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+<title>Die Schwestern im Kreuz | Project Gutenberg</title>
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75679 ***</div>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="halftitle">
+Remisow / Die Schwestern im Kreuz
+</p>
+
+</div>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="aut">
+Alexej Remisow
+</p>
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+<h1 class="title">
+Die Schwestern im Kreuz
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+
+<p class="subt">
+Erzählung
+</p>
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+<p class="pub">
+1913<br>
+München und Leipzig bei Georg Müller
+</p>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="cop">
+Copyright 1912 by Georg Müller München
+</p>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="trn">
+Autorisierte Uebersetzung von Fega Frisch
+</p>
+
+</div>
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+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-1">
+<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a>
+<span class="line1">Einleitung</span><br>
+<span class="line2">von Professor Eugen Anitschkow</span><br>
+<span class="line3">(St. Petersburg)</span>
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">lexej</span> Remisow ist im Herzen Rußlands,
+in Moskau, geboren. Dort sind vierzig
+mal vierzig Kirchen; täglich dröhnen dort zur
+Früh- und Abendmesse die Glocken, die großen
+und feierlichen in den Klöstern und Kathedralen,
+die Zarenglocken des Kreml; es
+antworten ihnen mit allen ihren Glocken die
+kleinen und niedrigen Glockentürme in den
+uralten Pfarrkirchen. Gar viele Pfarrkirchen
+hat Moskau; um sie herum schlängeln sich
+die Straßen und Gäßchen, in ihnen lebt der
+Moskauer Handelsstand sein eigenes urwüchsiges
+Leben. Alle Fasten werden streng eingehalten;
+an den Feiertagen ziehen die Priester
+mit dem ganzen Klerus aus einem Haus ins
+andere, um die festlichen Tafeln zu segnen;
+dort werden bis heute die Märtyrer- und
+Heiligenlegenden in der uralten Schrift gelesen,
+<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a>
+dunkle und vertraute Mitteilungen über
+Gottesmänner und große Märtyrer. Mancher
+ist sauber gekleidet und sieht ganz europäisch
+aus: ein gestärktes Vorhemd und eine
+Krawatte nach der letzten Pariser Mode –
+doch beginnt er sich auszuziehen, so entdeckt
+man ein kattunenes russisches Hemd darunter
+und einen geweihten Gürtel mit eingewebten
+Gebeten. Voll Inbrunst kniet der moderne
+Stutzer vor dem Familienschrein mit den
+Heiligenbildern. Der unter der neumodischen
+Wäsche verborgene geweihte Gürtel schützt
+vor Uebel. Der alte Glaube ist fest in ihm,
+und der uralte Kaufmannsstand in Moskau
+lebt nach der Väter Art.
+</p>
+
+<p>
+Einst wurde er von dem Advokatensohn
+Ostrowskij auf die Bühne gebracht. Seitdem
+war es Mode, sich über die rührseligen
+Mitjas, die gutmütigen Andrej Bruskows,
+die durchtriebenen Podchaljusins, über die
+dünkelhaften Väter: Tit Tititsch und Torzows
+zu amüsieren. Das „finstere Reich“
+nannte die Kritik den Moskauer Kaufmannsstand.
+<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a>
+Diese eigenartige Welt blieb ganz abseits
+von den großen Wegen der russischen
+Literatur. Um die Mitte des vergangenen
+Jahrhunderts war die Literatur vorwiegend
+ländlich, Gutsbesitzer- und Bauernliteratur.
+Die Stadt schämte sich gleichsam ihrer selbst.
+Was in ihr geschah, besonders unter der
+Handelsbevölkerung in den alten Kirchspielen,
+das wußte man nicht, das wollte man
+nicht wissen. Und wenn in der Literatur auch
+einige Sprößlinge aus dieser Welt auftraten,
+so waren sie bemüht, möglichst rasch zu vergessen,
+zu verschweigen und tief im Herzen
+alles zu verbergen, was sie von dorther aus
+dem „finstern Reich“ in die Helligkeit der
+volkstümlichen Bildung, auf welche die fortschrittlich
+Gebildeten so stolz waren, mitbrachten.
+</p>
+
+<p>
+Erst seit kurzem sind die stillen Kirchspiele auf
+den sieben Hügeln des russischen Rom, des
+Mütterchens Moskau, gleichsam erwacht.
+Die neue Kunst, die sozialdemokratischen
+Tendenzen, die Beziehungen zu westeuropäischen
+<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a>
+Firmen, die Errungenschaften der
+Technik, die Verfeinerungen in den Anschauungen,
+alles das ist bis in die dunkelsten
+Winkel gedrungen. Und von da kam zu uns
+der Neueste: ein Erneuerer der Kunst, ein
+Prophet von morgen, der dennoch nichts von
+gestern vergessen hat: Alexej Remisow.
+</p>
+
+<p>
+Sein Leben verläuft äußerlich wie das vieler
+gebildeter Russen der letzten Zeit. Im
+Jahre 1877 geboren, hat er seine Bildung
+in einem Handelsgymnasium und später auf
+der Universität empfangen; er hat Nationalökonomie
+und deutsche Philosophie studiert,
+den Marxismus und die Bewegung „Zurück
+zu Kant“ mitgemacht, in den Seminarien
+Aufsätze über wirtschaftliche Fragen und
+über Statistik geschrieben, Arbeiterzirkel gegründet,
+und war infolgedessen erst in die
+milde Verbannung eines großrussischen Gouvernements,
+dann ins Gefängnis geraten, hat
+mit einem ganzen Haufen revolutionärer russischer
+Intelligenz die Strapazen und Mühsale
+des Etappenlebens mitgemacht, hat so
+<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a>
+manches Jahr im fernen Norden, wo oft im
+Juni noch Schnee genug fällt, daß man
+Schlitten fahren kann und wo das Nordlicht
+in seiner kalten Schönheit leuchtet, verbracht.
+Er hat dies alles erduldet, sein Herz
+zermartert, eine Menge Bücher studiert und
+kam zu uns nach Petersburg als ein fertiger
+Schriftsteller zurück, als ein symbolistischer
+Schriftsteller und Stilist von neuester Prägung.
+</p>
+
+<p>
+Wichtig aber ist, daß er seine uralte Moskauer
+Seele bewahrt hat; in seiner Seele
+dröhnen die vierzig mal vierzig Kirchenglocken
+weiter und er liebt noch immer die Legenden
+und Sagen von den Gottesmännern,
+Heiligen und Märtyrern, von den von Gottes
+Gnade erleuchteten Buhlerinnen, vom
+tapferen Georg, von allerlei märchenhaften
+Seltsamkeiten: von Totenfeiern, Teufeln,
+Zauberern und Hexen. Alles was die Philologen,
+die sich mit alter Literatur befassen,
+studieren und was die Engländer Folklore
+nennen: Märchen, Runen, Volkslieder und
+<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a>
+Riten, Volksglauben und Apokryphen –
+dies alles pflegt er mit dem Talent eines modernen
+Dichters, und sein Stil ist eigenartig,
+seltsam und prächtig, so verfeinert und reich,
+als hätte sich ihm die ganze geistige Schatzkammer
+des tausendjährigen heiligen Rußland
+aufgetan, zum Dank für seine Liebe zu
+den vertrauten Kirchspielen aller sieben Hügel
+des Mütterchens Moskau.
+</p>
+
+<p>
+Remisows erster großer Roman „Der Teich“
+zeigt noch den jungen Schmerz einer Seele,
+vor der sich eben erst das Böse des Lebenskampfes
+erschlossen hat. Woher kommt das
+Böse? Es wird schon in der ganz naiven kindlichen
+Seele geboren. Die rationalistischen
+Theorien aus den Büchern tragen zur Lösung
+dieses schicksalsmäßigen Rätsels nichts bei –
+im Gegenteil! – vielleicht muß man also nach
+rückwärts, in den uralten von den Ahnen ererbten
+Sagen vom bösen Geist, in dem sagenhaften
+Teufel und Spötter die Antwort suchen?
+– Remisows von den Fragen unserer
+Zeit durchdrungener Geist vertiefte sich in
+<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a>
+das Studium alter Sagen und Legenden,
+und eins an das andere reihten sich etwas wie
+Märchen oder moderne Apokryphen und bildeten
+eine Art neues pratum spirituale, das
+mit seiner Buntheit alle seine größeren Werke
+gleichsam einrahmt.
+</p>
+
+<p>
+„Der Teich“ kann nur im Licht dieser apokryphischen
+Skizzen ganz verstanden werden.
+Der Grundgedanke dieses Werkes ist noch
+nicht ganz klar herausgearbeitet; die einzelnen
+Episoden wirken zwar an sich erschütternd,
+doch fehlt noch das Allgemeine. Dies Allgemeine
+erscheint klar auf eine neue Weise in
+einer objektiveren Form, losgelöst von den
+tragischen poesieumwehten Erinnerungen im
+zweiten Roman „Die Uhren“. Hier handelt
+es sich nicht mehr um die Chronik eines Moskauer
+Handelshauses in einem der Moskauer
+Kirchspiele, in den „Uhren“ wollte der Autor
+das Geheimnis der ganzen Stadt in all seiner
+Vielgestaltigkeit auffangen, und die Frage
+nach dem Bösen hat eine größere Bestimmtheit
+erhalten. Dennoch ist es auch hier schwer,
+<a id="page-XIV" class="pagenum" title="XIV"></a>
+den heimlichen Gedanken des Autors herauszufinden
+und seine Symbole zu begreifen, die
+geheimnisvoll sind wie uralte Runen. Erst
+später in den nachfolgenden Erzählungen
+sind endlich die Schwierigkeiten überwunden,
+eine Klarheit ist erreicht und im Herzen
+ist das ausgesprochen, was so lange nach
+außen drängte, aber keine entsprechenden
+Bilder und Symbole fand. Ja, das Böse
+ist schicksalsmäßig, es ist notwendig, es hat
+keinen Sinn, Idyllen zu schreiben, man
+muß das Böse erkennen und verstehen,
+diese irdische Hölle, die irdischen Leidenschaften.
+</p>
+
+<p>
+Schwierig waren seine Romane „Der Teich“
+und „Die Uhren“. Schwierig sind auch jetzt
+in den „Schwestern im Kreuze“ und im „Unbezähmbaren
+armen Teufel“ die Betrachtungen
+über die schicksalsmäßige und offenbar
+notwendige Schuld. Im „Unbezähmbaren
+armen Teufel“ ist diese Theorie schon anschaulich
+und entschieden durchgeführt. In den
+„Schwestern im Kreuze“ ist alles auf ihr
+<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a>
+aufgebaut. Marakulin denkt: „Der eine muß
+verraten, um durch den Verrat seine Seele
+aufzuschließen und in der Welt er selbst zu
+sein; der andere muß töten, um durch den
+Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens
+als er selbst zu sterben; er aber mußte
+offenbar eine Quittung ausfertigen – aber
+nicht der Person, der sie zukam –, um seine
+Seele zu erschließen und in der Welt zu sein,
+und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger
+Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch
+Marakulin, der er war, sehen, hören
+und fühlen.“
+</p>
+
+<p>
+Doch muß man sich fragen: Findet denn die
+Persönlichkeit sich selbst nur in einem Verbrechen?
+Das scheint nicht glaubhaft. Natürlich
+nicht. Aber gerade dieser Gedanke in
+seinem Rohzustand sozusagen führt uns zum
+Verständnis einer der wichtigsten Fragen der
+Gegenwart. Darum lockte es den Symbolisten
+Remisow, den Fall aller Einwohner
+des Burkowschen Hauses zu schildern, weil
+dieses Symbol unseres zeitgenössischen russischen
+<a id="page-XVI" class="pagenum" title="XVI"></a>
+Alltags sich durch alle traurigen Fälle
+der letzten Jahre aufgeschlossen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Remisow versucht jetzt, seine Symbole zu
+deuten. „Die Katze miaute, Murka miaute.
+Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie noch
+nie zuvor, daß Murka stets gemiaut hat,
+nicht nur gestern, sondern alle die fünf Jahre
+hier an der Fontanka auf dem Burkowschen
+Hof; er hatte es nur nicht bemerkt, und nicht
+nur hier auf dem Burkowschen Hof an der
+Fontanka, sondern auch auf dem Newsky
+und in Moskau an der Taganka – bei
+der Auferstehungskirche –, an der Taganka,
+wo er geboren war, überall, wo etwas
+lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach es
+in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor
+dieser Murka nirgends hätte verstecken können.
+Und er fühlte es, daß Murka nicht dort
+unten im Hofe miaute, sondern hier ...“ Das
+stöhnende Burkowsche Haus ist ganz Rußland,
+das heilige Rußland, und zwar das
+ganz gewöhnliche, alltägliche. Es ist schuldig
+geworden, es hat sich unvermögend erwiesen,
+<a id="page-XVII" class="pagenum" title="XVII"></a>
+es hat mehr versprochen, als es gehalten
+hat. Hier hat es sich eben gezeigt, so wie es
+wirklich war und nicht wie es nach den Programmen
+geschienen hat. Man muß sich von
+allen Theorien lossagen, um es so zu sehen.
+Noch wichtiger ist der Mut, es gegen alle
+Programme und Theorien auszusprechen.
+Dies ist Remisows Stärke: sein Held ist eine
+wirkliche Individualität. Er ist nicht aus
+Theorien geboren und nicht verstandesmäßig
+gesehen. Marakulin lebt sein eigenes Leben,
+er ist ein durchschnittlicher Mensch, aber eben
+von diesem Eigenen geht der Symbolismus
+zum Allgemeinen. Auch Marakulin ist symbolisch.
+Waren wir nicht alle noch vor kurzem
+ebenso offenherzig und vertrauensselig,
+als hätten wir keine Lehren der Geschichte
+vor Augen? Damit haben wir Schuld auf
+uns geladen. Das Leben ist bei uns erstarrt.
+Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen.
+</p>
+
+<p>
+Lange und hartnäckig hat sich Remisow mit
+den Fragen des Glaubens befaßt, mit den
+Altertümern, mit der Volkspoesie, mit Sagen,
+<a id="page-XVIII" class="pagenum" title="XVIII"></a>
+aus denen das uralte heilige Rußland
+sich Pein und Belehrung schöpfte. Man verstand
+ihn nicht und hielt der unverstandenen
+Kunst Remisows den Realismus entgegen.
+Es schien, daß sein Stilisieren kein Ende
+nehmen wollte in diesem ganzen Strom von
+Skizzen, in denen er vor allem seine Meisterschaft
+zeigte. Aber diese Skizzen Remisows
+waren nur seine Lehrlingsarbeit.
+</p>
+
+<p>
+Wer ihn gut kannte, der konnte nicht daran
+zweifeln, denn dieses Stilisieren beschränkte
+sich nicht auf die Form. Es führte in das
+wahre Verständnis dessen ein, was einst
+Volksseele genannt wurde. Denn die Volksseele
+läßt sich nicht in Kategorien pressen,
+welche die politischen Parteien für sie aufstellen,
+weder in die der volkstümlichen rechten
+oder linken Partei, noch in die Kategorien
+derer, die der ganzen Menschheit Heil
+versprechen. Das Geheimnis der Volksseele
+blieb verschlossen; jetzt sehen wir es endlich
+klar ein. Im „Unbezähmbaren armen Teufel“
+ist die verwirrte moderne Seele, die
+<a id="page-XIX" class="pagenum" title="XIX"></a>
+Seele eines Trödlers geschildert. Plötzlich
+hat sich alles das aus der Vergessenheit erhoben,
+was man ein für allemal hinter sich zu
+haben glaubte. Dieses Alte in der jetzt ohnedies
+schon konventionellen Gestalt des Trödlers
+zeigt sich auch mitten in Petersburg, es
+klafft aus der Tiefe des Burkowschen Hofes
+wie aus der Unterwelt, und man fühlt: dies
+ist wahr! Paradox ist vielleicht nur die Gestalt
+der Hörerin der Hebammenkurse, welche
+alte Weisen singt. Hier hat die Phantasie
+Remisows sich hinreißen lassen, die gewöhnt
+ist, auch im Neuesten etwas Altertümliches
+herauszufinden. Aber da haben wir Akumowna;
+das Schicksal hat sie in die Stadt getrieben,
+das Schicksal jagt ganz Rußland wenn
+nicht in die verderblichen Gegenden Sibiriens,
+so doch in die Städte, wo das Neue
+geschaffen wird, neuer Glaube und neue
+Forderungen an das Leben. Aber das Alte
+stirbt noch lange, lange nicht aus, es bewahrt
+sich länger, als wir glauben. Daher die Vermengung
+und das Zusammenfließen des Alten
+<a id="page-XX" class="pagenum" title="XX"></a>
+mit dem Neuen. Die Bewegung ins
+Volk suchte lange den Traum vom freien
+Grundbesitz zu verwirklichen. Der Bauer
+hörte dem Sozialismus zu und verstand, daß
+die Rede von freiem Grundbesitz war. Akumownas
+Märchen und Lisaweta Iwanownas
+Geheimnis flossen zusammen mit den Lehren
+der Verbannten Maria Alexandrowna.
+Dieses Ineinanderfließen zu schildern, ist eine
+der vornehmsten künstlerischen Aufgaben, die
+sich Remisow stellt.
+</p>
+
+<p>
+Zu den besten Episoden der Erzählung gehören
+die Szenen, in denen von der Reise ins
+Ausland geträumt wird. Darin liegt auch ein
+geheimer Herzenswunsch verborgen: vom
+Lande strebt man in die Stadt, aus der Stadt
+aber, aus allen Burkowschen Häusern, in denen
+sich das aufgewühlte heilige Rußland
+quält, drängen die Träume, Wünsche und
+Hoffnungen dahin, nach dem fernen fremden
+und seit uralten Zeiten vertrauten Westen. Und
+es genügt nur zu denken, daß bald, bald eine
+Möglichkeit eintreten könnte, hinzureisen, sich
+<a id="page-XXI" class="pagenum" title="XXI"></a>
+innerlich auszuruhen und das Martyrium
+des heimatlichen Schmerzes für eine Weile
+zu vergessen, dann wird es einem leicht zumute
+und die Freude leuchtet auf. Kommt
+von dort, aus der Heimat unserer allerbegehrtesten
+Ideale – ich brauche absichtlich ein
+Fremdwort – eine erfrischende Welle über
+uns, Verjüngung, Geist der sozialen Freiheit,
+so vergessen wir ganz das Burkowsche Haus
+und Murkas schmerzliches Miauen, das
+Weinen und Stöhnen des Volkes. Unsere
+Augen leuchten und wir atmen freier.
+</p>
+
+<p>
+Das Weiseste, was Remisow in seinen
+„Schwestern im Kreuz“ gesagt hat, ist seine
+Theorie vom königlichen Recht. Gleich Raskolnikow
+zermartert Marakulin in einem
+Ausbruch von Verzweiflung sein Gehirn
+mit der Frage nach der Vertilgung der menschlichen
+„Laus“. Wie Raskolnikow sieht Marakulin
+ebenfalls das ganze Uebel in einer
+jämmerlichen alten Frau, und es dünkt ihn,
+daß man nur wagen, die konventionelle Angst
+vor dem Verbrechen nur überwinden müßte,
+<a id="page-XXII" class="pagenum" title="XXII"></a>
+um das Uebel zu vernichten. Nur ist die
+menschliche „Laus“, welche Marakulin sieht,
+keine Pfandverleiherin, sie tut niemand etwas
+Böses. „Sie hat nichts in ihrem Leben zu bereuen;
+sie hat weder getötet noch gestohlen
+und wird weder töten noch stehlen, denn sie
+tut nichts als sich ernähren, sie trinkt und ißt,
+sie verdaut und härtet sich ab.“ Was bedeutet
+das? Remisow schildert die Raskolnikowsche
+„Laus“ in der Gestalt einer Generalin,
+die von ihren Renten lebt. Eintönig
+und sinnlos vergeht ihre Zeit. Sie braucht
+niemand und niemand braucht sie. „Die Generalin
+rührt mit keinem Finger, tut rein
+nichts und erreicht alles: sie härtet sich ganz
+sichtbar und zweifellos ab, und ihrem Leben
+ist kein Ende abzusehen – der Chiromant
+hat sich nicht geirrt – sie ist vielleicht schon
+unsterblich!“ Ein Leben ohne Arbeit, das
+heißt ohne Verbrechen und ohne Heldentaten
+– denn jede Tat ist entweder ein Verbrechen
+oder eine Heldentat – ein solches Leben
+beruht, Remisows Meinung nach, nicht auf
+<a id="page-XXIII" class="pagenum" title="XXIII"></a>
+einem einfachen Recht, sondern auf einem königlichen
+Recht. So würden wir alle, wenn
+wir die Utopie vom allgemeinen Wohlergehen
+verwirklicht hätten, das kummerlose,
+sündenlose, unsterbliche Lauseleben der Generalin
+genießen.
+</p>
+
+<p>
+Rechtschaffener aber ist das heilige Martyrium
+des Lebens, mit seinen Abstürzen, Ausbrüchen
+von Hoffnung, Kämpfen und zäher,
+qualvoller Erwartung.
+</p>
+
+<p class="date">
+St. Petersburg 1912.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-2">
+<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a>
+Erstes Kapitel
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">arakulin</span> war mit Glotow befreundet;
+durchaus nicht etwa, weil der
+Dienst sie eng miteinander verband und einer
+ohne den anderen nicht hätte auskommen können:
+Peter Alexejewitsch gab die Quittungen
+aus, Alexander Iwanowitsch war der Kassierer.
+Man weiß ja, wie die Ordnung ist: Marakulin
+brauchte nur mit Tinte zu schreiben und
+Glotow zahlte genau so viel in Gold aus. Dabei
+waren sie so verschieden und einander so unähnlich:
+der eine schmalbrüstig, der Schnurrbart
+dünn wie ein Faden, der andere breitschultrig
+und der Schnurrbart wie bei einem
+Kater; der eine blickte von innen heraus, der
+andere strahlte. Dennoch waren sie Freunde,
+ein Herz und eine Seele.
+</p>
+
+<p>
+Denn sie hatten beide ein gemeinsames Merkmal,
+oder eine Eigenschaft, und zwar eine
+grundlegende; etwas, das nicht zu verbergen
+ist: es würde unter den Augenlidern des Schlafenden
+<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a>
+hervorblinken, gleichviel, ob es sich
+in der Pupille versteckt oder aus der Pupille
+sich über den Augapfel verbreitet: beide nämlich
+hatten eine Art von Fühler oder Rüsselchen.
+Nicht nur daß dieser Fühler sich ans Leben
+klammerte, vielmehr sog er alles Lebendige
+in sich auf, alles, was ringsum lebte und wob,
+bis auf den Grashalm, der atmet, bis auf das
+Steinchen, das wächst, und er sog das alles
+so gierig und fröhlich in sich auf, so ansteckend
+fröhlich. Das war es.
+</p>
+
+<p>
+Wer es bemerken wollte, konnte es sehen, wer
+es nicht sah, der fühlte es, und wer es nicht
+fühlte, der erriet es.
+</p>
+
+<p>
+Dazu kam, daß sie gleich jung waren – beide
+waren an die Dreißig oder etwas drüber
+– und der Erfolg – dem einen sowohl wie
+dem anderen gelang alles – und die Kraft –
+keiner von ihnen war jemals krank oder klagte
+auch nur über Zahnweh. Sie waren auch von
+keinerlei Banden gefesselt, weder von gesetzlichen,
+noch von ungesetzlichen, sie waren wie
+in der Steppe, allein, und die Steppe dehnte
+<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
+sich vor ihnen in ihrer ganzen Weite und
+Macht, frei, ungebunden, unermeßlich –
+dein.
+</p>
+
+<p>
+Vor drei Jahren etwa hatte Glotow seine
+rechtmäßige Gattin aus dem dritten Stockwerk
+auf das Pflaster hinabgestürzt, und die
+Aermste brach sich dabei das Genick; vielleicht
+aber war es nicht vor drei Jahren, es kann
+schon vor ganzen vier gewesen sein. Uebrigens
+ist das unwesentlich, – es handelt sich ja
+gar nicht um Glotow, sondern um Peter
+Alexejewitsch Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin, welcher seine Kollegen mit Fröhlichkeit
+und Sorglosigkeit ansteckte, gestand
+einmal, daß er, obschon dreißig Jahre alt,
+sich für nicht mehr und nicht weniger als
+zwölfjährig hielte, er wüßte selbst nicht warum,
+und er führte dafür Gründe an: so oft
+er mit jemand zusammenkäme, oder sich in
+ein Gespräch einließe, hätte er das Gefühl,
+als wären die anderen alle älter – alt, und
+er wäre der jüngste – ganz jung noch,
+zwölfjährig. Und ferner gestand Marakulin,
+<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
+daß er sich den anderen Menschen gar nicht
+ähnlich – nicht ein bißchen ähnlich fühle,
+wenigstens nicht jenen richtiggehenden Menschen,
+wie man sie gewöhnlich im Theater, in
+Gesellschaften oder in den Klubs beobachtet,
+während sie eintreten oder fortgehen, sich unterhalten
+oder schweigen, sich ärgern oder
+zufrieden sind – und daß alles an ihm, von
+der Nase bis zur kleinen Zeh wahrscheinlich
+nicht auf dem richtigen Fleck säße – so schiene
+es ihm wenigstens. Und weiter gestand Marakulin,
+daß er nie denke; er hätte einfach
+gar nicht die Empfindung, daß er denke;
+wenn er durch die Straßen gehe, so geschehe
+dies eben nur so mit den Beinen, und wenn
+er mit jemand bekannt werde, dann fände er
+an seinem neuen Bekannten weder Unterschiedsmerkmale
+noch Besonderheiten, nicht
+im Gesicht noch in den Bewegungen: er fühle
+nur unklar, daß der eine ihn anziehe und der
+andre abstoße, einer weniger, ein anderer mehr,
+und ein dritter sei ihm ganz gleichgültig; häufiger
+aber herrsche doch das Gefühl der Nähe
+<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
+und das Vertrauen in das Wohlwollen des
+anderen vor. Und weiter gestand Marakulin,
+daß ihn, seitdem er Bücher lese und mit Menschen
+zusammenkomme, die entgegengesetzten
+Meinungen nie abschreckten. Er sei vielmehr
+bereit, jedermann zuzustimmen, weil er jeden
+in seiner Weise für berechtigt hielte, und diskutiere
+nie; wenn er sich aber einmal selbst verstiege
+oder zu Auseinandersetzungen aufreize,
+so geschehe es aus ganz indiskutabeln Gründen,
+deren er sich jedesmal genau bewußt sei,
+obwohl er sie nicht verrate – gebe es doch genug
+solcher indiskutabler und doch alltäglicher
+Gründe! – Und weiter gestand Marakulin,
+daß er nie in seinem Leben geweint habe,
+ein einziges Mal ausgenommen, als seine alte
+Kinderfrau ihn verließ, an ihrem letzten Tag:
+damals wäre er, in der Rumpelkammer versteckt,
+an seinen ersten und letzten Tränen fast
+erstickt. Noch eine verrückte Eigenschaft hatte
+er, über die man sich lustig zu machen pflegte:
+wenn ihm irgendein Einfall in den Sinn kam,
+so stürzte er sich auf ihn mit einer solchen Hartnäckigkeit,
+<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
+als läge in ihm der Sinn seines
+Lebens, oder des Lebens überhaupt – aus
+Kleinigkeiten machte er wichtige Dinge. Zu
+den Feiertagen, zum Beispiel, wurde dem
+Direktor gewöhnlich ein Bericht überreicht.
+Dieser Bericht wurde stets mit der Maschine
+geschrieben, ihm aber konnte es einfallen,
+ihn mit der Hand abzuschreiben; und obwohl
+es mit der Maschine viel schneller,
+leichter und einfacher zu machen ging, – es
+gab auch vorgedruckte Formulare zu diesem
+Zweck – so ließ er es sich durchaus nicht
+nehmen und malte Tag und Nacht beharrlich
+und sorgfältig einen Buchstaben nach
+dem andern und reihte die Zeilen aneinander,
+als wären sie Perlen, und schrieb den Bericht
+so oft ab, bis er so war, daß er ausgestellt
+werden konnte, – so war er geschrieben!
+– denn Marakulin war wegen seiner
+Schrift berühmt. Am nächsten Tage schon
+wird so ein Bericht irgendwohin verlegt, man
+schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit,
+man verlangt ihn nicht so, und eine Menge
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+Zeit und Arbeit sind sinnlos verschwendet
+worden! Ein verrückter Kerl, und wie beharrlich
+in seiner Verrücktheit! Und weiter
+pflegte Marakulin noch etwas Seltsames zu
+erzählen – von einer ihm eigenen, durch nichts
+erklärbaren ungewöhnlichen Freude, die er
+ganz unerwartet empfinden konnte: manchmal,
+wenn er am Morgen ins Bureau lief,
+begann ihm plötzlich das Herz in der Brust
+zu flattern und er fühlte eine ungewöhnliche
+Freude. Und diese seine Freude umfing
+ihn so ganz und sie war so groß, daß
+ihm schien, er könnte sie jetzt warm aus
+der Brust herausnehmen und jeden mit
+ihr beschenken – es würde für Alle reichen;
+wie ein Vögelchen wollte er sie in beide
+Hände nehmen, damit ihm dies Paradiesvöglein
+nicht davonfliege, darauf hauchen,
+daß es nicht friere und es so den Newsky
+entlang tragen: mögen sie alle sehen, ihre
+Wärme einatmen, ihr Licht fühlen, – das
+stille Licht und die Wärme, die das Herz vor
+Freude atmet und ausstrahlt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+Natürlich ist es schwer, sich selbst zu beurteilen,
+und mit Geständnissen kommt man auch
+nicht weit: ob das alles stimmte oder nicht –
+wer kann es wissen? – Aber eine Liebe zum
+Leben, ein Instinkt zum Leben, die Heiterkeit
+des Gemütes – das war in ihm in der
+Tat.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man Marakulin zuhörte oder sah, wie
+er an Menschen heranzutreten pflegte, wer
+sein Lächeln und seinen Blick kannte, dem
+konnte manchmal der Gedanke kommen, daß
+so einer wie er, jederzeit imstande wäre, zu
+einer Bestie in den Käfig zu treten und, ohne
+mit der Wimper zu zucken, ohne zu überlegen,
+die Hand auszustrecken, um das sich sträubende
+wilde Haar des grimmigen Tieres zu streicheln
+– und das Tier würde nicht beißen.
+</p>
+
+<p>
+Und wie konnte es Marakulin betrüben,
+wenn es sich zuweilen, plötzlich herausstellte,
+daß auch er, wie jeder andere, gehaßt wurde,
+daß auch er seine Mißgönner hatte, daß auch
+er für jemand ein Balken im Auge sein konnte!
+Denn man konnte ja mit ihm machen,
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+was man wollte. Und wenn er es dennoch
+zustande gebracht hatte, das dreißigste Jahr
+zu erleben, und mit Erfolg, so war es das
+reinste Wunder – eine unwahrscheinliche
+Sache. Meistens aber wurde Peter Alexejewitsch
+geliebt, nicht etwa besonders oder gar
+zu sehr, aber es war gar kein Grund, ihn nicht
+zu lieben – brachte er doch Heiterkeit und
+Lachen mit, dazu kein gewöhnliches Lachen,
+sondern ein trunkenes, marakulinsches –
+warum sollte man ihn da hassen? Und dennoch
+nahm das alles kein sehr gutes Ende
+– Peter Marakulin endete schlimm.
+</p>
+
+<p>
+Das kam so: Marakulin erwartete zu Ostern
+Beförderung und eine Gratifikation – in den
+großen Geschäftshäusern ist es zu den Feiertagen
+so üblich –; statt dessen aber wurde er
+aus dem Dienst gejagt. Es geschah folgendermaßen:
+Fünf Jahre hatte Peter Alexejewitsch
+gedient, fünf Jahre die Quittungsbücher
+geführt, und alles befand sich in
+bester Ordnung, – Marakulin wurde sogar
+wegen seiner Ordnungsliebe und Genauigkeit
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+scherzweise „Der Deutsche“ genannt
+– als aber die Direktoren vor den
+Feiertagen revidierten und zu vergleichen und
+zu rechnen begannen, da trat eben die Verlegenheit
+ein: es stimmte etwas nicht, es fehlte
+etwas – vielleicht nur eine wirkliche Bagatelle,
+– das Geschäft aber war groß, und
+solche Kleinigkeiten konnten Verwirrungen
+verursachen. So nahm man ihm denn die
+Bücher ab und entließ ihn.
+</p>
+
+<p>
+Erst glaubte Marakulin nicht daran, er wollte
+es einfach nicht glauben, und dachte, man
+triebe nur Scherz mit ihm, einen Jux zum
+allgemeinen Ergötzen einfach, um vor dem
+Fest die Fröhlichkeit zu erhöhen; er lachte
+dazu und begann seine Auseinandersetzung
+auch nicht ohne Witz:
+</p>
+
+<p>
+– Gestatten Sie dem Dieb Soundso, dem
+Räuber und Wegelagerer, den Diebstahl aufzuklären
+...
+</p>
+
+<p>
+– Wie?
+</p>
+
+<p>
+– Ha – ha ... Und er war es, der zuerst
+lachte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Und in einem aufklärenden Brief an eine
+wichtige und einflußreiche Persönlichkeit, an
+den Direktor, unterschrieb er nicht einfach
+Peter Marakulin, sondern „Der Dieb und
+Expropriateur Peter Marakulin“.
+</p>
+
+<p>
+„Der Dieb und Expropriateur Peter Marakulin.“
+</p>
+
+<p>
+– Wie?
+</p>
+
+<p>
+– Ha – ha ... Und er war es wieder, der
+zuerst lachte.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Scherz gelang diesmal offenbar vorbei,
+er wirkte gar nicht spaßhaft, oder wenn
+er auch so wirken hätte können, so nahm man
+das gar nicht wahr, und niemand lachte, –
+im Gegenteil. Und am komischsten war die
+Antwort eines jungen Buchhalters, – dieser
+Buchhalter war ein kleiner stiller Mensch,
+der nicht einmal eine Fliege zu kränken imstande
+war, so still war er.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Awerjanow nun sagte: Ich möchte bis
+zur Aufklärung Ihres Mißverständnisses mit
+meiner Antwort abwarten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+Hier wurde Peter Alexejewitsch ernst:
+</p>
+
+<p>
+– Was für ein Mißverständnis! Es kann
+ja gar keinen Irrtum geben!
+</p>
+
+<p>
+– Wie?
+</p>
+
+<p>
+– Der Irrtum, meine ich ... ich irre mich
+nicht, ich bin ein „Deutscher“ ... Wo ist
+denn der Irrtum?
+</p>
+
+<p>
+Und jetzt mußte er es glauben. Er mußte ja
+glauben! Die wilde Bestie ist offenbar doch
+nicht so einfach, sie unterwirft sich nicht so
+leicht, sie läßt nicht so ohne weiteres ihr sich
+sträubendes Fell streicheln. Hände weg! Die
+Bestie beißt dir noch die Finger ab! Ist es
+nicht so? – Oder hat es mit der Bestie gar
+nichts auf sich und der Fluch besteht gar
+nicht darin, daß der Mensch für den Menschen
+eine Bestie ist und eine grimmige dazu,
+sondern darin, daß der Mensch für den Menschen
+ein Klotz ist: man mag ihn noch so anflehen,
+er hört es nicht; man mag ihn noch
+so anrufen, er antwortet nicht; man mag sich
+den Kopf einstoßen, indem man vor ihm
+mit der Stirn auf den Boden schlägt, er
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+rührt sich nicht; er bleibt so stehen, wie er
+hingestellt wurde, bis er umfällt oder bis du
+umfällst. Ist es nicht so?
