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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-03-21 12:21:05 -0700 |
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Dort sind +vierzig mal vierzig Kirchen; täglich dröhnen dort zur Früh- und +Abendmesse die Glocken, die großen und feierlichen in den Klöstern und +Kathedralen, die Zarenglocken des Kreml; es antworten ihnen mit allen +ihren Glocken die kleinen und niedrigen Glockentürme in den uralten +Pfarrkirchen. Gar viele Pfarrkirchen hat Moskau; um sie herum schlängeln +sich die Straßen und Gäßchen, in ihnen lebt der Moskauer Handelsstand +sein eigenes urwüchsiges Leben. Alle Fasten werden streng eingehalten; +an den Feiertagen ziehen die Priester mit dem ganzen Klerus aus einem +Haus ins andere, um die festlichen Tafeln zu segnen; dort werden bis +heute die Märtyrer- und Heiligenlegenden in der uralten Schrift gelesen, +dunkle und vertraute Mitteilungen über Gottesmänner und große Märtyrer. +Mancher ist sauber gekleidet und sieht ganz europäisch aus: ein +gestärktes Vorhemd und eine Krawatte nach der letzten Pariser Mode – +doch beginnt er sich auszuziehen, so entdeckt man ein kattunenes +russisches Hemd darunter und einen geweihten Gürtel mit eingewebten +Gebeten. Voll Inbrunst kniet der moderne Stutzer vor dem Familienschrein +mit den Heiligenbildern. Der unter der neumodischen Wäsche verborgene +geweihte Gürtel schützt vor Uebel. Der alte Glaube ist fest in ihm, und +der uralte Kaufmannsstand in Moskau lebt nach der Väter Art. + +Einst wurde er von dem Advokatensohn Ostrowskij auf die Bühne gebracht. +Seitdem war es Mode, sich über die rührseligen Mitjas, die gutmütigen +Andrej Bruskows, die durchtriebenen Podchaljusins, über die dünkelhaften +Väter: Tit Tititsch und Torzows zu amüsieren. Das „finstere Reich“ +nannte die Kritik den Moskauer Kaufmannsstand. Diese eigenartige Welt +blieb ganz abseits von den großen Wegen der russischen Literatur. Um die +Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Literatur vorwiegend +ländlich, Gutsbesitzer- und Bauernliteratur. Die Stadt schämte sich +gleichsam ihrer selbst. Was in ihr geschah, besonders unter der +Handelsbevölkerung in den alten Kirchspielen, das wußte man nicht, das +wollte man nicht wissen. Und wenn in der Literatur auch einige +Sprößlinge aus dieser Welt auftraten, so waren sie bemüht, möglichst +rasch zu vergessen, zu verschweigen und tief im Herzen alles zu +verbergen, was sie von dorther aus dem „finstern Reich“ in die +Helligkeit der volkstümlichen Bildung, auf welche die fortschrittlich +Gebildeten so stolz waren, mitbrachten. + +Erst seit kurzem sind die stillen Kirchspiele auf den sieben Hügeln des +russischen Rom, des Mütterchens Moskau, gleichsam erwacht. Die neue +Kunst, die sozialdemokratischen Tendenzen, die Beziehungen zu +westeuropäischen Firmen, die Errungenschaften der Technik, die +Verfeinerungen in den Anschauungen, alles das ist bis in die dunkelsten +Winkel gedrungen. Und von da kam zu uns der Neueste: ein Erneuerer der +Kunst, ein Prophet von morgen, der dennoch nichts von gestern vergessen +hat: Alexej Remisow. + +Sein Leben verläuft äußerlich wie das vieler gebildeter Russen der +letzten Zeit. Im Jahre 1877 geboren, hat er seine Bildung in einem +Handelsgymnasium und später auf der Universität empfangen; er hat +Nationalökonomie und deutsche Philosophie studiert, den Marxismus und +die Bewegung „Zurück zu Kant“ mitgemacht, in den Seminarien Aufsätze +über wirtschaftliche Fragen und über Statistik geschrieben, +Arbeiterzirkel gegründet, und war infolgedessen erst in die milde +Verbannung eines großrussischen Gouvernements, dann ins Gefängnis +geraten, hat mit einem ganzen Haufen revolutionärer russischer +Intelligenz die Strapazen und Mühsale des Etappenlebens mitgemacht, hat +so manches Jahr im fernen Norden, wo oft im Juni noch Schnee genug +fällt, daß man Schlitten fahren kann und wo das Nordlicht in seiner +kalten Schönheit leuchtet, verbracht. Er hat dies alles erduldet, sein +Herz zermartert, eine Menge Bücher studiert und kam zu uns nach +Petersburg als ein fertiger Schriftsteller zurück, als ein +symbolistischer Schriftsteller und Stilist von neuester Prägung. + +Wichtig aber ist, daß er seine uralte Moskauer Seele bewahrt hat; in +seiner Seele dröhnen die vierzig mal vierzig Kirchenglocken weiter und +er liebt noch immer die Legenden und Sagen von den Gottesmännern, +Heiligen und Märtyrern, von den von Gottes Gnade erleuchteten +Buhlerinnen, vom tapferen Georg, von allerlei märchenhaften +Seltsamkeiten: von Totenfeiern, Teufeln, Zauberern und Hexen. Alles was +die Philologen, die sich mit alter Literatur befassen, studieren und was +die Engländer Folklore nennen: Märchen, Runen, Volkslieder und Riten, +Volksglauben und Apokryphen – dies alles pflegt er mit dem Talent eines +modernen Dichters, und sein Stil ist eigenartig, seltsam und prächtig, +so verfeinert und reich, als hätte sich ihm die ganze geistige +Schatzkammer des tausendjährigen heiligen Rußland aufgetan, zum Dank für +seine Liebe zu den vertrauten Kirchspielen aller sieben Hügel des +Mütterchens Moskau. + +Remisows erster großer Roman „Der Teich“ zeigt noch den jungen Schmerz +einer Seele, vor der sich eben erst das Böse des Lebenskampfes +erschlossen hat. Woher kommt das Böse? Es wird schon in der ganz naiven +kindlichen Seele geboren. Die rationalistischen Theorien aus den Büchern +tragen zur Lösung dieses schicksalsmäßigen Rätsels nichts bei – im +Gegenteil! – vielleicht muß man also nach rückwärts, in den uralten von +den Ahnen ererbten Sagen vom bösen Geist, in dem sagenhaften Teufel und +Spötter die Antwort suchen? – Remisows von den Fragen unserer Zeit +durchdrungener Geist vertiefte sich in das Studium alter Sagen und +Legenden, und eins an das andere reihten sich etwas wie Märchen oder +moderne Apokryphen und bildeten eine Art neues pratum spirituale, das +mit seiner Buntheit alle seine größeren Werke gleichsam einrahmt. + +„Der Teich“ kann nur im Licht dieser apokryphischen Skizzen ganz +verstanden werden. Der Grundgedanke dieses Werkes ist noch nicht ganz +klar herausgearbeitet; die einzelnen Episoden wirken zwar an sich +erschütternd, doch fehlt noch das Allgemeine. Dies Allgemeine erscheint +klar auf eine neue Weise in einer objektiveren Form, losgelöst von den +tragischen poesieumwehten Erinnerungen im zweiten Roman „Die Uhren“. +Hier handelt es sich nicht mehr um die Chronik eines Moskauer +Handelshauses in einem der Moskauer Kirchspiele, in den „Uhren“ wollte +der Autor das Geheimnis der ganzen Stadt in all seiner Vielgestaltigkeit +auffangen, und die Frage nach dem Bösen hat eine größere Bestimmtheit +erhalten. Dennoch ist es auch hier schwer, den heimlichen Gedanken des +Autors herauszufinden und seine Symbole zu begreifen, die geheimnisvoll +sind wie uralte Runen. Erst später in den nachfolgenden Erzählungen sind +endlich die Schwierigkeiten überwunden, eine Klarheit ist erreicht und +im Herzen ist das ausgesprochen, was so lange nach außen drängte, aber +keine entsprechenden Bilder und Symbole fand. Ja, das Böse ist +schicksalsmäßig, es ist notwendig, es hat keinen Sinn, Idyllen zu +schreiben, man muß das Böse erkennen und verstehen, diese irdische +Hölle, die irdischen Leidenschaften. + +Schwierig waren seine Romane „Der Teich“ und „Die Uhren“. Schwierig sind +auch jetzt in den „Schwestern im Kreuze“ und im „Unbezähmbaren armen +Teufel“ die Betrachtungen über die schicksalsmäßige und offenbar +notwendige Schuld. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“ ist diese Theorie +schon anschaulich und entschieden durchgeführt. In den „Schwestern im +Kreuze“ ist alles auf ihr aufgebaut. Marakulin denkt: „Der eine muß +verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen und in der Welt +er selbst zu sein; der andere muß töten, um durch den Mord seine Seele +aufzuschließen und wenigstens als er selbst zu sterben; er aber mußte +offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht der Person, der sie +zukam –, um seine Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, und zwar +nicht mehr als irgendein beliebiger Marakulin, sondern als dieser Peter +Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen.“ + +Doch muß man sich fragen: Findet denn die Persönlichkeit sich selbst nur +in einem Verbrechen? Das scheint nicht glaubhaft. Natürlich nicht. Aber +gerade dieser Gedanke in seinem Rohzustand sozusagen führt uns zum +Verständnis einer der wichtigsten Fragen der Gegenwart. Darum lockte es +den Symbolisten Remisow, den Fall aller Einwohner des Burkowschen Hauses +zu schildern, weil dieses Symbol unseres zeitgenössischen russischen +Alltags sich durch alle traurigen Fälle der letzten Jahre aufgeschlossen +hatte. + +Remisow versucht jetzt, seine Symbole zu deuten. „Die Katze miaute, +Murka miaute. Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch nie zuvor, +daß Murka stets gemiaut hat, nicht nur gestern, sondern alle die fünf +Jahre hier an der Fontanka auf dem Burkowschen Hof; er hatte es nur +nicht bemerkt, und nicht nur hier auf dem Burkowschen Hof an der +Fontanka, sondern auch auf dem Newsky und in Moskau an der Taganka – bei +der Auferstehungskirche –, an der Taganka, wo er geboren war, überall, +wo etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es in ihm, daß er +sich vor diesem Miauen, vor dieser Murka nirgends hätte verstecken +können. Und er fühlte es, daß Murka nicht dort unten im Hofe miaute, +sondern hier ...“ Das stöhnende Burkowsche Haus ist ganz Rußland, das +heilige Rußland, und zwar das ganz gewöhnliche, alltägliche. Es ist +schuldig geworden, es hat sich unvermögend erwiesen, es hat mehr +versprochen, als es gehalten hat. Hier hat es sich eben gezeigt, so wie +es wirklich war und nicht wie es nach den Programmen geschienen hat. Man +muß sich von allen Theorien lossagen, um es so zu sehen. Noch wichtiger +ist der Mut, es gegen alle Programme und Theorien auszusprechen. Dies +ist Remisows Stärke: sein Held ist eine wirkliche Individualität. Er ist +nicht aus Theorien geboren und nicht verstandesmäßig gesehen. Marakulin +lebt sein eigenes Leben, er ist ein durchschnittlicher Mensch, aber eben +von diesem Eigenen geht der Symbolismus zum Allgemeinen. Auch Marakulin +ist symbolisch. Waren wir nicht alle noch vor kurzem ebenso offenherzig +und vertrauensselig, als hätten wir keine Lehren der Geschichte vor +Augen? Damit haben wir Schuld auf uns geladen. Das Leben ist bei uns +erstarrt. Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen. + +Lange und hartnäckig hat sich Remisow mit den Fragen des Glaubens +befaßt, mit den Altertümern, mit der Volkspoesie, mit Sagen, aus denen +das uralte heilige Rußland sich Pein und Belehrung schöpfte. Man +verstand ihn nicht und hielt der unverstandenen Kunst Remisows den +Realismus entgegen. Es schien, daß sein Stilisieren kein Ende nehmen +wollte in diesem ganzen Strom von Skizzen, in denen er vor allem seine +Meisterschaft zeigte. Aber diese Skizzen Remisows waren nur seine +Lehrlingsarbeit. + +Wer ihn gut kannte, der konnte nicht daran zweifeln, denn dieses +Stilisieren beschränkte sich nicht auf die Form. Es führte in das wahre +Verständnis dessen ein, was einst Volksseele genannt wurde. Denn die +Volksseele läßt sich nicht in Kategorien pressen, welche die politischen +Parteien für sie aufstellen, weder in die der volkstümlichen rechten +oder linken Partei, noch in die Kategorien derer, die der ganzen +Menschheit Heil versprechen. Das Geheimnis der Volksseele blieb +verschlossen; jetzt sehen wir es endlich klar ein. Im „Unbezähmbaren +armen Teufel“ ist die verwirrte moderne Seele, die Seele eines Trödlers +geschildert. Plötzlich hat sich alles das aus der Vergessenheit erhoben, +was man ein für allemal hinter sich zu haben glaubte. Dieses Alte in der +jetzt ohnedies schon konventionellen Gestalt des Trödlers zeigt sich +auch mitten in Petersburg, es klafft aus der Tiefe des Burkowschen Hofes +wie aus der Unterwelt, und man fühlt: dies ist wahr! Paradox ist +vielleicht nur die Gestalt der Hörerin der Hebammenkurse, welche alte +Weisen singt. Hier hat die Phantasie Remisows sich hinreißen lassen, die +gewöhnt ist, auch im Neuesten etwas Altertümliches herauszufinden. Aber +da haben wir Akumowna; das Schicksal hat sie in die Stadt getrieben, das +Schicksal jagt ganz Rußland wenn nicht in die verderblichen Gegenden +Sibiriens, so doch in die Städte, wo das Neue geschaffen wird, neuer +Glaube und neue Forderungen an das Leben. Aber das Alte stirbt noch +lange, lange nicht aus, es bewahrt sich länger, als wir glauben. Daher +die Vermengung und das Zusammenfließen des Alten mit dem Neuen. Die +Bewegung ins Volk suchte lange den Traum vom freien Grundbesitz zu +verwirklichen. Der Bauer hörte dem Sozialismus zu und verstand, daß die +Rede von freiem Grundbesitz war. Akumownas Märchen und Lisaweta +Iwanownas Geheimnis flossen zusammen mit den Lehren der Verbannten Maria +Alexandrowna. Dieses Ineinanderfließen zu schildern, ist eine der +vornehmsten künstlerischen Aufgaben, die sich Remisow stellt. + +Zu den besten Episoden der Erzählung gehören die Szenen, in denen von +der Reise ins Ausland geträumt wird. Darin liegt auch ein geheimer +Herzenswunsch verborgen: vom Lande strebt man in die Stadt, aus der +Stadt aber, aus allen Burkowschen Häusern, in denen sich das aufgewühlte +heilige Rußland quält, drängen die Träume, Wünsche und Hoffnungen dahin, +nach dem fernen fremden und seit uralten Zeiten vertrauten Westen. Und +es genügt nur zu denken, daß bald, bald eine Möglichkeit eintreten +könnte, hinzureisen, sich innerlich auszuruhen und das Martyrium des +heimatlichen Schmerzes für eine Weile zu vergessen, dann wird es einem +leicht zumute und die Freude leuchtet auf. Kommt von dort, aus der +Heimat unserer allerbegehrtesten Ideale – ich brauche absichtlich ein +Fremdwort – eine erfrischende Welle über uns, Verjüngung, Geist der +sozialen Freiheit, so vergessen wir ganz das Burkowsche Haus und Murkas +schmerzliches Miauen, das Weinen und Stöhnen des Volkes. Unsere Augen +leuchten und wir atmen freier. + +Das Weiseste, was Remisow in seinen „Schwestern im Kreuz“ gesagt hat, +ist seine Theorie vom königlichen Recht. Gleich Raskolnikow zermartert +Marakulin in einem Ausbruch von Verzweiflung sein Gehirn mit der Frage +nach der Vertilgung der menschlichen „Laus“. Wie Raskolnikow sieht +Marakulin ebenfalls das ganze Uebel in einer jämmerlichen alten Frau, +und es dünkt ihn, daß man nur wagen, die konventionelle Angst vor dem +Verbrechen nur überwinden müßte, um das Uebel zu vernichten. Nur ist die +menschliche „Laus“, welche Marakulin sieht, keine Pfandverleiherin, sie +tut niemand etwas Böses. „Sie hat nichts in ihrem Leben zu bereuen; sie +hat weder getötet noch gestohlen und wird weder töten noch stehlen, denn +sie tut nichts als sich ernähren, sie trinkt und ißt, sie verdaut und +härtet sich ab.“ Was bedeutet das? Remisow schildert die Raskolnikowsche +„Laus“ in der Gestalt einer Generalin, die von ihren Renten lebt. +Eintönig und sinnlos vergeht ihre Zeit. Sie braucht niemand und niemand +braucht sie. „Die Generalin rührt mit keinem Finger, tut rein nichts und +erreicht alles: sie härtet sich ganz sichtbar und zweifellos ab, und +ihrem Leben ist kein Ende abzusehen – der Chiromant hat sich nicht +geirrt – sie ist vielleicht schon unsterblich!“ Ein Leben ohne Arbeit, +das heißt ohne Verbrechen und ohne Heldentaten – denn jede Tat ist +entweder ein Verbrechen oder eine Heldentat – ein solches Leben beruht, +Remisows Meinung nach, nicht auf einem einfachen Recht, sondern auf +einem königlichen Recht. So würden wir alle, wenn wir die Utopie vom +allgemeinen Wohlergehen verwirklicht hätten, das kummerlose, sündenlose, +unsterbliche Lauseleben der Generalin genießen. + +Rechtschaffener aber ist das heilige Martyrium des Lebens, mit seinen +Abstürzen, Ausbrüchen von Hoffnung, Kämpfen und zäher, qualvoller +Erwartung. + +St. Petersburg 1912. + + + + + Erstes Kapitel + + +Marakulin war mit Glotow befreundet; durchaus nicht etwa, weil der +Dienst sie eng miteinander verband und einer ohne den anderen nicht +hätte auskommen können: Peter Alexejewitsch gab die Quittungen aus, +Alexander Iwanowitsch war der Kassierer. Man weiß ja, wie die Ordnung +ist: Marakulin brauchte nur mit Tinte zu schreiben und Glotow zahlte +genau so viel in Gold aus. Dabei waren sie so verschieden und einander +so unähnlich: der eine schmalbrüstig, der Schnurrbart dünn wie ein +Faden, der andere breitschultrig und der Schnurrbart wie bei einem +Kater; der eine blickte von innen heraus, der andere strahlte. Dennoch +waren sie Freunde, ein Herz und eine Seele. + +Denn sie hatten beide ein gemeinsames Merkmal, oder eine Eigenschaft, +und zwar eine grundlegende; etwas, das nicht zu verbergen ist: es würde +unter den Augenlidern des Schlafenden hervorblinken, gleichviel, ob es +sich in der Pupille versteckt oder aus der Pupille sich über den +Augapfel verbreitet: beide nämlich hatten eine Art von Fühler oder +Rüsselchen. Nicht nur daß dieser Fühler sich ans Leben klammerte, +vielmehr sog er alles Lebendige in sich auf, alles, was ringsum lebte +und wob, bis auf den Grashalm, der atmet, bis auf das Steinchen, das +wächst, und er sog das alles so gierig und fröhlich in sich auf, so +ansteckend fröhlich. Das war es. + +Wer es bemerken wollte, konnte es sehen, wer es nicht sah, der fühlte +es, und wer es nicht fühlte, der erriet es. + +Dazu kam, daß sie gleich jung waren – beide waren an die Dreißig oder +etwas drüber – und der Erfolg – dem einen sowohl wie dem anderen gelang +alles – und die Kraft – keiner von ihnen war jemals krank oder klagte +auch nur über Zahnweh. Sie waren auch von keinerlei Banden gefesselt, +weder von gesetzlichen, noch von ungesetzlichen, sie waren wie in der +Steppe, allein, und die Steppe dehnte sich vor ihnen in ihrer ganzen +Weite und Macht, frei, ungebunden, unermeßlich – dein. + +Vor drei Jahren etwa hatte Glotow seine rechtmäßige Gattin aus dem +dritten Stockwerk auf das Pflaster hinabgestürzt, und die Aermste brach +sich dabei das Genick; vielleicht aber war es nicht vor drei Jahren, es +kann schon vor ganzen vier gewesen sein. Uebrigens ist das unwesentlich, +– es handelt sich ja gar nicht um Glotow, sondern um Peter Alexejewitsch +Marakulin. + +Marakulin, welcher seine Kollegen mit Fröhlichkeit und Sorglosigkeit +ansteckte, gestand einmal, daß er, obschon dreißig Jahre alt, sich für +nicht mehr und nicht weniger als zwölfjährig hielte, er wüßte selbst +nicht warum, und er führte dafür Gründe an: so oft er mit jemand +zusammenkäme, oder sich in ein Gespräch einließe, hätte er das Gefühl, +als wären die anderen alle älter – alt, und er wäre der jüngste – ganz +jung noch, zwölfjährig. Und ferner gestand Marakulin, daß er sich den +anderen Menschen gar nicht ähnlich – nicht ein bißchen ähnlich fühle, +wenigstens nicht jenen richtiggehenden Menschen, wie man sie gewöhnlich +im Theater, in Gesellschaften oder in den Klubs beobachtet, während sie +eintreten oder fortgehen, sich unterhalten oder schweigen, sich ärgern +oder zufrieden sind – und daß alles an ihm, von der Nase bis zur kleinen +Zeh wahrscheinlich nicht auf dem richtigen Fleck säße – so schiene es +ihm wenigstens. Und weiter gestand Marakulin, daß er nie denke; er hätte +einfach gar nicht die Empfindung, daß er denke; wenn er durch die +Straßen gehe, so geschehe dies eben nur so mit den Beinen, und wenn er +mit jemand bekannt werde, dann fände er an seinem neuen Bekannten weder +Unterschiedsmerkmale noch Besonderheiten, nicht im Gesicht noch in den +Bewegungen: er fühle nur unklar, daß der eine ihn anziehe und der andre +abstoße, einer weniger, ein anderer mehr, und ein dritter sei ihm ganz +gleichgültig; häufiger aber herrsche doch das Gefühl der Nähe und das +Vertrauen in das Wohlwollen des anderen vor. Und weiter gestand +Marakulin, daß ihn, seitdem er Bücher lese und mit Menschen +zusammenkomme, die entgegengesetzten Meinungen nie abschreckten. Er sei +vielmehr bereit, jedermann zuzustimmen, weil er jeden in seiner Weise +für berechtigt hielte, und diskutiere nie; wenn er sich aber einmal +selbst verstiege oder zu Auseinandersetzungen aufreize, so geschehe es +aus ganz indiskutabeln Gründen, deren er sich jedesmal genau bewußt sei, +obwohl er sie nicht verrate – gebe es doch genug solcher indiskutabler +und doch alltäglicher Gründe! – Und weiter gestand Marakulin, daß er nie +in seinem Leben geweint habe, ein einziges Mal ausgenommen, als seine +alte Kinderfrau ihn verließ, an ihrem letzten Tag: damals wäre er, in +der Rumpelkammer versteckt, an seinen ersten und letzten Tränen fast +erstickt. Noch eine verrückte Eigenschaft hatte er, über die man sich +lustig zu machen pflegte: wenn ihm irgendein Einfall in den Sinn kam, so +stürzte er sich auf ihn mit einer solchen Hartnäckigkeit, als läge in +ihm der Sinn seines Lebens, oder des Lebens überhaupt – aus +Kleinigkeiten machte er wichtige Dinge. Zu den Feiertagen, zum Beispiel, +wurde dem Direktor gewöhnlich ein Bericht überreicht. Dieser Bericht +wurde stets mit der Maschine geschrieben, ihm aber konnte es einfallen, +ihn mit der Hand abzuschreiben; und obwohl es mit der Maschine viel +schneller, leichter und einfacher zu machen ging, – es gab auch +vorgedruckte Formulare zu diesem Zweck – so ließ er es sich durchaus +nicht nehmen und malte Tag und Nacht beharrlich und sorgfältig einen +Buchstaben nach dem andern und reihte die Zeilen aneinander, als wären +sie Perlen, und schrieb den Bericht so oft ab, bis er so war, daß er +ausgestellt werden konnte, – so war er geschrieben! – denn Marakulin war +wegen seiner Schrift berühmt. Am nächsten Tage schon wird so ein Bericht +irgendwohin verlegt, man schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit, man +verlangt ihn nicht so, und eine Menge Zeit und Arbeit sind sinnlos +verschwendet worden! Ein verrückter Kerl, und wie beharrlich in seiner +Verrücktheit! Und weiter pflegte Marakulin noch etwas Seltsames zu +erzählen – von einer ihm eigenen, durch nichts erklärbaren +ungewöhnlichen Freude, die er ganz unerwartet empfinden konnte: +manchmal, wenn er am Morgen ins Bureau lief, begann ihm plötzlich das +Herz in der Brust zu flattern und er fühlte eine ungewöhnliche Freude. +Und diese seine Freude umfing ihn so ganz und sie war so groß, daß ihm +schien, er könnte sie jetzt warm aus der Brust herausnehmen und jeden +mit ihr beschenken – es würde für Alle reichen; wie ein Vögelchen wollte +er sie in beide Hände nehmen, damit ihm dies Paradiesvöglein nicht +davonfliege, darauf hauchen, daß es nicht friere und es so den Newsky +entlang tragen: mögen sie alle sehen, ihre Wärme einatmen, ihr Licht +fühlen, – das stille Licht und die Wärme, die das Herz vor Freude atmet +und ausstrahlt. + +Natürlich ist es schwer, sich selbst zu beurteilen, und mit +Geständnissen kommt man auch nicht weit: ob das alles stimmte oder nicht +– wer kann es wissen? – Aber eine Liebe zum Leben, ein Instinkt zum +Leben, die Heiterkeit des Gemütes – das war in ihm in der Tat. + +Wenn man Marakulin zuhörte oder sah, wie er an Menschen heranzutreten +pflegte, wer sein Lächeln und seinen Blick kannte, dem konnte manchmal +der Gedanke kommen, daß so einer wie er, jederzeit imstande wäre, zu +einer Bestie in den Käfig zu treten und, ohne mit der Wimper zu zucken, +ohne zu überlegen, die Hand auszustrecken, um das sich sträubende wilde +Haar des grimmigen Tieres zu streicheln – und das Tier würde nicht +beißen. + +Und wie konnte es Marakulin betrüben, wenn es sich zuweilen, plötzlich +herausstellte, daß auch er, wie jeder andere, gehaßt wurde, daß auch er +seine Mißgönner hatte, daß auch er für jemand ein Balken im Auge sein +konnte! Denn man konnte ja mit ihm machen, was man wollte. Und wenn er +es dennoch zustande gebracht hatte, das dreißigste Jahr zu erleben, und +mit Erfolg, so war es das reinste Wunder – eine unwahrscheinliche Sache. +Meistens aber wurde Peter Alexejewitsch geliebt, nicht etwa besonders +oder gar zu sehr, aber es war gar kein Grund, ihn nicht zu lieben – +brachte er doch Heiterkeit und Lachen mit, dazu kein gewöhnliches +Lachen, sondern ein trunkenes, marakulinsches – warum sollte man ihn da +hassen? Und dennoch nahm das alles kein sehr gutes Ende – Peter +Marakulin endete schlimm. + +Das kam so: Marakulin erwartete zu Ostern Beförderung und eine +Gratifikation – in den großen Geschäftshäusern ist es zu den Feiertagen +so üblich –; statt dessen aber wurde er aus dem Dienst gejagt. Es +geschah folgendermaßen: Fünf Jahre hatte Peter Alexejewitsch gedient, +fünf Jahre die Quittungsbücher geführt, und alles befand sich in bester +Ordnung, – Marakulin wurde sogar wegen seiner Ordnungsliebe und +Genauigkeit scherzweise „Der Deutsche“ genannt – als aber die Direktoren +vor den Feiertagen revidierten und zu vergleichen und zu rechnen +begannen, da trat eben die Verlegenheit ein: es stimmte etwas nicht, es +fehlte etwas – vielleicht nur eine wirkliche Bagatelle, – das Geschäft +aber war groß, und solche Kleinigkeiten konnten Verwirrungen +verursachen. So nahm man ihm denn die Bücher ab und entließ ihn. + +Erst glaubte Marakulin nicht daran, er wollte es einfach nicht glauben, +und dachte, man triebe nur Scherz mit ihm, einen Jux zum allgemeinen +Ergötzen einfach, um vor dem Fest die Fröhlichkeit zu erhöhen; er lachte +dazu und begann seine Auseinandersetzung auch nicht ohne Witz: + +– Gestatten Sie dem Dieb Soundso, dem Räuber und Wegelagerer, den +Diebstahl aufzuklären ... + +– Wie? + +– Ha – ha ... Und er war es, der zuerst lachte. + +Und in einem aufklärenden Brief an eine wichtige und einflußreiche +Persönlichkeit, an den Direktor, unterschrieb er nicht einfach Peter +Marakulin, sondern „Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin“. + +„Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin.“ + +– Wie? + +– Ha – ha ... Und er war es wieder, der zuerst lachte. + +Aber der Scherz gelang diesmal offenbar vorbei, er wirkte gar nicht +spaßhaft, oder wenn er auch so wirken hätte können, so nahm man das gar +nicht wahr, und niemand lachte, – im Gegenteil. Und am komischsten war +die Antwort eines jungen Buchhalters, – dieser Buchhalter war ein +kleiner stiller Mensch, der nicht einmal eine Fliege zu kränken imstande +war, so still war er. + +Dieser Awerjanow nun sagte: Ich möchte bis zur Aufklärung Ihres +Mißverständnisses mit meiner Antwort abwarten. + +Hier wurde Peter Alexejewitsch ernst: + +– Was für ein Mißverständnis! Es kann ja gar keinen Irrtum geben! + +– Wie? + +– Der Irrtum, meine ich ... ich irre mich nicht, ich bin ein „Deutscher“ +... Wo ist denn der Irrtum? + +Und jetzt mußte er es glauben. Er mußte ja glauben! Die wilde Bestie ist +offenbar doch nicht so einfach, sie unterwirft sich nicht so leicht, sie +läßt nicht so ohne weiteres ihr sich sträubendes Fell streicheln. Hände +weg! Die Bestie beißt dir noch die Finger ab! Ist es nicht so? – Oder +hat es mit der Bestie gar nichts auf sich und der Fluch besteht gar +nicht darin, daß der Mensch für den Menschen eine Bestie ist und eine +grimmige dazu, sondern darin, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz +ist: man mag ihn noch so anflehen, er hört es nicht; man mag ihn noch so +anrufen, er antwortet nicht; man mag sich den Kopf einstoßen, indem man +vor ihm mit der Stirn auf den Boden schlägt, er rührt sich nicht; er +bleibt so stehen, wie er hingestellt wurde, bis er umfällt oder bis du +umfällst. Ist es nicht so? + +Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn, und zum erstenmal +dachte es in ihm und sprach sich deutlich aus: Der Mensch ist für den +Menschen ein Klotz. + +Er lief da hin, klopfte dort an: überall war geschlossen, überall war +zu: er wurde nicht empfangen. Und wenn er empfangen wurde, so ließ man +ihn nicht sprechen, gar nicht zu Worte kommen. Dann begann man ihm die +Tür vor der Nase zuzuschlagen: keine Zeit! oder: laß, bitte, in Frieden! +oder: wir haben an was anderes zu denken! – Bald gab die Dienerschaft +nicht einmal Antwort mehr hinter der Vorlegekette: es war ihnen +untersagt; außerdem war er allen schon zu lästig geworden. + +Marakulin hatte keine Zuflucht mehr: er war wie in der Steppe, allein, +und die Steppe lag vor ihm, ausgebrannt, schwarz, endlos – fremd. Nach +allen vier Richtungen gleich unabsehbar. Erst hatte er alles, jetzt +hatte er nichts. + +Und das alles wegen einer Bagatelle – wegen eines blinden Zufalls. Es +ging freilich ein Gerücht um, die ganze Sache sei von Alexander +Iwanowitsch angezettelt, sei ein Werk seiner Hände, – Glotow habe seinen +Freund hineingelegt und sich selbst aufs Trockene gebracht. Andererseits +aber wußte man, daß Marakulin selbst bereit war, sei es aus Herzensgüte +oder aus einer sonstigen Eigenschaft, etwa aus übermäßiger +Vertrauensseligkeit und Einbildungskraft – er kam mit den Menschen gern +gut aus – ja, daß er selbst nichts dagegen hatte, eine Quittung, +provisorisch natürlich, einer Person auszuhändigen, die mit einer +Zahlung nichts zu tun hatte; auf besondere Bitten hin oder mit Rücksicht +auf die Verlegenheit eines Kollegen – vielleicht eben dieses Alexander +Iwanowitsch! Denn man konnte mit Marakulin machen, was man wollte. + +Er aber, durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn geschleudert, ohne +Arbeit, allein, Tage und Nächte denkend, für sich allein denkend – es +waren eben andere Zeiten, jene Zeiten waren vorbei; jetzt hatte auch er, +wie die richtigen Menschen, zu denken angefangen – er selbst aber +entschied und sprach sich selbst das Urteil: er erkannte sich nicht +schuldig und sprach sich von Diebstahl frei. Und indem er sich in seiner +fieberhaften Aufregung seine Daseinsberechtigung bewies, tat er es wie +früher mit Lachen und mit Freude, auf die marakulinsche Art: er biß sich +in diesen Klotz fest, in die Vorstellung, zu der sein Denken ihn +geführt, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz sei, und begann zu +bohren. Er wollte um jeden Preis ergründen, wer das alles brauchte und +wozu: zum Vergnügen welchen Klotzes all die andern Klötze hingestellt +seien! Er wollte es nur ergründen, um sich bestimmt sagen zu können, ob +er selber noch länger als Klotz dastehen sollte, so wie es irgend jemand +beliebt hatte, ihn hinzustellen, oder ob er, ohne abzuwarten, bis es +jemand belieben würde, ihn umzustoßen, sich selber hinstrecken sollte, +freiwillig, ohne jemand zu fragen. Freilich läßt sich dergleichen nicht +auf einmal beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es auch? Es sei +denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose +gestohlen und nach den Linien der Hand einen anderen beschuldigte, +seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke. + +Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man sich an jemand rächt; es ist +schon so, wenn man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung zu erweisen! +Und auch das ist es nicht, daß der Mensch für den Menschen eine Bestie +ist, und nicht, daß der Mensch für den Menschen ein Klotz ist; die Sache +ist einfacher: wenn das Unglück über einen kommt, dann heißt es: dulde, +und dulden mußt du darum, weil es einerlei ist, ob du mit den +Hinterbeinen ausschlägst oder beißest, – denn alles ist nutzlos, es läßt +dich nicht los, bis seine Zeit um ist. Ist es nicht so? Etwas Derartiges +flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich zu ihm: Dulde. + +Den ganzen Sommer trieb er sich ohne Arbeit herum. Alles, was er in den +fünf Petersburger Quittungsjahren erworben hatte, ging jetzt in die +Leihhäuser, in das Residenzpfandhaus oder in das städtische, auf dem +Wladimirsky-Prospekt. Bald besaß er nichts mehr; die Pfandscheine hatte +er auch an einen Uhrmacher in der Gorochowaja verklopft, und was ihm +noch übrig blieb, war so vertragen und zerrissen, daß nicht einmal der +Tartar es gekauft hätte. Er war abgerissen und schäbig; sein einziger +Gummikragen war ganz zerwaschen, nur das Kreuz am Hals war noch ganz und +das Amulett, das er sich übrigens längst nicht mehr umzuhängen pflegte; +er hatte es an die Wand gehängt zur Erinnerung. Und er begann, sich zu +schämen – früher hatte er nie etwas Derartiges gefühlt. Er wagte es +nicht mehr zu bitten. Zum Glück konnte er auch niemand bitten: wie vor +einem Cholerakranken waren alle Freunde davongelaufen und hielten sich +vor ihm versteckt. Und er empfand Angst vor Allen, vor Bekannten und +Unbekannten. Er schämte und fürchtete sich, durch die Straßen zu gehen; +es war ihm, als wüßten alle etwas von ihm, das er nicht den Mut hätte, +sich selber zu gestehen, geschweige den Menschen zu sagen. Die Passanten +in den Straßen stießen ihn. Sogar die Hunde, auch die bellten ihn an und +schnappten nach seinen Beinen. Er war eben ein verlorener Mensch. + +Nun ja, ein verlorener, rechtloser – da heißt es eben: dulde, dulde und +vergiß ... Bricht das Unglück über dich herein, dann vergiß, daß es +Menschen auf der Welt gibt; die Menschen werden dir nicht helfen, und +wenn sie es wollten, gleichviel, das Unglück wird ihre Taten zunichte +machen, es wird sie auseinanderjagen und einschüchtern; darum vergiß die +Menschen. Ist es nicht so? + +Und etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach +deutlich zu ihm: Vergiß. + +Bald fanden sich dennoch Menschen. Es erschien aber nicht etwa so ein +Awerjanow oder sein Gehilfe Tschekurow – die Peitsche der Gemeinheit, +wie der ehrliche Tschekurow sich selbst nannte, – nein, es waren lauter +solche, an die Marakulin niemals vorher gedacht hatte: kleine, +verdächtige Beamte, die aus allen möglichen Aemtern fortgejagt waren, +und solche, die von einer Stellung zur anderen wanderten – Anwärter auf +den Laufpaß, Zugrundegegangene und Zugrundegehende, Betrogene und +Vielgeprüfte, die in anständige Häuser nicht kommen dürfen und denen die +Hand zu reichen für unpassend und unmöglich gilt, und endlich solche, +die einen sehr bezeichnenden Spitznamen haben – ihren eigenen Namen und +den Zunamen von Dieben, Schurken, Schuften: bekannte, halbbekannte und +ihm völlig unbekannte Gauner kamen zu Marakulin, um ihr Mitgefühl zu +bezeigen; sie waren es auch, die ihm fürs erste Arbeit fanden, wenn auch +keine sichere, nur so, um sich durchzufretten. + +Marakulin hatte vorher eine Wohnung auf der Fontanka, an der +Obuchowskybrücke; sie war klein, aber doch seine eigene, jetzt mußte er +die Wohnung aufgeben und in ein Zimmer ziehen. Das Zimmer fand sich auf +derselben Treppe, drei Stockwerke höher. Im ganzen hatte sich Marakulins +Leben bis dahin ganz leidlich gestaltet, wenn auch verworren und +ungeordnet. Er hatte zwar schon früher einmal Zeiten gehabt, da er nicht +besonders gut lebte, freilich war das noch vor seiner warmen Stellung, +in den Anfängen seiner Laufbahn, da man sich aus so etwas gar nichts +macht. Jetzt aber war es anders: es fiel ihm schwer, sich +einzuschränken, um so mehr, als er keine Hoffnung auf Verbesserung hatte +und der Gaunerverdienst nicht übermäßig war; er reichte gerade, um sich +durchzufretten. Aber wozu sich durchfretten? Wozu leiden, leiden, wozu +vergessen, vergessen und dulden? Er wollte durchaus wissen, wer das +alles brauchte und wozu, zum Vergnügen welchen Diebes, welches Schurken +oder Schuften – welchen Gauners das nötig war? Und er wollte es wissen, +nur um sich klar zu sagen, ob es sich noch lohnte, das alles in die +Länge zu ziehen – zu dulden, nur um sich durchzufretten? + +Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal beantworten, urteilt +selbst, und wer könnte es auch? – Es sei denn der Chiromant von der +Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen und nach den Linien der +Hand einen anderen beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl nämlich, +ebenfalls von der Kusnetschnybrücke. + +Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man sich an jemand rächt; es ist +schon so, wenn man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung zu erweisen! +Es kommt offenbar gar nicht darauf an, daß man duldet und auch nicht, +daß man vergißt; die Sache ist viel einfacher: Denke nicht. – Ist es +nicht so? + +Und etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach +ganz deutlich zu ihm: Denke nicht. + +Er sollte nicht denken, jetzt? Gerade jetzt, durch einen blinden Zufall +aus seiner Bahn geschleudert, allein, ohne Arbeit? Jetzt begann er erst +recht zu denken – jene Zeit, als er noch nicht dachte, war vorbei, und +wird nie wiederkehren. + +Und der Kreis schloß sich in ihm: er wußte, daß es nutzlos war zu +denken, daß er nicht denken durfte, daß man nichts beweisen kann, und +konnte doch nicht umhin zu denken, konnte doch nicht umhin zu beweisen, +er mußte denken bis es schmerzte; die Gedanken jagten sich unaufhörlich +wie im Fieber. + +Seine Wohnung wurde Marakulin glücklich los, ohne daß man ihn aufs +Polizeirevier geschleift oder gepfändet hätte – er hatte nichts, und die +Seele kann man einem doch nicht wegnehmen. Nur daß Michail Pawlowitsch +ihm die Hand nicht gereicht hatte, – der Oberhausmeister Michail +Pawlowitsch pflegte den mittleren Mietern, die er achtete, die Hand zu +reichen. + +Der letzte Tag am alten Herd verlief für Marakulin sehr denkwürdig. Am +Morgen geschah ein Unfall im Hof: eine Katze war verunglückt – eine +weiße, glatte Katze mit grauem Schnurrbart. Möglich, daß sie auch gar +nicht verunglückt war und gar nicht gedacht hatte, vom Dach des fünften +Stockwerks herabzustürzen, sondern sie mochte vielleicht zufällig etwas +verschluckt haben: einen Nagel oder eine Glasscherbe. Es kann auch sein, +daß jemand ihr absichtlich, zum Spaß, ein Nägelchen oder einen Splitter +zu fressen gegeben hatte, – es gibt nämlich solche Liebhaber. Sie quälte +sich sehr und litt: bald warf sie sich auf den Rücken und wälzte sich +auf den Steinen, bald drehte sie sich auf den Bauch herum, streckte die +Vorderpfoten aus, hob die Schnauze in die Höhe, als wollte sie in die +Fenster hineinsehen, und miaute. + +Die kleinen Kinder umstanden die Katze, sie ließen ihre wilden Spiele +und wilden Arbeiten im Stich und hockten sich um sie herum. Sie waren +still geworden und konnten sich von der Katze nicht losreißen; sie aber +miaute. Der Perser, der schwarze Masseur aus der Badeanstalt, hockte +sich auch hin, rollte mit den Augäpfeln sie aber miaute. + +Ein rauchfarbener Kater sprang aus der Remise hervor, ging forsch quer +durch den Hof, über die Bretter und über den Kies geradeaus auf die +Katze zu, aber drei Schritt von ihr blieb er stehen, sträubte sein Fell +und zog mit hochgehobenem Schweif ab. Ein kleines Mädchen besann sich +und lief um Milch; sie brachte eine Scherbe voll und stellte sie der +Katze unter die Nase; die Katze aber sah gar nicht hin und miaute. – Die +Katze ist verrückt! – sagte ein Erwachsener, der ebenso wie Marakulin +aus dem Fenster zuschaute. + +– Das ist unsere Katze Murka! – verbesserte ihn das kleine Mädchen, das +um Milch gelaufen war; ihr Gesicht glühte und in ihrer Stimme klang +etwas wie Gekränktheit und Ungeduld. + +Und alle schienen auf eins zu warten: auf das Ende. Marakulin wich nicht +vom Fenster, er konnte sich nicht losreißen, auch er wartete auf das +Ende. Und er würde so, ohne sich zu rühren, auch bis zum Abend +dagestanden sein, wenn er nicht plötzlich gefühlt hätte, daß hinter +seinem Rücken jemand da war und von einem Fuß auf den anderen trat. +Marakulin pflegte die Türen schon längst nicht mehr abzuschließen, es +war also jemand hereingekommen! In der Tat: ein alter Mann stand vor +ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend – ein zerzauster langer alter +Mann, unter dem Mantel schlotterten die Hosen um seine Beine, als wären +es keine Beine, sondern bloß Knochen. In der Hand zerknüllte er seine +Mütze und noch etwas – ein Kuvert, ja ein Kuvert. Diesen alten Mann +hatte er früher nie gesehen, natürlich! – was wollte er? + +– Was wünschen Sie? + +– Ich komme zu Euer Gnaden, Peter Alexejewitsch, ich komme von Alexander +Iwanowitsch. + +– Von Alexander Iwanowitsch? + +– Von ihm persönlich. Sie vergaßen die Tür zu schließen, so bin ich da, +– zu klingeln hab’ ich gefürchtet, verzeihen Sie, – der Alte kaute mit +den Lippen und zupfte an seiner Mütze. + +In früheren Zeiten kamen manchmal allerlei Leute von Glotow – sie +brauchten im Kontor zuweilen Aushilfe für den Abenddienst – aber wie +konnte es Glotow einfallen, jetzt jemand zu ihm zu schicken, da Glotow +doch wußte, daß er stellungslos war und nur einen Sechser in der Tasche +hatte! + +– Ich kann nichts für Sie tun, Sie brauchen doch Geld ... + +Der Alte wurde geschäftig und zog ein zerdrücktes Blatt Papier aus dem +Kuvert, das ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschrieben war. + +– Ich habe eine Bittschrift an Euer Gnaden verfaßt, ich geniere mich zu +bitten, und so habe ich diese Bittschrift verfaßt, – der Alte schob ihm +das Papier zu und lächelte ununterbrochen, ein Lächeln, das so war, als +miaute die Katze Murka. + +Marakulin steckte dem Alten seinen letzten Sechser zu, setzte sich an +den Tisch und wartete nur, wann der Alte fortgehen und wann es ein Ende +nehmen würde. + +Der Alte ging nicht, er preßte in der einen Faust den Sechser und die +Mütze und in der anderen das zerknüllte, ungleichmäßig mit großen +Buchstaben beschriebene Papier. Seine Hände zitterten und die Mütze fiel +zu Boden. + +– Was macht Alexander Iwanowitsch, wie geht es ihm? – fragte Marakulin +und fühlte dabei, wie alles in ihm zitterte und daß er es bald nicht +mehr aushalten würde, nicht aufzustehen und den Alten hinauszujagen. + +Der Alte streckte vogelartig lang seinen Hals aus und sperrte den Mund +auf wie einen Schnabel. + +– Heute ausgezeichnet, – er bewegte wie erfreut den Kopf, – er ist sehr +gut angezogen, wie ein Oberhausmeister, ein Rock, Lackstiefel, – wie ein +Oberhausmeister. – Geh, Gwosdjow, gradeaus zu Peter Alexejewitsch in die +Fontanka! – So geruhte er zu mir zu sagen. Wie ein Oberhausmeister. Ich +war bei ihm in Zarskoje in seiner Sommerwohnung, er scherzt immer: er +ist verliebt – sagt er – verliebt in eine Madame. Er scherzt immer: +Einen Hungrigen – sagt er – kann man satt machen, einen Armen kann man +reich machen, aber bist du verliebt und dein Gegenstand erweist dir +keine Gegenseitigkeit, so kannst du dich zerreißen, es gibt keine Hilfe. +– Ich verstehe es nicht, er scherzt nur immer. Einen Paletot hat er mir +von seinen eigenen Schultern geschenkt, und diese da Awerjanow der +Buchhalter; seine eigenen; sie sind mir etwas zu weit. Bist du keusch, +Gwosdjow? – sagt er. Nehmen Sie es mir nicht übel, Alexander +Iwanowitsch, ich bin ein Liebhaber von Weibern. Ja, er scherzt immer. + +Ohne aufzuhören und alles durcheinanderbringend redete der Alte, setzte +sich aber nicht, öffnete nicht die Faust und hob auch die Mütze nicht +vom Boden auf. + +Ein ruheloser Alter war das, ach wie ruhelos! Er hatte bei den +Schachowskojs in Petersburg als Stallknecht gedient, es war eine gute +Stellung, aber einmal wurde ein Pferd scheu und stieß ihn in die Brust, +da ging er ins Kloster. Seitdem zog er herum, aus einem Kloster in das +andere – er war eine ruhelose Natur: sowie er anfing sich irgendwo zu +gewöhnen, da lief er fort. Vor einem Monat war er aus dem +Tschermenetzkischen Kloster davongelaufen. + +– Da hat sich ein Bekannter meiner erbarmt. In der Seleninaja hat er ein +Zimmer, ein kleines Zimmerchen. Er selbst, dieser Korjakin, ist +verheiratet, hat eine Frau und ein kleines Kind, ein Mädchen, aber er +hat sich meiner erbarmt, und wir wohnten alle zusammen. Aber zum Fest +der heiligen Olga kam das älteste Töchterchen zu ihnen nach Petersburg +zu Besuch, so wurde es zu eng, auch ist es unschicklich: eine Jungfrau. +So zog ich auf den Obwodnij, hab’ da einen Winkel gemietet für +anderthalb Rubel, mit Gurken – ein schöner Winkel im Korridor. Ich +möchte mich gern mit Handel befassen, um mich nur irgendwie +durchzufretten ... + +Verworren und ohne aufzuhören redete der Alte, die Worte flossen +ineinander und zischten, – ein ruheloser Alter. Marakulins Augen +verschleierten sich, seine Lider wurden schwer, er sah nichts mehr, vor +seinen Augen bewegten sich nur die Hosen des Alten, die allzuweiten, von +Awerjanow, die nicht um Beine, sondern um Knochen zu schlottern +schienen. + +– Ich bin Liebhaber von Weibern ... anderthalb Rubel mit Gurken ... nur +um mich irgendwie durchzufretten ... + +Marakulin sprang vom Stuhl auf. + +– Wozu, sagen Sie mir endlich, wozu wollen Sie sich durchfretten? – rief +er. + +Aber er befand sich allein im Zimmer, es war niemand mehr drin. + +Die Katze miaute, Murka miaute. Er war allein im Zimmer; er war mitten +im Gespräch eingeschlafen, der Alte hatte es offenbar bemerkt und sich +mit seinem letzten Fünfkopekenstück davongeschlichen, genau so, wie er +vorher unbemerkt eingetreten war. Auch die Mütze lag nicht mehr auf dem +Boden. Die Katze miaute, Murka miaute. + +Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch nie zuvor, daß Murka stets +gemiaut hat, und nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre hier an +der Fontanka auf dem Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und +nicht nur hier auf dem Burkowschen Hof an der Fontanka, sondern auch auf +dem Newsky und in Moskau an der Taganka – bei der Auferstehungskirche –, +an der Taganka, wo er geboren war, – überall, wo etwas lebt. So klar sah +er es, so deutlich sprach es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor +dieser Murka nirgends hätte verstecken können. Und er fühlte es, daß +Murka nicht dort unten im Hof miaute, sondern hier ... + +– Gebt Luft! – miaute Murka, als könnte sie sprechen: – gebt Luft! – und +sie wälzte sich auf den Steinen, zu den Fenstern hinaufflehend. + +Eng, immer enger hockten sich die Kinder um sie herum, sie vergaßen ihre +wilden Spiele und ihre wilden Beschäftigungen, sie horchten; auch die +Scherbe mit der Milch stand noch unberührt da, und der Perser, der +schwarze Masseur aus der Badeanstalt ging nicht fort und rollte mit den +Augäpfeln. + +Erst spät am Abend bezog Marakulin in der fünften Etage sein neues +Zimmer, wo früher die Waschküche war. In der Wohnung war niemand, außer +der Köchin Akumowna; die Wirtin Adonja Iwoilowna war von der Reise noch +nicht zurück, – Adonja Iwoilowna pflegte im Sommer zu pilgern und die +Wohnung Akumownas Aufsicht zu überlassen. Die anderen zwei Zimmer waren +unvermietet. + +Die erste Nacht in der neuen Wohnung träumte Marakulin, er sitze in +einem Lustgarten außerhalb der Stadt an einem Tischchen gegenüber der +Estrade – der Garten erinnerte an den Garten des Aquariums – und rings +um ihn lauter unbekannte Menschen: ihre Gesichter waren böse und +unruhig, und sie gingen herum und brummten und flüsterten miteinander. +Er verstand, daß ihr Brummen und Flüstern sich auf ihn bezog. Sie hatten +nichts Gutes im Sinn, gewiß nichts Gutes! Es wurde ihm Angst, sie aber +kamen immer näher, und bald flüsterten sie nicht mehr miteinander, +sondern winkten einander mit den Augen zu, verstanden einander und +zeigten auf ihn. Und schon gab es keinen Zweifel mehr: – er darf nicht +länger dableiben, sie würden ihn sonst totschlagen. Er erhebt sich und +will ganz unbemerkt zum Ausgang gelangen, – sie aber sind hinterher. So +ist es, sie wollen ihn totschlagen! Sie werden ihn totschlagen, +erwürgen; wohin fliehen, wo sich verstecken? O Gott, wenn doch ein +Mensch wenigstens da wäre, ein Mensch! Und sie verfolgen ihn, sind ihm +schon auf den Fersen, jetzt holen sie ihn ein. Er stürzt in eine Grotte, +fällt mit dem Gesicht auf die Steine. Und plötzlich läßt sich ein Vogel +wie ein Stein auf ihn nieder, auf den Rücken, kein Adler, sondern ein +Habicht, der Hühner raubt. Er preßt ihn hart zwischen den Klauen, +zerdrückt ihn, wie er sonst die Hühner zermalmt. – Dieb, Dieb, Dieb – +klopft sein Schnabel. Und ihm wird schwer, so schwer, – es ist kein +Zweifel mehr für ihn: er wird sich nie mehr erheben können, nie mehr +sich aufrichten, – und es ist ihm schwer; Bitternis ist in ihm und +Todesbangen. + +– Ein böser Traum – sagte Akumowna, als Marakulin ihr am Morgen von den +nächtlichen Menschen und vom Habichtvogel erzählte, – man hat ihn nur +vor einer Krankheit. Sie werden ganz bestimmt krank werden. + +Die Krankheit aber hatte sich seiner schon bemächtigt, er war ganz +zerbrochen, ganz aufgelöst, der Kopf hing ihm herab, er war krank: am +Morgen vermochte er kaum ein Glas Tee auszutrinken und der Bissen blieb +ihm im Munde stecken. Draußen war eine Hochsommerhitze und ihn +schüttelte der Frost wie im Januar. + +Die göttliche Akumowna – im Burkowschen Hof wurde Akumowna die göttliche +genannt –, die gute Seele, brachte Marakulin zu Bett, gab ihm Himbeertee +zu trinken und legte ihm Senfpflaster auf; sie pflegte ihn Tag und +Nacht, und pflegte ihn gesund. Die Krankheit ließ ihn los und verließ +ihn. Doch hatte er an die zwei Wochen gelegen. + +Das erste, was er empfand, als er nach der Krankheit die Hausschwelle +überschritt und sich auf der Straße befand, war – daß er jetzt alles zu +sehen und zu hören anfing. Und er fühlte, wie sein Herz sich auftat und +seine Seele lebte. + +Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen +und in der Welt er selbst zu sein; der andre muß töten, um durch den +Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens als er selbst zu sterben; +er aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht der +Person, der sie zukam, – um seine Seele zu erschließen und in der Welt +zu sein, und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger Marakulin, sondern +als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und +fühlen. + +So sprach es in Marakulin am ersten Tag seiner Genesung, so fand er ein +Schlupfloch, um wieder in die Welt hineinzuschlüpfen, so bewies er sich +sein Recht zum Dasein: nur sehen, nur hören, nur fühlen. + +Er hatte keine Angst mehr vor den Menschen, sie schreckten ihn nicht +mehr. Und es war ihm jetzt eigentlich ganz gleichgültig, ob er ein Dieb +war oder nicht. Er fürchtete sich auch vor gar keinem Unglück mehr. Und +wenn, dachte er, noch tausendmal soviel Ungemach ihn heimsuchen sollte, +so war er zu allem bereit, mit allem einverstanden, alles wollte er +hinnehmen und erdulden und in jeglicher Schmach leben, in jeglicher +Erniedrigung, alles sehend, alles hörend, alles fühlend. – Warum? Das +wußte er selber nicht, nur, daß er leben wollte. + +Geschah dies dem Ungemach und dem einäugigen Bösen zum Trotz, dem +überall ein Fest gerichtet ist, wo man sich grämt und weint – er hat +nämlich das Ungemach ausgehungert und läßt es hungrig um die Erde +streifen, und er selbst, der Einäugige, blickt mit seinem unterlaufenen +Auge scheel aus den Wolken von der Höhe des Himmels herab, wie die Erde +vor Kummer, Gram, Not, Trauer, Leid, Bosheit und Haß sich wälzt und wie +Murka klagt, und duldet es vielleicht nur bis zu einer gewissen Zeit, +oder betrachtet er es mit Wohlgefallen –? + +Oder geschah es dem Kummer und seinem Hohn zum Trotz, dem mageren, +dünnen, zusammengeschrumpften, von Weiden umgürteten, mit Bast +umwickelten, – diesem, wie der alte Gwosdjow, zerzausten Kummer, mit +seinen geheuchelten Tränen, die er vergießt, wenn er einen in die Grube +hinabstößt und dazu „Ecce homo!“ ruft? Oder erkannte er in Murkas +Miauen, in Murkas Bestimmung zu klagen, eine höhere Gerechtigkeit, eine +Strafe für Murkas Erbsünde, die nicht gesühnt, nicht vertuscht werden +kann, wenn sie vielleicht auch ganz geringfügig ist, weil geschrieben +steht: Wer das ganze Gesetz befolgt und nur eins übertritt, der ist im +ganzen schuldig! und er ergab sich drein mit Furcht und Beben, nachdem +er erkannt hat, daß sein Recht eben in der Rechtlosigkeit von Uranbeginn +bestand? – Oder war es seine Liebe zum Leben, sein Instinkt zum Leben, +die Heiterkeit des Gemüts – das Mark und die Wurzel seines Lebens, die +ihm Recht sprachen, als eingeborene Kräfte seiner Seele, und ihm die +Fähigkeit verliehen, sich zu finden, sich zu fügen und anzupassen, ohne +Worte, ohne Beweise? Oder wird er jetzt einfach nur leben, niemand zum +Trotz, niemand zu Leide, weder aus Erkenntnis, noch dank seiner +besonderen seelischen Eigenschaften, sondern einfach so – zu gar keinem +Zweck, ebenso wie er früher zu keinem Zweck für den Direktor vor den +Feiertagen die Berichte abgeschrieben hatte, Tag und Nacht beharrlich +einen Buchstaben nach dem anderen malend, die Zeilen wie Perlen +aneinanderreihend? – Ist es nicht so? + +Etwas Derartiges flog damals Marakulin durch den Sinn und sprach +deutlich in ihm: Zu keinem Zweck – zu gar keinem Zweck, aber du wirst +dennoch leben und nur sehen, nur hören, nur fühlen. + + + + + Zweites Kapitel + + +Das Burkowsche Haus stößt an keine fremde Mauer. Ihm seitlich gegenüber +liegt das Obuchowsche Krankenhaus. Zwischen dem Haus und dem Krankenhaus +befinden sich zwei Höfe: Burkows Hof und der Hof der Belgischen +Gesellschaft. Die Fabrik der Gesellschaft liegt rechts, – sie hat vier +Ziegelschlote mit Blitzableitern; sie qualmen den ganzen Tag und +erfüllen die Fensterrahmen mit schwarzem Ruß. Ueber diesen Ruß beklagt +sich Akumowna so oft sie vor den Feiertagen die Zimmer reinigt, aber sie +schreibt die Schuld daran nicht den belgischen Schloten zu, sondern der +riesigen elektrischen Milchglaskugel, die den ganzen belgischen Hof +beleuchtet. + +Der Mond blickt manchmal in die Fenster hinein, die Sonne aber ist nie +zu sehen, nur im Hochsommer glüht Marakulins Zimmer wie eine heiße +Pfanne: die Strahlen dringen herein zusammen mit dem Staub und jenem +lästigen Hämmern von Eisen gegen Stein, das dem sich erneuernden und +aufputzenden Petersburg im Sommer eigen ist. Auch die Sterne sind hier +wenig zu sehen, mit Ausnahme des Abendsterns, und auch dieser ist nur im +Frühjahr sichtbar, in später, nicht sehr dunkler Mitternacht; dafür aber +glänzt das Licht im Obuchowschen Krankenhaus wie ein Stern. + +Wenn im Hof der Belgischen Gesellschaft schwarze Männer erscheinen und +wie Zuchthäusler einen schwarzen Karten mit Steinkohle nach dem andern +von der Fontanka hereinfahren, und der Hof sich im Laufe der Tage in +einen schwarzen Berg verwandelt, dann bedeutet es, daß der Sommer +vorüber ist und daß der Winter, der Herbst naht. Wenn aber der Berg +abzunehmen beginnt und wie Schnee schmelzend zergeht, wenn die schwarzen +Männer wieder mit schwarzen Karren erscheinen und klirrend die letzten +Stücke wegfahren; wenn in dem mit grauem Sandbestreuten Hof weiße Zelte +sich erheben, kurzgeschorene, erdfahle Menschen in grauen +Krankenhauskitteln herumzuschleichen beginnen und die roten Kreuze der +Schwestern leuchten, dann bedeutet es, daß der Winter vorüber ist und +daß der Sommer – der Frühling da ist. + +Burkows Haus ist wie Petersburg selbst. + +Der herrschaftliche Teil des Hauses liegt nach der Seitengasse mit der +Kaserne – in ihm sind lauter teure Wohnungen. Hier wohnt der Eigentümer +Burkow selbst – ein ehemaliger Gouverneur: seine Uniform strahlt wie +elektrisches Licht und sein Vorzimmer ist voller Epauletten und blanker +Knöpfe. Eine Etage höher wohnt der Rechtsanwalt Amsterdamskij – er nimmt +zwei Wohnungen ein. Noch höher wohnen Oschurkows – ein Ehepaar nur – in +zehn Zimmern; alle zehn Zimmer sind voll von Nippes, auch ein Aquarium +mit Goldfischchen haben sie; die Dienstboten wechseln jeden Tag. Der +Nachbar der Oschurkows ist ein Deutscher, der Doktor der Medizin +Wittenstaube, der alle Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt. Ueber +Oschurkows und Wittenstaube wohnt die Generalin Cholmogorowa, oder die +Laus, wie sie im Hof genannt wird. Ueber der Generalin wohnt niemand; +unter Burkow befindet sich noch ein Kontor und an der Ecke eine +Bäckerei. + +Burkow selbst wurde nie von jemand gesehen. Es gingen seltsame Gerüchte +um von seiner eigenartigen Selbstvernichtung: während er Gouverneur in +Purchowez war und dort den Aufruhr unterdrückte, soll er dermaßen außer +sich geraten sein, daß er unter anderen Akten auch eine von ihm selbst +verfaßte Meldung an das Ministerium über seine eigene völlige +Unfähigkeit unterschrieb, worauf er glücklich, aber ihm völlig +überraschend nach Petersburg berufen wurde, wo er seinen Abschied +erhielt. + +Die Generalin Cholmogorowa dagegen konnte ein jeder sehen, und alle +wußten, daß allein die Zinsen ihres Kapitals bis zu ihrem Tode reichten, +und leben könnte sie noch ein halbes Jahrhundert: kräftig und lebhaft +würde sie alle überleben, oder wie der Chiromant sich ausdrückte: es ist +ihrem Leben kein Ende abzusehen! Man wußte auch von der Generalin, daß +sie jeden Dienstag ins Dampfbad gehe und so abgehärtet sei, daß sie +überhaupt nicht altere, sondern immer im gleichen Zustand verharre. +Weiter wußte man, Gott weiß woher, daß sie nichts in ihrem Leben zu +bereuen habe; sie hat weder getötet noch gestohlen, und wird weder töten +noch stehlen, denn sie tut nichts, als sich ernähren – sie trinkt und +ißt – sie verdaut und härtet sich ab. Sonst nichts. Endlich wußte man, +daß sie das Haus nie anders als mit einem Klappstuhl verlasse; diesen +nehme sie als eine Art Waffe mit, falls sie überfallen werden sollte, – +und so kann man sie mit dem Stuhl täglich auf der Fontanka der Motion +wegen promenierend antreffen, an Samstagen und Sonntagen, vor den Festen +und an den Festtagen selbst dagegen auf dem Sagorodny-Prospekt, wo sie +entweder zur Kirche geht oder aus der Kirche kommt. + +Jeden Mittag Schlag Zwölf erscheint auf dem Hof das Burkowsche +Hausmädchen Susanna, das schon mehr wie ein Fräulein aussieht – wie eine +Stenotypistin aus irgendeinem Bureau – und führt den schönen Hund des +Gouverneurs, den rothaarigen Revisor über den Hof spazieren, wobei sie +kaum die lästige Stahlkette festhält. Jeden Mittwoch werden die Teppiche +in den Hof hinuntergebracht und vor den Feiertagen auch die +Polstermöbel, und die Teppichklopfer bearbeiten sie und klopfen so +eifrig und mit solchem Gedonner, daß es sich anhört, als würde auf der +Newa aus Kanonen geschossen; das bedeutet: ein Attentat oder eine +Ueberschwemmung. Alle diese Teppiche und Möbel stammen aus dem +herrschaftlichen Teil des Hauses – aus den reichen Wohnungen der +Burkows, Amsterdamskijs, Oschurkows, Wittenstaubes und der Generalin +Cholmogorowa. + +Im Hinterhaus sind lauter kleine Wohnungen, und die Einwohner sind +mittlere, zumeist aber kleine Leute. Hier befinden sich Schuster und +Schneider, Bäcker, Bademeister, Friseure, eine Waschanstalt, zwei +Weißnäherinnen, drei Schneiderinnen, eine Krankenschwester aus dem +Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, +Schirmmacher, Bürstenmacher, Buchhalter, Wasserleitungsarbeiter, Setzer +und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische Monteure mit ihren +Familien und ihren Lumpen, Flaschen, Gläsern und Schwaben; hier sind +auch allerlei Fräuleins von der Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, +Nähmamsells, Mädchen aus den Teestuben und elegante junge Leute aus den +Badeanstalten, die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen; hier +befinden sich auch „die Winkel“. + +Der Inhaber der Winkel, der Händler Gorbatschow, der Schweigsame – so +wurde er im ganzen Hof genannt – ein stämmiger, haariger, angegrauter, +betfrommer Mann, der allsonnabendlich alle seine dreißig Winkel mit +Weihrauch ausräuchert, besitzt auf dem Marsfeld drei Stände. Zu den +Feiertagen tummeln sich bei Gorbatschow Mädchen in schwarzen Tüchern und +Nonnen-Geldsammlerinnen in Schaftstiefeln, und zu Ostern legen alle +diese Töchter des Gesanges lustig und keck: Christ ist auferstanden! bei +ihm los. Gorbatschow ist allen bekannt und wenig beliebt; er kann Kinder +nicht ausstehen. Die Generalin Cholmogorowa kann, wie man sagt, +ebenfalls Kinder nicht ausstehen, aber sie selbst hat nie welche gehabt; +Gorbatschow dagegen hatte ein Töchterchen gehabt, das er aber so lange +in einer leeren Kammer voller Ratten eingesperrt hielt und so lange +mißhandelte, bis er es ins Jenseits befördert hatte. Die kleinen Kinder +ärgern Gorbatschow, geben ihm allerlei Spitznamen, verfolgen ihn in +wilden Scharen, spotten über seinen Weihrauch und über seine mit +Pferdehaaren bewachsene Nase, und davon ertönt der Hof von so kräftigen, +geflügelten Worten, von einer so auserlesenen saftigen russischen +Sprache, wie man sie kaum im Gefängnis zu hören bekommt; und das +Gefängnis ist doch sozusagen ihre Akademie. + +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist voll, die Strafe ist nah, +ich werde euch alle, ihr Lumpen, auf einem Stricklein aufhängen! – +brummt der gekränkte, von den Kindern gequälte alte Schweiger und +schnuppert mit seiner von Pferdehaaren bewachsenen Gorbatschowschen +Nase, während er an den Sonnabenden alle seine dreißig Winkel +beweihräuchert, böse und bitter das Göttliche mit dem Ungebührlichen +durcheinandermengend. + +Die Gorbatschowschen Winkel sind allbekannt. Hier wohnt die Alte, die an +der Badeanstalt Sonnenblumen- und Kürbissamen, Johannisbrot, +Zuckerplätzchen in rosa Papierchen mit Fransen, Heringe und eingelegte +Birnen feilbietet; stellenlose Köchinnen wohnen hier und sonst allerlei +Volk, von der Art des ruhelosen alten Gwosdjow: ein Maler, ein Tischler +und allerlei fliegende Händler. + +Die Stände der Händler, ihre Kästen, befinden sich an der hölzernen +Ueberwölbung der Müllgrube und auf dem Müllkasten andererseits. Am +frühen Morgen, wenn die Hausmeister den Hof säubern und fegen, da kocht +es bei den Händlern vor Arbeit auf den Ständen: die Aepfel, Apfelsinen, +getrocknete Aprikosen, Pflaumen, Datteln und andere Süßigkeiten und +Näschereien, alles wird vorsichtig immer wieder verlockend +zurechtgelegt, aufgefrischt und erneuert. Dann wird es an der Fontanka +herumgetragen und sieht so verlockend, so schmackhaft aus, daß es über +die Kraft geht, sich zu versagen, wenigstens etwas davon zum Tee zu +kaufen: eine Dattel oder eine Tafel Schokolade, die nach Mistpilzen +riecht. + +Und so wie die Gorbatschowschen Winkel nie leer stehen, so sind auch die +Stände dieser Händler, ihre Kästen stets voll von den verlockendsten +Süßigkeiten und Näschereien. + +Neben den Winkeln befindet sich die Hausmeisterwohnung. Es sind ihrer +sieben Hausmeister. Alle sehen sie so gesund aus, und alle sind sie +irgendwie krank; – wenn sich zum Spaß wenigstens ein gesunder unter +ihnen fände! Der Beruf eines Hausmeisters ist auch gar nicht so einfach: +er muß aufpassen und Holz tragen und Leute auf die Wache schleppen, – +und alles muß flink geschehen. Ihr einziger Vorteil ist der Verkauf von +Brennholz. Nur der herrschaftliche Teil des Hauses bezieht das Holz vom +Wirt; im Hinterhaus aber wohnen nur kleine Leute, die ihr Holz selber +kaufen, und deshalb treiben durchweg alle sieben Hausmeister einen +schwunghaften Handel mit Holz. + +Ueber der Portierloge wohnt der Oberhausmeister Michail Pawlowitsch, der +seiner Stattlichkeit nach besser in die Newskaja Lawra[1] passen würde – +auch in diesem Kloster würde er nicht zu den letzten zählen; – als +Feiertagsgeschenk nimmt er nicht weniger als einen Rubel an. Ueber +Michail Pawlowitsch wohnen der Paßaufseher Jerkin und der Kontorist +Stanislaus. + +Jerkin ist im ganzen Burkowschen Hof in Beziehung auf Trinken als der +erste bekannt. Und in den Feiertagen kann es vorkommen, daß er, nachdem +er die fünfte Etage erklettert, an einer Tür geklingelt und mit Mühe +hervorgestammelt hat, er sei um seinen Feiertagsobolus gekommen, wie tot +auf dem Platz liegen bleibt. Einmal, war es Weihnachten oder Ostern, da +war er die ganze Treppe hinuntergekollert, von Stufe zu Stufe – „er +liebt mich, er liebt mich nicht“ – und hatte sich dermaßen an den +Fliesen zerschunden, daß man ihn kaum erkennen konnte. Nach Neujahr, am +Tage der heiligen drei Könige, brachte ihn Antonina Ignatjewna, Michail +Pawlowitschs Gattin, eine gottesfürchtige Frau, zum Mönch am Hafen, um +ihn wieder auf den guten Weg zu bekehren. Er ließ sich auch bekehren: er +legte vor dem Bruder ein Gelübde ab, – schriftlich – daß er ein ganzes +Jahr nicht mehr trinken würde, bis zum nächsten Neujahr. Jerkin handelt +mit Marken aus dem Krankenhaus, und diese Marken, meist im Werte eines +Rubels, sind für ihn dasselbe, was das Holz für einen Burkowschen +Hausmeister ist. + +Jerkins Hausgenosse, der Kontorist Stanislaus, ist ebenso wie sein +Freund, der Monteur Kasimir, von jeher dadurch bekannt, daß er sich +nachts auf allen Treppen herumtreibt und daß keine Köchin, kein +Hausmädchen ihm widerstehen kann; ein solcher Fall soll noch nicht +vorgekommen sein, und kein Gardesoldat kommt ihm darin gleich. + +Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Unfälle, Begebenheiten, Skandale, +Raufereien, Schlägereien, Hilferufe und Polizeiwache – bald ist es, als +schreie ein Mensch, bald, als miaue eine Katze oder als würde jemand +gewürgt. Und so jeden Tag. + +Burkows Haus ist eine richtige Wjasma[2]. + +Die Wohnung Adonja Iwoilowna Jurawljowas, der Wirtin Marakulins, ist im +Hinterhaus gelegen und trägt die Nummer neunundsiebzig. + +Auf Nummer achtundsiebzig wohnt die Hebamme Lebedjowa. Bei der Hebamme +wurde am Advent ein Pelzmantel gestohlen, und der Dieb war nicht zu +finden, als wäre der Pelz im Ofen verbrannt. Man warf dem Schweizer +Nikanor vor, daß er nicht aufgepaßt hätte, – aber wie konnte er +aufpassen, wenn er den ganzen Tag auf den Beinen sein muß und nachts +herausgeklingelt wird, und so das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es +ein schlauer Dieb, ein Hausgenosse, – aber es war nichts zu machen. + +Auf Nummer siebenundsiebzig wohnten eine Zeitlang zwei Studenten – +Scheweljow und Chabarow. Dem Aussehen nach waren sie wohlhabend; sie +waren elegant gekleidet und hatten die Miete für einen Monat +vorausbezahlt. Sie lebten zurückgezogen, niemand pflegte zu ihnen zu +kommen, es gab nie Lärm bei ihnen und sie hatten auch keine eigene +Bedienung. Gewöhnlich fuhren sie schon am Morgen fort und kamen erst +spät abends heim. Sie befaßten sich damit, Geld für ihre armen Kollegen +zu sammeln; so sagten sie bei ihren Besuchen in den Vorder- und +Hinterwohnungen des Burkowschen Hauses. Nur durch eins störten sie: sie +sangen sehr oft in der Nacht, wenn auch nicht laut, so doch vernehmlich +Totenmessen. Diese nächtlichen Totengesänge verursachten den Nachbarn +wenn nicht Schrecken, so doch einige Erregung. Aber was geschah? Nach +einem Monat stellte sich heraus, daß sie gar keine Studenten waren, auch +nicht Scheweljow und Chabarow hießen, sondern Schibanow und Kotschenkow +– Diebe vom reinsten Wasser, und ihre Wohnung war, als wäre sie gar +nicht bewohnt, leer, nicht einmal ein zerbrochener Stuhl war drin – +nichts, nur ein Kerzenstumpf in einer Bierflasche und ein Messinghahn. +Und da sie nicht wenig auf dem Kerbholz hatten, wurden sie verhaftet. + +An Stelle der Studenten quartierten sich auf Nummer siebenundsiebzig +zwei Artisten, die beiden Brüder Damaskin ein: Sergej Alexandrowitsch +vom Ballett – er hatte in zwölf Sprachen Examen gemacht und alle Gesetze +ausstudiert, wie man im Hof sagte, – und Wassilij Alexandrowitsch, ein +Zirkusclown oder der Klon[3], wie es in der Burkowschen Sprache hieß: er +spie Feuer und fürchtete nichts und ist schon im Luftballon geflogen. +Die neuen Mieter wurden vom Oberhausmeister Michail Pawlowitsch die +Artisten genannt, und er war von einem ungewöhnlichen und ihm selbst +rätselhaften Respekt vor den Brüdern Damaskin durchdrungen, wie vor +einem Mönch aus dem Hafen. + +Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, sieht wie eine Teetasse aus, Sergej +Alexandrowitsch ist schlank und sauber, wie ein sechzehnjähriges +Fräulein; er berührt die Erde kaum beim Gehen und hält sich steil, wie +ein dreijähriges Kind; – er geht schnell, seine Schuhchen scheinen keine +Absätze zu haben, und jeden Augenblick kontrolliert er sozusagen seine +Füße gymnastisch: er beginnt mit den Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit +den Flügeln. Wassilij Alexandrowitsch ist nur im Zirkus beschäftigt und +hat jeden Abend Vorstellung, wie das so ist, Sergej Alexandrowitsch +dagegen tanzt im Theater und gibt Stunden bei sich zu Hause und außer +dem Hause. + +Die Artisten verdienten gut, streuten das Geld aber um sich wie Späne – +Sergej Alexandrowitsch spielte Karten und verlor stets – sie kamen aus +den Schulden nicht heraus, und manchmal ging’s ihnen an den Kragen. + +Sie beide waren nicht älter als Marakulin. Sergej Alexandrowitsch war +verheiratet, aber seine Frau hatte ihn verlassen. Und obgleich er sie +versicherte, daß die Liebe nur einmal komme – es gebe nur eine Liebe auf +der Welt – und, wenn er seinen Schülerinnen den Hof mache, dies eben nur +zu den Pflichten seines Berufes gehöre, und wenn er mit einer Schönen +spreche, so spreche er mit ihr nur, wie mit einem Menschen, ohne daß +sein Herz dabei beteiligt sei, so war seine Frau doch von ihm +fortgegangen. Sergej Alexandrowitsch ist sauber, Wassilij +Alexandrowitsch das Gegenteil: er braucht jeden Tag ein Fräulein, er +kann sonst nicht leben; er ist dabei nicht wählerisch und fürchtet sich +vor nichts, dafür aber besucht er, wenn auch nicht oft, die Kirche. +Sergej Alexandrowitsch dagegen ist sogar Ostern zu Hause geblieben. Und +als Sergej Alexandrowitsch einmal Zahnweh bekam und beschlossen hatte, +er müsse sterben, dachte er gar nicht daran, einen Priester rufen zu +lassen, vielmehr warnte er die Sklavin – so nannten die Artisten ihre +Köchin Kusjmowna – und zwar aufs strengste davor: – Wenn du mir einen +Popen holst – rief er in seiner Zahnwehraserei – werfe ich das Aas die +Treppe hinab! – + +Und er hätt’ es auch gewiß getan: Sergej Alexandrowitsch war ein großer +Philosoph. + +Marakulin stand mit der Hebamme Lebedjowa nur auf dem Grüßfuß – sie +mißfiel ihm: sie sah nur auf die Tasche, war unterwürfig und verstand es +mit zwei Stimmen zu sprechen: mit der einen zu denen mit den vollen +Taschen und mit der anderen zu denen, die nichts hatten. Bald hörte die +Hebamme auf, Marakulins Gruß zu erwidern, und auch er tat, als bemerkte +er sie nicht mehr. Mit den Studenten war Marakulin nicht näher bekannt +gewesen und nur manchmal an der Treppe mit ihnen zusammengestoßen: er +stieg gerade hinauf, als sie herunterliefen; nachts aber war er ein +aufmerksamer Hörer der studentischen Totengesänge. Auf den ersten +Eindruck gefielen ihm diese Kerle: sie waren so tüchtig und +lebenslustig. Mit den Artisten aber hatte er sich angefreundet und +besuchte sie: er kam zu ihnen ab und zu abends zum Tee. + +Die Artisten waren geistlicher Herkunft und von seminaristischer +Bildung; sie waren beide ein paar fidele Hühner, nicht kopfhängerisch – +sie sparten kein Streichholz beim Zigarettenrauchen! – Wassilij +Alexandrowitsch, der Clown, war nicht sehr gesprächig, aber einem +Gespräch nicht hinderlich; er war gutmütig und lachte viel, häufig auch, +wo es gar keinen Anlaß zum Lachen gab, offenbar nach seiner eigenen +Clownlinie. Sergej Alexandrowitsch dagegen unterhielt sich gern. Er war +auch ein Bücherfreund und las nicht nur humoristische illustrierte +Zeitschriften wie etwa „das Petersburger Satirikon,“ nicht nur den +berühmten „Andrej, den Schwergeprüften,“ oder „Elsa von Gabron,“ oder +„die schrecklichen Geheimnisse des unterirdischen Gewölbes,“ oder „die +schrecklichen Abenteuer des Räuberhauptmanns die schwarze Hand,“ oder +„die Liebesrendezvous von Beritzky,“ „die Entführung Ludmillas durch den +Waldräuber Alexander“ – die Lieblingslektüre des Clowns –, nein, er las +die neuesten, sensationellen Bücher, die überall in den Schaufenstern zu +sehen sind: bei Ssuworin, bei Wolf, bei Mitjurnikow auf dem Newsky, im +Gostiny Dwor, auf der Litejnaja und sogar auf der Gorochowaja, in der +einzigen Buchhandlung dieser Straße. Und beim Tee pflegte Sergej +Alexandrowitsch auf alle totengräberischen, tendenziösen Betrachtungen +Marakulins mit eigenen ausgedehnten Betrachtungen über das Schicksal und +das Los verschiedener Länder, Völker und des Menschen überhaupt zu +erwidern und schloß gewöhnlich mit der kurzen Bemerkung: + +– Man muß alles von sich abschütteln! – dabei flatterte er mit den Füßen +wie ein Hahn mit den Flügeln. + +Sergej Alexandrowitsch ist ein großer Künstler. + +Die Wirtin Marakulins Adonja Iwoilowna Jurawljowa – eine nicht mehr +junge, dicke und sehr gute Frau, ist seit fünfzehn Jahren Witwe, seitdem +ihr Mann infolge einer Krebskrankheit den Hungertod starb. Er wurde auf +dem Smolensky-Kirchhof begraben. Sie selbst ist keine geborene +Petersburgerin, sie stammt von der Meeresküste, vom Weißen Meer. Ihr +Mann besaß ein Geschäft auf der Ssadowaja, einen Schnittwarenladen – +Baumwolle und Zwirn – jetzt hat sie es verpachtet. Sie hat keine Kinder +und die Verwandten von seiten ihres Mannes sind auch kinderlos, nur ein +Neffe ist da. Der Neffe pflegt an den Feiertagen zu Weihnachten und +Ostern zu kommen, um ihr zum Fest zu gratulieren, ebenso an ihrem +Namens- und Geburtstag. Sie ist reich – hat viel Geld und weiß nichts +damit anzufangen; sie grämt sich sehr, daß sie keine Kinder hat und +seufzend klagt sie über das ihr von Gott bestimmte kinderlose Leben. + +Adonja Iwoilowna bewohnt das äußerste Zimmer; gleich am Eingang rechts +liegt ihr Zimmer. Den ganzen Tag sitzt sie zu Hause; auf die Straße geht +sie nicht – es ist ihr beschwerlich, die Treppen hinunterzusteigen –, +der eine Fuß schleppt etwas nach, und beim Hinaufsteigen vergeht ihr der +Atem; auch hat sie Angst vor der Elektrischen. Es bleibt ihr nur eine +Zerstreuung: in die Küche zu Akumowna zu spazieren und mit ihr vom Essen +zu sprechen. + +Adonja Iwoilowna ißt gern. + +Die Zimmer liegen alle in einer Reihe. Das zunächst an der Küche +gelegene ist das Marakulins, und Peter Alexejewitsch kann am Morgen +schon hören, wie sie das Mittagsessen bespricht. Adonja Iwoilowna ißt +besonders gern Fische. Und sie belehrt Akumowna über den Sterlet, über +die Zubereitung einer Sterletsuppe, von einem wahrhaft die Seele aus dem +Leibe schmeichelnden Geschmack. + +– Zuerst mußt du, Uljanuschka – spricht sie zu Akumowna mit einer +Stimme, als schlucke sie Tränen – zuerst mußt du die Barsche bis zur +Erschöpfung kochen, dann tu’ den Sterlet hinein, das gibt eine +schmackhafte Suppe. + +Und in der Tat wurde da eine schmackhafte Fischsuppe gekocht; ein die +Seele aus dem Leibe schmeichelnder, süßer, fetter Sterletgeruch erfüllte +die Küche und alle vier Zimmer, und Marakulin konnte es kaum aushalten, +kaum den glücklichen, seligen Augenblick erwarten, bis er in die +Garküche auf den Sabalkansky gehen konnte. + +Adonja Iwoilowna versteht sich aufs Essen. + +Den ganzen Winter sitzt sie fest, sie ist seßhaft und wird wegen ihrer +Seßhaftigkeit im ganzen Hof nicht anders als die Schmiede genannt; aber +kaum, daß der Frühling beginnt, ist sie nicht mehr in Petersburg: den +ganzen Sommer zieht sie von Ort zu Ort, zu allen heiligen Stätten +pilgernd. + +Adonja Iwoilowna liebt die Einfältigen und Narren, die Starzy[4], Brüder +und Propheten. Sie war bei dem rasenden Starez in der Nähe von +Kischinew, hatte seine schrecklichen Schilderungen des Jüngsten Gerichts +und der Qualen der Sünder gehört; – sie waren so entsetzlich, daß die +Pilger wie von Sinnen davongingen und tobsüchtig wurden; manche starben +auf der Stelle vor Angst vor den Höllenqualen – so entsetzlich waren +diese Schilderungen. Sie war auch schon im Ural bei Makarij: – dieser +Starez wohnt auf einem Geflügelhof, pflegt das Geflügel, spricht mit dem +Geflügel, und ihm gehorcht alles Vieh: wenn sich der Starez bei +Sonnenuntergang zum Beten hinstellt, so stellt sich auch das ganze Vieh +hin, wendet die gehörnten, bärtigen Köpfe nach der Richtung, wohin der +Starez betet und steht und rührt sich nicht; es erklingt kein Glöcklein, +es klirrt keine Schelle. Sie war auch in Werchoturje bei Fedotuschka +Kabakow, der durch Gebete die Stimme des Himmels herabruft; sie war auch +bei jenem Starez, der durch seine Berührung engelhafte Reinheit schenkt +und in den paradiesischen Zustand versetzt; sie war auch bei dem +Kitajewschen Propheten: dieser Heilige läßt die Frommen an seiner Zunge +saugen – er steckt seine Zunge heraus, man saugt an ihr und ist +geheiligt – die Gnade hat sich auf einen herabgesenkt. Noch bei vielen +anderen heiligen Männern war sie in ihrem Leben gewesen: +im Heiligengeistkloster, wo der Starez die bösen Geister +vertreibt, indem er durch den Beischlaf das Fleisch abtötet; beim +Bossoj-Iwanowskij-Starez, beim Starez Damian und bei Phoka Skopinskij, +der sich selbst auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte. + +Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geist, die Narren, die Starzy, +Brüder und Propheten. Sie möchte ihr Leben lang ihren unverständlichen +Gesprächen, ihren Parabeln und Sprüchen lauschen, sie möchte in ihren +Zellen beten, wo die Oellampen sich von selbst entzünden, wie die Kerzen +Jerusalems. Sie hat nur einen Kummer: sie sprechen nicht mit ihr, – +einzig ihr allein hat noch niemand von diesen Heiligen etwas gesagt! Ob +sie nun zu alt an Jahren ist, oder ob sie vor Rührung die prophetischen +Worte nicht hört, oder ist es ihr vielleicht nicht gegeben zu hören –? +Nur die heilige Schwester Parascha hatte ihr einmal gesagt: + +– Schiffe werden gehen, viele Schiffe – weit! + +Und im Winter in ihrer schwülen Stube auf der Fontanka sitzend, +wiederholt Adonja Iwoilowna sehr oft: + +– Schiffe, Schiffe! – und kann diese Worte nicht begreifen, und die +Tränen rollen ihr wie die Erbsen die Wangen herab. + +Adonja Iwoilownas Aehnlichkeit mit einer Seerobbe ist erstaunlich – eine +echte murmanische[5] Seerobbe. + +Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geiste, die Narren, die Starzy, +Brüder und Propheten, aber sie hat noch eine andre Leidenschaft und eine +ebenso unbezwingliche: das Meer, das Meer – sie liebt das Meer. Alle +russischen Meere hat sie befahren, sie ist auf dem Murman, auf dem +Eismeer geschwommen, wo der Wal lebt, und hat auch das Mittelmeer +gesehen. + +Und im Winter allein in ihrer schwülen Stube auf der Fontanka sitzend +denkt sie oft an das Weiße Meer, ihre Heimat, und an das warme Schwarze +Meer und an das smaragdgrüne Mittelmeer, und bei dem Gedanken an das +Meer wiederholt sie Paraschas einzige prophetische Worte: + +– Schiffe, Schiffe! – und sie kann es nicht verstehen und Tränen rollen +ihr wie Erbsen die Wangen herab. + +Nachts quälen Adonja Iwoilowna Träume. Sie träumt bunte Träume: sie +träumt von der Heimat, von den heimatlichen Flüssen, dem Onegafluß, dem +Dwinafluß, dem Pinegafluß, den Meshafluß, den Petschorafluß, vom +schweren Brokat altrussischer Gewänder, von weißen Perlen und rosa +Perlen aus Lappland, von Walfischen, Seerobben, Lappen, Samojeden, von +Märchen und alten Weisen, von langen Winternächten und von der +Mitternachtssonne, vom Kloster Ssolowski und vom Reigen. Sie träumt von +cholmogorischen ungehörnten Kühen, einer ganzen Herde; – und diese Kühe +haben menschliche Augen, sie schmiegen sich alle mit dem Rücken an sie, +dann tritt eine vor, reicht ihr einen Fuß wie eine Hand und sagt: +„Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen.“ Nach ihr tritt eine andre vor, +und so eine Kuh nach der anderen, jede reicht ihr einen Fuß wie die +Hand, und alle haben sie die gleiche Bitte: „Adonja Iwoilowna, lehre +mich sprechen!