, das war alles ja so deutlich, daß sie mir gar nicht erst
+lachend zu versichern brauchte, ein Prinz stünde mit in den lebenden
+Bildern, gegen den Hüsgens und all ihre Bekannten Bauern seien, und
+nun müßte sie sorgen, daß sie neben ihm bestehen könnte und von ihm
+nicht nur geduldet oder gar ausgelacht würde. Damit begann das tolle
+Drauflosstürmen auf die Gesundheit, die fieberhafte Unruhe, der ich
+nicht mehr gewachsen war. Und jeder Groschen, den sie sich verdiente
+und den wir zu ihrer Kräftigung hätten anwenden können, er flog weg für
+den Flittertand, mit dem sie sich für ein paar Stunden in eine andere
+Welt täuschen wollte.«
+
+Die Greisin war erregter geworden. Ihre Hände zitterten, als wollte sie
+einen nahenden Verlust aufhalten. Jetzt trat sie dicht an den jungen
+Mann heran.
+
+»Hören Sie,« sagte sie und ihre Stimme klang heiser, »ich ~will~
+aber nicht, daß sie sich täuscht. Ich habe genug an den Täuschungen
+im Leben. Ich will nicht, daß mit ihr gespielt wird, und daß sie an
+Einbildungen zu Grunde geht. Dazu ist sie mir zu lieb, verstehen Sie
+mich? Und wenn Sie auch dieser Prinz sind, gerade deshalb sage ich es
+Ihnen! Hier ist ein Haus, das wieder aufwärts will! Bringen Sie es mir
+nicht herunter! Die Kleine da — die Kleine — — ah, was rede ich nur
+alles!«
+
+»Frau Stahl,« sagte Hans weich. Er wußte nichts anderes, als die Hand
+der alten Frau zu nehmen.
+
+Sie achtete nicht darauf. Aber er fühlte an dem Zucken ihrer harten,
+verarbeiteten Finger, daß sie in ihrem Inneren Empfindungen, Worte
+niederkämpfte.
+
+»So sprechen Sie doch nur weiter, Frau Stahl. Ich bin Ihnen ja so
+dankbar.«
+
+Sie sah ihn an. Dann machte sie ihre Hand los und setzte sich wieder
+in den Sessel. Das Licht war heruntergebrannt. Ein Helldunkel, das die
+Schatten der Gegenstände vergrößerte, herrschte in der alten Stube. Die
+alte Frau erschien wie eine Riesin, wie die Überlebende eines einstigen
+Geschlechtes.
+
+»Junger Herr — —« sagte sie sinnend.
+
+»Ich heiße Hans Steinherr.«
+
+»Gut, gut. Die Steinherrs sind reiche Leute. Ich kannte sie noch,
+als sie so klein waren wie wir jetzt. Alles im Leben läuft im Kreis.
+Wir dürfen uns nur nicht ganz herausschleudern lassen. Ach, das Alter
+macht geschwätzig. Doch ich habe auch die Jugend nicht vergessen. Ich
+verstehe mit ihr zu empfinden, wenn ich Ihnen auch hart und verknöchert
+erscheine. Ich will der Jugend nichts verkürzen, auch der Johanna
+nicht, so wenig, wie ich es ihrer Mutter getan habe. O Gott, die paar
+kurzen Jährchen der Lebensfreude! Aber sich nicht fortwerfen, nicht
+sich fortwerfen, oder es muß um ein Großes, ein Heiliges sein. Ich
+habe nie mehr davon gesprochen, aber Ihnen sag’ ich es, obwohl Sie so
+jung sind. Weil Sie mir vorhin danken wollten, weil ich es Johannas
+wegen tue. Meine Tochter — ihre Mutter — war seit Jahren verlobt. Als
+sie heiraten wollten, kam der Krieg. Er mußte mit, nach Frankreich. So
+etwas Herzzerreißendes habe ich nicht wieder erlebt. In den letzten
+Tagen mieden sie sich, sie hatten Furcht, sich zu berühren, und wenn
+sie sich in die Arme stürzten, schrie die Verzweiflung aus ihnen.
+Nicht, als ob der Mann Angst vor dem Kriege gehabt hätte. Er war
+Offiziersaspirant und nicht feige. Aber eine Ahnung lastete auf ihnen,
+sie würden sich nicht wiedersehen, sie würden sterben müssen, ohne für
+ihr treues, jahrelanges Warten belohnt zu sein. Sie wollten zu den
+Massentrauungen. Doch da rückte das Regiment schon aus. Den Jammer
+versteht nur eine Frau, und ich verstand ihn. Ich, ja ich, die Mutter,
+gab ihnen meinen Segen. Acht Tage darauf fiel der Mann bei Spichern.«
+
+Wieder saß die alte Frau in sich gebückt und versonnen da. Dann fuhr
+sie langsam fort.
+
+»Das Kind war die Johanna — —. Ein Schmerzenskind. Denn meine Tochter
+starb bald danach, und ich wurde die Mutter. Und deshalb, sehen Sie,
+deshalb nahm ich die geringste Arbeit auf, griff ich zu allem und
+jedem, was mir Verdienst versprach, um einst rein dazustehen vor meinem
+Herrgott, damit er meine einstige Menschenschwäche als Menschenliebe
+ansehen möge. Deshalb lese ich immer wieder in jenem Buche, das von der
+Liebe handelt, und deshalb will ich nicht, daß meine Rechnung und die
+Heilige Schrift betrogen werde.« Sie schöpfte tief Atem. »Solange ich
+lebe — nicht!«
+
+Die Greisin richtete sich auf. Ihr Schatten wuchs bei dem niederen
+Licht groß bis an die Decke.
+
+»Das war’s, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun stören Sie uns nicht
+länger.«
+
+»Frau Stahl —« bat Hans. Er hatte so viel zu sagen, aber er fand die
+Worte nicht vor dieser Frau.
+
+»Gehen Sie. Aber so gehen Sie doch!«
+
+Da ging er schweigend.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+
+Es war eine Sonntagsstille. Die Nachmittagssonne schmeichelte sich an
+den Kanten der leinenen Vorhänge vorbei in die kleine Kammer und lag
+nun, als hätte sie ihren Willen erreicht, golden und friedlich auf dem
+weißen Bette. Hannes saß aufrecht in den Kissen. Sie hatte das gelöste
+Haar über den Arm gebreitet und ließ die Enden in der Sonne schimmern.
+Ihre Augen besaßen wieder den alten Glanz, auf den Wangen zeigte sich
+eine feine Röte.
+
+Ihre Hände spielten, aber ihre Gedanken waren nicht bei dem Spiel.
+
+»Großmutter!« rief sie nach einer Weile leise.
+
+Die alte Frau, die im Nebenzimmer ein Nickerchen gehalten hatte, kam
+herbei.
+
+»Hab’ ich dich aufgeweckt, Großmutter? Nicht? — Du, Großmutter, dann
+bleib doch bei mir sitzen. Willst du?«
+
+»Aber gewiß, Kind.«
+
+»Du, Großmutter — — — bist du mir arg böse?«
+
+»Ach, Unsinn. Es ist ja nichts passiert.«
+
+»Es ist nichts passiert — —« wiederholte das Mädchen und strich über
+ihr sonnenglühendes Haar.
+
+Die alte Frau rückte die Kissen zurecht und zupfte und glättete an
+den Decken. Dann zog sie einen Stuhl heran und setzte sich nieder. Sie
+wartete.
+
+»Hast du keine Angst gekriegt, Großmutter, als man mich brachte?«
+
+Die Greisin machte eine jähe Bewegung. Aber sie bezwang sich und
+lächelte.
+
+»Angst? Vor was denn? Ich kenn’ doch meine Johanna.«
+
+»Du sagst das so — so — —. Was meinst du denn damit?«
+
+»Krank werden kann jeder. Dabei ist nichts Böses. Die Krankheiten
+stehen in Gottes Hand, das Böse in der unseren. Siehst du, so meint’
+ich es. Angst hat man nur vor dem Bösen.«
+
+»Und das — das traust du mir nicht zu, Großmutter?«
+
+»Nein, Kind, das trau’ ich dir nicht zu. Nicht, weil ich dich für so
+viel besser hielte als andere Menschen, sondern einfach darum, weil du
+es deiner Mutter wegen nicht darfst.«
+
+Da schwiegen sie beide.
+
+»Sag,« meinte dann das Mädchen sinnend, »Mutter war wohl sehr schön?«
+
+»Sie war schön und gut. Gut ist viel mehr. Das war sie.«
+
+»Und — und Vater?«
+
+»Dein Vater, mein Kind, war ein Mann von Ehre. Er verdiente, daß deine
+Mutter ihn über alles liebte.«
+
+»Und doch — und doch — —?«
+
+»Und doch?« fragte die Greisin und hielt den Atem an.
+
+»Gelt, Großmutter,« rief das Mädchen leidenschaftlich und schlang die
+Arme um den Nacken der Alten, »gelt, Großmutter, ich brauch’ mich nicht
+zu schämen?«
+
+Die alte Frau preßte den Kopf der Jungen fest an ihre Brust. Unablässig
+streichelte ihre Hand den Scheitel und die zuckenden Schultern der
+Enkelin und bewegten sich lautlos ihre Lippen.
+
+»So sprich doch, Großmutter, so sprich doch nur.«
+
+»Kind, ich habe dir doch gesagt, daß deine Mutter gut war. Was sie tat,
+war Güte. Und die Reinheit der Güte verstehen die Menschen nicht. Nein,
+bei Gott dem Allmächtigen, du brauchst dich nicht zu schämen, du kannst
+stolz auf deine Mutter sein — wenn du nur stolz auf dich selbst bist.«
+
+»Du, Großmutter,« stieß das Mädchen hervor, »ich glaube, ich könnte es
+auch. So lieben wie Mutter.«
+
+Die Alte erwiderte nichts. Aber mit beiden Händen umspannte sie den
+Kopf der Enkelin und drückte ihn fest an sich. Eine atemlose Stille
+war um sie, die Sonne kroch langsam über die weiße Decke heran und
+überströmte das bange Alter und die bange Jugend.
+
+»Johanna,« sagte die Greisin, »hör mich einmal an, Johanna. Wir haben
+alle ein Schicksal zu erfüllen. Dagegen können wir nicht an, und wir
+Frauen zumal nicht. Aber ~wie~ wir es erfüllen, darauf kommt es an.
+Was wir hineintragen und mit welchen Gedanken wir es tun. Verstehst du
+mich auch recht? Was bei dem einen Sünde ist, kann bei dem anderen zur
+Tugend werden. Aber immer nur bei einem, nicht bei allen! Nur sich kein
+Vorbild aufstellen wollen, denn es gibt keine Beispiele für uns. Was du
+tust, das tue, weil du es ~mußt~, nicht weil du es magst. Und was du
+mußt, das ist: dir selber treu sein. Wir können von den Menschen keine
+größere Wertschätzung verlangen, als die wir uns selber beilegen.«
+
+»Aber die Liebe, Großmutter ...?«
+
+»Die Liebe, mein dummes Mädchen, ist der Stolz auf den Glauben des
+Geliebten.« — —
+
+Das Mädchen hatte sich losgemacht. Mit gefalteter Stirn lag es in den
+Kissen und starrte in die Luft.
+
+»Ist das wahr, Großmutter?«
+
+»Es ~ist~ wahr.«
+
+»Und wenn man den Stolz nicht hat?«
+
+»So ist die Liebe eine Lüge. Und Lügen haben kurze Beine.«
+
+»Du meinst, man geht daran zu Grunde. — — Ach, das Sterben kann nicht
+so schwer sein.«
+
+»Wenn andere um uns jammern, nicht. Aber wenn man sich selbst
+bejammert.«
+
+»Großmutter,« sagte das Mädchen mit einem plötzlichen Ernst, der eine
+Feierlichkeit über ihre Züge goß, »ich glaube, ich habe den Stolz.«
+
+»Ich habe mich immer darauf verlassen, Johanna,« erwiderte die Greisin.
+
+»Soll ich dir die Hand darauf geben? Hier hast du sie.«
+
+Sie ergriff die hartgearbeitete Hand der alten Frau und preßte sie mit
+ihren weichen Fingern.
+
+»Ich werde dir keine Unehre machen, Großmutter.«
+
+Die Alte nickte. Es war ihr feucht in die Augen gekommen, und sie
+wandte den Kopf.
+
+»Was ist das für ein Sonntag,« murmelte sie. »Sieh nur, all die Sonne.«
+
+»Laß noch mehr herein, Großmutter. Ich kann so viel vertragen.«
+
+Und während die alte Frau die Vorhänge beiseite schob, kam endlich die
+Frage, die sie erwartet hatte.
+
+»Hat sich denn keiner nach mir erkundigt?«
+
+Aber die Frage rief jetzt nur noch ein stilles Lächeln auf den
+zerfurchten Zügen wach. Die Gemeinsamkeit des Blutes hatte sich
+dargetan. Der Handschlag der Enkelin galt.
+
+»Der junge Herr Steinherr war in der Frühe da. Aber du warst noch gar
+nicht wieder aufgewacht. Da hat er etwas für dich abgegeben und gesagt,
+er wollte gegen Abend noch einmal vorsprechen.«
+
+»Gott, was für ein Getue.«
+
+»Mädel, Mädel,« lachte die Frau, »aus einem Fehler fällst du in den
+anderen. Muß ich denn mit einem Male deine eigenen Freunde gegen dich
+in Schutz nehmen?«
+
+»Ach was, Freunde! Aufdringlich ist er!«
+
+»Du — —,« sagte die alte Frau mahnend. »Vorläufig hast du allen Grund,
+ihm dankbar zu sein. Aber ich merke schon, du wirst wieder gesund. Das
+war soeben der echte Hannes.«
+
+Hannes drehte sich auf die Seite. Sie war flammend rot geworden. Dann,
+nach einigen Minuten, klang es halb zag, halb trotzig aus dem Kissen:
+»Was hat er denn für mich abgegeben? Eine Gratulationskarte?«
+
+Frau Stahl ging in das Wohnzimmer und kehrte zurück. Auf den bloßen Arm
+gestützt, sah ihr das junge Mädchen gespannt entgegen. Keine Spur mehr
+das ernste Wesen von vorhin, ganz das erwartungsfrohe Kind.
+
+»Rosen,« rief sie jubelnd und streckte die Hände aus, »Rosen, ein
+ganzer Arm voll. Großmutter, das sind Maréchal Niel und das sind La
+France! Himmel, sind die schön! Und das — was ist denn das? Du,«
+sagte sie ganz feierlich, »das ist ja eine Bonbonnière, denk mal, von
+Branscheidt. Feineres gibt’s in ganz Düsseldorf nicht.«
+
+Sie breitete die Herrlichkeiten auf der Bettdecke vor sich aus und
+staunte sie an. Dann schob sie die Konfitüren zusammen und reichte sie
+der Großmutter.
+
+»Da, nimm nur, das ist was für dich. Ich darf ja jetzt doch nicht. Aber
+sofort essen.«
+
+»Ich heb’ sie auf, Kind, bis später.«
+
+»Ach, dann macht’s keinen Spaß mehr. So was Extraes muß immer extra
+auf der Stelle genossen werden. Dann schmeckt’s ganz anders. Zeig mal.
+Einen Bonbon kannst du mir doch abgeben.«
+
+Sie stopfte sich eine große kandierte Frucht in den Mund und ließ die
+Großmutter ihre Schätze in Sicherheit bringen. Unterdes band sie den
+Rosenstrauß auseinander, roch an jeder einzelnen Blume, ordnete sie
+nach der Farbe, nach dem Duft, legte sie paarweise, Rosa und Gelb,
+zusammen, um endlich alle wieder zu einem großen Buschen zu vereinen
+und sie wie eine Garbe in den Arm zu legen. Die Wange hatte sie tief in
+die Fülle der Blütenkelche geschmiegt.
+
+Als die Großmutter nach einer Weile eintrat, lag das Mädchen wie
+eine Rose unter Rosen. Schnell zog sie sich zurück, um dem Kinde die
+heimliche Freude nicht zu stören. Sie hatte ein merkwürdig junges Herz,
+die alte Frau, die einst ihrer Tochter den Segen gab, damit sie den
+blutroten Tag von Spichern leichter ertragen könne.
+
+Daß sie heute immer ihrer Tochter gedenken mußte —
+
+War es ein Unrecht gewesen — damals —?
+
+Ein heller Schein flog über der Alten Gesicht. Reue? Wofür? Nur Sünder
+bereuen. Sie aber hatte aus tiefster Seele gehandelt, und die Seele ist
+ein Stück von Gott und spricht wahrer als die Gesetze der Menschen.
+
+Die Greisin suchte ihre Brille hervor, rückte den Strohsessel dicht an
+den Tisch und schlug die Bibel auf. Sie traf die erste Epistel Pauli
+an die Korinther. Die Blätter teilten sich wie von selber bei dem 13.
+Kapitel, als kannten sie seit langem die Zufluchtstätte der alten Frau.
+Stumm und ernst blickte sie in das Buch. Dann las sie mit halblauter
+Stimme die gnadenreichen Worte des Apostels, die sie mit ihrem starken
+Menschensinn menschlich gerade deutete; das monotone Gemurmel klang wie
+ein Gebet, und über das Gebet hinaus wie ein Glaubensbekenntnis, und es
+war eine große Feiertagshaltung.
+
+»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe
+nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Und wenn
+ich weissagen könnte, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis,
+und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der
+Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen
+gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre
+mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe
+eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht.
+Sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie
+lässet sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu. Sie freuet
+sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. Sie
+verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.
+Die Liebe höret nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden,
+und die Sprachen aufhören werden, und die Erkenntnis aufhören wird.
+Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.
+Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
+Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein
+Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat
+ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem
+dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s
+stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
+Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist
+die größeste unter ihnen.«
+
+Die alte Frau nahm die Brille ab und lehnte sich zurück. Sie lächelte.
+Wer wollte mehr wissen als sie, was gut und böse sei, wenn unser Wissen
+Stückwerk ist? Wer, der nicht erkannt hatte, daß die Liebe das Größte
+ist? — — Die Liebe! — Die alte Frau erhob sich. Das Lächeln machte
+einem feierlichen Ernste Platz.
+
+»Sie freuet sich aber der ~Wahrheit~!« sagte sie mit starker Stimme.
+»Das ist es. Die Wahrheit allein gibt den Ausschlag. Dann mag sein, was
+will: wir taten das Unsere.«
+
+Es wurde an die Tür geklopft, die zur Treppe führte, und die Alte ging,
+um zu öffnen. Draußen stand Hans Steinherr.
+
+»Treten Sie ein,« sagte sie freundlich, »meine Enkelin ist wach und
+auch wieder wohl.«
+
+»Sie sind heute so gütig zu mir, Frau Stahl.« Der junge Mann drückte
+dankbar die dargebotene Hand. »Daran erkenn’ ich schon, daß es Fräulein
+Johanna besser gehen muß.«
+
+Er hatte unwillkürlich an Stelle des kindischen »Hannes« Johanna gesagt.
+
+»Es ist Sonntag heute,« entgegnete die Greisin einfach.
+
+»Nicht wahr? Das ist wirklich ein Sonnentag! Alle Blumen strecken die
+Köpfe hoch.«
+
+»Sie haben schon wieder Ihren Garten geplündert? Sie müssen nichts
+übertreiben.«
+
+»Nur drei Rosen. Es waren die schönsten, und sie baten so sehr, für ihr
+Blühen belohnt und mitgenommen zu werden.«
+
+Frau Stahl sah den Schmeichler prüfend an.
+
+»Sie haben die Worte hübsch in der Gewalt. Das kleidet Sie. Hoffentlich
+tönt es unter dem Kleid gerade so.«
+
+Hans verstummte. Aber er blickte offen zu der Sprechenden auf.
+
+»Ich werde meiner Enkelin sagen, daß Sie da sind.«
+
+Einige Augenblicke später stand er in ihrer Kammer.
+
+»Guten Tag, Herr Steinherr,« tönte eine zage Stimme, die gern einen
+festeren Beiklang gezeigt hätte.
+
+Da trat er an das Bett und reichte ihr seine Rosen. Zu sehen vermochte
+er immer noch nicht. Er fühlte, wie seine Hand scheu ergriffen wurde.
+Und nun sank der Schleier.
+
+»Guten Tag, Fräulein Hannes,« sagte er rasch. »Gottlob, daß Sie wieder
+gesund sind!«
+
+»Ach,« meinte sie und vermied seinen Blick, »das bißchen von gestern.
+Unkraut vergeht nicht.«
+
+»Unkraut?« machte er staunend. Ihre ganze Lieblichkeit wurde er gewahr.
+Wie sie dalag, bis unter das Kinn zugeknöpft in dem weißen Linnen,
+das leuchtende Haar glatt heruntergestrichen zu beiden Seiten der
+zartgezeichneten Wangen, das leinene Hemdchen Hals und Brust bedeckend.
+Und vor ihr lagen die Rosen, die er am Morgen hergetragen hatte, und
+sie sagten so wenig, so gar nichts; wie kleine Dienerinnen vor einer
+kleinen Prinzessin.
+
+»Unkraut?« wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur so
+was aussprechen!«
+
+»Sie scherzt,« sagte Frau Stahl. »Ganz so gering schätzt sich Johanna
+doch nicht ein.«
+
+Da wurde die kleine Rekonvaleszentin ausgelassen.
+
+»Buh!« machte sie und streckte ihrem Besucher so plötzlich ihr Köpfchen
+entgegen, daß er zurückfuhr. Dann warf sie sich lachend zurück. »Ich
+bin ein Ungetüm, gelt? Ein schreckliches Menschenkind! Antworten Sie,
+auf der Stelle!«
+
+»Wahrhaftig,« rief Hans begeistert, »das sind Sie! Aber ich glaube,
+mehr ein schrecklich ~liebes~ Menschenkind. Hab’ ich recht, Frau Stahl?
+Sie verstellt sich nur immer, damit’s keiner merkt.«
+
+»Jawohl, ihre Unarten auch noch beloben! Na, nun setzen Sie sich nur
+nieder. Einen Augenblick dürfen Sie schon hierbleiben.«
+
+»Großmutter,« sagte Hannes und lächelte die Alte an, »trinken wir denn
+heute nachmittag keinen Kaffee?«
+
+»Ach so,« meinte die Greisin trocken. »So hatt’st du dir das gedacht?«
+
+»Herr Steinherr ist doch zu Besuch gekommen,« schmollte die Kleine und
+zupfte an den Rosen.
+
+»Aber ich bitte, Frau Stahl,« warf der junge Besucher verlegen ein,
+»ich möchte Sie nicht stören.«
+
+»Freilich,« stieß das Mädchen trotzig heraus, »dann — dann — wenn es
+Herrn Steinherr geniert, bei uns Kaffee zu trinken. Es ist ja auch gar
+kein richtiger Kaffee. Wir trinken ihn nur so.«
+
+»Fräulein Hannes!«
+
+Hans Steinherr war empört.
+
+»Das war schlecht,« fügte er nach einer Weile hinzu. »Das durften Sie
+mir ganz gewiß nicht sagen.«
+
+Sie antwortete nicht, aber sie zog mit einer hastigen Bewegung ihr Haar
+bis über die Augen zusammen.
+
+»Sie werden unseren Kaffee schon mögen,« meinte die alte Frau. »Wollen
+Sie mittun?«
+
+»So viel Freundlichkeit hab’ ich ja gar nicht erwartet,« murmelte Hans.
+
+»Ich werde das Geschirr hereinholen. Dann trinken wir mit Johanna
+zusammen.«
+
+Sie ging ruhig hinaus, um den Kaffee aufzubrühen. Bald vernahm man ihr
+Hantieren mit Töpfen und Tassen.
+
+Hans Steinherr blickte zu seiner kleinen feindlichen Freundin hinüber.
+Er konnte unter dem dichten Haarschleier nichts von ihrem Gesicht
+erkennen. Nur die im Haar verkrampften Fäustchen waren sichtbar.
+
+»Fräulein Hannes,« sagte er recht knabenhaft weich.
+
+Sie regte sich nicht.
+
+»Sie schämen sich wohl, Fräulein Hannes? Dann ist ja alles wieder gut.«
+
+Keine Antwort. Sie lag wie eine Bildsäule. Nur über ihrem Munde
+zitterte das Haar.
+
+Da wagte er es, ihre Hände zu fassen. Und die Fäustchen, die so fest
+verkrampft schienen, zeigten sich so willfährig, nachzugeben, und er
+schob sie sacht beiseite und strich ihr ganz sanft das Haar aus dem
+Gesicht.
+
+»Sie haben ja Tränen in den Augen,« sagte er leise und tupfte mit
+zartem Finger die Tropfen fort.
+
+Sie ließ alles mit sich geschehen, aber sie wich auch seinem Blick
+nicht mehr aus.
+
+»Buh!« machte er plötzlich, wie sie vorher, und streckte mit einer
+lustigen Grimasse den Kopf gegen sie aus.
+
+Erschrocken fuhr sie zusammen. Und dann lachte sie, lachte, daß es
+durch die Kammer schmetterte, in einem Lachkrampf, der sich nicht
+bändigen lassen wollte. Und Hans sekundierte ihr mit seinem jungen,
+durchdringenden Bariton, und wenn der eine aufhören wollte, begann der
+andere von neuem, und beide wußten nicht mehr, worüber sie lachten.
+Über ein Nichts, über alles — das war ihnen Nebensache. Bis Großmutter
+Stahl energisch gegen die Türe pochte.
+
+»Sind Sie — noch — ärgerlich auf mich?« schluchzte Hans.
+
+»Och,« schluchzte Hannes und rieb sich mit dem Handrücken die Augen,
+bis sie brannten, »ich — ich hab’ mich ja nur — über mich selber —
+geärgert.«
+
+»Dann — dann — könnten wir doch wirklich — gut’ Freund sein.«
+
+»Ja — — —«
+
+Da kam Frau Stahl mit dem Nachmittagskaffee. Schnell sprang Hans zu, um
+ihr behilflich zu sein. Er zog aus der Ecke einen kleinen Tisch herbei,
+deckte das Tuch darüber, das Frau Stahl unterm Arme trug und half
+ihr, die Sonntagsgenüsse aufbauen. Aniszwieback, gezuckerten Zwieback
+und Burger Brezeln. Die rüstige Frau stopfte ihrem Enkelkind ein paar
+Kissen in den Rücken, und dann saßen sie zu dritt in der kleinen Kammer
+und griffen wacker zu.
+
+»Schmeckt Ihnen der Kaffee?« fragte die Kleine mit größter
+Unbefangenheit.
+
+»Einfach fürchterlich!« erwiderte Hans.
+
+»Das wundert mich,« fuhr die Kleine in aufrichtig klingendem Tone fort,
+»Großmutter nimmt aber bestimmt nur die beste Zichorie.«
+
+»Ich hatte es auf gebrannte Eicheln taxiert,« entgegnete Hans
+verbindlich und bat um eine neue Füllung. »Wir haben soeben
+Freundschaft geschlossen, Frau Stahl. Sie merken es wohl am Ton.«
+
+»Die Freundschaft ist immer die beste, die sich eines guten Tones
+befleißigt,« sagte die alte Frau. »Das hält die Gewöhnlichkeit der
+Gewöhnung zurück, den schlimmsten Feind der Freundschaft.«
+
+Hans bröckelte stumm an seiner Brezel. Wie einfach und sicher die
+Greisin sprach. Dieser Frau glaubte er es, daß sie einst die Würde der
+Beamtenfrau ruhig mit der Stellung einer Lohnarbeiterin vertauschen
+konnte, ohne auch nur die Spur von sich selbst zu verlieren. Wie
+beneidenswert seine kleine Freundin war, daß sie eine solche Erzieherin
+hatte.
+
+»Hat man Ihnen denn gar nichts aufgetragen?« hörte er plötzlich die
+Stimme des Mädchens.
+
+»Aufgetragen?« fragte er und richtete sich auf. »Wer sollte mir denn
+etwas aufgetragen haben?«
+
+»O, ich dachte nur — —« machte Hannes gedehnt. »Sie waren also nicht
+bei Hüsgens?«
+
+»Gewiß, heute vormittag.«
+
+»Und sie haben sich nicht nach mir erkundigt?«
+
+Hans wurde ein wenig verlegen und suchte nach Worten. Sie bemerkte es
+sofort.
+
+»Geben Sie sich keine Mühe,« sagte sie spöttisch, »ich bin nicht so
+feinfühlig.«
+
+»Das sind Sie wohl,« warf er eifrig ein. »Aber Sie wissen ja selber,
+daß der edle Willibald alles andere eher ist. Ich fürchte, seine
+Schwester nicht minder. Doch daraus dürfen Sie sich nichts machen.«
+
+»Tu’ ich auch nicht. Aber etwas muß doch gesagt worden sein.«
+
+»Nun ja,« gab er zögernd zu, »Willibald hatte Angst, seine schönen
+Veranstaltungen könnten ihm in die Brüche gehen — so sagte er wörtlich
+— und er schalt auf das unzeitgemäße Krankwerden.«
+
+»Also eine gute Besserung hat er mir nicht wünschen lassen,« sagte sie
+und zog die Stirn in Falten.
+
+»Er hat es wohl nur vergessen,« begütigte Hans. »Sie kennen doch seine
+Art.«
+
+»Dann soll er auch meine Art kennen. Ich werde ihn und seine schöne
+Veranstaltung auch vergessen.«
+
+»Sie wollen nicht mehr mittun?« rief Hans überrascht. »Ach nein,
+Fräulein Hannes, das kann nicht Ihr Ernst sein. Wir haben uns doch alle
+so auf den Abend gefreut.«
+
+»Und ich tu’ doch nicht mit,« beharrte sie trotzig. »Er soll sich
+suchen, wen er will. Ich lass’ mich so nicht behandeln. Von dem am
+wenigsten, diesem Bierwirtsjungen!«
+
+»Johanna,« verwies Frau Stahl sie zürnend.
+
+»Laß nur, Großmutter, ich tu’s doch nicht.«
+
+»Fräulein Hannes,« sagte Hans niedergeschlagen, »was soll denn aber aus
+dem schönen Abend werden?«
+
+»Och, der Abend läuft uns nicht weg. Wir unternehmen was für uns.«
+
+»Für uns?«
+
+»Nun ja. Großmutter, Sie und ich. Oder — paßt Ihnen die andere
+Gesellschaft besser?«
+
+»Darauf gebe ich Ihnen jetzt keine Antwort mehr. Das ist gerade wie
+vorhin mit dem Kaffeetrinken.«
+
+»Sie sind einverstanden!« lachte sie, ohne auf seine beleidigte Miene
+zu achten. »Großmutter, du auch? Also nächsten Sonntag? Wohin wollen
+wir denn? Nach Schloß Benrath? Ja, bitte, nach Schloß Benrath!«
+
+Sie beugte sich vor, schlang die Arme um den Hals der alten Frau und
+küßte sie auf den Mund. Frau Stahl erhob sich schnell.
+
+»Jetzt ist es aber Zeit, Herr Steinherr,« sagte sie mit freundlichem
+Ernst. »Das Kind wird viel zu unruhig.«
+
+Sofort stand Hans auf. Man verabredete, sich am nächsten Sonntag
+nachmittag zwei Uhr am Bahnhof zu treffen. Bei gutem Wetter sollte
+der Rückweg zu Fuß angetreten werden. Hannes lag ganz still, mit
+geschlossenen Augen, im Bette, als Hans Steinherr sich verabschiedete.
+Sie gab ihm kaum die Hand.
+
+»Ich kann Sie leider nicht auffordern, in der Woche noch einmal
+vorzusprechen,« sagte die alte Frau, als sie Hans die Tür im Vorzimmer
+öffnete. »Ich bin die ganze Woche draußen auf Arbeit.«
+
+»O, Frau Stahl, ohne Ihren Willen würde ich es auch nicht wagen.«
+
+»Es ist gut,« entgegnete sie.
+
+»Haben Sie vielen Dank, Frau Stahl. Der Nachmittag bei Ihnen war
+wirklich schön.«
+
+»Adieu, Herr Steinherr.«
+
+Er stolperte die Stiegen hinunter und stand mit erhitztem Kopf auf der
+Straße. Wohin? dachte er. Nur nicht unter Menschen jetzt. Er eilte
+auf kürzestem Wege nach Hause, in den Garten. Er fühlte, daß seine
+Brust ganz schwer war von all den Gestalten, die er mit sich trug. Ein
+unerklärlich wonniges Gewicht. Bis in die Nacht saß er in der Laube und
+hielt mit den Gestalten allerlei närrische Zwiesprache. — —
+
+Frau Stahl hatte leise die Kammertür geöffnet.
+
+»Schläfst du, Johanna?« fragte sie.
+
+Als keine Antwort kam, blieb sie im Wohnzimmer. Grübelnd stand sie am
+Fenster und blickte hinaus. Dann kehrte sie sich ruhig um und suchte
+sich eine Handarbeit heraus.
+
+Sie sollen ihre Jugend haben, dachte sie, das ist ihr Recht. Man soll
+dem Menschenfrühling nicht ins Handwerk pfuschen, wenn man das Wort
+Glück im Munde führt. Und — und — das Kind gab mir doch die Hand
+darauf. — —
+
+ * * * * *
+
+Zweimal im Laufe der Woche war Hans Steinherr im Atelier seines
+Freundes Springe gewesen. Er hatte sich stundenlang an den
+Bildern vorbeigeschoben, in alle Ecken geguckt und ganz sonderbar
+herumgedruckst.
+
+»Was gibt’s denn, Junge? Hast du Schulden beim Konditor, eine schlechte
+Zensur, oder bist du verliebt?«
+
+»Ach, Sie spotten ja nur.«
+
+»Also verliebt. Dann behalt’s bei dir! Die Heimlichkeit erhöht den
+Reiz. Hoffentlich ist sie von altem Adel?«
+
+»Sehen Sie? Ich wußte ja, daß Sie für gewisse Dinge kein Verständnis
+haben.«
+
+Der Maler hatte eine Melodie gepfiffen und rastlos weiter gearbeitet.
+
+»Herr von Springe?«
+
+»Nun, mein Junge?«
+
+»Wenn — wenn ich nun einmal jemanden nötig haben sollte, der — der —
+auf den ich mich — verlassen könnte?«
+
+»Soweit meine Verständnislosigkeit reicht, würde ich der Jemand ja sein
+können.«
+
+»Herr von Springe!«
+
+Hans war auf ihn zugesprungen und hatte sich an ihn gehängt.
+
+»Mach’ daß du nach Hause kommst und halte die Leute nicht auf. Marsch,
+ab! Hörst du nicht, ich habe zu arbeiten. Ich will allein sein.«
+
+Und jedesmal, wenn der Junge nach solch einer Szene gegangen war,
+hatte der Maler die Arbeit beiseite geschoben und war auf die Veranda
+hinausgetreten, an der das Weinlaub rubinrot schimmerte und tausend
+dringendere Fragen stellte, als der Mund des mannbar gewordenen Knaben
+...
+
+Und nun war Sonntag. Ein Herbsttag von jener Schönheit und tiefen
+Schwermut, die noch einmal alle Erinnerungen des enteilenden Sommers
+zusammengreifen möchte zu einem lang nachschwingenden Akkord. Aus
+Hoffen und Bangen gemischt: Was wird der Tag bringen, was wird nach ihm
+kommen? Nütze den Tag! Er trägt in sich, was über den Winter hilft.
+Sein Zittern ist dein Zittern. — —
+
+Hans Steinherr stand am Bahnhof. Er hatte sich bei den Eltern mit
+einem Ausflug entschuldigt, ohne die Namen der Teilnehmer anzugeben,
+und wartete nun schon seit einer Viertelstunde auf Frau Stahl und ihre
+Enkelin. Für jede der Frauen trug er ein paar Rosen in der Hand. Er war
+so aufgeregt, als gälte es eine Weltreise.
+
+»Hier!« rief er plötzlich aus Leibeskräften und schwenkte den Hut. Da
+waren sie neben ihm.
+
+Frau Stahl war nicht sonderlich modern gekleidet. Er merkte es nicht.
+Er war nur dankbar, daß sie gekommen war. Und Hannes? War das denn
+Hannes? Ja, war sie denn gewachsen in den acht Tagen und umsoviel
+reifer geworden? Er kam sich fast wie ein Knabe neben ihr vor.
+
+»Wie geht es Ihnen?« murmelte er und stopfte ihr die Rosen in die Hand.
+»Wie ich mich freue! Sie sind also wieder ganz gesund? Freuen Sie sich
+denn auch ein wenig auf die Tour? Hier, Frau Stahl, bitte, nehmen Sie
+doch auch die Blumen. Da kommt der Zug. So, bitte, hier können wir
+einsteigen.«
+
+Frau Stahl hatte den Griff des Coupés gefaßt. Jetzt ließ sie ihn wieder
+los.
+
+»Herr Gott,« lachte sie, »da wären wir beinah falsch eingestiegen. Das
+ist ja die erste Klasse.«
+
+»Dann stimmt’s doch. Bitte, Fräulein Hannes.«
+
+Das junge Mädchen blickte fest auf die Coupénummer. Dann preßte sie die
+Lippen zusammen und stieg ein, als ob sie’s anders nicht gewöhnt sei.
+Frau Stahl folgte schweigend, und als letzter Hans. Während der kurzen
+Fahrt bis zur Station Benrath wollte kein Gespräch zu stande kommen.
+
+Steif schritten die Frauen die Feldwege einher, die zum Schloß führten.
+Auch Hans war verstimmt. So zogen die drei Menschen fürbaß.
+
+»Soll ich den Pedell rufen, damit er uns das Schloß zeigt?« fragte
+Hans, als sie vor dem Rokokobau standen und die Blicke über die
+Rasenfläche schweifen ließen, die sich vor ihm ausbreitete.
+
+»Bitte,« sagte Hannes kurz.
+
+Der Pedell kam und übernahm die Führung. Aber was er auch von dem
+Erbauer, dem kunstsinnigen pfälzischen Herzog Karl Theodor und seinem
+fröhlichen Hofstaat zu erzählen wußte, was er berichtete von allerhand
+Zeitläuften und Schicksalen, von hohen und höchsten Herrschaften,
+die geruht hatten, in diesen und jenen historischen Betten zu ruhen:
+er fand nicht das mundaufsperrende Verständnis, das er bei diesen
+Gästen zu finden gehofft hatte. Erst das Trinkgeld stimmte ihn um. Er
+empfahl angelegentlich, nicht zu versäumen, den Park zu besuchen. »Der
+herrlichste Park, den der Niederrhein besitzt. Mit der Dunkelheit wird
+er geschlossen. Sonst müssen Sie übers Gitter klettern.«
+
+Wieder standen die drei Menschen draußen und blickten stumm über die
+Rasenfläche.
+
+»Sind Sie müde, Frau Stahl? Wir hätten wohl erst die Wirtschaft
+aussuchen sollen. Entschuldigen Sie, daß ich nur an mich dachte.«
+
+»Großmutter hat sich in den letzten Tagen überarbeitet,« sagte Hannes
+kurz.
+
+Hans blickte auf die alte Frau und errötete. Hannes gewahrte es und
+wandte sich finster ab.
+
+»Komm, Großmutter, es ist nicht weit. Nur ein paar Schritte bis zum
+Grund.«
+
+Durch die lockende Sonntagspracht gingen sie mit lässigen, müden
+Bewegungen.
+
+Im Wirtshaus im Grund saßen sie, bis die Sonne im Westen zu flammen
+begann. Da drängte die alte Frau, die jungen Leute sollten den Tag
+nicht vertrauern und noch einmal hinausgehen. Sie fühlte sich bereits
+wieder wohler. Das Stillsitzen und der Abendfriede täten ihr am besten.
+
+Da gingen die beiden jungen Menschenkinder den Weg zurück zum Schloß
+und traten durch das Gittertor in den gepflegten Garten und gingen
+weiter, an den Sandsteingöttern vorbei, vorüber an den Wasserspielen
+und dem mit Seerosen bedeckten Bassin, die laubenartig verwachsenen und
+künstlich verschnittenen Heckengänge entlang, in denen es einsam war
+wie in stillen Grotten, und weiter, bis der Park sie aufnahm mit seinen
+Baumriesen und wundervollen Landschaftsbildern, bis sie den Rhein in
+der Ferne aufblitzen sahen und sein heimatliches Gemurmel hörten.
+
+Es war ein Duften um sie her nach kräftigem Waldboden.
+
+Und sie blieben beide stehen und schlossen die Augen und sogen den Duft
+ein. Den Duft von niederrheinischer Scholle, deren Kinder sie waren.
+
+Als sie die Augen öffneten, hatte die flammende Abendsonne den Park
+mit Glut gefüllt, die Bäume schillerten in goldenen Konturen, und die
+Wipfel waren wie purpurne Baldachine. Das Gras zu ihren Füßen war ein
+persischer Teppich geworden in bunten Farben und phantastischen Mustern.
+
+»Wie — schön — —« stammelte fassungslos das junge Mädchen.
+
+Und der junge Begleiter ergriff ihre Hand, als müßte er ihr zeigen, daß
+sie ritterlichen Schutz genösse in diesem Zaubermärchen.
+
+Als die tiefen Schatten fielen und das Licht auslöschten, behielt er
+die Hand in der seinen, und so gingen sie wie Kinder, die sie waren:
+Hand in Hand.
+
+Es wurde nicht dunkel heute. Ein silbriger Schimmer spielte in dem
+Dämmer und durchdrang es. Der Mond kam herauf. Durch den flüsternden
+Park gingen die Kinder Schulter an Schulter, bis sie in den
+Laubengängen waren, in denen einst die Liebe des Rokoko geseufzt.
+Drüben, im Garten, lächelten die verschwiegenen Sandsteinfiguren,
+die allwissenden Heidengötter, wie ehedem; auf den Teichen träumten
+die Wasserrosen; durch die Hecken glitt ein Singen wie von einer
+Harfensaite, immer derselbe, einzige, sehnende Ton; und der Park dort
+öffnete wie eine Mutter die Arme weit.
+
+Die Kinder spürten ein Zittern in den Händen, an denen sie sich gefaßt
+hielten. Sie blieben stehen. Da lief das Zittern durch ihren Körper.
+
+Und das Mädchen legte den Kopf zurück und blickte mit weitgeöffneten
+ergebungsvollen Augen dem Knabenkopf entgegen, der sich mit bebendem
+Mund über sie beugte und ihre Lippen suchte.
+
+Sie berührten sich wie ein Hauch, staunend blieben sie übereinander
+gebeugt, und in ihre kalten Wangen strömte das junge, warme Leben
+zurück.
+
+Die Hände lösten sich und hingen schlaff herab. Dann hoben sich die
+Arme, scheu und ungelenk, und eines umschlang den Nacken des anderen,
+und die Lippen, halbgeöffnet, neigten sich zueinander und drängten
+sich fest aneinander und kehrten, wenn sie sich lassen wollten, immer
+wieder hastig, durstig zueinander zurück. Keines sprach ein Wort. Aber
+wenn sie innehielten, zählte eines des anderen Herzschläge. Bis die
+Herzschläge durcheinander jubelten.
+
+»Hannes, Hannes, ich habe dich so lieb, daß ich es nicht sagen kann.«
+
+»Ich hab’ dich lieb gehabt, wie ich dich sah, und werde nur dich lieb
+haben,« murmelte das Mädchen, und ihre Finger zitterten auf seinem
+Haar, seinen Augen, seinen Wangen.
+
+»Weshalb warst du immer so böse zu mir?«
+
+»Sprich doch nicht,« flehte sie und hob die feuchten Augen und die
+jungen, verlangenden Lippen.
+
+Da faßte er sie um den biegsamen Leib und preßte sie an sich, daß ihnen
+beiden schwindelte.
+
+»Komm, komm, du sollst dich setzen,« und er führte sie behutsam zu
+einer Bank.
+
+Sie saß auf seinem Schoß, seinen Kopf in beiden Händen, und sah ihm
+ganz nahe in die Augen.
+
+»Du!« stieß sie jäh hervor und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
+
+»Du! Du! Du!« stammelte er. »Wenn du mich vergessen solltest!«
+
+»Hans!« rief sie, und sie lachte und schluchzte durcheinander.
+
+»Weshalb hast du mich immer so gequält? Sag es mir doch, damit ich
+ruhig werde,« bat er.
+
+»Ich kann es nicht. Ich kann es wahrhaftig nicht.«
+
+»Aber ich leide darunter. Ich habe ja nie einen anderen Menschen so
+lieb gehabt.«
+
+»O, du! Und ich? — Und ich werde auch nie einen anderen Menschen lieb
+haben können. Nie! Hörst du? Ich habe nicht und ich werde nicht. Hans,
+Hans!«
+
+»So mußt du es mir auch sagen können. Erst heut nachmittag — o, du
+weißt — da warst du so kalt.«
+
+»Sei nicht böse,« sagte sie beschämt und drückte ihr Gesicht an seine
+Brust.
+
+Und plötzlich, unaufgefordert, begann sie zu sprechen. Ohne ihr Gesicht
+von seiner Brust zu heben.
+
+»Ich war ja so kindisch. Siehst du, als ich dich sah, und immer wieder
+sah, da warst du für mich so vornehm. Und ich wollte nicht, daß du
+vornehmer wärst als ich. Und ich hatte solche Angst, du könntest es
+merken, daß du vornehmer seist als ich und könntest dich über mich
+lustig machen wollen. Deshalb war ich so trotzig. Lieb hatt’ ich dich
+ja längst. Und du mich auch; das merkte ich. Aber ich wollte, daß du
+dich nicht schämen solltest. Ich wollte werden wie du, und ich will es
+auch werden. Ich will es! Du darfst dich nie, nie meiner schämen. Ach,
+du, es kann dich ja keiner so lieb haben wie ich. Auf der ganzen Welt
+nicht! Im ganzen Leben nicht!«
+
+Hans kniete vor sie hin, umschlang ihre Kniee und drückte seinen Kopf
+in ihren Schoß.
+
+»Wie gut das tut,« sagte er aus Herzensgrund. »Wie lieb du bist!«
+
+Er küßte ihr Kleid, und sie schmiegte die Wange auf sein Haar.
+
+»Schwöre mir, daß du mein Weib wirst. Daß du auf mich warten wirst, was
+auch kommt!«
+
+Sie schwur es, mit einem stillen Lächeln in der Stimme.
+
+Und er gab tausend heiße Knabenschwüre zur Antwort.
+
+»Komm, Hans,« sagte sie endlich, »Großmutter wartet. Sie vertraut auf
+mich.«
+
+Da stand er von dem kühlen Boden auf, und sie gingen wieder Hand in
+Hand, wie Kinder gehen. Durch den lauschenden Garten, vorbei an den
+lächelnden Sandsteingöttern.
+
+Sie hatten lange zu suchen, bis sie eine Stelle im Parkzaun fanden,
+durch die sie hindurchschlüpfen konnten. Das Parktor war verschlossen.
+Doch der Spaß des Suchens war größer als die Angst. Und alles Kindische
+kehrte in ihnen zurück. Ausgelassen tollten sie den Weg zum Wirtshaus
+im Grund zurück.
+
+Frau Stahl war im Garten eingenickt. Der Wirtssohn spannte eine
+Kalesche an und fuhr die Gäste nach der Stadt zurück. Die alte Frau
+schlummerte im Fonds, müde von der Last der Arbeit, der Sorge und
+der Jahre. Ihr gegenüber saß das Märchen, das sich Jugend nennt, und
+schaute selig lächelnd in die ewigen Sterne.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+
+Der Spätherbst setzte mit endlosem Regen ein. Es regnete fort bis
+in den Dezember. Verdrießlich eilten die sonst so lebensfrohen
+Düsseldorfer über die Straßen, verdrießlich über das Wetter und die
+allgemeine schlechte Geschäftslage. Selbst in den Narrensitzungen,
+die wie alljährlich pünktlich mit der elften Abendstunde des elften
+November begonnen hatten, um mit weiser Gründlichkeit den Karneval, den
+»Fastelowend«, für den Monat Februar vorzubereiten, wurde mehr gallige
+Bosheit als blanker Humor gezeitigt. Im Hofgarten war das Herbstlaub
+an den Bäumen verfault. Harte Windstöße rissen es von den Zweigen
+und klatschten es auf den Boden, wo es zu einer breiigen Masse ward.
+Die Schwäne auf den Teichen ruderten zerzaust am Ufer entlang, als
+wären sie in der Mauser. Kein Mensch bekümmerte sich um die sonst so
+verwöhnten Tiere. Über den Rhein, den das aufgewühlte Grundwasser der
+Nebenflüsse lehmiggelb gefärbt hatte, pfiffen die Winde, daß jeder die
+Kaimauer mied. Die Schiffahrt war eingeschränkt. Die Frachtkähne wagten
+sich bei dem rapid wachsenden Pegelstand nicht aus den Heimatshäfen,
+und die paar kleinen Lokalboote fuhren meist ohne Passagiere. Große
+Geschäftskrisen standen vor der Tür, und der unaufhörliche Regen
+machte die Stimmung immer noch grauer.
+
+Hans und Hannes gewahrten von alledem nichts. Die Not der Zeit blieb
+ihnen ein Buch mit sieben Siegeln. Sie wußten nicht anders, als daß
+das goldene Zeitalter hereingebrochen sein müsse. Und wenn sie an
+jeder Straßenecke über das erbärmliche Hundewetter schelten hörten, so
+lachten sie und segneten das Hundewetter. Unter demselben Regenschirm,
+eng aneinandergeschmiegt, unternahmen sie ihre Streifzüge durch
+die entlegenen Viertel der Altstadt oder setzten den Brückenwärter
+in Erstaunen durch stundenlange Promenaden auf der menschenleeren
+Schiffsbrücke.
+
+»Nu säg ehner, wat en Rejen is!« brummte der Alte kopfschüttelnd. »Dene
+hät et dörch et Dach jerejent, da sind se öwerjeschnappt. Knatsch
+jeck.« — — —
+
+Hans und Hannes hörten und sahen nichts, als nur sich selbst. Jedem
+ging im anderen eine neue Welt auf, und sie suchten sie sich zu eigen
+zu machen und aus der Vermischung eine einheitliche mit erweiterten
+Grenzen aufzubauen. Das Mädchen war dem jungen Manne in der schnelleren
+Anpassung weit voran. Als hätte ihre Seele nur darauf gewartet, daß
+einer an die verriegelte Pforte poche und das »Sesam, öffne dich«
+spräche, so breitete ihr Empfinden und ihr Verständnis die Schwingen.
+Mit dem unausgesprochenen Fraueninstinkt fand sie heraus, was in ihrer
+ungebundenen Natur den guterzogenen Freund verwirrte, sie las ihm sein
+ganzes Formentalent ab, das sie bisher als den Ausdruck angeborener
+Vornehmheit angestaunt hatte, und zitterte insgeheim vor Freude, wenn
+sie seinen verwunderten Blick bemerkte. Aber sie sprach nie ein Wort
+über ihre Lerntätigkeit. Sie hatten auch so viel anderes zu besprechen
+...
+
+Regelmäßig trafen sie sich zwischen der sechsten und siebenten
+Abendstunde, wenn Hans das notwendigste Aufgabenpensum der Schule
+erledigt hatte. Die Ecke am Pempelforter-Stall, neben Schloß Jägerhof,
+galt ihnen als Rendezvous, aber meist trafen sie sich, da Hannes als
+erste zur Stelle war, halbwegs der Jakobistraße und bogen sofort in
+den triefenden, aufgeweichten Hofgarten ein. Als Hans im Gummimantel
+erschien, erschien auch Hannes im Gummimantel. Daß sie ihn aus dem
+Erlös ihres Francesca-Gewandes erstanden hatte, verschwieg sie. Der
+elastische Stoff legte sich fest um den schlanken Mädchenleib, hob die
+feinen Formen und gab der Figur etwas über die Jahre hinaus Vollendetes
+und Reifes.
+
+»Wie wunderschön du bist!« sagte Hans. »Wie ein verkleideter Page. Man
+wagt gar nicht, dich anzufassen.«
+
+Dann nahm sie seinen Arm, drückte sich an ihn und versuchte, mit ihren
+zierlichen Füßen seinen Schritt einzuhalten.
+
+Kam ein Tümpel, so hob sie die Röckchen, prüfte erst mit der Spitze des
+Stiefels die Tiefe und schritt hindurch wie eine kleine Bachstelze.
+
+»Du sollst mir nicht so nach den Füßen schauen, Hans,« sagte sie drüben.
+
+»Ach, Hannes, liebster, süßer Hannes, in ein paar Jahren bist du ja
+doch meine Frau.«
+
+»Ich will es aber nicht, Hans. Oder riskierst du das auch bei den
+jungen Damen, die in eurem Hause verkehren?«
+
+Dann ging er verstimmt neben ihr her. Bis die Bäume sich lichteten
+und die Alleestraße sichtbar wurde, und sie sich plötzlich mit einer
+jähen Bewegung an seine Brust warf und sich von ihm herzen, drücken
+und küssen ließ und den Kuckuck danach fragte, ob er das auch bei den
+jungen Damen, die in seinem elterlichen Hause verkehrten, »riskierte«.
+
+»Hans, ach, du, du!«
+
+»Hänschen, Hänschen, weshalb bin ich nicht schon was geworden!« — —
+
+Mit der gleichen, jähen Bewegung machte sie sich los, und mit der
+sicheren Eleganz, als wäre sie die Schwester des so apart erscheinenden
+jungen Menschen, überschritt sie mit ihm die Straße, um durch die
+Altstadt oder an der Kunstakademie vorbei den Weg zum Rhein zu nehmen.
+
+Sie führten keine tiefen Gespräche, die beiden. Und doch war ihnen
+jedesmal, wenn sie sich trennten, als hätten sie die Tiefen der
+Weltweisheit erschöpft, und sie fühlten sich in ihrer Lebensklugheit
+bereichert mehr denn von allen Schuljahren.
+
+Im stürmenden Wetter, unter dem schwankenden Regenschirm dicht
+aneinandergeschmiegt, blieben sie oft mitten auf der Straße stehen
+und horchten, halb selig, halb verängstigt, auf etwas Unerklärliches,
+Beunruhigendes, Wunderbares — —. Und es war nur das Pulsen ihres
+Blutes, das sie in der dichten Berührung verspürten.
+
+ * * * * *
+
+Nun war Frost eingetreten. Es ging auf Weihnachten zu. Manchen
+verregneten Sonntagnachmittag hatte sich Hans von der alten Frau Stahl
+erbettelt, ihn in dem primitiven Wohnzimmer der Pempelforterstraße
+zubringen zu dürfen. Denn an den Sonntagen verließ die Enkelin die
+Großmutter nicht. Über den einzigen freien Tag, den die alte Frau
+besaß, hatte sie auch allein zu verfügen. Seit in dem jungen Mädchen
+das Geheimnis der Frauennatur zur Offenbarung rang und unbewußt nach
+Betätigung drängte, umschloß sie mit verdreifachter Liebe die einzige
+Frau, die, wenn auch alt und greis, ihrem Leben näher stand und ihr das
+gleiche Geschlecht verkörperte. Dann wandelte sich der Liebeshunger in
+eine Liebesverschwendung.
+
+Und in der Greisin stieg es jung und heiß empor.
+
+»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe
+nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle,« murmelte
+sie und reckte sich auf.
+
+Mit Hans saß sie oft und plauderte. Ruhig, ernst, auf ihre Weise. Sie
+ließ ihn Blicke in ihr Leben tun, und ihr Leben, ihr siebzigjähriges,
+spiegelte siebzig Jahre der Menschheit. Alle Kreuz- und Quersprünge der
+Zeit und der Zeitgenossen, das Trotzen, Aufbegehren, Himmelstürmen,
+das Nachgeben, Erkennen, Resignieren, die Inzucht des Egoismus wie
+das Sichfeilhalten des Strebertums, alle Narrheiten und alle Tugenden
+des Menschengeschlechts hatten der alten Frau ein Spiegelbild lassen
+müssen, und sie mischte die Bilder in ihrem Kaleidoskop und hielt
+es dem stumm Aufhorchenden hin und sagte: »In all dem suchte die
+Menschheit das Glück. Schauen Sie nach, ob Sie es sehen.«
+
+Und Hans sah es nicht.
+
+»Ich sehe es in ganz etwas anderem,« sagte er mit seiner warmen
+Knabenstimme.
+
+»Das taten die anderen von Haus aus auch. Aber sie waren zu schwach,
+ihre Meinung vor den Leuten festzuhalten. Links und rechts lockte
+es, akkurat wie das Glück. Und obenein schien es bequemer oder
+ruhmreicher, oder vornehmer und eleganter; und sie brachen von der
+Bahn aus und nahmen Richtwege. Da fanden sie die Bequemlichkeit,
+den Ruhm, die Vornehmheit, die Eleganz. Und das Glück, das dumme,
+kindische, einfältige, und doch über alles, alles, alles triumphierende
+Menschenglück? Ich bin siebzig Jahre. Fragen Sie Leute, die so alt sind
+wie ich, was sie an Orden und Ämtern bieten für das, was sie — als sie
+jung waren — auf der geraden Bahn liegen sahen. Damals, als sie sich
+ihrer Jugendmeinung, ihres Impulses schämten. Wissen Sie auch, was das
+ist: sich schämen? Scham ist Feigheit.«
+
+Über das Wort hatte er lange nachgegrübelt. Er empfand sehr wohl,
+daß es nur bedingungsweise gebraucht worden war und auch nur
+bedingungsweise seine Anwendung finden konnte. Aber gerade deshalb
+wurde es ihm zum Sporn, den Motiven nachzuspüren und sich zu prüfen,
+wenn er drauf und dran war, sich einer Sache, eines Menschen wegen zu
+schämen. Bevor er dem Gefühl der Scham Gewalt über sich ließ, sezierte
+er mit Gedankenschnelle die treibenden Gründe. Waren sie ideeller
+Natur, gaben sie ihm ein Recht, mit sich oder anderen unzufrieden zu
+sein, so schämte er sich für sich und die anderen mehr denn früher.
+Ging ein egoistischer Zug hindurch, vor allem der, der zur grundlosen
+Überhebung und jener eigensüchtigen Art der Verleugnung drängt, aus der
+Petrus nach des verlästerten Nazareners Gefangennahme die Worte sprach:
+»Ich kenne den Menschen nicht,« so versuchte er mit Gewalt Herr über
+sich selbst zu werden und murmelte es nach wie eine Beschwörung: »Scham
+ist Feigheit.«
+
+An einem Dezemberabend war es, als Hans der Gedanke kam, mit Hannes
+gemeinsam das Springesche Atelier aufzusuchen. Es sollte ein Überfall
+in aller Form sein. Er wollte, daß Springe das Mädchen sehen, daß
+er im stande sein sollte, sich ein Urteil zu bilden. Nie hatte er
+mit dem älteren Freunde über seine Neigung mehr gesprochen, als in
+losgelösten Andeutungen, nie einen Namen genannt. Nun aber trieb ihn
+der jugendliche Renommierstolz, ein Zipfelchen des Schleiers, den er
+über den selbstentdeckten Schatz gebreitet hatte, geheimnisvoll zu
+lüften. Er kam sich mit seinen neunzehn Jahren unendlich kavaliermäßig
+vor, als er, das sechzehnjährige Mädchen am Arm, die Treppe des Hauses
+in der Immermannstraße hinaufstieg und die Klingel zur Springeschen
+Wohnung zog.
+
+Der alte Herr öffnete wie gewöhnlich. Er blinzelte überrascht, als er
+das Pärchen erblickte.
+
+»=Parbleu=,« sagte er und machte eine Verbeugung wie aus einem
+graziösen, altmodischen Menuett. »Die verdammten Kalendermacher! Machen
+die Kerle einem weiß, Dezember sei; und vor der Tür steht der Frühling!
+Treten Sie ein, meine schöne, kleine Gnädige.«
+
+Das junge Mädchen, im molligen, schwarzen Krimmerjackett, die Pelzmütze
+auf dem Kopf, trat errötend näher. Die chevalereske Begrüßung hatte
+ihr sensitives Schönheitsgefühl erregt und sofort die Brücken
+geschlagen zwischen ihr und dem jovialen alten Herrn. Als er ihr die
+Hand zum Gruße reichte, machte sie ihm unwillkürlich einen so tiefen,
+ehrerbietigen Knicks, wie er ihr vorher wohl nie in ihr kapriziöses
+Köpfchen gekommen war, und als er, erfreut, ihre derb behandschuhten
+Händchen hob, um ihr wie einer Dame den Zoll des Handkusses zu
+entrichten, kam sie ihm zuvor und berührte mit ihren warmen, jungen
+Lippen seine schönen, weißen Aristokratenhände.
+
+Mit einem Griff nahm er das feine Kind um die Taille.
+
+»Sommervögelchen,« sagte er mit lächelndem Drohen, während sie
+schelmisch seinem Blick stand hielt, »das bitt’ ich mir aber aus.
+Sparen Sie sich das Küssen, bis es für den Mund reicht. Gelt? Das ist
+abgemacht.«
+
+Dann ließ er sie mit einer Verbeugung los und nahm die Hacken zusammen.
+
+»Gestatten Sie, meine allergnädigste Kleine: von Springe. Übrigens der
+Ältere. Aber nur dem Geburtsschein nach.«
+
+Da trat Hans vor und übernahm schnell die Vorstellung seiner Freundin.
+
+»Fräulein Johanna Stahl. — Verzeihen Sie, Herr von Springe, daß ich Sie
+am Abend noch mit einem Besuch überfalle. Aber ich hatte Fräulein Stahl
+so viel von dem Atelier des Herrn Heinrich erzählt — und — und — am
+Tage habe ich wegen der Vorbereitung zum Examen so wenig Zeit — daß —
+daß — —«
+
+»Wie denn nur? Die Freude ist auf unserer Seite. Burg Springe ist
+entzückt. Mein liebes Fräulein, lassen Sie sich von dem korrekten
+jungen Mann da nicht ihre köstliche Natur verderben. Erstens mal ist
+es erst sechs Uhr, und daß im Winter die Sonne früher untergeht als im
+Sommer, ist ihr eigenes Pech. Und zweitens bitte ich überhaupt, Burg
+Springe als Ihr Eigentum zu betrachten. So eine Lehnsherrin habe ich
+mir schon lange gewünscht. Meinen Respekt, schöne Gönnerin.«
+
+»Donnerwetter noch mal!« entfuhr es ihm, als er sie an sich
+vorbeischreiten ließ und sie ihn mit ihren großen Augen kinderfroh
+anlachte. »Bitte, hier einzutreten. Verzeihen Sie eine kurze Weile,
+ich werde sofort Licht machen. Die jüngere Generation von Springe
+verrichtet im Nebenzimmer gerade ihr Abendgebet. Pardon also für wenige
+Minuten. Religiöse Handlungen soll man nicht stören.«
+
+Er ging, um einen Kerzenfaden herbeizuholen, mit dem er die Lichter
+anzünden wollte.
+
+Aus dem Nebenzimmer drangen die Klänge eines meisterhaft gespielten
+Flügels. Sie suchten sich mit sehnsuchtsvoller Friedlosigkeit, in
+durstiger Leidenschaft und tauchten unter in plötzlicher, zärtlicher
+Erinnerung genossener Träume, um dann ihre Stimme aufs neue zu erheben
+und von der großen Liebe zu sagen, die da gleich ist in der Nähe und
+in der Ferne, im Leben und im Sterben. Und die horchenden jungen
+Menschenkinder erschauerten vor der ungeahnten Menschenherrlichkeit.
+Sie waren blaß geworden, blaß in der Erkenntnis der Größe der Liebe,
+und ihre Hände kamen sich scheu entgegen, und als sie sich hielten,
+verkrampften sie sich. Der Mann am Flügel spielte Tristan und Isoldens
+Liebestod.
+
+Und in der Dunkelheit des Zimmers, in dem sie warteten, von demselben
+Gedanken getrieben, hoben sie beide gleichzeitig die Arme und
+umschlangen sich und preßten in Angst und Wonne Mund auf Mund, wie sie
+noch nie einen Kuß geküßt.
+
+Ebenso hastig ließen sie voneinander ab. Die Musik rauschte auf.
+
+»Das ist wie ein Brautbesuch,« flüsterte Hans stockend.
+
+»Wie ein Brautbesuch,« wiederholte das Mädchen und suchte den schweren
+Atem zu bändigen.
+
+Herr Friedrich Leopold von Springe kam mit dem brennenden Kerzenfaden
+und zündete die großen Atelierlampen an. Auch die Kerzen in den
+Bronzeleuchtern mußten heute daran glauben.
+
+»Ein bißchen festlichen Glanz muß Burg Springe doch hergeben,« meinte
+er schmunzelnd. »Ein Turnier kann ich in der Kürze der Zeit leider
+nicht abhalten lassen. Hoffentlich haben Sie sich vorhin im Dunklen
+nicht allzusehr gefürchtet.«
+
+Der alte Herr schob die augenfällige Ergriffenheit der Kinder auf die
+aufwühlende Tristanmusik.
+
+»So,« sagte er lakonisch, als drinnen der Deckel des Flügels klappte,
+»er hat ausgerungen.«
+
+In der Tür stand Heinrich Springe. Er konnte sich in dem Lichtmeer
+nicht gleich zurechtfinden und beschattete einen Augenblick lang die
+Augen mit der Hand. Dann warf er den Kopf zurück, sah fest auf das Bild
+vor sich und ging mit ausgestreckten Händen auf seinen Besuch zu.
+
+»Meine Freundin, Fräulein Johanna Stahl, würde sich so sehr freuen,
+wenn sie Ihr Atelier sehen dürfte ...«
+
+»Herzlich willkommen. Das ist ja beinahe wie eine Weihnachtsbescherung.
+Gelt, Papa?«
+
+»Wahrhaftig, mein Sohn, ich werde unsere Tanne um drei Tage zu früh
+anzünden. Man soll die Tage nicht nach dem Datum, sondern nach dem
+Inhalt feiern.«
+
+Und der alte Herr verschwand händereibend im Nebenzimmer, in dem der
+Flügel stand.
+
+Heinrich Springe hielt die Hände des jungen Mädchens. Wie entzückend
+die Kleine war, wie biegsam und weich, und doch wie stark und
+selbstsicher an der Seite ihres jungen Freundes! Es ging ein Duft von
+ihr aus, so frisch wie von einer Waldblume. Glückliche Jugend, dachte
+er, wer die Zukunft so sähe wie ihr!
+
+»Darf ich Ihnen aus dem Jackett heraushelfen?« fragte er. »Es wird
+Ihnen zu warm werden, und ein Stündchen müssen Sie nun schon bei uns
+alten Junggesellen aushalten. Ergeben Sie sich nur gleich auf Gnade und
+Ungnade.«
+
+»Ja, ja, mein Sohn,« fuhr er fort und schob Hans scherzend beiseite,
+»das hättest du wissen sollen, als du dich in dies Nest wagtest. Die
+alten Springes von ehedem waren arge Raubritter und Schnapphähne,
+und die jungen kitzelt zuweilen auch noch das Blut. Jetzt erfind nur
+schnell ein Lösegeld. Das Fräulein aber zahlt für ~sich~.«
+
+»Und wenn ich mich sträube?« lachte das Mädchen und reckte sich in
+ihrem blauen mit weißen Litzen besetzten Tuchkleidchen nachdrücklich
+auf.
+
+»So stehle ich Ihnen Ihr Konterfei und laß es zu Weihnachten an böse
+Kinder verteilen mit der Unterschrift: ›Die unartige Johanna‹.«
+
+»Da muß ich mir doch erst Ihre Malkunst ansehen,« meinte sie
+würdevoll, »damit ich mir klar werde, was vorzuziehen ist.«
+
+»Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Arm reiche, meine Gnädigste?«
+
+»Sie sind sehr aufmerksam.«
+
+Hans war sprachlos. War das sein wilder, scheuer Hannes aus der
+Zweizimmerwohnung der Pempelforterstraße? War das dasselbe Mädchen,
+das noch vor wenigen Monaten nichts vom gesellschaftlichen Ton gewußt
+und sich feindselig gegen alles, was aus den ihr fremden Kreisen kam,
+gesträubt hatte? Wer hatte das in sie hineingelegt? Der gute Junge
+ahnte ja nicht, daß er es selber gewesen war. Er wußte ja so gar nichts
+von der geheimnisvollen Kraft der Frauennatur, die, wo sie liebt,
+spielend bewältigt, wozu sonst Jahre der Erziehung oft nicht ausreichen
+wollen. Hannes aber war nur von einem Gedanken beherrscht: ihrem
+Freunde keine Unehre zu machen, tapfer die erste gesellschaftliche
+Probe zu bestehen, zu zeigen, daß sie es wert war, aus der dunklen Ecke
+herausgeholt zu werden, und daß sie das Licht jetzt nicht mehr scheute.
+Es wurden Kräfte in ihr frei, vor denen sie sonst gezagt hätte, aber
+ein urplötzlich erwachter starker Wille spornte sie an, sich ihrer zu
+bedienen, damit der Freund jede ängstliche Besorgnis verliere, sich
+ihrer an anderer Stelle einmal schämen zu müssen, damit sich sein
+Vertrauen wie sein Stolz aus seinen kleinen, namenlosen Schatz stärke.
+
+Sie lächelte ihm zu, als sie an des Malers Arm von Staffelei zu
+Staffelei wanderte. Halb Kinderlächeln war es, und halb süße, frauliche
+Überlegenheit.
+
+Heinrich von Springe war nicht weniger überrascht als Hans Steinherr.
+Er hatte nach den wenigen Andeutungen seines jungen Freundes geglaubt,
+es handle sich um eine der unausbleiblichen Kinderliebeleien mit einem
+der kleinen, nicht gar zu prüden rheinischen Mädel. Und nun fand
+er ein Geschöpf, das zwar die ganze Rasse und die ganze Anmut der
+Rheinlandstöchter in sich verkörperte, dem aber eine Tiefe innewohnte,
+vor deren ernstem Grundspiegel er fast erschrak. Mit seinem geschärften
+Künstlerauge sah er in diesem Spiegel, welche Flut von Gefühlen die
+Tiefe bewegte, wie sich diese Mädchenseele ängstete und wie sie sich
+trotzig mühte, wie sie selig erzitterte und wie sie tapfer kämpfte. Und
+er sah, wie auf dem Grunde sich schon die Wandlung vom Kinde zum Weibe
+vollzogen hatte und ein grenzenloses Vertrauen rührend klar bis zur
+Oberfläche stieg. Jede Antwort, die sie ihm gab, jede freie Äußerung,
+die von einem feinen weiblichen Empfinden für Kunst und Schönheit
+Zeugnis ablegte, bestärkte seine schnelle Zuneigung zu dem seltsamen
+Mädchen, dessen zierliche Schönheit sein Entzücken herausforderte und
+dessen ungehobener innerlicher Reichtum sein Mitgefühl entzündete.
+Würde Hans Steinherr der Mann sein oder doch der Mann werden, den
+Schatz zu heben, ohne die Form zu zerstören? Die Form zu erkennen,
+ohne den Schatz verkümmern zu lassen? Was wußte der junge, unerfahrene
+Mensch von dem Wert des Geschenkes, das er wie ein blindtappendes
+Sonntagskind am Wege gefunden hatte! Noch hatte er keinerlei ernste
+Probe im Leben zu bestehen gehabt.
+
+Heinrich von Springe streifte den jungen Mann zum ersten Male mit einem
+sorgenvolleren Blick.
+
+»Kinder,« sagte er dann, »wie schön, daß ihr gekommen seid!«
+
+»Sie sind also nicht böse?« schmeichelte Hans. »Eigentlich gehörte es
+sich ja nicht, Sie zu überfallen.«
+
+»Mein Fräulein,« wandte sich der Maler an die Kleine, die, ganz Kind
+wieder, bei Hans’ Worten beschämt die Augen gesenkt hatte, »gewöhnen
+Sie diesem jungen Herrn doch die Salonsprache ab, wenn er sich unter
+Freunden befindet. Von Ihnen nehme ich als ganz gewiß an, daß Sie sich
+ebenso freuen wie ich. Stimmt’s?«
+
+»Ja,« sagte sie ehrlich, und es wurde ihr so frei zu Sinn, daß sie klar
+und ruhig die Augen zu ihm erhob.
+
+»Sie müssen mich nicht schelten, Herr Heinrich,« bettelte Hans. »Ich
+konnte doch nicht wissen, wie Sie meine Eigenmächtigkeit aufnehmen
+würden.«
+
+»Auch nicht fühlen?« meinte der Maler und strich ihm über das Haar.
+»Bin ich dein Freund, he? Und bin ich ein blutwarmer Mensch oder ein
+verknöchertes Monstrum, das sich selbst zum Sterben mit Albertis
+Anstandsbuch in den Händen niederlegt? Kleiner Dummkopf du!«
+
+»Ha,« entfuhr es Hannes, »das war famos!«
+
+»Freut mich, mein Fräulein, daß ich mich zum Dolmetscher Ihrer
+Empfindungen machen durfte.«
+
+Er ergriff mit übertriebenem Zeremoniell ihre Hand und führte sie
+an die Lippen, und Hans, glückselig, ergriff ihre andere Hand und
+führte sie ebenso an die Lippen, und das Mädchen stand zwischen ihnen,
+errötend und doch ihrer Freude nicht Herr; wie ein Weihnachtsengel, der
+seine Flügel ausspannt.
+
+»Was ist denn das?« fragte Heinrich Springe und hob den Kopf.
+
+Alle drei horchten sie auf. Aber ihre Stellung behielten sie inne.
+
+Drinnen im Nebenzimmer suchte jemand auf dem Flügel eine Melodie. Jetzt
+hatte er sie, wenn auch etwas klapperig, weil er sie nur mit einem
+Finger zu spielen verstand.
+
+ »Ihr Kinderlein, kommet,
+ O kommet doch all — — —«
+
+Die Musik wurde von einer brüchigen, aber sehr gefühlvollen Stimme
+begleitet.
+
+»Die Kinderlein sind wir,« flüsterte der Maler. »Weiß Gott, Herr
+Friedrich Leopold hat Ernst gemacht und das Geburtstagsfest des Herrn
+Jesus um drei Tage vordatiert!«
+
+»Ihr Kinderlein, ~kommet~!« mahnte die Singstimme des alten Herrn
+dringend von neuem, denn seine musikalischen Kenntnisse waren mit den
+beiden Verszeilen erschöpft.
+
+»Also kommen wir,« entschied der Maler. »Man kann Weihnachten nie
+ausgiebig genug feiern.«
+
+Noch immer hielten sie das Mädchen links und rechts bei den Händen,
+und so führten sie es hinein, just, als würde das stimmungsvolle
+Kindheitsfest nur für das fremde Mädchen gefeiert.
+
+Auf dem Tisch strahlte eine kaum drei Schuh hohe, sattgrüne Tanne in
+buntem Kerzengeflimmer. Eine Schale, hochaufgetürmt mit Früchten aller
+Art, war neben einer bauchigen Champagnerflasche und langgestielten
+Kelchen aufgebaut. Durch das Zimmer zog der harzige Duft des Waldes.
+
+Herr Friedrich Leopold saß am Flügel. Er hatte nun schon dreimal
+seinen Vers gesungen, und als er jetzt den reizenden Weihnachtsengel
+hereinschweben sah, überkam ihn eine andere poetische Erinnerung aus
+der Kinderzeit. Da der Finger auf den Tasten streikte, so klatschte er
+kurz entschlossen den musikalischen Rhythmus mit den Händen und sang
+dazu begeistert und aus Leibeskräften:
+
+ »Christkindchen, komm in unser Haus,
+ Pack die große Tasche aus — —«
+
+»Donnerwetter,« unterbrach er sich bestürzt und sprang eilig auf die
+Beine. »Das war natürlich nur ein Versehen, meine Allergnädigste, ein
+bloßes Vergreifen in meinem Liederschatz. Sie werden mir im Ernst
+nicht die bodenlose Unhöflichkeit zutrauen, von meinem lieben Gast das
+Mitbringen und Auspacken einer großen Tasche zu ergieren. Was singen
+wir nun?«
+
+Heinrich Springe setzte sich auf den Klavierstuhl, sann einen
+Augenblick nach, und bald begann der Flügel unter seinen Händen zu
+jauchzen und zu jubeln. Der Maler sah Hannes an, die neben ihm stand.
+»Kennen Sie das?« fragte er, ohne sich im Spiel zu unterbrechen.
+
+»Aus den Weihnachtsliedern von Peter Cornelius.«
+
+»Ah — — das überrascht mich. — — Die Lieder sind nicht sehr bekannt.«
+
+»Die Musiklehrerin, von der Schule her, hat sie mich gelehrt. Ich
+durfte zuweilen zu ihr kommen.«
+
+»Bitte, singen Sie,« und er begann von neuem.
+
+Ihr Blick fuhr blitzschnell von einem zum anderen; hilfesuchend,
+verwirrt. Ihr Herz begann in rasendem Tempo zu schlagen. Der Maler
+wartete, die Hände auf den Tasten; der alte Herr und Hans standen
+gespannt neben der Tanne. Da hob sie sich in den Schultern und trat,
+die Stirn zusammengezogen, dicht an das Instrument heran.
+
+ »Wie schön geschmückt der festliche Raum.
+ Die Lichter funkeln am Weihnachtsbaum.
+ O fröhliche Zeit! O seliger Traum!«
+
+Der Maler wandte während des Spiels den Kopf und nickte ihr zu:
+»Bravo!« Das half ihr über die Angst. Und sie sang so frisch und
+unbekümmert das Lied zu Ende, als wüßte sie von keinem Zuhörer.
+
+Heinrich Springe reichte ihr die Hand.
+
+»Sie haben ein schönes Organ,« sagte er, »und was mehr ist, Sie haben
+Seele. Wir müssen mehr miteinander musizieren. Topp, schlagen Sie ein!«
+
+»Sie spielen wundervoll,« stammelte sie und suchte mit den Augen den
+Geliebten.
+
+Den aber hatte Herr Friedrich Leopold bei den Rockaufschlägen genommen,
+ihn wach zu rütteln.
+
+»Sie sind an der Reihe, mein Sohn! Es geht ein Rundgesang an unserem
+Tisch herumvidiwum!«
+
+»Ich lebe seit Jahren im Stimmbruch, Herr von Springe.«
+
+»Sie brauchen auch gar nicht zu singen; lassen Sie Ihre Muse singen;
+die ist doch so Gott will über den Stimmbruch erhaben. Sie Drückeberger
+sind der einzige, der heute abend nichts geleistet hat.«
+
+»Ich habe Ihnen Fräulein Stahl gebracht,« sagte Hans mit einer
+Verbeugung.
+
+»Wahrhaftig,« beeilte sich der alte Herr und erwiderte die Verbeugung
+tief. »Ich werde beim Papst darum einkommen, daß man Sie für diese Tat
+heilig spricht.«
+
+Darauf ließ er mit einem Knall den Sektpfropfen an die Decke springen.
+
+»Noch nicht, Vater,« bat der Maler. »Horcht! Das paßt in die Stimmung.«
+
+Vom nahen Klösterchen in der Oststraße klangen die Glocken zu einer
+weihnachtlichen Messe.
+
+»Hast du wirklich kein neues Gedicht verfaßt, Hans?« fragte der Maler.
+»Wir bilden doch eine Familie.«
+
+»Hans dichtet?« rief Hannes überrascht. »Ach — ich meinte — Herrn
+Steinherr.«
+
+»Herrn Steinherr?« versetzte der alte Herr trocken. »Hier gibt es nur
+einen Hans; und der dichtet in der Tat.«
+
+»Ein Weihnachtsliedchen,« sagte Hans mit leiser Stimme, und es trat
+feierliche Stille ein.
+
+ »Komm, komm — — — — —!
+ Die Weihnachtsglocken läuten. — —
+ Du sollst das Lied mir deuten,
+ Ganz leis, ganz fromm.
+ Dort auf dem Tannenmoos,
+ Von Zweigen überhangen,
+ Laß, Liebste, dich umfangen
+ Auf meinem Schoß.
+
+ Still, still — — —!
+ Was können Worte sagen?
+ Ich spür’s an seinem Schlagen:
+ Dein Herz, es will —
+
+ Will aus dem Glockenklang
+ Mir eine Mär’ verkünden,
+ Die ich nicht konnt’ ergründen
+ Ein Leben lang.
+
+ Du! Du! — — —
+ O, laß mich weiter hören!
+ Mit keinem Hauche stören
+ Will ich die Ruh’.
+ Weich nicht verwirrt zurück —
+ Ein Lachen und ein Singen
+ Will dich und mich bezwingen
+ Von innrem Glück.
+
+ Bald, bald — — —!
+ Und wieder brennen Kerzen,
+ Und Glockenruf im Herzen
+ Uns widerhallt.
+ Was heiß in uns gegärt,
+ Die Wünsche, die wir spannen
+ Zu Weihnacht unter Tannen
+ — Gewährt, gewährt!
+
+ Dann, dann — — — — —!
+ O jetzt noch schweigen müssen!
+ Sprich’s aus in tausend Küssen,
+ Was ich gewann. — —
+ Horch, in den Lüften blieb
+ Der Weihnachtsglocken Klingen,
+ Und unsre Seelen singen:
+ Ich hab’ dich lieb. — — —«
+
+Er blieb unter der Tanne stehen und blickte, weltvergessen, sein
+Mädchen an, dem die Kniee zitterten. Sie hätte sich ihm an den Hals
+geworfen, trotz des fremden Ortes, trotz der fremden Menschen, wenn sie
+vermocht hätte, sich von der Stelle zu rühren. Ihr ganzes Wesen war in
+Aufruhr.
+
+Heinrich Springe schenkte die Gläser voll und wortlos reichte er sie
+herum. Dann trat er auf Hans zu und legte ihm den Arm um die Schulter.
+
+»Das soll das Wort sein, das diesem Tag die Weihe gibt: ›Ich hab’ dich
+lieb.‹ Komm, nenne mich du.« —
+
+Noch ein halbes Stündchen blieben sie beisammen. Dann ging der Maler an
+den Flügel.
+
+»Noch ein Abschiedslied,« sagte er und intonierte die Melodie. »Kennen
+Sie es wiederum, Fräulein Johanna?«
+
+»Aus den Brautliedern von Cornelius,« erwiderte sie leise und setzte
+ein.
+
+ »Nun, Liebster, geh und scheide — — —
+ Morgen ist auch noch ein Tag. — Morgen, morgen, morgen ...«
+
+Und das »morgen« klang liebeschwer, sehnsuchtsvoll und wunderbar
+trostreich. — —
+
+»Mein Dichter,« flüsterte sie erregt, als sie durch den Winterabend
+heimschritten, »du wirst so groß, so berühmt werden ...«
+
+»Ich habe ja alles von dir!« rief er leidenschaftlich und preßte ihren
+Arm. »Ich dürfte dich nie verlieren.«
+
+Da stieg ein seltsam neues Gefühl in ihrer jungen Brust auf. Das
+zärtliche Muttergefühl des Weibes für den Geliebten. —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Achtes Kapitel
+
+
+Die Abiturienten des Düsseldorfer Gymnasiums standen im Examen, während
+sich die Stadt zum Empfang des Prinzen Karneval rüstete.
+
+Hans Steinherr stürmte aus dem Schultore heraus auf die Alleestraße.
+Ohne sich zu besinnen, eilte er quer über die Straße nach der
+Droschkenhaltestelle am Alleeplätzchen.
+
+»Grafenbergerchaussee,« rief er dem Kutscher zu. »So schnell Sie
+können.«
+
+Er rasselte am Gymnasium vorüber und warf einen triumphierenden
+Blick auf den nüchternen, grauen Kasten. Dann lehnte er sich wie ein
+Grandseigneur in die Polster zurück und musterte stolz die Passanten
+der Schadowstraße. Der Wagen fuhr dicht am Trottoir vorbei.
+
+»Halt!« rief Hans plötzlich und war mit einem Sprunge aus der Droschke
+heraus. Er hatte Hannes gesehen.
+
+»Bestanden!« jubelte er ihr zu. »Vom Mündlichen dispensiert! Als
+einziger!«
+
+Sie konnte nicht sprechen. Sie faßte scheu nach seiner Hand und
+umklammerte sie. Das Gefühl seiner Bedeutung wuchs bei ihr ins
+Abenteuerliche.
+
+»Nun? Keinen Glückwunsch?« lachte er obenhin. Seine Gedanken waren
+noch bei der Zensurenverkündigung.
+
+»Doch, doch,« stammelte das Mädchen und hielt noch immer die Hand
+umklammert.
+
+»Ich habe Eile,« belehrte er sie. »Meine Eltern warten. Wenn ich eben
+kann, bin ich heute abend bei euch.«
+
+Sie sah ihm nach, wie er mit einer wichtigen Miene, die sie nie an ihm
+gekannt hatte, im Wagen davonrollte. Als sie weiter ging, traf sie auf
+Willibald Hüsgen.
+
+»He, Hannes, weißt du schon? Der Kerl, der Steinherr, hat mal wieder
+Dusel entwickelt. Ach so« — unterbrach er sich mit einem hämischen Ton
+— »seitdem wir so feinen Umgang haben, wollen wir wohl Fräulein und Sie
+genannt werden. =O, excusez!= Soll prompt geschehen.«
+
+»Wie steht es mit ~Ihrem~ Examen?« fragte Hannes freundlich.
+
+»Gott, der Blödsinn! Wird gemacht. Das ist doch sonnenklar. Alles
+auf natürlichem Wege, ohne gegenseitige Aufregung. Der Streber, der
+Steinherr, nee, wie sich der Mensch hatte! Wie ’ne Petroleumlampe mit
+Explosionsgefahr. Ich hab’ Tag für Tag nicht einen Schoppen weniger
+getrunken. Weshalb auch? Als das Schriftliche vorüber war, hört’ ich
+den Direx zum Schulrat sagen: ›Er will nur Maler werden.‹ — So’n Esel!
+Als ob man im Vollbesitz der griechischen Grammatik auch nur ’nen ollen
+griechischen Gipskopp zeichnen könnte!«
+
+Sie nickte, ohne weiter hinzuhören, ihm zu und wollte an ihm vorüber.
+
+»Hören Sie mal, Hannes, was ich noch sagen wollte.« Er vertrat ihr
+den Weg. »Nun werden Sie doch wieder vernünftig werden, wie? Die
+Fisimatenten mit dem Bengel, dem Steinherr, die sind doch nun ex? Der
+wird jetzt irgend ein feines Korpsstudentchen und fragt den Deubel nach
+Ihnen. Bei uns aber, im Gaudeamus, da wird’s jetzt fidel, wenn ich erst
+von der Penne los bin. Lassen Sie mich nur in acht Tagen statt des
+Abiturientenkittels die Sammetjacke anhaben. Ich glaub’, ich könnt’ Sie
+gut brauchen.«
+
+Sie sah ihn eine Sekunde lang starr an, drehte ihm schweigend den
+Rücken zu und ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Mit offenem
+Munde staunte ihr Hüsgen nach.
+
+»Na wart, du!« knurrte er und schaute sich um, ob keiner sein Fiasko
+bemerkt hätte, »dir werd’ ich deinen dämlichen Hochmut anstreichen. Hat
+sich was mit deinem Getue. Alberne Gans!«
+
+Und er wippte, den Gang des Mädchens nachahmend, hinter ihr her und
+verschwand in der väterlichen Wirtschaft.
+
+Hans Steinherr war, zu Hause angelangt, sofort in das Eßzimmer
+gestürmt. Herr Philipp Steinherr befand sich bereits daheim. Er sah
+darauf, daß pünktlich um halb eins zu Mittag gespeist wurde. Grämlich
+saß er bei Tisch und las in einer englischen Zeitung.
+
+»Nun?« begrüßte er den Sohn. »Du bist ja ausnahmsweise von einer
+unheimlichen Pünktlichkeit. Bitte, Margot, klingle, damit sofort
+serviert wird. Die Fabrik wartet auf mich.«
+
+»Bestanden, Papa! Ich habe das Examen bestanden!«
+
+»Das ist doch wohl selbstverständlich. Zu dem Zweck geht man nämlich
+auf die Schule.«
+
+»Aber glänzend bestanden, Papa, summa cum laude, und vom Mündlichen
+dispensiert!«
+
+»Sieh mal an, unser junger Mann!« Die steinernen Züge Philipp
+Steinherrs hellten sich ein wenig auf. »So ist’s recht. Ahm deinem
+Vater nach. Immer aufs Ganze, und dem kleinen Gelichter den Daumen aufs
+Auge, so nur kommt man hoch. Man soll die Steinherrs noch einmal adeln
+— wenn wir wollen.«
+
+»Mama,« begann Hans aufs neue, »ich weiß nicht, ob du zugehört hast,
+ich bin Student!«
+
+Frau Margot winkte ihn herbei und reichte ihm die Hand.
+
+»Das ist ja schrecklich,« versuchte sie zu scherzen. »Ein so großer
+Sohn, ein erwachsener Student, das kompromittiert mich ja geradezu.
+Nimmst du denn gar keine Rücksicht auf deine junge Mama?«
+
+»Margot,« unterbrach Philipp Steinherr verstimmt, »ich hatte doch schon
+vor geraumer Zeit gebeten, daß serviert würde. Vielleicht hast du jetzt
+die Güte, das Zeichen zu geben.«
+
+Das Mahl wurde, wie immer, einsilbig verzehrt. Herr Philipp Steinherr
+hatte die kleinbürgerliche Sitte, die in den Stunden der Mahlzeit
+nicht eine freundliche Erholung, sondern nur eine notwendige hastige
+Stoffzufuhr sieht, aus jenen Tagen beibehalten, da er selbst noch
+zu den kleinen Leuten zählte. Sie saß wie ein Flicken auf einem
+Gesellschaftsrock, und Frau Margot sah mit kühler Überlegenheit darüber
+hinweg.
+
+Hans war es von Kind an nicht anders gewöhnt. Und doch hatte er
+im stillen gehofft, daß heute, an seinem Ehrentage, die Tischregel
+durchbrochen werden würde. Er hatte das Herz so übervoll, und er
+empfand eine leise Enttäuschung, daß keiner es gewahren wollte, daß man
+ihn nicht zum Schwatzen und Lachen animierte, daß alles blieb wie an
+Werkeltagen.
+
+Beim Dessert übergab der Diener dem Hausherrn einen Brief. Philipp
+Steinherr las ihn, sah scharf zu seinem Sohn hinüber und steckte das
+Papier in die Tasche. Dann schälte er seine Orange weiter, aß die
+Frucht bis auf die Kerne und erhob sich.
+
+»Mahlzeit,« sagte er zu seiner Frau, und sie neigte leicht den Kopf.
+
+Als er schon in der Tür stand, wandte er sich noch einmal um.
+
+»Du kannst nachher mal auf mein Zimmer kommen, Hans. Ich möchte einiges
+mit dir besprechen.«
+
+Wenige Minuten später stand Hans im Arbeitszimmer seines Vaters.
+
+Philipp Steinherr saß, das Fenster im Rücken, in einem Lehnstuhl. Sein
+Gesicht war beschattet, aber die Augen durchforschten scharf den vor
+ihm Stehenden. Eine Weile blieb es still zwischen Vater und Sohn. Dann
+sagte der Großfabrikant und deutete lässig auf einen Stuhl: »Du kannst
+dich setzen.«
+
+Hans nahm Platz. Er wartete respektvoll, was der Vater ihm zu sagen
+haben würde.
+
+Noch einmal musterten die scharfen Augen den Sohn. Aber die Stimme
+klang ruhig und geschäftsmäßig.
+
+»Du wirst also zu Ostern zur Universität abgehen. Selbstverständlich
+wählst du das Studium der Jurisprudenz. Ein Großindustrieller muß
+heute so gut Jurist sein, wie der Leiter einer großen Bank.«
+
+»Papa,« warf der junge Mann kleinlaut ein, »Jurist —?«
+
+»Ja, Jurist. An etwas anderes hattest du doch wohl nicht gedacht?«
+
+»Doch, Papa; ich will dir die Wahrheit gestehen. Die Juristerei hat nie
+etwas Anziehendes für mich gehabt.«
+
+»Du sollst sie auch nicht zum Vergnügen erlernen, sondern für das
+Geschäft.«
+
+»Ach, Papa, fürs Geschäft bist du doch da. Mich brauchst du doch
+wahrhaftig nicht.«
+
+»Und wenn ich ~nicht~ mehr da bin? Daran hast du wohl gar nicht
+gedacht?«
+
+»Nein, Papa, daran will ich auch nicht denken.«
+
+»Das macht deiner Pietät Ehre, nicht aber deinem praktischen Verstand.
+Laß dir sagen, mein Junge, daß man bei der wirtschaftlichen Stellung,
+die wir im Staate einnehmen, nicht mit Gefühlen rechnet, sondern mit
+der stahlharten Erkenntnis der Pflichten. Umso besser wirst du alsdann
+die Pietät pflegen können, wie ich sie verstehe.«
+
+»Welche Pflichten meinst du, Papa? Wenn ich mich bestrebe, ein
+nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden —«
+
+»Nützliches Mitglied der Gesellschaft! Was sind das wieder für
+jugendtörichte Phrasen. Die Gesellschaft soll ~uns~ ein nützliches
+Mitglied werden. Verstehst du den kleinen Unterschied? ~Wir~ sind
+in erster Linie die Erhalter und Ernährer des Staates, wir, die
+größte Steuerkraft des Landes. Wir sind die Ernährer und damit
+auch die Bändiger der Arbeitermassen, wir, die Großindustrie. ~Wir~
+halten das Zünglein an der Wage. Und dafür gebührt es sich, daß man
+uns Äquivalente zahlt. Freiwillig geschieht das nicht. Das ist ein
+beständiges Markten und Feilschen, und es kommt darauf an, wer die
+hellsten und härtesten Köpfe hat, den Profit zu erzwingen.«
+
+»Den Profit? Ich denke, du sprichst von Idealen?«
+
+»Ideale? Im Volksleben? Im Wirtschaftskampf? Ach, du armer
+Schwarmgeist, es ist Zeit, daß deine Kathederweisheit unter den
+Schmiedehammer kommt. Ideale! Das ist auch so ein Ding, das noch
+niemand je mit Augen gesehen hat, so wenig wie den lieben Gott. Ein
+jeder macht sich ein Bild davon, aber just immer ein Bild, wie es ihm
+in seinen Kram paßt. In diesem Sinne lass’ ich die Ideale gelten. Als
+gesunde Selbstsucht nämlich. Das stellt zwar deine Begriffe von der
+Sache auf den Kopf.«
+
+»Wie kannst du nur so sprechen, Papa!«
+
+»Ich spreche in vollem Ernst. Und weil ich mich bemühe, dich als einen
+nunmehr erwachsenen Menschen anzusehen, laß ich die Ammenmärchen, die
+für das Proletariat gut sind, beiseite und spreche zu dir als Mann zum
+Mann. Ich spreche zu meinem dereinstigen Nachfolger. Und ich wünsche,
+daß du mich gut verstehst; zu deinem Besten. Es handelt sich für uns
+nicht darum, das Gros der lieben Mitmenschen auf ein höheres Niveau zu
+heben, sondern es handelt sich darum, unablässig unsere Position zu
+erweitern und zu stärken. Die Wohlfahrtsapostel, auch die aus unseren
+Gesellschaftskreisen sind wirre Köpfe, überspannte Flagellanten, die
+sich selbst eine Geißel binden, um sich einen Erlösergeruch zu geben.
+Ach du lieber Gott, diese Art Erlösergedanke wird Wahrheit werden, wenn
+es — keine Menschen mehr geben wird. Solang es aber noch zwei Menschen
+gibt, wird der eine Hammer und der andere Amboß sein. Ich glaube, da
+fällt dir die Wahl nicht schwer.«
+
+»Und das Edle im Menschen, Papa? Daran müssen wir doch auch glauben?«
+
+»An das Edle? Warum denn nicht! Aber das bleibt doch ein ganz
+persönlicher Luxusgegenstand. Wohl dem, der sich alle Tage ein Pöstchen
+darin leisten kann, ohne in den realeren Dingen des Lebens in Konkurs
+zu geraten. Die realeren Dinge gehen nämlich vor, oder du wirst mit
+deinem schönsten Edelsinn von dem Volk da, dem du ihn widmen willst,
+zertrampelt. Füll den Leuten den Magen; das übrige laß ihre Sorge sein.«
+
+»Papa, ich glaube nicht, daß ich mich zu dieser Anschauung durchringen
+kann.«
+
+»Mein lieber Junge, so reden alle Kronprinzen. Wenn du erst die Macht
+in die Hände bekommst, wirst du nichts Eiligeres zu tun haben, als
+dich zum Regime deines Vorgängers zu bekennen. Dann liegt der Knüppel
+plötzlich beim Hunde. Das ist mehr als berechtigte Notwehr, das ist
+der Selbsterhaltungstrieb, der die Wurzeln eines jeden geordneten
+Staatswesens bildet.«
+
+»Du magst gewiß recht haben, Papa, aber alles, was mit hoher Politik
+zusammenhängt, liegt mir so fern.«
+
+»Ach was,« entgegnete Philipp Steinherr und bewegte ärgerlich die
+Hand. »Hohe Politik! Für uns ist ~das~ hohe Politik, was uns am
+nächsten steht. Und das ist bei allen anderen, wie sie sich auch
+nennen, haarscharf ebenso. Klammere dich um Gottes willen nicht an die
+großen Worte! Die Politik ist immer der Egoismus der einzelnen, die
+sich aus Interessengemeinschaft zu einer Vielheit zusammengetan haben.
+Merk dir das Wort ›Interesse‹. Es allein bewegt die Welt.«
+
+Hans sah still und gedrückt vor sich nieder.
+
+»Papa,« sagte er endlich und wagte ein kleines Lächeln, »du hast ja
+deine Interessen so gut wahrgenommen, daß du dir nun auch einmal einen
+Luxus gestatten könntest.«
+
+»Und der wäre?«
+
+»Laß deinen Sohn werden, was er möchte. Ich habe doch so gar keine
+Neigung zur Fabrik. Sieh, Papa,« fuhr er hastig fort, als er an seinem
+Gegenüber ein schnelles Auffahren bemerkte, »wir sind doch reich.
+Und der Zweck des Reichtums ist doch, daß er uns in den Stand setzt,
+unserem Leben unbehindert von materiellen Sorgen ein Ziel zu geben,
+uns darin auszuleben. Ich möchte es, Papa. Ich will ja arbeiten wie
+du, aber auf meine Weise. Es kommt doch nicht darauf an, nur Geld
+aufzuhäufen, viel, viel mehr, als man je gebrauchen kann. Auf die
+innere Befriedigung kommt es doch an.«
+
+»Und wie hattest du dir das mit der Fabrik gedacht, wenn ich mal nicht
+mehr bin?« fragte Philipp Steinherr kalt. »Denn jetzt wirst du dir doch
+etwas gedacht haben?«
+
+»Die Fabrik — —? O, die würde doch ein anderer übernehmen und sicher
+besser leiten als ich.«
+
+»O, die würde!« spottete Philipp Steinherr ihm nach. »Das denkst du dir
+so ganz einfach. Da kommt einfach ein Wildfremder und setzt sich in das
+weiche Bett, das ich, Philipp Steinherr, mit Daransetzung eines ganzen
+Lebens, unter Hergabe aller Kräfte, unter tausend Sorgen und Mühen
+zurechtgemacht habe. Nein, mein Junge, so haben wir nun doch nicht
+gewettet. Die Werke da draußen, ~ich~ hab’ sie gegründet, ~ich~ hab’
+sie aus dem Nichts geschaffen und jeden Skrupel zurückgedrängt, wenn
+es hieß: vorwärts! Ja, glaubst du denn, das hätt’ ich lediglich zum
+Pläsier meines Herrn Sohnes getan? Nur damit der junge Herr in der Lage
+wäre, sich seine Tage so amüsant wie möglich zu gestalten? An dich,
+mein Junge, habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe nur an den Namen
+Steinherr gedacht, den ich vom Aushängeschild einer Schmiede an die
+Tore eines der größten Werke angeschlagen habe. Und da soll er stehen
+bleiben, solange es einen Steinherr gibt. An dem Namen soll niemand
+mehr rütteln und jeder sich beim Lesen an mich erinnern! Das war ~mein~
+Lebensideal, wenn du absolut von Idealen hören willst.«
+
+Er hatte sich erhoben und pochte mit den Knöcheln kurz und hart auf den
+Schreibtisch.
+
+Auch Hans war aufgestanden. Er war bleich und kämpfte mit sich selbst.
+
+»Papa,« sagte er langsam, »du hast vorhin von gesunder Selbstsucht und
+berechtigtem Egoismus gesprochen. Ich möchte die Lehre auch für mich in
+Anspruch nehmen. Mich treibt alles zur Kunst. Ob mein Talent ausreichen
+wird, ausübender, selbstschaffender Künstler zu werden, kann ich heute
+nicht sagen. Aber laß mich den Versuch machen und laß mich gleichzeitig
+Kunstgeschichte studieren.«
+
+Philipp Steinherr wandte sich ab. Er wollte den Sohn das überlegene
+Lächeln, das über seine Züge flog, nicht sehen lassen. Künstler!
+Kunstgeschichte! Er hatte Schlimmeres erwartet. Weshalb sollte sich
+ein Großindustrieller in seinen Mußestunden nicht mit der Kunst
+beschäftigen. Ein jeder ritt eben sein Steckenpferd. Und daß der Junge
+nicht an der Kunst hängen bliebe, dafür wollte er schon sorgen. Der
+Mensch ist das Produkt seiner Umgebung.
+
+»Ich mache dir einen Vorschlag, Hans,« erwiderte er nach einigem
+Besinnen. »Du versprichst mir, regelrecht Jura zu studieren, bis zum
+Doktor. Das Staatsexamen schenke ich dir. Ich stelle dir dafür frei,
+auch kunstgeschichtliche Vorlesungen zu hören und dich, soweit es deine
+Zeit gestattet, auch selbst in den ›freien Künsten‹ zu üben. Du gehst
+zunächst nach Bonn. Ich wünsche, daß du in ein Korps eintrittst. Nach
+dem ersten Semester dienst du dein Jahr bei den Bonner Husaren ab.
+Später kannst du Heidelberg wählen und zum Schluß Berlin. Unterdes
+werden sich deine Meinungen oder deine Talente geklärt haben. Du
+siehst, ich komme dir entgegen, und nun sind wir, denke ich, =all
+right=!«
+
+Er hielt ihm die Hand hin, und Hans, froh ein Zugeständnis erlangt zu
+haben, legte die seine hinein.
+
+Philipp Steinherr lächelte geringschätzig. Weiches Wachs, der Junge. — —
+
+Hans war schon in der Tür, als ihn der Vater zurückrief.
+
+»Du, noch eins. Was kommen mir da für tugendhafte Dinge zu Ohren?«
+Er faßte ihn vorn an der Weste und schüttelte ihn mit gutgespielter
+Gemütlichkeit hin und her. »Ich darf doch wenigstens hoffen, du hast
+dich anständig betragen? Du Duckmäuser, du!«
+
+»Hat man über mein Betragen geklagt, Papa?« fragte Hans verdutzt.
+
+»Die, welche es angeht, wird sich hüten. Hat wohl auch keinen Grund
+dazu. Aber ich bitte mir aus, daß du ihr auch keinen Grund mehr gibst.
+Na ja, es ist ja gut. Ich will dir keinen Sermon halten. Wer hat nicht
+auch seine kleine Schülerliebelei gehabt? Aber nun ordne mir die Sache
+schnell und bündig, damit du mit klarem Kopf ins Studentenleben gehst!«
+
+Er wollte ihn mit einem vertraulichen Klaps abschieben, aber Hans blieb
+stehen.
+
+»Hast du mir noch etwas mitzuteilen, Hans? Dann bitte kurz. Ich habe
+mich bereits über Gebühr verspätet.«
+
+»Ich habe dir nur mitzuteilen, Papa, daß du dich irrst.«
+
+Schwer kamen die Worte heraus, aber sie waren nachdrücklich gesprochen.
+Philipp Steinherr horchte auf und maß den Sohn von oben bis unten.
+
+»Wenn du vorhin auf die Verehrung anspieltest, die ich für Fräulein
+Johanna Stahl hege — und ich wüßte nicht, wen anderes du meinen
+solltest —«
+
+»In der Tat. Fahre nur fort, du machst mich begierig.«
+
+»Papa,« sagte Hans und trat auf ihn zu, um seine Hand zu ergreifen.
+Doch Steinherr übersah die Bewegung. »Papa, ich sehe ein, daß du Grund
+hast, böse zu sein. Verzeih mir. Ich hätte es dir selber sagen sollen.
+Und ich wollte es dir auch sagen, nur jetzt noch nicht, wo ich noch so
+gar nichts geleistet habe.«
+
+»Sehr rücksichtsvoll, obwohl deine Streifzüge die Spatzen von den
+Dächern pfeifen. Trotzdem: ich will dir deine Dummheiten verzeihen. Ich
+sagte ja schon: in ~den~ Jahren begeht jeder seine Jugendeselei. Aber
+nun auch rechtzeitig Schluß gemacht. Jedenfalls wünsche ich von der
+sauberen Angelegenheit nichts mehr zu hören.«
+
+Hans Steinherr sah seinen Vater entgeistert an.
+
+»Du mußt mich nicht recht verstanden haben,« murmelte er, »oder — oder
+man hat dich falsch unterrichtet.«
+
+»Bist du noch immer nicht zu Ende? Du stellst meine Geduld auf eine
+lange Probe.«
+
+»Du hast davon begonnen, Papa; jetzt mußt du mich auch aussprechen
+lassen. Wünschest du, daß ich mich kurz fasse?«
+
+»Ob ich es wünsche!«
+
+Der Alte und der Junge standen sich dicht gegenüber. Keiner wich
+dem Blick des anderen aus. Und zum ersten Male las der Mann, der
+sich nie die Mühe gegeben hatte, in Menschenseelen zu lesen, in den
+Mienen seines Sohnes das Erbteil der niederrheinischen Heimat: die
+Hartköpfigkeit und das verhaltene brausende Temperament.
+
+Hans sah nichts von den zusammengezogenen Falten auf der Stirn des
+Vaters. Vor seinen Augen stand das scheue, zierliche Geschöpf,
+das so rührend in seinem Armutsstolz gewesen war, sich ihm nicht
+aufzudrängen; das ihn geflohen und ihn schlecht behandelt hatte, um
+nicht zu erliegen, und, als er sie dennoch endlich von seiner treuen
+Wahrhaftigkeit überzeugt hatte, ihm stets mehr gegeben hatte als er
+ihr. Er sah ihre furchtsamen Augen voll schreckhafter Spannung auf sich
+gerichtet, ob er mutig sein, ob er sie nicht verleugnen würde, und er
+sagte laut: »Ich liebe Johanna von ganzem Herzen.«
+
+»Das bezweifle ich keineswegs. Es fragt sich nur, wie lange du den
+Unsinn noch fortzusetzen gedenkst.«
+
+»Vater!«
+
+»Sag mir doch: wie alt bist du eigentlich?«
+
+»Zwanzig Jahre geworden.«
+
+»O! Ganz respektabel. Und die — die kleine Person?«
+
+»Sechzehn.«
+
+»Dacht’ ich’s mir doch. Sie soll sich ein Kinderfräulein nehmen und
+keinen Geliebten.«
+
+»Vater!« brauste Hans auf. Er war nicht wiederzuerkennen. Jede Spur von
+Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, alles an ihm vibrierte, seine
+Nasenflügel bebten, die Augen waren weit aufgerissen.
+
+»Was fällt dir ein, Junge? Mäßige dich auf der Stelle!«
+
+»Mir fällt ein,« keuchte Hans, »dich zu bitten, daß ~du~ dich mäßigst.
+Du hast kein Recht, ein Mädchen zu beschimpfen, das reiner und
+selbstloser ist als wir alle. Wenn du sie kennen lernst, wirst ~du~
+gewinnen, nicht sie.«
+
+»Du wärst im stande und brächtest sie mir ins Haus.«
+
+»O nein. Ich lasse sie nicht beleidigen. Aber in ~mein~ Haus hoffe ich
+sie dereinst zu bringen. Und wenn sie später erst meinen Namen trägt,
+wird sie schon geschützt sein.«
+
+»Du hast wohl vergessen, daß du deinen Namen von mir hast. Darüber habe
+ich zu bestimmen. Und ich bestimme, daß, wenn ich es für an der Zeit
+halte, der Name nur in aufsteigender Linie vergeben wird. Vorläufig
+bist du mir noch zu kindisch, um dir meine Pläne auseinanderzusetzen.«
+
+»Über meine Gefühle hast du nicht zu bestimmen. Wenn ich das zuließe,
+wär’ ich nicht wert, einer anständigen Frau in die Augen zu sehen.«
+
+»Bist du toll geworden, Bursche? Ist deine Mutter vielleicht keine
+anständige Frau? Oder glaubst du, wir hätten uns nur unserer schönen
+Augen wegen genommen? Geh hin, schäm dich vor deiner Mutter, wenn du
+das bei deinem neuen Verkehr noch nicht verlernt hast.«
+
+»Meine — Mutter — —?« wiederholte Hans betäubt. Wachte er? Hatte er
+wirklich richtig verstanden? Seine Mutter hätte — nicht aus tiefstem,
+innersten Gefühl heraus — — Ja, war denn das überhaupt möglich? Konnte
+man eine Ehe schließen eines Namens und nicht einer Liebe wegen —? Er
+sah sich wirr um. Er war doch in seinem elterlichen Hause? Wo blieb
+denn sein Verständnis? Wo blieben alle seine jugend-begeisterten
+Argumente? Nichts, nichts regte sich in ihm. Es war ein Rauhreif auf
+seine junge Seele gefallen und fröstelnd ließ sie die Flügel hängen.
+
+Da schlich er scheu aus dem Zimmer. — —
+
+»Wohin?« fragte er sich im Treppenhaus.
+
+»Zur Mutter?«
+
+»Nicht, nicht!« Er hatte Angst, eine unsägliche Angst, er könnte sie
+nicht mehr verstehen. Und sie würde ihn auslachen.
+
+»Zu Frau Stahl? Zu Hannes?«
+
+Er hatte dem Mädchen versprochen, zu kommen. Aber wie sollte er ihr
+unter die Augen treten? Er, mit seinem schlechten Gewissen, das vor
+einer Stunde noch gut gewesen war, und das man ihm schlecht gemacht
+hatte.
+
+In seiner Kehle stieg es auf. Er weinte mit trockenen Augen. Alles
+war grau um ihn. Das würde sich nun nie mehr ändern. Nie mehr? Und
+der erste Schmerz der Jugendliebe ließ ihn sich aufbäumen, in einem
+titanenhaften Trotz, um ihn sogleich wieder niederzudrücken, ganz fest
+auf den platten Boden.
+
+»Heinrich von Springe!«
+
+Der Name fuhr ihm heraus. Springe mußte ihm beistehen, ihn wieder
+zu sich bringen. Der lachende Springe, der sich mit Tod und Teufel
+herumzuschlagen verstand und immer Sieger blieb. In seiner Erregung
+wuchs ihm der Freund zum Heiligen Georg. Der mußte es wissen. Der
+Springe, o ja! Der sah mit seinen ironischen Blicken allen Dingen
+auf den Grund und ließ sie nicht los, bis sie ihm Red’ und Antwort
+gestanden hatten. Aber auslachen — auslachen würde ihn Heinrich Springe
+nicht.
+
+Er eilte, so rasch ihn seine Füße trugen, zur Immermannstraße. An der
+nächsten Ecke traf er die Straßenbahn, aber er lief lieber hinter ihr
+her, als sich mit Menschen zusammen in einen engen, kleinen Raum zu
+setzen. Die stupiden Gesichter hätten ihn krank gemacht.
+
+Oben, an der Etagentür, zog er so heftig die Klingel, daß er selbst
+zusammenfuhr.
+
+Er hörte es gleich am Schritt: es war der Maler, der öffnen kam. Der
+alte Herr machte seinen gewohnten Nachmittagspaziergang.
+
+»Heinrich!« rief der verstörte junge Mensch und warf sich
+leidenschaftlich dem Freund an die Brust.
+
+Der drückte schnell die Tür ins Schloß und zog ihn ins Zimmer.
+
+»Gemach, gemach, mein großer Junge! Es wird schon zu reparieren gehen.«
+
+»Du weißt ja noch gar nicht, was geschehen ist —«
+
+»Ist das Examen nicht geglückt? Das wäre doch wunderbar.«
+
+»Das Examen? Ich hab’ es als Bester bestanden. Aber dann kam’s, heute
+mittag; erst des Studiums wegen, und als das endlich geregelt war,
+Johannas wegen. Man hat meinem Vater alles entstellt hinterbracht. Und
+auf Erläuterungen ließ er sich gar nicht ein. Er hat sie verächtlich
+abgetan, sie beschimpft und —«
+
+»Erzähle der Reihe nach,« sagte der Maler und legte ihm die Hand auf
+die Schulter. »Der Aufgeregte ist immer im Nachteil. Beim ersten
+Kanonenschuß läuft man nicht von dannen.«
+
+Hans bezwang sich. Der starke Wille des Freundes übte auf ihn seine
+Wirkung. Er ließ sich auf einen Stuhl niederdrücken und begann
+mechanisch herzusagen, was sich bei Tisch und nachher im Arbeitszimmer
+des Vaters zugetragen hatte. So monoton er sprach, er vergaß nicht
+das Nebensächlichste. Und ebenso berichtete er den Abschluß der
+Unterhaltung und die andeutenden Worte über seine Mutter.
+
+Heinrich von Springe hatte, den Kopf in die Hand gestützt, zugehört.
+Die müde Beichte des Jungen war längst zu Ende, und immer noch saß der
+Maler in sich versunken im Stuhl. Da berührte eine zitternde Hand sein
+Knie.
+
+»Ja, ja. Gewiß. Ich habe verstanden.«
+
+Er erhob sich, öffnete die Tür zur Veranda, daß ein kalter Luftstrom
+über seine Stirn fuhr, schloß die Tür wieder und kam zurück.
+
+»Also helfen soll ich dir. Deshalb bist du doch gekommen. Einen
+Freundschaftsdienst verlangst du.«
+
+»Du wirst nicht können und auch nicht mögen.«
+
+»Nicht mögen? Man mag vieles nicht und schluckt’s doch herunter, wenn’s
+dienlich ist. So ein rechter Magen kann eine Menge vertragen — Und was
+das Können oder Nichtkönnen betrifft — darüber kann man als Mann erst
+urteilen, wenn man nach mißlungenem Experiment auf der Nase liegt. Bis
+dahin aber hat man schlankweg Courage zu haben.«
+
+Er ging ins Nebenzimmer, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Hans folgte
+ihm wie ein Schatten.
+
+»Was willst du tun?«
+
+»Zunächst deiner Frau Mama meine Aufwartung machen. In
+Herzensangelegenheiten ist immer die Mutter die zuständige Instanz. Du
+bleibst ruhig hier. So, hier hast du ein Glas Wein; das trink mal aus,
+um die Lebensgeister aus den Winkeln zu locken. Wenn du müde wirst, leg
+dich auf das Sofa. Und damit: Gott befohlen.« —
+
+Heinrich Springe schritt, die Hände in den Taschen seines Paletots
+vergraben, durch den unfreundlichen Februartag. Er ging mit
+zusammengezogenen Brauen und fest aufeinandergepreßten Lippen. Und als
+wollte er sich ungerufener Bilder erwehren, beschleunigte er plötzlich
+seinen Schritt. Als er in die Grafenbergerchaussee einbog, schlug es in
+der Stadt fünf Uhr. Er blieb stehen und schöpfte Atem. Vor ihm lag das
+Steinherrsche Haus.
+
+»Weiß Gott, Mensch,« sagte er vor sich hin, »hast du gar selbst das
+Kanonenfieber?«
+
+Er zog die Hausglocke und gab dem öffnenden Mädchen seine Karte. »Für
+die gnädige Frau.«
+
+Wenige Minuten später, und er wurde in den Empfangssalon geführt. Er
+wartete.
+
+»Meine gnädige Frau — —«
+
+Sie war eingetreten, mit hastigem Schritt, und nun zögerte sie, mitten
+im Zimmer.
+
+»Ich weiß nicht, ob ich noch den Vorzug habe —« fuhr er fort, um ihr
+über die Peinlichkeit der Minute hinwegzuhelfen.
+
+»Haben Sie endlich den Weg zu mir zurückgefunden?« entgegnete sie
+zurückhaltend. »Es ist lange her, Herr von Springe. Sehr lange — —«
+
+»So lange, gnädige Frau, daß Ihr kleiner Irrtum leicht verzeihlich ist.
+Nicht ich war’s, der vom Wege abgekommen war.«
+
+»Kommen Sie nur, um mir das zu sagen? Der Heinrich Springe, den ich
+einmal kannte, war ritterlicher.«
+
+»Ich bitte um Verzeihung,« murmelte Springe. »Ich habe nicht das Recht,
+die Beweggründe Ihres Lebens zu prüfen.«
+
+»Aber Sie haben es getan. O ich weiß. Und ich kenne auch das Resultat.
+Sie kamen ja nicht wieder.«
+
+»Es wird Ihnen nicht schwer geworden sein, darüber zu lächeln, gnädige
+Frau. Was war an mir gelegen?«
+
+»Wir waren einmal glückliche Kameraden,« sagte sie, als besänne sie
+sich auf die Zeit. »Die Erinnerungen der Jugend laufen mit durch das
+ganze Leben und bestimmen den Wert aller späteren Eindrücke. Das ist
+bei mir nun einmal so. Möglich, daß ein Mann glücklicher darin ist.«
+
+»Nein,« erwiderte Springe fest, »ein Mann ist nicht glücklicher darin.
+Auch er ist von dem Gewinn oder Verlust seiner Jugend abhängig. Und
+deshalb sehen Sie mich heute vor sich. Nicht meinetwegen. Mein Konto
+ist geschlossen. Aber einer anderen Jugend wegen, der ich Sie zu helfen
+bitte, daß ihr die paar Ideale des Lebens erhalten bleiben, die uns wie
+ein paar gute Gottesgroschen jede dürre Zeit erträglich machen. Wenn
+Sie selber die Eindrücke, die wir aus der Jugend mitnehmen, so hoch
+eintaxieren, wie Sie soeben sagten, so werden Sie mich nicht als einen
+unnützen Bittsteller wegschicken.«
+
+»Sie stehen noch immer, Herr von Springe.«
+
+»Ich danke Ihnen für die Antwort.«
+
+Dann saßen sie sich stumm gegenüber und suchten unbewußt in ihren Zügen
+die Kinder von einst. — —
+
+»Ich komme wegen Hans,« brach der Maler endlich das Schweigen. »Ich
+weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, daß wir gute Freunde geworden
+sind.«
+
+»Ich habe es geahnt,« erwiderte sie leise. »Er hat mir nichts
+anvertraut. Hier geht jeder seinen Weg.«
+
+»Sie haben es geahnt und keinen Einspruch erhoben.«
+
+»Ich wußte ihn in guten Händen.«
+
+Er rückte zusammen und sah sie mit maßlosem Erstaunen an.
+
+»Ja, ja; es ist so,« sagte sie mit einem Anflug von Lächeln. »Ich bin
+wohl doch nicht ganz so schlecht, wie Sie vermuteten.«
+
+»Frau Margot — —« entfuhr es ihm unbedacht.
+
+»Sie kennen also meinen Namen noch? Lieber Freund, nur der Name ist
+geblieben.«
+
+»Gnädige Frau,« sagte er mit Aufbietung aller Willenskraft. »So geht es
+nicht weiter. Ich gedenke tiefernste Dinge mit Ihnen zu besprechen, und
+Sie gedenken mit mir zu kokettieren.«
+
+»Wer sagt Ihnen, daß ich kokettieren will,« rief sie beinahe heftig.
+»Ist denn in Ihren Augen alles Lüge, alles Verstellung an mir? Muß
+ich denn, wenn ich mich einmal freue, von Herzen freue wie ein junges
+Mädchen, immer gleich wieder geduckt und gedemütigt werden? Gut, gut,
+wenn Sie wollen, daß ich Ihnen gegenüber den Ton gebrauche, den ich für
+die ganze indifferente Menschheit gebrauche — o bitte, befehlen Sie
+nur, Sie können ihn haben.«
+
+»Frau Margot,« sagte er, beugte sich vor und faßte ihre Hände. »Meine
+liebe Frau Margot — —«
+
+Ihre Aufwallung ging vorüber. Aus seinen Händen strömte es in sie über
+wie eine Beruhigung.
+
+»Sind das Freundeshände?« lächelte sie. »Wie gut es doch mein Hans hat!«
+
+»Sie kokettieren nicht, gnädige Frau?«
+
+»Doch, doch, ich kokettiere. Daß Sie es nur endlich wissen! Und wenn
+ich noch länger mit Ihnen kokettiere, werde ich Ihnen noch eingestehen,
+daß ich Sie vermißt habe. Mehr können Sie von einer koketten Frau nicht
+verlangen.«
+
+Springe hatte ihre Hände losgelassen und sich erhoben. Er sprach zu
+ihr. Und während er zu ihr sprach, blickte er über sie hinweg, in den
+winterlichen Garten, und sie konnte glauben, er spräche vielleicht nur
+zu sich selbst.
+
+»Ich habe Sie geliebt, Frau Margot, dabei ist nichts Unrechtes, denn
+wir waren Kinder. Wenn wir im Hausflur oder in einer Zimmerecke
+spielten, waren Sie die kleine Prinzessin und ich Ihr Page. Darunter
+taten wir’s nicht, denn wir wurden beide daheim mit großen Ansprüchen
+an das Leben erzogen und — hatten keinen Pfennig. Als ich die ersten
+langen Hosen erhielt, nahm ich mir vor, mich zum Ritter schlagen
+zu lassen, um Sie zu gewinnen. Wir haben damals oft ernsthafte
+Beratungen darüber gepflogen. Ich glaube, es wurde sehr viel Gefühl
+dabei verbraucht. So viel, daß für die Praxis wenig übrig blieb. Ich
+diente mein Jahr bei den Neununddreißigern ab, und Sie feierten Ihren
+siebzehnten Geburtstag. Als ich gratulieren kam, konnte ich gleich
+doppelt gratulieren. Dem Geburtstagskind und der glücklichen Braut.
+Ihr Vater mußte zugreifen, und Sie folgten den Spuren der Erziehung.
+Das war im Winter des Jahres achtundsechzig. Ein paar Monate daraus
+waren Sie verheiratet. Hm, ja, ich hab’ das verstehen gelernt. Ich
+wollte Maler werden. Wollte erst! Und, wie mein alter Herr immer zu
+sagen pflegte: Er war Maler, und sie hatte auch nix. Da konnte ich mir
+das Exempel schon zusammenrechnen. Dann wollte ich mir wenigstens ein
+Surrogat schaffen, und ich nahm, da es mit dem siegreichen Rittertum
+nichts geworden war, die Pagendienste wieder auf. Das war ein stiller,
+seliger Dienst, der nichts anderes wollte, als für Ihr Glück wachen.
+Aber als ich nach dem Feldzug aus Frankreich heimkehrte, hatte sich die
+Zahl der Pagen vermehrt und die Königin bedurfte meiner nicht mehr. Ich
+durfte zurücktreten und hinfüro meinen Erinnerungen leben.«
+
+»Nein, Heinrich,« rief Frau Margot erregt, »so war es nicht! Es
+war nicht meine Schuld. Sie gingen, weil mein Mann eine — eine —
+Geschäftspraxis gegen Sie und Ihren Vater geübt hatte, die Sie
+verletzen mußte. Wie können Sie mir die Verantwortung aufbürden! Ich
+verstand ja nichts von alledem und war schon so apathisch.«
+
+»Ach, meine gnädige Frau, Sie glauben, des entgangenen Geldes wegen
+wäre ich fortgeblieben?«
+
+»Weshalb — nur sonst?« entgegnete sie zögernd. Sein ironischer Ton
+hatte sie beschämt.
+
+»Muß ich es Ihnen wirklich aussprechen? Muß ich Ihnen sagen, daß ich
+den Glauben an Sie verloren hatte, weil Sie nichts, aber auch gar
+nichts taten, um ihn mir zu erhalten? Den Glauben an die Jugend und
+ihre starken Bande? Kein Freundeswort von Ihnen kam, kein Versuch wurde
+gemacht, mich wissen zu lassen, daß die Dinge, wie sie lagen, nichts
+zwischen uns beiden ändern dürften. Ich war für Sie erledigt, wie mein
+Vater für Ihren Gatten. Sie waren die große Dame, und ich der armselige
+Bilderstümper.«
+
+»Heinrich,« fragte sie ganz leise, »haben Sie — haben Sie lange
+darunter gelitten?«
+
+Er gab keine Antwort.
+
+»Wollen Sie mir nicht erwidern? Auch dann nicht, wenn ich — wenn ich
+Ihnen sage, daß ich — bis heute — darunter gelitten habe? Ich bin ja
+heute eine alte Frau. Achtunddreißig Jahre! Da darf ich schon ein
+Geständnis wagen. Ja, ich habe unrecht an Ihnen gehandelt und unrecht
+an der Jugend. Und zur Strafe hat mich die Freudigkeit der Jugend
+verlassen, seit — Sie mich verließen. Meine Erinnerungen wollen nicht
+fröhlich werden. Ist das nicht Buße genug? Keine Rückschau zu haben,
+aus der man die Fröhlichkeit zieht? — Nun habe ich Sie wohl zufrieden
+gestellt.«
+
+Heinrich Springe beugte sich über ihre Hand. Er suchte nach Fassung.
+
+»Sie sind ja noch so jung,« murmelte er. »Mit achtunddreißig Jahren
+steht man mitten im Leben.«
+
+»O ja,« bestätigte sie bitter, »soweit die Lebewelt in Betracht kommt.
+Mitten drin! Das war doch die Ansicht. Aber die Gefühlswelt — ach,
+lieber Freund, klingt es in Ihren Ohren nicht lächerlich, mich von
+einer Gefühlswelt reden zu hören?«
+
+»Ich bedauere Sie.« —
+
+»Glauben Sie mir, was ich möchte? Noch einmal die Prinzessin im
+Hausflur und in den Zimmerecken sein. Mein Gefühlsleben haben wie
+einst. Ich wüßte dann, was Glück ist.«
+
+»So suchen Sie es. Es ist nie zu spät.«
+
+»Wollen Sie mir den Weg zurück zeigen?« fragte sie und sah ihn voll an.
+
+»Ja, Margot,« sagte er, »ich will. Als ich Ihr Haus betrat, wußte ich
+nichts dergleichen. Ich kam wegen Ihres arg mitgenommenen Jungen.
+Helfen Sie ihm aus seinem Leid, und Sie helfen sich aus dem Ihren. Er
+liegt bei mir daheim und wartet auf mich, seinen Freund. Lassen Sie ihn
+wissen, daß er auch noch eine Freundin hat, die seine Schmerzen mit ihm
+versteht. Tragen Sie Sorge, daß ihm seine Jugend nicht verdorben, daß
+er nicht vor der Zeit alt und blasiert wird, und Sie werden die erste
+der fröhlichen Erinnerungen für sich gewonnen haben.«
+
+»Mein Mann hat mir schon davon gesprochen,« erwiderte sie nachdenklich.
+»Das Mädchen soll keinen legitimen Vater haben, und die Großmutter eine
+Arbeiterfrau sein.«
+
+»Das Mädchen ist rein, und überdies schön und klug und liebenswert. Für
+seine Geburt kann kein Mensch. Es hat allen Anspruch darauf, glücklich
+zu werden wie die Höchstgeborenen. Ich kenne die kleine Johanna und
+weiß, was sie Hans sein wird. Ich war mehrfach mit meinem Vater dort im
+Hause, denn mein biederer Alter macht der siebzigjährigen Großmutter
+die Cour, die eine Arbeitsfrau geworden ist, weil sie für die Erziehung
+ihres Enkelkindes arbeitet.«
+
+»Ich werde hingehen,« sagte Frau Margot und richtete sich auf. »Nein,
+nein,« wehrte sie glücklich, als er ihr die Hände küßte, »es ist noch
+eine Bedingung dabei. Erstens: Hans wird Vertrauen zu mir haben und
+ruhig mit seinem Vater abreisen, der eine kurze Italienreise plant. Und
+zweitens: Sie dürfen mich nicht mehr aufgeben.«
+
+»Frau Margot,« entgegnete er nur, »ich habe Sie wiedergefunden. Nun
+werden wir alle wieder jung sein.« — —
+
+Als er hastig seiner Wohnung zueilte, tobten ein paar verfrühte
+Fastnachtsläufer an ihm vorbei. Er war drauf und dran, ihr stürmisches
+»Helau!« mit dem gleichen Juchzer zu erwidern. Zwanzig Jahre waren von
+ihm abgefallen.
+
+Zu Hause fand er Hans auf dem Sofa ruhig eingeschlafen.
+
+Und er beugte sich lange über ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn
+und suchte in dem Gesicht des Jungen nach den Zügen einer anderen
+Jugend.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+
+Hans Steinherr trug die Farben eines der vornehmsten Korps der
+rheinischen Universität, und unter den Kommilitonen galt er als der
+Mann der Zukunft. In welcher Hinsicht, darüber stand die Ansicht
+bei den jungen Herren noch nicht fest. Aber daß ein Mann von seinen
+Mitteln, seinen Allüren, seinen Konnexionen — manche zählten auch seine
+Talente hinzu — eine glänzende Karriere machen würde, das sah der
+Blindeste ein.
+
+Als er aus dem krassesten Fuchsentum herausgeschlüpft war und wagen
+durfte, hin und wieder seine Stimme in die Wagschale zu werfen,
+erkannte er bald seine Geltung und seine Kräfte. Das gab ihm einen
+Anreiz. Es war nicht so sehr jugendliche Eitelkeit, als das stärkere
+Gefühl des Ehrgeizes, unter diesen scharf auf die Form sehenden Leuten
+aus den besten Häusern noch besonders hervorzustechen und über sie
+hinaus als das Muster eines untadelhaften Gentleman betrachtet zu
+werden. Er wurde tonangebend in seinen Anschauungen, wie im Schnitt
+seiner Kleider, und sein Ehrgefühl entwickelte sich aufs peinlichste.
+Galt es einen Ehrenhandel zu erörtern, Hans Steinherr gab das Votum;
+stand die Frage nach standesgemäßer Aufführung zur Verhandlung, Hans
+Steinherr entschied mit der Kaltblütigkeit eines alten Römers. Er
+hielt auf Klassenabstufungen wie kein zweiter. Als er zum ersten Male
+auf die Mensur gestellt wurde, schlief er in der vorhergehenden Nacht
+vor Aufregung nicht eine Sekunde und lag wie im Fieber. Aber als er auf
+der Tenne stand, und ihm aus einem wilden Durchzieher das Blut in den
+Mund lief, wehrte er sich störrisch dagegen, daß der Hieb als Abfuhr
+erklärt werde, und verlangte so lange auszupauken, bis der Korpsarzt
+erklärte, jede Verantwortung ablehnen zu müssen.
+
+Die neue Welt, die sich vor ihm auftat, nahm ihn ganz und gar gefangen,
+und in seinem jugendlichen Überschwang glaubte er bald, in ihr die
+einzige gefunden zu haben.
+
+»Geliebter Leibfuchs,« sagte ihm einmal sein in hohen Semestern
+stehender Leibbursch, dessen Worte er als heiligste Orakelsprüche zu
+betrachten pflegte, »du bist ein ganz famoses Haus, aber du zeigst zu
+viel dein Temperament. Deine Gefühle spiegeln sich auf deinem Gesicht
+auf zehn Meter Entfernung. Da liest man Sonnenschein und Gewitter im
+voraus, wie in der Zeitung. Mein Sohn, überlaß das den Kirmeßgästen,
+die mit ihrem Gefühlslärm hausieren gehen. Leute wie wir haben sich
+unter allen Umständen in der Zucht.«
+
+Und von Stund’ an überwachte der Schüler sein Mienenspiel, und er wurde
+nach Anweisung kalt und gemessen. Das schuf ihm ein neues Übergewicht.
+
+In den Hörsaal war er nur wenige Male gegangen. Das Korpsleben nahm
+ihn gänzlich in Anspruch. Und sein Vater rügte das keineswegs. Gute
+Verbindungen anknüpfen, schien dem Manne, der nur die realen Seiten
+eines jeden Unternehmens in Betracht zog, nicht der letzte Zweck der
+Universitätsjahre.
+
+Trotz der Nähe der Stadt und der guten Bahnverbindung hatte Hans
+Düsseldorf noch nicht wieder besucht. Er redete sich vor, daß er gerade
+während des schwächeren Sommersemesters im Korps unabkömmlich sei, und
+verschob den Besuch auf die Ferien. Insgeheim zwar peinigten ihn andere
+Gedanken. Die Menschen daheim — die Springes, Frau Stahl, Johanna —
+erschienen ihm seit kurzem in einem anderen Licht. Sie waren prächtige
+Menschen, ohne Frage, und er verdankte ihnen entzückende Stunden.
+Aber eigentlich und nur ein wenig streng genommen: sie waren doch ein
+bißchen arg altmodisch und als intimer Umgang doch wohl nicht so ganz
+zweifelsohne. Wenn er dachte, daß ihn einer seiner Korpsbrüder bei
+Frau Stahl Kaffee trinken sehen könnte, stieg ihm heiß das Blut in die
+Wangen. Die beiden von Springe, das war schon etwas anderes. Wenn nur
+nicht Heinrich so gräßlich radikal seine Ansichten zu äußern liebte und
+der alte Herr immer so komisch den Jugendlichen spielte! Und Johanna —
+—?
+
+Es gab Zeiten, wo ihn eine rasende Sehnsucht nach ihrer Zärtlichkeit
+packte und er in Gedanken seitenlange Briefe an sie entwarf. Kam er
+dann von einem Ausflug heim, an dem die Damen des Korps in Schönheit
+und Eleganz teilgenommen und ihn durch den Esprit der großen Welt
+berauscht hatten, so fühlte er eine peinliche Ernüchterung, und
+höchstens eine Ansichtspostkarte flatterte als kurzer Gruß nach dem
+windschiefen Haus in der Pempelforterstraße. Dann schämte er sich vor
+sich selbst, aber er war nicht mehr Herr seiner selbst. Er stand unter
+einem Zwang, dem er gehorchte wie einem Fetisch. Ein unausgesprochenes
+Lächeln, das seine Qualifikationen als Gesellschaftsmensch in Frage
+gezogen hätte, würde ihn rasend gemacht haben.
+
+Nur in den ersten Wochen seines Bonner Aufenthaltes hatte er in
+längeren Episteln dem Mädchen daheim ein Bild von den Herrlichkeiten
+des Studentenlebens entworfen. Damals auch war er noch dem Briefträger
+entgegengelaufen, der ihm die lieben, halb kindlichen, halb
+frauenhaften Antworten brachte. Und selbst Heinrich Springe war nicht
+vergessen worden. Eines Tages hatte der Maler in einem Briefumschlag,
+der den Poststempel Bonn trug, ein schmales Büchlein vorgefunden, das
+den Titel führte »Meine Lieder« und den Autornamen »Hans Steinherr«.
+Aus der ersten Seite stand in Druckschrift zu lesen: »Meinem Mentor
+Heinrich von Springe — Telemach.«
+
+Eine Druckerei in Düsseldorf hatte, wohl auf Kosten des Herausgebers,
+den Verlag übernommen.
+
+Der Maler war an diesem Morgen für keinen Menschen sichtbar. Er
+saß in seinem Atelier und las die zwei Dutzend Gedichte mit einer
+Gründlichkeit, als ob er sie auswendig lernen wollte. Er las nicht nur
+die Worte. Als er mit den Worten fertig war, begann er zwischen den
+Zeilen zu lesen. Dann lehnte er sich, das Büchlein auf den Knieen,
+zurück und ließ die Lieder plastisch werden. Die Bilder aber waren
+eigenwillig und änderten ihre Züge. Und der Maler lachte dazu leise vor
+sich hin ...
+
+Wie eine Erquickung war das schmale Buch. Ein echter und rechter
+Jugendgruß.
+
+»Meinem Mentor — Telemach.«
+
+»Jawohl, Mentor!« polterte er. »Netter Mentor, der bei der Mutter nicht
+einmal sein Versprechen eingelöst hat. Abgemacht. Heute nachmittag geh’
+ich hin.«
+
+Er traf Frau Margot zu Hause, zum Ausgehen gerüstet.
+
+»Ich will nicht lange stören, gnädige Frau. Sagen Sie mir nur, wann ich
+wiederkommen soll.«
+
+»O nein, so entschlüpfen Sie mir nicht. Ich lege nur den Hut ab und bin
+gleich wieder bei Ihnen.«
+
+»Versäumen Sie auch nichts, gnädige Frau? Ich möchte mir keine Ihrer
+Freundinnen zur Feindin machen.«
+
+»So furchtsam sind Sie? Lassen Sie sich doch einmal ansehen.«
+
+»Nur Frauen gegenüber. Da kenn’ ich mich nicht aus.«
+
+»Trotz Ihrer sicherlich reichen Erfahrungen? O Gott, wie beschämt Sie
+tun!«
+
+»Ich habe nur ~eine~ Erfahrung gemacht, gnädige Frau.«
+
+Sie blieb ganz ruhig. Nur ihre Stimme vibrierte ein wenig bei der
+Antwort.
+
+»Ich meine, wir sollten, wenn wir uns sehen, immer ganz besonders
+fröhlich sein.«
+
+»Wahrhaftig, Frau Margot,« rief er herzlich, »da sprechen Sie mir
+aus der Seele! Und nun werde ich mich mal auf mindestens eine Stunde
+häuslich hier niederlassen.«
+
+»Oder,« fragte sie, »haben Sie Lust zu einem Spaziergang? Dann können
+Sie mich begleiten.«
+
+»Wollen Sie mich den Düsseldorfern als Ihre neueste Akquisition
+vorführen? Wenn das Ihren Geschmack nur nicht kompromittiert. Gut,
+spannen Sie mich nur an Ihren Wagen.«
+
+»Nein,« lachte sie, »mit Ihnen ist wirklich kein Staat zu machen. Es
+würde aussehen, als ob ein gestrenger Mentor seine ungezogene Schülerin
+spazieren führte.«
+
+»Halt; Mentor—« unterbrach er sie. »Das Wort fliegt mir heute schon zum
+zweiten Male zu. Ich mache Ihnen eine Proposition. Sie behalten Ihr
+entzückendes Hütchen auf und setzen sich für eine Viertelstunde ganz
+stumm dort in die Sofaecke. Dann begleite ich Sie, so lange Sie mich
+wollen, auf Ihrer Promenade. In dieser Zwischenzeit aber möchte ich
+Ihnen Gedichte vorlesen.«
+
+»Gedichte — —« fragte sie verblüfft. »Sie haben doch nicht etwa — —«
+
+»Ihr Vertrauen ehrt mich,« versetzte er unerschütterlich. »Aber Sie
+dürfen sich beruhigen, die Gedichte stammen von einem anderen.«
+
+»Schade,« meinte sie bedauernd.
+
+»Na, wenn Sie meinen, ich sähe noch leidlich lyrisch aus — an der
+Courage zum Dichten soll’s mir nicht fehlen.«
+
+»Tun Sie es nicht, Heinrich,« riet sie mit mütterlicher Würde, »das
+Leben ist zu kurz und Sie verlieren zu viel Zeit damit.«
+
+»Ganz meine Ansicht. Aber nun: Obacht! Ich bitte das geehrte Auditorium
+um Ruhe.«
+
+Er begann zu lesen. Mit natürlicher Stimme, ohne Pathos, wie es die
+einfachen Verse verlangten.
+
+Die Viertelstunde ging vorüber und keiner bemerkte es. Der Maler
+las Gedicht für Gedicht, wie sie der Reihe nach in dem Büchlein
+enthalten waren. Und zum Schluß das Weihnachtslied, das Hans an dem
+improvisierten Christabend so feierlich-ernst vorgetragen hatte.
+
+ »Horch, in den Lüften blieb
+ Der Weihnachtsglocken Klingen,
+ Und unsre Seelen singen:
+ Ich hab’ dich lieb. — — —«
+
+Er hatte geendet, und leise schloß er das Büchlein. Er sah Frau Margot
+an.
+
+Die wischte seit einiger Zeit an ihren Augen herum. Als sie sich
+beobachtet fühlte, ließ sie rasch die Hand sinken und versteckte sich
+hinter einem lachenden Ärger.
+
+»Mein Gott,« sagte sie hastig, »wie kann man einem gänzlich
+unvorbereiteten Menschen nur so etwas antun!«
+
+»Nicht wahr?« meinte er lakonisch.
+
+»Heinrich,« drängte sie, »gestehen Sie nur, Sie selbst sind der
+Übeltäter.«
+
+»Mein Name steht zwar auf der ersten Seite, gleich hinter dem
+Titelblatt,« gab er zu, »aber es steht davor: ›Meinem Mentor‹ und
+dahinter: ›Telemach‹. Daß ich ein Mentor sei, haben Sie soeben selbst,
+wenn auch nicht in schmeichelhafter Weise, behauptet. Und der Telemach?
+Ja — da ich ~Sie~ ablehne, muß es schon, damit’s doch in der Familie
+bleibt, Ihr — Hans sein.«
+
+»Ach nein,« versetzte sie kopfschüttelnd.
+
+»Ach ja,« versetzte er kopfnickend.
+
+Und dann lachten sie sich gemeinsam aus.
+
+»Der Junge, der Junge!« — sie konnte es nicht begreifen — »wo mag er
+das nur herhaben! ...«
+
+»O — Sie kennen nicht die Vererbungstheorie? Vielleicht hat eins seiner
+Eltern in der Jugend mal ähnliches geträumt, wofür er jetzt die Worte
+gefunden hat. Darwinismus, wirklich, sonst nichts.«
+
+»Spotten Sie nicht immer,« sagte sie und legte ihm die Hand auf den
+Mund. Dabei schloß sie für einen Moment die Augen. Heinrich Springe
+hielt ganz still. Es war ihm leid, daß es nur ein Augenblick war.
+
+»Ich kenne jetzt auch das Mädchen,« fuhr sie nach einer Weile fort.
+»Wenn auch nur vom Sehen. Ich habe so oft die Pempelforterstraße
+aufgesucht, bis ich sie bei einem Patrouillengang entdeckte. Ein süßes
+Geschöpf — — —. Seit der Zeit gehe ich häufig um dieselbe Stunde hin.
+Aber mir ist immer noch nicht eingefallen, wie ich eine persönliche
+Annäherung herbeiführen könnte. Mit der Tür ins Haus stürzen, geht doch
+für mich nicht an.«
+
+»Wollen wir jetzt unsere Wanderung antreten?« erwiderte er. »Wie ich
+annehme, nach der Pempelforterstraße?«
+
+Er öffnete die Tür, und die gefeierte Weltdame schritt an dem
+merkwürdigen Manne vorüber. Als wäre er sich nur guter Taten bewußt,
+ging er offen und frei neben ihr einher.
+
+»Sehen Sie mal,« sagte er unterwegs, »kennen Sie vielleicht den alten
+Herrn dort, der im Begriff ist, zu einer Salzsäule zu erstarren?«
+
+»Aber das ist doch — das ist doch Ihr prächtiger Vater ...«
+
+»Gelt? Das ist doch Herr Friedrich Leopold? Aber besonders geistreich
+— bei allem schuldigen Respekt — sieht er gerade nicht drein. Tag,
+Papachen. Na, so aufgeräumt?«
+
+Der alte Kavalier hätte beinahe vergessen, seinen grauen Zylinder zu
+ziehen. Er blickte verdutzt dem Paare nach. »Hm, hm,« machte er bloß,
+»hm, hm; wird schon seine Richtigkeit haben.« Dann setzte er seinen
+Spaziergang fort.
+
+Als das Paar in die Pempelforterstraße einbiegen wollte, kam vom
+Hofgarten her Hannes. Sie ging, die Augen an den Boden geheftet,
+nachdenklich ihren Weg und fuhr zusammen, als sie Springes Anruf
+vernahm.
+
+»Potz Tausend, Fräulein Johanna, Sie machen sich! Schon so stolz, daß
+man einen guten Freund über den Haufen rennt?«
+
+»Ach — Herr von Springe — Sie sind’s. Gerade dacht’ ich an Sie.«
+
+»Nicht flunkern, Fräuleinchen,« drohte er ihr. »So viel
+Selbstverleugnung verlang’ ich ja gar nicht.« Und als sie errötend von
+ihm zu der fremden Dame sah, fuhr er fort, als ob sie sich über etwas
+Selbstverständliches unterhielten: »Nun? Gute Nachrichten von Bonn?«
+
+Sie errötete noch stärker, aber es war ein Strahlen in dem Erröten, und
+sie nickte lebhaft.
+
+»Darf man vielleicht hören? Ich bin doch gewissermaßen der Nächste dazu
+— natürlich: soweit es keine Geheimnisse sind.«
+
+»Ich habe ein Gedichtbuch bekommen,« sagte sie so leise, als
+streichelte sie jedes ihrer Worte.
+
+»Was Sie sagen! Ein Gedichtbuch? Von wem ist es denn? Von Goethe? Oder
+gar von Heinrich Heine —«
+
+»Von Hans selbst,« antwortete sie und sah ihn triumphierend an.
+
+»Machen Sie keine Späße, Fräulein Johanna! Von Hans? Und gedruckt,
+sagen Sie? Wirklich mit Druckbuchstaben?«
+
+»Ach, Herr von Springe,« sagte sie und wiegte den Kopf neckend vor ihm
+hin und her, »mich foppen Sie heute nicht. Ich ärgere mich heute ganz
+bestimmt nicht. Und wenn Sie wüßten, was ich weiß, würden Sie auch
+anders sein.«
+
+»So — —? Was wissen Sie denn?«
+
+»Ihr Name steht vorn in dem Buch,« raunte sie und sah ihn mit
+erwartungsvollen Augen an.
+
+Aber die Wirkung blieb aus.
+
+»Ihr Name? — Wer ist denn diese ›ihr‹? Der Radschläger von Jung’ wird
+sich doch in Bonn keine Flamme angeschafft haben?«
+
+Nun wurde sie doch ein wenig entrüstet.
+
+»Ich meine ~Ihren~ Namen, Herr von Springe, Ihren groß geschrieben.«
+
+»Donnerwetter!« rief er erstaunt und schlug die Hände zusammen.
+»Apropos, Fräulein, ich schreibe meinen Namen immer groß.«
+
+Frau Margot stand zur Seite und ergötzte sich königlich an der
+Unterhaltung, die sie belauschte. Ihre Freude an dem eigenartig
+schönen und frischen Mädchen, in dem das Knospen und Blühen noch im
+Streite lag, wuchs von Minute zu Minute. Sie konnte sich nicht länger
+enthalten, sie selbst mußte mit dem Mädchen plaudern.
+
+»Dürfte man das seltene Buch einmal sehen?« sagte sie freundlich und
+trat näher. »Bücherneuheiten sind immer interessant.«
+
+»Meine kleine Freundin, Fräulein Johanna Stahl« — stellte Springe vor
+— »meine große Freundin — —« und er murmelte höchst unverständlich
+einen Namen. »Fräulein Johanna wird sicher so liebenswürdig sein, uns
+einen Blick auf das Buch zu gestatten. Da, wie sie sagt, mein Name in
+dem Büchlein vorkommt, so hab’ ich doch sozusagen ein Recht darauf,
+nachzusehen, ob man auch keinen Unfug mit mir getrieben hat.«
+
+»Das Buch liegt aber oben in der Wohnung,« stotterte Hannes kleinlaut.
+
+»Sie scherzen, Fräulein. Wetten, daß Sie es vorn in der Jacke stecken
+haben?«
+
+Frau Margot kam der geängstigten kleinen Mitschwester zu Hilfe.
+
+»Wenn Sie das Buch in der Wohnung haben, wäre es wohl unbescheiden,
+Sie zu bitten, uns auf einen Augenblick mit hinaufzunehmen? Wir würden
+Ihnen zwar sicherlich keine Ungelegenheiten machen.«
+
+Das Mädchen nagte nervös an der Unterlippe.
+
+»Bitte,« stieß sie dann kurz hervor und ging vorauf. Lächelnd folgten
+ihr die beiden Besucher. — —
+
+»Ich will nur ablegen,« sagte Hannes, als sie zu dritt in der einfachen
+Wohnstube standen, und ging eilig, ohne den Blick vom Boden zu erheben,
+in die Schlafkammer.
+
+»Sagt’ ich’s nicht,« flüsterte Springe schelmisch, »sie hat es doch im
+Jackett.«
+
+Frau Margot hob beschwörend die Hand. Ihr war eigentümlich zu Mute in
+diesem engen, dürftigen Raum.
+
+Da kam Hannes zurück. Sie hatte die dünne Sommerjacke abgelegt und
+stand nun rank und schlank in ihrem weißen Kleide da. Das Buch trug sie
+in der Hand.
+
+»Darf ich das Buch nehmen?« fragte Frau Margot und hielt, als sie es
+nahm, mit leichtem, wie zufälligem Griff die Fingerspitzen des Mädchens
+in ihrer Hand fest.
+
+»Meine Lieder — Hans Steinherr,« las sie ab, und dann sprach sie einige
+der Gedichte, die sie aufschlug, halblaut vor sich hin. Plötzlich hielt
+sie inne und sah mit forschendem Blick das Mädchen an.
+
+»Sie zittern ja, Fräulein. Ich spür’ es in Ihren Fingerspitzen. Ist
+Ihnen nicht wohl?«
+
+»Doch,« kam die Antwort, und die Lippen schlossen sich wieder. Aber auf
+der Stirn stand eine tiefe Falte.
+
+Frau Margot las weiter, um nach wenigen Zeilen von neuem einzuhalten.
+
+»Bin ich Ihnen unangenehm? — Sie ziehen Ihre Hand zurück?«
+
+»Ich weiß jetzt, wer Sie sind. Sie sind Hans Steinherrs Mutter.«
+
+»Wie kommen Sie mit einem Male darauf?«
+
+Und — plötzlich fassungslos — stammelte Hannes: »Weil Sie mich so
+quälen — — —«
+
+»Mädchen!« rief Frau Margot bestürzt, »Mädchen! Was sagen Sie da!« Und
+schnell schlang sie die Arme um die zuckenden Schultern der Erregten
+und drückte das von dem schweren, leuchtenden Haar gekrönte Köpfchen
+fest gegen ihre Brust ... »Springe,« bat sie mit einem Blick. Und
+Heinrich Springe verstand und verließ leise die Wohnung.
+
+Dort oben aber ließ sich Frau Margot Steinherr auf einen Stuhl nieder
+und zog das widerstandslose Geschöpf auf ihren Schoß. Mit weicher Hand
+strich sie ihm wie einem Kinde über die Augen und spielte mit seinen
+Flechten, die ihm in das verweinte Gesicht gefallen waren. Sie wunderte
+sich selbst, wie lind, wie sanft sie das alles tat. Es war doch sonst
+nicht ihre Art gewesen, über den Gefühlen anderer sentimental zu
+werden. Was war es nur, das in ihr flutete? Seit dem Tage, da sie
+mit dem wiedergekehrten Springe Kindheitserinnerungen ausgetauscht.
+Und heute so viel stärker, angesichts dieses bangenden, jugendwarmen
+Glücks, das sie auf dem Schoße hielt — —.
+
+»Komme ich Ihnen noch immer so schrecklich vor?« fragte sie lächelnd.
+
+Hannes schüttelte stumm den Kopf, den sie noch immer an die Brust der
+fremden Dame gedrängt hielt.
+
+Wie wohl das tat! Wie köstlich es sich hier lag! Sie empfand das feine
+Wogen und konnte jeden Herzschlag zählen. Sie hielt ganz still und
+preßte nur die Lippen auf das Kleid Frau Margots.
+
+»Kleines Liebchen — —« sagte die verträumt. »Kleines Liebchen — — —«
+
+Und wieder stieg ein Wundern in ihr auf, woher sie nur diese nie
+gebrauchten Worte nahm.
+
+»Also lieb haben Sie meinen großen Jungen?« fuhr sie nach einer Weile
+fort. »Und so ganz hinter dem Rücken der Mama, die man für eine
+Vogelscheuche hält?«
+
+»O, Sie sind so schön!« stieß Hannes hervor und sah mit ihren
+lächelnden Kinderaugen zu ihr empor.
+
+»Kind, Kind, was für Schmeicheleien! Wer ist von uns beiden schön?
+Vielleicht war ich es mal ein wenig, als ich so jung war wie Sie. Heute
+sind Sie es.«
+
+»Nein, nein,« rief Hannes stürmisch, »Sie sind es heute! O, so schön
+werd’ ich in meinem ganzen Leben nicht werden.«
+
+Frau Margot erhob sich schnell, um ihre Verwirrung zu verbergen.
+Tag für Tag hatte sie in der Gesellschaft, von allen Offizieren
+der Garnison und den sämtlichen Herren der Regierung, ähnliche
+Worte vernommen und sie wie einen ihrer Stellung schuldigen Tribut
+entgegengenommen. Sie waren ihrem Ohre so bekannt wie den Lippen
+der Herren geläufig. Wie man eine Phrase wechselt. Und oft, in den
+letzten Jahren, wenn ein neuer, jüngerer Stern am Gesellschaftshimmel
+Düsseldorfs erschien, hatte sie innerlich gebangt, es könnte wirklich
+eine Phrase sein ... Jetzt aber — dieses Kind — mit dem klaren Blick
+und der jugendlichen Begeisterung — Gott, sie wurde ja über die
+Lobpreisung verwirrt wie ein junges Ding von sechzehn Jahren, das zum
+ersten Male von seinen Reizen erfährt. Wirkte denn diese Jugendlichkeit
+ansteckend?
+
+Sie nahm sich zusammen und ging nachdenklich durch das Zimmer. Dabei
+warf sie durch den Türspalt einen Blick in die Schlafkammer. Wie
+leuchtend weiß das Stübchen war. Nein, da hinein gehörte kein anderer
+Schmuck als die weißen Glieder des schlanken Mädchens.
+
+»Fräulein Johanna,« sagte sie und blieb vor ihr stehen, »geben Sie mir
+mal Ihre Händchen. So. Und damit wollen wir es für heute bewenden
+lassen. Wir haben uns gesehen und gesprochen und müssen nun zunächst
+unsere Gedanken sammeln. Ein jeder über den anderen. Ich denke,« fügte
+sie mit einem ermunternden Blick hinzu, »das soll uns nicht schwer
+fallen. Versprechen kann ich Ihnen heute nichts, wenigstens nichts, was
+über meine Person hinausgeht. Mein Mann ist gewöhnt, sich seine eigenen
+Ansichten zu bilden und danach zu handeln. Aber Sie sind ja noch so
+jung und werden abwarten können, besonders, da Sie jetzt wissen, daß
+mit mir zu reden ist. Oder wissen Sie das nicht?«
+
+»Doch, doch,« stammelte die Kleine.
+
+»Nun, so kommen Sie zuweilen zu mir. Morgen nachmittag, um diese
+Stunde. Geben Sie acht, wir werden uns schon befreunden und auch Pläne
+schmieden. Ihre Frau Großmutter hoffe ich noch kennen zu lernen. Adieu,
+mein Kindchen. Und vergessen Sie nicht: morgen!«
+
+Hannes knickste und beugte sich sprachlos über die feingeäderte
+Frauenhand. Da faßte Frau Margot sie unter das Kinn und küßte sie auf
+die Stirn.
+
+»Adieu, adieu — — —«
+
+Draußen auf der Straße wartete Springe auf sie. Er tat keine Frage, und
+sie gingen eine ganze Weile, ohne zu reden, nebeneinander her. Aber das
+Schweigen brachte sie einander näher.
+
+»Sie sind also meiner Ansicht?« fragte sie endlich unvermittelt und
+blieb stehen.
+
+»Umgekehrt, gnädige Frau, Sie sind der meinen, und das macht mich
+froher, als ich sagen kann.«
+
+»Des kleinen, herzigen Mädchens wegen?«
+
+»Nein, Ihretwegen, Frau Margot. Sie verstehen mich.«
+
+Und sie verstand, was er meinte.
+
+»Hat die Kleine besondere Talente, die man ausbilden könnte? Ich möchte
+für alle Fälle etwas für sie tun.«
+
+»Sie ist überraschend musikalisch. Es würde sich lohnen, sie im Gesang
+ausbilden zu lassen.«
+
+»Sie soll mir morgen etwas vorsingen. Dann werde ich mit einer
+Gesangsmeisterin sprechen.«
+
+»Werden Sie mir erlauben, mein Scherflein dazu beizutragen?«
+
+»Springe,« meinte sie, »können Sie mir denn gar keine Freude gönnen?«
+
+»Geteilte Freude ist doppelte Freude. Wenigstens für mich. Ich bin nun
+einmal ein Egoist.«
+
+»Ja,« sagte sie, »mir wird es auch so gehen. Wir beide als gemeinsame
+Pflegeeltern — —.«
+
+»Nun haben wir schon ein gemeinsames Kind.«
+
+»Springe!« verwies sie ihn empört, aber sie mußte doch über ihn lachen.
+»Sie sind und bleiben ein unverbesserlicher —«
+
+»Optimist,« vollendete er. »Man muß seinem Herrgott für alles danken.«
+
+Er brachte sie bis vor ihr Haus, und sie verabschiedeten sich mit einem
+kameradschaftlichen Händedruck.
+
+Am nächsten Tage war Hannes gekommen, und sie kam fast Tag für Tag. Es
+dauerte lange, bis sie die Scheu vor den glänzenden Räumen überwunden
+hatte. Nicht der Komfort war es, der auf ihr lastete, sondern das
+ungewisse Gefühl, daß sie hier wie ein heimlicher Dieb aus- und
+eingehe. Der Geist Philipp Steinherrs ging sichtbar für sie durch die
+Räume. Und ob sie auch den Fabrikanten tagsüber draußen auf seinen
+Eisenwerken wußte und keinerlei Überraschung zu befürchten hatte:
+daß sie nicht wie ein von allen gern gesehener Gast das Vaterhaus
+ihres Hans betreten konnte, bedrängte um des Liebsten willen ihren
+Mädchenstolz.
+
+Frau Margot beobachtete die junge Gesellschafterin mit ungetrübtem
+Auge. Sie wünschte den Charakter in allen seinen Phasen zu ergründen.
+Und gerade der stumme Seelenkampf, den sie wahrnahm, war es, der ihr
+die stärksten Sympathien einflößte. Als sie sich sicher wußte, daß
+ihre Zuneigung zu dem äußerlich seltsamen und innerlich so klaren
+Wesen eine unerschütterliche geworden sei, begann sie mit festen
+Händen in den Bildungsgang ihrer Schutzbefohlenen einzugreifen. Sie
+brachte sie persönlich zur Gesangsmeisterin, und als die ernste Frau
+beinahe enthusiastisch erklärte, in der Kleinen stecke eine Altistin
+von seltener Begabung und seltenem Wohllaut der Stimme, schloß sie auf
+der Stelle den Studienvertrag ab, demzufolge Hannes dreimal in der
+Woche das Haus der Meisterin zu besuchen hatte. Doch hierbei blieb
+Frau Margot nicht stehen. Sie wies das Mädchen an, ihre Sprachstudien
+wieder aufzunehmen, führte nach einiger Zeit die Konversation öfters
+im englischen oder französischen Idiom, wählte vornehme, deutsche
+Lektüre aus und ließ sie wie spielend alle die kleinen Handgriffe
+lernen, die eine schöne Frau im Salon als Wirtin oder Gast erst recht
+liebenswert erscheinen lassen. Als der Herbst vorüberging und die
+Saison anhob, schickte sie das bildungshungrige Mädchen zuweilen in
+die großen Konzertaufführungen oder auch ins Theater, das sich damals
+eines hohen Rufes erfreute. Und beim nächsten Zusammensein ließ sie
+sich die Eindrücke schildern, korrigierte unauffällig den Geschmack und
+erläuterte freundlich, was ihrem Fassungsvermögen noch unklar geblieben
+war.
+
+Und der Herbst war nun lange schon vorüber, die Universitätsferien
+waren zu Ende gegangen, und Hans war nicht gekommen. Er hatte mit
+einigen seiner Kommilitonen sofort von Bonn aus eine Ferienreise
+angetreten, die vom Vater mit Vergnügen gesehen wurde und ihn auf
+fröhlichen Mittelmeerfahrten zurückhielt. Dann war Philipp Steinherr
+ihm entgegengereist, hatte ihn in Bonn equipiert, und Hans hatte seinen
+Dienst bei den blauen Husaren angetreten.
+
+»Der Prophet gilt nichts im Vaterland, wenn er seine Entwicklung unter
+den Augen der Nachbarn abmacht,« hatte Philipp Steinherr dem Sohne
+erklärt. »Zeige dich den Leuten daheim nicht zu oft in deiner unreifen
+Zeit, tobe deine Dummheiten außerhalb der Mauern Düsseldorfs aus, und
+man wird, wenn du nach ein paar Jahren zurückkehrst als Doktor der
+Rechte, Reserveoffizier und was weiß ich, stets eine Art Respektsperson
+in dir sehen und nicht den Allerweltsduzbruder, dem man mit der alten,
+plumpen Vertraulichkeit begegnen kann. Ich möchte, daß du daheim einmal
+Numero eins wirst.«
+
+Und Hans hatte sich vorgenommen, sich nicht eher daheim zu zeigen,
+als bis er zum mindesten die Tressen erlangt hätte und ihm dadurch,
+als Offiziersaspirant, unter den Besuchern seines väterlichen Hauses
+von vornherein eine angemessene Stellung gewährleistet sei. Er tat
+seinen Dienst mit einem Ehrgeiz, der ihm schnell die Beachtung und das
+Wohlwollen seiner kavalleristischen Vorgesetzten eintrug.
+
+Die Briefe an Hannes wurden in dieser Zeit noch seltener. Er
+entschuldigte sich mit seinen tausend Dienstobliegenheiten, Strapazen
+und Ärger, und vertröstete auf ein Wiedersehen, das alles klären würde.
+Was er sich unter dieser Klärung gedacht hatte, war ihm selbst nicht
+bekannt. Nur jetzt nicht nachdenken.
+
+Daß Hannes bei seiner Mutter verkehrte, war ihm unbekannt geblieben.
+Frau Margot hatte gewünscht, daß die Mitteilung unterbliebe, damit der
+Junge eines Tages umsomehr von dem Ereignis und den sich an Hannes
+so augenfällig bemerkbar machenden Folgen überrascht würde. Aber dem
+Jungen eilte es scheinbar ja gar nicht, sich überraschen zu lassen.
+Ein Grund mehr, ihn nicht unnötig und voreilig in den inneren Konflikt
+zwischen Vater und Mutter hineinzutreiben.
+
+Ruhig ging das Leben in Düsseldorf seinen Weg. Die geschäftliche
+Krisis, welche die ganze deutsche Industrie ergriffen hatte, war
+zwar nicht gewichen, aber schon sahen einige Wetterkundige der
+Großindustrie Zeichen auftauchen, die auf einen baldigen und jähen
+Umschwung hindeuteten. Philipp Steinherr war nicht der letzte, der sie
+bemerkte. Aber er sprach kein Wort von besseren Zeiten, von Zeiten,
+die der Industrie eine bis dahin in Deutschland unerhörte Hausse
+bringen sollten; er handelte auf seine Weise. Als der Sommer kam,
+hatte er zu seinen Werken in aller Heimlichkeit einige Etablissements
+hinzugekauft, die sich allein nicht mehr zu halten vermochten,
+und ließ alsbald unauffällig alle Betriebe in Stand setzen und die
+Vorräte an Rohmaterialien für billiges Geld verdoppeln, um beim ersten
+beutekündenden Morgenrot sofort gerüstet auf der Schanze zu stehen.
+
+Da trug man an einem frühen Sommerabend den unersättlichen Mann auf
+einer Bahre ins Haus. Während einer hitzigen Auseinandersetzung auf dem
+Werk war er vom Schlag getroffen umgesunken.
+
+Es war noch Leben in ihm, als man ihn in seinem Zimmer bettete. Zwei
+der besten Ärzte hielten bei ihm Wacht, bis ihm das Bewußtsein dämmernd
+zurückkehrte. Frau Margot, furchtbar erregt und an nichts anderes
+denkend als an die Linderung seiner Schmerzen, wich und wankte nicht
+von seinem Lager.
+
+Philipp Steinherr öffnete den Mund. Sein Bestreben, Laute
+hervorzubringen, war schrecklich anzusehen. Er rollte die Augen hin und
+her, als ob er jemand suche. »Hans — —« quoll es ihm undeutlich über
+die Lippen. Er hatte seinem Nachfolger noch so viel zu sagen.
+
+»Es ist nach ihm depeschiert, Philipp,« beruhigte Frau Margot, kaum im
+stande, sich auf den Füßen zu halten. »Er kann bald hier sein.«
+
+Sie legte ihm die Hand auf die feuchte Stirn, und der Mann, der nie
+im Leben nach einer schmeichelnden Frauenhand viel Verlangen getragen
+hatte, empfand im Sterben den wohltuenden Zauber der Berührung. Seine
+angstvoll starrenden Blicke wurden weicher, er hob mit Aufbietung aller
+Kräfte die Hand, um sie auf ihre Hand zu legen. Dann verschied er in
+den Armen seiner Frau. — — —
+
+Als Frau Margot totenblaß durch die Zimmer schritt, schlug ein leises
+Weinen an ihr Ohr. Sie stutzte. Wer konnte da so heiß um den Toten
+trauern, der im Leben keine Freunde besessen und sie auch nie gewollt
+hatte? Sie schlug die Portière zu dem Kabinett zurück, das an ihr
+Schlafzimmer stieß, und erblickte Hannes.
+
+»Was machen Sie hier, Kind?« fragte sie tonlos.
+
+Da warf sich das Mädchen an ihren Hals und schluchzte in wilder Angst.
+
+»Wie wird er das nur ertragen, wie wird er das nur ertragen — — —«
+
+»Sei still, mein Töchterchen,« sagte Frau Margot, »wir müssen einer dem
+anderen beistehen.«
+
+Sie hatte dem fremden Kinde gegenüber das erste Du gefunden.
+
+»Im Salon — ist — noch jemand,« brachte Hannes unter den Tränen hervor.
+
+Frau Margot befreite sich sanft aus der Umarmung und schritt durch die
+Zimmer weiter zum Salon. Sie wußte, daß es Springe war. Und Heinrich
+Springe ging ihr, als er ihren Schritt hörte, entgegen und nahm stumm
+ihre Hände in die seinen und drückte sie.
+
+»Ich bleibe hier,« sagte er dann, »vielleicht kann ich Ihnen etwas
+abnehmen. Aber Sie müssen sich jetzt unbedingt zurückziehen. Tun Sie es
+Ihrem Jungen zuliebe, der jeden Augenblick kommen kann, damit Sie ihm
+Fassung zeigen können, wenn er die seine verliert.«
+
+Sie nickte bloß zu seinen Worten und ging.
+
+Die Dienstboten hatten die Rollläden heruntergelassen und im
+Treppenhaus das Licht entzündet. Der Sommerabend senkte sich tief herab.
+
+Da rasselte ein Säbel auf der Treppe, Sporen klirrten, und bald darauf
+gellte ein Schrei durch das Haus: »Papa, Papa — — —!«
+
+Nach einer halben Stunde wankte Hans aus dem Zimmer. Er hatte die
+besänftigenden Worte der Mutter kaum gehört, wiederum war sein Leben
+widerstandslos von den neuen Eindrücken überwältigt worden, und er fand
+nicht den Halt in sich selbst.
+
+Er vermochte die schwere Luft im Hause nicht zu ertragen, nach
+anderthalbjähriger Abwesenheit kamen ihm die Räume fremd vor, die
+Dienstbotengesichter waren ihm unbekannt. Und allein wollte er
+sein, allein, um alles zu begreifen und eine äußerliche Haltung
+zurückzugewinnen.
+
+Er stolperte durch den dunklen Garten nach der Laube, in der er als
+Primaner so oft Verse gedichtet hatte. Vom Gartentisch, an dem sie
+gesessen hatte, erhob sich eine Gestalt, die der Mond hell beschien.
+Das feine Gesicht, die tiefen Augen, das leuchtende Haar — das war
+doch, das war doch — —
+
+»Hans —« sagte da die Stimme, die nur der Liebsten gehören konnte.
+
+Und als er vor ihr stand, schreckhaft weiß, trocken brennenden Auges
+und der Sprache beraubt, trat sie auf ihn zu und nahm sein kaltes
+Gesicht zwischen ihre Hände und küßte ihn leise zum Willkommen.
+
+»So weine doch,« sagte sie, »so weine doch nur ...«
+
+Da löste es sich in seiner Brust, da war ihm, als hörte er ferne
+Heimatsglocken rufen, und sie riefen näher und näher und löschten aus,
+was zwischen fern und nah lag. Den Kopf an der Schulter des Mädchens,
+weinte er und weinte — um alle seine Verluste.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+
+Das Trauerjahr war zu Ende gegangen.
+
+Nach wie vor leuchtete der Name »Philipp Steinherr« in großen
+Metallbuchstaben an den Oberbilker Eisenwerken, aber der, der den
+Namen in harten, unvergänglichen Zügen geschaffen hatte, war nicht
+unersetzlich geblieben.
+
+»Ist es nicht ein schwermütiger Gedanke,« hatte einst Frau Margot
+im Gespräch mit dem Freunde geäußert, »daß kein Mensch eine Lücke
+hinterläßt? Es wird Morgen und es wird Abend und wieder Morgen, und das
+Leben schreitet fort und Handel und Wandel, und keiner dreht sich um
+nach dem, der einst war und ohne dessen Stimme sonst kein Unternehmen
+möglich schien. Was hat da aller Ehrgeiz genutzt, wenn jedes Ding so
+bald unpersönlich wird?«
+
+»Nein, Frau Margot,« hatte Heinrich Springe geantwortet, »darin kann
+ich keinen Grund zur Klage sehen. Für mich liegt gerade in dem Umstand,
+daß kein Mensch unersetzlich ist, etwas ungemein Tröstliches und —
+Aufrüttelndes. Inwiefern Tröstliches, meinen Sie? Nun, weil es auf
+die Dauer auch den größten Schmerz paralysiert, wenn die beständig
+mahnende Kluft fehlt; denn sonst würde die Vernichtung eines jeden
+Menschenlebens die Vernichtung einer Anzahl anderer Menschenleben nach
+sich ziehen und so fort bis ins Unendliche. Die Selbstzerfleischung
+aber kann nie der Zweck einer Schöpfung sein. Der Mahner Tod schwindet
+hin wie ein Phantom, weil wir seine Spur nicht mehr sehen, die Lust zum
+Leben, die erschreckt den Kopf unter die Flügel gezogen hatte, wagt
+sich scheu hervor, blinzelt mit den Augen und bemerkt, daß sie nach
+wie vor und trotz heftigen Sträubens den Duft der Rosen empfindet,
+den Gesang der Vögel vernimmt und das Licht der goldenen Sonne sieht.
+Und damit komme ich zu dem, was ich das Aufrüttelnde der Idee nennen
+möchte. Wenn wir erst einmal gewahr geworden sind, daß das Leben
+nach der Spanne, die es uns läßt, uns nicht vermißt, so sollen ~wir~
+hingegen, ~während~ dieser Spanne, nichts vom Leben missen wollen,
+sondern bei dem kurzen Besuch alle Gastgeschenke entgegennehmen und,
+wenn’s not tut, sie seinem Reichtum entreißen. Damit nehmen wir
+unserem Toten nichts und schaffen uns Lebendigen unser Recht. Es ist
+eine fixe Idee, wenn man glaubt, man komme über den Schmerz um einen
+Dahingeschiedenen nie mehr hinweg, wenn man sich um diesen Schmerz
+lebendig begraben will, und läßt doch bei dem geringsten Zahnweh
+einen Arzt zur Hilfe rufen. Für ehrliche Naturen sollte es keine
+Inkonsequenzen geben, auch aus Gefühls- und Pietätsgründen nicht.
+Entweder — oder!«
+
+»Also Witwenverbrennung — ich meine damit natürlich mehr, das
+Auslöschen alles dessen, was er hinterlassen hat —« sagte sie
+nachdenklich, »oder —?«
+
+»Hand ans Steuer,« vollendete er. »Nur nicht das widersinnige
+Vegetieren, dies halbe Verzichtleisten und Nirgendhingehören, das
+vielleicht einer Generation Schaden und uns keine Zufriedenheit bringt.«
+
+»Und wenn wir nun die Hand ans Steuer legen? Auch uns wird es eines
+Tages entzogen.«
+
+»Verstehen Sie denn darin nicht die Größe des Gedankens, Frau Margot?
+Es wird kein Unterschied gemacht! Auch bei unseren Nachfolgern nicht!
+Ein endgültiges Triumphieren gibt’s nicht! Herr Gott, bei solchem
+maschenlosen Kommunismus verliert der Tod doch jeden Schrecken.«
+
+»Und die Werke, die wir zurücklassen müssen und die in fremde Hände
+übergehen? Ist das nicht quälend?«
+
+»Der Kopfschmerz, den wir uns darüber machen, vergeht in dem Moment,
+in dem wir die Augen schließen. Sind wir am Abend unseres Daseins
+mit dem Bestand unserer Werke und mit uns zufrieden, so ist uns die
+Krone des Lebens geworden. Und wissen wir überdies, daß wir kein
+Glück vorbeiließen, soweit es uns erreichbar war, so sind wir selbst
+nach unserem Tode noch glücklich zu schätzen. Darum sag’ ich: bis
+zum letzten Atemzug die Hacken einschlagen in die Felsen und Quellen
+hervorrufen, aus denen wir trinken können. Austrinken, wenn es uns
+schmeckt. Das nachfolgende Leben ist nicht auf unsere zwei Augen
+gestellt, so wenig wie das unsere auf die Augen unserer Vordermänner.
+Es rauschen immer wieder neue Brunnen.«
+
+»Sie sind ein Lebenskünstler, Heinrich Springe. Woher haben Sie diese
+hieb- und stichfeste Weisheit genommen — —«
+
+Dann bot er ihr den Arm und führte sie in den Garten, zu den Rosen.
+
+»Wie sie blühen und duften,« sagte er. »Und sie schießen und sprießen
+aus demselben Stock hervor, der im letzten Herbst verblüht war. Liebste
+Frau: es gibt kein Jahr, in dem nicht Rosen blühen.« — — —
+
+Und auch in Frau Margot blühten die Rosen auf, die so lange
+durchwintert hatten.
+
+Hans Steinherr hatte am Tage nach der Beerdigung seines Vaters den
+Freund in seiner Wohnung aufgesucht, um sich wegen der Fortführung
+der Werke Rats zu holen. Nach längerer ernster Konferenz war
+man übereingekommen, sich zu Frau Margot zu begeben, um ihr die
+einstweiligen Pläne zur Begutachtung vorzulegen.
+
+»Ich habe ja nicht die geringste Ahnung von dem Wesen der
+Betriebsführung und rationeller Fabrikationswirtschaft,« hatte Springe
+geäußert, »und daß Hans mir in diesen Dingen nichts weniger als
+überlegen ist, bedeutet auch gerade keinen Trost. Wollen Sie jedoch
+die Meinung eines sonst ziemlich klarblickenden Menschen haben, so
+ist es die: Lassen Sie den Oberingenieur der Firma rufen. Der Mann
+ist zwanzig Jahre im Dienst und hat die ganze Entwicklung der Werke
+mit durchgemacht. Er weiß um alle Zukunftspläne und hat Interesse an
+ihrem Werden, weil sein geistiges Kapital darin angelegt ist. Das ist
+aber nicht genug. Soll die ganze Leitung in seine Hände übergehen, so
+muß seine Bedeutung nach außen hin gesteigert werden. Seiner selbst
+wegen, damit er nicht auf Konkurrenzgedanken kommt, und der Beamten
+und Arbeiter der Fabrik wegen, damit sie mit Respekt seinen Weisungen
+folgen. Das scheint mir aber nur möglich, wenn Sie ihn zum Teilhaber
+ernennen. Geben Sie ihm den Titel und beteiligen Sie ihn — neben
+seinem festen Gehalt — mit einem gewissen Prozentsatz am Reingewinn.
+Sie werden pekuniär gut dabei fahren und vor allem jeder Sorge
+überhoben sein.«
+
+Der Abend war mit Verhandlungen mit dem Oberingenieur ausgefüllt
+worden, der sich als ein kluger und ruhiger Mann erwies. Die
+Eintragungen in das Firmenregister hatten bald darauf stattgefunden.
+Hans war zu seinem Regiment zurückgekehrt, und nun lief die Zeit wieder
+hin, als wäre in ihrem Gleise keine Unebenheit gewesen.
+
+Hans hatte von seinem Kommandeur die Erlaubnis erhalten, die erste
+achtwöchentliche Reserveübung sofort an das Dienstjahr anschließen
+zu dürfen. Dadurch wurde er der Notwendigkeit enthoben, sich bis zum
+Beginn des neuen Semesters nach Hause begeben zu müssen, denn eine
+andere Reise erschien ihm jetzt nicht passend. Vor den Verhältnissen
+daheim aber bangte ihm. Er wußte nun um das Verhältnis Johannas zu
+seiner Mutter, er sah voraus, daß man ihm keine Hindernisse mehr in
+den Weg legen, sondern im Gegenteil an seinen Besuch frohe Erwartungen
+knüpfen würde. Und diese Erwartungsfreudigkeit war ihm unbequem, sie
+war ihm geradezu fatal.
+
+Nun stand er dicht vor dem Reserveoffizier, und er setzte allen Ehrgeiz
+darein, nicht zum Train abgeschoben zu werden, sondern beim Regiment
+weiter zu bleiben. Die Anschauungen seiner neuen Freunde, seiner ganzen
+Umgebung, hatten viel zu stark auf ihn abgefärbt, als daß er im stande
+gewesen wäre, sich ein anderes Glück zu denken, als das von seinem
+ganzen Kreise akklamierte und — beneidete.
+
+Hannes’ auffallende Mädchenschönheit tauchte vor ihm auf. Er wich
+dem Bilde betreten aus, dann aber blickte er verstohlen hin und sein
+Auge begann zu strahlen und sein Herz zu schlagen, je länger er es
+ins Auge faßte. Dies letzte Wiedersehen! Als sie in der Laube vor ihm
+stand, eine andere, schönere; und doch dieselbe, liebe. Nie, nein nie
+und nirgends hatte er ein so starkes, überquellendes und wiederum so
+beruhigendes Heimatsgefühl gehabt, wie in der Stunde, da er an ihrem
+Halse hing und sie ihn das befreiende Weinen lehrte ...
+
+»Keine würde sie übertreffen,« dachte er selig, »keine ihr
+gleichkommen. Sie hat den Mund einer Geliebten und die Augen einer
+Mutter.«
+
+Plötzlich übergoß flammende Röte seine Stirn, und er wandte sich rasch
+ab und trommelte nervös gegen die Fensterscheiben.
+
+»Aber wenn es auskäme? Ihre Herkunft, ihre Familie, ihre — Geburt?
+Und es kommt aus,« rief er laut, »so was bleibt nie verheimlicht,
+dafür sorgen die guten Freunde. Man wird zu tuscheln anfangen und sich
+erzählen und alles mehr noch übertreiben, als ob es nicht so schon
+genug wäre. Man brauchte nur zu erfahren, daß sie als Kind zum Modell
+gesessen hat. Ob nur zu einem Engelsköpfchen, danach fragt ja die
+Menschheit nicht. Da heißt es einfach: Modell! Und jeder denkt sich
+ein Manko an Schamhaftigkeit dabei. Himmel und Hölle, weshalb mußte
+die Alte auch einen solchen Unfug zugeben. Vererbtes Blut, schlechte
+Erziehung — wo sind da die Kautelen? Als Primaner denkt man ja an
+nichts anderes, als an das Gesichtchen. Aber ich bin kein Primaner
+mehr. Ich habe Verpflichtungen gegen meine Gesellschaft. Ich würde
+mich mit sehenden Augen unmöglich machen, nicht den Verkehr einhalten
+können, den ich haben will und muß. Wenn’s ein anderer wäre, ich würde
+doch ganz genau so darüber denken. Da kann und darf ich mich nicht
+ausschließen wollen.
+
+Und dabei hab’ ich doch das Mädchen so lieb —«
+
+»Ruhe, Ruhe. Nichts überstürzen. Zeit gewinnen, nur Zeit gewinnen.« —
+
+Von Bonn ging er auf zwei weitere Semester nach Heidelberg. Auch hier
+wurde er bei einem Korps aktiv, aber er betrieb doch mit einer gewissen
+Regelmäßigkeit seinen Studiengang. Als der Herbst kam, bereitete er
+sich auf die Übersiedlung nach Berlin vor; da erhielt er einen Brief
+Heinrich Springes, der ihn bat, diesmal einen Teil der Ferien zu Hause
+zu verbringen, da er verschiedenes mit ihm zu besprechen habe, das am
+angenehmsten an Ort und Stelle seine Erledigung fände. Es war ihm nicht
+sympathisch. Aber er mochte auch den alten Freund nicht vor den Kopf
+stoßen und reiste an einem der nächsten Tage ab. — —
+
+Für Hannes war das letzte Jahr wie das vorletzte geblieben. Sie nahm
+das Studium mit einem Ernst, der weit über ihre achtzehn Jahre ging,
+und wenn sich Ermüdung einstellte, dachte sie an den Geliebten,
+lächelte jede Mattigkeit hinweg und sprach vor sich hin: »Ich tue es ja
+nicht für mich, ich tue es ja für ihn.«
+
+In ihren äußeren Verhältnissen waren einige Änderungen eingetreten.
+Großmutter Stahl brauchte nicht mehr von Haus zu Haus ihrer Kundschaft
+nachzugehen. Die Herren von Burg Springe hatten sie feierlich zur
+Palastdame, Verwalterin und Oberschließerin auf Burg Springe ernannt,
+eine Beschäftigung, die den Tag der alten Frau nicht allzusehr
+bedrückte, aber dennoch ausfüllte. Zuerst hatte sie nicht gewollt. Sie
+witterte ein verstecktes Almosen. Als ihr aber Herr Friedrich Leopold
+in beweglichen Worten seine Not klagte und die aus Rand und Band
+gehende Junggesellenwirtschaft beschrieb, da bedurfte es nur noch eines
+kläglichen Hinweises auf den Verfall von Leib- und Tischwäsche — der
+alte Herr raunte mit bekümmertem Gesicht der alten Frau einige Worte
+ins Ohr und zeichnete dazu mit der Hand ein paar riesenhafte Ellipsen
+in die Luft, um ihr die schreienden Defekte in ihrer Größe einigermaßen
+klar zu machen — und Frau Stahl quittierte ihre sämtlichen Dienste in
+anderen Häusern, um den Rest ihrer Kräfte der Ordnung auf Burg Springe
+zu weihen. Die Wohnung in der Pempelforterstraße aber behielt sie
+bei; nur die Einrichtung wurde nach und nach etwas komplettiert. »Sie
+könne in ihren Jahren keine Luftveränderung mehr vertragen,« sagte sie
+zu Frau Margot, die ihr riet, eine bequemere Wohnung zu nehmen. »Wie
+gelebt, so gestorben.«
+
+In Burg Springe schlug das Leben seitdem höhere Wogen. Wenn Hannes
+kam, um ihre Großmutter abzuholen, oder mit Herrn Friedrich Leopold
+ein Stündchen zu verschwatzen und Herrn Heinrich beim Malen zuzusehen,
+»dann wurde es Tag«, wie der alte Kavalier strahlend erklärte. Dann
+zog die Jugend durch alle Räume und ließ die seinen Silberglöckchen
+klingen, und die sonderbaren Burgbewohner, die immer die Fallbrücke in
+Bereitschaft hielten, um die Jugend bei sich einzulassen, schworen, sie
+wären keinen Tag älter als Hannes. Es ging von dem Mädchen ein Fluidum
+aus, rein und stärkend wie die Wasser eines Jungbrunnens.
+
+An schmeichelnden Sommerabenden setzte sich Heinrich Springe an seinen
+Flügel und Hannes ließ ihren warmen Alt erklingen. Und wenn die
+Lieder ausgeströmt waren und die Stimmung sich so seltsam verdichtet
+hatte, daß nur noch etwas Außergewöhnliches geschehen durfte, um den
+glücklichen Zauber zu halten, dann führte Herr Friedrich Leopold an
+zierlich gespreizter Hand die rüstige Altersgenossin Frau Stahl vor,
+und sie mochte wollen oder nicht, sie mußte mit ihm zu Heinrichs
+Begleitung ein köstlich-steifes Menuett aus der guten alten Zeit
+exerzieren. Das war an den Abenden, an denen Frau Margot zugegen war,
+die nach der Eintönigkeit des vergangenen Trauerjahres nun oft im
+Vorbeigehen heraufgeschlüpft kam, um, wie sie sagte, ihre Seele zu
+füttern. Und an dem Abend, an dem das Weinlaub der Veranda herbstlich
+rot erglühte, hatte sie mit Heinrich Springe an der Brüstung gestanden,
+und die Fröhlichkeit, die aus dem Zimmer zu ihnen drang, gab ihrer
+stummen Stimmung das Relief.
+
+Sie lehnten nebeneinander und sahen geradeaus, in den farbenprangenden
+Abend hinein.
+
+»Frau Margot,« sagte dann Springe, aber keins von ihnen änderte die
+Richtung des Blickes, »ich habe Sie bis heute nicht fragen wollen.«
+
+»Lieber Freund, ich bin nicht mehr die kleine Margot, die Sie im
+Gedächtnis haben. Ich bin eine Frau, die den Höhepunkt überschritten
+hat. Bedenken Sie das.«
+
+»Wir beide haben erst den Höhepunkt überschritten, wenn wir uns nicht
+mehr lieben.«
+
+»Und das ist nicht möglich,« sagte sie und legte ihre Hand auf die
+seine.
+
+Sie schauten, nebeneinander lehnend, in den Abend wie vorher; aber es
+war ihnen, als wäre Luft und Licht noch wohltuender geworden.
+
+»Wann, Margot?« fragte er nur.
+
+Und sie antwortete: »Wann du willst. Nur ordne mir auch das
+Glücksbedürfnis meines Jungen ...«
+
+Da beugte er sich über die feingeäderte Hand, die wie ein Marmorgebilde
+auf der Verandenbrüstung ruhte, und küßte sie.
+
+ * * * * *
+
+Hans war angekommen.
+
+Als Frau Margot, die ihren Jungen von der Bahn abgeholt hatte, ihm im
+Wagen gegenübersaß, wußte sie nicht das rechte Wort zu finden, ihn im
+Sturm einzunehmen. Hans hatte sich bei der Begrüßung sehr zärtlich
+gezeigt, aber es war doch mehr die liebenswürdige Aufmerksamkeit
+eines chevaleresken Sohnes zur Mutter gewesen. Nun suchte sie ihn
+während der Fahrt zu beobachten und Vergleiche zwischen früher und
+jetzt anzustellen. Sie hatte sich ihren Jungen nicht gar so erwachsen
+gedacht. Hans war stärker geworden und breiter in den Schultern. Sein
+welliges braunes Haar war der Schere zum Opfer gefallen und so kurz
+geschnitten, wie es der durchgeführte Scheitel nur eben zuließ. Auch
+sein kräftiger dunkler Schnurrbart zeigte eine offiziersmäßige Form.
+Das Gesicht war röter geworden und die Studentennarben auf Stirn und
+Wangen zogen scharfe, purpurne Linien hinein. Um die Augen herum liefen
+tiefe Schatten, die von durchtollten Nächten sprachen.
+
+Es wurde Frau Margot eigentümlich zu Mute bei dieser Entdeckung. Hatte
+sie geseufzt? Worüber? Weshalb?
+
+Der Sohn erkundigte sich teilnehmend, ob sie sich nicht ganz wohl fühle?
+
+»O doch,« gab sie freundlich zur Antwort. »Ich bin nur froh, daß du da
+bist.«
+
+»Weißt du, was Springe von mir will? Er zitierte mich mit solcher
+Bestimmtheit her.«
+
+Welchen Ton er sich angewöhnt hatte — —. In den wenigen Worten schon
+lag die ganze Veränderung seines Wesens.
+
+»Ich möchte unserem Freunde nicht vorgreifen,« erwiderte sie
+reserviert. »Du wirst wohl gleich zu ihm wollen?«
+
+»Es eilt nicht, Mama. Jedenfalls möchte ich mich zunächst umkleiden
+und, wenn du gestattest, ein Glas Wein bei dir trinken. Diniert habe
+ich bereits in Köln auf dem Bahnhof.«
+
+Sie nickte nur, und schweigend kamen sie zu Hause an.
+
+Eine Stunde später verabschiedete er sich von der Mutter. Der rasch
+genossene Wein brauste ihm im Blut, und er freute sich auf einen
+Spaziergang durch den kühlen Herbsttag. Als der Hofgarten in Sicht
+kam, zog es ihn unwiderstehlich nach der Pempelforterstraße. Er wollte
+nur an dem Hause vorübergehen und dann zurückkehren, um Springe
+aufzusuchen. Doch nachher konnte er sich nicht enthalten. Weshalb nicht
+auf einen Sprung hinauf? Die Großmutter würde nicht daheim sein und
+Hannes — Hannes allein. Alle Pulse klopften ihm. Da war er auch schon
+oben und klingelte.
