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} + +/* poetry */ +div.poem-container { text-align:center; } +div.poem-container div.poem { display:inline-block; } +div.stanza { text-align:left; text-indent:0; margin-top:1em; margin-bottom:1em; } +.stanza .verse { text-align:left; text-indent:-2em; margin-left:2em; } + +a:link { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); } +a:visited { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); } +a:hover { text-decoration: underline; } +a:active { text-decoration: underline; } + +/* Transcriber's note */ +.trnote { font-size:0.8em; line-height:1.2em; background-color: #ccc; + color: #000; border: black 1px dotted; margin: 2em; padding: 1em; + page-break-before:always; margin-top:3em; } +span.trnote { font-size:inherit; line-height:inherit; background-color: #ccc; + color: #000; border:0; margin:0; padding:0; + page-break-before:avoid; margin-top:0em; } +.trnote p { text-indent:0; margin-bottom:1em; } +.trnote ul { margin-left: 0; padding-left: 0; } +.trnote li { text-align: left; margin-bottom: 0.5em; 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Dort sind vierzig +mal vierzig Kirchen; täglich dröhnen dort zur +Früh- und Abendmesse die Glocken, die großen +und feierlichen in den Klöstern und Kathedralen, +die Zarenglocken des Kreml; es +antworten ihnen mit allen ihren Glocken die +kleinen und niedrigen Glockentürme in den +uralten Pfarrkirchen. Gar viele Pfarrkirchen +hat Moskau; um sie herum schlängeln sich +die Straßen und Gäßchen, in ihnen lebt der +Moskauer Handelsstand sein eigenes urwüchsiges +Leben. Alle Fasten werden streng eingehalten; +an den Feiertagen ziehen die Priester +mit dem ganzen Klerus aus einem Haus ins +andere, um die festlichen Tafeln zu segnen; +dort werden bis heute die Märtyrer- und +Heiligenlegenden in der uralten Schrift gelesen, +<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a> +dunkle und vertraute Mitteilungen über +Gottesmänner und große Märtyrer. Mancher +ist sauber gekleidet und sieht ganz europäisch +aus: ein gestärktes Vorhemd und eine +Krawatte nach der letzten Pariser Mode – +doch beginnt er sich auszuziehen, so entdeckt +man ein kattunenes russisches Hemd darunter +und einen geweihten Gürtel mit eingewebten +Gebeten. Voll Inbrunst kniet der moderne +Stutzer vor dem Familienschrein mit den +Heiligenbildern. Der unter der neumodischen +Wäsche verborgene geweihte Gürtel schützt +vor Uebel. Der alte Glaube ist fest in ihm, +und der uralte Kaufmannsstand in Moskau +lebt nach der Väter Art. +</p> + +<p> +Einst wurde er von dem Advokatensohn +Ostrowskij auf die Bühne gebracht. Seitdem +war es Mode, sich über die rührseligen +Mitjas, die gutmütigen Andrej Bruskows, +die durchtriebenen Podchaljusins, über die +dünkelhaften Väter: Tit Tititsch und Torzows +zu amüsieren. Das „finstere Reich“ +nannte die Kritik den Moskauer Kaufmannsstand. +<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a> +Diese eigenartige Welt blieb ganz abseits +von den großen Wegen der russischen +Literatur. Um die Mitte des vergangenen +Jahrhunderts war die Literatur vorwiegend +ländlich, Gutsbesitzer- und Bauernliteratur. +Die Stadt schämte sich gleichsam ihrer selbst. +Was in ihr geschah, besonders unter der +Handelsbevölkerung in den alten Kirchspielen, +das wußte man nicht, das wollte man +nicht wissen. Und wenn in der Literatur auch +einige Sprößlinge aus dieser Welt auftraten, +so waren sie bemüht, möglichst rasch zu vergessen, +zu verschweigen und tief im Herzen +alles zu verbergen, was sie von dorther aus +dem „finstern Reich“ in die Helligkeit der +volkstümlichen Bildung, auf welche die fortschrittlich +Gebildeten so stolz waren, mitbrachten. +</p> + +<p> +Erst seit kurzem sind die stillen Kirchspiele auf +den sieben Hügeln des russischen Rom, des +Mütterchens Moskau, gleichsam erwacht. +Die neue Kunst, die sozialdemokratischen +Tendenzen, die Beziehungen zu westeuropäischen +<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a> +Firmen, die Errungenschaften der +Technik, die Verfeinerungen in den Anschauungen, +alles das ist bis in die dunkelsten +Winkel gedrungen. Und von da kam zu uns +der Neueste: ein Erneuerer der Kunst, ein +Prophet von morgen, der dennoch nichts von +gestern vergessen hat: Alexej Remisow. +</p> + +<p> +Sein Leben verläuft äußerlich wie das vieler +gebildeter Russen der letzten Zeit. Im +Jahre 1877 geboren, hat er seine Bildung +in einem Handelsgymnasium und später auf +der Universität empfangen; er hat Nationalökonomie +und deutsche Philosophie studiert, +den Marxismus und die Bewegung „Zurück +zu Kant“ mitgemacht, in den Seminarien +Aufsätze über wirtschaftliche Fragen und +über Statistik geschrieben, Arbeiterzirkel gegründet, +und war infolgedessen erst in die +milde Verbannung eines großrussischen Gouvernements, +dann ins Gefängnis geraten, hat +mit einem ganzen Haufen revolutionärer russischer +Intelligenz die Strapazen und Mühsale +des Etappenlebens mitgemacht, hat so +<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a> +manches Jahr im fernen Norden, wo oft im +Juni noch Schnee genug fällt, daß man +Schlitten fahren kann und wo das Nordlicht +in seiner kalten Schönheit leuchtet, verbracht. +Er hat dies alles erduldet, sein Herz +zermartert, eine Menge Bücher studiert und +kam zu uns nach Petersburg als ein fertiger +Schriftsteller zurück, als ein symbolistischer +Schriftsteller und Stilist von neuester Prägung. +</p> + +<p> +Wichtig aber ist, daß er seine uralte Moskauer +Seele bewahrt hat; in seiner Seele +dröhnen die vierzig mal vierzig Kirchenglocken +weiter und er liebt noch immer die Legenden +und Sagen von den Gottesmännern, +Heiligen und Märtyrern, von den von Gottes +Gnade erleuchteten Buhlerinnen, vom +tapferen Georg, von allerlei märchenhaften +Seltsamkeiten: von Totenfeiern, Teufeln, +Zauberern und Hexen. Alles was die Philologen, +die sich mit alter Literatur befassen, +studieren und was die Engländer Folklore +nennen: Märchen, Runen, Volkslieder und +<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a> +Riten, Volksglauben und Apokryphen – +dies alles pflegt er mit dem Talent eines modernen +Dichters, und sein Stil ist eigenartig, +seltsam und prächtig, so verfeinert und reich, +als hätte sich ihm die ganze geistige Schatzkammer +des tausendjährigen heiligen Rußland +aufgetan, zum Dank für seine Liebe zu +den vertrauten Kirchspielen aller sieben Hügel +des Mütterchens Moskau. +</p> + +<p> +Remisows erster großer Roman „Der Teich“ +zeigt noch den jungen Schmerz einer Seele, +vor der sich eben erst das Böse des Lebenskampfes +erschlossen hat. Woher kommt das +Böse? Es wird schon in der ganz naiven kindlichen +Seele geboren. Die rationalistischen +Theorien aus den Büchern tragen zur Lösung +dieses schicksalsmäßigen Rätsels nichts bei – +im Gegenteil! – vielleicht muß man also nach +rückwärts, in den uralten von den Ahnen ererbten +Sagen vom bösen Geist, in dem sagenhaften +Teufel und Spötter die Antwort suchen? +– Remisows von den Fragen unserer +Zeit durchdrungener Geist vertiefte sich in +<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a> +das Studium alter Sagen und Legenden, +und eins an das andere reihten sich etwas wie +Märchen oder moderne Apokryphen und bildeten +eine Art neues pratum spirituale, das +mit seiner Buntheit alle seine größeren Werke +gleichsam einrahmt. +</p> + +<p> +„Der Teich“ kann nur im Licht dieser apokryphischen +Skizzen ganz verstanden werden. +Der Grundgedanke dieses Werkes ist noch +nicht ganz klar herausgearbeitet; die einzelnen +Episoden wirken zwar an sich erschütternd, +doch fehlt noch das Allgemeine. Dies Allgemeine +erscheint klar auf eine neue Weise in +einer objektiveren Form, losgelöst von den +tragischen poesieumwehten Erinnerungen im +zweiten Roman „Die Uhren“. Hier handelt +es sich nicht mehr um die Chronik eines Moskauer +Handelshauses in einem der Moskauer +Kirchspiele, in den „Uhren“ wollte der Autor +das Geheimnis der ganzen Stadt in all seiner +Vielgestaltigkeit auffangen, und die Frage +nach dem Bösen hat eine größere Bestimmtheit +erhalten. Dennoch ist es auch hier schwer, +<a id="page-XIV" class="pagenum" title="XIV"></a> +den heimlichen Gedanken des Autors herauszufinden +und seine Symbole zu begreifen, die +geheimnisvoll sind wie uralte Runen. Erst +später in den nachfolgenden Erzählungen +sind endlich die Schwierigkeiten überwunden, +eine Klarheit ist erreicht und im Herzen +ist das ausgesprochen, was so lange nach +außen drängte, aber keine entsprechenden +Bilder und Symbole fand. Ja, das Böse +ist schicksalsmäßig, es ist notwendig, es hat +keinen Sinn, Idyllen zu schreiben, man +muß das Böse erkennen und verstehen, +diese irdische Hölle, die irdischen Leidenschaften. +</p> + +<p> +Schwierig waren seine Romane „Der Teich“ +und „Die Uhren“. Schwierig sind auch jetzt +in den „Schwestern im Kreuze“ und im „Unbezähmbaren +armen Teufel“ die Betrachtungen +über die schicksalsmäßige und offenbar +notwendige Schuld. Im „Unbezähmbaren +armen Teufel“ ist diese Theorie schon anschaulich +und entschieden durchgeführt. In den +„Schwestern im Kreuze“ ist alles auf ihr +<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a> +aufgebaut. Marakulin denkt: „Der eine muß +verraten, um durch den Verrat seine Seele +aufzuschließen und in der Welt er selbst zu +sein; der andere muß töten, um durch den +Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens +als er selbst zu sterben; er aber mußte +offenbar eine Quittung ausfertigen – aber +nicht der Person, der sie zukam –, um seine +Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, +und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger +Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch +Marakulin, der er war, sehen, hören +und fühlen.“ +</p> + +<p> +Doch muß man sich fragen: Findet denn die +Persönlichkeit sich selbst nur in einem Verbrechen? +Das scheint nicht glaubhaft. Natürlich +nicht. Aber gerade dieser Gedanke in +seinem Rohzustand sozusagen führt uns zum +Verständnis einer der wichtigsten Fragen der +Gegenwart. Darum lockte es den Symbolisten +Remisow, den Fall aller Einwohner +des Burkowschen Hauses zu schildern, weil +dieses Symbol unseres zeitgenössischen russischen +<a id="page-XVI" class="pagenum" title="XVI"></a> +Alltags sich durch alle traurigen Fälle +der letzten Jahre aufgeschlossen hatte. +</p> + +<p> +Remisow versucht jetzt, seine Symbole zu +deuten. „Die Katze miaute, Murka miaute. +Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch +nie zuvor, daß Murka stets gemiaut hat, +nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre +hier an der Fontanka auf dem Burkowschen +Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und nicht +nur hier auf dem Burkowschen Hof an der +Fontanka, sondern auch auf dem Newsky +und in Moskau an der Taganka – bei +der Auferstehungskirche –, an der Taganka, +wo er geboren war, überall, wo etwas +lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es +in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor +dieser Murka nirgends hätte verstecken können. +Und er fühlte es, daß Murka nicht dort +unten im Hofe miaute, sondern hier ...“ Das +stöhnende Burkowsche Haus ist ganz Rußland, +das heilige Rußland, und zwar das +ganz gewöhnliche, alltägliche. Es ist schuldig +geworden, es hat sich unvermögend erwiesen, +<a id="page-XVII" class="pagenum" title="XVII"></a> +es hat mehr versprochen, als es gehalten +hat. Hier hat es sich eben gezeigt, so wie es +wirklich war und nicht wie es nach den Programmen +geschienen hat. Man muß sich von +allen Theorien lossagen, um es so zu sehen. +Noch wichtiger ist der Mut, es gegen alle +Programme und Theorien auszusprechen. +Dies ist Remisows Stärke: sein Held ist eine +wirkliche Individualität. Er ist nicht aus +Theorien geboren und nicht verstandesmäßig +gesehen. Marakulin lebt sein eigenes Leben, +er ist ein durchschnittlicher Mensch, aber eben +von diesem Eigenen geht der Symbolismus +zum Allgemeinen. Auch Marakulin ist symbolisch. +Waren wir nicht alle noch vor kurzem +ebenso offenherzig und vertrauensselig, +als hätten wir keine Lehren der Geschichte +vor Augen? Damit haben wir Schuld auf +uns geladen. Das Leben ist bei uns erstarrt. +Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen. +</p> + +<p> +Lange und hartnäckig hat sich Remisow mit +den Fragen des Glaubens befaßt, mit den +Altertümern, mit der Volkspoesie, mit Sagen, +<a id="page-XVIII" class="pagenum" title="XVIII"></a> +aus denen das uralte heilige Rußland +sich Pein und Belehrung schöpfte. Man verstand +ihn nicht und hielt der unverstandenen +Kunst Remisows den Realismus entgegen. +Es schien, daß sein Stilisieren kein Ende +nehmen wollte in diesem ganzen Strom von +Skizzen, in denen er vor allem seine Meisterschaft +zeigte. Aber diese Skizzen Remisows +waren nur seine Lehrlingsarbeit. +</p> + +<p> +Wer ihn gut kannte, der konnte nicht daran +zweifeln, denn dieses Stilisieren beschränkte +sich nicht auf die Form. Es führte in das +wahre Verständnis dessen ein, was einst +Volksseele genannt wurde. Denn die Volksseele +läßt sich nicht in Kategorien pressen, +welche die politischen Parteien für sie aufstellen, +weder in die der volkstümlichen rechten +oder linken Partei, noch in die Kategorien +derer, die der ganzen Menschheit Heil +versprechen. Das Geheimnis der Volksseele +blieb verschlossen; jetzt sehen wir es endlich +klar ein. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“ +ist die verwirrte moderne Seele, die +<a id="page-XIX" class="pagenum" title="XIX"></a> +Seele eines Trödlers geschildert. Plötzlich +hat sich alles das aus der Vergessenheit erhoben, +was man ein für allemal hinter sich zu +haben glaubte. Dieses Alte in der jetzt ohnedies +schon konventionellen Gestalt des Trödlers +zeigt sich auch mitten in Petersburg, es +klafft aus der Tiefe des Burkowschen Hofes +wie aus der Unterwelt, und man fühlt: dies +ist wahr! Paradox ist vielleicht nur die Gestalt +der Hörerin der Hebammenkurse, welche +alte Weisen singt. Hier hat die Phantasie +Remisows sich hinreißen lassen, die gewöhnt +ist, auch im Neuesten etwas Altertümliches +herauszufinden. Aber da haben wir Akumowna; +das Schicksal hat sie in die Stadt getrieben, +das Schicksal jagt ganz Rußland wenn +nicht in die verderblichen Gegenden Sibiriens, +so doch in die Städte, wo das Neue +geschaffen wird, neuer Glaube und neue +Forderungen an das Leben. Aber das Alte +stirbt noch lange, lange nicht aus, es bewahrt +sich länger, als wir glauben. Daher die Vermengung +und das Zusammenfließen des Alten +<a id="page-XX" class="pagenum" title="XX"></a> +mit dem Neuen. Die Bewegung ins +Volk suchte lange den Traum vom freien +Grundbesitz zu verwirklichen. Der Bauer +hörte dem Sozialismus zu und verstand, daß +die Rede von freiem Grundbesitz war. Akumownas +Märchen und Lisaweta Iwanownas +Geheimnis flossen zusammen mit den Lehren +der Verbannten Maria Alexandrowna. +Dieses Ineinanderfließen zu schildern, ist eine +der vornehmsten künstlerischen Aufgaben, die +sich Remisow stellt. +</p> + +<p> +Zu den besten Episoden der Erzählung gehören +die Szenen, in denen von der Reise ins +Ausland geträumt wird. Darin liegt auch ein +geheimer Herzenswunsch verborgen: vom +Lande strebt man in die Stadt, aus der Stadt +aber, aus allen Burkowschen Häusern, in denen +sich das aufgewühlte heilige Rußland +quält, drängen die Träume, Wünsche und +Hoffnungen dahin, nach dem fernen fremden +und seit uralten Zeiten vertrauten Westen. Und +es genügt nur zu denken, daß bald, bald eine +Möglichkeit eintreten könnte, hinzureisen, sich +<a id="page-XXI" class="pagenum" title="XXI"></a> +innerlich auszuruhen und das Martyrium +des heimatlichen Schmerzes für eine Weile +zu vergessen, dann wird es einem leicht zumute +und die Freude leuchtet auf. Kommt +von dort, aus der Heimat unserer allerbegehrtesten +Ideale – ich brauche absichtlich ein +Fremdwort – eine erfrischende Welle über +uns, Verjüngung, Geist der sozialen Freiheit, +so vergessen wir ganz das Burkowsche Haus +und Murkas schmerzliches Miauen, das +Weinen und Stöhnen des Volkes. Unsere +Augen leuchten und wir atmen freier. +</p> + +<p> +Das Weiseste, was Remisow in seinen +„Schwestern im Kreuz“ gesagt hat, ist seine +Theorie vom königlichen Recht. Gleich Raskolnikow +zermartert Marakulin in einem +Ausbruch von Verzweiflung sein Gehirn +mit der Frage nach der Vertilgung der menschlichen +„Laus“. Wie Raskolnikow sieht Marakulin +ebenfalls das ganze Uebel in einer +jämmerlichen alten Frau, und es dünkt ihn, +daß man nur wagen, die konventionelle Angst +vor dem Verbrechen nur überwinden müßte, +<a id="page-XXII" class="pagenum" title="XXII"></a> +um das Uebel zu vernichten. Nur ist die +menschliche „Laus“, welche Marakulin sieht, +keine Pfandverleiherin, sie tut niemand etwas +Böses. „Sie hat nichts in ihrem Leben zu bereuen; +sie hat weder getötet noch gestohlen +und wird weder töten noch stehlen, denn sie +tut nichts als sich ernähren, sie trinkt und ißt, +sie verdaut und härtet sich ab.“ Was bedeutet +das? Remisow schildert die Raskolnikowsche +„Laus“ in der Gestalt einer Generalin, +die von ihren Renten lebt. Eintönig +und sinnlos vergeht ihre Zeit. Sie braucht +niemand und niemand braucht sie. „Die Generalin +rührt mit keinem Finger, tut rein +nichts und erreicht alles: sie härtet sich ganz +sichtbar und zweifellos ab, und ihrem Leben +ist kein Ende abzusehen – der Chiromant +hat sich nicht geirrt – sie ist vielleicht schon +unsterblich!“ Ein Leben ohne Arbeit, das +heißt ohne Verbrechen und ohne Heldentaten +– denn jede Tat ist entweder ein Verbrechen +oder eine Heldentat – ein solches Leben +beruht, Remisows Meinung nach, nicht auf +<a id="page-XXIII" class="pagenum" title="XXIII"></a> +einem einfachen Recht, sondern auf einem königlichen +Recht. So würden wir alle, wenn +wir die Utopie vom allgemeinen Wohlergehen +verwirklicht hätten, das kummerlose, +sündenlose, unsterbliche Lauseleben der Generalin +genießen. +</p> + +<p> +Rechtschaffener aber ist das heilige Martyrium +des Lebens, mit seinen Abstürzen, Ausbrüchen +von Hoffnung, Kämpfen und zäher, +qualvoller Erwartung. +</p> + +<p class="date"> +St. Petersburg 1912. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-2"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +Erstes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">arakulin</span> war mit Glotow befreundet; +durchaus nicht etwa, weil der +Dienst sie eng miteinander verband und einer +ohne den anderen nicht hätte auskommen können: +Peter Alexejewitsch gab die Quittungen +aus, Alexander Iwanowitsch war der Kassierer. +Man weiß ja, wie die Ordnung ist: Marakulin +brauchte nur mit Tinte zu schreiben und +Glotow zahlte genau so viel in Gold aus. Dabei +waren sie so verschieden und einander so unähnlich: +der eine schmalbrüstig, der Schnurrbart +dünn wie ein Faden, der andere breitschultrig +und der Schnurrbart wie bei einem +Kater; der eine blickte von innen heraus, der +andere strahlte. Dennoch waren sie Freunde, +ein Herz und eine Seele. +</p> + +<p> +Denn sie hatten beide ein gemeinsames Merkmal, +oder eine Eigenschaft, und zwar eine +grundlegende; etwas, das nicht zu verbergen +ist: es würde unter den Augenlidern des Schlafenden +<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a> +hervorblinken, gleichviel, ob es sich +in der Pupille versteckt oder aus der Pupille +sich über den Augapfel verbreitet: beide nämlich +hatten eine Art von Fühler oder Rüsselchen. +Nicht nur daß dieser Fühler sich ans Leben +klammerte, vielmehr sog er alles Lebendige +in sich auf, alles, was ringsum lebte und wob, +bis auf den Grashalm, der atmet, bis auf das +Steinchen, das wächst, und er sog das alles +so gierig und fröhlich in sich auf, so ansteckend +fröhlich. Das war es. +</p> + +<p> +Wer es bemerken wollte, konnte es sehen, wer +es nicht sah, der fühlte es, und wer es nicht +fühlte, der erriet es. +</p> + +<p> +Dazu kam, daß sie gleich jung waren – beide +waren an die Dreißig oder etwas drüber +– und der Erfolg – dem einen sowohl wie +dem anderen gelang alles – und die Kraft – +keiner von ihnen war jemals krank oder klagte +auch nur über Zahnweh. Sie waren auch von +keinerlei Banden gefesselt, weder von gesetzlichen, +noch von ungesetzlichen, sie waren wie +in der Steppe, allein, und die Steppe dehnte +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +sich vor ihnen in ihrer ganzen Weite und +Macht, frei, ungebunden, unermeßlich – +dein. +</p> + +<p> +Vor drei Jahren etwa hatte Glotow seine +rechtmäßige Gattin aus dem dritten Stockwerk +auf das Pflaster hinabgestürzt, und die +Aermste brach sich dabei das Genick; vielleicht +aber war es nicht vor drei Jahren, es kann +schon vor ganzen vier gewesen sein. Uebrigens +ist das unwesentlich, – es handelt sich ja +gar nicht um Glotow, sondern um Peter +Alexejewitsch Marakulin. +</p> + +<p> +Marakulin, welcher seine Kollegen mit Fröhlichkeit +und Sorglosigkeit ansteckte, gestand +einmal, daß er, obschon dreißig Jahre alt, +sich für nicht mehr und nicht weniger als +zwölfjährig hielte, er wüßte selbst nicht warum, +und er führte dafür Gründe an: so oft +er mit jemand zusammenkäme, oder sich in +ein Gespräch einließe, hätte er das Gefühl, +als wären die anderen alle älter – alt, und +er wäre der jüngste – ganz jung noch, +zwölfjährig. Und ferner gestand Marakulin, +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +daß er sich den anderen Menschen gar nicht +ähnlich – nicht ein bißchen ähnlich fühle, +wenigstens nicht jenen richtiggehenden Menschen, +wie man sie gewöhnlich im Theater, in +Gesellschaften oder in den Klubs beobachtet, +während sie eintreten oder fortgehen, sich unterhalten +oder schweigen, sich ärgern oder +zufrieden sind – und daß alles an ihm, von +der Nase bis zur kleinen Zeh wahrscheinlich +nicht auf dem richtigen Fleck säße – so schiene +es ihm wenigstens. Und weiter gestand Marakulin, +daß er nie denke; er hätte einfach +gar nicht die Empfindung, daß er denke; +wenn er durch die Straßen gehe, so geschehe +dies eben nur so mit den Beinen, und wenn +er mit jemand bekannt werde, dann fände er +an seinem neuen Bekannten weder Unterschiedsmerkmale +noch Besonderheiten, nicht +im Gesicht noch in den Bewegungen: er fühle +nur unklar, daß der eine ihn anziehe und der +andre abstoße, einer weniger, ein anderer mehr, +und ein dritter sei ihm ganz gleichgültig; häufiger +aber herrsche doch das Gefühl der Nähe +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +und das Vertrauen in das Wohlwollen des +anderen vor. Und weiter gestand Marakulin, +daß ihn, seitdem er Bücher lese und mit Menschen +zusammenkomme, die entgegengesetzten +Meinungen nie abschreckten. Er sei vielmehr +bereit, jedermann zuzustimmen, weil er jeden +in seiner Weise für berechtigt hielte, und diskutiere +nie; wenn er sich aber einmal selbst verstiege +oder zu Auseinandersetzungen aufreize, +so geschehe es aus ganz indiskutabeln Gründen, +deren er sich jedesmal genau bewußt sei, +obwohl er sie nicht verrate – gebe es doch genug +solcher indiskutabler und doch alltäglicher +Gründe! – Und weiter gestand Marakulin, +daß er nie in seinem Leben geweint habe, +ein einziges Mal ausgenommen, als seine alte +Kinderfrau ihn verließ, an ihrem letzten Tag: +damals wäre er, in der Rumpelkammer versteckt, +an seinen ersten und letzten Tränen fast +erstickt. Noch eine verrückte Eigenschaft hatte +er, über die man sich lustig zu machen pflegte: +wenn ihm irgendein Einfall in den Sinn kam, +so stürzte er sich auf ihn mit einer solchen Hartnäckigkeit, +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +als läge in ihm der Sinn seines +Lebens, oder des Lebens überhaupt – aus +Kleinigkeiten machte er wichtige Dinge. Zu +den Feiertagen, zum Beispiel, wurde dem +Direktor gewöhnlich ein Bericht überreicht. +Dieser Bericht wurde stets mit der Maschine +geschrieben, ihm aber konnte es einfallen, +ihn mit der Hand abzuschreiben; und obwohl +es mit der Maschine viel schneller, +leichter und einfacher zu machen ging, – es +gab auch vorgedruckte Formulare zu diesem +Zweck – so ließ er es sich durchaus nicht +nehmen und malte Tag und Nacht beharrlich +und sorgfältig einen Buchstaben nach +dem andern und reihte die Zeilen aneinander, +als wären sie Perlen, und schrieb den Bericht +so oft ab, bis er so war, daß er ausgestellt +werden konnte, – so war er geschrieben! +– denn Marakulin war wegen seiner +Schrift berühmt. Am nächsten Tage schon +wird so ein Bericht irgendwohin verlegt, man +schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit, +man verlangt ihn nicht so, und eine Menge +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Zeit und Arbeit sind sinnlos verschwendet +worden! Ein verrückter Kerl, und wie beharrlich +in seiner Verrücktheit! Und weiter +pflegte Marakulin noch etwas Seltsames zu +erzählen – von einer ihm eigenen, durch nichts +erklärbaren ungewöhnlichen Freude, die er +ganz unerwartet empfinden konnte: manchmal, +wenn er am Morgen ins Bureau lief, +begann ihm plötzlich das Herz in der Brust +zu flattern und er fühlte eine ungewöhnliche +Freude. Und diese seine Freude umfing +ihn so ganz und sie war so groß, daß +ihm schien, er könnte sie jetzt warm aus +der Brust herausnehmen und jeden mit +ihr beschenken – es würde für Alle reichen; +wie ein Vögelchen wollte er sie in beide +Hände nehmen, damit ihm dies Paradiesvöglein +nicht davonfliege, darauf hauchen, +daß es nicht friere und es so den Newsky +entlang tragen: mögen sie alle sehen, ihre +Wärme einatmen, ihr Licht fühlen, – das +stille Licht und die Wärme, die das Herz vor +Freude atmet und ausstrahlt. +</p> + +<p> +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +Natürlich ist es schwer, sich selbst zu beurteilen, +und mit Geständnissen kommt man auch +nicht weit: ob das alles stimmte oder nicht – +wer kann es wissen? – Aber eine Liebe zum +Leben, ein Instinkt zum Leben, die Heiterkeit +des Gemütes – das war in ihm in der +Tat. +</p> + +<p> +Wenn man Marakulin zuhörte oder sah, wie +er an Menschen heranzutreten pflegte, wer +sein Lächeln und seinen Blick kannte, dem +konnte manchmal der Gedanke kommen, daß +so einer wie er, jederzeit imstande wäre, zu +einer Bestie in den Käfig zu treten und, ohne +mit der Wimper zu zucken, ohne zu überlegen, +die Hand auszustrecken, um das sich sträubende +wilde Haar des grimmigen Tieres zu streicheln +– und das Tier würde nicht beißen. +</p> + +<p> +Und wie konnte es Marakulin betrüben, +wenn es sich zuweilen, plötzlich herausstellte, +daß auch er, wie jeder andere, gehaßt wurde, +daß auch er seine Mißgönner hatte, daß auch +er für jemand ein Balken im Auge sein konnte! +Denn man konnte ja mit ihm machen, +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +was man wollte. Und wenn er es dennoch +zustande gebracht hatte, das dreißigste Jahr +zu erleben, und mit Erfolg, so war es das +reinste Wunder – eine unwahrscheinliche +Sache. Meistens aber wurde Peter Alexejewitsch +geliebt, nicht etwa besonders oder gar +zu sehr, aber es war gar kein Grund, ihn nicht +zu lieben – brachte er doch Heiterkeit und +Lachen mit, dazu kein gewöhnliches Lachen, +sondern ein trunkenes, marakulinsches – +warum sollte man ihn da hassen? Und dennoch +nahm das alles kein sehr gutes Ende +– Peter Marakulin endete schlimm. +</p> + +<p> +Das kam so: Marakulin erwartete zu Ostern +Beförderung und eine Gratifikation – in den +großen Geschäftshäusern ist es zu den Feiertagen +so üblich –; statt dessen aber wurde er +aus dem Dienst gejagt. Es geschah folgendermaßen: +Fünf Jahre hatte Peter Alexejewitsch +gedient, fünf Jahre die Quittungsbücher +geführt, und alles befand sich in +bester Ordnung, – Marakulin wurde sogar +wegen seiner Ordnungsliebe und Genauigkeit +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +scherzweise „Der Deutsche“ genannt +– als aber die Direktoren vor den +Feiertagen revidierten und zu vergleichen und +zu rechnen begannen, da trat eben die Verlegenheit +ein: es stimmte etwas nicht, es fehlte +etwas – vielleicht nur eine wirkliche Bagatelle, +– das Geschäft aber war groß, und +solche Kleinigkeiten konnten Verwirrungen +verursachen. So nahm man ihm denn die +Bücher ab und entließ ihn. +</p> + +<p> +Erst glaubte Marakulin nicht daran, er wollte +es einfach nicht glauben, und dachte, man +triebe nur Scherz mit ihm, einen Jux zum +allgemeinen Ergötzen einfach, um vor dem +Fest die Fröhlichkeit zu erhöhen; er lachte +dazu und begann seine Auseinandersetzung +auch nicht ohne Witz: +</p> + +<p> +– Gestatten Sie dem Dieb Soundso, dem +Räuber und Wegelagerer, den Diebstahl aufzuklären +... +</p> + +<p> +– Wie? +</p> + +<p> +– Ha – ha ... Und er war es, der zuerst +lachte. +</p> + +<p> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Und in einem aufklärenden Brief an eine +wichtige und einflußreiche Persönlichkeit, an +den Direktor, unterschrieb er nicht einfach +Peter Marakulin, sondern „Der Dieb und +Expropriateur Peter Marakulin“. +</p> + +<p> +„Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin.“ +</p> + +<p> +– Wie? +</p> + +<p> +– Ha – ha ... Und er war es wieder, der +zuerst lachte. +</p> + +<p> +Aber der Scherz gelang diesmal offenbar vorbei, +er wirkte gar nicht spaßhaft, oder wenn +er auch so wirken hätte können, so nahm man +das gar nicht wahr, und niemand lachte, – +im Gegenteil. Und am komischsten war die +Antwort eines jungen Buchhalters, – dieser +Buchhalter war ein kleiner stiller Mensch, +der nicht einmal eine Fliege zu kränken imstande +war, so still war er. +</p> + +<p> +Dieser Awerjanow nun sagte: Ich möchte bis +zur Aufklärung Ihres Mißverständnisses mit +meiner Antwort abwarten. +</p> + +<p> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Hier wurde Peter Alexejewitsch ernst: +</p> + +<p> +– Was für ein Mißverständnis! Es kann +ja gar keinen Irrtum geben! +</p> + +<p> +– Wie? +</p> + +<p> +– Der Irrtum, meine ich ... ich irre mich +nicht, ich bin ein „Deutscher“ ... Wo ist +denn der Irrtum? +</p> + +<p> +Und jetzt mußte er es glauben. Er mußte ja +glauben! Die wilde Bestie ist offenbar doch +nicht so einfach, sie unterwirft sich nicht so +leicht, sie läßt nicht so ohne weiteres ihr sich +sträubendes Fell streicheln. Hände weg! Die +Bestie beißt dir noch die Finger ab! Ist es +nicht so? – Oder hat es mit der Bestie gar +nichts auf sich und der Fluch besteht gar +nicht darin, daß der Mensch für den Menschen +eine Bestie ist und eine grimmige dazu, +sondern darin, daß der Mensch für den Menschen +ein Klotz ist: man mag ihn noch so anflehen, +er hört es nicht; man mag ihn noch +so anrufen, er antwortet nicht; man mag sich +den Kopf einstoßen, indem man vor ihm +mit der Stirn auf den Boden schlägt, er +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +rührt sich nicht; er bleibt so stehen, wie er +hingestellt wurde, bis er umfällt oder bis du +umfällst. Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn, und zum erstenmal dachte +es in ihm und sprach sich deutlich aus: Der +Mensch ist für den Menschen ein Klotz. +</p> + +<p> +Er lief da hin, klopfte dort an: überall war +geschlossen, überall war zu: er wurde nicht +empfangen. Und wenn er empfangen wurde, +so ließ man ihn nicht sprechen, gar nicht zu +Worte kommen. Dann begann man ihm die +Tür vor der Nase zuzuschlagen: keine Zeit! +oder: laß, bitte, in Frieden! oder: wir haben +an was anderes zu denken! – Bald +gab die Dienerschaft nicht einmal Antwort +mehr hinter der Vorlegekette: es war ihnen +untersagt; außerdem war er allen schon zu +lästig geworden. +</p> + +<p> +Marakulin hatte keine Zuflucht mehr: er war +wie in der Steppe, allein, und die Steppe lag +vor ihm, ausgebrannt, schwarz, endlos – +fremd. Nach allen vier Richtungen gleich +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +unabsehbar. Erst hatte er alles, jetzt hatte er +nichts. +</p> + +<p> +Und das alles wegen einer Bagatelle – wegen +eines blinden Zufalls. Es ging freilich +ein Gerücht um, die ganze Sache sei von +Alexander Iwanowitsch angezettelt, sei ein +Werk seiner Hände, – Glotow habe seinen +Freund hineingelegt und sich selbst aufs +Trockene gebracht. Andererseits aber wußte +man, daß Marakulin selbst bereit war, sei es +aus Herzensgüte oder aus einer sonstigen +Eigenschaft, etwa aus übermäßiger Vertrauensseligkeit +und Einbildungskraft – er +kam mit den Menschen gern gut aus – ja, +daß er selbst nichts dagegen hatte, eine Quittung, +provisorisch natürlich, einer Person auszuhändigen, +die mit einer Zahlung nichts zu +tun hatte; auf besondere Bitten hin oder mit +Rücksicht auf die Verlegenheit eines Kollegen +– vielleicht eben dieses Alexander Iwanowitsch! +Denn man konnte mit Marakulin +machen, was man wollte. +</p> + +<p> +Er aber, durch einen blinden Zufall aus seiner +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +Bahn geschleudert, ohne Arbeit, allein, Tage +und Nächte denkend, für sich allein denkend +– es waren eben andere Zeiten, jene Zeiten +waren vorbei; jetzt hatte auch er, wie die +richtigen Menschen, zu denken angefangen – +er selbst aber entschied und sprach sich selbst +das Urteil: er erkannte sich nicht schuldig und +sprach sich von Diebstahl frei. Und indem +er sich in seiner fieberhaften Aufregung seine +Daseinsberechtigung bewies, tat er es wie +früher mit Lachen und mit Freude, auf die +marakulinsche Art: er biß sich in diesen Klotz +fest, in die Vorstellung, zu der sein Denken +ihn geführt, daß der Mensch für den Menschen +ein Klotz sei, und begann zu bohren. +Er wollte um jeden Preis ergründen, wer das +alles brauchte und wozu: zum Vergnügen +welchen Klotzes all die andern Klötze hingestellt +seien! Er wollte es nur ergründen, um +sich bestimmt sagen zu können, ob er selber +noch länger als Klotz dastehen sollte, +so wie es irgend jemand beliebt hatte, ihn +hinzustellen, oder ob er, ohne abzuwarten, +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +bis es jemand belieben würde, ihn umzustoßen, +sich selber hinstrecken sollte, freiwillig, +ohne jemand zu fragen. Freilich läßt sich dergleichen +nicht auf einmal beantworten, urteilt +selbst, und wer könnte es auch? Es sei +denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke, +welcher eine Hose gestohlen und nach +den Linien der Hand einen anderen beschuldigte, +seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls +von der Kusnetschnybrücke. +</p> + +<p> +Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man +sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn +man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung +zu erweisen! Und auch das ist es nicht, daß +der Mensch für den Menschen eine Bestie +ist, und nicht, daß der Mensch für den Menschen +ein Klotz ist; die Sache ist einfacher: +wenn das Unglück über einen kommt, dann +heißt es: dulde, und dulden mußt du darum, +weil es einerlei ist, ob du mit den Hinterbeinen +ausschlägst oder beißest, – denn alles ist nutzlos, +es läßt dich nicht los, bis seine Zeit um ist. +Ist es nicht so? Etwas Derartiges flog damals +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich +zu ihm: Dulde. +</p> + +<p> +Den ganzen Sommer trieb er sich ohne Arbeit +herum. Alles, was er in den fünf Petersburger +Quittungsjahren erworben hatte, ging +jetzt in die Leihhäuser, in das Residenzpfandhaus +oder in das städtische, auf dem Wladimirsky-Prospekt. +Bald besaß er nichts mehr; +die Pfandscheine hatte er auch an einen Uhrmacher +in der Gorochowaja verklopft, und +was ihm noch übrig blieb, war so vertragen +und zerrissen, daß nicht einmal der Tartar es +gekauft hätte. Er war abgerissen und schäbig; +sein einziger Gummikragen war ganz +zerwaschen, nur das Kreuz am Hals war +noch ganz und das Amulett, das er sich übrigens +längst nicht mehr umzuhängen pflegte; +er hatte es an die Wand gehängt zur Erinnerung. +Und er begann, sich zu schämen – +früher hatte er nie etwas Derartiges gefühlt. +Er wagte es nicht mehr zu bitten. Zum Glück +konnte er auch niemand bitten: wie vor einem +Cholerakranken waren alle Freunde davongelaufen +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +und hielten sich vor ihm versteckt. +Und er empfand Angst vor Allen, vor Bekannten +und Unbekannten. Er schämte und fürchtete +sich, durch die Straßen zu gehen; es war +ihm, als wüßten alle etwas von ihm, das er +nicht den Mut hätte, sich selber zu gestehen, +geschweige den Menschen zu sagen. Die Passanten +in den Straßen stießen ihn. Sogar die +Hunde, auch die bellten ihn an und schnappten +nach seinen Beinen. Er war eben ein verlorener +Mensch. +</p> + +<p> +Nun ja, ein verlorener, rechtloser – da heißt +es eben: dulde, dulde und vergiß ... Bricht +das Unglück über dich herein, dann vergiß, +daß es Menschen auf der Welt gibt; die +Menschen werden dir nicht helfen, und wenn +sie es wollten, gleichviel, das Unglück wird +ihre Taten zunichte machen, es wird sie auseinanderjagen +und einschüchtern; darum vergiß +die Menschen. Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Und etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn und sprach deutlich zu +ihm: Vergiß. +</p> + +<p> +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +Bald fanden sich dennoch Menschen. Es +erschien aber nicht etwa so ein Awerjanow +oder sein Gehilfe Tschekurow – die Peitsche +der Gemeinheit, wie der ehrliche Tschekurow +sich selbst nannte, – nein, es waren lauter +solche, an die Marakulin niemals vorher gedacht +hatte: kleine, verdächtige Beamte, die +aus allen möglichen Aemtern fortgejagt waren, +und solche, die von einer Stellung zur +anderen wanderten – Anwärter auf den +Laufpaß, Zugrundegegangene und Zugrundegehende, +Betrogene und Vielgeprüfte, die in +anständige Häuser nicht kommen dürfen und +denen die Hand zu reichen für unpassend und +unmöglich gilt, und endlich solche, die einen +sehr bezeichnenden Spitznamen haben – +ihren eigenen Namen und den Zunamen +von Dieben, Schurken, Schuften: bekannte, +halbbekannte und ihm völlig unbekannte +Gauner kamen zu Marakulin, um ihr Mitgefühl +zu bezeigen; sie waren es auch, die +ihm fürs erste Arbeit fanden, wenn auch keine +sichere, nur so, um sich durchzufretten. +</p> + +<p> +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +Marakulin hatte vorher eine Wohnung auf +der Fontanka, an der Obuchowskybrücke; sie +war klein, aber doch seine eigene, jetzt mußte +er die Wohnung aufgeben und in ein Zimmer +ziehen. Das Zimmer fand sich auf derselben +Treppe, drei Stockwerke höher. Im ganzen +hatte sich Marakulins Leben bis dahin +ganz leidlich gestaltet, wenn auch verworren +und ungeordnet. Er hatte zwar schon früher +einmal Zeiten gehabt, da er nicht besonders +gut lebte, freilich war das noch vor seiner warmen +Stellung, in den Anfängen seiner Laufbahn, +da man sich aus so etwas gar nichts +macht. Jetzt aber war es anders: es fiel ihm +schwer, sich einzuschränken, um so mehr, als +er keine Hoffnung auf Verbesserung hatte und +der Gaunerverdienst nicht übermäßig war; +er reichte gerade, um sich durchzufretten. +Aber wozu sich durchfretten? Wozu leiden, +leiden, wozu vergessen, vergessen und dulden? +Er wollte durchaus wissen, wer das alles +brauchte und wozu, zum Vergnügen welchen +Diebes, welches Schurken oder Schuften – +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +welchen Gauners das nötig war? Und er +wollte es wissen, nur um sich klar zu sagen, +ob es sich noch lohnte, das alles in die Länge +zu ziehen – zu dulden, nur um sich durchzufretten? +</p> + +<p> +Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal +beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es +auch? – Es sei denn der Chiromant von der +Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen +und nach den Linien der Hand einen anderen +beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl +nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke. +</p> + +<p> +Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man +sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn +man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung +zu erweisen! Es kommt offenbar gar nicht +darauf an, daß man duldet und auch nicht, +daß man vergißt; die Sache ist viel einfacher: +Denke nicht. – Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Und etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn und sprach ganz deutlich +zu ihm: Denke nicht. +</p> + +<p> +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +Er sollte nicht denken, jetzt? Gerade jetzt, +durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn +geschleudert, allein, ohne Arbeit? Jetzt begann +er erst recht zu denken – jene Zeit, als er noch +nicht dachte, war vorbei, und wird nie wiederkehren. +</p> + +<p> +Und der Kreis schloß sich in ihm: er wußte, +daß es nutzlos war zu denken, daß er nicht +denken durfte, daß man nichts beweisen kann, +und konnte doch nicht umhin zu denken, konnte +doch nicht umhin zu beweisen, er mußte denken +bis es schmerzte; die Gedanken jagten +sich unaufhörlich wie im Fieber. +</p> + +<p> +Seine Wohnung wurde Marakulin glücklich +los, ohne daß man ihn aufs Polizeirevier geschleift +oder gepfändet hätte – er hatte nichts, +und die Seele kann man einem doch nicht wegnehmen. +Nur daß Michail Pawlowitsch ihm +die Hand nicht gereicht hatte, – der Oberhausmeister +Michail Pawlowitsch pflegte +den mittleren Mietern, die er achtete, die Hand +zu reichen. +</p> + +<p> +Der letzte Tag am alten Herd verlief für Marakulin +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +sehr denkwürdig. Am Morgen geschah +ein Unfall im Hof: eine Katze war verunglückt +– eine weiße, glatte Katze mit grauem +Schnurrbart. Möglich, daß sie auch gar nicht +verunglückt war und gar nicht gedacht hatte, +vom Dach des fünften Stockwerks herabzustürzen, +sondern sie mochte vielleicht zufällig +etwas verschluckt haben: einen Nagel oder +eine Glasscherbe. Es kann auch sein, daß jemand +ihr absichtlich, zum Spaß, ein Nägelchen +oder einen Splitter zu fressen gegeben +hatte, – es gibt nämlich solche Liebhaber. +Sie quälte sich sehr und litt: bald warf sie +sich auf den Rücken und wälzte sich auf den +Steinen, bald drehte sie sich auf den Bauch +herum, streckte die Vorderpfoten aus, hob die +Schnauze in die Höhe, als wollte sie in die +Fenster hineinsehen, und miaute. +</p> + +<p> +Die kleinen Kinder umstanden die Katze, sie +ließen ihre wilden Spiele und wilden Arbeiten +im Stich und hockten sich um sie herum. +Sie waren still geworden und konnten sich +von der Katze nicht losreißen; sie aber miaute. +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +Der Perser, der schwarze Masseur aus der +Badeanstalt, hockte sich auch hin, rollte mit +den Augäpfeln sie aber miaute. +</p> + +<p> +Ein rauchfarbener Kater sprang aus der Remise +hervor, ging forsch quer durch den Hof, +über die Bretter und über den Kies geradeaus +auf die Katze zu, aber drei Schritt von +ihr blieb er stehen, sträubte sein Fell und zog +mit hochgehobenem Schweif ab. Ein kleines +Mädchen besann sich und lief um Milch; sie +brachte eine Scherbe voll und stellte sie der +Katze unter die Nase; die Katze aber sah gar +nicht hin und miaute. – Die Katze ist verrückt! +– sagte ein Erwachsener, der ebenso +wie Marakulin aus dem Fenster zuschaute. +</p> + +<p> +– Das ist unsere Katze Murka! – verbesserte +ihn das kleine Mädchen, das um Milch gelaufen +war; ihr Gesicht glühte und in ihrer +Stimme klang etwas wie Gekränktheit und +Ungeduld. +</p> + +<p> +Und alle schienen auf eins zu warten: auf das +Ende. Marakulin wich nicht vom Fenster, +er konnte sich nicht losreißen, auch er wartete +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +auf das Ende. Und er würde so, ohne sich zu +rühren, auch bis zum Abend dagestanden +sein, wenn er nicht plötzlich gefühlt hätte, daß +hinter seinem Rücken jemand da war und von +einem Fuß auf den anderen trat. Marakulin +pflegte die Türen schon längst