“ Sie träumt von Skorpio-Chamäleonen; – alle sind sie im +Frack, sitzen an den Wänden und wedeln mit den Schwänzen, die bald +smaragdgrün sind und bald purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Sie sehen sie +alle nur an, und bald sind alle Wände voll von Skorpio-Chamäleonen, +überall sind sie: auf den Heiligenbildern und hinter den +Heiligenbildern, und ein Schweif, wie aus tausend kleinen Schweifen +zusammengesetzt, winkt ihr zu und lockt sie, bald smaragdgrün und bald +purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Und manchmal träumt sie auch baren +Unsinn: als esse sie einen Käsekuchen, und so viel sie auch essen mag, +sie wird nicht satt und der Käsekuchen nimmt nicht ab. + +Jeden Tag deutet Akumowna die Träume, und abends beim Tee legt sie +Karten. Akumowna kann wahrsagen aus den Weidenkätzchen, aus den +Wagenkerzen und zur Winterzeit aus den Frostblumen auf den Fenstern; +doch am genauesten kann sie aus den Karten wahrsagen. + +Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger Regen. Aus den Dachrinnen +schlägt dumpf, wie ein Hund aufheulend, das Wasser auf die Steine. Die +belgische Bogenlampe leuchtet wie der Mond durch das Gewoge von Nebel +und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen Krankenhauses blinkt nur ein +Licht. + +Im äußersten Zimmer bei Adonja Iwoilowna singt der Samowar – er geht +nicht aus, er ist voll und kochend heiß, der Dampf wallt nur so – der +Sänger summt sein Lied. Der Samowar singt, daß man es durch alle Zimmer +hört. + +Akumowna ist nicht in der Küche. Akumowna ist mit den Karten bei Adonja +Iwoilowna. Akumowna legt Karten. Der Samowar ist im Erlöschen, sein +Gesumme ist leiser und Akumownas Stimme tönt dumpfer: + +– Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es endet. Wie es sich +beruhigt. Sagt die volle Wahrheit, reinen Herzens. Was kommt, wird auch +zutreffen. + +Es kommen aber lauter unreine, lauter unerfreuliche und dunkle Karten. + +Adonja Iwoilowna weint. Wie sollte sie auch nicht weinen! Ihren Mann +hatte man auf dem Smolensky-Kirchhof bestattet und sie wollte ihn doch +in der Newskaja Lawra haben: die Verwandten hatten darauf bestanden, +hatten nicht auf sie geachtet. Er war zu Allen gut gewesen, hatte viel +geholfen, aber sie liebten ihn nicht. Nur sie allein hatte ihn geliebt +und auf sie hatte man nicht gehört. Auf dem Kirchhof geht nun die Erde +unter ihm weg, die Erde bröckelt ab. + +Und wieder ertönt Akumownas Stimme, noch dumpfer. + +– Fürs Haus. Fürs Herz. Wie es endet. Was sein wird. Wie es sich +beruhigt. Sagt die volle Wahrheit reinen Herzens. Was sein wird, wird +auch zutreffen. + +Doch es kommen wieder dieselben Karten. Und wieder dieselben Träume; +Adonja Iwoilowna weint: nur sie allein hatte ihn geliebt, aber man hatte +nicht auf sie gehört, und jetzt geht die Erde unter ihm weg, die Erde +bröckelt ab. + +– Man darf niemand beschuldigen! – sagte Akumowna plötzlich. + +Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger Regen. Aus den Rinnen +schlägt das Wasser, wie ein Hund aufheulend auf die Steine. Die +belgische Bogenlampe leuchtet wie der Mond durch das Gewoge von Nebel +und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen Krankenhauses schimmert nur ein +einziges Lichtlein. + +Im äußersten Zimmer, in der schwülen Stube bei Adonja Iwoilowna brennen +drei ewige Oellämpchen. Adonja Iwoilowna betet lange. Auch in der Küche, +in der vom unverwüstlichen Sterletgeruch und vom Geruch getrockneter +Pilze gesättigten Küche, brennen drei Oellämpchen. Akumowna betet lange. + +– Schiffe, Schiffe! – ertönt des Nachts eine Stimme inmitten des +weinerlichen Schnarchens. + +Und am anderen Ende der Wohnung antwortet ihr dumpf eine andere: + +– Man kann niemand beschuldigen! – + +Und eine dritte Stimme, die durch die Wand aus dem Zimmer der Artisten +hereindringt, sagt: + +– Man muß alles von sich abschütteln. + +Marakulin fährt dabei auf, kauert sich zusammen, ganz verstummt und +bedrückt horcht er und wiederholt sich vergebens immer dasselbe; trotzig +wie er ist, kann er nicht mehr nicht denken, er kann nicht auf seine +Gedanken nicht hören, und der Friede flieht ihn. + +Die göttliche Akumowna ist laut ihrem Paß eine Jungfrau von +zweiunddreißig Jahren, aber laut ihren eigenen Versicherungen – es war +übrigens auch ohne ihre Versicherungen einleuchtend – war sie nicht +zweiunddreißig, sondern sicher fünfzig. Sie ist aus Pskow gebürtig oder +eine Pskowitanerin, wie die Artisten sie zu nennen pflegen, zu denen sie +ebenfalls manchmal hinläuft, um Karten zu legen; für Sergej +Alexandrowitsch wäre sie sogar bereit, den ganzen Tag Karten zu legen, +außerdem ist die Sklavin Kusjmowna, welche halb an eine Flunder, halb an +ein gefrorenes Huhn von der Sennaja erinnert, so etwas wie ihre +Gevatterin. + +Akumowna ist klein und schwarz, ihr Gesicht ist sehr dunkel, – ein +Käfer! Sie lächelt und blickt so eigentümlich, idiotisch, nicht +gradeaus, sondern von der Seite, mit etwas geneigtem Kopf. Sie ist sanft +und wird nie böse. Und flink ist sie, aber sie läuft nicht, sondern sie +dreht sich auf demselben Fleck herum und es sieht nur so aus, als liefe +sie. Und geschickt ist sie, man würde glauben, sie mache alles sofort; +wenn es aber vorkommt, daß man sie irgendwohin rasch schicken muß, dann +ist’s aus, dann kann man lange warten! Es ist ja auch die fünfte Etage +und ihre Beine sind schon alt. Das Hinunterlaufen geht noch, aber beim +Hinaufsteigen der Treppe – da bleibt sie stecken. Die Füße möchten schon +laufen, und Akumowna wäre froh, möglichst schnell zurück zu sein, aber +sie hat eben keine Kraft mehr, und sie dreht sich nur auf demselben +Fleck. + +Den Tag und die Nacht verbringt Akumowna ebenso wie Adonja Iwoilowna. +Sie träumt allerlei Träume: sie sieht Feuersbrünste – das Haus brennt ab +– und Räuber – die Räuber jagen und verfolgen sie – und einen nackten +Mann – der Nackte steht an einem Ufer und wäscht sich mit Seife – und +ein fleckiges Reptil – das Reptil beißt sie; – und Beeren ißt sie im +Traum – Preißelbeeren, die Büschel so groß wie ein Hammelschwanz. Aber +am häufigsten – sehr häufig fliegt sie im Traum: sie fliegt immer nach +einem und demselben Ort, zu Ostaschkow in Nils Einsiedelei, zum +ehrwürdigen Nilus Stolbenskij. + +– Ich mache einen Sprung und fliege – erzählt Akumowna, – ich steige auf +und greife aus mit den Händen, wie auf dem Wasser, und es wird mir so +leicht und ich fliege vorwärts wie ein Vogel. + +Schon vor langer Zeit hatte Akumowna ein Gelübde getan, zum ehrwürdigen +Nilus zu pilgern, und bis jetzt hat sie dieses Gelübde noch nicht +erfüllt; sie war noch nicht ein einziges Mal da, deshalb fliegt sie oft, +sehr oft zu Ostaschkow. + +Im Hof wird Akumowna geliebt: die göttliche Akumowna. Und immer treiben +sich Scharen von Kindern bei ihr in der Küche herum, sie versteht und +liebt es mit den Kindern zu spielen und zu scherzen. Sie besucht alle; +wenn sie Geld hat, gibt sie es – und man nimmt es von ihr, um es ihr nie +zurückzugeben – in allen Winkeln ist sie willkommen. Und nur eins +fürchtet sie: wenn auf dem Hof eine Schlägerei angeht. + +Sergej Alexandrowitsch Damaskin hat alle Gesetze ausstudiert, – er ist +ein Artist. Akumowna aber ist ein Mensch, der weiß, was im Jenseits +geschieht. So sagt man im Burkowschen Hof. + +Akumowna war schon im Jenseits, – sie war dort den Passionsweg gegangen. + +Dort in jener Welt wurde ihr alles gezeigt, nur weiß sie nicht, wer der +Mensch war, der sie geführt. + +– Ich trat in ein Gebäude – so erzählt Akumowna ihren Passionsweg, – in +einen Saal: der Fußboden war morsch, die Dielen eingefallen, die Erde +unter ihnen war Schutt und auf dem Boden lagen Fische, stinkende, +abscheuliche Fische verschiedener Art, Fleisch, Schädel; lauter +schlechtes Zeug lag da herum und bis auf die Knochen verweste Menschen – +einzelne menschliche Glieder, verweste Tiere, alles verfault und +abscheulich. + +Und sie wurde durch dieses Gemach geführt und es wurde ihr alles +gezeigt! Das Gemach war lang, unabsehbar, und breit, und dennoch war ihr +so eng. Vor ihnen waren Menschen, viele Menschen, hinter ihnen ebenfalls +viele Menschen, ringsum und überall gingen und standen Menschen. Und in +den Winkeln befanden sich Menschen, aber keine richtigen Menschen – das +nimmt sie so an; – auch solcher gab es viele. + +– Ich habe mich so gequält, ein Gebet gesprochen, sie antworteten aber +nicht – sie hatten Schwänze und Beine wie Kühe und Krallen wie Hunde. – +Laßt mich heraus! – flehte ich. + +Einer aber sagte: – Nein, sie muß noch etwas sehen! – Und darauf ein +andrer: – Warten wir, sie muß alles sehen, – und sie führten mich +weiter. + +Und sie führten sie durch das Gemach und zeigten ihr alles. Es lag da +nur Schlechtes und Vermodertes herum, lauter Aas, alles verwest und +abscheulich, tote Menschen, tote Tiere, Gebein, Schädel, Kehricht. + +– Wenn Gott mich wenigstens die heiligen Sakramente empfangen lassen +wollte! – dachte ich, – da könnte ich dieser Unzucht entrinnen. Und ich +wiederholte bei mir: – Herrgott, laß mich das Abendmahl nehmen, ich bin +schon zu Tode gequält! – Und da sehe ich, wir sind schon draußen. + +Draußen wurde sie auf einen Berg geführt, und auf dem Berg standen drei +Personen, alle in hellen Mänteln und die Gesichter mit etwas Hellem +verhüllt; sie nahmen das Abendmahl. Nur daß statt des Kelches ein +Spülnapf war und der Löffel fehlte; so nahmen sie das Abendmahl. Und +viel Volk war da, und alle traten hinzu, alle nahmen das Abendmahl. + +Und auch sie wurde hingeführt. Sie wollte sich bekreuzigen, aber es war +ihr schwer, als würde sie gehindert. + +Er selbst reicht mir eigenhändig die Oblate, aber nicht befeuchtet, +sondern trocken. Und ich kann ihre Hostie nicht hinunterschlucken, sie +bleibt mir im Halse stecken, ich ersticke fast. – Herrgott! Herrgott! +Euch Heilige und Engel Gottes bitte ich, genug schon mich zu quälen! – +Sie aber lachen. Der eine sagt: „Warte nur, wirst noch weiter gehen.“ +Und nach ihm der andre: „Ja, wir müssen sie noch weiter führen!“ – Sie +lachen – ihre Schwänze und Beine sind wie bei Kühen, die Krallen wie bei +Hunden. Und wieder beginnen sie mich zu führen. + +Sie führten sie den Berg hinunter zum See. An ihnen vorbei strömt das +Volk in großen Scharen, wie auf dem Newsky – sie eilen, überholen +einander, laufen, laufen und schleifen ihre langen Schwänze nach. Alle +laufen sie vom Berg zum See, und am See verwandeln sie sich in Tauben – +einer Riesenwolke gleicht diese Taubenschar. + +– Die Tauben ließen sich am Wasser nieder und begannen zu trinken, und +ich sagte: „Gehen wir auch hin?“ „Ja,“ wurde mir die Antwort, „wir gehen +auch hin.“ Einer aber sagte: „Nun ist es bald mit euch zu Ende.“ Schon +nähern wir uns immer mehr dem See. Ich räuspere mich, noch immer kann +ich die Hostie nicht herunterschlucken! Herrgott, bitte ich, genug schon +mich zu quälen. Um mich herum tummeln sich Kinder und ich stürze zu den +Kindern, ob sie mich nicht retten wollen: „Schütz mich doch, mein +Schutzengel, schützt mich doch, seid mir gnädig!“ Nun ist der ganze See +mit Tauben bedeckt, das Wasser ist trübe und schmutzig. Ich steige bis +an die Knie ins Wasser. „Jetzt ist dein Ende nah“ vernahm ich eine +Stimme, und der, welcher mich geführt hatte, war fort und verschwunden. + +So war Akumowna im Jenseits gewesen, so war ihr Passionsweg. + +Zum Glück hat sie ein gesundes Herz, über ihren Leib klagt Akumowna oft. +Denn sie hat nicht wenig Schweres erlebt – sie war gehörig unter der +Fuchtel. + +Akumownas Vater war wohlhabend und stand in gutem Ruf. Sie war noch +nicht zehn Jahre alt, da starb ihre Mutter. Sie hatte sieben Brüder, +alle älter als sie. Sie war ein gesundes Mädchen. Zwar hatte sie als +kleines Kind einen Unfall: sie schlief in der Hängewiege und die älteren +Geschwister wiegten sie, da rissen die Stricke, die Wiege flog auf die +Erde und mit ihr das Kind. Es schrie Tag und Nacht und ließ sich nicht +einmal mit der Brust beruhigen, dann wurde es besser und es erholte sich +ganz. Sie war ein kluges Kind. Vor dem Tode hatte ihr die Mutter fünfzig +Rubel übergeben, in Leinewand eingewickelt. Niemand wußte etwas vom +Gelde, nur der Vater allein. Und wenn der Vater es brauchte, da wickelte +sie so viel er benötigte aus der Leinwand heraus und gab es ihm. Später +gab er’s ihr wieder zurück, sie wickelte es wieder ein und verriet +niemand etwas davon. Auch ihre Schwägerin wußte nichts davon. Der Vater +lebte mit seiner Schwiegertochter. Die Schwiegertochter liebte sie +nicht. Beim Mittagessen nahm sie sie bei der Hand und zerrte sie vom +Tisch. Sie quälte das kleine Mädchen sehr. Der Vater lebte mit der +Schwiegertochter. Einmal kam ein Vetter; der Vater hatte längst +versprochen, ihm Geld zu leihen, jetzt war er gekommen, um es zu holen. +Aber der Vater wurde böse und wollte ihm keines geben. Wassilij aber +brauchte das Geld sehr, außerdem kränkte es ihn: warum hatte er es erst +versprochen! Er weinte und ging fort. Das Mädelchen hörte es – sie war +so gut und nicht glücklich – sie holte Wassilij ein und bot ihm von +ihrem Geld an, das in der Leinwand eingewickelt war, aber er sollte ihr +versprechen, es ihr bald zurückzugeben. Er war natürlich froh: „Möge +mein Haus verbrennen, mag ich meine Kinder nicht wiedersehen,“ schwor +er. Und sie gab ihm das Geld – genau so viel, Heller bei Heller, wie ihr +Vater ihm versprochen hatte. Aber als die Zeit kam, gab er’s ihr nicht +zurück. Er habe eben kein Geld, hieß es, sie müsse warten. Sie hätte +auch gewartet, auch war es ihr gar nicht um das Geld zu tun, aber was +sollte sie dem Vater sagen, wenn er danach fragte! Und grade mußte es +kommen, daß der Vater krank wurde: er hatte Bier getrunken, da wurden +seine Füße blau und es ging ihm schlecht. Das ganze Dorf wurde +zusammengerufen. Auch Wassilij kam, der Vetter. Alle setzten sich um ihn +herum und saßen. Da sagte der Vater zum Mädchen, sie solle die Leinwand +bringen, worin das Geld war. Sie erschrak, wußte nicht was zu sagen und +redete sich heraus: Sie habe den Schlüssel verloren. Verloren? – Schön. +Die Schwägerin nahm eine Axt, ging in den Speicher, brach den Koffer auf +und holte die Leinwand. Man zählte das Geld und es fehlten zwanzig +Rubel. Der Vater sagte zum Mädchen: – Wo ist das Geld? – Sie schwieg. +Und nochmals: Wo ist das Geld? – Sie aber schwieg wieder. Und als es +ganz schlimm mit ihm wurde, begann er die Kinder zu segnen. Er segnete +erst seine Söhne, ihre älteren Brüder, dann kam die Reihe an sie. Sie +fing an zu weinen und bat Wassilij leise, er möchte doch das vom Gelde +sagen – aber Wassilij der Räuber erwiderte: – Ich weiß von nichts, ich +habe dein Geld nicht genommen! – als hätte er in der Tat nie Geld von +ihr genommen. Sie weinte nicht mehr; – wenn es einem gar schlimm zumute +ist, da weint man nicht, sie sah nur den Vater an, sie sah ihn nur an. +Der Vater sagte zu ihr: – Ich segne dich – er hielt inne und überlegte: +– sei wie ein rollender Stein um die weite Welt! – dann knirschte er mit +den Zähnen und verschied. + +„Wie ein rollender Stein um die weite Welt!“ So lautete der Segen ihres +Vaters, den Akumowna empfing und der sie offenbar, wie Akumowna annahm, +zum Herumirren in der weiten Welt bestimmte. + +Sie hielt es darauf keine sechs Wochen mehr zu Hause aus, und lebte dann +in einem Gemüsegarten. Zu Lebzeiten des Vaters, ob es schlecht oder gut +ging, hieß es dulden; als aber der Vater starb, da ward die Schwägerin +grimmiger als eine Bestie, sie verfolgte sie und fraß sie auf. Am +sechsten Tag nach dem Froltage nahm die Herrin von Turij-Rog, Frau +Bujanowa die Akumowna zu sich aufs Gut, ins Haus. Das Bujanowsche Gut +Turij-Rog lag sechs Werst von Ssosna-Gora entfernt. + +Auf dem Gut hatte sie es sehr schön. Die Herrin Bujanowa gewann sie +lieb. Sie war nur ein wenig älter als Akumowna: Akumowna war damals +dreizehn, die Herrin sechzehn Jahre alt. Herr Bujanow selbst war nicht +mehr jung und hätte gut der Großvater der beiden sein können. Er reiste +oft in Geschäften in die Stadt und war auch zu Hause viel beschäftigt: +er besaß viel Land, viel Wald und See, – er war ein tüchtiger Wirt und +liebte sein Gut: der Hanf in Turij-Rog stand so dicht, daß ein Mensch +nicht durch konnte, und die Hühner weideten auf den Feldern wie Schafe! +Die Herrin aber war immer allein mit Akumowna, wie mit einem lieben +Schwesterchen. Sie nahm sie überall mit, ins Feld, in den Wald, in das +junge Gehölz, um Pilze und in den dunkeln Wald, um Beeren zu suchen. Im +dunkeln Wald, in den Lichtungen, in der Sonne da stehen die Beeren so +rot, daß es eine Freude ist, sie zu pflücken. Sie pflückten Nüsse, +sammelten Eicheln zum Kaffee, oder die Herrin legte sich unter eine +Kiefer und schickte Akumowna Blumen zu holen. Akumowna kehrte dann mit +Blumen zurück – mit vielen verschiedenen blauen Blumen – und wand einen +Kranz, die Herrin aber lag unter der Kiefer und weinte. Akumowna +schmückte sie mit den blauen Blumen – und küßte sie halbtot; – sie +selbst war schwarz, mit blanken, lustigen Augen, ein rotes Band im Zopf +– ein Käfer. + +So verbrachte Akumowna ein Jahr unzertrennlich von der Herrin: sie wurde +zu allem angeleitet, lernte Plätten und Waschen. Vor Mariä Schutz und +Fürbitte fuhr der Herr in die Stadt und wurde da krank. Dem Herrn +geschah dies oft: man behauptete, daß _sie_ ihn quälten: – der Wald hat +seinen Herrn und das Wasser seinen, die Wald- und Wasserbeherrscher. Der +Wald in Turij-Rog war früher dicht und undurchdringlich, ein Käfer +konnte kaum durchfliegen; Bujanow hatte den Wald gelichtet. Zu den Seen +konnte man früher nicht gelangen, er aber hatte Wege gebaut und die Seen +gereinigt. Ihnen aber ist so etwas nicht recht. Und von Zeit zu Zeit +kamen sie zu ihm und machten ihm Vorwürfe, daß er sie umgebracht hatte. +Dies eben war seine Krankheit. So sagten die Menschen. Man +benachrichtigte die Herrin in Turij-Rog, sie machte sich auf und fuhr zu +ihm. + +– Die gnädige Frau befahl mir, auf das Schönchen acht zu geben, – +erzählte Akumowna, – jede Nacht nach der Kuh zu sehen. Es gab da viele +Kühe, aber das Schönchen war ihre Lieblingskuh. Das Schönchen sollte +kalben. Damit fing’s an. Im Dorf war grade eine Hochzeit und ich bat um +Erlaubnis hinzugehen. Ich versprach um Zwölf heimzukommen, vergaffte +mich und kam erst um Zwei. Inzwischen hatte das Schönchen um Zwölf +gekalbt und das Kalb mit einem Fußtritt erschlagen. „Eins von uns bleibt +am Leben, entweder du oder ich!“ sagte der Aufseher des Viehhofs, – +entweder ich werde davongejagt oder er. Und so gehe ich zum jungen Herrn +– der Bruder der gnädigen Frau war bei uns damals Verwalter – und +fürchte mich hineinzugehen: ich versuche die Tür aufzumachen und laufe +zurück. „Was hast du, Käfer?“ Er hatte mich also kommen gehört. +„Verzeihen Sie, gnädiger Herr, verzeihen Sie, ein Unglück ist passiert!“ +„Komm her!“ Er ließ mich eintreten. Ich werfe mich auf die Knie, erzähle +ihm auf den Knien alles und weine. „Hinaus! Pack deine Sachen!“ Und jagt +mich hinaus. Ich ging zu mir aufs Zimmer – meine kleine Kammer lag +hinter dem Speisezimmer – und wußte gar nicht, was für Sachen zu packen, +denn ich hatte keine, ich weinte nur. Und so weinte ich die ganze Nacht. +Am nächsten Morgen kommt der Herr. „Hast du schon eingepackt?“ Ich fange +wieder an. „Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich bekenne meine Schuld!“ +„Schweig, wag es nicht zu weinen, – ruft er – sonst laß ich dich +aufhängen“ und ging fort. Ich denke mir, aufhängen läßt er mich doch +nicht, er will mir nur Angst machen, und dennoch fürchte ich, und mir +ist so bange. Es war Samstag, das Bad wurde geheizt. Ich scheuerte die +Schwitzbank, stellte Bier hin und wollte eben gehen, da kommt der +gnädige Herr. Ich will zur Tür hinaus. „Halt, hast du schon deine Sachen +gepackt?“ Ich wiederhole das meinige: „Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, +ich bekenne meine Schuld, jagen Sie mich nicht fort!“ – Er überlegt und +sagt zu mir: „Wenn du einwilligst mit mir zu leben, dann bleibe hier, +brauchst dann nicht fortzugehen!“ Und stieß mich hinaus. Ich wollte aber +nicht fortgehen, wollte nicht von meiner gnädigen Frau verstoßen werden, +und wohin sollte ich auch gehen? – wieder zum Bruder, zur Schwägerin? +Und so gehe ich herum und weine. Der Viehhofaufseher wiederholt aber +nur: „Eins von uns bleibt am Leben, du oder ich!“ Entweder er wird +fortgejagt oder ich. Wäre die gnädige Frau nur zu Hause gewesen, aber +sie kam immer noch nicht. Es wurde wieder Samstag. Wieder wurde das Bad +geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier hin und wollte mich +beeilen, vor dem gnädigen Herrn fortzugehen, mir war so bange, ich +fürchtete mich. Er trat aber schon ein. „Bist du nun einverstanden?“ – +„Ja.“ – Natürlich, ich war ein dummes Mädchen, hab’ nichts verstanden. +„Geh, zieh dich aus, ich will dich ansehen.“ Ich zog mich aus. Am +nächsten Tag fuhr der gnädige Herr in die Stadt – er hatte mich noch +nicht angerührt – und brachte mir ein seidenes Tuch und ein Band ins +Haar mit. Ich erzählte es der Kinderfrau, – eine alte, ganz alte +Kinderfrau war da im Hause. „Das macht nichts,“ sagte die Kinderfrau, +„verlange du aber fünfhundert Rubel auf ein Büchlein, zur +Sicherstellung!“ Ich konnte nicht verstehen, was für ein Büchlein sie +meinte. Ich war eben ein kleines dummes Mädchen und verstand nichts. Am +Abend ruft mich die Kinderfrau: „Wenn du dem gnädigen Herrn den Samowar +hineinbringst, dann geh nicht fort!“ Das Zimmer des gnädigen Herrn lag +neben dem Speisezimmer. Ich nahm das seidene Tuch um, flocht mir das +Band ins Haar, brachte den Samowar und setzte mich an den Tisch, – und +es schüttelte mich nur so. + +Die Schande und die Schmach! – Akumowna schämte sich sehr, sie wollte +sich erhängen: ihre Herrin war zurückgekehrt, ihre Herrin – und Akumowna +ging so herum. Die Herrin beruhigte sie, versprach ihr das Kind zu +erziehen, verzieh ihr das mit dem Schönchen und verwies sie nicht von +sich. Akumowna brachte einen Knaben zur Welt, bald darauf bekam auch die +Herrin einen Knaben. Die Kinder wurden zusammen erzogen, sie hatten eine +Kinderfrau, und wurden später auch gemeinsam unterrichtet. Mit neun +Jahren wurden beide nach Petersburg gebracht. Der Bruder der gnädigen +Frau adoptierte Akumownas Sohn. Sie kamen nur zu den Sommerferien, zu +Weihnachten und zu Ostern heim. Im gleichen Jahr beendigten sie beide +ihr Studium und wurden Offiziere. Da blieben sie kurze Zeit auf dem Gut +und fuhren bald nach Petersburg zurück. Als Akumownas Sohn klein war, da +war er sanft und zärtlich, später aber als er groß wurde, begann +Akumowna sich vor ihm zu fürchten: wenn er sie ansah, hätte sie sich +verkriechen mögen, sie hätte nicht gewagt ein Wort zu ihm zu sprechen. + +Die Zeit aber wartet nicht, die Zeit nimmt das ihrige! Der alte Herr +starb – _sie_ hatten ihn erwürgt: der Wald hat seinen Herrn und das +Wasser hat seinen Herrn, Wald- und Wasserherren, so sagt man. Und nach +dem Tod des alten Herrn stieß auch dem Bruder der Herrin ein Unglück zu: +an einem Kirchenfest ihres Sprengels wurden sieben Menschen auf der +Hauptstraße ermordet; man begann zu untersuchen und der Weg führte +gradeaus nach Turij-Rog in den Hof, und so wurde er wegen +Mitwisserschaft eingesperrt. Ein Jahr blieb er im Gefängnis, und als er +wieder frei wurde und sich zu einer Reise ins Ausland rüstete, starb er. +Akumowna hatte den gnädigen Herrn nicht gesehen, als er im Sterben lag, +sie hatte ihn nur gesehen, als er aus dem Gefängnis kam. Sie hätte ihn +nicht erkannt: er war schwarz, wie die Erde. Man sagte, seine Lungen +hätten sich abgelöst. + +Akumowna blieb wieder allein mit der Herrin zurück, wie einst. Sie +gingen wie einst wieder ins Feld und in den Wald. Akumowna sammelte +Blumen für ihre Herrin, allerlei blaue Blumen, und wand ihr einen Kranz; +die Herrin lag wieder unter einer Kiefer, nur weinte sie nicht mehr, sie +schlief; – sie trank jetzt, schon längst hatte sie sich ans Trinken +gewöhnt: sie nahm einen Schluck, aß eine Pfefferminzpastille dazu und +schlief ein. + +Der gnädige Herr, der Bruder der Herrin, starb im Frühling, und im +Herbst wurde Akumownas Sohn aus Petersburg nach Turij-Rog gebracht. Er +hatte gebeten, daß man ihn vor dem Tode nach Turij-Rog bringe: er war +schwindsüchtig. Er wurde auf dem Gut bestattet, auf dem Turij-Rogschen +Kirchhof. Seine Uniform und seine Mütze bekam Akumowna. Und das Jahr war +noch nicht um, da starb die Herrin. An ihrem Todestage sah sie im Traum +den alten Herrn mit einem weißen Hund kommen ... Und auch die Herrin +wurde bestattet. + +Turij-Rog war nun vereinsamt. Akumowna war allein auf dem Gut. Der junge +Herr wollte sie nicht mehr behalten und entließ sie nach der Beerdigung. +Und so war sie ganz allein. Sie weinte aber nicht, – wenn es einem gar +zu schlimm ist, dann weint man nicht. + +Zum letzten Mal ging sie ins Feld, in den dunkeln Wald und in das junge +Gehölz, saß zum letzten Male im Wald auf dem Abhang, wo die Sonne am +stärksten brennt und wo die Beeren so rot stehen, und unter der Kiefer, +wo ihre Herrin zu liegen pflegte, verneigte sich tief vor dem jungen +Wald, vor dem Feld – vor dem alten dunkeln Wald und vor der Kiefer, und +ging. Sie ging die Hauptstraße aus Turij-Rog an Ssosna-Gora vorbei, +vorbei am Bruder und an der Schwägerin, an Wassilijs Haus, am Kirchhof, +an den Grabkreuzen des Vaters und der Mutter, immer gradeaus von +Turij-Rog, immer gradeaus die Hauptstraße lang, wie ein rollender Stein +um die weite Welt. + +Und manches Jahr dehnte sich der Weg von Turij-Rog nach Petersburg. Bis +sie Petersburg erreichte, ging sie oft hinter dem Pflug und mit der +Sense, oder mußte wie eine Zigeunerin in den Hohlwegen herumlungern. + +Neun Jahre lebt nun Akumowna in Petersburg. Die Uniform und die Mütze +wurden ihr noch auf dem Weg von Turij-Rog nach Petersburg gestohlen, und +nur ein Andenken ist ihr geblieben: ein Paar warme Schuhe und ein Paar +Gummischuhe hängen mit Naphtalin bestreut in einem Karton an der Decke +ihrer Küche. + +– Ich sehe diese Sachen an, als wenn er es selbst wäre! – sagt Akumowna, +wenn sie an den Feiertagen den Karton öffnet. + +Neun Jahre wohnt nun Akumowna auf der Fontanka im Hinterhaus des +Burkowschen Hofes, Sommer und Winter, und weiter als auf die Sennaja +oder bis zum Fischteich ist sie noch nicht gekommen, und sie sehnt sich +nach freier Luft. + +– Wenigstens etwas Luft atmen! – sagt sie manchmal und lächelt und +blickt idiotisch von der Seite – die sanfte, göttliche, verwaiste, +unglückliche Akumowna. + + + + + Drittes Kapitel + + +Die Zimmer, die im Herbst leergestanden hatten, wurden zu Anfang des +Winters vermietet, und Marakulin hatte nun zwei neue Nachbarinnen: Wera +Nikolajewna Klikatschowa, Hörerin der Nadeschdinschen Kurse, und Wera +Iwanowna Wechorjowa, Schülerin der Theaterschule. + +Wera Nikolajewna war sehr mager, so mager, daß man Angst um sie bekommen +konnte, besonders nachdem sie die Nacht über den Büchern verbracht +hatte. Wie ein solcher Mensch bloß leben kann: nicht ein Blutstropfen +war in ihrem Gesicht, und ihre Augen waren jene verlorenen Augen des +herumschweifenden heiligen Rußland. + +Sie hatte mit ihrer Mutter in der Provinz gelebt, in der alten +Kreisstadt Kostrinsk. Sie hatten ein eignes Häuschen, das Häuschen aber +brannte ab, und sie verloren dabei alle ihre Habseligkeiten. Man hätte +sie retten können, wenigstens ein Teil konnte gerettet werden, aber die +Mutter, die alte Klikatschowa stellte sich mit dem Heiligenbild den +Flammen gegenüber und ließ nichts wegtragen, – alles verbrannte. Wenn +man dem Feuer erlaubt, alles aufzufressen, ohne sich zu widersetzen, +dann ersetzt es alles hundertfach, – so glaubte die Alte. Zwar hatte sie +vorher schon eine Erscheinung gehabt, ein Zeichen hatte ihr den Brand +verkündet: eine Woche früher hatte der Tisch und die Heiligenbilder +unheimlich geknistert, doch die Alte besann sich erst darauf, als alles +schon verbrannt war. Nach dem Brande wohnten sie in einem alten +Badehäuschen. Wera Nikolajewna absolvierte die Kostrinskische +Gemeindeschule und wäre in ihrem alten Badehäuschen sitzen geblieben, +wenn nicht eine Verbannte aus Petersburg hingekommen wäre, die sie zu +unterrichten begann und zur Aufnahme in die vierte Gymnasialklasse +vorbereitete. Wera Nikolajewna reiste in die Gouvernementstadt, machte +da das Examen und blieb dort drei Jahre in der Heilgehilfenschule am +Gouvernementkrankenhaus. Darauf ging sie nach Petersburg, wo sie jetzt +im Begriff war, die Nadeschdinschen Kurse zu absolvieren. + +Das Lernen fiel ihr nicht leicht, – bis zum Weinen schwer war ihr das +Lernen. Aber sie wollte es nicht aufgeben, sie war von einem +unheimlichen Fleiß. Nach Absolvierung der Nadeschdinschen Kurse +beabsichtigte sie, das Abiturientenexamen zu machen, um in das +medizinische Institut aufgenommen zu werden. + +Voller Sorgen, von den Lehrbüchern und von Arbeit erfüllt – sie mußte +als Masseuse ihren Lebensunterhalt verdienen – saß sie nie mit im Schoß +müßig gefaltenen Händen, und es war schwer, ein Wort aus ihr +herauszubringen; sie erzählte selten und war nicht gesprächig. Sie +erwähnte nur zuweilen ihre Mutter und jene Verbannte, Maria +Alexandrowna, die sie unterrichtet und in ihr die Lust zum Lernen +erweckt hatte, – nur von diesen beiden sprach sie. + +Wera Nikolajewnas Mutter, Lisaweta Iwanowna, lebte seit ihrer Kindheit +in dem kleinen, weißen, verlassenen, alten Städtchen mit den fünfzehn +weißen Kirchen. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Ufer des Flusses +Ustjuschina, – und in Beziehung auf das Trauergeläute der Glocken eine +erste Stadt, eine Klagestadt. Alte Leute können sich noch erinnern, wie +Lisaweta Iwanowna jung war, eine lustige Reigenführerin, +Märchenerzählerin und Sängerin uralter Weisen. Sie erinnern sich noch, +wie sie im Dom getraut wurde und wie der Priester, der doch Braut und +Bräutigam kannte, sich fortwährend irrte und die Namen verwechselte, und +wie Jutschicha, eine alte Waschfrau, dazu traurig den Kopf schüttelte, +weil sie in ihrer ahnenden Seele wußte, daß das junge Paar nicht lange +zusammenbleiben wird: ein Dritter stand zwischen ihnen unter dem +Baldachin. Die Alte wußte es, aber sie schwieg. + +Und diese Jutschicha war auch dabei, als Lisaweta Iwanownas Mann starb, +und dabei, als das Haus brannte. Sie war es auch, die ihr beigebracht +hatte, nichts hinauszutragen und alles dem Feuer zu überlassen. Und +nicht das allein bloß hatte sie sie gelehrt, sondern all ihr nicht +einfaches, ahnungsvolles Wissen. Denn Jutschicha wußte viel, ja, +vielleicht alles, was dem Menschen zugestanden ist. So sagte man in +Kostrinsk. Und sie stieg ruhig ins Grab, weil sie in der Welt einen +andern Menschen an ihrer Statt zurücklassen konnte. Lisaweta Iwanowna +würde für sie besonders zu Gott beten, weil ihr die Alte alles +überliefert und für sie mehr getan hatte, als Vater und Mutter tun +könnten, so viel, daß es wohl keinem Menschen gegeben ist, mehr zu tun. +So urteilte man in Kostrinsk. + +Zehn Jahre waren nach Jutschichas Tod und nach dem Brand des Hauses +vergangen. Noch immer im alten Badehäuschen lebend, träumte Lisaweta +Iwanowna davon, sich ein neues stattliches Haus zu bauen, ähnlich wie +das verbrannte. Jeden Sommer ließ sie Bauholz aus dem Wald in ihrem +Gemüsegarten aufstapeln. Sie war auch schon beim Vater Johann von +Kronstadt gewesen, um seinen Segen zu erbitten und brachte ihm ein altes +Heiligenbild im Stroganowschen Stil zum Geschenk, und er schenkte ihr +dagegen hundert Rubel für den Anfang. Wie oft schon hatte sie sich von +Verbannten einen Plan zeichnen lassen und ihn scharfsichtig genau +geprüft und untersucht: ob die Speisekammer oder die Rumpelkammer nicht +vergessen worden sei, ob auch alles genau so wäre, wie im alten +verbrannten Hause. Aber ein neues, stattliches baute sie doch nicht. Das +Bauholz verfaulte im Gemüsegarten, der Plan wurde sorgfältig in einem +Kästchen aufbewahrt und die hundert Rubel, das Geschenk des Priesters +hatten auf der Rückfahrt nicht einmal Moskau erreicht. Sie hatte nie in +ihrem Leben soviel Geld beisammen gehabt – ihr Mann war ein kleiner +Beamter in Kostrinsk gewesen und mußte mit Kopeken rechnen – und des +ehrwürdigen Vaters regenbogenfarbener Schein verflüchtigte sich im +Handumdrehen: sie brachte allerlei Nippes, Schächtelchen und Schachteln, +nötige und unnötige, zerbrochene und ganze, als Geschenke aus Kronstadt +mit, und jeder Gegenstand, jedes Schächtelchen hatte seine Bestimmung; +das größte Paket aber sollte seine Bestimmung nach näherer Erwägung +erhalten, und für diese „nähere Erwägung“ war fast ein halbes hundert +Rubel daraufgegangen. Wie sollte man da ein Haus bauen! + +Lisaweta Iwanowna ist gebückt, zahnlos, ihre schweren weißen Flechten +umwickeln den ganzen Kopf, und die blauen Augen sind noch heller +geworden und leuchten. Sie hat vieles in dieser Welt gesehen, obwohl die +ganze Welt für sie die kleine weiße verlassene alte Stadt mit den +fünfzehn weißen Kirchen war, und alle ihre Tage waren besungen vom +Trauergeläute. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina und dem +Trauergeläute der Glocken nach eine erste Stadt, eine Klagestadt. Viele +Menschen hat Lisaweta Iwanowna schon zu Grabe geleitet; sie besucht ihre +Gräber und am Ostersonntag trägt sie rote Eier hin, um den Toten den +Gruß: „Christ ist erstanden“ zu entbieten; denn es ist viel wichtiger, +den Toten diesen Gruß zu bringen als den Lebenden, so glaubte die Alte. +So lebte sie in ihrem Badehäuschen, wie in einem richtigen Haus dahin +und genoß den Anblick der Sonne, wenn sie hinter dem Kirchturm +unterging, und das Kreuz vergoldete, freute sich, wenn man zum erstenmal +Schlitten fuhr, oder wenn die Kinder im Frühjahr auf den Brettern sich +schaukelten, und wartete nur auf den Menschen, dem sie all das Wissen, +das ihr die alte Waschfrau Jutschicha überliefert hatte, weiter +überliefern könnte. Und der Mensch, dem sie es überliefern würde, wird +ebenso glücklich werden wie sie selbst; denn es gebe kein größeres Glück +als das ihre, – so dachte die Alte. Ihr Glück aber bestand darin, daß +sie durch ihr nicht einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob +eingebildetes oder tatsächliches Wissen erkannt hat, wie man leben muß. +Sie lebte nicht für sich und nicht für die anderen, und wenn sie etwas +tat, so dachte sie weder an sich noch an die Einwohner von Kostrinsk, +sondern sie bereitete sich fürs andere Leben vor, fürs Jenseits, und +dachte bei ihren Handlungen nur an das andre Leben und an das Jenseits; +deswegen war ihr selbst wohl, und deswegen tat sie den anderen wohl. + +Lisaweta Iwanowna war für Kostrinsk dasselbe, was irgendein Bruder im +Hafen für die arme Petersburger Bevölkerung. + +Da kam nach Kostrinsk eine Verbannte aus Petersburg, Maria Alexandrowna. +Um sich die Tage abzukürzen und auf irgendeine Weise die Zeit zu +vertreiben, die in der Unfreiheit sich so ausdehnende Zeit, begann sie +Wera Nikolajewna zu unterrichten. Wera Nikolajewna gefiel ihr, und sie +kam oft zu Klikatschows. Auch Lisaweta Iwanowna interessierte sie und +sie fragte die Alte aus, wie sie denkt, daß man leben und wofür man +leben müsse, wie man vergessen könnte, was nicht zu vergessen ist, und +was man tun müsse, daß man keine Angst hätte und nicht begehre, was man +nicht nehmen darf, – Alles das fragte sie die Alte. Und aus diesen +Fragen erkannte die Alte und ihr Herz flüsterte ihr zu, daß diese +Verbannte eben der Mensch war, dem sie ihr nicht einfaches ahnungsvolles +Wissen überliefern und ihn glücklich machen müßte. + +Ein Jahr lang lebte Maria Alexandrowna in Unfreiheit in dieser kleinen, +weißen, verlassenen, alten Stadt. Zu Ostern kam sie zu Klikatschows, um +am geweihten Mahl teilzunehmen; – zu Ostern aber ist für den Wissenden +alles besonders sichtbar und klar. Und so erblickte Lisaweta Iwanowna +bei ihrem Liebling, bei ihrer Auserwählten auf der Stirn zwischen den +Augenbrauen das Zeichen des Todes. Und sie wollte erst nicht glauben, +als sie dieses Geheimnis erkannte. Aber schon in der Osterwoche war +Maria Alexandrowna nicht mehr in Kostrinsk, sie war ganz spurlos +verschwunden. + +Vieles hatte Lisaweta Iwanowna gesehen: sie hatte ihren Mann begraben, +hatte auch viel fremden Kummer mit angesehen – wo gibt es ihn nicht! – +aber niemals hatte sie so viel geseufzt, wie damals, als der Morgen kam, +der Tag verstrich und es Abend wurde und Nacht, und ihre Auserwählte, +ihr Liebling, die dem Tod Geweihte verschwunden blieb. Sie, die +Glückliche, hatte dank ihrem nicht einfachen, ahnungsvollen, gleichviel +ob eingebildeten oder tatsächlichen Wissen erkannt, wie man leben muß, +aber sie hat die ihr bestimmte göttliche Tat nicht vollbracht, sie hat +ihr Wissen nicht überliefert, und wenn Maria Alexandrowna nicht +zurückkehrte, müßte sie als Unglückliche sterben. Und die Alte wartet; +ihr von schweren weißen Flechten umwundener Kopf wackelt, sie betet +leise, sanft und demütig, und über ihr läuten die Glocken ihr +Trauergeläute und besingen sie. Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß +Ustjuschina und dem Trauergeläut nach eine erste Stadt, eine Klagestadt. + +– Wohin ist denn Maria Alexandrowna verschwunden? – fragte einmal +Marakulin. + +Aber Wera Nikolajewna sagte nichts, nur ihre verlorenen Augen, die Augen +des herumschweifenden heiligen Rußland lohten auf wie zwei +Scheiterhaufen, und sie weinte nicht, sondern schrie die ganze Nacht, +als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die Schlinge sehr eng +zusammengezogen. + +Marakulin konnte diese Nacht auch nicht einschlafen. Er horchte, er +verstand, und es war ihm unheimlich zumute. + +– Dem Gorbatschow aber, – dachte er, – werden seine Nonnen und +Jungfrauen in schwarzen Kopftüchern bis in die Ewigkeit hinein „Christ +ist auferstanden“ zu Ostern singen. + +Dieser Gedanke wiederholte sich in ihm und zog durch ihn schleppend und +zäh und drückte sich in Worten aus. Als er aber erschöpft war, überkam +ihn eine Unruhe: er vergaß Gorbatschow, Maria Alexandrowna und Lisaweta +Iwanowna, nur eins wollte er erkennen: was man wegräumen müßte, um seine +Ruhe wiederzufinden. + +Da erinnerte er sich plötzlich an die Generalin Cholmogorowa, wie sie +satt und gesund, so zufrieden und sieghaft herumgeht, diese Laus, die +nichts zu bereuen hat und nur der Motion wegen herumgeht, wie sie mit +ihrem Klappstuhl auf der Fontanka herumspaziert oder auf dem +Sagorodny-Prospekt aus der Kirche zurückkommt, – und es war, als wenn +modriges Spinnweb sich ihr nachziehen würde, wie es in den Winkeln +ungelüfteter Rattenkammern hängt, oder zwischen dem Fußboden und +unverschiebbaren schweren Kästen, – dieses Spinnweb zieht sich ihr nach +und dringt einem gradezu in den Mund – es ist um sich ins Wasser zu +werfen! + +Schon lange hatte er das bemerkt, aber erst jetzt erkannte er es. Und er +überlegte die ganze Nacht bis zum Morgen ingrimmig, wie man die +Generalin möglichst geschickt beseitigen könnte, so daß nicht einmal +eine nasse Spur von ihr zurückbliebe; denn er konnte nicht leben, ohne +daß sie beseitigt wäre, es fehlte ihm die Luft zum Atmen, sie ließ ihn +nicht atmen mit ihrem modrigen Spinnweb. – Es läßt einen nicht frei +aufatmen, dachte er, man hat keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe. + +Hätte Marakulin im Moment der Verzweiflung die Generalin ermordet, und +wäre am Morgen vor Gericht gestellt worden, so hätte er zu seiner +Rechtfertigung sagen können, daß nicht er gemordet hat, sondern die +grausame Burkowsche Nacht. + +Und Wera Nikolajewna weinte nicht, sondern schrie die ganze Nacht bis +zum Morgen, als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die Schlinge +sehr eng zusammengezogen. + +Es waren jetzt grausame Nächte für Marakulin. Wo blieb seine +Bereitwilligkeit, alles zu ertragen, nur um zu sehen, nur um zu hören, +nur um zu fühlen? Immer derselbe Gedanke an die Generalin ging ihm nicht +aus dem Sinn, die unglückliche Generalin war ihm im Halse stecken +geblieben! – Ein verrückter Mensch und in seiner Verrücktheit +beharrlich. + +Als er einmal am Morgen in der Zeitung von einem Arzt las, der des +Giftmordes beschuldigt wurde, versteckte er die Zeitung unter sein +Kissen und las am Abend vor dem Einschlafen wieder die Stelle. + +– Wohltäter der Menschheit, Doktor – flüsterte er im Dunkeln, – du magst +wohl nicht eine Laus nur ins Jenseits befördert haben und vielleicht +wirst du ... noch jemand befördern! + +Und angesichts der allgemeinen Entrüstung der Zeitungen sprach er zu +sich ganz trunken: + +– Das sind Schwestern meiner Generalin, die für diese vom Doktor +vergiftete Laus so einmütig eintreten. + +Er stand mitten in der Nacht auf, zündete eine Kerze an, las nochmals +die Zeitung und versteckte sie unter dem Kopfkissen. Darauf legte er +sich wieder hin und flüsterte im Dunkeln und dachte bis zum Morgen. Und +er übertrug seine eigene Burkowsche Verzweiflung auf die ganze +Menschheit, deren Wohltäter vielleicht dieser giftmischerische Arzt +werden könnte, der eine Laus nach der anderen ins Jenseits befördert und +die Luft reinigt, damit man atmen kann: denn sonst hätte er keine Luft +zum Atmen, keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe. Ein verrückter +Mensch war er und in seiner Verrücktheit beharrlich. + +Eine Woche oder länger lebte Marakulin in einer Art Raserei und +erreichte, wie es ihm schien, den Punkt. Und als er den Punkt erreicht +hatte, fand er einen Schlupfweg, um wieder in die Welt zu gelangen, er +fand sein Recht in der Welt zu sein, welches seit dem Herbst schon +schwankte, oder richtiger, nicht bloß schwankte, sondern ihm abhanden +gekommen war, zusammen mit dem Schlaf, mit der Geduld, mit der Ruhe. + +Gorbatschow hatte, so dachte Marakulin, nach all seinen Umtrieben und +Klügeleien erkannt, wie er leben muß: er wollte seine Seele erlösen, und +deshalb räucherte er seine Winkel mit Weihrauch, alles übrige aber: ob +man die Kinder alle auf einen Strick aufhängen oder sie mit Bonbons in +rosa Papierchen füttern müßte – das betrachtete er als unwesentlich für +die Erlösung seiner Seele. Maria Alexandrowna hatte ebenfalls nach allen +ihren Fragen erkannt und begriffen, wie sie leben mußte: nicht daß sie +die Gefahr besonders liebte und ein Leben, neben dem der Tod einherging +– nein, sie wollte verderben, ihre Seele für andre hingeben, sie hatte +sich zum Opfer auserkoren für ein Gesetz und eine Wahrheit, von deren +Herrschaft das Glück der Menschen abhängt, und sie hatte gewiß getötet, +oder einen Totschlag vorbereitet, oder war bei irgendeinem Attentat +gegen eine Person, die ihrer Meinung nach dem Gesetz und dem Recht +schadete, behilflich gewesen. Lisaweta Iwanowna hat durch ihr nicht +einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes oder tatsächliches +Wissen erkannt und begriffen, wie sie leben muß: sie denkt weder an +sich, noch an die anderen, sondern sie denkt an das Jenseits und an das +jenseitige Leben, und indem sie sich für das Jenseits und für das +jenseitige Leben vorbereitet, handelt sie dementsprechend. Aber mit +Weihrauch räuchern und dabei sich gegen die Kinder wehren, ebenso wie +ein Attentat vorbereiten oder sich für das jenseitige Leben vorbereiten +– das alles ist Tat, Aktion, Arbeit, und setzt zu seiner Verwirklichung +eine Menge wichtiger Entschlüsse voraus. Vor allem muß man wissen, +gleichviel ob vor seinem Gewissen oder aus Verantwortung vor der +Vergangenheit und ihren Werken, muß man sich selbst antworten können, +daß man seine Seele erlösen, oder daß man seine Seele verderben soll – +oder daß man sich für das jenseitige Leben vorbereiten soll, und es sich +fest vornehmen im Namen eines Unwiderruflichen. Die Generalin dagegen +rührt keinen Finger, tut nichts – man kann doch das Besuchen des +Dampfbades nicht eine Tat nennen! – erreicht aber alles, und wie +glänzend! Der Erfolg ihrer Abhärtung ist handgreiflich und ganz +zweifellos, so daß ihrem Leben kein Ende abzusehen ist – der Chiromant +hat sich in diesem Falle nicht geirrt, und sie ist vielleicht schon +unsterblich. Dabei sucht sie weder ihre Seele zu erlösen, noch zu +verderben – denn verderben ist dasselbe wie erlösen – und sie gedeiht, +indem sie auf jede Erlösung verzichtet und nichts und niemand etwas +schuldet. Und hat Gorbatschow, welcher weiß, wie man leben muß, ein +Daseinsrecht, und haben Maria Alexandrowna und Lisaweta Iwanowna, die +ebenfalls wissen, wie man leben muß, ebenfalls ein Daseinsrecht, so hat +die Generalin, wie ein Kelch der Auserwähltheit, nicht nur ein einfaches +Recht, sondern ein königliches! + +– Und jetzt ist zu überlegen und sehr genau zu überlegen, – räsonierte +Marakulin, als er den springenden Punkt, wie ihm schien, erreichte, – um +einen entscheidenden Schluß zu ziehen, ein für allemal: wie würde die +Menschheit handeln, wenn, sagen wir, wenn alle Großmächte, ein Bündnis +aller Mächte der Welt, mit England an der Spitze, ihren Untertanen, der +ganzen Menschheit, durch die Parlamente und Reichstage in besonderen +Manifesten dieses sorgenlose Lauseleben, das sündenlose und unsterbliche +Leben der Generalin anbieten würden? – Gesetzt, so etwas wäre möglich, +sei es durch eine wirkliche Erfindung – wenn etwa der gelehrte Deutsche +Wittenstaube es mit Hilfe seiner Röntgenstrahlen herausgefunden hätte; +oder durch einen Betrug – oder wenn etwa einer unserer gewesenen +Gouverneure wie Burkow der Selbstvertilger – wie viele solcher Vertilger +gibt es in Rußland, die fanatisch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten +gegen sich selbst richten! – also, wenn so ein Burkow einen Trick +erfunden hätte, meinetwegen einen vorübergehenden Betrug, aber natürlich +so, daß alles glatt ginge; oder durch ein freches Wagnis, wenn etwa ein +lichtspendender, hochheiliger Starez Kabakow, nachdem er ein Grammophon +in seinen Keller eingemauert, sich durch eine Himmelsstimme der Welt als +Hirte und Richter offenbaren ließe – als der Erlöser von Murkas Erbsünde +– und ein neues, nicht von Menschenhand geschaffenes Zion aufgebaut +hätte, voll Frieden und Gnade, schnell, einfach und billig, – wie würde +sich die Menschheit dazu verhalten, wie würde sie darauf reagieren? Ich +denke – fuhr Marakulin fort zu räsonieren, als er mit Marakulinscher +Hartnäckigkeit bis zu seinem springenden Punkt vorgedrungen war – alle +Untertanen würden ohne alle überflüssigen Worte und Zeremonien, das Soll +und Nichtsoll und jeden Gedanken an Erlösung vergessend, ganz leise, +ohne die Hüte oder sonst den Rang bezeichnenden Kopfputz abzunehmen, die +Hosen ausziehen und auf den mutigen, freien, stolzen, heiligen Anruf, +sich bekreuzigend, in einen gigantischen mit Pferdehaaren bedeckten, +vielleicht bei uns in der belgischen Fabrik hergestellten Kopf, +hineinschlüpfen. Sie würden in dieses neue, nicht von Menschenhand +erschaffene Kabakowsche Zion voll Frieden und Gnade hineinstürzen, um +ein neues Lauseleben, ein schmerzloses, sündenloses, unsterbliches, und +vor allem ruhiges Leben anzufangen: ernähre dich, verdaue und härte dich +ab! Ein Klappstühlchen könnte man sich noch immer anschaffen; vielleicht +wäre es sogar möglich, unter diesen allgemeingültigen und deshalb +zwingenden, freiwillig angenommenen Bedingungen, da bei jedem am Hals +ein Kuhglöcklein läuten würde, damit man, sorglos weidend, nicht +verloren gehe, sich auch ohne Klappstühlchen auf der Fontanka Motion zu +machen, oder auf dem Sagorodny in die Kirche zu gehen. Und es ist +anzunehmen, daß jeder Vernünftige und Gute so handeln würde – denn wer +ist sein eigener Feind? – und er würde nach dem Gesetz richtig, weise +und menschlich handeln: denn in der Tat, wer hätte Lust sich zu quälen, +zu ersticken ohne Schlaf, ohne Geduld, ohne Ruhe! + +Als Marakulin einst in seiner Kindheit Gardist bei der Kavallerie werden +wollte, betete er, Gott möge ihm helfen, ein Gardekavallerist zu werden, +und als er Räuber werden wollte, betete er mit denselben Worten, nur daß +der Gardekavallerist durch den Räuber ersetzt wurde, und ebenso betete +er, als er Kalligraphielehrer zu werden wünschte. Das waren seine +Hauptgebete für sich in Moskau auf der Taganka, denn um ein gutes +Zeugnis hatte er nie gebetet. Später pflegte er beim gewohnheitsmäßigen +Beten, während er morgens beim Erwachen und nachts beim Einschlafen +„Gott sei mir gnädig“ aufsagte, von Gott nichts mehr zu verlangen. Dann +hatte er auch dies: „Gott sei mir gnädig“ vergessen. Jetzt aber, als er, +wie ihm schien, in seinen Betrachtungen bis zu jenem springenden Punkt +angelangt war und das königliche Recht entdeckt hatte und dieses +königliche Recht auf der Welt zu sein auch für sich begehrte, warf er +sich nachts inbrünstig auf die Erde und betete in der Raserei, die Stirn +gegen den Boden schlagend: + +– Herrgott! – flehte er – gewähre mir für einen Augenblick nur dieses +wahre Lauseleben, mach mich deiner Gnade teilhaftig, Herrgott, laß mich +nur für einen Augenblick aufatmen, dann mag dein Wille geschehen! + +Und hätte sich Marakulin in seiner Verzweiflung, während er mit der +Stirn gegen den Fußboden schlug, den Schädel gespalten, und man hätte +ihn am nächsten Morgen dafür zur Verantwortung gezogen, so hätte er, zur +Besinnung gekommen, nur eins zu seiner Rechtfertigung sagen können, daß +nicht er sich getötet, sondern die grausame Burkowsche Nacht. + +Hier muß noch gesagt werden, daß seine Geschäfte, die auch sonst nicht +besonders waren, zu Weihnachten überhaupt stillstanden. Er fand gar +keine Arbeit mehr; ein Entehrter findet sehr schwer Arbeit, besonders +wenn auf die Frage: „Womit beschäftigen Sie sich sonst?“ der wirkliche +Grund der Untätigkeit nicht verheimlicht wird. Marakulin verheimlichte +ihn auch nicht, und erzählte naiv wie ein zwölfjähriges Kind von seinen +Streichen, von seinen Quittungsbüchern und wie er wegen jener Quittung +herausgeflogen war. + +Seine Lage war schlimm. Die Artisten Damaskin halfen ihm aus, und ohne +Sergej Alexandrowitsch, Wassilij Alexandrowitsch und Wera Nikolajewna +wäre ihm nichts übrig geblieben, als eine Bittschrift zu verfassen, +gleich dem ruhelosen alten Gwosdjow, der damals an Murkas Tag bei ihm +erschienen war, am letzten Tag in seiner eigenen Wohnung. + +Und am Ende wird man sie doch verfassen müssen, denn das königliche +Recht, dieses nächtliche königliche Recht, wird einem offenbar nicht so +leicht gewährt, und wenn man keine Renten hat, die bis ans Lebensende +reichen, da ist es vielleicht besser, Gott gar nicht zu beunruhigen: man +erreicht ja doch nichts. + +Zu Weihnachten gab es bei den Artisten einen Weihnachtsbaum, und alle +Mieter Adonja Iwoilownas waren eingeladen. Es war da eine Menge Leute, +gewiß lauter Artisten. Sergej Alexandrowitsch war sehr geschäftig und +reichte den Gästen Aschenschalen, damit die Zigarettenstummel nicht auf +den Boden geworfen werden, und Wassilij Alexandrowitsch ging so aus sich +heraus, ließ solche Raketen steigen, daß alle vor Lachen beinahe +umkamen. Im Kartenspiel verloren die Brüder das Letzte. In der +Gesellschaft taute auch Wera Nikolajewna auf und sang ihre +Kostrinskischen uralten Weisen, wie sie sie von ihrer Mutter Lisaweta +Iwanowna gelernt hatte. + +Und seitdem, seit jenem Damaskinschen Weihnachtsabend, sang Wera +Nikolajewna an den Abenden der Weihnachtswoche allein in ihrem Zimmer, +zuweilen von den Lehrbüchern sich losreißend, mit halblauter Stimme vor +sich hin. Sie sang auf altertümliche Art, und in ihren Weisen atmete das +uralte Rußland. + +Gewöhnlich begann sie mit dem Gesang von den sieben wilden Stieren und +von ihrer Mutter, der Stierin; wie die sieben goldgehörnten wilden +Stiere am Gestade des blauen Meeres wanderten, wie sie über das blaue +Meer schwammen und auf der berühmten Insel Bujan landeten, wo sie ihrer +Mutter, der Stierin, begegneten. Und die Stiere erzählten ihr, wie sie +an Kiew vorbeikamen und an der Auferstehungskirche, und was sie da für +ein Wunder gesehen hatten: aus der Kirche kam eine Jungfrau, sie trug +auf dem Kopf ein goldnes Buch, trat bis zum Gürtel in den Newafluß, +legte das Buch auf einen weißen, heißen Stein, las im Buch und weinte. +Und die Stierin deutet den Stieren dies übergroße Wunder: die Jungfrau +war die Mutter Gottes und sie las ein goldnes Buch – das Evangelium, und +sie weinte, weil sie Ungemach über Kiew heraufkommen sah, Ungemach über +das ganze heilige Rußland. + +Und nach den Stieren erhob sich in seiner ganzen reckenhaften Größe der +Riese Ilja Muromez; wie der Recke am Grabe des Swjatogor den +reckenhaften Geist einatmet – den dritten, weißen Grabesschaum, – und es +treibt ihn und es hebt ihn, er weiß nicht, wo er mit seiner Kraft hin +soll. Dann folgte die Nachtschwalbe, die Aebtissin, die blonde Füchsin; +vierzig schwarze Jungfrauen folgen ihr wie die Dohlen, und schon donnert +und poltert der schreckliche Alte, Igrimistsche-Kologrenistsche. Er +tritt aus dem Bogoljubowschen Kloster aus, er will seine Seele retten, +sie ins Paradies bringen und schleppt in einem Sack weißen Kohl, +bitteren Rettich, rote Rüben – und ein schwarzlockiges Mägdelein. + +Und wieder schwimmen auf dem blauen Meere die goldgehörnten Stiere, +begegnen ihrer Mutter, der Stierin, und erzählen ihr das übergroße +Wunder. Die Stierin deutet ihnen das Wunder: die Jungfrau ist die Mutter +Gottes, und lesen tut sie ein goldenes Buch, das Evangelium, und sie +weint, weil sie ein Ungemach über Kiew ahnt, Ungemach über das ganze +heilige Rußland. + +Wera Nikolajewna sang auch die Räuberweise, von dem Scnurrbart, dem +Teufelskerl; sie sang von Gauklern und von lustigen Leuten ... + + Leise spielt, ihr Spielmänner, + Leise spielt, ihr Lustigen, + Mir tut der Kopf so weh, + Mir ist mein Herz so schwer ... + +In der Küche betet Akumowna vor den drei ewigen Lampen; sie betet für +ihre Herrin, für den Bruder der Herrin, für ihren eigenen Sohn. Im +hintersten Zimmer betet vor den drei ewigen Lampen Adonja Iwoilowna; sie +denkt an Paraschas Schiffe und weint, weil sie es nicht versteht. + +Mit Wera Nikolajewna schien etwas vorzugehen: sie sang viel und war +nicht mehr so fleißig. + +– Bei Gott, Sie sind in Sergej Alexandrowitsch verliebt –, sagte einmal +Werotschka Wechorjowa plötzlich in Wera Nikolajewnas Zimmer eintretend, +und sah sie schelmisch, herausfordernd und boshaft an. + +Und die sonst so Blasse flammte plötzlich auf und wurde still – kein +Wort. Und auch ihm wird sie kein Wort sagen, sie wird eher sterben, als +etwas sagen – es gibt Solche. Und darum klang in ihren alten Weisen, in +denen das uralte Russland atmete, eine so dumpfe beklommene Sehnsucht. + +Werotschka – so wurde vom ersten Tage an Wera Iwanowna Wechorjowa +genannt –, welche Akumowna auch die Unverschämte nannte, nicht etwa als +Schimpfwort, sondern als Kosename – Werotschka verbrachte selten einen +Abend zu Hause. Am Tage war sie in der Schule, dann kam sie für ein +Stündchen nach Hause und bald darauf lief sie irgendwohin, ins Theater. +Wenn sie nichts vorhatte, dann saß sie bei den Damaskins. Sergej +Alexandrowitsch unterrichtete sie in allerlei Tänzen. Sie war biegsam, +schlank und leicht, wie ein Federchen, und wenn beide miteinander +tanzten, so schien es, als hätten sie Flügel wie Vögel. Die Zeit verging +ihnen lustig. + +Einmal fand sie Marakulin beim Tanzen, und seitdem kam er öfters zu den +Nachbarn, und daß Werotschka dort war und tanzte, das tat ihm wohl. Wera +Nikolajewna aber kam seit Weihnachten nicht mehr zu Damaskins; sie fand +stets eine Ausrede und saß allein, in ihre Lehrbücher vertieft, oder +hatte Wache im Krankenhaus. + +Werotschka gefiel Marakulin. Sie tanzte schön und las gut vor – mit +einem schönen Organ. Im Süden geboren, war sie in Moskau erzogen worden, +und in ihrer Sprache war weder das lästige südliche Zwitschern, noch die +nordische Kälte – die gebändigte Freiheit, dafür aber Festigkeit und +jene besondere Moskauer Lieblichkeit. Nach dem Tanzen bat sie gewöhnlich +Sergej Alexandrowitsch, der Verse liebte, etwas vorzulesen. Und +Onjergins Brief: „Ich weiß voraus, beleidigen wird Sie des traurigen +Geheimnisses Erklärung ...“ mußte sie ihm einigemal wiederholen. + +Was Marakulin auffiel und ihn am Anfang von Werotschka abgestoßen hatte, +war ihr äußerst starkes Selbstgefühl, eine maßlose Selbstüberhebung und +Prahlerei, die marktschreierisch wirkte. Man mußte sich für sie schämen. +Und jeden Widerspruch faßte sie als Beleidigung auf. Sie konnte sich +dermaßen versteigen bis zu einer Höhe, wo alle Worte einander gleichen +und nur einen Sinn haben: – es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines +Hoffenden, sondern eine Herausforderung, ein unheimlicher Schrei nach +dem Recht, die himmlischen Scharen kurz und klein zu schlagen, wenn es +nur eine Himmelsleiter gäbe, wie es in der alten Weise heißt, – oder die +Erde auf den Kopf zu stellen, wenn man nur einen Griff zu fassen +kriegte! – Dabei hört ein so Verstiegener, ein so unheimlich nach seinem +Recht Schreiender ja niemals seinen eigenen Schrei. Und Werotschka tat +einem leid. + +Sie behauptete, sie sei eine große Schauspielerin, sie brauche bei +niemand zu lernen, vielmehr müßten alle bei ihr lernen. Und wenn sie +dennoch in diese dumme Schule eingetreten sei, so wäre es nur geschehen, +um sich den Weg zu bahnen. Ohne das komme man eben nicht vorwärts. Und +sie werde sich ihren Weg schon bahnen, sie werde ihren Schatz heben, +dann würden alle sehen ... + +– Und dann werden alle sehen – Werotschka zerriß sich fast vor Schreien, +– Vielen wird es leid tun, aber zu spät! – Und die Namen der +Berühmtheiten aufzählend, als wollte sie sie mit sich vergleichen, +lächelte Werotschka halb verächtlich, halb mitleidig, – Ihr werdet mich +noch sehen! – und ihre Augen flammten begeistert auf und loderten in +brennendem Haß, – ich werde zeigen, wer ich bin, der ganzen Welt, – +mögen sie dann sehen ... + +„Aber wer sind denn diese sie?“ fragte sich Marakulin nicht einmal, je +öfter er über Werotschka nachdachte. Werotschka erzählte gern von sich, +aber auf allerlei Art, und es war nicht herauszubringen, was daran echte +Wahrheit war und was bloß so Wahrheit. + +Ihr Vater war gestorben, als sie noch klein war. Er war Offizier. Aus +Wosnessensk im Chersonschen Gouvernement, wo sein Regiment stand, +übersiedelte die Mutter nach Moskau; hier wurde sie Haushälterin bei +einem alten General, einem Verwandten ihres Mannes. Werotschka wurde im +Institut erzogen, doch bevor sie es noch absolviert hatte, starb ihre +Mutter. Zum General pflegte ein reicher Fabrikant, Wakujew mit Namen, zu +kommen – ein nicht mehr junger, aber schöner gesunder Mann – wie man in +Moskau von ihm sagte. Er hatte einträgliche Geschäfte mit dem General. +Anissim Nikititsch begann Werotschka den Hof zu machen und gefiel ihr +auch. Und so kam es, daß Werotschka mit der Zustimmung des Generals zu +Wakujew zog. Wakujew besaß auf dem Arbat ein altes herrschaftliches +Einfamilienhaus. Seine Frau war tot, seine Kinder versorgt; nur drei +schon ziemlich bejahrte Fräulein, seine Nichten, die er nach dem Tode +seines ruinierten Bruders ins Haus genommen, führten ihm die Wirtschaft. +Ein Jahr blieb Werotschka bei Wakujew, und es ist anzunehmen, daß er +ihrer im Laufe dieses Jahres überdrüssig wurde; ferner ist anzunehmen, +daß ihr Leben auf dem Arbat nicht besonders heiter war. Anissim liebte, +wie sie selbst erzählte, Abwechslung, Zerstreuung, und es wurde ihm +alles nachgesehen. Anissim war es auch, der sie in Petersburg studieren +ließ und ihr fünfunddreißig Rubel monatlich schickte; von diesem Geld +lebte sie. + +„Ist es dieser Anissim und seine drei Nichten, die ihr so zugesetzt +haben, sind sie es, diese _sie_, die dann sehen werden?“ fragte sich +Marakulin nicht einmal, als er jetzt immer häufiger über Werotschka +nachdachte. + +Eines Tages, es war in der Theodorwoche, ganz am Anfang des Frühlings, +da kam Werotschka so lustig und aufgeräumt nach Hause, daß sie die +Hausgenossen beinahe überrannte. Selbst die sonst weinerliche und +unbewegliche Adonja Iwoilowna vergaß ihre Tränen, und begann mit noch +tränenfeuchten Augen herumzuwirtschaften, als wäre Werotschka ihre +Tochter, die jetzt so lustig und aufgeräumt heimgekommen. Akumowna +drehte sich ebenfalls flinker herum, als wäre es ein Feiertag, und sah +ihre „Unverschämte“ besonders zärtlich an. + +Der Tag war sonnig, der Frühling, die Wärme lockte, im belgischen Hof +schmolz der Schnee zusammen mit dem Steinkohlenberg dahin. Aus den vier +Ziegelschloten stieg gleichmäßig der Rauch in die Höhe, die Burkowschen +Fenster vermeidend, und der Burkowsche Hof war voll von Kindern; sogar +die Säuglinge waren mit ihren Ammen draußen. + +Anissim Nikititsch Wakujew war in eigener Person nach Petersburg +gekommen, und Werotschka war ihm auf dem Newsky begegnet – das war es: +daher die Freude und diese ungewöhnliche Ausgelassenheit. + +Diese Nacht schlief Werotschka nicht zu Hause. Und als sie am Morgen +wiederkam, machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer aufzuräumen. Wieviel +Erfindungsgeist zeigte sie dabei, sie, die sonst doch – ganz anders als +Wera Nikolajewna – so zerfahren und unordentlich war! Jetzt blies sie +jedes Stäubchen fort, legte Papier unter den wackelnden Tisch, damit er +fester stand und brachte die Haarnadeln in eine Schachtel unter. Und +wieviel Lauferei gab es und welche Geschäftigkeit entwickelte sie – +sogar einen Blumentopf hatte sie irgendwo erstanden, wie zu Pfingsten. +Sie erwartete einen Gast, Anissim Nikititsch Wakujew selbst. Und der Tag +war ebenfalls sonnig, es lockte der Frühling, die Wärme. + +Der Tag verstrich langsam, es kam der Abend, ein unruhiger Abend, und +als dann in der Wohnung die Klingel anschlug, da hielt die ganze +Wohnung, alle vier Zimmer und die Küche, den Atem an, und Marakulin +wollte sogar die Lampe auslöschen, aber die Lampe erlosch von selbst, +ohne zu fragen, als hätte sie ein krachender Donner, ein moskauischer +Donner getroffen. + +Es war ein Student, ein Techniker, der auf der Suche nach seinem +Bekannten an die falsche Tür geraten war. Und Akumowna hatte noch lange +mit ihm zu schaffen, da er sich auf keine Weise dabei beruhigen konnte, +daß es hier keinen Ljubimow gab und nie gegeben hatte. + +– Es kann nicht sein – sperrte sich wichtigtuerisch der Student, – das +ist Willkür! + +Der Student wurde mit Mühe und Not fortgeschickt; der betrunkene Student +verzog sich endlich wie Rauch, aber nun konnte man niemand mehr +erwarten. + +Werotschka ging in ihrem Zimmer auf und ab, unermüdlich und nicht wie +mit ihren eigenen Schritten. Ihre Schritte waren fest und krallig und +ihre „unverschämten“ Augen wie zwei scharfe Klingen. Es war einem +unheimlich. + +Vom sonnigen Frühlingstag aufgescheucht, ließ sich Adonja Iwoilowna beim +abendlichen Samowar von Akumowna über ihre sommerliche Pilgerfahrt +wahrsagen: es war schon Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen, der +Frühling war schon da. + +– Jedes Stengelchen verflicht sich mit einem Stengelchen – tönte +Akumownas gerührte Stimme, – jedes Zweiglein mit einem Zweiglein. + +Und Wera Nikolajewna, die mit ihren Arbeiten fertig war, sang leise ihre +geliebten alten Weisen, und in ihren Liedern atmete das uralte Rußland +und eine dumpfe beklommene Sehnsucht: + + Leise spielt, ihr Spielmänner, + Leise spielt, ihr Lustigen, + Mir ist mein Kopf so weh, + Mir ist mein Herz so schwer ... + +Und plötzlich wurde sie still. Kein Wort mehr. Sie wird auch ihm nichts +sagen, sie wird eher sterben als etwas sagen. + +– Jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, jedes Blättchen mit einem +Blättchen – tönte Akumownas gerührte Stimme, – der Frühling ist da. + +Und es wurde immer bedrückender. Denn Adonja Iwoilowna begann zu weinen, +und noch lauter als sonst; sie erinnerte sich gewiß an ihren Mann, und +daß die Erde an dem Friedhof unter ihm weggeht und von seinem Grabe +abbröckelt. + +Werotschka ging im Zimmer auf und ab, unermüdlich und nicht wie mit +ihren eignen Schritten. Ihre Schritte waren fest und krallig und ihre +„unverschämten“ Augen wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich. + +Doch der Sänger, der Samowar, erlosch, die Tränen waren ausgeweint und +die Schritte verstummt. Alles schlief im Haus und im Hof, die Hupen der +Automobile tönten nicht mehr von der Fontanka herüber, im Obuchowschen +Krankenhaus blinkte das Licht schon auf nächtliche Weise wie ein Stern, +und über den belgischen Ziegelschloten ging ein Stern an und sah in die +Fenster hinein, so ein großer Frühlings-Abendstern – die Stunde der +Nacht war da. Und Marakulin war es, als klopfte jemand – ein seltsames +Klopfen. Er horchte auf und erkannte: das Klopfen kam aus Werotschkas +Zimmer. Und nun verstand er, daß Werotschka allein in ihrem Zimmer nicht +eingeschlafen war und nicht einschlafen würde, und daß sie mit dem Kopf +gegen die Wand schlug, ohne Tränen, ohne Klage, mit weit aufgerissenen +trockenen Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann weint man nicht. + +Und all sein Gefühl, seine ganze Erbitterung, seine ganze Verzweiflung, +die für eine Weile sich gelegt hatte, loderte hell auf und ergoß sich +wieder auf seine auserkorene, verhaßte Generalin. Fiebernd wie im +widerlichsten Rausch und zähneknirschend malte er sich aus, wie diese +unglückselige Generalin, diese kerngesunde, unsterbliche, sündenlose, +kummerlose Laus – dieser Kelch der Auserwähltheit – süß schlafe. Und er +mußte es jemand sagen, einerlei wem, aber sofort, solange das Herz noch +nicht gesprungen war. + +Und fast erstickend sprang er ans Fenster und schrie aus Leibeskräften +hinaus: + +– Ihr rechtgläubigen Christen, die Laus schläft, so helft doch! + +Und als er es hinausgeschrien hatte, da fühlte er, wie seine einstige +ungewöhnliche Freude langsam in ihm hochsteigt, hinaufbrandet und bald +sein Herz überfluten und die Brust überfüllen werde. + +– Was brüllst du so? – schrie ihn eine knarrende Stimme an, und aus den +Winkeln zeigte sich Gorbatschows haarige Nase. + +Das Klopfen aber dauerte fort. Das war Werotschka, allein in ihrem +Zimmer – sie war nicht eingeschlafen und wird nicht einschlafen – sie +schlug mit dem Kopf gegen die Wand, ohne Tränen, ohne Klage, mit +weitaufgerissenen trockenen Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann +weint man nicht. + +Grausame Augenblicke, Herumtreiben ohne Arbeit und Erschöpfung +beschlossen das erste Burkowsche Jahr Marakulins. + +Als erste machte sich Adonja Iwoilowna auf die Reise: sie fuhr nach +Kaschin zu der ehrwürdigen Anna von Kaschin, und aus Kaschin auf den +Murman in das Petschenegische Kloster zum ehrwürdigen Tryphon. Nach +Adonja Iwoilowna verreiste Wera Nikolajewna, nachdem sie ihre Prüfungen +abgelegt, bis zum Herbst zu ihrer Mutter, in ihr kleines weißes +Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen, in die alte vergessene Stadt +Kostrinsk. Sie sah zum Umblasen schwach aus. Als letzte reiste +Werotschka. Sie hatte sich zu gar keiner Prüfung gemeldet und ihre +Theaterschule aufgegeben, da sie offenbar ein anderes sicheres Mittel +gefunden, „sich den Weg zu bahnen“, – sie sagte aber nicht was für eins. + +Sie sagte nur: + +– Im nächsten Jahr werdet ihr sehen, ich werde ganz Rußland zeigen, wer +ich bin! + +Marakulin brachte sie zum Nikolajewschen Bahnhof: Werotschka reiste über +Moskau irgendwohin nach der Krim. Nach dem ersten Glockenzeichen fühlte +er es besonders stark, wie bitter es ihm war, daß Werotschka nicht mehr +da sein wird und stand schweigend vor dem Wagen. Sie aber streckte sich +so sonderbar, indem sie die Vorübergehenden ungeduldig ansah und die +Blicke auf sich zog, schlank, biegsam und leicht. + +Plötzlich lächelte Marakulin zum erstenmal in seiner ganzen Burkowschen +Zeit, ohne zu wissen weshalb und warum, – er lächelte einfach. Und sie +mußte es sicher bemerkt haben, denn es war so ungewöhnlich und +unerwartet! + +– Weinen müßte man um mich! – sagte sie theatralisch und kniff die Augen +zusammen, halb mit Bedauern, halb mit Ekel, und während sie ihm mit dem +Schirm auf die Hand schlug, sagte sie ganz ernst, übertrieben ernst, mit +einer Falte auf der Stirn: – Ich bin eine große Schauspielerin! + +Er glaubte es damals gern und von ganzem Herzen, daß Werotschka eine +große Schauspielerin sei und daß sie sich im nächsten Jahr wirklich +auszeichnen würde in ganz Rußland und daß ihr Name bald in ganz Europa, +in der ganzen Welt berühmt sein werde. + +Als er vom Bahnhof zu sich nach der Fontanka kam und sich mit Akumowna +allein fand, da fühlte Marakulin, wie ihm das Leben jetzt zuwider war +und daß er nicht so leben konnte. + +Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzutun und in +der Welt er selbst zu sein, der andre muß töten, um durch den Mord seine +Seele aufzutun und wenigstens als er selbst zu sterben, er aber mußte +offenbar eine Quittung ausfertigen, aber nicht der Person, der sie +zukam, um seine Seele aufzutun und in der Welt zu sein, und zwar nicht +mehr als irgendein Marakulin, sondern als Peter Alexejewitsch Marakulin: +sehen, hören, fühlen. + +Aber er war nicht mehr damit einverstanden, weil er es nicht mehr +ertrug; er wollte nicht mehr so dahinleben ohne einen Zweck, nur um zu +sehen, zu hören und zu fühlen, – und auch das Leben einer Laus, das +unsterbliche, sündenlose, kummerlose Leben, das königliche Recht, jenen +Tropfen Wasser, den die sündige Seele im Jenseits sucht, wünschte er +nicht mehr. Er will leben und wird es, aber um nur noch einmal +wenigstens jene ungewöhnliche Freude zu fühlen, die er in seiner +Kindheit kannte und die er nicht mehr kennt, die nur das eine Mal in ihm +hochgestiegen war, in jener Frühlingsnacht, als Anissim zu Werotschka +nicht kam, in jener Frühlingsnacht, als jedes Stenglein sich mit einem +Stenglein verflocht, jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, jedes +Blättchen mit einem Blättchen. Und wie klebrige junge Blättchen waren +ihm in der Erinnerung die Frühlingsworte der von der Sonne gerührten +Akumowna. + +Und es war ihm so bitter, noch bitterer als an jenem Abend, weil +Werotschka nicht mehr da war; als wenn seine ganze ungewöhnliche Freude +– der Quell seines Lebens nur in ihr sich bergen würde. + + + + + Viertes Kapitel + + +Wera! Weruschka! Werotschka! + +Marakulin, der gerade damit beschäftigt war, eine lustige altertümliche +russische Erzählung in Halbfraktur abzuschreiben, eine Arbeit, über der +er vom Morgen bis in die Nacht hinein saß – ein seltener und +einträglicher Auftrag, der wie erfrischende paradiesische Manna auf ihn +herabgefallen war. – Marakulin fuhr auf, so daß er den Schnörkel am +Anfangsbuchstaben W nicht zu Ende brachte. + +Von der Treppe her aber tönte immer beharrlicher der bekannte Name: + +– Wera! Weruschka! Werotschka! + +– Wen rufen Sie da, Akumowna? + +Marakulin konnte es nicht aushalten und sah in die Küche hinein. + +– Wera! – sagte Akumowna, ohne sich umzuwenden, – ach, die Unverschämte! +– und sie stampfte die Treppe hinunter in den Hof. + +Es war spät – etwa elf Uhr. Schon verbreitete sich der windige +Sonnenuntergang staubig hinter dem Obuchowschen Krankenhaus, und +zusammen mit der kurzen Nacht krochen aus den sumpfigen Vorstädten die +Nebel herauf; aber auf dem mit Kehricht, Schutt und Ziegeln bedeckten +Hof lärmten noch immer die Kinder, und klagend klimperte die Balalaika – +von dieser nicht russischen, armseligen Habe gab es reichlich auf dem +Burkowschen Hof – und in den Fenstern, auf Kissen gestützt, steckten +zerzauste, von der steinernen Petersburger Glut zermarterte Köpfe, in +der Hoffnung, etwas Kühle zu schöpfen. + +Die Tusche vertrocknete auf der Feder, die Buchstaben wollten nicht +werden, und Marakulin schien es, daß Akumowna nicht wiederkommen, daß +sie mit ihrer geheimnisvollen Wera irgendwo im Burkowschen Schutt +untergehen würde. Und als in der Küche wieder Stampfen vernehmbar wurde, +und nicht Akumowna, sondern noch eine zweite Stimme, halb kindlich und +halb mädchenhaft rasch zu sprechen begann, bald in fröhliches Lachen, +bald in ein schmerzliches Klagen übergehend, da zog er wie erleichtert +wieder den Vorhang zu und begann weiterzuarbeiten. + +Die Abschrift war für Marakulin sehr wichtig, und er wollte sie +unbedingt heute fertigmachen, da er fast zwei Monate schon über ihr saß. +Diese seltene Arbeitsgelegenheit hatte ihm Sergej Alexandrowitsch vor +der Abreise in sein Sommergastspiel verschafft. Marakulin hatte ganze +fünfzig Rubel dafür zu bekommen und seine Verhältnisse sollten sich +dadurch ganz bedeutend verbessern. + +– Wer wohnt denn bei Ihnen in der Küche? – fragte Marakulin am nächsten +Abend, als Akumowna ihm den roten blitzenden Sänger, den Samowar +hereinbrachte. + +– Weruschka – antwortete Akumowna und lächelte und blickte so +eigentümlich idiotisch von der Seite, – Weruschka, die Wundertätige. + +Und die Spülschale brachte schon nicht Akumowna herein – sie blieb in +der Tür stehen –, sondern es brachte sie die „wundertätige“ Weruschka. + +Es war ein kleines Mädchen – ein Backfisch von fünfzehn Jahren, wie +ihrer so viele auf dem Burkowschen Hof als Kindermädchen dienen, und +doch schon völlig wie ein junges Mädchen entwickelt. Als er sie aber +aufmerksamer ansah, fand Marakulin in ihren Augen etwas ihm sehr +Bekanntes und ungewöhnlich Verwandtes, er konnte es nur nicht benennen +und vermochte sich nicht zu erinnern, wo er Derartiges schon gesehen: +ein Feuer, – nein, noch etwas anderes, das man auf keinen Fall verbergen +kann, denn es würde selbst beim Schlafenden unter den Lidern +hervorblinken. + +– Sie heißen Wera? + +– Werutschka ... Werotschka – antwortete das Kind verwirrt, leise und +mürrisch und trat zurück, als hätte es etwas verlegen gemacht. + +– Werotschka gar, so! – rief Marakulin entzückt, das Kind betrachtend +und erhob sich plötzlich. + +Doch das Mädchen zog sich hinter Akumowna in den Korridor zurück und +machte sich hörbar in der Küche zu schaffen. Oder war es sein Herz, das +so hörbar klopfte, Gott weiß warum? + +– Gnädiger Herr, ich möchte Sie bitten, gnädiger Herr, rühren Sie sie +nicht an! + +– Was fällt Ihnen ein, Akumowna, Gott schütze Sie! + +Aber wie ertappt ließ er sich auf seinen Stuhl fallen. + +– Ich fürchte Wassilij Alexandrowitsch – fuhr Akumowna fort, – mir ist +Angst, wenn er aus der Sommerfrische zurückkommt. Er muß ja immerzu eine +haben, der Unbezähmbare. Sobald es Nacht wird, kriechen auch die hier +auf der Treppe herum und kratzen an der Tür, die Herumtreiber! + +Nachdem sie es von der Straße aufgelesen hatte, behütete Akumowna das +kleine Mädchen eifersüchtig vor den Burkowschen Herumtreibern, vor +Stanislaus dem Kontoristen und vor Kasimir, dem Monteur; sie schloß oft +die Küche noch bei Tageslicht ab und bettete die Kleine +sicherheitshalber auf ihr eignes Bett unter den drei Oellämpchen. Und +wundertätig nannte sie Wera darum, weil ein Wunder an ihr geschehen war. + +– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna zu sagen, – bis zum +fünften Jahre war sie ohne Zunge, sie sprach nicht, man hat sie dem +Doktor Nikolai Franzewitsch gezeigt, vergebens; zu der Schmerzensreichen +hat die Mutter sie gebracht, auch wurde ihr geraten, barfuß zu +Matrionuschka zu pilgern – nichts hat genützt. Aber am dunkeln Freitag +gingen sie in die Pulverfabriken, – am Iljinischnen-Freitag ist da eine +Prozession, zwölf große Heiligenbilder werden da herumgetragen und fast +tausend kleinere. Als die Messe zu Ende war und sie nach Hause gehen +wollten, da verlangte das Kind plötzlich zu trinken: „Mama – sprach sie +– gib mir zu trinken!“ Seitdem spricht sie. + +Weras Vater war Buchhändler: er handelte mit Büchern, Haken, Knöpfen und +allerlei Kleinkram. Ihre kränkliche Mutter ging als Tagelöhnerin +Fußboden scheuern und reinmachen. Sie wohnten im Kusnetschnygäßchen, in +den „Winkeln“, wo der Chiromant wohnt – die Fenster dort sind von +venezianischer Art und unheimlich. Als Wera etwas größer wurde, gab man +sie zu einer Goldstickerin in die Lehre, ein Jahr blieb sie da, aber sie +taugte nicht dazu, da ihre Augen krank wurden; so wurde sie +Kindermädchen. Da passierte es, daß ihr Vater mit seinem Stand über den +Wladimirsky vor einem Schutzmann floh; an den fünf „Winkeln“ bei der +Kreuzung geriet er unter die Elektrische und wurde zermalmt. Zur +gleichen Zeit wurde Wera gekündigt. Es ging ihnen damals sehr schlecht. +Und so kam die Mutter auf den Gedanken, sie zum Onkel zu schicken, +welcher auf dem Murinsky-Prospekt in Lesnoj als Hausmeister lebte, +vielleicht, daß er für sie eine Stellung finden würde. Die Kleine ging +fort, erreichte Lesnoj erst am Abend, und unterwegs, während sie das +Haus suchte, blieb sie vor einem Gasthaus stehen, um die Musik zu hören. +Sie stand da und hörte zu, ihre Augen glühten, der Mund war weit +aufgesperrt, da kam aus dem Gasthaus ein Herr, der eine Gnädige +untergefaßt hielt und sah Wera sehr freundlich an. Er blieb ebenfalls +stehen und fragte sie freundlich aus. Sie erzählte ihm alles, auch wie +sie stehengeblieben war, um die Musik zu hören. Und sieh da, welch +glücklicher Zufall: die Herrschaften brauchten gerade gleich ein +Kindermädchen und ihre Bedingungen waren günstig. Wera war erfreut und +willigte ein. Sie nahmen eine Droschke und brachten sie zu sich nach +Hause – sie wohnten auch gar nicht weit. Welch ein glücklicher Zufall! – +Es war schon spät, es dämmerte, und als sie zu Hause anlangten, gingen +sie sofort zu Tisch und ließen auch Wera neben sich Platz nehmen. Und +als sie sich satt gegessen hatte, da führte sie der Herr in ein Zimmer, +das im Korridor gegenüber lag. Nachts kam er wieder. Sie wollte +schreien, aber er verschloß ihr den Mund mit den Händen. So fing es an. +Als Wera zu sich kam, war es bereits Tag. Sie trat aus dem Zimmer und +streifte im Korridor herum, um den gnädigen Herrn und die gnädige Frau +zu suchen und geriet in das Büfettzimmer: sie hatte also in einem +Gasthaus übernachtet. Sie fragte den Büfettier, wo der gnädige Herr und +die gnädige Frau seien? Der Büfettier lachte: es gäbe weder einen +gnädigen Herrn noch eine gnädige Frau; wenn sie aber gewillt sei, könne +sie auch bei ihm als Kindermädchen bleiben. Das war eine schlimme Lage! +Wenn sie nicht einwilligte, hatte sie Angst zur Mutter zurückzukehren, +doch wie, wenn der Büfettier, wie der Herr von gestern, ihr ebenfalls +den Mund mit den Fäusten stopfen würde! ... Das eine war schrecklich, +das andere war ebenfalls schrecklich, und ein drittes gab es nicht. So +blieb sie beim Büfettier als Kindermädchen. Es waren viele Kinder und +sie konnte kaum mit der Arbeit fertig werden. Es verging eine Woche. +Nach einer Woche aber, kaum, daß sie sich etwas eingelebt hatte, +quartierte sie der Büfettier in ein besonderes Zimmer ein, damit sie von +den Kindern getrennt schlafe – es waren eben viele Kinder – es würde +bequemer und ruhiger für sie sein. Und wieder begann es: erst der Wirt +selbst, der Büfettier, nach ihm der Reviervorsteher. Sobald die Nacht +kam, erschien jemand – man brachte ihr im Laufe der Nacht fünf Männer. +Man ließ sie nicht mehr aus dem Zimmer, die Kinder sah sie auch nicht +wieder; es war bereits ein neues Kindermädchen da. Sie weinte, aber was +half es, man lachte sie nur aus. Nur durch ein Wunder entkam sie aus +diesem Zimmer und dem Büfettier. Ein glücklicher Zufall kam ihr zu +Hilfe: ein Brand! Im Gasthaus war Feuer ausgebrochen. Sonst wäre sie +zugrunde gegangen. Im Trubel sprang sie aus ihrem Zimmerchen und begann +zu laufen. Sie kam an die Kusnetschnybrücke gelaufen, in die Winkel, wo +der Chiromant wohnt, die Mutter aber war nicht mehr da: sie war an der +Cholera gestorben. Das war eine schlimme Lage: es wäre ihr schließlich +nichts anderes übriggeblieben, als zum Büfettier ins Zimmerchen +zurückzukehren. Aber die Hausmeisterin hatte Mitleid mit ihr – sie +pflegte ebenso wie Antonina Ignatjewna, die Gattin des Oberhausmeisters, +in den Hafen von Kronstadt zum „Bruder“ zu pilgern – sie war barmherzig +und mit Antonina Ignatjewna bekannt. So schickte sie das Mädchen zu ihr +ins Burkowsche Haus, ob sich da für das Kind vielleicht eine Stellung +fände. Aber Wera geriet statt zu Antonina Ignatjewna zu Akumowna. + +– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna zu sagen, – nur eins ist +schrecklich – diese Herumtreiber; sobald es Nacht wird, da kriechen sie +herum und rütteln an der Tür, – es wird einem ganz Angst! – + +Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, eintönig. Es war heiß und fast +in ganz Petersburg waren die Straßen gesperrt: das Pflaster wurde +ausgebessert, wie immer im Sommer; es war nirgends ein Durchgang, +nirgends eine Durchfahrt, und es herrschte eine große Schwüle. + +Am Abend beim Samowar legte Akumowna Karten für Marakulin, wie sie es im +Winter für Adonja Iwoilowna tat. Sie wahrsagte viel und ausgiebig, nicht +nur für den Treffkönig oder Kreuzkönig, wie ihn Akumowna nannte und der +Marakulins Karte war, sondern auch für andere Könige und Damen – für die +Kreuz-, Coeur-, Karo- und Pik-Dame, als für alle die Personen, die ihm +in den Karten zulagen, um auch ihr Schicksal zu erfahren und dadurch +besser zu erforschen, wer sie seien und was sie vorhaben. + +Die Karten logen nicht. Das gleiche Orakel kehrte immer wieder und +brachte meist etwas unsinnig Bedeutungsloses: ein wenig Langweile, ein +wenig Geld, ein wenig Veränderung, ein wenig Tränen, Verdruß, eine junge +Person, ein eigenes Haus, ein eigener Gegenstand, ein vornehmer, +einflußreicher Herr mit einem Schriftstück, eine behördliche Anstalt, +Langweile der jungen Person, eine kleine Unannehmlichkeit, eigene +Sorgen, Gespräch mit sich selbst. Und das letzte war stets das Gespräch +mit sich selbst. + +Wenn Akumowna zum letztenmal die Karten ausbreitete, pflegte sie zu +flüstern: – Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es enden wird. +Womit es beruhigen wird. Womit überraschen. Sagt die ganze Wahrheit +reinen Herzens. Was sein muß, wird sich erfüllen. + +Und auch zum letztenmal kam das gleiche – dieselben Karten: unsinnig +bedeutungsloses Zeug und das Gespräch mit sich selbst. + +Die Karten logen nicht. Nur zuweilen wurden sie offenbar selbst der +Sache überdrüssig und ärgerten sich: dann waren sie bissig, zeigten +große Veränderungen an oder einen weiten Weg, viel Geld und Erfüllung +aller Wünsche. + +Beim Kartenlegen erinnerte sich Akumowna oft an ihre Herrin, an den +alten Herrn, an den Bruder der Herrin und an ihren eigenen Sohn, was für +Träume sie alle geträumt hatten, welche Ereignisse nach ihnen eintraten +und was jeder Traum bedeutete. + +– Unser Priester in Turij-Rog – er war ein guter Mann, ein großer Büßer, +der Vater Arsenij – erzählte Akumowna aus ihren Erinnerungen – vor +seinem Tode erhob er sich und fragte: „Sind die Pferde bereit!“ – Was +für Pferde, ehrwürdiger Vater? – „Ich habe ja eben ein Paar getraut, man +ladet mich zur Hochzeit ins Ausland!“ Und starb. – Sechs Tage, bevor der +alte Herr sterben mußte, sah meine gnädige Frau, daß sie einen Stiefel +vom Fuß verloren hatte. Und vor dem Tode der gnädigen Frau träumte ich, +ich sitze vor einem Ofen, den Ofen habe ich eingeheizt, das Holz brennt +hell, die Scheite verkohlen schon. Ich zerschnitt Speck, tat ihn in +einen Topf und stellte den Topf in den Ofen, aber kaum, daß ich ihn +hineinstelle, da zerfällt der Topf in zwei Hälften, die Glut prasselt +und ein Qualm erhebt sich ... Mein Vater gab mir keinen Segen. Und so +kam es auch! Wie ein rollender Stein um die weite Welt. + +– Wie geht es Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin? + +– Sie plagen sich auch, haben weder Wald noch Holz noch Weide. Und ihre +jüngere Tochter Fedossja, meine Nichte, ging nach Turij-Rog als +Taglöhnerin zur Feldarbeit; sie gefiel dem gnädigen Herrn, dem jungen +Bujanow, er ist ein toller Kerl. Er nahm sie für einen Monat zu sich in +Dienst. Als der Monat zu Ende war, behielt er sie noch für einen Monat, +dann für den ganzen Winter. Mein Bruder verstand wohl alles, sagte aber +zur Schwägerin nichts. Sie hatten keinen Wald, kein Holz, keine Weide; +vom gnädigen Herrn aber kam Holz und Geld, es war vorteilhaft. So +verlebte Fedossja dort den ganzen Winter. Im Frühjahr aber reiste der +gnädige Herr in die Stadt und verheiratete sich dort. Da kehrte Fedossja +wieder heim zum Vater, und alle wußten es bereits; es war auch schon zu +sehen. Ihre Brüder machten ihr Vorwürfe, daß sie so eine war, daß ihr so +etwas geschehen konnte. Wie die Raben haben sie auf sie eingehackt, sie +hielt es nicht aus; zehn Tage vor Pokrow starb sie. Sie war gerade +zwanzig Jahre alt geworden, – so jung noch. Und Wassilij, dem Vetter, +sind in der Butterwoche die Füße erfroren ... + +Während sie sich an Turij-Rog und Ssosna-Gora erinnerte, konnte Akumowna +ab und zu einen Ausspruch tun, von so echt Turij-Rogischer Art, daß man +sich wundern mußte, wie es ihr hier auf dem Burkowschen Hof in den Kopf +konnte. + +– Jetzt – konnte sie sagen – ist das Korn schon reif, gelobt sei Gott! – +sie bekreuzigte sich. – Regen wäre jetzt nicht gut. + +Wera gewöhnte sich an Marakulin und hatte keine Scheu mehr vor ihm. Auch +er hatte sich an sie gewöhnt, und es tat ihm wohl, wenn sie sein Zimmer +betrat. Voran schritt dann Akumowna mit dem Samowar und ihr folgte Wera +mit der Spülschale. + +„Aus der Spülschale reichen die Teufel im Jenseits den Teufeln und +Sündern das Abendmahl!