+
+»Hans!«
+
+Das Mädchen war zuerst einen Schritt zurückgetreten. Dann kam sie
+hastig vor, faßte ihn bei den Händen und zog ihn in das Zimmer. Seine
+Hände in den ihren, starrte sie ihn eine Minute an. Das Schweigen wurde
+ihm peinlich, und er machte eine Bewegung. Da schüttelte sie den Kopf,
+als wollte sie die aufsteigenden Gedanken verjagen, und warf, einem
+jähen Impulse folgend, die Arme um seinen Hals.
+
+»Da bist du, da bist du,« wiederholte sie nur immer, und ihr junger,
+warmer Mädchenkörper zuckte vor Erregung in seinen Armen.
+
+»Kind, Kind, wer wird sich denn so aufregen!«
+
+»O laß mich doch, laß mich doch. Ich wußte ja kaum noch, ob du lebtest.«
+
+»Mir ist das viele Briefschreiben ein Greuel. Damit wird dich auch Mama
+getröstet haben.«
+
+»Mama —?« Sie ließ seinen Nacken los und lächelte eigen vor sich hin.
+
+»Nun, Johanna, was soll denn das?«
+
+»Mama ist der Meinung, daß ich regelmäßig Nachrichten von dir gehabt
+hätte.«
+
+»Wie ist denn das möglich? Hat sie denn nie gefragt?«
+
+»Doch, doch. Gerade, weil sie gefragt hat. Da hab’ ich ihr das ja
+gesagt.«
+
+»Daß du Nachrichten von mir hättest? Ja warum denn, um alles in der
+Welt?«
+
+Sie sah ihn an. Sie fühlte, daß er sie nicht verstand, daß er ihre
+Tapferkeit nicht verstand. Und plötzlich merkte sie, daß all ihre
+Freude erstorben, daß ihr Blut eiskalt geworden war.
+
+»Weil ich mich für dich schämte,« sagte sie und richtete sich ruhig auf.
+
+»Was —?« fragte er erstaunt, als hätte er nicht recht gehört. »Weil du
+dich — für mich — —? Ach, du scherzest wohl.«
+
+»Wie du dich verändert hast,« entgegnete sie nur und betrachtete ihn
+ernst. Sein Gesicht hatte keine Geheimnisse für sie. Sie las aus den
+kleinen Spuren sein ganzes Leben.
+
+»Darf ich vielleicht wissen, weshalb du es für nötig hieltst, dich für
+mich zu schämen?« fragte er zornig.
+
+Da fuhr auch sie auf.
+
+»Nein! Das darfst du ~nicht~ wissen, wenn du es wirklich nicht längst
+schon weißt.«
+
+»Ich bitte mir ein besseres Benehmen aus. Das ist nicht der Ton, in dem
+wir eine Unterhaltung führen können.«
+
+»O — —! Und ~dein~ Benehmen? Dein Benehmen gegen mich? Daß du mich fast
+ein Jahr lang auf eine Zeile warten ließest? Das ist wohl ganz was
+anderes!«
+
+Er suchte nach einer Antwort, um der aufsteigenden Scham zu begegnen.
+Und plötzlich, nur von dem Gefühl getrieben, nicht als der Besiegte
+zu erscheinen, stieß er brüsk hervor: »Vergiß doch nicht, daß wir
+durchaus nicht offiziell verlobt sind. Dann freilich, dann wäre es
+unverantwortlich von mir gehandelt gewesen. So aber trifft mich auch
+nicht der kleinste Vorwurf.«
+
+Sie wurde mit einem Male merkwürdig ruhig. Noch ein paar schnelle
+Atemzüge, und sie konnte lächeln.
+
+»Reden wir nicht davon. Es hat keinen Zweck. Einer von uns spricht
+Chinesisch.«
+
+Dann bot sie ihm mit heiterem Wesen einen Stuhl an und setzte sich mit
+einer kleinen Handarbeit an den Tisch. Ganz korrekt, ganz über der
+Situation stehend, wie eine große Dame, dieses junge Geschöpf ...
+
+»Großmama wird sehr bedauern. Es ist zwar nicht ganz schicklich, daß
+wir hier so mutterseelenallein sitzen. Aber für ein paar Minuten — das
+hat wohl nichts zu bedeuten.«
+
+Er biß sich auf die Lippen. Sie machte sich lustig über ihn! — — Da
+verlor er den Kopf.
+
+»Hannes,« begann er, und nun sprudelten die Worte hervor und
+überstürzten sich, »Hannes, ich hab’ dich lieb. Daran zweifelst du
+doch hoffentlich nicht. Ich habe dich genau so lieb wie früher. Aber
+dem Leben da draußen ist nicht nur mit der Liebe gedient. Wir — ich
+mein’ die Menschen, die auf sich halten — wir haben ernstere Pflichten
+gegenüber der Gesamtheit als die große Masse gegen sich. Wir bilden die
+Elite. Und deshalb dürfen wir uns nicht leichtsinnig eine Blöße, eine
+Angriffsfläche geben. Was den einzelnen von uns trifft, das trifft uns
+alle. Wir sind sozusagen ein Körper und eine Seele. Verstehst du das?«
+
+»Ich wußte bisher nur, daß zwei, die sich lieben, das zu sein hätten
+...«
+
+»Aber natürlich. Das hab’ ich doch wohl nicht in Abrede gestellt. Ich
+spreche hier aber von dem Kreise, in dem ich zu leben habe, von den
+Leuten aus gutem Hause und von guter Erziehung. Siehst du, Hannes, das
+sind die Konflikte, die an mir herumreißen. Ich habe dich so lieb — wer
+könnte dich nicht lieb haben — aber nun sei einmal mein vernünftiges
+Mädchen.«
+
+»Ich bin dein vernünftiges Mädchen,« sagte sie und zwang den
+stürmischen Atem zurück.
+
+»Also, Hannes; dann wird es uns leicht werden. Ganz offen, nicht
+wahr, ganz offen! Ich habe nun einmal einen Platz in der Gesellschaft
+einzunehmen. Und deine Mutter — deine Mutter besaß keinen Frauennamen.«
+
+»Nein; aber sie besaß die Frauenliebe.«
+
+»Aber davon versteht die Welt doch nichts,« rief er aufgebracht, »dazu
+ist doch die Welt zu dumm!«
+
+»Und trotzdem — —? Armer Hans.«
+
+»Du scheinst bei meiner Mutter viel gelernt zu haben,« sagte er und
+stand auf.
+
+»Ich wollte dich nicht kränken. Aber ich habe dich viel zu lieb, als
+daß ich dich so hören könnte.«
+
+»Hannes,« bestürmte er sie von neuem und zog sie an sich, »es ist ja
+nur eine bloße Formalität, die ich verlange. Ich habe ja allen Respekt
+vor deiner Mutter, aber die Leute, auf die es für uns ankommt, denken
+darüber anders. Wir wollen zu Springe hingehen. Wir wollen ihm alles
+vorstellen und ihn bitten, zu helfen. Er soll dich adoptieren. Dagegen
+wird er bei seinen Anschauungen nichts haben. Du erhältst einen guten
+Namen und wir heiraten und ziehen nach München, nach Berlin, wohin du
+willst. Mit der Fabrik will ich ja doch nichts zu tun haben. Hannes,
+ich bitte dich. Hannes — — was hast du denn? Was fällt dir denn ein?«
+
+Sie hatte sich mit einer energischen Bewegung freigemacht und vom
+Wandhaken ihren Hut gerissen.
+
+»Soll ~ich~ gehen, oder willst ~du~ gehen?«
+
+»Hannes, Liebste, versteh mich doch nicht falsch. Kannst du mir denn
+kein Opfer bringen?«
+
+»O doch,« lachte sie und nestelte ihren Hut auf, »das größte; dasselbe
+Opfer, das meine Mutter gebracht hat. Wenn es darum ging’! Wenn
+es nicht anders wär’! Das wär’ doch wenigstens Stolz! Kein feiges
+Einschleichen, wie du es von mir verlangst. Gib dir keine Müh’ mit mir.
+Ich will nichts mehr hören, als das eine: Soll ~ich~ gehen, oder willst
+~du~ gehen?«
+
+Er war gegangen. Rot vor Zorn und Scham. Aber wie in einer Muschel, in
+der sich, unentrinnbar, die Stimme des ewigen Meeres gefangen hat, so
+schallte, unentrinnbar ihr, eine Stimme in seinem Innern. »Scham ist
+Feigheit — Scham ist Feigheit.«
+
+Die alte Frau Stahl hatte es gesagt, droben in dem Stübchen. Und droben
+in dem Stübchen rang jetzt ein junges, wildes Blut mit dem ganzen
+Stolz die Verzweiflung nieder. Der Sommernachtstraum, den sie im Park
+zu Benrath geträumt hatte — Sommernacht? Es war doch Herbst gewesen,
+Herbst wie heute. Der Ring hatte sich geschlossen.
+
+Sie saß gerade aufgerichtet auf dem Stuhl, den Hut auf dem Schoß, und
+starrte ins Leere. Nicht mit der Wimper wollte sie zucken. Aber die
+Tränen nahmen keine Notiz davon. Sie kamen tief aus dem Innern und
+rollten langsam über die Wangen und tropften heiß auf die Hände. Ein
+Abschied — —.
+
+ * * * * *
+
+Heinrich Springe ging auf dem Trottoir vor seiner Haustür auf und
+ab und zog jeden Augenblick aufs neue seine Uhr. Wo nur der Hans
+blieb? Er hätte schon seit Stunden bei ihm sein können. Sollte Frau
+Margot vorgezogen haben, zuerst mit ihrem Sohne zu sprechen, und Hans
+Einwendungen zu machen haben? Dem wartenden Manne war es auf seinem
+Atelier ordentlich unheimlich geworden. Ahnungen durchflatterten das
+Zimmer und schreckten ihn auf. »Wie Fledermäuse,« dachte er und sah
+sich um. Er hatte doch sonst nicht an Nervosität gelitten.
+
+»Die Liebe macht doch selbst die Vernünftigsten zu schreckhaften
+Kindern,« sagte er kopfschüttelnd. »Vielleicht, weil ihre Vernunft
+begreift, was das Herz zu verlieren hat.«
+
+Damit nahm er seinen Hut, um vor dem Hause nach Hans auszuspähen.
+
+Endlich! Dort kam er von der Oststraße her, den Hut etwas schief, das
+Jackett aufgeknöpft und den Stock wagrecht unter dem Arm.
+
+»Achtung, mein Junge, du läufst zu weit.«
+
+»Ah, da bist du ja selbst. Guten Tag, Heinrich. Wie geht’s? Wollen wir
+einen Spaziergang unternehmen? Es plaudert sich im Freien am besten.«
+
+»Lieber wär’s mir, wenn du mit mir hinaufgehen wolltest. Wir sind oben
+ungestörter.«
+
+»Na, gar so feierlich wird’s doch nicht sein.«
+
+»Wie man’s nimmt, mein Junge. Für mich soll’s, so Gott will, eine
+Feierstunde werden.«
+
+Sie saßen sich im Atelier gegenüber, wie vor Jahren. Aber der Jüngere
+war älter geworden, und der Ältere jung geblieben. Das sahen sie beide
+auf den ersten Blick, und es schlich sich ein Fremdes zwischen sie.
+
+Heinrich Springe schüttelte den Bann ab. Freimütig blickte er den
+einstigen Schützling an und legte ihm die Hand aufs Knie.
+
+»Laß mich gleich mitten in die Sache hineingehen, Hans. Umschweife
+würden sich für uns nicht schicken, und sie passen auch nicht zu meiner
+Art. Nur eines sollst du mir vorher sagen: ob du mir noch so vertraust
+...«
+
+»Aber gewiß ...«
+
+»Das genügt mir. Ich brauche also nicht zu erwähnen, daß keinerlei
+Interessen bestimmend für mich sein konnten. Hans, ich habe deine
+Mutter gekannt, als sie noch ein kleines Mädchen war, und ich habe sie
+mit meiner Knabenliebe geliebt. Du weißt ja selbst, was Jugendliebe
+bedeutet, nur daß du glücklicher darin bist, als ich es war. Wir waren
+beide arm, deine Mutter konnte nicht warten und heiratete deinen
+Vater, und ich — ich habe keine andere Frau mehr lieb gehabt. Und
+nun, Hans, und nun — haben wir uns wieder zusammen gefunden. Und der
+Kindheitsglaube an das Glück hat sich auch wieder eingefunden. Und nun
+möchten wir drei für immer zusammen bleiben: deine Mutter, dein Freund
+und der Kindheitsglaube.«
+
+Er stand auf und fuhr sich über die Stirn.
+
+»Das war’s, was ich dir persönlich sagen wollte, was sich brieflich
+überhaupt nicht ausdrücken läßt. Deshalb bat ich dich her. Und ich
+meine, dies Atelier, in dem auch du mir einmal von deiner Jugendliebe
+erzähltest, war die richtige Umgebung für diese Minute. — Du antwortest
+nicht? Hat es dich so überrascht?«
+
+»Das — das — verstehe ich nicht,« stieß Hans kurz hervor und erhob sich
+gleichfalls.
+
+»Soll ich es dir — ausführlicher erklären?«
+
+»O ich danke dir. Die Erzählung selbst ist mir schon aufgegangen. Aber
+daß meine Mutter es über sich gewinnt, daran zu denken, in ihren Jahren
+daran zu denken —«
+
+»Schau sie dir doch an, Junge,« sagte Springe lächelnd, »und dann
+wiederhole das von den Jahren.«
+
+»Einerlei. Und gerade ~du~ und sie. Spürt ihr denn nicht die Indezenz,
+die darin für mich liegt?«
+
+»Was sollen wir spüren?« fragte Springe verblüfft. »Was liegt für dich
+darin? Ja, mit wem sprech’ ich hier denn eigentlich? Hans, Hans, wach
+auf, es ist doch dein alter Freund, der vor dir steht.«
+
+»Ein Freund, der im Begriff ist, sich in meinen Vater zu verwandeln.
+Ein Freund, mit dem ich geschwärmt habe, mit dem ich gezecht habe,
+mit dem ich meine Liebesaventiuren beraten habe; der mir wie ein
+Gleichaltriger war. Und diesen Gleichaltrigen, diesen Kameraden der
+Jugend soll ich mir vorstellen als — als — den Gatten meiner Mutter?
+Wird es dir jetzt klar, was ich mit dem Worte ›Indezenz‹ aussprach?«
+
+Heinrich Springe war blaß geworden.
+
+»Nein,« sagte er und zog die Augenbrauen zusammen, »das wird mir
+~nicht~ klar. Aber es schwant mir ziemlich klar, daß du da draußen dein
+Liebesempfinden verloren oder — verhandelt hast.«
+
+»Möchtest du mir irgend etwas unterschieben?« brauste Hans auf. Die
+Szene, die er soeben erst mit Hannes erlebt hatte, stand ihm so
+greifbar vor Augen, daß er meinte, auch der andere müsse sie sehen. Das
+brachte ihn außer sich.
+
+»Ich denke, ich spreche ganz deutlich,« erwiderte Springe, »und so
+offen, wie es sich unter Männern ziemt. Du scheinst mir überhaupt den
+wahren Kern des Wortes Liebe noch gar nicht entdeckt zu haben. Ja,
+glaubst du denn, die Dezenz von Liebe und Eheliebe wäre unterscheidbar?
+Mein Junge, wer die Indezenz hineinträgt, das seid ihr! Ihr mit eurem
+lächerlichen Grenzregulieren und Schematisieren der Frauengefühle,
+die nach bestimmter Frist so schnell als möglich mit Anstand und
+Geräuschlosigkeit zu ersterben haben. Ich will dir was sagen: ich wäre
+in diesem Falle so geschmacklos, auf die ganze sogenannte Liebe zu
+pfeifen.«
+
+»Der Ausdruck macht dir im Rahmen dieser Unterhaltung alle Ehre.«
+
+»Nein, Hans,« sagte Springe schnell, »so dürfen wir beide nicht
+miteinander verhandeln. Ich habe dich falsch verstanden und bin übers
+Ziel geschossen. Aber sieh, wir sind alle Menschen. Deine Mutter und
+ich, du und Hannes. Und deshalb bleibt uns nichts, als menschlich
+zu fühlen. Das aber ist doch das Schönste. Wir fühlen, daß wir uns
+lieben, und wir lieben uns. Wo wir das rein und wahr erkennen, da
+fällt jede falsche Scham ab. Da versinkt das künstliche Verhältnis
+zwischen Eltern und Kindern. Da stehen nur noch liebende Menschen neben
+liebenden Menschen.«
+
+Er durchmaß das Zimmer und kehrte zu dem Schweigenden zurück.
+
+»Hans,« und das alte, strahlende Lächeln stand auf seinem Gesicht, »als
+ich — damals — deine frische, ringende Jugend antraf und dein Mentor
+wurde, da wurde ich es, um deinem Leben gerade dieses Ziel zu geben. Du
+solltest ein echter Mensch werden, durch jeden Firnis hindurchschauen
+lernen und mit klingendem Spiel noch ins Alter einmarschieren wie der
+Soldat ins Himmelreich. Jedem aber das Seine! Auch deine Mutter und
+ich nehmen das für uns in Anspruch, nicht weil wir älter sind, sondern
+gerade weil wir uns in dieser Beziehung euch immer gleichaltrig dünken
+werden. Mein lieber, alter Junge, in unseren Jahren ist der Vater nicht
+nur Vater, sondern auch Bruder, Freund, Kamerad. Das alles, und nur
+das, siehst du in mir. Und deine liebe, kleine Braut findet in ihrer
+Mutter auch eine Schwester.«
+
+»Meine — Braut? Von wem sprichst du denn?«
+
+»Herr Gott, sei doch nicht so offiziell! Von Hannes sprech’ ich.«
+
+»Dann gestatte, daß ich dich berichtige. Fräulein Stahl und ich denken
+nicht an eine Heirat.«
+
+Heinrich Springe trat ein paar Schritte zurück. Dann streckte er die
+Arme aus, kam vor und rüttelte seinen Gast an den Schultern.
+
+»Hans —«, er suchte nach Worten, »Hans! Auf der Stelle sagst du mir,
+daß du lügst. Ich will nicht wissen, was zwischen euch vorgefallen ist.
+Aber daß du es wieder gut machst, und wenn es dich die Zeit deines
+Lebens kostet. Eine Träne von ihr ist mehr wert, als der ganze Plunder
+deiner Errungenschaften. Sag es; auf der Stelle sag es.«
+
+»Bitte sehr,« versetzte Hans und machte sich kurz los. »Der Vater
+spricht etwas vorzeitig aus dir. Ich wüßte nicht, daß ich dir über mein
+Tun und Lassen irgendwelche Rechenschaft schuldig wäre. Ich lebe mein
+Leben, du — deins.«
+
+»O du armer Junge,« sagte Springe und ließ die Arme sinken, »du armer,
+verblendeter Tor!«
+
+»Für heute ist wohl unsere Unterhaltung zu Ende,« erwiderte Hans und
+ging zur Tür.
+
+Springe schaute ihm traurig nach.
+
+»Du hast noch etwas vergessen,« sagte er ernst, nahm ein Buch vom
+Schreibtisch und brachte es ihm. »Das gehört mir nicht.«
+
+Dann fiel die Tür zwischen ihnen ins Schloß.
+
+»Er wird durch eine bittere Schule gehen,« murmelte der
+Zurückbleibende, »und der arme, blinde Narr reißt sich selbst die
+Schwungfedern aus, um eine fremde Sprache schreiben zu lernen, die er
+nie sprechen lernt.« — —
+
+Hans Steinherr war, das Buch in der Hand, ziellos durch die Stadt
+gewandert. Eine unsagbare Leere spürte er in seiner Brust, ein
+quälendes, schmerzendes Heimverlangen. Aber er wollte es vor sich
+selbst nicht Wort haben. Was wußten die hinter ihm von seinem Ehrgeiz?
+Wer nicht mit ihm war, der war gegen ihn. Für den Philister sind die
+Höhen nicht getürmt, dem behagt es nur in der Niederung wie dem Frosch
+im Teich. »Ah, vorwärts,« sprach er sich Mut zu, »mit leichtem Gepäck
+marschiert es sich am besten. Wenn ich wiederkomme, sollen sie zu mir
+aufblicken.«
+
+Er war durch das Rheintor gegangen, über die Schiffsbrücke, und
+wanderte durch die Rheinwiesen, an den Erlen- und Weidenbüschen vorbei.
+Plötzlich zuckte er zusammen und griff nach dem Buch. Es war ihm
+eingefallen, daß er an dieser Stelle sein erstes Gedicht gedichtet
+hatte. Hier — hier hatte er zum ersten Male seine Jugend verspürt.
+Begierig führte er das Buch dicht unter die Augen.
+
+Es war dunkel geworden. Fern über Neuß stand ein Wetter. Schmutziggelbe
+Streifen zogen sich am schwarzbewölkten Himmel entlang. Aber die
+Widmung, die vermochte er noch zu lesen.
+
+»Meinem Mentor — Telemach.«
+
+Der Mentor hatte auf diesen Telemach freiwillig verzichtet. Und die
+Liebe auf ihren Sänger ...
+
+Ein Schwung — und das Buch klatschte in die Wogen des grollenden Rheins.
+
+Da schwamm ein Stück Jugend — — —.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Zweites Buch
+
+
+
+
+Erstes Kapitel
+
+
+Die Nacht ist herabgesunken auf das schweigende Nordmeer.
+
+Noch lustwandeln auf den Promenadendecks des Luxusdampfers fröhliche
+Menschen in heiterem Geplauder, und aus den Rauchsalons schallt das
+Lachen lustiger Zecherrunden. Aber die Macht der Gewohnheit berührt sie
+an der Schulter, und die Menschenlust wird müde, die sich nur an sich
+selbst zu entzünden vermag in der lauten Vielheit. Das Leben erlischt
+über der lautlosen See.
+
+Auf Achterdeck lehnt eine Gestalt gegen die Brüstung und träumt in die
+schaumweiße Kielspur nordische Märchen hinein. Scheu ist der Schlafgott
+an dem Manne vorübergegangen, als spürte er den Widerpart der alten,
+starken Götter, die in der Nacht über das einsame Nordmeer schweben.
+Und auch der sinnende Mann spürt ihre Gegenwart. Das Wunderbare,
+Rätselvolle, Nie-Gelöste in Luft und Wasser. Und seine Menschenseele
+möchte sehnend sich dehnen in dem unsagbaren, schmerzlich süßen
+Empfinden und unsichtbare Bande sprengen, um zu verschmelzen mit der
+Allmutter Natur, und sie ringt vergeblich nach einem armseligen Wort ...
+
+»Gute Nacht, Herr Doktor!«
+
+Der Träumer fuhr herum und blinzelte mit den Augen in den Lichtstreifen
+der Schiffslaterne. »Sie sind noch auf, gnädige Frau? Sie werden morgen
+das Frühstück verschlafen.«
+
+»Selbst auf die Gefahr Ihrer Ironie hin.«
+
+»Meiner Ironie —? Was hätte wohl meine Ironie damit zu tun?«
+
+»O, bitte, keine Entschuldigung. Daß Sie sich über die ganze
+Schiffsgesellschaft lustig machen —«
+
+»Pardon, meine Gnädige, ich denke nicht daran.«
+
+»Nun also, Sie denken nicht einmal daran; das wäre Ihnen schon zu viel
+der aufgewandten Ehre. Sie verachten sie ganz einfach.«
+
+»Sie gefallen sich heute in starken Ausdrücken, gnädige Frau. Ich tue
+weder das eine noch das andere, was Sie mir unterstellen. Wenn ich
+mich während der Nordlandsfahrt, die leider ihren Kurs nun wieder heim
+nimmt, für mich gehalten habe, so bedeutete das keinerlei Affront gegen
+die Reisegesellschaft, so wenig, als sie mich affrontieren kann. Keine
+Berührungspunkte zu finden, ist doch kein Verbrechen.«
+
+»Weshalb suchen Sie sie nicht?«
+
+»Meine gnädige Frau, ich bin trotz meiner verhältnismäßig jungen Jahre
+viel auf Reisen. Wenn ich den Gang des gesellschaftlichen Lebens
+beobachten wollte, könnte ich zu Hause bleiben. Aber gerade weil ich
+anderen Stimmen, unverfälschten und ergreifenderen, lauschen wollte,
+zog es mich aufs Meer. Da haben Sie den Unterschied. Frühstücken,
+dinieren, soupieren, Musik oder ein Spielchen machen und von Zeit
+zu Zeit einen Erholungsblick in die Natur tun — ja, dazu brauche
+ich nicht nach dem Nordkap zu segeln. Eine Reihe von festlichen
+Veranstaltungen finde ich überall. Wenn ich könnte, wie ich wollte, so
+ließ’ ich mir hier auf dem Achterdeck ein primitives Bett aufschlagen,
+nähme hier ganz nebenbei meine Mahlzeiten ein und rührte mich im
+übrigen nicht von der Stelle.«
+
+»Ohne jede Unterhaltung?«
+
+»Ich plaudere den ganzen Tag, wenn auch wortlos. Und wenn ich nicht
+plaudere, so staune ich.«
+
+»Über was, Herr Doktor?«
+
+»Über das, was mir die Elemente zu sagen haben.«
+
+»Und was sagen sie Ihnen gerade jetzt, Herr Doktor?«
+
+Hans Steinherr blickte lächelnd die elegante Fragerin an, die, den
+Saum ihrer reichen Abendtoilette gerafft, auf den Spitzen der weißen
+Glacéschuhe stand und in die schäumende Kielspur sah.
+
+»Hören Sie es nicht selbst? Sie wundern sich, daß die große Weltdame
+ihre Nachtruhe einer Kaprice opfert und sich einen Schnupfen holt, um
+ein Viertelstündchen Naturkind zu spielen!«
+
+»Das kann nicht alles sein,« erwiderte sie, »damit vertreiben Sie mich
+nicht. Haben Sie keine stärkere Beschwörung?«
+
+»Wenn Sie sie hören wollen?«
+
+»Ich will.«
+
+»Sie wissen, es ist die erste Reise, die das Schiff macht. Es ist seine
+Hochzeitsreise, seine Vermählung mit dem Meere. Und nun hat sich die
+Nacht gesenkt und die Neugier hat die Augen geschlossen. Verstehen Sie
+jetzt, was das Meer wünscht? Es wünscht, daß man die Mysterien der
+Brautnacht ehrt und das Schiff allein läßt in den Umarmungen der See.
+Schnell, schließen Sie schamhaft die Augen und fliehen Sie in Ihre
+Kajüte.«
+
+»Und Sie?«
+
+»O, ich — —. Nehmen Sie an, ich kenne in diesen Dingen keine Scham.
+Nehmen Sie an, ich sehe darin nur die Kraft und den Stolz der Kraft.
+Alles das, was wir Menschenkinder verloren haben und was ich für meine
+Person so gern wiedergewinnen möchte. Da! Da! Schauen Sie, wie die
+Welle das Schiff bei der Flanke packt. Wie das Schiff zittert und in
+die Umarmung hineintaucht. Was liegt ihm an dem Flüstern, das über die
+Wasser läuft! Die Wasser verrinnen ... Gute Nacht, gnädige Frau, es ist
+Zeit, daß Sie zu Bett gehen.«
+
+»Lassen Sie mich hier. Die Nacht ist herrlich.«
+
+Er gab es auf, sie zu verscheuchen, und zog einen bequemen Triumphstuhl
+aus Segeltuch heran, in dem sie sich ausstrecken konnte. Dann wickelte
+er seinen Plaid um ihre Schultern und hüllte ihre Füße in eine
+Reisedecke.
+
+»Ah — —« machte sie und rekelte sich wohlig.
+
+Schweigend lehnte er wieder an der Brüstung und lauschte in die
+schwarzblaue See unter dem endlosen Nachthimmel. Aber eine Unruhe trieb
+in seiner Stimmung umher wie ein unter dem Wasserspiegel verborgener
+Wirbel. Er fühlte, daß er beobachtet wurde, und diese Empfindung lenkte
+ihn von der Vertiefung des Genusses ab.
+
+»Weshalb sind Sie nur ein solcher Sonderling?« hörte er die
+Frauenstimme wieder neben sich fragen. »Wenn Sie wollten, könnten Sie
+der vollendetste Weltmann sein.«
+
+»Ich mache weder auf das eine, noch auf das andere Anspruch, gnädige
+Frau.«
+
+»Sie haben Trauriges im Leben erfahren?«
+
+»Ich — —? Ich glaube, es war umgekehrt. Das Leben hat von mir Trauriges
+erfahren. Und das ist schlimmer.«
+
+»Bah, man muß das Leben zuweilen =en canaille= behandeln, damit’s
+einmal einen anderen Ton von sich gibt.«
+
+»Sie spielen jetzt die Frivole wie vorhin das Naturkind.«
+
+»Wenn Sie das Spielerei zu nennen belieben —. Für mich ist es
+jedenfalls keine Spielerei. Vielleicht liegt darin unsere individuelle
+Verwandtschaft, die uns von der Allgemeinheit entfernt: wir haben,
+jeder für seine Person, unsere Separatwünsche.«
+
+»Sie sind bei gutem Humor, gnädige Frau. Ich kann mir nicht vorstellen,
+daß Sie sich lange mit Wünschen abgeben. Für Sie gibt es doch wohl nur
+Erfüllungen.« Er sah mit seinem leisen, ironischen Lächeln nach ihr
+hin, und es war ihm, als hätte es in ihren schwarzen Augen aufgeflammt.
+
+»Ihre Komplimente haben einen Beigeschmack, Herr Doktor; aber besser
+Beigeschmack als das fade Einerlei.«
+
+»Das ist eine Freinacht hier oben. Die Kultur liegt unter Deck und
+schnarcht.«
+
+»Sie sehen, daß ich nicht unter Deck liege. Ich verlange daher auch
+durchaus nicht nach Rücksichtnahme. Erkennen Sie das an?«
+
+»Sie ebnen mir so sehr die Wege zur Erkenntnis, daß es eine
+Rücksichtslosigkeit wäre, sie nicht zu betreten.«
+
+»Wohlan? Und Sie machen mir nicht den Hof?«
+
+»Das wäre doch paradox. Ich halte Sie für eine so schöne und so kluge
+Frau, daß Sie alles Recht haben, sich nach Laune zu langweilen. Daß ich
+Sie daran nicht hindere, das ist die eine Seite der Freinacht.«
+
+»Und die andere Seite?«
+
+»Die andere? Logischerweise muß sie darin bestehen, daß man sich
+gegenseitig nicht langweilt. Auch nicht mit Hofmachen. Die Woge
+schwillt empor, und das Schiff stürmt ihr entgegen. Die Schriften der
+unendlichen Natur sind alle so einfach. Nur wir Endlichkeitsgeschöpfe
+suchen sie zu komplizieren und haben die wenigste Zeit dazu.«
+
+»Sie reden wie ein dichtender Philosoph oder wie ein philosophischer
+Dichter.«
+
+»Das sind beides Leute, die ihren Beruf verfehlt haben, denn sie
+vergessen in ihrer Doppelbeschäftigung das eine über dem anderen.«
+
+»Und so haben Sie es auch gemacht? In die Sterne geguckt und dabei
+Blumen zertreten?«
+
+»O, Eva, Eva! Das Paradies und die Schlange! Und wenn ich nun, um Ihren
+Wissensdurst zu stillen, ja sagte?«
+
+»Ich könnte Ihnen zum Äquivalent aus meinem Leben erzählen.«
+
+»Meine Gnädige, ich bin ein ebenso schlechter Beichtvater wie ein
+uninteressantes Beichtkind.«
+
+»Wer weiß — —?« meinte sie zögernd und ließ ihren Blick aufmerksam
+über ihn hinstreifen. »Es stände ja nichts im Wege, daß Sie sich in
+beiden Beziehungen besserten. Vielleicht habe ich den Ehrgeiz, Sie zu
+entdecken.«
+
+Er verbeugte sich zeremoniell und schwang sich auf die Schiffsbrüstung.
+
+»Ich bin ganz Ohr, meine gnädige Frau,« sagte er, als er seinen Platz
+eingenommen hatte.
+
+»Der Vorbereitungen bedurfte es wirklich nicht,« versetzte sie
+leichthin. »Die Geschichte ist kurz und verständlich. Ich war zehn
+Jahre lang an einen kranken Mann gefesselt, der mich tyrannisierte.
+Einen Schritt aus dem Zimmer, und ich stand mitten in der Welt. Aber er
+ließ nicht zu, daß ich den Schritt auch nur einmal tat. Aus Eifersucht,
+aus Selbstsucht. Was nutzte mir da alle Schönheit und aller Geist, wenn
+ich meine Waffen nicht in den Kampf tragen konnte! Draußen rief das
+Leben, und in mir rief das Leben, und neben mir hielt mich der Kranke
+an der Kette.«
+
+»Und Sie kamen nie darauf, Schönheit und Geist zu benutzen, um dem
+Kranken eine Welt aufzubauen?«
+
+»Ich war ja selbst krank. Krank danach, mir selbst eine Welt
+aufzubauen. Glauben Sie, ich wollte mich besser machen als ich bin?
+Wenn nichts anderes, so sollen Sie wenigstens den Mut der Wahrheit bei
+mir anerkennen. Zu einer duldenden Samariterin tauge ich nicht.«
+
+»Ihr Gatte starb?«
+
+»Vor einem Jahre. Nun bin ich auf der Fahrt ins Leben.« Sie stützte
+sich auf den Arm und sah ihn mit ihren strahlenden Augen fest an.
+»Herr Doktor, lassen Sie es meine erste Tat sein, daß ich Sie Ihren
+Grübeleien entreiße, daß ich Sie ins Leben zurückführe, in das Sie
+hineingehören wie ich. Seien Sie mein Herold!«
+
+»Ich bin nicht gewohnt, die Posaune zu blasen,« murmelte Steinherr und
+verließ seinen Platz.
+
+»Aber die Zither zu schlagen. Verstellen Sie sich nicht; ich habe die
+Künstlernatur gleich in Ihnen entdeckt.«
+
+»Die Zither?« Es lag ein spöttischer Ton in seiner Stimme. »Meine
+verehrte Forscherin, alle Märchen beginnen mit: ›Es war einmal ...‹
+Sie reden von Märchentagen der Jugend, in denen jeder ein Instrument
+spielt. Aber Sie tun recht daran, von Märchen zu sprechen. Ist das
+nicht märchenhaft um uns her?«
+
+Er deutete in die nächtliche See hinaus, die sich wenige Meter vom
+Schiff wie ein Geheimnis im Dunkel verlor.
+
+»Dort liegt das Asenreich, das einst dahin mußte vor ›Buch und Kreuz
+und Mönchsgebet‹, wie Scheffels Waldfrau singt. Aber es liegt nur im
+Traum, wie alles, was einmal war. Der Gedanke ist ewig. Und eines Tages
+werden sich die Menschen zurückbesinnen auf die Tage der Kraft und
+Ursprünglichkeit.«
+
+»Und Sie werden dazu die Zither schlagen.«
+
+»Ich? — Ich bin ein stagnierendes Wasser, das langsam aber sicher
+verschwindet.«
+
+»Mein Herr Doktor: Sie und Sentimentalitäten? Ich nehme an, das ist ein
+bißchen Pose.«
+
+»Wie Sie befehlen, gnädige Frau. Wenn es Sie nur unterhält.«
+
+»Ein stagnierendes Wasser — —,« wiederholte sie. »Mir fällt ein,
+ich wanderte im Sommer einmal an einer wasserarmen Stelle des
+Werraflüßchens. Da hatte sich ein stagnierendes Wasser gebildet, und
+ein graues, moosiges Gespinst überzog die ganze Fläche. Das war ein
+trauriger, trostloser Anblick. Und als ich wenige Tage darauf wieder an
+den Ort kam, traute ich meinen Augen nicht. Das Grau war verschwunden,
+Sonne lag auf dem Wasser, und der Fluß — ja, denken Sie — der Fluß
+blühte! Tausende und aber Tausende weißer Blumen bedeckten ihn wie
+ein prangender Sternenmantel. Der Gott war in das stagnierende Wasser
+gefahren und hatte es gezwungen, zu leben, seine Wunder zu offenbaren.
+Das war eine seltene Überraschung. Seit dem Tage, Herr Doktor, geben
+mir die stagnierenden Wasser am meisten zu denken. Es sammelt sich
+darin in der Stille eine ungeheure Materie, und fährt der Gott hinein,
+so gibt es ein überwältigendes Prangen ...«
+
+»Sie schlagen ja selbst die Zither, gnädige Frau.«
+
+»O nein, ich bin nur eine begeisterte Zuhörerin. Heraus und heran mit
+allem, was das Leben schmückt!«
+
+»Die Sonne,« sagte Steinherr leise und wies in die Ferne, die einen
+fahlen, roten Streifen zeigte, der rasch anwuchs und die Linie
+des Horizontes scharf markierte. »Sonnenaufgang,« wiederholte er.
+»Ah, sehen Sie, wie im Osten Funken aufspringen und sich jagen und
+vereinigen. Jetzt ringeln sich feurige Schlangen blitzschnell um den
+Horizont. Jetzt schießen Strahlengarben empor, fliehen sich, suchen
+sich und verdichten sich zu einem golden umsäumten Purpurbaldachin,
+unter dem die Majestät der Sonne wie das segnende Auge Gottes
+emporsteigt.«
+
+Er berauschte sich an dem Schauspiel der Natur und an seinen eigenen
+Worten.
+
+»Ich freue mich mit Ihnen,« sagte die Frau im Triumphstuhl und streckte
+in heimlichem Kraftbewußtsein die Glieder. Doch sie blickte nicht über
+das Meer. Sie sah nur den Enthusiasmus des sonst so unnahbaren und
+überlegenen Mannes und forschte, wie weit ihr Anteil an der Erweckung
+ginge.
+
+»Ja,« fuhr Steinherr hastig fort, »eine wundersamere Stunde heiliger
+Morgenfrühe kann es hienieden nicht geben. Wie das Schiff so sanft und
+glatt dahineilt! Als wollte es die Weihe des Schauens durch nichts
+unterbrechen und den Gedanken an seine Existenz verschwinden machen vor
+dem Atmen der Weltenseele.«
+
+»Wo nehmen Sie die Worte her — —?«
+
+»Ist das so schwer? Da stehen sie ja alle aufgezeichnet, wohin Sie
+blicken, da, da und da! Dort tritt auch die Felsenküste Norwegens
+wieder hervor. Und nun liegen sie vor uns in ihrer Weltabgesondertheit,
+die granitenen Häupter und Zacken, von der See bedrängt und zerrissen,
+und das schwerlastende Einsamkeitsgefühl ausströmend, das unser
+Altvorderen bewog, den Sitz Odins und Asathors, des Hammerschwingenden,
+in das wilde Reich Norge zu verlegen. Das Land der Asen ... Soweit das
+Auge reicht, Wasser und Felsen. Das Geschlecht der Menschlein nirgend
+zu verspüren. Ein Wasserrabe streicht einsam über die Flut. In der
+Ferne ein Zug wilder Eiderenten. Sonst nichts Lebendiges ...«
+
+»Nichts Lebendiges?«
+
+Er wandte sich nach der Fragerin um. Der Ton hatte ihn stutzig
+gemacht. Und nun sah er die kapriziöse Reisegefährtin, die mit ihm
+eine Nacht Kameradschaft geteilt hatte, mit der er wie mit einem
+nächtlichen Schemen Rede und Antwort getauscht hatte, im Dämmer des
+Morgens vor sich als ein Wesen von Fleisch und Blut, als ein üppiges,
+bestrickendes Frauenbild. Er sah die elfenbeinfarbene Haut, das vom
+Wind über die Stirn gewehte schwarze Haar, die großen, schwarzen Augen,
+die fest seinem Blick begegneten und ihn zwangen, stillzuhalten. Und
+den blaßroten Mund, der ihm am rätselvollsten schien.
+
+Seine überwachten Sinne, von der gewaltigen Schönheit der Natur
+überwältigt, strafften sich mit verdoppelter Kraft. Was er sprach,
+empfand er nicht. Er empfand nur das neue Bild in der Einsamkeit der
+Frühe.
+
+»Was soll das?« hörte er seine Stimme, »was wollen Sie mit der Frage?«
+
+»Wissen, ob Sie glauben, ich sei neben Ihnen gestorben.«
+
+Sie sahen sich immer noch an, mit demselben festen, fast finsteren
+Blick. Er vornüber gebeugt, die Hände an der Lehne ihres Stuhles; sie
+ausgestreckt, regungslos daliegend.
+
+Da atmete sie tief auf. Und mit einer jähen Bewegung hatte er seine
+Hände unter ihr Haar geschoben.
+
+Noch eine Sekunde starrten sie sich an, ganz nah, ganz dicht — — Und
+sein Mund preßte sich auf ihre Lippen, die sich unter dem Drucke
+öffneten und seinen Kuß tranken. — —
+
+Dann sprang sie auf, drückte die Hand auf die Augen, ließ den Arm
+sinken und strich mechanisch die Toilette glatt, ging bis an die
+Brüstung und blickte über das Meer.
+
+Als sie sich umwandte, war sie ruhig.
+
+»Kommen Sie, wir machen Dummheiten, lieber Freund! Bringen Sie mich bis
+zur Kajütstreppe. Ich danke Ihnen. Gute Nacht! Nein, Guten Morgen!
+=A bientôt=!«
+
+»Auf Wiedersehen, Frau Bettina Wittelsbach — —«
+
+Sie lächelte vor sich hin, als er ihren vollen Namen aussprach. War es
+doch, als ob er damit beweisen wollte, daß auch sie ihm aus dem Kreise
+der Reisegenossen längst aufgefallen sei.
+
+Als sie gegangen war, blieb er einen kurzen Moment emporgerichtet auf
+dem Fleck stehen. Dann schwand das Leuchten aus seinen Augen, die
+ironisierende Kälte kehrte in den Blick zurück, und mit langsamen
+Schritten begab auch er sich in seine Kajüte, um die Vorgänge der
+Nacht zu verschlafen. Als kurz nach sieben Uhr die Trompeten durch das
+Schiff den Morgengruß schmetterten und zum Frühstück luden, erwachte
+er frisch und gekräftigt. Nur in seinem Blute war ein leises Vibrieren
+zurückgeblieben. Aber er empfand es nicht unangenehm.
+
+Während der Toilette fiel sein Blick in den Spiegel. Heute morgen
+betrachtete er sich aufmerksamer als sonst.
+
+Hm, mein guter Hans, dachte er nachdenklich, die Jahre sind schneller
+über dich gekommen, als du über sie. Mit achtundzwanzig Jahren pflegt
+man in der Regel noch nicht nach den ersten grauen Haaren an den
+Schläfen auszuspähen.
+
+Der Spiegel warf das Bild eines scharf ausgearbeiteten Kopfes zurück,
+aus dem die weiche Rundung der Jugendformen längst verschwunden war.
+Der wehende Schnurrbart beschattete den zum Sarkasmus neigenden Mund.
+Die Stirn war breit, und die Wölbungen erschienen wie gemeißelt. Nur
+in den dunkelgrauen Augen loderten zeitweilig noch die alten, heißen
+Flammen auf, wie Wachtfeuer der Jugend.
+
+Ob man mich in Düsseldorf noch wiedererkennen würde? flog es ihm
+plötzlich durch den Sinn. Und ich die Menschen dort? In fünf Jahren
+ändert sich die ganze Welt von Kopf bis zu Fuß. Das ist eigentlich gar
+nicht auszudenken. Also denken wir doch nicht immer daran ...
+
+In einem leichten Promenadenanzug ging er an Deck, ließ sich eine
+Viertelstunde lang die frisch aufspringende Brise durchs Haar wehen und
+begab sich dann in den Frühstückssalon. Mit dem ersten Blick stellte er
+fest, daß Frau Bettina Wittelsbach noch nicht sichtbar geworden war.
+Erst gegen Mittag gewahrte er sie in einem Kreise lebhaft flirtender
+Berliner Herren. Sie trug ein fest anliegendes russisch-grünes
+Tuchkleid, denn die Temperatur war plötzlich gesunken, und der Wind
+kam in kurzen, kalten Stößen aus Nordnordwest. Als er gleichmütig
+vorüberschritt und höflich den Hut lüftete wie alle Tage, ließ sie die
+Gesellschaft stehen und kam auf ihn zu. »Guten Morgen, Herr Doktor! Ich
+wünsche Ihnen das heute schon zum zweiten Male.«
+
+»Guten Morgen, meine gnädige Frau! Ich hoffe, daß die Freinacht in
+Ihrer zarten Konstitution keine Spuren zurückgelassen hat.«
+
+»O doch,« sagte sie ruhig und hielt seinen Blick aus. »Aber das wird
+Sie schwerlich interessieren.«
+
+»Mache ich einen so wenig Vertrauen erweckenden Eindruck, meine gnädige
+Ungnädige?«
+
+»Ich habe das Frühstück richtig verschlafen,« lenkte sie ab, »wie Sie
+es mir prophezeit hatten. Und auch nachher konnte ich mich kaum zum
+Aufstehen zwingen. Ich habe selten den halbwachen Zustand als so schön
+empfunden.«
+
+»Geträumt, gnädige Frau?«
+
+»Ja, geträumt.«
+
+»Darf man Näheres wissen?«
+
+»Nein, man darf nichts Näheres wissen.«
+
+Er nahm ihre Hand, die in seinem Arm lag, und führte sie an die Lippen.
+Es lag keine Veranlassung zu einer Huldigung vor, aber sie empfanden
+beide das Unzeitgemäße durchaus nicht.
+
+»Wie mir vorhin der Steward mitteilte, wird das zweite Frühstück um ein
+Uhr heute mehr den Charakter eines Diners tragen. Die Windstärke steigt
+verdächtig. Da sorgt der kluge Hausvater vorzeitig für die nötige
+Widerstandsfähigkeit. Sehen Sie nur, wie boshaft die kleinen Wellen
+hüpfen. Jede Welle eine kleine Grimasse. Das kann zum Abend lustig
+werden. Sie fürchten sich doch nicht, gnädige Frau?«
+
+»Ich ernenne Sie einfach zu meinem Ritter. Da bin ich aller Furcht
+ledig.«
+
+»Befehlen Sie, daß ich meinen Dienst bereits bei der Tafel antrete?«
+
+»Wie? Ist es möglich, Herr Doktor? Sie wollen Ihren einsamen Eckplatz
+aufgeben und gar eine Tischdame wählen? Das ist sehr schmeichelhaft
+für mich. Nur eine Bedingung: Fragen Sie mich nicht immer, ob ich
+befehle. Wenn ich befehlen dürfte, hätte ich doch nicht die Freude,
+zu sehen, daß man mir freiwillig etwas entgegenbringt. Kennen Sie uns
+Frauen so wenig, daß Sie nicht wissen, worin unser größter Triumph
+besteht?«
+
+Der sarkastische Zug erschien um seinen Mund.
+
+»Sie treffen ganz meinen Geschmack, gnädige Frau. Auch ich sehe den
+besonderen Liebhaberwert einer Sache im Geschenk, in der persönlichen
+Widmung. Also auf Gegenseitigkeit, wenn Sie geruhen.«
+
+Sie nickte kurz, als dächte sie schon an anderes.
+
+Dann riefen die Trompeten zu Tisch, und unbekümmert um die verwunderten
+Gesichter der Tafelrunde pokulierten sie heiter miteinander, und mit
+der heiteren Gravität des alten Kavaliertums, das mehr und mehr aus
+der Zeit verschwindet und doch durch die Form auf den Inhalt wirkt,
+bediente Hans Steinherr seine Dame. Seine Art fiel ihm selbst auf.
+Woher hatte er sie nur? Und vor seinen Augen stand Herr Friedrich
+Leopold von Springe, stand Düsseldorf, das gastfreie, stand das
+schlanke, scheue, hingebungsvolle und aufbegehrende Mädel, das in
+seligen Zeiten auf den Namen Hannes hörte ...
+
+Düsseldorf — Burg Springe — Pempelfort — — die Worte wurden zu
+Begriffen, die Macht über ihn gewannen, die sein ganzes Denken und
+Empfinden zu absorbieren drohten. Er wurde schweigsam und stierte in
+sein Glas.
+
+»Mein Herr Ritter — —« erinnerte neben ihm die schöne Frau.
+
+Da nahm er sich zusammen und wurde, wie er zu Beginn der Tafel gewesen
+war. »Ich rate Ihnen, sich für ein paar Nachmittagsstunden hinzulegen,
+gnädige Frau. Der Himmel ist zwar noch klar, aber die See beginnt
+verdächtig unruhig zu werden. Sollten wir zum Abend Sturm bekommen, ist
+es doch um Ihre Nachtruhe geschehen.«
+
+»Weil Sie mich nicht für wetterfest halten?«
+
+»Nein,« sagte er, »weil ich Ihnen auch diese Nacht entreißen würde, um
+Sie auf Deck zu halten. Weil ich Sie mit Beschlag belegen würde, damit
+Sie das Meer in der Leidenschaft sehen. Das ist ein guter Maßstab,
+schöne und verehrte Herrin aller Kulturstätten.«
+
+Sie hatte sich von der Tafel erhoben, zum Gehen bereit.
+
+»Hoffen wir, daß Sturm kommt,« sagte sie leise, verneigte sich gegen
+ihn und suchte ihre Kajüte.
+
+Auf den Promenadendecks stand die Reisegesellschaft in Gruppen umher.
+Man lachte, schwatzte und fühlte sich zu Hause, als ob man statt der
+Schiffsplanken den Parkettboden der heimatlichen Salons unter den Füßen
+hätte. Morgen abend hoffte man in Hamburg zu landen, und noch einmal
+wurden die Eindrücke der Fahrt rekapituliert. Wer genauer hinzuhören
+verstand, konnte wahrnehmen, daß die bleibendsten Eindrücke nicht durch
+die Wunder der Natur, daß sie bei der Mehrzahl dieser Modereisenden
+durch die — glänzende Verpflegung an Bord geschaffen worden waren. Ein
+rundlicher, beweglicher Herr, dem die Wonne des Lebensgenusses auf den
+glattrasierten Wangen geschrieben stand, ereiferte sich am meisten.
+
+»Ja, ja, meine Herrschaften, für unser Zeitalter gibt es keine Höhen
+und Tiefen mehr. Flugs setzt sich so ein Techniker hin, schlägt die
+Brücken und gleicht alles aus. Ist denn das ein einsam dahinsausender
+Dampfer, auf dem wir uns befinden, der uns allen menschlichen
+Wohnstätten entführt? Ein erstklassiges Hotel hat uns seine Pforten
+geöffnet und führt uns mit jeder erdenklichen Selbstverständlichkeit
+einen Luxus vor Augen, wie er selbst dem Verwöhntesten unter uns nicht
+vollendeter an Land geboten werden könnte. Glauben Sie mir, meine
+Herrschaften, ich verstehe mich ein wenig darauf. Aber das versichere
+ich Sie: Zeit meines Lebens, wo es nur angeht, werde ich das Reisen
+per Dampfer vorziehen. =D=-Zug mit Speisewagen ist ein überwundener
+Standpunkt.«
+
+Hans Steinherr schlenderte weiter. Auf dem Sonnendeck war es ruhiger.
+Hier ließ er sich nieder und beobachtete das aufgeregte Hasten der
+vor Stunden noch so glatten See. Dann verfiel er, ohne sich dagegen
+zu wehren, in eine Art Halbschlaf. Ein paar Stunden wohl mußte er
+verträumt haben. Er hörte zwei Matrosen miteinander verhandeln, und als
+er aufblickte, sah er, wie der eine verstohlen auf einen dunklen Punkt
+am Horizont deutete, der sich rasch vergrößerte und sich mehr und mehr
+zur Wolke auswuchs.
+
+Sturm in Sicht!
+
+Es wurde dunkel. Schwarze Schleierfetzen flatterten, wie von einem
+boshaften und schadenfrohen Meeresgesindel emporgeblasen, am Himmel
+auf, und die See machte einen Buckel wie ein fauchender Kater. Eine
+steife Brise sprang auf. Plötzlich schwieg sie. Einen Augenblick
+Stille ringsum; nur die See tanzte weiter in unregelmäßigem Hüpfwalzer.
+Da — hui! — pfiff es daher, ein Windstoß, so wütend und kreuz und
+quer einherspringend, daß die Passanten an Deck jäh ihren Stützpunkt
+verloren. Ein Flüchten begann nach den Kabinen, den Salons. Nur wenige
+hielten sich an Deck. Eine Leidenschaft war in ihnen erwacht nach
+vieler, vieler frischer Luft ...
+
+Wieder setzte ein Windstoß ein; heftiger als der erste. Hans Steinherr
+zog seinen Wettermantel an und stülpte die Kapuze über die Ohren. Dann
+stieg er die Stufen zum Promenadendeck hinab, um sich die Tragikomödie,
+die hier bereits ihren Anfang genommen hatte, aus der Nähe anzusehen.
+
+»Gottlob, daß ich Sie finde. Ich hätte Sie in Ihrer Vermummung fast
+nicht erkannt.«
+
+»Ah — — meine Gnädige — —«
+
+Sie klammerte sich an seinen Arm, denn der Wind packte rücksichtslos
+an. Wie er, war sie in einen langen Gummimantel gehüllt, und die
+Gummikapuze, die sie über den Kopf gezogen hatte, ließ nur Augen, Nase
+und Mund frei.
+
+»Ich wäre da unten verrückt geworden,« sagte sie rasch, denn der Wind
+benahm ihr den Atem. »Unmöglich, in den Kabinen zu bleiben. Dort haben
+sich — unsichtbare — Karussells — etabliert.«
+
+Der nächste Windstoß warf sie hart gegen seine Schulter. Sie schrie auf.
+
+Er lachte und faßte sie fest um den Leib. »Das war ja nur die
+Ouverture. Das eigentliche Konzert soll erst beginnen. Da! Schauen
+Sie hin! Da taucht der Nickelmann grinsend aus der Flut. Mit den
+Flossenhänden stützt er sich auf den Kamm einer Riesenwelle, und sein
+plusterndes Gesicht will platzen vor Vergnügen über den gelungenen
+Streich. Sehen Sie es, schöne Sturmfrau? Jetzt — jetzt! Als rühre er
+eine Pauke, so fallen plötzlich seine Tatzenschläge auf die See, und
+soweit das Auge das fahle Licht durchdringt, schlagen weiße Nixenleiber
+Kobolz mit den schwarz heranstürmenden Fluten, schwingen sie sich auf
+die Wogenkämme, daß sie so blendend scheinen wie schneeiger Schaum,
+heben sie sich bis an den Bordrand und werfen unter tollem Gelächter
+den verblüfften Festgenossen Kübel voll Salzwasser über den Kopf.
+Hoppla, der Guß war für uns!« Er riß Frau Bettina hoch, die unter der
+Wucht des Sturzbades in die Kniee sinken wollte, und ergriff mit der
+freien Hand einen Eisenring an der Bordbrüstung.
+
+»Ich habe den Mund voll Salz,« entrüstete sie sich, »das ist ja
+unerträglich.«
+
+»Sie werden sich schnell daran gewöhnen,« beschwichtigte er. »Äußerten
+Sie nicht in vergangener Nacht selbst, jeder Beigeschmack wäre Ihnen
+noch lieber als das fade Einerlei? Der Himmel hat Ihre Bitte erhört.«
+
+»Spotten Sie nicht, Sie gräßlicher Heide. Da kommt eine neue
+Sturzwelle.«
+
+»Diesmal gilt es den anderen. Schwupp — und sie hat ein Dutzend
+Triumphstühle übergossen. Empfinden Sie nicht das Groteske des
+Vorspiels? Ganz wie bei den alten Meistern. Erst die Rüpelkomödie, dann
+das Drama. Ach du mein lieber Gott, das Publikum hier ist ja viel zu
+ungebildet für die ganze Veranstaltung, oder zu dekadent. Wenn sich die
+Natur einen Witz erlaubt, nennen sie’s Gemeinheit; und wenn sie selbst
+sich Gemeinheiten gestatten, nennen sie’s einen Witz. Treten Sie näher,
+meine schöne Dame. Entree gänzlich frei.«
+
+»Na,« lachte sie zornig, »Tribut scheint mir doch zur Genüge gezollt zu
+werden.«
+
+»Ja,« bestätigte er, »die Ästhetik ist vorläufig von der Tagesordnung
+abgesetzt. Sehen Sie nur, wie die tadellosen Helden und Heldinnen vom
+Turf und Tennisplatz sich verzweifelt winden, um ihrem Schicksal zu
+entrinnen. Hilft nichts. Jetzt grassiert das reine Menschentum. Dort
+ziehen flinke Stewardshände die Erblassenden aus den Salons auf Deck —
+denn die Smyrnateppiche sind kostbar, und Holzplanken noch nie diffizil
+gewesen. Gehen wir hin, kondolieren.«
+
+»Um Himmels willen, hören Sie auf. Gleich wird sich der Spieß umkehren.«
+
+»Unbesorgt. Ich setze meinen rheinischen Dickkopf auf.«
+
+»Und ich?«
+
+»Sie —?« gab er zurück, ließ einen Augenblick den Eisenring los, schob
+ihr die Kapuze aus der Stirn und sah ihr in die Augen. »Sie sind bis
+auf weiteres ein Teil von mir.«
+
+Wieder sprühte ein Salzwasserregen über sie hin. Die Wellen fegten über
+das Bugspriet; auf Vorderdeck war der Aufenthalt unmöglich geworden,
+und auf Promenadendeck wurden starke Seile gezogen als Halt für die
+tastenden Hände. Wie Mumien eingepackt, still und starr und frierend,
+lagen die Reisegenossen in langer Reihe in den Triumphstühlen. Aber
+die horizontale Lage war auf die Dauer nicht zu ertragen. Einer nach
+dem anderen erhob sich wieder, mit übernatürlich glänzenden Augen, um,
+wie weiland Graf Ernst von Mansfeld, stehend und in voller Rüstung
+zu sterben. Und endlich schwankten sie hinweg, von samariterhaften
+Matrosen geleitet.
+
+Der rundliche Herr, der am Mittag so enthusiastisch die Wonnen der
+Dampfer vor allen anderen Transportmitteln gefeiert hatte, war wie
+eine Kugel an Steinherr und seiner Gefährtin vorbeigeschossen. Nun
+klammerte er sich, ohne den Kopf zu wenden, mit einer Innigkeit an
+die Bordbrüstung, als hätte er tiefe Geheimnisse mit der zu ihm
+aufspringenden See. Als er sich endlich mit schwerem Atemzug dem Bann
+des Meeres entriß, drückte er erloschenen Auges Steinherr die Hand.
+
+»Doch, doch! =D=-Zug ist auch was Schönes. — Glauben Sie’s mir. Jetzt
+versteh’ ich mich darauf.«
+
+Ein Matrose brachte ihn unter Deck.
+
+Die Nacht brach herein, und der Sturm tobte mit voller Kraft. Kein
+Passagier war an Deck zurückgeblieben. Nur Steinherr stand mit seiner
+Gefährtin an der Bordbrüstung. Er hatte ein Tau durch die Eisenringe
+gezogen, so daß sie fest angeseilt gegen die Planke gedrängt waren.
+
+Die Frau an seiner Seite sprach schon seit langem nicht mehr. Sie
+trieften beide vor Nässe, und bei jeder neuen Sturzwelle spürte er, wie
+sie erschauerte, wie sie sich unwillkürlich an ihn preßte. Dann beugte
+er sich zu ihr hinab und sah ihr starr in die Augen. Der Wind heulte
+um die fauchenden Schlöte des Schiffes herum.
+
+»Nun, meine gnädige Frau,« fragte er leise, »was sagen Sie zu diesem
+Pendant der gestrigen Nacht? Nach dem weichen Sehnen die tolle
+Leidenschaft. Haben Sie ein Gefühl für die wilde Größe?«
+
+Sie hob den Kopf, und ihre Nasenflügel vibrierten.
+
+»O — —« stieß sie hervor, »Sie sind ein Lehrmeister — —«
+
+»Wir Menschen müssen Künstler sein,« sagte er, »und wenn nicht mehr,
+dann doch Lebenskünstler. Damit betrügen wir uns selbst, zu unserem
+Heil, als hätten wir wahrhaftig Gottähnlichkeit.«
+
+»Wir haben sie,« entgegnete sie, »wir brauchen nur zu wollen.«
+
+Er überhörte den Einwurf. Der Künstler in ihm war geweckt.
+
+»Was für ein Pathos liegt in dem Bilde vor uns! Man denkt nicht daran,
+über den Stil zu lachen, man wird selbst pathetisch. Aber Größe
+verspürt man. Wie sie aus weiter Ferne heranrollen, die Wellenungetüme,
+näher und näher jagen, von anderen gefolgt. Und wie ein Kommandeur in
+der Schlacht links und rechts die Regimenter an sich reißt, zum Sturm
+auf die feindliche Hauptmacht, so schlingt die heranstürmende Woge
+links und rechts kleinere Wellenberge in sich hinein, wächst wie eine
+Lawine, bäumt sich dicht vor dem Bug des Schiffes haushoch empor, unten
+die schwarzen Massen, darüber eine kristallgrüne Kappe, die wieder von
+schneeweißem Gischt gekrönt, der sich in sausenden Fontänen auflöst
+— heißa! jetzt fegt’s über Deck wie ein Schwarm von nadelscharfen
+Pfeilen. Sind Sie getroffen, meine Allergnädigste?«
+
+Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Der Sturm hatte ihr die
+Kapuze heruntergeweht, und sie griff mit beiden Händen in den Nacken.
+In ihrem schwarzen Haar glitzerten die Salzspuren wie Diamanten. Brust
+an Brust standen sie.
+
+»Wissen Sie noch, was Sie mir heute mittag zuriefen? ›Hoffen wir, daß
+Sturm kommt.‹ Der Sturm ist da! Und ich warte.«
+
+»Nein, ~ich~ warte!«
+
+Sie küßten sich unter dem Sprühregen der See auf den Mund, auf die
+Augen, und wieder auf den Mund. Kein Wort hatte Raum zwischen ihnen.
+Kaum, daß sie sich sahen in der Dunkelheit. Nichts von Erblassen,
+nichts von Erröten. Mitten im Meersturm: zwei Menschen.
+
+»Wohin mit uns?«
+
+»Wohin? Willst du vor meiner Kajütentür Schildwacht stehen?«
+
+»O, selbst Tristan —«
+
+Sie hielt ihm den Mund zu.
+
+»Ja, wenn ein König Marke existierte. Nur die Gefahr entzückt. Wart’s
+ab, bis sie kommt.«
+
+»Hüte dich.«
+
+»Hüte du dich.«
+
+Und wieder küßten sie sich.
+
+»Auf morgen denn.«
+
+»Nein, nicht hier. Das wäre eine blasse Kopie. Nicht eher, als bis ich
+daheim bin.«
+
+»Du reisest weiter, ohne in Hamburg zu bleiben?«
+
+»Übermorgen bin ich in Berlin. Vielleicht — weißt du mich zu finden?«
+
+»Und unterdes? Das ist eine Wartezeit von Jahrhunderten!«
+
+»Voneinander träumen. Lebenskünstler sein, wie du sagtest.«
+
+Er zog das Tau aus den Ringen, um sie frei zu geben. Sie tat ein paar
+Schritte, blieb stehen, öffnete den durchnäßten Wettermantel und
+schöpfte, die Arme dehnend, Atem.
+
+Da war er bei ihr und riß den Mantel ganz herab. »Ich muß deine Gestalt
+noch einmal sehen. Ob du dich nicht in eine fischschwänzige Nixe
+verwandelt hast. Das ist jetzt mein Eigentum.«
+
+»Verteidige es,« lachte sie und wollte ihm entfliehen.
+
+Aber er fing sie in den Armen und preßte sie an sich. Sie schloß die
+Augen in der ungestümen Umarmung.
+
+»Gute Nacht, wilder Mensch!«
+
+»Gute Nacht, Sturmfrau!« — — — —
+
+Am nächsten Tage sah er sie wieder. Der Morgen war sonnendurchleuchtet.
+
+Hoheitsvoll, in eleganter, duftiger Toilette, schritt sie, wie eine
+unnahbare Fürstin von einer alten Exzellenz geleitet, an ihm vorbei.
+Kaum merkbar zuckte es in ihren Wimpern, als sie ihn erblickte, und die
+Spitzen um den zarten Halsausschnitt zitterten eine Sekunde lang. Sie
+war, wie vorher, die Dame der großen Welt.
+
+Und Steinherr, den alten ironischen Zug um den Mund, zog mit kalter
+Höflichkeit den Hut.
+
+Als sie zum zweiten Male an ihm vorüberkam, kannten sie sich nicht mehr
+....
+
+Das Schiff war in die Elbmündung eingelaufen. Mit der einbrechenden
+Flut ging es stromauf. Am Abend war der Sankt Pauli-Landungsplatz
+erreicht; die Schiffsbrücken rasselten nieder und bildeten den Steg.
+
+Hans Steinherr stand mitten im Gedränge. Die Passagiere stießen an ihn
+an und machten Bemerkungen über den Sonderling, der sich durch seine
+Art auch beim Abschied nicht verleugnete. Er hörte nichts.
+
+Jetzt erschien Frau Bettina, von einem ganzen Kreise eskortiert. Er
+streifte sie mit gleichmütigem Blick. Er hatte sich völlig in der
+Gewalt.
+
+Als sie neben ihm war, tat sie, als würde sie von dem Menschenstrom
+gegen ihn zurückgedrängt. Wie unbeabsichtigt lehnte sie sich einen
+Moment fest an seine Schulter. Da spürte er ihre suchende Hand in der
+seinen. Er biß die Zähne zusammen. Sie hatte ihm die Nägel in die
+Handfläche gedrückt.
+
+Um den Wagen, der sie zum Bahnhof brachte, sammelte sich die
+Gesellschaft. Sie erteilte gnädig Abschiedsaudienz. Hans Steinherr
+reckte sich in den Schultern: ~Ich~ hab’ sie in den Armen gehabt!
+
+Aus der Ferne flatterte ihr Tuch. Das galt ~ihm~: Folge mir!
+
+Lange noch stand er an der stiller werdenden Hafenstelle. — —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Zweites Kapitel
+
+
+Hans Steinherr hatte es nicht sonderlich eilig gehabt, Frau Bettina
+Wittelsbach wiederzusehen. Die ersten Tage in Berlin waren damit
+hingegangen, eine Wohnung zu suchen und das Ameublement auszuwählen,
+das dem Geschmack eines verwöhnten Junggesellen zu entsprechen
+vermochte.
+
+Er konnte nicht müde werden, die Stadt zu durchstreifen und sich die
+Gegenstände Stück für Stück zusammenzuholen. So schuf er sich ein Heim,
+so ruhig und vornehm in Form und Farbe, als hätte ein kunstsinniger
+Geist schon seit einem Menschenalter in diesen Räumen geweilt.
+
+Die Wohnung lag in der Viktoriastraße nahe der Potsdamerbrücke. Wenige
+Schritte, und er war mitten im Leben der Großstadt; wenige Schritte
+zurück, und die Brandung war verrauscht, Weltabgeschiedenheit umfing
+ihn. Seine Stimmung brauchte sich von der Laune Berlins nicht abhängig
+zu machen.
+
+Vierzehn Tage hatte er benötigt, um die Einrichtung zu vollenden. Von
+früh bis spät war er in freudiger Tätigkeit gewesen, und das Schaffen
+und Anordnen, das stetige Sichversenken in jeden neuen Gegenstand und
+das heitere Bekanntwerden mit den Dingen, die nun seine Umgebung
+bildeten, hatte seine andrängenden Gedanken und Erinnerungen in ruhige
+Bahnen abgezogen.
+
+Es war ein Vormittag zu Anfang Oktober. Hans Steinherr stand an dem
+weitgeöffneten Fenster seiner Parterrewohnung und blickte über die
+sonnenbeschienene Potsdamerbrücke hinaus. Was nun? Er hatte sich
+fertig eingerichtet und mußte nun wohl an die Regelung eines weiteren
+Tagewerks gehen. Das fiel ihm zum ersten Male ein. Weshalb hatte er
+sich sonst seßhaft gemacht!
+
+Er erinnerte sich der hohen Meinungen seiner einstigen Kommilitonen.
+Ihres Schwärmens von seiner Zukunft. Man hatte doch eine Karrière von
+ihm erwartet, die in gerader Linie unter Volldampf vorwärts wies, und
+nun war er, eben vom Start gelassen, in breiter Kurve ausgewichen und
+hatte den Anschluß nicht wieder aufgesucht. Wo war der kalt wägende
+Ehrgeiz geblieben, für den es keine Hindernisse geben sollte, dem er
+als ersten Tribut seine töricht süße Jugendliebelei geopfert hatte?
+
+Töricht — —? Süß, o ja, das war sie gewesen. Aber töricht? — Was war
+denn in der Empfindung später ernsthafter gewesen? Oder nur gleich
+ernsthaft? Jede Spanne des Lebens nahm das ernsthaftere Gepräge der
+Empfindungen für sich in Anspruch, aber das der aufwachenden Jugend
+war das erste und damit das ursprünglichste gewesen. Das, was folgte,
+hatte sich darauf aufgebaut, dem Geschmack der Welt, den Zeitströmungen
+nachgebend.
+
+So schnell er gelaufen war, sein Schatten lief mit.
+
+Das hatte sich hemmend auf den Sturmlauf seines Ehrgeizes gelegt. Das
+niederrheinische Gemüt wurzelte tiefer als alle anerlernte Form. Das
+Wesensinnere einer Heimatscholle, die einen ausgesprochenen Charakter
+besitzt, läßt sich nicht abschütteln wie der Staub von den Stiefeln.
+Durch sie, durch das Festhalten an ihr, werden ihre Söhne in der Ferne
+zur Kraft gelangen wie Eichen im Buschwald, ohne sie, unter Preisgabe
+ihrer Art, werden sie unkennbar im Niederholz verschwinden.
+
+Hans Steinherr sah über die sonnige Straße hin. Noch war er da!
+
+Anders, als er es sich vorgestellt hatte beim letzten Abschied von
+Düsseldorf, vor fünf Jahren ... Aber er war da! Er war ~wieder~ da! Und
+eine neue Heimat zu schaffen, mußte gelingen.
+
+Als er es in seinem Studium zum Doktor der Rechte gebracht, hatte er
+resigniert. Durch den jähen Abbruch der Beziehungen zur Vaterstadt,
+zur Mutter, den Freunden, der Freundin, war es mählich und mählich
+beklemmend still in ihm geworden. Er hatte Stunden gehabt, in denen
+es ihn mitten in fröhlicher Gesellschaft fror. Und die Stunden
+waren wiedergekommen und kamen wieder. Dann vermochte er sich nicht
+zu wehren: die Vergleiche drängten sich ihm unabweisbar auf. Dann
+entsann er sich des Abends am Rheinufer, als er, noch ein Primaner,
+vom Schützenfestplatz gekommen war und ihm die Ursprünglichkeit des
+Heimatlandes zum ersten Male jubelnd aufgegangen war. Auch damals hatte
+er Vergleiche gezogen, zwischen dem gesellschaftlichen Leben im Hause
+seines Vaters, das sich, wenn auch Schablonenarbeit, zeitweilig doch
+so hübsch, ja sogar witzig abspielte, und der Glückseligkeit, die ihm
+die nahe Berührung mit der Rassigkeit der ureigensten Scholle bereitet
+hatte. Nun fehlte ihm selbst das schwache Abbild, das das Vaterhaus ihm
+bot. Von allem anderen zu schweigen ...
+
+Immer wieder waren die Erinnerungen gekommen wie der Dieb in der
+Nacht. Sie verschönten sich in seiner Einbildung, ließen ihn oft die
+Gegenwart vergessen und gaukelten ihm Perspektiven vor, in denen er als
+nimmer müder Genießender stand. Wenn er erwachte, fragte er sich: Wozu
+arbeite ich, wozu leb’ ich denn überhaupt? Das ist ja eine regelrechte
+Komödie, die ich mitmache. Nur weil andere aus Gründen ihr Gesicht
+unter Schminke verstecken? »Wenn der Mensch schon etwas ›aus Gründen‹
+tut ...!« hatte Heinrich Springe einmal gewettert.
+
+Aber der harte Kopf, der niederrheinische Eigensinn hatte ihn
+abgehalten, den Schritt zurück zu tun. Wenigstens nicht als
+Schiffbrüchiger sollte es geschehen. Der Schein des Siegers, der
+sich großmütig und menschlich erweist, sollte gewahrt werden. In den
+Gedanken, so widerspruchsvoll er war, hatte er sich verbissen.
+
+Wo der Siegerlorbeer für ihn zu holen sei, war ihm dabei nicht
+klarer geworden. Den Ehrgeiz auf eine hohe gesellschaftliche oder
+Staatsstellung hatte er quittiert, seitdem ihm die Masken als
+Masken erschienen und ihm der Gedanke, eines Tages als Marionette
+zu funktionieren, kalten Schauder einjagte. Also zurück zu den
+Jugendträumen, der Kunst! Aber die Poesie floß ihm dickflüssig aus der
+Feder, sie wurde geschraubt, unwahr und schematisch, weil sich sein
+innerer Mensch noch immer im Widerspruch zu dem äußeren befand. Er
+war zu gründlich in die Schule der Salons gegangen. Die Natürlichkeit
+schien ihm mit einem peinlich lächerlichen Beigeschmack behaftet. In
+seinem Gefühlsleben war alles durcheinander gestürzt.
+
+Da hatte er es mit der Flucht in die Einsamkeit versucht. Er, der
+Anwärter des Menschenglücks, war menschenscheu geworden, hatte die
+Wüsten durchwandert und die Meere befahren. In jungen Jahren waren
+seine Züge schärfer geworden und sein Sarkasmus größer als seine
+Jugendfreude. Wieder hatte er sich eine neue Welt gebaut, und wieder
+umgürtete sie nicht die chinesische Mauer, die den großen, fragenden
+Augen der Heimat den Einblick verwehrt hätte.
+
+Nicht, daß er von daheim mit vielen Briefen behelligt worden wäre. Nur
+das unabweisbar Notwendige kam zu seinen Ohren. Die geschäftlichen
+Berichte und Bilanzen, die ihm der neue Leiter der Firma Philipp
+Steinherr regelmäßig einsandte, würdigte er kaum eines Blickes. Das
+mußte der Mann ja besser verstehen als er. Von privaten Geschehnissen
+wußte er nur, daß seine Mutter Heinrich Springes Gattin geworden war,
+daß sie sich an der Seite des herrlichen Menschen unsagbar glücklich
+fühlte, daß sie die Wohnung in der Immermannstraße gewählt hatten, und
+die Villa an der Grafenbergerchaussee unter einer tüchtigen Verwalterin
+täglich für ihn bereit stand. Einmal hatte die Mutter den Namen Hannes
+in den letzten Jahren erwähnt. Er hatte Wunderdinge aus dem Briefe
+herausgelesen. Sie sollte, nachdem sie Düsseldorf bald verlassen und
+in Frankfurt am Main unter Meister Stockhausens Leitung ihre Studien
+vollendet hatte, eine Konzertsängerin von weitreichendem Ruf geworden
+sein und draußen in der Welt zu den gesuchtesten Künstlerinnen zählen.
+Nach Düsseldorf käme sie selten, und nur zu Gast.
+
+Die Nachwirkung dieser Kunde war größer gewesen, als er sich zuerst
+gestehen wollte. Es war etwas wie Scham und Stolz, was in ihm stritt.
+Die kleine Jugendliebste schien dort eingesetzt zu haben, wo er
+aufgehört hatte. ~Sie~ hatte gehalten, was ~er~ versprochen hatte. Und
+noch eins: sie zeigte, daß jeder Name, und sei es der geringste, adlig
+ist, wenn er von seinem jeweiligen Träger adlig gehalten wird.
+
+Ah, das war ganz der alte Hannes. Das war schön und — das war
+niederdrückend.
+
+Sie hatte sich den Inhalt ihrer Jugend gerettet, ihn veredelt; er hatte
+ihn verloren, nachdem er ihn verleugnet hatte.
+
+Eine Ausgleichung konnte nicht mehr in Betracht kommen.
+
+Nein, dachte der Mann am Fenster ruhig, wir sind auseinander gewachsen,
+der Boden unter unseren Füßen ist nicht mehr der gleiche. Die alten
+Gespenster müssen endlich einmal geknebelt werden, und endgültig.
+
+Er trat zurück, nahm Hut und Handschuhe und verließ die Wohnung. Ein
+eigentümliches Flimmern kam in seine Augen, als er über die Straße
+schritt und sein Ziel nahm. Es glitt plötzlich wie schwerer Wein durch
+seine Adern, und seine Männlichkeit dehnte sich in den Gelenken. Die
+Sturmnachtstimmung von der Nordsee war über ihn gekommen, und er spürte
+die wilden Küsse des Bereitseins. Das war eine andere Stimmung wie
+weiland die Hofgartenstimmung in Düsseldorf mit den keuschen Küssen
+der Vorbereitung. Das Herz hatte sich als ein läppischer Bundesgenosse
+bewiesen. Es wimmerte bei der geringsten Zumutung. Frau Bettina aber
+... Ah, diese Frau hielt es mit den Sinnen. Sie lachte und genoß.
+
+ »Um Sechse des Morgens ward er gehenkt,
+ Sie aber schon um Achte
+ Trank roten Wein und lachte ...«
+
+klang ihm die Heinesche Romanze in den Ohren. Unwillkürlich blieb er
+stehen und zog die Brauen zusammen. Was war dies für eine wahnsinnige
+Reminiszenz? Mußte er denn schon wieder ins Extravagante verfallen? Sie
+hatte Leidenschaft, Frau Bettina!
+
+Er schritt weiter, bis er den Kurfürstendamm erreicht hatte. Aus dem
+Adreßbuch wußte er ihre Wohnung. Der Portier öffnete und wies ihn nach
+der ersten Etage.
+
+Feierlich still war es in dem hochschössigen Treppenhaus. Der dicke
+Teppich dämpfte jeden Lebenslaut.
+
+Hans Steinherr mußte eine momentane Verlegenheit niederkämpfen, bevor
+er dem Stubenmädchen in den Salon folgen konnte. Er hatte sich ein ganz
+anderes Bild von Frau Bettinas Umgebung gemacht, ein farbenfroheres,
+ein genußfreudigeres. Hier war ja alles auf Harmonien gestimmt.
+
+Die Dame des Hauses ließ auf sich warten. Er hatte schon die Bilder
+ringsum an den Wänden studiert, als er hinter sich das Rauschen eines
+Kleides vernahm.
+
+»Guten Morgen, mein lieber Herr Doktor! Entschuldigen Sie, daß ich
+Sie nicht in Toilette empfange, aber ich hätte dann Ihre kostbare Zeit
+allzusehr in Anspruch nehmen müssen. Wie geht es Ihnen? Was führt Sie
+her? Bitte, dort den Sessel!«
+
+Er ärgerte sich über die Begrüßung, und sie sah es ihm an.
+
+Ihre Augen schlossen sich ein wenig, als wollten sie eine geheime
+Freude unterdrücken.
+
+»Sie sehen übrigens ausgezeichnet wohl aus. Ich fühle mich leider etwas
+abgespannt. Die vielen Verpflichtungen hier —«
+
+»Frau Bettina —«
+
+»Aber so setzen Sie sich doch, Herr Doktor!«
+
+Er setzte sich, blickte sie an und schwieg. Eine Ernüchterung kam über
+ihn.
+
+Und wieder bemerkte sie es, schloß die Augen halb und lächelte.
+
+»Sie sind wohl ungehalten, daß ich Sie so =sans gêne=, im Hauskleid,
+empfange?«
+
+Er antwortete nicht gleich, aber der leise ironische Zug um seinen
+Mund, der sie schon auf dem Schiffe gereizt hatte, kehrte wieder,
+als er mit fragendem Blick ihre weich herniederwallende Gewandung
+betrachtete und mit gut gespielter Naivetät dann das Auge zu ihr erhob.
+
+»Ich kann mir nicht helfen, ich finde Sie ganz hübsch, gnädige Frau.«
+
+»Nein — wirklich? Ganz hübsch? — Sie nehmen mir eine Last vom Herzen.«
+
+»Sollte Ihnen daran gelegen sein, mir gegenüber noch hübscher zu
+erscheinen? Das wäre doch undenkbar.«
+
+»Gott, liebster Doktor, man hat zuweilen so seine Launen.«
+
+»Das versteh’ ich vollkommen. Wer in dieser Beziehung frei von Schuld,
+der werfe den ersten Stein.«
+
+Sie öffnete weit die Augen. Was fiel dem Manne ein? Wollte er den Spieß
+umkehren? Trotzte er noch oder spottete er bereits ...
+
+»Sie haben sich wohl noch in Hamburg von den Strapazen der Seereise
+erholt?« fragte sie mit erzwungener Ruhe.
+
+»Nein. In Hamburg hielt mich nichts. Es zog mich nach Berlin, und seit
+zwei Wochen bin ich hier.«
+
+»Würde es unbescheiden sein, zu fragen, was Sie so sehr nach Berlin zog
+und Sie hier so fesselte, daß Sie sogar darüber vergaßen, sich nach dem
+Befinden einer Ihnen nicht ganz unbekannten Dame zu erkundigen?«
+
+»Die nicht ganz unbekannte Dame war es.«
+
+»Ah,« lachte sie auf und lehnte sich weit zurück, »das muß ich sagen:
+Sie haben eine Art, Ihre Bewunderung an den Tag zu legen, die einem
+Dichter Ehre machen würde.«
+
+»Gnädige Frau haben die Güte, anzunehmen, daß ich etwas erdichte?«
+
+»Ja, gnädige Frau haben diese Güte.«
+
+»Das ist — verzeihen Sie — sehr unrecht, gnädige Frau. Ich konnte der
+mir nicht ganz unbekannten Dame die Aufrichtigkeit meiner Bewunderung
+nicht besser beweisen, als dadurch, daß ich ihr Zeit ließ, sich ebenso
+über ~ihre~ Aufrichtigkeit klar zu werden. Wie mir scheint, ist das
+geschehen. Das Schiff streicht durch die Wellen, Fridolin — —«
+
+»Sie erwarteten wohl gar noch eine Art rührender Familienszene, Herr
+Doktor?«
+
+»Fehlgeraten, meine allergnädigste Frau. Über die Tage der Rührung bin
+ich hinaus. Mich gelüstet es mehr nach dem Starken, dem Kräftemessen,
+dem — aber =pardon=, ich langweile Sie wohl.«
+
+»Ich wüßte nicht, daß ich Sie unterbrochen hätte. Bitte, fahren Sie
+fort. Es gelüstet Sie —?«
+
+»Nach dem Weib — dem Vollweib.«
+
+Sie lag noch immer, den Kopf weit hintenüber gelehnt, in ihrem Sessel.
+
+»Sie sprechen von diesen Dingen,« sagte sie gedehnt, »als ob es sich um
+Spielzeug handelte. Orientieren Sie sich.«
+
+»Ich spreche von Dingen,« entgegnete er, »denen ich gewachsen bin.
+Vorausgesetzt, daß mir die Partnerschaft paßt.«
+
+Mit einem Ruck stand sie auf den Füßen. Ihre Brust wogte, und über ihre
+elfenbeinfarbene Haut zog sich blitzschnell eine fliegende Röte.
+
+»Das — das ist — eine Kühnheit von einer Beispiellosigkeit —« brachte
+sie hervor.
+
+»Hassen Sie die Kühnheit?« fragte er mit einem Gleichmut, der sie noch
+mehr empörte. »Nun, meine gnädige Frau, Kühnheit oder Feigheit, Haß
+oder Liebe: eine Frau wie Sie, die nur zuweilen eine Laune hat, ist
+doch selbstredend =hors concours=. Und von der anderen zu sprechen,
+lohnt sich nicht.«
+
+»Wie Sie befehlen, Herr Doktor.«
+
+Sie ging mit erzwungener Gelassenheit an ihm vorüber, und die Schleppe
+ihres weichen Kleides strich über seine Füße hin. Wie ein magnetischer
+Strom ging es von der Berührung aus.
+
+»Sie bedienen sich da eines Ausdrucks, meine allergnädigste Frau, den
+Sie mir einmal verwiesen. Sie betonten damals als erlesenste Freude das
+freiwillige Entgegentragen ohne Befehl.«
+
+»Sie täuschen sich, Herr Doktor. Das muß wohl die andere gewesen sein.«
+
+»Verzeihung wegen meiner Vergeßlichkeit. Es war die andere.«
+
+Sie stand an dem Fenstervorhang, den Rücken ihm zugewandt, und blickte
+durch die Stores. Wie prachtvoll sich diese Rückenlinie schwang. Ein
+Frauenkörper ohne Fehl.
+
+Eine Minute zögerte Steinherr noch, um das Bild zu genießen. Dann erhob
+er sich.
+
+»Sie verabschieden mich, meine gnädige Frau? Da muß ich wohl meiner
+Erziehung Ehre machen und — gehen?«
+
+Sie blickte weiter durch die Stores, als ob auf der Straße sie etwas
+ungewöhnlich fesselte.
+
+Da trat er hinter sie und küßte sie auf den weißen Nacken, dicht unter
+den Haaransatz des schlanken Kopfes.
+
+Sie fuhr herum mit vor Entrüstung flammenden Augen.
+
+»Was erdreisten Sie sich!«
+
+Da beugte er sich über sie und küßte sie auf den gewölbten Hals.
+
+»Ich verbiete Ihnen — —«
+
+Und er beugte sich zum zweiten und dritten Male über sie und küßte sie
+genau auf dieselbe Stelle.
+
+»Du!« stieß sie erregt hervor, »du! Ich will nicht! Ich — ah, ich
+verspreche mich.«
+
+Er führte langsam ihre Hand an die Lippen, zum Abschied.
+
+»Leben Sie wohl, gnädige Frau! Ich hoffe, ich habe Ihnen keine
+Aufregung bereitet.«
+
+Noch eine Verneigung, und er ging.
+
+»Hans!«
+
+Er wandte sich an der Tür um. »Sie befehlen, meine gnädige Frau?«
+
+»Nichts, nichts!« rief sie zornig und stampfte wie ein wildes Kind mit
+dem Fuße auf.
+
+»Entschuldigung. Mir war’s, als hätte ich meinen Namen gehört,« und er
+griff nach der Klinke.
+
+»Wann du wiederkommst, will ich wissen!«
+
+»Also war es doch keine Halluzination.« Er lachte, drehte sich um
+und sah sie mit seinen strahlenden grauen Augen an, die sonst so
+geheimnisvoll das Feuer behüteten. »Die andere war kein Phantom. Sie
+lebt!«
+
+»Wann du wiederkommst, frag’ ich doch.«
+
+»Wenn Bettina sehr lieb zu sein gedenkt — morgen!«
+
+»Morgen,« sagte sie hastig, »morgen abend.«
+
+Er verbeugte sich und ging, ohne sie noch einmal zu berühren.
+
+Fassungslos blickte sie ihm nach. Dann lachte sie nervös auf. Also —
+geschlagen!
+
+Geschlagen? Der Anfang eines Gefechtes entscheidet nicht. Und — und —
+war es denn gar so unangenehm? Sie sah mit einem verträumten Lächeln an
+sich herab.
+
+Wie er mich auf den Hals geküßt hat! Das brennt wie Feuer.
+
+Leise wischte sie mit der Hand über die Stelle.
+
+Sie durchtändelte den Tag, ohne sich zu einer bestimmten Beschäftigung
+aufraffen zu können, nahm hundert verschiedene Dinge in die Hand und
+entsann sich im selben Augenblick nicht mehr, zu was sie ihr dienen
+sollten, fühlte sich einsam, ließ dennoch jeden Besuch abweisen und
+saß zuletzt ganz still in einer Ecke des Diwans, zusammengekauert, mit
+glänzenden Augen.
+
+Am Abend dieses Tages schrieb Hans Steinherr zum ersten Male nach
+langen Jahren wieder ein Gedicht. Es war ein Impuls, dem er folgte.
+Etwas trieb ihn an, die Spannung, die wie eine Gewitterschwüle in
+ihm lag, zu entladen. Und der junge, heiße Siegestaumel kam hinzu,
+das Begehren nach Frauenliebe, nach großer Leidenschaft, in deren
+Lichtfülle alle kleinen Gestirne erblassen. Er glaubte in der
+zwingenden, sinnenstarken Frau, der Geben und Nehmen nur ~ein~ Begriff
+war, das Weib, die Verkörperung des Weibes entdeckt zu haben, und in
+dem Sturm der beiderseitigen Gefühle sah er die beiderseitige Sehnsucht
+nach der Ruhe. Nach der Ruhe Brust an Brust.
+
+Er wußte, daß sie ihn liebte; und in ihm loderte alles empor, wenn
+er nur ihren Namen vor sich hinsprach. Er wollte nachdenken, wie von
+nun an sein Leben zu gestalten wäre, er wollte einen Plan entwerfen,
+seinem täglichen Tun einen vernünftigen Inhalt zu geben. Er dachte an
+seine Fabrik, an die Eisenwerke in Bilk; er dachte an Arbeit. Denn ihm
+schien es, als ob solche Liebe ein Äquivalent verlange, als ob er in
+kühnem, erfolggekröntem Schaffen der königlichen Frau tagtäglich ein
+Bild seiner Unwiderstehlichkeit bieten müsse, damit sie die Herrenhand
+sähe, die für sie das Eisen zu Gold münzte, damit das Staunen vor
+seiner Kraft sie wiederum ansporne, die Kräfte ihrer Liebe auszulösen.
+
+Aber in seine Grübeleien fuhr ihr Bild hinein wie ein Wirbelwind und
+riß ihn mit über Höhen und Tiefen, und alle ehrgeizigen Pläne, alle
+Vernunftgründe stoben auseinander vor dem einen Gedanken an den Besitz,
+den unumschränkten Besitz dieser Frau.
+
+Das ist die Liebe, sagte er sich. Sie duldet keine Götter neben sich.
+Als ich jung war, war ich ein Schwärmer, der die Seele suchte, wie
+Saul des Vaters entlaufene Eselin. Und als er auszog, fand er ein
+Königreich. Da flogen die opferseligen Hirtengefühle auf die Heide. Für
+den verlorenen Jugendhimmel die königliche Glückseligkeit der Erde!
+
+Und ist das vielleicht keine Schwärmerei? dachte er lachend und sprang
+vom Tisch auf. Ehrlich, alter Hans, du gibst dem Kind nur einen größer
+tönenden Namen. Beschwindle deinen eigenen Menschen nicht. Du bist
+verliebt, verliebt, verliebt! Nun ja — — und das ist mehr als alle
+großen Worte.
+
+Von dieser Sekunde an versuchte er seine Gefühle nicht mehr zu
+zergliedern und zu analysieren. Er nahm sie als ein Unbedingtes, als
+eine feststehende Zahl, als ein untrennbares Element. Der Mann in ihm
+erhob seine Stimme, und er sah nur Helena. Bettina-Helena — —. Nam’ und
+Art zu wägen, wäre ihm als Sakrileg erschienen.
+
+Er beobachtete es nicht, daß er unmerklich in eine neue Phase geraten
+war ...
+
+Am nächsten Abend, zur Teestunde, war er bei Bettina.
+
+Sie hatte ihn vom Fenster aus kommen sehen, und ihre Ungeduld war so
+groß gewesen, daß sie selbst auf den Korridor hinausgeschlüpft war, um
+die Entreetür für ihn offen zu halten.
+
+»Endlich, endlich ... So komm doch nur ... Nennst du das Abend? ... Das
+ist ja Nacht.«
+
+»Kaum sechs vorbei.«
+
+Sie zog ihn ins Zimmer und hing, bevor er ablegen konnte, an seinem
+Halse.
+
+»Du läßt mich ja zu Tod’ schmachten. So küss’ mich doch!«
+
+Sie sprachen kein Wort mehr. Sie küßten sich, bis daß es sie schmerzte.
+Da ließen sie sich mit einem Seufzer los.
+
+Frau Bettina strich ihr Haar zurecht. Mechanisch, mit einer wohligen
+Mattigkeit. Als er aufs neue auf sie zutreten wollte, um sie in die
+Arme zu schließen, wehrte sie horchend ab.
+
+»Wir sind Kinder,« murmelte sie. »Wenn das Mädchen servieren kommt und
+dich sieht —«
+
+Rasch ging sie auf den Korridor hinaus, ließ die elektrische Klingel
+draußen ertönen und kam zurück.
+
+»Lassen Sie nur, Anna,« rief sie dem herbeieilenden Mädchen zu, »ich
+habe schon selbst geöffnet. Sie können den Teetisch richten. In einer
+Viertelstunde etwa melden Sie.«
+
+Hans Steinherr war überrascht beiseite getreten. Der Vorgang war ganz
+natürlich, aber der schnelle Wechsel von alles verlachender Unvernunft
+zur peinlich überlegenden Vernunft hatte ihn beklommen gemacht.
+
+Ihr weiblicher Instinkt witterte sofort den Grund seiner Umwandlung.
+Der Ton ihrer Stimme bekam eine schmeichelnde, mütterlich besorgte
+Klangfarbe, und als ob sie es mit einem großen Jungen zu tun habe, nahm
+sie ihn beim Ohr und zupfte es.
+
+»Willst du wohl gleich ein anderes Gesicht machen? Wenn Bettina nicht
+für dich mit dächte! Jetzt bist du doch offiziell gemeldet, ganz
+gleich, ob du den Abend offiziell oder inoffiziell gestalten willst.
+Siehst du wohl? Ja, jetzt lächelst du. Ich verwöhn’ dich.«
+
+Sie hob sich auf den Zehen und legte ihre weichen Lippen auf das
+mißhandelte Ohr.
+
+Er hielt ganz still. In seinem Hirn begann ein Sausen und Brausen. Und
+plötzlich faßte er sie um die Taille, trug sie wie ein zappelnd Nixlein
+zum Diwan, kniete schnell nieder und hob sein erhitztes Gesicht zu ihr
+auf.
+
+»Wie du die Menschen verjüngst. So hatte ich es mir gedacht. Du bist
+das Leben.«
+
+»Du hast an mich gedacht? Wann? Wo? Ich muß jede Regung in dir kennen.«
+
+»Gestern abend, zu Hause. Ich kramte in Erinnerungen umher, in toten
+Geschichten. Da kamst du ...«
+
+»Und weiter? Was tat ich? Was tatst du? So erzähle doch. Du sprichst
+schön.«
+
+»Ich sagte es ja: du verjüngtest mich.«
+
+»Und die toten Geschichten? Legten sie sich nicht zwischen uns? Wurden
+sie nicht lebendig?«
+
+»Du hattest ihnen ein neues Leben gegeben. Sie trugen deinen Stempel.«
+
+Sie atmete tief auf und zog die Brauen dicht zusammen.
+
+»Ich bin von einer unbändigen Eifersucht,« murmelte sie. »Das hast du
+davon.«
+
+Er zog ihren Kopf herab und küßte sie auf die finsteren Augen.
+
+»Hättest du mich lieber als den Spötter gemocht, dem nichts mehr heilig
+war?«
+
+»Nichts soll dir heilig sein als ich!«
+
+»Nun, ich meine: daß du diese Ausnahme in mir geweckt hast, beweist
+alles. Eine andere kenne ich nicht.«
+
+Sie griff links und rechts in sein Haar.
+
+»Schnell, schnell, was hast du jetzt gedacht? Liebster, so sprich doch
+...«
+
+»Du wirst mich nicht auslachen, wenn du hörst, wie jung ich geworden
+bin?«
+
+»Nein, aber nein. Ich könnte dich eitel machen und sagen: ich will
+nur dein sonores Organ hören. Du hast einen Klang in der Stimme, der
+aufwühlt. Nun gib dem Klang Begriffe, an denen man sich halten kann.«
+
+»Ich werde beichten,« sagte er, und das selbst-ironisierende Lächeln
+spielte um seinen Mund. »Erschrick nicht allzu sehr. Ich bin so jung
+geworden, daß ich wie in der Jugend holden Wahnsinnstagen das — Dichten
+wieder aufgenommen habe! Sage und schreibe: das Dichten!«
+
+Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, richtete sich auf und
+blickte ihn lange an.
+
+»Ich habe es ja gewußt,« sagte sie endlich, »o ich habe es ja gewußt,
+daß etwas Eigenes in dir war.«
+
+Ein triumphierendes Leuchten stand in ihren Augen.
+
+Im Nebenzimmer klirrte ein Servierbrett.
+
+»Steh auf!« flüsterte sie.
+
+Als das Mädchen erschien, saß Hans, durch den Tisch von der Hausfrau
+getrennt, gelassen in seinem Sessel.
+
+»Stellen Sie nur alles hin, Anna; ich werde das übrige selbst besorgen.«
+
+»Sehr wohl, gnädige Frau.«
+
+Sobald das Mädchen gegangen war, hatte sich Frau Bettina erhoben.
+
+»Hans,« schmeichelte sie und legte ihm die Arme um den Hals, »vorlesen;
+bitte, bitte, vorlesen!«
+
+»Du wirst mir nachher keinen Tee mehr geben wollen,« lachte er.
+
+»Sei lieb, Hans. Ich will ~auch~ verwöhnt sein. Ich will einen Sänger,
+meinen Sänger haben.«
+
+»Gut, dein Wille geschehe! Wollte ich mich noch weiter sträuben,
+würdest du am Ende noch glauben, es handle sich um ein unerhörtes
+Meisterwerk. Es ist nichts als eine Impression.«
+
+Er entnahm seiner Brieftasche ein Blatt und wollte lesen. Aber sie
+legte ihre schlanken Hände über die Zeilen.
+
+»Trag mich erst auf den Diwan zurück.«
+
+Er gehorchte auf der Stelle. Aber sie ließ ihn nicht wieder los, bis er
+auf dem früheren Platze kniete.
+
+»So — —« sagte sie gedehnt, und dann kroch sie lauschend in sich
+zusammen.
+
+Er nahm die Spitzen ihrer Finger in seine Hand und las. Wenn er eine
+Pause machte, hörte er ihre tiefen Atemzüge und spürte das Klopfen des
+Blutes in ihren Fingerspitzen.
+
+ »Der Tag erlischt ... Was war’s, was die Sibylle,
+ Die schöne Frau, einst sprach?: Es tut nicht gut,
+ Daß du allein bist in der Dämmerstille.
+ Dann fließt zu schwer dein Abenteurerblut. — —
+
+ Der Tag erlischt ... Gestreckt in meinen Sessel
+ Schau träumend ich empor ins dichte Grau,
+ Das mich umstrickt wie eine enge Fessel....
+ Hüt’ vor dem Traum dich — sprach die schöne Frau. — —
+
+ Ich blätterte heut’ lang’ in alten Briefen;
+ Noch spielt die Hand mit dem vergilbten Tand.
+ Es wurden Bilder wach, die längst entschliefen;
+ Ein Rufen scholl aus fernem Heimatland.
+
+ Ich hör’ den Rhein an seine Ufer rauschen;
+ Das Wellenlied reißt meine Sehnsucht wund.
+ Du meine Jugend, komm, laß dich belauschen;
+ Drück’ deine Lippen auf des Träumers Mund.
+
+ Sieh dort, sieh dort: die alte Lieblingsstelle —
+ Ein Streifen Moos im dichten Erlenstand.
+ Fern fließt der Rhein; es lockt und lockt die Welle;
+ Ein Sommerduften zittert durch das Land.
+
+ Zwei Händchen, wie sie sonst nur Kinder zieren,
+ Sie pressen sich an meine Schläfen an,
+ Und junge Lippen wollen sich verlieren
+ Im ersten Kuß, im Kuß von Weib und Mann. — —
+
+ — Wenn Jahr für Jahr die Winterstürme bliesen,
+ Wenn meine Seele nach dem Sommer schrie,
+ Nach meinem Rhein, nach meinen Erlenriesen:
+ Ich sucht’ die Händchen, und ich fand sie nie.
+
+ Durch Abenteuer bin ich durchgeritten,
+ Und Lieder sang, just wie mein Mund, mein Schwert.
+ O wüßtet ihr, um die ich heiß gestritten,
+ Nach welchen Rosen nur mein Herz begehrt’!
+
+ — Du sollst dich hüten vor der Dämmerstille,
+ Kein Sieger träumt! — Wer trat in mein Gemach?
+ Wer wagt es, mit den Worten der Sibylle
+ Zu wandern meinen Seelenpfaden nach?
+
+ Gib Antwort, du! Die Jugend ist verklungen!
+ Kein weicher Schwärmer spannte hier sein Zelt!
+ Halt’ ich mit diesem Arm ein Weib umschlungen,
+ So bring’ dies Weib mir eine ~neue~ Welt!
+
+ Aus Gräbern müßt’ ihr wundertät’ger Wille
+ Mir wecken Heimat, Jugend, Liebeskraft!
+ — Seh’ ich dich recht — —? Du, zaubrische Sibylle?
+ Du hast zum Wunder ~selbst~ dich aufgerafft?
+
+ Du, schöne Frau ...? Die Prüfung ist zu Ende?
+ Du trägst die Fackel in die Dämmerung?
+ Ich spür’ zwei Hände, schlank wie Kinderhände,
+ Und einen Mund wie wilde Rosen jung,
+
+ Und deines Blutes sturmbewegte Welle!
+ — O andre Wellen sind’s, wie einst am Rhein —
+ Ein Lebender, ich fühl’s, in Sonnenhelle
+ Kann nur des Lebens Auserwählter sein.
+
+ Komm an mein Herz! Es ward dein Adelswille,
+ Des Rätsels stolze Lösung mir bewußt!
+ ... Du sollst nicht ~träumen~ in der Dämmerstille,
+ Doch ~siegen~ sollst du, — siegen Brust an Brust!«
+
+Die Dämmerstille lag über ihnen. Es begann stärker zu dunkeln, und
+keiner von ihnen bemerkte es.
+
+Da führte Hans Steinherr die widerstandslose Frauenhand an seine heißen
+Lippen, so fest, daß sie den Druck schmerzhaft verspürte, und daß
+Bettina mit einem kurzen Aufschrei auffuhr.
+
+»Tu’ ich dir weh?«
+
+»Weh? — Weh? — Fragt mich dieser Mensch auch noch, ob er mir weh tut!
+Ja, du ~tust~ mir weh, aber nicht weh genug. Brust an Brust! Hast du
+das nicht eben selbst gerufen? Brust an Brust! Wo bleibst du denn nur?«
+
+»Bettina! Ob du mich lieb hast, sag!«
+
+»Lieb, lieb! Das ist ein Ausdruck für kleine Mädchen! Wenn du ~mich~
+meinst, erfinde einen anderen!«
+
+»Ich habe keine Zeit dazu. Das einzige Wort, das ich ausdenken kann,
+heißt: Bettina. Meine, mir gehörige — Bettina.«
+
+»Das ist nicht viel für einen Dichter. Sag mehr, mehr —«
+
+»Jetzt hat der Mensch in mir das Wort. Nimm dich in acht: wenn er mehr
+redet, steigert er seine Ansprüche.«
+
+»Ah, laß ihn doch, laß ihn doch,« rief sie laut und preßte ihren Kopf
+gegen seine Brust. Dann rann die Woge langsam zurück — — —
+
+»Ich bin rasend,« sagte sie und fuhr sich über die Augen. »Ich muß
+Licht machen, damit wir zur Besinnung kommen.«
+
+Sie ging zur Wand und tastete nach dem Knopf der elektrischen Leitung.
+
+Das Zimmer schwamm in blendender Helle, und die beiden Menschen standen
+und staunten sich an.
+
+Er trat ihr einen Schritt entgegen, ungewiß, zögernd. Aber es schob ihn
+vorwärts.
+
+Und sie schüttelte den Kopf über sich selbst, wollte entweichen und
+lief auf ihn zu.
+
+»Hans, Hans, sei doch vernünftig! Du siehst doch, ich kann es nicht
+sein.«
+
+»Weshalb hast du Licht gemacht? Jetzt seh’ ich erst, was ich alles
+vergessen habe.«
+
+Sie glitt unter seinem Arm hinweg, zurück zur Wand. Ein Ruck, und es
+war dunkel.
+
+Bevor er sich von seiner Überraschung erholen konnte, spürte er ihre
+Lippen auf seinem Mund und ihre Hände an seinen Schläfen.
+
+Worte seines Gedichtes wirbelten ihm durch das Hirn.
+
+»Ein Lebender kann nur des Lebens Auserwählter sein!« —
+
+Jetzt lebte er ein auserwähltes, ein doppeltes Leben. Das ihre war das
+seine.
+
+Die umschwärmteste Frau, die Dame der großen Welt war wie ein
+zärtliches Kind und bedeckte ihn mit ihren Liebkosungen.
+
+»Bettina, kleine, süße, wilde Bettina, sprich nur ein Wort. Noch
+existiert der Schmied von Gretna-Green. Noch ist Helgoland nicht aus
+der Welt. Morgen, übermorgen kannst du meine Frau sein.«
+
+»Nicht den Zauber brechen,« murmelte sie, »das kommt nicht wieder.«
+
+»Wir werden es in der Hand haben, ihn jede Stunde zu beschwören, wenn
+wir nicht mehr getrennt sind.«
+
+»Ach, du, diese Heimlichkeit — das ist das Schöne. Das Gefühl haben:
+wenn’s morgen aus wäre — diese Stunde raubt uns niemand mehr, mag die
+Zukunft sein wie sie will. Das Gefühl laß mir, bring es mir, so oft du
+kannst, tagtäglich; das spannt unsere Nerven, das macht so närrisch
+jung und so rasend verliebt; das ist, als könne es ein Jahrhundert
+dauern. Das ist eine Brautzeit, wie sie für uns paßt. Ein Fest nach dem
+anderen. Die Ehe bringt ja doch den unausbleiblichen Schlafrock.«
+
+»Du, du, werde nicht tragisch. Soll ich wieder Licht machen, damit du
+siehst, was du dir zutrauen kannst?«
+
+»Horch,« entgegnete sie unvermittelt, »eins — zwei — drei — neun Uhr!
+Unmöglich! Was ist aus der Zeit geworden? Das Mädchen wird kommen, um
+den Tisch abzuräumen. Ich habe alles vergessen.«
+
+»Wer an der Tafel der Götter gesessen hat, kann doch keinen Tee mehr
+trinken, Bettina.«
+
+»Du mußt; hörst du, du mußt. Ich kann doch das ganze Arrangement nicht
+unberührt fortschaffen lassen. Die Dienstboten würden die Hände über
+dem Kopf zusammenschlagen. Liebster, sei gut. Ein klein, klein wenig
+Aufopferung, weil es nicht anders geht. Da — ah, da ist Licht. Nein,
+ich will dich jetzt nicht anschauen. Hier, an den Tisch mit dir! Lach
+nicht so mokant. Du mußt ja doch, wie ich will.«
+
+»Ich bin dein ergebenster Diener. Wenn du befiehlst, verschling’ ich
+dich mit.«
+
+»Vorwärts, die Küche will ihr Recht. Ach Gott, der Tee ist kalt!«
+
+»Nein,« sagte er verwundert, »und steht doch erst seit zwei Stunden.«
+
+Sie warf sich im Sessel zurück, griff in ihr Haar und lachte ohn’
+Aufhören.
+
+»Du, Bettina, ich möchte auch lieber lachen als essen. Das ist eine
+Tortur.«
+
+Und jubelnd weiter lachend, fuhr sie mit Messer und Gabel durch den
+Inhalt der Platten, warf die Delikatessen der Saison wild durcheinander
+und lehnte sich ausatmend zurück.
+
+»So,« sagte sie, »das Abendessen wäre zu Ende. Wenn du jetzt auch nur
+noch eine Viertelstunde bleibst, mache ich jede Dummheit.«
+
+»Dann laß mich ungezählte Viertelstunden bleiben. Und noch länger.«
+
+»Mein Herr — so gern ich Ihrem Wunsche willfahrte: der Ruf Ihrer Dame
+verlangt —«
+
+Er erhob sich sofort.
+
+»Ich habe Ihnen nur noch zu danken, meine allergnädigste Frau; nur noch
+zu danken.«
+
+Sie sah die kühne Mannesfröhlichkeit in seinem Blick, faßte seine Hand
+und schloß die Augen.
+
+»Ich mach’ Dummheiten,« sagte sie.
+
+Er küßte sie auf die Lippen, die sich ihm boten.
+
+»Auf morgen!«
+
+»Und — vergiß nicht! — Gedichte will ich haben, Gedichte. Von mir, für
+mich. Du sollst mich stolz machen.«
+
+Sie stand hinter den Stores und sah ihm nach, wie er jugendlich
+elastisch über die Straße schritt. Dann ging sie langsamen Schrittes
+und vor sich hin grübelnd zum Diwan. In eine Ecke gekauert saß sie und
+sah vor sich hin, immer auf denselben Punkt.
+
+»Ich darf nur Dummheiten machen, die mich vorwärts bringen.
+Einstweilen, einstweilen — —«
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Drittes Kapitel
+
+
+Mit der fortschreitenden Saison entwickelte sich auch das
+gesellschaftliche Leben in den Salons Frau Bettina Wittelsbachs. Nicht,
+daß sie das Prinzip der »offenen Tür« in ihrem Hause einführte. Die
+schöne Frau, welcher ihr Gatte Verbindungen mit den ersten Häusern
+hinterlassen hatte, hielt sehr auf eine erlesene Auswahl, und die
+kleinen, vornehmen und doch künstlerisch bewegten Abende, die sie mit
+nie trügendem Geschmack zu arrangieren verstand, erfreuten sich in der
+weltkundigen Gesellschaft bald eines Rufes, daß es für eine besondere
+Bevorzugung galt, hinzugezogen zu werden. In wenigen Monaten hatte
+die zielbewußte und starkgeistige Frau erreicht, wozu andere eines
+Einlebens von Jahren bedurften: ihr Salon bildete einen Machtfaktor.
+Nicht offenkundig, nicht vor den Augen der Welt; noch weniger aber
+insgeheim. Die Herren und Damen, die sich an jedem Mittwoch abend
+bei ihr zu versammeln pflegten, gehörten durchweg Kreisen an, die
+eine gewisse Bedeutung in sich schlossen: maßgebende Staatsbeamte,
+hohe Offiziere, Künstler von Einfluß, alle mit ihren Damen, deren
+Beziehungen wiederum weit durch die Salons der Hauptstadt reichten.
+Handelte es sich darum, einen Wunsch, eine Persönlichkeit an die
+Öffentlichkeit zu bringen, so spannen sich die Fäden der Protektion
+von hier aus bald nach allen Seiten.
+
+Es war nicht allein Frau Bettinas reizvolle Art, jeden Menschen einzeln
+seiner Individualität gemäß zu behandeln und in jedem den Glauben
+zu erwecken, daß er vor allen die besondere Sympathie der Hausfrau
+genösse, was der vielvermögenden Frau so schnell die Ausnahmestellung
+schaffte. Unter den Näherstehenden war es ein stilles Geheimnis, daß
+sich ein hoher Herr aus der Seitenlinie eines regierenden Hauses stark
+um die Gunst der jungen, reichen Witwe bewerbe und lediglich deshalb in
+diesem Winter fern von Berlin und in der langweiligen mitteldeutschen
+Residenzstadt weile, um den Chef des Hauses seinen Heiratsplänen
+zugängig zu machen. Hatte doch der Prinz, der sich gelegentlich der
+Frühjahrsrennen der damals ins Leben zurückkehrenden Dame hatte
+vorstellen lassen, ihretwegen sogar an der Nordlandsfahrt teilgenommen
+und nur deshalb während der Reise ein mehr zurückhaltendes Wesen zur
+Schau getragen, um die Dame nicht in vorzeitiges Gerede zu bringen und
+dadurch die Chancen einer Verbindung mit Frau Bettina zu erschweren.
+
+Man hielt in den Kreisen um Frau Bettina mit großem Zartgefühl darauf,
+daß dieser Gegenstand nicht mit Worten erwähnt wurde. Einerseits
+geschah es aus dem natürlichen gesellschaftlichen Takt, anderseits
+aber stand die Person des in Frage Kommenden immerhin so hoch, daß man
+sich die für später sicher nützlichen Verbindungen nicht leichtfertig
+verscherzen wollte.
+
+Hans Steinherr war wohl der einzige, dem von dem stillen Geheimnis
+nichts bekannt war und auch nichts bekannt wurde. Er trat den
+einzelnen des Kreises nicht sonderlich näher, beschäftigte sich
+fast ausnahmslos mit der Dame des Hauses und galt bald als das
+Protektionskind, als ein junger, talentvoller Dichter, dem man sich
+bemühte, durch freiwillige Herolddienste die Wege zu ebnen. Den
+Austausch eines wärmeren Blickes zwischen ihm und Frau Bettina hätte
+man vergeblich zu erspähen versucht. Nur auf dem Nachhausewege pflegten
+zuweilen einige der Herrschaften ihre Gedanken über die Beziehungen
+zwischen Steinherr und der Dame des Hauses laut werden zu lassen. Dann
+zerbrach man sich den Kopf, ob dem Verhältnis wirklich das Rückgrat
+einer Liebschaft anhafte, oder ob die kluge und ehrgeizige Frau es
+nur inszeniere, um, wie sich ein diplomatisch geschulter Geheimer Rat
+ausdrückte, »Hoheit scharf zu machen«.
+
+Eines stand jedenfalls fest: Frau Bettina hatte der Person Hans
+Steinherrs ein Relief gegeben, das bald über die Grenzen des
+gesellschaftlichen Lebens hinaus seinen Wert erhielt.
+
+An den Abenden, die in ihrem Heim den Künsten gewidmet waren, bedrängte
+sie ihn, seine starken, leidenschaftlichen Poesien vorzulesen, und ihr
+äußerlich vornehm heiteres, innerlich drängendes, begehrendes Wesen
+fand einen verfeinerten Genuß darin, vor aller Augen und Ohren Verse
+zu hören, die ebensoviele Liebesbeteuerungen und Liebesschilderungen
+enthielten, die einzig und allein ~sie~ angingen und die sie inmitten
+des buntesten geselligen Treibens all die Stunden heimlichen Glückes
+noch einmal durchschwelgen ließen. Sie lächelte unmerklich, wenn ein
+spontaner Beifall sich über den Dichter ergoß, wenn Steinherr, nur für
+sie erkenntlich, sich und die Situation ironisierend, eine Sekunde lang
+den Blick auf sie heftete.
+
+Aber Frau Bettina blieb hierbei nicht stehen. Durch Schmeicheln,
+Trotzen und Befehlen veranlaßte sie den Geliebten, die Gedichte in den
+ausschlaggebenden modernen Zeitschriften zu publizieren, und da ihr
+Namen von Bedeutung zur Seite standen, so war es ihr ein leichtes,
+ihren Wünschen bald die Erfüllung folgen zu sehen.
+
+Als die Saison im Februar ihren Höhepunkt erreicht hatte, war der Name
+Hans Steinherr unter den literarischen Feinschmeckern bekannt wie in
+den unzähligen Salons, die sich in Berlin zu den Treffpunkten der
+~oberen~ Zehntausend rechnen, weil Neugier und Nachahmungssucht das Tun
+und Lassen der wirklichen Oberen hier zu beklatschen pflegt, als stände
+man mit den so hoch interessanten Vorbildern familiär auf du und du.
+
+Hans Steinherr war eine der plötzlich aufschießenden Saisongrößen
+geworden und wußte selbst nicht, wie er zu der Ehre kam. Wenn er an
+der Seite Frau Bettinas, die durch ihre blendende Erscheinung und
+nicht weniger durch ihre aparten, geschmackvollen Toiletten stets
+die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, zu den Premieren in der
+Theaterloge erschien, erregte er den Hauptteil des Interesses. Dann
+sprach man in Logen und Parkett über seine Persönlichkeit, die berufen
+war, dieser Dame =de grande tenue= als bevorzugter Kavalier zu dienen,
+und der Neid schuf ihm ein noch größeres Renommee als die Freundschaft.
+
+»Wer ist denn dieser Günstling der schönen Wittelsbacherin?«
+
+»Aber, gnädige Frau, das ist doch Hans Steinherr!«
+
+»Hans Steinherr? Also von der Kunst, weil Sie den Vornamen nennen.«
+
+»Meine Gnädige: Hans Steinherr, der bedeutende und eigenartige Lyriker!
+Treiben Sie denn nicht die neueste Literatur? Allerverehrteste, wie
+können Sie nur so unmodern werden!«
+
+So wurde Hans Steinherr der »bedeutende und eigenartige« Lyriker, und
+hatte kaum ein Dutzend Gedichte veröffentlicht, die er nicht einmal
+für die Öffentlichkeit niedergeschrieben hatte. Man gab ihm einen Ruf,
+damit es umso interessanter würde, ~über~ seinen Ruf Andeutungen mit
+kleinen Pointen loszulassen. Irgend ein Dutzendmensch hätte sich nicht
+gelohnt.
+
+Über Hans Steinherrs Seele gingen die Wandlungen, welche die Außenwelt
+mit ihm vornahm, spurlos hinweg. Es war dasselbe Fluten und Ebben in
+ihm, derselbe Wechsel von Rausch, Ernüchterung und neuem Rausch; alles
+wie seit dem ersten Tag in Frau Bettinas Haus. Nicht um eine Spanne war
+die Klärung fortgeschritten. Wenn er mit Ungestüm darauf drang, zog sie
+sich zornig von ihm zurück und schalt ihn einen Alltagsmenschen, eine
+poesielose Natur, einen Undankbaren, der nicht wert sei, mit ihr ein so
+wunderbar anregendes Geheimnis zu teilen, und durch seine prosaische
+Verständnislosigkeit den kleinsten Stimmungszauber verderben müsse.
+Wurde er kalt und zurückhaltend, so überschüttete sie ihn unvermutet
+mit einer so stürmischen Flut von Liebkosungen, daß er sein Blut sausen
+fühlte und nach innerlicher Gegenwehr plötzlich die Reserviertheit
+aufgab und ihre Küsse erwiderte, wie sie gegeben wurden.
+
+Sonnenschein und Sturm, Sturm und Sonnenschein.
+
+Er war in einen Kreislauf geraten, aus dem er sich nicht mehr
+herausfand.
+
+Packte ihn in nüchternen Stunden die Scham, wie eine Drohne zu leben
+und sein Dasein arbeitslos und daher zwecklos zu vergeuden, faßte er
+den Entschluß, diesem für seinen Lebensstolz unhaltbaren Zustand ein
+Ende zu machen, selbst auf die Gefahr eines gänzlichen Bruches hin, so
+wandelte schon der nächste Abend ihn wieder zum modernen Tannhäuser,
+der außer den Augen der liebsten Frau nichts will und nichts weiß.
+
+Was ihm jeden tatkräftigen Gedanken erschwerte, war das
+unausgesprochene Bewußtsein, daß neben der wilden Zuneigung die
+Eitelkeit des Mannes in ihm wachgerufen war. Die Eitelkeit des Mannes,
+die weniger Schmerz um eine verlorene Liebe als um die sichtbaren
+Zeichen einer Niederlage empfindet. Die Vorstellung, Bettina an der
+Seite eines anderen zu sehen, während er unbeachtet abseits zu stehen
+habe, zu wissen, daß sie einem anderen die Zärtlichkeiten gebe, die
+sie ihm gegeben hatte, ließ ihn in wortlosem Grimm die Nägel in die
+Handflächen graben.
+
+Dieses endlose Hin- und Herzerren, dieses immer sich wiederholende
+Kapitulieren vor dem Ziele machte ihn launisch und reizbar. Er war
+nicht der Mann des ewigen, verborgenen Brautlebens, er hatte ein
+Ruhebedürfnis, und nicht zuletzt ein Bedürfnis nach der Ruhe des
+Besitzes.
+
+Und dennoch: wenn er wieder einmal eine der immer seltener werdenden
+Stunden verlebt hatte, in denen sie im engen Beisammensein allen
+Sonnenschein über ihn ergossen hatte, wenn er sie vor sich sah in dem
+weich herniederfallenden Hausgewand, das in dem schlanken Ausschnitt
+die weißen Schultern freigab, dann unterlag auch er dem Zauber, den
+gerade die Verschwiegenheit ihrer Liebe so außergewöhnlich prägte, und
+er schmiegte knabenhaft, ein selig Träumender, sein Gesicht dicht neben
+das ihre auf den Pfühl des Diwans, während er vor ihr kniete und seine
+Arme sie umfaßt hielten.
+
+Seit kurzem häuften sich diese stillen, schönen Stunden. Es war, als ob
+auch Bettina etwas Schmerzliches in der Art ihrer Liebe empfände, als
+ob sie plötzlich zu der Erkenntnis seines unduldsamen Leidens gekommen
+wäre und sich nun bemühte, durch eine fortlaufende Reihe ungetrübter
+Tage viele voraufgegangene Launen wieder gut zu machen. Mitten im
+Gespräch konnte sie verstummen, sein Gesicht in ihre beiden Hände
+nehmen und ihm lange, mit verschleiertem Blick, in die Augen schauen.
+Die Weichheit ihres Wesens nahm zeitweilig einen Charakter an, daß ihn
+erschreckte, was ihn sonst mit Freude erfüllt haben würde.
+
+An einem Abend, an dem er die an ihr so ungewohnte Erscheinung stärker
+als je empfand, fragte er sie.
+
+»Was hast du, liebste Frau? Dich quält etwas. So verbirg es mir doch
+nicht.«
+
+Und sie sagte kopfschüttelnd und ihm leise über das Haar fahrend: »Es
+ist nichts. Und wenn auch. Wir wollen uns in den kurzen Stunden doch
+nicht mit Grillen plagen.«
+
+»Du bist eine andere geworden, Bettina — —«
+
+»Hast du dich nicht auch verändert — —?«
+
+»Ich —? Nenn mir meine Fehler, und ich will sie dir zuliebe ablegen.«
+
+»Hans,« sagte sie nachdenklich und legte die flache Hand auf die
+Stirn, »wann hast du mir das letzte Gedicht gebracht?«
+
+»Ich wußte nicht, daß dir noch daran gelegen war,« entgegnete er ernst.
+
+»Hab’ ich dir wirklich Anlaß zu solchen Vermutungen gegeben?«
+
+»Ja,« sagte er. »Du schicktest, was ich schrieb, in die Öffentlichkeit,
+bevor du es noch recht gelesen hattest. Und das Beste, was zwischen den
+Zeilen geschrieben stand, hättest nur du empfinden können. Aber dir lag
+an dem Druck mehr als an der Schrift; mir an deinen Augen mehr als an
+denen des Publikums. Da streckte ich die Wehr.«
+
+»Und nie, nie wieder hast du das Gefühl gehabt: du mußt jetzt für
+Bettina dichten?«
+
+»Doch. — In den letzten Tagen. — Seitdem du so — so verändert wurdest.«
+
+»Hans,« sagte sie und streckte ihm die Hände entgegen, »komm, Hans.
+Wie damals, als es anfing. Hier auf dem Diwan lag ich, und da knietest
+du — siehst du, ich habe alles behalten — und du lasest mir eine
+Jugendbeichte von einer Liebe am Niederrhein, und wie du sie erst ganz
+überwunden hättest durch mich. War das ein Abend! — — — Komm, ich sitze
+wieder hier, und du lehnst deinen Kopf gegen meine Kniee. Und nun lies.
+Es soll nur für mich sein.«
+
+Und er las, mit stiller, schwerer Stimme.
+
+ »Wenn der weißen, stolzen Schultern Bogen
+ Wie des Marmors Schneekristalle flimmern,
+ Deiner Brust geheimnisvolle Wogen
+ Wie von Mondschein übergossen schimmern;
+
+ Wenn ich dich, die mir entgegenleuchtet,
+ Mit gebenedeiten Händen streichle,
+ Und dein Auge sich vor Liebe feuchtet,
+ Wenn ich wie ein Knabe stumm dir schmeichle —
+
+ Weißt du, Liebste, was ich schauernd fühle
+ Bei dem selbstvergessenen Umschlingen,
+ Wang’ an Wange auf demselben Pfühle?
+ — Sieh, die Seelen wollen sich durchdringen!
+
+ Wollen sich durchdringen und vereinen,
+ Wollen unauflöslich sich verketten,
+ Wollen uns, wenn unsre Augen weinen
+ Fern der Heimat, unsern Frieden retten.
+
+ Wo ich geh’, nun trag’ ich deine Seele;
+ Wo du bleibst, dich tröstet meine heiter:
+ Glaub’ es nicht, daß dir die Liebe fehle;
+ Ich bin bei dir, fürchte dich nicht weiter. — — —
+
+ Heil’ge Stille ... Dann, mit beiden Händen,
+ Greifst du meinen Kopf und starrst mit weiten
+ Augen auf mich, die ein Wunder spenden;
+ Und voll Inbrunst und voll Seligkeiten,
+
+ Bleich vor Wonne flüsterst du: Bedränger!
+ Zärtlichster und wildester der Knaben,
+ Press’ mich fester, daß die Seelen länger
+ Süß und heimlich einst zu raunen haben .....«
+
+Er sah nicht auf. Er hatte das Gefühl, daß es jetzt an ihr sei,
+zu sprechen; irgend etwas hinreißend Liebes zu sagen, das all die
+vielfachen kleinen Dissonanzen, die sich in die Melodie ihres Verkehrs
+eingeschlichen hatten, in einem lange nachzitternden Vollton vergessen
+machen würde. Aber es blieb Stille, ein lastendes Schweigen.
+
+Müde hob er den Kopf. Da fielen brennend heiße Tropfen auf seine Stirn.
+
+»Bettina!« rief er, sprang auf und faßte sie an den Schultern.
+»Bettina, was geht in dir vor? So kenn’ ich dich ja gar nicht. Du
+weinst? Herr Gott im Himmel, du kannst weinen? Liebste, Liebste, dann
+ist ja alles gut.«
+
+Ihr Mund verzog sich krampfhaft, aber sie konnte den hervorschießenden
+Tränen keinen Einhalt tun. Sie streifte seine Hände herab und wanderte
+im Zimmer umher, bis sie ihre Haltung wiedergefunden hatte.
+
+»Mach doch nicht solch ein Wesen daraus. Ich bin nur nervös. Ich bin
+gar nicht so tief, wie deine Dichterseele sich jetzt wieder einbildet.
+Gemütsbewegungen! Das ist doch zum lachen. Ich bin in diesen Dingen
+tatsächlich so oberflächlich, wie du es schon zu wiederholten Malen
+mir vorgehalten hast. Die echte und rechte mondäne Frau. Daran läßt
+sich nichts ändern, das liegt in einem. Nur deine rheinische Art macht
+mich immer wieder fassungslos. Das wühlt auf und lullt ein, bis man
+vor Sehnsucht nicht mehr aus noch ein weiß und jede Dummheit begehen
+möchte.«
+
+»Du sprichst mir so oft von den — Dummheiten. Eine Frau wie du sollte
+den Mut besitzen, sich klarer auszudrücken.«
+
+»O, ich — — da siehst du’s ja, wie recht du hast — ich bin eine ganz
+oberflächliche Natur.«
+
+»Wenn ich nicht besser wüßte, was in dir steckte, würde ich dich nach
+dem ersten Tage zu den Toten gelegt haben.«
+
+»Hans!« rief sie. Alle Unruhe war zurückgekehrt. Durch ihren Körper
+flog es wie Angstschauer. Er hatte sie noch nie in solcher Aufregung
+gesehen.
+
+»Du, du, ich hab’ ja eine Sehnsucht, eine ganz tolle, unbezwingbare
+Sehnsucht. Wie soll das nur werden? Seid ihr denn alle so an
+eurem Rhein? Ich habe gedacht, da leben nur frohe, leichtsinnige
+Menschenkinder. Ähnlich wie ich. Oder seid ihr vom Niederrhein so
+ganz anders? Ihr mit dem harten westfälischen Schädel und dem heißen
+rheinischen Blut, ihr unauskennbaren Grenzlerleut’!«
+
+»Du solltest mich noch nicht auskennen, Bettina?«
+
+»Nein, schweigen sollst du, nicht reden. Ich weiß es ja, daß ich
+rettungslos verliebt in dich bin. Aber wie weit du in mich — ob auch
+rettungslos — das — das weiß ich nicht. Und deshalb fürcht’ ich mich
+vor der Probe.«
+
+»So stell’ mich doch auf die Probe. Denk dir doch mal was ganz
+Unerhörtes aus.«
+
+Sie blickte ihm starr in die Augen, als ob er ihre Gedanken erraten
+hätte und sie sich vor der nächsten Sekunde fürchtete. Aber seine
+scharf gewordenen Züge zeigten keinen Sarkasmus, nur eine sich
+nähernde, mitleidsvolle Liebe.
+
+Das konnte sie nicht ertragen. In diesem Augenblick nicht. Ein
+Schluchzen schüttelte ihren Körper, und sie ließ die Tränen strömen,
+wie sie wollten. Sie hatte jede Gewalt über sich verloren.
+
+»Ich kann ja nicht leben ohne dich. Was soll denn nur werden?«
+
+Er zog sie sacht wie ein krankes Kind auf seinen Schoß und streichelte
+ihre schönen Arme.
+
+»Glück soll daraus werden. Glück, nichts als Glück. Ein seliger Mann
+und eine selige Frau.«
+
+»O du arme Dichterseele, wie werde ich dich enttäuschen.«
+
+»Dann werde ich meine Lieder zu dir reden lassen; von alten Zeiten,
+von stolzen Menschen, von verschwiegenen Stunden, die uns mehr waren
+als Jahre. Und die Erinnerungen werden so mächtig werden, daß sie eine
+Fortsetzung fordern.«
+
+»Du — Hans,« sagte sie hastig.
+
+»Ich höre.«
+
+»Du sollst mir eins versprechen.«
+
+»Ich verspreche dir heute alles.«
+
+»Du sollst mich nicht mehr andichten. Jetzt nicht, die nächsten Tage
+nicht. Ich ertrag’ es jetzt nicht, so — so deine Seele zwischen den
+Fingern zu halten in ihrer beispiellosen Offenheit. — So blicke mich
+doch nicht so ironisch an. Du kannst mich ja gar nicht verstehen.
+Gerade weil ich deine Seele nun besser kenne als du, und weil ich dir
+gerade in diesem Punkte nicht oberflächlich erscheinen will. Weil ich
+erst — — Ach nein, später, später. Du mußt jetzt gehen. Nimm deinen
+Mantel und Hut. Wie kalt es ist; fühlst du es nicht auch? Gute Nacht,
+Liebster ...«
+
+Er berührte ihre Lippen nur ganz sanft und ging.
+
+An der Tür drehte er sich um. »Ich werde morgen abend bei dir sein.
+Bestimme nur die Stunde. Zur Teezeit, um sieben?«
+
+»Morgen? Nein, morgen komme nicht!«
+
+»Aber weshalb morgen nicht? Ich muß mich doch nach meinem Patienten
+umsehen.«
+
+»Ich erwarte morgen Besuch.«
+
+»Und wenn schon. Der soll mich doch nicht hindern, du nervöses
+Geschöpf.«
+
+»Wenn ich dich aber bitte. Der Besuch würde dich nur — nur —
+langweilen. Das will ich nicht. Komme übermorgen, Mittwoch, aber eine
+Stunde früher als die Mittwochsgäste. Um sechs; willst du?«
+
+Er sah sie lächelnd an, nickte ihr zu und ließ sie allein.
+
+Auf dem Wege nach seiner Wohnung befiel ihn eine unerklärliche Unruhe.
+Aber er redete sie sich aus. Wenn ihr etwas zustieße, morgen, während
+er nicht zugegen wäre? Nun, er würde der erste sein, den sie rufen
+lassen würde. Sie konnte ja doch nicht ohne ihn sein. Soeben erst hatte
+er es von ihrem leidenschaftlichen Munde vernommen.
+
+Ein überhebendes Gefühl wallte in ihm auf, und wieder reckte und
+streckte sich die männliche Eitelkeit in ihm weit über die selbstlose
+Liebe hinaus und ließ ihn sich nur als lächelnden Gebieter dieser
+vielgefeierten Frauenschönheit sehen. Aber als er in der Frühe
+erwachte, war auch die Unruhe wieder erwacht und gab ihn nicht mehr
+frei und ließ ihn alle Handlungen mechanisch verrichten.
+
+Auch Frau Bettina fand, als der Morgen graute, keinen Schlummer mehr.
+Ziel- und zwecklos durchwanderte sie im Frisiermantel alle Räume der
+Wohnung, blieb an den Fenstern stehen, blickte in den trüben Tag
+hinaus, gab der Jungfer Aufträge, die sie sofort widerrief, und kehrte
+immer wieder in den Salon zurück, um gedankenlos das Zifferblatt
+der Bronzeuhr zu betrachten. Stellte sich wirklich ein Gedanke
+ein, so dachte sie ihn nicht zu Ende, sondern eilte schnell in das
+nächstgelegene Zimmer, um sich von irgend einem anderen Gegenstand
+abziehen zu lassen.
+
+Endlich, gegen Mittag, brachte ihr das Mädchen eine Depesche.
+
+Sie nahm den Papierstreifen entgegen, dankte kurz und legte ihn neben
+sich auf den Tisch. Erst als sie sich wieder allein befand, griff sie
+danach und drehte das Blatt in den Händen umher. Dann erhob sie sich
+plötzlich, warf den Kopf zurück, als ob sie das letzte schwache Zaudern
+ein für allemal abweisen wolle, vergewisserte sich durch einen klaren
+Umblick, daß sie ganz und gar Herrin der Situation sei, und entfernte
+ruhig die Siegelmarke von der Depesche.
+
+Sie schlug das Blatt auseinander und las:
+
+»Reise soeben ab. Gestatten Sie mir, Ihnen um sechs Uhr meine
+Aufwartung zu machen. Ich küsse Ihre Hände. Georg.«
+
+Ruhig faltete sie das Papier wieder zusammen und legte es auf eine
+Schale. Dann klingelte sie.
+
+»Sie können das Frühstück bringen, Anna. Ich werde heute nicht
+dinieren.«
+
+Sie trank in kleinen Zügen ein Glas Sherry aus und wählte in den
+Speisen herum, ohne viel zu genießen. Trotzdem saß sie über eine Stunde
+zu Tisch. Als auf ihr Klingelzeichen das Mädchen wieder erschienen war,
+fragte sie nach der Zeit.
+
+»Es ist zwei Uhr, gnädige Frau. Befehlen gnädige Frau eine Toilette?«
+
+»Zwei Uhr? Ja, da muß ich wohl daran denken, mich anzuziehen. Kommen
+Sie doch gleich mit.«
+
+Während sie in ihrem Ankleidezimmer vor dem wandhohen Spiegel stand,
+kam es ihr in den Sinn, daß sie für Hans Steinherr nie einen großen
+Toilettenapparat hatte in Szene zu setzen brauchen. O, dem hätte sie
+in dem losen, weichen und bequemen Hauskleid immer am besten gefallen.
+Das war auch Hans Steinherr. Und der andere, der heute — endlich — sein
+Kommen gemeldet hatte — —
+
+»Nein, Anna, was legen Sie mir nur heute vor! Das ist ja schon zwei-,
+dreimal getragen. Mädchen, seien Sie nicht so ungeschickt! Wo ist denn
+der Karton, der gestern gekommen ist? Ja, ja, das seegrüne Unterkleid
+und das Überkleid aus schwarzen Valenciennes mein’ ich. ›Diese
+fürstliche Robe?‹ fragen Sie Unschuld? Endlich der erste vernünftige
+Ausdruck, den ich von Ihnen höre. Also — die fürstliche Robe.«
+
+Sie lehnte sich in ihrem Frisiermantel in den Stuhl und blickte
+unverwandt in den Spiegel. »Lassen Sie sich Zeit. Sie sollen mich heute
+so schön machen, wie ich noch nie war.«
+
+»O, gnädige Frau sind immer schön. Wenn gnädige Frau noch so kunstvoll
+frisiert sind, schöner können gnädige Frau darum nicht ausschauen.«
+
+Als wenn Hans Steinherr spräche ... Nur daß er für »gnädige Frau« einen
+etwas präziseren Ausdruck setzte.
+
+»Erzählen Sie mir etwas, Anna!«
+
+Und das Mädchen schwatzte drauf los, Geschichten von Bekannten
+und Unbekannten, und kam sich von Minute zu Minute wichtiger und
+interessanter vor, während Frau Bettina sie längst vergessen hatte. —
+— Bis das letzte Spitzenendchen mit kleinen Brillantnadeln über dem
+Seidenstoff befestigt war, hatte es fünf Uhr geschlagen.
+
+Sie schickte das Mädchen fort, in der ganzen Zimmerflucht alle Flammen
+der elektrischen Kronen zu entzünden, und blieb selbst, ein Buch in der
+Hand, in ihrem Ankleidezimmer.
+
+Punkt sechs Uhr klopfte das Mädchen. Sie sah dem erstaunten Gesicht an,
+daß es sich um eine außergewöhnliche Meldung handelte.
+
+»Nun, Anna?« fragte sie lächelnd und nahm die ihr auf dem Tablett
+dargereichte Visitenkarte.
+
+»Gnädige Frau, der Prinz von —«
+
+»Es ist gut, Anna. Bitten Sie Hoheit, mich nur eine Sekunde zu
+entschuldigen. Ich würde sofort erscheinen.«
+
+Noch einmal stellte sie sich vor den Wandspiegel, musterte ruhig ihre
+Gestalt und den Glanz ihrer Augen und ging mit der Sicherheit der
+Weltdame, um den Prinzen zu begrüßen.
+
+Er stand mitten im Salon, im eleganten Frackanzug, den =chapeau claque=
+unter dem Arm, und eilte ihr, sobald sie die Portiere zurückschlug,
+entgegen.
+
+»Meine schöne und liebenswürdige Freundin —«
+
+Sie reichte ihm anmutsvoll die beringte Hand, die er wiederholt an die
+Lippen führte.
+
+»Seien Sie mir herzlich willkommen, Hoheit. Was trieb Sie denn so
+plötzlich aus Ihrer Weltabgeschiedenheit her?«
+
+»Die Sehnsucht, mich meiner gnädigen Frau zu Füßen zu legen.«
+
+»Die Sehnsucht hat lange gebraucht, Hoheit, um zu diesem Entschluß zu
+kommen.«
+
+»Man hatte ihr die Flügel zusammengeschnürt. Zürnen Sie ihr nicht. Ich
+war ein abhängiger Mann.«
+
+»Sie ~waren~? Soll ich das dahin verstehen, daß Sie es heute nicht mehr
+sind?«
+
+»Die Entscheidung wird lediglich von Ihrer Güte abhängen, Bettina.«
+
+Sie saß ihm gegenüber, frei und unbekümmert, und erwiderte seinen
+festen Blick lächelnd.
+
+»Du lieber Gott, Hoheit, man appelliert so viel an meine Güte. Aber
+tragen Sie Ihr Anliegen vor.«
+
+Der Prinz wurde für einen Moment unsicher. Er blickte auf die Spitzen
+seiner Lackschuhe und streichelte mit dem Rande seines Claques nervös
+die Bügelfalte seines Beinkleides.
+
+Frau Bettina hatte Muße, ihn zu betrachten. Er war eine durchaus
+vornehme Erscheinung, ein Mann von glänzendster Haltung und großen
+Formen. Nur die melierten Schnurrbartspitzen und die leicht ergrauten
+Schläfen wiesen darauf hin, daß er die erste Jugend hinter sich hatte,
+aber seine fünfzig Lebensjahre hätte ein Fremder nicht erraten. Ein
+geschultes Auge konnte dem Kolorit des Gesichtes anmerken, daß Seine
+Hoheit den Lebensgenüssen nicht aus dem Wege zu gehen pflegte. Eine
+leise Lebemannstönung zog sich darüber hin.
+
+»Meine gütige Gnädige,« sagte der Prinz und schaute zu ihr auf, »ziehen
+Sie doch in Betracht, ich bin in meinem bäuerlichen Waldnest gänzlich
+außer Form gekommen.«
+
+»Ach, Sie wollen ein Kompliment hören? Nein, nein, Hoheit, so wollen
+wir nicht beginnen.«
+
+»Meine gnädige Frau, so gestatten Sie mir, ohne Umschweife auf mein
+Ziel loszusteuern. Über meine Gefühle befinden Sie sich nicht im
+unklaren. Ich hatte mir, als ich im Herbst schied, die Freiheit
+genommen, sie Ihnen zu gestehen, und unsere Korrespondenz konnte
+sie nur noch verstärken und vertiefen. Der Grund meines damaligen
+Scheidens ist Ihnen bekannt. Es galt, Hindernisse hinwegzuräumen und«
+— er lächelte auf eigene Weise — »dem hohen Chef unseres Hauses die
+Gelegenheit zu bieten, sich durch den Augenschein von der nunmehr
+erlangten Reife zur Ehe zu überzeugen.«
+
+»So notwendig war das?« warf sie ein.
+
+»Meine Jugend hat ein bißchen lange gedauert, ich gestehe es zu.
+Dadurch aber hoffe ich, mir die Anwartschaft auf einen besonders
+soliden Ehemann erworben zu haben.«
+
+— Und bei Hans Steinherr, dachte sie bei seinen Worten, sollte die
+Jugend mit der Ehe wiederbeginnen und endlos sein. —
+
+»Sie haben sich höchst ehrenvolle Vorsätze gestellt, Hoheit,« erwiderte
+sie in dem Tone, den er angeschlagen hatte.
+
+»=Eh bien=, meine Gnädige, gegen die Ehe als Ding für sich hatte mein
+Herr Oheim auch durchaus nichts einzuwenden, das einzige Hindernis war
+—«
+
+»Die erwählte Dame.«
+
+»Keineswegs, meine gnädige Frau. Die Persönlichkeit der Dame stand
+über jeder Situation. Lediglich die Rangfrage — verzeihen Sie, daß ich
+das erwähnen muß, aber die Fragen der Etikette rangieren bei Hof zum
+wenigsten mit dem Glaubensbekenntnis in einer Linie.«
+
+»Also als gläubig ward ich ~ohne~ jede Prüfung befunden?«
+
+»Prüfungslos,« lachte er und küßte ihr die Hand. »Schon daß Sie mich
+schlimmen Christen bekehrt haben, gewann Ihnen die Gloriole der
+Heiligen.«
+
+»Es scheint mir doch,« sagte sie leichthin, »als ob die Fragen der
+Etikette demnach ~vor~ den Fragen des Katechismus rangierten. Aber ich
+werde Sie nicht weiter unterbrechen. Entschuldigen Sie, Hoheit!«
+
+Der Prinz überwand die verblüffende Ironie schnell. Es war ihm darum zu
+tun, zur Hauptsache zu kommen.
+
+»Der hohe Chef unseres Hauses vermochte an der Aufrichtigkeit meiner
+Gefühle auf die Dauer nicht zu zweifeln, viel weniger noch an der
+Stabilität meiner Absichten. Er geruhte, einzulenken und mir den
+Konsens zu bewilligen. Freilich unter Auferlegung nicht zu umgehender
+Opfer. Ich habe auf die Berechtigung zur Regierungsnachfolge Verzicht
+geleistet — nun, für ein Jahrhundert war die Kandidatur ohnedies in
+sicheren Händen, und später wird’s mir keinen Spaß mehr machen, —
+und ich werde =à la suite= der Armee gestellt. Den Drill hatte ich
+längst schon über, und ich werde in jeder Beziehung ein freier Mann.
+Am Tage unserer Ehe — ich bitte Sie um die Erlaubnis, Bettina, von
+uns in dieser Gemeinsamkeit zu reden — am Tage unserer Ehe wird uns
+im Anschluß an den Namen meiner Besitzung der Titel Graf und Gräfin
+Wallberg verliehen werden.«
+
+Er erhob sich.
+
+»Das wäre die Lösung der einen Seite der Frage. Die Lösung der anderen
+steht in Ihrer Hand.«
+
+Auch Bettina hatte sich erhoben. Sie blickte einen Moment sinnend vor
+sich hin.
+
+»Und man wird, Hoheit, mich nicht als lästigen Eindringling betrachten?
+Ich kann annehmen, daß man mir meine Stellung nicht zu einer
+exponierten gestaltet, daß es mir nicht an verwandtschaftlichem und
+freundschaftlichem Entgegenkommen seitens Ihrer Familienmitglieder
+fehlen wird? Das ›Nullerl‹ zu spielen, liegt nicht im Bereich meines
+Ehrgeizes.«
+
+»Meine Brüder sind entzückt, Sie als Schwägerin zu sehen. Ihr Bild, das
+ich besitze, hat allein schon Wunder gewirkt. Meine Brüder Dick und
+Fredy suchen bei der schönen Herrin dieses Hauses und dieses Herzens um
+die Ehre nach, der Vermählungsfeierlichkeit beiwohnen zu dürfen, und
+senden jetzt schon ergebensten Handkuß mit der Versicherung blinder
+Anhänglichkeit. Gestatten Sie, daß ich mich meines Auftrages in vollem
+Umfange entledige!«
+
+Er nahm mit ritterlicher Verbeugung ihre Hände und küßte die rechte und
+die linke.
+
+»Georg,« sagte sie und zog sanft ihre Hände zurück, »halten Sie mich
+nicht für unzart. Aber bei einer so außergewöhnlichen Verbindung ist
+es direkt notwendig, den realen Dingen ins Auge zu sehen. Ich denke,
+wir sind über die Sentiments erhaben. Sie sehen in mir die schöne und
+liebenswerte Frau. Aber das dürfte nicht genügt haben, mir die Stellung
+an Ihrer Seite anzubieten. Sie sehen in mir auch die vollkommen
+unabhängige und mit den Schätzen dieser Welt einigermaßen gesegnete
+Frau.«
+
+»Bettina!« warf der Prinz in verweisendem Tone ein.
+
+»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, das an die zweite Stelle zu
+schieben. Aber es ist ein Grund mehr für mich, es zu beachten. Das
+können und dürfen Sie nicht in Abrede stellen. Vorwürfe zwischen uns
+müssen von vornherein ausgeschlossen sein, jeder von uns wird dem
+anderen seine kleinen Liebhabereien nicht mißgönnen. Ihr Rennstall hat
+Sie viel gekostet, der Troubadourendienst« — sie lächelte vor sich hin
+— »kurz, sagen Sie mir ruhig die Höhe Ihrer Engagements.«
+
+»Bettina! Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Aber das — das ist mir
+nicht möglich.«
+
+»Nein, nein, lieber Freund, jetzt kein übertriebenes Zartgefühl.
+Wir haben ernstere Dinge vor, als hier das verschämte Liebespaar
+zu spielen. Wir kennen uns beide, und wir wollen es miteinander
+wagen. Schaffen wir also sofort die richtige Grundlage. Das ist für
+lebenserfahrene Menschen wie wir das einzig Würdige.«
+
+»Ich strecke vor Ihrer klaren Lebensauffassung die Waffen, Bettina.«
+
+»Also?« neckte sie und reichte ihm ermutigend die Hand. »Ist es eine
+sechs- oder eine siebenstellige Zahl?«
+
+»Rund eine siebenstellige,« sagte er mit einem schweren Seufzer, der
+humoristisch klingen sollte.
+
+»Nun,« entgegnete sie mit einem frappierenden Gleichmut, »das wird
+sich immerhin arrangieren lassen. Über diesen Punkt brauchen wir also
+nicht mehr zu sprechen. Die Regelung können wir unseren Sachwaltern
+überlassen. Und wann gedachten Sie die Verlobung zu publizieren?«
+
+»Pardon,« sagte er, legte den Hut hin und kam auf sie zu. »Gestatten
+Sie mir, daß ich mich zunächst in aller Form Rechtens meines Besitzes
+versichere.«
+
+Sie stand regungslos, mit leicht vorgebeugtem Kopf, und er küßte sie
+respektvoll auf die Stirn.
+
+Dann atmete sie tief auf. Es war geschehen. —
+
+Nun stand sie auf der Höhe, und das Leben war ihr tributpflichtiger
+denn je. Nach der Sklavenrolle der ersten Ehe die Herrscherrolle der
+zweiten. Unumschränkte Freiheit, und die Gesellschaft ihr zu Füßen.
+Jetzt erst wollte sie das Leben erschöpfen, jetzt war sie erst ganz
+gerüstet, denn über ihr hing der Schild.
+
+»Meine liebe Bettina,« sagte der Prinz feierlich, »ich huldige als
+erster der Gräfin Bettina Wallberg.«
+
+»Ich danke dir, Georg. Die Gebieterin wird nicht allzu strenge sein.«
+
+Er steckte ihr einen reich gefaßten Brillantring an die Hand, und sie
+ließ es sich lachend gefallen, daß er alle Ringe, die sie trug, abzog
+und anprobierte, bis er sich für einen Rubin entschied.
+
+»Das ist Herzblut,« erklärte er, »dein rotes, feuriges Herzblut.«
+
+Sie schloß die Augen und dachte an ihr rotes, feuriges Herzblut — —
+
+»Wie schön du bist. Ich habe weder in Paris, noch in Nizza eine
+wundervollere Toilette gesehen. Was brauchst du mich eigentlich? Du
+bist ja die geborene Prinzessin.«
+
+Dann begann er, ihr seine Pläne zu entwerfen. Keine lange, offizielle
+Verlobung. Die Vermählung heute in vier Wochen. Nur so viel Zeit,
+um die notwendigen Reisevorbereitungen zu treffen. Dann eine
+mehrmonatliche Reise durch den Orient: Bukarest, Sofia, Konstantinopel,
+Alexandria, wohin und so weit sie wünsche. Seine intimen Beziehungen
+reichten an alle Höfe und Vizehöfe. Sie würden überall der
+glänzendsten Aufnahme gewiß sein können, und überall würde sie die
+Herzen besiegen.
+
+Sie lauschte gern seinen weltmännischen Plaudereien. Eine schmeichelnde
+Vorahnung unzähliger Triumphe zog durch ihre Seele und gab ihr ein
+erhöhtes Selbstgefühl ...
+
+Leben, leben — auf den Höhen! — —
+
+Draußen erscholl kurz und fest die Korridorklingel.
+
+»Ah, wir werden gestört,« meinte der Prinz bedauernd und horchte auf.
+
+Auch Bettina war zusammengeschreckt. Sie kannte diese Art des Klingelns.
+
+»Ich bin für niemand daheim,« murmelte sie zornig. »Ich habe ihm doch
+untersagt — —« Aber das Mädchen hatte keinen dahinlautenden Befehl.
+Zumal bei Herrn Doktor Steinherr wußte sie, daß eine zeremonielle
+Anfrage, ob gnädige Frau den Besuch anzunehmen gedenke, außer Betracht
+stand.
+
+Hans Steinherr wechselte auf dem Korridor ein paar Worte mit dem
+Mädchen, darauf öffnete dieses die Salontür nach leichtem Anklopfen
+und meldete gewohnheitsgemäß den täglichen Besucher: »Herr Doktor
+Steinherr, gnädige Frau.«
+
+Frau Bettina blieb ruhig sitzen, und der Prinz verhielt sich nach ihrem
+Vorbild ebenfalls reserviert.
+
+Hans Steinherr trat ein. Seine Augen blitzten in der Erwartung eines
+lachenden, überraschten Willkommens. Er hatte es einfach nicht mehr
+ausgehalten daheim, der vergangene Abend mit seiner verweinten
+Seligkeit und den rätselhaften, springenden Gefühlsstimmungen lastete
+ihm auf der Seele. Wenigstens sehen wollte er Bettina und ihr den
+Beweis liefern, daß er ihretwegen selbst die langweiligste Gesellschaft
+gern ertrüge.
+
+Mit lässiger Handbewegung stellte Bettina vor.
+
+»Herr Doktor Steinherr — Seine Hoheit Prinz Georg.«
+
+Der Prinz machte eine höfliche Verbeugung und nahm seinen Platz wieder
+ein. Hans Steinherr stand noch immer. Vergaß man vor der hohen Ehre,
+einem Prinzen von Geblüt das Gastrecht zu erweisen, ihm, der sich als
+Herr der Gastgeberin dünkte, einen Stuhl anzubieten?
+
+»Was führt Sie her, lieber Herr Doktor? Ein neuer literarischer Plan? —
+Ich bin nämlich die Egeria dieses großen Dichters und bilde mir nicht
+wenig darauf ein,« wandte sie sich lächelnd an den Prinzen. »Hoheit
+haben allen Grund, auf der Stelle eifersüchtig zu werden.«
+
+Hans Steinherr trat einen Schritt näher. Mit festem, zwingendem Blick
+sah er Bettina an, und auf seiner bleichen Stirn trat eine schwere,
+dunkle Ader hervor.
+
+»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor,« sagte die schöne Frau
+hastig, »daß ich Sie nicht zum Niedersitzen einlade. Aber ich mußte, so
+schwer es mir wurde und entgegen allem Gastrecht, Hoheit bereits meinen
+leidenden Zustand erklären und ihn bitten, seinen Besuch morgen zu
+meinem Mittwochabend zu wiederholen. In meinem Schlafzimmer wartet das
+Migräninpulver, meine Herren.«
+
+Der Prinz verstand und erhob sich sofort. »Möge Ihnen eine angenehme
+Ruhe und ein heiteres Erwachen beschieden sein, meine Gnädige,« und er
+küßte ihr, abschiednehmend, die Hand, dicht unter dem Verlobungsring.
+
+Sie bemerkte seine Galanterie und gab es ihm durch einen leisen Druck
+der Fingerspitzen zu verstehen.
+
+»Gute Nacht, Herr Doktor, auf morgen also! Ich rechne bestimmt auf Sie.
+Weil Sie heute zu kurz gekommen sind, dürfen Sie morgen eine Stunde
+früher erscheinen.«
+
+Hans Steinherr verbeugte sich kalt. Er war überhaupt nicht zum Reden
+zugelassen worden.
+
+Auf der Straße zogen die Herren die Hüte. Der Prinz winkte eine
+Droschke heran und ließ sich zu einem Theater fahren. Für den Klub,
+in dem er einst Stammgast gewesen war, war es ihm noch zu früh. Hans
+Steinherr wanderte planlos weiter.
+
+Was war das? dachte er immer wieder, was war das? Das war doch eine
+Komödie, eine ganz richtige Komödie! Oder — auch früher schon? — Wie?
+Was? — Er fühlte sich total überrumpelt. Er fand sich nicht zurecht.
+Wofür hatte sie sich so geschmückt? Das fiel ihm nachträglich ein. Dann
+versagte das Gehirn den Dienst, und es war ihm so sonderbar angenehm,
+nicht mehr denken zu können. Nur der frivole Heinesche Vers zog ihm
+kreuz und quer durch den Sinn, und er konnte ihn nicht abschütteln:
+
+ »Um sechse des Morgens ward er gehenkt,
+ Sie aber schon um achte
+ Trank roten Wein und lachte.«
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Viertes Kapitel
+
+
+Hans Steinherr war zu einem Entschluß gekommen. Als er am
+Spätnachmittag des nächsten Tages den Frack anzog, wußte er, daß der
+Abend die Entscheidung bringen müsse. Heute noch würde seine Verlobung
+mit Frau Bettina erklärt werden, oder — er machte mit Fassung seine
+Abschiedsverbeugung. Auf seinem Schreibtisch prangte eine große
+Photographie Bettinas. Sie zeigte den von der dunklen Haarwelle
+gekrönten Kopf im Profil, die klassischen Schultern und den weißen,
+schlanken Nacken, der von mattfarbener Seide wirksam umsäumt war. Er
+sah das Bild prüfend, finster an; wie einen Gegner, mit dem er heute
+noch die Klinge kreuzen müsse.
+
+»Schöne Frau,« sagte er, »jetzt gilt’s. Zeig, daß du Seele hast, oder
+du bist verloren.«
+
+Dann drehte er das Bild herum.
+
+»Erst die Berechtigung nachweisen, daß du hier stehst, sonst könnte ich
+ja das Zimmer mit Bildern tapezieren.«
+
+Eine Röte stieg ihm in die Schläfen.
+
+Was für unwürdigen Zweifeln gab er Raum! Er verstand sich nicht, daß
+er von der Frau, mit der er im Begriff stand, seinen Namen zu teilen,
+auch nur vorübergehend anders denken konnte als in der höchsten
+Wertbemessung. Sie hatte Kapricen. Welche Frau von Welt hatte die
+nicht! War er doch selbst in diesem Winter nervös geworden und hatte
+sich doch Jahre hindurch in kalter Selbstüberwindung geübt.
+
+Draußen auf dem Korridor wurden Stimmen laut. Es wurde nach ihm
+gefragt, und die Wirtschafterin gab Auskunft. Da vergaß er, das
+Bild wieder umzudrehen und wandte sich nach der Hausbesorgerin, die
+eingetreten war.
+
+»Ein Herr möchte Sie sprechen, Herr Doktor. Er sagt, er wär’ ein
+Landsmann.«
+
+»Wie heißt der Herr? — Sie wissen es nicht? — Nein, Sie brauchen nicht
+zum zweiten Male zu fragen. Lassen Sie den Herrn eintreten.«
+
+Gespannt blickte er nach der Tür. Sonderbar, daß sich just in diesem
+Augenblick die Heimat melden mußte.
+
+»Guten Tag, Steinherr; ’n Tag, ’n Tag! Jesses, Jüngsken, dich hätt’
+ich bereits nich widdererkannt. Süch ens, wer da vor dir steht?
+Donnerlütsch, er hat kein’ Ahnung mehr vom Willibald Hüsgen am
+Wehrhahn.«
+
+»Hüsgen —?« fragte Steinherr überrascht. »Wahrhaftig, an dich hätt’
+ich zuletzt gedacht. Nichts für ungut. Es freut mich doch, daß du mich
+aufgesucht hast. Sei willkommen!«
+
+»Na, wenn et dich nur freut,« meinte der Gast und schüttelte die
+dargebotene Hand, »dat is die Hauptsach’.«
+
+»Nimm Platz, ich steh’ zwar, wie du an meinem Frack siehst, auf dem
+Sprunge, auszugehen, aber auf ein paar Minuten langt’s immer noch. Du
+besuchst mich dann in den nächsten Tagen wieder.«
+
+»Och, Steinherr, laß doch heut die Gesellschaft schießen. Ich hatt’
+grad Lust, mit dir so’n bißchen ’rumzukneipen.«
+
+»Das läßt sich heute leider nicht machen,« versetzte Steinherr
+höflich. »Ich habe sogar fest zugesagt, schon vor dem Beginn der
+Abendgesellschaft zu erscheinen.«
+
+Willibald Hüsgen überlegte. Er hatte sich einen schönen Rubensbart
+wachsen lassen, den er zärtlich streichelte.
+
+»Du hast vielleicht gehört, Steinherr,« begann er mit offenem
+Selbstbewußtsein, »daß ich fix in die Höhe gekommen bin. Wir haben
+da in Düsseldorf ein bißchen revolutioniert. Die Herren Malermeister
+schliefen ja alle auf die Dauer ein; Gehirnschwund, Farbenblindheit,
+Verblödung. Die betrieben das Geschäft zuletzt rein fabrikmäßig und
+schmierten ihre Sächelchen nach dem Quadratfuß. Sie wünschen, mein
+Herr? Eine Düsseldorfer Landschaft? Ein zartes Genrebildchen? Ein
+derbes? Bitte, nehmen Sie Platz. Sie werden auf der Stelle rasiert.
+So, bitte, frisch von der Pfanne, gleich mitzunehmen, wie beim
+Kirmeßphotographen. Was es kostet? Fester Düsseldorfer Preis. Aber
+bestellen Sie doch ein Pendant dazu! Pendants, das ist das Feinste.
+Links vom Sofa, rechts vom Sofa. Heilig’ Mutterjottes, ich krieg’
+Leibschmerzen!«
+
+»Setz dich doch, Hüsgen!« sagte Steinherr lachend. Die heimatlichen
+Klänge regten ihn zu einer längst entwöhnten, heiteren Stimmung an. Wie
+lange hatte er solch eine Plauderstunde vermißt!
+
+»Du,« meinte Hüsgen und ließ sich gemütlich nieder, »das
+Leitungswasser, hab’ ich mir sagen lassen, wär’ bei euch in Berlin gar
+nicht zu genießen. Schade.«
+
+»Ach so,« fiel Steinherr ein, »du kommst ja vom Rhein. Da läßt sich
+natürlich eine Unterhaltung nicht anders als zwischen den Gläsern
+denken.«
+
+»Zu allen Tages- und Nachtstunden,« erklärte Hüsgen. »Die
+Zeiteinteilung ist Menschenmachwerk. So was muß überwunden werden. Ah,
+das nenn’ ich doch eine Blume. Prosit! Es lebe der freie Geist!«
+
+Sie taten sich mit einem Glase Rheinwein Bescheid, und Hüsgen nahm
+sofort den Faden wieder auf: »Ja, alter Junge, den Umwandlungsprozeß
+in Düsseldorf hast du nicht mitgemacht. Ihr hier draußen lebt in der
+Einbildung, in Düsseldorf liefe noch alles im alten, verschlafenen
+Trott. Schneidet euch nur nicht! Da ist Leben in die Bude gekommen;
+über Nacht, sag’ ich dir. Aus der alten ›Lätitia‹, dem ›Tartarus‹,
+dem ›Baldur‹ sind Maler hervorgegangen, Maler — na, mit einem Wort —
+Kerle! Ich bin nämlich, als die Gaudeamusbrüder sich in Wohlgefallen
+auflösten, weil mein Alter den Bierverlust nicht mehr tragen wollte
+und ein anderer Dummer mit dem Laternchen nicht zu finden war, in
+die ›Lätitia‹ eingetreten. Kurz, ich sag’ dir, die in Düsseldorf
+wissen jetzt, was sie wollen! Der Fink hat wieder Samen! Das neue
+Jahrhundert wird die Leute wieder an der Spitze sehen. Darauf kannst du
+kommunizieren gehen.«
+
+»Das freut mich, zu hören. Es war aber auch Zeit geworden. Und du
+stehst also mit an der Spitze?«
+
+Willibald Hüsgen verbeugte sich nur.
+
+»Ich hab’ ein paar Riesenfetzen verkauft. Landschaften, aber ordentlich
+mit Erdgeruch. Weißt du, Landschaften, das ist heute nämlich das
+einzige. Früher, da schrie die bornierte Gesellschaft gleich: ›Dat is
+ja gar kein Möler, dat is ja nur en Landschafter!‹ Jawoll, un dann kam
+dat Echo von draußen: ›Seht ens, dat is Düsseldorfer Figurenmalerei.
+Dat sind Bilderbogen nach Zeichenvorlagen!‹ Zum scheckig lachen!«
+
+»Also, du hast Erfolg,« sagte Steinherr und erhob sich. »Ich gratuliere
+herzlich. Und nun sei nicht bös, daß ich dich nicht länger hierhalten
+kann. Gerade heute abend darf ich nicht fehlen.«
+
+»Ja,« meinte Hüsgen und schlürfte langsam sein Glas aus, »wenn sich
+das nun mal nicht anders einrichten läßt? Ich bin nur auf ein paar
+Tage hier, wegen meiner Ausstellung bei Schulte. Und eben für heut
+hatt’ ich dir noch eine Masse zu erzählen. Du,« fragte er plötzlich mit
+echter Hüsgenscher Unverfrorenheit, »kannst du mich denn nicht in die
+Gesellschaft einführen?«
+
+»Heute geht’s schlecht,« sagte Steinherr reserviert. »Es ist ein Prinz
+da, den ich selbst nicht kenne.«
+
+»Ein Prinz?« wiederholte Hüsgen wegwerfend. »Die sind, wenn’s ans
+Bilderbezahlen geht, akkurat wie andere Menschen. Wie heißt er denn?
+Vielleicht kenn’ ich ihn.«
+
+»Prinz Georg von Dingsda. Irgend eine Seitenlinie.«
+
+»Na natürlich kenn’ ich den. Der stand doch mal ein Jahr in Düsseldorf.
+Und trinken konnt’ der! Ich hab’ ihn mal aus dem ›Malkasten‹ nach Hause
+geschleppt, und zum Dank durft’ ich ihm gänzlich gratis seine Gäule
+malen. Drunter tat er’s nicht. Als kleines Erinnerungszeichen an die
+große, denkwürdige Stunde. Du, nimm mich mit; ich muß doch meinen edlen
+Mäcen begrüßen.«
+
+Hans Steinherr lachte. Auch er hätte gern mit dem einstigen Kameraden
+noch geschwatzt. Wenn er den Menschen ansah, wenn er ihn sprechen
+hörte, wurden hundert alte Bilder in ihm lebendig. Die Proben im
+Hüsgenschen Hause, Francesca von Rimini, Hannes — Und die Fragen
+brannten ihm auf den Lippen.
+
+»Höre, ich muß vorausfahren. Aber ich werde dich anmelden. Ich glaube,
+ich darf mir in dem Hause eine Einführung wohl gestatten. Wo wohnst
+du? Am Potsdamer Platz? Dann steig schnell mit in meine Droschke, ich
+setz’ dich vor der Tür ab, du ziehst den Frack an und kommst nach, und
+ich werde durch den Tiergarten hinfahren. Die Adresse geb’ ich dir. Nun
+aber eilt es.«
+
+Auf der kurzen Strecke zwischen Potsdamerbrücke und Potsdamerplatz
+kramte Hüsgen schnell noch seine größte Neuigkeit aus.
+
+»Was sagst du denn zu unserem Hannes? Das ist eine Karrière, was? Die
+verdient das Geld gleich scheffelweis, stellt sich hin, singt ein paar
+Lieder und trägt die dicken Kuverts auf die Bank. Wenn ich bedenke,
+daß ich das Mädel mal heiraten gewollt hab’ ... Nee, nee, das ist kein
+Spaß von mir. Damals wollt’ ich mich tatsächlich herbeilassen. Ich
+hatte nur noch nicht das dienstmäßige Alter. Und dann standest du mir
+in der Quere. Das war wirklich nicht hübsch von dir, Steinherr, denn du
+hattest doch keine ernsthaften Absichten. Na, ich war nicht schlecht
+wütend auf dich. Einmal hab’ ich sogar an deinen Alten geschrieben,
+aber anonym natürlich, das war ja nicht so schlimm. Gott, als Jung’
+ist man ja immer ein Stück Halunke, besonders in dem eifersüchtigen
+Stadium, und du bist ja längst über so was ’raus.«
+
+»Wie hast du denn nur meine Adresse erfahren?« lenkte Steinherr ab. Das
+Thema war ihm gerade jetzt unbequem.
+
+»Deine Adresse? Springe ist doch hier. Kam heute mit mir zusammen an.
+Jesses, er will dich ja vor sieben Uhr besuchen. Der Hannes ist von
+London gekommen und singt heute abend in der Philharmonie, wo der
+Nikisch dirigiert. Oder ist es der Weingartner?«
+
+Der Wagen hielt vor dem Hotel, und Hüsgen, der in seiner derben
+Selbstsucht Angst verspürte, die Gesellschaft mit dem Prinzen könnte
+ihm verloren gehen, sprang schnell aus dem Fonds und rief dem
+Jugendfreunde zu: »Das erzähl’ ich dir nachher alles ausführlich. Wohin
+soll der Kutscher?«
+
+»Kurfürstendamm.« Steinherr nannte zerstreut Namen und Nummer.
+
+»Auf Wiedersehen. In einer Stunde meld’ ich mich zur Stelle.«
+
+Steinherr wollte ihn zurückhalten. Da fiel sein Blick auf die
+Bahnhofsuhr. Sechs vorbei. Er gab dem Kutscher einen Wink und lehnte
+sich, von einer plötzlichen unerklärlichen Müdigkeit befallen, tief in
+die Polster des Wagens zurück. Hannes in Berlin, mit ihm in derselben
+Stadt — —
+
+Er sah die Straßen nicht, durch die der Wagen rollte. Er sah nur immer
+Bilder aus dem alten, einstigen Düsseldorf vor sich. Wanderungen
+durch den stillen Hofgarten, Wanderungen über die Rheinbrücke,
+Wanderungen nach all den kleinen altertümlichen Städtchen, Neuß, Zons,
+Kaiserswerth, über die der Zauber geschichtlicher Romantik lag, und
+Benrath, das für ihn den Zauber der Liebesidylle gezeitigt hatte.
+
+War er wirklich einmal so jung, so selig verschwärmt, so trunken
+verliebt gewesen, daß er nicht anders gekonnt hatte, als seine Liebe
+durch die Natur zu führen, um seine innere Glückseligkeit mit der
+Umgebung in Einklang zu bringen? Und — er besann sich — so stark, so
+stolz, so lebensfreudig hatte er sich dazumal gefühlt, als er die Welt
+erobern wollte. Die Welt in einem süßen, milden, hingebungsvollen
+Mädchen. Und die Welt überhaupt! Er, der Sieger ...
+
+Der Wagen hielt vor Frau Bettinas Haus, und Steinherr fuhr hastig empor.
+
+Richtig, er war am Platz. Hier war ein Feld, Beweise anzutreten. Also
+heraus doch mit der jugend-trotzigen niederrheinischen Siegernatur,
+falls sie nicht vorzeitig vom Alter gestreift war wie ihr einstiger
+Besitzer!
+
+Er biß die Zähne aufeinander und ging ins Haus.
+
+Frau Bettina befand sich noch in ihrem kleinen Privatsalon, aber das
+Mädchen hatte Auftrag, Herrn Doktor Steinherr unverzüglich zu ihr
+einzuführen. Die Dame des Hauses erhob sich und kam ihm entgegen.
+
+»Du hast dir heute Zeit gelassen, lieber Freund. Ich erwarte dich seit
+einer halben Stunde, und dringender als je.«
+
+»Ich bitte um Entschuldigung. Ein Schulfreund suchte mich in dem
+Moment auf, in dem ich gehen wollte; ein junger, erfolgreicher Maler
+aus Düsseldorf, der augenblicklich eine Ausstellung bei Schulte hat.
+Hoffentlich hast du nichts dagegen, daß er heute abend hier erscheint.
+Ich wußte ihn nicht anders loszuwerden.«
+
+»Aber heute abend gerade —« machte sie, sichtlich unangenehm
+überrascht.
+
+»Du meinst, weil sich Hoheit angesagt hat?« Und mit leiser, ironischer
+Färbung fuhr er fort: »Das trifft sich im Gegenteil sehr gut, der
+Prinz Georg war während seiner Düsseldorfer Zeit der Mäcen des jungen
+Künstlers.«
+
+Sie sah ihn ungewiß an. Dann nickte sie, daß die Angelegenheit nunmehr
+erledigt sei.
+
+»Mein lieber Hans, wenn du den Namen des Prinzen nennst, ist mir, als
+ob es mit einem gewissen Sarkasmus geschehe. Das hör’ ich nicht gern.«
+
+»O — ich konnte nicht ahnen, daß dir der Mann so interessant wäre.
+Übrigens, wir wollen uns nicht zanken.«
+
+»Gewiß nicht. Ich wollte dir auch nur die Bitte vortragen, einige
+Rücksicht auf mich zu nehmen.«
+
+Er sah stutzig zu ihr hin.
+
+»Sollte ich in der Tat so weit heruntergekommen sein, daß ich es an —
+Rücksichtnahme fehlen ließe?«
+
+»Gebrauche doch nicht immer gleich die stärksten Ausdrücke. Es greift
+dich doch niemand an.«
+
+»Mir war, als ob ich einen Vorwurf zu hören bekäme. Oder — verzeihe —
+sollte es sich um — um eine Art Vorbereitung handeln?«
+
+»Das ist ein Angriff auf mich,« fuhr sie auf. »Jetzt ersuche ich dich,
+dich deutlicher zu erklären.«
+
+»Deutlicher — —. Das ist so ein vages Gefühl. Seit einiger Zeit tritt
+es auf, seitdem du so rätselhaft weich geworden bist. Aber das ist ja
+unsinnig, rein unsinnig. Verliebte sehen Gespenster.«
+
+Er zwang sich zu einem Lächeln und trat auf sie zu.
+
+»Guten Tag, Bettina. In dem Eifer, uns Liebenswürdigkeiten zu sagen,
+haben wir richtig vergessen, uns zu begrüßen.«
+
+Sie beugte den Kopf und hielt ihm die Stirn hin. Da legte er ihr
+leicht die Hand unter das Kinn und bog ihren Kopf zurück. Und als
+sie die Wimper, die sie unmutig gesenkt hielt, endlich hob, traf ihr
+unvorbereiteter Blick in seine tiefgrauen, strahlenden Augensterne, und
+um seinen Mund gewahrte sie den alten, spöttischen Zug, der sie einst
+angetrieben hatte, den Einsamkeitsmenschen auf besondere Qualitäten
+zu erforschen. Sie hatte mehr als besondere Qualitäten, sie hatte den
+~Mann~ gefunden.
+
+Ihre Augen weiteten sich unter seinem Blick, ihre Brust schwoll unter
+einem tiefen Seufzer —
+
+— — Den Mann gefunden — —!
+
+Und unwillkürlich hob sie sich in seiner Umarmung auf die Fußspitzen
+und schob ihre Stirn an seine Wange hinauf.
+
+Mit weicher Hand strich sie ihm ein Haarsträhnchen aus der Stirn und
+streichelte sein Gesicht. »Mein ganzes Dasein wird darin bestehen, dir
+Opfer zu bringen.«
+
+»Also endlich hast du dich entschlossen? Endlich, Bettina?«
+
+»Zu was, was du nicht längst schon wüßtest. Ich hab’ dich lieb.
+Verstehst du das? Lieb, lieb, lieb! Viel zu lieb, als daß ich dich
+heiraten möchte.«
+
+»Ach — scherze jetzt nicht, Bettina!«
+
+»Scherzen? Wer spricht von scherzen? Ich war noch nie so ernst wie
+jetzt. Wollte ich die Unklugheit begehen, dich zu heiraten, so
+wäre sowohl der Nimbus hin, der mich, wie der, der dich umgibt.
+Binnen kurzem hätten wir die Zahl der alltäglichen Ehepaare um eins
+vergrößert.«
+
+Hans Steinherr staunte die Frau an, die mit ihm sprach. Hatte er recht
+gehört?
+
+»Du, Bettina, du verwechselst die Personen. Ich bin’s — ich.«
+
+»O, ich bin durchaus bei der Sache. Ich habe alles hundertmal,
+tausendmal überlegt und bitte dich nur darum, ruhig, ganz ruhig zu
+bleiben. Was glaubst du, was es heißt, wenn eine Frau wie ich dir sagt:
+Mein Dasein wird nur darin bestehen, dir Opfer zu bringen?«
+
+»Ich lasse nur eine Deutung zu. Ist die falsch, so verzicht’ ich auf
+eine andere.«
+
+»Das ist Hartnäckigkeit; nicht das, was ich Liebe nenne. Liebe aber ist
+für mich Leidenschaft; du kennst meine Natur. Und Leidenschaft, die
+nach acht Tagen in Schlafrock und Pantoffeln herumläuft — geh fort, das
+ist dir ja selber lächerlich. Menschen wie wir haben eine schärfere
+Luft zum Gedeihen nötig.«
+
+»Du sprichst nur immer von uns beiden. Irr’ ich mich, oder geschieht
+das, um den ehrenwerten Dritten zu cachieren?«
+
+»Uns soll doch eine bloße Form keine Skrupel machen? Ich behalte mir in
+meiner Ehe jede Freiheit vor und lasse sie meinem Gatten nicht weniger.
+Ich kann mich nicht zum zweiten Male fesseln lassen.«
+
+Hans trat zurück, totenblaß, aber er verbeugte sich.
+
+»Dann bleibt mir also nichts, als meinen allerergebensten Glückwunsch
+abzustatten. Der Name ist bei den hochfliegenden Plänen der gnädigen
+Frau ja nicht schwer zu erraten.«
+
+»Es ist der Prinz,« sagte sie ruhig. »Du brauchst über diese Wahl
+wahrhaftig nicht betrübt zu sein.«
+
+»Es wäre unstatthaft für mich, wollte ich deinen — Pardon, Ihren
+zukünftigen Gatten mit meinen Gefühlen in Zusammenhang bringen. Das
+würde eine Geschmacklosigkeit bedeuten — und den guten Geschmack möchte
+ich mir doch bewahren.«
+
+Sie sah es ihm an, daß er trotz der eisigen Kälte, die er jetzt
+zur Schau trug, erregt war bis ins Innerste, daß ein beständiges
+Zittern durch seinen Körper lief, daß er sich mit der letzten Gewalt
+beherrschte.
+
+»Hans,« stieß sie hervor, »was will ich denn? Deinen Ehrgeiz
+befriedigen und meinen Ehrgeiz befriedigen. Wir brauchen hier nichts zu
+beschönigen. Du sollst berühmt werden, und ich will beneidet sein.«
+
+»Ah —« sagte er gedehnt, »du meinst: man beneidet eine Frau nicht um
+den Mann, sondern um den Liebhaber.«
+
+»Nenn es, wie du magst. Das sind Worte. Ich will das Glück und die
+Liebe auf meine Weise.«
+
+»Meine gnädige Frau, bei uns am Niederrhein pflegt man aus der Liebsten
+eine Frau, nicht aber aus dem Liebsten einen Geliebten zu machen.
+Wenn das in diesem Kreise hier nur Worte sind — ich habe ihnen nichts
+hinzuzufügen.«
+
+Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten. Er bewegte die Hand, als
+wollte er etwas Widerwärtiges beiseite schieben.
+
+Da flammte es in ihr auf.
+
+»So behandelt man mich nicht!« rief sie und trat ihm dicht unter die
+Augen. »Ich habe mehr an dir getan, als du zu wissen scheinst. Ich
+habe dich bekannt gemacht, und mehr als das, ich habe dich interessant
+gemacht, dir einen Nimbus in dieser sensationssüchtigen Welt gegeben,
+selbst auf die Gefahr meiner eigenen Persönlichkeit hin, nur um dich
+über alle hinaussteigen zu sehen.«
+
+»Für dich oder für mich?« fragte er mit offenem Hohn.
+
+»Nun ja, für mich! Tausendmal ja, für mich! Aber dir ist es zu gute
+gekommen. Und dafür rechne ich auf Dank, auf Ergebenheit. Ich kann und
+will dich nicht mehr lassen, und du, du — denke nur mit einem einzigen
+Gedanken daran, mich beiseite zu schieben. Du solltest sehen, was ich
+vermag. Wenn ich dich berühmt gemacht habe, ich kann dich auch —«
+
+Hans Steinherr sah die rasende Frau von oben bis unten an. Dann drehte
+er sich auf dem Absatz herum.
+
+»Du,« rief sie außer sich und faßte nach seinen Schultern, »das ist
+eine Behandlung, wie du sie deinem rheinischen Allerweltsmädel zu teil
+werden lassen kannst, mir nicht, mir nicht!«
+
+Er hatte sich blitzschnell umgewandt und sie bei den Handgelenken
+ergriffen.
+
+Kein Wort sprach er, aber er preßte ihre Gelenke, daß sie
+zusammenzuckte.
+
+»Hans,« weinte sie leise, »sei doch gut, sei doch gut. Wenn ich dich
+nicht so wahnsinnig liebte —«
+
+»Schäme dich,« sagte er kaum hörbar und ließ sie los. »Arme, betrogene
+Frau ...«
+
+Und plötzlich war ihm, als ob er selbst schon einmal in einer ähnlichen
+Situation gestanden hätte. Er als der Betrogene, der sich selbst
+Betrügende.
+
+»Es wiederholt sich alles im Leben,« murmelte er, »nur der Verlierende
+wechselt.«
+
+»Hans —« versuchte sie noch einmal.
+
+»Still, man kommt.«
+
+Frau Bettina richtete sich auf und fuhr sich mit dem Tuch über das
+verstörte Gesicht.
+
+»Du darfst jetzt nicht gehen. Nicht sofort. Das gäbe Aufsehen.
+Versprich es mir.«
+
+»Gut, gut. Hab’ ich so lang’ Komödie gespielt, halt’ ich es auch noch
+eine halbe Stunde länger aus.«
+
+»Ich werde dich wiedersehen.«
+
+»Das wirst du nicht.«
+
+Das Mädchen meldete, soeben sei Seine Hoheit erschienen. Die Gäste
+wären vollzählig. Auch ein fremder Herr schicke der gnädigen Frau seine
+Karte herein mit einer Empfehlung des Herrn Doktor.
+
+»Ihren Arm, Herr Doktor ...«
+
+In seinen Augen flackerte es, als er die Dame des Hauses in den Salon
+führte. Seine Haltung war noch aufrechter als sonst, seine Miene kalt
+und abweisend wie meist. Aber es war ihm, als ob er ohne zu atmen,
+ohne atmen zu können einherginge, und dieses Gefühl verursachte ihm
+direkt körperlichen Schmerz. Er führte seine Begleiterin, ohne sich bei
+den Gästen aufzuhalten, geradeswegs auf den Prinzen zu, der im selben
+Augenblick den Salon betrat.
+
+Frau Bettinas Hand zitterte auf seinem Arm. Wollte er einen Eklat
+herbeiführen?
+
+Doch als sie den Prinzen erreicht hatten, trat Steinherr mit kurzer
+Verbeugung wortlos zurück.
+
+Da fand auch sie ihre Selbstbeherrschung, und sie reichte dem Prinzen
+lächelnd die Hand, die er an die Lippen führte.
+
+»O —« sagte er bedauernd und nahm auch die andere Hand auf, »rote
+Streifen an den süßen Gelenken?«
+
+»Ich habe Armbänder anprobiert, Hoheit, aber sie wollten nicht passen.
+Darf ich Ihnen die Herrschaften bekannt machen?«
+
+Frau Bettina war an diesem Abend eine besonders entzückende Wirtin.
+Für jeden ihrer Gäste hatte sie ein freundliches Wort bei der Hand,
+das dem Prinzen die künstlerische oder gesellschaftliche Bedeutung des
+Vorgestellten schmückend erklärte, und ihre Augen strahlten heller,
+als sie sich von den bewundernden Blicken ihrer Freunde verfolgt sah.
+Sie las darin den offenkundigen Drang, ihr heute noch die Glückwünsche
+der Intimen darbringen zu können, und sie quittierte mit einem
+geheimnisvollen Sinkenlassen der langen, dunklen Wimpern. Nun war ein
+jeder orientiert. Und gerade die stille Erregung, die sie in dem Kreise
+wahrnahm, gab ihrem Auftreten das Bewußtsein.
+
+Willibald Hüsgen war der vielbeschäftigten Hausfrau kurz präsentiert
+und mit einem gnädigen Nicken bewillkommnet worden. Der Prinz hatte
+kaum Notiz von ihm genommen. Von einem Wiedererkennen konnte nicht die
+Rede sein.
+
+»Du,« flüsterte Hüsgen und stieß den wortkargen Steinherr in die Seite,
+»alles wat recht is: ene staatse Frau. Wär’ det nix für dich gewese?«
+
+»Also Springe ist in Berlin?« fragte Steinherr zurück. Er fühlte, daß
+er sich zu jedem Worte Gewalt antun mußte.
+
+Willibald Hüsgen aber war von dem eleganten Gesellschaftsbild viel zu
+sehr gefesselt, um aus der neuen Welt eine Exkursion in die altbackene
+zu unternehmen.
+
+»Weißt du,« sagte er, »hier muß mer sich bloß beliebt mache. Hier
+gucken einen die Aufträg’ förmlich aus jeder Ritz’ an. Ich werde Hoheit
+nachher mal so ’nen stillen Wink geben, von wegen der Düsseldorfer
+Bekanntschaft.«
+
+Dann sprach er ziemlich laut von seiner Ausstellung bei Schulte, um die
+Umstehenden darauf aufmerksam zu machen, daß auch er »wer sei«.
+
+Das wurde von der Gesellschaft nicht gerade angenehm empfunden. Man
+befleißigte sich heute mehr denn je, dem Zusammensein einen gewissen
+feierlichen Charakter zu verleihen, und die ungenierte Stimme des
+Düsseldorfer Malers, der sich etwas zu gute darauf zu tun schien,
+auch in seiner Ausdrucksweise durch Urwüchsigkeit zu verblüffen
+und aufzufallen, störte empfindlich das verbindliche, harmonische
+Zeremoniell.
+
+Es war an Frau Bettinas Abenden eine schöne Sitte, daß man zunächst
+dem Büfett im Speisezimmer zusprach und dann erst den Musik- und
+Diskutiersalon aufsuchte, um, angeregt durch die leibliche Stärkung,
+ausgiebiger den geistigen Genüssen sich hingeben zu können. Auch
+heute war das der Fall. Aber während der Büfettstunde wurde eifriger
+als gewöhnlich die Improvisation einer unmittelbar eingreifenden
+künstlerischen Veranstaltung besprochen. Man wünschte diesmal, das
+gefüllte Glas in der Hand zu behalten, um für jeden Moment gewappnet zu
+sein.
+
+»Herr Doktor Steinherr, es gilt, Hoheit einen anregenden Abend zu
+verschaffen, und unserer strahlenden Hausfrau nicht minder. Bitte!
+Beginnen Sie mit einem stimmungmachenden Gedicht. — Sie haben zufällig
+nichts bei sich? Ach, das sagen die Herren Dichter immer, um sich
+den Hof machen zu lassen! Sehen Sie nur einmal gründlich nach, die
+Muse wird Ihnen bei ihrem letzten Besuch schon eine kleine Gabe
+zurückgelassen haben. — In der Tat nicht? Ja, dann hilft es Ihnen
+nichts, dann müssen Sie extemporieren.«
+
+Frau Bettina und der Prinz wurden um Hilfe angerufen.
+
+»Ah,« sagte der Prinz, »da steht uns ja ein seltener Genuß bevor. Sie
+würden mich wirklich verbinden, Herr Doktor. Ich bin gerade heute für
+Poesie besonders empfänglich.«
+
+Über Bettinas Gesicht glitt ein seltsames Scheinen. Der Augenblick
+war da, den gegen den Stachel Lökenden wieder zur Raison zu bringen.
+War er zu bewegen, den Abend verherrlichen zu helfen, so war die
+Grundlage für ein späteres Wiederzusammenfinden dennoch geschaffen. Ein
+Gedicht, jetzt, zum festlichen Abend, das der Eigenschaft gerade dieses
+Abends irgendwie Rechnung trug, und er entäußerte sich damit seines
+beleidigten Stolzes und erkannte, wenn auch heute noch unter einem
+Zwange, ihre Wünsche und Pläne an.
+
+Gespannt blickte sie zu ihm auf, ihre Hand im Arme des Prinzen.
+
+»Fehlt Ihrer Harfe,« sagte sie, um ihn zu reizen, »die Saite, auf der
+die Töne des Glückes erklingen?«
+
+»Ja,« fiel der Prinz lebhaft ein, »preisen Sie die Liebe. Ich höre, Sie
+sind der Berufenste.«
+
+Um Hans Steinherrs Lippen zuckte es sarkastisch. Hoheit hatte unbewußt
+ein böses Gleichnis gebraucht.
+
+Auch Frau Bettina hatte die Wimpern gesenkt und blickte starr auf einen
+Punkt.
+
+Vom Musikzimmer her erschallten die Töne des Steinways. Ein berühmter
+Klaviervirtuose spielte meisterlich das Liebeslied aus der Walküre:
+
+ »Winterstürme wichen dem Wonnemond ...«
+
+Als er geendet hatte, grüßte Steinherr, äußerlich unbewegt, die
+Hausfrau. Und mit einer Stimme, deren Kälte und Gelassenheit in
+seltsamem Gegensatz zu dem nervösen Wesen Bettinas stand, sagte er nur:
+»Ich bitte um Urlaub. Soeben höre ich von Freund Hüsgen, daß liebe
+Düsseldorfer Freunde mich noch erwarten. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis,
+meine gnädige Frau. Sie wissen, die Heimat hat ihre Rechte. Nochmals:
+ich bitte um Urlaub.«
+
+Er war gegangen, aber eine drückende Stille war geblieben.
+
+Da glaubte Willibald Hüsgen sich zum Retter der Situation aufwerfen
+zu müssen, und er hob schnell sein Glas, das er nicht aus der Hand
+gelassen hatte. »Pröstchen, gnädige Frau ...«
+
+Bettina sah über ihn hinweg. Und als nun gar Hüsgen, um sein
+gesellschaftliches Gleichgewicht wieder herzustellen, auf den Prinzen
+einsprach und ihn unter lustigem Augenzwinkern an die Düsseldorfer Zeit
+erinnerte, kehrte ihm das Paar frostig den Rücken.
+
+Willibald Hüsgen aber nahm französischen Abschied.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+
+Hans Steinherr schritt durch den naßkalten Februarabend, die Hände tief
+in den Taschen seines Paletots, den Kopf vorgestreckt. Er achtete nicht
+darauf, daß seine dünnen Lackschuhe durchweicht und bespritzt wurden,
+daß auf seinen Hut die Tropfen fielen. Er dachte überhaupt nicht. In
+seinem Kopf tanzten hundert Melodien durcheinander, Kinderlieder,
+Studentengesänge, Fastnachtsstrophen vom Rhein. Woher sie so plötzlich
+auftauchten, wer sie gerufen hatte — er wußte es nicht. Er wollte es
+auch gar nicht wissen. Sie waren eben da, sie erheiterten ihn, sie
+verkürzten ihm die Zeit. Also war es doch eine große Errungenschaft,
+über sie verfügen zu können. Und er summte sie mit, wie sie ihm durch
+den Kopf kreuzten, einen Vers nach dem anderen, eine Melodie nach der
+anderen, ohne sich über die Notwendigkeit Rechenschaft abzulegen.