nicht mehr abzuschließen, +es war also jemand hereingekommen! +In der Tat: ein alter Mann stand vor +ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend +– ein zerzauster langer alter Mann, unter +dem Mantel schlotterten die Hosen um seine +Beine, als wären es keine Beine, sondern bloß +Knochen. In der Hand zerknüllte er seine +Mütze und noch etwas – ein Kuvert, ja ein +Kuvert. Diesen alten Mann hatte er früher nie +gesehen, natürlich! – was wollte er? +</p> + +<p> +– Was wünschen Sie? +</p> + +<p> +– Ich komme zu Euer Gnaden, Peter Alexejewitsch, +ich komme von Alexander Iwanowitsch. +</p> + +<p> +– Von Alexander Iwanowitsch? +</p> + +<p> +– Von ihm persönlich. Sie vergaßen die +Tür zu schließen, so bin ich da, – zu klingeln +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +hab’ ich gefürchtet, verzeihen Sie, – der Alte +kaute mit den Lippen und zupfte an seiner +Mütze. +</p> + +<p> +In früheren Zeiten kamen manchmal allerlei +Leute von Glotow – sie brauchten im Kontor +zuweilen Aushilfe für den Abenddienst – +aber wie konnte es Glotow einfallen, jetzt jemand +zu ihm zu schicken, da Glotow doch +wußte, daß er stellungslos war und nur einen +Sechser in der Tasche hatte! +</p> + +<p> +– Ich kann nichts für Sie tun, Sie brauchen +doch Geld ... +</p> + +<p> +Der Alte wurde geschäftig und zog ein zerdrücktes +Blatt Papier aus dem Kuvert, das +ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschrieben +war. +</p> + +<p> +– Ich habe eine Bittschrift an Euer Gnaden +verfaßt, ich geniere mich zu bitten, und so +habe ich diese Bittschrift verfaßt, – der Alte +schob ihm das Papier zu und lächelte ununterbrochen, +ein Lächeln, das so war, als +miaute die Katze Murka. +</p> + +<p> +Marakulin steckte dem Alten seinen letzten +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +Sechser zu, setzte sich an den Tisch und wartete +nur, wann der Alte fortgehen und wann +es ein Ende nehmen würde. +</p> + +<p> +Der Alte ging nicht, er preßte in der einen +Faust den Sechser und die Mütze und in der +anderen das zerknüllte, ungleichmäßig mit +großen Buchstaben beschriebene Papier. Seine +Hände zitterten und die Mütze fiel zu Boden. +</p> + +<p> +– Was macht Alexander Iwanowitsch, wie +geht es ihm? – fragte Marakulin und fühlte +dabei, wie alles in ihm zitterte und daß er es +bald nicht mehr aushalten würde, nicht aufzustehen +und den Alten hinauszujagen. +</p> + +<p> +Der Alte streckte vogelartig lang seinen Hals +aus und sperrte den Mund auf wie einen +Schnabel. +</p> + +<p> +– Heute ausgezeichnet, – er bewegte wie +erfreut den Kopf, – er ist sehr gut angezogen, +wie ein Oberhausmeister, ein Rock, +Lackstiefel, – wie ein Oberhausmeister. – +Geh, Gwosdjow, gradeaus zu Peter Alexejewitsch +in die Fontanka! – So geruhte er zu +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +mir zu sagen. Wie ein Oberhausmeister. Ich +war bei ihm in Zarskoje in seiner Sommerwohnung, +er scherzt immer: er ist verliebt – +sagt er – verliebt in eine Madame. Er +scherzt immer: Einen Hungrigen – sagt er +– kann man satt machen, einen Armen kann +man reich machen, aber bist du verliebt und +dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit, +so kannst du dich zerreißen, es gibt keine +Hilfe. – Ich verstehe es nicht, er scherzt nur +immer. Einen Paletot hat er mir von seinen +eigenen Schultern geschenkt, und diese da +Awerjanow der Buchhalter; seine eigenen; +sie sind mir etwas zu weit. Bist du keusch, +Gwosdjow? – sagt er. Nehmen Sie es +mir nicht übel, Alexander Iwanowitsch, ich +bin ein Liebhaber von Weibern. Ja, er scherzt +immer. +</p> + +<p> +Ohne aufzuhören und alles durcheinanderbringend +redete der Alte, setzte sich aber nicht, +öffnete nicht die Faust und hob auch die Mütze +nicht vom Boden auf. +</p> + +<p> +Ein ruheloser Alter war das, ach wie ruhelos! +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +Er hatte bei den Schachowskojs in Petersburg +als Stallknecht gedient, es war eine gute +Stellung, aber einmal wurde ein Pferd scheu +und stieß ihn in die Brust, da ging er ins +Kloster. Seitdem zog er herum, aus einem +Kloster in das andere – er war eine ruhelose +Natur: sowie er anfing sich irgendwo zu +gewöhnen, da lief er fort. Vor einem Monat +war er aus dem Tschermenetzkischen Kloster +davongelaufen. +</p> + +<p> +– Da hat sich ein Bekannter meiner erbarmt. +In der Seleninaja hat er ein Zimmer, ein +kleines Zimmerchen. Er selbst, dieser Korjakin, +ist verheiratet, hat eine Frau und ein kleines +Kind, ein Mädchen, aber er hat sich +meiner erbarmt, und wir wohnten alle zusammen. +Aber zum Fest der heiligen Olga +kam das älteste Töchterchen zu ihnen nach +Petersburg zu Besuch, so wurde es zu eng, +auch ist es unschicklich: eine Jungfrau. So +zog ich auf den Obwodnij, hab’ da einen +Winkel gemietet für anderthalb Rubel, mit +Gurken – ein schöner Winkel im Korridor. +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +Ich möchte mich gern mit Handel befassen, +um mich nur irgendwie durchzufretten +... +</p> + +<p> +Verworren und ohne aufzuhören redete der +Alte, die Worte flossen ineinander und zischten, +– ein ruheloser Alter. Marakulins Augen +verschleierten sich, seine Lider wurden +schwer, er sah nichts mehr, vor seinen Augen +bewegten sich nur die Hosen des Alten, die +allzuweiten, von Awerjanow, die nicht um +Beine, sondern um Knochen zu schlottern +schienen. +</p> + +<p> +– Ich bin Liebhaber von Weibern ... anderthalb +Rubel mit Gurken ... nur um mich +irgendwie durchzufretten ... +</p> + +<p> +Marakulin sprang vom Stuhl auf. +</p> + +<p> +– Wozu, sagen Sie mir endlich, wozu wollen +Sie sich durchfretten? – rief er. +</p> + +<p> +Aber er befand sich allein im Zimmer, es war +niemand mehr drin. +</p> + +<p> +Die Katze miaute, Murka miaute. Er war +allein im Zimmer; er war mitten im Gespräch +eingeschlafen, der Alte hatte es offenbar bemerkt +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +und sich mit seinem letzten Fünfkopekenstück +davongeschlichen, genau so, wie er vorher +unbemerkt eingetreten war. Auch die +Mütze lag nicht mehr auf dem Boden. Die +Katze miaute, Murka miaute. +</p> + +<p> +Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie +noch nie zuvor, daß Murka stets gemiaut +hat, und nicht nur gestern, sondern alle die +fünf Jahre hier an der Fontanka auf dem +Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, +und nicht nur hier auf dem Burkowschen +Hof an der Fontanka, sondern auch auf +dem Newsky und in Moskau an der Taganka +– bei der Auferstehungskirche –, an der +Taganka, wo er geboren war, – überall, wo +etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach +es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor +dieser Murka nirgends hätte verstecken können. +Und er fühlte es, daß Murka nicht dort +unten im Hof miaute, sondern hier ... +</p> + +<p> +– Gebt Luft! – miaute Murka, als könnte sie +sprechen: – gebt Luft! – und sie wälzte sich auf +den Steinen, zu den Fenstern hinaufflehend. +</p> + +<p> +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Eng, immer enger hockten sich die Kinder +um sie herum, sie vergaßen ihre wilden Spiele +und ihre wilden Beschäftigungen, sie horchten; +auch die Scherbe mit der Milch stand +noch unberührt da, und der Perser, der +schwarze Masseur aus der Badeanstalt ging +nicht fort und rollte mit den Augäpfeln. +</p> + +<p> +Erst spät am Abend bezog Marakulin in der +fünften Etage sein neues Zimmer, wo früher +die Waschküche war. In der Wohnung war +niemand, außer der Köchin Akumowna; die +Wirtin Adonja Iwoilowna war von der +Reise noch nicht zurück, – Adonja Iwoilowna +pflegte im Sommer zu pilgern und +die Wohnung Akumownas Aufsicht zu überlassen. +Die anderen zwei Zimmer waren unvermietet. +</p> + +<p> +Die erste Nacht in der neuen Wohnung +träumte Marakulin, er sitze in einem Lustgarten +außerhalb der Stadt an einem Tischchen +gegenüber der Estrade – der Garten +erinnerte an den Garten des Aquariums – +und rings um ihn lauter unbekannte Menschen: +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +ihre Gesichter waren böse und unruhig, +und sie gingen herum und brummten +und flüsterten miteinander. Er verstand, daß +ihr Brummen und Flüstern sich auf ihn bezog. +Sie hatten nichts Gutes im Sinn, gewiß +nichts Gutes! Es wurde ihm Angst, +sie aber kamen immer näher, und bald flüsterten +sie nicht mehr miteinander, sondern +winkten einander mit den Augen zu, verstanden +einander und zeigten auf ihn. Und schon +gab es keinen Zweifel mehr: – er darf nicht +länger dableiben, sie würden ihn sonst totschlagen. +Er erhebt sich und will ganz unbemerkt +zum Ausgang gelangen, – sie aber +sind hinterher. So ist es, sie wollen ihn +totschlagen! Sie werden ihn totschlagen, +erwürgen; wohin fliehen, wo sich verstecken? +O Gott, wenn doch ein Mensch wenigstens +da wäre, ein Mensch! Und sie verfolgen +ihn, sind ihm schon auf den Fersen, jetzt +holen sie ihn ein. Er stürzt in eine Grotte, +fällt mit dem Gesicht auf die Steine. Und +plötzlich läßt sich ein Vogel wie ein Stein +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +auf ihn nieder, auf den Rücken, kein Adler, +sondern ein Habicht, der Hühner raubt. Er +preßt ihn hart zwischen den Klauen, zerdrückt +ihn, wie er sonst die Hühner zermalmt. +– Dieb, Dieb, Dieb – klopft sein Schnabel. +Und ihm wird schwer, so schwer, – +es ist kein Zweifel mehr für ihn: er wird sich +nie mehr erheben können, nie mehr sich aufrichten, +– und es ist ihm schwer; Bitternis +ist in ihm und Todesbangen. +</p> + +<p> +– Ein böser Traum – sagte Akumowna, als +Marakulin ihr am Morgen von den nächtlichen +Menschen und vom Habichtvogel erzählte, +– man hat ihn nur vor einer Krankheit. +Sie werden ganz bestimmt krank werden. +</p> + +<p> +Die Krankheit aber hatte sich seiner schon +bemächtigt, er war ganz zerbrochen, ganz +aufgelöst, der Kopf hing ihm herab, er war +krank: am Morgen vermochte er kaum ein +Glas Tee auszutrinken und der Bissen blieb +ihm im Munde stecken. Draußen war eine +Hochsommerhitze und ihn schüttelte der +Frost wie im Januar. +</p> + +<p> +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +Die göttliche Akumowna – im Burkowschen +Hof wurde Akumowna die göttliche +genannt –, die gute Seele, brachte Marakulin +zu Bett, gab ihm Himbeertee zu trinken +und legte ihm Senfpflaster auf; sie pflegte +ihn Tag und Nacht, und pflegte ihn gesund. +Die Krankheit ließ ihn los und verließ ihn. +Doch hatte er an die zwei Wochen gelegen. +</p> + +<p> +Das erste, was er empfand, als er nach der +Krankheit die Hausschwelle überschritt und +sich auf der Straße befand, war – daß er +jetzt alles zu sehen und zu hören anfing. Und +er fühlte, wie sein Herz sich auftat und seine +Seele lebte. +</p> + +<p> +Der eine muß verraten, um durch den Verrat +seine Seele aufzuschließen und in der Welt er +selbst zu sein; der andre muß töten, um durch +den Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens +als er selbst zu sterben; er aber mußte +offenbar eine Quittung ausfertigen – aber +nicht der Person, der sie zukam, – um seine +Seele zu erschließen und in der Welt zu sein, +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger +Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch +Marakulin, der er war, sehen, hören +und fühlen. +</p> + +<p> +So sprach es in Marakulin am ersten Tag +seiner Genesung, so fand er ein Schlupfloch, +um wieder in die Welt hineinzuschlüpfen, so +bewies er sich sein Recht zum Dasein: nur +sehen, nur hören, nur fühlen. +</p> + +<p> +Er hatte keine Angst mehr vor den Menschen, +sie schreckten ihn nicht mehr. Und es +war ihm jetzt eigentlich ganz gleichgültig, ob +er ein Dieb war oder nicht. Er fürchtete sich +auch vor gar keinem Unglück mehr. Und +wenn, dachte er, noch tausendmal soviel Ungemach +ihn heimsuchen sollte, so war er zu +allem bereit, mit allem einverstanden, alles +wollte er hinnehmen und erdulden und in +jeglicher Schmach leben, in jeglicher Erniedrigung, +alles sehend, alles hörend, alles +fühlend. – Warum? Das wußte er selber +nicht, nur, daß er leben wollte. +</p> + +<p> +Geschah dies dem Ungemach und dem einäugigen +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +Bösen zum Trotz, dem überall ein +Fest gerichtet ist, wo man sich grämt und +weint – er hat nämlich das Ungemach ausgehungert +und läßt es hungrig um die Erde +streifen, und er selbst, der Einäugige, blickt +mit seinem unterlaufenen Auge scheel aus den +Wolken von der Höhe des Himmels herab, +wie die Erde vor Kummer, Gram, Not, +Trauer, Leid, Bosheit und Haß sich wälzt +und wie Murka klagt, und duldet es vielleicht +nur bis zu einer gewissen Zeit, oder betrachtet +er es mit Wohlgefallen –? +</p> + +<p> +Oder geschah es dem Kummer und seinem +Hohn zum Trotz, dem mageren, dünnen, zusammengeschrumpften, +von Weiden umgürteten, +mit Bast umwickelten, – diesem, wie +der alte Gwosdjow, zerzausten Kummer, mit +seinen geheuchelten Tränen, die er vergießt, +wenn er einen in die Grube hinabstößt und dazu +„Ecce homo!“ ruft? Oder erkannte er in +Murkas Miauen, in Murkas Bestimmung zu +klagen, eine höhere Gerechtigkeit, eine Strafe +für Murkas Erbsünde, die nicht gesühnt, +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +nicht vertuscht werden kann, wenn sie vielleicht +auch ganz geringfügig ist, weil geschrieben +steht: Wer das ganze Gesetz befolgt +und nur eins übertritt, der ist im ganzen +schuldig! und er ergab sich drein mit +Furcht und Beben, nachdem er erkannt hat, +daß sein Recht eben in der Rechtlosigkeit +von Uranbeginn bestand? – Oder war es +seine Liebe zum Leben, sein Instinkt zum Leben, +die Heiterkeit des Gemüts – das Mark +und die Wurzel seines Lebens, die ihm Recht +sprachen, als eingeborene Kräfte seiner Seele, +und ihm die Fähigkeit verliehen, sich zu finden, +sich zu fügen und anzupassen, ohne Worte, +ohne Beweise? Oder wird er jetzt einfach +nur leben, niemand zum Trotz, niemand +zu Leide, weder aus Erkenntnis, noch dank +seiner besonderen seelischen Eigenschaften, +sondern einfach so – zu gar keinem Zweck, +ebenso wie er früher zu keinem Zweck für +den Direktor vor den Feiertagen die Berichte +abgeschrieben hatte, Tag und Nacht beharrlich +einen Buchstaben nach dem anderen malend, +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +die Zeilen wie Perlen aneinanderreihend? +– Ist es nicht so? +</p> + +<p> +Etwas Derartiges flog damals Marakulin +durch den Sinn und sprach deutlich in ihm: +Zu keinem Zweck – zu gar keinem Zweck, +aber du wirst dennoch leben und nur sehen, +nur hören, nur fühlen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-3"> +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Zweites Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">as</span> Burkowsche Haus stößt an keine +fremde Mauer. Ihm seitlich gegenüber +liegt das Obuchowsche Krankenhaus. +Zwischen dem Haus und dem Krankenhaus +befinden sich zwei Höfe: Burkows Hof und +der Hof der Belgischen Gesellschaft. Die Fabrik +der Gesellschaft liegt rechts, – sie hat +vier Ziegelschlote mit Blitzableitern; sie qualmen +den ganzen Tag und erfüllen die Fensterrahmen +mit schwarzem Ruß. Ueber diesen +Ruß beklagt sich Akumowna so oft +sie vor den Feiertagen die Zimmer reinigt, +aber sie schreibt die Schuld daran nicht den +belgischen Schloten zu, sondern der riesigen +elektrischen Milchglaskugel, die den ganzen +belgischen Hof beleuchtet. +</p> + +<p> +Der Mond blickt manchmal in die Fenster +hinein, die Sonne aber ist nie zu sehen, nur +im Hochsommer glüht Marakulins Zimmer +wie eine heiße Pfanne: die Strahlen +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +dringen herein zusammen mit dem Staub +und jenem lästigen Hämmern von Eisen gegen +Stein, das dem sich erneuernden und +aufputzenden Petersburg im Sommer eigen +ist. Auch die Sterne sind hier wenig zu sehen, +mit Ausnahme des Abendsterns, und auch +dieser ist nur im Frühjahr sichtbar, in später, +nicht sehr dunkler Mitternacht; dafür aber +glänzt das Licht im Obuchowschen Krankenhaus +wie ein Stern. +</p> + +<p> +Wenn im Hof der Belgischen Gesellschaft +schwarze Männer erscheinen und wie Zuchthäusler +einen schwarzen Karten mit Steinkohle +nach dem andern von der Fontanka hereinfahren, +und der Hof sich im Laufe der Tage +in einen schwarzen Berg verwandelt, dann +bedeutet es, daß der Sommer vorüber ist +und daß der Winter, der Herbst naht. Wenn +aber der Berg abzunehmen beginnt und wie +Schnee schmelzend zergeht, wenn die schwarzen +Männer wieder mit schwarzen Karren +erscheinen und klirrend die letzten Stücke +wegfahren; wenn in dem mit grauem Sandbestreuten +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +Hof weiße Zelte sich erheben, kurzgeschorene, +erdfahle Menschen in grauen +Krankenhauskitteln herumzuschleichen beginnen +und die roten Kreuze der Schwestern +leuchten, dann bedeutet es, daß der Winter +vorüber ist und daß der Sommer – der +Frühling da ist. +</p> + +<p> +Burkows Haus ist wie Petersburg selbst. +</p> + +<p> +Der herrschaftliche Teil des Hauses liegt nach +der Seitengasse mit der Kaserne – in ihm sind +lauter teure Wohnungen. Hier wohnt der +Eigentümer Burkow selbst – ein ehemaliger +Gouverneur: seine Uniform strahlt wie elektrisches +Licht und sein Vorzimmer ist voller +Epauletten und blanker Knöpfe. Eine Etage +höher wohnt der Rechtsanwalt Amsterdamskij +– er nimmt zwei Wohnungen ein. Noch +höher wohnen Oschurkows – ein Ehepaar +nur – in zehn Zimmern; alle zehn Zimmer +sind voll von Nippes, auch ein Aquarium +mit Goldfischchen haben sie; die Dienstboten +wechseln jeden Tag. Der Nachbar der +Oschurkows ist ein Deutscher, der Doktor der +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +Medizin Wittenstaube, der alle Krankheiten +mit Röntgenstrahlen heilt. Ueber Oschurkows +und Wittenstaube wohnt die Generalin Cholmogorowa, +oder die Laus, wie sie im Hof genannt +wird. Ueber der Generalin wohnt niemand; +unter Burkow befindet sich noch ein +Kontor und an der Ecke eine Bäckerei. +</p> + +<p> +Burkow selbst wurde nie von jemand gesehen. +Es gingen seltsame Gerüchte um +von seiner eigenartigen Selbstvernichtung: +während er Gouverneur in Purchowez war +und dort den Aufruhr unterdrückte, soll er +dermaßen außer sich geraten sein, daß er unter +anderen Akten auch eine von ihm selbst +verfaßte Meldung an das Ministerium über +seine eigene völlige Unfähigkeit unterschrieb, +worauf er glücklich, aber ihm völlig überraschend +nach Petersburg berufen wurde, +wo er seinen Abschied erhielt. +</p> + +<p> +Die Generalin Cholmogorowa dagegen konnte +ein jeder sehen, und alle wußten, daß allein +die Zinsen ihres Kapitals bis zu ihrem Tode +reichten, und leben könnte sie noch ein halbes +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Jahrhundert: kräftig und lebhaft würde +sie alle überleben, oder wie der Chiromant +sich ausdrückte: es ist ihrem Leben kein Ende +abzusehen! Man wußte auch von der Generalin, +daß sie jeden Dienstag ins Dampfbad +gehe und so abgehärtet sei, daß sie überhaupt +nicht altere, sondern immer im gleichen +Zustand verharre. Weiter wußte man, Gott +weiß woher, daß sie nichts in ihrem Leben +zu bereuen habe; sie hat weder getötet noch +gestohlen, und wird weder töten noch stehlen, +denn sie tut nichts, als sich ernähren – +sie trinkt und ißt – sie verdaut und härtet +sich ab. Sonst nichts. Endlich wußte man, +daß sie das Haus nie anders als mit einem +Klappstuhl verlasse; diesen nehme sie als +eine Art Waffe mit, falls sie überfallen werden +sollte, – und so kann man sie mit dem +Stuhl täglich auf der Fontanka der Motion +wegen promenierend antreffen, an Samstagen +und Sonntagen, vor den Festen +und an den Festtagen selbst dagegen auf +dem Sagorodny-Prospekt, wo sie entweder +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +zur Kirche geht oder aus der Kirche +kommt. +</p> + +<p> +Jeden Mittag Schlag Zwölf erscheint auf +dem Hof das Burkowsche Hausmädchen Susanna, +das schon mehr wie ein Fräulein aussieht +– wie eine Stenotypistin aus irgendeinem +Bureau – und führt den schönen Hund +des Gouverneurs, den rothaarigen Revisor +über den Hof spazieren, wobei sie kaum die +lästige Stahlkette festhält. Jeden Mittwoch +werden die Teppiche in den Hof hinuntergebracht +und vor den Feiertagen auch die Polstermöbel, +und die Teppichklopfer bearbeiten +sie und klopfen so eifrig und mit solchem Gedonner, +daß es sich anhört, als würde auf der +Newa aus Kanonen geschossen; das bedeutet: +ein Attentat oder eine Ueberschwemmung. +Alle diese Teppiche und Möbel stammen +aus dem herrschaftlichen Teil des Hauses +– aus den reichen Wohnungen der Burkows, +Amsterdamskijs, Oschurkows, Wittenstaubes +und der Generalin Cholmogorowa. +</p> + +<p> +Im Hinterhaus sind lauter kleine Wohnungen, +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +und die Einwohner sind mittlere, +zumeist aber kleine Leute. Hier befinden sich +Schuster und Schneider, Bäcker, Bademeister, +Friseure, eine Waschanstalt, zwei +Weißnäherinnen, drei Schneiderinnen, eine +Krankenschwester aus dem Obuchowschen +Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten, +Kürschner, Schirmmacher, Bürstenmacher, +Buchhalter, Wasserleitungsarbeiter, Setzer +und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische +Monteure mit ihren Familien und ihren +Lumpen, Flaschen, Gläsern und Schwaben; +hier sind auch allerlei Fräuleins von der +Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt, +Nähmamsells, Mädchen aus den +Teestuben und elegante junge Leute aus den +Badeanstalten, die die Petersburger Damen +auf Wunsch bedienen; hier befinden sich +auch „die Winkel“. +</p> + +<p> +Der Inhaber der Winkel, der Händler Gorbatschow, +der Schweigsame – so wurde er +im ganzen Hof genannt – ein stämmiger, +haariger, angegrauter, betfrommer Mann, +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +der allsonnabendlich alle seine dreißig Winkel +mit Weihrauch ausräuchert, besitzt auf +dem Marsfeld drei Stände. Zu den Feiertagen +tummeln sich bei Gorbatschow Mädchen +in schwarzen Tüchern und Nonnen-Geldsammlerinnen +in Schaftstiefeln, und zu +Ostern legen alle diese Töchter des Gesanges +lustig und keck: Christ ist auferstanden! bei ihm +los. Gorbatschow ist allen bekannt und wenig +beliebt; er kann Kinder nicht ausstehen. Die +Generalin Cholmogorowa kann, wie man +sagt, ebenfalls Kinder nicht ausstehen, aber +sie selbst hat nie welche gehabt; Gorbatschow +dagegen hatte ein Töchterchen gehabt, das er +aber so lange in einer leeren Kammer voller +Ratten eingesperrt hielt und so lange mißhandelte, +bis er es ins Jenseits befördert hatte. +Die kleinen Kinder ärgern Gorbatschow, +geben ihm allerlei Spitznamen, verfolgen ihn +in wilden Scharen, spotten über seinen Weihrauch +und über seine mit Pferdehaaren bewachsene +Nase, und davon ertönt der Hof +von so kräftigen, geflügelten Worten, von +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +einer so auserlesenen saftigen russischen Sprache, +wie man sie kaum im Gefängnis zu hören +bekommt; und das Gefängnis ist doch sozusagen +ihre Akademie. +</p> + +<p> +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist +voll, die Strafe ist nah, ich werde euch alle, +ihr Lumpen, auf einem Stricklein aufhängen! +– brummt der gekränkte, von den Kindern +gequälte alte Schweiger und schnuppert +mit seiner von Pferdehaaren bewachsenen +Gorbatschowschen Nase, während er an den +Sonnabenden alle seine dreißig Winkel beweihräuchert, +böse und bitter das Göttliche +mit dem Ungebührlichen durcheinandermengend. +</p> + +<p> +Die Gorbatschowschen Winkel sind allbekannt. +Hier wohnt die Alte, die an der Badeanstalt +Sonnenblumen- und Kürbissamen, +Johannisbrot, Zuckerplätzchen in rosa Papierchen +mit Fransen, Heringe und eingelegte +Birnen feilbietet; stellenlose Köchinnen wohnen +hier und sonst allerlei Volk, von der Art +des ruhelosen alten Gwosdjow: ein Maler, +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +ein Tischler und allerlei fliegende Händler. +</p> + +<p> +Die Stände der Händler, ihre Kästen, befinden +sich an der hölzernen Ueberwölbung +der Müllgrube und auf dem Müllkasten +andererseits. Am frühen Morgen, wenn die +Hausmeister den Hof säubern und fegen, da +kocht es bei den Händlern vor Arbeit auf den +Ständen: die Aepfel, Apfelsinen, getrocknete +Aprikosen, Pflaumen, Datteln und andere +Süßigkeiten und Näschereien, alles wird +vorsichtig immer wieder verlockend zurechtgelegt, +aufgefrischt und erneuert. Dann wird +es an der Fontanka herumgetragen und sieht +so verlockend, so schmackhaft aus, daß es +über die Kraft geht, sich zu versagen, wenigstens +etwas davon zum Tee zu kaufen: eine +Dattel oder eine Tafel Schokolade, die nach +Mistpilzen riecht. +</p> + +<p> +Und so wie die Gorbatschowschen Winkel +nie leer stehen, so sind auch die Stände dieser +Händler, ihre Kästen stets voll von den verlockendsten +Süßigkeiten und Näschereien. +</p> + +<p> +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +Neben den Winkeln befindet sich die Hausmeisterwohnung. +Es sind ihrer sieben Hausmeister. +Alle sehen sie so gesund aus, und alle +sind sie irgendwie krank; – wenn sich zum +Spaß wenigstens ein gesunder unter ihnen +fände! Der Beruf eines Hausmeisters ist auch +gar nicht so einfach: er muß aufpassen und Holz +tragen und Leute auf die Wache schleppen, +– und alles muß flink geschehen. Ihr einziger +Vorteil ist der Verkauf von Brennholz. Nur +der herrschaftliche Teil des Hauses bezieht +das Holz vom Wirt; im Hinterhaus aber +wohnen nur kleine Leute, die ihr Holz selber +kaufen, und deshalb treiben durchweg alle +sieben Hausmeister einen schwunghaften Handel +mit Holz. +</p> + +<p> +Ueber der Portierloge wohnt der Oberhausmeister +Michail Pawlowitsch, der seiner +Stattlichkeit nach besser in die Newskaja +Lawra<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> passen würde – auch in diesem +Kloster würde er nicht zu den letzten zählen; +– als Feiertagsgeschenk nimmt er nicht +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +weniger als einen Rubel an. Ueber Michail +Pawlowitsch wohnen der Paßaufseher Jerkin +und der Kontorist Stanislaus. +</p> + +<p> +Jerkin ist im ganzen Burkowschen Hof in +Beziehung auf Trinken als der erste bekannt. +Und in den Feiertagen kann es vorkommen, +daß er, nachdem er die fünfte Etage erklettert, +an einer Tür geklingelt und mit Mühe hervorgestammelt +hat, er sei um seinen Feiertagsobolus +gekommen, wie tot auf dem Platz +liegen bleibt. Einmal, war es Weihnachten +oder Ostern, da war er die ganze Treppe +hinuntergekollert, von Stufe zu Stufe – „er +liebt mich, er liebt mich nicht“ – und hatte +sich dermaßen an den Fliesen zerschunden, +daß man ihn kaum erkennen konnte. Nach +Neujahr, am Tage der heiligen drei Könige, +brachte ihn Antonina Ignatjewna, Michail +Pawlowitschs Gattin, eine gottesfürchtige +Frau, zum Mönch am Hafen, um ihn wieder +auf den guten Weg zu bekehren. Er +ließ sich auch bekehren: er legte vor dem Bruder +ein Gelübde ab, – schriftlich – daß er +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +ein ganzes Jahr nicht mehr trinken würde, +bis zum nächsten Neujahr. Jerkin handelt +mit Marken aus dem Krankenhaus, und +diese Marken, meist im Werte eines Rubels, +sind für ihn dasselbe, was das Holz für einen +Burkowschen Hausmeister ist. +</p> + +<p> +Jerkins Hausgenosse, der Kontorist Stanislaus, +ist ebenso wie sein Freund, der Monteur +Kasimir, von jeher dadurch bekannt, daß +er sich nachts auf allen Treppen herumtreibt +und daß keine Köchin, kein Hausmädchen +ihm widerstehen kann; ein solcher Fall soll +noch nicht vorgekommen sein, und kein Gardesoldat +kommt ihm darin gleich. +</p> + +<p> +Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Unfälle, Begebenheiten, +Skandale, Raufereien, Schlägereien, +Hilferufe und Polizeiwache – bald +ist es, als schreie ein Mensch, bald, als miaue +eine Katze oder als würde jemand gewürgt. +Und so jeden Tag. +</p> + +<p> +Burkows Haus ist eine richtige Wjasma<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>. +</p> + +<p> +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +Die Wohnung Adonja Iwoilowna Jurawljowas, +der Wirtin Marakulins, ist im Hinterhaus +gelegen und trägt die Nummer +neunundsiebzig. +</p> + +<p> +Auf Nummer achtundsiebzig wohnt die Hebamme +Lebedjowa. Bei der Hebamme wurde +am Advent ein Pelzmantel gestohlen, und der +Dieb war nicht zu finden, als wäre der Pelz +im Ofen verbrannt. Man warf dem Schweizer +Nikanor vor, daß er nicht aufgepaßt +hätte, – aber wie konnte er aufpassen, wenn +er den ganzen Tag auf den Beinen sein muß +und nachts herausgeklingelt wird, und so +das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es +ein schlauer Dieb, ein Hausgenosse, – aber +es war nichts zu machen. +</p> + +<p> +Auf Nummer siebenundsiebzig wohnten eine +Zeitlang zwei Studenten – Scheweljow +und Chabarow. Dem Aussehen nach waren +sie wohlhabend; sie waren elegant gekleidet +und hatten die Miete für einen Monat vorausbezahlt. +Sie lebten zurückgezogen, niemand +pflegte zu ihnen zu kommen, es gab +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +nie Lärm bei ihnen und sie hatten auch keine +eigene Bedienung. Gewöhnlich fuhren sie +schon am Morgen fort und kamen erst spät +abends heim. Sie befaßten sich damit, Geld +für ihre armen Kollegen zu sammeln; so sagten +sie bei ihren Besuchen in den Vorder- und +Hinterwohnungen des Burkowschen Hauses. +Nur durch eins störten sie: sie sangen sehr +oft in der Nacht, wenn auch nicht laut, so +doch vernehmlich Totenmessen. Diese nächtlichen +Totengesänge verursachten den Nachbarn +wenn nicht Schrecken, so doch einige +Erregung. Aber was geschah? Nach einem +Monat stellte sich heraus, daß sie gar keine +Studenten waren, auch nicht Scheweljow +und Chabarow hießen, sondern Schibanow +und Kotschenkow – Diebe vom reinsten +Wasser, und ihre Wohnung war, als wäre +sie gar nicht bewohnt, leer, nicht einmal ein +zerbrochener Stuhl war drin – nichts, nur +ein Kerzenstumpf in einer Bierflasche und ein +Messinghahn. Und da sie nicht wenig auf dem +Kerbholz hatten, wurden sie verhaftet. +</p> + +<p> +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +An Stelle der Studenten quartierten sich +auf Nummer siebenundsiebzig zwei Artisten, +die beiden Brüder Damaskin ein: +Sergej Alexandrowitsch vom Ballett – er +hatte in zwölf Sprachen Examen gemacht +und alle Gesetze ausstudiert, wie man im Hof +sagte, – und Wassilij Alexandrowitsch, ein +Zirkusclown oder der Klon<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>, wie es in der +Burkowschen Sprache hieß: er spie Feuer +und fürchtete nichts und ist schon im Luftballon +geflogen. Die neuen Mieter wurden +vom Oberhausmeister Michail Pawlowitsch +die Artisten genannt, und er war von +einem ungewöhnlichen und ihm selbst rätselhaften +Respekt vor den Brüdern Damaskin +durchdrungen, wie vor einem Mönch aus +dem Hafen. +</p> + +<p> +Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, sieht +wie eine Teetasse aus, Sergej Alexandrowitsch +ist schlank und sauber, wie ein sechzehnjähriges +Fräulein; er berührt die Erde +kaum beim Gehen und hält sich steil, wie ein +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +dreijähriges Kind; – er geht schnell, seine +Schuhchen scheinen keine Absätze zu haben, +und jeden Augenblick kontrolliert er sozusagen +seine Füße gymnastisch: er beginnt mit den +Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den +Flügeln. Wassilij Alexandrowitsch ist nur im +Zirkus beschäftigt und hat jeden Abend Vorstellung, +wie das so ist, Sergej Alexandrowitsch +dagegen tanzt im Theater und gibt +Stunden bei sich zu Hause und außer dem +Hause. +</p> + +<p> +Die Artisten verdienten gut, streuten das Geld +aber um sich wie Späne – Sergej Alexandrowitsch +spielte Karten und verlor stets – +sie kamen aus den Schulden nicht heraus, und +manchmal ging’s ihnen an den Kragen. +</p> + +<p> +Sie beide waren nicht älter als Marakulin. +Sergej Alexandrowitsch war verheiratet, +aber seine Frau hatte ihn verlassen. Und obgleich +er sie versicherte, daß die Liebe nur einmal +komme – es gebe nur eine Liebe auf der +Welt – und, wenn er seinen Schülerinnen +den Hof mache, dies eben nur zu den Pflichten +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +seines Berufes gehöre, und wenn er mit +einer Schönen spreche, so spreche er mit ihr +nur, wie mit einem Menschen, ohne daß sein +Herz dabei beteiligt sei, so war seine Frau +doch von ihm fortgegangen. Sergej Alexandrowitsch +ist sauber, Wassilij Alexandrowitsch +das Gegenteil: er braucht jeden Tag ein +Fräulein, er kann sonst nicht leben; er ist +dabei nicht wählerisch und fürchtet sich vor +nichts, dafür aber besucht er, wenn auch +nicht oft, die Kirche. Sergej Alexandrowitsch +dagegen ist sogar Ostern zu Hause geblieben. +Und als Sergej Alexandrowitsch einmal +Zahnweh bekam und beschlossen hatte, er +müsse sterben, dachte er gar nicht daran, einen +Priester rufen zu lassen, vielmehr warnte er +die Sklavin – so nannten die Artisten ihre +Köchin Kusjmowna – und zwar aufs +strengste davor: – Wenn du mir einen Popen +holst – rief er in seiner Zahnwehraserei – +werfe ich das Aas die Treppe hinab! – +</p> + +<p> +Und er hätt’ es auch gewiß getan: Sergej +Alexandrowitsch war ein großer Philosoph. +</p> + +<p> +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +Marakulin stand mit der Hebamme Lebedjowa +nur auf dem Grüßfuß – sie mißfiel +ihm: sie sah nur auf die Tasche, war unterwürfig +und verstand es mit zwei Stimmen +zu sprechen: mit der einen zu denen mit den +vollen Taschen und mit der anderen zu denen, +die nichts hatten. Bald hörte die Hebamme +auf, Marakulins Gruß zu erwidern, und auch +er tat, als bemerkte er sie nicht mehr. Mit den +Studenten war Marakulin nicht näher bekannt +gewesen und nur manchmal an der +Treppe mit ihnen zusammengestoßen: er stieg +gerade hinauf, als sie herunterliefen; nachts +aber war er ein aufmerksamer Hörer der studentischen +Totengesänge. Auf den ersten Eindruck +gefielen ihm diese Kerle: sie waren so tüchtig +und lebenslustig. Mit den Artisten aber hatte +er sich angefreundet und besuchte sie: er kam +zu ihnen ab und zu abends zum Tee. +</p> + +<p> +Die Artisten waren geistlicher Herkunft und +von seminaristischer Bildung; sie waren beide +ein paar fidele Hühner, nicht kopfhängerisch +– sie sparten kein Streichholz beim Zigarettenrauchen! +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +– Wassilij Alexandrowitsch, +der Clown, war nicht sehr gesprächig, aber +einem Gespräch nicht hinderlich; er war gutmütig +und lachte viel, häufig auch, wo es +gar keinen Anlaß zum Lachen gab, offenbar +nach seiner eigenen Clownlinie. Sergej Alexandrowitsch +dagegen unterhielt sich gern. +Er war auch ein Bücherfreund und las nicht +nur humoristische illustrierte Zeitschriften wie +etwa „das Petersburger Satirikon,“ nicht +nur den berühmten „Andrej, den Schwergeprüften,“ +oder „Elsa von Gabron,“ oder +„die schrecklichen Geheimnisse des unterirdischen +Gewölbes,“ oder „die schrecklichen +Abenteuer des Räuberhauptmanns +die schwarze Hand,“ oder „die Liebesrendezvous +von Beritzky,“ „die Entführung Ludmillas +durch den Waldräuber Alexander“ +– die Lieblingslektüre des Clowns –, nein, +er las die neuesten, sensationellen Bücher, die +überall in den Schaufenstern zu sehen sind: +bei Ssuworin, bei Wolf, bei Mitjurnikow +auf dem Newsky, im Gostiny Dwor, auf +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +der Litejnaja und sogar auf der Gorochowaja, +in der einzigen Buchhandlung dieser +Straße. Und beim Tee pflegte Sergej Alexandrowitsch +auf alle totengräberischen, tendenziösen +Betrachtungen Marakulins mit +eigenen ausgedehnten Betrachtungen über +das Schicksal und das Los verschiedener +Länder, Völker und des Menschen überhaupt +zu erwidern und schloß gewöhnlich mit der +kurzen Bemerkung: +</p> + +<p> +– Man muß alles von sich abschütteln! – +dabei flatterte er mit den Füßen wie ein Hahn +mit den Flügeln. +</p> + +<p> +Sergej Alexandrowitsch ist ein großer Künstler. +</p> + +<p> +Die Wirtin Marakulins Adonja Iwoilowna +Jurawljowa – eine nicht mehr junge, dicke +und sehr gute Frau, ist seit fünfzehn Jahren +Witwe, seitdem ihr Mann infolge einer +Krebskrankheit den Hungertod starb. Er +wurde auf dem Smolensky-Kirchhof begraben. +Sie selbst ist keine geborene Petersburgerin, +sie stammt von der Meeresküste, vom +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +Weißen Meer. Ihr Mann besaß ein Geschäft +auf der Ssadowaja, einen Schnittwarenladen +– Baumwolle und Zwirn – jetzt hat +sie es verpachtet. Sie hat keine Kinder und +die Verwandten von seiten ihres Mannes +sind auch kinderlos, nur ein Neffe ist da. +Der Neffe pflegt an den Feiertagen zu +Weihnachten und Ostern zu kommen, um +ihr zum Fest zu gratulieren, ebenso an ihrem +Namens- und Geburtstag. Sie ist reich – +hat viel Geld und weiß nichts damit anzufangen; +sie grämt sich sehr, daß sie keine +Kinder hat und seufzend klagt sie über +das ihr von Gott bestimmte kinderlose Leben. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna bewohnt das äußerste +Zimmer; gleich am Eingang rechts liegt ihr +Zimmer. Den ganzen Tag sitzt sie zu Hause; +auf die Straße geht sie nicht – es ist ihr beschwerlich, +die Treppen hinunterzusteigen –, +der eine Fuß schleppt etwas nach, und beim +Hinaufsteigen vergeht ihr der Atem; auch +hat sie Angst vor der Elektrischen. Es bleibt +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +ihr nur eine Zerstreuung: in die Küche zu +Akumowna zu spazieren und mit ihr vom +Essen zu sprechen. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna ißt gern. +</p> + +<p> +Die Zimmer liegen alle in einer Reihe. Das +zunächst an der Küche gelegene ist das Marakulins, +und Peter Alexejewitsch kann am +Morgen schon hören, wie sie das Mittagsessen +bespricht. Adonja Iwoilowna ißt besonders +gern Fische. Und sie belehrt Akumowna +über den Sterlet, über die Zubereitung +einer Sterletsuppe, von einem wahrhaft +die Seele aus dem Leibe schmeichelnden +Geschmack. +</p> + +<p> +– Zuerst mußt du, Uljanuschka – spricht sie +zu Akumowna mit einer Stimme, als schlucke +sie Tränen – zuerst mußt du die Barsche +bis zur Erschöpfung kochen, dann tu’ den +Sterlet hinein, das gibt eine schmackhafte +Suppe. +</p> + +<p> +Und in der Tat wurde da eine schmackhafte +Fischsuppe gekocht; ein die Seele aus dem +Leibe schmeichelnder, süßer, fetter Sterletgeruch +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +erfüllte die Küche und alle vier Zimmer, +und Marakulin konnte es kaum aushalten, +kaum den glücklichen, seligen Augenblick +erwarten, bis er in die Garküche auf den +Sabalkansky gehen konnte. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna versteht sich aufs Essen. +</p> + +<p> +Den ganzen Winter sitzt sie fest, sie ist seßhaft +und wird wegen ihrer Seßhaftigkeit im ganzen +Hof nicht anders als die Schmiede genannt; +aber kaum, daß der Frühling beginnt, +ist sie nicht mehr in Petersburg: den ganzen +Sommer zieht sie von Ort zu Ort, zu allen +heiligen Stätten pilgernd. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna liebt die Einfältigen und +Narren, die Starzy<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a>, Brüder und Propheten. +Sie war bei dem rasenden Starez in der +Nähe von Kischinew, hatte seine schrecklichen +Schilderungen des Jüngsten Gerichts +und der Qualen der Sünder gehört; – +sie waren so entsetzlich, daß die Pilger wie von +Sinnen davongingen und tobsüchtig wurden; +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +manche starben auf der Stelle vor +Angst vor den Höllenqualen – so entsetzlich +waren diese Schilderungen. Sie war auch +schon im Ural bei Makarij: – dieser Starez +wohnt auf einem Geflügelhof, pflegt das +Geflügel, spricht mit dem Geflügel, und ihm +gehorcht alles Vieh: wenn sich der Starez +bei Sonnenuntergang zum Beten hinstellt, +so stellt sich auch das ganze Vieh hin, wendet +die gehörnten, bärtigen Köpfe nach der +Richtung, wohin der Starez betet und steht +und rührt sich nicht; es erklingt kein Glöcklein, +es klirrt keine Schelle. Sie war auch in +Werchoturje bei Fedotuschka Kabakow, +der durch Gebete die Stimme des Himmels +herabruft; sie war auch bei jenem Starez, +der durch seine Berührung engelhafte Reinheit +schenkt und in den paradiesischen Zustand +versetzt; sie war auch bei dem Kitajewschen +Propheten: dieser Heilige läßt die Frommen +an seiner Zunge saugen – er steckt seine Zunge +heraus, man saugt an ihr und ist geheiligt – +die Gnade hat sich auf einen herabgesenkt. +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +Noch bei vielen anderen heiligen Männern +war sie in ihrem Leben gewesen: im Heiligengeistkloster, +wo der Starez die bösen Geister +vertreibt, indem er durch den Beischlaf das +Fleisch abtötet; beim Bossoj-Iwanowskij-Starez, +beim Starez Damian und bei Phoka +Skopinskij, der sich selbst auf dem Scheiterhaufen +verbrannt hatte. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geist, +die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten. +Sie möchte ihr Leben lang ihren unverständlichen +Gesprächen, ihren Parabeln +und Sprüchen lauschen, sie möchte in ihren +Zellen beten, wo die Oellampen sich von selbst +entzünden, wie die Kerzen Jerusalems. Sie +hat nur einen Kummer: sie sprechen nicht mit +ihr, – einzig ihr allein hat noch niemand von +diesen Heiligen etwas gesagt! Ob sie nun zu alt +an Jahren ist, oder ob sie vor Rührung die +prophetischen Worte nicht hört, oder ist es +ihr vielleicht nicht gegeben zu hören –? Nur +die heilige Schwester Parascha hatte ihr einmal +gesagt: +</p> + +<p> +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +– Schiffe werden gehen, viele Schiffe – +weit! +</p> + +<p> +Und im Winter in ihrer schwülen Stube auf +der Fontanka sitzend, wiederholt Adonja +Iwoilowna sehr oft: +</p> + +<p> +– Schiffe, Schiffe! – und kann diese Worte +nicht begreifen, und die Tränen rollen ihr wie +die Erbsen die Wangen herab. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilownas Aehnlichkeit mit einer +Seerobbe ist erstaunlich – eine echte murmanische<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a> +Seerobbe. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geiste, +die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten, +aber sie hat noch eine andre Leidenschaft +und eine ebenso unbezwingliche: das +Meer, das Meer – sie liebt das Meer. Alle +russischen Meere hat sie befahren, sie ist auf +dem Murman, auf dem Eismeer geschwommen, +wo der Wal lebt, und hat auch das +Mittelmeer gesehen. +</p> + +<p> +Und im Winter allein in ihrer schwülen Stube +auf der Fontanka sitzend denkt sie oft an das +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +Weiße Meer, ihre Heimat, und an das warme +Schwarze Meer und an das smaragdgrüne +Mittelmeer, und bei dem Gedanken an das +Meer wiederholt sie Paraschas einzige prophetische +Worte: +</p> + +<p> +– Schiffe, Schiffe! – und sie kann es nicht +verstehen und Tränen rollen ihr wie Erbsen +die Wangen herab. +</p> + +<p> +Nachts quälen Adonja Iwoilowna Träume. +Sie träumt bunte Träume: sie träumt von +der Heimat, von den heimatlichen Flüssen, +dem Onegafluß, dem Dwinafluß, dem Pinegafluß, +den Meshafluß, den Petschorafluß, +vom schweren Brokat altrussischer Gewänder, +von weißen Perlen und rosa Perlen aus +Lappland, von Walfischen, Seerobben, Lappen, +Samojeden, von Märchen und alten +Weisen, von langen Winternächten und von +der Mitternachtssonne, vom Kloster Ssolowski +und vom Reigen. Sie träumt von +cholmogorischen ungehörnten Kühen, einer +ganzen Herde; – und diese Kühe haben +menschliche Augen, sie schmiegen sich alle mit +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +dem Rücken an sie, dann tritt eine vor, reicht +ihr einen Fuß wie eine Hand und sagt: „Adonja +Iwoilowna, lehre mich sprechen.