“ Marakulin erinnerte sich einmal an Akumownas +Vision aus ihrem Passionsweg und lächelte zum erstenmal seit Werotschkas +Abreise. + +Und als hätte sie seine Gedanken erraten, erwiderte ihm Wera mit einem +Lächeln. Und noch lange sah er dieses halbkindliche, halbmädchenhafte +Lächeln vor sich. + +Wie leer erschien es ihm im Hause, als Wera, die eine Stellung gefunden, +aus Akumownas Küche in die vierte Etage desselben Burkowschen Hofes +verzogen war, in den Flügel, wie der nicht herrschaftliche an der +belgischen Fabrik belegene Teil des Hauses genannt wurde. + +Akumowna begann jetzt öfters fortzubleiben. Sie ging, um nach ihrer +„Wundertätigen“, nach ihrem Flämmchen, nach ihrer Wera zu sehen. Sie +lehrte sie gewiß Zimmer aufräumen, Feuer aus Birkenholz anmachen und +dergleichen mehr. Marakulin blieb allein, es schien ihm ganz öde. + +Ein Herr aus dem Flügel hatte folgende Gewohnheit: sobald es Abend +wurde, steckte er seinen Kopf aus dem Fenster, das Gesicht zu Marakulin +gewandt und pfiff. Daß der Herr kein Auge von ihm wandte – Marakulin +hatte sich überzeugt, daß es ihm galt, – und daß das Pfeifen nicht +aufhörte, brachte ihn zur Raserei, und ob er wollte oder nicht, er mußte +den Vorhang zuziehen und in der Schwüle sitzen bleiben. + +Es war öde um ihn und die Wut machte ihn fast ersticken. + +Am Morgen beim Zeitungslesen suchte er mit einer Art Ungeduld alle +Berichte über Morde, Brande, Katastrophen, Ueberschwemmungen, +Wolkenbrüche und Erdbeben und las sie mit großer Schadenfreude, indem er +sich einbildete, man könne den Menschen mit Furcht besiegen, ihn +erschüttern, sein Gehirn und seine Seele umstülpen; dann würde +vielleicht dieses abendliche selbstzufriedene, freche Pfeifen an seinem +Ohr ein Ende nehmen. + +In Weras neuer Stellung ging aber nicht alles glatt: es war doch wohl +nicht leicht, sie vor den Herumtreibern zu schützen; auch mochte sie +selbst schwer zu bewachen sein, die Unverschämte. + +Wenn sie das Kartenlegen unterbrach und von Wera anfing, sagte Akumowna +jedesmal unter Tränen: + +– Ich werde zum Kaiser gehen – die Hände so, wie im Sterben, – und werde +alles erzählen. + +– Man wird Sie nicht zulassen. + +Nackt geh’ ich hin, splitternackt – die Hände so, wie im Sterben. – +Alles werde ich erzählen. + +– Auch splitternackt wird man Sie nicht zulassen. + +Aber sie blieb dabei: sie glaubte, der Kaiser würde sie in Schutz nehmen +und die Kleine nicht zugrunde gehen lassen. Beharrlich blieb sie dabei, +dann wurde sie auf einmal still und gab nach. Und Marakulin hörte, wie +sie ihren Wahlspruch, ihr Sterbegebet flüsterte: – die Sühne und den +Lohn für alle Taten! + +– Man darf niemand beschuldigen. + +– Wer ist aber schuldig, Akumowna? + +– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß nichts – antwortete Akumowna +und lächelte und sah idiotisch zur Seite. + +Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, eintönig. + +Marakulin wartete auf die Feiertage: wie immer sie waren, es waren doch +Feiertage! + + * * * * * + +Als erster kam Wassilij Alexandrowitsch, der Clown zurück. Er trat zwar +auch im Sommer in Petersburg auf, wohnte aber in der Sommerfrische in +Schuwalowo und kam in die Stadtwohnung nur ab und zu, um nachzusehen. +Auch die Sklavin Kusjmowna war bei ihm in Schuwalowo. Nach Wassilij +Alexandrowitsch erschien nach absolvierter Gastspielreise Sergej +Alexandrowitsch und brachte aus den warmen Ländern, oder aus jenen +Gegenden, wo man mit Ochsen fährt, wie Akumowna sagte, hundert Gläschen +mit Honig mit; – er war eben ein wirtschaftlicher Mensch. Bald nach +Sergej Alexandrowitsch kam auch Wera Nikolajewna zurück, mit +eingemachten nordischen Himbeeren aus ihrem kleinen weißen verlassenen +Städtchen mit den fünfzehn weißen Kirchen, von ihrer Mutter aus +Kostrinsk. Nach Wera Nikolajewna erschien Adonja Iwoilowna selbst. + +Alle waren zurückgekehrt, nur Werotschka fehlte. Es kamen auch keine +Nachrichten von ihr. Und bereits im September wurde Werotschkas Zimmer +mit Hilfe eines grünen Zettels, der beim Portier Nikanor ausgehängt war, +vermietet. + +Die neue Nachbarin Marakulins hieß Anna Stepanowna Schianowa, nach ihrem +Manne Lestschowa genannt, und war eine Lehrerin aus Purchowez. + +Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf +Nachtigallengesang eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. Es waren in +Purchowez im Mädchengymnasium, wo Anna Stepanowna unterrichtet hatte, +zwei Lehrer, zwei Berühmtheiten: der Lehrer für Geschichte: Rakow, und +der für Literatur: Lestschow. Sie waren Freunde und beide – nach ihrer +eigenen Definition – Menschen von Bestrebungen. Das Schicksal Anna +Stepanownas war mit dem Schicksal Lestschows eng verbunden; Lestschow +aber und Rakow waren wie zwei Hälften und nach der Uebereinstimmung von +Gemüt und Gesinnung – ein Ganzes. Nur war Rakow etwas älter. Sie wohnten +beide bei derselben Wirtin, sie lebten eingeschränkt, nüchtern, einsam. +Ihre Wirtin Pawlina Polikarpowna, obschon nicht mehr sechzehnjährig, so +doch munter und fest, hatte in längst verflossenen Zeiten als Köchin +beim Gouvernementsrat Gerassimow gedient; und Gerassimow hatte sie vor +seinem Tode „in allem eingeschränkt“, wie Pawlina Polikarpowna sich +auszudrücken pflegte, das heißt: er hatte sie versorgt und ihr für ihren +musterhaften Dienst ein teures Lotterielos geschenkt. Pawlina +Polikarpowna kaufte sich ein Häuschen und lebte vom Vermieten. + +Als Rakow von diesem Gerassimowschen Lotterielos erfuhr, konnte er es +als gewissenhafter Historiker nicht unterlassen, dessen Nummer in sein +Notizbuch einzutragen und verfolgte wachsam die Ziehungen in den +Zeitungen. Pawlina Polikarpowna behandelte er respektvoll, streng und +freundlich. Und so vergingen die Jahre, still, einsam und +erwartungsvoll. + +Pawlina Polikarpowna war zwar nicht mehr sechzehnjährig, doch hatte sie +manchmal ihre bestimmten Gedanken, und zuweilen weinte sie, einfach so, +ohne jeden Grund. Besonders im Frühling, wenn die Sonne zu brennen +begann, die Hühner zu legen anfingen, die Gärten ergrünten und die +Nächte warm, schwül und sehnsuchtsweckend waren, wenn die Nachtigall +schlug und selbst Rakow auf der Gitarre wie auf einer Harfe spielte und +dazu wie eine Nachtigall sang: „Auf den blauen Wogen des Ozeans, kaum +daß die Sterne am Himmel erglühen, treibt ein einsames Schifflein“ – +dann konnte kein Herz es länger ertragen, und Pawlina Polikarpownas Herz +sank dahin. + +Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf +Nachtigallengesang eine erste Stadt, eine Nachtigallstadt! + +Eines Morgens, als Rakow die „Purchowezschen Gouvernementsnachrichten“ +durchflog, begann er plötzlich laut zu lachen, so laut, wie ein Mensch +nur vor Freude lachen kann, wenn ihm zumute ist, als reiche die eigne +Kehle nicht aus. Und wie sollte er auch nicht lachen? Das Gerassimowsche +Los hatte gewonnen, und zwar keine Kleinigkeit, sondern die ganzen +Zweimalhunderttausend! Er besann sich aber rechtzeitig, steckte die +Zeitung in die Tasche, hustete absichtlich laut und begab sich mit dem +Geheimnis von Pawlinas Glück ins Gymnasium, als wäre nichts vorgefallen. + +Nachdem er mit Mühe seine Stunden gegeben hatte, wurde Rakow vor +Aufregung noch am selben Abend krank, und Pawlina Polikarpowna mußte die +ganze Nacht den Kranken pflegen. Am nächsten Morgen ging es ihm auch +nicht besser, und so die ganze Woche. Eine Woche lang pflegte ihn +Pawlina Polikarpowna, und um Fastnacht hielten sie Hochzeit. Sofort nach +der Trauung, als die Neuvermählten allein blieben, lautete die erste +indiskrete, aber durchaus berechtigte Frage des jungen Ehemannes: „Wo +ist das Los?“ – „Was für ein Los?“ – „Was für eins? Das Gerassimowsche!“ +Das Gerassimowsche Los aber war längst verkauft; es war nicht mehr da. + +Um Fastnacht, fast am gleichen Tage, heiratete auch Lestschow Anna +Stepanowna Schianowa. Die Schianows waren einst die reichsten Leute in +Purchowez, aber Anna Stepanownas Vater hatte das ganze Vermögen +verspielt, und so mußte die Familie nach großer Ueppigkeit in Armut +weiterleben. Dann starb der Vater, es starb auch die Mutter. Anna +Stepanowna war bereits mehr als zwanzig Jahre alt, und obwohl in ihrem +Gesicht nichts Abstoßendes war, nichts, was man häßlich oder entstellend +nennen konnte, im Gegenteil, – so gefiel sie dennoch niemand besonders +und wurde überhaupt nicht begehrt. Sie gehörte nicht zu den +Heiratskandidatinnen von Purchowez, hielt sich auch selbst nicht dafür, +und hatte sich bereits damit abgefunden, allein und ledig zu bleiben, +oder vielmehr, sie hatte sich nicht damit abgefunden, – man kann sich +damit nicht abfinden, – sondern sie redete sich das eben ein. Eines +schönen Tages aber fiel ihr die Erbschaft von einer Tante zu, von der +sie nie etwas gehört hatte, und zwar eine nicht geringe Erbschaft: etwa +Fünfzigtausend. Natürlich wurde es im Gymnasium, an dem sie +unterrichtete, bald bekannt, – war sie doch selbst die erste, die es +erzählte, – und so erfuhr es auch Lestschow. Sofort ging er ans Werk: er +begann, Anna Stepanownas Spuren zu folgen, wurde mit einem Male sehr +unglücklich, beklagte sich, jammerte, erfand allerlei Verfolgungen +seiner Person, ersann sich Feinde; auf einmal brachen auch sämtliche +Krankheiten bei ihm aus, und lauter unheilbare, so daß er im Begriff +war, Selbstmord zu begehen. Und die verzweifelte Liebe sang aus ihm wie +eine Nachtigall, ja, er übertraf die Nachtigall ... + +Purchowez ist eine uralte Stadt am Fluß Smugra, und in Beziehung auf +Nachtigallengesang eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. So heiratete +Lestschow Anna Stepanowna, nahm ihr die Erbschaft der Tante ab, die +ganzen Fünfzigtausend und wies ihr die Tür: „Ich brauche dich nicht,“ +sagte er, „ich brauche dein Geld.“ + +Wera Nikolajewna mußte man bedauern; um Werotschka hatte man Angst, aber +Anna Stepanowna tat einem weh. Sie lächelte so, daß es in die Seele +hinein weh tat. + +Wera Nikolajewna wollte studieren. Warum? Weil es ihr Maria Alexandrowna +so geraten hatte, an die sie glaubte wie an die Iwerskaja Mutter +Gottes[6]. Und sie wird studieren, solange ihre Kräfte reichen, und +eines Tages wird sie vielleicht über der Physik von Krajewitsch[7] die +Seele aushauchen. + +Werotschka wollte eine große Schauspielerin werden, berühmt in ganz +Rußland, in ganz Europa, in der ganzen Welt – und sie wollte das, um +sich an Anissim zu rächen: nur damit Anissim Nikititsch Wakujew, dem +alles gelingt und dem man alles durchgehen läßt, nur einen Augenblick +lang es bedauern und bereuen solle, daß er sie um andere, die ihn +liebten oder sich ihm verkauften, verlassen hatte. Und so bahnte sie +sich jetzt den Weg mit ihrem sicheren, erprobten Mittel, und wird sich +ihn weiterbahnen, solange ihre Kräfte reichen. + +Was aber wollte Anna Stepanowna? Sie war allein geblieben und ohne +Mittel, aber das war es nicht: sie hatte ja auch früher allein und ohne +Geld gelebt. Hier war es etwas anderes, etwas Seelisches: sie hatte mit +der ganzen Seele geglaubt, daß man sie liebte und hatte wieder geliebt. +Was wollte sie nun? Was konnte sie wollen! Das, was ein Mensch will, +dessen Seele beschmutzt, dessen Seele vergewaltigt worden ist. + +Und während Marakulin Anna Stepanowna näher betrachtete, überzeugte er +sich immer mehr, daß sie auf der Welt nichts zu tun hatte. Und weil sie +so lächelte, tat es ihm weh bis in die Seele hinein. + +Es begann ein böser Herbst; es ging ihnen allen schlecht. Nach dem +Kirchenfest der Kreuzeserhöhung geschah es, daß Wassilij +Alexandrowitsch, der Clown, als er im Zirkus auf dem Trapez in der Luft +sich schwang, herabstürzte und verunglückte; er verletzte sich – wie man +auf dem Burkowschen Hof sagte – die Wirbelsäule und den „Stamm der +Beine“. Es stand um ihn nach diesem Sturz aus den Lüften so schlecht, +daß er sogar einen Priester holen ließ, um die heiligen Sakramente zu +empfangen. Der Arzt aber meinte, er würde sechs Monate liegen und sich +einer schweren Operation unterziehen müssen. + +– Sie werden ihm von der Ferse ein Stück abschneiden und das Fleisch +öffnen – bedauerte Akumowna, – sie werden den Knochen mit einem Bohrer +wegbohren, beide Fersen abschneiden. Hätte er aber einen Aufguß von +Pferdemist getrunken, so wäre alles fort, wie mit der Hand ... + +Marakulin hatte seit jenem Glückszufall im Sommer keine Arbeit mehr +gefunden. An allen Orten und Anstalten, an die er sich wandte, wurde +höchstens seine Adresse notiert, und bekanntlich hat man nichts mehr zu +erwarten, wenn die Adresse notiert wird. Um diese Zeit fand gerade in +Petersburg eine Hundezählung statt. Eine Woche lang ging er auf den +Burkowschen und belgischen Höfen herum, zählte die Hunde und lernte +dabei einen Studenten Lichowidow kennen, der, so wie er, Hundezähler +war. Der Student Lichowidow, ebenfalls ein Mensch in den letzten Zügen, +verstand es jedoch schließlich, sich noch irgendwelche Hundearbeiten zu +verschaffen, und auch für Marakulin fiel dabei etwas ab. Es begann ihm +schon etwas besser zu gehen, da mußte Lichowidow ein kleines Malheur +passieren: er arbeitete damals in irgendeinem Bureau und trat eines +späten Abends nach seinem Dienst auf die Straße, als ihm sein +Vorgesetzter, der Bureauchef – gut angezogen, im Pelz, mit einem +kostbaren Kragen – entgegenkam. „Was meinen Sie, Herr Lichowidow, was +wäre jetzt besser, Tee oder Kaffee zu trinken?“ Lichowidow aber hatte +seit dem Morgen nichts gegessen, er war hungrig wie ein Hund, auch hatte +ihn gerade der Petersburger Wind angeblasen, seine Zähne klapperten nur +so. Er sah den Chef an, als überlegte er, was jetzt besser wäre, Tee +oder Kaffee zu trinken und haute ihm eine in die Fresse. Seitdem war +Lichowidow verschwunden, und Marakulins Mühle stand still. + +Dem guten Jäger läuft das Wild in’s Garn. Nach langem Suchen fand Anna +Stepanowna eine Anstellung in einem Privatgymnasium. Es war ein +Mustergymnasium und seine Vorsteherin Lednjowa war eine Frau von +Bestrebungen. Sie verstand die große Kunst, zu wirtschaften, ohne einen +Heller aus eigener Tasche auszugeben, und sie tat es sehr einfach und +gleichzeitig ziemlich verzwickt: sie verschleierte ihre Manipulationen +mit einem echten Petersburger Nebel. Man sagte, sie bezahle die Lehrer +aus geheimnisvollen Equipierungsgeldern, die ihr gar nicht gehörten, und +daß die Lehrer im Lednjowschen Gymnasium jedes Jahr wechselten. Rakow +und Lestschow waren, was Bestrebungen betrifft, im Vergleich mit der +Lednjowa die reinen Waisenknaben, so wie der schönste Gardesoldat in +Beziehung auf Köchinnen gegen Kasimir den Monteur und Stanislaus den +Kontoristen gar nicht in Betracht kommt. + +Zwei Monate bekam Anna Stepanowna keinen Gehalt: die Zahlung wurde unter +allerlei Vorwänden hinausgeschoben. Erst im dritten Monat wurde er ihr +ausgezahlt, aber selbstverständlich nicht als gewöhnlicher Gehalt, +sondern als eine Anleihe aus eben jenen geheimnisvollen +Equipierungsgeldern. Als sie das Geld bekam, lud sie Marakulin und Wera +Nikolajewna zum Besuch des Marijinschen Theaters ein, zu einer +Opernvorstellung. Die Billetts kosteten nicht wenig, dafür waren es gute +Plätze; es war alles gut zu sehen und zu hören. + +An diesem Abend begegnete Marakulin im Theater Werotschka. Wie oft hatte +er im Sommer und im Herbst an sie gedacht und im Meldeamt nach ihrer +Adresse geforscht – immer wieder aber hieß es: verreist. Jetzt traf er +sie. Im ersten Augenblick erschrak er, dann verwandelte sich sein +Schreck in Unruhe: Werotschka war nicht allein; mit Werotschka ging +Glotow, der Kassierer, Alexander Iwanowitsch, Marakulins ehemaliger +Freund. + +Werotschka hatte sich gar nicht verändert. Verändern sich denn die +Menschen überhaupt? Werotschka erkannte ihn gleich, Glotow aber nicht, +oder er tat so, absichtlich, aus wohlerwogenen und unwiderleglichen +Gründen. + +– Das ist aber eine Ueberraschung, denn wir haben dich längst begraben, +weißt du, Petruscha! – sagte er. + +Und als Werotschka erfuhr, daß Wera Nikolajewna ebenfalls im Theater +sei, ging sie sie aufsuchen und kam nicht wieder. + +Glotow führte Marakulin ins Theaterrestaurant. + +– Woher kennst du sie? – fragte Glotow seinen Freund. + +– Wir haben einen Winter lang bei derselben Wirtin gewohnt – erwiderte +Marakulin. + +– Du kennst sie also gut? + +– Wie man es nimmt. + +Und plötzlich verwandelte die Wut ihre Gesichter. Sie verstanden +einander nur zu gut. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Aber es war +peinlich, so auseinanderzugehen, und auch das Schweigen war peinlich. + +Glotow schlug vor, etwas zu trinken. Marakulin dankte. Und so traten sie +aus dem Restaurant, gingen Schulter an Schulter nebeneinander und +suchten Werotschka. Marakulin schwieg. Glotow aber wiederholte mit einer +Art Vergnügen und als hätte er es einstudiert, immer dasselbe: + +– Das ist aber eine Ueberraschung! Denn wir haben dich ja längst +begraben, Petruscha, weißt du! + +Marakulin traf Werotschka auch in der nächsten Pause nicht: sie hatte +Wera Nikolajewna versprochen, sie noch zu treffen und kam nicht. Er sah +sie an dem Abend nicht wieder. + +Nach dem Theater ging Marakulin mit Wera Nikolajewna und mit Anna +Stepanowna in ein Café auf dem Newsky. + +Die Begegnung mit Werotschka und mit Glotow, und daß er sie zusammen +getroffen, das Theater, das Café, alles wühlte Marakulin auf, und was +dort im Theaterrestaurant verborgen in ihm brodelte, als er neben Glotow +stand, sammelte sich jetzt zu brennender Verzweiflung. Und gemartert +fühlte er: wenn jetzt dieser Glotow, sein Bruder oder sein Verwandter, +einer, der Werotschka kennt und den auch Werotschka gut kennt, aufstehen +und ihm, Marakulin, eine herunterhauen würde, wie der Student Lichowidow +dem Bureauchef, so würde er, Marakulin, ihm zum Dank dafür die Füße +küssen und ihm noch seinen Nacken hinhalten, daß er nach Herzenslust +dreinhaue, oder ihm die Zähne einschlage, daß die Kiefer knacken. Und in +seinem grausamen Martyrium das ganze Brennen des freiwillig auf sich +genommenen Schmerzes fühlend, erinnerte er sich an seine geliebte, +verhaßte, unglückselige Generalin, und es verging ihm die Lust an seinem +Leid – er wollte keine Ohrfeigen, keine Faustschläge, keine Fußtritte, +weder von diesem gestutzten Schnurrbart, der so selbstgefällig mit +diesem andern widerlichen Glattgesicht plauderte, noch von jenem roten, +nach oben gekräuselten Schnurrbart, der auch vielleicht Werotschka kennt +und den Werotschka sehr gut kennt. Nein, in seiner Verzweiflung dachte +er jetzt, wie gut es wäre, die Generalin mit kochendem Wasser zu +übergießen, sie ein wenig nur zu verbrühen. Mit welcher Wut würde sie +sich auf alle stürzen und beißen, – alle zerbeißen! + +– Warum heißt Werotschka nicht mehr Wechorjowa, sondern Rogowa? + +– Weil sie keine Generalin ist – antwortete Marakulin. + +– Was für eine Generalin? + +Wera Nikolajewna verstand nichts und sah bald ihn, bald Anna Stepanowna +an, welche lächelte und deren Lächeln bis in die Seele hinein weh tat. + +Marakulin hätte jetzt aufstehen und der einen die Augen ausstechen mögen +– diese verlorenen Augen des vagabundierenden heiligen Rußland, des +verschüchterten, freiwillig bettelnden, von Armut, wie von einem +geweihten Gürtel umgürteten, alles ertragenden, demütigen, geduldigen +Rußland, das sich nicht einmal einen Sarg zusammenzuzimmern vermag, +höchstens einen Scheiterhaufen zusammenbringen und sich darauf +verbrennen! Die andre aber hätte er ersticken mögen, damit sie aufhörte +zu lächeln, damit es dieses Lächeln nicht mehr gäbe, aus dem mit frecher +Schamlosigkeit eine beschmutzte, vergewaltigte Seele jedem in die Augen +sticht: sie braucht nicht zu leben, sie hat hier nichts zu tun, es ist +kein Platz für sie auf der Erde! + +Oder war für ihn selbst kein Platz mehr auf der Erde? + +– Und was meinen Sie, Wera Nikolajewna? – fragte er. + +– Werotschka gab mir ihre Adresse und bat mich, nicht nach Wechorjowa, +sondern nach Rogowa zu fragen – antwortete Wera Nikolajewna. + +Marakulin schloß die Augen. Er empfand plötzlich eine äußerste Müdigkeit +und Erschöpfung, eine so vollkommene Gleichgültigkeit, daß er sich nicht +gerührt und nicht einmal sich umgesehen haben würde, wenn das Café in +Brand geraten oder die Decke herabgestürzt wäre. + +Als Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna bemerkten, wie verstimmt er +war, wollten sie ihn nicht beunruhigen, und um seiner Seele nicht lästig +zu sein, unterhielten sie sich leise miteinander. + +Wera Nikolajewna erzählte von einer Krankenschwester: + +– Man brachte ins Krankenhaus ein Kindchen: es war verbrüht. Um die +Operation zu machen, brauchte man Haut, und wo sollte man sie hernehmen? +Vom Kindchen selbst? – das hätte es nicht ausgehalten, es war zu +schwach. So bot sich die Schwester dazu an, und man schnitt ihr so viel +Haut aus, als man brauchte. + +– Und wie ist es verlaufen? + +– Gott sei Dank, beide leben. + +Anna Stepanowna bekreuzigte sich lächelnd: + +– Gott sei Dank! + +Marakulin erhob sich, und sie gingen nach der Fontanka zurück. + + * * * * * + +Werotschka bewohnte eine kleine möblierte Wohnung an der Mojka, die sie +nur mit ihrer Wirtin teilte. Die Zimmer waren mit allerlei Sofachen und +Tischchen vollgepfropft und mit Sächelchen angefüllt, wie sie wohl auch +das Ehepaar Oschurkow in seinen zehn Zimmern haben mochte. Die +kanariengelbe Farbe war in der Wohnung vorherrschend: gelbe Kissen, +gelbe Wandschirme, – alles hier war gelb. + +Marakulin, der Werotschka endlich gefunden hatte, begriff schon im +Vorzimmer, daß Werotschka hier nicht aus eigener Wahl wohnte, sondern +daß sie in diese möblierte gelbe Wohnung von jemand einquartiert worden +war. + +Er fand sie zu Hause und freute sich sehr über sein Glück: sie war +allein, sie kamen einfach und leicht ins Gespräch. Wie immer, redete sie +erst äußerst herausfordernd, und ihre Erzählung war von solcher Art, daß +man aus ihr nicht klug werden konnte, ob es echte Wahrheit war oder bloß +so eine Wahrheit. Sie habe ihren Namen geändert, weil sie jetzt beim +Theater sei; sie sei bei einer kleinen Bühne engagiert, in einem +Petersburger Café chantant. + +– Ich tanze dort – erzählte sie – kommen Sie einmal hin, um mich zu +sehen. + +Doch abgesehen vom Theater und vom Tanzen stand es mit ihr so, daß +Anissim Wakujew ihr kein Geld mehr schickte. Statt seiner war jetzt ein +vornehmer alter Herr ihr Gönner. Er hatte ihr diese Wohnung gemietet und +seinetwegen hatte sie den Familiennamen geändert, – oder richtiger: sie +mußte einen andern Familiennamen annehmen. Warjaginskij war eine +einflußreiche Persönlichkeit und verkehrte bei Hofe. + +– Er ist ein ganz altes Kerlchen. Mit dem linken Auge sieht er immer +eine Maus; wenn er es zukneift, dann verschwindet die Maus, macht er es +aber auf, dann ist die Maus wieder da, ein graues, ganz kleines +Mäuschen. + +Anissim schicke ihr längst kein Geld mehr, sie aber brauche Geld. Sie +müsse es soweit bringen, daß der alte Warjaginskij auf ihren Namen ein +Kapital deponiere, dann ... + +– Dann werde ich zeigen, wer ich bin – der ganzen Welt, – dann sollen +sie sehen! + +Ja, sie werde sich schon erweisen, ihr Name werde in ganz Rußland +berühmt sein, in ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie habe ihren Weg +durch den Scheiterhaufen gewählt; denn auf dem gewöhnlichen Wege gelange +man nirgends hin; man komme auf andre Weise nicht vorwärts; ohne Geld +lasse man einen nirgends hin; man werde zerrieben, und wäre man der +Teufel selbst! Man müsse lügen können und Geld haben – Lügen und Geld +haben, das sei notwendig. Sie hätte ja auch versucht, auf die +gewöhnliche Weise durchzukommen – sie kenne es gut! Sie könne ja +schließlich nicht Waschfrau werden – oder sollte sie in der Tat +Waschfrau werden? Sie sei durchaus nicht damit einverstanden, im +Kusnetschnygäßchen zusammen mit dem Chiromanten oder in den +Gorbatschowschen „Winkeln“ zu wohnen. Wenn der Alte aber erst ein +Kapital auf ihren Namen deponiert und sie viel Geld haben würde, dann +... ja dann ... + +– Für Geld kann man alles kaufen! – schrie Werotschka mit ihrem +unheimlichen Schrei. Es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden, +sondern eine Herausforderung, ein Schrei nach dem Recht, die ganzen +himmlischen Heerscharen kurz und klein zu schlagen, wäre nur eine Leiter +bei der Hand – wie es in einer alten Weise heißt – oder die Erde aus den +Angeln zu heben, bekäme man nur einen Griff zu fassen! – Es war eine +Herausforderung, ein Schrei der Verzweiflung auf ihrem Weg durch den +Scheiterhaufen. + +– Ich bin eine Dirne und bleibe eine Dirne. Aber im nächsten Jahre werde +ich mich zeigen. Sie werden mich dann sehen. Jawohl, auch Wera +Nikolajewna würde kein Geld ausschlagen, und auch diese Ihre Andre, mit +dem kläglichen Lächeln, würde es annehmen! Es gibt ihnen bloß niemand +etwas, mir aber gibt jeder, ich verstehe zu lügen und werde mein Ziel +erreichen! + +Sie begann hastig ihre Toiletten zu zeigen, riß alle Schubfächer auf und +öffnete den Kleiderschrank; Kleider und Wäschestücke flogen haufenweise +zu Marakulin hin, und ein bunter Berg von Seide und Spitzen türmte sich +zwischen den gelben Sofas, wie der schwarze Berg auf dem belgischen Hof. + +– Und alles das ist mein – schrie sie, – sehen Sie, es sind Geschenke, +alles gehört mir! + +Marakulin erhob sich, er wollte sie zurückhalten, aber es war unmöglich; +er setzte sich wieder auf das gelbe Sofa. Werotschka aber war in Raserei +geraten, sie zerknüllte und zerfetzte die Sachen und warf sie um sich +her. Und als die Kommoden entleert und alle Schubfächer von unterst zu +oberst gekehrt waren, begann sie die Nippes abzuräumen, zerschlug alles +und warf es auf einen Haufen. + +– Und alles das gehört mir, lauter Geschenke! – schrie sie mit dem +letzten Aufwand ihrer Stimme, fast schon ohne Stimme. Einen Augenblick +stieg in Marakulin der heftige Wunsch auf, ein Streichholz anzuzünden +und alles in Brand zu stecken, alles zu vernichten, den ganzen Haufen, +den Berg, die gelben Kanapees, gelben Wandschirme, gelben Lampenschirme, +gelben Kissen – alle diese Geschenke! + +Werotschka riß von der Etagere eine kleine bronzene Schildkröte herab +und reichte sie ihm, offenbar in der Absicht, sie ihm zu schenken. + +– Man kann nur schenk–, man kann nur schenk–, man kann nur schenk– – +stieß Marakulin hervor, als wollte er mit den Worten dreinschlagen, und +sah Werotschka fest an, aber der Atem verging ihm, bevor er das Wort zu +Ende brachte. Seine Schultern zitterten plötzlich. + +Ja, sie wisse es selbst. Hier sei nichts, was ihr gehöre. Und fremde +Sachen dürfe man nicht verschenken. Geschenke verschenke man zwar nicht, +doch dürfte man es tun; hier aber gehöre ihr nichts, es seien nicht +Geschenke, es seien lauter fremde Sachen. Fremde Sachen aber dürfe man +nicht verschenken. Eigentümer sei hier der alte Warjaginskij, der Mäuse +sieht, und Glotow der Kassierer, und sonst jeder, der Geld hat und Geld +ausgeben kann – und je mehr einer Geld gebe, desto wichtiger sei er. +Alles an ihr sei beschmutzt, alles abgegriffen, sie könne Wera +Nikolajewna nicht einmal einen Kuß geben, sie habe nichts mehr zu geben, +alles sei eingesetzt, alles bespuckt. + +– Und Sie, Petruscha, Sie möchten wohl auch? – fragte sie plötzlich voll +Bosheit, – ja, wollen Sie? – nicht? + +Marakulin erhob sich. + +– Da – Werotschka zeigte ihm die Zunge – nichts kriegen Sie, Sie +Bettler! Bettler empfange ich nicht, verstehen Sie! – und ihre +unverschämten Augen blitzten auf wie zwei scharfe Klingen und ihr +aufgelöstes Haar brannte wie Feuer. + +Ohne die Straßen zu unterscheiden ging Marakulin wohin ihn seine Füße +trugen. Es war im Dezember und Tauwetter. Ein warmer Wind wehte, die +Laternen sahen aus wie vom Himmel herabgestiegene Sterne und Monde und +schienen im Nebel aufgehängt. Beim Hinaustreten aus der Podjatscheskaja +auf die Ssadowaja blieb er plötzlich stehen: vor dem Tor des Spaßeschen +Polizeireviers, da, wo die Glocke hängt, stand ein Feuerwehrmann in +einem riesigen Messinghelm, ein wirklicher Feuerwehrmann, aber +überlebensgroß, und sein Messinghelm reichte über die Torwölbung hinauf. + +Marakulin begann vor Entsetzen zu laufen. Etwas stieg ihm die Kehle +hinauf und preßte sie zusammen. Und erst als er zu Hause war, allein in +seinem Zimmer im Burkowschen Hof, fühlte er, daß er weinte, so wie er +nur einmal im Leben geweint hatte, als seine Kinderfrau ihn verlassen. + +Nachts träumte er, er läge auf dem Burkowschen Hof. Der Hof aber war +größer als in Wirklichkeit, und obwohl er an den Seiten von den Häusern +zusammengedrückt war, so lagen doch die Stände und Kästen der fliegenden +Händler viel weiter als sonst, und die Wagenremise, die Müllgrube und +der Abguß waren viel entfernter. Es waren unter den Fenstern viel mehr +Ziegelsteine, Schutt und Kehricht angehäuft. Er lag nicht allein auf dem +Hof, neben ihm lagen die Mieter aus dem Vorderhaus und aus dem +Hinterhaus, aus den Seitenflügeln, aus den Gorbatschowschen „Winkeln“. +Und obwohl er viele von ihnen nicht kannte, so erriet er doch, wer sie +waren, und irrte sich bestimmt nicht darin, daß dieser Herr und diese +Dame Herr und Frau Oschurkow waren, die zehn Zimmer und allerlei Nippes, +die die Wohnung ganz ausfüllten, und ein Aquarium mit Goldfischchen +hatten. Und dieser da, der Bewegliche im Zylinder, war der Rechtsanwalt +Amsterdamskij, ein lustiger Kerl, – er verstand es, Prozesse gut zu +führen; die Portiers im Senat warteten auf ihn, wie auf das Osterfest. +Und Burkow selbst, der frühere Gouverneur, der Selbstvertilger, lag da, +aber man sah nur seine Uniform. Neben der Uniform lag der älteste +Hausmeister Michail Pawlowitsch mit seiner Gemahlin, der +gottesfürchtigen Antonina Ignatjewa, und der Händler Gorbatschow mit +einem kleinen Mädchen – mit seiner Tochter, der er einst in der +Rattenkammer die Fingerchen zerbrochen, und Wera mit Akumowna, +Stanislaus der Kontorist und Kasimir der Monteur, Adonja Iwoilowna und +die Artisten Damaskin, Sergej Alexandrowitsch und Wassilij +Alexandrowitsch, Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna, die Hebamme +Lebedjowa in ihren Pelz eingewickelt, den man ihr um Weihnachten +gestohlen hatte, und der Portier Nikanor; auch lagen hier die Studenten, +welche nachts Totenmessen sangen, in neuen studentischen Uniformen und +mit ihrem Messinghahn, dann alle sieben Hausmeister und der Paßaufseher +Jerkin – die Hausmeister mit Holz und Jerkin mit Krankenhausmarken, jede +Marke ein Rubel, Gesicht und Hände ganz mit Marken beklebt. Kleine +Kinder lagen in Haufen, der Perser – der Masseur aus der Badeanstalt und +jenes kleine Mädchen, welches Murka damals Milch gebracht hatte, mit der +Scherbe; es lagen da alle Schuster, Bäcker, Bader, Friseure, +Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine Krankenschwester aus dem +Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirm- +und Bürstenmacher, Kommis, Wasserleitungsmonteure, Setzer und allerlei +Mechaniker, Techniker und elektrische Meister mitsamt ihren Familien und +ihrem Gerümpel, mit Gläsern, Flaschen und Schwaben, und allerlei +Fräuleins von der Gorochowaja und vom Sagorodny, kleine Nähmädchen, +Mädchen aus den Teestuben und elegante junge Leute aus der Badeanstalt, +die die Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, die alte Frau, welche +Sonnenblumensamen und sonst allerlei Kram feilbietet, stellenlose +Köchinnen, Maler und Schreiner, fliegende Händler mit Datteln und +Zuckerwerk, das nach Mistpilzen riecht, – mit einem Wort: der ganze +Burkowsche Hof, ganz Petersburg. Und nachdem Marakulin alle diese +Burkowschen Gestalten feststellte, erblickte er auch noch andre: seine +Mutter, seinen Vater, seine Schwestern, den alten Gwosdjow, den +Buchhalter Awerjanow, Tschekurow, Lisaweta Iwanowna und Maria +Alexandrowna, Rakow mit dem Lotterielos von Zweihunderttausend, +Lestschow, Pawlina Polikarpowna und alle Idioten, Geistesarmen, Eremiten +und heiligen Brüder, allerhand Belgier und Deutsche, die Deutschen um +den Doktor Wittenstaube zusammengedrängt, der alle Krankheiten mit +Röntgenstrahlen heilt, – überhaupt das ganze vagabundierende Rußland. + +Da lagen sie alle auf dem Burkowschen Hof, wie auf einem Totenfeld, nur +war es nicht trocknes Gebein, sondern es waren lebendige Menschen, und +in jedem lebte und schlug ein Herz. Und Tiere lagen da zusammen mit den +Menschen: der schöne rothaarige Hund des Gouverneurs, Revisor, an der +lästigen Stahlkette hob zuweilen seine kluge Schnauze, und Murka lag +auch daneben, von einem rauchfarbenen Kater belegt. Neben Marakulin aber +lag die Generalin Cholmogorowa, die Laus, und die elektrischen Lampen +brannten wie vom Himmel herabgestiegene Sterne und Monde tief im Nebel +über dem Burkowschen Hof. + +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist übervoll, die Strafe ist +nah! – sang Gorbatschow im Halbschlaf, die Worte durch die mit +Pferdehaaren bewachsene Nase dehnend. + +Da klirrte etwas wie ein Säbel, und aus einem Schrank trat ein +Feuerwehrmann, überlebensgroß, in einem riesigen messingnen Helm, und +begann zu schreiten, mit den Stiefeln polternd. Und rasch über die +Maler, Schlosser und fliegende Händler hinwegschreitend, nahte er +Marakulin und blieb vor ihm stehen. + +Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht. + +Da fühlte Marakulin, wie es ihm so schwer wurde, daß er weder einen Fuß +noch eine Hand rühren konnte, und er wußte, daß er nicht mehr lange +leben werde und daß ihm nur noch die Freiheit zu reden übriggeblieben +war. Er fühlte auch, daß es Allen – dem ganzen Totenfeld – ebenso schwer +war; sie konnten weder einen Fuß noch eine Hand rühren und hatten nur +noch die Freiheit zu reden; und während er seine letzten Augenblicke +nahen fühlte, hörte er die Automobile auf der Fontanka tuten. + +Ueber ihm aber stand unbeweglich der Feuerwehrmann. Es war ein ganz +gewöhnlicher Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht. + +Erst wollte Marakulin es wagen, gleich jenem Starez Kabakow, der durch +Gebete die Stimme des Himmels befragte, den Feuerwehrmann für Alle, für +die ganze Welt auszufragen, aber er hatte nicht den Mut, wie Kabakow für +Alle, für die ganze Welt, für das ganze Totenfeld zu fragen, sondern er +fragte nur für sich. + +– Wird es mir gut ergehen? + +– Warte – sagte der Feuerwehrmann. + +– Gut? – fragte Marakulin nochmals mit stockendem Atem, und hörte dabei, +wie auf der Fontanka die Automobile tuteten. + +Und der Feuerwehrmann antwortete ihm, jedoch sehr kleinlaut, kaum daß er +das Wort zu Ende sprach: + +– G–u–t. + + + + + Fünftes Kapitel + + +Vor Weihnachten zerbrach Marakulin sein Kreuz. + +Anna Stepanowna nahm es mit, um es reparieren zu lassen, ging aber aus +dem Gymnasium erst auf den Gostinij-Markt. Dort wurde ihr das +Portemonnaie gestohlen und mit ihm auch Marakulins Kreuz, sein kleines +goldenes Taufkreuz. + +In den Weihnachtstagen wahrsagte Akumowna wieder aus den Karten, und +Marakulin schien es, daß die Karten jetzt ganz erbost seien und ihn mit +ihrem schonungslosen „reinen Herzen“ verspotteten. Sie orakelten: ein +fröhlicher Weg; ein wohlgeborener einflußreicher Herr; viel Geld; wenn +Sie heute keinen Brief bekommen, so bekommen Sie ihn morgen; er trinkt +ein wenig, – und in den Ecken Gras und Tannen. + +Aber die Karten logen diesmal nicht. Sei es, daß Akumowna es mit ihrem +Wahrsagen heraufbeschworen hatte, oder, daß es ihm sonst bestimmt war – +Marakulin mußte in der Tat bald nach dem Tag der hl. Tatjana und ganz +unerwartet nach Moskau verreisen. + +Marakulin war ein Moskauer. In Moskau geboren und aufgewachsen, war er +auch dort zur Schule gegangen. Nur die fünf Jahre vor seinem +Petersburger Aufenthalt hatte er in der Provinz verlebt und in +Geschäften auch solche Städte wie Kostrinsk und Purchowez besucht. Er +hatte in Moskau in einer Privatrealschule in der Handelsabteilung +studiert. Kaum daß er in die Schule eintrat, starb seine Mutter, und +bevor er die Schule verließ, verlor er den Vater. Die letzten Schuljahre +waren sehr schwierig, er mußte selbst für sich sorgen. Er hatte zwei +Schwestern, beide älter als er und beide verheiratet. Als er noch in +Moskau lebte, besuchte er die Schwestern, erst oft, dann seltener, +endlich ganz selten. Als er klein war hatten sie ihn sehr gern gehabt +und ihn verwöhnt. Er wußte es noch genau, sie aber hatten es vergessen. +Als er in der Provinz wohnte, schrieb er den Schwestern im Anfang oft, +dann seltener, dann ganz selten und nur noch Gratulationsbriefe, dann +hörte er überhaupt auf zu schreiben. Sie waren es, die zuerst den +Briefwechsel abbrachen. Und seit er in Petersburg lebte, hatte er sich +an den Gedanken gewöhnt, daß er in Moskau niemand hatte. Nur auf dem +Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich zwei Gräber, zwei Kreuze: das +Kreuz des Vaters und das Kreuz der Mutter. + +Sein Vater war der älteste Buchführer bei Plotnikow gewesen. Plotnikows +Fabrik befand sich auf der Taganka, das Engrosgeschäft auf der Iljinka. +Der Vater war ein Mann der Arbeit, der sich mit Energie seinen Weg +bahnte. Seine Mutter war anders; sie war ein Mensch von besonderer Art. + +Jewgenja Alexandrowna – so hieß sie – war aufrichtig, einfach und +herzlich. Ihre Aufrichtigkeit kannten alle; ihr Vater kannte sie und +alle, die im Hause verkehrten kannten sie. Man klatschte in ihrer +Gegenwart nicht über Bekannte, man schärfte nicht unnütz die Zungen – +man sagte nichts, was man den andern nicht ins Gesicht hätte sagen +können. Die Gepflogenheit, zwei Meinungen über jemand oder über etwas zu +haben: eine Meinung sozusagen für’s Haus, welche nur im engen +Familienkreis ausgesprochen wird, und eine andere für die Straße, welche +vor Fremden geäußert wird, wenn es nützlich erscheint, – diese üblichen +Formen des Umgangs waren ihr fremd. Es fehlte ihr der praktische Sinn. +Daraus konnte oft ein kleiner Skandal, zumindest eine Verlegenheit +entstehen, und ihr Vater mußte sie häufig davor warnen. Dieser +praktische Sinn, der zwei Meinungen kennt, dieser einfältige und oft +niederträchtige Selbstschutz ist keine Weisheit. In der echten Weisheit, +die nicht nur zwei, sondern zwanzigmal zwei Meinungen kennt, ist Wissen +und Schonung. Diese höhere Weisheit konnte sie natürlich noch nicht +haben, aber sie besaß jene, die aus dem Instinkt stammt und die das Herz +begreift. Es fehlte ihr dagegen völlig an jener Schlampigkeit des +Herzens, an der Gewöhnlichkeit der Seele, die wie grobe Geradlinigkeit +aussieht. Alles berührte und quälte sie; sie hatte keine +Gleichgültigkeit in sich, im Gegenteil: ungewöhnlich barmherzig und +mitfühlend, war sie bereit, jedem zu helfen. Kaum aus der Schule, +verliebte sie sich in einen Studenten, in den Hauslehrer ihres Bruders, +und wie zu Gott sah sie zu ihrem Studenten auf. Der Student aber – sagte +nichts, und als ein ernsthafter Student, der er war, lächelte er nur, +lächelte und dankte. Jenjas Vater – Marakulins Großvater – war Arzt, und +als Fabrikarzt bei Plotnikow angestellt, nahm er das junge Mädchen oft +in die Fabrik mit. Bei Plotnikow war aber auch ein junger Techniker +namens Ziganow. Dieser machte sich mit den Fabrikarbeitern zu schaffen, +veranstaltete Vorlesungen und Theatervorstellungen für sie, und soll +auch, wie die Wissenden behaupteten, einen Streik angezettelt haben. Die +Fabrikarbeiter liebten Ziganow und gehorchten ihm. Jenja, der das Leben +in der Fabrik, das sie allmählich kennen lernte, die Seele verwundete, +bot Ziganow ihre Mithilfe an. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Techniker +und arbeitete mit, so weit ihre Kräfte reichten. Und wenn eine Sache +gelang, – mit welcher Freude erzählte sie von ihrem Erfolg dem +Hauslehrer ihres Bruders, ihrem Studenten, zu dem sie wie zu Gott +aufsah! Der Student aber – sagte nichts, und als ein ernsthafter +Student, der er war, lächelte er nur, lächelte und dankte. So traf es +sich auch einmal, daß Jenja bei Ziganow in der Wohnung war. Sie half ihm +Lektüre für die Fabrikarbeiter zusammenstellen; es waren Broschüren. Sie +war sehr eifrig dabei, sie brannte darauf, daß die Broschüren bald +gelesen werden, denn sie glaubte, daß in ihnen die Wahrheit stand und +ein Ausweg aus dem erbärmlichen Leben, das ihr die Seele verwundete. Sie +brannte vor Eifer – es war ja das erstemal. Ziganow arbeitete am selben +Tisch mit ihr und wich nicht von ihrer Seite; auch er wollte die Arbeit +möglichst rasch erledigen, denn die Sache war gefährlich! Als dann alles +fertig war, die Broschüren geordnet, ausgesucht und verteilt, und sie, +befriedigt, freudig erregt und davon träumend, wie sie alles dem +Studenten, ihrem Abgott erzählen würde – (er hatte wohl jetzt die +Lektion mit ihrem Bruder beendigt, saß vielleicht mit ihrem Vater im +Eßzimmer beim Tee und spielte mit ihm Schach) – gerade im Begriff war, +nach Hause zu gehen, – da fiel Ziganow über sie her und warf sie zu +Boden ... + +An diesem Abend, als sie nach Hause zurückkehrte und den Studenten, wie +sie erwartet hatte, im Eßzimmer beim Tee mit ihrem Vater Schach spielend +fand, – sagte sie nichts; weder dem Vater, noch dem Studenten. Sie +verriet nicht mit der leisesten Andeutung, was eben zwischen ihr und +Ziganow vorgefallen war, sie verriet mit keiner Silbe das Entsetzen, das +sie erfüllte. + +Entsetzen und Scham besiegten all ihre Wahrhaftigkeit und zwangen sie, +das Schreckliche zu verheimlichen. Sie schwieg, und obwohl sie, die sich +nicht verstellen konnte, sich so gab, wie sie war, bemerkte dennoch +niemand etwas, nur dem Vater fiel eine Trauer in ihrem Gesicht auf, die +früher nicht in ihm war. Erst viele Jahre später sah es auch manch +andrer, sprach aber nicht darüber. Denn diejenigen, die sie oft sahen, +mochten sie dann vielleicht zum erstenmal aufmerksam angesehen haben und +konnten deshalb nicht feststellen, ob diese Trauer in ihrem Gesicht +schon immer dagewesen und von ihnen nur nicht bemerkt worden war, oder +ob tatsächlich eine Veränderung in ihm stattgefunden hatte. + +Wohl war diese Trauer schon immer in ihr, seit ihrer Geburt vielleicht, +vielleicht war sie zusammen mit ihr zur Welt gekommen, hatte sich all +die siebzehn Jahre in ihrer Seele verborgen gehalten und trat erst an +jenem Abend hervor, an dem Jenja bei Ziganow die Broschüren ordnete und +glücklich, freudig erregt daran dachte, wie sie ihrem Studenten, ihrem +Abgott von ihrer Freude erzählen würde; – damals mochte das Entsetzen +die eingeborene Trauer hervorgeholt und über ihr Gesicht gebreitet +haben. + +War es nur Trauer, was ihr Gesicht verriet, als sie sich auf dem Boden +wälzte und vor tierischem Schmerz, vor Ekel und Entsetzen geschrien +haben würde, wenn sie ihre Schreie nicht hätte unterdrücken müssen? War +nur Trauer in ihrem Gesicht, da sie schweigend und doch unverstellt sich +quälte? + +Wenn die Menschen einander genau sehen und beobachten würden, wenn Alle +Augen hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das ganze Entsetzen, die +ganze Rätselhaftigkeit des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre, wenn die +Menschen einander sehen würden, das eiserne Herz gar nicht nötig? + +Wie war das alles so gekommen, und weshalb? Und wie erklärte Jenja es +sich selber? + +An jenem Abend war Ziganow geblendet, – einen andern Grund gab es nicht +– es war nicht vorgefaßte Absicht, er war einfach geblendet. Und hätte +er auch sieben Augen gehabt, wer weiß, ob er nicht an allen sieben Augen +geblendet worden wäre vor ihren beiden, mit denen sie so freudig +dreinblickte, bereit, im nächsten Augenblick von ihrer Freude dem +Studenten, ihrem Abgott zu erzählen: ihre Freude war so gewaltig; es war +ja das erstemal, die Sache war gefährlich und sie glaubte die Erlösung +gefunden zu haben aus dem erbärmlichen Leben, das ihre Seele verwundete. + +So erklärte Jenja das, was vorgefallen, indem sie niemand beschuldigte, +außer sich selbst. + +Ob es so war oder nicht, ob er tatsächlich geblendet war oder nicht, ob +er dem Zwang nicht widerstehen konnte, sich auf sie zu stürzen, oder ob +er sich hätte zurückhalten müssen – einerlei: am Ende wäre es auch einem +andern so ergangen wie Ziganow, der sich mit einer gefährlichen Sache +befaßte, die heimlich und verborgen getan werden mußte, und der vor +lauter geschäftigem Mißtrauen seine Augen verloren hatte? Jedenfalls +aber hatte er seine Augen verloren, gleichviel warum: denn hätte er +sehen können, so wäre das nicht geschehen, was weiter geschah. Es kam +aber, daß jedesmal, wenn Jenja bei ihm war, um Broschüren zu ordnen, +oder in ähnlichen Angelegenheiten, sich jener gefährliche und freudig +erregte Abend wiederholte. Sie flehte ihn an, sie zu schonen, sie nicht +anzurühren, aber er wollte nichts hören, weil er taub und blind war. Und +so verging ein ganzes Jahr. + +Als dann Ziganow aus der Plotnikowschen Fabrik verschwunden war – manche +behaupteten, er wäre nach Sibirien verbannt worden, andre dagegen, daß +er jenseits der Trechgornaja-Maut in einer Fabrik eine gutbezahlte +Stellung angenommen hatte, wieder andre, daß er der Welt so etwas wie +ein „neues Zion“ verkündete – mit einem Wort, als Ziganow nicht mehr da +war, und Jenja aufatmen konnte, da widerfuhr ihr das gleiche, nur daß +diesmal an Ziganows Stelle ihr eigener Bruder, der Kadett war. Sie bat +ihren Bruder, flehte ihn an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, er +aber wollte nichts hören, und darum nicht, weil er in diesem Augenblick +taub und blind war. + +Ja, auch er war in diesem Augenblick geblendet, und nur, weil in ihr +selbst etwas Sinnberaubendes, Blendendes war; denn sonst hatte doch +dieser Bruderabend nichts gemeinsames mit jenem Ziganowschen, jenem +gefährlichen und freudig erregten Abend. + +So erklärte sich Jenja alles, was vorgefallen, indem sie niemand als +sich selbst beschuldigte. + +Ob es nun so war oder nicht, ob der Bruder ebenfalls geblendet war oder +nicht – jedenfalls ist es klar, daß er, ohne sich mit gefährlichen +Dingen zu befassen, wie Ziganow und nicht wie dieser durch die +Heimlichkeit und die Gefahr der Arbeit in gemeinsame Erregung mit der +Schwester gedrängt, – im Gegenteil: er hatte einen offenen Weg vor sich, +frei von jedem Spähen und Horchen – jedenfalls ist es klar, daß er, wie +so viele Menschen von Beruf oder Handwerk, von Meisterschaft oder +Leidenschaft, sich eben durch keinen besonderen Scharfblick +auszeichnete. Nein, er zeichnete sich nicht durch besonderen Scharfblick +aus, denn hätte er etwas gesehen, so wäre nicht geschehen, was weiter +geschah. Es kam aber, daß sich jedesmal, wenn er sie allein fand, das +wiederholte, was an jenem Schwesterabend geschah. So verging wieder ein +Jahr. + +Als der Bruder dann von Moskau abgereist war und sie, allein geblieben, +aufzuatmen hoffte, da wurde der Bruder von dem Gehilfen ihres Vaters, +von einem jungen Arzt ersetzt, so wie einst der Bruder Ziganow abgelöst +hatte. Und nach dem Arzt kam noch einer und wieder einer; alle traten +sie kühn an sie heran und taten mit ihr, was sie wollten. + +Sie taten es aber nicht deshalb, weil sie es freiwillig gewährte, nein, +sie taten nur das, wozu es sie, die Geblendeten, trieb. + +So erklärte sich Jenja alles, indem sie niemand als sich selbst +beschuldigte. + +Ob es so war oder nicht, ob sie wirklich geblendet waren oder nicht, ob +es sie trieb, oder ob sie sich selbst über sie warfen, jedenfalls +beschuldigte sie keinen von ihnen, nur sich selbst: dies etwas in ihrem +Wesen, das blendete und betäubte. + +Sie schwieg – ganze drei Jahre schwieg sie. Sie machte nie eine +Andeutung, verriet sich mit keinem Wort. In ihr aber war Entsetzen, +Scham und Qual. Sie wurde geliebt, hatte viele Freundinnen, und wußte, +wie sehr man sie liebte und wie gut man von ihr dachte; und trotz aller +Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die in ihr war, vermochte sie es +nicht, ihnen zu sagen, wie sehr sie sich irrten: daß sie nicht so war, +wie sie von ihr dachten. Hätten sie die Wahrheit gewußt, dann würden sie +sich von ihr losgesagt haben, so aber stahl sie ihre Liebe dadurch, daß +sie die Wahrheit verheimlichte. + +Die Menschen traten kühn an sie heran und taten mit ihr was sie wollten, +sie aber konnte sich nicht wehren und gab, erfüllt von tierischem Ekel +und Schmerz, nach. Und dafür, daß sie nachgab, daß sie trotz Ekel und +Schmerz nachgab und nachgeben mußte, für dies blendende und betäubende +Wesen in ihr, das die Menschen trieb, sich über sie zu werfen, reichte +eine von Menschen verhängte Strafe nicht aus. Es wäre ihr ja ein +leichtes gewesen, ein Ende mit sich zu machen, aber das hätte ihr nicht +genügt. Auch wenn man sie gefoltert und gemartert, wenn man sie zu Tode +gefoltert hätte, was hätte ihr das genützt? Für sie war eine von +Menschen bestimmte Strafe zu gering, sie mußte sich selbst ihr Urteil +sprechen und sich selbst hinrichten. Aber wie sich strafen, wie sich +hinrichten? In den drei Jahren des Entsetzens, der Scham und der Qual +hatte sie sich in den schlaflosen Nächten die Haare gerauft, hatte mit +dem Kopf gegen die Eisenstäbe ihres Bettes, – ihres schmalen +Mädchenbettes – geschlagen, aber was war damit erreicht? Nichts, gar +nichts! Wer sollte ihr die Strafe diktieren und wie sollte sie sie +vollziehen? + +Wenn die Menschen einander genau sehen und beachten würden, wenn Alle +Augen hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das ganze Entsetzen, die +ganze Rätselhaftigkeit des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre das +eiserne Herz gar nicht nötig, wenn die Menschen einander sehen würden! + +Jenja verließ Moskau und lebte einige Zeit auf dem Lande, in der Familie +eines ihrem Vater befreundeten Arztes. Ihr Vater, der jetzt nicht nur +Trauer in ihrem Gesicht bemerkt hatte und unruhig geworden war, erklärte +sich ihr Aussehen mit Uebermüdung und redete Jenja zu, sich auf dem +Lande zu erholen. Folgendes geschah nun während ihres Landaufenthaltes: +Am Dienstag in der Karwoche reiste sie von da ab, aber nicht nach Hause +zum Osterfest, wie man annahm, sondern sie begab sich in den Wald und +betete dort drei Tage und drei Nächte mit der ganzen Glut des +Entsetzens, der Scham und der Qual eines sich selbst verurteilenden +Herzens, und flehte nur um eins: um Strafe, – daß ihr eine Strafe +angezeigt und eine Buße auferlegt werde. Am Karfreitag aber erschien sie +in der Kirche zur Zeremonie des Grabtuches, ganz nackt, mit einem +Rasiermesser in der Hand. Als das Grabtuch hinausgetragen wurde, folgte +sie ihm – alle wichen vor ihr zurück, wie vor dem Grabtuch selbst. Sie +stand ganz nackt da, mit dem Rasiermesser in der Hand: „Im Namen des +Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!“ rief sie aus. Jemand +erwiderte „Amen“. Da erhob sie das Messer und schnitt sich Kreuze hinein +in die Stirn, in die Schultern, in die Arme, in die Brust, und ihr Blut +ergoß sich auf das Grabtuch. + +Ein ganzes Jahr oder noch länger lag Jenja im Krankenhaus, wohin man sie +bewußtlos aus der Kirche gebracht hatte. Von den Kreuzen waren keine +deutlichen Male zurückgeblieben, nur eine schwache Narbe auf der Stirn, +aber auch diese war unter dem Haar nicht zu sehen. Und als man fand, daß +sie sich genügend erholt hatte, schickte man sie zu ihrem Vater zurück. + +Hatte sie sich nun beruhigt? Nein. Aber sie betete nicht mehr um Strafe. +Tief in ihrem Innern war es still geworden. Mag sein, daß man durch +irgendwelche Heilmittel auf sie gewirkt hatte, oder daß sie, sich +erholend und gesundend, nicht mehr so fein in sich hineinhorchen konnte, +um zu vernehmen, was in der Tiefe redete. Aber bald sollte sie es doch +vernehmen, und ganz unerwartet. + +Zu ihrem Vater kam häufig der Buchführer der Plotnikowschen Fabrik, +Alexej Iwanowitsch Marakulin. Jenja gefiel ihm sehr, und er erklärte +sich bald. Da vernahm sie plötzlich, was in der Tiefe sprach. + +Niemand wußte bis dahin, wofür sie eine Strafe für sich herabgefleht +hatte, kein Mensch ahnte etwas von den drei qualvollen Jahren und von +dem vierten Jahr ihrer Buße. Nicht einmal dem Priester in der Beichte +hatte sie etwas verraten: sie sprach es in Gedanken unter dem +Epitrachelion, wenn der Priester über ihr gebeugt die Vergebung las. Sie +konnte sich nicht entschließen, ihm etwas zu sagen: es hätte ihm +vielleicht nicht genügt zu erfahren, was sie getan; er hätte sie +jederzeit über die Personen ausfragen können, die mit ihr verkehrt +hatten. Vielleicht hätte er auch angesichts ihres Entsetzens, ihrer +Scham und ihrer Qual, um ihr einen weltlichen Trost zu verschaffen, zu +erfahren gewünscht, wie sich alles zugetragen hatte, und dann gar, über +die Umstände unterrichtet, jene Personen verurteilt und sie selbst von +aller Sünde freigesprochen! Sie aber beschuldigte niemand als sich +selbst, ihr eigenes blendendes und betäubendes Wesen. Außerdem hätte der +Geistliche jene Menschen auch denunzieren können. Jetzt aber wollte sie +es dem Menschen offenbaren, der sie liebte. Sie mußte _alles_ sagen – so +sprach es in ihrem Innern – sie mußte diesem Menschen alles sagen. + +Und sie erzählte ihm alles, rückhaltlos. Er hörte milde zu und weinte; – +er liebte sie. Ohne daß er im Innern glaubte, daß es sich nie +wiederholen würde, daß die Geschehnisse dieser drei Jahre nicht +wiederkehren könnten, wollte er es doch glauben, denn er liebte sie. + +Ihr ganzes weiteres Leben widmete Jenja ausschließlich ihren Kindern. +Gleich im ersten Jahr ihres neuen Lebens war es, als wäre sie plötzlich +alt geworden, aber es war nicht Alter, sondern jenes Entsetzen, jene +Scham und Qual, die jetzt auf ihrem Gesicht, wie einst die Trauer, +sichtbar wurden und es alt machten. Und ihre Augen, die oft wie +aufgescheucht waren und die Hände stets wie im Gebet gefaltet, als +flehten sie, sie zu schonen und nicht anzurühren, – dies blieb ihr eigen +bis an ihr Lebensende. Im Sarg lag sie mit dem Kreuz auf der Stirn: +unter der Stirnbinde war es jetzt deutlich zu sehen. + +Marakulin war damals zehn Jahre alt, aber er konnte sich noch genau an +dieses Kreuz erinnern, an das auf der wachsgelben Stirn unter der weißen +Binde sichtbare Kreuz. Und auch jetzt auf der Fahrt nach Moskau dachte +er daran, und die Erinnerung an das Kreuz der Mutter war in ihm +irgendwie fest und unlösbar mit seinem eigenen goldnen Taufkreuz +verbunden, das ihm vor Weihnachten abhanden gekommen war. + +Und Trauer überflutete ihn. + + * * * * * + +Marakulin reiste nach Moskau auf den dringenden Ruf Plotnikows: + +Pawel Plotnikow war mit Marakulin zur Schule gegangen, war aber um zwei +Klassen jünger. Als Marakulin ihn zum erstenmal sah, gefiel er ihm sehr: +es war ein gesunder Knabe, von einer wie Milch und Blut zarten Haut, so +daß man Lust bekam, ihn zu streicheln und mit ihm zu scherzen, um ihn +lachen zu machen. Im ersten Schuljahr hatte Pawel Plotnikow oft +Halsschmerzen, und das weiße Tuch um den Hals machte ihn noch +liebenswerter. Marakulin sprach und scherzte oft überaus freundlich mit +ihm, Plotnikow aber zeigte eine gewisse Scheu. Erst im nächsten Jahr +wurden sie durch einen Zufall einander näher gebracht: Marakulin sang im +Chor mit, und auch Plotnikow wurde in den Chor aufgenommen, ebenfalls +für die Altstimme. Bei den Gesangproben stand Plotnikow neben Marakulin, +und allmählich verlor er seine Scheu vor ihm und schloß sich jetzt enger +an Marakulin an, welcher für ihn alles tat, was er nur konnte: er löste +schwierige Aufgaben, machte die Uebersetzungen für ihn. Diese rührende +und zärtliche Freundschaft dauerte ein Jahr. Darauf war Plotnikow nach +den Sommerferien auf einmal so erwachsen, und es war nichts mehr in ihm +von dem Jung-Katzen- oder Hundeartigen, das Marakulin so gereizt hatte, +ihn wie ein kleines Tier zu streicheln. Marakulin gab sich nun weniger +mit ihm ab, unterhielt sich nicht so freundlich mit ihm wie früher, fuhr +aber im übrigen fort, alles für ihn zu tun, was er nur konnte. Denn +Plotnikow wandte sich oft an ihn, wie an einen ältern, der alles weiß, +was er selbst niemals wissen könnte. + +Plotnikow kam in der Schule nicht vorwärts. In der fünften Klasse blieb +er sitzen und wurde aus der Schule genommen. Er war der einzige Sohn +seiner Eltern, dazu der jüngste einer ganzen Reihe von Schwestern, und +wurde fürs Geschäft gebraucht. Das Plotnikowsche Geschäft war in der +ganzen Taganka[8], ja, in ganz Rußland bekannt. Zu jener Zeit war +Plotnikow bereits so dick und groß geworden, daß man bei seinem Anblick +sich schwer den kleinen Buben Pascha mit dem weißen Tuch vorstellen +konnte, jenen wie kuhwarme Milch frischen Pascha, den man gern +streicheln mochte, um ihn lächeln zu machen. Man hätte wohl annehmen +sollen, daß jetzt jede Beziehung zwischen den beiden Knaben aufhören +müßte, aber dem war nicht so. Plotnikow kam manchmal zu Marakulin, um +sich ein Buch zu holen: er bat stets um irgendein Buch zum Lesen, und so +schüchtern, als hätte er Angst. Marakulin gab ihm dann ein Buch, worauf +er sich längere Zeit nicht sehen ließ. Dann konnte er wieder ganz +unerwartet erscheinen, meist zu einer unpassenden Stunde, am frühen +Morgen, und oft in so erregtem Zustand, daß es den Eindruck machte, er +hätte, nachdem er am vorherigen Abend in einem Bierlokal der Taganka +angefangen, die Nacht bis zum Morgen im Restaurant „Ssaratow“ und bei +Jar durchgekneipt, sich morgens in einer Fünfkopeken-Badeanstalt +gewaschen und wäre von da aus direkt zu Marakulin gekommen, – es fehlte +nur der Birkenbesen. Es war in der Tat auch so. Schüchtern gab er das +Buch zurück, brachte ebenso schüchtern vor, daß er es nicht habe +bewältigen können und ein einfacheres haben möchte. Marakulin gab ihm +ein einfacheres Buch, und Plotnikow verschwand wieder für längere Zeit. + +In den letzten Schulklassen gab es damals eine zusammengelaufene Bande, +die ungefähr das gleiche miteinander verband, was Marakulin späterhin +mit Glotow verbunden hatte. Es waren einige Tollköpfe mit einem Gefolge +von Nachahmern und sonst Burschen, die sich austoben wollten und aus +denen später die tüchtigsten Geschäftsleute und die unbedeutendsten +Kommis wurden. Mancher von ihnen ergab sich nachher dem Trunk und endete +auf der Ssiworotka. Die Mitglieder dieser Bande waren Stammgäste in +einem Bierlokal an der Taganka, auf den Moskauer Boulevards, an den +Sonntagen im Sommer auch in Kuskowo, denn die Bewohner der Taganka und +der Rogoschskaja ziehen im Sommer nach Kuskowo hinaus. Zu dieser Bande +gehörte auch Marakulin. Zuweilen schloß sich ihr auch Plotnikow an. + +Plotnikow, der bis zur Besinnungslosigkeit trank, ließ sich einmal in +einem sehr leichten Anzug – noch leichter angezogene werden auf die +Wache gebracht – auf dem Taganskij-Platz in einen Kampf mit Pferden ein. +Wüst und Beschwichtigungen unzugänglich, betrunken bis zum äußersten, +konnte er die tollsten Sachen anstellen, ganz wahllos, wie es ihm gerade +einfiel, und ließ sich dabei von niemand und von nichts stören. Das war +bekannt. Nur für Marakulin machte er eine Ausnahme. In den äußersten +Fällen konnte einzig Marakulin den wilden, unantastbaren Plotnikow +beschwichtigen und sogar zur Einsicht bringen. + +Pawel Plotnikow glich in der Unerschütterlichkeit und unbeschränkten +Willkür, zum eignen Spaß die tollsten Streiche auszuführen, ganz seinem +Vater Wassilij Pawlowitsch. Wassilij Pawlowitsch Plotnikow aber war in +dieser Beziehung der erste auf der Taganka, und seine „Tätigkeit“ wirkte +ansteckend: er hatte nicht wenig Nachahmer. Nur daß Wassilij +Pawlowitsch, der keine einzige, geschweige denn fünf Klassen absolviert +hatte, im Gegensatz zu seinem Sohn niemals wüst wurde und auf den +Plätzen weder mit Menschen noch mit Pferden sich in Kämpfe einließ. Er +war still und sanft; Branntwein kam nie über seine Lippen. Noch in den +letzten Jahren seines Lebens, als Wassilij Pawlowitsch schon alt war, +seine Erfindungsgabe ihn verlassen hatte und er selbst sich wohl bewußt +war, nicht mehr recht auf der Höhe zu sein, kam er auf den Gedanken, zum +Zeitvertreib die Schutzleute zum Trunk zu verführen – er wollte die +ganze Polizei buchstäblich kopfstehen machen. Und er führte diese +Absicht mit der größten Meisterschaft aus, sein Ziel mit allen Mitteln +verfolgend: konnte er es selbst nicht tun, so mußten es seine Leute auf +Befehl ausführen. Als Lockmittel diente ein Wagen, ein ganz gewöhnlicher +alter Wagen, an dem nichts Besonderes war, nicht einmal ein Wappen; denn +den Bewohnern der Taganka kommen Wappen ihrem Stande nach nicht zu. Am +Morgen setzte sich also Wassilij Pawlowitsch ans Fenster und fing einen +Schutzmann ab, der um diese Zeit zum Polizeirevier zu gehen pflegte. Der +Schutzmann wurde dann ins Haus gerufen, irgendeiner Angelegenheit wegen, +die es natürlich gar nicht gab, denn man hütete sich sonst mit der +Polizei zu tun zu haben, aber eine Kleinigkeit, die zum Vorwand dienen +konnte, gab es doch immer. Dabei schlug Wassilij Pawlowitsch dem +Schutzmann vor, sich den Wagen anzusehen, und sein Vorschlag klang mehr +wie eine Bitte. Der geschmeichelte Schutzmann folgte ihm in den +Schuppen, wo schon alles für den Spaß notwendige vorbereitet war. Der +Schutzmann wurde erst herausgelassen, wenn er sternhagelvoll nicht mehr +auf den Beinen stehen konnte. Am nächsten Tag wiederholte sich die +Geschichte und allmählich kam es so weit, daß der Schutzmann alle Würde +beiseite ließ und am Morgen von selbst in den Schuppen kam, um sich den +Wagen anzusehen. Natürlich wurde er bald aus dem Dienst entlassen, an +seine Stelle trat ein andrer, und mit diesem begann die Wagengeschichte +von neuem. Der Ruhm Wassilij Pawlowitschs ließ den Fischhändler +Barabochin nicht schlafen, und seinem Vorbilde nacheifernd verführte er +die Popen zum Trunk. Als Lockmittel diente ihm ein ganz gewöhnlicher +Fischbehälter; nicht etwa, daß sich darin irgendwelche ausgefallenen +fabelhaften ausländischen Fische mit schwer auszusprechenden Namen +befunden hätten, sondern es war ein Behälter mit ganz gewöhnlichen +Sterleten ... Der Wagen sowohl wie der Fischbehälter arbeiteten ziemlich +lange Zeit mit unerhörtem Erfolg, bis ihre Inhaber des Spaßes +überdrüssig wurden. So war Wassilij Pawlowitsch beschaffen, und er ließ +in seinem Sohne Pawel einen Erben zurück, der seiner würdig war. +Zusammen mit dem Wagen hatte Plotnikow von seinem Vater auch sonst noch +allerlei Einfälle zum Zeitvertreib geerbt und hatte dieses Pfund nicht +vergraben, sondern weiter damit gewuchert. Es mochte ihm was immer +einfallen, so beruhigte er sich nicht, bis er es ausgeführt hatte; es +fiel ihm aber manches ein, wovor einem Angst werden konnte. Aber nie +hätte er sich etwas erlaubt, das geeignet gewesen wäre, Marakulin zu +verletzen – Marakulin war eben eine Ausnahme. Und auch das wußten alle. + +Dreimal hatte Plotnikow Marakulin seine warme, freundschaftliche +Teilnahme bewiesen: einmal, indem er ihn beschützte, das zweitemal, +indem er ihn einrichtete, und das dritte, indem er ihn befreite. Das +Beschützen bestand darin, daß Plotnikow Marakulin von Strakunow +befreite, indem er Strakunow vor allem Volk und unter Begleitung guter +Lehren tüchtig verprügelte. Auf der Taganka trieb sich damals nämlich +ein gewisser Ssaschka Strakunow herum, ein Durchschlüpfer: der Teufel +mochte wissen, wovon er lebte, er war eben nicht wählerisch. Es gelang +ihm, sich in die Bande, die sich in Kuskowo herumtrieb, einzuschleichen +und Marakulin zu gefallen. Gott weiß wodurch, denn Marakulin selbst +hätte nicht sagen können, was ihn an Strakunow so sehr anzog. Er stammte +wohl von Zigeunern ab und schnitt beständig Grimassen, sonst war an ihm +nichts Hervorragendes. Dieser Bursche plünderte Marakulin förmlich aus, +und alles Geld, das dieser durch Stundengeben verdiente, machte er sich +zur Beute. So ging es einen Monat lang. Als Plotnikow dies erfuhr, +zögerte er nicht lange und beschützte Marakulin. + +Ferner: gleich nach Absolvierung der Schule, fast unmittelbar nach dem +Examen, kaum daß er eine Woche die Freiheit genossen hatte, trat +Marakulin bereits in das Bureau an der Kusnetzkajabrücke ein – und das +war Plotnikows Werk. + +Die Sommerabende wurden damals auf den Boulevards verbracht. Einmal +lernte Marakulin bei der Donnerstagsmusik in Tschistije-Prudy ein +Mädchen namens Polja kennen. Polja, die erst in der Dämmerung auf dem +Boulevard zu erscheinen pflegte, wohnte auf der Rogoschka, in der +Bahnhofstraße. In Tschistije-Prudy war sie als Polja bekannt, aber +Dunajew, der Marakulin mit ihr bekanntgemacht hatte, nannte sie Dunja, +auch von Poljanskij wurde sie so genannt. Dunajew und Poljanskij waren +seine Schulkollegen, und da sie beide ebenfalls auf der Taganka wohnten, +gehörten sie mit zu der Bande. Bald wurde Polja auch für Marakulin zur +Dunja. Diese nähere Bekanntschaft kam nicht zustande, weil Marakulin sie +so sehr ersehnt hatte, nein, der Grund war ein ganz anderer – purer +Blödsinn. Zu Ostern nämlich hatte Marakulin Poljanskij besucht und war +in einem gewöhnlichen Gespräch über die Schulkameraden – es war kurz vor +den Schlußprüfungen – mit Poljanskij in einen Streit über Dunajew +geraten. „Du bist in Dunajew einfach verliebt,“ bemerkte Poljanskij +eigentümlich lächelnd, „er sieht wie ein junges Mädchen aus, deshalb +nimmst du ihn so in Schutz.“ Marakulin wurde ganz rot und sehr verlegen, +weil Poljanskij so lächelte und weil er selbst sich rot werden fühlte: +sollte er in der Tat Dunajew deshalb verteidigt haben, weil dieser einem +jungen Mädchen glich? – Damit fing es an. Dieser wie ein junges Mädchen +aussehende Dunajew, der auf den Boulevards zu Hause war, bot Marakulin +an, – sei es als Zeichen seines kameradschaftlichen Dankes, oder +„überhaupt so“ – in solchen Angelegenheiten spielt dieses „überhaupt so“ +eine wichtige Rolle – ihn mit Polja bekanntzumachen. Marakulin, der +Poljanskijs Worte und vor allem die Art, wie er gelächelt hatte, nicht +vergessen konnte, stürzte sich auf diese Bekanntschaft: jetzt würde +Poljanskij nicht mehr so lächeln. Ein richtiger Knabenunsinn wurde so +zum Anlaß! An einem der Donnerstagabende in Tschistije-Prudy kam die +Bekanntschaft zustande. Marakulin gefiel dem Mädchen auf den ersten +Blick. Gleich in den ersten Tagen, nachdem sie ihn kennen gelernt hatte, +sprach sie es vor Dunajew und Poljanskij ganz geradezu aus. Und als sie +einmal nachts im Bahnhofgäßchen Marakulin aus ihrem Zimmer +hinunterbegleitete, lief sie flink die Treppe voraus, um die Tür +aufzuschließen, versperrte Marakulin den Weg, umarmte ihn fest – ihre +Arme wurden dabei plötzlich ganz kindlich-zart – und steckte ihm ein +Tuch, in dem die Anfangsbuchstaben seines Namens in Kreuzstich +eingestickt waren, ein seidenes, duftendes Tüchlein, in die Tasche. Es +duftete aber nicht nach dem Parfüm, das sie sonst brauchte, wenn sie in +der Dämmerung auf den Boulevard ging, sondern nach einem anderen. Seit +jener Nacht aber trieb es ihn immer mehr von ihr fort, und je mehr sich +Dunja an ihn hing, desto mehr entfernte es ihn von ihr. Gegen Ende des +Sommers wurde ihm ihre Betulichkeit und ihr Auflauern ganz unerträglich: +er konnte sich nirgends mehr vor ihr verstecken. Sie hatte sich vom +Boulevardleben zurückgezogen, putzte sich nur für ihn, parfümierte sich +für ihn mit jenem anderen Parfüm. Dies war für sie ein Opfer: denn es +ist für eine, die von der Straße lebt, ganz unmöglich, Geld für Putz +auszugeben, wenn sie nichts verdient. Und sie hätte auch jetzt noch, so +wie sie war, vorwärts kommen können, wenn sie gewollt hätte: es war +etwas Ungewöhnliches an ihr. Ihre Boulevardfreundinnen behaupteten es, +auch Dunajew und Poljanskij waren dieser Meinung. Auch Marakulin wußte +es – ihre Arme waren damals in der Nacht plötzlich so kindlich-zart +geworden – doch was sollte er tun? Ihr Tuch, das er nie aus der Tasche +nahm und das er gewiß vergessen hätte, wenn er es nicht immerzu hätte +fühlen müssen, dieses Tuch mit seinen in Kreuzstich gestickten +Anfangsbuchstaben, das kleine seidne Tüchlein, zog ihn wie etwas +Schweres hinunter, als wäre es aus Blei und nicht aus Seide, und es +blieb ihm nichts übrig, als entweder es zu verbrennen oder in den +Moskaufluß zu werfen. Er warf es in die Moskau. – Es war Ende August, an +einem der letzten Kuskowschen Feste: die Bewohner der Taganka und der +Rogoschskaja waren im Begriff heimzukehren, – es war der letzte +Sonntagabend, kalt und klar gestirnt. Das Theater war bereits aus und +der Bahnhof voller Menschen. Auf dem Perron spazierte Dunja. Da trat +Marakulin auf sie zu und überschüttete sie mit der ganzen in ihm +aufgesammelten, lange zurückgehaltenen und jetzt plötzlich aufkochenden +Wut, ohne eine Erwiderung abzuwarten, ohne ihr nur Zeit zum Erwidern zu +lassen. Auf einmal brach er ab und ließ sie stehen. Er glaubte jetzt +alles ausgerichtet zu haben: jetzt war er sie los, war er mit ihr +fertig. Und mehr wollte er ja nicht! Zu Dunja gesellte sich darauf +Poljanskij und ging mit ihr auf dem Perron auf und ab. Als sie an +Marakulin vorbeikamen, flüsterte Poljanskij ihm etwas zu, aber so leise, +daß er die Worte nicht verstehen konnte, nur das Lächeln bemerkte er, +das gleiche Lächeln, wie damals zu Ostern. Als dann Marakulin die beiden +von ferne – am anderen Ende des Perrons – wieder erblickte, empfand er +einen brennenden Vorwurf. Je näher sie kamen, desto brennender wurde der +Vorwurf und die Scham in ihm. Und als sie wieder ganz nah an ihm +vorüberging – er stand ganz allein und für sich – und er sie von +Angesicht zu Angesicht sah – da konnte er dies brennende Gefühl des +Vorwurfs und der Scham nicht mehr ertragen: er warf sich ihr zu Füßen +und verneigte sich tief bis zur Erde. Da geschah lautlos offenbar etwas +Unheimliches: denn die Menge stob plötzlich nach allen Richtungen +auseinander. In dem Moment nämlich, da sich Marakulin verneigte, fuhr +der Zug ein, der Bahnhof erdröhnte, der Wind pfiff, – und als er sich +erhob, sah er, daß ein Polizist, vielleicht war es auch ein +Polizeileutnant, Dunja beim Arm fortschleppte. Marakulin begann zu +zittern, begriff nichts, und einzig das scharfe Pfeifen des Windes in +den Ohren, versetzte er dem Polizeileutnant einen Schlag. Es war aber +so, daß der Reviervorsteher Dunja gar nicht arretieren wollte, vielmehr +konnte er sie gerade noch zurückreißen, bevor der Zug sie erfaßte und +zermalmt hätte. Dies erfuhr Marakulin aber, als es schon zu spät war. Am +nächsten Abend erschien Plotnikow plötzlich im Polizeirevier auf der +Taganka, wohin Marakulin aus Kuskowo gebracht worden war, und teilte ihm +schüchtern mit: man würde ihn morgen früh freilassen. In der Tat wurde +Marakulin am nächsten Morgen ohne weitere Folgen entlassen. So hatte ihn +Plotnikow damals aus dem Gefängnis befreit. Das war auch Marakulins +letztes Zusammentreffen mit ihm gewesen. + +Alle diese Moskauer Erlebnisse stiegen bis ins kleinste in seiner +Erinnerung auf und ließen Marakulin die ganze Nacht nicht schlafen. Erst +ganz nah vor Moskau schlummerte er ein und hatte einen seltsamen Traum. + +Er träumte, Pawel Plotnikow trete zu ihm und spreche schüchtern: + +– Das beste, rationellste und psychologischste für dein Leben wäre, dir +den Kopf abzuschneiden. + +Marakulin aber antwortete: + +– Wie soll ich dann ohne Kopf leben, es ist ja schrecklich ohne Kopf! + +– Was ist aber zu machen! – erwiderte Plotnikow und redete ihm zu: es +würde gar nicht weh tun und ihm höchstens seltsam und sonderbar +vorkommen. Und obwohl er ihm auf seine Art schüchtern zuredete, so ließ +er doch keinen Widerspruch gelten. + +– Nun, so schneide ab! – willigte Marakulin ein. + +Da nahm Plotnikow ein Rasiermesser und machte sich ans Abschneiden. Es +tat wirklich nicht weh, und bald hing der Kopf nur noch wie an einem +Faden nach hinten. + +– Noch eine kleine entscheidende Bewegung und der Kopf ist abgeschnitten +– sagte Plotnikow und arbeitete mit dem Rasiermesser. + +Und der Kopf fällt zu Boden. + +Aber auch ohne Kopf sieht Marakulin alles: er sieht, wie der Kopf +herunterfällt, auf dem Fußboden rollt und verschwindet, und gleichzeitig +schießt aus dem Hals das Blut in einem großen Strahl in die Höhe bis zur +Decke – dickes, kirschrotes Blut. Der ganze Boden ist überflutet, und +auch er ist ganz mit Blut bedeckt. Dann wird die kirschrote Blutfontäne +schwächer, immer schwächer, und bald spritzt das Blut nicht mehr, es +versiegt, und nur ein kleines Bächlein rinnt über die Weste zu Boden. +Marakulin tritt zum Spiegel: seltsam und sonderbar kommt er sich ohne +Kopf vor, – es ragt nur noch der blutige Hals. + +– Wie soll ich nun ohne Kopf leben? – Er spuckte aus und erwachte. + +Der Traum war ahnungsvoll: seltsam und sonderbar war auch, was dann +geschah. + +Bei Plotnikow wurde Marakulin schon erwartet. Der alte Arbeiter Fomitsch +führte ihn gleich zu seinem Herrn ins Arbeitszimmer. Das Zimmer war in +zwei Hälften geteilt. In der einen Abteilung befanden sich Kopien nach +Nesterowschen Heiligenbildern, in der anderen zwei Käfige mit Affen. +Zwischen dem heiligen Rußland und den Affen saß Plotnikow vom Delirium +des Säufers übermannt. Er war ganz mit Honig beschmiert und von der +quälenden Trauer eines Einsiedlers umdüstert. Auf dem Tisch standen +geleerte Flaschen herum, ebenso unter dem heiligen Rußland und vor dem +Affenkäfig. + +Er habe keinen Kopf mehr, klagte Plotnikow, sein Mund sei ihm im Rücken, +die Augen in den Schultern. In den Weihnachtstagen habe er sich auf den +Honig gestürzt und ihn samt den Waben verzehrt. Er habe zuviel davon +gegessen und infolgedessen hätten sich Bienen in ihm eingenistet, ein +ganzer Bienenstock. Jetzt sei er ein Bienenstock und fürchte sich sehr, +– Alle seien ja auf das Süße so erpicht – er fürchte, daß man alle seine +Bienen umbringen, den Bienenstock zerstören und ihn auffressen würde! Im +Sommer aber, sobald die erste Fliege auftauchen werde, wolle er sich mit +der Ausbeutung der Fliege als einer motorischen Kraft befassen. Er werde +ganz Rußland in Abteilungen einteilen, mit je einem Fliegenstatthalter +in jeder Provinz. Die Statthalter, mit der Vollmacht von +Generalgouverneuren ausgerüstet, werden die Fliegenlese überwachen und +sie in automatischer Packung in ganz besonders gepanzerten Automobilen +von allen Ecken Rußlands gradewegs nach Moskau, nach der Taganka +befördern. Die russische Fliege werde den Dampf und die Elektrizität +besiegen, Rußland werde England und Amerika zu Staub zermalmen. Er habe +keinen Kopf, sein Mund sei im Rücken, die Augen in den Schultern. Er sei +ein Bienenstock. Die russische Sprache verstehe er nicht und könne auch +nicht Russisch sprechen. + +– Ich brauche deinen Elephanten nicht! – schrie Plotnikow, indem er +Marakulin mit seinen betrunkenen Augen von oben bis unten hochmütig +ansah, und schimpfte in so echt russischen Wendungen, ließ solche Blasen +steigen, daß ihm vor der Klangfülle und Kernigkeit der Muttersprache die +Augen aus den Höhlen traten. + +Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland und den Affen und begriff +nichts: weder das von dem sonderbaren russischen Fliegenmotor, noch vom +Bienenstock und Elephanten, und es war ihm seltsam und sonderbar zumute. +Sein Schweigen aber begann Plotnikow offenbar zu reizen. Er war nicht +mehr in dem reuig-traurigen Zustand eines Einsiedlers, sondern er +schnaubte. + +Die russische Sprache verstehe er nicht und Russisch könne er nicht +sprechen. Mit Hilfe der arktischen Flotte werde Rußland, nachdem es +Europa zermalmt, über Lappland zum Pol ziehen und nicht bloß den Pol +erobern, wo die Fische mit angebratenen Schwänzen leben, sondern alles, +was sich hinter dem Pol befindet, den unbekannten Wohnsitz von Gog und +Magog – und dieses unbekannte Gog und Magog werde Landia genannt werden, +das heißt: das Land. Von dort aus, von dieser hinterpolaren Landia aus, +werde Rußland, das heißt er, Pawel Plotnikow, die unentgeltliche, +allrussische Fliegenkraft als Motor benutzend, die Erdkugel automatisch +regieren und sie nach Gutdünken bald rechts, bald links rotieren lassen, +sie bald aufhalten und bald wieder in Bewegung setzen. + +– Du Schuft! – rief Plotnikow plötzlich, – deine Elephanten sind +zerdrückt, ich sage dir, ich kaufe keine zerdrückten Elephanten! + +Er ergriff eine Flasche vom Tisch, erhob sich, rot, zerzaust, mit Honig +beschmiert, den Mund wie einen Rachen weit aufgesperrt und holte zielend +mit der Flasche aus. + +Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland und den Affen. Er begriff +nichts, weder das von der arktischen Flotte, noch von Gog und Magog, +noch von der Landia und vom Rotierenlassen der Erdkugel nach Belieben, – +und es war ihm seltsam und sonderbar zumute. + +Plötzlich aber glitt die Flasche fast schüchtern zu Boden, und ein +rasender tierischer Schrei, erschütternder als jeder Hilferuf, ertönte +so gewaltig, daß die Wände fast barsten, das heilige Rußland zu wanken +begann und die Affen in ihren Käfigen zurückscheuten. Es stöhnte in den +Winkeln des Raumes und dröhnte durchs ganze Haus: + +Plotnikow, der sich in seiner bösen Trinkerperiode befand, ohne Kopf, +mit dem Mund auf dem Rücken und den Augen in den Schultern, Plotnikow, +der Bienenstock, der kein Wort Russisch verstand und nicht Russisch +sprach – hatte Marakulin plötzlich erkannt. + +– Petruscha, Schuft aller Schufte! – schrie er. Er blieb stecken, drehte +den Kopf wie einen Rüssel, stampfte vor Marakulin hin und her und +spreizte die behaarten Hände wie Fangarme; dabei rüttelte und schüttelte +es ihn, wie ein arktisches Panzerschiff: – Petruschka, du Schuft! – + +Er wankte zum Sofa, schlug mit seinem bepanzerten, Gog und Magog +ähnlichen urtümlichen Plotnikowschen Körper auf den Boden zwischen dem +heiligen Rußland und den Affen hin und begann wie ein Bienenstock zu +dröhnen. + +Zwei junge Männer, die an der Tür Wache hielten, faßten Marakulin unter +die Arme und trugen ihn wie eine kostbare Truhe aus dem Arbeitszimmer in +den Salon. Ihm entgegen kam auf einen Stock gestützt eine magere alte +Frau, die Mutter Plotnikows, Eudokia Andrejewna in eigener Person. + +– Du hast ihn gesund gemacht! – Die Alte konnte vor Erregung kaum +sprechen, und nachdem sie auf altrussische Art ein großes Kreuz +geschlagen, ließ sie den Stock fallen und verneigte sich vor Marakulin +tief bis zur Erde. Einige dunkelgekleidete alte Frauen stürzten aus den +Ecken hinzu, um ihr zu helfen, aber sie wollte nicht aufstehen. Erst +Marakulin gelang es, die Alte zu beruhigen. + +Achtundvierzig Stunden schlief Plotnikow, wie ein Bienenstock dröhnend. +Es herrschte eine Stille, als wäre außer ihm, außer dem Bienenstock +keine lebendige Seele im Hause. Diese ganzen zwei Tage ließ man +Marakulin nicht aus dem Hause: er wurde gepflegt, gefüttert, aber seine +Tür wurde verschlossen gehalten. + +Man unterhielt sich über den unseligen Pascha[9], über sein Unglück: er +habe sich mit Honig beschmiert und seitdem aufgehört, die Menschen zu +erkennen, selbst seine Mutter hielt er für einen gehörnten Elephanten, +für ein zerdrücktes Tier, und habe Fomitsch befohlen, sie zu erschießen. +Er habe dann in seinem unglückseligen Delirium jammervoll nach Marakulin +gerufen, so jammervoll, wie eine Katze, der man die Jungen entrissen. + +– Da erinnerte ich mich – erzählte Eudokia Andrejewna, – daß Pascha, als +er anfing, sich ans Geschäft zu gewöhnen, oftmals ein Buch mitbrachte. +Bei Petruscha, bei Peter Alexejewitsch war er, hieß es, und habe das +Glück mitgebracht. Er glaubt an dich von Kindheit an. Und so dachte ich: +der einzige Retter vor seiner grausamen Krankheit und vor seinem Unglück +kannst du nur ihm sein. Wir baten den Priester von Woskressenje[10], den +Vater Ssemjon, ihn mit Weihwasser zu besprengen, er ließ ihn aber nicht +an sich heran und nannte ihn ein zerdrücktes Tier. Dann wollten wir ihn +nach Chapilowka zum Bruder Iwanuschka bringen, er wollte aber nichts +hören. Dem Arzt Nikolai Fjodrowitsch sei es gedankt. Er hat uns auf den +Gedanken gebracht, dich kommen zu lassen. Du, Lieber, hast ihn geheilt! +– und die Alte bekreuzigte sich auf altrussische Art mit einem großen +Kreuz und verneigte sich tief. + +– Durch die Einwirkung des Unreinen, – wie eine grimmige Bestie! – +flüsterten die dunklen Alten in den Ecken. + +Und Eudokia Andrejewna schlug Kreuze und verneigte sich tief. + +Am dritten Tag erwachte Plotnikow, fuhr, als wäre nichts vorgefallen, in +die Stadt und kehrte erst am Abend wohlbehalten wieder heim. Am Abend +schleifte er Marakulin mit sich ins Wirtshaus zu Lawrow. + +Sie saßen wieder wie einst im linken Saal in einer Ecke, und wie einst +spielte der Musikautomat. Plotnikow kramte Erinnerungen aus: +Erinnerungen an die Schule, an die Lehrer, an Tschistije-Prudy und +Kuskowo. Er erinnerte sich sogar an eine besondre Lawrowsche Suppe, die +Marakulin damals so gern gegessen haben sollte. Der Musikautomat machte +traurig: doch nicht daß man Lust bekam, das Vergangene zurückzurufen – +die Vergangenheit lag ja hier vor einem wie auf der flachen Hand – +sondern es war unverständlich, wozu es einmal gewesen war, es sei denn +dazu, daß man sich einmal daran erinnerte. Und in die geheimsten Winkel +seines Lebens hineinschauend, erkannte Marakulin, daß es sich eigentlich +in nichts verändert hatte, daß er damals bei der besondren Lawrowschen +Suppe dasselbe gedacht und gefühlt hatte wie jetzt, nur unklar und nicht +ausgesprochen, mit einem flüchtigen, zufälligen Aufflackern von +Klarheit. Uebrigens, verändern sich denn die Menschen überhaupt? – + +Sie saßen wie einst im linken Saal in einer Ecke, und wie einst spielte +der Musikautomat. + +– Mit deinem Arkadij Pawlowitsch – sagte Plotnikow, – mit dem +Reviervorsteher, – du hast ihn damals sehr zu Unrecht gekränkt, +Petruscha – habe ich da ... – Plotnikow zeigte in die Richtung der +Separés und schlug sich seufzend auf die Tasche, – Fünfhundert Rubel +verlangte er für den Vergleich, und alles wegen deiner Fenja ... + +– Dunja – verbesserte Marakulin. + +– Dunja, Fenja, einerlei, – komm mit zu Arkadij Pawlowitsch, Freund, er +wird sich sehr freuen! Er hat, weißt du, für den Moskauer Aufstand ein +Kreuz bekommen, wirklich, und ist auf die Twerskaja versetzt worden – er +wird sich sehr freuen! Und weißt du was noch, Petruscha – Plotnikow +neigte sich zu ihm und sprach ganz leise – ich glaube an dich, wie an +den lieben Gott, und wenn in den Geschäften etwas nicht glatt geht, so +brauche ich nur an dich zu denken, deinen Namen laut auszusprechen, und +sieh, alles geht nach Wunsch. Ich denke darum, wenn mein Ende einst naht +und ich sterben muß, dann werde ich dich rufen, du wirst kommen und +meinen Tod aufhalten. Ich werde wie eine grindige Katze miauen, du aber +wirst mich wieder zum Menschen machen. So denke ich von dir, Petruscha! + +Sie saßen wie einst im linken Saal, und wie einst spielte der +Musikautomat. + +Doch sonderbar: während Plotnikow sich an alles von früher her +erinnerte, selbst an die besondre Lawrowsche Suppe, die Marakulin gern +gegessen haben sollte, und während er seinen Glauben an ihn bekannte, +war er gar nicht neugierig und fragte auch nicht mit einem Wort, wie es +Marakulin jetzt gehe; und noch sonderbarer war dies, daß Plotnikow, ohne +die Augen von Marakulin abzuwenden, einen ganz anderen zu sehen schien, +nicht Marakulin, sondern Gott weiß wen! Vielleicht sah er in der Tat in +ihm jemand, den man nicht nach seinen Angelegenheiten ausfragen kann. +Man fragt doch die Iwerskaja Mutter Gottes[11] nicht nach ihren +Geschäften! – Und es war Marakulin sonderbar und seltsam zumute. + +Noch einen Tag blieb Marakulin bei Plotnikow. Plotnikow führte ihn nach +der Iljinka in den Speicher, dann in das Twersche Polizeirevier zu +Arkadij Pawlowitsch; er war zu Plotnikows großem Bedauern nicht +anwesend. Abends brachte er Marakulin zur Bahn. Und beim Abschied +wiederholte er, daß er an ihn wie an den lieben Gott glaube, und wenn er +einst im Sterben ihn erblicken werde, so werde er sich vom Krankenlager +erheben, wie eine grindige Katze miauen und sich wieder in einen +Menschen verwandeln. + +Erst nachts unterwegs fragte sich Marakulin plötzlich, ob er seinen +Aufenthalt in Moskau nicht geträumt hätte. + +Das Alles war so sonderbar und seltsam: daß Plotnikow an ihn wie an den +lieben Gott glaubte, daß er sich nach der Iljinka in den Speicher +schleifen ließ, ja sogar zum Reviervorsteher Arkadij Pawlowitsch, – aber +nach Kalitnikowo auf den Friedhof zu gehen, hatte er vergessen. Und er +hätte doch unbedingt hingehen müssen, einen Augenblick am Grabe seiner +Eltern verweilen, es nur ansehen, – nur ansehen und Abschied nehmen! + +Und ein Gefühl von Gram überflutete ihn. + + + + + Sechstes Kapitel + + +Den ganzen Tag von Morgen bis zum Abend lief Wera Nikolajewna herum, um +zu massieren, die Abende verbrachte sie über ihren Lehrbüchern: sie +bereitete sich zum Abiturientenexamen vor, weil sie um jeden Preis in +das medizinische Institut eintreten wollte. Wera Nikolajewna wurde von +Anna Stepanowna unterrichtet, deren Angelegenheiten im Lednjowschen +Mustergymnasium übrigens nicht zum besten standen. + +Die Vorsteherin Lednjowa zahlte ihr vorläufig mit Aussicht auf die +geheimnisvollen Equipierungsgelder den Gehalt aus eigener Tasche, und +sie begleitete diesen üppigen Vorschuß jedesmal mit ihren beliebten +Erörterungen über gute Taten, über den Verfall der Moral überhaupt und +über ihre eigene Opferwilligkeit – man denke: in ihrem eignen Gymnasium +gab sie den Unterricht umsonst! – + +Nach Anna Stepanownas Erzählungen war in diesem Gymnasium die Hölle los. +Es herrschte ein musterhafter Wirrwarr in dem musterhaften Gymnasium. +Nicht weil da etwa lauter ungezogene Kinder beisammen gewesen wären, +nicht an ihrer Ausgelassenheit lag es, sondern weil man die Schülerinnen +als Einnahmequellen warm halten mußte, und diese Behandlung von den +Kindern ganz richtig eingeschätzt wurde. Natürlich wurden nie Verweise +erteilt, und die Noten mußten so ausfallen, daß die Eltern nicht auf den +Gedanken kommen sollten, ihre Töchter in eine andre Schule zu geben. Die +Lednjowa gab selbst Unterricht und liebte es auch, den Stunden andrer +beizuwohnen und durch allerlei Fragen ihre unbezahlten Lehrer zu +kontrollieren. Es wurde überhaupt nach keinem Programm unterrichtet, +auch nicht nach den Lehrbüchern, die das Unterrichtsministerium +begutachtet und bestimmt. So zum Beispiel waren in der großen +französischen Revolution nicht etwa Robespierre und Marat die Führer, +wie man gewöhnlich lehrt – was bedeutet auch so ein Robespierre oder +Marat! – der Hauptführer war Hugo Capet, der für sein Verbrechen gegen +König Louis zugrunde ging. + +Der musterhafte Wirrwarr im musterhaften Gymnasium wurde durch eine +musterhafte Enge und Kälte vervollständigt. Es herrschte darin eine +echte Januarkälte. Die Oefen wurden niemals geheizt, und zwar nicht nur +nicht in den Klassenzimmern – denn so verlangt es das letzte Wort der +Hygiene –, sondern auch nicht im Lehrerzimmer. Es ist wahr, daß die +Kinder nicht sehr darunter litten: sie tanzten, sprangen, tobten herum, +und das Gymnasium war ein wahres Sodom an Lärm. Für die Lehrer war es +weniger bequem, daran teilzunehmen: leise kann man nicht Lärm machen und +laut schickt es sich nicht. Auf alle Vorstellungen hatte die Lednjowa +nur eine Antwort: + +– Was fällt Ihnen ein? Sie sollten sich erst das Karrassewsche +Gymnasium, oder das Spaßesche ansehen, dort ist es wirklich kalt! + +Diese Antwort der Lednjowa versetzte Anna Stepanowna aus Petersburg in +ihr Purchowez zurück und erinnerte sie an den Inspektor der +Volksschulen, an den berühmten Obraßzow. + +Dieser berühmte Mann aber war nicht mehr und nicht minder als der +leibliche Bruder der Vorsteherin Lednjowa. + +Rakow, der Historiker, sprach mit großem Respekt von ihm. Nach Rakow, +wäre Obraßzows Name, hätte dieser in der „antiken Geschichte“ gelebt, +unbedingt unter den berühmten Aussprüchen im Tempel zu Delphi +eingegraben worden, und sein Kopf hätte den Giebel des athenischen +Parthenon geschmückt. Und Rakow, der Historiker, irrte sich nie. + +Als einmal ein Lehrer sich bei Obraßzow beklagte, daß es in der Schule +naß und kalt sei, nur sechs Grad, da lautete Obraßzows, einer Lednjowa +würdige Antwort folgendermaßen: + +– Ich bitte Sie, sechs Grad, das ist ja doch ein wahrer Segen. Im +Pokidoschenschen Gouvernement aber, da kam ich einmal, als ich noch +Inspektor dort war, in eine Schule: die Kinder saßen in Schafpelzen, der +Lehrer im Pelz und in Gummischuhen. Ich sitze ein Weilchen da, bin ganz +durchfroren. Ich will eine Notiz über meinen Besuch machen, doch die +Tinte ist eingefroren. Der Lehrer blies in das Tintenfaß, blies und +wärmte es, es nützte aber nichts, und ich mußte ohne Notiz abreisen. +Eine solche Kälte war da! Bei Ihnen aber ist ein wahrer Segen! – Und als +ein andrer Lehrer sich einmal über die Enge in der Schule beklagte, da +blieb ihm Obraßzow auch die Antwort nicht schuldig: + +– Ich bitte Sie – rief er, – Sie haben keine Ahnung von wirklicher Enge. +Im Pokidoschenschen Gouvernement, da kam ich einmal, als ich dort noch +Inspektor war, in eine Pfarrschule: es war auch zugleich das Armenhaus. +Im selben Zimmer die Betten der Armenhäuslerinnen, eine Gans schnattert +in einem Korb auf den Eiern, ein Kalb blökt, und gleich daneben die +Kinderchen auf fünf Bänken, – kein Platz, um auch nur einen Schritt zu +machen, und die Luft so, daß mir der Atem verging. So eng ist es +manchmal, hier aber ist ein wahrer Segen! – Dem Lehrer aber, der von +einer Masse Frösche meldete, die sogar unter die Bettdecke krochen, gab +Obraßzow einen wahrhaft delphischen Verweis, der es gebieterisch +verlangt, Purchowez oder Pokidosch in Rakows Geschichte des Altertums +aufzunehmen. + +– Es kann hier von einer Masse gar nicht die Rede sein – rief Obraßzow – +ein Dutzend höchstens hüpft da herum, gleich kommen Sie und nennen das +eine Masse! Sie haben eben nie eine Masse gesehen! Im Pokidoschenschen +Gouvernement, da kam ich einmal, als ich noch Inspektor dort war, in +eine Schule, da wimmelte es an der Decke buchstäblich von Schwaben. Wenn +man die Tür zuschlug, da regneten sie nur so herunter! Das nenne ich +eine Masse. Als ich nach Hause kam und mich auszukleiden begann, da +wimmelten die Schwaben nur so auf mir herum. Meine Frau bekam Angst und +stieß mich sofort in den Frost hinaus, und ich mußte mich draußen +ausziehen. Aber bei Ihnen hier ist ja ein wahrer Segen! + +Ja, Rakow der Historiker hatte recht, wie immer. + +Doch wenn man den Namen des berühmten Purchowezschen Inspektors unter +den berühmten Aussprüchen im Tempel von Delphi hätte eingraben müssen, +so müßte man die Vorsteherin Lednjowa, welche die große Kunst besaß, +keinen Heller aus ihrer eigenen Tasche auszugeben und die nicht nur ihre +ausgehungerten Lehrer, sondern sogar das Ministerium naszuführen +verstand, – noch großartiger ehren! + +Der Winter ging zur Neige. Zugleich mit dem Schnee schmolz der große +schwarze Berg auf dem belgischen Hof zusammen. Der Frühling kam, Ostern +kam. + +Freudlos wurde das Osterfest empfangen, so wie das Weihnachtsfest +freudlos vergangen war. Wassilij Alexandrowitsch der Clown hatte das +Krankenhaus verlassen. Seine Ferse war geheilt, dennoch war seine Kunst +unwiderruflich verloren. An der Ferse war etwas nicht richtig, er hatte +gleichsam keine Ferse mehr: er konnte nur bis zur Ecke der Gorochowaja +gehen, bis zum Zeitungsausträger und zurück, nicht weiter. Wera +Nikolajewna riet der Arzt, statt das Abiturientenexamen zu machen, keine +Zeit zu verlieren und nach Abas-Tuman[12] zu reisen: an ihrer Lunge war +etwas sehr nicht in Ordnung – es war etwas wie ein Geräusch oder ein +Zischen. Anna Stepanowna fiel bei der musterhaften Lednjowschen Ordnung +einfach um vor Müdigkeit – und lächelte. Sie lächelte stets ihr krankes, +erschreckendes Lächeln. + +Zu Ostern ereignete sich auf dem Burkowschen Hof alles, was jahraus, +jahrein an den hohen Feiertagen sich zu ereignen pflegte, seitdem das +Haus an der Fontanka stand: Unfälle, Begebenheiten, Skandale, +Schlägereien, Prügeleien, Hilferufe, Polizeiwache – doch alles in sehr +gesteigertem Maße und viel lauter als gewöhnlich. + +Bei der Hebamme Lebedjowa ereignete sich wieder ein Diebstahl, diesmal +aber wurde ihr kein Pelzmantel gestohlen, sondern zweiunddreißig Rubel, +die sie sich für einen neuen Pelz zusammengespart hatte. Das Geld lag in +einem Strumpf in einer geschlossenen Kommode; der Strumpf fand sich, +doch das Geld war spurlos verschwunden, als wäre es im Ofen verbrannt +worden. Man beschuldigte wieder den Portier Nikanor, er hätte nicht +genügend aufgepaßt, doch wie sollte er aufpassen: den ganzen Tag ist er +auf den Beinen und bei Nacht das Geklingel, und so das ganze Jahr +hindurch! Natürlich war es ein schlauer Dieb, einer von den Hausgenossen +– aber es war nichts zu machen. Der Bäcker Jarigin aus der Burkowschen +Bäckerei legte sich, nachdem er den ganzen ersten Feiertag gesoffen +hatte, abends auf ein Brett schlafen, das über dem Backtrog lag. In der +Nacht hatte er sich wohl ungeschickt umgedreht und fiel in den Teig. Im +Laufe der Nacht hat es ihn eingesaugt, und als man es am Morgen gewahr +wurde, da war es zu spät, nur die Beine ragten noch aus dem Teig. Ein +guter Bäcker war der Jarigin! Stanislaus der Kontorist und Kasimir der +Monteur wollten sich amüsieren und machten zum Spaß Jerkin den +Paßaufseher betrunken. Jerkin aber, der sein Neujahrsgelübde, nicht zu +trinken, das er dem Bruder im Hafen abgelegt, bis nun streng befolgt +hatte, wurde infolge der strengen Enthaltsamkeit nach einem Glas +Pfefferbranntwein toll und begann zu raufen. Das geschah am hellichten +Tage im Hof, während in den „Winkeln“ die Mädchen in den schwarzen +Kopftüchern und die Nonnen, die Almosensammlerinnen in Schaftstiefeln, +für Gorbatschow „Christ ist auferstanden“ sangen. Kasimir entkam, +Stanislaus aber fiel herein: Jerkin nahm ihn auf die Arme, warf ihn zu +Boden, preßte ihn, drückte ihn mit dem Knie und biß ihm die Nase ab. Der +rote Hund des Gouverneurs, der gerade auf dem Hofe war, fraß Stanislaus’ +Nase auf. Burkow selbst, der ehemalige Gouverneur, der Selbstvertilger, +vergaß am ersten Ostertag, als er aus einer vornehmen Gesellschaft nach +Hause fuhr, ein Osterei im Wagen, und als er am anderen Morgen den +Verlust bemerkte, meldete er es der Polizei und forderte die +Feststellung des Kutschers, der sich dies offenbar außergewöhnliche Ei +angeeignet hatte; – was man in allen Petersburger Zeitungen am dritten +Tag lesen konnte. Ebenfalls am dritten Tag verurteilten die Kinder im +Hof, Kriegsrecht spielend, Wanjuschka, den Sohn des Portiers Nikanor zur +Todesstrafe durch den Strang und vollzogen das Urteil: sie schleppten +den Knaben in die Wagenremise und hingen ihn vermittelst einer +Pferdeleine auf. Kaum, daß man ihn wieder ins Leben rufen konnte: es war +ein schwächlicher Bub. Er war schon ganz blau und wäre beinahe erstickt. +Schließlich beging das Ehepaar Oschurkow ganz unerwartet Selbstmord. +Niemand im Hof konnte begreifen, weshalb sie es getan hatten. Sie hatten +ja eine Wohnung von zehn Zimmern, alle zehn Zimmer voll von Nippes, und +ein Aquarium mit Goldfischchen. „Es war eine feine Gesellschaft!