+</p>
+
+<p>
+Etwas Derartiges flog damals Marakulin
+durch den Sinn, und zum erstenmal dachte
+es in ihm und sprach sich deutlich aus: Der
+Mensch ist für den Menschen ein Klotz.
+</p>
+
+<p>
+Er lief da hin, klopfte dort an: überall war
+geschlossen, überall war zu: er wurde nicht
+empfangen. Und wenn er empfangen wurde,
+so ließ man ihn nicht sprechen, gar nicht zu
+Worte kommen. Dann begann man ihm die
+Tür vor der Nase zuzuschlagen: keine Zeit!
+oder: laß, bitte, in Frieden! oder: wir haben
+an was anderes zu denken! – Bald
+gab die Dienerschaft nicht einmal Antwort
+mehr hinter der Vorlegekette: es war ihnen
+untersagt; außerdem war er allen schon zu
+lästig geworden.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin hatte keine Zuflucht mehr: er war
+wie in der Steppe, allein, und die Steppe lag
+vor ihm, ausgebrannt, schwarz, endlos –
+fremd. Nach allen vier Richtungen gleich
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+unabsehbar. Erst hatte er alles, jetzt hatte er
+nichts.
+</p>
+
+<p>
+Und das alles wegen einer Bagatelle – wegen
+eines blinden Zufalls. Es ging freilich
+ein Gerücht um, die ganze Sache sei von
+Alexander Iwanowitsch angezettelt, sei ein
+Werk seiner Hände, – Glotow habe seinen
+Freund hineingelegt und sich selbst aufs
+Trockene gebracht. Andererseits aber wußte
+man, daß Marakulin selbst bereit war, sei es
+aus Herzensgüte oder aus einer sonstigen
+Eigenschaft, etwa aus übermäßiger Vertrauensseligkeit
+und Einbildungskraft – er
+kam mit den Menschen gern gut aus – ja,
+daß er selbst nichts dagegen hatte, eine Quittung,
+provisorisch natürlich, einer Person auszuhändigen,
+die mit einer Zahlung nichts zu
+tun hatte; auf besondere Bitten hin oder mit
+Rücksicht auf die Verlegenheit eines Kollegen
+– vielleicht eben dieses Alexander Iwanowitsch!
+Denn man konnte mit Marakulin
+machen, was man wollte.
+</p>
+
+<p>
+Er aber, durch einen blinden Zufall aus seiner
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+Bahn geschleudert, ohne Arbeit, allein, Tage
+und Nächte denkend, für sich allein denkend
+– es waren eben andere Zeiten, jene Zeiten
+waren vorbei; jetzt hatte auch er, wie die
+richtigen Menschen, zu denken angefangen –
+er selbst aber entschied und sprach sich selbst
+das Urteil: er erkannte sich nicht schuldig und
+sprach sich von Diebstahl frei. Und indem
+er sich in seiner fieberhaften Aufregung seine
+Daseinsberechtigung bewies, tat er es wie
+früher mit Lachen und mit Freude, auf die
+marakulinsche Art: er biß sich in diesen Klotz
+fest, in die Vorstellung, zu der sein Denken
+ihn geführt, daß der Mensch für den Menschen
+ein Klotz sei, und begann zu bohren.
+Er wollte um jeden Preis ergründen, wer das
+alles brauchte und wozu: zum Vergnügen
+welchen Klotzes all die andern Klötze hingestellt
+seien! Er wollte es nur ergründen, um
+sich bestimmt sagen zu können, ob er selber
+noch länger als Klotz dastehen sollte,
+so wie es irgend jemand beliebt hatte, ihn
+hinzustellen, oder ob er, ohne abzuwarten,
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+bis es jemand belieben würde, ihn umzustoßen,
+sich selber hinstrecken sollte, freiwillig,
+ohne jemand zu fragen. Freilich läßt sich dergleichen
+nicht auf einmal beantworten, urteilt
+selbst, und wer könnte es auch? Es sei
+denn der Chiromant von der Kusnetschnybrücke,
+welcher eine Hose gestohlen und nach
+den Linien der Hand einen anderen beschuldigte,
+seinen Nachbar im Asyl nämlich, ebenfalls
+von der Kusnetschnybrücke.
+</p>
+
+<p>
+Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man
+sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn
+man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung
+zu erweisen! Und auch das ist es nicht, daß
+der Mensch für den Menschen eine Bestie
+ist, und nicht, daß der Mensch für den Menschen
+ein Klotz ist; die Sache ist einfacher:
+wenn das Unglück über einen kommt, dann
+heißt es: dulde, und dulden mußt du darum,
+weil es einerlei ist, ob du mit den Hinterbeinen
+ausschlägst oder beißest, – denn alles ist nutzlos,
+es läßt dich nicht los, bis seine Zeit um ist.
+Ist es nicht so? Etwas Derartiges flog damals
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+Marakulin durch den Sinn und sprach deutlich
+zu ihm: Dulde.
+</p>
+
+<p>
+Den ganzen Sommer trieb er sich ohne Arbeit
+herum. Alles, was er in den fünf Petersburger
+Quittungsjahren erworben hatte, ging
+jetzt in die Leihhäuser, in das Residenzpfandhaus
+oder in das städtische, auf dem Wladimirsky-Prospekt.
+Bald besaß er nichts mehr;
+die Pfandscheine hatte er auch an einen Uhrmacher
+in der Gorochowaja verklopft, und
+was ihm noch übrig blieb, war so vertragen
+und zerrissen, daß nicht einmal der Tartar es
+gekauft hätte. Er war abgerissen und schäbig;
+sein einziger Gummikragen war ganz
+zerwaschen, nur das Kreuz am Hals war
+noch ganz und das Amulett, das er sich übrigens
+längst nicht mehr umzuhängen pflegte;
+er hatte es an die Wand gehängt zur Erinnerung.
+Und er begann, sich zu schämen –
+früher hatte er nie etwas Derartiges gefühlt.
+Er wagte es nicht mehr zu bitten. Zum Glück
+konnte er auch niemand bitten: wie vor einem
+Cholerakranken waren alle Freunde davongelaufen
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+und hielten sich vor ihm versteckt.
+Und er empfand Angst vor Allen, vor Bekannten
+und Unbekannten. Er schämte und fürchtete
+sich, durch die Straßen zu gehen; es war
+ihm, als wüßten alle etwas von ihm, das er
+nicht den Mut hätte, sich selber zu gestehen,
+geschweige den Menschen zu sagen. Die Passanten
+in den Straßen stießen ihn. Sogar die
+Hunde, auch die bellten ihn an und schnappten
+nach seinen Beinen. Er war eben ein verlorener
+Mensch.
+</p>
+
+<p>
+Nun ja, ein verlorener, rechtloser – da heißt
+es eben: dulde, dulde und vergiß ... Bricht
+das Unglück über dich herein, dann vergiß,
+daß es Menschen auf der Welt gibt; die
+Menschen werden dir nicht helfen, und wenn
+sie es wollten, gleichviel, das Unglück wird
+ihre Taten zunichte machen, es wird sie auseinanderjagen
+und einschüchtern; darum vergiß
+die Menschen. Ist es nicht so?
+</p>
+
+<p>
+Und etwas Derartiges flog damals Marakulin
+durch den Sinn und sprach deutlich zu
+ihm: Vergiß.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+Bald fanden sich dennoch Menschen. Es
+erschien aber nicht etwa so ein Awerjanow
+oder sein Gehilfe Tschekurow – die Peitsche
+der Gemeinheit, wie der ehrliche Tschekurow
+sich selbst nannte, – nein, es waren lauter
+solche, an die Marakulin niemals vorher gedacht
+hatte: kleine, verdächtige Beamte, die
+aus allen möglichen Aemtern fortgejagt waren,
+und solche, die von einer Stellung zur
+anderen wanderten – Anwärter auf den
+Laufpaß, Zugrundegegangene und Zugrundegehende,
+Betrogene und Vielgeprüfte, die in
+anständige Häuser nicht kommen dürfen und
+denen die Hand zu reichen für unpassend und
+unmöglich gilt, und endlich solche, die einen
+sehr bezeichnenden Spitznamen haben –
+ihren eigenen Namen und den Zunamen
+von Dieben, Schurken, Schuften: bekannte,
+halbbekannte und ihm völlig unbekannte
+Gauner kamen zu Marakulin, um ihr Mitgefühl
+zu bezeigen; sie waren es auch, die
+ihm fürs erste Arbeit fanden, wenn auch keine
+sichere, nur so, um sich durchzufretten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+Marakulin hatte vorher eine Wohnung auf
+der Fontanka, an der Obuchowskybrücke; sie
+war klein, aber doch seine eigene, jetzt mußte
+er die Wohnung aufgeben und in ein Zimmer
+ziehen. Das Zimmer fand sich auf derselben
+Treppe, drei Stockwerke höher. Im ganzen
+hatte sich Marakulins Leben bis dahin
+ganz leidlich gestaltet, wenn auch verworren
+und ungeordnet. Er hatte zwar schon früher
+einmal Zeiten gehabt, da er nicht besonders
+gut lebte, freilich war das noch vor seiner warmen
+Stellung, in den Anfängen seiner Laufbahn,
+da man sich aus so etwas gar nichts
+macht. Jetzt aber war es anders: es fiel ihm
+schwer, sich einzuschränken, um so mehr, als
+er keine Hoffnung auf Verbesserung hatte und
+der Gaunerverdienst nicht übermäßig war;
+er reichte gerade, um sich durchzufretten.
+Aber wozu sich durchfretten? Wozu leiden,
+leiden, wozu vergessen, vergessen und dulden?
+Er wollte durchaus wissen, wer das alles
+brauchte und wozu, zum Vergnügen welchen
+Diebes, welches Schurken oder Schuften –
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+welchen Gauners das nötig war? Und er
+wollte es wissen, nur um sich klar zu sagen,
+ob es sich noch lohnte, das alles in die Länge
+zu ziehen – zu dulden, nur um sich durchzufretten?
+</p>
+
+<p>
+Freilich läßt sich dergleichen nicht auf einmal
+beantworten, urteilt selbst, und wer könnte es
+auch? – Es sei denn der Chiromant von der
+Kusnetschnybrücke, welcher eine Hose gestohlen
+und nach den Linien der Hand einen anderen
+beschuldigte, seinen Nachbar im Asyl
+nämlich, ebenfalls von der Kusnetschnybrücke.
+</p>
+
+<p>
+Aber offenbar geht das nicht, ohne daß man
+sich an jemand rächt; es ist schon so, wenn
+man erst anfängt, seine Daseinsberechtigung
+zu erweisen! Es kommt offenbar gar nicht
+darauf an, daß man duldet und auch nicht,
+daß man vergißt; die Sache ist viel einfacher:
+Denke nicht. – Ist es nicht so?
+</p>
+
+<p>
+Und etwas Derartiges flog damals Marakulin
+durch den Sinn und sprach ganz deutlich
+zu ihm: Denke nicht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+Er sollte nicht denken, jetzt? Gerade jetzt,
+durch einen blinden Zufall aus seiner Bahn
+geschleudert, allein, ohne Arbeit? Jetzt begann
+er erst recht zu denken – jene Zeit, als er noch
+nicht dachte, war vorbei, und wird nie wiederkehren.
+</p>
+
+<p>
+Und der Kreis schloß sich in ihm: er wußte,
+daß es nutzlos war zu denken, daß er nicht
+denken durfte, daß man nichts beweisen kann,
+und konnte doch nicht umhin zu denken, konnte
+doch nicht umhin zu beweisen, er mußte denken
+bis es schmerzte; die Gedanken jagten
+sich unaufhörlich wie im Fieber.
+</p>
+
+<p>
+Seine Wohnung wurde Marakulin glücklich
+los, ohne daß man ihn aufs Polizeirevier geschleift
+oder gepfändet hätte – er hatte nichts,
+und die Seele kann man einem doch nicht wegnehmen.
+Nur daß Michail Pawlowitsch ihm
+die Hand nicht gereicht hatte, – der Oberhausmeister
+Michail Pawlowitsch pflegte
+den mittleren Mietern, die er achtete, die Hand
+zu reichen.
+</p>
+
+<p>
+Der letzte Tag am alten Herd verlief für Marakulin
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+sehr denkwürdig. Am Morgen geschah
+ein Unfall im Hof: eine Katze war verunglückt
+– eine weiße, glatte Katze mit grauem
+Schnurrbart. Möglich, daß sie auch gar nicht
+verunglückt war und gar nicht gedacht hatte,
+vom Dach des fünften Stockwerks herabzustürzen,
+sondern sie mochte vielleicht zufällig
+etwas verschluckt haben: einen Nagel oder
+eine Glasscherbe. Es kann auch sein, daß jemand
+ihr absichtlich, zum Spaß, ein Nägelchen
+oder einen Splitter zu fressen gegeben
+hatte, – es gibt nämlich solche Liebhaber.
+Sie quälte sich sehr und litt: bald warf sie
+sich auf den Rücken und wälzte sich auf den
+Steinen, bald drehte sie sich auf den Bauch
+herum, streckte die Vorderpfoten aus, hob die
+Schnauze in die Höhe, als wollte sie in die
+Fenster hineinsehen, und miaute.
+</p>
+
+<p>
+Die kleinen Kinder umstanden die Katze, sie
+ließen ihre wilden Spiele und wilden Arbeiten
+im Stich und hockten sich um sie herum.
+Sie waren still geworden und konnten sich
+von der Katze nicht losreißen; sie aber miaute.
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+Der Perser, der schwarze Masseur aus der
+Badeanstalt, hockte sich auch hin, rollte mit
+den Augäpfeln sie aber miaute.
+</p>
+
+<p>
+Ein rauchfarbener Kater sprang aus der Remise
+hervor, ging forsch quer durch den Hof,
+über die Bretter und über den Kies geradeaus
+auf die Katze zu, aber drei Schritt von
+ihr blieb er stehen, sträubte sein Fell und zog
+mit hochgehobenem Schweif ab. Ein kleines
+Mädchen besann sich und lief um Milch; sie
+brachte eine Scherbe voll und stellte sie der
+Katze unter die Nase; die Katze aber sah gar
+nicht hin und miaute. – Die Katze ist verrückt!
+– sagte ein Erwachsener, der ebenso
+wie Marakulin aus dem Fenster zuschaute.
+</p>
+
+<p>
+– Das ist unsere Katze Murka! – verbesserte
+ihn das kleine Mädchen, das um Milch gelaufen
+war; ihr Gesicht glühte und in ihrer
+Stimme klang etwas wie Gekränktheit und
+Ungeduld.
+</p>
+
+<p>
+Und alle schienen auf eins zu warten: auf das
+Ende. Marakulin wich nicht vom Fenster,
+er konnte sich nicht losreißen, auch er wartete
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+auf das Ende. Und er würde so, ohne sich zu
+rühren, auch bis zum Abend dagestanden
+sein, wenn er nicht plötzlich gefühlt hätte, daß
+hinter seinem Rücken jemand da war und von
+einem Fuß auf den anderen trat. Marakulin
+pflegte die Türen schon längst nicht mehr abzuschließen,
+es war also jemand hereingekommen!
+In der Tat: ein alter Mann stand vor
+ihm, von einem Fuß auf den anderen tretend
+– ein zerzauster langer alter Mann, unter
+dem Mantel schlotterten die Hosen um seine
+Beine, als wären es keine Beine, sondern bloß
+Knochen. In der Hand zerknüllte er seine
+Mütze und noch etwas – ein Kuvert, ja ein
+Kuvert. Diesen alten Mann hatte er früher nie
+gesehen, natürlich! – was wollte er?
+</p>
+
+<p>
+– Was wünschen Sie?
+</p>
+
+<p>
+– Ich komme zu Euer Gnaden, Peter Alexejewitsch,
+ich komme von Alexander Iwanowitsch.
+</p>
+
+<p>
+– Von Alexander Iwanowitsch?
+</p>
+
+<p>
+– Von ihm persönlich. Sie vergaßen die
+Tür zu schließen, so bin ich da, – zu klingeln
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+hab’ ich gefürchtet, verzeihen Sie, – der Alte
+kaute mit den Lippen und zupfte an seiner
+Mütze.
+</p>
+
+<p>
+In früheren Zeiten kamen manchmal allerlei
+Leute von Glotow – sie brauchten im Kontor
+zuweilen Aushilfe für den Abenddienst –
+aber wie konnte es Glotow einfallen, jetzt jemand
+zu ihm zu schicken, da Glotow doch
+wußte, daß er stellungslos war und nur einen
+Sechser in der Tasche hatte!
+</p>
+
+<p>
+– Ich kann nichts für Sie tun, Sie brauchen
+doch Geld ...
+</p>
+
+<p>
+Der Alte wurde geschäftig und zog ein zerdrücktes
+Blatt Papier aus dem Kuvert, das
+ungleichmäßig mit großen Buchstaben beschrieben
+war.
+</p>
+
+<p>
+– Ich habe eine Bittschrift an Euer Gnaden
+verfaßt, ich geniere mich zu bitten, und so
+habe ich diese Bittschrift verfaßt, – der Alte
+schob ihm das Papier zu und lächelte ununterbrochen,
+ein Lächeln, das so war, als
+miaute die Katze Murka.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin steckte dem Alten seinen letzten
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+Sechser zu, setzte sich an den Tisch und wartete
+nur, wann der Alte fortgehen und wann
+es ein Ende nehmen würde.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte ging nicht, er preßte in der einen
+Faust den Sechser und die Mütze und in der
+anderen das zerknüllte, ungleichmäßig mit
+großen Buchstaben beschriebene Papier. Seine
+Hände zitterten und die Mütze fiel zu Boden.
+</p>
+
+<p>
+– Was macht Alexander Iwanowitsch, wie
+geht es ihm? – fragte Marakulin und fühlte
+dabei, wie alles in ihm zitterte und daß er es
+bald nicht mehr aushalten würde, nicht aufzustehen
+und den Alten hinauszujagen.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte streckte vogelartig lang seinen Hals
+aus und sperrte den Mund auf wie einen
+Schnabel.
+</p>
+
+<p>
+– Heute ausgezeichnet, – er bewegte wie
+erfreut den Kopf, – er ist sehr gut angezogen,
+wie ein Oberhausmeister, ein Rock,
+Lackstiefel, – wie ein Oberhausmeister. –
+Geh, Gwosdjow, gradeaus zu Peter Alexejewitsch
+in die Fontanka! – So geruhte er zu
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+mir zu sagen. Wie ein Oberhausmeister. Ich
+war bei ihm in Zarskoje in seiner Sommerwohnung,
+er scherzt immer: er ist verliebt –
+sagt er – verliebt in eine Madame. Er
+scherzt immer: Einen Hungrigen – sagt er
+– kann man satt machen, einen Armen kann
+man reich machen, aber bist du verliebt und
+dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit,
+so kannst du dich zerreißen, es gibt keine
+Hilfe. – Ich verstehe es nicht, er scherzt nur
+immer. Einen Paletot hat er mir von seinen
+eigenen Schultern geschenkt, und diese da
+Awerjanow der Buchhalter; seine eigenen;
+sie sind mir etwas zu weit. Bist du keusch,
+Gwosdjow? – sagt er. Nehmen Sie es
+mir nicht übel, Alexander Iwanowitsch, ich
+bin ein Liebhaber von Weibern. Ja, er scherzt
+immer.
+</p>
+
+<p>
+Ohne aufzuhören und alles durcheinanderbringend
+redete der Alte, setzte sich aber nicht,
+öffnete nicht die Faust und hob auch die Mütze
+nicht vom Boden auf.
+</p>
+
+<p>
+Ein ruheloser Alter war das, ach wie ruhelos!
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+Er hatte bei den Schachowskojs in Petersburg
+als Stallknecht gedient, es war eine gute
+Stellung, aber einmal wurde ein Pferd scheu
+und stieß ihn in die Brust, da ging er ins
+Kloster. Seitdem zog er herum, aus einem
+Kloster in das andere – er war eine ruhelose
+Natur: sowie er anfing sich irgendwo zu
+gewöhnen, da lief er fort. Vor einem Monat
+war er aus dem Tschermenetzkischen Kloster
+davongelaufen.
+</p>
+
+<p>
+– Da hat sich ein Bekannter meiner erbarmt.
+In der Seleninaja hat er ein Zimmer, ein
+kleines Zimmerchen. Er selbst, dieser Korjakin,
+ist verheiratet, hat eine Frau und ein kleines
+Kind, ein Mädchen, aber er hat sich
+meiner erbarmt, und wir wohnten alle zusammen.
+Aber zum Fest der heiligen Olga
+kam das älteste Töchterchen zu ihnen nach
+Petersburg zu Besuch, so wurde es zu eng,
+auch ist es unschicklich: eine Jungfrau. So
+zog ich auf den Obwodnij, hab’ da einen
+Winkel gemietet für anderthalb Rubel, mit
+Gurken – ein schöner Winkel im Korridor.
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+Ich möchte mich gern mit Handel befassen,
+um mich nur irgendwie durchzufretten
+...
+</p>
+
+<p>
+Verworren und ohne aufzuhören redete der
+Alte, die Worte flossen ineinander und zischten,
+– ein ruheloser Alter. Marakulins Augen
+verschleierten sich, seine Lider wurden
+schwer, er sah nichts mehr, vor seinen Augen
+bewegten sich nur die Hosen des Alten, die
+allzuweiten, von Awerjanow, die nicht um
+Beine, sondern um Knochen zu schlottern
+schienen.
+</p>
+
+<p>
+– Ich bin Liebhaber von Weibern ... anderthalb
+Rubel mit Gurken ... nur um mich
+irgendwie durchzufretten ...
+</p>
+
+<p>
+Marakulin sprang vom Stuhl auf.
+</p>
+
+<p>
+– Wozu, sagen Sie mir endlich, wozu wollen
+Sie sich durchfretten? – rief er.
+</p>
+
+<p>
+Aber er befand sich allein im Zimmer, es war
+niemand mehr drin.
+</p>
+
+<p>
+Die Katze miaute, Murka miaute. Er war
+allein im Zimmer; er war mitten im Gespräch
+eingeschlafen, der Alte hatte es offenbar bemerkt
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+und sich mit seinem letzten Fünfkopekenstück
+davongeschlichen, genau so, wie er vorher
+unbemerkt eingetreten war. Auch die
+Mütze lag nicht mehr auf dem Boden. Die
+Katze miaute, Murka miaute.
+</p>
+
+<p>
+Und plötzlich sah Marakulin so klar, wie
+noch nie zuvor, daß Murka stets gemiaut
+hat, und nicht nur gestern, sondern alle die
+fünf Jahre hier an der Fontanka auf dem
+Burkowschen Hof; er hatte es nur nicht bemerkt,
+und nicht nur hier auf dem Burkowschen
+Hof an der Fontanka, sondern auch auf
+dem Newsky und in Moskau an der Taganka
+– bei der Auferstehungskirche –, an der
+Taganka, wo er geboren war, – überall, wo
+etwas lebt. So klar sah er es, so deutlich sprach
+es in ihm, daß er sich vor diesem Miauen, vor
+dieser Murka nirgends hätte verstecken können.
+Und er fühlte es, daß Murka nicht dort
+unten im Hof miaute, sondern hier ...
+</p>
+
+<p>
+– Gebt Luft! – miaute Murka, als könnte sie
+sprechen: – gebt Luft! – und sie wälzte sich auf
+den Steinen, zu den Fenstern hinaufflehend.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+Eng, immer enger hockten sich die Kinder
+um sie herum, sie vergaßen ihre wilden Spiele
+und ihre wilden Beschäftigungen, sie horchten;
+auch die Scherbe mit der Milch stand
+noch unberührt da, und der Perser, der
+schwarze Masseur aus der Badeanstalt ging
+nicht fort und rollte mit den Augäpfeln.
+</p>
+
+<p>
+Erst spät am Abend bezog Marakulin in der
+fünften Etage sein neues Zimmer, wo früher
+die Waschküche war. In der Wohnung war
+niemand, außer der Köchin Akumowna; die
+Wirtin Adonja Iwoilowna war von der
+Reise noch nicht zurück, – Adonja Iwoilowna
+pflegte im Sommer zu pilgern und
+die Wohnung Akumownas Aufsicht zu überlassen.
+Die anderen zwei Zimmer waren unvermietet.
+</p>
+
+<p>
+Die erste Nacht in der neuen Wohnung
+träumte Marakulin, er sitze in einem Lustgarten
+außerhalb der Stadt an einem Tischchen
+gegenüber der Estrade – der Garten
+erinnerte an den Garten des Aquariums –
+und rings um ihn lauter unbekannte Menschen:
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+ihre Gesichter waren böse und unruhig,
+und sie gingen herum und brummten
+und flüsterten miteinander. Er verstand, daß
+ihr Brummen und Flüstern sich auf ihn bezog.
+Sie hatten nichts Gutes im Sinn, gewiß
+nichts Gutes! Es wurde ihm Angst,
+sie aber kamen immer näher, und bald flüsterten
+sie nicht mehr miteinander, sondern
+winkten einander mit den Augen zu, verstanden
+einander und zeigten auf ihn. Und schon
+gab es keinen Zweifel mehr: – er darf nicht
+länger dableiben, sie würden ihn sonst totschlagen.
+Er erhebt sich und will ganz unbemerkt
+zum Ausgang gelangen, – sie aber
+sind hinterher. So ist es, sie wollen ihn
+totschlagen! Sie werden ihn totschlagen,
+erwürgen; wohin fliehen, wo sich verstecken?
+O Gott, wenn doch ein Mensch wenigstens
+da wäre, ein Mensch! Und sie verfolgen
+ihn, sind ihm schon auf den Fersen, jetzt
+holen sie ihn ein. Er stürzt in eine Grotte,
+fällt mit dem Gesicht auf die Steine. Und
+plötzlich läßt sich ein Vogel wie ein Stein
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+auf ihn nieder, auf den Rücken, kein Adler,
+sondern ein Habicht, der Hühner raubt. Er
+preßt ihn hart zwischen den Klauen, zerdrückt
+ihn, wie er sonst die Hühner zermalmt.
+– Dieb, Dieb, Dieb – klopft sein Schnabel.
+Und ihm wird schwer, so schwer, –
+es ist kein Zweifel mehr für ihn: er wird sich
+nie mehr erheben können, nie mehr sich aufrichten,
+– und es ist ihm schwer; Bitternis
+ist in ihm und Todesbangen.
+</p>
+
+<p>
+– Ein böser Traum – sagte Akumowna, als
+Marakulin ihr am Morgen von den nächtlichen
+Menschen und vom Habichtvogel erzählte,
+– man hat ihn nur vor einer Krankheit.
+Sie werden ganz bestimmt krank werden.
+</p>
+
+<p>
+Die Krankheit aber hatte sich seiner schon
+bemächtigt, er war ganz zerbrochen, ganz
+aufgelöst, der Kopf hing ihm herab, er war
+krank: am Morgen vermochte er kaum ein
+Glas Tee auszutrinken und der Bissen blieb
+ihm im Munde stecken. Draußen war eine
+Hochsommerhitze und ihn schüttelte der
+Frost wie im Januar.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+Die göttliche Akumowna – im Burkowschen
+Hof wurde Akumowna die göttliche
+genannt –, die gute Seele, brachte Marakulin
+zu Bett, gab ihm Himbeertee zu trinken
+und legte ihm Senfpflaster auf; sie pflegte
+ihn Tag und Nacht, und pflegte ihn gesund.
+Die Krankheit ließ ihn los und verließ ihn.
+Doch hatte er an die zwei Wochen gelegen.
+</p>
+
+<p>
+Das erste, was er empfand, als er nach der
+Krankheit die Hausschwelle überschritt und
+sich auf der Straße befand, war – daß er
+jetzt alles zu sehen und zu hören anfing. Und
+er fühlte, wie sein Herz sich auftat und seine
+Seele lebte.
+</p>
+
+<p>
+Der eine muß verraten, um durch den Verrat
+seine Seele aufzuschließen und in der Welt er
+selbst zu sein; der andre muß töten, um durch
+den Mord seine Seele aufzuschließen und wenigstens
+als er selbst zu sterben; er aber mußte
+offenbar eine Quittung ausfertigen – aber
+nicht der Person, der sie zukam, – um seine
+Seele zu erschließen und in der Welt zu sein,
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+und zwar nicht mehr als irgendein beliebiger
+Marakulin, sondern als dieser Peter Alexejewitsch
+Marakulin, der er war, sehen, hören
+und fühlen.
+</p>
+
+<p>
+So sprach es in Marakulin am ersten Tag
+seiner Genesung, so fand er ein Schlupfloch,
+um wieder in die Welt hineinzuschlüpfen, so
+bewies er sich sein Recht zum Dasein: nur
+sehen, nur hören, nur fühlen.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte keine Angst mehr vor den Menschen,
+sie schreckten ihn nicht mehr. Und es
+war ihm jetzt eigentlich ganz gleichgültig, ob
+er ein Dieb war oder nicht. Er fürchtete sich
+auch vor gar keinem Unglück mehr. Und
+wenn, dachte er, noch tausendmal soviel Ungemach
+ihn heimsuchen sollte, so war er zu
+allem bereit, mit allem einverstanden, alles
+wollte er hinnehmen und erdulden und in
+jeglicher Schmach leben, in jeglicher Erniedrigung,
+alles sehend, alles hörend, alles
+fühlend. – Warum? Das wußte er selber
+nicht, nur, daß er leben wollte.
+</p>
+
+<p>
+Geschah dies dem Ungemach und dem einäugigen
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+Bösen zum Trotz, dem überall ein
+Fest gerichtet ist, wo man sich grämt und
+weint – er hat nämlich das Ungemach ausgehungert
+und läßt es hungrig um die Erde
+streifen, und er selbst, der Einäugige, blickt
+mit seinem unterlaufenen Auge scheel aus den
+Wolken von der Höhe des Himmels herab,
+wie die Erde vor Kummer, Gram, Not,
+Trauer, Leid, Bosheit und Haß sich wälzt
+und wie Murka klagt, und duldet es vielleicht
+nur bis zu einer gewissen Zeit, oder betrachtet
+er es mit Wohlgefallen –?
+</p>
+
+<p>
+Oder geschah es dem Kummer und seinem
+Hohn zum Trotz, dem mageren, dünnen, zusammengeschrumpften,
+von Weiden umgürteten,
+mit Bast umwickelten, – diesem, wie
+der alte Gwosdjow, zerzausten Kummer, mit
+seinen geheuchelten Tränen, die er vergießt,
+wenn er einen in die Grube hinabstößt und dazu
+„Ecce homo!“ ruft? Oder erkannte er in
+Murkas Miauen, in Murkas Bestimmung zu
+klagen, eine höhere Gerechtigkeit, eine Strafe
+für Murkas Erbsünde, die nicht gesühnt,
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+nicht vertuscht werden kann, wenn sie vielleicht
+auch ganz geringfügig ist, weil geschrieben
+steht: Wer das ganze Gesetz befolgt
+und nur eins übertritt, der ist im ganzen
+schuldig! und er ergab sich drein mit
+Furcht und Beben, nachdem er erkannt hat,
+daß sein Recht eben in der Rechtlosigkeit
+von Uranbeginn bestand? – Oder war es
+seine Liebe zum Leben, sein Instinkt zum Leben,
+die Heiterkeit des Gemüts – das Mark
+und die Wurzel seines Lebens, die ihm Recht
+sprachen, als eingeborene Kräfte seiner Seele,
+und ihm die Fähigkeit verliehen, sich zu finden,
+sich zu fügen und anzupassen, ohne Worte,
+ohne Beweise? Oder wird er jetzt einfach
+nur leben, niemand zum Trotz, niemand
+zu Leide, weder aus Erkenntnis, noch dank
+seiner besonderen seelischen Eigenschaften,
+sondern einfach so – zu gar keinem Zweck,
+ebenso wie er früher zu keinem Zweck für
+den Direktor vor den Feiertagen die Berichte
+abgeschrieben hatte, Tag und Nacht beharrlich
+einen Buchstaben nach dem anderen malend,
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+die Zeilen wie Perlen aneinanderreihend?
+– Ist es nicht so?
+</p>
+
+<p>
+Etwas Derartiges flog damals Marakulin
+durch den Sinn und sprach deutlich in ihm:
+Zu keinem Zweck – zu gar keinem Zweck,
+aber du wirst dennoch leben und nur sehen,
+nur hören, nur fühlen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-3">
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Zweites Kapitel
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">as</span> Burkowsche Haus stößt an keine
+fremde Mauer. Ihm seitlich gegenüber
+liegt das Obuchowsche Krankenhaus.
+Zwischen dem Haus und dem Krankenhaus
+befinden sich zwei Höfe: Burkows Hof und
+der Hof der Belgischen Gesellschaft. Die Fabrik
+der Gesellschaft liegt rechts, – sie hat
+vier Ziegelschlote mit Blitzableitern; sie qualmen
+den ganzen Tag und erfüllen die Fensterrahmen
+mit schwarzem Ruß. Ueber diesen
+Ruß beklagt sich Akumowna so oft
+sie vor den Feiertagen die Zimmer reinigt,
+aber sie schreibt die Schuld daran nicht den
+belgischen Schloten zu, sondern der riesigen
+elektrischen Milchglaskugel, die den ganzen
+belgischen Hof beleuchtet.
+</p>
+
+<p>
+Der Mond blickt manchmal in die Fenster
+hinein, die Sonne aber ist nie zu sehen, nur
+im Hochsommer glüht Marakulins Zimmer
+wie eine heiße Pfanne: die Strahlen
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+dringen herein zusammen mit dem Staub
+und jenem lästigen Hämmern von Eisen gegen
+Stein, das dem sich erneuernden und
+aufputzenden Petersburg im Sommer eigen
+ist. Auch die Sterne sind hier wenig zu sehen,
+mit Ausnahme des Abendsterns, und auch
+dieser ist nur im Frühjahr sichtbar, in später,
+nicht sehr dunkler Mitternacht; dafür aber
+glänzt das Licht im Obuchowschen Krankenhaus
+wie ein Stern.
+</p>
+
+<p>
+Wenn im Hof der Belgischen Gesellschaft
+schwarze Männer erscheinen und wie Zuchthäusler
+einen schwarzen Karten mit Steinkohle
+nach dem andern von der Fontanka hereinfahren,
+und der Hof sich im Laufe der Tage
+in einen schwarzen Berg verwandelt, dann
+bedeutet es, daß der Sommer vorüber ist
+und daß der Winter, der Herbst naht. Wenn
+aber der Berg abzunehmen beginnt und wie
+Schnee schmelzend zergeht, wenn die schwarzen
+Männer wieder mit schwarzen Karren
+erscheinen und klirrend die letzten Stücke
+wegfahren; wenn in dem mit grauem Sandbestreuten
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+Hof weiße Zelte sich erheben, kurzgeschorene,
+erdfahle Menschen in grauen
+Krankenhauskitteln herumzuschleichen beginnen
+und die roten Kreuze der Schwestern
+leuchten, dann bedeutet es, daß der Winter
+vorüber ist und daß der Sommer – der
+Frühling da ist.