“ Nach +ihr tritt eine andre vor, und so eine Kuh nach +der anderen, jede reicht ihr einen Fuß wie die +Hand, und alle haben sie die gleiche Bitte: +„Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen!“ +Sie träumt von Skorpio-Chamäleonen; – +alle sind sie im Frack, sitzen an den Wänden +und wedeln mit den Schwänzen, die bald +smaragdgrün sind und bald purpurn, wie +eiskaltes Abendrot. Sie sehen sie alle nur an, +und bald sind alle Wände voll von Skorpio-Chamäleonen, +überall sind sie: auf den Heiligenbildern +und hinter den Heiligenbildern, +und ein Schweif, wie aus tausend kleinen +Schweifen zusammengesetzt, winkt ihr zu +und lockt sie, bald smaragdgrün und bald +purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Und manchmal +träumt sie auch baren Unsinn: als esse sie +einen Käsekuchen, und so viel sie auch essen +mag, sie wird nicht satt und der Käsekuchen +nimmt nicht ab. +</p> + +<p> +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +Jeden Tag deutet Akumowna die Träume, +und abends beim Tee legt sie Karten. Akumowna +kann wahrsagen aus den Weidenkätzchen, +aus den Wagenkerzen und zur Winterzeit +aus den Frostblumen auf den Fenstern; +doch am genauesten kann sie aus den Karten +wahrsagen. +</p> + +<p> +Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger +Regen. Aus den Dachrinnen schlägt +dumpf, wie ein Hund aufheulend, das Wasser +auf die Steine. Die belgische Bogenlampe +leuchtet wie der Mond durch das Gewoge +von Nebel und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen +Krankenhauses blinkt nur ein +Licht. +</p> + +<p> +Im äußersten Zimmer bei Adonja Iwoilowna +singt der Samowar – er geht nicht aus, +er ist voll und kochend heiß, der Dampf wallt +nur so – der Sänger summt sein Lied. Der +Samowar singt, daß man es durch alle Zimmer +hört. +</p> + +<p> +Akumowna ist nicht in der Küche. Akumowna +ist mit den Karten bei Adonja +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +Iwoilowna. Akumowna legt Karten. Der +Samowar ist im Erlöschen, sein Gesumme +ist leiser und Akumownas Stimme tönt +dumpfer: +</p> + +<p> +– Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird. +Wie es endet. Wie es sich beruhigt. Sagt +die volle Wahrheit, reinen Herzens. Was +kommt, wird auch zutreffen. +</p> + +<p> +Es kommen aber lauter unreine, lauter unerfreuliche +und dunkle Karten. +</p> + +<p> +Adonja Iwoilowna weint. Wie sollte sie +auch nicht weinen! Ihren Mann hatte man +auf dem Smolensky-Kirchhof bestattet und +sie wollte ihn doch in der Newskaja Lawra +haben: die Verwandten hatten darauf bestanden, +hatten nicht auf sie geachtet. Er war zu +Allen gut gewesen, hatte viel geholfen, aber +sie liebten ihn nicht. Nur sie allein hatte ihn +geliebt und auf sie hatte man nicht gehört. +Auf dem Kirchhof geht nun die Erde unter +ihm weg, die Erde bröckelt ab. +</p> + +<p> +Und wieder ertönt Akumownas Stimme, +noch dumpfer. +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +– Fürs Haus. Fürs Herz. Wie es endet. +Was sein wird. Wie es sich beruhigt. Sagt +die volle Wahrheit reinen Herzens. Was +sein wird, wird auch zutreffen. +</p> + +<p> +Doch es kommen wieder dieselben Karten. +Und wieder dieselben Träume; Adonja Iwoilowna +weint: nur sie allein hatte ihn geliebt, +aber man hatte nicht auf sie gehört, und jetzt +geht die Erde unter ihm weg, die Erde bröckelt +ab. +</p> + +<p> +– Man darf niemand beschuldigen! – sagte +Akumowna plötzlich. +</p> + +<p> +Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger +Regen. Aus den Rinnen schlägt das +Wasser, wie ein Hund aufheulend auf die +Steine. Die belgische Bogenlampe leuchtet +wie der Mond durch das Gewoge von Nebel +und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen +Krankenhauses schimmert nur ein einziges +Lichtlein. +</p> + +<p> +Im äußersten Zimmer, in der schwülen Stube +bei Adonja Iwoilowna brennen drei ewige +Oellämpchen. Adonja Iwoilowna betet lange. +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Auch in der Küche, in der vom unverwüstlichen +Sterletgeruch und vom Geruch +getrockneter Pilze gesättigten Küche, brennen +drei Oellämpchen. Akumowna betet lange. +</p> + +<p> +– Schiffe, Schiffe! – ertönt des Nachts eine +Stimme inmitten des weinerlichen Schnarchens. +</p> + +<p> +Und am anderen Ende der Wohnung antwortet +ihr dumpf eine andere: +</p> + +<p> +– Man kann niemand beschuldigen! – +</p> + +<p> +Und eine dritte Stimme, die durch die Wand +aus dem Zimmer der Artisten hereindringt, +sagt: +</p> + +<p> +– Man muß alles von sich abschütteln. +</p> + +<p> +Marakulin fährt dabei auf, kauert sich zusammen, +ganz verstummt und bedrückt horcht +er und wiederholt sich vergebens immer dasselbe; +trotzig wie er ist, kann er nicht mehr +nicht denken, er kann nicht auf seine Gedanken +nicht hören, und der Friede flieht ihn. +</p> + +<p> +Die göttliche Akumowna ist laut ihrem Paß +eine Jungfrau von zweiunddreißig Jahren, +aber laut ihren eigenen Versicherungen – es +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +war übrigens auch ohne ihre Versicherungen +einleuchtend – war sie nicht zweiunddreißig, +sondern sicher fünfzig. Sie ist aus Pskow gebürtig +oder eine Pskowitanerin, wie die Artisten +sie zu nennen pflegen, zu denen sie ebenfalls +manchmal hinläuft, um Karten zu legen; +für Sergej Alexandrowitsch wäre sie sogar bereit, +den ganzen Tag Karten zu legen, außerdem +ist die Sklavin Kusjmowna, welche halb +an eine Flunder, halb an ein gefrorenes Huhn +von der Sennaja erinnert, so etwas wie ihre +Gevatterin. +</p> + +<p> +Akumowna ist klein und schwarz, ihr Gesicht +ist sehr dunkel, – ein Käfer! Sie lächelt und +blickt so eigentümlich, idiotisch, nicht gradeaus, +sondern von der Seite, mit etwas geneigtem +Kopf. Sie ist sanft und wird nie böse. Und +flink ist sie, aber sie läuft nicht, sondern sie +dreht sich auf demselben Fleck herum und es +sieht nur so aus, als liefe sie. Und geschickt +ist sie, man würde glauben, sie mache alles +sofort; wenn es aber vorkommt, daß man sie +irgendwohin rasch schicken muß, dann ist’s +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +aus, dann kann man lange warten! Es ist ja +auch die fünfte Etage und ihre Beine sind +schon alt. Das Hinunterlaufen geht noch, aber +beim Hinaufsteigen der Treppe – da bleibt sie +stecken. Die Füße möchten schon laufen, und +Akumowna wäre froh, möglichst schnell zurück +zu sein, aber sie hat eben keine Kraft mehr, +und sie dreht sich nur auf demselben Fleck. +</p> + +<p> +Den Tag und die Nacht verbringt Akumowna +ebenso wie Adonja Iwoilowna. Sie +träumt allerlei Träume: sie sieht Feuersbrünste +– das Haus brennt ab – und Räuber +– die Räuber jagen und verfolgen sie – und +einen nackten Mann – der Nackte steht an +einem Ufer und wäscht sich mit Seife – und +ein fleckiges Reptil – das Reptil beißt sie; – +und Beeren ißt sie im Traum – Preißelbeeren, +die Büschel so groß wie ein Hammelschwanz. +Aber am häufigsten – sehr häufig fliegt sie im +Traum: sie fliegt immer nach einem und demselben +Ort, zu Ostaschkow in Nils Einsiedelei, +zum ehrwürdigen Nilus Stolbenskij. +</p> + +<p> +– Ich mache einen Sprung und fliege – +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +erzählt Akumowna, – ich steige auf und greife +aus mit den Händen, wie auf dem Wasser, +und es wird mir so leicht und ich fliege vorwärts +wie ein Vogel. +</p> + +<p> +Schon vor langer Zeit hatte Akumowna ein +Gelübde getan, zum ehrwürdigen Nilus zu +pilgern, und bis jetzt hat sie dieses Gelübde +noch nicht erfüllt; sie war noch nicht ein einziges +Mal da, deshalb fliegt sie oft, sehr oft zu +Ostaschkow. +</p> + +<p> +Im Hof wird Akumowna geliebt: die göttliche +Akumowna. Und immer treiben sich +Scharen von Kindern bei ihr in der Küche +herum, sie versteht und liebt es mit den Kindern +zu spielen und zu scherzen. Sie besucht +alle; wenn sie Geld hat, gibt sie es – und man +nimmt es von ihr, um es ihr nie zurückzugeben +– in allen Winkeln ist sie willkommen. Und +nur eins fürchtet sie: wenn auf dem Hof eine +Schlägerei angeht. +</p> + +<p> +Sergej Alexandrowitsch Damaskin hat alle +Gesetze ausstudiert, – er ist ein Artist. Akumowna +aber ist ein Mensch, der weiß, was +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +im Jenseits geschieht. So sagt man im Burkowschen +Hof. +</p> + +<p> +Akumowna war schon im Jenseits, – sie +war dort den Passionsweg gegangen. +</p> + +<p> +Dort in jener Welt wurde ihr alles gezeigt, +nur weiß sie nicht, wer der Mensch war, der +sie geführt. +</p> + +<p> +– Ich trat in ein Gebäude – so erzählt Akumowna +ihren Passionsweg, – in einen Saal: +der Fußboden war morsch, die Dielen eingefallen, +die Erde unter ihnen war Schutt und +auf dem Boden lagen Fische, stinkende, abscheuliche +Fische verschiedener Art, Fleisch, +Schädel; lauter schlechtes Zeug lag da herum +und bis auf die Knochen verweste Menschen +– einzelne menschliche Glieder, verweste +Tiere, alles verfault und abscheulich. +</p> + +<p> +Und sie wurde durch dieses Gemach geführt +und es wurde ihr alles gezeigt! Das Gemach +war lang, unabsehbar, und breit, und dennoch +war ihr so eng. Vor ihnen waren Menschen, +viele Menschen, hinter ihnen ebenfalls +viele Menschen, ringsum und überall gingen +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +und standen Menschen. Und in den Winkeln +befanden sich Menschen, aber keine richtigen +Menschen – das nimmt sie so an; – auch +solcher gab es viele. +</p> + +<p> +– Ich habe mich so gequält, ein Gebet gesprochen, +sie antworteten aber nicht – sie +hatten Schwänze und Beine wie Kühe und +Krallen wie Hunde. – Laßt mich heraus! – +flehte ich. +</p> + +<p> +Einer aber sagte: – Nein, sie muß noch etwas +sehen! – Und darauf ein andrer: – Warten +wir, sie muß alles sehen, – und sie führten +mich weiter. +</p> + +<p> +Und sie führten sie durch das Gemach und +zeigten ihr alles. Es lag da nur Schlechtes +und Vermodertes herum, lauter Aas, alles +verwest und abscheulich, tote Menschen, tote +Tiere, Gebein, Schädel, Kehricht. +</p> + +<p> +– Wenn Gott mich wenigstens die heiligen +Sakramente empfangen lassen wollte! – +dachte ich, – da könnte ich dieser Unzucht +entrinnen. Und ich wiederholte bei mir: – +Herrgott, laß mich das Abendmahl nehmen, +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +ich bin schon zu Tode gequält! – Und da +sehe ich, wir sind schon draußen. +</p> + +<p> +Draußen wurde sie auf einen Berg geführt, +und auf dem Berg standen drei Personen, +alle in hellen Mänteln und die Gesichter +mit etwas Hellem verhüllt; sie nahmen das +Abendmahl. Nur daß statt des Kelches ein +Spülnapf war und der Löffel fehlte; so +nahmen sie das Abendmahl. Und viel Volk +war da, und alle traten hinzu, alle nahmen +das Abendmahl. +</p> + +<p> +Und auch sie wurde hingeführt. Sie wollte +sich bekreuzigen, aber es war ihr schwer, als +würde sie gehindert. +</p> + +<p> +Er selbst reicht mir eigenhändig die Oblate, +aber nicht befeuchtet, sondern trocken. Und +ich kann ihre Hostie nicht hinunterschlucken, +sie bleibt mir im Halse stecken, ich ersticke fast. +– Herrgott! Herrgott! Euch Heilige und +Engel Gottes bitte ich, genug schon mich zu +quälen! – Sie aber lachen. Der eine sagt: +„Warte nur, wirst noch weiter gehen.“ Und +nach ihm der andre: „Ja, wir müssen sie +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +noch weiter führen!“ – Sie lachen – ihre +Schwänze und Beine sind wie bei Kühen, +die Krallen wie bei Hunden. Und wieder beginnen +sie mich zu führen. +</p> + +<p> +Sie führten sie den Berg hinunter zum See. +An ihnen vorbei strömt das Volk in großen +Scharen, wie auf dem Newsky – sie eilen, +überholen einander, laufen, laufen und schleifen +ihre langen Schwänze nach. Alle laufen +sie vom Berg zum See, und am See verwandeln +sie sich in Tauben – einer Riesenwolke +gleicht diese Taubenschar. +</p> + +<p> +– Die Tauben ließen sich am Wasser nieder +und begannen zu trinken, und ich sagte: +„Gehen wir auch hin?“ „Ja,“ wurde mir +die Antwort, „wir gehen auch hin.“ Einer +aber sagte: „Nun ist es bald mit euch zu Ende.“ +Schon nähern wir uns immer mehr dem +See. Ich räuspere mich, noch immer kann +ich die Hostie nicht herunterschlucken! Herrgott, +bitte ich, genug schon mich zu quälen. +Um mich herum tummeln sich Kinder und +ich stürze zu den Kindern, ob sie mich nicht +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +retten wollen: „Schütz mich doch, mein +Schutzengel, schützt mich doch, seid mir gnädig!“ +Nun ist der ganze See mit Tauben bedeckt, +das Wasser ist trübe und schmutzig. +Ich steige bis an die Knie ins Wasser. „Jetzt +ist dein Ende nah“ vernahm ich eine Stimme, +und der, welcher mich geführt hatte, war +fort und verschwunden. +</p> + +<p> +So war Akumowna im Jenseits gewesen, so +war ihr Passionsweg. +</p> + +<p> +Zum Glück hat sie ein gesundes Herz, über +ihren Leib klagt Akumowna oft. Denn sie hat +nicht wenig Schweres erlebt – sie war gehörig +unter der Fuchtel. +</p> + +<p> +Akumownas Vater war wohlhabend und +stand in gutem Ruf. Sie war noch nicht zehn +Jahre alt, da starb ihre Mutter. Sie hatte +sieben Brüder, alle älter als sie. Sie war ein +gesundes Mädchen. Zwar hatte sie als kleines +Kind einen Unfall: sie schlief in der Hängewiege +und die älteren Geschwister wiegten +sie, da rissen die Stricke, die Wiege flog auf +die Erde und mit ihr das Kind. Es schrie +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Tag und Nacht und ließ sich nicht einmal +mit der Brust beruhigen, dann wurde +es besser und es erholte sich ganz. Sie war +ein kluges Kind. Vor dem Tode hatte ihr die +Mutter fünfzig Rubel übergeben, in Leinewand +eingewickelt. Niemand wußte etwas +vom Gelde, nur der Vater allein. Und wenn +der Vater es brauchte, da wickelte sie so viel +er benötigte aus der Leinwand heraus und +gab es ihm. Später gab er’s ihr wieder zurück, +sie wickelte es wieder ein und verriet +niemand etwas davon. Auch ihre Schwägerin +wußte nichts davon. Der Vater lebte +mit seiner Schwiegertochter. Die Schwiegertochter +liebte sie nicht. Beim Mittagessen +nahm sie sie bei der Hand und zerrte sie vom +Tisch. Sie quälte das kleine Mädchen sehr. +Der Vater lebte mit der Schwiegertochter. +Einmal kam ein Vetter; der Vater hatte längst +versprochen, ihm Geld zu leihen, jetzt war er +gekommen, um es zu holen. Aber der Vater +wurde böse und wollte ihm keines geben. +Wassilij aber brauchte das Geld sehr, außerdem +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +kränkte es ihn: warum hatte er es erst +versprochen! Er weinte und ging fort. Das +Mädelchen hörte es – sie war so gut und +nicht glücklich – sie holte Wassilij ein und +bot ihm von ihrem Geld an, das in der Leinwand +eingewickelt war, aber er sollte ihr versprechen, +es ihr bald zurückzugeben. Er war +natürlich froh: „Möge mein Haus verbrennen, +mag ich meine Kinder nicht wiedersehen,“ +schwor er. Und sie gab ihm das Geld +– genau so viel, Heller bei Heller, wie ihr +Vater ihm versprochen hatte. Aber als die +Zeit kam, gab er’s ihr nicht zurück. Er habe +eben kein Geld, hieß es, sie müsse warten. Sie +hätte auch gewartet, auch war es ihr gar nicht +um das Geld zu tun, aber was sollte sie dem +Vater sagen, wenn er danach fragte! Und +grade mußte es kommen, daß der Vater krank +wurde: er hatte Bier getrunken, da wurden +seine Füße blau und es ging ihm schlecht. +Das ganze Dorf wurde zusammengerufen. +Auch Wassilij kam, der Vetter. Alle setzten +sich um ihn herum und saßen. Da sagte der +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +Vater zum Mädchen, sie solle die Leinwand +bringen, worin das Geld war. Sie erschrak, +wußte nicht was zu sagen und redete sich +heraus: Sie habe den Schlüssel verloren. +Verloren? – Schön. Die Schwägerin nahm +eine Axt, ging in den Speicher, brach den +Koffer auf und holte die Leinwand. Man +zählte das Geld und es fehlten zwanzig Rubel. +Der Vater sagte zum Mädchen: – Wo +ist das Geld? – Sie schwieg. Und nochmals: +Wo ist das Geld? – Sie aber +schwieg wieder. Und als es ganz schlimm +mit ihm wurde, begann er die Kinder zu segnen. +Er segnete erst seine Söhne, ihre älteren +Brüder, dann kam die Reihe an sie. Sie fing +an zu weinen und bat Wassilij leise, er möchte +doch das vom Gelde sagen – aber Wassilij +der Räuber erwiderte: – Ich weiß von +nichts, ich habe dein Geld nicht genommen! +– als hätte er in der Tat nie Geld von +ihr genommen. Sie weinte nicht mehr; – +wenn es einem gar schlimm zumute ist, da +weint man nicht, sie sah nur den Vater an, +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +sie sah ihn nur an. Der Vater sagte zu ihr: +– Ich segne dich – er hielt inne und überlegte: +– sei wie ein rollender Stein um die +weite Welt! – dann knirschte er mit den +Zähnen und verschied. +</p> + +<p> +„Wie ein rollender Stein um die weite +Welt!“ So lautete der Segen ihres Vaters, +den Akumowna empfing und der sie offenbar, +wie Akumowna annahm, zum Herumirren +in der weiten Welt bestimmte. +</p> + +<p> +Sie hielt es darauf keine sechs Wochen mehr +zu Hause aus, und lebte dann in einem Gemüsegarten. +Zu Lebzeiten des Vaters, ob es +schlecht oder gut ging, hieß es dulden; als +aber der Vater starb, da ward die Schwägerin +grimmiger als eine Bestie, sie verfolgte +sie und fraß sie auf. Am sechsten Tag nach +dem Froltage nahm die Herrin von Turij-Rog, +Frau Bujanowa die Akumowna zu +sich aufs Gut, ins Haus. Das Bujanowsche +Gut Turij-Rog lag sechs Werst von Ssosna-Gora +entfernt. +</p> + +<p> +Auf dem Gut hatte sie es sehr schön. Die +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +Herrin Bujanowa gewann sie lieb. Sie war +nur ein wenig älter als Akumowna: Akumowna +war damals dreizehn, die Herrin +sechzehn Jahre alt. Herr Bujanow selbst war +nicht mehr jung und hätte gut der Großvater +der beiden sein können. Er reiste oft in Geschäften +in die Stadt und war auch zu Hause +viel beschäftigt: er besaß viel Land, viel Wald +und See, – er war ein tüchtiger Wirt und +liebte sein Gut: der Hanf in Turij-Rog stand +so dicht, daß ein Mensch nicht durch konnte, +und die Hühner weideten auf den Feldern +wie Schafe! Die Herrin aber war immer allein +mit Akumowna, wie mit einem lieben +Schwesterchen. Sie nahm sie überall mit, +ins Feld, in den Wald, in das junge Gehölz, +um Pilze und in den dunkeln Wald, um Beeren +zu suchen. Im dunkeln Wald, in den Lichtungen, +in der Sonne da stehen die Beeren so +rot, daß es eine Freude ist, sie zu pflücken. Sie +pflückten Nüsse, sammelten Eicheln zum Kaffee, +oder die Herrin legte sich unter eine Kiefer +und schickte Akumowna Blumen zu holen. +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +Akumowna kehrte dann mit Blumen zurück +– mit vielen verschiedenen blauen Blumen – +und wand einen Kranz, die Herrin aber lag +unter der Kiefer und weinte. Akumowna +schmückte sie mit den blauen Blumen – und +küßte sie halbtot; – sie selbst war schwarz, +mit blanken, lustigen Augen, ein rotes Band +im Zopf – ein Käfer. +</p> + +<p> +So verbrachte Akumowna ein Jahr unzertrennlich +von der Herrin: sie wurde zu allem +angeleitet, lernte Plätten und Waschen. Vor +Mariä Schutz und Fürbitte fuhr der Herr +in die Stadt und wurde da krank. Dem +Herrn geschah dies oft: man behauptete, daß +<em>sie</em> ihn quälten: – der Wald hat seinen +Herrn und das Wasser seinen, die Wald- +und Wasserbeherrscher. Der Wald in Turij-Rog +war früher dicht und undurchdringlich, +ein Käfer konnte kaum durchfliegen; Bujanow +hatte den Wald gelichtet. Zu den Seen +konnte man früher nicht gelangen, er aber +hatte Wege gebaut und die Seen gereinigt. +Ihnen aber ist so etwas nicht recht. Und von +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +Zeit zu Zeit kamen sie zu ihm und machten +ihm Vorwürfe, daß er sie umgebracht hatte. +Dies eben war seine Krankheit. So sagten +die Menschen. Man benachrichtigte die Herrin +in Turij-Rog, sie machte sich auf und fuhr +zu ihm. +</p> + +<p> +– Die gnädige Frau befahl mir, auf das +Schönchen acht zu geben, – erzählte Akumowna, +– jede Nacht nach der Kuh zu +sehen. Es gab da viele Kühe, aber das +Schönchen war ihre Lieblingskuh. Das +Schönchen sollte kalben. Damit fing’s an. +Im Dorf war grade eine Hochzeit und ich +bat um Erlaubnis hinzugehen. Ich versprach +um Zwölf heimzukommen, vergaffte mich +und kam erst um Zwei. Inzwischen hatte das +Schönchen um Zwölf gekalbt und das Kalb +mit einem Fußtritt erschlagen. „Eins von uns +bleibt am Leben, entweder du oder ich!“ sagte +der Aufseher des Viehhofs, – entweder ich +werde davongejagt oder er. Und so gehe ich +zum jungen Herrn – der Bruder der gnädigen +Frau war bei uns damals Verwalter – +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +und fürchte mich hineinzugehen: ich versuche +die Tür aufzumachen und laufe zurück. +„Was hast du, Käfer?“ Er hatte mich also +kommen gehört. „Verzeihen Sie, gnädiger +Herr, verzeihen Sie, ein Unglück ist passiert!“ +„Komm her!“ Er ließ mich eintreten. Ich +werfe mich auf die Knie, erzähle ihm auf +den Knien alles und weine. „Hinaus! Pack +deine Sachen!“ Und jagt mich hinaus. Ich +ging zu mir aufs Zimmer – meine kleine +Kammer lag hinter dem Speisezimmer – +und wußte gar nicht, was für Sachen zu +packen, denn ich hatte keine, ich weinte nur. +Und so weinte ich die ganze Nacht. Am +nächsten Morgen kommt der Herr. „Hast du +schon eingepackt?“ Ich fange wieder an. +„Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich bekenne +meine Schuld!“ „Schweig, wag es nicht zu +weinen, – ruft er – sonst laß ich dich aufhängen“ +und ging fort. Ich denke mir, aufhängen +läßt er mich doch nicht, er will mir nur +Angst machen, und dennoch fürchte ich, und +mir ist so bange. Es war Samstag, das Bad +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +wurde geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank, +stellte Bier hin und wollte eben gehen, +da kommt der gnädige Herr. Ich will zur +Tür hinaus. „Halt, hast du schon deine Sachen +gepackt?“ Ich wiederhole das meinige: +„Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, ich bekenne +meine Schuld, jagen Sie mich nicht +fort!“ – Er überlegt und sagt zu mir: „Wenn +du einwilligst mit mir zu leben, dann bleibe +hier, brauchst dann nicht fortzugehen!“ Und +stieß mich hinaus. Ich wollte aber nicht fortgehen, +wollte nicht von meiner gnädigen Frau +verstoßen werden, und wohin sollte ich auch +gehen? – wieder zum Bruder, zur Schwägerin? +Und so gehe ich herum und weine. +Der Viehhofaufseher wiederholt aber nur: +„Eins von uns bleibt am Leben, du oder ich!“ +Entweder er wird fortgejagt oder ich. Wäre +die gnädige Frau nur zu Hause gewesen, aber +sie kam immer noch nicht. Es wurde wieder +Samstag. Wieder wurde das Bad geheizt. +Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier +hin und wollte mich beeilen, vor dem gnädigen +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Herrn fortzugehen, mir war so bange, +ich fürchtete mich. Er trat aber schon ein. +„Bist du nun einverstanden?“ – „Ja.“ – +Natürlich, ich war ein dummes Mädchen, +hab’ nichts verstanden. „Geh, zieh dich aus, +ich will dich ansehen.“ Ich zog mich aus. Am +nächsten Tag fuhr der gnädige Herr in die +Stadt – er hatte mich noch nicht angerührt +– und brachte mir ein seidenes Tuch und ein +Band ins Haar mit. Ich erzählte es der Kinderfrau, +– eine alte, ganz alte Kinderfrau +war da im Hause. „Das macht nichts,“ sagte +die Kinderfrau, „verlange du aber fünfhundert +Rubel auf ein Büchlein, zur Sicherstellung!“ +Ich konnte nicht verstehen, was für ein +Büchlein sie meinte. Ich war eben ein kleines +dummes Mädchen und verstand nichts. Am +Abend ruft mich die Kinderfrau: „Wenn du +dem gnädigen Herrn den Samowar hineinbringst, +dann geh nicht fort!“ Das Zimmer +des gnädigen Herrn lag neben dem Speisezimmer. +Ich nahm das seidene Tuch um, +flocht mir das Band ins Haar, brachte den +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +Samowar und setzte mich an den Tisch, – +und es schüttelte mich nur so. +</p> + +<p> +Die Schande und die Schmach! – Akumowna +schämte sich sehr, sie wollte sich erhängen: +ihre Herrin war zurückgekehrt, ihre +Herrin – und Akumowna ging so herum. +Die Herrin beruhigte sie, versprach ihr das +Kind zu erziehen, verzieh ihr das mit dem +Schönchen und verwies sie nicht von sich. +Akumowna brachte einen Knaben zur Welt, +bald darauf bekam auch die Herrin einen Knaben. +Die Kinder wurden zusammen erzogen, +sie hatten eine Kinderfrau, und wurden später +auch gemeinsam unterrichtet. Mit neun +Jahren wurden beide nach Petersburg gebracht. +Der Bruder der gnädigen Frau adoptierte +Akumownas Sohn. Sie kamen nur zu +den Sommerferien, zu Weihnachten und zu +Ostern heim. Im gleichen Jahr beendigten +sie beide ihr Studium und wurden Offiziere. +Da blieben sie kurze Zeit auf dem Gut und +fuhren bald nach Petersburg zurück. Als +Akumownas Sohn klein war, da war er sanft +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +und zärtlich, später aber als er groß wurde, +begann Akumowna sich vor ihm zu fürchten: +wenn er sie ansah, hätte sie sich verkriechen +mögen, sie hätte nicht gewagt ein Wort +zu ihm zu sprechen. +</p> + +<p> +Die Zeit aber wartet nicht, die Zeit nimmt +das ihrige! Der alte Herr starb – <em>sie</em> hatten +ihn erwürgt: der Wald hat seinen Herrn und +das Wasser hat seinen Herrn, Wald- und +Wasserherren, so sagt man. Und nach dem +Tod des alten Herrn stieß auch dem Bruder +der Herrin ein Unglück zu: an einem Kirchenfest +ihres Sprengels wurden sieben Menschen +auf der Hauptstraße ermordet; man begann +zu untersuchen und der Weg führte gradeaus +nach Turij-Rog in den Hof, und so wurde +er wegen Mitwisserschaft eingesperrt. Ein +Jahr blieb er im Gefängnis, und als er wieder +frei wurde und sich zu einer Reise ins Ausland +rüstete, starb er. Akumowna hatte den +gnädigen Herrn nicht gesehen, als er im Sterben +lag, sie hatte ihn nur gesehen, als er aus +dem Gefängnis kam. Sie hätte ihn nicht erkannt: +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +er war schwarz, wie die Erde. Man +sagte, seine Lungen hätten sich abgelöst. +</p> + +<p> +Akumowna blieb wieder allein mit der Herrin +zurück, wie einst. Sie gingen wie einst wieder +ins Feld und in den Wald. Akumowna +sammelte Blumen für ihre Herrin, allerlei +blaue Blumen, und wand ihr einen Kranz; +die Herrin lag wieder unter einer Kiefer, nur +weinte sie nicht mehr, sie schlief; – sie trank +jetzt, schon längst hatte sie sich ans Trinken +gewöhnt: sie nahm einen Schluck, aß eine +Pfefferminzpastille dazu und schlief ein. +</p> + +<p> +Der gnädige Herr, der Bruder der Herrin, +starb im Frühling, und im Herbst wurde Akumownas +Sohn aus Petersburg nach Turij-Rog +gebracht. Er hatte gebeten, daß man ihn +vor dem Tode nach Turij-Rog bringe: er war +schwindsüchtig. Er wurde auf dem Gut bestattet, +auf dem Turij-Rogschen Kirchhof. +Seine Uniform und seine Mütze bekam Akumowna. +Und das Jahr war noch nicht um, +da starb die Herrin. An ihrem Todestage sah +sie im Traum den alten Herrn mit einem +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +weißen Hund kommen ... Und auch die +Herrin wurde bestattet. +</p> + +<p> +Turij-Rog war nun vereinsamt. Akumowna +war allein auf dem Gut. Der junge Herr +wollte sie nicht mehr behalten und entließ sie +nach der Beerdigung. Und so war sie ganz +allein. Sie weinte aber nicht, – wenn es +einem gar zu schlimm ist, dann weint man +nicht. +</p> + +<p> +Zum letzten Mal ging sie ins Feld, in den +dunkeln Wald und in das junge Gehölz, saß +zum letzten Male im Wald auf dem Abhang, +wo die Sonne am stärksten brennt und wo +die Beeren so rot stehen, und unter der Kiefer, +wo ihre Herrin zu liegen pflegte, verneigte sich +tief vor dem jungen Wald, vor dem Feld – +vor dem alten dunkeln Wald und vor der +Kiefer, und ging. Sie ging die Hauptstraße +aus Turij-Rog an Ssosna-Gora vorbei, vorbei +am Bruder und an der Schwägerin, an +Wassilijs Haus, am Kirchhof, an den Grabkreuzen +des Vaters und der Mutter, immer +gradeaus von Turij-Rog, immer gradeaus +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +die Hauptstraße lang, wie ein rollender Stein +um die weite Welt. +</p> + +<p> +Und manches Jahr dehnte sich der Weg +von Turij-Rog nach Petersburg. Bis sie +Petersburg erreichte, ging sie oft hinter dem +Pflug und mit der Sense, oder mußte wie +eine Zigeunerin in den Hohlwegen herumlungern. +</p> + +<p> +Neun Jahre lebt nun Akumowna in Petersburg. +Die Uniform und die Mütze wurden +ihr noch auf dem Weg von Turij-Rog nach +Petersburg gestohlen, und nur ein Andenken +ist ihr geblieben: ein Paar warme Schuhe +und ein Paar Gummischuhe hängen mit +Naphtalin bestreut in einem Karton an der +Decke ihrer Küche. +</p> + +<p> +– Ich sehe diese Sachen an, als wenn er es +selbst wäre! – sagt Akumowna, wenn sie an +den Feiertagen den Karton öffnet. +</p> + +<p> +Neun Jahre wohnt nun Akumowna auf der +Fontanka im Hinterhaus des Burkowschen +Hofes, Sommer und Winter, und weiter als +auf die Sennaja oder bis zum Fischteich ist +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +sie noch nicht gekommen, und sie sehnt sich +nach freier Luft. +</p> + +<p> +– Wenigstens etwas Luft atmen! – sagt +sie manchmal und lächelt und blickt idiotisch +von der Seite – die sanfte, göttliche, verwaiste, +unglückliche Akumowna. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-4"> +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +Drittes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Zimmer, die im Herbst leergestanden +hatten, wurden zu Anfang des Winters +vermietet, und Marakulin hatte nun zwei +neue Nachbarinnen: Wera Nikolajewna +Klikatschowa, Hörerin der Nadeschdinschen +Kurse, und Wera Iwanowna Wechorjowa, +Schülerin der Theaterschule. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna war sehr mager, so mager, +daß man Angst um sie bekommen konnte, +besonders nachdem sie die Nacht über den +Büchern verbracht hatte. Wie ein solcher +Mensch bloß leben kann: nicht ein Blutstropfen +war in ihrem Gesicht, und ihre Augen +waren jene verlorenen Augen des herumschweifenden +heiligen Rußland. +</p> + +<p> +Sie hatte mit ihrer Mutter in der Provinz +gelebt, in der alten Kreisstadt Kostrinsk. Sie +hatten ein eignes Häuschen, das Häuschen +aber brannte ab, und sie verloren dabei alle +ihre Habseligkeiten. Man hätte sie retten können, +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +wenigstens ein Teil konnte gerettet werden, +aber die Mutter, die alte Klikatschowa +stellte sich mit dem Heiligenbild den Flammen +gegenüber und ließ nichts wegtragen, – alles +verbrannte. Wenn man dem Feuer erlaubt, +alles aufzufressen, ohne sich zu widersetzen, +dann ersetzt es alles hundertfach, – so glaubte +die Alte. Zwar hatte sie vorher schon eine Erscheinung +gehabt, ein Zeichen hatte ihr den +Brand verkündet: eine Woche früher hatte +der Tisch und die Heiligenbilder unheimlich +geknistert, doch die Alte besann sich erst darauf, +als alles schon verbrannt war. Nach +dem Brande wohnten sie in einem alten Badehäuschen. +Wera Nikolajewna absolvierte +die Kostrinskische Gemeindeschule und wäre +in ihrem alten Badehäuschen sitzen geblieben, +wenn nicht eine Verbannte aus Petersburg +hingekommen wäre, die sie zu unterrichten +begann und zur Aufnahme in die vierte Gymnasialklasse +vorbereitete. Wera Nikolajewna +reiste in die Gouvernementstadt, machte da +das Examen und blieb dort drei Jahre in der +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Heilgehilfenschule am Gouvernementkrankenhaus. +Darauf ging sie nach Petersburg, +wo sie jetzt im Begriff war, die Nadeschdinschen +Kurse zu absolvieren. +</p> + +<p> +Das Lernen fiel ihr nicht leicht, – bis zum +Weinen schwer war ihr das Lernen. Aber +sie wollte es nicht aufgeben, sie war von +einem unheimlichen Fleiß. Nach Absolvierung +der Nadeschdinschen Kurse beabsichtigte +sie, das Abiturientenexamen zu machen, +um in das medizinische Institut aufgenommen +zu werden. +</p> + +<p> +Voller Sorgen, von den Lehrbüchern und +von Arbeit erfüllt – sie mußte als Masseuse +ihren Lebensunterhalt verdienen – saß sie +nie mit im Schoß müßig gefaltenen Händen, +und es war schwer, ein Wort aus ihr herauszubringen; +sie erzählte selten und war nicht +gesprächig. Sie erwähnte nur zuweilen ihre +Mutter und jene Verbannte, Maria Alexandrowna, +die sie unterrichtet und in ihr die +Lust zum Lernen erweckt hatte, – nur von +diesen beiden sprach sie. +</p> + +<p> +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Wera Nikolajewnas Mutter, Lisaweta +Iwanowna, lebte seit ihrer Kindheit in dem +kleinen, weißen, verlassenen, alten Städtchen +mit den fünfzehn weißen Kirchen. Kostrinsk +ist eine alte Stadt am Ufer des Flusses +Ustjuschina, – und in Beziehung auf das +Trauergeläute der Glocken eine erste Stadt, +eine Klagestadt. Alte Leute können sich noch +erinnern, wie Lisaweta Iwanowna jung war, +eine lustige Reigenführerin, Märchenerzählerin +und Sängerin uralter Weisen. Sie erinnern +sich noch, wie sie im Dom getraut +wurde und wie der Priester, der doch Braut +und Bräutigam kannte, sich fortwährend irrte +und die Namen verwechselte, und wie Jutschicha, +eine alte Waschfrau, dazu traurig +den Kopf schüttelte, weil sie in ihrer ahnenden +Seele wußte, daß das junge Paar nicht +lange zusammenbleiben wird: ein Dritter +stand zwischen ihnen unter dem Baldachin. +Die Alte wußte es, aber sie schwieg. +</p> + +<p> +Und diese Jutschicha war auch dabei, als +Lisaweta Iwanownas Mann starb, und dabei, +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +als das Haus brannte. Sie war es auch, +die ihr beigebracht hatte, nichts hinauszutragen +und alles dem Feuer zu überlassen. Und +nicht das allein bloß hatte sie sie gelehrt, sondern +all ihr nicht einfaches, ahnungsvolles +Wissen. Denn Jutschicha wußte viel, ja, vielleicht +alles, was dem Menschen zugestanden +ist. So sagte man in Kostrinsk. Und sie stieg +ruhig ins Grab, weil sie in der Welt einen +andern Menschen an ihrer Statt zurücklassen +konnte. Lisaweta Iwanowna würde für sie +besonders zu Gott beten, weil ihr die Alte +alles überliefert und für sie mehr getan hatte, +als Vater und Mutter tun könnten, so viel, +daß es wohl keinem Menschen gegeben ist, +mehr zu tun. So urteilte man in Kostrinsk. +</p> + +<p> +Zehn Jahre waren nach Jutschichas Tod +und nach dem Brand des Hauses vergangen. +Noch immer im alten Badehäuschen lebend, +träumte Lisaweta Iwanowna davon, sich ein +neues stattliches Haus zu bauen, ähnlich wie +das verbrannte. Jeden Sommer ließ sie Bauholz +aus dem Wald in ihrem Gemüsegarten +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +aufstapeln. Sie war auch schon beim Vater +Johann von Kronstadt gewesen, um seinen +Segen zu erbitten und brachte ihm ein altes +Heiligenbild im Stroganowschen Stil zum +Geschenk, und <a id="corr-5"></a>er schenkte ihr dagegen hundert +Rubel für den Anfang. Wie oft schon +hatte sie sich von Verbannten einen Plan +zeichnen lassen und ihn scharfsichtig genau +geprüft und untersucht: ob die Speisekammer +oder die Rumpelkammer nicht vergessen +worden sei, ob auch alles genau so wäre, wie +im alten verbrannten Hause. Aber ein neues, +stattliches baute sie doch nicht. Das Bauholz +verfaulte im Gemüsegarten, der Plan +wurde sorgfältig in einem Kästchen aufbewahrt +und die hundert Rubel, das Geschenk +des Priesters hatten auf der Rückfahrt nicht +einmal Moskau erreicht. Sie hatte nie in +ihrem Leben soviel Geld beisammen gehabt +– ihr Mann war ein kleiner Beamter in +Kostrinsk gewesen und mußte mit Kopeken +rechnen – und des ehrwürdigen Vaters regenbogenfarbener +Schein verflüchtigte sich +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +im Handumdrehen: sie brachte allerlei Nippes, +Schächtelchen und Schachteln, nötige +und unnötige, zerbrochene und ganze, als Geschenke +aus Kronstadt mit, und jeder Gegenstand, +jedes Schächtelchen hatte seine Bestimmung; +das größte Paket aber sollte seine Bestimmung +nach näherer Erwägung erhalten, +und für diese „nähere Erwägung“ war fast +ein halbes hundert Rubel daraufgegangen. +Wie sollte man da ein Haus bauen! +</p> + +<p> +Lisaweta Iwanowna ist gebückt, zahnlos, +ihre schweren weißen Flechten umwickeln +den ganzen Kopf, und die blauen Augen sind +noch heller geworden und leuchten. Sie hat +vieles in dieser Welt gesehen, obwohl die +ganze Welt für sie die kleine weiße verlassene +alte Stadt mit den fünfzehn weißen Kirchen +war, und alle ihre Tage waren besungen vom +Trauergeläute. Kostrinsk ist eine alte Stadt +am Fluß Ustjuschina und dem Trauergeläute +der Glocken nach eine erste Stadt, eine Klagestadt. +Viele Menschen hat Lisaweta Iwanowna +schon zu Grabe geleitet; sie besucht +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +ihre Gräber und am Ostersonntag trägt sie +rote Eier hin, um den Toten den Gruß: +„Christ ist erstanden“ zu entbieten; denn es +ist viel wichtiger, den Toten diesen Gruß +zu bringen als den Lebenden, so glaubte +die Alte. So lebte sie in ihrem Badehäuschen, +wie in einem richtigen Haus dahin und +genoß den Anblick der Sonne, wenn sie hinter +dem Kirchturm unterging, und das Kreuz +vergoldete, freute sich, wenn man zum erstenmal +Schlitten fuhr, oder wenn die Kinder im +Frühjahr auf den Brettern sich schaukelten, +und wartete nur auf den Menschen, dem sie +all das Wissen, das ihr die alte Waschfrau +Jutschicha überliefert hatte, weiter überliefern +könnte. Und der Mensch, dem sie es überliefern +würde, wird ebenso glücklich werden +wie sie selbst; denn es gebe kein größeres Glück +als das ihre, – so dachte die Alte. Ihr Glück +aber bestand darin, daß sie durch ihr nicht +einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes +oder tatsächliches Wissen erkannt +hat, wie man leben muß. Sie lebte nicht für +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +sich und nicht für die anderen, und wenn sie +etwas tat, so dachte sie weder an sich noch +an die Einwohner von Kostrinsk, sondern sie +bereitete sich fürs andere Leben vor, fürs +Jenseits, und dachte bei ihren Handlungen +nur an das andre Leben und an das Jenseits; +deswegen war ihr selbst wohl, und deswegen +tat sie den anderen wohl. +</p> + +<p> +Lisaweta Iwanowna war für Kostrinsk dasselbe, +was irgendein Bruder im Hafen für die +arme Petersburger Bevölkerung. +</p> + +<p> +Da kam nach Kostrinsk eine Verbannte aus +Petersburg, Maria Alexandrowna. Um sich +die Tage abzukürzen und auf irgendeine +Weise die Zeit zu vertreiben, die in der Unfreiheit +sich so ausdehnende Zeit, begann sie +Wera Nikolajewna zu unterrichten. Wera +Nikolajewna gefiel ihr, und sie kam oft zu +Klikatschows. Auch Lisaweta Iwanowna +interessierte sie und sie fragte die Alte aus, +wie sie denkt, daß man leben und wofür man +leben müsse, wie man vergessen könnte, was +nicht zu vergessen ist, und was man tun +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +müsse, daß man keine Angst hätte und nicht +begehre, was man nicht nehmen darf, – Alles +das fragte sie die Alte. Und aus diesen Fragen +erkannte die Alte und ihr Herz flüsterte +ihr zu, daß diese Verbannte eben der Mensch +war, dem sie ihr nicht einfaches ahnungsvolles +Wissen überliefern und ihn glücklich +machen müßte. +</p> + +<p> +Ein Jahr lang lebte Maria Alexandrowna +in Unfreiheit in dieser kleinen, weißen, verlassenen, +alten Stadt. Zu Ostern kam sie zu Klikatschows, +um am geweihten Mahl teilzunehmen; +– zu Ostern aber ist für den Wissenden +alles besonders sichtbar und klar. Und +so erblickte Lisaweta Iwanowna bei ihrem +Liebling, bei ihrer Auserwählten auf der +Stirn zwischen den Augenbrauen das Zeichen +des Todes. Und sie wollte erst nicht glauben, +als sie dieses Geheimnis erkannte. Aber schon +in der Osterwoche war Maria Alexandrowna +nicht mehr in Kostrinsk, sie war ganz +spurlos verschwunden. +</p> + +<p> +Vieles hatte Lisaweta Iwanowna gesehen: +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +sie hatte ihren Mann begraben, hatte auch +viel fremden Kummer mit angesehen – wo +gibt es ihn nicht! – aber niemals hatte sie +so viel geseufzt, wie damals, als der Morgen +kam, der Tag verstrich und es Abend wurde +und Nacht, und ihre Auserwählte, ihr Liebling, +die dem Tod Geweihte verschwunden +blieb. Sie, die Glückliche, hatte dank ihrem +nicht einfachen, ahnungsvollen, gleichviel ob +eingebildeten oder tatsächlichen Wissen erkannt, +wie man leben muß, aber sie hat die +ihr bestimmte göttliche Tat nicht vollbracht, +sie hat ihr Wissen nicht überliefert, und wenn +Maria Alexandrowna nicht zurückkehrte, +müßte sie als Unglückliche sterben. Und die +Alte wartet; ihr von schweren weißen Flechten +umwundener Kopf wackelt, sie betet leise, +sanft und demütig, und über ihr läuten die +Glocken ihr Trauergeläute und besingen sie. +Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina +und dem Trauergeläut nach eine +erste Stadt, eine Klagestadt. +</p> + +<p> +– Wohin ist denn Maria Alexandrowna +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +verschwunden? – fragte einmal Marakulin. +</p> + +<p> +Aber Wera Nikolajewna sagte nichts, nur +ihre verlorenen Augen, die Augen des herumschweifenden +heiligen Rußland lohten auf +wie zwei Scheiterhaufen, und sie weinte +nicht, sondern schrie die ganze Nacht, als +hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die +Schlinge sehr eng zusammengezogen. +</p> + +<p> +Marakulin konnte diese Nacht auch nicht +einschlafen. Er horchte, er verstand, und es +war ihm unheimlich zumute. +</p> + +<p> +– Dem Gorbatschow aber, – dachte er, – +werden seine Nonnen und Jungfrauen in +schwarzen Kopftüchern bis in die Ewigkeit +hinein „Christ ist auferstanden“ zu Ostern +singen. +</p> + +<p> +Dieser Gedanke wiederholte sich in ihm und +zog durch ihn schleppend und zäh und drückte +sich in Worten aus. Als er aber erschöpft +war, überkam ihn eine Unruhe: er vergaß +Gorbatschow, Maria Alexandrowna und +Lisaweta Iwanowna, nur eins wollte er erkennen: +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +was man wegräumen müßte, um +seine Ruhe wiederzufinden. +</p> + +<p> +Da erinnerte er sich plötzlich an die Generalin +Cholmogorowa, wie sie satt und gesund, so +zufrieden und sieghaft herumgeht, diese Laus, +die nichts zu bereuen hat und nur der Motion +wegen herumgeht, wie sie mit ihrem Klappstuhl +auf der Fontanka herumspaziert oder +auf dem Sagorodny-Prospekt aus der Kirche +zurückkommt, – und es war, als wenn modriges +Spinnweb sich ihr nachziehen würde, +wie es in den Winkeln ungelüfteter Rattenkammern +hängt, oder zwischen dem Fußboden +und unverschiebbaren schweren Kästen, +– dieses Spinnweb zieht sich ihr nach +und dringt einem gradezu in den Mund – +es ist um sich ins Wasser zu werfen! +</p> + +<p> +Schon lange hatte er das bemerkt, aber erst +jetzt erkannte er es. Und er überlegte die ganze +Nacht bis zum Morgen ingrimmig, wie man +die Generalin möglichst geschickt beseitigen +könnte, so daß nicht einmal eine nasse Spur +von ihr zurückbliebe; denn er konnte nicht +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +leben, ohne daß sie beseitigt wäre, es fehlte ihm +die Luft zum Atmen, sie ließ ihn nicht atmen +mit ihrem modrigen Spinnweb. – Es läßt +einen nicht frei aufatmen, dachte er, man hat +keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe. +</p> + +<p> +Hätte Marakulin im Moment der Verzweiflung +die Generalin ermordet, und wäre am +Morgen vor Gericht gestellt worden, so hätte +er zu seiner Rechtfertigung sagen können, +daß nicht er gemordet hat, sondern die grausame +Burkowsche Nacht. +</p> + +<p> +Und Wera Nikolajewna weinte nicht, sondern +schrie die ganze Nacht bis zum Morgen, +als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und +die Schlinge sehr eng zusammengezogen. +</p> + +<p> +Es waren jetzt grausame Nächte für Marakulin. +Wo blieb seine Bereitwilligkeit, alles zu +ertragen, nur um zu sehen, nur um zu hören, +nur um zu fühlen? Immer derselbe Gedanke an +die Generalin ging ihm nicht aus dem Sinn, +die unglückliche Generalin war ihm im Halse +stecken geblieben! – Ein verrückter Mensch +und in seiner Verrücktheit beharrlich. +</p> + +<p> +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +Als er einmal am Morgen in der Zeitung von +einem Arzt las, der des Giftmordes beschuldigt +wurde, versteckte er die Zeitung unter +sein Kissen und las am Abend vor dem Einschlafen +wieder die Stelle. +</p> + +<p> +– Wohltäter der Menschheit, Doktor – +flüsterte er im Dunkeln, – du magst wohl +nicht eine Laus nur ins Jenseits befördert +haben und vielleicht wirst du ... noch jemand +befördern! +</p> + +<p> +Und angesichts der allgemeinen Entrüstung +der Zeitungen sprach er zu sich ganz trunken: +</p> + +<p> +– Das sind Schwestern meiner Generalin, +die für diese vom Doktor vergiftete Laus so +einmütig eintreten. +</p> + +<p> +Er stand mitten in der Nacht auf, zündete +eine Kerze an, las nochmals die Zeitung und +versteckte sie unter dem Kopfkissen. Darauf +legte er sich wieder hin und flüsterte im +Dunkeln und dachte bis zum Morgen. Und +er übertrug seine eigene Burkowsche Verzweiflung +auf die ganze Menschheit, deren +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +Wohltäter vielleicht dieser giftmischerische +Arzt werden könnte, der eine Laus nach der +anderen ins Jenseits befördert und die Luft +reinigt, damit man atmen kann: denn sonst +hätte er keine Luft zum Atmen, keinen Schlaf, +keine Geduld, keine Ruhe. Ein verrückter +Mensch war er und in seiner Verrücktheit +beharrlich. +</p> + +<p> +Eine Woche oder länger lebte Marakulin in +einer Art Raserei und erreichte, wie es ihm +schien, den Punkt. Und als er den Punkt erreicht +hatte, fand er einen Schlupfweg, um +wieder in die Welt zu gelangen, er fand sein +Recht in der Welt zu sein, welches seit dem +Herbst schon schwankte, oder richtiger, nicht +bloß schwankte, sondern ihm abhanden gekommen +war, zusammen mit dem Schlaf, +mit der Geduld, mit der Ruhe. +</p> + +<p> +Gorbatschow hatte, so dachte Marakulin, +nach all seinen Umtrieben und Klügeleien erkannt, +wie er leben muß: er wollte seine Seele +erlösen, und deshalb räucherte er seine +Winkel mit Weihrauch, alles übrige aber: +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +ob man die Kinder alle auf einen Strick aufhängen +oder sie mit Bonbons in rosa Papierchen +füttern müßte – das betrachtete er als +unwesentlich für die Erlösung seiner Seele. +Maria Alexandrowna hatte ebenfalls nach +allen ihren Fragen erkannt und begriffen, wie +sie leben mußte: nicht daß sie die Gefahr besonders +liebte und ein Leben, neben dem der +Tod einherging – nein, sie wollte verderben, +ihre Seele für andre hingeben, sie hatte sich +zum Opfer auserkoren für ein Gesetz und eine +Wahrheit, von deren Herrschaft das Glück +der Menschen abhängt, und sie hatte gewiß +getötet, oder einen Totschlag vorbereitet, oder +war bei irgendeinem Attentat gegen eine Person, +die ihrer Meinung nach dem Gesetz und +dem Recht schadete, behilflich gewesen. Lisaweta +Iwanowna hat durch ihr nicht einfaches, +ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes +oder tatsächliches Wissen erkannt und +begriffen, wie sie leben muß: sie denkt weder +an sich, noch an die anderen, sondern sie denkt +an das Jenseits und an das jenseitige Leben, +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +und indem sie sich für das Jenseits und für +das jenseitige Leben vorbereitet, handelt sie +dementsprechend. Aber mit Weihrauch räuchern +und dabei sich gegen die Kinder wehren, +ebenso wie ein Attentat vorbereiten oder +sich für das jenseitige Leben vorbereiten – +das alles ist Tat, Aktion, Arbeit, und setzt zu +seiner Verwirklichung eine Menge wichtiger +Entschlüsse voraus. Vor allem muß man +wissen, gleichviel ob vor seinem Gewissen +oder aus Verantwortung vor der Vergangenheit +und ihren Werken, muß man sich +selbst antworten können, daß man seine Seele +erlösen, oder daß man seine Seele verderben +soll – oder daß man sich für das jenseitige +Leben vorbereiten soll, und es sich fest +vornehmen im Namen eines Unwiderruflichen. +Die Generalin dagegen rührt keinen +Finger, tut nichts – man kann doch das Besuchen +des Dampfbades nicht eine Tat +nennen! – erreicht aber alles, und wie glänzend! +Der Erfolg ihrer Abhärtung ist handgreiflich +und ganz zweifellos, so daß ihrem +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +Leben kein Ende abzusehen ist – der Chiromant +hat sich in diesem Falle nicht geirrt, und +sie ist vielleicht schon unsterblich. Dabei sucht +sie weder ihre Seele zu erlösen, noch zu verderben +– denn verderben ist dasselbe wie erlösen +– und sie gedeiht, indem sie auf jede Erlösung +verzichtet und nichts und niemand +etwas schuldet. Und hat Gorbatschow, welcher +weiß, wie man leben muß, ein Daseinsrecht, +und haben Maria Alexandrowna und +Lisaweta Iwanowna, die ebenfalls wissen, +wie man leben muß, ebenfalls ein Daseinsrecht, +so hat die Generalin, wie ein Kelch +der Auserwähltheit, nicht nur ein einfaches +Recht, sondern ein königliches! +</p> + +<p> +– Und jetzt ist zu überlegen und sehr genau zu +überlegen, – räsonierte Marakulin, als er +den springenden Punkt, wie ihm schien, erreichte, +– um einen entscheidenden Schluß +zu ziehen, ein für allemal: wie würde die +Menschheit handeln, wenn, sagen wir, wenn +alle Großmächte, ein Bündnis aller Mächte +der Welt, mit England an der Spitze, ihren +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +Untertanen, der ganzen Menschheit, durch +die Parlamente und Reichstage in besonderen +Manifesten dieses sorgenlose Lauseleben, das +sündenlose und unsterbliche Leben der Generalin +anbieten würden? – Gesetzt, so etwas +wäre möglich, sei es durch eine wirkliche Erfindung +– wenn etwa der gelehrte Deutsche +Wittenstaube es mit Hilfe seiner Röntgenstrahlen +herausgefunden hätte; oder durch +einen Betrug – oder wenn etwa einer unserer +gewesenen Gouverneure wie Burkow der +Selbstvertilger – wie viele solcher Vertilger +gibt es in Rußland, die fanatisch ihre außergewöhnlichen +Fähigkeiten gegen sich selbst +richten! – also, wenn so ein Burkow einen +Trick erfunden hätte, meinetwegen einen vorübergehenden +Betrug, aber natürlich so, daß +alles glatt ginge; oder durch ein freches Wagnis, +wenn etwa ein lichtspendender, hochheiliger +Starez Kabakow, nachdem er ein +Grammophon in seinen Keller eingemauert, +sich durch eine Himmelsstimme der Welt als +Hirte und Richter offenbaren ließe – als der +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +Erlöser von Murkas Erbsünde – und ein +neues, nicht von Menschenhand geschaffenes +Zion aufgebaut hätte, voll Frieden und +Gnade, schnell, einfach und billig, – wie +würde sich die Menschheit dazu verhalten, +wie würde sie darauf reagieren? Ich denke – +fuhr Marakulin fort zu räsonieren, als er mit +Marakulinscher Hartnäckigkeit bis zu seinem +springenden Punkt vorgedrungen war – +alle Untertanen würden ohne alle überflüssigen +Worte und Zeremonien, das Soll und +Nichtsoll und jeden Gedanken an Erlösung +vergessend, ganz leise, ohne die Hüte oder +sonst den Rang bezeichnenden Kopfputz abzunehmen, +die Hosen ausziehen und auf +den mutigen, freien, stolzen, heiligen Anruf, +sich bekreuzigend, in einen gigantischen mit +Pferdehaaren bedeckten, vielleicht bei uns +in der belgischen Fabrik hergestellten Kopf, +hineinschlüpfen. Sie würden in dieses neue, +nicht von Menschenhand erschaffene Kabakowsche +Zion voll Frieden und Gnade hineinstürzen, +um ein neues Lauseleben, ein +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +schmerzloses, sündenloses, unsterbliches, und +vor allem ruhiges Leben anzufangen: ernähre +dich, verdaue und härte dich ab! Ein Klappstühlchen +könnte man sich noch immer anschaffen; +vielleicht wäre es sogar möglich, +unter diesen allgemeingültigen und deshalb +zwingenden, freiwillig angenommenen Bedingungen, +da bei jedem am Hals ein Kuhglöcklein +läuten würde, damit man, sorglos +weidend, nicht verloren gehe, sich auch ohne +Klappstühlchen auf der Fontanka Motion +zu machen, oder auf dem Sagorodny in die +Kirche zu gehen. Und es ist anzunehmen, daß +jeder Vernünftige und Gute so handeln würde +– denn wer ist sein eigener Feind? – und er +würde nach dem Gesetz richtig, weise und +menschlich handeln: denn in der Tat, wer +hätte Lust sich zu quälen, zu ersticken ohne +Schlaf, ohne Geduld, ohne Ruhe! +</p> + +<p> +Als Marakulin einst in seiner Kindheit Gardist +bei der Kavallerie werden wollte, betete +er, Gott möge ihm helfen, ein Gardekavallerist +zu werden, und als er Räuber werden +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +wollte, betete er mit denselben Worten, nur +daß der Gardekavallerist durch den Räuber +ersetzt wurde, und ebenso betete er, als er +Kalligraphielehrer zu werden wünschte. Das +waren seine Hauptgebete für sich in Moskau +auf der Taganka, denn um ein gutes Zeugnis +hatte er nie gebetet. Später pflegte er beim gewohnheitsmäßigen +Beten, während er morgens +beim Erwachen und nachts beim Einschlafen +„Gott sei mir gnädig“ aufsagte, von +Gott nichts mehr zu verlangen. Dann hatte +er auch dies: „Gott sei mir gnädig“ vergessen. +Jetzt aber, als er, wie ihm schien, in seinen +Betrachtungen bis zu jenem springenden +Punkt angelangt war und das königliche +Recht entdeckt hatte und dieses königliche +Recht auf der Welt zu sein auch für sich begehrte, +warf er sich nachts inbrünstig auf die +Erde und betete in der Raserei, die Stirn gegen +den Boden schlagend: +</p> + +<p> +– Herrgott! – flehte er – gewähre mir für +einen Augenblick nur dieses wahre Lauseleben, +mach mich deiner Gnade teilhaftig, Herrgott, +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +laß mich nur für einen Augenblick aufatmen, +dann mag dein Wille geschehen! +</p> + +<p> +Und hätte sich Marakulin in seiner Verzweiflung, +während er mit der Stirn gegen den +Fußboden schlug, den Schädel gespalten, +und man hätte ihn am nächsten Morgen dafür +zur Verantwortung gezogen, so hätte er, +zur Besinnung gekommen, nur eins zu seiner +Rechtfertigung sagen können, daß nicht er +sich getötet, sondern die grausame Burkowsche +Nacht. +</p> + +<p> +Hier muß noch gesagt werden, daß seine Geschäfte, +die auch sonst nicht besonders waren, +zu Weihnachten überhaupt stillstanden. Er +fand gar keine Arbeit mehr; ein Entehrter +findet sehr schwer Arbeit, besonders wenn +auf die Frage: „Womit beschäftigen Sie sich +sonst?“ der wirkliche Grund der Untätigkeit +nicht verheimlicht wird. Marakulin verheimlichte +ihn auch nicht, und erzählte naiv wie ein +zwölfjähriges Kind von seinen Streichen, von +seinen Quittungsbüchern und wie er wegen +jener Quittung herausgeflogen war. +</p> + +<p> +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +Seine Lage war schlimm. Die Artisten Damaskin +halfen ihm aus, und ohne Sergej +Alexandrowitsch, Wassilij Alexandrowitsch +und Wera Nikolajewna wäre ihm nichts +übrig geblieben, als eine Bittschrift zu verfassen, +gleich dem ruhelosen alten Gwosdjow, +der damals an Murkas Tag bei ihm erschienen +war, am letzten Tag in seiner eigenen +Wohnung. +</p> + +<p> +Und am Ende wird man sie doch verfassen +müssen, denn das königliche Recht, dieses +nächtliche königliche Recht, wird einem offenbar +nicht so leicht gewährt, und wenn man +keine Renten hat, die bis ans Lebensende +reichen, da ist es vielleicht besser, Gott gar +nicht zu beunruhigen: man erreicht ja doch +nichts. +</p> + +<p> +Zu Weihnachten gab es bei den Artisten einen +Weihnachtsbaum, und alle Mieter Adonja +Iwoilownas waren eingeladen. Es war da +eine Menge Leute, gewiß lauter Artisten. +Sergej Alexandrowitsch war sehr geschäftig +und reichte den Gästen Aschenschalen, +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +damit die Zigarettenstummel nicht auf den +Boden geworfen werden, und Wassilij Alexandrowitsch +ging so aus sich heraus, ließ +solche Raketen steigen, daß alle vor Lachen +beinahe umkamen. Im Kartenspiel verloren +die Brüder das Letzte. In der Gesellschaft +taute auch Wera Nikolajewna auf und sang +ihre Kostrinskischen uralten Weisen, wie sie +sie von ihrer Mutter Lisaweta Iwanowna +gelernt hatte. +</p> + +<p> +Und seitdem, seit jenem Damaskinschen +Weihnachtsabend, sang Wera Nikolajewna +an den Abenden der Weihnachtswoche +allein in ihrem Zimmer, zuweilen von den +Lehrbüchern sich losreißend, mit halblauter +Stimme vor sich hin. Sie sang auf altertümliche +Art, und in ihren Weisen atmete +das uralte Rußland. +</p> + +<p> +Gewöhnlich begann sie mit dem Gesang von +den sieben wilden Stieren und von ihrer Mutter, +der Stierin; wie die sieben goldgehörnten +wilden Stiere am Gestade des blauen Meeres +wanderten, wie sie über das blaue Meer +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +schwammen und auf der berühmten Insel +Bujan landeten, wo sie ihrer Mutter, der Stierin, +begegneten. Und die Stiere erzählten ihr, +wie sie an Kiew vorbeikamen und an der Auferstehungskirche, +und was sie da für ein Wunder +gesehen hatten: aus der Kirche kam eine +Jungfrau, sie trug auf dem Kopf ein goldnes +Buch, trat bis zum Gürtel in den Newafluß, +legte das Buch auf einen weißen, heißen +Stein, las im Buch und weinte. Und die +Stierin deutet den Stieren dies übergroße +Wunder: die Jungfrau war die Mutter +Gottes und sie las ein goldnes Buch – das +Evangelium, und sie weinte, weil sie Ungemach +über Kiew heraufkommen sah, Ungemach +über das ganze heilige Rußland. +</p> + +<p> +Und nach den Stieren erhob sich in seiner +ganzen reckenhaften Größe der Riese Ilja +Muromez; wie der Recke am Grabe des +Swjatogor den reckenhaften Geist einatmet +– den dritten, weißen Grabesschaum, – +und es treibt ihn und es hebt ihn, er weiß +nicht, wo er mit seiner Kraft hin soll. Dann +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +folgte die Nachtschwalbe, die Aebtissin, die +blonde Füchsin; vierzig schwarze Jungfrauen +folgen ihr wie die Dohlen, und schon donnert +und poltert der schreckliche Alte, Igrimistsche-Kologrenistsche. +Er tritt aus dem Bogoljubowschen +Kloster aus, er will seine Seele +retten, sie ins Paradies bringen und schleppt +in einem Sack weißen Kohl, bitteren Rettich, +rote Rüben – und ein schwarzlockiges +Mägdelein. +</p> + +<p> +Und wieder schwimmen auf dem blauen +Meere die goldgehörnten Stiere, begegnen +ihrer Mutter, der Stierin, und erzählen ihr +das übergroße Wunder. Die Stierin deutet +ihnen das Wunder: die Jungfrau ist die +Mutter Gottes, und lesen tut sie ein goldenes +Buch, das Evangelium, und sie weint, weil +sie ein Ungemach über Kiew ahnt, Ungemach +über das ganze heilige Rußland. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna sang auch die Räuberweise, +von dem Scnurrbart, dem Teufelskerl; +sie sang von Gauklern und von lustigen +Leuten ... +</p> + +<div class="poem-container"> +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Spielmänner,</p> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Lustigen,</p> + <p class="verse">Mir tut der Kopf so weh,</p> + <p class="verse">Mir ist mein Herz so schwer ...</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +In der Küche betet Akumowna vor den drei +ewigen Lampen; sie betet für ihre Herrin, +für den Bruder der Herrin, für ihren eigenen +Sohn. Im hintersten Zimmer betet vor den +drei ewigen Lampen Adonja Iwoilowna; +sie denkt an Paraschas Schiffe und weint, +weil sie es nicht versteht. +</p> + +<p> +Mit Wera Nikolajewna schien etwas vorzugehen: +sie sang viel und war nicht mehr so +fleißig. +</p> + +<p> +– Bei Gott, Sie sind in Sergej Alexandrowitsch +verliebt –, sagte einmal Werotschka +Wechorjowa plötzlich in Wera Nikolajewnas +Zimmer eintretend, und sah sie schelmisch, +herausfordernd und boshaft an. +</p> + +<p> +Und die sonst so Blasse flammte plötzlich auf +und wurde still – kein Wort. Und auch ihm +wird sie kein Wort sagen, sie wird eher sterben, +als etwas sagen – es gibt Solche. Und +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +darum klang in ihren alten Weisen, in denen +das uralte Russland atmete, eine so dumpfe +beklommene Sehnsucht. +</p> + +<p> +Werotschka – so wurde vom ersten Tage +an Wera Iwanowna Wechorjowa genannt +–, welche Akumowna auch die Unverschämte +nannte, nicht etwa als Schimpfwort, +sondern als Kosename – Werotschka +verbrachte selten einen Abend zu Hause. Am +Tage war sie in der Schule, dann kam sie +für ein Stündchen nach Hause und bald darauf +lief sie irgendwohin, ins Theater. Wenn +sie nichts vorhatte, dann saß sie bei den +Damaskins. Sergej Alexandrowitsch unterrichtete +sie in allerlei Tänzen. Sie war biegsam, +schlank und leicht, wie ein Federchen, +und wenn beide miteinander tanzten, so schien +es, als hätten sie Flügel wie Vögel. Die Zeit +verging ihnen lustig. +</p> + +<p> +Einmal fand sie Marakulin beim Tanzen, +und seitdem kam er öfters zu den Nachbarn, +und daß Werotschka dort war und tanzte, +das tat ihm wohl. Wera Nikolajewna aber +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +kam seit Weihnachten nicht mehr zu Damaskins; +sie fand stets eine Ausrede und saß allein, +in ihre Lehrbücher vertieft, oder hatte +Wache im Krankenhaus. +</p> + +<p> +Werotschka gefiel Marakulin. Sie tanzte +schön und las gut vor – mit einem schönen +Organ. Im Süden geboren, war sie in Moskau +erzogen worden, und in ihrer Sprache +war weder das lästige südliche Zwitschern, +noch die nordische Kälte – die gebändigte +Freiheit, dafür aber Festigkeit und jene besondere +Moskauer Lieblichkeit. Nach dem Tanzen +bat sie gewöhnlich Sergej Alexandrowitsch, +der Verse liebte, etwas vorzulesen. +Und Onjergins Brief: „Ich weiß voraus, +beleidigen wird Sie des traurigen Geheimnisses +Erklärung ...“ mußte sie ihm einigemal +wiederholen. +</p> + +<p> +Was Marakulin auffiel und ihn am Anfang +von Werotschka abgestoßen hatte, war +ihr äußerst starkes Selbstgefühl, eine maßlose +Selbstüberhebung und Prahlerei, die +marktschreierisch wirkte. Man mußte sich für +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +sie schämen. Und jeden Widerspruch faßte +sie als Beleidigung auf. Sie konnte sich dermaßen +versteigen bis zu einer Höhe, wo alle +Worte einander gleichen und nur einen Sinn +haben: – es war nicht der sehnsüchtige Ruf +eines Hoffenden, sondern eine Herausforderung, +ein unheimlicher Schrei nach dem +Recht, die himmlischen Scharen kurz und +klein zu schlagen, wenn es nur eine Himmelsleiter +gäbe, wie es in der alten Weise heißt, – +oder die Erde auf den Kopf zu stellen, wenn +man nur einen Griff zu fassen kriegte! – +Dabei hört ein so Verstiegener, ein so unheimlich +nach seinem Recht Schreiender ja niemals +seinen eigenen Schrei. Und Werotschka +tat einem leid. +</p> + +<p> +Sie behauptete, sie sei eine große Schauspielerin, +sie brauche bei niemand zu lernen, vielmehr +müßten alle bei ihr lernen. Und wenn +sie dennoch in diese dumme Schule eingetreten +sei, so wäre es nur geschehen, um sich den +Weg zu bahnen. Ohne das komme man +eben nicht vorwärts. Und sie werde sich ihren +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +Weg schon bahnen, sie werde ihren Schatz +heben, dann würden alle sehen ... +</p> + +<p> +– Und dann werden alle sehen – Werotschka +zerriß sich fast vor Schreien, – Vielen +wird es leid tun, aber zu spät! – Und die +Namen der Berühmtheiten aufzählend, als +wollte sie sie mit sich vergleichen, lächelte +Werotschka halb verächtlich, halb mitleidig, +– Ihr werdet mich noch sehen! – und ihre +Augen flammten begeistert auf und loderten +in brennendem Haß, – ich werde zeigen, wer +ich bin, der ganzen Welt, – mögen sie dann +sehen ... +</p> + +<p> +„Aber wer sind denn diese sie?“ fragte sich +Marakulin nicht einmal, je öfter er über Werotschka +nachdachte. Werotschka erzählte +gern von sich, aber auf allerlei Art, und es +war nicht herauszubringen, was daran echte +Wahrheit war und was bloß so Wahrheit. +</p> + +<p> +Ihr Vater war gestorben, als sie noch klein +war. Er war Offizier. Aus Wosnessensk +im Chersonschen Gouvernement, wo sein +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +Regiment stand, übersiedelte die Mutter nach +Moskau; hier wurde sie Haushälterin bei +einem alten General, einem Verwandten ihres +Mannes. Werotschka wurde im Institut erzogen, +doch bevor sie es noch absolviert hatte, +starb ihre Mutter. Zum General pflegte ein +reicher Fabrikant, Wakujew mit Namen, zu +kommen – ein nicht mehr junger, aber schöner +gesunder Mann – wie man in Moskau +von ihm sagte. Er hatte einträgliche Geschäfte +mit dem General. Anissim Nikititsch begann +Werotschka den Hof zu machen und gefiel +ihr auch. Und so kam es, daß Werotschka +mit der Zustimmung des Generals zu Wakujew +zog. Wakujew besaß auf dem Arbat +ein altes herrschaftliches Einfamilienhaus. +Seine Frau war tot, seine Kinder versorgt; +nur drei schon ziemlich bejahrte Fräulein, +seine Nichten, die er nach dem Tode seines +ruinierten Bruders ins Haus genommen, +führten ihm die Wirtschaft. Ein Jahr blieb +Werotschka bei Wakujew, und es ist anzunehmen, +daß er ihrer im Laufe dieses Jahres +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +überdrüssig wurde; ferner ist anzunehmen, +daß ihr Leben auf dem Arbat nicht besonders +heiter war. Anissim liebte, wie sie selbst +erzählte, Abwechslung, Zerstreuung, und es +wurde ihm alles nachgesehen. Anissim war +es auch, der sie in Petersburg studieren ließ +und ihr fünfunddreißig Rubel monatlich +schickte; von diesem Geld lebte sie. +</p> + +<p> +„Ist es dieser Anissim und seine drei Nichten, +die ihr so zugesetzt haben, sind sie es, diese <em>sie</em>, +die dann sehen werden?“ fragte sich Marakulin +nicht einmal, als er jetzt immer häufiger +über Werotschka nachdachte. +</p> + +<p> +Eines Tages, es war in der Theodorwoche, +ganz am Anfang des Frühlings, da kam Werotschka +so lustig und aufgeräumt nach Hause, +daß sie die Hausgenossen beinahe überrannte. +Selbst die sonst weinerliche und unbewegliche +Adonja Iwoilowna vergaß ihre Tränen, +und begann mit noch tränenfeuchten +Augen herumzuwirtschaften, als wäre Werotschka +ihre Tochter, die jetzt so lustig und +aufgeräumt heimgekommen. Akumowna +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +drehte sich ebenfalls flinker herum, als wäre +es ein Feiertag, und sah ihre „Unverschämte“ +besonders zärtlich an. +</p> + +<p> +Der Tag war sonnig, der Frühling, die +Wärme lockte, im belgischen Hof schmolz +der Schnee zusammen mit dem Steinkohlenberg +dahin. Aus den vier Ziegelschloten stieg +gleichmäßig der Rauch in die Höhe, die Burkowschen +Fenster vermeidend, und der Burkowsche +Hof war voll von Kindern; sogar +die Säuglinge waren mit ihren Ammen +draußen. +</p> + +<p> +Anissim Nikititsch Wakujew war in eigener +Person nach Petersburg gekommen, und +Werotschka war ihm auf dem Newsky begegnet +– das war es: daher die Freude und +diese ungewöhnliche Ausgelassenheit. +</p> + +<p> +Diese Nacht schlief Werotschka nicht zu +Hause. Und als sie am Morgen wiederkam, +machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer aufzuräumen. +Wieviel Erfindungsgeist zeigte +sie dabei, sie, die sonst doch – ganz anders +als Wera Nikolajewna – so zerfahren und +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +unordentlich war! Jetzt blies sie jedes Stäubchen +fort, legte Papier unter den wackelnden +Tisch, damit er fester stand und brachte die +Haarnadeln in eine Schachtel unter. Und wieviel +Lauferei gab es und welche Geschäftigkeit +entwickelte sie – sogar einen Blumentopf +hatte sie irgendwo erstanden, wie zu Pfingsten. +Sie erwartete einen Gast, Anissim Nikititsch +Wakujew selbst. Und der Tag war +ebenfalls sonnig, es lockte der Frühling, die +Wärme. +</p> + +<p> +Der Tag verstrich langsam, es kam der Abend, +ein unruhiger Abend, und als dann in der +Wohnung die Klingel anschlug, da hielt die +ganze Wohnung, alle vier Zimmer und die +Küche, den Atem an, und Marakulin wollte +sogar die Lampe auslöschen, aber die Lampe +erlosch von selbst, ohne zu fragen, als hätte +sie ein krachender Donner, ein moskauischer +Donner getroffen. +</p> + +<p> +Es war ein Student, ein Techniker, der auf +der Suche nach seinem Bekannten an die +falsche Tür geraten war. Und Akumowna +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +hatte noch lange mit ihm zu schaffen, da er +sich auf keine Weise dabei beruhigen konnte, +daß es hier keinen Ljubimow gab und nie +gegeben hatte. +</p> + +<p> +– Es kann nicht sein – sperrte sich wichtigtuerisch +der Student, – das ist Willkür! +</p> + +<p> +Der Student wurde mit Mühe und Not +fortgeschickt; der betrunkene Student verzog +sich endlich wie Rauch, aber nun konnte man +niemand mehr erwarten. +</p> + +<p> +Werotschka ging in ihrem Zimmer auf und +ab, unermüdlich und nicht wie mit ihren +eigenen Schritten. Ihre Schritte waren fest +und krallig und ihre „unverschämten“ Augen +wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich. +</p> + +<p> +Vom sonnigen Frühlingstag aufgescheucht, +ließ sich Adonja Iwoilowna beim abendlichen +Samowar von Akumowna über ihre +sommerliche Pilgerfahrt wahrsagen: es war +schon Zeit für sie, sich auf den Weg zu +machen, der Frühling war schon da. +</p> + +<p> +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +– Jedes Stengelchen verflicht sich mit einem +Stengelchen – tönte Akumownas gerührte +Stimme, – jedes Zweiglein mit einem Zweiglein. +</p> + +<p> +Und Wera Nikolajewna, die mit ihren Arbeiten +fertig war, sang leise ihre geliebten alten +Weisen, und in ihren Liedern atmete das +uralte Rußland und eine dumpfe beklommene +Sehnsucht: +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Spielmänner,</p> + <p class="verse">Leise spielt, ihr Lustigen,</p> + <p class="verse">Mir ist mein Kopf so weh,</p> + <p class="verse">Mir ist mein Herz so schwer ...</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Und plötzlich wurde sie still. Kein Wort +mehr. Sie wird auch ihm nichts sagen, sie +wird eher sterben als etwas sagen. +</p> + +<p> +– Jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, +jedes Blättchen mit einem Blättchen – +tönte Akumownas gerührte Stimme, – der +Frühling ist da. +</p> + +<p> +Und es wurde immer bedrückender. Denn +Adonja Iwoilowna begann zu weinen, und +noch lauter als sonst; sie erinnerte sich gewiß +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +an ihren Mann, und daß die Erde an dem +Friedhof unter ihm weggeht und von seinem +Grabe abbröckelt. +</p> + +<p> +Werotschka ging im Zimmer auf und ab, +unermüdlich und nicht wie mit ihren eignen +Schritten. Ihre Schritte waren fest und +krallig und ihre „unverschämten“ Augen wie +zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich. +</p> + +<p> +Doch der Sänger, der Samowar, erlosch, die +Tränen waren ausgeweint und die Schritte +verstummt. Alles schlief im Haus und im +Hof, die Hupen der Automobile tönten nicht +mehr von der Fontanka herüber, im Obuchowschen +Krankenhaus blinkte das Licht +schon auf nächtliche Weise wie ein Stern, +und über den belgischen Ziegelschloten ging +ein Stern an und sah in die Fenster hinein, +so ein großer Frühlings-Abendstern – die +Stunde der Nacht war da. Und Marakulin +war es, als klopfte jemand – ein seltsames +Klopfen. Er horchte auf und erkannte: das +Klopfen kam aus Werotschkas Zimmer. Und +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +nun verstand er, daß Werotschka allein in +ihrem Zimmer nicht eingeschlafen war und +nicht einschlafen würde, und daß sie mit dem +Kopf gegen die Wand schlug, ohne Tränen, +ohne Klage, mit weit aufgerissenen trockenen +Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann +weint man nicht. +</p> + +<p> +Und all sein Gefühl, seine ganze Erbitterung, +seine ganze Verzweiflung, die für eine Weile +sich gelegt hatte, loderte hell auf und ergoß +sich wieder auf seine auserkorene, verhaßte +Generalin. Fiebernd wie im widerlichsten +Rausch und zähneknirschend malte er sich +aus, wie diese unglückselige Generalin, diese +kerngesunde, unsterbliche, sündenlose, kummerlose +Laus – dieser Kelch der Auserwähltheit +– süß schlafe. Und er mußte es jemand +sagen, einerlei wem, aber sofort, solange das +Herz noch nicht gesprungen war. +</p> + +<p> +Und fast erstickend sprang er ans Fenster und +schrie aus Leibeskräften hinaus: +</p> + +<p> +– Ihr rechtgläubigen Christen, die Laus +schläft, so helft doch! +</p> + +<p> +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +Und als er es hinausgeschrien hatte, da fühlte +er, wie seine einstige ungewöhnliche Freude +langsam in ihm hochsteigt, hinaufbrandet +und bald sein Herz überfluten und die Brust +überfüllen werde. +</p> + +<p> +– Was brüllst du so? – schrie ihn eine +knarrende Stimme an, und aus den Winkeln +zeigte sich Gorbatschows haarige Nase. +</p> + +<p> +Das Klopfen aber dauerte fort. Das war +Werotschka, allein in ihrem Zimmer – sie +war nicht eingeschlafen und wird nicht einschlafen +– sie schlug mit dem Kopf gegen die +Wand, ohne Tränen, ohne Klage, mit weitaufgerissenen +trockenen Augen: wenn es gar +zu schlimm ist, dann weint man nicht. +</p> + +<p> +Grausame Augenblicke, Herumtreiben ohne +Arbeit und Erschöpfung beschlossen das +erste Burkowsche Jahr Marakulins. +</p> + +<p> +Als erste machte sich Adonja Iwoilowna auf +die Reise: sie fuhr nach Kaschin zu der ehrwürdigen +Anna von Kaschin, und aus Kaschin +auf den Murman in das Petschenegische +Kloster zum ehrwürdigen Tryphon. Nach +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +Adonja Iwoilowna verreiste Wera Nikolajewna, +nachdem sie ihre Prüfungen abgelegt, +bis zum Herbst zu ihrer Mutter, in ihr +kleines weißes Städtchen mit den fünfzehn +weißen Kirchen, in die alte vergessene Stadt +Kostrinsk. Sie sah zum Umblasen schwach +aus. Als letzte reiste Werotschka. Sie hatte +sich zu gar keiner Prüfung gemeldet und ihre +Theaterschule aufgegeben, da sie offenbar ein +anderes sicheres Mittel gefunden, „sich den +Weg zu bahnen“, – sie sagte aber nicht was +für eins. +</p> + +<p> +Sie sagte nur: +</p> + +<p> +– Im nächsten Jahr werdet ihr sehen, ich +werde ganz Rußland zeigen, wer ich bin! +</p> + +<p> +Marakulin brachte sie zum Nikolajewschen +Bahnhof: Werotschka reiste über Moskau +irgendwohin nach der Krim. Nach dem ersten +Glockenzeichen fühlte er es besonders stark, +wie bitter es ihm war, daß Werotschka nicht +mehr da sein wird und stand schweigend vor +dem Wagen. Sie aber streckte sich so sonderbar, +indem sie die Vorübergehenden ungeduldig +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +ansah und die Blicke auf sich zog, schlank, +biegsam und leicht. +</p> + +<p> +Plötzlich lächelte Marakulin zum erstenmal +in seiner ganzen Burkowschen Zeit, ohne zu +wissen weshalb und warum, – er lächelte +einfach. Und sie mußte es sicher bemerkt haben, +denn es war so ungewöhnlich und unerwartet! +</p> + +<p> +– Weinen müßte man um mich! – sagte +sie theatralisch und kniff die Augen zusammen, +halb mit Bedauern, halb mit Ekel, und +während sie ihm mit dem Schirm auf die +Hand schlug, sagte sie ganz ernst, übertrieben +ernst, mit einer Falte auf der Stirn: – Ich +bin eine große Schauspielerin! +</p> + +<p> +Er glaubte es damals gern und von ganzem +Herzen, daß Werotschka eine große Schauspielerin +sei und daß sie sich im nächsten Jahr +wirklich auszeichnen würde in ganz Rußland +und daß ihr Name bald in ganz Europa, in +der ganzen Welt berühmt sein werde. +</p> + +<p> +Als er vom Bahnhof zu sich nach der Fontanka +kam und sich mit Akumowna allein +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +fand, da fühlte Marakulin, wie ihm das Leben +jetzt zuwider war und daß er nicht so leben +konnte. +</p> + +<p> +Der eine muß verraten, um durch den Verrat +seine Seele aufzutun und in der Welt er selbst +zu sein, der andre muß töten, um durch den +Mord seine Seele aufzutun und wenigstens +als er selbst zu sterben, er aber mußte offenbar +eine Quittung ausfertigen, aber nicht der +Person, der sie zukam, um seine Seele aufzutun +und in der Welt zu sein, und zwar nicht +mehr als irgendein Marakulin, sondern als +Peter Alexejewitsch Marakulin: sehen, hören, +fühlen. +</p> + +<p> +Aber er war nicht mehr damit einverstanden, +weil er es nicht mehr ertrug; er wollte nicht +mehr so dahinleben ohne einen Zweck, nur +um zu sehen, zu hören und zu fühlen, – und +auch das Leben einer Laus, das unsterbliche, +sündenlose, kummerlose Leben, das königliche +Recht, jenen Tropfen Wasser, den die +sündige Seele im Jenseits sucht, wünschte er +nicht mehr. Er will leben und wird es, aber um +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +nur noch einmal wenigstens jene ungewöhnliche +Freude zu fühlen, die er in seiner Kindheit +kannte und die er nicht mehr kennt, die +nur das eine Mal in ihm hochgestiegen war, +in jener Frühlingsnacht, als Anissim zu Werotschka +nicht kam, in jener Frühlingsnacht, +als jedes Stenglein sich mit einem Stenglein +verflocht, jedes Zweiglein mit einem Zweiglein, +jedes Blättchen mit einem Blättchen. +Und wie klebrige junge Blättchen waren ihm +in der Erinnerung die Frühlingsworte der +von der Sonne gerührten Akumowna. +</p> + +<p> +Und es war ihm so bitter, noch bitterer als an +jenem Abend, weil Werotschka nicht mehr +da war; als wenn seine ganze ungewöhnliche +Freude – der Quell seines Lebens nur in ihr +sich bergen würde. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-5"> +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +Viertes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">era!</span> Weruschka! Werotschka! +</p> + +<p> +Marakulin, der gerade damit beschäftigt +war, eine lustige altertümliche russische +Erzählung in Halbfraktur abzuschreiben, +eine Arbeit, über der er vom Morgen +bis in die Nacht hinein saß – ein seltener +und einträglicher Auftrag, der wie erfrischende +paradiesische Manna auf ihn herabgefallen +war. – Marakulin fuhr auf, so daß er +den Schnörkel am Anfangsbuchstaben W +nicht zu Ende brachte. +</p> + +<p> +Von der Treppe her aber tönte immer beharrlicher +der bekannte Name: +</p> + +<p> +– Wera! Weruschka! Werotschka! +</p> + +<p> +– Wen rufen Sie da, Akumowna? +</p> + +<p> +Marakulin konnte es nicht aushalten und +sah in die Küche hinein. +</p> + +<p> +– Wera! – sagte Akumowna, ohne sich +umzuwenden, – ach, die Unverschämte! – +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +und sie stampfte die Treppe hinunter in den +Hof. +</p> + +<p> +Es war spät – etwa elf Uhr. Schon verbreitete +sich der windige Sonnenuntergang +staubig hinter dem Obuchowschen Krankenhaus, +und zusammen mit der kurzen Nacht +krochen aus den sumpfigen Vorstädten die +Nebel herauf; aber auf dem mit Kehricht, +Schutt und Ziegeln bedeckten Hof lärmten +noch immer die Kinder, und klagend klimperte +die Balalaika – von dieser nicht russischen, +armseligen Habe gab es reichlich auf dem +Burkowschen Hof – und in den Fenstern, +auf Kissen gestützt, steckten zerzauste, von der +steinernen Petersburger Glut zermarterte +Köpfe, in der Hoffnung, etwas Kühle zu +schöpfen. +</p> + +<p> +Die Tusche vertrocknete auf der Feder, die +Buchstaben wollten nicht werden, und Marakulin +schien es, daß Akumowna nicht wiederkommen, +daß sie mit ihrer geheimnisvollen +Wera irgendwo im Burkowschen Schutt +untergehen würde. Und als in der Küche +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +wieder Stampfen vernehmbar wurde, und +nicht Akumowna, sondern noch eine zweite +Stimme, halb kindlich und halb mädchenhaft +rasch zu sprechen begann, bald in fröhliches +Lachen, bald in ein schmerzliches Klagen +übergehend, da zog er wie erleichtert +wieder den Vorhang zu und begann weiterzuarbeiten. +</p> + +<p> +Die Abschrift war für Marakulin sehr wichtig, +und er wollte sie unbedingt heute fertigmachen, +da er fast zwei Monate schon über ihr +saß. Diese seltene Arbeitsgelegenheit hatte ihm +Sergej Alexandrowitsch vor der Abreise in +sein Sommergastspiel verschafft. Marakulin +hatte ganze fünfzig Rubel dafür zu bekommen +und seine Verhältnisse sollten sich dadurch +ganz bedeutend verbessern. +</p> + +<p> +– Wer wohnt denn bei Ihnen in der Küche? +– fragte Marakulin am nächsten Abend, +als Akumowna ihm den roten blitzenden Sänger, +den Samowar hereinbrachte. +</p> + +<p> +– Weruschka – antwortete Akumowna +und lächelte und blickte so eigentümlich idiotisch +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +von der Seite, – Weruschka, die Wundertätige. +</p> + +<p> +Und die Spülschale brachte schon nicht Akumowna +herein – sie blieb in der Tür stehen –, +sondern es brachte sie die „wundertätige“ +Weruschka. +</p> + +<p> +Es war ein kleines Mädchen – ein Backfisch +von fünfzehn Jahren, wie ihrer so viele +auf dem Burkowschen Hof als Kindermädchen +dienen, und doch schon völlig wie ein +junges Mädchen entwickelt. Als er sie aber +aufmerksamer ansah, fand Marakulin in ihren +Augen etwas ihm sehr Bekanntes und ungewöhnlich +Verwandtes, er konnte es nur +nicht benennen und vermochte sich nicht zu +erinnern, wo er Derartiges schon gesehen: ein +Feuer, – nein, noch etwas anderes, das man +auf keinen Fall verbergen kann, denn es würde +selbst beim Schlafenden unter den Lidern +hervorblinken. +</p> + +<p> +– Sie heißen Wera? +</p> + +<p> +– Werutschka ... Werotschka – antwortete +das Kind verwirrt, leise und mürrisch +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +und trat zurück, als hätte es etwas verlegen +gemacht. +</p> + +<p> +– Werotschka gar, so! – rief Marakulin +entzückt, das Kind betrachtend und erhob +sich plötzlich. +</p> + +<p> +Doch das Mädchen zog sich hinter Akumowna +in den Korridor zurück und machte sich +hörbar in der Küche zu schaffen. Oder war es +sein Herz, das so hörbar klopfte, Gott weiß +warum? +</p> + +<p> +– Gnädiger Herr, ich möchte Sie bitten, +gnädiger Herr, rühren Sie sie nicht an! +</p> + +<p> +– Was fällt Ihnen ein, Akumowna, Gott +schütze Sie! +</p> + +<p> +Aber wie ertappt ließ er sich auf seinen Stuhl +fallen. +</p> + +<p> +– Ich fürchte Wassilij Alexandrowitsch – +fuhr Akumowna fort, – mir ist Angst, wenn +er aus der Sommerfrische zurückkommt. Er +muß ja immerzu eine haben, der Unbezähmbare. +Sobald es Nacht wird, kriechen auch +die hier auf der Treppe herum und kratzen an +der Tür, die Herumtreiber! +</p> + +<p> +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +Nachdem sie es von der Straße aufgelesen +hatte, behütete Akumowna das kleine Mädchen +eifersüchtig vor den Burkowschen Herumtreibern, +vor Stanislaus dem Kontoristen +und vor Kasimir, dem Monteur; sie schloß +oft die Küche noch bei Tageslicht ab und +bettete die Kleine sicherheitshalber auf ihr +eignes Bett unter den drei Oellämpchen. +Und wundertätig nannte sie Wera darum, +weil ein Wunder an ihr geschehen war. +</p> + +<p> +– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna +zu sagen, – bis zum fünften Jahre +war sie ohne Zunge, sie sprach nicht, man +hat sie dem Doktor Nikolai Franzewitsch gezeigt, +vergebens; zu der Schmerzensreichen +hat die Mutter sie gebracht, auch wurde ihr +geraten, barfuß zu Matrionuschka zu pilgern +– nichts hat genützt. Aber am dunkeln +Freitag gingen sie in die Pulverfabriken, – +am Iljinischnen-Freitag ist da eine Prozession, +zwölf große Heiligenbilder werden da herumgetragen +und fast tausend kleinere. Als die +Messe zu Ende war und sie nach Hause +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +gehen wollten, da verlangte das Kind plötzlich +zu trinken: „Mama – sprach sie – gib +mir zu trinken!“ Seitdem spricht sie. +</p> + +<p> +Weras Vater war Buchhändler: er handelte +mit Büchern, Haken, Knöpfen und allerlei +Kleinkram. Ihre kränkliche Mutter ging als +Tagelöhnerin Fußboden scheuern und reinmachen. +Sie wohnten im Kusnetschnygäßchen, +in den „Winkeln“, wo der Chiromant +wohnt – die Fenster dort sind von venezianischer +Art und unheimlich. Als Wera etwas +größer wurde, gab man sie zu einer Goldstickerin +in die Lehre, ein Jahr blieb sie da, +aber sie taugte nicht dazu, da ihre Augen +krank wurden; so wurde sie Kindermädchen. +Da passierte es, daß ihr Vater mit seinem +Stand über den Wladimirsky vor einem +Schutzmann floh; an den fünf „Winkeln“ +bei der Kreuzung geriet er unter die Elektrische +und wurde zermalmt. Zur gleichen +Zeit wurde Wera gekündigt. Es ging ihnen +damals sehr schlecht. Und so kam die Mutter +auf den Gedanken, sie zum Onkel zu schicken, +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +welcher auf dem Murinsky-Prospekt in Lesnoj +als Hausmeister lebte, vielleicht, daß er +für sie eine Stellung finden würde. Die Kleine +ging fort, erreichte Lesnoj erst am Abend, und +unterwegs, während sie das Haus suchte, +blieb sie vor einem Gasthaus stehen, um die +Musik zu hören. Sie stand da und hörte zu, +ihre Augen glühten, der Mund war weit aufgesperrt, +da kam aus dem Gasthaus ein Herr, +der eine Gnädige untergefaßt hielt und sah +Wera sehr freundlich an. Er blieb ebenfalls +stehen und fragte sie freundlich aus. Sie erzählte +ihm alles, auch wie sie stehengeblieben +war, um die Musik zu hören. Und sieh da, +welch glücklicher Zufall: die Herrschaften +brauchten gerade gleich ein Kindermädchen +und ihre Bedingungen waren günstig. Wera +war erfreut und willigte ein. Sie nahmen +eine Droschke und brachten sie zu sich nach +Hause – sie wohnten auch gar nicht weit. +Welch ein glücklicher Zufall! – Es war schon +spät, es dämmerte, und als sie zu Hause anlangten, +gingen sie sofort zu Tisch und ließen +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +auch Wera neben sich Platz nehmen. Und +als sie sich satt gegessen hatte, da führte sie der +Herr in ein Zimmer, das im Korridor gegenüber +lag. Nachts kam er wieder. Sie wollte +schreien, aber er verschloß ihr den Mund mit +den Händen. So fing es an. Als Wera zu +sich kam, war es bereits Tag. Sie trat aus +dem Zimmer und streifte im Korridor herum, +um den gnädigen Herrn und die gnädige +Frau zu suchen und geriet in das Büfettzimmer: +sie hatte also in einem Gasthaus übernachtet. +Sie fragte den Büfettier, wo der +gnädige Herr und die gnädige Frau seien? +Der Büfettier lachte: es gäbe weder einen +gnädigen Herrn noch eine gnädige Frau; +wenn sie aber gewillt sei, könne sie auch bei +ihm als Kindermädchen bleiben. Das war +eine schlimme Lage! Wenn sie nicht einwilligte, +hatte sie Angst zur Mutter zurückzukehren, +doch wie, wenn der Büfettier, wie +der Herr von gestern, ihr ebenfalls den Mund +mit den Fäusten stopfen würde! ... Das eine +war schrecklich, das andere war ebenfalls +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +schrecklich, und ein drittes gab es nicht. So +blieb sie beim Büfettier als Kindermädchen. +Es waren viele Kinder und sie konnte kaum +mit der Arbeit fertig werden. Es verging eine +Woche. Nach einer Woche aber, kaum, daß +sie sich etwas eingelebt hatte, quartierte sie +der Büfettier in ein besonderes Zimmer ein, +damit sie von den Kindern getrennt schlafe +– es waren eben viele Kinder – es würde +bequemer und ruhiger für sie sein. Und wieder +begann es: erst der Wirt selbst, der Büfettier, +nach ihm der Reviervorsteher. Sobald +die Nacht kam, erschien jemand – man +brachte ihr im Laufe der Nacht fünf Männer. +Man ließ sie nicht mehr aus dem Zimmer, +die Kinder sah sie auch nicht wieder; +es war bereits ein neues Kindermädchen da. +Sie weinte, aber was half es, man lachte sie +nur aus. Nur durch ein Wunder entkam sie +aus diesem Zimmer und dem Büfettier. Ein +glücklicher Zufall kam ihr zu Hilfe: ein Brand! +Im Gasthaus war Feuer ausgebrochen. +Sonst wäre sie zugrunde gegangen. Im Trubel +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +sprang sie aus ihrem Zimmerchen und begann +zu laufen. Sie kam an die Kusnetschnybrücke +gelaufen, in die Winkel, wo der Chiromant +wohnt, die Mutter aber war nicht +mehr da: sie war an der Cholera gestorben. +Das war eine schlimme Lage: es wäre ihr +schließlich nichts anderes übriggeblieben, +als zum Büfettier ins Zimmerchen zurückzukehren. +Aber die Hausmeisterin hatte Mitleid +mit ihr – sie pflegte ebenso wie Antonina +Ignatjewna, die Gattin des Oberhausmeisters, +in den Hafen von Kronstadt zum „Bruder“ +zu pilgern – sie war barmherzig und +mit Antonina Ignatjewna bekannt. So +schickte sie das Mädchen zu ihr ins Burkowsche +Haus, ob sich da für das Kind vielleicht +eine Stellung fände. Aber Wera geriet statt +zu Antonina Ignatjewna zu Akumowna. +</p> + +<p> +– Sie ist eine Wundertätige – pflegte +Akumowna zu sagen, – nur eins ist schrecklich +– diese Herumtreiber; sobald es Nacht +wird, da kriechen sie herum und rütteln an +der Tür, – es wird einem ganz Angst! – +</p> + +<p> +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, +eintönig. Es war heiß und fast in ganz Petersburg +waren die Straßen gesperrt: das Pflaster +wurde ausgebessert, wie immer im Sommer; +es war nirgends ein Durchgang, nirgends +eine Durchfahrt, und es herrschte eine +große Schwüle. +</p> + +<p> +Am Abend beim Samowar legte Akumowna +Karten für Marakulin, wie sie es im +Winter für Adonja Iwoilowna tat. Sie +wahrsagte viel und ausgiebig, nicht nur für +den Treffkönig oder Kreuzkönig, wie ihn +Akumowna nannte und der Marakulins +Karte war, sondern auch für andere Könige +und Damen – für die Kreuz-, Coeur-, Karo- +und Pik-Dame, als für alle die Personen, +die ihm in den Karten zulagen, um auch ihr +Schicksal zu erfahren und dadurch besser zu +erforschen, wer sie seien und was sie vorhaben. +</p> + +<p> +Die Karten logen nicht. Das gleiche Orakel +kehrte immer wieder und brachte meist etwas +unsinnig Bedeutungsloses: ein wenig Langweile, +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +ein wenig Geld, ein wenig Veränderung, +ein wenig Tränen, Verdruß, eine junge +Person, ein eigenes Haus, ein eigener Gegenstand, +ein vornehmer, einflußreicher Herr mit +einem Schriftstück, eine behördliche Anstalt, +Langweile der jungen Person, eine kleine Unannehmlichkeit, +eigene Sorgen, Gespräch +mit sich selbst. Und das letzte war stets das +Gespräch mit sich selbst. +</p> + +<p> +Wenn Akumowna zum letztenmal die Karten +ausbreitete, pflegte sie zu flüstern: – Fürs +Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es +enden wird. Womit es beruhigen wird. Womit +überraschen. Sagt die ganze Wahrheit +reinen Herzens. Was sein muß, wird sich erfüllen. +</p> + +<p> +Und auch zum letztenmal kam das gleiche – +dieselben Karten: unsinnig bedeutungsloses +Zeug und das Gespräch mit sich selbst. +</p> + +<p> +Die Karten logen nicht. Nur zuweilen wurden +sie offenbar selbst der Sache überdrüssig +und ärgerten sich: dann waren sie bissig, +zeigten große Veränderungen an oder +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +einen weiten Weg, viel Geld und Erfüllung +aller Wünsche. +</p> + +<p> +Beim Kartenlegen erinnerte sich Akumowna +oft an ihre Herrin, an den alten Herrn, an +den Bruder der Herrin und an ihren eigenen +Sohn, was für Träume sie alle geträumt hatten, +welche Ereignisse nach ihnen eintraten +und was jeder Traum bedeutete. +</p> + +<p> +– Unser Priester in Turij-Rog – er war ein +guter Mann, ein großer Büßer, der Vater +Arsenij – erzählte Akumowna aus ihren Erinnerungen +– vor seinem Tode erhob er sich +und fragte: „Sind die Pferde bereit!