“ +wiederholten die Dienstmädchen einstimmig, jene Köchinnen und +Hausmädchen, die wegen eben dieser Nippes nie lange bei Oschurkows +aushalten konnten. + +Kurz nach Ostern, in der Thomaswoche, kam einmal Sergej Alexandrowitsch, +der mit dem Theater einen Vertrag über eine Gastspielreise ins Ausland +geschlossen hatte, zu Marakulin zum Tee. Es kamen auch Wera Nikolajewna +und Anna Stepanowna, und auch Wassilij Alexandrowitsch der Clown, auf +ein Stöckchen gestützt. Es war die Rede von der Damaskinschen +Gastspielreise ins Ausland; Sergej Alexandrowitsch sah in ihr fast so +etwas wie Rußlands Rettung. Er meinte: Rußland, das unter all den +Rakows, Lestschows, Obraßzows, Lednjowas, Burkows, Gorbatschows und +Kabakows erstickte, dieses Rußland werde sich zum erstenmal mit seiner +Kunst der Stadt der großen Männer, dem Herzen Europas – Paris, zeigen +und es besiegen. + +– In der Tat, – rief Sergej Alexandrowitsch, indem er sich wie auf dem +Theater reckte, – laßt uns doch alle hinfahren! Alle müssen wir ins +Ausland, wenn auch nur für einen Monat, für eine Woche, gleichviel, nur +um einen Blick zu tun, und um uns von dieser ganzen Burkowerei zu +erholen. Auch du, Wassilij, auch dich schleppen wir mit! Und auch Sie, +Wera Nikolajewna, denken Sie nicht mehr an Ihr Abas-Tuman! + +– Wo nehmen wir das Geld zur Reise? fragte Anna Stepanowna und lächelte. + +– Wie? wieso Geld? + +– Wie kommen wir ins Ausland? – bemerkte Wera Nikolajewna. + +– Du hast dich verstiegen, Bruder, mit deinem Paris, meine ich! + +– Ich werde das Geld schaffen – rief Marakulin, der sich plötzlich an +Plotnikow erinnerte, – ich werde uns tausend Rubel verschaffen! – +Marakulin sagte es so fest und überzeugt, daß es alle mit Glauben +erfüllte, und man sprach nicht mehr vom Gelde. + +So wurde der Beschluß gefaßt: Alle reisen ins Ausland, nach der Stadt +der großen Männer, ins Herz Europas – nach Paris. Sie bekamen ganz heiße +Köpfe und schmiedeten allerlei Pläne. Die Einzelheiten dieser Pläne +wurden mit solcher Begeisterung und mit solchem Glauben ausgemalt, als +wäre in der Tat Rußlands Rettung, – ihre Rettung mit dieser Reise +verbunden, und sie brauchten bloß die Grenze zu überschreiten, damit die +Rettung sich vollziehe. + +Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren Platz auf Erden finden, ihre +Seele wird sich aufrichten, und sie wird anders lächeln können. Dort, in +Paris wird Wera Nikolajewna sich erholen und ihr Abiturientenexamen +machen. Dort, in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch wieder das Trapez +besteigen und seine Künste zeigen können. Dort, in Paris wird, während +Sergej Alexandrowitsch tanzend das Herz Europas besiegt, auch Marakulin +seine verlorene Freude wiederfinden. + +Man müßte Werotschka finden – dachte Marakulin plötzlich, und er sagte: +wir müssen auch Werotschka mitnehmen, damit sie dort in Paris zu sich +kommt. Entweder sie wird dort eine große Schauspielerin und rächt sich +so an Anissim Wakujew, oder noch besser: mag dort Ruhe über sie kommen +und der Friede Gottes, daß die Rache in ihr still wird, und sie verzeiht +ihm. + +Als er dies sagte, waren alle einverstanden, daß man auch Werotschka +mitnehmen müsse. – Ich bin Werotschka begegnet – erzählte Wera +Nikolajewna, – Sie waren damals in Moskau. Ich gehe einmal abends durch +die Gorochowaja nach Hause, da kommt sie mir entgegengelaufen. Es war +kalt, der Sturm pfiff, und sie lief in einem Sommerjäckchen herum, ein +weißes Tuch um den Kopf. „Werotschka!“ rufe ich. Sie blieb stehen, sah +mich an, aber so sonderbar. Sie zitterte am ganzen Leibe. „Werotschka,“ +sage ich, „kommen Sie Tee trinken, kommen Sie zu uns Tee trinken!“ Sie +aber richtet ihr Kopftuch, zittert am ganzen Leibe und schüttelt den +Kopf. Es war auf der Ssemjonowschen Brücke, – eine furchtbare Kälte, der +Sturm pfiff ... + +Noch am selben Abend wurde der Brief an Plotnikow geschrieben, und am +nächsten Morgen eingeschrieben nach Moskau abgeschickt. Marakulin +glaubte so fest, daß das Geld kommen würde, er glaubte so fest an die +tausend Rubel von Plotnikow, wie Plotnikow selbst an Marakulin glaubte. + +Inzwischen begab sich Adonja Iwoilowna auf ihre Pilgerfahrt. Sie zog +nach Jerusalem, wo der Weihrauch nie verduftet und wo die Kerzen +brennen, die nie verlöschen. Dort wird sie im Jordanfluß baden und sich +mit Wermut abtrocknen, damit all ihr Gram wie Tannenrinde von ihr +abfalle, all ihr Kummer und ihre Tränen. Dann wird sie Paraschas Schiffe +verstehen, und die Erde am Grabe ihres Mannes auf dem Smolenskischen +Kirchhof wird nicht mehr abbröckeln. + +An den Abenden war Akumowna frei und legte Karten. Sie zeigten für jeden +eine große Veränderung an und einen Weg, und für Marakulin außerdem noch +Gras und Tannen, wie damals vor seiner Reise nach Moskau, nur daß die +Tannen jetzt nicht mehr am Rande, sondern ganz nahe bei ihm lagen. Bei +Wera Nikolajewna lagen sie am Rande. + +– Ein fröhlicher Weg! – flüsterte Akumowna. + +– Wir fahren nach Paris, Akumowna, ins Herz Europas! + +– Wollen wir nicht auch Akumowna mitnehmen? Ist Akumowna einverstanden, +mit uns nach Paris zu gehen? – fragte Sergej Alexandrowitsch zwinkernd. + +– Gewiß. Ich komme mit. Neun Jahre habe ich keine Luft geatmet. Da werde +ich aufatmen. + +Akumowna ließ sich nicht lange bitten, denn sie wäre bereit gewesen, +Sergej Alexandrowitsch nicht nur nach Paris, sondern sogar bis ans Ende +der Welt zu Fuß zu folgen. + +– Ausgezeichnet! Wir lassen also die Sklavin Kusjmowna hier, um die +Wohnung zu hüten, und adieu Rußland! Man muß alles von sich abschütteln! +– Und vor Ueberschwang der Gefühle und Hoffnungen auf den Erfolg +Rußlands, oder auf seinen eigenen Sieg im Herzen Europas, begann Sergej +Alexandrowitsch mit den Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den Flügeln. + +– Man soll dann schon auch Weruschka mitnehmen. Die wird hier zugrunde +gehen, die Unverschämte! – sprach Akumowna, an ihre Wera denkend, die +auf dem Burkowschen Hof längst zugrunde gegangen war. + +– Auch deine Weruschka nehmen wir mit, Alle werden wir im Auslande sein! + +Akumowna legte liebevoll Karten für Sergej Alexandrowitsch. + +– Unser Priester in Turij-Rog – erinnerte sich Akumowna plötzlich, – er +war ein guter Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij! Vor seinem Tode +erhob er sich und fragte: „Sind die Pferde bereit?“ – „Was für Pferde, +ehrwürdiger Vater?“ – „Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet mich +zur Hochzeit ins Ausland!“ sagte er und starb. + +– Ein Pope stirbt wie ein Pope! – sagte Sergej Alexandrowitsch lächelnd +und verfolgte weiter die Karten. + +Marakulin aber fühlte plötzlich, wie es in seinem Innern zuckte, als +würde etwas in ihm brechen, doch die Hoffnung rüttelte und richtete ihn +wieder auf. Alle seine Hoffnungen waren jetzt auf Plotnikow gerichtet, +und er konnte an nichts andres denken. Die Hoffnungen waren Mächte. + +Der Mai kam. Auf dem belgischen Hof erhoben sich die weißen Zelte, +Ziegelsteine und Sand wurden angefahren, und die Instandsetzung des +Hauses begann. Abends erklang schluchzend die Balalaika, – von dieser +armseligen nichtrussischen Habe gab es viel auf dem Burkowschen Hof – +und aus den Fenstern reckten sich die während des Winters zerzausten, +ausgehungerten Köpfe, in der Hoffnung, sich in der Maisonne etwas zu +erwärmen. + +Von Plotnikow aber kam noch immer keine Antwort. In Marakulins Herz +schlich sich eine unheimliche Unruhe; er fürchtete, es sich selbst zu +gestehen und sprach zu niemand davon. Die Antwort wird kommen, sie muß +kommen! Sie müssen und sie werden im Ausland sein, in der Stadt der +großen Männer, im Herzen Europas, in Paris! + +Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren Platz auf Erden finden, ihre +Seele wird sich aufrichten, und sie wird anders lächeln können; dort, in +Paris wird Wera Nikolajewna sich erholen und ihr Abiturientenexamen +machen; dort in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch wieder das Trapez +besteigen und seine Künste zeigen, und dort in Paris wird auch +Marakulin, während Sergej Alexandrowitsch im Tanz das Herz Europas +besiegen wird, seine verlorene Freude wiederfinden. Er wird Werotschka +finden, und in Paris wird Werotschka eine große Schauspielerin werden, +Gottes Friede wird über sie kommen. Dort, in Paris wird von Akumowna, +die als rollender Stein bis nach Paris gelangt sein wird, der väterliche +Fluch weichen, sie wird Luft atmen, die sie neun Jahre nicht geatmet +hat, und sie wird es nicht mehr nötig haben, bis zum Kaiser +vorzudringen, oder Aufguß von Pferdemist zu trinken. Dort, in Paris wird +ihre Wera nicht zugrunde gehen, die auf dem Burkowschen Hof schon längst +zugrunde gegangen war. + +Der Glaube besiegte jeden Zweifel, zerstreute durch seine Kraft und +Festigkeit jedwede Unruhe. Marakulin glaubte an die Plotnikowschen +Tausend, wie Plotnikow an ihn selbst. Eine Woche nur blieb noch bis zu +Sergej Alexandrowitschs Abreise ins Ausland. Es wurde beschlossen, daß +er mit seinem Theater vorausfahren und von dort, aus Paris, schreiben +sollte. Inzwischen wird das Geld angekommen sein, und dann wird fast der +ganze Burkowsche Hof von der Fontanka geradeaus nach Paris aufbrechen. + +Doch diese Woche, voll von Unruhe, Erwartung und Schwanken zwischen +Glaube und Zweifel, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, bestimmte +von selbst alles auf ihre Weise. + +Im Gymnasium bei Anna Stepanowna waren die Prüfungen vorüber, und +offenbar waren jetzt endlich die geheimnisvollen Equipierungs-, +Wohnungs- oder Reisegelder – jeder nannte sie anders – angekommen. Und +da diese Gelder dort nur einmal ausgezahlt wurden, wurde Anna Stepanowna +natürlich von der Lednjowa gekündigt. Für Anna Stepanowna, meinte die +Vorsteherin, sei es zu schwer am Gymnasium, sie sei auch nicht ganz ohne +Tadel, sie trage zum Beispiel eine halsfreie Bluse, das schicke sich +nicht; auch lächle sie so eigentümlich, – dieses Lächeln mache Seine +Ehrwürden, den Religionslehrer Aristowulow verwirrt, das schicke sich +auch nicht; man könnte ja sagen: im Lednjowschen Mustergymnasium werde +Seine Hochwürden durch eine Lehrerin verdorben, und das wäre schon ganz +fatal! – Mit einem Wort: wenn der Mensch die Absicht hat, zu irgendeinem +ihm notwendig erscheinenden Zwecke einen anderen zu beschmutzen, so gibt +er sich Mühe, – dazu ist er ja ein Mensch. Selbstverständlich ertranken +die halsfreie Bluse und der Priester Aristowulow, der von Anna +Stepanowna verdorben wurde, in den beliebten Betrachtungen der Lednjowa +über gute Taten überhaupt, über den Verfall der Moral und über die +Sittenverderbnis, über die junge Sache, die man fördern und über die +Opfer, die man ihr bringen müsse: sie, die Lednjowa selbst, gebe in +ihrem eigenen Gymnasium Unterricht umsonst, außerdem ernähre sie zwanzig +Lehrer! Ganz Petersburg kenne sie sehr gut, sie, die Vorsteherin +Lednjowa, und die Generalin Cholmogorowa selbst sei ihre Freundin. + +So einfach war das Ende bei Anna Stepanowna, sehr einfach. Und sie ging +lächelnd – mit jenem Lächeln, das in der Seele weh tat – ihren Weg, der +sie von Leschtschow zu der Lednjowa führte, und von der Lednjowa zur +Petrowa, zu irgendeiner Seelenschwester der Lednjowa führen wird, bis +sie endlich aufhören wird zu lächeln. + +Endlich kam die so lange, so ungeduldig, so viel erwartete Antwort von +Plotnikow: Plotnikow ließ Marakulin durch die Bank fünfundzwanzig Rubel +anweisen. So reiste denn Sergej Alexandrowitsch allein mit dem Theater +ins Ausland, nach Paris, um mit der russischen Kunst das Herz Europas zu +besiegen. Vor der Abreise mietete er eine Sommerwohnung in Finnland und +überredete Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna zusammen mit Wassilij +Alexandrowitsch, der noch immer sorgsamer Pflege bedurfte, und damit er +sich ohne Ferse und mit seinem Stöckchen nicht zu sehr langweilte, +hinauszuziehen. Mit der Sklavin Kusjmowna an der Spitze zogen sie also +statt nach Paris nach Tur-Kilja: Wera Nikolajewna, Anna Stepanowna und +Wassilij Alexandrowitsch, der Clown. Nur Marakulin und Akumowna blieben +zurück, um auf dem Burkowschen Hof zu übersommern. + +– Ich werde zum Kaiser gehen: die Hände so, wie im Sterben, und werde +alles sagen. Ich werde zum Kaiser gehen, nackt, splitternackt; die Hände +so, wie im Sterben, und werde ihm alles erzählen. + +Aber Marakulin erwiderte Akumowna nichts mehr, nicht einmal mit ihren +eigenen Worten, die ihr Wahlspruch, ihr Sterbegebet – die Sühne und der +Lohn für alle Taten waren: Man darf niemand beschuldigen! – Alles war in +ihm still und taub geworden. + + * * * * * + +Der eine muß verraten, um durch den Verrat seine Seele aufzuschließen +und in der Welt er selbst zu sein, der andere muß töten, um durch den +Mord seine Seele zu finden und wenigstens als er selbst zu sterben. +Marakulin aber mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – aber nicht an +die Person, der sie zukam –, um seine Seele zu erschließen und in der +Welt nicht ein beliebiger Marakulin zu sein, sondern als dieser Peter +Alexejewitsch Marakulin, der er war, sehen, hören und fühlen. + +Aber er ertrug es nicht, dieses Leben für nichts: nur sehen, nur hören, +nur fühlen, und flehte um Ruhe. Da erfand er die Generalin – die +unsterbliche, sünden- und schmerzenlose Laus, erdachte er ihr +königliches Recht, in der Hoffnung, dadurch seine verlorene große Freude +wiederzugewinnen. Schon begannen auf seinem glatten, geraden, +hoffnungslosen Weg, wo der letzte Schatten, die letzte Spur der Hoffnung +sich verlor, jene leisen und wie die Raupen haftenden, bösen, dunklen +Mächte der herannahenden Verzweiflung zu arbeiten, das feste Mark und +die Wurzel seines Lebens anzunagen und ihn vom Leben abzulösen. + +Vom Morgen bis zum Abend lief Marakulin in Petersburg herum, jagte von +einem Ende zum anderen, von Schlagbaum zu Schlagbaum, von Viertel zu +Viertel, – er lief herum wie eine Maus in der Falle. In seiner Tasche +lag der neue Plotnikowsche Schein, die fünfundzwanzig Rubel, wie einst +Dunjas neues seidenes Taschentuch mit den in Kreuzstich eingestickten +Anfangsbuchstaben seines Namens, und er vergaß den Schein wie er einst +Dunjas seidenes parfümiertes Tuch vergessen hatte. + +Und dennoch, welch zähes Leben steckt doch im Menschen! Hin- und +hergeworfen, geschlagen läuft er wie ein geschlachteter Hahn auch ohne +Kopf herum, als wollte er auch ohne Kopf nach Körnern suchen, und bläht +sich noch auf! Marakulin fand nämlich eine Beschäftigung, er fand etwas, +um sich Luft zu machen; er machte eine Entdeckung, die in ihrer +Tragweite dem betrunkenen Plotnikowschen Projekt, die Fliege als Motor +auszubeuten, wahrlich in nichts nachstand: + +Man braucht bloß auf die Straße hinauszugehen, um ganz unabhängig vom +eigenen Willen unter die Herrschaft eines besonderen Gesetzes der Straße +zu geraten, und deine Art aufzutreten und deine Haltung hängt nicht mehr +von dir ab, sondern von der Welle oder vom Strom, in den du geraten +bist. Gerätst du in die eine Welle, dann ist dir so, als machten sich +alle über dich lustig, als schnitten dir alle Grimassen, die Frauen +kichern, die Männer schieben ihre Lippen vor und spitzen sie wie zum +Pfeifen. Da kommt eine andre Welle herangerollt, und das Bild ist +plötzlich verändert: die Männer haben bestialische, düstre, drohende +Gesichter, man begegnet selten einer Frau, und wenn eine vorübergeht, so +ist sie ganz allein; sie geht und lacht, sieht niemand, als wäre sie +blind, und lacht zu sich selbst. Wieder eine neue breite Welle: – lauter +Frauen – und es ist einem, als gäbe es keine böseren Augen, kein böseres +Lächeln; sie betrachten einander, sie stechen mit den Augen und lächeln, +als wollten sie mit ihrem Lächeln einander verbrühen, die bösen Weiber. +Da rollt noch eine Welle heran: Menschen, gewöhnliche Menschen, – sie +gehen dicht zusammen gedrängt und sind munter. Aber man sieht keine +Kinder unter ihnen, nur ausgemergelte, verkrüppelte Zwerge mit schlaff +wie Peitschen herabhängenden Armen und riesengroßen, nach vorn gebeugten +Köpfen. Und so noch viele verschiedene Wellen. Es gibt auch +zurückflutende Wellen. Gerätst du da hinein, so treibt es dich vom +großen Strom ab, und alles jagt an einem vorbei: alte Männer, Kinder, +alte Frauen, Straßenbahnwagen und Automobile. + +Als Marakulin diese Entdeckung gemacht hatte, stürzte er sich auf sie +mit der gleichen Hartnäckigkeit, wie einst über den Bericht an den +Direktor. Er war ja jetzt eigentlich wie tot, man hatte ihn ja bereits +begraben. Er erinnerte sich an die Worte, die der Kassierer Alexander +Iwanowitsch Glotow damals im Theater zu ihm gesprochen hatte: „Und wir +haben dich schon längst begraben, weißt du, Petruscha!“ Ja, seit langem +hatte man ihn begraben, und er konnte wie ein Toter, wie eine Leiche, +wie einer aus dem Jenseits leicht, unauffällig und unparteiisch die +Diesseitigen, die Lebenden beobachten. Und jetzt wollte er seine +Entdeckung überprüfen. + +Doch wozu sie prüfen, was für einen Sinn das haben sollte, wer diese +Entdeckung brauchte, welchem Toten, welcher Leiche, welchem Gespenst aus +dem Jenseits, oder welchem Lebenden zum Spaß oder zu Nutzen sie dienen +sollte? – das fragte er sich nicht, das ging ihn nichts an; – in ihm war +alles stumm und taub geworden – es war eben zwecklos und nichts mehr als +das Sichaufblähen des geköpften Hahns. + +Doch auch darin irrte er sich. Er hatte keine Zeit mehr zum Prüfen. + +Eines Nachts, als er auf dem Newsky ging, traf Marakulin Werotschka. Es +war so: an dem Wartturm des Magistrates wurde Razzia gemacht, und wie +immer in solchen Fällen, liefen auf dem Newsky etwa hundert sinnlos +herausgeputzte Weiber herum, die sich auf die Passanten stürzten und sie +anflehten, sie ein kleines Stückchen zu begleiten. Unter diesen Weibern +fiel ihm eine auf, die ebenso besinnungslos wie die anderen, vom +Bürgersteig auf den Damm und vom Damm auf den Bürgersteig sprang. Sie +war ganz schwarz gekleidet. Als sie am Schutzmann glücklich vorüber war, +lief sie zur Anitschkowschen Brücke. In dieser einsamen Dunklen – alles +war schwarz an ihr: das Kleid, der Hut, die Handschuhe – erkannte er +Werotschka. Da erinnerte er sich an den neuen Plotnikowschen +Fünfundzwanzigrubelschein, befühlte ihn in der Tasche – er war jetzt +kein Bettler mehr – und stürzte ihr nach. Aber an der Anitschkowschen +Brücke mischte sich Werotschka unter die Menge und verschwand ihm aus +den Augen. + +– Werotschka! – rief er, indem er sich bald nach der Fontanka und bald +nach dem Newsky umsah, – Werotschka! – und etwas Schwarzes, Kaltes wand +sich wie eine Schlange um sein Herz. + +Am nächsten Morgen war das erste, was in ihm als Gedanke und Entschluß +erwachte, der feste Vorsatz, schon am frühen Abend auf den Newsky zu +gehen und Werotschka aufzulauern. Den ganzen Tag blieb er zu Hause. Es +war Donnerstag vor Pfingsten, und Akumowna hatte heute vor, besonders +ausgiebig Karten zu legen: nach ihr war das ein günstiger Tag zum +Wahrsagen, auch Träume in dieser Nacht geträumt, sollten die Wahrheit +künden. + +Auf den Burkowschen Hof kamen wandernde Musikanten: eine Harmonika und +ein Tamburin. + +Die Harmonika spielte ein Handwerker, wohl irgendein Schlosser oder +Wasserleitungsarbeiter, ein großgewachsener dunkler Mann, das Tamburin +schlug ein kleines Mädchen in einer Matrosenbluse und Matrosenmütze; sie +war etwa zwölf Jahre alt, man konnte es genau nicht feststellen. Das +kleine Mädchen hatte nur ein Bein. Sie stützte sich auf einen Stock und +hielt das Tamburin auf dem gebogenen Knie. + +Das kleine Mädchen sang zur Harmonika. + +Sie sang ein Lied, wie es in Fabriken gesungen wird, mit fremden Versen +durcheinandergemengt, wie: „Ich werde auf den Grund des Meeres tauchen, +ich werde fliehen zu den Wolken hinan,“ sie sang aus Zigeunerliedern von +Troikas und von feurigen Augen und gefühlvollen Tränlein. Plötzlich +brach auch eine uralte Weise durch. Sie sprach rein und deutlich aus, so +daß man jedes Wort verstehen konnte. Aber nicht am Wort lag es. Mit +einem vollen tiefen Alt sang das kleine Mädchen und schlug das Tamburin +dazu. Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres war +das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt. + +Die Musikanten wurden von den Kindern umringt; sie ließen ihre wilden +Spiele und ihre wilden Arbeiten, sie standen still herum und wandten +kein Auge ab von dem einbeinigen kleinen Mädchen, wie einst von der +Katze Murka, die sich vor Schmerz auf den Steinen gewälzt hatte. Und das +Mädchen sang. Der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt – er hielt +sich stets in der Nähe der Kinder auf – der schwarze Perser hockte sich +ebenfalls hin und rollte seine Augäpfel. Und das Mädchen sang. Mit einem +vollen tiefen Alt sang das kleine Mädchen und schlug das Tamburin im +Takt zu. Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres war +das Lied getränkt. Und das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt. + +Die Kinder rückten immer näher zu dem einbeinigen Mädchen, als wollten +sie es nicht von sich lassen. Nun verdeckten sie es ganz, so daß man es +nicht mehr sehen konnte, und es schien, es singe die Erde und die +Steppe, das Meer – die Weite und Unermeßlichkeit, das Herz der Erde. Und +man fürchtete, daß das Lied bald zu Ende sein und das Mädchen zu singen +aufhören und fortgehen würde. Man wollte nicht, daß sie fortgehe. + +Aber der Gesang war zu Ende. Es spielte nur noch die Harmonika allein. +Das kleine Mädchen humpelte, auf den Stock gestützt, über den Kies und +schien sich mit dem hingehaltenen Tamburin im Hof zu drehen und sah ohne +Lächeln mit ihrem offenen, reinen Gesicht nach oben zu den Fenstern +hinauf, wie die Katze Murka zu den Fenstern hinaufgesehen hatte, als sie +sich vor Schmerz auf den Steinen wälzte. + +Akumowna begann so seltsam kindlich und bitter zu weinen, sicher weil +sie an ihren Fluch: „Wie ein rollender Stein um die weite Welt“ dachte. + +Marakulin stürzte auf die Straße und holte die Musikanten, die schon vor +dem Tor waren, ein. + +– Wie heißt du, kleines Mädchen? – fragte er, ihre Hand berührend. + +– Marja – antwortete das Mädchen, indem sie, ohne zu lächeln, ihm ihr +offenes, reines Gesicht zuwandte. + +Auch der Harmonikaspieler blieb stehen, zog seine Mütze. Es war wohl der +Vater. Er war von dunkler Farbe und rauh. + +Marakulin nahm Plotnikows neuen zerknüllten Schein, steckte ihn dem +kleinen Mädchen in die Hand und ging fort, ohne sich umzusehen. Und als +wollte es ihn einholen, so strömte das breite Lied. Von der Weite der +Steppe und von der Unermeßlichkeit des Meeres war das Lied getränkt. Und +das Tamburin schlug, wie das Herz schlägt. + +Er ging seinen glatten, geraden Weg nach dem Newsky. Schon sank die +Nacht herab. Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka warten. Die +ganze Nacht wird er auf sie lauern. Und er wird sich nicht irren. Es war +ja eine weiße Nacht – die weiße Nacht trügt nicht. + +Die weiße Nacht trügt nicht: ein Mädchen ganz in Schwarz stieß ihn an +und lief, das Kleid raffend, in der Richtung der Anitschkowbrücke. Alles +an ihr war dunkel, das Kleid, der Hut, die Handschuhe – er erkannte +Werotschka und stürzte ihr nach. Aber an der Anitschkowbrücke mischte +sich Werotschka unter andere Frauen – sie war nicht allein in Schwarz. + +– Werotschka, Werotschka! – rief er, jeder Dunklen in die Augen +schauend. Es waren aber ihrer nicht zwei, nicht drei, es waren ihrer +eine ganze Menge. Und alle wichen ihm aus, sammelten sich und schlichen +wieder an ihn heran, leise und unmerklich, dunkel und still. Und etwas +Dunkles und Kaltes umwand wie eine Schlange sein Herz. + +Und nachts, in der Donnerstagnacht vor Pfingsten, träumte Marakulin, als +säße er am Tisch beim Samowar in einem großen vollgestellten Zimmer, und +alles war hingeworfen und zerstreut, wie nach einer Vorbereitung zur +Reise, und lauter unbekannte Menschen waren im Zimmer, alle so müde und +niedergeschlagen. Und neben ihm saß – er wurde es mit Ekel gewahr – eine +stülpnasige Frau mit großen Zähnen und nackt, und mit ihr noch jemand in +dunklen Kleidern. Sie beugten sich über dem Gerümpel und ordneten die +Lumpen. Verdrossen nahm er ein Glas und zielte nach dem leeren, nackten +Schädel. + +Sie aber, die stülpnasige Nackte mit den großen Zähnen, erhob sich und +wandte sich zur Tür. + +– Am Sabbat – sie klapperte mit den Zähnen und lachte – vergiß nicht, +Akumowna ein Pfund zu geben – sie klapperte mit den Zähnen und lachte, – +und die Mutter wird in Weiß sein – sie lachte und zeigte ihre großen +Zähne. + +– Was für ein Pfund? Graupen etwa? – begann er erbittert zu streiten, +als stritte er um sein letztes Recht, sich keinem Termin, keinem Sabbat +zu fügen – ach was, red’ keine Dummheiten! oder ein Pfund Sterling, ja? + +– Am Sabbat – lachte die stülpnasige Nackte mit den großen Zähnen, und +schon klapperte sie, ohne sich umzusehen, die Steintreppe hinunter auf +den Hof. + +Im Hof aber – es war ja Burkows Hof – strömten alle Einwohner aus allen +Wohnungen, aus dem Seitenflügel und aus den Gorbatschowschen Winkeln +zusammen: alle sieben Hausmeister – der erste Hausmeister Michail +Pawlowitsch und Antonina Ignatjewna, seine Gemahlin, der Paßaufseher +Jerkin, Stanislaus der Kontorist mit der abgebissenen Nase, und Kasimir +der Monteur, der Portier Nikanor und Wanjuschka, Nikanors Bub, den die +kleinen Kinder zum Tode durch den Strang verurteilt hatten, und die +kleinen Kinder, die ihn verurteilt hatten, und der Perser, der Masseur +aus der Badeanstalt, und das kleine Mädchen, das einst Murka Milch +gebracht hatte, und die Schuster, Bäcker, Bademeister, Friseure, +Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine Schwester aus dem Obuchowschen +Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, Schirmmacher, +Bürstenmacher, Wasserleitungsschlosser, Setzer und allerlei Mechaniker +und elektrische Arbeiter mir ihren Familien, allerlei „Fräulein“ von der +Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmädchen, Mädchen aus der +Teestube, und elegante junge Leute aus den Badeanstalten, die die +Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, und die Alte, die an der +Badeanstalt Sonnenblumensamen und allerlei Kram feilbietet, +stellungslose Köchinnen, Maler, Tischler, fliegende Händler – mit einem +Wort: der ganze Burkowsche Hof – ganz Petersburg. + +Und alle sehen nach oben zum Fenster hinauf, wie Murka hinaufgesehen +hatte, als sie vor Schmerz sich auf den Steinen wälzte, wie die +wandernde Sängerin hinaufgesehen, als sie sich im Hof auf ihrem einen +Bein herumdrehte, mit dem Tamburin in der Hand. + +– Was hat sie gesagt? – fragt jemand Marakulin. + +Und Marakulin steht am Fenster, wie der Starez Kabakow, der durch Gebete +die Stimme des Himmels befragt, – so steht er vor dem Volk. + +– Einer von uns wird sterben! – sagt Marakulin. + +Und zur Antwort flüstert der ganze Burkowsche Hof in Todesbangen: + +– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s, Herr? + +Und hoch oben, viel höher als die vier belgischen Ziegelschlote mit den +Blitzableitern, schweben wie grüne Vögel grüne Aeroplane und verdecken +mit ihren riesengroßen grünen Flügeln den Himmel. + +– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s Herr? – flüstert der Burkowsche Hof in +Todesbangen. + +Und schon geht Marakulin nach Hause, nach der Fontanka, und seltsam! er +hört, wie man in der Auferstehungskirche auf der Taganka[13] zur +Abendmesse läutet. Er geht nicht den herrschaftlichen Eingang hinauf, +sondern durch die Küche. Er macht die Tür auf, und in der Küche sitzt am +Herd eine Frau, Akumowna ähnlich, und doch nicht Akumowna, ganz in Weiß. +Er erinnert sich an die Worte der Stülpnasigen, Nackten, mit den großen +Zähnen: „Die Mutter wird ganz in Weiß sein“, und stürzt ins Zimmer. + +Auch dieses Zimmer ist vollgestellt, und Sachen sind da verstreut und +hingeworfen, wie nach einer Vorbereitung zur Reise, nur sind die +Unbekannten nicht mehr da, keine Seele ist im Zimmer, nur seine Mutter +sitzt, seine Mutter allein, mit dem Kreuz auf der Stirn. + +– Sie ist schon gekommen, sie sitzt hier – sagt die Mutter. Sie spricht +von jener, die in der Küche vor dem Herd ganz in Weiß sitzt, und beginnt +zu weinen. + +Voll Verzweiflung und Todesbangen erwachte Marakulin. Es war Freitag. +Und von dem düsteren Gedanken getroffen, daß seine Frist der Samstag +sei, daß nur ein Tag ihm geblieben sei, wurde er eisstarr. Er wollte es +nicht glauben und glaubte es doch, und weil er glaubte, verurteilte er +sich selbst zum Tode. + +Der Mensch wird geboren und ist bereits verurteilt; Alle sind von Geburt +an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil +vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn einem der Tag +gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die Frist bestimmt und der Sabbat +verkündigt ist – das geht über die Kraft, die Gott dem Menschen +verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben beschenkt, zum Tode +verurteilt und dem er die Todesstunde verheimlicht hat. + +Als Marakulin an die Wahrheit seines Traumes glauben mußte, da fühlte +er, daß er es nicht aushalten würde, den Sabbat abzuwarten, und seit dem +Morgen in Verzweiflung, in Todesbangen durch die Straßen schweifend, +harrte er der Nacht. Er wollte nur eins noch: Werotschka sehen, ihr +alles erzählen und von ihr Abschied nehmen. + +Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte +Schatten und die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten jene +leisen, wie Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herangenahten +Verzweiflung die letzten Fasern seiner einst so festen Lebenswurzel. + +Es ward ihm schwer, sich vom Leben loszureißen. + +Vielleicht aber war der Traum nur ein Traum, und in Wirklichkeit würde +etwas anderes kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? War das nicht +töricht? Wer weiß, wohin das führt! Es pflegt ja auch sonst so zu sein! +Vor dem Tode träumt man nicht nur etwas Belangloses: daß man einen +Stiefel verliert, oder sonst einen Gegenstand, oder daß man im Begriff +ist, ins Ausland zu reisen ... + +Da erinnerte sich Marakulin an die geplante Auslandsreise, an seinen +paradiesischen Traum von Paris, und fuhr auf. + +Er stand an einem Bretterzaun, der ganz mit Anzeigen bedeckt war, und +konnte nicht erkennen, in welcher Straße er sich befand. Ueber den +Bäumen ragte die Turmspitze des Ingenieurschlosses, als er aber längs +des Zaunes und, wie ihm schien, geradeaus in der Richtung der Turmspitze +sich in Bewegung setzte, verschwand sie plötzlich. Er wagte nicht +weiterzugeben, als harrte eben dort seiner sein Sabbat, seine letzte +Frist, seine Stunde. Er kehrte um und hatte die Spitze wieder vor sich. +Er schritt also tapfer längs des Zaunes in die entgegengesetzte +Richtung, die Spitze blieb lange vor seinen Augen, verschwand aber dann +ebenso wie das erstemal ganz plötzlich. Und er wagte nicht +weiterzugehen, als harrte eben dort seiner sein Sabbat, seine letzte +Frist, seine Stunde. Und so ging er am Zaun entlang, hin und zurück, die +Spitze des Ingenieurschlosses immer im Auge, bis zu einer Grenze, die er +sich selbst bestimmte, voll Verzweiflung und Todesbangen. + +Es war das Ungemach, das ihn so führte, das Unglück jagte ihn von Straße +zu Straße, von Gäßchen zu Gäßchen, blendete ihm die Augen und verwirrte +ihn; es war sein Schicksal, dem man sich nicht widersetzen und nicht +entrinnen kann. + +Das tödliche Bangen und die Last der Verzweiflung erschöpften ihn +endlich. Die letzte Frist, die Stunde waren vergessen, sein Kopf sank +herab, und die noch gehorchenden Beine brachten ihn auf den Weg. Er ging +durch die Ingeniernaja und wollte gerade die Straße zum Michailowschen +Palast überschreiten. + +Da klammerte sich ein altes, zerlumptes, zusammengeschrumpftes, +triefäugiges Weiblein fest an seine Hand, damit er ihm über die Straße +helfe. Und obwohl es so klein war – nichts als ein Häuflein Knochen – so +erschien es ihm, wie es mit seinen knöchernen Fingern so fest an ihm +hing, als hätte es überhaupt keine Beine, so schwer, daß er mit Mühe die +Schienen erreichte. Und während er die Schienen überschritt, wurde die +Alte noch schwerer, und es war ein Wunder, daß er nicht unter den Wagen +geriet: der sausende, ununterbrochen klingelnde Wagen flog so hart an +ihm vorbei, daß ihm ganz heiß wurde. + +Marakulin ließ die Alte stehen und begann zu laufen. Abwechselnd +flammendheiß und eiskalt lief er in der Richtung des Narva-Tores. Er +floh vor der knöchernen Alten, er floh vor seiner letzten Frist, und +gerade auf das Narva-Tor zu, unter den Bogen: dort war keine knöcherne +Alte und wird nie eine sein, dort wird er seine letzte Frist, seine +Stunde, seinen Sabbat vergessen. + +Aber als er die Gorochowaja erreichte, ging er nicht die Ssadowaja +entlang, sondern bog in die Fontanka ein. + +Auf der Fontanka, im Seitengäßchen, in der Nähe des Burkowschen Hauses, +wurde ein junges Mädchen – offenbar eine Revolutionärin – von der +Polizei verfolgt. Die Schutzleute hatten das Gäßchen umzingelt und man +konnte nicht passieren. Marakulin blieb stehen. + +Die Jagd dauerte ziemlich lange, endlich wurde das Mädchen von einigen +Männern in Zivil, Spitzeln offenbar, dicht umringt und zu einer Droschke +geführt. Die Revolutionärin erinnerte ihn durch etwas an die +Wandersängerin von gestern, an das kleine Mädchen. Vielleicht erinnerte +ihn an Maria ihr offenes, reines Gesicht, das aber frisch und rosig war. +Sie war schlank. Die Haarnadeln waren ihr herausgefallen, der Strohhut +saß schief und das volle blonde Haar war aufgelöst. Der Reviervorsteher +setzte sich zu ihr in den Wagen und man führte sie ab. + +„Maria Alexandrowna,“ – dachte Marakulin, „so ist Maria Alexandrowna, +die sich selbst zum Opfer auserkor, und bereit ist, noch einmal für die +Menschheit zu sterben!“ Er ging weiter, am Burkowschen Hof vorbei, die +Fontanka entlang. + +An der Ismailowschen Brücke, drei Schritte von der Bierwirtschaft, holte +er eine Dame ein. Sie war nicht mehr jung und schon ganz grau, aber +kräftig und gesund, ging sie im gleichmäßigen Schritt, als spazierte sie +nur der Motion wegen. Als aber Marakulin sie überholen wollte, beugte +sie sich etwas vor und begann ganz unsinnig zu laufen. In diesem +Augenblick knallte aus dem Wirtshaus ein Schuß und ein zweiter, +Hilferufe ertönten – und auf dem Bürgersteig lag mit durchschossenem +Rücken, das Gesicht an die Steine gepreßt, die Dame – die gesunde, +kräftige, alte Frau, und neben ihr, noch rauchend, der versengte +Klappstuhl. + +„Da hast du die Unsterbliche!“ dachte Marakulin, als er in der +Ermordeten seine unglückselige Generalin erkannte, dieses auserwählte +Gefäß, die Laus, die er mit dem königlichen Recht beschenkt hatte, in +jener grausamen Burkowschen Nacht. + +Nun war ihr das königliche Recht vom blinden Zufall geraubt, und auch +der Klappstuhl hatte ihr nicht geholfen. + +Von der Fontanka und den Seitengäßchen strömte eine Menschenmenge +herbei. Alle starrten mit Neugierde, mit Schrecken und mit jener +besonderen Schadenfreude, mit der lebendige Augen in tote blicken, in +das Gesicht der Toten. Sie aber, die Unsterbliche, Sündenlose, +Kummerlose, lag da unbeweglich, mit ihrem durchbohrten Rücken, hilflos, +leblos, unselig. + +– Das ist eine von unseren Burkowschen, die Generalin Cholmogorowa! – +erklärte Marakulin dem herbeigeeilten Schutzmann. + +Man trug die Generalin fort. Der weiße Schleier auf ihrem Hut war +aufgegangen und schleifte flatternd nach wie Spinnweb. Marakulin schritt +der Menge voraus, hinter dem Klappstuhl. + +Und wieder ging er an seiner Wohnung vorbei in die Gorochowaja, und von +da weiter bis zum Admiralitätspalast und wiederholte immer wieder vor +sich ganz stumpf: „Da hast du die Unsterbliche! Da hast du +Unsterblichkeit!“ + +Im Alexandergarten setzte er sich erst auf eine Bank, plötzlich aber +sprang er wie gestochen auf und ging weiter. Vor dem Denkmal Peters des +Großen blieb er stehen. + +– Peter Alexejewitsch – sagte er, zum Denkmal gewandt, – Eure +kaiserliche Majestät! Das russische Volk trinkt Aufguß von Pferdemist +und gewinnt das Herz Europas für anderthalb Rubel mit Gurken. Mehr habe +ich nicht zu sagen! – Er zog den Hut, grüßte und ging weiter, +den Englischen Kai entlang, über die Nikolaibrücke auf die +Wassiljewskiinsel. + +Auf dem kleinen Boulevard zwischen der Siebenten und der Sechsten Linie, +hinter dem Ssredny-Prospekt versperrte ihm eine Menschenansammlung den +Weg. Die Menge stand schweigsam, ohne ein Wort zu sprechen, und es war +ungewöhnlich still. Unter einem Baum saß eine alte Frau, ihr von +schweren weißen Flechten umwickelter Kopf zitterte. Sie sah starr vor +sich hin. Nicht Tränen, sondern Blut floß ihr die Wangen herab, in +stillen Bächlein aus den demütig stillen Augen. + +„Sie hat umsonst gewartet“, dachte Marakulin, „sie hat es nicht erlebt. +Sie hat das gottgefällige Werk nicht vollbracht, sie hat ihr Glück +niemand überliefert, die Unglückselige!“ – Und er verspürte plötzlich +einen schrecklichen Durst, als hätten ihn diese stillen, blutigen Tränen +versengt. + +Nicht weit vom Kleinen Prospekt auf der Siebenten Linie befand sich +neben einem großen Gebäude in einem kleinen einstöckigen Häuschen eine +Schankwirtschaft. Marakulin fand noch ein letztes vergessenes +Zehnkopekenstück in der Tasche und ging hinein: der Durst quälte ihn +unerträglich. + +Er setzte sich an ein schmutziges, nasses Tischchen, mit dem Gesicht zum +Fenster und nahm ganz mechanisch eine Zeitung zur Hand, nicht um zu +lesen. + +– Einen Hungrigen kann man satt machen, einen Armen kann man reich +machen – er vernahm eine bekannte Stimme und bekannte Worte, – aber +sobald du verliebt bist und dein Gegenstand erweist dir keine +Gegenseitigkeit, da kannst du meinetwegen platzen, es gibt keine Hilfe! + +„An Murkas Tage war es, der unruhige alte Gwosdjow, der sagte es!“ +erinnerte sich Marakulin, legte die Zeitung weg und trank das lauwarme +Bier. + +– Sie scherzen immer, Alexander Iwanowitsch, – – ich habe neulich eine +Maus aufgegessen, Alexander Iwanowitsch, – auf dem Hof des Athosklosters +– für fünf Rubel. Ich habe mit der heiligen Brüderschaft gewettet. „Ißt +du die Maus auf, Gwosdjow,“ sagten sie, „dann ist der Fünfer dein, wenn +nicht, mußt du uns bezahlen!“ Schön. Sie fingen gleich ein Mäuslein, im +Klosterhof gibt es viele. Es war eine graue, junge. Ich zog dem Mäuslein +die Haut ab, röstete es an den Seiten ein wenig an, wegen des +Wohlgeschmacks, zerschnitt es in Scheibchen, salzte es, sprach den Segen +und aß es auf. Und aß das Mäuslein auf. Ich nahm die fünf Rubel und +wollte mich vor Lachen ausschütten. Ich sagte: „Und ihr seid mir noch +Athonische, hehe ... fünf Rubel für ein junges Mäuslein; ich hab’ ja bei +Prokopij dem Gerechten so eine Ratte und dazu ohne Salz für einen Rubel +gegessen!“ Wenn man sich nur durchfrettet, Alexander Iwanowitsch! + +Und als Antwort auf Gwosdjows Worte erklang eine gerührte Stimme: + +– Euretwegen geh’ ich zugrunde, ihr lieben Aeuglein! + +– Ich selbst bin auch auf Weiber lecker, Alexander Iwanowitsch! + +Gleich darauf fiel etwas schwer auf den klebrigen Boden, begann zu +strampeln und bitter zu weinen, so bitter, wie nur Kinder weinen, so +bitter, wie Akumowna weinte, als sie durch Marjas Gesang an alle ihre +Erlebnisse erinnert wurde. + +Nachdem er das laue Bier, das seinen Durst noch gesteigert, ausgetrunken +hatte, ging Marakulin hinaus. + +Er ging seinen glatten geraden Weg auf den Newsky. Die Nacht sank +bereits herab. Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka warten. Dort +wollte er ihr die ganze Nacht auflauern. Er wird sie sehen, ihr alles +erzählen, von ihr Abschied nehmen. Und er wird sich nicht irren. Es ist +ja eine weiße Nacht – die weiße Nacht trügt nicht. + +Die weiße Nacht trügt nicht: Werotschka erschien auch bald. Er erkannte +sie an ihrem schwarzen Kleide. Aber er erstarrte vor Entsetzen: alle +Frauen waren ausnahmslos in Schwarz – alles an ihnen war schwarz, die +Kleider, die Hüte, die Handschuhe. Sie wichen nicht mehr aus, sie gingen +sicher und stolz am Polizisten in der weißen Sommeruniform vorbei, sie +umsegelten den Polizisten in Weiß wie in einem altertümlichen +feierlichen Tanz, von der Snamenje-Kirche zur Admiralität und von der +Admiralität zur Snamenje-Kirche. + +– Werotschka – rief er, – Werotschka! – Er sah einer jeden in die Augen, +ohne eine auszulassen, und etwas Kaltes und Dunkles ringelte sich wie +eine Schlange um sein Herz. Es war die Verzweiflung, die sich um sein +Herz ringelte. + +Schon schritt der Tod auf verschlungenen Seitenpfaden seiner Schwelle +zu. + +Die ganze Nacht streifte er herum, voll Verzweiflung und Todesbangen, +sah jeder Frau in die Augen, ohne auch nur eine zu übersehen, blieb +zuweilen auf der Anitschkowbrücke stehen und ließ sie Alle an sich +vorbeipassieren. Sie umsegelten ihn, wie den Schutzmann in Weiß, sie +schritten sicher und stolz, wie in einem altertümlichen feierlichen Tanz +von der Snamenje-Kirche bis zur Admiralität, und von der Admiralität bis +zur Snamenje-Kirche. + +Und als die Sonne aufging und all die schwarzen Gestalten irgendwo +verschwanden und keine einzige mehr blieb – niemand war mehr auf dem +Newsky außer den Schutzleuten in Weiß – da wandte sich Marakulin durch +die Litejnaja zum finnländischen Bahnhof. + +Er beschloß ganz plötzlich, – vielmehr es beschloß in ihm von selbst – +nach Tur-Kila in die Sommerfrische zu Wassilij Iwanowitsch zu fahren, zu +Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna. Sie haben ihm ja schon oft +geholfen, sie werden ihm auch jetzt helfen, sie werden ihm Milch geben, +– er hat Hunger – er ist ja nur zwölf Jahre alt! – sie werden ihm Milch +geben ... + +Es war der Sonnabend vor Pfingsten und auf der Litejnaja wurden die +Pfingstbäumchen angefahren: lockige grüne Wagen zogen durch die Straße, +voll von grünen jungen Birken. + +Auf dem finnländischen Bahnhof verkehrten noch keine Züge. Er mußte +warten, aber er wollte nicht auf dem Bahnhof warten. Marakulin ging erst +über die Schwellen der Schienen, aber nachdem er ein Weilchen gegangen +war, verließ er die Schienen, setzte sich an den Rand eines Grabens und +schlief ein. Er schlief so fest, wie Plotnikow die zwei Tage nach jenem +schlimmen Delirium-Anfall geschlafen hatte. + +Als er erwachte, war es Abend, der Sonnabend ging zur Neige. Und wieder +jäh von dem düsteren Gedanken getroffen, daß sein Ende der Sabbat sei, +wurde er eiskalt. Er wollte an seinen Traum nicht glauben und glaubte +doch, und indem er glaubte, verurteilte er sich selbst zum Tode. + +Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits verurteilt; Alle sind von +Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das +Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn der +Tag einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte Frist +bestimmt und der Sabbat verkündigt ist, – das geht über die Kraft, die +Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben +beschenkt, zum Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde verheimlicht +hat. + +Der Sabbat war gekommen, der Sabbat ging zur Neige, seine letzte Frist, +seine letzte Stunde nahte. + +Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, wo der letzte +Schatten und die letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten jene +leisen, wie Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte der herangenahten +Verzweiflung die letzten Fasern seiner einst so festen Lebenswurzel. + +Es war ihm schwer, sich vom Leben loszureißen. + +Oder vielleicht war der Traum nur ein Traum und in Wirklichkeit würde +etwas anderes kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? War das nicht +töricht? Wer weiß, wohin das führte? + +Warum hatte er bloß Akumowna diesen düsteren Traum nicht erzählt, +Akumowna konnte ihn vielleicht deuten, sie, die Göttliche wüßte zu +sagen, ob er wahr sei oder nicht. + +Marakulin stürzte erregt zur Trambahn und stieg in einen Wagen. Da +erinnerte er sich, daß er sein letztes Zehnkopekenstück in der +Wirtschaft ausgegeben und sprang ab und lief zu Fuß nach der Fontanka, +die Elektrische fast überholend. + +Er erreichte die Fontanka und das Burkowsche Haus, aber es wurde ihm +nicht leicht, in die Wohnung zu gelangen. Es schien ihm, als hätte er +mindestens eine halbe Stunde geklingelt, aber niemand öffnete und keine +Stimme ließ sich vernehmen. Er hörte zu klingeln auf und begann an die +Tür zu klopfen, aber auch auf das Klopfen erwiderte niemand. Es blieb +still in der Wohnung, nur der Wind pfiff durch die Türspalte, – offenbar +standen die Ofenklappen auf – der Wind pfiff unheimlich. + +Noch einmal klingelte Marakulin, klopfte noch einmal, wartete und ging +dann in die Portierloge. Aber auch Nikanor war nicht da. Er war in +irgendeinen Kramladen gegangen; Wanjuschka aber, Nikanors Sohn, wußte +nur zu sagen: er habe Akumowna am Morgen gesehen, seitdem sei er nicht +mehr bei ihr oben gewesen; Akumowna sei zu Hause. Dabei lachte er über +irgend etwas. + +Wenn sie aber zu Hause war, warum hörte sie nicht das Klopfen und +öffnete die Tür nicht? Er hatte ja mindestens eine halbe Stunde +geklingelt und nicht weniger lange geklopft. – War die Alte etwa tot? + +Er ging in das Seitengäßchen, trat ins Haustor und stieg die +Hintertreppe hinauf. Aber seltsam: – während er hinaufstieg, glaubte er +plötzlich in der Auferstehungskirche auf der Taganka[14] zur Abendmesse +läuten zu hören, und sein Herz begann voll Unruhe rasch zu pochen. + +Die Tür in die Küche war nicht verschlossen. Akumowna saß am Herd, ihr +Kopf war mit einem weißen Tuch umwickelt – mit einem weißen Tuch. Er +erinnerte sich an die nächtlichen Worte aus seinem Traum in der +Donnerstagnacht: „Die Mutter wird in Weiß sein.“ Vor Akumowna lagen auf +einem Tellerchen zwei Eier, das dritte aß sie grade. „Das Pfund!“ flog +es Marakulin durch den Sinn, „– das ist das Pfund!“ + +Akumowna lächelte nicht, und ihre Augen waren fremd und hervorquellend. +Nicht Akumowna saß am Herd, nein, nur eine, die Akumowna ähnlich sah. +Und Entsetzen übermannte Marakulin. + +– Guter, gnädiger Herr! – Akumowna erhob sich plötzlich von ihrem Platz +und sprach die Worte mit einer heiseren, betrunkenen Stimme, die der +Stimme Akumownas nur von ferne glich. + +Marakulins Kräfte waren zu Ende, er klammerte sich an den Türpfosten und +begann zu stöhnen. + +– Lieber gnädiger Herr, Gott behüte Sie, gnädiger Herr, Peter +Alexejewitsch! Gleich bereite ich den Samowar, im Augenblick! – Jetzt +wurde sie auf ihre gewöhnliche Art geschäftig, legte das Ei fort, +ergriff den blanken Samowar und begann mit dem Blechrohr zu klappern. + +Marakulin ließ sich auf Akumownas Bank nieder, konnte aber nichts sagen; +die Kehle war ihm zugeschnürt und seine Lippen bebten. + +– Lieber gnädiger Herr, – Akumowna machte sich mit dem Samowar zu +schaffen, – mit mir ist was passiert, ich wäre fast gestorben, aber Gott +hat sich meiner erbarmt! + +In der Tat, mit Akumowna hatte sich etwas ereignet, und wie sie dabei +heil geblieben, war das reinste Wunder – Gott hatte sich ihrer erbarmt. +Darum hatte sie weder das Klingeln noch das Klopfen gehört. Ja, es sei +noch ein Glück, daß sie Marakulin überhaupt erkennen konnte und noch so +viel Stimme hatte, um ein Wort hervorzubringen. Die Eier aber esse sie, +um wieder zu Stimme zu kommen, und wenn auch heiser, so doch sprechen zu +können und nicht wie eine Kuh zu muhen; – man könne auch das noch +erleben. + +Akumowna war nämlich am Morgen auf den Boden hinaufgestiegen. Sie wollte +die Wäsche, die dort hing, abnehmen, um sie noch vor der Abendmesse zu +Pfingsten fertig zu plätten. Aber irgend jemand hatte sich wohl den Spaß +gemacht, sie dort einzuschließen. Sie hatte zu schreien begonnen und +schrie wohl ziemlich lange, aber niemand hörte sie. Es war ja kein +Mensch in den Wohnungen, da sich alle in der Sommerfrische befanden, und +keine Köchin, kein Hausmädchen hatte etwas auf dem Boden zu tun. +Akumowna wußte, daß es nutzlos war, rief aber doch. Was sollte sie wohl +anderes tun? Und wie sollte sie nicht schreien? Sollte sie auf dem Boden +bleiben – wie lange? bis zum Herbst? bis die Leute aus der Sommerfrische +zurückkehren würden? oder bis sich jener ihrer erbarmt, der sie +eingeschlossen hatte? konnte man sich darauf verlassen? Man konnte sie +ja inzwischen vergessen haben! Konnte man es wissen? Und auf dem Boden +bleiben konnte sie doch auf keinen Fall! Sie war schon ganz heiser vom +Schreien. Und so kroch sie im Dunkeln herum, um das vernagelte Fenster +zu finden: sie hatte sich erinnert, daß da ganz unten am Dach ein +Fenster war. Sie tappte um sich herum und fand schließlich eine Spalte, +fand das mit Brettern vernagelte Fenster. Sie krallte sich in ein Brett, +um es abzureißen, aber es saß zu fest, und wie sehr sie sich anstrengte, +gelang es ihr nicht, die Oeffnung zu erweitern. Die Spalte aber war so +klein, daß kaum eine Maus hätte durchschlüpfen können. Sie hing sich +daran mit aller Kraft, riß mit beiden Händen – endlich gab es nach. Gott +sei Dank, freies Licht! Sie bekreuzigte sich und stieg auf das Dach +hinaus. In der Verwirrung aber wandte sie sich nach der herrschaftlichen +Seite, nach den Kasernen zu. Sie kroch auf allen Vieren, aus Angst, +auszurutschen, und schrie. So kam sie bis zum Schornstein, richtete sich +am Schornstein auf, zog die Stiefel aus und warf sie auf die Straße. Die +Kinder aber fingen die Stiefel auf und trugen sie davon. Sie stand +barfuß, hielt sich am Schornstein fest und schrie. Und da sie dachte, +daß niemand ihr bloßes Geschrei beachten würde, so schrie sie: der +gnädige Herr sei nach Hause gekommen, klingle und sie könne nicht +öffnen. Auf der Fontanka aber ist es so laut, die Dampfpfeifen, die +Automobilhupen übertönen jedes Geschrei. Da sie barfuß nicht mehr +auszugleiten fürchtete, entfernte sie sich vom Schornstein, ging auf dem +Dach hin und her und schrie immer wieder: der gnädige Herr sei nach +Hause gekommen, klingle und sie könne nicht öffnen. Auf dem Nachbardach +arbeiteten Maler, die hörten es. „Was schreist du, Frauchen,“ riefen +sie, „spring zu uns herüber,“ und lachten. Wie aber sollte sie +hinübergelangen, wenn sie ihr keine Leiter reichten – sie hatten alle +ihre Leitern selbst nötig – sie war doch keine Katze! Aber der erste +Schreck war nun vorüber, und nachdem sie erst eine menschliche Stimme +vernommen, erholte sie sich etwas und kam auf den Gedanken, auf die +andre Seite hinüberzugehen, auf die Rückseite des Hauses, um dort an der +Regenrinne entlang in den Hof hinunterzugleiten. Denn sich an der Rinne +hinaufzuziehen, meinte Akumowna, sei schwer, die Hände könnten +ohnmächtig werden, aber hinabzugleiten sei leicht: wenn das Rohr nur +nicht aus den Händen entweicht, glitt man bequem hinab. In dieser +Erwägung begab sie sich auf die Rückseite des Hauses und geradeaus zur +Wasserrinne; – sie war nicht schwindlig. Schon hatte sie mit beiden +Händen die Bekrönung erfaßt und die Füße herabgelassen, um die Rinne zu +umklammern, da schrie Nikanor von unten: „Halt, Frauchen, kriech nicht, +ich werde dir aufmachen!“ und lachte. Sie mußte nun über das ganze Dach +zurück und sich durch das Fenster auf den Boden hinunterlassen. + +– Sechs Stunden habe ich mich so gequält, lieber gnädiger Herr, bin +beinahe gestorben, aber Gott hat mich gerettet, hat sich meiner erbarmt! +– schloß Akumowna. + +Inzwischen begann das Wasser im Samowar zu sieden, der rote +Jurawljowsche Sänger schnaubte und schickte sich zu seinem Abendgesang +an. Marakulin, der sich während der Erzählung Akumownas etwas erholt +hatte, ging in sein Zimmer. + +Vielleicht war es möglich, daß sein düsterer Traum sich gar nicht auf +ihn, sondern auf Akumowna bezog? – Oder sollte es doch nicht möglich +sein, da man nicht für andre träumt? – Warum sollte man aber nicht auch +für andre träumen können! + +Aber der Tag war noch nicht zu Ende, die Nacht kam, es kamen die letzten +Stunden; es nahte die Stunde, da es galt, Rede und Antwort zu stehen, +Rechenschaft zu geben und zu fordern. + +Akumowna brachte den Samowar, aß in der Küche ihre Eier, um ihre Stimme +zu heilen, und kam wieder zu Marakulin herein, nach ihrer Gewohnheit mit +den Karten in der Hand. Marakulin aber lehnte ab: er wolle keine Karten +gelegt haben, er wolle ihr lieber seinen Traum erzählen, nur möge sie +ihm die reine Wahrheit darüber sagen. + +Und er erzählte ihr ausführlich seinen düsteren Traum, alles genau +hintereinander – er erinnerte sich ganz deutlich an jede Einzelheit. Er +erzählte von der Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen, und wie +sie ihm eine Frist gesetzt hatte: den Sabbat, und von der Mutter mit dem +Kreuz auf der Stirn, und wie die Mutter geweint hatte. + +– Was bedeutet dieser Traum, Akumowna? + +Akumowna schwieg, lächelte und sah eigentümlich idiotisch zur Seite. + +Und plötzlich wieder von dem schwarzen Gedanken getroffen, daß seine +Frist der Sabbat sei, wurde Marakulin eiskalt. + +– Also ist alles wahr – dachte er, – denn warum schweigt Akumowna? – +Also ist alles wahr, und in einigen Minuten würde seine Frist vollendet +sein, seine Stunde schlagen, sein Ende? + +Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits verurteilt; Alle sind von +Geburt an verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt und das +Todesurteil vergessend, weil man die Stunde nicht kennt. Aber wenn der +Tag einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte Frist +bestimmt und der Sabbat verkündigt ist, – das geht über die Kraft, die +Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben +beschenkt, zum Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde verheimlicht +hat. + +– Akumowna, ist es wahr, oder nicht wahr? + +– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß nichts – erwiderte Akumowna, +lächelte und sah eigentümlich idiotisch zur Seite. + +Da schnarrte die Uhr in der Küche und begann langsam zu schlagen, einen +Schlag nach dem andern. Es schlug Zwölf. Der Sabbat war zu Ende, und der +Sonntag begann. + +– Akumowna, hat es Zwölf geschlagen? – fragte Marakulin unsicher. + +– Zwölf, gnädiger Herr, Schlag Zwölf! + +– Es ist also schon Sonntag? + +– Ja, Sonntag, der heilige Sonntag, gnädiger Herr. Schlafen Sie wohl, +Gott sei mit Ihnen! – Akumowna ließ den singenden Jurawljowschen Samowar +stehen und ging in die Küche schlafen. + +Doch Marakulin konnte nicht schlafen. Er wartete ab, bis Akumowna ruhig +wurde, deckte den Samowar zu, dann nahm er ein Kissen, legte es aufs +Fensterbrett, wie es die Burkowschen Mieter, die in Petersburg +übersommern, machen, und lehnte sich hinaus. Nein, er wollte nicht +schlafen, die ganze Nacht nicht: der Sabbat war zu Ende, der Sonntag +hatte begonnen! + +Es war leer ringsum, kein Mensch im Hof, kein Mensch in den Fenstern, +nur er allein. Und plötzlich erblickte er auf dem Kehricht- und +Ziegelhaufen, längs der Kästen und Stände, von der Müllgrube bis zum +Abgußloch und weiter bis zu den Remisen, überall junge grüne Birken +stehen. Der ganze Burkowsche Hof war mit Birken bedeckt, und die jungen +Blättchen leuchteten so grün. Er fühlte, wie seine verlorene große +Freude in ihm emporstieg und ihn überströmte: wie ein Quell schoß ihm +unter dem Herzen diese große heiße Freude hervor – und wuchs, füllte das +Herz und überflutete heiß die ganze Brust. Er sah nichts anderes mehr +als diese Birken, und unter den Birken wandelte, selbst wie eine junge +Birke schlank, seine Weruschka – Werotschka – Wera. Ihre Hände schienen +mit den Blättern verwoben, und sie wandelte von Blättchen zu Blättchen +nach der Remise zu, so leicht, als schwebte sie in der Luft, und es war, +als wenn die Erde unter ihr verschwände. Da schwang sein Herz sich auf, +überwallend, es riß ihn in die Höhe, er streckte die Arme aus – und das +Gleichgewicht verlierend, stürzte Marakulin mitsamt dem Kissen in die +Tiefe. + +Und im Sturze hörte er, wie durch ein Rohr aus einem tiefen +Brunnenschacht, eine Stimme rufen: + +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist voll, die Strafe naht! – +Ah, so steht es mit uns! Lieg du nun da. – Wieder einer weniger. – Du +stehst nicht mehr auf – Dreckkopf! + +Marakulin lag mit zerschmettertem Schädel in einer Blutlache auf den +Steinen des Burkowschen Hofes. + + + Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt. + + + + + Fußnoten + + +[1] Ein großes Petersburger Kloster. + +[2] Eine Industriestadt in Großrußland. + +[3] Klon bedeutet auf russisch etwa, die Neigung sich zu beugen. + +[4] Wundertätige Mönche, Heilige. + +[5] Vom Weißen Meer. + +[6] Berühmtes Moskauer Muttergottesbild. + +[7] Populäres Physik-Lehrbuch. + +[8] Ein Stadtviertel in Moskau. + +[9] Diminutiv von Pawel. + +[10] Kirche an der Taganka in Moskau. + +[11] Ein berühmtes Muttergottesbild in Moskau. + +[12] Ort in der Krim. + +[13] In Moskau. + +[14] In Moskau. + + + Anmerkungen zur Transkription + +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 102]: + ... Geschenk, und er schenkte er ihr dagegen hundert ... + ... Geschenk, und er schenkte ihr dagegen hundert ... + + [S. 200]: + ... den Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ... + ... dem Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ... + + [S. 254]: + ... beklagte, daß in der Schule naß und kalt ... + ... beklagte, daß es in der Schule naß und kalt ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75679 *** diff --git a/75679-h/75679-h.htm b/75679-h/75679-h.htm new file mode 100644 index 0000000..a13a808 --- /dev/null +++ b/75679-h/75679-h.htm @@ -0,0 +1,10426 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Die Schwestern im Kreuz | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Die Schwestern im Kreuz" --> + <!-- AUTHOR="Alexej Remisow" --> + <!-- TRANSLATOR="Fega Frisch" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Georg Müller, München" --> + <!-- DATE="1912" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; 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Dort sind vierzig +mal vierzig Kirchen; täglich dröhnen dort zur +Früh- und Abendmesse die Glocken, die großen +und feierlichen in den Klöstern und Kathedralen, +die Zarenglocken des Kreml; es +antworten ihnen mit allen ihren Glocken die +kleinen und niedrigen Glockentürme in den +uralten Pfarrkirchen. Gar viele Pfarrkirchen +hat Moskau; um sie herum schlängeln sich +die Straßen und Gäßchen, in ihnen lebt der +Moskauer Handelsstand sein eigenes urwüchsiges +Leben. Alle Fasten werden streng eingehalten; +an den Feiertagen ziehen die Priester +mit dem ganzen Klerus aus einem Haus ins +andere, um die festlichen Tafeln zu segnen; +dort werden bis heute die Märtyrer- und +Heiligenlegenden in der uralten Schrift gelesen, +<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a> +dunkle und vertraute Mitteilungen über +Gottesmänner und große Märtyrer. Mancher +ist sauber gekleidet und sieht ganz europäisch +aus: ein gestärktes Vorhemd und eine +Krawatte nach der letzten Pariser Mode – +doch beginnt er sich auszuziehen, so entdeckt +man ein kattunenes russisches Hemd darunter +und einen geweihten Gürtel mit eingewebten +Gebeten. Voll Inbrunst kniet der moderne +Stutzer vor dem Familienschrein mit den +Heiligenbildern. Der unter der neumodischen +Wäsche verborgene geweihte Gürtel schützt +vor Uebel. Der alte Glaube ist fest in ihm, +und der uralte Kaufmannsstand in Moskau +lebt nach der Väter Art. +</p> + +<p> +Einst wurde er von dem Advokatensohn +Ostrowskij auf die Bühne gebracht. Seitdem +war es Mode, sich über die rührseligen +Mitjas, die gutmütigen Andrej Bruskows, +die durchtriebenen Podchaljusins, über die +dünkelhaften Väter: Tit Tititsch und Torzows +zu amüsieren. Das „finstere Reich“ +nannte die Kritik den Moskauer Kaufmannsstand. +<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a> +Diese eigenartige Welt blieb ganz abseits +von den großen Wegen der russischen +Literatur. Um die Mitte des vergangenen +Jahrhunderts war die Literatur vorwiegend +ländlich, Gutsbesitzer- und Bauernliteratur. +Die Stadt schämte sich gleichsam ihrer selbst. +Was in ihr geschah, besonders unter der +Handelsbevölkerung in den alten Kirchspielen, +das wußte man nicht, das wollte man +nicht wissen. Und wenn in der Literatur auch +einige Sprößlinge aus dieser Welt auftraten, +so waren sie bemüht, möglichst rasch zu vergessen, +zu verschweigen und tief im Herzen +alles zu verbergen, was sie von dorther aus +dem „finstern Reich“ in die Helligkeit der +volkstümlichen Bildung, auf welche die fortschrittlich +Gebildeten so stolz waren, mitbrachten. +</p> + +<p> +Erst seit kurzem sind die stillen Kirchspiele auf +den sieben Hügeln des russischen Rom, des +Mütterchens Moskau, gleichsam erwacht. +Die neue Kunst, die sozialdemokratischen +Tendenzen, die Beziehungen zu westeuropäischen +<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a> +Firmen, die Errungenschaften der +Technik, die Verfeinerungen in den Anschauungen, +alles das ist bis in die dunkelsten +Winkel gedrungen. Und von da kam zu uns +der Neueste: ein Erneuerer der Kunst, ein +Prophet von morgen, der dennoch nichts von +gestern vergessen hat: Alexej Remisow. +</p> + +<p> +Sein Leben verläuft äußerlich wie das vieler +gebildeter Russen der letzten Zeit. Im +Jahre 1877 geboren, hat er seine Bildung +in einem Handelsgymnasium und später auf +der Universität empfangen; er hat Nationalökonomie +und deutsche Philosophie studiert, +den Marxismus und die Bewegung „Zurück +zu Kant“ mitgemacht, in den Seminarien +Aufsätze über wirtschaftliche Fragen und +über Statistik geschrieben, Arbeiterzirkel gegründet, +und war infolgedessen erst in die +milde Verbannung eines großrussischen Gouvernements, +dann ins Gefängnis geraten, hat +mit einem ganzen Haufen revolutionärer russischer +Intelligenz die Strapazen und Mühsale +des Etappenlebens mitgemacht, hat so +<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a> +manches Jahr im fernen Norden, wo oft im +Juni noch Schnee genug fällt, daß man +Schlitten fahren kann und wo das Nordlicht +in seiner kalten Schönheit leuchtet, verbracht. +Er hat dies alles erduldet, sein Herz +zermartert, eine Menge Bücher studiert und +kam zu uns nach Petersburg als ein fertiger +Schriftsteller zurück, als ein symbolistischer +Schriftsteller und Stilist von neuester Prägung. +</p> + +<p> +Wichtig aber ist, daß er seine uralte Moskauer +Seele bewahrt hat; in seiner Seele +dröhnen die vierzig mal vierzig Kirchenglocken +weiter und er liebt noch immer die Legenden +und Sagen von den Gottesmännern, +Heiligen und Märtyrern, von den von Gottes +Gnade erleuchteten Buhlerinnen, vom +tapferen Georg, von allerlei märchenhaften +Seltsamkeiten: von Totenfeiern, Teufeln, +Zauberern und Hexen. Alles was die Philologen, +die sich mit alter Literatur befassen, +studieren und was die Engländer Folklore +nennen: Märchen, Runen, Volkslieder und +<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a> +Riten, Volksglauben und Apokryphen – +dies alles pflegt er mit dem Talent eines modernen +Dichters, und sein Stil ist eigenartig, +seltsam und prächtig, so verfeinert und reich, +als hätte sich ihm die ganze geistige Schatzkammer +des tausendjährigen heiligen Rußland +aufgetan, zum Dank für seine Liebe zu +den vertrauten Kirchspielen aller sieben Hügel +des Mütterchens Moskau. +</p> + +<p> +Remisows erster großer Roman „Der Teich“ +zeigt noch den jungen Schmerz einer Seele, +vor der sich eben erst das Böse des Lebenskampfes +erschlossen hat. Woher kommt das +Böse? Es wird schon in der ganz naiven kindlichen +Seele geboren. Die rationalistischen +Theorien aus den Büchern tragen zur Lösung +dieses schicksalsmäßigen Rätsels nichts bei – +im Gegenteil! – vielleicht muß man also nach +rückwärts, in den uralten von den Ahnen ererbten +Sagen vom bösen Geist, in dem sagenhaften +Teufel und Spötter die Antwort suchen? +– Remisows von den Fragen unserer +Zeit durchdrungener Geist vertiefte sich in +<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a> +das Studium alter Sagen und Legenden, +und eins an das andere reihten sich etwas wie +Märchen oder moderne Apokryphen und bildeten +eine Art neues pratum spirituale, das +mit seiner Buntheit alle seine größeren Werke +gleichsam einrahmt. +</p> + +<p> +„Der Teich“ kann nur im Licht dieser apokryphischen +Skizzen ganz verstanden werden. +Der Grundgedanke dieses Werkes ist noch +nicht ganz klar herausgearbeitet; die einzelnen +Episoden wirken zwar an sich erschütternd, +doch fehlt noch das Allgemeine. Dies Allgemeine +erscheint klar auf eine neue Weise in +einer objektiveren Form, losgelöst von den +tragischen poesieumwehten Erinnerungen im +zweiten Roman „Die Uhren“. Hier handelt +es sich nicht mehr um die Chronik eines Moskauer +Handelshauses in einem der Moskauer +Kirchspiele, in den „Uhren“ wollte der Autor +das Geheimnis der ganzen Stadt in all seiner +Vielgestaltigkeit auffangen, und die Frage +nach dem Bösen hat eine größere Bestimmtheit +erhalten. Dennoch ist es auch hier schwer, +<a id="page-XIV" class="pagenum" title="XIV"></a> +den heimlichen Gedanken des Autors herauszufinden +und seine Symbole zu begreifen, die +geheimnisvoll sind wie uralte Runen. Erst +später in den nachfolgenden Erzählungen +sind endlich die Schwierigkeiten überwunden, +eine Klarheit ist erreicht und im Herzen +ist das ausgesprochen, was so lange nach +außen drängte, aber keine entsprechenden +Bilder und Symbole fand. Ja, das Böse +ist schicksalsmäßig, es ist notwendig, es hat +keinen Sinn, Idyllen zu schreiben, man +muß das Böse erkennen und verstehen, +diese irdische Hölle, die irdischen Leidenschaften. +</p> + +<p> +Schwierig waren seine Romane „Der Teich“ +und „Die Uhren“. Schwierig sind auch jetzt +in den „Schwestern im Kreuze“ und im „Unbezähmbaren +armen Teufel“ die Betrachtungen +über die schicksalsmäßige und offenbar +notwendige Schuld. Im „Unbezähmbaren +armen Teufel“ ist diese Theorie schon anschaulich +und entschieden durchgeführt. In den +„Schwestern im Kreuze“ ist alles auf ihr +<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a> +aufgebaut. Marakulin denkt: „Der eine muß +verraten, um durch den Verrat seine Seele +aufzuschließen und in der Welt er selbst zu +sein; der andere muß töten, um durch den +Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens +als er selbst zu sterben; er aber mußte +offenbar eine Quittung ausfertigen – aber +nicht der Person, der sie zukam –, um seine +Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, +und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger +Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch +Marakulin, der er war, sehen, hören +und fühlen.“ +</p> + +<p> +Doch muß man sich fragen: Findet denn die +Persönlichkeit sich selbst nur in einem Verbrechen? +Das scheint nicht glaubhaft. Natürlich +nicht. Aber gerade dieser Gedanke in +seinem Rohzustand sozusagen führt uns zum +Verständnis einer der wichtigsten Fragen der +Gegenwart. Darum lockte es den Symbolisten +Remisow, den Fall aller Einwohner +des Burkowschen Hauses zu schildern, weil +dieses Symbol unseres zeitgenössischen russischen +<a id="page-XVI" class="pagenum" title="XVI"></a> +Alltags sich durch alle traurigen Fälle +der letzten Jahre aufgeschlossen hatte. +</p> + +<p> +Remisow versucht jetzt, seine Symbole zu +deuten. „Die Katze miaute, Murka miaute. +Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch +nie zuvor, daß Murka stets gemiaut hat, +nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre +hier an der Fontanka auf dem Burkowschen +Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und nicht +nur hier auf dem Burkowschen Hof an der +Fontanka, sondern auch auf dem Newsky +und in Moskau an der Taganka – bei +der Auferstehungskirche –, an der Taganka, +wo er geboren war, überall, wo etwas +lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es +in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor +dieser Murka nirgends hätte verstecken können. +Und er fühlte es, daß Murka nicht dort +unten im Hofe miaute, sondern hier ...“ Das +stöhnende Burkowsche Haus ist ganz Rußland, +das heilige Rußland, und zwar das +ganz gewöhnliche, alltägliche. Es ist schuldig +geworden, es hat sich unvermögend erwiesen, +<a id="page-XVII" class="pagenum" title="XVII"></a> +es hat mehr versprochen, als es gehalten +hat. Hier hat es sich eben gezeigt, so wie es +wirklich war und nicht wie es nach den Programmen +geschienen hat. Man muß sich von +allen Theorien lossagen, um es so zu sehen. +Noch wichtiger ist der Mut, es gegen alle +Programme und Theorien auszusprechen. +Dies ist Remisows Stärke: sein Held ist eine +wirkliche Individualität. Er ist nicht aus +Theorien geboren und nicht verstandesmäßig +gesehen. Marakulin lebt sein eigenes Leben, +er ist ein durchschnittlicher Mensch, aber eben +von diesem Eigenen geht der Symbolismus +zum Allgemeinen. Auch Marakulin ist symbolisch. +Waren wir nicht alle noch vor kurzem +ebenso offenherzig und vertrauensselig, +als hätten wir keine Lehren der Geschichte +vor Augen? Damit haben wir Schuld auf +uns geladen. Das Leben ist bei uns erstarrt. +Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen. +</p> + +<p> +Lange und hartnäckig hat sich Remisow mit +den Fragen des Glaubens befaßt, mit den +Altertümern, mit der Volkspoesie, mit Sagen, +<a id="page-XVIII" class="pagenum" title="XVIII"></a> +aus denen das uralte heilige Rußland +sich Pein und Belehrung schöpfte. Man verstand +ihn nicht und hielt der unverstandenen +Kunst Remisows den Realismus entgegen. +Es schien, daß sein Stilisieren kein Ende +nehmen wollte in diesem ganzen Strom von +Skizzen, in denen er vor allem seine Meisterschaft +zeigte. Aber diese Skizzen Remisows +waren nur seine Lehrlingsarbeit. +</p> + +<p> +Wer ihn gut kannte, der konnte nicht daran +zweifeln, denn dieses Stilisieren beschränkte +sich nicht auf die Form. Es führte in das +wahre Verständnis dessen ein, was einst +Volksseele genannt wurde. Denn die Volksseele +läßt sich nicht in Kategorien pressen, +welche die politischen Parteien für sie aufstellen, +weder in die der volkstümlichen rechten +oder linken Partei, noch in die Kategorien +derer, die der ganzen Menschheit Heil +versprechen. Das Geheimnis der Volksseele +blieb verschlossen; jetzt sehen wir es endlich +klar ein. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“ +ist die verwirrte moderne Seele, die +<a id="page-XIX" class="pagenum" title="XIX"></a> +Seele eines Trödlers geschildert. Plötzlich +hat sich alles das aus der Vergessenheit erhoben, +was man ein für allemal hinter sich zu +haben glaubte. Dieses Alte in der jetzt ohnedies +schon konventionellen Gestalt des Trödlers +zeigt sich auch mitten in Petersburg, es +klafft aus der Tiefe des Burkowschen Hofes +wie aus der Unterwelt, und man fühlt: dies +ist wahr! Paradox ist vielleicht nur die Gestalt +der Hörerin der Hebammenkurse, welche +alte Weisen singt. Hier hat die Phantasie +Remisows sich hinreißen lassen, die gewöhnt +ist, auch im Neuesten etwas Altertümliches +herauszufinden. Aber da haben wir Akumowna; +das Schicksal hat sie in die Stadt getrieben, +das Schicksal jagt ganz Rußland wenn +nicht in die verderblichen Gegenden Sibiriens, +so doch in die Städte, wo das Neue +geschaffen wird, neuer Glaube und neue +Forderungen an das Leben. Aber das Alte +stirbt noch lange, lange nicht aus, es bewahrt +sich länger, als wir glauben. Daher die Vermengung +und das Zusammenfließen des Alten +<a id="page-XX" class="pagenum" title="XX"></a> +mit dem Neuen. Die Bewegung ins +Volk suchte lange den Traum vom freien +Grundbesitz zu verwirklichen. Der Bauer +hörte dem Sozialismus zu und verstand, daß +die Rede von freiem Grundbesitz war. Akumownas +Märchen und Lisaweta Iwanownas +Geheimnis flossen zusammen mit den Lehren +der Verbannten Maria Alexandrowna. +Dieses Ineinanderfließen zu schildern, ist eine +der vornehmsten künstlerischen Aufgaben, die +sich Remisow stellt. +</p> + +<p> +Zu den besten Episoden der Erzählung gehören +die Szenen, in denen von der Reise ins +Ausland geträumt wird. Darin liegt auch ein +geheimer Herzenswunsch verborgen: vom +Lande strebt man in die Stadt, aus der Stadt +aber, aus allen Burkowschen Häusern, in denen +sich das aufgewühlte heilige Rußland +quält, drängen die Träume, Wünsche und +Hoffnungen dahin, nach dem fernen fremden +und seit uralten Zeiten vertrauten Westen. Und +es genügt nur zu denken, daß bald, bald eine +Möglichkeit eintreten könnte, hinzureisen, sich +<a id="page-XXI" class="pagenum" title="XXI"></a> +innerlich auszuruhen und das Martyrium +des heimatlichen Schmerzes für eine Weile +zu vergessen, dann wird es einem leicht zumute +und die Freude leuchtet auf. Kommt +von dort, aus der Heimat unserer allerbegehrtesten +Ideale – ich brauche absichtlich ein +Fremdwort – eine erfrischende Welle über +uns, Verjüngung, Geist der sozialen Freiheit, +so vergessen wir ganz das Burkowsche Haus +und Murkas schmerzliches Miauen, das +Weinen und Stöhnen des Volkes. Unsere +Augen leuchten und wir atmen freier. +</p> + +<p> +Das Weiseste, was Remisow in seinen +„Schwestern im Kreuz“ gesagt hat, ist seine +Theorie vom königlichen Recht. Gleich Raskolnikow +zermartert Marakulin in einem +Ausbruch von Verzweiflung sein Gehirn +mit der Frage nach der Vertilgung der menschlichen +„Laus“. Wie Raskolnikow sieht Marakulin +ebenfalls das ganze Uebel in einer +jämmerlichen alten Frau, und es dünkt ihn, +daß man nur wagen, die konventionelle Angst +vor dem Verbrechen nur überwinden müßte, +<a id="page-XXII" class="pagenum" title="XXII"></a> +um das Uebel zu vernichten. Nur ist die +menschliche „Laus“, welche Marakulin sieht, +keine Pfandverleiherin, sie tut niemand etwas +Böses. „Sie hat nichts in ihrem Leben zu bereuen; +sie hat weder getötet noch gestohlen +und wird weder töten noch stehlen, denn sie +tut nichts als sich ernähren, sie trinkt und ißt, +sie verdaut und härtet sich ab.