+</p>
+
+<p>
+Burkows Haus ist wie Petersburg selbst.
+</p>
+
+<p>
+Der herrschaftliche Teil des Hauses liegt nach
+der Seitengasse mit der Kaserne – in ihm sind
+lauter teure Wohnungen. Hier wohnt der
+Eigentümer Burkow selbst – ein ehemaliger
+Gouverneur: seine Uniform strahlt wie elektrisches
+Licht und sein Vorzimmer ist voller
+Epauletten und blanker Knöpfe. Eine Etage
+höher wohnt der Rechtsanwalt Amsterdamskij
+– er nimmt zwei Wohnungen ein. Noch
+höher wohnen Oschurkows – ein Ehepaar
+nur – in zehn Zimmern; alle zehn Zimmer
+sind voll von Nippes, auch ein Aquarium
+mit Goldfischchen haben sie; die Dienstboten
+wechseln jeden Tag. Der Nachbar der
+Oschurkows ist ein Deutscher, der Doktor der
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+Medizin Wittenstaube, der alle Krankheiten
+mit Röntgenstrahlen heilt. Ueber Oschurkows
+und Wittenstaube wohnt die Generalin Cholmogorowa,
+oder die Laus, wie sie im Hof genannt
+wird. Ueber der Generalin wohnt niemand;
+unter Burkow befindet sich noch ein
+Kontor und an der Ecke eine Bäckerei.
+</p>
+
+<p>
+Burkow selbst wurde nie von jemand gesehen.
+Es gingen seltsame Gerüchte um
+von seiner eigenartigen Selbstvernichtung:
+während er Gouverneur in Purchowez war
+und dort den Aufruhr unterdrückte, soll er
+dermaßen außer sich geraten sein, daß er unter
+anderen Akten auch eine von ihm selbst
+verfaßte Meldung an das Ministerium über
+seine eigene völlige Unfähigkeit unterschrieb,
+worauf er glücklich, aber ihm völlig überraschend
+nach Petersburg berufen wurde,
+wo er seinen Abschied erhielt.
+</p>
+
+<p>
+Die Generalin Cholmogorowa dagegen konnte
+ein jeder sehen, und alle wußten, daß allein
+die Zinsen ihres Kapitals bis zu ihrem Tode
+reichten, und leben könnte sie noch ein halbes
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+Jahrhundert: kräftig und lebhaft würde
+sie alle überleben, oder wie der Chiromant
+sich ausdrückte: es ist ihrem Leben kein Ende
+abzusehen! Man wußte auch von der Generalin,
+daß sie jeden Dienstag ins Dampfbad
+gehe und so abgehärtet sei, daß sie überhaupt
+nicht altere, sondern immer im gleichen
+Zustand verharre. Weiter wußte man, Gott
+weiß woher, daß sie nichts in ihrem Leben
+zu bereuen habe; sie hat weder getötet noch
+gestohlen, und wird weder töten noch stehlen,
+denn sie tut nichts, als sich ernähren –
+sie trinkt und ißt – sie verdaut und härtet
+sich ab. Sonst nichts. Endlich wußte man,
+daß sie das Haus nie anders als mit einem
+Klappstuhl verlasse; diesen nehme sie als
+eine Art Waffe mit, falls sie überfallen werden
+sollte, – und so kann man sie mit dem
+Stuhl täglich auf der Fontanka der Motion
+wegen promenierend antreffen, an Samstagen
+und Sonntagen, vor den Festen
+und an den Festtagen selbst dagegen auf
+dem Sagorodny-Prospekt, wo sie entweder
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+zur Kirche geht oder aus der Kirche
+kommt.
+</p>
+
+<p>
+Jeden Mittag Schlag Zwölf erscheint auf
+dem Hof das Burkowsche Hausmädchen Susanna,
+das schon mehr wie ein Fräulein aussieht
+– wie eine Stenotypistin aus irgendeinem
+Bureau – und führt den schönen Hund
+des Gouverneurs, den rothaarigen Revisor
+über den Hof spazieren, wobei sie kaum die
+lästige Stahlkette festhält. Jeden Mittwoch
+werden die Teppiche in den Hof hinuntergebracht
+und vor den Feiertagen auch die Polstermöbel,
+und die Teppichklopfer bearbeiten
+sie und klopfen so eifrig und mit solchem Gedonner,
+daß es sich anhört, als würde auf der
+Newa aus Kanonen geschossen; das bedeutet:
+ein Attentat oder eine Ueberschwemmung.
+Alle diese Teppiche und Möbel stammen
+aus dem herrschaftlichen Teil des Hauses
+– aus den reichen Wohnungen der Burkows,
+Amsterdamskijs, Oschurkows, Wittenstaubes
+und der Generalin Cholmogorowa.
+</p>
+
+<p>
+Im Hinterhaus sind lauter kleine Wohnungen,
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+und die Einwohner sind mittlere,
+zumeist aber kleine Leute. Hier befinden sich
+Schuster und Schneider, Bäcker, Bademeister,
+Friseure, eine Waschanstalt, zwei
+Weißnäherinnen, drei Schneiderinnen, eine
+Krankenschwester aus dem Obuchowschen
+Krankenhaus, Kondukteure, Maschinisten,
+Kürschner, Schirmmacher, Bürstenmacher,
+Buchhalter, Wasserleitungsarbeiter, Setzer
+und allerlei Mechaniker, Techniker und elektrische
+Monteure mit ihren Familien und ihren
+Lumpen, Flaschen, Gläsern und Schwaben;
+hier sind auch allerlei Fräuleins von der
+Gorochowaja und vom Sagorodny-Prospekt,
+Nähmamsells, Mädchen aus den
+Teestuben und elegante junge Leute aus den
+Badeanstalten, die die Petersburger Damen
+auf Wunsch bedienen; hier befinden sich
+auch „die Winkel“.
+</p>
+
+<p>
+Der Inhaber der Winkel, der Händler Gorbatschow,
+der Schweigsame – so wurde er
+im ganzen Hof genannt – ein stämmiger,
+haariger, angegrauter, betfrommer Mann,
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+der allsonnabendlich alle seine dreißig Winkel
+mit Weihrauch ausräuchert, besitzt auf
+dem Marsfeld drei Stände. Zu den Feiertagen
+tummeln sich bei Gorbatschow Mädchen
+in schwarzen Tüchern und Nonnen-Geldsammlerinnen
+in Schaftstiefeln, und zu
+Ostern legen alle diese Töchter des Gesanges
+lustig und keck: Christ ist auferstanden! bei ihm
+los. Gorbatschow ist allen bekannt und wenig
+beliebt; er kann Kinder nicht ausstehen. Die
+Generalin Cholmogorowa kann, wie man
+sagt, ebenfalls Kinder nicht ausstehen, aber
+sie selbst hat nie welche gehabt; Gorbatschow
+dagegen hatte ein Töchterchen gehabt, das er
+aber so lange in einer leeren Kammer voller
+Ratten eingesperrt hielt und so lange mißhandelte,
+bis er es ins Jenseits befördert hatte.
+Die kleinen Kinder ärgern Gorbatschow,
+geben ihm allerlei Spitznamen, verfolgen ihn
+in wilden Scharen, spotten über seinen Weihrauch
+und über seine mit Pferdehaaren bewachsene
+Nase, und davon ertönt der Hof
+von so kräftigen, geflügelten Worten, von
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+einer so auserlesenen saftigen russischen Sprache,
+wie man sie kaum im Gefängnis zu hören
+bekommt; und das Gefängnis ist doch sozusagen
+ihre Akademie.
+</p>
+
+<p>
+– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist
+voll, die Strafe ist nah, ich werde euch alle,
+ihr Lumpen, auf einem Stricklein aufhängen!
+– brummt der gekränkte, von den Kindern
+gequälte alte Schweiger und schnuppert
+mit seiner von Pferdehaaren bewachsenen
+Gorbatschowschen Nase, während er an den
+Sonnabenden alle seine dreißig Winkel beweihräuchert,
+böse und bitter das Göttliche
+mit dem Ungebührlichen durcheinandermengend.
+</p>
+
+<p>
+Die Gorbatschowschen Winkel sind allbekannt.
+Hier wohnt die Alte, die an der Badeanstalt
+Sonnenblumen- und Kürbissamen,
+Johannisbrot, Zuckerplätzchen in rosa Papierchen
+mit Fransen, Heringe und eingelegte
+Birnen feilbietet; stellenlose Köchinnen wohnen
+hier und sonst allerlei Volk, von der Art
+des ruhelosen alten Gwosdjow: ein Maler,
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+ein Tischler und allerlei fliegende Händler.
+</p>
+
+<p>
+Die Stände der Händler, ihre Kästen, befinden
+sich an der hölzernen Ueberwölbung
+der Müllgrube und auf dem Müllkasten
+andererseits. Am frühen Morgen, wenn die
+Hausmeister den Hof säubern und fegen, da
+kocht es bei den Händlern vor Arbeit auf den
+Ständen: die Aepfel, Apfelsinen, getrocknete
+Aprikosen, Pflaumen, Datteln und andere
+Süßigkeiten und Näschereien, alles wird
+vorsichtig immer wieder verlockend zurechtgelegt,
+aufgefrischt und erneuert. Dann wird
+es an der Fontanka herumgetragen und sieht
+so verlockend, so schmackhaft aus, daß es
+über die Kraft geht, sich zu versagen, wenigstens
+etwas davon zum Tee zu kaufen: eine
+Dattel oder eine Tafel Schokolade, die nach
+Mistpilzen riecht.
+</p>
+
+<p>
+Und so wie die Gorbatschowschen Winkel
+nie leer stehen, so sind auch die Stände dieser
+Händler, ihre Kästen stets voll von den verlockendsten
+Süßigkeiten und Näschereien.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+Neben den Winkeln befindet sich die Hausmeisterwohnung.
+Es sind ihrer sieben Hausmeister.
+Alle sehen sie so gesund aus, und alle
+sind sie irgendwie krank; – wenn sich zum
+Spaß wenigstens ein gesunder unter ihnen
+fände! Der Beruf eines Hausmeisters ist auch
+gar nicht so einfach: er muß aufpassen und Holz
+tragen und Leute auf die Wache schleppen,
+– und alles muß flink geschehen. Ihr einziger
+Vorteil ist der Verkauf von Brennholz. Nur
+der herrschaftliche Teil des Hauses bezieht
+das Holz vom Wirt; im Hinterhaus aber
+wohnen nur kleine Leute, die ihr Holz selber
+kaufen, und deshalb treiben durchweg alle
+sieben Hausmeister einen schwunghaften Handel
+mit Holz.
+</p>
+
+<p>
+Ueber der Portierloge wohnt der Oberhausmeister
+Michail Pawlowitsch, der seiner
+Stattlichkeit nach besser in die Newskaja
+Lawra<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> passen würde – auch in diesem
+Kloster würde er nicht zu den letzten zählen;
+– als Feiertagsgeschenk nimmt er nicht
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+weniger als einen Rubel an. Ueber Michail
+Pawlowitsch wohnen der Paßaufseher Jerkin
+und der Kontorist Stanislaus.
+</p>
+
+<p>
+Jerkin ist im ganzen Burkowschen Hof in
+Beziehung auf Trinken als der erste bekannt.
+Und in den Feiertagen kann es vorkommen,
+daß er, nachdem er die fünfte Etage erklettert,
+an einer Tür geklingelt und mit Mühe hervorgestammelt
+hat, er sei um seinen Feiertagsobolus
+gekommen, wie tot auf dem Platz
+liegen bleibt. Einmal, war es Weihnachten
+oder Ostern, da war er die ganze Treppe
+hinuntergekollert, von Stufe zu Stufe – „er
+liebt mich, er liebt mich nicht“ – und hatte
+sich dermaßen an den Fliesen zerschunden,
+daß man ihn kaum erkennen konnte. Nach
+Neujahr, am Tage der heiligen drei Könige,
+brachte ihn Antonina Ignatjewna, Michail
+Pawlowitschs Gattin, eine gottesfürchtige
+Frau, zum Mönch am Hafen, um ihn wieder
+auf den guten Weg zu bekehren. Er
+ließ sich auch bekehren: er legte vor dem Bruder
+ein Gelübde ab, – schriftlich – daß er
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+ein ganzes Jahr nicht mehr trinken würde,
+bis zum nächsten Neujahr. Jerkin handelt
+mit Marken aus dem Krankenhaus, und
+diese Marken, meist im Werte eines Rubels,
+sind für ihn dasselbe, was das Holz für einen
+Burkowschen Hausmeister ist.
+</p>
+
+<p>
+Jerkins Hausgenosse, der Kontorist Stanislaus,
+ist ebenso wie sein Freund, der Monteur
+Kasimir, von jeher dadurch bekannt, daß
+er sich nachts auf allen Treppen herumtreibt
+und daß keine Köchin, kein Hausmädchen
+ihm widerstehen kann; ein solcher Fall soll
+noch nicht vorgekommen sein, und kein Gardesoldat
+kommt ihm darin gleich.
+</p>
+
+<p>
+Hochzeiten, Leichenbegängnisse, Unfälle, Begebenheiten,
+Skandale, Raufereien, Schlägereien,
+Hilferufe und Polizeiwache – bald
+ist es, als schreie ein Mensch, bald, als miaue
+eine Katze oder als würde jemand gewürgt.
+Und so jeden Tag.
+</p>
+
+<p>
+Burkows Haus ist eine richtige Wjasma<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+Die Wohnung Adonja Iwoilowna Jurawljowas,
+der Wirtin Marakulins, ist im Hinterhaus
+gelegen und trägt die Nummer
+neunundsiebzig.
+</p>
+
+<p>
+Auf Nummer achtundsiebzig wohnt die Hebamme
+Lebedjowa. Bei der Hebamme wurde
+am Advent ein Pelzmantel gestohlen, und der
+Dieb war nicht zu finden, als wäre der Pelz
+im Ofen verbrannt. Man warf dem Schweizer
+Nikanor vor, daß er nicht aufgepaßt
+hätte, – aber wie konnte er aufpassen, wenn
+er den ganzen Tag auf den Beinen sein muß
+und nachts herausgeklingelt wird, und so
+das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es
+ein schlauer Dieb, ein Hausgenosse, – aber
+es war nichts zu machen.
+</p>
+
+<p>
+Auf Nummer siebenundsiebzig wohnten eine
+Zeitlang zwei Studenten – Scheweljow
+und Chabarow. Dem Aussehen nach waren
+sie wohlhabend; sie waren elegant gekleidet
+und hatten die Miete für einen Monat vorausbezahlt.
+Sie lebten zurückgezogen, niemand
+pflegte zu ihnen zu kommen, es gab
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+nie Lärm bei ihnen und sie hatten auch keine
+eigene Bedienung. Gewöhnlich fuhren sie
+schon am Morgen fort und kamen erst spät
+abends heim. Sie befaßten sich damit, Geld
+für ihre armen Kollegen zu sammeln; so sagten
+sie bei ihren Besuchen in den Vorder- und
+Hinterwohnungen des Burkowschen Hauses.
+Nur durch eins störten sie: sie sangen sehr
+oft in der Nacht, wenn auch nicht laut, so
+doch vernehmlich Totenmessen. Diese nächtlichen
+Totengesänge verursachten den Nachbarn
+wenn nicht Schrecken, so doch einige
+Erregung. Aber was geschah? Nach einem
+Monat stellte sich heraus, daß sie gar keine
+Studenten waren, auch nicht Scheweljow
+und Chabarow hießen, sondern Schibanow
+und Kotschenkow – Diebe vom reinsten
+Wasser, und ihre Wohnung war, als wäre
+sie gar nicht bewohnt, leer, nicht einmal ein
+zerbrochener Stuhl war drin – nichts, nur
+ein Kerzenstumpf in einer Bierflasche und ein
+Messinghahn. Und da sie nicht wenig auf dem
+Kerbholz hatten, wurden sie verhaftet.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+An Stelle der Studenten quartierten sich
+auf Nummer siebenundsiebzig zwei Artisten,
+die beiden Brüder Damaskin ein:
+Sergej Alexandrowitsch vom Ballett – er
+hatte in zwölf Sprachen Examen gemacht
+und alle Gesetze ausstudiert, wie man im Hof
+sagte, – und Wassilij Alexandrowitsch, ein
+Zirkusclown oder der Klon<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a>, wie es in der
+Burkowschen Sprache hieß: er spie Feuer
+und fürchtete nichts und ist schon im Luftballon
+geflogen. Die neuen Mieter wurden
+vom Oberhausmeister Michail Pawlowitsch
+die Artisten genannt, und er war von
+einem ungewöhnlichen und ihm selbst rätselhaften
+Respekt vor den Brüdern Damaskin
+durchdrungen, wie vor einem Mönch aus
+dem Hafen.
+</p>
+
+<p>
+Wassilij Alexandrowitsch, der Clown, sieht
+wie eine Teetasse aus, Sergej Alexandrowitsch
+ist schlank und sauber, wie ein sechzehnjähriges
+Fräulein; er berührt die Erde
+kaum beim Gehen und hält sich steil, wie ein
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+dreijähriges Kind; – er geht schnell, seine
+Schuhchen scheinen keine Absätze zu haben,
+und jeden Augenblick kontrolliert er sozusagen
+seine Füße gymnastisch: er beginnt mit den
+Füßen zu flattern, wie ein Hahn mit den
+Flügeln. Wassilij Alexandrowitsch ist nur im
+Zirkus beschäftigt und hat jeden Abend Vorstellung,
+wie das so ist, Sergej Alexandrowitsch
+dagegen tanzt im Theater und gibt
+Stunden bei sich zu Hause und außer dem
+Hause.
+</p>
+
+<p>
+Die Artisten verdienten gut, streuten das Geld
+aber um sich wie Späne – Sergej Alexandrowitsch
+spielte Karten und verlor stets –
+sie kamen aus den Schulden nicht heraus, und
+manchmal ging’s ihnen an den Kragen.
+</p>
+
+<p>
+Sie beide waren nicht älter als Marakulin.
+Sergej Alexandrowitsch war verheiratet,
+aber seine Frau hatte ihn verlassen. Und obgleich
+er sie versicherte, daß die Liebe nur einmal
+komme – es gebe nur eine Liebe auf der
+Welt – und, wenn er seinen Schülerinnen
+den Hof mache, dies eben nur zu den Pflichten
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+seines Berufes gehöre, und wenn er mit
+einer Schönen spreche, so spreche er mit ihr
+nur, wie mit einem Menschen, ohne daß sein
+Herz dabei beteiligt sei, so war seine Frau
+doch von ihm fortgegangen. Sergej Alexandrowitsch
+ist sauber, Wassilij Alexandrowitsch
+das Gegenteil: er braucht jeden Tag ein
+Fräulein, er kann sonst nicht leben; er ist
+dabei nicht wählerisch und fürchtet sich vor
+nichts, dafür aber besucht er, wenn auch
+nicht oft, die Kirche. Sergej Alexandrowitsch
+dagegen ist sogar Ostern zu Hause geblieben.
+Und als Sergej Alexandrowitsch einmal
+Zahnweh bekam und beschlossen hatte, er
+müsse sterben, dachte er gar nicht daran, einen
+Priester rufen zu lassen, vielmehr warnte er
+die Sklavin – so nannten die Artisten ihre
+Köchin Kusjmowna – und zwar aufs
+strengste davor: – Wenn du mir einen Popen
+holst – rief er in seiner Zahnwehraserei –
+werfe ich das Aas die Treppe hinab! –
+</p>
+
+<p>
+Und er hätt’ es auch gewiß getan: Sergej
+Alexandrowitsch war ein großer Philosoph.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+Marakulin stand mit der Hebamme Lebedjowa
+nur auf dem Grüßfuß – sie mißfiel
+ihm: sie sah nur auf die Tasche, war unterwürfig
+und verstand es mit zwei Stimmen
+zu sprechen: mit der einen zu denen mit den
+vollen Taschen und mit der anderen zu denen,
+die nichts hatten. Bald hörte die Hebamme
+auf, Marakulins Gruß zu erwidern, und auch
+er tat, als bemerkte er sie nicht mehr. Mit den
+Studenten war Marakulin nicht näher bekannt
+gewesen und nur manchmal an der
+Treppe mit ihnen zusammengestoßen: er stieg
+gerade hinauf, als sie herunterliefen; nachts
+aber war er ein aufmerksamer Hörer der studentischen
+Totengesänge. Auf den ersten Eindruck
+gefielen ihm diese Kerle: sie waren so tüchtig
+und lebenslustig. Mit den Artisten aber hatte
+er sich angefreundet und besuchte sie: er kam
+zu ihnen ab und zu abends zum Tee.
+</p>
+
+<p>
+Die Artisten waren geistlicher Herkunft und
+von seminaristischer Bildung; sie waren beide
+ein paar fidele Hühner, nicht kopfhängerisch
+– sie sparten kein Streichholz beim Zigarettenrauchen!
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+– Wassilij Alexandrowitsch,
+der Clown, war nicht sehr gesprächig, aber
+einem Gespräch nicht hinderlich; er war gutmütig
+und lachte viel, häufig auch, wo es
+gar keinen Anlaß zum Lachen gab, offenbar
+nach seiner eigenen Clownlinie. Sergej Alexandrowitsch
+dagegen unterhielt sich gern.
+Er war auch ein Bücherfreund und las nicht
+nur humoristische illustrierte Zeitschriften wie
+etwa „das Petersburger Satirikon,“ nicht
+nur den berühmten „Andrej, den Schwergeprüften,“
+oder „Elsa von Gabron,“ oder
+„die schrecklichen Geheimnisse des unterirdischen
+Gewölbes,“ oder „die schrecklichen
+Abenteuer des Räuberhauptmanns
+die schwarze Hand,“ oder „die Liebesrendezvous
+von Beritzky,“ „die Entführung Ludmillas
+durch den Waldräuber Alexander“
+– die Lieblingslektüre des Clowns –, nein,
+er las die neuesten, sensationellen Bücher, die
+überall in den Schaufenstern zu sehen sind:
+bei Ssuworin, bei Wolf, bei Mitjurnikow
+auf dem Newsky, im Gostiny Dwor, auf
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+der Litejnaja und sogar auf der Gorochowaja,
+in der einzigen Buchhandlung dieser
+Straße. Und beim Tee pflegte Sergej Alexandrowitsch
+auf alle totengräberischen, tendenziösen
+Betrachtungen Marakulins mit
+eigenen ausgedehnten Betrachtungen über
+das Schicksal und das Los verschiedener
+Länder, Völker und des Menschen überhaupt
+zu erwidern und schloß gewöhnlich mit der
+kurzen Bemerkung:
+</p>
+
+<p>
+– Man muß alles von sich abschütteln! –
+dabei flatterte er mit den Füßen wie ein Hahn
+mit den Flügeln.
+</p>
+
+<p>
+Sergej Alexandrowitsch ist ein großer Künstler.
+</p>
+
+<p>
+Die Wirtin Marakulins Adonja Iwoilowna
+Jurawljowa – eine nicht mehr junge, dicke
+und sehr gute Frau, ist seit fünfzehn Jahren
+Witwe, seitdem ihr Mann infolge einer
+Krebskrankheit den Hungertod starb. Er
+wurde auf dem Smolensky-Kirchhof begraben.
+Sie selbst ist keine geborene Petersburgerin,
+sie stammt von der Meeresküste, vom
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+Weißen Meer. Ihr Mann besaß ein Geschäft
+auf der Ssadowaja, einen Schnittwarenladen
+– Baumwolle und Zwirn – jetzt hat
+sie es verpachtet. Sie hat keine Kinder und
+die Verwandten von seiten ihres Mannes
+sind auch kinderlos, nur ein Neffe ist da.
+Der Neffe pflegt an den Feiertagen zu
+Weihnachten und Ostern zu kommen, um
+ihr zum Fest zu gratulieren, ebenso an ihrem
+Namens- und Geburtstag. Sie ist reich –
+hat viel Geld und weiß nichts damit anzufangen;
+sie grämt sich sehr, daß sie keine
+Kinder hat und seufzend klagt sie über
+das ihr von Gott bestimmte kinderlose Leben.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna bewohnt das äußerste
+Zimmer; gleich am Eingang rechts liegt ihr
+Zimmer. Den ganzen Tag sitzt sie zu Hause;
+auf die Straße geht sie nicht – es ist ihr beschwerlich,
+die Treppen hinunterzusteigen –,
+der eine Fuß schleppt etwas nach, und beim
+Hinaufsteigen vergeht ihr der Atem; auch
+hat sie Angst vor der Elektrischen. Es bleibt
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+ihr nur eine Zerstreuung: in die Küche zu
+Akumowna zu spazieren und mit ihr vom
+Essen zu sprechen.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna ißt gern.
+</p>
+
+<p>
+Die Zimmer liegen alle in einer Reihe. Das
+zunächst an der Küche gelegene ist das Marakulins,
+und Peter Alexejewitsch kann am
+Morgen schon hören, wie sie das Mittagsessen
+bespricht. Adonja Iwoilowna ißt besonders
+gern Fische. Und sie belehrt Akumowna
+über den Sterlet, über die Zubereitung
+einer Sterletsuppe, von einem wahrhaft
+die Seele aus dem Leibe schmeichelnden
+Geschmack.
+</p>
+
+<p>
+– Zuerst mußt du, Uljanuschka – spricht sie
+zu Akumowna mit einer Stimme, als schlucke
+sie Tränen – zuerst mußt du die Barsche
+bis zur Erschöpfung kochen, dann tu’ den
+Sterlet hinein, das gibt eine schmackhafte
+Suppe.
+</p>
+
+<p>
+Und in der Tat wurde da eine schmackhafte
+Fischsuppe gekocht; ein die Seele aus dem
+Leibe schmeichelnder, süßer, fetter Sterletgeruch
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+erfüllte die Küche und alle vier Zimmer,
+und Marakulin konnte es kaum aushalten,
+kaum den glücklichen, seligen Augenblick
+erwarten, bis er in die Garküche auf den
+Sabalkansky gehen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna versteht sich aufs Essen.
+</p>
+
+<p>
+Den ganzen Winter sitzt sie fest, sie ist seßhaft
+und wird wegen ihrer Seßhaftigkeit im ganzen
+Hof nicht anders als die Schmiede genannt;
+aber kaum, daß der Frühling beginnt,
+ist sie nicht mehr in Petersburg: den ganzen
+Sommer zieht sie von Ort zu Ort, zu allen
+heiligen Stätten pilgernd.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna liebt die Einfältigen und
+Narren, die Starzy<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a>, Brüder und Propheten.
+Sie war bei dem rasenden Starez in der
+Nähe von Kischinew, hatte seine schrecklichen
+Schilderungen des Jüngsten Gerichts
+und der Qualen der Sünder gehört; –
+sie waren so entsetzlich, daß die Pilger wie von
+Sinnen davongingen und tobsüchtig wurden;
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+manche starben auf der Stelle vor
+Angst vor den Höllenqualen – so entsetzlich
+waren diese Schilderungen. Sie war auch
+schon im Ural bei Makarij: – dieser Starez
+wohnt auf einem Geflügelhof, pflegt das
+Geflügel, spricht mit dem Geflügel, und ihm
+gehorcht alles Vieh: wenn sich der Starez
+bei Sonnenuntergang zum Beten hinstellt,
+so stellt sich auch das ganze Vieh hin, wendet
+die gehörnten, bärtigen Köpfe nach der
+Richtung, wohin der Starez betet und steht
+und rührt sich nicht; es erklingt kein Glöcklein,
+es klirrt keine Schelle. Sie war auch in
+Werchoturje bei Fedotuschka Kabakow,
+der durch Gebete die Stimme des Himmels
+herabruft; sie war auch bei jenem Starez,
+der durch seine Berührung engelhafte Reinheit
+schenkt und in den paradiesischen Zustand
+versetzt; sie war auch bei dem Kitajewschen
+Propheten: dieser Heilige läßt die Frommen
+an seiner Zunge saugen – er steckt seine Zunge
+heraus, man saugt an ihr und ist geheiligt –
+die Gnade hat sich auf einen herabgesenkt.
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+Noch bei vielen anderen heiligen Männern
+war sie in ihrem Leben gewesen: im Heiligengeistkloster,
+wo der Starez die bösen Geister
+vertreibt, indem er durch den Beischlaf das
+Fleisch abtötet; beim Bossoj-Iwanowskij-Starez,
+beim Starez Damian und bei Phoka
+Skopinskij, der sich selbst auf dem Scheiterhaufen
+verbrannt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geist,
+die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten.
+Sie möchte ihr Leben lang ihren unverständlichen
+Gesprächen, ihren Parabeln
+und Sprüchen lauschen, sie möchte in ihren
+Zellen beten, wo die Oellampen sich von selbst
+entzünden, wie die Kerzen Jerusalems. Sie
+hat nur einen Kummer: sie sprechen nicht mit
+ihr, – einzig ihr allein hat noch niemand von
+diesen Heiligen etwas gesagt! Ob sie nun zu alt
+an Jahren ist, oder ob sie vor Rührung die
+prophetischen Worte nicht hört, oder ist es
+ihr vielleicht nicht gegeben zu hören –? Nur
+die heilige Schwester Parascha hatte ihr einmal
+gesagt:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+– Schiffe werden gehen, viele Schiffe –
+weit!
+</p>
+
+<p>
+Und im Winter in ihrer schwülen Stube auf
+der Fontanka sitzend, wiederholt Adonja
+Iwoilowna sehr oft:
+</p>
+
+<p>
+– Schiffe, Schiffe! – und kann diese Worte
+nicht begreifen, und die Tränen rollen ihr wie
+die Erbsen die Wangen herab.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilownas Aehnlichkeit mit einer
+Seerobbe ist erstaunlich – eine echte murmanische<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a>
+Seerobbe.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna liebt die Armen im Geiste,
+die Narren, die Starzy, Brüder und Propheten,
+aber sie hat noch eine andre Leidenschaft
+und eine ebenso unbezwingliche: das
+Meer, das Meer – sie liebt das Meer. Alle
+russischen Meere hat sie befahren, sie ist auf
+dem Murman, auf dem Eismeer geschwommen,
+wo der Wal lebt, und hat auch das
+Mittelmeer gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Und im Winter allein in ihrer schwülen Stube
+auf der Fontanka sitzend denkt sie oft an das
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+Weiße Meer, ihre Heimat, und an das warme
+Schwarze Meer und an das smaragdgrüne
+Mittelmeer, und bei dem Gedanken an das
+Meer wiederholt sie Paraschas einzige prophetische
+Worte:
+</p>
+
+<p>
+– Schiffe, Schiffe! – und sie kann es nicht
+verstehen und Tränen rollen ihr wie Erbsen
+die Wangen herab.
+</p>
+
+<p>
+Nachts quälen Adonja Iwoilowna Träume.
+Sie träumt bunte Träume: sie träumt von
+der Heimat, von den heimatlichen Flüssen,
+dem Onegafluß, dem Dwinafluß, dem Pinegafluß,
+den Meshafluß, den Petschorafluß,
+vom schweren Brokat altrussischer Gewänder,
+von weißen Perlen und rosa Perlen aus
+Lappland, von Walfischen, Seerobben, Lappen,
+Samojeden, von Märchen und alten
+Weisen, von langen Winternächten und von
+der Mitternachtssonne, vom Kloster Ssolowski
+und vom Reigen. Sie träumt von
+cholmogorischen ungehörnten Kühen, einer
+ganzen Herde; – und diese Kühe haben
+menschliche Augen, sie schmiegen sich alle mit
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+dem Rücken an sie, dann tritt eine vor, reicht
+ihr einen Fuß wie eine Hand und sagt: „Adonja
+Iwoilowna, lehre mich sprechen.“ Nach
+ihr tritt eine andre vor, und so eine Kuh nach
+der anderen, jede reicht ihr einen Fuß wie die
+Hand, und alle haben sie die gleiche Bitte:
+„Adonja Iwoilowna, lehre mich sprechen!“
+Sie träumt von Skorpio-Chamäleonen; –
+alle sind sie im Frack, sitzen an den Wänden
+und wedeln mit den Schwänzen, die bald
+smaragdgrün sind und bald purpurn, wie
+eiskaltes Abendrot. Sie sehen sie alle nur an,
+und bald sind alle Wände voll von Skorpio-Chamäleonen,
+überall sind sie: auf den Heiligenbildern
+und hinter den Heiligenbildern,
+und ein Schweif, wie aus tausend kleinen
+Schweifen zusammengesetzt, winkt ihr zu
+und lockt sie, bald smaragdgrün und bald
+purpurn, wie eiskaltes Abendrot. Und manchmal
+träumt sie auch baren Unsinn: als esse sie
+einen Käsekuchen, und so viel sie auch essen
+mag, sie wird nicht satt und der Käsekuchen
+nimmt nicht ab.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+Jeden Tag deutet Akumowna die Träume,
+und abends beim Tee legt sie Karten. Akumowna
+kann wahrsagen aus den Weidenkätzchen,
+aus den Wagenkerzen und zur Winterzeit
+aus den Frostblumen auf den Fenstern;
+doch am genauesten kann sie aus den Karten
+wahrsagen.
+</p>
+
+<p>
+Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger
+Regen. Aus den Dachrinnen schlägt
+dumpf, wie ein Hund aufheulend, das Wasser
+auf die Steine. Die belgische Bogenlampe
+leuchtet wie der Mond durch das Gewoge
+von Nebel und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen
+Krankenhauses blinkt nur ein
+Licht.
+</p>
+
+<p>
+Im äußersten Zimmer bei Adonja Iwoilowna
+singt der Samowar – er geht nicht aus,
+er ist voll und kochend heiß, der Dampf wallt
+nur so – der Sänger summt sein Lied. Der
+Samowar singt, daß man es durch alle Zimmer
+hört.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna ist nicht in der Küche. Akumowna
+ist mit den Karten bei Adonja
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+Iwoilowna. Akumowna legt Karten. Der
+Samowar ist im Erlöschen, sein Gesumme
+ist leiser und Akumownas Stimme tönt
+dumpfer:
+</p>
+
+<p>
+– Fürs Haus. Fürs Herz. Was sein wird.
+Wie es endet. Wie es sich beruhigt. Sagt
+die volle Wahrheit, reinen Herzens. Was
+kommt, wird auch zutreffen.
+</p>
+
+<p>
+Es kommen aber lauter unreine, lauter unerfreuliche
+und dunkle Karten.
+</p>
+
+<p>
+Adonja Iwoilowna weint. Wie sollte sie
+auch nicht weinen! Ihren Mann hatte man
+auf dem Smolensky-Kirchhof bestattet und
+sie wollte ihn doch in der Newskaja Lawra
+haben: die Verwandten hatten darauf bestanden,
+hatten nicht auf sie geachtet. Er war zu
+Allen gut gewesen, hatte viel geholfen, aber
+sie liebten ihn nicht. Nur sie allein hatte ihn
+geliebt und auf sie hatte man nicht gehört.
+Auf dem Kirchhof geht nun die Erde unter
+ihm weg, die Erde bröckelt ab.