“ +– Was für Pferde, ehrwürdiger Vater? – +„Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet +mich zur Hochzeit ins Ausland!“ Und +starb. – Sechs Tage, bevor der alte Herr +sterben mußte, sah meine gnädige Frau, daß +sie einen Stiefel vom Fuß verloren hatte. +Und vor dem Tode der gnädigen Frau +träumte ich, ich sitze vor einem Ofen, den +Ofen habe ich eingeheizt, das Holz brennt +hell, die Scheite verkohlen schon. Ich zerschnitt +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +Speck, tat ihn in einen Topf und +stellte den Topf in den Ofen, aber kaum, +daß ich ihn hineinstelle, da zerfällt der Topf +in zwei Hälften, die Glut prasselt und ein +Qualm erhebt sich ... Mein Vater gab mir +keinen Segen. Und so kam es auch! Wie ein +rollender Stein um die weite Welt. +</p> + +<p> +– Wie geht es Ihrem Bruder und Ihrer +Schwägerin? +</p> + +<p> +– Sie plagen sich auch, haben weder Wald +noch Holz noch Weide. Und ihre jüngere +Tochter Fedossja, meine Nichte, ging nach +Turij-Rog als Taglöhnerin zur Feldarbeit; +sie gefiel dem gnädigen Herrn, dem jungen +Bujanow, er ist ein toller Kerl. Er nahm sie +für einen Monat zu sich in Dienst. Als der +Monat zu Ende war, behielt er sie noch für +einen Monat, dann für den ganzen Winter. +Mein Bruder verstand wohl alles, sagte aber +zur Schwägerin nichts. Sie hatten keinen +Wald, kein Holz, keine Weide; vom gnädigen +Herrn aber kam Holz und Geld, es war +vorteilhaft. So verlebte Fedossja dort den +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +ganzen Winter. Im Frühjahr aber reiste der +gnädige Herr in die Stadt und verheiratete +sich dort. Da kehrte Fedossja wieder heim +zum Vater, und alle wußten es bereits; es +war auch schon zu sehen. Ihre Brüder machten +ihr Vorwürfe, daß sie so eine war, daß +ihr so etwas geschehen konnte. Wie die Raben +haben sie auf sie eingehackt, sie hielt es +nicht aus; zehn Tage vor Pokrow starb sie. +Sie war gerade zwanzig Jahre alt geworden, +– so jung noch. Und Wassilij, dem Vetter, +sind in der Butterwoche die Füße erfroren +... +</p> + +<p> +Während sie sich an Turij-Rog und Ssosna-Gora +erinnerte, konnte Akumowna ab +und zu einen Ausspruch tun, von so echt +Turij-Rogischer Art, daß man sich wundern +mußte, wie es ihr hier auf dem Burkowschen +Hof in den Kopf konnte. +</p> + +<p> +– Jetzt – konnte sie sagen – ist das Korn +schon reif, gelobt sei Gott! – sie bekreuzigte +sich. – Regen wäre jetzt nicht gut. +</p> + +<p> +Wera gewöhnte sich an Marakulin und hatte +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +keine Scheu mehr vor ihm. Auch er hatte +sich an sie gewöhnt, und es tat ihm wohl, +wenn sie sein Zimmer betrat. Voran schritt +dann Akumowna mit dem Samowar und +ihr folgte Wera mit der Spülschale. +</p> + +<p> +„Aus der Spülschale reichen die Teufel im +Jenseits den Teufeln und Sündern das +Abendmahl!“ Marakulin erinnerte sich einmal +an Akumownas Vision aus ihrem Passionsweg +und lächelte zum erstenmal seit +Werotschkas Abreise. +</p> + +<p> +Und als hätte sie seine Gedanken erraten, +erwiderte ihm Wera mit einem Lächeln. +Und noch lange sah er dieses halbkindliche, +halbmädchenhafte Lächeln vor sich. +</p> + +<p> +Wie leer erschien es ihm im Hause, als Wera, +die eine Stellung gefunden, aus Akumownas +Küche in die vierte Etage desselben Burkowschen +Hofes verzogen war, in den Flügel, +wie der nicht herrschaftliche an der belgischen +Fabrik belegene Teil des Hauses genannt +wurde. +</p> + +<p> +Akumowna begann jetzt öfters fortzubleiben. +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +Sie ging, um nach ihrer „Wundertätigen“, +nach ihrem Flämmchen, nach ihrer Wera zu +sehen. Sie lehrte sie gewiß Zimmer aufräumen, +Feuer aus Birkenholz anmachen und +dergleichen mehr. Marakulin blieb allein, es +schien ihm ganz öde. +</p> + +<p> +Ein Herr aus dem Flügel hatte folgende +Gewohnheit: sobald es Abend wurde, +steckte er seinen Kopf aus dem Fenster, das +Gesicht zu Marakulin gewandt und pfiff. +Daß der Herr kein Auge von ihm wandte +– Marakulin hatte sich überzeugt, daß +es ihm galt, – und daß das Pfeifen nicht +aufhörte, brachte ihn zur Raserei, und ob +er wollte oder nicht, er mußte den Vorhang +zuziehen und in der Schwüle sitzen +bleiben. +</p> + +<p> +Es war öde um ihn und die Wut machte +ihn fast ersticken. +</p> + +<p> +Am Morgen beim Zeitungslesen suchte er mit +einer Art Ungeduld alle Berichte über Morde, +Brande, Katastrophen, Ueberschwemmungen, +Wolkenbrüche und Erdbeben und +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +las sie mit großer Schadenfreude, indem er +sich einbildete, man könne den Menschen mit +Furcht besiegen, ihn erschüttern, sein Gehirn +und seine Seele umstülpen; dann würde vielleicht +dieses abendliche selbstzufriedene, freche +Pfeifen an seinem Ohr ein Ende nehmen. +</p> + +<p> +In Weras neuer Stellung ging aber nicht +alles glatt: es war doch wohl nicht leicht, +sie vor den Herumtreibern zu schützen; auch +mochte sie selbst schwer zu bewachen sein, +die Unverschämte. +</p> + +<p> +Wenn sie das Kartenlegen unterbrach und +von Wera anfing, sagte Akumowna jedesmal +unter Tränen: +</p> + +<p> +– Ich werde zum Kaiser gehen – die +Hände so, wie im Sterben, – und werde +alles erzählen. +</p> + +<p> +– Man wird Sie nicht zulassen. +</p> + +<p> +Nackt geh’ ich hin, splitternackt – die +Hände so, wie im Sterben. – Alles werde +ich erzählen. +</p> + +<p> +– Auch splitternackt wird man Sie nicht zulassen. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +Aber sie blieb dabei: sie glaubte, der Kaiser +würde sie in Schutz nehmen und die Kleine +nicht zugrunde gehen lassen. Beharrlich blieb +sie dabei, dann wurde sie auf einmal still und +gab nach. Und Marakulin hörte, wie sie ihren +Wahlspruch, ihr Sterbegebet flüsterte: +– die Sühne und den Lohn für alle Taten! +</p> + +<p> +– Man darf niemand beschuldigen. +</p> + +<p> +– Wer ist aber schuldig, Akumowna? +</p> + +<p> +– Ich bin ein unwissender Mensch, ich +weiß nichts – antwortete Akumowna und +lächelte und sah idiotisch zur Seite. +</p> + +<p> +Der Sommer dehnte sich endlos, quälend, +eintönig. +</p> + +<p> +Marakulin wartete auf die Feiertage: wie immer +sie waren, es waren doch Feiertage! +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Als erster kam Wassilij Alexandrowitsch, +der Clown zurück. Er trat zwar auch im Sommer +in Petersburg auf, wohnte aber in der +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +Sommerfrische in Schuwalowo und kam +in die Stadtwohnung nur ab und zu, um +nachzusehen. Auch die Sklavin Kusjmowna +war bei ihm in Schuwalowo. Nach Wassilij +Alexandrowitsch erschien nach absolvierter +Gastspielreise Sergej Alexandrowitsch und +brachte aus den warmen Ländern, oder aus +jenen Gegenden, wo man mit Ochsen fährt, +wie Akumowna sagte, hundert Gläschen mit +Honig mit; – er war eben ein wirtschaftlicher +Mensch. Bald nach Sergej Alexandrowitsch +kam auch Wera Nikolajewna zurück, mit eingemachten +nordischen Himbeeren aus ihrem +kleinen weißen verlassenen Städtchen mit den +fünfzehn weißen Kirchen, von ihrer Mutter +aus Kostrinsk. Nach Wera Nikolajewna +erschien Adonja Iwoilowna selbst. +</p> + +<p> +Alle waren zurückgekehrt, nur Werotschka +fehlte. Es kamen auch keine Nachrichten von +ihr. Und bereits im September wurde Werotschkas +Zimmer mit Hilfe eines grünen Zettels, +der beim Portier Nikanor ausgehängt +war, vermietet. +</p> + +<p> +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +Die neue Nachbarin Marakulins hieß Anna +Stepanowna Schianowa, nach ihrem +Manne Lestschowa genannt, und war eine +Lehrerin aus Purchowez. +</p> + +<p> +Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra, +und in Beziehung auf Nachtigallengesang +eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. +Es waren in Purchowez im Mädchengymnasium, +wo Anna Stepanowna unterrichtet +hatte, zwei Lehrer, zwei Berühmtheiten: +der Lehrer für Geschichte: Rakow, +und der für Literatur: Lestschow. Sie waren +Freunde und beide – nach ihrer eigenen Definition +– Menschen von Bestrebungen. Das +Schicksal Anna Stepanownas war mit dem +Schicksal Lestschows eng verbunden; Lestschow +aber und Rakow waren wie zwei +Hälften und nach der Uebereinstimmung von +Gemüt und Gesinnung – ein Ganzes. +Nur war Rakow etwas älter. Sie wohnten +beide bei derselben Wirtin, sie lebten eingeschränkt, +nüchtern, einsam. Ihre Wirtin +Pawlina Polikarpowna, obschon nicht mehr +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +sechzehnjährig, so doch munter und fest, hatte +in längst verflossenen Zeiten als Köchin beim +Gouvernementsrat Gerassimow gedient; und +Gerassimow hatte sie vor seinem Tode „in +allem eingeschränkt“, wie Pawlina Polikarpowna +sich auszudrücken pflegte, das +heißt: er hatte sie versorgt und ihr für ihren +musterhaften Dienst ein teures Lotterielos +geschenkt. Pawlina Polikarpowna kaufte sich +ein Häuschen und lebte vom Vermieten. +</p> + +<p> +Als Rakow von diesem Gerassimowschen +Lotterielos erfuhr, konnte er es als gewissenhafter +Historiker nicht unterlassen, dessen +Nummer in sein Notizbuch einzutragen und +verfolgte wachsam die Ziehungen in den +Zeitungen. Pawlina Polikarpowna behandelte +er respektvoll, streng und freundlich. +Und so vergingen die Jahre, still, einsam und +erwartungsvoll. +</p> + +<p> +Pawlina Polikarpowna war zwar nicht +mehr sechzehnjährig, doch hatte sie manchmal +ihre bestimmten Gedanken, und zuweilen +weinte sie, einfach so, ohne jeden Grund. Besonders +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +im Frühling, wenn die Sonne zu +brennen begann, die Hühner zu legen anfingen, +die Gärten ergrünten und die Nächte +warm, schwül und sehnsuchtsweckend waren, +wenn die Nachtigall schlug und selbst +Rakow auf der Gitarre wie auf einer Harfe +spielte und dazu wie eine Nachtigall sang: +„Auf den blauen Wogen des Ozeans, kaum +daß die Sterne am Himmel erglühen, treibt +ein einsames Schifflein“ – dann konnte kein +Herz es länger ertragen, und Pawlina Polikarpownas +Herz sank dahin. +</p> + +<p> +Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß +Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang +eine erste Stadt, eine Nachtigallstadt! +</p> + +<p> +Eines Morgens, als Rakow die „Purchowezschen +Gouvernementsnachrichten“ +durchflog, begann er plötzlich laut zu lachen, +so laut, wie ein Mensch nur vor Freude lachen +kann, wenn ihm zumute ist, als reiche die +eigne Kehle nicht aus. Und wie sollte er auch +nicht lachen? Das Gerassimowsche Los hatte +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +gewonnen, und zwar keine Kleinigkeit, sondern +die ganzen Zweimalhunderttausend! Er +besann sich aber rechtzeitig, steckte die Zeitung +in die Tasche, hustete absichtlich laut und +begab sich mit dem Geheimnis von Pawlinas +Glück ins Gymnasium, als wäre +nichts vorgefallen. +</p> + +<p> +Nachdem er mit Mühe seine Stunden gegeben +hatte, wurde Rakow vor Aufregung +noch am selben Abend krank, und Pawlina +Polikarpowna mußte die ganze Nacht den +Kranken pflegen. Am nächsten Morgen ging +es ihm auch nicht besser, und so die ganze +Woche. Eine Woche lang pflegte ihn Pawlina +Polikarpowna, und um Fastnacht hielten +sie Hochzeit. Sofort nach der Trauung, +als die Neuvermählten allein blieben, lautete +die erste indiskrete, aber durchaus berechtigte +Frage des jungen Ehemannes: „Wo ist das +Los?“ – „Was für ein Los?“ – „Was +für eins? Das Gerassimowsche!“ Das Gerassimowsche +Los aber war längst verkauft; +es war nicht mehr da. +</p> + +<p> +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +Um Fastnacht, fast am gleichen Tage, heiratete +auch Lestschow Anna Stepanowna Schianowa. +Die Schianows waren einst die reichsten +Leute in Purchowez, aber Anna Stepanownas +Vater hatte das ganze Vermögen +verspielt, und so mußte die Familie nach großer +Ueppigkeit in Armut weiterleben. Dann +starb der Vater, es starb auch die Mutter. +Anna Stepanowna war bereits mehr als +zwanzig Jahre alt, und obwohl in ihrem +Gesicht nichts Abstoßendes war, nichts, was +man häßlich oder entstellend nennen konnte, +im Gegenteil, – so gefiel sie dennoch niemand +besonders und wurde überhaupt nicht begehrt. +Sie gehörte nicht zu den Heiratskandidatinnen +von Purchowez, hielt sich auch +selbst nicht dafür, und hatte sich bereits damit +abgefunden, allein und ledig zu bleiben, +oder vielmehr, sie hatte sich nicht damit abgefunden, +– man kann sich damit nicht abfinden, +– sondern sie redete sich das eben ein. +Eines schönen Tages aber fiel ihr die Erbschaft +von einer Tante zu, von der sie nie etwas +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +gehört hatte, und zwar eine nicht geringe +Erbschaft: etwa Fünfzigtausend. Natürlich +wurde es im Gymnasium, an dem sie +unterrichtete, bald bekannt, – war sie doch +selbst die erste, die es erzählte, – und so erfuhr +es auch Lestschow. Sofort ging er ans Werk: +er begann, Anna Stepanownas Spuren zu +folgen, wurde mit einem Male sehr unglücklich, +beklagte sich, jammerte, erfand allerlei +Verfolgungen seiner Person, ersann sich Feinde; +auf einmal brachen auch sämtliche Krankheiten +bei ihm aus, und lauter unheilbare, so +daß er im Begriff war, Selbstmord zu begehen. +Und die verzweifelte Liebe sang aus +ihm wie eine Nachtigall, ja, er übertraf die +Nachtigall ... +</p> + +<p> +Purchowez ist eine uralte Stadt am Fluß +Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang +eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt. +So heiratete Lestschow Anna +Stepanowna, nahm ihr die Erbschaft +der Tante ab, die ganzen Fünfzigtausend +und wies ihr die Tür: „Ich brauche +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +dich nicht,“ sagte er, „ich brauche dein +Geld.“ +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna mußte man bedauern; +um Werotschka hatte man Angst, aber Anna +Stepanowna tat einem weh. Sie lächelte so, +daß es in die Seele hinein weh tat. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna wollte studieren. Warum? +Weil es ihr Maria Alexandrowna so geraten +hatte, an die sie glaubte wie an die +Iwerskaja Mutter Gottes<a class="fnote" href="#footnote-6" id="fnote-6">[6]</a>. Und sie wird +studieren, solange ihre Kräfte reichen, und +eines Tages wird sie vielleicht über der Physik +von Krajewitsch<a class="fnote" href="#footnote-7" id="fnote-7">[7]</a> die Seele aushauchen. +</p> + +<p> +Werotschka wollte eine große Schauspielerin +werden, berühmt in ganz Rußland, in ganz +Europa, in der ganzen Welt – und sie wollte +das, um sich an Anissim zu rächen: nur damit +Anissim Nikititsch Wakujew, dem alles gelingt +und dem man alles durchgehen läßt, nur +einen Augenblick lang es bedauern und bereuen +solle, daß er sie um andere, die ihn liebten +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +oder sich ihm verkauften, verlassen hatte. +Und so bahnte sie sich jetzt den Weg mit ihrem +sicheren, erprobten Mittel, und wird sich ihn +weiterbahnen, solange ihre Kräfte reichen. +</p> + +<p> +Was aber wollte Anna Stepanowna? Sie +war allein geblieben und ohne Mittel, aber +das war es nicht: sie hatte ja auch früher allein +und ohne Geld gelebt. Hier war es etwas +anderes, etwas Seelisches: sie hatte mit der +ganzen Seele geglaubt, daß man sie liebte +und hatte wieder geliebt. Was wollte sie +nun? Was konnte sie wollen! Das, was ein +Mensch will, dessen Seele beschmutzt, dessen +Seele vergewaltigt worden ist. +</p> + +<p> +Und während Marakulin Anna Stepanowna +näher betrachtete, überzeugte er sich immer +mehr, daß sie auf der Welt nichts zu tun +hatte. Und weil sie so lächelte, tat es ihm +weh bis in die Seele hinein. +</p> + +<p> +Es begann ein böser Herbst; es ging ihnen allen +schlecht. Nach dem Kirchenfest der Kreuzeserhöhung +geschah es, daß Wassilij Alexandrowitsch, +der Clown, als er im Zirkus auf +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +dem Trapez in der Luft sich schwang, herabstürzte +und verunglückte; er verletzte sich – +wie man auf dem Burkowschen Hof sagte – +die Wirbelsäule und den „Stamm der Beine“. +Es stand um ihn nach diesem Sturz aus +den Lüften so schlecht, daß er sogar einen Priester +holen ließ, um die heiligen Sakramente +zu empfangen. Der Arzt aber meinte, er würde +sechs Monate liegen und sich einer schweren +Operation unterziehen müssen. +</p> + +<p> +– Sie werden ihm von der Ferse ein Stück +abschneiden und das Fleisch öffnen – bedauerte +Akumowna, – sie werden den Knochen +mit einem Bohrer wegbohren, beide +Fersen abschneiden. Hätte er aber einen Aufguß +von Pferdemist getrunken, so wäre alles +fort, wie mit der Hand ... +</p> + +<p> +Marakulin hatte seit jenem Glückszufall im +Sommer keine Arbeit mehr gefunden. An allen +Orten und Anstalten, an die er sich wandte, +wurde höchstens seine Adresse notiert, und +bekanntlich hat man nichts mehr zu erwarten, +wenn die Adresse notiert wird. Um diese +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +Zeit fand gerade in Petersburg eine Hundezählung +statt. Eine Woche lang ging er auf +den Burkowschen und belgischen Höfen +herum, zählte die Hunde und lernte dabei +einen Studenten Lichowidow kennen, der, +so wie er, Hundezähler war. Der Student +Lichowidow, ebenfalls ein Mensch in den +letzten Zügen, verstand es jedoch schließlich, +sich noch irgendwelche Hundearbeiten zu verschaffen, +und auch für Marakulin fiel dabei +etwas ab. Es begann ihm schon etwas besser +zu gehen, da mußte Lichowidow ein kleines +Malheur passieren: er arbeitete damals +in irgendeinem Bureau und trat eines späten +Abends nach seinem Dienst auf die Straße, +als ihm sein Vorgesetzter, der Bureauchef +– gut angezogen, im Pelz, mit einem +kostbaren Kragen – entgegenkam. „Was +meinen Sie, Herr Lichowidow, was wäre +jetzt besser, Tee oder Kaffee zu trinken?“ Lichowidow +aber hatte seit dem Morgen nichts +gegessen, er war hungrig wie ein Hund, auch +hatte ihn gerade der Petersburger Wind +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +angeblasen, seine Zähne klapperten nur so. +Er sah den Chef an, als überlegte er, was +jetzt besser wäre, Tee oder Kaffee zu trinken +und haute ihm eine in die Fresse. Seitdem +war Lichowidow verschwunden, und Marakulins +Mühle stand still. +</p> + +<p> +Dem guten Jäger läuft das Wild in’s +Garn. Nach langem Suchen fand Anna +Stepanowna eine Anstellung in einem Privatgymnasium. +Es war ein Mustergymnasium +und seine Vorsteherin Lednjowa war +eine Frau von Bestrebungen. Sie verstand +die große Kunst, zu wirtschaften, ohne einen +Heller aus eigener Tasche auszugeben, und sie +tat es sehr einfach und gleichzeitig ziemlich +verzwickt: sie verschleierte ihre Manipulationen +mit einem echten Petersburger Nebel. +Man sagte, sie bezahle die Lehrer aus geheimnisvollen +Equipierungsgeldern, die ihr gar +nicht gehörten, und daß die Lehrer im Lednjowschen +Gymnasium jedes Jahr wechselten. +Rakow und Lestschow waren, was Bestrebungen +betrifft, im Vergleich mit der Lednjowa +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +die reinen Waisenknaben, so wie der +schönste Gardesoldat in Beziehung auf Köchinnen +gegen Kasimir den Monteur und +Stanislaus den Kontoristen gar nicht in Betracht +kommt. +</p> + +<p> +Zwei Monate bekam Anna Stepanowna +keinen Gehalt: die Zahlung wurde unter allerlei +Vorwänden hinausgeschoben. Erst im +dritten Monat wurde er ihr ausgezahlt, aber +selbstverständlich nicht als gewöhnlicher Gehalt, +sondern als eine Anleihe aus eben jenen +geheimnisvollen Equipierungsgeldern. Als +sie das Geld bekam, lud sie Marakulin und +Wera Nikolajewna zum Besuch des Marijinschen +Theaters ein, zu einer Opernvorstellung. +Die Billetts kosteten nicht wenig, dafür +waren es gute Plätze; es war alles gut zu +sehen und zu hören. +</p> + +<p> +An diesem Abend begegnete Marakulin im +Theater Werotschka. Wie oft hatte er im +Sommer und im Herbst an sie gedacht und +im Meldeamt nach ihrer Adresse geforscht – +immer wieder aber hieß es: verreist. Jetzt +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +traf er sie. Im ersten Augenblick erschrak er, +dann verwandelte sich sein Schreck in Unruhe: +Werotschka war nicht allein; mit Werotschka +ging Glotow, der Kassierer, Alexander +Iwanowitsch, Marakulins ehemaliger +Freund. +</p> + +<p> +Werotschka hatte sich gar nicht verändert. +Verändern sich denn die Menschen überhaupt? +Werotschka erkannte ihn gleich, Glotow +aber nicht, oder er tat so, absichtlich, +aus wohlerwogenen und unwiderleglichen +Gründen. +</p> + +<p> +– Das ist aber eine Ueberraschung, denn +wir haben dich längst begraben, weißt du, +Petruscha! – sagte er. +</p> + +<p> +Und als Werotschka erfuhr, daß Wera Nikolajewna +ebenfalls im Theater sei, ging sie sie +aufsuchen und kam nicht wieder. +</p> + +<p> +Glotow führte Marakulin ins Theaterrestaurant. +</p> + +<p> +– Woher kennst du sie? – fragte Glotow +seinen Freund. +</p> + +<p> +– Wir haben einen Winter lang bei derselben +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +Wirtin gewohnt – erwiderte Marakulin. +</p> + +<p> +– Du kennst sie also gut? +</p> + +<p> +– Wie man es nimmt. +</p> + +<p> +Und plötzlich verwandelte die Wut ihre Gesichter. +Sie verstanden einander nur zu gut. +Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Aber +es war peinlich, so auseinanderzugehen, und +auch das Schweigen war peinlich. +</p> + +<p> +Glotow schlug vor, etwas zu trinken. Marakulin +dankte. Und so traten sie aus dem +Restaurant, gingen Schulter an Schulter +nebeneinander und suchten Werotschka. Marakulin +schwieg. Glotow aber wiederholte +mit einer Art Vergnügen und als hätte er +es einstudiert, immer dasselbe: +</p> + +<p> +– Das ist aber eine Ueberraschung! Denn +wir haben dich ja längst begraben, Petruscha, +weißt du! +</p> + +<p> +Marakulin traf Werotschka auch in der +nächsten Pause nicht: sie hatte Wera Nikolajewna +versprochen, sie noch zu treffen und +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +kam nicht. Er sah sie an dem Abend nicht +wieder. +</p> + +<p> +Nach dem Theater ging Marakulin mit +Wera Nikolajewna und mit Anna Stepanowna +in ein Café auf dem Newsky. +</p> + +<p> +Die Begegnung mit Werotschka und mit +Glotow, und daß er sie zusammen getroffen, +das Theater, das Café, alles wühlte Marakulin +auf, und was dort im Theaterrestaurant +verborgen in ihm brodelte, als er neben +Glotow stand, sammelte sich jetzt zu brennender +Verzweiflung. Und gemartert fühlte er: +wenn jetzt dieser Glotow, sein Bruder oder +sein Verwandter, einer, der Werotschka kennt +und den auch Werotschka gut kennt, aufstehen +und ihm, Marakulin, eine herunterhauen +würde, wie der Student Lichowidow dem +Bureauchef, so würde er, Marakulin, ihm +zum Dank dafür die Füße küssen und ihm noch +seinen Nacken hinhalten, daß er nach Herzenslust +dreinhaue, oder ihm die Zähne einschlage, +daß die Kiefer knacken. Und in seinem grausamen +Martyrium das ganze Brennen des freiwillig +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +auf sich genommenen Schmerzes fühlend, +erinnerte er sich an seine geliebte, verhaßte, +unglückselige Generalin, und es verging +ihm die Lust an seinem Leid – er wollte +keine Ohrfeigen, keine Faustschläge, keine Fußtritte, +weder von diesem gestutzten Schnurrbart, +der so selbstgefällig mit diesem andern +widerlichen Glattgesicht plauderte, noch von +jenem roten, nach oben gekräuselten Schnurrbart, +der auch vielleicht Werotschka kennt +und den Werotschka sehr gut kennt. Nein, +in seiner Verzweiflung dachte er jetzt, wie gut +es wäre, die Generalin mit kochendem Wasser +zu übergießen, sie ein wenig nur zu verbrühen. +Mit welcher Wut würde sie sich auf alle stürzen +und beißen, – alle zerbeißen! +</p> + +<p> +– Warum heißt Werotschka nicht mehr +Wechorjowa, sondern Rogowa? +</p> + +<p> +– Weil sie keine Generalin ist – antwortete +Marakulin. +</p> + +<p> +– Was für eine Generalin? +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna verstand nichts und sah +bald ihn, bald Anna Stepanowna an, welche +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +lächelte und deren Lächeln bis in die Seele +hinein weh tat. +</p> + +<p> +Marakulin hätte jetzt aufstehen und der einen +die Augen ausstechen mögen – diese verlorenen +Augen des vagabundierenden heiligen +Rußland, des verschüchterten, freiwillig bettelnden, +von Armut, wie von einem geweihten +Gürtel umgürteten, alles ertragenden, demütigen, +geduldigen Rußland, das sich nicht einmal +einen Sarg zusammenzuzimmern vermag, +höchstens einen Scheiterhaufen zusammenbringen +und sich darauf verbrennen! Die +andre aber hätte er ersticken mögen, damit sie +aufhörte zu lächeln, damit es dieses Lächeln +nicht mehr gäbe, aus dem mit frecher Schamlosigkeit +eine beschmutzte, vergewaltigte Seele +jedem in die Augen sticht: sie braucht nicht +zu leben, sie hat hier nichts zu tun, es ist kein +Platz für sie auf der Erde! +</p> + +<p> +Oder war für ihn selbst kein Platz mehr auf +der Erde? +</p> + +<p> +– Und was meinen Sie, Wera Nikolajewna? +– fragte er. +</p> + +<p> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +– Werotschka gab mir ihre Adresse und bat +mich, nicht nach Wechorjowa, sondern nach +Rogowa zu fragen – antwortete Wera Nikolajewna. +</p> + +<p> +Marakulin schloß die Augen. Er empfand +plötzlich eine äußerste Müdigkeit und Erschöpfung, +eine so vollkommene Gleichgültigkeit, +daß er sich nicht gerührt und nicht +einmal sich umgesehen haben würde, wenn +das Café in Brand geraten oder die Decke +herabgestürzt wäre. +</p> + +<p> +Als Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna +bemerkten, wie verstimmt er war, +wollten sie ihn nicht beunruhigen, und um +seiner Seele nicht lästig zu sein, unterhielten +sie sich leise miteinander. +</p> + +<p> +Wera Nikolajewna erzählte von einer Krankenschwester: +</p> + +<p> +– Man brachte ins Krankenhaus ein Kindchen: +es war verbrüht. Um die Operation +zu machen, brauchte man Haut, und wo +sollte man sie hernehmen? Vom Kindchen +selbst? – das hätte es nicht ausgehalten, es +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +war zu schwach. So bot sich die Schwester +dazu an, und man schnitt ihr so viel Haut +aus, als man brauchte. +</p> + +<p> +– Und wie ist es verlaufen? +</p> + +<p> +– Gott sei Dank, beide leben. +</p> + +<p> +Anna Stepanowna bekreuzigte sich lächelnd: +</p> + +<p> +– Gott sei Dank! +</p> + +<p> +Marakulin erhob sich, und sie gingen nach +der Fontanka zurück. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Werotschka bewohnte eine kleine möblierte +Wohnung an der Mojka, die sie nur mit +ihrer Wirtin teilte. Die Zimmer waren mit +allerlei Sofachen und Tischchen vollgepfropft +und mit Sächelchen angefüllt, wie +sie wohl auch das Ehepaar Oschurkow in +seinen zehn Zimmern haben mochte. Die kanariengelbe +Farbe war in der Wohnung vorherrschend: +gelbe Kissen, gelbe Wandschirme, +– alles hier war gelb. +</p> + +<p> +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +Marakulin, der Werotschka endlich gefunden +hatte, begriff schon im Vorzimmer, daß +Werotschka hier nicht aus eigener Wahl +wohnte, sondern daß sie in diese möblierte +gelbe Wohnung von jemand einquartiert +worden war. +</p> + +<p> +Er fand sie zu Hause und freute sich sehr +über sein Glück: sie war allein, sie kamen +einfach und leicht ins Gespräch. Wie immer, +redete sie erst äußerst herausfordernd, +und ihre Erzählung war von solcher Art, +daß man aus ihr nicht klug werden konnte, +ob es echte Wahrheit war oder bloß so eine +Wahrheit. Sie habe ihren Namen geändert, +weil sie jetzt beim Theater sei; sie sei bei +einer kleinen Bühne engagiert, in einem Petersburger +Café chantant. +</p> + +<p> +– Ich tanze dort – erzählte sie – kommen +Sie einmal hin, um mich zu sehen. +</p> + +<p> +Doch abgesehen vom Theater und vom Tanzen +stand es mit ihr so, daß Anissim Wakujew +ihr kein Geld mehr schickte. Statt seiner war +jetzt ein vornehmer alter Herr ihr Gönner. +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +Er hatte ihr diese Wohnung gemietet und +seinetwegen hatte sie den Familiennamen geändert, +– oder richtiger: sie mußte einen andern +Familiennamen annehmen. Warjaginskij +war eine einflußreiche Persönlichkeit und +verkehrte bei Hofe. +</p> + +<p> +– Er ist ein ganz altes Kerlchen. Mit dem +linken Auge sieht er immer eine Maus; wenn +er es zukneift, dann verschwindet die Maus, +macht er es aber auf, dann ist die Maus wieder +da, ein graues, ganz kleines Mäuschen. +</p> + +<p> +Anissim schicke ihr längst kein Geld mehr, sie +aber brauche Geld. Sie müsse es soweit bringen, +daß der alte Warjaginskij auf ihren +Namen ein Kapital deponiere, dann ... +</p> + +<p> +– Dann werde ich zeigen, wer ich bin – +der ganzen Welt, – dann sollen sie sehen! +</p> + +<p> +Ja, sie werde sich schon erweisen, ihr Name +werde in ganz Rußland berühmt sein, in +ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie habe +ihren Weg durch den Scheiterhaufen gewählt; +denn auf dem gewöhnlichen Wege +gelange man nirgends hin; man komme auf +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +andre Weise nicht vorwärts; ohne Geld lasse +man einen nirgends hin; man werde zerrieben, +und wäre man der Teufel selbst! Man +müsse lügen können und Geld haben – +Lügen und Geld haben, das sei notwendig. +Sie hätte ja auch versucht, auf die gewöhnliche +Weise durchzukommen – sie kenne es +gut! Sie könne ja schließlich nicht Waschfrau +werden – oder sollte sie in der Tat +Waschfrau werden? Sie sei durchaus nicht +damit einverstanden, im Kusnetschnygäßchen +zusammen mit dem Chiromanten oder +in den Gorbatschowschen „Winkeln“ zu +wohnen. Wenn der Alte aber erst ein Kapital +auf ihren Namen deponiert und sie viel +Geld haben würde, dann ... ja dann ... +</p> + +<p> +– Für Geld kann man alles kaufen! – schrie +Werotschka mit ihrem unheimlichen Schrei. +Es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden, +sondern eine Herausforderung, ein +Schrei nach dem Recht, die ganzen himmlischen +Heerscharen kurz und klein zu schlagen, +wäre nur eine Leiter bei der Hand – wie +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +es in einer alten Weise heißt – oder die Erde +aus den Angeln zu heben, bekäme man nur +einen Griff zu fassen! – Es war eine Herausforderung, +ein Schrei der Verzweiflung auf +ihrem Weg durch den Scheiterhaufen. +</p> + +<p> +– Ich bin eine Dirne und bleibe eine Dirne. +Aber im nächsten Jahre werde ich mich zeigen. +Sie werden mich dann sehen. Jawohl, +auch Wera Nikolajewna würde kein Geld +ausschlagen, und auch diese Ihre Andre, mit +dem kläglichen Lächeln, würde es annehmen! +Es gibt ihnen bloß niemand etwas, mir aber +gibt jeder, ich verstehe zu lügen und werde +mein Ziel erreichen! +</p> + +<p> +Sie begann hastig ihre Toiletten zu zeigen, +riß alle Schubfächer auf und öffnete den +Kleiderschrank; Kleider und Wäschestücke +flogen haufenweise zu Marakulin hin, und +ein bunter Berg von Seide und Spitzen +türmte sich zwischen den gelben Sofas, wie +der schwarze Berg auf dem belgischen +Hof. +</p> + +<p> +– Und alles das ist mein – schrie sie, +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +– sehen Sie, es sind Geschenke, alles gehört +mir! +</p> + +<p> +Marakulin erhob sich, er wollte sie zurückhalten, +aber es war unmöglich; er setzte sich +wieder auf das gelbe Sofa. Werotschka aber +war in Raserei geraten, sie zerknüllte und zerfetzte +die Sachen und warf sie um sich her. Und +als die Kommoden entleert und alle Schubfächer +von unterst zu oberst gekehrt waren, +begann sie die Nippes abzuräumen, zerschlug +alles und warf es auf einen Haufen. +</p> + +<p> +– Und alles das gehört mir, lauter Geschenke! +– schrie sie mit dem letzten Aufwand +ihrer Stimme, fast schon ohne Stimme. Einen +Augenblick stieg in Marakulin der heftige +Wunsch auf, ein Streichholz anzuzünden +und alles in Brand zu stecken, alles zu +vernichten, den ganzen Haufen, den Berg, +die gelben Kanapees, gelben Wandschirme, +gelben Lampenschirme, gelben Kissen – alle +diese Geschenke! +</p> + +<p> +Werotschka riß von der Etagere eine kleine +bronzene Schildkröte herab und reichte sie +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +ihm, offenbar in der Absicht, sie ihm zu +schenken. +</p> + +<p> +– Man kann nur schenk–, man kann nur +schenk–, man kann nur schenk– – stieß +Marakulin hervor, als wollte er mit den +Worten dreinschlagen, und sah Werotschka +fest an, aber der Atem verging ihm, bevor er +das Wort zu Ende brachte. Seine Schultern +zitterten plötzlich. +</p> + +<p> +Ja, sie wisse es selbst. Hier sei nichts, was +ihr gehöre. Und fremde Sachen dürfe man +nicht verschenken. Geschenke verschenke man +zwar nicht, doch dürfte man es tun; hier aber +gehöre ihr nichts, es seien nicht Geschenke, +es seien lauter fremde Sachen. Fremde Sachen +aber dürfe man nicht verschenken. Eigentümer +sei hier der alte Warjaginskij, der +Mäuse sieht, und Glotow der Kassierer, und +sonst jeder, der Geld hat und Geld ausgeben +kann – und je mehr einer Geld gebe, desto +wichtiger sei er. Alles an ihr sei beschmutzt, +alles abgegriffen, sie könne Wera Nikolajewna +nicht einmal einen Kuß geben, sie habe +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +nichts mehr zu geben, alles sei eingesetzt, alles +bespuckt. +</p> + +<p> +– Und Sie, Petruscha, Sie möchten wohl +auch? – fragte sie plötzlich voll Bosheit, +– ja, wollen Sie? – nicht? +</p> + +<p> +Marakulin erhob sich. +</p> + +<p> +– Da – Werotschka zeigte ihm die Zunge +– nichts kriegen Sie, Sie Bettler! Bettler +empfange ich nicht, verstehen Sie! – und +ihre unverschämten Augen blitzten auf wie +zwei scharfe Klingen und ihr aufgelöstes +Haar brannte wie Feuer. +</p> + +<p> +Ohne die Straßen zu unterscheiden ging +Marakulin wohin ihn seine Füße trugen. +Es war im Dezember und Tauwetter. Ein +warmer Wind wehte, die Laternen sahen +aus wie vom Himmel herabgestiegene Sterne +und Monde und schienen im Nebel aufgehängt. +Beim Hinaustreten aus der Podjatscheskaja +auf die Ssadowaja blieb er plötzlich +stehen: vor dem Tor des Spaßeschen Polizeireviers, +da, wo die Glocke hängt, stand ein +Feuerwehrmann in einem riesigen Messinghelm, +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +ein wirklicher Feuerwehrmann, aber +überlebensgroß, und sein Messinghelm reichte +über die Torwölbung hinauf. +</p> + +<p> +Marakulin begann vor Entsetzen zu laufen. +Etwas stieg ihm die Kehle hinauf und preßte +sie zusammen. Und erst als er zu Hause war, +allein in seinem Zimmer im Burkowschen +Hof, fühlte er, daß er weinte, so wie er nur +einmal im Leben geweint hatte, als seine Kinderfrau +ihn verlassen. +</p> + +<p> +Nachts träumte er, er läge auf dem Burkowschen +Hof. Der Hof aber war größer +als in Wirklichkeit, und obwohl er an den +Seiten von den Häusern zusammengedrückt +war, so lagen doch die Stände und Kästen +der fliegenden Händler viel weiter als sonst, +und die Wagenremise, die Müllgrube und +der Abguß waren viel entfernter. Es waren +unter den Fenstern viel mehr Ziegelsteine, +Schutt und Kehricht angehäuft. Er lag +nicht allein auf dem Hof, neben ihm lagen +die Mieter aus dem Vorderhaus und aus +dem Hinterhaus, aus den Seitenflügeln, aus +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +den Gorbatschowschen „Winkeln“. Und +obwohl er viele von ihnen nicht kannte, so +erriet er doch, wer sie waren, und irrte sich +bestimmt nicht darin, daß dieser Herr und +diese Dame Herr und Frau Oschurkow waren, +die zehn Zimmer und allerlei Nippes, +die die Wohnung ganz ausfüllten, und ein +Aquarium mit Goldfischchen hatten. Und +dieser da, der Bewegliche im Zylinder, war +der Rechtsanwalt Amsterdamskij, ein lustiger +Kerl, – er verstand es, Prozesse gut zu +führen; die Portiers im Senat warteten auf +ihn, wie auf das Osterfest. Und Burkow +selbst, der frühere Gouverneur, der Selbstvertilger, +lag da, aber man sah nur seine +Uniform. Neben der Uniform lag der älteste +Hausmeister Michail Pawlowitsch mit seiner +Gemahlin, der gottesfürchtigen Antonina +Ignatjewa, und der Händler Gorbatschow +mit einem kleinen Mädchen – mit +seiner Tochter, der er einst in der Rattenkammer +die Fingerchen zerbrochen, und Wera +mit Akumowna, Stanislaus der Kontorist +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +und Kasimir der Monteur, Adonja Iwoilowna +und die Artisten Damaskin, Sergej +Alexandrowitsch und Wassilij Alexandrowitsch, +Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna, +die Hebamme Lebedjowa in ihren +Pelz eingewickelt, den man ihr um Weihnachten +gestohlen hatte, und der Portier Nikanor; +auch lagen hier die Studenten, welche +nachts Totenmessen sangen, in neuen studentischen +Uniformen und mit ihrem Messinghahn, +dann alle sieben Hausmeister und der +Paßaufseher Jerkin – die Hausmeister mit +Holz und Jerkin mit Krankenhausmarken, jede +Marke ein Rubel, Gesicht und Hände ganz +mit Marken beklebt. Kleine Kinder lagen in +Haufen, der Perser – der Masseur aus der +Badeanstalt und jenes kleine Mädchen, welches +Murka damals Milch gebracht hatte, +mit der Scherbe; es lagen da alle Schuster, +Bäcker, Bader, Friseure, Schneiderinnen, +Weißnäherinnen, eine Krankenschwester aus +dem Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure, +Maschinisten, Kürschner, Schirm- +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +und Bürstenmacher, Kommis, Wasserleitungsmonteure, +Setzer und allerlei Mechaniker, +Techniker und elektrische Meister mitsamt +ihren Familien und ihrem Gerümpel, +mit Gläsern, Flaschen und Schwaben, und +allerlei Fräuleins von der Gorochowaja +und vom Sagorodny, kleine Nähmädchen, +Mädchen aus den Teestuben und elegante +junge Leute aus der Badeanstalt, die die +Petersburger Damen auf Wunsch bedienen, +die alte Frau, welche Sonnenblumensamen +und sonst allerlei Kram feilbietet, stellenlose +Köchinnen, Maler und Schreiner, fliegende +Händler mit Datteln und Zuckerwerk, das +nach Mistpilzen riecht, – mit einem Wort: +der ganze Burkowsche Hof, ganz Petersburg. +Und nachdem Marakulin alle diese Burkowschen +Gestalten feststellte, erblickte er auch +noch andre: seine Mutter, seinen Vater, seine +Schwestern, den alten Gwosdjow, den +Buchhalter Awerjanow, Tschekurow, Lisaweta +Iwanowna und Maria Alexandrowna, +Rakow mit dem Lotterielos von Zweihunderttausend, +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +Lestschow, Pawlina Polikarpowna +und alle Idioten, Geistesarmen, Eremiten +und heiligen Brüder, allerhand Belgier +und Deutsche, die Deutschen um den Doktor +Wittenstaube zusammengedrängt, der alle +Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt, – +überhaupt das ganze vagabundierende Rußland. +</p> + +<p> +Da lagen sie alle auf dem Burkowschen Hof, +wie auf einem Totenfeld, nur war es nicht +trocknes Gebein, sondern es waren lebendige +Menschen, und in jedem lebte und schlug ein +Herz. Und Tiere lagen da zusammen mit den +Menschen: der schöne rothaarige Hund des +Gouverneurs, Revisor, an der lästigen Stahlkette +hob zuweilen seine kluge Schnauze, und +Murka lag auch daneben, von einem rauchfarbenen +Kater belegt. Neben Marakulin +aber lag die Generalin Cholmogorowa, die +Laus, und die elektrischen Lampen brannten +wie vom Himmel herabgestiegene Sterne +und Monde tief im Nebel über dem Burkowschen +Hof. +</p> + +<p> +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist +übervoll, die Strafe ist nah! – sang Gorbatschow +im Halbschlaf, die Worte durch +die mit Pferdehaaren bewachsene Nase dehnend. +</p> + +<p> +Da klirrte etwas wie ein Säbel, und aus einem +Schrank trat ein Feuerwehrmann, überlebensgroß, +in einem riesigen messingnen +Helm, und begann zu schreiten, mit den Stiefeln +polternd. Und rasch über die Maler, +Schlosser und fliegende Händler hinwegschreitend, +nahte er Marakulin und blieb vor +ihm stehen. +</p> + +<p> +Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann +mit einem roten Gesicht. +</p> + +<p> +Da fühlte Marakulin, wie es ihm so schwer +wurde, daß er weder einen Fuß noch eine +Hand rühren konnte, und er wußte, daß er +nicht mehr lange leben werde und daß ihm +nur noch die Freiheit zu reden übriggeblieben +war. Er fühlte auch, daß es Allen – dem +ganzen Totenfeld – ebenso schwer war; sie +konnten weder einen Fuß noch eine Hand +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +rühren und hatten nur noch die Freiheit zu +reden; und während er seine letzten Augenblicke +nahen fühlte, hörte er die Automobile +auf der Fontanka tuten. +</p> + +<p> +Ueber ihm aber stand unbeweglich der +Feuerwehrmann. Es war ein ganz gewöhnlicher +Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht. +</p> + +<p> +Erst wollte Marakulin es wagen, gleich jenem +Starez Kabakow, der durch Gebete +die Stimme des Himmels befragte, den +Feuerwehrmann für Alle, für die ganze Welt +auszufragen, aber er hatte nicht den Mut, +wie Kabakow für Alle, für die ganze Welt, +für das ganze Totenfeld zu fragen, sondern +er fragte nur für sich. +</p> + +<p> +– Wird es mir gut ergehen? +</p> + +<p> +– Warte – sagte der Feuerwehrmann. +</p> + +<p> +– Gut? – fragte Marakulin nochmals +mit stockendem Atem, und hörte dabei, +wie auf der Fontanka die Automobile tuteten. +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +Und der Feuerwehrmann antwortete ihm, +jedoch sehr kleinlaut, kaum daß er das Wort +zu Ende sprach: +</p> + +<p> +– G–u–t. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-6"> +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +Fünftes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">V</span><span class="postfirstchar">or</span> Weihnachten zerbrach Marakulin +sein Kreuz. +</p> + +<p> +Anna Stepanowna nahm es mit, um es reparieren +zu lassen, ging aber aus dem Gymnasium +erst auf den Gostinij-Markt. Dort +wurde ihr das Portemonnaie gestohlen und +mit ihm auch Marakulins Kreuz, sein kleines +goldenes Taufkreuz. +</p> + +<p> +In den Weihnachtstagen wahrsagte Akumowna +wieder aus den Karten, und Marakulin +schien es, daß die Karten jetzt ganz erbost +seien und ihn mit ihrem schonungslosen +„reinen Herzen“ verspotteten. Sie +orakelten: ein fröhlicher Weg; ein wohlgeborener +einflußreicher Herr; viel Geld; wenn +Sie heute keinen Brief bekommen, so bekommen +Sie ihn morgen; er trinkt ein wenig, – +und in den Ecken Gras und Tannen. +</p> + +<p> +Aber die Karten logen diesmal nicht. Sei +es, daß Akumowna es mit ihrem Wahrsagen +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +heraufbeschworen hatte, oder, daß +es ihm sonst bestimmt war – Marakulin +mußte in der Tat bald nach dem Tag der hl. +Tatjana und ganz unerwartet nach Moskau +verreisen. +</p> + +<p> +Marakulin war ein Moskauer. In Moskau +geboren und aufgewachsen, war er auch dort +zur Schule gegangen. Nur die fünf Jahre +vor seinem Petersburger Aufenthalt hatte er +in der Provinz verlebt und in Geschäften +auch solche Städte wie Kostrinsk und Purchowez +besucht. Er hatte in Moskau in einer +Privatrealschule in der Handelsabteilung +studiert. Kaum daß er in die Schule eintrat, +starb seine Mutter, und bevor er die Schule +verließ, verlor er den Vater. Die letzten +Schuljahre waren sehr schwierig, er mußte +selbst für sich sorgen. Er hatte zwei Schwestern, +beide älter als er und beide verheiratet. +Als er noch in Moskau lebte, besuchte er die +Schwestern, erst oft, dann seltener, endlich +ganz selten. Als er klein war hatten sie ihn +sehr gern gehabt und ihn verwöhnt. Er wußte +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +es noch genau, sie aber hatten es vergessen. +Als er in der Provinz wohnte, schrieb er den +Schwestern im Anfang oft, dann seltener, +dann ganz selten und nur noch Gratulationsbriefe, +dann hörte er überhaupt auf zu schreiben. +Sie waren es, die zuerst den Briefwechsel +abbrachen. Und seit er in Petersburg +lebte, hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, +daß er in Moskau niemand hatte. Nur auf +<a id="corr-9"></a>dem Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich +zwei Gräber, zwei Kreuze: das Kreuz des +Vaters und das Kreuz der Mutter. +</p> + +<p> +Sein Vater war der älteste Buchführer bei +Plotnikow gewesen. Plotnikows Fabrik befand +sich auf der Taganka, das Engrosgeschäft +auf der Iljinka. Der Vater war ein +Mann der Arbeit, der sich mit Energie seinen +Weg bahnte. Seine Mutter war anders; sie +war ein Mensch von besonderer Art. +</p> + +<p> +Jewgenja Alexandrowna – so hieß sie – +war aufrichtig, einfach und herzlich. Ihre +Aufrichtigkeit kannten alle; ihr Vater kannte +sie und alle, die im Hause verkehrten kannten +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +sie. Man klatschte in ihrer Gegenwart nicht +über Bekannte, man schärfte nicht unnütz die +Zungen – man sagte nichts, was man den +andern nicht ins Gesicht hätte sagen können. +Die Gepflogenheit, zwei Meinungen über +jemand oder über etwas zu haben: eine +Meinung sozusagen für’s Haus, welche nur +im engen Familienkreis ausgesprochen wird, +und eine andere für die Straße, welche vor +Fremden geäußert wird, wenn es nützlich erscheint, +– diese üblichen Formen des Umgangs +waren ihr fremd. Es fehlte ihr der +praktische Sinn. Daraus konnte oft ein kleiner +Skandal, zumindest eine Verlegenheit +entstehen, und ihr Vater mußte sie häufig +davor warnen. Dieser praktische Sinn, der +zwei Meinungen kennt, dieser einfältige und +oft niederträchtige Selbstschutz ist keine +Weisheit. In der echten Weisheit, die nicht +nur zwei, sondern zwanzigmal zwei Meinungen +kennt, ist Wissen und Schonung. Diese +höhere Weisheit konnte sie natürlich noch +nicht haben, aber sie besaß jene, die aus dem +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +Instinkt stammt und die das Herz begreift. +Es fehlte ihr dagegen völlig an jener Schlampigkeit +des Herzens, an der Gewöhnlichkeit +der Seele, die wie grobe Geradlinigkeit aussieht. +Alles berührte und quälte sie; sie hatte +keine Gleichgültigkeit in sich, im Gegenteil: +ungewöhnlich barmherzig und mitfühlend, +war sie bereit, jedem zu helfen. Kaum aus +der Schule, verliebte sie sich in einen Studenten, +in den Hauslehrer ihres Bruders, und +wie zu Gott sah sie zu ihrem Studenten auf. +Der Student aber – sagte nichts, und als +ein ernsthafter Student, der er war, lächelte +er nur, lächelte und dankte. Jenjas Vater +– Marakulins Großvater – war Arzt, und +als Fabrikarzt bei Plotnikow angestellt, nahm +er das junge Mädchen oft in die Fabrik mit. +Bei Plotnikow war aber auch ein junger +Techniker namens Ziganow. Dieser machte +sich mit den Fabrikarbeitern zu schaffen, veranstaltete +Vorlesungen und Theatervorstellungen +für sie, und soll auch, wie die Wissenden +behaupteten, einen Streik angezettelt +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +haben. Die Fabrikarbeiter liebten Ziganow +und gehorchten ihm. Jenja, der das Leben +in der Fabrik, das sie allmählich kennen lernte, +die Seele verwundete, bot Ziganow ihre Mithilfe +an. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Techniker +und arbeitete mit, so weit ihre Kräfte +reichten. Und wenn eine Sache gelang, – +mit welcher Freude erzählte sie von ihrem +Erfolg dem Hauslehrer ihres Bruders, ihrem +Studenten, zu dem sie wie zu Gott aufsah! +Der Student aber – sagte nichts, und als +ein ernsthafter Student, der er war, lächelte +er nur, lächelte und dankte. So traf es sich +auch einmal, daß Jenja bei Ziganow in der +Wohnung war. Sie half ihm Lektüre für +die Fabrikarbeiter zusammenstellen; es waren +Broschüren. Sie war sehr eifrig dabei, sie +brannte darauf, daß die Broschüren bald gelesen +werden, denn sie glaubte, daß in ihnen +die Wahrheit stand und ein Ausweg aus dem +erbärmlichen Leben, das ihr die Seele verwundete. +Sie brannte vor Eifer – es war +ja das erstemal. Ziganow arbeitete am selben +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +Tisch mit ihr und wich nicht von ihrer Seite; +auch er wollte die Arbeit möglichst rasch erledigen, +denn die Sache war gefährlich! Als +dann alles fertig war, die Broschüren geordnet, +ausgesucht und verteilt, und sie, befriedigt, +freudig erregt und davon träumend, wie +sie alles dem Studenten, ihrem Abgott erzählen +würde – (er hatte wohl jetzt die Lektion +mit ihrem Bruder beendigt, saß vielleicht +mit ihrem Vater im Eßzimmer beim Tee und +spielte mit ihm Schach) – gerade im Begriff +war, nach Hause zu gehen, – da fiel Ziganow +über sie her und warf sie zu Boden +... +</p> + +<p> +An diesem Abend, als sie nach Hause zurückkehrte +und den Studenten, wie sie erwartet +hatte, im Eßzimmer beim Tee mit ihrem Vater +Schach spielend fand, – sagte sie nichts; +weder dem Vater, noch dem Studenten. +Sie verriet nicht mit der leisesten Andeutung, +was eben zwischen ihr und Ziganow vorgefallen +war, sie verriet mit keiner Silbe das +Entsetzen, das sie erfüllte. +</p> + +<p> +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +Entsetzen und Scham besiegten all ihre +Wahrhaftigkeit und zwangen sie, das +Schreckliche zu verheimlichen. Sie schwieg, +und obwohl sie, die sich nicht verstellen +konnte, sich so gab, wie sie war, bemerkte +dennoch niemand etwas, nur dem Vater fiel +eine Trauer in ihrem Gesicht auf, die früher +nicht in ihm war. Erst viele Jahre später sah +es auch manch andrer, sprach aber nicht +darüber. Denn diejenigen, die sie oft sahen, +mochten sie dann vielleicht zum erstenmal +aufmerksam angesehen haben und konnten +deshalb nicht feststellen, ob diese Trauer in +ihrem Gesicht schon immer dagewesen und +von ihnen nur nicht bemerkt worden war, +oder ob tatsächlich eine Veränderung in ihm +stattgefunden hatte. +</p> + +<p> +Wohl war diese Trauer schon immer in ihr, +seit ihrer Geburt vielleicht, vielleicht war sie +zusammen mit ihr zur Welt gekommen, hatte +sich all die siebzehn Jahre in ihrer Seele verborgen +gehalten und trat erst an jenem Abend +hervor, an dem Jenja bei Ziganow die Broschüren +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +ordnete und glücklich, freudig erregt +daran dachte, wie sie ihrem Studenten, ihrem +Abgott von ihrer Freude erzählen würde; – +damals mochte das Entsetzen die eingeborene +Trauer hervorgeholt und über ihr Gesicht +gebreitet haben. +</p> + +<p> +War es nur Trauer, was ihr Gesicht verriet, +als sie sich auf dem Boden wälzte und +vor tierischem Schmerz, vor Ekel und Entsetzen +geschrien haben würde, wenn sie +ihre Schreie nicht hätte unterdrücken müssen? +War nur Trauer in ihrem Gesicht, +da sie schweigend und doch unverstellt sich +quälte? +</p> + +<p> +Wenn die Menschen einander genau sehen +und beobachten würden, wenn Alle Augen +hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das +ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit +des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre, +wenn die Menschen einander sehen würden, +das eiserne Herz gar nicht nötig? +</p> + +<p> +Wie war das alles so gekommen, und weshalb? +Und wie erklärte Jenja es sich selber? +</p> + +<p> +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +An jenem Abend war Ziganow geblendet, – +einen andern Grund gab es nicht – es war +nicht vorgefaßte Absicht, er war einfach geblendet. +Und hätte er auch sieben Augen gehabt, +wer weiß, ob er nicht an allen sieben +Augen geblendet worden wäre vor ihren beiden, +mit denen sie so freudig dreinblickte, bereit, +im nächsten Augenblick von ihrer Freude +dem Studenten, ihrem Abgott zu erzählen: +ihre Freude war so gewaltig; es war ja das +erstemal, die Sache war gefährlich und sie +glaubte die Erlösung gefunden zu haben aus +dem erbärmlichen Leben, das ihre Seele verwundete. +</p> + +<p> +So erklärte Jenja das, was vorgefallen, indem +sie niemand beschuldigte, außer sich +selbst. +</p> + +<p> +Ob es so war oder nicht, ob er tatsächlich +geblendet war oder nicht, ob er dem Zwang +nicht widerstehen konnte, sich auf sie zu stürzen, +oder ob er sich hätte zurückhalten müssen +– einerlei: am Ende wäre es auch einem andern +so ergangen wie Ziganow, der sich mit +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +einer gefährlichen Sache befaßte, die heimlich +und verborgen getan werden mußte, und +der vor lauter geschäftigem Mißtrauen seine +Augen verloren hatte? Jedenfalls aber hatte +er seine Augen verloren, gleichviel warum: +denn hätte er sehen können, so wäre das nicht +geschehen, was weiter geschah. Es kam aber, +daß jedesmal, wenn Jenja bei ihm war, um +Broschüren zu ordnen, oder in ähnlichen Angelegenheiten, +sich jener gefährliche und freudig +erregte Abend wiederholte. Sie flehte ihn +an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, aber +er wollte nichts hören, weil er taub und blind +war. Und so verging ein ganzes Jahr. +</p> + +<p> +Als dann Ziganow aus der Plotnikowschen +Fabrik verschwunden war – manche behaupteten, +er wäre nach Sibirien verbannt +worden, andre dagegen, daß er jenseits der +Trechgornaja-Maut in einer Fabrik eine gutbezahlte +Stellung angenommen hatte, wieder +andre, daß er der Welt so etwas wie ein +„neues Zion“ verkündete – mit einem Wort, +als Ziganow nicht mehr da war, und Jenja +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +aufatmen konnte, da widerfuhr ihr das +gleiche, nur daß diesmal an Ziganows Stelle +ihr eigener Bruder, der Kadett war. Sie bat +ihren Bruder, flehte ihn an, sie zu schonen, +sie nicht anzurühren, er aber wollte nichts +hören, und darum nicht, weil er in diesem +Augenblick taub und blind war. +</p> + +<p> +Ja, auch er war in diesem Augenblick geblendet, +und nur, weil in ihr selbst etwas Sinnberaubendes, +Blendendes war; denn sonst +hatte doch dieser Bruderabend nichts gemeinsames +mit jenem Ziganowschen, jenem gefährlichen +und freudig erregten Abend. +</p> + +<p> +So erklärte sich Jenja alles, was vorgefallen, +indem sie niemand als sich selbst beschuldigte. +</p> + +<p> +Ob es nun so war oder nicht, ob der Bruder +ebenfalls geblendet war oder nicht – +jedenfalls ist es klar, daß er, ohne sich mit +gefährlichen Dingen zu befassen, wie Ziganow +und nicht wie dieser durch die Heimlichkeit +und die Gefahr der Arbeit in gemeinsame +Erregung mit der Schwester gedrängt, +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +– im Gegenteil: er hatte einen offenen Weg +vor sich, frei von jedem Spähen und Horchen +– jedenfalls ist es klar, daß er, wie so +viele Menschen von Beruf oder Handwerk, +von Meisterschaft oder Leidenschaft, sich +eben durch keinen besonderen Scharfblick +auszeichnete. Nein, er zeichnete sich nicht +durch besonderen Scharfblick aus, denn +hätte er etwas gesehen, so wäre nicht geschehen, +was weiter geschah. Es kam aber, +daß sich jedesmal, wenn er sie allein fand, +das wiederholte, was an jenem Schwesterabend +geschah. So verging wieder ein +Jahr. +</p> + +<p> +Als der Bruder dann von Moskau abgereist +war und sie, allein geblieben, aufzuatmen +hoffte, da wurde der Bruder von dem Gehilfen +ihres Vaters, von einem jungen Arzt +ersetzt, so wie einst der Bruder Ziganow abgelöst +hatte. Und nach dem Arzt kam noch +einer und wieder einer; alle traten sie kühn +an sie heran und taten mit ihr, was sie +wollten. +</p> + +<p> +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +Sie taten es aber nicht deshalb, weil sie es +freiwillig gewährte, nein, sie taten nur das, +wozu es sie, die Geblendeten, trieb. +</p> + +<p> +So erklärte sich Jenja alles, indem sie niemand +als sich selbst beschuldigte. +</p> + +<p> +Ob es so war oder nicht, ob sie wirklich geblendet +waren oder nicht, ob es sie trieb, oder +ob sie sich selbst über sie warfen, jedenfalls +beschuldigte sie keinen von ihnen, nur sich +selbst: dies etwas in ihrem Wesen, das blendete +und betäubte. +</p> + +<p> +Sie schwieg – ganze drei Jahre schwieg sie. +Sie machte nie eine Andeutung, verriet sich +mit keinem Wort. In ihr aber war Entsetzen, +Scham und Qual. Sie wurde geliebt, hatte +viele Freundinnen, und wußte, wie sehr man +sie liebte und wie gut man von ihr dachte; +und trotz aller Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, +die in ihr war, vermochte sie es nicht, +ihnen zu sagen, wie sehr sie sich irrten: daß sie +nicht so war, wie sie von ihr dachten. Hätten +sie die Wahrheit gewußt, dann würden sie +sich von ihr losgesagt haben, so aber stahl sie +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +ihre Liebe dadurch, daß sie die Wahrheit +verheimlichte. +</p> + +<p> +Die Menschen traten kühn an sie heran und +taten mit ihr was sie wollten, sie aber konnte +sich nicht wehren und gab, erfüllt von tierischem +Ekel und Schmerz, nach. Und dafür, +daß sie nachgab, daß sie trotz Ekel und +Schmerz nachgab und nachgeben mußte, +für dies blendende und betäubende Wesen +in ihr, das die Menschen trieb, sich über +sie zu werfen, reichte eine von Menschen +verhängte Strafe nicht aus. Es wäre ihr ja +ein leichtes gewesen, ein Ende mit sich zu +machen, aber das hätte ihr nicht genügt. +Auch wenn man sie gefoltert und gemartert, +wenn man sie zu Tode gefoltert hätte, +was hätte ihr das genützt? Für sie war eine +von Menschen bestimmte Strafe zu gering, +sie mußte sich selbst ihr Urteil sprechen und +sich selbst hinrichten. Aber wie sich strafen, +wie sich hinrichten? In den drei Jahren des +Entsetzens, der Scham und der Qual hatte +sie sich in den schlaflosen Nächten die Haare +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +gerauft, hatte mit dem Kopf gegen die Eisenstäbe +ihres Bettes, – ihres schmalen Mädchenbettes +– geschlagen, aber was war damit +erreicht? Nichts, gar nichts! Wer sollte +ihr die Strafe diktieren und wie sollte sie sie +vollziehen? +</p> + +<p> +Wenn die Menschen einander genau sehen +und beachten würden, wenn Alle Augen hätten, +dann könnte nur ein eisernes Herz das +ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit +des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre +das eiserne Herz gar nicht nötig, wenn die +Menschen einander sehen würden! +</p> + +<p> +Jenja verließ Moskau und lebte einige Zeit +auf dem Lande, in der Familie eines ihrem +Vater befreundeten Arztes. Ihr Vater, der +jetzt nicht nur Trauer in ihrem Gesicht bemerkt +hatte und unruhig geworden war, +erklärte sich ihr Aussehen mit Uebermüdung +und redete Jenja zu, sich auf dem Lande zu +erholen. Folgendes geschah nun während +ihres Landaufenthaltes: Am Dienstag in der +Karwoche reiste sie von da ab, aber nicht +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +nach Hause zum Osterfest, wie man annahm, +sondern sie begab sich in den Wald und betete +dort drei Tage und drei Nächte mit der +ganzen Glut des Entsetzens, der Scham und +der Qual eines sich selbst verurteilenden Herzens, +und flehte nur um eins: um Strafe, – +daß ihr eine Strafe angezeigt und eine Buße +auferlegt werde. Am Karfreitag aber erschien +sie in der Kirche zur Zeremonie des Grabtuches, +ganz nackt, mit einem Rasiermesser in +der Hand. Als das Grabtuch hinausgetragen +wurde, folgte sie ihm – alle wichen vor ihr +zurück, wie vor dem Grabtuch selbst. Sie +stand ganz nackt da, mit dem Rasiermesser in +der Hand: „Im Namen des Vaters, des +Sohnes und des heiligen Geistes!“ rief sie +aus. Jemand erwiderte „Amen“. Da erhob +sie das Messer und schnitt sich Kreuze hinein +in die Stirn, in die Schultern, in die Arme, +in die Brust, und ihr Blut ergoß sich auf +das Grabtuch. +</p> + +<p> +Ein ganzes Jahr oder noch länger lag Jenja +im Krankenhaus, wohin man sie bewußtlos +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +aus der Kirche gebracht hatte. Von den +Kreuzen waren keine deutlichen Male zurückgeblieben, +nur eine schwache Narbe auf der +Stirn, aber auch diese war unter dem Haar +nicht zu sehen. Und als man fand, daß sie +sich genügend erholt hatte, schickte man sie +zu ihrem Vater zurück. +</p> + +<p> +Hatte sie sich nun beruhigt? Nein. Aber sie +betete nicht mehr um Strafe. Tief in ihrem +Innern war es still geworden. Mag sein, daß +man durch irgendwelche Heilmittel auf sie gewirkt +hatte, oder daß sie, sich erholend und +gesundend, nicht mehr so fein in sich hineinhorchen +konnte, um zu vernehmen, was in +der Tiefe redete. Aber bald sollte sie es doch +vernehmen, und ganz unerwartet. +</p> + +<p> +Zu ihrem Vater kam häufig der Buchführer +der Plotnikowschen Fabrik, Alexej Iwanowitsch +Marakulin. Jenja gefiel ihm sehr, und +er erklärte sich bald. Da vernahm sie plötzlich, +was in der Tiefe sprach. +</p> + +<p> +Niemand wußte bis dahin, wofür sie eine +Strafe für sich herabgefleht hatte, kein +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +Mensch ahnte etwas von den drei qualvollen +Jahren und von dem vierten Jahr +ihrer Buße. Nicht einmal dem Priester in der +Beichte hatte sie etwas verraten: sie sprach es +in Gedanken unter dem Epitrachelion, wenn +der Priester über ihr gebeugt die Vergebung +las. Sie konnte sich nicht entschließen, ihm +etwas zu sagen: es hätte ihm vielleicht nicht +genügt zu erfahren, was sie getan; er hätte +sie jederzeit über die Personen ausfragen können, +die mit ihr verkehrt hatten. Vielleicht +hätte er auch angesichts ihres Entsetzens, ihrer +Scham und ihrer Qual, um ihr einen +weltlichen Trost zu verschaffen, zu erfahren +gewünscht, wie sich alles zugetragen hatte, +und dann gar, über die Umstände unterrichtet, +jene Personen verurteilt und sie +selbst von aller Sünde freigesprochen! Sie +aber beschuldigte niemand als sich selbst, +ihr eigenes blendendes und betäubendes +Wesen. Außerdem hätte der Geistliche +jene Menschen auch denunzieren können. +Jetzt aber wollte sie es dem Menschen offenbaren, +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +der sie liebte. Sie mußte <em>alles</em> +sagen – so sprach es in ihrem Innern +– sie mußte diesem Menschen alles sagen. +</p> + +<p> +Und sie erzählte ihm alles, rückhaltlos. Er +hörte milde zu und weinte; – er liebte sie. +Ohne daß er im Innern glaubte, daß es +sich nie wiederholen würde, daß die Geschehnisse +dieser drei Jahre nicht wiederkehren +könnten, wollte er es doch glauben, denn +er liebte sie. +</p> + +<p> +Ihr ganzes weiteres Leben widmete Jenja +ausschließlich ihren Kindern. Gleich im ersten +Jahr ihres neuen Lebens war es, als wäre +sie plötzlich alt geworden, aber es war nicht +Alter, sondern jenes Entsetzen, jene Scham +und Qual, die jetzt auf ihrem Gesicht, wie +einst die Trauer, sichtbar wurden und es alt +machten. Und ihre Augen, die oft wie aufgescheucht +waren und die Hände stets wie im +Gebet gefaltet, als flehten sie, sie zu schonen +und nicht anzurühren, – dies blieb ihr eigen +bis an ihr Lebensende. Im Sarg lag sie mit +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +dem Kreuz auf der Stirn: unter der Stirnbinde +war es jetzt deutlich zu sehen. +</p> + +<p> +Marakulin war damals zehn Jahre alt, aber +er konnte sich noch genau an dieses Kreuz erinnern, +an das auf der wachsgelben Stirn +unter der weißen Binde sichtbare Kreuz. Und +auch jetzt auf der Fahrt nach Moskau dachte +er daran, und die Erinnerung an das Kreuz +der Mutter war in ihm irgendwie fest und unlösbar +mit seinem eigenen goldnen Taufkreuz +verbunden, das ihm vor Weihnachten abhanden +gekommen war. +</p> + +<p> +Und Trauer überflutete ihn. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Marakulin reiste nach Moskau auf den dringenden +Ruf Plotnikows: +</p> + +<p> +Pawel Plotnikow war mit Marakulin zur +Schule gegangen, war aber um zwei Klassen +jünger. Als Marakulin ihn zum erstenmal +sah, gefiel er ihm sehr: es war ein gesunder +Knabe, von einer wie Milch und Blut zarten +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +Haut, so daß man Lust bekam, ihn zu streicheln +und mit ihm zu scherzen, um ihn lachen +zu machen. Im ersten Schuljahr hatte Pawel +Plotnikow oft Halsschmerzen, und das +weiße Tuch um den Hals machte ihn noch +liebenswerter. Marakulin sprach und scherzte +oft überaus freundlich mit ihm, Plotnikow +aber zeigte eine gewisse Scheu. Erst im nächsten +Jahr wurden sie durch einen Zufall einander +näher gebracht: Marakulin sang im +Chor mit, und auch Plotnikow wurde in den +Chor aufgenommen, ebenfalls für die Altstimme. +Bei den Gesangproben stand Plotnikow +neben Marakulin, und allmählich +verlor er seine Scheu vor ihm und schloß +sich jetzt enger an Marakulin an, welcher +für ihn alles tat, was er nur konnte: er löste +schwierige Aufgaben, machte die Uebersetzungen +für ihn. Diese rührende und zärtliche +Freundschaft dauerte ein Jahr. Darauf war +Plotnikow nach den Sommerferien auf einmal +so erwachsen, und es war nichts mehr in +ihm von dem Jung-Katzen- oder Hundeartigen, +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +das Marakulin so gereizt hatte, ihn +wie ein kleines Tier zu streicheln. Marakulin +gab sich nun weniger mit ihm ab, unterhielt +sich nicht so freundlich mit ihm wie früher, +fuhr aber im übrigen fort, alles für ihn zu +tun, was er nur konnte. Denn Plotnikow +wandte sich oft an ihn, wie an einen ältern, +der alles weiß, was er selbst niemals wissen +könnte. +</p> + +<p> +Plotnikow kam in der Schule nicht vorwärts. +In der fünften Klasse blieb er sitzen +und wurde aus der Schule genommen. Er +war der einzige Sohn seiner Eltern, dazu der +jüngste einer ganzen Reihe von Schwestern, +und wurde fürs Geschäft gebraucht. Das +Plotnikowsche Geschäft war in der ganzen +Taganka<a class="fnote" href="#footnote-8" id="fnote-8">[8]</a>, ja, in ganz Rußland bekannt. Zu +jener Zeit war Plotnikow bereits so dick und +groß geworden, daß man bei seinem Anblick +sich schwer den kleinen Buben Pascha mit +dem weißen Tuch vorstellen konnte, jenen +wie kuhwarme Milch frischen Pascha, den +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +man gern streicheln mochte, um ihn lächeln +zu machen. Man hätte wohl annehmen sollen, +daß jetzt jede Beziehung zwischen den +beiden Knaben aufhören müßte, aber dem +war nicht so. Plotnikow kam manchmal zu +Marakulin, um sich ein Buch zu holen: er +bat stets um irgendein Buch zum Lesen, und +so schüchtern, als hätte er Angst. Marakulin +gab ihm dann ein Buch, worauf er sich längere +Zeit nicht sehen ließ. Dann konnte er +wieder ganz unerwartet erscheinen, meist zu +einer unpassenden Stunde, am frühen Morgen, +und oft in so erregtem Zustand, daß es +den Eindruck machte, er hätte, nachdem er +am vorherigen Abend in einem Bierlokal der +Taganka angefangen, die Nacht bis zum +Morgen im Restaurant „Ssaratow“ und +bei Jar durchgekneipt, sich morgens in einer +Fünfkopeken-Badeanstalt gewaschen und +wäre von da aus direkt zu Marakulin gekommen, +– es fehlte nur der Birkenbesen. Es +war in der Tat auch so. Schüchtern gab er +das Buch zurück, brachte ebenso schüchtern +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +vor, daß er es nicht habe bewältigen können +und ein einfacheres haben möchte. Marakulin +gab ihm ein einfacheres Buch, und +Plotnikow verschwand wieder für längere +Zeit. +</p> + +<p> +In den letzten Schulklassen gab es damals +eine zusammengelaufene Bande, die ungefähr +das gleiche miteinander verband, was Marakulin +späterhin mit Glotow verbunden +hatte. Es waren einige Tollköpfe mit einem +Gefolge von Nachahmern und sonst Burschen, +die sich austoben wollten und aus denen +später die tüchtigsten Geschäftsleute und die +unbedeutendsten Kommis wurden. Mancher +von ihnen ergab sich nachher dem Trunk +und endete auf der Ssiworotka. Die Mitglieder +dieser Bande waren Stammgäste in +einem Bierlokal an der Taganka, auf den +Moskauer Boulevards, an den Sonntagen +im Sommer auch in Kuskowo, denn die +Bewohner der Taganka und der Rogoschskaja +ziehen im Sommer nach Kuskowo hinaus. +Zu dieser Bande gehörte auch Marakulin. +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +Zuweilen schloß sich ihr auch Plotnikow +an. +</p> + +<p> +Plotnikow, der bis zur Besinnungslosigkeit +trank, ließ sich einmal in einem sehr leichten +Anzug – noch leichter angezogene werden +auf die Wache gebracht – auf dem Taganskij-Platz +in einen Kampf mit Pferden +ein. Wüst und Beschwichtigungen unzugänglich, +betrunken bis zum äußersten, konnte +er die tollsten Sachen anstellen, ganz wahllos, +wie es ihm gerade einfiel, und ließ sich +dabei von niemand und von nichts stören. +Das war bekannt. Nur für Marakulin +machte er eine Ausnahme. In den äußersten +Fällen konnte einzig Marakulin den wilden, +unantastbaren Plotnikow beschwichtigen +und sogar zur Einsicht bringen. +</p> + +<p> +Pawel Plotnikow glich in der Unerschütterlichkeit +und unbeschränkten Willkür, zum eignen +Spaß die tollsten Streiche auszuführen, +ganz seinem Vater Wassilij Pawlowitsch. +Wassilij Pawlowitsch Plotnikow aber war +in dieser Beziehung der erste auf der Taganka, +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +und seine „Tätigkeit“ wirkte ansteckend: er +hatte nicht wenig Nachahmer. Nur daß +Wassilij Pawlowitsch, der keine einzige, geschweige +denn fünf Klassen absolviert hatte, +im Gegensatz zu seinem Sohn niemals wüst +wurde und auf den Plätzen weder mit Menschen +noch mit Pferden sich in Kämpfe einließ. +Er war still und sanft; Branntwein kam +nie über seine Lippen. Noch in den letzten Jahren +seines Lebens, als Wassilij Pawlowitsch +schon alt war, seine Erfindungsgabe ihn verlassen +hatte und er selbst sich wohl bewußt +war, nicht mehr recht auf der Höhe zu sein, +kam er auf den Gedanken, zum Zeitvertreib +die Schutzleute zum Trunk zu verführen – +er wollte die ganze Polizei buchstäblich kopfstehen +machen. Und er führte diese Absicht +mit der größten Meisterschaft aus, sein Ziel +mit allen Mitteln verfolgend: konnte er es +selbst nicht tun, so mußten es seine Leute auf +Befehl ausführen. Als Lockmittel diente ein +Wagen, ein ganz gewöhnlicher alter Wagen, +an dem nichts Besonderes war, nicht einmal +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +ein Wappen; denn den Bewohnern der Taganka +kommen Wappen ihrem Stande nach +nicht zu. Am Morgen setzte sich also Wassilij +Pawlowitsch ans Fenster und fing einen +Schutzmann ab, der um diese Zeit zum Polizeirevier +zu gehen pflegte. Der Schutzmann +wurde dann ins Haus gerufen, irgendeiner +Angelegenheit wegen, die es natürlich gar +nicht gab, denn man hütete sich sonst mit der +Polizei zu tun zu haben, aber eine Kleinigkeit, +die zum Vorwand dienen konnte, gab +es doch immer. Dabei schlug Wassilij Pawlowitsch +dem Schutzmann vor, sich den Wagen +anzusehen, und sein Vorschlag klang mehr +wie eine Bitte. Der geschmeichelte Schutzmann +folgte ihm in den Schuppen, wo schon +alles für den Spaß notwendige vorbereitet +war. Der Schutzmann wurde erst herausgelassen, +wenn er sternhagelvoll nicht mehr +auf den Beinen stehen konnte. Am nächsten +Tag wiederholte sich die Geschichte und allmählich +kam es so weit, daß der Schutzmann +alle Würde beiseite ließ und am Morgen +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +von selbst in den Schuppen kam, um sich den +Wagen anzusehen. Natürlich wurde er bald +aus dem Dienst entlassen, an seine Stelle +trat ein andrer, und mit diesem begann die +Wagengeschichte von neuem. Der Ruhm +Wassilij Pawlowitschs ließ den Fischhändler +Barabochin nicht schlafen, und seinem Vorbilde +nacheifernd verführte er die Popen +zum Trunk. Als Lockmittel diente ihm ein +ganz gewöhnlicher Fischbehälter; nicht etwa, +daß sich darin irgendwelche ausgefallenen +fabelhaften ausländischen Fische mit schwer +auszusprechenden Namen befunden hätten, +sondern es war ein Behälter mit ganz gewöhnlichen +Sterleten ... Der Wagen sowohl +wie der Fischbehälter arbeiteten ziemlich +lange Zeit mit unerhörtem Erfolg, bis +ihre Inhaber des Spaßes überdrüssig wurden. +So war Wassilij Pawlowitsch beschaffen, +und er ließ in seinem Sohne Pawel einen +Erben zurück, der seiner würdig war. Zusammen +mit dem Wagen hatte Plotnikow von +seinem Vater auch sonst noch allerlei Einfälle +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +zum Zeitvertreib geerbt und hatte dieses +Pfund nicht vergraben, sondern weiter damit +gewuchert. Es mochte ihm was immer +einfallen, so beruhigte er sich nicht, bis er es +ausgeführt hatte; es fiel ihm aber manches ein, +wovor einem Angst werden konnte. Aber nie +hätte er sich etwas erlaubt, das geeignet gewesen +wäre, Marakulin zu verletzen – Marakulin +war eben eine Ausnahme. Und auch +das wußten alle. +</p> + +<p> +Dreimal hatte Plotnikow Marakulin seine +warme, freundschaftliche Teilnahme bewiesen: +einmal, indem er ihn beschützte, das +zweitemal, indem er ihn einrichtete, und das +dritte, indem er ihn befreite. Das Beschützen +bestand darin, daß Plotnikow Marakulin +von Strakunow befreite, indem er Strakunow +vor allem Volk und unter Begleitung +guter Lehren tüchtig verprügelte. Auf der +Taganka trieb sich damals nämlich ein gewisser +Ssaschka Strakunow herum, ein +Durchschlüpfer: der Teufel mochte wissen, +wovon er lebte, er war eben nicht wählerisch. +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +Es gelang ihm, sich in die Bande, die sich +in Kuskowo herumtrieb, einzuschleichen und +Marakulin zu gefallen. Gott weiß wodurch, +denn Marakulin selbst hätte nicht sagen können, +was ihn an Strakunow so sehr anzog. +Er stammte wohl von Zigeunern ab und +schnitt beständig Grimassen, sonst war an +ihm nichts Hervorragendes. Dieser Bursche +plünderte Marakulin förmlich aus, und alles +Geld, das dieser durch Stundengeben verdiente, +machte er sich zur Beute. So ging es +einen Monat lang. Als Plotnikow dies erfuhr, +zögerte er nicht lange und beschützte +Marakulin. +</p> + +<p> +Ferner: gleich nach Absolvierung der Schule, +fast unmittelbar nach dem Examen, kaum +daß er eine Woche die Freiheit genossen +hatte, trat Marakulin bereits in das Bureau +an der Kusnetzkajabrücke ein – und das war +Plotnikows Werk. +</p> + +<p> +Die Sommerabende wurden damals auf den +Boulevards verbracht. Einmal lernte Marakulin +bei der Donnerstagsmusik in Tschistije-Prudy +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +ein Mädchen namens Polja kennen. +Polja, die erst in der Dämmerung auf dem +Boulevard zu erscheinen pflegte, wohnte auf +der Rogoschka, in der Bahnhofstraße. In +Tschistije-Prudy war sie als Polja bekannt, +aber Dunajew, der Marakulin mit ihr bekanntgemacht +hatte, nannte sie Dunja, auch +von Poljanskij wurde sie so genannt. Dunajew +und Poljanskij waren seine Schulkollegen, +und da sie beide ebenfalls auf der +Taganka wohnten, gehörten sie mit zu der +Bande. Bald wurde Polja auch für Marakulin +zur Dunja. Diese nähere Bekanntschaft +kam nicht zustande, weil Marakulin sie so +sehr ersehnt hatte, nein, der Grund war ein +ganz anderer – purer Blödsinn. Zu Ostern +nämlich hatte Marakulin Poljanskij besucht +und war in einem gewöhnlichen Gespräch +über die Schulkameraden – es war kurz vor +den Schlußprüfungen – mit Poljanskij in +einen Streit über Dunajew geraten. „Du +bist in Dunajew einfach verliebt,“ bemerkte +Poljanskij eigentümlich lächelnd, „er sieht +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +wie ein junges Mädchen aus, deshalb nimmst +du ihn so in Schutz.“ Marakulin wurde ganz +rot und sehr verlegen, weil Poljanskij so lächelte +und weil er selbst sich rot werden fühlte: +sollte er in der Tat Dunajew deshalb verteidigt +haben, weil dieser einem jungen Mädchen +glich? – Damit fing es an. Dieser wie +ein junges Mädchen aussehende Dunajew, +der auf den Boulevards zu Hause war, +bot Marakulin an, – sei es als Zeichen seines +kameradschaftlichen Dankes, oder „überhaupt +so“ – in solchen Angelegenheiten spielt +dieses „überhaupt so“ eine wichtige Rolle – +ihn mit Polja bekanntzumachen. Marakulin, +der Poljanskijs Worte und vor allem die Art, +wie er gelächelt hatte, nicht vergessen konnte, +stürzte sich auf diese Bekanntschaft: jetzt würde +Poljanskij nicht mehr so lächeln. Ein richtiger +Knabenunsinn wurde so zum Anlaß! +An einem der Donnerstagabende in Tschistije-Prudy +kam die Bekanntschaft zustande. Marakulin +gefiel dem Mädchen auf den ersten +Blick. Gleich in den ersten Tagen, nachdem +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +sie ihn kennen gelernt hatte, sprach sie es vor +Dunajew und Poljanskij ganz geradezu aus. +Und als sie einmal nachts im Bahnhofgäßchen +Marakulin aus ihrem Zimmer hinunterbegleitete, +lief sie flink die Treppe voraus, um +die Tür aufzuschließen, versperrte Marakulin +den Weg, umarmte ihn fest – ihre Arme +wurden dabei plötzlich ganz kindlich-zart – +und steckte ihm ein Tuch, in dem die Anfangsbuchstaben +seines Namens in Kreuzstich eingestickt +waren, ein seidenes, duftendes Tüchlein, +in die Tasche. Es duftete aber nicht nach +dem Parfüm, das sie sonst brauchte, wenn +sie in der Dämmerung auf den Boulevard +ging, sondern nach einem anderen. Seit jener +Nacht aber trieb es ihn immer mehr von ihr +fort, und je mehr sich Dunja an ihn hing, +desto mehr entfernte es ihn von ihr. Gegen +Ende des Sommers wurde ihm ihre Betulichkeit +und ihr Auflauern ganz unerträglich: er +konnte sich nirgends mehr vor ihr verstecken. +Sie hatte sich vom Boulevardleben zurückgezogen, +putzte sich nur für ihn, parfümierte +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +sich für ihn mit jenem anderen Parfüm. Dies +war für sie ein Opfer: denn es ist für eine, +die von der Straße lebt, ganz unmöglich, +Geld für Putz auszugeben, wenn sie nichts +verdient. Und sie hätte auch jetzt noch, so wie +sie war, vorwärts kommen können, wenn sie +gewollt hätte: es war etwas Ungewöhnliches +an ihr. Ihre Boulevardfreundinnen +behaupteten es, auch Dunajew und Poljanskij +waren dieser Meinung. Auch Marakulin +wußte es – ihre Arme waren damals in der +Nacht plötzlich so kindlich-zart geworden – +doch was sollte er tun? Ihr Tuch, das er nie +aus der Tasche nahm und das er gewiß vergessen +hätte, wenn er es nicht immerzu hätte +fühlen müssen, dieses Tuch mit seinen in +Kreuzstich gestickten Anfangsbuchstaben, das +kleine seidne Tüchlein, zog ihn wie etwas +Schweres hinunter, als wäre es aus Blei und +nicht aus Seide, und es blieb ihm nichts +übrig, als entweder es zu verbrennen oder in +den Moskaufluß zu werfen. Er warf es in die +Moskau. – Es war Ende August, an einem +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +der letzten Kuskowschen Feste: die Bewohner +der Taganka und der Rogoschskaja waren im +Begriff heimzukehren, – es war der letzte +Sonntagabend, kalt und klar gestirnt. Das +Theater war bereits aus und der Bahnhof +voller Menschen. Auf dem Perron spazierte +Dunja. Da trat Marakulin auf sie zu und +überschüttete sie mit der ganzen in ihm aufgesammelten, +lange zurückgehaltenen und jetzt +plötzlich aufkochenden Wut, ohne eine Erwiderung +abzuwarten, ohne ihr nur Zeit zum +Erwidern zu lassen. Auf einmal brach er ab +und ließ sie stehen. Er glaubte jetzt alles ausgerichtet +zu haben: jetzt war er sie los, war +er mit ihr fertig. Und mehr wollte er ja nicht! +Zu Dunja gesellte sich darauf Poljanskij und +ging mit ihr auf dem Perron auf und ab. +Als sie an Marakulin vorbeikamen, flüsterte +Poljanskij ihm etwas zu, aber so leise, daß er +die Worte nicht verstehen konnte, nur das +Lächeln bemerkte er, das gleiche Lächeln, wie +damals zu Ostern. Als dann Marakulin die +beiden von ferne – am anderen Ende des +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +Perrons – wieder erblickte, empfand er einen +brennenden Vorwurf. Je näher sie kamen, +desto brennender wurde der Vorwurf und die +Scham in ihm. Und als sie wieder ganz nah +an ihm vorüberging – er stand ganz allein +und für sich – und er sie von Angesicht zu Angesicht +sah – da konnte er dies brennende Gefühl +des Vorwurfs und der Scham nicht +mehr ertragen: er warf sich ihr zu Füßen und +verneigte sich tief bis zur Erde. Da geschah +lautlos offenbar etwas Unheimliches: denn +die Menge stob plötzlich nach allen Richtungen +auseinander. In dem Moment nämlich, +da sich Marakulin verneigte, fuhr der +Zug ein, der Bahnhof erdröhnte, der Wind +pfiff, – und als er sich erhob, sah er, daß +ein Polizist, vielleicht war es auch ein Polizeileutnant, +Dunja beim Arm fortschleppte. +Marakulin begann zu zittern, begriff nichts, +und einzig das scharfe Pfeifen des Windes +in den Ohren, versetzte er dem Polizeileutnant +einen Schlag. Es war aber so, daß der Reviervorsteher +Dunja gar nicht arretieren wollte, +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +vielmehr konnte er sie gerade noch zurückreißen, +bevor der Zug sie erfaßte und zermalmt +hätte. Dies erfuhr Marakulin aber, als es +schon zu spät war. Am nächsten Abend erschien +Plotnikow plötzlich im Polizeirevier +auf der Taganka, wohin Marakulin aus +Kuskowo gebracht worden war, und teilte +ihm schüchtern mit: man würde ihn morgen +früh freilassen. In der Tat wurde Marakulin +am nächsten Morgen ohne weitere Folgen +entlassen. So hatte ihn Plotnikow damals +aus dem Gefängnis befreit. Das war auch +Marakulins letztes Zusammentreffen mit ihm +gewesen. +</p> + +<p> +Alle diese Moskauer Erlebnisse stiegen bis +ins kleinste in seiner Erinnerung auf und +ließen Marakulin die ganze Nacht nicht +schlafen. Erst ganz nah vor Moskau schlummerte +er ein und hatte einen seltsamen +Traum. +</p> + +<p> +Er träumte, Pawel Plotnikow trete zu ihm +und spreche schüchtern: +</p> + +<p> +– Das beste, rationellste und psychologischste +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +für dein Leben wäre, dir den Kopf +abzuschneiden. +</p> + +<p> +Marakulin aber antwortete: +</p> + +<p> +– Wie soll ich dann ohne Kopf leben, es +ist ja schrecklich ohne Kopf! +</p> + +<p> +– Was ist aber zu machen! – erwiderte +Plotnikow und redete ihm zu: es würde gar +nicht weh tun und ihm höchstens seltsam und +sonderbar vorkommen. Und obwohl er ihm +auf seine Art schüchtern zuredete, so ließ er +doch keinen Widerspruch gelten. +</p> + +<p> +– Nun, so schneide ab! – willigte Marakulin +ein. +</p> + +<p> +Da nahm Plotnikow ein Rasiermesser und +machte sich ans Abschneiden. Es tat wirklich +nicht weh, und bald hing der Kopf nur +noch wie an einem Faden nach hinten. +</p> + +<p> +– Noch eine kleine entscheidende Bewegung +und der Kopf ist abgeschnitten – +sagte Plotnikow und arbeitete mit dem Rasiermesser. +</p> + +<p> +Und der Kopf fällt zu Boden. +</p> + +<p> +Aber auch ohne Kopf sieht Marakulin alles: +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +er sieht, wie der Kopf herunterfällt, auf dem +Fußboden rollt und verschwindet, und gleichzeitig +schießt aus dem Hals das Blut in einem +großen Strahl in die Höhe bis zur Decke – +dickes, kirschrotes Blut. Der ganze Boden +ist überflutet, und auch er ist ganz mit Blut +bedeckt. Dann wird die kirschrote Blutfontäne +schwächer, immer schwächer, und bald +spritzt das Blut nicht mehr, es versiegt, und +nur ein kleines Bächlein rinnt über die Weste +zu Boden. Marakulin tritt zum Spiegel: +seltsam und sonderbar kommt er sich ohne +Kopf vor, – es ragt nur noch der blutige +Hals. +</p> + +<p> +– Wie soll ich nun ohne Kopf leben? – +Er spuckte aus und erwachte. +</p> + +<p> +Der Traum war ahnungsvoll: seltsam und +sonderbar war auch, was dann geschah. +</p> + +<p> +Bei Plotnikow wurde Marakulin schon erwartet. +Der alte Arbeiter Fomitsch führte +ihn gleich zu seinem Herrn ins Arbeitszimmer. +Das Zimmer war in zwei Hälften geteilt. +In der einen Abteilung befanden sich +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +Kopien nach Nesterowschen Heiligenbildern, +in der anderen zwei Käfige mit Affen. Zwischen +dem heiligen Rußland und den Affen +saß Plotnikow vom Delirium des Säufers +übermannt. Er war ganz mit Honig beschmiert +und von der quälenden Trauer eines +Einsiedlers umdüstert. Auf dem Tisch standen +geleerte Flaschen herum, ebenso unter dem heiligen +Rußland und vor dem Affenkäfig. +</p> + +<p> +Er habe keinen Kopf mehr, klagte Plotnikow, +sein Mund sei ihm im Rücken, die Augen in +den Schultern. In den Weihnachtstagen +habe er sich auf den Honig gestürzt und ihn +samt den Waben verzehrt. Er habe zuviel +davon gegessen und infolgedessen hätten +sich Bienen in ihm eingenistet, ein ganzer +Bienenstock. Jetzt sei er ein Bienenstock und +fürchte sich sehr, – Alle seien ja auf das Süße +so erpicht – er fürchte, daß man alle seine +Bienen umbringen, den Bienenstock zerstören +und ihn auffressen würde! Im Sommer +aber, sobald die erste Fliege auftauchen werde, +wolle er sich mit der Ausbeutung der Fliege als +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +einer motorischen Kraft befassen. Er werde +ganz Rußland in Abteilungen einteilen, mit je +einem Fliegenstatthalter in jeder Provinz. Die +Statthalter, mit der Vollmacht von Generalgouverneuren +ausgerüstet, werden die Fliegenlese +überwachen und sie in automatischer +Packung in ganz besonders gepanzerten Automobilen +von allen Ecken Rußlands gradewegs +nach Moskau, nach der Taganka befördern. +Die russische Fliege werde den +Dampf und die Elektrizität besiegen, Rußland +werde England und Amerika zu Staub +zermalmen. Er habe keinen