+
+Einmal blieb er stehen. Er hatte da ein Karnevalsliedchen im Dialekt
+vor sich hin geträllert, im Wortlaut, ohne zu stocken. Das kam ihm
+selbst wunderbar vor. Und darüber grübelte er nun doch. Er wußte ganz
+genau, daß er die Strophe kaum als Junge gekannt oder gesungen haben
+konnte. Sie mußte ihm von irgend einem Düsseldorfer Fastnachtsabend
+her im Ohr geblieben sein. Und nun meldete sie sich. Seltsam. War
+denn damals alles so tief gegangen, saßen selbst die geringfügigsten
+Tagesbildchen aus der Jugend so fest in ihm, daß sie nach jahrelanger
+Unterdrückung plötzlich schelmisch hervorlugten und ihm lustig
+zuraunten: Wir sind auch noch da, wir halten uns stets zu deiner
+Verfügung, wenn du einmal ein Stündchen für uns hast oder wir unser
+Stündchen für gekommen halten?
+
+Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Gut, gut, mochte es so sein,
+wie es wollte. Karneval in Düsseldorf, Karneval in Berlin — es war ja
+schließlich völlig gleich.
+
+Aha — ja — was war’s doch gleich? Hatte er da vorhin ein Erlebnis
+gehabt? Dort hinten, irgendwo, in dem Hause am Kurfürstendamm? Er mußte
+sich einen Moment besinnen, denn das Haus erschien ihm nur nebelhaft,
+und die Vorgänge des Abends — —? Ganz recht, er hatte Urlaub genommen,
+Urlaub von der Liebe. Das war doch alles sehr höflich gewesen, mehr als
+höflich. Doch das andere — das andere — —? War diese Verlobung nicht
+längst schon eine fertige Geschichte? Sämtliche Freunde des Hauses
+hatten es doch gewußt, nicht ein einziger, der überrascht gewesen wäre
+— —
+
+Herrgott ja, es war keiner überrascht gewesen —!
+
+Glühend heiß lief es ihm durch den Körper, er fühlte, wie sein Gesicht
+brannte, wie das Blut ihm in den Wangen klopfte, in den Schläfen, in
+den Halsmuskeln. Er nahm den Hut ab und vergaß, ihn wieder aufzusetzen.
+Also alle hatten sie es gewußt, nur er nicht ... Der Seladon war mit
+Blindheit geschlagen gewesen. Herr Hans Steinherr, Seladon der Frau
+Bettina Wittelsbach. Die höchste Charge, die er erreicht hatte, nachdem
+er von der Schlichtheit der Heimat geschieden war, um seinen Ehrgeiz zu
+befriedigen!
+
+Ah — —! schrie es in ihm auf, und er preßte die geballte Faust auf
+den Mund, um den Schrei, der ihm über die Lippen trat, zu ersticken.
+Mit entsetzten Augen blickte er sich um, ob ihn ein Vorübergehender
+belauscht haben könnte. Wie erbärmlich, wie jämmerlich erbärmlich war
+das, was er erlebt hatte! Nicht heute nur, nein, nein, all die Tage,
+Wochen, Monate hindurch. Seine Augen wurden so unheimlich klarsehend.
+Hundert Einzelheiten traten vor seine geschärfte Phantasie, Dinge,
+die er hingenommen hatte, um die oft fadendünne Stimmung nicht zu
+zerreißen, Küsse, die er geküßt hatte, obwohl sein Geist noch zornig
+gewesen war über Oberflächlichkeiten und Unarten der Frau, die er —
+küßte. Ihr Diener, Gnädigste, Ihr Diener — —. Das war ja doch der immer
+wiederkehrende Endreim gewesen — er hatte den Diener gespielt!
+
+Er beschleunigte seinen Schritt. Er begann durch die Straßen zu laufen,
+um zu seiner Wohnung zu gelangen. Jeder Straßenköter, so glaubte er,
+müßte ihm doch die Rolle ansehen, die er in so beispielloser Überhebung
+verwechselt hatte.
+
+Jetzt stießen sie im Hause Kurfürstendamm klingend die Gläser zusammen.
+Jetzt brachte wohl die alte, diplomatisch geschulte Exzellenz den
+Trinkspruch auf das Brautpaar aus. Und hinten, in einer Ecke des
+Salons, kommentierte man tuschelnd seinen raschen Abgang. Er sah sie
+ganz deutlich, die Intimen des Hauses, wie sie lächelten, in stillem
+Mitleid, mit einem Stich ins Schadenfrohe. Keiner hatte ihn gemocht,
+und er keinen von ihnen! Des freute sich seine Seele noch in dieser
+Stunde. Nur Bettinas wegen hatte er sie ertragen, Bettinas wegen, die
+so lieb zu betteln, so feurig zu überreden, so lachend jede Einwendung
+zu verwischen wußte. Es dämmerte in den Straßen, und er war bei ihr.
+Und sie lehnte ihren biegsamen Körper an ihn und strich über sein Haar;
+und wenn er sie küssen wollte, bog sie den Kopf zurück; und wenn er
+sich beleidigt zurückziehen wollte, überfiel sie ihn mit ihren Küssen.
+Kein Denken und Wägen hielt stand. Denken und Wägen auf morgen! Er
+fühlte nur ihre süße Gestalt und ihre heißen Lippen ...
+
+Sein Gesicht verzerrte sich wie unter einem körperlichen Schmerz.
+Hatte er denn alle Würde verloren, daß er jetzt noch, nach dem soeben
+Erlebten, in Erinnerungen schwelgen konnte?
+
+O, o, gab er sich selbst die Antwort, das ist doch kein süßes
+Schwelgen, das ist ein ~bitteres~ Schwelgen, das ist der Haß, die Wut,
+der Ekel. Das ist die Ironie, lachte er auf, die Ironie meines Lebens.
+
+Und immer wieder redete er mit seinem eigenen Selbst und fand
+nicht Worte genug, um sich zu verwunden, zu demütigen und wieder
+aufzustacheln.
+
+Ein Fluchwort preßte sich hinterher. Es war das erste Mal, daß er
+fluchte. Und er meinte auch nur sich damit zu treffen. Wieder und
+wieder stieß er das Wort heraus, aber es wurde ihm nicht leichter zu
+Sinn.
+
+Heute würden sich die Gäste natürlich früher empfehlen. Nur der
+eine, der Prinz, würde noch einen Augenblick zögern, um einen
+Separatabschied zu nehmen. Dieser lächerlich wichtige, inferiore
+Dutzendprinz. Was er besessen hatte: Rennställe, Weiber, Hunde; was er
+nie besessen hatte: Witz und Verstand; was er noch besaß: Schulden und
+wieder Schulden — das war die Analyse. Es blieb kein Rest.
+
+»Herr des Himmels!« stieß Steinherr hervor, »weshalb beschimpfe ich den
+Mann?«
+
+Da war er schon wieder bei dem Bilde.
+
+Die Gäste waren gegangen; den Hut in der Hand, zögerte der Prinz. Jetzt
+führte er mit unnachahmlicher Grazie ihre Hand an die Lippen. »Wer
+war denn dieser unglaubliche Mensch, der sich so merkwürdig benehmen
+zu müssen glaubte?!« Und sie antwortete lächelnd: »Mein Gott, ein
+Dichter. Er legte heute schlechte Formen an den Tag. Wir werden sie ihm
+abgewöhnen. Nicht wahr, mein Georg? Gute Nacht ...«
+
+Dem hastig Einherschreitenden stand der Schweiß auf der Stirn. Er
+ballte die Finger zu Fäusten zusammen und renkte den Kopf, als ob
+ihm das Atmen Beschwerden machte. Das war doch Verrücktheit, glatte,
+blanke Verrücktheit, diese Selbstquälerei! Hier gab es doch nur eins:
+Verachtung! Aber das sprach sich nur leicht aus. Was würden die beiden
+Menschen nach seiner Verachtung fragen! Lachen würden sie über ihn!
+
+Er öffnete weit die Augen, aber er sah nichts, in sich und um sich, als
+eine Leere.
+
+Vermisse ich denn etwas? fragte er sich höhnisch. War denn überhaupt
+etwas vorhanden, was wert wäre, es auf der Straße ausklingeln zu
+lassen? Liebe? Die würde nicht toben und schimpfen. Für einen Groschen
+Ehrgeiz verloren gegangen, und in derselben Düte ein Rest schimmelig
+gewordene Vornehmheit!
+
+Er stand vor seiner Wohnung. Neun Uhr erst ... Wie werd’ ich den Abend
+herumbringen ...
+
+Dann ging er hinein, machte Licht und sah sich um; ganz scheu, als
+müßte er auch hier auf eine Überraschung gefaßt sein. Aber alles war
+unverändert. Und gerade dieses unveränderte Bild, das Tag für Tag das
+gleiche bleiben würde, während er sich selbst ein Fremder geworden
+war, ließ ihn das, was er vor einer Stunde aufgegeben hatte, wie einen
+unwiederbringlichen Verlust, in weit über alle Grenzen gehenden Maßen,
+erscheinen.
+
+Müde, zerschlagen, saß er in seinem Stuhl. Die Arme hingen schlaff über
+die Lehne.
+
+Was nun?
+
+Er lächelte ironisch.
+
+Was nun? Das hört sich ja an, als ob ich überhaupt schon etwas getan
+hätte. Ich hab’ dem Leben nichts genutzt, und das Leben hat mir nichts
+genutzt. Quitt! Wir haben uns beiderseitig nichts vorzuwerfen.
+
+Sein Blick fiel auf das der Wand zugekehrte Bild Bettinas.
+
+Langsam erhob er sich, nahm das Bild vom Schreibtisch und betrachtete
+es. Ganz bedächtig, ganz eingehend. Nun hatte er die Augen
+durchforscht, nun heftete sich sein Blick auf den Mund. Ein Zittern
+ging durch seine Hände, und es wurde stärker und stärker, bis er mit
+jähem Griff den Karton packte, um ihn zu durchreißen. Aber er tat es
+nicht. Er warf das Bild auf den Tisch und preßte die Lippen zusammen.
+Seine Augen brannten in einem trockenen, quälenden Schmerz. Wozu nur
+das alles? Wozu nur? Es war doch nirgend ein Zweck zu ersehen!
+
+Als er die Lampe niedriger schrauben wollte, fiel ihm auf dem
+Schreibtisch eine Karte ins Auge. Mechanisch nahm er sie auf und las.
+»Heinrich von Springe.«
+
+Und darunter stand: »Ich werde vor zehn Uhr noch einmal mein Glück
+versuchen.«
+
+Hans Steinherr legte die Karte auf den Tisch zurück.
+
+Das Glück versuchen? ... dachte er. Das wird wohl bei mir mehr als
+verlorene Liebesmüh’ sein. Das Glück versuchen!
+
+Im Halblicht saß er und erwartete den angekündigten Besuch. Wenige
+Minuten, und er hatte ihn vergessen. Nur seine Scham hatte er nicht
+vergessen, seinen beleidigten Stolz, seine beleidigte Männlichkeit. Das
+wogte und quirlte in seinem Kopf durcheinander, und er war dem Ansturm
+gegenüber willenlos. »Aus ist’s, aus, aus!« murmelte er immer wieder
+vor sich hin, und dennoch arbeitete er unablässig an neuen Plänen, um
+die gescheiterte Hoffnung zu reparieren. Es war ein Kampf in ihm, den
+er verachtete und den er gleichwohl mit jeder Fiber kämpfte. Um ein
+Phantom —.
+
+Es hatte an seine Tür geklopft. Nun klopfte es wieder, und die Tür
+öffnete sich. Ein Mann stand auf der Schwelle und spähte durch das
+Halbdunkel.
+
+»Hans —?« fragte eine Stimme, die ihm eigenartig vertraut vorkam.
+
+Er machte eine Bewegung, die seine Anwesenheit verriet. Da stand auch
+schon der Besucher vor ihm.
+
+»Hans, mein alter Junge, es ist lange her, daß wir uns nicht sahen.
+Deine Mutter läßt dich grüßen.«
+
+Er antwortete nicht. Nur die Hände hielt er fest, die ihm Springe
+entgegengestreckt hatte.
+
+»Hans, ist es dir immer noch nicht lieb, mich wiederzusehen? Ich denke,
+wir sind Männer geworden seitdem.«
+
+»Doch, doch. Entschuldige meine scheinbare Teilnahmlosigkeit. So nimm
+doch Platz!«
+
+Springe legte seinen Mantel ab, ging zum Tisch und ließ das Licht
+aufflammen.
+
+»Laß dich zunächst einmal anschauen,« sagte er ruhig. »Ob es der alte
+Hans ist.«
+
+Steinherr wehrte mit der Hand ab, aber Springe achtete nicht darauf. In
+Gedanken versunken, stand er vor dem einstigen Schützling.
+
+Der zwang sich zu einem Lachen.
+
+»Zufrieden mit der Musterung? Nicht ganz, wie ich merke. Ich bin nur
+ein bißchen alt geworden in der Einsamkeit. Aber sonst, sonst — —. Nun
+setz dich doch, und wenn es dich freut, will ich dir sagen: Es ist gut,
+daß du hier bist.«
+
+Springe zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm dicht gegenüber.
+Ihre Kniee berührten sich.
+
+»Hans, Hans,« sagte er herzlich.
+
+Der aber wurde unruhig und blickte an dem Gast vorbei.
+
+»Laß gut sein; wir wollen uns das Wiedersehen nicht mit alten
+Geschichten verkümmern.«
+
+Springe schüttelte nur den Kopf. Dann fragte er unvermittelt: »Hast
+du mich nötig, Hans? Kannst du mich brauchen? Was gehen uns alte
+Geschichten an, wenn neue dringendere zu erledigen sind? Leute wie wir
+geben sich die Hand und verstehen sich.«
+
+»Verzeihe. Mach’ ich in der Tat einen so niederschmetternden Eindruck?«
+
+»Ich möchte den Grund wissen.«
+
+»Ja, lieber Heinrich — ich darf dich wohl noch so nennen — den Grund
+möchte ich auch wissen. Nimm an, ich bin ohne Grund so, gänzlich ohne
+Grund. Das klingt dumm, aber es hilft weiter.«
+
+»Was das anbetrifft, wir haben Zeit.«
+
+»Das klingt aus deinem Munde allzu bescheiden. Du wirst Besseres zu
+tun haben, als dir über das Aussehen eines Menschen Kopfschmerzen
+zu machen, der selbst nicht einmal weiß, ob er Kopf genug hat, um
+Schmerzen zu fühlen.«
+
+Springe lehnte sich zurück und schwieg. Dann sagte er langsam: »In der
+Ironie hast du es jedenfalls weit gebracht.«
+
+»Ich hatte einen guten Lehrmeister,« erwiderte Steinherr lächelnd; »er
+hieß Heinrich von Springe und war in diesem Fach ein Meister. Bitte,
+verkleinere mir den Mann nicht, ich verdanke ihm viel.«
+
+»Der Mann muß ein Stümper gewesen sein, lieber Hans.«
+
+»Ich widerspreche einem verehrten Gast nicht gern, aber hier scheint
+es mir Pflicht. Pflicht oder Selbsterhaltungstrieb — wie du es nennen
+willst. So laß dir denn sagen, daß das, was aus seiner Lebensanschauung
+auf mich abgefärbt hat, das Beste war, was ich gewinnen konnte. Und das
+war just der ironische Gesichtswinkel.«
+
+»Trotzdem. Ich bleibe dabei, der Kerl war ein Stümper oder — du hast
+nicht ausgelernt.«
+
+»Ich habe, was ich brauche. Mehr wie seine Bedürfnisse kann man nicht
+befriedigen.«
+
+Springe sah ihm fest in die Augen.
+
+»Was nutzt dich die Ironie allein? Die ist wie ein Zwilling, der ohne
+den anderen Zwilling nicht leben und nicht sterben kann. Nörgelnde
+Grämlichkeit statt scharfer Lebenslust. O ja, die Ironie hast du
+erlernt. Nur eins, das Lachen, das rheinische Lachen hast du nicht
+gelernt, noch nicht gelernt; und das gehört dazu wie der Klöppel zur
+Glocke. Es wird Zeit, mein Sohn; lern das Lachen!«
+
+Hans Steinherr erhob sich rasch. Das war das Wort, das ihm gefehlt
+hatte. Das Lachen, das Lachen! Das gekonnt haben, vor ein paar Stunden,
+so recht aus Herzensgrund, so recht befreiend und alles reinfegend —
+das Lachen ... damit hätte er gesiegt, über sich, über die anderen,
+über die Situation. Weshalb hatte er nicht lachen gekonnt!
+
+Der Aufruhr in ihm, der sich eine kleine Weile gelegt hatte, brach
+mit erneuter Gewalt los. Durch seinen Kopf schossen blitzschnell die
+Bilder: das tödlich beleidigte und doch jäh erschrockene Gesicht
+Bettinas, wenn er ihre Eröffnungen mit einem schallenden Gelächter
+entgegengenommen hätte, wenn er sich mit lautem, humorvollem Lachen
+auf dem Absatz umgedreht hätte und lachend ohne weiteres zur Tür
+gegangen wäre. Das würde ihr einen anderen Respekt vor der Art
+seiner Persönlichkeit beigebracht haben, als die hohen Worte seiner
+Liebesmoral. Das würde sie zusammengeschüttelt und aufgerüttelt haben
+mit Fäusten, und bevor er aus dem Zimmer gewesen wäre, hätte sie
+widerspruchslos sich und ihre Welt der Kraft seines Lachens anvertraut.
+
+Er stand am Fenster und hielt das Holz der Fensterschwelle gepackt,
+um den Sturm abzulenken. Weshalb war der Mann nicht gestern gekommen,
+ihn an heimische Art zu mahnen! Dieser Mann, der ihm schon einmal den
+rechten Weg gezeigt hatte, den Weg zur Jugend. Langsam kam er durch das
+Zimmer zurück. Er hatte wohl doch noch einiges nachzuholen.
+
+»Heinrich,« sagte er, »ich habe dich vorhin nicht einmal ordentlich
+begrüßt. Das möchte ich jetzt. Es hat vieles zwischen uns gestanden,
+was nur in meiner Einbildung existierte und längst beschämt verflogen
+ist. Aber du hast recht. Leute wie wir geben sich die Hand und
+verstehen sich. Ich werde dich nicht mit Sentimentalitäten langweilen.
+Wie geht es meiner Mutter?«
+
+»Sie hat sich in den Kopf gesetzt, nicht älter zu werden.«
+
+»Ihr seid sehr glücklich miteinander?«
+
+»Glücklich? Das Wort kann ich nicht mehr definieren. Es wird wohl bei
+uns der Normalzustand so bezeichnet werden müssen. Lieb haben wir uns
+wie die Kindsköpfe.«
+
+Er faßte den Jüngeren beim Schopf.
+
+»So, nun komm mal her. Deine Mutter hat mir aufgetragen, dir sofort,
+wenn ich dich zu fassen kriegte, einen Kuß von ihr zu applizieren. Da
+hast du ihn.«
+
+»Du hast dich in den fünf Jahren nicht verändert — —. Und Herr
+Friedrich Leopold?«
+
+»Adrett wie ein Zwanzigjähriger, der sich vorgenommen hat, hundert zu
+werden. Bleiben ihm nach seiner Rechnung also noch gutgezählte achtzig
+Jahre zur Verfügung.«
+
+»Und — und Frau Stahl?«
+
+»Stellt lebende Bilder.«
+
+»Du, drück dich klarer aus! Lebende Bilder?«
+
+»Ganz richtig. Mit Herrn Friedrich Leopold gemeinsam. Philemon und
+Baucis und sonstiges aus der Geschichte berühmter alter Liebespaare.
+Ein paarmal wollt’ ich schon den Kaplan holen, um dem Geseufz’ ein Ende
+zu machen.«
+
+»Sie führt ihm die Wirtschaft, wie mir Mutter schrieb?«
+
+»Die Wohnung liegt auf der anderen Seite des Korridors, in derselben
+Etage mit der unseren; genannt: die Toggenburg. ›Ritter, treue
+Schwesterliebe widmet euch dies Herz ...‹ und so weiter. O, die beiden
+sind klassisch gebildet und handeln ganz ihrer Bildung gemäß.«
+
+»Da wären wir glücklich bei der Liebe,« meinte Hans mit einem Versuch,
+zu scherzen.
+
+»O bitte, frag nur.«
+
+»Heinrich!«
+
+»Nun? Was denn? Sollte ich dich falsch verstanden haben? Ich dachte, du
+hättest dich nach deiner Jugendliebe erkundigen wollen.«
+
+Hans blickte unbeweglich vor sich hin.
+
+Wie schmal der Junge geworden war.
+
+»Wie geht es Hannes ...«
+
+»Ach, mein Jung’, die steckt uns noch alle eines Tages in ihre
+Kleidertasche.«
+
+»Sie muß jetzt sehr groß geworden sein ...«
+
+»Groß? In jeder Beziehung. Als herangewachsenes Menschenkind und als
+Künstlerin. Wenn sich Größe nach dem Einkommen bemessen läßt, ist sie
+jedenfalls größer als ich.«
+
+Er lachte behaglich in sich hinein, als freute er sich, daß das Mädel
+ihn überholt habe.
+
+»Du hast sie heute singen gehört ... In der Philharmonie ... Hüsgen
+sagte es mir.«
+
+»Ja, heute hab’ ich zum ersten Male erfahren, was Singen ist. Um und um
+wird man von der Stimme gekehrt. Noch so verstockt kann man sein, die
+Stimme lockert das ganze steinige Erdreich auf und bringt Triebe in dir
+zum Blühen, Triebe sag’ ich dir, von denen du selbst keine Ahnung mehr
+hattest. Man möchte heulen über sich selbst, aus purer Wonne, welch
+ein guter Kerl man doch im Grunde ist. Und das macht alles der Hannes.
+Jedem Wort gibt sie Leben, ganz schlicht, ganz natürlich, aber mit
+einer Tiefe — das ist überhaupt nicht zu erzählen. Einfach hören mußt
+du sie, und wenn du sie nebenbei ansiehst, zerstört dir das auch die
+Illusionen nicht. Das war eine Sonntagslaune vom lieben Gott, als er
+das Mädel schuf.«
+
+»So,« sagte Hans; und dann wiederholte er: »So — so —«
+
+Dann schwiegen sie beide, bis Hans, aus seinen Gedanken auffahrend,
+hastig den Faden wieder aufnahm. »Weshalb bist du denn nicht bei ihr?
+Das Konzert muß doch längst vorüber sein?«
+
+»Sie ist zum Künstlersouper gequält worden. Und da ich ihr mitteilte,
+daß ich noch zu dir wollte —«
+
+»Das hast du ihr gesagt?«
+
+»Aber weshalb denn nicht? Sie hat mir außerdem Grüße an dich
+aufgetragen.«
+
+»Der Hannes — —,« nickte Steinherr und lächelte abwesend vor sich hin.
+»Bitte, du wolltest weiterreden ...«
+
+»Kurz, sie hat zum Souper zugesagt unter der Bedingung, daß man sie
+um elf Uhr gehen ließe. Um elf Uhr hat sie nämlich im Hotel ein
+Rendezvous.«
+
+Hans Steinherr blickte überrascht auf, und Springe amüsierte sich.
+»Mit Onkel Springe nämlich. Der ›Onkel‹, das bin ich. Na, von so süßen
+Lippen läßt man sich das Prädikat schon gefallen. Auf elf Uhr also bin
+ich im Hotel Kaiserhof auf eine Tasse Tee befohlen. Du gehst natürlich
+mit.«
+
+»Ich — —? Ich glaube, du überschreitest da gehörig deine Onkelgewalt.«
+
+»Aber so sperr dich doch nicht. Wir bilden doch sozusagen eine Familie.
+Du wirst es ja erleben, was für freudige Augen sie macht, ihren alten
+Kameraden wiederzusehen. Junge, Junge, ich fürchte, du taxierst unseren
+Hannes falsch.«
+
+Hans Steinherr saß, die gefalteten Hände im Schoß, und blickte auf
+einen Punkt. Wie eine weiche Welle floß es über ihn hinweg. Als ob er
+krank sei, und weiche, kühle Hände legten sich auf seine heiße Stirn.
+»Ich möchte sie wiedersehen,« sagte er wie zu sich selbst. Er hatte
+Heimweh.
+
+»Was ist das nur?« fuhr er empor und ging zur Tür. »Es klingelt in
+einem fort.«
+
+An der Korridortür traf er den Hausverwalter.
+
+»Ein Brief für Sie, Herr Doktor. Das Haustor war schon verschlossen,
+aber ich hab’ dem Boten noch geöffnet.«
+
+Hans Steinherr gab dem Mann ein Trinkgeld und kehrte ins Zimmer
+zurück. Beim ersten Blick auf das Papier erkannte er Bettinas steile
+Schriftzüge. Seine Hände flogen, daß das Papier knatterte. Dann nahm er
+sich mit Macht zusammen.
+
+»Entschuldige,« sagte er, »ein eiliger Brief, wie es scheint.«
+
+Springe nickte. Aber mit gespannten Blicken verfolgte er jede der
+nervösen Bewegungen.
+
+Hans riß das Kuvert auf. Es enthielt nur eine Visitenkarte Bettinas.
+Unter dem Namen stand in eiligen Zügen: »Ich erwarte dich aufs
+bestimmteste morgen früh elf Uhr.«
+
+Dreimal, viermal, immer wieder las Hans die wenigen Worte. Als er
+endlich den Arm sinken ließ, sah er farblos und um Jahre gealtert aus.
+Das Blatt fiel auf den Tisch. Es war ganz still im Zimmer.
+
+Den starkgemuten rheinischen Maler packte ein Grauen vor dieser
+künstlichen Ruhe. Er war gewohnt, den Dingen ins Auge zu sehen. Aber
+hier war ein unsichtbarer Feind. Gleich beim Eintritt ins Zimmer hatte
+er es an der apathischen Müdigkeit des jungen Freundes gespürt, und
+nun, da er ihn durch unverfälschten Heimatsodem verscheucht zu haben
+glaubte, kam er wieder. Den Zustand ertrug er nicht. Zustände waren für
+alte Weiber.
+
+»Hast du schlechte Nachrichten, Hans?«
+
+Der hörte gar nicht.
+
+Da nahm Springe das Blatt vom Tisch auf und las es.
+
+»Hans!«
+
+»Wie meinst du?«
+
+»Was will die Frau von dir?«
+
+»Du siehst ja. Sie wünscht, ich soll zu ihr kommen. Also — werde ich —
+hingehen.«
+
+»Du sagst das in einem Ton, als ob dich das Hingehen Überwindung
+kostete.«
+
+»Überwindung —? Ich — ich spreche in einem Ton —? Du — wie war das doch
+noch mit — mit dem Lachen? Weißt du, mit dem Lachen, das ich nicht
+gelernt haben sollte. Man — ganz recht — man muß nur alles humoristisch
+nehmen.«
+
+»Wenn du kein Vertrauen zu mir hast, laß uns gehen.«
+
+»Gehen? Wohin?«
+
+»Zu Hannes. Sie wird uns längst schon erwarten. Es ist halb zwölf.«
+
+»Es geht nicht, Heinrich. Ich kann, leider, nicht mehr mit. Morgen —
+vielleicht.«
+
+Springe trat dicht vor ihn hin. Er zwang den anderen, ihn anzusehen.
+
+»Und weshalb kannst du nicht mehr mit? Den Mut, mir das zu sagen, wirst
+du doch nicht verloren haben?«
+
+Hans Steinherr hielt den Blick aus. Und ohne sich zu bedenken,
+antwortete er dem einstigen Mentor: »Wenn ich morgen zu dieser Frau
+gehe, kann ich heute nicht mit Johanna zusammen sein.«
+
+»Der Dame wegen oder Johannas wegen?«
+
+»Johannas wegen.«
+
+Sie blickten sich noch immer voll in die Augen. Dann sagte Springe
+kalt: »Also gedenkst du etwas zu tun, was eines Hans Steinherr unwürdig
+ist.«
+
+»Heinrich!«
+
+»Ich wiederhole es, wenn du es wünschest. O, ich bin kein Sittenrichter
+und Tugendbold. Du könntest ja die Frau lieb haben und sie dich, und
+Hindernisse könnten euch im Wege stehen. Wer wollte euch deshalb
+verdammen! Vielleicht ist die Dame verheiratet. Wir sind alle Menschen,
+und auf die Kraft und Reinheit unserer Empfindungen kommt es an.«
+
+»Nein, sie ist nicht verheiratet. Noch nicht. Obwohl sie es früher war.«
+
+»Mit anderen Worten: sie ist Witwe und aufs neue verlobt. Hab’ ich
+recht?«
+
+»Verlobt. Seit heute abend. Ich wußte nichts davon, mein Wort darauf.«
+
+»Du wurdest also getäuscht? Herrgott, so sprich doch! Ich seh’ es dir
+ja an, daß du auf dem toten Punkt bist, daß es dich drängt, irgend
+etwas herauszuschreien. So schrei doch! Ich bin wie eine Felswand, die
+das Echo nur einmal hergibt, und sicher nicht an Unberufene. Soll ich
+dir helfen? Soll ich dich zum Widerspruch reizen? Nun gut, selbst auf
+~die~ Gefahr hin: Hans Steinherr, dem einst das ~beste~ Mädchen nicht
+gut genug war, steht im Begriff, sich für die ~schlechteste~ Frau
+zum Spielzeug zu degradieren. O, o! Wir wollen hier keinen Ringkampf
+aufführen. Sag mir ins Gesicht, daß ich lüge ...«
+
+Steinherr ließ die erhobenen Arme sinken. Er murmelte unverständliche
+Worte.
+
+»Verteidige dich nicht und sie nicht. Sie vor allen Dingen nicht. Wenn
+eine Frau in der Stunde ihrer Verlobung an einen anderen schreibt, ja
+nur an einen anderen denkt — weißt du, ich möchte das Wort für mich
+behalten. Ich habe zu viel Respekt vor der Weiblichkeit im allgemeinen.
+Hans, was ist dir?«
+
+Steinherr hatte sich an der Tischkante halten müssen. Es kreiste ihm
+vor den Augen.
+
+»Junge, komm zu dir! Vielleicht hab’ ich eine Dummheit gemacht;
+vielleicht liegen hier die Dinge so besonders, daß ich das Kind mit dem
+Bade ausgeschüttet habe. Du, hör mich! Wenn ich auch beinahe dein Vater
+bin, du sollst mich bei den Ohren nehmen dürfen, und ich will nicht
+mucksen.«
+
+Hans Steinherr richtete sich auf. Er strich sich mit der Hand über die
+Stirn und sah sich um.
+
+»Ich vertrottele wohl nächstens noch. Laß nur ruhig deine handfesten
+Sprüche auf mich los. Vielleicht findet sich noch eine anständige
+Stelle an mir, an der das eine oder andere haften bleibt. Die Hoffnung
+ist zwar nicht groß.«
+
+Da trat Springe mit raschem Schritt auf ihn zu, schlang seine Arme um
+ihn und drückt den Kopf des jungen Freundes fest an seine Brust. »So,
+nun heul dich aus, ich sag’s keinem wieder.«
+
+Und nach einer Weile: »Ach, ich glaub’s ja gar nicht, daß du dich
+verloren hast. Irgend eine Dickköpfigkeit, aber keine Preisgabe des
+innersten Menschen. Nur rede — das erleichtert. Ich bin ja nun doch
+einmal dein approbierter Vertrauter. Denk an den Tag, an dem du mir
+Hannes brachtest.«
+
+Aber Hans gab keine Antwort mehr. Ein plötzlicher Schüttelfrost hatte
+ihn gepackt.
+
+»Komm, mein Junge, ich geleite dich in deine Klappe. Du hast eine
+Erkältung in allen Knochen und gehörst sofort ins Bett. Morgen sprechen
+wir weiter. Rheinland läßt sich nicht unterkriegen.«
+
+Er führte ihn, der wie ein Schwerkranker taumelte, behutsam ins
+Schlafzimmer und war ihm behilflich. Dann ließ er sich die Schlüssel
+anweisen. »Ich bringe sie dir morgen gegen Mittag zurück. Deine Hand
+darauf, daß du inzwischen die Dame nicht wiedersiehst. Heraus mit dem
+rheinischen Stolz!«
+
+Als er durch den Salon zurückschritt, sah er das Bild Bettinas liegen.
+Er nahm es auf und betrachtete es lange, mit Künstleraugen.
+
+»Den guten Geschmack verleugnet der Bengel nie,« knurrte er. »Pfui
+Deubel, wie schön!«
+
+Mitternacht war vorüber, als er im Hotel ankam. Hannes saß noch in dem
+kleinen, separierten Teezimmer und wartete. Und wieder ließ Springe
+seine Künstleraugen blitzen. Das war doch ein anderes Bild.
+
+Die schlanke Gestalt mit den hochgeschwungenen, festen Formen, das
+kühne, intelligente Köpfchen, auf dem die rotblonden Flechten wie ein
+Kranz aus purpurnem Weinlaub lagen, und die tiefen, stillen Augen von
+der Farbe des blauen Bergsees — das war echt germanisches Blut, so heiß
+wie keusch, so treu wie furchtlos.
+
+»Guten Abend, Hannes!«
+
+»Guten Abend, Onkel Springe!«
+
+»Kleines Liebchen, willst du mir einen großen Gefallen tun?«
+
+»Aber natürlich. Mach’s nicht so feierlich, du erschreckst mich sonst.«
+
+»Dich erschreckt schon nichts. Also: geh schlafen. Darum wollt’ ich
+dich bitten. Und morgen frühzeitig auf. Dann wollen wir lange plaudern.«
+
+Sie erhob sich und kam auf ihn zu.
+
+»Ist Hans krank? Ist etwas mit ihm geschehen? Als du nicht pünktlich
+warst, wußt’ ich es.«
+
+Er legte den Arm um ihre Schulter.
+
+»Welch ein feinkorrespondierendes Empfinden — —. Wenn ich dir die
+Wahrheit sage, wirst du sie mir auch sagen?«
+
+»Ja, ja,« drängte sie, »das solltest du wissen. Ich kann nicht lügen.«
+
+»Hans ist drauf und dran, über Bord zu gehen. Aber wir werden das nicht
+zulassen, wir nicht, gelt, du? Und nun, gerad’ heraus: Hast du ihn noch
+lieb?«
+
+»Ja, Onkel Springe, ich hab’ ihn so lieb wie früher.«
+
+»Gute Nacht, mein tapferes Mädel. Auf morgen!«
+
+Als sie in der Tür war, nickte sie ihm nochmals lächelnd zu; als müßte
+sie ihm, dem Manne, Mut einflößen. — —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+
+Erst spät in der Nacht war Hannes eingeschlafen, und als sie erwachte,
+war es noch nicht sieben Uhr. Ihre Gedanken setzten sofort dort wieder
+ein, wo die Ermüdung sie unterbrochen hatte: bei Hans.
+
+Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag sie ganz still, mit
+weitgeöffneten Augen.
+
+Hans ... Wie oft hatte sie das Wort vor sich hin gesprochen, in all den
+Jahren des heißen Mühens und Studierens, der ersten, angsterfüllten
+Versuche und der großen, stolzen Siege in ihrer Kunst. Er wußte es ja
+nicht. Er wußte ja nicht, daß sie ihm alles verdankte, den ganzen,
+reichen Inhalt ihres Lebens. Er hatte die Liebe in ihr wachgeküßt,
+und die Liebe hatte den Ehrgeiz der vornehmen Seele geweckt, es dem
+Geliebten gleich zu tun an Wissenseifer, und den Drang nach der
+Schönheit der Form. Dann hatte er den ersten, gewaltigen Schmerz in
+sie hineingetragen, und der Schmerz hatte den großen Stolz gezeitigt,
+zu zeigen, daß es für den Mann kein Herabsteigen gewesen wäre zur
+unlösbaren Verkettung von Seel’ und Leib.
+
+Ein leises, liebes Lächeln glitt um ihren Mund. Hans — — —.
+
+Die Wunden, die sie bei dem jähen Abschied davongetragen, waren
+längst verharrscht. Und im Laufe der Jahre waren die Narben immer
+glatter, immer feiner geworden. Wenn sie in stillen Nächten, in denen
+sie heimdachte, mit gleitendem Finger danach tastete, fand sie kaum
+noch die Spuren. Dann dehnte sie den jungen, gestählten Körper und
+spürte in ihm statt Wunden und Schmerzen das Wunder der Frauenkraft.
+Eines Tages — o, eines Tages würde er sie nötig haben, wie den Duft
+der Heimatscholle, den kein Sohn des Niederrheins auf immer zu missen
+vermochte, der zu den Treuen im Lande zählte. Sie glaubte fest an
+diesen Zug der Heimat. Warte nur, über ein kleines ...!
+
+Sie hatte gewartet, und das Warten war ihr nicht sauer geworden.
+Alle Energien in ihr waren frei geworden und, von einem zähen Willen
+geleitet, den Weg gegangen, den ihr erst der Trotz und dann in
+seltsamer Wandlung das erwachte Gefühl der Persönlichkeit gewiesen
+hatte. Mit geklärtem Auge schaute sie mehr und mehr in alle Dinge
+und ihre Beweggründe hinein, und wenn sie auf eine unbefriedigte
+Ehe traf, sah sie die Verschiebung der einst harmonierenden Motive
+nicht so sehr in äußerlichen Ablenkungen, als in dem rein innerlichen
+Umstand, daß die Frau am Tage der Hochzeit mit der straffen, geistigen
+Erziehung abzuschließen pflegte, während für den Mann jetzt erst die
+Weiterentwicklung und mit ihr die geistigen Kämpfe begannen. Fand er
+auf die Dauer kein mitgehendes Verständnis, fand er in ihr, in der er
+eine Kameradin erhofft hatte, immer wieder nur das launenhafte Kind,
+kaum auf einer höheren Warte stehend als die Kinder, die sie geboren
+hatte und die sie zu stolzen, starken Menschen erziehen sollte, fand
+er in ihr nie und nimmer anderes als das Evageschöpfchen, das »um
+seiner selbst willen« geliebt sein wollte — was Wunder, daß die Kluft
+breiter und breiter wurde und eine der Seelen frierend am Ufer stand.
+
+Das war dem jungen, im Dunkel seines ersten Liebeswehs umherirrenden
+Mädchen wie eine Erleuchtung gekommen: eine Frau muß dem Manne, auch
+nach dem Rausch des Lenzes, ebenbürtig bleiben; nicht in der Fülle des
+Wissens, aber in der Fülle des Verständnisses. Dann hat sie ein Recht
+auf ihn, als sein wahrhaftiger Zeltgenosse, der Kampf und Sieg mit ihm
+teilt, beides wie ein gleichwertiges; nicht als seine hübsche Magd, der
+er für ein Lächeln ein Armband mit heimbringt.
+
+Darauf war ihr Streben gerichtet gewesen. Sollte der Tag kommen — auf
+alle Fälle, sie wollte bereit sein.
+
+Der Tag war nicht gekommen. Ihn mit kleinen Künsten herbeizuführen, lag
+in ihrem Wesen nicht.
+
+Die Reihe war an ihm, dem Manne — und sie wartete, und wenn sie
+vergeblich warten sollte. Heute stand sie ihm nicht mehr nach, weder in
+der Kunst, noch im Leben.
+
+Der selbstbewußte Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens schwand
+plötzlich hin, eine Unruhe trat in ihre Augen. Sie zog die Arme unter
+dem Kopfe fort und saß aufrecht da.
+
+Was hatte Onkel Springe gestern abend gesagt? Was war mit Hans?
+
+»Er ist drauf und dran, über Bord zu gehen — —«
+
+Noch einen Moment ließ sie die Worte in ihren Ohren tönen und hämmern.
+Dann war sie mit einem Sprunge aus dem Bett und kleidete sich an.
+»Oho,« murmelte sie vor sich hin, während sie die Haken ihres
+Promenadenkleides schloß, »oho!« Sie wußte nicht, war es eine Drohung,
+war es, um sich selbst Mut zu machen. Noch war ihr ja gänzlich fremd,
+in welcher Lage, in welcher Bedrängnis Hans eigentlich stak. Aber die
+Gewißheit, daß es eine Bedrängnis war, genügte, um sie vergessen zu
+machen, daß — die Reihe an ihm sein sollte, zu ihr zu kommen; und all
+die mütterlichen Eigenschaften, die unbewußt im Weibe ruhen, waren in
+ihr ausgelöst.
+
+Sie klingelte dem Zimmermädchen.
+
+»Sehen Sie doch sofort nach, ob Herr von Springe schon sein Zimmer
+verlassen hat. Sonst lassen Sie ihn wecken.«
+
+Heinrich Springe erwartete seinen Bundesgenossen bereits im
+Frühstückszimmer. Sie ließen sich an einem separaten Tisch servieren
+und saßen allein.
+
+»Guten Morgen, meine Lerche!«
+
+Sie legte den Arm um seinen Hals und ihre weichen Lippen auf seinen
+Mund.
+
+»Töchterchen,« sagte er zärtlich und streichelte ihr Gesicht und ihr
+Haar ... »Dort kommt der Kellner. Jetzt heißt es zulangen. Ein Mensch,
+der ein ordentliches Frühstück im Magen hat, hat schon halb gewonnen.
+In diesem Sinne los, Hannes! Wer die beste Klinge schlägt!«
+
+Da hielt sie wacker mit.
+
+»Wunderst du dich nicht, daß ich dir gar keine Komplimente über dein
+Singen mache?« fragte er nach einer Weile. »Du mußt mich unbedingt für
+einen Barbaren halten. Gelt, das ist die Meinung?«
+
+»Onkel Springe! Wer ist denn musikalischer als du?!«
+
+»Für den Hausgebrauch, Kind. Die musikalischen Schwingungen muß jeder
+Künstler in sich verspüren, ob Maler, Dichter oder Klavizimbelspieler.
+Aber sieh mal, Mädel, da reise ich geschlagene acht Stunden mit dem
+Kurierzug, um dich nach Jahren wiederzuhören, und als es geschehen ist,
+bleibe ich stumm.«
+
+Sie streichelte seine Hand und sah ihn schelmisch von der Seite an. »Du
+wolltest wohl erst die Kritiken in den Morgenblättern lesen?«
+
+»Schlauberger!« lachte er. »Übrigens ist das bereits auch geschehen.
+Die Herren Musikkritiker verstehen zwar durch die Bank mehr von
+Instrumentalmusik als von einer Stimme, aber diesmal haben sie sich
+denn doch zu ~einem~ schönen Jubelchor vereinigt. Mein Mädel hat es
+ihnen angetan, mußte es ihnen ja antun; mir hattest du es ja auch
+angetan, daß ich den unbezwinglichen Drang verspürte, alle Menschen
+teilnehmen zu lassen, irgend eine gute Tat zu tun, und da bin ich
+spornstreichs zum Hans gelaufen.«
+
+Damit war das Wort gefallen. Die beiden sahen sich ernst an.
+
+»Eine Frau ist im Spiel,« sagte Springe kurz.
+
+»Liebt er sie — —?«
+
+»Wenn’s das wäre! Gelt, Mädel, dann würden wir uns bescheiden. Aber das
+ist es eben nicht. Es ist schlimmer. Er ist mit seinen Sinnen, seinem
+Hochmut, seiner Eitelkeit engagiert. Das ist ein böses Trisolium für
+einen Mann, der gewohnt ist, alles von sich selbst aus zu beurteilen
+und sich in jeder Situation zu bespiegeln. Die Coeur-Dame aber hat
+ebenfalls ihren Ehrgeiz für sich. Sie möchte außer einem Gatten von
+Rang und Würden auch noch einen Mantelträger — hm, anders kann ich dir
+das nicht erklären — und für dies ehrenvolle Pöstchen hat sie in ihrer
+großen Güte Hans ausersehen.«
+
+»Und Hans — und Hans?«
+
+»Ist aus allen seinen Himmeln gestürzt. Ich habe die feste Gewißheit,
+daß er sie nicht liebt, so, weißt du, Kind, wie wir das Wort
+verstehen, mit dem Ewigkeitsbegriff. Aber er ist im Lauf der Jahre
+ein armer, einsamer Mensch geworden, und todmüde. Da kommt nun eine
+schöne Frau des Wegs — sagen wir: die gefeiertste Weltdame — und da
+der verschlossene Sonderling für sie Nouveauté ist, beginnt sie zur
+Kurzweil das Spiel. Der Mann, der schon auf alle Freuden des Lebens
+verzichtet hat, traut seinen Augen nicht, zögert, alte Erinnerungen
+werden in ihm lebendig, und, teils aus Haß, teils aus Gier, noch
+einmal seine Kräfte zu erproben — er greift zu. Wenn ein Todkranker
+sich an etwas anklammert, mein Kind, dann fragt er nicht viel nach den
+Qualitäten, dann redet nur noch sein Egoismus, denn er weiß, es ist das
+letzte Mal ...«
+
+Springe sann nach. In seinem Geiste sah er, wie Bild für Bild sich
+entwickelt hatte.
+
+»Die schöne Frau aber,« fuhr er mit ironischer Betonung fort, »hatte
+bereits andere Pläne, auf die sie nicht verzichten wollte. Und da
+ihr unterdes Hans unentbehrlich geworden war, als Troubadour, so
+wirkte sie mit verdoppeltem Nachdruck auf seine Sinne, um ihn für das
+vorbehaltene Pöstchen des Schleppenträgers gefügig zu machen. Gestern
+abend erfolgte die Erklärung, und der überrumpelte Hans warf dennoch im
+ersten Ansturm den Bettel über den Haufen.«
+
+»Ah — —« stieß die Zuhörerin hervor, und über ihr blaß gewordenes
+Gesicht huschte eine Röte.
+
+»Das muß der Frau wohl imponiert haben. Möglich auch, daß sie darauf
+vorbereitet war, den Mann erst ein bißchen der Raserei überlassen
+wollte, um sich dann über den Niedergebrochenen gnädig zu neigen,
+überzeugt, daß er nun für ein Glück halten werde, was ihm zuvor das
+Anfassen nicht wert schien. Als ich gestern bei Hans war und meine
+Plaudereien aus der Heimat ihn still und in sich gekehrt gemacht
+hatten, platzte in die frommste Stimmung ein =billet de diable= hinein.
+Und die schönste Explosion war fertig.
+
+Ich halte im allgemeinen nichts von sogenannten Schickungen. Das sind
+Eselsbrücken für Faulpelze, die nicht fest zupacken wollen. Aber als in
+diesem Augenblick bei Hans just eine schwere Erkältung zum Durchbruch
+kommen mußte, Schüttelfrost, Fieber, Kopfschmerz, na, Kleine, da
+hab’ ich für das eine Mal die Segel gestrichen und die ›Schickung‹
+akzeptiert. Auf vierundzwanzig Stunden mindestens liegt er in der
+Klappe. Gottlob! Mit einem feudalen Husten und Schnupfen kann man weder
+den Othello, noch den Romeo agieren.«
+
+»Onkel Springe,« bat sie leise, »sei doch ernsthaft!«
+
+»Ich war nie ernsthafter als jetzt. Als ich gestern nacht vor dem
+Schlafengehen noch für einen Moment in das Café des Kaiserhofs trat,
+traf ich Herrn Willibald Hüsgen, der Hans bei uns vermutete und ihm
+auflauern wollte, um sich für den ›genußreichen Abend‹ im Hause Frau
+Bettina Wittelsbachs zu bedanken. Hans hatte ihn auf seine Quälereien
+hin dort eingeführt. Herr Willibald war ebenso konfus wie wütend,
+scheint sich aber einen gut rheinischen Abgang gemacht zu haben. Von
+ihm hörte ich, daß der bevorzugte Bräutigam ein kleiner, wenn auch
+etwas abgetakelter Prinz ist. Verstehst du jetzt? Und hier ist das
+Billett, das Hans gestern nach dem intimen Verlobungszirkel noch
+erhielt. Ich habe es eingesteckt.«
+
+Er legte die Karte Bettinas auf den Tisch, und Hannes las. Dann lehnte
+sie sich schweigend zurück, aber in ihren Augen und um ihren Mund stand
+ein Zug fester Entschlossenheit.
+
+»Nun —?« fragte Springe. »Jetzt gilt’s, den Kriegsplan entwerfen,
+Kleine.«
+
+»Ich werde zu der Dame hingehen.«
+
+»Was — —? Du — —?«
+
+»Jawohl, ich. Es muß doch auf der Stelle etwas geschehen. O nein, nicht
+meinetwegen.«
+
+»Aber, Mädel, alter, tapferer Hannes, was willst du denn dort?«
+
+»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich ihr gegenüberstehe, werd’ ich es
+wissen.«
+
+Springe schwieg. Dann nahm er Hannes’ Hände.
+
+»Hör mich mal an. Ich weiß mit Frauenzimmern schlecht Bescheid, oder
+sie müßten sein wie Frau Margot, du und Mutter Stahl. Düsseldorfer
+Auslese. Aber daß ~du~ zu der Dame hingehst, das duld’ ich nicht.
+Wenigstens jetzt noch nicht. Du bist ein junges Mädchen, und ich ein
+gesetzter Mann, wenn’s auch keiner glaubt. Folglich — werde ~ich~
+hingehen. Das war auch meine Absicht.«
+
+»Onkel Springe, dir werden deine Kavaliertugenden im Wege stehen.«
+
+»Ja, Kind, um mich dort herumzuprügeln, geh’ ich auch nicht hin.«
+
+Nun mußte sie doch lächeln, trotz ihrer schweren Stimmung.
+
+»So meinte ich es nicht. Aber gewisse Dinge können sich nur Frauen
+sagen. Und wenn du nichts erreichst?«
+
+»Dann, ja dann soll die Reihe an dir sein. Abgemacht!«
+
+Sie erhoben sich und unternahmen einen Spaziergang, über die Linden,
+durch das Brandenburger Tor und den Tiergarten. Das Thema wurde nicht
+weiter berührt. Sie waren beide wortkarg geworden.
+
+Als es gegen elf Uhr ging, verabredeten sie, da das Wetter heiter war,
+eine Rendezvousstelle am westlichen Ausgang des Tiergartens. Springe
+nahm einen Wagen und fuhr zum Kurfürstendamm. Dem Hausmädchen, welches
+ihm die Korridortür öffnete, gab er seine Karte und trug ihm auf, der
+gnädigen Frau zu bestellen, daß er eine Mitteilung von Herrn Doktor
+Steinherr zu überbringen habe. Wenige Minuten darauf stand er im
+Empfangssalon Bettina gegenüber.
+
+Sie sah etwas abgespannt aus, aber gerade der matte Flor um die Augen
+verstärkte den pikanten Reiz.
+
+»Meine gnädige Frau,« sagte er mit tiefer Verbeugung, »ich erbitte Ihre
+Verzeihung, daß ich so gänzlich ungerufen —«
+
+»O,« erwiderte sie lächelnd, »die Freunde des Herrn Doktor Steinherr
+sind auch meine Freunde.«
+
+»Ich werde mir diesen Vorzug zu eigen machen.«
+
+Sie zog einen Moment die Augenbrauen hoch; dann wies sie lässig auf
+einen Sessel. »Sie ließen mich wissen, daß ein Auftrag des Herrn Doktor
+Sie zu mir führe ...«
+
+»Ein Auftrag? Pardon, nein. Das ist ein Mißverständnis. Lediglich ein
+Mitteilungsbedürfnis trieb mich her.«
+
+Eine Pause trat ein. Frau Bettina war auf der Stelle orientiert. Und
+diese Pause benutzten sie beide, um sich schweigend zu beobachten. Dann
+sagte die Dame des Hauses kalt: »Jetzt ist es an mir, Ihre Verzeihung
+zu erbitten. Aber ich erwarte in dieser Minute noch Besuch.«
+
+Heinrich von Springe verneigte sich, aber er blieb sitzen. »Der
+Besucher, meine gnädige Frau, ist leider durch eine heimtückische
+Krankheit ans Bett gefesselt.«
+
+»Hans ist krank — —?« entfuhr es ihr so schnell, daß sie ihren Fehler
+nicht mehr korrigieren konnte.
+
+»Ja,« wiederholte Springe höflich, »er ist krank. Gestern abend ist er
+plötzlich erkrankt.«
+
+Sie nagte nervös an der Lippe, um die Beherrschung wiederzufinden. Dann
+sah sie ihr Gegenüber scharf an.
+
+»Sie wissen, um was es sich handelt?«
+
+»Um eine Influenza, gnädige Frau.«
+
+»Ah —!« rief sie zornig und sprang auf. »Mir scheint, Sie wollen die
+Situation ins Lächerliche ziehen.«
+
+Auch Springe hatte sich sofort erhoben.
+
+»Wenn gnädige Frau mit der Frage etwas anderes bezweckten, dann
+allerdings habe ich —«
+
+»Nein, nein,« lachte sie ungeduldig auf, »es handelt sich in der Tat um
+diese — diese Influenza.«
+
+Springe lachte unaufgefordert mit, als ob er die Pointe in ihren
+Worten durchaus nicht verstanden hätte.
+
+»Sie haben recht, gnädige Frau, das ist freilich eine außerordentlich
+komische Krankheit.«
+
+Da wurden ihre Gesichtszüge unbeweglich.
+
+»Ich danke Ihnen, mein Herr, für die Freundlichkeit, mich zu
+benachrichtigen. Ich darf aber wohl Ihre Zeit nicht länger in Anspruch
+nehmen.«
+
+Und als Springe zögernd auf seinem Platze verharrte, sagte sie mit
+einer hoheitsvollen Abschiedsverneigung: »Herr von Springe — —?«
+
+Da rückte sich Springe zusammen und trat einen Schritt näher.
+
+»Gestatten Sie mir, meine gnädige Frau, daß ich noch ein bei der
+Vorstellung entstandenes Versäumnis nachhole. Ich möchte nicht gehen,
+ohne mich Ihnen in meiner Eigenschaft als Vater Hans Steinherrs zu
+präsentieren.«
+
+Frau Bettina trat überrascht zurück, glühende Röte auf der Stirn. »Sie
+scherzen,« stammelte sie verwirrt, »das ist doch nicht möglich.«
+
+»Die Verwunderung ist ganz auf meiner Seite, gnädige Frau. Sollte Hans
+das nie erwähnt haben?«
+
+»Er liebte es nicht, von daheim zu sprechen,« gab sie, immer noch
+fassungslos, zur Antwort. »Nur einmal, ganz kurz, erwähnte er eines
+alten Freundes, der durch Heirat sein, Hansens, Stiefvater geworden
+sei.«
+
+»Dieser alte Freund bin ich, gnädige Frau, und die Freundschaft ist auf
+meiner Seite unverändert geblieben.«
+
+»Sie sind nicht alt ...« sagte sie gedankenlos.
+
+»Ist denn äußerlich erkennbares Alter ein unbedingtes Erfordernis zum
+Ehemann?«
+
+Sie zuckte zusammen. Das war Hohn. — — Nun hatte sie sich wieder.
+
+»Da Sie sich als Vater meines besten Freundes ausweisen,« sagte sie mit
+lächelnder Liebenswürdigkeit, »so müssen Sie mir schon erlauben, daß
+ich Sie noch ein wenig hier behalte. Das ist eine unerwartete Freude
+für mich.«
+
+Springe stutzte; aber er ließ sich wieder nieder.
+
+»Und nun erzählen Sie mir von ihm. Von dem Hans, als er noch ganz klein
+und unartig war.«
+
+»Sollte es nicht,« erwiderte Springe verblüfft, »in unserem Falle
+richtiger sein, ~Sie~ erzählten mir von dem Hans, als er schon ganz
+groß und — artig war?«
+
+»Bitte, bitte,« schmeichelte sie, und ihre dunklen Augen schienen weich
+und flehend. »Was ich zu berichten habe, ist nicht immer erfreulich.
+Er hat mir viel Sorgen gemacht, aber ich hab’ ihn gern und bewundere
+sein Talent; und von seinen Freunden erträgt man viel, das haben Sie
+wohl auch erfahren. Erzählen Sie mir von seiner Jugend. Nachher mag die
+Reihe an mich kommen, zu ergänzen.«
+
+Noch einmal machte Springe einen Anlauf, das Gespräch auf der anderen
+Bahn zu halten. Aber sie legte ihm sanft die Spitzen ihrer zarten
+Finger auf die Hand und sah ihm mit dem rätselhaft lächelnden Blick in
+die Augen.
+
+Das arme Ding, dachte er mitleidig, sie kann nun einmal nicht gegen
+ihre Natur. Es ist ein Jammer, daß man so einem schönen Geschöpf wehe
+tun muß. Na, anders geht’s doch nicht.
+
+Aber er begann zunächst zu erzählen. Vom Rhein, vom Düsseldorfer Leben,
+von seiner ersten Bekanntschaft mit Hans, von den großen Qualitäten des
+jungen Freundes und seiner Entwicklung, von den feinen, dichterischen
+Talenten, die durch eine Jugendliebe geweckt worden seien, und vieles
+mehr. Jedesmal, wenn er zu Ende kommen wollte, berührte sie leise seine
+Hand, und ihr Auge verlangte, daß er fortfahre.
+
+Mitten in einer Schilderung hielt er inne. Die Zimmeruhr hatte die
+Mittagsstunde geschlagen. Der Zweck seiner Mission fiel ihm heiß aufs
+Herz. »Gnädige Frau,« sagte er sich erhebend, »Sie müssen mir den
+Jungen freigeben, zumal ich mich gleichzeitig beehren darf, Ihnen meine
+herzlichsten Glückwünsche zur Verlobung auszusprechen.«
+
+Frau Bettina lehnte sich tief zurück. Das war die Ironie, die ihr immer
+imponierte.
+
+»Und wenn ich ihn trotzdem behalten möchte.«
+
+»Das ist des Rheinlands nicht der Brauch. Wir da von der Westgrenze
+sind als reichlich selbstbewußt, oder sagen wir ruhig: hochmütig
+verschrieen bei aller unserer Lebensleichtigkeit; auch in unserem
+Lieben machen wir Anspruch auf die ~erste~ Stelle.«
+
+»Und in Ihrem Hassen?«
+
+»Ich bin kein Adelsnarr. Aber auf dem Wappen meiner Familie steht der
+rechte Spruch: ›=Pectus amicis, hostibus frontem=.‹ Sie haben die Wahl.«
+
+»Ich verstehe kein Latein.«
+
+»Ich auch nicht. Ich hab’s wieder verlernt, seitdem ich merkte, daß in
+der Welt viel zu wenig ›deutsch‹ geredet würde. ›Die Brust dem Freund,
+die Stirn dem Feind‹, lautet der Spruch.«
+
+»Wollen Sie mein Freund sein, Herr von Springe?«
+
+»Gnädige Frau tun mir unverdiente Ehre an.«
+
+»Wer ist heute noch ein Freund? Ihr Hans, o ja; heute schon läßt er
+mich allein. Aber ein Mann ist er doch, der Tollkopf, und deshalb muß
+er mein Freund bleiben. Und Sie sind sein Erzieher ... Aus dieser
+Quelle hat er geschöpft. Lassen Sie mich auch davon profitieren.«
+
+»Meine gnädige Frau, der Zweck meines Besuches ist denn doch wohl —«
+
+»Den Zweck Ihres Besuches,« fiel sie ein und schüttelte ihm herzlich
+die Hand, »den sollen Sie mir morgen sagen, um diese Stunde. Kommen
+Sie allein, oder kommen Sie mit Hans. Heute laß ich mir die schöne
+Stimmung, die ich Ihnen danke, nicht angreifen. Das ist Ihre eigene
+Schuld.«
+
+Sie sah ihn an, mit halb über die Augen gesenkten Wimpern.
+
+»Auf Wiedersehen, Herr von Springe! Ihrem Pflegling die zärtlichsten
+Wünsche.«
+
+Da stand er draußen; lachend, wütend, vollständig
+durcheinandergewirbelt. Die Hexe, sprudelte es in ihm. Da hat sie
+mich so lange von Düsseldorf erzählen lassen, bis wir glücklich
+so familiär geworden waren, daß ich ihr nicht mehr grob kommen
+konnte. Hannes meinte ja gleich, meine Kavalierstugenden — — ach
+was, Kavalierstugenden! Blamiert hast du dich, alter Sohn! Vor zwei
+kokettierenden Satansaugen hast du geschnurrt wie ein Kater, dem man
+das Fell streicht!
+
+Als er seiner Bundesgenossin ansichtig wurde, schlug ihm doch das Herz.
+Aber er bemäntelte seine Niederlage nicht.
+
+»Sie hat mich in Watte gewickelt,« knurrte er und biß sich auf den
+Schnurrbart. »Viel hätte nicht gefehlt, und ich wär’ ihr um den Hals
+gefallen.«
+
+»Gott sei Dank!« gab das Mädchen zur Antwort.
+
+»Gott sei Dank?« wiederholte Springe perplex. »Wieso denn das?«
+
+»Onkel Springe, wenn selbst du nicht standhalten kannst, ist Hans doch
+auch entschuldigt!«
+
+Das ist die Logik der Liebe, dachte Springe. Aber er war kleinlaut
+geworden und sagte es nicht laut.
+
+»Erwarte mich im Hotel, Onkel. Spätestens in einer Stunde bin ich
+zurück.«
+
+Er sah ihr nach, wie sie über den Damm mit leichtem, flotten
+Gang auf eine Droschke zuschritt. In dem rotblonden Haar lag die
+Vorfrühlingssonne wie eine lustige Lohe. Ist das ein Mädel! gestand
+sich Springe. Man wird gesund und fröhlich vom bloßen Anschauen. Da
+liegt ein anderer Schmiß drin als in der Treibhausblume von vorhin. — —
+— Na, na, na ... Nachträglich Schimpfen, das ist auch so eine Art —.
+
+Dann wandte er sich ab und schlug langsam den Weg zum Hotel ein. — — —
+
+Hannes hatte Frau Bettina ihre Künstlerkarte hineingeschickt, wie
+sie sie im Verkehr mit Konzertdirektoren und Arrangeuren zu benutzen
+pflegte.
+
+»Johanna Stahl?« las Bettina nachdenklich. »Die berühmte Altistin, die
+gestern erst im Philharmonischen — Sagen Sie der Dame, Anna, daß ich
+sehr erfreut bin, sie zu empfangen.«
+
+Die beiden Frauen standen sich gegenüber.
+
+»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Bettina, überwältigt von der
+eigenartigen Erscheinung und der jugendlichen Schönheit der Sängerin,
+und streckte ihr beide Hände entgegen, »was verschafft mir den Vorzug,
+einen so ausgezeichneten Gast bei mir zu sehen?«
+
+»Bewilligen Sie mir wenige Minuten Gehör, gnädige Frau? Ich möchte
+vorausschicken, daß die Angelegenheit, die mich herführt, in erster
+Linie ~Ihre~ Interessen tangiert.«
+
+Bettina ließ die Arme sinken. Die andere hatte ihre Willkommenbewegung
+gänzlich übersehen.
+
+»Nehmen Sie Platz, mein Fräulein,« sagte sie mit formeller Höflichkeit.
+»Womit kann ich Ihnen dienen?«
+
+Hannes machte von der Einladung keinen Gebrauch. Eine Sekunde lang
+kreuzten sich ihre Blicke. Die eine sah die dunkeläugige, gefährliche
+Favoritin, die andere das freie, unerschrockene Germanenmädchen.
+
+»Ich spreche gern die Hoffnung aus,« begann Hannes ruhig, »daß unsere
+Unterredung ebenso kurz wie befriedigend verläuft. Mein Pflegeonkel,
+Herr von Springe, ist, wie sich denken ließ, unverrichteter Sache
+heimgekehrt. Ich hatte ihm gleich gesagt, daß das kein Geschäft für
+Männer sei.«
+
+»Ein Geschäft —? Mein Fräulein, Sie bedienen sich recht seltsamer
+Ausdrücke.«
+
+»Wir wollen hier nicht um Worte streiten, gnädige Frau. Das würde die
+Erledigung der Angelegenheit nur verzögern.«
+
+»So — so — —. Sie kommen aus demselben Grunde wie Herr von Springe?
+Nun, ich finde das für Sie nicht sonderlich delikat.«
+
+»Gnädige Frau, Sie wollen gütigst beachten, daß das — Parfüm nicht von
+mir herstammt.«
+
+»Mein Fräulein!«
+
+»O nein, Sie erschrecken mich nicht. Ich fasse mich kurz. Das ist auch
+mein Geschmack. Es liegt in Ihrem Interesse, daß ich Sie bitte, Ihre
+Beziehungen zu Herrn Hans Steinherr ohne weiteres abzubrechen.«
+
+»Verehrtes Fräulein,« lachte Bettina und zuckte die Achseln, »die
+Rolle der verlassenen Ariadne, in der Sie sich gefallen, ist einfach
+lächerlich.«
+
+»Es freut mich, daß Sie das Kolorit dieser Rolle richtig taxieren,
+obwohl ich nicht viel mit ihr zu tun habe. Ich reise morgen nach
+München und singe in acht Tagen in Paris. Aber eben Sie, gnädige Frau,
+möchte ich vor dieser Rolle bewahren.«
+
+»Tragen Sie keine Sorge. Ich qualifiziere mich nicht dazu.«
+
+»Das zu erfahren, läge lediglich in meiner Hand.«
+
+»Sie machen mich neugierig.«
+
+»Ich frage Sie nur, ob Sie, die Verlobte eines hohen Herrn, die
+Beziehungen zu meinem Jugendfreunde lösen wollen oder nicht.«
+
+»Und wenn ich Ihnen jegliche Antwort darauf verweigerte?«
+
+»Soll ich das als Antwort auslegen?«
+
+»Es steht in Ihrem Belieben.«
+
+»So zwingen Sie mich, auf der Stelle zum Prinzen Georg hinzufahren und
+ihm den Inhalt dieser Unterredung mitzuteilen. Entscheiden Sie sich!«
+
+Bettina war erblaßt. Ihre Brust hob und senkte sich tief, und die
+langen Wimpern zitterten über ihren Augen.
+
+»Wenn Sie durchaus Lust verspüren, sich selbst mit diesem Schritt zu
+kompromittieren — —. Sie verstehen mich wohl. Übrigens wird man Sie
+nicht empfangen.«
+
+»Man ~wird~ mich empfangen. Ich bin meiner Kunst dankbar, daß sie mir
+alle Türen öffnet. Und vor einer Kompromittierung fürchte ich mich
+nicht. Das ist mir die Freundschaft schon wert.«
+
+Die beiden Frauen sahen sich fest in die Augen. Dann sagte Bettina mit
+einer starken Willensanstrengung: »Ihr glühendes Eintreten stellt mir
+den Preis so verlockend vor, daß ich Lust habe, freiwillig dem Prinzen
+abzusagen und Herrn Doktor Steinherrs Werbung heute noch anzunehmen.«
+
+»Das kommt zu spät, gnädige Frau.«
+
+»Mein Fräulein, ich muß mir jetzt jeden weiteren Einspruch verbitten.«
+
+»Gestern hätten Sie noch ein Recht dazu gehabt, heute nicht mehr. Ich
+lasse Hans nicht unglücklich machen.«
+
+»Unglücklich? Wenn ich ihn heirate? Das ist zum wenigsten originell.«
+
+»Hans würde über die gestrige furchtbare Enttäuschung nie hinwegkommen.
+Er würde nie das Vertrauen zurückgewinnen und an den quälenden Gedanken
+zu Grunde gehen.«
+
+»In Ihnen aber, nicht wahr, in Ihnen würde er die rechte Gefährtin
+finden. Nun, ich bin nicht seelengroß genug, um Ihnen den erwählten
+Gatten abzutreten. Mein Entschluß ist jetzt gefaßt.«
+
+»Gnädige Frau,« begann Hannes, und ihr stolzer Mädchenkörper reckte
+sich hoch auf. Über ihrem Gesicht lag eine finstere Ruhe. »Gnädige
+Frau, ich habe bis jetzt ~nicht~ von mir gesprochen, aber wenn Sie mich
+zwingen, ~werde~ ich von mir sprechen.«
+
+»Ah — das klingt wie eine Drohung ...«
+
+»Und es ~ist~ eine Drohung. Sehen Sie mich an. Wir sind zwei Frauen,
+und keiner hört uns. In der Stunde der Gefahr soll keine falsche Scham
+zwischen uns stehen. Sehen Sie mich an. Sie sind schön und üben Ihren
+Einfluß auf die Männer; und ich —« eine dunkle Röte flog über ihre
+Stirn, aber in ihren Augen blieb das stahlharte Leuchten — »ich traue
+mir zu, es mit Ihnen aufzunehmen. Kein Mann hat mich je berührt, mit
+Ausnahme Hans Steinherrs, als er noch ein halber Knabe war. Das fällt
+mit in die Wagschale. Wagen Sie es, von seiner Stimmung Gebrauch zu
+machen, wagen Sie es, ihn für immer an sich zu ketten und damit sein
+Leben zu zerstören, nachdem Sie seinen Glauben schon zerstört haben!
+Selbst ~dann~ werde ich meine mädchenhafte Scheu überwinden, und ich
+werde schöner sein und treuer sein als Sie, und ich werde länger jung
+bleiben um seinetwillen! Wagen Sie den Kampf? Ich werde ihn mit der
+Heimatsstimme rufen und dem Ton der alten Erinnerungen. Für sein Glück
+soll mir ~kein~ Opfer zu schwer sein, und der Herrgott wird es mir
+verzeihen.«
+
+Frau Bettina starrte das Mädchen an. Das war kein Ausbruch verwundeter
+Eitelkeit, das war die hinreißende Frauenreinheit, die alles darf, und
+die durch nichts befleckt wird. Und mit einem Male kam sie sich alt und
+müde vor neben dem jungen, zu jedem Kampf entschlossenen Geschöpf.
+
+»Gehen Sie, gehen Sie!« murmelte sie und drückte die Hand vor die Augen.
+
+Da trat Hannes auf sie zu und zog Frau Bettinas Hände herab. »Ich bin,
+als ich eintrat, Ihrem Händedruck ausgewichen, gnädige Frau. Lassen Sie
+mich jetzt Ihre Hände drücken.«
+
+»Ich weiß nicht, womit Sie es mir angetan haben,« stammelte die
+Frau. »Sie — Sie haben den gläubigen Mut ...« Und plötzlich, dem
+Impuls des Weibes folgend, schlang sie den Arm um Hannes und sah ihr
+leidenschaftlich in das ernste und doch so jugendstrahlende Gesicht.
+
+»Leben Sie wohl, Sie glückliche Natur! Ihr Hans soll nie wieder von mir
+hören. Nur drei Abschiedszeilen zum Adieu.«
+
+Mein Hans — dachte Hannes mit einem wehmütigen Lächeln. Aber sie
+behielt tapfer ihre Haltung bei, und ruhig und gefaßt schieden die
+Frauen voneinander. — —
+
+Im Hotel ließ sie Springe auf ihr Zimmer bitten. Sie nickte dem
+aufgeregt Hereinstürmenden zu.
+
+»Hans wird ~nicht~ über Bord gehen. Die Gefahr ist vorbei.«
+
+ * * * * *
+
+Als Springe am Nachmittag den Freund aufsuchte, fand er ihn am
+Schreibtisch sitzend. Stumm wies Hans Steinherr auf ein Blatt Papier.
+Bettina schrieb ihm, daß sie noch am selben Abend zu Verwandten ihres
+Verlobten abreise, ihn aber um seine Verzeihung bitte.
+
+»Komm mit nach Düsseldorf!« sagte Springe ernst. »Du bist es dir und du
+bist es auch der Mutter schuldig. Die Heimat wird dich gesund machen.«
+
+»Ich glaube an kein Gesundwerden mehr, Heinrich. Ich habe meine Wurzeln
+eigenhändig zerstört.«
+
+Aber er ließ sich leicht überreden, er war müde und hatte eine traurige
+Sehnsucht. —
+
+Hannes war nach München abgereist. Er hatte ihre Grüße empfangen und
+sie selbst nicht gesehen. Sie schien vor ihm geflohen zu sein, und das
+schmerzte ihn tiefer, als er es Springe wissen ließ.
+
+In den ersten Märztagen fuhr Hans Steinherr an der Seite Heinrich von
+Springes durch Hannover, Westfalen und das niederrheinische Land. In
+sich versunken blickte er auf die Lichter Düsseldorfs, die sich rasch
+näherten. Er kam nicht als Sieger, aber er kam.
+
+Die Heimat hatte ihren erkrankten Sohn zurückgefordert.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+
+Herr Friedrich Leopold von Springe saß an seinem hochbeinigen
+Schachtisch, dessen eingelegte Platte von einer niederen Galerie
+umgeben war, um die Figuren vor dem Hinabstürzen zu bewahren. Er trug
+eine elegante, flauschige Jagdjoppe, sein dünnes Haar war sorgfältig
+frisiert, und sein schlohweißer Schnurrbart strebte noch immer in keck
+gestutzten Spitzen nach oben. Nur in seinen Händen war ein leichtes,
+wenn auch kaum auffallendes Zittern zu bemerken, wenn er den Läufer zum
+Sturm beorderte oder den Springer den Rösselsprung vollziehen ließ. Er
+behauptete zwar, das sei die Aufregung des Spiels, kompliziert durch
+die Partnerschaft einer angebeteten Dame.
+
+Diese Partnerin und Verehrte seines Herzens thronte in Gestalt Frau
+Stahls auf einem hohen Ledersessel ihm gegenüber. Über ihre faltigen
+Züge huschte, so oft sich Herr Friedrich Leopold in einer chevaleresken
+Bemerkung gefiel, ein kurzes, verschämtes Lächeln, das sie alsbald
+unter einem verdoppelt strengen Ernst zu verstecken sich mühte, gerade
+so, als müßte man sich von dem gefährlich tuenden alten Herrn der
+unglaublichsten Heißspornigkeiten gewärtig halten und dürfte daher
+seinem Jugendfeuer nicht die geringsten Konzessionen machen.
+
+Eine warme Gemütlichkeit herrschte in dem Zimmer. Kein Geruch nach
+Lavendel und Rosmarin. Aber es duftete verräterisch nach echtem
+Sellnerschen Punsch vom Karlsplatz.
+
+»Durchaus nicht, weil ich am Alkohol hänge,« pflegte der alte
+Herr jedesmal zu betonen, wenn er aus dem Tischuntersatz das Glas
+hervorholte und verbindlich gegen Frau Stahl hob. »Ich bin eigentlich
+von Haus aus Vegetarier und schwärme für junges Gemüse. Aber wo soll
+der Mensch in den ersten Tagen des Märzen Maikräuter herbeziehen!«
+
+Gegen diese eiserne Logik ließ sich nichts einwenden. Und wenn
+auch Frau Stahl von Zeit zu Zeit mit dem liebevoll geschärften
+Blick, mit dem man große Jungen zur Einkehr zwingt, auf die nach
+dem Tischuntersatz tastende Hand des alten Herrn schaute, ~so~
+ungefähr, als ob sie auf seinem Handrücken etwas ganz außerordentlich
+Interessantes erblickte, so erhob sie sich doch zu mehreren Malen
+am Abend, um aus dem Kamin schweigend den dampfenden Wasserkessel
+hervorzuziehen.
+
+Dann saß Herr Friedrich Leopold ganz still, die Hände im Schoß
+gefaltet, und beobachtete ihr Tun. Mit leichtgewölbten Nasenflügeln
+schnupperte er den Duft, der aus der innigen Vermählung des
+Punschsirups mit dem brodelnden Wasser aufstieg, und bewegte leise die
+Lippen.
+
+»Aber, Herr von Springe,« sagte die alte Frau mahnend, »können Sie denn
+gar nicht abwarten?«
+
+»Ach,« erwiderte Friedrich Leopold harmlos, »Sie meinen also wirklich,
+das geschehe wegen des Punsches? O, meine gute Frau Stahl, in welchem
+Irrtum bewegen Sie sich. Wenn meine Lippen sich regen, so tun sie
+es, weil es sie zum Reden drängt. Wes das Herz voll ist, des geht
+der Mund über. Und wenn ich so die Zierlichkeit Ihrer Bewegungen bei
+der Punschbereitung betrachte — nein, nein, lassen Sie mich nicht
+weitersprechen. Aber das Wort des einzigen Philosophen, den ich
+anerkenne, bleibt dennoch wahr: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.«
+
+»Haben Sie denn Sorgen, Herr von Springe? Das bißchen Podagra meldet
+sich doch nur beim Witterungsumschwung.«
+
+»Liebessorgen, meine verehrte Frau; Liebessorgen um Sie.«
+
+»Ja,« sagte die alte Frau und hob betrüblich die Achseln, »da ist
+freilich nix zu machen. Sie kennen meinen Standpunkt. Ich bleib’ fest,
+aus Konsequenz.«
+
+»Na, dann geben Sie mir wenigstens den Leidenskelch. Frau Stahl, Frau
+Stahl! Wenn ich in meinen besten Mannesjahren jählings zum Trinker
+werde — Sie tragen die Verantwortung. Nein, nein!« protestierte er,
+»keine stärkere Wasserzugabe. Ich bin durch Ihre Absage genügend
+abgebrüht.«
+
+Sie aber ließ sich nicht behindern, den Trank nach Gutdünken zu mischen.
+
+In dem offenen Kamin knatterten die Holzscheite hinter dem Eisengitter.
+Das war bei kaltem Wetter Herrn Friedrich Leopolds größte Freude.
+
+»Sehen Sie,« belehrte er Frau Stahl, »der Stolz auf sein altes
+Adelsgeschlecht, das ist doch kein leerer Wahn. Man muß ihn nur richtig
+handhaben. Ich bin ja nur ein dürres Reis an unserem Stammbaum, aber
+trotzdem, ich habe die Geschichte unseres Hauses im kleinen Finger. Und
+wenn ich so sitze und grübele — dann gehört ein offenes Kaminfeuer dazu
+und das Rattern und Knattern der Scheite. An so einem Kaminfeuer haben
+sich auch meine Herren Vorgänger im lustigen Mittelalter höchstihre
+Fußsohlen gewärmt, wenn sie von mehr oder weniger tugendhaftem Beginnen
+auf ihre Burg am Rhein zurückkehrten. Geben Sie gut acht. Der Kamin
+und das Füßewärmen tun’s nicht allein; aber — die Tradition. Es ist
+so ein eigentümlich Ding um so eine Familientradition. Man sollte ihr
+auch in Bürgerkreisen mehr nachgehen. Glauben Sie mir, die Gedanken
+daran wandeln sich in Blutkörperchen um, und die Blutkörperchen geben
+Haltung. Man weiß, man ist seinen Vorgängern und Nachfolgern etwas
+schuldig, und wäre es auch nur die — gute Haltung. Ein Meteor, das
+sich von seinem Heimatstern ablöst, strahlt zwar sehr schön und setzt
+alle Welt einen Atemzug in Staunen, aber wenn es seine Bahn durchsaust
+hat, sinkt es auf fremder Erde in Nacht und Grauen. Höchstens findet’s
+ein Professor. Der klopft und riecht dran herum und — o Tragikomödie
+des Meteors — erklärt der gläubigen Jüngerschar: Meine Herren, das,
+was Sie hier sehen, ist durchaus kein Element an sich. Es hatte einmal
+elementare Qualitäten, als es noch seine Kräfte aus dem zuständigen
+Heimatsrevier des Saturn oder Uranus zog. Jetzt aber, jetzt — tun Sie’s
+in Ihre Sammlung, unter: Verschiedenes.«
+
+Der alte rheinische Junker stemmte seine Füße fest gegen das
+Kamingitter und fuhr fort: »Die Familientradition, ja, die hat eben
+etwas an sich. Man braucht sie nicht nachzubeten, bloß in den Knochen
+soll man sie haben. Das ist auf alle Fälle ein feiner Regulator
+zwischen dem modernen Geist und der alten Materie. Sie mögen sagen, was
+Sie wollen: das sind Imponderabilien, die man bei der Rassenentwicklung
+nicht unterschätzen soll. Schauen Sie sich um unter den Söhnen des
+Landes. Bengel sind sie ja alle, gottlob!, und das ist ein gesundes
+Zeichen. Aber wie Sie, im engeren, unter den Akademikern untrüglich die
+Verbindungsstudenten herauswittern, so werden Ihnen, im weiteren, immer
+die jungen Leute auffallen, die durch ihre Erziehung darauf hingeleitet
+worden sind, ihrer Altvorderen, ob bürgerlichen oder adligen Grades, zu
+gedenken. Was natürlich mit der persönlichen Hinneigung des einzelnen
+zum Genie oder zum Schafskopf auch nicht das allermindeste zu tun hat.
+Ich resümiere nur auf die Haltung; in allen Lebenslagen.«
+
+Die alte Frau, die das Leben wissend gemacht hatte, nickte. Auch heute
+freute sie sich an der draufgängerischen Frische des Altersgenossen,
+aber sie hatte Lust, zu opponieren.
+
+»Und wenn ein Kind keine Familientradition besitzt? Es gibt doch auch
+solche Würmer.«
+
+»Donnerwetter,« sagte der alte Herr eifrig, »dann heißt es
+eine anlegen; auf einer Basis, so groß und breit und tief und
+unveräußerlich, wie — na — kurz — wie ein Fideikommiß. Deubel ja, muß
+das schön sein, eine werdende Familie zu etablieren, so eine mit Haken
+und Ösen. Und der dolle Stolz, den man dann darauf hat!«
+
+»Zum Beispiel: wie der alte Steinherr,« meinte Frau Stahl nebenbei.
+
+Herr Friedrich Leopold sah sie groß an.
+
+»Ich sprach doch nicht von einem Krämergeschäft mit Addieren,
+Multiplizieren und Bruch- und Prozentrechnung, bis die Siebenstellige
+im Münzwert voll ist? Nein, meine verehrte Frau, ich meinte
+die Etablierung eines besonders feinen und körperlich gesunden
+Menschenschlags, mit Addieren und Multiplizieren, bis die
+Siebenstellige im geistigen oder seelischen Wert voll ist, von der dann
+die Nachkommen auf Generationen hinaus zehren. Um Ihnen ebenfalls mit
+einem Beispiel zu dienen: Hannes!« — —
+
+Die alte Frau stand auf, ging zum Kamin und schüttelte dem
+Realphilosophen derb die Hand.
+
+»Ja, ja, ja,« philosophierte der weiter, »und langlebig macht so eine
+gute, alte Familienerinnerung! Wenn andere Leute in das Kaminfeuer
+blicken, denken sie zurück bis zu dem Tage, an dem sie ihre Nase im
+Gesicht verspürten. Bei mir jedoch werden hundert Jahre wie ein Tag.
+Da seh’ ich alle meine Leute durch die Jahrhunderte schreiten, und
+alle sind sie mir bekannt, die Würdigen und die Borstigen, und so oft
+ich sie aufmarschieren lasse — ätsch, ich bin der Jüngste. Sehen Sie,
+meine verehrte Freundin, darin liegt das große Geheimnis meiner ewigen
+Jugend.«
+
+Die Greisin sann nach.
+
+»Sie sind ein glücklicher Mensch,« sagte sie dann.
+
+»Bin ich auch.«
+
+»Den einen trifft’s und den anderen kann’s auch treffen. Wenn man in
+die Jahre kommt, von denen geschrieben steht: sie gefallen mir nicht
+...«
+
+»Nee, nee, nee, Frau Stahl, nun schwindeln Sie. Die Jahre gefallen uns
+gar nicht schlecht. Jungen Leuten wie uns kann’s doch nicht auf ein
+paar lumpige Jahre ankommen. Die Hauptsache ist: leben, und wissen,
+daß man lebt! Beste Freundin, Ihre Lippen sind sonst doch immer schwer
+an Sprüchen der Weisheit. Ist Ihnen denn über den Wert des Lebens kein
+kräftig Wörtlein geläufig?«
+
+Die alte, ungebeugte Frau mit dem großen Lebenstrotz saß auf ihrem
+Ledersessel und strich mit der Handfläche über die aufmarschierten
+Schachfiguren hin und her. Dann begann sie zu reden: »Es begegnet
+dasselbe einem wie dem anderen, dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem
+Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem, der opfert, wie dem, der nicht
+opfert. Wie es dem Guten gehet, so gehet’s auch dem Sünder. Wie es dem,
+der schwört gehet, so gehet’s auch dem, der den Eid fürchtet. Das ist
+ein bös Ding unter allem, das unter der Sonne geschieht, daß es einem
+gehet wie dem anderen; daher auch das Herz der Menschen voll Arges
+wird, und Torheit ist in ihrem Herzen, dieweil sie leben; danach müssen
+sie sterben. Denn bei allen Lebendigen ist, das man wünscht: Hoffnung;
+~denn ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe~.«
+
+»Bravo!« rief Herr Friedrich Leopold und rieb sich die Hände. Besonders
+das Beispiel hatte seinen Beifall.
+
+»Denn die Lebendigen,« fuhr die Greisin mit einem kleinen Lächeln
+über des alten Freundes Zustimmungsruf fort, »wissen, daß sie sterben
+werden; die Toten aber wissen nichts, sie haben auch keinen Lohn mehr;
+denn ihr Gedächtnis ist vergessen, daß man sie nicht mehr liebet, noch
+hasset, noch neidet; und haben keinen Teil mehr auf der Welt in allem,
+das unter der Sonne geschieht.«
+
+»Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe,« bestätigte der
+Zuhörer.
+
+»So gehe hin,« schloß die Greisin frisch, »und iß dein Brot mit
+~Freuden~, trinke deinen Wein mit ~gutem Mut~ —«
+
+»Bravo, bravo —«
+
+»— denn dein Werk gefällt Gott. Laß deine Kleider immer weiß sein, und
+laß deinem Haupte Salbe nicht mangeln. Brauche des Lebens mit deinem
+Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott
+unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel Leben währet; denn das
+ist dein Teil im Leben und in deiner Arbeit, die du tust unter der
+Sonne. Alles, was dir von Handen kommt zu tun, das tue ~frisch~; denn
+in der Hölle, da du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft, noch
+Weisheit.«
+
+»Schade um den Schluß,« sagte Herr Friedrich Leopold, »aber bange
+machen gilt nicht, und Spaß muß sein.«
+
+Dann verließ er seinen Kaminsitz, nahm Frau Stahl gegenüber am
+Schachtisch Platz und schaute sie voll ehrlicher Bewunderung an.
+
+»Allen Respekt, Verehrteste, das war eine Leistung. Aber, aufrichtig:
+aus sich selbst haben Sie das nicht, das haben Sie mal irgendwo
+gelesen.«
+
+»Das steht in der Bibel, Herr von Springe; im Prediger, neuntes
+Kapitel.«
+
+»Ja, ja, ja,« sagte der alte Junker ein wenig kleinlaut .... »Hören
+Sie mal,« meinte er nach einer Pause, und das ehrliche Staunen stand
+wieder in seinen Augen, »wie haben Sie das nur alles seit der Schulzeit
+behalten?«
+
+»Ich habe das seit der Schulzeit regelmäßig wieder aufgefrischt, Herr
+von Springe.«
+
+»Aber natürlich, aber natürlich ... Eigentlich schlimm, daß ich ...
+Aber nun hab’ ich ja den Pastor im Hause, mir wird nichts mangeln,« und
+er schüttelte der Freundin vergnügt die Hand.
+
+Dann spielten sie, wie allabendlich, ihre Schachpartie zu Ende.
+
+Draußen stritt die Dämmerung mit dem Märzabend. Hier drinnen war es
+friedlich und fröhlich. Eine hohe Stehlampe mit breitem, rotem Schirm
+erleuchtete und beschattete zugleich harmonisch die kleine Welt der
+beiden Alten, die kraft ihrer Erinnerungen die Grenzen ausdehnen
+konnten zu einem weiten Reich und zusammenziehen zu einem stillen
+Hafen. Im Kamin sangen die Buchenkloben alte, einfältig schöne Lieder,
+und von der gebräunten Ledertapete schauten im engen Beisammen ein
+paar nachgedunkelte Ahnenbilder, Frau Margots strahlende Züge und die
+klaren, kühnen Mädchenaugen des Lieblings Hannes herab.
+
+Herr Friedrich Leopold streifte die Bilderreihe mit einem liebevollen
+Blick.
+
+»Wir sind das Bindeglied,« meinte er und nickte zu der kleinen Galerie
+hinüber. »Wir sitzen hier als Vermittler auf der Wacht, bis wir selber
+ein Ahne werden. Aber dazu muß man zunächst Großvater sein ...« Frau
+Stahl sah ihn prüfend an und lachte dann vor sich hin.
+
+»Finden Sie nicht,« fuhr der Unverbesserliche fort, »daß man uns
+eigentlich ein großes Vertrauen schenkt, uns so mutterseelenallein zu
+lassen? Das heißt: das Vertrauen hat eigentlich etwas Beleidigendes.
+Wie alt sind wir denn? Knapp fünfundsiebzig pro Person. Vor lumpigen
+vierzig Jahren hätte man uns nicht so allein gelassen, meine verehrte
+Frau. Das sollten wir den Rackers da drüben doch mal anstreichen, und
+da wir sicher noch kostbare fünfundzwanzig Jährchen vor uns haben, so
+meine ich, ein ehrenwerter Antrag — —«
+
+Und er schmunzelte wie ein Spitzbube, der seinen Partner in Bedrängnis
+gebracht hat.
+
+Frau Stahl legte den Kopf auf die Seite und blinzelte ihn an.
+
+»Na ja,« ließ sie sich nach einer oberflächlichen Prüfung des
+Antragstellers vernehmen, »das Köpfchen wäre ja noch ganz gut, aber ...«
+
+»Bitte, da gibt es durchaus kein Aber!« rief Herr Friedrich
+Leopold, und reckte seine lange Gestalt, um schleunigst wieder
+zusammenzuknicken. Irgendwo in den Gelenken hatte es verdächtig
+geknackt.
+
+»Achtung, Achtung! Nicht das Spiel aufhalten!« Frau Stahl tat mit der
+Königin einen kühnen Raubzug.
+
+»Das Spiel? Na, warten Sie. Das wollen wir gleich haben. Ah, siehste
+wie de biste? =Gardez la reine!=«
+
+»Jawoll,« gab sie zur Antwort, schlug seinen Springer und bedrängte ihn
+im eigenen Lager. »Schach dem König, mein Herr.«
+
+»Oho, das wäre ...«
+
+»Ist bereits so. Matt!«
+
+Betrübt ließ der alte Herr die Figuren durcheinander fallen.
+
+»Da hört sich doch alles auf. Kein Glück in der Liebe und kein Glück
+im Spiel. Und Sie können über solch eine doppelte Schicksalstücke auch
+noch lachen! So sind die Weibsen!«
+
+Sie ließ ihn ruhig sich ausschelten, aber das heimliche Lächeln blieb
+in ihren Augen sitzen.
+
+»Sie haben ganz und gar unrecht,« sagte sie endlich sanft.
+
+»Ich unrecht? Na ja, den verehrten Damen ist es ja selbst möglich, die
+Tatsachen auf den Kopf zu stellen. Aber in meinem Falle — — Nee, nee,
+bitte, keinen Honig, lieber ein Glas Punsch.«
+
+»Sollen Sie haben,« entgegnete die alte Freundin, »zur Feier Ihres
+Glückes.«
+
+»Meines — Glückes —? Und soeben sehen Sie erst klipp und klar, daß ich
+weder Glück in der Liebe noch —«
+
+Sie stellte das gefüllte Glas vor ihn hin und legte ihre verarbeiteten
+Hände auf die seinen.
+
+»Doch. Sie ~haben~ Glück in der Liebe. Ganz Ihrem Wunsch gemäß ...« Und
+sie ließ den Blick nach den Ahnenbildern schweifen.
+
+»Frau Stahl — —! Verehrte Freundin — —!« Der alte Junker wußte nicht,
+wo ihm der Kopf stand.
+
+»Still, still. Ich sollte ja eigentlich noch nichts davon verraten ...«
+
+»Still?« schrie Herr Friedrich Leopold und sprang auf die Beine, ohne
+auf das verdächtige Gliederknacken zu achten. »Still? O meine verehrte
+Frau, ich bin gewiß ein Mann von Erziehung, aber da soll der Deubel
+still bleiben, ich sage Ihnen, der Deu — — —«
+
+Da hatte sie ihm schon die Hand auf den Mund gelegt.
+
+»Aber ja, aber natürlich. Nur muß es doch zunächst Herr Heinrich
+erfahren. Das sehen Sie doch ein. Vielleicht kommt er heute abend schon
+zurück; dann können Sie morgen, wenn Sie wollen, die Fahnen zum Haus
+herausstecken.«
+
+»Tu’ ich auch,« murmelte der alte Herr und marschierte aufgeregt im
+Zimmer auf und ab, »tu’ ich auch.« Und immer wiederholte er leise
+frohlockend, schmeichelnd, streichelnd: »Ein Stammhalter ... ein
+Stammhalter.«
+
+Plötzlich kehrte er zum Tisch zurück, stand kerzengerade, faßte sein
+Glas und leerte es auf einen Zug.
+
+»Das war für Frau Margot, die liebe ... liebe ... Frau Margot.«
+
+Der rüstigen Greisin standen lachende Tränen in den Augen.
+
+»Nun aber genug. Habt ihr Männer denn gar kein Zartgefühl? Bedenken Sie
+doch, wenn eine Frau gewissermaßen große Gesellschaftsdame gewesen ist,
+und überdies fünfundvierzig, die man ihr zwar nicht ansieht —«
+
+»Ach was,« fiel Herr Friedrich Leopold lebhaft ein. »Große
+Gesellschaftsdame! Fünfundvierzig! Ein ganz famoses Frauenzimmer ist
+sie, mit der ich Staat machen werde, an der sich unsere Hyperkultur ein
+Beispiel nehmen soll! Meine Großmutter war gut und gern ein halbes
+Dutzend Jahre älter, als mein Vater sich zur Stelle meldete. Das
+nenn’ ich gesunden, rheinischen Schlag. Widersprechen Sie nicht. Ich
+versichere Sie meiner vollsten Unzufriedenheit, Frau Stahl.«
+
+Er ereiferte sich von neuem, rannte strahlenden Auges herum und
+gestikulierte mit den Händen.
+
+»Parbleu, diese Margot, diese — diese — — Nein, das halt’ ich nicht
+aus. Die muß geküßt werden, die muß — —«
+
+Und mit einem Male begann er aus Leibeskräften zu rufen.
+
+»Margot! — — Margot! — —«
+
+Da riß der alten Frau die Geduld.
+
+»Wenn Sie nicht augenblicklich Ruhe geben, Herr von Springe, so sag’
+ich Ihnen schlankweg, daß ich Ihnen ein Märchen aufgebunden habe, und
+Frau Margot wird Ihnen dasselbe sagen. Was wollen Sie dann machen?«
+
+Das leuchtete Herrn Friedrich Leopold ein, und ganz beschämt strich er
+die Segel bei.
+
+»Liebe Frau Stahl,« bat er flehentlich, »aber sehen möcht’ ich sie nur,
+bloß sehen und mich an ihr freuen. Das werden Sie mir doch zugestehen
+können? Ich will ja kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«
+
+Damit erklärte sich Frau Stahl einverstanden, nachdem sie ihm noch
+einmal »Zartgefühl« eingeschärft hatte.
+
+»Ich will nur schnell den Abendtisch richten,« sagte sie, »dann ruf’
+ich sie.«
+
+Dem alten Herrn ging heute das Anrichten nicht schnell genug. Er sah
+sich veranlaßt, verschiedentlich in die Küche hineinzugucken und in
+zarten Worten seinem Mißfallen Ausdruck zu verleihen.
+
+»Frau Stahl, Frau Stahl, sonst sind Sie doch immer die Jüngste — —«
+
+Endlich ging sie, Frau Margot zum Tee zu bitten; und nun wäre ihr Herr
+Friedrich Leopold am liebsten nachgelaufen, um sie zum Bleiben zu
+bewegen. Denn er wußte absolut nicht, wie er sich nur benehmen sollte.
+
+Da öffnete sich die Tür, und Frau Margot schlüpfte herein, weich und
+schmiegsam, lustig und lachend. Vom Scheitel bis zur Sohle ganz die
+Frau, die im zweiten Frühling ungeahnt emporgeblüht ist und jede
+Zeitrechnung Lügen straft. »Guten Abend, Papachen! Schachpartie zu
+Ende? Du Ärmster, hat dich Frau Stahl matt gesetzt?«
+
+»Mein Kind,« antwortete Herr Friedrich Leopold mit Haltung und bot ihr
+den Arm wie einer Fürstin, »Unglück im Spiel — Glück in der Liebe.«
+
+Sie saßen um den Teetisch herum und plauderten. Keiner verspürte rechte
+Lust, ordnungsgemäß zuzulangen. Frau Margot war mit ihren Gedanken
+immer wieder in Berlin, und immer wieder nannte sie den Namen ihres
+Gatten.
+
+»Nun ist er fast eine Woche fort, eine ganze Woche, der Herumtreiber.
+Wenn er nur nicht mit Hannes durchgegangen ist! Pst, nicht in Schutz
+nehmen, Papachen! Die Liebe zu den Stahls liegt den Springes im Blut.
+Aha, jetzt wirst du rot. So ist’s recht, immer hübsch Farbe bekennen!«
+
+Der alte Junker warf Frau Stahl einen schadenfrohen Blick zu.
+
+»Das ist also, was die Damen ›Zartgefühl‹ nennen. Das muß für spätere
+Fälle festgestellt werden.«
+
+Frau Stahl machte ihm heftige Zeichen mit dem Kopf. Sie traute dem
+Landfrieden nicht.
+
+Aber Frau Margot war bereits wieder bei ihrem alten Thema. »Von Hannes
+hat Heinz spaltenlange Berichte geschickt. Und die Kritiken erst!
+Nein, das Mädel ist auch zu einzig. Hätt’ ich es doch hier, das liebe,
+liebe Ding — — Ich hab’ immer eine Sehnsucht danach, das ist nicht zu
+beschreiben. Gott, was mag nur mein armer Junge anstellen — —«
+
+»Schreibt denn Heinrich nichts Neues von Hans?«
+
+»O doch. Er ist täglich mit ihm zusammen. Der arme Kerl lebte seit
+einiger Zeit ganz außer Verkehr, schreibt Heinz, aber er hätte doch die
+alten Spuren in ihm wieder aufgedeckt und viel von der warmen Seele
+wiedergefunden, die der Junge früher in so reichem Maße besaß. Weißt
+du, Papa, ich mache mir seit langem schon die trübsten Vorwürfe, daß
+ich ihm früher nicht genug Mutter, oder doch nicht genug mütterliche
+Kameradin war.«
+
+»Gold gehört ins Feuer, wenn es geläutert werden soll,« bestimmte
+Friedrich Leopold. »Und der Junge ist Gold, verlaß dich darauf. Ich
+habe auch nicht die Spur Angst.«
+
+»Ja,« meinte Frau Margot sinnend, »du bist auch nicht seine Mutter.«
+
+Da schwieg der alte Herr sinnend. Das Wort Mutter hatte seit einer
+Stunde für ihn einen besonders heiligen Klang.
+
+»Ach, Großmutter Stahl,« sagte Frau Margot und spann träumerisch ihre
+Gedanken weiter, »Hans und Hannes — —. Unsere schönen Pläne — —. Nun
+sind wir hier, und der ist da, und der ist dort. Warum —?«
+
+Die Greisin antwortete nicht. Sie blickte finster vor sich hin.
+
+»Sie haben Hans nicht verziehen?«
+
+»Nein.«
+
+»Aber wenn er heimkommt — Heinz schrieb mir, daß er ihn überreden würde
+— Sie werden mir helfen und ihm auch helfen. Die Jugend glaubt ja doch,
+sie müsse sich erst immer Kämpfe schaffen, sonst sei das Glück nichts
+wert.«
+
+»Wir wollen warten, bis er da ist, Frau Margot. Vielleicht bedankt er
+sich wieder einmal für unseren guten Willen.«
+
+Es klingelte an der Korridortür. Frau Margot erhob sich sofort, um
+nachzusehen. Als sie zurückkam, hielt sie ein Briefchen in der Hand.
+
+»Von Heinz,« sagte sie erregt und brach das Kuvert auf, »ein Dienstmann
+brachte es vom Bahnhof.«
+
+»Heinrich ist angekommen?« rief der Senior so freudig, als ob der Sohn
+eine Weltumsegelung bestanden hätte. Frau Margots Augen überflogen
+hastig das Billett. Dann klärten sich ihre gespannten Züge, ihre Lippen
+lächelten, und sie mußte die Augen schließen, um sich zu sammeln.
+
+»Nicht allein Heinz,« sagte sie mit zuckendem Munde. »Er hat sein Wort
+eingelöst, der treue Mann. Er bringt mir meinen Jungen zurück. Soeben
+sind sie in Düsseldorf angekommen.«
+
+»Und noch nicht hier?« rief Herr Friedrich Leopold. »Ja da soll doch
+gleich! Müssen die denn zunächst =stante pede= irgendwo einen Schoppen
+machen?«
+
+»Nein, nein, Papa, wo denkst du denn hin? Hans ist nicht ganz auf dem
+Posten gewesen in den letzten Tagen, schreibt Heinz, und nun möchte er
+sich nicht als Halbkranker präsentieren. Mein eitler Junge! Und Heinz
+ist mit ihm nach der Grafenbergerchaussee gefahren und liefert ihn in
+seinem Knabenstübchen ab. In seinem Knabenstübchen — —. Möge er dort,
+in der ersten Nacht unter dem heimatlichen Dache, finden, was ihm not
+tut: das Vergessen und — das Erinnern.«
+
+Nie zuvor hatte Frau Margot ihr mütterliches Gefühl so stark ausströmen
+gefühlt.
+
+»Ich glaube, heute bin ich ~wirklich~ glücklich,« sagte sie, und ihre
+Augen sahen in die Weite.
+
+Herr Friedrich Leopold legte den Arm um ihre Taille und führte sie zum
+Kaminsitz, mit der zärtlichen Sorge, mit der man ein Kind geleitet. Wie
+schön, wie wohltuend das war. Sie streichelte ihm dankbar die Wange.
+
+»Wie gut du bist, Papachen — —.«
+
+Und der alte Herr, ganz überwältigt von den vielen Eindrücken des
+Abends, stotterte: »Ach was, Margot, gut — —! Lieb hab’ ich dich,
+Töchterchen, lieb, ganz furchtbar lieb. So lieb, daß ich gleich Hurra!
+schreien möcht’. Und überhaupt, wenn der Heinrich kommt — ach Gott, der
+glückliche Bengel! Du bist nun doch einmal ein Prachtweib, und nun,
+bitte — nun gib mir einen Kuß!«
+
+Sie sah ein wenig scheu und errötend zu Frau Stahl hinüber. Aber als
+die Vertraute des Hauses gleichmütig fortfuhr, den Tisch abzuräumen,
+umfaßte sie schnell den schneeweißen Kopf, der dem des Gatten so
+ähnlich sah, und küßte ihn zu wiederholten Malen auf den Mund.
+
+»So! Bist du jetzt zufrieden, Papa? Ihr seid doch Schwerenöters, ihr
+Springes, Vater wie Sohn.«
+
+Und sie lachte glücklich in sich hinein, und der alte fröhliche Herr
+tat desgleichen.
+
+Dann saßen sie, Herr Friedrich Leopold, Frau Margot und Großmutter
+Stahl, vor dem Kamin und gaben ihren Gedanken Audienz. Ein jeder still
+für sich. Ein jeder dachte sich eine Welt. Und doch war der Kreis ihrer
+Gedanken so eng umsponnen, daß sie sich alle darin wiederfanden.
+
+Die Lampe surrte, und die Holzscheite knisterten in hellen Funken auf,
+die lustige Reigentänze vollführten. —
+
+Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein, da fuhr Frau Margot
+auf.
+
+»Heinrich!«
+
+Aber Frau Stahl war schon fort, um zu öffnen.
+
+»Heinz! Heinz!« und sie lag an seiner Brust, glückstrahlend wie ein
+junges Mädchen.
+
+»Bummler!« lachte sie, »Ausreißer, unverbesserlicher Junggeselle!
+Warte, ich werde dir die Leviten lesen, daß du dich wundern sollst!
+Acht Tage — —! Acht Tage — — Und nun unterschlägt er mir auch noch den
+Jungen.«
+
+»Wenn du meinen Mund nicht freigibst ...«
+
+Sie ließ ihn in ihrer Freude nicht zu Worte kommen. Alle Fragen, die
+sie erwartungsvoll im Herzen getragen hatte, drängten sich auf ihre
+Lippen und überholten sich.
+
+»Was ist das mit Hans? Weshalb kommt er nicht zuerst zur Mutter? Du,
+so sag doch, wie er aussieht? Ich bin ja so froh, daß er da ist. So
+froh! Mach nicht solch ein liebes, dummes Gesicht. Natürlich freu’ ich
+mich auch über dich. Doch, doch! Aber wenn der Hans krank ist — du, ich
+möchte hin, sogleich. Ach Gott, wenn der Mann doch endlich sprechen
+wollte!«
+
+Nun war es an ihm, ihr die Hände auf die Lippen zu legen.
+
+»Was ist das für ein Empfang? Wie? Existiere ich gar nicht mehr? Ja,
+ja, gewiß, ich kusche schon. Also der Hans! Der ist in der alten
+Wohnung. Und da laß ihn heute abend allein, du liebste Frau und
+Mutter. Er ist noch ein bißchen herunter und möchte sich erst — hm —
+zurechtfinden. Verstehst du das? Bei einem Mann? Na, ja, ich wußte
+es. Morgen mit dem frühesten ist er bei dir. Und wenn ihr mich jetzt
+verhungern lassen wollt, kann ich nachher nicht weiterreden.«
+
+Er hatte sie um die Taille gefaßt und schwenkte sie lachend durch die
+Luft wie einen Kreisel.
+
+Herr Gott, dachte Herr Friedrich Leopold, wo bleibt denn die große
+Gesellschaftsdame?
+
+Aber dann zupfte er seinen Junior am Rock, und als sich der Racker
+durchaus nicht stören lassen wollte, zupfte er energischer und ruckte
+mißbilligend mit dem Kopf.
+
+»Margot, Margot,« rief Heinrich Springe, »nun schau dir doch um alles
+in der Welt mal diesen schamhaften alten Herrn an. Oder — du — er ist
+eifersüchtig!«
+
+»Er weiß eben noch nichts; er hat eben auch nicht die geringste
+Ahnung,« sagte Herr Friedrich Leopold weise zu Frau Stahl. »Dieser
+große Kindskopf. Es ist unglaublich.« — —
+
+Frau Margot sorgte, daß für den Gatten noch einmal aufgetischt wurde.
+Als er abgespeist hatte, saß die ganze Gesellschaft wieder um den
+Kamin herum, und Springe berichtete. »Den Hans, den hätten wir hier.
+Ein bißchen erkältet zwar, auch seelisch, aber ich vertrau’ auf euch
+Frauen. Mit Kamillentee wird’s nicht allein zu machen sein, aber
+ihr habt ja auch noch andere Heilmethoden, wie den Magnetismus, das
+Handauflegen. Gerade das Handauflegen — so eine liebe, stille und doch
+vielsagende Frauenhand — —. Aber wem sag’ ich das! Was wir Männer mit
+dem Seziermesser suchen, das findet ihr Frauen mit dem Instinkt!«
+
+»Und ~deine~ Meinung, Heinrich?«
+
+Er strich der Gattin über das ängstlich zu ihm aufschauende Gesicht.
+»Heimweh an den Rhein,« resümierte er kurz.
+
+Da atmete sie tief auf und drückte ihm dankbar die Hand.
+
+»Denkst du noch an den Abend, als wir uns verlobten? Dort drüben auf
+der Veranda? Ich hatte nur ~eine~ Bedingung zu stellen: Mach mir auch
+den Hans glücklich. Dann fehlte mir nichts mehr, um auch an mich zu
+denken.«
+
+»Und an mich nicht?« fragte Heinrich Springe schalkhaft.
+
+»O, du bester Mensch, wenn ich an mich denke, so heißt das doch: an
+dich.«
+
+Da konnte sich der Ehemann nicht enthalten. Er mußte sich erheben
+und trotz der Zuschauer Frau Margot in die Arme nehmen und eine
+Familienszene absolvieren. Wieder stand Herr Friedrich Leopold hinter
+ihm, und als der Junior den Kopf hob, rieb sich der Senior vor Freude
+die Hände und nickte ihm mit weitaufgerissenen, leuchtenden Äuglein
+heftig zu, als wollte er sagen: »Ich gratuliere, ich gratuliere.« Aber
+er sagte keinen Ton. Der Junge machte ein zu dämliches Gesicht.
+
+Und nun wandte sich Heinrich Springe zu der Greisin und nahm ihre
+Hände und berichtete von Hannes. Wunderdinge! Wie ihr die vornehmsten
+Menschen der Reichshauptstadt und selbst die Damen vom Hof zugejubelt
+hätten, ohne Aufhören, zehnmal, zwanzigmal. Und wie sie ausgesehen
+hätte. Noch viel schöner und vornehmer als die ganze vornehme Umgebung.
+»So echt und recht Stahlsch,« sagte Herr Heinrich mit einer Verbeugung.
+Und gesungen hätte das Mädel, gesungen! »Wie nur ein Menschenkind
+singen kann, das über seine Schönheit hinaus eine gewaltige Gottesseele
+besitzt.«
+
+In den Augen der Greisin zitterte ein Licht, und es wurde, je weiter
+der Mann da vor ihr sprach, ein stolzes Licht, und sie bewegte unhörbar
+die Lippen. Sie gedachte wohl der Tochter, die ihr Mutterglück draußen
+auf dem Goltzheimer Friedhof verschlafen mußte, und des einsamen
+Mannes, der bei Spichern lag, und segnete sie um ihrer Liebe willen.
+
+»Grüße hat mir das Mädel aufgetragen,« schloß Herr Heinrich, »Grüße,
+damit würd’ ich bis morgen nicht fertig. Aber das Beste ist doch: in
+sechs Wochen haben wir sie hier, und bis zum Winter sollen wir sie
+behalten.«
+
+Frau Margot empfand beinahe eine mütterliche Eifersuchtsregung. »Und
+Hans?« fragte sie hastig. »Wie lange werden wir Hans haben?«
+
+»Wenn er sich wiederfindet — für immer. Und wie sollte er nicht, unter
+den guten Augen einer solchen Mutter!«
+
+»Glaubst du wirklich, daß er wieder heimisch werden könnte — —?«
+
+»Die Guttaten der Heimat werden den hartgewordenen Sinn weich und gütig
+machen.«
+
+»Du weißt nicht, was er unter gut versteht,« sagte sie nachdenklich.
+»Er ist so eigenartig — — der arme Junge.«
+
+Da aber legte sich Herr Friedrich Leopold ins Mittel.
+
+»Darüber kann es nur eine einzige Auffassung geben,« versicherte er
+aufs bestimmteste, »ebenso wie es nur einen einzigen Philosophen gibt,
+der, weil unwiderlegbar, die allgemeinste Anerkennung besitzen muß. Wie
+sagt also dieser einzige Philosoph? Er sagt:
+
+ ›Das Gute, dieser Satz steht fest,
+ Ist stets das Böse, das man läßt.‹
+
+Wonach sich zu richten. Gute Nacht.«
+
+Und heiteren Gemütes trennte man sich. —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Achtes Kapitel
+
+
+Hans Steinherr war in seinem Knabenzimmer aufgewacht. Es dauerte lange,
+bis er sich in die Situation, in die Umgebung hineinfand. Er lag in
+den weichen Kissen, in denen er acht Stunden ununterbrochen und fest
+geschlafen hatte, und ließ die fragenden Blicke an den Wänden des
+Zimmers umherwandern, vom Plafond bis zum Fußboden, und vom Fußboden
+zurück zu der gemalten Decke, die ihm so bekannt erschien.
+
+Langsam wachte das Bewußtsein auf.
+
+Er war zu Hause. — —
+
+Das erste Gefühl, das er empfand, war das Gefühl des Geborgenseins.
+
+Das Gefühl des Kindes, das in dem elterlichen Hause eine uneinnehmbare
+Festung erblickt.
+
+Und er schloß die Augen und schlief ruhig weiter. Unbesorgt um den Tag.
+
+Dann fuhr er auf.
+
+Ein Gedanke hatte sich in seinen Traum hineingebohrt. Der Gedanke, daß
+er seine Mutter noch nicht begrüßt hatte.
+
+Er wollte aufspringen und sich ankleiden. Dann zögerte er und blieb.
+
+Ach ja, er würde sie ja nicht im Hause finden. Daß er das vergessen
+hatte — —.
+
+Dieses Haus gehörte jetzt ihm allein; aber die Mutter — gehörte nicht
+mehr ihm allein.
+
+Es hatte sich eben vieles verändert, während er in der Fremde gewesen
+war. Er selbst hatte sich ja auch verändert, weshalb da die anderen
+nicht? Aber die anderen hatten dadurch gewonnen, und er —?
+
+Die kinderselige Stimmung war verflogen. Er lag ausgestreckt in den
+Kissen und starrte in das Zimmer wie in ein Unbekanntes. Er bemühte
+sich, den Zweck der Heimreise zu ergründen, und zwang sich Bettinas
+Bild vor die Augen. Aber das Bild ließ ihn kalt, zu kalt, um ihn
+heimgetrieben zu haben. Es mußte ein stärkeres gewesen sein.
+
+Die Heimat selbst? — Es dämmerte in ihm auf, daß er auch mit der Heimat
+die Fühlung verloren haben würde. Sie wußte nichts von seinem Leben,
+und er nichts mehr von ihrem. Er war ja allen so fremd geworden,
+Menschen und Dingen. Und mit bitterem Lächeln gestand er sich: Es wird
+wieder eine Illusion gewesen sein, der du voreilig nachgegeben hast;
+eine Illusion, wie so viele schon in deinem Leben.
+
+Er lag ganz still und wartete, ob etwas antworten würde, von außen oder
+in seinem Innern. Aber er hörte nur die Taschenuhr auf dem Tischchen
+neben sich ticken, und er sagte sich: Nun, wenigstens die Zeit läuft um.
+
+Stunde auf Stunde verging, und er konnte sich nicht entschließen,
+aufzustehen. Ihn beherrschte das lastende Empfinden, als habe er
+nichts, so gar nichts zu versäumen.
+
+Dann vernahm er die Hausuhr, deren glockentiefen Klang er als Knabe so
+geliebt hatte. Er zählte aufmerksam ihre Schläge nach. Zehn Uhr! Was
+half’s, für heute mußte er nachgeben.
+
+Die Frische, die er beim Erwachen verspürt hatte, war gewichen. Mit
+müden Bewegungen kleidete er sich an, und als er fertig war, dachte
+er: Was nun? Er würde sich wohl zunächst zum Frühstückszimmer begeben
+müssen ...
+
+Die Hausverwalterin war eine würdige Matrone. Sie war früher schon im
+Hause bedienstet gewesen und kannte die Eigenheiten der Familie. Als
+Hans in das Zimmer eintrat, fand er den Tisch gedeckt, mit Düsseldorfer
+Bäckereien versehen, Butter und Gelee bereit gestellt und die
+Kaffeemaschine lustig brodeln. Die Alte mußte an seiner Tür gehorcht
+haben, um pünktlich zur Minute aufwarten zu können.
+
+Diese kleine, vertrauliche Aufmerksamkeit tat ihm doch wohler, als
+er es für möglich gehalten hätte. Während er sich niederließ und das
+Abkühlen des Kaffees abwartete, tönten in ihm feine, zage Stimmchen
+eines uneingestandenen Behagens. Da lagen auch die Morgenzeitungen,
+sauber zusammengefaltet, neben seinem Gedeck. Lächelnd griff er danach.
+Was sollte ihm der Moniteur der Provinzstadt zu sagen haben? Zuerst
+las er die hohe Politik, Zeile für Zeile, ohne sich viel Neues dabei
+denken zu können. Aber allmählich wurde das Interesse selbsttätiger,
+als er über die Lokalereignisse geraten war. Er las im Kunstbericht
+über eine große Aufführung der Nibelungentrilogie in der Oper, mit
+den besten Kräften aus aller Welt. Und staunend las er unter der
+Rubrik »Städtische Angelegenheiten« von den riesigen Projekten, die in
+der Durchführung begriffen waren, dem gewaltigen Bau einer zweiten,
+festen Rheinbrücke, der Zuschüttung des alten Sicherheitshafens,
+den in Angriff genommenen mächtigen Hafen- und Werftanlagen, die
+in wenigen Jahren beendet sein sollten und das alte Düsseldorf zur
+stolzen, gleichwertigen Rivalin des hochgemuten Köln machen würden.
+Zufällig traf in einer Notiz sein Auge die Einwohnerziffer. Die
+stille Gartenstadt, die Oase am Niederrhein, marschierte rüstig
+auf die Viertelmillion zu. In weniger als zehn Jahren hatte sie
+ihre Einwohnerzahl auf das Doppelte vermehrt. Da lag Gesundheit und
+Fruchtbarkeit im Boden. Das war gesegnetes Land.
+
+Der Kaffee war ihm über dem Studium kalt geworden, aber er schmeckte
+ihm auch so. Und das Schwarzbrot, dies einzig in der Welt existierende
+bergisch-märkische Schwarzbrot, und der weiße, lockere »Bauernplatz«!
+Er aß, als ob er ausgehungert wäre, und hatte doch vor einer halben
+Stunde nicht den geringsten Appetit verspürt. Schlaf, Appetit —
+aha, die Heimatsluft meldete sich doch. Und mit der Heimatsluft die
+Heimatslust. Die Kunde, die er da aus dem Anzeiger schöpfte, von dem
+Vormarsch Düsseldorfs, von dem Blühen und Wachsen der Stadt, berührte
+direkt sein vaterstädtisches Herz, das er im Lärm der Metropolen
+verloren zu haben glaubte, und er murmelte wie ein Alteingesessener:
+»Hoho, hinter den Bergen wohnen auch noch Leute!«
+
+Was mochte die edle Malkunst angeben? Den großen Worten Hüsgens traute
+er nicht recht. Aber nun war er ja selbst am Platz und würde sich
+schon unterrichten. An Zeit fehlte es ihm ja nicht — ah, an Zeit! Und
+wieder kroch die Beklommenheit heran und legte sich von neuem auf die
+frischgesproßten Triebe wie ein Rauhreif.
+
+Er nahm Hut und Mantel, ging langsam die Treppen hinab, um die
+Haushälterin zu begrüßen und die unumgänglichen Anordnungen zu treffen,
+und benutzte die Hintertür, um einen kurzen Umweg durch den Garten zu
+machen. Der Gärtner hatte schon vorgearbeitet, Bäume, Büsche und Ranken
+waren beschnitten und die Wege ausgeharkt und mit bläulich schimmerndem
+Rheinkies bestreut. Aber die Kahlheit, der Mangel an Farbe und Leben
+ließ ihn frösteln, die dürre Laube, in der er einst, als die Blätter
+rauschten, Hannes wiedergesehen hatte, maß er mit großem, erschrockenem
+Blick, und er eilte, die Straße zu gewinnen.
+
+Viele Leute sah er an den Fenstern und vor den Häusern, und er brauchte
+sich nicht auf die Namen zu besinnen. Aber es war keiner, der ihn
+wiedererkannt hätte. Man hatte ihn nicht vermißt und wußte vielleicht
+nicht einmal mehr, daß der alte Philipp Steinherr einen Sohn besessen
+hatte. Wodurch auch? Er hatte es ja nicht für nötig befunden, sich in
+der Erinnerung zu halten, weder durch einen Wunsch, noch durch eine Tat.
+
+Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß man ihn mit
+Aufmerksamkeit betrachtete, mit einer Aufmerksamkeit, der ein
+spöttisches Lächeln beigemischt wäre. Er wußte ganz genau, daß er es
+mit einer Einbildung zu tun hatte, und trotzdem konnte er sich nicht
+von ihr befreien und wanderte mit niedergeschlagenen Augen durch die
+Straßen der Vaterstadt wie ein Mensch, der sich eines Unrechts bewußt
+ist. Den Weg zur Immermannstraße hatte er gedankenlos eingeschlagen,
+und ebenso gedankenlos blieb er stehen und wunderte sich, daß er sich
+vor der Wohnung Springes befand.
+
+Wie ein blinder Gaul, der seine alte Tränke wiedererkennt, sagte er
+sich.
+
+Dann schritt er mit einer Eile hinauf, als käme er dadurch schneller
+über den Moment des Wiedersehens hinweg.
+
+Er brauchte nicht zu klingeln. Frau Margot hatte ihn schon seit dem
+frühen Morgen am Fenster erwartet und stand jetzt auf dem obersten
+Treppenabsatz, um ihn als erste in Empfang zu nehmen.
+
+»Mutter!« stammelte er, als sie hastig die Arme um seinen Hals legte
+und ihn in ihr Zimmer zog.
+
+Frau Margot konnte nicht sprechen. Sie klopfte nur immer wieder seine
+schmalen Wangen, strich ihm das Haar zurecht, drückte seinen Kopf an
+ihre Schulter und küßte ihn auf den Scheitel. Sie saßen sich gegenüber,
+und noch einmal sagte er leise: »Mutter,« legte seinen Kopf in ihren
+Schoß und seine Lippen auf ihre Hände.
+
+So hatte er sich das Wiedersehen nicht ausgemalt, so nicht. Diese
+schweigende Liebe, diese stumme, mitfühlende Rücksichtnahme traf ihn
+tief. Er fühlte sich mehr denn je aus den Gleisen geschleudert.
+
+Allmählich sammelte er sich, und er brachte es über sich, aufzublicken
+und die Mutter mit einem herzlichen Lächeln anzuschauen. Das Lächeln
+aber fand den lange vorbereiteten Widerschein.
+
+»Mein lieber Junge, da bist du ja wieder. Also ganz vergessen hattest
+du mich doch nicht!«
+
+»Nein, Mama, dich nicht.«
+
+»Wie männlich, wie stattlich du geworden bist!«
+
+»Und wie du jung geblieben bist, Mama. Du hast dich so gar nicht
+verändert.«
+
+»O doch,« sagte sie, und eine geheime Freude vibrierte in dem Ton. »Du
+wirst mich auslachen, wegen meiner Eitelkeit, aber — aber — ich bin
+noch jünger geworden.«
+
+Die Worte hatten einen so vollen, tiefen Klang gehabt. Sie benahmen
+dem Heimgekehrten jedes Grübeln, jede Frage. Er wußte jetzt, daß er
+eine glückliche Frau vor sich hatte, eine glückliche Gattin, und —
+wenigstens heute, in dem Augenblick, da sie das Gesicht des Sohnes
+wiedersah — eine glückliche Mutter. Nur war sie auch eine glückliche
+Frau und glückliche Gattin gewesen die Jahre hindurch, die er fern von
+ihr verbracht hatte! Wenn er morgen wieder ging — ob er wirklich eine
+Lücke hinterließe?
+
+Da waren die Zweifel wieder, die ihn von jedem Auskosten des Genusses
+zurückschreckten.
+
+Nein, er würde keine Lücke hinterlassen. Im Gegenteil, er war doch,
+bei Licht und mit vernünftiger Erwägung betrachtet, ein störendes
+Element in diesem Hause der Fröhlichkeit. Man hatte zu viel Zartgefühl,
+um ihn das merken zu lassen. Aber das liebe bißchen Sentimentalität
+beiseite geschoben, und im Grunde verhielt es sich so. Nur keine
+Selbstüberhebung mehr, nur nicht den anmaßlichen Glauben, als sei er,
+nah oder fern, die Angel der Familie! Welcher Familie denn? Hier gab es
+nur eine Familie Springe.
+
+Das alles zog ihm ruhig und geordnet durch den Kopf und gab ihm die
+höfliche Haltung eines Mannes, der für jede erwiesene Freundlichkeit
+ein dankbares Empfinden besitzt, ohne ihre Äußerungen als
+selbstverständlichen Tribut beanspruchen und herbeiführen zu wollen.
+
+»Ist Heinrich zu Hause?« fragte er, und im gleichen Moment suchte er
+sich zu verbessern. »Entschuldige, Mama,« sagte er verwirrt, »das — das
+sollte natürlich keine Achtungsverletzung dir gegenüber sein. Die — die
+alte Gewohnheit brach durch. Wünschest du, daß ich ihn Vater nenne?«
+
+»Großer Dummkopf,« lachte sie errötend, »bist du denn ein Baby? Mir ist
+nichts lieber, als daß er dein Freund ist, nichts als dein Freund. Gibt
+es denn etwas Schöneres unter Männern?«
+
+Er betrachtete sie still, und nun wurde auch er gewahr, daß sie jünger
+schien als vor Jahren, daß in ihren Augen ein mädchenhafter Glanz lag
+und über ihre Züge eine weiche Hand geglitten war. Zum ersten Male
+überkam ihn eine innere, selbstlose Mitfreude, und er nahm ihre Hände
+zärtlich zwischen die seinen.
+
+»Ich gratuliere dir zu allem, Mama.«
+
+Da löste sie rasch ihre Hände, zog ihn fest an sich und atmete dabei
+tief, wie von einem Alpdruck befreit.
+
+»Danke dir, mein Junge, danke dir ...«
+
+»Soll ich jetzt Heinrich begrüßen?« fragte er nach einer Weile.
+
+»Er ist fortgegangen. Er meinte, er hielte es sonst doch nicht aus und
+würde uns in die weichste Stimmung hineinprasseln. Da hat er sich vor
+sich selber in Sicherheit gebracht.«
+
+Sie sahen sich lächelnd an. Nun war auch der Gatte und Freund in ihren
+Kreis einbezogen.
+
+»Erzähle mir von dir, Hans! Mich interessiert alles, was du erlebt
+hast. Nein, nein, du brauchst keine angstvollen Augen zu machen, ich
+will dich nicht inquirieren. Erzähle mir nur Heiteres, was dich freut.«
+
+»Ich habe nichts Heiteres erlebt, liebe Mutter. Was soll ich da erst
+berichten!«
+
+»Du warst krank, armer Junge? Heinrich hat es mir von Berlin aus
+geschrieben.«
+
+»Krank? Ach ja, ganz recht, ich war auch krank. Ich muß die Krankheit
+schon lange in mir gehabt haben.«
+
+»Aber nun ist sie gehoben, Hans; du fühlst dich wieder gesund —?«
+
+»Rekonvaleszentenstimmung, Mama, nicht schwarz, aber auch nicht
+übermäßig farbig. Es wird sich schon klären.«
+
+»Du solltest zu uns ziehen, Hans,« drängte sie sanft, »wenigstens auf
+ein paar Monate, bis du dich eingelebt hast. Ich möchte dich so gern
+pflegen.«
+
+»Du würdest mich ja nur aufs neue verzärteln, liebe Mama.«
+
+»Wenn auch. Hast du denn nur schon gemerkt, daß hier eine ganz
+besondere Luft weht, mein ernster Junge? Eine Luft, in der man gar
+nicht anders kann, als fröhlich sein und lachen?«
+
+»Man kann auch mit traurigem Herzen lachen.«
+
+»Hier nicht, hier ganz gewiß nicht,« versicherte Frau Margot lebhaft.
+»Und in sechs Wochen käme eine neue Pflegerin hinzu, oder — vielleicht
+— eine halbe Patientin.«
+
+»Von wem sprichst du, Mama?«
+
+»Von Johanna. Von Hannes. Freut es dich nicht, deine kleine
+Jugendfreundin wiederzusehen?«
+
+»Ob es ~mich~ freut? Darauf wird’s wohl nicht zuerst ankommen. Ob es
+~sie~ freuen wird, Mama, das ist die richtige Frage. Und ich fürchte
+fast — doch wozu sich darüber heute schon den Kopf zerbrechen!«
+
+»Du möchtest also nicht zu uns ziehen, Hans? Da draußen wird es dir
+bald einsam werden.«
+
+»Ich bin ein Einsamkeitsmensch, Mama. Habe Geduld mit mir, und ich will
+dir dankbar sein.«
+
+Sie ~wollte~ Geduld haben; so unendlich viel Geduld ... Seit ihr
+in der Nacht Heinrich Springe in kurzen, scharfen Umrissen Bild
+für Bild aus dem Leben des Sohnes gezeichnet hatte, glaubte sie
+manches Gleichlautende in ihrem und Hans’ Charakter und damit manche
+Wiederholung von Kämpfen und Schicksalen erkannt zu haben. In der
+Erziehung war es versäumt worden. Die Jahre der Jugend hatten ihn nicht
+mit dem nötigen Fonds an rheinischer Frische und Elastizität ausstatten
+können, weil er daheim im Vater nur den rastlos drauf los arbeitenden
+Geschäftsmann, in der Mutter die vielbeschäftigte oder die ausruhende
+Weltdame, die für das begehrliche Knabenherzchen wenig Zeit erübrigen
+konnte, erblickt hatte.
+
+Und in Frau Margots Phantasie verschoben sich die Maßstäbe, und sie
+war geneigt, alle Schuld sich selbst zuzuschreiben und nun den Dingen,
+wie sie geworden waren und deren Vorentwicklung in der Knabenseele sie
+nicht rechtzeitig gesteuert hatte, das Geringe entgegenzusetzen, das
+ihr blieb: die unendliche Geduld.
+
+»Mama,« sagte Hans, »du quälst dich, ich seh’ es dir an. Du hast ja gar
+keine Ursache.«
+
+»Doch, doch; du verstehst das nicht.«
+
+»Ich verstehe es schon, Mama. Was in und außer mir fehlgeschlagen ist,
+das mußte kommen, weil der Grundfehler in mir selber lag. Ich hatte
+immer nur Träume, sprunghafte Gedanken, die jeden Schein, der mir
+fremd geblieben war und mir deshalb im ersten Augenblick imponierte,
+schleunigst zu einem neuen Erfahrungssatz stempelten. Mir fehlte die
+Sammlung, Mama, und die Freude, anderen wie mir eine Freude zu machen;
+und so schwebte ich in der Luft.«
+
+»Ich hätte dir helfen sollen, Hans.«
+
+»So beunruhige dich doch nicht. Es gibt für jeden Menschen einen
+Zeitpunkt, an dem er Farbe bekennen muß, was denn eigentlich an ihm
+ist. Ganz nach Ausfall dieses Examens richtet sich die eigentliche
+Entwicklung. Wer hier den Anschluß verpaßt, aus Leichtsinn, Trägheit
+oder Überhebung, der bekommt seinen Stempel für das ganze Leben. Davon
+hilft ihm selbst alle für ihn aufgebotene Familienliebe nicht ab.«
+
+Er strich freundlich über ihre Hände, als wäre er der Tröster und sie
+das Kind.
+
+»Nun heißt es, sich mit dem empfangenen Stempel auf möglichst
+anständige Weise abfinden.«
+
+Sie hielt seine Hände fest und drückte sie mutig.
+
+»Mein Junge,« sagte sie mit tiefer Überzeugung, »es gibt für jede
+Krankheit eine Heilung. Wir dürfen nur nicht die Krankheit lieb
+gewinnen und den Arzt vorüberlassen, wenn er kommt. Siehst du, wir
+sind erwachsene Menschen, und ich kann es dir sagen, ohne Furcht,
+gegen deinen Vater undankbar zu erscheinen, von dir mißverstanden zu
+werden. Auch ich war krank, lange, sehr lange sogar. Eigentlich bis zu
+dem Tage, an dem Heinrich Springe kam, zum zweiten Male kam. Ich hatte
+ihn als Mädchen gern, und doch habe ich nicht gewartet und habe mich
+anders entschieden, weil auch mir die rechte Sammlung fehlte und ich
+in der Luft schwebte. Weil ich mir angewöhnt hatte, alles nur von mir
+aus zu beleuchten. Und der Rückschlag blieb auch bei mir nicht aus. Es
+gab gar nicht genug Zerstreuungen, um über eine Leere hinwegzukommen.
+Zum Schluß war es doch nur ein Vegetieren in vornehmem Stil. Es war
+reichlich spät, da kam der Arzt. Und ich nahm alle meine Gesundheit
+zusammen und alle meine Erinnerung an die Gesundheit, und diesmal ließ
+ich ihn nicht vorbei und griff zu, als er mir die Hand bot, und weil
+ich das Wollen hatte, riß er mich mit einem Ruck heraus. Ins Leben.«
+
+Sie sah den Sohn strahlend an, und wieder wunderte er sich, wie jung
+sie war.
+
+»Da steh’ ich nun im Leben,« fuhr sie fort, »nicht in dem, was die
+große Welt Leben nennt und was nichts ist als eine Parodie auf das
+Menschentum, sondern in dem Leben, das einem so viel Umarmungen
+zurückgibt, als man ihm bietet. Ach, Hans, ich möchte meine Arme nur
+immer so ausstrecken! Wie viel verlieren wir törichten Menschen doch
+durch die Blasiertheit und Gespreiztheit unseres Wesens!«
+
+»Du mußt sehr glücklich geworden sein, Mama!«
+
+»Weil ich sehe, daß ich im stande bin, andere glücklich zu machen.«
+
+Er verstand sie. Und lächelnd nahm er der Mutter schönes Gesicht in
+seine Hände, sah ihr lange in die Augen und küßte sie auf den Mund.
+
+Ein Vergleich drängte sich ihm auf, ein ganz vager Vergleich, der kaum
+Berührungspunkte besaß, aber selbst an dieses Minimum klammerte er sich
+plötzlich an. Die Mutter mußte ihm antworten können, wenn überhaupt
+einer.
+
+»Glaubst du, Mama, daß eine Frau darüber hinwegkommen kann, wenn sie
+einen Mann geliebt und doch verabschiedet hat?«
+
+»Nein, mein Junge, sie wird es nicht können. In der ersten Zeit bildet
+sie es sich ein. Das Neue schafft ihr Beschäftigung. Aber wenn das Neue
+alt wird und die Beschäftigung ausbleibt, und wenn sich dann, so ganz
+allmählich und zuerst wie zur Zerstreuung, die Erinnerungen einstellen
+— mein alter Hans, die Erinnerungen sind unsere liebsten Freunde, aber
+sie können auch unsere schlimmsten Feinde werden. Wenn sich bei einer
+Frau die Erinnerungen einstellen und erst leise und dann lauter zu
+rufen beginnen: Dies und das war dein und du hast es aus Laune oder
+Feigheit verscherzt, und wenn sie dann kein Mittel sieht, an das alte
+Ende den neuen Anfang zu knüpfen — die Frau wird innerlich alt vor der
+Zeit, und selbst das schöne Wort der Pflichterfüllung kann ihr nur
+äußerlich aufhelfen.«
+
+»Und was soll der Mann tun, der aus Laune oder Feigheit verleugnet
+worden ist?«
+
+»Den Wert der Frau zu erkennen suchen und danach handeln.«
+
+»Es gibt also doch Unterschiede?«
+
+»Frauen können wie Kinder den Weg verfehlen; dann gebührt ihnen immer
+noch Liebe und Nachsicht.«
+
+»Und wenn sie es bewußt tun, als fertige Menschen, mit der Berechnung,
+im Wiederholungsfalle nicht anders zu handeln?«
+
+»Mein lieber Hans, über solche Frauen spricht man nicht.«
+
+Des Heimgekehrten Gedanken schweiften noch einmal zurück zu der Stadt,
+die er gestern verlassen hatte. Ȇber solche Frauen spricht man
+nicht.« Hast du es gut verstanden, Bettina? — Ein bitterer Geschmack
+legte sich ihm auf die Zunge, und über sein Gesicht breitete sich die
+Selbstironie. Von Hannes zu Bettina — das war eine Reise gewesen, des
+Schweißes der Edeln wert! »Über solche Frauen spricht man nicht,« tönte
+es laut und hallend in seinem Innern — aber man ~denkt~ auch nicht mehr
+an sie.
+
+Das war Hans Steinherrs letzter Gedanke an Bettina Wittelsbach.
+
+»Mama,« sagte er, und der Versuch, heiter zu erscheinen, gelang
+ihm, »lach mich doch aus, weil ich hier in der schönen Pose des
+Weltschmerzlers vor dir agiere. Und solch ein Beispiel wie dich vor
+Augen! Ist das nicht närrisch?«
+
+»Willst du Herrn von Springe begrüßen?« griff Frau Margot lebhaft die
+Stimmung auf, »und Frau Stahl?«
+
+Der Sohn erhob sich sofort.
+
+»Wenn ich ihnen gelegen komme?«
+
+»Das sind zwei Menschen, denen nie etwas ungelegen kommt,« lachte Frau
+Margot heiter. »Geh nur hinüber. Unterdes werde ich in der Küche
+nachsehen, ob man auch die Ehre des Tags zu würdigen weiß. Heute habe
+ich meines Jungen wegen aber auch alles verbummelt.«
+
+War das seine Mutter? fragte er sich, als er über den Korridor schritt.
+In der Küche wollte sie nachsehen? War das ein Scherz, oder vermischte
+sich bei ihr das Interesse für das geistige und leibliche Wohl ihrer
+Lieben jetzt in eins? Sie ist wirklich eine ~Frau~ geworden, dachte er
+staunend, meine verwöhnte, geistreiche und — so viel gelangweilte Mama,
+eine wirkliche und wahrhaftige Frau ...
+
+Auf sein Klingeln an der Korridortür Herrn Friedrich Leopold von
+Springes wurde nicht sogleich geöffnet. Aber einen Streit vernahm der
+Draußenstehende ganz deutlich, und als er die Worte verstand, wußte er,
+daß er nicht fehlgegangen war.
+
+»Nee, nee, nee, verehrte Frau, sagen Sie das nicht. Die jüngsten Beine
+von uns beiden habe ~ich~!«
+
+»Aber, Herr von Springe, dafür bin ~ich~ doch da.«
+
+Und dann öffneten ihm alle beide. Rechts stand Herr Friedrich Leopold
+in der Hausjoppe, links Frau Stahl in weißer Schürze.
+
+»Der Hans! Der Hans!« schrie Herr Friedrich Leopold und schwenkte an
+hocherhobenem Arm die Hand wie eine Wetterfahne.
+
+»Guten Tag, Herr Doktor,« sagte die Greisin trocken, aber auch in ihrer
+Stimme zitterte etwas.
+
+Der alte Junker hatte den Besucher gleich mit Beschlag belegt. Seinen
+Arm um den des jungen Freundes geschoben, führte er den Heimgekehrten
+im Triumph in seine Burggemächer.
+
+»Ha’, hamm’, ham’ mer dich emol, du Durchgänger? Herr Doktor müssen
+schon verzeihen, daß ich Du sage, aber da ich nun einmal durch Recht
+und Gesetz Ihr Großvater bin, du liebenswürdiger Jüngling du, so
+kannste nix mache. Höchstens — — aber natürlich! Nach alter, deutscher
+Sitte! Wollen zuallererst doch mal Bruderschaft trinken. Wie sagt doch
+Krökel, der Klausner alt und greis? ›Mit Verlaub, ich bin so frei!‹ Das
+soll ein Manneswort sein. Frau Stahl, edle Burgverschließerin, bitte
+ganz ergebenst um eine Flasche Rauentaler Ausbruch.«
+
+»Rheinwein, Herr von Springe? Und so schweres Zeugs?«
+
+»Rheinwein, dem Rheinwein gebührt! Und was ist schwer, wenn zwei
+kräftige Männer das Werk mit Händen anfassen! Notabene, woher wissen
+Sie tugendhafte Frau denn, daß das Zeugs so schwer ist? Sie haben wohl
+mal — ganz heimlich — mit Verlaub, ich bin so frei — —?« und er machte
+die entsprechende Geste.
+
+Als sich Frau Stahl, entrüstet über den Verdacht, in den Keller begab,
+wollte sich Herr Friedrich Leopold totlachen.
+
+»Siehst du, mein Sohn, das mußt du dir für später merken. Das ist
+ein Kniff von mir, mit dem krieg’ ich alles. Nur den lieben Seelen
+insinuieren, als ob sie das Beste für sich behalten wollten. Dann
+kommt die Entrüstung und mit der Entrüstung die verächtlich tuende
+Freigebigkeit. Aber mir schmeckt’s doch.«
+
+Nach fünf Minuten plauderte der alte Herr bereits, als ob sie nie
+getrennt gewesen wären.
+
+»Du,« meinte er zwischendurch geheimnisvoll, »deine Mutter ist eine
+charmante Frau. Weißt du? — —«
+
+Dann brachte Frau Stahl den Wein, und der alte Herr putzte selbst die
+langstengligen Römer aus.
+
+»So, mein Junge, nu mal fix übers Kreuz. So — o —.« Er wischte sich
+den Mund. »Ich heiße Friedrich Leopold. Ach nee, das zieht ja zwischen
+uns beiden nicht. Also ich bin dein Großvater, der dich sehr lieb hat
+und dasselbe von dir beansprucht. Und nun wollen wir mal wie echte
+Kreuzritter gegen den Heiden ziehen.«
+
+»Gegen den Heiden?« wiederholte Hans Steinherr verwundert und ließ sich
+das Glas frisch füllen.
+
+»Hie Buch und Kreuz und Mönchsgebet — sie müssen alle von dannen,«
+variierte der strenggläubige Zecher. »Dieser Rauentaler, dieser Heide,
+hat sich selbst der schmerzlosesten Taufe entzogen. Vertilge ihn,
+vertilge ihn! Er ist reif!«
+
+Er stieß mit Hans an und zwinkerte, verständnisvoll schmunzelnd, mit
+dem Auge.
+
+»Du — die charmante Frau soll leben! Jung’, Jung’, ham’ mer en Freud’!«
+
+Hans verstand zwar nicht recht, weshalb sich der alte Herr gerade
+heute so unbändig über die charmante Frau freute, aber er nahm an, daß
+das wohl die Normalempfindung Herrn Friedrich Leopolds gegenüber Frau
+Margot sei, und dankbar tat er Bescheid. Die Trinksprüche waren indes
+noch nicht zu Ende.
+
+»Einmal ist keinmal, nicht wahr, Frau Stahl? Aber dreimal — das können
+Sie durch die einfachste Addition feststellen — das ist dreimal. Das
+dritte Glas also — Was? Ich soll vor Tisch nicht mehr trinken? O,
+wenn Sie ahnten, wem wir dies dritte Glas bringen, hätten Sie schon
+aus purstem Familienegoismus geschwiegen. Das dritte Glas unserem
+Prachtmädel, unserem Hannes. Marke: Stahl!«
+
+Er drängte der alten Freundin ein Glas auf, verbeugte sich höfisch und
+ließ die Gläser fein aneinander klingen.
+
+Hans Steinherr fühlte eine sich steigernde Beklommenheit. Rasch trat er
+auf die alte Frau zu und hielt ihr das Glas hin.
+
+Die Greisin sah ihm, ohne eine Gemütsregung zu äußern, ruhig in die
+Augen und stieß mit ihm an. Dann wandte sie sich dem alten Herrn zu,
+der am liebsten sofort in eine allgemeine Fiduzität hineingesegelt
+wäre, und sagte warnend: »Herr von Springe, Frau Margot und Ihr Herr
+Sohn erwarten uns in einer Viertelstunde drüben zu Tisch. Und Sie sind
+noch immer in der Hausjoppe.«
+
+»Donnerwetter,« meinte Herr Friedrich Leopold, »eine Berufung auf Frau
+Margot, das heißt so viel als: stramme Haltung! Na, nimm’s nicht übel,
+mein Sohn, daß ich verschwinde. Ich lass’ dich ja, während ich Gala
+anlege, in der allerbesten Gesellschaft zurück.«
+
+Dann war Hans Steinherr mit Frau Stahl allein.
+
+Er saß auf seinem Stuhl, vornübergebeugt, die Arme auf den Lehnen, und
+beobachtete sinnend jede ihrer Bewegungen, während sie ab und zu ging,
+den Tisch in Ordnung brachte und sich im Zimmer zu schaffen machte.
+
+»Wissen Sie noch, Frau Stahl, wie ich an dem Sonntag zu Ihnen kam,
+drüben in der Pempelforterstraße, und bei Ihnen Kaffee trank?«
+
+»Weshalb sollte ich das nicht mehr wissen, Herr Doktor?«
+
+»Wie lang’ ist das her! — — Ich war damals noch ein Junge.«
+
+»Das kann ich nicht beurteilen, Herr Doktor.«
+
+Er zuckte zusammen. Sie hatte ihn falsch verstanden oder mißverstehen
+wollen.
+
+»Haben Sie gute Nachrichten von — von Hannes?« fragte er nach einer
+Pause.
+
+»Ich danke. Man muß schon zufrieden sein, wenn sie gesund bleibt.«
+
+»Haben Sie denn — haben Sie denn Besorgnisse? Ich meine: Ihre Enkelin
+fühlt sich doch wohl?«
+
+»Sie sind sehr freundlich, Herr Doktor. Meine Enkelin hat bis heute
+noch nicht geklagt.«
+
+Wieder die Pause, die kein Ende nehmen wollte. Nur das mechanische
+Klappern von Stricknadeln.
+
+Da erhob sich Hans Steinherr von seinem Stuhl und ging zu der alten
+Frau hinüber.
+
+»Frau Stahl, ich bin nach Düsseldorf zurückgekommen, um meinen Frieden
+zu schließen, mit meinen Angehörigen und, wenn es angeht, auch mit mir.
+Meine Mutter hilft mir, Heinrich Springe und der alte Herr helfen mir —
+wollen Sie allein nicht?«
+
+»Wir sind doch nicht Ihre Angehörigen, Herr Doktor.«
+
+Hans Steinherr preßte die Lippen zusammen. Dann streckte er die Hand
+aus und sagte leise: »Verzeihen Sie mir!«
+
+Die Greisin ließ das Strickzeug in den Schoß sinken und sah ihn mit
+großen Augen an.
+
+»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Herr Doktor. Ob Ihnen Johanna was
+zu verzeihen hat, das hat sie mir nie gesagt.«
+
+»Doch, Frau Stahl. Sie — gerade Sie. Sie haben mich damals voll
+Vertrauen auf meine Ehrlichkeit in Ihr Haus aufgenommen und mich
+Einblicke in ein starkes, stolzes Leben tun lassen. Jeder andere
+wäre daran gewachsen. ›Scham ist Feigheit,‹ sagten Sie damals. Mein
+Wankelmut hat das Wort traurig bestätigt, ich mußte erst noch einmal
+durch die Schule gehen, um es in seiner Wahrheit verstehen zu lernen.
+Frau Stahl, ich bin nicht mehr feige, ich bin nur noch beschämt.
+Vielleicht halten Sie es der Mühe wert, dies trübe Geständnis
+entgegenzunehmen.«
+
+Die alte Frau rückte unruhig auf ihrem Stuhl.
+
+»Wenn ich Ihnen von der Beschämung abhelfen könnte — —. Aber gute
+Lehren sind Stroh statt Hafer.«
+
+»Verzeihen Sie mir!« sagte er noch einmal leise.
+
+Sie sah zu ihm auf. Sie sah sein müdes Gesicht und das Ruhebedürfnis
+in seinen Augen. Und dann erhob sie sich und nahm seine Hand an. Sie
+packte sie mit festem Druck und hielt sie in der ihren. Irgend etwas
+wollte sie sagen. Doch sie nickte nur, ließ seine Hand los und ging in
+ihre Küche.
+
+»Ich hätte es nicht ertragen,« murmelte Hans Steinherr; »von allen, nur
+von ihr nicht. Nun ist mir freier.«
+
+Er nahm seinen Platz wieder ein und wartete auf Herrn Friedrich
+Leopold, der bald erschien.
+
+»Oho — so ganz solo? Ja, mein Sohn, weiß man denn außerhalb Düsseldorfs
+nicht mehr, wie man Süßholz raspelt? Ausgerissen ist dir die verehrte
+Frau? Du bist zu schüchtern, Hans.«
+
+Er strich sich den weißen Schnurrbart hoch und klopfte behutsam ein
+Stäubchen vom Rockärmel.
+
+»Tipp topp, gelt? Als wenn’s zum Tanzen ging’.«
+
+Draußen wurde an der Schelle gerissen, daß es Sturm läutete.
+
+»Das sind die jungen Leute von drüben,« sagte Herr Friedrich Leopold,
+»überschüssige Kraft.« Und er ging öffnen.
+
+Dann stürmte Heinrich Springe ins Zimmer. Frau Margot folgte gemütlich
+am Arme des Vaters.
+
+»Da bist du ja, Hans. Herrgott, wie ich mich freue! Und rote Backen
+hat er schon gekriegt, ordentlich rote Ba —« Sein Blick fiel auf den
+Senior. »Du, sag mal, du hast ja auch rote Backen gekriegt, aber so
+verdächtige? Ihr habt wohl das Krökelspiel gespielt, vom frommen
+Klausner? Ah, sieh da, der stumme Zeuge. Rauentaler Auslese. Hm, hm,
+hm. Margot,« wandte er sich an seine Frau, »wirf doch den Plebejer, den
+Zeltinger, aus dem Eiskühler. Die Herren haben bereits anders bestimmt.«
+
+Der alte Herr aber freute sich, als ob er den Sohn mit einer brillanten
+Pointe hineingelegt hätte.
+
+Dann ging es zu Tisch. Hans Steinherr führte die Mutter, Herr Friedrich
+Leopold holte Frau Stahl herbei, und Heinrich Springe machte den
+Beschluß. Feierlich zogen sie über den Korridor in die andere Wohnung
+hinüber.
+
+Nach der Tafel verlangte es Hans, die Fabrik zu sehen. Inmitten der
+Fröhlichkeit war plötzlich ein Drang nach Tätigkeit in ihm erwacht. Er
+bat, ihn für den Nachmittag zu entschuldigen, und versprach, sich zum
+Abend wieder einzustellen.
+
+Langsam wanderte er durch den frischen Tag hinaus nach Bilk. Hier
+bleiben können, hier bleiben können! tönte es in ihm. Er reckte sich in
+den Schultern, und es war ihm, als spürte er neues Blut.
+
+Wie die Sonne dort über dem Feldstreifen zittert. Gerade, als ob es
+schon Frühling wäre ... Und dann sprach er vor sich hin: »Die Heimat.
+Die Heimat. Das hier ist die Heimat ...«
+
+Manchmal blieb er stehen und sog aus tiefen Lungen die frischwehende
+Luft ein. Alles schien ihm in Glanz eingehüllt, und obwohl die
+Landschaft hier nichts Anziehendes bot und ringsumher die Mauern und
+Schornsteine der industriellen Werke emporragten, glaubte er, selten
+ein schöneres Bild gesehen zu haben.
+
+Und er malte es sich verlockend aus, hier wieder Wurzel zu schlagen,
+unter diesen Menschen hier wieder das Lachen zu lernen, durch
+angespannte Tätigkeit sich die Achtung zu verdienen und — ja,
+ja! weshalb sollte es nicht möglich sein! es mußte sich auch das
+ermöglichen lassen bei tapferem Ausharren und unermüdlichem Werben —
+und am eigenen Herd das Glück festzuhalten. »O, du Jugendkraft, du, du!
+Die vom Niederrhein haben dich in Erbpacht!«
+
+Warm lief es ihm durch alle Glieder. Die Märzsonne hatte für ihn
+Juliglut. — —
+
+Bis zum späten Abend war er in der Fabrik geblieben. Er hatte die
+Feierabendglocke gehört und die Scharen geschwärzter Arbeiter unter
+dem Fenster des Privatbureaus vorüberwallen sehen, während er immer
+noch saß und sich von dem Leiter der Werke einen Überblick über die
+Geschäftslage geben, Pläne vorlegen, den Gang der Fabrikation erläutern
+ließ. Und je länger er saß, umso schärfer und quälender wurde die
+Entdeckung, daß ihm jeder Sinn für das fehlte, was ihm der Teilhaber
+der Firma Philipp Steinherr doch so klar und übersichtlich an Hand
+der Bücher, Karten und Tabellen vortrug, daß er nie den Sinn dafür
+erlangen würde. Denn die genialste Berechnung, in technischer wie in
+kaufmännischer Beziehung, rüttelte kein außergewöhnliches Interesse in
+ihm wach. Mit stumpfer Bereitwilligkeit hörte er zu und stellte immer
+nur sein Unvermögen fest.
+
+Er hatte sich von dem Teilhaber, der noch einige wichtige Arbeiten zu
+erledigen wünschte und deshalb noch nicht in die Stadt hineinfuhr,
+mit herzlicher Danksagung verabschiedet, den Wagen abgelehnt
+und den Heimweg zu Fuß angetreten. Aber die Sonne war fort, und
+die Frühlingsahnung war fort. In seinem Innern waren alle die
+hoffnungsfröhlichen Stimmen des Nachmittags jäh verstummt, so angstvoll
+er auch horchte.
+
+Und plötzlich warf er sich an einer Böschung nieder und preßte sein
+Gesicht verzweifelt gegen die Heimatserde.
+
+»Es ist ~nichts~ mehr, es ist ~nichts~ mehr. Es ist ja alles
+verpfuscht! — — —«
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+
+Der erste Tag im Mai!
+
+Wieder war Düsseldorf, das glücklich gelegene, den anderen Städten im
+Reich um reichlich vierzehn Tage vorausgeeilt, im Hofgarten rauschten
+die vollbelaubten Kronen der Bäume, das Gesträuch war mit Blüten
+übersät, und der Flieder duftete über die ganze Stadt.
+
+Seit einer Woche hatte in der Immermannstraße Hannes Einkehr gehalten.
+
+Sie hatte eine anstrengende Tournee hinter sich, aber sie fühlte
+sich, wie sie lachend versicherte, trotz alledem elastisch wie eine
+Haselgerte und gedächte sich nur deswegen sechs Monate auf die faule
+Seite zu legen, um den nötigen Vorrat an Düsseldorfer Luft zu sammeln.
+
+»Man muß doch zuletzt wissen, wo man ›zuständig‹ ist,« erklärte sie
+Heinrich Springe, »wenn man nicht ganz verzigeunern will. Und das
+Zigeunertum — ach Gott, das ist eine schöne Lüge.«
+
+»Du, Mädel, so schlau wie du ist nun auch der Hans. Ganz still und
+beschaulich ...«
+
+»Er gefällt mir nicht,« sagte sie, »ich wollt’, er schlüge Skandal.«
+
+»Na, hör mal, so was von Radaulustigkeit — —! Du wirst wohl noch nach
+Oberkassel tanzen gehen?«
+
+»Dem Hans tät’s vielleicht gut. Es riss’ ihn aus seiner
+Beschaulichkeit.«
+
+»Aber Kind, gerade über die Beschaulichkeit sind wir ja so herzensfroh!«
+
+»Ihr seid liebe Menschen,« sagte sie und lehnte sich an seinen Arm,
+»ihr denkt nur Gutes und Gesundes, weil ihr selbst gut und gesund
+seid.« Sie sah zu ihm auf, ohne sich an seiner Schulter zu rühren.
+»Wißt ihr denn, was es mit dieser stillen Beschaulichkeit von Hans auf
+sich hat? Ach, Onkel Springe, ich habe es gleich gewußt. Er beschaut
+seine Wunden.«
+
+»Hannes!« rief Springe erschrocken und zog das Mädchen mit einem Ruck
+an sich, »Hannes, was willst du gleich gewußt haben? Herrgott, sollten
+wir denn wirklich blind gewesen sein? Und du — du meinst — du hätt’st
+recht?«
+
+Sie sah ihn noch immer an und nickte mit traurigen Augen.
+
+»Es ist so, Onkel Springe. Wundert es dich, daß ich dafür ein feineres
+Verständnis habe als ihr?«
+
+Auf die Frage war Springe nicht vorbereitet, und er fand kein Wort
+der Entgegnung. Aber sein gerades, ehrliches Herz erkannte die
+gleichgesinnte Natur und schwoll empor bei diesem offenen Eingeständnis.
+
+»Mädel, Mädel,« brachte er nur heraus und fuhr ihr mit breiter Hand
+über Haar und Gesicht, »was bist du für ein Mädel!«
+
+Das war nicht geistreich, das empfand er selbst. Aber für ihn gab es
+in diesem Augenblick alles wieder, und für sie auch; und das war ihnen
+beiden die Hauptsache.
+
+»Was fang’ ich nur an, um ihn aus dieser verdammten Beschaulichkeit
+wieder ’raus zu kriegen, Hannes? Ich schäm’ mich ja zu Tod’. Beinah —
+beinah — na, muß ich’s sagen? Beinah wie in Berlin, Kurfürstendamm:
+und Heinrich Springe ging hinaus und weinte bitterlich, weil er sich
+aus einem finsteren Cato in einen Pudel verwandelt hatte, der vor zwei
+schönen Frauenaugen hübsch Apport machte. O Gott, o Gott, Hannes, sag
+das nur keinem wieder! Wenn ich damals nicht dich gehabt hätte! Wie ein
+Chirurg gingst du los ... Ihr Frauen seid doch die geborenen Ärzte.«
+
+»Du, Onkel —«
+
+»Gut,« sagte Springe und drückte ihr die Hand. »Wenn ich nämlich an
+~die~ Affaire denke, wird mir immer noch glühheiß. Das brauchte nur
+Margot zu wissen. Ich läge platt unterm Pantoffel. Also sprechen wir
+wieder von Hans; schon, damit ich meine Haltung wiederfinde.«
+
+»Onkel,« sagte das Mädchen nachdenklich, »ich glaube, ihr drückt ihn
+zu sehr mit eurer Liebe. Da kommt er sich vor wie ein Invalide, wie
+ein Almosenempfänger. Mit solchen Kranken muß man sich frisch-fröhlich
+herumzanken, ihren Widerspruchsgeist wecken. Der Mensch fühlt sich
+nie gesünder, als wenn er widersprechen kann. Das steigert sein
+Selbstgefühl und macht ihn trotzig.«
+
+»Ob Trotz gerade die richtige Tugend ist — —?«
+
+»O, du unkluger Mann! Trotz gibt nach, und dann ist der Trotzige der
+Gebende. Aber Resignation, die nachgibt, bleibt die Empfangende. Das
+verträgt kein Mann auf die Dauer an sich selbst.«
+
+»Sag mal, Kind, ich hoffe, diese Weisheit hast du nur aus deinen Arien.«
+
+»Sie ist mir über Nacht gekommen, seit ich Hans gesehen habe.«
+
+»Und was soll ich tun? Jetzt stehe ich blind zu deiner Verfügung.«
+
+»Suche ihn zu zerstreuen, bring ihn unter Männer, rede mit ihm über
+Dinge, die ihm am Herzen liegen, über Kunst, über Literatur, und zeig
+dich unwissend, dreist oder ungeschickt, damit seine Empörung wach
+wird, seine Verteidigungslust; damit er ins Feuer gerät. Ach, Onkel,
+wenn ich könnte, wie ich wollte —«
+
+»So will doch, Kindchen! Du nähmst mir da wirklich ein Kommissiönchen
+ab.«
+
+Sie schüttelte den Kopf, und auf ihrer Stirn grub sich die Falte, die
+sie als Kind so oft gezeigt hatte.
+
+»Ich kann mich doch nicht wegwerfen,« murmelte sie. »So was tut man
+wohl in der Stunde der Gefahr, aber doch nicht aus freien Stücken. Das
+säh’ ja aus, als ob ich Sonderinteressen dabei verfolgte.«
+
+»Wenn du ihn lieb hast ...« fragte Springe unsicher.
+
+»Weil ich ihn lieb habe, weil, weil! ~Er~ soll gesund werden, nicht
+ich. Ich — ich bin’s ja.«
+
+»Das weiß Gott!« sagte Springe herzlich. »Und jetzt versteh’ ich dich
+auch ganz. Seinen Stolz willst du.«
+
+»Ja,« sagte sie leise, mit einem versonnenen Lächeln, und sie hatte
+nasse Wimpern.
+
+»Ich werde es einmal mit Herrn Friedrich Leopolds Rezept versuchen,«
+entschied Heinrich Springe. »Der Wein erfreut des Menschen Herz, und
+heute, am ersten Mai, fließt im ›Malkasten‹ die allgemeine Maibowle.
+Da kommen die Malmännlein aus Höhlen und Klüften, Hunderte an der Zahl.
+Und viele — ach, wie viele! — waren beim Barbarossa im Berg und haben
+geschlafen, die Zipfelmütze über beide Ohren, einen gottgesegneten
+Schlaf. Da verwandelte sich der Pinsel in ihrer Hand zum Weißquast, und
+die heilige Ölfarbe zur unheiligen Tünche. Aber ein Geschwätz machen
+sie, ein Geschwätz, sag’ ich dir, daß den umsitzenden Künstlern graut.
+Hans soll es mitmachen!« — —
+
+Hans Steinherr war in der letzten Woche nur zweimal in Burg Springe als
+Gast erschienen. An dem Tage, an dem die Familie Hannes feierlich am
+Bahnhof eingeholt hatte, war er erst zur Abendstunde gekommen.
+
+Im Besuchsanzug, einen Strauß Flieder in der Hand, war er ins Atelier
+eingetreten, in dem das Mädchen vor einem neuen Werke Springes, einem
+schlummernden Parkteich, überwacht von dichtgedrängten, blühenden
+Kastanien, stand.
+
+Als sie seinen Schritt vernahm, wandte sie sich um.
+
+»Guten Tag, Herr Hans. Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, Sie
+wiederzusehen.«
+
+Und er hatte auf das schöne, in sich gefestigte Geschöpf hingestarrt,
+und als er die Lippen bewegte, um zu erwidern, spürte er, daß in ihm
+etwas zerrissen war, in diesem Augenblick.
+
+»Hannes, Fräulein Hannes ...« sagte er mit Anstrengung, und dann bot er
+ihr zögernd die Hand, die die Blumen hielt, und sie nahm die Blumen und
+nahm seine Hand.
+
+»Wie aufmerksam von Ihnen! Haben Sie herzlichen Dank!«
+
+»Sie sind aus dem Garten draußen,« sagte er, um nur seine Stimme zu
+hören. »Der Frühling kam zeitig dies Jahr.«
+
+Sie nickte und vergrub ihr Gesicht in den Strauß. Der herbe Zug um
+seinen Mund tat ihr weh.
+
+Dann sprachen sie von ihren Reisen. Ganz so wie Menschen, die sich auf
+einer Station getroffen haben und plaudern, um die Zeit hinzubringen.
+Und doch achtete und wartete sie auf nichts anderes als auf ein Wort,
+das den alten Hans verraten würde, und alles, was er sprach, ging
+an ihrem Ohr vorüber, eilig, schnell zerflatternd, damit sie die
+Aufnahmefähigkeit behielte für das, was doch kommen mußte.
+
+Aber es kam nicht. Der Mann, der vor ihr saß, war nicht mehr
+kindergläubig genug, um durch den Schleier hindurch in ihrer Seele
+zu lesen. Er sah nur die Zerstreutheit, mit der sie ihm zuhörte und
+antwortete, und sein unruhiges Gewissen gab ihm ein, daß es ihr
+peinlich sein müßte, dem Manne höflich und freundlich gegenüber zu
+sitzen, den sie als Mädchen geküßt hatte.
+
+Einmal dachte er daran, die Vergangenheit zu berühren und sie
+um Verzeihung zu bitten. Aber angesichts dieser vornehm stillen
+Erscheinung, deren selbstsichere Haltung keinen Schluß mehr auf das
+wilde, zärtliche Gemüt des einstigen Hannes zuließ, schien ihm seine
+Anwandlung anmaßend und kindisch. Die Kinderzeit, in der ein einziges
+»Sei wieder gut!« die Schranken wegräumte, war nicht mehr. Hier hieß es
+nicht, reden, hier hieß es, zeigen. Und er hatte nur einen Bankrott
+aufzuweisen gegen ihre Reichtümer. Einen solchen Handel machte er
+nicht. Er war kein Betrüger.
+
+So lief die Stunde ab, und das Ergebnis war der Wunsch auf ferneres
+Wohlergehen. Dann saß sie wieder vor dem Bild mit dem schlummernden
+Parkteich und den blühenden Kastanien, aber sie saß mit geschlossenen
+Augen.
+
+Im Nebenzimmer begrüßte Hans seine Mutter. Hannes hörte, wie er bat,
+ihn zum Abendessen zu entschuldigen, und wie Frau Margot ihm doch
+abschmeichelte, daß er blieb. Dann saßen sie miteinander bei Tisch,
+und Großvater Springe war aufgeräumter denn je, und seine unbesiegbare
+Laune holte sich auch heute den Triumph, die Tischgesellschaft zu
+erheitern und die gewonnene Stimmung durchzuhalten. Später bestürmte
+Frau Margot Hannes um ein Lied, um ein ganz kleines nur. Aber als sie
+nachgeben wollte, obwohl ihr die Kehle wie zugeschnürt war, sah sie,
+daß Hans geräuschlos das Zimmer verließ. Da versprach sie für morgen
+so viel Lieder, als man zu hören wünschte, nur heute möchte sie sich
+schonen.
+
+Auch Heinrich Springe hatte das stille Verschwinden des Freundes
+wahrgenommen und war ihm gefolgt. Als er zurückkam, teilte er mit, daß
+Hans nicht durch Abschiednehmen habe stören wollen. Der Junge fühle
+sich heute nicht recht wohl, habe aber ebenfalls für morgen alles
+mögliche versprochen. Und die beiden Springes, Frau Margot und selbst
+Frau Stahl nahmen das mit unschuldigem Herzen als ein gutes Zeichen und
+tauschten, heimlich sich zunickend, strahlende Blicke miteinander aus.
+
+Hans aber war nach Hause zurückgekehrt und saß die Frühlingsnacht
+hindurch in der Laube und hörte nicht die Stimmen des Frühlings und
+hörte nur die Stimmen der Nacht.
+
+Das ist nun vorüber, alter Junge ...
+
+Was ist vorüber? fragte er sich mit bewußter Selbstironie.
+
+Und er fuhr fort, sich Rede und Antwort zu stehen und den Sarkasmus
+wider sich selbst zu kehren.
+
+Was vorüber ist? Nun, was denn sonst als das Wiedersehen? Oder hattest
+du dir gar etwas anderes gedacht, als du hingingst? Ja, mein lieber,
+eingebildeter Mensch, wenn du noch solche Träume spinnen konntest,
+wirst du jetzt belehrt sein, daß das, was du meintest, längst, längst
+schon vorüber ist.
+
+Sie ist schön, nicht wahr? Wie die goldrote Haarwelle auf ihrem feinen
+Knabenköpfchen ruht, als wollte sie locken: Löse mich. Dich brenne ich
+nicht. Wenn du mich über dein Gesicht legst, will ich dich kühlen ...
+
+Sie ist ein Märchen, gab er zur Antwort. Hast du vergessen, daß alle
+Märchen beginnen: Es war einmal ...?
+
+Und wenn das Märchen dennoch Leben gewinnt und die Augen aufschlägt?
+
+Ach, du armer Phantast, die Augen werden an dir vorübergehen. Schau
+dich an. Sieht so ein Märchenprinz aus? Überbleibsel bringt man nicht
+auf eine Königstafel, und gierige Bettler werden im Hofe abgefertigt.
+
+Ich bin kein Bettler! brauste es ihm durch den Kopf. Ist es mir denn in
+den Sinn gekommen, zu betteln? Bin ich so weit herunter, daß ich auf
+Freibeuterei ausgehe? O nein, mein guter Hans, o nein, so viel Anstand
+hast du doch noch in den Knochen, um dich nicht wehleidig aufzudrängen
+und um Gottes Barmherzigkeit willen ein Almosen zu verlangen. Um zu
+erklären: Jetzt, du schöne, lachende Frau, wo es dir geglückt ist und
+mir nicht, passen wir besser zusammen. O nein, ich bin kein Bettler.
+Ich weiß sehr gut, was ich bin, und mache mir keine Illusionen.
+
+Seine Lippen legten sich fest aufeinander, und je fester sie sich
+schlossen, desto heller wurde sein Auge, in dem das alte Erbgut der
+Kinder dieses Landes glänzte und schimmerte: der Spott, der selbst mit
+dem Tiefstand des Lebens noch um ein Lachen trotzt.
+
+Und er zog die Bilanz der letzten Wochen, der Zeit, die er wieder in
+der Heimat zugebracht hatte, und verglich die Kredit- und Debetseite.
+Wieder und wieder hatte er sich aufgerafft, wie nur ein Mann es kann,
+und war hinausgegangen in die Fabrik, um sein Interesse mit zäher
+Energie zu zwingen. Aber was half all sein Wollen? So zappelt auch ein
+Fisch auf dem trockenen Land. Das Element, in dem er sich befand, war
+nicht das seine, ihm fehlte die kaufmännische Gabe und das technische
+Verständnis.
+
+Dann hatte er es im stillen mit der Kunst versucht. Die Muse zwar
+war nicht zu beleben, denn jede Gefühlsäußerung erschien ihm wie
+ein Hohn, und künstlerische Formspielereien waren ihm verhaßt. Aber
+durch die Kunstausstellungen war er gewandert und durch die Ateliers,
+und er hatte sich einen Überblick verschafft über den Stand der
+vaterstädtischen Kunst, über den neuen, urwüchsigen Heimatstrieb und
+über den alten Zopf. Das war ein Gebiet, das er beherrschte, und hiefür
+gedachte er zu schaffen.
+
+Sobald er jedoch vor dem Stoß weißen Papieres saß, befiel ihn wieder
+der Gedanke an den Unwert all seines Tuns. Weshalb denn nur etwas
+leisten wollen? Für wen denn? Für das Streicheln einer lieben Hand.
+Für das Leuchten zweier Augen. Das hätte sich gelohnt, das hätte
+gefördert. Aber für das bißchen Ehrgeiz oder, wenn es hoch kam,
+für das Kerzenstümpfchen Idealismus? — Und die Freude, die ihm auf
+Sekundenlänge über die Schulter geguckt hatte, war entflohen — —.
+
+Das also, schloß er, ist das Resultat! Daß es etwas minimal ist, kann
+ich nicht verneinen.
+
+So verging die Frühlingsnacht.
+
+In den nächsten Tagen sah er Hannes wieder, plauderte mit ihr, bis
+er merkte, daß er mitten im Satz verstummt war und sie seit Minuten
+anstarrte, und sich schnell empfahl, um der Selbstquälerei ein Ende zu
+machen. —
+
+Als am Abend des ersten Mai Heinrich Springe bei ihm erschien, packte
+ihn die Angst, der Freund käme, um ihn zu einem Familienabend zu
+holen. Umso hastiger ging er auf den Vorschlag ein, der Maibowle
+des ›Malkastens‹ beizuwohnen. Er wurde sogar ordentlich aufgeräumt,
+und Heinrich Springe dachte erstaunt und beschämt zugleich: Das
+Sakramentsmädel, der Hannes, hat doch mal wieder recht behalten. Er
+gehört unter trinkfeste Männer. —
+
+Im ›Malkasten‹ war es gedrängt voll. Hunderte von Künstlern und
+Kunstfreunden waren in den weiten Räumen untergebracht, aber sie
+mußten dicht zusammenrücken, denn das Fähnlein der Durstigen war
+in der Rheinstadt schon an Abenden ohne tiefere Bedeutung nicht
+klein. Eine Schicht blauen Zigarrendampfes schwamm wie ein Nebel
+über der Festversammlung und gab dem Bilde das Kolorit eines alten
+niederländischen Gemäldes.
+
+»Teniers oder Höllenbreughel?« fragte Springe lachend seinen Begleiter,
+während er sich durch das Labyrinth der Tische einen Weg bahnte. »Was?
+Das nennt sich doch noch gesunde Kneipenluft! Und dieser göttliche
+Radau! Hier kommt’s nicht drauf an, ~was~ man sagt, sondern daß man
+es möglichst ~laut~ sagt. Stimmenschwerheit entscheidet! Achtung, der
+Pitter hat ’s Wort! Hier — hier ist noch Platz.«
+
+An einem mächtigen, runden Ecktisch hatten sie Unterkunft gefunden.
+Man bat um Ruhe. Man klopfte ganz energisch auf die Tischplatten. Dann
+ebbte das Stimmengewirr ab wie eine lange, chromatische Tonleiter.
+
+Der ›Pitter‹, ein weißhaariger, unverwüstlicher Maler der älteren
+Generation, stand neben dem Klavier und strich mit überlegener Miene
+den weißen Knebelbart. Er hatte als Maler und Mensch warten gelernt.
+Plötzlich erfaßte er den ersten Moment der Ruhe. Wie eine Fanfare
+drängte sich sein schmetterndes Organ in die Pause hinein und füllte
+den Luftraum mit einer Vehemenz, daß kein fremder Hauch neben ihm noch
+Platz zu finden vermocht hätte. Pitter hatte das Wort. Daran war nicht
+mehr zu rütteln. Und er gab es von sich, als sänge er Samuels Fluch
+über König Saul.
+
+»Auch eine Auffassung,« nickte Springe zustimmend. »Das Schwermutslied
+von der ›Krone im Rhein‹ durchweg auf =forte= gesungen. Is mal was
+Neues.«
+
+Dann sorgte er, daß aus dem riesigen Wandbassin, in dem das Meer der
+Bowle floß, auch ihnen der Humpen häufiger gefüllt werde. Ernste Männer
+traten von Zeit zu Zeit an den köstlichen Quell, prüften den Pegelstand
+des Inhalts und besprachen in geheimnisvollem Flüsterton die Zufuhr
+an Mosel- und Sektflaschen. Dann feierten die Humpen auf den Tischen,
+und es war dürre Zeit im Land, bis die Auserwählten geprüft und wieder
+geprüft hatten und sich der schweigende Ernst ihrer Mienen in die
+strahlend aufsteigende Sonne der Zufriedenheit wandelte.
+
+Der Geist der Töne bedrängte heute viele im ›Malkasten‹. Von
+Viertelstunde zu Viertelstunde erhob sich ein neuer Sänger, begehrte
+stürmisch die allgemeine Aufmerksamkeit, lächelte und begann. Man sang
+Getragenes und man sang Kitzliges, letzteres aber, der guten Sitte
+wegen, im Düsseldorfer Dialekt; und man sang endlich im Chor aus den
+»hundert allerschönsten Volksliedern für einen Silbergroschen« manch
+ein artig Stückchen.
+
+Springe amüsierte sich herrlich. »Jeder Kerl hier,« behauptete er,
+»ist ein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Sein Genre könnt ihr am Singen
+erkennen. Der Landschafter singt urwüchsig, der Schlachtenmaler mit
+edlem Feuer, der biblische Historienmaler mit schönem nasalen Ton, der
+Genremaler mit neckischen Koloraturen, der Porträtist möglichst korrekt
+und der Tiermaler grunzt. Das gehört zum Metier.«
+
+Sofort wurde am Tisch widersprochen. Nicht aus Gekränktheit, aus der
+bloßen Lust des Rheinländers am Opponieren. Und ehe drei gezählt
+werden konnte, lag das längst erwartete Thema, die alte und die neue
+Kunst, auf der Tischplatte wie ein Vivisektionstier, und jeder schnitt
+lustig mit seinem Messer darin herum.
+
+Hans Steinherr hatte kaum ein Wort gesprochen. Er hörte auch nur mit
+halbem Ohre hin. Was ihm auffiel, war, daß er unter den Hunderten
+von Köpfen keinen einzigen zurechtgemachten Künstlerkopf fand, keine
+Samtjackengenialität, keinen Satanisten, keinen Melancholiker. Eher
+noch einen gemütlichen Biedermeier aus der Hasencleverzeit. Aber den
+meisten war ein festererbter, knorriger Zug zu eigen, der Vertrauen
+weckte und Vertrauen gab, trotz der Spottsucht um den Mund.
+
+Das ist die Gesundheit, sagte sich Hans Steinherr; Ungesundes wird hier
+abgestoßen wie eine tote Zelle im Gewebe.
+
+In dem Stimmengewirr am Tisch war das Wort »modern« gefallen. Und
+Heinrich Springes Stimme erscholl: »Also ’raus mit der Sprache! Haltet
+ihr mich für modern oder nicht?«
+
+»Aber natürlich! Wenn Sie nicht, wen denn?«
+
+»Soo? Das möcht’ ich mir denn doch ergebenst verbeten haben. Sie
+glauben wohl wunder was für eine Schmeichelei Sie mir gegenüber da
+losgeworden sind. Nee, meine Herren. Ich male meinen Stiebel nach
+meiner Art; wie, das ist Nebensache; mit welchen technischen und
+Anschauungsmitteln, das besagt nichts; die Hauptsache ist: ist das Bild
+gut?! Gut, meine Herren, gut! Da liegt der Hase im Pfeffer. Und ich
+sage Ihnen: das ist und bleibt der ~ideale~ Hase! Prost, ihr Herren!«
+
+»Prosit! Prosit! Springe hoch! Springe soll eine Rede halten!
+Si—len—ti—um!!«
+
+»Soll ich den Kerls mal den Kopf waschen?« fragte Heinrich Springe
+lachend Hans. Er hoffte heimlich, auch den Freund aus seiner Lethargie
+aufzurütteln, und er ließ sich bewegen und erhob sich. Er sprach nur
+für den dichtgefüllten, mächtigen runden Ecktisch, der jetzt auch von
+den Nebentischen belagert wurde.
+
+»Ihr wißt,« begann er, »ich bin ein Feind jedes akademischen Zopfes;
+aber der schwache Mensch kann auch in das Extrem verfallen, und
+auch das mißbillige ich. Der Künstler, ob Anhänger der alten oder
+neuen Kunst, muß seine Ideale haben, das erst gibt seiner Kunst die
+Weihe. Das Wort ›Ideal‹ steht heute ziemlich tief im Kurs. Es ist
+nicht ›modern‹. Und damit ist ihm von den vielen, die da vorgeben,
+die beste Gesellschaft auf allen Gebieten des Lebens, der Künste,
+der Wissenschaften, mit einem Wort, der herrschenden Mode zu
+repräsentieren, der Stab gebrochen. Ideale! Was unserer Zeit mehr als
+je das Gepräge gibt, ist der unbändige Geschäftssinn, der nach allen
+Dingen des Tages seine Fühler streckt und als Ausgleich das leichte
+Amüsement für die mißhandelten Nerven beansprucht, wenn nicht eine
+besondere Sensation. Der ›Geschäftssinn‹, bewußt oder unbewußt, ist der
+Totschläger des Ideals. Unbewußt bei den vielen Tausenden, die blind
+den Hammelsprung als Herde mitmachen, aus Furcht, der ›Mode‹ nicht zu
+genügen. Bedauernswerte Menschen, denen ein neuer Gewandschneider mehr
+zu sagen hat als alle Weisheit einer großen Überlieferung.
+
+Der Gewandschneider dominiert. Nicht allein in der Kleidung. Seine
+Doppelgänger bearbeiten das Gebiet der Kunst, des gesellschaftlichen
+Lebens; sie bestimmen das Niveau des Geisteslebens. Der Charlatanismus
+hat hohe Zeit und schießt üppig ins Kraut. Heute heißt es, um jeden
+Preis originell sein! Ist originell gleichbedeutend mit individuell,
+soll ihm Lob und Preis gesungen werden. An solchen Charakteren kann
+ein Volk nie wohlhabend genug sein, denn sie geben ihm den Stempel der
+Kraft und Ursprünglichkeit. Aber welch traurige Konterbande wird mit
+diesen Begriffen getrieben! Spekulative Köpfe haben einen billigen
+Ersatz gefunden. Um aus der Allgemeinheit emporzutauchen, wird irgend
+eine ›neue Richtung‹ ausgerufen, je kühner und extravaganter, desto
+besser. Schwarz wird für Weiß ausgegeben, eckig und kantig für allein
+bequem, unsinniges Gestammel für Offenbarung, Frivolität für den
+Gipfel des feinen Menschentums und der Tingeltangel für die letzte und
+schönste Blüte der dramatischen Kunst. Edle Dreistigkeit hat immer noch
+suggestiv gewirkt, zumal im lieben deutschen Vaterland.
+
+Aber, ihr Herren, ohne die Pflege seiner altüberlieferten Ideale, an
+die sich harmonisch die neuen knüpfen, ist eine wurzelechte Entwicklung
+eines Volkslebens nicht denkbar. Und diese Pflege bedingt Tiefe des
+Gemüts und Ernst der Gesinnung, just die Erscheinungen, durch deren
+starkes Vorhandensein der Deutsche sich in allen Zeiten vor den
+Nationen auszeichnete, die seiner Gesamtheit den Namen des ›Volkes
+der Denker‹, meinetwegen selbst den des ›deutschen Schulmeisters‹
+gaben, die das deutsche Volk aber kraft seiner seit den Altvordern
+angesammelten Schätze an Idealgütern befähigten, eintretenden Falls
+einen Enthusiasmus zu entwickeln, der wie im Befreiungsjahr 1813
+elementar durch die Lande brauste, die Entäußerung alles Materiellen
+zu Gunsten des Ideals in Flammenschrift auf den Fahnen führend, ein
+Enthusiasmus, der in den Kriegsjahren 1864, 1866, 1870 und 71 aufs neue
+siegreich in die Erscheinung trat. Aller tüftelnder Geistreichtum,
+der heute so vielfach mit Worten und Dingen spielt, um die eigene
+Persönlichkeit modisch in griechisches Feuer zu setzen, erhält diesen
+hohen Sinn im Volkstum nimmer wach. Und aller Spott, alle Ironie,
+mit der man die tiefreichenden Volksanschauungen heute vielerorts in
+Literatur, den bildenden Künsten und dem Leben zu Gunsten eines Witzes
+lächerlich zu machen trachtet, wird den Parteigängern im letzten Grunde
+selbst zum Schaden gereichen.
+
+Die Mode ist vergänglich, das Ideal unsterblich. Aber daß es nicht
+für eine ganze Zeitspanne verstümmelt und einer aufblühenden
+Generation entzogen werde, dafür, ihr Herren, ist ernstlich Sorge zu
+tragen. Die Ideale im Volksleben sind die Wurzeln eines kraftvoll
+vorwärtsstrebenden, in sich gefestigten Staatswesens. Sie sind die
+Stützen zur Macht. Sie schaffen den Glauben an eine große Vergangenheit
+und die Hoffnung auf eine große Zukunft. Nehmt einer Nation ihre
+Ideale, und ihr zeigt ihr den Weg zur Internationalität. Der Kunst
+aber liegt es vor allem ob, die Hüterin der Volksschätze zu sein,
+sie zu hegen und zu pflegen, damit sie einst in der Stunde, in der
+das Vaterland an die Ideale appelliert, nicht an ausschlaggebendem
+Wert eingebüßt haben. Und, ihr Herren, lassen Sie es mich an dieser
+Stelle aussprechen: das große Wort: ›Die Kunst ist international‹,
+hält vor der Sonne nicht stand, wollen wir nicht im gewissen Sinne zur
+Schablone übergehen. Es gibt so wenig eine internationale Kunst, wie es
+überhaupt eine internationale Kultur geben kann. Wie eine Kultur nur
+von ~nationalem~ Boden auszugehen vermag, soll sie nicht nach kurzem
+Überschwang an innerer Unhaltbarkeit jämmerlich zerfallen, so wird auch
+die Ausübung der Kunst und ihr innerstes Wesen stets von der ~Rasse~
+abhängig sein. Eine ~deutsche~ Seele muß unsere Kunst in sich tragen,
+und sie muß in den Werken unserer Künstler zum sieghaften Ausdruck
+gelangen, soll sie frei und individuell neben der ausländischen
+bestehen und dermaleinst in der Kunstgeschichte als Epoche bezeichnet
+werden. Daran laßt uns in Düsseldorf festhalten, und wir werden die
+Düsseldorfer Kunst wieder an der Spitze marschieren sehen trotz aller
+französierender Mantelträger da draußen. Ihr Herren! In diesem Sinne
+trinke ich auf die Stadt Düsseldorf!«
+
+Das war Heinrich von Springes Maienrede.
+
+Er hob seinen Bowlenhumpen und trank ihn bis zur Nagelprobe aus.
+
+Und die Alten und die Jungen drängten sich um ihn herum. Man stieß mit
+ihm an, man schüttelte ihm die Hand, man sprach auf ihn ein und klopfte
+ihm auf die Schulter. Doch als er sich nach Hans Steinherr umwandte,
+sah er gerade noch, wie dieser still den Saal verließ.
+
+Da stellte auch Springe sein Glas hin, holte seinen Hut aus der
+Garderobe, und als er auf der Straße stand und den Freund zwischen den
+Bäumen des Hofgartens verschwinden sah, folgte er ihm aus der Ferne. —
+
+Hans Steinherr gedachte einen Abschiedsgang zu tun.
+
+Während er den einstigen Mentor im ›Malkasten‹ reden hörte und
+alle Glocken des Lebens um ihn läuteten, fühlte er sich einsamer
+und überflüssiger denn je. Seine Ideale lagen zertrümmert, und dem
+Menschenkind, das allein ihm hätte aufbauen helfen können, hatte er
+einst selbst die Wege gewiesen.
+
+Schluß der Tragikomödie! tönte es in ihm — Vorhang nieder, bevor du an
+Altersschwäche eingehst! Sei ein Mann!
+
+Und während um ihn herum das lachende Leben mächtiger erbrauste, hatte
+Hans Steinherr ruhig und schweigend seinen Tod beschlossen.
+
+Der volle Mond stand über dem Hofgarten, den Steinherr langsam
+durchwanderte. Wie Silber rieselte es an den grünen Zweigen und Stämmen
+herab. Die ganze Landschaft lag in Silber und Grün. Links ihm zur Seite
+murmelte der glitzernde Düsselbach, und durch das frühlingsprangende
+Gebüsch blinkten die weißen Teiche, auf denen träumende Schwäne stille
+Bahnen zogen. Der Zauber der Romantik lag ausgebreitet über dem Kleinod
+des Niederrheins.
+
+Und weiter wanderte er, bis er durch die Nacht die Wogen des
+Rheinstroms klingen hörte und die rastlos drängenden Wassermassen sah.
+Er schaute den Strom hinab und hinauf, und wieder hinauf und hinab.
+Mit einem langen, dankbaren Blick. Dann wandte er sich zur Stadt
+zurück und schritt, am Hohenzollernschloß, dem Jägerhof, vorbei, die
+Pempelforterstraße entlang.
+
+Da lag das kleine, baufällige Haus, in dem Hannes ihre Jugend verbracht
+hatte, in dem er das junge, sonst so trotzige Geschöpf zum ersten Male
+in seiner süßen Weichheit unter Rosen gesehen hatte. Unter ~seinen~
+Rosen. Er entsann sich ganz genau, wie er die Blumen selbst am frühen
+Morgen im Garten abgeschnitten hatte. Die Rosen aber, die sie jetzt
+schmückten, waren nicht mehr die seinen, und das alte Haus wurde nun
+abgerissen.
+
+Er konnte nicht anders, er nahm den Hut ab, wie zum Gebet. Seine Augen
+lagen tief eingesunken und erloschen in ihren Höhlen.
+
+Als er sich endlich losriß, sah er einen Menschen neben sich stehen.
+
+Es war Springe.
+
+Wortlos standen sich die beiden Männer gegenüber. Dann nahm der Ältere
+sanft den Arm des Jüngeren.
+
+»Komm nach Hause, Hans!«
+
+»Ich bin auf dem Wege.«
+
+»War der Umweg so dringend nötig?«
+
+»Ja, Alter, er war nötig.«
+
+»Hans,« sagte der andere und faßte ihn unwillkürlich fester am Arm, »du
+hast mir noch nie so schlecht gefallen wie in dieser Mondbeleuchtung.«
+
+»Das wird sich bis morgen geändert haben.«
+
+»Rede nicht so delphisch. Ohne Grund hast du nicht gerade diese Route
+zum Nachhausegehen gewählt. Du führst etwas im Sinne. Das — das sah
+vorhin einem Abschiednehmen ganz verteufelt ähnlich. Hans! Sei offen
+gegen mich. Du willst uns verlassen, dich treibt es wieder fort ...«
+
+»Und wenn es so wäre. Wir hätten alle Ruhe.«
+
+»Ruhe —? Du, schau mich einmal an. Ganz frei, ganz ohne Rückhalt, so,
+wie du als Junge konntest —«
+
+Und plötzlich durchfuhr es den Mann. Er hatte in diesem stillen,
+lächelnden Blick etwas gelesen. Er glaubte sich zu täuschen. Er faßte
+den seltsam ruhigen Freund bei den Schultern und starrte ihm in das
+weiße Gesicht. Es war kein Zweifel mehr, er hatte Klarheit.
+
+»Hans,« brachte er mühsam hervor, »Hans, das darfst du nicht. So weit
+sind wir, bei Gott, noch lange nicht! In acht, in vierzehn Tagen bist
+du gesund, ich garantier’ es dir. Aber das darfst du nicht!«
+
+»Was ist denn Großes dabei — bei einer Reise!«
+
+»Lüge nicht, Hans! Du kommst nicht wieder, wenn du reisest; du — du
+willst dich töten ...«
+
+Das Wort war gesprochen, und atemlos wartete Springe auf ein Echo.
+
+»Lieber Heinrich,« sagte Hans Steinherr ernst, »so lieb ich dich habe:
+in meine letzten Entschlüsse einzudringen oder gar einzugreifen, dazu
+gebe ich niemand das Recht. Auch dir nicht.«
+
+Heinrich Springe nahm sein Herz in beide Hände. Er zwang sich mit aller
+Gewalt zur Ruhe, zur kühlen Überlegung. Hier war nur Kaltblütigkeit am
+Platz.