+</p>
+
+<p>
+Und wieder ertönt Akumownas Stimme,
+noch dumpfer.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+– Fürs Haus. Fürs Herz. Wie es endet.
+Was sein wird. Wie es sich beruhigt. Sagt
+die volle Wahrheit reinen Herzens. Was
+sein wird, wird auch zutreffen.
+</p>
+
+<p>
+Doch es kommen wieder dieselben Karten.
+Und wieder dieselben Träume; Adonja Iwoilowna
+weint: nur sie allein hatte ihn geliebt,
+aber man hatte nicht auf sie gehört, und jetzt
+geht die Erde unter ihm weg, die Erde bröckelt
+ab.
+</p>
+
+<p>
+– Man darf niemand beschuldigen! – sagte
+Akumowna plötzlich.
+</p>
+
+<p>
+Herbstabend. Draußen rieselt ein Petersburger
+Regen. Aus den Rinnen schlägt das
+Wasser, wie ein Hund aufheulend auf die
+Steine. Die belgische Bogenlampe leuchtet
+wie der Mond durch das Gewoge von Nebel
+und Rauch. Im Fenster des Obuchowschen
+Krankenhauses schimmert nur ein einziges
+Lichtlein.
+</p>
+
+<p>
+Im äußersten Zimmer, in der schwülen Stube
+bei Adonja Iwoilowna brennen drei ewige
+Oellämpchen. Adonja Iwoilowna betet lange.
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+Auch in der Küche, in der vom unverwüstlichen
+Sterletgeruch und vom Geruch
+getrockneter Pilze gesättigten Küche, brennen
+drei Oellämpchen. Akumowna betet lange.
+</p>
+
+<p>
+– Schiffe, Schiffe! – ertönt des Nachts eine
+Stimme inmitten des weinerlichen Schnarchens.
+</p>
+
+<p>
+Und am anderen Ende der Wohnung antwortet
+ihr dumpf eine andere:
+</p>
+
+<p>
+– Man kann niemand beschuldigen! –
+</p>
+
+<p>
+Und eine dritte Stimme, die durch die Wand
+aus dem Zimmer der Artisten hereindringt,
+sagt:
+</p>
+
+<p>
+– Man muß alles von sich abschütteln.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin fährt dabei auf, kauert sich zusammen,
+ganz verstummt und bedrückt horcht
+er und wiederholt sich vergebens immer dasselbe;
+trotzig wie er ist, kann er nicht mehr
+nicht denken, er kann nicht auf seine Gedanken
+nicht hören, und der Friede flieht ihn.
+</p>
+
+<p>
+Die göttliche Akumowna ist laut ihrem Paß
+eine Jungfrau von zweiunddreißig Jahren,
+aber laut ihren eigenen Versicherungen – es
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+war übrigens auch ohne ihre Versicherungen
+einleuchtend – war sie nicht zweiunddreißig,
+sondern sicher fünfzig. Sie ist aus Pskow gebürtig
+oder eine Pskowitanerin, wie die Artisten
+sie zu nennen pflegen, zu denen sie ebenfalls
+manchmal hinläuft, um Karten zu legen;
+für Sergej Alexandrowitsch wäre sie sogar bereit,
+den ganzen Tag Karten zu legen, außerdem
+ist die Sklavin Kusjmowna, welche halb
+an eine Flunder, halb an ein gefrorenes Huhn
+von der Sennaja erinnert, so etwas wie ihre
+Gevatterin.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna ist klein und schwarz, ihr Gesicht
+ist sehr dunkel, – ein Käfer! Sie lächelt und
+blickt so eigentümlich, idiotisch, nicht gradeaus,
+sondern von der Seite, mit etwas geneigtem
+Kopf. Sie ist sanft und wird nie böse. Und
+flink ist sie, aber sie läuft nicht, sondern sie
+dreht sich auf demselben Fleck herum und es
+sieht nur so aus, als liefe sie. Und geschickt
+ist sie, man würde glauben, sie mache alles
+sofort; wenn es aber vorkommt, daß man sie
+irgendwohin rasch schicken muß, dann ist’s
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+aus, dann kann man lange warten! Es ist ja
+auch die fünfte Etage und ihre Beine sind
+schon alt. Das Hinunterlaufen geht noch, aber
+beim Hinaufsteigen der Treppe – da bleibt sie
+stecken. Die Füße möchten schon laufen, und
+Akumowna wäre froh, möglichst schnell zurück
+zu sein, aber sie hat eben keine Kraft mehr,
+und sie dreht sich nur auf demselben Fleck.
+</p>
+
+<p>
+Den Tag und die Nacht verbringt Akumowna
+ebenso wie Adonja Iwoilowna. Sie
+träumt allerlei Träume: sie sieht Feuersbrünste
+– das Haus brennt ab – und Räuber
+– die Räuber jagen und verfolgen sie – und
+einen nackten Mann – der Nackte steht an
+einem Ufer und wäscht sich mit Seife – und
+ein fleckiges Reptil – das Reptil beißt sie; –
+und Beeren ißt sie im Traum – Preißelbeeren,
+die Büschel so groß wie ein Hammelschwanz.
+Aber am häufigsten – sehr häufig fliegt sie im
+Traum: sie fliegt immer nach einem und demselben
+Ort, zu Ostaschkow in Nils Einsiedelei,
+zum ehrwürdigen Nilus Stolbenskij.
+</p>
+
+<p>
+– Ich mache einen Sprung und fliege –
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+erzählt Akumowna, – ich steige auf und greife
+aus mit den Händen, wie auf dem Wasser,
+und es wird mir so leicht und ich fliege vorwärts
+wie ein Vogel.
+</p>
+
+<p>
+Schon vor langer Zeit hatte Akumowna ein
+Gelübde getan, zum ehrwürdigen Nilus zu
+pilgern, und bis jetzt hat sie dieses Gelübde
+noch nicht erfüllt; sie war noch nicht ein einziges
+Mal da, deshalb fliegt sie oft, sehr oft zu
+Ostaschkow.
+</p>
+
+<p>
+Im Hof wird Akumowna geliebt: die göttliche
+Akumowna. Und immer treiben sich
+Scharen von Kindern bei ihr in der Küche
+herum, sie versteht und liebt es mit den Kindern
+zu spielen und zu scherzen. Sie besucht
+alle; wenn sie Geld hat, gibt sie es – und man
+nimmt es von ihr, um es ihr nie zurückzugeben
+– in allen Winkeln ist sie willkommen. Und
+nur eins fürchtet sie: wenn auf dem Hof eine
+Schlägerei angeht.
+</p>
+
+<p>
+Sergej Alexandrowitsch Damaskin hat alle
+Gesetze ausstudiert, – er ist ein Artist. Akumowna
+aber ist ein Mensch, der weiß, was
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+im Jenseits geschieht. So sagt man im Burkowschen
+Hof.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna war schon im Jenseits, – sie
+war dort den Passionsweg gegangen.
+</p>
+
+<p>
+Dort in jener Welt wurde ihr alles gezeigt,
+nur weiß sie nicht, wer der Mensch war, der
+sie geführt.
+</p>
+
+<p>
+– Ich trat in ein Gebäude – so erzählt Akumowna
+ihren Passionsweg, – in einen Saal:
+der Fußboden war morsch, die Dielen eingefallen,
+die Erde unter ihnen war Schutt und
+auf dem Boden lagen Fische, stinkende, abscheuliche
+Fische verschiedener Art, Fleisch,
+Schädel; lauter schlechtes Zeug lag da herum
+und bis auf die Knochen verweste Menschen
+– einzelne menschliche Glieder, verweste
+Tiere, alles verfault und abscheulich.
+</p>
+
+<p>
+Und sie wurde durch dieses Gemach geführt
+und es wurde ihr alles gezeigt! Das Gemach
+war lang, unabsehbar, und breit, und dennoch
+war ihr so eng. Vor ihnen waren Menschen,
+viele Menschen, hinter ihnen ebenfalls
+viele Menschen, ringsum und überall gingen
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+und standen Menschen. Und in den Winkeln
+befanden sich Menschen, aber keine richtigen
+Menschen – das nimmt sie so an; – auch
+solcher gab es viele.
+</p>
+
+<p>
+– Ich habe mich so gequält, ein Gebet gesprochen,
+sie antworteten aber nicht – sie
+hatten Schwänze und Beine wie Kühe und
+Krallen wie Hunde. – Laßt mich heraus! –
+flehte ich.
+</p>
+
+<p>
+Einer aber sagte: – Nein, sie muß noch etwas
+sehen! – Und darauf ein andrer: – Warten
+wir, sie muß alles sehen, – und sie führten
+mich weiter.
+</p>
+
+<p>
+Und sie führten sie durch das Gemach und
+zeigten ihr alles. Es lag da nur Schlechtes
+und Vermodertes herum, lauter Aas, alles
+verwest und abscheulich, tote Menschen, tote
+Tiere, Gebein, Schädel, Kehricht.
+</p>
+
+<p>
+– Wenn Gott mich wenigstens die heiligen
+Sakramente empfangen lassen wollte! –
+dachte ich, – da könnte ich dieser Unzucht
+entrinnen. Und ich wiederholte bei mir: –
+Herrgott, laß mich das Abendmahl nehmen,
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+ich bin schon zu Tode gequält! – Und da
+sehe ich, wir sind schon draußen.
+</p>
+
+<p>
+Draußen wurde sie auf einen Berg geführt,
+und auf dem Berg standen drei Personen,
+alle in hellen Mänteln und die Gesichter
+mit etwas Hellem verhüllt; sie nahmen das
+Abendmahl. Nur daß statt des Kelches ein
+Spülnapf war und der Löffel fehlte; so
+nahmen sie das Abendmahl. Und viel Volk
+war da, und alle traten hinzu, alle nahmen
+das Abendmahl.
+</p>
+
+<p>
+Und auch sie wurde hingeführt. Sie wollte
+sich bekreuzigen, aber es war ihr schwer, als
+würde sie gehindert.
+</p>
+
+<p>
+Er selbst reicht mir eigenhändig die Oblate,
+aber nicht befeuchtet, sondern trocken. Und
+ich kann ihre Hostie nicht hinunterschlucken,
+sie bleibt mir im Halse stecken, ich ersticke fast.
+– Herrgott! Herrgott! Euch Heilige und
+Engel Gottes bitte ich, genug schon mich zu
+quälen! – Sie aber lachen. Der eine sagt:
+„Warte nur, wirst noch weiter gehen.“ Und
+nach ihm der andre: „Ja, wir müssen sie
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+noch weiter führen!“ – Sie lachen – ihre
+Schwänze und Beine sind wie bei Kühen,
+die Krallen wie bei Hunden. Und wieder beginnen
+sie mich zu führen.
+</p>
+
+<p>
+Sie führten sie den Berg hinunter zum See.
+An ihnen vorbei strömt das Volk in großen
+Scharen, wie auf dem Newsky – sie eilen,
+überholen einander, laufen, laufen und schleifen
+ihre langen Schwänze nach. Alle laufen
+sie vom Berg zum See, und am See verwandeln
+sie sich in Tauben – einer Riesenwolke
+gleicht diese Taubenschar.
+</p>
+
+<p>
+– Die Tauben ließen sich am Wasser nieder
+und begannen zu trinken, und ich sagte:
+„Gehen wir auch hin?“ „Ja,“ wurde mir
+die Antwort, „wir gehen auch hin.“ Einer
+aber sagte: „Nun ist es bald mit euch zu Ende.“
+Schon nähern wir uns immer mehr dem
+See. Ich räuspere mich, noch immer kann
+ich die Hostie nicht herunterschlucken! Herrgott,
+bitte ich, genug schon mich zu quälen.
+Um mich herum tummeln sich Kinder und
+ich stürze zu den Kindern, ob sie mich nicht
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+retten wollen: „Schütz mich doch, mein
+Schutzengel, schützt mich doch, seid mir gnädig!“
+Nun ist der ganze See mit Tauben bedeckt,
+das Wasser ist trübe und schmutzig.
+Ich steige bis an die Knie ins Wasser. „Jetzt
+ist dein Ende nah“ vernahm ich eine Stimme,
+und der, welcher mich geführt hatte, war
+fort und verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+So war Akumowna im Jenseits gewesen, so
+war ihr Passionsweg.
+</p>
+
+<p>
+Zum Glück hat sie ein gesundes Herz, über
+ihren Leib klagt Akumowna oft. Denn sie hat
+nicht wenig Schweres erlebt – sie war gehörig
+unter der Fuchtel.
+</p>
+
+<p>
+Akumownas Vater war wohlhabend und
+stand in gutem Ruf. Sie war noch nicht zehn
+Jahre alt, da starb ihre Mutter. Sie hatte
+sieben Brüder, alle älter als sie. Sie war ein
+gesundes Mädchen. Zwar hatte sie als kleines
+Kind einen Unfall: sie schlief in der Hängewiege
+und die älteren Geschwister wiegten
+sie, da rissen die Stricke, die Wiege flog auf
+die Erde und mit ihr das Kind. Es schrie
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+Tag und Nacht und ließ sich nicht einmal
+mit der Brust beruhigen, dann wurde
+es besser und es erholte sich ganz. Sie war
+ein kluges Kind. Vor dem Tode hatte ihr die
+Mutter fünfzig Rubel übergeben, in Leinewand
+eingewickelt. Niemand wußte etwas
+vom Gelde, nur der Vater allein. Und wenn
+der Vater es brauchte, da wickelte sie so viel
+er benötigte aus der Leinwand heraus und
+gab es ihm. Später gab er’s ihr wieder zurück,
+sie wickelte es wieder ein und verriet
+niemand etwas davon. Auch ihre Schwägerin
+wußte nichts davon. Der Vater lebte
+mit seiner Schwiegertochter. Die Schwiegertochter
+liebte sie nicht. Beim Mittagessen
+nahm sie sie bei der Hand und zerrte sie vom
+Tisch. Sie quälte das kleine Mädchen sehr.
+Der Vater lebte mit der Schwiegertochter.
+Einmal kam ein Vetter; der Vater hatte längst
+versprochen, ihm Geld zu leihen, jetzt war er
+gekommen, um es zu holen. Aber der Vater
+wurde böse und wollte ihm keines geben.
+Wassilij aber brauchte das Geld sehr, außerdem
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+kränkte es ihn: warum hatte er es erst
+versprochen! Er weinte und ging fort. Das
+Mädelchen hörte es – sie war so gut und
+nicht glücklich – sie holte Wassilij ein und
+bot ihm von ihrem Geld an, das in der Leinwand
+eingewickelt war, aber er sollte ihr versprechen,
+es ihr bald zurückzugeben. Er war
+natürlich froh: „Möge mein Haus verbrennen,
+mag ich meine Kinder nicht wiedersehen,“
+schwor er. Und sie gab ihm das Geld
+– genau so viel, Heller bei Heller, wie ihr
+Vater ihm versprochen hatte. Aber als die
+Zeit kam, gab er’s ihr nicht zurück. Er habe
+eben kein Geld, hieß es, sie müsse warten. Sie
+hätte auch gewartet, auch war es ihr gar nicht
+um das Geld zu tun, aber was sollte sie dem
+Vater sagen, wenn er danach fragte! Und
+grade mußte es kommen, daß der Vater krank
+wurde: er hatte Bier getrunken, da wurden
+seine Füße blau und es ging ihm schlecht.
+Das ganze Dorf wurde zusammengerufen.
+Auch Wassilij kam, der Vetter. Alle setzten
+sich um ihn herum und saßen. Da sagte der
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+Vater zum Mädchen, sie solle die Leinwand
+bringen, worin das Geld war. Sie erschrak,
+wußte nicht was zu sagen und redete sich
+heraus: Sie habe den Schlüssel verloren.
+Verloren? – Schön. Die Schwägerin nahm
+eine Axt, ging in den Speicher, brach den
+Koffer auf und holte die Leinwand. Man
+zählte das Geld und es fehlten zwanzig Rubel.
+Der Vater sagte zum Mädchen: – Wo
+ist das Geld? – Sie schwieg. Und nochmals:
+Wo ist das Geld? – Sie aber
+schwieg wieder. Und als es ganz schlimm
+mit ihm wurde, begann er die Kinder zu segnen.
+Er segnete erst seine Söhne, ihre älteren
+Brüder, dann kam die Reihe an sie. Sie fing
+an zu weinen und bat Wassilij leise, er möchte
+doch das vom Gelde sagen – aber Wassilij
+der Räuber erwiderte: – Ich weiß von
+nichts, ich habe dein Geld nicht genommen!
+– als hätte er in der Tat nie Geld von
+ihr genommen. Sie weinte nicht mehr; –
+wenn es einem gar schlimm zumute ist, da
+weint man nicht, sie sah nur den Vater an,
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+sie sah ihn nur an. Der Vater sagte zu ihr:
+– Ich segne dich – er hielt inne und überlegte:
+– sei wie ein rollender Stein um die
+weite Welt! – dann knirschte er mit den
+Zähnen und verschied.
+</p>
+
+<p>
+„Wie ein rollender Stein um die weite
+Welt!“ So lautete der Segen ihres Vaters,
+den Akumowna empfing und der sie offenbar,
+wie Akumowna annahm, zum Herumirren
+in der weiten Welt bestimmte.
+</p>
+
+<p>
+Sie hielt es darauf keine sechs Wochen mehr
+zu Hause aus, und lebte dann in einem Gemüsegarten.
+Zu Lebzeiten des Vaters, ob es
+schlecht oder gut ging, hieß es dulden; als
+aber der Vater starb, da ward die Schwägerin
+grimmiger als eine Bestie, sie verfolgte
+sie und fraß sie auf. Am sechsten Tag nach
+dem Froltage nahm die Herrin von Turij-Rog,
+Frau Bujanowa die Akumowna zu
+sich aufs Gut, ins Haus. Das Bujanowsche
+Gut Turij-Rog lag sechs Werst von Ssosna-Gora
+entfernt.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Gut hatte sie es sehr schön. Die
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+Herrin Bujanowa gewann sie lieb. Sie war
+nur ein wenig älter als Akumowna: Akumowna
+war damals dreizehn, die Herrin
+sechzehn Jahre alt. Herr Bujanow selbst war
+nicht mehr jung und hätte gut der Großvater
+der beiden sein können. Er reiste oft in Geschäften
+in die Stadt und war auch zu Hause
+viel beschäftigt: er besaß viel Land, viel Wald
+und See, – er war ein tüchtiger Wirt und
+liebte sein Gut: der Hanf in Turij-Rog stand
+so dicht, daß ein Mensch nicht durch konnte,
+und die Hühner weideten auf den Feldern
+wie Schafe! Die Herrin aber war immer allein
+mit Akumowna, wie mit einem lieben
+Schwesterchen. Sie nahm sie überall mit,
+ins Feld, in den Wald, in das junge Gehölz,
+um Pilze und in den dunkeln Wald, um Beeren
+zu suchen. Im dunkeln Wald, in den Lichtungen,
+in der Sonne da stehen die Beeren so
+rot, daß es eine Freude ist, sie zu pflücken. Sie
+pflückten Nüsse, sammelten Eicheln zum Kaffee,
+oder die Herrin legte sich unter eine Kiefer
+und schickte Akumowna Blumen zu holen.
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+Akumowna kehrte dann mit Blumen zurück
+– mit vielen verschiedenen blauen Blumen –
+und wand einen Kranz, die Herrin aber lag
+unter der Kiefer und weinte. Akumowna
+schmückte sie mit den blauen Blumen – und
+küßte sie halbtot; – sie selbst war schwarz,
+mit blanken, lustigen Augen, ein rotes Band
+im Zopf – ein Käfer.
+</p>
+
+<p>
+So verbrachte Akumowna ein Jahr unzertrennlich
+von der Herrin: sie wurde zu allem
+angeleitet, lernte Plätten und Waschen. Vor
+Mariä Schutz und Fürbitte fuhr der Herr
+in die Stadt und wurde da krank. Dem
+Herrn geschah dies oft: man behauptete, daß
+<em>sie</em> ihn quälten: – der Wald hat seinen
+Herrn und das Wasser seinen, die Wald-
+und Wasserbeherrscher. Der Wald in Turij-Rog
+war früher dicht und undurchdringlich,
+ein Käfer konnte kaum durchfliegen; Bujanow
+hatte den Wald gelichtet. Zu den Seen
+konnte man früher nicht gelangen, er aber
+hatte Wege gebaut und die Seen gereinigt.
+Ihnen aber ist so etwas nicht recht. Und von
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+Zeit zu Zeit kamen sie zu ihm und machten
+ihm Vorwürfe, daß er sie umgebracht hatte.
+Dies eben war seine Krankheit. So sagten
+die Menschen. Man benachrichtigte die Herrin
+in Turij-Rog, sie machte sich auf und fuhr
+zu ihm.
+</p>
+
+<p>
+– Die gnädige Frau befahl mir, auf das
+Schönchen acht zu geben, – erzählte Akumowna,
+– jede Nacht nach der Kuh zu
+sehen. Es gab da viele Kühe, aber das
+Schönchen war ihre Lieblingskuh. Das
+Schönchen sollte kalben. Damit fing’s an.
+Im Dorf war grade eine Hochzeit und ich
+bat um Erlaubnis hinzugehen. Ich versprach
+um Zwölf heimzukommen, vergaffte mich
+und kam erst um Zwei. Inzwischen hatte das
+Schönchen um Zwölf gekalbt und das Kalb
+mit einem Fußtritt erschlagen. „Eins von uns
+bleibt am Leben, entweder du oder ich!“ sagte
+der Aufseher des Viehhofs, – entweder ich
+werde davongejagt oder er. Und so gehe ich
+zum jungen Herrn – der Bruder der gnädigen
+Frau war bei uns damals Verwalter –
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+und fürchte mich hineinzugehen: ich versuche
+die Tür aufzumachen und laufe zurück.
+„Was hast du, Käfer?“ Er hatte mich also
+kommen gehört. „Verzeihen Sie, gnädiger
+Herr, verzeihen Sie, ein Unglück ist passiert!“
+„Komm her!“ Er ließ mich eintreten. Ich
+werfe mich auf die Knie, erzähle ihm auf
+den Knien alles und weine. „Hinaus! Pack
+deine Sachen!“ Und jagt mich hinaus. Ich
+ging zu mir aufs Zimmer – meine kleine
+Kammer lag hinter dem Speisezimmer –
+und wußte gar nicht, was für Sachen zu
+packen, denn ich hatte keine, ich weinte nur.
+Und so weinte ich die ganze Nacht. Am
+nächsten Morgen kommt der Herr. „Hast du
+schon eingepackt?“ Ich fange wieder an.
+„Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich bekenne
+meine Schuld!“ „Schweig, wag es nicht zu
+weinen, – ruft er – sonst laß ich dich aufhängen“
+und ging fort. Ich denke mir, aufhängen
+läßt er mich doch nicht, er will mir nur
+Angst machen, und dennoch fürchte ich, und
+mir ist so bange. Es war Samstag, das Bad
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+wurde geheizt. Ich scheuerte die Schwitzbank,
+stellte Bier hin und wollte eben gehen,
+da kommt der gnädige Herr. Ich will zur
+Tür hinaus. „Halt, hast du schon deine Sachen
+gepackt?“ Ich wiederhole das meinige:
+„Verzeihen Sie mir, gnädiger Herr, ich bekenne
+meine Schuld, jagen Sie mich nicht
+fort!“ – Er überlegt und sagt zu mir: „Wenn
+du einwilligst mit mir zu leben, dann bleibe
+hier, brauchst dann nicht fortzugehen!“ Und
+stieß mich hinaus. Ich wollte aber nicht fortgehen,
+wollte nicht von meiner gnädigen Frau
+verstoßen werden, und wohin sollte ich auch
+gehen? – wieder zum Bruder, zur Schwägerin?
+Und so gehe ich herum und weine.
+Der Viehhofaufseher wiederholt aber nur:
+„Eins von uns bleibt am Leben, du oder ich!“
+Entweder er wird fortgejagt oder ich. Wäre
+die gnädige Frau nur zu Hause gewesen, aber
+sie kam immer noch nicht. Es wurde wieder
+Samstag. Wieder wurde das Bad geheizt.
+Ich scheuerte die Schwitzbank, stellte Bier
+hin und wollte mich beeilen, vor dem gnädigen
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+Herrn fortzugehen, mir war so bange,
+ich fürchtete mich. Er trat aber schon ein.
+„Bist du nun einverstanden?“ – „Ja.“ –
+Natürlich, ich war ein dummes Mädchen,
+hab’ nichts verstanden. „Geh, zieh dich aus,
+ich will dich ansehen.“ Ich zog mich aus. Am
+nächsten Tag fuhr der gnädige Herr in die
+Stadt – er hatte mich noch nicht angerührt
+– und brachte mir ein seidenes Tuch und ein
+Band ins Haar mit. Ich erzählte es der Kinderfrau,
+– eine alte, ganz alte Kinderfrau
+war da im Hause. „Das macht nichts,“ sagte
+die Kinderfrau, „verlange du aber fünfhundert
+Rubel auf ein Büchlein, zur Sicherstellung!“
+Ich konnte nicht verstehen, was für ein
+Büchlein sie meinte. Ich war eben ein kleines
+dummes Mädchen und verstand nichts. Am
+Abend ruft mich die Kinderfrau: „Wenn du
+dem gnädigen Herrn den Samowar hineinbringst,
+dann geh nicht fort!“ Das Zimmer
+des gnädigen Herrn lag neben dem Speisezimmer.
+Ich nahm das seidene Tuch um,
+flocht mir das Band ins Haar, brachte den
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+Samowar und setzte mich an den Tisch, –
+und es schüttelte mich nur so.
+</p>
+
+<p>
+Die Schande und die Schmach! – Akumowna
+schämte sich sehr, sie wollte sich erhängen:
+ihre Herrin war zurückgekehrt, ihre
+Herrin – und Akumowna ging so herum.
+Die Herrin beruhigte sie, versprach ihr das
+Kind zu erziehen, verzieh ihr das mit dem
+Schönchen und verwies sie nicht von sich.
+Akumowna brachte einen Knaben zur Welt,
+bald darauf bekam auch die Herrin einen Knaben.
+Die Kinder wurden zusammen erzogen,
+sie hatten eine Kinderfrau, und wurden später
+auch gemeinsam unterrichtet. Mit neun
+Jahren wurden beide nach Petersburg gebracht.
+Der Bruder der gnädigen Frau adoptierte
+Akumownas Sohn. Sie kamen nur zu
+den Sommerferien, zu Weihnachten und zu
+Ostern heim. Im gleichen Jahr beendigten
+sie beide ihr Studium und wurden Offiziere.
+Da blieben sie kurze Zeit auf dem Gut und
+fuhren bald nach Petersburg zurück. Als
+Akumownas Sohn klein war, da war er sanft
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+und zärtlich, später aber als er groß wurde,
+begann Akumowna sich vor ihm zu fürchten:
+wenn er sie ansah, hätte sie sich verkriechen
+mögen, sie hätte nicht gewagt ein Wort
+zu ihm zu sprechen.
+</p>
+
+<p>
+Die Zeit aber wartet nicht, die Zeit nimmt
+das ihrige! Der alte Herr starb – <em>sie</em> hatten
+ihn erwürgt: der Wald hat seinen Herrn und
+das Wasser hat seinen Herrn, Wald- und
+Wasserherren, so sagt man. Und nach dem
+Tod des alten Herrn stieß auch dem Bruder
+der Herrin ein Unglück zu: an einem Kirchenfest
+ihres Sprengels wurden sieben Menschen
+auf der Hauptstraße ermordet; man begann
+zu untersuchen und der Weg führte gradeaus
+nach Turij-Rog in den Hof, und so wurde
+er wegen Mitwisserschaft eingesperrt. Ein
+Jahr blieb er im Gefängnis, und als er wieder
+frei wurde und sich zu einer Reise ins Ausland
+rüstete, starb er. Akumowna hatte den
+gnädigen Herrn nicht gesehen, als er im Sterben
+lag, sie hatte ihn nur gesehen, als er aus
+dem Gefängnis kam. Sie hätte ihn nicht erkannt:
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+er war schwarz, wie die Erde. Man
+sagte, seine Lungen hätten sich abgelöst.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna blieb wieder allein mit der Herrin
+zurück, wie einst. Sie gingen wie einst wieder
+ins Feld und in den Wald. Akumowna
+sammelte Blumen für ihre Herrin, allerlei
+blaue Blumen, und wand ihr einen Kranz;
+die Herrin lag wieder unter einer Kiefer, nur
+weinte sie nicht mehr, sie schlief; – sie trank
+jetzt, schon längst hatte sie sich ans Trinken
+gewöhnt: sie nahm einen Schluck, aß eine
+Pfefferminzpastille dazu und schlief ein.
+</p>
+
+<p>
+Der gnädige Herr, der Bruder der Herrin,
+starb im Frühling, und im Herbst wurde Akumownas
+Sohn aus Petersburg nach Turij-Rog
+gebracht. Er hatte gebeten, daß man ihn
+vor dem Tode nach Turij-Rog bringe: er war
+schwindsüchtig. Er wurde auf dem Gut bestattet,
+auf dem Turij-Rogschen Kirchhof.
+Seine Uniform und seine Mütze bekam Akumowna.
+Und das Jahr war noch nicht um,
+da starb die Herrin. An ihrem Todestage sah
+sie im Traum den alten Herrn mit einem
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+weißen Hund kommen ... Und auch die
+Herrin wurde bestattet.
+</p>
+
+<p>
+Turij-Rog war nun vereinsamt. Akumowna
+war allein auf dem Gut. Der junge Herr
+wollte sie nicht mehr behalten und entließ sie
+nach der Beerdigung. Und so war sie ganz
+allein. Sie weinte aber nicht, – wenn es
+einem gar zu schlimm ist, dann weint man
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Zum letzten Mal ging sie ins Feld, in den
+dunkeln Wald und in das junge Gehölz, saß
+zum letzten Male im Wald auf dem Abhang,
+wo die Sonne am stärksten brennt und wo
+die Beeren so rot stehen, und unter der Kiefer,
+wo ihre Herrin zu liegen pflegte, verneigte sich
+tief vor dem jungen Wald, vor dem Feld –
+vor dem alten dunkeln Wald und vor der
+Kiefer, und ging. Sie ging die Hauptstraße
+aus Turij-Rog an Ssosna-Gora vorbei, vorbei
+am Bruder und an der Schwägerin, an
+Wassilijs Haus, am Kirchhof, an den Grabkreuzen
+des Vaters und der Mutter, immer
+gradeaus von Turij-Rog, immer gradeaus
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+die Hauptstraße lang, wie ein rollender Stein
+um die weite Welt.
+</p>
+
+<p>
+Und manches Jahr dehnte sich der Weg
+von Turij-Rog nach Petersburg. Bis sie
+Petersburg erreichte, ging sie oft hinter dem
+Pflug und mit der Sense, oder mußte wie
+eine Zigeunerin in den Hohlwegen herumlungern.
+</p>
+
+<p>
+Neun Jahre lebt nun Akumowna in Petersburg.
+Die Uniform und die Mütze wurden
+ihr noch auf dem Weg von Turij-Rog nach
+Petersburg gestohlen, und nur ein Andenken
+ist ihr geblieben: ein Paar warme Schuhe
+und ein Paar Gummischuhe hängen mit
+Naphtalin bestreut in einem Karton an der
+Decke ihrer Küche.
+</p>
+
+<p>
+– Ich sehe diese Sachen an, als wenn er es
+selbst wäre! – sagt Akumowna, wenn sie an
+den Feiertagen den Karton öffnet.
+</p>
+
+<p>
+Neun Jahre wohnt nun Akumowna auf der
+Fontanka im Hinterhaus des Burkowschen
+Hofes, Sommer und Winter, und weiter als
+auf die Sennaja oder bis zum Fischteich ist
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+sie noch nicht gekommen, und sie sehnt sich
+nach freier Luft.
+</p>
+
+<p>
+– Wenigstens etwas Luft atmen! – sagt
+sie manchmal und lächelt und blickt idiotisch
+von der Seite – die sanfte, göttliche, verwaiste,
+unglückliche Akumowna.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-4">
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+Drittes Kapitel
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Zimmer, die im Herbst leergestanden
+hatten, wurden zu Anfang des Winters
+vermietet, und Marakulin hatte nun zwei
+neue Nachbarinnen: Wera Nikolajewna
+Klikatschowa, Hörerin der Nadeschdinschen
+Kurse, und Wera Iwanowna Wechorjowa,
+Schülerin der Theaterschule.
+</p>
+
+<p>
+Wera Nikolajewna war sehr mager, so mager,
+daß man Angst um sie bekommen konnte,
+besonders nachdem sie die Nacht über den
+Büchern verbracht hatte. Wie ein solcher
+Mensch bloß leben kann: nicht ein Blutstropfen
+war in ihrem Gesicht, und ihre Augen
+waren jene verlorenen Augen des herumschweifenden
+heiligen Rußland.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte mit ihrer Mutter in der Provinz
+gelebt, in der alten Kreisstadt Kostrinsk. Sie
+hatten ein eignes Häuschen, das Häuschen
+aber brannte ab, und sie verloren dabei alle
+ihre Habseligkeiten. Man hätte sie retten können,
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+wenigstens ein Teil konnte gerettet werden,
+aber die Mutter, die alte Klikatschowa
+stellte sich mit dem Heiligenbild den Flammen
+gegenüber und ließ nichts wegtragen, – alles
+verbrannte. Wenn man dem Feuer erlaubt,
+alles aufzufressen, ohne sich zu widersetzen,
+dann ersetzt es alles hundertfach, – so glaubte
+die Alte. Zwar hatte sie vorher schon eine Erscheinung
+gehabt, ein Zeichen hatte ihr den
+Brand verkündet: eine Woche früher hatte
+der Tisch und die Heiligenbilder unheimlich
+geknistert, doch die Alte besann sich erst darauf,
+als alles schon verbrannt war. Nach
+dem Brande wohnten sie in einem alten Badehäuschen.
+Wera Nikolajewna absolvierte
+die Kostrinskische Gemeindeschule und wäre
+in ihrem alten Badehäuschen sitzen geblieben,
+wenn nicht eine Verbannte aus Petersburg
+hingekommen wäre, die sie zu unterrichten
+begann und zur Aufnahme in die vierte Gymnasialklasse
+vorbereitete. Wera Nikolajewna
+reiste in die Gouvernementstadt, machte da
+das Examen und blieb dort drei Jahre in der
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+Heilgehilfenschule am Gouvernementkrankenhaus.
+Darauf ging sie nach Petersburg,
+wo sie jetzt im Begriff war, die Nadeschdinschen
+Kurse zu absolvieren.