Kopf, sein Mund +sei im Rücken, die Augen in den Schultern. +Er sei ein Bienenstock. Die russische Sprache +verstehe er nicht und könne auch nicht Russisch +sprechen. +</p> + +<p> +– Ich brauche deinen Elephanten nicht! – +schrie Plotnikow, indem er Marakulin mit +seinen betrunkenen Augen von oben bis unten +hochmütig ansah, und schimpfte in so +echt russischen Wendungen, ließ solche Blasen +steigen, daß ihm vor der Klangfülle und +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +Kernigkeit der Muttersprache die Augen aus +den Höhlen traten. +</p> + +<p> +Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland +und den Affen und begriff nichts: weder +das von dem sonderbaren russischen Fliegenmotor, +noch vom Bienenstock und Elephanten, +und es war ihm seltsam und sonderbar +zumute. Sein Schweigen aber begann +Plotnikow offenbar zu reizen. Er war nicht +mehr in dem reuig-traurigen Zustand eines +Einsiedlers, sondern er schnaubte. +</p> + +<p> +Die russische Sprache verstehe er nicht und +Russisch könne er nicht sprechen. Mit Hilfe +der arktischen Flotte werde Rußland, nachdem +es Europa zermalmt, über Lappland +zum Pol ziehen und nicht bloß den Pol erobern, +wo die Fische mit angebratenen +Schwänzen leben, sondern alles, was sich +hinter dem Pol befindet, den unbekannten +Wohnsitz von Gog und Magog – und dieses +unbekannte Gog und Magog werde Landia +genannt werden, das heißt: das Land. +Von dort aus, von dieser hinterpolaren Landia +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +aus, werde Rußland, das heißt er, Pawel +Plotnikow, die unentgeltliche, allrussische +Fliegenkraft als Motor benutzend, die Erdkugel +automatisch regieren und sie nach Gutdünken +bald rechts, bald links rotieren lassen, +sie bald aufhalten und bald wieder in Bewegung +setzen. +</p> + +<p> +– Du Schuft! – rief Plotnikow plötzlich, +– deine Elephanten sind zerdrückt, ich sage +dir, ich kaufe keine zerdrückten Elephanten! +</p> + +<p> +Er ergriff eine Flasche vom Tisch, erhob sich, +rot, zerzaust, mit Honig beschmiert, den +Mund wie einen Rachen weit aufgesperrt +und holte zielend mit der Flasche aus. +</p> + +<p> +Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland +und den Affen. Er begriff nichts, weder +das von der arktischen Flotte, noch von +Gog und Magog, noch von der Landia und +vom Rotierenlassen der Erdkugel nach Belieben, +– und es war ihm seltsam und sonderbar +zumute. +</p> + +<p> +Plötzlich aber glitt die Flasche fast schüchtern +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +zu Boden, und ein rasender tierischer Schrei, +erschütternder als jeder Hilferuf, ertönte so +gewaltig, daß die Wände fast barsten, das +heilige Rußland zu wanken begann und die +Affen in ihren Käfigen zurückscheuten. Es +stöhnte in den Winkeln des Raumes und +dröhnte durchs ganze Haus: +</p> + +<p> +Plotnikow, der sich in seiner bösen Trinkerperiode +befand, ohne Kopf, mit dem Mund +auf dem Rücken und den Augen in den Schultern, +Plotnikow, der Bienenstock, der kein +Wort Russisch verstand und nicht Russisch +sprach – hatte Marakulin plötzlich erkannt. +</p> + +<p> +– Petruscha, Schuft aller Schufte! – +schrie er. Er blieb stecken, drehte den Kopf +wie einen Rüssel, stampfte vor Marakulin hin +und her und spreizte die behaarten Hände +wie Fangarme; dabei rüttelte und schüttelte +es ihn, wie ein arktisches Panzerschiff: +– Petruschka, du Schuft! – +</p> + +<p> +Er wankte zum Sofa, schlug mit seinem bepanzerten, +Gog und Magog ähnlichen urtümlichen +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +Plotnikowschen Körper auf den +Boden zwischen dem heiligen Rußland und +den Affen hin und begann wie ein Bienenstock +zu dröhnen. +</p> + +<p> +Zwei junge Männer, die an der Tür Wache +hielten, faßten Marakulin unter die Arme +und trugen ihn wie eine kostbare Truhe aus +dem Arbeitszimmer in den Salon. Ihm entgegen +kam auf einen Stock gestützt eine magere +alte Frau, die Mutter Plotnikows, Eudokia +Andrejewna in eigener Person. +</p> + +<p> +– Du hast ihn gesund gemacht! – Die Alte +konnte vor Erregung kaum sprechen, und +nachdem sie auf altrussische Art ein großes +Kreuz geschlagen, ließ sie den Stock fallen +und verneigte sich vor Marakulin tief bis zur +Erde. Einige dunkelgekleidete alte Frauen +stürzten aus den Ecken hinzu, um ihr zu helfen, +aber sie wollte nicht aufstehen. Erst Marakulin +gelang es, die Alte zu beruhigen. +</p> + +<p> +Achtundvierzig Stunden schlief Plotnikow, +wie ein Bienenstock dröhnend. Es herrschte +eine Stille, als wäre außer ihm, außer dem +<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> +Bienenstock keine lebendige Seele im Hause. +Diese ganzen zwei Tage ließ man Marakulin +nicht aus dem Hause: er wurde gepflegt, +gefüttert, aber seine Tür wurde verschlossen +gehalten. +</p> + +<p> +Man unterhielt sich über den unseligen Pascha<a class="fnote" href="#footnote-9" id="fnote-9">[9]</a>, +über sein Unglück: er habe sich mit +Honig beschmiert und seitdem aufgehört, die +Menschen zu erkennen, selbst seine Mutter +hielt er für einen gehörnten Elephanten, für +ein zerdrücktes Tier, und habe Fomitsch befohlen, +sie zu erschießen. Er habe dann in +seinem unglückseligen Delirium jammervoll +nach Marakulin gerufen, so jammervoll, +wie eine Katze, der man die Jungen entrissen. +</p> + +<p> +– Da erinnerte ich mich – erzählte Eudokia +Andrejewna, – daß Pascha, als er anfing, +sich ans Geschäft zu gewöhnen, oftmals +ein Buch mitbrachte. Bei Petruscha, +bei Peter Alexejewitsch war er, hieß es, und +habe das Glück mitgebracht. Er glaubt an +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +dich von Kindheit an. Und so dachte ich: der +einzige Retter vor seiner grausamen Krankheit +und vor seinem Unglück kannst du nur +ihm sein. Wir baten den Priester von Woskressenje<a class="fnote" href="#footnote-10" id="fnote-10">[10]</a>, +den Vater Ssemjon, ihn mit +Weihwasser zu besprengen, er ließ ihn aber +nicht an sich heran und nannte ihn ein zerdrücktes +Tier. Dann wollten wir ihn nach +Chapilowka zum Bruder Iwanuschka bringen, +er wollte aber nichts hören. Dem Arzt +Nikolai Fjodrowitsch sei es gedankt. Er hat +uns auf den Gedanken gebracht, dich kommen +zu lassen. Du, Lieber, hast ihn geheilt! – +und die Alte bekreuzigte sich auf altrussische +Art mit einem großen Kreuz und verneigte +sich tief. +</p> + +<p> +– Durch die Einwirkung des Unreinen, +– wie eine grimmige Bestie! – flüsterten +die dunklen Alten in den Ecken. +</p> + +<p> +Und Eudokia Andrejewna schlug Kreuze und +verneigte sich tief. +</p> + +<p> +Am dritten Tag erwachte Plotnikow, fuhr, +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +als wäre nichts vorgefallen, in die Stadt und +kehrte erst am Abend wohlbehalten wieder +heim. Am Abend schleifte er Marakulin mit +sich ins Wirtshaus zu Lawrow. +</p> + +<p> +Sie saßen wieder wie einst im linken Saal in +einer Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat. +Plotnikow kramte Erinnerungen +aus: Erinnerungen an die Schule, an die +Lehrer, an Tschistije-Prudy und Kuskowo. +Er erinnerte sich sogar an eine besondre Lawrowsche +Suppe, die Marakulin damals so +gern gegessen haben sollte. Der Musikautomat +machte traurig: doch nicht daß man Lust bekam, +das Vergangene zurückzurufen – die +Vergangenheit lag ja hier vor einem wie auf +der flachen Hand – sondern es war unverständlich, +wozu es einmal gewesen war, es sei +denn dazu, daß man sich einmal daran erinnerte. +Und in die geheimsten Winkel seines +Lebens hineinschauend, erkannte Marakulin, +daß es sich eigentlich in nichts verändert hatte, +daß er damals bei der besondren Lawrowschen +Suppe dasselbe gedacht und gefühlt +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +hatte wie jetzt, nur unklar und nicht ausgesprochen, +mit einem flüchtigen, zufälligen +Aufflackern von Klarheit. Uebrigens, verändern +sich denn die Menschen überhaupt? – +</p> + +<p> +Sie saßen wie einst im linken Saal in einer +Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat. +</p> + +<p> +– Mit deinem Arkadij Pawlowitsch – +sagte Plotnikow, – mit dem Reviervorsteher, +– du hast ihn damals sehr zu Unrecht +gekränkt, Petruscha – habe ich da ... – +Plotnikow zeigte in die Richtung der Separés +und schlug sich seufzend auf die Tasche, +– Fünfhundert Rubel verlangte er +für den Vergleich, und alles wegen deiner +Fenja ... +</p> + +<p> +– Dunja – verbesserte Marakulin. +</p> + +<p> +– Dunja, Fenja, einerlei, – komm mit zu +Arkadij Pawlowitsch, Freund, er wird sich +sehr freuen! Er hat, weißt du, für den Moskauer +Aufstand ein Kreuz bekommen, wirklich, +und ist auf die Twerskaja versetzt worden +– er wird sich sehr freuen! Und weißt du +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +was noch, Petruscha – Plotnikow neigte +sich zu ihm und sprach ganz leise – ich glaube +an dich, wie an den lieben Gott, und wenn +in den Geschäften etwas nicht glatt geht, so +brauche ich nur an dich zu denken, deinen +Namen laut auszusprechen, und sieh, alles +geht nach Wunsch. Ich denke darum, wenn +mein Ende einst naht und ich sterben muß, +dann werde ich dich rufen, du wirst kommen +und meinen Tod aufhalten. Ich werde wie +eine grindige Katze miauen, du aber wirst +mich wieder zum Menschen machen. So +denke ich von dir, Petruscha! +</p> + +<p> +Sie saßen wie einst im linken Saal, und wie +einst spielte der Musikautomat. +</p> + +<p> +Doch sonderbar: während Plotnikow sich an +alles von früher her erinnerte, selbst an die besondre +Lawrowsche Suppe, die Marakulin +gern gegessen haben sollte, und während er +seinen Glauben an ihn bekannte, war er gar +nicht neugierig und fragte auch nicht mit +einem Wort, wie es Marakulin jetzt gehe; +und noch sonderbarer war dies, daß Plotnikow, +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +ohne die Augen von Marakulin abzuwenden, +einen ganz anderen zu sehen schien, +nicht Marakulin, sondern Gott weiß wen! +Vielleicht sah er in der Tat in ihm jemand, +den man nicht nach seinen Angelegenheiten +ausfragen kann. Man fragt doch die Iwerskaja +Mutter Gottes<a class="fnote" href="#footnote-11" id="fnote-11">[11]</a> nicht nach ihren Geschäften! +– Und es war Marakulin sonderbar +und seltsam zumute. +</p> + +<p> +Noch einen Tag blieb Marakulin bei Plotnikow. +Plotnikow führte ihn nach der Iljinka +in den Speicher, dann in das Twersche Polizeirevier +zu Arkadij Pawlowitsch; er war zu +Plotnikows großem Bedauern nicht anwesend. +Abends brachte er Marakulin zur Bahn. +Und beim Abschied wiederholte er, daß er an +ihn wie an den lieben Gott glaube, und wenn +er einst im Sterben ihn erblicken werde, so +werde er sich vom Krankenlager erheben, +wie eine grindige Katze miauen und sich wieder +in einen Menschen verwandeln. +</p> + +<p> +Erst nachts unterwegs fragte sich Marakulin +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +plötzlich, ob er seinen Aufenthalt in Moskau +nicht geträumt hätte. +</p> + +<p> +Das Alles war so sonderbar und seltsam: daß +Plotnikow an ihn wie an den lieben Gott +glaubte, daß er sich nach der Iljinka in den +Speicher schleifen ließ, ja sogar zum Reviervorsteher +Arkadij Pawlowitsch, – aber nach +Kalitnikowo auf den Friedhof zu gehen, hatte +er vergessen. Und er hätte doch unbedingt +hingehen müssen, einen Augenblick am Grabe +seiner Eltern verweilen, es nur ansehen, – nur +ansehen und Abschied nehmen! +</p> + +<p> +Und ein Gefühl von Gram überflutete ihn. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-7"> +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +Sechstes Kapitel +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">en</span> ganzen Tag von Morgen bis zum +Abend lief Wera Nikolajewna herum, +um zu massieren, die Abende verbrachte sie +über ihren Lehrbüchern: sie bereitete sich zum +Abiturientenexamen vor, weil sie um jeden +Preis in das medizinische Institut eintreten +wollte. Wera Nikolajewna wurde von Anna +Stepanowna unterrichtet, deren Angelegenheiten +im Lednjowschen Mustergymnasium +übrigens nicht zum besten standen. +</p> + +<p> +Die Vorsteherin Lednjowa zahlte ihr vorläufig +mit Aussicht auf die geheimnisvollen +Equipierungsgelder den Gehalt aus eigener +Tasche, und sie begleitete diesen üppigen Vorschuß +jedesmal mit ihren beliebten Erörterungen +über gute Taten, über den Verfall der +Moral überhaupt und über ihre eigene Opferwilligkeit +– man denke: in ihrem eignen +Gymnasium gab sie den Unterricht umsonst! +– +</p> + +<p> +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +Nach Anna Stepanownas Erzählungen +war in diesem Gymnasium die Hölle los. +Es herrschte ein musterhafter Wirrwarr in +dem musterhaften Gymnasium. Nicht weil +da etwa lauter ungezogene Kinder beisammen +gewesen wären, nicht an ihrer Ausgelassenheit +lag es, sondern weil man die +Schülerinnen als Einnahmequellen warm +halten mußte, und diese Behandlung von den +Kindern ganz richtig eingeschätzt wurde. +Natürlich wurden nie Verweise erteilt, und +die Noten mußten so ausfallen, daß die Eltern +nicht auf den Gedanken kommen sollten, +ihre Töchter in eine andre Schule zu geben. +Die Lednjowa gab selbst Unterricht und liebte +es auch, den Stunden andrer beizuwohnen +und durch allerlei Fragen ihre unbezahlten +Lehrer zu kontrollieren. Es wurde überhaupt +nach keinem Programm unterrichtet, auch +nicht nach den Lehrbüchern, die das Unterrichtsministerium +begutachtet und bestimmt. +So zum Beispiel waren in der großen französischen +Revolution nicht etwa Robespierre +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +und Marat die Führer, wie man gewöhnlich +lehrt – was bedeutet auch so ein Robespierre +oder Marat! – der Hauptführer war +Hugo Capet, der für sein Verbrechen gegen +König Louis zugrunde ging. +</p> + +<p> +Der musterhafte Wirrwarr im musterhaften +Gymnasium wurde durch eine musterhafte +Enge und Kälte vervollständigt. Es herrschte +darin eine echte Januarkälte. Die Oefen wurden +niemals geheizt, und zwar nicht nur nicht +in den Klassenzimmern – denn so verlangt +es das letzte Wort der Hygiene –, sondern +auch nicht im Lehrerzimmer. Es ist wahr, +daß die Kinder nicht sehr darunter litten: sie +tanzten, sprangen, tobten herum, und das +Gymnasium war ein wahres Sodom an +Lärm. Für die Lehrer war es weniger bequem, +daran teilzunehmen: leise kann man nicht +Lärm machen und laut schickt es sich nicht. +Auf alle Vorstellungen hatte die Lednjowa +nur eine Antwort: +</p> + +<p> +– Was fällt Ihnen ein? Sie sollten sich erst +das Karrassewsche Gymnasium, oder das +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +Spaßesche ansehen, dort ist es wirklich +kalt! +</p> + +<p> +Diese Antwort der Lednjowa versetzte Anna +Stepanowna aus Petersburg in ihr Purchowez +zurück und erinnerte sie an den Inspektor +der Volksschulen, an den berühmten +Obraßzow. +</p> + +<p> +Dieser berühmte Mann aber war nicht mehr +und nicht minder als der leibliche Bruder der +Vorsteherin Lednjowa. +</p> + +<p> +Rakow, der Historiker, sprach mit großem Respekt +von ihm. Nach Rakow, wäre Obraßzows +Name, hätte dieser in der „antiken Geschichte“ +gelebt, unbedingt unter den berühmten +Aussprüchen im Tempel zu Delphi +eingegraben worden, und sein Kopf hätte +den Giebel des athenischen Parthenon geschmückt. +Und Rakow, der Historiker, irrte +sich nie. +</p> + +<p> +Als einmal ein Lehrer sich bei Obraßzow +beklagte, daß <a id="corr-11"></a>es in der Schule naß und kalt +sei, nur sechs Grad, da lautete Obraßzows, +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +einer Lednjowa würdige Antwort folgendermaßen: +</p> + +<p> +– Ich bitte Sie, sechs Grad, das ist ja doch +ein wahrer Segen. Im Pokidoschenschen +Gouvernement aber, da kam ich einmal, als +ich noch Inspektor dort war, in eine Schule: +die Kinder saßen in Schafpelzen, der Lehrer +im Pelz und in Gummischuhen. Ich sitze ein +Weilchen da, bin ganz durchfroren. Ich will +eine Notiz über meinen Besuch machen, doch +die Tinte ist eingefroren. Der Lehrer blies in +das Tintenfaß, blies und wärmte es, es nützte +aber nichts, und ich mußte ohne Notiz abreisen. +Eine solche Kälte war da! Bei Ihnen +aber ist ein wahrer Segen! – Und als ein +andrer Lehrer sich einmal über die Enge in +der Schule beklagte, da blieb ihm Obraßzow +auch die Antwort nicht schuldig: +</p> + +<p> +– Ich bitte Sie – rief er, – Sie haben +keine Ahnung von wirklicher Enge. Im Pokidoschenschen +Gouvernement, da kam ich einmal, +als ich dort noch Inspektor war, in eine +Pfarrschule: es war auch zugleich das Armenhaus. +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +Im selben Zimmer die Betten der +Armenhäuslerinnen, eine Gans schnattert in +einem Korb auf den Eiern, ein Kalb blökt, und +gleich daneben die Kinderchen auf fünf Bänken, +– kein Platz, um auch nur einen Schritt +zu machen, und die Luft so, daß mir der Atem +verging. So eng ist es manchmal, hier aber ist +ein wahrer Segen! – Dem Lehrer aber, der +von einer Masse Frösche meldete, die sogar +unter die Bettdecke krochen, gab Obraßzow +einen wahrhaft delphischen Verweis, der es +gebieterisch verlangt, Purchowez oder Pokidosch +in Rakows Geschichte des Altertums +aufzunehmen. +</p> + +<p> +– Es kann hier von einer Masse gar nicht +die Rede sein – rief Obraßzow – ein Dutzend +höchstens hüpft da herum, gleich kommen +Sie und nennen das eine Masse! Sie +haben eben nie eine Masse gesehen! Im Pokidoschenschen +Gouvernement, da kam ich einmal, +als ich noch Inspektor dort war, in eine +Schule, da wimmelte es an der Decke buchstäblich +von Schwaben. Wenn man die +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +Tür zuschlug, da regneten sie nur so herunter! +Das nenne ich eine Masse. Als +ich nach Hause kam und mich auszukleiden +begann, da wimmelten die Schwaben +nur so auf mir herum. Meine Frau bekam +Angst und stieß mich sofort in den +Frost hinaus, und ich mußte mich draußen +ausziehen. Aber bei Ihnen hier ist ja ein +wahrer Segen! +</p> + +<p> +Ja, Rakow der Historiker hatte recht, wie +immer. +</p> + +<p> +Doch wenn man den Namen des berühmten +Purchowezschen Inspektors unter den berühmten +Aussprüchen im Tempel von Delphi +hätte eingraben müssen, so müßte man +die Vorsteherin Lednjowa, welche die große +Kunst besaß, keinen Heller aus ihrer eigenen +Tasche auszugeben und die nicht nur ihre +ausgehungerten Lehrer, sondern sogar das +Ministerium naszuführen verstand, – noch +großartiger ehren! +</p> + +<p> +Der Winter ging zur Neige. Zugleich mit +dem Schnee schmolz der große schwarze +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +Berg auf dem belgischen Hof zusammen. +Der Frühling kam, Ostern kam. +</p> + +<p> +Freudlos wurde das Osterfest empfangen, so +wie das Weihnachtsfest freudlos vergangen +war. Wassilij Alexandrowitsch der Clown +hatte das Krankenhaus verlassen. Seine Ferse +war geheilt, dennoch war seine Kunst unwiderruflich +verloren. An der Ferse war etwas +nicht richtig, er hatte gleichsam keine +Ferse mehr: er konnte nur bis zur Ecke der +Gorochowaja gehen, bis zum Zeitungsausträger +und zurück, nicht weiter. Wera Nikolajewna +riet der Arzt, statt das Abiturientenexamen +zu machen, keine Zeit zu verlieren und +nach Abas-Tuman<a class="fnote" href="#footnote-12" id="fnote-12">[12]</a> zu reisen: an ihrer Lunge +war etwas sehr nicht in Ordnung – es war +etwas wie ein Geräusch oder ein Zischen. +Anna Stepanowna fiel bei der musterhaften +Lednjowschen Ordnung einfach um vor +Müdigkeit – und lächelte. Sie lächelte stets +ihr krankes, erschreckendes Lächeln. +</p> + +<p> +Zu Ostern ereignete sich auf dem Burkowschen +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +Hof alles, was jahraus, jahrein an den +hohen Feiertagen sich zu ereignen pflegte, seitdem +das Haus an der Fontanka stand: Unfälle, +Begebenheiten, Skandale, Schlägereien, +Prügeleien, Hilferufe, Polizeiwache – +doch alles in sehr gesteigertem Maße und +viel lauter als gewöhnlich. +</p> + +<p> +Bei der Hebamme Lebedjowa ereignete sich +wieder ein Diebstahl, diesmal aber wurde ihr +kein Pelzmantel gestohlen, sondern zweiunddreißig +Rubel, die sie sich für einen neuen Pelz +zusammengespart hatte. Das Geld lag in +einem Strumpf in einer geschlossenen Kommode; +der Strumpf fand sich, doch das Geld +war spurlos verschwunden, als wäre es im +Ofen verbrannt worden. Man beschuldigte +wieder den Portier Nikanor, er hätte nicht +genügend aufgepaßt, doch wie sollte er aufpassen: +den ganzen Tag ist er auf den Beinen +und bei Nacht das Geklingel, und so +das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es +ein schlauer Dieb, einer von den Hausgenossen +– aber es war nichts zu machen. Der +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +Bäcker Jarigin aus der Burkowschen Bäckerei +legte sich, nachdem er den ganzen ersten +Feiertag gesoffen hatte, abends auf ein Brett +schlafen, das über dem Backtrog lag. In der +Nacht hatte er sich wohl ungeschickt umgedreht +und fiel in den Teig. Im Laufe der +Nacht hat es ihn eingesaugt, und als man +es am Morgen gewahr wurde, da war es +zu spät, nur die Beine ragten noch aus dem +Teig. Ein guter Bäcker war der Jarigin! +Stanislaus der Kontorist und Kasimir der +Monteur wollten sich amüsieren und machten +zum Spaß Jerkin den Paßaufseher betrunken. +Jerkin aber, der sein Neujahrsgelübde, nicht +zu trinken, das er dem Bruder im Hafen abgelegt, +bis nun streng befolgt hatte, wurde +infolge der strengen Enthaltsamkeit nach +einem Glas Pfefferbranntwein toll und begann +zu raufen. Das geschah am hellichten +Tage im Hof, während in den „Winkeln“ die +Mädchen in den schwarzen Kopftüchern und +die Nonnen, die Almosensammlerinnen in +Schaftstiefeln, für Gorbatschow „Christ ist +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +auferstanden“ sangen. Kasimir entkam, Stanislaus +aber fiel herein: Jerkin nahm ihn +auf die Arme, warf ihn zu Boden, preßte +ihn, drückte ihn mit dem Knie und biß ihm +die Nase ab. Der rote Hund des Gouverneurs, +der gerade auf dem Hofe war, fraß +Stanislaus’ Nase auf. Burkow selbst, der +ehemalige Gouverneur, der Selbstvertilger, +vergaß am ersten Ostertag, als er aus einer +vornehmen Gesellschaft nach Hause fuhr, ein +Osterei im Wagen, und als er am anderen +Morgen den Verlust bemerkte, meldete er es der +Polizei und forderte die Feststellung des Kutschers, +der sich dies offenbar außergewöhnliche +Ei angeeignet hatte; – was man in +allen Petersburger Zeitungen am dritten Tag +lesen konnte. Ebenfalls am dritten Tag verurteilten +die Kinder im Hof, Kriegsrecht spielend, +Wanjuschka, den Sohn des Portiers +Nikanor zur Todesstrafe durch den Strang +und vollzogen das Urteil: sie schleppten den +Knaben in die Wagenremise und hingen ihn +vermittelst einer Pferdeleine auf. Kaum, daß +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +man ihn wieder ins Leben rufen konnte: es +war ein schwächlicher Bub. Er war schon +ganz blau und wäre beinahe erstickt. Schließlich +beging das Ehepaar Oschurkow ganz +unerwartet Selbstmord. Niemand im Hof +konnte begreifen, weshalb sie es getan hatten. +Sie hatten ja eine Wohnung von zehn Zimmern, +alle zehn Zimmer voll von Nippes, +und ein Aquarium mit Goldfischchen. „Es +war eine feine Gesellschaft!“ wiederholten +die Dienstmädchen einstimmig, jene Köchinnen +und Hausmädchen, die wegen eben dieser +Nippes nie lange bei Oschurkows aushalten +konnten. +</p> + +<p> +Kurz nach Ostern, in der Thomaswoche, kam +einmal Sergej Alexandrowitsch, der mit dem +Theater einen Vertrag über eine Gastspielreise +ins Ausland geschlossen hatte, zu Marakulin +zum Tee. Es kamen auch Wera Nikolajewna +und Anna Stepanowna, und auch Wassilij +Alexandrowitsch der Clown, auf ein Stöckchen +gestützt. Es war die Rede von der Damaskinschen +Gastspielreise ins Ausland; Sergej +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +Alexandrowitsch sah in ihr fast so etwas +wie Rußlands Rettung. Er meinte: Rußland, +das unter all den Rakows, Lestschows, Obraßzows, +Lednjowas, Burkows, Gorbatschows +und Kabakows erstickte, dieses Rußland +werde sich zum erstenmal mit seiner Kunst +der Stadt der großen Männer, dem Herzen +Europas – Paris, zeigen und es besiegen. +</p> + +<p> +– In der Tat, – rief Sergej Alexandrowitsch, +indem er sich wie auf dem Theater reckte, +– laßt uns doch alle hinfahren! Alle müssen +wir ins Ausland, wenn auch nur für einen +Monat, für eine Woche, gleichviel, nur um +einen Blick zu tun, und um uns von dieser +ganzen Burkowerei zu erholen. Auch du, +Wassilij, auch dich schleppen wir mit! Und +auch Sie, Wera Nikolajewna, denken Sie +nicht mehr an Ihr Abas-Tuman! +</p> + +<p> +– Wo nehmen wir das Geld zur Reise? +fragte Anna Stepanowna und lächelte. +</p> + +<p> +– Wie? wieso Geld? +</p> + +<p> +– Wie kommen wir ins Ausland? – bemerkte +Wera Nikolajewna. +</p> + +<p> +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +– Du hast dich verstiegen, Bruder, mit deinem +Paris, meine ich! +</p> + +<p> +– Ich werde das Geld schaffen – rief Marakulin, +der sich plötzlich an Plotnikow erinnerte, +– ich werde uns tausend Rubel verschaffen! – +Marakulin sagte es so fest und überzeugt, daß +es alle mit Glauben erfüllte, und man sprach +nicht mehr vom Gelde. +</p> + +<p> +So wurde der Beschluß gefaßt: Alle reisen +ins Ausland, nach der Stadt der großen +Männer, ins Herz Europas – nach Paris. +Sie bekamen ganz heiße Köpfe und schmiedeten +allerlei Pläne. Die Einzelheiten dieser +Pläne wurden mit solcher Begeisterung und +mit solchem Glauben ausgemalt, als wäre +in der Tat Rußlands Rettung, – ihre Rettung +mit dieser Reise verbunden, und sie +brauchten bloß die Grenze zu überschreiten, +damit die Rettung sich vollziehe. +</p> + +<p> +Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren +Platz auf Erden finden, ihre Seele wird +sich aufrichten, und sie wird anders lächeln +können. Dort, in Paris wird Wera Nikolajewna +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +sich erholen und ihr Abiturientenexamen +machen. Dort, in Paris wird Wassilij +Alexandrowitsch wieder das Trapez besteigen +und seine Künste zeigen können. Dort, +in Paris wird, während Sergej Alexandrowitsch +tanzend das Herz Europas besiegt, +auch Marakulin seine verlorene Freude wiederfinden. +</p> + +<p> +Man müßte Werotschka finden – dachte +Marakulin plötzlich, und er sagte: wir müssen +auch Werotschka mitnehmen, damit sie +dort in Paris zu sich kommt. Entweder sie +wird dort eine große Schauspielerin und +rächt sich so an Anissim Wakujew, oder noch +besser: mag dort Ruhe über sie kommen und +der Friede Gottes, daß die Rache in ihr still +wird, und sie verzeiht ihm. +</p> + +<p> +Als er dies sagte, waren alle einverstanden, +daß man auch Werotschka mitnehmen müsse. +– Ich bin Werotschka begegnet – erzählte +Wera Nikolajewna, – Sie waren damals in +Moskau. Ich gehe einmal abends durch die +Gorochowaja nach Hause, da kommt sie mir +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +entgegengelaufen. Es war kalt, der Sturm +pfiff, und sie lief in einem Sommerjäckchen +herum, ein weißes Tuch um den Kopf. „Werotschka!“ +rufe ich. Sie blieb stehen, sah mich +an, aber so sonderbar. Sie zitterte am ganzen +Leibe. „Werotschka,“ sage ich, „kommen Sie +Tee trinken, kommen Sie zu uns Tee trinken!“ +Sie aber richtet ihr Kopftuch, zittert am ganzen +Leibe und schüttelt den Kopf. Es war +auf der Ssemjonowschen Brücke, – eine +furchtbare Kälte, der Sturm pfiff ... +</p> + +<p> +Noch am selben Abend wurde der Brief an +Plotnikow geschrieben, und am nächsten +Morgen eingeschrieben nach Moskau abgeschickt. +Marakulin glaubte so fest, daß das +Geld kommen würde, er glaubte so fest an +die tausend Rubel von Plotnikow, wie Plotnikow +selbst an Marakulin glaubte. +</p> + +<p> +Inzwischen begab sich Adonja Iwoilowna +auf ihre Pilgerfahrt. Sie zog nach Jerusalem, +wo der Weihrauch nie verduftet und wo die +Kerzen brennen, die nie verlöschen. Dort wird +sie im Jordanfluß baden und sich mit Wermut +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +abtrocknen, damit all ihr Gram wie +Tannenrinde von ihr abfalle, all ihr Kummer +und ihre Tränen. Dann wird sie Paraschas +Schiffe verstehen, und die Erde am Grabe +ihres Mannes auf dem Smolenskischen +Kirchhof wird nicht mehr abbröckeln. +</p> + +<p> +An den Abenden war Akumowna frei und +legte Karten. Sie zeigten für jeden eine große +Veränderung an und einen Weg, und für +Marakulin außerdem noch Gras und Tannen, +wie damals vor seiner Reise nach Moskau, +nur daß die Tannen jetzt nicht mehr +am Rande, sondern ganz nahe bei ihm lagen. +Bei Wera Nikolajewna lagen sie am +Rande. +</p> + +<p> +– Ein fröhlicher Weg! – flüsterte Akumowna. +</p> + +<p> +– Wir fahren nach Paris, Akumowna, ins +Herz Europas! +</p> + +<p> +– Wollen wir nicht auch Akumowna mitnehmen? +Ist Akumowna einverstanden, mit +uns nach Paris zu gehen? – fragte Sergej +Alexandrowitsch zwinkernd. +</p> + +<p> +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +– Gewiß. Ich komme mit. Neun Jahre +habe ich keine Luft geatmet. Da werde ich +aufatmen. +</p> + +<p> +Akumowna ließ sich nicht lange bitten, denn +sie wäre bereit gewesen, Sergej Alexandrowitsch +nicht nur nach Paris, sondern sogar +bis ans Ende der Welt zu Fuß zu folgen. +</p> + +<p> +– Ausgezeichnet! Wir lassen also die Sklavin +Kusjmowna hier, um die Wohnung zu +hüten, und adieu Rußland! Man muß alles +von sich abschütteln! – Und vor Ueberschwang +der Gefühle und Hoffnungen auf +den Erfolg Rußlands, oder auf seinen eigenen +Sieg im Herzen Europas, begann Sergej +Alexandrowitsch mit den Füßen zu flattern, +wie ein Hahn mit den Flügeln. +</p> + +<p> +– Man soll dann schon auch Weruschka +mitnehmen. Die wird hier zugrunde gehen, +die Unverschämte! – sprach Akumowna, an +ihre Wera denkend, die auf dem Burkowschen +Hof längst zugrunde gegangen war. +</p> + +<p> +– Auch deine Weruschka nehmen wir mit, +Alle werden wir im Auslande sein! +</p> + +<p> +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +Akumowna legte liebevoll Karten für Sergej +Alexandrowitsch. +</p> + +<p> +– Unser Priester in Turij-Rog – erinnerte +sich Akumowna plötzlich, – er war ein guter +Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij! +Vor seinem Tode erhob er sich und fragte: +„Sind die Pferde bereit?“ – „Was für Pferde, +ehrwürdiger Vater?“ – „Ich habe ja +eben ein Paar getraut, man ladet mich zur +Hochzeit ins Ausland!“ sagte er und starb. +</p> + +<p> +– Ein Pope stirbt wie ein Pope! – sagte +Sergej Alexandrowitsch lächelnd und verfolgte +weiter die Karten. +</p> + +<p> +Marakulin aber fühlte plötzlich, wie es in +seinem Innern zuckte, als würde etwas in +ihm brechen, doch die Hoffnung rüttelte und +richtete ihn wieder auf. Alle seine Hoffnungen +waren jetzt auf Plotnikow gerichtet, und +er konnte an nichts andres denken. Die Hoffnungen +waren Mächte. +</p> + +<p> +Der Mai kam. Auf dem belgischen Hof erhoben +sich die weißen Zelte, Ziegelsteine und +Sand wurden angefahren, und die Instandsetzung +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +des Hauses begann. Abends erklang +schluchzend die Balalaika, – von dieser armseligen +nichtrussischen Habe gab es viel auf +dem Burkowschen Hof – und aus den Fenstern +reckten sich die während des Winters +zerzausten, ausgehungerten Köpfe, in der +Hoffnung, sich in der Maisonne etwas zu +erwärmen. +</p> + +<p> +Von Plotnikow aber kam noch immer keine +Antwort. In Marakulins Herz schlich sich +eine unheimliche Unruhe; er fürchtete, es +sich selbst zu gestehen und sprach zu niemand +davon. Die Antwort wird kommen, sie muß +kommen! Sie müssen und sie werden im Ausland +sein, in der Stadt der großen Männer, +im Herzen Europas, in Paris! +</p> + +<p> +Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren +Platz auf Erden finden, ihre Seele wird +sich aufrichten, und sie wird anders lächeln +können; dort, in Paris wird Wera Nikolajewna +sich erholen und ihr Abiturientenexamen +machen; dort in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch +wieder das Trapez besteigen und +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +seine Künste zeigen, und dort in Paris wird +auch Marakulin, während Sergej Alexandrowitsch +im Tanz das Herz Europas besiegen +wird, seine verlorene Freude wiederfinden. Er +wird Werotschka finden, und in Paris wird +Werotschka eine große Schauspielerin werden, +Gottes Friede wird über sie kommen. +Dort, in Paris wird von Akumowna, die als +rollender Stein bis nach Paris gelangt sein +wird, der väterliche Fluch weichen, sie wird +Luft atmen, die sie neun Jahre nicht geatmet +hat, und sie wird es nicht mehr nötig haben, +bis zum Kaiser vorzudringen, oder Aufguß +von Pferdemist zu trinken. Dort, in Paris +wird ihre Wera nicht zugrunde gehen, die +auf dem Burkowschen Hof schon längst zugrunde +gegangen war. +</p> + +<p> +Der Glaube besiegte jeden Zweifel, zerstreute +durch seine Kraft und Festigkeit jedwede Unruhe. +Marakulin glaubte an die Plotnikowschen +Tausend, wie Plotnikow an ihn selbst. +Eine Woche nur blieb noch bis zu Sergej +Alexandrowitschs Abreise ins Ausland. Es +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +wurde beschlossen, daß er mit seinem Theater +vorausfahren und von dort, aus Paris, +schreiben sollte. Inzwischen wird das Geld +angekommen sein, und dann wird fast der +ganze Burkowsche Hof von der Fontanka +geradeaus nach Paris aufbrechen. +</p> + +<p> +Doch diese Woche, voll von Unruhe, Erwartung +und Schwanken zwischen Glaube und +Zweifel, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, +bestimmte von selbst alles auf ihre +Weise. +</p> + +<p> +Im Gymnasium bei Anna Stepanowna +waren die Prüfungen vorüber, und offenbar +waren jetzt endlich die geheimnisvollen Equipierungs-, +Wohnungs- oder Reisegelder – +jeder nannte sie anders – angekommen. Und +da diese Gelder dort nur einmal ausgezahlt +wurden, wurde Anna Stepanowna natürlich +von der Lednjowa gekündigt. Für Anna +Stepanowna, meinte die Vorsteherin, sei es +zu schwer am Gymnasium, sie sei auch nicht +ganz ohne Tadel, sie trage zum Beispiel eine +halsfreie Bluse, das schicke sich nicht; auch +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +lächle sie so eigentümlich, – dieses Lächeln +mache Seine Ehrwürden, den Religionslehrer +Aristowulow verwirrt, das schicke sich +auch nicht; man könnte ja sagen: im Lednjowschen +Mustergymnasium werde Seine Hochwürden +durch eine Lehrerin verdorben, und +das wäre schon ganz fatal! – Mit einem +Wort: wenn der Mensch die Absicht hat, zu +irgendeinem ihm notwendig erscheinenden +Zwecke einen anderen zu beschmutzen, so gibt +er sich Mühe, – dazu ist er ja ein Mensch. +Selbstverständlich ertranken die halsfreie +Bluse und der Priester Aristowulow, der von +Anna Stepanowna verdorben wurde, in den +beliebten Betrachtungen der Lednjowa über +gute Taten überhaupt, über den Verfall der +Moral und über die Sittenverderbnis, über +die junge Sache, die man fördern und über die +Opfer, die man ihr bringen müsse: sie, die +Lednjowa selbst, gebe in ihrem eigenen Gymnasium +Unterricht umsonst, außerdem ernähre +sie zwanzig Lehrer! Ganz Petersburg kenne +sie sehr gut, sie, die Vorsteherin Lednjowa, +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +und die Generalin Cholmogorowa selbst sei +ihre Freundin. +</p> + +<p> +So einfach war das Ende bei Anna Stepanowna, +sehr einfach. Und sie ging lächelnd +– mit jenem Lächeln, das in der Seele weh +tat – ihren Weg, der sie von Leschtschow +zu der Lednjowa führte, und von der Lednjowa +zur Petrowa, zu irgendeiner Seelenschwester +der Lednjowa führen wird, bis +sie endlich aufhören wird zu lächeln. +</p> + +<p> +Endlich kam die so lange, so ungeduldig, so +viel erwartete Antwort von Plotnikow: Plotnikow +ließ Marakulin durch die Bank fünfundzwanzig +Rubel anweisen. So reiste denn +Sergej Alexandrowitsch allein mit dem Theater +ins Ausland, nach Paris, um mit der russischen +Kunst das Herz Europas zu besiegen. +Vor der Abreise mietete er eine Sommerwohnung +in Finnland und überredete Wera Nikolajewna +und Anna Stepanowna zusammen +mit Wassilij Alexandrowitsch, der noch +immer sorgsamer Pflege bedurfte, und damit +er sich ohne Ferse und mit seinem Stöckchen +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +nicht zu sehr langweilte, hinauszuziehen. Mit +der Sklavin Kusjmowna an der Spitze zogen +sie also statt nach Paris nach Tur-Kilja: Wera +Nikolajewna, Anna Stepanowna und Wassilij +Alexandrowitsch, der Clown. Nur Marakulin +und Akumowna blieben zurück, um auf +dem Burkowschen Hof zu übersommern. +</p> + +<p> +– Ich werde zum Kaiser gehen: die Hände +so, wie im Sterben, und werde alles sagen. +Ich werde zum Kaiser gehen, nackt, splitternackt; +die Hände so, wie im Sterben, und +werde ihm alles erzählen. +</p> + +<p> +Aber Marakulin erwiderte Akumowna nichts +mehr, nicht einmal mit ihren eigenen Worten, +die ihr Wahlspruch, ihr Sterbegebet – die +Sühne und der Lohn für alle Taten waren: +Man darf niemand beschuldigen! – Alles +war in ihm still und taub geworden. +</p> + +<p class="tb"> +* * * +</p> + +<p class="noindent"> +Der eine muß verraten, um durch den Verrat +seine Seele aufzuschließen und in der Welt er +selbst zu sein, der andere muß töten, um durch +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +den Mord seine Seele zu finden und wenigstens +als er selbst zu sterben. Marakulin aber +mußte offenbar eine Quittung ausfertigen – +aber nicht an die Person, der sie zukam –, um +seine Seele zu erschließen und in der Welt +nicht ein beliebiger Marakulin zu sein, sondern +als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin, +der er war, sehen, hören und fühlen. +</p> + +<p> +Aber er ertrug es nicht, dieses Leben für nichts: +nur sehen, nur hören, nur fühlen, und flehte +um Ruhe. Da erfand er die Generalin – die +unsterbliche, sünden- und schmerzenlose Laus, +erdachte er ihr königliches Recht, in der Hoffnung, +dadurch seine verlorene große Freude +wiederzugewinnen. Schon begannen auf seinem +glatten, geraden, hoffnungslosen Weg, +wo der letzte Schatten, die letzte Spur der +Hoffnung sich verlor, jene leisen und wie die +Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte +der herannahenden Verzweiflung zu arbeiten, +das feste Mark und die Wurzel seines Lebens +anzunagen und ihn vom Leben abzulösen. +</p> + +<p> +Vom Morgen bis zum Abend lief Marakulin +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +in Petersburg herum, jagte von einem Ende +zum anderen, von Schlagbaum zu Schlagbaum, +von Viertel zu Viertel, – er lief herum +wie eine Maus in der Falle. In seiner Tasche +lag der neue Plotnikowsche Schein, die fünfundzwanzig +Rubel, wie einst Dunjas neues seidenes +Taschentuch mit den in Kreuzstich eingestickten +Anfangsbuchstaben seines Namens, +und er vergaß den Schein wie er einst Dunjas +seidenes parfümiertes Tuch vergessen hatte. +</p> + +<p> +Und dennoch, welch zähes Leben steckt doch +im Menschen! Hin- und hergeworfen, geschlagen +läuft er wie ein geschlachteter Hahn +auch ohne Kopf herum, als wollte er auch +ohne Kopf nach Körnern suchen, und bläht +sich noch auf! Marakulin fand nämlich eine +Beschäftigung, er fand etwas, um sich Luft +zu machen; er machte eine Entdeckung, die in +ihrer Tragweite dem betrunkenen Plotnikowschen +Projekt, die Fliege als Motor auszubeuten, +wahrlich in nichts nachstand: +</p> + +<p> +Man braucht bloß auf die Straße hinauszugehen, +um ganz unabhängig vom eigenen +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +Willen unter die Herrschaft eines besonderen +Gesetzes der Straße zu geraten, und deine +Art aufzutreten und deine Haltung hängt nicht +mehr von dir ab, sondern von der Welle oder +vom Strom, in den du geraten bist. Gerätst +du in die eine Welle, dann ist dir so, als +machten sich alle über dich lustig, als schnitten +dir alle Grimassen, die Frauen kichern, +die Männer schieben ihre Lippen vor und +spitzen sie wie zum Pfeifen. Da kommt eine +andre Welle herangerollt, und das Bild ist +plötzlich verändert: die Männer haben bestialische, +düstre, drohende Gesichter, man begegnet +selten einer Frau, und wenn eine vorübergeht, +so ist sie ganz allein; sie geht und +lacht, sieht niemand, als wäre sie blind, und +lacht zu sich selbst. Wieder eine neue breite +Welle: – lauter Frauen – und es ist einem, +als gäbe es keine böseren Augen, kein böseres +Lächeln; sie betrachten einander, sie stechen +mit den Augen und lächeln, als wollten sie +mit ihrem Lächeln einander verbrühen, die +bösen Weiber. Da rollt noch eine Welle heran: +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +Menschen, gewöhnliche Menschen, – sie +gehen dicht zusammen gedrängt und sind munter. +Aber man sieht keine Kinder unter ihnen, +nur ausgemergelte, verkrüppelte Zwerge mit +schlaff wie Peitschen herabhängenden Armen +und riesengroßen, nach vorn gebeugten Köpfen. +Und so noch viele verschiedene Wellen. +Es gibt auch zurückflutende Wellen. Gerätst +du da hinein, so treibt es dich vom großen +Strom ab, und alles jagt an einem vorbei: +alte Männer, Kinder, alte Frauen, Straßenbahnwagen +und Automobile. +</p> + +<p> +Als Marakulin diese Entdeckung gemacht +hatte, stürzte er sich auf sie mit der gleichen +Hartnäckigkeit, wie einst über den Bericht an +den Direktor. Er war ja jetzt eigentlich wie +tot, man hatte ihn ja bereits begraben. Er erinnerte +sich an die Worte, die der Kassierer +Alexander Iwanowitsch Glotow damals +im Theater zu ihm gesprochen hatte: „Und +wir haben dich schon längst begraben, weißt +du, Petruscha!“ Ja, seit langem hatte man +ihn begraben, und er konnte wie ein Toter, +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +wie eine Leiche, wie einer aus dem Jenseits +leicht, unauffällig und unparteiisch die Diesseitigen, +die Lebenden beobachten. Und jetzt +wollte er seine Entdeckung überprüfen. +</p> + +<p> +Doch wozu sie prüfen, was für einen Sinn +das haben sollte, wer diese Entdeckung +brauchte, welchem Toten, welcher Leiche, +welchem Gespenst aus dem Jenseits, oder +welchem Lebenden zum Spaß oder zu Nutzen +sie dienen sollte? – das fragte er sich +nicht, das ging ihn nichts an; – in ihm war +alles stumm und taub geworden – es war +eben zwecklos und nichts mehr als das Sichaufblähen +des geköpften Hahns. +</p> + +<p> +Doch auch darin irrte er sich. Er hatte keine +Zeit mehr zum Prüfen. +</p> + +<p> +Eines Nachts, als er auf dem Newsky ging, +traf Marakulin Werotschka. Es war so: an +dem Wartturm des Magistrates wurde Razzia +gemacht, und wie immer in solchen Fällen, +liefen auf dem Newsky etwa hundert sinnlos +herausgeputzte Weiber herum, die sich +auf die Passanten stürzten und sie anflehten, +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +sie ein kleines Stückchen zu begleiten. Unter +diesen Weibern fiel ihm eine auf, die ebenso +besinnungslos wie die anderen, vom Bürgersteig +auf den Damm und vom Damm auf den +Bürgersteig sprang. Sie war ganz schwarz +gekleidet. Als sie am Schutzmann glücklich +vorüber war, lief sie zur Anitschkowschen +Brücke. In dieser einsamen Dunklen – alles +war schwarz an ihr: das Kleid, der Hut, +die Handschuhe – erkannte er Werotschka. +Da erinnerte er sich an den neuen Plotnikowschen +Fünfundzwanzigrubelschein, befühlte +ihn in der Tasche – er war jetzt kein +Bettler mehr – und stürzte ihr nach. Aber an +der Anitschkowschen Brücke mischte sich Werotschka +unter die Menge und verschwand +ihm aus den Augen. +</p> + +<p> +– Werotschka! – rief er, indem er sich +bald nach der Fontanka und bald nach dem +Newsky umsah, – Werotschka! – und etwas +Schwarzes, Kaltes wand sich wie eine +Schlange um sein Herz. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen war das erste, was in +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +ihm als Gedanke und Entschluß erwachte, +der feste Vorsatz, schon am frühen Abend auf +den Newsky zu gehen und Werotschka aufzulauern. +Den ganzen Tag blieb er zu Hause. +Es war Donnerstag vor Pfingsten, und Akumowna +hatte heute vor, besonders ausgiebig +Karten zu legen: nach ihr war das ein günstiger +Tag zum Wahrsagen, auch Träume +in dieser Nacht geträumt, sollten die Wahrheit +künden. +</p> + +<p> +Auf den Burkowschen Hof kamen wandernde +Musikanten: eine Harmonika und ein Tamburin. +</p> + +<p> +Die Harmonika spielte ein Handwerker, wohl +irgendein Schlosser oder Wasserleitungsarbeiter, +ein großgewachsener dunkler Mann, +das Tamburin schlug ein kleines Mädchen +in einer Matrosenbluse und Matrosenmütze; +sie war etwa zwölf Jahre alt, man konnte es +genau nicht feststellen. Das kleine Mädchen +hatte nur ein Bein. Sie stützte sich auf einen +Stock und hielt das Tamburin auf dem gebogenen +Knie. +</p> + +<p> +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +Das kleine Mädchen sang zur Harmonika. +</p> + +<p> +Sie sang ein Lied, wie es in Fabriken gesungen +wird, mit fremden Versen durcheinandergemengt, +wie: „Ich werde auf den Grund +des Meeres tauchen, ich werde fliehen zu den +Wolken hinan,“ sie sang aus Zigeunerliedern +von Troikas und von feurigen Augen und +gefühlvollen Tränlein. Plötzlich brach auch +eine uralte Weise durch. Sie sprach rein und +deutlich aus, so daß man jedes Wort verstehen +konnte. Aber nicht am Wort lag es. +Mit einem vollen tiefen Alt sang das kleine +Mädchen und schlug das Tamburin dazu. +Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit +des Meeres war das Lied getränkt. +Und das Tamburin schlug, wie das Herz +schlägt. +</p> + +<p> +Die Musikanten wurden von den Kindern +umringt; sie ließen ihre wilden Spiele und ihre +wilden Arbeiten, sie standen still herum und +wandten kein Auge ab von dem einbeinigen +kleinen Mädchen, wie einst von der Katze +Murka, die sich vor Schmerz auf den Steinen +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +gewälzt hatte. Und das Mädchen sang. +Der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt +– er hielt sich stets in der Nähe der Kinder +auf – der schwarze Perser hockte sich ebenfalls +hin und rollte seine Augäpfel. Und das +Mädchen sang. Mit einem vollen tiefen Alt +sang das kleine Mädchen und schlug das +Tamburin im Takt zu. Von der Weite der +Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres +war das Lied getränkt. Und das Tamburin +schlug, wie das Herz schlägt. +</p> + +<p> +Die Kinder rückten immer näher zu dem einbeinigen +Mädchen, als wollten sie es nicht +von sich lassen. Nun verdeckten sie es ganz, +so daß man es nicht mehr sehen konnte, +und es schien, es singe die Erde und die +Steppe, das Meer – die Weite und Unermeßlichkeit, +das Herz der Erde. Und man +fürchtete, daß das Lied bald zu Ende sein +und das Mädchen zu singen aufhören und +fortgehen würde. Man wollte nicht, daß sie +fortgehe. +</p> + +<p> +Aber der Gesang war zu Ende. Es spielte +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +nur noch die Harmonika allein. Das kleine +Mädchen humpelte, auf den Stock gestützt, +über den Kies und schien sich mit dem hingehaltenen +Tamburin im Hof zu drehen und +sah ohne Lächeln mit ihrem offenen, reinen +Gesicht nach oben zu den Fenstern hinauf, +wie die Katze Murka zu den Fenstern hinaufgesehen +hatte, als sie sich vor Schmerz +auf den Steinen wälzte. +</p> + +<p> +Akumowna begann so seltsam kindlich und +bitter zu weinen, sicher weil sie an ihren +Fluch: „Wie ein rollender Stein um die +weite Welt“ dachte. +</p> + +<p> +Marakulin stürzte auf die Straße und holte +die Musikanten, die schon vor dem Tor waren, +ein. +</p> + +<p> +– Wie heißt du, kleines Mädchen? – fragte +er, ihre Hand berührend. +</p> + +<p> +– Marja – antwortete das Mädchen, indem +sie, ohne zu lächeln, ihm ihr offenes, reines +Gesicht zuwandte. +</p> + +<p> +Auch der Harmonikaspieler blieb stehen, zog +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +seine Mütze. Es war wohl der Vater. Er war +von dunkler Farbe und rauh. +</p> + +<p> +Marakulin nahm Plotnikows neuen zerknüllten +Schein, steckte ihn dem kleinen Mädchen +in die Hand und ging fort, ohne sich umzusehen. +Und als wollte es ihn einholen, so +strömte das breite Lied. Von der Weite der +Steppe und von der Unermeßlichkeit des +Meeres war das Lied getränkt. Und das +Tamburin schlug, wie das Herz schlägt. +</p> + +<p> +Er ging seinen glatten, geraden Weg nach +dem Newsky. Schon sank die Nacht herab. +Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka +warten. Die ganze Nacht wird er +auf sie lauern. Und er wird sich nicht irren. +Es war ja eine weiße Nacht – die weiße +Nacht trügt nicht. +</p> + +<p> +Die weiße Nacht trügt nicht: ein Mädchen +ganz in Schwarz stieß ihn an und lief, das +Kleid raffend, in der Richtung der Anitschkowbrücke. +Alles an ihr war dunkel, das +Kleid, der Hut, die Handschuhe – er erkannte +Werotschka und stürzte ihr nach. +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +Aber an der Anitschkowbrücke mischte sich +Werotschka unter andere Frauen – sie war +nicht allein in Schwarz. +</p> + +<p> +– Werotschka, Werotschka! – rief er, jeder +Dunklen in die Augen schauend. Es waren +aber ihrer nicht zwei, nicht drei, es waren +ihrer eine ganze Menge. Und alle wichen ihm +aus, sammelten sich und schlichen wieder an +ihn heran, leise und unmerklich, dunkel und +still. Und etwas Dunkles und Kaltes umwand +wie eine Schlange sein Herz. +</p> + +<p> +Und nachts, in der Donnerstagnacht vor +Pfingsten, träumte Marakulin, als säße er am +Tisch beim Samowar in einem großen vollgestellten +Zimmer, und alles war hingeworfen +und zerstreut, wie nach einer Vorbereitung +zur Reise, und lauter unbekannte Menschen +waren im Zimmer, alle so müde und niedergeschlagen. +Und neben ihm saß – er wurde +es mit Ekel gewahr – eine stülpnasige Frau +mit großen Zähnen und nackt, und mit ihr noch +jemand in dunklen Kleidern. Sie beugten sich +über dem Gerümpel und ordneten die Lumpen. +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +Verdrossen nahm er ein Glas und zielte +nach dem leeren, nackten Schädel. +</p> + +<p> +Sie aber, die stülpnasige Nackte mit den großen +Zähnen, erhob sich und wandte sich zur +Tür. +</p> + +<p> +– Am Sabbat – sie klapperte mit den Zähnen +und lachte – vergiß nicht, Akumowna +ein Pfund zu geben – sie klapperte mit den +Zähnen und lachte, – und die Mutter wird +in Weiß sein – sie lachte und zeigte ihre großen +Zähne. +</p> + +<p> +– Was für ein Pfund? Graupen etwa? – +begann er erbittert zu streiten, als stritte er um +sein letztes Recht, sich keinem Termin, keinem +Sabbat zu fügen – ach was, red’ keine +Dummheiten! oder ein Pfund Sterling, ja? +</p> + +<p> +– Am Sabbat – lachte die stülpnasige +Nackte mit den großen Zähnen, und schon +klapperte sie, ohne sich umzusehen, die Steintreppe +hinunter auf den Hof. +</p> + +<p> +Im Hof aber – es war ja Burkows Hof – +strömten alle Einwohner aus allen Wohnungen, +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +aus dem Seitenflügel und aus den +Gorbatschowschen Winkeln zusammen: alle +sieben Hausmeister – der erste Hausmeister +Michail Pawlowitsch und Antonina Ignatjewna, +seine Gemahlin, der Paßaufseher +Jerkin, Stanislaus der Kontorist mit der +abgebissenen Nase, und Kasimir der Monteur, +der Portier Nikanor und Wanjuschka, +Nikanors Bub, den die kleinen Kinder zum +Tode durch den Strang verurteilt hatten, +und die kleinen Kinder, die ihn verurteilt +hatten, und der Perser, der Masseur aus der +Badeanstalt, und das kleine Mädchen, das +einst Murka Milch gebracht hatte, und die +Schuster, Bäcker, Bademeister, Friseure, +Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine +Schwester aus dem Obuchowschen Krankenhaus, +Kondukteure, Maschinisten, Kürschner, +Schirmmacher, Bürstenmacher, Wasserleitungsschlosser, +Setzer und allerlei Mechaniker +und elektrische Arbeiter mir ihren Familien, +allerlei „Fräulein“ von der Gorochowaja +und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmädchen, +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +Mädchen aus der Teestube, und +elegante junge Leute aus den Badeanstalten, +die die Petersburger Damen auf Wunsch +bedienen, und die Alte, die an der Badeanstalt +Sonnenblumensamen und allerlei Kram feilbietet, +stellungslose Köchinnen, Maler, Tischler, +fliegende Händler – mit einem Wort: +der ganze Burkowsche Hof – ganz Petersburg. +</p> + +<p> +Und alle sehen nach oben zum Fenster hinauf, +wie Murka hinaufgesehen hatte, als sie vor +Schmerz sich auf den Steinen wälzte, wie +die wandernde Sängerin hinaufgesehen, als +sie sich im Hof auf ihrem einen Bein herumdrehte, +mit dem Tamburin in der Hand. +</p> + +<p> +– Was hat sie gesagt? – fragt jemand Marakulin. +</p> + +<p> +Und Marakulin steht am Fenster, wie der +Starez Kabakow, der durch Gebete die +Stimme des Himmels befragt, – so steht er +vor dem Volk. +</p> + +<p> +– Einer von uns wird sterben! – sagt Marakulin. +</p> + +<p> +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +Und zur Antwort flüstert der ganze Burkowsche +Hof in Todesbangen: +</p> + +<p> +– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s, Herr? +</p> + +<p> +Und hoch oben, viel höher als die vier belgischen +Ziegelschlote mit den Blitzableitern, +schweben wie grüne Vögel grüne Aeroplane +und verdecken mit ihren riesengroßen grünen +Flügeln den Himmel. +</p> + +<p> +– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s Herr? – flüstert +der Burkowsche Hof in Todesbangen. +</p> + +<p> +Und schon geht Marakulin nach Hause, nach +der Fontanka, und seltsam! er hört, wie man +in der Auferstehungskirche auf der Taganka<a class="fnote" href="#footnote-13" id="fnote-13">[13]</a> +zur Abendmesse läutet. Er geht nicht den herrschaftlichen +Eingang hinauf, sondern durch +die Küche. Er macht die Tür auf, und in der +Küche sitzt am Herd eine Frau, Akumowna +ähnlich, und doch nicht Akumowna, ganz in +Weiß. Er erinnert sich an die Worte der +Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen: +„Die Mutter wird ganz in Weiß sein“, +und stürzt ins Zimmer. +</p> + +<p> +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +Auch dieses Zimmer ist vollgestellt, und Sachen +sind da verstreut und hingeworfen, wie +nach einer Vorbereitung zur Reise, nur sind +die Unbekannten nicht mehr da, keine Seele ist +im Zimmer, nur seine Mutter sitzt, seine Mutter +allein, mit dem Kreuz auf der Stirn. +</p> + +<p> +– Sie ist schon gekommen, sie sitzt hier – +sagt die Mutter. Sie spricht von jener, die in +der Küche vor dem Herd ganz in Weiß sitzt, +und beginnt zu weinen. +</p> + +<p> +Voll Verzweiflung und Todesbangen erwachte +Marakulin. Es war Freitag. Und +von dem düsteren Gedanken getroffen, daß +seine Frist der Samstag sei, daß nur ein Tag +ihm geblieben sei, wurde er eisstarr. Er wollte +es nicht glauben und glaubte es doch, und +weil er glaubte, verurteilte er sich selbst zum +Tode. +</p> + +<p> +Der Mensch wird geboren und ist bereits +verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, +und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil +vergessend, weil man die Stunde +nicht kennt. Aber wenn einem der Tag gesagt +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +wird, wenn die Zeit abgemessen, die Frist bestimmt +und der Sabbat verkündigt ist – das +geht über die Kraft, die Gott dem Menschen +verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben +beschenkt, zum Tode verurteilt und dem +er die Todesstunde verheimlicht hat. +</p> + +<p> +Als Marakulin an die Wahrheit seines Traumes +glauben mußte, da fühlte er, daß er es +nicht aushalten würde, den Sabbat abzuwarten, +und seit dem Morgen in Verzweiflung, +in Todesbangen durch die Straßen +schweifend, harrte er der Nacht. Er wollte +nur eins noch: Werotschka sehen, ihr alles +erzählen und von ihr Abschied nehmen. +</p> + +<p> +Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen +Weg, wo der letzte Schatten und die +letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten +jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen, +dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung +die letzten Fasern seiner einst so +festen Lebenswurzel. +</p> + +<p> +Es ward ihm schwer, sich vom Leben loszureißen. +</p> + +<p> +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +Vielleicht aber war der Traum nur ein Traum, +und in Wirklichkeit würde etwas anderes +kommen? Warum mußte er dem Traum glauben? +War das nicht töricht? Wer weiß, wohin +das führt! Es pflegt ja auch sonst so zu +sein! Vor dem Tode träumt man nicht nur +etwas Belangloses: daß man einen Stiefel +verliert, oder sonst einen Gegenstand, oder +daß man im Begriff ist, ins Ausland zu +reisen ... +</p> + +<p> +Da erinnerte sich Marakulin an die geplante +Auslandsreise, an seinen paradiesischen +Traum von Paris, und fuhr auf. +</p> + +<p> +Er stand an einem Bretterzaun, der ganz mit +Anzeigen bedeckt war, und konnte nicht erkennen, +in welcher Straße er sich befand. +Ueber den Bäumen ragte die Turmspitze des +Ingenieurschlosses, als er aber längs des +Zaunes und, wie ihm schien, geradeaus in der +Richtung der Turmspitze sich in Bewegung +setzte, verschwand sie plötzlich. Er wagte +nicht weiterzugeben, als harrte eben dort +seiner sein Sabbat, seine letzte Frist, seine +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +Stunde. Er kehrte um und hatte die Spitze +wieder vor sich. Er schritt also tapfer längs +des Zaunes in die entgegengesetzte Richtung, +die Spitze blieb lange vor seinen Augen, verschwand +aber dann ebenso wie das erstemal +ganz plötzlich. Und er wagte nicht weiterzugehen, +als harrte eben dort seiner sein Sabbat, +seine letzte Frist, seine Stunde. Und so ging +er am Zaun entlang, hin und zurück, die Spitze +des Ingenieurschlosses immer im Auge, bis +zu einer Grenze, die er sich selbst bestimmte, +voll Verzweiflung und Todesbangen. +</p> + +<p> +Es war das Ungemach, das ihn so führte, +das Unglück jagte ihn von Straße zu Straße, +von Gäßchen zu Gäßchen, blendete ihm die +Augen und verwirrte ihn; es war sein Schicksal, +dem man sich nicht widersetzen und nicht +entrinnen kann. +</p> + +<p> +Das tödliche Bangen und die Last der Verzweiflung +erschöpften ihn endlich. Die letzte +Frist, die Stunde waren vergessen, sein Kopf +sank herab, und die noch gehorchenden Beine +brachten ihn auf den Weg. Er ging durch +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +die Ingeniernaja und wollte gerade die +Straße zum Michailowschen Palast überschreiten. +</p> + +<p> +Da klammerte sich ein altes, zerlumptes, zusammengeschrumpftes, +triefäugiges Weiblein +fest an seine Hand, damit er ihm über die +Straße helfe. Und obwohl es so klein war – +nichts als ein Häuflein Knochen – so erschien +es ihm, wie es mit seinen knöchernen Fingern +so fest an ihm hing, als hätte es überhaupt +keine Beine, so schwer, daß er mit Mühe +die Schienen erreichte. Und während er die +Schienen überschritt, wurde die Alte noch +schwerer, und es war ein Wunder, daß er +nicht unter den Wagen geriet: der sausende, +ununterbrochen klingelnde Wagen flog so +hart an ihm vorbei, daß ihm ganz heiß +wurde. +</p> + +<p> +Marakulin ließ die Alte stehen und begann +zu laufen. Abwechselnd flammendheiß und +eiskalt lief er in der Richtung des Narva-Tores. +Er floh vor der knöchernen Alten, er +floh vor seiner letzten Frist, und gerade auf das +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +Narva-Tor zu, unter den Bogen: dort war +keine knöcherne Alte und wird nie eine sein, +dort wird er seine letzte Frist, seine Stunde, +seinen Sabbat vergessen. +</p> + +<p> +Aber als er die Gorochowaja erreichte, ging +er nicht die Ssadowaja entlang, sondern bog +in die Fontanka ein. +</p> + +<p> +Auf der Fontanka, im Seitengäßchen, in der +Nähe des Burkowschen Hauses, wurde ein +junges Mädchen – offenbar eine Revolutionärin +– von der Polizei verfolgt. Die +Schutzleute hatten das Gäßchen umzingelt +und man konnte nicht passieren. Marakulin +blieb stehen. +</p> + +<p> +Die Jagd dauerte ziemlich lange, endlich +wurde das Mädchen von einigen Männern +in Zivil, Spitzeln offenbar, dicht umringt und +zu einer Droschke geführt. Die Revolutionärin +erinnerte ihn durch etwas an die Wandersängerin +von gestern, an das kleine Mädchen. +Vielleicht erinnerte ihn an Maria ihr offenes, +reines Gesicht, das aber frisch und rosig war. +Sie war schlank. Die Haarnadeln waren ihr +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +herausgefallen, der Strohhut saß schief und +das volle blonde Haar war aufgelöst. Der +Reviervorsteher setzte sich zu ihr in den Wagen +und man führte sie ab. +</p> + +<p> +„Maria Alexandrowna,“ – dachte Marakulin, +„so ist Maria Alexandrowna, die sich +selbst zum Opfer auserkor, und bereit ist, noch +einmal für die Menschheit zu sterben!“ Er +ging weiter, am Burkowschen Hof vorbei, +die Fontanka entlang. +</p> + +<p> +An der Ismailowschen Brücke, drei Schritte +von der Bierwirtschaft, holte er eine Dame +ein. Sie war nicht mehr jung und schon ganz +grau, aber kräftig und gesund, ging sie im +gleichmäßigen Schritt, als spazierte sie nur +der Motion wegen. Als aber Marakulin sie +überholen wollte, beugte sie sich etwas vor +und begann ganz unsinnig zu laufen. In diesem +Augenblick knallte aus dem Wirtshaus +ein Schuß und ein zweiter, Hilferufe ertönten +– und auf dem Bürgersteig lag mit durchschossenem +Rücken, das Gesicht an die Steine +gepreßt, die Dame – die gesunde, kräftige, +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +alte Frau, und neben ihr, noch rauchend, der +versengte Klappstuhl. +</p> + +<p> +„Da hast du die Unsterbliche!“ dachte Marakulin, +als er in der Ermordeten seine unglückselige +Generalin erkannte, dieses auserwählte +Gefäß, die Laus, die er mit dem königlichen +Recht beschenkt hatte, in jener grausamen +Burkowschen Nacht. +</p> + +<p> +Nun war ihr das königliche Recht vom blinden +Zufall geraubt, und auch der Klappstuhl +hatte ihr nicht geholfen. +</p> + +<p> +Von der Fontanka und den Seitengäßchen +strömte eine Menschenmenge herbei. Alle +starrten mit Neugierde, mit Schrecken und +mit jener besonderen Schadenfreude, mit der +lebendige Augen in tote blicken, in das Gesicht +der Toten. Sie aber, die Unsterbliche, +Sündenlose, Kummerlose, lag da unbeweglich, +mit ihrem durchbohrten Rücken, hilflos, +leblos, unselig. +</p> + +<p> +– Das ist eine von unseren Burkowschen, +die Generalin Cholmogorowa! – erklärte +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +Marakulin dem herbeigeeilten Schutzmann. +</p> + +<p> +Man trug die Generalin fort. Der weiße +Schleier auf ihrem Hut war aufgegangen +und schleifte flatternd nach wie Spinnweb. +Marakulin schritt der Menge voraus, hinter +dem Klappstuhl. +</p> + +<p> +Und wieder ging er an seiner Wohnung vorbei +in die Gorochowaja, und von da weiter +bis zum Admiralitätspalast und wiederholte +immer wieder vor sich ganz stumpf: „Da hast +du die Unsterbliche! Da hast du Unsterblichkeit!“ +</p> + +<p> +Im Alexandergarten setzte er sich erst auf eine +Bank, plötzlich aber sprang er wie gestochen +auf und ging weiter. Vor dem Denkmal Peters +des Großen blieb er stehen. +</p> + +<p> +– Peter Alexejewitsch – sagte er, zum Denkmal +gewandt, – Eure kaiserliche Majestät! +Das russische Volk trinkt Aufguß von Pferdemist +und gewinnt das Herz Europas für anderthalb +Rubel mit Gurken. Mehr habe ich +nicht zu sagen! – Er zog den Hut, grüßte +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +und ging weiter, den Englischen Kai entlang, +über die Nikolaibrücke auf die Wassiljewskiinsel. +</p> + +<p> +Auf dem kleinen Boulevard zwischen der Siebenten +und der Sechsten Linie, hinter dem +Ssredny-Prospekt versperrte ihm eine Menschenansammlung +den Weg. Die Menge +stand schweigsam, ohne ein Wort zu sprechen, +und es war ungewöhnlich still. Unter +einem Baum saß eine alte Frau, ihr von +schweren weißen Flechten umwickelter Kopf +zitterte. Sie sah starr vor sich hin. Nicht +Tränen, sondern Blut floß ihr die Wangen +herab, in stillen Bächlein aus den demütig +stillen Augen. +</p> + +<p> +„Sie hat umsonst gewartet“, dachte Marakulin, +„sie hat es nicht erlebt. Sie hat das +gottgefällige Werk nicht vollbracht, sie hat +ihr Glück niemand überliefert, die Unglückselige!“ +– Und er verspürte plötzlich einen +schrecklichen Durst, als hätten ihn diese stillen, +blutigen Tränen versengt. +</p> + +<p> +Nicht weit vom Kleinen Prospekt auf der +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +Siebenten Linie befand sich neben einem großen +Gebäude in einem kleinen einstöckigen +Häuschen eine Schankwirtschaft. Marakulin +fand noch ein letztes vergessenes Zehnkopekenstück +in der Tasche und ging hinein: +der Durst quälte ihn unerträglich. +</p> + +<p> +Er setzte sich an ein schmutziges, nasses Tischchen, +mit dem Gesicht zum Fenster und nahm +ganz mechanisch eine Zeitung zur Hand, nicht +um zu lesen. +</p> + +<p> +– Einen Hungrigen kann man satt machen, +einen Armen kann man reich machen – er +vernahm eine bekannte Stimme und bekannte +Worte, – aber sobald du verliebt bist und +dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit, +da kannst du meinetwegen platzen, es +gibt keine Hilfe! +</p> + +<p> +„An Murkas Tage war es, der unruhige alte +Gwosdjow, der sagte es!“ erinnerte sich Marakulin, +legte die Zeitung weg und trank das +lauwarme Bier. +</p> + +<p> +– Sie scherzen immer, Alexander Iwanowitsch, +– – ich habe neulich eine Maus +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +aufgegessen, Alexander Iwanowitsch, – auf +dem Hof des Athosklosters – für fünf Rubel. +Ich habe mit der heiligen Brüderschaft +gewettet. „Ißt du die Maus auf, Gwosdjow,“ +sagten sie, „dann ist der Fünfer dein, +wenn nicht, mußt du uns bezahlen!“ Schön. +Sie fingen gleich ein Mäuslein, im Klosterhof +gibt es viele. Es war eine graue, junge. +Ich zog dem Mäuslein die Haut ab, röstete +es an den Seiten ein wenig an, wegen des +Wohlgeschmacks, zerschnitt es in Scheibchen, +salzte es, sprach den Segen und aß es +auf. Und aß das Mäuslein auf. Ich nahm +die fünf Rubel und wollte mich vor Lachen +ausschütten. Ich sagte: „Und ihr seid mir +noch Athonische, hehe ... fünf Rubel für +ein junges Mäuslein; ich hab’ ja bei Prokopij +dem Gerechten so eine Ratte und dazu +ohne Salz für einen Rubel gegessen!“ Wenn +man sich nur durchfrettet, Alexander Iwanowitsch! +</p> + +<p> +Und als Antwort auf Gwosdjows Worte +erklang eine gerührte Stimme: +</p> + +<p> +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +– Euretwegen geh’ ich zugrunde, ihr lieben +Aeuglein! +</p> + +<p> +– Ich selbst bin auch auf Weiber lecker, +Alexander Iwanowitsch! +</p> + +<p> +Gleich darauf fiel etwas schwer auf den klebrigen +Boden, begann zu strampeln und bitter +zu weinen, so bitter, wie nur Kinder weinen, +so bitter, wie Akumowna weinte, als sie +durch Marjas Gesang an alle ihre Erlebnisse +erinnert wurde. +</p> + +<p> +Nachdem er das laue Bier, das seinen Durst +noch gesteigert, ausgetrunken hatte, ging Marakulin +hinaus. +</p> + +<p> +Er ging seinen glatten geraden Weg auf den +Newsky. Die Nacht sank bereits herab. Dort +auf dem Newsky wollte er auf Werotschka +warten. Dort wollte er ihr die ganze Nacht +auflauern. Er wird sie sehen, ihr alles erzählen, +von ihr Abschied nehmen. Und er wird +sich nicht irren. Es ist ja eine weiße Nacht – +die weiße Nacht trügt nicht. +</p> + +<p> +Die weiße Nacht trügt nicht: Werotschka +erschien auch bald. Er erkannte sie an ihrem +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +schwarzen Kleide. Aber er erstarrte vor Entsetzen: +alle Frauen waren ausnahmslos in +Schwarz – alles an ihnen war schwarz, die +Kleider, die Hüte, die Handschuhe. Sie wichen +nicht mehr aus, sie gingen sicher und +stolz am Polizisten in der weißen Sommeruniform +vorbei, sie umsegelten den Polizisten +in Weiß wie in einem altertümlichen feierlichen +Tanz, von der Snamenje-Kirche zur +Admiralität und von der Admiralität zur +Snamenje-Kirche. +</p> + +<p> +– Werotschka – rief er, – Werotschka! – +Er sah einer jeden in die Augen, ohne eine auszulassen, +und etwas Kaltes und Dunkles ringelte +sich wie eine Schlange um sein Herz. +Es war die Verzweiflung, die sich um sein +Herz ringelte. +</p> + +<p> +Schon schritt der Tod auf verschlungenen +Seitenpfaden seiner Schwelle zu. +</p> + +<p> +Die ganze Nacht streifte er herum, voll Verzweiflung +und Todesbangen, sah jeder Frau +in die Augen, ohne auch nur eine zu übersehen, +blieb zuweilen auf der Anitschkowbrücke +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +stehen und ließ sie Alle an sich vorbeipassieren. +Sie umsegelten ihn, wie den Schutzmann in +Weiß, sie schritten sicher und stolz, wie in +einem altertümlichen feierlichen Tanz von +der Snamenje-Kirche bis zur Admiralität, +und von der Admiralität bis zur Snamenje-Kirche. +</p> + +<p> +Und als die Sonne aufging und all die schwarzen +Gestalten irgendwo verschwanden und +keine einzige mehr blieb – niemand war +mehr auf dem Newsky außer den Schutzleuten +in Weiß – da wandte sich Marakulin +durch die Litejnaja zum finnländischen +Bahnhof. +</p> + +<p> +Er beschloß ganz plötzlich, – vielmehr es +beschloß in ihm von selbst – nach Tur-Kila +in die Sommerfrische zu Wassilij Iwanowitsch +zu fahren, zu Wera Nikolajewna und +Anna Stepanowna. Sie haben ihm ja schon +oft geholfen, sie werden ihm auch jetzt helfen, +sie werden ihm Milch geben, – er hat Hunger +– er ist ja nur zwölf Jahre alt! – sie +werden ihm Milch geben ... +</p> + +<p> +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +Es war der Sonnabend vor Pfingsten und +auf der Litejnaja wurden die Pfingstbäumchen +angefahren: lockige grüne Wagen zogen +durch die Straße, voll von grünen jungen +Birken. +</p> + +<p> +Auf dem finnländischen Bahnhof verkehrten +noch keine Züge. Er mußte warten, aber +er wollte nicht auf dem Bahnhof warten. +Marakulin ging erst über die Schwellen der +Schienen, aber nachdem er ein Weilchen +gegangen war, verließ er die Schienen, setzte +sich an den Rand eines Grabens und schlief +ein. Er schlief so fest, wie Plotnikow die zwei +Tage nach jenem schlimmen Delirium-Anfall +geschlafen hatte. +</p> + +<p> +Als er erwachte, war es Abend, der Sonnabend +ging zur Neige. Und wieder jäh von +dem düsteren Gedanken getroffen, daß sein +Ende der Sabbat sei, wurde er eiskalt. Er +wollte an seinen Traum nicht glauben und +glaubte doch, und indem er glaubte, verurteilte +er sich selbst zum Tode. +</p> + +<p> +Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt, +und dennoch lebt man, verurteilt und das +Todesurteil vergessend, weil man die Stunde +nicht kennt. Aber wenn der Tag einem gesagt +wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte +Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt +ist, – das geht über die Kraft, die Gott dem +Menschen verliehen, dem Menschen, den er +mit dem Leben beschenkt, zum Tode verurteilt, +dem er aber die Todesstunde verheimlicht +hat. +</p> + +<p> +Der Sabbat war gekommen, der Sabbat +ging zur Neige, seine letzte Frist, seine letzte +Stunde nahte. +</p> + +<p> +Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen +Weg, wo der letzte Schatten und die +letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten +jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen, +dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung +die letzten Fasern seiner einst so +festen Lebenswurzel. +</p> + +<p> +Es war ihm schwer, sich vom Leben loszureißen. +</p> + +<p> +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> +Oder vielleicht war der Traum nur ein +Traum und in Wirklichkeit würde etwas +anderes kommen? Warum mußte er dem +Traum glauben? War das nicht töricht? +Wer weiß, wohin das führte? +</p> + +<p> +Warum hatte er bloß Akumowna diesen +düsteren Traum nicht erzählt, Akumowna +konnte ihn vielleicht deuten, sie, die Göttliche +wüßte zu sagen, ob er wahr sei oder +nicht. +</p> + +<p> +Marakulin stürzte erregt zur Trambahn und +stieg in einen Wagen. Da erinnerte er sich, +daß er sein letztes Zehnkopekenstück in der +Wirtschaft ausgegeben und sprang ab und +lief zu Fuß nach der Fontanka, die Elektrische +fast überholend. +</p> + +<p> +Er erreichte die Fontanka und das Burkowsche +Haus, aber es wurde ihm nicht leicht, in +die Wohnung zu gelangen. Es schien ihm, +als hätte er mindestens eine halbe Stunde +geklingelt, aber niemand öffnete und keine +Stimme ließ sich vernehmen. Er hörte zu +klingeln auf und begann an die Tür zu klopfen, +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +aber auch auf das Klopfen erwiderte niemand. +Es blieb still in der Wohnung, nur +der Wind pfiff durch die Türspalte, – offenbar +standen die Ofenklappen auf – der +Wind pfiff unheimlich. +</p> + +<p> +Noch einmal klingelte Marakulin, klopfte +noch einmal, wartete und ging dann in die +Portierloge. Aber auch Nikanor war nicht +da. Er war in irgendeinen Kramladen gegangen; +Wanjuschka aber, Nikanors Sohn, +wußte nur zu sagen: er habe Akumowna am +Morgen gesehen, seitdem sei er nicht mehr bei +ihr oben gewesen; Akumowna sei zu Hause. +Dabei lachte er über irgend etwas. +</p> + +<p> +Wenn sie aber zu Hause war, warum hörte +sie nicht das Klopfen und öffnete die Tür +nicht? Er hatte ja mindestens eine halbe Stunde +geklingelt und nicht weniger lange geklopft. +– War die Alte etwa tot? +</p> + +<p> +Er ging in das Seitengäßchen, trat ins Haustor +und stieg die Hintertreppe hinauf. Aber +seltsam: – während er hinaufstieg, glaubte +er plötzlich in der Auferstehungskirche auf der +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +Taganka<a class="fnote" href="#footnote-14" id="fnote-14">[14]</a> zur Abendmesse läuten zu hören, +und sein Herz begann voll Unruhe rasch zu +pochen. +</p> + +<p> +Die Tür in die Küche war nicht verschlossen. +Akumowna saß am Herd, ihr Kopf war mit +einem weißen Tuch umwickelt – mit einem +weißen Tuch. Er erinnerte sich an die nächtlichen +Worte aus seinem Traum in der Donnerstagnacht: +„Die Mutter wird in Weiß +sein.“ Vor Akumowna lagen auf einem Tellerchen +zwei Eier, das dritte aß sie grade. +„Das Pfund!“ flog es Marakulin durch den +Sinn, „– das ist das Pfund!“ +</p> + +<p> +Akumowna lächelte nicht, und ihre Augen +waren fremd und hervorquellend. Nicht Akumowna +saß am Herd, nein, nur eine, die Akumowna +ähnlich sah. Und Entsetzen übermannte +Marakulin. +</p> + +<p> +– Guter, gnädiger Herr! – Akumowna erhob +sich plötzlich von ihrem Platz und sprach +die Worte mit einer heiseren, betrunkenen +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +Stimme, die der Stimme Akumownas nur +von ferne glich. +</p> + +<p> +Marakulins Kräfte waren zu Ende, er klammerte +sich an den Türpfosten und begann zu +stöhnen. +</p> + +<p> +– Lieber gnädiger Herr, Gott behüte Sie, +gnädiger Herr, Peter Alexejewitsch! Gleich +bereite ich den Samowar, im Augenblick! – +Jetzt wurde sie auf ihre gewöhnliche Art geschäftig, +legte das Ei fort, ergriff den blanken +Samowar und begann mit dem Blechrohr +zu klappern. +</p> + +<p> +Marakulin ließ sich auf Akumownas Bank +nieder, konnte aber nichts sagen; die Kehle +war ihm zugeschnürt und seine Lippen bebten. +</p> + +<p> +– Lieber gnädiger Herr, – Akumowna +machte sich mit dem Samowar zu schaffen, +– mit mir ist was passiert, ich wäre fast gestorben, +aber Gott hat sich meiner erbarmt! +</p> + +<p> +In der Tat, mit Akumowna hatte sich etwas +ereignet, und wie sie dabei heil geblieben, +war das reinste Wunder – Gott hatte sich +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +ihrer erbarmt. Darum hatte sie weder das +Klingeln noch das Klopfen gehört. Ja, es +sei noch ein Glück, daß sie Marakulin überhaupt +erkennen konnte und noch so viel Stimme +hatte, um ein Wort hervorzubringen. Die +Eier aber esse sie, um wieder zu Stimme zu +kommen, und wenn auch heiser, so doch sprechen +zu können und nicht wie eine Kuh zu +muhen; – man könne auch das noch erleben. +</p> + +<p> +Akumowna war nämlich am Morgen auf +den Boden hinaufgestiegen. Sie wollte die +Wäsche, die dort hing, abnehmen, um sie +noch vor der Abendmesse zu Pfingsten fertig +zu plätten. Aber irgend jemand hatte sich +wohl den Spaß gemacht, sie dort einzuschließen. +Sie hatte zu schreien begonnen und schrie +wohl ziemlich lange, aber niemand hörte sie. +Es war ja kein Mensch in den Wohnungen, +da sich alle in der Sommerfrische befanden, +und keine Köchin, kein Hausmädchen hatte +etwas auf dem Boden zu tun. Akumowna +wußte, daß es nutzlos war, rief aber doch. +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +Was sollte sie wohl anderes tun? Und wie +sollte sie nicht schreien? Sollte sie auf dem +Boden bleiben – wie lange? bis zum Herbst? +bis die Leute aus der Sommerfrische zurückkehren +würden? oder bis sich jener ihrer erbarmt, +der sie eingeschlossen hatte? konnte man +sich darauf verlassen? Man konnte sie ja inzwischen +vergessen haben! Konnte man es +wissen? Und auf dem Boden bleiben konnte +sie doch auf keinen Fall! Sie war schon ganz +heiser vom Schreien. Und so kroch sie im +Dunkeln herum, um das vernagelte Fenster +zu finden: sie hatte sich erinnert, daß da ganz +unten am Dach ein Fenster war. Sie tappte +um sich herum und fand schließlich eine +Spalte, fand das mit Brettern vernagelte +Fenster. Sie krallte sich in ein Brett, um es +abzureißen, aber es saß zu fest, und wie sehr +sie sich anstrengte, gelang es ihr nicht, die +Oeffnung zu erweitern. Die Spalte aber war +so klein, daß kaum eine Maus hätte durchschlüpfen +können. Sie hing sich daran mit +aller Kraft, riß mit beiden Händen – endlich +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +gab es nach. Gott sei Dank, freies Licht! Sie +bekreuzigte sich und stieg auf das Dach hinaus. +In der Verwirrung aber wandte sie sich +nach der herrschaftlichen Seite, nach den +Kasernen zu. Sie kroch auf allen Vieren, aus +Angst, auszurutschen, und schrie. So kam sie +bis zum Schornstein, richtete sich am Schornstein +auf, zog die Stiefel aus und warf sie +auf die Straße. Die Kinder aber fingen die +Stiefel auf und trugen sie davon. Sie stand +barfuß, hielt sich am Schornstein fest und +schrie. Und da sie dachte, daß niemand ihr +bloßes Geschrei beachten würde, so schrie +sie: der gnädige Herr sei nach Hause gekommen, +klingle und sie könne nicht öffnen. +Auf der Fontanka aber ist es so laut, die +Dampfpfeifen, die Automobilhupen übertönen +jedes Geschrei. Da sie barfuß nicht mehr +auszugleiten fürchtete, entfernte sie sich +vom Schornstein, ging auf dem Dach hin +und her und schrie immer wieder: der gnädige +Herr sei nach Hause gekommen, klingle +und sie könne nicht öffnen. Auf dem Nachbardach +<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> +arbeiteten Maler, die hörten es. +„Was schreist du, Frauchen,“ riefen sie, +„spring zu uns herüber,“ und lachten. Wie +aber sollte sie hinübergelangen, wenn sie ihr +keine Leiter reichten – sie hatten alle ihre +Leitern selbst nötig – sie war doch keine +Katze! Aber der erste Schreck war nun vorüber, +und nachdem sie erst eine menschliche +Stimme vernommen, erholte sie sich etwas +und kam auf den Gedanken, auf die andre +Seite hinüberzugehen, auf die Rückseite des +Hauses, um dort an der Regenrinne entlang +in den Hof hinunterzugleiten. Denn sich +an der Rinne hinaufzuziehen, meinte Akumowna, +sei schwer, die Hände könnten ohnmächtig +werden, aber hinabzugleiten sei +leicht: wenn das Rohr nur nicht aus den Händen +entweicht, glitt man bequem hinab. In +dieser Erwägung begab sie sich auf die Rückseite +des Hauses und geradeaus zur Wasserrinne; +– sie war nicht schwindlig. Schon +hatte sie mit beiden Händen die Bekrönung +erfaßt und die Füße herabgelassen, um die +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +Rinne zu umklammern, da schrie Nikanor +von unten: „Halt, Frauchen, kriech nicht, ich +werde dir aufmachen!“ und lachte. Sie +mußte nun über das ganze Dach zurück und +sich durch das Fenster auf den Boden hinunterlassen. +</p> + +<p> +– Sechs Stunden habe ich mich so gequält, +lieber gnädiger Herr, bin beinahe gestorben, +aber Gott hat mich gerettet, hat sich meiner +erbarmt! – schloß Akumowna. +</p> + +<p> +Inzwischen begann das Wasser im Samowar +zu sieden, der rote Jurawljowsche Sänger +schnaubte und schickte sich zu seinem +Abendgesang an. Marakulin, der sich während +der Erzählung Akumownas etwas erholt +hatte, ging in sein Zimmer. +</p> + +<p> +Vielleicht war es möglich, daß sein düsterer +Traum sich gar nicht auf ihn, sondern auf +Akumowna bezog? – Oder sollte es doch +nicht möglich sein, da man nicht für andre +träumt? – Warum sollte man aber nicht +auch für andre träumen können! +</p> + +<p> +Aber der Tag war noch nicht zu Ende, die +<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> +Nacht kam, es kamen die letzten Stunden; +es nahte die Stunde, da es galt, Rede und +Antwort zu stehen, Rechenschaft zu geben +und zu fordern. +</p> + +<p> +Akumowna brachte den Samowar, aß in +der Küche ihre Eier, um ihre Stimme zu heilen, +und kam wieder zu Marakulin herein, +nach ihrer Gewohnheit mit den Karten in +der Hand. Marakulin aber lehnte ab: er +wolle keine Karten gelegt haben, er wolle +ihr lieber seinen Traum erzählen, nur möge +sie ihm die reine Wahrheit darüber sagen. +</p> + +<p> +Und er erzählte ihr ausführlich seinen düsteren +Traum, alles genau hintereinander – er +erinnerte sich ganz deutlich an jede Einzelheit. +Er erzählte von der Stülpnasigen, Nackten, +mit den großen Zähnen, und wie sie ihm eine +Frist gesetzt hatte: den Sabbat, und von der +Mutter mit dem Kreuz auf der Stirn, und +wie die Mutter geweint hatte. +</p> + +<p> +– Was bedeutet dieser Traum, Akumowna? +</p> + +<p> +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +Akumowna schwieg, lächelte und sah eigentümlich +idiotisch zur Seite. +</p> + +<p> +Und plötzlich wieder von dem schwarzen +Gedanken getroffen, daß seine Frist der Sabbat +sei, wurde Marakulin eiskalt. +</p> + +<p> +– Also ist alles wahr – dachte er, – denn +warum schweigt Akumowna? – Also ist alles +wahr, und in einigen Minuten würde seine +Frist vollendet sein, seine Stunde schlagen, +sein Ende? +</p> + +<p> +Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits +verurteilt; Alle sind von Geburt an +verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt +und das Todesurteil vergessend, weil man +die Stunde nicht kennt. Aber wenn der Tag +einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen, +die letzte Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt +ist, – das geht über die Kraft, die +Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen, +den er mit dem Leben beschenkt, zum +Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde +verheimlicht hat. +</p> + +<p> +<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> +– Akumowna, ist es wahr, oder nicht +wahr? +</p> + +<p> +– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß +nichts – erwiderte Akumowna, lächelte und +sah eigentümlich idiotisch zur Seite. +</p> + +<p> +Da schnarrte die Uhr in der Küche und begann +langsam zu schlagen, einen Schlag nach +dem andern. Es schlug Zwölf. Der Sabbat +war zu Ende, und der Sonntag begann. +</p> + +<p> +– Akumowna, hat es Zwölf geschlagen? – +fragte Marakulin unsicher. +</p> + +<p> +– Zwölf, gnädiger Herr, Schlag Zwölf! +</p> + +<p> +– Es ist also schon Sonntag? +</p> + +<p> +– Ja, Sonntag, der heilige Sonntag, gnädiger +Herr. Schlafen Sie wohl, Gott sei mit +Ihnen! – Akumowna ließ den singenden +Jurawljowschen Samowar stehen und ging +in die Küche schlafen. +</p> + +<p> +Doch Marakulin konnte nicht schlafen. Er +wartete ab, bis Akumowna ruhig wurde, +deckte den Samowar zu, dann nahm er ein +Kissen, legte es aufs Fensterbrett, wie es die +Burkowschen Mieter, die in Petersburg übersommern, +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +machen, und lehnte sich hinaus. +Nein, er wollte nicht schlafen, die ganze +Nacht nicht: der Sabbat war zu Ende, der +Sonntag hatte begonnen! +</p> + +<p> +Es war leer ringsum, kein Mensch im Hof, +kein Mensch in den Fenstern, nur er allein. +Und plötzlich erblickte er auf dem Kehricht- +und Ziegelhaufen, längs der Kästen und +Stände, von der Müllgrube bis zum Abgußloch +und weiter bis zu den Remisen, überall +junge grüne Birken stehen. Der ganze Burkowsche +Hof war mit Birken bedeckt, und die +jungen Blättchen leuchteten so grün. Er +fühlte, wie seine verlorene große Freude in +ihm emporstieg und ihn überströmte: wie ein +Quell schoß ihm unter dem Herzen diese große +heiße Freude hervor – und wuchs, füllte +das Herz und überflutete heiß die ganze Brust. +Er sah nichts anderes mehr als diese Birken, +und unter den Birken wandelte, selbst wie +eine junge Birke schlank, seine Weruschka – +Werotschka – Wera. Ihre Hände schienen +mit den Blättern verwoben, und sie wandelte +<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> +von Blättchen zu Blättchen nach der Remise +zu, so leicht, als schwebte sie in der Luft, und +es war, als wenn die Erde unter ihr verschwände. +Da schwang sein Herz sich auf, +überwallend, es riß ihn in die Höhe, er streckte +die Arme aus – und das Gleichgewicht verlierend, +stürzte Marakulin mitsamt dem Kissen +in die Tiefe. +</p> + +<p> +Und im Sturze hörte er, wie durch ein +Rohr aus einem tiefen Brunnenschacht, eine +Stimme rufen: +</p> + +<p> +– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist +voll, die Strafe naht! – Ah, so steht es mit +uns! Lieg du nun da. – Wieder einer weniger. +– Du stehst nicht mehr auf – Dreckkopf! +</p> + +<p> +Marakulin lag mit zerschmettertem Schädel +in einer Blutlache auf den Steinen des Burkowschen +Hofes. +</p> + +<p class="printer"> +Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="footnotes" id="part-8"> +Fußnoten +</h2> + +</div> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Ein großes Petersburger Kloster. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Eine Industriestadt in Großrußland. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Klon bedeutet auf russisch etwa, die Neigung sich zu beugen. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Wundertätige Mönche, Heilige. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> Vom Weißen Meer. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-6" id="footnote-6">[6]</a> Berühmtes Moskauer Muttergottesbild. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-7" id="footnote-7">[7]</a> Populäres Physik-Lehrbuch. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-8" id="footnote-8">[8]</a> Ein Stadtviertel in Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-9" id="footnote-9">[9]</a> Diminutiv von Pawel. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-10" id="footnote-10">[10]</a> Kirche an der Taganka in Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-11" id="footnote-11">[11]</a> Ein berühmtes Muttergottesbild in Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-12" id="footnote-12">[12]</a> Ort in der Krim. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-13" id="footnote-13">[13]</a> In Moskau. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-14" id="footnote-14">[14]</a> In Moskau. +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... Geschenk, und <span class="underline">er schenkte er</span> ihr dagegen hundert ...<br> +... Geschenk, und <a href="#corr-5"><span class="underline">er schenkte</span></a> ihr dagegen hundert ...<br> +</li> + +<li> +... <span class="underline">den</span> Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...<br> +... <a href="#corr-9"><span class="underline">dem</span></a> Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...<br> +</li> + +<li> +... beklagte, daß in der Schule naß und kalt ...<br> +... beklagte, daß <a href="#corr-11"><span class="underline">es</span></a> in der Schule naß und kalt ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75679 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75679-h/images/cover.jpg b/75679-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1555a6c --- /dev/null +++ b/75679-h/images/cover.jpg |