+
+»Hans,« sagte er, »ich sehe, du entziehst mir dein Vertrauen, obwohl
+ich nun genug weiß. Aber was hilft mir das Wissen! Über dein Leben habe
+ich nicht zu verfügen, und wollte ich es doch tun, so würd’st du schon
+Mittel und Wege genug finden, um dein Vorhaben auszuführen. Nur einen
+Aufschub verlang’ ich.«
+
+»Dies ist die letzte Nacht.«
+
+»Wann hast du es beschlossen?«
+
+»Vor einer Stunde.«
+
+»Vor einer Stunde erst? Und jetzt schon —? Hans, so stehlen sich
+Kassendefraudanten aus dem Leben oder unreife Knaben. Nicht Männer,
+die da wissen, daß sie eine Mutter und Freunde zurücklassen. Du wirst
+noch eine Nacht darüber hingehen lassen, du wirst den Mut bekunden, am
+hellen, lichten Tag deinem Vorhaben ins Auge zu sehen. Du wirst dich
+zur Ruhe legen, und wenn du morgen früh ausstehst und du sagst mir: Es
+bleibt dabei — so will ich gehen und dich nicht mehr hindern. Daraus
+gebe ich dir mein Ehrenwort, mein heiliges, nie gebrochenes Wort.«
+
+»Es ist zwecklos, aber ich will dir den Wunsch erfüllen. Komm mit! Du
+kannst mich sogar überwachen.«
+
+Schweigend schritten sie durch die mondbeglänzte Frühlingsnacht, die
+tausendfältig das Leben gebar.
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+
+»Was wünschest du, das geschieht?« fragte Hans Steinherr wie ein
+freundlicher Wirt, als sie in seinem Hause an der gartenbekränzten
+Grafenbergerchaussee angelangt waren und Heinrich Springe rastlos durch
+das Zimmer wanderte.
+
+Der Angeredete unterbrach seinen Gang.
+
+»Hans —!« sagte er, und er legte alle Liebe und alle Innigkeit in den
+Ton. Er ging auf ihn zu, faßte seine Hände und suchte seinen Blick.
+»Hans — —!«
+
+Der aber schüttelte stumm verneinend den Kopf.
+
+»Hans,« fuhr Springe eindringlicher fort, »du kannst es ja nicht
+wollen. Du hast ja vergessen, an deine Mutter zu denken. Ich will von
+niemand sonst reden. Nur von deiner Mutter ...«
+
+»Meine Mutter,« sagte Hans Steinherr und sah zur Seite, »meine Mutter
+ist durch das Glück geschützt. Der Verlust, der sie trifft, wird an
+ihrem Reichtum nichts ändern.«
+
+Er holte tief Atem. Dann fand er ein ruhiges und entschlossenes Wort:
+»Heinrich, mache keinen weiteren Versuch. Laß mich nicht bereuen, daß
+ich dich nicht auf der Stelle abgewiesen habe. Ich versprach dir,
+die nüchterne Überlegung am Morgen abzuwarten, obschon sie nicht
+nüchterner ausfallen kann. Mehr kann ich nicht und mehr will ich nicht.
+Das — ist mein letztes Wort.«
+
+»Hans — —!«
+
+Aber als der Freund sich abwandte, müde der Erwiderungen, ließ
+Springe von jedem Überredungsversuch ab, trat hinter ihn und legte
+schonungsvoll den Arm um ihn.
+
+»Komm, ich bringe dich in dein Zimmer. Du sollst jetzt ruhig schlafen.«
+
+Hans Steinherr lächelte leise über die sorglichen Bemühungen, aber er
+ließ sie geschehen.
+
+Sie gingen die Treppen hinauf, in das obere Stockwerk, in dem das
+Schlafzimmer lag. Dort ließ sich Hans schweigend auf das Ruhebett
+fallen.
+
+»Laß die Lampe brennen, Hans. Licht ist gut gegen einsame Gedanken. Und
+ich möchte von Zeit zu Zeit nachsehen kommen, ob du eingeschlafen bist
+oder den Wunsch hast, mich zu sprechen. Gute Nacht, Hans; ich wünsche
+dir mit aller Bedeutung eine ~gute~ Nacht!«
+
+Unten im Hausflur blieb er stehen und horchte angespannt. Dann stieg
+er schnell ins Souterrain hinab und klopfte behutsam an der Tür der
+Wirtschafterin. Die Alte hatte den leichten Schlaf des Alters. Sie
+erwachte sofort und fragte, ob der Herr Doktor noch ein Verlangen habe.
+
+»Bitte, Frau Schmitz, stehen Sie gleich auf! Ich bin’s, Heinrich von
+Springe. Sie müssen mir eine Gefälligkeit erweisen.«
+
+In wenigen Minuten hatte die erschrockene Person ihre Kleider
+übergeworfen. Springe beruhigte sie.
+
+»Es ist nichts. Herr Hans fühlt sich nicht ganz wohl. Aber ich möchte
+doch auf alle Fälle mit Fräulein Stahl sprechen. Gehen Sie doch bitte
+sofort zur Immermannstraße — die Dienstmädchen machen leicht eine
+übertriebene Geschichte daraus — und ersuchen Sie Fräulein Stahl in
+meinem Namen, sich gleich herzubemühen. Das Fräulein versprach mir,
+aufzubleiben, bis ich aus dem ›Malkasten‹ zurück sei. Wir wollten noch
+plaudern.«
+
+»Soll ich nicht,« fragte die alte Frau ängstlich, »gleich einen Doktor
+mitbringen?«
+
+»Das wird hoffentlich nicht von nöten sein. Eilen Sie nur!«
+
+Er sah ihr vom offenen Fenster aus nach, wie sie in ihrem großen
+Umschlagetuch eilig die Straße dahintrippelte.
+
+Eine qualvoll lange Stunde begann für den Mann am Fenster. Er zog die
+Uhr. Es war eins. Vor zwei Uhr konnte Hannes nicht eintreffen. Und wenn
+sie nicht aufgeblieben, wenn sie schon zur Ruhe gegangen war? Aber
+nein, sie hatte ja am Abend erst versprochen, zu warten. Es drängte
+sie ja viel zu sehr, zu hören, ob der heitere Abend günstig auf Hans
+eingewirkt habe. Sie wollten ja noch Pläne miteinander schmieden,
+allein, ohne von den anderen gestört zu werden.
+
+Hannes würde kommen; Hannes würde ganz bestimmt kommen!
+
+Fern, aus einem der Gärten, tönten die langgezogenen Koloraturen einer
+Nachtigall. Sobald ihr Ruf in einem Triller erstarb, antwortete eine
+andere. Hin und her ging das Spiel, im Lauschen und im Schwelgen.
+
+Aber Springe hatte heute keinen Sinn für den Wohllaut der Nacht. Als
+er sich dennoch beim Horchen ertappte, riß er sich ärgerlich los. Das
+Tirilieren zog ihn ab. Er hatte sein Gehör einer anderen Richtung zu
+schenken.
+
+Das Viertelstundenschlagen der Turmuhren erschien ihm endlos. Er
+tastete nach seiner Zigarrentasche. Aber jetzt zu rauchen, kam ihm wie
+ein Verbrechen vor. Er verspürte auch nicht die geringste Lust.
+
+Eben hatte es dreiviertel zwei geschlagen, und seine Nervosität
+war gestiegen, daß er die Zähne zusammenbeißen und die Fingernägel
+in das Fensterbrett einkratzen mußte. Herrgott, das ging ja über
+Menschenkräfte. Das war ja wie eine Nacht vor dem Schafott. Schlimmer,
+schlimmer. Da oben lag ein Mensch, den Tod vor Augen, und er stand
+hier unten, tatenlos, wie ein Publikum. Er fühlte, wie auf seiner
+Stirn große, kalte Tropfen standen. Und da draußen dieses schwelgende
+Nachtigallenkonzert, als gäbe es jetzt auf der weiten Welt nichts
+Dringenderes zu tun, als Liebeslieder zu singen ...
+
+Ein Schritt! Ein ganz hastiger Schritt! — —?
+
+So weit, als er es vermochte, beugte sich Springe aus dem Fenster, um
+die Straße zu übersehen.
+
+Da! Das Mondlicht schuf taghelle Beleuchtung. Eine Frau! Eine Frau im
+Umschlagetuch ...! Heiliger Vater im Himmel, die Frau kam allein zurück!
+
+Er stürzte nach der Haustür, er öffnete —
+
+Es war Hannes.
+
+Der Umschwung seiner Empfindungen war so stark, daß er sich einen
+Atemzug lang gegen die Tür lehnen mußte — daß das Mädchen in jäher
+Angst nach seinen Armen griff — daß sie Entsetzliches befürchtete —
+
+»Nein, nein!« stieß er hervor. »Es kam nur — ich dachte — Frau Schmitz
+käme allein. Ich sah nur das große Umschlagetuch. Wenn man in der Nacht
+wartet, spielt die Phantasie Streiche. Mädel, Mädel, Gott Dank, daß du
+da bist!«
+
+Er drückte geräuschlos die Tür ins Schloß und führte das Mädchen
+vorsichtig ins Zimmer.
+
+»Du warst noch auf, als die Frau kam? Hat keiner etwas gehört?«
+
+»Ich stand am Fenster, Onkel, und öffnete ihr, ohne daß sie zu läuten
+brauchte. Als sie mir deine Bestellung ausgerichtet hatte, nahm ich
+gleich ihr Umschlagetuch, ohne erst den Hut zu holen, bat die Frau, an
+meiner Stelle dort zu bleiben, für den Fall, daß Großmutter zufällig
+aufstehen und nach mir sehen sollte, und hastete hierher. Aber so
+sprich doch um Gottes willen, was ist? Was ist mit Hans?«
+
+Und in fliegender Eile berichtete er ihr die Vorgänge des Abends.
+
+»Was ich auch vorbrachte, Hannes, alles war vergebens. Er war fertig
+mit sich. Er hatte Abschluß gemacht. Das einzige, was ich in meiner
+Todesangst erzielte, war der Aufschub bis zum Morgen. Und bis dahin ist
+nicht mehr weit.«
+
+Hannes stand blaß vor ihm, aber sie stand aufrecht. Die großen, tiefen
+Augen weit geöffnet, ging ihr Blick an ihm vorbei.
+
+»Nein, Onkel Springe, so spät ist es noch nicht.«
+
+»Ich wußte mir keinen anderen Rat als dich.«
+
+»Ich danke dir, Onkel Springe, Hat er von mir noch gesprochen?«
+
+»Nein, Kind. Aber das beweist nichts. Viel eher ...«
+
+»Onkel Springe,« sagte sie, bevor er vollenden konnte, »ich muß sofort
+zu ihm.«
+
+»Ich hatte das erwartet,« murmelte Springe, »aber es mußte von dir
+ausgehen.«
+
+»Willst du mich hinbringen? Wo ist er jetzt?«
+
+»Ich habe ihn dazu bewogen, sich zur Ruhe zu legen. In seinem
+Schlafzimmer.«
+
+Aus den letzten Worten hörte sie die zögernde Frage heraus. Da sah sie
+ihn ernst an.
+
+»Wie kann mich das hindern! Komm, Onkel Springe. Und dann, nicht wahr,
+dann läßt du mich allein.«
+
+In Springes Brust stieg eine breite Atemwelle auf. Er antwortete nichts
+als: »Ich wußte es ja, ich wußte es ja. In dir täuscht man sich nicht.«
+
+Dann ging er ihr voran in das obere Stockwerk und öffnete leise die Tür
+zu Hans’ Zimmer.
+
+Hans Steinherr lag auf dem Ruhebett, ganz still, das Gesicht der Wand
+zugekehrt.
+
+»Bist du es, Heinrich?« fragte er und wendete ein wenig den Kopf.
+
+Hannes hatte die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt. Jetzt, allein
+mit ihm, schlug ihr das Herz so rasend, daß ihr schwindelte. Aber sie
+bezwang sich mit aller Tapferkeit, trat rasch an ihn heran, beugte
+sich über ihn, und bevor er einen Schrei der Überraschung auszustoßen
+vermochte, hatte sie ihre Lippen fest auf seinen Mund gepreßt, als
+müßte es so sein — —.
+
+»Hans, mein alter, lieber Hans! Nun sage mir, was dir fehlt.«
+
+Hans Steinherr versuchte zu sprechen. Er rang nach Klarheit, nach
+Bewußtsein. Mit entsetzten Augen starrte er die Erscheinung an, von
+der er nicht wußte, wie sie zu dieser Stunde in dieses Zimmer kam. Und
+sie strich mit ganz weicher Hand über diese wilden Augen und sagte nur
+immer: »Mein alter, lieber Hans ...«
+
+Noch einmal versuchte er, die Lippen zu bewegen. Aber es kam kein Ton.
+Sie sah nur, wie seine Schultern schütterten, und sie hinderte ihn
+nicht. Vielleicht, daß er weinte — —. Nur mit zärtlichen Fingern strich
+sie über sein Haar und wiederholte von Zeit zu Zeit: »Alter, lieber
+Hans! Glaubtest du denn wirklich, daß ich dich so gehen lassen würde?
+Einfach gehen lassen?«
+
+Dann wurde er allmählich stiller, und sie saß bei ihm und wartete
+geduldig, bis er reden würde. Ihre weichen, warmen Hände, die jetzt auf
+seiner Stirn lagen, zeigten ihm, daß sie wartete.
+
+»Was nun?« stammelte er, »was denn nun? Das — das habt ihr ja glücklich
+zu stande gebracht. Nun kann ich es doch nicht mehr tun — —«
+
+»Wenn du es getan hättest, Hans, und ich hätte es erst morgen früh
+erfahren, ich hätte dich doch nicht allein gelassen.«
+
+Er sah sie verständnislos an. Seine Gedanken sprangen noch immer im
+Zickzack durch seinen Kopf.
+
+»Darauf bist du nicht selbst gekommen, Hans? Daß ich abgereist wäre,
+um die lieben Menschen hier nicht so arg zu treffen, und dir an irgend
+einem Winkel der Welt — nachgefolgt wäre?«
+
+»Hannes, Hannes!« brachte er hervor, »wie kannst du das aussprechen — —«
+
+»Wundert dich das? Das solltest du dir nicht gedacht haben, und wußtest
+doch, daß ich dich liebte?«
+
+»Nein, nein!« rief er. »Das habe ich ~nicht~ gewußt. Das wäre ja
+Wahnsinn gewesen.«
+
+»Was es ist,« sagte sie und lächelte vor sich hin, »das kann ich dir
+nicht sagen. Denn ich weiß ja nur das eine: daß ich dich lieb habe; so
+lieb, wie nur je im Leben; wie damals, als wir Kinder waren, und noch
+viel lieber.«
+
+»Quäl’ mich nicht! Quäl’ mich nicht so!«
+
+Da nahm sie hastig seinen Kopf und drückte ihn gegen ihre Brust.
+»Ruhig,« beschwichtigte sie mit ihrer tiefen, klingenden Stimme,
+»ruhig, ganz ruhig. Es ist so, und nun hast du es mir zu glauben.«
+
+Er regte sich nicht. Er lag wie im Arm einer Mutter. Wie unendlich wohl
+das tat — —
+
+Und nach einer Weile sagte sie: »Du darfst nur sprechen, wenn du
+vernünftig bist.«
+
+»Ich bin’s.«
+
+»Nur, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast.«
+
+»Hannes, Hannes, du bist so lieb, so — so — und es ist doch alles
+nutzlos.«
+
+»Magst du mich so wenig leiden, Hans? Trotzdem ich mich dir aufdränge?«
+
+»Du kannst scherzen,« sagte er tonlos. Aber als sie eine Bewegung
+machte, drückte er den Kopf fester gegen ihre Brust und schlang scheu
+den Arm um ihren Hals.
+
+Sie hielt ganz still. Das war der Knabe — — der Knabe von ehemals.
+
+»Hannes, es ist nichts aus mir geworden. Ich bin nichts und ich werde
+nichts. Hingegen du — du hast alles erreicht. Das sind doch keine
+Gleichheiten, die zueinander passen.«
+
+»Dein Talent ist zehnmal größer und wichtiger als meins. «
+
+»Mein Talent? Ich habe keins. Ich hab’s in der Fabrik draußen kläglich
+erproben können.«
+
+»Wer spricht denn von der Fabrik?«
+
+»Von der Fabrik nicht?«
+
+Er ließ sie los und schaute sie staunend an.
+
+»Ja, wenn nicht von der Fabrik, von was denn in aller Welt?«
+
+»Hältst du mich für so dumm, mein dummer Hans? Meinst du denn, ich
+hätte deine Gedichte und deine kunsthistorischen Aufsätze nicht in den
+Zeitschriften gelesen? Oder traust du mir so gar kein Verständnis zu?«
+
+Er lachte laut auf. »Meine Gedichte! Meine Aufsätze! Ein nettes, wirres
+Zeug — —«
+
+»O ja,« sagte sie, ohne die Ironie zu beachten, »ein bißchen wild ging
+es ja manchmal darin zu. Aber das lag nicht an deinem Kunstvermögen,
+das lag an dir armem, liebem Kerl selbst. Dir fehlte die Sammlung. Man
+muß ein Ziel haben, um unbeirrt marschieren zu können.«
+
+Und als sie sah, daß wieder der sarkastische Zug um seinen Mund
+auftauchen wollte, fügte sie mit ganz leiser, ganz durchsichtiger
+Schelmerei hinzu: »Wie kann man Sammlung haben, wenn man nicht einmal
+eine Frau hat!«
+
+»Hannes!« rief er, von dem alten Heimatston gepackt, »Hannes!«
+
+»Aha, das siehst du ein. Das ist der erste Schritt zur Besserung. Und
+da ich nun doch einmal dabei bin, mich dir auf die schönste Weise
+anzutragen, so merk dir noch, daß ich schon ganz tüchtig verdiene, und
+daß du, als der Mann, mich unbedingt überholen mußt.«
+
+Da lachte er nur auf.
+
+Aber nun gab sie nicht mehr nach und kniete an seiner Seite, als wollte
+sie sich ganz klein machen.
+
+»Hans, Hans, heraus mit dem Ehrgeiz! Ich habe allezeit zu dir
+aufgeschaut! Du bist ja so reich an Wissen und Können, daß du deine
+Schätze gar nicht einmal überblicken kannst, wenn du erst anfängst, mit
+deinem Pfund zu wuchern! Und höre einmal: Ich hab’ eine große Furcht.
+Eine gewaltige Furcht wegen meines großen Einkommens. Wahrhaftig, Hans.
+Ich fürchte — ich fürchte — ach, Hans, ich werde einmal entsetzlich
+faul werden. Und wenn du mich lieb hast, wirst du dir das selber
+zuzuschreiben haben.«
+
+Und wieder hatte der frische Heimatston des rheinischen Mädchens
+gesiegt.
+
+»Hannes, das geb’ ich nicht zu. Auf keinen Fall! Die Kunst ist etwas
+Heiliges, der wird man nicht untreu.«
+
+»So geh mir mit gutem Beispiel voran!«
+
+»Nein, du mir!«
+
+»Ich habe zuerst drum gebeten. Sei nicht geizig!«
+
+»Aber ich weiß ja nicht einmal, wie und wo ich es anfassen soll.«
+
+»Hans, das sagt ein Düsseldorfer? Hier, deine, unsere Vaterstadt
+wartet. Hier ist Terrain. Hier werden Männer benötigt, die für die alte
+und jung aufblühende Düsseldorfer Kunst eine Klinge zu schlagen wissen.
+Gegen den Zopf bei uns selber und gegen die Hämlinge da draußen! Wie?
+Hab’ ich das nicht schön gesagt? Hans, hier gibt’s Arbeit. Und wenn
+du mit ihr noch nicht auskommst, widme dich dem öffentlichen Leben.
+Ach, Hans, und wenn dich der Ehrgeiz plagt, kannst du noch einmal
+beigeordneter Bürgermeister für das Kunstdepartement der guten Stadt
+Düsseldorf werden. Hans, sind das nicht Aussichten?«
+
+Und sie lachte ihr klingendes, glückseliges Lachen, das ansteckend auf
+den staunenden Horcher wirkte, der mit leuchtenden Augen jedem ihrer
+Worte gefolgt war.
+
+»Hans, gib acht, wenn die Sammlung kommt! Wenn du erst deine Kräfte in
+Kopf, Herz und Faust zusammen hast! Wie dann der Dichter sich melden
+wird, der die Stimmen in sich und um sich her sammelt. O, ich bin ja
+so froh, daß du kein Wunderkind geworden bist, kein Überflieger ohne
+Wurzelland. Ein Baum muß wachsen in Sturm und Wetter.«
+
+Sie hatte den Kopf an den seinen geschmiegt, und plötzlich begann sie
+leise eine Verszeile aus »Ännchen von Tharau« zu singen.
+
+ »Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
+ Hat ihn erst Regen und Sturmwind gebeugt — —«
+
+Da konnte er sich nicht mehr enthalten. Da schlang er die Arme um sie
+und küßte sie auf die Lippen, auf die Augen, auf das schimmernde,
+rotblonde Haar. Als ein Gesunder! Als ein Mensch, der nach dem Leben
+verlangt, nach dem fröhlichen Kampf und dem segenschweren Sieg.
+
+»Hannes, alter, kleiner Hannes! Liebste, ach du Aller-Allerliebste!
+Jetzt lass’ ich dich nicht mehr los.«
+
+»Ich hab’ dich nie losgelassen, Hans.« — —
+
+Sie hörten ihre Herzen schlagen. Das war ein Gleichklang.
+
+Und mit einem Male, in der neuen Gesundheit seines Empfindens, wurde
+sich Hans Steinherr der Situation bewußt.
+
+»Mädel, Mädel, wo bist du denn hingeraten? Das ist ja mein Schlafzimmer
+— —«
+
+»Herr Gott!« schrie sie auf und wich bis an die Wand zurück.
+
+»Hans,« sagte sie dumpf, aber in ihrer Stimme vibrierte der Schalk und
+das Glück, »du hast mich fürchterlich kompromittiert.«
+
+»Aber du warst ja als Krankenschwester bei mir.«
+
+»Der Kranke ist kerngesund. Ich hab’ die Beweise. Kannst du das
+leugnen?«
+
+»Nein, ich kann es ~nicht~ leugnen.«
+
+»Du hast mich also kompromittiert, und du wirst wissen, was ein
+Ehrenmann zu tun hat.«
+
+»Hannes!« flehte er.
+
+»Ja oder nein?«
+
+»Wenn es denn nicht anders ist —: Ja!«
+
+»O, bitte: das genügt mir nicht. Deutlicher, klarer, Herr Doktor
+Steinherr!«
+
+»Hannes, ich seh’ es ein, ich muß dich heiraten.«
+
+Da flog sie wie der Wind heran und umhalste ihn wie ein glückliches
+Kind. »Hans, mein alter, lieber Hans!«
+
+»O du alter, kleiner Hannes!«
+
+»Weißt du, wir könnten die beiden Namen in einen fassen.«
+
+»Wir sind ja eins und sind es immer gewesen.«
+
+Und sie plauderten und schwatzten wie die Kinder von den Erinnerungen,
+und das dritte Wort war: »Weißt du noch?«
+
+»Weißt du noch,« fragte Hannes, »als wir im Regen durch den Hofgarten
+liefen und ich es nicht wollte, daß du mir auf die Füße sahst, wenn ich
+über die Pfützen springen mußte, und du dann riefst: Ach, in ein paar
+Jahren bist du ja doch meine Frau?! Und heute bin ich zu dir gekommen,
+weil ich es mußte, und weißt du, was ~ich~ jetzt rufe?: Ach, in ein
+paar Wochen bist du ja doch mein Mann! Kuß! So, und jetzt müssen wir zu
+Onkel Springe.«
+
+Aber sie hielt ihn noch einmal an der Tür zurück. Mit einem lieben,
+ernsten Zug im Gesicht.
+
+»Hans, du darfst mich nicht falsch verstehen. Meine Liebe soll dir nie
+eine Last sein, sie soll dir — meine Liebe sein. Du hast als Künstler
+die Welt nötig. Du ~mußt~ sogar die Welt nötig haben, wenn du immer ein
+Wahrheitsschilderer bleiben willst. Und du wirst überall die Schönheit
+suchen, und manch eine Frau wirst du schön und interessant finden.
+Hans, ich werde nie eifersüchtig sein. Meine Liebe steht so felsenfest,
+daß ich weiß: ich werde der Hafen sein, zu dem er nach jeder Ausfahrt
+freudig und mit überlegenem Lächeln zurückkehrt. Das, Hans, das war’s,
+was ich dir noch sagen wollte.«
+
+Er hielt ihre Hände fest und war keines Wortes mächtig.
+
+Dann gingen sie, Hand in Hand. Sein Schritt war fest und schnell. Ein
+aufrechtes Mannestum war in ihm und eine Heiterkeit, die nach frischer
+Lebenstat Ausschau hält, den Dank für das Leben zu bekunden. — —
+
+Heinrich von Springe war, nachdem er Hannes in Hans Steinherrs
+Zimmer hatte eintreten lassen, sofort umgekehrt. Zuerst hatte er
+seine Wanderung durch das Parterrezimmer wieder aufgenommen, dann
+war er lange auf einem Fleck stehen geblieben, um seiner Erregung
+Herr zu werden, und die abenteuerlichsten Pläne waren ihm durch den
+Kopf gegangen, für den Fall, daß das Mädchen unverrichteter Sache
+zurückkehren würde. Als aber Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich,
+ohne daß das Mädchen wieder aufgetaucht wäre, löste sich die lastende
+Spannung in ein verblüfftes Staunen, und das Staunen endlich in ein
+breites Behagen — —.
+
+Es schlug drei Uhr. Da tastete er wieder einmal nach seiner Rocktasche,
+und diesmal brachte er schmunzelnd sein Etui hervor und zündete sich
+mit der Miene eines Mannes, der einen Genuß zu würdigen versteht, eine
+große Zigarre an.
+
+Dann legte er sich in das offene Fenster, so bequem es ihm möglich
+schien, und beobachtete den heraufziehenden Frühlingsmorgen.
+
+Noch immer schlug im fernen Garten eine Nachtigall, und ihr lockender
+Ruf ließ eine zweite antworten. Aber Dialog und Duett irritierten ihn
+nicht mehr. Ja, wenn ihm eine Pause in musikalischer Beziehung zu lang
+ausgesponnen vorkam, nahm er seine Zigarre aus dem Mund und ahmte leise
+den Lockruf nach.
+
+»Tü — — Türülü — — —«
+
+Und er freute sich kindisch, wenn die kleinen unsichtbaren
+Gesangskünstler prompt einsetzten.
+
+Jetzt war er so in sein Tun vertieft, daß er das Uhrenschlagen
+überhaupt überhörte. Nur einen Schritt überhörte er nicht. Der klang
+ihm denn doch zu bekannt. So ging nur Frau Margot.
+
+Sie war schon dicht vor dem Hause, da lehnte er sich, die Zigarre
+zwischen den Lippen, weit aus dem Fenster, damit sie ihn erkennen
+sollte, und rief so gemütlich und fröhlich, als ob es sich um eine
+Absprache handelte: »Guten Morgen! Guten Morgen, du allerschönste Frau!
+Hast du dich auch herbemüht?«
+
+Frau Margot war sprachlos. Sie hatte den Weg in der treibenden Angst
+der Ungewißheit zurückgelegt, von allen erdenkbaren Schreckensbildern
+erfüllt, und nun rekelte sich ihr geliebter Mann zigarrenrauchend im
+Fenster und machte Naturstudien!
+
+»Aber Heinz — — aber Heinz!«
+
+»Willst du zum Fenster einsteigen, oder soll ich dich feierlich an der
+Tür des Hauses empfangen?«
+
+»Sei nicht so unvernünftig fidel. Ich bin ja ganz hin.«
+
+»Das, Liebste, kommt davon, wenn man nicht seine unvernünftige
+Fidelität beibehält.«
+
+»Heinz, so öffne doch!«
+
+»Aber nicht prügeln, hörst du? Ich habe nichts verbrochen!«
+
+Sie schüttelte lachend den Kopf über den Unverbesserlichen.
+
+Nun war sie bei ihm im Zimmer und bestürmte ihn um Auskunft.
+
+»Erst beichten, wer dich mir auf die Spur gebracht hat. Es muß alles
+seine Ordnung haben.«
+
+»Ach Gott, Heinz, ich wachte auf und fand deinen Platz immer noch leer.
+Das ängstigte mich, und ich nahm meinen Morgenrock über, um zu sehen,
+ob bei den Toggenburgers noch Licht sei. Du und Hannes, ihr hattet ja
+den ganzen Tag über Heimlichkeiten gehabt. Und als ich wirklich noch
+Lichtschein entdeckte, klopfte ich leise an. Du kannst dir meinen
+Schreck vorstellen, als die Wirtschafterin von Hans mir öffnete.«
+
+»Das ist die Strafe, wenn die Frau nicht vertrauensvoll den Mann
+erwarten kann,« sagte Heinrich Springe.
+
+»Spotte du noch! Mir war alle Lustigkeit vergangen. Und als mir Frau
+Schmitz gar mitteilte, daß sie das Fräulein hätte holen müssen, weil
+der Herr Doktor daheim wohl erkrankt sei, da war ich im Handumdrehen
+angekleidet und, und — da bin ich.«
+
+»Und nun beruhigt, Liebste?«
+
+»Beruhigt —? Aber ich bin ja noch so klug wie zuvor.«
+
+»Ach so,« stimmte Springe bei. »Ja — viel klüger bin ich auch nicht.«
+
+»Aber so sag doch endlich, ob Hans wirklich krank ist!«
+
+»Krank? I wo! Der wird sich in diesem Augenblick wohl so urgemütlich
+befinden wie noch nie in seinem Leben. Ich nehme das wenigstens an.«
+
+»Heinz, sei ernsthaft! Was ist hier vorgegangen? Weshalb hast
+du Hannes in der Nacht herholen lassen? Du mußtest doch sehr
+schwerwiegende Gründe haben.«
+
+»Ja, Margot, die hatte ich. Du siehst, ich bin jetzt ganz ernst. Hans
+wollte in dieser Nacht ohne Abschied von dannen. Er wollte wieder
+reisen, ins Ungewisse. Vielleicht wäre er nie wieder gekommen. Ich
+erfuhr davon, ich habe lang’ auf ihn eingeredet, bei uns zu bleiben,
+gesund und froh zu werden. Es half nichts. Da dachte ich: Hier kann
+nur eine helfen. Wenn die Namen der Mutter und des Freundes versagen,
+bleibt als letztes der Name der Geliebten. Und so griff ich denn zu der
+stärksten Beschwörung und ließ Hannes holen.«
+
+»Sie muß ihn sehr lieb haben,« sagte Frau Margot leise und drückte die
+Hand des Gatten.
+
+»Und er sie nicht minder,« entgegnete Heinrich Springe, »denn er
+scheint sie jetzt überhaupt nicht mehr hergeben zu wollen. Diese
+Egoisten haben meine Existenz total vergessen.«
+
+»Wo sind sie denn? Ich möchte sie sehen.«
+
+»Oben. In seinem Schlafzimmer.«
+
+»In seinem — —?«
+
+»Aber Liebste, mach doch nicht so liebe, dumme Augen. Sie sind in der
+Tat oben. Der Junge hatte sich zur Ruhe gelegt, um nicht gestört zu
+werden, und in der Frühe wollte er heimlich davon. Da ist das tapfere
+Mädel schnurstracks hinaufgegangen, um ihn zu zwingen, sie anzuhören.
+Nicht nur für sich, für uns alle. Spürst du denn nicht, wie kleinlich
+und nichts-bedeutend in der Stunde der Gefahr alle sogenannten
+Anstandsregeln werden? Zimperlichkeit ist nicht rheinische Art.«
+
+Frau Margot schmiegte sich an seinen Arm und lachte zu ihm auf.
+
+»Du, du? Ist das nicht unschicklich?«
+
+»Unschicklich ist es,« sagte Heinrich Springe mit einem tiefen Atemzug,
+»aber es ist auch verdammt schön! Und siehst du,« fuhr er fort und
+legte den Arm um ihren Leib, »weil die Schönheit gar so selten ist, so
+soll man sie, wenn sie uns grüßt, halten und fassen, wie und wo man
+kann. Und nie, nie im Leben soll man sie ungeküßt von dannen lassen.«
+
+Am offenen Fenster zog er ihren Kopf zu sich heran, und sie wehrte
+nicht, und sie küßten sich.
+
+»Das ist aller Weisheit Schluß, du liebe Frau.« —
+
+Die Tür öffnete sich. Da waren die Kinder.
+
+Und wortlos eilten die beiden Frauen aufeinander zu und umarmten sich.
+Eine jede den Kuß des Liebsten auf den Lippen.
+
+»Mutter —« sagte endlich Hannes.
+
+Frau Margot aber nahm beider Hände in die ihren — — —
+
+Heinrich Springe hatte sich abgewendet. Unmännliche Rührung mißbilligte
+er an der eigenen Person.
+
+Dann standen sie alle am Fenster und atmeten tief in der Frühlingsluft.
+
+»Wie weiß die Gärten in Blüte stehen,« sagte Hannes. »Das kommt, ohne
+Fragen und Zaudern, weil es seine Bestimmung ist.«
+
+»Das ist eine bräutliche Nacht,« nickte Frau Margot. »Duft und Licht
+und Klang vermählen sich in eins.«
+
+Heinrich Springe stand zwischen den beiden Frauen. Er wußte keine
+Sentenz. Aber er drückte sie beide an sich und sagte, lachenden,
+leuchtenden Auges in den aufsteigenden Morgen hinausschauend:
+
+»Kinder, Kinder, es ist doch etwas Eigenes um den Frühling am
+Niederrhein.« — — —
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger G. m. b. H.
+
+Stuttgart und Berlin
+
+Die nachstehend verzeichneten Romane und Novellen sind auch
+in Leinwand gebunden zu beziehen
+
+Preis für den Einband 1 Mark
+
+ Geheftet
+
+ ~Andreas-Salomé~, Lou, Ruth. Erzählung. 3. Aufl. M. 3.50
+
+ —"— Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte
+ 2. Auflage M. 2.—
+
+ —"— Fenitschka. Eine Ausschweifung
+ Zwei Erzählungen M. 2.50
+
+ —"— Menschenkinder. Novellencyklus. 2. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Ma. Ein Porträt. 2. Auflage M. 2.50
+
+ —"— Im Zwischenland. Fünf Geschichten. 2. Aufl. M. 3.50
+
+ ~Anzengruber~, Ludwig, Wolken und Sunn’schein
+ 2. Auflage M. 3.—
+
+ ~Arminius~, Wilhelm, Der Weg zur Erkenntnis M. 3.—
+
+ —"— Yorks Offiziere. Historischer Roman M. 3.50
+
+ ~Bertsch~, Hugo, Die Geschwister. Mit einem Vorwort
+ von Adolf Wilbrandt. 5. Auflage M. 2.50
+
+ ~Bobertag~, Bianca, Moderne Jugend M. 4.—
+
+ ~Böhlau~, Helene, Salin Kaliske. Novellen. 2. Aufl. M. 3.—
+
+ ~Bourget~, Paul, Das gelobte Land M. 3.—
+
+ ~Boy-Ed~, Ida, Die Lampe der Psyche. 2. Auflage M. 4.—
+
+ —"— Um Helena. 2. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Die säende Hand. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Die große Stimme. Novellen M. 2.—
+
+ ~Bülow~, Frieda v., Kara M. 4.—
+
+ ~Burckhard~, Max, Simon Thums. 2. Auflage M. 3.—
+
+ ~Busse~, Carl, Die Schüler von Polajewo. Novellen M. 2.50
+
+ ~Ebner-Eschenbach~, Marie v., Erzählungen. 4. Aufl. M. 3.—
+
+ —"— Božena. Erzählung. 6. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Margarete. 5. Auflage M. 2.—
+
+ — Moriz v., =Hypnosis perennis.= Ein Wunder des
+ heiligen Sebastian. Zwei Wiener Geschichten M. 2.—
+
+ ~Eckstein~, Ernst, Nero. 7. Auflage M. 5.—
+
+ ~Ertl~, Emil, Mistral. Novellen M. 3.—
+
+ ~Fontane~, Theodor, Quitt. 2. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Unwiederbringlich. 4. Auflage M. 3.—
+
+ ~Fulda~, L., Lebensfragmente. Zwei Novellen. 2. Aufl. M. 2.—
+
+ ~Gleichen-Rußwurm~, A. Freiherr v., Vergeltung M. 3.50
+
+ ~Grimm~, Herman, Unüberwindliche Mächte. 2 Bde.
+ 3. Auflage M. 8.—
+
+ ~Haushofer~, Max, Planetenfeuer. Ein Zukunftsroman M. 3.50
+
+ ~Heer~, J. C., An heiligen Wassern. 15. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Der König der Bernina. 16. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Felix Notvest. 7. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Joggeli. Die Geschichte einer Jugend. 6. Aufl. M. 3.50
+
+ ~Heilborn~, Ernst, Kleefeld M. 2.—
+
+ ~Herzog~, Rudolf, Die vom Niederrhein M. 4.—
+
+ ~Heyse~, Paul, Neue Novellen. 7. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Marthas Briefe an Maria. 2. Auflage M. 1.—
+
+ —"— Meraner Novellen. 10. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Novellen vom Gardasee. 3. Auflage M. 4.50
+
+ —"— Kinder der Welt. 2 Bände. 21. Auflage M. 7.20
+
+ —"— Unvergeßbare Worte und andere Novellen.
+ 5. Auflage M. 3.60
+
+ —"— Im Paradiese. 2 Bände. 13. Auflage M. 7.20
+
+ —"— Der Roman der Stiftsdame. 12. Auflage M. 3.60
+
+ —"— Moralische Unmöglichkeiten u. and. Geschichten M. 4.50
+
+ ~Hillern~, Wilhelmine v., ’s Reis am Weg. 3. Aufl. M. 1.50
+
+ —"— Ein alter Streit. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Der Gewaltigste. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Ein Sklave der Freiheit. Roman. 3. Auflage M. 5.—
+
+ ~Höcker~, Paul Oskar, Väterchen M. 3.—
+
+ ~Hopfen~, H., Der letzte Hieb. Eine Studentengeschichte.
+ 4. Auflage M. 2.50
+
+ ~Huch~, Ricarda, Erinnerungen von Ludolf Ursleu
+ dem Jüngeren. 4. Auflage M. 4.—
+
+ ~Junghans~, Sophie, Schwertlilie. 2. Auflage M. 4.—
+
+ ~Kaiser~, J., Wenn die Sonne untergeht. Novellen.
+ 2. Auflage M. 2.50
+
+ ~Kirchbach~, Wolfgang, Miniaturen. Fünf Novellen M. 4.—
+
+ ~Langmann~, Philipp, Verflogene Rufe. Novellen M. 2.50
+
+ ~Lindau~, Paul, Der Zug nach dem Westen. 10. Aufl. M. 4.—
+
+ ~Lindau~, Paul, Arme Mädchen. 8. Auflage M. 4.—
+
+ —"— Spitzen. 7. Auflage M. 4.—
+
+ ~Loti~, Pierre, Japanische Herbsteindrücke M. 3.—
+
+ ~Mauthner~, Fritz, Hypatia. 2. Auflage M. 3.50
+
+ ~Meyer-Förster~, Wilhelm, Eldena. 2. Auflage M. 3.—
+
+ ~Meyerhof-Hildeck~, Leonie, Töchter der Zeit
+ Münchner Roman M. 3.—
+
+ ~Muellenbach~, E. (E. Lenbach), Abseits. Erzählungen M. 3.—
+
+ —"— Vom heißen Stein M. 3.—
+
+ —"— Aphrodite und andere Novellen M. 3.—
+
+ ~Petri~, Julius, Pater peccavi! M. 3.—
+
+ ~Prel~, Karl du, Das Kreuz am Ferner. 2. Auflage M. 5.—
+
+ ~Proelß~, Johannes, Bilderstürmer! 2. Auflage M. 4.—
+
+ ~Riehl~, W. H., Aus der Ecke. Sieben Novellen. 4. Aufl. M. 4.—
+
+ —"— Neues Novellenbuch. 3. Auflage. (6. Abdruck) M. 4.—
+
+ —"— Am Feierabend. Sechs neue Novellen. 4. Aufl. M. 4.—
+
+ —"— Kulturgeschichtliche Novellen. 5. Auflage M. 4.—
+
+ ~Saitschick~, Robert, Aus der Tiefe. Ein Lebensbuch M. 2.—
+
+ ~Schunsui~, Tamenaga, Treu bis in den Tod
+ Historischer Roman M. 3.—
+
+ ~Seidel~, Heinrich, Leberecht Hühnchen. Gesamtausgabe
+ 2. Auflage (11.–15. Tausend) M. 4.—
+
+ —"— Vorstadtgeschichten. Gesamtausgabe. Erste Reihe M. 4.—
+
+ —"— " " Zweite Reihe M. 4.—
+
+ —"— Heimatgeschichten. Gesamtausgabe. Erste Reihe M. 4.—
+
+ —"— " " Zweite Reihe M. 4.—
+
+ —"— Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben
+ Gesamtausgabe M. 4.—
+
+ —"— Phantasiestücke. Gesamtausgabe M. 4.—
+
+ ~Skowronnek~, Richard, Der Bruchhof. 2. Aufl. M. 3.—
+
+ ~Stegemann~, Hermann, Stille Wasser M. 3.—
+
+ —"— Der Gebieter M. 2.50
+
+ ~Stratz~, Rudolph, Der weiße Tod. 8. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Buch der Liebe. Sechs Novellen. 2. Auflage M. 2.50
+
+ —"— Der arme Konrad. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Die letzte Wahl. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Montblanc. 5. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Die ewige Burg. 4. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Die thörichte Jungfrau. 5. Auflage M. 3.50
+
+ ~Stratz~, Rudolph, Alt-Heidelberg, du Feine ... 6. Aufl. M. 3.50
+
+ —"— Es war ein Traum. Berliner Novellen. 4. Aufl. M. 3.50
+
+ ~Sudermann~, Herm., Frau Sorge. 71. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Geschwister. Zwei Novellen. 26. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Der Katzensteg. 54. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. 29. Auflage M. 2.—
+
+ —"— Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 26. Auflage M. 2.—
+
+ —"— Es war. 35. Auflage M. 5.—
+
+ ~Telmann~, Konrad, Trinacria. Sizilische Geschichten M. 4.—
+
+ ~Voß~, Richard, Römische Dorfgeschichten. 4. Auflage M. 3.—
+
+ ~Wereschagin~, W. W., Der Kriegskorrespondent M. 2.—
+
+ ~Widmann~, J. V., Touristennovellen M. 4.—
+
+ ~Wilbrandt~, Adolf, Fridolins heimliche Ehe. 3. Aufl. M. 2.50
+
+ —"— Meister Amor. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Novellen aus der Heimat. 2. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Hermann Ifinger. 6. Auflage M. 4.—
+
+ —"— Der Dornenweg. 4. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Die Osterinsel. 4. Auflage M. 4.—
+
+ —"— Die Rothenburger. 6. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Vater und Sohn und andere Geschichten. 2. Aufl. M. 3.—
+
+ —"— Hildegard Mahlmann. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Schleichendes Gift. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Die glückliche Frau. 4. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Vater Robinson. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Der Sänger. 4. Auflage M. 4.—
+
+ —"— Erika. Das Kind. Erzählungen. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Feuerblumen. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Franz. 3. Auflage M. 3.50
+
+ —"— Das lebende Bild u. andere Geschichten. 3. Aufl. M. 3.—
+
+ —"— Ein Mecklenburger. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Villa Maria. 3. Auflage M. 3.—
+
+ —"— Familie Roland M. 3.—
+
+ ~Wildenbruch~, E. v., Schwester-Seele. 12. Auflage M. 4.—
+
+ ~Worms~, Karl, Du bist mein. Zeitroman M. 4.—
+
+ —"— Thoms friert M. 4.—
+
+ —"— Die Stillen im Lande. Drei Erzählungen M. 3.—
+
+ —"— Erdkinder M. 3.50
+
+
+
+
+_Gedichte_
+
+von
+
+_Rudolf Herzog_
+
+Geheftet 2 Mark 50 Pf. In Leinenband 3 Mark 50 Pf.
+
+
+... Die Kunst Herzogs ist eine Kunst großen Stils und kennzeichnet sich
+durch große Vornehmheit. Sie ist vornehm, ohne exklusiv zu sein, von
+gedanklicher, sprachlicher und architektonischer Schönheit, ohne dunkel
+oder stilisiert zu wirken; eine Kunst, die von einer tiefen Auffassung
+des Schaffensmysteriums erfüllt ist, eine Innenkunst, die in die Gründe
+und Abgründe der Seele steigt, um geheimes Gold an den Tag zu fördern
+...
+
+_Literarisches Centralblatt, Leipzig_
+
+... Wie Frühlingsbrausen weht es dem Leser aus der Gedichtsammlung
+entgegen. Da spricht eine ganz eigene Persönlichkeit, die vor
+allen Dingen durch Frische und unzerstörbaren Lebensmut köstlich
+anziehend erscheint. Wie gesund das wirkt nach all den schwülen müden
+Schöpfungen, die wir in den letzten zehn Jahren an uns vorübergehen
+sahen ...
+
+_Lübecker Nachrichten_
+
+Rudolf Herzog hat sich bisher durch Dramen und Romane eine geachtete
+Stellung in der modernen Literatur erworben. Nun hat er uns als die
+Frucht vieler Jahre einen Gedichtband geschenkt, in welchem sich
+dieselbe starke und gesunde Persönlichkeit, die seinen Romanen ein
+subjektives und individuelles Gepräge verlieh, offenbart ... Wenn auch
+das Buch voll stark und stürmisch empfundener Poesien ist, so ist es
+doch nicht das Werk eines Jünglings ... Es ist das Buch einer Liebe und
+ihres Wachsens und ihrer Erfüllung. Und so führt er uns von tiefstem,
+herzzerwühlendem Schmerz zu höchster Freude, zum vollen Menschenglücke.
+So feiert er den großen Rausch der Liebe und verherrlicht die Stunden
+tiefverschwiegenen Liebesglückes, den stillen Frieden des Herdes ...
+
+_Nationalzeitung, Berlin_
+
+=H. M.= Seinen großen Romanen »Der Graf von Gleichen« und »Die vom
+Niederrhein« sendet Rudolf Herzog jetzt die Sammlung seiner »Gedichte«
+nach. Sie sind es vielleicht, die den Aufgang und die Entwickelung
+seines Talentes am lebendigsten zeigen, die das vollste, klarste und
+reichste Bild seiner dichterischen Natur geben. Sein ganzes Temperament
+sprüht und leuchtet in ihnen, und das Temperament ist zugleich gebildet
+und geadelt in künstlerischer Selbstzucht. Was der Most verhieß, ist
+er geworden: ein reiner feuriger Wein von feinstem Duft und edelstem
+Gehalt. Nennt man die besten Dichter im Lande, wird jetzt auch sein
+Name genannt ...
+
+_Barmer Zeitung_
+
+Herzogs »Gedichte« atmen dieselbe Lebensfreudigkeit, den gleichen
+kecken Übermut und die nämliche Gefühlswärme, die uns seine Romane
+so wert machen. Seine Verse klingen, und aus ihnen tönt es von
+Kämpfertrotz und heißer Liebe, von lenzeslinden Lüften und wildem
+Sturmeswehen: ein echter Mann und Dichter spricht zu uns, dem die Leyer
+zum Schwert wird, wo es gilt, pedantische Moralphilosophen zu befehden.
+
+_Berliner Börsen-Courier_
+
+... Herzogs Muse ist kein blasses, schwindsüchtiges Wesen, das uns
+mit den Äußerungen eines krankhaften Zustandes quälen möchte: helle,
+fröhliche Augen blicken uns aus diesen Gedichten entgegen, und wir
+hören aus ihnen das Lachen und den Spott, zuweilen aber auch den Zorn
+und den Schmerz eines gesunden, lebensfrohen Menschen heraus ... Es
+ist frische Kraft in den Versen Herzogs, die wir herzlich begrüßen.
+_Berliner Lokal-Anzeiger_
+
+[Illustration]
+
+
+
+
+_Der Graf von Gleichen_
+
+Moderner Roman aus der Berliner Gesellschaft
+
+von
+
+_Rudolf Herzog_
+
+Geheftet 4 Mark. In Leinenband 5 Mark
+
+[Illustration]
+
+Dieses neueste Werk des jungen, vielversprechenden Verfassers ist ein
+gutes Buch voll ernsten Wollens und tüchtigen Könnens. Die Schilderung
+der Charaktere bis in die feinsten Seelenschwingungen, bis in die
+geheimsten Herzensregungen ist dem Verfasser überraschend gut gelungen.
+Ich habe diese Menschen lieb gewonnen in ihrer gesunden, bewußten,
+tatfrohen Eigenart. Die gesunde Sprache, die furchtlose Tendenz des
+Buches deckt manchen veralteten Schaden der heutigen Gesellschaft auf.
+
+_Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin_
+
+Unsere Literatur ist nicht reich an Büchern, die mit so ehrlicher
+Schlichtheit, so ohne jedes Posieren, ohne alle Effekthascherei
+geschrieben sind, wie der Roman Herzogs.
+
+_Hamburger Fremdenblatt_
+
+Rudolf Herzog hat sich in verhaltnismäßig kurzer Zeit einen
+achtungsvollen Namen unter den deutschen Romanciers erworben. Die
+Erhebung des Imposanten und Kraftvollen zum Träger der Geschicke gibt
+sein neuester Roman »Der Graf von Gleichen«. Der Stil des Romans ist
+außerordentlich elegant und fesselnd. Er wird sich einen Platz in
+unsrer neueren Literatur erringen.
+
+_Die Post, Berlin_
+
+Das Buch ist außerordentlich gut geschrieben, flüssig, mit Kraft und
+liebevoller Verve, es pulsiert in ihm ein leidenschaftlicher, tiefer
+Ton, es ist die Bekenntnisschrift zweier starker, vornehmer Seelen,
+die sich finden, weil es für sie kein Hindernis gibt. Das Buch will
+gelesen und — empfunden werden, und wird seinen Weg machen, da es ein
+so ernstliches Interesse erregt, daß es auch zum zweiten und dritten
+Male gelesen werden kann, was man heuer nicht von allen Romanen sagen
+darf.
+
+_Münchener Neueste Nachrichten_
+
+Das Buch nimmt gefangen, so stark, so persönlich ist es. Aber es ist
+eine Gefangenschaft zur Freiheit, es entbindet zum freien starken
+Menschentum, das sich dem Zwang der Konvention entwindet, weil es sich
+selbst das Gesetz des Lebens geworden. Es ist Nietzsches hohe Moral,
+in einer dichterischen Gestalt von gesättigter Kraft verkörpert mit
+hinreißender Anschaulichkeit! Das willkommene Seitenstück zu Wilbrandts
+fein und vorsichtig abgestimmter »Osterinsel«, die den Himmelsstürmer
+mit der milden Weisheit des überlegenen Alters ad absurdum führt.
+
+_Berliner Tageblatt_
+
+Dieser neue Roman des geschätzten Berliner Erzählers nimmt eine
+eigenartige Stellung in unserer modernen realistischen Epik ein.
+Der Verfasser beherrscht spielend die naturalistische Technik, die
+Milieuentwicklung, die impressionistische Aufnahme der Stimmung. Aber
+vor allem ist Herzog ein Selbständiger und Eigener. Das Buch sei allen,
+die an der Entwicklung unsrer modernen Literatur teilnehmen, bestens
+empfohlen.
+
+_Bohemia, Prag_
+
+[Illustration]
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75525 ***
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+ Die vom Niederrhein | Project Gutenberg
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75525 ***</div>
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+
+<!-- Transcribers note -->
+
+<div class="transnote">
+
+<p class="transhead">Anmerkungen zur Transkription</p>
+
+<p>Das Original ist in Fraktur gesetzt.
+Im Original gesperrter Text ist <em class="gesperrt">so ausgezeichnet.</em>
+
+Im Original in Antiqua gesetzter Text ist <em class="antiqua">so markiert</em>.</p>
+
+<p>Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. </p>
+
+<p>Der Übersichtlichkeit halber wurde die Buchwerbung am Ende des Buches
+zusammengefasst.</p>
+</div>
+
+<!-- Cover picture -->
+
+<div class="break-before">
+<figure class="figcenter coverpic">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/cover.jpg">
+</figure>
+</div>
+
+<!-- Main header -->
+
+<div class="chapter">
+<h1>Die vom Niederrhein</h1>
+
+<p class="center noind">Roman in zwei Büchern</p>
+
+<p class="center s08 noind">von</p>
+
+<p class="center s2">Rudolf Herzog</p>
+
+<figure class="figcenter w25 mt2">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/signet.jpg">
+</figure>
+
+<p class="center noind mt2">Stuttgart und Berlin 1903</p>
+
+<p class="center noind"><em class="gesperrt">J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger</em></p>
+
+<p class="center noind mb1">G. m. b. H.
+</p>
+</div>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<div class="break-before">
+
+<p class="center noind mt2 mb2">
+Alle Rechte vorbehalten</p>
+
+<p class="center noind mb2">
+Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
+</p>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<!-- Dedication -->
+
+<div class="break-before">
+
+<p class="center noind s3 mt2">
+Walter Bloem</p>
+
+<p class="center right s4 mb2 mr3">
+zu eigen
+</p>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<!-- First page -->
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span></p>
+<h2 id="Erstes_Buch">Erstes Buch</h2>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+<h3 id="Erstes_Kapitel_Buch_1">Erstes Kapitel</h3>
+
+<p class="drop-cap">Schiefergrau schob der Rhein seine Wassermassen an
+Düsseldorf vorbei. Er zwängte sich stöhnend durch die
+Joche der alten Schiffsbrücke und entpreßte den Bohlen
+und Planken der bauchigen Brückenkähne denselben hellsingenden,
+melancholischen Ton, den einst der lustige
+Bergwind dem Holze entlockte, als es noch mit quellenden,
+steigenden Säften auf einsamen Nordlandshöhen
+oder grünen Schwarzwaldgipfeln seine Kronen wiegte.
+Ausströmend fand er seine Gelassenheit zurück, trieb
+schwerfällig an dem roten Schloßturm der schönen Jakobe
+von Baden vorüber, der als altes Wahrzeichen der Stadt
+in die neue Zeit mit ihrer alles glättenden, die Erinnerungen
+auslöschenden Verschönerungssucht glücklich
+sich hinübergerettet hat, und nahm die Parade ab über
+einen zusammengewürfelten Haufen baufällig scheinender
+Hütten und Baracken, die sich wie eine Zigeunerhorde
+an die massigen Hüften ihrer Nährmutter, den kalt und
+erhaben seine Umgebung beherrschenden Bau der Kunstakademie,
+herandrängten. Dann tauschte er kurz Red’
+und Antwort mit dem leisquellenden Wasser des Sicherheitshafens,
+überströmte kräftig den Rand der Golzheimer
+Insel, große Lachen in dem sandigen Boden
+zurücklassend, und entschwand nahe Kaiserswerth, der
+<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span>
+alten, efeuumsponnenen Feste, die einst Pipin erbaute
+und die die Entführung des vierten Heinrich sah, in
+einem scharfen Bogen gen Holland.</p>
+</div>
+
+<p>Unaufhörlich ging der Regen nieder. In der Nacht
+hatte er begonnen, und jetzt, nachdem die Glocken der
+Stadt längst Mittag verkündet hatten, zeigte er sich noch
+keineswegs zur Rast gewillt. Wer aus dem Rheintor
+heraustrat, sah Strom und Ebene, soweit der Blick
+reichte, in einen engmaschigen, grauen Schleier gehüllt,
+der nur dicht über dem Wasser eine langgestreckte,
+silberne Kante aufwies, den zitternden Reflex, den der
+beständige scharfe Anprall der Regentropfen auf der
+Wasserfläche schuf. Die Häuser der Ortschaft Oberkassel
+jenseit der Schiffbrücke — »auf der anderen Seit’«
+sagt der Eingeborene — waren nur als dunkle Schattenmassen
+erkennbar, und die Pappeln, Erlen und Weiden,
+die dem Stromlauf folgen und dem Bild des Niederrheins
+den besonderen Charakter geben, geisterten nur
+wie spindeldürre Finger durch die Luft, wenn eine
+schwächliche Brise den Regen zu Tal drückte.</p>
+
+<p>Die ganze Atmosphäre war gesättigt mit jener
+feuchten, weichlichen Wärme, die das Menschenblut zur
+Unrast treibt.</p>
+
+<p>Kein Ton als das einförmige Triefen des Regens,
+das Singen des Brückenholzes und zeitweilig ein dumpfes
+Aufbegehren der drängenden Wassermassen im Strombett
+oder an den Bordschwellen.</p>
+
+<p>Jetzt zitterten die sentimental näselnden Laute einer
+Handharmonika hindurch. In der Deckskajüte eines
+am Kai verankerten Schleppkahnes rekelte sich die lange,
+verwitterte Gestalt des Schiffers auf dem Rücken. Über
+
+<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span>
+
+den Kopf hielt er mit ausgestreckten Armen die Harmonika,
+auf der er schläfrig allerlei Volksweisen improvisierte,
+wie sie just unter dem Griff der hin und her
+stolpernden Finger herauskamen. Durch das weitgeöffnete
+Hemd lugte unbekümmert die zottig behaarte Brust, ein
+schmaler Gurt schnürte die englischen Lederhosen über
+den Hüften kraus zusammen, an den Füßen, die in
+graublauen Socken staken, tanzten im Takt der Musik
+rote Plüschpantoffeln.</p>
+
+<p>»Lambert!« tönte rufend eine Frauenstimme aus
+dem Unterdecksraum.</p>
+
+<p>Der Schiffer war viel zu faul, eine Antwort zu
+geben.</p>
+
+<p>Ein Kopf wurde in der Treppenluke sichtbar.</p>
+
+<p>»Wat machste, Lambert?«</p>
+
+<p>»Musik,« tönte es lakonisch zurück.</p>
+
+<p>»Ach e nee,« machte die Frau höhnisch verwundert
+und kletterte nach oben, »wat du nich sagst! Ich hatt’
+jejlaubt, du tätst schnarchen!«</p>
+
+<p>»Domm’ Grielächer,« schimpfte der Rheinschiffer,
+drehte ihr seine Kehrseite zu und versuchte, auf dem
+Bauche liegend, weiterzuspielen.</p>
+
+<p>Die Frau prüfte das Wetter.</p>
+
+<p>»Jesus Maria Jusepp, wat es dat en Leid! Et
+rejent un et rejent.«</p>
+
+<p>»Kuns’stück,« entgegnete verächtlich der Harmonikaspieler
+und zog die Register zu einem kläglichen Gewimmer.
+Mehr sagte er nicht.</p>
+
+<p>Die Frau sah über die Achsel zurück und wartete.</p>
+
+<p>»Du,« sagte sie nach einer Weile, in der nur noch
+das Surren des Regens vernehmlich war, und tippte<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span>
+den Gefährten mit dem holzbeschuhten Fuß in die Seite,
+»spürste noch nix oder spürste jet? Mr kann sich an
+de eigene Schlauheit verfresse, wenn mr kein Lust hat.
+Wat es dat also mit dem ›Kuns’stück‹?«</p>
+
+<p>»Och, Tring,« höhnte der Ehegatte, »ich jlöw, du
+bis us Dülken jebürtig, wo die Gecke herkomme. Solang
+ich auf dem Rhing fahr un mein Vader un mein
+Bestevader: wenn mr von Kölle zu Tal kommt, oder
+von Wesel zu Berg, un et e su rejent wie heut, am
+heilige Sonntag et e su rejent, na, wat es dann?« Er
+machte eine schlappe Viertelwendung und gähnte. »Domm’
+Dier, die Sank-Sebastian-Brüder in Düsseldorf feiern
+Schützenfest! Den ihre Schutzpatron, dat is ene brave
+Heilige. Dä will nich, dat en Malör passiert, deshalb
+speuzt er ihne dat Pulver naß.«</p>
+
+<p>»Da tät ich doch hinlaufe und mich aufnehme lasse
+in die Brüderschaft.«</p>
+
+<p>»Ich hau dat nich nüdig.«</p>
+
+<p>»Ah so! E nee — — jewiß nicht — —« machte
+die Vierschrötige maliziös. Und mit einem Achselzucken:
+»ful’ Thommes!«</p>
+
+<p>Dann retirierte sie, mit den Holzpantoffeln klappernd,
+lachend unter Deck.</p>
+
+<p>Der Schiffer gab sich gar nicht erst die Mühe, über
+ihre Reden nachzudenken. Er blinzelte noch einmal nach
+dem Häusergewirr der Altstadt, über deren Dächern der
+Regen wie ein Dampf lag, und schlief ein. Er hielt
+seinen Sonntag. — —</p>
+
+<p>Über die Kaimauer gelehnt, hatte ein junger Mann
+den Diskurs der beiden belustigt mit angehört. Der
+Regen füllte die Krempe seines Hutes und rann an dem<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span>
+schwarzglänzenden, eleganten Gummimantel glatt herab.
+Er achtete nicht darauf. Das schmalgeschnittene Gesicht
+— eher das eines Knaben als eines Neunzehnjährigen
+— war durch das Wetter leicht gerötet, das dichte,
+braune Haar klebte auf der Stirn, die dunkelgrauen
+Augen blickten klar und fest. Diese Augen machten die
+feine Jugendlichkeit der Züge wieder wett. Sie verliehen
+eine Reife, die von den weichen, knabenhaften
+Bewegungen seltsam abstach.</p>
+
+<p>Der junge Spaziergänger richtete sich auf. Er
+schüttelte sich, daß die Tropfen ihn umzischten, und sog
+dann mit Nüstern und Lungen den charakteristischen
+Duft des Rheintals ein, den Duft, der zwischen Teer
+und Algen die Mitte hält.</p>
+
+<p>»Düsseldorfer Luft!« dachte er stolz. »Ich glaub’, ich
+würde zu Grunde gehen, wenn mir die auf die Dauer
+entzogen werden sollt’.«</p>
+
+<p>Er dehnte und reckte Arme und Körper.</p>
+
+<p>»Was die Leute nur immer von der Schönheit
+des Oberrheins fabeln! Diese Spießbürger haben nur
+Sinn für das, was ihnen recht augenfällig auf dem
+Präsentierteller entgegengetragen wird. Aber hier?
+Wenn’s dort hinten über die weiten, einsamen Wiesen
+huscht, über die Wasserarme, um die Erlenbestände?
+Und der Horizont ganz, ganz fern — —. Was liegt
+da alles drin an Unerklärlichem, Schönem, Sehnsuchtsvollem
+— an Poesie — —. Schreien möcht’ man,
+schreien!«</p>
+
+<p>Er fuhr sich mit dem nassen Rockärmel über das
+erhitzte Gesicht; das kühlte ihn auf der Stelle ab.</p>
+
+<p>»Na ja,« dachte er weiter, »bist schon ein rechter<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span>
+Heimatsmensch, dem die Scholle nicht von der Stiefelsohle
+geht!«</p>
+
+<p>Er lauschte.</p>
+
+<p>Aus der Ferne klangen die verwehten Töne eines
+marschierenden Musikkorps. Nur die große Trommel
+und die Becken brachen sich vorläufig Bahn.</p>
+
+<p>»Bumm, bumm, bumm — — —«</p>
+
+<p>»Zingda, zingda, zingda, zingda!«</p>
+
+<p>»Aha, der Schützenzug! Nun geht’s auf den Festplatz.
+Die Kirmeß gehört dazu, die gehört zur Volkspoesie
+des Niederrheins. Vorwärts, ›Hans der Träumer‹!«</p>
+
+<p>Und der junge, hübsche Mensch versenkte die Hände
+in den schräg anliegenden Taschen seines Gummimantels
+und schritt im Takt der unablässig herüberdröhnenden
+Paukenschläge, den Kopf zur Abwehr des Regens leicht
+vorgebeugt, die Melodie des Schützenmarsches pfeifend,
+den Kai entlang. Er umging die Schleife des Sicherheitshafens,
+konnte sich nicht enthalten, die wenigen
+Schritte zum Eiskellerberg hinaufzuspringen, um noch
+einmal das Auge über das in den Konturen verschwimmende
+Rheinpanorama schweifen zu lassen, und durchquerte
+darauf die Anlagen des Hofgartens, um die
+kürzeste Straße nach dem Festplatz auf dem Golzheimer
+Gelände zu gewinnen.</p>
+
+<p>Das Straßenbild hatte sich mit einem Schlage verändert.
+Die gute Düsseldorfer Bürgerschaft, vor allem
+der hier von alters her kräftig gedeihende Mittelstand,
+stets bereit, jede öffentliche Lustbarkeit als eine Art ausgedehnten
+Familienfestes zu begehen, hatte kaum die
+ersten Klänge der Schützenmusik vernommen, als sie auch
+schon mit Kind und Kegel den Ausmarsch begann. Der<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span>
+Regen genierte nicht. Gerade er trug dazu bei, den
+niederrheinischen Witz zu üben, wenn eine Hausehre
+couragiert die Kleider hochnahm, um sich durch die nassen
+Grasrabatten einen Weg zu bahnen, wenn ein Unglücklicher
+verzweifelt seinem Hut nachsetzte oder ein umgekippter
+Regenschirm sich in die Lüfte hob.</p>
+
+<p>»Achtung, Pitter, die Menagerie vom Festplatz hält
+nich dicht. Süch ens: der Storch im Salat!«</p>
+
+<p>»Wat denn! Dat is ’ne Störchin! Awer ’ne komplette.«</p>
+
+<p>»Ach so, Sie sind dat, Frau Schmitz? Nix för
+ongot!«</p>
+
+<p>»Da — —! Da! — Da ging ’ne Hot heidi! Kß!
+Kß! Kß!«</p>
+
+<p>Schweißgebadet stürzte der Besitzer vorbei. Ein allgemeines
+»Ah« empfing ihn.</p>
+
+<p>»Schnelllöper, Schnelllöper!! — Akurat wie Fritz
+Käpernick! Un alles omsünst. Et werd nich emol
+affjesammelt.«</p>
+
+<p>Der umgekippte, vom Winde hochgehobene Regenschirm
+wurde von der Menschenkolonne mit staunendem:
+»Luffballon — —! Hurra: Luffballon!« begrüßt.</p>
+
+<p>»Minsch, Minsch,« kreischte einer aus der Menge,
+»wat ham’mer en Freud!«</p>
+
+<p>Und sofort fiel der ganze Chorus ein: »Wat ham’mer
+en Freud!«</p>
+
+<p>Alles elektrisiert. Sommerliche Karnevalsstimmung.</p>
+
+<p>Und von der Flanke her immer näher, dröhnender
+und gellender, die Musik.</p>
+
+<p>»Bumm, bumm, bumm — — —«</p>
+
+<p>»Zingda, zingda, zingda, zingda!« — —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span></p>
+
+<p>Der junge Naturschwärmer vom Rheinkai befand
+sich bald inmitten der Menschenstauung, die an der
+Ehrenpforte zwischen dem eigentlichen Schützenplatz und
+der mit Jahrmarktbuden und Schaustellungen jeder Art
+besetzten Festwiese den Einzug der Sankt Sebastianus-
+und der ihr verwandten Gilden erwartete. Altem
+Brauche nach hatten die Schützenbrüderschaften am Vormittag
+das Hochamt gehört. Nun zogen sie heran, mit
+Gott und der Welt eines frohen Sinns. Die »gedienten«
+Leute faßten Tritt, die übrigen stampften
+lachend und plaudernd hinterdrein, die Beine in weißen
+Leinenhosen, »Porzellanbuxen«, wie sie der Volkswitz
+nennt, dazu schwarzer Bratenrock und Zylinder aller
+Dimensionen. Auch grünes Jägerhabit und Lodenhut
+mischte sich darunter. Die Büchse geschultert, die Musik
+vor den Fahnenzügen verteilt, dahinter der Schützenkönig
+des vergangenen Jahres, ein biederer Handwerksmeister
+mit einer fast über seine Kräfte gehenden Hoheitsmiene,
+mehr einem Fürsten von Gottes Gnaden ähnlich als
+dem Menschenpack, dem er morgen wieder die Schuhe
+flecken und sohlen würde, so schwand der Zug — Gewerbetreibende,
+Kaufleute, Künstler — mit einer Salve
+derber Zurufe und lustiger Grußworte überschüttet, durch
+die Ehrenpforte, um sich bald darauf an den Schießständen
+zu verteilen und das Königsschießen für das
+neue Schützenjahr zu beginnen. Wer von den Zuschauern
+Karten für den Schützenplatz erworben hatte, drängte
+nach. Der Rest, meist junges Volk aller Stände, verteilte
+sich auf der Festwiese, auf der jetzt, nach Beendigung
+des nachmittaglichen Gottesdienstes, die Bierzelte
+eröffnet wurden, die Jahrmarktsbuden zur Schau<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span>
+einluden, die Karussells ihre verstimmten Orgeln auf
+die Nerven losließen, die Clownkapelle des Kölner
+Hänneschentheaters ihre ohrenzerreißende Musik anhob,
+die Glocken bimmelten und die Aufrufer mit heiserer,
+in der Fistel jäh versagender Stimme unermüdlich das
+schiebende, stoßende, lachende, kreischende Publikum zum
+Besuch anfeuerten: »Hier herein, meine Herrschaften!
+Das muß man gesehen haben! Das muß man mitgemacht
+haben! Das muß man seinen Kindern und
+Kindeskindern erzählen können! Das gehört unbedingt
+zur Bildung! Herein, meine Herrschaften; das größte
+Schwein der Welt für zehn Pfennige — —!«</p>
+
+<p>»Hallo, Steinherr, hierher!«</p>
+
+<p>Der junge Mann im Gummimantel, der strahlend
+vor Vergnügen im dichtesten Trubel eingekeilt stand,
+hob sich auf den Zehen, um über die Köpfe der anderen
+hinweg die Rufenden zu erspähen. Jetzt hatte er sie
+entdeckt und winkte ihnen mit der Hand zu.</p>
+
+<p>»Ich kann hier nicht heraus!« rief er. »Keine Möglichkeit.«</p>
+
+<p>Aber schon hatte einer der außerhalb des Ringes
+stehenden jungen Herren einen anderen auf die Schulter
+gehoben, der nun von oben herab mit seinem Spazierstock
+nach Steinherr angelte.</p>
+
+<p>»Schnappen Sie zu, Steinherr! Wir ziehen.«</p>
+
+<p>»Das Angeln an dieser Stelle ist verboten!« schrie
+einer aus der Menge.</p>
+
+<p>»Awer doch niemals för de Jeistlichkeit. Die hat
+dat Angelprivileg,« mischte sich ein anderer ein.</p>
+
+<p>»Wo is denn hier Jeistlichkeit?«</p>
+
+<p>»Sühst du denn nich? Dat Jungken hät doch ’ne<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span>
+lange Rock, so schwarz wie nur ’ne Deuwel oder ’ne
+Kaplan.«</p>
+
+<p>»Oha!« rief dem Spottvogel ein dritter zu, »komm
+du nur morjen in die Beicht’. Dir kann’t sehr jut
+gehen!«</p>
+
+<p>Dann ließ man Steinherr bereitwillig durch. Ein
+keckes Wort ist am leichtlebigen Niederrhein eine bessere
+Hilfe als Obrigkeit und Schutzmannschaft.</p>
+
+<p>Der junge Mann war lachend zu seinen Freunden
+getreten.</p>
+
+<p>»Guten Tag, meine Herren. Was? Ein fideles
+Leben hier. Sie haben wirklich Glück mit Ihrer Garnisonstadt.
+Wollen Sie mich auf Ihren Bummel mitnehmen?«</p>
+
+<p>Die jungen Leutnants in elegantem Zivil — ein
+paar Neununddreißiger und ein paar Fünfter Ulanen
+— die, wie das ganze Offizierkorps, im Hause des
+Großindustriellen Steinherr fleißig verkehrten, nahmen
+den Sohn des Hauses in ihre Mitte und zogen weiter
+auf Abenteuer aus, wie der Tag es gebot.</p>
+
+<p>»Na, wenn Sie zu Ostern Ihr Abitur haben, Steinherr,
+werden Sie doch auch bei uns bleiben. Welchem
+Regiment wollen Sie denn die Ehre schenken?«</p>
+
+<p>Hans Steinherr schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Sprechen wir um Gottes willen nicht davon. Ich
+habe genug darüber zu Hause zu hören. Es ist ja
+selbstverständlich eine hohe Ehre, Offizier zu sein, aber
+— aber es gibt doch auch noch andere hohe Ehren.«</p>
+
+<p>»I natürlich! Zum Beispiel: Sohn des Hauses
+Steinherr zu sein.«</p>
+
+<p>»Die schönste Frau Düsseldorfs zur Mama zu haben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p>
+
+<p>»Und selbst ein so verteufelt hübscher Bengel —«</p>
+
+<p>»Stopp, stopp, meine Herren; ich akzeptiere nur die
+Ehre, die meine Mama betrifft.«</p>
+
+<p>Er nahm dankend, etwas verlegen, den Hut ab.
+Die jungen Offiziere warfen übermütig salutierend die
+Hand an die Hutkrempe. —</p>
+
+<p>Die Julisonne arbeitete sich nun doch noch durch.
+Ihre Strahlen brachen in die letzten Regenschauer, und
+alle Feuchtigkeit, die noch zwischen den grauen Wolkenfetzen
+und dem morastigen Erdboden schwebte, wurde
+aufgesogen. Ein prachtvoller Regenbogen, in den klarsten
+Farben prangend, spannte sich von der Golzheimer Insel
+bis weit hinein in die Stadt Düsseldorf.</p>
+
+<p>Die jungen Leute hatten die Zeltgassen durchquert,
+sehr feierlich das Kölner Hänneschentheater und etwas
+weniger ehrerbietig die Riesendame besichtigt, hatten
+sich elektrisieren und photographieren lassen, dann, um
+die Kraft der Muskeln zu erproben, ein Dutzendmal »den
+kleinen Lukas gehauen« und sich kindisch gefreut, wenn
+unter dem schweren Hammerschlag die Metallscheibe an
+der Stange emporsauste und an der Spitze die Glocke anschlug.
+Sie hatten in den Schießbuden holländische
+Tonpfeifen zerschossen und allerlei sonderliche Artigkeiten
+mit den Schießbudenmädels ausgetauscht, waren juchzend
+auf dem Karussell gefahren, immer zu zweit auf dem
+mächtigen Rücken eines hölzernen Löwen oder einer
+springenden Pantherkatze, und hatten so viel Allotria
+getrieben, wie überschüssige Jugendlust unter dem Eindruck
+einer Festwiese, sinnverwirrenden Lärms und ausgelassenster
+Kirmesfreiheit es nur vermag.</p>
+
+<p>Hans Steinherr war immer mitgezogen. Er lärmte<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span>
+nicht, wie die übrigen, aber er genoß innerlich alles
+und jedes doppelt. Sein feines Knabengesicht glühte,
+seine Nasenflügel spannten sich, sein Herz hämmerte vor
+Lust. In ihm quoll etwas empor, was er noch nie mit
+solcher Macht gespürt hatte. Es war ein Kraftgefühl
+ohnegleichen, ein Gefühl, etwas Unerhörtes zu vollbringen.
+Noch nie hatte er so die Freiheit genossen, so
+stark den Puls des Lebens empfunden. Ein reiches
+Muttersöhnchen, hatte er sich zumeist mit einem Blick
+aus der Vogelschau begnügt und das Fehlende dem
+Spiel der Phantasie zur Ergänzung überlassen. Nun
+stand er dem Volksleben Brust an Brust gegenüber, fein
+farbendurstiger Sinn trank sich einen Rausch, sein niederrheinisch
+Blut, das so schön in Zucht und Ordnung
+gehalten worden war, klopfte ihm von den Fingerspitzen
+bis in die Schläfen.</p>
+
+<p>Eine mächtige Wasserlache hatte sich diesseit des
+Engpasses, der schmalen Landzunge, die das Inselterrain
+mit dem Stadtgebiet verband, angesammelt. Drüben
+stand ein junges Mädchen, braun wie eine Kastanie,
+dem Alter nach ein Kind, fünfzehnjährig. Aber das
+fadendünne Sommerkleid, das erste fußlange wohl, das
+sie trug, spannte sich schon unter dem Druck heimlich
+drängender Formen. Der altmodisch breite Schäferhut
+aus gebleichtem Stroh saß auf einem Paar Flechten,
+deren volle Enden bis in die Kniekehlen schlugen. Sie
+ließ die verträumten Augen über die breite Wasserlache
+nach dem lärmenden Zeltlager schweifen und pendelte
+mit dem kleinen Fuß, der in derbem Leder stak, über
+den Rand der Sandleiste.</p>
+
+<p>Steinherrs Gesellschaft war herangekommen und<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span>
+rief dem hübschen Kinde Scherzworte zu. Einer begann
+das Lied von den zwei Königskindern:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Sie konnten beisammen nicht kommen,</div>
+ <div class="verse indent0">Das Wasser war viel zu tief.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Da setzte Hans Steinherr, einer impulsiven Regung
+nachgebend, im Sprungschritt durch das Wasser, daß
+die Tropfen ihm um die Ohren flogen, erreichte atemlos
+den jenseitigen Rand, schlang den Arm um die Kniee der
+überrumpelten Kleinen, hob das heftig sich wehrende
+Geschöpfchen empor und watete zurück, unbekümmert
+darum, daß das aufklatschende Wasser ihm die Beinkleider
+verdarb und ihm in die Stiefel rann.</p>
+
+<p>Die jungen Offiziere begleiteten als einzige Zuschauer
+den Vorgang mit lautem Hallo. Aber das zarte Ding
+erwies sich als eine ungefügige Wildkatze. Es packte den
+ungerufenen Ritter, der sich in der Rolle des heiligen
+Christophorus versuchte, mit beiden kleinen nervigen
+Fäusten in den Stirnlocken und bedrängte ihn so heftig,
+daß er fast zum Straucheln kam. Es wurde ihm purpurn
+vor den Augen. Er spürte das stürmende Blut
+des jugendlichen Mädchenkörpers dicht über seinem eigenen
+jugendlichen Herzen, das sich mit einem fremden im
+Schlag verschmolz. Das war etwas noch nie Empfundenes.
+Noch nie hatten seine Knabenhände ein
+Mädchen berührt. Tausend Gefühle durchwühlten ihn
+in Sekundenschnelle, ließen Duft, Klang und Farbe in
+ihm entstehen, regten ihn an und verwirrten ihn durch
+ihre Süße, schlugen ihn gleichzeitig zum Ritter und
+nahmen ihm die Kraft.</p>
+
+<p>»Ruhig, du, oder ich küß dich!« stieß er plötzlich
+hervor.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
+
+<p>Er wußte selbst nicht, woher er die Worte genommen
+hatte.</p>
+
+<p>Jetzt setzte er sie am anderen Ufer ab und wischte
+sich aufatmend die Stirn. Seine Hand war blutig, als
+er sie zurückzog.</p>
+
+<p>»Die kleine Hexe hat Sie gekratzt?«</p>
+
+<p>Er nickte, verlegen lachend. Daß sie ihn auch empfindlich
+mit den strampelnden Füßen getreten hatte, behielt
+er für sich.</p>
+
+<p>Aus den Augenwinkeln sah er scheu nach seiner
+kleinen Dame, die trotzig Kehrt gemacht hatte, im Begriff,
+durch das Wasser wieder zurückzuwaten. Er trat
+zögernd auf sie zu, und sie streifte mit einem hastigen
+Seitenblick die Schramme auf seiner Stirn, dicht unter
+den lockigen Haarsträhnen.</p>
+
+<p>»Nun?« fragte er mit angenommenem Knabenhochmut.</p>
+
+<p>»Ich will hier nicht sein,« brachte sie hervor, und
+die dunkelblauen Kinderaugen verschleierten sich.</p>
+
+<p>Da hob er sie, als könnte das gar nicht anders sein,
+zum zweiten Male auf und trug sie stumm, mit zusammengebissenen
+Zähnen, zurück. Sie schien ihm schwerer
+als vorhin, obwohl sie sich nicht regte. Drüben setzte
+er sie behutsam ab. Einen Herzschlag lang standen sie
+sich schweigend und verstört gegenüber und sahen sich
+an. Dann nahm er, wie er es im Salon seiner schönen
+Mama zu tun pflegte, die Mädchenhand, die noch in
+der seinen lag, und führte sie an die Lippen.</p>
+
+<p>Hui, flog die Kleine davon, als wäre sie nie gewesen.
+Die Zöpfe flatterten hinter ihr drein und sprühten
+Funken in der tiefstehenden Sonne. Fort war sie.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span></p>
+
+<p>Und Hans Steinherr, ohne sich um die zurückbleibende
+Gesellschaft zu kümmern, die bereits mit einem
+Rudel flügger Mädel kokettierte, wandte der Festwiese
+den Rücken und ging den Weg zurück, den er am Nachmittag
+gekommen war. Durch den Hofgarten schritt
+er und über den Eiskellerberg, immer weiter, den abendlich
+stillen Kai entlang, den geliebten Rhein zu Füßen,
+nichts hörend, nichts sehend; mit den Augen eines, der
+unvermutet in die Wunder eines Feenlandes geblickt.</p>
+
+<p>Als er die Schiffbrücke erreicht hatte, betrat er,
+noch immer ganz versunken in seinen rätselhaften Zustand,
+die schwanken Bohlen. Er hatte schon ein paar
+Schritte zurückgelegt, als er hinter sich einen kurzen,
+groben Zuruf vernahm. Er fuhr zusammen, wachte auf
+und wandte sich um. Was wollte denn nur der gestikulierende
+Mensch von ihm?</p>
+
+<p>»Sie, jong Här, dat Brückengeld schaffen Sie allein
+auch nich aus der Welt!«</p>
+
+<p>Ach so, er hatte vergessen, den Brückenzoll zu entrichten.
+Brückenzoll? Wo war er denn und wohin
+wollte er nur? Unter ihm plauderte der Rhein so geschäftig,
+wie er ihn nie glaubte gehört zu haben: Neuigkeiten,
+Heimlichkeiten. Und er dachte: Sag’s nur laut,
+Alter, ich versteh’ dich doch. Dabei lächelte er ganz still
+in sich hinein, denn er wußte gar nichts. Nur so verwandt
+fühlte er sich plötzlich mit all dem Leben und
+Weben der Natur um sich her, so vertraut, so zugehörig.</p>
+
+<p>Er kehrte zum Brückenhäuschen zurück, ließ sich,
+während er den Zoll entrichtete, ruhig den mißtrauisch
+prüfenden Blick des Einnehmers gefallen und nahm den
+Weg wieder auf. Mit einem Male zuckte ihm ein<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span>
+Marschtempo in den Beinen. Und sofort streckte er den
+schlanken Leib, richtete sich auf der Brücke zusammen
+und marschierte in dröhnendem Taktschritt ab. Dabei
+sang er aus voller Kehle.</p>
+
+<p>Der Wärter sah ihm kopfschüttelnd nach.</p>
+
+<p>»De hät bereits Öwerfracht,« meinte er zum Einnehmer
+und machte mit dem zerkauten Ende seines
+Pfeifenstiels eine bezeichnende Geste nach der Gegend
+des Schützenplatzes.</p>
+
+<p>Hans Steinherr aber schritt unbekümmert seines
+Wegs. Er hatte sein Marschtempo noch beibehalten,
+als er schon längst in den Fußweg linker Hand eingebogen
+war und in den Rheinwiesen wanderte. Seinen
+ganzen Vorrat von Volksliedern sang er herunter. Wie
+die Glieder einer Kette ließ er sie aneinander anschließen,
+ob sie passen wollten oder nicht. Er fühlte sich kindisch
+wie ein Abcschütze und abgeklärt wie ein Greis. Wie
+seltsam weich die Luft war! Wie Samt. Und gerade
+so war’s in seinem Innern. Ganz, ganz weich ....
+Und mitten in seiner Freude ertappte er sich dabei, wie
+er ein paarmal heftig schluckte. — So bemitleidenswert
+kam er sich plötzlich vor, trotz seiner Gehobenheit.</p>
+
+<p>»Heißa, heißa!« schrie er laut hinaus und begann
+ein tolles Rennen. Diese verrückte Sommerabendstimmung
+wollte er schon unterkriegen.</p>
+
+<p>Nun stand er, festgebannt. Vor ihm flammte ein
+Hochofen des Industriedorfes Heerdt, aber doch nur wie
+ein Widerschein der feurigen Lohe, die über der altertümlichen
+Stadt Neuß und ihrem ragenden Dome lag.</p>
+
+<p>Die untergehende Sonne.</p>
+
+<p>Mit gefalteten Händen stand er, den Hut unterm<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span>
+Arm, feierlich, unbeweglich, staunend, als hätte er nie
+zuvor das Himmelsschauspiel genossen. Tönten nicht
+auch Harmonien um ihn her? Er horchte gespannt und
+erschauerte. Was war das? Hatten sich seine Sinne
+verfeinert? Konnte er die Sonne singen hören und die
+Farben gleichsam als Duft empfinden? Seit wann, seit
+wann — —? Darüber grübelte er nach und hörte sein
+Herz schwere Schläge tun.</p>
+
+<p>Der Sonnenball war gesunken und entschwunden.
+Aber die Luft war noch vollgesogen von dem Licht, das
+erst mählich zerfloß. Dann blinzelten ein paar Sterne,
+und das Wasser warf ihr Bild zurück. Es sah aus,
+als ob auf dem Rhein Irrlichter schwämmen, kein Hauch
+weit und breit.</p>
+
+<p>Behutsam, als ob er den Gottesfrieden nicht stören
+dürfe, glitt Hans Steinherr auf einen Weidenbaum zu,
+der in phantastischer Gestaltung aus dem Ufersande
+ragte. Hier stand er, den Arm um den Stamm geschlungen
+und lauschte. Er belauschte die neue Welt,
+die sich vor ihm aufgetan und die ihn doch vor kurzem
+noch die alte dünkte. Und er belauschte den neuen
+Menschen, der sich da heimlich in ihm regte und dehnte
+und alles mit seinem Wesen zu erfüllen trachtete.</p>
+
+<p>In der Ferne sah er ein Licht auftauchen. Es kam
+stromab und wuchs schnell heran. Jetzt unterschied er
+die Laterne eines Dampfers, der verspätet zum Hafen
+eilte. Morgen, in junger Sonne, würde er seine Fahrt
+zu Tal wieder aufnehmen, dem Meere zu. Mit können
+— mit können! Und mit den Atemzügen des Rheins,
+mit den leisen, schmalen Wellen, die das Ufer küßten
+und entflohen und wiederkamen und wiederkamen, ohne<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span>
+sich greifen zu lassen, durchzitterte ihn die Sehnsucht
+nach dem Leben.</p>
+
+<p>Er war ganz wach, so wach, daß er sogar den
+Rhythmus des Rheins mit dem Rhythmus seines
+Herzens verglich. Das däuchte ihn so wunderlich, daß
+er am liebsten laut über sich selbst gelacht hätte. Aber
+er traute sich nicht. Er hatte auch gar keine Zeit dazu,
+denn er mußte ja die Rhythmen in Worte kleiden. Er
+mußte, mußte! Es war ein Zwang und eine Befreiung.
+Süß, herb; trotzig, weich. Dann sprach er eine Weile
+atemlos vor sich hin, und plötzlich sprang er auf.</p>
+
+<p>Beschämt; selig. Heiß bis unter die Haarwurzeln.</p>
+
+<p>Er, Hans Steinherr, der Primaner, der Ostern ins
+Examen steigen würde, hatte ein Gedicht vollbracht, sein
+erstes, allererstes — —! Es handelte vom Rhein, dem
+alten, dem geliebten Rhein. Und — überdies noch von
+— — Liebe — Liebe? Was war denn das für ein
+Begriff? Wie? He? Antwort!</p>
+
+<p>»Ach was, ich weiß nicht,« lachte Hans laut hinaus,
+und einem neuen jähen Übermutsdrange folgend,
+rannte er wie ein Füllen durch die im Mondschein
+glänzende Wiese und rastete nicht, bis er den ersten
+Tanzsaal Oberkassels an der Schiffsbrücke erreicht hatte,
+aus dem Juchzen und Stampfen in die Nacht hinaus
+scholl.</p>
+
+<p>»Wenn die Mama ihren wohlerzogenen Sohn so sehen
+würde,« dachte er. »Sie würde es nicht glauben.«</p>
+
+<p>»Und ich glaub’s fast selber nicht,« fügte er laut
+hinzu. »Herr Gott, ich war doch den ganzen Nachmittag
+in Gesellschaft von Offizieren. Bis — nun —
+bis — Ach, was geht mich die kleine Kröte an? Frech<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span>
+war sie und — Donnerwetter, wie lieb so ’n Ding ist,
+wie — wie — — Hans, du hast einen Schwips!«</p>
+
+<p>Nun wollte er sich vor Lachen ausschütten. Er war
+wie ausgewechselt. Dann hörte er aufmerksam der
+Tanzmusik zu, die aus den geöffneten Fenstern des
+Wirtshauses drang; ganz ernsthaft, als horchte er auf
+eine Offenbarung. Er unterschied deutlich die Uniformen
+der Husaren, der Ulanen, der Infanteristen, sah die
+gebräunten Gesichter der wackeren rheinischen Jungens,
+die, stolz auf ihr »zweierlei Tuch«, den Ballsaal beherrschten
+und den Kopf so dicht über die brennendroten
+Wangen ihrer Tänzerinnen gereckt hielten, daß diese
+nicht wußten wohin damit, um den vielen genierlichen
+Tanzküßchen zu entgehen. Mitten im Saale entstand
+eine Stockung. Ein Zivilist hatte die Kühnheit gehabt,
+von der Schönen eines kleinen, windigen Neununddreißigers
+eine Extratour zu begehren. Der Soldat
+lehnte verächtlich ab. Ein Wortwechsel folgte, in dem
+der Soldat »Rheinkadett« und der Zivilist »Sandhase«
+schimpfte; eine kurze, aber umso schnellere Prügelei —
+und alles tanzte mit verdoppelter Hingebung weiter.
+Die Leute hatten nicht viel Zeit, sie mußten pünktlich,
+zur Sekunde, in den Kasernen sein.</p>
+
+<p>Hans Steinherr lauschte mit glänzenden Augen.
+Was war das für ein Tag! Und heute mittag erst
+hatte er ein Loblied auf das niederrheinische Land angestimmt
+und sich einen Heimatsmenschen genannt.
+Kannte er denn diese Heimat? Mit Ausnahme der
+Szenerie? War das nicht vielleicht, rein äußerlich,
+der ererbte Stolz auf die Vaterstadt, auf sein Düsseldorf
+gewesen?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p>
+
+<p>Und plötzlich packte ihn der Wunsch nach lauter,
+lustiger Kumpanei.</p>
+
+<p>Es fiel ihm ein, daß er sich als Schüler des Gymnasiums
+des Wirtshausbesuches zu enthalten habe. Bisher
+hatte er das nicht als Entbehrung empfunden. Zu
+Hause herrschte genug geselliges Treiben, und die Mama
+liebte keine Extravaganzen an ihrem Sohne. In diesem
+Augenblicke kam ihm das gesellschaftliche Leben daheim
+wie bestellte Schablonenarbeit vor. Er hätte die Komplimente
+und Gesprächsthemen am Schnürchen hersagen
+können. Alles sehr hübsch, sehr witzig sogar. Aber das
+wahrhaft Rassige, das durch alle sieben Himmel Jauchzende,
+das Ursprüngliche fehlte. Der Inhalt und Ausdruck
+der Jugend. — Hans verspürte zum ersten Male
+seine neunzehn Jahre.</p>
+
+<p>»Verwünschtes Pennal,« murrte er. »Na warte, noch
+ein Semester, und ich habe dich für ewig im Rücken.«</p>
+
+<p>Wohin also nun?</p>
+
+<p>Ihm fiel der »Malkasten« ein. Sein Vater gehörte
+der Künstlergesellschaft als passives Mitglied an. Bei
+Tisch hatte er davon gesprochen, heute abend, wenn das
+Wetter sich klären würde, im Garten des Malkastens,
+dem alten, schönen Jacobischen Park, in dem auch Goethe
+einst gelustwandelt, mit einigen Herren eine Bowle zu
+trinken.</p>
+
+<p>Also zum »Malkasten«, so schnell ihn die Füße
+trugen.</p>
+
+<p>Der Brückenwärter auf der Düsseldorfer Seite, an
+dem er vorüberrannte, schien ihn wiederzuerkennen.
+»Hä ’s ömmer noch jeck,« knurrte er und machte ironisch
+einen Sprung beiseite. —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p>
+
+<p>Außer Atem langte Hans vor dem Malkasten an.
+Hastig öffnete er das Gittertor und prallte heftig gegen
+einen Herrn, der es ebenso eilig zu haben schien, hinauszukommen,
+wie der andere hinein.</p>
+
+<p>»Hoppla, Verehrtester!« rief der Herr lachend und
+faßte ihn mit beiden Händen um die Taille. »Um
+ein Haar, und Sie hätten sich ins Unglück gestürzt.
+Sagen Sie mal, Sie wollen doch nicht ernsthaft da
+hinein? Zu den Neunmalweisen in der phrygischen
+Mütze mit der Troddel dran? Junger, junger Mann!«</p>
+
+<p>»Das beabsichtige ich freilich,« versetzte Hans Steinherr
+kurz.</p>
+
+<p>Der andere aber ließ sich durch den Ton des Gekränktseins
+nicht abschrecken. Er führte den Jüngling
+unter die nächste Laterne und sah ihm mit gemachtem
+Ernst eindringlich in die Augen. Dabei parodierte er
+die Schülerszene des Faust: »Ihr seid allhier erst kurze
+Zeit und kommet voll Ergebenheit. — Denn ich sah
+Sie noch nie vordem, Verehrtester. — Ihr kommt mit
+allem guten Mut, leidlichem Geld und frischem Blut.
+Möchtet gern was Rechts hier außen lernen. — Sehen
+Sie, wenn ich der Mephistopheles wäre, für den sie
+mich da drinnen verschreien, so müßte ich jetzt mit
+Salbung sagen: Da seid Ihr eben recht am Ort. Aber
+das wäre verdammt gelogen. Weisheit ist nicht verdaulicher,
+wenn sie altbacken genossen wird. Und nun
+entscheiden Sie sich. Wollen Sie hinein zu den Perücken,
+die Simson, als er die Philister erschlug, übersah, weil
+er sie für Haubenstöcke hielt, oder wollen Sie mit mir,
+in irgend eine Vagabundenschenke, aber unter Geschöpfe
+Gottes, die lebendiges Fleisch auf dem Gebein haben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p>
+
+<p>»Vorwärts,« bestimmte Hans und schob resolut den
+Arm in den des Unbekannten. Nach den vielen Wundern
+des Tages hatte er das Verwundern verlernt. Zudem:
+der Mann imponierte ihm.</p>
+
+<p>Der aber streifte den schnell Vertraulichen von oben
+herab mit einem kurzen, prüfenden Blick und schritt,
+ohne von seinem Begleiter vorderhand weiter Notiz zu
+nehmen, eine italienische Opernarie summend, durch die
+Straßen, die zur Altstadt führten.</p>
+
+<p>Hans Steinherr hatte unterwegs Gelegenheit genug,
+den ihm so plötzlich bescherten Wandergefährten mit
+Muße zu betrachten. Es war eine schlanke, sehnige
+Figur, nach neuester Mode gekleidet. Aber die Eleganz
+wurde mit solcher Selbstverständlichkeit getragen, daß sie
+nicht weiter auffiel. Der Kopf war der eines vornehmen
+Mannes; scharf geschnitten, mit vorspringender Hakennase,
+unter die sich ein weicher, blonder Schnurrbart
+schmiegte; mit blauen, echten Germanenaugen, deren
+Blick Kühnheit und Intelligenz, und einem Munde,
+dessen weiche und doch charakteristische Linie Lebenslust
+und Spottsucht verriet. Das Alter war unbestimmbar.
+Vielleicht, daß die Schätzung von vierzig Jahren die
+richtige war, doch sah der Fremde jünger aus. Hans
+war es übrigens, als müßte er die auffallend vornehme
+Erscheinung schon des öfteren in Düsseldorf gesehen
+haben.</p>
+
+<p>Vor ihnen lag die Ratingerstraße, winklig und unregelmäßig,
+mit ihren engbrüstigen Gebäuden, vorspringenden
+Erkern und altmodischen Giebeldächern im
+Mondlicht einem Bilde gleich, das aus der Versunkenheit
+längst entschwundener Zeiten emporgestiegen schien.<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span>
+Ihre Schritte hallten auf dem holprigen Pflaster und
+weckten das Echo an der Häuserzeile entlang.</p>
+
+<p>»Was meinen Sie, Verehrtester, dieser Ausschank
+macht einen höchst vertrauenswürdigen Eindruck.«</p>
+
+<p>Hans fand zwar im stillen, daß das gepriesene Haus
+eher einer Räuberherberge ähnlich sähe, aber er nickte
+energisch und trat hinter seinem Begleiter ein.</p>
+
+<p>In dem Tabaksqualm, der, in dichten Streifen übereinander
+lagernd, die Stube füllte, hielt es schwer, die
+Umgebung festzustellen. Erst, als sie hinter einem weiß
+gescheuerten Tisch auf handfesten Holzstühlen saßen, gelang
+es Hans allmählich, sich zu orientieren. Das
+Zimmer war mäßig groß, die Decke aus schweren Balken
+gebildet, die Alter und Rauch tiefbraun gebeizt hatten,
+die Wände zeigten kaum eine Handbreit der ehemaligen
+weißen Tünche, mit Kohle, Rötel und Farbe hatten sich
+Generationen werdender Maler hier <span class="antiqua">al fresco</span> verewigt.
+Neben dem Eingang prangte das primitive, peinlich
+sauber gehaltene Büfett, hinter dem das Wirtspaar
+thronte, der »Baas« in gestrickter Weste und schneeweißen
+Hemdärmeln, die »jung’ Frau«, eine behäbige
+Matrone, mit weißer Latzschürze über dem mächtigen
+Busen. Ein Küferjunge mit vorgeschnalltem Lederstück
+bediente. Von der Decke hingen große Petroleumlampen
+nieder, um die sich der Tabakrauch wie der Hof um die
+Mondscheibe sammelte. Sie leuchteten nieder auf Gerechte
+und Ungerechte, auf gestikulierende Arbeitsleute
+im Sonntagstaat und auf gesetzte Bürger; und unter
+diese mischten sich Prachtexemplare von Düsseldorfer
+Künstlern, trunkfeste Männer, die mit lautem, nimmermüdem
+Humor die ganze Wirtschaft dirigierten. Man<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span>
+neckte sich und log sich gegenseitig die unglaublichsten
+Geschichten vor, mit glänzenden Schalksaugen den Reinfall
+des Gegners erwartend, und irgend einer bestellte
+immer wieder eine Runde des köstlich bitterlichen, einheimischen
+Bieres. Der gehobenen Künstleratmosphäre
+entsprechend, trugen die beliebtesten Speisen — die
+Speisekarte wies die stattliche Auswahl von vier Nummern
+auf — besonders vollklingende Namen. Hans
+Steinherr wunderte sich, wie häufig am Büfett »ein
+halber Hahn« beordert wurde, bis er dahinter kam, daß
+dies hochtönende Gericht aus einem halben Roggenbrötchen
+mit Holländer Käse bestand.</p>
+
+<p>Hansens Begleiter schien hier eine wohlbekannte und von
+allen respektierte Erscheinung zu sein. Die älteren Maler
+begrüßten ihn mit kräftigem Händedruck und ebenso kräftigem
+Scherzwort. Einige der jüngeren, die sonst der Ansicht
+huldigten, das echte Künstlertum müsse unbedingt durch
+rauhbeinige Manieren bewiesen werden, verstiegen sich sogar
+zu einer Bewegung, die eine Verbeugung ausdrücken sollte.</p>
+
+<p>Hans traute seinen Augen nicht. Der Kellnerjunge
+brachte eine Flasche Sekt, und keiner der mundfertigen
+demokratischen Geister ringsum schien gegen diese Reglementswidrigkeit
+auch nur das geringste einzuwenden
+zu haben. Der Gastgeber schenkte die beiden Gläser
+voll und stieß mit dem jungen Manne an.</p>
+
+<p>»Entschuldigen Sie,« stotterte Hans, »ich habe mich
+noch nicht vorgestellt — —«</p>
+
+<p>»Sind Sie ein anständiger Kerl? Na also! Ich
+bin’s auch, schmeichle ich mir. Prosit!«</p>
+
+<p>Aber Hans fand es dennoch passender, seinen Namen
+zu nennen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span></p>
+
+<p>»So, so — —. Steinherr. Hm. Übrigens, wenn
+Ihnen so viel an der Etiketteaufschrift gelegen ist: von
+Springe. Sagen Sie mal, junger Freund, Sie sind
+ein Sohn der hochedlen Firma Steinherr, Grafenbergerchaussee?
+Und wollen Maler werden?«</p>
+
+<p>»Ich habe noch nicht daran gedacht,« antwortete
+Hans bescheiden. »Vorläufig werde ich zu Ostern ins
+Abiturientenexamen steigen.«</p>
+
+<p>Herr von Springe fuhr erstaunt mit dem Stuhl
+gegen die Wand.</p>
+
+<p>»Wie? Was? Hör’ ich recht? Ein Pennäler? Sie
+schlagen sich noch mit Fibel und Schiefertafel herum? Und
+ich Volksverführer hielt Sie für einen wackeren Lehrling
+des heiligen Lukas und schleppe Ihre zarte Jugend in
+diesen Rauchfang? Ah, ich werde Ihrer Frau Mama
+morgen eine Entschuldigungsvisite machen, damit es keine
+strammen Hosen setzt. Bitte tausendmal um Verzeihung.«</p>
+
+<p>Purpurne Röte stieg in dem feinen Gesicht des jungen
+Mannes auf. Dann, sich gewaltsam beherrschend, sagte er
+so ruhig, wie es ihm nur möglich wurde: »Sie schmeichelten
+sich vorhin, auch ohne Namensetikettierung als anständiger
+Mensch zu erscheinen. Nach diesem Überfall muß ich freilich
+annehmen, daß der Schein trügt. Guten Abend.«</p>
+
+<p>Aber der Effekt seiner Rede entsprach nicht seinen
+Erwartungen. Herr von Springe lachte, daß die Gäste
+von ihren Stühlen auffuhren.</p>
+
+<p>»Bravo, bravo, gut gebrüllt, Löwe! So lieb’ ich meine
+Pappenheimer! Das Kerlchen hat, weiß Gott, Rasse.
+Hier geblieben, mein Junge, kein schiefes Maul mehr gezogen,
+du hast vollkommen recht, ich bin ein Verbrecher
+und gebe dir hiermit feierlichst eine Ehrenerklärung.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span></p>
+
+<p>Er hielt ihm das Glas hin, und, halb widerstrebend,
+halb unwiderstehlich angezogen von dem bannenden
+Wesen des lachenden Mannes vor ihm, stieß der junge
+Heißsporn an.</p>
+
+<p>Bevor eine Stunde vergangen war, hatte Hans
+Steinherr dem Fremden mit den sieghaften Augen alle
+die rätselvollen Eindrücke des Tages anvertraut, die sein
+junges Leben erregt hatten wie nie zuvor. Auch das
+Gedichtchen stammelte er, und von Springe lachte nicht.
+Er ließ nur seine Augen über ihn hinblitzen, und die
+Freude an der Unberührtheit dieser jungen Seele, die
+unbewußt zu Taten drängte, stand ihm auf der Stirn.</p>
+
+<p>»Du bist ein Dichter, mein Sohn.«</p>
+
+<p>»Ich möchte ein Künstler werden, Herr von Springe.
+Sie — Sie müssen ein großer Künstler sein.«</p>
+
+<p>»Herzlichen Dank für die gute Meinung.«</p>
+
+<p>»Spotten Sie nicht über mich. Aber wer als Mensch
+so über den Situationen steht —«</p>
+
+<p>»Kindskopf, was weißt du davon!«</p>
+
+<p>Er blickte schweigend in sein Sektglas.</p>
+
+<p>»Die Hauptsache ist, für den Künstler und den
+Menschen, den Humor an der Sache nicht verlieren.«</p>
+
+<p>»Darf ich Sie besuchen?« schmeichelte Hans.</p>
+
+<p>»Du darfst. Aber jetzt zu Bett, Kleiner, deine
+Schlafenszeit muß längst da sein.«</p>
+
+<p>Und sie gingen.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>So endete der ereignisvollste Tag in Hans Steinherrs
+bisherigem Leben.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-036.jpg">
+</figure>
+
+
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Zweites_Kapitel_Buch_1">Zweites Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Der alte Philipp Steinherr, Fabrikbesitzer und Stadtverordneter,
+hatte klein angefangen. Grauköpfige Düsseldorfer
+Bürger erinnerten sich sehr wohl noch der kleinen
+Blechschmiede auf freiem Felde beim Dorfe Bilk, in der
+er als junger Mann selbst das Handwerk ausgeübt.
+Mit nie rastendem Ehrgeiz hatte er seinen Hammer geführt.
+Seine Bildung hatte er mit zähem Eifer in
+abendlichen Fortbildungsschulen und durch unablässiges
+Selbststudium vervollkommnet. Kein Gebiet der über
+Nacht emporblühenden Technik durfte ihm verschlossen
+bleiben, sein Spürsinn witterte das goldene Zeitalter,
+das die Technik zur Wissenschaft und diese Wissenschaft
+zur Macht stempeln würde, er sah bereits die neue
+Morgenröte und richtete sich auf ihren Empfang ein,
+als alles um ihn her noch im Gleise der alten, guten
+Zeit fortschlenderte, mit echt rheinischem Leichtsinn die
+Tage hinnahm, wie sie kamen, und — als Hauptsache
+dieses Erdendaseins — die Feste feierte, wie sie fielen.
+Philipp Steinherr hatte wenig Feste gefeiert. Seine
+Gedanken waren zeitlebens auf den Erwerb gerichtet
+gewesen, auf den Erwerb mit allen Mitteln, die er
+für seinen Zweck tauglich befand. Der aber war eben
+der Erwerb, der Konkurrenzkampf, der Aufstieg aus<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span>
+den Niederungen des Lebens zu den Höhen der Besitzenden.
+Das Wort des Marschalls von Danzig, der
+auf die hochmütige Frage eines Junkers, ob er sich in
+der Zahl der Ahnen mit ihm messen könne, schlagend
+erwiderte: »Nein, aber ich <em class="gesperrt">bin</em> ein Ahne,« hatte ihn
+nicht mehr losgelassen, als er es bei der Lektüre eines
+Buches gefunden. Der Ahnherr seines Geschlechtes
+wollte er werden, der bei der Arbeit grübelnde Blechschmied,
+obwohl er damals noch den Gedanken an Hochzeit
+machen mit einem geringschätzenden Lächeln abtat.
+Eins aber wußte er: ein neues Wappenschild richtet
+man am leichtesten auf heruntergerissenen alten auf, im
+Kampf der Schlachten wie im Kampf der Industrie.
+Nur keine Sentimentalitäten beim Geschäft! Man konnte
+über Leichen schreiten und dennoch ein achtbarer Mann
+bleiben.</p>
+
+<p>Das hatte Philipp Steinherr in seinem ganzen Leben
+bewiesen. Als junger dreißigjähriger Meister erfand
+er ein billigeres Fabrikationssystem. Er unterbot die
+Marktpreise so lange, bis er die kleinen Betriebe in der
+Runde zum Auffliegen gebracht oder von sich abhängig
+gemacht hatte. Er sog die Kräfte seiner Leute bis zum
+letzten Blutstropfen aus, entledigte sich ohne Bedenken
+der verbrauchten, ohne sich über das weitere Schicksal
+der abgerackerten Alten auch nur einen Gedanken zu
+machen, und arbeitete, um jeden bösen Leumund zu verstopfen
+und gleichzeitig seine Leute zur Hergabe der
+letzten Muskelkraft anzuspornen, mitten unter ihnen
+mit nie versagender Rüstigkeit. Wenn er an Sonn-
+und Feiertagen die Messe gehört, gebeichtet und kommuniziert
+hatte, verschloß er sich tagsüber in seinem<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span>
+kleinen Laboratorium, um Versuche über Versuche anzustellen,
+und saß Abends über seinen Büchern oder trieb
+Sprachstudien.</p>
+
+<p>Die Kriegsjahre 1864 und 1866 trugen ihm große
+Lieferungsaufträge ein. Er hatte durch Zufall die Bekanntschaft
+eines vornehmen Herrn gemacht, der sich zuweilen
+hier draußen auf den Feldern erging. Wenigstens
+erschien ihm dazumal der Herr sehr vornehm. Er besaß
+die kordialen Allüren des etwas heruntergekommenen
+Edelmannes, die für die unteren Stände stets etwas
+Bestechendes haben. Dem Meister erzählte er, daß er
+inspizieren gehe, ob man ihm in der Nacht sein Königreich
+nicht fortgetragen hätte. Einst habe das ganze
+Wiesen- und Ackerland, so weit das Auge reiche, seinen
+Vorfahren gehört, aber der Letzte dieser Biedermänner,
+sein Herr Vater, habe so gründlich damit aufgeräumt,
+daß ihm zu tun fast nichts mehr übrigbliebe. Dieser
+kleine Fetzen Land, einen Steinwurf groß und völlig
+unkultivierbar, sei der Rest eines einst fürstlichen Vermögens.
+Vorläufig aber immer noch viel zu geräumig,
+um sich jetzt schon darin begraben zu lassen.</p>
+
+<p>Dieser lustige Junker, stets in Geldverlegenheit und
+nie in Sorge um den kommenden Tag, wurde der
+Mittelsmann zwischen Philipp Steinherr und den
+Militärbehörden. Die Konnexionen aus den Zeiten der
+Väter hatten noch vorgehalten, dem Sprossen der alten,
+niederrheinischen Familie ein paar kleine Gefälligkeiten
+zu erweisen. Als die Schlacht von Königgrätz geschlagen
+war, hatte Philipp Steinherr den Grundstock zu seinem
+Vermögen gelegt. Nun konnte er daran denken, eine
+vorteilhafte Ehe zu schließen. Ihm, dem Fabrikanten,<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span>
+standen die Häuser offen. Er heiratete eine blutjunge
+Dame, die ihm zwar keine Barmittel, dafür aber einen
+hochgeachteten Düsseldorfer Namen als Mitgift einbrachte.
+Er hatte ganz richtig gerechnet. Diese Verbindung
+brachte ihn vorwärts.</p>
+
+<p>Frau Margot beschenkte ihn im nächstfolgenden
+Jahre mit einem Sohne und schien damit ihre Pflichten
+als erledigt zu betrachten. Sie richtete sich mehr und
+mehr auf die Weltdame ein, was für die im Grunde
+gut spießbürgerlichen Kreise der Stadt immerhin ein
+Ereignis war, erhöhte ihre Bedeutung in den Augen
+der Damenwelt noch durch einen wöchentlichen »Jour«,
+zu dem sich bald die jungen Offiziere der Garnison und
+die bessergestellten Elemente der Künstlerschaft drängten,
+schöngeisterte und flirtete und gewöhnte sich bald an,
+ihren wenig unterhaltenden Mann lediglich als notwendiges
+Übel zu betrachten.</p>
+
+<p>Der aber lächelte nur zu dem Tun und Treiben
+seiner kindischen Gemahlin. Er brauchte ja die Leute,
+die sie um sich sammelte und durch Koketterien zu fesseln
+wußte, dann aber — so sehr er sich gegen das Eingeständnis
+sträubte, fürchtete er sich auch ein klein wenig
+vor der spöttisch überlegenen Miene der jungen Frau,
+die so trefflich den Unterschied zwischen Geburt und
+Erziehung anzudeuten wußte und ihm die mangelnde
+Lebensart fast greifbar zur Erkenntnis zu bringen vermochte.
+So ließ er sie gewähren, lebte fürder als
+Hofmarschall neben ihr hin und machte aus jeder Not
+eine zinstragende Tugend.</p>
+
+<p>Der Deutsch-französische Krieg brachte den gewaltigen
+Umschwung und Aufschwung in der Industrie, den<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span>
+Philipp Steinherr seit Jahren vorausgesehen hatte.
+Die große Zeit fand ihn vorbereitet. Ganz in der Stille
+war ihm ein epochemachendes neues Verfahren in der
+Herstellung von Eisenblech geglückt. Als der Tag von
+Sedan vorüber war und die deutschen Armeen auf
+Paris rückten, ging auch er zum Angriff über, kühl wie
+ein Börsenspieler. Es galt, so schnell wie möglich
+Terrain anzukaufen, das beste, das sich zu großen
+Fabriksanlagen eignete. Mit mathematischer Sicherheit
+rechnete er aus: war erst der Krieg siegreich beendet,
+würde eine wilde Spekulation losbrechen und die Werte
+der Grundstücke ums Vielfache multiplizieren. Dem
+galt es zuvorzukommen. Er hatte sein Bargeld und
+den Kredit für die sofortige, jeden Mitbewerb überflügelnde
+Inangriffnahme und steigernde Unterhaltung
+eines weit um sich greifenden Betriebs nötiger.</p>
+
+<p>Aber die Bauern von Bilk waren mißtrauisch. Sie
+wollten zu Kriegszeiten keine Grund- und Bodengeschäfte
+machen. Ihr Instinkt gab ihnen Witterung von größeren
+Verdiensten. Schon nach wenigen Tagen merkte Steinherr,
+daß ein schlauer Spekulant gleich ihm an der
+Arbeit war, denn die Bauern nannten unerhörte Preise.
+Bis zum Winter schlug er sich mit der hartnäckigen
+Bande herum, dann gab er es auf. Jedoch nur, um
+nachdrücklich einen anderen Plan durchzuführen, den er
+bisher nur, einem feinbohrenden Schamgefühl nachgebend,
+in ganz einsamen Stunden zu streicheln gewagt
+hatte.</p>
+
+<p>Durch die Freunde seiner Frau, die zur Zernierungsarmee
+gehörten, hatte er die unumstößlichsten Nachrichten,
+daß der Fall von Paris nur noch eine Frage von Tagen<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span>
+sein könne. Da opferte er skrupellos die Regungen der
+Freundschaft. Der fröhliche Mittelsmann, der ihm einst
+durch die Verschaffung von Armeelieferungen zur Grundlegung
+seines Wohlstandes verholfen hatte, mußte mit
+seinem Erbe daran glauben. Das »Königreich«, die
+paar Hufen Landes, lagen zu beiden Seiten des Bilker
+Baches langhin gestreckt. Sie waren, wenn die Industrie
+zur Blüte gelangte, weitaus das günstigste Terrain,
+nahe genug den Bahnhöfen der Bergisch-Märkischen
+und der Köln-Mindener Bahn, um sich an diese durch
+kurze Anschlußgleise anzugliedern.</p>
+
+<p>Philipp Steinherr verließ an diesem Tage die Fabrik
+vor Feierabend. Er begab sich auf dem kürzesten Weg
+nach Hause, sicher, den Freund als lustigen Gesellschafter
+seiner Frau anzutreffen. Er hatte sich nicht getäuscht.</p>
+
+<p>»Du kommst so früh schon?« begrüßte ihn Frau
+Margot.</p>
+
+<p>»Ich verspürte Lust, ein Stündchen zu verplaudern.
+Hast du Nachricht von deinem Heinrich?« wandte er
+sich an den Gast.</p>
+
+<p>»Soeben überbrachte ich der schönen Hausfrau Botschaft
+von meinem Jungen. Zum Leutnant befördert,
+vor dem Feinde, und als Marschsoldat ausgerückt. Ja,
+mein Lieber, so weit hätten wir es mit kaum zwanzig
+Jahren nicht gebracht, das ist meine Erziehung! Von
+meinem Alten — Gott hab’ ihn selig — hatte ich, als
+ich zwanzig zählte, nichts, als mein Königreich im
+Bilker Feld und einen gehörigen Schuß von seinem
+Podagra im Blut.«</p>
+
+<p>»Und wenn er zurückkommt? Was wird er beginnen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span></p>
+
+<p>»Er wird sich dieser schönen Hausfrau zu Füßen
+legen, ganz wie bisher. Das ist <em class="gesperrt">auch</em> meine Erziehung,«
+und er küßte galant die Hand der jungen Frau.</p>
+
+<p>»Margot wird,« entgegnete Steinherr, »vorausgesetzt,
+daß sie ernstliches Interesse an dem hoffnungsvollen
+jungen Manne nimmt, die Tändeleien abstellen und für
+seine Zukunft bedacht sein. Wie ich weiß, bereitet sich
+Heinrich vor, die Kunstakademie zu besuchen.«</p>
+
+<p>»Ach du leew Herrgöttche!« seufzte der Sorglose humoristisch,
+»der Jong wird Möler, un der Alte hät auch nix!
+Die Rechnung wird schon auf die Dauer stimmen.«</p>
+
+<p>»Ich will dir einen Vorschlag machen,« sagte Steinherr
+nachdenklich.</p>
+
+<p>»Lieber Freund,« fiel der andere lachend ein, »wenn
+du mir etwas pumpen willst — gnädige Frau verzeihen
+wohl diese gräßliche Wendung des Gespräches — so
+muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß, solange
+mein Heinz und ich dieser schönen Frau um die Wette
+den Hof machen, wir uns nicht noch obendrein von dem
+Gatten besolden lassen können.«</p>
+
+<p>Frau Margot lachte wie eine Turteltaube und reichte
+dem Schwerenöter die Hand zum Kuß. Sie empfand
+den lustigen Kavalierdienst des Alten fast so entzückend
+wie die heißen Huldigungen des Jungen, der ihr Gespiele
+gewesen war.</p>
+
+<p>»Pardon,« sagte Steinherr kalt, »ich dachte, du
+könntest, wenn es sich um die Zukunft deines Sohnes
+handelt, auch einmal fünf Minuten ernst sein. Ich
+beabsichtige nicht im Traume, dir etwas zu schenken,
+aber ein für dich profitables Geschäft möchte ich dir
+vorschlagen. Wirklich, aus Freundschaft.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p>
+
+<p>»Aus Freundschaft? Ein Geschäft? Meines Jungen
+wegen? Hm, das läßt sich hören.«</p>
+
+<p>»Wieviel, glaubst du, wird die Ausbildung deines
+Sohnes kosten?«</p>
+
+<p>»Na, gut wär’ es, wenn man zweitausend Taler bar
+in der Hand hätte. Aber die paar Zinsen, die ich beziehe,
+lassen nicht daran denken.«</p>
+
+<p>»Siehst du,« sagte Steinherr und zog seine Brieftasche
+heraus, »ich möchte dir, deinem Jungen und
+meiner Frau, ja auch mir, eine Freude machen und dich
+bitten, mir dein Königreich zu verkaufen. Ich habe
+Lust auf ein Stückchen Feld. Vielleicht, daß ich mir
+einen Gemüsegarten und eine Grasbleiche dort anlege,
+einige Obstbäume und eine hübsche Laube. Margot
+wünschte sich lange schon derartiges. Hier sind zweitausend
+Taler. Einverstanden?«</p>
+
+<p>Der joviale Freund stutzte. Dann lachte er schallend
+hinaus.</p>
+
+<p>»Philippus, du machst Witze? Da lebst du nicht
+mehr lange, alter Sohn! Einen Gemüsegarten von
+fünf Morgen, für euch zwei Leute, denn das Baby
+rechnet noch nicht mit. Und ich verstehe doch recht:
+Gemüsegarten? Auf einem Stück Land, auf dem der
+Herrgott nur nackte Schnecken und Regenwürmer wachsen
+läßt. O Philippus, du dauerst mich!«</p>
+
+<p>Steinherr lachte mit. Dann, ernst werdend, meinte
+er ruhig: »Das Bedauern schenk’ ich dir gern. Jeder
+Mensch hat seine Marotte.«</p>
+
+<p>»Wie? Du sprichst im Ernst? Du wolltest wirklich?«</p>
+
+<p>»Hier liegen die zweitausend Taler. Wenn du einverstanden<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span>
+bist, kann die Regierung deines Königreichs
+morgen schon auf mich übergegangen sein.«</p>
+
+<p>Der Freund hatte sich erhoben und ging im Zimmer
+auf und ab.</p>
+
+<p>»Philippus,« sagte er dann und blieb vor Steinherr
+stehen, »du meinst es gut mit mir. Und ich — hm
+— ich werde dir jetzt wie ein ganz gemeiner, undankbarer
+und gieriger Rabe erscheinen. Aber, siehst du,
+wenn ich auch ein einigermaßen flottes Tuch bin: etwas
+bin ich doch auch meinem Jungen schuldig. Na, also
+kurz: Glaubst du nicht, daß das Land da draußen
+nach dem Krieg Grundstückswert bekommen wird, daß
+sich die Stadt ganz dort hinüber ausdehnen wird?
+Wenn erst die Milliarden ins Land kommen, wird selbst
+die ordinärste Plebs von der Bauwut befallen werden,
+geschweige denn die Mammonspächter und die Herren
+von der Industrie.«</p>
+
+<p>»Ah — du mißtraust mir? Gut, gut.«</p>
+
+<p>»Sagt’ ich es nicht? Nun bin ich der schäbige
+Rabe! Donnerlütsch, Minsch! Ich? Einem Freunde
+mißtrauen? Ich wende mich an Sie, schöne Hausfrau.
+Bin ich denn wirklich schon so tief gesunken?«</p>
+
+<p>Da er nicht weiter wußte, nahm er seinen Marsch
+durch das Zimmer wieder auf. Ganz kleinlaut, weil
+ihn das Gefühl peinigte, nicht ritterlich verfahren zu
+sein, fügte er nur hinzu: »Ich meinte ja auch bloß,
+wegen der Kriegsentschädigung. Vielleicht hast du die
+Folgen davon noch gar nicht so ins Auge gefaßt. Ich
+Tagedieb habe ja genügend Zeit dazu, Luftschlösser
+zu bauen und in meinem Königreich nach Gold zu
+schürfen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span></p>
+
+<p>Steinherr setzte die überlegene Miene des Geschäftsmannes
+auf.</p>
+
+<p>»Ihr werdet euch mit euren Milliardenerwartungen
+gründlich in die Nesseln setzen. Der Beweis? Nun,
+was hat uns das Siegesjahr Sechsundsechzig gebracht?
+Das trägt ein Hund auf dem Schwanze fort. Dem
+Herrn von Bismarck schien es doch geratener, die gute
+Laune des Herrn Nachbarn für künftige Zeiten zu
+schonen. In Geldangelegenheiten sind alle Leute nun
+einmal am kitzlichsten. Frankreich gegenüber wird der
+Herr von Bismarck zum guten Schluß auch keine andere
+Politik einschlagen. Die deutsch gewesenen Provinzen
+zurück, sonst aber den französischen Geldbeutel nach
+Möglichkeit geschont. Er wirft jetzt nur mit Zahlen
+um sich, um nachher durch seine Großmut umso nachhaltiger
+zu versöhnen. Übrigens würde auch England
+eine solche Schröpfung Frankreichs nicht zulassen. Zum
+dritten und letzten aber: wer bürgt dir dafür, daß
+dieser Krieg so bald zu Ende geht und <em class="gesperrt">wie</em> er zu Ende
+geht? Die Franzosen stempeln ihn zum Volkskrieg.
+Schau mal nach dem Norden, nach Amiens zum Beispiel,
+welche Heeresmassen dieser Monsieur Faidherbe
+da wieder aus dem Boden gestampft hat. Eure Milliarden
+haben einstweilen nur auf dem Monde Kurs.
+Hier unten könnt ihr damit verhungern.«</p>
+
+<p>Er trommelte einen kurzen Marsch auf dem Tisch.
+Dann trat Stille ein.</p>
+
+<p>Diese Stille wirkte auf den Hausfreund beklemmend.
+Er räusperte sich, schritt nach der schönen Hausfrau, die
+ihm zulächelte, nach dem Hausherrn, der mit einer
+geradezu beleidigenden Gelangweiltheit nach der Decke<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span>
+starrte und die Daumen umeinanderlaufen ließ, räusperte
+sich nochmals und trat dann entschieden vor.</p>
+
+<p>»Philippus,« sagte er, »wir kennen uns jetzt ein
+halbes Dutzend Jahre. Ich hab’ dir, wie du behauptest,
+ein paar Gefälligkeiten erwiesen. Du mir auch. Als
+Geschäftsleute wären wir ja — nehmen wir mal so
+an — quitt; aber als Freunde — nee! Schön. So
+muß das ja auch sein. Und nun, wo du mir deine
+Freundschaft mal wieder da offenbaren willst, wo sie
+bei anderen Leuten aufhört, am Portemonnaiechen, da
+komme ich, ich netter Bruder, dir mit allerhand Eigennützigkeiten,
+die sich weiß Gott im Ohre eines Fremden
+beinahe wie Verdächtigungen ausnehmen müßten. Gib
+mir deine Hand, du wackerer Eisenblechmensch, und laß
+mich sie drücken. Nichts wie Vertrauen hab’ ich zu dir,
+Vertrauen und Dankbarkeit. ’raus mit dem kalten
+Mammon und der warmen Liebe! Dafür sei es zehnmal
+dein, mein Königreich. Nur noch die Zustimmung
+meines Jungen, und das Geschäft ist perfekt und die
+Thronfolge geregelt.«</p>
+
+<p>Er schüttelte Steinherr die Hand, daß die Gelenke
+knackten.</p>
+
+<p>»Heinrichs Zustimmung?« meinte der Geschäftsmann
+nachdenklich. »Hältst du denn die für nötig?«</p>
+
+<p>»Du wirst mich vielleicht auslachen. Aber es war
+nun einmal mein Ehrgeiz — und du weißt, in diesem
+Artikel unterhalte ich nur ein bescheidenes Lager —
+daß der Junge zum wenigsten eine Scholle Heimatsboden
+sein eigen nennen sollte. Daß ich es konnte,
+das war ja auch für mich ein sogenanntes ›erhebendes
+Bewußtsein‹. Grundbesitzer! Na ja ...<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span>
+<span class="antiqua">Tempora mutantur</span>. Da bin ich nun zu Ende mit meinem
+Latein.«</p>
+
+<p>Philipp Steinherr bemerkte die Weichheit des Freundes
+mit Besorgnis. Jetzt nur keine Sentimentalität aufkommen
+lassen, sondern Trumpf spielen!</p>
+
+<p>»Ja,« machte er kopfschüttelnd, »wenn du das deinem
+Sohn schreibst, wird er in dem ganzen Handel natürlich
+nichts als ein Opfer sehen, das du ihm darbringen willst,
+sich an Großmut nicht übertreffen lassen wollen und
+dankend verzichten.«</p>
+
+<p>»Entschuldige, aber für so’n Jammermann wirst du
+mich doch wohl nicht halten.«</p>
+
+<p>»Hm — — was meinst du, wenn — wenn —
+meine Frau ihm schriebe? Sie malt ihm seine Zukunft,
+den Künstlerruhm, den er sich erringen kann, und —
+na, das wird sie schon selbst am besten wissen. Wie
+denkst du, Margot?«</p>
+
+<p>»Herr Heinrich wird mir gewiß folgen,« sagte Frau
+Margot träumerisch. Was verstand sie von den Geschäften
+der Männer!</p>
+
+<p>»Bis ans Ende der Welt, bis in die Hölle, nee,
+nee, bis in den Himmel, das Leckermaul!« begeisterte
+sich der lebensfrohe Causeur, heilfroh, daß er nicht mehr
+von Geschäften zu reden brauchte. »Und ich alter
+Krippensetzer werde das Fingerlecken haben. O Philippus,
+weshalb mußtest du dir eine so charmante Frau
+nehmen!«</p>
+
+<p>Philipp Steinherr hatte eine Flasche Rheinwein beordert.</p>
+
+<p>»Trinken wir auf eine glückliche Zukunft,« sagte er
+bedeutsam.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span></p>
+
+<p>Doch der andere hatte, den gefüllten Römer in der
+Hand, vor der Frau des Hauses das Knie gebeugt.</p>
+
+<p>»Majestät,« sprach er, »ich habe bisher nur Eurer
+Schönheit gehuldigt. Lasset mich heute als erster Euch
+huldigen als der Herrscherin meines Euch zu Füßen
+liegenden Königreichs. Ich bin Euer Gefangener. Lang
+lebe und blühe Königin Margot die Erste!«</p>
+
+<p>Die alte, fröhliche Haut ahnte nicht, daß er wirklich
+eingefangen war.</p>
+
+<p>Eine Woche später traf Antwort aus dem Lager
+vor Paris ein. Heinrich dankte der Jugendfreundin für
+das große Vertrauen, das sie in ihn setze und dessen
+er sich durch seine Kunst und durch seine Anhänglichkeit
+würdig zeigen werde.</p>
+
+<p>Das Terrain am Bilker Bach ging in den Besitz
+Philipp Steinherrs über.</p>
+
+<p>Es folgte der Fall von Paris und der Friedensschluß.
+Wie ein Sturmwind kam die neue Zeit ins
+Land, das Kapital wurde mobil, die Städte empfanden
+ihre Enge und reckten sich und dehnten sich aus, industrielle
+Unternehmungen schossen überall zu Dutzenden
+empor und suchten der Bauspekulation den besten Boden
+abzugewinnen, und die Grundstückswerte verdoppelten,
+verdreifachten, verzehnfachten sich.</p>
+
+<p>In Philipp Steinherrs neuen, mächtigen Eisenwerken
+dampften die Schlote bei Tag und Nacht. Er war der
+erste auf dem Platze gewesen. Und als nach wenigen
+Jahren das einst so einsame Terrain durch lange
+Straßenzüge der Stadt angegliedert war, als sich die
+Spekulation durch die unsinnigen, überhetzten Ausgaben
+zu Grunde gerichtet hatte und das mangelnde oder festgelegte<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span>
+Kapital auch der Industrie den gewaltigen Rückschlag
+brachte: Philipp Steinherr spürte nichts von
+schwerer Zeit. Er wuchs und wuchs und war längst
+Millionär, bevor sein Sohn Hans die ersten Gymnasialklassen
+hinter sich hatte.</p>
+
+<p>Von dem einstigen Freunde wußte der mit Ehrenämtern
+überladene Mann seit langem nichts mehr. Der
+Name klang im Steinherrschen Hause wie das Märchen
+von der Blechschmiede, die einem Gerüchte nach der
+Hausherr einstmals draußen im Feld bewirtschaftet
+haben sollte. An dem Tage — und der Tag war sehr
+schnell gekommen — an dem der einstige Besitzer des
+»Königreichs« erfahren hatte, daß er mit kalter Überlegung
+um hunderttausend Mark geprellt worden war,
+hatte er das Steinherrsche Haus zum letzten Male betreten.
+Er war gekommen, seinen Sohn abzuholen, der
+ahnungslos mit dem Fabrikanten plauderte und nicht
+dabei vergaß, Frau Margot anzuschwärmen.</p>
+
+<p>»Heinrich,« hatte der alte Junker gelassen gesagt,
+»mach der Dame dein Kompliment, wie es sich für einen
+Kavalier gebührt. Und dann setz deinen Hut auf, bevor
+du an dem kleinen Spitzbuben da vorübergehst, — wie
+es sich für einen Kavalier gebührt!«</p>
+
+<p>Der Vater war dem Sohne mit der Tat vorangegangen.
+Er hatte sich zeremoniell vor Frau Margot
+verbeugt, sich umgewandt, den Hut auf den Kopf gesetzt
+und war an Philipp Steinherr vorüber zur Türe
+hinausgeschritten, als sähe er in Luft. Und der
+Sohn, der bei aller leichten Sinnesart und den Zechgewohnheiten
+seines Erzeugers die unbedingte Ehrenhaftigkeit
+seines alten Herrn kannte, war ihm, ohne<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span>
+zu fragen, mit demselben Zeremoniell, auf den Hacken
+gefolgt.</p>
+
+<p>Trotz des überlauten Lachens ihres Gatten über die
+»Komödiantenallüren« hatte Frau Margot doch des
+Gefühls sich nicht erwehren können, daß in diesem
+scheinbaren Komödiantentum eine erkleckliche Dosis überlegenen
+Rittersinns gelegen habe. Sie empfand die
+Demütigung umso stärker, als die beiden einstigen
+Freunde und Verehrer den Grund des Bruches mit
+keinem Wort in der Öffentlichkeit laut werden ließen
+und nicht im Traume daran dachten, die gesellschaftliche
+Stellung der Steinherrs zu gefährden. Von diesen
+armen Schluckern einfach übersehen zu werden, hatte
+sie beschämt, ihre Eitelkeit verletzt und ihren Zorn erregt.
+Diese Wunde wollte sich auch im Laufe der Zeit
+nicht schließen.</p>
+
+<p>Hin und wieder hörte sie über die originelle Zigeunerwirtschaft
+der beiden reden, die hinfort wie Kameraden
+zusammen hausten, las in den Zeitungen von dem wachsenden
+Ruhm des Jungen, der in seiner Kunst mehr
+und mehr ein Eigener wurde, oder stand wohl auch in
+den Ausstellungen vor seinen Bildern, die bei aller
+Realistik einen bannenden Farbenrausch zur Schau trugen.
+Dann fühlte sie ein feines, feines Bohren in ihrem
+Herzen, das wie aus weiter Ferne sich meldete. Und
+wenn sie darüber grübelte, tauchte aus verschollenen
+Jugendtagen das Bild eines Jünglings vor ihr auf,
+dessen heißes Knabentum sie einst geliebt hatte. Die
+verwöhnte Weltdame, die seit Jahren die Grenzen ihrer
+Jugend künstlich zu erweitern trachtete, fand in solchen
+Stunden keinen Spott über ihre Gefühle. Ein einziges<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span>
+Mal in ihrem so rein äußerlichen Leben hatte die Liebe
+sie gestreift. Die Liebe zu ihrem Pagen.</p>
+
+<p>Sie hatte sie geopfert, aus Bequemlichkeit, aus
+Egoismus; in der Hoffnung auf Ersatz.</p>
+
+<p>Die elegante Frau mit den müden Zügen, die in
+ihrem Rosengarten draußen im Villenviertel der Grafenbergerchaussee
+unter einem Zeltdach ruhte, strich mechanisch
+mit der Hand über die Augenlider.</p>
+
+<p>»<span class="antiqua">Long, long ago</span> — —« murmelte sie. »Der Page
+ist jung geblieben und seine Königin wird alt. Wir
+hätten miteinander jung bleiben können ...«</p>
+
+<p>Sie schloß die Augen und horchte auf das feine,
+feine Bohren in ihrem Herzen, das wie aus weiter
+Ferne sich meldete — — —.</p>
+
+<p>Bei der Mittagstafel hatte ihr Sohn von seinem
+neuen Freunde erzählt. Der Name von Springe hatte
+die Konversation der Ehegatten verstummen gemacht.</p>
+
+<p>»Von Springe? — Ach, das war ja der tolle, alte
+Junker. Hm ...«</p>
+
+<p>»Von Springe?« — — Das war ja einst die
+Jugend ...</p>
+
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-052.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Drittes_Kapitel_Buch_1">Drittes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Auf der breiten, baumbestandenen Allee, der Hauptpromenade
+Düsseldorfs, auf welche die Nachmittagsonne
+heiß herniederbrannte, wurde es plötzlich lebendig. Es
+hatte soeben vier Uhr geschlagen. Das graue, kastenartige
+Gymnasium entließ seine Schutzbefohlenen.</p>
+
+<p>Sexta und Quinta stürmten zuerst hervor. Kleine
+Halbwilde, noch bar jeden wissenschaftlichen Ernstes,
+hatten sie bei dem ersten Luftzug, der sie traf, die tiefe
+Bedeutung der Deklination von <span class="antiqua">mensa</span> und der Konjugation
+von <span class="antiqua">amare</span> vergessen, erfüllten bereits Korridore
+und Schulhof mit ihrem Lärm, inszenierten schleunigst
+ein paar Raufereien, um den »Stärkeren« festzustellen,
+schlugen wild mit den am Riemen geschwungenen Tornistern
+um sich, sausten im Wettrennen über den aufstäubenden
+Reitweg, von den Schimpfworten der für die
+Lungen ihrer Pfleglinge besorgten Kindermädchen verfolgt,
+und trennten sich an den Straßenecken mit der würdevollen
+Grandezza ihrer vergötterten Lederstrumpfgestalten. Ein
+Knirps rief dem anderen das Stelldichein zu: »Mein
+großer Bruder Falkenauge wolle nicht vergessen, daß der
+springende Panther ihn erwartet. Die Hunde von Sioux
+sind auf dem Kriegspfad wider uns. Hör, Schrüwken,
+dene müsse mer ens ordentlich dat Fell verjücke.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span></p>
+
+<p>Quarta und Tertia folgten. Hier hatte schon das
+Leben mit seinen Forderungen eingesetzt. Man tauschte
+Briefmarken, alte Münzen, Quarze; man handelte um
+all die tausend Dinge, die die unergründliche Hosentasche
+eines Lateinschülers nur zu fassen vermag. Einige ganz
+Betriebsame hielten sich abseits und besprachen den
+Plan einer Lotterie, in der ein lebendiges Eichhörnchen
+ausgelost werden sollte. Dieses Eichhörnchen demnächst
+zu fangen, war der Hauptpunkt der heimlichen Konferenz.
+Einer schlug eine aufregende Jagd im Ellerbusch vor.
+Ein Phlegmatiker wies darauf hin, daß an der Mühle
+in Wersten, ganz nahe der Stadt, ein Eichhörnchen frei
+in einem Kasten hinge und ein kleines Rad triebe. Es
+wäre doch viel bequemer und auch sicherer, wenn man —
+»Schuft!« hieß es empört. Aber man ging doch zunächst
+nach Wersten.</p>
+
+<p>Nun nahte Sekunda. Eine Gattung für sich. Mannbar
+gewordene Leute, ihren Empfindungen nach; dicht
+davor, bei Erlangung des Zeugnisses zum einjährigfreiwilligen
+Dienst ihre Bildung ein für allemal als abgeschlossen
+zu betrachten oder doch, sofern sie die Prima
+zu absolvieren gedachten, in dem erhebenden Gefühl, daß
+die Büffelei fürs Abiturientenexamen bei der immensen
+Länge der Zeit besser erst im nächsten Jahre vorzunehmen
+sei. Selbstverständlich sprach man nur vom »Weib«.
+Etwas Selbstverständlicheres gab es nicht, höchstens —
+die Verachtung für die, die nicht mitzusprechen vermochten.
+Man sprach über »meine, deine, seine Poussage«
+in der geläufigen Art, in der sich Besitzer von Serails
+unterhalten mögen. Nahte ein weibliches Wesen —
+und zählte es auch nicht mehr als zehn treubewachte<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span>
+Lenze —, so kniff man die Augen ein und zupfte nervös
+an der Haut über der Oberlippe. Dienstmädchen und
+das, was nicht die Töchterschule besuchte, galt als Freiwild.
+Hier waren Augenrollen und laute Bemerkungen
+am Platz. »Donnerwetter, gut gewachsen.« — »Unsinn,
+zu kurze Taille.«</p>
+
+<p>Den Beschluß machte Prima. Jünglinge von Erziehung,
+das reinste Produkt der neunmaligen Filtration
+einer neunklassigen Schule. Zwei Welten vereinigten
+sich in ihnen: die gegenwärtige, mit ihren jugendfrohen,
+schwärmerischen Idealen für die Freuden des jungen
+Lebens, die Schönheiten der Kunst und die Erhabenheiten
+der Dichtung, und die künftige, mit ihrem Hinweis auf
+den Beruf und die Stufenleiter der Erstrebungen. Diese
+Verschmelzung prägte sich deutlich in den Augen, den
+Bewegungen, der Haltung aus. Sonnenschein und
+Frühreife. Der künftige Student, der künftige Offizier,
+der künftige Kunstjünger wurde bereits markiert, unbewußt
+fast, aber dennoch untrüglich. Aufmerksame Beobachter
+vermochten selbst den gelinden Übergang zu den
+Feinheiten der Klassifizierungen zu erkennen, wie sie
+zwischen Korpsstudenten und Burschenschaftern, zwischen
+den Herren der Infanterie und der Kavallerie bestehen.
+Trotz ihrer Gemessenheit hatten sie im Rassigen die
+meiste Ähnlichkeit mit Sexta. Die Treffpunkte des
+Kreises offenbarten sich. Der Sturm war auch in ihnen
+lebendig, wie bei jenen Knirpsen, nur gezügelt durch
+die Erziehung; er war aufs neue lebendig geworden im
+Wonneschauer der Erwartung, an der Schwelle der
+zweiten Jugendhälfte. Ihre Disputationen waren von
+einer inneren Leidenschaftlichkeit erfüllt. Ihre Ansichten,<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span>
+ihre Aussprüche über antike Kunst und modernes Theater,
+über die soziale und pekuniäre Stellung eines Amtsrichters
+zu der eines Hauptmanns, über die Berechtigung
+eines philosophischen Systems, die Billigkeit einer Kneipe
+und die Tugend der Frauen waren kategorisch.</p>
+
+<p>Als einer der letzten verließ Hans Steinherr das
+Schulgebäude. Er ging allein, trug die Bücher unter
+den Arm geklemmt und schlenderte langsam die Allee
+entlang. Den weißen Strohhut in den Nacken gerückt,
+die Hände in den Taschen seines hellen Sommeranzuges,
+summte er vor sich hin und horchte, ob es ein Liedvers
+wurde.</p>
+
+<p>Ein paar Klassenkameraden schauten sich nach ihm
+um. Dann gingen sie weiter. Der junge Steinherr
+war den meisten von ihnen zu apart, er legte ihnen
+durch sein zurückhaltendes Wesen zu großen Zwang in
+der Unterhaltung auf.</p>
+
+<p>Als Hans dicht hinter ihnen in die Elberfelder Straße
+einbog, schwenkte einer der Primaner die Mütze und
+rief einem jungen Mädchen, das in diesem Augenblicke
+ihren Weg kreuzte, ein paar Worte zu. Hans blickte
+auf. Dann spannten sich seine Züge, er fühlte, daß er
+flammend rot wurde und daß sein Atem plötzlich ganz
+kurz geworden war. Instinktiv machte er eine Bewegung
+nach dem Hute, aber sein Arm blieb in der Luft hängen.
+Dabei starrte er auf das junge, schlanke Geschöpf in
+dem fadendünnen Sommerkleidchen, mit dem altmodischen
+Schäferhut auf den schwer herabhängenden Flechten, bis
+sie vorbei war. Sie hatte die Augen gesenkt gehalten,
+als sie an ihm vorüberschritt, aber eine leise Röte, die
+sich von den flaumweichen Wangen bis in den kleinen<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span>
+Halsausschnitt stahl, zeigte an, daß auch sie ihn bemerkt
+und erkannt hatte.</p>
+
+<p>Sein Abenteuer von der Golzheimer Insel ...</p>
+
+<p>Sie war verschwunden, und er atmete tief auf; und
+nochmals und wieder. Mitten auf dem Trottoir blieb
+er stehen, ließ sich von den Passanten stoßen und lächelte
+in die Luft hinein. Alles um ihn und in ihm streichelte
+und schmeichelte. Sein Wesen verspürte tausend kosende
+Berührungen und drängte unerklärlich, sie zu erwidern.
+Ein Unnennbares, eine grenzenlose Verwunderung lag
+über ihm ausgebreitet.</p>
+
+<p>Dann kam es ihm zum Bewußtsein, wie linkisch,
+wie überaus hölzern er sich soeben dem Kinde gegenüber
+benommen hatte. Und nun färbte die Scham seine
+Wangen so rot, wie vorhin die Überraschung. Er hätte
+sich prügeln mögen dafür, daß er nicht wenigstens den
+Hut heruntergerissen, gleichviel, ob sie seinen Gruß bemerken
+wollte oder nicht. Was war er doch für ein
+steifleinener Bursche! Ob sich das Ding insgeheim nicht
+über ihn lustig machen würde?</p>
+
+<p>Der Zorn rüttelte ihn gänzlich wach. Mit langen
+Schritten eilte er hinter seinen Klassenkameraden her
+und gesellte sich zu ihnen.</p>
+
+<p>»Heiß heute, was?« und er nahm seinen Hut ab
+und wischte sich die Stirn, um seine Verlegenheit zu
+bemänteln.</p>
+
+<p>»Nanu,« erwiderte der Angeredete erstaunt und ironisch,
+»ich dächte, deine so wohl temperierte Natur
+wäre über so was erhaben.«</p>
+
+<p>Hans ging über den Spott hinweg.</p>
+
+<p>»Doll heiß!« fuhr er fort. »Wie wär’s, Hüsgen,<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span>
+wenn wir nachher irgendwo eine Kneiperei veranstalteten?«</p>
+
+<p>»Was gefällig? Kneiperei? Steinherr und Kneiperei?
+Ich hab’ mich wohl verhört?«</p>
+
+<p>»Du hast ganz recht gehört. Natürlich, wenn du
+vor einem Anker Bier kneifst — —«</p>
+
+<p>»Nu schlag einer lang hin! Steinherr, wahrhaftig,
+ich glaub’s jetzt selber, daß dir heiß ist. Seit wann
+gestatten dir denn deine vornehmen Grundsätze solche
+Extravaganzen? O Steinherr, du steigst bergab, du
+mischest dich unter das Volk. Laß das gemeine Vergnügen
+uns gewöhnlicheren Sterblichen.«</p>
+
+<p>Der stämmige Bengel schüttelte wie in tiefem Schmerz
+das von einer Künstlermähne umwallte Haupt. Es
+amüsierte ihn königlich, den Kameraden, der sich von
+allen Streichen mehr als nötig und üblich zurückhielt,
+derb zu hänseln.</p>
+
+<p>»Hör mal, Hüsgen,« antwortete Steinherr ruhig,
+»du tust dich etwas groß. Ich hab’ zwar nicht das
+Zeug zu einem Kneipgenie, aber Leute wie dich trink’
+ich, wenn ich will, dreimal unter den Tisch.«</p>
+
+<p>»Ach nee, wenn du willst? Wirklich? Schön, du
+sollst wollen. Daran kommst du jetzt nicht mehr vorbei.«</p>
+
+<p>»Gut. Heute abend.«</p>
+
+<p>»Heute abend kann ich nicht. Aber morgen.«</p>
+
+<p>»Du willst dich wohl präparieren? Oder hast du
+ein Rendezvous? Du grüßtest da vorhin so ’n kleines
+Mädel.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr hielt inne. Diese tastende Diplomatie
+war ihm bisher fremd gewesen, und er ärgerte<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span>
+sich über sein Vorgehen. Aber er scheute sich, von dem
+großtuerischen Kameraden, der zu Ostern die Kunstakademie
+beziehen wollte, seiner zaghaften Neugier wegen
+verspottet zu werden. So wartete er denn mit Spannung
+auf die Antwort.</p>
+
+<p>»Ein kleines Mädel? Gott, ich kenn’ so viele. Wo
+denn?«</p>
+
+<p>»An der Ecke der Elberfelder Straße.«</p>
+
+<p>»Ach so — —. Du meinst den Hannes?«</p>
+
+<p>»Den Hannes? Ich sag’ dir doch, ich mein’ ein
+Mädel!«</p>
+
+<p>»Behaupte ich denn, daß es ein Junge ist? Hör
+doch zu, Mensch!«</p>
+
+<p>»Also Hannes heißt sie ...?«</p>
+
+<p>»Hannes.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr gab sich einen Ruck. Er mußte
+mehr erfahren.</p>
+
+<p>»Und ihretwegen bist du heute abend nicht zu haben?«
+sagte er mit erzwungener Neckerei.</p>
+
+<p>»Wegen Hannes?« Der junge Kunstaspirant warf
+sich in die Brust. »Nee, Backfische sind nicht mein
+Schwarm. Ich muß schon was Reiferes haben, <span class="antiqua">à la</span>
+Rubens, verstehst du? Der wußte, was gut ist. Nicht
+dein Geschmack, wie? Du hast eben keine Ahnung!«</p>
+
+<p>»Und Hannes?« beharrte der andere.</p>
+
+<p>»Ach, Hannes! Hm, gewiß, wird sich schon auswachsen.
+Glaub’ schon, daß diese Linien eines Tages —«</p>
+
+<p>»Danach habe ich nicht gefragt.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr stieß es fast herrisch hervor. Er
+hätte den plumpen Menschen plötzlich am Halse würgen
+mögen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p>
+
+<p>Der sah ihn mit überlegenem Hohn an.</p>
+
+<p>»Ja, nach was dann? Entschuldige nur, wenn ich
+deiner keuschen Seele —«</p>
+
+<p>»Das ist ja Unsinn,« unterbrach ihn Hans kurz.
+»Also du triffst das Mädchen heute abend nicht?«</p>
+
+<p>»Natürlich treff’ ich sie. Sie kommt sogar zu uns.
+Der Künstlerverein Gaudeamus — lauter flotte Akademiker
+— hat zu Beginn des Wintersemesters große
+Feier. Zehnjähriges Bestehen! Ich werde offiziell zwar
+erst zu Ostern eintreten, weil mein Alter sich hat einreden
+lassen, das Abiturientenexamen sei erst der Schlüssel
+zum Leben, aber ich bin in der Stille doch schon Konkneipant.
+Als Haussohn! Die Gaudeamus-Brüder
+haben nämlich ihr Lokal bei meinem Alten. Du weißt
+vielleicht, daß wir eins der ältesten Düsseldorfer Wirtshäuser
+besitzen?«</p>
+
+<p>Hans Steinherr nickte. Der alte Hüsgen war eine
+stadtbekannte Persönlichkeit und ein wohlhabender Mann,
+der seinen Stolz darein setzte, seinen Jungen wie die
+der Vornehmsten das ganze Gymnasium durchlaufen zu
+lassen. Mochte er nachher werden, was er wollte.</p>
+
+<p>»Also ich werde zu dem Fest lebende Bilder stellen.
+Aber welche, die sich gewaschen haben. Die Kerle sollen
+Augen machen, was ich kann. Daher fang’ ich jetzt
+schon mit den Vorbereitungen an. Alles stilecht: Kostüme,
+Stellungen. Die Stellungen wollen probiert, die
+Kostüme entworfen und geschneidert sein. Das ist alles
+nicht so einfach, wenn man’s mit der Kunst ernst nimmt.
+Da hat nun meine Schwester den Hannes aufgestöbert,
+eine frühere Schulkollegin; gerad’ nix Feines von Haus
+aus, aber Schick und Geschmack hat der Balg.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span></p>
+
+<p>Die anderen Kameraden hatten sich von ihnen getrennt.
+In Gedanken versunken schritt Steinherr neben
+dem stämmigen Wirtssohn her, der, stolz, sein Künstlertum
+proklamieren zu können, weitschweifig seine Pläne
+auseinandersetzte und die Schönheiten der Renaissance
+beschwor, als wäre er heute schon ihr Herr und Meister.
+Hans Steinherr hörte kaum hin. Während die Schlagworte
+an sein Ohr tönten, die sich von einer jungen
+Künstlergeneration auf die andere vererben, hatte ihn
+eine Idee erfaßt und ließ ihn nicht mehr los.</p>
+
+<p>»Du,« unterbrach er plötzlich den Redseligen, »könntest
+du mich nicht gebrauchen?«</p>
+
+<p>Sie waren am Wehrhahn angelangt, dicht vor dem
+Hüsgenschen Hause.</p>
+
+<p>Verblüfft machte Hüsgen Halt. Dann betrachtete
+er mißtrauisch die Miene des anderen, der den Kopf
+geneigt hielt und mit der Stiefelspitze Figuren beschrieb.</p>
+
+<p>»Steinherr,« sagte er endlich, »entweder, du hast
+heute eine Marotte, oder du willst dich gar lustig
+machen. Für beides findest du in deinen Kreisen bessere
+Gelegenheit. Adjüs.«</p>
+
+<p>Er wollte ins Haus, aber Steinherr faßte ihn am
+Ärmel.</p>
+
+<p>»Sei doch nicht gleich ein so grober Patron. Wenn
+ich dich höflich frage, kannst du mir doch wohl eine
+höfliche Antwort geben.«</p>
+
+<p>»Was?« rief Hüsgen und riß die Augen auf, »das
+war dein Ernst vorhin? Aber du hast doch früher
+keinen Schritt in unser Haus gesetzt? Die Bude und die
+Gesellschaft drin waren dir und deinesgleichen doch immer
+zu power. Hier verkehren wirklich keine Millionäre.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p>
+
+<p>»Hüsgen,« erwiderte der Kamerad ernst, »bin ich
+dir so oberflächlich erschienen? Glaubst du nicht, daß
+ich mich oft genug danach gesehnt habe, mit euch herumzutollen?
+Früher, als wir noch jünger waren? Aber
+ihr ließt mich ja nie zu. Mein Anzug genierte euch.
+Also, wenn sich da so was wie eine Scheidewand aufgetan
+hat: ich bin doch nicht schuld. Oder hast du mir
+sonst was vorzuwerfen?«</p>
+
+<p>Der derbe Bursche biß sich auf die Lippe und blickte
+stumm vor sich nieder. Die Situation wurde ihm unbehaglich.
+Am liebsten hätte er sich durch einen Sprung
+in den Torweg gedrückt.</p>
+
+<p>»Nun?« beharrte Hans und trat ihm einen Schritt
+näher.</p>
+
+<p>»Mensch,« stotterte der Schulkamerad, »du — du
+— na, du warst uns eben zu vornehm.«</p>
+
+<p>»Und du, als werdender Künstler, sprichst auch
+heute noch solche inferiore Begriffe aus? Weiß Gott,
+und wenn ich keinen Knopf mehr an der Hose hätte,
+dazu wär’ ich zu stolz. Adieu, Hüsgen.«</p>
+
+<p>»Hör mal,« schrie es hinter ihm her, »komm um
+sechs!«</p>
+
+<p>Hans wandte sich um.</p>
+
+<p>»Ich will deine Anschauungen nicht verwirren,« rief
+er zurück.</p>
+
+<p>»Also um sechs!« brüllte der andere aus dem Torweg
+heraus, als ob der Einwand gar nicht bis zu ihm
+gedrungen wäre. »Aber gefälligst pünktlich! Adjüs!«</p>
+
+<p>Hans Steinherr schob den Strohhut in den Nacken
+und schritt wacker aus. Er kam sich mit einem Male
+so unternehmungslustig vor. Und dabei spürte er doch<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span>
+innerlich eine seltsame, wohlige Unruhe. Ah, war das
+wieder ein schöner Tag heute! In dem Garten, der
+die Steinherrsche Villa umschloß, dufteten die Rosen
+betäubend, die Jasminblüten lagen wie ungezählte weiße
+Sterne in den grünen Hecken, und der Springbrunnen
+sandte aus weitgeöffnetem Reiherschnabel eine Garbe
+Schaum in die sonnendurchzitterte Luft.</p>
+
+<p>Es war ganz still im Garten und im Hause. Mama
+war zum Kaffee zu einer Freundin gefahren; die Damen
+hatten jetzt, wo es bald zur Saison nach Ostende ging,
+so vieles miteinander zu besprechen. Der Vater war
+draußen in den Fabriken.</p>
+
+<p>Hans ließ sich den Kaffee in die Laube bringen.
+Er hatte eine vollerblühte Marschall Niel-Rose vom
+Zweige geschnitten und preßte sein Gesicht in den Blütenkelch.
+Um ihn her lebte und webte das leise summende
+Getön des Sommers.</p>
+
+<p>Hatte er geschlafen? Er war aufgesprungen und
+sah nach der Uhr. Fünf bereits. Der Kaffee stand
+noch immer unberührt und war kalt geworden. Er
+nahm einen Schluck, dehnte sich und ging schnellen
+Schrittes ins Haus. Auf seinem Zimmer setzte er sich
+sofort an den Arbeitstisch und nahm energisch die Bücher
+vor. Die Zeigefinger in die Ohren gesteckt, studierte
+er emsig sein Pensum für den morgigen Tag.</p>
+
+<p>Da schlug es sechs Uhr vom Kamin. Die durchdringenden
+Töne der Metallplatte mußten doch wohl
+zu seinem Bewußtsein gelangt sein. Er fuhr auf, starrte
+die Uhr an, schob die Bücher beiseite und griff nach
+seinem Hut. Doch er ging noch nicht. Den Hut in der
+Hand, stand er am Fenster und blickte hinaus. Wie<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span>
+der Garten prangte! Welch ein herrliches Besitztum
+war doch sein väterliches Heim! — — Im Garten rief
+eine kleine, schwarzbraune Amsel. Da lächelte er, ein
+unsicheres, zärtliches Knabenlächeln, und verließ langsam
+das Haus. Eine Straßenbahn fuhr vorüber. Er sprang
+auf die Plattform, und in wenigen Minuten erreichte
+er den Wehrhahn. Vor der Hüsgenschen Wirtschaft
+lauerte bereits der Haussohn.</p>
+
+<p>»Süch ens, der Steinherr!« tat er verwundert.
+»Hat dich die Frau Mama losgelassen? Na, komm
+nur ’rein, du wirst dir auch bei uns die Stiebel nicht
+schmutzig machen.«</p>
+
+<p>Hans folgte ihm durch den Torweg. Der mit Lorbeerbäumen
+und verstellbaren Hecken bestandene Hof,
+der sich anschloß, war dicht mit Menschen besetzt, die
+den Vespertrunk begannen. Durch die offene Tür des
+Schenklokals sah man die Ehegatten Hüsgen am weißgescheuerten
+Büfett mit Biergläsern und Butterbroten
+hantieren.</p>
+
+<p>»Willst du mich nicht deinen Eltern vorstellen?«
+fragte Hans bescheiden.</p>
+
+<p>»Vorstellen? Meinen Alten?« Hüsgen junior traute
+seinen Ohren nicht. »Mensch, du bist doch hier nicht
+bei Hofe.« Dann, in neu erwachtem Mißtrauen, zog
+er die Augenbrauen hoch. Ȇbrigens, wenn das ein
+Witz sein sollte — deine Witze verbitt’ ich mir.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr schüttelte den Kopf.</p>
+
+<p>»Hüsgen, daß man im eigenen Hause nicht den
+Grobian spielt, einem Gastfreund gegenüber, das hätten
+dich auch mittlerweile deine griechischen Klassiker lehren
+können.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p>
+
+<p>»Ach was, ein echter Künstler ist immer grob. Ich
+pfeife auf eure Finessen.«</p>
+
+<p>»Na, wenn du meinst, die Grobheit allein mache den
+Künstler, so kannst du deinen Eltern das Lehrgeld für
+die Akademie sparen.«</p>
+
+<p>»Gott, wie viel Worte wegen einer überflüssigen
+Form. Vatter! Mutter!« rief er zur Büfettür hinein,
+»ich hab’ hier einen Gast, den jungen Steinherr von
+der Grafenbergerchaussee.«</p>
+
+<p>Hans trat vor und verbeugte sich.</p>
+
+<p>»En Gläschen Bier jefällig?« fragte der biedere
+Alte und hob ein Glas an den Zapfhahn.</p>
+
+<p>Der Sohn des Hauses stieß den Schulgenossen ironisch
+in die Seite und grinste.</p>
+
+<p>»Och, Vatter,« wies die lebensgewandtere Wirtin
+den geschäftseifrigen Gatten zurecht, »dä jong Herr
+Steinherr is doch en Fründ von uns’ Willibald. Freut
+mich sehr, Herr Steinherr,« fügte sie zierlich wie ein
+junges Mädchen hinzu, strich sich die Hand an der
+Schürze trocken und reichte sie dem jungen Manne zum
+Gruß. »Laßt euch als häufiger sehen. Gelt? — Un
+nich überarbeiten, Jüngkens.«</p>
+
+<p>Als die beiden jungen Leute die Treppe hinaufstiegen,
+lachte Willibald Hüsgen ziemlich respektlos.</p>
+
+<p>»Fein, so’ne Vorstellung, wie?« und er ahmte die
+Stimmen der Alten nach. »En Gläschen Bier jefällig?
+Freut mich sehr, Herr Steinherr ...«</p>
+
+<p>»Ich verstehe dich nicht,« sagte Hans entrüstet.
+»Wenn ich doch regelmäßiger in eurem Hause verkehren
+will, habe ich wohl deinen Eltern gegenüber zuallererst
+die Pflicht der Höflichkeit.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p>
+
+<p>»Ah so, du willst regelmäßiger — —. Mir kann’s
+ja recht sein. Hier ist meine Bude, links, drück auf
+die Klinke. Der Herr segne deinen Eingang.«</p>
+
+<p>Sie waren ungefähr unter dem Dach angelangt.
+Hans tat, wie ihm geheißen, drückte die Klinke auf und
+trat ohne weiteres ein. »Donnerwetter!« entfuhr es
+ihm. Dann blickte er sich mit großen Augen um. Auf
+die weißgetünchten Wände war mit Kohle ein Bacchantenzug
+gezeichnet, übertrieben in den Formen, willkürlich
+in der Linienführung, aber keck und saftig im Entwurf.
+Die Zimmerecken waren mit mächtigen Bündeln Schilfkolben
+ausstaffiert, auf denen eine silbrige Staubschicht
+lag. Von der Decke herab hing ein Kronleuchter, der
+aus einem großen, mit Kerzen besteckten Faßreifen gebildet
+war; ein Uhu, in dessen weitgespreiztem, mottenzerzaustem
+Gefieder der Reifen zu ruhen schien, verlieh
+dem Beleuchtungsapparat einen phantastischen Reiz. Dicht
+an das Fenster war eine Staffelei gerückt, die einen
+gewaltigen Leinwandrahmen trug. Ob das Bild, das
+in satten Farben darauf begonnen war, eine Prozession
+oder eine blühende Kirschbaumallee vorstellen sollte, war
+noch nicht zu erkennen, der Meister erklärte es vorläufig
+für das Gelage des Sardanapal. »Weißt du,« setzte
+er belehrend hinzu, »hier taugen ja die Weiber nix.
+Zu schmal in den Hüften.«</p>
+
+<p>»Schafskopp,« sagte jemand trocken hinter der Leinwand.</p>
+
+<p>Selbst der unverfrorene Willibald fand für einen
+Augenblick nicht das Gleichgewicht.</p>
+
+<p>»Sprach da nicht jemand?« flüsterte Hans Steinherr
+nach einer Pause.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p>
+
+<p>»I wo!« entgegnete der Haussohn grob, »da spielte
+jemand Flöte. Kommt heraus da, ihr Gesindel,« rief
+er und zerrte an dem Vorhang, der als Draperie von
+der Staffelei herabhing. »Müßt ihr Frauenzimmer denn
+die Ohren überall haben? Vorwärts!«</p>
+
+<p>Hinter dem Vorhang kicherte es. Dann wurde das
+Tuch zurückgeschlagen und ein sechzehnjähriges, derbes
+Mädel trat, flammend rot zwar, aber resolut vor.</p>
+
+<p>»Meine Schwester Malchen,« sagte der junge Künstler
+grimmig, »Herr Steinherr, Oberprima. Nanu, wo steckt
+denn der Hannes?«</p>
+
+<p>»Hier,« tönte eine feine Stimme, in der Scham
+und Trotz miteinander stritten. Das junge Mädchen
+war unbemerkt hinter dem Vorhang hervorgetreten und
+stand nun unbeweglich im Hintergrund des Zimmers.</p>
+
+<p>»Der Hannes,« sagte Hüsgen mit einer Gebärde zu
+Steinherr hin. Damit waren für ihn die Formalitäten
+erledigt.</p>
+
+<p>Hans Steinherr blickte verwirrt zu dem jungen
+Mädchen hinüber. Er sah, wie sie die Lippen fest aufeinander
+schloß, wie die dunkelblauen Augen einen Stahlglanz
+erhielten, und er trat rasch auf sie zu.</p>
+
+<p>»Hans Steinherr,« stellte er sich höflich vor und
+wartete auf Antwort. Aber sie antwortete nicht. Über
+ihrer Nasenwurzel grub sich die kindliche Trotzfalte nur
+noch tiefer, und der Blick, mit dem sie ihn feindlich
+streifte, nahm ihm den Rest von Unbefangenheit.</p>
+
+<p>»Ich glaube, mein Fräulein ...« stotterte er, »verzeihen
+Sie, Fräulein, ich habe mich noch —«</p>
+
+<p>Weiter kam er nicht. Die Kleine tat, als wäre er
+ihr gänzlich fremd, und Fräulein Malchen nahm keinen<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span>
+Anstand, vergnügt in ihr Taschentuch zu kichern. Herr
+Willibald aber machte auf seine Art reinen Tisch.</p>
+
+<p>»Ach, Steinherr, würdest du dir wohl merken, daß
+wir nicht hier sind, um einen Kontertanz zu probieren,
+sondern um Kostüme zu entwerfen. Schleppt mal den
+Tisch ans Fenster, ihr beide. Malchen, hol die Zeichnungen.
+Ich werde erklären.«</p>
+
+<p>Während er den Rock abstreifte und es sich in Hemdärmeln
+bequem machte, rückten Steinherr und seine kleine
+Feindin den Tisch aus der Ecke heran. Die Kleine
+nahm all ihre Kräfte zusammen, um nicht schwächlich
+zu erscheinen. Die junge Brust hob und senkte sich bei
+der ungewohnten Anstrengung.</p>
+
+<p>»Loslassen!« befahl Hans kurz. Und da sie nicht
+gewillt schien, zu gehorchen, setzte er den Tisch nieder.</p>
+
+<p>»Das ist doch keine Arbeit für Mädchen,« sagte er
+und sah sie an. Dann packte er den Tisch allein, drückte
+ihn gegen die Brust und schleppte ihn mit Aufbietung
+aller Kräfte ans Fenster.</p>
+
+<p>»Faulwams!« rief er dem Freunde zu.</p>
+
+<p>»Bitte sehr,« entgegnete Hüsgen gelassen, »einer
+muß dirigieren.«</p>
+
+<p>Hans schob den jungen Mädchen Stühle hin, stellte
+sich neben dem Kameraden auf und hörte mit freundlicher
+Geduld den im Grunde einfachen Erklärungen
+zu, die der Dozierende mit großer Wichtigkeit vortrug.</p>
+
+<p>»Ich denke, ihr habt mich begriffen,« schloß der
+Primaner seinen Vortrag. »Was die Renaissance ist,
+hab’ ich euch nun haarklein auseinandergesetzt. Das ist
+die Zeit der äußerlichen Pracht und der innerlichen
+großen Leidenschaften. Aber uns geht hier nur die<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span>
+Pracht an. Über die Leidenschaften reden wir später,
+wenn wir mit den Kostümproben beginnen können. Die
+trichter’ ich euch dann schon ein, die Leidenschaften.
+Hannes,« unterbrach er sich, »was fällt dir denn eigentlich
+ein, zu lachen?«</p>
+
+<p>Steinherr sah schnell zu der Gemaßregelten hinüber.
+Sie saß, den Kopf geneigt, und die Abendsonne lag
+voll auf ihren schweren Zöpfen, die in der roten Lichtflut
+wie Feuer gleißten. Ein Beben flog über die feine
+Gestalt. Und als dem jungen Manne einfiel, daß der
+ungeschlachte Hüsgen, der echte Bierwirtsprößling, diesem
+Geschöpf die Ausdrucksart der Leidenschaften einzutrichtern
+versprochen hatte, da konnte auch er nicht an sich halten
+und er brach in ein fröhliches Gelächter aus.</p>
+
+<p>»Am Lachen erkennt man die Dummen,« erklärte
+Willibald, nachdem er sich von der ersten Verblüffung
+erholt hatte. »Wenn ihr bedauernswerten Böotier keinen
+Sinn für die Kunst habt, so sagt es doch gleich. Dann
+brauch’ ich mich mit eurem Spatzenhirne doch nicht aufzuhalten.«</p>
+
+<p>Er wollte, tief gekränkt, seine Zeichnung zusammenklappen
+und sich erheben. Aber Steinherr hinderte ihn
+daran.</p>
+
+<p>»Entschuldige nur,« sagte er. »Ernst ist das Leben,
+heiter die Kunst. Laß uns fortfahren. Oder — wenn
+du gestattest — laß mich an dem Entwurf der Skizzen
+teilnehmen. Vielleicht reicht mein Talent auch noch so
+weit.«</p>
+
+<p>»Was?« schrie Hüsgen und schlug auf den Tisch,
+»du Duckmäuser, du wirst auch Künstler? Weshalb
+hast du mir denn das nicht gleich gesagt?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span></p>
+
+<p>»Ob ich Künstler werde?« wiederholte Hans Steinherr
+und ließ die Blicke auf den im Abendrot flammenden
+Flechten seiner stumm horchenden Nachbarin ruhen.
+»Ein echter Künstler? — — Ich fürchte, lieber Hüsgen,
+ich bin nicht grob genug dazu.«</p>
+
+<p>»Du,« sagte der verständnisvoll, »werde gefälligst
+nicht anzüglich. Das ist schlimmer als Grobheit.«</p>
+
+<p>Stillschweigend setzte sich Hans an den Tisch und
+griff nach den Zeichnungen. Es waren Kostümentwürfe
+im Stile des Cinquecento. Er vertiefte sich hinein,
+dachte nach und nahm, ohne zu fragen, den Bleistift
+auf. In feinen, sicheren Schraffierungen zeichnete er
+das Prunkgewand einer Florentinerin aus der Zeit der
+Medici.</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen sah ihm sprachlos zu. Auch
+Hannes hatte sich an den Tisch gedrängt und blickte
+erst scheu, bald aber mit offenkundiger Bewunderung
+auf die schlanken, gepflegten Hände, die so leicht produzierten.
+Man hörte nur die Atemzüge der jungen
+Leute und das Stricheln des Bleistiftes.</p>
+
+<p>»Mensch,« brach endlich der zukünftige Akademiker
+das Schweigen, »Mensch, du kannst ja was.« Aber,
+als hätte er seiner Stellung als Kunstpapst dieses Kreises
+bereits etwas vergeben, fügte er in protegierendem Tone
+hinzu: »Gezeichnet kann man das zwar noch nicht nennen,
+das ist eher ein Gedicht. Na, wird schon noch werden.
+Geschmack hast du.«</p>
+
+<p>Fräulein Hannes maß den Redner mit einem spöttischen
+Blick, während Malchen auf Geheiß des Bruders
+die Gewandfetzen herbeischleppte.</p>
+
+<p>Hüsgen zeigte sie dem Kameraden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p>
+
+<p>»Siehst du, das hier wird das Nachtgewand der
+Francesca von Rimini. Im Schnitt stimmt’s, und im
+übrigen ist das ja verteufelt einfach. Möcht’ wissen,
+was die Gans, die Male, dabei zu kichern hat. Himmel
+Wetter,« fuhr er drein, »hier handelt es sich doch um
+Kunst, nicht um ein altes Nachthemd!« Er zuckte die
+Achseln, überlegen, verächtlich, mitleidsvoll. »Also wir
+stellen ein großes, glänzendes, höfisches Bild, die Francesca
+als Fürstin; und ein feines, intimes: die Francesca
+mit ihrem Geliebten, wie sie gemeuchelt werden. Hannes
+übernimmt die Francesca. Das Nachtgewand hat sie
+bald fertig, sie kann nämlich Maschine nähen. Jeder
+muß für sich selber sorgen, streng nach meinen Skizzen,«
+flunkerte er, und mit der Schlauheit des Wirtssohnes,
+die Wirkung seiner Worte gespannt beobachtend, fügte
+er seelenruhig hinzu: »Der Liebhaber der Francesca, der
+schöne Paolo, steht natürlich im Vordergrund des Interesses.
+Um den werden sich alle reißen. Aber ich
+will ihn dir überlassen, Steinherr, weil du die richtige
+Figur dazu hast. Nun blamier’ mich bloß nicht mit
+deinen Kostümen. Knausern gibt’s hier nicht, wir müssen
+alle bluten. So, nun bedank dich mal.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr schüttelte dem geriebenen Jüngling
+voll herzlicher Freude die Hand. Er dachte viel zu anständig,
+als daß er einen besondern Grund für diesen
+seltsam schnellen Freundschaftsbeweis geargwöhnt hätte,
+und er warf nur einen fragenden Blick auf das junge
+Mädchen, das durch viele Proben hindurch nun seine
+Partnerin werden würde. Hannes aber tat, als ob sie
+von den Beschlüssen nichts vernommen hätte. Sie saß
+über eine Handnähmaschine gebeugt und steppte das<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span>
+Nachtgewand der Francesca von Rimini. Das von
+Gesundheit strotzende Malchen hockte, die Hände im
+Schoß, auf einem Schemel vor ihr und sah ihr
+gähnend zu.</p>
+
+<p>»Malchen,« kommandierte der Bruder, »du kannst
+jetzt mal für Abendbrot sorgen. Bring Bier mit und
+spekulier, daß du ’n paar Zigarren aus der Groschenkiste
+schnappst.«</p>
+
+<p>»Dat dhun ich nich,« empörte sich Malchen. »Gang
+du nur selber spekulieren.«</p>
+
+<p>Der Bruder brummte etwas, was gerade nicht wie
+Bewunderung für die schwesterliche Tugend klang, und
+bequemte sich endlich, hinter der Voraufgegangenen das
+Zimmer zu verlassen.</p>
+
+<p>Hans und Hannes waren allein.</p>
+
+<p>Durch das offene Fenster kam die Dämmerung gezogen
+und spann ihre Schleier um die Gegenstände
+und die beiden Menschenkinder. Das Mädchen drehte
+mit verdoppeltem Eifer das Rädchen der Nähmaschine.</p>
+
+<p>»Sie werden sich die Augen verderben,« sagte Hans leise.</p>
+
+<p>Sie stand auf, trug die Handmaschine auf den
+Fenstertisch und setzte wortlos ihre Arbeit fort. Nur
+das Rädchen schnurrte und belebte die Stille.</p>
+
+<p>Hans gab den Gedanken an eine Unterhaltung auf.
+Er ließ sich am Tisch auf einen Stuhl nieder und sah
+ihr stumm auf die kleinen, fleißigen Finger. Zuweilen
+wagte er den Blick zu erheben und die feine Silhouette
+in sich aufzunehmen. Da stand das Rädchen still.</p>
+
+<p>»Das geniert,« sagte sie böse.</p>
+
+<p>»O nein,« antwortete er trotzig, »mich geniert das
+gar nicht.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p>
+
+<p>Sie preßte die Lippen zusammen, und das Rädchen
+schnurrte weiter.</p>
+
+<p>Wie ein breiter Mondscheinstreifen zog der weiße
+Stoff unter der Nadel her. Der junge Mann folgte
+ihm mit den Blicken, und als die Kante knisternd sein
+Knie berührte, griff er ihn auf und ließ ihn gedankenlos
+durch die Hände gleiten. Dann fiel ihm ein: dieser selbe
+Stoff, dem er die Wärme seines Blutes mitgab, würde
+auf ihrem Körper ruhen, sich an ihre Glieder schmiegen.
+Und ganz lind und sacht, als beginge er ein heimliches
+Verbrechen, fing er an, das feine Linnen zu streicheln ...</p>
+
+<p>Übte sein beschleunigter Pulsschlag einen Rapport
+aus? Konnte die Leinwand, die ihm durch die schmeichelnden
+Hände glitt und zu den hurtigen Fingern der Arbeitenden
+eilte, sein Gefühl verraten? Das böse, gepreßte
+Lippenpaar des Mädchens wurde weicher, etwas
+Süßes, Fröhliches, fast Schelmisches huschte um den
+Mund. Noch einmal schnurrte das Rädchen. Dann
+stand es still.</p>
+
+<p>»Es ist dunkel,« murmelte sie und lehnte sich hintenüber.
+Aber die erwachte Weibsnatur horchte mit feinen
+Ohren, ob der vornehm gekleidete junge Herr das alte
+Gewebe weiter streicheln würde. —</p>
+
+<p>Auf der Treppe polterte das Geschwisterpaar. Nun
+flog die Tür auf, und greller Lampenschein überströmte
+das Gemach. Die Idylle war zu Ende.</p>
+
+<p>»Prost!« brüllte Hüsgen und stieß die Biergläser
+auf den Tisch. »Malchen bringt jet zum Müffeln. Zugelangt!
+Hier sind auch die Havannas. Kosten mich
+<em class="gesperrt">einen</em> Griff und <em class="gesperrt">zwei</em> Sekunden Angst. Es lebe die
+Kunst! Prost, Leute!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span></p>
+
+<p>Es ging gegen zehn Uhr, als die Gäste des Hüsgenschen
+Ateliers sich verabschiedeten. Man hatte die
+regelmäßigen Zusammenkünfte auf Mittwoch und Samstag
+festgesetzt.</p>
+
+<p>Draußen, auf der abendstillen Straße, sah Hans
+Steinherr seine kleine Dame fragend an. Ohne von
+seinem Blick Notiz zu nehmen, neigte sie kurz den Kopf
+und ging an ihm vorbei. Er beeilte sich, ihr zu folgen,
+und hielt neben ihr Schritt, so sehr sie auch hastete.
+So zogen sie die Straße den Hofgarten entlang, der
+vom Duft der Sommernacht erfüllt war. Und hier faßte
+sich der große Junge ein Herz und bot dem graziös
+einherschreitenden Kind den Arm an.</p>
+
+<p>»Wohl nur, weil’s dunkel ist,« sagte sie ernsthaft.</p>
+
+<p>»Fräulein Hannes!« rief er gekränkt.</p>
+
+<p>»Glauben Sie an Sternschnuppen?« fragte sie schnell.
+»Man muß sich was wünschen. Da! — und da auch!«</p>
+
+<p>Und während er hastig in die Luft starrte, war sie
+verschwunden.</p>
+
+<p>»Gute Nacht!« rief er durch die hohlen Hände und
+horchte.</p>
+
+<p>Aus der Ferne tönte es lachend zurück: »Gut’
+Nacht!« — — —</p>
+
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-074.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Viertes_Kapitel_Buch_1">Viertes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Am nächsten Tage zog sich Hans Steinherr zum
+ersten Male seit Jahren in der Unterrichtsstunde eine
+Vermahnung zu. Er hatte auf den Vortrag des Mathematikprofessors
+nicht acht gehabt und wußte, als er
+aufgerufen wurde, nicht zu antworten. Bei einer eingehenden
+Prüfung, die der Professor sofort mit seinem
+Schüler veranstaltete, stellte es sich heraus, daß Hans
+nicht einmal die geringste Ahnung hatte, welches Thema
+überhaupt verhandelt worden war. Die ganze Oberprima
+staunte. Der Musterknabe des Gymnasiums hatte
+sich menschlich schwach erwiesen. Nur Hüsgen lachte.
+Und sofort entlud sich über sein Künstlerhaupt der Zorn
+des Schulgewaltigen. Aufgefordert, an Stelle Steinherrs
+den Vortrag inhaltlich wiederzugeben, hielt er
+zwar mit mächtigem Stimmaufgebot eine längere Rede,
+mußte sich jedoch bedeuten lassen, daß er sich hier durchaus
+nicht in einer Narrensitzung der Tonhalle befände,
+in der der albernste Mann der berühmteste Mann sei,
+sondern »verstehen Sie mich recht, Herr, in einem königlich
+preußischen Lehrinstitut, in dem der Anstand mit
+der Wissenschaft zu wetteifern hat! Sollte sich das eine
+oder das andere dieser Worte oder gar beide nicht in
+Ihrem Vokabularium befinden, so wird es mir eine<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span>
+Freude sein, Ihnen diese Begriffe vor dem Schlußexamen
+noch zu verdeutlichen«.</p>
+
+<p>Der stämmige Bursche hörte mit übertriebenem Interesse
+zu. Dann aber ließ er sich kopfschüttelnd und
+mit einer Miene auf seinen Platz nieder, die grenzenloses
+Mitleid mit der Auffassung des aufgeregten Pädagogen
+bekundete. Diesmal war es die Klasse, welche
+lachte.</p>
+
+<p>Hans Steinherr nahm sich vor, dem Professor nach
+Schulschluß eine Entschuldigung vorzutragen. Aber
+kaum war die Glocke des Pedells erklungen, als sich
+auch schon Hüsgen an ihn hängte, um seinen Witz an
+ihm zu üben.</p>
+
+<p>»Gratuliere, gratuliere. Du vermenschlichst dich in
+überraschender Weise. Glaube mir,« fügte er pathetisch
+hinzu, »die schöne Francesca und ihr Kavalier wußten
+auch nichts von Logarithmen, und sie waren dennoch
+glücklich.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr konnte das Geschwätz nicht ertragen;
+er schüttelte den Kameraden an der nächsten Straßenecke
+ab und eilte nach Hause. Der Nachmittag war schulfrei.
+Er arbeitete mehrere Stunden hindurch mit einem
+Eifer, als gälte es, die Vergehen eines ganzen Semesters
+und nicht die eines einzigen Tages wieder gut zu machen.
+Im Garten ließ die kleine, schwarzbraune Amsel ihren
+Ruf ertönen. Sie störte ihn nicht. Dann, während
+er eine Pause machte, um sich das Erlernte zu überhören,
+vernahm er die Lockrufe deutlicher. Ruhig weiter
+memorierend ging er zum Fenster, öffnete es und begab
+sich an seinen Arbeitsplatz zurück. Jetzt machte er
+zwischen den Sätzen hin und wieder eine Pause. Er<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span>
+lauschte auf den kleinen Sänger. Mit dem Liede zog
+durch das offene Fenster der Duft des Gartens ...</p>
+
+<p>Der junge Stubengelehrte murmelte noch einige
+Worte seines Pensums. Dann lehnte er sich langsam
+in seinen Stuhl zurück, streckte sich wohlig und verschränkte
+die Arme hinter dem Kopf.</p>
+
+<p>So blieb er lange, und seine Träumereien setzten
+dort ein, wo sie am Morgen durch den Aufruf des
+Mathematikprofessors unterbrochen worden waren. — —</p>
+
+<p>»Wie schön ist es, jung zu sein,« wogte es in seinem
+Innern, und es stieg auf seine Lippen und formte sich
+zu Worten. Und mit tiefer Inbrunst sprach er sie aus
+und wiederholte sie: »Jung zu sein — immer, immer.«</p>
+
+<p>Konnte man diese Gefühle, die ihn durchströmten,
+diese Jugend, konnte man sie bannen?</p>
+
+<p>Er schauerte leicht, öffnete die Augen weit und setzte
+sich grübelnd am Tisch zurecht.</p>
+
+<p>Jung bleiben? — Wem war das geglückt, von allen
+Menschen, die er kannte? »Mama,« sprach er lächelnd
+vor sich hin; aber das Lächeln wollte nicht bleiben. Er
+war an diesem schweigenden Sommernachmittag merkwürdig
+hellsehend geworden. »Mama?« wiederholte er.
+Sie hieß heute noch in Freundes- und Besucherkreisen
+»die schöne Frau Margot«. Aber wirklich jung? Achtunddreißig
+Jahre ... Ja, ist denn das schon keine
+Jugend mehr?</p>
+
+<p>Es packte ihn eine Angst. Seine Mama, die er nie
+anders als jung und schön gekannt, sie hatte die Jugend
+nicht mehr? Und wenn es keine Jugend war, die sie
+antrieb, heiter, strahlend, lebendig zu sein, was war es
+dann?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span></p>
+
+<p>›Unrast‹, sprach es laut in ihm.</p>
+
+<p>Das Wort war da. Er erschrak darüber und suchte
+die Beweggründe. Doch es blieb ihm nur das Wort,
+so sehr er sich quälte, und wie einen körperlichen
+Schmerz empfand er plötzlich seine völlige Lebensunkenntnis.</p>
+
+<p>Er versuchte, an seinen Vater zu denken. Und wieder
+stand er vor einer Mauer. Sein Vater? Ob der
+überhaupt in seiner Jugend jung gewesen war? Zu
+einer Zeit selbst, in der Knaben aus Schilf und Haselholz
+Flöten schneiden? Nein, das Bild wollte keine Gestalt
+gewinnen. So weit er zurückdachte, er kannte
+seinen Vater nicht anders als mit derselben unveränderlichen,
+eisernen Miene des Mannes, für den es keine
+Überraschungen gibt, nie gegeben hat.</p>
+
+<p>Was aber ist das Leben ohne Überraschungen? philosophierte
+der junge Grübler. Mich hat es doch überrascht,
+und ich war noch nie so selig. Ist es denn erforderlich,
+ist es denn von einer willkürlichen Altersgrenze
+abhängig, daß das zu Ende geht?</p>
+
+<p>Er ging erregt im Zimmer auf und ab.</p>
+
+<p>Nein, nein, sagte er sich und suchte sich krampfhaft
+eine Hoffnung zuzuführen, das liegt an uns, das muß
+an uns liegen. An jedem einzelnen, wie er es anpackt,
+was er einsetzt, ob er den rechten Mut hat —.</p>
+
+<p>Und mit einem Male fiel ihm sein nächtliches Abenteuer
+am Schützenfesttage ein.</p>
+
+<p>Er sah den Mann am Gitter des Malkastens auftauchen
+und sich ohne weiteres von dem Fremden mit
+Beschlag belegt. Der feine, vornehme Kopf, die blauen,
+sieghaften Augen tauchten vor ihm auf. Er hörte die<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span>
+spottlustigen Worte in seinem Ohre klingen, die den
+Perücken den Respekt verweigerten. Und dennoch war
+es keine lustige Person, kein Allerweltskerl, der nach
+dem lachenden Applaus der Menge geizte. Das hatte
+ihm der Respekt gezeigt, der diesem Manne selbst in der
+buntgewürfelten Malerkneipe der Altstadt von Leuten
+entgegengebracht wurde, denen in der Kunst nie ein
+anderer Name heilig war als der eigene.</p>
+
+<p>Herr von Springe ...</p>
+
+<p>Der hatte die Jugend, und er zählte vierzig Jahre.
+Der würde sie haben, und wenn er das doppelte
+Alter erreicht hätte. Ob er sein Mentor werden würde,
+wenn er ihn bäte? Mit sehnsüchtigem Knabengesicht
+streckte er die Arme aus — —</p>
+
+<p>Im Arbeitszimmer des Vaters suchte er im Adreßbuch
+die Wohnung. »Immermannstraße.« Wenige Minuten
+später befand er sich auf dem Wege.</p>
+
+<p>Als er das Haus erreicht hatte, wollte ihm der Mut
+entweichen, einzutreten. Er ging einige Male vor der
+Haustür auf und ab, musterte verstohlen die Fenster
+und überlegte gerade, ob er nicht besser täte, den Besuch
+zu verschieben, als er auch schon mit zusammengebissenen
+Zähnen eine jähe Wendung machte und sich im Hausflur
+befand. An der Korridortür der ersten Etage waren
+zwei Namenschildchen übereinander angebracht: »Friedrich
+Leopold von Springe.« »Heinrich von Springe.«
+Ohne sich zu besinnen zog Hans Steinherr die Klingel.</p>
+
+<p>Kurz darauf ertönte ein kurzer, fester Schritt. Die
+Tür wurde geöffnet, und ein sehniger alter Herr mit
+kurzgehaltenem, schneeweißem Haar und aufgebürstetem,
+schneeweißem Schnurrbärtchen stand vor ihm.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span></p>
+
+<p>»Womit kann ich dienen?« fragte er und musterte
+mit seinen klaren Augen den Jüngling.</p>
+
+<p>»Ich möchte zu Herrn von Springe.«</p>
+
+<p>»Bin ich selber. Oder wünschen Sie die jüngere Auflage?
+Die ist auch zu haben. Bitte nur hereinzuspazieren.«</p>
+
+<p>Hans folgte dankend der Aufforderung. Der alte
+Herr in grauem Gehrock und weißer Weste war ihm
+sofort bekannt erschienen. Er hatte ihn zu Hunderten
+von Malen auf den Promenaden gesehen.</p>
+
+<p>»Heinrich,« rief der alte Herr und pochte an eine
+Türe, »Besuch für dich, mein Sohn.«</p>
+
+<p>»Eintreten!«</p>
+
+<p>Hans trat ein. Er stand in einem hohen, weiten
+Atelierraum und wagte kaum zu atmen. Eine gediegene
+Pracht strömte auf ihn ein, nirgendwo Überladung, aber
+jedes Stück unzweifelhaft echt und von erlesener Form,
+Möbel, Teppiche, Gobelins, Lampen und Leuchter, Vasen
+und Bronzen. Von den an den Wänden aufgestapelten
+Bildern waren einige zu übersehen: die rotglühende
+Campagna, der Triumphbogen des Titus, eine südliche
+Felsenlandschaft mit heranrollender See. Auf einer
+Staffelei stand ein Bild, an dem der Maler arbeitete:
+ein schweigender Park in purpurnen, braunen und gelben
+Tinten, die Sinfonie des in Schönheit sterbenden Herbstes.</p>
+
+<p>Heinrich von Springe wandte sich nach seinem Besucher
+um. Er erkannte ihn wohl nicht gleich, denn er
+kniff einen Augenblick das linke Auge ein und überlegte.</p>
+
+<p>»Aha,« machte er dann, »mein junger Freund, der
+Dichter.«</p>
+
+<p>»O, nicht doch —«</p>
+
+<p>»Nicht? Mir war doch so? Oder wollten Sie gar<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span>
+Anstreicher werden wie ich? Übrigens war das früher
+eine schöne Sitte, daß man den Gast nicht ausfragte,
+sondern sich einfach der Ehre seines Besuches freute.