+</p>
+
+<p>
+Das Lernen fiel ihr nicht leicht, – bis zum
+Weinen schwer war ihr das Lernen. Aber
+sie wollte es nicht aufgeben, sie war von
+einem unheimlichen Fleiß. Nach Absolvierung
+der Nadeschdinschen Kurse beabsichtigte
+sie, das Abiturientenexamen zu machen,
+um in das medizinische Institut aufgenommen
+zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Voller Sorgen, von den Lehrbüchern und
+von Arbeit erfüllt – sie mußte als Masseuse
+ihren Lebensunterhalt verdienen – saß sie
+nie mit im Schoß müßig gefaltenen Händen,
+und es war schwer, ein Wort aus ihr herauszubringen;
+sie erzählte selten und war nicht
+gesprächig. Sie erwähnte nur zuweilen ihre
+Mutter und jene Verbannte, Maria Alexandrowna,
+die sie unterrichtet und in ihr die
+Lust zum Lernen erweckt hatte, – nur von
+diesen beiden sprach sie.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+Wera Nikolajewnas Mutter, Lisaweta
+Iwanowna, lebte seit ihrer Kindheit in dem
+kleinen, weißen, verlassenen, alten Städtchen
+mit den fünfzehn weißen Kirchen. Kostrinsk
+ist eine alte Stadt am Ufer des Flusses
+Ustjuschina, – und in Beziehung auf das
+Trauergeläute der Glocken eine erste Stadt,
+eine Klagestadt. Alte Leute können sich noch
+erinnern, wie Lisaweta Iwanowna jung war,
+eine lustige Reigenführerin, Märchenerzählerin
+und Sängerin uralter Weisen. Sie erinnern
+sich noch, wie sie im Dom getraut
+wurde und wie der Priester, der doch Braut
+und Bräutigam kannte, sich fortwährend irrte
+und die Namen verwechselte, und wie Jutschicha,
+eine alte Waschfrau, dazu traurig
+den Kopf schüttelte, weil sie in ihrer ahnenden
+Seele wußte, daß das junge Paar nicht
+lange zusammenbleiben wird: ein Dritter
+stand zwischen ihnen unter dem Baldachin.
+Die Alte wußte es, aber sie schwieg.
+</p>
+
+<p>
+Und diese Jutschicha war auch dabei, als
+Lisaweta Iwanownas Mann starb, und dabei,
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+als das Haus brannte. Sie war es auch,
+die ihr beigebracht hatte, nichts hinauszutragen
+und alles dem Feuer zu überlassen. Und
+nicht das allein bloß hatte sie sie gelehrt, sondern
+all ihr nicht einfaches, ahnungsvolles
+Wissen. Denn Jutschicha wußte viel, ja, vielleicht
+alles, was dem Menschen zugestanden
+ist. So sagte man in Kostrinsk. Und sie stieg
+ruhig ins Grab, weil sie in der Welt einen
+andern Menschen an ihrer Statt zurücklassen
+konnte. Lisaweta Iwanowna würde für sie
+besonders zu Gott beten, weil ihr die Alte
+alles überliefert und für sie mehr getan hatte,
+als Vater und Mutter tun könnten, so viel,
+daß es wohl keinem Menschen gegeben ist,
+mehr zu tun. So urteilte man in Kostrinsk.
+</p>
+
+<p>
+Zehn Jahre waren nach Jutschichas Tod
+und nach dem Brand des Hauses vergangen.
+Noch immer im alten Badehäuschen lebend,
+träumte Lisaweta Iwanowna davon, sich ein
+neues stattliches Haus zu bauen, ähnlich wie
+das verbrannte. Jeden Sommer ließ sie Bauholz
+aus dem Wald in ihrem Gemüsegarten
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+aufstapeln. Sie war auch schon beim Vater
+Johann von Kronstadt gewesen, um seinen
+Segen zu erbitten und brachte ihm ein altes
+Heiligenbild im Stroganowschen Stil zum
+Geschenk, und <a id="corr-5"></a>er schenkte ihr dagegen hundert
+Rubel für den Anfang. Wie oft schon
+hatte sie sich von Verbannten einen Plan
+zeichnen lassen und ihn scharfsichtig genau
+geprüft und untersucht: ob die Speisekammer
+oder die Rumpelkammer nicht vergessen
+worden sei, ob auch alles genau so wäre, wie
+im alten verbrannten Hause. Aber ein neues,
+stattliches baute sie doch nicht. Das Bauholz
+verfaulte im Gemüsegarten, der Plan
+wurde sorgfältig in einem Kästchen aufbewahrt
+und die hundert Rubel, das Geschenk
+des Priesters hatten auf der Rückfahrt nicht
+einmal Moskau erreicht. Sie hatte nie in
+ihrem Leben soviel Geld beisammen gehabt
+– ihr Mann war ein kleiner Beamter in
+Kostrinsk gewesen und mußte mit Kopeken
+rechnen – und des ehrwürdigen Vaters regenbogenfarbener
+Schein verflüchtigte sich
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+im Handumdrehen: sie brachte allerlei Nippes,
+Schächtelchen und Schachteln, nötige
+und unnötige, zerbrochene und ganze, als Geschenke
+aus Kronstadt mit, und jeder Gegenstand,
+jedes Schächtelchen hatte seine Bestimmung;
+das größte Paket aber sollte seine Bestimmung
+nach näherer Erwägung erhalten,
+und für diese „nähere Erwägung“ war fast
+ein halbes hundert Rubel daraufgegangen.
+Wie sollte man da ein Haus bauen!
+</p>
+
+<p>
+Lisaweta Iwanowna ist gebückt, zahnlos,
+ihre schweren weißen Flechten umwickeln
+den ganzen Kopf, und die blauen Augen sind
+noch heller geworden und leuchten. Sie hat
+vieles in dieser Welt gesehen, obwohl die
+ganze Welt für sie die kleine weiße verlassene
+alte Stadt mit den fünfzehn weißen Kirchen
+war, und alle ihre Tage waren besungen vom
+Trauergeläute. Kostrinsk ist eine alte Stadt
+am Fluß Ustjuschina und dem Trauergeläute
+der Glocken nach eine erste Stadt, eine Klagestadt.
+Viele Menschen hat Lisaweta Iwanowna
+schon zu Grabe geleitet; sie besucht
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+ihre Gräber und am Ostersonntag trägt sie
+rote Eier hin, um den Toten den Gruß:
+„Christ ist erstanden“ zu entbieten; denn es
+ist viel wichtiger, den Toten diesen Gruß
+zu bringen als den Lebenden, so glaubte
+die Alte. So lebte sie in ihrem Badehäuschen,
+wie in einem richtigen Haus dahin und
+genoß den Anblick der Sonne, wenn sie hinter
+dem Kirchturm unterging, und das Kreuz
+vergoldete, freute sich, wenn man zum erstenmal
+Schlitten fuhr, oder wenn die Kinder im
+Frühjahr auf den Brettern sich schaukelten,
+und wartete nur auf den Menschen, dem sie
+all das Wissen, das ihr die alte Waschfrau
+Jutschicha überliefert hatte, weiter überliefern
+könnte. Und der Mensch, dem sie es überliefern
+würde, wird ebenso glücklich werden
+wie sie selbst; denn es gebe kein größeres Glück
+als das ihre, – so dachte die Alte. Ihr Glück
+aber bestand darin, daß sie durch ihr nicht
+einfaches, ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes
+oder tatsächliches Wissen erkannt
+hat, wie man leben muß. Sie lebte nicht für
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+sich und nicht für die anderen, und wenn sie
+etwas tat, so dachte sie weder an sich noch
+an die Einwohner von Kostrinsk, sondern sie
+bereitete sich fürs andere Leben vor, fürs
+Jenseits, und dachte bei ihren Handlungen
+nur an das andre Leben und an das Jenseits;
+deswegen war ihr selbst wohl, und deswegen
+tat sie den anderen wohl.
+</p>
+
+<p>
+Lisaweta Iwanowna war für Kostrinsk dasselbe,
+was irgendein Bruder im Hafen für die
+arme Petersburger Bevölkerung.
+</p>
+
+<p>
+Da kam nach Kostrinsk eine Verbannte aus
+Petersburg, Maria Alexandrowna. Um sich
+die Tage abzukürzen und auf irgendeine
+Weise die Zeit zu vertreiben, die in der Unfreiheit
+sich so ausdehnende Zeit, begann sie
+Wera Nikolajewna zu unterrichten. Wera
+Nikolajewna gefiel ihr, und sie kam oft zu
+Klikatschows. Auch Lisaweta Iwanowna
+interessierte sie und sie fragte die Alte aus,
+wie sie denkt, daß man leben und wofür man
+leben müsse, wie man vergessen könnte, was
+nicht zu vergessen ist, und was man tun
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+müsse, daß man keine Angst hätte und nicht
+begehre, was man nicht nehmen darf, – Alles
+das fragte sie die Alte. Und aus diesen Fragen
+erkannte die Alte und ihr Herz flüsterte
+ihr zu, daß diese Verbannte eben der Mensch
+war, dem sie ihr nicht einfaches ahnungsvolles
+Wissen überliefern und ihn glücklich
+machen müßte.
+</p>
+
+<p>
+Ein Jahr lang lebte Maria Alexandrowna
+in Unfreiheit in dieser kleinen, weißen, verlassenen,
+alten Stadt. Zu Ostern kam sie zu Klikatschows,
+um am geweihten Mahl teilzunehmen;
+– zu Ostern aber ist für den Wissenden
+alles besonders sichtbar und klar. Und
+so erblickte Lisaweta Iwanowna bei ihrem
+Liebling, bei ihrer Auserwählten auf der
+Stirn zwischen den Augenbrauen das Zeichen
+des Todes. Und sie wollte erst nicht glauben,
+als sie dieses Geheimnis erkannte. Aber schon
+in der Osterwoche war Maria Alexandrowna
+nicht mehr in Kostrinsk, sie war ganz
+spurlos verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Vieles hatte Lisaweta Iwanowna gesehen:
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+sie hatte ihren Mann begraben, hatte auch
+viel fremden Kummer mit angesehen – wo
+gibt es ihn nicht! – aber niemals hatte sie
+so viel geseufzt, wie damals, als der Morgen
+kam, der Tag verstrich und es Abend wurde
+und Nacht, und ihre Auserwählte, ihr Liebling,
+die dem Tod Geweihte verschwunden
+blieb. Sie, die Glückliche, hatte dank ihrem
+nicht einfachen, ahnungsvollen, gleichviel ob
+eingebildeten oder tatsächlichen Wissen erkannt,
+wie man leben muß, aber sie hat die
+ihr bestimmte göttliche Tat nicht vollbracht,
+sie hat ihr Wissen nicht überliefert, und wenn
+Maria Alexandrowna nicht zurückkehrte,
+müßte sie als Unglückliche sterben. Und die
+Alte wartet; ihr von schweren weißen Flechten
+umwundener Kopf wackelt, sie betet leise,
+sanft und demütig, und über ihr läuten die
+Glocken ihr Trauergeläute und besingen sie.
+Kostrinsk ist eine alte Stadt am Fluß Ustjuschina
+und dem Trauergeläut nach eine
+erste Stadt, eine Klagestadt.
+</p>
+
+<p>
+– Wohin ist denn Maria Alexandrowna
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+verschwunden? – fragte einmal Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+Aber Wera Nikolajewna sagte nichts, nur
+ihre verlorenen Augen, die Augen des herumschweifenden
+heiligen Rußland lohten auf
+wie zwei Scheiterhaufen, und sie weinte
+nicht, sondern schrie die ganze Nacht, als
+hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und die
+Schlinge sehr eng zusammengezogen.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin konnte diese Nacht auch nicht
+einschlafen. Er horchte, er verstand, und es
+war ihm unheimlich zumute.
+</p>
+
+<p>
+– Dem Gorbatschow aber, – dachte er, –
+werden seine Nonnen und Jungfrauen in
+schwarzen Kopftüchern bis in die Ewigkeit
+hinein „Christ ist auferstanden“ zu Ostern
+singen.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Gedanke wiederholte sich in ihm und
+zog durch ihn schleppend und zäh und drückte
+sich in Worten aus. Als er aber erschöpft
+war, überkam ihn eine Unruhe: er vergaß
+Gorbatschow, Maria Alexandrowna und
+Lisaweta Iwanowna, nur eins wollte er erkennen:
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+was man wegräumen müßte, um
+seine Ruhe wiederzufinden.
+</p>
+
+<p>
+Da erinnerte er sich plötzlich an die Generalin
+Cholmogorowa, wie sie satt und gesund, so
+zufrieden und sieghaft herumgeht, diese Laus,
+die nichts zu bereuen hat und nur der Motion
+wegen herumgeht, wie sie mit ihrem Klappstuhl
+auf der Fontanka herumspaziert oder
+auf dem Sagorodny-Prospekt aus der Kirche
+zurückkommt, – und es war, als wenn modriges
+Spinnweb sich ihr nachziehen würde,
+wie es in den Winkeln ungelüfteter Rattenkammern
+hängt, oder zwischen dem Fußboden
+und unverschiebbaren schweren Kästen,
+– dieses Spinnweb zieht sich ihr nach
+und dringt einem gradezu in den Mund –
+es ist um sich ins Wasser zu werfen!
+</p>
+
+<p>
+Schon lange hatte er das bemerkt, aber erst
+jetzt erkannte er es. Und er überlegte die ganze
+Nacht bis zum Morgen ingrimmig, wie man
+die Generalin möglichst geschickt beseitigen
+könnte, so daß nicht einmal eine nasse Spur
+von ihr zurückbliebe; denn er konnte nicht
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+leben, ohne daß sie beseitigt wäre, es fehlte ihm
+die Luft zum Atmen, sie ließ ihn nicht atmen
+mit ihrem modrigen Spinnweb. – Es läßt
+einen nicht frei aufatmen, dachte er, man hat
+keinen Schlaf, keine Geduld, keine Ruhe.
+</p>
+
+<p>
+Hätte Marakulin im Moment der Verzweiflung
+die Generalin ermordet, und wäre am
+Morgen vor Gericht gestellt worden, so hätte
+er zu seiner Rechtfertigung sagen können,
+daß nicht er gemordet hat, sondern die grausame
+Burkowsche Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Und Wera Nikolajewna weinte nicht, sondern
+schrie die ganze Nacht bis zum Morgen,
+als hätte man ihr die Kehle zugeschnürt und
+die Schlinge sehr eng zusammengezogen.
+</p>
+
+<p>
+Es waren jetzt grausame Nächte für Marakulin.
+Wo blieb seine Bereitwilligkeit, alles zu
+ertragen, nur um zu sehen, nur um zu hören,
+nur um zu fühlen? Immer derselbe Gedanke an
+die Generalin ging ihm nicht aus dem Sinn,
+die unglückliche Generalin war ihm im Halse
+stecken geblieben! – Ein verrückter Mensch
+und in seiner Verrücktheit beharrlich.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+Als er einmal am Morgen in der Zeitung von
+einem Arzt las, der des Giftmordes beschuldigt
+wurde, versteckte er die Zeitung unter
+sein Kissen und las am Abend vor dem Einschlafen
+wieder die Stelle.
+</p>
+
+<p>
+– Wohltäter der Menschheit, Doktor –
+flüsterte er im Dunkeln, – du magst wohl
+nicht eine Laus nur ins Jenseits befördert
+haben und vielleicht wirst du ... noch jemand
+befördern!
+</p>
+
+<p>
+Und angesichts der allgemeinen Entrüstung
+der Zeitungen sprach er zu sich ganz trunken:
+</p>
+
+<p>
+– Das sind Schwestern meiner Generalin,
+die für diese vom Doktor vergiftete Laus so
+einmütig eintreten.
+</p>
+
+<p>
+Er stand mitten in der Nacht auf, zündete
+eine Kerze an, las nochmals die Zeitung und
+versteckte sie unter dem Kopfkissen. Darauf
+legte er sich wieder hin und flüsterte im
+Dunkeln und dachte bis zum Morgen. Und
+er übertrug seine eigene Burkowsche Verzweiflung
+auf die ganze Menschheit, deren
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+Wohltäter vielleicht dieser giftmischerische
+Arzt werden könnte, der eine Laus nach der
+anderen ins Jenseits befördert und die Luft
+reinigt, damit man atmen kann: denn sonst
+hätte er keine Luft zum Atmen, keinen Schlaf,
+keine Geduld, keine Ruhe. Ein verrückter
+Mensch war er und in seiner Verrücktheit
+beharrlich.
+</p>
+
+<p>
+Eine Woche oder länger lebte Marakulin in
+einer Art Raserei und erreichte, wie es ihm
+schien, den Punkt. Und als er den Punkt erreicht
+hatte, fand er einen Schlupfweg, um
+wieder in die Welt zu gelangen, er fand sein
+Recht in der Welt zu sein, welches seit dem
+Herbst schon schwankte, oder richtiger, nicht
+bloß schwankte, sondern ihm abhanden gekommen
+war, zusammen mit dem Schlaf,
+mit der Geduld, mit der Ruhe.
+</p>
+
+<p>
+Gorbatschow hatte, so dachte Marakulin,
+nach all seinen Umtrieben und Klügeleien erkannt,
+wie er leben muß: er wollte seine Seele
+erlösen, und deshalb räucherte er seine
+Winkel mit Weihrauch, alles übrige aber:
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+ob man die Kinder alle auf einen Strick aufhängen
+oder sie mit Bonbons in rosa Papierchen
+füttern müßte – das betrachtete er als
+unwesentlich für die Erlösung seiner Seele.
+Maria Alexandrowna hatte ebenfalls nach
+allen ihren Fragen erkannt und begriffen, wie
+sie leben mußte: nicht daß sie die Gefahr besonders
+liebte und ein Leben, neben dem der
+Tod einherging – nein, sie wollte verderben,
+ihre Seele für andre hingeben, sie hatte sich
+zum Opfer auserkoren für ein Gesetz und eine
+Wahrheit, von deren Herrschaft das Glück
+der Menschen abhängt, und sie hatte gewiß
+getötet, oder einen Totschlag vorbereitet, oder
+war bei irgendeinem Attentat gegen eine Person,
+die ihrer Meinung nach dem Gesetz und
+dem Recht schadete, behilflich gewesen. Lisaweta
+Iwanowna hat durch ihr nicht einfaches,
+ahnungsvolles, gleichviel ob eingebildetes
+oder tatsächliches Wissen erkannt und
+begriffen, wie sie leben muß: sie denkt weder
+an sich, noch an die anderen, sondern sie denkt
+an das Jenseits und an das jenseitige Leben,
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+und indem sie sich für das Jenseits und für
+das jenseitige Leben vorbereitet, handelt sie
+dementsprechend. Aber mit Weihrauch räuchern
+und dabei sich gegen die Kinder wehren,
+ebenso wie ein Attentat vorbereiten oder
+sich für das jenseitige Leben vorbereiten –
+das alles ist Tat, Aktion, Arbeit, und setzt zu
+seiner Verwirklichung eine Menge wichtiger
+Entschlüsse voraus. Vor allem muß man
+wissen, gleichviel ob vor seinem Gewissen
+oder aus Verantwortung vor der Vergangenheit
+und ihren Werken, muß man sich
+selbst antworten können, daß man seine Seele
+erlösen, oder daß man seine Seele verderben
+soll – oder daß man sich für das jenseitige
+Leben vorbereiten soll, und es sich fest
+vornehmen im Namen eines Unwiderruflichen.
+Die Generalin dagegen rührt keinen
+Finger, tut nichts – man kann doch das Besuchen
+des Dampfbades nicht eine Tat
+nennen! – erreicht aber alles, und wie glänzend!
+Der Erfolg ihrer Abhärtung ist handgreiflich
+und ganz zweifellos, so daß ihrem
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+Leben kein Ende abzusehen ist – der Chiromant
+hat sich in diesem Falle nicht geirrt, und
+sie ist vielleicht schon unsterblich. Dabei sucht
+sie weder ihre Seele zu erlösen, noch zu verderben
+– denn verderben ist dasselbe wie erlösen
+– und sie gedeiht, indem sie auf jede Erlösung
+verzichtet und nichts und niemand
+etwas schuldet. Und hat Gorbatschow, welcher
+weiß, wie man leben muß, ein Daseinsrecht,
+und haben Maria Alexandrowna und
+Lisaweta Iwanowna, die ebenfalls wissen,
+wie man leben muß, ebenfalls ein Daseinsrecht,
+so hat die Generalin, wie ein Kelch
+der Auserwähltheit, nicht nur ein einfaches
+Recht, sondern ein königliches!
+</p>
+
+<p>
+– Und jetzt ist zu überlegen und sehr genau zu
+überlegen, – räsonierte Marakulin, als er
+den springenden Punkt, wie ihm schien, erreichte,
+– um einen entscheidenden Schluß
+zu ziehen, ein für allemal: wie würde die
+Menschheit handeln, wenn, sagen wir, wenn
+alle Großmächte, ein Bündnis aller Mächte
+der Welt, mit England an der Spitze, ihren
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+Untertanen, der ganzen Menschheit, durch
+die Parlamente und Reichstage in besonderen
+Manifesten dieses sorgenlose Lauseleben, das
+sündenlose und unsterbliche Leben der Generalin
+anbieten würden? – Gesetzt, so etwas
+wäre möglich, sei es durch eine wirkliche Erfindung
+– wenn etwa der gelehrte Deutsche
+Wittenstaube es mit Hilfe seiner Röntgenstrahlen
+herausgefunden hätte; oder durch
+einen Betrug – oder wenn etwa einer unserer
+gewesenen Gouverneure wie Burkow der
+Selbstvertilger – wie viele solcher Vertilger
+gibt es in Rußland, die fanatisch ihre außergewöhnlichen
+Fähigkeiten gegen sich selbst
+richten! – also, wenn so ein Burkow einen
+Trick erfunden hätte, meinetwegen einen vorübergehenden
+Betrug, aber natürlich so, daß
+alles glatt ginge; oder durch ein freches Wagnis,
+wenn etwa ein lichtspendender, hochheiliger
+Starez Kabakow, nachdem er ein
+Grammophon in seinen Keller eingemauert,
+sich durch eine Himmelsstimme der Welt als
+Hirte und Richter offenbaren ließe – als der
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+Erlöser von Murkas Erbsünde – und ein
+neues, nicht von Menschenhand geschaffenes
+Zion aufgebaut hätte, voll Frieden und
+Gnade, schnell, einfach und billig, – wie
+würde sich die Menschheit dazu verhalten,
+wie würde sie darauf reagieren? Ich denke –
+fuhr Marakulin fort zu räsonieren, als er mit
+Marakulinscher Hartnäckigkeit bis zu seinem
+springenden Punkt vorgedrungen war –
+alle Untertanen würden ohne alle überflüssigen
+Worte und Zeremonien, das Soll und
+Nichtsoll und jeden Gedanken an Erlösung
+vergessend, ganz leise, ohne die Hüte oder
+sonst den Rang bezeichnenden Kopfputz abzunehmen,
+die Hosen ausziehen und auf
+den mutigen, freien, stolzen, heiligen Anruf,
+sich bekreuzigend, in einen gigantischen mit
+Pferdehaaren bedeckten, vielleicht bei uns
+in der belgischen Fabrik hergestellten Kopf,
+hineinschlüpfen. Sie würden in dieses neue,
+nicht von Menschenhand erschaffene Kabakowsche
+Zion voll Frieden und Gnade hineinstürzen,
+um ein neues Lauseleben, ein
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+schmerzloses, sündenloses, unsterbliches, und
+vor allem ruhiges Leben anzufangen: ernähre
+dich, verdaue und härte dich ab! Ein Klappstühlchen
+könnte man sich noch immer anschaffen;
+vielleicht wäre es sogar möglich,
+unter diesen allgemeingültigen und deshalb
+zwingenden, freiwillig angenommenen Bedingungen,
+da bei jedem am Hals ein Kuhglöcklein
+läuten würde, damit man, sorglos
+weidend, nicht verloren gehe, sich auch ohne
+Klappstühlchen auf der Fontanka Motion
+zu machen, oder auf dem Sagorodny in die
+Kirche zu gehen. Und es ist anzunehmen, daß
+jeder Vernünftige und Gute so handeln würde
+– denn wer ist sein eigener Feind? – und er
+würde nach dem Gesetz richtig, weise und
+menschlich handeln: denn in der Tat, wer
+hätte Lust sich zu quälen, zu ersticken ohne
+Schlaf, ohne Geduld, ohne Ruhe!
+</p>
+
+<p>
+Als Marakulin einst in seiner Kindheit Gardist
+bei der Kavallerie werden wollte, betete
+er, Gott möge ihm helfen, ein Gardekavallerist
+zu werden, und als er Räuber werden
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+wollte, betete er mit denselben Worten, nur
+daß der Gardekavallerist durch den Räuber
+ersetzt wurde, und ebenso betete er, als er
+Kalligraphielehrer zu werden wünschte. Das
+waren seine Hauptgebete für sich in Moskau
+auf der Taganka, denn um ein gutes Zeugnis
+hatte er nie gebetet. Später pflegte er beim gewohnheitsmäßigen
+Beten, während er morgens
+beim Erwachen und nachts beim Einschlafen
+„Gott sei mir gnädig“ aufsagte, von
+Gott nichts mehr zu verlangen. Dann hatte
+er auch dies: „Gott sei mir gnädig“ vergessen.
+Jetzt aber, als er, wie ihm schien, in seinen
+Betrachtungen bis zu jenem springenden
+Punkt angelangt war und das königliche
+Recht entdeckt hatte und dieses königliche
+Recht auf der Welt zu sein auch für sich begehrte,
+warf er sich nachts inbrünstig auf die
+Erde und betete in der Raserei, die Stirn gegen
+den Boden schlagend:
+</p>
+
+<p>
+– Herrgott! – flehte er – gewähre mir für
+einen Augenblick nur dieses wahre Lauseleben,
+mach mich deiner Gnade teilhaftig, Herrgott,
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+laß mich nur für einen Augenblick aufatmen,
+dann mag dein Wille geschehen!
+</p>
+
+<p>
+Und hätte sich Marakulin in seiner Verzweiflung,
+während er mit der Stirn gegen den
+Fußboden schlug, den Schädel gespalten,
+und man hätte ihn am nächsten Morgen dafür
+zur Verantwortung gezogen, so hätte er,
+zur Besinnung gekommen, nur eins zu seiner
+Rechtfertigung sagen können, daß nicht er
+sich getötet, sondern die grausame Burkowsche
+Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Hier muß noch gesagt werden, daß seine Geschäfte,
+die auch sonst nicht besonders waren,
+zu Weihnachten überhaupt stillstanden. Er
+fand gar keine Arbeit mehr; ein Entehrter
+findet sehr schwer Arbeit, besonders wenn
+auf die Frage: „Womit beschäftigen Sie sich
+sonst?“ der wirkliche Grund der Untätigkeit
+nicht verheimlicht wird. Marakulin verheimlichte
+ihn auch nicht, und erzählte naiv wie ein
+zwölfjähriges Kind von seinen Streichen, von
+seinen Quittungsbüchern und wie er wegen
+jener Quittung herausgeflogen war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+Seine Lage war schlimm. Die Artisten Damaskin
+halfen ihm aus, und ohne Sergej
+Alexandrowitsch, Wassilij Alexandrowitsch
+und Wera Nikolajewna wäre ihm nichts
+übrig geblieben, als eine Bittschrift zu verfassen,
+gleich dem ruhelosen alten Gwosdjow,
+der damals an Murkas Tag bei ihm erschienen
+war, am letzten Tag in seiner eigenen
+Wohnung.
+</p>
+
+<p>
+Und am Ende wird man sie doch verfassen
+müssen, denn das königliche Recht, dieses
+nächtliche königliche Recht, wird einem offenbar
+nicht so leicht gewährt, und wenn man
+keine Renten hat, die bis ans Lebensende
+reichen, da ist es vielleicht besser, Gott gar
+nicht zu beunruhigen: man erreicht ja doch
+nichts.
+</p>
+
+<p>
+Zu Weihnachten gab es bei den Artisten einen
+Weihnachtsbaum, und alle Mieter Adonja
+Iwoilownas waren eingeladen. Es war da
+eine Menge Leute, gewiß lauter Artisten.
+Sergej Alexandrowitsch war sehr geschäftig
+und reichte den Gästen Aschenschalen,
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+damit die Zigarettenstummel nicht auf den
+Boden geworfen werden, und Wassilij Alexandrowitsch
+ging so aus sich heraus, ließ
+solche Raketen steigen, daß alle vor Lachen
+beinahe umkamen. Im Kartenspiel verloren
+die Brüder das Letzte. In der Gesellschaft
+taute auch Wera Nikolajewna auf und sang
+ihre Kostrinskischen uralten Weisen, wie sie
+sie von ihrer Mutter Lisaweta Iwanowna
+gelernt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Und seitdem, seit jenem Damaskinschen
+Weihnachtsabend, sang Wera Nikolajewna
+an den Abenden der Weihnachtswoche
+allein in ihrem Zimmer, zuweilen von den
+Lehrbüchern sich losreißend, mit halblauter
+Stimme vor sich hin. Sie sang auf altertümliche
+Art, und in ihren Weisen atmete
+das uralte Rußland.
+</p>
+
+<p>
+Gewöhnlich begann sie mit dem Gesang von
+den sieben wilden Stieren und von ihrer Mutter,
+der Stierin; wie die sieben goldgehörnten
+wilden Stiere am Gestade des blauen Meeres
+wanderten, wie sie über das blaue Meer
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+schwammen und auf der berühmten Insel
+Bujan landeten, wo sie ihrer Mutter, der Stierin,
+begegneten. Und die Stiere erzählten ihr,
+wie sie an Kiew vorbeikamen und an der Auferstehungskirche,
+und was sie da für ein Wunder
+gesehen hatten: aus der Kirche kam eine
+Jungfrau, sie trug auf dem Kopf ein goldnes
+Buch, trat bis zum Gürtel in den Newafluß,
+legte das Buch auf einen weißen, heißen
+Stein, las im Buch und weinte. Und die
+Stierin deutet den Stieren dies übergroße
+Wunder: die Jungfrau war die Mutter
+Gottes und sie las ein goldnes Buch – das
+Evangelium, und sie weinte, weil sie Ungemach
+über Kiew heraufkommen sah, Ungemach
+über das ganze heilige Rußland.
+</p>
+
+<p>
+Und nach den Stieren erhob sich in seiner
+ganzen reckenhaften Größe der Riese Ilja
+Muromez; wie der Recke am Grabe des
+Swjatogor den reckenhaften Geist einatmet
+– den dritten, weißen Grabesschaum, –
+und es treibt ihn und es hebt ihn, er weiß
+nicht, wo er mit seiner Kraft hin soll. Dann
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+folgte die Nachtschwalbe, die Aebtissin, die
+blonde Füchsin; vierzig schwarze Jungfrauen
+folgen ihr wie die Dohlen, und schon donnert
+und poltert der schreckliche Alte, Igrimistsche-Kologrenistsche.
+Er tritt aus dem Bogoljubowschen
+Kloster aus, er will seine Seele
+retten, sie ins Paradies bringen und schleppt
+in einem Sack weißen Kohl, bitteren Rettich,
+rote Rüben – und ein schwarzlockiges
+Mägdelein.
+</p>
+
+<p>
+Und wieder schwimmen auf dem blauen
+Meere die goldgehörnten Stiere, begegnen
+ihrer Mutter, der Stierin, und erzählen ihr
+das übergroße Wunder. Die Stierin deutet
+ihnen das Wunder: die Jungfrau ist die
+Mutter Gottes, und lesen tut sie ein goldenes
+Buch, das Evangelium, und sie weint, weil
+sie ein Ungemach über Kiew ahnt, Ungemach
+über das ganze heilige Rußland.
+</p>
+
+<p>
+Wera Nikolajewna sang auch die Räuberweise,
+von dem Scnurrbart, dem Teufelskerl;
+sie sang von Gauklern und von lustigen
+Leuten ...
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Leise spielt, ihr Spielmänner,</p>
+ <p class="verse">Leise spielt, ihr Lustigen,</p>
+ <p class="verse">Mir tut der Kopf so weh,</p>
+ <p class="verse">Mir ist mein Herz so schwer ...</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+In der Küche betet Akumowna vor den drei
+ewigen Lampen; sie betet für ihre Herrin,
+für den Bruder der Herrin, für ihren eigenen
+Sohn. Im hintersten Zimmer betet vor den
+drei ewigen Lampen Adonja Iwoilowna;
+sie denkt an Paraschas Schiffe und weint,
+weil sie es nicht versteht.
+</p>
+
+<p>
+Mit Wera Nikolajewna schien etwas vorzugehen:
+sie sang viel und war nicht mehr so
+fleißig.
+</p>
+
+<p>
+– Bei Gott, Sie sind in Sergej Alexandrowitsch
+verliebt –, sagte einmal Werotschka
+Wechorjowa plötzlich in Wera Nikolajewnas
+Zimmer eintretend, und sah sie schelmisch,
+herausfordernd und boshaft an.
+</p>
+
+<p>
+Und die sonst so Blasse flammte plötzlich auf
+und wurde still – kein Wort. Und auch ihm
+wird sie kein Wort sagen, sie wird eher sterben,
+als etwas sagen – es gibt Solche. Und
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+darum klang in ihren alten Weisen, in denen
+das uralte Russland atmete, eine so dumpfe
+beklommene Sehnsucht.
+</p>
+
+<p>
+Werotschka – so wurde vom ersten Tage
+an Wera Iwanowna Wechorjowa genannt
+–, welche Akumowna auch die Unverschämte
+nannte, nicht etwa als Schimpfwort,
+sondern als Kosename – Werotschka
+verbrachte selten einen Abend zu Hause. Am
+Tage war sie in der Schule, dann kam sie
+für ein Stündchen nach Hause und bald darauf
+lief sie irgendwohin, ins Theater. Wenn
+sie nichts vorhatte, dann saß sie bei den
+Damaskins. Sergej Alexandrowitsch unterrichtete
+sie in allerlei Tänzen. Sie war biegsam,
+schlank und leicht, wie ein Federchen,
+und wenn beide miteinander tanzten, so schien
+es, als hätten sie Flügel wie Vögel. Die Zeit
+verging ihnen lustig.
+</p>
+
+<p>
+Einmal fand sie Marakulin beim Tanzen,
+und seitdem kam er öfters zu den Nachbarn,
+und daß Werotschka dort war und tanzte,
+das tat ihm wohl. Wera Nikolajewna aber
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+kam seit Weihnachten nicht mehr zu Damaskins;
+sie fand stets eine Ausrede und saß allein,
+in ihre Lehrbücher vertieft, oder hatte
+Wache im Krankenhaus.
+</p>
+
+<p>
+Werotschka gefiel Marakulin. Sie tanzte
+schön und las gut vor – mit einem schönen
+Organ. Im Süden geboren, war sie in Moskau
+erzogen worden, und in ihrer Sprache
+war weder das lästige südliche Zwitschern,
+noch die nordische Kälte – die gebändigte
+Freiheit, dafür aber Festigkeit und jene besondere
+Moskauer Lieblichkeit. Nach dem Tanzen
+bat sie gewöhnlich Sergej Alexandrowitsch,
+der Verse liebte, etwas vorzulesen.
+Und Onjergins Brief: „Ich weiß voraus,
+beleidigen wird Sie des traurigen Geheimnisses
+Erklärung ...“ mußte sie ihm einigemal
+wiederholen.