“ Was bedeutet +das? Remisow schildert die Raskolnikowsche +„Laus“ in der Gestalt einer Generalin, +die von ihren Renten lebt. Eintönig +und sinnlos vergeht ihre Zeit. Sie braucht +niemand und niemand braucht sie. „Die Generalin +rührt mit keinem Finger, tut rein +nichts und erreicht alles: sie härtet sich ganz +sichtbar und zweifellos ab, und ihrem Leben +ist kein Ende abzusehen – der Chiromant +hat sich nicht geirrt – sie ist vielleicht schon +unsterblich!“ Ein Leben ohne Arbeit, das +heißt ohne Verbrechen und ohne Heldentaten +– denn jede Tat ist entweder ein Verbrechen +oder eine Heldentat – ein solches Leben +beruht, Remisows Meinung nach, nicht auf +<a id="page-XXIII" class="pagenum" title="XXIII"></a> +einem einfachen Recht, sondern auf einem königlichen +Recht. So würden wir alle, wenn +wir die Utopie vom allgemeinen Wohlergehen +verwirklicht hätten, das kummerlose, +sündenlose, unsterbliche Lauseleben der Generalin +genießen. +</p> + +<p> +Rechtschaffener aber ist das heilige Martyrium +des Lebens, mit seinen Abstürzen, Ausbrüchen +von Hoffnung, Kämpfen und zäher, +qualvoller Erwartung. +</p> + +<p class="date"> +St. Petersburg 1912. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-2"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +Erstes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">arakulin</span> war mit Glotow befreundet; +durchaus nicht etwa, weil der +Dienst sie eng miteinander verband und einer +ohne den anderen nicht hätte auskommen können: +Peter Alexejewitsch gab die Quittungen +aus, Alexander Iwanowitsch war der Kassierer. +Man weiß ja, wie die Ordnung ist: Marakulin +brauchte nur mit Tinte zu schreiben und +Glotow zahlte genau so viel in Gold aus. Dabei +waren sie so verschieden und einander so unähnlich: +der eine schmalbrüstig, der Schnurrbart +dünn wie ein Faden, der andere breitschultrig +und der Schnurrbart wie bei einem +Kater; der eine blickte von innen heraus, der +andere strahlte. Dennoch waren sie Freunde, +ein Herz und eine Seele. +</p> + +<p> +Denn sie hatten beide ein gemeinsames Merkmal, +oder eine Eigenschaft, und zwar eine +grundlegende; etwas, das nicht zu verbergen +ist: es würde unter den Augenlidern des Schlafenden +<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a> +hervorblinken, gleichviel, ob es sich +in der Pupille versteckt oder aus der Pupille +sich über den Augapfel verbreitet: beide nämlich +hatten eine Art von Fühler oder Rüsselchen. +Nicht nur daß dieser Fühler sich ans Leben +klammerte, vielmehr sog er alles Lebendige +in sich auf, alles, was ringsum lebte und wob, +bis auf den Grashalm, der atmet, bis auf das +Steinchen, das wächst, und er sog das alles +so gierig und fröhlich in sich auf, so ansteckend +fröhlich. Das war es. +</p> + +<p> +Wer es bemerken wollte, konnte es sehen, wer +es nicht sah, der fühlte es, und wer es nicht +fühlte, der erriet es. +</p> + +<p> +Dazu kam, daß sie gleich jung waren – beide +waren an die Dreißig oder etwas drüber +– und der Erfolg – dem einen sowohl wie +dem anderen gelang alles – und die Kraft – +keiner von ihnen war jemals krank oder klagte +auch nur über Zahnweh. Sie waren auch von +keinerlei Banden gefesselt, weder von gesetzlichen, +noch von ungesetzlichen, sie waren wie +in der Steppe, allein, und die Steppe dehnte +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +sich vor ihnen in ihrer ganzen Weite und +Macht, frei, ungebunden, unermeßlich – +dein. +</p> + +<p> +Vor drei Jahren etwa hatte Glotow seine +rechtmäßige Gattin aus dem dritten Stockwerk +auf das Pflaster hinabgestürzt, und die +Aermste brach sich dabei das Genick; vielleicht +aber war es nicht vor drei Jahren, es kann +schon vor ganzen vier gewesen sein. Uebrigens +ist das unwesentlich, – es handelt sich ja +gar nicht um Glotow, sondern um Peter +Alexejewitsch Marakulin. +</p> + +<p> +Marakulin, welcher seine Kollegen mit Fröhlichkeit +und Sorglosigkeit ansteckte, gestand +einmal, daß er, obschon dreißig Jahre alt, +sich für nicht mehr und nicht weniger als +zwölfjährig hielte, er wüßte selbst nicht warum, +und er führte dafür Gründe an: so oft +er mit jemand zusammenkäme, oder sich in +ein Gespräch einließe, hätte er das Gefühl, +als wären die anderen alle älter – alt, und +er wäre der jüngste – ganz jung noch, +zwölfjährig. Und ferner gestand Marakulin, +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +daß er sich den anderen Menschen gar nicht +ähnlich – nicht ein bißchen ähnlich fühle, +wenigstens nicht jenen richtiggehenden Menschen, +wie man sie gewöhnlich im Theater, in +Gesellschaften oder in den Klubs beobachtet, +während sie eintreten oder fortgehen, sich unterhalten +oder schweigen, sich ärgern oder +zufrieden sind – und daß alles an ihm, von +der Nase bis zur kleinen Zeh wahrscheinlich +nicht auf dem richtigen Fleck säße – so schiene +es ihm wenigstens. Und weiter gestand Marakulin, +daß er nie denke; er hätte einfach +gar nicht die Empfindung, daß er denke; +wenn er durch die Straßen gehe, so geschehe +dies eben nur so mit den Beinen, und wenn +er mit jemand bekannt werde, dann fände er +an seinem neuen Bekannten weder Unterschiedsmerkmale +noch Besonderheiten, nicht +im Gesicht noch in den Bewegungen: er fühle +nur unklar, daß der eine ihn anziehe und der +andre abstoße, einer weniger, ein anderer mehr, +und ein dritter sei ihm ganz gleichgültig; häufiger +aber herrsche doch das Gefühl der Nähe +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +und das Vertrauen in das Wohlwollen des +anderen vor. Und weiter gestand Marakulin, +daß ihn, seitdem er Bücher lese und mit Menschen +zusammenkomme, die entgegengesetzten +Meinungen nie abschreckten. Er sei vielmehr +bereit, jedermann zuzustimmen, weil er jeden +in seiner Weise für berechtigt hielte, und diskutiere +nie; wenn er sich aber einmal selbst verstiege +oder zu Auseinandersetzungen aufreize, +so geschehe es aus ganz indiskutabeln Gründen, +deren er sich jedesmal genau bewußt sei, +obwohl er sie nicht verrate – gebe es doch genug +solcher indiskutabler und doch alltäglicher +Gründe! – Und weiter gestand Marakulin, +daß er nie in seinem Leben geweint habe, +ein einziges Mal ausgenommen, als seine alte +Kinderfrau ihn verließ, an ihrem letzten Tag: +damals wäre er, in der Rumpelkammer versteckt, +an seinen ersten und letzten Tränen fast +erstickt. Noch eine verrückte Eigenschaft hatte +er, über die man sich lustig zu machen pflegte: +wenn ihm irgendein Einfall in den Sinn kam, +so stürzte er sich auf ihn mit einer solchen Hartnäckigkeit, +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +als läge in ihm der Sinn seines +Lebens, oder des Lebens überhaupt – aus +Kleinigkeiten machte er wichtige Dinge. Zu +den Feiertagen, zum Beispiel, wurde dem +Direktor gewöhnlich ein Bericht überreicht. +Dieser Bericht wurde stets mit der Maschine +geschrieben, ihm aber konnte es einfallen, +ihn mit der Hand abzuschreiben; und obwohl +es mit der Maschine viel schneller, +leichter und einfacher zu machen ging, – es +gab auch vorgedruckte Formulare zu diesem +Zweck – so ließ er es sich durchaus nicht +nehmen und malte Tag und Nacht beharrlich +und sorgfältig einen Buchstaben nach +dem andern und reihte die Zeilen aneinander, +als wären sie Perlen, und schrieb den Bericht +so oft ab, bis er so war, daß er ausgestellt +werden konnte, – so war er geschrieben! +– denn Marakulin war wegen seiner +Schrift berühmt. Am nächsten Tage schon +wird so ein Bericht irgendwohin verlegt, man +schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit, +man verlangt ihn nicht so, und eine Menge +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Zeit und Arbeit sind sinnlos verschwendet +worden! Ein verrückter Kerl, und wie beharrlich +in seiner Verrücktheit! Und weiter +pflegte Marakulin noch etwas Seltsames zu +erzählen – von einer ihm eigenen, durch nichts +erklärbaren ungewöhnlichen Freude, die er +ganz unerwartet empfinden konnte: manchmal, +wenn er am Morgen ins Bureau lief, +begann ihm plötzlich das Herz in der Brust +zu flattern und er fühlte eine ungewöhnliche +Freude. Und diese seine Freude umfing +ihn so ganz und sie war so groß, daß +ihm schien, er könnte sie jetzt warm aus +der Brust herausnehmen und jeden mit +ihr beschenken – es würde für Alle reichen; +wie ein Vögelchen wollte er sie in beide +Hände nehmen, damit ihm dies Paradiesvöglein +nicht davonfliege, darauf hauchen, +daß es nicht friere und es so den Newsky +entlang tragen: mögen sie alle sehen, ihre +Wärme einatmen, ihr Licht fühlen, – das +stille Licht und die Wärme, die das Herz vor +Freude atmet und ausstrahlt. +</p> + +<p> +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +Natürlich ist es schwer, sich selbst zu beurteilen, +und mit Geständnissen kommt man auch +nicht weit: ob das alles stimmte oder nicht – +wer kann es wissen? – Aber eine Liebe zum +Leben, ein Instinkt zum Leben, die Heiterkeit +des Gemütes – das war in ihm in der +Tat. +</p> + +<p> +Wenn man Marakulin zuhörte oder sah, wie +er an Menschen heranzutreten pflegte, wer +sein Lächeln und seinen Blick kannte, dem +konnte manchmal der Gedanke kommen, daß +so einer wie er, jederzeit imstande wäre, zu +einer Bestie in den Käfig zu treten und, ohne +mit der Wimper zu zucken, ohne zu überlegen, +die Hand auszustrecken, um das sich sträubende +wilde Haar des grimmigen Tieres zu streicheln +– und das Tier würde nicht beißen. +</p> + +<p> +Und wie konnte es Marakulin betrüben, +wenn es sich zuweilen, plötzlich herausstellte, +daß auch er, wie jeder andere, gehaßt wurde, +daß auch er seine Mißgönner hatte, daß auch +er für jemand ein Balken im Auge sein konnte! +Denn man konnte ja mit ihm machen, +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +was man wollte. Und wenn er es dennoch +zustande gebracht hatte, das dreißigste Jahr +zu erleben, und mit Erfolg, so war es das +reinste Wunder – eine unwahrscheinliche +Sache. Meistens aber wurde Peter Alexejewitsch +geliebt, nicht etwa besonders oder gar +zu sehr, aber es war gar kein Grund, ihn nicht +zu lieben – brachte er doch Heiterkeit und +Lachen mit, dazu kein gewöhnliches Lachen, +sondern ein trunkenes, marakulinsches – +warum sollte man ihn da hassen? Und dennoch +nahm das alles kein sehr gutes Ende +– Peter Marakulin endete schlimm. +</p> + +<p> +Das kam so: Marakulin erwartete zu Ostern +Beförderung und eine Gratifikation – in den +großen Geschäftshäusern ist es zu den Feiertagen +so üblich –; statt dessen aber wurde er +aus dem Dienst gejagt. Es geschah folgendermaßen: +Fünf Jahre hatte Peter Alexejewitsch +gedient, fünf Jahre die Quittungsbücher +geführt, und alles befand sich in +bester Ordnung, – Marakulin wurde sogar +wegen seiner Ordnungsliebe und Genauigkeit +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +scherzweise „Der Deutsche“ genannt +– als aber die Direktoren vor den +Feiertagen revidierten und zu vergleichen und +zu rechnen begannen, da trat eben die Verlegenheit +ein: es stimmte etwas nicht, es fehlte +etwas – vielleicht nur eine wirkliche Bagatelle, +– das Geschäft aber war groß, und +solche Kleinigkeiten konnten Verwirrungen +verursachen. So nahm man ihm denn die +Bücher ab und entließ ihn. +</p> + +<p> +Erst glaubte Marakulin nicht daran, er wollte +es einfach nicht glauben, und dachte, man +triebe nur Scherz mit ihm, einen Jux zum +allgemeinen Ergötzen einfach, um vor dem +Fest die Fröhlichkeit zu erhöhen; er lachte +dazu und begann seine Auseinandersetzung +auch nicht ohne Witz: +</p> + +<p> +– Gestatten Sie dem Dieb Soundso, dem +Räuber und Wegelagerer, den Diebstahl aufzuklären +... +</p> + +<p> +– Wie? +</p> + +<p> +– Ha – ha ... Und er war es, der zuerst +lachte. +</p> + +<p> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Und in einem aufklärenden Brief an eine +wichtige und einflußreiche Persönlichkeit, an +den Direktor, unterschrieb er nicht einfach +Peter Marakulin, sondern „Der Dieb und +Expropriateur Peter Marakulin“. +</p> + +<p> +„Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin.“ +</p> + +<p> +– Wie? +</p> + +<p> +– Ha – ha ... Und er war es wieder, der +zuerst lachte. +</p> + +<p> +Aber der Scherz gelang diesmal offenbar vorbei, +er wirkte gar nicht spaßhaft, oder wenn +er auch so wirken hätte können, so nahm man +das gar nicht wahr, und niemand lachte, – +im Gegenteil. Und am komischsten war die +Antwort eines jungen Buchhalters, – dieser +Buchhalter war ein kleiner stiller Mensch, +der nicht einmal eine Fliege zu kränken imstande +war, so still war er. +</p> + +<p> +Dieser Awerjanow nun sagte: Ich möchte bis +zur Aufklärung Ihres Mißverständnisses mit +meiner Antwort abwarten. +</p> + +<p> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Hier wurde Peter Alexejewitsch ernst: +</p> + +<p> +– Was für ein Mißverständnis! Es kann +ja gar keinen Irrtum geben! +</p> + +<p> +– Wie? +</p> + +<p> +– Der Irrtum, meine ich ... ich irre mich +nicht, ich bin ein „Deutscher“ ... Wo ist +denn der Irrtum? +</p> + +<p> +Und jetzt mußte er es glauben. Er mußte ja +glauben! Die wilde Bestie ist offenbar doch +nicht so einfach, sie unterwirft sich nicht so +leicht, sie läßt nicht so ohne weiteres ihr sich +sträubendes Fell streicheln. Hände weg! Die +Bestie beißt dir noch die Finger ab! Ist es +nicht so? – Oder hat es mit der Bestie gar +nichts auf sich und der Fluch besteht gar +nicht darin, daß der Mensch für den Menschen +eine Bestie ist und eine grimmige dazu, +sondern darin, daß der Mensch für den Menschen +ein Klotz ist: man mag ihn noch so anflehen, +er hört es nicht; man mag ihn noch +so anrufen, er antwortet nicht; man mag sich +den Kopf einstoßen, indem man vor ihm +mit der Stirn auf den Boden schlägt, er +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +rührt sich nicht; er bleibt so stehen, wie er +hingestellt wurde, bis er umfällt oder bis du +umfällst. Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn, und zum erstenmal dachte +es in ihm und sprach sich deutlich aus: Der +Mensch ist für den Menschen ein Klotz. +</p> + +<p> +Er lief da hin, klopfte dort an: überall war +geschlossen, überall war zu: er wurde nicht +empfangen. Und wenn er empfangen wurde, +so ließ man ihn nicht sprechen, gar nicht zu +Worte kommen. Dann begann man ihm die +Tür vor der Nase zuzuschlagen: keine Zeit! +oder: laß, bitte, in Frieden! oder: wir haben +an was anderes zu denken! – Bald +gab die Dienerschaft nicht einmal Antwort +mehr hinter der Vorlegekette: es war ihnen +untersagt; außerdem war er allen schon zu +lästig geworden. +</p> + +<p> +Marakulin hatte keine Zuflucht mehr: er war +wie in der Steppe, allein, und die Steppe lag +vor ihm, ausgebrannt, schwarz, endlos – +fremd. Nach allen vier Richtungen gleich +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +unabsehbar. Erst hatte er alles, jetzt hatte er +nichts. +</p> + +<p> +Und das alles wegen einer Bagatelle – wegen +eines blinden Zufalls. Es ging freilich +ein Gerücht um, die ganze Sache sei von +Alexander Iwanowitsch angezettelt, sei ein +Werk seiner Hände, – Glotow habe seinen +Freund hineingelegt und sich selbst aufs +Trockene gebracht. Andererseits aber wußte +man, daß Marakulin selbst bereit war, sei es +aus Herzensgüte oder aus einer sonstigen +Eigenschaft, etwa aus übermäßiger Vertrauensseligkeit +und Einbildungskraft – er +kam mit den Menschen gern gut aus – ja, +daß er selbst nichts dagegen hatte, eine Quittung, +provisorisch natürlich, einer Person auszuhändigen, +die mit einer Zahlung nichts zu +tun hatte; auf besondere Bitten hin oder mit +Rücksicht auf die Verlegenheit eines Kollegen +– vielleicht eben dieses Alexander Iwanowitsch! +Denn man konnte mit Marakulin +machen, was man wollte. +</p> + +<p> +Er aber, durch einen blinden Zufall aus seiner +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +Bahn geschleudert, ohne Arbeit, allein, Tage +und Nächte denkend, für sich allein denkend +– es waren eben andere Zeiten, jene Zeiten +waren vorbei; jetzt hatte auch er, wie die +richtigen Menschen, zu denken angefangen – +er selbst aber entschied und sprach sich selbst +das Urteil: er erkannte sich nicht schuldig und +sprach sich von Diebstahl frei. Und indem +er sich in seiner fieberhaften Aufregung seine +Daseinsberechtigung bewies, tat er es wie +früher mit Lachen und mit Freude, auf die +marakulinsche Art: er biß sich in diesen Klotz +fest, in die Vorstellung, zu der sein Denken +ihn geführt, daß der Mensch für den Menschen +ein Klotz sei, und begann zu bohren. +Er wollte um jeden Preis ergründen, wer das +alles brauchte und wozu: zum Vergnügen +welchen Klotzes all die andern Klötze hingestellt +seien! Er wollte es nur ergründen, um +sich bestimmt sagen zu können, ob er selber +noch länger als Klotz dastehen sollte, +so wie es irgend jemand beliebt hatte, ihn +hinzustellen, oder ob er, ohne abzuwarten, +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +bis es jemand belieben würde, ihn umzustoßen, +sich selber hinstrecken sollte, freiwillig, +ohne jemand zu fragen. Freilich läßt sich dergleichen +nicht auf einmal beantworten, urteilt +selbst, und wer könnte es auch? Es sei +denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke, +welcher eine Hose gestohlen und nach +den Linien der Hand einen anderen beschuldigte, +seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls +von der Kusnetschnybrücke. +</p> + +<p> +Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man +sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn +man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung +zu erweisen! Und auch das ist es nicht, daß +der Mensch für den Menschen eine Bestie +ist, und nicht, daß der Mensch für den Menschen +ein Klotz ist; die Sache ist einfacher: +wenn das Unglück über einen kommt, dann +heißt es: dulde, und dulden mußt du darum, +weil es einerlei ist, ob du mit den Hinterbeinen +ausschlägst oder beißest, – denn alles ist nutzlos, +es läßt dich nicht los, bis seine Zeit um ist. +Ist es nicht so? Etwas Derartiges flog damals +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich +zu ihm: Dulde. +</p> + +<p> +Den ganzen Sommer trieb er sich ohne Arbeit +herum. Alles, was er in den fünf Petersburger +Quittungsjahren erworben hatte, ging +jetzt in die Leihhäuser, in das Residenzpfandhaus +oder in das städtische, auf dem Wladimirsky-Prospekt. +Bald besaß er nichts mehr; +die Pfandscheine hatte er auch an einen Uhrmacher +in der Gorochowaja verklopft, und +was ihm noch übrig blieb, war so vertragen +und zerrissen, daß nicht einmal der Tartar es +gekauft hätte. Er war abgerissen und schäbig; +sein einziger Gummikragen war ganz +zerwaschen, nur das Kreuz am Hals war +noch ganz und das Amulett, das er sich übrigens +längst nicht mehr umzuhängen pflegte; +er hatte es an die Wand gehängt zur Erinnerung. +Und er begann, sich zu schämen – +früher hatte er nie etwas Derartiges gefühlt. +Er wagte es nicht mehr zu bitten. Zum Glück +konnte er auch niemand bitten: wie vor einem +Cholerakranken waren alle Freunde davongelaufen +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +und hielten sich vor ihm versteckt. +Und er empfand Angst vor Allen, vor Bekannten +und Unbekannten. Er schämte und fürchtete +sich, durch die Straßen zu gehen; es war +ihm, als wüßten alle etwas von ihm, das er +nicht den Mut hätte, sich selber zu gestehen, +geschweige den Menschen zu sagen. Die Passanten +in den Straßen stießen ihn. Sogar die +Hunde, auch die bellten ihn an und schnappten +nach seinen Beinen. Er war eben ein verlorener +Mensch. +</p> + +<p> +Nun ja, ein verlorener, rechtloser – da heißt +es eben: dulde, dulde und vergiß ... Bricht +das Unglück über dich herein, dann vergiß, +daß es Menschen auf der Welt gibt; die +Menschen werden dir nicht helfen, und wenn +sie es wollten, gleichviel, das Unglück wird +ihre Taten zunichte machen, es wird sie auseinanderjagen +und einschüchtern; darum vergiß +die Menschen. Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Und etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn und sprach deutlich zu +ihm: Vergiß. +</p> + +<p> +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +Bald fanden sich dennoch Menschen. Es +erschien aber nicht etwa so ein Awerjanow +oder sein Gehilfe Tschekurow – die Peitsche +der Gemeinheit, wie der ehrliche Tschekurow +sich selbst nannte, – nein, es waren lauter +solche, an die Marakulin niemals vorher gedacht +hatte: kleine, verdächtige Beamte, die +aus allen möglichen Aemtern fortgejagt waren, +und solche, die von einer Stellung zur +anderen wanderten – Anwärter auf den +Laufpaß, Zugrundegegangene und Zugrundegehende, +Betrogene und Vielgeprüfte, die in +anständige Häuser nicht kommen dürfen und +denen die Hand zu reichen für unpassend und +unmöglich gilt, und endlich solche, die einen +sehr bezeichnenden Spitznamen haben – +ihren eigenen Namen und den Zunamen +von Dieben, Schurken, Schuften: bekannte, +halbbekannte und ihm völlig unbekannte +Gauner kamen zu Marakulin, um ihr Mitgefühl +zu bezeigen; sie waren es auch, die +ihm fürs erste Arbeit fanden, wenn auch keine +sichere, nur so, um sich durchzufretten. +</p> + +<p> +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +Marakulin hatte vorher eine Wohnung auf +der Fontanka, an der Obuchowskybrücke; sie +war klein, aber doch seine eigene, jetzt mußte +er die Wohnung aufgeben und in ein Zimmer +ziehen. Das Zimmer fand sich auf derselben +Treppe, drei Stockwerke höher. Im ganzen +hatte sich Marakulins Leben bis dahin +ganz leidlich gestaltet, wenn auch verworren +und ungeordnet. Er hatte zwar schon früher +einmal Zeiten gehabt, da er nicht besonders +gut lebte, freilich war das noch vor seiner warmen +Stellung, in den Anfängen seiner Laufbahn, +da man sich aus so etwas gar nichts +macht. Jetzt aber war es anders: es fiel ihm +schwer, sich einzuschränken, um so mehr, als +er keine Hoffnung auf Verbesserung hatte und +der Gaunerverdienst nicht übermäßig war; +er reichte gerade, um sich durchzufretten. +Aber wozu sich durchfretten? Wozu leiden, +leiden, wozu vergessen, vergessen und dulden? +Er wollte durchaus wissen, wer das alles +brauchte und wozu, zum Vergnügen welchen +Diebes, welches Schurken oder Schuften – +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +welchen Gauners das nötig war? Und er +wollte es wissen, nur um sich klar zu sagen, +ob es sich noch lohnte, das alles in die Länge +zu ziehen – zu dulden, nur um sich durchzufretten? +</p> + +<p> +Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal +beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es +auch? – Es sei denn der Chiromant von der +Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen +und nach den Linien der Hand einen anderen +beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl +nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke. +</p> + +<p> +Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man +sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn +man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung +zu erweisen! Es kommt offenbar gar nicht +darauf an, daß man duldet und auch nicht, +daß man vergißt; die Sache ist viel einfacher: +Denke nicht. – Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Und etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn und sprach ganz deutlich +zu ihm: Denke nicht. +</p> + +<p> +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +Er sollte nicht denken, jetzt? Gerade jetzt, +durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn +geschleudert, allein, ohne Arbeit? Jetzt begann +er erst recht zu denken – jene Zeit, als er noch +nicht dachte, war vorbei, und wird nie wiederkehren. +</p> + +<p> +Und der Kreis schloß sich in ihm: er wußte, +daß es nutzlos war zu denken, daß er nicht +denken durfte, daß man nichts beweisen kann, +und konnte doch nicht umhin zu denken, konnte +doch nicht umhin zu beweisen, er mußte denken +bis es schmerzte; die Gedanken jagten +sich unaufhörlich wie im Fieber. +</p> + +<p> +Seine Wohnung wurde Marakulin glücklich +los, ohne daß man ihn aufs Polizeirevier geschleift +oder gepfändet hätte – er hatte nichts, +und die Seele kann man einem doch nicht wegnehmen. +Nur daß Michail Pawlowitsch ihm +die Hand nicht gereicht hatte, – der Oberhausmeister +Michail Pawlowitsch pflegte +den mittleren Mietern, die er achtete, die Hand +zu reichen. +</p> + +<p> +Der letzte Tag am alten Herd verlief für Marakulin +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +sehr denkwürdig. Am Morgen geschah +ein Unfall im Hof: eine Katze war verunglückt +– eine weiße, glatte Katze mit grauem +Schnurrbart. Möglich, daß sie auch gar nicht +verunglückt war und gar nicht gedacht hatte, +vom Dach des fünften Stockwerks herabzustürzen, +sondern sie mochte vielleicht zufällig +etwas verschluckt haben: einen Nagel oder +eine Glasscherbe. Es kann auch sein, daß jemand +ihr absichtlich, zum Spaß, ein Nägelchen +oder einen Splitter zu fressen gegeben +hatte, – es gibt nämlich solche Liebhaber. +Sie quälte sich sehr und litt: bald warf sie +sich auf den Rücken und wälzte sich auf den +Steinen, bald drehte sie sich auf den Bauch +herum, streckte die Vorderpfoten aus, hob die +Schnauze in die Höhe, als wollte sie in die +Fenster hineinsehen, und miaute. +</p> + +<p> +Die kleinen Kinder umstanden die Katze, sie +ließen ihre wilden Spiele und wilden Arbeiten +im Stich und hockten sich um sie herum. +Sie waren still geworden und konnten sich +von der Katze nicht losreißen; sie aber miaute. +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +Der Perser, der schwarze Masseur aus der +Badeanstalt, hockte sich auch hin, rollte mit +den Augäpfeln sie aber miaute. +</p> + +<p> +Ein rauchfarbener Kater sprang aus der Remise +hervor, ging forsch quer durch den Hof, +über die Bretter und über den Kies geradeaus +auf die Katze zu, aber drei Schritt von +ihr blieb er stehen, sträubte sein Fell und zog +mit hochgehobenem Schweif ab. Ein kleines +Mädchen besann sich und lief um Milch; sie +brachte eine Scherbe voll und stellte sie der +Katze unter die Nase; die Katze aber sah gar +nicht hin und miaute. – Die Katze ist verrückt! +– sagte ein Erwachsener, der ebenso +wie Marakulin aus dem Fenster zuschaute. +</p> + +<p> +– Das ist unsere Katze Murka! – verbesserte +ihn das kleine Mädchen, das um Milch gelaufen +war; ihr Gesicht glühte und in ihrer +Stimme klang etwas wie Gekränktheit und +Ungeduld. +</p> + +<p> +Und alle schienen auf eins zu warten: auf das +Ende. Marakulin wich nicht vom Fenster, +er konnte sich nicht losreißen, auch er wartete +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +auf das Ende. Und er würde so, ohne sich zu +rühren, auch bis zum Abend dagestanden +sein, wenn er nicht plötzlich gefühlt hätte, daß +hinter seinem Rücken jemand da war und von +einem Fuß auf den anderen trat. Marakulin +pflegte die Türen schon längst nicht mehr abzuschließen, +es war also jemand hereingekommen! +In der Tat: ein alter Mann stand vor +ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend +– ein zerzauster langer alter Mann, unter +dem Mantel schlotterten die Hosen um seine +Beine, als wären es keine Beine, sondern bloß +Knochen. In der Hand zerknüllte er seine +Mütze und noch etwas – ein Kuvert, ja ein +Kuvert. Diesen alten Mann hatte er früher nie +gesehen, natürlich! – was wollte er? +</p> + +<p> +– Was wünschen Sie? +</p> + +<p> +– Ich komme zu Euer Gnaden, Peter Alexejewitsch, +ich komme von Alexander Iwanowitsch. +</p> + +<p> +– Von Alexander Iwanowitsch? +</p> + +<p> +– Von ihm persönlich. Sie vergaßen die +Tür zu schließen, so bin ich da, – zu klingeln +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +hab’ ich gefürchtet, verzeihen Sie, – der Alte +kaute mit den Lippen und zupfte an seiner +Mütze. +</p> + +<p> +In früheren Zeiten kamen manchmal allerlei +Leute von Glotow – sie brauchten im Kontor +zuweilen Aushilfe für den Abenddienst – +aber wie konnte es Glotow einfallen, jetzt jemand +zu ihm zu schicken, da Glotow doch +wußte, daß er stellungslos war und nur einen +Sechser in der Tasche hatte! +</p> + +<p> +– Ich kann nichts für Sie tun, Sie brauchen +doch Geld ... +</p> + +<p> +Der Alte wurde geschäftig und zog ein zerdrücktes +Blatt Papier aus dem Kuvert, das +ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschrieben +war. +</p> + +<p> +– Ich habe eine Bittschrift an Euer Gnaden +verfaßt, ich geniere mich zu bitten, und so +habe ich diese Bittschrift verfaßt, – der Alte +schob ihm das Papier zu und lächelte ununterbrochen, +ein Lächeln, das so war, als +miaute die Katze Murka. +</p> + +<p> +Marakulin steckte dem Alten seinen letzten +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +Sechser zu, setzte sich an den Tisch und wartete +nur, wann der Alte fortgehen und wann +es ein Ende nehmen würde. +</p> + +<p> +Der Alte ging nicht, er preßte in der einen +Faust den Sechser und die Mütze und in der +anderen das zerknüllte, ungleichmäßig mit +großen Buchstaben beschriebene Papier. Seine +Hände zitterten und die Mütze fiel zu Boden. +</p> + +<p> +– Was macht Alexander Iwanowitsch, wie +geht es ihm? – fragte Marakulin und fühlte +dabei, wie alles in ihm zitterte und daß er es +bald nicht mehr aushalten würde, nicht aufzustehen +und den Alten hinauszujagen. +</p> + +<p> +Der Alte streckte vogelartig lang seinen Hals +aus und sperrte den Mund auf wie einen +Schnabel. +</p> + +<p> +– Heute ausgezeichnet, – er bewegte wie +erfreut den Kopf, – er ist sehr gut angezogen, +wie ein Oberhausmeister, ein Rock, +Lackstiefel, – wie ein Oberhausmeister. – +Geh, Gwosdjow, gradeaus zu Peter Alexejewitsch +in die Fontanka! – So geruhte er zu +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +mir zu sagen. Wie ein Oberhausmeister. Ich +war bei ihm in Zarskoje in seiner Sommerwohnung, +er scherzt immer: er ist verliebt – +sagt er – verliebt in eine Madame. Er +scherzt immer: Einen Hungrigen – sagt er +– kann man satt machen, einen Armen kann +man reich machen, aber bist du verliebt und +dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit, +so kannst du dich zerreißen, es gibt keine +Hilfe. – Ich verstehe es nicht, er scherzt nur +immer. Einen Paletot hat er mir von seinen +eigenen Schultern geschenkt, und diese da +Awerjanow der Buchhalter; seine eigenen; +sie sind mir etwas zu weit. Bist du keusch, +Gwosdjow? – sagt er. Nehmen Sie es +mir nicht übel, Alexander Iwanowitsch, ich +bin ein Liebhaber von Weibern. Ja, er scherzt +immer. +</p> + +<p> +Ohne aufzuhören und alles durcheinanderbringend +redete der Alte, setzte sich aber nicht, +öffnete nicht die Faust und hob auch die Mütze +nicht vom Boden auf. +</p> + +<p> +Ein ruheloser Alter war das, ach wie ruhelos! +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +Er hatte bei den Schachowskojs in Petersburg +als Stallknecht gedient, es war eine gute +Stellung, aber einmal wurde ein Pferd scheu +und stieß ihn in die Brust, da ging er ins +Kloster. Seitdem zog er herum, aus einem +Kloster in das andere – er war eine ruhelose +Natur: sowie er anfing sich irgendwo zu +gewöhnen, da lief er fort. Vor einem Monat +war er aus dem Tschermenetzkischen Kloster +davongelaufen. +</p> + +<p> +– Da hat sich ein Bekannter meiner erbarmt. +In der Seleninaja hat er ein Zimmer, ein +kleines Zimmerchen. Er selbst, dieser Korjakin, +ist verheiratet, hat eine Frau und ein kleines +Kind, ein Mädchen, aber er hat sich +meiner erbarmt, und wir wohnten alle zusammen. +Aber zum Fest der heiligen Olga +kam das älteste Töchterchen zu ihnen nach +Petersburg zu Besuch, so wurde es zu eng, +auch ist es unschicklich: eine Jungfrau. So +zog ich auf den Obwodnij, hab’ da einen +Winkel gemietet für anderthalb Rubel, mit +Gurken – ein schöner Winkel im Korridor. +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +Ich möchte mich gern mit Handel befassen, +um mich nur irgendwie durchzufretten +... +</p> + +<p> +Verworren und ohne aufzuhören redete der +Alte, die Worte flossen ineinander und zischten, +– ein ruheloser Alter. Marakulins Augen +verschleierten sich, seine Lider wurden +schwer, er sah nichts mehr, vor seinen Augen +bewegten sich nur die Hosen des Alten, die +allzuweiten, von Awerjanow, die nicht um +Beine, sondern um Knochen zu schlottern +schienen. +</p> + +<p> +– Ich bin Liebhaber von Weibern ... anderthalb +Rubel mit Gurken ... nur um mich +irgendwie durchzufretten ... +</p> + +<p> +Marakulin sprang vom Stuhl auf. +</p> + +<p> +– Wozu, sagen Sie mir endlich, wozu wollen +Sie sich durchfretten? – rief er. +</p> + +<p> +Aber er befand sich allein im Zimmer, es war +niemand mehr drin. +</p> + +<p> +Die Katze miaute, Murka miaute. Er war +allein im Zimmer; er war mitten im Gespräch +eingeschlafen, der Alte hatte es offenbar bemerkt +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +und sich mit seinem letzten Fünfkopekenstück +davongeschlichen, genau so, wie er vorher +unbemerkt eingetreten war. Auch die +Mütze lag nicht mehr auf dem Boden. Die +Katze miaute, Murka miaute. +</p> + +<p> +Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie +noch nie zuvor, daß Murka stets gemiaut +hat, und nicht nur gestern, sondern alle die +fünf Jahre hier an der Fontanka auf dem +Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, +und nicht nur hier auf dem Burkowschen +Hof an der Fontanka, sondern auch auf +dem Newsky und in Moskau an der Taganka +– bei der Auferstehungskirche –, an der +Taganka, wo er geboren war, – überall, wo +etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach +es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor +dieser Murka nirgends hätte verstecken können. +Und er fühlte es, daß Murka nicht dort +unten im Hof miaute, sondern hier ... +</p> + +<p> +– Gebt Luft! – miaute Murka, als könnte sie +sprechen: – gebt Luft! – und sie wälzte sich auf +den Steinen, zu den Fenstern hinaufflehend. +</p> + +<p> +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Eng, immer enger hockten sich die Kinder +um sie herum, sie vergaßen ihre wilden Spiele +und ihre wilden Beschäftigungen, sie horchten; +auch die Scherbe mit der Milch stand +noch unberührt da, und der Perser, der +schwarze Masseur aus der Badeanstalt ging +nicht fort und rollte mit den Augäpfeln. +</p> + +<p> +Erst spät am Abend bezog Marakulin in der +fünften Etage sein neues Zimmer, wo früher +die Waschküche war. In der Wohnung war +niemand, außer der Köchin Akumowna; die +Wirtin Adonja Iwoilowna war von der +Reise noch nicht zurück, – Adonja Iwoilowna +pflegte im Sommer zu pilgern und +die Wohnung Akumownas Aufsicht zu überlassen. +Die anderen zwei Zimmer waren unvermietet. +</p> + +<p> +Die erste Nacht in der neuen Wohnung +träumte Marakulin, er sitze in einem Lustgarten +außerhalb der Stadt an einem Tischchen +gegenüber der Estrade – der Garten +erinnerte an den Garten des Aquariums – +und rings um ihn lauter unbekannte Menschen: +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +ihre Gesichter waren böse und unruhig, +und sie gingen herum und brummten +und flüsterten miteinander. Er verstand, daß +ihr Brummen und Flüstern sich auf ihn bezog. +Sie hatten nichts Gutes im Sinn, gewiß +nichts Gutes! Es wurde ihm Angst, +sie aber kamen immer näher, und bald flüsterten +sie nicht mehr miteinander, sondern +winkten einander mit den Augen zu, verstanden +einander und zeigten auf ihn. Und schon +gab es keinen Zweifel mehr: – er darf nicht +länger dableiben, sie würden ihn sonst totschlagen. +Er erhebt sich und will ganz unbemerkt +zum Ausgang gelangen, – sie aber +sind hinterher. So ist es, sie wollen ihn +totschlagen! Sie werden ihn totschlagen, +erwürgen; wohin fliehen, wo sich verstecken? +O Gott, wenn doch ein Mensch wenigstens +da wäre, ein Mensch! Und sie verfolgen +ihn, sind ihm schon auf den Fersen, jetzt +holen sie ihn ein. Er stürzt in eine Grotte, +fällt mit dem Gesicht auf die Steine. Und +plötzlich läßt sich ein Vogel wie ein Stein +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +auf ihn nieder, auf den Rücken, kein Adler, +sondern ein Habicht, der Hühner raubt. Er +preßt ihn hart zwischen den Klauen, zerdrückt +ihn, wie er sonst die Hühner zermalmt. +– Dieb, Dieb, Dieb – klopft sein Schnabel. +Und ihm wird schwer, so schwer, – +es ist kein Zweifel mehr für ihn: er wird sich +nie mehr erheben können, nie mehr sich aufrichten, +– und es ist ihm schwer; Bitternis +ist in ihm und Todesbangen. +</p> + +<p> +– Ein böser Traum – sagte Akumowna, als +Marakulin ihr am Morgen von den nächtlichen +Menschen und vom Habichtvogel erzählte, +– man hat ihn nur vor einer Krankheit. +Sie werden ganz bestimmt krank werden. +</p> + +<p> +Die Krankheit aber hatte sich seiner schon +bemächtigt, er war ganz zerbrochen, ganz +aufgelöst, der Kopf hing ihm herab, er war +krank: am Morgen vermochte er kaum ein +Glas Tee auszutrinken und der Bissen blieb +ihm im Munde stecken. Draußen war eine +Hochsommerhitze und ihn schüttelte der +Frost wie im Januar. +</p> + +<p> +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +Die göttliche Akumowna – im Burkowschen +Hof wurde Akumowna die göttliche +genannt –, die gute Seele, brachte Marakulin +zu Bett, gab ihm Himbeertee zu trinken +und legte ihm Senfpflaster auf; sie pflegte +ihn Tag und Nacht, und pflegte ihn gesund. +Die Krankheit ließ ihn los und verließ ihn. +Doch hatte er an die zwei Wochen gelegen. +</p> + +<p> +Das erste, was er empfand, als er nach der +Krankheit die Hausschwelle überschritt und +sich auf der Straße befand, war – daß er +jetzt alles zu sehen und zu hören anfing. Und +er fühlte, wie sein Herz sich auftat und seine +Seele lebte. +</p> + +<p> +Der eine muß verraten, um durch den Verrat +seine Seele aufzuschließen und in der Welt er +selbst zu sein; der andre muß töten, um durch +den Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens +als er selbst zu sterben; er aber mußte +offenbar eine Quittung ausfertigen – aber +nicht der Person, der sie zukam, – um seine +Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger +Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch +Marakulin, der er war, sehen, hören +und fühlen. +</p> + +<p> +So sprach es in Marakulin am ersten Tag +seiner Genesung, so fand er ein Schlupfloch, +um wieder in die Welt hineinzuschlüpfen, so +bewies er sich sein Recht zum Dasein: nur +sehen, nur hören, nur fühlen. +</p> + +<p> +Er hatte keine Angst mehr vor den Menschen, +sie schreckten ihn nicht mehr. Und es +war ihm jetzt eigentlich ganz gleichgültig, ob +er ein Dieb war oder nicht. Er fürchtete sich +auch vor gar keinem Unglück mehr. Und +wenn, dachte er, noch tausendmal soviel Ungemach +ihn heimsuchen sollte, so war er zu +allem bereit, mit allem einverstanden, alles +wollte er hinnehmen und erdulden und in +jeglicher Schmach leben, in jeglicher Erniedrigung, +alles sehend, alles hörend, alles +fühlend. – Warum? Das wußte er selber +nicht, nur, daß er leben wollte. +</p> + +<p> +Geschah dies dem Ungemach und dem einäugigen +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +Bösen zum Trotz, dem überall ein +Fest gerichtet ist, wo man sich grämt und +weint – er hat nämlich das Ungemach ausgehungert +und läßt es hungrig um die Erde +streifen, und er selbst, der Einäugige, blickt +mit seinem unterlaufenen Auge scheel aus den +Wolken von der Höhe des Himmels herab, +wie die Erde vor Kummer, Gram, Not, +Trauer, Leid, Bosheit und Haß sich wälzt +und wie Murka klagt, und duldet es vielleicht +nur bis zu einer gewissen Zeit, oder betrachtet +er es mit Wohlgefallen –? +</p> + +<p> +Oder geschah es dem Kummer und seinem +Hohn zum Trotz, dem mageren, dünnen, zusammengeschrumpften, +von Weiden umgürteten, +mit Bast umwickelten, – diesem, wie +der alte Gwosdjow, zerzausten Kummer, mit +seinen geheuchelten Tränen, die er vergießt, +wenn er einen in die Grube hinabstößt und dazu +„Ecce homo!“ ruft? Oder erkannte er in +Murkas Miauen, in Murkas Bestimmung zu +klagen, eine höhere Gerechtigkeit, eine Strafe +für Murkas Erbsünde, die nicht gesühnt, +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +nicht vertuscht werden kann, wenn sie vielleicht +auch ganz geringfügig ist, weil geschrieben +steht: Wer das ganze Gesetz befolgt +und nur eins übertritt, der ist im ganzen +schuldig! und er ergab sich drein mit +Furcht und Beben, nachdem er erkannt hat, +daß sein Recht eben in der Rechtlosigkeit +von Uranbeginn bestand? – Oder war es +seine Liebe zum Leben, sein Instinkt zum Leben, +die Heiterkeit des Gemüts – das Mark +und die Wurzel seines Lebens, die ihm Recht +sprachen, als eingeborene Kräfte seiner Seele, +und ihm die Fähigkeit verliehen, sich zu finden, +sich zu fügen und anzupassen, ohne Worte, +ohne Beweise? Oder wird er jetzt einfach +nur leben, niemand zum Trotz, niemand +zu Leide, weder aus Erkenntnis, noch dank +seiner besonderen seelischen Eigenschaften, +sondern einfach so – zu gar keinem Zweck, +ebenso wie er früher zu keinem Zweck für +den Direktor vor den Feiertagen die Berichte +abgeschrieben hatte, Tag und Nacht beharrlich +einen Buchstaben nach dem anderen malend, +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +die Zeilen wie Perlen aneinanderreihend? +– Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn und sprach deutlich in ihm: +Zu keinem Zweck – zu gar keinem Zweck, +aber du wirst dennoch leben und nur sehen, +nur hören, nur fühlen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-3"> +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Zweites Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">as</span> Burkowsche Haus stößt an keine +fremde Mauer. Ihm seitlich gegenüber +liegt das Obuchowsche Krankenhaus. +Zwischen dem Haus und dem Krankenhaus +befinden sich zwei Höfe: Burkows Hof und +der Hof der Belgischen Gesellschaft. Die Fabrik +der Gesellschaft liegt rechts, – sie hat +vier Ziegelschlote mit Blitzableitern; sie qualmen +den ganzen Tag und erfüllen die Fensterrahmen +mit schwarzem Ruß. Ueber diesen +Ruß beklagt sich Akumowna so oft +sie vor den Feiertagen die Zimmer reinigt, +aber sie schreibt die Schuld daran nicht den +belgischen Schloten zu, sondern der riesigen +elektrischen Milchglaskugel, die den ganzen +belgischen Hof beleuchtet. +</p> + +<p> +Der Mond blickt manchmal in die Fenster +hinein, die Sonne aber ist nie zu sehen, nur +im Hochsommer glüht Marakulins Zimmer +wie eine heiße Pfanne: die Strahlen +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +dringen herein zusammen mit dem Staub +und jenem lästigen Hämmern von Eisen gegen +Stein, das dem sich erneuernden und +aufputzenden Petersburg im Sommer eigen +ist. Auch die Sterne sind hier wenig zu sehen, +mit Ausnahme des Abendsterns, und auch +dieser ist nur im Frühjahr sichtbar, in später, +nicht sehr dunkler Mitternacht; dafür aber +glänzt das Licht im Obuchowschen Krankenhaus +wie ein Stern. +</p> + +<p> +Wenn im Hof der Belgischen Gesellschaft +schwarze Männer erscheinen und wie Zuchthäusler +einen schwarzen Karten mit Steinkohle +nach dem andern von der Fontanka hereinfahren, +und der Hof sich im Laufe der Tage +in einen schwarzen Berg verwandelt, dann +bedeutet es, daß der Sommer vorüber ist +und daß der Winter, der Herbst naht. Wenn +aber der Berg abzunehmen beginnt und wie +Schnee schmelzend zergeht, wenn die schwarzen +Männer wieder mit schwarzen Karren +erscheinen und klirrend die letzten Stücke +wegfahren; wenn in dem mit grauem Sandbestreuten +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +Hof weiße Zelte sich erheben, kurzgeschorene, +erdfahle Menschen in grauen +Krankenhauskitteln herumzuschleichen beginnen +und die roten Kreuze der Schwestern +leuchten, dann bedeutet es, daß der Winter +vorüber ist und daß der Sommer – der +Frühling da ist. +</p> + +<p> +Burkows Haus ist wie Petersburg selbst. +</p> + +<p> +Der herrschaftliche Teil des Hauses liegt nach +der Seitengasse mit der Kaserne – in ihm sind +lauter teure Wohnungen. Hier wohnt der +Eigentümer Burkow selbst – ein ehemaliger +Gouverneur: seine Uniform strahlt wie elektrisches +Licht und sein Vorzimmer ist voller +Epauletten und blanker Knöpfe. Eine Etage +höher wohnt der Rechtsanwalt Amsterdamskij +– er nimmt zwei Wohnungen ein. Noch +höher wohnen Oschurkows – ein Ehepaar +nur – in zehn Zimmern; alle zehn Zimmer +sind voll von Nippes, auch ein Aquarium +mit Goldfischchen haben sie; die Dienstboten +wechseln jeden Tag. Der Nachbar der +Oschurkows ist ein Deutscher, der Doktor der +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +Medizin Wittenstaube, der alle Krankheiten +mit Röntgenstrahlen heilt. Ueber Oschurkows +und Wittenstaube wohnt die Generalin Cholmogorowa, +oder die Laus, wie sie im Hof genannt +wird. Ueber der Generalin wohnt niemand; +unter Burkow befindet sich noch ein +Kontor und an der Ecke eine Bäckerei. +</p> + +<p> +Burkow selbst wurde nie von jemand gesehen. +Es gingen seltsame Gerüchte um +von seiner eigenartigen Selbstvernichtung: +während er Gouverneur in Purchowez war +und dort den Aufruhr unterdrückte, soll er +dermaßen außer sich geraten sein, daß er unter +anderen Akten auch eine von ihm selbst +verfaßte Meldung an das Ministerium über +seine eigene völlige Unfähigkeit unterschrieb, +worauf er glücklich, aber ihm völlig überraschend +nach Petersburg berufen wurde, +wo er seinen Abschied erhielt. +</p> + +<p> +Die Generalin Cholmogorowa dagegen konnte +ein jeder sehen, und alle wußten, daß allein +die Zinsen ihres Kapitals bis zu ihrem Tode +reichten, und leben könnte sie noch ein halbes +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Jahrhundert: kräftig und lebhaft würde +sie alle überleben, oder wie der Chiromant +sich ausdrückte: es ist ihrem Leben kein Ende +abzusehen! Man wußte auch von der Generalin, +daß sie jeden Dienstag ins Dampfbad +gehe und so abgehärtet sei, daß sie überhaupt +nicht altere, sondern immer im gleichen +Zustand verharre. Weiter wußte man, Gott +weiß woher, daß sie nichts in ihrem Leben +zu bereuen habe; sie hat weder getötet noch +gestohlen, und wird weder töten noch stehlen, +denn sie tut nichts, als sich ernähren – +sie trinkt und ißt – sie verdaut und härtet +sich ab. Sonst nichts. Endlich wußte man, +daß sie das Haus nie anders als mit einem +Klappstuhl verlasse; diesen nehme sie als +eine Art Waffe mit, falls sie überfallen werden +sollte, – und so kann man sie mit dem +Stuhl täglich auf der Fontanka der Motion +wegen promenierend antreffen, an Samstagen +und Sonntagen, vor den Festen +und an den Festtagen selbst dagegen auf +dem Sagorodny-Prospekt, wo sie entweder +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +zur Kirche geht oder aus der Kirche +kommt. +</p> + +<p> +Jeden Mittag Schlag Zwölf erscheint auf +dem Hof das Burkowsche Hausmädchen Susanna, +das schon mehr wie ein Fräulein aussieht +– wie eine Stenotypistin aus irgendeinem +Bureau – und führt den schönen Hund +des Gouverneurs, den rothaarigen Revisor +über den Hof spazieren, wobei sie kaum die +lästige Stahlkette festhält. Jeden Mittwoch +werden die Teppiche in den Hof hinuntergebracht +und vor den Feiertagen auch die Polstermöbel, +und die Teppichklopfer bearbeiten +sie und klopfen so eifrig und mit solchem Gedonner, +daß es sich anhört, als würde auf der +Newa aus Kanonen geschossen; das bedeutet: +ein Attentat oder eine Ueberschwemmung. +Alle diese Teppiche und Möbel stammen +aus dem herrschaftlichen Teil des Hauses +– aus den reichen Wohnungen der Burkows, +Amsterdamskijs, Oschurkows, Wittenstaubes +und der Generalin Cholmogorowa. +</p> + +<p> +Im Hinterhaus sind lauter kleine Wohnungen, +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +und die Einwohner sind mittlere, +zumeist aber kleine Leute. Hier befinden sich +Schuster und Schneider, Bäcker, Bademeister, +Friseure, eine Waschanstalt, zwei +Weißnäherinnen, drei Schneiderinnen, eine +Krankenschwester aus dem Obuchowschen +Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, +Kürschner, Schirmmacher, Bürstenmacher, +Buchhalter, Wasserleitungsarbeiter, Setzer +und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische +Monteure mit ihren Familien und ihren +Lumpen, Flaschen, Gläsern und Schwaben; +hier sind auch allerlei Fräuleins von der +Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, +Nähmamsells, Mädchen aus den +Teestuben und elegante junge Leute aus den +Badeanstalten, die die Petersburger Damen +auf Wunsch bedienen; hier befinden sich +auch „die Winkel“. +</p> + +<p> +Der Inhaber der Winkel, der Händler Gorbatschow, +der Schweigsame – so wurde er +im ganzen Hof genannt – ein stämmiger, +haariger, angegrauter, betfrommer Mann, +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +der allsonnabendlich alle seine dreißig Winkel +mit Weihrauch ausräuchert, besitzt auf +dem Marsfeld drei Stände. Zu den Feiertagen +tummeln sich bei Gorbatschow Mädchen +in schwarzen Tüchern und Nonnen-Geldsammlerinnen +in Schaftstiefeln, und zu +Ostern legen alle diese Töchter des Gesanges +lustig und keck: Christ ist auferstanden! bei ihm +los. Gorbatschow ist allen bekannt und wenig +beliebt; er kann Kinder nicht ausstehen. Die +Generalin Cholmogorowa kann, wie man +sagt, ebenfalls Kinder nicht ausstehen, aber +sie selbst hat nie welche gehabt; Gorbatschow +dagegen hatte ein Töchterchen gehabt, das er +aber so lange in einer leeren Kammer voller +Ratten eingesperrt hielt und so lange mißhandelte, +bis er es ins Jenseits befördert hatte. +Die kleinen Kinder ärgern Gorbatschow, +geben ihm allerlei Spitznamen, verfolgen ihn +in wilden Scharen, spotten über seinen Weihrauch +und über seine mit Pferdehaaren bewachsene +Nase, und davon ertönt der Hof +von so kräftigen, geflügelten Worten, von +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +einer so auserlesenen saftigen russischen Sprache, +wie man sie kaum im Gefängnis zu hören +bekommt; und das Gefängnis ist doch sozusagen +ihre Akademie. +</p> + +<p> +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist +voll, die Strafe ist nah, ich werde euch alle, +ihr Lumpen, auf einem Stricklein aufhängen! +– brummt der gekränkte, von den Kindern +gequälte alte Schweiger und schnuppert +mit seiner von Pferdehaaren bewachsenen +Gorbatschowschen Nase, während er an den +Sonnabenden alle seine dreißig Winkel beweihräuchert, +böse und bitter das Göttliche +mit dem Ungebührlichen durcheinandermengend. +</p> + +<p> +Die Gorbatschowschen Winkel sind allbekannt. +Hier wohnt die Alte, die an der Badeanstalt +Sonnenblumen- und Kürbissamen, +Johannisbrot, Zuckerplätzchen in rosa Papierchen +mit Fransen, Heringe und eingelegte +Birnen feilbietet; stellenlose Köchinnen wohnen +hier und sonst allerlei Volk, von der Art +des ruhelosen alten Gwosdjow: ein Maler, +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +ein Tischler und allerlei fliegende Händler. +</p> + +<p> +Die Stände der Händler, ihre Kästen, befinden +sich an der hölzernen Ueberwölbung +der Müllgrube und auf dem Müllkasten +andererseits. Am frühen Morgen, wenn die +Hausmeister den Hof säubern und fegen, da +kocht es bei den Händlern vor Arbeit auf den +Ständen: die Aepfel, Apfelsinen, getrocknete +Aprikosen, Pflaumen, Datteln und andere +Süßigkeiten und Näschereien, alles wird +vorsichtig immer wieder verlockend zurechtgelegt, +aufgefrischt und erneuert. Dann wird +es an der Fontanka herumgetragen und sieht +so verlockend, so schmackhaft aus, daß es +über die Kraft geht, sich zu versagen, wenigstens +etwas davon zum Tee zu kaufen: eine +Dattel oder eine Tafel Schokolade, die nach +Mistpilzen riecht. +</p> + +<p> +Und so wie die Gorbatschowschen Winkel +nie leer stehen, so sind auch die Stände dieser +Händler, ihre Kästen stets voll von den verlockendsten +Süßigkeiten und Näschereien. +</p> + +<p> +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +Neben den Winkeln befindet sich die Hausmeisterwohnung. +Es sind ihrer sieben Hausmeister. +Alle sehen sie so gesund aus, und alle +sind sie irgendwie krank; – wenn sich zum +Spaß wenigstens ein gesunder unter ihnen +fände! Der Beruf eines Hausmeisters ist auch +gar nicht so einfach: er muß aufpassen und Holz +tragen und Leute auf die Wache schleppen, +– und alles muß flink geschehen. Ihr einziger +Vorteil ist der Verkauf von Brennholz. Nur +der herrschaftliche Teil des Hauses bezieht +das Holz vom Wirt; im Hinterhaus aber +wohnen nur kleine Leute, die ihr Holz selber +kaufen, und deshalb treiben durchweg alle +sieben Hausmeister einen schwunghaften Handel +mit Holz. +</p> + +<p> +Ueber der Portierloge wohnt der Oberhausmeister +Michail Pawlowitsch, der seiner +Stattlichkeit nach besser in die Newskaja +Lawra<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> passen würde – auch in diesem +Kloster würde er nicht zu den letzten zählen; +– als Feiertagsgeschenk nimmt er nicht +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +weniger als einen Rubel an. Ueber Michail +Pawlowitsch wohnen der Paßaufseher Jerkin +und der Kontorist Stanislaus. +</p> + +<p> +Jerkin ist im ganzen Burkowschen Hof in +Beziehung auf Trinken als der erste bekannt. +Und in den Feiertagen kann es vorkommen, +daß er, nachdem er die fünfte Etage erklettert, +an einer Tür geklingelt und mit Mühe hervorgestammelt +hat, er sei um seinen Feiertagsobolus +gekommen, wie tot auf dem Platz +liegen bleibt. Einmal, war es Weihnachten +oder Ostern, da war er die ganze Treppe +hinuntergekollert, von Stufe zu Stufe – „er +liebt mich, er liebt mich nicht“ – und hatte +sich dermaßen an den Fliesen zerschunden, +daß man ihn kaum erkennen konnte. Nach +Neujahr, am Tage der heiligen drei Könige, +brachte ihn Antonina Ignatjewna, Michail +Pawlowitschs Gattin, eine gottesfürchtige +Frau, zum Mönch am Hafen, um ihn wieder +auf den guten Weg zu bekehren. Er +ließ sich auch bekehren: er legte vor dem Bruder +ein Gelübde ab, – schriftlich – daß er +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +ein ganzes Jahr nicht mehr trinken würde, +bis zum nächsten Neujahr. Jerkin handelt +mit Marken aus dem Krankenhaus, und +diese Marken, meist im Werte eines Rubels, +sind für ihn dasselbe, was das Holz für einen +Burkowschen Hausmeister ist. +</p> + +<p> +Jerkins Hausgenosse, der Kontorist Stanislaus, +ist ebenso wie sein Freund, der Monteur +Kasimir, von jeher dadurch bekannt, daß +er sich nachts auf allen Treppen herumtreibt +und daß keine Köchin, kein Hausmädchen +ihm widerstehen kann; ein solcher Fall soll +noch nicht vorgekommen sein, und kein Gardesoldat +kommt ihm darin gleich. +</p> + +<p> +Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Unfälle, Begebenheiten, +Skandale, Raufereien, Schlägereien, +Hilferufe und Polizeiwache – bald +ist es, als schreie ein Mensch, bald, als miaue +eine Katze oder als würde jemand gewürgt. +Und so jeden Tag. +</p> + +<p> +Burkows Haus ist eine richtige Wjasma<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>. +</p> + +<p> +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +Die Wohnung Adonja Iwoilowna Jurawljowas, +der Wirtin Marakulins, ist im Hinterhaus +gelegen und trägt die Nummer +neunundsiebzig. +</p> + +<p> +Auf Nummer achtundsiebzig wohnt die Hebamme +Lebedjowa. Bei der Hebamme wurde +am Advent ein Pelzmantel gestohlen, und der +Dieb war nicht zu finden, als wäre der Pelz +im Ofen verbrannt. Man warf dem Schweizer +Nikanor vor, daß er nicht aufgepaßt +hätte, – aber wie konnte er aufpassen, wenn +er den ganzen Tag auf den Beinen sein muß +und nachts herausgeklingelt wird, und so +das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es +ein schlauer Dieb, ein Hausgenosse, – aber +es war nichts zu machen. +</p> + +<p> +Auf Nummer siebenundsiebzig wohnten eine +Zeitlang zwei Studenten – Scheweljow +und Chabarow. Dem Aussehen nach waren +sie wohlhabend; sie waren elegant gekleidet +und hatten die Miete für einen Monat vorausbezahlt. +Sie lebten zurückgezogen, niemand +pflegte zu ihnen zu kommen, es gab +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +nie Lärm bei ihnen und sie hatten auch keine +eigene Bedienung. Gewöhnlich fuhren sie +schon am Morgen fort und kamen erst spät +abends heim. Sie befaßten sich damit, Geld +für ihre armen Kollegen zu sammeln; so sagten +sie bei ihren Besuchen in den Vorder- und +Hinterwohnungen des Burkowschen Hauses. +Nur durch eins störten sie: sie sangen sehr +oft in der Nacht, wenn auch nicht laut, so +doch vernehmlich Totenmessen. Diese nächtlichen +Totengesänge verursachten den Nachbarn +wenn nicht Schrecken, so doch einige +Erregung. Aber was geschah? Nach einem +Monat stellte sich heraus, daß sie gar keine +Studenten waren, auch nicht Scheweljow +und Chabarow hießen, sondern Schibanow +und Kotschenkow – Diebe vom reinsten +Wasser, und ihre Wohnung war, als wäre +sie gar nicht bewohnt, leer, nicht einmal ein +zerbrochener Stuhl war drin – nichts, nur +ein Kerzenstumpf in einer Bierflasche und ein +Messinghahn. Und da sie nicht wenig auf dem +Kerbholz hatten, wurden sie verhaftet. +</p> + +<p> +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +An Stelle der Studenten quartierten sich +auf Nummer siebenundsiebzig zwei Artisten, +die beiden Brüder Damaskin ein: +Sergej Alexandrowitsch vom Ballett – er +hatte in zwölf Sprachen Examen gemacht +und alle Gesetze ausstudiert, wie man im Hof +sagte, – und Wassilij Alexandrowitsch, ein +Zirkusclown oder der Klon<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>, wie es in der +Burkowschen Sprache hieß: er spie Feuer +und fürchtete nichts und ist schon im Luftballon +geflogen. Die neuen Mieter wurden +vom Oberhausmeister Michail Pawlowitsch +die Artisten genannt, und er war von +einem ungewöhnlichen und ihm selbst rätselhaften +Respekt vor den Brüdern Damaskin +durchdrungen, wie vor einem Mönch aus +dem Hafen. +</p> + +<p> +Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, sieht +wie eine Teetasse aus, Sergej Alexandrowitsch +ist schlank und sauber, wie ein sechzehnjähriges +Fräulein; er berührt die Erde +kaum beim Gehen und hält sich steil, wie ein +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +dreijähriges Kind; – er geht schnell, seine +Schuhchen scheinen keine Absätze zu haben, +und jeden Augenblick kontrolliert er sozusagen +seine Füße gymnastisch: er beginnt mit den +Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den +Flügeln. Wassilij Alexandrowitsch ist nur im +Zirkus beschäftigt und hat jeden Abend Vorstellung, +wie das so ist, Sergej Alexandrowitsch +dagegen tanzt im Theater und gibt +Stunden bei sich zu Hause und außer dem +Hause. +</p> + +<p> +Die Artisten verdienten gut, streuten das Geld +aber um sich wie Späne – Sergej Alexandrowitsch +spielte Karten und verlor stets – +sie kamen aus den Schulden nicht heraus, und +manchmal ging’s ihnen an den Kragen. +</p> + +<p> +Sie beide waren nicht älter als Marakulin. +Sergej Alexandrowitsch war verheiratet, +aber seine Frau hatte ihn verlassen. Und obgleich +er sie versicherte, daß die Liebe nur einmal +komme – es gebe nur eine Liebe auf der +Welt – und, wenn er seinen Schülerinnen +den Hof mache, dies eben nur zu den Pflichten +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +seines Berufes gehöre, und wenn er mit +einer Schönen spreche, so spreche er mit ihr +nur, wie mit einem Menschen, ohne daß sein +Herz dabei beteiligt sei, so war seine Frau +doch von ihm fortgegangen. Sergej Alexandrowitsch +ist sauber, Wassilij Alexandrowitsch +das Gegenteil: er braucht jeden Tag ein +Fräulein, er kann sonst nicht leben; er ist +dabei nicht wählerisch und fürchtet sich vor +nichts, dafür aber besucht er, wenn auch +nicht oft, die Kirche. Sergej Alexandrowitsch +dagegen ist sogar Ostern zu Hause geblieben. +Und als Sergej Alexandrowitsch einmal +Zahnweh bekam und beschlossen hatte, er +müsse sterben, dachte er gar nicht daran, einen +Priester rufen zu lassen, vielmehr warnte er +die Sklavin – so nannten die Artisten ihre +Köchin Kusjmowna – und zwar aufs +strengste davor: – Wenn du mir einen Popen +holst – rief er in seiner Zahnwehraserei – +werfe ich das Aas die Treppe hinab! – +</p> + +<p> +Und er hätt’ es auch gewiß getan: Sergej +Alexandrowitsch war ein großer Philosoph. +</p> + +<p> +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +Marakulin stand mit der Hebamme Lebedjowa +nur auf dem Grüßfuß – sie mißfiel +ihm: sie sah nur auf die Tasche, war unterwürfig +und verstand es mit zwei Stimmen +zu sprechen: mit der einen zu denen mit den +vollen Taschen und mit der anderen zu denen, +die nichts hatten. Bald hörte die Hebamme +auf, Marakulins Gruß zu erwidern, und auch +er tat, als bemerkte er sie nicht mehr. Mit den +Studenten war Marakulin nicht näher bekannt +gewesen und nur manchmal an der +Treppe mit ihnen zusammengestoßen: er stieg +gerade hinauf, als sie herunterliefen; nachts +aber war er ein aufmerksamer Hörer der studentischen +Totengesänge. Auf den ersten Eindruck +gefielen ihm diese Kerle: sie waren so tüchtig +und lebenslustig. Mit den Artisten aber hatte +er sich angefreundet und besuchte sie: er kam +zu ihnen ab und zu abends zum Tee. +</p> + +<p> +Die Artisten waren geistlicher Herkunft und +von seminaristischer Bildung; sie waren beide +ein paar fidele Hühner, nicht kopfhängerisch +– sie sparten kein Streichholz beim Zigarettenrauchen! +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +– Wassilij Alexandrowitsch, +der Clown, war nicht sehr gesprächig, aber +einem Gespräch nicht hinderlich; er war gutmütig +und lachte viel, häufig auch, wo es +gar keinen Anlaß zum Lachen gab, offenbar +nach seiner eigenen Clownlinie. Sergej Alexandrowitsch +dagegen unterhielt sich gern. +Er war auch ein Bücherfreund und las nicht +nur humoristische illustrierte Zeitschriften wie +etwa „das Petersburger Satirikon,“ nicht +nur den berühmten „Andrej, den Schwergeprüften,“ +oder „Elsa von Gabron,“ oder +„die schrecklichen Geheimnisse des unterirdischen +Gewölbes,“ oder „die schrecklichen +Abenteuer des Räuberhauptmanns +die schwarze Hand,“ oder „die Liebesrendezvous +von Beritzky,“ „die Entführung Ludmillas +durch den Waldräuber Alexander“ +– die Lieblingslektüre des Clowns –, nein, +er las die neuesten, sensationellen Bücher, die +überall in den Schaufenstern zu sehen sind: +bei Ssuworin, bei Wolf, bei Mitjurnikow +auf dem Newsky, im Gostiny Dwor, auf +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +der Litejnaja und sogar auf der Gorochowaja, +in der einzigen Buchhandlung dieser +Straße. Und beim Tee pflegte Sergej Alexandrowitsch +auf alle totengräberischen, tendenziösen +Betrachtungen Marakulins mit +eigenen ausgedehnten Betrachtungen über +das Schicksal und das Los verschiedener +Länder, Völker und des Menschen überhaupt +zu erwidern und schloß gewöhnlich mit der +kurzen Bemerkung: +</p> + +<p> +– Man muß alles von sich abschütteln! – +dabei flatterte er mit den Füßen wie ein Hahn +mit den Flügeln. +</p> + +<p> +Sergej Alexandrowitsch ist ein großer Künstler. +</p> + +<p> +Die Wirtin Marakulins Adonja Iwoilowna +Jurawljowa – eine nicht mehr junge, dicke +und sehr gute Frau, ist seit fünfzehn Jahren +Witwe, seitdem ihr Mann infolge einer +Krebskrankheit den Hungertod starb. Er +wurde auf dem Smolensky-Kirchhof begraben. +Sie selbst ist keine geborene Petersburgerin, +sie stammt von der Meeresküste, vom +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +Weißen Meer. Ihr Mann besaß ein Geschäft +auf der Ssadowaja, einen Schnittwarenladen +– Baumwolle und Zwirn – jetzt hat +sie es verpachtet. Sie hat keine Kinder und +die Verwandten von seiten ihres Mannes +sind auch kinderlos, nur ein Neffe ist da. +Der Neffe pflegt an den Feiertagen zu +Weihnachten und Ostern zu kommen, um +ihr zum Fest zu gratulieren, ebenso an ihrem +Namens- und Geburtstag. Sie ist reich – +hat viel Geld und weiß nichts damit anzufangen; +sie grämt sich sehr, daß sie keine +Kinder hat und seufzend klagt sie über +das ihr von Gott bestimmte kinderlose Leben. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna bewohnt das äußerste +Zimmer; gleich am Eingang rechts liegt ihr +Zimmer. Den ganzen Tag sitzt sie zu Hause; +auf die Straße geht sie nicht – es ist ihr beschwerlich, +die Treppen hinunterzusteigen –, +der eine Fuß schleppt etwas nach, und beim +Hinaufsteigen vergeht ihr der Atem; auch +hat sie Angst vor der Elektrischen. Es bleibt +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +ihr nur eine Zerstreuung: in die Küche zu +Akumowna zu spazieren und mit ihr vom +Essen zu sprechen. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna ißt gern. +</p> + +<p> +Die Zimmer liegen alle in einer Reihe. Das +zunächst an der Küche gelegene ist das Marakulins, +und Peter Alexejewitsch kann am +Morgen schon hören, wie sie das Mittagsessen +bespricht. Adonja Iwoilowna ißt besonders +gern Fische. Und sie belehrt Akumowna +über den Sterlet, über die Zubereitung +einer Sterletsuppe, von einem wahrhaft +die Seele aus dem Leibe schmeichelnden +Geschmack. +</p> + +<p> +– Zuerst mußt du, Uljanuschka – spricht sie +zu Akumowna mit einer Stimme, als schlucke +sie Tränen – zuerst mußt du die Barsche +bis zur Erschöpfung kochen, dann tu’ den +Sterlet hinein, das gibt eine schmackhafte +Suppe. +</p> + +<p> +Und in der Tat wurde da eine schmackhafte +Fischsuppe gekocht; ein die Seele aus dem +Leibe schmeichelnder, süßer, fetter Sterletgeruch +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +erfüllte die Küche und alle vier Zimmer, +und Marakulin konnte es kaum aushalten, +kaum den glücklichen, seligen Augenblick +erwarten, bis er in die Garküche auf den +Sabalkansky gehen konnte. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna versteht sich aufs Essen. +</p> + +<p> +Den ganzen Winter sitzt sie fest, sie ist seßhaft +und wird wegen ihrer Seßhaftigkeit im ganzen +Hof nicht anders als die Schmiede genannt; +aber kaum, daß der Frühling beginnt, +ist sie nicht mehr in Petersburg: den ganzen +Sommer zieht sie von Ort zu Ort, zu allen +heiligen Stätten pilgernd. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna liebt die Einfältigen und +Narren, die Starzy<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a>, Brüder und Propheten. +Sie war bei dem rasenden Starez in der +Nähe von Kischinew, hatte seine schrecklichen +Schilderungen des Jüngsten Gerichts +und der Qualen der Sünder gehört; – +sie waren so entsetzlich, daß die Pilger wie von +Sinnen davongingen und tobsüchtig wurden; +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +manche starben auf der Stelle vor +Angst vor den Höllenqualen – so entsetzlich +waren diese Schilderungen. Sie war auch +schon im Ural bei Makarij: – dieser Starez +wohnt auf einem Geflügelhof, pflegt das +Geflügel, spricht mit dem Geflügel, und ihm +gehorcht alles Vieh: wenn sich der Starez +bei Sonnenuntergang zum Beten hinstellt, +so stellt sich auch das ganze Vieh hin, wendet +die gehörnten, bärtigen Köpfe nach der +Richtung, wohin der Starez betet und steht +und rührt sich nicht; es erklingt kein Glöcklein, +es klirrt keine Schelle. Sie war auch in +Werchoturje bei Fedotuschka Kabakow, +der durch Gebete die Stimme des Himmels +herabruft; sie war auch bei jenem Starez, +der durch seine Berührung engelhafte Reinheit +schenkt und in den paradiesischen Zustand +versetzt; sie war auch bei dem Kitajewschen +Propheten: dieser Heilige läßt die Frommen +an seiner Zunge saugen – er steckt seine Zunge +heraus, man saugt an ihr und ist geheiligt – +die Gnade hat sich auf einen herabgesenkt. +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +Noch bei vielen anderen heiligen Männern +war sie in ihrem Leben gewesen: im Heiligengeistkloster, +wo der Starez die bösen Geister +vertreibt, indem er durch den Beischlaf das +Fleisch abtötet; beim Bossoj-Iwanowskij-Starez, +beim Starez Damian und bei Phoka +Skopinskij, der sich selbst auf dem Scheiterhaufen +verbrannt hatte. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geist, +die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten. +Sie möchte ihr Leben lang ihren unverständlichen +Gesprächen, ihren Parabeln +und Sprüchen lauschen, sie möchte in ihren +Zellen beten, wo die Oellampen sich von selbst +entzünden, wie die Kerzen Jerusalems. Sie +hat nur einen Kummer: sie sprechen nicht mit +ihr, – einzig ihr allein hat noch niemand von +diesen Heiligen etwas gesagt! Ob sie nun zu alt +an Jahren ist, oder ob sie vor Rührung die +prophetischen Worte nicht hört, oder ist es +ihr vielleicht nicht gegeben zu hören –? Nur +die heilige Schwester Parascha hatte ihr einmal +gesagt: +</p> + +<p> +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +– Schiffe werden gehen, viele Schiffe – +weit! +</p> + +<p> +Und im Winter in ihrer schwülen Stube auf +der Fontanka sitzend, wiederholt Adonja +Iwoilowna sehr oft: +</p> + +<p> +– Schiffe, Schiffe! – und kann diese Worte +nicht begreifen, und die Tränen rollen ihr wie +die Erbsen die Wangen herab. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilownas Aehnlichkeit mit einer +Seerobbe ist erstaunlich – eine echte murmanische<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a> +Seerobbe. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geiste, +die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten, +aber sie hat noch eine andre Leidenschaft +und eine ebenso unbezwingliche: das +Meer, das Meer – sie liebt das Meer. Alle +russischen Meere hat sie befahren, sie ist auf +dem Murman, auf dem Eismeer geschwommen, +wo der Wal lebt, und hat auch das +Mittelmeer gesehen. +</p> + +<p> +Und im Winter allein in ihrer schwülen Stube +auf der Fontanka sitzend denkt sie oft an das +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +Weiße Meer, ihre Heimat, und an das warme +Schwarze Meer und an das smaragdgrüne +Mittelmeer, und bei dem Gedanken an das +Meer wiederholt sie Paraschas einzige prophetische +Worte: +</p> + +<p> +– Schiffe, Schiffe! – und sie kann es nicht +verstehen und Tränen rollen ihr wie Erbsen +die Wangen herab. +</p> + +<p> +Nachts quälen Adonja Iwoilowna Träume. +Sie träumt bunte Träume: sie träumt von +der Heimat, von den heimatlichen Flüssen, +dem Onegafluß, dem Dwinafluß, dem Pinegafluß, +den Meshafluß, den Petschorafluß, +vom schweren Brokat altrussischer Gewänder, +von weißen Perlen und rosa Perlen aus +Lappland, von Walfischen, Seerobben, Lappen, +Samojeden, von Märchen und alten +Weisen, von langen Winternächten und von +der Mitternachtssonne, vom Kloster Ssolowski +und vom Reigen. Sie träumt von +cholmogorischen ungehörnten Kühen, einer +ganzen Herde; – und diese Kühe haben +menschliche Augen, sie schmiegen sich alle mit +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +dem Rücken an sie, dann tritt eine vor, reicht +ihr einen Fuß wie eine Hand und sagt: „Adonja +Iwoilowna, lehre mich sprechen.“ Nach +ihr tritt eine andre vor, und so eine Kuh nach +der anderen, jede reicht ihr einen Fuß wie die +Hand, und alle haben sie die gleiche Bitte: +„Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen!“ +Sie träumt von Skorpio-Chamäleonen; – +alle sind sie im Frack, sitzen an den Wänden +und wedeln mit den Schwänzen, die bald +smaragdgrün sind und bald purpurn, wie +eiskaltes Abendrot. Sie sehen sie alle nur an, +und bald sind alle Wände voll von Skorpio-Chamäleonen, +überall sind sie: auf den Heiligenbildern +und hinter den Heiligenbildern, +und ein Schweif, wie aus tausend kleinen +Schweifen zusammengesetzt, winkt ihr zu +und lockt sie, bald smaragdgrün und bald +purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Und manchmal +träumt sie auch baren Unsinn: als esse sie +einen Käsekuchen, und so viel sie auch essen +mag, sie wird nicht satt und der Käsekuchen +nimmt nicht ab. +</p> + +<p> +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +Jeden Tag deutet Akumowna die Träume, +und abends beim Tee legt sie Karten. Akumowna +kann wahrsagen aus den Weidenkätzchen, +aus den Wagenkerzen und zur Winterzeit +aus den Frostblumen auf den Fenstern; +doch am genauesten kann sie aus den Karten +wahrsagen. +</p> + +<p> +Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger +Regen. Aus den Dachrinnen schlägt +dumpf, wie ein Hund aufheulend, das Wasser +auf die Steine. Die belgische Bogenlampe +leuchtet wie der Mond durch das Gewoge +von Nebel und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen +Krankenhauses blinkt nur ein +Licht. +</p> + +<p> +Im äußersten Zimmer bei Adonja Iwoilowna +singt der Samowar – er geht nicht aus, +er ist voll und kochend heiß, der Dampf wallt +nur so – der Sänger summt sein Lied. Der +Samowar singt, daß man es durch alle Zimmer +hört. +</p> + +<p> +Akumowna ist nicht in der Küche. Akumowna +ist mit den Karten bei Adonja +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +Iwoilowna. Akumowna legt Karten. Der +Samowar ist im Erlöschen, sein Gesumme +ist leiser und Akumownas Stimme tönt +dumpfer: +</p> + +<p> +– Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. +Wie es endet. Wie es sich beruhigt. Sagt +die volle Wahrheit, reinen Herzens. Was +kommt, wird auch zutreffen. +</p> + +<p> +Es kommen aber lauter unreine, lauter unerfreuliche +und dunkle Karten. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna weint. Wie sollte sie +auch nicht weinen! Ihren Mann hatte man +auf dem Smolensky-Kirchhof bestattet und +sie wollte ihn doch in der Newskaja Lawra +haben: die Verwandten hatten darauf bestanden, +hatten nicht auf sie geachtet. Er war zu +Allen gut gewesen, hatte viel geholfen, aber +sie liebten ihn nicht. Nur sie allein hatte ihn +geliebt und auf sie hatte man nicht gehört. +Auf dem Kirchhof geht nun die Erde unter +ihm weg, die Erde bröckelt ab. +</p> + +<p> +Und wieder ertönt Akumownas Stimme, +noch dumpfer. +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +– Fürs Haus. Fürs Herz. Wie es endet. +Was sein wird. Wie es sich beruhigt. Sagt +die volle Wahrheit reinen Herzens. Was +sein wird, wird auch zutreffen. +</p> + +<p> +Doch es kommen wieder dieselben Karten. +Und wieder dieselben Träume; Adonja Iwoilowna +weint: nur sie allein hatte ihn geliebt, +aber man hatte nicht auf sie gehört, und jetzt +geht die Erde unter ihm weg, die Erde bröckelt +ab. +</p> + +<p> +– Man darf niemand beschuldigen! – sagte +Akumowna plötzlich. +</p> + +<p> +Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger +Regen. Aus den Rinnen schlägt das +Wasser, wie ein Hund aufheulend auf die +Steine. Die belgische Bogenlampe leuchtet +wie der Mond durch das Gewoge von Nebel +und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen +Krankenhauses schimmert nur ein einziges +Lichtlein. +</p> + +<p> +Im äußersten Zimmer, in der schwülen Stube +bei Adonja Iwoilowna brennen drei ewige +Oellämpchen. Adonja Iwoilowna betet lange. +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Auch in der Küche, in der vom unverwüstlichen +Sterletgeruch und vom Geruch +getrockneter Pilze gesättigten Küche, brennen +drei Oellämpchen. Akumowna betet lange. +</p> + +<p> +– Schiffe, Schiffe! – ertönt des Nachts eine +Stimme inmitten des weinerlichen Schnarchens. +</p> + +<p> +Und am anderen Ende der Wohnung antwortet +ihr dumpf eine andere: +</p> + +<p> +– Man kann niemand beschuldigen! – +</p> + +<p> +Und eine dritte Stimme, die durch die Wand +aus dem Zimmer der Artisten hereindringt, +sagt: +</p> + +<p> +– Man muß alles von sich abschütteln. +</p> + +<p> +Marakulin fährt dabei auf, kauert sich zusammen, +ganz verstummt und bedrückt horcht +er und wiederholt sich vergebens immer dasselbe; +trotzig wie er ist, kann er nicht mehr +nicht denken, er kann nicht auf seine Gedanken +nicht hören, und der Friede flieht ihn. +</p> + +<p> +Die göttliche Akumowna ist laut ihrem Paß +eine Jungfrau von zweiunddreißig Jahren, +aber laut ihren eigenen Versicherungen – es +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +war übrigens auch ohne ihre Versicherungen +einleuchtend – war sie nicht zweiunddreißig, +sondern sicher fünfzig. Sie ist aus Pskow gebürtig +oder eine Pskowitanerin, wie die Artisten +sie zu nennen pflegen, zu denen sie ebenfalls +manchmal hinläuft, um Karten zu legen; +für Sergej Alexandrowitsch wäre sie sogar bereit, +den ganzen Tag Karten zu legen, außerdem +ist die Sklavin Kusjmowna, welche halb +an eine Flunder, halb an ein gefrorenes Huhn +von der Sennaja erinnert, so etwas wie ihre +Gevatterin. +</p> + +<p> +Akumowna ist klein und schwarz, ihr Gesicht +ist sehr dunkel, – ein Käfer! Sie lächelt und +blickt so eigentümlich, idiotisch, nicht gradeaus, +sondern von der Seite, mit etwas geneigtem +Kopf. Sie ist sanft und wird nie böse. Und +flink ist sie, aber sie läuft nicht, sondern sie +dreht sich auf demselben Fleck herum und es +sieht nur so aus, als liefe sie. Und geschickt +ist sie, man würde glauben, sie mache alles +sofort; wenn es aber vorkommt, daß man sie +irgendwohin rasch schicken muß, dann ist’s +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +aus, dann kann man lange warten! Es ist ja +auch die fünfte Etage und ihre Beine sind +schon alt. Das Hinunterlaufen geht noch, aber +beim Hinaufsteigen der Treppe – da bleibt sie +stecken. Die Füße möchten schon laufen, und +Akumowna wäre froh, möglichst schnell zurück +zu sein, aber sie hat eben keine Kraft mehr, +und sie dreht sich nur auf demselben Fleck. +</p> + +<p> +Den Tag und die Nacht verbringt Akumowna +ebenso wie Adonja Iwoilowna. Sie +träumt allerlei Träume: sie sieht Feuersbrünste +– das Haus brennt ab – und Räuber +– die Räuber jagen und verfolgen sie – und +einen nackten Mann – der Nackte steht an +einem Ufer und wäscht sich mit Seife – und +ein fleckiges Reptil – das Reptil beißt sie; – +und Beeren ißt sie im Traum – Preißelbeeren, +die Büschel so groß wie ein Hammelschwanz. +Aber am häufigsten – sehr häufig fliegt sie im +Traum: sie fliegt immer nach einem und demselben +Ort, zu Ostaschkow in Nils Einsiedelei, +zum ehrwürdigen Nilus Stolbenskij. +</p> + +<p> +– Ich mache einen Sprung und fliege – +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +erzählt Akumowna, – ich steige auf und greife +aus mit den Händen, wie auf dem Wasser, +und es wird mir so leicht und ich fliege vorwärts +wie ein Vogel. +</p> + +<p> +Schon vor langer Zeit hatte Akumowna ein +Gelübde getan, zum ehrwürdigen Nilus zu +pilgern, und bis jetzt hat sie dieses Gelübde +noch nicht erfüllt; sie war noch nicht ein einziges +Mal da, deshalb fliegt sie oft, sehr oft zu +Ostaschkow. +</p> + +<p> +Im Hof wird Akumowna geliebt: die göttliche +Akumowna. Und immer treiben sich +Scharen von Kindern bei ihr in der Küche +herum, sie versteht und liebt es mit den Kindern +zu spielen und zu scherzen. Sie besucht +alle; wenn sie Geld hat, gibt sie es – und man +nimmt es von ihr, um es ihr nie zurückzugeben +– in allen Winkeln ist sie willkommen. Und +nur eins fürchtet sie: wenn auf dem Hof eine +Schlägerei angeht. +</p> + +<p> +Sergej Alexandrowitsch Damaskin hat alle +Gesetze ausstudiert, – er ist ein Artist. Akumowna +aber ist ein Mensch, der weiß, was +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +im Jenseits geschieht. So sagt man im Burkowschen +Hof. +</p> + +<p> +Akumowna war schon im Jenseits, – sie +war dort den Passionsweg gegangen. +</p> + +<p> +Dort in jener Welt wurde ihr alles gezeigt, +nur weiß sie nicht, wer der Mensch war, der +sie geführt. +</p> + +<p> +– Ich trat in ein Gebäude – so erzählt Akumowna +ihren Passionsweg, – in einen Saal: +der Fußboden war morsch, die Dielen eingefallen, +die Erde unter ihnen war Schutt und +auf dem Boden lagen Fische, stinkende, abscheuliche +Fische verschiedener Art, Fleisch, +Schädel; lauter schlechtes Zeug lag da herum +und bis auf die Knochen verweste Menschen +– einzelne menschliche Glieder, verweste +Tiere, alles verfault und abscheulich. +</p> + +<p> +Und sie wurde durch dieses Gemach geführt +und es wurde ihr alles gezeigt! Das Gemach +war lang, unabsehbar, und breit, und dennoch +war ihr so eng. Vor ihnen waren Menschen, +viele Menschen, hinter ihnen ebenfalls +viele Menschen, ringsum und überall gingen +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +und standen Menschen. Und in den Winkeln +befanden sich Menschen, aber keine richtigen +Menschen – das nimmt sie so an; – auch +solcher gab es viele. +</p> + +<p> +– Ich habe mich so gequält, ein Gebet gesprochen, +sie antworteten aber nicht – sie +hatten Schwänze und Beine wie Kühe und +Krallen wie Hunde. – Laßt mich heraus! – +flehte ich. +</p> + +<p> +Einer aber sagte: – Nein, sie muß noch etwas +sehen! – Und darauf ein andrer: – Warten +wir, sie muß alles sehen, – und sie führten +mich weiter. +</p> + +<p> +Und sie führten sie durch das Gemach und +zeigten ihr alles. Es lag da nur Schlechtes +und Vermodertes herum, lauter Aas, alles +verwest und abscheulich, tote Menschen, tote +Tiere, Gebein, Schädel, Kehricht. +</p> + +<p> +– Wenn Gott mich wenigstens die heiligen +Sakramente empfangen lassen wollte! – +dachte ich, – da könnte ich dieser Unzucht +entrinnen. Und ich wiederholte bei mir: – +Herrgott, laß mich das Abendmahl nehmen, +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +ich bin schon zu Tode gequält! – Und da +sehe ich, wir sind schon draußen. +</p> + +<p> +Draußen wurde sie auf einen Berg geführt, +und auf dem Berg standen drei Personen, +alle in hellen Mänteln und die Gesichter +mit etwas Hellem verhüllt; sie nahmen das +Abendmahl. Nur daß statt des Kelches ein +Spülnapf war und der Löffel fehlte; so +nahmen sie das Abendmahl. Und viel Volk +war da, und alle traten hinzu, alle nahmen +das Abendmahl. +</p> + +<p> +Und auch sie wurde hingeführt. Sie wollte +sich bekreuzigen, aber es war ihr schwer, als +würde sie gehindert. +</p> + +<p> +Er selbst reicht mir eigenhändig die Oblate, +aber nicht befeuchtet, sondern trocken. Und +ich kann ihre Hostie nicht hinunterschlucken, +sie bleibt mir im Halse stecken, ich ersticke fast. +– Herrgott! Herrgott! Euch Heilige und +Engel Gottes bitte ich, genug schon mich zu +quälen! – Sie aber lachen. Der eine sagt: +„Warte nur, wirst noch weiter gehen.“ Und +nach ihm der andre: „Ja, wir müssen sie +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +noch weiter führen!“ – Sie lachen – ihre +Schwänze und Beine sind wie bei Kühen, +die Krallen wie bei Hunden. Und wieder beginnen +sie mich zu führen. +</p> + +<p> +Sie führten sie den Berg hinunter zum See. +An ihnen vorbei strömt das Volk in großen +Scharen, wie auf dem Newsky – sie eilen, +überholen einander, laufen, laufen und schleifen +ihre langen Schwänze nach. Alle laufen +sie vom Berg zum See, und am See verwandeln +sie sich in Tauben – einer Riesenwolke +gleicht diese Taubenschar. +</p> + +<p> +– Die Tauben ließen sich am Wasser nieder +und begannen zu trinken, und ich sagte: +„Gehen wir auch hin?“ „Ja,“ wurde mir +die Antwort, „wir gehen auch hin.“ Einer +aber sagte: „Nun ist es bald mit euch zu Ende.“ +Schon nähern wir uns immer mehr dem +See. Ich räuspere mich, noch immer kann +ich die Hostie nicht herunterschlucken! Herrgott, +bitte ich, genug schon mich zu quälen. +Um mich herum tummeln sich Kinder und +ich stürze zu den Kindern, ob sie mich nicht +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +retten wollen: „Schütz mich doch, mein +Schutzengel, schützt mich doch, seid mir gnädig!