+Gestatten Sie mir, ebenso zu verfahren.«</p>
+
+<p>Er legte Pinsel und Palette beiseite, rieb sich die
+Hände an einem seidenen Tuch und begrüßte den jungen
+Mann mit kräftigem Handschlag.</p>
+
+<p>»Schön, daß Sie Wort halten. Machen Sie es sich
+bequem und strecken Sie die Beine, so weit Sie wollen.
+Burg Springe ist stolz darauf, Sie in ihren Mauern
+zu beherbergen.«</p>
+
+<p>Er nahm ihm den Hut aus der Hand und drückte
+den Gast in einen tiefen Ledersessel.</p>
+
+<p>»Zigarette gefällig? Bitte, bitte, es ist mir eine
+Freude, Sie mit Feuer zu bedienen.«</p>
+
+<p>Nachdem auch er sich eine Zigarette angezündet hatte,
+nahm er dem Besucher gegenüber Platz, blies mit schweigendem
+Behagen ein paar Rauchringel in die Luft und
+meinte: »’n ja.«</p>
+
+<p>Hans rührte sich nicht. Er fühlte sich unsagbar wohl
+in dem tiefen, kühlen Lehnstuhl, in dem seine schlanke
+Gestalt fast verschwand, umgeben von Schätzen der Kunst
+und in Gesellschaft eines sicherlich hervorragenden Mannes,
+der ihn, den Unfertigen, Unbewährten, wie einen Gleichgestellten
+behandelte. Es hätte ihn nicht weiter gestört,
+wenn die Unterhaltung mit diesem einzigen »’n ja« beendet
+gewesen wäre. Nur hier bleiben dürfen. Sonst
+wünschte er nichts vom Augenblick.</p>
+
+<p>Der Maler betrachtete ihn lächelnd. Er spürte den
+Überschwang heraus, dem sich der hübsche Junge da
+hingab, und es gefiel ihm.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p>
+
+<p>»Ist Ihnen der Schützensonntag gut bekommen?
+Hoffentlich haben Sie wegen der späten Sitzung keine
+Unannehmlichkeiten zu Hause gehabt?«</p>
+
+<p>»Sie sind sehr freundlich, Herr von Springe. Als
+ich am nächsten Tage meinen Eltern von Ihnen erzählte,
+kam ich ohne Tadel weg. Ich war ja noch so begeistert.«</p>
+
+<p>»Sie junge Schwarmseele. — Man fand also nichts
+zu erinnern?«</p>
+
+<p>»O nein, kein Wort. Es wurde auch sogleich von
+Tisch aufgestanden.«</p>
+
+<p>»So, so. Man stand sogleich von Tisch auf ....
+Gut. Reden wir von etwas anderem. Sagen Sie mal,
+junger Freund, ich war an dem Abend wohl etwas unparlamentarisch.
+Oder ziehen Sie das klare, deutsche
+Wort ›ruppig‹ vor? Nur heraus mit der Sprache, ich
+kann’s vertragen.«</p>
+
+<p>»Sie beschämen mich, Herr von Springe. Es war
+doch ein so wundervoller Abend.«</p>
+
+<p>»Ja, ja,« sagte Springe und stäubte mit dem kleinen
+Finger die Asche von seiner Zigarette, »ich entsinne
+mich. Ich hatte mich im Malkasten erbost, über eine
+Mitteilung, über einen Kumpan, der umgefallen war.«</p>
+
+<p>»Umgefallen?«</p>
+
+<p>»Ach so, das verstehen Sie nicht. Ich meine: der
+›aus Gründen‹ eine Reverenz vor den Perücken gemacht
+hatte. Glauben Sie mir, man soll nie etwas aus Gründen
+tun.«</p>
+
+<p>»Pardon, jetzt versteh’ ich wirklich nicht.«</p>
+
+<p>»Na ja, es klingt paradox. Aber wenn der Mensch
+schon Gründe herbeiholen muß, fährt seine Ursprünglichkeit
+zum Teufel. So tun, so leben, weil man nicht<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span>
+anders kann, weil einen der Geist, die Stimmung, der
+Herzschlag <em class="gesperrt">so</em> treibt und nicht anders, das ist das einzig
+Richtige, das einzig Menschenwürdige und nebenbei auch
+das einzig Vergnügliche im Leben. Und auf das Letzte
+kommt es nicht zuletzt an. Oder man spielt sich selbst
+die abgeschmackteste Komödie vor. Aus Gründen!«</p>
+
+<p>»Ich verstehe Sie,« sagte Hans, und es war ihm
+ganz feierlich zu Mute.</p>
+
+<p>Der andere bemerkte es und wechselte den Ton.</p>
+
+<p>»Fidel, fidel!« rief er und schlug ihn leicht aufs
+Knie. »Als ich Sie vor dem Malkasten sah, Einlaß
+begehrend, junger Freund, fuhr es mir durch den Kopf:
+diese junge Künstlerseele schnappst du denen da drinnen
+weg. Und nachher hatte ich die Ehre mit einem Herrn
+aus Oberprima.«</p>
+
+<p>»O, bitte, machen Sie sich nur über mich lustig.
+Vertreiben werden Sie mich deshalb doch nicht.«</p>
+
+<p>»Sieh mal an,« meinte der Maler gedehnt. Dann
+stand er langsam auf, strich seinem Gegenüber freundlich
+über das Haar und ging quer durch das Zimmer
+zu einer Glastür, die zu einer Veranda führte. Er
+öffnete sie und schaute hinaus.</p>
+
+<p>»Was der Bengel für eine zärtliche Stimme hat,«
+murmelte er. »Wie einst die kleine Margot. Und die
+hat getäuscht.«</p>
+
+<p>Er kam zurück und blieb vor dem Ledersessel stehen.
+Der junge Mann verspürte eine leichte Unruhe, als er
+den prüfenden Blick auf sich gerichtet fühlte. Er wollte
+sich erheben und fragte unsicher: »Habe ich vielleicht
+etwas Inkorrektes gesagt, Herr von Springe?«</p>
+
+<p>Springe drückte ihn in den Sessel zurück.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span></p>
+
+<p>»Inkorrektes? — Bleiben Sie ruhig sitzen, Kleiner.
+— Inkorrektes? Herrgott, sagen Sie so viel Inkorrektes,
+wie Sie wollen. Das wird mir mehr Spaß machen
+als die tadellosesten Erziehungsproben. Geben Sie sich,
+wie <em class="gesperrt">Sie</em> sind, nicht wie andere sind. Allons!«</p>
+
+<p>»Dann,« sagte Hans und nahm einen mutigen Anlauf,
+»möchte ich Ihre Bilder sehen.«</p>
+
+<p>»So!« meinte der Maler mit lachender Selbstironie.
+»Wenn das inkorrekt sein soll — schmeichelhaft für mich
+ist das ja gerade nicht. Aber ich werde meiner Lebensweisheit
+nicht untreu werden. Kommen Sie, verehrter
+Kunstkritiker.«</p>
+
+<p>Er führte den jungen Mann, der mit hochrotem Kopf
+eine Erwiderung stammeln wollte, aber keine fand, im
+Atelier umher. Zu jedem Bilde, das er auf die Staffelei
+hob und in die richtige Beleuchtung rückte, gab er eine
+kurze Erklärung. »Gemalt in der Campagna, gemalt
+in Rom, gemalt an der sizilianischen Küste, gemalt im
+Park zu Versailles, wenigstens in der Studie; das
+übrige müssen Ihnen die Bilder sagen, oder es ist schade
+um die schöne Leinwand.«</p>
+
+<p>Hans gab keine Antwort. Er trat vor die Bilder
+hin und versenkte sich in ihre Sprache. Und ihm war,
+als ob es nicht die Sprache der Landschaften wäre, die
+aus den seltsam packenden Gemälden redete, als ob er
+die Sprache einer Menschenseele vernähme, die sich hier,
+fern dem lauten Marktgetriebe, zum Beten gefunden
+hätte. Wie konnte ein Mensch so tief empfinden, wie
+seine Empfindungen so leidenschaftlich zum Ausdruck
+bringen! Ein Mensch, der so spottlustig durchs Leben
+schritt, wie Herr von Springe!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p>
+
+<p>»Wie viel heimliche Liebe müssen Sie in sich tragen,«
+sagte er leise. »So kann nur ein Glücklicher malen.«</p>
+
+<p>Springe legte ihm den Arm um die Schulter.</p>
+
+<p>»Heimliche Liebe? Menschlein, Sie sind eine Poetennatur.
+Aber werden Sie erst älter, dann reden wir
+auch vom Glück. O, Sie süße Einfalt, als ob Liebe
+und Glück dasselbe wäre.«</p>
+
+<p>»Ist es das nicht?« fragte Hans verwirrt.</p>
+
+<p>»Doch, doch. Beruhigen Sie sich. Sie brauchen Ihre
+Erstlingsgedichte deshalb nicht gleich ins Feuer zu werfen.
+Aber wenn Sie eines Tages, was Gott verhüten möge,
+an einer Frau irre werden, die Sie geliebt haben, dann
+wundern Sie sich nicht, sofern Sie ein Künstler sind, daß
+Ihre Kunst tausendmal reicher wird. Das ist wie mit
+einem wilden Rosenstrauch, der aus den Schutthaufen verfallender
+Burgen seine prangendsten Blütenzweige treibt.
+Das Entgelt, das der Himmel zahlt. Für jeden Blutstropfen
+eine Doppelkrone. He, paßt Ihnen das nicht?«</p>
+
+<p>»Ich möchte doch lieber —«</p>
+
+<p>»Ihr Blut behalten? O ja, dafür gibt’s auch ein
+Rezept. Auf alles pfeifen, sobald man es richtig abtaxiert
+hat, und nicht heulen, wenn man herausfand,
+daß das hübsche Ding nur einen Groschenwert besaß.
+Das hält merkwürdig jung; und jung sein, das heißt
+lieben. Punktum, streu Sand drum.«</p>
+
+<p>»Darf ich Sie noch etwas fragen?« bat der junge
+Schüler zögernd.</p>
+
+<p>»Liebster, ich bin nicht allwissend. Sein Bündelchen
+Weisheit muß jeder vom Leben selber kaufen.«</p>
+
+<p>»Nur eins noch, bitte. Halten Sie — halten Sie
+viele Frauen für Groschenware?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span></p>
+
+<p>»Kommen Sie doch mal ans Fenster,« sagte Springe
+nach einer Pause, »ich möchte Ihnen gern einmal in
+die Augen sehen. Also Sie sind bereits verliebt —.«</p>
+
+<p>»Nein, nein, nein,« wehrte der Errötende halb unverständlich
+ab.</p>
+
+<p>»Aha,« machte der Maler ironisch, »der Kampf der
+guten Erziehung mit der Stimme der Natur. Die Hauptsache
+ist, nicht feige sein.«</p>
+
+<p>»Ich bin nicht feige, ich schwör’ es Ihnen. Ich bin
+nur unwissend. Die Damen, die ich in Mamas Salon
+kennen lernte —«</p>
+
+<p>»Keine Beichte,« sagte Springe und strich ihm mit
+der Hand über das erhitzte Gesicht. »Und was die
+Groschenware betrifft, mein lieber, dummer Junge:
+Hüten Sie sich stets im Leben vor den Frauen, die Gefallsucht
+mit Liebe, und Sinnlichkeit mit Leidenschaft
+verwechseln. Das ist ganz verdammtes Kroppzeug aus
+dem Ramschbazar. Und nun hören Sie mal, Verehrungswürdiger,
+wenn Sie etwa vorhaben, hier auf
+Burg Springe sentimental zu werden, so werfe ich Sie
+samt Ihrer Kontrebande hinaus. Hausrecht! Verstanden?«</p>
+
+<p>Er trat auf die Veranda hinaus, die von Weinlaub
+dicht überwuchert war. Die Hände auf die Brüstung
+gestützt, schaute er in die Luft, in die sich das erste
+Dämmer mischte. Nach einer Weile wandte er sich wieder
+um. Aus seinen Augen lachte die sieghafte Fröhlichkeit.</p>
+
+<p>»Sehen Sie sich mal diesen Winkel an, Kleiner!
+Weinlaub oben, Weinlaub unten und Weinlaub von allen
+Seiten. Schreit das nicht förmlich nach einer Bowle?<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span>
+Und nachher kommt der Mondschein und setzt silberne
+Lichter auf den goldenen Wein. Und man schlürft lauter
+Schätze in sich hinein. Ah, das Zechen ist nicht die
+geringste Kunst. Menschen, die nicht zechen, sind mir
+verhaßt wie die Leisetreter, denn sie haben Angst, sich
+zu begeistern. Wir aber —« er unterbrach sich. »Na,
+wir wollen das doch lieber durch die <em class="gesperrt">Tat</em> beweisen.«</p>
+
+<p>Er ging zur Tür und rief in den Korridor hinaus:
+»Herr Friedrich Leopold, Burggeist, Kellermeister, erscheine!
+Mr wolle en Böwlchen drinke.«</p>
+
+<p>Aus dem Nebenzimmer kam schmunzelnd der alte Herr.</p>
+
+<p>»Die Botschaft hör’ ich wohl, allein — apropos,
+würdest du mich mit deinem Gast bekannt machen?«</p>
+
+<p>»Herr Hans Steinherr. — Mein Vater.«</p>
+
+<p>»Steinherr?« wiederholte der alte Herr. »Hm,
+ja — — der Name ist mir ja nicht ganz unbekannt.«</p>
+
+<p>»Hans Steinherr, wohnhaft Grafenberger Chaussee,
+seines Zeichens Oberprimaner, in Zukunft ein großer
+oder ein kleiner Mann, wie’s fällt, in der Gegenwart
+aber mein Freund, mein jüngster Freund. Dieser Steckbrief,
+du lebensweiser Vater, wird deiner Menschenwürdigung
+genügen. Daraufhin schau dir das Objekt
+einmal genauer an.«</p>
+
+<p>»Da mein Sohn und ich Freunde sind,« sagte der
+alte, stramme Herr und schüttelte dem jungen Manne
+die Hand, »so sind seine Freunde meine Freunde. Also
+das wollen wir feiern. Das wäre jetzt die Hauptsache.«</p>
+
+<p>»Hören Sie nicht hin, was dieses leichtfertige Alter
+spricht!« lachte der Maler. »Seine Lebensweisheit ist
+vom Weine abhängig, echt und unverfälscht rheinländisch.
+Wenn die Bowle winkt, sind alle Menschen Brüder.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p>
+
+<p>»Mein Sohn übertreibt schamlos,« widersprach der
+alte Herr würdig. »Er war’s, der nach der Bowle rief,
+ich aber war’s, der eintrat, um ruhig und sachlich zu
+zitieren: Die Botschaft hör’ ich wohl, allein —«</p>
+
+<p>»Allein —?« wiederholte Springe junior.</p>
+
+<p>»Allein mir fehlt der Wein,« vollendete Springe
+senior und zuckte bedauernd die Achseln.</p>
+
+<p>Die beiden Springes sahen sich in die Augen.</p>
+
+<p>»Behüter meiner zarten Jugend,« sagte der Junge
+endlich, »du gibst mir ein schlechtes Beispiel.«</p>
+
+<p>»Mein Sohn,« sagte der Alte, »ich habe dich bislang
+nur den Weg zur Tugend geführt. Schlechter Wein
+aber, oder sogar gar kein Wein, das ist keine Tugend.«</p>
+
+<p>»Die Weisheit deiner Jahre,« erwiderte der Junge,
+»ist bewunderungswürdig, und ich beuge mich voller
+Respekt. Aber ich argwöhne,« und er trat dicht vor ihn
+hin, »du hast die Tugend wieder einmal allein ausgeübt.
+Herr Friedrich Leopold von Springe, ich habe
+Sie im ernstlichen Verdacht, heimlich zu schnäpsen. Das
+ist Egoismus, mein Vater. Mit solchen Grundsätzen
+wird man nicht alt!«</p>
+
+<p>Das Gesicht des siebzigjährigen, frischen Herrn wetterleuchtete
+vor Vergnügen.</p>
+
+<p>»Heinrich,« sagte er, »wie würde ich meine Jugend
+so leichtsinnig aufs Spiel setzen. Außerdem: zur Liebe
+und zum Zechen genügt nie ein Menschenkind allein.
+Lerne das von deinem alten Vater.«</p>
+
+<p>»Also liebst du mich nicht mehr,« seufzte der Maler,
+»denn du nimmst mir die Gelegenheit, mit dir zu zechen.«</p>
+
+<p>»Es ist nicht meine Schuld,« verteidigte sich der alte
+Herr. »Ich war heute morgen persönlich bei Scheufgen,<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span>
+um einen ganz exquisiten kleinen, aber spritzigen Mosel
+zu bestellen. Und heute nach Tisch kommt so ein gallonierter
+Schuft und schleppt einen ganzen Korb Niersteiner
+an. Ich hab’ ihm nicht schlecht den Kopf gewaschen.
+›Rheinwein? Mosel will ich!‹ hab’ ich ihn
+angedonnert, ›zum Teufel, ich bin doch ein Rheinländer!‹
+Und was glaubst du? Der unverschämte Bursche packt
+seelenruhig seinen Korb aus und sagt schnippisch, ›die
+gnädige Frau habe das nun einmal so angeordnet‹.
+Die ›gnädige Frau‹! Die dicke Scheufgen! Na, da
+wurd’s selbst mir zu viel. Ich habe den arroganten
+Bengel kurz beim Schlafitchen genommen und ihn samt
+seinem Niersteiner vor die Tür befördert. ›Die gnädige
+Frau,‹ hab’ ich ihn angeblasen, ›soll nächstens ihre Ohren
+besser aufsperren, oder ich such’ mir ein besseres Haus!
+Bestellen Sie das Ihrer Gnädigen!‹« Der alte Herr
+fuhr sich mit seinem rotseidenen Taschentuch über die
+Stirn. »Auf diese Weise, mein Sohn, wären wir nun
+ohne Wein.«</p>
+
+<p>Heinrich von Springe hatte mit merkwürdig interessierten
+Augen zugehört. Er ergriff die Hand des
+Vaters und schüttelte sie lange und kräftig.</p>
+
+<p>»Das hast du sehr, sehr gut gemacht, Papa.«</p>
+
+<p>»Nicht wahr?« meinte der alte Herr; aber er fragte
+etwas kleinlaut, denn die Herzlichkeit des Dankes schien
+ihm nicht ganz im Einklang mit dem kleinen Vorkommnis
+zu stehen.</p>
+
+<p>»Selbstverständlich. Man darf sich nur nichts gefallen
+lassen. Dieses Volk möchte einem immer seinen
+schlechten Geschmack aufdrängen. Freilich, daß es unbedingt
+Mosel sein müßte —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p>
+
+<p>»Aber ich hab’ ihn der alten Tante doch deutlich
+genug bezeichnet.«</p>
+
+<p>»Nee, Alterchen, bezeichnet hast du ihn nicht, und
+das mit der alten Tante stimmt auch nicht. Im Gegenteil:
+eine höchst scharmante Frau. Als sie gestern bei
+mir im Atelier war, um den Herbstzauber auf der
+Staffelei zu besichtigen, den sie, nebenbei gesagt, kaufen
+will —«</p>
+
+<p>»Was,« rief der alte Herr und riß die blanken
+Augen auf, »die Scheufgen will Bilder kaufen?«</p>
+
+<p>»Nein, lieber Papa,« sagte der Maler freundlich,
+»die Frau Präsident von Tondern. Als sie den ›Herbst‹
+sah, meinte sie, da ich die Studien dazu im letzten Jahre
+gemalt hätte, müßte ich auch den Wein dieses gottgesegneten
+Jahrganges kennen lernen. Er sei zwar noch
+jung, aber schon gehaltvoll. Die Leute haben nämlich
+große Weingüter. Und heute schickt sie den Niersteiner.
+Brav, mein Vater, daß du das Unglück abgewendet
+hast. Dieser Umgang verdirbt unsere einfachen Sitten.«</p>
+
+<p>Die Kinnlade des alten Herrn war mit einem Ruck
+nach unten gegangen, der Mund stand auf, und die
+Augen hatten den Ausdruck eines erstaunten Vogels.
+Er tastete mit der einen Hand nach der Hand des
+Sohnes, während die andere das Taschentuch an die
+Augen führte. Das Antlitz abgewandt, verhüllte mit der
+freien Hand auch der Maler sein Gesicht. So standen
+sie lange, und ein Schweigen entstand, das für den unbeteiligten
+Gast doppelt peinlich war. Dann ging ein
+Zittern durch ihre Körper, ihre Schultern begannen zu
+zucken, immer heftiger machte sich das Toben der Gefühle
+bei Vater und Sohn bemerkbar — und plötzlich<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span>
+lagen sie sich in den Armen und lachten und lachten, daß
+es die Wände zu sprengen drohte. Ob die Affäre unliebsame
+Folgen haben könnte, daran dachte weder das
+Kind von Vater noch das Kind von Sohn. Selbst
+Hans wurde angesteckt, und er schmetterte sein jugendhelles
+Lachen in das Duett der beiden sonnigen Menschen.
+Burg Springe beherbergte drei wahrhaft Glückliche
+...</p>
+
+<p>Draußen wurde an der Klingel gerissen.</p>
+
+<p>»Besuch,« sagte der alte Herr und wischte sich die
+tränenden Augen. »Den können wir brauchen.«</p>
+
+<p>Er ging selbst, um zu öffnen. Nach einer Weile
+steckte er den Kopf durch den Türspalt.</p>
+
+<p>»Diesmal,« verkündigte er, »ist es der richtige
+Scheufgen! Ich werde die Bowle gleich auf Eis stellen.
+Zweitens habe ich Herrn Professor Schack anzumelden.
+Er scheint mir ebenso reparatur- wie bowlebedürftig.«</p>
+
+<p>»Schack?« fragte der Maler schnell zurück. »I was!
+Herein mit Seiner professoralen Gnaden.«</p>
+
+<p>Hastig und aufgeregt trat ein Mann von einigen
+dreißig Jahren ins Atelier. Sein Gesicht war blaß,
+aber ausdrucksvoll und intelligent. Seine unruhigen
+Augen bekundeten eine starke Nervosität.</p>
+
+<p>»Guten Abend, Springe. Kann ich dich sprechen oder
+stör’ ich? Ah, Verzeihung, ich sehe, du hast Besuch.«</p>
+
+<p>»Guten Abend, Schack. Pardon, Pardon, man muß
+wohl jetzt Professor sagen. Ja, wenn dir hier die Luft
+nicht zu revolutionär ist? So ein frischgebackenes Professorenwesen
+hat das im Geruch wie eine Hofdame den
+Sozialdemokraten. Herr Steinherr — Herr <em class="gesperrt">Professor</em>
+Schack.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span></p>
+
+<p>Der Neuhinzugekommene erwiderte die Verbeugung
+des jungen Mannes zerstreut.</p>
+
+<p>»O,« sagte er hitzig, »ich kann auch wieder gehen.
+Ich dachte nur, ein Mensch deines Genres würde ein
+Verständnis für die Gründe haben, derentwegen ich die
+Stellung an der Akademie übernahm.«</p>
+
+<p>»Lieber Schack, ich habe schon als kleiner Junge
+nicht für die Geschichten geschwärmt, denen im Lesebuch
+eine Moral in Vers oder Prosa angehängt war. Wenn
+die Geschichte nicht für sich spricht, helfen alle Begründungen
+nichts. Wenigstens bei mir nicht. Du bist umgefallen.
+Was mich aber nicht hindert, mit dir als
+Menschen einen Becher zu leeren. In deinem Interesse
+schlage ich vor: Wir wollen auf die Terrasse gehen.
+Dort ist selbst für einen Akademieprofessor eine Luft,
+die sich neutral und höchst gebührlich aufführt. <span class="antiqua">Avanti,
+signore</span>.«</p>
+
+<p>Springe schob den aufgeregten Kollegen vor sich her
+und winkte Hans freundlich zu, ihnen zu folgen. Das
+letzte verlorene Sonnengeflimmer zitterte durch das Weinlaub
+und malte weiße Kringel auf den Tisch. Die
+Herren saßen in ihren Stühlen und sahen dem Spiele
+zu. Irgendwo in der Nachbarschaft wurde ein Klavier
+bearbeitet, und ein jugendlicher Chor intonierte das
+Rheinlied:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Nur am Rhein, da will ich leben,</div>
+ <div class="verse indent0">Nur am Rhein geboren sein — — —«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Der Chor klang rauh und ungeschult, aber das verschlug
+den Sängern nichts. Die mangelnde Schönheit
+wurde durch Lungenkraft und Begeisterung hinlänglich<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span>
+ersetzt. Mitten in das Rheinlied hinein ließ ein Sohn
+der roten Erde trutzig das Westfalenlied ertönen:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Du Land, wo meine Wiege stand,</div>
+ <div class="verse indent0">O grüß dich Gott, Westfalenland!«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Eine Pause entstand. Dann sangen die lustigen
+Brüder einträchtig miteinander:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Der Herr Pappenheimer, der soll leben,</div>
+ <div class="verse indent0">Der Herr Pappenheimer lebe hoch!</div>
+ <div class="verse indent0">Beim Bier und beim Wein</div>
+ <div class="verse indent0">Lust’ge Pappenheimer woll’n wir sein ...«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>»Das sind die Balduren,« nickte Springe, »goldenes,
+unverschämtes Künstlerblut. Die Kerle sind unverkennbar
+an ihren schrecklichen Stimmen. Aber sie haben
+den Teufel im Leib und fürchten sich nicht vor Gott und
+der Welt. Darum lieb’ ich sie!«</p>
+
+<p>»Jawohl,« knurrte der Professor, »nur vor der
+Malerei fürchten sie sich.«</p>
+
+<p>»Ach du lieber Himmel, wer am bravsten im Taglohn
+malt, ist deshalb nicht der größte Künstler.«</p>
+
+<p>»Soll das etwa auf mich gehen?« fuhr Professor
+Schack empor.</p>
+
+<p>»Dort naht der versöhnliche Geist Herrn Friedrich
+Leopolds mit dem Abendimbiß. Ich beanspruche
+einen Waffenstillstand zur Provianteinnahme.«</p>
+
+<p>Der alte Herr von Springe machte dem Geplänkel
+ein Ende. Mit der Zuvorkommenheit eines alten Ritters
+spielte er den Wirt, nötigte zum Zulangen und kredenzte
+in Gläsern verschiedener Formen und Farben
+den Wein. Als die Dunkelheit hereinbrach, entzündete
+er eine Ampel, die wie ein satter Rubin aus<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span>
+dem grünen Weinlaub über der Terrasse lugte, und
+holte eigenhändig die kristallene Bowlenschale. Man saß
+zu viert, feierlich, und kostete.</p>
+
+<p>»Ah!« machte Schack und tat einen leisen Schnalzer.</p>
+
+<p>»Das schmeckt wie flüssige Jugend,« bemerkte der
+alte Herr. »Davon kann man nie genug bekommen.
+Bitte auszutrinken.«</p>
+
+<p>Man trank und plauderte. Von der Kunst wurde
+kein Wort gesprochen. Nach dem vierten Glas aber
+wurde Professor Schack melancholisch.</p>
+
+<p>»Lieber Springe,« sagte er und blickte finster in das
+schwimmende Gold seines Glases, »ich bin dir noch eine
+Erklärung schuldig.«</p>
+
+<p>»Lieber Schack,« entgegnete der andere, »das ist
+der große Irrtum. Du bist nur dir allein Rechenschaft
+schuldig. Geht die Rechnung auf, umso besser
+für dich. Stolperst du über einen Fehler, so mußt
+du ihn korrigieren. Lediglich deinetwegen. Das ist’s.«</p>
+
+<p>»Ich weiß, worauf du hinzielst,« versetzte der junge
+Professor, »und ich will mich auch nicht entschuldigen.
+Aber menschlich verständlich will ich mich dir machen.
+Seit dem Tage, an dem ich dir im Malkasten mitteilte,
+daß ich zum Professor an der Akademie ernannt sei,
+meidest du mich. Du behauptest, ich wäre umgefallen,
+ich hätte — ja, ich hätte die Sünde wider den heiligen
+Geist begangen, weil ich meine individuelle Art des
+lieben Amtes wegen nach dem Akademiezopf regeln
+würde, langsam, aber sicher. Abgesehen davon, daß
+doch auch im anderen Lager Männer stehen —«</p>
+
+<p>»Entschuldige,« sagte Springe, »du willst da gerade
+einem landläufigen Irrtum Worte verleihen. Ich kenne<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span>
+kein anderes Lager, ich kenne nur Künstler! Ob sie auf
+die sogenannte alte oder auf die sogenannte neue Manier
+malen, das ist mir ganz egal. Die Hauptsache ist mir,
+ob sie die schöne Illusion erzielen. <em class="gesperrt">Wie</em> sie das machen,
+ist mir Nebensache. Die Individualität ist die Hauptsache.
+Ein Gott läßt sich nicht in spanische Stiefel
+schnüren, oder es wird ein Götze. Ein Ölgötze in unserem
+Falle. Und obwohl du weißt, daß auf der Akademie
+augenblicklich mit Nachdruck schablonisiert wird, gehst
+du hin und wirst Helfershelfer.«</p>
+
+<p>Schack sah düster vor sich hin. Dann griff er nach
+seinem Glase, trank es aus und setzte sich aufrecht.</p>
+
+<p>»Du hast eins vergessen. Der heilige Geist, gegen
+den man sündigen kann, besteht nicht allein in der Kunst.
+Er ist hier, da und dort. Er ist überhaupt der reine
+Kautschukbegriff. Jeder arme Teufel legt ihn sich auf seine
+Art aus. Schwärmer behaupten, er sei die Liebe.« Er
+stand auf. »Auf die Gefahr hin: ich bin ein Schwärmer.«</p>
+
+<p>»Schack, alter Kamerad ...« Springe hatte sich
+schnell erhoben und den Aufgeregten sanft in den Sessel
+niedergedrückt. »Ich hatte ja keine Ahnung. Was ist
+denn los?«</p>
+
+<p>»Siehst du,« begann der Akademieprofessor, »ich
+habe gemalt, was das Zeug hielt. Nicht oberflächlich,
+das weißt du. Ich habe, um mich deines Ausdrucks
+zu bedienen, den Gott in mir wahrhaftig nicht in spanische
+Stiefel geschnürt. Ich wurde verlästert, verhöhnt,
+als Tempelschänder gebrandmarkt. Ich arbeitete fort.
+Als die Schreier meine Entschlossenheit sahen, verliefen
+sie sich allmählich. Auch die Kritik wagte sich jetzt hervor.
+Man nannte mich in den Zeitungen eine interessante<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span>
+Erscheinung. Aber Bilder kaufen — das war
+nicht. Ich war von den Perücken, die im lieben Düsseldorf
+einmal die Papstgewalt haben, nicht approbiert.
+Unterdes wurde ich achtunddreißig. Und mein Mädchen
+wurde auch nicht jünger. Springe,« fuhr er fort und
+griff nach der Hand des Freundes, »das — das ist das
+Schrecklichste. Sehen, wie die Jugend schwindet. An
+der Liebsten es sehen. An den kleinen Fältchen der getäuschten
+Sehnsucht, den schmalen Wangen, die die
+heimliche Angst blaß färbt, dem ergebungsvollen Blick
+der Entsagung. Springe, du hast nicht geliebt, sonst
+wüßtest du, daß man in solchen Augenblicken sein künstlerisches
+Gewissen für eine Handvoll Haselnüsse verkauft,
+daß man seine Individualität hinschmeißt wie
+einen alten Handschuh, daß man zu allem, aber auch
+zu allem bereit ist, um nur nicht hinsterben zu müssen,
+ohne die Jugend der Liebsten und damit die eigene
+gerettet zu haben. Ruft allesamt, ich sei umgefallen.
+Ich weiß das besser. Ich zahl’ der Welt mit gleicher
+Münze, und inzwischen küsse ich im Blumengarten meines
+stillen Mädels alle blassen Rosen wieder rot. Erst kommen
+wir selber!«</p>
+
+<p>Es war einen Augenblick still geworden auf der
+Terrasse.</p>
+
+<p>»Und du,« brach Springe das Schweigen, »willst
+deine Individualität hingeschmissen haben? Ich habe
+dich falsch beurteilt, denn du hast mir nie von deiner
+Freundin erzählt. Vielleicht,« fügte er lächelnd hinzu,
+»weil du mir kein Verständnis für die Liebe zutrautest.
+Aber,« er wurde wieder ernst, »dem geliebten Weib
+gehört nicht nur die Kunst, ihm gehört das Leben zuallererst.<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span>
+Jetzt habe ich keine Angst mehr um dich.
+Schack, deine Liebe soll leben.« — —</p>
+
+<p>Den alten Herrn und den jungen Gast hatten die
+beiden Maler gänzlich vergessen. Jetzt erhob sich der alte
+Herr und klingelte an sein Glas.</p>
+
+<p>»Liebe Freunde,« begann er, »ich möchte zu diesem
+Thema auch ein Wörtlein sagen. Freund Schack hat
+soeben die Angst vor dem Altwerden bekundet. Nun,
+er hat ja auch das Arkanum dagegen gefunden. Aber
+wenn das Arkanum auf die Dauer Wirkung haben soll,
+müssen Sie alle selbst das Beste dazu tun. Ich bin
+siebzig Jahre. Wie? Bin ich nicht ein Jüngling? Sind
+Sie der Meinung, daß ich je im Leben alt werden
+könne? Wollen Sie das Geheimnis wissen? Nun, es
+ist einfach. Werden Sie nie im Leben blasiert! Versuchen
+Sie auch nie, über das Leben zu philosophieren.
+Sie behalten jedesmal unrecht und haben eine Menge
+Zeit vertrödelt. Das Alpha und Omega dieses Daseins
+ist, zu wissen: <em class="gesperrt">daß</em> man lebt. Und es lohnt sich —
+glauben Sie das meiner langjährigen Erfahrung — am
+besten, daß man für diese kurze Erdenspanne so lacht
+und liebt, singt und trinkt, wie einem der Schnabel gewachsen
+ist. Klappt einmal der Sargdeckel zu, und man
+entsinnt sich just in dieser Sekunde einer Seligkeit, die
+man abgewehrt hat, kriegt man noch im Grabe die
+Gelbsucht, und die schadet dem Teint. Ich meine
+natürlich den Teint der Erinnerung. Meine Freunde,
+es prangt und duftet die Sommernacht, und die
+Bowle nicht minder. Die Philister liegen in der
+Klappe und zetern über unsere Untugend. Die Tugend
+aber ist das Leben; mit ihm hört auch die schönste<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span>
+auf. Und diese Tugend wollen wir auf das kräftigste
+ausüben. Dann sind wir die Herren dieser Welt, dann
+sind wir die ewige Jugend. Bange machen gilt nicht.
+Prosit!«</p>
+
+<p>Der Akademieprofessor fiel dem alten Herrn schluchzend
+um den Hals. Die Erregtheit der letzten Stunden,
+die rasch getrunkene Bowle, die wunderbare Sommernachtstimmung
+und die prächtigen Menschen um ihn her
+— er konnte nicht anders, er bekam es mit der Rührung.</p>
+
+<p>Hans Steinherr hatte mäuschenstill dagesessen. Es
+war ihm heiß und kalt geworden, er hätte, ganz gegen
+die ihm anerzogenen Gewohnheiten, schreien und singen
+mögen, und plötzlich sprang auch er auf und fragte an,
+ob er ein Gedichtchen deklamieren dürfte, das ihm heute
+eingefallen sei.</p>
+
+<p>»Silentium!&nbsp;&nbsp; Silentium für den Dichter!«</p>
+
+<p>Und mit vor Erregung zitternder Stimme sprach der
+Jüngste des Kreises:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Was nutzt der Kuß auf deinen Mund,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn nicht dein Herz erglommen?</div>
+ <div class="verse indent0">Tut sich der Lenz dem Blut nicht kund,</div>
+ <div class="verse indent0">Was soll der Name frommen?</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Und sehnst du dich, daß dir die Kunst</div>
+ <div class="verse indent0">Entschleiert sich soll zeigen:</div>
+ <div class="verse indent0">Lern fühlen nur mit inn’ger Brunst</div>
+ <div class="verse indent0">Und laß die Lippe schweigen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Gott ist im Sturm, im Frühlingswind</div>
+ <div class="verse indent0">Und in der Früchte Samen.</div>
+ <div class="verse indent0">Das Glück, du grübelnd Menschenkind,</div>
+ <div class="verse indent0">Du bannst es nie mit Namen.</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p> </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Tu auf das Herz zur Feierstund’,</div>
+ <div class="verse indent0">Bekränze still die Pforte.</div>
+ <div class="verse indent0">Dann regt sich’s auf der Seele Grund</div>
+ <div class="verse indent0">Wie seltne Bibelworte.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Und ob dein Mund der lauten Welt</div>
+ <div class="verse indent0">Ihr Wesen nie verkündet:</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn nur dein Herz die Zwiesprach hält,</div>
+ <div class="verse indent0">So hast du es ergründet.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Das tiefste Glück, das du dir schufst,</div>
+ <div class="verse indent0">Blieb immer ungesprochen.</div>
+ <div class="verse indent0">Und wenn du es bei Namen rufst,</div>
+ <div class="verse indent0">Sein Zauber ist gebrochen.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Blaß bis unter die Haarwurzeln wollte sich Hans
+setzen. Er war zu Ende. Aber Heinrich von Springe
+war hinter seinen Stuhl getreten und schloß den Jungen
+in seine Arme.</p>
+
+<p>»Hättest du das auch zu Hause, in einer eurer Gesellschaften
+vorgetragen?« fragte er ihn halblaut und sah
+ihm in die Augen.</p>
+
+<p>»Nein. Dort hätte ich es nie gekonnt. Hier fühl’
+ich mich so, so — —«</p>
+
+<p>Springe küßte ihn auf den Mund. Das »Du« behielt
+er bei. —</p>
+
+<p>Der Akademieprofessor stellte nach einer Stunde fest,
+daß er den Rest seiner Energie für den Nachhauseweg
+nötig habe. Lachend führten ihn Springe und Steinherr
+die Treppe hinab. Der alte, fröhliche Herr folgte
+mit dem Licht, und er zitierte kräftig aus seinem Lieblingsdichter
+Wilhelm Busch für den Professor einen Abschiedsgruß.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Einen Menschen namens Meyer</div>
+ <div class="verse indent0">Schubbst’ man vor des Hauses Tor</div>
+ <div class="verse indent0">Und man sagt’: Betrunken sei er,</div>
+ <div class="verse indent0">Selber kam’s ihm nicht so vor.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p><span class="antiqua">A rivederci, a rivederci</span>
+, es lebe die Persönlichkeit!« —</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-100.jpg">
+</figure>
+
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Fuenftes_Kapitel_Buch_1">Fünftes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Bei Willibald Hüsgen wurde emsig geprobt. Die
+Kostüme waren im Laufe der Wochen fertig geworden,
+die Dekorationen von Willibalds Meisterhand entworfen
+und in ziemlich eigenmächtiger Weise auf große Papierrahmen
+gemalt. Der Künstler nannte das kurz: <span class="antiqua">al fresco</span>.
+Mutter Hüsgen hatte bereits den Saal herrichten müssen,
+der während des Semesters den Gaudeamusbrüdern zur
+Kneipe diente, und der Wirt, der »Baas«, ließ seinen
+Stammgästen gegenüber geheimnisvolle Worte fallen, um
+durchsickern zu lassen, was für ein Mordskerl sein Willibald
+sei, und »von der Mutter hätte der Jung’ das nu
+mal nich«.</p>
+
+<p>Zu Anfang September erklärte der selbstbewußte
+Arrangeur, daß die Vorstellung, wie es im Bühnenjargon
+heiße, nunmehr »stehe«. Das Knochengerüst wäre
+da, nun gelte es, Fleisch ansetzen. Bei der nächsten
+Probe am Samstag würde er mit der Durchgeistigung
+der Bilder beginnen.</p>
+
+<p>Hans blickte auf Hannes. Aber das Mädchen lachte
+nicht zu den protzenhaften Worten wie einst, da ihnen
+auf dem Dachstubenatelier Herr Willibald die Eintrichterung
+der Leidenschaft versprochen hatte. Es war seit
+jenem Tage und mit der Zeit fortschreitend eine so seltsame<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span>
+Änderung mit dem jungen Geschöpf vor sich gegangen,
+daß es der Umgebung hätte auffallen müssen,
+wäre diese egoistische Jugend nicht viel zu sehr von sich
+selbst in Anspruch genommen gewesen. Mechanisch folgte
+sie den Regievorschriften, mechanisch nahm sie ihre Stellungen
+ein und ahmte die Bewegungen nach, so daß
+der rücksichtslose Haussohn mehr als einmal ein Donnerwetter
+über die verdammte Steifheit der Frauenzimmer
+im allgemeinen und im besonderen über die Häupter
+der Versammelten schickte. Dann färbte sie sich blaß
+und rot, verharrte regungslos und wie im Trotz in
+ihrer eckigen Haltung, um, sobald die Probe ihr Ende
+erreicht hatte, in einem Temperamentsausbruch sondergleichen
+durch das Zimmer zu tollen.</p>
+
+<p>Hüsgen stand wie versteinert. Aber die Versteinerung
+wandelte sich bald zur wilden Wut.</p>
+
+<p>»Kröte,« schrie er »alberner Aff’, wenn du dir etwa
+einbildest, mich hier zum Narren zu halten, so soll doch
+gleich — Rausschmeißen werd’ ich euch, rausschmeißen
+alle miteinander —!«</p>
+
+<p>»Du hältst sofort den Mund!« fiel ihm Hans Steinherr
+kategorisch ins Wort.</p>
+
+<p>Er war dicht an den Kameraden herangetreten, mit
+geballten Händen, und sah ihm herausfordernd in die
+Augen.</p>
+
+<p>»Untersteh dich, in diesem Tone fortzufahren. In
+meiner Gegenwart werden keine Damen beleidigt!«</p>
+
+<p>»Damen?« fragte Hüsgen höhnisch. »Du bist wohl
+jeck? Malchen, lach dich kapott, ihr seid ›Damen‹!«</p>
+
+<p>»Wie deine Schwester darüber denkt, muß sie selbst
+wissen. Aber Fräulein Hannes ist hier Gast, und das<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span>
+Gastrecht respektiert man. Zumal wenn der Gast dir
+zuliebe gekommen ist, um so selbstlos wie möglich sich
+für deinen persönlichen Ehrgeiz verwenden zu lassen.«</p>
+
+<p>»Ehrgeiz?« brauste Hüsgen auf. »Bist du übergeschnappt?
+Ihr versteht eben den Teufel von der
+Kunst!«</p>
+
+<p>»Dann stell deine lebenden Bilder gefälligst allein!«</p>
+
+<p>Einen Augenblick schien es, als sollten die lebenden
+Bilder wirklich lebendig werden. Aber der Geschäftsinstinkt
+des Wirtssohnes witterte noch rechtzeitig die
+Gefahr. Und knurrend lenkte Hüsgen ein, um sich im
+»Gaudeamus« den Triumph nicht entgehen zu lassen.
+Während die beiden Mädchen in einer Ecke beieinander
+hockten und Malchen verwundert die renitente Freundin
+anstarrte, versuchte der Akademieaspirant sich in der
+Fensternische vor dem Freunde reinzuwaschen.</p>
+
+<p>»Steinherr,« sagte er eindringlich, »du mußt das
+doch einsehen. Wir Künstler sind geradeaus. Wir legen
+nun einmal keinen Wert auf das Äußerliche, weil wir
+alles auf das Innerliche konzentrieren. Aber unsere
+Seele — Mensch, unsere Seele — —!«</p>
+
+<p>Hans maß den Redenden von oben bis unten.</p>
+
+<p>»Erzähle mir doch keinen Unsinn, an den du selber
+nicht glaubst. Der Geist macht den Körper, und Rauhbeinigkeit
+ist noch lange nicht das Erkennungszeichen für
+spartanische Tugend. Übrigens bist du noch gar kein
+Künstler.«</p>
+
+<p>»Was bin ich nicht?« versetzte Hüsgen atemlos.</p>
+
+<p>»Noch kein Künstler. Wenn du’s erst bist, sprichst
+du nicht mehr so viel davon.«</p>
+
+<p>»Ich —? Ich wäre kein —? Nu hört sich aber<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span>
+alles auf. Malchen, Hannes, kommt doch mal her! Ihr
+habt doch, weiß Gott, Verständnis! Malchen, du holst
+auf der Stelle mein Skizzenbuch. Und die Kreidezeichnungen
+bringst du her, die ich von Vatter gemacht hab’
+und von Mutter. Im Schlafzimmer über dem Bett.
+Wenn die nich ähnlich sind! Aber laß man. Hier stehen
+doch die Dekorationen zur Francesca. Na? Wie? Ist
+das gemalt oder ist das geschwefelt und geflunkert? Ich
+kein Künstler! Aber der da, der da — Kuckt ihn euch
+an — das ist einer. Och! Och! Malchen, fix, hol mal
+en Kognak. Vatter is nich am Büfett.« —</p>
+
+<p>Diese Szenen, die sich mit geringen Variationen
+häufig genug wiederholten, waren Hans peinlicher, als
+er es sich gestehen mochte. Nicht seiner selbst wegen.
+Er merkte, wie der Verkehr im Hüsgenschen Wirtshaus
+sein allzu sensitives Empfinden abhärtete und seine weiche
+Männlichkeit robuster machte. Das war sicher ein Gewinn.
+Aber das Kavaliertum, das ihm im Salon seiner
+schönen Mama anerzogen worden war, ließ zuweilen
+beschämt die Flügel hängen. Er hätte ganz anders für
+seine kleine Dame eintreten mögen, aber die schien für
+die feineren Unterscheidungen des Verkehrs noch weniger
+Verständnis zu haben als der rüpelhafte Willibald.
+Mit übertriebener Hast nahm sie stets Partei für den
+triumphierenden Haussohn und blitzte mit ihren dunklen
+blauen Augen ihren Ritter wie einen Lästigen an. Wurden
+die Proben erneuert, so sah man ihr das Unbehagen
+an, den jungen Mann berühren zu müssen. Steif
+wie eine Gliederpuppe hielt sie die Arme gereckt, und
+des Regisseurs Zorn wurde mit Recht entfacht über
+diese »niederträchtige Versündigung an der Kunst«.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p>
+
+<p>Nachdem Hüsgen eines Tages erklärt hatte, daß sie
+nunmehr reif wären, um sich von Direktor Millowitsch
+für das Kölner Hänneschen-Theater engagieren zu lassen,
+und er nur noch einen und den allerletzten Versuch mit
+ihnen machen wollte, ordnete er für die nächste Zusammenkunft
+die erste Kostümprobe an.</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen hatte einige junge Kunstschüler ins
+Vertrauen gezogen, da er zu dem Prunkbilde, der Hofhaltung
+der Francesca, eine Anzahl Ritter benötigte.
+Die jungen Leute erschienen, die Hosen über die Trikots
+gezogen, lachend und lärmend im Hause und begannen
+im Festraum ungeniert Toilette zu machen, während
+Francesca-Hannes und ihre Palastdame Malchen in einem
+Nebenzimmer letzte Hand an ihre Kostüme legten.</p>
+
+<p>Hans Steinherr betrachtete mit Verwunderung die
+Kostüme der Kumpane. Tausend Maskenschlachten schienen
+schon darin geschlagen worden zu sein, die Farben waren
+erblindet und verschossen, die Tuche mottenzerfressen und
+geflickt, und ein Duft ging von ihnen aus, der am Hofe
+der Malatesta kaum statthaft gewesen sein dürfte. Er
+wagte darüber eine Bemerkung an Hüsgen, der von
+einem wahren Begeisterungstaumel erfaßt zu sein schien.</p>
+
+<p>»Was? Blinde Farben? Mottenlöcher? — Ja,
+Mensch, begreifst du denn nicht? Das ist ja gerade
+das Echte! Himmeldonnerwetter, das ist echt! Das
+riecht man ja geradezu!«</p>
+
+<p>»Leider Gottes,« versetzte Hans und zog die Nasenflügel
+zusammen. »Aber es handelt sich doch nicht
+darum, was heute echt erscheint, sondern was damals
+echt <em class="gesperrt">war</em>. Und du darfst dich darauf verlassen, daß
+sich die Herrschaften damals mindestens so anständig anzogen<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span>
+und auf Sauberkeit hielten wie die gute Gesellschaft
+heute. Das hier aber — das ist doch der reine
+Anachronismus.«</p>
+
+<p>Willibald und die jungen Herren von der Akademie,
+die sich vor Entzücken über die »fabelhafte« Echtheit
+ihrer Gewandungen nicht zu lassen wußten und sich
+gegenseitig beschauten, betasteten und beschnüffelten, sahen
+sich sprachlos an. Der Horizont verfinsterte sich eine
+Weile. Dann meinte ein langer Akademiker wegwerfend:
+»Laßt den Kerl doch laufen, der hat ja keine Ahnung von
+echt!«</p>
+
+<p>Hans trat zurück. Er wollte heute keinen Streit;
+auch machten ihn die sonderbaren Käuze lachen.</p>
+
+<p>Das stilgerechte Kostüm aus purpurnem Samt, das
+sich eng an seinen schlanken Leib schmiegte, gab ihm
+ein fremdartiges Aussehen, und der feine Kopf mit dem
+braunen Haar erinnerte in der Tat an einen alten,
+seltenen Stich. Die purpurne Kappe mit den silberschillernden
+Reiherfedern saß fest im Gelock. Die Hände
+falteten sich über dem Griff des Degens.</p>
+
+<p>Hüsgen ließ die Stellungen einnehmen. Die jungen
+Akademiker fanden sich überraschend schnell in die Situation
+und bildeten in ritterlicher Attitüde den Hofstaat
+und die fremden Gesandtschaften. Die alte Tradition,
+die Düsseldorf von jeher den Ruhm zuspricht, unübertroffen
+im Arrangement lebender Bilder zu sein, wurde
+wie auf ein Zauberzeichen in diesen formlosen Burschen
+lebendig. Sie standen da mit dem Anstand von Adelsgeschlechtern,
+und die bunten Lumpen wurden zu Prachtgewändern.
+Jetzt führte Hüsgen als mißgestalteter,
+finsterer Gianciotto Malatesta sein Weib Francesca ein,<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span>
+und Totenstille herrschte. Jeder der jungen Künstler
+spürte die Macht der Schönheit.</p>
+
+<p>Das war Francesca. Blaß war sie wie eine weiße
+Rose, in deren Kelch eine Flamme sitzt. Das aufgenommene
+Haar lag wie Sonnengold auf der Stirn.
+Die mädchenhaften Formen des Körpers hoben sich unter
+dem reichbestickten Brokatgewand, und unter dem schweren
+Saume zeigten sich die scheuen, zierlichen Kinderfüße.
+Sie konnte nur langsam vorwärts schreiten, denn Fräulein
+Malchen als traute Gespielin hielt sich so würdevoll,
+daß sie die Schleppe der Fürstin, die sie trug,
+straff zog wie ein Sprungtuch.</p>
+
+<p>Malatesta geleitete Francesca zum Thronsessel und
+nahm neben ihr Platz. Zur Seite hinter ihr stand Hans
+Steinherr-Paolo, versunken in diesen Traum von Jugendschönheit.
+Jetzt hob Francesca den Kopf, und ihre
+Blicke begegneten den Blicken Paolos. In diesem Augenblicke
+dachten beide nicht an die Gestalten, die sie darzustellen
+hatten. Francesca sah das feingeschnittene,
+leidenschaftliche Jünglingsantlitz, ihre Augen hingen in
+rückhaltlosem Staunen an seiner Erscheinung und ließen
+sie nicht los. Und während Paolo mit halbgeöffneten
+Lippen den keuschen Duft ihrer Haare einatmete und
+sich mit Augen, in denen ein Suchen und Sehnen war,
+unwillkürlich näher beugte, schwellte ein tiefer Seufzer
+die Brust Francescas, und ein geheimnisvolles Lächeln
+zog durch ihren Blick. Das Lächeln des Mädchens, das
+das Weib in sich erwachen fühlt.</p>
+
+<p>»Bravo, bravo!« rief stürmisch die »Gesandtschaft« vor
+ihrem Thron. Ein Jubelgeschrei raste durch die jugendliche
+Versammlung, und Hüsgen-Malatesta versuchte auf<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span>
+seinem Thronsessel den Kopfstand. Gesandte und Mannen
+sprangen herzu und halfen dem überschwenglichen Fürsten
+wieder auf die Beine.</p>
+
+<p>»Habt ihr’s gesehen?« rief er. »Habt ihr’s gesehen?
+Diese Bewegung? Diesen Blick? Das war Musik, he?
+Eine ganze Geschichte in einer Sekunde. Das große
+Vergessen im Liebestrank!«</p>
+
+<p>Er stolzierte aufgeregt umher.</p>
+
+<p>»Was sagt ihr nun? Nix! das glaub’ ich — Aber
+wenn ihr einen bloßen Schimmer hättet, was mich das
+für Müh’ gekostet hat, den beiden das einzupauken.
+Innerlichkeit konzentrieren, hab’ ich gesagt, Innerlichkeit!
+Über Nacht ist es gekommen. Den Seinen gibt’s
+der Herr im Schlaf. Aber dieser Herr war ich. Und
+wenn ich die Blasphemie morgen am Tag dem Pater
+Servatius beichten sollt’ und mit hundert Rosenkränzen
+gepönt werd’! So, und nun bedankt ihr beiden euch bei
+mir, daß ich euch hab’ was lernen lassen. Vorwärts,
+umkleiden zum zweiten Bild.«</p>
+
+<p>Die beiden Mädchen waren ins Nebenzimmer geeilt.
+Hans Steinherr zog sich hinter die Bühne zurück,
+um seinen Anzug zu wechseln. Hüsgen warf als
+Rachegeist, der in der Nacht heimeilt, um die Untreue
+von Weib und Bruder zu bestrafen, einen weiten
+Mantel um die Schultern und nahm den blanken Stahl
+in die Faust. Alle Anwesenden, die in diesem Bilde
+nicht mitwirkten, hatten sich in den Hintergrund des
+Zimmers zurückzuziehen, das einstweilen verdunkelt
+wurde.</p>
+
+<p>Nun tastete sich Francesca zur Bühne. Hans-Paolo
+half ihr hinauf und nahm mit ihr die Pose ein. Hüsgen-Malatesta<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span>
+ließ, zusammengekauert wie ein sprungbereiter
+Tiger, den Degen schwirren.</p>
+
+<p>»Licht!«</p>
+
+<p>Nur die Gasflamme über der Bühne strahlte hell
+auf. Ein unerwarteter Anblick:</p>
+
+<p>Paolo in weißem Samtwams. Das Wams über der
+Brust zerrissen, die nackte Brust von Blut gerötet. Francesca
+hält den Taumelnden fest. Das zarte Nachtgewand
+liegt wie ein Duft um den süßen Mädchenkörper. Ihr
+rotschillerndes Haar ist gelöst und schlingt sich um den
+Hals des Geliebten. Seinen Nacken umwindet ihr bloßer
+Arm, und mit der freien Hand wendet sie den zweiten
+todbringenden Degenstoß des wutschäumenden Malatesta
+auf sich. Und plötzlich, als sei auch sie getroffen von
+dem erlösenden Stahl, ließ sie den ausgestreckten Arm
+auf die Schulter des in die Kniee gebrochenen Geliebten
+niedersinken, und ihr Körper hing schwer und fest an
+dem seinen, als wären sie eins.</p>
+
+<p>Hans Steinherr tanzten Flammen vor den Augen.
+Er wußte nicht, wie ihm geschah. Alle Kraft hatte
+er nötig, den Mädchenkörper zu halten. Er preßte ihn
+mit Gewalt an sich, um ihn vor dem Niederfallen zu
+bewahren, und in die angstvolle Umschlingung hinein
+strömte eine Flut von unbekannter Süße hinüber und
+herüber. Er suchte ihre Augen, die starr die seinen
+suchten, sah ihren Mund wie blasse, verlangende Rosenblätter
+— dann sank ihr Kopf hintenüber, und er spürte
+ihre kühle, weiche Wange auf seiner entblößten Brust.</p>
+
+<p>»Vorhang!« schrie er mit erstickter Stimme in die
+Kulisse, und irgend einer, der herbeigesprungen war,
+ließ die Gardine fallen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span></p>
+
+<p>»Was ist denn los?« rief Hüsgen ärgerlich und
+stolperte über die Bühne. »Die Bewegung war tadellos
+realistisch und du —«</p>
+
+<p>»Rufe sofort deine Mutter. Die anderen sollen in
+den Garten. Malchen bleibt im Zimmer und verhält
+sich ruhig. Schnell, du!«</p>
+
+<p>Die abgehackten Sätze kamen wie ein Kommando.
+Und Willibald Hüsgen duckte sich augenblicks, warf noch
+einen scheuen Blick auf das Mädchen, dessen Ohnmacht
+er jetzt erst gewahrte, und hieß die Gaffer das Zimmer
+räumen. Malchen trippelte an der Stubentür auf und
+ab und wartete angstvoll auf die Mutter, die der Bruder
+holen gegangen war.</p>
+
+<p>Auf der Bühne kniete Hans, den Kopf der kleinen
+Freundin in seinen Arm gebettet. Ihr durchsichtiges Gesichtchen
+war blutleer, und der schlanke Mädchenleib lag
+wie leblos gestreckt.</p>
+
+<p>»Nicht sterben,« flüsterte er, »nicht sterben. Durch
+dich hab’ ich ja erst zu leben begonnen. Das weißt du
+ja gar nicht. Du, Heinz Springe, der alte, prächtige
+Vater Springe, all die neuen Menschen — alles durch
+dich. Hörst du, kleiner Hannes?« Und es quoll in ihm
+empor, und ein heißer Tropfen hing sich an seine
+Wimper und fiel auf ihre Stirn. Da beugte er sich
+herab und küßte sie zärtlich, wie man eine Schwester
+küßt, auf die kalten Lippen. Wie eine Schwester? Ein
+Schauer durchrann ihn, und er wagte den Kuß nicht
+wieder. Wo nur Frau Hüsgen blieb ...</p>
+
+<p>Da kam sie; äußerlich erhitzt vom schnellen Treppensteigen,
+im Gemüt seelenruhig. Sie hatte die Essigflasche
+gleich mitgebracht und rief Malchen zur Hilfeleistung<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span>
+heran. Aber das alberne Mädel fürchtete sich
+und drückte sich zur Tür hinaus, um die Magd zu rufen.</p>
+
+<p>»Barmherzigkeit,« grollte die resolute Wirtin, »dat
+Kindchen stirbt uns noch unter die Hände weg. Fassen
+Sie mal an, jong Här. Sie sind jetz’ Samariter, verstehn
+Sie mich. Dat hat mit dem sonstigen Anstand
+absolut nix zu tun.«</p>
+
+<p>Mit flinken Fingern öffnete sie dem jungen Mädchen
+das Gewand, legte einen essiggetränkten Lappen in die
+Herzgrube, einen essiggetränkten Schwamm auf die
+Schläfen, rieb und frottierte und hieß ihren Assistenten,
+die Arme des Mädchens im Takt auf und nieder zu
+heben. Hans folgte dem leisesten Wink. Er sah die
+hilflose, weiße Mädchenblume vor sich liegen in ihrer
+rührenden Schönheit, und ihm war feierlich zu Mute.</p>
+
+<p>Das Mädchen öffnete die Augen. Das Blut hatte
+zu kreisen begonnen, und das Leben war zurückgekehrt.</p>
+
+<p>»Weg!« sagte die Wirtin und machte dem jungen
+Manne eine energische Kopfbewegung. »Dat Samariterspiele
+is all jut, aber nu kömmt auch der menschliche
+Anstand retour. Jed’ Ding zu sein’ Zeit. Adjö, Herr
+Steinherr.«</p>
+
+<p>»Ich werde mich umkleiden und dann unten warten,«
+antwortete Hans, machte eine ehrerbietige Verbeugung
+und verließ, ohne sich umzuschauen, das Zimmer.</p>
+
+<p>Ruhig ging er später im Flur auf und ab. Wenn
+das Bild, das er vorhin gesehen, vor ihm auftauchte,
+war ihm, als ginge etwas Heiliges in ihm vor. Er
+wußte, daß er nie einen heiligeren Augenblick erleben
+würde. Wie ernst, wie glückselig ernst das stimmte.
+War das die Jugend?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p>
+
+<p>Aus dem Gärtchen im Hof hörte er die Kunstjünger
+schwatzen und lachen. Sie tranken das Wohl der lieblichen
+Francesca und ihre baldige Genesung. Das war
+auch eine Art, die elastische Jugend zu äußern. Aber
+er brauchte nicht zu trinken, um seine Begeisterung anzufachen.</p>
+
+<p>»Kleiner Hannes,« murmelte er, »kleiner, lieber
+Hannes! Weißt du noch? An dem Schützensonntag?
+Bis dahin war ich ein Kulturpflänzchen. An dem Tage
+lernte ich die Natur verstehen. Ach, wie das wohl
+tut — —. Lieber, kleiner Hannes!«</p>
+
+<p>Die Minuten dehnten sich ihm zu Stunden. Soeben
+noch ernst und abgeklärt, überfiel ihn jetzt aufs
+neue die Unruhe, und er horchte in das winklige Treppenhaus
+hinein, ob er auf den Stiegen ihren Schritt noch
+nicht vernähme. Sollte sich der Anfall wiederholt haben?
+Dann — ja, dann hatte er doch hier unten nicht herumzulungern,
+dann war doch sein Platz dort oben, dann gehörte
+er doch an die Seite der armen, kleinen Kameradin.</p>
+
+<p>Er hielt die Ungewißheit des Wartens nicht mehr
+aus. Zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, sprang
+er die Treppen hinauf. Vor der Tür des Dachstubenateliers
+war ihm der Atem ausgegangen, aber er wartete
+die Beruhigung der Pulse nicht erst ab, er klopfte an
+und drückte auf die Klinke.</p>
+
+<p>Da saß Hannes, mit ihrem dünnen Sommerkleidchen
+angetan, am Tisch und trank aus einem Glase dunklen,
+roten Wein. Das Haar hing gelöst, um die Schläfen
+nicht zu drücken, an den schmalen Kinderwangen herab.
+Mutter Hüsgen hockte mit ihrer massigen Gestalt auf
+einem Schemel und ermunterte zum Trinken.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p>
+
+<p>Bei dem hastigen Eintritt des jungen Mannes hielt
+das Mädchen das Glas unbeweglich an den Lippen und
+starrte ihn an. Die Erinnerung kehrte zurück, und wo
+diese aussetzte, stellten sich ängstigende Vermutungen ein.
+Die Hand, die das Glas zum Munde führte, begann
+zu zittern, das Auge zu flirren und zu flimmern, und
+eine Glut stieg von der Kehle an über Wangen und
+Stirn, so dunkel und tief wie der rote Wein im Glase.
+Frau Hüsgen winkte dem jungen Manne ärgerlich ab.</p>
+
+<p>»Sachte, sachte! Dat jeht hier nich zu wie auf ene
+Bauernkirmeß: Flauwerden un jleich wieder Walzer. En
+bisken mehr Zartheit, jong Här.«</p>
+
+<p>»Ich wollte nur — — ich hatte nur solche Angst
+— des Fräuleins wegen — —« stotterte Hans. »Ich
+hielt’s da unten nicht mehr aus ... Entschuldigen Sie.«</p>
+
+<p>»Ich bin ganz wohl,« sagte die Kleine trotzig und
+senkte die Augen.</p>
+
+<p>»Schön,« entschied die Wirtin und erhob sich, »dann
+machst du jetzt, daß du in die Klappe kommst. Un
+Großmutter soll dich besser päpeln. Du bist jetzt in die
+Jahre, wo mr aufpassen muß. Jesses Maria,« seufzte
+sie, »wat is dat sein Lebtag ein Elend mit uns arm
+Frau’nsleut!«</p>
+
+<p>Ein schneller, scheuer Blick glitt aus den Augenwinkeln
+der Kleinen zu dem jungen Manne hinüber, der
+noch immer die Türklinke in der Hand hielt. Jetzt trat
+er näher und sagte, respektvoll zu Frau Hüsgen gewandt:
+»Wenn Sie gestatten, werde ich das Fräulein nach Hause
+bringen.«</p>
+
+<p>»Ich kann allein gehen,« wehrte das Mädchen hastig
+ab und stand im selben Augenblick aufrecht da.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p>
+
+<p>»Fräulein Hannes,« sagte Hans Steinherr ruhig,
+und er wunderte sich selbst über die Bestimmtheit seines
+Tones, »Sie werden diesmal vernünftig sein. Sie sind
+krank und haben sich denen zu fügen, die es gut mit
+Ihnen meinen.«</p>
+
+<p>Sie sah starr an ihm vorüber. Dann wandte sie
+sich mit einer seltsam matten Bewegung ab, nahm ihren
+Hut vom Wandhaken, nestelte achtlos fast ihr Haar darunter
+und reichte der Wirtin die Hand.</p>
+
+<p>»Ich dank’ Ihnen auch, Frau Hüsgen.«</p>
+
+<p>»Keine Ursach’, aber nich die Spur!« Die resolute
+Frau klopfte ihr die Backen. »Also du wirst mir hübsch
+gesund. Un vergiß nich, Großmutter zu grüßen, un sie
+soll übermorgen zum Waschen kommen.«</p>
+
+<p>Wieder der scheue Blick. Diesmal hatte ihn Hans
+Steinherr in den Augenwinkeln seiner Schutzbefohlenen
+aufblitzen sehen.</p>
+
+<p>Ach, die Kleine schämte sich, weil sie zu einer
+Waschfrau ging. Daher das Abwehren einer Begleitung.
+Und wenn schon zu einer Waschfrau; was war
+dabei? Die Ereignisse hatten in Hans die romantischen
+Sinne geweckt. Was ging ihn Rang und Stand der
+Menschen an.</p>
+
+<p>»Kommen Sie, Fräulein,« sagte er herzlich, »ich
+werde Sie bei Ihrer Großmama gut abliefern.«</p>
+
+<p>Sie schritt, ohne ihn anzusehen, an ihm vorbei und
+die Treppe hinab. So eilig, daß er sich sputen mußte,
+sie an der Toreinfahrt wieder zu erreichen. Hier aber
+nahm er sie fest bei der Hand und sah sie an.</p>
+
+<p>»Fräulein Hannes — —.«</p>
+
+<p>Dann zog er ihren Arm durch den seinen und führte<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span>
+sie behutsam die Straße entlang. Willenlos ging sie
+neben ihm her. Den Arm hielt sie steif wie eine Marionette.</p>
+
+<p>»Wo wohnen Sie?«</p>
+
+<p>»Pempelforterstraße.«</p>
+
+<p>»Nummer?«</p>
+
+<p>Sie nannte sie und schwieg sofort wieder. Die unregelmäßigen
+Schritte der beiden hallten durch den stillen,
+dunklen Abend. Es war spät geworden.</p>
+
+<p>»Sie dürfen so weit nicht zu Fuß gehen,« sagte
+Hans Steinherr nach einer Pause und blieb stehen.
+»Wir werden eine Droschke nehmen.«</p>
+
+<p>»Nein,« stieß sie hervor. »Ich will nicht.«</p>
+
+<p>»Wir werden es aber trotzdem tun,« meinte Hans
+ruhig, »oder fürchten Sie sich, mit mir in einer Droschke
+zu fahren?«</p>
+
+<p>»Fürchten —?« wiederholte sie gedehnt. »Ich will
+nur nicht; der Nachbarn wegen.«</p>
+
+<p>»Die liegen längst im Bett. Außerdem sind Sie
+Patientin. Ich wußte übrigens nicht, daß Sie keine
+Courage haben.«</p>
+
+<p>Nun wartete sie mit ihm, bis eine Droschke sichtbar
+wurde.</p>
+
+<p>»Fräulein Hannes,« sagte der junge Ritter verlegen,
+»ich — ich weiß wahrhaftig noch nicht, wie Sie eigentlich
+heißen. Sie — Sie gelten bei Hüsgens immer
+schlankweg als Fräulein Hannes. Schon Ihrer Großmama
+wegen muß ich das doch wissen.«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen rührte sich nicht. Da hielt die
+Droschke vor ihnen.</p>
+
+<p>»Meine Großmutter heißt Frau Stahl,« murmelte<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span>
+sie. Dann ließ sie sich in den Wagen helfen, kauerte
+sich in die Polster und schloß sofort die Augen.</p>
+
+<p>Hans Steinherr saß ihr gegenüber. Ihre Kniee
+berührten sich. Wenn sich der Wagen einer Straßenlaterne
+näherte, beugte er sich vor und spähte in das
+regungslose Mädchenangesicht, das bei aller süßen Kindlichkeit
+der Formen einen Zug der Entschlossenheit zeigte.
+Wie rührend dieser Ausdruck wirkte — —. Und in
+der Brust des jungen Mannes regte sich ein zärtliches
+Empfinden und erregte ihn. Dieses Kind in die Arme
+nehmen, es streicheln und mit der Überlegenheit, die
+das männliche Bewußtsein gewährt, trösten und ihm
+kosend zureden: »Kleines, kleines Närrchen, so lächle
+doch! Du bist ja viel zu schwach, um ein Lebenskämpfer
+zu werden. Und es wäre so schade um dich und so
+traurig ...«</p>
+
+<p>Unbewußt hatte er begonnen, ihre herabhängenden
+Arme zu streicheln. Wie mager die Ärmchen geworden
+waren! Vor wenigen Monaten — das stand ihm noch
+deutlich vor Augen — hatte sich das Kleid straff um
+den vollen Arm gespannt. Sie hielt ganz still, als wäre
+die Berührung nicht einmal zu ihrer Wahrnehmung gedrungen.
+Da streichelte er ganz sacht ihre kalten Händchen.
+Und plötzlich fühlte er, wie sich ihre Finger um
+die seinen krampften.</p>
+
+<p>Der Wagen hielt vor einem niederen, baufälligen
+Hause an. Die beiden merkten es nicht. Sie saßen
+stumm und starr nebeneinander und hielten sich bei der
+Hand. Keines wagte sich zu bewegen. Aber beide waren
+sie blaß, und zwischen ihnen ging der Atem schmerzhaft
+schwer.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span></p>
+
+<p>Der Kutscher kletterte von seinem Bock herunter und
+öffnete den Wagenschlag.</p>
+
+<p>»Hier is dat Palaischen; un ich kriegen eine Mark
+un fünfzig, netto, ohne ’t Trinkgeld.«</p>
+
+<p>Hans sah verwundert auf. Hannes öffnete nur müde
+die Augen. Das Mädchen war so schwach, daß ihr
+junger Begleiter sie nur mit Mühe die ausgetretene
+Stiege, die zur oberen Wohnung führte, hinaufbringen
+konnte.</p>
+
+<p>»Großmutter!« rief sie oben. Dann wankte sie und
+fiel gegen Hans’ Schulter.</p>
+
+<p>In der Stube wurde ein Stuhl zurückgestoßen. Die
+Tür öffnete sich und, eine Lampe in der weit vorgestreckten
+Hand, stand eine hagere, sehnige Greisin auf
+der Schwelle. Sie fand zuerst kein Wort. Ein schreckensstarrer
+Ausdruck war in ihre Augen getreten, und ein
+Zittern flog ihr durch Schultern und Arme, daß Lampenglocke
+und Lampenglas leise und schwirrend erklirrten.</p>
+
+<p>»Johanna! — Herr Gott, Johanna — — —«</p>
+
+<p>Sie fuhr sich mit der verarbeiteten Hand über die
+Augen. Eine Sekunde nur. Dann ging ein Ruck durch
+ihren alten Körper, sie richtete sich kerzengerade auf,
+schritt auf Hans zu und nahm ihm das Mädchen aus
+dem Arm.</p>
+
+<p>»Lassen Sie sie los! Wie kommen Sie dazu ...«</p>
+
+<p>Es war wie Gewittergrollen in dieser Stimme, und
+doch ein Ton, der wie eigenes Entsetzen klang. Hans
+aber empfand in diesem Augenblick nur das Gefühl
+eines blinden Respekts gegenüber dieser großen, kräftigen
+Greisin, deren Gesicht so dicht voll Falten und Runzeln
+stand wie ein engbeschriebener Runenstein. Er sah mit<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span>
+Erstaunen, wie die alte Frau das Mädchen aufhob und
+auf ihre Arme nahm, als wäre es ein Federchen, das sie
+trüge.</p>
+
+<p>»Ihre Enkelin,« berichtete er leise, »ist bei Hüsgens
+von einem Unwohlsein befallen worden. Eine Art
+Ohnmacht. Wenn Sie gestatten, Frau Stahl, bleibe
+ich noch hier. Vielleicht, daß Sie mich zum Arzt schicken
+möchten.«</p>
+
+<p>Die Greisin schenkte ihm keinen Blick. Mit zusammengepreßten
+Lippen, den schlaffen Leib der Enkelin
+fest an ihrer Brust, schritt sie schweren Fußes durch das
+Zimmer und verschwand in einer Nebenkammer. Hans
+war ihr in das erste Zimmer gefolgt. Hier blieb er
+stehen und wartete geduldig ihre Rückkehr ab.</p>
+
+<p>Der Raum diente als Wohnzimmer. Es war ein
+quadratisches Gelaß; eine dünn aufgerichtete Wand teilte
+es von der kleinen Küche ab. Aus der offen gebliebenen
+Tür der Nebenkammer fiel ein Lichtschein und beleuchtete
+fahl die alten Möbel. Einfache Strohstühle umstanden
+einen alten, ovalen Mahagonitisch; ein breiter Strohsessel
+mit buntbestickter, wollener Schlummerrolle schien
+das einzige Prunkstück. Auf dem Tisch lag ein schweres
+Buch, in dem die alte Frau wohl eben erst gelesen hatte.
+Hans erkannte es als die Bibel.</p>
+
+<p>Jetzt wurde die Kammertür geschlossen, und Hans
+stand im Dunklen.</p>
+
+<p>Er fand gar nichts Taktloses in der außergewöhnlichen
+Behandlung, die ihm zu teil wurde. Alles, was
+hier geschah, schien ihm so selbstverständlich und der
+ganzen Lage entsprechend, daß ihm nicht einfiel, sich
+zurückgesetzt zu fühlen. In dem Zupacken der Greisin,<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span>
+in der Art, mit der sie Beschlag auf das junge Mädchen
+legte, wie auf den Körper eines Verwundeten, den
+sie, einem altgermanischen Weibe ähnlich, der Schlacht
+da draußen entriß, hatte ein großer Zug gelegen, dessen
+Eindruck sich der so kurz beiseite Geschobene nicht zu
+entziehen vermochte. Dank, für ihn? In dem harten
+»Lassen Sie sie los« hatte die Antwort gelegen: Sie hat
+zu eurem Vergnügen beigetragen, in eurem Dienst ist
+das Kind zusammengebrochen, und an euch war es, ihr
+den Dank abzustatten. Daß ihr sie herschafftet, ist doch
+wohl die geringste Äußerung dieses Dankes.</p>
+
+<p>Der Lauschende hörte die alte Frau in der Kammer
+auf und ab gehen. Er hatte wohl eine halbe Stunde
+im Dunklen verbracht, als sich leise die Tür öffnete und
+die Greisin mit dem Licht erschien. Sie drückte behutsam
+die Tür ins Schloß und trug die Lampe auf den
+Tisch. Wortlos blieb sie an ihrem Sessel stehen und
+starrte in das Licht. Noch immer nahm sie von ihrem
+Besucher keine Notiz. Da glaubte Hans, sich bemerkbar
+machen zu müssen, und trat einen Schritt vor.</p>
+
+<p>Die alte Frau wendete den Kopf und sah ihn verständnislos
+an.</p>
+
+<p>»Ah,« machte sie dann, als ob sie sich besänne, »Sie
+sind noch da?«</p>
+
+<p>»Wie geht es dem Fräulein? Können Sie mich nicht
+zu irgend etwas gebrauchen, Frau Stahl?«</p>
+
+<p>»Sie schläft,« murmelte die Alte. »Wenn sie den
+Schlaf nachgeholt hat, wird sie gesund sein.«</p>
+
+<p>»Hat sich Fräulein Hannes überanstrengt?« fragte
+Hans leise.</p>
+
+<p>»Überanstrengt?« wiederholte die Frau, und ein<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span>
+harter Zug trat in ihr faltiges Gesicht. »Das fragen
+Sie mich? Ich sollte doch meinen, daß Sie das besser
+wissen müßten.«</p>
+
+<p>»Ich habe keine Ahnung,« stotterte Hans. »Wie
+sollt’ ich denn, Frau Stahl ...«</p>
+
+<p>»Natürlich nicht. Davon habt ihr keine Ahnung.«</p>
+
+<p>Die alte Frau ließ sich schwerfällig in ihren Sessel
+nieder. Dabei streifte ihre Hand die Bibel auf dem
+Tisch. Sie zog die Brauen zusammen, klappte das Buch
+zu und schob es von sich.</p>
+
+<p>»Wollen Sie mir nicht erklären, Frau Stahl — —?
+Weshalb das Fräulein leidet, meine ich.«</p>
+
+<p>Die alte Frau sah auf ihre Hände, die fest auf ihren
+Knieen lagen.</p>
+
+<p>»Ist das so schwer —?« murmelte sie. »Sie leidet
+am Leben. Das ist ihr Erbteil.«</p>
+
+<p>»Aber ihre Ohnmacht? Meine Fragen sind vielleicht
+ungeschickt.«</p>
+
+<p>Die Greisin hob den Kopf und sah ihn durchdringend
+an. Dann machte sie eine Bewegung und sagte: »Setzen
+Sie sich, wenn Sie müde sind. Also Sie wollen
+wissen —. Nun ja, Sie sollen es. Es wird gut für
+Sie sein; wer weiß, wofür. Da hat sie gesessen,« fuhr
+sie finster fort, »da hat sie gesessen, jede freie Stunde,
+bis in die Nacht hinein, und entworfen und gezeichnet
+nach einem kleinen Blättchen, auf dem ein Kostüm zu
+sehen war, und Stoffe hat sie angeschleppt und Zutaten
+und geschneidert, gebandelt und gebastelt. Und nie wurde
+es ihr schön und reich genug, immer wieder hat sie geändert
+und geprobt und mit einer Erregung daran gearbeitet,
+daß sie Essen und Schlafen vergaß. Ob sie<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span>
+ihr bißchen Kraft nötig hatte! Sechs Stunden im Tag
+sitzt sie im Atelier des alten, biblische Geschichten malenden
+Professors Kehren. Ich arbeite seit zehn Jahren
+in dem Hause und kenne die Leute. Einmal hat sie
+als Kind dem Professor zu einem Engelsköpfchen gestanden.
+Aber ich hatte Furcht wegen ihrer leicht
+erregten Phantasie und litt es nicht mehr. Doch der
+Hang und Drang nach dem Schönen, nach dem Vornehmen
+stak in ihr. Eines Abends, es war im Juni
+oder Juli, kommt sie atemlos nach Hause und erzählt
+mir, daß sie bei Hüsgens lebende Bilder stellen wollen.
+Sie soll die Fürstin darstellen und muß Gewänder haben.
+Und nun trotzte sie, und nun schmeichelte sie, und dann
+lief sie zum Professor und machte mit ihm aus, daß sie
+ihm jeden Tag zu einem großen Historienbilde stehen
+wollte, und ich gab es endlich zu, daß sie sich das Geld
+für ihre Kostüme verdiente, denn ich konnte nicht mehr
+gegen sie an. Das steckt im Blut.«</p>
+
+<p>Die alte Frau grübelte vor sich hin, als ob sie an
+andere Zeiten dächte.</p>
+
+<p>»Sie hat eine Erziehung gehabt, wie junge Mädchen
+aus gutem Hause,« fuhr sie nach einer Pause fort.
+»Das war vielleicht falsch und paßte nicht mehr für
+unsere jetzigen Verhältnisse. Aber es war das Kind meiner
+Tochter, die bessere Tage gesehen hatte, es war mein
+Fleisch und Blut, und auch ich« — sie lächelte trübe
+vor sich hin — »auch ich hatte in der Jugend die
+Sonne gesehen. Bis mein Mann starb. Bis ich als
+junge Beamtenfrau eine Witwenpension erhielt, die zu
+wenig zum Leben und zu viel zum Sterben war. Weshalb
+ich nichts anderes unternahm, weshalb ich so weit<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span>
+heruntergestiegen bin? Das — das — das steht auf
+einem anderen Blatt. Meine Tochter starb und hinterließ
+mir — ihre kleine Johanna. Und einen Stolz
+hatte ich doch behalten, einen Stolz, und wenn es der
+Hochmut aus alten Tagen war: ich wollte sie erziehen,
+wie bisher alle aus unserer Familie erzogen worden
+waren. Sie sollte mir nicht unter das Proletariat, weil
+bei Mutter und Großmutter das Unglück zu Besuch gekommen
+war. Wie jedes andere Bürgermädchen sollte
+sie werden, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das
+bißchen Unterhaltung bei Hüsgens hab’ ich ihr gerne
+gegönnt. Es ist ein rechtes Haus. Nicht zu hoch hinaus
+und doch gut bürgerlich. Dort gehen weder Lumpen
+aus und ein, noch Barone. Und nun kommt sie mir
+ins Haus gestürzt und alles in ihr ist auf den Kopf
+gestellt. Sie lacht, sie tanzt, sie singt. Dann spricht sie
+stundenlang wieder kein Wort. Endlich bekam ich’s doch
+heraus. Ihr ganzes verändertes Wesen, ihr neu erwachter
+Lernfleiß, ihr Streben, auf ihre Sprache zu
+achten, auf ihr Benehmen, auf ihre Kleidung, das war
+alles ja so deutlich, daß sie mir gar nicht erst lachend
+zu versichern brauchte, ein Prinz stünde mit in den
+lebenden Bildern, gegen den Hüsgens und all ihre
+Bekannten Bauern seien, und nun müßte sie sorgen,
+daß sie neben ihm bestehen könnte und von ihm nicht
+nur geduldet oder gar ausgelacht würde. Damit
+begann das tolle Drauflosstürmen auf die Gesundheit,
+die fieberhafte Unruhe, der ich nicht mehr gewachsen
+war. Und jeder Groschen, den sie sich verdiente und
+den wir zu ihrer Kräftigung hätten anwenden können,
+er flog weg für den Flittertand, mit dem sie sich<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span>
+für ein paar Stunden in eine andere Welt täuschen
+wollte.«</p>
+
+<p>Die Greisin war erregter geworden. Ihre Hände
+zitterten, als wollte sie einen nahenden Verlust aufhalten.
+Jetzt trat sie dicht an den jungen Mann heran.</p>
+
+<p>»Hören Sie,« sagte sie und ihre Stimme klang heiser,
+»ich <em class="gesperrt">will</em> aber nicht, daß sie sich täuscht. Ich habe
+genug an den Täuschungen im Leben. Ich will nicht,
+daß mit ihr gespielt wird, und daß sie an Einbildungen
+zu Grunde geht. Dazu ist sie mir zu lieb, verstehen
+Sie mich? Und wenn Sie auch dieser Prinz sind, gerade
+deshalb sage ich es Ihnen! Hier ist ein Haus, das
+wieder aufwärts will! Bringen Sie es mir nicht herunter!
+Die Kleine da — die Kleine — — ah, was
+rede ich nur alles!«</p>
+
+<p>»Frau Stahl,« sagte Hans weich. Er wußte nichts
+anderes, als die Hand der alten Frau zu nehmen.</p>
+
+<p>Sie achtete nicht darauf. Aber er fühlte an dem
+Zucken ihrer harten, verarbeiteten Finger, daß sie in
+ihrem Inneren Empfindungen, Worte niederkämpfte.</p>
+
+<p>»So sprechen Sie doch nur weiter, Frau Stahl.
+Ich bin Ihnen ja so dankbar.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn an. Dann machte sie ihre Hand los
+und setzte sich wieder in den Sessel. Das Licht war
+heruntergebrannt. Ein Helldunkel, das die Schatten
+der Gegenstände vergrößerte, herrschte in der alten
+Stube. Die alte Frau erschien wie eine Riesin, wie
+die Überlebende eines einstigen Geschlechtes.</p>
+
+<p>»Junger Herr — —« sagte sie sinnend.</p>
+
+<p>»Ich heiße Hans Steinherr.«</p>
+
+<p>»Gut, gut. Die Steinherrs sind reiche Leute. Ich<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span>
+kannte sie noch, als sie so klein waren wie wir jetzt.
+Alles im Leben läuft im Kreis. Wir dürfen uns nur
+nicht ganz herausschleudern lassen. Ach, das Alter macht
+geschwätzig. Doch ich habe auch die Jugend nicht vergessen.
+Ich verstehe mit ihr zu empfinden, wenn ich
+Ihnen auch hart und verknöchert erscheine. Ich will
+der Jugend nichts verkürzen, auch der Johanna nicht,
+so wenig, wie ich es ihrer Mutter getan habe. O Gott,
+die paar kurzen Jährchen der Lebensfreude! Aber sich
+nicht fortwerfen, nicht sich fortwerfen, oder es muß um
+ein Großes, ein Heiliges sein. Ich habe nie mehr davon
+gesprochen, aber Ihnen sag’ ich es, obwohl Sie so
+jung sind. Weil Sie mir vorhin danken wollten, weil
+ich es Johannas wegen tue. Meine Tochter — ihre
+Mutter — war seit Jahren verlobt. Als sie heiraten
+wollten, kam der Krieg. Er mußte mit, nach Frankreich.
+So etwas Herzzerreißendes habe ich nicht wieder
+erlebt. In den letzten Tagen mieden sie sich, sie hatten
+Furcht, sich zu berühren, und wenn sie sich in die Arme
+stürzten, schrie die Verzweiflung aus ihnen. Nicht, als
+ob der Mann Angst vor dem Kriege gehabt hätte. Er
+war Offiziersaspirant und nicht feige. Aber eine Ahnung
+lastete auf ihnen, sie würden sich nicht wiedersehen, sie
+würden sterben müssen, ohne für ihr treues, jahrelanges
+Warten belohnt zu sein. Sie wollten zu den Massentrauungen.
+Doch da rückte das Regiment schon aus.
+Den Jammer versteht nur eine Frau, und ich verstand
+ihn. Ich, ja ich, die Mutter, gab ihnen meinen Segen.
+Acht Tage darauf fiel der Mann bei Spichern.«</p>
+
+<p>Wieder saß die alte Frau in sich gebückt und versonnen
+da. Dann fuhr sie langsam fort.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span></p>
+
+<p>»Das Kind war die Johanna — —. Ein Schmerzenskind.
+Denn meine Tochter starb bald danach, und ich
+wurde die Mutter. Und deshalb, sehen Sie, deshalb
+nahm ich die geringste Arbeit auf, griff ich zu allem
+und jedem, was mir Verdienst versprach, um einst rein
+dazustehen vor meinem Herrgott, damit er meine einstige
+Menschenschwäche als Menschenliebe ansehen möge. Deshalb
+lese ich immer wieder in jenem Buche, das von
+der Liebe handelt, und deshalb will ich nicht, daß meine
+Rechnung und die Heilige Schrift betrogen werde.« Sie
+schöpfte tief Atem. »Solange ich lebe — nicht!«</p>
+
+<p>Die Greisin richtete sich auf. Ihr Schatten wuchs
+bei dem niederen Licht groß bis an die Decke.</p>
+
+<p>»Das war’s, was ich Ihnen sagen wollte. Und nun
+stören Sie uns nicht länger.«</p>
+
+<p>»Frau Stahl —« bat Hans. Er hatte so viel zu
+sagen, aber er fand die Worte nicht vor dieser Frau.</p>
+
+<p>»Gehen Sie. Aber so gehen Sie doch!«</p>
+
+<p>Da ging er schweigend.</p>
+
+<figure class="w10 figcenter">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-125.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Sechstes_Kapitel_Buch_1">Sechstes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Es war eine Sonntagsstille. Die Nachmittagssonne
+schmeichelte sich an den Kanten der leinenen Vorhänge
+vorbei in die kleine Kammer und lag nun, als hätte
+sie ihren Willen erreicht, golden und friedlich auf dem
+weißen Bette. Hannes saß aufrecht in den Kissen. Sie
+hatte das gelöste Haar über den Arm gebreitet und ließ
+die Enden in der Sonne schimmern. Ihre Augen besaßen
+wieder den alten Glanz, auf den Wangen zeigte
+sich eine feine Röte.</p>
+
+<p>Ihre Hände spielten, aber ihre Gedanken waren nicht
+bei dem Spiel.</p>
+
+<p>»Großmutter!« rief sie nach einer Weile leise.</p>
+
+<p>Die alte Frau, die im Nebenzimmer ein Nickerchen
+gehalten hatte, kam herbei.</p>
+
+<p>»Hab’ ich dich aufgeweckt, Großmutter? Nicht? —
+Du, Großmutter, dann bleib doch bei mir sitzen. Willst
+du?«</p>
+
+<p>»Aber gewiß, Kind.«</p>
+
+<p>»Du, Großmutter — — — bist du mir arg böse?«</p>
+
+<p>»Ach, Unsinn. Es ist ja nichts passiert.«</p>
+
+<p>»Es ist nichts passiert — —« wiederholte das Mädchen
+und strich über ihr sonnenglühendes Haar.</p>
+
+<p>Die alte Frau rückte die Kissen zurecht und zupfte<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span>
+und glättete an den Decken. Dann zog sie einen Stuhl
+heran und setzte sich nieder. Sie wartete.</p>
+
+<p>»Hast du keine Angst gekriegt, Großmutter, als man
+mich brachte?«</p>
+
+<p>Die Greisin machte eine jähe Bewegung. Aber sie
+bezwang sich und lächelte.</p>
+
+<p>»Angst? Vor was denn? Ich kenn’ doch meine
+Johanna.«</p>
+
+<p>»Du sagst das so — so — —. Was meinst du
+denn damit?«</p>
+
+<p>»Krank werden kann jeder. Dabei ist nichts Böses.
+Die Krankheiten stehen in Gottes Hand, das Böse in
+der unseren. Siehst du, so meint’ ich es. Angst hat
+man nur vor dem Bösen.«</p>
+
+<p>»Und das — das traust du mir nicht zu, Großmutter?«</p>
+
+<p>»Nein, Kind, das trau’ ich dir nicht zu. Nicht, weil
+ich dich für so viel besser hielte als andere Menschen,
+sondern einfach darum, weil du es deiner Mutter wegen
+nicht darfst.«</p>
+
+<p>Da schwiegen sie beide.</p>
+
+<p>»Sag,« meinte dann das Mädchen sinnend, »Mutter
+war wohl sehr schön?«</p>
+
+<p>»Sie war schön und gut. Gut ist viel mehr. Das
+war sie.«</p>
+
+<p>»Und — und Vater?«</p>
+
+<p>»Dein Vater, mein Kind, war ein Mann von Ehre.
+Er verdiente, daß deine Mutter ihn über alles liebte.«</p>
+
+<p>»Und doch — und doch — —?«</p>
+
+<p>»Und doch?« fragte die Greisin und hielt den
+Atem an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span></p>
+
+<p>»Gelt, Großmutter,« rief das Mädchen leidenschaftlich
+und schlang die Arme um den Nacken der Alten,
+»gelt, Großmutter, ich brauch’ mich nicht zu schämen?«</p>
+
+<p>Die alte Frau preßte den Kopf der Jungen fest an
+ihre Brust. Unablässig streichelte ihre Hand den Scheitel
+und die zuckenden Schultern der Enkelin und bewegten
+sich lautlos ihre Lippen.</p>
+
+<p>»So sprich doch, Großmutter, so sprich doch nur.«</p>
+
+<p>»Kind, ich habe dir doch gesagt, daß deine Mutter
+gut war. Was sie tat, war Güte. Und die Reinheit
+der Güte verstehen die Menschen nicht. Nein, bei Gott
+dem Allmächtigen, du brauchst dich nicht zu schämen, du
+kannst stolz auf deine Mutter sein — wenn du nur stolz
+auf dich selbst bist.«</p>
+
+<p>»Du, Großmutter,« stieß das Mädchen hervor, »ich
+glaube, ich könnte es auch. So lieben wie Mutter.«</p>
+
+<p>Die Alte erwiderte nichts. Aber mit beiden Händen
+umspannte sie den Kopf der Enkelin und drückte ihn
+fest an sich. Eine atemlose Stille war um sie, die Sonne
+kroch langsam über die weiße Decke heran und überströmte
+das bange Alter und die bange Jugend.</p>
+
+<p>»Johanna,« sagte die Greisin, »hör mich einmal an,
+Johanna. Wir haben alle ein Schicksal zu erfüllen.
+Dagegen können wir nicht an, und wir Frauen zumal
+nicht. Aber <em class="gesperrt">wie</em> wir es erfüllen, darauf kommt es an.
+Was wir hineintragen und mit welchen Gedanken wir
+es tun. Verstehst du mich auch recht? Was bei dem
+einen Sünde ist, kann bei dem anderen zur Tugend
+werden. Aber immer nur bei einem, nicht bei allen!
+Nur sich kein Vorbild aufstellen wollen, denn es gibt
+keine Beispiele für uns. Was du tust, das tue, weil du<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span>
+es <em class="gesperrt">mußt</em>, nicht weil du es magst. Und was du mußt,
+das ist: dir selber treu sein. Wir können von den
+Menschen keine größere Wertschätzung verlangen, als die
+wir uns selber beilegen.«</p>
+
+<p>»Aber die Liebe, Großmutter ...?«</p>
+
+<p>»Die Liebe, mein dummes Mädchen, ist der Stolz
+auf den Glauben des Geliebten.« — —</p>
+
+<p>Das Mädchen hatte sich losgemacht. Mit gefalteter
+Stirn lag es in den Kissen und starrte in die Luft.</p>
+
+<p>»Ist das wahr, Großmutter?«</p>
+
+<p>»Es <em class="gesperrt">ist</em> wahr.«</p>
+
+<p>»Und wenn man den Stolz nicht hat?«</p>
+
+<p>»So ist die Liebe eine Lüge. Und Lügen haben kurze
+Beine.«</p>
+
+<p>»Du meinst, man geht daran zu Grunde. — — Ach,
+das Sterben kann nicht so schwer sein.«</p>
+
+<p>»Wenn andere um uns jammern, nicht. Aber wenn
+man sich selbst bejammert.«</p>
+
+<p>»Großmutter,« sagte das Mädchen mit einem plötzlichen
+Ernst, der eine Feierlichkeit über ihre Züge goß,
+»ich glaube, ich habe den Stolz.«</p>
+
+<p>»Ich habe mich immer darauf verlassen, Johanna,«
+erwiderte die Greisin.</p>
+
+<p>»Soll ich dir die Hand darauf geben? Hier hast du sie.«</p>
+
+<p>Sie ergriff die hartgearbeitete Hand der alten Frau
+und preßte sie mit ihren weichen Fingern.</p>
+
+<p>»Ich werde dir keine Unehre machen, Großmutter.«</p>
+
+<p>Die Alte nickte. Es war ihr feucht in die Augen
+gekommen, und sie wandte den Kopf.</p>
+
+<p>»Was ist das für ein Sonntag,« murmelte sie.
+»Sieh nur, all die Sonne.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p>
+
+<p>»Laß noch mehr herein, Großmutter. Ich kann so
+viel vertragen.«</p>
+
+<p>Und während die alte Frau die Vorhänge beiseite
+schob, kam endlich die Frage, die sie erwartet hatte.</p>
+
+<p>»Hat sich denn keiner nach mir erkundigt?«</p>
+
+<p>Aber die Frage rief jetzt nur noch ein stilles Lächeln
+auf den zerfurchten Zügen wach. Die Gemeinsamkeit
+des Blutes hatte sich dargetan. Der Handschlag der
+Enkelin galt.</p>
+
+<p>»Der junge Herr Steinherr war in der Frühe da.
+Aber du warst noch gar nicht wieder aufgewacht. Da
+hat er etwas für dich abgegeben und gesagt, er wollte
+gegen Abend noch einmal vorsprechen.«</p>
+
+<p>»Gott, was für ein Getue.«</p>
+
+<p>»Mädel, Mädel,« lachte die Frau, »aus einem Fehler
+fällst du in den anderen. Muß ich denn mit einem Male
+deine eigenen Freunde gegen dich in Schutz nehmen?«</p>
+
+<p>»Ach was, Freunde! Aufdringlich ist er!«</p>
+
+<p>»Du — —,« sagte die alte Frau mahnend. »Vorläufig
+hast du allen Grund, ihm dankbar zu sein. Aber
+ich merke schon, du wirst wieder gesund. Das war soeben
+der echte Hannes.«</p>
+
+<p>Hannes drehte sich auf die Seite. Sie war flammend
+rot geworden. Dann, nach einigen Minuten, klang
+es halb zag, halb trotzig aus dem Kissen: »Was hat
+er denn für mich abgegeben? Eine Gratulationskarte?«</p>
+
+<p>Frau Stahl ging in das Wohnzimmer und kehrte
+zurück. Auf den bloßen Arm gestützt, sah ihr das junge
+Mädchen gespannt entgegen. Keine Spur mehr das
+ernste Wesen von vorhin, ganz das erwartungsfrohe
+Kind.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span></p>
+
+<p>»Rosen,« rief sie jubelnd und streckte die Hände aus,
+»Rosen, ein ganzer Arm voll. Großmutter, das sind
+Maréchal Niel und das sind La France! Himmel, sind
+die schön! Und das — was ist denn das? Du,« sagte
+sie ganz feierlich, »das ist ja eine Bonbonnière, denk
+mal, von Branscheidt. Feineres gibt’s in ganz Düsseldorf
+nicht.«</p>
+
+<p>Sie breitete die Herrlichkeiten auf der Bettdecke vor
+sich aus und staunte sie an. Dann schob sie die Konfitüren
+zusammen und reichte sie der Großmutter.</p>
+
+<p>»Da, nimm nur, das ist was für dich. Ich darf
+ja jetzt doch nicht. Aber sofort essen.«</p>
+
+<p>»Ich heb’ sie auf, Kind, bis später.«</p>
+
+<p>»Ach, dann macht’s keinen Spaß mehr. So was
+Extraes muß immer extra auf der Stelle genossen werden.
+Dann schmeckt’s ganz anders. Zeig mal. Einen
+Bonbon kannst du mir doch abgeben.«</p>
+
+<p>Sie stopfte sich eine große kandierte Frucht in den
+Mund und ließ die Großmutter ihre Schätze in Sicherheit
+bringen. Unterdes band sie den Rosenstrauß auseinander,
+roch an jeder einzelnen Blume, ordnete sie nach
+der Farbe, nach dem Duft, legte sie paarweise, Rosa und
+Gelb, zusammen, um endlich alle wieder zu einem großen
+Buschen zu vereinen und sie wie eine Garbe in den
+Arm zu legen. Die Wange hatte sie tief in die Fülle
+der Blütenkelche geschmiegt.</p>
+
+<p>Als die Großmutter nach einer Weile eintrat, lag
+das Mädchen wie eine Rose unter Rosen. Schnell zog
+sie sich zurück, um dem Kinde die heimliche Freude nicht
+zu stören. Sie hatte ein merkwürdig junges Herz, die
+alte Frau, die einst ihrer Tochter den Segen gab, damit<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span>
+sie den blutroten Tag von Spichern leichter ertragen
+könne.</p>
+
+<p>Daß sie heute immer ihrer Tochter gedenken mußte —</p>
+
+<p>War es ein Unrecht gewesen — damals —?</p>
+
+<p>Ein heller Schein flog über der Alten Gesicht. Reue?
+Wofür? Nur Sünder bereuen. Sie aber hatte aus
+tiefster Seele gehandelt, und die Seele ist ein Stück
+von Gott und spricht wahrer als die Gesetze der Menschen.</p>
+
+<p>Die Greisin suchte ihre Brille hervor, rückte den
+Strohsessel dicht an den Tisch und schlug die Bibel auf.
+Sie traf die erste Epistel Pauli an die Korinther. Die
+Blätter teilten sich wie von selber bei dem 13. Kapitel,
+als kannten sie seit langem die Zufluchtstätte der alten
+Frau. Stumm und ernst blickte sie in das Buch. Dann
+las sie mit halblauter Stimme die gnadenreichen Worte
+des Apostels, die sie mit ihrem starken Menschensinn
+menschlich gerade deutete; das monotone Gemurmel klang
+wie ein Gebet, und über das Gebet hinaus wie ein
+Glaubensbekenntnis, und es war eine große Feiertagshaltung.</p>
+
+<p>»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen
+redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend
+Erz und eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen
+könnte, und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis,
+und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte,
+und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.
+Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und
+ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht,
+so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig
+und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt
+nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht. Sie stellet sich nicht<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span>
+ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässet sich nicht
+erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu. Sie freuet sich
+nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit.
+Sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles,
+sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, so doch
+die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen
+aufhören werden, und die Erkenntnis aufhören wird.
+Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen
+ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene,
+so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein
+Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug
+wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber
+ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir
+sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort;
+dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne
+ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie
+ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe,
+diese drei; aber die Liebe ist die größeste unter ihnen.«</p>
+
+<p>Die alte Frau nahm die Brille ab und lehnte sich
+zurück. Sie lächelte. Wer wollte mehr wissen als sie,
+was gut und böse sei, wenn unser Wissen Stückwerk
+ist? Wer, der nicht erkannt hatte, daß die Liebe das
+Größte ist? — — Die Liebe! — Die alte Frau erhob
+sich. Das Lächeln machte einem feierlichen Ernste Platz.</p>
+
+<p>»Sie freuet sich aber der <em class="gesperrt">Wahrheit</em>!« sagte sie
+mit starker Stimme. »Das ist es. Die Wahrheit allein
+gibt den Ausschlag. Dann mag sein, was will: wir taten
+das Unsere.«</p>
+
+<p>Es wurde an die Tür geklopft, die zur Treppe führte,
+und die Alte ging, um zu öffnen. Draußen stand Hans
+Steinherr.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span></p>
+
+<p>»Treten Sie ein,« sagte sie freundlich, »meine Enkelin
+ist wach und auch wieder wohl.«</p>
+
+<p>»Sie sind heute so gütig zu mir, Frau Stahl.« Der
+junge Mann drückte dankbar die dargebotene Hand.
+»Daran erkenn’ ich schon, daß es Fräulein Johanna
+besser gehen muß.«</p>
+
+<p>Er hatte unwillkürlich an Stelle des kindischen
+»Hannes« Johanna gesagt.</p>
+
+<p>»Es ist Sonntag heute,« entgegnete die Greisin
+einfach.</p>
+
+<p>»Nicht wahr? Das ist wirklich ein Sonnentag! Alle
+Blumen strecken die Köpfe hoch.«</p>
+
+<p>»Sie haben schon wieder Ihren Garten geplündert?
+Sie müssen nichts übertreiben.«</p>
+
+<p>»Nur drei Rosen. Es waren die schönsten, und sie
+baten so sehr, für ihr Blühen belohnt und mitgenommen
+zu werden.«</p>
+
+<p>Frau Stahl sah den Schmeichler prüfend an.</p>
+
+<p>»Sie haben die Worte hübsch in der Gewalt. Das
+kleidet Sie. Hoffentlich tönt es unter dem Kleid
+gerade so.«</p>
+
+<p>Hans verstummte. Aber er blickte offen zu der
+Sprechenden auf.</p>
+
+<p>»Ich werde meiner Enkelin sagen, daß Sie da sind.«</p>
+
+<p>Einige Augenblicke später stand er in ihrer Kammer.</p>
+
+<p>»Guten Tag, Herr Steinherr,« tönte eine zage
+Stimme, die gern einen festeren Beiklang gezeigt hätte.</p>
+
+<p>Da trat er an das Bett und reichte ihr seine Rosen.
+Zu sehen vermochte er immer noch nicht. Er fühlte,
+wie seine Hand scheu ergriffen wurde. Und nun sank
+der Schleier.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span></p>
+
+<p>»Guten Tag, Fräulein Hannes,« sagte er rasch.
+»Gottlob, daß Sie wieder gesund sind!«</p>
+
+<p>»Ach,« meinte sie und vermied seinen Blick, »das
+bißchen von gestern. Unkraut vergeht nicht.«</p>
+
+<p>»Unkraut?« machte er staunend. Ihre ganze Lieblichkeit
+wurde er gewahr. Wie sie dalag, bis unter das
+Kinn zugeknöpft in dem weißen Linnen, das leuchtende
+Haar glatt heruntergestrichen zu beiden Seiten der zartgezeichneten
+Wangen, das leinene Hemdchen Hals und
+Brust bedeckend. Und vor ihr lagen die Rosen, die er am
+Morgen hergetragen hatte, und sie sagten so wenig, so gar
+nichts; wie kleine Dienerinnen vor einer kleinen Prinzessin.</p>
+
+<p>»Unkraut?« wiederholte er und schüttelte den Kopf.
+»Wie kann man nur so was aussprechen!«</p>
+
+<p>»Sie scherzt,« sagte Frau Stahl. »Ganz so gering
+schätzt sich Johanna doch nicht ein.«</p>
+
+<p>Da wurde die kleine Rekonvaleszentin ausgelassen.</p>
+
+<p>»Buh!« machte sie und streckte ihrem Besucher so
+plötzlich ihr Köpfchen entgegen, daß er zurückfuhr. Dann
+warf sie sich lachend zurück. »Ich bin ein Ungetüm,
+gelt? Ein schreckliches Menschenkind! Antworten Sie,
+auf der Stelle!«</p>
+
+<p>»Wahrhaftig,« rief Hans begeistert, »das sind Sie!
+Aber ich glaube, mehr ein schrecklich <em class="gesperrt">liebes</em> Menschenkind.
+Hab’ ich recht, Frau Stahl? Sie verstellt sich
+nur immer, damit’s keiner merkt.«</p>
+
+<p>»Jawohl, ihre Unarten auch noch beloben! Na,
+nun setzen Sie sich nur nieder. Einen Augenblick dürfen
+Sie schon hierbleiben.«</p>
+
+<p>»Großmutter,« sagte Hannes und lächelte die Alte
+an, »trinken wir denn heute nachmittag keinen Kaffee?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p>
+
+<p>»Ach so,« meinte die Greisin trocken. »So hatt’st
+du dir das gedacht?«</p>
+
+<p>»Herr Steinherr ist doch zu Besuch gekommen,«
+schmollte die Kleine und zupfte an den Rosen.</p>
+
+<p>»Aber ich bitte, Frau Stahl,« warf der junge Besucher
+verlegen ein, »ich möchte Sie nicht stören.«</p>
+
+<p>»Freilich,« stieß das Mädchen trotzig heraus, »dann
+— dann — wenn es Herrn Steinherr geniert, bei uns
+Kaffee zu trinken. Es ist ja auch gar kein richtiger
+Kaffee. Wir trinken ihn nur so.«</p>
+
+<p>»Fräulein Hannes!«</p>
+
+<p>Hans Steinherr war empört.</p>
+
+<p>»Das war schlecht,« fügte er nach einer Weile hinzu.
+»Das durften Sie mir ganz gewiß nicht sagen.«</p>
+
+<p>Sie antwortete nicht, aber sie zog mit einer hastigen
+Bewegung ihr Haar bis über die Augen zusammen.</p>
+
+<p>»Sie werden unseren Kaffee schon mögen,« meinte
+die alte Frau. »Wollen Sie mittun?«</p>
+
+<p>»So viel Freundlichkeit hab’ ich ja gar nicht erwartet,«
+murmelte Hans.</p>
+
+<p>»Ich werde das Geschirr hereinholen. Dann trinken
+wir mit Johanna zusammen.«</p>
+
+<p>Sie ging ruhig hinaus, um den Kaffee aufzubrühen.
+Bald vernahm man ihr Hantieren mit Töpfen und
+Tassen.</p>
+
+<p>Hans Steinherr blickte zu seiner kleinen feindlichen
+Freundin hinüber. Er konnte unter dem dichten Haarschleier
+nichts von ihrem Gesicht erkennen. Nur die im
+Haar verkrampften Fäustchen waren sichtbar.</p>
+
+<p>»Fräulein Hannes,« sagte er recht knabenhaft weich.</p>
+
+<p>Sie regte sich nicht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span></p>
+
+<p>»Sie schämen sich wohl, Fräulein Hannes? Dann
+ist ja alles wieder gut.«</p>
+
+<p>Keine Antwort. Sie lag wie eine Bildsäule. Nur
+über ihrem Munde zitterte das Haar.</p>
+
+<p>Da wagte er es, ihre Hände zu fassen. Und die
+Fäustchen, die so fest verkrampft schienen, zeigten sich so
+willfährig, nachzugeben, und er schob sie sacht beiseite
+und strich ihr ganz sanft das Haar aus dem Gesicht.</p>
+
+<p>»Sie haben ja Tränen in den Augen,« sagte er leise
+und tupfte mit zartem Finger die Tropfen fort.</p>
+
+<p>Sie ließ alles mit sich geschehen, aber sie wich auch
+seinem Blick nicht mehr aus.</p>
+
+<p>»Buh!« machte er plötzlich, wie sie vorher, und
+streckte mit einer lustigen Grimasse den Kopf gegen
+sie aus.</p>
+
+<p>Erschrocken fuhr sie zusammen. Und dann lachte sie,
+lachte, daß es durch die Kammer schmetterte, in einem
+Lachkrampf, der sich nicht bändigen lassen wollte. Und
+Hans sekundierte ihr mit seinem jungen, durchdringenden
+Bariton, und wenn der eine aufhören wollte, begann
+der andere von neuem, und beide wußten nicht mehr,
+worüber sie lachten. Über ein Nichts, über alles —
+das war ihnen Nebensache. Bis Großmutter Stahl
+energisch gegen die Türe pochte.</p>
+
+<p>»Sind Sie — noch — ärgerlich auf mich?« schluchzte
+Hans.</p>
+
+<p>»Och,« schluchzte Hannes und rieb sich mit dem Handrücken
+die Augen, bis sie brannten, »ich — ich hab’
+mich ja nur — über mich selber — geärgert.«</p>
+
+<p>»Dann — dann — könnten wir doch wirklich —
+gut’ Freund sein.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p>
+
+<p>»Ja — — —«</p>
+
+<p>Da kam Frau Stahl mit dem Nachmittagskaffee.
+Schnell sprang Hans zu, um ihr behilflich zu sein. Er
+zog aus der Ecke einen kleinen Tisch herbei, deckte das
+Tuch darüber, das Frau Stahl unterm Arme trug und
+half ihr, die Sonntagsgenüsse aufbauen. Aniszwieback,
+gezuckerten Zwieback und Burger Brezeln. Die rüstige
+Frau stopfte ihrem Enkelkind ein paar Kissen in den
+Rücken, und dann saßen sie zu dritt in der kleinen
+Kammer und griffen wacker zu.</p>
+
+<p>»Schmeckt Ihnen der Kaffee?« fragte die Kleine mit
+größter Unbefangenheit.</p>
+
+<p>»Einfach fürchterlich!« erwiderte Hans.</p>
+
+<p>»Das wundert mich,« fuhr die Kleine in aufrichtig
+klingendem Tone fort, »Großmutter nimmt aber bestimmt
+nur die beste Zichorie.«</p>
+
+<p>»Ich hatte es auf gebrannte Eicheln taxiert,« entgegnete
+Hans verbindlich und bat um eine neue Füllung.
+»Wir haben soeben Freundschaft geschlossen, Frau Stahl.
+Sie merken es wohl am Ton.«</p>
+
+<p>»Die Freundschaft ist immer die beste, die sich eines
+guten Tones befleißigt,« sagte die alte Frau. »Das
+hält die Gewöhnlichkeit der Gewöhnung zurück, den
+schlimmsten Feind der Freundschaft.«</p>
+
+<p>Hans bröckelte stumm an seiner Brezel. Wie einfach
+und sicher die Greisin sprach. Dieser Frau glaubte
+er es, daß sie einst die Würde der Beamtenfrau ruhig
+mit der Stellung einer Lohnarbeiterin vertauschen konnte,
+ohne auch nur die Spur von sich selbst zu verlieren.
+Wie beneidenswert seine kleine Freundin war, daß sie
+eine solche Erzieherin hatte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p>
+
+<p>»Hat man Ihnen denn gar nichts aufgetragen?«
+hörte er plötzlich die Stimme des Mädchens.</p>
+
+<p>»Aufgetragen?« fragte er und richtete sich auf. »Wer
+sollte mir denn etwas aufgetragen haben?«</p>
+
+<p>»O, ich dachte nur — —« machte Hannes gedehnt.
+»Sie waren also nicht bei Hüsgens?«</p>
+
+<p>»Gewiß, heute vormittag.«</p>
+
+<p>»Und sie haben sich nicht nach mir erkundigt?«</p>
+
+<p>Hans wurde ein wenig verlegen und suchte nach
+Worten. Sie bemerkte es sofort.</p>
+
+<p>»Geben Sie sich keine Mühe,« sagte sie spöttisch,
+»ich bin nicht so feinfühlig.«</p>
+
+<p>»Das sind Sie wohl,« warf er eifrig ein. »Aber
+Sie wissen ja selber, daß der edle Willibald alles andere
+eher ist. Ich fürchte, seine Schwester nicht minder.
+Doch daraus dürfen Sie sich nichts machen.«</p>
+
+<p>»Tu’ ich auch nicht. Aber etwas muß doch gesagt
+worden sein.«</p>
+
+<p>»Nun ja,« gab er zögernd zu, »Willibald hatte
+Angst, seine schönen Veranstaltungen könnten ihm in
+die Brüche gehen — so sagte er wörtlich — und er
+schalt auf das unzeitgemäße Krankwerden.«</p>
+
+<p>»Also eine gute Besserung hat er mir nicht wünschen
+lassen,« sagte sie und zog die Stirn in Falten.</p>
+
+<p>»Er hat es wohl nur vergessen,« begütigte Hans.
+»Sie kennen doch seine Art.«</p>
+
+<p>»Dann soll er auch meine Art kennen. Ich werde
+ihn und seine schöne Veranstaltung auch vergessen.«</p>
+
+<p>»Sie wollen nicht mehr mittun?« rief Hans überrascht.
+»Ach nein, Fräulein Hannes, das kann nicht Ihr Ernst
+sein. Wir haben uns doch alle so auf den Abend gefreut.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span></p>
+
+<p>»Und ich tu’ doch nicht mit,« beharrte sie trotzig.
+»Er soll sich suchen, wen er will. Ich lass’ mich so
+nicht behandeln. Von dem am wenigsten, diesem Bierwirtsjungen!«</p>
+
+<p>»Johanna,« verwies Frau Stahl sie zürnend.</p>
+
+<p>»Laß nur, Großmutter, ich tu’s doch nicht.«</p>
+
+<p>»Fräulein Hannes,« sagte Hans niedergeschlagen,
+»was soll denn aber aus dem schönen Abend werden?«</p>
+
+<p>»Och, der Abend läuft uns nicht weg. Wir unternehmen
+was für uns.«</p>
+
+<p>»Für uns?«</p>
+
+<p>»Nun ja. Großmutter, Sie und ich. Oder — paßt
+Ihnen die andere Gesellschaft besser?«</p>
+
+<p>»Darauf gebe ich Ihnen jetzt keine Antwort mehr.
+Das ist gerade wie vorhin mit dem Kaffeetrinken.«</p>
+
+<p>»Sie sind einverstanden!« lachte sie, ohne auf seine
+beleidigte Miene zu achten. »Großmutter, du auch?
+Also nächsten Sonntag? Wohin wollen wir denn? Nach
+Schloß Benrath? Ja, bitte, nach Schloß Benrath!«</p>
+
+<p>Sie beugte sich vor, schlang die Arme um den Hals
+der alten Frau und küßte sie auf den Mund. Frau
+Stahl erhob sich schnell.</p>
+
+<p>»Jetzt ist es aber Zeit, Herr Steinherr,« sagte sie
+mit freundlichem Ernst. »Das Kind wird viel zu unruhig.«</p>
+
+<p>Sofort stand Hans auf. Man verabredete, sich am
+nächsten Sonntag nachmittag zwei Uhr am Bahnhof zu
+treffen. Bei gutem Wetter sollte der Rückweg zu Fuß
+angetreten werden. Hannes lag ganz still, mit geschlossenen
+Augen, im Bette, als Hans Steinherr sich
+verabschiedete. Sie gab ihm kaum die Hand.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p>
+
+<p>»Ich kann Sie leider nicht auffordern, in der Woche
+noch einmal vorzusprechen,« sagte die alte Frau, als
+sie Hans die Tür im Vorzimmer öffnete. »Ich bin die
+ganze Woche draußen auf Arbeit.«</p>
+
+<p>»O, Frau Stahl, ohne Ihren Willen würde ich es
+auch nicht wagen.«</p>
+
+<p>»Es ist gut,« entgegnete sie.</p>
+
+<p>»Haben Sie vielen Dank, Frau Stahl. Der Nachmittag
+bei Ihnen war wirklich schön.«</p>
+
+<p>»Adieu, Herr Steinherr.«</p>
+
+<p>Er stolperte die Stiegen hinunter und stand mit erhitztem
+Kopf auf der Straße. Wohin? dachte er. Nur
+nicht unter Menschen jetzt. Er eilte auf kürzestem Wege
+nach Hause, in den Garten. Er fühlte, daß seine Brust
+ganz schwer war von all den Gestalten, die er mit sich
+trug. Ein unerklärlich wonniges Gewicht. Bis in die
+Nacht saß er in der Laube und hielt mit den Gestalten
+allerlei närrische Zwiesprache. — —</p>
+
+<p>Frau Stahl hatte leise die Kammertür geöffnet.</p>
+
+<p>»Schläfst du, Johanna?« fragte sie.</p>
+
+<p>Als keine Antwort kam, blieb sie im Wohnzimmer.
+Grübelnd stand sie am Fenster und blickte hinaus. Dann
+kehrte sie sich ruhig um und suchte sich eine Handarbeit
+heraus.</p>
+
+<p>Sie sollen ihre Jugend haben, dachte sie, das ist ihr
+Recht. Man soll dem Menschenfrühling nicht ins Handwerk
+pfuschen, wenn man das Wort Glück im Munde
+führt. Und — und — das Kind gab mir doch die
+Hand darauf. — —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p>
+
+<p class="center noind"><sup>*</sup> &nbsp;&nbsp; <sub>*</sub>
+&nbsp;&nbsp; <sup>*</sup></p>
+
+<p>Zweimal im Laufe der Woche war Hans Steinherr
+im Atelier seines Freundes Springe gewesen. Er hatte
+sich stundenlang an den Bildern vorbeigeschoben, in alle
+Ecken geguckt und ganz sonderbar herumgedruckst.</p>
+
+<p>»Was gibt’s denn, Junge? Hast du Schulden beim
+Konditor, eine schlechte Zensur, oder bist du verliebt?«</p>
+
+<p>»Ach, Sie spotten ja nur.«</p>
+
+<p>»Also verliebt. Dann behalt’s bei dir! Die Heimlichkeit
+erhöht den Reiz. Hoffentlich ist sie von altem
+Adel?«</p>
+
+<p>»Sehen Sie? Ich wußte ja, daß Sie für gewisse
+Dinge kein Verständnis haben.«</p>
+
+<p>Der Maler hatte eine Melodie gepfiffen und rastlos
+weiter gearbeitet.</p>
+
+<p>»Herr von Springe?«</p>
+
+<p>»Nun, mein Junge?«</p>
+
+<p>»Wenn — wenn ich nun einmal jemanden nötig
+haben sollte, der — der — auf den ich mich — verlassen
+könnte?«</p>
+
+<p>»Soweit meine Verständnislosigkeit reicht, würde ich
+der Jemand ja sein können.«</p>
+
+<p>»Herr von Springe!«</p>
+
+<p>Hans war auf ihn zugesprungen und hatte sich an
+ihn gehängt.</p>
+
+<p>»Mach’ daß du nach Hause kommst und halte die
+Leute nicht auf. Marsch, ab! Hörst du nicht, ich habe
+zu arbeiten. Ich will allein sein.«</p>
+
+<p>Und jedesmal, wenn der Junge nach solch einer
+Szene gegangen war, hatte der Maler die Arbeit beiseite
+geschoben und war auf die Veranda hinausgetreten,
+an der das Weinlaub rubinrot schimmerte und tausend<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span>
+dringendere Fragen stellte, als der Mund des mannbar
+gewordenen Knaben ...</p>
+
+<p>Und nun war Sonntag. Ein Herbsttag von jener
+Schönheit und tiefen Schwermut, die noch einmal alle
+Erinnerungen des enteilenden Sommers zusammengreifen
+möchte zu einem lang nachschwingenden Akkord. Aus
+Hoffen und Bangen gemischt: Was wird der Tag
+bringen, was wird nach ihm kommen? Nütze den Tag!
+Er trägt in sich, was über den Winter hilft. Sein
+Zittern ist dein Zittern. — —</p>
+
+<p>Hans Steinherr stand am Bahnhof. Er hatte sich
+bei den Eltern mit einem Ausflug entschuldigt, ohne die
+Namen der Teilnehmer anzugeben, und wartete nun
+schon seit einer Viertelstunde auf Frau Stahl und ihre
+Enkelin. Für jede der Frauen trug er ein paar Rosen
+in der Hand. Er war so aufgeregt, als gälte es eine
+Weltreise.</p>
+
+<p>»Hier!« rief er plötzlich aus Leibeskräften und
+schwenkte den Hut. Da waren sie neben ihm.</p>
+
+<p>Frau Stahl war nicht sonderlich modern gekleidet.
+Er merkte es nicht. Er war nur dankbar, daß sie gekommen
+war. Und Hannes? War das denn Hannes?
+Ja, war sie denn gewachsen in den acht Tagen und
+umsoviel reifer geworden? Er kam sich fast wie ein
+Knabe neben ihr vor.</p>
+
+<p>»Wie geht es Ihnen?« murmelte er und stopfte ihr
+die Rosen in die Hand. »Wie ich mich freue! Sie sind
+also wieder ganz gesund? Freuen Sie sich denn auch
+ein wenig auf die Tour? Hier, Frau Stahl, bitte,
+nehmen Sie doch auch die Blumen. Da kommt der Zug.
+So, bitte, hier können wir einsteigen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p>
+
+<p>Frau Stahl hatte den Griff des Coupés gefaßt.
+Jetzt ließ sie ihn wieder los.</p>
+
+<p>»Herr Gott,« lachte sie, »da wären wir beinah falsch
+eingestiegen. Das ist ja die erste Klasse.«</p>
+
+<p>»Dann stimmt’s doch. Bitte, Fräulein Hannes.«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen blickte fest auf die Coupénummer.
+Dann preßte sie die Lippen zusammen und stieg ein, als ob
+sie’s anders nicht gewöhnt sei. Frau Stahl folgte schweigend,
+und als letzter Hans. Während der kurzen Fahrt bis
+zur Station Benrath wollte kein Gespräch zu stande kommen.</p>
+
+<p>Steif schritten die Frauen die Feldwege einher, die
+zum Schloß führten. Auch Hans war verstimmt. So
+zogen die drei Menschen fürbaß.</p>
+
+<p>»Soll ich den Pedell rufen, damit er uns das
+Schloß zeigt?« fragte Hans, als sie vor dem Rokokobau
+standen und die Blicke über die Rasenfläche schweifen
+ließen, die sich vor ihm ausbreitete.</p>
+
+<p>»Bitte,« sagte Hannes kurz.</p>
+
+<p>Der Pedell kam und übernahm die Führung. Aber
+was er auch von dem Erbauer, dem kunstsinnigen pfälzischen
+Herzog Karl Theodor und seinem fröhlichen Hofstaat
+zu erzählen wußte, was er berichtete von allerhand
+Zeitläuften und Schicksalen, von hohen und höchsten
+Herrschaften, die geruht hatten, in diesen und jenen
+historischen Betten zu ruhen: er fand nicht das mundaufsperrende
+Verständnis, das er bei diesen Gästen zu
+finden gehofft hatte. Erst das Trinkgeld stimmte ihn
+um. Er empfahl angelegentlich, nicht zu versäumen, den
+Park zu besuchen. »Der herrlichste Park, den der Niederrhein
+besitzt. Mit der Dunkelheit wird er geschlossen.
+Sonst müssen Sie übers Gitter klettern.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p>
+
+<p>Wieder standen die drei Menschen draußen und
+blickten stumm über die Rasenfläche.</p>
+
+<p>»Sind Sie müde, Frau Stahl? Wir hätten wohl
+erst die Wirtschaft aussuchen sollen. Entschuldigen Sie,
+daß ich nur an mich dachte.«</p>
+
+<p>»Großmutter hat sich in den letzten Tagen überarbeitet,«
+sagte Hannes kurz.</p>
+
+<p>Hans blickte auf die alte Frau und errötete. Hannes
+gewahrte es und wandte sich finster ab.</p>
+
+<p>»Komm, Großmutter, es ist nicht weit. Nur ein
+paar Schritte bis zum Grund.«</p>
+
+<p>Durch die lockende Sonntagspracht gingen sie mit
+lässigen, müden Bewegungen.</p>
+
+<p>Im Wirtshaus im Grund saßen sie, bis die Sonne
+im Westen zu flammen begann. Da drängte die alte
+Frau, die jungen Leute sollten den Tag nicht vertrauern
+und noch einmal hinausgehen. Sie fühlte sich bereits
+wieder wohler. Das Stillsitzen und der Abendfriede
+täten ihr am besten.</p>
+
+<p>Da gingen die beiden jungen Menschenkinder den
+Weg zurück zum Schloß und traten durch das Gittertor
+in den gepflegten Garten und gingen weiter, an den
+Sandsteingöttern vorbei, vorüber an den Wasserspielen
+und dem mit Seerosen bedeckten Bassin, die laubenartig
+verwachsenen und künstlich verschnittenen Heckengänge
+entlang, in denen es einsam war wie in stillen Grotten,
+und weiter, bis der Park sie aufnahm mit seinen Baumriesen
+und wundervollen Landschaftsbildern, bis sie den
+Rhein in der Ferne aufblitzen sahen und sein heimatliches
+Gemurmel hörten.</p>
+
+<p>Es war ein Duften um sie her nach kräftigem Waldboden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p>
+
+<p>Und sie blieben beide stehen und schlossen die Augen
+und sogen den Duft ein. Den Duft von niederrheinischer
+Scholle, deren Kinder sie waren.</p>
+
+<p>Als sie die Augen öffneten, hatte die flammende Abendsonne
+den Park mit Glut gefüllt, die Bäume schillerten in goldenen
+Konturen, und die Wipfel waren wie purpurne Baldachine.
+Das Gras zu ihren Füßen war ein persischer Teppich
+geworden in bunten Farben und phantastischen Mustern.</p>
+
+<p>»Wie — schön — —« stammelte fassungslos das
+junge Mädchen.</p>
+
+<p>Und der junge Begleiter ergriff ihre Hand, als müßte
+er ihr zeigen, daß sie ritterlichen Schutz genösse in diesem
+Zaubermärchen.</p>
+
+<p>Als die tiefen Schatten fielen und das Licht auslöschten,
+behielt er die Hand in der seinen, und so gingen
+sie wie Kinder, die sie waren: Hand in Hand.</p>
+
+<p>Es wurde nicht dunkel heute. Ein silbriger Schimmer
+spielte in dem Dämmer und durchdrang es. Der Mond
+kam herauf. Durch den flüsternden Park gingen die
+Kinder Schulter an Schulter, bis sie in den Laubengängen
+waren, in denen einst die Liebe des Rokoko
+geseufzt. Drüben, im Garten, lächelten die verschwiegenen
+Sandsteinfiguren, die allwissenden Heidengötter,
+wie ehedem; auf den Teichen träumten die Wasserrosen;
+durch die Hecken glitt ein Singen wie von einer Harfensaite,
+immer derselbe, einzige, sehnende Ton; und der
+Park dort öffnete wie eine Mutter die Arme weit.</p>
+
+<p>Die Kinder spürten ein Zittern in den Händen, an
+denen sie sich gefaßt hielten. Sie blieben stehen. Da
+lief das Zittern durch ihren Körper.</p>
+
+<p>Und das Mädchen legte den Kopf zurück und blickte<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span>
+mit weitgeöffneten ergebungsvollen Augen dem Knabenkopf
+entgegen, der sich mit bebendem Mund über sie
+beugte und ihre Lippen suchte.</p>
+
+<p>Sie berührten sich wie ein Hauch, staunend blieben
+sie übereinander gebeugt, und in ihre kalten Wangen
+strömte das junge, warme Leben zurück.</p>
+
+<p>Die Hände lösten sich und hingen schlaff herab. Dann
+hoben sich die Arme, scheu und ungelenk, und eines umschlang
+den Nacken des anderen, und die Lippen, halbgeöffnet,
+neigten sich zueinander und drängten sich fest aneinander
+und kehrten, wenn sie sich lassen wollten, immer
+wieder hastig, durstig zueinander zurück. Keines sprach ein
+Wort. Aber wenn sie innehielten, zählte eines des anderen
+Herzschläge. Bis die Herzschläge durcheinander jubelten.</p>
+
+<p>»Hannes, Hannes, ich habe dich so lieb, daß ich es
+nicht sagen kann.«</p>
+
+<p>»Ich hab’ dich lieb gehabt, wie ich dich sah, und
+werde nur dich lieb haben,« murmelte das Mädchen,
+und ihre Finger zitterten auf seinem Haar, seinen Augen,
+seinen Wangen.</p>
+
+<p>»Weshalb warst du immer so böse zu mir?«</p>
+
+<p>»Sprich doch nicht,« flehte sie und hob die feuchten
+Augen und die jungen, verlangenden Lippen.</p>
+
+<p>Da faßte er sie um den biegsamen Leib und preßte
+sie an sich, daß ihnen beiden schwindelte.</p>
+
+<p>»Komm, komm, du sollst dich setzen,« und er führte
+sie behutsam zu einer Bank.</p>
+
+<p>Sie saß auf seinem Schoß, seinen Kopf in beiden
+Händen, und sah ihm ganz nahe in die Augen.</p>
+
+<p>»Du!« stieß sie jäh hervor und bedeckte sein Gesicht
+mit Küssen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span></p>
+
+<p>»Du! Du! Du!« stammelte er. »Wenn du mich
+vergessen solltest!«</p>
+
+<p>»Hans!« rief sie, und sie lachte und schluchzte durcheinander.</p>
+
+<p>»Weshalb hast du mich immer so gequält? Sag
+es mir doch, damit ich ruhig werde,« bat er.</p>
+
+<p>»Ich kann es nicht. Ich kann es wahrhaftig nicht.«</p>
+
+<p>»Aber ich leide darunter. Ich habe ja nie einen
+anderen Menschen so lieb gehabt.«</p>
+
+<p>»O, du! Und ich? — Und ich werde auch nie einen
+anderen Menschen lieb haben können. Nie! Hörst du?
+Ich habe nicht und ich werde nicht. Hans, Hans!«</p>
+
+<p>»So mußt du es mir auch sagen können. Erst heut
+nachmittag — o, du weißt — da warst du so kalt.«</p>
+
+<p>»Sei nicht böse,« sagte sie beschämt und drückte ihr
+Gesicht an seine Brust.</p>
+
+<p>Und plötzlich, unaufgefordert, begann sie zu sprechen.
+Ohne ihr Gesicht von seiner Brust zu heben.</p>
+
+<p>»Ich war ja so kindisch. Siehst du, als ich dich
+sah, und immer wieder sah, da warst du für mich so
+vornehm. Und ich wollte nicht, daß du vornehmer wärst
+als ich. Und ich hatte solche Angst, du könntest es
+merken, daß du vornehmer seist als ich und könntest dich
+über mich lustig machen wollen. Deshalb war ich so
+trotzig. Lieb hatt’ ich dich ja längst. Und du mich auch;
+das merkte ich. Aber ich wollte, daß du dich nicht
+schämen solltest. Ich wollte werden wie du, und ich
+will es auch werden. Ich will es! Du darfst dich nie,
+nie meiner schämen. Ach, du, es kann dich ja keiner so
+lieb haben wie ich. Auf der ganzen Welt nicht! Im
+ganzen Leben nicht!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p>
+
+<p>Hans kniete vor sie hin, umschlang ihre Kniee und
+drückte seinen Kopf in ihren Schoß.</p>
+
+<p>»Wie gut das tut,« sagte er aus Herzensgrund.
+»Wie lieb du bist!«</p>
+
+<p>Er küßte ihr Kleid, und sie schmiegte die Wange
+auf sein Haar.</p>
+
+<p>»Schwöre mir, daß du mein Weib wirst. Daß du
+auf mich warten wirst, was auch kommt!«</p>
+
+<p>Sie schwur es, mit einem stillen Lächeln in der
+Stimme.</p>
+
+<p>Und er gab tausend heiße Knabenschwüre zur Antwort.</p>
+
+<p>»Komm, Hans,« sagte sie endlich, »Großmutter wartet.
+Sie vertraut auf mich.«</p>
+
+<p>Da stand er von dem kühlen Boden auf, und sie
+gingen wieder Hand in Hand, wie Kinder gehen. Durch
+den lauschenden Garten, vorbei an den lächelnden Sandsteingöttern.</p>
+
+<p>Sie hatten lange zu suchen, bis sie eine Stelle im
+Parkzaun fanden, durch die sie hindurchschlüpfen konnten.
+Das Parktor war verschlossen. Doch der Spaß des
+Suchens war größer als die Angst. Und alles Kindische
+kehrte in ihnen zurück. Ausgelassen tollten sie den Weg
+zum Wirtshaus im Grund zurück.</p>
+
+<p>Frau Stahl war im Garten eingenickt. Der Wirtssohn
+spannte eine Kalesche an und fuhr die Gäste nach
+der Stadt zurück. Die alte Frau schlummerte im Fonds,
+müde von der Last der Arbeit, der Sorge und der Jahre.
+Ihr gegenüber saß das Märchen, das sich Jugend nennt,
+und schaute selig lächelnd in die ewigen Sterne.</p>
+
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-149.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Siebentes_Kapitel_Buch_1">Siebentes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Der Spätherbst setzte mit endlosem Regen ein. Es
+regnete fort bis in den Dezember. Verdrießlich eilten die
+sonst so lebensfrohen Düsseldorfer über die Straßen,
+verdrießlich über das Wetter und die allgemeine schlechte
+Geschäftslage. Selbst in den Narrensitzungen, die wie
+alljährlich pünktlich mit der elften Abendstunde des elften
+November begonnen hatten, um mit weiser Gründlichkeit
+den Karneval, den »Fastelowend«, für den Monat
+Februar vorzubereiten, wurde mehr gallige Bosheit als
+blanker Humor gezeitigt. Im Hofgarten war das Herbstlaub
+an den Bäumen verfault. Harte Windstöße rissen
+es von den Zweigen und klatschten es auf den Boden,
+wo es zu einer breiigen Masse ward. Die Schwäne
+auf den Teichen ruderten zerzaust am Ufer entlang, als
+wären sie in der Mauser. Kein Mensch bekümmerte sich
+um die sonst so verwöhnten Tiere. Über den Rhein,
+den das aufgewühlte Grundwasser der Nebenflüsse lehmiggelb
+gefärbt hatte, pfiffen die Winde, daß jeder die
+Kaimauer mied. Die Schiffahrt war eingeschränkt. Die
+Frachtkähne wagten sich bei dem rapid wachsenden
+Pegelstand nicht aus den Heimatshäfen, und die paar
+kleinen Lokalboote fuhren meist ohne Passagiere. Große
+Geschäftskrisen standen vor der Tür, und der unaufhörliche<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span>
+Regen machte die Stimmung immer noch
+grauer.</p>
+
+<p>Hans und Hannes gewahrten von alledem nichts.
+Die Not der Zeit blieb ihnen ein Buch mit sieben
+Siegeln. Sie wußten nicht anders, als daß das goldene
+Zeitalter hereingebrochen sein müsse. Und wenn sie
+an jeder Straßenecke über das erbärmliche Hundewetter
+schelten hörten, so lachten sie und segneten das Hundewetter.
+Unter demselben Regenschirm, eng aneinandergeschmiegt,
+unternahmen sie ihre Streifzüge durch die
+entlegenen Viertel der Altstadt oder setzten den Brückenwärter
+in Erstaunen durch stundenlange Promenaden
+auf der menschenleeren Schiffsbrücke.</p>
+
+<p>»Nu säg ehner, wat en Rejen is!« brummte der
+Alte kopfschüttelnd. »Dene hät et dörch et Dach jerejent,
+da sind se öwerjeschnappt. Knatsch jeck.« — — —</p>
+
+<p>Hans und Hannes hörten und sahen nichts, als nur
+sich selbst. Jedem ging im anderen eine neue Welt auf,
+und sie suchten sie sich zu eigen zu machen und aus der
+Vermischung eine einheitliche mit erweiterten Grenzen
+aufzubauen. Das Mädchen war dem jungen Manne
+in der schnelleren Anpassung weit voran. Als hätte ihre
+Seele nur darauf gewartet, daß einer an die verriegelte
+Pforte poche und das »Sesam, öffne dich« spräche, so
+breitete ihr Empfinden und ihr Verständnis die Schwingen.
+Mit dem unausgesprochenen Fraueninstinkt fand
+sie heraus, was in ihrer ungebundenen Natur den guterzogenen
+Freund verwirrte, sie las ihm sein ganzes
+Formentalent ab, das sie bisher als den Ausdruck angeborener
+Vornehmheit angestaunt hatte, und zitterte
+insgeheim vor Freude, wenn sie seinen verwunderten<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span>
+Blick bemerkte. Aber sie sprach nie ein Wort über ihre
+Lerntätigkeit. Sie hatten auch so viel anderes zu besprechen
+...</p>
+
+<p>Regelmäßig trafen sie sich zwischen der sechsten und
+siebenten Abendstunde, wenn Hans das notwendigste
+Aufgabenpensum der Schule erledigt hatte. Die Ecke
+am Pempelforter-Stall, neben Schloß Jägerhof, galt
+ihnen als Rendezvous, aber meist trafen sie sich, da
+Hannes als erste zur Stelle war, halbwegs der Jakobistraße
+und bogen sofort in den triefenden, aufgeweichten
+Hofgarten ein. Als Hans im Gummimantel erschien,
+erschien auch Hannes im Gummimantel. Daß sie ihn
+aus dem Erlös ihres Francesca-Gewandes erstanden
+hatte, verschwieg sie. Der elastische Stoff legte sich fest
+um den schlanken Mädchenleib, hob die feinen Formen
+und gab der Figur etwas über die Jahre hinaus Vollendetes
+und Reifes.</p>
+
+<p>»Wie wunderschön du bist!« sagte Hans. »Wie ein
+verkleideter Page. Man wagt gar nicht, dich anzufassen.«</p>
+
+<p>Dann nahm sie seinen Arm, drückte sich an ihn und
+versuchte, mit ihren zierlichen Füßen seinen Schritt einzuhalten.</p>
+
+<p>Kam ein Tümpel, so hob sie die Röckchen, prüfte
+erst mit der Spitze des Stiefels die Tiefe und schritt
+hindurch wie eine kleine Bachstelze.</p>
+
+<p>»Du sollst mir nicht so nach den Füßen schauen,
+Hans,« sagte sie drüben.</p>
+
+<p>»Ach, Hannes, liebster, süßer Hannes, in ein paar
+Jahren bist du ja doch meine Frau.«</p>
+
+<p>»Ich will es aber nicht, Hans. Oder riskierst du<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span>
+das auch bei den jungen Damen, die in eurem Hause
+verkehren?«</p>
+
+<p>Dann ging er verstimmt neben ihr her. Bis die
+Bäume sich lichteten und die Alleestraße sichtbar wurde,
+und sie sich plötzlich mit einer jähen Bewegung an seine
+Brust warf und sich von ihm herzen, drücken und küssen
+ließ und den Kuckuck danach fragte, ob er das auch bei
+den jungen Damen, die in seinem elterlichen Hause verkehrten,
+»riskierte«.</p>
+
+<p>»Hans, ach, du, du!«</p>
+
+<p>»Hänschen, Hänschen, weshalb bin ich nicht schon
+was geworden!« — —</p>
+
+<p>Mit der gleichen, jähen Bewegung machte sie sich
+los, und mit der sicheren Eleganz, als wäre sie die
+Schwester des so apart erscheinenden jungen Menschen,
+überschritt sie mit ihm die Straße, um durch die Altstadt
+oder an der Kunstakademie vorbei den Weg zum
+Rhein zu nehmen.</p>
+
+<p>Sie führten keine tiefen Gespräche, die beiden. Und
+doch war ihnen jedesmal, wenn sie sich trennten, als
+hätten sie die Tiefen der Weltweisheit erschöpft, und sie
+fühlten sich in ihrer Lebensklugheit bereichert mehr denn
+von allen Schuljahren.</p>
+
+<p>Im stürmenden Wetter, unter dem schwankenden
+Regenschirm dicht aneinandergeschmiegt, blieben sie oft
+mitten auf der Straße stehen und horchten, halb selig,
+halb verängstigt, auf etwas Unerklärliches, Beunruhigendes,
+Wunderbares — —. Und es war nur das Pulsen
+ihres Blutes, das sie in der dichten Berührung verspürten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
+
+<p class="center noind"><sup>*</sup> &nbsp;&nbsp; <sub>*</sub>
+&nbsp;&nbsp; <sup>*</sup></p>
+
+<p>Nun war Frost eingetreten. Es ging auf Weihnachten
+zu. Manchen verregneten Sonntagnachmittag
+hatte sich Hans von der alten Frau Stahl erbettelt, ihn
+in dem primitiven Wohnzimmer der Pempelforterstraße
+zubringen zu dürfen. Denn an den Sonntagen verließ
+die Enkelin die Großmutter nicht. Über den einzigen
+freien Tag, den die alte Frau besaß, hatte sie auch allein
+zu verfügen. Seit in dem jungen Mädchen das Geheimnis
+der Frauennatur zur Offenbarung rang und unbewußt
+nach Betätigung drängte, umschloß sie mit verdreifachter
+Liebe die einzige Frau, die, wenn auch alt und
+greis, ihrem Leben näher stand und ihr das gleiche Geschlecht
+verkörperte. Dann wandelte sich der Liebeshunger
+in eine Liebesverschwendung.</p>
+
+<p>Und in der Greisin stieg es jung und heiß empor.</p>
+
+<p>»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete,
+und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und
+eine klingende Schelle,« murmelte sie und reckte sich auf.</p>
+
+<p>Mit Hans saß sie oft und plauderte. Ruhig, ernst,
+auf ihre Weise. Sie ließ ihn Blicke in ihr Leben tun,
+und ihr Leben, ihr siebzigjähriges, spiegelte siebzig Jahre
+der Menschheit. Alle Kreuz- und Quersprünge der Zeit
+und der Zeitgenossen, das Trotzen, Aufbegehren, Himmelstürmen,
+das Nachgeben, Erkennen, Resignieren, die Inzucht
+des Egoismus wie das Sichfeilhalten des Strebertums,
+alle Narrheiten und alle Tugenden des Menschengeschlechts
+hatten der alten Frau ein Spiegelbild lassen
+müssen, und sie mischte die Bilder in ihrem Kaleidoskop
+und hielt es dem stumm Aufhorchenden hin und sagte:
+»In all dem suchte die Menschheit das Glück. Schauen
+Sie nach, ob Sie es sehen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span></p>
+
+<p>Und Hans sah es nicht.</p>
+
+<p>»Ich sehe es in ganz etwas anderem,« sagte er mit
+seiner warmen Knabenstimme.</p>
+
+<p>»Das taten die anderen von Haus aus auch. Aber
+sie waren zu schwach, ihre Meinung vor den Leuten festzuhalten.
+Links und rechts lockte es, akkurat wie das
+Glück. Und obenein schien es bequemer oder ruhmreicher,
+oder vornehmer und eleganter; und sie brachen von der
+Bahn aus und nahmen Richtwege. Da fanden sie die
+Bequemlichkeit, den Ruhm, die Vornehmheit, die Eleganz.
+Und das Glück, das dumme, kindische, einfältige,
+und doch über alles, alles, alles triumphierende Menschenglück?
+Ich bin siebzig Jahre. Fragen Sie Leute, die
+so alt sind wie ich, was sie an Orden und Ämtern bieten
+für das, was sie — als sie jung waren — auf der
+geraden Bahn liegen sahen. Damals, als sie sich ihrer
+Jugendmeinung, ihres Impulses schämten. Wissen Sie
+auch, was das ist: sich schämen? Scham ist Feigheit.«</p>
+
+<p>Über das Wort hatte er lange nachgegrübelt. Er
+empfand sehr wohl, daß es nur bedingungsweise gebraucht
+worden war und auch nur bedingungsweise
+seine Anwendung finden konnte. Aber gerade deshalb
+wurde es ihm zum Sporn, den Motiven nachzuspüren
+und sich zu prüfen, wenn er drauf und dran war, sich
+einer Sache, eines Menschen wegen zu schämen. Bevor
+er dem Gefühl der Scham Gewalt über sich ließ, sezierte
+er mit Gedankenschnelle die treibenden Gründe. Waren
+sie ideeller Natur, gaben sie ihm ein Recht, mit sich
+oder anderen unzufrieden zu sein, so schämte er sich für
+sich und die anderen mehr denn früher. Ging ein
+egoistischer Zug hindurch, vor allem der, der zur grundlosen<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span>
+Überhebung und jener eigensüchtigen Art der Verleugnung
+drängt, aus der Petrus nach des verlästerten
+Nazareners Gefangennahme die Worte sprach: »Ich
+kenne den Menschen nicht,« so versuchte er mit Gewalt
+Herr über sich selbst zu werden und murmelte es nach
+wie eine Beschwörung: »Scham ist Feigheit.«</p>
+
+<p>An einem Dezemberabend war es, als Hans der
+Gedanke kam, mit Hannes gemeinsam das Springesche
+Atelier aufzusuchen. Es sollte ein Überfall in aller
+Form sein. Er wollte, daß Springe das Mädchen sehen,
+daß er im stande sein sollte, sich ein Urteil zu bilden.
+Nie hatte er mit dem älteren Freunde über seine Neigung
+mehr gesprochen, als in losgelösten Andeutungen,
+nie einen Namen genannt. Nun aber trieb ihn der
+jugendliche Renommierstolz, ein Zipfelchen des Schleiers,
+den er über den selbstentdeckten Schatz gebreitet hatte, geheimnisvoll
+zu lüften. Er kam sich mit seinen neunzehn
+Jahren unendlich kavaliermäßig vor, als er, das sechzehnjährige
+Mädchen am Arm, die Treppe des Hauses
+in der Immermannstraße hinaufstieg und die Klingel
+zur Springeschen Wohnung zog.</p>
+
+<p>Der alte Herr öffnete wie gewöhnlich. Er blinzelte
+überrascht, als er das Pärchen erblickte.</p>
+
+<p>»<span class="antiqua">Parbleu</span>,« sagte er und machte eine Verbeugung
+wie aus einem graziösen, altmodischen Menuett. »Die
+verdammten Kalendermacher! Machen die Kerle einem
+weiß, Dezember sei; und vor der Tür steht der Frühling!
+Treten Sie ein, meine schöne, kleine Gnädige.«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen, im molligen, schwarzen Krimmerjackett,
+die Pelzmütze auf dem Kopf, trat errötend näher.
+Die chevalereske Begrüßung hatte ihr sensitives Schönheitsgefühl<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span>
+erregt und sofort die Brücken geschlagen
+zwischen ihr und dem jovialen alten Herrn. Als er ihr
+die Hand zum Gruße reichte, machte sie ihm unwillkürlich
+einen so tiefen, ehrerbietigen Knicks, wie er ihr
+vorher wohl nie in ihr kapriziöses Köpfchen gekommen
+war, und als er, erfreut, ihre derb behandschuhten Händchen
+hob, um ihr wie einer Dame den Zoll des Handkusses
+zu entrichten, kam sie ihm zuvor und berührte
+mit ihren warmen, jungen Lippen seine schönen, weißen
+Aristokratenhände.</p>
+
+<p>Mit einem Griff nahm er das feine Kind um die
+Taille.</p>
+
+<p>»Sommervögelchen,« sagte er mit lächelndem Drohen,
+während sie schelmisch seinem Blick stand hielt, »das
+bitt’ ich mir aber aus. Sparen Sie sich das Küssen, bis
+es für den Mund reicht. Gelt? Das ist abgemacht.«</p>
+
+<p>Dann ließ er sie mit einer Verbeugung los und
+nahm die Hacken zusammen.</p>
+
+<p>»Gestatten Sie, meine allergnädigste Kleine: von
+Springe. Übrigens der Ältere. Aber nur dem Geburtsschein
+nach.«</p>
+
+<p>Da trat Hans vor und übernahm schnell die Vorstellung
+seiner Freundin.</p>
+
+<p>»Fräulein Johanna Stahl. — Verzeihen Sie, Herr
+von Springe, daß ich Sie am Abend noch mit einem
+Besuch überfalle. Aber ich hatte Fräulein Stahl so viel
+von dem Atelier des Herrn Heinrich erzählt — und —
+und — am Tage habe ich wegen der Vorbereitung zum
+Examen so wenig Zeit — daß — daß — —«</p>
+
+<p>»Wie denn nur? Die Freude ist auf unserer Seite.
+Burg Springe ist entzückt. Mein liebes Fräulein, lassen<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span>
+Sie sich von dem korrekten jungen Mann da nicht ihre
+köstliche Natur verderben. Erstens mal ist es erst sechs
+Uhr, und daß im Winter die Sonne früher untergeht
+als im Sommer, ist ihr eigenes Pech. Und zweitens
+bitte ich überhaupt, Burg Springe als Ihr Eigentum
+zu betrachten. So eine Lehnsherrin habe ich mir schon
+lange gewünscht. Meinen Respekt, schöne Gönnerin.«</p>
+
+<p>»Donnerwetter noch mal!« entfuhr es ihm, als er
+sie an sich vorbeischreiten ließ und sie ihn mit ihren
+großen Augen kinderfroh anlachte. »Bitte, hier einzutreten.
+Verzeihen Sie eine kurze Weile, ich werde sofort
+Licht machen. Die jüngere Generation von Springe
+verrichtet im Nebenzimmer gerade ihr Abendgebet. Pardon
+also für wenige Minuten. Religiöse Handlungen
+soll man nicht stören.«</p>
+
+<p>Er ging, um einen Kerzenfaden herbeizuholen, mit
+dem er die Lichter anzünden wollte.</p>
+
+<p>Aus dem Nebenzimmer drangen die Klänge eines
+meisterhaft gespielten Flügels. Sie suchten sich mit sehnsuchtsvoller
+Friedlosigkeit, in durstiger Leidenschaft und
+tauchten unter in plötzlicher, zärtlicher Erinnerung genossener
+Träume, um dann ihre Stimme aufs neue zu
+erheben und von der großen Liebe zu sagen, die da
+gleich ist in der Nähe und in der Ferne, im Leben und
+im Sterben. Und die horchenden jungen Menschenkinder
+erschauerten vor der ungeahnten Menschenherrlichkeit. Sie
+waren blaß geworden, blaß in der Erkenntnis der Größe
+der Liebe, und ihre Hände kamen sich scheu entgegen,
+und als sie sich hielten, verkrampften sie sich. Der Mann
+am Flügel spielte Tristan und Isoldens Liebestod.</p>
+
+<p>Und in der Dunkelheit des Zimmers, in dem sie<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span>
+warteten, von demselben Gedanken getrieben, hoben sie
+beide gleichzeitig die Arme und umschlangen sich und
+preßten in Angst und Wonne Mund auf Mund, wie
+sie noch nie einen Kuß geküßt.</p>
+
+<p>Ebenso hastig ließen sie voneinander ab. Die Musik
+rauschte auf.</p>
+
+<p>»Das ist wie ein Brautbesuch,« flüsterte Hans stockend.</p>
+
+<p>»Wie ein Brautbesuch,« wiederholte das Mädchen
+und suchte den schweren Atem zu bändigen.</p>
+
+<p>Herr Friedrich Leopold von Springe kam mit dem
+brennenden Kerzenfaden und zündete die großen Atelierlampen
+an. Auch die Kerzen in den Bronzeleuchtern
+mußten heute daran glauben.</p>
+
+<p>»Ein bißchen festlichen Glanz muß Burg Springe
+doch hergeben,« meinte er schmunzelnd. »Ein Turnier
+kann ich in der Kürze der Zeit leider nicht abhalten
+lassen. Hoffentlich haben Sie sich vorhin im Dunklen
+nicht allzusehr gefürchtet.«</p>
+
+<p>Der alte Herr schob die augenfällige Ergriffenheit
+der Kinder auf die aufwühlende Tristanmusik.</p>
+
+<p>»So,« sagte er lakonisch, als drinnen der Deckel
+des Flügels klappte, »er hat ausgerungen.«</p>
+
+<p>In der Tür stand Heinrich Springe. Er konnte sich
+in dem Lichtmeer nicht gleich zurechtfinden und beschattete
+einen Augenblick lang die Augen mit der Hand. Dann
+warf er den Kopf zurück, sah fest auf das Bild vor sich und
+ging mit ausgestreckten Händen auf seinen Besuch zu.</p>
+
+<p>»Meine Freundin, Fräulein Johanna Stahl, würde
+sich so sehr freuen, wenn sie Ihr Atelier sehen dürfte ...«</p>
+
+<p>»Herzlich willkommen. Das ist ja beinahe wie eine
+Weihnachtsbescherung. Gelt, Papa?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p>
+
+<p>»Wahrhaftig, mein Sohn, ich werde unsere Tanne
+um drei Tage zu früh anzünden. Man soll die Tage
+nicht nach dem Datum, sondern nach dem Inhalt
+feiern.«</p>
+
+<p>Und der alte Herr verschwand händereibend im
+Nebenzimmer, in dem der Flügel stand.</p>
+
+<p>Heinrich Springe hielt die Hände des jungen Mädchens.
+Wie entzückend die Kleine war, wie biegsam und
+weich, und doch wie stark und selbstsicher an der Seite
+ihres jungen Freundes! Es ging ein Duft von ihr aus,
+so frisch wie von einer Waldblume. Glückliche Jugend,
+dachte er, wer die Zukunft so sähe wie ihr!</p>
+
+<p>»Darf ich Ihnen aus dem Jackett heraushelfen?«
+fragte er. »Es wird Ihnen zu warm werden, und ein
+Stündchen müssen Sie nun schon bei uns alten Junggesellen
+aushalten. Ergeben Sie sich nur gleich auf
+Gnade und Ungnade.«</p>
+
+<p>»Ja, ja, mein Sohn,« fuhr er fort und schob Hans
+scherzend beiseite, »das hättest du wissen sollen, als du
+dich in dies Nest wagtest. Die alten Springes von ehedem
+waren arge Raubritter und Schnapphähne, und
+die jungen kitzelt zuweilen auch noch das Blut. Jetzt
+erfind nur schnell ein Lösegeld. Das Fräulein aber
+zahlt für <em class="gesperrt">sich</em>.«</p>
+
+<p>»Und wenn ich mich sträube?« lachte das Mädchen
+und reckte sich in ihrem blauen mit weißen Litzen besetzten
+Tuchkleidchen nachdrücklich auf.</p>
+
+<p>»So stehle ich Ihnen Ihr Konterfei und laß es zu
+Weihnachten an böse Kinder verteilen mit der Unterschrift:
+›Die unartige Johanna‹.«</p>
+
+<p>»Da muß ich mir doch erst Ihre Malkunst ansehen,«<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span>
+meinte sie würdevoll, »damit ich mir klar werde, was
+vorzuziehen ist.«</p>
+
+<p>»Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Arm reiche,
+meine Gnädigste?«</p>
+
+<p>»Sie sind sehr aufmerksam.«</p>
+
+<p>Hans war sprachlos. War das sein wilder, scheuer
+Hannes aus der Zweizimmerwohnung der Pempelforterstraße?
+War das dasselbe Mädchen, das noch vor
+wenigen Monaten nichts vom gesellschaftlichen Ton gewußt
+und sich feindselig gegen alles, was aus den ihr fremden
+Kreisen kam, gesträubt hatte? Wer hatte das in
+sie hineingelegt? Der gute Junge ahnte ja nicht, daß
+er es selber gewesen war. Er wußte ja so gar nichts
+von der geheimnisvollen Kraft der Frauennatur, die,
+wo sie liebt, spielend bewältigt, wozu sonst Jahre der
+Erziehung oft nicht ausreichen wollen. Hannes aber
+war nur von einem Gedanken beherrscht: ihrem Freunde
+keine Unehre zu machen, tapfer die erste gesellschaftliche
+Probe zu bestehen, zu zeigen, daß sie es wert war, aus
+der dunklen Ecke herausgeholt zu werden, und daß sie
+das Licht jetzt nicht mehr scheute. Es wurden Kräfte
+in ihr frei, vor denen sie sonst gezagt hätte, aber ein
+urplötzlich erwachter starker Wille spornte sie an, sich
+ihrer zu bedienen, damit der Freund jede ängstliche Besorgnis
+verliere, sich ihrer an anderer Stelle einmal
+schämen zu müssen, damit sich sein Vertrauen wie sein
+Stolz aus seinen kleinen, namenlosen Schatz stärke.</p>
+
+<p>Sie lächelte ihm zu, als sie an des Malers Arm
+von Staffelei zu Staffelei wanderte. Halb Kinderlächeln
+war es, und halb süße, frauliche Überlegenheit.</p>
+
+<p>Heinrich von Springe war nicht weniger überrascht<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span>
+als Hans Steinherr. Er hatte nach den wenigen Andeutungen
+seines jungen Freundes geglaubt, es handle
+sich um eine der unausbleiblichen Kinderliebeleien mit
+einem der kleinen, nicht gar zu prüden rheinischen Mädel.
+Und nun fand er ein Geschöpf, das zwar die ganze
+Rasse und die ganze Anmut der Rheinlandstöchter in
+sich verkörperte, dem aber eine Tiefe innewohnte, vor
+deren ernstem Grundspiegel er fast erschrak. Mit seinem
+geschärften Künstlerauge sah er in diesem Spiegel, welche
+Flut von Gefühlen die Tiefe bewegte, wie sich diese
+Mädchenseele ängstete und wie sie sich trotzig mühte,
+wie sie selig erzitterte und wie sie tapfer kämpfte. Und
+er sah, wie auf dem Grunde sich schon die Wandlung
+vom Kinde zum Weibe vollzogen hatte und ein grenzenloses
+Vertrauen rührend klar bis zur Oberfläche stieg.
+Jede Antwort, die sie ihm gab, jede freie Äußerung,
+die von einem feinen weiblichen Empfinden für Kunst
+und Schönheit Zeugnis ablegte, bestärkte seine schnelle
+Zuneigung zu dem seltsamen Mädchen, dessen zierliche
+Schönheit sein Entzücken herausforderte und dessen ungehobener
+innerlicher Reichtum sein Mitgefühl entzündete.
+Würde Hans Steinherr der Mann sein oder doch der
+Mann werden, den Schatz zu heben, ohne die Form
+zu zerstören? Die Form zu erkennen, ohne den Schatz
+verkümmern zu lassen? Was wußte der junge, unerfahrene
+Mensch von dem Wert des Geschenkes, das er
+wie ein blindtappendes Sonntagskind am Wege gefunden
+hatte! Noch hatte er keinerlei ernste Probe im
+Leben zu bestehen gehabt.</p>
+
+<p>Heinrich von Springe streifte den jungen Mann zum
+ersten Male mit einem sorgenvolleren Blick.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span></p>
+
+<p>»Kinder,« sagte er dann, »wie schön, daß ihr gekommen
+seid!«</p>
+
+<p>»Sie sind also nicht böse?« schmeichelte Hans. »Eigentlich
+gehörte es sich ja nicht, Sie zu überfallen.«</p>
+
+<p>»Mein Fräulein,« wandte sich der Maler an die
+Kleine, die, ganz Kind wieder, bei Hans’ Worten beschämt
+die Augen gesenkt hatte, »gewöhnen Sie diesem
+jungen Herrn doch die Salonsprache ab, wenn er sich
+unter Freunden befindet. Von Ihnen nehme ich als
+ganz gewiß an, daß Sie sich ebenso freuen wie ich.
+Stimmt’s?«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte sie ehrlich, und es wurde ihr so frei zu
+Sinn, daß sie klar und ruhig die Augen zu ihm erhob.</p>
+
+<p>»Sie müssen mich nicht schelten, Herr Heinrich,«
+bettelte Hans. »Ich konnte doch nicht wissen, wie Sie
+meine Eigenmächtigkeit aufnehmen würden.«</p>
+
+<p>»Auch nicht fühlen?« meinte der Maler und strich
+ihm über das Haar. »Bin ich dein Freund, he? Und
+bin ich ein blutwarmer Mensch oder ein verknöchertes
+Monstrum, das sich selbst zum Sterben mit Albertis
+Anstandsbuch in den Händen niederlegt? Kleiner Dummkopf
+du!«</p>
+
+<p>»Ha,« entfuhr es Hannes, »das war famos!«</p>
+
+<p>»Freut mich, mein Fräulein, daß ich mich zum Dolmetscher
+Ihrer Empfindungen machen durfte.«</p>
+
+<p>Er ergriff mit übertriebenem Zeremoniell ihre Hand
+und führte sie an die Lippen, und Hans, glückselig, ergriff
+ihre andere Hand und führte sie ebenso an die
+Lippen, und das Mädchen stand zwischen ihnen, errötend
+und doch ihrer Freude nicht Herr; wie ein Weihnachtsengel,
+der seine Flügel ausspannt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span></p>
+
+<p>»Was ist denn das?« fragte Heinrich Springe und
+hob den Kopf.</p>
+
+<p>Alle drei horchten sie auf. Aber ihre Stellung behielten
+sie inne.</p>
+
+<p>Drinnen im Nebenzimmer suchte jemand auf dem
+Flügel eine Melodie. Jetzt hatte er sie, wenn auch
+etwas klapperig, weil er sie nur mit einem Finger zu
+spielen verstand.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Ihr Kinderlein, kommet,</div>
+ <div class="verse indent0">O kommet doch all — — —«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Die Musik wurde von einer brüchigen, aber sehr
+gefühlvollen Stimme begleitet.</p>
+
+<p>»Die Kinderlein sind wir,« flüsterte der Maler.
+»Weiß Gott, Herr Friedrich Leopold hat Ernst gemacht
+und das Geburtstagsfest des Herrn Jesus um drei Tage
+vordatiert!«</p>
+
+<p>»Ihr Kinderlein, <em class="gesperrt">kommet</em>!« mahnte die Singstimme
+des alten Herrn dringend von neuem, denn seine
+musikalischen Kenntnisse waren mit den beiden Verszeilen
+erschöpft.</p>
+
+<p>»Also kommen wir,« entschied der Maler. »Man
+kann Weihnachten nie ausgiebig genug feiern.«</p>
+
+<p>Noch immer hielten sie das Mädchen links und rechts
+bei den Händen, und so führten sie es hinein, just, als
+würde das stimmungsvolle Kindheitsfest nur für das
+fremde Mädchen gefeiert.</p>
+
+<p>Auf dem Tisch strahlte eine kaum drei Schuh hohe,
+sattgrüne Tanne in buntem Kerzengeflimmer. Eine
+Schale, hochaufgetürmt mit Früchten aller Art, war
+neben einer bauchigen Champagnerflasche und langgestielten<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span>
+Kelchen aufgebaut. Durch das Zimmer zog
+der harzige Duft des Waldes.</p>
+
+<p>Herr Friedrich Leopold saß am Flügel. Er hatte
+nun schon dreimal seinen Vers gesungen, und als er jetzt
+den reizenden Weihnachtsengel hereinschweben sah, überkam
+ihn eine andere poetische Erinnerung aus der Kinderzeit.
+Da der Finger auf den Tasten streikte, so klatschte
+er kurz entschlossen den musikalischen Rhythmus mit den
+Händen und sang dazu begeistert und aus Leibeskräften:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Christkindchen, komm in unser Haus,</div>
+ <div class="verse indent0">Pack die große Tasche aus — —«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>»Donnerwetter,« unterbrach er sich bestürzt und
+sprang eilig auf die Beine. »Das war natürlich nur
+ein Versehen, meine Allergnädigste, ein bloßes Vergreifen
+in meinem Liederschatz. Sie werden mir im Ernst nicht
+die bodenlose Unhöflichkeit zutrauen, von meinem lieben
+Gast das Mitbringen und Auspacken einer großen Tasche
+zu ergieren. Was singen wir nun?«</p>
+
+<p>Heinrich Springe setzte sich auf den Klavierstuhl,
+sann einen Augenblick nach, und bald begann der Flügel
+unter seinen Händen zu jauchzen und zu jubeln. Der
+Maler sah Hannes an, die neben ihm stand. »Kennen
+Sie das?« fragte er, ohne sich im Spiel zu unterbrechen.</p>
+
+<p>»Aus den Weihnachtsliedern von Peter Cornelius.«</p>
+
+<p>»Ah — — das überrascht mich. — — Die Lieder
+sind nicht sehr bekannt.«</p>
+
+<p>»Die Musiklehrerin, von der Schule her, hat sie
+mich gelehrt. Ich durfte zuweilen zu ihr kommen.«</p>
+
+<p>»Bitte, singen Sie,« und er begann von neuem.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p>
+
+<p>Ihr Blick fuhr blitzschnell von einem zum anderen;
+hilfesuchend, verwirrt. Ihr Herz begann in rasendem
+Tempo zu schlagen. Der Maler wartete, die Hände auf
+den Tasten; der alte Herr und Hans standen gespannt
+neben der Tanne. Da hob sie sich in den Schultern
+und trat, die Stirn zusammengezogen, dicht an das
+Instrument heran.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Wie schön geschmückt der festliche Raum.</div>
+ <div class="verse indent0">Die Lichter funkeln am Weihnachtsbaum.</div>
+ <div class="verse indent0">O fröhliche Zeit! O seliger Traum!«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Der Maler wandte während des Spiels den Kopf
+und nickte ihr zu: »Bravo!« Das half ihr über die
+Angst. Und sie sang so frisch und unbekümmert das
+Lied zu Ende, als wüßte sie von keinem Zuhörer.</p>
+
+<p>Heinrich Springe reichte ihr die Hand.</p>
+
+<p>»Sie haben ein schönes Organ,« sagte er, »und was
+mehr ist, Sie haben Seele. Wir müssen mehr miteinander
+musizieren. Topp, schlagen Sie ein!«</p>
+
+<p>»Sie spielen wundervoll,« stammelte sie und suchte
+mit den Augen den Geliebten.</p>
+
+<p>Den aber hatte Herr Friedrich Leopold bei den Rockaufschlägen
+genommen, ihn wach zu rütteln.</p>
+
+<p>»Sie sind an der Reihe, mein Sohn! Es geht ein
+Rundgesang an unserem Tisch herumvidiwum!«</p>
+
+<p>»Ich lebe seit Jahren im Stimmbruch, Herr von
+Springe.«</p>
+
+<p>»Sie brauchen auch gar nicht zu singen; lassen Sie
+Ihre Muse singen; die ist doch so Gott will über den
+Stimmbruch erhaben. Sie Drückeberger sind der einzige,
+der heute abend nichts geleistet hat.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p>
+
+<p>»Ich habe Ihnen Fräulein Stahl gebracht,« sagte
+Hans mit einer Verbeugung.</p>
+
+<p>»Wahrhaftig,« beeilte sich der alte Herr und erwiderte
+die Verbeugung tief. »Ich werde beim Papst
+darum einkommen, daß man Sie für diese Tat heilig
+spricht.«</p>
+
+<p>Darauf ließ er mit einem Knall den Sektpfropfen
+an die Decke springen.</p>
+
+<p>»Noch nicht, Vater,« bat der Maler. »Horcht! Das
+paßt in die Stimmung.«</p>
+
+<p>Vom nahen Klösterchen in der Oststraße klangen die
+Glocken zu einer weihnachtlichen Messe.</p>
+
+<p>»Hast du wirklich kein neues Gedicht verfaßt, Hans?«
+fragte der Maler. »Wir bilden doch eine Familie.«</p>
+
+<p>»Hans dichtet?« rief Hannes überrascht. »Ach —
+ich meinte — Herrn Steinherr.«</p>
+
+<p>»Herrn Steinherr?« versetzte der alte Herr trocken.
+»Hier gibt es nur einen Hans; und der dichtet in der Tat.«</p>
+
+<p>»Ein Weihnachtsliedchen,« sagte Hans mit leiser
+Stimme, und es trat feierliche Stille ein.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Komm, komm — — — — —!</div>
+ <div class="verse indent0">Die Weihnachtsglocken läuten. — —</div>
+ <div class="verse indent0">Du sollst das Lied mir deuten,</div>
+ <div class="verse indent0">Ganz leis, ganz fromm.</div>
+ <div class="verse indent0">Dort auf dem Tannenmoos,</div>
+ <div class="verse indent0">Von Zweigen überhangen,</div>
+ <div class="verse indent0">Laß, Liebste, dich umfangen</div>
+ <div class="verse indent0">Auf meinem Schoß.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Still, still — — —!</div>
+ <div class="verse indent0">Was können Worte sagen?</div>
+ <div class="verse indent0">Ich spür’s an seinem Schlagen:</div>
+ <div class="verse indent0">Dein Herz, es will —</div>
+ </div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p>
+
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Will aus dem Glockenklang</div>
+ <div class="verse indent0">Mir eine Mär’ verkünden,</div>
+ <div class="verse indent0">Die ich nicht konnt’ ergründen</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Leben lang.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Du! Du! — — —</div>
+ <div class="verse indent0">O, laß mich weiter hören!</div>
+ <div class="verse indent0">Mit keinem Hauche stören</div>
+ <div class="verse indent0">Will ich die Ruh’.</div>
+ <div class="verse indent0">Weich nicht verwirrt zurück —</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Lachen und ein Singen</div>
+ <div class="verse indent0">Will dich und mich bezwingen</div>
+ <div class="verse indent0">Von innrem Glück.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Bald, bald — — —!</div>
+ <div class="verse indent0">Und wieder brennen Kerzen,</div>
+ <div class="verse indent0">Und Glockenruf im Herzen</div>
+ <div class="verse indent0">Uns widerhallt.</div>
+ <div class="verse indent0">Was heiß in uns gegärt,</div>
+ <div class="verse indent0">Die Wünsche, die wir spannen</div>
+ <div class="verse indent0">Zu Weihnacht unter Tannen</div>
+ <div class="verse indent0">— Gewährt, gewährt!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Dann, dann — — — — —!</div>
+ <div class="verse indent0">O jetzt noch schweigen müssen!</div>
+ <div class="verse indent0">Sprich’s aus in tausend Küssen,</div>
+ <div class="verse indent0">Was ich gewann. — —</div>
+ <div class="verse indent0">Horch, in den Lüften blieb</div>
+ <div class="verse indent0">Der Weihnachtsglocken Klingen,</div>
+ <div class="verse indent0">Und unsre Seelen singen:</div>
+ <div class="verse indent0">Ich hab’ dich lieb. — — —«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Er blieb unter der Tanne stehen und blickte, weltvergessen,
+sein Mädchen an, dem die Kniee zitterten. Sie
+hätte sich ihm an den Hals geworfen, trotz des fremden
+Ortes, trotz der fremden Menschen, wenn sie vermocht
+hätte, sich von der Stelle zu rühren. Ihr ganzes Wesen
+war in Aufruhr.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p>
+
+<p>Heinrich Springe schenkte die Gläser voll und wortlos
+reichte er sie herum. Dann trat er auf Hans zu
+und legte ihm den Arm um die Schulter.</p>
+
+<p>»Das soll das Wort sein, das diesem Tag die Weihe
+gibt: ›Ich hab’ dich lieb.‹ Komm, nenne mich du.« —</p>
+
+<p>Noch ein halbes Stündchen blieben sie beisammen.
+Dann ging der Maler an den Flügel.</p>
+
+<p>»Noch ein Abschiedslied,« sagte er und intonierte
+die Melodie. »Kennen Sie es wiederum, Fräulein
+Johanna?«</p>
+
+<p>»Aus den Brautliedern von Cornelius,« erwiderte
+sie leise und setzte ein.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Nun, Liebster, geh und scheide — — —</div>
+ <div class="verse indent0">Morgen ist auch noch ein Tag. — Morgen, morgen, morgen ...«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Und das »morgen« klang liebeschwer, sehnsuchtsvoll
+und wunderbar trostreich. — —</p>
+
+<p>»Mein Dichter,« flüsterte sie erregt, als sie durch
+den Winterabend heimschritten, »du wirst so groß, so
+berühmt werden ...«</p>
+
+<p>»Ich habe ja alles von dir!« rief er leidenschaftlich
+und preßte ihren Arm. »Ich dürfte dich nie verlieren.«</p>
+
+<p>Da stieg ein seltsam neues Gefühl in ihrer jungen
+Brust auf. Das zärtliche Muttergefühl des Weibes für
+den Geliebten. —</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-169.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Achtes_Kapitel_Buch_1">Achtes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Die Abiturienten des Düsseldorfer Gymnasiums standen
+im Examen, während sich die Stadt zum Empfang
+des Prinzen Karneval rüstete.</p>
+
+<p>Hans Steinherr stürmte aus dem Schultore heraus
+auf die Alleestraße. Ohne sich zu besinnen, eilte er
+quer über die Straße nach der Droschkenhaltestelle am
+Alleeplätzchen.</p>
+
+<p>»Grafenbergerchaussee,« rief er dem Kutscher zu.
+»So schnell Sie können.«</p>
+
+<p>Er rasselte am Gymnasium vorüber und warf einen
+triumphierenden Blick auf den nüchternen, grauen Kasten.
+Dann lehnte er sich wie ein Grandseigneur in die Polster
+zurück und musterte stolz die Passanten der Schadowstraße.
+Der Wagen fuhr dicht am Trottoir vorbei.</p>
+
+<p>»Halt!« rief Hans plötzlich und war mit einem
+Sprunge aus der Droschke heraus. Er hatte Hannes
+gesehen.</p>
+
+<p>»Bestanden!« jubelte er ihr zu. »Vom Mündlichen
+dispensiert! Als einziger!«</p>
+
+<p>Sie konnte nicht sprechen. Sie faßte scheu nach seiner
+Hand und umklammerte sie. Das Gefühl seiner Bedeutung
+wuchs bei ihr ins Abenteuerliche.</p>
+
+<p>»Nun? Keinen Glückwunsch?« lachte er obenhin.<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span>
+Seine Gedanken waren noch bei der Zensurenverkündigung.</p>
+
+<p>»Doch, doch,« stammelte das Mädchen und hielt noch
+immer die Hand umklammert.</p>
+
+<p>»Ich habe Eile,« belehrte er sie. »Meine Eltern
+warten. Wenn ich eben kann, bin ich heute abend bei
+euch.«</p>
+
+<p>Sie sah ihm nach, wie er mit einer wichtigen Miene,
+die sie nie an ihm gekannt hatte, im Wagen davonrollte.
+Als sie weiter ging, traf sie auf Willibald Hüsgen.</p>
+
+<p>»He, Hannes, weißt du schon? Der Kerl, der Steinherr,
+hat mal wieder Dusel entwickelt. Ach so« —
+unterbrach er sich mit einem hämischen Ton — »seitdem
+wir so feinen Umgang haben, wollen wir wohl Fräulein
+und Sie genannt werden. <span class="antiqua">O, excusez!</span> Soll prompt
+geschehen.«</p>
+
+<p>»Wie steht es mit <em class="gesperrt">Ihrem</em> Examen?« fragte Hannes
+freundlich.</p>
+
+<p>»Gott, der Blödsinn! Wird gemacht. Das ist doch
+sonnenklar. Alles auf natürlichem Wege, ohne gegenseitige
+Aufregung. Der Streber, der Steinherr, nee,
+wie sich der Mensch hatte! Wie ’ne Petroleumlampe
+mit Explosionsgefahr. Ich hab’ Tag für Tag nicht einen
+Schoppen weniger getrunken. Weshalb auch? Als das
+Schriftliche vorüber war, hört’ ich den Direx zum Schulrat
+sagen: ›Er will nur Maler werden.‹ — So’n Esel!
+Als ob man im Vollbesitz der griechischen Grammatik
+auch nur ’nen ollen griechischen Gipskopp zeichnen könnte!«</p>
+
+<p>Sie nickte, ohne weiter hinzuhören, ihm zu und wollte
+an ihm vorüber.</p>
+
+<p>»Hören Sie mal, Hannes, was ich noch sagen wollte.«<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span>
+Er vertrat ihr den Weg. »Nun werden Sie doch wieder
+vernünftig werden, wie? Die Fisimatenten mit dem
+Bengel, dem Steinherr, die sind doch nun ex? Der
+wird jetzt irgend ein feines Korpsstudentchen und fragt
+den Deubel nach Ihnen. Bei uns aber, im Gaudeamus,
+da wird’s jetzt fidel, wenn ich erst von der Penne
+los bin. Lassen Sie mich nur in acht Tagen statt des
+Abiturientenkittels die Sammetjacke anhaben. Ich glaub’,
+ich könnt’ Sie gut brauchen.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn eine Sekunde lang starr an, drehte ihm
+schweigend den Rücken zu und ging den Weg zurück,
+den sie gekommen war. Mit offenem Munde staunte
+ihr Hüsgen nach.</p>
+
+<p>»Na wart, du!« knurrte er und schaute sich um,
+ob keiner sein Fiasko bemerkt hätte, »dir werd’ ich
+deinen dämlichen Hochmut anstreichen. Hat sich was mit
+deinem Getue. Alberne Gans!«</p>
+
+<p>Und er wippte, den Gang des Mädchens nachahmend,
+hinter ihr her und verschwand in der väterlichen Wirtschaft.</p>
+
+<p>Hans Steinherr war, zu Hause angelangt, sofort in
+das Eßzimmer gestürmt. Herr Philipp Steinherr befand
+sich bereits daheim. Er sah darauf, daß pünktlich um halb
+eins zu Mittag gespeist wurde. Grämlich saß er bei
+Tisch und las in einer englischen Zeitung.</p>
+
+<p>»Nun?« begrüßte er den Sohn. »Du bist ja ausnahmsweise
+von einer unheimlichen Pünktlichkeit. Bitte,
+Margot, klingle, damit sofort serviert wird. Die Fabrik
+wartet auf mich.«</p>
+
+<p>»Bestanden, Papa! Ich habe das Examen bestanden!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span></p>
+
+<p>»Das ist doch wohl selbstverständlich. Zu dem Zweck
+geht man nämlich auf die Schule.«</p>
+
+<p>»Aber glänzend bestanden, Papa, summa cum laude,
+und vom Mündlichen dispensiert!«</p>
+
+<p>»Sieh mal an, unser junger Mann!« Die steinernen
+Züge Philipp Steinherrs hellten sich ein wenig auf.
+»So ist’s recht. Ahm deinem Vater nach. Immer aufs
+Ganze, und dem kleinen Gelichter den Daumen aufs
+Auge, so nur kommt man hoch. Man soll die Steinherrs
+noch einmal adeln — wenn wir wollen.«</p>
+
+<p>»Mama,« begann Hans aufs neue, »ich weiß nicht,
+ob du zugehört hast, ich bin Student!«</p>
+
+<p>Frau Margot winkte ihn herbei und reichte ihm die
+Hand.</p>
+
+<p>»Das ist ja schrecklich,« versuchte sie zu scherzen.
+»Ein so großer Sohn, ein erwachsener Student, das
+kompromittiert mich ja geradezu. Nimmst du denn gar
+keine Rücksicht auf deine junge Mama?«</p>
+
+<p>»Margot,« unterbrach Philipp Steinherr verstimmt,
+»ich hatte doch schon vor geraumer Zeit gebeten, daß
+serviert würde. Vielleicht hast du jetzt die Güte, das
+Zeichen zu geben.«</p>
+
+<p>Das Mahl wurde, wie immer, einsilbig verzehrt. Herr
+Philipp Steinherr hatte die kleinbürgerliche Sitte, die in
+den Stunden der Mahlzeit nicht eine freundliche Erholung,
+sondern nur eine notwendige hastige Stoffzufuhr
+sieht, aus jenen Tagen beibehalten, da er selbst noch zu
+den kleinen Leuten zählte. Sie saß wie ein Flicken auf
+einem Gesellschaftsrock, und Frau Margot sah mit kühler
+Überlegenheit darüber hinweg.</p>
+
+<p>Hans war es von Kind an nicht anders gewöhnt.<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span>
+Und doch hatte er im stillen gehofft, daß heute, an
+seinem Ehrentage, die Tischregel durchbrochen werden
+würde. Er hatte das Herz so übervoll, und er empfand
+eine leise Enttäuschung, daß keiner es gewahren wollte,
+daß man ihn nicht zum Schwatzen und Lachen animierte,
+daß alles blieb wie an Werkeltagen.</p>
+
+<p>Beim Dessert übergab der Diener dem Hausherrn
+einen Brief. Philipp Steinherr las ihn, sah scharf zu
+seinem Sohn hinüber und steckte das Papier in die
+Tasche. Dann schälte er seine Orange weiter, aß die
+Frucht bis auf die Kerne und erhob sich.</p>
+
+<p>»Mahlzeit,« sagte er zu seiner Frau, und sie neigte
+leicht den Kopf.</p>
+
+<p>Als er schon in der Tür stand, wandte er sich noch
+einmal um.</p>
+
+<p>»Du kannst nachher mal auf mein Zimmer kommen,
+Hans. Ich möchte einiges mit dir besprechen.«</p>
+
+<p>Wenige Minuten später stand Hans im Arbeitszimmer
+seines Vaters.</p>
+
+<p>Philipp Steinherr saß, das Fenster im Rücken, in
+einem Lehnstuhl. Sein Gesicht war beschattet, aber die
+Augen durchforschten scharf den vor ihm Stehenden.
+Eine Weile blieb es still zwischen Vater und Sohn.
+Dann sagte der Großfabrikant und deutete lässig auf
+einen Stuhl: »Du kannst dich setzen.«</p>
+
+<p>Hans nahm Platz. Er wartete respektvoll, was der
+Vater ihm zu sagen haben würde.</p>
+
+<p>Noch einmal musterten die scharfen Augen den Sohn.
+Aber die Stimme klang ruhig und geschäftsmäßig.</p>
+
+<p>»Du wirst also zu Ostern zur Universität abgehen.
+Selbstverständlich wählst du das Studium der Jurisprudenz.<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span>
+Ein Großindustrieller muß heute so gut Jurist
+sein, wie der Leiter einer großen Bank.«</p>
+
+<p>»Papa,« warf der junge Mann kleinlaut ein,
+»Jurist —?«</p>
+
+<p>»Ja, Jurist. An etwas anderes hattest du doch
+wohl nicht gedacht?«</p>
+
+<p>»Doch, Papa; ich will dir die Wahrheit gestehen.
+Die Juristerei hat nie etwas Anziehendes für mich gehabt.«</p>
+
+<p>»Du sollst sie auch nicht zum Vergnügen erlernen,
+sondern für das Geschäft.«</p>
+
+<p>»Ach, Papa, fürs Geschäft bist du doch da. Mich
+brauchst du doch wahrhaftig nicht.«</p>
+
+<p>»Und wenn ich <em class="gesperrt">nicht</em> mehr da bin? Daran hast
+du wohl gar nicht gedacht?«</p>
+
+<p>»Nein, Papa, daran will ich auch nicht denken.«</p>
+
+<p>»Das macht deiner Pietät Ehre, nicht aber deinem
+praktischen Verstand. Laß dir sagen, mein Junge, daß
+man bei der wirtschaftlichen Stellung, die wir im Staate
+einnehmen, nicht mit Gefühlen rechnet, sondern mit der
+stahlharten Erkenntnis der Pflichten. Umso besser wirst
+du alsdann die Pietät pflegen können, wie ich sie verstehe.«</p>
+
+<p>»Welche Pflichten meinst du, Papa? Wenn ich mich
+bestrebe, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu
+werden —«</p>
+
+<p>»Nützliches Mitglied der Gesellschaft! Was sind das
+wieder für jugendtörichte Phrasen. Die Gesellschaft soll
+<em class="gesperrt">uns</em> ein nützliches Mitglied werden. Verstehst du den
+kleinen Unterschied? <em class="gesperrt">Wir</em> sind in erster Linie die Erhalter
+und Ernährer des Staates, wir, die größte<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span>
+Steuerkraft des Landes. Wir sind die Ernährer und
+damit auch die Bändiger der Arbeitermassen, wir, die
+Großindustrie. <em class="gesperrt">Wir</em> halten das Zünglein an der Wage.
+Und dafür gebührt es sich, daß man uns Äquivalente
+zahlt. Freiwillig geschieht das nicht. Das ist ein beständiges
+Markten und Feilschen, und es kommt darauf
+an, wer die hellsten und härtesten Köpfe hat, den Profit
+zu erzwingen.«</p>
+
+<p>»Den Profit? Ich denke, du sprichst von Idealen?«</p>
+
+<p>»Ideale? Im Volksleben? Im Wirtschaftskampf?
+Ach, du armer Schwarmgeist, es ist Zeit, daß deine
+Kathederweisheit unter den Schmiedehammer kommt.
+Ideale! Das ist auch so ein Ding, das noch niemand
+je mit Augen gesehen hat, so wenig wie den lieben Gott.
+Ein jeder macht sich ein Bild davon, aber just immer
+ein Bild, wie es ihm in seinen Kram paßt. In diesem
+Sinne lass’ ich die Ideale gelten. Als gesunde Selbstsucht
+nämlich. Das stellt zwar deine Begriffe von der
+Sache auf den Kopf.«</p>
+
+<p>»Wie kannst du nur so sprechen, Papa!«</p>
+
+<p>»Ich spreche in vollem Ernst. Und weil ich mich
+bemühe, dich als einen nunmehr erwachsenen Menschen
+anzusehen, laß ich die Ammenmärchen, die für das
+Proletariat gut sind, beiseite und spreche zu dir als
+Mann zum Mann. Ich spreche zu meinem dereinstigen
+Nachfolger. Und ich wünsche, daß du mich gut verstehst;
+zu deinem Besten. Es handelt sich für uns nicht
+darum, das Gros der lieben Mitmenschen auf ein höheres
+Niveau zu heben, sondern es handelt sich darum, unablässig
+unsere Position zu erweitern und zu stärken.
+Die Wohlfahrtsapostel, auch die aus unseren Gesellschaftskreisen<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span>
+sind wirre Köpfe, überspannte Flagellanten,
+die sich selbst eine Geißel binden, um sich einen Erlösergeruch
+zu geben. Ach du lieber Gott, diese Art Erlösergedanke
+wird Wahrheit werden, wenn es — keine Menschen
+mehr geben wird. Solang es aber noch zwei
+Menschen gibt, wird der eine Hammer und der andere
+Amboß sein. Ich glaube, da fällt dir die Wahl nicht
+schwer.«</p>
+
+<p>»Und das Edle im Menschen, Papa? Daran müssen
+wir doch auch glauben?«</p>
+
+<p>»An das Edle? Warum denn nicht! Aber das
+bleibt doch ein ganz persönlicher Luxusgegenstand. Wohl
+dem, der sich alle Tage ein Pöstchen darin leisten kann,
+ohne in den realeren Dingen des Lebens in Konkurs
+zu geraten. Die realeren Dinge gehen nämlich vor,
+oder du wirst mit deinem schönsten Edelsinn von dem
+Volk da, dem du ihn widmen willst, zertrampelt. Füll
+den Leuten den Magen; das übrige laß ihre Sorge sein.«</p>
+
+<p>»Papa, ich glaube nicht, daß ich mich zu dieser Anschauung
+durchringen kann.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Junge, so reden alle Kronprinzen.
+Wenn du erst die Macht in die Hände bekommst, wirst
+du nichts Eiligeres zu tun haben, als dich zum Regime
+deines Vorgängers zu bekennen. Dann liegt der Knüppel
+plötzlich beim Hunde. Das ist mehr als berechtigte Notwehr,
+das ist der Selbsterhaltungstrieb, der die Wurzeln
+eines jeden geordneten Staatswesens bildet.«</p>
+
+<p>»Du magst gewiß recht haben, Papa, aber alles,
+was mit hoher Politik zusammenhängt, liegt mir so
+fern.«</p>
+
+<p>»Ach was,« entgegnete Philipp Steinherr und bewegte<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span>
+ärgerlich die Hand. »Hohe Politik! Für uns ist
+<em class="gesperrt">das</em> hohe Politik, was uns am nächsten steht. Und
+das ist bei allen anderen, wie sie sich auch nennen, haarscharf
+ebenso. Klammere dich um Gottes willen nicht
+an die großen Worte! Die Politik ist immer der Egoismus
+der einzelnen, die sich aus Interessengemeinschaft zu
+einer Vielheit zusammengetan haben. Merk dir das
+Wort ›Interesse‹. Es allein bewegt die Welt.«</p>
+
+<p>Hans sah still und gedrückt vor sich nieder.</p>
+
+<p>»Papa,« sagte er endlich und wagte ein kleines
+Lächeln, »du hast ja deine Interessen so gut wahrgenommen,
+daß du dir nun auch einmal einen Luxus
+gestatten könntest.«</p>
+
+<p>»Und der wäre?«</p>
+
+<p>»Laß deinen Sohn werden, was er möchte. Ich
+habe doch so gar keine Neigung zur Fabrik. Sieh,
+Papa,« fuhr er hastig fort, als er an seinem Gegenüber
+ein schnelles Auffahren bemerkte, »wir sind doch reich.