+</p>
+
+<p>
+Was Marakulin auffiel und ihn am Anfang
+von Werotschka abgestoßen hatte, war
+ihr äußerst starkes Selbstgefühl, eine maßlose
+Selbstüberhebung und Prahlerei, die
+marktschreierisch wirkte. Man mußte sich für
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+sie schämen. Und jeden Widerspruch faßte
+sie als Beleidigung auf. Sie konnte sich dermaßen
+versteigen bis zu einer Höhe, wo alle
+Worte einander gleichen und nur einen Sinn
+haben: – es war nicht der sehnsüchtige Ruf
+eines Hoffenden, sondern eine Herausforderung,
+ein unheimlicher Schrei nach dem
+Recht, die himmlischen Scharen kurz und
+klein zu schlagen, wenn es nur eine Himmelsleiter
+gäbe, wie es in der alten Weise heißt, –
+oder die Erde auf den Kopf zu stellen, wenn
+man nur einen Griff zu fassen kriegte! –
+Dabei hört ein so Verstiegener, ein so unheimlich
+nach seinem Recht Schreiender ja niemals
+seinen eigenen Schrei. Und Werotschka
+tat einem leid.
+</p>
+
+<p>
+Sie behauptete, sie sei eine große Schauspielerin,
+sie brauche bei niemand zu lernen, vielmehr
+müßten alle bei ihr lernen. Und wenn
+sie dennoch in diese dumme Schule eingetreten
+sei, so wäre es nur geschehen, um sich den
+Weg zu bahnen. Ohne das komme man
+eben nicht vorwärts. Und sie werde sich ihren
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+Weg schon bahnen, sie werde ihren Schatz
+heben, dann würden alle sehen ...
+</p>
+
+<p>
+– Und dann werden alle sehen – Werotschka
+zerriß sich fast vor Schreien, – Vielen
+wird es leid tun, aber zu spät! – Und die
+Namen der Berühmtheiten aufzählend, als
+wollte sie sie mit sich vergleichen, lächelte
+Werotschka halb verächtlich, halb mitleidig,
+– Ihr werdet mich noch sehen! – und ihre
+Augen flammten begeistert auf und loderten
+in brennendem Haß, – ich werde zeigen, wer
+ich bin, der ganzen Welt, – mögen sie dann
+sehen ...
+</p>
+
+<p>
+„Aber wer sind denn diese sie?“ fragte sich
+Marakulin nicht einmal, je öfter er über Werotschka
+nachdachte. Werotschka erzählte
+gern von sich, aber auf allerlei Art, und es
+war nicht herauszubringen, was daran echte
+Wahrheit war und was bloß so Wahrheit.
+</p>
+
+<p>
+Ihr Vater war gestorben, als sie noch klein
+war. Er war Offizier. Aus Wosnessensk
+im Chersonschen Gouvernement, wo sein
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+Regiment stand, übersiedelte die Mutter nach
+Moskau; hier wurde sie Haushälterin bei
+einem alten General, einem Verwandten ihres
+Mannes. Werotschka wurde im Institut erzogen,
+doch bevor sie es noch absolviert hatte,
+starb ihre Mutter. Zum General pflegte ein
+reicher Fabrikant, Wakujew mit Namen, zu
+kommen – ein nicht mehr junger, aber schöner
+gesunder Mann – wie man in Moskau
+von ihm sagte. Er hatte einträgliche Geschäfte
+mit dem General. Anissim Nikititsch begann
+Werotschka den Hof zu machen und gefiel
+ihr auch. Und so kam es, daß Werotschka
+mit der Zustimmung des Generals zu Wakujew
+zog. Wakujew besaß auf dem Arbat
+ein altes herrschaftliches Einfamilienhaus.
+Seine Frau war tot, seine Kinder versorgt;
+nur drei schon ziemlich bejahrte Fräulein,
+seine Nichten, die er nach dem Tode seines
+ruinierten Bruders ins Haus genommen,
+führten ihm die Wirtschaft. Ein Jahr blieb
+Werotschka bei Wakujew, und es ist anzunehmen,
+daß er ihrer im Laufe dieses Jahres
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+überdrüssig wurde; ferner ist anzunehmen,
+daß ihr Leben auf dem Arbat nicht besonders
+heiter war. Anissim liebte, wie sie selbst
+erzählte, Abwechslung, Zerstreuung, und es
+wurde ihm alles nachgesehen. Anissim war
+es auch, der sie in Petersburg studieren ließ
+und ihr fünfunddreißig Rubel monatlich
+schickte; von diesem Geld lebte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Ist es dieser Anissim und seine drei Nichten,
+die ihr so zugesetzt haben, sind sie es, diese <em>sie</em>,
+die dann sehen werden?“ fragte sich Marakulin
+nicht einmal, als er jetzt immer häufiger
+über Werotschka nachdachte.
+</p>
+
+<p>
+Eines Tages, es war in der Theodorwoche,
+ganz am Anfang des Frühlings, da kam Werotschka
+so lustig und aufgeräumt nach Hause,
+daß sie die Hausgenossen beinahe überrannte.
+Selbst die sonst weinerliche und unbewegliche
+Adonja Iwoilowna vergaß ihre Tränen,
+und begann mit noch tränenfeuchten
+Augen herumzuwirtschaften, als wäre Werotschka
+ihre Tochter, die jetzt so lustig und
+aufgeräumt heimgekommen. Akumowna
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+drehte sich ebenfalls flinker herum, als wäre
+es ein Feiertag, und sah ihre „Unverschämte“
+besonders zärtlich an.
+</p>
+
+<p>
+Der Tag war sonnig, der Frühling, die
+Wärme lockte, im belgischen Hof schmolz
+der Schnee zusammen mit dem Steinkohlenberg
+dahin. Aus den vier Ziegelschloten stieg
+gleichmäßig der Rauch in die Höhe, die Burkowschen
+Fenster vermeidend, und der Burkowsche
+Hof war voll von Kindern; sogar
+die Säuglinge waren mit ihren Ammen
+draußen.
+</p>
+
+<p>
+Anissim Nikititsch Wakujew war in eigener
+Person nach Petersburg gekommen, und
+Werotschka war ihm auf dem Newsky begegnet
+– das war es: daher die Freude und
+diese ungewöhnliche Ausgelassenheit.
+</p>
+
+<p>
+Diese Nacht schlief Werotschka nicht zu
+Hause. Und als sie am Morgen wiederkam,
+machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer aufzuräumen.
+Wieviel Erfindungsgeist zeigte
+sie dabei, sie, die sonst doch – ganz anders
+als Wera Nikolajewna – so zerfahren und
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+unordentlich war! Jetzt blies sie jedes Stäubchen
+fort, legte Papier unter den wackelnden
+Tisch, damit er fester stand und brachte die
+Haarnadeln in eine Schachtel unter. Und wieviel
+Lauferei gab es und welche Geschäftigkeit
+entwickelte sie – sogar einen Blumentopf
+hatte sie irgendwo erstanden, wie zu Pfingsten.
+Sie erwartete einen Gast, Anissim Nikititsch
+Wakujew selbst. Und der Tag war
+ebenfalls sonnig, es lockte der Frühling, die
+Wärme.
+</p>
+
+<p>
+Der Tag verstrich langsam, es kam der Abend,
+ein unruhiger Abend, und als dann in der
+Wohnung die Klingel anschlug, da hielt die
+ganze Wohnung, alle vier Zimmer und die
+Küche, den Atem an, und Marakulin wollte
+sogar die Lampe auslöschen, aber die Lampe
+erlosch von selbst, ohne zu fragen, als hätte
+sie ein krachender Donner, ein moskauischer
+Donner getroffen.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein Student, ein Techniker, der auf
+der Suche nach seinem Bekannten an die
+falsche Tür geraten war. Und Akumowna
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+hatte noch lange mit ihm zu schaffen, da er
+sich auf keine Weise dabei beruhigen konnte,
+daß es hier keinen Ljubimow gab und nie
+gegeben hatte.
+</p>
+
+<p>
+– Es kann nicht sein – sperrte sich wichtigtuerisch
+der Student, – das ist Willkür!
+</p>
+
+<p>
+Der Student wurde mit Mühe und Not
+fortgeschickt; der betrunkene Student verzog
+sich endlich wie Rauch, aber nun konnte man
+niemand mehr erwarten.
+</p>
+
+<p>
+Werotschka ging in ihrem Zimmer auf und
+ab, unermüdlich und nicht wie mit ihren
+eigenen Schritten. Ihre Schritte waren fest
+und krallig und ihre „unverschämten“ Augen
+wie zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich.
+</p>
+
+<p>
+Vom sonnigen Frühlingstag aufgescheucht,
+ließ sich Adonja Iwoilowna beim abendlichen
+Samowar von Akumowna über ihre
+sommerliche Pilgerfahrt wahrsagen: es war
+schon Zeit für sie, sich auf den Weg zu
+machen, der Frühling war schon da.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+– Jedes Stengelchen verflicht sich mit einem
+Stengelchen – tönte Akumownas gerührte
+Stimme, – jedes Zweiglein mit einem Zweiglein.
+</p>
+
+<p>
+Und Wera Nikolajewna, die mit ihren Arbeiten
+fertig war, sang leise ihre geliebten alten
+Weisen, und in ihren Liedern atmete das
+uralte Rußland und eine dumpfe beklommene
+Sehnsucht:
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Leise spielt, ihr Spielmänner,</p>
+ <p class="verse">Leise spielt, ihr Lustigen,</p>
+ <p class="verse">Mir ist mein Kopf so weh,</p>
+ <p class="verse">Mir ist mein Herz so schwer ...</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Und plötzlich wurde sie still. Kein Wort
+mehr. Sie wird auch ihm nichts sagen, sie
+wird eher sterben als etwas sagen.
+</p>
+
+<p>
+– Jedes Zweiglein mit einem Zweiglein,
+jedes Blättchen mit einem Blättchen –
+tönte Akumownas gerührte Stimme, – der
+Frühling ist da.
+</p>
+
+<p>
+Und es wurde immer bedrückender. Denn
+Adonja Iwoilowna begann zu weinen, und
+noch lauter als sonst; sie erinnerte sich gewiß
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+an ihren Mann, und daß die Erde an dem
+Friedhof unter ihm weggeht und von seinem
+Grabe abbröckelt.
+</p>
+
+<p>
+Werotschka ging im Zimmer auf und ab,
+unermüdlich und nicht wie mit ihren eignen
+Schritten. Ihre Schritte waren fest und
+krallig und ihre „unverschämten“ Augen wie
+zwei scharfe Klingen. Es war einem unheimlich.
+</p>
+
+<p>
+Doch der Sänger, der Samowar, erlosch, die
+Tränen waren ausgeweint und die Schritte
+verstummt. Alles schlief im Haus und im
+Hof, die Hupen der Automobile tönten nicht
+mehr von der Fontanka herüber, im Obuchowschen
+Krankenhaus blinkte das Licht
+schon auf nächtliche Weise wie ein Stern,
+und über den belgischen Ziegelschloten ging
+ein Stern an und sah in die Fenster hinein,
+so ein großer Frühlings-Abendstern – die
+Stunde der Nacht war da. Und Marakulin
+war es, als klopfte jemand – ein seltsames
+Klopfen. Er horchte auf und erkannte: das
+Klopfen kam aus Werotschkas Zimmer. Und
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+nun verstand er, daß Werotschka allein in
+ihrem Zimmer nicht eingeschlafen war und
+nicht einschlafen würde, und daß sie mit dem
+Kopf gegen die Wand schlug, ohne Tränen,
+ohne Klage, mit weit aufgerissenen trockenen
+Augen: wenn es gar zu schlimm ist, dann
+weint man nicht.
+</p>
+
+<p>
+Und all sein Gefühl, seine ganze Erbitterung,
+seine ganze Verzweiflung, die für eine Weile
+sich gelegt hatte, loderte hell auf und ergoß
+sich wieder auf seine auserkorene, verhaßte
+Generalin. Fiebernd wie im widerlichsten
+Rausch und zähneknirschend malte er sich
+aus, wie diese unglückselige Generalin, diese
+kerngesunde, unsterbliche, sündenlose, kummerlose
+Laus – dieser Kelch der Auserwähltheit
+– süß schlafe. Und er mußte es jemand
+sagen, einerlei wem, aber sofort, solange das
+Herz noch nicht gesprungen war.
+</p>
+
+<p>
+Und fast erstickend sprang er ans Fenster und
+schrie aus Leibeskräften hinaus:
+</p>
+
+<p>
+– Ihr rechtgläubigen Christen, die Laus
+schläft, so helft doch!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+Und als er es hinausgeschrien hatte, da fühlte
+er, wie seine einstige ungewöhnliche Freude
+langsam in ihm hochsteigt, hinaufbrandet
+und bald sein Herz überfluten und die Brust
+überfüllen werde.
+</p>
+
+<p>
+– Was brüllst du so? – schrie ihn eine
+knarrende Stimme an, und aus den Winkeln
+zeigte sich Gorbatschows haarige Nase.
+</p>
+
+<p>
+Das Klopfen aber dauerte fort. Das war
+Werotschka, allein in ihrem Zimmer – sie
+war nicht eingeschlafen und wird nicht einschlafen
+– sie schlug mit dem Kopf gegen die
+Wand, ohne Tränen, ohne Klage, mit weitaufgerissenen
+trockenen Augen: wenn es gar
+zu schlimm ist, dann weint man nicht.
+</p>
+
+<p>
+Grausame Augenblicke, Herumtreiben ohne
+Arbeit und Erschöpfung beschlossen das
+erste Burkowsche Jahr Marakulins.
+</p>
+
+<p>
+Als erste machte sich Adonja Iwoilowna auf
+die Reise: sie fuhr nach Kaschin zu der ehrwürdigen
+Anna von Kaschin, und aus Kaschin
+auf den Murman in das Petschenegische
+Kloster zum ehrwürdigen Tryphon. Nach
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+Adonja Iwoilowna verreiste Wera Nikolajewna,
+nachdem sie ihre Prüfungen abgelegt,
+bis zum Herbst zu ihrer Mutter, in ihr
+kleines weißes Städtchen mit den fünfzehn
+weißen Kirchen, in die alte vergessene Stadt
+Kostrinsk. Sie sah zum Umblasen schwach
+aus. Als letzte reiste Werotschka. Sie hatte
+sich zu gar keiner Prüfung gemeldet und ihre
+Theaterschule aufgegeben, da sie offenbar ein
+anderes sicheres Mittel gefunden, „sich den
+Weg zu bahnen“, – sie sagte aber nicht was
+für eins.
+</p>
+
+<p>
+Sie sagte nur:
+</p>
+
+<p>
+– Im nächsten Jahr werdet ihr sehen, ich
+werde ganz Rußland zeigen, wer ich bin!
+</p>
+
+<p>
+Marakulin brachte sie zum Nikolajewschen
+Bahnhof: Werotschka reiste über Moskau
+irgendwohin nach der Krim. Nach dem ersten
+Glockenzeichen fühlte er es besonders stark,
+wie bitter es ihm war, daß Werotschka nicht
+mehr da sein wird und stand schweigend vor
+dem Wagen. Sie aber streckte sich so sonderbar,
+indem sie die Vorübergehenden ungeduldig
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+ansah und die Blicke auf sich zog, schlank,
+biegsam und leicht.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich lächelte Marakulin zum erstenmal
+in seiner ganzen Burkowschen Zeit, ohne zu
+wissen weshalb und warum, – er lächelte
+einfach. Und sie mußte es sicher bemerkt haben,
+denn es war so ungewöhnlich und unerwartet!
+</p>
+
+<p>
+– Weinen müßte man um mich! – sagte
+sie theatralisch und kniff die Augen zusammen,
+halb mit Bedauern, halb mit Ekel, und
+während sie ihm mit dem Schirm auf die
+Hand schlug, sagte sie ganz ernst, übertrieben
+ernst, mit einer Falte auf der Stirn: – Ich
+bin eine große Schauspielerin!
+</p>
+
+<p>
+Er glaubte es damals gern und von ganzem
+Herzen, daß Werotschka eine große Schauspielerin
+sei und daß sie sich im nächsten Jahr
+wirklich auszeichnen würde in ganz Rußland
+und daß ihr Name bald in ganz Europa, in
+der ganzen Welt berühmt sein werde.
+</p>
+
+<p>
+Als er vom Bahnhof zu sich nach der Fontanka
+kam und sich mit Akumowna allein
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+fand, da fühlte Marakulin, wie ihm das Leben
+jetzt zuwider war und daß er nicht so leben
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Der eine muß verraten, um durch den Verrat
+seine Seele aufzutun und in der Welt er selbst
+zu sein, der andre muß töten, um durch den
+Mord seine Seele aufzutun und wenigstens
+als er selbst zu sterben, er aber mußte offenbar
+eine Quittung ausfertigen, aber nicht der
+Person, der sie zukam, um seine Seele aufzutun
+und in der Welt zu sein, und zwar nicht
+mehr als irgendein Marakulin, sondern als
+Peter Alexejewitsch Marakulin: sehen, hören,
+fühlen.
+</p>
+
+<p>
+Aber er war nicht mehr damit einverstanden,
+weil er es nicht mehr ertrug; er wollte nicht
+mehr so dahinleben ohne einen Zweck, nur
+um zu sehen, zu hören und zu fühlen, – und
+auch das Leben einer Laus, das unsterbliche,
+sündenlose, kummerlose Leben, das königliche
+Recht, jenen Tropfen Wasser, den die
+sündige Seele im Jenseits sucht, wünschte er
+nicht mehr. Er will leben und wird es, aber um
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+nur noch einmal wenigstens jene ungewöhnliche
+Freude zu fühlen, die er in seiner Kindheit
+kannte und die er nicht mehr kennt, die
+nur das eine Mal in ihm hochgestiegen war,
+in jener Frühlingsnacht, als Anissim zu Werotschka
+nicht kam, in jener Frühlingsnacht,
+als jedes Stenglein sich mit einem Stenglein
+verflocht, jedes Zweiglein mit einem Zweiglein,
+jedes Blättchen mit einem Blättchen.
+Und wie klebrige junge Blättchen waren ihm
+in der Erinnerung die Frühlingsworte der
+von der Sonne gerührten Akumowna.
+</p>
+
+<p>
+Und es war ihm so bitter, noch bitterer als an
+jenem Abend, weil Werotschka nicht mehr
+da war; als wenn seine ganze ungewöhnliche
+Freude – der Quell seines Lebens nur in ihr
+sich bergen würde.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-5">
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+Viertes Kapitel
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">era!</span> Weruschka! Werotschka!
+</p>
+
+<p>
+Marakulin, der gerade damit beschäftigt
+war, eine lustige altertümliche russische
+Erzählung in Halbfraktur abzuschreiben,
+eine Arbeit, über der er vom Morgen
+bis in die Nacht hinein saß – ein seltener
+und einträglicher Auftrag, der wie erfrischende
+paradiesische Manna auf ihn herabgefallen
+war. – Marakulin fuhr auf, so daß er
+den Schnörkel am Anfangsbuchstaben W
+nicht zu Ende brachte.
+</p>
+
+<p>
+Von der Treppe her aber tönte immer beharrlicher
+der bekannte Name:
+</p>
+
+<p>
+– Wera! Weruschka! Werotschka!
+</p>
+
+<p>
+– Wen rufen Sie da, Akumowna?
+</p>
+
+<p>
+Marakulin konnte es nicht aushalten und
+sah in die Küche hinein.
+</p>
+
+<p>
+– Wera! – sagte Akumowna, ohne sich
+umzuwenden, – ach, die Unverschämte! –
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+und sie stampfte die Treppe hinunter in den
+Hof.
+</p>
+
+<p>
+Es war spät – etwa elf Uhr. Schon verbreitete
+sich der windige Sonnenuntergang
+staubig hinter dem Obuchowschen Krankenhaus,
+und zusammen mit der kurzen Nacht
+krochen aus den sumpfigen Vorstädten die
+Nebel herauf; aber auf dem mit Kehricht,
+Schutt und Ziegeln bedeckten Hof lärmten
+noch immer die Kinder, und klagend klimperte
+die Balalaika – von dieser nicht russischen,
+armseligen Habe gab es reichlich auf dem
+Burkowschen Hof – und in den Fenstern,
+auf Kissen gestützt, steckten zerzauste, von der
+steinernen Petersburger Glut zermarterte
+Köpfe, in der Hoffnung, etwas Kühle zu
+schöpfen.
+</p>
+
+<p>
+Die Tusche vertrocknete auf der Feder, die
+Buchstaben wollten nicht werden, und Marakulin
+schien es, daß Akumowna nicht wiederkommen,
+daß sie mit ihrer geheimnisvollen
+Wera irgendwo im Burkowschen Schutt
+untergehen würde. Und als in der Küche
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+wieder Stampfen vernehmbar wurde, und
+nicht Akumowna, sondern noch eine zweite
+Stimme, halb kindlich und halb mädchenhaft
+rasch zu sprechen begann, bald in fröhliches
+Lachen, bald in ein schmerzliches Klagen
+übergehend, da zog er wie erleichtert
+wieder den Vorhang zu und begann weiterzuarbeiten.
+</p>
+
+<p>
+Die Abschrift war für Marakulin sehr wichtig,
+und er wollte sie unbedingt heute fertigmachen,
+da er fast zwei Monate schon über ihr
+saß. Diese seltene Arbeitsgelegenheit hatte ihm
+Sergej Alexandrowitsch vor der Abreise in
+sein Sommergastspiel verschafft. Marakulin
+hatte ganze fünfzig Rubel dafür zu bekommen
+und seine Verhältnisse sollten sich dadurch
+ganz bedeutend verbessern.
+</p>
+
+<p>
+– Wer wohnt denn bei Ihnen in der Küche?
+– fragte Marakulin am nächsten Abend,
+als Akumowna ihm den roten blitzenden Sänger,
+den Samowar hereinbrachte.
+</p>
+
+<p>
+– Weruschka – antwortete Akumowna
+und lächelte und blickte so eigentümlich idiotisch
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+von der Seite, – Weruschka, die Wundertätige.
+</p>
+
+<p>
+Und die Spülschale brachte schon nicht Akumowna
+herein – sie blieb in der Tür stehen –,
+sondern es brachte sie die „wundertätige“
+Weruschka.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein kleines Mädchen – ein Backfisch
+von fünfzehn Jahren, wie ihrer so viele
+auf dem Burkowschen Hof als Kindermädchen
+dienen, und doch schon völlig wie ein
+junges Mädchen entwickelt. Als er sie aber
+aufmerksamer ansah, fand Marakulin in ihren
+Augen etwas ihm sehr Bekanntes und ungewöhnlich
+Verwandtes, er konnte es nur
+nicht benennen und vermochte sich nicht zu
+erinnern, wo er Derartiges schon gesehen: ein
+Feuer, – nein, noch etwas anderes, das man
+auf keinen Fall verbergen kann, denn es würde
+selbst beim Schlafenden unter den Lidern
+hervorblinken.
+</p>
+
+<p>
+– Sie heißen Wera?
+</p>
+
+<p>
+– Werutschka ... Werotschka – antwortete
+das Kind verwirrt, leise und mürrisch
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+und trat zurück, als hätte es etwas verlegen
+gemacht.
+</p>
+
+<p>
+– Werotschka gar, so! – rief Marakulin
+entzückt, das Kind betrachtend und erhob
+sich plötzlich.
+</p>
+
+<p>
+Doch das Mädchen zog sich hinter Akumowna
+in den Korridor zurück und machte sich
+hörbar in der Küche zu schaffen. Oder war es
+sein Herz, das so hörbar klopfte, Gott weiß
+warum?
+</p>
+
+<p>
+– Gnädiger Herr, ich möchte Sie bitten,
+gnädiger Herr, rühren Sie sie nicht an!
+</p>
+
+<p>
+– Was fällt Ihnen ein, Akumowna, Gott
+schütze Sie!
+</p>
+
+<p>
+Aber wie ertappt ließ er sich auf seinen Stuhl
+fallen.
+</p>
+
+<p>
+– Ich fürchte Wassilij Alexandrowitsch –
+fuhr Akumowna fort, – mir ist Angst, wenn
+er aus der Sommerfrische zurückkommt. Er
+muß ja immerzu eine haben, der Unbezähmbare.
+Sobald es Nacht wird, kriechen auch
+die hier auf der Treppe herum und kratzen an
+der Tür, die Herumtreiber!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+Nachdem sie es von der Straße aufgelesen
+hatte, behütete Akumowna das kleine Mädchen
+eifersüchtig vor den Burkowschen Herumtreibern,
+vor Stanislaus dem Kontoristen
+und vor Kasimir, dem Monteur; sie schloß
+oft die Küche noch bei Tageslicht ab und
+bettete die Kleine sicherheitshalber auf ihr
+eignes Bett unter den drei Oellämpchen.
+Und wundertätig nannte sie Wera darum,
+weil ein Wunder an ihr geschehen war.
+</p>
+
+<p>
+– Sie ist eine Wundertätige – pflegte Akumowna
+zu sagen, – bis zum fünften Jahre
+war sie ohne Zunge, sie sprach nicht, man
+hat sie dem Doktor Nikolai Franzewitsch gezeigt,
+vergebens; zu der Schmerzensreichen
+hat die Mutter sie gebracht, auch wurde ihr
+geraten, barfuß zu Matrionuschka zu pilgern
+– nichts hat genützt. Aber am dunkeln
+Freitag gingen sie in die Pulverfabriken, –
+am Iljinischnen-Freitag ist da eine Prozession,
+zwölf große Heiligenbilder werden da herumgetragen
+und fast tausend kleinere. Als die
+Messe zu Ende war und sie nach Hause
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+gehen wollten, da verlangte das Kind plötzlich
+zu trinken: „Mama – sprach sie – gib
+mir zu trinken!“ Seitdem spricht sie.
+</p>
+
+<p>
+Weras Vater war Buchhändler: er handelte
+mit Büchern, Haken, Knöpfen und allerlei
+Kleinkram. Ihre kränkliche Mutter ging als
+Tagelöhnerin Fußboden scheuern und reinmachen.
+Sie wohnten im Kusnetschnygäßchen,
+in den „Winkeln“, wo der Chiromant
+wohnt – die Fenster dort sind von venezianischer
+Art und unheimlich. Als Wera etwas
+größer wurde, gab man sie zu einer Goldstickerin
+in die Lehre, ein Jahr blieb sie da,
+aber sie taugte nicht dazu, da ihre Augen
+krank wurden; so wurde sie Kindermädchen.
+Da passierte es, daß ihr Vater mit seinem
+Stand über den Wladimirsky vor einem
+Schutzmann floh; an den fünf „Winkeln“
+bei der Kreuzung geriet er unter die Elektrische
+und wurde zermalmt. Zur gleichen
+Zeit wurde Wera gekündigt. Es ging ihnen
+damals sehr schlecht. Und so kam die Mutter
+auf den Gedanken, sie zum Onkel zu schicken,
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+welcher auf dem Murinsky-Prospekt in Lesnoj
+als Hausmeister lebte, vielleicht, daß er
+für sie eine Stellung finden würde. Die Kleine
+ging fort, erreichte Lesnoj erst am Abend, und
+unterwegs, während sie das Haus suchte,
+blieb sie vor einem Gasthaus stehen, um die
+Musik zu hören. Sie stand da und hörte zu,
+ihre Augen glühten, der Mund war weit aufgesperrt,
+da kam aus dem Gasthaus ein Herr,
+der eine Gnädige untergefaßt hielt und sah
+Wera sehr freundlich an. Er blieb ebenfalls
+stehen und fragte sie freundlich aus. Sie erzählte
+ihm alles, auch wie sie stehengeblieben
+war, um die Musik zu hören. Und sieh da,
+welch glücklicher Zufall: die Herrschaften
+brauchten gerade gleich ein Kindermädchen
+und ihre Bedingungen waren günstig. Wera
+war erfreut und willigte ein. Sie nahmen
+eine Droschke und brachten sie zu sich nach
+Hause – sie wohnten auch gar nicht weit.
+Welch ein glücklicher Zufall! – Es war schon
+spät, es dämmerte, und als sie zu Hause anlangten,
+gingen sie sofort zu Tisch und ließen
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+auch Wera neben sich Platz nehmen. Und
+als sie sich satt gegessen hatte, da führte sie der
+Herr in ein Zimmer, das im Korridor gegenüber
+lag. Nachts kam er wieder. Sie wollte
+schreien, aber er verschloß ihr den Mund mit
+den Händen. So fing es an. Als Wera zu
+sich kam, war es bereits Tag. Sie trat aus
+dem Zimmer und streifte im Korridor herum,
+um den gnädigen Herrn und die gnädige
+Frau zu suchen und geriet in das Büfettzimmer:
+sie hatte also in einem Gasthaus übernachtet.
+Sie fragte den Büfettier, wo der
+gnädige Herr und die gnädige Frau seien?
+Der Büfettier lachte: es gäbe weder einen
+gnädigen Herrn noch eine gnädige Frau;
+wenn sie aber gewillt sei, könne sie auch bei
+ihm als Kindermädchen bleiben. Das war
+eine schlimme Lage! Wenn sie nicht einwilligte,
+hatte sie Angst zur Mutter zurückzukehren,
+doch wie, wenn der Büfettier, wie
+der Herr von gestern, ihr ebenfalls den Mund
+mit den Fäusten stopfen würde! ... Das eine
+war schrecklich, das andere war ebenfalls
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+schrecklich, und ein drittes gab es nicht. So
+blieb sie beim Büfettier als Kindermädchen.
+Es waren viele Kinder und sie konnte kaum
+mit der Arbeit fertig werden. Es verging eine
+Woche. Nach einer Woche aber, kaum, daß
+sie sich etwas eingelebt hatte, quartierte sie
+der Büfettier in ein besonderes Zimmer ein,
+damit sie von den Kindern getrennt schlafe
+– es waren eben viele Kinder – es würde
+bequemer und ruhiger für sie sein. Und wieder
+begann es: erst der Wirt selbst, der Büfettier,
+nach ihm der Reviervorsteher. Sobald
+die Nacht kam, erschien jemand – man
+brachte ihr im Laufe der Nacht fünf Männer.
+Man ließ sie nicht mehr aus dem Zimmer,
+die Kinder sah sie auch nicht wieder;
+es war bereits ein neues Kindermädchen da.
+Sie weinte, aber was half es, man lachte sie
+nur aus. Nur durch ein Wunder entkam sie
+aus diesem Zimmer und dem Büfettier. Ein
+glücklicher Zufall kam ihr zu Hilfe: ein Brand!
+Im Gasthaus war Feuer ausgebrochen.
+Sonst wäre sie zugrunde gegangen. Im Trubel
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+sprang sie aus ihrem Zimmerchen und begann
+zu laufen. Sie kam an die Kusnetschnybrücke
+gelaufen, in die Winkel, wo der Chiromant
+wohnt, die Mutter aber war nicht
+mehr da: sie war an der Cholera gestorben.
+Das war eine schlimme Lage: es wäre ihr
+schließlich nichts anderes übriggeblieben,
+als zum Büfettier ins Zimmerchen zurückzukehren.
+Aber die Hausmeisterin hatte Mitleid
+mit ihr – sie pflegte ebenso wie Antonina
+Ignatjewna, die Gattin des Oberhausmeisters,
+in den Hafen von Kronstadt zum „Bruder“
+zu pilgern – sie war barmherzig und
+mit Antonina Ignatjewna bekannt. So
+schickte sie das Mädchen zu ihr ins Burkowsche
+Haus, ob sich da für das Kind vielleicht
+eine Stellung fände. Aber Wera geriet statt
+zu Antonina Ignatjewna zu Akumowna.
+</p>
+
+<p>
+– Sie ist eine Wundertätige – pflegte
+Akumowna zu sagen, – nur eins ist schrecklich
+– diese Herumtreiber; sobald es Nacht
+wird, da kriechen sie herum und rütteln an
+der Tür, – es wird einem ganz Angst! –
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Der Sommer dehnte sich endlos, quälend,
+eintönig. Es war heiß und fast in ganz Petersburg
+waren die Straßen gesperrt: das Pflaster
+wurde ausgebessert, wie immer im Sommer;
+es war nirgends ein Durchgang, nirgends
+eine Durchfahrt, und es herrschte eine
+große Schwüle.
+</p>
+
+<p>
+Am Abend beim Samowar legte Akumowna
+Karten für Marakulin, wie sie es im
+Winter für Adonja Iwoilowna tat. Sie
+wahrsagte viel und ausgiebig, nicht nur für
+den Treffkönig oder Kreuzkönig, wie ihn
+Akumowna nannte und der Marakulins
+Karte war, sondern auch für andere Könige
+und Damen – für die Kreuz-, Coeur-, Karo-
+und Pik-Dame, als für alle die Personen,
+die ihm in den Karten zulagen, um auch ihr
+Schicksal zu erfahren und dadurch besser zu
+erforschen, wer sie seien und was sie vorhaben.
+</p>
+
+<p>
+Die Karten logen nicht. Das gleiche Orakel
+kehrte immer wieder und brachte meist etwas
+unsinnig Bedeutungsloses: ein wenig Langweile,
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+ein wenig Geld, ein wenig Veränderung,
+ein wenig Tränen, Verdruß, eine junge
+Person, ein eigenes Haus, ein eigener Gegenstand,
+ein vornehmer, einflußreicher Herr mit
+einem Schriftstück, eine behördliche Anstalt,
+Langweile der jungen Person, eine kleine Unannehmlichkeit,
+eigene Sorgen, Gespräch
+mit sich selbst. Und das letzte war stets das
+Gespräch mit sich selbst.
+</p>
+
+<p>
+Wenn Akumowna zum letztenmal die Karten
+ausbreitete, pflegte sie zu flüstern: – Fürs
+Haus. Fürs Herz. Was sein wird. Wie es
+enden wird. Womit es beruhigen wird. Womit
+überraschen. Sagt die ganze Wahrheit
+reinen Herzens. Was sein muß, wird sich erfüllen.
+</p>
+
+<p>
+Und auch zum letztenmal kam das gleiche –
+dieselben Karten: unsinnig bedeutungsloses
+Zeug und das Gespräch mit sich selbst.
+</p>
+
+<p>
+Die Karten logen nicht. Nur zuweilen wurden
+sie offenbar selbst der Sache überdrüssig
+und ärgerten sich: dann waren sie bissig,
+zeigten große Veränderungen an oder
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+einen weiten Weg, viel Geld und Erfüllung
+aller Wünsche.
+</p>
+
+<p>
+Beim Kartenlegen erinnerte sich Akumowna
+oft an ihre Herrin, an den alten Herrn, an
+den Bruder der Herrin und an ihren eigenen
+Sohn, was für Träume sie alle geträumt hatten,
+welche Ereignisse nach ihnen eintraten
+und was jeder Traum bedeutete.
+</p>
+
+<p>
+– Unser Priester in Turij-Rog – er war ein
+guter Mann, ein großer Büßer, der Vater
+Arsenij – erzählte Akumowna aus ihren Erinnerungen
+– vor seinem Tode erhob er sich
+und fragte: „Sind die Pferde bereit!“
+– Was für Pferde, ehrwürdiger Vater? –
+„Ich habe ja eben ein Paar getraut, man ladet
+mich zur Hochzeit ins Ausland!“ Und
+starb. – Sechs Tage, bevor der alte Herr
+sterben mußte, sah meine gnädige Frau, daß
+sie einen Stiefel vom Fuß verloren hatte.
+Und vor dem Tode der gnädigen Frau
+träumte ich, ich sitze vor einem Ofen, den
+Ofen habe ich eingeheizt, das Holz brennt
+hell, die Scheite verkohlen schon. Ich zerschnitt
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+Speck, tat ihn in einen Topf und
+stellte den Topf in den Ofen, aber kaum,
+daß ich ihn hineinstelle, da zerfällt der Topf
+in zwei Hälften, die Glut prasselt und ein
+Qualm erhebt sich ... Mein Vater gab mir
+keinen Segen. Und so kam es auch! Wie ein
+rollender Stein um die weite Welt.