“ +Nun ist der ganze See mit Tauben bedeckt, +das Wasser ist trübe und schmutzig. +Ich steige bis an die Knie ins Wasser. „Jetzt +ist dein Ende nah“ vernahm ich eine Stimme, +und der, welcher mich geführt hatte, war +fort und verschwunden. +</p> + +<p> +So war Akumowna im Jenseits gewesen, so +war ihr Passionsweg. +</p> + +<p> +Zum Glück hat sie ein gesundes Herz, über +ihren Leib klagt Akumowna oft. Denn sie hat +nicht wenig Schweres erlebt – sie war gehörig +unter der Fuchtel. +</p> + +<p> +Akumownas Vater war wohlhabend und +stand in gutem Ruf. Sie war noch nicht zehn +Jahre alt, da starb ihre Mutter. Sie hatte +sieben Brüder, alle älter als sie. Sie war ein +gesundes Mädchen. Zwar hatte sie als kleines +Kind einen Unfall: sie schlief in der Hängewiege +und die älteren Geschwister wiegten +sie, da rissen die Stricke, die Wiege flog auf +die Erde und mit ihr das Kind. Es schrie +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Tag und Nacht und ließ sich nicht einmal +mit der Brust beruhigen, dann wurde +es besser und es erholte sich ganz. Sie war +ein kluges Kind. Vor dem Tode hatte ihr die +Mutter fünfzig Rubel übergeben, in Leinewand +eingewickelt. Niemand wußte etwas +vom Gelde, nur der Vater allein. Und wenn +der Vater es brauchte, da wickelte sie so viel +er benötigte aus der Leinwand heraus und +gab es ihm. Später gab er’s ihr wieder zurück, +sie wickelte es wieder ein und verriet +niemand etwas davon. Auch ihre Schwägerin +wußte nichts davon. Der Vater lebte +mit seiner Schwiegertochter. Die Schwiegertochter +liebte sie nicht. Beim Mittagessen +nahm sie sie bei der Hand und zerrte sie vom +Tisch. Sie quälte das kleine Mädchen sehr. +Der Vater lebte mit der Schwiegertochter. +Einmal kam ein Vetter; der Vater hatte längst +versprochen, ihm Geld zu leihen, jetzt war er +gekommen, um es zu holen. Aber der Vater +wurde böse und wollte ihm keines geben. +Wassilij aber brauchte das Geld sehr, außerdem +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +kränkte es ihn: warum hatte er es erst +versprochen! Er weinte und ging fort. Das +Mädelchen hörte es – sie war so gut und +nicht glücklich – sie holte Wassilij ein und +bot ihm von ihrem Geld an, das in der Leinwand +eingewickelt war, aber er sollte ihr versprechen, +es ihr bald zurückzugeben. Er war +natürlich froh: „Möge mein Haus verbrennen, +mag ich meine Kinder nicht wiedersehen,“ +schwor er. Und sie gab ihm das Geld +– genau so viel, Heller bei Heller, wie ihr +Vater ihm versprochen hatte. Aber als die +Zeit kam, gab er’s ihr nicht zurück. Er habe +eben kein Geld, hieß es, sie müsse warten. Sie +hätte auch gewartet, auch war es ihr gar nicht +um das Geld zu tun, aber was sollte sie dem +Vater sagen, wenn er danach fragte! Und +grade mußte es kommen, daß der Vater krank +wurde: er hatte Bier getrunken, da wurden +seine Füße blau und es ging ihm schlecht. +Das ganze Dorf wurde zusammengerufen. +Auch Wassilij kam, der Vetter. Alle setzten +sich um ihn herum und saßen. Da sagte der +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +Vater zum Mädchen, sie solle die Leinwand +bringen, worin das Geld war. Sie erschrak, +wußte nicht was zu sagen und redete sich +heraus: Sie habe den Schlüssel verloren. +Verloren? – Schön. Die Schwägerin nahm +eine Axt, ging in den Speicher, brach den +Koffer auf und holte die Leinwand. Man +zählte das Geld und es fehlten zwanzig Rubel. +Der Vater sagte zum Mädchen: – Wo +ist das Geld? – Sie schwieg. Und nochmals: +Wo ist das Geld? – Sie aber +schwieg wieder. Und als es ganz schlimm +mit ihm wurde, begann er die Kinder zu segnen. +Er segnete erst seine Söhne, ihre älteren +Brüder, dann kam die Reihe an sie. Sie fing +an zu weinen und bat Wassilij leise, er möchte +doch das vom Gelde sagen – aber Wassilij +der Räuber erwiderte: – Ich weiß von +nichts, ich habe dein Geld nicht genommen! +– als hätte er in der Tat nie Geld von +ihr genommen. Sie weinte nicht mehr; – +wenn es einem gar schlimm zumute ist, da +weint man nicht, sie sah nur den Vater an, +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +sie sah ihn nur an. Der Vater sagte zu ihr: +– Ich segne dich – er hielt inne und überlegte: +– sei wie ein rollender Stein um die +weite Welt! – dann knirschte er mit den +Zähnen und verschied. +</p> + +<p> +„Wie ein rollender Stein um die weite +Welt!“ So lautete der Segen ihres Vaters, +den Akumowna empfing und der sie offenbar, +wie Akumowna annahm, zum Herumirren +in der weiten Welt bestimmte. +</p> + +<p> +Sie hielt es darauf keine sechs Wochen mehr +zu Hause aus, und lebte dann in einem Gemüsegarten. +Zu Lebzeiten des Vaters, ob es +schlecht oder gut ging, hieß es dulden; als +aber der Vater starb, da ward die Schwägerin +grimmiger als eine Bestie, sie verfolgte +sie und fraß sie auf. Am sechsten Tag nach +dem Froltage nahm die Herrin von Turij-Rog, +Frau Bujanowa die Akumowna zu +sich aufs Gut, ins Haus. Das Bujanowsche +Gut Turij-Rog lag sechs Werst von Ssosna-Gora +entfernt. +</p> + +<p> +Auf dem Gut hatte sie es sehr schön. Die +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +Herrin Bujanowa gewann sie lieb. Sie war +nur ein wenig älter als Akumowna: Akumowna +war damals dreizehn, die Herrin +sechzehn Jahre alt. Herr Bujanow selbst war +nicht mehr jung und hätte gut der Großvater +der beiden sein können. Er reiste oft in Geschäften +in die Stadt und war auch zu Hause +viel beschäftigt: er besaß viel Land, viel Wald +und See, – er war ein tüchtiger Wirt und +liebte sein Gut: der Hanf in Turij-Rog stand +so dicht, daß ein Mensch nicht durch konnte, +und die Hühner weideten auf den Feldern +wie Schafe! Die Herrin aber war immer allein +mit Akumowna, wie mit einem lieben +Schwesterchen. Sie nahm sie überall mit, +ins Feld, in den Wald, in das junge Gehölz, +um Pilze und in den dunkeln Wald, um Beeren +zu suchen. Im dunkeln Wald, in den Lichtungen, +in der Sonne da stehen die Beeren so +rot, daß es eine Freude ist, sie zu pflücken. Sie +pflückten Nüsse, sammelten Eicheln zum Kaffee, +oder die Herrin legte sich unter eine Kiefer +und schickte Akumowna Blumen zu holen. +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +Akumowna kehrte dann mit Blumen zurück +– mit vielen verschiedenen blauen Blumen – +und wand einen Kranz, die Herrin aber lag +unter der Kiefer und weinte. Akumowna +schmückte sie mit den blauen Blumen – und +küßte sie halbtot; – sie selbst war schwarz, +mit blanken, lustigen Augen, ein rotes Band +im Zopf – ein Käfer. +</p> + +<p> +So verbrachte Akumowna ein Jahr unzertrennlich +von der Herrin: sie wurde zu allem +angeleitet, lernte Plätten und Waschen. Vor +Mariä Schutz und Fürbitte fuhr der Herr +in die Stadt und wurde da krank. Dem +Herrn geschah dies oft: man behauptete, daß +<em>sie</em> ihn quälten: – der Wald hat seinen +Herrn und das Wasser seinen, die Wald- +und Wasserbeherrscher. Der Wald in Turij-Rog +war früher dicht und undurchdringlich, +ein Käfer konnte kaum durchfliegen; Bujanow +hatte den Wald gelichtet. Zu den Seen +konnte man früher nicht gelangen, er aber +hatte Wege gebaut und die Seen gereinigt. +Ihnen aber ist so etwas nicht recht. Und von +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +Zeit zu Zeit kamen sie zu ihm und machten +ihm Vorwürfe, daß er sie umgebracht hatte. +Dies eben war seine Krankheit. So sagten +die Menschen. Man benachrichtigte die Herrin +in Turij-Rog, sie machte sich auf und fuhr +zu ihm. +</p> + +<p> +– Die gnädige Frau befahl mir, auf das +Schönchen acht zu geben, – erzählte Akumowna, +– jede Nacht nach der Kuh zu +sehen. Es gab da viele Kühe, aber das +Schönchen war ihre Lieblingskuh. Das +Schönchen sollte kalben. Damit fing’s an. +Im Dorf war grade eine Hochzeit und ich +bat um Erlaubnis hinzugehen. Ich versprach +um Zwölf heimzukommen, vergaffte mich +und kam erst um Zwei. Inzwischen hatte das +Schönchen um Zwölf gekalbt und das Kalb +mit einem Fußtritt erschlagen. „Eins von uns +bleibt am Leben, entweder du oder ich!“ sagte +der Aufseher des Viehhofs, – entweder ich +werde davongejagt oder er. Und so gehe ich +zum jungen Herrn – der Bruder der gnädigen +Frau war bei uns damals Verwalter – +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +und fürchte mich hineinzugehen: ich versuche +die Tür aufzumachen und laufe zurück. +„Was hast du, Käfer?“ Er hatte mich also +kommen gehört. „Verzeihen Sie, gnädiger +Herr, verzeihen Sie, ein Unglück ist passiert!“ +„Komm her!“ Er ließ mich eintreten. Ich +werfe mich auf die Knie, erzähle ihm auf +den Knien alles und weine. „Hinaus! Pack +deine Sachen!“ Und jagt mich hinaus. Ich +ging zu mir aufs Zimmer – meine kleine +Kammer lag hinter dem Speisezimmer – +und wußte gar nicht, was für Sachen zu +packen, denn ich hatte keine, ich weinte nur. +Und so weinte ich die ganze Nacht. Am +nächsten Morgen kommt der Herr. „Hast du +schon eingepackt?“ Ich fange wieder an. +„Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich bekenne +meine Schuld!“ „Schweig, wag es nicht zu +weinen, – ruft er – sonst laß ich dich aufhängen“ +und ging fort. Ich denke mir, aufhängen +läßt er mich doch nicht, er will mir nur +Angst machen, und dennoch fürchte ich, und +mir ist so bange. Es war Samstag, das Bad +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +wurde geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank, +stellte Bier hin und wollte eben gehen, +da kommt der gnädige Herr. Ich will zur +Tür hinaus. „Halt, hast du schon deine Sachen +gepackt?“ Ich wiederhole das meinige: +„Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, ich bekenne +meine Schuld, jagen Sie mich nicht +fort!“ – Er überlegt und sagt zu mir: „Wenn +du einwilligst mit mir zu leben, dann bleibe +hier, brauchst dann nicht fortzugehen!“ Und +stieß mich hinaus. Ich wollte aber nicht fortgehen, +wollte nicht von meiner gnädigen Frau +verstoßen werden, und wohin sollte ich auch +gehen? – wieder zum Bruder, zur Schwägerin? +Und so gehe ich herum und weine. +Der Viehhofaufseher wiederholt aber nur: +„Eins von uns bleibt am Leben, du oder ich!“ +Entweder er wird fortgejagt oder ich. Wäre +die gnädige Frau nur zu Hause gewesen, aber +sie kam immer noch nicht. Es wurde wieder +Samstag. Wieder wurde das Bad geheizt. +Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier +hin und wollte mich beeilen, vor dem gnädigen +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Herrn fortzugehen, mir war so bange, +ich fürchtete mich. Er trat aber schon ein. +„Bist du nun einverstanden?“ – „Ja.“ – +Natürlich, ich war ein dummes Mädchen, +hab’ nichts verstanden. „Geh, zieh dich aus, +ich will dich ansehen.“ Ich zog mich aus. Am +nächsten Tag fuhr der gnädige Herr in die +Stadt – er hatte mich noch nicht angerührt +– und brachte mir ein seidenes Tuch und ein +Band ins Haar mit. Ich erzählte es der Kinderfrau, +– eine alte, ganz alte Kinderfrau +war da im Hause. „Das macht nichts,“ sagte +die Kinderfrau, „verlange du aber fünfhundert +Rubel auf ein Büchlein, zur Sicherstellung!“ +Ich konnte nicht verstehen, was für ein +Büchlein sie meinte. Ich war eben ein kleines +dummes Mädchen und verstand nichts. Am +Abend ruft mich die Kinderfrau: „Wenn du +dem gnädigen Herrn den Samowar hineinbringst, +dann geh nicht fort!“ Das Zimmer +des gnädigen Herrn lag neben dem Speisezimmer. +Ich nahm das seidene Tuch um, +flocht mir das Band ins Haar, brachte den +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +Samowar und setzte mich an den Tisch, – +und es schüttelte mich nur so. +</p> + +<p> +Die Schande und die Schmach! – Akumowna +schämte sich sehr, sie wollte sich erhängen: +ihre Herrin war zurückgekehrt, ihre +Herrin – und Akumowna ging so herum. +Die Herrin beruhigte sie, versprach ihr das +Kind zu erziehen, verzieh ihr das mit dem +Schönchen und verwies sie nicht von sich. +Akumowna brachte einen Knaben zur Welt, +bald darauf bekam auch die Herrin einen Knaben. +Die Kinder wurden zusammen erzogen, +sie hatten eine Kinderfrau, und wurden später +auch gemeinsam unterrichtet. Mit neun +Jahren wurden beide nach Petersburg gebracht. +Der Bruder der gnädigen Frau adoptierte +Akumownas Sohn. Sie kamen nur zu +den Sommerferien, zu Weihnachten und zu +Ostern heim. Im gleichen Jahr beendigten +sie beide ihr Studium und wurden Offiziere. +Da blieben sie kurze Zeit auf dem Gut und +fuhren bald nach Petersburg zurück. Als +Akumownas Sohn klein war, da war er sanft +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +und zärtlich, später aber als er groß wurde, +begann Akumowna sich vor ihm zu fürchten: +wenn er sie ansah, hätte sie sich verkriechen +mögen, sie hätte nicht gewagt ein Wort +zu ihm zu sprechen. +</p> + +<p> +Die Zeit aber wartet nicht, die Zeit nimmt +das ihrige! Der alte Herr starb – <em>sie</em> hatten +ihn erwürgt: der Wald hat seinen Herrn und +das Wasser hat seinen Herrn, Wald- und +Wasserherren, so sagt man. Und nach dem +Tod des alten Herrn stieß auch dem Bruder +der Herrin ein Unglück zu: an einem Kirchenfest +ihres Sprengels wurden sieben Menschen +auf der Hauptstraße ermordet; man begann +zu untersuchen und der Weg führte gradeaus +nach Turij-Rog in den Hof, und so wurde +er wegen Mitwisserschaft eingesperrt. Ein +Jahr blieb er im Gefängnis, und als er wieder +frei wurde und sich zu einer Reise ins Ausland +rüstete, starb er. Akumowna hatte den +gnädigen Herrn nicht gesehen, als er im Sterben +lag, sie hatte ihn nur gesehen, als er aus +dem Gefängnis kam. Sie hätte ihn nicht erkannt: +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +er war schwarz, wie die Erde. Man +sagte, seine Lungen hätten sich abgelöst. +</p> + +<p> +Akumowna blieb wieder allein mit der Herrin +zurück, wie einst. Sie gingen wie einst wieder +ins Feld und in den Wald. Akumowna +sammelte Blumen für ihre Herrin, allerlei +blaue Blumen, und wand ihr einen Kranz; +die Herrin lag wieder unter einer Kiefer, nur +weinte sie nicht mehr, sie schlief; – sie trank +jetzt, schon längst hatte sie sich ans Trinken +gewöhnt: sie nahm einen Schluck, aß eine +Pfefferminzpastille dazu und schlief ein. +</p> + +<p> +Der gnädige Herr, der Bruder der Herrin, +starb im Frühling, und im Herbst wurde Akumownas +Sohn aus Petersburg nach Turij-Rog +gebracht. Er hatte gebeten, daß man ihn +vor dem Tode nach Turij-Rog bringe: er war +schwindsüchtig. Er wurde auf dem Gut bestattet, +auf dem Turij-Rogschen Kirchhof. +Seine Uniform und seine Mütze bekam Akumowna. +Und das Jahr war noch nicht um, +da starb die Herrin. An ihrem Todestage sah +sie im Traum den alten Herrn mit einem +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +weißen Hund kommen ... Und auch die +Herrin wurde bestattet. +</p> + +<p> +Turij-Rog war nun vereinsamt. Akumowna +war allein auf dem Gut. Der junge Herr +wollte sie nicht mehr behalten und entließ sie +nach der Beerdigung. Und so war sie ganz +allein. Sie weinte aber nicht, – wenn es +einem gar zu schlimm ist, dann weint man +nicht. +</p> + +<p> +Zum letzten Mal ging sie ins Feld, in den +dunkeln Wald und in das junge Gehölz, saß +zum letzten Male im Wald auf dem Abhang, +wo die Sonne am stärksten brennt und wo +die Beeren so rot stehen, und unter der Kiefer, +wo ihre Herrin zu liegen pflegte, verneigte sich +tief vor dem jungen Wald, vor dem Feld – +vor dem alten dunkeln Wald und vor der +Kiefer, und ging. Sie ging die Hauptstraße +aus Turij-Rog an Ssosna-Gora vorbei, vorbei +am Bruder und an der Schwägerin, an +Wassilijs Haus, am Kirchhof, an den Grabkreuzen +des Vaters und der Mutter, immer +gradeaus von Turij-Rog, immer gradeaus +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +die Hauptstraße lang, wie ein rollender Stein +um die weite Welt. +</p> + +<p> +Und manches Jahr dehnte sich der Weg +von Turij-Rog nach Petersburg. Bis sie +Petersburg erreichte, ging sie oft hinter dem +Pflug und mit der Sense, oder mußte wie +eine Zigeunerin in den Hohlwegen herumlungern. +</p> + +<p> +Neun Jahre lebt nun Akumowna in Petersburg. +Die Uniform und die Mütze wurden +ihr noch auf dem Weg von Turij-Rog nach +Petersburg gestohlen, und nur ein Andenken +ist ihr geblieben: ein Paar warme Schuhe +und ein Paar Gummischuhe hängen mit +Naphtalin bestreut in einem Karton an der +Decke ihrer Küche. +</p> + +<p> +– Ich sehe diese Sachen an, als wenn er es +selbst wäre! – sagt Akumowna, wenn sie an +den Feiertagen den Karton öffnet. +</p> + +<p> +Neun Jahre wohnt nun Akumowna auf der +Fontanka im Hinterhaus des Burkowschen +Hofes, Sommer und Winter, und weiter als +auf die Sennaja oder bis zum Fischteich ist +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +sie noch nicht gekommen, und sie sehnt sich +nach freier Luft. +</p> + +<p> +– Wenigstens etwas Luft atmen! – sagt +sie manchmal und lächelt und blickt idiotisch +von der Seite – die sanfte, göttliche, verwaiste, +unglückliche Akumowna. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-4"> +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +Drittes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Zimmer, die im Herbst leergestanden +hatten, wurden zu Anfang des Winters +vermietet, und Marakulin hatte nun zwei +neue Nachbarinnen: Wera Nikolajewna +Klikatschowa, Hörerin der Nadeschdinschen +Kurse, und Wera Iwanowna Wechorjowa, +Schülerin der Theaterschule. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna war sehr mager, so mager, +daß man Angst um sie bekommen konnte, +besonders nachdem sie die Nacht über den +Büchern verbracht hatte. Wie ein solcher +Mensch bloß leben kann: nicht ein Blutstropfen +war in ihrem Gesicht, und ihre Augen +waren jene verlorenen Augen des herumschweifenden +heiligen Rußland. +</p> + +<p> +Sie hatte mit ihrer Mutter in der Provinz +gelebt, in der alten Kreisstadt Kostrinsk. Sie +hatten ein eignes Häuschen, das Häuschen +aber brannte ab, und sie verloren dabei alle +ihre Habseligkeiten. Man hätte sie retten können, +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +wenigstens ein Teil konnte gerettet werden, +aber die Mutter, die alte Klikatschowa +stellte sich mit dem Heiligenbild den Flammen +gegenüber und ließ nichts wegtragen, – alles +verbrannte. Wenn man dem Feuer erlaubt, +alles aufzufressen, ohne sich zu widersetzen, +dann ersetzt es alles hundertfach, – so glaubte +die Alte. Zwar hatte sie vorher schon eine Erscheinung +gehabt, ein Zeichen hatte ihr den +Brand verkündet: eine Woche früher hatte +der Tisch und die Heiligenbilder unheimlich +geknistert, doch die Alte besann sich erst darauf, +als alles schon verbrannt war. Nach +dem Brande wohnten sie in einem alten Badehäuschen. +Wera Nikolajewna absolvierte +die Kostrinskische Gemeindeschule und wäre +in ihrem alten Badehäuschen sitzen geblieben, +wenn nicht eine Verbannte aus Petersburg +hingekommen wäre, die sie zu unterrichten +begann und zur Aufnahme in die vierte Gymnasialklasse +vorbereitete. Wera Nikolajewna +reiste in die Gouvernementstadt, machte da +das Examen und blieb dort drei Jahre in der +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Heilgehilfenschule am Gouvernementkrankenhaus. +Darauf ging sie nach Petersburg, +wo sie jetzt im Begriff war, die Nadeschdinschen +Kurse zu absolvieren. +</p> + +<p> +Das Lernen fiel ihr nicht leicht, – bis zum +Weinen schwer war ihr das Lernen. Aber +sie wollte es nicht aufgeben, sie war von +einem unheimlichen Fleiß. Nach Absolvierung +der Nadeschdinschen Kurse beabsichtigte +sie, das Abiturientenexamen zu machen, +um in das medizinische Institut aufgenommen +zu werden. +</p> + +<p> +Voller Sorgen, von den Lehrbüchern und +von Arbeit erfüllt – sie mußte als Masseuse +ihren Lebensunterhalt verdienen – saß sie +nie mit im Schoß müßig gefaltenen Händen, +und es war schwer, ein Wort aus ihr herauszubringen; +sie erzählte selten und war nicht +gesprächig. Sie erwähnte nur zuweilen ihre +Mutter und jene Verbannte, Maria Alexandrowna, +die sie unterrichtet und in ihr die +Lust zum Lernen erweckt hatte, – nur von +diesen beiden sprach sie. +</p> + +<p> +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Wera Nikolajewnas Mutter, Lisaweta +Iwanowna, lebte seit ihrer Kindheit in dem +kleinen, weißen, verlassenen, alten Städtchen +mit den fünfzehn weißen Kirchen. Kostrinsk +ist eine alte Stadt am Ufer des Flusses +Ustjuschina, – und in Beziehung auf das +Trauergeläute der Glocken eine erste Stadt, +eine Klagestadt. Alte Leute können sich noch +erinnern, wie Lisaweta Iwanowna jung war, +eine lustige Reigenführerin, Märchenerzählerin +und Sängerin uralter Weisen. Sie erinnern +sich noch, wie sie im Dom getraut +wurde und wie der Priester, der doch Braut +und Bräutigam kannte, sich fortwährend irrte +und die Namen verwechselte, und wie Jutschicha, +eine alte Waschfrau, dazu traurig +den Kopf schüttelte, weil sie in ihrer ahnenden +Seele wußte, daß das junge Paar nicht +lange zusammenbleiben wird: ein Dritter +stand zwischen ihnen unter dem Baldachin. +Die Alte wußte es, aber sie schwieg. +</p> + +<p> +Und diese Jutschicha war auch dabei, als +Lisaweta Iwanownas Mann starb, und dabei, +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +als das Haus brannte. Sie war es auch, +die ihr beigebracht hatte, nichts hinauszutragen +und alles dem Feuer zu überlassen. Und +nicht das allein bloß hatte sie sie gelehrt, sondern +all ihr nicht einfaches, ahnungsvolles +Wissen. Denn Jutschicha wußte viel, ja, vielleicht +alles, was dem Menschen zugestanden +ist. So sagte man in Kostrinsk. Und sie stieg +ruhig ins Grab, weil sie in der Welt einen +andern Menschen an ihrer Statt zurücklassen +konnte. Lisaweta Iwanowna würde für sie +besonders zu Gott beten, weil ihr die Alte +alles überliefert und für sie mehr getan hatte, +als Vater und Mutter tun könnten, so viel, +daß es wohl keinem Menschen gegeben ist, +mehr zu tun. So urteilte man in Kostrinsk. +</p> + +<p> +Zehn Jahre waren nach Jutschichas Tod +und nach dem Brand des Hauses vergangen. +Noch immer im alten Badehäuschen lebend, +träumte Lisaweta Iwanowna davon, sich ein +neues stattliches Haus zu bauen, ähnlich wie +das verbrannte. Jeden Sommer ließ sie Bauholz +aus dem Wald in ihrem Gemüsegarten +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +aufstapeln. Sie war auch schon beim Vater +Johann von Kronstadt gewesen, um seinen +Segen zu erbitten und brachte ihm ein altes +Heiligenbild im Stroganowschen Stil zum +Geschenk, und <a id="corr-5"></a>er schenkte ihr dagegen hundert +Rubel für den Anfang. Wie oft schon +hatte sie sich von Verbannten einen Plan +zeichnen lassen und ihn scharfsichtig genau +geprüft und untersucht: ob die Speisekammer +oder die Rumpelkammer nicht vergessen +worden sei, ob auch alles genau so wäre, wie +im alten verbrannten Hause. Aber ein neues, +stattliches baute sie doch nicht. Das Bauholz +verfaulte im Gemüsegarten, der Plan +wurde sorgfältig in einem Kästchen aufbewahrt +und die hundert Rubel, das Geschenk +des Priesters hatten auf der Rückfahrt nicht +einmal Moskau erreicht. Sie hatte nie in +ihrem Leben soviel Geld beisammen gehabt +– ihr Mann war ein kleiner Beamter in +Kostrinsk gewesen und mußte mit Kopeken +rechnen – und des ehrwürdigen Vaters regenbogenfarbener +Schein verflüchtigte sich +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +im Handumdrehen: sie brachte allerlei Nippes, +Schächtelchen und Schachteln, nötige +und unnötige, zerbrochene und ganze, als Geschenke +aus Kronstadt mit, und jeder Gegenstand, +jedes Schächtelchen hatte seine Bestimmung; +das größte Paket aber sollte seine Bestimmung +nach näherer Erwägung erhalten, +und für diese „nähere Erwägung“ war fast +ein halbes hundert Rubel daraufgegangen. +Wie sollte man da ein Haus bauen! +</p> + +<p> +Lisaweta Iwanowna ist gebückt, zahnlos, +ihre schweren weißen Flechten umwickeln +den ganzen Kopf, und die blauen Augen sind +noch heller geworden und leuchten. Sie hat +vieles in dieser Welt gesehen, obwohl die +ganze Welt für sie die kleine weiße verlassene +alte Stadt mit den fünfzehn weißen Kirchen +war, und alle ihre Tage waren besungen vom +Trauergeläute. Kostrinsk ist eine alte Stadt +am Fluß Ustjuschina und dem Trauergeläute +der Glocken nach eine erste Stadt, eine Klagestadt. +Viele Menschen hat Lisaweta Iwanowna +schon zu Grabe geleitet; sie besucht +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +ihre Gräber und am Ostersonntag trägt sie +rote Eier hin, um den Toten den Gruß: +„Christ ist erstanden“ zu entbieten; denn es +ist viel wichtiger, den Toten diesen Gruß +zu bringen als den Lebenden, so glaubte +die Alte. So lebte sie in ihrem Badehäuschen, +wie in einem richtigen Haus dahin und +genoß den Anblick der Sonne, wenn sie hinter +dem Kirchturm unterging, und das Kreuz +vergoldete, freute sich, wenn man zum erstenmal +Schlitten fuhr, oder wenn die Kinder im +Frühjahr auf den Brettern sich schaukelten, +und wartete nur auf den Menschen, dem sie +all das Wissen, das ihr die alte Waschfrau +Jutschicha überliefert hatte, weiter überliefern +könnte. Und der Mensch, dem sie es überliefern +würde, wird ebenso glücklich werden +wie sie selbst; denn es gebe kein größeres Glück +als das ihre, – so dachte die Alte. Ihr Glück +aber bestand darin, daß sie durch ihr nicht +einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes +oder tatsächliches Wissen erkannt +hat, wie man leben muß. Sie lebte nicht für +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +sich und nicht für die anderen, und wenn sie +etwas tat, so dachte sie weder an sich noch +an die Einwohner von Kostrinsk, sondern sie +bereitete sich fürs andere Leben vor, fürs +Jenseits, und dachte bei ihren Handlungen +nur an das andre Leben und an das Jenseits; +deswegen war ihr selbst wohl, und deswegen +tat sie den anderen wohl. +</p> + +<p> +Lisaweta Iwanowna war für Kostrinsk dasselbe, +was irgendein Bruder im Hafen für die +arme Petersburger Bevölkerung. +</p> + +<p> +Da kam nach Kostrinsk eine Verbannte aus +Petersburg, Maria Alexandrowna. Um sich +die Tage abzukürzen und auf irgendeine +Weise die Zeit zu vertreiben, die in der Unfreiheit +sich so ausdehnende Zeit, begann sie +Wera Nikolajewna zu unterrichten. Wera +Nikolajewna gefiel ihr, und sie kam oft zu +Klikatschows. Auch Lisaweta Iwanowna +interessierte sie und sie fragte die Alte aus, +wie sie denkt, daß man leben und wofür man +leben müsse, wie man vergessen könnte, was +nicht zu vergessen ist, und was man tun +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +müsse, daß man keine Angst hätte und nicht +begehre, was man nicht nehmen darf, – Alles +das fragte sie die Alte. Und aus diesen Fragen +erkannte die Alte und ihr Herz flüsterte +ihr zu, daß diese Verbannte eben der Mensch +war, dem sie ihr nicht einfaches ahnungsvolles +Wissen überliefern und ihn glücklich +machen müßte. +</p> + +<p> +Ein Jahr lang lebte Maria Alexandrowna +in Unfreiheit in dieser kleinen, weißen, verlassenen, +alten Stadt. Zu Ostern kam sie zu Klikatschows, +um am geweihten Mahl teilzunehmen; +– zu Ostern aber ist für den Wissenden +alles besonders sichtbar und klar. Und +so erblickte Lisaweta Iwanowna bei ihrem +Liebling, bei ihrer Auserwählten auf der +Stirn zwischen den Augenbrauen das Zeichen +des Todes. Und sie wollte erst nicht glauben, +als sie dieses Geheimnis erkannte. Aber schon +in der Osterwoche war Maria Alexandrowna +nicht mehr in Kostrinsk, sie war ganz +spurlos verschwunden. +</p> + +<p> +Vieles hatte Lisaweta Iwanowna gesehen: +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +sie hatte ihren Mann begraben, hatte auch +viel fremden Kummer mit angesehen – wo +gibt es ihn nicht! – aber niemals hatte sie +so viel geseufzt, wie damals, als der Morgen +kam, der Tag verstrich und es Abend wurde +und Nacht, und ihre Auserwählte, ihr Liebling, +die dem Tod Geweihte verschwunden +blieb. Sie, die Glückliche, hatte dank ihrem +nicht einfachen, ahnungsvollen, gleichviel ob +eingebildeten oder tatsächlichen Wissen erkannt, +wie man leben muß, aber sie hat die +ihr bestimmte göttliche Tat nicht vollbracht, +sie hat ihr Wissen nicht überliefert, und wenn +Maria Alexandrowna nicht zurückkehrte, +müßte sie als Unglückliche sterben. Und die +Alte wartet; ihr von schweren weißen Flechten +umwundener Kopf wackelt, sie betet leise, +sanft und demütig, und über ihr läuten die +Glocken ihr Trauergeläute und besingen sie. +Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina +und dem Trauergeläut nach eine +erste Stadt, eine Klagestadt. +</p> + +<p> +– Wohin ist denn Maria Alexandrowna +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +verschwunden? – fragte einmal Marakulin. +</p> + +<p> +Aber Wera Nikolajewna sagte nichts, nur +ihre verlorenen Augen, die Augen des herumschweifenden +heiligen Rußland lohten auf +wie zwei Scheiterhaufen, und sie weinte +nicht, sondern schrie die ganze Nacht, als +hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die +Schlinge sehr eng zusammengezogen. +</p> + +<p> +Marakulin konnte diese Nacht auch nicht +einschlafen. Er horchte, er verstand, und es +war ihm unheimlich zumute. +</p> + +<p> +– Dem Gorbatschow aber, – dachte er, – +werden seine Nonnen und Jungfrauen in +schwarzen Kopftüchern bis in die Ewigkeit +hinein „Christ ist auferstanden“ zu Ostern +singen. +</p> + +<p> +Dieser Gedanke wiederholte sich in ihm und +zog durch ihn schleppend und zäh und drückte +sich in Worten aus. Als er aber erschöpft +war, überkam ihn eine Unruhe: er vergaß +Gorbatschow, Maria Alexandrowna und +Lisaweta Iwanowna, nur eins wollte er erkennen: +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +was man wegräumen müßte, um +seine Ruhe wiederzufinden. +</p> + +<p> +Da erinnerte er sich plötzlich an die Generalin +Cholmogorowa, wie sie satt und gesund, so +zufrieden und sieghaft herumgeht, diese Laus, +die nichts zu bereuen hat und nur der Motion +wegen herumgeht, wie sie mit ihrem Klappstuhl +auf der Fontanka herumspaziert oder +auf dem Sagorodny-Prospekt aus der Kirche +zurückkommt, – und es war, als wenn modriges +Spinnweb sich ihr nachziehen würde, +wie es in den Winkeln ungelüfteter Rattenkammern +hängt, oder zwischen dem Fußboden +und unverschiebbaren schweren Kästen, +– dieses Spinnweb zieht sich ihr nach +und dringt einem gradezu in den Mund – +es ist um sich ins Wasser zu werfen! +</p> + +<p> +Schon lange hatte er das bemerkt, aber erst +jetzt erkannte er es. Und er überlegte die ganze +Nacht bis zum Morgen ingrimmig, wie man +die Generalin möglichst geschickt beseitigen +könnte, so daß nicht einmal eine nasse Spur +von ihr zurückbliebe; denn er konnte nicht +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +leben, ohne daß sie beseitigt wäre, es fehlte ihm +die Luft zum Atmen, sie ließ ihn nicht atmen +mit ihrem modrigen Spinnweb. – Es läßt +einen nicht frei aufatmen, dachte er, man hat +keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe. +</p> + +<p> +Hätte Marakulin im Moment der Verzweiflung +die Generalin ermordet, und wäre am +Morgen vor Gericht gestellt worden, so hätte +er zu seiner Rechtfertigung sagen können, +daß nicht er gemordet hat, sondern die grausame +Burkowsche Nacht. +</p> + +<p> +Und Wera Nikolajewna weinte nicht, sondern +schrie die ganze Nacht bis zum Morgen, +als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und +die Schlinge sehr eng zusammengezogen. +</p> + +<p> +Es waren jetzt grausame Nächte für Marakulin. +Wo blieb seine Bereitwilligkeit, alles zu +ertragen, nur um zu sehen, nur um zu hören, +nur um zu fühlen? Immer derselbe Gedanke an +die Generalin ging ihm nicht aus dem Sinn, +die unglückliche Generalin war ihm im Halse +stecken geblieben! – Ein verrückter Mensch +und in seiner Verrücktheit beharrlich. +</p> + +<p> +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +Als er einmal am Morgen in der Zeitung von +einem Arzt las, der des Giftmordes beschuldigt +wurde, versteckte er die Zeitung unter +sein Kissen und las am Abend vor dem Einschlafen +wieder die Stelle. +</p> + +<p> +– Wohltäter der Menschheit, Doktor – +flüsterte er im Dunkeln, – du magst wohl +nicht eine Laus nur ins Jenseits befördert +haben und vielleicht wirst du ... noch jemand +befördern! +</p> + +<p> +Und angesichts der allgemeinen Entrüstung +der Zeitungen sprach er zu sich ganz trunken: +</p> + +<p> +– Das sind Schwestern meiner Generalin, +die für diese vom Doktor vergiftete Laus so +einmütig eintreten. +</p> + +<p> +Er stand mitten in der Nacht auf, zündete +eine Kerze an, las nochmals die Zeitung und +versteckte sie unter dem Kopfkissen. Darauf +legte er sich wieder hin und flüsterte im +Dunkeln und dachte bis zum Morgen. Und +er übertrug seine eigene Burkowsche Verzweiflung +auf die ganze Menschheit, deren +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +Wohltäter vielleicht dieser giftmischerische +Arzt werden könnte, der eine Laus nach der +anderen ins Jenseits befördert und die Luft +reinigt, damit man atmen kann: denn sonst +hätte er keine Luft zum Atmen, keinen Schlaf, +keine Geduld, keine Ruhe. Ein verrückter +Mensch war er und in seiner Verrücktheit +beharrlich. +</p> + +<p> +Eine Woche oder länger lebte Marakulin in +einer Art Raserei und erreichte, wie es ihm +schien, den Punkt. Und als er den Punkt erreicht +hatte, fand er einen Schlupfweg, um +wieder in die Welt zu gelangen, er fand sein +Recht in der Welt zu sein, welches seit dem +Herbst schon schwankte, oder richtiger, nicht +bloß schwankte, sondern ihm abhanden gekommen +war, zusammen mit dem Schlaf, +mit der Geduld, mit der Ruhe. +</p> + +<p> +Gorbatschow hatte, so dachte Marakulin, +nach all seinen Umtrieben und Klügeleien erkannt, +wie er leben muß: er wollte seine Seele +erlösen, und deshalb räucherte er seine +Winkel mit Weihrauch, alles übrige aber: +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +ob man die Kinder alle auf einen Strick aufhängen +oder sie mit Bonbons in rosa Papierchen +füttern müßte – das betrachtete er als +unwesentlich für die Erlösung seiner Seele. +Maria Alexandrowna hatte ebenfalls nach +allen ihren Fragen erkannt und begriffen, wie +sie leben mußte: nicht daß sie die Gefahr besonders +liebte und ein Leben, neben dem der +Tod einherging – nein, sie wollte verderben, +ihre Seele für andre hingeben, sie hatte sich +zum Opfer auserkoren für ein Gesetz und eine +Wahrheit, von deren Herrschaft das Glück +der Menschen abhängt, und sie hatte gewiß +getötet, oder einen Totschlag vorbereitet, oder +war bei irgendeinem Attentat gegen eine Person, +die ihrer Meinung nach dem Gesetz und +dem Recht schadete, behilflich gewesen. Lisaweta +Iwanowna hat durch ihr nicht einfaches, +ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes +oder tatsächliches Wissen erkannt und +begriffen, wie sie leben muß: sie denkt weder +an sich, noch an die anderen, sondern sie denkt +an das Jenseits und an das jenseitige Leben, +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +und indem sie sich für das Jenseits und für +das jenseitige Leben vorbereitet, handelt sie +dementsprechend. Aber mit Weihrauch räuchern +und dabei sich gegen die Kinder wehren, +ebenso wie ein Attentat vorbereiten oder +sich für das jenseitige Leben vorbereiten – +das alles ist Tat, Aktion, Arbeit, und setzt zu +seiner Verwirklichung eine Menge wichtiger +Entschlüsse voraus. Vor allem muß man +wissen, gleichviel ob vor seinem Gewissen +oder aus Verantwortung vor der Vergangenheit +und ihren Werken, muß man sich +selbst antworten können, daß man seine Seele +erlösen, oder daß man seine Seele verderben +soll – oder daß man sich für das jenseitige +Leben vorbereiten soll, und es sich fest +vornehmen im Namen eines Unwiderruflichen. +Die Generalin dagegen rührt keinen +Finger, tut nichts – man kann doch das Besuchen +des Dampfbades nicht eine Tat +nennen! – erreicht aber alles, und wie glänzend! +Der Erfolg ihrer Abhärtung ist handgreiflich +und ganz zweifellos, so daß ihrem +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +Leben kein Ende abzusehen ist – der Chiromant +hat sich in diesem Falle nicht geirrt, und +sie ist vielleicht schon unsterblich. Dabei sucht +sie weder ihre Seele zu erlösen, noch zu verderben +– denn verderben ist dasselbe wie erlösen +– und sie gedeiht, indem sie auf jede Erlösung +verzichtet und nichts und niemand +etwas schuldet. Und hat Gorbatschow, welcher +weiß, wie man leben muß, ein Daseinsrecht, +und haben Maria Alexandrowna und +Lisaweta Iwanowna, die ebenfalls wissen, +wie man leben muß, ebenfalls ein Daseinsrecht, +so hat die Generalin, wie ein Kelch +der Auserwähltheit, nicht nur ein einfaches +Recht, sondern ein königliches! +</p> + +<p> +– Und jetzt ist zu überlegen und sehr genau zu +überlegen, – räsonierte Marakulin, als er +den springenden Punkt, wie ihm schien, erreichte, +– um einen entscheidenden Schluß +zu ziehen, ein für allemal: wie würde die +Menschheit handeln, wenn, sagen wir, wenn +alle Großmächte, ein Bündnis aller Mächte +der Welt, mit England an der Spitze, ihren +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +Untertanen, der ganzen Menschheit, durch +die Parlamente und Reichstage in besonderen +Manifesten dieses sorgenlose Lauseleben, das +sündenlose und unsterbliche Leben der Generalin +anbieten würden? – Gesetzt, so etwas +wäre möglich, sei es durch eine wirkliche Erfindung +– wenn etwa der gelehrte Deutsche +Wittenstaube es mit Hilfe seiner Röntgenstrahlen +herausgefunden hätte; oder durch +einen Betrug – oder wenn etwa einer unserer +gewesenen Gouverneure wie Burkow der +Selbstvertilger – wie viele solcher Vertilger +gibt es in Rußland, die fanatisch ihre außergewöhnlichen +Fähigkeiten gegen sich selbst +richten! – also, wenn so ein Burkow einen +Trick erfunden hätte, meinetwegen einen vorübergehenden +Betrug, aber natürlich so, daß +alles glatt ginge; oder durch ein freches Wagnis, +wenn etwa ein lichtspendender, hochheiliger +Starez Kabakow, nachdem er ein +Grammophon in seinen Keller eingemauert, +sich durch eine Himmelsstimme der Welt als +Hirte und Richter offenbaren ließe – als der +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +Erlöser von Murkas Erbsünde – und ein +neues, nicht von Menschenhand geschaffenes +Zion aufgebaut hätte, voll Frieden und +Gnade, schnell, einfach und billig, – wie +würde sich die Menschheit dazu verhalten, +wie würde sie darauf reagieren? Ich denke – +fuhr Marakulin fort zu räsonieren, als er mit +Marakulinscher Hartnäckigkeit bis zu seinem +springenden Punkt vorgedrungen war – +alle Untertanen würden ohne alle überflüssigen +Worte und Zeremonien, das Soll und +Nichtsoll und jeden Gedanken an Erlösung +vergessend, ganz leise, ohne die Hüte oder +sonst den Rang bezeichnenden Kopfputz abzunehmen, +die Hosen ausziehen und auf +den mutigen, freien, stolzen, heiligen Anruf, +sich bekreuzigend, in einen gigantischen mit +Pferdehaaren bedeckten, vielleicht bei uns +in der belgischen Fabrik hergestellten Kopf, +hineinschlüpfen. Sie würden in dieses neue, +nicht von Menschenhand erschaffene Kabakowsche +Zion voll Frieden und Gnade hineinstürzen, +um ein neues Lauseleben, ein +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +schmerzloses, sündenloses, unsterbliches, und +vor allem ruhiges Leben anzufangen: ernähre +dich, verdaue und härte dich ab! Ein Klappstühlchen +könnte man sich noch immer anschaffen; +vielleicht wäre es sogar möglich, +unter diesen allgemeingültigen und deshalb +zwingenden, freiwillig angenommenen Bedingungen, +da bei jedem am Hals ein Kuhglöcklein +läuten würde, damit man, sorglos +weidend, nicht verloren gehe, sich auch ohne +Klappstühlchen auf der Fontanka Motion +zu machen, oder auf dem Sagorodny in die +Kirche zu gehen. Und es ist anzunehmen, daß +jeder Vernünftige und Gute so handeln würde +– denn wer ist sein eigener Feind? – und er +würde nach dem Gesetz richtig, weise und +menschlich handeln: denn in der Tat, wer +hätte Lust sich zu quälen, zu ersticken ohne +Schlaf, ohne Geduld, ohne Ruhe! +</p> + +<p> +Als Marakulin einst in seiner Kindheit Gardist +bei der Kavallerie werden wollte, betete +er, Gott möge ihm helfen, ein Gardekavallerist +zu werden, und als er Räuber werden +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +wollte, betete er mit denselben Worten, nur +daß der Gardekavallerist durch den Räuber +ersetzt wurde, und ebenso betete er, als er +Kalligraphielehrer zu werden wünschte. Das +waren seine Hauptgebete für sich in Moskau +auf der Taganka, denn um ein gutes Zeugnis +hatte er nie gebetet. Später pflegte er beim gewohnheitsmäßigen +Beten, während er morgens +beim Erwachen und nachts beim Einschlafen +„Gott sei mir gnädig“ aufsagte, von +Gott nichts mehr zu verlangen. Dann hatte +er auch dies: „Gott sei mir gnädig“ vergessen. +Jetzt aber, als er, wie ihm schien, in seinen +Betrachtungen bis zu jenem springenden +Punkt angelangt war und das königliche +Recht entdeckt hatte und dieses königliche +Recht auf der Welt zu sein auch für sich begehrte, +warf er sich nachts inbrünstig auf die +Erde und betete in der Raserei, die Stirn gegen +den Boden schlagend: +</p> + +<p> +– Herrgott! – flehte er – gewähre mir für +einen Augenblick nur dieses wahre Lauseleben, +mach mich deiner Gnade teilhaftig, Herrgott, +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +laß mich nur für einen Augenblick aufatmen, +dann mag dein Wille geschehen! +</p> + +<p> +Und hätte sich Marakulin in seiner Verzweiflung, +während er mit der Stirn gegen den +Fußboden schlug, den Schädel gespalten, +und man hätte ihn am nächsten Morgen dafür +zur Verantwortung gezogen, so hätte er, +zur Besinnung gekommen, nur eins zu seiner +Rechtfertigung sagen können, daß nicht er +sich getötet, sondern die grausame Burkowsche +Nacht. +</p> + +<p> +Hier muß noch gesagt werden, daß seine Geschäfte, +die auch sonst nicht besonders waren, +zu Weihnachten überhaupt stillstanden. Er +fand gar keine Arbeit mehr; ein Entehrter +findet sehr schwer Arbeit, besonders wenn +auf die Frage: „Womit beschäftigen Sie sich +sonst?“ der wirkliche Grund der Untätigkeit +nicht verheimlicht wird. Marakulin verheimlichte +ihn auch nicht, und erzählte naiv wie ein +zwölfjähriges Kind von seinen Streichen, von +seinen Quittungsbüchern und wie er wegen +jener Quittung herausgeflogen war. +</p> + +<p> +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +Seine Lage war schlimm. Die Artisten Damaskin +halfen ihm aus, und ohne Sergej +Alexandrowitsch, Wassilij Alexandrowitsch +und Wera Nikolajewna wäre ihm nichts +übrig geblieben, als eine Bittschrift zu verfassen, +gleich dem ruhelosen alten Gwosdjow, +der damals an Murkas Tag bei ihm erschienen +war, am letzten Tag in seiner eigenen +Wohnung. +</p> + +<p> +Und am Ende wird man sie doch verfassen +müssen, denn das königliche Recht, dieses +nächtliche königliche Recht, wird einem offenbar +nicht so leicht gewährt, und wenn man +keine Renten hat, die bis ans Lebensende +reichen, da ist es vielleicht besser, Gott gar +nicht zu beunruhigen: man erreicht ja doch +nichts. +</p> + +<p> +Zu Weihnachten gab es bei den Artisten einen +Weihnachtsbaum, und alle Mieter Adonja +Iwoilownas waren eingeladen. Es war da +eine Menge Leute, gewiß lauter Artisten. +Sergej Alexandrowitsch war sehr geschäftig +und reichte den Gästen Aschenschalen, +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +damit die Zigarettenstummel nicht auf den +Boden geworfen werden, und Wassilij Alexandrowitsch +ging so aus sich heraus, ließ +solche Raketen steigen, daß alle vor Lachen +beinahe umkamen. Im Kartenspiel verloren +die Brüder das Letzte. In der Gesellschaft +taute auch Wera Nikolajewna auf und sang +ihre Kostrinskischen uralten Weisen, wie sie +sie von ihrer Mutter Lisaweta Iwanowna +gelernt hatte. +</p> + +<p> +Und seitdem, seit jenem Damaskinschen +Weihnachtsabend, sang Wera Nikolajewna +an den Abenden der Weihnachtswoche +allein in ihrem Zimmer, zuweilen von den +Lehrbüchern sich losreißend, mit halblauter +Stimme vor sich hin. Sie sang auf altertümliche +Art, und in ihren Weisen atmete +das uralte Rußland. +</p> + +<p> +Gewöhnlich begann sie mit dem Gesang von +den sieben wilden Stieren und von ihrer Mutter, +der Stierin; wie die sieben goldgehörnten +wilden Stiere am Gestade des blauen Meeres +wanderten, wie sie über das blaue Meer +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +schwammen und auf der berühmten Insel +Bujan landeten, wo sie ihrer Mutter, der Stierin, +begegneten. Und die Stiere erzählten ihr, +wie sie an Kiew vorbeikamen und an der Auferstehungskirche, +und was sie da für ein Wunder +gesehen hatten: aus der Kirche kam eine +Jungfrau, sie trug auf dem Kopf ein goldnes +Buch, trat bis zum Gürtel in den Newafluß, +legte das Buch auf einen weißen, heißen +Stein, las im Buch und weinte. Und die +Stierin deutet den Stieren dies übergroße +Wunder: die Jungfrau war die Mutter +Gottes und sie las ein goldnes Buch – das +Evangelium, und sie weinte, weil sie Ungemach +über Kiew heraufkommen sah, Ungemach +über das ganze heilige Rußland. +</p> + +<p> +Und nach den Stieren erhob sich in seiner +ganzen reckenhaften Größe der Riese Ilja +Muromez; wie der Recke am Grabe des +Swjatogor den reckenhaften Geist einatmet +– den dritten, weißen Grabesschaum, – +und es treibt ihn und es hebt ihn, er weiß +nicht, wo er mit seiner Kraft hin soll. Dann +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +folgte die Nachtschwalbe, die Aebtissin, die +blonde Füchsin; vierzig schwarze Jungfrauen +folgen ihr wie die Dohlen, und schon donnert +und poltert der schreckliche Alte, Igrimistsche-Kologrenistsche. +Er tritt aus dem Bogoljubowschen +Kloster aus, er will seine Seele +retten, sie ins Paradies bringen und schleppt +in einem Sack weißen Kohl, bitteren Rettich, +rote Rüben – und ein schwarzlockiges +Mägdelein. +</p> + +<p> +Und wieder schwimmen auf dem blauen +Meere die goldgehörnten Stiere, begegnen +ihrer Mutter, der Stierin, und erzählen ihr +das übergroße Wunder. Die Stierin deutet +ihnen das Wunder: die Jungfrau ist die +Mutter Gottes, und lesen tut sie ein goldenes +Buch, das Evangelium, und sie weint, weil +sie ein Ungemach über Kiew ahnt, Ungemach +über das ganze heilige Rußland. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna sang auch die Räuberweise, +von dem Scnurrbart, dem Teufelskerl; +sie sang von Gauklern und von lustigen +Leuten ... +</p> + +<div class="poem-container"> +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Spielmänner,</p> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Lustigen,</p> + <p class="verse">Mir tut der Kopf so weh,</p> + <p class="verse">Mir ist mein Herz so schwer ...</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +In der Küche betet Akumowna vor den drei +ewigen Lampen; sie betet für ihre Herrin, +für den Bruder der Herrin, für ihren eigenen +Sohn. Im hintersten Zimmer betet vor den +drei ewigen Lampen Adonja Iwoilowna; +sie denkt an Paraschas Schiffe und weint, +weil sie es nicht versteht. +</p> + +<p> +Mit Wera Nikolajewna schien etwas vorzugehen: +sie sang viel und war nicht mehr so +fleißig. +</p> + +<p> +– Bei Gott, Sie sind in Sergej Alexandrowitsch +verliebt –, sagte einmal Werotschka +Wechorjowa plötzlich in Wera Nikolajewnas +Zimmer eintretend, und sah sie schelmisch, +herausfordernd und boshaft an. +</p> + +<p> +Und die sonst so Blasse flammte plötzlich auf +und wurde still – kein Wort. Und auch ihm +wird sie kein Wort sagen, sie wird eher sterben, +als etwas sagen – es gibt Solche. Und +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +darum klang in ihren alten Weisen, in denen +das uralte Russland atmete, eine so dumpfe +beklommene Sehnsucht. +</p> + +<p> +Werotschka – so wurde vom ersten Tage +an Wera Iwanowna Wechorjowa genannt +–, welche Akumowna auch die Unverschämte +nannte, nicht etwa als Schimpfwort, +sondern als Kosename – Werotschka +verbrachte selten einen Abend zu Hause. Am +Tage war sie in der Schule, dann kam sie +für ein Stündchen nach Hause und bald darauf +lief sie irgendwohin, ins Theater. Wenn +sie nichts vorhatte, dann saß sie bei den +Damaskins. Sergej Alexandrowitsch unterrichtete +sie in allerlei Tänzen. Sie war biegsam, +schlank und leicht, wie ein Federchen, +und wenn beide miteinander tanzten, so schien +es, als hätten sie Flügel wie Vögel. Die Zeit +verging ihnen lustig. +</p> + +<p> +Einmal fand sie Marakulin beim Tanzen, +und seitdem kam er öfters zu den Nachbarn, +und daß Werotschka dort war und tanzte, +das tat ihm wohl. Wera Nikolajewna aber +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +kam seit Weihnachten nicht mehr zu Damaskins; +sie fand stets eine Ausrede und saß allein, +in ihre Lehrbücher vertieft, oder hatte +Wache im Krankenhaus. +</p> + +<p> +Werotschka gefiel Marakulin. Sie tanzte +schön und las gut vor – mit einem schönen +Organ. Im Süden geboren, war sie in Moskau +erzogen worden, und in ihrer Sprache +war weder das lästige südliche Zwitschern, +noch die nordische Kälte – die gebändigte +Freiheit, dafür aber Festigkeit und jene besondere +Moskauer Lieblichkeit. Nach dem Tanzen +bat sie gewöhnlich Sergej Alexandrowitsch, +der Verse liebte, etwas vorzulesen. +Und Onjergins Brief: „Ich weiß voraus, +beleidigen wird Sie des traurigen Geheimnisses +Erklärung ...“ mußte sie ihm einigemal +wiederholen. +</p> + +<p> +Was Marakulin auffiel und ihn am Anfang +von Werotschka abgestoßen hatte, war +ihr äußerst starkes Selbstgefühl, eine maßlose +Selbstüberhebung und Prahlerei, die +marktschreierisch wirkte. Man mußte sich für +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +sie schämen. Und jeden Widerspruch faßte +sie als Beleidigung auf. Sie konnte sich dermaßen +versteigen bis zu einer Höhe, wo alle +Worte einander gleichen und nur einen Sinn +haben: – es war nicht der sehnsüchtige Ruf +eines Hoffenden, sondern eine Herausforderung, +ein unheimlicher Schrei nach dem +Recht, die himmlischen Scharen kurz und +klein zu schlagen, wenn es nur eine Himmelsleiter +gäbe, wie es in der alten Weise heißt, – +oder die Erde auf den Kopf zu stellen, wenn +man nur einen Griff zu fassen kriegte! – +Dabei hört ein so Verstiegener, ein so unheimlich +nach seinem Recht Schreiender ja niemals +seinen eigenen Schrei. Und Werotschka +tat einem leid. +</p> + +<p> +Sie behauptete, sie sei eine große Schauspielerin, +sie brauche bei niemand zu lernen, vielmehr +müßten alle bei ihr lernen. Und wenn +sie dennoch in diese dumme Schule eingetreten +sei, so wäre es nur geschehen, um sich den +Weg zu bahnen. Ohne das komme man +eben nicht vorwärts. Und sie werde sich ihren +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +Weg schon bahnen, sie werde ihren Schatz +heben, dann würden alle sehen ... +</p> + +<p> +– Und dann werden alle sehen – Werotschka +zerriß sich fast vor Schreien, – Vielen +wird es leid tun, aber zu spät! – Und die +Namen der Berühmtheiten aufzählend, als +wollte sie sie mit sich vergleichen, lächelte +Werotschka halb verächtlich, halb mitleidig, +– Ihr werdet mich noch sehen! – und ihre +Augen flammten begeistert auf und loderten +in brennendem Haß, – ich werde zeigen, wer +ich bin, der ganzen Welt, – mögen sie dann +sehen ... +</p> + +<p> +„Aber wer sind denn diese sie?“ fragte sich +Marakulin nicht einmal, je öfter er über Werotschka +nachdachte. Werotschka erzählte +gern von sich, aber auf allerlei Art, und es +war nicht herauszubringen, was daran echte +Wahrheit war und was bloß so Wahrheit. +</p> + +<p> +Ihr Vater war gestorben, als sie noch klein +war. Er war Offizier. Aus Wosnessensk +im Chersonschen Gouvernement, wo sein +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +Regiment stand, übersiedelte die Mutter nach +Moskau; hier wurde sie Haushälterin bei +einem alten General, einem Verwandten ihres +Mannes. Werotschka wurde im Institut erzogen, +doch bevor sie es noch absolviert hatte, +starb ihre Mutter. Zum General pflegte ein +reicher Fabrikant, Wakujew mit Namen, zu +kommen – ein nicht mehr junger, aber schöner +gesunder Mann – wie man in Moskau +von ihm sagte. Er hatte einträgliche Geschäfte +mit dem General. Anissim Nikititsch begann +Werotschka den Hof zu machen und gefiel +ihr auch. Und so kam es, daß Werotschka +mit der Zustimmung des Generals zu Wakujew +zog. Wakujew besaß auf dem Arbat +ein altes herrschaftliches Einfamilienhaus. +Seine Frau war tot, seine Kinder versorgt; +nur drei schon ziemlich bejahrte Fräulein, +seine Nichten, die er nach dem Tode seines +ruinierten Bruders ins Haus genommen, +führten ihm die Wirtschaft. Ein Jahr blieb +Werotschka bei Wakujew, und es ist anzunehmen, +daß er ihrer im Laufe dieses Jahres +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +überdrüssig wurde; ferner ist anzunehmen, +daß ihr Leben auf dem Arbat nicht besonders +heiter war. Anissim liebte, wie sie selbst +erzählte, Abwechslung, Zerstreuung, und es +wurde ihm alles nachgesehen. Anissim war +es auch, der sie in Petersburg studieren ließ +und ihr fünfunddreißig Rubel monatlich +schickte; von diesem Geld lebte sie. +</p> + +<p> +„Ist es dieser Anissim und seine drei Nichten, +die ihr so zugesetzt haben, sind sie es, diese <em>sie</em>, +die dann sehen werden?“ fragte sich Marakulin +nicht einmal, als er jetzt immer häufiger +über Werotschka nachdachte. +</p> + +<p> +Eines Tages, es war in der Theodorwoche, +ganz am Anfang des Frühlings, da kam Werotschka +so lustig und aufgeräumt nach Hause, +daß sie die Hausgenossen beinahe überrannte. +Selbst die sonst weinerliche und unbewegliche +Adonja Iwoilowna vergaß ihre Tränen, +und begann mit noch tränenfeuchten +Augen herumzuwirtschaften, als wäre Werotschka +ihre Tochter, die jetzt so lustig und +aufgeräumt heimgekommen. Akumowna +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +drehte sich ebenfalls flinker herum, als wäre +es ein Feiertag, und sah ihre „Unverschämte“ +besonders zärtlich an. +</p> + +<p> +Der Tag war sonnig, der Frühling, die +Wärme lockte, im belgischen Hof schmolz +der Schnee zusammen mit dem Steinkohlenberg +dahin. Aus den vier Ziegelschloten stieg +gleichmäßig der Rauch in die Höhe, die Burkowschen +Fenster vermeidend, und der Burkowsche +Hof war voll von Kindern; sogar +die Säuglinge waren mit ihren Ammen +draußen. +</p> + +<p> +Anissim Nikititsch Wakujew war in eigener +Person nach Petersburg gekommen, und +Werotschka war ihm auf dem Newsky begegnet +– das war es: daher die Freude und +diese ungewöhnliche Ausgelassenheit. +</p> + +<p> +Diese Nacht schlief Werotschka nicht zu +Hause. Und als sie am Morgen wiederkam, +machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer aufzuräumen. +Wieviel Erfindungsgeist zeigte +sie dabei, sie, die sonst doch – ganz anders +als Wera Nikolajewna – so zerfahren und +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +unordentlich war! Jetzt blies sie jedes Stäubchen +fort, legte Papier unter den wackelnden +Tisch, damit er fester stand und brachte die +Haarnadeln in eine Schachtel unter. Und wieviel +Lauferei gab es und welche Geschäftigkeit +entwickelte sie – sogar einen Blumentopf +hatte sie irgendwo erstanden, wie zu Pfingsten. +Sie erwartete einen Gast, Anissim Nikititsch +Wakujew selbst. Und der Tag war +ebenfalls sonnig, es lockte der Frühling, die +Wärme. +</p> + +<p> +Der Tag verstrich langsam, es kam der Abend, +ein unruhiger Abend, und als dann in der +Wohnung die Klingel anschlug, da hielt die +ganze Wohnung, alle vier Zimmer und die +Küche, den Atem an, und Marakulin wollte +sogar die Lampe auslöschen, aber die Lampe +erlosch von selbst, ohne zu fragen, als hätte +sie ein krachender Donner, ein moskauischer +Donner getroffen. +</p> + +<p> +Es war ein Student, ein Techniker, der auf +der Suche nach seinem Bekannten an die +falsche Tür geraten war. Und Akumowna +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +hatte noch lange mit ihm zu schaffen, da er +sich auf keine Weise dabei beruhigen konnte, +daß es hier keinen Ljubimow gab und nie +gegeben hatte. +</p> + +<p> +– Es kann nicht sein – sperrte sich wichtigtuerisch +der Student, – das ist Willkür! +</p> + +<p> +Der Student wurde mit Mühe und Not +fortgeschickt; der betrunkene Student verzog +sich endlich wie Rauch, aber nun konnte man +niemand mehr erwarten. +</p> + +<p> +Werotschka ging in ihrem Zimmer auf und +ab, unermüdlich und nicht wie mit ihren +eigenen Schritten. Ihre Schritte waren fest +und krallig und ihre „unverschämten“ Augen +wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich. +</p> + +<p> +Vom sonnigen Frühlingstag aufgescheucht, +ließ sich Adonja Iwoilowna beim abendlichen +Samowar von Akumowna über ihre +sommerliche Pilgerfahrt wahrsagen: es war +schon Zeit für sie, sich auf den Weg zu +machen, der Frühling war schon da. +</p> + +<p> +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +– Jedes Stengelchen verflicht sich mit einem +Stengelchen – tönte Akumownas gerührte +Stimme, – jedes Zweiglein mit einem Zweiglein. +</p> + +<p> +Und Wera Nikolajewna, die mit ihren Arbeiten +fertig war, sang leise ihre geliebten alten +Weisen, und in ihren Liedern atmete das +uralte Rußland und eine dumpfe beklommene +Sehnsucht: +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Spielmänner,</p> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Lustigen,</p> + <p class="verse">Mir ist mein Kopf so weh,</p> + <p class="verse">Mir ist mein Herz so schwer ...</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Und plötzlich wurde sie still. Kein Wort +mehr. Sie wird auch ihm nichts sagen, sie +wird eher sterben als etwas sagen. +</p> + +<p> +– Jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, +jedes Blättchen mit einem Blättchen – +tönte Akumownas gerührte Stimme, – der +Frühling ist da. +</p> + +<p> +Und es wurde immer bedrückender. Denn +Adonja Iwoilowna begann zu weinen, und +noch lauter als sonst; sie erinnerte sich gewiß +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +an ihren Mann, und daß die Erde an dem +Friedhof unter ihm weggeht und von seinem +Grabe abbröckelt. +</p> + +<p> +Werotschka ging im Zimmer auf und ab, +unermüdlich und nicht wie mit ihren eignen +Schritten. Ihre Schritte waren fest und +krallig und ihre „unverschämten“ Augen wie +zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich. +</p> + +<p> +Doch der Sänger, der Samowar, erlosch, die +Tränen waren ausgeweint und die Schritte +verstummt. Alles schlief im Haus und im +Hof, die Hupen der Automobile tönten nicht +mehr von der Fontanka herüber, im Obuchowschen +Krankenhaus blinkte das Licht +schon auf nächtliche Weise wie ein Stern, +und über den belgischen Ziegelschloten ging +ein Stern an und sah in die Fenster hinein, +so ein großer Frühlings-Abendstern – die +Stunde der Nacht war da. Und Marakulin +war es, als klopfte jemand – ein seltsames +Klopfen. Er horchte auf und erkannte: das +Klopfen kam aus Werotschkas Zimmer. Und +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +nun verstand er, daß Werotschka allein in +ihrem Zimmer nicht eingeschlafen war und +nicht einschlafen würde, und daß sie mit dem +Kopf gegen die Wand schlug, ohne Tränen, +ohne Klage, mit weit aufgerissenen trockenen +Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann +weint man nicht. +</p> + +<p> +Und all sein Gefühl, seine ganze Erbitterung, +seine ganze Verzweiflung, die für eine Weile +sich gelegt hatte, loderte hell auf und ergoß +sich wieder auf seine auserkorene, verhaßte +Generalin. Fiebernd wie im widerlichsten +Rausch und zähneknirschend malte er sich +aus, wie diese unglückselige Generalin, diese +kerngesunde, unsterbliche, sündenlose, kummerlose +Laus – dieser Kelch der Auserwähltheit +– süß schlafe. Und er mußte es jemand +sagen, einerlei wem, aber sofort, solange das +Herz noch nicht gesprungen war. +</p> + +<p> +Und fast erstickend sprang er ans Fenster und +schrie aus Leibeskräften hinaus: +</p> + +<p> +– Ihr rechtgläubigen Christen, die Laus +schläft, so helft doch! +</p> + +<p> +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +Und als er es hinausgeschrien hatte, da fühlte +er, wie seine einstige ungewöhnliche Freude +langsam in ihm hochsteigt, hinaufbrandet +und bald sein Herz überfluten und die Brust +überfüllen werde. +</p> + +<p> +– Was brüllst du so? – schrie ihn eine +knarrende Stimme an, und aus den Winkeln +zeigte sich Gorbatschows haarige Nase. +</p> + +<p> +Das Klopfen aber dauerte fort. Das war +Werotschka, allein in ihrem Zimmer – sie +war nicht eingeschlafen und wird nicht einschlafen +– sie schlug mit dem Kopf gegen die +Wand, ohne Tränen, ohne Klage, mit weitaufgerissenen +trockenen Augen: wenn es gar +zu schlimm ist, dann weint man nicht. +</p> + +<p> +Grausame Augenblicke, Herumtreiben ohne +Arbeit und Erschöpfung beschlossen das +erste Burkowsche Jahr Marakulins. +</p> + +<p> +Als erste machte sich Adonja Iwoilowna auf +die Reise: sie fuhr nach Kaschin zu der ehrwürdigen +Anna von Kaschin, und aus Kaschin +auf den Murman in das Petschenegische +Kloster zum ehrwürdigen Tryphon. Nach +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +Adonja Iwoilowna verreiste Wera Nikolajewna, +nachdem sie ihre Prüfungen abgelegt, +bis zum Herbst zu ihrer Mutter, in ihr +kleines weißes Städtchen mit den fünfzehn +weißen Kirchen, in die alte vergessene Stadt +Kostrinsk. Sie sah zum Umblasen schwach +aus. Als letzte reiste Werotschka. Sie hatte +sich zu gar keiner Prüfung gemeldet und ihre +Theaterschule aufgegeben, da sie offenbar ein +anderes sicheres Mittel gefunden, „sich den +Weg zu bahnen“, – sie sagte aber nicht was +für eins. +</p> + +<p> +Sie sagte nur: +</p> + +<p> +– Im nächsten Jahr werdet ihr sehen, ich +werde ganz Rußland zeigen, wer ich bin! +</p> + +<p> +Marakulin brachte sie zum Nikolajewschen +Bahnhof: Werotschka reiste über Moskau +irgendwohin nach der Krim. Nach dem ersten +Glockenzeichen fühlte er es besonders stark, +wie bitter es ihm war, daß Werotschka nicht +mehr da sein wird und stand schweigend vor +dem Wagen. Sie aber streckte sich so sonderbar, +indem sie die Vorübergehenden ungeduldig +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +ansah und die Blicke auf sich zog, schlank, +biegsam und leicht. +</p> + +<p> +Plötzlich lächelte Marakulin zum erstenmal +in seiner ganzen Burkowschen Zeit, ohne zu +wissen weshalb und warum, – er lächelte +einfach. Und sie mußte es sicher bemerkt haben, +denn es war so ungewöhnlich und unerwartet! +</p> + +<p> +– Weinen müßte man um mich! – sagte +sie theatralisch und kniff die Augen zusammen, +halb mit Bedauern, halb mit Ekel, und +während sie ihm mit dem Schirm auf die +Hand schlug, sagte sie ganz ernst, übertrieben +ernst, mit einer Falte auf der Stirn: – Ich +bin eine große Schauspielerin! +</p> + +<p> +Er glaubte es damals gern und von ganzem +Herzen, daß Werotschka eine große Schauspielerin +sei und daß sie sich im nächsten Jahr +wirklich auszeichnen würde in ganz Rußland +und daß ihr Name bald in ganz Europa, in +der ganzen Welt berühmt sein werde. +</p> + +<p> +Als er vom Bahnhof zu sich nach der Fontanka +kam und sich mit Akumowna allein +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +fand, da fühlte Marakulin, wie ihm das Leben +jetzt zuwider war und daß er nicht so leben +konnte. +</p> + +<p> +Der eine muß verraten, um durch den Verrat +seine Seele aufzutun und in der Welt er selbst +zu sein, der andre muß töten, um durch den +Mord seine Seele aufzutun und wenigstens +als er selbst zu sterben, er aber mußte offenbar +eine Quittung ausfertigen, aber nicht der +Person, der sie zukam, um seine Seele aufzutun +und in der Welt zu sein, und zwar nicht +mehr als irgendein Marakulin, sondern als +Peter Alexejewitsch Marakulin: sehen, hören, +fühlen. +</p> + +<p> +Aber er war nicht mehr damit einverstanden, +weil er es nicht mehr ertrug; er wollte nicht +mehr so dahinleben ohne einen Zweck, nur +um zu sehen, zu hören und zu fühlen, – und +auch das Leben einer Laus, das unsterbliche, +sündenlose, kummerlose Leben, das königliche +Recht, jenen Tropfen Wasser, den die +sündige Seele im Jenseits sucht, wünschte er +nicht mehr. Er will leben und wird es, aber um +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +nur noch einmal wenigstens jene ungewöhnliche +Freude zu fühlen, die er in seiner Kindheit +kannte und die er nicht mehr kennt, die +nur das eine Mal in ihm hochgestiegen war, +in jener Frühlingsnacht, als Anissim zu Werotschka +nicht kam, in jener Frühlingsnacht, +als jedes Stenglein sich mit einem Stenglein +verflocht, jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, +jedes Blättchen mit einem Blättchen. +Und wie klebrige junge Blättchen waren ihm +in der Erinnerung die Frühlingsworte der +von der Sonne gerührten Akumowna. +</p> + +<p> +Und es war ihm so bitter, noch bitterer als an +jenem Abend, weil Werotschka nicht mehr +da war; als wenn seine ganze ungewöhnliche +Freude – der Quell seines Lebens nur in ihr +sich bergen würde. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-5"> +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +Viertes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">era!</span> Weruschka! Werotschka! +</p> + +<p> +Marakulin, der gerade damit beschäftigt +war, eine lustige altertümliche russische +Erzählung in Halbfraktur abzuschreiben, +eine Arbeit, über der er vom Morgen +bis in die Nacht hinein saß – ein seltener +und einträglicher Auftrag, der wie erfrischende +paradiesische Manna auf ihn herabgefallen +war. – Marakulin fuhr auf, so daß er +den Schnörkel am Anfangsbuchstaben W +nicht zu Ende brachte. +</p> + +<p> +Von der Treppe her aber tönte immer beharrlicher +der bekannte Name: +</p> + +<p> +– Wera! Weruschka! Werotschka! +</p> + +<p> +– Wen rufen Sie da, Akumowna? +</p> + +<p> +Marakulin konnte es nicht aushalten und +sah in die Küche hinein. +</p> + +<p> +– Wera! – sagte Akumowna, ohne sich +umzuwenden, – ach, die Unverschämte! – +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +und sie stampfte die Treppe hinunter in den +Hof. +</p> + +<p> +Es war spät – etwa elf Uhr. Schon verbreitete +sich der windige Sonnenuntergang +staubig hinter dem Obuchowschen Krankenhaus, +und zusammen mit der kurzen Nacht +krochen aus den sumpfigen Vorstädten die +Nebel herauf; aber auf dem mit Kehricht, +Schutt und Ziegeln bedeckten Hof lärmten +noch immer die Kinder, und klagend klimperte +die Balalaika – von dieser nicht russischen, +armseligen Habe gab es reichlich auf dem +Burkowschen Hof – und in den Fenstern, +auf Kissen gestützt, steckten zerzauste, von der +steinernen Petersburger Glut zermarterte +Köpfe, in der Hoffnung, etwas Kühle zu +schöpfen. +</p> + +<p> +Die Tusche vertrocknete auf der Feder, die +Buchstaben wollten nicht werden, und Marakulin +schien es, daß Akumowna nicht wiederkommen, +daß sie mit ihrer geheimnisvollen +Wera irgendwo im Burkowschen Schutt +untergehen würde. Und als in der Küche +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +wieder Stampfen vernehmbar wurde, und +nicht Akumowna, sondern noch eine zweite +Stimme, halb kindlich und halb mädchenhaft +rasch zu sprechen begann, bald in fröhliches +Lachen, bald in ein schmerzliches Klagen +übergehend, da zog er wie erleichtert +wieder den Vorhang zu und begann weiterzuarbeiten. +</p> + +<p> +Die Abschrift war für Marakulin sehr wichtig, +und er wollte sie unbedingt heute fertigmachen, +da er fast zwei Monate schon über ihr +saß. Diese seltene Arbeitsgelegenheit hatte ihm +Sergej Alexandrowitsch vor der Abreise in +sein Sommergastspiel verschafft. Marakulin +hatte ganze fünfzig Rubel dafür zu bekommen +und seine Verhältnisse sollten sich dadurch +ganz bedeutend verbessern. +</p> + +<p> +– Wer wohnt denn bei Ihnen in der Küche? +– fragte Marakulin am nächsten Abend, +als Akumowna ihm den roten blitzenden Sänger, +den Samowar hereinbrachte. +</p> + +<p> +– Weruschka – antwortete Akumowna +und lächelte und blickte so eigentümlich idiotisch +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +von der Seite, – Weruschka, die Wundertätige. +</p> + +<p> +Und die Spülschale brachte schon nicht Akumowna +herein – sie blieb in der Tür stehen –, +sondern es brachte sie die „wundertätige“ +Weruschka. +</p> + +<p> +Es war ein kleines Mädchen – ein Backfisch +von fünfzehn Jahren, wie ihrer so viele +auf dem Burkowschen Hof als Kindermädchen +dienen, und doch schon völlig wie ein +junges Mädchen entwickelt. Als er sie aber +aufmerksamer ansah, fand Marakulin in ihren +Augen etwas ihm sehr Bekanntes und ungewöhnlich +Verwandtes, er konnte es nur +nicht benennen und vermochte sich nicht zu +erinnern, wo er Derartiges schon gesehen: ein +Feuer, – nein, noch etwas anderes, das man +auf keinen Fall verbergen kann, denn es würde +selbst beim Schlafenden unter den Lidern +hervorblinken. +</p> + +<p> +– Sie heißen Wera? +</p> + +<p> +– Werutschka ... Werotschka – antwortete +das Kind verwirrt, leise und mürrisch +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +und trat zurück, als hätte es etwas verlegen +gemacht. +</p> + +<p> +– Werotschka gar, so! – rief Marakulin +entzückt, das Kind betrachtend und erhob +sich plötzlich. +</p> + +<p> +Doch das Mädchen zog sich hinter Akumowna +in den Korridor zurück und machte sich +hörbar in der Küche zu schaffen. Oder war es +sein Herz, das so hörbar klopfte, Gott weiß +warum? +</p> + +<p> +– Gnädiger Herr, ich möchte Sie bitten, +gnädiger Herr, rühren Sie sie nicht an! +</p> + +<p> +– Was fällt Ihnen ein, Akumowna, Gott +schütze Sie! +</p> + +<p> +Aber wie ertappt ließ er sich auf seinen Stuhl +fallen. +</p> + +<p> +– Ich fürchte Wassilij Alexandrowitsch – +fuhr Akumowna fort, – mir ist Angst, wenn +er aus der Sommerfrische zurückkommt. Er +muß ja immerzu eine haben, der Unbezähmbare. +Sobald es Nacht wird, kriechen auch +die hier auf der Treppe herum und kratzen an +der Tür, die Herumtreiber! +</p> + +<p> +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +Nachdem sie es von der Straße aufgelesen +hatte, behütete Akumowna das kleine Mädchen +eifersüchtig vor den Burkowschen Herumtreibern, +vor Stanislaus dem Kontoristen +und vor Kasimir, dem Monteur; sie schloß +oft die Küche noch bei Tageslicht ab und +bettete die Kleine sicherheitshalber auf ihr +eignes Bett unter den drei Oellämpchen. +Und wundertätig nannte sie Wera darum, +weil ein Wunder an ihr geschehen war. +</p> + +<p> +– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna +zu sagen, – bis zum fünften Jahre +war sie ohne Zunge, sie sprach nicht, man +hat sie dem Doktor Nikolai Franzewitsch gezeigt, +vergebens; zu der Schmerzensreichen +hat die Mutter sie gebracht, auch wurde ihr +geraten, barfuß zu Matrionuschka zu pilgern +– nichts hat genützt. Aber am dunkeln +Freitag gingen sie in die Pulverfabriken, – +am Iljinischnen-Freitag ist da eine Prozession, +zwölf große Heiligenbilder werden da herumgetragen +und fast tausend kleinere. Als die +Messe zu Ende war und sie nach Hause +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +gehen wollten, da verlangte das Kind plötzlich +zu trinken: „Mama – sprach sie – gib +mir zu trinken!“ Seitdem spricht sie. +</p> + +<p> +Weras Vater war Buchhändler: er handelte +mit Büchern, Haken, Knöpfen und allerlei +Kleinkram. Ihre kränkliche Mutter ging als +Tagelöhnerin Fußboden scheuern und reinmachen. +Sie wohnten im Kusnetschnygäßchen, +in den „Winkeln“, wo der Chiromant +wohnt – die Fenster dort sind von venezianischer +Art und unheimlich. Als Wera etwas +größer wurde, gab man sie zu einer Goldstickerin +in die Lehre, ein Jahr blieb sie da, +aber sie taugte nicht dazu, da ihre Augen +krank wurden; so wurde sie Kindermädchen. +Da passierte es, daß ihr Vater mit seinem +Stand über den Wladimirsky vor einem +Schutzmann floh; an den fünf „Winkeln“ +bei der Kreuzung geriet er unter die Elektrische +und wurde zermalmt. Zur gleichen +Zeit wurde Wera gekündigt. Es ging ihnen +damals sehr schlecht. Und so kam die Mutter +auf den Gedanken, sie zum Onkel zu schicken, +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +welcher auf dem Murinsky-Prospekt in Lesnoj +als Hausmeister lebte, vielleicht, daß er +für sie eine Stellung finden würde. Die Kleine +ging fort, erreichte Lesnoj erst am Abend, und +unterwegs, während sie das Haus suchte, +blieb sie vor einem Gasthaus stehen, um die +Musik zu hören. Sie stand da und hörte zu, +ihre Augen glühten, der Mund war weit aufgesperrt, +da kam aus dem Gasthaus ein Herr, +der eine Gnädige untergefaßt hielt und sah +Wera sehr freundlich an. Er blieb ebenfalls +stehen und fragte sie freundlich aus. Sie erzählte +ihm alles, auch wie sie stehengeblieben +war, um die Musik zu hören. Und sieh da, +welch glücklicher Zufall: die Herrschaften +brauchten gerade gleich ein Kindermädchen +und ihre Bedingungen waren günstig. Wera +war erfreut und willigte ein. Sie nahmen +eine Droschke und brachten sie zu sich nach +Hause – sie wohnten auch gar nicht weit. +Welch ein glücklicher Zufall! – Es war schon +spät, es dämmerte, und als sie zu Hause anlangten, +gingen sie sofort zu Tisch und ließen +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +auch Wera neben sich Platz nehmen. Und +als sie sich satt gegessen hatte, da führte sie der +Herr in ein Zimmer, das im Korridor gegenüber +lag. Nachts kam er wieder. Sie wollte +schreien, aber er verschloß ihr den Mund mit +den Händen. So fing es an. Als Wera zu +sich kam, war es bereits Tag. Sie trat aus +dem Zimmer und streifte im Korridor herum, +um den gnädigen Herrn und die gnädige +Frau zu suchen und geriet in das Büfettzimmer: +sie hatte also in einem Gasthaus übernachtet. +Sie fragte den Büfettier, wo der +gnädige Herr und die gnädige Frau seien? +Der Büfettier lachte: es gäbe weder einen +gnädigen Herrn noch eine gnädige Frau; +wenn sie aber gewillt sei, könne sie auch bei +ihm als Kindermädchen bleiben. Das war +eine schlimme Lage! Wenn sie nicht einwilligte, +hatte sie Angst zur Mutter zurückzukehren, +doch wie, wenn der Büfettier, wie +der Herr von gestern, ihr ebenfalls den Mund +mit den Fäusten stopfen würde! ... Das eine +war schrecklich, das andere war ebenfalls +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +schrecklich, und ein drittes gab es nicht. So +blieb sie beim Büfettier als Kindermädchen. +Es waren viele Kinder und sie konnte kaum +mit der Arbeit fertig werden. Es verging eine +Woche. Nach einer Woche aber, kaum, daß +sie sich etwas eingelebt hatte, quartierte sie +der Büfettier in ein besonderes Zimmer ein, +damit sie von den Kindern getrennt schlafe +– es waren eben viele Kinder – es würde +bequemer und ruhiger für sie sein. Und wieder +begann es: erst der Wirt selbst, der Büfettier, +nach ihm der Reviervorsteher. Sobald +die Nacht kam, erschien jemand – man +brachte ihr im Laufe der Nacht fünf Männer. +Man ließ sie nicht mehr aus dem Zimmer, +die Kinder sah sie auch nicht wieder; +es war bereits ein neues Kindermädchen da. +Sie weinte, aber was half es, man lachte sie +nur aus. Nur durch ein Wunder entkam sie +aus diesem Zimmer und dem Büfettier. Ein +glücklicher Zufall kam ihr zu Hilfe: ein Brand! +Im Gasthaus war Feuer ausgebrochen. +Sonst wäre sie zugrunde gegangen. Im Trubel +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +sprang sie aus ihrem Zimmerchen und begann +zu laufen. Sie kam an die Kusnetschnybrücke +gelaufen, in die Winkel, wo der Chiromant +wohnt, die Mutter aber war nicht +mehr da: sie war an der Cholera gestorben. +Das war eine schlimme Lage: es wäre ihr +schließlich nichts anderes übriggeblieben, +als zum Büfettier ins Zimmerchen zurückzukehren. +Aber die Hausmeisterin hatte Mitleid +mit ihr – sie pflegte ebenso wie Antonina +Ignatjewna, die Gattin des Oberhausmeisters, +in den Hafen von Kronstadt zum „Bruder“ +zu pilgern – sie war barmherzig und +mit Antonina Ignatjewna bekannt. So +schickte sie das Mädchen zu ihr ins Burkowsche +Haus, ob sich da für das Kind vielleicht +eine Stellung fände. Aber Wera geriet statt +zu Antonina Ignatjewna zu Akumowna. +</p> + +<p> +– Sie ist eine Wundertätige – pflegte +Akumowna zu sagen, – nur eins ist schrecklich +– diese Herumtreiber; sobald es Nacht +wird, da kriechen sie herum und rütteln an +der Tür, – es wird einem ganz Angst! – +</p> + +<p> +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, +eintönig. Es war heiß und fast in ganz Petersburg +waren die Straßen gesperrt: das Pflaster +wurde ausgebessert, wie immer im Sommer; +es war nirgends ein Durchgang, nirgends +eine Durchfahrt, und es herrschte eine +große Schwüle. +</p> + +<p> +Am Abend beim Samowar legte Akumowna +Karten für Marakulin, wie sie es im +Winter für Adonja Iwoilowna tat. Sie +wahrsagte viel und ausgiebig, nicht nur für +den Treffkönig oder Kreuzkönig, wie ihn +Akumowna nannte und der Marakulins +Karte war, sondern auch für andere Könige +und Damen – für die Kreuz-, Coeur-, Karo- +und Pik-Dame, als für alle die Personen, +die ihm in den Karten zulagen, um auch ihr +Schicksal zu erfahren und dadurch besser zu +erforschen, wer sie seien und was sie vorhaben. +</p> + +<p> +Die Karten logen nicht. Das gleiche Orakel +kehrte immer wieder und brachte meist etwas +unsinnig Bedeutungsloses: ein wenig Langweile, +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +ein wenig Geld, ein wenig Veränderung, +ein wenig Tränen, Verdruß, eine junge +Person, ein eigenes Haus, ein eigener Gegenstand, +ein vornehmer, einflußreicher Herr mit +einem Schriftstück, eine behördliche Anstalt, +Langweile der jungen Person, eine kleine Unannehmlichkeit, +eigene Sorgen, Gespräch +mit sich selbst. Und das letzte war stets das +Gespräch mit sich selbst. +</p> + +<p> +Wenn Akumowna zum letztenmal die Karten +ausbreitete, pflegte sie zu flüstern: – Fürs +Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es +enden wird. Womit es beruhigen wird. Womit +überraschen. Sagt die ganze Wahrheit +reinen Herzens. Was sein muß, wird sich erfüllen. +</p> + +<p> +Und auch zum letztenmal kam das gleiche – +dieselben Karten: unsinnig bedeutungsloses +Zeug und das Gespräch mit sich selbst. +</p> + +<p> +Die Karten logen nicht. Nur zuweilen wurden +sie offenbar selbst der Sache überdrüssig +und ärgerten sich: dann waren sie bissig, +zeigten große Veränderungen an oder +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +einen weiten Weg, viel Geld und Erfüllung +aller Wünsche. +</p> + +<p> +Beim Kartenlegen erinnerte sich Akumowna +oft an ihre Herrin, an den alten Herrn, an +den Bruder der Herrin und an ihren eigenen +Sohn, was für Träume sie alle geträumt hatten, +welche Ereignisse nach ihnen eintraten +und was jeder Traum bedeutete. +</p> + +<p> +– Unser Priester in Turij-Rog – er war ein +guter Mann, ein großer Büßer, der Vater +Arsenij – erzählte Akumowna aus ihren Erinnerungen +– vor seinem Tode erhob er sich +und fragte: „Sind die Pferde bereit!“ +– Was für Pferde, ehrwürdiger Vater? – +„Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet +mich zur Hochzeit ins Ausland!“ Und +starb. – Sechs Tage, bevor der alte Herr +sterben mußte, sah meine gnädige Frau, daß +sie einen Stiefel vom Fuß verloren hatte. +Und vor dem Tode der gnädigen Frau +träumte ich, ich sitze vor einem Ofen, den +Ofen habe ich eingeheizt, das Holz brennt +hell, die Scheite verkohlen schon. Ich zerschnitt +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +Speck, tat ihn in einen Topf und +stellte den Topf in den Ofen, aber kaum, +daß ich ihn hineinstelle, da zerfällt der Topf +in zwei Hälften, die Glut prasselt und ein +Qualm erhebt sich ... Mein Vater gab mir +keinen Segen. Und so kam es auch! Wie ein +rollender Stein um die weite Welt. +</p> + +<p> +– Wie geht es Ihrem Bruder und Ihrer +Schwägerin? +</p> + +<p> +– Sie plagen sich auch, haben weder Wald +noch Holz noch Weide. Und ihre jüngere +Tochter Fedossja, meine Nichte, ging nach +Turij-Rog als Taglöhnerin zur Feldarbeit; +sie gefiel dem gnädigen Herrn, dem jungen +Bujanow, er ist ein toller Kerl. Er nahm sie +für einen Monat zu sich in Dienst. Als der +Monat zu Ende war, behielt er sie noch für +einen Monat, dann für den ganzen Winter. +Mein Bruder verstand wohl alles, sagte aber +zur Schwägerin nichts. Sie hatten keinen +Wald, kein Holz, keine Weide; vom gnädigen +Herrn aber kam Holz und Geld, es war +vorteilhaft. So verlebte Fedossja dort den +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +ganzen Winter. Im Frühjahr aber reiste der +gnädige Herr in die Stadt und verheiratete +sich dort. Da kehrte Fedossja wieder heim +zum Vater, und alle wußten es bereits; es +war auch schon zu sehen. Ihre Brüder machten +ihr Vorwürfe, daß sie so eine war, daß +ihr so etwas geschehen konnte. Wie die Raben +haben sie auf sie eingehackt, sie hielt es +nicht aus; zehn Tage vor Pokrow starb sie. +Sie war gerade zwanzig Jahre alt geworden, +– so jung noch. Und Wassilij, dem Vetter, +sind in der Butterwoche die Füße erfroren +... +</p> + +<p> +Während sie sich an Turij-Rog und Ssosna-Gora +erinnerte, konnte Akumowna ab +und zu einen Ausspruch tun, von so echt +Turij-Rogischer Art, daß man sich wundern +mußte, wie es ihr hier auf dem Burkowschen +Hof in den Kopf konnte. +</p> + +<p> +– Jetzt – konnte sie sagen – ist das Korn +schon reif, gelobt sei Gott! – sie bekreuzigte +sich. – Regen wäre jetzt nicht gut. +</p> + +<p> +Wera gewöhnte sich an Marakulin und hatte +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +keine Scheu mehr vor ihm. Auch er hatte +sich an sie gewöhnt, und es tat ihm wohl, +wenn sie sein Zimmer betrat. Voran schritt +dann Akumowna mit dem Samowar und +ihr folgte Wera mit der Spülschale. +</p> + +<p> +„Aus der Spülschale reichen die Teufel im +Jenseits den Teufeln und Sündern das +Abendmahl!“ Marakulin erinnerte sich einmal +an Akumownas Vision aus ihrem Passionsweg +und lächelte zum erstenmal seit +Werotschkas Abreise. +</p> + +<p> +Und als hätte sie seine Gedanken erraten, +erwiderte ihm Wera mit einem Lächeln. +Und noch lange sah er dieses halbkindliche, +halbmädchenhafte Lächeln vor sich. +</p> + +<p> +Wie leer erschien es ihm im Hause, als Wera, +die eine Stellung gefunden, aus Akumownas +Küche in die vierte Etage desselben Burkowschen +Hofes verzogen war, in den Flügel, +wie der nicht herrschaftliche an der belgischen +Fabrik belegene Teil des Hauses genannt +wurde. +</p> + +<p> +Akumowna begann jetzt öfters fortzubleiben. +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +Sie ging, um nach ihrer „Wundertätigen“, +nach ihrem Flämmchen, nach ihrer Wera zu +sehen. Sie lehrte sie gewiß Zimmer aufräumen, +Feuer aus Birkenholz anmachen und +dergleichen mehr. Marakulin blieb allein, es +schien ihm ganz öde. +</p> + +<p> +Ein Herr aus dem Flügel hatte folgende +Gewohnheit: sobald es Abend wurde, +steckte er seinen Kopf aus dem Fenster, das +Gesicht zu Marakulin gewandt und pfiff. +Daß der Herr kein Auge von ihm wandte +– Marakulin hatte sich überzeugt, daß +es ihm galt, – und daß das Pfeifen nicht +aufhörte, brachte ihn zur Raserei, und ob +er wollte oder nicht, er mußte den Vorhang +zuziehen und in der Schwüle sitzen +bleiben. +</p> + +<p> +Es war öde um ihn und die Wut machte +ihn fast ersticken. +</p> + +<p> +Am Morgen beim Zeitungslesen suchte er mit +einer Art Ungeduld alle Berichte über Morde, +Brande, Katastrophen, Ueberschwemmungen, +Wolkenbrüche und Erdbeben und +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +las sie mit großer Schadenfreude, indem er +sich einbildete, man könne den Menschen mit +Furcht besiegen, ihn erschüttern, sein Gehirn +und seine Seele umstülpen; dann würde vielleicht +dieses abendliche selbstzufriedene, freche +Pfeifen an seinem Ohr ein Ende nehmen. +</p> + +<p> +In Weras neuer Stellung ging aber nicht +alles glatt: es war doch wohl nicht leicht, +sie vor den Herumtreibern zu schützen; auch +mochte sie selbst schwer zu bewachen sein, +die Unverschämte. +</p> + +<p> +Wenn sie das Kartenlegen unterbrach und +von Wera anfing, sagte Akumowna jedesmal +unter Tränen: +</p> + +<p> +– Ich werde zum Kaiser gehen – die +Hände so, wie im Sterben, – und werde +alles erzählen. +</p> + +<p> +– Man wird Sie nicht zulassen. +</p> + +<p> +Nackt geh’ ich hin, splitternackt – die +Hände so, wie im Sterben. – Alles werde +ich erzählen. +</p> + +<p> +– Auch splitternackt wird man Sie nicht zulassen. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +Aber sie blieb dabei: sie glaubte, der Kaiser +würde sie in Schutz nehmen und die Kleine +nicht zugrunde gehen lassen. Beharrlich blieb +sie dabei, dann wurde sie auf einmal still und +gab nach. Und Marakulin hörte, wie sie ihren +Wahlspruch, ihr Sterbegebet flüsterte: +– die Sühne und den Lohn für alle Taten! +</p> + +<p> +– Man darf niemand beschuldigen. +</p> + +<p> +– Wer ist aber schuldig, Akumowna? +</p> + +<p> +– Ich bin ein unwissender Mensch, ich +weiß nichts – antwortete Akumowna und +lächelte und sah idiotisch zur Seite. +</p> + +<p> +Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, +eintönig. +</p> + +<p> +Marakulin wartete auf die Feiertage: wie immer +sie waren, es waren doch Feiertage! +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Als erster kam Wassilij Alexandrowitsch, +der Clown zurück. Er trat zwar auch im Sommer +in Petersburg auf, wohnte aber in der +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +Sommerfrische in Schuwalowo und kam +in die Stadtwohnung nur ab und zu, um +nachzusehen. Auch die Sklavin Kusjmowna +war bei ihm in Schuwalowo. Nach Wassilij +Alexandrowitsch erschien nach absolvierter +Gastspielreise Sergej Alexandrowitsch und +brachte aus den warmen Ländern, oder aus +jenen Gegenden, wo man mit Ochsen fährt, +wie Akumowna sagte, hundert Gläschen mit +Honig mit; – er war eben ein wirtschaftlicher +Mensch. Bald nach Sergej Alexandrowitsch +kam auch Wera Nikolajewna zurück, mit eingemachten +nordischen Himbeeren aus ihrem +kleinen weißen verlassenen Städtchen mit den +fünfzehn weißen Kirchen, von ihrer Mutter +aus Kostrinsk. Nach Wera Nikolajewna +erschien Adonja Iwoilowna selbst. +</p> + +<p> +Alle waren zurückgekehrt, nur Werotschka +fehlte. Es kamen auch keine Nachrichten von +ihr. Und bereits im September wurde Werotschkas +Zimmer mit Hilfe eines grünen Zettels, +der beim Portier Nikanor ausgehängt +war, vermietet. +</p> + +<p> +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +Die neue Nachbarin Marakulins hieß Anna +Stepanowna Schianowa, nach ihrem +Manne Lestschowa genannt, und war eine +Lehrerin aus Purchowez. +</p> + +<p> +Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, +und in Beziehung auf Nachtigallengesang +eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. +Es waren in Purchowez im Mädchengymnasium, +wo Anna Stepanowna unterrichtet +hatte, zwei Lehrer, zwei Berühmtheiten: +der Lehrer für Geschichte: Rakow, +und der für Literatur: Lestschow. Sie waren +Freunde und beide – nach ihrer eigenen Definition +– Menschen von Bestrebungen. Das +Schicksal Anna Stepanownas war mit dem +Schicksal Lestschows eng verbunden; Lestschow +aber und Rakow waren wie zwei +Hälften und nach der Uebereinstimmung von +Gemüt und Gesinnung – ein Ganzes. +Nur war Rakow etwas älter. Sie wohnten +beide bei derselben Wirtin, sie lebten eingeschränkt, +nüchtern, einsam. Ihre Wirtin +Pawlina Polikarpowna, obschon nicht mehr +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +sechzehnjährig, so doch munter und fest, hatte +in längst verflossenen Zeiten als Köchin beim +Gouvernementsrat Gerassimow gedient; und +Gerassimow hatte sie vor seinem Tode „in +allem eingeschränkt“, wie Pawlina Polikarpowna +sich auszudrücken pflegte, das +heißt: er hatte sie versorgt und ihr für ihren +musterhaften Dienst ein teures Lotterielos +geschenkt. Pawlina Polikarpowna kaufte sich +ein Häuschen und lebte vom Vermieten. +</p> + +<p> +Als Rakow von diesem Gerassimowschen +Lotterielos erfuhr, konnte er es als gewissenhafter +Historiker nicht unterlassen, dessen +Nummer in sein Notizbuch einzutragen und +verfolgte wachsam die Ziehungen in den +Zeitungen. Pawlina Polikarpowna behandelte +er respektvoll, streng und freundlich. +Und so vergingen die Jahre, still, einsam und +erwartungsvoll. +</p> + +<p> +Pawlina Polikarpowna war zwar nicht +mehr sechzehnjährig, doch hatte sie manchmal +ihre bestimmten Gedanken, und zuweilen +weinte sie, einfach so, ohne jeden Grund. Besonders +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +im Frühling, wenn die Sonne zu +brennen begann, die Hühner zu legen anfingen, +die Gärten ergrünten und die Nächte +warm, schwül und sehnsuchtsweckend waren, +wenn die Nachtigall schlug und selbst +Rakow auf der Gitarre wie auf einer Harfe +spielte und dazu wie eine Nachtigall sang: +„Auf den blauen Wogen des Ozeans, kaum +daß die Sterne am Himmel erglühen, treibt +ein einsames Schifflein“ – dann konnte kein +Herz es länger ertragen, und Pawlina Polikarpownas +Herz sank dahin. +</p> + +<p> +Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß +Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang +eine erste Stadt, eine Nachtigallstadt! +</p> + +<p> +Eines Morgens, als Rakow die „Purchowezschen +Gouvernementsnachrichten“ +durchflog, begann er plötzlich laut zu lachen, +so laut, wie ein Mensch nur vor Freude lachen +kann, wenn ihm zumute ist, als reiche die +eigne Kehle nicht aus. Und wie sollte er auch +nicht lachen? Das Gerassimowsche Los hatte +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +gewonnen, und zwar keine Kleinigkeit, sondern +die ganzen Zweimalhunderttausend! Er +besann sich aber rechtzeitig, steckte die Zeitung +in die Tasche, hustete absichtlich laut und +begab sich mit dem Geheimnis von Pawlinas +Glück ins Gymnasium, als wäre +nichts vorgefallen. +</p> + +<p> +Nachdem er mit Mühe seine Stunden gegeben +hatte, wurde Rakow vor Aufregung +noch am selben Abend krank, und Pawlina +Polikarpowna mußte die ganze Nacht den +Kranken pflegen. Am nächsten Morgen ging +es ihm auch nicht besser, und so die ganze +Woche. Eine Woche lang pflegte ihn Pawlina +Polikarpowna, und um Fastnacht hielten +sie Hochzeit. Sofort nach der Trauung, +als die Neuvermählten allein blieben, lautete +die erste indiskrete, aber durchaus berechtigte +Frage des jungen Ehemannes: „Wo ist das +Los?“ – „Was für ein Los?“ – „Was +für eins? Das Gerassimowsche!“ Das Gerassimowsche +Los aber war längst verkauft; +es war nicht mehr da. +</p> + +<p> +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +Um Fastnacht, fast am gleichen Tage, heiratete +auch Lestschow Anna Stepanowna Schianowa. +Die Schianows waren einst die reichsten +Leute in Purchowez, aber Anna Stepanownas +Vater hatte das ganze Vermögen +verspielt, und so mußte die Familie nach großer +Ueppigkeit in Armut weiterleben. Dann +starb der Vater, es starb auch die Mutter. +Anna Stepanowna war bereits mehr als +zwanzig Jahre alt, und obwohl in ihrem +Gesicht nichts Abstoßendes war, nichts, was +man häßlich oder entstellend nennen konnte, +im Gegenteil, – so gefiel sie dennoch niemand +besonders und wurde überhaupt nicht begehrt. +Sie gehörte nicht zu den Heiratskandidatinnen +von Purchowez, hielt sich auch +selbst nicht dafür, und hatte sich bereits damit +abgefunden, allein und ledig zu bleiben, +oder vielmehr, sie hatte sich nicht damit abgefunden, +– man kann sich damit nicht abfinden, +– sondern sie redete sich das eben ein. +Eines schönen Tages aber fiel ihr die Erbschaft +von einer Tante zu, von der sie nie etwas +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +gehört hatte, und zwar eine nicht geringe +Erbschaft: etwa Fünfzigtausend. Natürlich +wurde es im Gymnasium, an dem sie +unterrichtete, bald bekannt, – war sie doch +selbst die erste, die es erzählte, – und so erfuhr +es auch Lestschow. Sofort ging er ans Werk: +er begann, Anna Stepanownas Spuren zu +folgen, wurde mit einem Male sehr unglücklich, +beklagte sich, jammerte, erfand allerlei +Verfolgungen seiner Person, ersann sich Feinde; +auf einmal brachen auch sämtliche Krankheiten +bei ihm aus, und lauter unheilbare, so +daß er im Begriff war, Selbstmord zu begehen. +Und die verzweifelte Liebe sang aus +ihm wie eine Nachtigall, ja, er übertraf die +Nachtigall ... +</p> + +<p> +Purchowez ist eine uralte Stadt am Fluß +Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang +eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. +So heiratete Lestschow Anna +Stepanowna, nahm ihr die Erbschaft +der Tante ab, die ganzen Fünfzigtausend +und wies ihr die Tür: „Ich brauche +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +dich nicht,“ sagte er, „ich brauche dein +Geld.“ +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna mußte man bedauern; +um Werotschka hatte man Angst, aber Anna +Stepanowna tat einem weh. Sie lächelte so, +daß es in die Seele hinein weh tat. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna wollte studieren. Warum? +Weil es ihr Maria Alexandrowna so geraten +hatte, an die sie glaubte wie an die +Iwerskaja Mutter Gottes<a class="fnote" href="#footnote-6" id="fnote-6">[6]</a>. Und sie wird +studieren, solange ihre Kräfte reichen, und +eines Tages wird sie vielleicht über der Physik +von Krajewitsch<a class="fnote" href="#footnote-7" id="fnote-7">[7]</a> die Seele aushauchen. +</p> + +<p> +Werotschka wollte eine große Schauspielerin +werden, berühmt in ganz Rußland, in ganz +Europa, in der ganzen Welt – und sie wollte +das, um sich an Anissim zu rächen: nur damit +Anissim Nikititsch Wakujew, dem alles gelingt +und dem man alles durchgehen läßt, nur +einen Augenblick lang es bedauern und bereuen +solle, daß er sie um andere, die ihn liebten +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +oder sich ihm verkauften, verlassen hatte. +Und so bahnte sie sich jetzt den Weg mit ihrem +sicheren, erprobten Mittel, und wird sich ihn +weiterbahnen, solange ihre Kräfte reichen. +</p> + +<p> +Was aber wollte Anna Stepanowna? Sie +war allein geblieben und ohne Mittel, aber +das war es nicht: sie hatte ja auch früher allein +und ohne Geld gelebt. Hier war es etwas +anderes, etwas Seelisches: sie hatte mit der +ganzen Seele geglaubt, daß man sie liebte +und hatte wieder geliebt. Was wollte sie +nun? Was konnte sie wollen! Das, was ein +Mensch will, dessen Seele beschmutzt, dessen +Seele vergewaltigt worden ist. +</p> + +<p> +Und während Marakulin Anna Stepanowna +näher betrachtete, überzeugte er sich immer +mehr, daß sie auf der Welt nichts zu tun +hatte. Und weil sie so lächelte, tat es ihm +weh bis in die Seele hinein. +</p> + +<p> +Es begann ein böser Herbst; es ging ihnen allen +schlecht. Nach dem Kirchenfest der Kreuzeserhöhung +geschah es, daß Wassilij Alexandrowitsch, +der Clown, als er im Zirkus auf +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +dem Trapez in der Luft sich schwang, herabstürzte +und verunglückte; er verletzte sich – +wie man auf dem Burkowschen Hof sagte – +die Wirbelsäule und den „Stamm der Beine“. +Es stand um ihn nach diesem Sturz aus +den Lüften so schlecht, daß er sogar einen Priester +holen ließ, um die heiligen Sakramente +zu empfangen. Der Arzt aber meinte, er würde +sechs Monate liegen und sich einer schweren +Operation unterziehen müssen. +</p> + +<p> +– Sie werden ihm von der Ferse ein Stück +abschneiden und das Fleisch öffnen – bedauerte +Akumowna, – sie werden den Knochen +mit einem Bohrer wegbohren, beide +Fersen abschneiden. Hätte er aber einen Aufguß +von Pferdemist getrunken, so wäre alles +fort, wie mit der Hand ... +</p> + +<p> +Marakulin hatte seit jenem Glückszufall im +Sommer keine Arbeit mehr gefunden. An allen +Orten und Anstalten, an die er sich wandte, +wurde höchstens seine Adresse notiert, und +bekanntlich hat man nichts mehr zu erwarten, +wenn die Adresse notiert wird. Um diese +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +Zeit fand gerade in Petersburg eine Hundezählung +statt. Eine Woche lang ging er auf +den Burkowschen und belgischen Höfen +herum, zählte die Hunde und lernte dabei +einen Studenten Lichowidow kennen, der, +so wie er, Hundezähler war. Der Student +Lichowidow, ebenfalls ein Mensch in den +letzten Zügen, verstand es jedoch schließlich, +sich noch irgendwelche Hundearbeiten zu verschaffen, +und auch für Marakulin fiel dabei +etwas ab. Es begann ihm schon etwas besser +zu gehen, da mußte Lichowidow ein kleines +Malheur passieren: er arbeitete damals +in irgendeinem Bureau und trat eines späten +Abends nach seinem Dienst auf die Straße, +als ihm sein Vorgesetzter, der Bureauchef +– gut angezogen, im Pelz, mit einem +kostbaren Kragen – entgegenkam. „Was +meinen Sie, Herr Lichowidow, was wäre +jetzt besser, Tee oder Kaffee zu trinken?“ Lichowidow +aber hatte seit dem Morgen nichts +gegessen, er war hungrig wie ein Hund, auch +hatte ihn gerade der Petersburger Wind +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +angeblasen, seine Zähne klapperten nur so. +Er sah den Chef an, als überlegte er, was +jetzt besser wäre, Tee oder Kaffee zu trinken +und haute ihm eine in die Fresse. Seitdem +war Lichowidow verschwunden, und Marakulins +Mühle stand still. +</p> + +<p> +Dem guten Jäger läuft das Wild in’s +Garn. Nach langem Suchen fand Anna +Stepanowna eine Anstellung in einem Privatgymnasium. +Es war ein Mustergymnasium +und seine Vorsteherin Lednjowa war +eine Frau von Bestrebungen. Sie verstand +die große Kunst, zu wirtschaften, ohne einen +Heller aus eigener Tasche auszugeben, und sie +tat es sehr einfach und gleichzeitig ziemlich +verzwickt: sie verschleierte ihre Manipulationen +mit einem echten Petersburger Nebel. +Man sagte, sie bezahle die Lehrer aus geheimnisvollen +Equipierungsgeldern, die ihr gar +nicht gehörten, und daß die Lehrer im Lednjowschen +Gymnasium jedes Jahr wechselten. +Rakow und Lestschow waren, was Bestrebungen +betrifft, im Vergleich mit der Lednjowa +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +die reinen Waisenknaben, so wie der +schönste Gardesoldat in Beziehung auf Köchinnen +gegen Kasimir den Monteur und +Stanislaus den Kontoristen gar nicht in Betracht +kommt. +</p> + +<p> +Zwei Monate bekam Anna Stepanowna +keinen Gehalt: die Zahlung wurde unter allerlei +Vorwänden hinausgeschoben. Erst im +dritten Monat wurde er ihr ausgezahlt, aber +selbstverständlich nicht als gewöhnlicher Gehalt, +sondern als eine Anleihe aus eben jenen +geheimnisvollen Equipierungsgeldern. Als +sie das Geld bekam, lud sie Marakulin und +Wera Nikolajewna zum Besuch des Marijinschen +Theaters ein, zu einer Opernvorstellung. +Die Billetts kosteten nicht wenig, dafür +waren es gute Plätze; es war alles gut zu +sehen und zu hören. +</p> + +<p> +An diesem Abend begegnete Marakulin im +Theater Werotschka. Wie oft hatte er im +Sommer und im Herbst an sie gedacht und +im Meldeamt nach ihrer Adresse geforscht – +immer wieder aber hieß es: verreist. Jetzt +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +traf er sie. Im ersten Augenblick erschrak er, +dann verwandelte sich sein Schreck in Unruhe: +Werotschka war nicht allein; mit Werotschka +ging Glotow, der Kassierer, Alexander +Iwanowitsch, Marakulins ehemaliger +Freund. +</p> + +<p> +Werotschka hatte sich gar nicht verändert. +Verändern sich denn die Menschen überhaupt? +Werotschka erkannte ihn gleich, Glotow +aber nicht, oder er tat so, absichtlich, +aus wohlerwogenen und unwiderleglichen +Gründen. +</p> + +<p> +– Das ist aber eine Ueberraschung, denn +wir haben dich längst begraben, weißt du, +Petruscha! – sagte er. +</p> + +<p> +Und als Werotschka erfuhr, daß Wera Nikolajewna +ebenfalls im Theater sei, ging sie sie +aufsuchen und kam nicht wieder. +</p> + +<p> +Glotow führte Marakulin ins Theaterrestaurant. +</p> + +<p> +– Woher kennst du sie? – fragte Glotow +seinen Freund. +</p> + +<p> +– Wir haben einen Winter lang bei derselben +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +Wirtin gewohnt – erwiderte Marakulin. +</p> + +<p> +– Du kennst sie also gut? +</p> + +<p> +– Wie man es nimmt. +</p> + +<p> +Und plötzlich verwandelte die Wut ihre Gesichter. +Sie verstanden einander nur zu gut. +Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Aber +es war peinlich, so auseinanderzugehen, und +auch das Schweigen war peinlich. +</p> + +<p> +Glotow schlug vor, etwas zu trinken. Marakulin +dankte. Und so traten sie aus dem +Restaurant, gingen Schulter an Schulter +nebeneinander und suchten Werotschka. Marakulin +schwieg. Glotow aber wiederholte +mit einer Art Vergnügen und als hätte er +es einstudiert, immer dasselbe: +</p> + +<p> +– Das ist aber eine Ueberraschung! Denn +wir haben dich ja längst begraben, Petruscha, +weißt du! +</p> + +<p> +Marakulin traf Werotschka auch in der +nächsten Pause nicht: sie hatte Wera Nikolajewna +versprochen, sie noch zu treffen und +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +kam nicht. Er sah sie an dem Abend nicht +wieder. +</p> + +<p> +Nach dem Theater ging Marakulin mit +Wera Nikolajewna und mit Anna Stepanowna +in ein Café auf dem Newsky. +</p> + +<p> +Die Begegnung mit Werotschka und mit +Glotow, und daß er sie zusammen getroffen, +das Theater, das Café, alles wühlte Marakulin +auf, und was dort im Theaterrestaurant +verborgen in ihm brodelte, als er neben +Glotow stand, sammelte sich jetzt zu brennender +Verzweiflung. Und gemartert fühlte er: +wenn jetzt dieser Glotow, sein Bruder oder +sein Verwandter, einer, der Werotschka kennt +und den auch Werotschka gut kennt, aufstehen +und ihm, Marakulin, eine herunterhauen +würde, wie der Student Lichowidow dem +Bureauchef, so würde er, Marakulin, ihm +zum Dank dafür die Füße küssen und ihm noch +seinen Nacken hinhalten, daß er nach Herzenslust +dreinhaue, oder ihm die Zähne einschlage, +daß die Kiefer knacken. Und in seinem grausamen +Martyrium das ganze Brennen des freiwillig +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +auf sich genommenen Schmerzes fühlend, +erinnerte er sich an seine geliebte, verhaßte, +unglückselige Generalin, und es verging +ihm die Lust an seinem Leid – er wollte +keine Ohrfeigen, keine Faustschläge, keine Fußtritte, +weder von diesem gestutzten Schnurrbart, +der so selbstgefällig mit diesem andern +widerlichen Glattgesicht plauderte, noch von +jenem roten, nach oben gekräuselten Schnurrbart, +der auch vielleicht Werotschka kennt +und den Werotschka sehr gut kennt. Nein, +in seiner Verzweiflung dachte er jetzt, wie gut +es wäre, die Generalin mit kochendem Wasser +zu übergießen, sie ein wenig nur zu verbrühen. +Mit welcher Wut würde sie sich auf alle stürzen +und beißen, – alle zerbeißen! +</p> + +<p> +– Warum heißt Werotschka nicht mehr +Wechorjowa, sondern Rogowa? +</p> + +<p> +– Weil sie keine Generalin ist – antwortete +Marakulin. +</p> + +<p> +– Was für eine Generalin? +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna verstand nichts und sah +bald ihn, bald Anna Stepanowna an, welche +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +lächelte und deren Lächeln bis in die Seele +hinein weh tat. +</p> + +<p> +Marakulin hätte jetzt aufstehen und der einen +die Augen ausstechen mögen – diese verlorenen +Augen des vagabundierenden heiligen +Rußland, des verschüchterten, freiwillig bettelnden, +von Armut, wie von einem geweihten +Gürtel umgürteten, alles ertragenden, demütigen, +geduldigen Rußland, das sich nicht einmal +einen Sarg zusammenzuzimmern vermag, +höchstens einen Scheiterhaufen zusammenbringen +und sich darauf verbrennen! Die +andre aber hätte er ersticken mögen, damit sie +aufhörte zu lächeln, damit es dieses Lächeln +nicht mehr gäbe, aus dem mit frecher Schamlosigkeit +eine beschmutzte, vergewaltigte Seele +jedem in die Augen sticht: sie braucht nicht +zu leben, sie hat hier nichts zu tun, es ist kein +Platz für sie auf der Erde! +</p> + +<p> +Oder war für ihn selbst kein Platz mehr auf +der Erde? +</p> + +<p> +– Und was meinen Sie, Wera Nikolajewna? +– fragte er. +</p> + +<p> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +– Werotschka gab mir ihre Adresse und bat +mich, nicht nach Wechorjowa, sondern nach +Rogowa zu fragen – antwortete Wera Nikolajewna. +</p> + +<p> +Marakulin schloß die Augen. Er empfand +plötzlich eine äußerste Müdigkeit und Erschöpfung, +eine so vollkommene Gleichgültigkeit, +daß er sich nicht gerührt und nicht +einmal sich umgesehen haben würde, wenn +das Café in Brand geraten oder die Decke +herabgestürzt wäre. +</p> + +<p> +Als Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna +bemerkten, wie verstimmt er war, +wollten sie ihn nicht beunruhigen, und um +seiner Seele nicht lästig zu sein, unterhielten +sie sich leise miteinander. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna erzählte von einer Krankenschwester: +</p> + +<p> +– Man brachte ins Krankenhaus ein Kindchen: +es war verbrüht. Um die Operation +zu machen, brauchte man Haut, und wo +sollte man sie hernehmen? Vom Kindchen +selbst? – das hätte es nicht ausgehalten, es +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +war zu schwach. So bot sich die Schwester +dazu an, und man schnitt ihr so viel Haut +aus, als man brauchte. +</p> + +<p> +– Und wie ist es verlaufen? +</p> + +<p> +– Gott sei Dank, beide leben. +</p> + +<p> +Anna Stepanowna bekreuzigte sich lächelnd: +</p> + +<p> +– Gott sei Dank! +</p> + +<p> +Marakulin erhob sich, und sie gingen nach +der Fontanka zurück. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Werotschka bewohnte eine kleine möblierte +Wohnung an der Mojka, die sie nur mit +ihrer Wirtin teilte. Die Zimmer waren mit +allerlei Sofachen und Tischchen vollgepfropft +und mit Sächelchen angefüllt, wie +sie wohl auch das Ehepaar Oschurkow in +seinen zehn Zimmern haben mochte. Die kanariengelbe +Farbe war in der Wohnung vorherrschend: +gelbe Kissen, gelbe Wandschirme, +– alles hier war gelb. +</p> + +<p> +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +Marakulin, der Werotschka endlich gefunden +hatte, begriff schon im Vorzimmer, daß +Werotschka hier nicht aus eigener Wahl +wohnte, sondern daß sie in diese möblierte +gelbe Wohnung von jemand einquartiert +worden war. +</p> + +<p> +Er fand sie zu Hause und freute sich sehr +über sein Glück: sie war allein, sie kamen +einfach und leicht ins Gespräch. Wie immer, +redete sie erst äußerst herausfordernd, +und ihre Erzählung war von solcher Art, +daß man aus ihr nicht klug werden konnte, +ob es echte Wahrheit war oder bloß so eine +Wahrheit. Sie habe ihren Namen geändert, +weil sie jetzt beim Theater sei; sie sei bei +einer kleinen Bühne engagiert, in einem Petersburger +Café chantant. +</p> + +<p> +– Ich tanze dort – erzählte sie – kommen +Sie einmal hin, um mich zu sehen. +</p> + +<p> +Doch abgesehen vom Theater und vom Tanzen +stand es mit ihr so, daß Anissim Wakujew +ihr kein Geld mehr schickte. Statt seiner war +jetzt ein vornehmer alter Herr ihr Gönner. +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +Er hatte ihr diese Wohnung gemietet und +seinetwegen hatte sie den Familiennamen geändert, +– oder richtiger: sie mußte einen andern +Familiennamen annehmen. Warjaginskij +war eine einflußreiche Persönlichkeit und +verkehrte bei Hofe. +</p> + +<p> +– Er ist ein ganz altes Kerlchen. Mit dem +linken Auge sieht er immer eine Maus; wenn +er es zukneift, dann verschwindet die Maus, +macht er es aber auf, dann ist die Maus wieder +da, ein graues, ganz kleines Mäuschen. +</p> + +<p> +Anissim schicke ihr längst kein Geld mehr, sie +aber brauche Geld. Sie müsse es soweit bringen, +daß der alte Warjaginskij auf ihren +Namen ein Kapital deponiere, dann ... +</p> + +<p> +– Dann werde ich zeigen, wer ich bin – +der ganzen Welt, – dann sollen sie sehen! +</p> + +<p> +Ja, sie werde sich schon erweisen, ihr Name +werde in ganz Rußland berühmt sein, in +ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie habe +ihren Weg durch den Scheiterhaufen gewählt; +denn auf dem gewöhnlichen Wege +gelange man nirgends hin; man komme auf +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +andre Weise nicht vorwärts; ohne Geld lasse +man einen nirgends hin; man werde zerrieben, +und wäre man der Teufel selbst! Man +müsse lügen können und Geld haben – +Lügen und Geld haben, das sei notwendig. +Sie hätte ja auch versucht, auf die gewöhnliche +Weise durchzukommen – sie kenne es +gut! Sie könne ja schließlich nicht Waschfrau +werden – oder sollte sie in der Tat +Waschfrau werden? Sie sei durchaus nicht +damit einverstanden, im Kusnetschnygäßchen +zusammen mit dem Chiromanten oder +in den Gorbatschowschen „Winkeln“ zu +wohnen. Wenn der Alte aber erst ein Kapital +auf ihren Namen deponiert und sie viel +Geld haben würde, dann ... ja dann ... +</p> + +<p> +– Für Geld kann man alles kaufen! – schrie +Werotschka mit ihrem unheimlichen Schrei. +Es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden, +sondern eine Herausforderung, ein +Schrei nach dem Recht, die ganzen himmlischen +Heerscharen kurz und klein zu schlagen, +wäre nur eine Leiter bei der Hand – wie +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +es in einer alten Weise heißt – oder die Erde +aus den Angeln zu heben, bekäme man nur +einen Griff zu fassen! – Es war eine Herausforderung, +ein Schrei der Verzweiflung auf +ihrem Weg durch den Scheiterhaufen. +</p> + +<p> +– Ich bin eine Dirne und bleibe eine Dirne. +Aber im nächsten Jahre werde ich mich zeigen. +Sie werden mich dann sehen. Jawohl, +auch Wera Nikolajewna würde kein Geld +ausschlagen, und auch diese Ihre Andre, mit +dem kläglichen Lächeln, würde es annehmen! +Es gibt ihnen bloß niemand etwas, mir aber +gibt jeder, ich verstehe zu lügen und werde +mein Ziel erreichen! +</p> + +<p> +Sie begann hastig ihre Toiletten zu zeigen, +riß alle Schubfächer auf und öffnete den +Kleiderschrank; Kleider und Wäschestücke +flogen haufenweise zu Marakulin hin, und +ein bunter Berg von Seide und Spitzen +türmte sich zwischen den gelben Sofas, wie +der schwarze Berg auf dem belgischen +Hof. +</p> + +<p> +– Und alles das ist mein – schrie sie, +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +– sehen Sie, es sind Geschenke, alles gehört +mir! +</p> + +<p> +Marakulin erhob sich, er wollte sie zurückhalten, +aber es war unmöglich; er setzte sich +wieder auf das gelbe Sofa. Werotschka aber +war in Raserei geraten, sie zerknüllte und zerfetzte +die Sachen und warf sie um sich her. Und +als die Kommoden entleert und alle Schubfächer +von unterst zu oberst gekehrt waren, +begann sie die Nippes abzuräumen, zerschlug +alles und warf es auf einen Haufen. +</p> + +<p> +– Und alles das gehört mir, lauter Geschenke! +– schrie sie mit dem letzten Aufwand +ihrer Stimme, fast schon ohne Stimme. Einen +Augenblick stieg in Marakulin der heftige +Wunsch auf, ein Streichholz anzuzünden +und alles in Brand zu stecken, alles zu +vernichten, den ganzen Haufen, den Berg, +die gelben Kanapees, gelben Wandschirme, +gelben Lampenschirme, gelben Kissen – alle +diese Geschenke! +</p> + +<p> +Werotschka riß von der Etagere eine kleine +bronzene Schildkröte herab und reichte sie +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +ihm, offenbar in der Absicht, sie ihm zu +schenken. +</p> + +<p> +– Man kann nur schenk–, man kann nur +schenk–, man kann nur schenk– – stieß +Marakulin hervor, als wollte er mit den +Worten dreinschlagen, und sah Werotschka +fest an, aber der Atem verging ihm, bevor er +das Wort zu Ende brachte. Seine Schultern +zitterten plötzlich. +</p> + +<p> +Ja, sie wisse es selbst. Hier sei nichts, was +ihr gehöre. Und fremde Sachen dürfe man +nicht verschenken. Geschenke verschenke man +zwar nicht, doch dürfte man es tun; hier aber +gehöre ihr nichts, es seien nicht Geschenke, +es seien lauter fremde Sachen. Fremde Sachen +aber dürfe man nicht verschenken. Eigentümer +sei hier der alte Warjaginskij, der +Mäuse sieht, und Glotow der Kassierer, und +sonst jeder, der Geld hat und Geld ausgeben +kann – und je mehr einer Geld gebe, desto +wichtiger sei er. Alles an ihr sei beschmutzt, +alles abgegriffen, sie könne Wera Nikolajewna +nicht einmal einen Kuß geben, sie habe +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +nichts mehr zu geben, alles sei eingesetzt, alles +bespuckt. +</p> + +<p> +– Und Sie, Petruscha, Sie möchten wohl +auch? – fragte sie plötzlich voll Bosheit, +– ja, wollen Sie? – nicht? +</p> + +<p> +Marakulin erhob sich. +</p> + +<p> +– Da – Werotschka zeigte ihm die Zunge +– nichts kriegen Sie, Sie Bettler! Bettler +empfange ich nicht, verstehen Sie! – und +ihre unverschämten Augen blitzten auf wie +zwei scharfe Klingen und ihr aufgelöstes +Haar brannte wie Feuer. +</p> + +<p> +Ohne die Straßen zu unterscheiden ging +Marakulin wohin ihn seine Füße trugen. +Es war im Dezember und Tauwetter. Ein +warmer Wind wehte, die Laternen sahen +aus wie vom Himmel herabgestiegene Sterne +und Monde und schienen im Nebel aufgehängt. +Beim Hinaustreten aus der Podjatscheskaja +auf die Ssadowaja blieb er plötzlich +stehen: vor dem Tor des Spaßeschen Polizeireviers, +da, wo die Glocke hängt, stand ein +Feuerwehrmann in einem riesigen Messinghelm, +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +ein wirklicher Feuerwehrmann, aber +überlebensgroß, und sein Messinghelm reichte +über die Torwölbung hinauf. +</p> + +<p> +Marakulin begann vor Entsetzen zu laufen. +Etwas stieg ihm die Kehle hinauf und preßte +sie zusammen. Und erst als er zu Hause war, +allein in seinem Zimmer im Burkowschen +Hof, fühlte er, daß er weinte, so wie er nur +einmal im Leben geweint hatte, als seine Kinderfrau +ihn verlassen. +</p> + +<p> +Nachts träumte er, er läge auf dem Burkowschen +Hof. Der Hof aber war größer +als in Wirklichkeit, und obwohl er an den +Seiten von den Häusern zusammengedrückt +war, so lagen doch die Stände und Kästen +der fliegenden Händler viel weiter als sonst, +und die Wagenremise, die Müllgrube und +der Abguß waren viel entfernter. Es waren +unter den Fenstern viel mehr Ziegelsteine, +Schutt und Kehricht angehäuft. Er lag +nicht allein auf dem Hof, neben ihm lagen +die Mieter aus dem Vorderhaus und aus +dem Hinterhaus, aus den Seitenflügeln, aus +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +den Gorbatschowschen „Winkeln“. Und +obwohl er viele von ihnen nicht kannte, so +erriet er doch, wer sie waren, und irrte sich +bestimmt nicht darin, daß dieser Herr und +diese Dame Herr und Frau Oschurkow waren, +die zehn Zimmer und allerlei Nippes, +die die Wohnung ganz ausfüllten, und ein +Aquarium mit Goldfischchen hatten. Und +dieser da, der Bewegliche im Zylinder, war +der Rechtsanwalt Amsterdamskij, ein lustiger +Kerl, – er verstand es, Prozesse gut zu +führen; die Portiers im Senat warteten auf +ihn, wie auf das Osterfest. Und Burkow +selbst, der frühere Gouverneur, der Selbstvertilger, +lag da, aber man sah nur seine +Uniform. Neben der Uniform lag der älteste +Hausmeister Michail Pawlowitsch mit seiner +Gemahlin, der gottesfürchtigen Antonina +Ignatjewa, und der Händler Gorbatschow +mit einem kleinen Mädchen – mit +seiner Tochter, der er einst in der Rattenkammer +die Fingerchen zerbrochen, und Wera +mit Akumowna, Stanislaus der Kontorist +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +und Kasimir der Monteur, Adonja Iwoilowna +und die Artisten Damaskin, Sergej +Alexandrowitsch und Wassilij Alexandrowitsch, +Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna, +die Hebamme Lebedjowa in ihren +Pelz eingewickelt, den man ihr um Weihnachten +gestohlen hatte, und der Portier Nikanor; +auch lagen hier die Studenten, welche +nachts Totenmessen sangen, in neuen studentischen +Uniformen und mit ihrem Messinghahn, +dann alle sieben Hausmeister und der +Paßaufseher Jerkin – die Hausmeister mit +Holz und Jerkin mit Krankenhausmarken, jede +Marke ein Rubel, Gesicht und Hände ganz +mit Marken beklebt. Kleine Kinder lagen in +Haufen, der Perser – der Masseur aus der +Badeanstalt und jenes kleine Mädchen, welches +Murka damals Milch gebracht hatte, +mit der Scherbe; es lagen da alle Schuster, +Bäcker, Bader, Friseure, Schneiderinnen, +Weißnäherinnen, eine Krankenschwester aus +dem Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, +Maschinisten, Kürschner, Schirm- +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +und Bürstenmacher, Kommis, Wasserleitungsmonteure, +Setzer und allerlei Mechaniker, +Techniker und elektrische Meister mitsamt +ihren Familien und ihrem Gerümpel, +mit Gläsern, Flaschen und Schwaben, und +allerlei Fräuleins von der Gorochowaja +und vom Sagorodny, kleine Nähmädchen, +Mädchen aus den Teestuben und elegante +junge Leute aus der Badeanstalt, die die +Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, +die alte Frau, welche Sonnenblumensamen +und sonst allerlei Kram feilbietet, stellenlose +Köchinnen, Maler und Schreiner, fliegende +Händler mit Datteln und Zuckerwerk, das +nach Mistpilzen riecht, – mit einem Wort: +der ganze Burkowsche Hof, ganz Petersburg. +Und nachdem Marakulin alle diese Burkowschen +Gestalten feststellte, erblickte er auch +noch andre: seine Mutter, seinen Vater, seine +Schwestern, den alten Gwosdjow, den +Buchhalter Awerjanow, Tschekurow, Lisaweta +Iwanowna und Maria Alexandrowna, +Rakow mit dem Lotterielos von Zweihunderttausend, +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +Lestschow, Pawlina Polikarpowna +und alle Idioten, Geistesarmen, Eremiten +und heiligen Brüder, allerhand Belgier +und Deutsche, die Deutschen um den Doktor +Wittenstaube zusammengedrängt, der alle +Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt, – +überhaupt das ganze vagabundierende Rußland. +</p> + +<p> +Da lagen sie alle auf dem Burkowschen Hof, +wie auf einem Totenfeld, nur war es nicht +trocknes Gebein, sondern es waren lebendige +Menschen, und in jedem lebte und schlug ein +Herz. Und Tiere lagen da zusammen mit den +Menschen: der schöne rothaarige Hund des +Gouverneurs, Revisor, an der lästigen Stahlkette +hob zuweilen seine kluge Schnauze, und +Murka lag auch daneben, von einem rauchfarbenen +Kater belegt. Neben Marakulin +aber lag die Generalin Cholmogorowa, die +Laus, und die elektrischen Lampen brannten +wie vom Himmel herabgestiegene Sterne +und Monde tief im Nebel über dem Burkowschen +Hof. +</p> + +<p> +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist +übervoll, die Strafe ist nah! – sang Gorbatschow +im Halbschlaf, die Worte durch +die mit Pferdehaaren bewachsene Nase dehnend. +</p> + +<p> +Da klirrte etwas wie ein Säbel, und aus einem +Schrank trat ein Feuerwehrmann, überlebensgroß, +in einem riesigen messingnen +Helm, und begann zu schreiten, mit den Stiefeln +polternd. Und rasch über die Maler, +Schlosser und fliegende Händler hinwegschreitend, +nahte er Marakulin und blieb vor +ihm stehen. +</p> + +<p> +Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann +mit einem roten Gesicht. +</p> + +<p> +Da fühlte Marakulin, wie es ihm so schwer +wurde, daß er weder einen Fuß noch eine +Hand rühren konnte, und er wußte, daß er +nicht mehr lange leben werde und daß ihm +nur noch die Freiheit zu reden übriggeblieben +war. Er fühlte auch, daß es Allen – dem +ganzen Totenfeld – ebenso schwer war; sie +konnten weder einen Fuß noch eine Hand +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +rühren und hatten nur noch die Freiheit zu +reden; und während er seine letzten Augenblicke +nahen fühlte, hörte er die Automobile +auf der Fontanka tuten. +</p> + +<p> +Ueber ihm aber stand unbeweglich der +Feuerwehrmann. Es war ein ganz gewöhnlicher +Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht. +</p> + +<p> +Erst wollte Marakulin es wagen, gleich jenem +Starez Kabakow, der durch Gebete +die Stimme des Himmels befragte, den +Feuerwehrmann für Alle, für die ganze Welt +auszufragen, aber er hatte nicht den Mut, +wie Kabakow für Alle, für die ganze Welt, +für das ganze Totenfeld zu fragen, sondern +er fragte nur für sich. +</p> + +<p> +– Wird es mir gut ergehen? +</p> + +<p> +– Warte – sagte der Feuerwehrmann. +</p> + +<p> +– Gut? – fragte Marakulin nochmals +mit stockendem Atem, und hörte dabei, +wie auf der Fontanka die Automobile tuteten. +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +Und der Feuerwehrmann antwortete ihm, +jedoch sehr kleinlaut, kaum daß er das Wort +zu Ende sprach: +</p> + +<p> +– G–u–t. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-6"> +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +Fünftes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">V</span><span class="postfirstchar">or</span> Weihnachten zerbrach Marakulin +sein Kreuz. +</p> + +<p> +Anna Stepanowna nahm es mit, um es reparieren +zu lassen, ging aber aus dem Gymnasium +erst auf den Gostinij-Markt. Dort +wurde ihr das Portemonnaie gestohlen und +mit ihm auch Marakulins Kreuz, sein kleines +goldenes Taufkreuz. +</p> + +<p> +In den Weihnachtstagen wahrsagte Akumowna +wieder aus den Karten, und Marakulin +schien es, daß die Karten jetzt ganz erbost +seien und ihn mit ihrem schonungslosen +„reinen Herzen“ verspotteten. Sie +orakelten: ein fröhlicher Weg; ein wohlgeborener +einflußreicher Herr; viel Geld; wenn +Sie heute keinen Brief bekommen, so bekommen +Sie ihn morgen; er trinkt ein wenig, – +und in den Ecken Gras und Tannen. +</p> + +<p> +Aber die Karten logen diesmal nicht. Sei +es, daß Akumowna es mit ihrem Wahrsagen +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +heraufbeschworen hatte, oder, daß +es ihm sonst bestimmt war – Marakulin +mußte in der Tat bald nach dem Tag der hl. +Tatjana und ganz unerwartet nach Moskau +verreisen. +</p> + +<p> +Marakulin war ein Moskauer. In Moskau +geboren und aufgewachsen, war er auch dort +zur Schule gegangen. Nur die fünf Jahre +vor seinem Petersburger Aufenthalt hatte er +in der Provinz verlebt und in Geschäften +auch solche Städte wie Kostrinsk und Purchowez +besucht. Er hatte in Moskau in einer +Privatrealschule in der Handelsabteilung +studiert. Kaum daß er in die Schule eintrat, +starb seine Mutter, und bevor er die Schule +verließ, verlor er den Vater. Die letzten +Schuljahre waren sehr schwierig, er mußte +selbst für sich sorgen. Er hatte zwei Schwestern, +beide älter als er und beide verheiratet. +Als er noch in Moskau lebte, besuchte er die +Schwestern, erst oft, dann seltener, endlich +ganz selten. Als er klein war hatten sie ihn +sehr gern gehabt und ihn verwöhnt. Er wußte +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +es noch genau, sie aber hatten es vergessen. +Als er in der Provinz wohnte, schrieb er den +Schwestern im Anfang oft, dann seltener, +dann ganz selten und nur noch Gratulationsbriefe, +dann hörte er überhaupt auf zu schreiben. +Sie waren es, die zuerst den Briefwechsel +abbrachen. Und seit er in Petersburg +lebte, hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, +daß er in Moskau niemand hatte. Nur auf +<a id="corr-9"></a>dem Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich +zwei Gräber, zwei Kreuze: das Kreuz des +Vaters und das Kreuz der Mutter. +</p> + +<p> +Sein Vater war der älteste Buchführer bei +Plotnikow gewesen. Plotnikows Fabrik befand +sich auf der Taganka, das Engrosgeschäft +auf der Iljinka. Der Vater war ein +Mann der Arbeit, der sich mit Energie seinen +Weg bahnte. Seine Mutter war anders; sie +war ein Mensch von besonderer Art. +</p> + +<p> +Jewgenja Alexandrowna – so hieß sie – +war aufrichtig, einfach und herzlich. Ihre +Aufrichtigkeit kannten alle; ihr Vater kannte +sie und alle, die im Hause verkehrten kannten +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +sie. Man klatschte in ihrer Gegenwart nicht +über Bekannte, man schärfte nicht unnütz die +Zungen – man sagte nichts, was man den +andern nicht ins Gesicht hätte sagen können. +Die Gepflogenheit, zwei Meinungen über +jemand oder über etwas zu haben: eine +Meinung sozusagen für’s Haus, welche nur +im engen Familienkreis ausgesprochen wird, +und eine andere für die Straße, welche vor +Fremden geäußert wird, wenn es nützlich erscheint, +– diese üblichen Formen des Umgangs +waren ihr fremd. Es fehlte ihr der +praktische Sinn. Daraus konnte oft ein kleiner +Skandal, zumindest eine Verlegenheit +entstehen, und ihr Vater mußte sie häufig +davor warnen. Dieser praktische Sinn, der +zwei Meinungen kennt, dieser einfältige und +oft niederträchtige Selbstschutz ist keine +Weisheit. In der echten Weisheit, die nicht +nur zwei, sondern zwanzigmal zwei Meinungen +kennt, ist Wissen und Schonung. Diese +höhere Weisheit konnte sie natürlich noch +nicht haben, aber sie besaß jene, die aus dem +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +Instinkt stammt und die das Herz begreift. +Es fehlte ihr dagegen völlig an jener Schlampigkeit +des Herzens, an der Gewöhnlichkeit +der Seele, die wie grobe Geradlinigkeit aussieht. +Alles berührte und quälte sie; sie hatte +keine Gleichgültigkeit in sich, im Gegenteil: +ungewöhnlich barmherzig und mitfühlend, +war sie bereit, jedem zu helfen. Kaum aus +der Schule, verliebte sie sich in einen Studenten, +in den Hauslehrer ihres Bruders, und +wie zu Gott sah sie zu ihrem Studenten auf. +Der Student aber – sagte nichts, und als +ein ernsthafter Student, der er war, lächelte +er nur, lächelte und dankte. Jenjas Vater +– Marakulins Großvater – war Arzt, und +als Fabrikarzt bei Plotnikow angestellt, nahm +er das junge Mädchen oft in die Fabrik mit. +Bei Plotnikow war aber auch ein junger +Techniker namens Ziganow. Dieser machte +sich mit den Fabrikarbeitern zu schaffen, veranstaltete +Vorlesungen und Theatervorstellungen +für sie, und soll auch, wie die Wissenden +behaupteten, einen Streik angezettelt +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +haben. Die Fabrikarbeiter liebten Ziganow +und gehorchten ihm. Jenja, der das Leben +in der Fabrik, das sie allmählich kennen lernte, +die Seele verwundete, bot Ziganow ihre Mithilfe +an. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Techniker +und arbeitete mit, so weit ihre Kräfte +reichten. Und wenn eine Sache gelang, – +mit welcher Freude erzählte sie von ihrem +Erfolg dem Hauslehrer ihres Bruders, ihrem +Studenten, zu dem sie wie zu Gott aufsah! +Der Student aber – sagte nichts, und als +ein ernsthafter Student, der er war, lächelte +er nur, lächelte und dankte. So traf es sich +auch einmal, daß Jenja bei Ziganow in der +Wohnung war. Sie half ihm Lektüre für +die Fabrikarbeiter zusammenstellen; es waren +Broschüren. Sie war sehr eifrig dabei, sie +brannte darauf, daß die Broschüren bald gelesen +werden, denn sie glaubte, daß in ihnen +die Wahrheit stand und ein Ausweg aus dem +erbärmlichen Leben, das ihr die Seele verwundete. +Sie brannte vor Eifer – es war +ja das erstemal. Ziganow arbeitete am selben +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +Tisch mit ihr und wich nicht von ihrer Seite; +auch er wollte die Arbeit möglichst rasch erledigen, +denn die Sache war gefährlich! Als +dann alles fertig war, die Broschüren geordnet, +ausgesucht und verteilt, und sie, befriedigt, +freudig erregt und davon träumend, wie +sie alles dem Studenten, ihrem Abgott erzählen +würde – (er hatte wohl jetzt die Lektion +mit ihrem Bruder beendigt, saß vielleicht +mit ihrem Vater im Eßzimmer beim Tee und +spielte mit ihm Schach) – gerade im Begriff +war, nach Hause zu gehen, – da fiel Ziganow +über sie her und warf sie zu Boden +... +</p> + +<p> +An diesem Abend, als sie nach Hause zurückkehrte +und den Studenten, wie sie erwartet +hatte, im Eßzimmer beim Tee mit ihrem Vater +Schach spielend fand, – sagte sie nichts; +weder dem Vater, noch dem Studenten. +Sie verriet nicht mit der leisesten Andeutung, +was eben zwischen ihr und Ziganow vorgefallen +war, sie verriet mit keiner Silbe das +Entsetzen, das sie erfüllte. +</p> + +<p> +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +Entsetzen und Scham besiegten all ihre +Wahrhaftigkeit und zwangen sie, das +Schreckliche zu verheimlichen. Sie schwieg, +und obwohl sie, die sich nicht verstellen +konnte, sich so gab, wie sie war, bemerkte +dennoch niemand etwas, nur dem Vater fiel +eine Trauer in ihrem Gesicht auf, die früher +nicht in ihm war. Erst viele Jahre später sah +es auch manch andrer, sprach aber nicht +darüber. Denn diejenigen, die sie oft sahen, +mochten sie dann vielleicht zum erstenmal +aufmerksam angesehen haben und konnten +deshalb nicht feststellen, ob diese Trauer in +ihrem Gesicht schon immer dagewesen und +von ihnen nur nicht bemerkt worden war, +oder ob tatsächlich eine Veränderung in ihm +stattgefunden hatte. +</p> + +<p> +Wohl war diese Trauer schon immer in ihr, +seit ihrer Geburt vielleicht, vielleicht war sie +zusammen mit ihr zur Welt gekommen, hatte +sich all die siebzehn Jahre in ihrer Seele verborgen +gehalten und trat erst an jenem Abend +hervor, an dem Jenja bei Ziganow die Broschüren +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +ordnete und glücklich, freudig erregt +daran dachte, wie sie ihrem Studenten, ihrem +Abgott von ihrer Freude erzählen würde; – +damals mochte das Entsetzen die eingeborene +Trauer hervorgeholt und über ihr Gesicht +gebreitet haben. +</p> + +<p> +War es nur Trauer, was ihr Gesicht verriet, +als sie sich auf dem Boden wälzte und +vor tierischem Schmerz, vor Ekel und Entsetzen +geschrien haben würde, wenn sie +ihre Schreie nicht hätte unterdrücken müssen? +War nur Trauer in ihrem Gesicht, +da sie schweigend und doch unverstellt sich +quälte? +</p> + +<p> +Wenn die Menschen einander genau sehen +und beobachten würden, wenn Alle Augen +hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das +ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit +des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre, +wenn die Menschen einander sehen würden, +das eiserne Herz gar nicht nötig? +</p> + +<p> +Wie war das alles so gekommen, und weshalb? +Und wie erklärte Jenja es sich selber? +</p> + +<p> +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +An jenem Abend war Ziganow geblendet, – +einen andern Grund gab es nicht – es war +nicht vorgefaßte Absicht, er war einfach geblendet. +Und hätte er auch sieben Augen gehabt, +wer weiß, ob er nicht an allen sieben +Augen geblendet worden wäre vor ihren beiden, +mit denen sie so freudig dreinblickte, bereit, +im nächsten Augenblick von ihrer Freude +dem Studenten, ihrem Abgott zu erzählen: +ihre Freude war so gewaltig; es war ja das +erstemal, die Sache war gefährlich und sie +glaubte die Erlösung gefunden zu haben aus +dem erbärmlichen Leben, das ihre Seele verwundete. +</p> + +<p> +So erklärte Jenja das, was vorgefallen, indem +sie niemand beschuldigte, außer sich +selbst. +</p> + +<p> +Ob es so war oder nicht, ob er tatsächlich +geblendet war oder nicht, ob er dem Zwang +nicht widerstehen konnte, sich auf sie zu stürzen, +oder ob er sich hätte zurückhalten müssen +– einerlei: am Ende wäre es auch einem andern +so ergangen wie Ziganow, der sich mit +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +einer gefährlichen Sache befaßte, die heimlich +und verborgen getan werden mußte, und +der vor lauter geschäftigem Mißtrauen seine +Augen verloren hatte? Jedenfalls aber hatte +er seine Augen verloren, gleichviel warum: +denn hätte er sehen können, so wäre das nicht +geschehen, was weiter geschah. Es kam aber, +daß jedesmal, wenn Jenja bei ihm war, um +Broschüren zu ordnen, oder in ähnlichen Angelegenheiten, +sich jener gefährliche und freudig +erregte Abend wiederholte. Sie flehte ihn +an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, aber +er wollte nichts hören, weil er taub und blind +war. Und so verging ein ganzes Jahr. +</p> + +<p> +Als dann Ziganow aus der Plotnikowschen +Fabrik verschwunden war – manche behaupteten, +er wäre nach Sibirien verbannt +worden, andre dagegen, daß er jenseits der +Trechgornaja-Maut in einer Fabrik eine gutbezahlte +Stellung angenommen hatte, wieder +andre, daß er der Welt so etwas wie ein +„neues Zion“ verkündete – mit einem Wort, +als Ziganow nicht mehr da war, und Jenja +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +aufatmen konnte, da widerfuhr ihr das +gleiche, nur daß diesmal an Ziganows Stelle +ihr eigener Bruder, der Kadett war. Sie bat +ihren Bruder, flehte ihn an, sie zu schonen, +sie nicht anzurühren, er aber wollte nichts +hören, und darum nicht, weil er in diesem +Augenblick taub und blind war. +</p> + +<p> +Ja, auch er war in diesem Augenblick geblendet, +und nur, weil in ihr selbst etwas Sinnberaubendes, +Blendendes war; denn sonst +hatte doch dieser Bruderabend nichts gemeinsames +mit jenem Ziganowschen, jenem gefährlichen +und freudig erregten Abend. +</p> + +<p> +So erklärte sich Jenja alles, was vorgefallen, +indem sie niemand als sich selbst beschuldigte. +</p> + +<p> +Ob es nun so war oder nicht, ob der Bruder +ebenfalls geblendet war oder nicht – +jedenfalls ist es klar, daß er, ohne sich mit +gefährlichen Dingen zu befassen, wie Ziganow +und nicht wie dieser durch die Heimlichkeit +und die Gefahr der Arbeit in gemeinsame +Erregung mit der Schwester gedrängt, +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +– im Gegenteil: er hatte einen offenen Weg +vor sich, frei von jedem Spähen und Horchen +– jedenfalls ist es klar, daß er, wie so +viele Menschen von Beruf oder Handwerk, +von Meisterschaft oder Leidenschaft, sich +eben durch keinen besonderen Scharfblick +auszeichnete. Nein, er zeichnete sich nicht +durch besonderen Scharfblick aus, denn +hätte er etwas gesehen, so wäre nicht geschehen, +was weiter geschah. Es kam aber, +daß sich jedesmal, wenn er sie allein fand, +das wiederholte, was an jenem Schwesterabend +geschah. So verging wieder ein +Jahr. +</p> + +<p> +Als der Bruder dann von Moskau abgereist +war und sie, allein geblieben, aufzuatmen +hoffte, da wurde der Bruder von dem Gehilfen +ihres Vaters, von einem jungen Arzt +ersetzt, so wie einst der Bruder Ziganow abgelöst +hatte. Und nach dem Arzt kam noch +einer und wieder einer; alle traten sie kühn +an sie heran und taten mit ihr, was sie +wollten. +</p> + +<p> +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +Sie taten es aber nicht deshalb, weil sie es +freiwillig gewährte, nein, sie taten nur das, +wozu es sie, die Geblendeten, trieb. +</p> + +<p> +So erklärte sich Jenja alles, indem sie niemand +als sich selbst beschuldigte. +</p> + +<p> +Ob es so war oder nicht, ob sie wirklich geblendet +waren oder nicht, ob es sie trieb, oder +ob sie sich selbst über sie warfen, jedenfalls +beschuldigte sie keinen von ihnen, nur sich +selbst: dies etwas in ihrem Wesen, das blendete +und betäubte. +</p> + +<p> +Sie schwieg – ganze drei Jahre schwieg sie. +Sie machte nie eine Andeutung, verriet sich +mit keinem Wort. In ihr aber war Entsetzen, +Scham und Qual. Sie wurde geliebt, hatte +viele Freundinnen, und wußte, wie sehr man +sie liebte und wie gut man von ihr dachte; +und trotz aller Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, +die in ihr war, vermochte sie es nicht, +ihnen zu sagen, wie sehr sie sich irrten: daß sie +nicht so war, wie sie von ihr dachten. Hätten +sie die Wahrheit gewußt, dann würden sie +sich von ihr losgesagt haben, so aber stahl sie +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +ihre Liebe dadurch, daß sie die Wahrheit +verheimlichte. +</p> + +<p> +Die Menschen traten kühn an sie heran und +taten mit ihr was sie wollten, sie aber konnte +sich nicht wehren und gab, erfüllt von tierischem +Ekel und Schmerz, nach. Und dafür, +daß sie nachgab, daß sie trotz Ekel und +Schmerz nachgab und nachgeben mußte, +für dies blendende und betäubende Wesen +in ihr, das die Menschen trieb, sich über +sie zu werfen, reichte eine von Menschen +verhängte Strafe nicht aus. Es wäre ihr ja +ein leichtes gewesen, ein Ende mit sich zu +machen, aber das hätte ihr nicht genügt. +Auch wenn man sie gefoltert und gemartert, +wenn man sie zu Tode gefoltert hätte, +was hätte ihr das genützt? Für sie war eine +von Menschen bestimmte Strafe zu gering, +sie mußte sich selbst ihr Urteil sprechen und +sich selbst hinrichten. Aber wie sich strafen, +wie sich hinrichten? In den drei Jahren des +Entsetzens, der Scham und der Qual hatte +sie sich in den schlaflosen Nächten die Haare +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +gerauft, hatte mit dem Kopf gegen die Eisenstäbe +ihres Bettes, – ihres schmalen Mädchenbettes +– geschlagen, aber was war damit +erreicht? Nichts, gar nichts! Wer sollte +ihr die Strafe diktieren und wie sollte sie sie +vollziehen? +</p> + +<p> +Wenn die Menschen einander genau sehen +und beachten würden, wenn Alle Augen hätten, +dann könnte nur ein eisernes Herz das +ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit +des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre +das eiserne Herz gar nicht nötig, wenn die +Menschen einander sehen würden! +</p> + +<p> +Jenja verließ Moskau und lebte einige Zeit +auf dem Lande, in der Familie eines ihrem +Vater befreundeten Arztes. Ihr Vater, der +jetzt nicht nur Trauer in ihrem Gesicht bemerkt +hatte und unruhig geworden war, +erklärte sich ihr Aussehen mit Uebermüdung +und redete Jenja zu, sich auf dem Lande zu +erholen. Folgendes geschah nun während +ihres Landaufenthaltes: Am Dienstag in der +Karwoche reiste sie von da ab, aber nicht +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +nach Hause zum Osterfest, wie man annahm, +sondern sie begab sich in den Wald und betete +dort drei Tage und drei Nächte mit der +ganzen Glut des Entsetzens, der Scham und +der Qual eines sich selbst verurteilenden Herzens, +und flehte nur um eins: um Strafe, – +daß ihr eine Strafe angezeigt und eine Buße +auferlegt werde. Am Karfreitag aber erschien +sie in der Kirche zur Zeremonie des Grabtuches, +ganz nackt, mit einem Rasiermesser in +der Hand. Als das Grabtuch hinausgetragen +wurde, folgte sie ihm – alle wichen vor ihr +zurück, wie vor dem Grabtuch selbst. Sie +stand ganz nackt da, mit dem Rasiermesser in +der Hand: „Im Namen des Vaters, des +Sohnes und des heiligen Geistes!“ rief sie +aus. Jemand erwiderte „Amen“. Da erhob +sie das Messer und schnitt sich Kreuze hinein +in die Stirn, in die Schultern, in die Arme, +in die Brust, und ihr Blut ergoß sich auf +das Grabtuch. +</p> + +<p> +Ein ganzes Jahr oder noch länger lag Jenja +im Krankenhaus, wohin man sie bewußtlos +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +aus der Kirche gebracht hatte. Von den +Kreuzen waren keine deutlichen Male zurückgeblieben, +nur eine schwache Narbe auf der +Stirn, aber auch diese war unter dem Haar +nicht zu sehen. Und als man fand, daß sie +sich genügend erholt hatte, schickte man sie +zu ihrem Vater zurück. +</p> + +<p> +Hatte sie sich nun beruhigt? Nein. Aber sie +betete nicht mehr um Strafe. Tief in ihrem +Innern war es still geworden. Mag sein, daß +man durch irgendwelche Heilmittel auf sie gewirkt +hatte, oder daß sie, sich erholend und +gesundend, nicht mehr so fein in sich hineinhorchen +konnte, um zu vernehmen, was in +der Tiefe redete. Aber bald sollte sie es doch +vernehmen, und ganz unerwartet. +</p> + +<p> +Zu ihrem Vater kam häufig der Buchführer +der Plotnikowschen Fabrik, Alexej Iwanowitsch +Marakulin. Jenja gefiel ihm sehr, und +er erklärte sich bald. Da vernahm sie plötzlich, +was in der Tiefe sprach. +</p> + +<p> +Niemand wußte bis dahin, wofür sie eine +Strafe für sich herabgefleht hatte, kein +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +Mensch ahnte etwas von den drei qualvollen +Jahren und von dem vierten Jahr +ihrer Buße. Nicht einmal dem Priester in der +Beichte hatte sie etwas verraten: sie sprach es +in Gedanken unter dem Epitrachelion, wenn +der Priester über ihr gebeugt die Vergebung +las. Sie konnte sich nicht entschließen, ihm +etwas zu sagen: es hätte ihm vielleicht nicht +genügt zu erfahren, was sie getan; er hätte +sie jederzeit über die Personen ausfragen können, +die mit ihr verkehrt hatten. Vielleicht +hätte er auch angesichts ihres Entsetzens, ihrer +Scham und ihrer Qual, um ihr einen +weltlichen Trost zu verschaffen, zu erfahren +gewünscht, wie sich alles zugetragen hatte, +und dann gar, über die Umstände unterrichtet, +jene Personen verurteilt und sie +selbst von aller Sünde freigesprochen! Sie +aber beschuldigte niemand als sich selbst, +ihr eigenes blendendes und betäubendes +Wesen. Außerdem hätte der Geistliche +jene Menschen auch denunzieren können. +Jetzt aber wollte sie es dem Menschen offenbaren, +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +der sie liebte. Sie mußte <em>alles</em> +sagen – so sprach es in ihrem Innern +– sie mußte diesem Menschen alles sagen. +</p> + +<p> +Und sie erzählte ihm alles, rückhaltlos. Er +hörte milde zu und weinte; – er liebte sie. +Ohne daß er im Innern glaubte, daß es +sich nie wiederholen würde, daß die Geschehnisse +dieser drei Jahre nicht wiederkehren +könnten, wollte er es doch glauben, denn +er liebte sie. +</p> + +<p> +Ihr ganzes weiteres Leben widmete Jenja +ausschließlich ihren Kindern. Gleich im ersten +Jahr ihres neuen Lebens war es, als wäre +sie plötzlich alt geworden, aber es war nicht +Alter, sondern jenes Entsetzen, jene Scham +und Qual, die jetzt auf ihrem Gesicht, wie +einst die Trauer, sichtbar wurden und es alt +machten. Und ihre Augen, die oft wie aufgescheucht +waren und die Hände stets wie im +Gebet gefaltet, als flehten sie, sie zu schonen +und nicht anzurühren, – dies blieb ihr eigen +bis an ihr Lebensende. Im Sarg lag sie mit +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +dem Kreuz auf der Stirn: unter der Stirnbinde +war es jetzt deutlich zu sehen. +</p> + +<p> +Marakulin war damals zehn Jahre alt, aber +er konnte sich noch genau an dieses Kreuz erinnern, +an das auf der wachsgelben Stirn +unter der weißen Binde sichtbare Kreuz. Und +auch jetzt auf der Fahrt nach Moskau dachte +er daran, und die Erinnerung an das Kreuz +der Mutter war in ihm irgendwie fest und unlösbar +mit seinem eigenen goldnen Taufkreuz +verbunden, das ihm vor Weihnachten abhanden +gekommen war. +</p> + +<p> +Und Trauer überflutete ihn. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Marakulin reiste nach Moskau auf den dringenden +Ruf Plotnikows: +</p> + +<p> +Pawel Plotnikow war mit Marakulin zur +Schule gegangen, war aber um zwei Klassen +jünger. Als Marakulin ihn zum erstenmal +sah, gefiel er ihm sehr: es war ein gesunder +Knabe, von einer wie Milch und Blut zarten +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +Haut, so daß man Lust bekam, ihn zu streicheln +und mit ihm zu scherzen, um ihn lachen +zu machen. Im ersten Schuljahr hatte Pawel +Plotnikow oft Halsschmerzen, und das +weiße Tuch um den Hals machte ihn noch +liebenswerter. Marakulin sprach und scherzte +oft überaus freundlich mit ihm, Plotnikow +aber zeigte eine gewisse Scheu. Erst im nächsten +Jahr wurden sie durch einen Zufall einander +näher gebracht: Marakulin sang im +Chor mit, und auch Plotnikow wurde in den +Chor aufgenommen, ebenfalls für die Altstimme. +Bei den Gesangproben stand Plotnikow +neben Marakulin, und allmählich +verlor er seine Scheu vor ihm und schloß +sich jetzt enger an Marakulin an, welcher +für ihn alles tat, was er nur konnte: er löste +schwierige Aufgaben, machte die Uebersetzungen +für ihn. Diese rührende und zärtliche +Freundschaft dauerte ein Jahr. Darauf war +Plotnikow nach den Sommerferien auf einmal +so erwachsen, und es war nichts mehr in +ihm von dem Jung-Katzen- oder Hundeartigen, +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +das Marakulin so gereizt hatte, ihn +wie ein kleines Tier zu streicheln. Marakulin +gab sich nun weniger mit ihm ab, unterhielt +sich nicht so freundlich mit ihm wie früher, +fuhr aber im übrigen fort, alles für ihn zu +tun, was er nur konnte. Denn Plotnikow +wandte sich oft an ihn, wie an einen ältern, +der alles weiß, was er selbst niemals wissen +könnte. +</p> + +<p> +Plotnikow kam in der Schule nicht vorwärts. +In der fünften Klasse blieb er sitzen +und wurde aus der Schule genommen. Er +war der einzige Sohn seiner Eltern, dazu der +jüngste einer ganzen Reihe von Schwestern, +und wurde fürs Geschäft gebraucht. Das +Plotnikowsche Geschäft war in der ganzen +Taganka<a class="fnote" href="#footnote-8" id="fnote-8">[8]</a>, ja, in ganz Rußland bekannt. Zu +jener Zeit war Plotnikow bereits so dick und +groß geworden, daß man bei seinem Anblick +sich schwer den kleinen Buben Pascha mit +dem weißen Tuch vorstellen konnte, jenen +wie kuhwarme Milch frischen Pascha, den +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +man gern streicheln mochte, um ihn lächeln +zu machen. Man hätte wohl annehmen sollen, +daß jetzt jede Beziehung zwischen den +beiden Knaben aufhören müßte, aber dem +war nicht so. Plotnikow kam manchmal zu +Marakulin, um sich ein Buch zu holen: er +bat stets um irgendein Buch zum Lesen, und +so schüchtern, als hätte er Angst. Marakulin +gab ihm dann ein Buch, worauf er sich längere +Zeit nicht sehen ließ. Dann konnte er +wieder ganz unerwartet erscheinen, meist zu +einer unpassenden Stunde, am frühen Morgen, +und oft in so erregtem Zustand, daß es +den Eindruck machte, er hätte, nachdem er +am vorherigen Abend in einem Bierlokal der +Taganka angefangen, die Nacht bis zum +Morgen im Restaurant „Ssaratow“ und +bei Jar durchgekneipt, sich morgens in einer +Fünfkopeken-Badeanstalt gewaschen und +wäre von da aus direkt zu Marakulin gekommen, +– es fehlte nur der Birkenbesen. Es +war in der Tat auch so. Schüchtern gab er +das Buch zurück, brachte ebenso schüchtern +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +vor, daß er es nicht habe bewältigen können +und ein einfacheres haben möchte. Marakulin +gab ihm ein einfacheres Buch, und +Plotnikow verschwand wieder für längere +Zeit. +</p> + +<p> +In den letzten Schulklassen gab es damals +eine zusammengelaufene Bande, die ungefähr +das gleiche miteinander verband, was Marakulin +späterhin mit Glotow verbunden +hatte. Es waren einige Tollköpfe mit einem +Gefolge von Nachahmern und sonst Burschen, +die sich austoben wollten und aus denen +später die tüchtigsten Geschäftsleute und die +unbedeutendsten Kommis wurden. Mancher +von ihnen ergab sich nachher dem Trunk +und endete auf der Ssiworotka. Die Mitglieder +dieser Bande waren Stammgäste in +einem Bierlokal an der Taganka, auf den +Moskauer Boulevards, an den Sonntagen +im Sommer auch in Kuskowo, denn die +Bewohner der Taganka und der Rogoschskaja +ziehen im Sommer nach Kuskowo hinaus. +Zu dieser Bande gehörte auch Marakulin. +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +Zuweilen schloß sich ihr auch Plotnikow +an. +</p> + +<p> +Plotnikow, der bis zur Besinnungslosigkeit +trank, ließ sich einmal in einem sehr leichten +Anzug – noch leichter angezogene werden +auf die Wache gebracht – auf dem Taganskij-Platz +in einen Kampf mit Pferden +ein. Wüst und Beschwichtigungen unzugänglich, +betrunken bis zum äußersten, konnte +er die tollsten Sachen anstellen, ganz wahllos, +wie es ihm gerade einfiel, und ließ sich +dabei von niemand und von nichts stören. +Das war bekannt. Nur für Marakulin +machte er eine Ausnahme. In den äußersten +Fällen konnte einzig Marakulin den wilden, +unantastbaren Plotnikow beschwichtigen +und sogar zur Einsicht bringen. +</p> + +<p> +Pawel Plotnikow glich in der Unerschütterlichkeit +und unbeschränkten Willkür, zum eignen +Spaß die tollsten Streiche auszuführen, +ganz seinem Vater Wassilij Pawlowitsch. +Wassilij Pawlowitsch Plotnikow aber war +in dieser Beziehung der erste auf der Taganka, +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +und seine „Tätigkeit“ wirkte ansteckend: er +hatte nicht wenig Nachahmer. Nur daß +Wassilij Pawlowitsch, der keine einzige, geschweige +denn fünf Klassen absolviert hatte, +im Gegensatz zu seinem Sohn niemals wüst +wurde und auf den Plätzen weder mit Menschen +noch mit Pferden sich in Kämpfe einließ. +Er war still und sanft; Branntwein kam +nie über seine Lippen. Noch in den letzten Jahren +seines Lebens, als Wassilij Pawlowitsch +schon alt war, seine Erfindungsgabe ihn verlassen +hatte und er selbst sich wohl bewußt +war, nicht mehr recht auf der Höhe zu sein, +kam er auf den Gedanken, zum Zeitvertreib +die Schutzleute zum Trunk zu verführen – +er wollte die ganze Polizei buchstäblich kopfstehen +machen. Und er führte diese Absicht +mit der größten Meisterschaft aus, sein Ziel +mit allen Mitteln verfolgend: konnte er es +selbst nicht tun, so mußten es seine Leute auf +Befehl ausführen. Als Lockmittel diente ein +Wagen, ein ganz gewöhnlicher alter Wagen, +an dem nichts Besonderes war, nicht einmal +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +ein Wappen; denn den Bewohnern der Taganka +kommen Wappen ihrem Stande nach +nicht zu. Am Morgen setzte sich also Wassilij +Pawlowitsch ans Fenster und fing einen +Schutzmann ab, der um diese Zeit zum Polizeirevier +zu gehen pflegte. Der Schutzmann +wurde dann ins Haus gerufen, irgendeiner +Angelegenheit wegen, die es natürlich gar +nicht gab, denn man hütete sich sonst mit der +Polizei zu tun zu haben, aber eine Kleinigkeit, +die zum Vorwand dienen konnte, gab +es doch immer. Dabei schlug Wassilij Pawlowitsch +dem Schutzmann vor, sich den Wagen +anzusehen, und sein Vorschlag klang mehr +wie eine Bitte. Der geschmeichelte Schutzmann +folgte ihm in den Schuppen, wo schon +alles für den Spaß notwendige vorbereitet +war. Der Schutzmann wurde erst herausgelassen, +wenn er sternhagelvoll nicht mehr +auf den Beinen stehen konnte. Am nächsten +Tag wiederholte sich die Geschichte und allmählich +kam es so weit, daß der Schutzmann +alle Würde beiseite ließ und am Morgen +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +von selbst in den Schuppen kam, um sich den +Wagen anzusehen. Natürlich wurde er bald +aus dem Dienst entlassen, an seine Stelle +trat ein andrer, und mit diesem begann die +Wagengeschichte von neuem. Der Ruhm +Wassilij Pawlowitschs ließ den Fischhändler +Barabochin nicht schlafen, und seinem Vorbilde +nacheifernd verführte er die Popen +zum Trunk. Als Lockmittel diente ihm ein +ganz gewöhnlicher Fischbehälter; nicht etwa, +daß sich darin irgendwelche ausgefallenen +fabelhaften ausländischen Fische mit schwer +auszusprechenden Namen befunden hätten, +sondern es war ein Behälter mit ganz gewöhnlichen +Sterleten ... Der Wagen sowohl +wie der Fischbehälter arbeiteten ziemlich +lange Zeit mit unerhörtem Erfolg, bis +ihre Inhaber des Spaßes überdrüssig wurden. +So war Wassilij Pawlowitsch beschaffen, +und er ließ in seinem Sohne Pawel einen +Erben zurück, der seiner würdig war. Zusammen +mit dem Wagen hatte Plotnikow von +seinem Vater auch sonst noch allerlei Einfälle +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +zum Zeitvertreib geerbt und hatte dieses +Pfund nicht vergraben, sondern weiter damit +gewuchert. Es mochte ihm was immer +einfallen, so beruhigte er sich nicht, bis er es +ausgeführt hatte; es fiel ihm aber manches ein, +wovor einem Angst werden konnte. Aber nie +hätte er sich etwas erlaubt, das geeignet gewesen +wäre, Marakulin zu verletzen – Marakulin +war eben eine Ausnahme. Und auch +das wußten alle. +</p> + +<p> +Dreimal hatte Plotnikow Marakulin seine +warme, freundschaftliche Teilnahme bewiesen: +einmal, indem er ihn beschützte, das +zweitemal, indem er ihn einrichtete, und das +dritte, indem er ihn befreite. Das Beschützen +bestand darin, daß Plotnikow Marakulin +von Strakunow befreite, indem er Strakunow +vor allem Volk und unter Begleitung +guter Lehren tüchtig verprügelte. Auf der +Taganka trieb sich damals nämlich ein gewisser +Ssaschka Strakunow herum, ein +Durchschlüpfer: der Teufel mochte wissen, +wovon er lebte, er war eben nicht wählerisch. +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +Es gelang ihm, sich in die Bande, die sich +in Kuskowo herumtrieb, einzuschleichen und +Marakulin zu gefallen. Gott weiß wodurch, +denn Marakulin selbst hätte nicht sagen können, +was ihn an Strakunow so sehr anzog. +Er stammte wohl von Zigeunern ab und +schnitt beständig Grimassen, sonst war an +ihm nichts Hervorragendes. Dieser Bursche +plünderte Marakulin förmlich aus, und alles +Geld, das dieser durch Stundengeben verdiente, +machte er sich zur Beute. So ging es +einen Monat lang. Als Plotnikow dies erfuhr, +zögerte er nicht lange und beschützte +Marakulin. +</p> + +<p> +Ferner: gleich nach Absolvierung der Schule, +fast unmittelbar nach dem Examen, kaum +daß er eine Woche die Freiheit genossen +hatte, trat Marakulin bereits in das Bureau +an der Kusnetzkajabrücke ein – und das war +Plotnikows Werk. +</p> + +<p> +Die Sommerabende wurden damals auf den +Boulevards verbracht. Einmal lernte Marakulin +bei der Donnerstagsmusik in Tschistije-Prudy +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +ein Mädchen namens Polja kennen. +Polja, die erst in der Dämmerung auf dem +Boulevard zu erscheinen pflegte, wohnte auf +der Rogoschka, in der Bahnhofstraße. In +Tschistije-Prudy war sie als Polja bekannt, +aber Dunajew, der Marakulin mit ihr bekanntgemacht +hatte, nannte sie Dunja, auch +von Poljanskij wurde sie so genannt. Dunajew +und Poljanskij waren seine Schulkollegen, +und da sie beide ebenfalls auf der +Taganka wohnten, gehörten sie mit zu der +Bande. Bald wurde Polja auch für Marakulin +zur Dunja. Diese nähere Bekanntschaft +kam nicht zustande, weil Marakulin sie so +sehr ersehnt hatte, nein, der Grund war ein +ganz anderer – purer Blödsinn. Zu Ostern +nämlich hatte Marakulin Poljanskij besucht +und war in einem gewöhnlichen Gespräch +über die Schulkameraden – es war kurz vor +den Schlußprüfungen – mit Poljanskij in +einen Streit über Dunajew geraten. „Du +bist in Dunajew einfach verliebt,“ bemerkte +Poljanskij eigentümlich lächelnd, „er sieht +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +wie ein junges Mädchen aus, deshalb nimmst +du ihn so in Schutz.“ Marakulin wurde ganz +rot und sehr verlegen, weil Poljanskij so lächelte +und weil er selbst sich rot werden fühlte: +sollte er in der Tat Dunajew deshalb verteidigt +haben, weil dieser einem jungen Mädchen +glich? – Damit fing es an. Dieser wie +ein junges Mädchen aussehende Dunajew, +der auf den Boulevards zu Hause war, +bot Marakulin an, – sei es als Zeichen seines +kameradschaftlichen Dankes, oder „überhaupt +so“ – in solchen Angelegenheiten spielt +dieses „überhaupt so“ eine wichtige Rolle – +ihn mit Polja bekanntzumachen. Marakulin, +der Poljanskijs Worte und vor allem die Art, +wie er gelächelt hatte, nicht vergessen konnte, +stürzte sich auf diese Bekanntschaft: jetzt würde +Poljanskij nicht mehr so lächeln. Ein richtiger +Knabenunsinn wurde so zum Anlaß! +An einem der Donnerstagabende in Tschistije-Prudy +kam die Bekanntschaft zustande. Marakulin +gefiel dem Mädchen auf den ersten +Blick. Gleich in den ersten Tagen, nachdem +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +sie ihn kennen gelernt hatte, sprach sie es vor +Dunajew und Poljanskij ganz geradezu aus. +Und als sie einmal nachts im Bahnhofgäßchen +Marakulin aus ihrem Zimmer hinunterbegleitete, +lief sie flink die Treppe voraus, um +die Tür aufzuschließen, versperrte Marakulin +den Weg, umarmte ihn fest – ihre Arme +wurden dabei plötzlich ganz kindlich-zart – +und steckte ihm ein Tuch, in dem die Anfangsbuchstaben +seines Namens in Kreuzstich eingestickt +waren, ein seidenes, duftendes Tüchlein, +in die Tasche. Es duftete aber nicht nach +dem Parfüm, das sie sonst brauchte, wenn +sie in der Dämmerung auf den Boulevard +ging, sondern nach einem anderen. Seit jener +Nacht aber trieb es ihn immer mehr von ihr +fort, und je mehr sich Dunja an ihn hing, +desto mehr entfernte es ihn von ihr. Gegen +Ende des Sommers wurde ihm ihre Betulichkeit +und ihr Auflauern ganz unerträglich: er +konnte sich nirgends mehr vor ihr verstecken. +Sie hatte sich vom Boulevardleben zurückgezogen, +putzte sich nur für ihn, parfümierte +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +sich für ihn mit jenem anderen Parfüm. Dies +war für sie ein Opfer: denn es ist für eine, +die von der Straße lebt, ganz unmöglich, +Geld für Putz auszugeben, wenn sie nichts +verdient. Und sie hätte auch jetzt noch, so wie +sie war, vorwärts kommen können, wenn sie +gewollt hätte: es war etwas Ungewöhnliches +an ihr. Ihre Boulevardfreundinnen +behaupteten es, auch Dunajew und Poljanskij +waren dieser Meinung. Auch Marakulin +wußte es – ihre Arme waren damals in der +Nacht plötzlich so kindlich-zart geworden – +doch was sollte er tun? Ihr Tuch, das er nie +aus der Tasche nahm und das er gewiß vergessen +hätte, wenn er es nicht immerzu hätte +fühlen müssen, dieses Tuch mit seinen in +Kreuzstich gestickten Anfangsbuchstaben, das +kleine seidne Tüchlein, zog ihn wie etwas +Schweres hinunter, als wäre es aus Blei und +nicht aus Seide, und es blieb ihm nichts +übrig, als entweder es zu verbrennen oder in +den Moskaufluß zu werfen. Er warf es in die +Moskau. – Es war Ende August, an einem +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +der letzten Kuskowschen Feste: die Bewohner +der Taganka und der Rogoschskaja waren im +Begriff heimzukehren, – es war der letzte +Sonntagabend, kalt und klar gestirnt. Das +Theater war bereits aus und der Bahnhof +voller Menschen. Auf dem Perron spazierte +Dunja. Da trat Marakulin auf sie zu und +überschüttete sie mit der ganzen in ihm aufgesammelten, +lange zurückgehaltenen und jetzt +plötzlich aufkochenden Wut, ohne eine Erwiderung +abzuwarten, ohne ihr nur Zeit zum +Erwidern zu lassen. Auf einmal brach er ab +und ließ sie stehen. Er glaubte jetzt alles ausgerichtet +zu haben: jetzt war er sie los, war +er mit ihr fertig. Und mehr wollte er ja nicht! +Zu Dunja gesellte sich darauf Poljanskij und +ging mit ihr auf dem Perron auf und ab. +Als sie an Marakulin vorbeikamen, flüsterte +Poljanskij ihm etwas zu, aber so leise, daß er +die Worte nicht verstehen konnte, nur das +Lächeln bemerkte er, das gleiche Lächeln, wie +damals zu Ostern. Als dann Marakulin die +beiden von ferne – am anderen Ende des +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +Perrons – wieder erblickte, empfand er einen +brennenden Vorwurf. Je näher sie kamen, +desto brennender wurde der Vorwurf und die +Scham in ihm. Und als sie wieder ganz nah +an ihm vorüberging – er stand ganz allein +und für sich – und er sie von Angesicht zu Angesicht +sah – da konnte er dies brennende Gefühl +des Vorwurfs und der Scham nicht +mehr ertragen: er warf sich ihr zu Füßen und +verneigte sich tief bis zur Erde. Da geschah +lautlos offenbar etwas Unheimliches: denn +die Menge stob plötzlich nach allen Richtungen +auseinander. In dem Moment nämlich, +da sich Marakulin verneigte, fuhr der +Zug ein, der Bahnhof erdröhnte, der Wind +pfiff, – und als er sich erhob, sah er, daß +ein Polizist, vielleicht war es auch ein Polizeileutnant, +Dunja beim Arm fortschleppte. +Marakulin begann zu zittern, begriff nichts, +und einzig das scharfe Pfeifen des Windes +in den Ohren, versetzte er dem Polizeileutnant +einen Schlag. Es war aber so, daß der Reviervorsteher +Dunja gar nicht arretieren wollte, +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +vielmehr konnte er sie gerade noch zurückreißen, +bevor der Zug sie erfaßte und zermalmt +hätte. Dies erfuhr Marakulin aber, als es +schon zu spät war. Am nächsten Abend erschien +Plotnikow plötzlich im Polizeirevier +auf der Taganka, wohin Marakulin aus +Kuskowo gebracht worden war, und teilte +ihm schüchtern mit: man würde ihn morgen +früh freilassen. In der Tat wurde Marakulin +am nächsten Morgen ohne weitere Folgen +entlassen. So hatte ihn Plotnikow damals +aus dem Gefängnis befreit. Das war auch +Marakulins letztes Zusammentreffen mit ihm +gewesen. +</p> + +<p> +Alle diese Moskauer Erlebnisse stiegen bis +ins kleinste in seiner Erinnerung auf und +ließen Marakulin die ganze Nacht nicht +schlafen. Erst ganz nah vor Moskau schlummerte +er ein und hatte einen seltsamen +Traum. +</p> + +<p> +Er träumte, Pawel Plotnikow trete zu ihm +und spreche schüchtern: +</p> + +<p> +– Das beste, rationellste und psychologischste +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +für dein Leben wäre, dir den Kopf +abzuschneiden. +</p> + +<p> +Marakulin aber antwortete: +</p> + +<p> +– Wie soll ich dann ohne Kopf leben, es +ist ja schrecklich ohne Kopf! +</p> + +<p> +– Was ist aber zu machen! – erwiderte +Plotnikow und redete ihm zu: es würde gar +nicht weh tun und ihm höchstens seltsam und +sonderbar vorkommen. Und obwohl er ihm +auf seine Art schüchtern zuredete, so ließ er +doch keinen Widerspruch gelten. +</p> + +<p> +– Nun, so schneide ab! – willigte Marakulin +ein. +</p> + +<p> +Da nahm Plotnikow ein Rasiermesser und +machte sich ans Abschneiden. Es tat wirklich +nicht weh, und bald hing der Kopf nur +noch wie an einem Faden nach hinten. +</p> + +<p> +– Noch eine kleine entscheidende Bewegung +und der Kopf ist abgeschnitten – +sagte Plotnikow und arbeitete mit dem Rasiermesser. +</p> + +<p> +Und der Kopf fällt zu Boden. +</p> + +<p> +Aber auch ohne Kopf sieht Marakulin alles: +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +er sieht, wie der Kopf herunterfällt, auf dem +Fußboden rollt und verschwindet, und gleichzeitig +schießt aus dem Hals das Blut in einem +großen Strahl in die Höhe bis zur Decke – +dickes, kirschrotes Blut. Der ganze Boden +ist überflutet, und auch er ist ganz mit Blut +bedeckt. Dann wird die kirschrote Blutfontäne +schwächer, immer schwächer, und bald +spritzt das Blut nicht mehr, es versiegt, und +nur ein kleines Bächlein rinnt über die Weste +zu Boden. Marakulin tritt zum Spiegel: +seltsam und sonderbar kommt er sich ohne +Kopf vor, – es ragt nur noch der blutige +Hals. +</p> + +<p> +– Wie soll ich nun ohne Kopf leben? – +Er spuckte aus und erwachte. +</p> + +<p> +Der Traum war ahnungsvoll: seltsam und +sonderbar war auch, was dann geschah. +</p> + +<p> +Bei Plotnikow wurde Marakulin schon erwartet. +Der alte Arbeiter Fomitsch führte +ihn gleich zu seinem Herrn ins Arbeitszimmer. +Das Zimmer war in zwei Hälften geteilt. +In der einen Abteilung befanden sich +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +Kopien nach Nesterowschen Heiligenbildern, +in der anderen zwei Käfige mit Affen. Zwischen +dem heiligen Rußland und den Affen +saß Plotnikow vom Delirium des Säufers +übermannt. Er war ganz mit Honig beschmiert +und von der quälenden Trauer eines +Einsiedlers umdüstert. Auf dem Tisch standen +geleerte Flaschen herum, ebenso unter dem heiligen +Rußland und vor dem Affenkäfig. +</p> + +<p> +Er habe keinen Kopf mehr, klagte Plotnikow, +sein Mund sei ihm im Rücken, die Augen in +den Schultern. In den Weihnachtstagen +habe er sich auf den Honig gestürzt und ihn +samt den Waben verzehrt. Er habe zuviel +davon gegessen und infolgedessen hätten +sich Bienen in ihm eingenistet, ein ganzer +Bienenstock. Jetzt sei er ein Bienenstock und +fürchte sich sehr, – Alle seien ja auf das Süße +so erpicht – er fürchte, daß man alle seine +Bienen umbringen, den Bienenstock zerstören +und ihn auffressen würde! Im Sommer +aber, sobald die erste Fliege auftauchen werde, +wolle er sich mit der Ausbeutung der Fliege als +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +einer motorischen Kraft befassen. Er werde +ganz Rußland in Abteilungen einteilen, mit je +einem Fliegenstatthalter in jeder Provinz. Die +Statthalter, mit der Vollmacht von Generalgouverneuren +ausgerüstet, werden die Fliegenlese +überwachen und sie in automatischer +Packung in ganz besonders gepanzerten Automobilen +von allen Ecken Rußlands gradewegs +nach Moskau, nach der Taganka befördern. +Die russische Fliege werde den +Dampf und die Elektrizität besiegen, Rußland +werde England und Amerika zu Staub +zermalmen. Er habe keinen Kopf, sein Mund +sei im Rücken, die Augen in den Schultern. +Er sei ein Bienenstock. Die russische Sprache +verstehe er nicht und könne auch nicht Russisch +sprechen. +</p> + +<p> +– Ich brauche deinen Elephanten nicht! – +schrie Plotnikow, indem er Marakulin mit +seinen betrunkenen Augen von oben bis unten +hochmütig ansah, und schimpfte in so +echt russischen Wendungen, ließ solche Blasen +steigen, daß ihm vor der Klangfülle und +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +Kernigkeit der Muttersprache die Augen aus +den Höhlen traten. +</p> + +<p> +Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland +und den Affen und begriff nichts: weder +das von dem sonderbaren russischen Fliegenmotor, +noch vom Bienenstock und Elephanten, +und es war ihm seltsam und sonderbar +zumute. Sein Schweigen aber begann +Plotnikow offenbar zu reizen. Er war nicht +mehr in dem reuig-traurigen Zustand eines +Einsiedlers, sondern er schnaubte. +</p> + +<p> +Die russische Sprache verstehe er nicht und +Russisch könne er nicht sprechen. Mit Hilfe +der arktischen Flotte werde Rußland, nachdem +es Europa zermalmt, über Lappland +zum Pol ziehen und nicht bloß den Pol erobern, +wo die Fische mit angebratenen +Schwänzen leben, sondern alles, was sich +hinter dem Pol befindet, den unbekannten +Wohnsitz von Gog und Magog – und dieses +unbekannte Gog und Magog werde Landia +genannt werden, das heißt: das Land. +Von dort aus, von dieser hinterpolaren Landia +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +aus, werde Rußland, das heißt er, Pawel +Plotnikow, die unentgeltliche, allrussische +Fliegenkraft als Motor benutzend, die Erdkugel +automatisch regieren und sie nach Gutdünken +bald rechts, bald links rotieren lassen, +sie bald aufhalten und bald wieder in Bewegung +setzen. +</p> + +<p> +– Du Schuft! – rief Plotnikow plötzlich, +– deine Elephanten sind zerdrückt, ich sage +dir, ich kaufe keine zerdrückten Elephanten! +</p> + +<p> +Er ergriff eine Flasche vom Tisch, erhob sich, +rot, zerzaust, mit Honig beschmiert, den +Mund wie einen Rachen weit aufgesperrt +und holte zielend mit der Flasche aus. +</p> + +<p> +Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland +und den Affen. Er begriff nichts, weder +das von der arktischen Flotte, noch von +Gog und Magog, noch von der Landia und +vom Rotierenlassen der Erdkugel nach Belieben, +– und es war ihm seltsam und sonderbar +zumute. +</p> + +<p> +Plötzlich aber glitt die Flasche fast schüchtern +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +zu Boden, und ein rasender tierischer Schrei, +erschütternder als jeder Hilferuf, ertönte so +gewaltig, daß die Wände fast barsten, das +heilige Rußland zu wanken begann und die +Affen in ihren Käfigen zurückscheuten. Es +stöhnte in den Winkeln des Raumes und +dröhnte durchs ganze Haus: +</p> + +<p> +Plotnikow, der sich in seiner bösen Trinkerperiode +befand, ohne Kopf, mit dem Mund +auf dem Rücken und den Augen in den Schultern, +Plotnikow, der Bienenstock, der kein +Wort Russisch verstand und nicht Russisch +sprach – hatte Marakulin plötzlich erkannt. +</p> + +<p> +– Petruscha, Schuft aller Schufte! – +schrie er. Er blieb stecken, drehte den Kopf +wie einen Rüssel, stampfte vor Marakulin hin +und her und spreizte die behaarten Hände +wie Fangarme; dabei rüttelte und schüttelte +es ihn, wie ein arktisches Panzerschiff: +– Petruschka, du Schuft! – +</p> + +<p> +Er wankte zum Sofa, schlug mit seinem bepanzerten, +Gog und Magog ähnlichen urtümlichen +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +Plotnikowschen Körper auf den +Boden zwischen dem heiligen Rußland und +den Affen hin und begann wie ein Bienenstock +zu dröhnen. +</p> + +<p> +Zwei junge Männer, die an der Tür Wache +hielten, faßten Marakulin unter die Arme +und trugen ihn wie eine kostbare Truhe aus +dem Arbeitszimmer in den Salon. Ihm entgegen +kam auf einen Stock gestützt eine magere +alte Frau, die Mutter Plotnikows, Eudokia +Andrejewna in eigener Person. +</p> + +<p> +– Du hast ihn gesund gemacht! – Die Alte +konnte vor Erregung kaum sprechen, und +nachdem sie auf altrussische Art ein großes +Kreuz geschlagen, ließ sie den Stock fallen +und verneigte sich vor Marakulin tief bis zur +Erde. Einige dunkelgekleidete alte Frauen +stürzten aus den Ecken hinzu, um ihr zu helfen, +aber sie wollte nicht aufstehen. Erst Marakulin +gelang es, die Alte zu beruhigen. +</p> + +<p> +Achtundvierzig Stunden schlief Plotnikow, +wie ein Bienenstock dröhnend. Es herrschte +eine Stille, als wäre außer ihm, außer dem +<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> +Bienenstock keine lebendige Seele im Hause. +Diese ganzen zwei Tage ließ man Marakulin +nicht aus dem Hause: er wurde gepflegt, +gefüttert, aber seine Tür wurde verschlossen +gehalten. +</p> + +<p> +Man unterhielt sich über den unseligen Pascha<a class="fnote" href="#footnote-9" id="fnote-9">[9]</a>, +über sein Unglück: er habe sich mit +Honig beschmiert und seitdem aufgehört, die +Menschen zu erkennen, selbst seine Mutter +hielt er für einen gehörnten Elephanten, für +ein zerdrücktes Tier, und habe Fomitsch befohlen, +sie zu erschießen. Er habe dann in +seinem unglückseligen Delirium jammervoll +nach Marakulin gerufen, so jammervoll, +wie eine Katze, der man die Jungen entrissen. +</p> + +<p> +– Da erinnerte ich mich – erzählte Eudokia +Andrejewna, – daß Pascha, als er anfing, +sich ans Geschäft zu gewöhnen, oftmals +ein Buch mitbrachte. Bei Petruscha, +bei Peter Alexejewitsch war er, hieß es, und +habe das Glück mitgebracht. Er glaubt an +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +dich von Kindheit an. Und so dachte ich: der +einzige Retter vor seiner grausamen Krankheit +und vor seinem Unglück kannst du nur +ihm sein. Wir baten den Priester von Woskressenje<a class="fnote" href="#footnote-10" id="fnote-10">[10]</a>, +den Vater Ssemjon, ihn mit +Weihwasser zu besprengen, er ließ ihn aber +nicht an sich heran und nannte ihn ein zerdrücktes +Tier. Dann wollten wir ihn nach +Chapilowka zum Bruder Iwanuschka bringen, +er wollte aber nichts hören. Dem Arzt +Nikolai Fjodrowitsch sei es gedankt. Er hat +uns auf den Gedanken gebracht, dich kommen +zu lassen. Du, Lieber, hast ihn geheilt! – +und die Alte bekreuzigte sich auf altrussische +Art mit einem großen Kreuz und verneigte +sich tief. +</p> + +<p> +– Durch die Einwirkung des Unreinen, +– wie eine grimmige Bestie! – flüsterten +die dunklen Alten in den Ecken. +</p> + +<p> +Und Eudokia Andrejewna schlug Kreuze und +verneigte sich tief. +</p> + +<p> +Am dritten Tag erwachte Plotnikow, fuhr, +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +als wäre nichts vorgefallen, in die Stadt und +kehrte erst am Abend wohlbehalten wieder +heim. Am Abend schleifte er Marakulin mit +sich ins Wirtshaus zu Lawrow. +</p> + +<p> +Sie saßen wieder wie einst im linken Saal in +einer Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat. +Plotnikow kramte Erinnerungen +aus: Erinnerungen an die Schule, an die +Lehrer, an Tschistije-Prudy und Kuskowo. +Er erinnerte sich sogar an eine besondre Lawrowsche +Suppe, die Marakulin damals so +gern gegessen haben sollte. Der Musikautomat +machte traurig: doch nicht daß man Lust bekam, +das Vergangene zurückzurufen – die +Vergangenheit lag ja hier vor einem wie auf +der flachen Hand – sondern es war unverständlich, +wozu es einmal gewesen war, es sei +denn dazu, daß man sich einmal daran erinnerte. +Und in die geheimsten Winkel seines +Lebens hineinschauend, erkannte Marakulin, +daß es sich eigentlich in nichts verändert hatte, +daß er damals bei der besondren Lawrowschen +Suppe dasselbe gedacht und gefühlt +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +hatte wie jetzt, nur unklar und nicht ausgesprochen, +mit einem flüchtigen, zufälligen +Aufflackern von Klarheit. Uebrigens, verändern +sich denn die Menschen überhaupt? – +</p> + +<p> +Sie saßen wie einst im linken Saal in einer +Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat. +</p> + +<p> +– Mit deinem Arkadij Pawlowitsch – +sagte Plotnikow, – mit dem Reviervorsteher, +– du hast ihn damals sehr zu Unrecht +gekränkt, Petruscha – habe ich da ... – +Plotnikow zeigte in die Richtung der Separés +und schlug sich seufzend auf die Tasche, +– Fünfhundert Rubel verlangte er +für den Vergleich, und alles wegen deiner +Fenja ... +</p> + +<p> +– Dunja – verbesserte Marakulin. +</p> + +<p> +– Dunja, Fenja, einerlei, – komm mit zu +Arkadij Pawlowitsch, Freund, er wird sich +sehr freuen! Er hat, weißt du, für den Moskauer +Aufstand ein Kreuz bekommen, wirklich, +und ist auf die Twerskaja versetzt worden +– er wird sich sehr freuen! Und weißt du +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +was noch, Petruscha – Plotnikow neigte +sich zu ihm und sprach ganz leise – ich glaube +an dich, wie an den lieben Gott, und wenn +in den Geschäften etwas nicht glatt geht, so +brauche ich nur an dich zu denken, deinen +Namen laut auszusprechen, und sieh, alles +geht nach Wunsch. Ich denke darum, wenn +mein Ende einst naht und ich sterben muß, +dann werde ich dich rufen, du wirst kommen +und meinen Tod aufhalten. Ich werde wie +eine grindige Katze miauen, du aber wirst +mich wieder zum Menschen machen. So +denke ich von dir, Petruscha! +</p> + +<p> +Sie saßen wie einst im linken Saal, und wie +einst spielte der Musikautomat. +</p> + +<p> +Doch sonderbar: während Plotnikow sich an +alles von früher her erinnerte, selbst an die besondre +Lawrowsche Suppe, die Marakulin +gern gegessen haben sollte, und während er +seinen Glauben an ihn bekannte, war er gar +nicht neugierig und fragte auch nicht mit +einem Wort, wie es Marakulin jetzt gehe; +und noch sonderbarer war dies, daß Plotnikow, +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +ohne die Augen von Marakulin abzuwenden, +einen ganz anderen zu sehen schien, +nicht Marakulin, sondern Gott weiß wen! +Vielleicht sah er in der Tat in ihm jemand, +den man nicht nach seinen Angelegenheiten +ausfragen kann. Man fragt doch die Iwerskaja +Mutter Gottes<a class="fnote" href="#footnote-11" id="fnote-11">[11]</a> nicht nach ihren Geschäften! +– Und es war Marakulin sonderbar +und seltsam zumute. +</p> + +<p> +Noch einen Tag blieb Marakulin bei Plotnikow. +Plotnikow führte ihn nach der Iljinka +in den Speicher, dann in das Twersche Polizeirevier +zu Arkadij Pawlowitsch; er war zu +Plotnikows großem Bedauern nicht anwesend. +Abends brachte er Marakulin zur Bahn. +Und beim Abschied wiederholte er, daß er an +ihn wie an den lieben Gott glaube, und wenn +er einst im Sterben ihn erblicken werde, so +werde er sich vom Krankenlager erheben, +wie eine grindige Katze miauen und sich wieder +in einen Menschen verwandeln. +</p> + +<p> +Erst nachts unterwegs fragte sich Marakulin +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +plötzlich, ob er seinen Aufenthalt in Moskau +nicht geträumt hätte. +</p> + +<p> +Das Alles war so sonderbar und seltsam: daß +Plotnikow an ihn wie an den lieben Gott +glaubte, daß er sich nach der Iljinka in den +Speicher schleifen ließ, ja sogar zum Reviervorsteher +Arkadij Pawlowitsch, – aber nach +Kalitnikowo auf den Friedhof zu gehen, hatte +er vergessen. Und er hätte doch unbedingt +hingehen müssen, einen Augenblick am Grabe +seiner Eltern verweilen, es nur ansehen, – nur +ansehen und Abschied nehmen! +</p> + +<p> +Und ein Gefühl von Gram überflutete ihn. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-7"> +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +Sechstes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">en</span> ganzen Tag von Morgen bis zum +Abend lief Wera Nikolajewna herum, +um zu massieren, die Abende verbrachte sie +über ihren Lehrbüchern: sie bereitete sich zum +Abiturientenexamen vor, weil sie um jeden +Preis in das medizinische Institut eintreten +wollte. Wera Nikolajewna wurde von Anna +Stepanowna unterrichtet, deren Angelegenheiten +im Lednjowschen Mustergymnasium +übrigens nicht zum besten standen. +</p> + +<p> +Die Vorsteherin Lednjowa zahlte ihr vorläufig +mit Aussicht auf die geheimnisvollen +Equipierungsgelder den Gehalt aus eigener +Tasche, und sie begleitete diesen üppigen Vorschuß +jedesmal mit ihren beliebten Erörterungen +über gute Taten, über den Verfall der +Moral überhaupt und über ihre eigene Opferwilligkeit +– man denke: in ihrem eignen +Gymnasium gab sie den Unterricht umsonst! +– +</p> + +<p> +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +Nach Anna Stepanownas Erzählungen +war in diesem Gymnasium die Hölle los. +Es herrschte ein musterhafter Wirrwarr in +dem musterhaften Gymnasium. Nicht weil +da etwa lauter ungezogene Kinder beisammen +gewesen wären, nicht an ihrer Ausgelassenheit +lag es, sondern weil man die +Schülerinnen als Einnahmequellen warm +halten mußte, und diese Behandlung von den +Kindern ganz richtig eingeschätzt wurde. +Natürlich wurden nie Verweise erteilt, und +die Noten mußten so ausfallen, daß die Eltern +nicht auf den Gedanken kommen sollten, +ihre Töchter in eine andre Schule zu geben. +Die Lednjowa gab selbst Unterricht und liebte +es auch, den Stunden andrer beizuwohnen +und durch allerlei Fragen ihre unbezahlten +Lehrer zu kontrollieren. Es wurde überhaupt +nach keinem Programm unterrichtet, auch +nicht nach den Lehrbüchern, die das Unterrichtsministerium +begutachtet und bestimmt. +So zum Beispiel waren in der großen französischen +Revolution nicht etwa Robespierre +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +und Marat die Führer, wie man gewöhnlich +lehrt – was bedeutet auch so ein Robespierre +oder Marat! – der Hauptführer war +Hugo Capet, der für sein Verbrechen gegen +König Louis zugrunde ging. +</p> + +<p> +Der musterhafte Wirrwarr im musterhaften +Gymnasium wurde durch eine musterhafte +Enge und Kälte vervollständigt. Es herrschte +darin eine echte Januarkälte. Die Oefen wurden +niemals geheizt, und zwar nicht nur nicht +in den Klassenzimmern – denn so verlangt +es das letzte Wort der Hygiene –, sondern +auch nicht im Lehrerzimmer. Es ist wahr, +daß die Kinder nicht sehr darunter litten: sie +tanzten, sprangen, tobten herum, und das +Gymnasium war ein wahres Sodom an +Lärm. Für die Lehrer war es weniger bequem, +daran teilzunehmen: leise kann man nicht +Lärm machen und laut schickt es sich nicht. +Auf alle Vorstellungen hatte die Lednjowa +nur eine Antwort: +</p> + +<p> +– Was fällt Ihnen ein? Sie sollten sich erst +das Karrassewsche Gymnasium, oder das +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +Spaßesche ansehen, dort ist es wirklich +kalt! +</p> + +<p> +Diese Antwort der Lednjowa versetzte Anna +Stepanowna aus Petersburg in ihr Purchowez +zurück und erinnerte sie an den Inspektor +der Volksschulen, an den berühmten +Obraßzow. +</p> + +<p> +Dieser berühmte Mann aber war nicht mehr +und nicht minder als der leibliche Bruder der +Vorsteherin Lednjowa. +</p> + +<p> +Rakow, der Historiker, sprach mit großem Respekt +von ihm. Nach Rakow, wäre Obraßzows +Name, hätte dieser in der „antiken Geschichte“ +gelebt, unbedingt unter den berühmten +Aussprüchen im Tempel zu Delphi +eingegraben worden, und sein Kopf hätte +den Giebel des athenischen Parthenon geschmückt. +Und Rakow, der Historiker, irrte +sich nie. +</p> + +<p> +Als einmal ein Lehrer sich bei Obraßzow +beklagte, daß <a id="corr-11"></a>es in der Schule naß und kalt +sei, nur sechs Grad, da lautete Obraßzows, +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +einer Lednjowa würdige Antwort folgendermaßen: +</p> + +<p> +– Ich bitte Sie, sechs Grad, das ist ja doch +ein wahrer Segen. Im Pokidoschenschen +Gouvernement aber, da kam ich einmal, als +ich noch Inspektor dort war, in eine Schule: +die Kinder saßen in Schafpelzen, der Lehrer +im Pelz und in Gummischuhen. Ich sitze ein +Weilchen da, bin ganz durchfroren. Ich will +eine Notiz über meinen Besuch machen, doch +die Tinte ist eingefroren. Der Lehrer blies in +das Tintenfaß, blies und wärmte es, es nützte +aber nichts, und ich mußte ohne Notiz abreisen. +Eine solche Kälte war da! Bei Ihnen +aber ist ein wahrer Segen! – Und als ein +andrer Lehrer sich einmal über die Enge in +der Schule beklagte, da blieb ihm Obraßzow +auch die Antwort nicht schuldig: +</p> + +<p> +– Ich bitte Sie – rief er, – Sie haben +keine Ahnung von wirklicher Enge. Im Pokidoschenschen +Gouvernement, da kam ich einmal, +als ich dort noch Inspektor war, in eine +Pfarrschule: es war auch zugleich das Armenhaus. +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +Im selben Zimmer die Betten der +Armenhäuslerinnen, eine Gans schnattert in +einem Korb auf den Eiern, ein Kalb blökt, und +gleich daneben die Kinderchen auf fünf Bänken, +– kein Platz, um auch nur einen Schritt +zu machen, und die Luft so, daß mir der Atem +verging. So eng ist es manchmal, hier aber ist +ein wahrer Segen! – Dem Lehrer aber, der +von einer Masse Frösche meldete, die sogar +unter die Bettdecke krochen, gab Obraßzow +einen wahrhaft delphischen Verweis, der es +gebieterisch verlangt, Purchowez oder Pokidosch +in Rakows Geschichte des Altertums +aufzunehmen. +</p> + +<p> +– Es kann hier von einer Masse gar nicht +die Rede sein – rief Obraßzow – ein Dutzend +höchstens hüpft da herum, gleich kommen +Sie und nennen das eine Masse! Sie +haben eben nie eine Masse gesehen! Im Pokidoschenschen +Gouvernement, da kam ich einmal, +als ich noch Inspektor dort war, in eine +Schule, da wimmelte es an der Decke buchstäblich +von Schwaben. Wenn man die +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +Tür zuschlug, da regneten sie nur so herunter! +Das nenne ich eine Masse. Als +ich nach Hause kam und mich auszukleiden +begann, da wimmelten die Schwaben +nur so auf mir herum. Meine Frau bekam +Angst und stieß mich sofort in den +Frost hinaus, und ich mußte mich draußen +ausziehen. Aber bei Ihnen hier ist ja ein +wahrer Segen! +</p> + +<p> +Ja, Rakow der Historiker hatte recht, wie +immer. +</p> + +<p> +Doch wenn man den Namen des berühmten +Purchowezschen Inspektors unter den berühmten +Aussprüchen im Tempel von Delphi +hätte eingraben müssen, so müßte man +die Vorsteherin Lednjowa, welche die große +Kunst besaß, keinen Heller aus ihrer eigenen +Tasche auszugeben und die nicht nur ihre +ausgehungerten Lehrer, sondern sogar das +Ministerium naszuführen verstand, – noch +großartiger ehren! +</p> + +<p> +Der Winter ging zur Neige. Zugleich mit +dem Schnee schmolz der große schwarze +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +Berg auf dem belgischen Hof zusammen. +Der Frühling kam, Ostern kam. +</p> + +<p> +Freudlos wurde das Osterfest empfangen, so +wie das Weihnachtsfest freudlos vergangen +war. Wassilij Alexandrowitsch der Clown +hatte das Krankenhaus verlassen. Seine Ferse +war geheilt, dennoch war seine Kunst unwiderruflich +verloren. An der Ferse war etwas +nicht richtig, er hatte gleichsam keine +Ferse mehr: er konnte nur bis zur Ecke der +Gorochowaja gehen, bis zum Zeitungsausträger +und zurück, nicht weiter. Wera Nikolajewna +riet der Arzt, statt das Abiturientenexamen +zu machen, keine Zeit zu verlieren und +nach Abas-Tuman<a class="fnote" href="#footnote-12" id="fnote-12">[12]</a> zu reisen: an ihrer Lunge +war etwas sehr nicht in Ordnung – es war +etwas wie ein Geräusch oder ein Zischen. +Anna Stepanowna fiel bei der musterhaften +Lednjowschen Ordnung einfach um vor +Müdigkeit – und lächelte. Sie lächelte stets +ihr krankes, erschreckendes Lächeln. +</p> + +<p> +Zu Ostern ereignete sich auf dem Burkowschen +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +Hof alles, was jahraus, jahrein an den +hohen Feiertagen sich zu ereignen pflegte, seitdem +das Haus an der Fontanka stand: Unfälle, +Begebenheiten, Skandale, Schlägereien, +Prügeleien, Hilferufe, Polizeiwache – +doch alles in sehr gesteigertem Maße und +viel lauter als gewöhnlich. +</p> + +<p> +Bei der Hebamme Lebedjowa ereignete sich +wieder ein Diebstahl, diesmal aber wurde ihr +kein Pelzmantel gestohlen, sondern zweiunddreißig +Rubel, die sie sich für einen neuen Pelz +zusammengespart hatte. Das Geld lag in +einem Strumpf in einer geschlossenen Kommode; +der Strumpf fand sich, doch das Geld +war spurlos verschwunden, als wäre es im +Ofen verbrannt worden. Man beschuldigte +wieder den Portier Nikanor, er hätte nicht +genügend aufgepaßt, doch wie sollte er aufpassen: +den ganzen Tag ist er auf den Beinen +und bei Nacht das Geklingel, und so +das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es +ein schlauer Dieb, einer von den Hausgenossen +– aber es war nichts zu machen. Der +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +Bäcker Jarigin aus der Burkowschen Bäckerei +legte sich, nachdem er den ganzen ersten +Feiertag gesoffen hatte, abends auf ein Brett +schlafen, das über dem Backtrog lag. In der +Nacht hatte er sich wohl ungeschickt umgedreht +und fiel in den Teig. Im Laufe der +Nacht hat es ihn eingesaugt, und als man +es am Morgen gewahr wurde, da war es +zu spät, nur die Beine ragten noch aus dem +Teig. Ein guter Bäcker war der Jarigin! +Stanislaus der Kontorist und Kasimir der +Monteur wollten sich amüsieren und machten +zum Spaß Jerkin den Paßaufseher betrunken. +Jerkin aber, der sein Neujahrsgelübde, nicht +zu trinken, das er dem Bruder im Hafen abgelegt, +bis nun streng befolgt hatte, wurde +infolge der strengen Enthaltsamkeit nach +einem Glas Pfefferbranntwein toll und begann +zu raufen. Das geschah am hellichten +Tage im Hof, während in den „Winkeln“ die +Mädchen in den schwarzen Kopftüchern und +die Nonnen, die Almosensammlerinnen in +Schaftstiefeln, für Gorbatschow „Christ ist +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +auferstanden“ sangen. Kasimir entkam, Stanislaus +aber fiel herein: Jerkin nahm ihn +auf die Arme, warf ihn zu Boden, preßte +ihn, drückte ihn mit dem Knie und biß ihm +die Nase ab. Der rote Hund des Gouverneurs, +der gerade auf dem Hofe war, fraß +Stanislaus’ Nase auf. Burkow selbst, der +ehemalige Gouverneur, der Selbstvertilger, +vergaß am ersten Ostertag, als er aus einer +vornehmen Gesellschaft nach Hause fuhr, ein +Osterei im Wagen, und als er am anderen +Morgen den Verlust bemerkte, meldete er es der +Polizei und forderte die Feststellung des Kutschers, +der sich dies offenbar außergewöhnliche +Ei angeeignet hatte; – was man in +allen Petersburger Zeitungen am dritten Tag +lesen konnte. Ebenfalls am dritten Tag verurteilten +die Kinder im Hof, Kriegsrecht spielend, +Wanjuschka, den Sohn des Portiers +Nikanor zur Todesstrafe durch den Strang +und vollzogen das Urteil: sie schleppten den +Knaben in die Wagenremise und hingen ihn +vermittelst einer Pferdeleine auf. Kaum, daß +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +man ihn wieder ins Leben rufen konnte: es +war ein schwächlicher Bub. Er war schon +ganz blau und wäre beinahe erstickt. Schließlich +beging das Ehepaar Oschurkow ganz +unerwartet Selbstmord. Niemand im Hof +konnte begreifen, weshalb sie es getan hatten. +Sie hatten ja eine Wohnung von zehn Zimmern, +alle zehn Zimmer voll von Nippes, +und ein Aquarium mit Goldfischchen. „Es +war eine feine Gesellschaft!“ wiederholten +die Dienstmädchen einstimmig, jene Köchinnen +und Hausmädchen, die wegen eben dieser +Nippes nie lange bei Oschurkows aushalten +konnten. +</p> + +<p> +Kurz nach Ostern, in der Thomaswoche, kam +einmal Sergej Alexandrowitsch, der mit dem +Theater einen Vertrag über eine Gastspielreise +ins Ausland geschlossen hatte, zu Marakulin +zum Tee. Es kamen auch Wera Nikolajewna +und Anna Stepanowna, und auch Wassilij +Alexandrowitsch der Clown, auf ein Stöckchen +gestützt. Es war die Rede von der Damaskinschen +Gastspielreise ins Ausland; Sergej +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +Alexandrowitsch sah in ihr fast so etwas +wie Rußlands Rettung. Er meinte: Rußland, +das unter all den Rakows, Lestschows, Obraßzows, +Lednjowas, Burkows, Gorbatschows +und Kabakows erstickte, dieses Rußland +werde sich zum erstenmal mit seiner Kunst +der Stadt der großen Männer, dem Herzen +Europas – Paris, zeigen und es besiegen. +</p> + +<p> +– In der Tat, – rief Sergej Alexandrowitsch, +indem er sich wie auf dem Theater reckte, +– laßt uns doch alle hinfahren! Alle müssen +wir ins Ausland, wenn auch nur für einen +Monat, für eine Woche, gleichviel, nur um +einen Blick zu tun, und um uns von dieser +ganzen Burkowerei zu erholen. Auch du, +Wassilij, auch dich schleppen wir mit! Und +auch Sie, Wera Nikolajewna, denken Sie +nicht mehr an Ihr Abas-Tuman! +</p> + +<p> +– Wo nehmen wir das Geld zur Reise? +fragte Anna Stepanowna und lächelte. +</p> + +<p> +– Wie? wieso Geld? +</p> + +<p> +– Wie kommen wir ins Ausland? – bemerkte +Wera Nikolajewna. +</p> + +<p> +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +– Du hast dich verstiegen, Bruder, mit deinem +Paris, meine ich! +</p> + +<p> +– Ich werde das Geld schaffen – rief Marakulin, +der sich plötzlich an Plotnikow erinnerte, +– ich werde uns tausend Rubel verschaffen! – +Marakulin sagte es so fest und überzeugt, daß +es alle mit Glauben erfüllte, und man sprach +nicht mehr vom Gelde. +</p> + +<p> +So wurde der Beschluß gefaßt: Alle reisen +ins Ausland, nach der Stadt der großen +Männer, ins Herz Europas – nach Paris. +Sie bekamen ganz heiße Köpfe und schmiedeten +allerlei Pläne. Die Einzelheiten dieser +Pläne wurden mit solcher Begeisterung und +mit solchem Glauben ausgemalt, als wäre +in der Tat Rußlands Rettung, – ihre Rettung +mit dieser Reise verbunden, und sie +brauchten bloß die Grenze zu überschreiten, +damit die Rettung sich vollziehe. +</p> + +<p> +Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren +Platz auf Erden finden, ihre Seele wird +sich aufrichten, und sie wird anders lächeln +können. Dort, in Paris wird Wera Nikolajewna +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +sich erholen und ihr Abiturientenexamen +machen. Dort, in Paris wird Wassilij +Alexandrowitsch wieder das Trapez besteigen +und seine Künste zeigen können. Dort, +in Paris wird, während Sergej Alexandrowitsch +tanzend das Herz Europas besiegt, +auch Marakulin seine verlorene Freude wiederfinden. +</p> + +<p> +Man müßte Werotschka finden – dachte +Marakulin plötzlich, und er sagte: wir müssen +auch Werotschka mitnehmen, damit sie +dort in Paris zu sich kommt. Entweder sie +wird dort eine große Schauspielerin und +rächt sich so an Anissim Wakujew, oder noch +besser: mag dort Ruhe über sie kommen und +der Friede Gottes, daß die Rache in ihr still +wird, und sie verzeiht ihm. +</p> + +<p> +Als er dies sagte, waren alle einverstanden, +daß man auch Werotschka mitnehmen müsse. +– Ich bin Werotschka begegnet – erzählte +Wera Nikolajewna, – Sie waren damals in +Moskau. Ich gehe einmal abends durch die +Gorochowaja nach Hause, da kommt sie mir +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +entgegengelaufen. Es war kalt, der Sturm +pfiff, und sie lief in einem Sommerjäckchen +herum, ein weißes Tuch um den Kopf. „Werotschka!“ +rufe ich. Sie blieb stehen, sah mich +an, aber so sonderbar. Sie zitterte am ganzen +Leibe. „Werotschka,“ sage ich, „kommen Sie +Tee trinken, kommen Sie zu uns Tee trinken!“ +Sie aber richtet ihr Kopftuch, zittert am ganzen +Leibe und schüttelt den Kopf. Es war +auf der Ssemjonowschen Brücke, – eine +furchtbare Kälte, der Sturm pfiff ... +</p> + +<p> +Noch am selben Abend wurde der Brief an +Plotnikow geschrieben, und am nächsten +Morgen eingeschrieben nach Moskau abgeschickt. +Marakulin glaubte so fest, daß das +Geld kommen würde, er glaubte so fest an +die tausend Rubel von Plotnikow, wie Plotnikow +selbst an Marakulin glaubte. +</p> + +<p> +Inzwischen begab sich Adonja Iwoilowna +auf ihre Pilgerfahrt. Sie zog nach Jerusalem, +wo der Weihrauch nie verduftet und wo die +Kerzen brennen, die nie verlöschen. Dort wird +sie im Jordanfluß baden und sich mit Wermut +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +abtrocknen, damit all ihr Gram wie +Tannenrinde von ihr abfalle, all ihr Kummer +und ihre Tränen. Dann wird sie Paraschas +Schiffe verstehen, und die Erde am Grabe +ihres Mannes auf dem Smolenskischen +Kirchhof wird nicht mehr abbröckeln. +</p> + +<p> +An den Abenden war Akumowna frei und +legte Karten. Sie zeigten für jeden eine große +Veränderung an und einen Weg, und für +Marakulin außerdem noch Gras und Tannen, +wie damals vor seiner Reise nach Moskau, +nur daß die Tannen jetzt nicht mehr +am Rande, sondern ganz nahe bei ihm lagen. +Bei Wera Nikolajewna lagen sie am +Rande. +</p> + +<p> +– Ein fröhlicher Weg! – flüsterte Akumowna. +</p> + +<p> +– Wir fahren nach Paris, Akumowna, ins +Herz Europas! +</p> + +<p> +– Wollen wir nicht auch Akumowna mitnehmen? +Ist Akumowna einverstanden, mit +uns nach Paris zu gehen? – fragte Sergej +Alexandrowitsch zwinkernd. +</p> + +<p> +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +– Gewiß. Ich komme mit. Neun Jahre +habe ich keine Luft geatmet. Da werde ich +aufatmen. +</p> + +<p> +Akumowna ließ sich nicht lange bitten, denn +sie wäre bereit gewesen, Sergej Alexandrowitsch +nicht nur nach Paris, sondern sogar +bis ans Ende der Welt zu Fuß zu folgen. +</p> + +<p> +– Ausgezeichnet! Wir lassen also die Sklavin +Kusjmowna hier, um die Wohnung zu +hüten, und adieu Rußland! Man muß alles +von sich abschütteln! – Und vor Ueberschwang +der Gefühle und Hoffnungen auf +den Erfolg Rußlands, oder auf seinen eigenen +Sieg im Herzen Europas, begann Sergej +Alexandrowitsch mit den Füßen zu flattern, +wie ein Hahn mit den Flügeln. +</p> + +<p> +– Man soll dann schon auch Weruschka +mitnehmen. Die wird hier zugrunde gehen, +die Unverschämte! – sprach Akumowna, an +ihre Wera denkend, die auf dem Burkowschen +Hof längst zugrunde gegangen war. +</p> + +<p> +– Auch deine Weruschka nehmen wir mit, +Alle werden wir im Auslande sein! +</p> + +<p> +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +Akumowna legte liebevoll Karten für Sergej +Alexandrowitsch. +</p> + +<p> +– Unser Priester in Turij-Rog – erinnerte +sich Akumowna plötzlich, – er war ein guter +Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij! +Vor seinem Tode erhob er sich und fragte: +„Sind die Pferde bereit?“ – „Was für Pferde, +ehrwürdiger Vater?“ – „Ich habe ja +eben ein Paar getraut, man ladet mich zur +Hochzeit ins Ausland!“ sagte er und starb. +</p> + +<p> +– Ein Pope stirbt wie ein Pope! – sagte +Sergej Alexandrowitsch lächelnd und verfolgte +weiter die Karten. +</p> + +<p> +Marakulin aber fühlte plötzlich, wie es in +seinem Innern zuckte, als würde etwas in +ihm brechen, doch die Hoffnung rüttelte und +richtete ihn wieder auf. Alle seine Hoffnungen +waren jetzt auf Plotnikow gerichtet, und +er konnte an nichts andres denken. Die Hoffnungen +waren Mächte. +</p> + +<p> +Der Mai kam. Auf dem belgischen Hof erhoben +sich die weißen Zelte, Ziegelsteine und +Sand wurden angefahren, und die Instandsetzung +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +des Hauses begann. Abends erklang +schluchzend die Balalaika, – von dieser armseligen +nichtrussischen Habe gab es viel auf +dem Burkowschen Hof – und aus den Fenstern +reckten sich die während des Winters +zerzausten, ausgehungerten Köpfe, in der +Hoffnung, sich in der Maisonne etwas zu +erwärmen. +</p> + +<p> +Von Plotnikow aber kam noch immer keine +Antwort. In Marakulins Herz schlich sich +eine unheimliche Unruhe; er fürchtete, es +sich selbst zu gestehen und sprach zu niemand +davon. Die Antwort wird kommen, sie muß +kommen! Sie müssen und sie werden im Ausland +sein, in der Stadt der großen Männer, +im Herzen Europas, in Paris! +</p> + +<p> +Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren +Platz auf Erden finden, ihre Seele wird +sich aufrichten, und sie wird anders lächeln +können; dort, in Paris wird Wera Nikolajewna +sich erholen und ihr Abiturientenexamen +machen; dort in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch +wieder das Trapez besteigen und +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +seine Künste zeigen, und dort in Paris wird +auch Marakulin, während Sergej Alexandrowitsch +im Tanz das Herz Europas besiegen +wird, seine verlorene Freude wiederfinden. Er +wird Werotschka finden, und in Paris wird +Werotschka eine große Schauspielerin werden, +Gottes Friede wird über sie kommen. +Dort, in Paris wird von Akumowna, die als +rollender Stein bis nach Paris gelangt sein +wird, der väterliche Fluch weichen, sie wird +Luft atmen, die sie neun Jahre nicht geatmet +hat, und sie wird es nicht mehr nötig haben, +bis zum Kaiser vorzudringen, oder Aufguß +von Pferdemist zu trinken. Dort, in Paris +wird ihre Wera nicht zugrunde gehen, die +auf dem Burkowschen Hof schon längst zugrunde +gegangen war. +</p> + +<p> +Der Glaube besiegte jeden Zweifel, zerstreute +durch seine Kraft und Festigkeit jedwede Unruhe. +Marakulin glaubte an die Plotnikowschen +Tausend, wie Plotnikow an ihn selbst. +Eine Woche nur blieb noch bis zu Sergej +Alexandrowitschs Abreise ins Ausland. Es +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +wurde beschlossen, daß er mit seinem Theater +vorausfahren und von dort, aus Paris, +schreiben sollte. Inzwischen wird das Geld +angekommen sein, und dann wird fast der +ganze Burkowsche Hof von der Fontanka +geradeaus nach Paris aufbrechen. +</p> + +<p> +Doch diese Woche, voll von Unruhe, Erwartung +und Schwanken zwischen Glaube und +Zweifel, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, +bestimmte von selbst alles auf ihre +Weise. +</p> + +<p> +Im Gymnasium bei Anna Stepanowna +waren die Prüfungen vorüber, und offenbar +waren jetzt endlich die geheimnisvollen Equipierungs-, +Wohnungs- oder Reisegelder – +jeder nannte sie anders – angekommen. Und +da diese Gelder dort nur einmal ausgezahlt +wurden, wurde Anna Stepanowna natürlich +von der Lednjowa gekündigt. Für Anna +Stepanowna, meinte die Vorsteherin, sei es +zu schwer am Gymnasium, sie sei auch nicht +ganz ohne Tadel, sie trage zum Beispiel eine +halsfreie Bluse, das schicke sich nicht; auch +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +lächle sie so eigentümlich, – dieses Lächeln +mache Seine Ehrwürden, den Religionslehrer +Aristowulow verwirrt, das schicke sich +auch nicht; man könnte ja sagen: im Lednjowschen +Mustergymnasium werde Seine Hochwürden +durch eine Lehrerin verdorben, und +das wäre schon ganz fatal! – Mit einem +Wort: wenn der Mensch die Absicht hat, zu +irgendeinem ihm notwendig erscheinenden +Zwecke einen anderen zu beschmutzen, so gibt +er sich Mühe, – dazu ist er ja ein Mensch. +Selbstverständlich ertranken die halsfreie +Bluse und der Priester Aristowulow, der von +Anna Stepanowna verdorben wurde, in den +beliebten Betrachtungen der Lednjowa über +gute Taten überhaupt, über den Verfall der +Moral und über die Sittenverderbnis, über +die junge Sache, die man fördern und über die +Opfer, die man ihr bringen müsse: sie, die +Lednjowa selbst, gebe in ihrem eigenen Gymnasium +Unterricht umsonst, außerdem ernähre +sie zwanzig Lehrer! Ganz Petersburg kenne +sie sehr gut, sie, die Vorsteherin Lednjowa, +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +und die Generalin Cholmogorowa selbst sei +ihre Freundin. +</p> + +<p> +So einfach war das Ende bei Anna Stepanowna, +sehr einfach. Und sie ging lächelnd +– mit jenem Lächeln, das in der Seele weh +tat – ihren Weg, der sie von Leschtschow +zu der Lednjowa führte, und von der Lednjowa +zur Petrowa, zu irgendeiner Seelenschwester +der Lednjowa führen wird, bis +sie endlich aufhören wird zu lächeln. +</p> + +<p> +Endlich kam die so lange, so ungeduldig, so +viel erwartete Antwort von Plotnikow: Plotnikow +ließ Marakulin durch die Bank fünfundzwanzig +Rubel anweisen. So reiste denn +Sergej Alexandrowitsch allein mit dem Theater +ins Ausland, nach Paris, um mit der russischen +Kunst das Herz Europas zu besiegen. +Vor der Abreise mietete er eine Sommerwohnung +in Finnland und überredete Wera Nikolajewna +und Anna Stepanowna zusammen +mit Wassilij Alexandrowitsch, der noch +immer sorgsamer Pflege bedurfte, und damit +er sich ohne Ferse und mit seinem Stöckchen +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +nicht zu sehr langweilte, hinauszuziehen. Mit +der Sklavin Kusjmowna an der Spitze zogen +sie also statt nach Paris nach Tur-Kilja: Wera +Nikolajewna, Anna Stepanowna und Wassilij +Alexandrowitsch, der Clown. Nur Marakulin +und Akumowna blieben zurück, um auf +dem Burkowschen Hof zu übersommern. +</p> + +<p> +– Ich werde zum Kaiser gehen: die Hände +so, wie im Sterben, und werde alles sagen. +Ich werde zum Kaiser gehen, nackt, splitternackt; +die Hände so, wie im Sterben, und +werde ihm alles erzählen. +</p> + +<p> +Aber Marakulin erwiderte Akumowna nichts +mehr, nicht einmal mit ihren eigenen Worten, +die ihr Wahlspruch, ihr Sterbegebet – die +Sühne und der Lohn für alle Taten waren: +Man darf niemand beschuldigen! – Alles +war in ihm still und taub geworden. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Der eine muß verraten, um durch den Verrat +seine Seele aufzuschließen und in der Welt er +selbst zu sein, der andere muß töten, um durch +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +den Mord seine Seele zu finden und wenigstens +als er selbst zu sterben. Marakulin aber +mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – +aber nicht an die Person, der sie zukam –, um +seine Seele zu erschließen und in der Welt +nicht ein beliebiger Marakulin zu sein, sondern +als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, +der er war, sehen, hören und fühlen. +</p> + +<p> +Aber er ertrug es nicht, dieses Leben für nichts: +nur sehen, nur hören, nur fühlen, und flehte +um Ruhe. Da erfand er die Generalin – die +unsterbliche, sünden- und schmerzenlose Laus, +erdachte er ihr königliches Recht, in der Hoffnung, +dadurch seine verlorene große Freude +wiederzugewinnen. Schon begannen auf seinem +glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, +wo der letzte Schatten, die letzte Spur der +Hoffnung sich verlor, jene leisen und wie die +Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte +der herannahenden Verzweiflung zu arbeiten, +das feste Mark und die Wurzel seines Lebens +anzunagen und ihn vom Leben abzulösen. +</p> + +<p> +Vom Morgen bis zum Abend lief Marakulin +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +in Petersburg herum, jagte von einem Ende +zum anderen, von Schlagbaum zu Schlagbaum, +von Viertel zu Viertel, – er lief herum +wie eine Maus in der Falle. In seiner Tasche +lag der neue Plotnikowsche Schein, die fünfundzwanzig +Rubel, wie einst Dunjas neues seidenes +Taschentuch mit den in Kreuzstich eingestickten +Anfangsbuchstaben seines Namens, +und er vergaß den Schein wie er einst Dunjas +seidenes parfümiertes Tuch vergessen hatte. +</p> + +<p> +Und dennoch, welch zähes Leben steckt doch +im Menschen! Hin- und hergeworfen, geschlagen +läuft er wie ein geschlachteter Hahn +auch ohne Kopf herum, als wollte er auch +ohne Kopf nach Körnern suchen, und bläht +sich noch auf! Marakulin fand nämlich eine +Beschäftigung, er fand etwas, um sich Luft +zu machen; er machte eine Entdeckung, die in +ihrer Tragweite dem betrunkenen Plotnikowschen +Projekt, die Fliege als Motor auszubeuten, +wahrlich in nichts nachstand: +</p> + +<p> +Man braucht bloß auf die Straße hinauszugehen, +um ganz unabhängig vom eigenen +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +Willen unter die Herrschaft eines besonderen +Gesetzes der Straße zu geraten, und deine +Art aufzutreten und deine Haltung hängt nicht +mehr von dir ab, sondern von der Welle oder +vom Strom, in den du geraten bist. Gerätst +du in die eine Welle, dann ist dir so, als +machten sich alle über dich lustig, als schnitten +dir alle Grimassen, die Frauen kichern, +die Männer schieben ihre Lippen vor und +spitzen sie wie zum Pfeifen. Da kommt eine +andre Welle herangerollt, und das Bild ist +plötzlich verändert: die Männer haben bestialische, +düstre, drohende Gesichter, man begegnet +selten einer Frau, und wenn eine vorübergeht, +so ist sie ganz allein; sie geht und +lacht, sieht niemand, als wäre sie blind, und +lacht zu sich selbst. Wieder eine neue breite +Welle: – lauter Frauen – und es ist einem, +als gäbe es keine böseren Augen, kein böseres +Lächeln; sie betrachten einander, sie stechen +mit den Augen und lächeln, als wollten sie +mit ihrem Lächeln einander verbrühen, die +bösen Weiber. Da rollt noch eine Welle heran: +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +Menschen, gewöhnliche Menschen, – sie +gehen dicht zusammen gedrängt und sind munter. +Aber man sieht keine Kinder unter ihnen, +nur ausgemergelte, verkrüppelte Zwerge mit +schlaff wie Peitschen herabhängenden Armen +und riesengroßen, nach vorn gebeugten Köpfen. +Und so noch viele verschiedene Wellen. +Es gibt auch zurückflutende Wellen. Gerätst +du da hinein, so treibt es dich vom großen +Strom ab, und alles jagt an einem vorbei: +alte Männer, Kinder, alte Frauen, Straßenbahnwagen +und Automobile. +</p> + +<p> +Als Marakulin diese Entdeckung gemacht +hatte, stürzte er sich auf sie mit der gleichen +Hartnäckigkeit, wie einst über den Bericht an +den Direktor. Er war ja jetzt eigentlich wie +tot, man hatte ihn ja bereits begraben. Er erinnerte +sich an die Worte, die der Kassierer +Alexander Iwanowitsch Glotow damals +im Theater zu ihm gesprochen hatte: „Und +wir haben dich schon längst begraben, weißt +du, Petruscha!“ Ja, seit langem hatte man +ihn begraben, und er konnte wie ein Toter, +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +wie eine Leiche, wie einer aus dem Jenseits +leicht, unauffällig und unparteiisch die Diesseitigen, +die Lebenden beobachten. Und jetzt +wollte er seine Entdeckung überprüfen. +</p> + +<p> +Doch wozu sie prüfen, was für einen Sinn +das haben sollte, wer diese Entdeckung +brauchte, welchem Toten, welcher Leiche, +welchem Gespenst aus dem Jenseits, oder +welchem Lebenden zum Spaß oder zu Nutzen +sie dienen sollte? – das fragte er sich +nicht, das ging ihn nichts an; – in ihm war +alles stumm und taub geworden – es war +eben zwecklos und nichts mehr als das Sichaufblähen +des geköpften Hahns. +</p> + +<p> +Doch auch darin irrte er sich. Er hatte keine +Zeit mehr zum Prüfen. +</p> + +<p> +Eines Nachts, als er auf dem Newsky ging, +traf Marakulin Werotschka. Es war so: an +dem Wartturm des Magistrates wurde Razzia +gemacht, und wie immer in solchen Fällen, +liefen auf dem Newsky etwa hundert sinnlos +herausgeputzte Weiber herum, die sich +auf die Passanten stürzten und sie anflehten, +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +sie ein kleines Stückchen zu begleiten. Unter +diesen Weibern fiel ihm eine auf, die ebenso +besinnungslos wie die anderen, vom Bürgersteig +auf den Damm und vom Damm auf den +Bürgersteig sprang. Sie war ganz schwarz +gekleidet. Als sie am Schutzmann glücklich +vorüber war, lief sie zur Anitschkowschen +Brücke. In dieser einsamen Dunklen – alles +war schwarz an ihr: das Kleid, der Hut, +die Handschuhe – erkannte er Werotschka. +Da erinnerte er sich an den neuen Plotnikowschen +Fünfundzwanzigrubelschein, befühlte +ihn in der Tasche – er war jetzt kein +Bettler mehr – und stürzte ihr nach. Aber an +der Anitschkowschen Brücke mischte sich Werotschka +unter die Menge und verschwand +ihm aus den Augen. +</p> + +<p> +– Werotschka! – rief er, indem er sich +bald nach der Fontanka und bald nach dem +Newsky umsah, – Werotschka! – und etwas +Schwarzes, Kaltes wand sich wie eine +Schlange um sein Herz. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen war das erste, was in +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +ihm als Gedanke und Entschluß erwachte, +der feste Vorsatz, schon am frühen Abend auf +den Newsky zu gehen und Werotschka aufzulauern. +Den ganzen Tag blieb er zu Hause. +Es war Donnerstag vor Pfingsten, und Akumowna +hatte heute vor, besonders ausgiebig +Karten zu legen: nach ihr war das ein günstiger +Tag zum Wahrsagen, auch Träume +in dieser Nacht geträumt, sollten die Wahrheit +künden. +</p> + +<p> +Auf den Burkowschen Hof kamen wandernde +Musikanten: eine Harmonika und ein Tamburin. +</p> + +<p> +Die Harmonika spielte ein Handwerker, wohl +irgendein Schlosser oder Wasserleitungsarbeiter, +ein großgewachsener dunkler Mann, +das Tamburin schlug ein kleines Mädchen +in einer Matrosenbluse und Matrosenmütze; +sie war etwa zwölf Jahre alt, man konnte es +genau nicht feststellen. Das kleine Mädchen +hatte nur ein Bein. Sie stützte sich auf einen +Stock und hielt das Tamburin auf dem gebogenen +Knie. +</p> + +<p> +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +Das kleine Mädchen sang zur Harmonika. +</p> + +<p> +Sie sang ein Lied, wie es in Fabriken gesungen +wird, mit fremden Versen durcheinandergemengt, +wie: „Ich werde auf den Grund +des Meeres tauchen, ich werde fliehen zu den +Wolken hinan,“ sie sang aus Zigeunerliedern +von Troikas und von feurigen Augen und +gefühlvollen Tränlein. Plötzlich brach auch +eine uralte Weise durch. Sie sprach rein und +deutlich aus, so daß man jedes Wort verstehen +konnte. Aber nicht am Wort lag es. +Mit einem vollen tiefen Alt sang das kleine +Mädchen und schlug das Tamburin dazu. +Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit +des Meeres war das Lied getränkt. +Und das Tamburin schlug, wie das Herz +schlägt. +</p> + +<p> +Die Musikanten wurden von den Kindern +umringt; sie ließen ihre wilden Spiele und ihre +wilden Arbeiten, sie standen still herum und +wandten kein Auge ab von dem einbeinigen +kleinen Mädchen, wie einst von der Katze +Murka, die sich vor Schmerz auf den Steinen +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +gewälzt hatte. Und das Mädchen sang. +Der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt +– er hielt sich stets in der Nähe der Kinder +auf – der schwarze Perser hockte sich ebenfalls +hin und rollte seine Augäpfel. Und das +Mädchen sang. Mit einem vollen tiefen Alt +sang das kleine Mädchen und schlug das +Tamburin im Takt zu. Von der Weite der +Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres +war das Lied getränkt. Und das Tamburin +schlug, wie das Herz schlägt. +</p> + +<p> +Die Kinder rückten immer näher zu dem einbeinigen +Mädchen, als wollten sie es nicht +von sich lassen. Nun verdeckten sie es ganz, +so daß man es nicht mehr sehen konnte, +und es schien, es singe die Erde und die +Steppe, das Meer – die Weite und Unermeßlichkeit, +das Herz der Erde. Und man +fürchtete, daß das Lied bald zu Ende sein +und das Mädchen zu singen aufhören und +fortgehen würde. Man wollte nicht, daß sie +fortgehe. +</p> + +<p> +Aber der Gesang war zu Ende. Es spielte +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +nur noch die Harmonika allein. Das kleine +Mädchen humpelte, auf den Stock gestützt, +über den Kies und schien sich mit dem hingehaltenen +Tamburin im Hof zu drehen und +sah ohne Lächeln mit ihrem offenen, reinen +Gesicht nach oben zu den Fenstern hinauf, +wie die Katze Murka zu den Fenstern hinaufgesehen +hatte, als sie sich vor Schmerz +auf den Steinen wälzte. +</p> + +<p> +Akumowna begann so seltsam kindlich und +bitter zu weinen, sicher weil sie an ihren +Fluch: „Wie ein rollender Stein um die +weite Welt“ dachte. +</p> + +<p> +Marakulin stürzte auf die Straße und holte +die Musikanten, die schon vor dem Tor waren, +ein. +</p> + +<p> +– Wie heißt du, kleines Mädchen? – fragte +er, ihre Hand berührend. +</p> + +<p> +– Marja – antwortete das Mädchen, indem +sie, ohne zu lächeln, ihm ihr offenes, reines +Gesicht zuwandte. +</p> + +<p> +Auch der Harmonikaspieler blieb stehen, zog +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +seine Mütze. Es war wohl der Vater. Er war +von dunkler Farbe und rauh. +</p> + +<p> +Marakulin nahm Plotnikows neuen zerknüllten +Schein, steckte ihn dem kleinen Mädchen +in die Hand und ging fort, ohne sich umzusehen. +Und als wollte es ihn einholen, so +strömte das breite Lied. Von der Weite der +Steppe und von der Unermeßlichkeit des +Meeres war das Lied getränkt. Und das +Tamburin schlug, wie das Herz schlägt. +</p> + +<p> +Er ging seinen glatten, geraden Weg nach +dem Newsky. Schon sank die Nacht herab. +Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka +warten. Die ganze Nacht wird er +auf sie lauern. Und er wird sich nicht irren. +Es war ja eine weiße Nacht – die weiße +Nacht trügt nicht. +</p> + +<p> +Die weiße Nacht trügt nicht: ein Mädchen +ganz in Schwarz stieß ihn an und lief, das +Kleid raffend, in der Richtung der Anitschkowbrücke. +Alles an ihr war dunkel, das +Kleid, der Hut, die Handschuhe – er erkannte +Werotschka und stürzte ihr nach. +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +Aber an der Anitschkowbrücke mischte sich +Werotschka unter andere Frauen – sie war +nicht allein in Schwarz. +</p> + +<p> +– Werotschka, Werotschka! – rief er, jeder +Dunklen in die Augen schauend. Es waren +aber ihrer nicht zwei, nicht drei, es waren +ihrer eine ganze Menge. Und alle wichen ihm +aus, sammelten sich und schlichen wieder an +ihn heran, leise und unmerklich, dunkel und +still. Und etwas Dunkles und Kaltes umwand +wie eine Schlange sein Herz. +</p> + +<p> +Und nachts, in der Donnerstagnacht vor +Pfingsten, träumte Marakulin, als säße er am +Tisch beim Samowar in einem großen vollgestellten +Zimmer, und alles war hingeworfen +und zerstreut, wie nach einer Vorbereitung +zur Reise, und lauter unbekannte Menschen +waren im Zimmer, alle so müde und niedergeschlagen. +Und neben ihm saß – er wurde +es mit Ekel gewahr – eine stülpnasige Frau +mit großen Zähnen und nackt, und mit ihr noch +jemand in dunklen Kleidern. Sie beugten sich +über dem Gerümpel und ordneten die Lumpen. +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +Verdrossen nahm er ein Glas und zielte +nach dem leeren, nackten Schädel. +</p> + +<p> +Sie aber, die stülpnasige Nackte mit den großen +Zähnen, erhob sich und wandte sich zur +Tür. +</p> + +<p> +– Am Sabbat – sie klapperte mit den Zähnen +und lachte – vergiß nicht, Akumowna +ein Pfund zu geben – sie klapperte mit den +Zähnen und lachte, – und die Mutter wird +in Weiß sein – sie lachte und zeigte ihre großen +Zähne. +</p> + +<p> +– Was für ein Pfund? Graupen etwa? – +begann er erbittert zu streiten, als stritte er um +sein letztes Recht, sich keinem Termin, keinem +Sabbat zu fügen – ach was, red’ keine +Dummheiten! oder ein Pfund Sterling, ja? +</p> + +<p> +– Am Sabbat – lachte die stülpnasige +Nackte mit den großen Zähnen, und schon +klapperte sie, ohne sich umzusehen, die Steintreppe +hinunter auf den Hof. +</p> + +<p> +Im Hof aber – es war ja Burkows Hof – +strömten alle Einwohner aus allen Wohnungen, +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +aus dem Seitenflügel und aus den +Gorbatschowschen Winkeln zusammen: alle +sieben Hausmeister – der erste Hausmeister +Michail Pawlowitsch und Antonina Ignatjewna, +seine Gemahlin, der Paßaufseher +Jerkin, Stanislaus der Kontorist mit der +abgebissenen Nase, und Kasimir der Monteur, +der Portier Nikanor und Wanjuschka, +Nikanors Bub, den die kleinen Kinder zum +Tode durch den Strang verurteilt hatten, +und die kleinen Kinder, die ihn verurteilt +hatten, und der Perser, der Masseur aus der +Badeanstalt, und das kleine Mädchen, das +einst Murka Milch gebracht hatte, und die +Schuster, Bäcker, Bademeister, Friseure, +Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine +Schwester aus dem Obuchowschen Krankenhaus, +Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, +Schirmmacher, Bürstenmacher, Wasserleitungsschlosser, +Setzer und allerlei Mechaniker +und elektrische Arbeiter mir ihren Familien, +allerlei „Fräulein“ von der Gorochowaja +und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmädchen, +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +Mädchen aus der Teestube, und +elegante junge Leute aus den Badeanstalten, +die die Petersburger Damen auf Wunsch +bedienen, und die Alte, die an der Badeanstalt +Sonnenblumensamen und allerlei Kram feilbietet, +stellungslose Köchinnen, Maler, Tischler, +fliegende Händler – mit einem Wort: +der ganze Burkowsche Hof – ganz Petersburg. +</p> + +<p> +Und alle sehen nach oben zum Fenster hinauf, +wie Murka hinaufgesehen hatte, als sie vor +Schmerz sich auf den Steinen wälzte, wie +die wandernde Sängerin hinaufgesehen, als +sie sich im Hof auf ihrem einen Bein herumdrehte, +mit dem Tamburin in der Hand. +</p> + +<p> +– Was hat sie gesagt? – fragt jemand Marakulin. +</p> + +<p> +Und Marakulin steht am Fenster, wie der +Starez Kabakow, der durch Gebete die +Stimme des Himmels befragt, – so steht er +vor dem Volk. +</p> + +<p> +– Einer von uns wird sterben! – sagt Marakulin. +</p> + +<p> +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +Und zur Antwort flüstert der ganze Burkowsche +Hof in Todesbangen: +</p> + +<p> +– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s, Herr? +</p> + +<p> +Und hoch oben, viel höher als die vier belgischen +Ziegelschlote mit den Blitzableitern, +schweben wie grüne Vögel grüne Aeroplane +und verdecken mit ihren riesengroßen grünen +Flügeln den Himmel. +</p> + +<p> +– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s Herr? – flüstert +der Burkowsche Hof in Todesbangen. +</p> + +<p> +Und schon geht Marakulin nach Hause, nach +der Fontanka, und seltsam! er hört, wie man +in der Auferstehungskirche auf der Taganka<a class="fnote" href="#footnote-13" id="fnote-13">[13]</a> +zur Abendmesse läutet. Er geht nicht den herrschaftlichen +Eingang hinauf, sondern durch +die Küche. Er macht die Tür auf, und in der +Küche sitzt am Herd eine Frau, Akumowna +ähnlich, und doch nicht Akumowna, ganz in +Weiß. Er erinnert sich an die Worte der +Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen: +„Die Mutter wird ganz in Weiß sein“, +und stürzt ins Zimmer. +</p> + +<p> +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +Auch dieses Zimmer ist vollgestellt, und Sachen +sind da verstreut und hingeworfen, wie +nach einer Vorbereitung zur Reise, nur sind +die Unbekannten nicht mehr da, keine Seele ist +im Zimmer, nur seine Mutter sitzt, seine Mutter +allein, mit dem Kreuz auf der Stirn. +</p> + +<p> +– Sie ist schon gekommen, sie sitzt hier – +sagt die Mutter. Sie spricht von jener, die in +der Küche vor dem Herd ganz in Weiß sitzt, +und beginnt zu weinen. +</p> + +<p> +Voll Verzweiflung und Todesbangen erwachte +Marakulin. Es war Freitag. Und +von dem düsteren Gedanken getroffen, daß +seine Frist der Samstag sei, daß nur ein Tag +ihm geblieben sei, wurde er eisstarr. Er wollte +es nicht glauben und glaubte es doch, und +weil er glaubte, verurteilte er sich selbst zum +Tode. +</p> + +<p> +Der Mensch wird geboren und ist bereits +verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, +und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil +vergessend, weil man die Stunde +nicht kennt. Aber wenn einem der Tag gesagt +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +wird, wenn die Zeit abgemessen, die Frist bestimmt +und der Sabbat verkündigt ist – das +geht über die Kraft, die Gott dem Menschen +verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben +beschenkt, zum Tode verurteilt und dem +er die Todesstunde verheimlicht hat. +</p> + +<p> +Als Marakulin an die Wahrheit seines Traumes +glauben mußte, da fühlte er, daß er es +nicht aushalten würde, den Sabbat abzuwarten, +und seit dem Morgen in Verzweiflung, +in Todesbangen durch die Straßen +schweifend, harrte er der Nacht. Er wollte +nur eins noch: Werotschka sehen, ihr alles +erzählen und von ihr Abschied nehmen. +</p> + +<p> +Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen +Weg, wo der letzte Schatten und die +letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten +jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen, +dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung +die letzten Fasern seiner einst so +festen Lebenswurzel. +</p> + +<p> +Es ward ihm schwer, sich vom Leben loszureißen. +</p> + +<p> +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +Vielleicht aber war der Traum nur ein Traum, +und in Wirklichkeit würde etwas anderes +kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? +War das nicht töricht? Wer weiß, wohin +das führt! Es pflegt ja auch sonst so zu +sein! Vor dem Tode träumt man nicht nur +etwas Belangloses: daß man einen Stiefel +verliert, oder sonst einen Gegenstand, oder +daß man im Begriff ist, ins Ausland zu +reisen ... +</p> + +<p> +Da erinnerte sich Marakulin an die geplante +Auslandsreise, an seinen paradiesischen +Traum von Paris, und fuhr auf. +</p> + +<p> +Er stand an einem Bretterzaun, der ganz mit +Anzeigen bedeckt war, und konnte nicht erkennen, +in welcher Straße er sich befand. +Ueber den Bäumen ragte die Turmspitze des +Ingenieurschlosses, als er aber längs des +Zaunes und, wie ihm schien, geradeaus in der +Richtung der Turmspitze sich in Bewegung +setzte, verschwand sie plötzlich. Er wagte +nicht weiterzugeben, als harrte eben dort +seiner sein Sabbat, seine letzte Frist, seine +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +Stunde. Er kehrte um und hatte die Spitze +wieder vor sich. Er schritt also tapfer längs +des Zaunes in die entgegengesetzte Richtung, +die Spitze blieb lange vor seinen Augen, verschwand +aber dann ebenso wie das erstemal +ganz plötzlich. Und er wagte nicht weiterzugehen, +als harrte eben dort seiner sein Sabbat, +seine letzte Frist, seine Stunde. Und so ging +er am Zaun entlang, hin und zurück, die Spitze +des Ingenieurschlosses immer im Auge, bis +zu einer Grenze, die er sich selbst bestimmte, +voll Verzweiflung und Todesbangen. +</p> + +<p> +Es war das Ungemach, das ihn so führte, +das Unglück jagte ihn von Straße zu Straße, +von Gäßchen zu Gäßchen, blendete ihm die +Augen und verwirrte ihn; es war sein Schicksal, +dem man sich nicht widersetzen und nicht +entrinnen kann. +</p> + +<p> +Das tödliche Bangen und die Last der Verzweiflung +erschöpften ihn endlich. Die letzte +Frist, die Stunde waren vergessen, sein Kopf +sank herab, und die noch gehorchenden Beine +brachten ihn auf den Weg. Er ging durch +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +die Ingeniernaja und wollte gerade die +Straße zum Michailowschen Palast überschreiten. +</p> + +<p> +Da klammerte sich ein altes, zerlumptes, zusammengeschrumpftes, +triefäugiges Weiblein +fest an seine Hand, damit er ihm über die +Straße helfe. Und obwohl es so klein war – +nichts als ein Häuflein Knochen – so erschien +es ihm, wie es mit seinen knöchernen Fingern +so fest an ihm hing, als hätte es überhaupt +keine Beine, so schwer, daß er mit Mühe +die Schienen erreichte. Und während er die +Schienen überschritt, wurde die Alte noch +schwerer, und es war ein Wunder, daß er +nicht unter den Wagen geriet: der sausende, +ununterbrochen klingelnde Wagen flog so +hart an ihm vorbei, daß ihm ganz heiß +wurde. +</p> + +<p> +Marakulin ließ die Alte stehen und begann +zu laufen. Abwechselnd flammendheiß und +eiskalt lief er in der Richtung des Narva-Tores. +Er floh vor der knöchernen Alten, er +floh vor seiner letzten Frist, und gerade auf das +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +Narva-Tor zu, unter den Bogen: dort war +keine knöcherne Alte und wird nie eine sein, +dort wird er seine letzte Frist, seine Stunde, +seinen Sabbat vergessen. +</p> + +<p> +Aber als er die Gorochowaja erreichte, ging +er nicht die Ssadowaja entlang, sondern bog +in die Fontanka ein. +</p> + +<p> +Auf der Fontanka, im Seitengäßchen, in der +Nähe des Burkowschen Hauses, wurde ein +junges Mädchen – offenbar eine Revolutionärin +– von der Polizei verfolgt. Die +Schutzleute hatten das Gäßchen umzingelt +und man konnte nicht passieren. Marakulin +blieb stehen. +</p> + +<p> +Die Jagd dauerte ziemlich lange, endlich +wurde das Mädchen von einigen Männern +in Zivil, Spitzeln offenbar, dicht umringt und +zu einer Droschke geführt. Die Revolutionärin +erinnerte ihn durch etwas an die Wandersängerin +von gestern, an das kleine Mädchen. +Vielleicht erinnerte ihn an Maria ihr offenes, +reines Gesicht, das aber frisch und rosig war. +Sie war schlank. Die Haarnadeln waren ihr +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +herausgefallen, der Strohhut saß schief und +das volle blonde Haar war aufgelöst. Der +Reviervorsteher setzte sich zu ihr in den Wagen +und man führte sie ab. +</p> + +<p> +„Maria Alexandrowna,“ – dachte Marakulin, +„so ist Maria Alexandrowna, die sich +selbst zum Opfer auserkor, und bereit ist, noch +einmal für die Menschheit zu sterben!“ Er +ging weiter, am Burkowschen Hof vorbei, +die Fontanka entlang. +</p> + +<p> +An der Ismailowschen Brücke, drei Schritte +von der Bierwirtschaft, holte er eine Dame +ein. Sie war nicht mehr jung und schon ganz +grau, aber kräftig und gesund, ging sie im +gleichmäßigen Schritt, als spazierte sie nur +der Motion wegen. Als aber Marakulin sie +überholen wollte, beugte sie sich etwas vor +und begann ganz unsinnig zu laufen. In diesem +Augenblick knallte aus dem Wirtshaus +ein Schuß und ein zweiter, Hilferufe ertönten +– und auf dem Bürgersteig lag mit durchschossenem +Rücken, das Gesicht an die Steine +gepreßt, die Dame – die gesunde, kräftige, +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +alte Frau, und neben ihr, noch rauchend, der +versengte Klappstuhl. +</p> + +<p> +„Da hast du die Unsterbliche!“ dachte Marakulin, +als er in der Ermordeten seine unglückselige +Generalin erkannte, dieses auserwählte +Gefäß, die Laus, die er mit dem königlichen +Recht beschenkt hatte, in jener grausamen +Burkowschen Nacht. +</p> + +<p> +Nun war ihr das königliche Recht vom blinden +Zufall geraubt, und auch der Klappstuhl +hatte ihr nicht geholfen. +</p> + +<p> +Von der Fontanka und den Seitengäßchen +strömte eine Menschenmenge herbei. Alle +starrten mit Neugierde, mit Schrecken und +mit jener besonderen Schadenfreude, mit der +lebendige Augen in tote blicken, in das Gesicht +der Toten. Sie aber, die Unsterbliche, +Sündenlose, Kummerlose, lag da unbeweglich, +mit ihrem durchbohrten Rücken, hilflos, +leblos, unselig. +</p> + +<p> +– Das ist eine von unseren Burkowschen, +die Generalin Cholmogorowa! – erklärte +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +Marakulin dem herbeigeeilten Schutzmann. +</p> + +<p> +Man trug die Generalin fort. Der weiße +Schleier auf ihrem Hut war aufgegangen +und schleifte flatternd nach wie Spinnweb. +Marakulin schritt der Menge voraus, hinter +dem Klappstuhl. +</p> + +<p> +Und wieder ging er an seiner Wohnung vorbei +in die Gorochowaja, und von da weiter +bis zum Admiralitätspalast und wiederholte +immer wieder vor sich ganz stumpf: „Da hast +du die Unsterbliche! Da hast du Unsterblichkeit!“ +</p> + +<p> +Im Alexandergarten setzte er sich erst auf eine +Bank, plötzlich aber sprang er wie gestochen +auf und ging weiter. Vor dem Denkmal Peters +des Großen blieb er stehen. +</p> + +<p> +– Peter Alexejewitsch – sagte er, zum Denkmal +gewandt, – Eure kaiserliche Majestät! +Das russische Volk trinkt Aufguß von Pferdemist +und gewinnt das Herz Europas für anderthalb +Rubel mit Gurken. Mehr habe ich +nicht zu sagen! – Er zog den Hut, grüßte +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +und ging weiter, den Englischen Kai entlang, +über die Nikolaibrücke auf die Wassiljewskiinsel. +</p> + +<p> +Auf dem kleinen Boulevard zwischen der Siebenten +und der Sechsten Linie, hinter dem +Ssredny-Prospekt versperrte ihm eine Menschenansammlung +den Weg. Die Menge +stand schweigsam, ohne ein Wort zu sprechen, +und es war ungewöhnlich still. Unter +einem Baum saß eine alte Frau, ihr von +schweren weißen Flechten umwickelter Kopf +zitterte. Sie sah starr vor sich hin. Nicht +Tränen, sondern Blut floß ihr die Wangen +herab, in stillen Bächlein aus den demütig +stillen Augen. +</p> + +<p> +„Sie hat umsonst gewartet“, dachte Marakulin, +„sie hat es nicht erlebt. Sie hat das +gottgefällige Werk nicht vollbracht, sie hat +ihr Glück niemand überliefert, die Unglückselige!“ +– Und er verspürte plötzlich einen +schrecklichen Durst, als hätten ihn diese stillen, +blutigen Tränen versengt. +</p> + +<p> +Nicht weit vom Kleinen Prospekt auf der +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +Siebenten Linie befand sich neben einem großen +Gebäude in einem kleinen einstöckigen +Häuschen eine Schankwirtschaft. Marakulin +fand noch ein letztes vergessenes Zehnkopekenstück +in der Tasche und ging hinein: +der Durst quälte ihn unerträglich. +</p> + +<p> +Er setzte sich an ein schmutziges, nasses Tischchen, +mit dem Gesicht zum Fenster und nahm +ganz mechanisch eine Zeitung zur Hand, nicht +um zu lesen. +</p> + +<p> +– Einen Hungrigen kann man satt machen, +einen Armen kann man reich machen – er +vernahm eine bekannte Stimme und bekannte +Worte, – aber sobald du verliebt bist und +dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit, +da kannst du meinetwegen platzen, es +gibt keine Hilfe! +</p> + +<p> +„An Murkas Tage war es, der unruhige alte +Gwosdjow, der sagte es!“ erinnerte sich Marakulin, +legte die Zeitung weg und trank das +lauwarme Bier. +</p> + +<p> +– Sie scherzen immer, Alexander Iwanowitsch, +– – ich habe neulich eine Maus +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +aufgegessen, Alexander Iwanowitsch, – auf +dem Hof des Athosklosters – für fünf Rubel. +Ich habe mit der heiligen Brüderschaft +gewettet. „Ißt du die Maus auf, Gwosdjow,“ +sagten sie, „dann ist der Fünfer dein, +wenn nicht, mußt du uns bezahlen!“ Schön. +Sie fingen gleich ein Mäuslein, im Klosterhof +gibt es viele. Es war eine graue, junge. +Ich zog dem Mäuslein die Haut ab, röstete +es an den Seiten ein wenig an, wegen des +Wohlgeschmacks, zerschnitt es in Scheibchen, +salzte es, sprach den Segen und aß es +auf. Und aß das Mäuslein auf. Ich nahm +die fünf Rubel und wollte mich vor Lachen +ausschütten. Ich sagte: „Und ihr seid mir +noch Athonische, hehe ... fünf Rubel für +ein junges Mäuslein; ich hab’ ja bei Prokopij +dem Gerechten so eine Ratte und dazu +ohne Salz für einen Rubel gegessen!“ Wenn +man sich nur durchfrettet, Alexander Iwanowitsch! +</p> + +<p> +Und als Antwort auf Gwosdjows Worte +erklang eine gerührte Stimme: +</p> + +<p> +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +– Euretwegen geh’ ich zugrunde, ihr lieben +Aeuglein! +</p> + +<p> +– Ich selbst bin auch auf Weiber lecker, +Alexander Iwanowitsch! +</p> + +<p> +Gleich darauf fiel etwas schwer auf den klebrigen +Boden, begann zu strampeln und bitter +zu weinen, so bitter, wie nur Kinder weinen, +so bitter, wie Akumowna weinte, als sie +durch Marjas Gesang an alle ihre Erlebnisse +erinnert wurde. +</p> + +<p> +Nachdem er das laue Bier, das seinen Durst +noch gesteigert, ausgetrunken hatte, ging Marakulin +hinaus. +</p> + +<p> +Er ging seinen glatten geraden Weg auf den +Newsky. Die Nacht sank bereits herab. Dort +auf dem Newsky wollte er auf Werotschka +warten. Dort wollte er ihr die ganze Nacht +auflauern. Er wird sie sehen, ihr alles erzählen, +von ihr Abschied nehmen. Und er wird +sich nicht irren. Es ist ja eine weiße Nacht – +die weiße Nacht trügt nicht. +</p> + +<p> +Die weiße Nacht trügt nicht: Werotschka +erschien auch bald. Er erkannte sie an ihrem +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +schwarzen Kleide. Aber er erstarrte vor Entsetzen: +alle Frauen waren ausnahmslos in +Schwarz – alles an ihnen war schwarz, die +Kleider, die Hüte, die Handschuhe. Sie wichen +nicht mehr aus, sie gingen sicher und +stolz am Polizisten in der weißen Sommeruniform +vorbei, sie umsegelten den Polizisten +in Weiß wie in einem altertümlichen feierlichen +Tanz, von der Snamenje-Kirche zur +Admiralität und von der Admiralität zur +Snamenje-Kirche. +</p> + +<p> +– Werotschka – rief er, – Werotschka! – +Er sah einer jeden in die Augen, ohne eine auszulassen, +und etwas Kaltes und Dunkles ringelte +sich wie eine Schlange um sein Herz. +Es war die Verzweiflung, die sich um sein +Herz ringelte. +</p> + +<p> +Schon schritt der Tod auf verschlungenen +Seitenpfaden seiner Schwelle zu. +</p> + +<p> +Die ganze Nacht streifte er herum, voll Verzweiflung +und Todesbangen, sah jeder Frau +in die Augen, ohne auch nur eine zu übersehen, +blieb zuweilen auf der Anitschkowbrücke +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +stehen und ließ sie Alle an sich vorbeipassieren. +Sie umsegelten ihn, wie den Schutzmann in +Weiß, sie schritten sicher und stolz, wie in +einem altertümlichen feierlichen Tanz von +der Snamenje-Kirche bis zur Admiralität, +und von der Admiralität bis zur Snamenje-Kirche. +</p> + +<p> +Und als die Sonne aufging und all die schwarzen +Gestalten irgendwo verschwanden und +keine einzige mehr blieb – niemand war +mehr auf dem Newsky außer den Schutzleuten +in Weiß – da wandte sich Marakulin +durch die Litejnaja zum finnländischen +Bahnhof. +</p> + +<p> +Er beschloß ganz plötzlich, – vielmehr es +beschloß in ihm von selbst – nach Tur-Kila +in die Sommerfrische zu Wassilij Iwanowitsch +zu fahren, zu Wera Nikolajewna und +Anna Stepanowna. Sie haben ihm ja schon +oft geholfen, sie werden ihm auch jetzt helfen, +sie werden ihm Milch geben, – er hat Hunger +– er ist ja nur zwölf Jahre alt! – sie +werden ihm Milch geben ... +</p> + +<p> +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +Es war der Sonnabend vor Pfingsten und +auf der Litejnaja wurden die Pfingstbäumchen +angefahren: lockige grüne Wagen zogen +durch die Straße, voll von grünen jungen +Birken. +</p> + +<p> +Auf dem finnländischen Bahnhof verkehrten +noch keine Züge. Er mußte warten, aber +er wollte nicht auf dem Bahnhof warten. +Marakulin ging erst über die Schwellen der +Schienen, aber nachdem er ein Weilchen +gegangen war, verließ er die Schienen, setzte +sich an den Rand eines Grabens und schlief +ein. Er schlief so fest, wie Plotnikow die zwei +Tage nach jenem schlimmen Delirium-Anfall +geschlafen hatte. +</p> + +<p> +Als er erwachte, war es Abend, der Sonnabend +ging zur Neige. Und wieder jäh von +dem düsteren Gedanken getroffen, daß sein +Ende der Sabbat sei, wurde er eiskalt. Er +wollte an seinen Traum nicht glauben und +glaubte doch, und indem er glaubte, verurteilte +er sich selbst zum Tode. +</p> + +<p> +Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, +und dennoch lebt man, verurteilt und das +Todesurteil vergessend, weil man die Stunde +nicht kennt. Aber wenn der Tag einem gesagt +wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte +Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt +ist, – das geht über die Kraft, die Gott dem +Menschen verliehen, dem Menschen, den er +mit dem Leben beschenkt, zum Tode verurteilt, +dem er aber die Todesstunde verheimlicht +hat. +</p> + +<p> +Der Sabbat war gekommen, der Sabbat +ging zur Neige, seine letzte Frist, seine letzte +Stunde nahte. +</p> + +<p> +Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen +Weg, wo der letzte Schatten und die +letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten +jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen, +dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung +die letzten Fasern seiner einst so +festen Lebenswurzel. +</p> + +<p> +Es war ihm schwer, sich vom Leben loszureißen. +</p> + +<p> +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> +Oder vielleicht war der Traum nur ein +Traum und in Wirklichkeit würde etwas +anderes kommen? Warum mußte er dem +Traum glauben? War das nicht töricht? +Wer weiß, wohin das führte? +</p> + +<p> +Warum hatte er bloß Akumowna diesen +düsteren Traum nicht erzählt, Akumowna +konnte ihn vielleicht deuten, sie, die Göttliche +wüßte zu sagen, ob er wahr sei oder +nicht. +</p> + +<p> +Marakulin stürzte erregt zur Trambahn und +stieg in einen Wagen. Da erinnerte er sich, +daß er sein letztes Zehnkopekenstück in der +Wirtschaft ausgegeben und sprang ab und +lief zu Fuß nach der Fontanka, die Elektrische +fast überholend. +</p> + +<p> +Er erreichte die Fontanka und das Burkowsche +Haus, aber es wurde ihm nicht leicht, in +die Wohnung zu gelangen. Es schien ihm, +als hätte er mindestens eine halbe Stunde +geklingelt, aber niemand öffnete und keine +Stimme ließ sich vernehmen. Er hörte zu +klingeln auf und begann an die Tür zu klopfen, +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +aber auch auf das Klopfen erwiderte niemand. +Es blieb still in der Wohnung, nur +der Wind pfiff durch die Türspalte, – offenbar +standen die Ofenklappen auf – der +Wind pfiff unheimlich. +</p> + +<p> +Noch einmal klingelte Marakulin, klopfte +noch einmal, wartete und ging dann in die +Portierloge. Aber auch Nikanor war nicht +da. Er war in irgendeinen Kramladen gegangen; +Wanjuschka aber, Nikanors Sohn, +wußte nur zu sagen: er habe Akumowna am +Morgen gesehen, seitdem sei er nicht mehr bei +ihr oben gewesen; Akumowna sei zu Hause. +Dabei lachte er über irgend etwas. +</p> + +<p> +Wenn sie aber zu Hause war, warum hörte +sie nicht das Klopfen und öffnete die Tür +nicht? Er hatte ja mindestens eine halbe Stunde +geklingelt und nicht weniger lange geklopft. +– War die Alte etwa tot? +</p> + +<p> +Er ging in das Seitengäßchen, trat ins Haustor +und stieg die Hintertreppe hinauf. Aber +seltsam: – während er hinaufstieg, glaubte +er plötzlich in der Auferstehungskirche auf der +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +Taganka<a class="fnote" href="#footnote-14" id="fnote-14">[14]</a> zur Abendmesse läuten zu hören, +und sein Herz begann voll Unruhe rasch zu +pochen. +</p> + +<p> +Die Tür in die Küche war nicht verschlossen. +Akumowna saß am Herd, ihr Kopf war mit +einem weißen Tuch umwickelt – mit einem +weißen Tuch. Er erinnerte sich an die nächtlichen +Worte aus seinem Traum in der Donnerstagnacht: +„Die Mutter wird in Weiß +sein.“ Vor Akumowna lagen auf einem Tellerchen +zwei Eier, das dritte aß sie grade. +„Das Pfund!“ flog es Marakulin durch den +Sinn, „– das ist das Pfund!“ +</p> + +<p> +Akumowna lächelte nicht, und ihre Augen +waren fremd und hervorquellend. Nicht Akumowna +saß am Herd, nein, nur eine, die Akumowna +ähnlich sah. Und Entsetzen übermannte +Marakulin. +</p> + +<p> +– Guter, gnädiger Herr! – Akumowna erhob +sich plötzlich von ihrem Platz und sprach +die Worte mit einer heiseren, betrunkenen +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +Stimme, die der Stimme Akumownas nur +von ferne glich. +</p> + +<p> +Marakulins Kräfte waren zu Ende, er klammerte +sich an den Türpfosten und begann zu +stöhnen. +</p> + +<p> +– Lieber gnädiger Herr, Gott behüte Sie, +gnädiger Herr, Peter Alexejewitsch! Gleich +bereite ich den Samowar, im Augenblick! – +Jetzt wurde sie auf ihre gewöhnliche Art geschäftig, +legte das Ei fort, ergriff den blanken +Samowar und begann mit dem Blechrohr +zu klappern. +</p> + +<p> +Marakulin ließ sich auf Akumownas Bank +nieder, konnte aber nichts sagen; die Kehle +war ihm zugeschnürt und seine Lippen bebten. +</p> + +<p> +– Lieber gnädiger Herr, – Akumowna +machte sich mit dem Samowar zu schaffen, +– mit mir ist was passiert, ich wäre fast gestorben, +aber Gott hat sich meiner erbarmt! +</p> + +<p> +In der Tat, mit Akumowna hatte sich etwas +ereignet, und wie sie dabei heil geblieben, +war das reinste Wunder – Gott hatte sich +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +ihrer erbarmt. Darum hatte sie weder das +Klingeln noch das Klopfen gehört. Ja, es +sei noch ein Glück, daß sie Marakulin überhaupt +erkennen konnte und noch so viel Stimme +hatte, um ein Wort hervorzubringen. Die +Eier aber esse sie, um wieder zu Stimme zu +kommen, und wenn auch heiser, so doch sprechen +zu können und nicht wie eine Kuh zu +muhen; – man könne auch das noch erleben. +</p> + +<p> +Akumowna war nämlich am Morgen auf +den Boden hinaufgestiegen. Sie wollte die +Wäsche, die dort hing, abnehmen, um sie +noch vor der Abendmesse zu Pfingsten fertig +zu plätten. Aber irgend jemand hatte sich +wohl den Spaß gemacht, sie dort einzuschließen. +Sie hatte zu schreien begonnen und schrie +wohl ziemlich lange, aber niemand hörte sie. +Es war ja kein Mensch in den Wohnungen, +da sich alle in der Sommerfrische befanden, +und keine Köchin, kein Hausmädchen hatte +etwas auf dem Boden zu tun. Akumowna +wußte, daß es nutzlos war, rief aber doch. +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +Was sollte sie wohl anderes tun? Und wie +sollte sie nicht schreien? Sollte sie auf dem +Boden bleiben – wie lange? bis zum Herbst? +bis die Leute aus der Sommerfrische zurückkehren +würden? oder bis sich jener ihrer erbarmt, +der sie eingeschlossen hatte? konnte man +sich darauf verlassen? Man konnte sie ja inzwischen +vergessen haben! Konnte man es +wissen? Und auf dem Boden bleiben konnte +sie doch auf keinen Fall! Sie war schon ganz +heiser vom Schreien. Und so kroch sie im +Dunkeln herum, um das vernagelte Fenster +zu finden: sie hatte sich erinnert, daß da ganz +unten am Dach ein Fenster war. Sie tappte +um sich herum und fand schließlich eine +Spalte, fand das mit Brettern vernagelte +Fenster. Sie krallte sich in ein Brett, um es +abzureißen, aber es saß zu fest, und wie sehr +sie sich anstrengte, gelang es ihr nicht, die +Oeffnung zu erweitern. Die Spalte aber war +so klein, daß kaum eine Maus hätte durchschlüpfen +können. Sie hing sich daran mit +aller Kraft, riß mit beiden Händen – endlich +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +gab es nach. Gott sei Dank, freies Licht! Sie +bekreuzigte sich und stieg auf das Dach hinaus. +In der Verwirrung aber wandte sie sich +nach der herrschaftlichen Seite, nach den +Kasernen zu. Sie kroch auf allen Vieren, aus +Angst, auszurutschen, und schrie. So kam sie +bis zum Schornstein, richtete sich am Schornstein +auf, zog die Stiefel aus und warf sie +auf die Straße. Die Kinder aber fingen die +Stiefel auf und trugen sie davon. Sie stand +barfuß, hielt sich am Schornstein fest und +schrie. Und da sie dachte, daß niemand ihr +bloßes Geschrei beachten würde, so schrie +sie: der gnädige Herr sei nach Hause gekommen, +klingle und sie könne nicht öffnen. +Auf der Fontanka aber ist es so laut, die +Dampfpfeifen, die Automobilhupen übertönen +jedes Geschrei. Da sie barfuß nicht mehr +auszugleiten fürchtete, entfernte sie sich +vom Schornstein, ging auf dem Dach hin +und her und schrie immer wieder: der gnädige +Herr sei nach Hause gekommen, klingle +und sie könne nicht öffnen. Auf dem Nachbardach +<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> +arbeiteten Maler, die hörten es. +„Was schreist du, Frauchen,“ riefen sie, +„spring zu uns herüber,“ und lachten. Wie +aber sollte sie hinübergelangen, wenn sie ihr +keine Leiter reichten – sie hatten alle ihre +Leitern selbst nötig – sie war doch keine +Katze! Aber der erste Schreck war nun vorüber, +und nachdem sie erst eine menschliche +Stimme vernommen, erholte sie sich etwas +und kam auf den Gedanken, auf die andre +Seite hinüberzugehen, auf die Rückseite des +Hauses, um dort an der Regenrinne entlang +in den Hof hinunterzugleiten. Denn sich +an der Rinne hinaufzuziehen, meinte Akumowna, +sei schwer, die Hände könnten ohnmächtig +werden, aber hinabzugleiten sei +leicht: wenn das Rohr nur nicht aus den Händen +entweicht, glitt man bequem hinab. In +dieser Erwägung begab sie sich auf die Rückseite +des Hauses und geradeaus zur Wasserrinne; +– sie war nicht schwindlig. Schon +hatte sie mit beiden Händen die Bekrönung +erfaßt und die Füße herabgelassen, um die +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +Rinne zu umklammern, da schrie Nikanor +von unten: „Halt, Frauchen, kriech nicht, ich +werde dir aufmachen!“ und lachte. Sie +mußte nun über das ganze Dach zurück und +sich durch das Fenster auf den Boden hinunterlassen. +</p> + +<p> +– Sechs Stunden habe ich mich so gequält, +lieber gnädiger Herr, bin beinahe gestorben, +aber Gott hat mich gerettet, hat sich meiner +erbarmt! – schloß Akumowna. +</p> + +<p> +Inzwischen begann das Wasser im Samowar +zu sieden, der rote Jurawljowsche Sänger +schnaubte und schickte sich zu seinem +Abendgesang an. Marakulin, der sich während +der Erzählung Akumownas etwas erholt +hatte, ging in sein Zimmer. +</p> + +<p> +Vielleicht war es möglich, daß sein düsterer +Traum sich gar nicht auf ihn, sondern auf +Akumowna bezog? – Oder sollte es doch +nicht möglich sein, da man nicht für andre +träumt? – Warum sollte man aber nicht +auch für andre träumen können! +</p> + +<p> +Aber der Tag war noch nicht zu Ende, die +<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> +Nacht kam, es kamen die letzten Stunden; +es nahte die Stunde, da es galt, Rede und +Antwort zu stehen, Rechenschaft zu geben +und zu fordern. +</p> + +<p> +Akumowna brachte den Samowar, aß in +der Küche ihre Eier, um ihre Stimme zu heilen, +und kam wieder zu Marakulin herein, +nach ihrer Gewohnheit mit den Karten in +der Hand. Marakulin aber lehnte ab: er +wolle keine Karten gelegt haben, er wolle +ihr lieber seinen Traum erzählen, nur möge +sie ihm die reine Wahrheit darüber sagen. +</p> + +<p> +Und er erzählte ihr ausführlich seinen düsteren +Traum, alles genau hintereinander – er +erinnerte sich ganz deutlich an jede Einzelheit. +Er erzählte von der Stülpnasigen, Nackten, +mit den großen Zähnen, und wie sie ihm eine +Frist gesetzt hatte: den Sabbat, und von der +Mutter mit dem Kreuz auf der Stirn, und +wie die Mutter geweint hatte. +</p> + +<p> +– Was bedeutet dieser Traum, Akumowna? +</p> + +<p> +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +Akumowna schwieg, lächelte und sah eigentümlich +idiotisch zur Seite. +</p> + +<p> +Und plötzlich wieder von dem schwarzen +Gedanken getroffen, daß seine Frist der Sabbat +sei, wurde Marakulin eiskalt. +</p> + +<p> +– Also ist alles wahr – dachte er, – denn +warum schweigt Akumowna? – Also ist alles +wahr, und in einigen Minuten würde seine +Frist vollendet sein, seine Stunde schlagen, +sein Ende? +</p> + +<p> +Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits +verurteilt; Alle sind von Geburt an +verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt +und das Todesurteil vergessend, weil man +die Stunde nicht kennt. Aber wenn der Tag +einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, +die letzte Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt +ist, – das geht über die Kraft, die +Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, +den er mit dem Leben beschenkt, zum +Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde +verheimlicht hat. +</p> + +<p> +<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> +– Akumowna, ist es wahr, oder nicht +wahr? +</p> + +<p> +– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß +nichts – erwiderte Akumowna, lächelte und +sah eigentümlich idiotisch zur Seite. +</p> + +<p> +Da schnarrte die Uhr in der Küche und begann +langsam zu schlagen, einen Schlag nach +dem andern. Es schlug Zwölf. Der Sabbat +war zu Ende, und der Sonntag begann. +</p> + +<p> +– Akumowna, hat es Zwölf geschlagen? – +fragte Marakulin unsicher. +</p> + +<p> +– Zwölf, gnädiger Herr, Schlag Zwölf! +</p> + +<p> +– Es ist also schon Sonntag? +</p> + +<p> +– Ja, Sonntag, der heilige Sonntag, gnädiger +Herr. Schlafen Sie wohl, Gott sei mit +Ihnen! – Akumowna ließ den singenden +Jurawljowschen Samowar stehen und ging +in die Küche schlafen. +</p> + +<p> +Doch Marakulin konnte nicht schlafen. Er +wartete ab, bis Akumowna ruhig wurde, +deckte den Samowar zu, dann nahm er ein +Kissen, legte es aufs Fensterbrett, wie es die +Burkowschen Mieter, die in Petersburg übersommern, +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +machen, und lehnte sich hinaus. +Nein, er wollte nicht schlafen, die ganze +Nacht nicht: der Sabbat war zu Ende, der +Sonntag hatte begonnen! +</p> + +<p> +Es war leer ringsum, kein Mensch im Hof, +kein Mensch in den Fenstern, nur er allein. +Und plötzlich erblickte er auf dem Kehricht- +und Ziegelhaufen, längs der Kästen und +Stände, von der Müllgrube bis zum Abgußloch +und weiter bis zu den Remisen, überall +junge grüne Birken stehen. Der ganze Burkowsche +Hof war mit Birken bedeckt, und die +jungen Blättchen leuchteten so grün. Er +fühlte, wie seine verlorene große Freude in +ihm emporstieg und ihn überströmte: wie ein +Quell schoß ihm unter dem Herzen diese große +heiße Freude hervor – und wuchs, füllte +das Herz und überflutete heiß die ganze Brust. +Er sah nichts anderes mehr als diese Birken, +und unter den Birken wandelte, selbst wie +eine junge Birke schlank, seine Weruschka – +Werotschka – Wera. Ihre Hände schienen +mit den Blättern verwoben, und sie wandelte +<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> +von Blättchen zu Blättchen nach der Remise +zu, so leicht, als schwebte sie in der Luft, und +es war, als wenn die Erde unter ihr verschwände. +Da schwang sein Herz sich auf, +überwallend, es riß ihn in die Höhe, er streckte +die Arme aus – und das Gleichgewicht verlierend, +stürzte Marakulin mitsamt dem Kissen +in die Tiefe. +</p> + +<p> +Und im Sturze hörte er, wie durch ein +Rohr aus einem tiefen Brunnenschacht, eine +Stimme rufen: +</p> + +<p> +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist +voll, die Strafe naht! – Ah, so steht es mit +uns! Lieg du nun da. – Wieder einer weniger. +– Du stehst nicht mehr auf – Dreckkopf! +</p> + +<p> +Marakulin lag mit zerschmettertem Schädel +in einer Blutlache auf den Steinen des Burkowschen +Hofes. +</p> + +<p class="printer"> +Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="footnotes" id="part-8"> +Fußnoten +</h2> + +</div> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Ein großes Petersburger Kloster. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Eine Industriestadt in Großrußland. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Klon bedeutet auf russisch etwa, die Neigung sich zu beugen. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Wundertätige Mönche, Heilige. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> Vom Weißen Meer. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-6" id="footnote-6">[6]</a> Berühmtes Moskauer Muttergottesbild. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-7" id="footnote-7">[7]</a> Populäres Physik-Lehrbuch. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-8" id="footnote-8">[8]</a> Ein Stadtviertel in Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-9" id="footnote-9">[9]</a> Diminutiv von Pawel. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-10" id="footnote-10">[10]</a> Kirche an der Taganka in Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-11" id="footnote-11">[11]</a> Ein berühmtes Muttergottesbild in Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-12" id="footnote-12">[12]</a> Ort in der Krim. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-13" id="footnote-13">[13]</a> In Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-14" id="footnote-14">[14]</a> In Moskau. +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... Geschenk, und <span class="underline">er schenkte er</span> ihr dagegen hundert ...<br> +... Geschenk, und <a href="#corr-5"><span class="underline">er schenkte</span></a> ihr dagegen hundert ...<br> +</li> + +<li> +... <span class="underline">den</span> Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...<br> +... <a href="#corr-9"><span class="underline">dem</span></a> Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...<br> +</li> + +<li> +... beklagte, daß in der Schule naß und kalt ...<br> +... beklagte, daß <a href="#corr-11"><span class="underline">es</span></a> in der Schule naß und kalt ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75679 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75679-h/images/cover.jpg b/75679-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1555a6c --- /dev/null +++ b/75679-h/images/cover.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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