+Und der Zweck des Reichtums ist doch, daß er uns in
+den Stand setzt, unserem Leben unbehindert von materiellen
+Sorgen ein Ziel zu geben, uns darin auszuleben.
+Ich möchte es, Papa. Ich will ja arbeiten wie du,
+aber auf meine Weise. Es kommt doch nicht darauf
+an, nur Geld aufzuhäufen, viel, viel mehr, als man
+je gebrauchen kann. Auf die innere Befriedigung kommt
+es doch an.«</p>
+
+<p>»Und wie hattest du dir das mit der Fabrik gedacht,
+wenn ich mal nicht mehr bin?« fragte Philipp Steinherr
+kalt. »Denn jetzt wirst du dir doch etwas gedacht haben?«</p>
+
+<p>»Die Fabrik — —? O, die würde doch ein anderer
+übernehmen und sicher besser leiten als ich.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p>
+
+<p>»O, die würde!« spottete Philipp Steinherr ihm
+nach. »Das denkst du dir so ganz einfach. Da kommt
+einfach ein Wildfremder und setzt sich in das weiche
+Bett, das ich, Philipp Steinherr, mit Daransetzung eines
+ganzen Lebens, unter Hergabe aller Kräfte, unter tausend
+Sorgen und Mühen zurechtgemacht habe. Nein, mein
+Junge, so haben wir nun doch nicht gewettet. Die
+Werke da draußen, <em class="gesperrt">ich</em> hab’ sie gegründet, <em class="gesperrt">ich</em> hab’ sie
+aus dem Nichts geschaffen und jeden Skrupel zurückgedrängt,
+wenn es hieß: vorwärts! Ja, glaubst du
+denn, das hätt’ ich lediglich zum Pläsier meines Herrn
+Sohnes getan? Nur damit der junge Herr in der Lage
+wäre, sich seine Tage so amüsant wie möglich zu gestalten?
+An dich, mein Junge, habe ich überhaupt nicht
+gedacht. Ich habe nur an den Namen Steinherr gedacht,
+den ich vom Aushängeschild einer Schmiede an
+die Tore eines der größten Werke angeschlagen habe.
+Und da soll er stehen bleiben, solange es einen Steinherr
+gibt. An dem Namen soll niemand mehr rütteln
+und jeder sich beim Lesen an mich erinnern! Das war
+<em class="gesperrt">mein</em> Lebensideal, wenn du absolut von Idealen hören
+willst.«</p>
+
+<p>Er hatte sich erhoben und pochte mit den Knöcheln
+kurz und hart auf den Schreibtisch.</p>
+
+<p>Auch Hans war aufgestanden. Er war bleich und
+kämpfte mit sich selbst.</p>
+
+<p>»Papa,« sagte er langsam, »du hast vorhin von
+gesunder Selbstsucht und berechtigtem Egoismus gesprochen.
+Ich möchte die Lehre auch für mich in Anspruch
+nehmen. Mich treibt alles zur Kunst. Ob mein
+Talent ausreichen wird, ausübender, selbstschaffender<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span>
+Künstler zu werden, kann ich heute nicht sagen. Aber
+laß mich den Versuch machen und laß mich gleichzeitig
+Kunstgeschichte studieren.«</p>
+
+<p>Philipp Steinherr wandte sich ab. Er wollte den
+Sohn das überlegene Lächeln, das über seine Züge
+flog, nicht sehen lassen. Künstler! Kunstgeschichte! Er
+hatte Schlimmeres erwartet. Weshalb sollte sich ein
+Großindustrieller in seinen Mußestunden nicht mit der
+Kunst beschäftigen. Ein jeder ritt eben sein Steckenpferd.
+Und daß der Junge nicht an der Kunst hängen
+bliebe, dafür wollte er schon sorgen. Der Mensch ist
+das Produkt seiner Umgebung.</p>
+
+<p>»Ich mache dir einen Vorschlag, Hans,« erwiderte
+er nach einigem Besinnen. »Du versprichst mir, regelrecht
+Jura zu studieren, bis zum Doktor. Das Staatsexamen
+schenke ich dir. Ich stelle dir dafür frei, auch
+kunstgeschichtliche Vorlesungen zu hören und dich, soweit
+es deine Zeit gestattet, auch selbst in den ›freien Künsten‹
+zu üben. Du gehst zunächst nach Bonn. Ich wünsche,
+daß du in ein Korps eintrittst. Nach dem ersten Semester
+dienst du dein Jahr bei den Bonner Husaren
+ab. Später kannst du Heidelberg wählen und zum
+Schluß Berlin. Unterdes werden sich deine Meinungen
+oder deine Talente geklärt haben. Du siehst, ich komme
+dir entgegen, und nun sind wir, denke ich, <span class="antiqua">all right</span>!«</p>
+
+<p>Er hielt ihm die Hand hin, und Hans, froh ein
+Zugeständnis erlangt zu haben, legte die seine hinein.</p>
+
+<p>Philipp Steinherr lächelte geringschätzig. Weiches
+Wachs, der Junge. — —</p>
+
+<p>Hans war schon in der Tür, als ihn der Vater
+zurückrief.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span></p>
+
+<p>»Du, noch eins. Was kommen mir da für tugendhafte
+Dinge zu Ohren?« Er faßte ihn vorn an der
+Weste und schüttelte ihn mit gutgespielter Gemütlichkeit
+hin und her. »Ich darf doch wenigstens hoffen, du hast
+dich anständig betragen? Du Duckmäuser, du!«</p>
+
+<p>»Hat man über mein Betragen geklagt, Papa?«
+fragte Hans verdutzt.</p>
+
+<p>»Die, welche es angeht, wird sich hüten. Hat wohl
+auch keinen Grund dazu. Aber ich bitte mir aus, daß du
+ihr auch keinen Grund mehr gibst. Na ja, es ist ja
+gut. Ich will dir keinen Sermon halten. Wer hat
+nicht auch seine kleine Schülerliebelei gehabt? Aber
+nun ordne mir die Sache schnell und bündig, damit du
+mit klarem Kopf ins Studentenleben gehst!«</p>
+
+<p>Er wollte ihn mit einem vertraulichen Klaps abschieben,
+aber Hans blieb stehen.</p>
+
+<p>»Hast du mir noch etwas mitzuteilen, Hans? Dann
+bitte kurz. Ich habe mich bereits über Gebühr verspätet.«</p>
+
+<p>»Ich habe dir nur mitzuteilen, Papa, daß du dich
+irrst.«</p>
+
+<p>Schwer kamen die Worte heraus, aber sie waren
+nachdrücklich gesprochen. Philipp Steinherr horchte auf
+und maß den Sohn von oben bis unten.</p>
+
+<p>»Wenn du vorhin auf die Verehrung anspieltest, die
+ich für Fräulein Johanna Stahl hege — und ich wüßte
+nicht, wen anderes du meinen solltest —«</p>
+
+<p>»In der Tat. Fahre nur fort, du machst mich begierig.«</p>
+
+<p>»Papa,« sagte Hans und trat auf ihn zu, um seine
+Hand zu ergreifen. Doch Steinherr übersah die Bewegung.<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span>
+»Papa, ich sehe ein, daß du Grund hast,
+böse zu sein. Verzeih mir. Ich hätte es dir selber
+sagen sollen. Und ich wollte es dir auch sagen, nur
+jetzt noch nicht, wo ich noch so gar nichts geleistet habe.«</p>
+
+<p>»Sehr rücksichtsvoll, obwohl deine Streifzüge die
+Spatzen von den Dächern pfeifen. Trotzdem: ich will
+dir deine Dummheiten verzeihen. Ich sagte ja schon:
+in <em class="gesperrt">den</em> Jahren begeht jeder seine Jugendeselei. Aber
+nun auch rechtzeitig Schluß gemacht. Jedenfalls wünsche
+ich von der sauberen Angelegenheit nichts mehr zu
+hören.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr sah seinen Vater entgeistert an.</p>
+
+<p>»Du mußt mich nicht recht verstanden haben,« murmelte
+er, »oder — oder man hat dich falsch unterrichtet.«</p>
+
+<p>»Bist du noch immer nicht zu Ende? Du stellst
+meine Geduld auf eine lange Probe.«</p>
+
+<p>»Du hast davon begonnen, Papa; jetzt mußt du
+mich auch aussprechen lassen. Wünschest du, daß ich
+mich kurz fasse?«</p>
+
+<p>»Ob ich es wünsche!«</p>
+
+<p>Der Alte und der Junge standen sich dicht gegenüber.
+Keiner wich dem Blick des anderen aus. Und
+zum ersten Male las der Mann, der sich nie die Mühe
+gegeben hatte, in Menschenseelen zu lesen, in den Mienen
+seines Sohnes das Erbteil der niederrheinischen Heimat:
+die Hartköpfigkeit und das verhaltene brausende Temperament.</p>
+
+<p>Hans sah nichts von den zusammengezogenen Falten
+auf der Stirn des Vaters. Vor seinen Augen stand
+das scheue, zierliche Geschöpf, das so rührend in seinem<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span>
+Armutsstolz gewesen war, sich ihm nicht aufzudrängen;
+das ihn geflohen und ihn schlecht behandelt hatte, um
+nicht zu erliegen, und, als er sie dennoch endlich von
+seiner treuen Wahrhaftigkeit überzeugt hatte, ihm stets
+mehr gegeben hatte als er ihr. Er sah ihre furchtsamen
+Augen voll schreckhafter Spannung auf sich gerichtet, ob
+er mutig sein, ob er sie nicht verleugnen würde, und er
+sagte laut: »Ich liebe Johanna von ganzem Herzen.«</p>
+
+<p>»Das bezweifle ich keineswegs. Es fragt sich nur,
+wie lange du den Unsinn noch fortzusetzen gedenkst.«</p>
+
+<p>»Vater!«</p>
+
+<p>»Sag mir doch: wie alt bist du eigentlich?«</p>
+
+<p>»Zwanzig Jahre geworden.«</p>
+
+<p>»O! Ganz respektabel. Und die — die kleine
+Person?«</p>
+
+<p>»Sechzehn.«</p>
+
+<p>»Dacht’ ich’s mir doch. Sie soll sich ein Kinderfräulein
+nehmen und keinen Geliebten.«</p>
+
+<p>»Vater!« brauste Hans auf. Er war nicht wiederzuerkennen.
+Jede Spur von Farbe war aus seinem
+Gesicht gewichen, alles an ihm vibrierte, seine Nasenflügel
+bebten, die Augen waren weit aufgerissen.</p>
+
+<p>»Was fällt dir ein, Junge? Mäßige dich auf der
+Stelle!«</p>
+
+<p>»Mir fällt ein,« keuchte Hans, »dich zu bitten, daß
+<em class="gesperrt">du</em> dich mäßigst. Du hast kein Recht, ein Mädchen zu
+beschimpfen, das reiner und selbstloser ist als wir alle.
+Wenn du sie kennen lernst, wirst <em class="gesperrt">du</em> gewinnen, nicht sie.«</p>
+
+<p>»Du wärst im stande und brächtest sie mir ins Haus.«</p>
+
+<p>»O nein. Ich lasse sie nicht beleidigen. Aber in
+<em class="gesperrt">mein</em> Haus hoffe ich sie dereinst zu bringen. Und<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span>
+wenn sie später erst meinen Namen trägt, wird sie schon
+geschützt sein.«</p>
+
+<p>»Du hast wohl vergessen, daß du deinen Namen
+von mir hast. Darüber habe ich zu bestimmen. Und
+ich bestimme, daß, wenn ich es für an der Zeit halte,
+der Name nur in aufsteigender Linie vergeben wird.
+Vorläufig bist du mir noch zu kindisch, um dir meine
+Pläne auseinanderzusetzen.«</p>
+
+<p>»Über meine Gefühle hast du nicht zu bestimmen.
+Wenn ich das zuließe, wär’ ich nicht wert, einer anständigen
+Frau in die Augen zu sehen.«</p>
+
+<p>»Bist du toll geworden, Bursche? Ist deine Mutter
+vielleicht keine anständige Frau? Oder glaubst du, wir
+hätten uns nur unserer schönen Augen wegen genommen?
+Geh hin, schäm dich vor deiner Mutter, wenn du das
+bei deinem neuen Verkehr noch nicht verlernt hast.«</p>
+
+<p>»Meine — Mutter — —?« wiederholte Hans betäubt.
+Wachte er? Hatte er wirklich richtig verstanden?
+Seine Mutter hätte — nicht aus tiefstem, innersten
+Gefühl heraus — — Ja, war denn das überhaupt
+möglich? Konnte man eine Ehe schließen eines Namens
+und nicht einer Liebe wegen —? Er sah sich wirr um.
+Er war doch in seinem elterlichen Hause? Wo blieb
+denn sein Verständnis? Wo blieben alle seine jugend-begeisterten
+Argumente? Nichts, nichts regte sich in
+ihm. Es war ein Rauhreif auf seine junge Seele gefallen
+und fröstelnd ließ sie die Flügel hängen.</p>
+
+<p>Da schlich er scheu aus dem Zimmer. — —</p>
+
+<p>»Wohin?« fragte er sich im Treppenhaus.</p>
+
+<p>»Zur Mutter?«</p>
+
+<p>»Nicht, nicht!« Er hatte Angst, eine unsägliche<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span>
+Angst, er könnte sie nicht mehr verstehen. Und sie würde
+ihn auslachen.</p>
+
+<p>»Zu Frau Stahl? Zu Hannes?«</p>
+
+<p>Er hatte dem Mädchen versprochen, zu kommen. Aber
+wie sollte er ihr unter die Augen treten? Er, mit seinem
+schlechten Gewissen, das vor einer Stunde noch gut gewesen
+war, und das man ihm schlecht gemacht hatte.</p>
+
+<p>In seiner Kehle stieg es auf. Er weinte mit
+trockenen Augen. Alles war grau um ihn. Das würde
+sich nun nie mehr ändern. Nie mehr? Und der erste
+Schmerz der Jugendliebe ließ ihn sich aufbäumen, in
+einem titanenhaften Trotz, um ihn sogleich wieder niederzudrücken,
+ganz fest auf den platten Boden.</p>
+
+<p>»Heinrich von Springe!«</p>
+
+<p>Der Name fuhr ihm heraus. Springe mußte ihm
+beistehen, ihn wieder zu sich bringen. Der lachende
+Springe, der sich mit Tod und Teufel herumzuschlagen
+verstand und immer Sieger blieb. In seiner Erregung
+wuchs ihm der Freund zum Heiligen Georg. Der mußte
+es wissen. Der Springe, o ja! Der sah mit seinen
+ironischen Blicken allen Dingen auf den Grund und ließ
+sie nicht los, bis sie ihm Red’ und Antwort gestanden
+hatten. Aber auslachen — auslachen würde ihn Heinrich
+Springe nicht.</p>
+
+<p>Er eilte, so rasch ihn seine Füße trugen, zur Immermannstraße.
+An der nächsten Ecke traf er die Straßenbahn,
+aber er lief lieber hinter ihr her, als sich mit
+Menschen zusammen in einen engen, kleinen Raum zu
+setzen. Die stupiden Gesichter hätten ihn krank gemacht.</p>
+
+<p>Oben, an der Etagentür, zog er so heftig die Klingel,
+daß er selbst zusammenfuhr.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span></p>
+
+<p>Er hörte es gleich am Schritt: es war der Maler,
+der öffnen kam. Der alte Herr machte seinen gewohnten
+Nachmittagspaziergang.</p>
+
+<p>»Heinrich!« rief der verstörte junge Mensch und
+warf sich leidenschaftlich dem Freund an die Brust.</p>
+
+<p>Der drückte schnell die Tür ins Schloß und zog ihn
+ins Zimmer.</p>
+
+<p>»Gemach, gemach, mein großer Junge! Es wird
+schon zu reparieren gehen.«</p>
+
+<p>»Du weißt ja noch gar nicht, was geschehen ist —«</p>
+
+<p>»Ist das Examen nicht geglückt? Das wäre doch
+wunderbar.«</p>
+
+<p>»Das Examen? Ich hab’ es als Bester bestanden.
+Aber dann kam’s, heute mittag; erst des Studiums
+wegen, und als das endlich geregelt war, Johannas
+wegen. Man hat meinem Vater alles entstellt hinterbracht.
+Und auf Erläuterungen ließ er sich gar nicht
+ein. Er hat sie verächtlich abgetan, sie beschimpft
+und —«</p>
+
+<p>»Erzähle der Reihe nach,« sagte der Maler und
+legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Aufgeregte
+ist immer im Nachteil. Beim ersten Kanonenschuß läuft
+man nicht von dannen.«</p>
+
+<p>Hans bezwang sich. Der starke Wille des Freundes
+übte auf ihn seine Wirkung. Er ließ sich auf einen
+Stuhl niederdrücken und begann mechanisch herzusagen,
+was sich bei Tisch und nachher im Arbeitszimmer des
+Vaters zugetragen hatte. So monoton er sprach, er
+vergaß nicht das Nebensächlichste. Und ebenso berichtete
+er den Abschluß der Unterhaltung und die andeutenden
+Worte über seine Mutter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span></p>
+
+<p>Heinrich von Springe hatte, den Kopf in die Hand
+gestützt, zugehört. Die müde Beichte des Jungen war
+längst zu Ende, und immer noch saß der Maler in sich
+versunken im Stuhl. Da berührte eine zitternde Hand
+sein Knie.</p>
+
+<p>»Ja, ja. Gewiß. Ich habe verstanden.«</p>
+
+<p>Er erhob sich, öffnete die Tür zur Veranda, daß
+ein kalter Luftstrom über seine Stirn fuhr, schloß die
+Tür wieder und kam zurück.</p>
+
+<p>»Also helfen soll ich dir. Deshalb bist du doch gekommen.
+Einen Freundschaftsdienst verlangst du.«</p>
+
+<p>»Du wirst nicht können und auch nicht mögen.«</p>
+
+<p>»Nicht mögen? Man mag vieles nicht und schluckt’s
+doch herunter, wenn’s dienlich ist. So ein rechter
+Magen kann eine Menge vertragen — Und was das
+Können oder Nichtkönnen betrifft — darüber kann man
+als Mann erst urteilen, wenn man nach mißlungenem
+Experiment auf der Nase liegt. Bis dahin aber hat man
+schlankweg Courage zu haben.«</p>
+
+<p>Er ging ins Nebenzimmer, um sich zum Ausgehen
+anzukleiden. Hans folgte ihm wie ein Schatten.</p>
+
+<p>»Was willst du tun?«</p>
+
+<p>»Zunächst deiner Frau Mama meine Aufwartung
+machen. In Herzensangelegenheiten ist immer die Mutter
+die zuständige Instanz. Du bleibst ruhig hier. So,
+hier hast du ein Glas Wein; das trink mal aus, um
+die Lebensgeister aus den Winkeln zu locken. Wenn du
+müde wirst, leg dich auf das Sofa. Und damit: Gott
+befohlen.« —</p>
+
+<p>Heinrich Springe schritt, die Hände in den Taschen
+seines Paletots vergraben, durch den unfreundlichen<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span>
+Februartag. Er ging mit zusammengezogenen Brauen
+und fest aufeinandergepreßten Lippen. Und als wollte
+er sich ungerufener Bilder erwehren, beschleunigte er
+plötzlich seinen Schritt. Als er in die Grafenbergerchaussee
+einbog, schlug es in der Stadt fünf Uhr. Er
+blieb stehen und schöpfte Atem. Vor ihm lag das Steinherrsche
+Haus.</p>
+
+<p>»Weiß Gott, Mensch,« sagte er vor sich hin, »hast
+du gar selbst das Kanonenfieber?«</p>
+
+<p>Er zog die Hausglocke und gab dem öffnenden
+Mädchen seine Karte. »Für die gnädige Frau.«</p>
+
+<p>Wenige Minuten später, und er wurde in den Empfangssalon
+geführt. Er wartete.</p>
+
+<p>»Meine gnädige Frau — —«</p>
+
+<p>Sie war eingetreten, mit hastigem Schritt, und nun
+zögerte sie, mitten im Zimmer.</p>
+
+<p>»Ich weiß nicht, ob ich noch den Vorzug habe —«
+fuhr er fort, um ihr über die Peinlichkeit der Minute
+hinwegzuhelfen.</p>
+
+<p>»Haben Sie endlich den Weg zu mir zurückgefunden?«
+entgegnete sie zurückhaltend. »Es ist lange her, Herr
+von Springe. Sehr lange — —«</p>
+
+<p>»So lange, gnädige Frau, daß Ihr kleiner Irrtum
+leicht verzeihlich ist. Nicht ich war’s, der vom Wege
+abgekommen war.«</p>
+
+<p>»Kommen Sie nur, um mir das zu sagen? Der
+Heinrich Springe, den ich einmal kannte, war ritterlicher.«</p>
+
+<p>»Ich bitte um Verzeihung,« murmelte Springe. »Ich
+habe nicht das Recht, die Beweggründe Ihres Lebens
+zu prüfen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span></p>
+
+<p>»Aber Sie haben es getan. O ich weiß. Und ich
+kenne auch das Resultat. Sie kamen ja nicht wieder.«</p>
+
+<p>»Es wird Ihnen nicht schwer geworden sein, darüber
+zu lächeln, gnädige Frau. Was war an mir gelegen?«</p>
+
+<p>»Wir waren einmal glückliche Kameraden,« sagte
+sie, als besänne sie sich auf die Zeit. »Die Erinnerungen
+der Jugend laufen mit durch das ganze Leben und bestimmen
+den Wert aller späteren Eindrücke. Das ist
+bei mir nun einmal so. Möglich, daß ein Mann glücklicher
+darin ist.«</p>
+
+<p>»Nein,« erwiderte Springe fest, »ein Mann ist nicht
+glücklicher darin. Auch er ist von dem Gewinn oder
+Verlust seiner Jugend abhängig. Und deshalb sehen
+Sie mich heute vor sich. Nicht meinetwegen. Mein
+Konto ist geschlossen. Aber einer anderen Jugend wegen,
+der ich Sie zu helfen bitte, daß ihr die paar Ideale
+des Lebens erhalten bleiben, die uns wie ein paar gute
+Gottesgroschen jede dürre Zeit erträglich machen. Wenn
+Sie selber die Eindrücke, die wir aus der Jugend mitnehmen,
+so hoch eintaxieren, wie Sie soeben sagten, so
+werden Sie mich nicht als einen unnützen Bittsteller
+wegschicken.«</p>
+
+<p>»Sie stehen noch immer, Herr von Springe.«</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen für die Antwort.«</p>
+
+<p>Dann saßen sie sich stumm gegenüber und suchten
+unbewußt in ihren Zügen die Kinder von einst. — —</p>
+
+<p>»Ich komme wegen Hans,« brach der Maler endlich
+das Schweigen. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt
+ist, daß wir gute Freunde geworden sind.«</p>
+
+<p>»Ich habe es geahnt,« erwiderte sie leise. »Er hat
+mir nichts anvertraut. Hier geht jeder seinen Weg.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>»Sie haben es geahnt und keinen Einspruch erhoben.«</p>
+
+<p>»Ich wußte ihn in guten Händen.«</p>
+
+<p>Er rückte zusammen und sah sie mit maßlosem Erstaunen
+an.</p>
+
+<p>»Ja, ja; es ist so,« sagte sie mit einem Anflug von
+Lächeln. »Ich bin wohl doch nicht ganz so schlecht, wie
+Sie vermuteten.«</p>
+
+<p>»Frau Margot — —« entfuhr es ihm unbedacht.</p>
+
+<p>»Sie kennen also meinen Namen noch? Lieber Freund,
+nur der Name ist geblieben.«</p>
+
+<p>»Gnädige Frau,« sagte er mit Aufbietung aller
+Willenskraft. »So geht es nicht weiter. Ich gedenke
+tiefernste Dinge mit Ihnen zu besprechen, und Sie gedenken
+mit mir zu kokettieren.«</p>
+
+<p>»Wer sagt Ihnen, daß ich kokettieren will,« rief sie
+beinahe heftig. »Ist denn in Ihren Augen alles Lüge,
+alles Verstellung an mir? Muß ich denn, wenn ich
+mich einmal freue, von Herzen freue wie ein junges
+Mädchen, immer gleich wieder geduckt und gedemütigt
+werden? Gut, gut, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen
+gegenüber den Ton gebrauche, den ich für die ganze
+indifferente Menschheit gebrauche — o bitte, befehlen
+Sie nur, Sie können ihn haben.«</p>
+
+<p>»Frau Margot,« sagte er, beugte sich vor und faßte
+ihre Hände. »Meine liebe Frau Margot — —«</p>
+
+<p>Ihre Aufwallung ging vorüber. Aus seinen Händen
+strömte es in sie über wie eine Beruhigung.</p>
+
+<p>»Sind das Freundeshände?« lächelte sie. »Wie gut
+es doch mein Hans hat!«</p>
+
+<p>»Sie kokettieren nicht, gnädige Frau?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span></p>
+
+<p>»Doch, doch, ich kokettiere. Daß Sie es nur endlich
+wissen! Und wenn ich noch länger mit Ihnen kokettiere,
+werde ich Ihnen noch eingestehen, daß ich Sie vermißt
+habe. Mehr können Sie von einer koketten Frau nicht
+verlangen.«</p>
+
+<p>Springe hatte ihre Hände losgelassen und sich erhoben.
+Er sprach zu ihr. Und während er zu ihr
+sprach, blickte er über sie hinweg, in den winterlichen
+Garten, und sie konnte glauben, er spräche vielleicht nur
+zu sich selbst.</p>
+
+<p>»Ich habe Sie geliebt, Frau Margot, dabei ist nichts
+Unrechtes, denn wir waren Kinder. Wenn wir im
+Hausflur oder in einer Zimmerecke spielten, waren Sie
+die kleine Prinzessin und ich Ihr Page. Darunter taten
+wir’s nicht, denn wir wurden beide daheim mit großen
+Ansprüchen an das Leben erzogen und — hatten keinen
+Pfennig. Als ich die ersten langen Hosen erhielt, nahm
+ich mir vor, mich zum Ritter schlagen zu lassen, um
+Sie zu gewinnen. Wir haben damals oft ernsthafte
+Beratungen darüber gepflogen. Ich glaube, es wurde
+sehr viel Gefühl dabei verbraucht. So viel, daß für
+die Praxis wenig übrig blieb. Ich diente mein Jahr
+bei den Neununddreißigern ab, und Sie feierten Ihren
+siebzehnten Geburtstag. Als ich gratulieren kam, konnte
+ich gleich doppelt gratulieren. Dem Geburtstagskind und
+der glücklichen Braut. Ihr Vater mußte zugreifen, und
+Sie folgten den Spuren der Erziehung. Das war im
+Winter des Jahres achtundsechzig. Ein paar Monate
+daraus waren Sie verheiratet. Hm, ja, ich hab’ das
+verstehen gelernt. Ich wollte Maler werden. Wollte
+erst! Und, wie mein alter Herr immer zu sagen pflegte:<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span>
+Er war Maler, und sie hatte auch nix. Da konnte ich
+mir das Exempel schon zusammenrechnen. Dann wollte
+ich mir wenigstens ein Surrogat schaffen, und ich nahm,
+da es mit dem siegreichen Rittertum nichts geworden
+war, die Pagendienste wieder auf. Das war ein stiller,
+seliger Dienst, der nichts anderes wollte, als für Ihr
+Glück wachen. Aber als ich nach dem Feldzug aus Frankreich
+heimkehrte, hatte sich die Zahl der Pagen vermehrt
+und die Königin bedurfte meiner nicht mehr. Ich durfte
+zurücktreten und hinfüro meinen Erinnerungen leben.«</p>
+
+<p>»Nein, Heinrich,« rief Frau Margot erregt, »so war
+es nicht! Es war nicht meine Schuld. Sie gingen,
+weil mein Mann eine — eine — Geschäftspraxis gegen
+Sie und Ihren Vater geübt hatte, die Sie verletzen
+mußte. Wie können Sie mir die Verantwortung aufbürden!
+Ich verstand ja nichts von alledem und war
+schon so apathisch.«</p>
+
+<p>»Ach, meine gnädige Frau, Sie glauben, des entgangenen
+Geldes wegen wäre ich fortgeblieben?«</p>
+
+<p>»Weshalb — nur sonst?« entgegnete sie zögernd.
+Sein ironischer Ton hatte sie beschämt.</p>
+
+<p>»Muß ich es Ihnen wirklich aussprechen? Muß ich
+Ihnen sagen, daß ich den Glauben an Sie verloren
+hatte, weil Sie nichts, aber auch gar nichts taten, um
+ihn mir zu erhalten? Den Glauben an die Jugend
+und ihre starken Bande? Kein Freundeswort von Ihnen
+kam, kein Versuch wurde gemacht, mich wissen zu lassen,
+daß die Dinge, wie sie lagen, nichts zwischen uns beiden
+ändern dürften. Ich war für Sie erledigt, wie mein
+Vater für Ihren Gatten. Sie waren die große Dame,
+und ich der armselige Bilderstümper.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p>
+
+<p>»Heinrich,« fragte sie ganz leise, »haben Sie —
+haben Sie lange darunter gelitten?«</p>
+
+<p>Er gab keine Antwort.</p>
+
+<p>»Wollen Sie mir nicht erwidern? Auch dann nicht,
+wenn ich — wenn ich Ihnen sage, daß ich — bis heute
+— darunter gelitten habe? Ich bin ja heute eine alte
+Frau. Achtunddreißig Jahre! Da darf ich schon ein
+Geständnis wagen. Ja, ich habe unrecht an Ihnen gehandelt
+und unrecht an der Jugend. Und zur Strafe
+hat mich die Freudigkeit der Jugend verlassen, seit —
+Sie mich verließen. Meine Erinnerungen wollen nicht
+fröhlich werden. Ist das nicht Buße genug? Keine
+Rückschau zu haben, aus der man die Fröhlichkeit zieht?
+— Nun habe ich Sie wohl zufrieden gestellt.«</p>
+
+<p>Heinrich Springe beugte sich über ihre Hand. Er
+suchte nach Fassung.</p>
+
+<p>»Sie sind ja noch so jung,« murmelte er. »Mit
+achtunddreißig Jahren steht man mitten im Leben.«</p>
+
+<p>»O ja,« bestätigte sie bitter, »soweit die Lebewelt
+in Betracht kommt. Mitten drin! Das war doch die
+Ansicht. Aber die Gefühlswelt — ach, lieber Freund,
+klingt es in Ihren Ohren nicht lächerlich, mich von einer
+Gefühlswelt reden zu hören?«</p>
+
+<p>»Ich bedauere Sie.« —</p>
+
+<p>»Glauben Sie mir, was ich möchte? Noch einmal
+die Prinzessin im Hausflur und in den Zimmerecken
+sein. Mein Gefühlsleben haben wie einst. Ich wüßte
+dann, was Glück ist.«</p>
+
+<p>»So suchen Sie es. Es ist nie zu spät.«</p>
+
+<p>»Wollen Sie mir den Weg zurück zeigen?« fragte
+sie und sah ihn voll an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span></p>
+
+<p>»Ja, Margot,« sagte er, »ich will. Als ich Ihr
+Haus betrat, wußte ich nichts dergleichen. Ich kam
+wegen Ihres arg mitgenommenen Jungen. Helfen Sie
+ihm aus seinem Leid, und Sie helfen sich aus dem Ihren.
+Er liegt bei mir daheim und wartet auf mich, seinen
+Freund. Lassen Sie ihn wissen, daß er auch noch eine
+Freundin hat, die seine Schmerzen mit ihm versteht.
+Tragen Sie Sorge, daß ihm seine Jugend nicht verdorben,
+daß er nicht vor der Zeit alt und blasiert wird,
+und Sie werden die erste der fröhlichen Erinnerungen
+für sich gewonnen haben.«</p>
+
+<p>»Mein Mann hat mir schon davon gesprochen,«
+erwiderte sie nachdenklich. »Das Mädchen soll keinen
+legitimen Vater haben, und die Großmutter eine Arbeiterfrau
+sein.«</p>
+
+<p>»Das Mädchen ist rein, und überdies schön und klug
+und liebenswert. Für seine Geburt kann kein Mensch.
+Es hat allen Anspruch darauf, glücklich zu werden wie
+die Höchstgeborenen. Ich kenne die kleine Johanna
+und weiß, was sie Hans sein wird. Ich war mehrfach
+mit meinem Vater dort im Hause, denn mein biederer
+Alter macht der siebzigjährigen Großmutter die Cour,
+die eine Arbeitsfrau geworden ist, weil sie für die Erziehung
+ihres Enkelkindes arbeitet.«</p>
+
+<p>»Ich werde hingehen,« sagte Frau Margot und
+richtete sich auf. »Nein, nein,« wehrte sie glücklich, als
+er ihr die Hände küßte, »es ist noch eine Bedingung
+dabei. Erstens: Hans wird Vertrauen zu mir haben
+und ruhig mit seinem Vater abreisen, der eine kurze
+Italienreise plant. Und zweitens: Sie dürfen mich
+nicht mehr aufgeben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span></p>
+
+<p>»Frau Margot,« entgegnete er nur, »ich habe Sie
+wiedergefunden. Nun werden wir alle wieder jung
+sein.« — —</p>
+
+<p>Als er hastig seiner Wohnung zueilte, tobten ein
+paar verfrühte Fastnachtsläufer an ihm vorbei. Er war
+drauf und dran, ihr stürmisches »Helau!« mit dem
+gleichen Juchzer zu erwidern. Zwanzig Jahre waren
+von ihm abgefallen.</p>
+
+<p>Zu Hause fand er Hans auf dem Sofa ruhig eingeschlafen.</p>
+
+<p>Und er beugte sich lange über ihn, strich ihm das
+Haar aus der Stirn und suchte in dem Gesicht des
+Jungen nach den Zügen einer anderen Jugend.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-195.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Neuntes_Kapitel_Buch_1">Neuntes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Hans Steinherr trug die Farben eines der vornehmsten
+Korps der rheinischen Universität, und unter
+den Kommilitonen galt er als der Mann der Zukunft.
+In welcher Hinsicht, darüber stand die Ansicht bei den
+jungen Herren noch nicht fest. Aber daß ein Mann von
+seinen Mitteln, seinen Allüren, seinen Konnexionen —
+manche zählten auch seine Talente hinzu — eine glänzende
+Karriere machen würde, das sah der Blindeste ein.</p>
+
+<p>Als er aus dem krassesten Fuchsentum herausgeschlüpft
+war und wagen durfte, hin und wieder seine
+Stimme in die Wagschale zu werfen, erkannte er bald
+seine Geltung und seine Kräfte. Das gab ihm einen
+Anreiz. Es war nicht so sehr jugendliche Eitelkeit, als
+das stärkere Gefühl des Ehrgeizes, unter diesen scharf
+auf die Form sehenden Leuten aus den besten Häusern
+noch besonders hervorzustechen und über sie hinaus als
+das Muster eines untadelhaften Gentleman betrachtet
+zu werden. Er wurde tonangebend in seinen Anschauungen,
+wie im Schnitt seiner Kleider, und sein Ehrgefühl
+entwickelte sich aufs peinlichste. Galt es einen Ehrenhandel
+zu erörtern, Hans Steinherr gab das Votum;
+stand die Frage nach standesgemäßer Aufführung zur
+Verhandlung, Hans Steinherr entschied mit der Kaltblütigkeit<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span>
+eines alten Römers. Er hielt auf Klassenabstufungen
+wie kein zweiter. Als er zum ersten Male
+auf die Mensur gestellt wurde, schlief er in der vorhergehenden
+Nacht vor Aufregung nicht eine Sekunde und
+lag wie im Fieber. Aber als er auf der Tenne stand,
+und ihm aus einem wilden Durchzieher das Blut in
+den Mund lief, wehrte er sich störrisch dagegen, daß
+der Hieb als Abfuhr erklärt werde, und verlangte so
+lange auszupauken, bis der Korpsarzt erklärte, jede
+Verantwortung ablehnen zu müssen.</p>
+
+<p>Die neue Welt, die sich vor ihm auftat, nahm ihn
+ganz und gar gefangen, und in seinem jugendlichen
+Überschwang glaubte er bald, in ihr die einzige gefunden
+zu haben.</p>
+
+<p>»Geliebter Leibfuchs,« sagte ihm einmal sein in
+hohen Semestern stehender Leibbursch, dessen Worte er
+als heiligste Orakelsprüche zu betrachten pflegte, »du
+bist ein ganz famoses Haus, aber du zeigst zu viel dein
+Temperament. Deine Gefühle spiegeln sich auf deinem
+Gesicht auf zehn Meter Entfernung. Da liest man
+Sonnenschein und Gewitter im voraus, wie in der
+Zeitung. Mein Sohn, überlaß das den Kirmeßgästen,
+die mit ihrem Gefühlslärm hausieren gehen. Leute wie
+wir haben sich unter allen Umständen in der Zucht.«</p>
+
+<p>Und von Stund’ an überwachte der Schüler sein
+Mienenspiel, und er wurde nach Anweisung kalt und
+gemessen. Das schuf ihm ein neues Übergewicht.</p>
+
+<p>In den Hörsaal war er nur wenige Male gegangen.
+Das Korpsleben nahm ihn gänzlich in Anspruch. Und
+sein Vater rügte das keineswegs. Gute Verbindungen
+anknüpfen, schien dem Manne, der nur die realen<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span>
+Seiten eines jeden Unternehmens in Betracht zog, nicht
+der letzte Zweck der Universitätsjahre.</p>
+
+<p>Trotz der Nähe der Stadt und der guten Bahnverbindung
+hatte Hans Düsseldorf noch nicht wieder
+besucht. Er redete sich vor, daß er gerade während des
+schwächeren Sommersemesters im Korps unabkömmlich
+sei, und verschob den Besuch auf die Ferien. Insgeheim
+zwar peinigten ihn andere Gedanken. Die Menschen
+daheim — die Springes, Frau Stahl, Johanna —
+erschienen ihm seit kurzem in einem anderen Licht. Sie
+waren prächtige Menschen, ohne Frage, und er verdankte
+ihnen entzückende Stunden. Aber eigentlich und nur ein
+wenig streng genommen: sie waren doch ein bißchen
+arg altmodisch und als intimer Umgang doch wohl nicht
+so ganz zweifelsohne. Wenn er dachte, daß ihn einer
+seiner Korpsbrüder bei Frau Stahl Kaffee trinken sehen
+könnte, stieg ihm heiß das Blut in die Wangen. Die
+beiden von Springe, das war schon etwas anderes.
+Wenn nur nicht Heinrich so gräßlich radikal seine Ansichten
+zu äußern liebte und der alte Herr immer so
+komisch den Jugendlichen spielte! Und Johanna — —?</p>
+
+<p>Es gab Zeiten, wo ihn eine rasende Sehnsucht nach
+ihrer Zärtlichkeit packte und er in Gedanken seitenlange
+Briefe an sie entwarf. Kam er dann von einem Ausflug
+heim, an dem die Damen des Korps in Schönheit
+und Eleganz teilgenommen und ihn durch den Esprit
+der großen Welt berauscht hatten, so fühlte er eine
+peinliche Ernüchterung, und höchstens eine Ansichtspostkarte
+flatterte als kurzer Gruß nach dem windschiefen
+Haus in der Pempelforterstraße. Dann schämte er sich
+vor sich selbst, aber er war nicht mehr Herr seiner selbst.<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span>
+Er stand unter einem Zwang, dem er gehorchte wie
+einem Fetisch. Ein unausgesprochenes Lächeln, das seine
+Qualifikationen als Gesellschaftsmensch in Frage gezogen
+hätte, würde ihn rasend gemacht haben.</p>
+
+<p>Nur in den ersten Wochen seines Bonner Aufenthaltes
+hatte er in längeren Episteln dem Mädchen daheim
+ein Bild von den Herrlichkeiten des Studentenlebens
+entworfen. Damals auch war er noch dem Briefträger
+entgegengelaufen, der ihm die lieben, halb kindlichen,
+halb frauenhaften Antworten brachte. Und selbst Heinrich
+Springe war nicht vergessen worden. Eines Tages
+hatte der Maler in einem Briefumschlag, der den Poststempel
+Bonn trug, ein schmales Büchlein vorgefunden,
+das den Titel führte »Meine Lieder« und den Autornamen
+»Hans Steinherr«. Aus der ersten Seite stand
+in Druckschrift zu lesen: »Meinem Mentor Heinrich von
+Springe — Telemach.«</p>
+
+<p>Eine Druckerei in Düsseldorf hatte, wohl auf Kosten
+des Herausgebers, den Verlag übernommen.</p>
+
+<p>Der Maler war an diesem Morgen für keinen
+Menschen sichtbar. Er saß in seinem Atelier und las
+die zwei Dutzend Gedichte mit einer Gründlichkeit, als
+ob er sie auswendig lernen wollte. Er las nicht nur
+die Worte. Als er mit den Worten fertig war, begann
+er zwischen den Zeilen zu lesen. Dann lehnte er sich,
+das Büchlein auf den Knieen, zurück und ließ die Lieder
+plastisch werden. Die Bilder aber waren eigenwillig
+und änderten ihre Züge. Und der Maler lachte dazu
+leise vor sich hin ...</p>
+
+<p>Wie eine Erquickung war das schmale Buch. Ein
+echter und rechter Jugendgruß.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p>
+
+<p>»Meinem Mentor — Telemach.«</p>
+
+<p>»Jawohl, Mentor!« polterte er. »Netter Mentor,
+der bei der Mutter nicht einmal sein Versprechen eingelöst
+hat. Abgemacht. Heute nachmittag geh’ ich hin.«</p>
+
+<p>Er traf Frau Margot zu Hause, zum Ausgehen
+gerüstet.</p>
+
+<p>»Ich will nicht lange stören, gnädige Frau. Sagen
+Sie mir nur, wann ich wiederkommen soll.«</p>
+
+<p>»O nein, so entschlüpfen Sie mir nicht. Ich lege
+nur den Hut ab und bin gleich wieder bei Ihnen.«</p>
+
+<p>»Versäumen Sie auch nichts, gnädige Frau? Ich
+möchte mir keine Ihrer Freundinnen zur Feindin machen.«</p>
+
+<p>»So furchtsam sind Sie? Lassen Sie sich doch einmal
+ansehen.«</p>
+
+<p>»Nur Frauen gegenüber. Da kenn’ ich mich nicht
+aus.«</p>
+
+<p>»Trotz Ihrer sicherlich reichen Erfahrungen? O Gott,
+wie beschämt Sie tun!«</p>
+
+<p>»Ich habe nur <em class="gesperrt">eine</em> Erfahrung gemacht, gnädige
+Frau.«</p>
+
+<p>Sie blieb ganz ruhig. Nur ihre Stimme vibrierte
+ein wenig bei der Antwort.</p>
+
+<p>»Ich meine, wir sollten, wenn wir uns sehen, immer
+ganz besonders fröhlich sein.«</p>
+
+<p>»Wahrhaftig, Frau Margot,« rief er herzlich, »da
+sprechen Sie mir aus der Seele! Und nun werde ich
+mich mal auf mindestens eine Stunde häuslich hier
+niederlassen.«</p>
+
+<p>»Oder,« fragte sie, »haben Sie Lust zu einem Spaziergang?
+Dann können Sie mich begleiten.«</p>
+
+<p>»Wollen Sie mich den Düsseldorfern als Ihre neueste<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span>
+Akquisition vorführen? Wenn das Ihren Geschmack
+nur nicht kompromittiert. Gut, spannen Sie mich nur
+an Ihren Wagen.«</p>
+
+<p>»Nein,« lachte sie, »mit Ihnen ist wirklich kein
+Staat zu machen. Es würde aussehen, als ob ein gestrenger
+Mentor seine ungezogene Schülerin spazieren
+führte.«</p>
+
+<p>»Halt; Mentor—« unterbrach er sie. »Das Wort
+fliegt mir heute schon zum zweiten Male zu. Ich mache
+Ihnen eine Proposition. Sie behalten Ihr entzückendes
+Hütchen auf und setzen sich für eine Viertelstunde ganz
+stumm dort in die Sofaecke. Dann begleite ich Sie, so
+lange Sie mich wollen, auf Ihrer Promenade. In
+dieser Zwischenzeit aber möchte ich Ihnen Gedichte vorlesen.«</p>
+
+<p>»Gedichte — —« fragte sie verblüfft. »Sie haben
+doch nicht etwa — —«</p>
+
+<p>»Ihr Vertrauen ehrt mich,« versetzte er unerschütterlich.
+»Aber Sie dürfen sich beruhigen, die Gedichte
+stammen von einem anderen.«</p>
+
+<p>»Schade,« meinte sie bedauernd.</p>
+
+<p>»Na, wenn Sie meinen, ich sähe noch leidlich lyrisch
+aus — an der Courage zum Dichten soll’s mir nicht
+fehlen.«</p>
+
+<p>»Tun Sie es nicht, Heinrich,« riet sie mit mütterlicher
+Würde, »das Leben ist zu kurz und Sie verlieren
+zu viel Zeit damit.«</p>
+
+<p>»Ganz meine Ansicht. Aber nun: Obacht! Ich
+bitte das geehrte Auditorium um Ruhe.«</p>
+
+<p>Er begann zu lesen. Mit natürlicher Stimme, ohne
+Pathos, wie es die einfachen Verse verlangten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p>
+
+<p>Die Viertelstunde ging vorüber und keiner bemerkte
+es. Der Maler las Gedicht für Gedicht, wie sie der
+Reihe nach in dem Büchlein enthalten waren. Und
+zum Schluß das Weihnachtslied, das Hans an dem
+improvisierten Christabend so feierlich-ernst vorgetragen
+hatte.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Horch, in den Lüften blieb</div>
+ <div class="verse indent0">Der Weihnachtsglocken Klingen,</div>
+ <div class="verse indent0">Und unsre Seelen singen:</div>
+ <div class="verse indent0">Ich hab’ dich lieb. — — —«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Er hatte geendet, und leise schloß er das Büchlein.
+Er sah Frau Margot an.</p>
+
+<p>Die wischte seit einiger Zeit an ihren Augen herum.
+Als sie sich beobachtet fühlte, ließ sie rasch die Hand
+sinken und versteckte sich hinter einem lachenden Ärger.</p>
+
+<p>»Mein Gott,« sagte sie hastig, »wie kann man einem
+gänzlich unvorbereiteten Menschen nur so etwas antun!«</p>
+
+<p>»Nicht wahr?« meinte er lakonisch.</p>
+
+<p>»Heinrich,« drängte sie, »gestehen Sie nur, Sie
+selbst sind der Übeltäter.«</p>
+
+<p>»Mein Name steht zwar auf der ersten Seite, gleich
+hinter dem Titelblatt,« gab er zu, »aber es steht davor:
+›Meinem Mentor‹ und dahinter: ›Telemach‹. Daß
+ich ein Mentor sei, haben Sie soeben selbst, wenn auch
+nicht in schmeichelhafter Weise, behauptet. Und der
+Telemach? Ja — da ich <em class="gesperrt">Sie</em> ablehne, muß es schon,
+damit’s doch in der Familie bleibt, Ihr — Hans sein.«</p>
+
+<p>»Ach nein,« versetzte sie kopfschüttelnd.</p>
+
+<p>»Ach ja,« versetzte er kopfnickend.</p>
+
+<p>Und dann lachten sie sich gemeinsam aus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p>
+
+<p>»Der Junge, der Junge!« — sie konnte es nicht
+begreifen — »wo mag er das nur herhaben! ...«</p>
+
+<p>»O — Sie kennen nicht die Vererbungstheorie?
+Vielleicht hat eins seiner Eltern in der Jugend mal
+ähnliches geträumt, wofür er jetzt die Worte gefunden
+hat. Darwinismus, wirklich, sonst nichts.«</p>
+
+<p>»Spotten Sie nicht immer,« sagte sie und legte ihm
+die Hand auf den Mund. Dabei schloß sie für einen
+Moment die Augen. Heinrich Springe hielt ganz still.
+Es war ihm leid, daß es nur ein Augenblick war.</p>
+
+<p>»Ich kenne jetzt auch das Mädchen,« fuhr sie nach
+einer Weile fort. »Wenn auch nur vom Sehen. Ich
+habe so oft die Pempelforterstraße aufgesucht, bis ich
+sie bei einem Patrouillengang entdeckte. Ein süßes
+Geschöpf — — —. Seit der Zeit gehe ich häufig um
+dieselbe Stunde hin. Aber mir ist immer noch nicht
+eingefallen, wie ich eine persönliche Annäherung herbeiführen
+könnte. Mit der Tür ins Haus stürzen, geht
+doch für mich nicht an.«</p>
+
+<p>»Wollen wir jetzt unsere Wanderung antreten?« erwiderte
+er. »Wie ich annehme, nach der Pempelforterstraße?«</p>
+
+<p>Er öffnete die Tür, und die gefeierte Weltdame
+schritt an dem merkwürdigen Manne vorüber. Als wäre
+er sich nur guter Taten bewußt, ging er offen und frei
+neben ihr einher.</p>
+
+<p>»Sehen Sie mal,« sagte er unterwegs, »kennen Sie
+vielleicht den alten Herrn dort, der im Begriff ist, zu
+einer Salzsäule zu erstarren?«</p>
+
+<p>»Aber das ist doch — das ist doch Ihr prächtiger
+Vater ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p>
+
+<p>»Gelt? Das ist doch Herr Friedrich Leopold? Aber
+besonders geistreich — bei allem schuldigen Respekt —
+sieht er gerade nicht drein. Tag, Papachen. Na, so
+aufgeräumt?«</p>
+
+<p>Der alte Kavalier hätte beinahe vergessen, seinen
+grauen Zylinder zu ziehen. Er blickte verdutzt dem
+Paare nach. »Hm, hm,« machte er bloß, »hm, hm;
+wird schon seine Richtigkeit haben.« Dann setzte er
+seinen Spaziergang fort.</p>
+
+<p>Als das Paar in die Pempelforterstraße einbiegen
+wollte, kam vom Hofgarten her Hannes. Sie ging, die
+Augen an den Boden geheftet, nachdenklich ihren Weg
+und fuhr zusammen, als sie Springes Anruf vernahm.</p>
+
+<p>»Potz Tausend, Fräulein Johanna, Sie machen sich!
+Schon so stolz, daß man einen guten Freund über den
+Haufen rennt?«</p>
+
+<p>»Ach — Herr von Springe — Sie sind’s. Gerade
+dacht’ ich an Sie.«</p>
+
+<p>»Nicht flunkern, Fräuleinchen,« drohte er ihr. »So
+viel Selbstverleugnung verlang’ ich ja gar nicht.« Und
+als sie errötend von ihm zu der fremden Dame sah,
+fuhr er fort, als ob sie sich über etwas Selbstverständliches
+unterhielten: »Nun? Gute Nachrichten von
+Bonn?«</p>
+
+<p>Sie errötete noch stärker, aber es war ein Strahlen
+in dem Erröten, und sie nickte lebhaft.</p>
+
+<p>»Darf man vielleicht hören? Ich bin doch gewissermaßen
+der Nächste dazu — natürlich: soweit es keine
+Geheimnisse sind.«</p>
+
+<p>»Ich habe ein Gedichtbuch bekommen,« sagte sie so
+leise, als streichelte sie jedes ihrer Worte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p>
+
+<p>»Was Sie sagen! Ein Gedichtbuch? Von wem ist es
+denn? Von Goethe? Oder gar von Heinrich Heine —«</p>
+
+<p>»Von Hans selbst,« antwortete sie und sah ihn
+triumphierend an.</p>
+
+<p>»Machen Sie keine Späße, Fräulein Johanna! Von
+Hans? Und gedruckt, sagen Sie? Wirklich mit Druckbuchstaben?«</p>
+
+<p>»Ach, Herr von Springe,« sagte sie und wiegte den
+Kopf neckend vor ihm hin und her, »mich foppen Sie
+heute nicht. Ich ärgere mich heute ganz bestimmt nicht.
+Und wenn Sie wüßten, was ich weiß, würden Sie auch
+anders sein.«</p>
+
+<p>»So — —? Was wissen Sie denn?«</p>
+
+<p>»Ihr Name steht vorn in dem Buch,« raunte sie
+und sah ihn mit erwartungsvollen Augen an.</p>
+
+<p>Aber die Wirkung blieb aus.</p>
+
+<p>»Ihr Name? — Wer ist denn diese ›ihr‹? Der
+Radschläger von Jung’ wird sich doch in Bonn keine
+Flamme angeschafft haben?«</p>
+
+<p>Nun wurde sie doch ein wenig entrüstet.</p>
+
+<p>»Ich meine <em class="gesperrt">Ihren</em> Namen, Herr von Springe,
+Ihren groß geschrieben.«</p>
+
+<p>»Donnerwetter!« rief er erstaunt und schlug die
+Hände zusammen. »Apropos, Fräulein, ich schreibe
+meinen Namen immer groß.«</p>
+
+<p>Frau Margot stand zur Seite und ergötzte sich königlich
+an der Unterhaltung, die sie belauschte. Ihre Freude
+an dem eigenartig schönen und frischen Mädchen, in dem
+das Knospen und Blühen noch im Streite lag, wuchs
+von Minute zu Minute. Sie konnte sich nicht länger
+enthalten, sie selbst mußte mit dem Mädchen plaudern.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span></p>
+
+<p>»Dürfte man das seltene Buch einmal sehen?« sagte
+sie freundlich und trat näher. »Bücherneuheiten sind
+immer interessant.«</p>
+
+<p>»Meine kleine Freundin, Fräulein Johanna Stahl«
+— stellte Springe vor — »meine große Freundin — —«
+und er murmelte höchst unverständlich einen Namen.
+»Fräulein Johanna wird sicher so liebenswürdig sein,
+uns einen Blick auf das Buch zu gestatten. Da, wie
+sie sagt, mein Name in dem Büchlein vorkommt, so
+hab’ ich doch sozusagen ein Recht darauf, nachzusehen,
+ob man auch keinen Unfug mit mir getrieben hat.«</p>
+
+<p>»Das Buch liegt aber oben in der Wohnung,«
+stotterte Hannes kleinlaut.</p>
+
+<p>»Sie scherzen, Fräulein. Wetten, daß Sie es vorn
+in der Jacke stecken haben?«</p>
+
+<p>Frau Margot kam der geängstigten kleinen Mitschwester
+zu Hilfe.</p>
+
+<p>»Wenn Sie das Buch in der Wohnung haben, wäre
+es wohl unbescheiden, Sie zu bitten, uns auf einen
+Augenblick mit hinaufzunehmen? Wir würden Ihnen
+zwar sicherlich keine Ungelegenheiten machen.«</p>
+
+<p>Das Mädchen nagte nervös an der Unterlippe.</p>
+
+<p>»Bitte,« stieß sie dann kurz hervor und ging vorauf.
+Lächelnd folgten ihr die beiden Besucher. — —</p>
+
+<p>»Ich will nur ablegen,« sagte Hannes, als sie zu
+dritt in der einfachen Wohnstube standen, und ging eilig,
+ohne den Blick vom Boden zu erheben, in die Schlafkammer.</p>
+
+<p>»Sagt’ ich’s nicht,« flüsterte Springe schelmisch, »sie
+hat es doch im Jackett.«</p>
+
+<p>Frau Margot hob beschwörend die Hand. Ihr<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span>
+war eigentümlich zu Mute in diesem engen, dürftigen
+Raum.</p>
+
+<p>Da kam Hannes zurück. Sie hatte die dünne
+Sommerjacke abgelegt und stand nun rank und schlank
+in ihrem weißen Kleide da. Das Buch trug sie in der
+Hand.</p>
+
+<p>»Darf ich das Buch nehmen?« fragte Frau Margot
+und hielt, als sie es nahm, mit leichtem, wie zufälligem
+Griff die Fingerspitzen des Mädchens in ihrer Hand fest.</p>
+
+<p>»Meine Lieder — Hans Steinherr,« las sie ab, und
+dann sprach sie einige der Gedichte, die sie aufschlug,
+halblaut vor sich hin. Plötzlich hielt sie inne und sah
+mit forschendem Blick das Mädchen an.</p>
+
+<p>»Sie zittern ja, Fräulein. Ich spür’ es in Ihren
+Fingerspitzen. Ist Ihnen nicht wohl?«</p>
+
+<p>»Doch,« kam die Antwort, und die Lippen schlossen
+sich wieder. Aber auf der Stirn stand eine tiefe Falte.</p>
+
+<p>Frau Margot las weiter, um nach wenigen Zeilen
+von neuem einzuhalten.</p>
+
+<p>»Bin ich Ihnen unangenehm? — Sie ziehen Ihre
+Hand zurück?«</p>
+
+<p>»Ich weiß jetzt, wer Sie sind. Sie sind Hans
+Steinherrs Mutter.«</p>
+
+<p>»Wie kommen Sie mit einem Male darauf?«</p>
+
+<p>Und — plötzlich fassungslos — stammelte Hannes:
+»Weil Sie mich so quälen — — —«</p>
+
+<p>»Mädchen!« rief Frau Margot bestürzt, »Mädchen!
+Was sagen Sie da!« Und schnell schlang sie die Arme
+um die zuckenden Schultern der Erregten und drückte
+das von dem schweren, leuchtenden Haar gekrönte Köpfchen
+fest gegen ihre Brust ... »Springe,« bat sie mit<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span>
+einem Blick. Und Heinrich Springe verstand und verließ
+leise die Wohnung.</p>
+
+<p>Dort oben aber ließ sich Frau Margot Steinherr
+auf einen Stuhl nieder und zog das widerstandslose
+Geschöpf auf ihren Schoß. Mit weicher Hand strich sie
+ihm wie einem Kinde über die Augen und spielte mit
+seinen Flechten, die ihm in das verweinte Gesicht gefallen
+waren. Sie wunderte sich selbst, wie lind, wie
+sanft sie das alles tat. Es war doch sonst nicht ihre
+Art gewesen, über den Gefühlen anderer sentimental zu
+werden. Was war es nur, das in ihr flutete? Seit
+dem Tage, da sie mit dem wiedergekehrten Springe
+Kindheitserinnerungen ausgetauscht. Und heute so viel
+stärker, angesichts dieses bangenden, jugendwarmen
+Glücks, das sie auf dem Schoße hielt — —.</p>
+
+<p>»Komme ich Ihnen noch immer so schrecklich vor?«
+fragte sie lächelnd.</p>
+
+<p>Hannes schüttelte stumm den Kopf, den sie noch
+immer an die Brust der fremden Dame gedrängt hielt.</p>
+
+<p>Wie wohl das tat! Wie köstlich es sich hier lag!
+Sie empfand das feine Wogen und konnte jeden Herzschlag
+zählen. Sie hielt ganz still und preßte nur die
+Lippen auf das Kleid Frau Margots.</p>
+
+<p>»Kleines Liebchen — —« sagte die verträumt.
+»Kleines Liebchen — — —«</p>
+
+<p>Und wieder stieg ein Wundern in ihr auf, woher
+sie nur diese nie gebrauchten Worte nahm.</p>
+
+<p>»Also lieb haben Sie meinen großen Jungen?« fuhr
+sie nach einer Weile fort. »Und so ganz hinter dem
+Rücken der Mama, die man für eine Vogelscheuche
+hält?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span></p>
+
+<p>»O, Sie sind so schön!« stieß Hannes hervor und
+sah mit ihren lächelnden Kinderaugen zu ihr empor.</p>
+
+<p>»Kind, Kind, was für Schmeicheleien! Wer ist von
+uns beiden schön? Vielleicht war ich es mal ein wenig,
+als ich so jung war wie Sie. Heute sind Sie es.«</p>
+
+<p>»Nein, nein,« rief Hannes stürmisch, »Sie sind es
+heute! O, so schön werd’ ich in meinem ganzen Leben
+nicht werden.«</p>
+
+<p>Frau Margot erhob sich schnell, um ihre Verwirrung
+zu verbergen. Tag für Tag hatte sie in der
+Gesellschaft, von allen Offizieren der Garnison und den
+sämtlichen Herren der Regierung, ähnliche Worte vernommen
+und sie wie einen ihrer Stellung schuldigen
+Tribut entgegengenommen. Sie waren ihrem Ohre so
+bekannt wie den Lippen der Herren geläufig. Wie man
+eine Phrase wechselt. Und oft, in den letzten Jahren,
+wenn ein neuer, jüngerer Stern am Gesellschaftshimmel
+Düsseldorfs erschien, hatte sie innerlich gebangt, es könnte
+wirklich eine Phrase sein ... Jetzt aber — dieses Kind
+— mit dem klaren Blick und der jugendlichen Begeisterung
+— Gott, sie wurde ja über die Lobpreisung verwirrt
+wie ein junges Ding von sechzehn Jahren, das
+zum ersten Male von seinen Reizen erfährt. Wirkte
+denn diese Jugendlichkeit ansteckend?</p>
+
+<p>Sie nahm sich zusammen und ging nachdenklich durch
+das Zimmer. Dabei warf sie durch den Türspalt einen
+Blick in die Schlafkammer. Wie leuchtend weiß das
+Stübchen war. Nein, da hinein gehörte kein anderer
+Schmuck als die weißen Glieder des schlanken Mädchens.</p>
+
+<p>»Fräulein Johanna,« sagte sie und blieb vor ihr
+stehen, »geben Sie mir mal Ihre Händchen. So. Und<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span>
+damit wollen wir es für heute bewenden lassen. Wir
+haben uns gesehen und gesprochen und müssen nun zunächst
+unsere Gedanken sammeln. Ein jeder über den
+anderen. Ich denke,« fügte sie mit einem ermunternden
+Blick hinzu, »das soll uns nicht schwer fallen. Versprechen
+kann ich Ihnen heute nichts, wenigstens nichts,
+was über meine Person hinausgeht. Mein Mann ist
+gewöhnt, sich seine eigenen Ansichten zu bilden und
+danach zu handeln. Aber Sie sind ja noch so jung
+und werden abwarten können, besonders, da Sie jetzt
+wissen, daß mit mir zu reden ist. Oder wissen Sie das
+nicht?«</p>
+
+<p>»Doch, doch,« stammelte die Kleine.</p>
+
+<p>»Nun, so kommen Sie zuweilen zu mir. Morgen
+nachmittag, um diese Stunde. Geben Sie acht, wir
+werden uns schon befreunden und auch Pläne schmieden.
+Ihre Frau Großmutter hoffe ich noch kennen zu lernen.
+Adieu, mein Kindchen. Und vergessen Sie nicht:
+morgen!«</p>
+
+<p>Hannes knickste und beugte sich sprachlos über die
+feingeäderte Frauenhand. Da faßte Frau Margot sie
+unter das Kinn und küßte sie auf die Stirn.</p>
+
+<p>»Adieu, adieu — — —«</p>
+
+<p>Draußen auf der Straße wartete Springe auf sie.
+Er tat keine Frage, und sie gingen eine ganze Weile,
+ohne zu reden, nebeneinander her. Aber das Schweigen
+brachte sie einander näher.</p>
+
+<p>»Sie sind also meiner Ansicht?« fragte sie endlich
+unvermittelt und blieb stehen.</p>
+
+<p>»Umgekehrt, gnädige Frau, Sie sind der meinen,
+und das macht mich froher, als ich sagen kann.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
+
+<p>»Des kleinen, herzigen Mädchens wegen?«</p>
+
+<p>»Nein, Ihretwegen, Frau Margot. Sie verstehen
+mich.«</p>
+
+<p>Und sie verstand, was er meinte.</p>
+
+<p>»Hat die Kleine besondere Talente, die man ausbilden
+könnte? Ich möchte für alle Fälle etwas für
+sie tun.«</p>
+
+<p>»Sie ist überraschend musikalisch. Es würde sich
+lohnen, sie im Gesang ausbilden zu lassen.«</p>
+
+<p>»Sie soll mir morgen etwas vorsingen. Dann werde
+ich mit einer Gesangsmeisterin sprechen.«</p>
+
+<p>»Werden Sie mir erlauben, mein Scherflein dazu
+beizutragen?«</p>
+
+<p>»Springe,« meinte sie, »können Sie mir denn gar
+keine Freude gönnen?«</p>
+
+<p>»Geteilte Freude ist doppelte Freude. Wenigstens
+für mich. Ich bin nun einmal ein Egoist.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte sie, »mir wird es auch so gehen. Wir
+beide als gemeinsame Pflegeeltern — —.«</p>
+
+<p>»Nun haben wir schon ein gemeinsames Kind.«</p>
+
+<p>»Springe!« verwies sie ihn empört, aber sie mußte
+doch über ihn lachen. »Sie sind und bleiben ein unverbesserlicher —«</p>
+
+<p>»Optimist,« vollendete er. »Man muß seinem Herrgott
+für alles danken.«</p>
+
+<p>Er brachte sie bis vor ihr Haus, und sie verabschiedeten
+sich mit einem kameradschaftlichen Händedruck.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage war Hannes gekommen, und sie
+kam fast Tag für Tag. Es dauerte lange, bis sie die
+Scheu vor den glänzenden Räumen überwunden hatte.
+Nicht der Komfort war es, der auf ihr lastete, sondern<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span>
+das ungewisse Gefühl, daß sie hier wie ein heimlicher
+Dieb aus- und eingehe. Der Geist Philipp Steinherrs
+ging sichtbar für sie durch die Räume. Und ob sie auch
+den Fabrikanten tagsüber draußen auf seinen Eisenwerken
+wußte und keinerlei Überraschung zu befürchten
+hatte: daß sie nicht wie ein von allen gern gesehener
+Gast das Vaterhaus ihres Hans betreten konnte, bedrängte
+um des Liebsten willen ihren Mädchenstolz.</p>
+
+<p>Frau Margot beobachtete die junge Gesellschafterin
+mit ungetrübtem Auge. Sie wünschte den Charakter
+in allen seinen Phasen zu ergründen. Und gerade der
+stumme Seelenkampf, den sie wahrnahm, war es, der
+ihr die stärksten Sympathien einflößte. Als sie sich sicher
+wußte, daß ihre Zuneigung zu dem äußerlich seltsamen
+und innerlich so klaren Wesen eine unerschütterliche geworden
+sei, begann sie mit festen Händen in den
+Bildungsgang ihrer Schutzbefohlenen einzugreifen. Sie
+brachte sie persönlich zur Gesangsmeisterin, und als die
+ernste Frau beinahe enthusiastisch erklärte, in der Kleinen
+stecke eine Altistin von seltener Begabung und seltenem
+Wohllaut der Stimme, schloß sie auf der Stelle den
+Studienvertrag ab, demzufolge Hannes dreimal in der
+Woche das Haus der Meisterin zu besuchen hatte. Doch
+hierbei blieb Frau Margot nicht stehen. Sie wies das
+Mädchen an, ihre Sprachstudien wieder aufzunehmen,
+führte nach einiger Zeit die Konversation öfters im
+englischen oder französischen Idiom, wählte vornehme,
+deutsche Lektüre aus und ließ sie wie spielend alle die
+kleinen Handgriffe lernen, die eine schöne Frau im Salon
+als Wirtin oder Gast erst recht liebenswert erscheinen
+lassen. Als der Herbst vorüberging und die Saison<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span>
+anhob, schickte sie das bildungshungrige Mädchen zuweilen
+in die großen Konzertaufführungen oder auch
+ins Theater, das sich damals eines hohen Rufes erfreute.
+Und beim nächsten Zusammensein ließ sie sich
+die Eindrücke schildern, korrigierte unauffällig den Geschmack
+und erläuterte freundlich, was ihrem Fassungsvermögen
+noch unklar geblieben war.</p>
+
+<p>Und der Herbst war nun lange schon vorüber, die
+Universitätsferien waren zu Ende gegangen, und Hans
+war nicht gekommen. Er hatte mit einigen seiner Kommilitonen
+sofort von Bonn aus eine Ferienreise angetreten,
+die vom Vater mit Vergnügen gesehen wurde
+und ihn auf fröhlichen Mittelmeerfahrten zurückhielt.
+Dann war Philipp Steinherr ihm entgegengereist, hatte
+ihn in Bonn equipiert, und Hans hatte seinen Dienst
+bei den blauen Husaren angetreten.</p>
+
+<p>»Der Prophet gilt nichts im Vaterland, wenn er
+seine Entwicklung unter den Augen der Nachbarn abmacht,«
+hatte Philipp Steinherr dem Sohne erklärt.
+»Zeige dich den Leuten daheim nicht zu oft in deiner
+unreifen Zeit, tobe deine Dummheiten außerhalb der
+Mauern Düsseldorfs aus, und man wird, wenn du nach
+ein paar Jahren zurückkehrst als Doktor der Rechte,
+Reserveoffizier und was weiß ich, stets eine Art Respektsperson
+in dir sehen und nicht den Allerweltsduzbruder, dem
+man mit der alten, plumpen Vertraulichkeit begegnen kann.
+Ich möchte, daß du daheim einmal Numero eins wirst.«</p>
+
+<p>Und Hans hatte sich vorgenommen, sich nicht eher
+daheim zu zeigen, als bis er zum mindesten die Tressen
+erlangt hätte und ihm dadurch, als Offiziersaspirant,
+unter den Besuchern seines väterlichen Hauses von vornherein<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span>
+eine angemessene Stellung gewährleistet sei. Er
+tat seinen Dienst mit einem Ehrgeiz, der ihm schnell
+die Beachtung und das Wohlwollen seiner kavalleristischen
+Vorgesetzten eintrug.</p>
+
+<p>Die Briefe an Hannes wurden in dieser Zeit noch
+seltener. Er entschuldigte sich mit seinen tausend Dienstobliegenheiten,
+Strapazen und Ärger, und vertröstete
+auf ein Wiedersehen, das alles klären würde. Was er
+sich unter dieser Klärung gedacht hatte, war ihm selbst
+nicht bekannt. Nur jetzt nicht nachdenken.</p>
+
+<p>Daß Hannes bei seiner Mutter verkehrte, war ihm
+unbekannt geblieben. Frau Margot hatte gewünscht,
+daß die Mitteilung unterbliebe, damit der Junge eines
+Tages umsomehr von dem Ereignis und den sich an
+Hannes so augenfällig bemerkbar machenden Folgen
+überrascht würde. Aber dem Jungen eilte es scheinbar
+ja gar nicht, sich überraschen zu lassen. Ein Grund
+mehr, ihn nicht unnötig und voreilig in den inneren
+Konflikt zwischen Vater und Mutter hineinzutreiben.</p>
+
+<p>Ruhig ging das Leben in Düsseldorf seinen Weg.
+Die geschäftliche Krisis, welche die ganze deutsche Industrie
+ergriffen hatte, war zwar nicht gewichen, aber schon
+sahen einige Wetterkundige der Großindustrie Zeichen
+auftauchen, die auf einen baldigen und jähen Umschwung
+hindeuteten. Philipp Steinherr war nicht der letzte, der
+sie bemerkte. Aber er sprach kein Wort von besseren
+Zeiten, von Zeiten, die der Industrie eine bis dahin
+in Deutschland unerhörte Hausse bringen sollten; er
+handelte auf seine Weise. Als der Sommer kam, hatte
+er zu seinen Werken in aller Heimlichkeit einige Etablissements
+hinzugekauft, die sich allein nicht mehr zu<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span>
+halten vermochten, und ließ alsbald unauffällig alle Betriebe
+in Stand setzen und die Vorräte an Rohmaterialien für
+billiges Geld verdoppeln, um beim ersten beutekündenden
+Morgenrot sofort gerüstet auf der Schanze zu stehen.</p>
+
+<p>Da trug man an einem frühen Sommerabend den
+unersättlichen Mann auf einer Bahre ins Haus. Während
+einer hitzigen Auseinandersetzung auf dem Werk war
+er vom Schlag getroffen umgesunken.</p>
+
+<p>Es war noch Leben in ihm, als man ihn in seinem
+Zimmer bettete. Zwei der besten Ärzte hielten bei ihm
+Wacht, bis ihm das Bewußtsein dämmernd zurückkehrte.
+Frau Margot, furchtbar erregt und an nichts anderes
+denkend als an die Linderung seiner Schmerzen, wich
+und wankte nicht von seinem Lager.</p>
+
+<p>Philipp Steinherr öffnete den Mund. Sein Bestreben,
+Laute hervorzubringen, war schrecklich anzusehen.
+Er rollte die Augen hin und her, als ob er jemand
+suche. »Hans — —« quoll es ihm undeutlich über die
+Lippen. Er hatte seinem Nachfolger noch so viel zu sagen.</p>
+
+<p>»Es ist nach ihm depeschiert, Philipp,« beruhigte
+Frau Margot, kaum im stande, sich auf den Füßen zu
+halten. »Er kann bald hier sein.«</p>
+
+<p>Sie legte ihm die Hand auf die feuchte Stirn, und
+der Mann, der nie im Leben nach einer schmeichelnden
+Frauenhand viel Verlangen getragen hatte, empfand im
+Sterben den wohltuenden Zauber der Berührung. Seine
+angstvoll starrenden Blicke wurden weicher, er hob mit
+Aufbietung aller Kräfte die Hand, um sie auf ihre Hand
+zu legen. Dann verschied er in den Armen seiner
+Frau. — — —</p>
+
+<p>Als Frau Margot totenblaß durch die Zimmer<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span>
+schritt, schlug ein leises Weinen an ihr Ohr. Sie stutzte.
+Wer konnte da so heiß um den Toten trauern, der im
+Leben keine Freunde besessen und sie auch nie gewollt
+hatte? Sie schlug die Portière zu dem Kabinett zurück,
+das an ihr Schlafzimmer stieß, und erblickte Hannes.</p>
+
+<p>»Was machen Sie hier, Kind?« fragte sie tonlos.</p>
+
+<p>Da warf sich das Mädchen an ihren Hals und
+schluchzte in wilder Angst.</p>
+
+<p>»Wie wird er das nur ertragen, wie wird er das
+nur ertragen — — —«</p>
+
+<p>»Sei still, mein Töchterchen,« sagte Frau Margot,
+»wir müssen einer dem anderen beistehen.«</p>
+
+<p>Sie hatte dem fremden Kinde gegenüber das erste
+Du gefunden.</p>
+
+<p>»Im Salon — ist — noch jemand,« brachte Hannes
+unter den Tränen hervor.</p>
+
+<p>Frau Margot befreite sich sanft aus der Umarmung
+und schritt durch die Zimmer weiter zum Salon. Sie
+wußte, daß es Springe war. Und Heinrich Springe
+ging ihr, als er ihren Schritt hörte, entgegen und nahm
+stumm ihre Hände in die seinen und drückte sie.</p>
+
+<p>»Ich bleibe hier,« sagte er dann, »vielleicht kann ich
+Ihnen etwas abnehmen. Aber Sie müssen sich jetzt
+unbedingt zurückziehen. Tun Sie es Ihrem Jungen
+zuliebe, der jeden Augenblick kommen kann, damit Sie
+ihm Fassung zeigen können, wenn er die seine verliert.«</p>
+
+<p>Sie nickte bloß zu seinen Worten und ging.</p>
+
+<p>Die Dienstboten hatten die Rollläden heruntergelassen
+und im Treppenhaus das Licht entzündet. Der Sommerabend
+senkte sich tief herab.</p>
+
+<p>Da rasselte ein Säbel auf der Treppe, Sporen<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span>
+klirrten, und bald darauf gellte ein Schrei durch das
+Haus: »Papa, Papa — — —!«</p>
+
+<p>Nach einer halben Stunde wankte Hans aus dem
+Zimmer. Er hatte die besänftigenden Worte der Mutter
+kaum gehört, wiederum war sein Leben widerstandslos
+von den neuen Eindrücken überwältigt worden, und er
+fand nicht den Halt in sich selbst.</p>
+
+<p>Er vermochte die schwere Luft im Hause nicht zu ertragen,
+nach anderthalbjähriger Abwesenheit kamen ihm die
+Räume fremd vor, die Dienstbotengesichter waren ihm unbekannt.
+Und allein wollte er sein, allein, um alles zu
+begreifen und eine äußerliche Haltung zurückzugewinnen.</p>
+
+<p>Er stolperte durch den dunklen Garten nach der
+Laube, in der er als Primaner so oft Verse gedichtet
+hatte. Vom Gartentisch, an dem sie gesessen hatte, erhob
+sich eine Gestalt, die der Mond hell beschien. Das
+feine Gesicht, die tiefen Augen, das leuchtende Haar —
+das war doch, das war doch — —</p>
+
+<p>»Hans —« sagte da die Stimme, die nur der
+Liebsten gehören konnte.</p>
+
+<p>Und als er vor ihr stand, schreckhaft weiß, trocken
+brennenden Auges und der Sprache beraubt, trat sie
+auf ihn zu und nahm sein kaltes Gesicht zwischen ihre
+Hände und küßte ihn leise zum Willkommen.</p>
+
+<p>»So weine doch,« sagte sie, »so weine doch nur ...«</p>
+
+<p>Da löste es sich in seiner Brust, da war ihm, als
+hörte er ferne Heimatsglocken rufen, und sie riefen näher
+und näher und löschten aus, was zwischen fern und nah
+lag. Den Kopf an der Schulter des Mädchens, weinte
+er und weinte — um alle seine Verluste.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-217.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Zehntes_Kapitel_Buch_1">Zehntes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Das Trauerjahr war zu Ende gegangen.</p>
+
+<p>Nach wie vor leuchtete der Name »Philipp Steinherr«
+in großen Metallbuchstaben an den Oberbilker
+Eisenwerken, aber der, der den Namen in harten, unvergänglichen
+Zügen geschaffen hatte, war nicht unersetzlich
+geblieben.</p>
+
+<p>»Ist es nicht ein schwermütiger Gedanke,« hatte einst
+Frau Margot im Gespräch mit dem Freunde geäußert,
+»daß kein Mensch eine Lücke hinterläßt? Es wird
+Morgen und es wird Abend und wieder Morgen, und
+das Leben schreitet fort und Handel und Wandel, und
+keiner dreht sich um nach dem, der einst war und ohne
+dessen Stimme sonst kein Unternehmen möglich schien.
+Was hat da aller Ehrgeiz genutzt, wenn jedes Ding so
+bald unpersönlich wird?«</p>
+
+<p>»Nein, Frau Margot,« hatte Heinrich Springe geantwortet,
+»darin kann ich keinen Grund zur Klage
+sehen. Für mich liegt gerade in dem Umstand, daß
+kein Mensch unersetzlich ist, etwas ungemein Tröstliches
+und — Aufrüttelndes. Inwiefern Tröstliches, meinen
+Sie? Nun, weil es auf die Dauer auch den größten
+Schmerz paralysiert, wenn die beständig mahnende Kluft
+fehlt; denn sonst würde die Vernichtung eines jeden<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span>
+Menschenlebens die Vernichtung einer Anzahl anderer
+Menschenleben nach sich ziehen und so fort bis ins Unendliche.
+Die Selbstzerfleischung aber kann nie der
+Zweck einer Schöpfung sein. Der Mahner Tod schwindet
+hin wie ein Phantom, weil wir seine Spur nicht mehr
+sehen, die Lust zum Leben, die erschreckt den Kopf unter
+die Flügel gezogen hatte, wagt sich scheu hervor, blinzelt
+mit den Augen und bemerkt, daß sie nach wie vor und
+trotz heftigen Sträubens den Duft der Rosen empfindet,
+den Gesang der Vögel vernimmt und das Licht der
+goldenen Sonne sieht. Und damit komme ich zu dem,
+was ich das Aufrüttelnde der Idee nennen möchte. Wenn
+wir erst einmal gewahr geworden sind, daß das Leben
+nach der Spanne, die es uns läßt, uns nicht vermißt,
+so sollen <em class="gesperrt">wir</em> hingegen, <em class="gesperrt">während</em> dieser Spanne,
+nichts vom Leben missen wollen, sondern bei dem kurzen
+Besuch alle Gastgeschenke entgegennehmen und, wenn’s
+not tut, sie seinem Reichtum entreißen. Damit nehmen
+wir unserem Toten nichts und schaffen uns Lebendigen
+unser Recht. Es ist eine fixe Idee, wenn man glaubt,
+man komme über den Schmerz um einen Dahingeschiedenen
+nie mehr hinweg, wenn man sich um diesen Schmerz
+lebendig begraben will, und läßt doch bei dem geringsten
+Zahnweh einen Arzt zur Hilfe rufen. Für ehrliche Naturen
+sollte es keine Inkonsequenzen geben, auch aus Gefühls-
+und Pietätsgründen nicht. Entweder — oder!«</p>
+
+<p>»Also Witwenverbrennung — ich meine damit natürlich
+mehr, das Auslöschen alles dessen, was er hinterlassen
+hat —« sagte sie nachdenklich, »oder —?«</p>
+
+<p>»Hand ans Steuer,« vollendete er. »Nur nicht das
+widersinnige Vegetieren, dies halbe Verzichtleisten und<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span>
+Nirgendhingehören, das vielleicht einer Generation Schaden
+und uns keine Zufriedenheit bringt.«</p>
+
+<p>»Und wenn wir nun die Hand ans Steuer legen?
+Auch uns wird es eines Tages entzogen.«</p>
+
+<p>»Verstehen Sie denn darin nicht die Größe des Gedankens,
+Frau Margot? Es wird kein Unterschied gemacht!
+Auch bei unseren Nachfolgern nicht! Ein endgültiges
+Triumphieren gibt’s nicht! Herr Gott, bei
+solchem maschenlosen Kommunismus verliert der Tod
+doch jeden Schrecken.«</p>
+
+<p>»Und die Werke, die wir zurücklassen müssen und
+die in fremde Hände übergehen? Ist das nicht quälend?«</p>
+
+<p>»Der Kopfschmerz, den wir uns darüber machen,
+vergeht in dem Moment, in dem wir die Augen schließen.
+Sind wir am Abend unseres Daseins mit dem Bestand
+unserer Werke und mit uns zufrieden, so ist uns die
+Krone des Lebens geworden. Und wissen wir überdies,
+daß wir kein Glück vorbeiließen, soweit es uns erreichbar
+war, so sind wir selbst nach unserem Tode noch
+glücklich zu schätzen. Darum sag’ ich: bis zum letzten
+Atemzug die Hacken einschlagen in die Felsen und
+Quellen hervorrufen, aus denen wir trinken können.
+Austrinken, wenn es uns schmeckt. Das nachfolgende
+Leben ist nicht auf unsere zwei Augen gestellt, so wenig
+wie das unsere auf die Augen unserer Vordermänner.
+Es rauschen immer wieder neue Brunnen.«</p>
+
+<p>»Sie sind ein Lebenskünstler, Heinrich Springe.
+Woher haben Sie diese hieb- und stichfeste Weisheit
+genommen — —«</p>
+
+<p>Dann bot er ihr den Arm und führte sie in den
+Garten, zu den Rosen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p>
+
+<p>»Wie sie blühen und duften,« sagte er. »Und sie
+schießen und sprießen aus demselben Stock hervor, der
+im letzten Herbst verblüht war. Liebste Frau: es gibt
+kein Jahr, in dem nicht Rosen blühen.« — — —</p>
+
+<p>Und auch in Frau Margot blühten die Rosen auf,
+die so lange durchwintert hatten.</p>
+
+<p>Hans Steinherr hatte am Tage nach der Beerdigung
+seines Vaters den Freund in seiner Wohnung aufgesucht,
+um sich wegen der Fortführung der Werke Rats zu
+holen. Nach längerer ernster Konferenz war man übereingekommen,
+sich zu Frau Margot zu begeben, um ihr
+die einstweiligen Pläne zur Begutachtung vorzulegen.</p>
+
+<p>»Ich habe ja nicht die geringste Ahnung von dem
+Wesen der Betriebsführung und rationeller Fabrikationswirtschaft,«
+hatte Springe geäußert, »und daß Hans
+mir in diesen Dingen nichts weniger als überlegen ist,
+bedeutet auch gerade keinen Trost. Wollen Sie jedoch
+die Meinung eines sonst ziemlich klarblickenden Menschen
+haben, so ist es die: Lassen Sie den Oberingenieur der
+Firma rufen. Der Mann ist zwanzig Jahre im Dienst
+und hat die ganze Entwicklung der Werke mit durchgemacht.
+Er weiß um alle Zukunftspläne und hat
+Interesse an ihrem Werden, weil sein geistiges Kapital
+darin angelegt ist. Das ist aber nicht genug. Soll die
+ganze Leitung in seine Hände übergehen, so muß seine
+Bedeutung nach außen hin gesteigert werden. Seiner
+selbst wegen, damit er nicht auf Konkurrenzgedanken
+kommt, und der Beamten und Arbeiter der Fabrik
+wegen, damit sie mit Respekt seinen Weisungen folgen.
+Das scheint mir aber nur möglich, wenn Sie ihn zum
+Teilhaber ernennen. Geben Sie ihm den Titel und<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span>
+beteiligen Sie ihn — neben seinem festen Gehalt —
+mit einem gewissen Prozentsatz am Reingewinn. Sie
+werden pekuniär gut dabei fahren und vor allem jeder
+Sorge überhoben sein.«</p>
+
+<p>Der Abend war mit Verhandlungen mit dem Oberingenieur
+ausgefüllt worden, der sich als ein kluger und
+ruhiger Mann erwies. Die Eintragungen in das Firmenregister
+hatten bald darauf stattgefunden. Hans war zu
+seinem Regiment zurückgekehrt, und nun lief die Zeit wieder
+hin, als wäre in ihrem Gleise keine Unebenheit gewesen.</p>
+
+<p>Hans hatte von seinem Kommandeur die Erlaubnis
+erhalten, die erste achtwöchentliche Reserveübung sofort
+an das Dienstjahr anschließen zu dürfen. Dadurch
+wurde er der Notwendigkeit enthoben, sich bis zum
+Beginn des neuen Semesters nach Hause begeben zu
+müssen, denn eine andere Reise erschien ihm jetzt nicht
+passend. Vor den Verhältnissen daheim aber bangte
+ihm. Er wußte nun um das Verhältnis Johannas
+zu seiner Mutter, er sah voraus, daß man ihm keine
+Hindernisse mehr in den Weg legen, sondern im Gegenteil
+an seinen Besuch frohe Erwartungen knüpfen würde.
+Und diese Erwartungsfreudigkeit war ihm unbequem,
+sie war ihm geradezu fatal.</p>
+
+<p>Nun stand er dicht vor dem Reserveoffizier, und er
+setzte allen Ehrgeiz darein, nicht zum Train abgeschoben
+zu werden, sondern beim Regiment weiter zu bleiben.
+Die Anschauungen seiner neuen Freunde, seiner ganzen
+Umgebung, hatten viel zu stark auf ihn abgefärbt, als
+daß er im stande gewesen wäre, sich ein anderes Glück
+zu denken, als das von seinem ganzen Kreise akklamierte
+und — beneidete.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span></p>
+
+<p>Hannes’ auffallende Mädchenschönheit tauchte vor
+ihm auf. Er wich dem Bilde betreten aus, dann aber
+blickte er verstohlen hin und sein Auge begann zu strahlen
+und sein Herz zu schlagen, je länger er es ins Auge
+faßte. Dies letzte Wiedersehen! Als sie in der Laube
+vor ihm stand, eine andere, schönere; und doch dieselbe,
+liebe. Nie, nein nie und nirgends hatte er ein so
+starkes, überquellendes und wiederum so beruhigendes
+Heimatsgefühl gehabt, wie in der Stunde, da er an
+ihrem Halse hing und sie ihn das befreiende Weinen
+lehrte ...</p>
+
+<p>»Keine würde sie übertreffen,« dachte er selig, »keine
+ihr gleichkommen. Sie hat den Mund einer Geliebten
+und die Augen einer Mutter.«</p>
+
+<p>Plötzlich übergoß flammende Röte seine Stirn, und
+er wandte sich rasch ab und trommelte nervös gegen
+die Fensterscheiben.</p>
+
+<p>»Aber wenn es auskäme? Ihre Herkunft, ihre
+Familie, ihre — Geburt? Und es kommt aus,« rief
+er laut, »so was bleibt nie verheimlicht, dafür sorgen
+die guten Freunde. Man wird zu tuscheln anfangen
+und sich erzählen und alles mehr noch übertreiben, als ob
+es nicht so schon genug wäre. Man brauchte nur zu erfahren,
+daß sie als Kind zum Modell gesessen hat. Ob
+nur zu einem Engelsköpfchen, danach fragt ja die Menschheit
+nicht. Da heißt es einfach: Modell! Und jeder
+denkt sich ein Manko an Schamhaftigkeit dabei. Himmel
+und Hölle, weshalb mußte die Alte auch einen solchen
+Unfug zugeben. Vererbtes Blut, schlechte Erziehung —
+wo sind da die Kautelen? Als Primaner denkt man
+ja an nichts anderes, als an das Gesichtchen. Aber ich<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span>
+bin kein Primaner mehr. Ich habe Verpflichtungen
+gegen meine Gesellschaft. Ich würde mich mit sehenden
+Augen unmöglich machen, nicht den Verkehr einhalten
+können, den ich haben will und muß. Wenn’s ein anderer
+wäre, ich würde doch ganz genau so darüber
+denken. Da kann und darf ich mich nicht ausschließen
+wollen.</p>
+
+<p>Und dabei hab’ ich doch das Mädchen so lieb —«</p>
+
+<p>»Ruhe, Ruhe. Nichts überstürzen. Zeit gewinnen,
+nur Zeit gewinnen.« —</p>
+
+<p>Von Bonn ging er auf zwei weitere Semester nach
+Heidelberg. Auch hier wurde er bei einem Korps aktiv,
+aber er betrieb doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit
+seinen Studiengang. Als der Herbst kam, bereitete er
+sich auf die Übersiedlung nach Berlin vor; da erhielt er
+einen Brief Heinrich Springes, der ihn bat, diesmal
+einen Teil der Ferien zu Hause zu verbringen, da er
+verschiedenes mit ihm zu besprechen habe, das am angenehmsten
+an Ort und Stelle seine Erledigung fände.
+Es war ihm nicht sympathisch. Aber er mochte auch
+den alten Freund nicht vor den Kopf stoßen und reiste
+an einem der nächsten Tage ab. — —</p>
+
+<p>Für Hannes war das letzte Jahr wie das vorletzte
+geblieben. Sie nahm das Studium mit einem Ernst,
+der weit über ihre achtzehn Jahre ging, und wenn sich
+Ermüdung einstellte, dachte sie an den Geliebten, lächelte
+jede Mattigkeit hinweg und sprach vor sich hin: »Ich
+tue es ja nicht für mich, ich tue es ja für ihn.«</p>
+
+<p>In ihren äußeren Verhältnissen waren einige Änderungen
+eingetreten. Großmutter Stahl brauchte nicht
+mehr von Haus zu Haus ihrer Kundschaft nachzugehen.<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span>
+Die Herren von Burg Springe hatten sie feierlich zur
+Palastdame, Verwalterin und Oberschließerin auf Burg
+Springe ernannt, eine Beschäftigung, die den Tag der
+alten Frau nicht allzusehr bedrückte, aber dennoch ausfüllte.
+Zuerst hatte sie nicht gewollt. Sie witterte ein
+verstecktes Almosen. Als ihr aber Herr Friedrich Leopold
+in beweglichen Worten seine Not klagte und die
+aus Rand und Band gehende Junggesellenwirtschaft beschrieb,
+da bedurfte es nur noch eines kläglichen Hinweises
+auf den Verfall von Leib- und Tischwäsche —
+der alte Herr raunte mit bekümmertem Gesicht der alten
+Frau einige Worte ins Ohr und zeichnete dazu mit der
+Hand ein paar riesenhafte Ellipsen in die Luft, um ihr
+die schreienden Defekte in ihrer Größe einigermaßen klar
+zu machen — und Frau Stahl quittierte ihre sämtlichen
+Dienste in anderen Häusern, um den Rest ihrer Kräfte
+der Ordnung auf Burg Springe zu weihen. Die Wohnung
+in der Pempelforterstraße aber behielt sie bei; nur
+die Einrichtung wurde nach und nach etwas komplettiert.
+»Sie könne in ihren Jahren keine Luftveränderung mehr
+vertragen,« sagte sie zu Frau Margot, die ihr riet, eine
+bequemere Wohnung zu nehmen. »Wie gelebt, so gestorben.«</p>
+
+<p>In Burg Springe schlug das Leben seitdem höhere
+Wogen. Wenn Hannes kam, um ihre Großmutter abzuholen,
+oder mit Herrn Friedrich Leopold ein Stündchen
+zu verschwatzen und Herrn Heinrich beim Malen
+zuzusehen, »dann wurde es Tag«, wie der alte Kavalier
+strahlend erklärte. Dann zog die Jugend durch alle
+Räume und ließ die seinen Silberglöckchen klingen, und
+die sonderbaren Burgbewohner, die immer die Fallbrücke<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span>
+in Bereitschaft hielten, um die Jugend bei sich einzulassen,
+schworen, sie wären keinen Tag älter als Hannes.
+Es ging von dem Mädchen ein Fluidum aus, rein und
+stärkend wie die Wasser eines Jungbrunnens.</p>
+
+<p>An schmeichelnden Sommerabenden setzte sich Heinrich
+Springe an seinen Flügel und Hannes ließ ihren warmen
+Alt erklingen. Und wenn die Lieder ausgeströmt waren
+und die Stimmung sich so seltsam verdichtet hatte, daß
+nur noch etwas Außergewöhnliches geschehen durfte,
+um den glücklichen Zauber zu halten, dann führte Herr
+Friedrich Leopold an zierlich gespreizter Hand die rüstige
+Altersgenossin Frau Stahl vor, und sie mochte wollen
+oder nicht, sie mußte mit ihm zu Heinrichs Begleitung
+ein köstlich-steifes Menuett aus der guten alten Zeit
+exerzieren. Das war an den Abenden, an denen Frau
+Margot zugegen war, die nach der Eintönigkeit des
+vergangenen Trauerjahres nun oft im Vorbeigehen heraufgeschlüpft
+kam, um, wie sie sagte, ihre Seele zu
+füttern. Und an dem Abend, an dem das Weinlaub
+der Veranda herbstlich rot erglühte, hatte sie mit Heinrich
+Springe an der Brüstung gestanden, und die Fröhlichkeit,
+die aus dem Zimmer zu ihnen drang, gab ihrer
+stummen Stimmung das Relief.</p>
+
+<p>Sie lehnten nebeneinander und sahen geradeaus, in
+den farbenprangenden Abend hinein.</p>
+
+<p>»Frau Margot,« sagte dann Springe, aber keins
+von ihnen änderte die Richtung des Blickes, »ich habe
+Sie bis heute nicht fragen wollen.«</p>
+
+<p>»Lieber Freund, ich bin nicht mehr die kleine Margot,
+die Sie im Gedächtnis haben. Ich bin eine Frau, die
+den Höhepunkt überschritten hat. Bedenken Sie das.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span></p>
+
+<p>»Wir beide haben erst den Höhepunkt überschritten,
+wenn wir uns nicht mehr lieben.«</p>
+
+<p>»Und das ist nicht möglich,« sagte sie und legte ihre
+Hand auf die seine.</p>
+
+<p>Sie schauten, nebeneinander lehnend, in den Abend
+wie vorher; aber es war ihnen, als wäre Luft und
+Licht noch wohltuender geworden.</p>
+
+<p>»Wann, Margot?« fragte er nur.</p>
+
+<p>Und sie antwortete: »Wann du willst. Nur ordne
+mir auch das Glücksbedürfnis meines Jungen ...«</p>
+
+<p>Da beugte er sich über die feingeäderte Hand, die
+wie ein Marmorgebilde auf der Verandenbrüstung ruhte,
+und küßte sie.</p>
+
+<p class="center noind"><sup>*</sup> &nbsp;&nbsp; <sub>*</sub>
+&nbsp;&nbsp; <sup>*</sup></p>
+
+<p>Hans war angekommen.</p>
+
+<p>Als Frau Margot, die ihren Jungen von der Bahn
+abgeholt hatte, ihm im Wagen gegenübersaß, wußte sie
+nicht das rechte Wort zu finden, ihn im Sturm einzunehmen.
+Hans hatte sich bei der Begrüßung sehr zärtlich
+gezeigt, aber es war doch mehr die liebenswürdige
+Aufmerksamkeit eines chevaleresken Sohnes zur Mutter
+gewesen. Nun suchte sie ihn während der Fahrt zu
+beobachten und Vergleiche zwischen früher und jetzt anzustellen.
+Sie hatte sich ihren Jungen nicht gar so erwachsen
+gedacht. Hans war stärker geworden und breiter
+in den Schultern. Sein welliges braunes Haar war
+der Schere zum Opfer gefallen und so kurz geschnitten,
+wie es der durchgeführte Scheitel nur eben zuließ. Auch
+sein kräftiger dunkler Schnurrbart zeigte eine offiziersmäßige
+Form. Das Gesicht war röter geworden und<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span>
+die Studentennarben auf Stirn und Wangen zogen
+scharfe, purpurne Linien hinein. Um die Augen herum
+liefen tiefe Schatten, die von durchtollten Nächten
+sprachen.</p>
+
+<p>Es wurde Frau Margot eigentümlich zu Mute bei
+dieser Entdeckung. Hatte sie geseufzt? Worüber? Weshalb?</p>
+
+<p>Der Sohn erkundigte sich teilnehmend, ob sie sich
+nicht ganz wohl fühle?</p>
+
+<p>»O doch,« gab sie freundlich zur Antwort. »Ich
+bin nur froh, daß du da bist.«</p>
+
+<p>»Weißt du, was Springe von mir will? Er zitierte
+mich mit solcher Bestimmtheit her.«</p>
+
+<p>Welchen Ton er sich angewöhnt hatte — —. In
+den wenigen Worten schon lag die ganze Veränderung
+seines Wesens.</p>
+
+<p>»Ich möchte unserem Freunde nicht vorgreifen,« erwiderte
+sie reserviert. »Du wirst wohl gleich zu ihm
+wollen?«</p>
+
+<p>»Es eilt nicht, Mama. Jedenfalls möchte ich mich
+zunächst umkleiden und, wenn du gestattest, ein Glas
+Wein bei dir trinken. Diniert habe ich bereits in Köln
+auf dem Bahnhof.«</p>
+
+<p>Sie nickte nur, und schweigend kamen sie zu
+Hause an.</p>
+
+<p>Eine Stunde später verabschiedete er sich von der
+Mutter. Der rasch genossene Wein brauste ihm im
+Blut, und er freute sich auf einen Spaziergang durch
+den kühlen Herbsttag. Als der Hofgarten in Sicht kam,
+zog es ihn unwiderstehlich nach der Pempelforterstraße.
+Er wollte nur an dem Hause vorübergehen und dann<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span>
+zurückkehren, um Springe aufzusuchen. Doch nachher
+konnte er sich nicht enthalten. Weshalb nicht auf einen
+Sprung hinauf? Die Großmutter würde nicht daheim
+sein und Hannes — Hannes allein. Alle Pulse klopften
+ihm. Da war er auch schon oben und klingelte.</p>
+
+<p>»Hans!«</p>
+
+<p>Das Mädchen war zuerst einen Schritt zurückgetreten.
+Dann kam sie hastig vor, faßte ihn bei den Händen
+und zog ihn in das Zimmer. Seine Hände in den ihren,
+starrte sie ihn eine Minute an. Das Schweigen wurde
+ihm peinlich, und er machte eine Bewegung. Da schüttelte
+sie den Kopf, als wollte sie die aufsteigenden Gedanken
+verjagen, und warf, einem jähen Impulse folgend, die
+Arme um seinen Hals.</p>
+
+<p>»Da bist du, da bist du,« wiederholte sie nur immer,
+und ihr junger, warmer Mädchenkörper zuckte vor Erregung
+in seinen Armen.</p>
+
+<p>»Kind, Kind, wer wird sich denn so aufregen!«</p>
+
+<p>»O laß mich doch, laß mich doch. Ich wußte ja
+kaum noch, ob du lebtest.«</p>
+
+<p>»Mir ist das viele Briefschreiben ein Greuel. Damit
+wird dich auch Mama getröstet haben.«</p>
+
+<p>»Mama —?« Sie ließ seinen Nacken los und
+lächelte eigen vor sich hin.</p>
+
+<p>»Nun, Johanna, was soll denn das?«</p>
+
+<p>»Mama ist der Meinung, daß ich regelmäßig Nachrichten
+von dir gehabt hätte.«</p>
+
+<p>»Wie ist denn das möglich? Hat sie denn nie gefragt?«</p>
+
+<p>»Doch, doch. Gerade, weil sie gefragt hat. Da
+hab’ ich ihr das ja gesagt.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span></p>
+
+<p>»Daß du Nachrichten von mir hättest? Ja warum
+denn, um alles in der Welt?«</p>
+
+<p>Sie sah ihn an. Sie fühlte, daß er sie nicht verstand,
+daß er ihre Tapferkeit nicht verstand. Und plötzlich
+merkte sie, daß all ihre Freude erstorben, daß ihr
+Blut eiskalt geworden war.</p>
+
+<p>»Weil ich mich für dich schämte,« sagte sie und
+richtete sich ruhig auf.</p>
+
+<p>»Was —?« fragte er erstaunt, als hätte er nicht
+recht gehört. »Weil du dich — für mich — —? Ach,
+du scherzest wohl.«</p>
+
+<p>»Wie du dich verändert hast,« entgegnete sie nur
+und betrachtete ihn ernst. Sein Gesicht hatte keine
+Geheimnisse für sie. Sie las aus den kleinen Spuren
+sein ganzes Leben.</p>
+
+<p>»Darf ich vielleicht wissen, weshalb du es für nötig
+hieltst, dich für mich zu schämen?« fragte er zornig.</p>
+
+<p>Da fuhr auch sie auf.</p>
+
+<p>»Nein! Das darfst du <em class="gesperrt">nicht</em> wissen, wenn du es
+wirklich nicht längst schon weißt.«</p>
+
+<p>»Ich bitte mir ein besseres Benehmen aus. Das
+ist nicht der Ton, in dem wir eine Unterhaltung führen
+können.«</p>
+
+<p>»O — —! Und <em class="gesperrt">dein</em> Benehmen? Dein Benehmen
+gegen mich? Daß du mich fast ein Jahr lang auf
+eine Zeile warten ließest? Das ist wohl ganz was
+anderes!«</p>
+
+<p>Er suchte nach einer Antwort, um der aufsteigenden
+Scham zu begegnen. Und plötzlich, nur von dem Gefühl
+getrieben, nicht als der Besiegte zu erscheinen, stieß
+er brüsk hervor: »Vergiß doch nicht, daß wir durchaus<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span>
+nicht offiziell verlobt sind. Dann freilich, dann wäre
+es unverantwortlich von mir gehandelt gewesen. So
+aber trifft mich auch nicht der kleinste Vorwurf.«</p>
+
+<p>Sie wurde mit einem Male merkwürdig ruhig. Noch
+ein paar schnelle Atemzüge, und sie konnte lächeln.</p>
+
+<p>»Reden wir nicht davon. Es hat keinen Zweck.
+Einer von uns spricht Chinesisch.«</p>
+
+<p>Dann bot sie ihm mit heiterem Wesen einen Stuhl
+an und setzte sich mit einer kleinen Handarbeit an den
+Tisch. Ganz korrekt, ganz über der Situation stehend,
+wie eine große Dame, dieses junge Geschöpf ...</p>
+
+<p>»Großmama wird sehr bedauern. Es ist zwar nicht
+ganz schicklich, daß wir hier so mutterseelenallein sitzen.
+Aber für ein paar Minuten — das hat wohl nichts zu
+bedeuten.«</p>
+
+<p>Er biß sich auf die Lippen. Sie machte sich lustig
+über ihn! — — Da verlor er den Kopf.</p>
+
+<p>»Hannes,« begann er, und nun sprudelten die Worte
+hervor und überstürzten sich, »Hannes, ich hab’ dich
+lieb. Daran zweifelst du doch hoffentlich nicht. Ich
+habe dich genau so lieb wie früher. Aber dem Leben
+da draußen ist nicht nur mit der Liebe gedient. Wir
+— ich mein’ die Menschen, die auf sich halten — wir
+haben ernstere Pflichten gegenüber der Gesamtheit als
+die große Masse gegen sich. Wir bilden die Elite. Und
+deshalb dürfen wir uns nicht leichtsinnig eine Blöße,
+eine Angriffsfläche geben. Was den einzelnen von uns
+trifft, das trifft uns alle. Wir sind sozusagen ein Körper
+und eine Seele. Verstehst du das?«</p>
+
+<p>»Ich wußte bisher nur, daß zwei, die sich lieben,
+das zu sein hätten ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p>
+
+<p>»Aber natürlich. Das hab’ ich doch wohl nicht in
+Abrede gestellt. Ich spreche hier aber von dem Kreise,
+in dem ich zu leben habe, von den Leuten aus gutem
+Hause und von guter Erziehung. Siehst du, Hannes,
+das sind die Konflikte, die an mir herumreißen. Ich
+habe dich so lieb — wer könnte dich nicht lieb haben
+— aber nun sei einmal mein vernünftiges Mädchen.«</p>
+
+<p>»Ich bin dein vernünftiges Mädchen,« sagte sie und
+zwang den stürmischen Atem zurück.</p>
+
+<p>»Also, Hannes; dann wird es uns leicht werden.
+Ganz offen, nicht wahr, ganz offen! Ich habe nun
+einmal einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Und
+deine Mutter — deine Mutter besaß keinen Frauennamen.«</p>
+
+<p>»Nein; aber sie besaß die Frauenliebe.«</p>
+
+<p>»Aber davon versteht die Welt doch nichts,« rief er
+aufgebracht, »dazu ist doch die Welt zu dumm!«</p>
+
+<p>»Und trotzdem — —? Armer Hans.«</p>
+
+<p>»Du scheinst bei meiner Mutter viel gelernt zu
+haben,« sagte er und stand auf.</p>
+
+<p>»Ich wollte dich nicht kränken. Aber ich habe dich
+viel zu lieb, als daß ich dich so hören könnte.«</p>
+
+<p>»Hannes,« bestürmte er sie von neuem und zog sie
+an sich, »es ist ja nur eine bloße Formalität, die ich
+verlange. Ich habe ja allen Respekt vor deiner Mutter,
+aber die Leute, auf die es für uns ankommt, denken
+darüber anders. Wir wollen zu Springe hingehen. Wir
+wollen ihm alles vorstellen und ihn bitten, zu helfen.
+Er soll dich adoptieren. Dagegen wird er bei seinen
+Anschauungen nichts haben. Du erhältst einen guten
+Namen und wir heiraten und ziehen nach München,<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span>
+nach Berlin, wohin du willst. Mit der Fabrik will ich
+ja doch nichts zu tun haben. Hannes, ich bitte dich.
+Hannes — — was hast du denn? Was fällt dir denn
+ein?«</p>
+
+<p>Sie hatte sich mit einer energischen Bewegung freigemacht
+und vom Wandhaken ihren Hut gerissen.</p>
+
+<p>»Soll <em class="gesperrt">ich</em> gehen, oder willst <em class="gesperrt">du</em> gehen?«</p>
+
+<p>»Hannes, Liebste, versteh mich doch nicht falsch.
+Kannst du mir denn kein Opfer bringen?«</p>
+
+<p>»O doch,« lachte sie und nestelte ihren Hut auf,
+»das größte; dasselbe Opfer, das meine Mutter gebracht
+hat. Wenn es darum ging’! Wenn es nicht anders
+wär’! Das wär’ doch wenigstens Stolz! Kein feiges
+Einschleichen, wie du es von mir verlangst. Gib dir
+keine Müh’ mit mir. Ich will nichts mehr hören, als
+das eine: Soll <em class="gesperrt">ich</em> gehen, oder willst <em class="gesperrt">du</em> gehen?«</p>
+
+<p>Er war gegangen. Rot vor Zorn und Scham.
+Aber wie in einer Muschel, in der sich, unentrinnbar,
+die Stimme des ewigen Meeres gefangen hat, so schallte,
+unentrinnbar ihr, eine Stimme in seinem Innern.
+»Scham ist Feigheit — Scham ist Feigheit.«</p>
+
+<p>Die alte Frau Stahl hatte es gesagt, droben in
+dem Stübchen. Und droben in dem Stübchen rang jetzt
+ein junges, wildes Blut mit dem ganzen Stolz die Verzweiflung
+nieder. Der Sommernachtstraum, den sie im
+Park zu Benrath geträumt hatte — Sommernacht? Es
+war doch Herbst gewesen, Herbst wie heute. Der Ring
+hatte sich geschlossen.</p>
+
+<p>Sie saß gerade aufgerichtet auf dem Stuhl, den
+Hut auf dem Schoß, und starrte ins Leere. Nicht mit
+der Wimper wollte sie zucken. Aber die Tränen nahmen<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span>
+keine Notiz davon. Sie kamen tief aus dem Innern
+und rollten langsam über die Wangen und tropften
+heiß auf die Hände. Ein Abschied — —.</p>
+
+<p class="center noind"><sup>*</sup> &nbsp;&nbsp; <sub>*</sub>
+&nbsp;&nbsp; <sup>*</sup></p>
+
+<p>Heinrich Springe ging auf dem Trottoir vor seiner
+Haustür auf und ab und zog jeden Augenblick aufs
+neue seine Uhr. Wo nur der Hans blieb? Er hätte
+schon seit Stunden bei ihm sein können. Sollte Frau
+Margot vorgezogen haben, zuerst mit ihrem Sohne zu
+sprechen, und Hans Einwendungen zu machen haben?
+Dem wartenden Manne war es auf seinem Atelier
+ordentlich unheimlich geworden. Ahnungen durchflatterten
+das Zimmer und schreckten ihn auf. »Wie Fledermäuse,«
+dachte er und sah sich um. Er hatte doch sonst
+nicht an Nervosität gelitten.</p>
+
+<p>»Die Liebe macht doch selbst die Vernünftigsten zu
+schreckhaften Kindern,« sagte er kopfschüttelnd. »Vielleicht,
+weil ihre Vernunft begreift, was das Herz zu
+verlieren hat.«</p>
+
+<p>Damit nahm er seinen Hut, um vor dem Hause
+nach Hans auszuspähen.</p>
+
+<p>Endlich! Dort kam er von der Oststraße her, den
+Hut etwas schief, das Jackett aufgeknöpft und den Stock
+wagrecht unter dem Arm.</p>
+
+<p>»Achtung, mein Junge, du läufst zu weit.«</p>
+
+<p>»Ah, da bist du ja selbst. Guten Tag, Heinrich.
+Wie geht’s? Wollen wir einen Spaziergang unternehmen?
+Es plaudert sich im Freien am besten.«</p>
+
+<p>»Lieber wär’s mir, wenn du mit mir hinaufgehen
+wolltest. Wir sind oben ungestörter.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span></p>
+
+<p>»Na, gar so feierlich wird’s doch nicht sein.«</p>
+
+<p>»Wie man’s nimmt, mein Junge. Für mich soll’s,
+so Gott will, eine Feierstunde werden.«</p>
+
+<p>Sie saßen sich im Atelier gegenüber, wie vor Jahren.
+Aber der Jüngere war älter geworden, und der Ältere
+jung geblieben. Das sahen sie beide auf den ersten
+Blick, und es schlich sich ein Fremdes zwischen sie.</p>
+
+<p>Heinrich Springe schüttelte den Bann ab. Freimütig
+blickte er den einstigen Schützling an und legte
+ihm die Hand aufs Knie.</p>
+
+<p>»Laß mich gleich mitten in die Sache hineingehen,
+Hans. Umschweife würden sich für uns nicht schicken,
+und sie passen auch nicht zu meiner Art. Nur eines
+sollst du mir vorher sagen: ob du mir noch so vertraust ...«</p>
+
+<p>»Aber gewiß ...«</p>
+
+<p>»Das genügt mir. Ich brauche also nicht zu erwähnen,
+daß keinerlei Interessen bestimmend für mich
+sein konnten. Hans, ich habe deine Mutter gekannt,
+als sie noch ein kleines Mädchen war, und ich habe sie
+mit meiner Knabenliebe geliebt. Du weißt ja selbst,
+was Jugendliebe bedeutet, nur daß du glücklicher darin
+bist, als ich es war. Wir waren beide arm, deine
+Mutter konnte nicht warten und heiratete deinen Vater,
+und ich — ich habe keine andere Frau mehr lieb gehabt.
+Und nun, Hans, und nun — haben wir uns
+wieder zusammen gefunden. Und der Kindheitsglaube
+an das Glück hat sich auch wieder eingefunden. Und
+nun möchten wir drei für immer zusammen bleiben:
+deine Mutter, dein Freund und der Kindheitsglaube.«</p>
+
+<p>Er stand auf und fuhr sich über die Stirn.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span></p>
+
+<p>»Das war’s, was ich dir persönlich sagen wollte,
+was sich brieflich überhaupt nicht ausdrücken läßt. Deshalb
+bat ich dich her. Und ich meine, dies Atelier, in
+dem auch du mir einmal von deiner Jugendliebe erzähltest,
+war die richtige Umgebung für diese Minute.
+— Du antwortest nicht? Hat es dich so überrascht?«</p>
+
+<p>»Das — das — verstehe ich nicht,« stieß Hans
+kurz hervor und erhob sich gleichfalls.</p>
+
+<p>»Soll ich es dir — ausführlicher erklären?«</p>
+
+<p>»O ich danke dir. Die Erzählung selbst ist mir schon
+aufgegangen. Aber daß meine Mutter es über sich gewinnt,
+daran zu denken, in ihren Jahren daran zu
+denken —«</p>
+
+<p>»Schau sie dir doch an, Junge,« sagte Springe
+lächelnd, »und dann wiederhole das von den Jahren.«</p>
+
+<p>»Einerlei. Und gerade <em class="gesperrt">du</em> und sie. Spürt ihr
+denn nicht die Indezenz, die darin für mich liegt?«</p>
+
+<p>»Was sollen wir spüren?« fragte Springe verblüfft.
+»Was liegt für dich darin? Ja, mit wem sprech’ ich
+hier denn eigentlich? Hans, Hans, wach auf, es ist
+doch dein alter Freund, der vor dir steht.«</p>
+
+<p>»Ein Freund, der im Begriff ist, sich in meinen
+Vater zu verwandeln. Ein Freund, mit dem ich geschwärmt
+habe, mit dem ich gezecht habe, mit dem ich
+meine Liebesaventiuren beraten habe; der mir wie ein
+Gleichaltriger war. Und diesen Gleichaltrigen, diesen
+Kameraden der Jugend soll ich mir vorstellen als —
+als — den Gatten meiner Mutter? Wird es dir jetzt
+klar, was ich mit dem Worte ›Indezenz‹ aussprach?«</p>
+
+<p>Heinrich Springe war blaß geworden.</p>
+
+<p>»Nein,« sagte er und zog die Augenbrauen<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span>
+zusammen, »das wird mir <em class="gesperrt">nicht</em> klar. Aber es schwant
+mir ziemlich klar, daß du da draußen dein Liebesempfinden
+verloren oder — verhandelt hast.«</p>
+
+<p>»Möchtest du mir irgend etwas unterschieben?« brauste
+Hans auf. Die Szene, die er soeben erst mit Hannes
+erlebt hatte, stand ihm so greifbar vor Augen, daß er
+meinte, auch der andere müsse sie sehen. Das brachte
+ihn außer sich.</p>
+
+<p>»Ich denke, ich spreche ganz deutlich,« erwiderte
+Springe, »und so offen, wie es sich unter Männern
+ziemt. Du scheinst mir überhaupt den wahren Kern
+des Wortes Liebe noch gar nicht entdeckt zu haben.
+Ja, glaubst du denn, die Dezenz von Liebe und Eheliebe
+wäre unterscheidbar? Mein Junge, wer die Indezenz
+hineinträgt, das seid ihr! Ihr mit eurem lächerlichen
+Grenzregulieren und Schematisieren der Frauengefühle,
+die nach bestimmter Frist so schnell als möglich
+mit Anstand und Geräuschlosigkeit zu ersterben haben.
+Ich will dir was sagen: ich wäre in diesem Falle so
+geschmacklos, auf die ganze sogenannte Liebe zu pfeifen.«</p>
+
+<p>»Der Ausdruck macht dir im Rahmen dieser Unterhaltung
+alle Ehre.«</p>
+
+<p>»Nein, Hans,« sagte Springe schnell, »so dürfen
+wir beide nicht miteinander verhandeln. Ich habe dich
+falsch verstanden und bin übers Ziel geschossen. Aber
+sieh, wir sind alle Menschen. Deine Mutter und ich,
+du und Hannes. Und deshalb bleibt uns nichts, als
+menschlich zu fühlen. Das aber ist doch das Schönste.
+Wir fühlen, daß wir uns lieben, und wir lieben uns.
+Wo wir das rein und wahr erkennen, da fällt jede
+falsche Scham ab. Da versinkt das künstliche Verhältnis<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span>
+zwischen Eltern und Kindern. Da stehen nur noch
+liebende Menschen neben liebenden Menschen.«</p>
+
+<p>Er durchmaß das Zimmer und kehrte zu dem
+Schweigenden zurück.</p>
+
+<p>»Hans,« und das alte, strahlende Lächeln stand auf
+seinem Gesicht, »als ich — damals — deine frische,
+ringende Jugend antraf und dein Mentor wurde, da
+wurde ich es, um deinem Leben gerade dieses Ziel zu
+geben. Du solltest ein echter Mensch werden, durch
+jeden Firnis hindurchschauen lernen und mit klingendem
+Spiel noch ins Alter einmarschieren wie der Soldat ins
+Himmelreich. Jedem aber das Seine! Auch deine
+Mutter und ich nehmen das für uns in Anspruch, nicht
+weil wir älter sind, sondern gerade weil wir uns in
+dieser Beziehung euch immer gleichaltrig dünken werden.
+Mein lieber, alter Junge, in unseren Jahren ist der
+Vater nicht nur Vater, sondern auch Bruder, Freund,
+Kamerad. Das alles, und nur das, siehst du in mir.
+Und deine liebe, kleine Braut findet in ihrer Mutter
+auch eine Schwester.«</p>
+
+<p>»Meine — Braut? Von wem sprichst du denn?«</p>
+
+<p>»Herr Gott, sei doch nicht so offiziell! Von Hannes
+sprech’ ich.«</p>
+
+<p>»Dann gestatte, daß ich dich berichtige. Fräulein
+Stahl und ich denken nicht an eine Heirat.«</p>
+
+<p>Heinrich Springe trat ein paar Schritte zurück.
+Dann streckte er die Arme aus, kam vor und rüttelte
+seinen Gast an den Schultern.</p>
+
+<p>»Hans —«, er suchte nach Worten, »Hans! Auf
+der Stelle sagst du mir, daß du lügst. Ich will nicht
+wissen, was zwischen euch vorgefallen ist. Aber daß du<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span>
+es wieder gut machst, und wenn es dich die Zeit deines
+Lebens kostet. Eine Träne von ihr ist mehr wert, als
+der ganze Plunder deiner Errungenschaften. Sag es;
+auf der Stelle sag es.«</p>
+
+<p>»Bitte sehr,« versetzte Hans und machte sich kurz
+los. »Der Vater spricht etwas vorzeitig aus dir. Ich
+wüßte nicht, daß ich dir über mein Tun und Lassen
+irgendwelche Rechenschaft schuldig wäre. Ich lebe mein
+Leben, du — deins.«</p>
+
+<p>»O du armer Junge,« sagte Springe und ließ die
+Arme sinken, »du armer, verblendeter Tor!«</p>
+
+<p>»Für heute ist wohl unsere Unterhaltung zu Ende,«
+erwiderte Hans und ging zur Tür.</p>
+
+<p>Springe schaute ihm traurig nach.</p>
+
+<p>»Du hast noch etwas vergessen,« sagte er ernst,
+nahm ein Buch vom Schreibtisch und brachte es ihm.
+»Das gehört mir nicht.«</p>
+
+<p>Dann fiel die Tür zwischen ihnen ins Schloß.</p>
+
+<p>»Er wird durch eine bittere Schule gehen,« murmelte
+der Zurückbleibende, »und der arme, blinde Narr reißt
+sich selbst die Schwungfedern aus, um eine fremde
+Sprache schreiben zu lernen, die er nie sprechen
+lernt.« — —</p>
+
+<p>Hans Steinherr war, das Buch in der Hand, ziellos
+durch die Stadt gewandert. Eine unsagbare Leere
+spürte er in seiner Brust, ein quälendes, schmerzendes
+Heimverlangen. Aber er wollte es vor sich selbst nicht
+Wort haben. Was wußten die hinter ihm von seinem
+Ehrgeiz? Wer nicht mit ihm war, der war gegen ihn.
+Für den Philister sind die Höhen nicht getürmt, dem
+behagt es nur in der Niederung wie dem Frosch im<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span>
+Teich. »Ah, vorwärts,« sprach er sich Mut zu, »mit
+leichtem Gepäck marschiert es sich am besten. Wenn ich
+wiederkomme, sollen sie zu mir aufblicken.«</p>
+
+<p>Er war durch das Rheintor gegangen, über die
+Schiffsbrücke, und wanderte durch die Rheinwiesen, an
+den Erlen- und Weidenbüschen vorbei. Plötzlich zuckte
+er zusammen und griff nach dem Buch. Es war ihm
+eingefallen, daß er an dieser Stelle sein erstes Gedicht
+gedichtet hatte. Hier — hier hatte er zum ersten Male
+seine Jugend verspürt. Begierig führte er das Buch
+dicht unter die Augen.</p>
+
+<p>Es war dunkel geworden. Fern über Neuß stand
+ein Wetter. Schmutziggelbe Streifen zogen sich am
+schwarzbewölkten Himmel entlang. Aber die Widmung,
+die vermochte er noch zu lesen.</p>
+
+<p>»Meinem Mentor — Telemach.«</p>
+
+<p>Der Mentor hatte auf diesen Telemach freiwillig
+verzichtet. Und die Liebe auf ihren Sänger ...</p>
+
+<p>Ein Schwung — und das Buch klatschte in die
+Wogen des grollenden Rheins.</p>
+
+<p>Da schwamm ein Stück Jugend — — —.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-240.jpg">
+</figure>
+
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Zweites_Buch">Zweites Buch</h2>
+</div>
+
+
+<div class="chapter">
+<h3 class="nobreak" id="Erstes_Kapitel_Buch_2">Erstes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Die Nacht ist herabgesunken auf das schweigende
+Nordmeer.</p>
+
+<p>Noch lustwandeln auf den Promenadendecks des
+Luxusdampfers fröhliche Menschen in heiterem Geplauder,
+und aus den Rauchsalons schallt das Lachen lustiger
+Zecherrunden. Aber die Macht der Gewohnheit berührt
+sie an der Schulter, und die Menschenlust wird müde,
+die sich nur an sich selbst zu entzünden vermag in der
+lauten Vielheit. Das Leben erlischt über der lautlosen
+See.</p>
+
+<p>Auf Achterdeck lehnt eine Gestalt gegen die Brüstung
+und träumt in die schaumweiße Kielspur nordische Märchen
+hinein. Scheu ist der Schlafgott an dem Manne
+vorübergegangen, als spürte er den Widerpart der alten,
+starken Götter, die in der Nacht über das einsame Nordmeer
+schweben. Und auch der sinnende Mann spürt ihre
+Gegenwart. Das Wunderbare, Rätselvolle, Nie-Gelöste
+in Luft und Wasser. Und seine Menschenseele möchte
+sehnend sich dehnen in dem unsagbaren, schmerzlich süßen
+Empfinden und unsichtbare Bande sprengen, um zu verschmelzen
+mit der Allmutter Natur, und sie ringt vergeblich
+nach einem armseligen Wort ...</p>
+
+<p>»Gute Nacht, Herr Doktor!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span></p>
+
+<p>Der Träumer fuhr herum und blinzelte mit den
+Augen in den Lichtstreifen der Schiffslaterne. »Sie
+sind noch auf, gnädige Frau? Sie werden morgen das
+Frühstück verschlafen.«</p>
+
+<p>»Selbst auf die Gefahr Ihrer Ironie hin.«</p>
+
+<p>»Meiner Ironie —? Was hätte wohl meine Ironie
+damit zu tun?«</p>
+
+<p>»O, bitte, keine Entschuldigung. Daß Sie sich über
+die ganze Schiffsgesellschaft lustig machen —«</p>
+
+<p>»Pardon, meine Gnädige, ich denke nicht daran.«</p>
+
+<p>»Nun also, Sie denken nicht einmal daran; das
+wäre Ihnen schon zu viel der aufgewandten Ehre. Sie
+verachten sie ganz einfach.«</p>
+
+<p>»Sie gefallen sich heute in starken Ausdrücken,
+gnädige Frau. Ich tue weder das eine noch das andere,
+was Sie mir unterstellen. Wenn ich mich während
+der Nordlandsfahrt, die leider ihren Kurs nun wieder
+heim nimmt, für mich gehalten habe, so bedeutete das
+keinerlei Affront gegen die Reisegesellschaft, so wenig,
+als sie mich affrontieren kann. Keine Berührungspunkte
+zu finden, ist doch kein Verbrechen.«</p>
+
+<p>»Weshalb suchen Sie sie nicht?«</p>
+
+<p>»Meine gnädige Frau, ich bin trotz meiner verhältnismäßig
+jungen Jahre viel auf Reisen. Wenn ich den
+Gang des gesellschaftlichen Lebens beobachten wollte,
+könnte ich zu Hause bleiben. Aber gerade weil ich anderen
+Stimmen, unverfälschten und ergreifenderen, lauschen
+wollte, zog es mich aufs Meer. Da haben Sie
+den Unterschied. Frühstücken, dinieren, soupieren, Musik
+oder ein Spielchen machen und von Zeit zu Zeit einen
+Erholungsblick in die Natur tun — ja, dazu brauche<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span>
+ich nicht nach dem Nordkap zu segeln. Eine Reihe von
+festlichen Veranstaltungen finde ich überall. Wenn ich
+könnte, wie ich wollte, so ließ’ ich mir hier auf dem
+Achterdeck ein primitives Bett aufschlagen, nähme hier
+ganz nebenbei meine Mahlzeiten ein und rührte mich im
+übrigen nicht von der Stelle.«</p>
+
+<p>»Ohne jede Unterhaltung?«</p>
+
+<p>»Ich plaudere den ganzen Tag, wenn auch wortlos.
+Und wenn ich nicht plaudere, so staune ich.«</p>
+
+<p>»Über was, Herr Doktor?«</p>
+
+<p>»Über das, was mir die Elemente zu sagen haben.«</p>
+
+<p>»Und was sagen sie Ihnen gerade jetzt, Herr
+Doktor?«</p>
+
+<p>Hans Steinherr blickte lächelnd die elegante Fragerin
+an, die, den Saum ihrer reichen Abendtoilette gerafft,
+auf den Spitzen der weißen Glacéschuhe stand und in
+die schäumende Kielspur sah.</p>
+
+<p>»Hören Sie es nicht selbst? Sie wundern sich, daß
+die große Weltdame ihre Nachtruhe einer Kaprice opfert
+und sich einen Schnupfen holt, um ein Viertelstündchen
+Naturkind zu spielen!«</p>
+
+<p>»Das kann nicht alles sein,« erwiderte sie, »damit
+vertreiben Sie mich nicht. Haben Sie keine stärkere
+Beschwörung?«</p>
+
+<p>»Wenn Sie sie hören wollen?«</p>
+
+<p>»Ich will.«</p>
+
+<p>»Sie wissen, es ist die erste Reise, die das Schiff
+macht. Es ist seine Hochzeitsreise, seine Vermählung
+mit dem Meere. Und nun hat sich die Nacht gesenkt
+und die Neugier hat die Augen geschlossen. Verstehen
+Sie jetzt, was das Meer wünscht? Es wünscht, daß<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span>
+man die Mysterien der Brautnacht ehrt und das Schiff
+allein läßt in den Umarmungen der See. Schnell,
+schließen Sie schamhaft die Augen und fliehen Sie in
+Ihre Kajüte.«</p>
+
+<p>»Und Sie?«</p>
+
+<p>»O, ich — —. Nehmen Sie an, ich kenne in diesen
+Dingen keine Scham. Nehmen Sie an, ich sehe darin
+nur die Kraft und den Stolz der Kraft. Alles das,
+was wir Menschenkinder verloren haben und was ich
+für meine Person so gern wiedergewinnen möchte. Da!
+Da! Schauen Sie, wie die Welle das Schiff bei der
+Flanke packt. Wie das Schiff zittert und in die Umarmung
+hineintaucht. Was liegt ihm an dem Flüstern,
+das über die Wasser läuft! Die Wasser verrinnen ...
+Gute Nacht, gnädige Frau, es ist Zeit, daß Sie zu
+Bett gehen.«</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich hier. Die Nacht ist herrlich.«</p>
+
+<p>Er gab es auf, sie zu verscheuchen, und zog einen
+bequemen Triumphstuhl aus Segeltuch heran, in dem
+sie sich ausstrecken konnte. Dann wickelte er seinen Plaid
+um ihre Schultern und hüllte ihre Füße in eine Reisedecke.</p>
+
+<p>»Ah — —« machte sie und rekelte sich wohlig.</p>
+
+<p>Schweigend lehnte er wieder an der Brüstung und
+lauschte in die schwarzblaue See unter dem endlosen
+Nachthimmel. Aber eine Unruhe trieb in seiner Stimmung
+umher wie ein unter dem Wasserspiegel verborgener
+Wirbel. Er fühlte, daß er beobachtet wurde,
+und diese Empfindung lenkte ihn von der Vertiefung
+des Genusses ab.</p>
+
+<p>»Weshalb sind Sie nur ein solcher Sonderling?«<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span>
+hörte er die Frauenstimme wieder neben sich fragen.
+»Wenn Sie wollten, könnten Sie der vollendetste Weltmann
+sein.«</p>
+
+<p>»Ich mache weder auf das eine, noch auf das andere
+Anspruch, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>»Sie haben Trauriges im Leben erfahren?«</p>
+
+<p>»Ich — —? Ich glaube, es war umgekehrt. Das
+Leben hat von mir Trauriges erfahren. Und das ist
+schlimmer.«</p>
+
+<p>»Bah, man muß das Leben zuweilen <span class="antiqua">en canaille</span> behandeln,
+damit’s einmal einen anderen Ton von sich gibt.«</p>
+
+<p>»Sie spielen jetzt die Frivole wie vorhin das Naturkind.«</p>
+
+<p>»Wenn Sie das Spielerei zu nennen belieben —.
+Für mich ist es jedenfalls keine Spielerei. Vielleicht
+liegt darin unsere individuelle Verwandtschaft, die uns
+von der Allgemeinheit entfernt: wir haben, jeder für
+seine Person, unsere Separatwünsche.«</p>
+
+<p>»Sie sind bei gutem Humor, gnädige Frau. Ich
+kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich lange mit Wünschen
+abgeben. Für Sie gibt es doch wohl nur Erfüllungen.«
+Er sah mit seinem leisen, ironischen Lächeln
+nach ihr hin, und es war ihm, als hätte es in ihren
+schwarzen Augen aufgeflammt.</p>
+
+<p>»Ihre Komplimente haben einen Beigeschmack, Herr
+Doktor; aber besser Beigeschmack als das fade Einerlei.«</p>
+
+<p>»Das ist eine Freinacht hier oben. Die Kultur
+liegt unter Deck und schnarcht.«</p>
+
+<p>»Sie sehen, daß ich nicht unter Deck liege. Ich
+verlange daher auch durchaus nicht nach Rücksichtnahme.
+Erkennen Sie das an?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p>
+
+<p>»Sie ebnen mir so sehr die Wege zur Erkenntnis,
+daß es eine Rücksichtslosigkeit wäre, sie nicht zu betreten.«</p>
+
+<p>»Wohlan? Und Sie machen mir nicht den Hof?«</p>
+
+<p>»Das wäre doch paradox. Ich halte Sie für eine
+so schöne und so kluge Frau, daß Sie alles Recht haben,
+sich nach Laune zu langweilen. Daß ich Sie daran
+nicht hindere, das ist die eine Seite der Freinacht.«</p>
+
+<p>»Und die andere Seite?«</p>
+
+<p>»Die andere? Logischerweise muß sie darin bestehen,
+daß man sich gegenseitig nicht langweilt. Auch nicht
+mit Hofmachen. Die Woge schwillt empor, und das
+Schiff stürmt ihr entgegen. Die Schriften der unendlichen
+Natur sind alle so einfach. Nur wir Endlichkeitsgeschöpfe
+suchen sie zu komplizieren und haben die wenigste
+Zeit dazu.«</p>
+
+<p>»Sie reden wie ein dichtender Philosoph oder wie
+ein philosophischer Dichter.«</p>
+
+<p>»Das sind beides Leute, die ihren Beruf verfehlt
+haben, denn sie vergessen in ihrer Doppelbeschäftigung
+das eine über dem anderen.«</p>
+
+<p>»Und so haben Sie es auch gemacht? In die Sterne
+geguckt und dabei Blumen zertreten?«</p>
+
+<p>»O, Eva, Eva! Das Paradies und die Schlange!
+Und wenn ich nun, um Ihren Wissensdurst zu stillen,
+ja sagte?«</p>
+
+<p>»Ich könnte Ihnen zum Äquivalent aus meinem
+Leben erzählen.«</p>
+
+<p>»Meine Gnädige, ich bin ein ebenso schlechter Beichtvater
+wie ein uninteressantes Beichtkind.«</p>
+
+<p>»Wer weiß — —?« meinte sie zögernd und ließ<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span>
+ihren Blick aufmerksam über ihn hinstreifen. »Es stände
+ja nichts im Wege, daß Sie sich in beiden Beziehungen
+besserten. Vielleicht habe ich den Ehrgeiz, Sie zu entdecken.«</p>
+
+<p>Er verbeugte sich zeremoniell und schwang sich auf
+die Schiffsbrüstung.</p>
+
+<p>»Ich bin ganz Ohr, meine gnädige Frau,« sagte er,
+als er seinen Platz eingenommen hatte.</p>
+
+<p>»Der Vorbereitungen bedurfte es wirklich nicht,«
+versetzte sie leichthin. »Die Geschichte ist kurz und verständlich.
+Ich war zehn Jahre lang an einen kranken
+Mann gefesselt, der mich tyrannisierte. Einen Schritt
+aus dem Zimmer, und ich stand mitten in der Welt.
+Aber er ließ nicht zu, daß ich den Schritt auch nur
+einmal tat. Aus Eifersucht, aus Selbstsucht. Was
+nutzte mir da alle Schönheit und aller Geist, wenn ich
+meine Waffen nicht in den Kampf tragen konnte!
+Draußen rief das Leben, und in mir rief das Leben,
+und neben mir hielt mich der Kranke an der Kette.«</p>
+
+<p>»Und Sie kamen nie darauf, Schönheit und Geist
+zu benutzen, um dem Kranken eine Welt aufzubauen?«</p>
+
+<p>»Ich war ja selbst krank. Krank danach, mir selbst
+eine Welt aufzubauen. Glauben Sie, ich wollte mich
+besser machen als ich bin? Wenn nichts anderes, so
+sollen Sie wenigstens den Mut der Wahrheit bei mir
+anerkennen. Zu einer duldenden Samariterin tauge
+ich nicht.«</p>
+
+<p>»Ihr Gatte starb?«</p>
+
+<p>»Vor einem Jahre. Nun bin ich auf der Fahrt
+ins Leben.« Sie stützte sich auf den Arm und sah ihn
+mit ihren strahlenden Augen fest an. »Herr Doktor,<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span>
+lassen Sie es meine erste Tat sein, daß ich Sie Ihren
+Grübeleien entreiße, daß ich Sie ins Leben zurückführe, in
+das Sie hineingehören wie ich. Seien Sie mein Herold!«</p>
+
+<p>»Ich bin nicht gewohnt, die Posaune zu blasen,«
+murmelte Steinherr und verließ seinen Platz.</p>
+
+<p>»Aber die Zither zu schlagen. Verstellen Sie sich
+nicht; ich habe die Künstlernatur gleich in Ihnen entdeckt.«</p>
+
+<p>»Die Zither?« Es lag ein spöttischer Ton in seiner
+Stimme. »Meine verehrte Forscherin, alle Märchen beginnen
+mit: ›Es war einmal ...‹ Sie reden von
+Märchentagen der Jugend, in denen jeder ein Instrument
+spielt. Aber Sie tun recht daran, von Märchen
+zu sprechen. Ist das nicht märchenhaft um uns
+her?«</p>
+
+<p>Er deutete in die nächtliche See hinaus, die sich
+wenige Meter vom Schiff wie ein Geheimnis im Dunkel
+verlor.</p>
+
+<p>»Dort liegt das Asenreich, das einst dahin mußte
+vor ›Buch und Kreuz und Mönchsgebet‹, wie Scheffels
+Waldfrau singt. Aber es liegt nur im Traum, wie
+alles, was einmal war. Der Gedanke ist ewig. Und
+eines Tages werden sich die Menschen zurückbesinnen
+auf die Tage der Kraft und Ursprünglichkeit.«</p>
+
+<p>»Und Sie werden dazu die Zither schlagen.«</p>
+
+<p>»Ich? — Ich bin ein stagnierendes Wasser, das
+langsam aber sicher verschwindet.«</p>
+
+<p>»Mein Herr Doktor: Sie und Sentimentalitäten?
+Ich nehme an, das ist ein bißchen Pose.«</p>
+
+<p>»Wie Sie befehlen, gnädige Frau. Wenn es Sie
+nur unterhält.«</p>
+
+<p>»Ein stagnierendes Wasser — —,« wiederholte sie.<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span>
+»Mir fällt ein, ich wanderte im Sommer einmal an
+einer wasserarmen Stelle des Werraflüßchens. Da hatte
+sich ein stagnierendes Wasser gebildet, und ein graues,
+moosiges Gespinst überzog die ganze Fläche. Das war
+ein trauriger, trostloser Anblick. Und als ich wenige
+Tage darauf wieder an den Ort kam, traute ich meinen
+Augen nicht. Das Grau war verschwunden, Sonne lag
+auf dem Wasser, und der Fluß — ja, denken Sie —
+der Fluß blühte! Tausende und aber Tausende weißer
+Blumen bedeckten ihn wie ein prangender Sternenmantel.
+Der Gott war in das stagnierende Wasser gefahren
+und hatte es gezwungen, zu leben, seine Wunder zu
+offenbaren. Das war eine seltene Überraschung. Seit
+dem Tage, Herr Doktor, geben mir die stagnierenden
+Wasser am meisten zu denken. Es sammelt sich darin
+in der Stille eine ungeheure Materie, und fährt der
+Gott hinein, so gibt es ein überwältigendes Prangen ...«</p>
+
+<p>»Sie schlagen ja selbst die Zither, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>»O nein, ich bin nur eine begeisterte Zuhörerin.
+Heraus und heran mit allem, was das Leben schmückt!«</p>
+
+<p>»Die Sonne,« sagte Steinherr leise und wies in die
+Ferne, die einen fahlen, roten Streifen zeigte, der rasch
+anwuchs und die Linie des Horizontes scharf markierte.
+»Sonnenaufgang,« wiederholte er. »Ah, sehen Sie,
+wie im Osten Funken aufspringen und sich jagen und
+vereinigen. Jetzt ringeln sich feurige Schlangen blitzschnell
+um den Horizont. Jetzt schießen Strahlengarben
+empor, fliehen sich, suchen sich und verdichten sich zu
+einem golden umsäumten Purpurbaldachin, unter dem
+die Majestät der Sonne wie das segnende Auge Gottes
+emporsteigt.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span></p>
+
+<p>Er berauschte sich an dem Schauspiel der Natur und
+an seinen eigenen Worten.</p>
+
+<p>»Ich freue mich mit Ihnen,« sagte die Frau im
+Triumphstuhl und streckte in heimlichem Kraftbewußtsein
+die Glieder. Doch sie blickte nicht über das Meer.
+Sie sah nur den Enthusiasmus des sonst so unnahbaren
+und überlegenen Mannes und forschte, wie weit ihr
+Anteil an der Erweckung ginge.</p>
+
+<p>»Ja,« fuhr Steinherr hastig fort, »eine wundersamere
+Stunde heiliger Morgenfrühe kann es hienieden
+nicht geben. Wie das Schiff so sanft und glatt dahineilt!
+Als wollte es die Weihe des Schauens durch nichts
+unterbrechen und den Gedanken an seine Existenz verschwinden
+machen vor dem Atmen der Weltenseele.«</p>
+
+<p>»Wo nehmen Sie die Worte her — —?«</p>
+
+<p>»Ist das so schwer? Da stehen sie ja alle aufgezeichnet,
+wohin Sie blicken, da, da und da! Dort tritt
+auch die Felsenküste Norwegens wieder hervor. Und
+nun liegen sie vor uns in ihrer Weltabgesondertheit,
+die granitenen Häupter und Zacken, von der See bedrängt
+und zerrissen, und das schwerlastende Einsamkeitsgefühl
+ausströmend, das unser Altvorderen bewog,
+den Sitz Odins und Asathors, des Hammerschwingenden,
+in das wilde Reich Norge zu verlegen. Das Land der
+Asen ... Soweit das Auge reicht, Wasser und Felsen.
+Das Geschlecht der Menschlein nirgend zu verspüren.
+Ein Wasserrabe streicht einsam über die Flut. In der
+Ferne ein Zug wilder Eiderenten. Sonst nichts Lebendiges ...«</p>
+
+<p>»Nichts Lebendiges?«</p>
+
+<p>Er wandte sich nach der Fragerin um. Der Ton<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span>
+hatte ihn stutzig gemacht. Und nun sah er die kapriziöse
+Reisegefährtin, die mit ihm eine Nacht Kameradschaft
+geteilt hatte, mit der er wie mit einem nächtlichen
+Schemen Rede und Antwort getauscht hatte, im Dämmer
+des Morgens vor sich als ein Wesen von Fleisch und
+Blut, als ein üppiges, bestrickendes Frauenbild. Er sah
+die elfenbeinfarbene Haut, das vom Wind über die
+Stirn gewehte schwarze Haar, die großen, schwarzen
+Augen, die fest seinem Blick begegneten und ihn zwangen,
+stillzuhalten. Und den blaßroten Mund, der ihm am
+rätselvollsten schien.</p>
+
+<p>Seine überwachten Sinne, von der gewaltigen Schönheit
+der Natur überwältigt, strafften sich mit verdoppelter
+Kraft. Was er sprach, empfand er nicht. Er empfand
+nur das neue Bild in der Einsamkeit der Frühe.</p>
+
+<p>»Was soll das?« hörte er seine Stimme, »was wollen
+Sie mit der Frage?«</p>
+
+<p>»Wissen, ob Sie glauben, ich sei neben Ihnen gestorben.«</p>
+
+<p>Sie sahen sich immer noch an, mit demselben festen,
+fast finsteren Blick. Er vornüber gebeugt, die Hände an
+der Lehne ihres Stuhles; sie ausgestreckt, regungslos
+daliegend.</p>
+
+<p>Da atmete sie tief auf. Und mit einer jähen Bewegung
+hatte er seine Hände unter ihr Haar geschoben.</p>
+
+<p>Noch eine Sekunde starrten sie sich an, ganz nah,
+ganz dicht — — Und sein Mund preßte sich auf ihre
+Lippen, die sich unter dem Drucke öffneten und seinen
+Kuß tranken. — —</p>
+
+<p>Dann sprang sie auf, drückte die Hand auf die
+Augen, ließ den Arm sinken und strich mechanisch die<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span>
+Toilette glatt, ging bis an die Brüstung und blickte
+über das Meer.</p>
+
+<p>Als sie sich umwandte, war sie ruhig.</p>
+
+<p>»Kommen Sie, wir machen Dummheiten, lieber
+Freund! Bringen Sie mich bis zur Kajütstreppe. Ich
+danke Ihnen. Gute Nacht! Nein, Guten Morgen!
+<span class="antiqua">A bientôt</span>!«</p>
+
+<p>»Auf Wiedersehen, Frau Bettina Wittelsbach — —«</p>
+
+<p>Sie lächelte vor sich hin, als er ihren vollen Namen
+aussprach. War es doch, als ob er damit beweisen
+wollte, daß auch sie ihm aus dem Kreise der Reisegenossen
+längst aufgefallen sei.</p>
+
+<p>Als sie gegangen war, blieb er einen kurzen Moment
+emporgerichtet auf dem Fleck stehen. Dann schwand
+das Leuchten aus seinen Augen, die ironisierende Kälte
+kehrte in den Blick zurück, und mit langsamen Schritten
+begab auch er sich in seine Kajüte, um die Vorgänge
+der Nacht zu verschlafen. Als kurz nach sieben Uhr
+die Trompeten durch das Schiff den Morgengruß
+schmetterten und zum Frühstück luden, erwachte er frisch
+und gekräftigt. Nur in seinem Blute war ein leises
+Vibrieren zurückgeblieben. Aber er empfand es nicht
+unangenehm.</p>
+
+<p>Während der Toilette fiel sein Blick in den Spiegel.
+Heute morgen betrachtete er sich aufmerksamer als sonst.</p>
+
+<p>Hm, mein guter Hans, dachte er nachdenklich, die
+Jahre sind schneller über dich gekommen, als du über
+sie. Mit achtundzwanzig Jahren pflegt man in der
+Regel noch nicht nach den ersten grauen Haaren an den
+Schläfen auszuspähen.</p>
+
+<p>Der Spiegel warf das Bild eines scharf<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span>
+ausgearbeiteten Kopfes zurück, aus dem die weiche Rundung
+der Jugendformen längst verschwunden war. Der
+wehende Schnurrbart beschattete den zum Sarkasmus
+neigenden Mund. Die Stirn war breit, und die Wölbungen
+erschienen wie gemeißelt. Nur in den dunkelgrauen
+Augen loderten zeitweilig noch die alten, heißen
+Flammen auf, wie Wachtfeuer der Jugend.</p>
+
+<p>Ob man mich in Düsseldorf noch wiedererkennen
+würde? flog es ihm plötzlich durch den Sinn. Und ich
+die Menschen dort? In fünf Jahren ändert sich die
+ganze Welt von Kopf bis zu Fuß. Das ist eigentlich
+gar nicht auszudenken. Also denken wir doch nicht immer
+daran ...</p>
+
+<p>In einem leichten Promenadenanzug ging er an
+Deck, ließ sich eine Viertelstunde lang die frisch aufspringende
+Brise durchs Haar wehen und begab sich
+dann in den Frühstückssalon. Mit dem ersten Blick
+stellte er fest, daß Frau Bettina Wittelsbach noch nicht
+sichtbar geworden war. Erst gegen Mittag gewahrte
+er sie in einem Kreise lebhaft flirtender Berliner Herren.
+Sie trug ein fest anliegendes russisch-grünes Tuchkleid,
+denn die Temperatur war plötzlich gesunken, und der
+Wind kam in kurzen, kalten Stößen aus Nordnordwest.
+Als er gleichmütig vorüberschritt und höflich den
+Hut lüftete wie alle Tage, ließ sie die Gesellschaft
+stehen und kam auf ihn zu. »Guten Morgen, Herr
+Doktor! Ich wünsche Ihnen das heute schon zum zweiten
+Male.«</p>
+
+<p>»Guten Morgen, meine gnädige Frau! Ich hoffe,
+daß die Freinacht in Ihrer zarten Konstitution keine
+Spuren zurückgelassen hat.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p>
+
+<p>»O doch,« sagte sie ruhig und hielt seinen Blick
+aus. »Aber das wird Sie schwerlich interessieren.«</p>
+
+<p>»Mache ich einen so wenig Vertrauen erweckenden
+Eindruck, meine gnädige Ungnädige?«</p>
+
+<p>»Ich habe das Frühstück richtig verschlafen,« lenkte
+sie ab, »wie Sie es mir prophezeit hatten. Und auch
+nachher konnte ich mich kaum zum Aufstehen zwingen.
+Ich habe selten den halbwachen Zustand als so schön
+empfunden.«</p>
+
+<p>»Geträumt, gnädige Frau?«</p>
+
+<p>»Ja, geträumt.«</p>
+
+<p>»Darf man Näheres wissen?«</p>
+
+<p>»Nein, man darf nichts Näheres wissen.«</p>
+
+<p>Er nahm ihre Hand, die in seinem Arm lag, und
+führte sie an die Lippen. Es lag keine Veranlassung
+zu einer Huldigung vor, aber sie empfanden beide das
+Unzeitgemäße durchaus nicht.</p>
+
+<p>»Wie mir vorhin der Steward mitteilte, wird das
+zweite Frühstück um ein Uhr heute mehr den Charakter
+eines Diners tragen. Die Windstärke steigt verdächtig.
+Da sorgt der kluge Hausvater vorzeitig für die nötige
+Widerstandsfähigkeit. Sehen Sie nur, wie boshaft die
+kleinen Wellen hüpfen. Jede Welle eine kleine Grimasse.
+Das kann zum Abend lustig werden. Sie fürchten sich
+doch nicht, gnädige Frau?«</p>
+
+<p>»Ich ernenne Sie einfach zu meinem Ritter. Da
+bin ich aller Furcht ledig.«</p>
+
+<p>»Befehlen Sie, daß ich meinen Dienst bereits bei
+der Tafel antrete?«</p>
+
+<p>»Wie? Ist es möglich, Herr Doktor? Sie wollen
+Ihren einsamen Eckplatz aufgeben und gar eine<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span>
+Tischdame wählen? Das ist sehr schmeichelhaft für mich.
+Nur eine Bedingung: Fragen Sie mich nicht immer,
+ob ich befehle. Wenn ich befehlen dürfte, hätte ich doch
+nicht die Freude, zu sehen, daß man mir freiwillig etwas
+entgegenbringt. Kennen Sie uns Frauen so wenig, daß
+Sie nicht wissen, worin unser größter Triumph besteht?«</p>
+
+<p>Der sarkastische Zug erschien um seinen Mund.</p>
+
+<p>»Sie treffen ganz meinen Geschmack, gnädige Frau.
+Auch ich sehe den besonderen Liebhaberwert einer Sache
+im Geschenk, in der persönlichen Widmung. Also auf
+Gegenseitigkeit, wenn Sie geruhen.«</p>
+
+<p>Sie nickte kurz, als dächte sie schon an anderes.</p>
+
+<p>Dann riefen die Trompeten zu Tisch, und unbekümmert
+um die verwunderten Gesichter der Tafelrunde pokulierten
+sie heiter miteinander, und mit der heiteren Gravität
+des alten Kavaliertums, das mehr und mehr aus der
+Zeit verschwindet und doch durch die Form auf den
+Inhalt wirkt, bediente Hans Steinherr seine Dame.
+Seine Art fiel ihm selbst auf. Woher hatte er sie nur?
+Und vor seinen Augen stand Herr Friedrich Leopold
+von Springe, stand Düsseldorf, das gastfreie, stand das
+schlanke, scheue, hingebungsvolle und aufbegehrende
+Mädel, das in seligen Zeiten auf den Namen Hannes
+hörte ...</p>
+
+<p>Düsseldorf — Burg Springe — Pempelfort — —
+die Worte wurden zu Begriffen, die Macht über ihn
+gewannen, die sein ganzes Denken und Empfinden zu
+absorbieren drohten. Er wurde schweigsam und stierte
+in sein Glas.</p>
+
+<p>»Mein Herr Ritter — —« erinnerte neben ihm die
+schöne Frau.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p>
+
+<p>Da nahm er sich zusammen und wurde, wie er zu
+Beginn der Tafel gewesen war. »Ich rate Ihnen, sich
+für ein paar Nachmittagsstunden hinzulegen, gnädige
+Frau. Der Himmel ist zwar noch klar, aber die See
+beginnt verdächtig unruhig zu werden. Sollten wir
+zum Abend Sturm bekommen, ist es doch um Ihre
+Nachtruhe geschehen.«</p>
+
+<p>»Weil Sie mich nicht für wetterfest halten?«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte er, »weil ich Ihnen auch diese Nacht
+entreißen würde, um Sie auf Deck zu halten. Weil ich
+Sie mit Beschlag belegen würde, damit Sie das Meer
+in der Leidenschaft sehen. Das ist ein guter Maßstab,
+schöne und verehrte Herrin aller Kulturstätten.«</p>
+
+<p>Sie hatte sich von der Tafel erhoben, zum Gehen
+bereit.</p>
+
+<p>»Hoffen wir, daß Sturm kommt,« sagte sie leise,
+verneigte sich gegen ihn und suchte ihre Kajüte.</p>
+
+<p>Auf den Promenadendecks stand die Reisegesellschaft
+in Gruppen umher. Man lachte, schwatzte und fühlte
+sich zu Hause, als ob man statt der Schiffsplanken den
+Parkettboden der heimatlichen Salons unter den Füßen
+hätte. Morgen abend hoffte man in Hamburg zu landen,
+und noch einmal wurden die Eindrücke der Fahrt rekapituliert.
+Wer genauer hinzuhören verstand, konnte
+wahrnehmen, daß die bleibendsten Eindrücke nicht durch
+die Wunder der Natur, daß sie bei der Mehrzahl dieser
+Modereisenden durch die — glänzende Verpflegung an
+Bord geschaffen worden waren. Ein rundlicher, beweglicher
+Herr, dem die Wonne des Lebensgenusses auf den
+glattrasierten Wangen geschrieben stand, ereiferte sich am
+meisten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p>
+
+<p>»Ja, ja, meine Herrschaften, für unser Zeitalter
+gibt es keine Höhen und Tiefen mehr. Flugs setzt sich
+so ein Techniker hin, schlägt die Brücken und gleicht
+alles aus. Ist denn das ein einsam dahinsausender
+Dampfer, auf dem wir uns befinden, der uns allen
+menschlichen Wohnstätten entführt? Ein erstklassiges
+Hotel hat uns seine Pforten geöffnet und führt uns
+mit jeder erdenklichen Selbstverständlichkeit einen Luxus
+vor Augen, wie er selbst dem Verwöhntesten unter uns
+nicht vollendeter an Land geboten werden könnte. Glauben
+Sie mir, meine Herrschaften, ich verstehe mich ein wenig
+darauf. Aber das versichere ich Sie: Zeit meines
+Lebens, wo es nur angeht, werde ich das Reisen per
+Dampfer vorziehen. <span class="antiqua">D</span>-Zug mit Speisewagen ist ein
+überwundener Standpunkt.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr schlenderte weiter. Auf dem Sonnendeck
+war es ruhiger. Hier ließ er sich nieder und beobachtete
+das aufgeregte Hasten der vor Stunden noch
+so glatten See. Dann verfiel er, ohne sich dagegen
+zu wehren, in eine Art Halbschlaf. Ein paar Stunden
+wohl mußte er verträumt haben. Er hörte zwei Matrosen
+miteinander verhandeln, und als er aufblickte,
+sah er, wie der eine verstohlen auf einen dunklen Punkt
+am Horizont deutete, der sich rasch vergrößerte und sich
+mehr und mehr zur Wolke auswuchs.</p>
+
+<p>Sturm in Sicht!</p>
+
+<p>Es wurde dunkel. Schwarze Schleierfetzen flatterten,
+wie von einem boshaften und schadenfrohen Meeresgesindel
+emporgeblasen, am Himmel auf, und die See
+machte einen Buckel wie ein fauchender Kater. Eine
+steife Brise sprang auf. Plötzlich schwieg sie. Einen<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span>
+Augenblick Stille ringsum; nur die See tanzte weiter
+in unregelmäßigem Hüpfwalzer. Da — hui! — pfiff
+es daher, ein Windstoß, so wütend und kreuz und quer
+einherspringend, daß die Passanten an Deck jäh ihren
+Stützpunkt verloren. Ein Flüchten begann nach den
+Kabinen, den Salons. Nur wenige hielten sich an Deck.
+Eine Leidenschaft war in ihnen erwacht nach vieler,
+vieler frischer Luft ...</p>
+
+<p>Wieder setzte ein Windstoß ein; heftiger als der
+erste. Hans Steinherr zog seinen Wettermantel an und
+stülpte die Kapuze über die Ohren. Dann stieg er die
+Stufen zum Promenadendeck hinab, um sich die Tragikomödie,
+die hier bereits ihren Anfang genommen hatte,
+aus der Nähe anzusehen.</p>
+
+<p>»Gottlob, daß ich Sie finde. Ich hätte Sie in
+Ihrer Vermummung fast nicht erkannt.«</p>
+
+<p>»Ah — — meine Gnädige — —«</p>
+
+<p>Sie klammerte sich an seinen Arm, denn der Wind
+packte rücksichtslos an. Wie er, war sie in einen langen
+Gummimantel gehüllt, und die Gummikapuze, die sie
+über den Kopf gezogen hatte, ließ nur Augen, Nase
+und Mund frei.</p>
+
+<p>»Ich wäre da unten verrückt geworden,« sagte sie
+rasch, denn der Wind benahm ihr den Atem. »Unmöglich,
+in den Kabinen zu bleiben. Dort haben sich —
+unsichtbare — Karussells — etabliert.«</p>
+
+<p>Der nächste Windstoß warf sie hart gegen seine
+Schulter. Sie schrie auf.</p>
+
+<p>Er lachte und faßte sie fest um den Leib. »Das
+war ja nur die Ouverture. Das eigentliche Konzert
+soll erst beginnen. Da! Schauen Sie hin! Da taucht<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span>
+der Nickelmann grinsend aus der Flut. Mit den Flossenhänden
+stützt er sich auf den Kamm einer Riesenwelle,
+und sein plusterndes Gesicht will platzen vor Vergnügen
+über den gelungenen Streich. Sehen Sie es, schöne
+Sturmfrau? Jetzt — jetzt! Als rühre er eine Pauke,
+so fallen plötzlich seine Tatzenschläge auf die See, und
+soweit das Auge das fahle Licht durchdringt, schlagen
+weiße Nixenleiber Kobolz mit den schwarz heranstürmenden
+Fluten, schwingen sie sich auf die Wogenkämme,
+daß sie so blendend scheinen wie schneeiger Schaum,
+heben sie sich bis an den Bordrand und werfen unter
+tollem Gelächter den verblüfften Festgenossen Kübel voll
+Salzwasser über den Kopf. Hoppla, der Guß war für
+uns!« Er riß Frau Bettina hoch, die unter der Wucht
+des Sturzbades in die Kniee sinken wollte, und ergriff
+mit der freien Hand einen Eisenring an der Bordbrüstung.</p>
+
+<p>»Ich habe den Mund voll Salz,« entrüstete sie sich,
+»das ist ja unerträglich.«</p>
+
+<p>»Sie werden sich schnell daran gewöhnen,« beschwichtigte
+er. »Äußerten Sie nicht in vergangener
+Nacht selbst, jeder Beigeschmack wäre Ihnen noch lieber
+als das fade Einerlei? Der Himmel hat Ihre Bitte
+erhört.«</p>
+
+<p>»Spotten Sie nicht, Sie gräßlicher Heide. Da
+kommt eine neue Sturzwelle.«</p>
+
+<p>»Diesmal gilt es den anderen. Schwupp — und
+sie hat ein Dutzend Triumphstühle übergossen. Empfinden
+Sie nicht das Groteske des Vorspiels? Ganz
+wie bei den alten Meistern. Erst die Rüpelkomödie,
+dann das Drama. Ach du mein lieber Gott, das<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span>
+Publikum hier ist ja viel zu ungebildet für die ganze
+Veranstaltung, oder zu dekadent. Wenn sich die Natur
+einen Witz erlaubt, nennen sie’s Gemeinheit; und wenn
+sie selbst sich Gemeinheiten gestatten, nennen sie’s einen
+Witz. Treten Sie näher, meine schöne Dame. Entree
+gänzlich frei.«</p>
+
+<p>»Na,« lachte sie zornig, »Tribut scheint mir doch
+zur Genüge gezollt zu werden.«</p>
+
+<p>»Ja,« bestätigte er, »die Ästhetik ist vorläufig von
+der Tagesordnung abgesetzt. Sehen Sie nur, wie die
+tadellosen Helden und Heldinnen vom Turf und Tennisplatz
+sich verzweifelt winden, um ihrem Schicksal zu
+entrinnen. Hilft nichts. Jetzt grassiert das reine Menschentum.
+Dort ziehen flinke Stewardshände die Erblassenden
+aus den Salons auf Deck — denn die
+Smyrnateppiche sind kostbar, und Holzplanken noch nie
+diffizil gewesen. Gehen wir hin, kondolieren.«</p>
+
+<p>»Um Himmels willen, hören Sie auf. Gleich wird
+sich der Spieß umkehren.«</p>
+
+<p>»Unbesorgt. Ich setze meinen rheinischen Dickkopf
+auf.«</p>
+
+<p>»Und ich?«</p>
+
+<p>»Sie —?« gab er zurück, ließ einen Augenblick den
+Eisenring los, schob ihr die Kapuze aus der Stirn und
+sah ihr in die Augen. »Sie sind bis auf weiteres ein
+Teil von mir.«</p>
+
+<p>Wieder sprühte ein Salzwasserregen über sie hin.
+Die Wellen fegten über das Bugspriet; auf Vorderdeck
+war der Aufenthalt unmöglich geworden, und auf Promenadendeck
+wurden starke Seile gezogen als Halt für
+die tastenden Hände. Wie Mumien eingepackt, still und<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span>
+starr und frierend, lagen die Reisegenossen in langer
+Reihe in den Triumphstühlen. Aber die horizontale
+Lage war auf die Dauer nicht zu ertragen. Einer nach
+dem anderen erhob sich wieder, mit übernatürlich glänzenden
+Augen, um, wie weiland Graf Ernst von Mansfeld,
+stehend und in voller Rüstung zu sterben. Und
+endlich schwankten sie hinweg, von samariterhaften Matrosen
+geleitet.</p>
+
+<p>Der rundliche Herr, der am Mittag so enthusiastisch
+die Wonnen der Dampfer vor allen anderen Transportmitteln
+gefeiert hatte, war wie eine Kugel an Steinherr
+und seiner Gefährtin vorbeigeschossen. Nun klammerte
+er sich, ohne den Kopf zu wenden, mit einer Innigkeit
+an die Bordbrüstung, als hätte er tiefe Geheimnisse mit
+der zu ihm aufspringenden See. Als er sich endlich mit
+schwerem Atemzug dem Bann des Meeres entriß, drückte
+er erloschenen Auges Steinherr die Hand.</p>
+
+<p>»Doch, doch! <span class="antiqua">D</span>-Zug ist auch was Schönes. —
+Glauben Sie’s mir. Jetzt versteh’ ich mich darauf.«</p>
+
+<p>Ein Matrose brachte ihn unter Deck.</p>
+
+<p>Die Nacht brach herein, und der Sturm tobte mit
+voller Kraft. Kein Passagier war an Deck zurückgeblieben.
+Nur Steinherr stand mit seiner Gefährtin
+an der Bordbrüstung. Er hatte ein Tau durch die
+Eisenringe gezogen, so daß sie fest angeseilt gegen die
+Planke gedrängt waren.</p>
+
+<p>Die Frau an seiner Seite sprach schon seit langem
+nicht mehr. Sie trieften beide vor Nässe, und bei jeder
+neuen Sturzwelle spürte er, wie sie erschauerte, wie sie
+sich unwillkürlich an ihn preßte. Dann beugte er sich
+zu ihr hinab und sah ihr starr in die Augen. Der<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span>
+Wind heulte um die fauchenden Schlöte des Schiffes
+herum.</p>
+
+<p>»Nun, meine gnädige Frau,« fragte er leise, »was
+sagen Sie zu diesem Pendant der gestrigen Nacht?
+Nach dem weichen Sehnen die tolle Leidenschaft. Haben
+Sie ein Gefühl für die wilde Größe?«</p>
+
+<p>Sie hob den Kopf, und ihre Nasenflügel vibrierten.</p>
+
+<p>»O — —« stieß sie hervor, »Sie sind ein Lehrmeister — —«</p>
+
+<p>»Wir Menschen müssen Künstler sein,« sagte er,
+»und wenn nicht mehr, dann doch Lebenskünstler. Damit
+betrügen wir uns selbst, zu unserem Heil, als hätten
+wir wahrhaftig Gottähnlichkeit.«</p>
+
+<p>»Wir haben sie,« entgegnete sie, »wir brauchen nur
+zu wollen.«</p>
+
+<p>Er überhörte den Einwurf. Der Künstler in ihm
+war geweckt.</p>
+
+<p>»Was für ein Pathos liegt in dem Bilde vor uns!
+Man denkt nicht daran, über den Stil zu lachen, man
+wird selbst pathetisch. Aber Größe verspürt man. Wie
+sie aus weiter Ferne heranrollen, die Wellenungetüme,
+näher und näher jagen, von anderen gefolgt. Und wie
+ein Kommandeur in der Schlacht links und rechts die
+Regimenter an sich reißt, zum Sturm auf die feindliche
+Hauptmacht, so schlingt die heranstürmende Woge links
+und rechts kleinere Wellenberge in sich hinein, wächst
+wie eine Lawine, bäumt sich dicht vor dem Bug des
+Schiffes haushoch empor, unten die schwarzen Massen,
+darüber eine kristallgrüne Kappe, die wieder von schneeweißem
+Gischt gekrönt, der sich in sausenden Fontänen
+auflöst — heißa! jetzt fegt’s über Deck wie ein Schwarm<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span>
+von nadelscharfen Pfeilen. Sind Sie getroffen, meine
+Allergnädigste?«</p>
+
+<p>Sie wollte etwas sagen, aber sie konnte nicht. Der
+Sturm hatte ihr die Kapuze heruntergeweht, und sie
+griff mit beiden Händen in den Nacken. In ihrem
+schwarzen Haar glitzerten die Salzspuren wie Diamanten.
+Brust an Brust standen sie.</p>
+
+<p>»Wissen Sie noch, was Sie mir heute mittag zuriefen?
+›Hoffen wir, daß Sturm kommt.‹ Der Sturm
+ist da! Und ich warte.«</p>
+
+<p>»Nein, <em class="gesperrt">ich</em> warte!«</p>
+
+<p>Sie küßten sich unter dem Sprühregen der See auf
+den Mund, auf die Augen, und wieder auf den Mund.
+Kein Wort hatte Raum zwischen ihnen. Kaum, daß
+sie sich sahen in der Dunkelheit. Nichts von Erblassen,
+nichts von Erröten. Mitten im Meersturm: zwei
+Menschen.</p>
+
+<p>»Wohin mit uns?«</p>
+
+<p>»Wohin? Willst du vor meiner Kajütentür Schildwacht
+stehen?«</p>
+
+<p>»O, selbst Tristan —«</p>
+
+<p>Sie hielt ihm den Mund zu.</p>
+
+<p>»Ja, wenn ein König Marke existierte. Nur die
+Gefahr entzückt. Wart’s ab, bis sie kommt.«</p>
+
+<p>»Hüte dich.«</p>
+
+<p>»Hüte du dich.«</p>
+
+<p>Und wieder küßten sie sich.</p>
+
+<p>»Auf morgen denn.«</p>
+
+<p>»Nein, nicht hier. Das wäre eine blasse Kopie.
+Nicht eher, als bis ich daheim bin.«</p>
+
+<p>»Du reisest weiter, ohne in Hamburg zu bleiben?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span></p>
+
+<p>»Übermorgen bin ich in Berlin. Vielleicht — weißt
+du mich zu finden?«</p>
+
+<p>»Und unterdes? Das ist eine Wartezeit von Jahrhunderten!«</p>
+
+<p>»Voneinander träumen. Lebenskünstler sein, wie
+du sagtest.«</p>
+
+<p>Er zog das Tau aus den Ringen, um sie frei zu
+geben. Sie tat ein paar Schritte, blieb stehen, öffnete
+den durchnäßten Wettermantel und schöpfte, die Arme
+dehnend, Atem.</p>
+
+<p>Da war er bei ihr und riß den Mantel ganz herab.
+»Ich muß deine Gestalt noch einmal sehen. Ob du dich
+nicht in eine fischschwänzige Nixe verwandelt hast. Das
+ist jetzt mein Eigentum.«</p>
+
+<p>»Verteidige es,« lachte sie und wollte ihm entfliehen.</p>
+
+<p>Aber er fing sie in den Armen und preßte sie an
+sich. Sie schloß die Augen in der ungestümen Umarmung.</p>
+
+<p>»Gute Nacht, wilder Mensch!«</p>
+
+<p>»Gute Nacht, Sturmfrau!« — — — —</p>
+
+<p>Am nächsten Tage sah er sie wieder. Der Morgen
+war sonnendurchleuchtet.</p>
+
+<p>Hoheitsvoll, in eleganter, duftiger Toilette, schritt
+sie, wie eine unnahbare Fürstin von einer alten Exzellenz
+geleitet, an ihm vorbei. Kaum merkbar zuckte es in
+ihren Wimpern, als sie ihn erblickte, und die Spitzen
+um den zarten Halsausschnitt zitterten eine Sekunde
+lang. Sie war, wie vorher, die Dame der großen
+Welt.</p>
+
+<p>Und Steinherr, den alten ironischen Zug um den
+Mund, zog mit kalter Höflichkeit den Hut.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span></p>
+
+<p>Als sie zum zweiten Male an ihm vorüberkam,
+kannten sie sich nicht mehr ....</p>
+
+<p>Das Schiff war in die Elbmündung eingelaufen.
+Mit der einbrechenden Flut ging es stromauf. Am
+Abend war der Sankt Pauli-Landungsplatz erreicht; die
+Schiffsbrücken rasselten nieder und bildeten den Steg.</p>
+
+<p>Hans Steinherr stand mitten im Gedränge. Die
+Passagiere stießen an ihn an und machten Bemerkungen
+über den Sonderling, der sich durch seine Art auch beim
+Abschied nicht verleugnete. Er hörte nichts.</p>
+
+<p>Jetzt erschien Frau Bettina, von einem ganzen Kreise
+eskortiert. Er streifte sie mit gleichmütigem Blick. Er
+hatte sich völlig in der Gewalt.</p>
+
+<p>Als sie neben ihm war, tat sie, als würde sie von
+dem Menschenstrom gegen ihn zurückgedrängt. Wie
+unbeabsichtigt lehnte sie sich einen Moment fest an seine
+Schulter. Da spürte er ihre suchende Hand in der
+seinen. Er biß die Zähne zusammen. Sie hatte ihm
+die Nägel in die Handfläche gedrückt.</p>
+
+<p>Um den Wagen, der sie zum Bahnhof brachte,
+sammelte sich die Gesellschaft. Sie erteilte gnädig Abschiedsaudienz.
+Hans Steinherr reckte sich in den Schultern:
+<em class="gesperrt">Ich</em> hab’ sie in den Armen gehabt!</p>
+
+<p>Aus der Ferne flatterte ihr Tuch. Das galt <em class="gesperrt">ihm</em>:
+Folge mir!</p>
+
+<p>Lange noch stand er an der stiller werdenden Hafenstelle.
+— —</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-267.jpg">
+</figure>
+
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Zweites_Kapitel_Buch_2">Zweites Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Hans Steinherr hatte es nicht sonderlich eilig gehabt,
+Frau Bettina Wittelsbach wiederzusehen. Die ersten
+Tage in Berlin waren damit hingegangen, eine Wohnung
+zu suchen und das Ameublement auszuwählen,
+das dem Geschmack eines verwöhnten Junggesellen zu
+entsprechen vermochte.</p>
+
+<p>Er konnte nicht müde werden, die Stadt zu durchstreifen
+und sich die Gegenstände Stück für Stück zusammenzuholen.
+So schuf er sich ein Heim, so ruhig
+und vornehm in Form und Farbe, als hätte ein kunstsinniger
+Geist schon seit einem Menschenalter in diesen
+Räumen geweilt.</p>
+
+<p>Die Wohnung lag in der Viktoriastraße nahe der
+Potsdamerbrücke. Wenige Schritte, und er war mitten
+im Leben der Großstadt; wenige Schritte zurück, und
+die Brandung war verrauscht, Weltabgeschiedenheit umfing
+ihn. Seine Stimmung brauchte sich von der Laune
+Berlins nicht abhängig zu machen.</p>
+
+<p>Vierzehn Tage hatte er benötigt, um die Einrichtung
+zu vollenden. Von früh bis spät war er in freudiger
+Tätigkeit gewesen, und das Schaffen und Anordnen,
+das stetige Sichversenken in jeden neuen Gegenstand
+und das heitere Bekanntwerden mit den Dingen, die<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span>
+nun seine Umgebung bildeten, hatte seine andrängenden
+Gedanken und Erinnerungen in ruhige Bahnen abgezogen.</p>
+
+<p>Es war ein Vormittag zu Anfang Oktober. Hans
+Steinherr stand an dem weitgeöffneten Fenster seiner
+Parterrewohnung und blickte über die sonnenbeschienene
+Potsdamerbrücke hinaus. Was nun? Er hatte sich
+fertig eingerichtet und mußte nun wohl an die Regelung
+eines weiteren Tagewerks gehen. Das fiel ihm zum
+ersten Male ein. Weshalb hatte er sich sonst seßhaft
+gemacht!</p>
+
+<p>Er erinnerte sich der hohen Meinungen seiner einstigen
+Kommilitonen. Ihres Schwärmens von seiner
+Zukunft. Man hatte doch eine Karrière von ihm erwartet,
+die in gerader Linie unter Volldampf vorwärts
+wies, und nun war er, eben vom Start gelassen, in
+breiter Kurve ausgewichen und hatte den Anschluß nicht
+wieder aufgesucht. Wo war der kalt wägende Ehrgeiz
+geblieben, für den es keine Hindernisse geben sollte, dem
+er als ersten Tribut seine töricht süße Jugendliebelei
+geopfert hatte?</p>
+
+<p>Töricht — —? Süß, o ja, das war sie gewesen.
+Aber töricht? — Was war denn in der Empfindung
+später ernsthafter gewesen? Oder nur gleich ernsthaft?
+Jede Spanne des Lebens nahm das ernsthaftere Gepräge
+der Empfindungen für sich in Anspruch, aber das
+der aufwachenden Jugend war das erste und damit das
+ursprünglichste gewesen. Das, was folgte, hatte sich
+darauf aufgebaut, dem Geschmack der Welt, den Zeitströmungen
+nachgebend.</p>
+
+<p>So schnell er gelaufen war, sein Schatten lief mit.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p>
+
+<p>Das hatte sich hemmend auf den Sturmlauf seines
+Ehrgeizes gelegt. Das niederrheinische Gemüt wurzelte
+tiefer als alle anerlernte Form. Das Wesensinnere
+einer Heimatscholle, die einen ausgesprochenen Charakter
+besitzt, läßt sich nicht abschütteln wie der Staub von
+den Stiefeln. Durch sie, durch das Festhalten an ihr,
+werden ihre Söhne in der Ferne zur Kraft gelangen
+wie Eichen im Buschwald, ohne sie, unter Preisgabe
+ihrer Art, werden sie unkennbar im Niederholz verschwinden.</p>
+
+<p>Hans Steinherr sah über die sonnige Straße hin.
+Noch war er da!</p>
+
+<p>Anders, als er es sich vorgestellt hatte beim letzten
+Abschied von Düsseldorf, vor fünf Jahren ... Aber er
+war da! Er war <em class="gesperrt">wieder</em> da! Und eine neue Heimat
+zu schaffen, mußte gelingen.</p>
+
+<p>Als er es in seinem Studium zum Doktor der
+Rechte gebracht, hatte er resigniert. Durch den jähen
+Abbruch der Beziehungen zur Vaterstadt, zur Mutter,
+den Freunden, der Freundin, war es mählich und mählich
+beklemmend still in ihm geworden. Er hatte Stunden
+gehabt, in denen es ihn mitten in fröhlicher Gesellschaft
+fror. Und die Stunden waren wiedergekommen und
+kamen wieder. Dann vermochte er sich nicht zu wehren:
+die Vergleiche drängten sich ihm unabweisbar auf.
+Dann entsann er sich des Abends am Rheinufer, als
+er, noch ein Primaner, vom Schützenfestplatz gekommen
+war und ihm die Ursprünglichkeit des Heimatlandes zum
+ersten Male jubelnd aufgegangen war. Auch damals
+hatte er Vergleiche gezogen, zwischen dem gesellschaftlichen
+Leben im Hause seines Vaters, das sich, wenn auch<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span>
+Schablonenarbeit, zeitweilig doch so hübsch, ja sogar
+witzig abspielte, und der Glückseligkeit, die ihm die nahe
+Berührung mit der Rassigkeit der ureigensten Scholle
+bereitet hatte. Nun fehlte ihm selbst das schwache Abbild,
+das das Vaterhaus ihm bot. Von allem anderen zu
+schweigen ...</p>
+
+<p>Immer wieder waren die Erinnerungen gekommen
+wie der Dieb in der Nacht. Sie verschönten sich in
+seiner Einbildung, ließen ihn oft die Gegenwart vergessen
+und gaukelten ihm Perspektiven vor, in denen er
+als nimmer müder Genießender stand. Wenn er erwachte,
+fragte er sich: Wozu arbeite ich, wozu leb’ ich
+denn überhaupt? Das ist ja eine regelrechte Komödie,
+die ich mitmache. Nur weil andere aus Gründen ihr
+Gesicht unter Schminke verstecken? »Wenn der Mensch
+schon etwas ›aus Gründen‹ tut ...!« hatte Heinrich
+Springe einmal gewettert.</p>
+
+<p>Aber der harte Kopf, der niederrheinische Eigensinn
+hatte ihn abgehalten, den Schritt zurück zu tun. Wenigstens
+nicht als Schiffbrüchiger sollte es geschehen. Der
+Schein des Siegers, der sich großmütig und menschlich
+erweist, sollte gewahrt werden. In den Gedanken, so
+widerspruchsvoll er war, hatte er sich verbissen.</p>
+
+<p>Wo der Siegerlorbeer für ihn zu holen sei, war
+ihm dabei nicht klarer geworden. Den Ehrgeiz auf eine
+hohe gesellschaftliche oder Staatsstellung hatte er quittiert,
+seitdem ihm die Masken als Masken erschienen
+und ihm der Gedanke, eines Tages als Marionette zu
+funktionieren, kalten Schauder einjagte. Also zurück zu
+den Jugendträumen, der Kunst! Aber die Poesie floß
+ihm dickflüssig aus der Feder, sie wurde geschraubt,<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span>
+unwahr und schematisch, weil sich sein innerer Mensch
+noch immer im Widerspruch zu dem äußeren befand.
+Er war zu gründlich in die Schule der Salons gegangen.
+Die Natürlichkeit schien ihm mit einem peinlich
+lächerlichen Beigeschmack behaftet. In seinem Gefühlsleben
+war alles durcheinander gestürzt.</p>
+
+<p>Da hatte er es mit der Flucht in die Einsamkeit
+versucht. Er, der Anwärter des Menschenglücks, war
+menschenscheu geworden, hatte die Wüsten durchwandert
+und die Meere befahren. In jungen Jahren waren
+seine Züge schärfer geworden und sein Sarkasmus größer
+als seine Jugendfreude. Wieder hatte er sich eine neue
+Welt gebaut, und wieder umgürtete sie nicht die chinesische
+Mauer, die den großen, fragenden Augen der
+Heimat den Einblick verwehrt hätte.</p>
+
+<p>Nicht, daß er von daheim mit vielen Briefen behelligt
+worden wäre. Nur das unabweisbar Notwendige
+kam zu seinen Ohren. Die geschäftlichen Berichte und
+Bilanzen, die ihm der neue Leiter der Firma Philipp
+Steinherr regelmäßig einsandte, würdigte er kaum eines
+Blickes. Das mußte der Mann ja besser verstehen als
+er. Von privaten Geschehnissen wußte er nur, daß
+seine Mutter Heinrich Springes Gattin geworden war,
+daß sie sich an der Seite des herrlichen Menschen unsagbar
+glücklich fühlte, daß sie die Wohnung in der
+Immermannstraße gewählt hatten, und die Villa an der
+Grafenbergerchaussee unter einer tüchtigen Verwalterin
+täglich für ihn bereit stand. Einmal hatte die Mutter
+den Namen Hannes in den letzten Jahren erwähnt.
+Er hatte Wunderdinge aus dem Briefe herausgelesen.
+Sie sollte, nachdem sie Düsseldorf bald verlassen und in<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span>
+Frankfurt am Main unter Meister Stockhausens Leitung
+ihre Studien vollendet hatte, eine Konzertsängerin von
+weitreichendem Ruf geworden sein und draußen in der
+Welt zu den gesuchtesten Künstlerinnen zählen. Nach
+Düsseldorf käme sie selten, und nur zu Gast.</p>
+
+<p>Die Nachwirkung dieser Kunde war größer gewesen,
+als er sich zuerst gestehen wollte. Es war etwas wie
+Scham und Stolz, was in ihm stritt. Die kleine
+Jugendliebste schien dort eingesetzt zu haben, wo er
+aufgehört hatte. <em class="gesperrt">Sie</em> hatte gehalten, was <em class="gesperrt">er</em> versprochen
+hatte. Und noch eins: sie zeigte, daß jeder Name, und
+sei es der geringste, adlig ist, wenn er von seinem jeweiligen
+Träger adlig gehalten wird.</p>
+
+<p>Ah, das war ganz der alte Hannes. Das war
+schön und — das war niederdrückend.</p>
+
+<p>Sie hatte sich den Inhalt ihrer Jugend gerettet, ihn
+veredelt; er hatte ihn verloren, nachdem er ihn verleugnet
+hatte.</p>
+
+<p>Eine Ausgleichung konnte nicht mehr in Betracht
+kommen.</p>
+
+<p>Nein, dachte der Mann am Fenster ruhig, wir sind
+auseinander gewachsen, der Boden unter unseren Füßen
+ist nicht mehr der gleiche. Die alten Gespenster müssen
+endlich einmal geknebelt werden, und endgültig.</p>
+
+<p>Er trat zurück, nahm Hut und Handschuhe und verließ
+die Wohnung. Ein eigentümliches Flimmern kam
+in seine Augen, als er über die Straße schritt und sein
+Ziel nahm. Es glitt plötzlich wie schwerer Wein durch
+seine Adern, und seine Männlichkeit dehnte sich in den
+Gelenken. Die Sturmnachtstimmung von der Nordsee
+war über ihn gekommen, und er spürte die wilden Küsse<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span>
+des Bereitseins. Das war eine andere Stimmung wie
+weiland die Hofgartenstimmung in Düsseldorf mit den
+keuschen Küssen der Vorbereitung. Das Herz hatte sich
+als ein läppischer Bundesgenosse bewiesen. Es wimmerte
+bei der geringsten Zumutung. Frau Bettina aber ...
+Ah, diese Frau hielt es mit den Sinnen. Sie lachte
+und genoß.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Um Sechse des Morgens ward er gehenkt,</div>
+ <div class="verse indent0">Sie aber schon um Achte</div>
+ <div class="verse indent0">Trank roten Wein und lachte ...«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>klang ihm die Heinesche Romanze in den Ohren. Unwillkürlich
+blieb er stehen und zog die Brauen zusammen.
+Was war dies für eine wahnsinnige Reminiszenz?
+Mußte er denn schon wieder ins Extravagante verfallen?
+Sie hatte Leidenschaft, Frau Bettina!</p>
+
+<p>Er schritt weiter, bis er den Kurfürstendamm erreicht
+hatte. Aus dem Adreßbuch wußte er ihre Wohnung.
+Der Portier öffnete und wies ihn nach der ersten
+Etage.</p>
+
+<p>Feierlich still war es in dem hochschössigen Treppenhaus.
+Der dicke Teppich dämpfte jeden Lebenslaut.</p>
+
+<p>Hans Steinherr mußte eine momentane Verlegenheit
+niederkämpfen, bevor er dem Stubenmädchen in den
+Salon folgen konnte. Er hatte sich ein ganz anderes
+Bild von Frau Bettinas Umgebung gemacht, ein farbenfroheres,
+ein genußfreudigeres. Hier war ja alles auf
+Harmonien gestimmt.</p>
+
+<p>Die Dame des Hauses ließ auf sich warten. Er
+hatte schon die Bilder ringsum an den Wänden studiert,
+als er hinter sich das Rauschen eines Kleides vernahm.</p>
+
+<p>»Guten Morgen, mein lieber Herr Doktor!<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span>
+Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht in Toilette empfange,
+aber ich hätte dann Ihre kostbare Zeit allzusehr in Anspruch
+nehmen müssen. Wie geht es Ihnen? Was
+führt Sie her? Bitte, dort den Sessel!«</p>
+
+<p>Er ärgerte sich über die Begrüßung, und sie sah es
+ihm an.</p>
+
+<p>Ihre Augen schlossen sich ein wenig, als wollten
+sie eine geheime Freude unterdrücken.</p>
+
+<p>»Sie sehen übrigens ausgezeichnet wohl aus. Ich
+fühle mich leider etwas abgespannt. Die vielen Verpflichtungen
+hier —«</p>
+
+<p>»Frau Bettina —«</p>
+
+<p>»Aber so setzen Sie sich doch, Herr Doktor!«</p>
+
+<p>Er setzte sich, blickte sie an und schwieg. Eine Ernüchterung
+kam über ihn.</p>
+
+<p>Und wieder bemerkte sie es, schloß die Augen halb
+und lächelte.</p>
+
+<p>»Sie sind wohl ungehalten, daß ich Sie so <span class="antiqua">sans
+gêne</span>, im Hauskleid, empfange?«</p>
+
+<p>Er antwortete nicht gleich, aber der leise ironische
+Zug um seinen Mund, der sie schon auf dem Schiffe
+gereizt hatte, kehrte wieder, als er mit fragendem Blick
+ihre weich herniederwallende Gewandung betrachtete
+und mit gut gespielter Naivetät dann das Auge zu ihr
+erhob.</p>
+
+<p>»Ich kann mir nicht helfen, ich finde Sie ganz
+hübsch, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>»Nein — wirklich? Ganz hübsch? — Sie nehmen
+mir eine Last vom Herzen.«</p>
+
+<p>»Sollte Ihnen daran gelegen sein, mir gegenüber
+noch hübscher zu erscheinen? Das wäre doch undenkbar.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p>
+
+<p>»Gott, liebster Doktor, man hat zuweilen so seine
+Launen.«</p>
+
+<p>»Das versteh’ ich vollkommen. Wer in dieser Beziehung
+frei von Schuld, der werfe den ersten Stein.«</p>
+
+<p>Sie öffnete weit die Augen. Was fiel dem Manne
+ein? Wollte er den Spieß umkehren? Trotzte er noch
+oder spottete er bereits ...</p>
+
+<p>»Sie haben sich wohl noch in Hamburg von den
+Strapazen der Seereise erholt?« fragte sie mit erzwungener
+Ruhe.</p>
+
+<p>»Nein. In Hamburg hielt mich nichts. Es zog
+mich nach Berlin, und seit zwei Wochen bin ich hier.«</p>
+
+<p>»Würde es unbescheiden sein, zu fragen, was Sie
+so sehr nach Berlin zog und Sie hier so fesselte, daß
+Sie sogar darüber vergaßen, sich nach dem Befinden
+einer Ihnen nicht ganz unbekannten Dame zu erkundigen?«</p>
+
+<p>»Die nicht ganz unbekannte Dame war es.«</p>
+
+<p>»Ah,« lachte sie auf und lehnte sich weit zurück,
+»das muß ich sagen: Sie haben eine Art, Ihre Bewunderung
+an den Tag zu legen, die einem Dichter
+Ehre machen würde.«</p>
+
+<p>»Gnädige Frau haben die Güte, anzunehmen, daß
+ich etwas erdichte?«</p>
+
+<p>»Ja, gnädige Frau haben diese Güte.«</p>
+
+<p>»Das ist — verzeihen Sie — sehr unrecht, gnädige
+Frau. Ich konnte der mir nicht ganz unbekannten Dame
+die Aufrichtigkeit meiner Bewunderung nicht besser beweisen,
+als dadurch, daß ich ihr Zeit ließ, sich ebenso
+über <em class="gesperrt">ihre</em> Aufrichtigkeit klar zu werden. Wie mir
+scheint, ist das geschehen. Das Schiff streicht durch die
+Wellen, Fridolin — —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span></p>
+
+<p>»Sie erwarteten wohl gar noch eine Art rührender
+Familienszene, Herr Doktor?«</p>
+
+<p>»Fehlgeraten, meine allergnädigste Frau. Über die
+Tage der Rührung bin ich hinaus. Mich gelüstet es
+mehr nach dem Starken, dem Kräftemessen, dem — aber
+<span class="antiqua">pardon</span>, ich langweile Sie wohl.«</p>
+
+<p>»Ich wüßte nicht, daß ich Sie unterbrochen hätte.