+</p>
+
+<p>
+– Wie geht es Ihrem Bruder und Ihrer
+Schwägerin?
+</p>
+
+<p>
+– Sie plagen sich auch, haben weder Wald
+noch Holz noch Weide. Und ihre jüngere
+Tochter Fedossja, meine Nichte, ging nach
+Turij-Rog als Taglöhnerin zur Feldarbeit;
+sie gefiel dem gnädigen Herrn, dem jungen
+Bujanow, er ist ein toller Kerl. Er nahm sie
+für einen Monat zu sich in Dienst. Als der
+Monat zu Ende war, behielt er sie noch für
+einen Monat, dann für den ganzen Winter.
+Mein Bruder verstand wohl alles, sagte aber
+zur Schwägerin nichts. Sie hatten keinen
+Wald, kein Holz, keine Weide; vom gnädigen
+Herrn aber kam Holz und Geld, es war
+vorteilhaft. So verlebte Fedossja dort den
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+ganzen Winter. Im Frühjahr aber reiste der
+gnädige Herr in die Stadt und verheiratete
+sich dort. Da kehrte Fedossja wieder heim
+zum Vater, und alle wußten es bereits; es
+war auch schon zu sehen. Ihre Brüder machten
+ihr Vorwürfe, daß sie so eine war, daß
+ihr so etwas geschehen konnte. Wie die Raben
+haben sie auf sie eingehackt, sie hielt es
+nicht aus; zehn Tage vor Pokrow starb sie.
+Sie war gerade zwanzig Jahre alt geworden,
+– so jung noch. Und Wassilij, dem Vetter,
+sind in der Butterwoche die Füße erfroren
+...
+</p>
+
+<p>
+Während sie sich an Turij-Rog und Ssosna-Gora
+erinnerte, konnte Akumowna ab
+und zu einen Ausspruch tun, von so echt
+Turij-Rogischer Art, daß man sich wundern
+mußte, wie es ihr hier auf dem Burkowschen
+Hof in den Kopf konnte.
+</p>
+
+<p>
+– Jetzt – konnte sie sagen – ist das Korn
+schon reif, gelobt sei Gott! – sie bekreuzigte
+sich. – Regen wäre jetzt nicht gut.
+</p>
+
+<p>
+Wera gewöhnte sich an Marakulin und hatte
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+keine Scheu mehr vor ihm. Auch er hatte
+sich an sie gewöhnt, und es tat ihm wohl,
+wenn sie sein Zimmer betrat. Voran schritt
+dann Akumowna mit dem Samowar und
+ihr folgte Wera mit der Spülschale.
+</p>
+
+<p>
+„Aus der Spülschale reichen die Teufel im
+Jenseits den Teufeln und Sündern das
+Abendmahl!“ Marakulin erinnerte sich einmal
+an Akumownas Vision aus ihrem Passionsweg
+und lächelte zum erstenmal seit
+Werotschkas Abreise.
+</p>
+
+<p>
+Und als hätte sie seine Gedanken erraten,
+erwiderte ihm Wera mit einem Lächeln.
+Und noch lange sah er dieses halbkindliche,
+halbmädchenhafte Lächeln vor sich.
+</p>
+
+<p>
+Wie leer erschien es ihm im Hause, als Wera,
+die eine Stellung gefunden, aus Akumownas
+Küche in die vierte Etage desselben Burkowschen
+Hofes verzogen war, in den Flügel,
+wie der nicht herrschaftliche an der belgischen
+Fabrik belegene Teil des Hauses genannt
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna begann jetzt öfters fortzubleiben.
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+Sie ging, um nach ihrer „Wundertätigen“,
+nach ihrem Flämmchen, nach ihrer Wera zu
+sehen. Sie lehrte sie gewiß Zimmer aufräumen,
+Feuer aus Birkenholz anmachen und
+dergleichen mehr. Marakulin blieb allein, es
+schien ihm ganz öde.
+</p>
+
+<p>
+Ein Herr aus dem Flügel hatte folgende
+Gewohnheit: sobald es Abend wurde,
+steckte er seinen Kopf aus dem Fenster, das
+Gesicht zu Marakulin gewandt und pfiff.
+Daß der Herr kein Auge von ihm wandte
+– Marakulin hatte sich überzeugt, daß
+es ihm galt, – und daß das Pfeifen nicht
+aufhörte, brachte ihn zur Raserei, und ob
+er wollte oder nicht, er mußte den Vorhang
+zuziehen und in der Schwüle sitzen
+bleiben.
+</p>
+
+<p>
+Es war öde um ihn und die Wut machte
+ihn fast ersticken.
+</p>
+
+<p>
+Am Morgen beim Zeitungslesen suchte er mit
+einer Art Ungeduld alle Berichte über Morde,
+Brande, Katastrophen, Ueberschwemmungen,
+Wolkenbrüche und Erdbeben und
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+las sie mit großer Schadenfreude, indem er
+sich einbildete, man könne den Menschen mit
+Furcht besiegen, ihn erschüttern, sein Gehirn
+und seine Seele umstülpen; dann würde vielleicht
+dieses abendliche selbstzufriedene, freche
+Pfeifen an seinem Ohr ein Ende nehmen.
+</p>
+
+<p>
+In Weras neuer Stellung ging aber nicht
+alles glatt: es war doch wohl nicht leicht,
+sie vor den Herumtreibern zu schützen; auch
+mochte sie selbst schwer zu bewachen sein,
+die Unverschämte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn sie das Kartenlegen unterbrach und
+von Wera anfing, sagte Akumowna jedesmal
+unter Tränen:
+</p>
+
+<p>
+– Ich werde zum Kaiser gehen – die
+Hände so, wie im Sterben, – und werde
+alles erzählen.
+</p>
+
+<p>
+– Man wird Sie nicht zulassen.
+</p>
+
+<p>
+Nackt geh’ ich hin, splitternackt – die
+Hände so, wie im Sterben. – Alles werde
+ich erzählen.
+</p>
+
+<p>
+– Auch splitternackt wird man Sie nicht zulassen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+Aber sie blieb dabei: sie glaubte, der Kaiser
+würde sie in Schutz nehmen und die Kleine
+nicht zugrunde gehen lassen. Beharrlich blieb
+sie dabei, dann wurde sie auf einmal still und
+gab nach. Und Marakulin hörte, wie sie ihren
+Wahlspruch, ihr Sterbegebet flüsterte:
+– die Sühne und den Lohn für alle Taten!
+</p>
+
+<p>
+– Man darf niemand beschuldigen.
+</p>
+
+<p>
+– Wer ist aber schuldig, Akumowna?
+</p>
+
+<p>
+– Ich bin ein unwissender Mensch, ich
+weiß nichts – antwortete Akumowna und
+lächelte und sah idiotisch zur Seite.
+</p>
+
+<p>
+Der Sommer dehnte sich endlos, quälend,
+eintönig.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin wartete auf die Feiertage: wie immer
+sie waren, es waren doch Feiertage!
+</p>
+
+<p class="tb">
+* * *
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Als erster kam Wassilij Alexandrowitsch,
+der Clown zurück. Er trat zwar auch im Sommer
+in Petersburg auf, wohnte aber in der
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+Sommerfrische in Schuwalowo und kam
+in die Stadtwohnung nur ab und zu, um
+nachzusehen. Auch die Sklavin Kusjmowna
+war bei ihm in Schuwalowo. Nach Wassilij
+Alexandrowitsch erschien nach absolvierter
+Gastspielreise Sergej Alexandrowitsch und
+brachte aus den warmen Ländern, oder aus
+jenen Gegenden, wo man mit Ochsen fährt,
+wie Akumowna sagte, hundert Gläschen mit
+Honig mit; – er war eben ein wirtschaftlicher
+Mensch. Bald nach Sergej Alexandrowitsch
+kam auch Wera Nikolajewna zurück, mit eingemachten
+nordischen Himbeeren aus ihrem
+kleinen weißen verlassenen Städtchen mit den
+fünfzehn weißen Kirchen, von ihrer Mutter
+aus Kostrinsk. Nach Wera Nikolajewna
+erschien Adonja Iwoilowna selbst.
+</p>
+
+<p>
+Alle waren zurückgekehrt, nur Werotschka
+fehlte. Es kamen auch keine Nachrichten von
+ihr. Und bereits im September wurde Werotschkas
+Zimmer mit Hilfe eines grünen Zettels,
+der beim Portier Nikanor ausgehängt
+war, vermietet.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+Die neue Nachbarin Marakulins hieß Anna
+Stepanowna Schianowa, nach ihrem
+Manne Lestschowa genannt, und war eine
+Lehrerin aus Purchowez.
+</p>
+
+<p>
+Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß Smugra,
+und in Beziehung auf Nachtigallengesang
+eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt.
+Es waren in Purchowez im Mädchengymnasium,
+wo Anna Stepanowna unterrichtet
+hatte, zwei Lehrer, zwei Berühmtheiten:
+der Lehrer für Geschichte: Rakow,
+und der für Literatur: Lestschow. Sie waren
+Freunde und beide – nach ihrer eigenen Definition
+– Menschen von Bestrebungen. Das
+Schicksal Anna Stepanownas war mit dem
+Schicksal Lestschows eng verbunden; Lestschow
+aber und Rakow waren wie zwei
+Hälften und nach der Uebereinstimmung von
+Gemüt und Gesinnung – ein Ganzes.
+Nur war Rakow etwas älter. Sie wohnten
+beide bei derselben Wirtin, sie lebten eingeschränkt,
+nüchtern, einsam. Ihre Wirtin
+Pawlina Polikarpowna, obschon nicht mehr
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+sechzehnjährig, so doch munter und fest, hatte
+in längst verflossenen Zeiten als Köchin beim
+Gouvernementsrat Gerassimow gedient; und
+Gerassimow hatte sie vor seinem Tode „in
+allem eingeschränkt“, wie Pawlina Polikarpowna
+sich auszudrücken pflegte, das
+heißt: er hatte sie versorgt und ihr für ihren
+musterhaften Dienst ein teures Lotterielos
+geschenkt. Pawlina Polikarpowna kaufte sich
+ein Häuschen und lebte vom Vermieten.
+</p>
+
+<p>
+Als Rakow von diesem Gerassimowschen
+Lotterielos erfuhr, konnte er es als gewissenhafter
+Historiker nicht unterlassen, dessen
+Nummer in sein Notizbuch einzutragen und
+verfolgte wachsam die Ziehungen in den
+Zeitungen. Pawlina Polikarpowna behandelte
+er respektvoll, streng und freundlich.
+Und so vergingen die Jahre, still, einsam und
+erwartungsvoll.
+</p>
+
+<p>
+Pawlina Polikarpowna war zwar nicht
+mehr sechzehnjährig, doch hatte sie manchmal
+ihre bestimmten Gedanken, und zuweilen
+weinte sie, einfach so, ohne jeden Grund. Besonders
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+im Frühling, wenn die Sonne zu
+brennen begann, die Hühner zu legen anfingen,
+die Gärten ergrünten und die Nächte
+warm, schwül und sehnsuchtsweckend waren,
+wenn die Nachtigall schlug und selbst
+Rakow auf der Gitarre wie auf einer Harfe
+spielte und dazu wie eine Nachtigall sang:
+„Auf den blauen Wogen des Ozeans, kaum
+daß die Sterne am Himmel erglühen, treibt
+ein einsames Schifflein“ – dann konnte kein
+Herz es länger ertragen, und Pawlina Polikarpownas
+Herz sank dahin.
+</p>
+
+<p>
+Purchowez ist eine alte Stadt am Fluß
+Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang
+eine erste Stadt, eine Nachtigallstadt!
+</p>
+
+<p>
+Eines Morgens, als Rakow die „Purchowezschen
+Gouvernementsnachrichten“
+durchflog, begann er plötzlich laut zu lachen,
+so laut, wie ein Mensch nur vor Freude lachen
+kann, wenn ihm zumute ist, als reiche die
+eigne Kehle nicht aus. Und wie sollte er auch
+nicht lachen? Das Gerassimowsche Los hatte
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+gewonnen, und zwar keine Kleinigkeit, sondern
+die ganzen Zweimalhunderttausend! Er
+besann sich aber rechtzeitig, steckte die Zeitung
+in die Tasche, hustete absichtlich laut und
+begab sich mit dem Geheimnis von Pawlinas
+Glück ins Gymnasium, als wäre
+nichts vorgefallen.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem er mit Mühe seine Stunden gegeben
+hatte, wurde Rakow vor Aufregung
+noch am selben Abend krank, und Pawlina
+Polikarpowna mußte die ganze Nacht den
+Kranken pflegen. Am nächsten Morgen ging
+es ihm auch nicht besser, und so die ganze
+Woche. Eine Woche lang pflegte ihn Pawlina
+Polikarpowna, und um Fastnacht hielten
+sie Hochzeit. Sofort nach der Trauung,
+als die Neuvermählten allein blieben, lautete
+die erste indiskrete, aber durchaus berechtigte
+Frage des jungen Ehemannes: „Wo ist das
+Los?“ – „Was für ein Los?“ – „Was
+für eins? Das Gerassimowsche!“ Das Gerassimowsche
+Los aber war längst verkauft;
+es war nicht mehr da.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+Um Fastnacht, fast am gleichen Tage, heiratete
+auch Lestschow Anna Stepanowna Schianowa.
+Die Schianows waren einst die reichsten
+Leute in Purchowez, aber Anna Stepanownas
+Vater hatte das ganze Vermögen
+verspielt, und so mußte die Familie nach großer
+Ueppigkeit in Armut weiterleben. Dann
+starb der Vater, es starb auch die Mutter.
+Anna Stepanowna war bereits mehr als
+zwanzig Jahre alt, und obwohl in ihrem
+Gesicht nichts Abstoßendes war, nichts, was
+man häßlich oder entstellend nennen konnte,
+im Gegenteil, – so gefiel sie dennoch niemand
+besonders und wurde überhaupt nicht begehrt.
+Sie gehörte nicht zu den Heiratskandidatinnen
+von Purchowez, hielt sich auch
+selbst nicht dafür, und hatte sich bereits damit
+abgefunden, allein und ledig zu bleiben,
+oder vielmehr, sie hatte sich nicht damit abgefunden,
+– man kann sich damit nicht abfinden,
+– sondern sie redete sich das eben ein.
+Eines schönen Tages aber fiel ihr die Erbschaft
+von einer Tante zu, von der sie nie etwas
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+gehört hatte, und zwar eine nicht geringe
+Erbschaft: etwa Fünfzigtausend. Natürlich
+wurde es im Gymnasium, an dem sie
+unterrichtete, bald bekannt, – war sie doch
+selbst die erste, die es erzählte, – und so erfuhr
+es auch Lestschow. Sofort ging er ans Werk:
+er begann, Anna Stepanownas Spuren zu
+folgen, wurde mit einem Male sehr unglücklich,
+beklagte sich, jammerte, erfand allerlei
+Verfolgungen seiner Person, ersann sich Feinde;
+auf einmal brachen auch sämtliche Krankheiten
+bei ihm aus, und lauter unheilbare, so
+daß er im Begriff war, Selbstmord zu begehen.
+Und die verzweifelte Liebe sang aus
+ihm wie eine Nachtigall, ja, er übertraf die
+Nachtigall ...
+</p>
+
+<p>
+Purchowez ist eine uralte Stadt am Fluß
+Smugra, und in Beziehung auf Nachtigallengesang
+eine erste Stadt – eine Nachtigallstadt.
+So heiratete Lestschow Anna
+Stepanowna, nahm ihr die Erbschaft
+der Tante ab, die ganzen Fünfzigtausend
+und wies ihr die Tür: „Ich brauche
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+dich nicht,“ sagte er, „ich brauche dein
+Geld.“
+</p>
+
+<p>
+Wera Nikolajewna mußte man bedauern;
+um Werotschka hatte man Angst, aber Anna
+Stepanowna tat einem weh. Sie lächelte so,
+daß es in die Seele hinein weh tat.
+</p>
+
+<p>
+Wera Nikolajewna wollte studieren. Warum?
+Weil es ihr Maria Alexandrowna so geraten
+hatte, an die sie glaubte wie an die
+Iwerskaja Mutter Gottes<a class="fnote" href="#footnote-6" id="fnote-6">[6]</a>. Und sie wird
+studieren, solange ihre Kräfte reichen, und
+eines Tages wird sie vielleicht über der Physik
+von Krajewitsch<a class="fnote" href="#footnote-7" id="fnote-7">[7]</a> die Seele aushauchen.
+</p>
+
+<p>
+Werotschka wollte eine große Schauspielerin
+werden, berühmt in ganz Rußland, in ganz
+Europa, in der ganzen Welt – und sie wollte
+das, um sich an Anissim zu rächen: nur damit
+Anissim Nikititsch Wakujew, dem alles gelingt
+und dem man alles durchgehen läßt, nur
+einen Augenblick lang es bedauern und bereuen
+solle, daß er sie um andere, die ihn liebten
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+oder sich ihm verkauften, verlassen hatte.
+Und so bahnte sie sich jetzt den Weg mit ihrem
+sicheren, erprobten Mittel, und wird sich ihn
+weiterbahnen, solange ihre Kräfte reichen.
+</p>
+
+<p>
+Was aber wollte Anna Stepanowna? Sie
+war allein geblieben und ohne Mittel, aber
+das war es nicht: sie hatte ja auch früher allein
+und ohne Geld gelebt. Hier war es etwas
+anderes, etwas Seelisches: sie hatte mit der
+ganzen Seele geglaubt, daß man sie liebte
+und hatte wieder geliebt. Was wollte sie
+nun? Was konnte sie wollen! Das, was ein
+Mensch will, dessen Seele beschmutzt, dessen
+Seele vergewaltigt worden ist.
+</p>
+
+<p>
+Und während Marakulin Anna Stepanowna
+näher betrachtete, überzeugte er sich immer
+mehr, daß sie auf der Welt nichts zu tun
+hatte. Und weil sie so lächelte, tat es ihm
+weh bis in die Seele hinein.
+</p>
+
+<p>
+Es begann ein böser Herbst; es ging ihnen allen
+schlecht. Nach dem Kirchenfest der Kreuzeserhöhung
+geschah es, daß Wassilij Alexandrowitsch,
+der Clown, als er im Zirkus auf
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+dem Trapez in der Luft sich schwang, herabstürzte
+und verunglückte; er verletzte sich –
+wie man auf dem Burkowschen Hof sagte –
+die Wirbelsäule und den „Stamm der Beine“.
+Es stand um ihn nach diesem Sturz aus
+den Lüften so schlecht, daß er sogar einen Priester
+holen ließ, um die heiligen Sakramente
+zu empfangen. Der Arzt aber meinte, er würde
+sechs Monate liegen und sich einer schweren
+Operation unterziehen müssen.
+</p>
+
+<p>
+– Sie werden ihm von der Ferse ein Stück
+abschneiden und das Fleisch öffnen – bedauerte
+Akumowna, – sie werden den Knochen
+mit einem Bohrer wegbohren, beide
+Fersen abschneiden. Hätte er aber einen Aufguß
+von Pferdemist getrunken, so wäre alles
+fort, wie mit der Hand ...
+</p>
+
+<p>
+Marakulin hatte seit jenem Glückszufall im
+Sommer keine Arbeit mehr gefunden. An allen
+Orten und Anstalten, an die er sich wandte,
+wurde höchstens seine Adresse notiert, und
+bekanntlich hat man nichts mehr zu erwarten,
+wenn die Adresse notiert wird. Um diese
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+Zeit fand gerade in Petersburg eine Hundezählung
+statt. Eine Woche lang ging er auf
+den Burkowschen und belgischen Höfen
+herum, zählte die Hunde und lernte dabei
+einen Studenten Lichowidow kennen, der,
+so wie er, Hundezähler war. Der Student
+Lichowidow, ebenfalls ein Mensch in den
+letzten Zügen, verstand es jedoch schließlich,
+sich noch irgendwelche Hundearbeiten zu verschaffen,
+und auch für Marakulin fiel dabei
+etwas ab. Es begann ihm schon etwas besser
+zu gehen, da mußte Lichowidow ein kleines
+Malheur passieren: er arbeitete damals
+in irgendeinem Bureau und trat eines späten
+Abends nach seinem Dienst auf die Straße,
+als ihm sein Vorgesetzter, der Bureauchef
+– gut angezogen, im Pelz, mit einem
+kostbaren Kragen – entgegenkam. „Was
+meinen Sie, Herr Lichowidow, was wäre
+jetzt besser, Tee oder Kaffee zu trinken?“ Lichowidow
+aber hatte seit dem Morgen nichts
+gegessen, er war hungrig wie ein Hund, auch
+hatte ihn gerade der Petersburger Wind
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+angeblasen, seine Zähne klapperten nur so.
+Er sah den Chef an, als überlegte er, was
+jetzt besser wäre, Tee oder Kaffee zu trinken
+und haute ihm eine in die Fresse. Seitdem
+war Lichowidow verschwunden, und Marakulins
+Mühle stand still.
+</p>
+
+<p>
+Dem guten Jäger läuft das Wild in’s
+Garn. Nach langem Suchen fand Anna
+Stepanowna eine Anstellung in einem Privatgymnasium.
+Es war ein Mustergymnasium
+und seine Vorsteherin Lednjowa war
+eine Frau von Bestrebungen. Sie verstand
+die große Kunst, zu wirtschaften, ohne einen
+Heller aus eigener Tasche auszugeben, und sie
+tat es sehr einfach und gleichzeitig ziemlich
+verzwickt: sie verschleierte ihre Manipulationen
+mit einem echten Petersburger Nebel.
+Man sagte, sie bezahle die Lehrer aus geheimnisvollen
+Equipierungsgeldern, die ihr gar
+nicht gehörten, und daß die Lehrer im Lednjowschen
+Gymnasium jedes Jahr wechselten.
+Rakow und Lestschow waren, was Bestrebungen
+betrifft, im Vergleich mit der Lednjowa
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+die reinen Waisenknaben, so wie der
+schönste Gardesoldat in Beziehung auf Köchinnen
+gegen Kasimir den Monteur und
+Stanislaus den Kontoristen gar nicht in Betracht
+kommt.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Monate bekam Anna Stepanowna
+keinen Gehalt: die Zahlung wurde unter allerlei
+Vorwänden hinausgeschoben. Erst im
+dritten Monat wurde er ihr ausgezahlt, aber
+selbstverständlich nicht als gewöhnlicher Gehalt,
+sondern als eine Anleihe aus eben jenen
+geheimnisvollen Equipierungsgeldern. Als
+sie das Geld bekam, lud sie Marakulin und
+Wera Nikolajewna zum Besuch des Marijinschen
+Theaters ein, zu einer Opernvorstellung.
+Die Billetts kosteten nicht wenig, dafür
+waren es gute Plätze; es war alles gut zu
+sehen und zu hören.
+</p>
+
+<p>
+An diesem Abend begegnete Marakulin im
+Theater Werotschka. Wie oft hatte er im
+Sommer und im Herbst an sie gedacht und
+im Meldeamt nach ihrer Adresse geforscht –
+immer wieder aber hieß es: verreist. Jetzt
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+traf er sie. Im ersten Augenblick erschrak er,
+dann verwandelte sich sein Schreck in Unruhe:
+Werotschka war nicht allein; mit Werotschka
+ging Glotow, der Kassierer, Alexander
+Iwanowitsch, Marakulins ehemaliger
+Freund.
+</p>
+
+<p>
+Werotschka hatte sich gar nicht verändert.
+Verändern sich denn die Menschen überhaupt?
+Werotschka erkannte ihn gleich, Glotow
+aber nicht, oder er tat so, absichtlich,
+aus wohlerwogenen und unwiderleglichen
+Gründen.
+</p>
+
+<p>
+– Das ist aber eine Ueberraschung, denn
+wir haben dich längst begraben, weißt du,
+Petruscha! – sagte er.
+</p>
+
+<p>
+Und als Werotschka erfuhr, daß Wera Nikolajewna
+ebenfalls im Theater sei, ging sie sie
+aufsuchen und kam nicht wieder.
+</p>
+
+<p>
+Glotow führte Marakulin ins Theaterrestaurant.
+</p>
+
+<p>
+– Woher kennst du sie? – fragte Glotow
+seinen Freund.
+</p>
+
+<p>
+– Wir haben einen Winter lang bei derselben
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+Wirtin gewohnt – erwiderte Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+– Du kennst sie also gut?
+</p>
+
+<p>
+– Wie man es nimmt.
+</p>
+
+<p>
+Und plötzlich verwandelte die Wut ihre Gesichter.
+Sie verstanden einander nur zu gut.
+Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Aber
+es war peinlich, so auseinanderzugehen, und
+auch das Schweigen war peinlich.
+</p>
+
+<p>
+Glotow schlug vor, etwas zu trinken. Marakulin
+dankte. Und so traten sie aus dem
+Restaurant, gingen Schulter an Schulter
+nebeneinander und suchten Werotschka. Marakulin
+schwieg. Glotow aber wiederholte
+mit einer Art Vergnügen und als hätte er
+es einstudiert, immer dasselbe:
+</p>
+
+<p>
+– Das ist aber eine Ueberraschung! Denn
+wir haben dich ja längst begraben, Petruscha,
+weißt du!
+</p>
+
+<p>
+Marakulin traf Werotschka auch in der
+nächsten Pause nicht: sie hatte Wera Nikolajewna
+versprochen, sie noch zu treffen und
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+kam nicht. Er sah sie an dem Abend nicht
+wieder.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Theater ging Marakulin mit
+Wera Nikolajewna und mit Anna Stepanowna
+in ein Café auf dem Newsky.
+</p>
+
+<p>
+Die Begegnung mit Werotschka und mit
+Glotow, und daß er sie zusammen getroffen,
+das Theater, das Café, alles wühlte Marakulin
+auf, und was dort im Theaterrestaurant
+verborgen in ihm brodelte, als er neben
+Glotow stand, sammelte sich jetzt zu brennender
+Verzweiflung. Und gemartert fühlte er:
+wenn jetzt dieser Glotow, sein Bruder oder
+sein Verwandter, einer, der Werotschka kennt
+und den auch Werotschka gut kennt, aufstehen
+und ihm, Marakulin, eine herunterhauen
+würde, wie der Student Lichowidow dem
+Bureauchef, so würde er, Marakulin, ihm
+zum Dank dafür die Füße küssen und ihm noch
+seinen Nacken hinhalten, daß er nach Herzenslust
+dreinhaue, oder ihm die Zähne einschlage,
+daß die Kiefer knacken. Und in seinem grausamen
+Martyrium das ganze Brennen des freiwillig
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+auf sich genommenen Schmerzes fühlend,
+erinnerte er sich an seine geliebte, verhaßte,
+unglückselige Generalin, und es verging
+ihm die Lust an seinem Leid – er wollte
+keine Ohrfeigen, keine Faustschläge, keine Fußtritte,
+weder von diesem gestutzten Schnurrbart,
+der so selbstgefällig mit diesem andern
+widerlichen Glattgesicht plauderte, noch von
+jenem roten, nach oben gekräuselten Schnurrbart,
+der auch vielleicht Werotschka kennt
+und den Werotschka sehr gut kennt. Nein,
+in seiner Verzweiflung dachte er jetzt, wie gut
+es wäre, die Generalin mit kochendem Wasser
+zu übergießen, sie ein wenig nur zu verbrühen.
+Mit welcher Wut würde sie sich auf alle stürzen
+und beißen, – alle zerbeißen!
+</p>
+
+<p>
+– Warum heißt Werotschka nicht mehr
+Wechorjowa, sondern Rogowa?
+</p>
+
+<p>
+– Weil sie keine Generalin ist – antwortete
+Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+– Was für eine Generalin?
+</p>
+
+<p>
+Wera Nikolajewna verstand nichts und sah
+bald ihn, bald Anna Stepanowna an, welche
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+lächelte und deren Lächeln bis in die Seele
+hinein weh tat.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin hätte jetzt aufstehen und der einen
+die Augen ausstechen mögen – diese verlorenen
+Augen des vagabundierenden heiligen
+Rußland, des verschüchterten, freiwillig bettelnden,
+von Armut, wie von einem geweihten
+Gürtel umgürteten, alles ertragenden, demütigen,
+geduldigen Rußland, das sich nicht einmal
+einen Sarg zusammenzuzimmern vermag,
+höchstens einen Scheiterhaufen zusammenbringen
+und sich darauf verbrennen! Die
+andre aber hätte er ersticken mögen, damit sie
+aufhörte zu lächeln, damit es dieses Lächeln
+nicht mehr gäbe, aus dem mit frecher Schamlosigkeit
+eine beschmutzte, vergewaltigte Seele
+jedem in die Augen sticht: sie braucht nicht
+zu leben, sie hat hier nichts zu tun, es ist kein
+Platz für sie auf der Erde!
+</p>
+
+<p>
+Oder war für ihn selbst kein Platz mehr auf
+der Erde?
+</p>
+
+<p>
+– Und was meinen Sie, Wera Nikolajewna?
+– fragte er.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+– Werotschka gab mir ihre Adresse und bat
+mich, nicht nach Wechorjowa, sondern nach
+Rogowa zu fragen – antwortete Wera Nikolajewna.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin schloß die Augen. Er empfand
+plötzlich eine äußerste Müdigkeit und Erschöpfung,
+eine so vollkommene Gleichgültigkeit,
+daß er sich nicht gerührt und nicht
+einmal sich umgesehen haben würde, wenn
+das Café in Brand geraten oder die Decke
+herabgestürzt wäre.
+</p>
+
+<p>
+Als Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna
+bemerkten, wie verstimmt er war,
+wollten sie ihn nicht beunruhigen, und um
+seiner Seele nicht lästig zu sein, unterhielten
+sie sich leise miteinander.
+</p>
+
+<p>
+Wera Nikolajewna erzählte von einer Krankenschwester:
+</p>
+
+<p>
+– Man brachte ins Krankenhaus ein Kindchen:
+es war verbrüht. Um die Operation
+zu machen, brauchte man Haut, und wo
+sollte man sie hernehmen? Vom Kindchen
+selbst? – das hätte es nicht ausgehalten, es
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+war zu schwach. So bot sich die Schwester
+dazu an, und man schnitt ihr so viel Haut
+aus, als man brauchte.
+</p>
+
+<p>
+– Und wie ist es verlaufen?
+</p>
+
+<p>
+– Gott sei Dank, beide leben.
+</p>
+
+<p>
+Anna Stepanowna bekreuzigte sich lächelnd:
+</p>
+
+<p>
+– Gott sei Dank!
+</p>
+
+<p>
+Marakulin erhob sich, und sie gingen nach
+der Fontanka zurück.
+</p>
+
+<p class="tb">
+* * *
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Werotschka bewohnte eine kleine möblierte
+Wohnung an der Mojka, die sie nur mit
+ihrer Wirtin teilte. Die Zimmer waren mit
+allerlei Sofachen und Tischchen vollgepfropft
+und mit Sächelchen angefüllt, wie
+sie wohl auch das Ehepaar Oschurkow in
+seinen zehn Zimmern haben mochte. Die kanariengelbe
+Farbe war in der Wohnung vorherrschend:
+gelbe Kissen, gelbe Wandschirme,
+– alles hier war gelb.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+Marakulin, der Werotschka endlich gefunden
+hatte, begriff schon im Vorzimmer, daß
+Werotschka hier nicht aus eigener Wahl
+wohnte, sondern daß sie in diese möblierte
+gelbe Wohnung von jemand einquartiert
+worden war.
+</p>
+
+<p>
+Er fand sie zu Hause und freute sich sehr
+über sein Glück: sie war allein, sie kamen
+einfach und leicht ins Gespräch. Wie immer,
+redete sie erst äußerst herausfordernd,
+und ihre Erzählung war von solcher Art,
+daß man aus ihr nicht klug werden konnte,
+ob es echte Wahrheit war oder bloß so eine
+Wahrheit. Sie habe ihren Namen geändert,
+weil sie jetzt beim Theater sei; sie sei bei
+einer kleinen Bühne engagiert, in einem Petersburger
+Café chantant.
+</p>
+
+<p>
+– Ich tanze dort – erzählte sie – kommen
+Sie einmal hin, um mich zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Doch abgesehen vom Theater und vom Tanzen
+stand es mit ihr so, daß Anissim Wakujew
+ihr kein Geld mehr schickte. Statt seiner war
+jetzt ein vornehmer alter Herr ihr Gönner.
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+Er hatte ihr diese Wohnung gemietet und
+seinetwegen hatte sie den Familiennamen geändert,
+– oder richtiger: sie mußte einen andern
+Familiennamen annehmen. Warjaginskij
+war eine einflußreiche Persönlichkeit und
+verkehrte bei Hofe.
+</p>
+
+<p>
+– Er ist ein ganz altes Kerlchen. Mit dem
+linken Auge sieht er immer eine Maus; wenn
+er es zukneift, dann verschwindet die Maus,
+macht er es aber auf, dann ist die Maus wieder
+da, ein graues, ganz kleines Mäuschen.
+</p>
+
+<p>
+Anissim schicke ihr längst kein Geld mehr, sie
+aber brauche Geld. Sie müsse es soweit bringen,
+daß der alte Warjaginskij auf ihren
+Namen ein Kapital deponiere, dann ...
+</p>
+
+<p>
+– Dann werde ich zeigen, wer ich bin –
+der ganzen Welt, – dann sollen sie sehen!
+</p>
+
+<p>
+Ja, sie werde sich schon erweisen, ihr Name
+werde in ganz Rußland berühmt sein, in
+ganz Europa, in der ganzen Welt! Sie habe
+ihren Weg durch den Scheiterhaufen gewählt;
+denn auf dem gewöhnlichen Wege
+gelange man nirgends hin; man komme auf
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+andre Weise nicht vorwärts; ohne Geld lasse
+man einen nirgends hin; man werde zerrieben,
+und wäre man der Teufel selbst! Man
+müsse lügen können und Geld haben –
+Lügen und Geld haben, das sei notwendig.
+Sie hätte ja auch versucht, auf die gewöhnliche
+Weise durchzukommen – sie kenne es
+gut! Sie könne ja schließlich nicht Waschfrau
+werden – oder sollte sie in der Tat
+Waschfrau werden? Sie sei durchaus nicht
+damit einverstanden, im Kusnetschnygäßchen
+zusammen mit dem Chiromanten oder
+in den Gorbatschowschen „Winkeln“ zu
+wohnen. Wenn der Alte aber erst ein Kapital
+auf ihren Namen deponiert und sie viel
+Geld haben würde, dann ... ja dann ...
+</p>
+
+<p>
+– Für Geld kann man alles kaufen! – schrie
+Werotschka mit ihrem unheimlichen Schrei.
+Es war nicht der sehnsüchtige Ruf eines Hoffenden,
+sondern eine Herausforderung, ein
+Schrei nach dem Recht, die ganzen himmlischen
+Heerscharen kurz und klein zu schlagen,
+wäre nur eine Leiter bei der Hand – wie
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+es in einer alten Weise heißt – oder die Erde
+aus den Angeln zu heben, bekäme man nur
+einen Griff zu fassen! – Es war eine Herausforderung,
+ein Schrei der Verzweiflung auf
+ihrem Weg durch den Scheiterhaufen.