+Bitte, fahren Sie fort. Es gelüstet Sie —?«</p>
+
+<p>»Nach dem Weib — dem Vollweib.«</p>
+
+<p>Sie lag noch immer, den Kopf weit hintenüber gelehnt,
+in ihrem Sessel.</p>
+
+<p>»Sie sprechen von diesen Dingen,« sagte sie gedehnt,
+»als ob es sich um Spielzeug handelte. Orientieren Sie
+sich.«</p>
+
+<p>»Ich spreche von Dingen,« entgegnete er, »denen ich
+gewachsen bin. Vorausgesetzt, daß mir die Partnerschaft
+paßt.«</p>
+
+<p>Mit einem Ruck stand sie auf den Füßen. Ihre
+Brust wogte, und über ihre elfenbeinfarbene Haut zog
+sich blitzschnell eine fliegende Röte.</p>
+
+<p>»Das — das ist — eine Kühnheit von einer Beispiellosigkeit —«
+brachte sie hervor.</p>
+
+<p>»Hassen Sie die Kühnheit?« fragte er mit einem
+Gleichmut, der sie noch mehr empörte. »Nun, meine
+gnädige Frau, Kühnheit oder Feigheit, Haß oder Liebe:
+eine Frau wie Sie, die nur zuweilen eine Laune hat,
+ist doch selbstredend <span class="antiqua">hors concours</span>. Und von der anderen
+zu sprechen, lohnt sich nicht.«</p>
+
+<p>»Wie Sie befehlen, Herr Doktor.«</p>
+
+<p>Sie ging mit erzwungener Gelassenheit an ihm vorüber,
+und die Schleppe ihres weichen Kleides strich über<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span>
+seine Füße hin. Wie ein magnetischer Strom ging es
+von der Berührung aus.</p>
+
+<p>»Sie bedienen sich da eines Ausdrucks, meine allergnädigste
+Frau, den Sie mir einmal verwiesen. Sie
+betonten damals als erlesenste Freude das freiwillige
+Entgegentragen ohne Befehl.«</p>
+
+<p>»Sie täuschen sich, Herr Doktor. Das muß wohl
+die andere gewesen sein.«</p>
+
+<p>»Verzeihung wegen meiner Vergeßlichkeit. Es war
+die andere.«</p>
+
+<p>Sie stand an dem Fenstervorhang, den Rücken ihm
+zugewandt, und blickte durch die Stores. Wie prachtvoll
+sich diese Rückenlinie schwang. Ein Frauenkörper
+ohne Fehl.</p>
+
+<p>Eine Minute zögerte Steinherr noch, um das Bild
+zu genießen. Dann erhob er sich.</p>
+
+<p>»Sie verabschieden mich, meine gnädige Frau? Da
+muß ich wohl meiner Erziehung Ehre machen und —
+gehen?«</p>
+
+<p>Sie blickte weiter durch die Stores, als ob auf der
+Straße sie etwas ungewöhnlich fesselte.</p>
+
+<p>Da trat er hinter sie und küßte sie auf den weißen
+Nacken, dicht unter den Haaransatz des schlanken Kopfes.</p>
+
+<p>Sie fuhr herum mit vor Entrüstung flammenden
+Augen.</p>
+
+<p>»Was erdreisten Sie sich!«</p>
+
+<p>Da beugte er sich über sie und küßte sie auf den
+gewölbten Hals.</p>
+
+<p>»Ich verbiete Ihnen — —«</p>
+
+<p>Und er beugte sich zum zweiten und dritten Male
+über sie und küßte sie genau auf dieselbe Stelle.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p>
+
+<p>»Du!« stieß sie erregt hervor, »du! Ich will nicht!
+Ich — ah, ich verspreche mich.«</p>
+
+<p>Er führte langsam ihre Hand an die Lippen, zum
+Abschied.</p>
+
+<p>»Leben Sie wohl, gnädige Frau! Ich hoffe, ich
+habe Ihnen keine Aufregung bereitet.«</p>
+
+<p>Noch eine Verneigung, und er ging.</p>
+
+<p>»Hans!«</p>
+
+<p>Er wandte sich an der Tür um.
+»Sie befehlen, meine gnädige Frau?«</p>
+
+<p>»Nichts, nichts!« rief sie zornig und stampfte wie
+ein wildes Kind mit dem Fuße auf.</p>
+
+<p>»Entschuldigung. Mir war’s, als hätte ich meinen
+Namen gehört,« und er griff nach der Klinke.</p>
+
+<p>»Wann du wiederkommst, will ich wissen!«</p>
+
+<p>»Also war es doch keine Halluzination.« Er lachte,
+drehte sich um und sah sie mit seinen strahlenden grauen
+Augen an, die sonst so geheimnisvoll das Feuer behüteten.
+»Die andere war kein Phantom. Sie lebt!«</p>
+
+<p>»Wann du wiederkommst, frag’ ich doch.«</p>
+
+<p>»Wenn Bettina sehr lieb zu sein gedenkt — morgen!«</p>
+
+<p>»Morgen,« sagte sie hastig, »morgen abend.«</p>
+
+<p>Er verbeugte sich und ging, ohne sie noch einmal zu
+berühren.</p>
+
+<p>Fassungslos blickte sie ihm nach. Dann lachte sie
+nervös auf. Also — geschlagen!</p>
+
+<p>Geschlagen? Der Anfang eines Gefechtes entscheidet
+nicht. Und — und — war es denn gar so unangenehm?
+Sie sah mit einem verträumten Lächeln an sich herab.</p>
+
+<p>Wie er mich auf den Hals geküßt hat! Das brennt
+wie Feuer.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p>
+
+<p>Leise wischte sie mit der Hand über die Stelle.</p>
+
+<p>Sie durchtändelte den Tag, ohne sich zu einer bestimmten
+Beschäftigung aufraffen zu können, nahm
+hundert verschiedene Dinge in die Hand und entsann
+sich im selben Augenblick nicht mehr, zu was sie ihr
+dienen sollten, fühlte sich einsam, ließ dennoch jeden
+Besuch abweisen und saß zuletzt ganz still in einer Ecke
+des Diwans, zusammengekauert, mit glänzenden Augen.</p>
+
+<p>Am Abend dieses Tages schrieb Hans Steinherr zum
+ersten Male nach langen Jahren wieder ein Gedicht.
+Es war ein Impuls, dem er folgte. Etwas trieb ihn
+an, die Spannung, die wie eine Gewitterschwüle in ihm
+lag, zu entladen. Und der junge, heiße Siegestaumel
+kam hinzu, das Begehren nach Frauenliebe, nach großer
+Leidenschaft, in deren Lichtfülle alle kleinen Gestirne erblassen.
+Er glaubte in der zwingenden, sinnenstarken
+Frau, der Geben und Nehmen nur <em class="gesperrt">ein</em> Begriff war,
+das Weib, die Verkörperung des Weibes entdeckt zu
+haben, und in dem Sturm der beiderseitigen Gefühle
+sah er die beiderseitige Sehnsucht nach der Ruhe. Nach
+der Ruhe Brust an Brust.</p>
+
+<p>Er wußte, daß sie ihn liebte; und in ihm loderte
+alles empor, wenn er nur ihren Namen vor sich hinsprach.
+Er wollte nachdenken, wie von nun an sein
+Leben zu gestalten wäre, er wollte einen Plan entwerfen,
+seinem täglichen Tun einen vernünftigen Inhalt zu
+geben. Er dachte an seine Fabrik, an die Eisenwerke
+in Bilk; er dachte an Arbeit. Denn ihm schien es, als
+ob solche Liebe ein Äquivalent verlange, als ob er in
+kühnem, erfolggekröntem Schaffen der königlichen Frau
+tagtäglich ein Bild seiner Unwiderstehlichkeit bieten müsse,<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span>
+damit sie die Herrenhand sähe, die für sie das Eisen
+zu Gold münzte, damit das Staunen vor seiner Kraft
+sie wiederum ansporne, die Kräfte ihrer Liebe auszulösen.</p>
+
+<p>Aber in seine Grübeleien fuhr ihr Bild hinein wie
+ein Wirbelwind und riß ihn mit über Höhen und Tiefen,
+und alle ehrgeizigen Pläne, alle Vernunftgründe stoben
+auseinander vor dem einen Gedanken an den Besitz, den
+unumschränkten Besitz dieser Frau.</p>
+
+<p>Das ist die Liebe, sagte er sich. Sie duldet keine
+Götter neben sich. Als ich jung war, war ich ein
+Schwärmer, der die Seele suchte, wie Saul des Vaters
+entlaufene Eselin. Und als er auszog, fand er ein
+Königreich. Da flogen die opferseligen Hirtengefühle auf
+die Heide. Für den verlorenen Jugendhimmel die königliche
+Glückseligkeit der Erde!</p>
+
+<p>Und ist das vielleicht keine Schwärmerei? dachte er
+lachend und sprang vom Tisch auf. Ehrlich, alter Hans,
+du gibst dem Kind nur einen größer tönenden Namen.
+Beschwindle deinen eigenen Menschen nicht. Du bist
+verliebt, verliebt, verliebt! Nun ja — — und das ist
+mehr als alle großen Worte.</p>
+
+<p>Von dieser Sekunde an versuchte er seine Gefühle
+nicht mehr zu zergliedern und zu analysieren. Er nahm
+sie als ein Unbedingtes, als eine feststehende Zahl, als
+ein untrennbares Element. Der Mann in ihm erhob
+seine Stimme, und er sah nur Helena. Bettina-Helena
+— —. Nam’ und Art zu wägen, wäre ihm
+als Sakrileg erschienen.</p>
+
+<p>Er beobachtete es nicht, daß er unmerklich in eine
+neue Phase geraten war ...</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p>
+
+<p>Am nächsten Abend, zur Teestunde, war er bei Bettina.</p>
+
+<p>Sie hatte ihn vom Fenster aus kommen sehen, und
+ihre Ungeduld war so groß gewesen, daß sie selbst auf
+den Korridor hinausgeschlüpft war, um die Entreetür
+für ihn offen zu halten.</p>
+
+<p>»Endlich, endlich ... So komm doch nur ... Nennst
+du das Abend? ... Das ist ja Nacht.«</p>
+
+<p>»Kaum sechs vorbei.«</p>
+
+<p>Sie zog ihn ins Zimmer und hing, bevor er ablegen
+konnte, an seinem Halse.</p>
+
+<p>»Du läßt mich ja zu Tod’ schmachten. So küss’ mich
+doch!«</p>
+
+<p>Sie sprachen kein Wort mehr. Sie küßten sich, bis
+daß es sie schmerzte. Da ließen sie sich mit einem
+Seufzer los.</p>
+
+<p>Frau Bettina strich ihr Haar zurecht. Mechanisch,
+mit einer wohligen Mattigkeit. Als er aufs neue auf
+sie zutreten wollte, um sie in die Arme zu schließen,
+wehrte sie horchend ab.</p>
+
+<p>»Wir sind Kinder,« murmelte sie. »Wenn das
+Mädchen servieren kommt und dich sieht —«</p>
+
+<p>Rasch ging sie auf den Korridor hinaus, ließ die
+elektrische Klingel draußen ertönen und kam zurück.</p>
+
+<p>»Lassen Sie nur, Anna,« rief sie dem herbeieilenden
+Mädchen zu, »ich habe schon selbst geöffnet. Sie können
+den Teetisch richten. In einer Viertelstunde etwa melden
+Sie.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr war überrascht beiseite getreten.
+Der Vorgang war ganz natürlich, aber der schnelle
+Wechsel von alles verlachender Unvernunft zur peinlich
+überlegenden Vernunft hatte ihn beklommen gemacht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span></p>
+
+<p>Ihr weiblicher Instinkt witterte sofort den Grund
+seiner Umwandlung. Der Ton ihrer Stimme bekam
+eine schmeichelnde, mütterlich besorgte Klangfarbe, und
+als ob sie es mit einem großen Jungen zu tun habe,
+nahm sie ihn beim Ohr und zupfte es.</p>
+
+<p>»Willst du wohl gleich ein anderes Gesicht machen?
+Wenn Bettina nicht für dich mit dächte! Jetzt bist du
+doch offiziell gemeldet, ganz gleich, ob du den Abend
+offiziell oder inoffiziell gestalten willst. Siehst du wohl?
+Ja, jetzt lächelst du. Ich verwöhn’ dich.«</p>
+
+<p>Sie hob sich auf den Zehen und legte ihre weichen
+Lippen auf das mißhandelte Ohr.</p>
+
+<p>Er hielt ganz still. In seinem Hirn begann ein
+Sausen und Brausen. Und plötzlich faßte er sie um
+die Taille, trug sie wie ein zappelnd Nixlein zum Diwan,
+kniete schnell nieder und hob sein erhitztes Gesicht zu
+ihr auf.</p>
+
+<p>»Wie du die Menschen verjüngst. So hatte ich es
+mir gedacht. Du bist das Leben.«</p>
+
+<p>»Du hast an mich gedacht? Wann? Wo? Ich
+muß jede Regung in dir kennen.«</p>
+
+<p>»Gestern abend, zu Hause. Ich kramte in Erinnerungen
+umher, in toten Geschichten. Da kamst du ...«</p>
+
+<p>»Und weiter? Was tat ich? Was tatst du? So
+erzähle doch. Du sprichst schön.«</p>
+
+<p>»Ich sagte es ja: du verjüngtest mich.«</p>
+
+<p>»Und die toten Geschichten? Legten sie sich nicht
+zwischen uns? Wurden sie nicht lebendig?«</p>
+
+<p>»Du hattest ihnen ein neues Leben gegeben. Sie
+trugen deinen Stempel.«</p>
+
+<p>Sie atmete tief auf und zog die Brauen dicht zusammen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span></p>
+
+<p>»Ich bin von einer unbändigen Eifersucht,« murmelte
+sie. »Das hast du davon.«</p>
+
+<p>Er zog ihren Kopf herab und küßte sie auf die
+finsteren Augen.</p>
+
+<p>»Hättest du mich lieber als den Spötter gemocht,
+dem nichts mehr heilig war?«</p>
+
+<p>»Nichts soll dir heilig sein als ich!«</p>
+
+<p>»Nun, ich meine: daß du diese Ausnahme in mir
+geweckt hast, beweist alles. Eine andere kenne ich nicht.«</p>
+
+<p>Sie griff links und rechts in sein Haar.</p>
+
+<p>»Schnell, schnell, was hast du jetzt gedacht? Liebster,
+so sprich doch ...«</p>
+
+<p>»Du wirst mich nicht auslachen, wenn du hörst, wie
+jung ich geworden bin?«</p>
+
+<p>»Nein, aber nein. Ich könnte dich eitel machen und
+sagen: ich will nur dein sonores Organ hören. Du hast
+einen Klang in der Stimme, der aufwühlt. Nun gib
+dem Klang Begriffe, an denen man sich halten kann.«</p>
+
+<p>»Ich werde beichten,« sagte er, und das selbst-ironisierende
+Lächeln spielte um seinen Mund. »Erschrick
+nicht allzu sehr. Ich bin so jung geworden, daß ich
+wie in der Jugend holden Wahnsinnstagen das — Dichten
+wieder aufgenommen habe! Sage und schreibe: das
+Dichten!«</p>
+
+<p>Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, richtete
+sich auf und blickte ihn lange an.</p>
+
+<p>»Ich habe es ja gewußt,« sagte sie endlich, »o ich
+habe es ja gewußt, daß etwas Eigenes in dir war.«</p>
+
+<p>Ein triumphierendes Leuchten stand in ihren Augen.</p>
+
+<p>Im Nebenzimmer klirrte ein Servierbrett.</p>
+
+<p>»Steh auf!« flüsterte sie.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p>
+
+<p>Als das Mädchen erschien, saß Hans, durch den
+Tisch von der Hausfrau getrennt, gelassen in seinem
+Sessel.</p>
+
+<p>»Stellen Sie nur alles hin, Anna; ich werde das
+übrige selbst besorgen.«</p>
+
+<p>»Sehr wohl, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>Sobald das Mädchen gegangen war, hatte sich Frau
+Bettina erhoben.</p>
+
+<p>»Hans,« schmeichelte sie und legte ihm die Arme
+um den Hals, »vorlesen; bitte, bitte, vorlesen!«</p>
+
+<p>»Du wirst mir nachher keinen Tee mehr geben
+wollen,« lachte er.</p>
+
+<p>»Sei lieb, Hans. Ich will <em class="gesperrt">auch</em> verwöhnt sein.
+Ich will einen Sänger, meinen Sänger haben.«</p>
+
+<p>»Gut, dein Wille geschehe! Wollte ich mich noch
+weiter sträuben, würdest du am Ende noch glauben, es
+handle sich um ein unerhörtes Meisterwerk. Es ist nichts
+als eine Impression.«</p>
+
+<p>Er entnahm seiner Brieftasche ein Blatt und wollte
+lesen. Aber sie legte ihre schlanken Hände über die
+Zeilen.</p>
+
+<p>»Trag mich erst auf den Diwan zurück.«</p>
+
+<p>Er gehorchte auf der Stelle. Aber sie ließ ihn
+nicht wieder los, bis er auf dem früheren Platze
+kniete.</p>
+
+<p>»So — —« sagte sie gedehnt, und dann kroch sie
+lauschend in sich zusammen.</p>
+
+<p>Er nahm die Spitzen ihrer Finger in seine Hand
+und las. Wenn er eine Pause machte, hörte er ihre
+tiefen Atemzüge und spürte das Klopfen des Blutes in
+ihren Fingerspitzen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Der Tag erlischt ... Was war’s, was die Sibylle,</div>
+ <div class="verse indent0">Die schöne Frau, einst sprach?: Es tut nicht gut,</div>
+ <div class="verse indent0">Daß du allein bist in der Dämmerstille.</div>
+ <div class="verse indent0">Dann fließt zu schwer dein Abenteurerblut. — —</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Der Tag erlischt ... Gestreckt in meinen Sessel</div>
+ <div class="verse indent0">Schau träumend ich empor ins dichte Grau,</div>
+ <div class="verse indent0">Das mich umstrickt wie eine enge Fessel....</div>
+ <div class="verse indent0">Hüt’ vor dem Traum dich — sprach die schöne Frau. — —</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Ich blätterte heut’ lang’ in alten Briefen;</div>
+ <div class="verse indent0">Noch spielt die Hand mit dem vergilbten Tand.</div>
+ <div class="verse indent0">Es wurden Bilder wach, die längst entschliefen;</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Rufen scholl aus fernem Heimatland.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Ich hör’ den Rhein an seine Ufer rauschen;</div>
+ <div class="verse indent0">Das Wellenlied reißt meine Sehnsucht wund.</div>
+ <div class="verse indent0">Du meine Jugend, komm, laß dich belauschen;</div>
+ <div class="verse indent0">Drück’ deine Lippen auf des Träumers Mund.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Sieh dort, sieh dort: die alte Lieblingsstelle —</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Streifen Moos im dichten Erlenstand.</div>
+ <div class="verse indent0">Fern fließt der Rhein; es lockt und lockt die Welle;</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Sommerduften zittert durch das Land.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Zwei Händchen, wie sie sonst nur Kinder zieren,</div>
+ <div class="verse indent0">Sie pressen sich an meine Schläfen an,</div>
+ <div class="verse indent0">Und junge Lippen wollen sich verlieren</div>
+ <div class="verse indent0">Im ersten Kuß, im Kuß von Weib und Mann. — —</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">— Wenn Jahr für Jahr die Winterstürme bliesen,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn meine Seele nach dem Sommer schrie,</div>
+ <div class="verse indent0">Nach meinem Rhein, nach meinen Erlenriesen:</div>
+ <div class="verse indent0">Ich sucht’ die Händchen, und ich fand sie nie.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Durch Abenteuer bin ich durchgeritten,</div>
+ <div class="verse indent0">Und Lieder sang, just wie mein Mund, mein Schwert.</div>
+ <div class="verse indent0">O wüßtet ihr, um die ich heiß gestritten,</div>
+ <div class="verse indent0">Nach welchen Rosen nur mein Herz begehrt’!</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span></p> </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">— Du sollst dich hüten vor der Dämmerstille,</div>
+ <div class="verse indent0">Kein Sieger träumt! — Wer trat in mein Gemach?</div>
+ <div class="verse indent0">Wer wagt es, mit den Worten der Sibylle</div>
+ <div class="verse indent0">Zu wandern meinen Seelenpfaden nach?</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Gib Antwort, du! Die Jugend ist verklungen!</div>
+ <div class="verse indent0">Kein weicher Schwärmer spannte hier sein Zelt!</div>
+ <div class="verse indent0">Halt’ ich mit diesem Arm ein Weib umschlungen,</div>
+ <div class="verse indent0">So bring’ dies Weib mir eine <em class="gesperrt">neue</em> Welt!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Aus Gräbern müßt’ ihr wundertät’ger Wille</div>
+ <div class="verse indent0">Mir wecken Heimat, Jugend, Liebeskraft!</div>
+ <div class="verse indent0">— Seh’ ich dich recht — —? Du, zaubrische Sibylle?</div>
+ <div class="verse indent0">Du hast zum Wunder <em class="gesperrt">selbst</em> dich aufgerafft?</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Du, schöne Frau ...? Die Prüfung ist zu Ende?</div>
+ <div class="verse indent0">Du trägst die Fackel in die Dämmerung?</div>
+ <div class="verse indent0">Ich spür’ zwei Hände, schlank wie Kinderhände,</div>
+ <div class="verse indent0">Und einen Mund wie wilde Rosen jung,</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Und deines Blutes sturmbewegte Welle!</div>
+ <div class="verse indent0">— O andre Wellen sind’s, wie einst am Rhein —</div>
+ <div class="verse indent0">Ein Lebender, ich fühl’s, in Sonnenhelle</div>
+ <div class="verse indent0">Kann nur des Lebens Auserwählter sein.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Komm an mein Herz! Es ward dein Adelswille,</div>
+ <div class="verse indent0">Des Rätsels stolze Lösung mir bewußt!</div>
+ <div class="verse indent0">... Du sollst nicht <em class="gesperrt">träumen</em> in der Dämmerstille,</div>
+ <div class="verse indent0">Doch <em class="gesperrt">siegen</em> sollst du, — siegen Brust an Brust!«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Die Dämmerstille lag über ihnen. Es begann
+stärker zu dunkeln, und keiner von ihnen bemerkte es.</p>
+
+<p>Da führte Hans Steinherr die widerstandslose
+Frauenhand an seine heißen Lippen, so fest, daß sie den
+Druck schmerzhaft verspürte, und daß Bettina mit einem
+kurzen Aufschrei auffuhr.</p>
+
+<p>»Tu’ ich dir weh?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p>
+
+<p>»Weh? — Weh? — Fragt mich dieser Mensch auch
+noch, ob er mir weh tut! Ja, du <em class="gesperrt">tust</em> mir weh, aber
+nicht weh genug. Brust an Brust! Hast du das nicht
+eben selbst gerufen? Brust an Brust! Wo bleibst du
+denn nur?«</p>
+
+<p>»Bettina! Ob du mich lieb hast, sag!«</p>
+
+<p>»Lieb, lieb! Das ist ein Ausdruck für kleine Mädchen!
+Wenn du <em class="gesperrt">mich</em> meinst, erfinde einen anderen!«</p>
+
+<p>»Ich habe keine Zeit dazu. Das einzige Wort, das
+ich ausdenken kann, heißt: Bettina. Meine, mir gehörige
+— Bettina.«</p>
+
+<p>»Das ist nicht viel für einen Dichter. Sag mehr,
+mehr —«</p>
+
+<p>»Jetzt hat der Mensch in mir das Wort. Nimm dich
+in acht: wenn er mehr redet, steigert er seine Ansprüche.«</p>
+
+<p>»Ah, laß ihn doch, laß ihn doch,« rief sie laut und
+preßte ihren Kopf gegen seine Brust. Dann rann die
+Woge langsam zurück — — —</p>
+
+<p>»Ich bin rasend,« sagte sie und fuhr sich über die
+Augen. »Ich muß Licht machen, damit wir zur Besinnung
+kommen.«</p>
+
+<p>Sie ging zur Wand und tastete nach dem Knopf
+der elektrischen Leitung.</p>
+
+<p>Das Zimmer schwamm in blendender Helle, und
+die beiden Menschen standen und staunten sich an.</p>
+
+<p>Er trat ihr einen Schritt entgegen, ungewiß, zögernd.
+Aber es schob ihn vorwärts.</p>
+
+<p>Und sie schüttelte den Kopf über sich selbst, wollte
+entweichen und lief auf ihn zu.</p>
+
+<p>»Hans, Hans, sei doch vernünftig! Du siehst doch,
+ich kann es nicht sein.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p>
+
+<p>»Weshalb hast du Licht gemacht? Jetzt seh’ ich erst,
+was ich alles vergessen habe.«</p>
+
+<p>Sie glitt unter seinem Arm hinweg, zurück zur
+Wand. Ein Ruck, und es war dunkel.</p>
+
+<p>Bevor er sich von seiner Überraschung erholen konnte,
+spürte er ihre Lippen auf seinem Mund und ihre Hände
+an seinen Schläfen.</p>
+
+<p>Worte seines Gedichtes wirbelten ihm durch das
+Hirn.</p>
+
+<p>»Ein Lebender kann nur des Lebens Auserwählter
+sein!« —</p>
+
+<p>Jetzt lebte er ein auserwähltes, ein doppeltes Leben.
+Das ihre war das seine.</p>
+
+<p>Die umschwärmteste Frau, die Dame der großen
+Welt war wie ein zärtliches Kind und bedeckte ihn mit
+ihren Liebkosungen.</p>
+
+<p>»Bettina, kleine, süße, wilde Bettina, sprich nur ein
+Wort. Noch existiert der Schmied von Gretna-Green.
+Noch ist Helgoland nicht aus der Welt. Morgen, übermorgen
+kannst du meine Frau sein.«</p>
+
+<p>»Nicht den Zauber brechen,« murmelte sie, »das
+kommt nicht wieder.«</p>
+
+<p>»Wir werden es in der Hand haben, ihn jede
+Stunde zu beschwören, wenn wir nicht mehr getrennt
+sind.«</p>
+
+<p>»Ach, du, diese Heimlichkeit — das ist das Schöne.
+Das Gefühl haben: wenn’s morgen aus wäre — diese
+Stunde raubt uns niemand mehr, mag die Zukunft sein
+wie sie will. Das Gefühl laß mir, bring es mir, so
+oft du kannst, tagtäglich; das spannt unsere Nerven,
+das macht so närrisch jung und so rasend verliebt; das<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span>
+ist, als könne es ein Jahrhundert dauern. Das ist eine
+Brautzeit, wie sie für uns paßt. Ein Fest nach dem
+anderen. Die Ehe bringt ja doch den unausbleiblichen
+Schlafrock.«</p>
+
+<p>»Du, du, werde nicht tragisch. Soll ich wieder Licht
+machen, damit du siehst, was du dir zutrauen kannst?«</p>
+
+<p>»Horch,« entgegnete sie unvermittelt, »eins — zwei
+— drei — neun Uhr! Unmöglich! Was ist aus der
+Zeit geworden? Das Mädchen wird kommen, um den
+Tisch abzuräumen. Ich habe alles vergessen.«</p>
+
+<p>»Wer an der Tafel der Götter gesessen hat, kann
+doch keinen Tee mehr trinken, Bettina.«</p>
+
+<p>»Du mußt; hörst du, du mußt. Ich kann doch das
+ganze Arrangement nicht unberührt fortschaffen lassen.
+Die Dienstboten würden die Hände über dem Kopf
+zusammenschlagen. Liebster, sei gut. Ein klein, klein
+wenig Aufopferung, weil es nicht anders geht. Da —
+ah, da ist Licht. Nein, ich will dich jetzt nicht anschauen.
+Hier, an den Tisch mit dir! Lach nicht so
+mokant. Du mußt ja doch, wie ich will.«</p>
+
+<p>»Ich bin dein ergebenster Diener. Wenn du befiehlst,
+verschling’ ich dich mit.«</p>
+
+<p>»Vorwärts, die Küche will ihr Recht. Ach Gott,
+der Tee ist kalt!«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte er verwundert, »und steht doch erst
+seit zwei Stunden.«</p>
+
+<p>Sie warf sich im Sessel zurück, griff in ihr Haar
+und lachte ohn’ Aufhören.</p>
+
+<p>»Du, Bettina, ich möchte auch lieber lachen als
+essen. Das ist eine Tortur.«</p>
+
+<p>Und jubelnd weiter lachend, fuhr sie mit Messer<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span>
+und Gabel durch den Inhalt der Platten, warf die
+Delikatessen der Saison wild durcheinander und lehnte
+sich ausatmend zurück.</p>
+
+<p>»So,« sagte sie, »das Abendessen wäre zu Ende.
+Wenn du jetzt auch nur noch eine Viertelstunde bleibst,
+mache ich jede Dummheit.«</p>
+
+<p>»Dann laß mich ungezählte Viertelstunden bleiben.
+Und noch länger.«</p>
+
+<p>»Mein Herr — so gern ich Ihrem Wunsche willfahrte:
+der Ruf Ihrer Dame verlangt —«</p>
+
+<p>Er erhob sich sofort.</p>
+
+<p>»Ich habe Ihnen nur noch zu danken, meine allergnädigste
+Frau; nur noch zu danken.«</p>
+
+<p>Sie sah die kühne Mannesfröhlichkeit in seinem
+Blick, faßte seine Hand und schloß die Augen.</p>
+
+<p>»Ich mach’ Dummheiten,« sagte sie.</p>
+
+<p>Er küßte sie auf die Lippen, die sich ihm boten.</p>
+
+<p>»Auf morgen!«</p>
+
+<p>»Und — vergiß nicht! — Gedichte will ich haben,
+Gedichte. Von mir, für mich. Du sollst mich stolz
+machen.«</p>
+
+<p>Sie stand hinter den Stores und sah ihm nach, wie
+er jugendlich elastisch über die Straße schritt. Dann
+ging sie langsamen Schrittes und vor sich hin grübelnd
+zum Diwan. In eine Ecke gekauert saß sie und sah
+vor sich hin, immer auf denselben Punkt.</p>
+
+<p>»Ich darf nur Dummheiten machen, die mich vorwärts
+bringen. Einstweilen, einstweilen — —«</p>
+
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-291.jpg">
+</figure>
+
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Drittes_Kapitel_Buch_2">Drittes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Mit der fortschreitenden Saison entwickelte sich auch
+das gesellschaftliche Leben in den Salons Frau Bettina
+Wittelsbachs. Nicht, daß sie das Prinzip der »offenen
+Tür« in ihrem Hause einführte. Die schöne Frau,
+welcher ihr Gatte Verbindungen mit den ersten Häusern
+hinterlassen hatte, hielt sehr auf eine erlesene Auswahl,
+und die kleinen, vornehmen und doch künstlerisch bewegten
+Abende, die sie mit nie trügendem Geschmack zu
+arrangieren verstand, erfreuten sich in der weltkundigen
+Gesellschaft bald eines Rufes, daß es für eine besondere
+Bevorzugung galt, hinzugezogen zu werden. In wenigen
+Monaten hatte die zielbewußte und starkgeistige Frau
+erreicht, wozu andere eines Einlebens von Jahren bedurften:
+ihr Salon bildete einen Machtfaktor. Nicht
+offenkundig, nicht vor den Augen der Welt; noch weniger
+aber insgeheim. Die Herren und Damen, die sich an
+jedem Mittwoch abend bei ihr zu versammeln pflegten,
+gehörten durchweg Kreisen an, die eine gewisse Bedeutung
+in sich schlossen: maßgebende Staatsbeamte,
+hohe Offiziere, Künstler von Einfluß, alle mit ihren
+Damen, deren Beziehungen wiederum weit durch die
+Salons der Hauptstadt reichten. Handelte es sich darum,
+einen Wunsch, eine Persönlichkeit an die Öffentlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span>
+zu bringen, so spannen sich die Fäden der Protektion
+von hier aus bald nach allen Seiten.</p>
+
+<p>Es war nicht allein Frau Bettinas reizvolle Art,
+jeden Menschen einzeln seiner Individualität gemäß zu
+behandeln und in jedem den Glauben zu erwecken, daß
+er vor allen die besondere Sympathie der Hausfrau
+genösse, was der vielvermögenden Frau so schnell die
+Ausnahmestellung schaffte. Unter den Näherstehenden
+war es ein stilles Geheimnis, daß sich ein hoher Herr
+aus der Seitenlinie eines regierenden Hauses stark um
+die Gunst der jungen, reichen Witwe bewerbe und
+lediglich deshalb in diesem Winter fern von Berlin und
+in der langweiligen mitteldeutschen Residenzstadt weile,
+um den Chef des Hauses seinen Heiratsplänen zugängig
+zu machen. Hatte doch der Prinz, der sich gelegentlich
+der Frühjahrsrennen der damals ins Leben zurückkehrenden
+Dame hatte vorstellen lassen, ihretwegen sogar an
+der Nordlandsfahrt teilgenommen und nur deshalb
+während der Reise ein mehr zurückhaltendes Wesen zur
+Schau getragen, um die Dame nicht in vorzeitiges Gerede
+zu bringen und dadurch die Chancen einer Verbindung
+mit Frau Bettina zu erschweren.</p>
+
+<p>Man hielt in den Kreisen um Frau Bettina mit
+großem Zartgefühl darauf, daß dieser Gegenstand nicht
+mit Worten erwähnt wurde. Einerseits geschah es aus
+dem natürlichen gesellschaftlichen Takt, anderseits aber
+stand die Person des in Frage Kommenden immerhin
+so hoch, daß man sich die für später sicher nützlichen
+Verbindungen nicht leichtfertig verscherzen wollte.</p>
+
+<p>Hans Steinherr war wohl der einzige, dem von dem
+stillen Geheimnis nichts bekannt war und auch nichts<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span>
+bekannt wurde. Er trat den einzelnen des Kreises nicht
+sonderlich näher, beschäftigte sich fast ausnahmslos mit
+der Dame des Hauses und galt bald als das Protektionskind,
+als ein junger, talentvoller Dichter, dem man
+sich bemühte, durch freiwillige Herolddienste die Wege
+zu ebnen. Den Austausch eines wärmeren Blickes
+zwischen ihm und Frau Bettina hätte man vergeblich
+zu erspähen versucht. Nur auf dem Nachhausewege
+pflegten zuweilen einige der Herrschaften ihre Gedanken
+über die Beziehungen zwischen Steinherr und der Dame
+des Hauses laut werden zu lassen. Dann zerbrach man
+sich den Kopf, ob dem Verhältnis wirklich das Rückgrat
+einer Liebschaft anhafte, oder ob die kluge und ehrgeizige
+Frau es nur inszeniere, um, wie sich ein diplomatisch
+geschulter Geheimer Rat ausdrückte, »Hoheit scharf zu
+machen«.</p>
+
+<p>Eines stand jedenfalls fest: Frau Bettina hatte der
+Person Hans Steinherrs ein Relief gegeben, das bald
+über die Grenzen des gesellschaftlichen Lebens hinaus
+seinen Wert erhielt.</p>
+
+<p>An den Abenden, die in ihrem Heim den Künsten
+gewidmet waren, bedrängte sie ihn, seine starken, leidenschaftlichen
+Poesien vorzulesen, und ihr äußerlich vornehm
+heiteres, innerlich drängendes, begehrendes Wesen
+fand einen verfeinerten Genuß darin, vor aller Augen
+und Ohren Verse zu hören, die ebensoviele Liebesbeteuerungen
+und Liebesschilderungen enthielten, die
+einzig und allein <em class="gesperrt">sie</em> angingen und die sie inmitten des
+buntesten geselligen Treibens all die Stunden heimlichen
+Glückes noch einmal durchschwelgen ließen. Sie lächelte
+unmerklich, wenn ein spontaner Beifall sich über den<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span>
+Dichter ergoß, wenn Steinherr, nur für sie erkenntlich,
+sich und die Situation ironisierend, eine Sekunde lang
+den Blick auf sie heftete.</p>
+
+<p>Aber Frau Bettina blieb hierbei nicht stehen. Durch
+Schmeicheln, Trotzen und Befehlen veranlaßte sie den
+Geliebten, die Gedichte in den ausschlaggebenden modernen
+Zeitschriften zu publizieren, und da ihr Namen von
+Bedeutung zur Seite standen, so war es ihr ein leichtes,
+ihren Wünschen bald die Erfüllung folgen zu sehen.</p>
+
+<p>Als die Saison im Februar ihren Höhepunkt erreicht
+hatte, war der Name Hans Steinherr unter den literarischen
+Feinschmeckern bekannt wie in den unzähligen
+Salons, die sich in Berlin zu den Treffpunkten der
+<em class="gesperrt">oberen</em> Zehntausend rechnen, weil Neugier und Nachahmungssucht
+das Tun und Lassen der wirklichen Oberen
+hier zu beklatschen pflegt, als stände man mit den so
+hoch interessanten Vorbildern familiär auf du und du.</p>
+
+<p>Hans Steinherr war eine der plötzlich aufschießenden
+Saisongrößen geworden und wußte selbst nicht, wie er
+zu der Ehre kam. Wenn er an der Seite Frau Bettinas,
+die durch ihre blendende Erscheinung und nicht weniger
+durch ihre aparten, geschmackvollen Toiletten stets die
+allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, zu den Premieren
+in der Theaterloge erschien, erregte er den Hauptteil des
+Interesses. Dann sprach man in Logen und Parkett
+über seine Persönlichkeit, die berufen war, dieser Dame
+<span class="antiqua">de grande tenue</span> als bevorzugter Kavalier zu dienen,
+und der Neid schuf ihm ein noch größeres Renommee
+als die Freundschaft.</p>
+
+<p>»Wer ist denn dieser Günstling der schönen Wittelsbacherin?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span></p>
+
+<p>»Aber, gnädige Frau, das ist doch Hans Steinherr!«</p>
+
+<p>»Hans Steinherr? Also von der Kunst, weil Sie
+den Vornamen nennen.«</p>
+
+<p>»Meine Gnädige: Hans Steinherr, der bedeutende
+und eigenartige Lyriker! Treiben Sie denn nicht die
+neueste Literatur? Allerverehrteste, wie können Sie nur
+so unmodern werden!«</p>
+
+<p>So wurde Hans Steinherr der »bedeutende und
+eigenartige« Lyriker, und hatte kaum ein Dutzend Gedichte
+veröffentlicht, die er nicht einmal für die Öffentlichkeit
+niedergeschrieben hatte. Man gab ihm einen
+Ruf, damit es umso interessanter würde, <em class="gesperrt">über</em> seinen
+Ruf Andeutungen mit kleinen Pointen loszulassen. Irgend
+ein Dutzendmensch hätte sich nicht gelohnt.</p>
+
+<p>Über Hans Steinherrs Seele gingen die Wandlungen,
+welche die Außenwelt mit ihm vornahm, spurlos
+hinweg. Es war dasselbe Fluten und Ebben in ihm,
+derselbe Wechsel von Rausch, Ernüchterung und neuem
+Rausch; alles wie seit dem ersten Tag in Frau Bettinas
+Haus. Nicht um eine Spanne war die Klärung fortgeschritten.
+Wenn er mit Ungestüm darauf drang, zog
+sie sich zornig von ihm zurück und schalt ihn einen Alltagsmenschen,
+eine poesielose Natur, einen Undankbaren,
+der nicht wert sei, mit ihr ein so wunderbar anregendes
+Geheimnis zu teilen, und durch seine prosaische Verständnislosigkeit
+den kleinsten Stimmungszauber verderben
+müsse. Wurde er kalt und zurückhaltend, so
+überschüttete sie ihn unvermutet mit einer so stürmischen
+Flut von Liebkosungen, daß er sein Blut sausen fühlte
+und nach innerlicher Gegenwehr plötzlich die Reserviertheit
+aufgab und ihre Küsse erwiderte, wie sie gegeben wurden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p>
+
+<p>Sonnenschein und Sturm, Sturm und Sonnenschein.</p>
+
+<p>Er war in einen Kreislauf geraten, aus dem er sich
+nicht mehr herausfand.</p>
+
+<p>Packte ihn in nüchternen Stunden die Scham, wie
+eine Drohne zu leben und sein Dasein arbeitslos und
+daher zwecklos zu vergeuden, faßte er den Entschluß,
+diesem für seinen Lebensstolz unhaltbaren Zustand ein
+Ende zu machen, selbst auf die Gefahr eines gänzlichen
+Bruches hin, so wandelte schon der nächste Abend ihn
+wieder zum modernen Tannhäuser, der außer den Augen
+der liebsten Frau nichts will und nichts weiß.</p>
+
+<p>Was ihm jeden tatkräftigen Gedanken erschwerte,
+war das unausgesprochene Bewußtsein, daß neben der
+wilden Zuneigung die Eitelkeit des Mannes in ihm
+wachgerufen war. Die Eitelkeit des Mannes, die
+weniger Schmerz um eine verlorene Liebe als um die
+sichtbaren Zeichen einer Niederlage empfindet. Die Vorstellung,
+Bettina an der Seite eines anderen zu sehen,
+während er unbeachtet abseits zu stehen habe, zu wissen,
+daß sie einem anderen die Zärtlichkeiten gebe, die sie
+ihm gegeben hatte, ließ ihn in wortlosem Grimm die
+Nägel in die Handflächen graben.</p>
+
+<p>Dieses endlose Hin- und Herzerren, dieses immer sich
+wiederholende Kapitulieren vor dem Ziele machte ihn
+launisch und reizbar. Er war nicht der Mann des ewigen,
+verborgenen Brautlebens, er hatte ein Ruhebedürfnis,
+und nicht zuletzt ein Bedürfnis nach der Ruhe des Besitzes.</p>
+
+<p>Und dennoch: wenn er wieder einmal eine der immer
+seltener werdenden Stunden verlebt hatte, in denen sie
+im engen Beisammensein allen Sonnenschein über ihn
+ergossen hatte, wenn er sie vor sich sah in dem weich<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span>
+herniederfallenden Hausgewand, das in dem schlanken
+Ausschnitt die weißen Schultern freigab, dann unterlag
+auch er dem Zauber, den gerade die Verschwiegenheit
+ihrer Liebe so außergewöhnlich prägte, und er schmiegte
+knabenhaft, ein selig Träumender, sein Gesicht dicht
+neben das ihre auf den Pfühl des Diwans, während
+er vor ihr kniete und seine Arme sie umfaßt hielten.</p>
+
+<p>Seit kurzem häuften sich diese stillen, schönen Stunden.
+Es war, als ob auch Bettina etwas Schmerzliches
+in der Art ihrer Liebe empfände, als ob sie plötzlich zu
+der Erkenntnis seines unduldsamen Leidens gekommen
+wäre und sich nun bemühte, durch eine fortlaufende
+Reihe ungetrübter Tage viele voraufgegangene Launen
+wieder gut zu machen. Mitten im Gespräch konnte sie
+verstummen, sein Gesicht in ihre beiden Hände nehmen
+und ihm lange, mit verschleiertem Blick, in die Augen
+schauen. Die Weichheit ihres Wesens nahm zeitweilig
+einen Charakter an, daß ihn erschreckte, was ihn sonst
+mit Freude erfüllt haben würde.</p>
+
+<p>An einem Abend, an dem er die an ihr so ungewohnte
+Erscheinung stärker als je empfand, fragte er sie.</p>
+
+<p>»Was hast du, liebste Frau? Dich quält etwas.
+So verbirg es mir doch nicht.«</p>
+
+<p>Und sie sagte kopfschüttelnd und ihm leise über das Haar
+fahrend: »Es ist nichts. Und wenn auch. Wir wollen uns
+in den kurzen Stunden doch nicht mit Grillen plagen.«</p>
+
+<p>»Du bist eine andere geworden, Bettina — —«</p>
+
+<p>»Hast du dich nicht auch verändert — —?«</p>
+
+<p>»Ich —? Nenn mir meine Fehler, und ich will
+sie dir zuliebe ablegen.«</p>
+
+<p>»Hans,« sagte sie nachdenklich und legte die flache<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span>
+Hand auf die Stirn, »wann hast du mir das letzte Gedicht
+gebracht?«</p>
+
+<p>»Ich wußte nicht, daß dir noch daran gelegen war,«
+entgegnete er ernst.</p>
+
+<p>»Hab’ ich dir wirklich Anlaß zu solchen Vermutungen
+gegeben?«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte er. »Du schicktest, was ich schrieb, in
+die Öffentlichkeit, bevor du es noch recht gelesen hattest.
+Und das Beste, was zwischen den Zeilen geschrieben
+stand, hättest nur du empfinden können. Aber dir lag
+an dem Druck mehr als an der Schrift; mir an deinen
+Augen mehr als an denen des Publikums. Da streckte
+ich die Wehr.«</p>
+
+<p>»Und nie, nie wieder hast du das Gefühl gehabt:
+du mußt jetzt für Bettina dichten?«</p>
+
+<p>»Doch. — In den letzten Tagen. — Seitdem du
+so — so verändert wurdest.«</p>
+
+<p>»Hans,« sagte sie und streckte ihm die Hände entgegen,
+»komm, Hans. Wie damals, als es anfing. Hier
+auf dem Diwan lag ich, und da knietest du — siehst
+du, ich habe alles behalten — und du lasest mir eine
+Jugendbeichte von einer Liebe am Niederrhein, und wie
+du sie erst ganz überwunden hättest durch mich. War
+das ein Abend! — — — Komm, ich sitze wieder hier,
+und du lehnst deinen Kopf gegen meine Kniee. Und
+nun lies. Es soll nur für mich sein.«</p>
+
+<p>Und er las, mit stiller, schwerer Stimme.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Wenn der weißen, stolzen Schultern Bogen</div>
+ <div class="verse indent0">Wie des Marmors Schneekristalle flimmern,</div>
+ <div class="verse indent0">Deiner Brust geheimnisvolle Wogen</div>
+ <div class="verse indent0">Wie von Mondschein übergossen schimmern;</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p> </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wenn ich dich, die mir entgegenleuchtet,</div>
+ <div class="verse indent0">Mit gebenedeiten Händen streichle,</div>
+ <div class="verse indent0">Und dein Auge sich vor Liebe feuchtet,</div>
+ <div class="verse indent0">Wenn ich wie ein Knabe stumm dir schmeichle —</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Weißt du, Liebste, was ich schauernd fühle</div>
+ <div class="verse indent0">Bei dem selbstvergessenen Umschlingen,</div>
+ <div class="verse indent0">Wang’ an Wange auf demselben Pfühle?</div>
+ <div class="verse indent0">— Sieh, die Seelen wollen sich durchdringen!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wollen sich durchdringen und vereinen,</div>
+ <div class="verse indent0">Wollen unauflöslich sich verketten,</div>
+ <div class="verse indent0">Wollen uns, wenn unsre Augen weinen</div>
+ <div class="verse indent0">Fern der Heimat, unsern Frieden retten.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Wo ich geh’, nun trag’ ich deine Seele;</div>
+ <div class="verse indent0">Wo du bleibst, dich tröstet meine heiter:</div>
+ <div class="verse indent0">Glaub’ es nicht, daß dir die Liebe fehle;</div>
+ <div class="verse indent0">Ich bin bei dir, fürchte dich nicht weiter. — — —</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Heil’ge Stille ... Dann, mit beiden Händen,</div>
+ <div class="verse indent0">Greifst du meinen Kopf und starrst mit weiten</div>
+ <div class="verse indent0">Augen auf mich, die ein Wunder spenden;</div>
+ <div class="verse indent0">Und voll Inbrunst und voll Seligkeiten,</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Bleich vor Wonne flüsterst du: Bedränger!</div>
+ <div class="verse indent0">Zärtlichster und wildester der Knaben,</div>
+ <div class="verse indent0">Press’ mich fester, daß die Seelen länger</div>
+ <div class="verse indent0">Süß und heimlich einst zu raunen haben .....«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Er sah nicht auf. Er hatte das Gefühl, daß es
+jetzt an ihr sei, zu sprechen; irgend etwas hinreißend
+Liebes zu sagen, das all die vielfachen kleinen Dissonanzen,
+die sich in die Melodie ihres Verkehrs eingeschlichen
+hatten, in einem lange nachzitternden Vollton
+vergessen machen würde. Aber es blieb Stille, ein
+lastendes Schweigen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span></p>
+
+<p>Müde hob er den Kopf. Da fielen brennend heiße
+Tropfen auf seine Stirn.</p>
+
+<p>»Bettina!« rief er, sprang auf und faßte sie an den
+Schultern. »Bettina, was geht in dir vor? So kenn’ ich
+dich ja gar nicht. Du weinst? Herr Gott im Himmel, du
+kannst weinen? Liebste, Liebste, dann ist ja alles gut.«</p>
+
+<p>Ihr Mund verzog sich krampfhaft, aber sie konnte
+den hervorschießenden Tränen keinen Einhalt tun. Sie
+streifte seine Hände herab und wanderte im Zimmer
+umher, bis sie ihre Haltung wiedergefunden hatte.</p>
+
+<p>»Mach doch nicht solch ein Wesen daraus. Ich bin
+nur nervös. Ich bin gar nicht so tief, wie deine Dichterseele
+sich jetzt wieder einbildet. Gemütsbewegungen!
+Das ist doch zum lachen. Ich bin in diesen Dingen
+tatsächlich so oberflächlich, wie du es schon zu wiederholten
+Malen mir vorgehalten hast. Die echte und
+rechte mondäne Frau. Daran läßt sich nichts ändern,
+das liegt in einem. Nur deine rheinische Art macht
+mich immer wieder fassungslos. Das wühlt auf und
+lullt ein, bis man vor Sehnsucht nicht mehr aus noch
+ein weiß und jede Dummheit begehen möchte.«</p>
+
+<p>»Du sprichst mir so oft von den — Dummheiten.
+Eine Frau wie du sollte den Mut besitzen, sich klarer
+auszudrücken.«</p>
+
+<p>»O, ich — — da siehst du’s ja, wie recht du hast
+— ich bin eine ganz oberflächliche Natur.«</p>
+
+<p>»Wenn ich nicht besser wüßte, was in dir steckte, würde
+ich dich nach dem ersten Tage zu den Toten gelegt haben.«</p>
+
+<p>»Hans!« rief sie. Alle Unruhe war zurückgekehrt.
+Durch ihren Körper flog es wie Angstschauer. Er hatte
+sie noch nie in solcher Aufregung gesehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span></p>
+
+<p>»Du, du, ich hab’ ja eine Sehnsucht, eine ganz
+tolle, unbezwingbare Sehnsucht. Wie soll das nur
+werden? Seid ihr denn alle so an eurem Rhein? Ich
+habe gedacht, da leben nur frohe, leichtsinnige Menschenkinder.
+Ähnlich wie ich. Oder seid ihr vom Niederrhein
+so ganz anders? Ihr mit dem harten westfälischen
+Schädel und dem heißen rheinischen Blut, ihr unauskennbaren
+Grenzlerleut’!«</p>
+
+<p>»Du solltest mich noch nicht auskennen, Bettina?«</p>
+
+<p>»Nein, schweigen sollst du, nicht reden. Ich weiß es
+ja, daß ich rettungslos verliebt in dich bin. Aber wie
+weit du in mich — ob auch rettungslos — das — das
+weiß ich nicht. Und deshalb fürcht’ ich mich vor der
+Probe.«</p>
+
+<p>»So stell’ mich doch auf die Probe. Denk dir doch
+mal was ganz Unerhörtes aus.«</p>
+
+<p>Sie blickte ihm starr in die Augen, als ob er ihre
+Gedanken erraten hätte und sie sich vor der nächsten
+Sekunde fürchtete. Aber seine scharf gewordenen Züge
+zeigten keinen Sarkasmus, nur eine sich nähernde, mitleidsvolle
+Liebe.</p>
+
+<p>Das konnte sie nicht ertragen. In diesem Augenblick
+nicht. Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, und
+sie ließ die Tränen strömen, wie sie wollten. Sie hatte
+jede Gewalt über sich verloren.</p>
+
+<p>»Ich kann ja nicht leben ohne dich. Was soll denn
+nur werden?«</p>
+
+<p>Er zog sie sacht wie ein krankes Kind auf seinen
+Schoß und streichelte ihre schönen Arme.</p>
+
+<p>»Glück soll daraus werden. Glück, nichts als Glück.
+Ein seliger Mann und eine selige Frau.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span></p>
+
+<p>»O du arme Dichterseele, wie werde ich dich enttäuschen.«</p>
+
+<p>»Dann werde ich meine Lieder zu dir reden lassen;
+von alten Zeiten, von stolzen Menschen, von verschwiegenen
+Stunden, die uns mehr waren als Jahre. Und die
+Erinnerungen werden so mächtig werden, daß sie eine
+Fortsetzung fordern.«</p>
+
+<p>»Du — Hans,« sagte sie hastig.</p>
+
+<p>»Ich höre.«</p>
+
+<p>»Du sollst mir eins versprechen.«</p>
+
+<p>»Ich verspreche dir heute alles.«</p>
+
+<p>»Du sollst mich nicht mehr andichten. Jetzt nicht,
+die nächsten Tage nicht. Ich ertrag’ es jetzt nicht, so
+— so deine Seele zwischen den Fingern zu halten in
+ihrer beispiellosen Offenheit. — So blicke mich doch
+nicht so ironisch an. Du kannst mich ja gar nicht verstehen.
+Gerade weil ich deine Seele nun besser kenne
+als du, und weil ich dir gerade in diesem Punkte nicht
+oberflächlich erscheinen will. Weil ich erst — — Ach
+nein, später, später. Du mußt jetzt gehen. Nimm deinen
+Mantel und Hut. Wie kalt es ist; fühlst du es nicht
+auch? Gute Nacht, Liebster ...«</p>
+
+<p>Er berührte ihre Lippen nur ganz sanft und ging.</p>
+
+<p>An der Tür drehte er sich um. »Ich werde morgen
+abend bei dir sein. Bestimme nur die Stunde. Zur
+Teezeit, um sieben?«</p>
+
+<p>»Morgen? Nein, morgen komme nicht!«</p>
+
+<p>»Aber weshalb morgen nicht? Ich muß mich doch
+nach meinem Patienten umsehen.«</p>
+
+<p>»Ich erwarte morgen Besuch.«</p>
+
+<p>»Und wenn schon. Der soll mich doch nicht hindern,
+du nervöses Geschöpf.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span></p>
+
+<p>»Wenn ich dich aber bitte. Der Besuch würde dich
+nur — nur — langweilen. Das will ich nicht. Komme
+übermorgen, Mittwoch, aber eine Stunde früher als die
+Mittwochsgäste. Um sechs; willst du?«</p>
+
+<p>Er sah sie lächelnd an, nickte ihr zu und ließ sie allein.</p>
+
+<p>Auf dem Wege nach seiner Wohnung befiel ihn eine
+unerklärliche Unruhe. Aber er redete sie sich aus. Wenn
+ihr etwas zustieße, morgen, während er nicht zugegen
+wäre? Nun, er würde der erste sein, den sie rufen
+lassen würde. Sie konnte ja doch nicht ohne ihn sein.
+Soeben erst hatte er es von ihrem leidenschaftlichen
+Munde vernommen.</p>
+
+<p>Ein überhebendes Gefühl wallte in ihm auf, und
+wieder reckte und streckte sich die männliche Eitelkeit in
+ihm weit über die selbstlose Liebe hinaus und ließ ihn sich
+nur als lächelnden Gebieter dieser vielgefeierten Frauenschönheit
+sehen. Aber als er in der Frühe erwachte,
+war auch die Unruhe wieder erwacht und gab ihn nicht
+mehr frei und ließ ihn alle Handlungen mechanisch verrichten.</p>
+
+<p>Auch Frau Bettina fand, als der Morgen graute,
+keinen Schlummer mehr. Ziel- und zwecklos durchwanderte
+sie im Frisiermantel alle Räume der Wohnung,
+blieb an den Fenstern stehen, blickte in den trüben Tag
+hinaus, gab der Jungfer Aufträge, die sie sofort widerrief,
+und kehrte immer wieder in den Salon zurück, um
+gedankenlos das Zifferblatt der Bronzeuhr zu betrachten.
+Stellte sich wirklich ein Gedanke ein, so dachte sie ihn
+nicht zu Ende, sondern eilte schnell in das nächstgelegene
+Zimmer, um sich von irgend einem anderen Gegenstand
+abziehen zu lassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span></p>
+
+<p>Endlich, gegen Mittag, brachte ihr das Mädchen
+eine Depesche.</p>
+
+<p>Sie nahm den Papierstreifen entgegen, dankte kurz
+und legte ihn neben sich auf den Tisch. Erst als sie
+sich wieder allein befand, griff sie danach und drehte
+das Blatt in den Händen umher. Dann erhob sie sich
+plötzlich, warf den Kopf zurück, als ob sie das letzte
+schwache Zaudern ein für allemal abweisen wolle, vergewisserte
+sich durch einen klaren Umblick, daß sie ganz
+und gar Herrin der Situation sei, und entfernte ruhig
+die Siegelmarke von der Depesche.</p>
+
+<p>Sie schlug das Blatt auseinander und las:</p>
+
+<p>»Reise soeben ab. Gestatten Sie mir, Ihnen um
+sechs Uhr meine Aufwartung zu machen. Ich küsse
+Ihre Hände. Georg.«</p>
+
+<p>Ruhig faltete sie das Papier wieder zusammen und
+legte es auf eine Schale. Dann klingelte sie.</p>
+
+<p>»Sie können das Frühstück bringen, Anna. Ich
+werde heute nicht dinieren.«</p>
+
+<p>Sie trank in kleinen Zügen ein Glas Sherry aus
+und wählte in den Speisen herum, ohne viel zu genießen.
+Trotzdem saß sie über eine Stunde zu Tisch.
+Als auf ihr Klingelzeichen das Mädchen wieder erschienen
+war, fragte sie nach der Zeit.</p>
+
+<p>»Es ist zwei Uhr, gnädige Frau. Befehlen gnädige
+Frau eine Toilette?«</p>
+
+<p>»Zwei Uhr? Ja, da muß ich wohl daran denken,
+mich anzuziehen. Kommen Sie doch gleich mit.«</p>
+
+<p>Während sie in ihrem Ankleidezimmer vor dem
+wandhohen Spiegel stand, kam es ihr in den Sinn,
+daß sie für Hans Steinherr nie einen großen<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 3
+06]</span>
+Toilettenapparat hatte in Szene zu setzen brauchen. O, dem
+hätte sie in dem losen, weichen und bequemen Hauskleid
+immer am besten gefallen. Das war auch Hans Steinherr.
+Und der andere, der heute — endlich — sein
+Kommen gemeldet hatte — —</p>
+
+<p>»Nein, Anna, was legen Sie mir nur heute vor!
+Das ist ja schon zwei-, dreimal getragen. Mädchen,
+seien Sie nicht so ungeschickt! Wo ist denn der Karton,
+der gestern gekommen ist? Ja, ja, das seegrüne Unterkleid
+und das Überkleid aus schwarzen Valenciennes
+mein’ ich. ›Diese fürstliche Robe?‹ fragen Sie Unschuld?
+Endlich der erste vernünftige Ausdruck, den ich von
+Ihnen höre. Also — die fürstliche Robe.«</p>
+
+<p>Sie lehnte sich in ihrem Frisiermantel in den Stuhl
+und blickte unverwandt in den Spiegel. »Lassen Sie
+sich Zeit. Sie sollen mich heute so schön machen, wie
+ich noch nie war.«</p>
+
+<p>»O, gnädige Frau sind immer schön. Wenn gnädige
+Frau noch so kunstvoll frisiert sind, schöner können
+gnädige Frau darum nicht ausschauen.«</p>
+
+<p>Als wenn Hans Steinherr spräche ... Nur daß er
+für »gnädige Frau« einen etwas präziseren Ausdruck
+setzte.</p>
+
+<p>»Erzählen Sie mir etwas, Anna!«</p>
+
+<p>Und das Mädchen schwatzte drauf los, Geschichten
+von Bekannten und Unbekannten, und kam sich von
+Minute zu Minute wichtiger und interessanter vor,
+während Frau Bettina sie längst vergessen hatte. — —
+Bis das letzte Spitzenendchen mit kleinen Brillantnadeln
+über dem Seidenstoff befestigt war, hatte es fünf Uhr
+geschlagen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span></p>
+
+<p>Sie schickte das Mädchen fort, in der ganzen Zimmerflucht
+alle Flammen der elektrischen Kronen zu entzünden,
+und blieb selbst, ein Buch in der Hand, in ihrem Ankleidezimmer.</p>
+
+<p>Punkt sechs Uhr klopfte das Mädchen. Sie sah dem
+erstaunten Gesicht an, daß es sich um eine außergewöhnliche
+Meldung handelte.</p>
+
+<p>»Nun, Anna?« fragte sie lächelnd und nahm die
+ihr auf dem Tablett dargereichte Visitenkarte.</p>
+
+<p>»Gnädige Frau, der Prinz von —«</p>
+
+<p>»Es ist gut, Anna. Bitten Sie Hoheit, mich nur eine
+Sekunde zu entschuldigen. Ich würde sofort erscheinen.«</p>
+
+<p>Noch einmal stellte sie sich vor den Wandspiegel,
+musterte ruhig ihre Gestalt und den Glanz ihrer Augen
+und ging mit der Sicherheit der Weltdame, um den
+Prinzen zu begrüßen.</p>
+
+<p>Er stand mitten im Salon, im eleganten Frackanzug,
+den <span class="antiqua">chapeau claque</span> unter dem Arm, und eilte
+ihr, sobald sie die Portiere zurückschlug, entgegen.</p>
+
+<p>»Meine schöne und liebenswürdige Freundin —«</p>
+
+<p>Sie reichte ihm anmutsvoll die beringte Hand, die
+er wiederholt an die Lippen führte.</p>
+
+<p>»Seien Sie mir herzlich willkommen, Hoheit. Was
+trieb Sie denn so plötzlich aus Ihrer Weltabgeschiedenheit
+her?«</p>
+
+<p>»Die Sehnsucht, mich meiner gnädigen Frau zu
+Füßen zu legen.«</p>
+
+<p>»Die Sehnsucht hat lange gebraucht, Hoheit, um zu
+diesem Entschluß zu kommen.«</p>
+
+<p>»Man hatte ihr die Flügel zusammengeschnürt.
+Zürnen Sie ihr nicht. Ich war ein abhängiger Mann.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span></p>
+
+<p>»Sie <em class="gesperrt">waren</em>? Soll ich das dahin verstehen, daß
+Sie es heute nicht mehr sind?«</p>
+
+<p>»Die Entscheidung wird lediglich von Ihrer Güte
+abhängen, Bettina.«</p>
+
+<p>Sie saß ihm gegenüber, frei und unbekümmert, und
+erwiderte seinen festen Blick lächelnd.</p>
+
+<p>»Du lieber Gott, Hoheit, man appelliert so viel an
+meine Güte. Aber tragen Sie Ihr Anliegen vor.«</p>
+
+<p>Der Prinz wurde für einen Moment unsicher. Er
+blickte auf die Spitzen seiner Lackschuhe und streichelte
+mit dem Rande seines Claques nervös die Bügelfalte
+seines Beinkleides.</p>
+
+<p>Frau Bettina hatte Muße, ihn zu betrachten. Er
+war eine durchaus vornehme Erscheinung, ein Mann
+von glänzendster Haltung und großen Formen. Nur
+die melierten Schnurrbartspitzen und die leicht ergrauten
+Schläfen wiesen darauf hin, daß er die erste Jugend
+hinter sich hatte, aber seine fünfzig Lebensjahre hätte
+ein Fremder nicht erraten. Ein geschultes Auge konnte
+dem Kolorit des Gesichtes anmerken, daß Seine Hoheit
+den Lebensgenüssen nicht aus dem Wege zu gehen pflegte.
+Eine leise Lebemannstönung zog sich darüber hin.</p>
+
+<p>»Meine gütige Gnädige,« sagte der Prinz und
+schaute zu ihr auf, »ziehen Sie doch in Betracht, ich bin
+in meinem bäuerlichen Waldnest gänzlich außer Form
+gekommen.«</p>
+
+<p>»Ach, Sie wollen ein Kompliment hören? Nein,
+nein, Hoheit, so wollen wir nicht beginnen.«</p>
+
+<p>»Meine gnädige Frau, so gestatten Sie mir, ohne
+Umschweife auf mein Ziel loszusteuern. Über meine Gefühle
+befinden Sie sich nicht im unklaren. Ich hatte<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span>
+mir, als ich im Herbst schied, die Freiheit genommen,
+sie Ihnen zu gestehen, und unsere Korrespondenz konnte
+sie nur noch verstärken und vertiefen. Der Grund
+meines damaligen Scheidens ist Ihnen bekannt. Es
+galt, Hindernisse hinwegzuräumen und« — er lächelte
+auf eigene Weise — »dem hohen Chef unseres Hauses
+die Gelegenheit zu bieten, sich durch den Augenschein
+von der nunmehr erlangten Reife zur Ehe zu überzeugen.«</p>
+
+<p>»So notwendig war das?« warf sie ein.</p>
+
+<p>»Meine Jugend hat ein bißchen lange gedauert, ich
+gestehe es zu. Dadurch aber hoffe ich, mir die Anwartschaft
+auf einen besonders soliden Ehemann erworben
+zu haben.«</p>
+
+<p>— Und bei Hans Steinherr, dachte sie bei seinen
+Worten, sollte die Jugend mit der Ehe wiederbeginnen
+und endlos sein. —</p>
+
+<p>»Sie haben sich höchst ehrenvolle Vorsätze gestellt,
+Hoheit,« erwiderte sie in dem Tone, den er angeschlagen
+hatte.</p>
+
+<p>»<span class="antiqua">Eh bien</span>, meine Gnädige, gegen die Ehe als Ding
+für sich hatte mein Herr Oheim auch durchaus nichts
+einzuwenden, das einzige Hindernis war —«</p>
+
+<p>»Die erwählte Dame.«</p>
+
+<p>»Keineswegs, meine gnädige Frau. Die Persönlichkeit
+der Dame stand über jeder Situation. Lediglich
+die Rangfrage — verzeihen Sie, daß ich das erwähnen
+muß, aber die Fragen der Etikette rangieren bei Hof
+zum wenigsten mit dem Glaubensbekenntnis in einer Linie.«</p>
+
+<p>»Also als gläubig ward ich <em class="gesperrt">ohne</em> jede Prüfung
+befunden?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span></p>
+
+<p>»Prüfungslos,« lachte er und küßte ihr die Hand.
+»Schon daß Sie mich schlimmen Christen bekehrt haben,
+gewann Ihnen die Gloriole der Heiligen.«</p>
+
+<p>»Es scheint mir doch,« sagte sie leichthin, »als ob
+die Fragen der Etikette demnach <em class="gesperrt">vor</em> den Fragen des
+Katechismus rangierten. Aber ich werde Sie nicht weiter
+unterbrechen. Entschuldigen Sie, Hoheit!«</p>
+
+<p>Der Prinz überwand die verblüffende Ironie schnell.
+Es war ihm darum zu tun, zur Hauptsache zu kommen.</p>
+
+<p>»Der hohe Chef unseres Hauses vermochte an der
+Aufrichtigkeit meiner Gefühle auf die Dauer nicht zu
+zweifeln, viel weniger noch an der Stabilität meiner
+Absichten. Er geruhte, einzulenken und mir den Konsens
+zu bewilligen. Freilich unter Auferlegung nicht zu umgehender
+Opfer. Ich habe auf die Berechtigung zur
+Regierungsnachfolge Verzicht geleistet — nun, für ein
+Jahrhundert war die Kandidatur ohnedies in sicheren
+Händen, und später wird’s mir keinen Spaß mehr
+machen, — und ich werde <span class="antiqua">à la suite</span> der Armee gestellt.
+Den Drill hatte ich längst schon über, und ich werde
+in jeder Beziehung ein freier Mann. Am Tage unserer
+Ehe — ich bitte Sie um die Erlaubnis, Bettina, von
+uns in dieser Gemeinsamkeit zu reden — am Tage
+unserer Ehe wird uns im Anschluß an den Namen
+meiner Besitzung der Titel Graf und Gräfin Wallberg
+verliehen werden.«</p>
+
+<p>Er erhob sich.</p>
+
+<p>»Das wäre die Lösung der einen Seite der Frage.
+Die Lösung der anderen steht in Ihrer Hand.«</p>
+
+<p>Auch Bettina hatte sich erhoben. Sie blickte einen
+Moment sinnend vor sich hin.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span></p>
+
+<p>»Und man wird, Hoheit, mich nicht als lästigen
+Eindringling betrachten? Ich kann annehmen, daß man
+mir meine Stellung nicht zu einer exponierten gestaltet,
+daß es mir nicht an verwandtschaftlichem und freundschaftlichem
+Entgegenkommen seitens Ihrer Familienmitglieder
+fehlen wird? Das ›Nullerl‹ zu spielen, liegt
+nicht im Bereich meines Ehrgeizes.«</p>
+
+<p>»Meine Brüder sind entzückt, Sie als Schwägerin
+zu sehen. Ihr Bild, das ich besitze, hat allein schon
+Wunder gewirkt. Meine Brüder Dick und Fredy suchen
+bei der schönen Herrin dieses Hauses und dieses Herzens
+um die Ehre nach, der Vermählungsfeierlichkeit beiwohnen
+zu dürfen, und senden jetzt schon ergebensten
+Handkuß mit der Versicherung blinder Anhänglichkeit.
+Gestatten Sie, daß ich mich meines Auftrages in vollem
+Umfange entledige!«</p>
+
+<p>Er nahm mit ritterlicher Verbeugung ihre Hände
+und küßte die rechte und die linke.</p>
+
+<p>»Georg,« sagte sie und zog sanft ihre Hände zurück,
+»halten Sie mich nicht für unzart. Aber bei einer so
+außergewöhnlichen Verbindung ist es direkt notwendig,
+den realen Dingen ins Auge zu sehen. Ich denke, wir
+sind über die Sentiments erhaben. Sie sehen in mir
+die schöne und liebenswerte Frau. Aber das dürfte nicht
+genügt haben, mir die Stellung an Ihrer Seite anzubieten.
+Sie sehen in mir auch die vollkommen unabhängige
+und mit den Schätzen dieser Welt einigermaßen
+gesegnete Frau.«</p>
+
+<p>»Bettina!« warf der Prinz in verweisendem Tone ein.</p>
+
+<p>»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, das an die
+zweite Stelle zu schieben. Aber es ist ein Grund mehr<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span>
+für mich, es zu beachten. Das können und dürfen Sie
+nicht in Abrede stellen. Vorwürfe zwischen uns müssen
+von vornherein ausgeschlossen sein, jeder von uns wird
+dem anderen seine kleinen Liebhabereien nicht mißgönnen.
+Ihr Rennstall hat Sie viel gekostet, der Troubadourendienst«
+— sie lächelte vor sich hin — »kurz, sagen Sie
+mir ruhig die Höhe Ihrer Engagements.«</p>
+
+<p>»Bettina! Ich bitte tausendmal um Verzeihung.
+Aber das — das ist mir nicht möglich.«</p>
+
+<p>»Nein, nein, lieber Freund, jetzt kein übertriebenes
+Zartgefühl. Wir haben ernstere Dinge vor, als hier
+das verschämte Liebespaar zu spielen. Wir kennen uns
+beide, und wir wollen es miteinander wagen. Schaffen
+wir also sofort die richtige Grundlage. Das ist für
+lebenserfahrene Menschen wie wir das einzig Würdige.«</p>
+
+<p>»Ich strecke vor Ihrer klaren Lebensauffassung die
+Waffen, Bettina.«</p>
+
+<p>»Also?« neckte sie und reichte ihm ermutigend die
+Hand. »Ist es eine sechs- oder eine siebenstellige Zahl?«</p>
+
+<p>»Rund eine siebenstellige,« sagte er mit einem
+schweren Seufzer, der humoristisch klingen sollte.</p>
+
+<p>»Nun,« entgegnete sie mit einem frappierenden Gleichmut,
+»das wird sich immerhin arrangieren lassen. Über
+diesen Punkt brauchen wir also nicht mehr zu sprechen. Die
+Regelung können wir unseren Sachwaltern überlassen.
+Und wann gedachten Sie die Verlobung zu publizieren?«</p>
+
+<p>»Pardon,« sagte er, legte den Hut hin und kam auf
+sie zu. »Gestatten Sie mir, daß ich mich zunächst in
+aller Form Rechtens meines Besitzes versichere.«</p>
+
+<p>Sie stand regungslos, mit leicht vorgebeugtem Kopf,
+und er küßte sie respektvoll auf die Stirn.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span></p>
+
+<p>Dann atmete sie tief auf. Es war geschehen. —</p>
+
+<p>Nun stand sie auf der Höhe, und das Leben war
+ihr tributpflichtiger denn je. Nach der Sklavenrolle
+der ersten Ehe die Herrscherrolle der zweiten. Unumschränkte
+Freiheit, und die Gesellschaft ihr zu Füßen.
+Jetzt erst wollte sie das Leben erschöpfen, jetzt war sie
+erst ganz gerüstet, denn über ihr hing der Schild.</p>
+
+<p>»Meine liebe Bettina,« sagte der Prinz feierlich,
+»ich huldige als erster der Gräfin Bettina Wallberg.«</p>
+
+<p>»Ich danke dir, Georg. Die Gebieterin wird nicht
+allzu strenge sein.«</p>
+
+<p>Er steckte ihr einen reich gefaßten Brillantring an
+die Hand, und sie ließ es sich lachend gefallen, daß er
+alle Ringe, die sie trug, abzog und anprobierte, bis er
+sich für einen Rubin entschied.</p>
+
+<p>»Das ist Herzblut,« erklärte er, »dein rotes, feuriges
+Herzblut.«</p>
+
+<p>Sie schloß die Augen und dachte an ihr rotes,
+feuriges Herzblut — —</p>
+
+<p>»Wie schön du bist. Ich habe weder in Paris, noch
+in Nizza eine wundervollere Toilette gesehen. Was
+brauchst du mich eigentlich? Du bist ja die geborene
+Prinzessin.«</p>
+
+<p>Dann begann er, ihr seine Pläne zu entwerfen.
+Keine lange, offizielle Verlobung. Die Vermählung
+heute in vier Wochen. Nur so viel Zeit, um die notwendigen
+Reisevorbereitungen zu treffen. Dann eine
+mehrmonatliche Reise durch den Orient: Bukarest, Sofia,
+Konstantinopel, Alexandria, wohin und so weit sie wünsche.
+Seine intimen Beziehungen reichten an alle Höfe und
+Vizehöfe. Sie würden überall der glänzendsten<span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span>
+Aufnahme gewiß sein können, und überall würde sie die
+Herzen besiegen.</p>
+
+<p>Sie lauschte gern seinen weltmännischen Plaudereien.
+Eine schmeichelnde Vorahnung unzähliger Triumphe zog
+durch ihre Seele und gab ihr ein erhöhtes Selbstgefühl
+...</p>
+
+<p>Leben, leben — auf den Höhen! — —</p>
+
+<p>Draußen erscholl kurz und fest die Korridorklingel.</p>
+
+<p>»Ah, wir werden gestört,« meinte der Prinz bedauernd
+und horchte auf.</p>
+
+<p>Auch Bettina war zusammengeschreckt. Sie kannte
+diese Art des Klingelns.</p>
+
+<p>»Ich bin für niemand daheim,« murmelte sie zornig.
+»Ich habe ihm doch untersagt — —« Aber das Mädchen
+hatte keinen dahinlautenden Befehl. Zumal bei
+Herrn Doktor Steinherr wußte sie, daß eine zeremonielle
+Anfrage, ob gnädige Frau den Besuch anzunehmen gedenke,
+außer Betracht stand.</p>
+
+<p>Hans Steinherr wechselte auf dem Korridor ein
+paar Worte mit dem Mädchen, darauf öffnete dieses
+die Salontür nach leichtem Anklopfen und meldete gewohnheitsgemäß
+den täglichen Besucher: »Herr Doktor
+Steinherr, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>Frau Bettina blieb ruhig sitzen, und der Prinz verhielt
+sich nach ihrem Vorbild ebenfalls reserviert.</p>
+
+<p>Hans Steinherr trat ein. Seine Augen blitzten in
+der Erwartung eines lachenden, überraschten Willkommens.
+Er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten
+daheim, der vergangene Abend mit seiner verweinten
+Seligkeit und den rätselhaften, springenden Gefühlsstimmungen
+lastete ihm auf der Seele. Wenigstens<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span>
+sehen wollte er Bettina und ihr den Beweis liefern, daß er
+ihretwegen selbst die langweiligste Gesellschaft gern ertrüge.</p>
+
+<p>Mit lässiger Handbewegung stellte Bettina vor.</p>
+
+<p>»Herr Doktor Steinherr — Seine Hoheit Prinz
+Georg.«</p>
+
+<p>Der Prinz machte eine höfliche Verbeugung und
+nahm seinen Platz wieder ein. Hans Steinherr stand
+noch immer. Vergaß man vor der hohen Ehre, einem
+Prinzen von Geblüt das Gastrecht zu erweisen, ihm,
+der sich als Herr der Gastgeberin dünkte, einen Stuhl
+anzubieten?</p>
+
+<p>»Was führt Sie her, lieber Herr Doktor? Ein
+neuer literarischer Plan? — Ich bin nämlich die Egeria
+dieses großen Dichters und bilde mir nicht wenig darauf
+ein,« wandte sie sich lächelnd an den Prinzen. »Hoheit
+haben allen Grund, auf der Stelle eifersüchtig zu
+werden.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr trat einen Schritt näher. Mit
+festem, zwingendem Blick sah er Bettina an, und auf
+seiner bleichen Stirn trat eine schwere, dunkle Ader
+hervor.</p>
+
+<p>»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor,« sagte
+die schöne Frau hastig, »daß ich Sie nicht zum Niedersitzen
+einlade. Aber ich mußte, so schwer es mir wurde
+und entgegen allem Gastrecht, Hoheit bereits meinen
+leidenden Zustand erklären und ihn bitten, seinen Besuch
+morgen zu meinem Mittwochabend zu wiederholen. In
+meinem Schlafzimmer wartet das Migräninpulver, meine
+Herren.«</p>
+
+<p>Der Prinz verstand und erhob sich sofort. »Möge
+Ihnen eine angenehme Ruhe und ein heiteres Erwachen<span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span>
+beschieden sein, meine Gnädige,« und er küßte ihr, abschiednehmend,
+die Hand, dicht unter dem Verlobungsring.</p>
+
+<p>Sie bemerkte seine Galanterie und gab es ihm durch
+einen leisen Druck der Fingerspitzen zu verstehen.</p>
+
+<p>»Gute Nacht, Herr Doktor, auf morgen also! Ich
+rechne bestimmt auf Sie. Weil Sie heute zu kurz gekommen
+sind, dürfen Sie morgen eine Stunde früher
+erscheinen.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr verbeugte sich kalt. Er war überhaupt
+nicht zum Reden zugelassen worden.</p>
+
+<p>Auf der Straße zogen die Herren die Hüte. Der
+Prinz winkte eine Droschke heran und ließ sich zu einem
+Theater fahren. Für den Klub, in dem er einst Stammgast
+gewesen war, war es ihm noch zu früh. Hans
+Steinherr wanderte planlos weiter.</p>
+
+<p>Was war das? dachte er immer wieder, was war
+das? Das war doch eine Komödie, eine ganz richtige
+Komödie! Oder — auch früher schon? — Wie? Was?
+— Er fühlte sich total überrumpelt. Er fand sich nicht
+zurecht. Wofür hatte sie sich so geschmückt? Das fiel
+ihm nachträglich ein. Dann versagte das Gehirn den
+Dienst, und es war ihm so sonderbar angenehm, nicht
+mehr denken zu können. Nur der frivole Heinesche
+Vers zog ihm kreuz und quer durch den Sinn, und er
+konnte ihn nicht abschütteln:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Um sechse des Morgens ward er gehenkt,</div>
+ <div class="verse indent0">Sie aber schon um achte</div>
+ <div class="verse indent0">Trank roten Wein und lachte.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-316.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Viertes_Kapitel_Buch_2">Viertes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Hans Steinherr war zu einem Entschluß gekommen.
+Als er am Spätnachmittag des nächsten Tages den
+Frack anzog, wußte er, daß der Abend die Entscheidung
+bringen müsse. Heute noch würde seine Verlobung mit
+Frau Bettina erklärt werden, oder — er machte mit Fassung
+seine Abschiedsverbeugung. Auf seinem Schreibtisch
+prangte eine große Photographie Bettinas. Sie zeigte
+den von der dunklen Haarwelle gekrönten Kopf im
+Profil, die klassischen Schultern und den weißen, schlanken
+Nacken, der von mattfarbener Seide wirksam umsäumt
+war. Er sah das Bild prüfend, finster an; wie einen
+Gegner, mit dem er heute noch die Klinge kreuzen
+müsse.</p>
+
+<p>»Schöne Frau,« sagte er, »jetzt gilt’s. Zeig, daß
+du Seele hast, oder du bist verloren.«</p>
+
+<p>Dann drehte er das Bild herum.</p>
+
+<p>»Erst die Berechtigung nachweisen, daß du hier
+stehst, sonst könnte ich ja das Zimmer mit Bildern
+tapezieren.«</p>
+
+<p>Eine Röte stieg ihm in die Schläfen.</p>
+
+<p>Was für unwürdigen Zweifeln gab er Raum! Er
+verstand sich nicht, daß er von der Frau, mit der er
+im Begriff stand, seinen Namen zu teilen, auch nur<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span>
+vorübergehend anders denken konnte als in der höchsten
+Wertbemessung. Sie hatte Kapricen. Welche Frau von
+Welt hatte die nicht! War er doch selbst in diesem
+Winter nervös geworden und hatte sich doch Jahre hindurch
+in kalter Selbstüberwindung geübt.</p>
+
+<p>Draußen auf dem Korridor wurden Stimmen laut.
+Es wurde nach ihm gefragt, und die Wirtschafterin gab
+Auskunft. Da vergaß er, das Bild wieder umzudrehen
+und wandte sich nach der Hausbesorgerin, die eingetreten
+war.</p>
+
+<p>»Ein Herr möchte Sie sprechen, Herr Doktor. Er
+sagt, er wär’ ein Landsmann.«</p>
+
+<p>»Wie heißt der Herr? — Sie wissen es nicht? —
+Nein, Sie brauchen nicht zum zweiten Male zu fragen.
+Lassen Sie den Herrn eintreten.«</p>
+
+<p>Gespannt blickte er nach der Tür. Sonderbar, daß
+sich just in diesem Augenblick die Heimat melden mußte.</p>
+
+<p>»Guten Tag, Steinherr; ’n Tag, ’n Tag! Jesses,
+Jüngsken, dich hätt’ ich bereits nich widdererkannt.
+Süch ens, wer da vor dir steht? Donnerlütsch, er hat
+kein’ Ahnung mehr vom Willibald Hüsgen am Wehrhahn.«</p>
+
+<p>»Hüsgen —?« fragte Steinherr überrascht. »Wahrhaftig,
+an dich hätt’ ich zuletzt gedacht. Nichts für
+ungut. Es freut mich doch, daß du mich aufgesucht
+hast. Sei willkommen!«</p>
+
+<p>»Na, wenn et dich nur freut,« meinte der Gast und
+schüttelte die dargebotene Hand, »dat is die Hauptsach’.«</p>
+
+<p>»Nimm Platz, ich steh’ zwar, wie du an meinem
+Frack siehst, auf dem Sprunge, auszugehen, aber auf
+ein paar Minuten langt’s immer noch. Du besuchst
+mich dann in den nächsten Tagen wieder.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span></p>
+
+<p>»Och, Steinherr, laß doch heut die Gesellschaft schießen.
+Ich hatt’ grad Lust, mit dir so’n bißchen ’rumzukneipen.«</p>
+
+<p>»Das läßt sich heute leider nicht machen,« versetzte
+Steinherr höflich. »Ich habe sogar fest zugesagt, schon
+vor dem Beginn der Abendgesellschaft zu erscheinen.«</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen überlegte. Er hatte sich einen schönen
+Rubensbart wachsen lassen, den er zärtlich streichelte.</p>
+
+<p>»Du hast vielleicht gehört, Steinherr,« begann er
+mit offenem Selbstbewußtsein, »daß ich fix in die Höhe
+gekommen bin. Wir haben da in Düsseldorf ein bißchen
+revolutioniert. Die Herren Malermeister schliefen ja
+alle auf die Dauer ein; Gehirnschwund, Farbenblindheit,
+Verblödung. Die betrieben das Geschäft zuletzt
+rein fabrikmäßig und schmierten ihre Sächelchen nach
+dem Quadratfuß. Sie wünschen, mein Herr? Eine
+Düsseldorfer Landschaft? Ein zartes Genrebildchen?
+Ein derbes? Bitte, nehmen Sie Platz. Sie werden
+auf der Stelle rasiert. So, bitte, frisch von der Pfanne,
+gleich mitzunehmen, wie beim Kirmeßphotographen.
+Was es kostet? Fester Düsseldorfer Preis. Aber bestellen
+Sie doch ein Pendant dazu! Pendants, das ist
+das Feinste. Links vom Sofa, rechts vom Sofa. Heilig’
+Mutterjottes, ich krieg’ Leibschmerzen!«</p>
+
+<p>»Setz dich doch, Hüsgen!« sagte Steinherr lachend.
+Die heimatlichen Klänge regten ihn zu einer längst entwöhnten,
+heiteren Stimmung an. Wie lange hatte er
+solch eine Plauderstunde vermißt!</p>
+
+<p>»Du,« meinte Hüsgen und ließ sich gemütlich nieder,
+»das Leitungswasser, hab’ ich mir sagen lassen, wär’
+bei euch in Berlin gar nicht zu genießen. Schade.«</p>
+
+<p>»Ach so,« fiel Steinherr ein, »du kommst ja vom<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span>
+Rhein. Da läßt sich natürlich eine Unterhaltung nicht
+anders als zwischen den Gläsern denken.«</p>
+
+<p>»Zu allen Tages- und Nachtstunden,« erklärte Hüsgen.
+»Die Zeiteinteilung ist Menschenmachwerk. So was
+muß überwunden werden. Ah, das nenn’ ich doch eine
+Blume. Prosit! Es lebe der freie Geist!«</p>
+
+<p>Sie taten sich mit einem Glase Rheinwein Bescheid,
+und Hüsgen nahm sofort den Faden wieder auf: »Ja,
+alter Junge, den Umwandlungsprozeß in Düsseldorf
+hast du nicht mitgemacht. Ihr hier draußen lebt in der
+Einbildung, in Düsseldorf liefe noch alles im alten,
+verschlafenen Trott. Schneidet euch nur nicht! Da ist
+Leben in die Bude gekommen; über Nacht, sag’ ich dir.
+Aus der alten ›Lätitia‹, dem ›Tartarus‹, dem ›Baldur‹
+sind Maler hervorgegangen, Maler — na, mit einem
+Wort — Kerle! Ich bin nämlich, als die Gaudeamusbrüder
+sich in Wohlgefallen auflösten, weil mein Alter
+den Bierverlust nicht mehr tragen wollte und ein anderer
+Dummer mit dem Laternchen nicht zu finden war, in
+die ›Lätitia‹ eingetreten. Kurz, ich sag’ dir, die in
+Düsseldorf wissen jetzt, was sie wollen! Der Fink hat
+wieder Samen! Das neue Jahrhundert wird die Leute
+wieder an der Spitze sehen. Darauf kannst du kommunizieren
+gehen.«</p>
+
+<p>»Das freut mich, zu hören. Es war aber auch
+Zeit geworden. Und du stehst also mit an der Spitze?«</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen verbeugte sich nur.</p>
+
+<p>»Ich hab’ ein paar Riesenfetzen verkauft. Landschaften,
+aber ordentlich mit Erdgeruch. Weißt du,
+Landschaften, das ist heute nämlich das einzige. Früher,
+da schrie die bornierte Gesellschaft gleich: ›Dat is ja<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span>
+gar kein Möler, dat is ja nur en Landschafter!‹ Jawoll,
+un dann kam dat Echo von draußen: ›Seht ens,
+dat is Düsseldorfer Figurenmalerei. Dat sind Bilderbogen
+nach Zeichenvorlagen!‹ Zum scheckig lachen!«</p>
+
+<p>»Also, du hast Erfolg,« sagte Steinherr und erhob
+sich. »Ich gratuliere herzlich. Und nun sei nicht bös,
+daß ich dich nicht länger hierhalten kann. Gerade heute
+abend darf ich nicht fehlen.«</p>
+
+<p>»Ja,« meinte Hüsgen und schlürfte langsam sein
+Glas aus, »wenn sich das nun mal nicht anders einrichten
+läßt? Ich bin nur auf ein paar Tage hier,
+wegen meiner Ausstellung bei Schulte. Und eben für
+heut hatt’ ich dir noch eine Masse zu erzählen. Du,«
+fragte er plötzlich mit echter Hüsgenscher Unverfrorenheit,
+»kannst du mich denn nicht in die Gesellschaft einführen?«</p>
+
+<p>»Heute geht’s schlecht,« sagte Steinherr reserviert.
+»Es ist ein Prinz da, den ich selbst nicht kenne.«</p>
+
+<p>»Ein Prinz?« wiederholte Hüsgen wegwerfend. »Die
+sind, wenn’s ans Bilderbezahlen geht, akkurat wie andere
+Menschen. Wie heißt er denn? Vielleicht kenn’ ich ihn.«</p>
+
+<p>»Prinz Georg von Dingsda. Irgend eine Seitenlinie.«</p>
+
+<p>»Na natürlich kenn’ ich den. Der stand doch mal
+ein Jahr in Düsseldorf. Und trinken konnt’ der! Ich
+hab’ ihn mal aus dem ›Malkasten‹ nach Hause geschleppt,
+und zum Dank durft’ ich ihm gänzlich gratis seine
+Gäule malen. Drunter tat er’s nicht. Als kleines Erinnerungszeichen
+an die große, denkwürdige Stunde.
+Du, nimm mich mit; ich muß doch meinen edlen Mäcen
+begrüßen.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr lachte. Auch er hätte gern mit dem<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span>
+einstigen Kameraden noch geschwatzt. Wenn er den
+Menschen ansah, wenn er ihn sprechen hörte, wurden
+hundert alte Bilder in ihm lebendig. Die Proben im
+Hüsgenschen Hause, Francesca von Rimini, Hannes —
+Und die Fragen brannten ihm auf den Lippen.</p>
+
+<p>»Höre, ich muß vorausfahren. Aber ich werde dich
+anmelden. Ich glaube, ich darf mir in dem Hause eine
+Einführung wohl gestatten. Wo wohnst du? Am Potsdamer
+Platz? Dann steig schnell mit in meine Droschke,
+ich setz’ dich vor der Tür ab, du ziehst den Frack an
+und kommst nach, und ich werde durch den Tiergarten
+hinfahren. Die Adresse geb’ ich dir. Nun aber eilt es.«</p>
+
+<p>Auf der kurzen Strecke zwischen Potsdamerbrücke und
+Potsdamerplatz kramte Hüsgen schnell noch seine größte
+Neuigkeit aus.</p>
+
+<p>»Was sagst du denn zu unserem Hannes? Das ist
+eine Karrière, was? Die verdient das Geld gleich
+scheffelweis, stellt sich hin, singt ein paar Lieder und
+trägt die dicken Kuverts auf die Bank. Wenn ich bedenke,
+daß ich das Mädel mal heiraten gewollt hab’ ...
+Nee, nee, das ist kein Spaß von mir. Damals wollt’
+ich mich tatsächlich herbeilassen. Ich hatte nur noch
+nicht das dienstmäßige Alter. Und dann standest du
+mir in der Quere. Das war wirklich nicht hübsch von
+dir, Steinherr, denn du hattest doch keine ernsthaften
+Absichten. Na, ich war nicht schlecht wütend auf dich.
+Einmal hab’ ich sogar an deinen Alten geschrieben,
+aber anonym natürlich, das war ja nicht so schlimm.
+Gott, als Jung’ ist man ja immer ein Stück Halunke,
+besonders in dem eifersüchtigen Stadium, und du bist
+ja längst über so was ’raus.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span></p>
+
+<p>»Wie hast du denn nur meine Adresse erfahren?« lenkte
+Steinherr ab. Das Thema war ihm gerade jetzt unbequem.</p>
+
+<p>»Deine Adresse? Springe ist doch hier. Kam heute
+mit mir zusammen an. Jesses, er will dich ja vor sieben
+Uhr besuchen. Der Hannes ist von London gekommen
+und singt heute abend in der Philharmonie, wo der
+Nikisch dirigiert. Oder ist es der Weingartner?«</p>
+
+<p>Der Wagen hielt vor dem Hotel, und Hüsgen, der
+in seiner derben Selbstsucht Angst verspürte, die Gesellschaft
+mit dem Prinzen könnte ihm verloren gehen,
+sprang schnell aus dem Fonds und rief dem Jugendfreunde
+zu: »Das erzähl’ ich dir nachher alles ausführlich.
+Wohin soll der Kutscher?«</p>
+
+<p>»Kurfürstendamm.« Steinherr nannte zerstreut
+Namen und Nummer.</p>
+
+<p>»Auf Wiedersehen. In einer Stunde meld’ ich mich
+zur Stelle.«</p>
+
+<p>Steinherr wollte ihn zurückhalten. Da fiel sein
+Blick auf die Bahnhofsuhr. Sechs vorbei. Er gab
+dem Kutscher einen Wink und lehnte sich, von einer
+plötzlichen unerklärlichen Müdigkeit befallen, tief in die
+Polster des Wagens zurück. Hannes in Berlin, mit
+ihm in derselben Stadt — —</p>
+
+<p>Er sah die Straßen nicht, durch die der Wagen
+rollte. Er sah nur immer Bilder aus dem alten, einstigen
+Düsseldorf vor sich. Wanderungen durch den
+stillen Hofgarten, Wanderungen über die Rheinbrücke,
+Wanderungen nach all den kleinen altertümlichen Städtchen,
+Neuß, Zons, Kaiserswerth, über die der Zauber
+geschichtlicher Romantik lag, und Benrath, das für ihn
+den Zauber der Liebesidylle gezeitigt hatte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span></p>
+
+<p>War er wirklich einmal so jung, so selig verschwärmt,
+so trunken verliebt gewesen, daß er nicht anders gekonnt
+hatte, als seine Liebe durch die Natur zu führen, um
+seine innere Glückseligkeit mit der Umgebung in Einklang
+zu bringen? Und — er besann sich — so stark,
+so stolz, so lebensfreudig hatte er sich dazumal gefühlt,
+als er die Welt erobern wollte. Die Welt in einem
+süßen, milden, hingebungsvollen Mädchen. Und die
+Welt überhaupt! Er, der Sieger ...</p>
+
+<p>Der Wagen hielt vor Frau Bettinas Haus, und
+Steinherr fuhr hastig empor.</p>
+
+<p>Richtig, er war am Platz. Hier war ein Feld, Beweise
+anzutreten. Also heraus doch mit der jugend-trotzigen
+niederrheinischen Siegernatur, falls sie nicht
+vorzeitig vom Alter gestreift war wie ihr einstiger Besitzer!</p>
+
+<p>Er biß die Zähne aufeinander und ging ins Haus.</p>
+
+<p>Frau Bettina befand sich noch in ihrem kleinen
+Privatsalon, aber das Mädchen hatte Auftrag, Herrn
+Doktor Steinherr unverzüglich zu ihr einzuführen. Die
+Dame des Hauses erhob sich und kam ihm entgegen.</p>
+
+<p>»Du hast dir heute Zeit gelassen, lieber Freund.
+Ich erwarte dich seit einer halben Stunde, und dringender
+als je.«</p>
+
+<p>»Ich bitte um Entschuldigung. Ein Schulfreund
+suchte mich in dem Moment auf, in dem ich gehen wollte;
+ein junger, erfolgreicher Maler aus Düsseldorf, der
+augenblicklich eine Ausstellung bei Schulte hat. Hoffentlich
+hast du nichts dagegen, daß er heute abend hier
+erscheint. Ich wußte ihn nicht anders loszuwerden.«</p>
+
+<p>»Aber heute abend gerade —« machte sie, sichtlich
+unangenehm überrascht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span></p>
+
+<p>»Du meinst, weil sich Hoheit angesagt hat?« Und
+mit leiser, ironischer Färbung fuhr er fort: »Das trifft
+sich im Gegenteil sehr gut, der Prinz Georg war während
+seiner Düsseldorfer Zeit der Mäcen des jungen
+Künstlers.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn ungewiß an. Dann nickte sie, daß die
+Angelegenheit nunmehr erledigt sei.</p>
+
+<p>»Mein lieber Hans, wenn du den Namen des
+Prinzen nennst, ist mir, als ob es mit einem gewissen
+Sarkasmus geschehe. Das hör’ ich nicht gern.«</p>
+
+<p>»O — ich konnte nicht ahnen, daß dir der Mann
+so interessant wäre. Übrigens, wir wollen uns nicht
+zanken.«</p>
+
+<p>»Gewiß nicht. Ich wollte dir auch nur die Bitte
+vortragen, einige Rücksicht auf mich zu nehmen.«</p>
+
+<p>Er sah stutzig zu ihr hin.</p>
+
+<p>»Sollte ich in der Tat so weit heruntergekommen
+sein, daß ich es an — Rücksichtnahme fehlen ließe?«</p>
+
+<p>»Gebrauche doch nicht immer gleich die stärksten
+Ausdrücke. Es greift dich doch niemand an.«</p>
+
+<p>»Mir war, als ob ich einen Vorwurf zu hören bekäme.
+Oder — verzeihe — sollte es sich um — um
+eine Art Vorbereitung handeln?«</p>
+
+<p>»Das ist ein Angriff auf mich,« fuhr sie auf. »Jetzt
+ersuche ich dich, dich deutlicher zu erklären.«</p>
+
+<p>»Deutlicher — —. Das ist so ein vages Gefühl.
+Seit einiger Zeit tritt es auf, seitdem du so rätselhaft
+weich geworden bist. Aber das ist ja unsinnig, rein
+unsinnig. Verliebte sehen Gespenster.«</p>
+
+<p>Er zwang sich zu einem Lächeln und trat auf sie zu.</p>
+
+<p>»Guten Tag, Bettina. In dem Eifer, uns<span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span>
+Liebenswürdigkeiten zu sagen, haben wir richtig vergessen, uns
+zu begrüßen.«</p>
+
+<p>Sie beugte den Kopf und hielt ihm die Stirn hin.
+Da legte er ihr leicht die Hand unter das Kinn und
+bog ihren Kopf zurück. Und als sie die Wimper, die
+sie unmutig gesenkt hielt, endlich hob, traf ihr unvorbereiteter
+Blick in seine tiefgrauen, strahlenden Augensterne,
+und um seinen Mund gewahrte sie den alten,
+spöttischen Zug, der sie einst angetrieben hatte, den Einsamkeitsmenschen
+auf besondere Qualitäten zu erforschen.
+Sie hatte mehr als besondere Qualitäten, sie hatte den
+<em class="gesperrt">Mann</em> gefunden.</p>
+
+<p>Ihre Augen weiteten sich unter seinem Blick, ihre
+Brust schwoll unter einem tiefen Seufzer —</p>
+
+<p>— — Den Mann gefunden — —!</p>
+
+<p>Und unwillkürlich hob sie sich in seiner Umarmung
+auf die Fußspitzen und schob ihre Stirn an seine Wange
+hinauf.</p>
+
+<p>Mit weicher Hand strich sie ihm ein Haarsträhnchen
+aus der Stirn und streichelte sein Gesicht. »Mein
+ganzes Dasein wird darin bestehen, dir Opfer zu
+bringen.«</p>
+
+<p>»Also endlich hast du dich entschlossen? Endlich,
+Bettina?«</p>
+
+<p>»Zu was, was du nicht längst schon wüßtest. Ich
+hab’ dich lieb. Verstehst du das? Lieb, lieb, lieb!
+Viel zu lieb, als daß ich dich heiraten möchte.«</p>
+
+<p>»Ach — scherze jetzt nicht, Bettina!«</p>
+
+<p>»Scherzen? Wer spricht von scherzen? Ich war
+noch nie so ernst wie jetzt. Wollte ich die Unklugheit
+begehen, dich zu heiraten, so wäre sowohl der Nimbus<span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span>
+hin, der mich, wie der, der dich umgibt. Binnen kurzem
+hätten wir die Zahl der alltäglichen Ehepaare um eins
+vergrößert.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr staunte die Frau an, die mit ihm
+sprach. Hatte er recht gehört?</p>
+
+<p>»Du, Bettina, du verwechselst die Personen. Ich
+bin’s — ich.«</p>
+
+<p>»O, ich bin durchaus bei der Sache. Ich habe alles
+hundertmal, tausendmal überlegt und bitte dich nur
+darum, ruhig, ganz ruhig zu bleiben. Was glaubst
+du, was es heißt, wenn eine Frau wie ich dir sagt:
+Mein Dasein wird nur darin bestehen, dir Opfer zu
+bringen?«</p>
+
+<p>»Ich lasse nur eine Deutung zu. Ist die falsch, so
+verzicht’ ich auf eine andere.«</p>
+
+<p>»Das ist Hartnäckigkeit; nicht das, was ich Liebe
+nenne. Liebe aber ist für mich Leidenschaft; du kennst
+meine Natur. Und Leidenschaft, die nach acht Tagen
+in Schlafrock und Pantoffeln herumläuft — geh fort,
+das ist dir ja selber lächerlich. Menschen wie wir haben
+eine schärfere Luft zum Gedeihen nötig.«</p>
+
+<p>»Du sprichst nur immer von uns beiden. Irr’ ich
+mich, oder geschieht das, um den ehrenwerten Dritten
+zu cachieren?«</p>
+
+<p>»Uns soll doch eine bloße Form keine Skrupel
+machen? Ich behalte mir in meiner Ehe jede Freiheit
+vor und lasse sie meinem Gatten nicht weniger. Ich
+kann mich nicht zum zweiten Male fesseln lassen.«</p>
+
+<p>Hans trat zurück, totenblaß, aber er verbeugte sich.</p>
+
+<p>»Dann bleibt mir also nichts, als meinen allerergebensten
+Glückwunsch abzustatten. Der Name ist bei<span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span>
+den hochfliegenden Plänen der gnädigen Frau ja nicht
+schwer zu erraten.«</p>
+
+<p>»Es ist der Prinz,« sagte sie ruhig. »Du brauchst
+über diese Wahl wahrhaftig nicht betrübt zu sein.«</p>
+
+<p>»Es wäre unstatthaft für mich, wollte ich deinen
+— Pardon, Ihren zukünftigen Gatten mit meinen Gefühlen
+in Zusammenhang bringen. Das würde eine
+Geschmacklosigkeit bedeuten — und den guten Geschmack
+möchte ich mir doch bewahren.«</p>
+
+<p>Sie sah es ihm an, daß er trotz der eisigen Kälte,
+die er jetzt zur Schau trug, erregt war bis ins Innerste,
+daß ein beständiges Zittern durch seinen Körper lief,
+daß er sich mit der letzten Gewalt beherrschte.</p>
+
+<p>»Hans,« stieß sie hervor, »was will ich denn?
+Deinen Ehrgeiz befriedigen und meinen Ehrgeiz befriedigen.
+Wir brauchen hier nichts zu beschönigen.
+Du sollst berühmt werden, und ich will beneidet sein.«</p>
+
+<p>»Ah —« sagte er gedehnt, »du meinst: man beneidet
+eine Frau nicht um den Mann, sondern um den
+Liebhaber.«</p>
+
+<p>»Nenn es, wie du magst. Das sind Worte. Ich
+will das Glück und die Liebe auf meine Weise.«</p>
+
+<p>»Meine gnädige Frau, bei uns am Niederrhein
+pflegt man aus der Liebsten eine Frau, nicht aber aus
+dem Liebsten einen Geliebten zu machen. Wenn das in
+diesem Kreise hier nur Worte sind — ich habe ihnen
+nichts hinzuzufügen.«</p>
+
+<p>Die Muskeln in seinem Gesicht arbeiteten. Er bewegte
+die Hand, als wollte er etwas Widerwärtiges
+beiseite schieben.</p>
+
+<p>Da flammte es in ihr auf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span></p>
+
+<p>»So behandelt man mich nicht!« rief sie und trat
+ihm dicht unter die Augen. »Ich habe mehr an dir
+getan, als du zu wissen scheinst. Ich habe dich bekannt
+gemacht, und mehr als das, ich habe dich interessant
+gemacht, dir einen Nimbus in dieser sensationssüchtigen
+Welt gegeben, selbst auf die Gefahr meiner eigenen
+Persönlichkeit hin, nur um dich über alle hinaussteigen
+zu sehen.«</p>
+
+<p>»Für dich oder für mich?« fragte er mit offenem
+Hohn.</p>
+
+<p>»Nun ja, für mich! Tausendmal ja, für mich!
+Aber dir ist es zu gute gekommen. Und dafür rechne
+ich auf Dank, auf Ergebenheit. Ich kann und will dich
+nicht mehr lassen, und du, du — denke nur mit einem
+einzigen Gedanken daran, mich beiseite zu schieben. Du
+solltest sehen, was ich vermag. Wenn ich dich berühmt
+gemacht habe, ich kann dich auch —«</p>
+
+<p>Hans Steinherr sah die rasende Frau von oben bis
+unten an. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum.</p>
+
+<p>»Du,« rief sie außer sich und faßte nach seinen
+Schultern, »das ist eine Behandlung, wie du sie deinem
+rheinischen Allerweltsmädel zu teil werden lassen kannst,
+mir nicht, mir nicht!«</p>
+
+<p>Er hatte sich blitzschnell umgewandt und sie bei den
+Handgelenken ergriffen.</p>
+
+<p>Kein Wort sprach er, aber er preßte ihre Gelenke,
+daß sie zusammenzuckte.</p>
+
+<p>»Hans,« weinte sie leise, »sei doch gut, sei doch gut.
+Wenn ich dich nicht so wahnsinnig liebte —«</p>
+
+<p>»Schäme dich,« sagte er kaum hörbar und ließ sie
+los. »Arme, betrogene Frau ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span></p>
+
+<p>Und plötzlich war ihm, als ob er selbst schon einmal
+in einer ähnlichen Situation gestanden hätte. Er als
+der Betrogene, der sich selbst Betrügende.</p>
+
+<p>»Es wiederholt sich alles im Leben,« murmelte er,
+»nur der Verlierende wechselt.«</p>
+
+<p>»Hans —« versuchte sie noch einmal.</p>
+
+<p>»Still, man kommt.«</p>
+
+<p>Frau Bettina richtete sich auf und fuhr sich mit dem
+Tuch über das verstörte Gesicht.</p>
+
+<p>»Du darfst jetzt nicht gehen. Nicht sofort. Das
+gäbe Aufsehen. Versprich es mir.«</p>
+
+<p>»Gut, gut. Hab’ ich so lang’ Komödie gespielt, halt’
+ich es auch noch eine halbe Stunde länger aus.«</p>
+
+<p>»Ich werde dich wiedersehen.«</p>
+
+<p>»Das wirst du nicht.«</p>
+
+<p>Das Mädchen meldete, soeben sei Seine Hoheit erschienen.
+Die Gäste wären vollzählig. Auch ein fremder
+Herr schicke der gnädigen Frau seine Karte herein mit
+einer Empfehlung des Herrn Doktor.</p>
+
+<p>»Ihren Arm, Herr Doktor ...«</p>
+
+<p>In seinen Augen flackerte es, als er die Dame des
+Hauses in den Salon führte. Seine Haltung war noch
+aufrechter als sonst, seine Miene kalt und abweisend
+wie meist. Aber es war ihm, als ob er ohne zu atmen,
+ohne atmen zu können einherginge, und dieses Gefühl
+verursachte ihm direkt körperlichen Schmerz. Er führte
+seine Begleiterin, ohne sich bei den Gästen aufzuhalten,
+geradeswegs auf den Prinzen zu, der im selben Augenblick
+den Salon betrat.</p>
+
+<p>Frau Bettinas Hand zitterte auf seinem Arm. Wollte
+er einen Eklat herbeiführen?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span></p>
+
+<p>Doch als sie den Prinzen erreicht hatten, trat Steinherr
+mit kurzer Verbeugung wortlos zurück.</p>
+
+<p>Da fand auch sie ihre Selbstbeherrschung, und sie
+reichte dem Prinzen lächelnd die Hand, die er an die
+Lippen führte.</p>
+
+<p>»O —« sagte er bedauernd und nahm auch die
+andere Hand auf, »rote Streifen an den süßen Gelenken?«</p>
+
+<p>»Ich habe Armbänder anprobiert, Hoheit, aber sie
+wollten nicht passen. Darf ich Ihnen die Herrschaften
+bekannt machen?«</p>
+
+<p>Frau Bettina war an diesem Abend eine besonders
+entzückende Wirtin. Für jeden ihrer Gäste hatte sie ein
+freundliches Wort bei der Hand, das dem Prinzen die
+künstlerische oder gesellschaftliche Bedeutung des Vorgestellten
+schmückend erklärte, und ihre Augen strahlten
+heller, als sie sich von den bewundernden Blicken ihrer
+Freunde verfolgt sah. Sie las darin den offenkundigen
+Drang, ihr heute noch die Glückwünsche der Intimen
+darbringen zu können, und sie quittierte mit einem geheimnisvollen
+Sinkenlassen der langen, dunklen Wimpern.
+Nun war ein jeder orientiert. Und gerade die stille Erregung,
+die sie in dem Kreise wahrnahm, gab ihrem
+Auftreten das Bewußtsein.</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen war der vielbeschäftigten Hausfrau
+kurz präsentiert und mit einem gnädigen Nicken
+bewillkommnet worden. Der Prinz hatte kaum Notiz
+von ihm genommen. Von einem Wiedererkennen konnte
+nicht die Rede sein.</p>
+
+<p>»Du,« flüsterte Hüsgen und stieß den wortkargen
+Steinherr in die Seite, »alles wat recht is: ene staatse
+Frau. Wär’ det nix für dich gewese?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span></p>
+
+<p>»Also Springe ist in Berlin?« fragte Steinherr
+zurück. Er fühlte, daß er sich zu jedem Worte Gewalt
+antun mußte.</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen aber war von dem eleganten
+Gesellschaftsbild viel zu sehr gefesselt, um aus der neuen
+Welt eine Exkursion in die altbackene zu unternehmen.</p>
+
+<p>»Weißt du,« sagte er, »hier muß mer sich bloß
+beliebt mache. Hier gucken einen die Aufträg’ förmlich
+aus jeder Ritz’ an. Ich werde Hoheit nachher mal
+so ’nen stillen Wink geben, von wegen der Düsseldorfer
+Bekanntschaft.«</p>
+
+<p>Dann sprach er ziemlich laut von seiner Ausstellung
+bei Schulte, um die Umstehenden darauf aufmerksam
+zu machen, daß auch er »wer sei«.</p>
+
+<p>Das wurde von der Gesellschaft nicht gerade angenehm
+empfunden. Man befleißigte sich heute mehr denn
+je, dem Zusammensein einen gewissen feierlichen Charakter
+zu verleihen, und die ungenierte Stimme des
+Düsseldorfer Malers, der sich etwas zu gute darauf zu
+tun schien, auch in seiner Ausdrucksweise durch Urwüchsigkeit
+zu verblüffen und aufzufallen, störte empfindlich
+das verbindliche, harmonische Zeremoniell.</p>
+
+<p>Es war an Frau Bettinas Abenden eine schöne
+Sitte, daß man zunächst dem Büfett im Speisezimmer
+zusprach und dann erst den Musik- und Diskutiersalon
+aufsuchte, um, angeregt durch die leibliche Stärkung,
+ausgiebiger den geistigen Genüssen sich hingeben zu
+können. Auch heute war das der Fall. Aber während
+der Büfettstunde wurde eifriger als gewöhnlich die Improvisation
+einer unmittelbar eingreifenden künstlerischen
+Veranstaltung besprochen. Man wünschte diesmal, das<span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span>
+gefüllte Glas in der Hand zu behalten, um für jeden
+Moment gewappnet zu sein.</p>
+
+<p>»Herr Doktor Steinherr, es gilt, Hoheit einen anregenden
+Abend zu verschaffen, und unserer strahlenden
+Hausfrau nicht minder. Bitte! Beginnen Sie mit einem
+stimmungmachenden Gedicht. — Sie haben zufällig nichts
+bei sich? Ach, das sagen die Herren Dichter immer,
+um sich den Hof machen zu lassen! Sehen Sie nur
+einmal gründlich nach, die Muse wird Ihnen bei ihrem
+letzten Besuch schon eine kleine Gabe zurückgelassen
+haben. — In der Tat nicht? Ja, dann hilft es Ihnen
+nichts, dann müssen Sie extemporieren.«</p>
+
+<p>Frau Bettina und der Prinz wurden um Hilfe angerufen.</p>
+
+<p>»Ah,« sagte der Prinz, »da steht uns ja ein seltener
+Genuß bevor. Sie würden mich wirklich verbinden,
+Herr Doktor. Ich bin gerade heute für Poesie besonders
+empfänglich.«</p>
+
+<p>Über Bettinas Gesicht glitt ein seltsames Scheinen.
+Der Augenblick war da, den gegen den Stachel Lökenden
+wieder zur Raison zu bringen. War er zu bewegen,
+den Abend verherrlichen zu helfen, so war die Grundlage
+für ein späteres Wiederzusammenfinden dennoch
+geschaffen. Ein Gedicht, jetzt, zum festlichen Abend, das
+der Eigenschaft gerade dieses Abends irgendwie Rechnung
+trug, und er entäußerte sich damit seines beleidigten
+Stolzes und erkannte, wenn auch heute noch unter einem
+Zwange, ihre Wünsche und Pläne an.</p>
+
+<p>Gespannt blickte sie zu ihm auf, ihre Hand im Arme
+des Prinzen.</p>
+
+<p>»Fehlt Ihrer Harfe,« sagte sie, um ihn zu reizen,
+»die Saite, auf der die Töne des Glückes erklingen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span></p>
+
+<p>»Ja,« fiel der Prinz lebhaft ein, »preisen Sie die
+Liebe. Ich höre, Sie sind der Berufenste.«</p>
+
+<p>Um Hans Steinherrs Lippen zuckte es sarkastisch.
+Hoheit hatte unbewußt ein böses Gleichnis gebraucht.</p>
+
+<p>Auch Frau Bettina hatte die Wimpern gesenkt und
+blickte starr auf einen Punkt.</p>
+
+<p>Vom Musikzimmer her erschallten die Töne des
+Steinways. Ein berühmter Klaviervirtuose spielte
+meisterlich das Liebeslied aus der Walküre:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Winterstürme wichen dem Wonnemond ...«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Als er geendet hatte, grüßte Steinherr, äußerlich
+unbewegt, die Hausfrau. Und mit einer Stimme, deren
+Kälte und Gelassenheit in seltsamem Gegensatz zu dem
+nervösen Wesen Bettinas stand, sagte er nur: »Ich bitte
+um Urlaub. Soeben höre ich von Freund Hüsgen, daß
+liebe Düsseldorfer Freunde mich noch erwarten. Mit Ihrer
+gütigen Erlaubnis, meine gnädige Frau. Sie wissen, die
+Heimat hat ihre Rechte. Nochmals: ich bitte um Urlaub.«</p>
+
+<p>Er war gegangen, aber eine drückende Stille war
+geblieben.</p>
+
+<p>Da glaubte Willibald Hüsgen sich zum Retter der
+Situation aufwerfen zu müssen, und er hob schnell sein
+Glas, das er nicht aus der Hand gelassen hatte. »Pröstchen,
+gnädige Frau ...«</p>
+
+<p>Bettina sah über ihn hinweg. Und als nun gar
+Hüsgen, um sein gesellschaftliches Gleichgewicht wieder
+herzustellen, auf den Prinzen einsprach und ihn unter
+lustigem Augenzwinkern an die Düsseldorfer Zeit erinnerte,
+kehrte ihm das Paar frostig den Rücken.</p>
+
+<p>Willibald Hüsgen aber nahm französischen Abschied.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-334.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Fuenftes_Kapitel_Buch_2">Fünftes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Hans Steinherr schritt durch den naßkalten Februarabend,
+die Hände tief in den Taschen seines Paletots,
+den Kopf vorgestreckt. Er achtete nicht darauf, daß
+seine dünnen Lackschuhe durchweicht und bespritzt wurden,
+daß auf seinen Hut die Tropfen fielen. Er dachte überhaupt
+nicht. In seinem Kopf tanzten hundert Melodien
+durcheinander, Kinderlieder, Studentengesänge, Fastnachtsstrophen
+vom Rhein. Woher sie so plötzlich auftauchten,
+wer sie gerufen hatte — er wußte es nicht.
+Er wollte es auch gar nicht wissen. Sie waren eben
+da, sie erheiterten ihn, sie verkürzten ihm die Zeit. Also
+war es doch eine große Errungenschaft, über sie verfügen
+zu können. Und er summte sie mit, wie sie ihm
+durch den Kopf kreuzten, einen Vers nach dem anderen,
+eine Melodie nach der anderen, ohne sich über die Notwendigkeit
+Rechenschaft abzulegen.</p>
+
+<p>Einmal blieb er stehen. Er hatte da ein Karnevalsliedchen
+im Dialekt vor sich hin geträllert, im Wortlaut,
+ohne zu stocken. Das kam ihm selbst wunderbar vor.
+Und darüber grübelte er nun doch. Er wußte ganz
+genau, daß er die Strophe kaum als Junge gekannt
+oder gesungen haben konnte. Sie mußte ihm von irgend
+einem Düsseldorfer Fastnachtsabend her im Ohr<span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span>
+geblieben sein. Und nun meldete sie sich. Seltsam. War
+denn damals alles so tief gegangen, saßen selbst die
+geringfügigsten Tagesbildchen aus der Jugend so fest
+in ihm, daß sie nach jahrelanger Unterdrückung plötzlich
+schelmisch hervorlugten und ihm lustig zuraunten: Wir
+sind auch noch da, wir halten uns stets zu deiner Verfügung,
+wenn du einmal ein Stündchen für uns hast
+oder wir unser Stündchen für gekommen halten?</p>
+
+<p>Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Gut, gut,
+mochte es so sein, wie es wollte. Karneval in Düsseldorf,
+Karneval in Berlin — es war ja schließlich völlig
+gleich.</p>
+
+<p>Aha — ja — was war’s doch gleich? Hatte er
+da vorhin ein Erlebnis gehabt? Dort hinten, irgendwo,
+in dem Hause am Kurfürstendamm? Er mußte sich
+einen Moment besinnen, denn das Haus erschien ihm
+nur nebelhaft, und die Vorgänge des Abends — —?
+Ganz recht, er hatte Urlaub genommen, Urlaub von der
+Liebe. Das war doch alles sehr höflich gewesen, mehr
+als höflich. Doch das andere — das andere — —?
+War diese Verlobung nicht längst schon eine fertige
+Geschichte? Sämtliche Freunde des Hauses hatten es
+doch gewußt, nicht ein einziger, der überrascht gewesen
+wäre — —</p>
+
+<p>Herrgott ja, es war keiner überrascht gewesen —!</p>
+
+<p>Glühend heiß lief es ihm durch den Körper, er
+fühlte, wie sein Gesicht brannte, wie das Blut ihm in
+den Wangen klopfte, in den Schläfen, in den Halsmuskeln.
+Er nahm den Hut ab und vergaß, ihn wieder
+aufzusetzen. Also alle hatten sie es gewußt, nur er
+nicht ... Der Seladon war mit Blindheit geschlagen<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span>
+gewesen. Herr Hans Steinherr, Seladon der Frau
+Bettina Wittelsbach. Die höchste Charge, die er erreicht
+hatte, nachdem er von der Schlichtheit der Heimat
+geschieden war, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen!</p>
+
+<p>Ah — —! schrie es in ihm auf, und er preßte die
+geballte Faust auf den Mund, um den Schrei, der ihm
+über die Lippen trat, zu ersticken. Mit entsetzten Augen
+blickte er sich um, ob ihn ein Vorübergehender belauscht
+haben könnte. Wie erbärmlich, wie jämmerlich erbärmlich
+war das, was er erlebt hatte! Nicht heute
+nur, nein, nein, all die Tage, Wochen, Monate hindurch.
+Seine Augen wurden so unheimlich klarsehend.
+Hundert Einzelheiten traten vor seine geschärfte Phantasie,
+Dinge, die er hingenommen hatte, um die oft
+fadendünne Stimmung nicht zu zerreißen, Küsse, die er
+geküßt hatte, obwohl sein Geist noch zornig gewesen
+war über Oberflächlichkeiten und Unarten der Frau, die
+er — küßte. Ihr Diener, Gnädigste, Ihr Diener — —.
+Das war ja doch der immer wiederkehrende Endreim
+gewesen — er hatte den Diener gespielt!</p>
+
+<p>Er beschleunigte seinen Schritt. Er begann durch
+die Straßen zu laufen, um zu seiner Wohnung zu gelangen.
+Jeder Straßenköter, so glaubte er, müßte ihm
+doch die Rolle ansehen, die er in so beispielloser Überhebung
+verwechselt hatte.</p>
+
+<p>Jetzt stießen sie im Hause Kurfürstendamm klingend
+die Gläser zusammen. Jetzt brachte wohl die alte, diplomatisch
+geschulte Exzellenz den Trinkspruch auf das
+Brautpaar aus. Und hinten, in einer Ecke des Salons,
+kommentierte man tuschelnd seinen raschen Abgang. Er
+sah sie ganz deutlich, die Intimen des Hauses, wie sie<span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span>
+lächelten, in stillem Mitleid, mit einem Stich ins Schadenfrohe.
+Keiner hatte ihn gemocht, und er keinen von
+ihnen! Des freute sich seine Seele noch in dieser Stunde.
+Nur Bettinas wegen hatte er sie ertragen, Bettinas
+wegen, die so lieb zu betteln, so feurig zu überreden, so
+lachend jede Einwendung zu verwischen wußte. Es
+dämmerte in den Straßen, und er war bei ihr. Und
+sie lehnte ihren biegsamen Körper an ihn und strich
+über sein Haar; und wenn er sie küssen wollte, bog sie
+den Kopf zurück; und wenn er sich beleidigt zurückziehen
+wollte, überfiel sie ihn mit ihren Küssen. Kein Denken
+und Wägen hielt stand. Denken und Wägen auf morgen!
+Er fühlte nur ihre süße Gestalt und ihre heißen
+Lippen ...</p>
+
+<p>Sein Gesicht verzerrte sich wie unter einem körperlichen
+Schmerz. Hatte er denn alle Würde verloren,
+daß er jetzt noch, nach dem soeben Erlebten, in Erinnerungen
+schwelgen konnte?</p>
+
+<p>O, o, gab er sich selbst die Antwort, das ist doch
+kein süßes Schwelgen, das ist ein <em class="gesperrt">bitteres</em> Schwelgen,
+das ist der Haß, die Wut, der Ekel. Das ist die Ironie,
+lachte er auf, die Ironie meines Lebens.</p>
+
+<p>Und immer wieder redete er mit seinem eigenen
+Selbst und fand nicht Worte genug, um sich zu verwunden,
+zu demütigen und wieder aufzustacheln.</p>
+
+<p>Ein Fluchwort preßte sich hinterher. Es war das
+erste Mal, daß er fluchte. Und er meinte auch nur sich
+damit zu treffen. Wieder und wieder stieß er das Wort
+heraus, aber es wurde ihm nicht leichter zu Sinn.</p>
+
+<p>Heute würden sich die Gäste natürlich früher empfehlen.
+Nur der eine, der Prinz, würde noch einen<span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span>
+Augenblick zögern, um einen Separatabschied zu nehmen.
+Dieser lächerlich wichtige, inferiore Dutzendprinz. Was
+er besessen hatte: Rennställe, Weiber, Hunde; was er
+nie besessen hatte: Witz und Verstand; was er noch besaß:
+Schulden und wieder Schulden — das war die
+Analyse. Es blieb kein Rest.</p>
+
+<p>»Herr des Himmels!« stieß Steinherr hervor, »weshalb
+beschimpfe ich den Mann?«</p>
+
+<p>Da war er schon wieder bei dem Bilde.</p>
+
+<p>Die Gäste waren gegangen; den Hut in der Hand,
+zögerte der Prinz. Jetzt führte er mit unnachahmlicher
+Grazie ihre Hand an die Lippen. »Wer war denn dieser
+unglaubliche Mensch, der sich so merkwürdig benehmen
+zu müssen glaubte?!« Und sie antwortete lächelnd:
+»Mein Gott, ein Dichter. Er legte heute schlechte Formen
+an den Tag. Wir werden sie ihm abgewöhnen. Nicht
+wahr, mein Georg? Gute Nacht ...«</p>
+
+<p>Dem hastig Einherschreitenden stand der Schweiß
+auf der Stirn. Er ballte die Finger zu Fäusten zusammen
+und renkte den Kopf, als ob ihm das Atmen
+Beschwerden machte. Das war doch Verrücktheit, glatte,
+blanke Verrücktheit, diese Selbstquälerei! Hier gab es
+doch nur eins: Verachtung! Aber das sprach sich nur
+leicht aus. Was würden die beiden Menschen nach
+seiner Verachtung fragen! Lachen würden sie über ihn!</p>
+
+<p>Er öffnete weit die Augen, aber er sah nichts, in
+sich und um sich, als eine Leere.</p>
+
+<p>Vermisse ich denn etwas? fragte er sich höhnisch.
+War denn überhaupt etwas vorhanden, was wert wäre,
+es auf der Straße ausklingeln zu lassen? Liebe? Die
+würde nicht toben und schimpfen. Für einen Groschen<span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span>
+Ehrgeiz verloren gegangen, und in derselben Düte ein
+Rest schimmelig gewordene Vornehmheit!</p>
+
+<p>Er stand vor seiner Wohnung. Neun Uhr erst ...
+Wie werd’ ich den Abend herumbringen ...</p>
+
+<p>Dann ging er hinein, machte Licht und sah sich
+um; ganz scheu, als müßte er auch hier auf eine Überraschung
+gefaßt sein. Aber alles war unverändert. Und
+gerade dieses unveränderte Bild, das Tag für Tag das
+gleiche bleiben würde, während er sich selbst ein Fremder
+geworden war, ließ ihn das, was er vor einer Stunde
+aufgegeben hatte, wie einen unwiederbringlichen Verlust,
+in weit über alle Grenzen gehenden Maßen, erscheinen.</p>
+
+<p>Müde, zerschlagen, saß er in seinem Stuhl. Die
+Arme hingen schlaff über die Lehne.</p>
+
+<p>Was nun?</p>
+
+<p>Er lächelte ironisch.</p>
+
+<p>Was nun? Das hört sich ja an, als ob ich überhaupt
+schon etwas getan hätte. Ich hab’ dem Leben
+nichts genutzt, und das Leben hat mir nichts genutzt.
+Quitt! Wir haben uns beiderseitig nichts vorzuwerfen.</p>
+
+<p>Sein Blick fiel auf das der Wand zugekehrte Bild
+Bettinas.</p>
+
+<p>Langsam erhob er sich, nahm das Bild vom Schreibtisch
+und betrachtete es. Ganz bedächtig, ganz eingehend.
+Nun hatte er die Augen durchforscht, nun heftete sich
+sein Blick auf den Mund. Ein Zittern ging durch seine
+Hände, und es wurde stärker und stärker, bis er mit
+jähem Griff den Karton packte, um ihn zu durchreißen.
+Aber er tat es nicht. Er warf das Bild auf den Tisch
+und preßte die Lippen zusammen. Seine Augen brannten
+in einem trockenen, quälenden Schmerz. Wozu nur das<span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span>
+alles? Wozu nur? Es war doch nirgend ein Zweck
+zu ersehen!</p>
+
+<p>Als er die Lampe niedriger schrauben wollte, fiel
+ihm auf dem Schreibtisch eine Karte ins Auge. Mechanisch
+nahm er sie auf und las. »Heinrich von Springe.«</p>
+
+<p>Und darunter stand: »Ich werde vor zehn Uhr noch
+einmal mein Glück versuchen.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr legte die Karte auf den Tisch zurück.</p>
+
+<p>Das Glück versuchen? ... dachte er. Das wird wohl
+bei mir mehr als verlorene Liebesmüh’ sein. Das Glück
+versuchen!</p>
+
+<p>Im Halblicht saß er und erwartete den angekündigten
+Besuch. Wenige Minuten, und er hatte ihn vergessen.
+Nur seine Scham hatte er nicht vergessen, seinen beleidigten
+Stolz, seine beleidigte Männlichkeit. Das
+wogte und quirlte in seinem Kopf durcheinander, und
+er war dem Ansturm gegenüber willenlos. »Aus ist’s,
+aus, aus!« murmelte er immer wieder vor sich hin,
+und dennoch arbeitete er unablässig an neuen Plänen,
+um die gescheiterte Hoffnung zu reparieren. Es war
+ein Kampf in ihm, den er verachtete und den er gleichwohl
+mit jeder Fiber kämpfte. Um ein Phantom —.</p>
+
+<p>Es hatte an seine Tür geklopft. Nun klopfte es
+wieder, und die Tür öffnete sich. Ein Mann stand auf
+der Schwelle und spähte durch das Halbdunkel.</p>
+
+<p>»Hans —?« fragte eine Stimme, die ihm eigenartig
+vertraut vorkam.</p>
+
+<p>Er machte eine Bewegung, die seine Anwesenheit
+verriet. Da stand auch schon der Besucher vor ihm.</p>
+
+<p>»Hans, mein alter Junge, es ist lange her, daß wir
+uns nicht sahen. Deine Mutter läßt dich grüßen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span></p>
+
+<p>Er antwortete nicht. Nur die Hände hielt er fest,
+die ihm Springe entgegengestreckt hatte.</p>
+
+<p>»Hans, ist es dir immer noch nicht lieb, mich wiederzusehen?
+Ich denke, wir sind Männer geworden seitdem.«</p>
+
+<p>»Doch, doch. Entschuldige meine scheinbare Teilnahmlosigkeit.
+So nimm doch Platz!«</p>
+
+<p>Springe legte seinen Mantel ab, ging zum Tisch
+und ließ das Licht aufflammen.</p>
+
+<p>»Laß dich zunächst einmal anschauen,« sagte er ruhig.
+»Ob es der alte Hans ist.«</p>
+
+<p>Steinherr wehrte mit der Hand ab, aber Springe
+achtete nicht darauf. In Gedanken versunken, stand er
+vor dem einstigen Schützling.</p>
+
+<p>Der zwang sich zu einem Lachen.</p>
+
+<p>»Zufrieden mit der Musterung? Nicht ganz, wie
+ich merke. Ich bin nur ein bißchen alt geworden in der
+Einsamkeit. Aber sonst, sonst — —. Nun setz dich
+doch, und wenn es dich freut, will ich dir sagen: Es
+ist gut, daß du hier bist.«</p>
+
+<p>Springe zog sich einen Stuhl heran und setzte sich
+ihm dicht gegenüber. Ihre Kniee berührten sich.</p>
+
+<p>»Hans, Hans,« sagte er herzlich.</p>
+
+<p>Der aber wurde unruhig und blickte an dem Gast
+vorbei.</p>
+
+<p>»Laß gut sein; wir wollen uns das Wiedersehen
+nicht mit alten Geschichten verkümmern.«</p>
+
+<p>Springe schüttelte nur den Kopf. Dann fragte er
+unvermittelt: »Hast du mich nötig, Hans? Kannst du
+mich brauchen? Was gehen uns alte Geschichten an,
+wenn neue dringendere zu erledigen sind? Leute wie wir
+geben sich die Hand und verstehen sich.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span></p>
+
+<p>»Verzeihe. Mach’ ich in der Tat einen so niederschmetternden
+Eindruck?«</p>
+
+<p>»Ich möchte den Grund wissen.«</p>
+
+<p>»Ja, lieber Heinrich — ich darf dich wohl noch so
+nennen — den Grund möchte ich auch wissen. Nimm
+an, ich bin ohne Grund so, gänzlich ohne Grund. Das
+klingt dumm, aber es hilft weiter.«</p>
+
+<p>»Was das anbetrifft, wir haben Zeit.«</p>
+
+<p>»Das klingt aus deinem Munde allzu bescheiden.
+Du wirst Besseres zu tun haben, als dir über das Aussehen
+eines Menschen Kopfschmerzen zu machen, der selbst
+nicht einmal weiß, ob er Kopf genug hat, um Schmerzen
+zu fühlen.«</p>
+
+<p>Springe lehnte sich zurück und schwieg. Dann sagte
+er langsam: »In der Ironie hast du es jedenfalls weit
+gebracht.«</p>
+
+<p>»Ich hatte einen guten Lehrmeister,« erwiderte
+Steinherr lächelnd; »er hieß Heinrich von Springe und
+war in diesem Fach ein Meister. Bitte, verkleinere mir
+den Mann nicht, ich verdanke ihm viel.«</p>
+
+<p>»Der Mann muß ein Stümper gewesen sein, lieber
+Hans.«</p>
+
+<p>»Ich widerspreche einem verehrten Gast nicht gern,
+aber hier scheint es mir Pflicht. Pflicht oder Selbsterhaltungstrieb
+— wie du es nennen willst. So laß
+dir denn sagen, daß das, was aus seiner Lebensanschauung
+auf mich abgefärbt hat, das Beste war, was
+ich gewinnen konnte. Und das war just der ironische
+Gesichtswinkel.«</p>
+
+<p>»Trotzdem. Ich bleibe dabei, der Kerl war ein
+Stümper oder — du hast nicht ausgelernt.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span></p>
+
+<p>»Ich habe, was ich brauche. Mehr wie seine Bedürfnisse
+kann man nicht befriedigen.«</p>
+
+<p>Springe sah ihm fest in die Augen.</p>
+
+<p>»Was nutzt dich die Ironie allein? Die ist wie ein
+Zwilling, der ohne den anderen Zwilling nicht leben und
+nicht sterben kann. Nörgelnde Grämlichkeit statt scharfer
+Lebenslust. O ja, die Ironie hast du erlernt. Nur eins,
+das Lachen, das rheinische Lachen hast du nicht gelernt,
+noch nicht gelernt; und das gehört dazu wie der Klöppel
+zur Glocke. Es wird Zeit, mein Sohn; lern das Lachen!«</p>
+
+<p>Hans Steinherr erhob sich rasch. Das war das
+Wort, das ihm gefehlt hatte. Das Lachen, das Lachen!
+Das gekonnt haben, vor ein paar Stunden, so recht aus
+Herzensgrund, so recht befreiend und alles reinfegend
+— das Lachen ... damit hätte er gesiegt, über sich,
+über die anderen, über die Situation. Weshalb hatte
+er nicht lachen gekonnt!</p>
+
+<p>Der Aufruhr in ihm, der sich eine kleine Weile gelegt
+hatte, brach mit erneuter Gewalt los. Durch seinen
+Kopf schossen blitzschnell die Bilder: das tödlich beleidigte
+und doch jäh erschrockene Gesicht Bettinas, wenn er ihre
+Eröffnungen mit einem schallenden Gelächter entgegengenommen
+hätte, wenn er sich mit lautem, humorvollem
+Lachen auf dem Absatz umgedreht hätte und lachend
+ohne weiteres zur Tür gegangen wäre. Das würde ihr
+einen anderen Respekt vor der Art seiner Persönlichkeit
+beigebracht haben, als die hohen Worte seiner Liebesmoral.
+Das würde sie zusammengeschüttelt und aufgerüttelt
+haben mit Fäusten, und bevor er aus dem
+Zimmer gewesen wäre, hätte sie widerspruchslos sich
+und ihre Welt der Kraft seines Lachens anvertraut.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span></p>
+
+<p>Er stand am Fenster und hielt das Holz der Fensterschwelle
+gepackt, um den Sturm abzulenken. Weshalb
+war der Mann nicht gestern gekommen, ihn an heimische
+Art zu mahnen! Dieser Mann, der ihm schon einmal
+den rechten Weg gezeigt hatte, den Weg zur Jugend.
+Langsam kam er durch das Zimmer zurück. Er hatte
+wohl doch noch einiges nachzuholen.</p>
+
+<p>»Heinrich,« sagte er, »ich habe dich vorhin nicht einmal
+ordentlich begrüßt. Das möchte ich jetzt. Es hat
+vieles zwischen uns gestanden, was nur in meiner Einbildung
+existierte und längst beschämt verflogen ist.
+Aber du hast recht. Leute wie wir geben sich die Hand
+und verstehen sich. Ich werde dich nicht mit Sentimentalitäten
+langweilen. Wie geht es meiner Mutter?«</p>
+
+<p>»Sie hat sich in den Kopf gesetzt, nicht älter zu
+werden.«</p>
+
+<p>»Ihr seid sehr glücklich miteinander?«</p>
+
+<p>»Glücklich? Das Wort kann ich nicht mehr definieren.
+Es wird wohl bei uns der Normalzustand so bezeichnet
+werden müssen. Lieb haben wir uns wie die Kindsköpfe.«</p>
+
+<p>Er faßte den Jüngeren beim Schopf.</p>
+
+<p>»So, nun komm mal her. Deine Mutter hat mir
+aufgetragen, dir sofort, wenn ich dich zu fassen kriegte,
+einen Kuß von ihr zu applizieren. Da hast du ihn.«</p>
+
+<p>»Du hast dich in den fünf Jahren nicht verändert
+— —. Und Herr Friedrich Leopold?«</p>
+
+<p>»Adrett wie ein Zwanzigjähriger, der sich vorgenommen
+hat, hundert zu werden. Bleiben ihm nach seiner
+Rechnung also noch gutgezählte achtzig Jahre zur Verfügung.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span></p>
+
+<p>»Und — und Frau Stahl?«</p>
+
+<p>»Stellt lebende Bilder.«</p>
+
+<p>»Du, drück dich klarer aus! Lebende Bilder?«</p>
+
+<p>»Ganz richtig. Mit Herrn Friedrich Leopold gemeinsam.
+Philemon und Baucis und sonstiges aus der
+Geschichte berühmter alter Liebespaare. Ein paarmal
+wollt’ ich schon den Kaplan holen, um dem Geseufz’ ein
+Ende zu machen.«</p>
+
+<p>»Sie führt ihm die Wirtschaft, wie mir Mutter
+schrieb?«</p>
+
+<p>»Die Wohnung liegt auf der anderen Seite des
+Korridors, in derselben Etage mit der unseren; genannt:
+die Toggenburg. ›Ritter, treue Schwesterliebe widmet
+euch dies Herz ...‹ und so weiter. O, die beiden
+sind klassisch gebildet und handeln ganz ihrer Bildung
+gemäß.«</p>
+
+<p>»Da wären wir glücklich bei der Liebe,« meinte
+Hans mit einem Versuch, zu scherzen.</p>
+
+<p>»O bitte, frag nur.«</p>
+
+<p>»Heinrich!«</p>
+
+<p>»Nun? Was denn? Sollte ich dich falsch verstanden
+haben? Ich dachte, du hättest dich nach deiner Jugendliebe
+erkundigen wollen.«</p>
+
+<p>Hans blickte unbeweglich vor sich hin.</p>
+
+<p>Wie schmal der Junge geworden war.</p>
+
+<p>»Wie geht es Hannes ...«</p>
+
+<p>»Ach, mein Jung’, die steckt uns noch alle eines
+Tages in ihre Kleidertasche.«</p>
+
+<p>»Sie muß jetzt sehr groß geworden sein ...«</p>
+
+<p>»Groß? In jeder Beziehung. Als herangewachsenes
+Menschenkind und als Künstlerin. Wenn sich Größe<span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span>
+nach dem Einkommen bemessen läßt, ist sie jedenfalls
+größer als ich.«</p>
+
+<p>Er lachte behaglich in sich hinein, als freute er sich,
+daß das Mädel ihn überholt habe.</p>
+
+<p>»Du hast sie heute singen gehört ... In der Philharmonie
+... Hüsgen sagte es mir.«</p>
+
+<p>»Ja, heute hab’ ich zum ersten Male erfahren, was
+Singen ist. Um und um wird man von der Stimme
+gekehrt. Noch so verstockt kann man sein, die Stimme
+lockert das ganze steinige Erdreich auf und bringt Triebe
+in dir zum Blühen, Triebe sag’ ich dir, von denen du
+selbst keine Ahnung mehr hattest. Man möchte heulen
+über sich selbst, aus purer Wonne, welch ein guter Kerl
+man doch im Grunde ist. Und das macht alles der
+Hannes. Jedem Wort gibt sie Leben, ganz schlicht,
+ganz natürlich, aber mit einer Tiefe — das ist überhaupt
+nicht zu erzählen. Einfach hören mußt du sie,
+und wenn du sie nebenbei ansiehst, zerstört dir das auch
+die Illusionen nicht. Das war eine Sonntagslaune
+vom lieben Gott, als er das Mädel schuf.«</p>
+
+<p>»So,« sagte Hans; und dann wiederholte er: »So
+— so —«</p>
+
+<p>Dann schwiegen sie beide, bis Hans, aus seinen
+Gedanken auffahrend, hastig den Faden wieder aufnahm.
+»Weshalb bist du denn nicht bei ihr? Das
+Konzert muß doch längst vorüber sein?«</p>
+
+<p>»Sie ist zum Künstlersouper gequält worden. Und
+da ich ihr mitteilte, daß ich noch zu dir wollte —«</p>
+
+<p>»Das hast du ihr gesagt?«</p>
+
+<p>»Aber weshalb denn nicht? Sie hat mir außerdem
+Grüße an dich aufgetragen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span></p>
+
+<p>»Der Hannes — —,« nickte Steinherr und lächelte
+abwesend vor sich hin. »Bitte, du wolltest weiterreden
+...«</p>
+
+<p>»Kurz, sie hat zum Souper zugesagt unter der Bedingung,
+daß man sie um elf Uhr gehen ließe. Um
+elf Uhr hat sie nämlich im Hotel ein Rendezvous.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr blickte überrascht auf, und Springe
+amüsierte sich. »Mit Onkel Springe nämlich. Der
+›Onkel‹, das bin ich. Na, von so süßen Lippen läßt
+man sich das Prädikat schon gefallen. Auf elf Uhr
+also bin ich im Hotel Kaiserhof auf eine Tasse Tee befohlen.
+Du gehst natürlich mit.«</p>
+
+<p>»Ich — —? Ich glaube, du überschreitest da gehörig
+deine Onkelgewalt.«</p>
+
+<p>»Aber so sperr dich doch nicht. Wir bilden doch
+sozusagen eine Familie. Du wirst es ja erleben, was
+für freudige Augen sie macht, ihren alten Kameraden
+wiederzusehen. Junge, Junge, ich fürchte, du taxierst
+unseren Hannes falsch.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr saß, die gefalteten Hände im Schoß,
+und blickte auf einen Punkt. Wie eine weiche Welle
+floß es über ihn hinweg. Als ob er krank sei, und
+weiche, kühle Hände legten sich auf seine heiße Stirn.
+»Ich möchte sie wiedersehen,« sagte er wie zu sich selbst.
+Er hatte Heimweh.</p>
+
+<p>»Was ist das nur?« fuhr er empor und ging zur
+Tür. »Es klingelt in einem fort.«</p>
+
+<p>An der Korridortür traf er den Hausverwalter.</p>
+
+<p>»Ein Brief für Sie, Herr Doktor. Das Haustor
+war schon verschlossen, aber ich hab’ dem Boten noch
+geöffnet.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span></p>
+
+<p>Hans Steinherr gab dem Mann ein Trinkgeld und
+kehrte ins Zimmer zurück. Beim ersten Blick auf das
+Papier erkannte er Bettinas steile Schriftzüge. Seine
+Hände flogen, daß das Papier knatterte. Dann nahm
+er sich mit Macht zusammen.</p>
+
+<p>»Entschuldige,« sagte er, »ein eiliger Brief, wie es
+scheint.«</p>
+
+<p>Springe nickte. Aber mit gespannten Blicken verfolgte
+er jede der nervösen Bewegungen.</p>
+
+<p>Hans riß das Kuvert auf. Es enthielt nur eine
+Visitenkarte Bettinas. Unter dem Namen stand in
+eiligen Zügen: »Ich erwarte dich aufs bestimmteste
+morgen früh elf Uhr.«</p>
+
+<p>Dreimal, viermal, immer wieder las Hans die
+wenigen Worte. Als er endlich den Arm sinken ließ,
+sah er farblos und um Jahre gealtert aus. Das Blatt
+fiel auf den Tisch. Es war ganz still im Zimmer.</p>
+
+<p>Den starkgemuten rheinischen Maler packte ein
+Grauen vor dieser künstlichen Ruhe. Er war gewohnt,
+den Dingen ins Auge zu sehen. Aber hier war ein
+unsichtbarer Feind. Gleich beim Eintritt ins Zimmer
+hatte er es an der apathischen Müdigkeit des jungen
+Freundes gespürt, und nun, da er ihn durch unverfälschten
+Heimatsodem verscheucht zu haben glaubte,
+kam er wieder. Den Zustand ertrug er nicht. Zustände
+waren für alte Weiber.</p>
+
+<p>»Hast du schlechte Nachrichten, Hans?«</p>
+
+<p>Der hörte gar nicht.</p>
+
+<p>Da nahm Springe das Blatt vom Tisch auf und
+las es.</p>
+
+<p>»Hans!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span></p>
+
+<p>»Wie meinst du?«</p>
+
+<p>»Was will die Frau von dir?«</p>
+
+<p>»Du siehst ja. Sie wünscht, ich soll zu ihr kommen.
+Also — werde ich — hingehen.«</p>
+
+<p>»Du sagst das in einem Ton, als ob dich das Hingehen
+Überwindung kostete.«</p>
+
+<p>»Überwindung —? Ich — ich spreche in einem
+Ton —? Du — wie war das doch noch mit — mit
+dem Lachen? Weißt du, mit dem Lachen, das ich nicht
+gelernt haben sollte. Man — ganz recht — man muß
+nur alles humoristisch nehmen.«</p>
+
+<p>»Wenn du kein Vertrauen zu mir hast, laß uns
+gehen.«</p>
+
+<p>»Gehen? Wohin?«</p>
+
+<p>»Zu Hannes. Sie wird uns längst schon erwarten.
+Es ist halb zwölf.«</p>
+
+<p>»Es geht nicht, Heinrich. Ich kann, leider, nicht
+mehr mit. Morgen — vielleicht.«</p>
+
+<p>Springe trat dicht vor ihn hin. Er zwang den
+anderen, ihn anzusehen.</p>
+
+<p>»Und weshalb kannst du nicht mehr mit? Den Mut,
+mir das zu sagen, wirst du doch nicht verloren haben?«</p>
+
+<p>Hans Steinherr hielt den Blick aus. Und ohne sich
+zu bedenken, antwortete er dem einstigen Mentor: »Wenn
+ich morgen zu dieser Frau gehe, kann ich heute nicht
+mit Johanna zusammen sein.«</p>
+
+<p>»Der Dame wegen oder Johannas wegen?«</p>
+
+<p>»Johannas wegen.«</p>
+
+<p>Sie blickten sich noch immer voll in die Augen.
+Dann sagte Springe kalt: »Also gedenkst du etwas zu
+tun, was eines Hans Steinherr unwürdig ist.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span></p>
+
+<p>»Heinrich!«</p>
+
+<p>»Ich wiederhole es, wenn du es wünschest. O, ich
+bin kein Sittenrichter und Tugendbold. Du könntest ja
+die Frau lieb haben und sie dich, und Hindernisse
+könnten euch im Wege stehen. Wer wollte euch deshalb
+verdammen! Vielleicht ist die Dame verheiratet. Wir
+sind alle Menschen, und auf die Kraft und Reinheit
+unserer Empfindungen kommt es an.«</p>
+
+<p>»Nein, sie ist nicht verheiratet. Noch nicht. Obwohl
+sie es früher war.«</p>
+
+<p>»Mit anderen Worten: sie ist Witwe und aufs neue
+verlobt. Hab’ ich recht?«</p>
+
+<p>»Verlobt. Seit heute abend. Ich wußte nichts
+davon, mein Wort darauf.«</p>
+
+<p>»Du wurdest also getäuscht? Herrgott, so sprich
+doch! Ich seh’ es dir ja an, daß du auf dem toten
+Punkt bist, daß es dich drängt, irgend etwas herauszuschreien.
+So schrei doch! Ich bin wie eine Felswand,
+die das Echo nur einmal hergibt, und sicher
+nicht an Unberufene. Soll ich dir helfen? Soll ich dich
+zum Widerspruch reizen? Nun gut, selbst auf <em class="gesperrt">die</em>
+Gefahr hin: Hans Steinherr, dem einst das <em class="gesperrt">beste</em>
+Mädchen nicht gut genug war, steht im Begriff, sich für
+die <em class="gesperrt">schlechteste</em> Frau zum Spielzeug zu degradieren.
+O, o! Wir wollen hier keinen Ringkampf aufführen.
+Sag mir ins Gesicht, daß ich lüge ...«</p>
+
+<p>Steinherr ließ die erhobenen Arme sinken. Er murmelte
+unverständliche Worte.</p>
+
+<p>»Verteidige dich nicht und sie nicht. Sie vor allen
+Dingen nicht. Wenn eine Frau in der Stunde ihrer
+Verlobung an einen anderen schreibt, ja nur an einen<span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span>
+anderen denkt — weißt du, ich möchte das Wort für
+mich behalten. Ich habe zu viel Respekt vor der Weiblichkeit
+im allgemeinen. Hans, was ist dir?«</p>
+
+<p>Steinherr hatte sich an der Tischkante halten müssen.
+Es kreiste ihm vor den Augen.</p>
+
+<p>»Junge, komm zu dir! Vielleicht hab’ ich eine
+Dummheit gemacht; vielleicht liegen hier die Dinge so
+besonders, daß ich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet
+habe. Du, hör mich! Wenn ich auch beinahe dein
+Vater bin, du sollst mich bei den Ohren nehmen dürfen,
+und ich will nicht mucksen.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr richtete sich auf. Er strich sich mit
+der Hand über die Stirn und sah sich um.</p>
+
+<p>»Ich vertrottele wohl nächstens noch. Laß nur
+ruhig deine handfesten Sprüche auf mich los. Vielleicht
+findet sich noch eine anständige Stelle an mir, an der
+das eine oder andere haften bleibt. Die Hoffnung ist
+zwar nicht groß.«</p>
+
+<p>Da trat Springe mit raschem Schritt auf ihn zu,
+schlang seine Arme um ihn und drückt den Kopf des
+jungen Freundes fest an seine Brust. »So, nun heul
+dich aus, ich sag’s keinem wieder.«</p>
+
+<p>Und nach einer Weile: »Ach, ich glaub’s ja gar
+nicht, daß du dich verloren hast. Irgend eine Dickköpfigkeit,
+aber keine Preisgabe des innersten Menschen.
+Nur rede — das erleichtert. Ich bin ja nun doch einmal
+dein approbierter Vertrauter. Denk an den Tag,
+an dem du mir Hannes brachtest.«</p>
+
+<p>Aber Hans gab keine Antwort mehr. Ein plötzlicher
+Schüttelfrost hatte ihn gepackt.</p>
+
+<p>»Komm, mein Junge, ich geleite dich in deine Klappe.<span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span>
+Du hast eine Erkältung in allen Knochen und gehörst
+sofort ins Bett. Morgen sprechen wir weiter. Rheinland
+läßt sich nicht unterkriegen.«</p>
+
+<p>Er führte ihn, der wie ein Schwerkranker taumelte,
+behutsam ins Schlafzimmer und war ihm behilflich.
+Dann ließ er sich die Schlüssel anweisen. »Ich bringe
+sie dir morgen gegen Mittag zurück. Deine Hand darauf,
+daß du inzwischen die Dame nicht wiedersiehst.
+Heraus mit dem rheinischen Stolz!«</p>
+
+<p>Als er durch den Salon zurückschritt, sah er das
+Bild Bettinas liegen. Er nahm es auf und betrachtete
+es lange, mit Künstleraugen.</p>
+
+<p>»Den guten Geschmack verleugnet der Bengel nie,«
+knurrte er. »Pfui Deubel, wie schön!«</p>
+
+<p>Mitternacht war vorüber, als er im Hotel ankam.
+Hannes saß noch in dem kleinen, separierten Teezimmer
+und wartete. Und wieder ließ Springe seine Künstleraugen
+blitzen. Das war doch ein anderes Bild.</p>
+
+<p>Die schlanke Gestalt mit den hochgeschwungenen,
+festen Formen, das kühne, intelligente Köpfchen, auf
+dem die rotblonden Flechten wie ein Kranz aus purpurnem
+Weinlaub lagen, und die tiefen, stillen Augen
+von der Farbe des blauen Bergsees — das war echt
+germanisches Blut, so heiß wie keusch, so treu wie
+furchtlos.</p>
+
+<p>»Guten Abend, Hannes!«</p>
+
+<p>»Guten Abend, Onkel Springe!«</p>
+
+<p>»Kleines Liebchen, willst du mir einen großen Gefallen
+tun?«</p>
+
+<p>»Aber natürlich. Mach’s nicht so feierlich, du erschreckst
+mich sonst.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span></p>
+
+<p>»Dich erschreckt schon nichts. Also: geh schlafen.
+Darum wollt’ ich dich bitten. Und morgen frühzeitig
+auf. Dann wollen wir lange plaudern.«</p>
+
+<p>Sie erhob sich und kam auf ihn zu.</p>
+
+<p>»Ist Hans krank? Ist etwas mit ihm geschehen?
+Als du nicht pünktlich warst, wußt’ ich es.«</p>
+
+<p>Er legte den Arm um ihre Schulter.</p>
+
+<p>»Welch ein feinkorrespondierendes Empfinden — —.
+Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du sie mir auch
+sagen?«</p>
+
+<p>»Ja, ja,« drängte sie, »das solltest du wissen. Ich
+kann nicht lügen.«</p>
+
+<p>»Hans ist drauf und dran, über Bord zu gehen.
+Aber wir werden das nicht zulassen, wir nicht, gelt,
+du? Und nun, gerad’ heraus: Hast du ihn noch lieb?«</p>
+
+<p>»Ja, Onkel Springe, ich hab’ ihn so lieb wie früher.«</p>
+
+<p>»Gute Nacht, mein tapferes Mädel. Auf morgen!«</p>
+
+<p>Als sie in der Tür war, nickte sie ihm nochmals
+lächelnd zu; als müßte sie ihm, dem Manne, Mut einflößen.
+— —</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-354.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Sechstes_Kapitel_Buch_2">Sechstes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Erst spät in der Nacht war Hannes eingeschlafen,
+und als sie erwachte, war es noch nicht sieben Uhr.
+Ihre Gedanken setzten sofort dort wieder ein, wo die
+Ermüdung sie unterbrochen hatte: bei Hans.</p>
+
+<p>Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag sie ganz
+still, mit weitgeöffneten Augen.</p>
+
+<p>Hans ... Wie oft hatte sie das Wort vor sich hin
+gesprochen, in all den Jahren des heißen Mühens und
+Studierens, der ersten, angsterfüllten Versuche und der
+großen, stolzen Siege in ihrer Kunst. Er wußte es ja
+nicht. Er wußte ja nicht, daß sie ihm alles verdankte,
+den ganzen, reichen Inhalt ihres Lebens. Er hatte die
+Liebe in ihr wachgeküßt, und die Liebe hatte den Ehrgeiz
+der vornehmen Seele geweckt, es dem Geliebten
+gleich zu tun an Wissenseifer, und den Drang nach der
+Schönheit der Form. Dann hatte er den ersten, gewaltigen
+Schmerz in sie hineingetragen, und der Schmerz
+hatte den großen Stolz gezeitigt, zu zeigen, daß es für
+den Mann kein Herabsteigen gewesen wäre zur unlösbaren
+Verkettung von Seel’ und Leib.</p>
+
+<p>Ein leises, liebes Lächeln glitt um ihren Mund.
+Hans — — —.</p>
+
+<p>Die Wunden, die sie bei dem jähen Abschied<span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span>
+davongetragen, waren längst verharrscht. Und im Laufe der
+Jahre waren die Narben immer glatter, immer feiner
+geworden. Wenn sie in stillen Nächten, in denen sie
+heimdachte, mit gleitendem Finger danach tastete, fand
+sie kaum noch die Spuren. Dann dehnte sie den jungen,
+gestählten Körper und spürte in ihm statt Wunden und
+Schmerzen das Wunder der Frauenkraft. Eines Tages
+— o, eines Tages würde er sie nötig haben, wie den
+Duft der Heimatscholle, den kein Sohn des Niederrheins
+auf immer zu missen vermochte, der zu den Treuen im
+Lande zählte. Sie glaubte fest an diesen Zug der
+Heimat. Warte nur, über ein kleines ...!</p>
+
+<p>Sie hatte gewartet, und das Warten war ihr nicht
+sauer geworden. Alle Energien in ihr waren frei geworden
+und, von einem zähen Willen geleitet, den Weg
+gegangen, den ihr erst der Trotz und dann in seltsamer
+Wandlung das erwachte Gefühl der Persönlichkeit gewiesen
+hatte. Mit geklärtem Auge schaute sie mehr und
+mehr in alle Dinge und ihre Beweggründe hinein, und
+wenn sie auf eine unbefriedigte Ehe traf, sah sie die
+Verschiebung der einst harmonierenden Motive nicht so
+sehr in äußerlichen Ablenkungen, als in dem rein innerlichen
+Umstand, daß die Frau am Tage der Hochzeit
+mit der straffen, geistigen Erziehung abzuschließen pflegte,
+während für den Mann jetzt erst die Weiterentwicklung
+und mit ihr die geistigen Kämpfe begannen. Fand er
+auf die Dauer kein mitgehendes Verständnis, fand er
+in ihr, in der er eine Kameradin erhofft hatte, immer
+wieder nur das launenhafte Kind, kaum auf einer höheren
+Warte stehend als die Kinder, die sie geboren hatte und
+die sie zu stolzen, starken Menschen erziehen sollte, fand<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span>
+er in ihr nie und nimmer anderes als das Evageschöpfchen,
+das »um seiner selbst willen« geliebt sein wollte
+— was Wunder, daß die Kluft breiter und breiter
+wurde und eine der Seelen frierend am Ufer stand.</p>
+
+<p>Das war dem jungen, im Dunkel seines ersten Liebeswehs
+umherirrenden Mädchen wie eine Erleuchtung gekommen:
+eine Frau muß dem Manne, auch nach dem
+Rausch des Lenzes, ebenbürtig bleiben; nicht in der
+Fülle des Wissens, aber in der Fülle des Verständnisses.
+Dann hat sie ein Recht auf ihn, als sein wahrhaftiger
+Zeltgenosse, der Kampf und Sieg mit ihm teilt, beides
+wie ein gleichwertiges; nicht als seine hübsche Magd,
+der er für ein Lächeln ein Armband mit heimbringt.</p>
+
+<p>Darauf war ihr Streben gerichtet gewesen. Sollte
+der Tag kommen — auf alle Fälle, sie wollte bereit sein.</p>
+
+<p>Der Tag war nicht gekommen. Ihn mit kleinen
+Künsten herbeizuführen, lag in ihrem Wesen nicht.</p>
+
+<p>Die Reihe war an ihm, dem Manne — und sie
+wartete, und wenn sie vergeblich warten sollte. Heute
+stand sie ihm nicht mehr nach, weder in der Kunst, noch
+im Leben.</p>
+
+<p>Der selbstbewußte Ausdruck auf dem Gesicht des
+Mädchens schwand plötzlich hin, eine Unruhe trat in ihre
+Augen. Sie zog die Arme unter dem Kopfe fort und
+saß aufrecht da.</p>
+
+<p>Was hatte Onkel Springe gestern abend gesagt?
+Was war mit Hans?</p>
+
+<p>»Er ist drauf und dran, über Bord zu gehen — —«</p>
+
+<p>Noch einen Moment ließ sie die Worte in ihren
+Ohren tönen und hämmern. Dann war sie mit einem
+Sprunge aus dem Bett und kleidete sich an. »Oho,«<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span>
+murmelte sie vor sich hin, während sie die Haken ihres
+Promenadenkleides schloß, »oho!« Sie wußte nicht, war
+es eine Drohung, war es, um sich selbst Mut zu machen.
+Noch war ihr ja gänzlich fremd, in welcher Lage, in
+welcher Bedrängnis Hans eigentlich stak. Aber die Gewißheit,
+daß es eine Bedrängnis war, genügte, um sie
+vergessen zu machen, daß — die Reihe an ihm sein
+sollte, zu ihr zu kommen; und all die mütterlichen Eigenschaften,
+die unbewußt im Weibe ruhen, waren in ihr
+ausgelöst.</p>
+
+<p>Sie klingelte dem Zimmermädchen.</p>
+
+<p>»Sehen Sie doch sofort nach, ob Herr von Springe
+schon sein Zimmer verlassen hat. Sonst lassen Sie ihn
+wecken.«</p>
+
+<p>Heinrich Springe erwartete seinen Bundesgenossen
+bereits im Frühstückszimmer. Sie ließen sich an einem
+separaten Tisch servieren und saßen allein.</p>
+
+<p>»Guten Morgen, meine Lerche!«</p>
+
+<p>Sie legte den Arm um seinen Hals und ihre
+weichen Lippen auf seinen Mund.</p>
+
+<p>»Töchterchen,« sagte er zärtlich und streichelte ihr
+Gesicht und ihr Haar ... »Dort kommt der Kellner.
+Jetzt heißt es zulangen. Ein Mensch, der ein ordentliches
+Frühstück im Magen hat, hat schon halb gewonnen.
+In diesem Sinne los, Hannes! Wer die beste Klinge
+schlägt!«</p>
+
+<p>Da hielt sie wacker mit.</p>
+
+<p>»Wunderst du dich nicht, daß ich dir gar keine
+Komplimente über dein Singen mache?« fragte er nach
+einer Weile. »Du mußt mich unbedingt für einen Barbaren
+halten. Gelt, das ist die Meinung?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span></p>
+
+<p>»Onkel Springe! Wer ist denn musikalischer als
+du?!«</p>
+
+<p>»Für den Hausgebrauch, Kind. Die musikalischen
+Schwingungen muß jeder Künstler in sich verspüren, ob
+Maler, Dichter oder Klavizimbelspieler. Aber sieh mal,
+Mädel, da reise ich geschlagene acht Stunden mit dem
+Kurierzug, um dich nach Jahren wiederzuhören, und
+als es geschehen ist, bleibe ich stumm.«</p>
+
+<p>Sie streichelte seine Hand und sah ihn schelmisch
+von der Seite an. »Du wolltest wohl erst die Kritiken
+in den Morgenblättern lesen?«</p>
+
+<p>»Schlauberger!« lachte er. »Übrigens ist das bereits
+auch geschehen. Die Herren Musikkritiker verstehen zwar
+durch die Bank mehr von Instrumentalmusik als von
+einer Stimme, aber diesmal haben sie sich denn doch
+zu <em class="gesperrt">einem</em> schönen Jubelchor vereinigt. Mein Mädel
+hat es ihnen angetan, mußte es ihnen ja antun; mir
+hattest du es ja auch angetan, daß ich den unbezwinglichen
+Drang verspürte, alle Menschen teilnehmen zu
+lassen, irgend eine gute Tat zu tun, und da bin ich
+spornstreichs zum Hans gelaufen.«</p>
+
+<p>Damit war das Wort gefallen. Die beiden sahen
+sich ernst an.</p>
+
+<p>»Eine Frau ist im Spiel,« sagte Springe kurz.</p>
+
+<p>»Liebt er sie — —?«</p>
+
+<p>»Wenn’s das wäre! Gelt, Mädel, dann würden
+wir uns bescheiden. Aber das ist es eben nicht. Es
+ist schlimmer. Er ist mit seinen Sinnen, seinem Hochmut,
+seiner Eitelkeit engagiert. Das ist ein böses Trisolium
+für einen Mann, der gewohnt ist, alles von sich
+selbst aus zu beurteilen und sich in jeder Situation zu<span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span>
+bespiegeln. Die Coeur-Dame aber hat ebenfalls ihren
+Ehrgeiz für sich. Sie möchte außer einem Gatten von
+Rang und Würden auch noch einen Mantelträger —
+hm, anders kann ich dir das nicht erklären — und für
+dies ehrenvolle Pöstchen hat sie in ihrer großen Güte
+Hans ausersehen.«</p>
+
+<p>»Und Hans — und Hans?«</p>
+
+<p>»Ist aus allen seinen Himmeln gestürzt. Ich habe
+die feste Gewißheit, daß er sie nicht liebt, so, weißt du,
+Kind, wie wir das Wort verstehen, mit dem Ewigkeitsbegriff.
+Aber er ist im Lauf der Jahre ein armer, einsamer
+Mensch geworden, und todmüde. Da kommt nun
+eine schöne Frau des Wegs — sagen wir: die gefeiertste
+Weltdame — und da der verschlossene Sonderling für
+sie Nouveauté ist, beginnt sie zur Kurzweil das Spiel.
+Der Mann, der schon auf alle Freuden des Lebens
+verzichtet hat, traut seinen Augen nicht, zögert, alte
+Erinnerungen werden in ihm lebendig, und, teils aus
+Haß, teils aus Gier, noch einmal seine Kräfte zu erproben
+— er greift zu. Wenn ein Todkranker sich an
+etwas anklammert, mein Kind, dann fragt er nicht viel
+nach den Qualitäten, dann redet nur noch sein Egoismus,
+denn er weiß, es ist das letzte Mal ...«</p>
+
+<p>Springe sann nach. In seinem Geiste sah er, wie
+Bild für Bild sich entwickelt hatte.</p>
+
+<p>»Die schöne Frau aber,« fuhr er mit ironischer Betonung
+fort, »hatte bereits andere Pläne, auf die sie
+nicht verzichten wollte. Und da ihr unterdes Hans
+unentbehrlich geworden war, als Troubadour, so wirkte
+sie mit verdoppeltem Nachdruck auf seine Sinne, um
+ihn für das vorbehaltene Pöstchen des Schleppenträgers<span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span>
+gefügig zu machen. Gestern abend erfolgte die Erklärung,
+und der überrumpelte Hans warf dennoch im ersten
+Ansturm den Bettel über den Haufen.«</p>
+
+<p>»Ah — —« stieß die Zuhörerin hervor, und über
+ihr blaß gewordenes Gesicht huschte eine Röte.</p>
+
+<p>»Das muß der Frau wohl imponiert haben. Möglich
+auch, daß sie darauf vorbereitet war, den Mann
+erst ein bißchen der Raserei überlassen wollte, um sich
+dann über den Niedergebrochenen gnädig zu neigen,
+überzeugt, daß er nun für ein Glück halten werde, was
+ihm zuvor das Anfassen nicht wert schien. Als ich
+gestern bei Hans war und meine Plaudereien aus der
+Heimat ihn still und in sich gekehrt gemacht hatten,
+platzte in die frommste Stimmung ein <span class="antiqua">billet de diable</span>
+hinein. Und die schönste Explosion war fertig.</p>
+
+<p>Ich halte im allgemeinen nichts von sogenannten
+Schickungen. Das sind Eselsbrücken für Faulpelze, die
+nicht fest zupacken wollen. Aber als in diesem Augenblick
+bei Hans just eine schwere Erkältung zum Durchbruch
+kommen mußte, Schüttelfrost, Fieber, Kopfschmerz,
+na, Kleine, da hab’ ich für das eine Mal die Segel
+gestrichen und die ›Schickung‹ akzeptiert. Auf vierundzwanzig
+Stunden mindestens liegt er in der Klappe.
+Gottlob! Mit einem feudalen Husten und Schnupfen
+kann man weder den Othello, noch den Romeo agieren.«</p>
+
+<p>»Onkel Springe,« bat sie leise, »sei doch ernsthaft!«</p>
+
+<p>»Ich war nie ernsthafter als jetzt. Als ich gestern
+nacht vor dem Schlafengehen noch für einen Moment
+in das Café des Kaiserhofs trat, traf ich Herrn Willibald
+Hüsgen, der Hans bei uns vermutete und ihm
+auflauern wollte, um sich für den ›genußreichen Abend‹<span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span>
+im Hause Frau Bettina Wittelsbachs zu bedanken. Hans
+hatte ihn auf seine Quälereien hin dort eingeführt.
+Herr Willibald war ebenso konfus wie wütend, scheint
+sich aber einen gut rheinischen Abgang gemacht zu haben.
+Von ihm hörte ich, daß der bevorzugte Bräutigam ein
+kleiner, wenn auch etwas abgetakelter Prinz ist. Verstehst
+du jetzt? Und hier ist das Billett, das Hans
+gestern nach dem intimen Verlobungszirkel noch erhielt.
+Ich habe es eingesteckt.«</p>
+
+<p>Er legte die Karte Bettinas auf den Tisch, und
+Hannes las. Dann lehnte sie sich schweigend zurück,
+aber in ihren Augen und um ihren Mund stand ein
+Zug fester Entschlossenheit.</p>
+
+<p>»Nun —?« fragte Springe. »Jetzt gilt’s, den
+Kriegsplan entwerfen, Kleine.«</p>
+
+<p>»Ich werde zu der Dame hingehen.«</p>
+
+<p>»Was — —? Du — —?«</p>
+
+<p>»Jawohl, ich. Es muß doch auf der Stelle etwas
+geschehen. O nein, nicht meinetwegen.«</p>
+
+<p>»Aber, Mädel, alter, tapferer Hannes, was willst
+du denn dort?«</p>
+
+<p>»Das weiß ich noch nicht. Wenn ich ihr gegenüberstehe,
+werd’ ich es wissen.«</p>
+
+<p>Springe schwieg. Dann nahm er Hannes’ Hände.</p>
+
+<p>»Hör mich mal an. Ich weiß mit Frauenzimmern
+schlecht Bescheid, oder sie müßten sein wie Frau Margot,
+du und Mutter Stahl. Düsseldorfer Auslese. Aber daß
+<em class="gesperrt">du</em> zu der Dame hingehst, das duld’ ich nicht. Wenigstens
+jetzt noch nicht. Du bist ein junges Mädchen, und ich
+ein gesetzter Mann, wenn’s auch keiner glaubt. Folglich
+— werde <em class="gesperrt">ich</em> hingehen. Das war auch meine Absicht.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span></p>
+
+<p>»Onkel Springe, dir werden deine Kavaliertugenden
+im Wege stehen.«</p>
+
+<p>»Ja, Kind, um mich dort herumzuprügeln, geh’ ich
+auch nicht hin.«</p>
+
+<p>Nun mußte sie doch lächeln, trotz ihrer schweren
+Stimmung.</p>
+
+<p>»So meinte ich es nicht. Aber gewisse Dinge können
+sich nur Frauen sagen. Und wenn du nichts erreichst?«</p>
+
+<p>»Dann, ja dann soll die Reihe an dir sein. Abgemacht!«</p>
+
+<p>Sie erhoben sich und unternahmen einen Spaziergang,
+über die Linden, durch das Brandenburger Tor
+und den Tiergarten. Das Thema wurde nicht weiter
+berührt. Sie waren beide wortkarg geworden.</p>
+
+<p>Als es gegen elf Uhr ging, verabredeten sie, da das
+Wetter heiter war, eine Rendezvousstelle am westlichen
+Ausgang des Tiergartens. Springe nahm einen Wagen
+und fuhr zum Kurfürstendamm. Dem Hausmädchen,
+welches ihm die Korridortür öffnete, gab er seine Karte
+und trug ihm auf, der gnädigen Frau zu bestellen, daß
+er eine Mitteilung von Herrn Doktor Steinherr zu überbringen
+habe. Wenige Minuten darauf stand er im
+Empfangssalon Bettina gegenüber.</p>
+
+<p>Sie sah etwas abgespannt aus, aber gerade der
+matte Flor um die Augen verstärkte den pikanten Reiz.</p>
+
+<p>»Meine gnädige Frau,« sagte er mit tiefer Verbeugung,
+»ich erbitte Ihre Verzeihung, daß ich so gänzlich
+ungerufen —«</p>
+
+<p>»O,« erwiderte sie lächelnd, »die Freunde des Herrn
+Doktor Steinherr sind auch meine Freunde.«</p>
+
+<p>»Ich werde mir diesen Vorzug zu eigen machen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span></p>
+
+<p>Sie zog einen Moment die Augenbrauen hoch; dann
+wies sie lässig auf einen Sessel. »Sie ließen mich wissen,
+daß ein Auftrag des Herrn Doktor Sie zu mir führe ...«</p>
+
+<p>»Ein Auftrag? Pardon, nein. Das ist ein Mißverständnis.
+Lediglich ein Mitteilungsbedürfnis trieb
+mich her.«</p>
+
+<p>Eine Pause trat ein. Frau Bettina war auf der
+Stelle orientiert. Und diese Pause benutzten sie beide,
+um sich schweigend zu beobachten. Dann sagte die
+Dame des Hauses kalt: »Jetzt ist es an mir, Ihre
+Verzeihung zu erbitten. Aber ich erwarte in dieser
+Minute noch Besuch.«</p>
+
+<p>Heinrich von Springe verneigte sich, aber er blieb
+sitzen. »Der Besucher, meine gnädige Frau, ist leider
+durch eine heimtückische Krankheit ans Bett gefesselt.«</p>
+
+<p>»Hans ist krank — —?« entfuhr es ihr so schnell,
+daß sie ihren Fehler nicht mehr korrigieren konnte.</p>
+
+<p>»Ja,« wiederholte Springe höflich, »er ist krank.
+Gestern abend ist er plötzlich erkrankt.«</p>
+
+<p>Sie nagte nervös an der Lippe, um die Beherrschung
+wiederzufinden. Dann sah sie ihr Gegenüber scharf an.</p>
+
+<p>»Sie wissen, um was es sich handelt?«</p>
+
+<p>»Um eine Influenza, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>»Ah —!« rief sie zornig und sprang auf. »Mir
+scheint, Sie wollen die Situation ins Lächerliche ziehen.«</p>
+
+<p>Auch Springe hatte sich sofort erhoben.</p>
+
+<p>»Wenn gnädige Frau mit der Frage etwas anderes
+bezweckten, dann allerdings habe ich —«</p>
+
+<p>»Nein, nein,« lachte sie ungeduldig auf, »es handelt
+sich in der Tat um diese — diese Influenza.«</p>
+
+<p>Springe lachte unaufgefordert mit, als ob er die<span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span>
+Pointe in ihren Worten durchaus nicht verstanden
+hätte.</p>
+
+<p>»Sie haben recht, gnädige Frau, das ist freilich
+eine außerordentlich komische Krankheit.«</p>
+
+<p>Da wurden ihre Gesichtszüge unbeweglich.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, mein Herr, für die Freundlichkeit,
+mich zu benachrichtigen. Ich darf aber wohl Ihre
+Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«</p>
+
+<p>Und als Springe zögernd auf seinem Platze verharrte,
+sagte sie mit einer hoheitsvollen Abschiedsverneigung:
+»Herr von Springe — —?«</p>
+
+<p>Da rückte sich Springe zusammen und trat einen
+Schritt näher.</p>
+
+<p>»Gestatten Sie mir, meine gnädige Frau, daß ich
+noch ein bei der Vorstellung entstandenes Versäumnis
+nachhole. Ich möchte nicht gehen, ohne mich Ihnen in
+meiner Eigenschaft als Vater Hans Steinherrs zu präsentieren.«</p>
+
+<p>Frau Bettina trat überrascht zurück, glühende Röte
+auf der Stirn. »Sie scherzen,« stammelte sie verwirrt,
+»das ist doch nicht möglich.«</p>
+
+<p>»Die Verwunderung ist ganz auf meiner Seite,
+gnädige Frau. Sollte Hans das nie erwähnt haben?«</p>
+
+<p>»Er liebte es nicht, von daheim zu sprechen,« gab
+sie, immer noch fassungslos, zur Antwort. »Nur einmal,
+ganz kurz, erwähnte er eines alten Freundes, der
+durch Heirat sein, Hansens, Stiefvater geworden sei.«</p>
+
+<p>»Dieser alte Freund bin ich, gnädige Frau, und
+die Freundschaft ist auf meiner Seite unverändert geblieben.«</p>
+
+<p>»Sie sind nicht alt ...« sagte sie gedankenlos.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span></p>
+
+<p>»Ist denn äußerlich erkennbares Alter ein unbedingtes
+Erfordernis zum Ehemann?«</p>
+
+<p>Sie zuckte zusammen. Das war Hohn. — — Nun
+hatte sie sich wieder.</p>
+
+<p>»Da Sie sich als Vater meines besten Freundes
+ausweisen,« sagte sie mit lächelnder Liebenswürdigkeit,
+»so müssen Sie mir schon erlauben, daß ich Sie noch
+ein wenig hier behalte. Das ist eine unerwartete Freude
+für mich.«</p>
+
+<p>Springe stutzte; aber er ließ sich wieder nieder.</p>
+
+<p>»Und nun erzählen Sie mir von ihm. Von dem
+Hans, als er noch ganz klein und unartig war.«</p>
+
+<p>»Sollte es nicht,« erwiderte Springe verblüfft,
+»in unserem Falle richtiger sein, <em class="gesperrt">Sie</em> erzählten mir
+von dem Hans, als er schon ganz groß und — artig
+war?«</p>
+
+<p>»Bitte, bitte,« schmeichelte sie, und ihre dunklen
+Augen schienen weich und flehend. »Was ich zu berichten
+habe, ist nicht immer erfreulich. Er hat mir
+viel Sorgen gemacht, aber ich hab’ ihn gern und bewundere
+sein Talent; und von seinen Freunden erträgt
+man viel, das haben Sie wohl auch erfahren. Erzählen
+Sie mir von seiner Jugend. Nachher mag die Reihe
+an mich kommen, zu ergänzen.«</p>
+
+<p>Noch einmal machte Springe einen Anlauf, das
+Gespräch auf der anderen Bahn zu halten. Aber sie
+legte ihm sanft die Spitzen ihrer zarten Finger auf die
+Hand und sah ihm mit dem rätselhaft lächelnden Blick
+in die Augen.</p>
+
+<p>Das arme Ding, dachte er mitleidig, sie kann nun
+einmal nicht gegen ihre Natur. Es ist ein Jammer,<span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span>
+daß man so einem schönen Geschöpf wehe tun muß.
+Na, anders geht’s doch nicht.</p>
+
+<p>Aber er begann zunächst zu erzählen. Vom Rhein,
+vom Düsseldorfer Leben, von seiner ersten Bekanntschaft
+mit Hans, von den großen Qualitäten des jungen
+Freundes und seiner Entwicklung, von den feinen,
+dichterischen Talenten, die durch eine Jugendliebe geweckt
+worden seien, und vieles mehr. Jedesmal, wenn
+er zu Ende kommen wollte, berührte sie leise seine Hand,
+und ihr Auge verlangte, daß er fortfahre.</p>
+
+<p>Mitten in einer Schilderung hielt er inne. Die
+Zimmeruhr hatte die Mittagsstunde geschlagen. Der
+Zweck seiner Mission fiel ihm heiß aufs Herz. »Gnädige
+Frau,« sagte er sich erhebend, »Sie müssen mir den
+Jungen freigeben, zumal ich mich gleichzeitig beehren
+darf, Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche zur Verlobung
+auszusprechen.«</p>
+
+<p>Frau Bettina lehnte sich tief zurück. Das war die
+Ironie, die ihr immer imponierte.</p>
+
+<p>»Und wenn ich ihn trotzdem behalten möchte.«</p>
+
+<p>»Das ist des Rheinlands nicht der Brauch. Wir
+da von der Westgrenze sind als reichlich selbstbewußt,
+oder sagen wir ruhig: hochmütig verschrieen bei aller
+unserer Lebensleichtigkeit; auch in unserem Lieben machen
+wir Anspruch auf die <em class="gesperrt">erste</em> Stelle.«</p>
+
+<p>»Und in Ihrem Hassen?«</p>
+
+<p>»Ich bin kein Adelsnarr. Aber auf dem Wappen
+meiner Familie steht der rechte Spruch: ›<span class="antiqua">Pectus amicis,
+hostibus frontem</span>.‹ Sie haben die Wahl.«</p>
+
+<p>»Ich verstehe kein Latein.«</p>
+
+<p>»Ich auch nicht. Ich hab’s wieder verlernt, seitdem<span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span>
+ich merkte, daß in der Welt viel zu wenig ›deutsch‹
+geredet würde. ›Die Brust dem Freund, die Stirn dem
+Feind‹, lautet der Spruch.«</p>
+
+<p>»Wollen Sie mein Freund sein, Herr von Springe?«</p>
+
+<p>»Gnädige Frau tun mir unverdiente Ehre an.«</p>
+
+<p>»Wer ist heute noch ein Freund? Ihr Hans, o ja;
+heute schon läßt er mich allein. Aber ein Mann ist
+er doch, der Tollkopf, und deshalb muß er mein Freund
+bleiben. Und Sie sind sein Erzieher ... Aus dieser Quelle
+hat er geschöpft. Lassen Sie mich auch davon profitieren.«</p>
+
+<p>»Meine gnädige Frau, der Zweck meines Besuches
+ist denn doch wohl —«</p>
+
+<p>»Den Zweck Ihres Besuches,« fiel sie ein und
+schüttelte ihm herzlich die Hand, »den sollen Sie mir
+morgen sagen, um diese Stunde. Kommen Sie allein,
+oder kommen Sie mit Hans. Heute laß ich mir die
+schöne Stimmung, die ich Ihnen danke, nicht angreifen.
+Das ist Ihre eigene Schuld.«</p>
+
+<p>Sie sah ihn an, mit halb über die Augen gesenkten
+Wimpern.</p>
+
+<p>»Auf Wiedersehen, Herr von Springe! Ihrem
+Pflegling die zärtlichsten Wünsche.«</p>
+
+<p>Da stand er draußen; lachend, wütend, vollständig
+durcheinandergewirbelt. Die Hexe, sprudelte es in ihm.
+Da hat sie mich so lange von Düsseldorf erzählen lassen,
+bis wir glücklich so familiär geworden waren, daß ich
+ihr nicht mehr grob kommen konnte. Hannes meinte ja
+gleich, meine Kavalierstugenden — — ach was, Kavalierstugenden!
+Blamiert hast du dich, alter Sohn!
+Vor zwei kokettierenden Satansaugen hast du geschnurrt
+wie ein Kater, dem man das Fell streicht!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span></p>
+
+<p>Als er seiner Bundesgenossin ansichtig wurde, schlug ihm
+doch das Herz. Aber er bemäntelte seine Niederlage nicht.</p>
+
+<p>»Sie hat mich in Watte gewickelt,« knurrte er und
+biß sich auf den Schnurrbart. »Viel hätte nicht gefehlt,
+und ich wär’ ihr um den Hals gefallen.«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank!« gab das Mädchen zur Antwort.</p>
+
+<p>»Gott sei Dank?« wiederholte Springe perplex.
+»Wieso denn das?«</p>
+
+<p>»Onkel Springe, wenn selbst du nicht standhalten
+kannst, ist Hans doch auch entschuldigt!«</p>
+
+<p>Das ist die Logik der Liebe, dachte Springe. Aber
+er war kleinlaut geworden und sagte es nicht laut.</p>
+
+<p>»Erwarte mich im Hotel, Onkel. Spätestens in einer
+Stunde bin ich zurück.«</p>
+
+<p>Er sah ihr nach, wie sie über den Damm mit leichtem,
+flotten Gang auf eine Droschke zuschritt. In dem rotblonden
+Haar lag die Vorfrühlingssonne wie eine lustige
+Lohe. Ist das ein Mädel! gestand sich Springe. Man
+wird gesund und fröhlich vom bloßen Anschauen. Da
+liegt ein anderer Schmiß drin als in der Treibhausblume
+von vorhin. — — — Na, na, na ... Nachträglich
+Schimpfen, das ist auch so eine Art —.</p>
+
+<p>Dann wandte er sich ab und schlug langsam den
+Weg zum Hotel ein. — — —</p>
+
+<p>Hannes hatte Frau Bettina ihre Künstlerkarte hineingeschickt,
+wie sie sie im Verkehr mit Konzertdirektoren
+und Arrangeuren zu benutzen pflegte.</p>
+
+<p>»Johanna Stahl?« las Bettina nachdenklich. »Die
+berühmte Altistin, die gestern erst im Philharmonischen
+— Sagen Sie der Dame, Anna, daß ich sehr erfreut
+bin, sie zu empfangen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span></p>
+
+<p>Die beiden Frauen standen sich gegenüber.</p>
+
+<p>»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Bettina, überwältigt
+von der eigenartigen Erscheinung und der jugendlichen
+Schönheit der Sängerin, und streckte ihr beide
+Hände entgegen, »was verschafft mir den Vorzug, einen
+so ausgezeichneten Gast bei mir zu sehen?«</p>
+
+<p>»Bewilligen Sie mir wenige Minuten Gehör, gnädige
+Frau? Ich möchte vorausschicken, daß die Angelegenheit,
+die mich herführt, in erster Linie <em class="gesperrt">Ihre</em> Interessen tangiert.«</p>
+
+<p>Bettina ließ die Arme sinken. Die andere hatte ihre
+Willkommenbewegung gänzlich übersehen.</p>
+
+<p>»Nehmen Sie Platz, mein Fräulein,« sagte sie mit
+formeller Höflichkeit. »Womit kann ich Ihnen dienen?«</p>
+
+<p>Hannes machte von der Einladung keinen Gebrauch.
+Eine Sekunde lang kreuzten sich ihre Blicke. Die eine
+sah die dunkeläugige, gefährliche Favoritin, die andere
+das freie, unerschrockene Germanenmädchen.</p>
+
+<p>»Ich spreche gern die Hoffnung aus,« begann Hannes
+ruhig, »daß unsere Unterredung ebenso kurz wie befriedigend
+verläuft. Mein Pflegeonkel, Herr von Springe,
+ist, wie sich denken ließ, unverrichteter Sache heimgekehrt.
+Ich hatte ihm gleich gesagt, daß das kein Geschäft für
+Männer sei.«</p>
+
+<p>»Ein Geschäft —? Mein Fräulein, Sie bedienen
+sich recht seltsamer Ausdrücke.«</p>
+
+<p>»Wir wollen hier nicht um Worte streiten, gnädige
+Frau. Das würde die Erledigung der Angelegenheit
+nur verzögern.«</p>
+
+<p>»So — so — —. Sie kommen aus demselben
+Grunde wie Herr von Springe? Nun, ich finde das
+für Sie nicht sonderlich delikat.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span></p>
+
+<p>»Gnädige Frau, Sie wollen gütigst beachten, daß
+das — Parfüm nicht von mir herstammt.«</p>
+
+<p>»Mein Fräulein!«</p>
+
+<p>»O nein, Sie erschrecken mich nicht. Ich fasse mich
+kurz. Das ist auch mein Geschmack. Es liegt in Ihrem
+Interesse, daß ich Sie bitte, Ihre Beziehungen zu Herrn
+Hans Steinherr ohne weiteres abzubrechen.«</p>
+
+<p>»Verehrtes Fräulein,« lachte Bettina und zuckte die
+Achseln, »die Rolle der verlassenen Ariadne, in der Sie
+sich gefallen, ist einfach lächerlich.«</p>
+
+<p>»Es freut mich, daß Sie das Kolorit dieser Rolle
+richtig taxieren, obwohl ich nicht viel mit ihr zu tun
+habe. Ich reise morgen nach München und singe in
+acht Tagen in Paris. Aber eben Sie, gnädige Frau,
+möchte ich vor dieser Rolle bewahren.«</p>
+
+<p>»Tragen Sie keine Sorge. Ich qualifiziere mich
+nicht dazu.«</p>
+
+<p>»Das zu erfahren, läge lediglich in meiner Hand.«</p>
+
+<p>»Sie machen mich neugierig.«</p>
+
+<p>»Ich frage Sie nur, ob Sie, die Verlobte eines
+hohen Herrn, die Beziehungen zu meinem Jugendfreunde
+lösen wollen oder nicht.«</p>
+
+<p>»Und wenn ich Ihnen jegliche Antwort darauf verweigerte?«</p>
+
+<p>»Soll ich das als Antwort auslegen?«</p>
+
+<p>»Es steht in Ihrem Belieben.«</p>
+
+<p>»So zwingen Sie mich, auf der Stelle zum Prinzen
+Georg hinzufahren und ihm den Inhalt dieser Unterredung
+mitzuteilen. Entscheiden Sie sich!«</p>
+
+<p>Bettina war erblaßt. Ihre Brust hob und senkte sich
+tief, und die langen Wimpern zitterten über ihren Augen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span></p>
+
+<p>»Wenn Sie durchaus Lust verspüren, sich selbst
+mit diesem Schritt zu kompromittieren — —. Sie verstehen
+mich wohl. Übrigens wird man Sie nicht empfangen.«</p>
+
+<p>»Man <em class="gesperrt">wird</em> mich empfangen. Ich bin meiner
+Kunst dankbar, daß sie mir alle Türen öffnet. Und
+vor einer Kompromittierung fürchte ich mich nicht. Das
+ist mir die Freundschaft schon wert.«</p>
+
+<p>Die beiden Frauen sahen sich fest in die Augen.
+Dann sagte Bettina mit einer starken Willensanstrengung:
+»Ihr glühendes Eintreten stellt mir den Preis so verlockend
+vor, daß ich Lust habe, freiwillig dem Prinzen
+abzusagen und Herrn Doktor Steinherrs Werbung heute
+noch anzunehmen.«</p>
+
+<p>»Das kommt zu spät, gnädige Frau.«</p>
+
+<p>»Mein Fräulein, ich muß mir jetzt jeden weiteren
+Einspruch verbitten.«</p>
+
+<p>»Gestern hätten Sie noch ein Recht dazu gehabt,
+heute nicht mehr. Ich lasse Hans nicht unglücklich
+machen.«</p>
+
+<p>»Unglücklich? Wenn ich ihn heirate? Das ist zum
+wenigsten originell.«</p>
+
+<p>»Hans würde über die gestrige furchtbare Enttäuschung
+nie hinwegkommen. Er würde nie das Vertrauen
+zurückgewinnen und an den quälenden Gedanken
+zu Grunde gehen.«</p>
+
+<p>»In Ihnen aber, nicht wahr, in Ihnen würde er
+die rechte Gefährtin finden. Nun, ich bin nicht seelengroß
+genug, um Ihnen den erwählten Gatten abzutreten.
+Mein Entschluß ist jetzt gefaßt.«</p>
+
+<p>»Gnädige Frau,« begann Hannes, und ihr stolzer<span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span>
+Mädchenkörper reckte sich hoch auf. Über ihrem Gesicht
+lag eine finstere Ruhe. »Gnädige Frau, ich habe bis
+jetzt <em class="gesperrt">nicht</em> von mir gesprochen, aber wenn Sie mich
+zwingen, <em class="gesperrt">werde</em> ich von mir sprechen.«</p>
+
+<p>»Ah — das klingt wie eine Drohung ...«</p>
+
+<p>»Und es <em class="gesperrt">ist</em> eine Drohung. Sehen Sie mich an.
+Wir sind zwei Frauen, und keiner hört uns. In der
+Stunde der Gefahr soll keine falsche Scham zwischen
+uns stehen. Sehen Sie mich an. Sie sind schön und
+üben Ihren Einfluß auf die Männer; und ich —« eine
+dunkle Röte flog über ihre Stirn, aber in ihren Augen
+blieb das stahlharte Leuchten — »ich traue mir zu, es
+mit Ihnen aufzunehmen. Kein Mann hat mich je berührt,
+mit Ausnahme Hans Steinherrs, als er noch ein
+halber Knabe war. Das fällt mit in die Wagschale.
+Wagen Sie es, von seiner Stimmung Gebrauch zu
+machen, wagen Sie es, ihn für immer an sich zu ketten
+und damit sein Leben zu zerstören, nachdem Sie seinen
+Glauben schon zerstört haben! Selbst <em class="gesperrt">dann</em> werde ich
+meine mädchenhafte Scheu überwinden, und ich werde
+schöner sein und treuer sein als Sie, und ich werde
+länger jung bleiben um seinetwillen! Wagen Sie den
+Kampf? Ich werde ihn mit der Heimatsstimme rufen
+und dem Ton der alten Erinnerungen. Für sein Glück
+soll mir <em class="gesperrt">kein</em> Opfer zu schwer sein, und der Herrgott
+wird es mir verzeihen.«</p>
+
+<p>Frau Bettina starrte das Mädchen an. Das war kein
+Ausbruch verwundeter Eitelkeit, das war die hinreißende
+Frauenreinheit, die alles darf, und die durch nichts befleckt
+wird. Und mit einem Male kam sie sich alt und müde vor
+neben dem jungen, zu jedem Kampf entschlossenen Geschöpf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span></p>
+
+<p>»Gehen Sie, gehen Sie!« murmelte sie und drückte
+die Hand vor die Augen.</p>
+
+<p>Da trat Hannes auf sie zu und zog Frau Bettinas
+Hände herab. »Ich bin, als ich eintrat, Ihrem Händedruck
+ausgewichen, gnädige Frau. Lassen Sie mich jetzt
+Ihre Hände drücken.«</p>
+
+<p>»Ich weiß nicht, womit Sie es mir angetan haben,«
+stammelte die Frau. »Sie — Sie haben den gläubigen
+Mut ...« Und plötzlich, dem Impuls des Weibes
+folgend, schlang sie den Arm um Hannes und sah ihr
+leidenschaftlich in das ernste und doch so jugendstrahlende
+Gesicht.</p>
+
+<p>»Leben Sie wohl, Sie glückliche Natur! Ihr Hans
+soll nie wieder von mir hören. Nur drei Abschiedszeilen
+zum Adieu.«</p>
+
+<p>Mein Hans — dachte Hannes mit einem wehmütigen
+Lächeln. Aber sie behielt tapfer ihre Haltung bei, und
+ruhig und gefaßt schieden die Frauen voneinander. — —</p>
+
+<p>Im Hotel ließ sie Springe auf ihr Zimmer bitten.
+Sie nickte dem aufgeregt Hereinstürmenden zu.</p>
+
+<p>»Hans wird <em class="gesperrt">nicht</em> über Bord gehen. Die Gefahr
+ist vorbei.«</p>
+
+<p class="center noind"><sup>*</sup> &nbsp;&nbsp; <sub>*</sub>
+&nbsp;&nbsp; <sup>*</sup></p>
+
+<p>Als Springe am Nachmittag den Freund aufsuchte,
+fand er ihn am Schreibtisch sitzend. Stumm wies Hans
+Steinherr auf ein Blatt Papier. Bettina schrieb ihm,
+daß sie noch am selben Abend zu Verwandten ihres
+Verlobten abreise, ihn aber um seine Verzeihung bitte.</p>
+
+<p>»Komm mit nach Düsseldorf!« sagte Springe ernst.
+»Du bist es dir und du bist es auch der Mutter schuldig.
+Die Heimat wird dich gesund machen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span></p>
+
+<p>»Ich glaube an kein Gesundwerden mehr, Heinrich.
+Ich habe meine Wurzeln eigenhändig zerstört.«</p>
+
+<p>Aber er ließ sich leicht überreden, er war müde und
+hatte eine traurige Sehnsucht. —</p>
+
+<p>Hannes war nach München abgereist. Er hatte
+ihre Grüße empfangen und sie selbst nicht gesehen. Sie
+schien vor ihm geflohen zu sein, und das schmerzte ihn
+tiefer, als er es Springe wissen ließ.</p>
+
+<p>In den ersten Märztagen fuhr Hans Steinherr an
+der Seite Heinrich von Springes durch Hannover, Westfalen
+und das niederrheinische Land. In sich versunken
+blickte er auf die Lichter Düsseldorfs, die sich rasch
+näherten. Er kam nicht als Sieger, aber er kam.</p>
+
+<p>Die Heimat hatte ihren erkrankten Sohn zurückgefordert.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-375.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Siebentes_Kapitel_Buch_2">Siebentes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Herr Friedrich Leopold von Springe saß an seinem
+hochbeinigen Schachtisch, dessen eingelegte Platte von
+einer niederen Galerie umgeben war, um die Figuren
+vor dem Hinabstürzen zu bewahren. Er trug eine
+elegante, flauschige Jagdjoppe, sein dünnes Haar war
+sorgfältig frisiert, und sein schlohweißer Schnurrbart
+strebte noch immer in keck gestutzten Spitzen nach oben.
+Nur in seinen Händen war ein leichtes, wenn auch kaum
+auffallendes Zittern zu bemerken, wenn er den Läufer
+zum Sturm beorderte oder den Springer den Rösselsprung
+vollziehen ließ. Er behauptete zwar, das sei
+die Aufregung des Spiels, kompliziert durch die Partnerschaft
+einer angebeteten Dame.</p>
+
+<p>Diese Partnerin und Verehrte seines Herzens thronte
+in Gestalt Frau Stahls auf einem hohen Ledersessel
+ihm gegenüber. Über ihre faltigen Züge huschte, so oft
+sich Herr Friedrich Leopold in einer chevaleresken Bemerkung
+gefiel, ein kurzes, verschämtes Lächeln, das sie
+alsbald unter einem verdoppelt strengen Ernst zu verstecken
+sich mühte, gerade so, als müßte man sich von
+dem gefährlich tuenden alten Herrn der unglaublichsten
+Heißspornigkeiten gewärtig halten und dürfte daher seinem
+Jugendfeuer nicht die geringsten Konzessionen machen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span></p>
+
+<p>Eine warme Gemütlichkeit herrschte in dem Zimmer.
+Kein Geruch nach Lavendel und Rosmarin. Aber es
+duftete verräterisch nach echtem Sellnerschen Punsch vom
+Karlsplatz.</p>
+
+<p>»Durchaus nicht, weil ich am Alkohol hänge,«
+pflegte der alte Herr jedesmal zu betonen, wenn er aus
+dem Tischuntersatz das Glas hervorholte und verbindlich
+gegen Frau Stahl hob. »Ich bin eigentlich von Haus
+aus Vegetarier und schwärme für junges Gemüse. Aber
+wo soll der Mensch in den ersten Tagen des Märzen
+Maikräuter herbeziehen!«</p>
+
+<p>Gegen diese eiserne Logik ließ sich nichts einwenden.
+Und wenn auch Frau Stahl von Zeit zu Zeit mit dem
+liebevoll geschärften Blick, mit dem man große Jungen
+zur Einkehr zwingt, auf die nach dem Tischuntersatz
+tastende Hand des alten Herrn schaute, <em class="gesperrt">so</em> ungefähr,
+als ob sie auf seinem Handrücken etwas ganz außerordentlich
+Interessantes erblickte, so erhob sie sich doch
+zu mehreren Malen am Abend, um aus dem Kamin
+schweigend den dampfenden Wasserkessel hervorzuziehen.</p>
+
+<p>Dann saß Herr Friedrich Leopold ganz still, die
+Hände im Schoß gefaltet, und beobachtete ihr Tun.
+Mit leichtgewölbten Nasenflügeln schnupperte er den
+Duft, der aus der innigen Vermählung des Punschsirups
+mit dem brodelnden Wasser aufstieg, und bewegte
+leise die Lippen.</p>
+
+<p>»Aber, Herr von Springe,« sagte die alte Frau
+mahnend, »können Sie denn gar nicht abwarten?«</p>
+
+<p>»Ach,« erwiderte Friedrich Leopold harmlos, »Sie
+meinen also wirklich, das geschehe wegen des Punsches?
+O, meine gute Frau Stahl, in welchem Irrtum bewegen<span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span>
+Sie sich. Wenn meine Lippen sich regen, so tun sie es,
+weil es sie zum Reden drängt. Wes das Herz voll ist,
+des geht der Mund über. Und wenn ich so die Zierlichkeit
+Ihrer Bewegungen bei der Punschbereitung betrachte
+— nein, nein, lassen Sie mich nicht weitersprechen.
+Aber das Wort des einzigen Philosophen,
+den ich anerkenne, bleibt dennoch wahr: Wer Sorgen
+hat, hat auch Likör.«</p>
+
+<p>»Haben Sie denn Sorgen, Herr von Springe? Das
+bißchen Podagra meldet sich doch nur beim Witterungsumschwung.«</p>
+
+<p>»Liebessorgen, meine verehrte Frau; Liebessorgen
+um Sie.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte die alte Frau und hob betrüblich die
+Achseln, »da ist freilich nix zu machen. Sie kennen
+meinen Standpunkt. Ich bleib’ fest, aus Konsequenz.«</p>
+
+<p>»Na, dann geben Sie mir wenigstens den Leidenskelch.
+Frau Stahl, Frau Stahl! Wenn ich in meinen
+besten Mannesjahren jählings zum Trinker werde —
+Sie tragen die Verantwortung. Nein, nein!« protestierte
+er, »keine stärkere Wasserzugabe. Ich bin durch Ihre
+Absage genügend abgebrüht.«</p>
+
+<p>Sie aber ließ sich nicht behindern, den Trank nach
+Gutdünken zu mischen.</p>
+
+<p>In dem offenen Kamin knatterten die Holzscheite
+hinter dem Eisengitter. Das war bei kaltem Wetter
+Herrn Friedrich Leopolds größte Freude.</p>
+
+<p>»Sehen Sie,« belehrte er Frau Stahl, »der Stolz
+auf sein altes Adelsgeschlecht, das ist doch kein leerer
+Wahn. Man muß ihn nur richtig handhaben. Ich bin
+ja nur ein dürres Reis an unserem Stammbaum, aber<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span>
+trotzdem, ich habe die Geschichte unseres Hauses im
+kleinen Finger. Und wenn ich so sitze und grübele —
+dann gehört ein offenes Kaminfeuer dazu und das
+Rattern und Knattern der Scheite. An so einem Kaminfeuer
+haben sich auch meine Herren Vorgänger im lustigen
+Mittelalter höchstihre Fußsohlen gewärmt, wenn sie von
+mehr oder weniger tugendhaftem Beginnen auf ihre
+Burg am Rhein zurückkehrten. Geben Sie gut acht.
+Der Kamin und das Füßewärmen tun’s nicht allein;
+aber — die Tradition. Es ist so ein eigentümlich Ding
+um so eine Familientradition. Man sollte ihr auch in
+Bürgerkreisen mehr nachgehen. Glauben Sie mir, die
+Gedanken daran wandeln sich in Blutkörperchen um,
+und die Blutkörperchen geben Haltung. Man weiß,
+man ist seinen Vorgängern und Nachfolgern etwas
+schuldig, und wäre es auch nur die — gute Haltung.
+Ein Meteor, das sich von seinem Heimatstern ablöst,
+strahlt zwar sehr schön und setzt alle Welt einen Atemzug
+in Staunen, aber wenn es seine Bahn durchsaust
+hat, sinkt es auf fremder Erde in Nacht und Grauen.
+Höchstens findet’s ein Professor. Der klopft und riecht
+dran herum und — o Tragikomödie des Meteors —
+erklärt der gläubigen Jüngerschar: Meine Herren, das,
+was Sie hier sehen, ist durchaus kein Element an sich.
+Es hatte einmal elementare Qualitäten, als es noch
+seine Kräfte aus dem zuständigen Heimatsrevier des
+Saturn oder Uranus zog. Jetzt aber, jetzt — tun Sie’s
+in Ihre Sammlung, unter: Verschiedenes.«</p>
+
+<p>Der alte rheinische Junker stemmte seine Füße fest
+gegen das Kamingitter und fuhr fort: »Die Familientradition,
+ja, die hat eben etwas an sich. Man braucht<span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span>
+sie nicht nachzubeten, bloß in den Knochen soll man sie
+haben. Das ist auf alle Fälle ein feiner Regulator
+zwischen dem modernen Geist und der alten Materie.
+Sie mögen sagen, was Sie wollen: das sind Imponderabilien,
+die man bei der Rassenentwicklung nicht unterschätzen
+soll. Schauen Sie sich um unter den Söhnen
+des Landes. Bengel sind sie ja alle, gottlob!, und
+das ist ein gesundes Zeichen. Aber wie Sie, im engeren,
+unter den Akademikern untrüglich die Verbindungsstudenten
+herauswittern, so werden Ihnen, im weiteren,
+immer die jungen Leute auffallen, die durch ihre Erziehung
+darauf hingeleitet worden sind, ihrer Altvorderen,
+ob bürgerlichen oder adligen Grades, zu gedenken. Was
+natürlich mit der persönlichen Hinneigung des einzelnen
+zum Genie oder zum Schafskopf auch nicht das allermindeste
+zu tun hat. Ich resümiere nur auf die Haltung;
+in allen Lebenslagen.«</p>
+
+<p>Die alte Frau, die das Leben wissend gemacht hatte,
+nickte. Auch heute freute sie sich an der draufgängerischen
+Frische des Altersgenossen, aber sie hatte Lust, zu opponieren.</p>
+
+<p>»Und wenn ein Kind keine Familientradition besitzt?
+Es gibt doch auch solche Würmer.«</p>
+
+<p>»Donnerwetter,« sagte der alte Herr eifrig, »dann
+heißt es eine anlegen; auf einer Basis, so groß und breit
+und tief und unveräußerlich, wie — na — kurz — wie
+ein Fideikommiß. Deubel ja, muß das schön sein, eine
+werdende Familie zu etablieren, so eine mit Haken und
+Ösen. Und der dolle Stolz, den man dann darauf hat!«</p>
+
+<p>»Zum Beispiel: wie der alte Steinherr,« meinte
+Frau Stahl nebenbei.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span></p>
+
+<p>Herr Friedrich Leopold sah sie groß an.</p>
+
+<p>»Ich sprach doch nicht von einem Krämergeschäft
+mit Addieren, Multiplizieren und Bruch- und Prozentrechnung,
+bis die Siebenstellige im Münzwert voll ist?
+Nein, meine verehrte Frau, ich meinte die Etablierung
+eines besonders feinen und körperlich gesunden Menschenschlags,
+mit Addieren und Multiplizieren, bis die Siebenstellige
+im geistigen oder seelischen Wert voll ist, von
+der dann die Nachkommen auf Generationen hinaus
+zehren. Um Ihnen ebenfalls mit einem Beispiel zu
+dienen: Hannes!« — —</p>
+
+<p>Die alte Frau stand auf, ging zum Kamin und
+schüttelte dem Realphilosophen derb die Hand.</p>
+
+<p>»Ja, ja, ja,« philosophierte der weiter, »und langlebig
+macht so eine gute, alte Familienerinnerung!
+Wenn andere Leute in das Kaminfeuer blicken, denken
+sie zurück bis zu dem Tage, an dem sie ihre Nase im
+Gesicht verspürten. Bei mir jedoch werden hundert
+Jahre wie ein Tag. Da seh’ ich alle meine Leute durch
+die Jahrhunderte schreiten, und alle sind sie mir bekannt,
+die Würdigen und die Borstigen, und so oft ich
+sie aufmarschieren lasse — ätsch, ich bin der Jüngste.
+Sehen Sie, meine verehrte Freundin, darin liegt das
+große Geheimnis meiner ewigen Jugend.«</p>
+
+<p>Die Greisin sann nach.</p>
+
+<p>»Sie sind ein glücklicher Mensch,« sagte sie dann.</p>
+
+<p>»Bin ich auch.«</p>
+
+<p>»Den einen trifft’s und den anderen kann’s auch
+treffen. Wenn man in die Jahre kommt, von denen
+geschrieben steht: sie gefallen mir nicht ...«</p>
+
+<p>»Nee, nee, nee, Frau Stahl, nun schwindeln Sie.<span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span>
+Die Jahre gefallen uns gar nicht schlecht. Jungen
+Leuten wie uns kann’s doch nicht auf ein paar lumpige
+Jahre ankommen. Die Hauptsache ist: leben, und wissen,
+daß man lebt! Beste Freundin, Ihre Lippen sind sonst
+doch immer schwer an Sprüchen der Weisheit. Ist
+Ihnen denn über den Wert des Lebens kein kräftig
+Wörtlein geläufig?«</p>
+
+<p>Die alte, ungebeugte Frau mit dem großen Lebenstrotz
+saß auf ihrem Ledersessel und strich mit der Handfläche
+über die aufmarschierten Schachfiguren hin und
+her. Dann begann sie zu reden: »Es begegnet dasselbe
+einem wie dem anderen, dem Gerechten wie dem Gottlosen,
+dem Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem,
+der opfert, wie dem, der nicht opfert. Wie es dem
+Guten gehet, so gehet’s auch dem Sünder. Wie es
+dem, der schwört gehet, so gehet’s auch dem, der den
+Eid fürchtet. Das ist ein bös Ding unter allem, das
+unter der Sonne geschieht, daß es einem gehet wie
+dem anderen; daher auch das Herz der Menschen voll
+Arges wird, und Torheit ist in ihrem Herzen, dieweil
+sie leben; danach müssen sie sterben. Denn bei allen
+Lebendigen ist, das man wünscht: Hoffnung; <em class="gesperrt">denn
+ein lebendiger Hund ist besser als ein toter
+Löwe</em>.«</p>
+
+<p>»Bravo!« rief Herr Friedrich Leopold und rieb sich
+die Hände. Besonders das Beispiel hatte seinen Beifall.</p>
+
+<p>»Denn die Lebendigen,« fuhr die Greisin mit einem
+kleinen Lächeln über des alten Freundes Zustimmungsruf
+fort, »wissen, daß sie sterben werden; die Toten
+aber wissen nichts, sie haben auch keinen Lohn mehr;
+denn ihr Gedächtnis ist vergessen, daß man sie nicht<span class="pagenum" id="Seite_383">[S. 383]</span>
+mehr liebet, noch hasset, noch neidet; und haben keinen
+Teil mehr auf der Welt in allem, das unter der Sonne
+geschieht.«</p>
+
+<p>»Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe,«
+bestätigte der Zuhörer.</p>
+
+<p>»So gehe hin,« schloß die Greisin frisch, »und iß
+dein Brot mit <em class="gesperrt">Freuden</em>, trinke deinen Wein mit
+<em class="gesperrt">gutem Mut</em> —«</p>
+
+<p>»Bravo, bravo —«</p>
+
+<p>»— denn dein Werk gefällt Gott. Laß deine Kleider
+immer weiß sein, und laß deinem Haupte Salbe nicht
+mangeln. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das
+du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir
+Gott unter der Sonne gegeben hat, solange dein eitel
+Leben währet; denn das ist dein Teil im Leben und
+in deiner Arbeit, die du tust unter der Sonne. Alles,
+was dir von Handen kommt zu tun, das tue <em class="gesperrt">frisch</em>;
+denn in der Hölle, da du hinfährst, ist weder Werk,
+Kunst, Vernunft, noch Weisheit.«</p>
+
+<p>»Schade um den Schluß,« sagte Herr Friedrich
+Leopold, »aber bange machen gilt nicht, und Spaß
+muß sein.«</p>
+
+<p>Dann verließ er seinen Kaminsitz, nahm Frau Stahl
+gegenüber am Schachtisch Platz und schaute sie voll
+ehrlicher Bewunderung an.</p>
+
+<p>»Allen Respekt, Verehrteste, das war eine Leistung.
+Aber, aufrichtig: aus sich selbst haben Sie das nicht,
+das haben Sie mal irgendwo gelesen.«</p>
+
+<p>»Das steht in der Bibel, Herr von Springe; im
+Prediger, neuntes Kapitel.«</p>
+
+<p>»Ja, ja, ja,« sagte der alte Junker ein wenig<span class="pagenum" id="Seite_384">[S. 384]</span>
+kleinlaut .... »Hören Sie mal,« meinte er nach einer Pause,
+und das ehrliche Staunen stand wieder in seinen Augen,
+»wie haben Sie das nur alles seit der Schulzeit behalten?«</p>
+
+<p>»Ich habe das seit der Schulzeit regelmäßig wieder
+aufgefrischt, Herr von Springe.«</p>
+
+<p>»Aber natürlich, aber natürlich ... Eigentlich schlimm,
+daß ich ... Aber nun hab’ ich ja den Pastor im Hause,
+mir wird nichts mangeln,« und er schüttelte der Freundin
+vergnügt die Hand.</p>
+
+<p>Dann spielten sie, wie allabendlich, ihre Schachpartie
+zu Ende.</p>
+
+<p>Draußen stritt die Dämmerung mit dem Märzabend.
+Hier drinnen war es friedlich und fröhlich. Eine hohe
+Stehlampe mit breitem, rotem Schirm erleuchtete und
+beschattete zugleich harmonisch die kleine Welt der beiden
+Alten, die kraft ihrer Erinnerungen die Grenzen ausdehnen
+konnten zu einem weiten Reich und zusammenziehen
+zu einem stillen Hafen. Im Kamin sangen die
+Buchenkloben alte, einfältig schöne Lieder, und von der
+gebräunten Ledertapete schauten im engen Beisammen
+ein paar nachgedunkelte Ahnenbilder, Frau Margots
+strahlende Züge und die klaren, kühnen Mädchenaugen
+des Lieblings Hannes herab.</p>
+
+<p>Herr Friedrich Leopold streifte die Bilderreihe mit
+einem liebevollen Blick.</p>
+
+<p>»Wir sind das Bindeglied,« meinte er und nickte
+zu der kleinen Galerie hinüber. »Wir sitzen hier als
+Vermittler auf der Wacht, bis wir selber ein Ahne
+werden. Aber dazu muß man zunächst Großvater
+sein ...«<span class="pagenum" id="Seite_385">[S. 385]</span>
+Frau Stahl sah ihn prüfend an und lachte dann
+vor sich hin.</p>
+
+<p>»Finden Sie nicht,« fuhr der Unverbesserliche fort,
+»daß man uns eigentlich ein großes Vertrauen schenkt,
+uns so mutterseelenallein zu lassen? Das heißt: das
+Vertrauen hat eigentlich etwas Beleidigendes. Wie alt
+sind wir denn? Knapp fünfundsiebzig pro Person. Vor
+lumpigen vierzig Jahren hätte man uns nicht so allein
+gelassen, meine verehrte Frau. Das sollten wir den
+Rackers da drüben doch mal anstreichen, und da wir
+sicher noch kostbare fünfundzwanzig Jährchen vor uns
+haben, so meine ich, ein ehrenwerter Antrag — —«</p>
+
+<p>Und er schmunzelte wie ein Spitzbube, der seinen
+Partner in Bedrängnis gebracht hat.</p>
+
+<p>Frau Stahl legte den Kopf auf die Seite und
+blinzelte ihn an.</p>
+
+<p>»Na ja,« ließ sie sich nach einer oberflächlichen Prüfung
+des Antragstellers vernehmen, »das Köpfchen wäre
+ja noch ganz gut, aber ...«</p>
+
+<p>»Bitte, da gibt es durchaus kein Aber!« rief Herr
+Friedrich Leopold, und reckte seine lange Gestalt, um
+schleunigst wieder zusammenzuknicken. Irgendwo in den
+Gelenken hatte es verdächtig geknackt.</p>
+
+<p>»Achtung, Achtung! Nicht das Spiel aufhalten!«
+Frau Stahl tat mit der Königin einen kühnen Raubzug.</p>
+
+<p>»Das Spiel? Na, warten Sie. Das wollen wir
+gleich haben. Ah, siehste wie de biste? <span class="antiqua">Gardez la reine!</span>«</p>
+
+<p>»Jawoll,« gab sie zur Antwort, schlug seinen Springer
+und bedrängte ihn im eigenen Lager. »Schach dem
+König, mein Herr.«</p>
+
+<p>»Oho, das wäre ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_386">[S. 386]</span></p>
+
+<p>»Ist bereits so. Matt!«</p>
+
+<p>Betrübt ließ der alte Herr die Figuren durcheinander
+fallen.</p>
+
+<p>»Da hört sich doch alles auf. Kein Glück in der
+Liebe und kein Glück im Spiel. Und Sie können über
+solch eine doppelte Schicksalstücke auch noch lachen! So
+sind die Weibsen!«</p>
+
+<p>Sie ließ ihn ruhig sich ausschelten, aber das heimliche
+Lächeln blieb in ihren Augen sitzen.</p>
+
+<p>»Sie haben ganz und gar unrecht,« sagte sie endlich
+sanft.</p>
+
+<p>»Ich unrecht? Na ja, den verehrten Damen ist es
+ja selbst möglich, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen.
+Aber in meinem Falle — — Nee, nee, bitte, keinen
+Honig, lieber ein Glas Punsch.«</p>
+
+<p>»Sollen Sie haben,« entgegnete die alte Freundin,
+»zur Feier Ihres Glückes.«</p>
+
+<p>»Meines — Glückes —? Und soeben sehen Sie
+erst klipp und klar, daß ich weder Glück in der Liebe
+noch —«</p>
+
+<p>Sie stellte das gefüllte Glas vor ihn hin und legte
+ihre verarbeiteten Hände auf die seinen.</p>
+
+<p>»Doch. Sie <em class="gesperrt">haben</em> Glück in der Liebe. Ganz
+Ihrem Wunsch gemäß ...« Und sie ließ den Blick
+nach den Ahnenbildern schweifen.</p>
+
+<p>»Frau Stahl — —! Verehrte Freundin — —!«
+Der alte Junker wußte nicht, wo ihm der Kopf stand.</p>
+
+<p>»Still, still. Ich sollte ja eigentlich noch nichts davon
+verraten ...«</p>
+
+<p>»Still?« schrie Herr Friedrich Leopold und sprang
+auf die Beine, ohne auf das verdächtige Gliederknacken<span class="pagenum" id="Seite_387">[S. 387]</span>
+zu achten. »Still? O meine verehrte Frau, ich bin
+gewiß ein Mann von Erziehung, aber da soll der Deubel
+still bleiben, ich sage Ihnen, der Deu — — —«</p>
+
+<p>Da hatte sie ihm schon die Hand auf den Mund
+gelegt.</p>
+
+<p>»Aber ja, aber natürlich. Nur muß es doch zunächst
+Herr Heinrich erfahren. Das sehen Sie doch ein.
+Vielleicht kommt er heute abend schon zurück; dann
+können Sie morgen, wenn Sie wollen, die Fahnen zum
+Haus herausstecken.«</p>
+
+<p>»Tu’ ich auch,« murmelte der alte Herr und marschierte
+aufgeregt im Zimmer auf und ab, »tu’ ich
+auch.« Und immer wiederholte er leise frohlockend,
+schmeichelnd, streichelnd: »Ein Stammhalter ... ein
+Stammhalter.«</p>
+
+<p>Plötzlich kehrte er zum Tisch zurück, stand kerzengerade,
+faßte sein Glas und leerte es auf einen Zug.</p>
+
+<p>»Das war für Frau Margot, die liebe ... liebe ...
+Frau Margot.«</p>
+
+<p>Der rüstigen Greisin standen lachende Tränen in
+den Augen.</p>
+
+<p>»Nun aber genug. Habt ihr Männer denn gar
+kein Zartgefühl? Bedenken Sie doch, wenn eine Frau
+gewissermaßen große Gesellschaftsdame gewesen ist, und
+überdies fünfundvierzig, die man ihr zwar nicht ansieht
+—«</p>
+
+<p>»Ach was,« fiel Herr Friedrich Leopold lebhaft ein.
+»Große Gesellschaftsdame! Fünfundvierzig! Ein ganz
+famoses Frauenzimmer ist sie, mit der ich Staat machen
+werde, an der sich unsere Hyperkultur ein Beispiel
+nehmen soll! Meine Großmutter war gut und gern<span class="pagenum" id="Seite_388">[S. 388]</span>
+ein halbes Dutzend Jahre älter, als mein Vater sich
+zur Stelle meldete. Das nenn’ ich gesunden, rheinischen
+Schlag. Widersprechen Sie nicht. Ich versichere Sie
+meiner vollsten Unzufriedenheit, Frau Stahl.«</p>
+
+<p>Er ereiferte sich von neuem, rannte strahlenden
+Auges herum und gestikulierte mit den Händen.</p>
+
+<p>»Parbleu, diese Margot, diese — diese — — Nein,
+das halt’ ich nicht aus. Die muß geküßt werden, die
+muß — —«</p>
+
+<p>Und mit einem Male begann er aus Leibeskräften zu
+rufen.</p>
+
+<p>»Margot! — — Margot! — —«</p>
+
+<p>Da riß der alten Frau die Geduld.</p>
+
+<p>»Wenn Sie nicht augenblicklich Ruhe geben, Herr
+von Springe, so sag’ ich Ihnen schlankweg, daß ich
+Ihnen ein Märchen aufgebunden habe, und Frau
+Margot wird Ihnen dasselbe sagen. Was wollen Sie
+dann machen?«</p>
+
+<p>Das leuchtete Herrn Friedrich Leopold ein, und
+ganz beschämt strich er die Segel bei.</p>
+
+<p>»Liebe Frau Stahl,« bat er flehentlich, »aber sehen
+möcht’ ich sie nur, bloß sehen und mich an ihr freuen.
+Das werden Sie mir doch zugestehen können? Ich
+will ja kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«</p>
+
+<p>Damit erklärte sich Frau Stahl einverstanden, nachdem
+sie ihm noch einmal »Zartgefühl« eingeschärft
+hatte.</p>
+
+<p>»Ich will nur schnell den Abendtisch richten,« sagte
+sie, »dann ruf’ ich sie.«</p>
+
+<p>Dem alten Herrn ging heute das Anrichten nicht
+schnell genug. Er sah sich veranlaßt, verschiedentlich in<span class="pagenum" id="Seite_389">[S. 389]</span>
+die Küche hineinzugucken und in zarten Worten seinem
+Mißfallen Ausdruck zu verleihen.</p>
+
+<p>»Frau Stahl, Frau Stahl, sonst sind Sie doch
+immer die Jüngste — —«</p>
+
+<p>Endlich ging sie, Frau Margot zum Tee zu bitten;
+und nun wäre ihr Herr Friedrich Leopold am liebsten
+nachgelaufen, um sie zum Bleiben zu bewegen. Denn
+er wußte absolut nicht, wie er sich nur benehmen sollte.</p>
+
+<p>Da öffnete sich die Tür, und Frau Margot schlüpfte
+herein, weich und schmiegsam, lustig und lachend. Vom
+Scheitel bis zur Sohle ganz die Frau, die im zweiten
+Frühling ungeahnt emporgeblüht ist und jede Zeitrechnung
+Lügen straft. »Guten Abend, Papachen! Schachpartie
+zu Ende? Du Ärmster, hat dich Frau Stahl matt gesetzt?«</p>
+
+<p>»Mein Kind,« antwortete Herr Friedrich Leopold
+mit Haltung und bot ihr den Arm wie einer Fürstin,
+»Unglück im Spiel — Glück in der Liebe.«</p>
+
+<p>Sie saßen um den Teetisch herum und plauderten.
+Keiner verspürte rechte Lust, ordnungsgemäß zuzulangen.
+Frau Margot war mit ihren Gedanken immer wieder
+in Berlin, und immer wieder nannte sie den Namen
+ihres Gatten.</p>
+
+<p>»Nun ist er fast eine Woche fort, eine ganze Woche,
+der Herumtreiber. Wenn er nur nicht mit Hannes
+durchgegangen ist! Pst, nicht in Schutz nehmen, Papachen!
+Die Liebe zu den Stahls liegt den Springes im
+Blut. Aha, jetzt wirst du rot. So ist’s recht, immer
+hübsch Farbe bekennen!«</p>
+
+<p>Der alte Junker warf Frau Stahl einen schadenfrohen
+Blick zu.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_390">[S. 390]</span></p>
+
+<p>»Das ist also, was die Damen ›Zartgefühl‹ nennen.
+Das muß für spätere Fälle festgestellt werden.«</p>
+
+<p>Frau Stahl machte ihm heftige Zeichen mit dem
+Kopf. Sie traute dem Landfrieden nicht.</p>
+
+<p>Aber Frau Margot war bereits wieder bei ihrem
+alten Thema. »Von Hannes hat Heinz spaltenlange Berichte
+geschickt. Und die Kritiken erst! Nein, das Mädel
+ist auch zu einzig. Hätt’ ich es doch hier, das liebe,
+liebe Ding — — Ich hab’ immer eine Sehnsucht danach,
+das ist nicht zu beschreiben. Gott, was mag nur mein
+armer Junge anstellen — —«</p>
+
+<p>»Schreibt denn Heinrich nichts Neues von Hans?«</p>
+
+<p>»O doch. Er ist täglich mit ihm zusammen. Der
+arme Kerl lebte seit einiger Zeit ganz außer Verkehr,
+schreibt Heinz, aber er hätte doch die alten Spuren in
+ihm wieder aufgedeckt und viel von der warmen Seele
+wiedergefunden, die der Junge früher in so reichem
+Maße besaß. Weißt du, Papa, ich mache mir seit
+langem schon die trübsten Vorwürfe, daß ich ihm früher
+nicht genug Mutter, oder doch nicht genug mütterliche
+Kameradin war.«</p>
+
+<p>»Gold gehört ins Feuer, wenn es geläutert werden
+soll,« bestimmte Friedrich Leopold. »Und der Junge
+ist Gold, verlaß dich darauf. Ich habe auch nicht die
+Spur Angst.«</p>
+
+<p>»Ja,« meinte Frau Margot sinnend, »du bist auch
+nicht seine Mutter.«</p>
+
+<p>Da schwieg der alte Herr sinnend. Das Wort
+Mutter hatte seit einer Stunde für ihn einen besonders
+heiligen Klang.</p>
+
+<p>»Ach, Großmutter Stahl,« sagte Frau Margot und<span class="pagenum" id="Seite_391">[S. 391]</span>
+spann träumerisch ihre Gedanken weiter, »Hans und
+Hannes — —. Unsere schönen Pläne — —. Nun sind
+wir hier, und der ist da, und der ist dort. Warum —?«</p>
+
+<p>Die Greisin antwortete nicht. Sie blickte finster vor
+sich hin.</p>
+
+<p>»Sie haben Hans nicht verziehen?«</p>
+
+<p>»Nein.«</p>
+
+<p>»Aber wenn er heimkommt — Heinz schrieb mir,
+daß er ihn überreden würde — Sie werden mir helfen
+und ihm auch helfen. Die Jugend glaubt ja doch, sie
+müsse sich erst immer Kämpfe schaffen, sonst sei das
+Glück nichts wert.«</p>
+
+<p>»Wir wollen warten, bis er da ist, Frau Margot.
+Vielleicht bedankt er sich wieder einmal für unseren guten
+Willen.«</p>
+
+<p>Es klingelte an der Korridortür. Frau Margot
+erhob sich sofort, um nachzusehen. Als sie zurückkam,
+hielt sie ein Briefchen in der Hand.</p>
+
+<p>»Von Heinz,« sagte sie erregt und brach das Kuvert
+auf, »ein Dienstmann brachte es vom Bahnhof.«</p>
+
+<p>»Heinrich ist angekommen?« rief der Senior so
+freudig, als ob der Sohn eine Weltumsegelung bestanden
+hätte. Frau Margots Augen überflogen hastig
+das Billett. Dann klärten sich ihre gespannten Züge,
+ihre Lippen lächelten, und sie mußte die Augen schließen,
+um sich zu sammeln.</p>
+
+<p>»Nicht allein Heinz,« sagte sie mit zuckendem Munde.
+»Er hat sein Wort eingelöst, der treue Mann. Er
+bringt mir meinen Jungen zurück. Soeben sind sie in
+Düsseldorf angekommen.«</p>
+
+<p>»Und noch nicht hier?« rief Herr Friedrich Leopold.<span class="pagenum" id="Seite_392">[S. 392]</span>
+»Ja da soll doch gleich! Müssen die denn zunächst <span class="antiqua">stante
+pede</span> irgendwo einen Schoppen machen?«</p>
+
+<p>»Nein, nein, Papa, wo denkst du denn hin? Hans
+ist nicht ganz auf dem Posten gewesen in den letzten
+Tagen, schreibt Heinz, und nun möchte er sich nicht als
+Halbkranker präsentieren. Mein eitler Junge! Und
+Heinz ist mit ihm nach der Grafenbergerchaussee gefahren
+und liefert ihn in seinem Knabenstübchen ab.
+In seinem Knabenstübchen — —. Möge er dort, in
+der ersten Nacht unter dem heimatlichen Dache, finden,
+was ihm not tut: das Vergessen und — das Erinnern.«</p>
+
+<p>Nie zuvor hatte Frau Margot ihr mütterliches Gefühl
+so stark ausströmen gefühlt.</p>
+
+<p>»Ich glaube, heute bin ich <em class="gesperrt">wirklich</em> glücklich,«
+sagte sie, und ihre Augen sahen in die Weite.</p>
+
+<p>Herr Friedrich Leopold legte den Arm um ihre
+Taille und führte sie zum Kaminsitz, mit der zärtlichen
+Sorge, mit der man ein Kind geleitet. Wie schön, wie
+wohltuend das war. Sie streichelte ihm dankbar die
+Wange.</p>
+
+<p>»Wie gut du bist, Papachen — —.«</p>
+
+<p>Und der alte Herr, ganz überwältigt von den vielen
+Eindrücken des Abends, stotterte: »Ach was, Margot,
+gut — —! Lieb hab’ ich dich, Töchterchen, lieb, ganz
+furchtbar lieb. So lieb, daß ich gleich Hurra! schreien
+möcht’. Und überhaupt, wenn der Heinrich kommt —
+ach Gott, der glückliche Bengel! Du bist nun doch einmal
+ein Prachtweib, und nun, bitte — nun gib mir
+einen Kuß!«</p>
+
+<p>Sie sah ein wenig scheu und errötend zu Frau
+Stahl hinüber. Aber als die Vertraute des Hauses<span class="pagenum" id="Seite_393">[S. 393]</span>
+gleichmütig fortfuhr, den Tisch abzuräumen, umfaßte
+sie schnell den schneeweißen Kopf, der dem des Gatten
+so ähnlich sah, und küßte ihn zu wiederholten Malen
+auf den Mund.</p>
+
+<p>»So! Bist du jetzt zufrieden, Papa? Ihr seid doch
+Schwerenöters, ihr Springes, Vater wie Sohn.«</p>
+
+<p>Und sie lachte glücklich in sich hinein, und der alte
+fröhliche Herr tat desgleichen.</p>
+
+<p>Dann saßen sie, Herr Friedrich Leopold, Frau Margot
+und Großmutter Stahl, vor dem Kamin und gaben
+ihren Gedanken Audienz. Ein jeder still für sich. Ein
+jeder dachte sich eine Welt. Und doch war der Kreis
+ihrer Gedanken so eng umsponnen, daß sie sich alle
+darin wiederfanden.</p>
+
+<p>Die Lampe surrte, und die Holzscheite knisterten in
+hellen Funken auf, die lustige Reigentänze vollführten. —</p>
+
+<p>Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein,
+da fuhr Frau Margot auf.</p>
+
+<p>»Heinrich!«</p>
+
+<p>Aber Frau Stahl war schon fort, um zu öffnen.</p>
+
+<p>»Heinz! Heinz!« und sie lag an seiner Brust, glückstrahlend
+wie ein junges Mädchen.</p>
+
+<p>»Bummler!« lachte sie, »Ausreißer, unverbesserlicher
+Junggeselle! Warte, ich werde dir die Leviten lesen,
+daß du dich wundern sollst! Acht Tage — —! Acht
+Tage — — Und nun unterschlägt er mir auch noch
+den Jungen.«</p>
+
+<p>»Wenn du meinen Mund nicht freigibst ...«</p>
+
+<p>Sie ließ ihn in ihrer Freude nicht zu Worte kommen.
+Alle Fragen, die sie erwartungsvoll im Herzen getragen
+hatte, drängten sich auf ihre Lippen und überholten sich.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_394">[S. 394]</span></p>
+
+<p>»Was ist das mit Hans? Weshalb kommt er nicht
+zuerst zur Mutter? Du, so sag doch, wie er aussieht?
+Ich bin ja so froh, daß er da ist. So froh! Mach
+nicht solch ein liebes, dummes Gesicht. Natürlich freu’
+ich mich auch über dich. Doch, doch! Aber wenn der
+Hans krank ist — du, ich möchte hin, sogleich. Ach
+Gott, wenn der Mann doch endlich sprechen wollte!«</p>
+
+<p>Nun war es an ihm, ihr die Hände auf die Lippen
+zu legen.</p>
+
+<p>»Was ist das für ein Empfang? Wie? Existiere
+ich gar nicht mehr? Ja, ja, gewiß, ich kusche schon.
+Also der Hans! Der ist in der alten Wohnung. Und da
+laß ihn heute abend allein, du liebste Frau und Mutter.
+Er ist noch ein bißchen herunter und möchte sich erst
+— hm — zurechtfinden. Verstehst du das? Bei einem
+Mann? Na, ja, ich wußte es. Morgen mit dem
+frühesten ist er bei dir. Und wenn ihr mich jetzt verhungern
+lassen wollt, kann ich nachher nicht weiterreden.«</p>
+
+<p>Er hatte sie um die Taille gefaßt und schwenkte sie
+lachend durch die Luft wie einen Kreisel.</p>
+
+<p>Herr Gott, dachte Herr Friedrich Leopold, wo bleibt
+denn die große Gesellschaftsdame?</p>
+
+<p>Aber dann zupfte er seinen Junior am Rock, und
+als sich der Racker durchaus nicht stören lassen wollte,
+zupfte er energischer und ruckte mißbilligend mit dem
+Kopf.</p>
+
+<p>»Margot, Margot,« rief Heinrich Springe, »nun
+schau dir doch um alles in der Welt mal diesen schamhaften
+alten Herrn an. Oder — du — er ist eifersüchtig!«</p>
+
+<p>»Er weiß eben noch nichts; er hat eben auch nicht<span class="pagenum" id="Seite_395">[S. 395]</span>
+die geringste Ahnung,« sagte Herr Friedrich Leopold
+weise zu Frau Stahl. »Dieser große Kindskopf. Es
+ist unglaublich.« — —</p>
+
+<p>Frau Margot sorgte, daß für den Gatten noch
+einmal aufgetischt wurde. Als er abgespeist hatte, saß
+die ganze Gesellschaft wieder um den Kamin herum,
+und Springe berichtete. »Den Hans, den hätten wir
+hier. Ein bißchen erkältet zwar, auch seelisch, aber ich
+vertrau’ auf euch Frauen. Mit Kamillentee wird’s
+nicht allein zu machen sein, aber ihr habt ja auch noch
+andere Heilmethoden, wie den Magnetismus, das Handauflegen.
+Gerade das Handauflegen — so eine liebe,
+stille und doch vielsagende Frauenhand — —. Aber
+wem sag’ ich das! Was wir Männer mit dem Seziermesser
+suchen, das findet ihr Frauen mit dem Instinkt!«</p>
+
+<p>»Und <em class="gesperrt">deine</em> Meinung, Heinrich?«</p>
+
+<p>Er strich der Gattin über das ängstlich zu ihm aufschauende
+Gesicht. »Heimweh an den Rhein,« resümierte
+er kurz.</p>
+
+<p>Da atmete sie tief auf und drückte ihm dankbar die
+Hand.</p>
+
+<p>»Denkst du noch an den Abend, als wir uns verlobten?
+Dort drüben auf der Veranda? Ich hatte
+nur <em class="gesperrt">eine</em> Bedingung zu stellen: Mach mir auch den
+Hans glücklich. Dann fehlte mir nichts mehr, um auch
+an mich zu denken.«</p>
+
+<p>»Und an mich nicht?« fragte Heinrich Springe
+schalkhaft.</p>
+
+<p>»O, du bester Mensch, wenn ich an mich denke, so
+heißt das doch: an dich.«</p>
+
+<p>Da konnte sich der Ehemann nicht enthalten. Er<span class="pagenum" id="Seite_396">[S. 396]</span>
+mußte sich erheben und trotz der Zuschauer Frau Margot
+in die Arme nehmen und eine Familienszene absolvieren.
+Wieder stand Herr Friedrich Leopold hinter ihm, und
+als der Junior den Kopf hob, rieb sich der Senior vor
+Freude die Hände und nickte ihm mit weitaufgerissenen,
+leuchtenden Äuglein heftig zu, als wollte er sagen: »Ich
+gratuliere, ich gratuliere.« Aber er sagte keinen Ton.
+Der Junge machte ein zu dämliches Gesicht.</p>
+
+<p>Und nun wandte sich Heinrich Springe zu der Greisin
+und nahm ihre Hände und berichtete von Hannes.
+Wunderdinge! Wie ihr die vornehmsten Menschen der
+Reichshauptstadt und selbst die Damen vom Hof zugejubelt
+hätten, ohne Aufhören, zehnmal, zwanzigmal.
+Und wie sie ausgesehen hätte. Noch viel schöner und
+vornehmer als die ganze vornehme Umgebung. »So
+echt und recht Stahlsch,« sagte Herr Heinrich mit einer
+Verbeugung. Und gesungen hätte das Mädel, gesungen!
+»Wie nur ein Menschenkind singen kann, das über seine
+Schönheit hinaus eine gewaltige Gottesseele besitzt.«</p>
+
+<p>In den Augen der Greisin zitterte ein Licht, und
+es wurde, je weiter der Mann da vor ihr sprach, ein
+stolzes Licht, und sie bewegte unhörbar die Lippen.
+Sie gedachte wohl der Tochter, die ihr Mutterglück
+draußen auf dem Goltzheimer Friedhof verschlafen mußte,
+und des einsamen Mannes, der bei Spichern lag, und
+segnete sie um ihrer Liebe willen.</p>
+
+<p>»Grüße hat mir das Mädel aufgetragen,« schloß
+Herr Heinrich, »Grüße, damit würd’ ich bis morgen
+nicht fertig. Aber das Beste ist doch: in sechs Wochen
+haben wir sie hier, und bis zum Winter sollen wir sie
+behalten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_397">[S. 397]</span></p>
+
+<p>Frau Margot empfand beinahe eine mütterliche
+Eifersuchtsregung. »Und Hans?« fragte sie hastig.
+»Wie lange werden wir Hans haben?«</p>
+
+<p>»Wenn er sich wiederfindet — für immer. Und
+wie sollte er nicht, unter den guten Augen einer solchen
+Mutter!«</p>
+
+<p>»Glaubst du wirklich, daß er wieder heimisch werden
+könnte — —?«</p>
+
+<p>»Die Guttaten der Heimat werden den hartgewordenen
+Sinn weich und gütig machen.«</p>
+
+<p>»Du weißt nicht, was er unter gut versteht,« sagte
+sie nachdenklich. »Er ist so eigenartig — — der arme
+Junge.«</p>
+
+<p>Da aber legte sich Herr Friedrich Leopold ins Mittel.</p>
+
+<p>»Darüber kann es nur eine einzige Auffassung geben,«
+versicherte er aufs bestimmteste, »ebenso wie es nur
+einen einzigen Philosophen gibt, der, weil unwiderlegbar,
+die allgemeinste Anerkennung besitzen muß. Wie sagt
+also dieser einzige Philosoph? Er sagt:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">›Das Gute, dieser Satz steht fest,</div>
+ <div class="verse indent0">Ist stets das Böse, das man läßt.‹</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Wonach sich zu richten. Gute Nacht.«</p>
+
+<p>Und heiteren Gemütes trennte man sich. —</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-397.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_398">[S. 398]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Achtes_Kapitel_Buch_2">Achtes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Hans Steinherr war in seinem Knabenzimmer aufgewacht.
+Es dauerte lange, bis er sich in die Situation,
+in die Umgebung hineinfand. Er lag in den weichen
+Kissen, in denen er acht Stunden ununterbrochen und
+fest geschlafen hatte, und ließ die fragenden Blicke an
+den Wänden des Zimmers umherwandern, vom Plafond
+bis zum Fußboden, und vom Fußboden zurück zu der
+gemalten Decke, die ihm so bekannt erschien.</p>
+
+<p>Langsam wachte das Bewußtsein auf.</p>
+
+<p>Er war zu Hause. — —</p>
+
+<p>Das erste Gefühl, das er empfand, war das Gefühl
+des Geborgenseins.</p>
+
+<p>Das Gefühl des Kindes, das in dem elterlichen
+Hause eine uneinnehmbare Festung erblickt.</p>
+
+<p>Und er schloß die Augen und schlief ruhig weiter.
+Unbesorgt um den Tag.</p>
+
+<p>Dann fuhr er auf.</p>
+
+<p>Ein Gedanke hatte sich in seinen Traum hineingebohrt.
+Der Gedanke, daß er seine Mutter noch nicht
+begrüßt hatte.</p>
+
+<p>Er wollte aufspringen und sich ankleiden. Dann
+zögerte er und blieb.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_399">[S. 399]</span></p>
+
+<p>Ach ja, er würde sie ja nicht im Hause finden. Daß
+er das vergessen hatte — —.</p>
+
+<p>Dieses Haus gehörte jetzt ihm allein; aber die
+Mutter — gehörte nicht mehr ihm allein.</p>
+
+<p>Es hatte sich eben vieles verändert, während er in
+der Fremde gewesen war. Er selbst hatte sich ja auch
+verändert, weshalb da die anderen nicht? Aber die
+anderen hatten dadurch gewonnen, und er —?</p>
+
+<p>Die kinderselige Stimmung war verflogen. Er lag
+ausgestreckt in den Kissen und starrte in das Zimmer
+wie in ein Unbekanntes. Er bemühte sich, den Zweck
+der Heimreise zu ergründen, und zwang sich Bettinas
+Bild vor die Augen. Aber das Bild ließ ihn kalt, zu
+kalt, um ihn heimgetrieben zu haben. Es mußte ein
+stärkeres gewesen sein.</p>
+
+<p>Die Heimat selbst? — Es dämmerte in ihm auf,
+daß er auch mit der Heimat die Fühlung verloren haben
+würde. Sie wußte nichts von seinem Leben, und er nichts
+mehr von ihrem. Er war ja allen so fremd geworden,
+Menschen und Dingen. Und mit bitterem Lächeln gestand
+er sich: Es wird wieder eine Illusion gewesen
+sein, der du voreilig nachgegeben hast; eine Illusion,
+wie so viele schon in deinem Leben.</p>
+
+<p>Er lag ganz still und wartete, ob etwas antworten
+würde, von außen oder in seinem Innern. Aber er hörte
+nur die Taschenuhr auf dem Tischchen neben sich ticken,
+und er sagte sich: Nun, wenigstens die Zeit läuft um.</p>
+
+<p>Stunde auf Stunde verging, und er konnte sich nicht
+entschließen, aufzustehen. Ihn beherrschte das lastende
+Empfinden, als habe er nichts, so gar nichts zu versäumen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_400">[S. 400]</span></p>
+
+<p>Dann vernahm er die Hausuhr, deren glockentiefen
+Klang er als Knabe so geliebt hatte. Er zählte aufmerksam
+ihre Schläge nach. Zehn Uhr! Was half’s,
+für heute mußte er nachgeben.</p>
+
+<p>Die Frische, die er beim Erwachen verspürt hatte,
+war gewichen. Mit müden Bewegungen kleidete er sich
+an, und als er fertig war, dachte er: Was nun? Er
+würde sich wohl zunächst zum Frühstückszimmer begeben
+müssen ...</p>
+
+<p>Die Hausverwalterin war eine würdige Matrone.
+Sie war früher schon im Hause bedienstet gewesen und
+kannte die Eigenheiten der Familie. Als Hans in das
+Zimmer eintrat, fand er den Tisch gedeckt, mit Düsseldorfer
+Bäckereien versehen, Butter und Gelee bereit
+gestellt und die Kaffeemaschine lustig brodeln. Die Alte
+mußte an seiner Tür gehorcht haben, um pünktlich zur
+Minute aufwarten zu können.</p>
+
+<p>Diese kleine, vertrauliche Aufmerksamkeit tat ihm
+doch wohler, als er es für möglich gehalten hätte.
+Während er sich niederließ und das Abkühlen des Kaffees
+abwartete, tönten in ihm feine, zage Stimmchen eines
+uneingestandenen Behagens. Da lagen auch die Morgenzeitungen,
+sauber zusammengefaltet, neben seinem Gedeck.
+Lächelnd griff er danach. Was sollte ihm der
+Moniteur der Provinzstadt zu sagen haben? Zuerst las
+er die hohe Politik, Zeile für Zeile, ohne sich viel Neues
+dabei denken zu können. Aber allmählich wurde das
+Interesse selbsttätiger, als er über die Lokalereignisse
+geraten war. Er las im Kunstbericht über eine große
+Aufführung der Nibelungentrilogie in der Oper, mit
+den besten Kräften aus aller Welt. Und staunend las<span class="pagenum" id="Seite_401">[S. 401]</span>
+er unter der Rubrik »Städtische Angelegenheiten« von
+den riesigen Projekten, die in der Durchführung begriffen
+waren, dem gewaltigen Bau einer zweiten, festen Rheinbrücke,
+der Zuschüttung des alten Sicherheitshafens,
+den in Angriff genommenen mächtigen Hafen- und
+Werftanlagen, die in wenigen Jahren beendet sein
+sollten und das alte Düsseldorf zur stolzen, gleichwertigen
+Rivalin des hochgemuten Köln machen würden. Zufällig
+traf in einer Notiz sein Auge die Einwohnerziffer. Die
+stille Gartenstadt, die Oase am Niederrhein, marschierte
+rüstig auf die Viertelmillion zu. In weniger als zehn
+Jahren hatte sie ihre Einwohnerzahl auf das Doppelte
+vermehrt. Da lag Gesundheit und Fruchtbarkeit im
+Boden. Das war gesegnetes Land.</p>
+
+<p>Der Kaffee war ihm über dem Studium kalt geworden,
+aber er schmeckte ihm auch so. Und das
+Schwarzbrot, dies einzig in der Welt existierende bergisch-märkische
+Schwarzbrot, und der weiße, lockere »Bauernplatz«!
+Er aß, als ob er ausgehungert wäre, und hatte
+doch vor einer halben Stunde nicht den geringsten Appetit
+verspürt. Schlaf, Appetit — aha, die Heimatsluft meldete
+sich doch. Und mit der Heimatsluft die Heimatslust.
+Die Kunde, die er da aus dem Anzeiger schöpfte, von
+dem Vormarsch Düsseldorfs, von dem Blühen und
+Wachsen der Stadt, berührte direkt sein vaterstädtisches
+Herz, das er im Lärm der Metropolen verloren zu
+haben glaubte, und er murmelte wie ein Alteingesessener:
+»Hoho, hinter den Bergen wohnen auch noch Leute!«</p>
+
+<p>Was mochte die edle Malkunst angeben? Den großen
+Worten Hüsgens traute er nicht recht. Aber nun war
+er ja selbst am Platz und würde sich schon unterrichten.<span class="pagenum" id="Seite_402">[S. 402]</span>
+An Zeit fehlte es ihm ja nicht — ah, an Zeit! Und
+wieder kroch die Beklommenheit heran und legte sich
+von neuem auf die frischgesproßten Triebe wie ein
+Rauhreif.</p>
+
+<p>Er nahm Hut und Mantel, ging langsam die Treppen
+hinab, um die Haushälterin zu begrüßen und die unumgänglichen
+Anordnungen zu treffen, und benutzte die
+Hintertür, um einen kurzen Umweg durch den Garten
+zu machen. Der Gärtner hatte schon vorgearbeitet,
+Bäume, Büsche und Ranken waren beschnitten und
+die Wege ausgeharkt und mit bläulich schimmerndem
+Rheinkies bestreut. Aber die Kahlheit, der Mangel an
+Farbe und Leben ließ ihn frösteln, die dürre Laube,
+in der er einst, als die Blätter rauschten, Hannes wiedergesehen
+hatte, maß er mit großem, erschrockenem Blick,
+und er eilte, die Straße zu gewinnen.</p>
+
+<p>Viele Leute sah er an den Fenstern und vor den
+Häusern, und er brauchte sich nicht auf die Namen zu
+besinnen. Aber es war keiner, der ihn wiedererkannt
+hätte. Man hatte ihn nicht vermißt und wußte vielleicht
+nicht einmal mehr, daß der alte Philipp Steinherr einen
+Sohn besessen hatte. Wodurch auch? Er hatte es ja
+nicht für nötig befunden, sich in der Erinnerung zu
+halten, weder durch einen Wunsch, noch durch eine Tat.</p>
+
+<p>Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, daß
+man ihn mit Aufmerksamkeit betrachtete, mit einer Aufmerksamkeit,
+der ein spöttisches Lächeln beigemischt wäre.
+Er wußte ganz genau, daß er es mit einer Einbildung
+zu tun hatte, und trotzdem konnte er sich nicht von ihr
+befreien und wanderte mit niedergeschlagenen Augen
+durch die Straßen der Vaterstadt wie ein Mensch, der<span class="pagenum" id="Seite_403">[S. 403]</span>
+sich eines Unrechts bewußt ist. Den Weg zur Immermannstraße
+hatte er gedankenlos eingeschlagen, und
+ebenso gedankenlos blieb er stehen und wunderte sich,
+daß er sich vor der Wohnung Springes befand.</p>
+
+<p>Wie ein blinder Gaul, der seine alte Tränke wiedererkennt,
+sagte er sich.</p>
+
+<p>Dann schritt er mit einer Eile hinauf, als käme er
+dadurch schneller über den Moment des Wiedersehens
+hinweg.</p>
+
+<p>Er brauchte nicht zu klingeln. Frau Margot hatte
+ihn schon seit dem frühen Morgen am Fenster erwartet
+und stand jetzt auf dem obersten Treppenabsatz, um ihn
+als erste in Empfang zu nehmen.</p>
+
+<p>»Mutter!« stammelte er, als sie hastig die Arme
+um seinen Hals legte und ihn in ihr Zimmer zog.</p>
+
+<p>Frau Margot konnte nicht sprechen. Sie klopfte
+nur immer wieder seine schmalen Wangen, strich ihm
+das Haar zurecht, drückte seinen Kopf an ihre Schulter
+und küßte ihn auf den Scheitel. Sie saßen sich gegenüber,
+und noch einmal sagte er leise: »Mutter,« legte seinen
+Kopf in ihren Schoß und seine Lippen auf ihre Hände.</p>
+
+<p>So hatte er sich das Wiedersehen nicht ausgemalt,
+so nicht. Diese schweigende Liebe, diese stumme, mitfühlende
+Rücksichtnahme traf ihn tief. Er fühlte sich
+mehr denn je aus den Gleisen geschleudert.</p>
+
+<p>Allmählich sammelte er sich, und er brachte es über
+sich, aufzublicken und die Mutter mit einem herzlichen
+Lächeln anzuschauen. Das Lächeln aber fand den lange
+vorbereiteten Widerschein.</p>
+
+<p>»Mein lieber Junge, da bist du ja wieder. Also
+ganz vergessen hattest du mich doch nicht!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_404">[S. 404]</span></p>
+
+<p>»Nein, Mama, dich nicht.«</p>
+
+<p>»Wie männlich, wie stattlich du geworden bist!«</p>
+
+<p>»Und wie du jung geblieben bist, Mama. Du hast
+dich so gar nicht verändert.«</p>
+
+<p>»O doch,« sagte sie, und eine geheime Freude vibrierte
+in dem Ton. »Du wirst mich auslachen, wegen meiner
+Eitelkeit, aber — aber — ich bin noch jünger geworden.«</p>
+
+<p>Die Worte hatten einen so vollen, tiefen Klang gehabt.
+Sie benahmen dem Heimgekehrten jedes Grübeln,
+jede Frage. Er wußte jetzt, daß er eine glückliche Frau
+vor sich hatte, eine glückliche Gattin, und — wenigstens
+heute, in dem Augenblick, da sie das Gesicht des Sohnes
+wiedersah — eine glückliche Mutter. Nur war sie auch
+eine glückliche Frau und glückliche Gattin gewesen die
+Jahre hindurch, die er fern von ihr verbracht hatte!
+Wenn er morgen wieder ging — ob er wirklich eine
+Lücke hinterließe?</p>
+
+<p>Da waren die Zweifel wieder, die ihn von jedem
+Auskosten des Genusses zurückschreckten.</p>
+
+<p>Nein, er würde keine Lücke hinterlassen. Im Gegenteil,
+er war doch, bei Licht und mit vernünftiger Erwägung
+betrachtet, ein störendes Element in diesem
+Hause der Fröhlichkeit. Man hatte zu viel Zartgefühl,
+um ihn das merken zu lassen. Aber das liebe bißchen
+Sentimentalität beiseite geschoben, und im Grunde verhielt
+es sich so. Nur keine Selbstüberhebung mehr, nur
+nicht den anmaßlichen Glauben, als sei er, nah oder
+fern, die Angel der Familie! Welcher Familie denn?
+Hier gab es nur eine Familie Springe.</p>
+
+<p>Das alles zog ihm ruhig und geordnet durch den<span class="pagenum" id="Seite_405">[S. 405]</span>
+Kopf und gab ihm die höfliche Haltung eines Mannes,
+der für jede erwiesene Freundlichkeit ein dankbares
+Empfinden besitzt, ohne ihre Äußerungen als selbstverständlichen
+Tribut beanspruchen und herbeiführen zu
+wollen.</p>
+
+<p>»Ist Heinrich zu Hause?« fragte er, und im gleichen
+Moment suchte er sich zu verbessern. »Entschuldige,
+Mama,« sagte er verwirrt, »das — das sollte natürlich
+keine Achtungsverletzung dir gegenüber sein. Die
+— die alte Gewohnheit brach durch. Wünschest du, daß
+ich ihn Vater nenne?«</p>
+
+<p>»Großer Dummkopf,« lachte sie errötend, »bist du
+denn ein Baby? Mir ist nichts lieber, als daß er dein
+Freund ist, nichts als dein Freund. Gibt es denn
+etwas Schöneres unter Männern?«</p>
+
+<p>Er betrachtete sie still, und nun wurde auch er gewahr,
+daß sie jünger schien als vor Jahren, daß in
+ihren Augen ein mädchenhafter Glanz lag und über
+ihre Züge eine weiche Hand geglitten war. Zum ersten
+Male überkam ihn eine innere, selbstlose Mitfreude, und
+er nahm ihre Hände zärtlich zwischen die seinen.</p>
+
+<p>»Ich gratuliere dir zu allem, Mama.«</p>
+
+<p>Da löste sie rasch ihre Hände, zog ihn fest an sich
+und atmete dabei tief, wie von einem Alpdruck befreit.</p>
+
+<p>»Danke dir, mein Junge, danke dir ...«</p>
+
+<p>»Soll ich jetzt Heinrich begrüßen?« fragte er nach
+einer Weile.</p>
+
+<p>»Er ist fortgegangen. Er meinte, er hielte es sonst
+doch nicht aus und würde uns in die weichste Stimmung
+hineinprasseln. Da hat er sich vor sich selber in Sicherheit
+gebracht.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_406">[S. 406]</span></p>
+
+<p>Sie sahen sich lächelnd an. Nun war auch der
+Gatte und Freund in ihren Kreis einbezogen.</p>
+
+<p>»Erzähle mir von dir, Hans! Mich interessiert
+alles, was du erlebt hast. Nein, nein, du brauchst keine
+angstvollen Augen zu machen, ich will dich nicht inquirieren.
+Erzähle mir nur Heiteres, was dich freut.«</p>
+
+<p>»Ich habe nichts Heiteres erlebt, liebe Mutter.
+Was soll ich da erst berichten!«</p>
+
+<p>»Du warst krank, armer Junge? Heinrich hat es
+mir von Berlin aus geschrieben.«</p>
+
+<p>»Krank? Ach ja, ganz recht, ich war auch krank. Ich
+muß die Krankheit schon lange in mir gehabt haben.«</p>
+
+<p>»Aber nun ist sie gehoben, Hans; du fühlst dich
+wieder gesund —?«</p>
+
+<p>»Rekonvaleszentenstimmung, Mama, nicht schwarz,
+aber auch nicht übermäßig farbig. Es wird sich schon
+klären.«</p>
+
+<p>»Du solltest zu uns ziehen, Hans,« drängte sie
+sanft, »wenigstens auf ein paar Monate, bis du dich
+eingelebt hast. Ich möchte dich so gern pflegen.«</p>
+
+<p>»Du würdest mich ja nur aufs neue verzärteln, liebe
+Mama.«</p>
+
+<p>»Wenn auch. Hast du denn nur schon gemerkt, daß
+hier eine ganz besondere Luft weht, mein ernster Junge?
+Eine Luft, in der man gar nicht anders kann, als
+fröhlich sein und lachen?«</p>
+
+<p>»Man kann auch mit traurigem Herzen lachen.«</p>
+
+<p>»Hier nicht, hier ganz gewiß nicht,« versicherte Frau
+Margot lebhaft. »Und in sechs Wochen käme eine neue
+Pflegerin hinzu, oder — vielleicht — eine halbe Patientin.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_407">[S. 407]</span></p>
+
+<p>»Von wem sprichst du, Mama?«</p>
+
+<p>»Von Johanna. Von Hannes. Freut es dich nicht,
+deine kleine Jugendfreundin wiederzusehen?«</p>
+
+<p>»Ob es <em class="gesperrt">mich</em> freut? Darauf wird’s wohl nicht
+zuerst ankommen. Ob es <em class="gesperrt">sie</em> freuen wird, Mama, das
+ist die richtige Frage. Und ich fürchte fast — doch
+wozu sich darüber heute schon den Kopf zerbrechen!«</p>
+
+<p>»Du möchtest also nicht zu uns ziehen, Hans? Da
+draußen wird es dir bald einsam werden.«</p>
+
+<p>»Ich bin ein Einsamkeitsmensch, Mama. Habe Geduld
+mit mir, und ich will dir dankbar sein.«</p>
+
+<p>Sie <em class="gesperrt">wollte</em> Geduld haben; so unendlich viel Geduld
+... Seit ihr in der Nacht Heinrich Springe in kurzen,
+scharfen Umrissen Bild für Bild aus dem Leben des
+Sohnes gezeichnet hatte, glaubte sie manches Gleichlautende
+in ihrem und Hans’ Charakter und damit
+manche Wiederholung von Kämpfen und Schicksalen
+erkannt zu haben. In der Erziehung war es versäumt
+worden. Die Jahre der Jugend hatten ihn nicht mit
+dem nötigen Fonds an rheinischer Frische und Elastizität
+ausstatten können, weil er daheim im Vater nur den
+rastlos drauf los arbeitenden Geschäftsmann, in der
+Mutter die vielbeschäftigte oder die ausruhende Weltdame,
+die für das begehrliche Knabenherzchen wenig
+Zeit erübrigen konnte, erblickt hatte.</p>
+
+<p>Und in Frau Margots Phantasie verschoben sich die
+Maßstäbe, und sie war geneigt, alle Schuld sich selbst
+zuzuschreiben und nun den Dingen, wie sie geworden
+waren und deren Vorentwicklung in der Knabenseele
+sie nicht rechtzeitig gesteuert hatte, das Geringe entgegenzusetzen,
+das ihr blieb: die unendliche Geduld.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_408">[S. 408]</span></p>
+
+<p>»Mama,« sagte Hans, »du quälst dich, ich seh’ es
+dir an. Du hast ja gar keine Ursache.«</p>
+
+<p>»Doch, doch; du verstehst das nicht.«</p>
+
+<p>»Ich verstehe es schon, Mama. Was in und außer
+mir fehlgeschlagen ist, das mußte kommen, weil der
+Grundfehler in mir selber lag. Ich hatte immer nur
+Träume, sprunghafte Gedanken, die jeden Schein, der
+mir fremd geblieben war und mir deshalb im ersten
+Augenblick imponierte, schleunigst zu einem neuen Erfahrungssatz
+stempelten. Mir fehlte die Sammlung,
+Mama, und die Freude, anderen wie mir eine Freude
+zu machen; und so schwebte ich in der Luft.«</p>
+
+<p>»Ich hätte dir helfen sollen, Hans.«</p>
+
+<p>»So beunruhige dich doch nicht. Es gibt für jeden
+Menschen einen Zeitpunkt, an dem er Farbe bekennen
+muß, was denn eigentlich an ihm ist. Ganz nach Ausfall
+dieses Examens richtet sich die eigentliche Entwicklung.
+Wer hier den Anschluß verpaßt, aus Leichtsinn, Trägheit
+oder Überhebung, der bekommt seinen Stempel für
+das ganze Leben. Davon hilft ihm selbst alle für ihn
+aufgebotene Familienliebe nicht ab.«</p>
+
+<p>Er strich freundlich über ihre Hände, als wäre er
+der Tröster und sie das Kind.</p>
+
+<p>»Nun heißt es, sich mit dem empfangenen Stempel
+auf möglichst anständige Weise abfinden.«</p>
+
+<p>Sie hielt seine Hände fest und drückte sie mutig.</p>
+
+<p>»Mein Junge,« sagte sie mit tiefer Überzeugung,
+»es gibt für jede Krankheit eine Heilung. Wir dürfen
+nur nicht die Krankheit lieb gewinnen und den Arzt
+vorüberlassen, wenn er kommt. Siehst du, wir sind
+erwachsene Menschen, und ich kann es dir sagen, ohne<span class="pagenum" id="Seite_409">[S. 409]</span>
+Furcht, gegen deinen Vater undankbar zu erscheinen,
+von dir mißverstanden zu werden. Auch ich war krank,
+lange, sehr lange sogar. Eigentlich bis zu dem Tage,
+an dem Heinrich Springe kam, zum zweiten Male kam.
+Ich hatte ihn als Mädchen gern, und doch habe ich
+nicht gewartet und habe mich anders entschieden, weil
+auch mir die rechte Sammlung fehlte und ich in der
+Luft schwebte. Weil ich mir angewöhnt hatte, alles
+nur von mir aus zu beleuchten. Und der Rückschlag
+blieb auch bei mir nicht aus. Es gab gar nicht genug
+Zerstreuungen, um über eine Leere hinwegzukommen.
+Zum Schluß war es doch nur ein Vegetieren in vornehmem
+Stil. Es war reichlich spät, da kam der Arzt.
+Und ich nahm alle meine Gesundheit zusammen und
+alle meine Erinnerung an die Gesundheit, und diesmal
+ließ ich ihn nicht vorbei und griff zu, als er mir die
+Hand bot, und weil ich das Wollen hatte, riß er mich
+mit einem Ruck heraus. Ins Leben.«</p>
+
+<p>Sie sah den Sohn strahlend an, und wieder wunderte
+er sich, wie jung sie war.</p>
+
+<p>»Da steh’ ich nun im Leben,« fuhr sie fort, »nicht
+in dem, was die große Welt Leben nennt und was
+nichts ist als eine Parodie auf das Menschentum, sondern
+in dem Leben, das einem so viel Umarmungen zurückgibt,
+als man ihm bietet. Ach, Hans, ich möchte meine
+Arme nur immer so ausstrecken! Wie viel verlieren
+wir törichten Menschen doch durch die Blasiertheit und
+Gespreiztheit unseres Wesens!«</p>
+
+<p>»Du mußt sehr glücklich geworden sein, Mama!«</p>
+
+<p>»Weil ich sehe, daß ich im stande bin, andere glücklich
+zu machen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_410">[S. 410]</span></p>
+
+<p>Er verstand sie. Und lächelnd nahm er der Mutter
+schönes Gesicht in seine Hände, sah ihr lange in die
+Augen und küßte sie auf den Mund.</p>
+
+<p>Ein Vergleich drängte sich ihm auf, ein ganz vager
+Vergleich, der kaum Berührungspunkte besaß, aber selbst
+an dieses Minimum klammerte er sich plötzlich an. Die
+Mutter mußte ihm antworten können, wenn überhaupt
+einer.</p>
+
+<p>»Glaubst du, Mama, daß eine Frau darüber hinwegkommen
+kann, wenn sie einen Mann geliebt und doch
+verabschiedet hat?«</p>
+
+<p>»Nein, mein Junge, sie wird es nicht können. In
+der ersten Zeit bildet sie es sich ein. Das Neue schafft
+ihr Beschäftigung. Aber wenn das Neue alt wird und
+die Beschäftigung ausbleibt, und wenn sich dann, so
+ganz allmählich und zuerst wie zur Zerstreuung, die
+Erinnerungen einstellen — mein alter Hans, die Erinnerungen
+sind unsere liebsten Freunde, aber sie können
+auch unsere schlimmsten Feinde werden. Wenn sich bei
+einer Frau die Erinnerungen einstellen und erst leise
+und dann lauter zu rufen beginnen: Dies und das war
+dein und du hast es aus Laune oder Feigheit verscherzt,
+und wenn sie dann kein Mittel sieht, an das alte Ende
+den neuen Anfang zu knüpfen — die Frau wird innerlich
+alt vor der Zeit, und selbst das schöne Wort der
+Pflichterfüllung kann ihr nur äußerlich aufhelfen.«</p>
+
+<p>»Und was soll der Mann tun, der aus Laune oder
+Feigheit verleugnet worden ist?«</p>
+
+<p>»Den Wert der Frau zu erkennen suchen und danach
+handeln.«</p>
+
+<p>»Es gibt also doch Unterschiede?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_411">[S. 411]</span></p>
+
+<p>»Frauen können wie Kinder den Weg verfehlen;
+dann gebührt ihnen immer noch Liebe und Nachsicht.«</p>
+
+<p>»Und wenn sie es bewußt tun, als fertige Menschen,
+mit der Berechnung, im Wiederholungsfalle nicht anders
+zu handeln?«</p>
+
+<p>»Mein lieber Hans, über solche Frauen spricht man
+nicht.«</p>
+
+<p>Des Heimgekehrten Gedanken schweiften noch einmal
+zurück zu der Stadt, die er gestern verlassen hatte.
+»Über solche Frauen spricht man nicht.« Hast du es
+gut verstanden, Bettina? — Ein bitterer Geschmack
+legte sich ihm auf die Zunge, und über sein Gesicht
+breitete sich die Selbstironie. Von Hannes zu Bettina —
+das war eine Reise gewesen, des Schweißes der Edeln
+wert! »Über solche Frauen spricht man nicht,« tönte es
+laut und hallend in seinem Innern — aber man <em class="gesperrt">denkt</em>
+auch nicht mehr an sie.</p>
+
+<p>Das war Hans Steinherrs letzter Gedanke an Bettina
+Wittelsbach.</p>
+
+<p>»Mama,« sagte er, und der Versuch, heiter zu erscheinen,
+gelang ihm, »lach mich doch aus, weil ich hier
+in der schönen Pose des Weltschmerzlers vor dir agiere.
+Und solch ein Beispiel wie dich vor Augen! Ist das
+nicht närrisch?«</p>
+
+<p>»Willst du Herrn von Springe begrüßen?« griff
+Frau Margot lebhaft die Stimmung auf, »und Frau
+Stahl?«</p>
+
+<p>Der Sohn erhob sich sofort.</p>
+
+<p>»Wenn ich ihnen gelegen komme?«</p>
+
+<p>»Das sind zwei Menschen, denen nie etwas ungelegen
+kommt,« lachte Frau Margot heiter. »Geh nur hinüber.<span class="pagenum" id="Seite_412">[S. 412]</span>
+Unterdes werde ich in der Küche nachsehen, ob man
+auch die Ehre des Tags zu würdigen weiß. Heute habe
+ich meines Jungen wegen aber auch alles verbummelt.«</p>
+
+<p>War das seine Mutter? fragte er sich, als er über
+den Korridor schritt. In der Küche wollte sie nachsehen?
+War das ein Scherz, oder vermischte sich bei
+ihr das Interesse für das geistige und leibliche Wohl
+ihrer Lieben jetzt in eins? Sie ist wirklich eine <em class="gesperrt">Frau</em>
+geworden, dachte er staunend, meine verwöhnte, geistreiche
+und — so viel gelangweilte Mama, eine wirkliche
+und wahrhaftige Frau ...</p>
+
+<p>Auf sein Klingeln an der Korridortür Herrn Friedrich
+Leopold von Springes wurde nicht sogleich geöffnet.
+Aber einen Streit vernahm der Draußenstehende ganz
+deutlich, und als er die Worte verstand, wußte er, daß
+er nicht fehlgegangen war.</p>
+
+<p>»Nee, nee, nee, verehrte Frau, sagen Sie das nicht.
+Die jüngsten Beine von uns beiden habe <em class="gesperrt">ich</em>!«</p>
+
+<p>»Aber, Herr von Springe, dafür bin <em class="gesperrt">ich</em> doch da.«</p>
+
+<p>Und dann öffneten ihm alle beide. Rechts stand
+Herr Friedrich Leopold in der Hausjoppe, links Frau
+Stahl in weißer Schürze.</p>
+
+<p>»Der Hans! Der Hans!« schrie Herr Friedrich
+Leopold und schwenkte an hocherhobenem Arm die Hand
+wie eine Wetterfahne.</p>
+
+<p>»Guten Tag, Herr Doktor,« sagte die Greisin
+trocken, aber auch in ihrer Stimme zitterte etwas.</p>
+
+<p>Der alte Junker hatte den Besucher gleich mit Beschlag
+belegt. Seinen Arm um den des jungen Freundes
+geschoben, führte er den Heimgekehrten im Triumph in
+seine Burggemächer.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_413">[S. 413]</span></p>
+
+<p>»Ha’, hamm’, ham’ mer dich emol, du Durchgänger?
+Herr Doktor müssen schon verzeihen, daß ich Du sage,
+aber da ich nun einmal durch Recht und Gesetz Ihr
+Großvater bin, du liebenswürdiger Jüngling du, so
+kannste nix mache. Höchstens — — aber natürlich!
+Nach alter, deutscher Sitte! Wollen zuallererst doch
+mal Bruderschaft trinken. Wie sagt doch Krökel, der
+Klausner alt und greis? ›Mit Verlaub, ich bin so frei!‹
+Das soll ein Manneswort sein. Frau Stahl, edle Burgverschließerin,
+bitte ganz ergebenst um eine Flasche
+Rauentaler Ausbruch.«</p>
+
+<p>»Rheinwein, Herr von Springe? Und so schweres
+Zeugs?«</p>
+
+<p>»Rheinwein, dem Rheinwein gebührt! Und was
+ist schwer, wenn zwei kräftige Männer das Werk mit
+Händen anfassen! Notabene, woher wissen Sie tugendhafte
+Frau denn, daß das Zeugs so schwer ist? Sie
+haben wohl mal — ganz heimlich — mit Verlaub, ich
+bin so frei — —?« und er machte die entsprechende
+Geste.</p>
+
+<p>Als sich Frau Stahl, entrüstet über den Verdacht,
+in den Keller begab, wollte sich Herr Friedrich Leopold
+totlachen.</p>
+
+<p>»Siehst du, mein Sohn, das mußt du dir für später
+merken. Das ist ein Kniff von mir, mit dem krieg’
+ich alles. Nur den lieben Seelen insinuieren, als ob
+sie das Beste für sich behalten wollten. Dann kommt
+die Entrüstung und mit der Entrüstung die verächtlich
+tuende Freigebigkeit. Aber mir schmeckt’s doch.«</p>
+
+<p>Nach fünf Minuten plauderte der alte Herr bereits,
+als ob sie nie getrennt gewesen wären.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_414">[S. 414]</span></p>
+
+<p>»Du,« meinte er zwischendurch geheimnisvoll, »deine
+Mutter ist eine charmante Frau. Weißt du? — —«</p>
+
+<p>Dann brachte Frau Stahl den Wein, und der alte
+Herr putzte selbst die langstengligen Römer aus.</p>
+
+<p>»So, mein Junge, nu mal fix übers Kreuz. So —
+o —.« Er wischte sich den Mund. »Ich heiße Friedrich
+Leopold. Ach nee, das zieht ja zwischen uns beiden
+nicht. Also ich bin dein Großvater, der dich sehr lieb hat
+und dasselbe von dir beansprucht. Und nun wollen wir
+mal wie echte Kreuzritter gegen den Heiden ziehen.«</p>
+
+<p>»Gegen den Heiden?« wiederholte Hans Steinherr
+verwundert und ließ sich das Glas frisch füllen.</p>
+
+<p>»Hie Buch und Kreuz und Mönchsgebet — sie
+müssen alle von dannen,« variierte der strenggläubige
+Zecher. »Dieser Rauentaler, dieser Heide, hat sich selbst
+der schmerzlosesten Taufe entzogen. Vertilge ihn, vertilge
+ihn! Er ist reif!«</p>
+
+<p>Er stieß mit Hans an und zwinkerte, verständnisvoll
+schmunzelnd, mit dem Auge.</p>
+
+<p>»Du — die charmante Frau soll leben! Jung’,
+Jung’, ham’ mer en Freud’!«</p>
+
+<p>Hans verstand zwar nicht recht, weshalb sich der
+alte Herr gerade heute so unbändig über die charmante
+Frau freute, aber er nahm an, daß das wohl die Normalempfindung
+Herrn Friedrich Leopolds gegenüber
+Frau Margot sei, und dankbar tat er Bescheid. Die
+Trinksprüche waren indes noch nicht zu Ende.</p>
+
+<p>»Einmal ist keinmal, nicht wahr, Frau Stahl? Aber
+dreimal — das können Sie durch die einfachste Addition
+feststellen — das ist dreimal. Das dritte Glas also —
+Was? Ich soll vor Tisch nicht mehr trinken? O, wenn<span class="pagenum" id="Seite_415">[S. 415]</span>
+Sie ahnten, wem wir dies dritte Glas bringen, hätten
+Sie schon aus purstem Familienegoismus geschwiegen.
+Das dritte Glas unserem Prachtmädel, unserem Hannes.
+Marke: Stahl!«</p>
+
+<p>Er drängte der alten Freundin ein Glas auf, verbeugte
+sich höfisch und ließ die Gläser fein aneinander
+klingen.</p>
+
+<p>Hans Steinherr fühlte eine sich steigernde Beklommenheit.
+Rasch trat er auf die alte Frau zu und hielt ihr
+das Glas hin.</p>
+
+<p>Die Greisin sah ihm, ohne eine Gemütsregung zu
+äußern, ruhig in die Augen und stieß mit ihm an.
+Dann wandte sie sich dem alten Herrn zu, der am
+liebsten sofort in eine allgemeine Fiduzität hineingesegelt
+wäre, und sagte warnend: »Herr von Springe, Frau
+Margot und Ihr Herr Sohn erwarten uns in einer
+Viertelstunde drüben zu Tisch. Und Sie sind noch
+immer in der Hausjoppe.«</p>
+
+<p>»Donnerwetter,« meinte Herr Friedrich Leopold,
+»eine Berufung auf Frau Margot, das heißt so viel als:
+stramme Haltung! Na, nimm’s nicht übel, mein Sohn,
+daß ich verschwinde. Ich lass’ dich ja, während ich Gala
+anlege, in der allerbesten Gesellschaft zurück.«</p>
+
+<p>Dann war Hans Steinherr mit Frau Stahl allein.</p>
+
+<p>Er saß auf seinem Stuhl, vornübergebeugt, die Arme
+auf den Lehnen, und beobachtete sinnend jede ihrer Bewegungen,
+während sie ab und zu ging, den Tisch in
+Ordnung brachte und sich im Zimmer zu schaffen machte.</p>
+
+<p>»Wissen Sie noch, Frau Stahl, wie ich an dem
+Sonntag zu Ihnen kam, drüben in der Pempelforterstraße,
+und bei Ihnen Kaffee trank?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_416">[S. 416]</span></p>
+
+<p>»Weshalb sollte ich das nicht mehr wissen, Herr
+Doktor?«</p>
+
+<p>»Wie lang’ ist das her! — — Ich war damals
+noch ein Junge.«</p>
+
+<p>»Das kann ich nicht beurteilen, Herr Doktor.«</p>
+
+<p>Er zuckte zusammen. Sie hatte ihn falsch verstanden
+oder mißverstehen wollen.</p>
+
+<p>»Haben Sie gute Nachrichten von — von Hannes?«
+fragte er nach einer Pause.</p>
+
+<p>»Ich danke. Man muß schon zufrieden sein, wenn
+sie gesund bleibt.«</p>
+
+<p>»Haben Sie denn — haben Sie denn Besorgnisse?
+Ich meine: Ihre Enkelin fühlt sich doch wohl?«</p>
+
+<p>»Sie sind sehr freundlich, Herr Doktor. Meine
+Enkelin hat bis heute noch nicht geklagt.«</p>
+
+<p>Wieder die Pause, die kein Ende nehmen wollte.
+Nur das mechanische Klappern von Stricknadeln.</p>
+
+<p>Da erhob sich Hans Steinherr von seinem Stuhl
+und ging zu der alten Frau hinüber.</p>
+
+<p>»Frau Stahl, ich bin nach Düsseldorf zurückgekommen,
+um meinen Frieden zu schließen, mit meinen Angehörigen
+und, wenn es angeht, auch mit mir. Meine Mutter
+hilft mir, Heinrich Springe und der alte Herr helfen
+mir — wollen Sie allein nicht?«</p>
+
+<p>»Wir sind doch nicht Ihre Angehörigen, Herr
+Doktor.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr preßte die Lippen zusammen. Dann
+streckte er die Hand aus und sagte leise: »Verzeihen
+Sie mir!«</p>
+
+<p>Die Greisin ließ das Strickzeug in den Schoß sinken
+und sah ihn mit großen Augen an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_417">[S. 417]</span></p>
+
+<p>»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Herr Doktor.
+Ob Ihnen Johanna was zu verzeihen hat, das hat sie
+mir nie gesagt.«</p>
+
+<p>»Doch, Frau Stahl. Sie — gerade Sie. Sie haben
+mich damals voll Vertrauen auf meine Ehrlichkeit in
+Ihr Haus aufgenommen und mich Einblicke in ein
+starkes, stolzes Leben tun lassen. Jeder andere wäre
+daran gewachsen. ›Scham ist Feigheit,‹ sagten Sie damals.
+Mein Wankelmut hat das Wort traurig bestätigt,
+ich mußte erst noch einmal durch die Schule gehen, um
+es in seiner Wahrheit verstehen zu lernen. Frau Stahl,
+ich bin nicht mehr feige, ich bin nur noch beschämt.
+Vielleicht halten Sie es der Mühe wert, dies trübe
+Geständnis entgegenzunehmen.«</p>
+
+<p>Die alte Frau rückte unruhig auf ihrem Stuhl.</p>
+
+<p>»Wenn ich Ihnen von der Beschämung abhelfen
+könnte — —. Aber gute Lehren sind Stroh statt
+Hafer.«</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie mir!« sagte er noch einmal leise.</p>
+
+<p>Sie sah zu ihm auf. Sie sah sein müdes Gesicht
+und das Ruhebedürfnis in seinen Augen. Und dann
+erhob sie sich und nahm seine Hand an. Sie packte sie
+mit festem Druck und hielt sie in der ihren. Irgend
+etwas wollte sie sagen. Doch sie nickte nur, ließ seine
+Hand los und ging in ihre Küche.</p>
+
+<p>»Ich hätte es nicht ertragen,« murmelte Hans Steinherr;
+»von allen, nur von ihr nicht. Nun ist mir freier.«</p>
+
+<p>Er nahm seinen Platz wieder ein und wartete auf
+Herrn Friedrich Leopold, der bald erschien.</p>
+
+<p>»Oho — so ganz solo? Ja, mein Sohn, weiß man
+denn außerhalb Düsseldorfs nicht mehr, wie man<span class="pagenum" id="Seite_418">[S. 418]</span>
+Süßholz raspelt? Ausgerissen ist dir die verehrte Frau?
+Du bist zu schüchtern, Hans.«</p>
+
+<p>Er strich sich den weißen Schnurrbart hoch und
+klopfte behutsam ein Stäubchen vom Rockärmel.</p>
+
+<p>»Tipp topp, gelt? Als wenn’s zum Tanzen ging’.«</p>
+
+<p>Draußen wurde an der Schelle gerissen, daß es
+Sturm läutete.</p>
+
+<p>»Das sind die jungen Leute von drüben,« sagte Herr
+Friedrich Leopold, »überschüssige Kraft.« Und er ging
+öffnen.</p>
+
+<p>Dann stürmte Heinrich Springe ins Zimmer. Frau
+Margot folgte gemütlich am Arme des Vaters.</p>
+
+<p>»Da bist du ja, Hans. Herrgott, wie ich mich freue!
+Und rote Backen hat er schon gekriegt, ordentlich rote
+Ba —« Sein Blick fiel auf den Senior. »Du, sag
+mal, du hast ja auch rote Backen gekriegt, aber so verdächtige?
+Ihr habt wohl das Krökelspiel gespielt, vom
+frommen Klausner? Ah, sieh da, der stumme Zeuge.
+Rauentaler Auslese. Hm, hm, hm. Margot,« wandte
+er sich an seine Frau, »wirf doch den Plebejer, den
+Zeltinger, aus dem Eiskühler. Die Herren haben bereits
+anders bestimmt.«</p>
+
+<p>Der alte Herr aber freute sich, als ob er den Sohn
+mit einer brillanten Pointe hineingelegt hätte.</p>
+
+<p>Dann ging es zu Tisch. Hans Steinherr führte
+die Mutter, Herr Friedrich Leopold holte Frau Stahl
+herbei, und Heinrich Springe machte den Beschluß.
+Feierlich zogen sie über den Korridor in die andere
+Wohnung hinüber.</p>
+
+<p>Nach der Tafel verlangte es Hans, die Fabrik zu
+sehen. Inmitten der Fröhlichkeit war plötzlich ein Drang<span class="pagenum" id="Seite_419">[S. 419]</span>
+nach Tätigkeit in ihm erwacht. Er bat, ihn für den
+Nachmittag zu entschuldigen, und versprach, sich zum
+Abend wieder einzustellen.</p>
+
+<p>Langsam wanderte er durch den frischen Tag hinaus
+nach Bilk. Hier bleiben können, hier bleiben können!
+tönte es in ihm. Er reckte sich in den Schultern, und
+es war ihm, als spürte er neues Blut.</p>
+
+<p>Wie die Sonne dort über dem Feldstreifen zittert.
+Gerade, als ob es schon Frühling wäre ... Und dann
+sprach er vor sich hin: »Die Heimat. Die Heimat.
+Das hier ist die Heimat ...«</p>
+
+<p>Manchmal blieb er stehen und sog aus tiefen Lungen
+die frischwehende Luft ein. Alles schien ihm in Glanz
+eingehüllt, und obwohl die Landschaft hier nichts Anziehendes
+bot und ringsumher die Mauern und Schornsteine
+der industriellen Werke emporragten, glaubte er,
+selten ein schöneres Bild gesehen zu haben.</p>
+
+<p>Und er malte es sich verlockend aus, hier wieder
+Wurzel zu schlagen, unter diesen Menschen hier wieder
+das Lachen zu lernen, durch angespannte Tätigkeit sich
+die Achtung zu verdienen und — ja, ja! weshalb sollte
+es nicht möglich sein! es mußte sich auch das ermöglichen
+lassen bei tapferem Ausharren und unermüdlichem
+Werben — und am eigenen Herd das Glück festzuhalten.
+»O, du Jugendkraft, du, du! Die vom Niederrhein
+haben dich in Erbpacht!«</p>
+
+<p>Warm lief es ihm durch alle Glieder. Die Märzsonne
+hatte für ihn Juliglut. — —</p>
+
+<p>Bis zum späten Abend war er in der Fabrik geblieben.
+Er hatte die Feierabendglocke gehört und die
+Scharen geschwärzter Arbeiter unter dem Fenster des<span class="pagenum" id="Seite_420">[S. 420]</span>
+Privatbureaus vorüberwallen sehen, während er immer
+noch saß und sich von dem Leiter der Werke einen
+Überblick über die Geschäftslage geben, Pläne vorlegen,
+den Gang der Fabrikation erläutern ließ. Und je
+länger er saß, umso schärfer und quälender wurde die
+Entdeckung, daß ihm jeder Sinn für das fehlte, was
+ihm der Teilhaber der Firma Philipp Steinherr doch
+so klar und übersichtlich an Hand der Bücher, Karten
+und Tabellen vortrug, daß er nie den Sinn dafür erlangen
+würde. Denn die genialste Berechnung, in technischer
+wie in kaufmännischer Beziehung, rüttelte kein
+außergewöhnliches Interesse in ihm wach. Mit stumpfer
+Bereitwilligkeit hörte er zu und stellte immer nur sein
+Unvermögen fest.</p>
+
+<p>Er hatte sich von dem Teilhaber, der noch einige
+wichtige Arbeiten zu erledigen wünschte und deshalb
+noch nicht in die Stadt hineinfuhr, mit herzlicher Danksagung
+verabschiedet, den Wagen abgelehnt und den
+Heimweg zu Fuß angetreten. Aber die Sonne war fort,
+und die Frühlingsahnung war fort. In seinem Innern
+waren alle die hoffnungsfröhlichen Stimmen des Nachmittags
+jäh verstummt, so angstvoll er auch horchte.</p>
+
+<p>Und plötzlich warf er sich an einer Böschung nieder
+und preßte sein Gesicht verzweifelt gegen die Heimatserde.</p>
+
+<p>»Es ist <em class="gesperrt">nichts</em> mehr, es ist <em class="gesperrt">nichts</em> mehr. Es ist
+ja alles verpfuscht! — — —«</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-420.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_421">[S. 421]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Neuntes_Kapitel_Buch_2">Neuntes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">Der erste Tag im Mai!</p>
+
+<p>Wieder war Düsseldorf, das glücklich gelegene, den
+anderen Städten im Reich um reichlich vierzehn Tage
+vorausgeeilt, im Hofgarten rauschten die vollbelaubten
+Kronen der Bäume, das Gesträuch war mit Blüten
+übersät, und der Flieder duftete über die ganze Stadt.</p>
+
+<p>Seit einer Woche hatte in der Immermannstraße
+Hannes Einkehr gehalten.</p>
+
+<p>Sie hatte eine anstrengende Tournee hinter sich, aber
+sie fühlte sich, wie sie lachend versicherte, trotz alledem
+elastisch wie eine Haselgerte und gedächte sich nur deswegen
+sechs Monate auf die faule Seite zu legen, um
+den nötigen Vorrat an Düsseldorfer Luft zu sammeln.</p>
+
+<p>»Man muß doch zuletzt wissen, wo man ›zuständig‹
+ist,« erklärte sie Heinrich Springe, »wenn man nicht
+ganz verzigeunern will. Und das Zigeunertum — ach
+Gott, das ist eine schöne Lüge.«</p>
+
+<p>»Du, Mädel, so schlau wie du ist nun auch der
+Hans. Ganz still und beschaulich ...«</p>
+
+<p>»Er gefällt mir nicht,« sagte sie, »ich wollt’, er
+schlüge Skandal.«</p>
+
+<p>»Na, hör mal, so was von Radaulustigkeit — —!
+Du wirst wohl noch nach Oberkassel tanzen gehen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_422">[S. 422]</span></p>
+
+<p>»Dem Hans tät’s vielleicht gut. Es riss’ ihn aus
+seiner Beschaulichkeit.«</p>
+
+<p>»Aber Kind, gerade über die Beschaulichkeit sind wir
+ja so herzensfroh!«</p>
+
+<p>»Ihr seid liebe Menschen,« sagte sie und lehnte sich
+an seinen Arm, »ihr denkt nur Gutes und Gesundes,
+weil ihr selbst gut und gesund seid.« Sie sah zu ihm
+auf, ohne sich an seiner Schulter zu rühren. »Wißt
+ihr denn, was es mit dieser stillen Beschaulichkeit von
+Hans auf sich hat? Ach, Onkel Springe, ich habe es
+gleich gewußt. Er beschaut seine Wunden.«</p>
+
+<p>»Hannes!« rief Springe erschrocken und zog das
+Mädchen mit einem Ruck an sich, »Hannes, was willst
+du gleich gewußt haben? Herrgott, sollten wir denn
+wirklich blind gewesen sein? Und du — du meinst —
+du hätt’st recht?«</p>
+
+<p>Sie sah ihn noch immer an und nickte mit traurigen
+Augen.</p>
+
+<p>»Es ist so, Onkel Springe. Wundert es dich, daß
+ich dafür ein feineres Verständnis habe als ihr?«</p>
+
+<p>Auf die Frage war Springe nicht vorbereitet, und
+er fand kein Wort der Entgegnung. Aber sein gerades,
+ehrliches Herz erkannte die gleichgesinnte Natur und
+schwoll empor bei diesem offenen Eingeständnis.</p>
+
+<p>»Mädel, Mädel,« brachte er nur heraus und fuhr
+ihr mit breiter Hand über Haar und Gesicht, »was bist
+du für ein Mädel!«</p>
+
+<p>Das war nicht geistreich, das empfand er selbst.
+Aber für ihn gab es in diesem Augenblick alles wieder,
+und für sie auch; und das war ihnen beiden die Hauptsache.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_423">[S. 423]</span></p>
+
+<p>»Was fang’ ich nur an, um ihn aus dieser verdammten
+Beschaulichkeit wieder ’raus zu kriegen, Hannes?
+Ich schäm’ mich ja zu Tod’. Beinah — beinah — na,
+muß ich’s sagen? Beinah wie in Berlin, Kurfürstendamm:
+und Heinrich Springe ging hinaus und weinte
+bitterlich, weil er sich aus einem finsteren Cato in einen
+Pudel verwandelt hatte, der vor zwei schönen Frauenaugen
+hübsch Apport machte. O Gott, o Gott, Hannes,
+sag das nur keinem wieder! Wenn ich damals nicht
+dich gehabt hätte! Wie ein Chirurg gingst du los ...
+Ihr Frauen seid doch die geborenen Ärzte.«</p>
+
+<p>»Du, Onkel —«</p>
+
+<p>»Gut,« sagte Springe und drückte ihr die Hand.
+»Wenn ich nämlich an <em class="gesperrt">die</em> Affaire denke, wird mir immer
+noch glühheiß. Das brauchte nur Margot zu wissen.
+Ich läge platt unterm Pantoffel. Also sprechen wir
+wieder von Hans; schon, damit ich meine Haltung
+wiederfinde.«</p>
+
+<p>»Onkel,« sagte das Mädchen nachdenklich, »ich glaube,
+ihr drückt ihn zu sehr mit eurer Liebe. Da kommt er
+sich vor wie ein Invalide, wie ein Almosenempfänger.
+Mit solchen Kranken muß man sich frisch-fröhlich herumzanken,
+ihren Widerspruchsgeist wecken. Der Mensch
+fühlt sich nie gesünder, als wenn er widersprechen
+kann. Das steigert sein Selbstgefühl und macht ihn
+trotzig.«</p>
+
+<p>»Ob Trotz gerade die richtige Tugend ist — —?«</p>
+
+<p>»O, du unkluger Mann! Trotz gibt nach, und dann
+ist der Trotzige der Gebende. Aber Resignation, die
+nachgibt, bleibt die Empfangende. Das verträgt kein
+Mann auf die Dauer an sich selbst.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_424">[S. 424]</span></p>
+
+<p>»Sag mal, Kind, ich hoffe, diese Weisheit hast du
+nur aus deinen Arien.«</p>
+
+<p>»Sie ist mir über Nacht gekommen, seit ich Hans
+gesehen habe.«</p>
+
+<p>»Und was soll ich tun? Jetzt stehe ich blind zu
+deiner Verfügung.«</p>
+
+<p>»Suche ihn zu zerstreuen, bring ihn unter Männer,
+rede mit ihm über Dinge, die ihm am Herzen liegen,
+über Kunst, über Literatur, und zeig dich unwissend,
+dreist oder ungeschickt, damit seine Empörung wach
+wird, seine Verteidigungslust; damit er ins Feuer
+gerät. Ach, Onkel, wenn ich könnte, wie ich wollte —«</p>
+
+<p>»So will doch, Kindchen! Du nähmst mir da wirklich
+ein Kommissiönchen ab.«</p>
+
+<p>Sie schüttelte den Kopf, und auf ihrer Stirn grub
+sich die Falte, die sie als Kind so oft gezeigt hatte.</p>
+
+<p>»Ich kann mich doch nicht wegwerfen,« murmelte
+sie. »So was tut man wohl in der Stunde der
+Gefahr, aber doch nicht aus freien Stücken. Das säh’
+ja aus, als ob ich Sonderinteressen dabei verfolgte.«</p>
+
+<p>»Wenn du ihn lieb hast ...« fragte Springe unsicher.</p>
+
+<p>»Weil ich ihn lieb habe, weil, weil! <em class="gesperrt">Er</em> soll gesund
+werden, nicht ich. Ich — ich bin’s ja.«</p>
+
+<p>»Das weiß Gott!« sagte Springe herzlich. »Und
+jetzt versteh’ ich dich auch ganz. Seinen Stolz willst du.«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte sie leise, mit einem versonnenen Lächeln,
+und sie hatte nasse Wimpern.</p>
+
+<p>»Ich werde es einmal mit Herrn Friedrich Leopolds
+Rezept versuchen,« entschied Heinrich Springe. »Der
+Wein erfreut des Menschen Herz, und heute, am ersten<span class="pagenum" id="Seite_425">[S. 425]</span>
+Mai, fließt im ›Malkasten‹ die allgemeine Maibowle.
+Da kommen die Malmännlein aus Höhlen und Klüften,
+Hunderte an der Zahl. Und viele — ach, wie viele! —
+waren beim Barbarossa im Berg und haben geschlafen,
+die Zipfelmütze über beide Ohren, einen gottgesegneten
+Schlaf. Da verwandelte sich der Pinsel in ihrer Hand
+zum Weißquast, und die heilige Ölfarbe zur unheiligen
+Tünche. Aber ein Geschwätz machen sie, ein Geschwätz,
+sag’ ich dir, daß den umsitzenden Künstlern graut. Hans
+soll es mitmachen!« — —</p>
+
+<p>Hans Steinherr war in der letzten Woche nur zweimal
+in Burg Springe als Gast erschienen. An dem
+Tage, an dem die Familie Hannes feierlich am Bahnhof
+eingeholt hatte, war er erst zur Abendstunde gekommen.</p>
+
+<p>Im Besuchsanzug, einen Strauß Flieder in der
+Hand, war er ins Atelier eingetreten, in dem das
+Mädchen vor einem neuen Werke Springes, einem
+schlummernden Parkteich, überwacht von dichtgedrängten,
+blühenden Kastanien, stand.</p>
+
+<p>Als sie seinen Schritt vernahm, wandte sie sich um.</p>
+
+<p>»Guten Tag, Herr Hans. Wie geht es Ihnen? Ich
+freue mich, Sie wiederzusehen.«</p>
+
+<p>Und er hatte auf das schöne, in sich gefestigte Geschöpf
+hingestarrt, und als er die Lippen bewegte, um
+zu erwidern, spürte er, daß in ihm etwas zerrissen war,
+in diesem Augenblick.</p>
+
+<p>»Hannes, Fräulein Hannes ...« sagte er mit Anstrengung,
+und dann bot er ihr zögernd die Hand, die
+die Blumen hielt, und sie nahm die Blumen und nahm
+seine Hand.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_426">[S. 426]</span></p>
+
+<p>»Wie aufmerksam von Ihnen! Haben Sie herzlichen
+Dank!«</p>
+
+<p>»Sie sind aus dem Garten draußen,« sagte er, um
+nur seine Stimme zu hören. »Der Frühling kam zeitig
+dies Jahr.«</p>
+
+<p>Sie nickte und vergrub ihr Gesicht in den Strauß.
+Der herbe Zug um seinen Mund tat ihr weh.</p>
+
+<p>Dann sprachen sie von ihren Reisen. Ganz so wie
+Menschen, die sich auf einer Station getroffen haben
+und plaudern, um die Zeit hinzubringen. Und doch
+achtete und wartete sie auf nichts anderes als auf ein
+Wort, das den alten Hans verraten würde, und alles,
+was er sprach, ging an ihrem Ohr vorüber, eilig, schnell
+zerflatternd, damit sie die Aufnahmefähigkeit behielte für
+das, was doch kommen mußte.</p>
+
+<p>Aber es kam nicht. Der Mann, der vor ihr saß,
+war nicht mehr kindergläubig genug, um durch den
+Schleier hindurch in ihrer Seele zu lesen. Er sah nur
+die Zerstreutheit, mit der sie ihm zuhörte und antwortete,
+und sein unruhiges Gewissen gab ihm ein, daß
+es ihr peinlich sein müßte, dem Manne höflich und
+freundlich gegenüber zu sitzen, den sie als Mädchen geküßt
+hatte.</p>
+
+<p>Einmal dachte er daran, die Vergangenheit zu berühren
+und sie um Verzeihung zu bitten. Aber angesichts
+dieser vornehm stillen Erscheinung, deren selbstsichere
+Haltung keinen Schluß mehr auf das wilde,
+zärtliche Gemüt des einstigen Hannes zuließ, schien ihm
+seine Anwandlung anmaßend und kindisch. Die Kinderzeit,
+in der ein einziges »Sei wieder gut!« die Schranken
+wegräumte, war nicht mehr. Hier hieß es nicht, reden,<span class="pagenum" id="Seite_427">[S. 427]</span>
+hier hieß es, zeigen. Und er hatte nur einen Bankrott
+aufzuweisen gegen ihre Reichtümer. Einen solchen Handel
+machte er nicht. Er war kein Betrüger.</p>
+
+<p>So lief die Stunde ab, und das Ergebnis war der
+Wunsch auf ferneres Wohlergehen. Dann saß sie wieder
+vor dem Bild mit dem schlummernden Parkteich und
+den blühenden Kastanien, aber sie saß mit geschlossenen
+Augen.</p>
+
+<p>Im Nebenzimmer begrüßte Hans seine Mutter.
+Hannes hörte, wie er bat, ihn zum Abendessen zu entschuldigen,
+und wie Frau Margot ihm doch abschmeichelte,
+daß er blieb. Dann saßen sie miteinander bei Tisch,
+und Großvater Springe war aufgeräumter denn je,
+und seine unbesiegbare Laune holte sich auch heute den
+Triumph, die Tischgesellschaft zu erheitern und die gewonnene
+Stimmung durchzuhalten. Später bestürmte
+Frau Margot Hannes um ein Lied, um ein ganz kleines
+nur. Aber als sie nachgeben wollte, obwohl ihr die
+Kehle wie zugeschnürt war, sah sie, daß Hans geräuschlos
+das Zimmer verließ. Da versprach sie für morgen
+so viel Lieder, als man zu hören wünschte, nur heute
+möchte sie sich schonen.</p>
+
+<p>Auch Heinrich Springe hatte das stille Verschwinden
+des Freundes wahrgenommen und war ihm gefolgt. Als
+er zurückkam, teilte er mit, daß Hans nicht durch Abschiednehmen
+habe stören wollen. Der Junge fühle sich
+heute nicht recht wohl, habe aber ebenfalls für morgen
+alles mögliche versprochen. Und die beiden Springes,
+Frau Margot und selbst Frau Stahl nahmen das mit
+unschuldigem Herzen als ein gutes Zeichen und tauschten,
+heimlich sich zunickend, strahlende Blicke miteinander aus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_428">[S. 428]</span></p>
+
+<p>Hans aber war nach Hause zurückgekehrt und saß
+die Frühlingsnacht hindurch in der Laube und hörte
+nicht die Stimmen des Frühlings und hörte nur die
+Stimmen der Nacht.</p>
+
+<p>Das ist nun vorüber, alter Junge ...</p>
+
+<p>Was ist vorüber? fragte er sich mit bewußter Selbstironie.</p>
+
+<p>Und er fuhr fort, sich Rede und Antwort zu stehen
+und den Sarkasmus wider sich selbst zu kehren.</p>
+
+<p>Was vorüber ist? Nun, was denn sonst als das
+Wiedersehen? Oder hattest du dir gar etwas anderes
+gedacht, als du hingingst? Ja, mein lieber, eingebildeter
+Mensch, wenn du noch solche Träume spinnen konntest,
+wirst du jetzt belehrt sein, daß das, was du meintest,
+längst, längst schon vorüber ist.</p>
+
+<p>Sie ist schön, nicht wahr? Wie die goldrote Haarwelle
+auf ihrem feinen Knabenköpfchen ruht, als wollte
+sie locken: Löse mich. Dich brenne ich nicht. Wenn du
+mich über dein Gesicht legst, will ich dich kühlen ...</p>
+
+<p>Sie ist ein Märchen, gab er zur Antwort. Hast
+du vergessen, daß alle Märchen beginnen: Es war einmal
+...?</p>
+
+<p>Und wenn das Märchen dennoch Leben gewinnt und
+die Augen aufschlägt?</p>
+
+<p>Ach, du armer Phantast, die Augen werden an dir
+vorübergehen. Schau dich an. Sieht so ein Märchenprinz
+aus? Überbleibsel bringt man nicht auf eine
+Königstafel, und gierige Bettler werden im Hofe abgefertigt.</p>
+
+<p>Ich bin kein Bettler! brauste es ihm durch den Kopf.
+Ist es mir denn in den Sinn gekommen, zu betteln?<span class="pagenum" id="Seite_429">[S. 429]</span>
+Bin ich so weit herunter, daß ich auf Freibeuterei ausgehe?
+O nein, mein guter Hans, o nein, so viel Anstand
+hast du doch noch in den Knochen, um dich nicht
+wehleidig aufzudrängen und um Gottes Barmherzigkeit
+willen ein Almosen zu verlangen. Um zu erklären:
+Jetzt, du schöne, lachende Frau, wo es dir geglückt ist
+und mir nicht, passen wir besser zusammen. O nein,
+ich bin kein Bettler. Ich weiß sehr gut, was ich bin,
+und mache mir keine Illusionen.</p>
+
+<p>Seine Lippen legten sich fest aufeinander, und je
+fester sie sich schlossen, desto heller wurde sein Auge,
+in dem das alte Erbgut der Kinder dieses Landes glänzte
+und schimmerte: der Spott, der selbst mit dem Tiefstand
+des Lebens noch um ein Lachen trotzt.</p>
+
+<p>Und er zog die Bilanz der letzten Wochen, der Zeit,
+die er wieder in der Heimat zugebracht hatte, und verglich
+die Kredit- und Debetseite. Wieder und wieder
+hatte er sich aufgerafft, wie nur ein Mann es kann,
+und war hinausgegangen in die Fabrik, um sein Interesse
+mit zäher Energie zu zwingen. Aber was half
+all sein Wollen? So zappelt auch ein Fisch auf dem
+trockenen Land. Das Element, in dem er sich befand,
+war nicht das seine, ihm fehlte die kaufmännische Gabe
+und das technische Verständnis.</p>
+
+<p>Dann hatte er es im stillen mit der Kunst versucht.
+Die Muse zwar war nicht zu beleben, denn jede Gefühlsäußerung
+erschien ihm wie ein Hohn, und künstlerische
+Formspielereien waren ihm verhaßt. Aber durch
+die Kunstausstellungen war er gewandert und durch die
+Ateliers, und er hatte sich einen Überblick verschafft über
+den Stand der vaterstädtischen Kunst, über den neuen,<span class="pagenum" id="Seite_430">[S. 430]</span>
+urwüchsigen Heimatstrieb und über den alten Zopf.
+Das war ein Gebiet, das er beherrschte, und hiefür
+gedachte er zu schaffen.</p>
+
+<p>Sobald er jedoch vor dem Stoß weißen Papieres
+saß, befiel ihn wieder der Gedanke an den Unwert all
+seines Tuns. Weshalb denn nur etwas leisten wollen?
+Für wen denn? Für das Streicheln einer lieben Hand.
+Für das Leuchten zweier Augen. Das hätte sich gelohnt,
+das hätte gefördert. Aber für das bißchen Ehrgeiz oder,
+wenn es hoch kam, für das Kerzenstümpfchen Idealismus?
+— Und die Freude, die ihm auf Sekundenlänge
+über die Schulter geguckt hatte, war entflohen — —.</p>
+
+<p>Das also, schloß er, ist das Resultat! Daß es etwas
+minimal ist, kann ich nicht verneinen.</p>
+
+<p>So verging die Frühlingsnacht.</p>
+
+<p>In den nächsten Tagen sah er Hannes wieder,
+plauderte mit ihr, bis er merkte, daß er mitten im Satz
+verstummt war und sie seit Minuten anstarrte, und
+sich schnell empfahl, um der Selbstquälerei ein Ende zu
+machen. —</p>
+
+<p>Als am Abend des ersten Mai Heinrich Springe
+bei ihm erschien, packte ihn die Angst, der Freund käme,
+um ihn zu einem Familienabend zu holen. Umso hastiger
+ging er auf den Vorschlag ein, der Maibowle des ›Malkastens‹
+beizuwohnen. Er wurde sogar ordentlich aufgeräumt,
+und Heinrich Springe dachte erstaunt und beschämt
+zugleich: Das Sakramentsmädel, der Hannes,
+hat doch mal wieder recht behalten. Er gehört unter
+trinkfeste Männer. —</p>
+
+<p>Im ›Malkasten‹ war es gedrängt voll. Hunderte
+von Künstlern und Kunstfreunden waren in den weiten<span class="pagenum" id="Seite_431">[S. 431]</span>
+Räumen untergebracht, aber sie mußten dicht zusammenrücken,
+denn das Fähnlein der Durstigen war in der
+Rheinstadt schon an Abenden ohne tiefere Bedeutung
+nicht klein. Eine Schicht blauen Zigarrendampfes
+schwamm wie ein Nebel über der Festversammlung
+und gab dem Bilde das Kolorit eines alten niederländischen
+Gemäldes.</p>
+
+<p>»Teniers oder Höllenbreughel?« fragte Springe
+lachend seinen Begleiter, während er sich durch das
+Labyrinth der Tische einen Weg bahnte. »Was? Das
+nennt sich doch noch gesunde Kneipenluft! Und dieser göttliche
+Radau! Hier kommt’s nicht drauf an, <em class="gesperrt">was</em> man
+sagt, sondern daß man es möglichst <em class="gesperrt">laut</em> sagt. Stimmenschwerheit
+entscheidet! Achtung, der Pitter hat ’s Wort!
+Hier — hier ist noch Platz.«</p>
+
+<p>An einem mächtigen, runden Ecktisch hatten sie Unterkunft
+gefunden. Man bat um Ruhe. Man klopfte ganz
+energisch auf die Tischplatten. Dann ebbte das Stimmengewirr
+ab wie eine lange, chromatische Tonleiter.</p>
+
+<p>Der ›Pitter‹, ein weißhaariger, unverwüstlicher
+Maler der älteren Generation, stand neben dem Klavier
+und strich mit überlegener Miene den weißen Knebelbart.
+Er hatte als Maler und Mensch warten gelernt.
+Plötzlich erfaßte er den ersten Moment der Ruhe. Wie
+eine Fanfare drängte sich sein schmetterndes Organ in
+die Pause hinein und füllte den Luftraum mit einer
+Vehemenz, daß kein fremder Hauch neben ihm noch
+Platz zu finden vermocht hätte. Pitter hatte das Wort.
+Daran war nicht mehr zu rütteln. Und er gab es von
+sich, als sänge er Samuels Fluch über König Saul.</p>
+
+<p>»Auch eine Auffassung,« nickte Springe zustimmend.<span class="pagenum" id="Seite_432">[S. 432]</span>
+»Das Schwermutslied von der ›Krone im Rhein‹ durchweg
+auf <span class="antiqua">forte</span> gesungen. Is mal was Neues.«</p>
+
+<p>Dann sorgte er, daß aus dem riesigen Wandbassin,
+in dem das Meer der Bowle floß, auch ihnen der
+Humpen häufiger gefüllt werde. Ernste Männer traten
+von Zeit zu Zeit an den köstlichen Quell, prüften den
+Pegelstand des Inhalts und besprachen in geheimnisvollem
+Flüsterton die Zufuhr an Mosel- und Sektflaschen.
+Dann feierten die Humpen auf den Tischen,
+und es war dürre Zeit im Land, bis die Auserwählten
+geprüft und wieder geprüft hatten und sich der schweigende
+Ernst ihrer Mienen in die strahlend aufsteigende Sonne
+der Zufriedenheit wandelte.</p>
+
+<p>Der Geist der Töne bedrängte heute viele im ›Malkasten‹.
+Von Viertelstunde zu Viertelstunde erhob sich
+ein neuer Sänger, begehrte stürmisch die allgemeine Aufmerksamkeit,
+lächelte und begann. Man sang Getragenes
+und man sang Kitzliges, letzteres aber, der guten Sitte
+wegen, im Düsseldorfer Dialekt; und man sang endlich
+im Chor aus den »hundert allerschönsten Volksliedern
+für einen Silbergroschen« manch ein artig Stückchen.</p>
+
+<p>Springe amüsierte sich herrlich. »Jeder Kerl hier,«
+behauptete er, »ist ein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Sein
+Genre könnt ihr am Singen erkennen. Der Landschafter
+singt urwüchsig, der Schlachtenmaler mit edlem Feuer,
+der biblische Historienmaler mit schönem nasalen Ton,
+der Genremaler mit neckischen Koloraturen, der Porträtist
+möglichst korrekt und der Tiermaler grunzt. Das
+gehört zum Metier.«</p>
+
+<p>Sofort wurde am Tisch widersprochen. Nicht aus
+Gekränktheit, aus der bloßen Lust des Rheinländers<span class="pagenum" id="Seite_433">[S. 433]</span>
+am Opponieren. Und ehe drei gezählt werden konnte,
+lag das längst erwartete Thema, die alte und die neue
+Kunst, auf der Tischplatte wie ein Vivisektionstier, und
+jeder schnitt lustig mit seinem Messer darin herum.</p>
+
+<p>Hans Steinherr hatte kaum ein Wort gesprochen.
+Er hörte auch nur mit halbem Ohre hin. Was ihm
+auffiel, war, daß er unter den Hunderten von Köpfen
+keinen einzigen zurechtgemachten Künstlerkopf fand, keine
+Samtjackengenialität, keinen Satanisten, keinen Melancholiker.
+Eher noch einen gemütlichen Biedermeier aus
+der Hasencleverzeit. Aber den meisten war ein festererbter,
+knorriger Zug zu eigen, der Vertrauen weckte und Vertrauen
+gab, trotz der Spottsucht um den Mund.</p>
+
+<p>Das ist die Gesundheit, sagte sich Hans Steinherr;
+Ungesundes wird hier abgestoßen wie eine tote Zelle im
+Gewebe.</p>
+
+<p>In dem Stimmengewirr am Tisch war das Wort
+»modern« gefallen. Und Heinrich Springes Stimme
+erscholl: »Also ’raus mit der Sprache! Haltet ihr mich
+für modern oder nicht?«</p>
+
+<p>»Aber natürlich! Wenn Sie nicht, wen denn?«</p>
+
+<p>»Soo? Das möcht’ ich mir denn doch ergebenst verbeten
+haben. Sie glauben wohl wunder was für eine
+Schmeichelei Sie mir gegenüber da losgeworden sind.
+Nee, meine Herren. Ich male meinen Stiebel nach
+meiner Art; wie, das ist Nebensache; mit welchen technischen
+und Anschauungsmitteln, das besagt nichts; die
+Hauptsache ist: ist das Bild gut?! Gut, meine Herren,
+gut! Da liegt der Hase im Pfeffer. Und ich sage
+Ihnen: das ist und bleibt der <em class="gesperrt">ideale</em> Hase! Prost,
+ihr Herren!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_434">[S. 434]</span></p>
+
+<p>»Prosit! Prosit! Springe hoch! Springe soll eine
+Rede halten! Si—len—ti—um!!«</p>
+
+<p>»Soll ich den Kerls mal den Kopf waschen?« fragte
+Heinrich Springe lachend Hans. Er hoffte heimlich,
+auch den Freund aus seiner Lethargie aufzurütteln, und
+er ließ sich bewegen und erhob sich. Er sprach nur für
+den dichtgefüllten, mächtigen runden Ecktisch, der jetzt
+auch von den Nebentischen belagert wurde.</p>
+
+<p>»Ihr wißt,« begann er, »ich bin ein Feind jedes
+akademischen Zopfes; aber der schwache Mensch kann
+auch in das Extrem verfallen, und auch das mißbillige
+ich. Der Künstler, ob Anhänger der alten oder neuen
+Kunst, muß seine Ideale haben, das erst gibt seiner
+Kunst die Weihe. Das Wort ›Ideal‹ steht heute ziemlich
+tief im Kurs. Es ist nicht ›modern‹. Und damit
+ist ihm von den vielen, die da vorgeben, die beste Gesellschaft
+auf allen Gebieten des Lebens, der Künste,
+der Wissenschaften, mit einem Wort, der herrschenden
+Mode zu repräsentieren, der Stab gebrochen. Ideale!
+Was unserer Zeit mehr als je das Gepräge gibt, ist
+der unbändige Geschäftssinn, der nach allen Dingen des
+Tages seine Fühler streckt und als Ausgleich das leichte
+Amüsement für die mißhandelten Nerven beansprucht,
+wenn nicht eine besondere Sensation. Der ›Geschäftssinn‹,
+bewußt oder unbewußt, ist der Totschläger des
+Ideals. Unbewußt bei den vielen Tausenden, die blind
+den Hammelsprung als Herde mitmachen, aus Furcht,
+der ›Mode‹ nicht zu genügen. Bedauernswerte Menschen,
+denen ein neuer Gewandschneider mehr zu sagen hat
+als alle Weisheit einer großen Überlieferung.</p>
+
+<p>Der Gewandschneider dominiert. Nicht allein in<span class="pagenum" id="Seite_435">[S. 435]</span>
+der Kleidung. Seine Doppelgänger bearbeiten das Gebiet
+der Kunst, des gesellschaftlichen Lebens; sie bestimmen
+das Niveau des Geisteslebens. Der Charlatanismus
+hat hohe Zeit und schießt üppig ins Kraut. Heute heißt
+es, um jeden Preis originell sein! Ist originell gleichbedeutend
+mit individuell, soll ihm Lob und Preis gesungen
+werden. An solchen Charakteren kann ein Volk
+nie wohlhabend genug sein, denn sie geben ihm den
+Stempel der Kraft und Ursprünglichkeit. Aber welch
+traurige Konterbande wird mit diesen Begriffen getrieben!
+Spekulative Köpfe haben einen billigen Ersatz gefunden.
+Um aus der Allgemeinheit emporzutauchen, wird irgend
+eine ›neue Richtung‹ ausgerufen, je kühner und extravaganter,
+desto besser. Schwarz wird für Weiß ausgegeben,
+eckig und kantig für allein bequem, unsinniges
+Gestammel für Offenbarung, Frivolität für den Gipfel
+des feinen Menschentums und der Tingeltangel für die
+letzte und schönste Blüte der dramatischen Kunst. Edle
+Dreistigkeit hat immer noch suggestiv gewirkt, zumal im
+lieben deutschen Vaterland.</p>
+
+<p>Aber, ihr Herren, ohne die Pflege seiner altüberlieferten
+Ideale, an die sich harmonisch die neuen knüpfen,
+ist eine wurzelechte Entwicklung eines Volkslebens nicht
+denkbar. Und diese Pflege bedingt Tiefe des Gemüts
+und Ernst der Gesinnung, just die Erscheinungen, durch
+deren starkes Vorhandensein der Deutsche sich in allen
+Zeiten vor den Nationen auszeichnete, die seiner Gesamtheit
+den Namen des ›Volkes der Denker‹, meinetwegen
+selbst den des ›deutschen Schulmeisters‹ gaben, die das
+deutsche Volk aber kraft seiner seit den Altvordern angesammelten
+Schätze an Idealgütern befähigten,<span class="pagenum" id="Seite_436">[S. 436]</span>
+eintretenden Falls einen Enthusiasmus zu entwickeln, der wie
+im Befreiungsjahr 1813 elementar durch die Lande
+brauste, die Entäußerung alles Materiellen zu Gunsten
+des Ideals in Flammenschrift auf den Fahnen führend,
+ein Enthusiasmus, der in den Kriegsjahren 1864, 1866,
+1870 und 71 aufs neue siegreich in die Erscheinung
+trat. Aller tüftelnder Geistreichtum, der heute so vielfach
+mit Worten und Dingen spielt, um die eigene
+Persönlichkeit modisch in griechisches Feuer zu setzen,
+erhält diesen hohen Sinn im Volkstum nimmer wach.
+Und aller Spott, alle Ironie, mit der man die tiefreichenden
+Volksanschauungen heute vielerorts in Literatur,
+den bildenden Künsten und dem Leben zu Gunsten
+eines Witzes lächerlich zu machen trachtet, wird den
+Parteigängern im letzten Grunde selbst zum Schaden
+gereichen.</p>
+
+<p>Die Mode ist vergänglich, das Ideal unsterblich.
+Aber daß es nicht für eine ganze Zeitspanne verstümmelt
+und einer aufblühenden Generation entzogen werde, dafür,
+ihr Herren, ist ernstlich Sorge zu tragen. Die
+Ideale im Volksleben sind die Wurzeln eines kraftvoll
+vorwärtsstrebenden, in sich gefestigten Staatswesens.
+Sie sind die Stützen zur Macht. Sie schaffen den
+Glauben an eine große Vergangenheit und die Hoffnung
+auf eine große Zukunft. Nehmt einer Nation ihre
+Ideale, und ihr zeigt ihr den Weg zur Internationalität.
+Der Kunst aber liegt es vor allem ob, die Hüterin
+der Volksschätze zu sein, sie zu hegen und zu pflegen,
+damit sie einst in der Stunde, in der das Vaterland an
+die Ideale appelliert, nicht an ausschlaggebendem Wert
+eingebüßt haben. Und, ihr Herren, lassen Sie es mich<span class="pagenum" id="Seite_437">[S. 437]</span>
+an dieser Stelle aussprechen: das große Wort: ›Die
+Kunst ist international‹, hält vor der Sonne nicht stand,
+wollen wir nicht im gewissen Sinne zur Schablone übergehen.
+Es gibt so wenig eine internationale Kunst, wie
+es überhaupt eine internationale Kultur geben kann.
+Wie eine Kultur nur von <em class="gesperrt">nationalem</em> Boden auszugehen
+vermag, soll sie nicht nach kurzem Überschwang
+an innerer Unhaltbarkeit jämmerlich zerfallen, so wird
+auch die Ausübung der Kunst und ihr innerstes Wesen
+stets von der <em class="gesperrt">Rasse</em> abhängig sein. Eine <em class="gesperrt">deutsche</em>
+Seele muß unsere Kunst in sich tragen, und sie muß
+in den Werken unserer Künstler zum sieghaften Ausdruck
+gelangen, soll sie frei und individuell neben der ausländischen
+bestehen und dermaleinst in der Kunstgeschichte
+als Epoche bezeichnet werden. Daran laßt uns
+in Düsseldorf festhalten, und wir werden die Düsseldorfer
+Kunst wieder an der Spitze marschieren sehen
+trotz aller französierender Mantelträger da draußen.
+Ihr Herren! In diesem Sinne trinke ich auf die Stadt
+Düsseldorf!«</p>
+
+<p>Das war Heinrich von Springes Maienrede.</p>
+
+<p>Er hob seinen Bowlenhumpen und trank ihn bis zur
+Nagelprobe aus.</p>
+
+<p>Und die Alten und die Jungen drängten sich um
+ihn herum. Man stieß mit ihm an, man schüttelte ihm
+die Hand, man sprach auf ihn ein und klopfte ihm auf
+die Schulter. Doch als er sich nach Hans Steinherr
+umwandte, sah er gerade noch, wie dieser still den Saal
+verließ.</p>
+
+<p>Da stellte auch Springe sein Glas hin, holte seinen
+Hut aus der Garderobe, und als er auf der Straße<span class="pagenum" id="Seite_438">[S. 438]</span>
+stand und den Freund zwischen den Bäumen des Hofgartens
+verschwinden sah, folgte er ihm aus der Ferne. —</p>
+
+<p>Hans Steinherr gedachte einen Abschiedsgang zu tun.</p>
+
+<p>Während er den einstigen Mentor im ›Malkasten‹
+reden hörte und alle Glocken des Lebens um ihn läuteten,
+fühlte er sich einsamer und überflüssiger denn je. Seine
+Ideale lagen zertrümmert, und dem Menschenkind, das
+allein ihm hätte aufbauen helfen können, hatte er einst
+selbst die Wege gewiesen.</p>
+
+<p>Schluß der Tragikomödie! tönte es in ihm — Vorhang
+nieder, bevor du an Altersschwäche eingehst! Sei
+ein Mann!</p>
+
+<p>Und während um ihn herum das lachende Leben
+mächtiger erbrauste, hatte Hans Steinherr ruhig und
+schweigend seinen Tod beschlossen.</p>
+
+<p>Der volle Mond stand über dem Hofgarten, den
+Steinherr langsam durchwanderte. Wie Silber rieselte
+es an den grünen Zweigen und Stämmen herab. Die
+ganze Landschaft lag in Silber und Grün. Links ihm
+zur Seite murmelte der glitzernde Düsselbach, und durch
+das frühlingsprangende Gebüsch blinkten die weißen
+Teiche, auf denen träumende Schwäne stille Bahnen
+zogen. Der Zauber der Romantik lag ausgebreitet über
+dem Kleinod des Niederrheins.</p>
+
+<p>Und weiter wanderte er, bis er durch die Nacht die
+Wogen des Rheinstroms klingen hörte und die rastlos
+drängenden Wassermassen sah. Er schaute den Strom
+hinab und hinauf, und wieder hinauf und hinab. Mit
+einem langen, dankbaren Blick. Dann wandte er sich
+zur Stadt zurück und schritt, am Hohenzollernschloß, dem
+Jägerhof, vorbei, die Pempelforterstraße entlang.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_439">[S. 439]</span></p>
+
+<p>Da lag das kleine, baufällige Haus, in dem Hannes
+ihre Jugend verbracht hatte, in dem er das junge, sonst
+so trotzige Geschöpf zum ersten Male in seiner süßen
+Weichheit unter Rosen gesehen hatte. Unter <em class="gesperrt">seinen</em>
+Rosen. Er entsann sich ganz genau, wie er die Blumen
+selbst am frühen Morgen im Garten abgeschnitten hatte.
+Die Rosen aber, die sie jetzt schmückten, waren nicht
+mehr die seinen, und das alte Haus wurde nun abgerissen.</p>
+
+<p>Er konnte nicht anders, er nahm den Hut ab, wie
+zum Gebet. Seine Augen lagen tief eingesunken und
+erloschen in ihren Höhlen.</p>
+
+<p>Als er sich endlich losriß, sah er einen Menschen
+neben sich stehen.</p>
+
+<p>Es war Springe.</p>
+
+<p>Wortlos standen sich die beiden Männer gegenüber.
+Dann nahm der Ältere sanft den Arm des Jüngeren.</p>
+
+<p>»Komm nach Hause, Hans!«</p>
+
+<p>»Ich bin auf dem Wege.«</p>
+
+<p>»War der Umweg so dringend nötig?«</p>
+
+<p>»Ja, Alter, er war nötig.«</p>
+
+<p>»Hans,« sagte der andere und faßte ihn unwillkürlich
+fester am Arm, »du hast mir noch nie so schlecht
+gefallen wie in dieser Mondbeleuchtung.«</p>
+
+<p>»Das wird sich bis morgen geändert haben.«</p>
+
+<p>»Rede nicht so delphisch. Ohne Grund hast du nicht
+gerade diese Route zum Nachhausegehen gewählt. Du
+führst etwas im Sinne. Das — das sah vorhin einem
+Abschiednehmen ganz verteufelt ähnlich. Hans! Sei offen
+gegen mich. Du willst uns verlassen, dich treibt es wieder
+fort ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_440">[S. 440]</span></p>
+
+<p>»Und wenn es so wäre. Wir hätten alle Ruhe.«</p>
+
+<p>»Ruhe —? Du, schau mich einmal an. Ganz frei,
+ganz ohne Rückhalt, so, wie du als Junge konntest —«</p>
+
+<p>Und plötzlich durchfuhr es den Mann. Er hatte in
+diesem stillen, lächelnden Blick etwas gelesen. Er glaubte
+sich zu täuschen. Er faßte den seltsam ruhigen Freund
+bei den Schultern und starrte ihm in das weiße Gesicht.
+Es war kein Zweifel mehr, er hatte Klarheit.</p>
+
+<p>»Hans,« brachte er mühsam hervor, »Hans, das
+darfst du nicht. So weit sind wir, bei Gott, noch
+lange nicht! In acht, in vierzehn Tagen bist du gesund,
+ich garantier’ es dir. Aber das darfst du nicht!«</p>
+
+<p>»Was ist denn Großes dabei — bei einer Reise!«</p>
+
+<p>»Lüge nicht, Hans! Du kommst nicht wieder, wenn
+du reisest; du — du willst dich töten ...«</p>
+
+<p>Das Wort war gesprochen, und atemlos wartete
+Springe auf ein Echo.</p>
+
+<p>»Lieber Heinrich,« sagte Hans Steinherr ernst, »so
+lieb ich dich habe: in meine letzten Entschlüsse einzudringen
+oder gar einzugreifen, dazu gebe ich niemand
+das Recht. Auch dir nicht.«</p>
+
+<p>Heinrich Springe nahm sein Herz in beide Hände.
+Er zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe, zur kühlen
+Überlegung. Hier war nur Kaltblütigkeit am Platz.</p>
+
+<p>»Hans,« sagte er, »ich sehe, du entziehst mir dein
+Vertrauen, obwohl ich nun genug weiß. Aber was hilft
+mir das Wissen! Über dein Leben habe ich nicht zu
+verfügen, und wollte ich es doch tun, so würd’st du
+schon Mittel und Wege genug finden, um dein Vorhaben
+auszuführen. Nur einen Aufschub verlang’ ich.«</p>
+
+<p>»Dies ist die letzte Nacht.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_441">[S. 441]</span></p>
+
+<p>»Wann hast du es beschlossen?«</p>
+
+<p>»Vor einer Stunde.«</p>
+
+<p>»Vor einer Stunde erst? Und jetzt schon —? Hans,
+so stehlen sich Kassendefraudanten aus dem Leben oder
+unreife Knaben. Nicht Männer, die da wissen, daß sie
+eine Mutter und Freunde zurücklassen. Du wirst noch
+eine Nacht darüber hingehen lassen, du wirst den Mut
+bekunden, am hellen, lichten Tag deinem Vorhaben ins
+Auge zu sehen. Du wirst dich zur Ruhe legen, und
+wenn du morgen früh ausstehst und du sagst mir: Es
+bleibt dabei — so will ich gehen und dich nicht mehr
+hindern. Daraus gebe ich dir mein Ehrenwort, mein
+heiliges, nie gebrochenes Wort.«</p>
+
+<p>»Es ist zwecklos, aber ich will dir den Wunsch erfüllen.
+Komm mit! Du kannst mich sogar überwachen.«</p>
+
+<p>Schweigend schritten sie durch die mondbeglänzte
+Frühlingsnacht, die tausendfältig das Leben gebar.</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-441.jpg">
+</figure>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_442">[S. 442]</span></p>
+
+<h3 class="nobreak" id="Zehntes_Kapitel_Buch_2">Zehntes Kapitel</h3>
+</div>
+
+
+<p class="drop-cap">»Was wünschest du, das geschieht?« fragte Hans
+Steinherr wie ein freundlicher Wirt, als sie in seinem
+Hause an der gartenbekränzten Grafenbergerchaussee angelangt
+waren und Heinrich Springe rastlos durch das
+Zimmer wanderte.</p>
+
+<p>Der Angeredete unterbrach seinen Gang.</p>
+
+<p>»Hans —!« sagte er, und er legte alle Liebe und
+alle Innigkeit in den Ton. Er ging auf ihn zu, faßte
+seine Hände und suchte seinen Blick. »Hans — —!«</p>
+
+<p>Der aber schüttelte stumm verneinend den Kopf.</p>
+
+<p>»Hans,« fuhr Springe eindringlicher fort, »du kannst
+es ja nicht wollen. Du hast ja vergessen, an deine
+Mutter zu denken. Ich will von niemand sonst reden.
+Nur von deiner Mutter ...«</p>
+
+<p>»Meine Mutter,« sagte Hans Steinherr und sah
+zur Seite, »meine Mutter ist durch das Glück geschützt.
+Der Verlust, der sie trifft, wird an ihrem Reichtum nichts
+ändern.«</p>
+
+<p>Er holte tief Atem. Dann fand er ein ruhiges und
+entschlossenes Wort: »Heinrich, mache keinen weiteren
+Versuch. Laß mich nicht bereuen, daß ich dich nicht auf
+der Stelle abgewiesen habe. Ich versprach dir, die
+nüchterne Überlegung am Morgen abzuwarten, obschon<span class="pagenum" id="Seite_443">[S. 443]</span>
+sie nicht nüchterner ausfallen kann. Mehr kann ich nicht
+und mehr will ich nicht. Das — ist mein letztes Wort.«</p>
+
+<p>»Hans — —!«</p>
+
+<p>Aber als der Freund sich abwandte, müde der Erwiderungen,
+ließ Springe von jedem Überredungsversuch
+ab, trat hinter ihn und legte schonungsvoll den Arm
+um ihn.</p>
+
+<p>»Komm, ich bringe dich in dein Zimmer. Du sollst
+jetzt ruhig schlafen.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr lächelte leise über die sorglichen
+Bemühungen, aber er ließ sie geschehen.</p>
+
+<p>Sie gingen die Treppen hinauf, in das obere Stockwerk,
+in dem das Schlafzimmer lag. Dort ließ sich
+Hans schweigend auf das Ruhebett fallen.</p>
+
+<p>»Laß die Lampe brennen, Hans. Licht ist gut gegen
+einsame Gedanken. Und ich möchte von Zeit zu Zeit
+nachsehen kommen, ob du eingeschlafen bist oder den
+Wunsch hast, mich zu sprechen. Gute Nacht, Hans; ich
+wünsche dir mit aller Bedeutung eine <em class="gesperrt">gute</em> Nacht!«</p>
+
+<p>Unten im Hausflur blieb er stehen und horchte angespannt.
+Dann stieg er schnell ins Souterrain hinab
+und klopfte behutsam an der Tür der Wirtschafterin.
+Die Alte hatte den leichten Schlaf des Alters. Sie erwachte
+sofort und fragte, ob der Herr Doktor noch ein
+Verlangen habe.</p>
+
+<p>»Bitte, Frau Schmitz, stehen Sie gleich auf! Ich
+bin’s, Heinrich von Springe. Sie müssen mir eine
+Gefälligkeit erweisen.«</p>
+
+<p>In wenigen Minuten hatte die erschrockene Person
+ihre Kleider übergeworfen. Springe beruhigte sie.</p>
+
+<p>»Es ist nichts. Herr Hans fühlt sich nicht ganz<span class="pagenum" id="Seite_444">[S. 444]</span>
+wohl. Aber ich möchte doch auf alle Fälle mit Fräulein
+Stahl sprechen. Gehen Sie doch bitte sofort zur Immermannstraße
+— die Dienstmädchen machen leicht eine
+übertriebene Geschichte daraus — und ersuchen Sie
+Fräulein Stahl in meinem Namen, sich gleich herzubemühen.
+Das Fräulein versprach mir, aufzubleiben,
+bis ich aus dem ›Malkasten‹ zurück sei. Wir wollten
+noch plaudern.«</p>
+
+<p>»Soll ich nicht,« fragte die alte Frau ängstlich,
+»gleich einen Doktor mitbringen?«</p>
+
+<p>»Das wird hoffentlich nicht von nöten sein. Eilen
+Sie nur!«</p>
+
+<p>Er sah ihr vom offenen Fenster aus nach, wie sie
+in ihrem großen Umschlagetuch eilig die Straße dahintrippelte.</p>
+
+<p>Eine qualvoll lange Stunde begann für den Mann
+am Fenster. Er zog die Uhr. Es war eins. Vor zwei
+Uhr konnte Hannes nicht eintreffen. Und wenn sie nicht
+aufgeblieben, wenn sie schon zur Ruhe gegangen war?
+Aber nein, sie hatte ja am Abend erst versprochen, zu
+warten. Es drängte sie ja viel zu sehr, zu hören, ob
+der heitere Abend günstig auf Hans eingewirkt habe.
+Sie wollten ja noch Pläne miteinander schmieden, allein,
+ohne von den anderen gestört zu werden.</p>
+
+<p>Hannes würde kommen; Hannes würde ganz bestimmt
+kommen!</p>
+
+<p>Fern, aus einem der Gärten, tönten die langgezogenen
+Koloraturen einer Nachtigall. Sobald ihr
+Ruf in einem Triller erstarb, antwortete eine andere.
+Hin und her ging das Spiel, im Lauschen und im
+Schwelgen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_445">[S. 445]</span></p>
+
+<p>Aber Springe hatte heute keinen Sinn für den
+Wohllaut der Nacht. Als er sich dennoch beim Horchen
+ertappte, riß er sich ärgerlich los. Das Tirilieren zog
+ihn ab. Er hatte sein Gehör einer anderen Richtung
+zu schenken.</p>
+
+<p>Das Viertelstundenschlagen der Turmuhren erschien
+ihm endlos. Er tastete nach seiner Zigarrentasche. Aber
+jetzt zu rauchen, kam ihm wie ein Verbrechen vor. Er
+verspürte auch nicht die geringste Lust.</p>
+
+<p>Eben hatte es dreiviertel zwei geschlagen, und seine
+Nervosität war gestiegen, daß er die Zähne zusammenbeißen
+und die Fingernägel in das Fensterbrett einkratzen
+mußte. Herrgott, das ging ja über Menschenkräfte.
+Das war ja wie eine Nacht vor dem Schafott. Schlimmer,
+schlimmer. Da oben lag ein Mensch, den Tod vor
+Augen, und er stand hier unten, tatenlos, wie ein
+Publikum. Er fühlte, wie auf seiner Stirn große, kalte
+Tropfen standen. Und da draußen dieses schwelgende
+Nachtigallenkonzert, als gäbe es jetzt auf der weiten
+Welt nichts Dringenderes zu tun, als Liebeslieder zu
+singen ...</p>
+
+<p>Ein Schritt! Ein ganz hastiger Schritt! — —?</p>
+
+<p>So weit, als er es vermochte, beugte sich Springe
+aus dem Fenster, um die Straße zu übersehen.</p>
+
+<p>Da! Das Mondlicht schuf taghelle Beleuchtung.
+Eine Frau! Eine Frau im Umschlagetuch ...! Heiliger
+Vater im Himmel, die Frau kam allein zurück!</p>
+
+<p>Er stürzte nach der Haustür, er öffnete —</p>
+
+<p>Es war Hannes.</p>
+
+<p>Der Umschwung seiner Empfindungen war so stark,
+daß er sich einen Atemzug lang gegen die Tür lehnen<span class="pagenum" id="Seite_446">[S. 446]</span>
+mußte — daß das Mädchen in jäher Angst nach seinen
+Armen griff — daß sie Entsetzliches befürchtete —</p>
+
+<p>»Nein, nein!« stieß er hervor. »Es kam nur — ich
+dachte — Frau Schmitz käme allein. Ich sah nur das
+große Umschlagetuch. Wenn man in der Nacht wartet,
+spielt die Phantasie Streiche. Mädel, Mädel, Gott
+Dank, daß du da bist!«</p>
+
+<p>Er drückte geräuschlos die Tür ins Schloß und
+führte das Mädchen vorsichtig ins Zimmer.</p>
+
+<p>»Du warst noch auf, als die Frau kam? Hat keiner
+etwas gehört?«</p>
+
+<p>»Ich stand am Fenster, Onkel, und öffnete ihr, ohne
+daß sie zu läuten brauchte. Als sie mir deine Bestellung
+ausgerichtet hatte, nahm ich gleich ihr Umschlagetuch,
+ohne erst den Hut zu holen, bat die Frau, an meiner
+Stelle dort zu bleiben, für den Fall, daß Großmutter
+zufällig aufstehen und nach mir sehen sollte, und hastete
+hierher. Aber so sprich doch um Gottes willen, was
+ist? Was ist mit Hans?«</p>
+
+<p>Und in fliegender Eile berichtete er ihr die Vorgänge
+des Abends.</p>
+
+<p>»Was ich auch vorbrachte, Hannes, alles war vergebens.
+Er war fertig mit sich. Er hatte Abschluß gemacht.
+Das einzige, was ich in meiner Todesangst erzielte,
+war der Aufschub bis zum Morgen. Und bis
+dahin ist nicht mehr weit.«</p>
+
+<p>Hannes stand blaß vor ihm, aber sie stand aufrecht.
+Die großen, tiefen Augen weit geöffnet, ging ihr Blick
+an ihm vorbei.</p>
+
+<p>»Nein, Onkel Springe, so spät ist es noch nicht.«</p>
+
+<p>»Ich wußte mir keinen anderen Rat als dich.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_447">[S. 447]</span></p>
+
+<p>»Ich danke dir, Onkel Springe, Hat er von mir
+noch gesprochen?«</p>
+
+<p>»Nein, Kind. Aber das beweist nichts. Viel
+eher ...«</p>
+
+<p>»Onkel Springe,« sagte sie, bevor er vollenden
+konnte, »ich muß sofort zu ihm.«</p>
+
+<p>»Ich hatte das erwartet,« murmelte Springe, »aber
+es mußte von dir ausgehen.«</p>
+
+<p>»Willst du mich hinbringen? Wo ist er jetzt?«</p>
+
+<p>»Ich habe ihn dazu bewogen, sich zur Ruhe zu legen.
+In seinem Schlafzimmer.«</p>
+
+<p>Aus den letzten Worten hörte sie die zögernde Frage
+heraus. Da sah sie ihn ernst an.</p>
+
+<p>»Wie kann mich das hindern! Komm, Onkel Springe.
+Und dann, nicht wahr, dann läßt du mich allein.«</p>
+
+<p>In Springes Brust stieg eine breite Atemwelle auf.
+Er antwortete nichts als: »Ich wußte es ja, ich wußte
+es ja. In dir täuscht man sich nicht.«</p>
+
+<p>Dann ging er ihr voran in das obere Stockwerk
+und öffnete leise die Tür zu Hans’ Zimmer.</p>
+
+<p>Hans Steinherr lag auf dem Ruhebett, ganz still,
+das Gesicht der Wand zugekehrt.</p>
+
+<p>»Bist du es, Heinrich?« fragte er und wendete ein
+wenig den Kopf.</p>
+
+<p>Hannes hatte die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt.
+Jetzt, allein mit ihm, schlug ihr das Herz so rasend,
+daß ihr schwindelte. Aber sie bezwang sich mit aller
+Tapferkeit, trat rasch an ihn heran, beugte sich über ihn,
+und bevor er einen Schrei der Überraschung auszustoßen
+vermochte, hatte sie ihre Lippen fest auf seinen Mund
+gepreßt, als müßte es so sein — —.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_448">[S. 448]</span></p>
+
+<p>»Hans, mein alter, lieber Hans! Nun sage mir,
+was dir fehlt.«</p>
+
+<p>Hans Steinherr versuchte zu sprechen. Er rang nach
+Klarheit, nach Bewußtsein. Mit entsetzten Augen starrte
+er die Erscheinung an, von der er nicht wußte, wie sie
+zu dieser Stunde in dieses Zimmer kam. Und sie strich
+mit ganz weicher Hand über diese wilden Augen und
+sagte nur immer: »Mein alter, lieber Hans ...«</p>
+
+<p>Noch einmal versuchte er, die Lippen zu bewegen.
+Aber es kam kein Ton. Sie sah nur, wie seine Schultern
+schütterten, und sie hinderte ihn nicht. Vielleicht, daß er
+weinte — —. Nur mit zärtlichen Fingern strich sie über
+sein Haar und wiederholte von Zeit zu Zeit: »Alter,
+lieber Hans! Glaubtest du denn wirklich, daß ich dich
+so gehen lassen würde? Einfach gehen lassen?«</p>
+
+<p>Dann wurde er allmählich stiller, und sie saß bei
+ihm und wartete geduldig, bis er reden würde. Ihre
+weichen, warmen Hände, die jetzt auf seiner Stirn lagen,
+zeigten ihm, daß sie wartete.</p>
+
+<p>»Was nun?« stammelte er, »was denn nun? Das
+— das habt ihr ja glücklich zu stande gebracht. Nun
+kann ich es doch nicht mehr tun — —«</p>
+
+<p>»Wenn du es getan hättest, Hans, und ich hätte
+es erst morgen früh erfahren, ich hätte dich doch nicht
+allein gelassen.«</p>
+
+<p>Er sah sie verständnislos an. Seine Gedanken
+sprangen noch immer im Zickzack durch seinen Kopf.</p>
+
+<p>»Darauf bist du nicht selbst gekommen, Hans? Daß
+ich abgereist wäre, um die lieben Menschen hier nicht
+so arg zu treffen, und dir an irgend einem Winkel der
+Welt — nachgefolgt wäre?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_449">[S. 449]</span></p>
+
+<p>»Hannes, Hannes!« brachte er hervor, »wie kannst
+du das aussprechen — —«</p>
+
+<p>»Wundert dich das? Das solltest du dir nicht gedacht
+haben, und wußtest doch, daß ich dich liebte?«</p>
+
+<p>»Nein, nein!« rief er. »Das habe ich <em class="gesperrt">nicht</em> gewußt.
+Das wäre ja Wahnsinn gewesen.«</p>
+
+<p>»Was es ist,« sagte sie und lächelte vor sich hin,
+»das kann ich dir nicht sagen. Denn ich weiß ja nur
+das eine: daß ich dich lieb habe; so lieb, wie nur je
+im Leben; wie damals, als wir Kinder waren, und
+noch viel lieber.«</p>
+
+<p>»Quäl’ mich nicht! Quäl’ mich nicht so!«</p>
+
+<p>Da nahm sie hastig seinen Kopf und drückte ihn
+gegen ihre Brust. »Ruhig,« beschwichtigte sie mit ihrer
+tiefen, klingenden Stimme, »ruhig, ganz ruhig. Es ist
+so, und nun hast du es mir zu glauben.«</p>
+
+<p>Er regte sich nicht. Er lag wie im Arm einer
+Mutter. Wie unendlich wohl das tat — —</p>
+
+<p>Und nach einer Weile sagte sie: »Du darfst nur
+sprechen, wenn du vernünftig bist.«</p>
+
+<p>»Ich bin’s.«</p>
+
+<p>»Nur, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast.«</p>
+
+<p>»Hannes, Hannes, du bist so lieb, so — so — und
+es ist doch alles nutzlos.«</p>
+
+<p>»Magst du mich so wenig leiden, Hans? Trotzdem
+ich mich dir aufdränge?«</p>
+
+<p>»Du kannst scherzen,« sagte er tonlos. Aber als
+sie eine Bewegung machte, drückte er den Kopf fester
+gegen ihre Brust und schlang scheu den Arm um ihren Hals.</p>
+
+<p>Sie hielt ganz still. Das war der Knabe — —
+der Knabe von ehemals.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_450">[S. 450]</span></p>
+
+<p>»Hannes, es ist nichts aus mir geworden. Ich bin
+nichts und ich werde nichts. Hingegen du — du hast
+alles erreicht. Das sind doch keine Gleichheiten, die
+zueinander passen.«</p>
+
+<p>»Dein Talent ist zehnmal größer und wichtiger als
+meins. «</p>
+
+<p>»Mein Talent? Ich habe keins. Ich hab’s in der
+Fabrik draußen kläglich erproben können.«</p>
+
+<p>»Wer spricht denn von der Fabrik?«</p>
+
+<p>»Von der Fabrik nicht?«</p>
+
+<p>Er ließ sie los und schaute sie staunend an.</p>
+
+<p>»Ja, wenn nicht von der Fabrik, von was denn in
+aller Welt?«</p>
+
+<p>»Hältst du mich für so dumm, mein dummer Hans?
+Meinst du denn, ich hätte deine Gedichte und deine
+kunsthistorischen Aufsätze nicht in den Zeitschriften gelesen?
+Oder traust du mir so gar kein Verständnis
+zu?«</p>
+
+<p>Er lachte laut auf. »Meine Gedichte! Meine Aufsätze!
+Ein nettes, wirres Zeug — —«</p>
+
+<p>»O ja,« sagte sie, ohne die Ironie zu beachten, »ein
+bißchen wild ging es ja manchmal darin zu. Aber das
+lag nicht an deinem Kunstvermögen, das lag an dir
+armem, liebem Kerl selbst. Dir fehlte die Sammlung.
+Man muß ein Ziel haben, um unbeirrt marschieren zu
+können.«</p>
+
+<p>Und als sie sah, daß wieder der sarkastische Zug
+um seinen Mund auftauchen wollte, fügte sie mit ganz
+leiser, ganz durchsichtiger Schelmerei hinzu: »Wie kann
+man Sammlung haben, wenn man nicht einmal eine
+Frau hat!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_451">[S. 451]</span></p>
+
+<p>»Hannes!« rief er, von dem alten Heimatston gepackt,
+»Hannes!«</p>
+
+<p>»Aha, das siehst du ein. Das ist der erste Schritt
+zur Besserung. Und da ich nun doch einmal dabei bin,
+mich dir auf die schönste Weise anzutragen, so merk
+dir noch, daß ich schon ganz tüchtig verdiene, und daß
+du, als der Mann, mich unbedingt überholen mußt.«</p>
+
+<p>Da lachte er nur auf.</p>
+
+<p>Aber nun gab sie nicht mehr nach und kniete an
+seiner Seite, als wollte sie sich ganz klein machen.</p>
+
+<p>»Hans, Hans, heraus mit dem Ehrgeiz! Ich habe
+allezeit zu dir aufgeschaut! Du bist ja so reich an
+Wissen und Können, daß du deine Schätze gar nicht
+einmal überblicken kannst, wenn du erst anfängst, mit
+deinem Pfund zu wuchern! Und höre einmal: Ich
+hab’ eine große Furcht. Eine gewaltige Furcht wegen
+meines großen Einkommens. Wahrhaftig, Hans. Ich
+fürchte — ich fürchte — ach, Hans, ich werde einmal
+entsetzlich faul werden. Und wenn du mich lieb hast,
+wirst du dir das selber zuzuschreiben haben.«</p>
+
+<p>Und wieder hatte der frische Heimatston des rheinischen
+Mädchens gesiegt.</p>
+
+<p>»Hannes, das geb’ ich nicht zu. Auf keinen Fall!
+Die Kunst ist etwas Heiliges, der wird man nicht untreu.«</p>
+
+<p>»So geh mir mit gutem Beispiel voran!«</p>
+
+<p>»Nein, du mir!«</p>
+
+<p>»Ich habe zuerst drum gebeten. Sei nicht geizig!«</p>
+
+<p>»Aber ich weiß ja nicht einmal, wie und wo ich es
+anfassen soll.«</p>
+
+<p>»Hans, das sagt ein Düsseldorfer? Hier, deine,<span class="pagenum" id="Seite_452">[S. 452]</span>
+unsere Vaterstadt wartet. Hier ist Terrain. Hier werden
+Männer benötigt, die für die alte und jung aufblühende
+Düsseldorfer Kunst eine Klinge zu schlagen wissen. Gegen
+den Zopf bei uns selber und gegen die Hämlinge da
+draußen! Wie? Hab’ ich das nicht schön gesagt? Hans,
+hier gibt’s Arbeit. Und wenn du mit ihr noch nicht
+auskommst, widme dich dem öffentlichen Leben. Ach,
+Hans, und wenn dich der Ehrgeiz plagt, kannst du noch
+einmal beigeordneter Bürgermeister für das Kunstdepartement
+der guten Stadt Düsseldorf werden. Hans,
+sind das nicht Aussichten?«</p>
+
+<p>Und sie lachte ihr klingendes, glückseliges Lachen,
+das ansteckend auf den staunenden Horcher wirkte, der
+mit leuchtenden Augen jedem ihrer Worte gefolgt war.</p>
+
+<p>»Hans, gib acht, wenn die Sammlung kommt!
+Wenn du erst deine Kräfte in Kopf, Herz und Faust
+zusammen hast! Wie dann der Dichter sich melden
+wird, der die Stimmen in sich und um sich her sammelt.
+O, ich bin ja so froh, daß du kein Wunderkind geworden
+bist, kein Überflieger ohne Wurzelland. Ein
+Baum muß wachsen in Sturm und Wetter.«</p>
+
+<p>Sie hatte den Kopf an den seinen geschmiegt, und
+plötzlich begann sie leise eine Verszeile aus »Ännchen
+von Tharau« zu singen.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,</div>
+ <div class="verse indent0">Hat ihn erst Regen und Sturmwind gebeugt — —«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Da konnte er sich nicht mehr enthalten. Da schlang
+er die Arme um sie und küßte sie auf die Lippen, auf
+die Augen, auf das schimmernde, rotblonde Haar. Als
+ein Gesunder! Als ein Mensch, der nach dem Leben<span class="pagenum" id="Seite_453">[S. 453]</span>
+verlangt, nach dem fröhlichen Kampf und dem segenschweren
+Sieg.</p>
+
+<p>»Hannes, alter, kleiner Hannes! Liebste, ach du
+Aller-Allerliebste! Jetzt lass’ ich dich nicht mehr los.«</p>
+
+<p>»Ich hab’ dich nie losgelassen, Hans.« — —</p>
+
+<p>Sie hörten ihre Herzen schlagen. Das war ein
+Gleichklang.</p>
+
+<p>Und mit einem Male, in der neuen Gesundheit
+seines Empfindens, wurde sich Hans Steinherr der
+Situation bewußt.</p>
+
+<p>»Mädel, Mädel, wo bist du denn hingeraten? Das
+ist ja mein Schlafzimmer — —«</p>
+
+<p>»Herr Gott!« schrie sie auf und wich bis an die
+Wand zurück.</p>
+
+<p>»Hans,« sagte sie dumpf, aber in ihrer Stimme
+vibrierte der Schalk und das Glück, »du hast mich
+fürchterlich kompromittiert.«</p>
+
+<p>»Aber du warst ja als Krankenschwester bei mir.«</p>
+
+<p>»Der Kranke ist kerngesund. Ich hab’ die Beweise.
+Kannst du das leugnen?«</p>
+
+<p>»Nein, ich kann es <em class="gesperrt">nicht</em> leugnen.«</p>
+
+<p>»Du hast mich also kompromittiert, und du wirst
+wissen, was ein Ehrenmann zu tun hat.«</p>
+
+<p>»Hannes!« flehte er.</p>
+
+<p>»Ja oder nein?«</p>
+
+<p>»Wenn es denn nicht anders ist —: Ja!«</p>
+
+<p>»O, bitte: das genügt mir nicht. Deutlicher, klarer,
+Herr Doktor Steinherr!«</p>
+
+<p>»Hannes, ich seh’ es ein, ich muß dich heiraten.«</p>
+
+<p>Da flog sie wie der Wind heran und umhalste ihn wie
+ein glückliches Kind. »Hans, mein alter, lieber Hans!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_454">[S. 454]</span></p>
+
+<p>»O du alter, kleiner Hannes!«</p>
+
+<p>»Weißt du, wir könnten die beiden Namen in einen
+fassen.«</p>
+
+<p>»Wir sind ja eins und sind es immer gewesen.«</p>
+
+<p>Und sie plauderten und schwatzten wie die Kinder
+von den Erinnerungen, und das dritte Wort war:
+»Weißt du noch?«</p>
+
+<p>»Weißt du noch,« fragte Hannes, »als wir im Regen
+durch den Hofgarten liefen und ich es nicht wollte, daß
+du mir auf die Füße sahst, wenn ich über die Pfützen
+springen mußte, und du dann riefst: Ach, in ein paar
+Jahren bist du ja doch meine Frau?! Und heute bin
+ich zu dir gekommen, weil ich es mußte, und weißt du,
+was <em class="gesperrt">ich</em> jetzt rufe?: Ach, in ein paar Wochen bist du
+ja doch mein Mann! Kuß! So, und jetzt müssen wir
+zu Onkel Springe.«</p>
+
+<p>Aber sie hielt ihn noch einmal an der Tür zurück.
+Mit einem lieben, ernsten Zug im Gesicht.</p>
+
+<p>»Hans, du darfst mich nicht falsch verstehen. Meine
+Liebe soll dir nie eine Last sein, sie soll dir — meine
+Liebe sein. Du hast als Künstler die Welt nötig. Du
+<em class="gesperrt">mußt</em> sogar die Welt nötig haben, wenn du immer
+ein Wahrheitsschilderer bleiben willst. Und du wirst
+überall die Schönheit suchen, und manch eine Frau wirst
+du schön und interessant finden. Hans, ich werde nie
+eifersüchtig sein. Meine Liebe steht so felsenfest, daß
+ich weiß: ich werde der Hafen sein, zu dem er nach
+jeder Ausfahrt freudig und mit überlegenem Lächeln
+zurückkehrt. Das, Hans, das war’s, was ich dir noch
+sagen wollte.«</p>
+
+<p>Er hielt ihre Hände fest und war keines Wortes mächtig.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_455">[S. 455]</span></p>
+
+<p>Dann gingen sie, Hand in Hand. Sein Schritt war
+fest und schnell. Ein aufrechtes Mannestum war in ihm
+und eine Heiterkeit, die nach frischer Lebenstat Ausschau
+hält, den Dank für das Leben zu bekunden. — —</p>
+
+<p>Heinrich von Springe war, nachdem er Hannes in
+Hans Steinherrs Zimmer hatte eintreten lassen, sofort
+umgekehrt. Zuerst hatte er seine Wanderung durch das
+Parterrezimmer wieder aufgenommen, dann war er lange
+auf einem Fleck stehen geblieben, um seiner Erregung
+Herr zu werden, und die abenteuerlichsten Pläne waren
+ihm durch den Kopf gegangen, für den Fall, daß das
+Mädchen unverrichteter Sache zurückkehren würde. Als
+aber Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich, ohne daß
+das Mädchen wieder aufgetaucht wäre, löste sich die
+lastende Spannung in ein verblüfftes Staunen, und das
+Staunen endlich in ein breites Behagen — —.</p>
+
+<p>Es schlug drei Uhr. Da tastete er wieder einmal
+nach seiner Rocktasche, und diesmal brachte er schmunzelnd
+sein Etui hervor und zündete sich mit der Miene eines
+Mannes, der einen Genuß zu würdigen versteht, eine
+große Zigarre an.</p>
+
+<p>Dann legte er sich in das offene Fenster, so bequem
+es ihm möglich schien, und beobachtete den heraufziehenden
+Frühlingsmorgen.</p>
+
+<p>Noch immer schlug im fernen Garten eine Nachtigall,
+und ihr lockender Ruf ließ eine zweite antworten. Aber
+Dialog und Duett irritierten ihn nicht mehr. Ja, wenn
+ihm eine Pause in musikalischer Beziehung zu lang ausgesponnen
+vorkam, nahm er seine Zigarre aus dem
+Mund und ahmte leise den Lockruf nach.</p>
+
+<p>»Tü — — Türülü — — —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_456">[S. 456]</span></p>
+
+<p>Und er freute sich kindisch, wenn die kleinen unsichtbaren
+Gesangskünstler prompt einsetzten.</p>
+
+<p>Jetzt war er so in sein Tun vertieft, daß er das
+Uhrenschlagen überhaupt überhörte. Nur einen Schritt
+überhörte er nicht. Der klang ihm denn doch zu bekannt.
+So ging nur Frau Margot.</p>
+
+<p>Sie war schon dicht vor dem Hause, da lehnte er
+sich, die Zigarre zwischen den Lippen, weit aus dem
+Fenster, damit sie ihn erkennen sollte, und rief so gemütlich
+und fröhlich, als ob es sich um eine Absprache
+handelte: »Guten Morgen! Guten Morgen, du allerschönste
+Frau! Hast du dich auch herbemüht?«</p>
+
+<p>Frau Margot war sprachlos. Sie hatte den Weg
+in der treibenden Angst der Ungewißheit zurückgelegt,
+von allen erdenkbaren Schreckensbildern erfüllt, und nun
+rekelte sich ihr geliebter Mann zigarrenrauchend im
+Fenster und machte Naturstudien!</p>
+
+<p>»Aber Heinz — — aber Heinz!«</p>
+
+<p>»Willst du zum Fenster einsteigen, oder soll ich dich
+feierlich an der Tür des Hauses empfangen?«</p>
+
+<p>»Sei nicht so unvernünftig fidel. Ich bin ja ganz
+hin.«</p>
+
+<p>»Das, Liebste, kommt davon, wenn man nicht seine
+unvernünftige Fidelität beibehält.«</p>
+
+<p>»Heinz, so öffne doch!«</p>
+
+<p>»Aber nicht prügeln, hörst du? Ich habe nichts
+verbrochen!«</p>
+
+<p>Sie schüttelte lachend den Kopf über den Unverbesserlichen.</p>
+
+<p>Nun war sie bei ihm im Zimmer und bestürmte ihn
+um Auskunft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_457">[S. 457]</span></p>
+
+<p>»Erst beichten, wer dich mir auf die Spur gebracht
+hat. Es muß alles seine Ordnung haben.«</p>
+
+<p>»Ach Gott, Heinz, ich wachte auf und fand deinen
+Platz immer noch leer. Das ängstigte mich, und ich
+nahm meinen Morgenrock über, um zu sehen, ob bei
+den Toggenburgers noch Licht sei. Du und Hannes,
+ihr hattet ja den ganzen Tag über Heimlichkeiten
+gehabt. Und als ich wirklich noch Lichtschein entdeckte,
+klopfte ich leise an. Du kannst dir meinen
+Schreck vorstellen, als die Wirtschafterin von Hans mir
+öffnete.«</p>
+
+<p>»Das ist die Strafe, wenn die Frau nicht vertrauensvoll
+den Mann erwarten kann,« sagte Heinrich
+Springe.</p>
+
+<p>»Spotte du noch! Mir war alle Lustigkeit vergangen.
+Und als mir Frau Schmitz gar mitteilte,
+daß sie das Fräulein hätte holen müssen, weil der
+Herr Doktor daheim wohl erkrankt sei, da war ich
+im Handumdrehen angekleidet und, und — da bin
+ich.«</p>
+
+<p>»Und nun beruhigt, Liebste?«</p>
+
+<p>»Beruhigt —? Aber ich bin ja noch so klug wie
+zuvor.«</p>
+
+<p>»Ach so,« stimmte Springe bei. »Ja — viel klüger
+bin ich auch nicht.«</p>
+
+<p>»Aber so sag doch endlich, ob Hans wirklich
+krank ist!«</p>
+
+<p>»Krank? I wo! Der wird sich in diesem Augenblick
+wohl so urgemütlich befinden wie noch nie in seinem
+Leben. Ich nehme das wenigstens an.«</p>
+
+<p>»Heinz, sei ernsthaft! Was ist hier vorgegangen?<span class="pagenum" id="Seite_458">[S. 458]</span>
+Weshalb hast du Hannes in der Nacht herholen
+lassen? Du mußtest doch sehr schwerwiegende Gründe
+haben.«</p>
+
+<p>»Ja, Margot, die hatte ich. Du siehst, ich bin jetzt
+ganz ernst. Hans wollte in dieser Nacht ohne Abschied
+von dannen. Er wollte wieder reisen, ins Ungewisse.
+Vielleicht wäre er nie wieder gekommen. Ich erfuhr
+davon, ich habe lang’ auf ihn eingeredet, bei uns zu
+bleiben, gesund und froh zu werden. Es half nichts.
+Da dachte ich: Hier kann nur eine helfen. Wenn die
+Namen der Mutter und des Freundes versagen, bleibt
+als letztes der Name der Geliebten. Und so griff ich
+denn zu der stärksten Beschwörung und ließ Hannes
+holen.«</p>
+
+<p>»Sie muß ihn sehr lieb haben,« sagte Frau Margot
+leise und drückte die Hand des Gatten.</p>
+
+<p>»Und er sie nicht minder,« entgegnete Heinrich
+Springe, »denn er scheint sie jetzt überhaupt nicht mehr
+hergeben zu wollen. Diese Egoisten haben meine Existenz
+total vergessen.«</p>
+
+<p>»Wo sind sie denn? Ich möchte sie sehen.«</p>
+
+<p>»Oben. In seinem Schlafzimmer.«</p>
+
+<p>»In seinem — —?«</p>
+
+<p>»Aber Liebste, mach doch nicht so liebe, dumme
+Augen. Sie sind in der Tat oben. Der Junge hatte
+sich zur Ruhe gelegt, um nicht gestört zu werden, und
+in der Frühe wollte er heimlich davon. Da ist das
+tapfere Mädel schnurstracks hinaufgegangen, um ihn zu
+zwingen, sie anzuhören. Nicht nur für sich, für uns
+alle. Spürst du denn nicht, wie kleinlich und nichts-bedeutend
+in der Stunde der Gefahr alle sogenannten<span class="pagenum" id="Seite_459">[S. 459]</span>
+Anstandsregeln werden? Zimperlichkeit ist nicht rheinische
+Art.«</p>
+
+<p>Frau Margot schmiegte sich an seinen Arm und
+lachte zu ihm auf.</p>
+
+<p>»Du, du? Ist das nicht unschicklich?«</p>
+
+<p>»Unschicklich ist es,« sagte Heinrich Springe mit
+einem tiefen Atemzug, »aber es ist auch verdammt schön!
+Und siehst du,« fuhr er fort und legte den Arm um
+ihren Leib, »weil die Schönheit gar so selten ist, so soll
+man sie, wenn sie uns grüßt, halten und fassen, wie
+und wo man kann. Und nie, nie im Leben soll man
+sie ungeküßt von dannen lassen.«</p>
+
+<p>Am offenen Fenster zog er ihren Kopf zu sich heran,
+und sie wehrte nicht, und sie küßten sich.</p>
+
+<p>»Das ist aller Weisheit Schluß, du liebe Frau.« —</p>
+
+<p>Die Tür öffnete sich. Da waren die Kinder.</p>
+
+<p>Und wortlos eilten die beiden Frauen aufeinander
+zu und umarmten sich. Eine jede den Kuß des Liebsten
+auf den Lippen.</p>
+
+<p>»Mutter —« sagte endlich Hannes.</p>
+
+<p>Frau Margot aber nahm beider Hände in die
+ihren — — —</p>
+
+<p>Heinrich Springe hatte sich abgewendet. Unmännliche
+Rührung mißbilligte er an der eigenen Person.</p>
+
+<p>Dann standen sie alle am Fenster und atmeten tief
+in der Frühlingsluft.</p>
+
+<p>»Wie weiß die Gärten in Blüte stehen,« sagte
+Hannes. »Das kommt, ohne Fragen und Zaudern,
+weil es seine Bestimmung ist.«</p>
+
+<p>»Das ist eine bräutliche Nacht,« nickte Frau Margot.
+»Duft und Licht und Klang vermählen sich in eins.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_460">[S. 460]</span></p>
+
+<p>Heinrich Springe stand zwischen den beiden Frauen.
+Er wußte keine Sentenz. Aber er drückte sie beide an
+sich und sagte, lachenden, leuchtenden Auges in den
+aufsteigenden Morgen hinausschauend:</p>
+
+<p>»Kinder, Kinder, es ist doch etwas Eigenes um den
+Frühling am Niederrhein.« — — —</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-460.jpg">
+</figure>
+
+<div class="break-before">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_461">[S. 461]</span></p>
+<br>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<h2>J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger G. m. b. H.</h2>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p>
+
+<p class="center">Stuttgart und Berlin</p>
+
+<p class="center">Die nachstehend verzeichneten Romane und Novellen sind auch
+in Leinwand gebunden zu beziehen</p>
+
+<p class="center">Preis für den Einband 1 Mark
+</p>
+
+
+<div class="blist3 hang">
+
+<table>
+ <thead>
+ <tr>
+ <th class="col1"> </th>
+ <th class="col2 tablehead">Geheftet</th>
+ </tr>
+ </thead>
+ <tbody>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Andreas-Salomé</em>, Lou, Ruth. Erzählung. 3. Aufl.</td>
+<td>M. 3.50</td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte 2. Auflage</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Fenitschka. Eine Ausschweifung. Zwei Erzählungen </td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Menschenkinder. Novellencyklus. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Ma. Ein Porträt. 2. Auflage</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Im Zwischenland. Fünf Geschichten. 2. Aufl.</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Anzengruber</em>, Ludwig, Wolken und Sunn’schein 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Arminius</em>, Wilhelm, Der Weg zur Erkenntnis</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Yorks Offiziere. Historischer Roman</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Bertsch</em>, Hugo, Die Geschwister.
+Mit einem Vorwort von Adolf Wilbrandt. 5. Auflage</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Bobertag</em>, Bianca, Moderne Jugend</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Böhlau</em>, Helene, Salin Kaliske. Novellen. 2. Aufl.</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Bourget</em>, Paul, Das gelobte Land</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Boy-Ed</em>, Ida, Die Lampe der Psyche. 2. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Um Helena. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die säende Hand. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die große Stimme. Novellen</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Bülow</em>, Frieda v., Kara</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Burckhard</em>, Max, Simon Thums. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Busse</em>, Carl, Die Schüler von Polajewo. Novellen</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Ebner-Eschenbach</em>, Marie v., Erzählungen. 4. Aufl.</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Božena. Erzählung. 6. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Margarete. 5. Auflage</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>— Moriz v., <span class="antiqua">Hypnosis perennis.</span>
+Ein Wunder des heiligen Sebastian. Zwei Wiener Geschichten</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Eckstein</em>, Ernst, Nero. 7. Auflage</td>
+<td>M. 5.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Ertl</em>, Emil, Mistral. Novellen</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Fontane</em>, Theodor, Quitt. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Unwiederbringlich. 4. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Fulda</em>, L., Lebensfragmente. Zwei Novellen. 2. Aufl.</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Gleichen-Rußwurm</em>, A. Freiherr v., Vergeltung</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Grimm</em>, Herman, Unüberwindliche Mächte. 2 Bde. 3. Auflage</td>
+<td>M. 8.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Haushofer</em>, Max, Planetenfeuer. Ein Zukunftsroman</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Heer</em>, J. C., An heiligen Wassern. 15. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der König der Bernina. 16. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Felix Notvest. 7. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Joggeli. Die Geschichte einer Jugend. 6. Aufl.</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Heilborn</em>, Ernst, Kleefeld</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Herzog</em>, Rudolf, Die vom Niederrhein</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Heyse</em>, Paul, Neue Novellen. 7. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Marthas Briefe an Maria. 2. Auflage</td>
+<td>M. 1.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Meraner Novellen. 10. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Novellen vom Gardasee. 3. Auflage</td>
+<td>M. 4.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Kinder der Welt. 2 Bände. 21. Auflage</td>
+<td>M. 7.20</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Unvergeßbare Worte und andere Novellen. 5. Auflage</td>
+<td>M. 3.60</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Im Paradiese. 2 Bände. 13. Auflage</td>
+<td>M. 7.20</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der Roman der Stiftsdame. 12. Auflage</td>
+<td>M. 3.60</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Moralische Unmöglichkeiten u. and. Geschichten</td>
+<td>M. 4.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Hillern</em>, Wilhelmine v., ’s Reis am Weg. 3. Aufl.</td>
+<td>M. 1.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Ein alter Streit. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der Gewaltigste. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Ein Sklave der Freiheit. Roman. 3. Auflage</td>
+<td>M. 5.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Höcker</em>, Paul Oskar, Väterchen</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Hopfen</em>, H., Der letzte Hieb. Eine Studentengeschichte. 4. Auflage</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Huch</em>, Ricarda, Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren. 4. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Junghans</em>, Sophie, Schwertlilie. 2. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Kaiser</em>, J., Wenn die Sonne untergeht. Novellen. 2. Auflage</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Kirchbach</em>, Wolfgang, Miniaturen. Fünf Novellen</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Langmann</em>, Philipp, Verflogene Rufe. Novellen</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Lindau</em>, Paul, Der Zug nach dem Westen. 10. Aufl.</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Lindau</em>, Paul, Arme Mädchen. 8. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Spitzen. 7. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Loti</em>, Pierre, Japanische Herbsteindrücke</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Mauthner</em>, Fritz, Hypatia. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Meyer-Förster</em>, Wilhelm, Eldena. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Meyerhof-Hildeck</em>, Leonie, Töchter der Zeit Münchner Roman</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Muellenbach</em>, E. (E. Lenbach), Abseits. Erzählungen</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Vom heißen Stein</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Aphrodite und andere Novellen</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Petri</em>, Julius, Pater peccavi!</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Prel</em>, Karl du, Das Kreuz am Ferner. 2. Auflage</td>
+<td>M. 5.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Proelß</em>, Johannes, Bilderstürmer! 2. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Riehl</em>, W. H., Aus der Ecke. Sieben Novellen. 4. Aufl.</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Neues Novellenbuch. 3. Auflage. (6. Abdruck)</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Am Feierabend. Sechs neue Novellen. 4. Aufl.</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Kulturgeschichtliche Novellen. 5. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Saitschick</em>, Robert, Aus der Tiefe. Ein Lebensbuch</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Schunsui</em>, Tamenaga, Treu bis in den Tod Historischer Roman</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Seidel</em>, Heinrich, Leberecht Hühnchen. Gesamtausgabe 2. Auflage (11.–15. Tausend)</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Vorstadtgeschichten. Gesamtausgabe. Erste Reihe</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— " " Zweite Reihe</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Heimatgeschichten. Gesamtausgabe. Erste Reihe</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— " " Zweite Reihe</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben Gesamtausgabe</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Phantasiestücke. Gesamtausgabe</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Skowronnek</em>, Richard, Der Bruchhof. 2. Aufl.</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Stegemann</em>, Hermann, Stille Wasser</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der Gebieter</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Stratz</em>, Rudolph, Der weiße Tod. 8. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Buch der Liebe. Sechs Novellen. 2. Auflage</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der arme Konrad. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die letzte Wahl. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Montblanc. 5. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die ewige Burg. 4. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die thörichte Jungfrau. 5. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Stratz</em>, Rudolph, Alt-Heidelberg, du Feine ... 6. Aufl.</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Es war ein Traum. Berliner Novellen. 4. Aufl.</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Sudermann</em>, Herm., Frau Sorge. 71. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Geschwister. Zwei Novellen. 26. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der Katzensteg. 54. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Im Zwielicht. Zwanglose Geschichten. 29. Auflage</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Jolanthes Hochzeit. Erzählung. 26. Auflage</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Es war. 35. Auflage</td>
+<td>M. 5.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Telmann</em>, Konrad, Trinacria. Sizilische Geschichten</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Voß</em>, Richard, Römische Dorfgeschichten. 4. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Wereschagin</em>, W. W., Der Kriegskorrespondent</td>
+<td>M. 2.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Widmann</em>, J. V., Touristennovellen</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Wilbrandt</em>, Adolf, Fridolins heimliche Ehe. 3. Aufl.</td>
+<td>M. 2.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Meister Amor. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Novellen aus der Heimat. 2. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Hermann Ifinger. 6. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der Dornenweg. 4. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die Osterinsel. 4. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die Rothenburger. 6. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Vater und Sohn und andere Geschichten. 2. Aufl.</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Hildegard Mahlmann. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Schleichendes Gift. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die glückliche Frau. 4. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Vater Robinson. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Der Sänger. 4. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Erika. Das Kind. Erzählungen. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Feuerblumen. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Franz. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Das lebende Bild u. andere Geschichten. 3. Aufl.</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Ein Mecklenburger. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Villa Maria. 3. Auflage</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Familie Roland</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Wildenbruch</em>, E. v., Schwester-Seele. 12. Auflage</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td><em class="gesperrt">Worms</em>, Karl, Du bist mein. Zeitroman</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Thoms friert</td>
+<td>M. 4.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Die Stillen im Lande. Drei Erzählungen</td>
+<td>M. 3.—</td></tr>
+
+<tr>
+<td>—"— Erdkinder</td>
+<td>M. 3.50</td></tr>
+
+</tbody>
+</table>
+</div>
+
+<br>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2>Gedichte
+<br>
+<span class="center noind mt-1-4 s08">
+von<br></span>
+<span class="s3">Rudolf Herzog</span>
+</h2>
+</div>
+
+<p class="center noind">Geheftet 2 Mark 50 Pf. In Leinenband 3 Mark 50 Pf.</p>
+<hr class="short">
+
+<p>... Die Kunst Herzogs ist eine Kunst großen Stils und kennzeichnet sich
+durch große Vornehmheit. Sie ist vornehm, ohne exklusiv zu sein, von gedanklicher,
+sprachlicher und architektonischer Schönheit, ohne dunkel oder
+stilisiert zu wirken; eine Kunst, die von einer tiefen Auffassung des Schaffensmysteriums
+erfüllt ist, eine Innenkunst, die in die Gründe und Abgründe
+der Seele steigt, um geheimes Gold an den Tag zu fördern ...</p>
+
+<p class="right2"><b>Literarisches Centralblatt, Leipzig</b></p>
+
+<p>... Wie Frühlingsbrausen weht es dem Leser aus der Gedichtsammlung
+entgegen. Da spricht eine ganz eigene Persönlichkeit, die vor allen Dingen
+durch Frische und unzerstörbaren Lebensmut köstlich anziehend erscheint.
+Wie gesund das wirkt nach all den schwülen müden Schöpfungen, die wir
+in den letzten zehn Jahren an uns vorübergehen sahen ...</p>
+
+<p class="right2"><b>Lübecker Nachrichten</b></p>
+
+<p>Rudolf Herzog hat sich bisher durch Dramen und Romane eine geachtete
+Stellung in der modernen Literatur erworben. Nun hat er uns als die
+Frucht vieler Jahre einen Gedichtband geschenkt, in welchem sich dieselbe
+starke und gesunde Persönlichkeit, die seinen Romanen ein subjektives und
+individuelles Gepräge verlieh, offenbart ... Wenn auch das Buch voll stark
+und stürmisch empfundener Poesien ist, so ist es doch nicht das Werk eines
+Jünglings ... Es ist das Buch einer Liebe und ihres Wachsens und ihrer
+Erfüllung. Und so führt er uns von tiefstem, herzzerwühlendem Schmerz
+zu höchster Freude, zum vollen Menschenglücke. So feiert er den großen
+Rausch der Liebe und verherrlicht die Stunden tiefverschwiegenen Liebesglückes,
+den stillen Frieden des Herdes ...</p>
+
+<p class="right2"><b>Nationalzeitung, Berlin</b></p>
+
+<p><span class="antiqua">H. M.</span> Seinen großen Romanen »Der Graf von Gleichen« und »Die
+vom Niederrhein« sendet Rudolf Herzog jetzt die Sammlung seiner »Gedichte«
+nach. Sie sind es vielleicht, die den Aufgang und die Entwickelung seines
+Talentes am lebendigsten zeigen, die das vollste, klarste und reichste Bild
+seiner dichterischen Natur geben. Sein ganzes Temperament sprüht und
+leuchtet in ihnen, und das Temperament ist zugleich gebildet und geadelt
+in künstlerischer Selbstzucht. Was der Most verhieß, ist er geworden: ein
+reiner feuriger Wein von feinstem Duft und edelstem Gehalt. Nennt man
+die besten Dichter im Lande, wird jetzt auch sein Name genannt ...</p>
+
+<p class="right2"><b>Barmer Zeitung</b></p>
+
+<p>Herzogs »Gedichte« atmen dieselbe Lebensfreudigkeit, den gleichen kecken
+Übermut und die nämliche Gefühlswärme, die uns seine Romane so wert
+machen. Seine Verse klingen, und aus ihnen tönt es von Kämpfertrotz
+und heißer Liebe, von lenzeslinden Lüften und wildem Sturmeswehen: ein
+echter Mann und Dichter spricht zu uns, dem die Leyer zum Schwert wird,
+wo es gilt, pedantische Moralphilosophen zu befehden.</p>
+
+<p class="right2"><b>Berliner Börsen-Courier</b></p>
+
+<p>... Herzogs Muse ist kein blasses, schwindsüchtiges Wesen, das uns mit
+den Äußerungen eines krankhaften Zustandes quälen möchte: helle, fröhliche
+Augen blicken uns aus diesen Gedichten entgegen, und wir hören aus ihnen
+das Lachen und den Spott, zuweilen aber auch den Zorn und den Schmerz
+eines gesunden, lebensfrohen Menschen heraus ... Es ist frische Kraft in
+den Versen Herzogs, die wir herzlich begrüßen.</p>
+
+<p class="right2"><b>Berliner Lokal-Anzeiger</b></p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-461.jpg">
+</figure>
+
+<div class="break-before">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_462">[S. 462]</span></p>
+
+<br>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<h2>Der Graf von Gleichen</h2>
+</div>
+
+<p class="center noind mt-1">Moderner Roman aus der Berliner Gesellschaft</p>
+
+<p class="center noind">von</p>
+
+<p class="s4">Rudolf Herzog</p>
+
+<p class="center noind">Geheftet 4 Mark. In Leinenband 5 Mark</p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-462.jpg">
+</figure>
+
+<p>Dieses neueste Werk des jungen, vielversprechenden Verfassers ist ein
+gutes Buch voll ernsten Wollens und tüchtigen Könnens. Die Schilderung
+der Charaktere bis in die feinsten Seelenschwingungen, bis in die geheimsten
+Herzensregungen ist dem Verfasser überraschend gut gelungen. Ich habe
+diese Menschen lieb gewonnen in ihrer gesunden, bewußten, tatfrohen
+Eigenart. Die gesunde Sprache, die furchtlose Tendenz des Buches deckt
+manchen veralteten Schaden der heutigen Gesellschaft auf.</p>
+
+<p class="right2"><b>Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berlin</b></p>
+
+<p>Unsere Literatur ist nicht reich an Büchern, die mit so ehrlicher Schlichtheit,
+so ohne jedes Posieren, ohne alle Effekthascherei geschrieben sind, wie
+der Roman Herzogs.</p>
+
+<p class="right2"><b>Hamburger Fremdenblatt</b></p>
+
+<p>Rudolf Herzog hat sich in verhaltnismäßig kurzer Zeit einen achtungsvollen
+Namen unter den deutschen Romanciers erworben. Die Erhebung
+des Imposanten und Kraftvollen zum Träger der Geschicke gibt sein neuester
+Roman »Der Graf von Gleichen«. Der Stil des Romans ist außerordentlich
+elegant und fesselnd. Er wird sich einen Platz in unsrer neueren Literatur
+erringen.</p>
+
+<p class="right2"><b>Die Post, Berlin</b></p>
+
+<p>Das Buch ist außerordentlich gut geschrieben, flüssig, mit Kraft und
+liebevoller Verve, es pulsiert in ihm ein leidenschaftlicher, tiefer Ton, es
+ist die Bekenntnisschrift zweier starker, vornehmer Seelen, die sich finden,
+weil es für sie kein Hindernis gibt. Das Buch will gelesen und — empfunden
+werden, und wird seinen Weg machen, da es ein so ernstliches
+Interesse erregt, daß es auch zum zweiten und dritten Male gelesen werden
+kann, was man heuer nicht von allen Romanen sagen darf.</p>
+
+<p class="right2"><b>Münchener Neueste Nachrichten</b></p>
+
+<p>Das Buch nimmt gefangen, so stark, so persönlich ist es. Aber es ist
+eine Gefangenschaft zur Freiheit, es entbindet zum freien starken Menschentum,
+das sich dem Zwang der Konvention entwindet, weil es sich selbst das
+Gesetz des Lebens geworden. Es ist Nietzsches hohe Moral, in einer
+dichterischen Gestalt von gesättigter Kraft verkörpert mit hinreißender Anschaulichkeit!
+Das willkommene Seitenstück zu Wilbrandts fein und vorsichtig
+abgestimmter »Osterinsel«, die den Himmelsstürmer mit der milden
+Weisheit des überlegenen Alters ad absurdum führt.</p>
+
+<p class="right2"><b>Berliner Tageblatt</b></p>
+
+<p>Dieser neue Roman des geschätzten Berliner Erzählers nimmt eine
+eigenartige Stellung in unserer modernen realistischen Epik ein. Der Verfasser
+beherrscht spielend die naturalistische Technik, die Milieuentwicklung,
+die impressionistische Aufnahme der Stimmung. Aber vor allem ist Herzog
+ein Selbständiger und Eigener. Das Buch sei allen, die an der Entwicklung
+unsrer modernen Literatur teilnehmen, bestens empfohlen.</p>
+
+<p class="right2"><b>Bohemia, Prag</b></p>
+
+<figure class="figcenter w10">
+ <img alt="" data-role="presentation" src="images/pic-461.jpg">
+</figure>
+
+<br><br>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75525 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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