+</p>
+
+<p>
+– Ich bin eine Dirne und bleibe eine Dirne.
+Aber im nächsten Jahre werde ich mich zeigen.
+Sie werden mich dann sehen. Jawohl,
+auch Wera Nikolajewna würde kein Geld
+ausschlagen, und auch diese Ihre Andre, mit
+dem kläglichen Lächeln, würde es annehmen!
+Es gibt ihnen bloß niemand etwas, mir aber
+gibt jeder, ich verstehe zu lügen und werde
+mein Ziel erreichen!
+</p>
+
+<p>
+Sie begann hastig ihre Toiletten zu zeigen,
+riß alle Schubfächer auf und öffnete den
+Kleiderschrank; Kleider und Wäschestücke
+flogen haufenweise zu Marakulin hin, und
+ein bunter Berg von Seide und Spitzen
+türmte sich zwischen den gelben Sofas, wie
+der schwarze Berg auf dem belgischen
+Hof.
+</p>
+
+<p>
+– Und alles das ist mein – schrie sie,
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+– sehen Sie, es sind Geschenke, alles gehört
+mir!
+</p>
+
+<p>
+Marakulin erhob sich, er wollte sie zurückhalten,
+aber es war unmöglich; er setzte sich
+wieder auf das gelbe Sofa. Werotschka aber
+war in Raserei geraten, sie zerknüllte und zerfetzte
+die Sachen und warf sie um sich her. Und
+als die Kommoden entleert und alle Schubfächer
+von unterst zu oberst gekehrt waren,
+begann sie die Nippes abzuräumen, zerschlug
+alles und warf es auf einen Haufen.
+</p>
+
+<p>
+– Und alles das gehört mir, lauter Geschenke!
+– schrie sie mit dem letzten Aufwand
+ihrer Stimme, fast schon ohne Stimme. Einen
+Augenblick stieg in Marakulin der heftige
+Wunsch auf, ein Streichholz anzuzünden
+und alles in Brand zu stecken, alles zu
+vernichten, den ganzen Haufen, den Berg,
+die gelben Kanapees, gelben Wandschirme,
+gelben Lampenschirme, gelben Kissen – alle
+diese Geschenke!
+</p>
+
+<p>
+Werotschka riß von der Etagere eine kleine
+bronzene Schildkröte herab und reichte sie
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+ihm, offenbar in der Absicht, sie ihm zu
+schenken.
+</p>
+
+<p>
+– Man kann nur schenk–, man kann nur
+schenk–, man kann nur schenk– – stieß
+Marakulin hervor, als wollte er mit den
+Worten dreinschlagen, und sah Werotschka
+fest an, aber der Atem verging ihm, bevor er
+das Wort zu Ende brachte. Seine Schultern
+zitterten plötzlich.
+</p>
+
+<p>
+Ja, sie wisse es selbst. Hier sei nichts, was
+ihr gehöre. Und fremde Sachen dürfe man
+nicht verschenken. Geschenke verschenke man
+zwar nicht, doch dürfte man es tun; hier aber
+gehöre ihr nichts, es seien nicht Geschenke,
+es seien lauter fremde Sachen. Fremde Sachen
+aber dürfe man nicht verschenken. Eigentümer
+sei hier der alte Warjaginskij, der
+Mäuse sieht, und Glotow der Kassierer, und
+sonst jeder, der Geld hat und Geld ausgeben
+kann – und je mehr einer Geld gebe, desto
+wichtiger sei er. Alles an ihr sei beschmutzt,
+alles abgegriffen, sie könne Wera Nikolajewna
+nicht einmal einen Kuß geben, sie habe
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+nichts mehr zu geben, alles sei eingesetzt, alles
+bespuckt.
+</p>
+
+<p>
+– Und Sie, Petruscha, Sie möchten wohl
+auch? – fragte sie plötzlich voll Bosheit,
+– ja, wollen Sie? – nicht?
+</p>
+
+<p>
+Marakulin erhob sich.
+</p>
+
+<p>
+– Da – Werotschka zeigte ihm die Zunge
+– nichts kriegen Sie, Sie Bettler! Bettler
+empfange ich nicht, verstehen Sie! – und
+ihre unverschämten Augen blitzten auf wie
+zwei scharfe Klingen und ihr aufgelöstes
+Haar brannte wie Feuer.
+</p>
+
+<p>
+Ohne die Straßen zu unterscheiden ging
+Marakulin wohin ihn seine Füße trugen.
+Es war im Dezember und Tauwetter. Ein
+warmer Wind wehte, die Laternen sahen
+aus wie vom Himmel herabgestiegene Sterne
+und Monde und schienen im Nebel aufgehängt.
+Beim Hinaustreten aus der Podjatscheskaja
+auf die Ssadowaja blieb er plötzlich
+stehen: vor dem Tor des Spaßeschen Polizeireviers,
+da, wo die Glocke hängt, stand ein
+Feuerwehrmann in einem riesigen Messinghelm,
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+ein wirklicher Feuerwehrmann, aber
+überlebensgroß, und sein Messinghelm reichte
+über die Torwölbung hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin begann vor Entsetzen zu laufen.
+Etwas stieg ihm die Kehle hinauf und preßte
+sie zusammen. Und erst als er zu Hause war,
+allein in seinem Zimmer im Burkowschen
+Hof, fühlte er, daß er weinte, so wie er nur
+einmal im Leben geweint hatte, als seine Kinderfrau
+ihn verlassen.
+</p>
+
+<p>
+Nachts träumte er, er läge auf dem Burkowschen
+Hof. Der Hof aber war größer
+als in Wirklichkeit, und obwohl er an den
+Seiten von den Häusern zusammengedrückt
+war, so lagen doch die Stände und Kästen
+der fliegenden Händler viel weiter als sonst,
+und die Wagenremise, die Müllgrube und
+der Abguß waren viel entfernter. Es waren
+unter den Fenstern viel mehr Ziegelsteine,
+Schutt und Kehricht angehäuft. Er lag
+nicht allein auf dem Hof, neben ihm lagen
+die Mieter aus dem Vorderhaus und aus
+dem Hinterhaus, aus den Seitenflügeln, aus
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+den Gorbatschowschen „Winkeln“. Und
+obwohl er viele von ihnen nicht kannte, so
+erriet er doch, wer sie waren, und irrte sich
+bestimmt nicht darin, daß dieser Herr und
+diese Dame Herr und Frau Oschurkow waren,
+die zehn Zimmer und allerlei Nippes,
+die die Wohnung ganz ausfüllten, und ein
+Aquarium mit Goldfischchen hatten. Und
+dieser da, der Bewegliche im Zylinder, war
+der Rechtsanwalt Amsterdamskij, ein lustiger
+Kerl, – er verstand es, Prozesse gut zu
+führen; die Portiers im Senat warteten auf
+ihn, wie auf das Osterfest. Und Burkow
+selbst, der frühere Gouverneur, der Selbstvertilger,
+lag da, aber man sah nur seine
+Uniform. Neben der Uniform lag der älteste
+Hausmeister Michail Pawlowitsch mit seiner
+Gemahlin, der gottesfürchtigen Antonina
+Ignatjewa, und der Händler Gorbatschow
+mit einem kleinen Mädchen – mit
+seiner Tochter, der er einst in der Rattenkammer
+die Fingerchen zerbrochen, und Wera
+mit Akumowna, Stanislaus der Kontorist
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+und Kasimir der Monteur, Adonja Iwoilowna
+und die Artisten Damaskin, Sergej
+Alexandrowitsch und Wassilij Alexandrowitsch,
+Wera Nikolajewna und Anna Stepanowna,
+die Hebamme Lebedjowa in ihren
+Pelz eingewickelt, den man ihr um Weihnachten
+gestohlen hatte, und der Portier Nikanor;
+auch lagen hier die Studenten, welche
+nachts Totenmessen sangen, in neuen studentischen
+Uniformen und mit ihrem Messinghahn,
+dann alle sieben Hausmeister und der
+Paßaufseher Jerkin – die Hausmeister mit
+Holz und Jerkin mit Krankenhausmarken, jede
+Marke ein Rubel, Gesicht und Hände ganz
+mit Marken beklebt. Kleine Kinder lagen in
+Haufen, der Perser – der Masseur aus der
+Badeanstalt und jenes kleine Mädchen, welches
+Murka damals Milch gebracht hatte,
+mit der Scherbe; es lagen da alle Schuster,
+Bäcker, Bader, Friseure, Schneiderinnen,
+Weißnäherinnen, eine Krankenschwester aus
+dem Obuchowschen Krankenhaus, Kondukteure,
+Maschinisten, Kürschner, Schirm-
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+und Bürstenmacher, Kommis, Wasserleitungsmonteure,
+Setzer und allerlei Mechaniker,
+Techniker und elektrische Meister mitsamt
+ihren Familien und ihrem Gerümpel,
+mit Gläsern, Flaschen und Schwaben, und
+allerlei Fräuleins von der Gorochowaja
+und vom Sagorodny, kleine Nähmädchen,
+Mädchen aus den Teestuben und elegante
+junge Leute aus der Badeanstalt, die die
+Petersburger Damen auf Wunsch bedienen,
+die alte Frau, welche Sonnenblumensamen
+und sonst allerlei Kram feilbietet, stellenlose
+Köchinnen, Maler und Schreiner, fliegende
+Händler mit Datteln und Zuckerwerk, das
+nach Mistpilzen riecht, – mit einem Wort:
+der ganze Burkowsche Hof, ganz Petersburg.
+Und nachdem Marakulin alle diese Burkowschen
+Gestalten feststellte, erblickte er auch
+noch andre: seine Mutter, seinen Vater, seine
+Schwestern, den alten Gwosdjow, den
+Buchhalter Awerjanow, Tschekurow, Lisaweta
+Iwanowna und Maria Alexandrowna,
+Rakow mit dem Lotterielos von Zweihunderttausend,
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+Lestschow, Pawlina Polikarpowna
+und alle Idioten, Geistesarmen, Eremiten
+und heiligen Brüder, allerhand Belgier
+und Deutsche, die Deutschen um den Doktor
+Wittenstaube zusammengedrängt, der alle
+Krankheiten mit Röntgenstrahlen heilt, –
+überhaupt das ganze vagabundierende Rußland.
+</p>
+
+<p>
+Da lagen sie alle auf dem Burkowschen Hof,
+wie auf einem Totenfeld, nur war es nicht
+trocknes Gebein, sondern es waren lebendige
+Menschen, und in jedem lebte und schlug ein
+Herz. Und Tiere lagen da zusammen mit den
+Menschen: der schöne rothaarige Hund des
+Gouverneurs, Revisor, an der lästigen Stahlkette
+hob zuweilen seine kluge Schnauze, und
+Murka lag auch daneben, von einem rauchfarbenen
+Kater belegt. Neben Marakulin
+aber lag die Generalin Cholmogorowa, die
+Laus, und die elektrischen Lampen brannten
+wie vom Himmel herabgestiegene Sterne
+und Monde tief im Nebel über dem Burkowschen
+Hof.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist
+übervoll, die Strafe ist nah! – sang Gorbatschow
+im Halbschlaf, die Worte durch
+die mit Pferdehaaren bewachsene Nase dehnend.
+</p>
+
+<p>
+Da klirrte etwas wie ein Säbel, und aus einem
+Schrank trat ein Feuerwehrmann, überlebensgroß,
+in einem riesigen messingnen
+Helm, und begann zu schreiten, mit den Stiefeln
+polternd. Und rasch über die Maler,
+Schlosser und fliegende Händler hinwegschreitend,
+nahte er Marakulin und blieb vor
+ihm stehen.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein ganz gewöhnlicher Feuerwehrmann
+mit einem roten Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Da fühlte Marakulin, wie es ihm so schwer
+wurde, daß er weder einen Fuß noch eine
+Hand rühren konnte, und er wußte, daß er
+nicht mehr lange leben werde und daß ihm
+nur noch die Freiheit zu reden übriggeblieben
+war. Er fühlte auch, daß es Allen – dem
+ganzen Totenfeld – ebenso schwer war; sie
+konnten weder einen Fuß noch eine Hand
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+rühren und hatten nur noch die Freiheit zu
+reden; und während er seine letzten Augenblicke
+nahen fühlte, hörte er die Automobile
+auf der Fontanka tuten.
+</p>
+
+<p>
+Ueber ihm aber stand unbeweglich der
+Feuerwehrmann. Es war ein ganz gewöhnlicher
+Feuerwehrmann mit einem roten Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Erst wollte Marakulin es wagen, gleich jenem
+Starez Kabakow, der durch Gebete
+die Stimme des Himmels befragte, den
+Feuerwehrmann für Alle, für die ganze Welt
+auszufragen, aber er hatte nicht den Mut,
+wie Kabakow für Alle, für die ganze Welt,
+für das ganze Totenfeld zu fragen, sondern
+er fragte nur für sich.
+</p>
+
+<p>
+– Wird es mir gut ergehen?
+</p>
+
+<p>
+– Warte – sagte der Feuerwehrmann.
+</p>
+
+<p>
+– Gut? – fragte Marakulin nochmals
+mit stockendem Atem, und hörte dabei,
+wie auf der Fontanka die Automobile tuteten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+Und der Feuerwehrmann antwortete ihm,
+jedoch sehr kleinlaut, kaum daß er das Wort
+zu Ende sprach:
+</p>
+
+<p>
+– G–u–t.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-6">
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+Fünftes Kapitel
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">V</span><span class="postfirstchar">or</span> Weihnachten zerbrach Marakulin
+sein Kreuz.
+</p>
+
+<p>
+Anna Stepanowna nahm es mit, um es reparieren
+zu lassen, ging aber aus dem Gymnasium
+erst auf den Gostinij-Markt. Dort
+wurde ihr das Portemonnaie gestohlen und
+mit ihm auch Marakulins Kreuz, sein kleines
+goldenes Taufkreuz.
+</p>
+
+<p>
+In den Weihnachtstagen wahrsagte Akumowna
+wieder aus den Karten, und Marakulin
+schien es, daß die Karten jetzt ganz erbost
+seien und ihn mit ihrem schonungslosen
+„reinen Herzen“ verspotteten. Sie
+orakelten: ein fröhlicher Weg; ein wohlgeborener
+einflußreicher Herr; viel Geld; wenn
+Sie heute keinen Brief bekommen, so bekommen
+Sie ihn morgen; er trinkt ein wenig, –
+und in den Ecken Gras und Tannen.
+</p>
+
+<p>
+Aber die Karten logen diesmal nicht. Sei
+es, daß Akumowna es mit ihrem Wahrsagen
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+heraufbeschworen hatte, oder, daß
+es ihm sonst bestimmt war – Marakulin
+mußte in der Tat bald nach dem Tag der hl.
+Tatjana und ganz unerwartet nach Moskau
+verreisen.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin war ein Moskauer. In Moskau
+geboren und aufgewachsen, war er auch dort
+zur Schule gegangen. Nur die fünf Jahre
+vor seinem Petersburger Aufenthalt hatte er
+in der Provinz verlebt und in Geschäften
+auch solche Städte wie Kostrinsk und Purchowez
+besucht. Er hatte in Moskau in einer
+Privatrealschule in der Handelsabteilung
+studiert. Kaum daß er in die Schule eintrat,
+starb seine Mutter, und bevor er die Schule
+verließ, verlor er den Vater. Die letzten
+Schuljahre waren sehr schwierig, er mußte
+selbst für sich sorgen. Er hatte zwei Schwestern,
+beide älter als er und beide verheiratet.
+Als er noch in Moskau lebte, besuchte er die
+Schwestern, erst oft, dann seltener, endlich
+ganz selten. Als er klein war hatten sie ihn
+sehr gern gehabt und ihn verwöhnt. Er wußte
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+es noch genau, sie aber hatten es vergessen.
+Als er in der Provinz wohnte, schrieb er den
+Schwestern im Anfang oft, dann seltener,
+dann ganz selten und nur noch Gratulationsbriefe,
+dann hörte er überhaupt auf zu schreiben.
+Sie waren es, die zuerst den Briefwechsel
+abbrachen. Und seit er in Petersburg
+lebte, hatte er sich an den Gedanken gewöhnt,
+daß er in Moskau niemand hatte. Nur auf
+<a id="corr-9"></a>dem Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich
+zwei Gräber, zwei Kreuze: das Kreuz des
+Vaters und das Kreuz der Mutter.
+</p>
+
+<p>
+Sein Vater war der älteste Buchführer bei
+Plotnikow gewesen. Plotnikows Fabrik befand
+sich auf der Taganka, das Engrosgeschäft
+auf der Iljinka. Der Vater war ein
+Mann der Arbeit, der sich mit Energie seinen
+Weg bahnte. Seine Mutter war anders; sie
+war ein Mensch von besonderer Art.
+</p>
+
+<p>
+Jewgenja Alexandrowna – so hieß sie –
+war aufrichtig, einfach und herzlich. Ihre
+Aufrichtigkeit kannten alle; ihr Vater kannte
+sie und alle, die im Hause verkehrten kannten
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+sie. Man klatschte in ihrer Gegenwart nicht
+über Bekannte, man schärfte nicht unnütz die
+Zungen – man sagte nichts, was man den
+andern nicht ins Gesicht hätte sagen können.
+Die Gepflogenheit, zwei Meinungen über
+jemand oder über etwas zu haben: eine
+Meinung sozusagen für’s Haus, welche nur
+im engen Familienkreis ausgesprochen wird,
+und eine andere für die Straße, welche vor
+Fremden geäußert wird, wenn es nützlich erscheint,
+– diese üblichen Formen des Umgangs
+waren ihr fremd. Es fehlte ihr der
+praktische Sinn. Daraus konnte oft ein kleiner
+Skandal, zumindest eine Verlegenheit
+entstehen, und ihr Vater mußte sie häufig
+davor warnen. Dieser praktische Sinn, der
+zwei Meinungen kennt, dieser einfältige und
+oft niederträchtige Selbstschutz ist keine
+Weisheit. In der echten Weisheit, die nicht
+nur zwei, sondern zwanzigmal zwei Meinungen
+kennt, ist Wissen und Schonung. Diese
+höhere Weisheit konnte sie natürlich noch
+nicht haben, aber sie besaß jene, die aus dem
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+Instinkt stammt und die das Herz begreift.
+Es fehlte ihr dagegen völlig an jener Schlampigkeit
+des Herzens, an der Gewöhnlichkeit
+der Seele, die wie grobe Geradlinigkeit aussieht.
+Alles berührte und quälte sie; sie hatte
+keine Gleichgültigkeit in sich, im Gegenteil:
+ungewöhnlich barmherzig und mitfühlend,
+war sie bereit, jedem zu helfen. Kaum aus
+der Schule, verliebte sie sich in einen Studenten,
+in den Hauslehrer ihres Bruders, und
+wie zu Gott sah sie zu ihrem Studenten auf.
+Der Student aber – sagte nichts, und als
+ein ernsthafter Student, der er war, lächelte
+er nur, lächelte und dankte. Jenjas Vater
+– Marakulins Großvater – war Arzt, und
+als Fabrikarzt bei Plotnikow angestellt, nahm
+er das junge Mädchen oft in die Fabrik mit.
+Bei Plotnikow war aber auch ein junger
+Techniker namens Ziganow. Dieser machte
+sich mit den Fabrikarbeitern zu schaffen, veranstaltete
+Vorlesungen und Theatervorstellungen
+für sie, und soll auch, wie die Wissenden
+behaupteten, einen Streik angezettelt
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+haben. Die Fabrikarbeiter liebten Ziganow
+und gehorchten ihm. Jenja, der das Leben
+in der Fabrik, das sie allmählich kennen lernte,
+die Seele verwundete, bot Ziganow ihre Mithilfe
+an. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Techniker
+und arbeitete mit, so weit ihre Kräfte
+reichten. Und wenn eine Sache gelang, –
+mit welcher Freude erzählte sie von ihrem
+Erfolg dem Hauslehrer ihres Bruders, ihrem
+Studenten, zu dem sie wie zu Gott aufsah!
+Der Student aber – sagte nichts, und als
+ein ernsthafter Student, der er war, lächelte
+er nur, lächelte und dankte. So traf es sich
+auch einmal, daß Jenja bei Ziganow in der
+Wohnung war. Sie half ihm Lektüre für
+die Fabrikarbeiter zusammenstellen; es waren
+Broschüren. Sie war sehr eifrig dabei, sie
+brannte darauf, daß die Broschüren bald gelesen
+werden, denn sie glaubte, daß in ihnen
+die Wahrheit stand und ein Ausweg aus dem
+erbärmlichen Leben, das ihr die Seele verwundete.
+Sie brannte vor Eifer – es war
+ja das erstemal. Ziganow arbeitete am selben
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+Tisch mit ihr und wich nicht von ihrer Seite;
+auch er wollte die Arbeit möglichst rasch erledigen,
+denn die Sache war gefährlich! Als
+dann alles fertig war, die Broschüren geordnet,
+ausgesucht und verteilt, und sie, befriedigt,
+freudig erregt und davon träumend, wie
+sie alles dem Studenten, ihrem Abgott erzählen
+würde – (er hatte wohl jetzt die Lektion
+mit ihrem Bruder beendigt, saß vielleicht
+mit ihrem Vater im Eßzimmer beim Tee und
+spielte mit ihm Schach) – gerade im Begriff
+war, nach Hause zu gehen, – da fiel Ziganow
+über sie her und warf sie zu Boden
+...
+</p>
+
+<p>
+An diesem Abend, als sie nach Hause zurückkehrte
+und den Studenten, wie sie erwartet
+hatte, im Eßzimmer beim Tee mit ihrem Vater
+Schach spielend fand, – sagte sie nichts;
+weder dem Vater, noch dem Studenten.
+Sie verriet nicht mit der leisesten Andeutung,
+was eben zwischen ihr und Ziganow vorgefallen
+war, sie verriet mit keiner Silbe das
+Entsetzen, das sie erfüllte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+Entsetzen und Scham besiegten all ihre
+Wahrhaftigkeit und zwangen sie, das
+Schreckliche zu verheimlichen. Sie schwieg,
+und obwohl sie, die sich nicht verstellen
+konnte, sich so gab, wie sie war, bemerkte
+dennoch niemand etwas, nur dem Vater fiel
+eine Trauer in ihrem Gesicht auf, die früher
+nicht in ihm war. Erst viele Jahre später sah
+es auch manch andrer, sprach aber nicht
+darüber. Denn diejenigen, die sie oft sahen,
+mochten sie dann vielleicht zum erstenmal
+aufmerksam angesehen haben und konnten
+deshalb nicht feststellen, ob diese Trauer in
+ihrem Gesicht schon immer dagewesen und
+von ihnen nur nicht bemerkt worden war,
+oder ob tatsächlich eine Veränderung in ihm
+stattgefunden hatte.
+</p>
+
+<p>
+Wohl war diese Trauer schon immer in ihr,
+seit ihrer Geburt vielleicht, vielleicht war sie
+zusammen mit ihr zur Welt gekommen, hatte
+sich all die siebzehn Jahre in ihrer Seele verborgen
+gehalten und trat erst an jenem Abend
+hervor, an dem Jenja bei Ziganow die Broschüren
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+ordnete und glücklich, freudig erregt
+daran dachte, wie sie ihrem Studenten, ihrem
+Abgott von ihrer Freude erzählen würde; –
+damals mochte das Entsetzen die eingeborene
+Trauer hervorgeholt und über ihr Gesicht
+gebreitet haben.
+</p>
+
+<p>
+War es nur Trauer, was ihr Gesicht verriet,
+als sie sich auf dem Boden wälzte und
+vor tierischem Schmerz, vor Ekel und Entsetzen
+geschrien haben würde, wenn sie
+ihre Schreie nicht hätte unterdrücken müssen?
+War nur Trauer in ihrem Gesicht,
+da sie schweigend und doch unverstellt sich
+quälte?
+</p>
+
+<p>
+Wenn die Menschen einander genau sehen
+und beobachten würden, wenn Alle Augen
+hätten, dann könnte nur ein eisernes Herz das
+ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit
+des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre,
+wenn die Menschen einander sehen würden,
+das eiserne Herz gar nicht nötig?
+</p>
+
+<p>
+Wie war das alles so gekommen, und weshalb?
+Und wie erklärte Jenja es sich selber?
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+An jenem Abend war Ziganow geblendet, –
+einen andern Grund gab es nicht – es war
+nicht vorgefaßte Absicht, er war einfach geblendet.
+Und hätte er auch sieben Augen gehabt,
+wer weiß, ob er nicht an allen sieben
+Augen geblendet worden wäre vor ihren beiden,
+mit denen sie so freudig dreinblickte, bereit,
+im nächsten Augenblick von ihrer Freude
+dem Studenten, ihrem Abgott zu erzählen:
+ihre Freude war so gewaltig; es war ja das
+erstemal, die Sache war gefährlich und sie
+glaubte die Erlösung gefunden zu haben aus
+dem erbärmlichen Leben, das ihre Seele verwundete.
+</p>
+
+<p>
+So erklärte Jenja das, was vorgefallen, indem
+sie niemand beschuldigte, außer sich
+selbst.
+</p>
+
+<p>
+Ob es so war oder nicht, ob er tatsächlich
+geblendet war oder nicht, ob er dem Zwang
+nicht widerstehen konnte, sich auf sie zu stürzen,
+oder ob er sich hätte zurückhalten müssen
+– einerlei: am Ende wäre es auch einem andern
+so ergangen wie Ziganow, der sich mit
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+einer gefährlichen Sache befaßte, die heimlich
+und verborgen getan werden mußte, und
+der vor lauter geschäftigem Mißtrauen seine
+Augen verloren hatte? Jedenfalls aber hatte
+er seine Augen verloren, gleichviel warum:
+denn hätte er sehen können, so wäre das nicht
+geschehen, was weiter geschah. Es kam aber,
+daß jedesmal, wenn Jenja bei ihm war, um
+Broschüren zu ordnen, oder in ähnlichen Angelegenheiten,
+sich jener gefährliche und freudig
+erregte Abend wiederholte. Sie flehte ihn
+an, sie zu schonen, sie nicht anzurühren, aber
+er wollte nichts hören, weil er taub und blind
+war. Und so verging ein ganzes Jahr.
+</p>
+
+<p>
+Als dann Ziganow aus der Plotnikowschen
+Fabrik verschwunden war – manche behaupteten,
+er wäre nach Sibirien verbannt
+worden, andre dagegen, daß er jenseits der
+Trechgornaja-Maut in einer Fabrik eine gutbezahlte
+Stellung angenommen hatte, wieder
+andre, daß er der Welt so etwas wie ein
+„neues Zion“ verkündete – mit einem Wort,
+als Ziganow nicht mehr da war, und Jenja
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+aufatmen konnte, da widerfuhr ihr das
+gleiche, nur daß diesmal an Ziganows Stelle
+ihr eigener Bruder, der Kadett war. Sie bat
+ihren Bruder, flehte ihn an, sie zu schonen,
+sie nicht anzurühren, er aber wollte nichts
+hören, und darum nicht, weil er in diesem
+Augenblick taub und blind war.
+</p>
+
+<p>
+Ja, auch er war in diesem Augenblick geblendet,
+und nur, weil in ihr selbst etwas Sinnberaubendes,
+Blendendes war; denn sonst
+hatte doch dieser Bruderabend nichts gemeinsames
+mit jenem Ziganowschen, jenem gefährlichen
+und freudig erregten Abend.
+</p>
+
+<p>
+So erklärte sich Jenja alles, was vorgefallen,
+indem sie niemand als sich selbst beschuldigte.
+</p>
+
+<p>
+Ob es nun so war oder nicht, ob der Bruder
+ebenfalls geblendet war oder nicht –
+jedenfalls ist es klar, daß er, ohne sich mit
+gefährlichen Dingen zu befassen, wie Ziganow
+und nicht wie dieser durch die Heimlichkeit
+und die Gefahr der Arbeit in gemeinsame
+Erregung mit der Schwester gedrängt,
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+– im Gegenteil: er hatte einen offenen Weg
+vor sich, frei von jedem Spähen und Horchen
+– jedenfalls ist es klar, daß er, wie so
+viele Menschen von Beruf oder Handwerk,
+von Meisterschaft oder Leidenschaft, sich
+eben durch keinen besonderen Scharfblick
+auszeichnete. Nein, er zeichnete sich nicht
+durch besonderen Scharfblick aus, denn
+hätte er etwas gesehen, so wäre nicht geschehen,
+was weiter geschah. Es kam aber,
+daß sich jedesmal, wenn er sie allein fand,
+das wiederholte, was an jenem Schwesterabend
+geschah. So verging wieder ein
+Jahr.
+</p>
+
+<p>
+Als der Bruder dann von Moskau abgereist
+war und sie, allein geblieben, aufzuatmen
+hoffte, da wurde der Bruder von dem Gehilfen
+ihres Vaters, von einem jungen Arzt
+ersetzt, so wie einst der Bruder Ziganow abgelöst
+hatte. Und nach dem Arzt kam noch
+einer und wieder einer; alle traten sie kühn
+an sie heran und taten mit ihr, was sie
+wollten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+Sie taten es aber nicht deshalb, weil sie es
+freiwillig gewährte, nein, sie taten nur das,
+wozu es sie, die Geblendeten, trieb.
+</p>
+
+<p>
+So erklärte sich Jenja alles, indem sie niemand
+als sich selbst beschuldigte.
+</p>
+
+<p>
+Ob es so war oder nicht, ob sie wirklich geblendet
+waren oder nicht, ob es sie trieb, oder
+ob sie sich selbst über sie warfen, jedenfalls
+beschuldigte sie keinen von ihnen, nur sich
+selbst: dies etwas in ihrem Wesen, das blendete
+und betäubte.
+</p>
+
+<p>
+Sie schwieg – ganze drei Jahre schwieg sie.
+Sie machte nie eine Andeutung, verriet sich
+mit keinem Wort. In ihr aber war Entsetzen,
+Scham und Qual. Sie wurde geliebt, hatte
+viele Freundinnen, und wußte, wie sehr man
+sie liebte und wie gut man von ihr dachte;
+und trotz aller Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit,
+die in ihr war, vermochte sie es nicht,
+ihnen zu sagen, wie sehr sie sich irrten: daß sie
+nicht so war, wie sie von ihr dachten. Hätten
+sie die Wahrheit gewußt, dann würden sie
+sich von ihr losgesagt haben, so aber stahl sie
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+ihre Liebe dadurch, daß sie die Wahrheit
+verheimlichte.
+</p>
+
+<p>
+Die Menschen traten kühn an sie heran und
+taten mit ihr was sie wollten, sie aber konnte
+sich nicht wehren und gab, erfüllt von tierischem
+Ekel und Schmerz, nach. Und dafür,
+daß sie nachgab, daß sie trotz Ekel und
+Schmerz nachgab und nachgeben mußte,
+für dies blendende und betäubende Wesen
+in ihr, das die Menschen trieb, sich über
+sie zu werfen, reichte eine von Menschen
+verhängte Strafe nicht aus. Es wäre ihr ja
+ein leichtes gewesen, ein Ende mit sich zu
+machen, aber das hätte ihr nicht genügt.
+Auch wenn man sie gefoltert und gemartert,
+wenn man sie zu Tode gefoltert hätte,
+was hätte ihr das genützt? Für sie war eine
+von Menschen bestimmte Strafe zu gering,
+sie mußte sich selbst ihr Urteil sprechen und
+sich selbst hinrichten. Aber wie sich strafen,
+wie sich hinrichten? In den drei Jahren des
+Entsetzens, der Scham und der Qual hatte
+sie sich in den schlaflosen Nächten die Haare
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+gerauft, hatte mit dem Kopf gegen die Eisenstäbe
+ihres Bettes, – ihres schmalen Mädchenbettes
+– geschlagen, aber was war damit
+erreicht? Nichts, gar nichts! Wer sollte
+ihr die Strafe diktieren und wie sollte sie sie
+vollziehen?
+</p>
+
+<p>
+Wenn die Menschen einander genau sehen
+und beachten würden, wenn Alle Augen hätten,
+dann könnte nur ein eisernes Herz das
+ganze Entsetzen, die ganze Rätselhaftigkeit
+des Lebens ertragen. Oder am Ende wäre
+das eiserne Herz gar nicht nötig, wenn die
+Menschen einander sehen würden!
+</p>
+
+<p>
+Jenja verließ Moskau und lebte einige Zeit
+auf dem Lande, in der Familie eines ihrem
+Vater befreundeten Arztes. Ihr Vater, der
+jetzt nicht nur Trauer in ihrem Gesicht bemerkt
+hatte und unruhig geworden war,
+erklärte sich ihr Aussehen mit Uebermüdung
+und redete Jenja zu, sich auf dem Lande zu
+erholen. Folgendes geschah nun während
+ihres Landaufenthaltes: Am Dienstag in der
+Karwoche reiste sie von da ab, aber nicht
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+nach Hause zum Osterfest, wie man annahm,
+sondern sie begab sich in den Wald und betete
+dort drei Tage und drei Nächte mit der
+ganzen Glut des Entsetzens, der Scham und
+der Qual eines sich selbst verurteilenden Herzens,
+und flehte nur um eins: um Strafe, –
+daß ihr eine Strafe angezeigt und eine Buße
+auferlegt werde. Am Karfreitag aber erschien
+sie in der Kirche zur Zeremonie des Grabtuches,
+ganz nackt, mit einem Rasiermesser in
+der Hand. Als das Grabtuch hinausgetragen
+wurde, folgte sie ihm – alle wichen vor ihr
+zurück, wie vor dem Grabtuch selbst. Sie
+stand ganz nackt da, mit dem Rasiermesser in
+der Hand: „Im Namen des Vaters, des
+Sohnes und des heiligen Geistes!“ rief sie
+aus. Jemand erwiderte „Amen“. Da erhob
+sie das Messer und schnitt sich Kreuze hinein
+in die Stirn, in die Schultern, in die Arme,
+in die Brust, und ihr Blut ergoß sich auf
+das Grabtuch.
+</p>
+
+<p>
+Ein ganzes Jahr oder noch länger lag Jenja
+im Krankenhaus, wohin man sie bewußtlos
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+aus der Kirche gebracht hatte. Von den
+Kreuzen waren keine deutlichen Male zurückgeblieben,
+nur eine schwache Narbe auf der
+Stirn, aber auch diese war unter dem Haar
+nicht zu sehen. Und als man fand, daß sie
+sich genügend erholt hatte, schickte man sie
+zu ihrem Vater zurück.
+</p>
+
+<p>
+Hatte sie sich nun beruhigt? Nein. Aber sie
+betete nicht mehr um Strafe. Tief in ihrem
+Innern war es still geworden. Mag sein, daß
+man durch irgendwelche Heilmittel auf sie gewirkt
+hatte, oder daß sie, sich erholend und
+gesundend, nicht mehr so fein in sich hineinhorchen
+konnte, um zu vernehmen, was in
+der Tiefe redete. Aber bald sollte sie es doch
+vernehmen, und ganz unerwartet.
+</p>
+
+<p>
+Zu ihrem Vater kam häufig der Buchführer
+der Plotnikowschen Fabrik, Alexej Iwanowitsch
+Marakulin. Jenja gefiel ihm sehr, und
+er erklärte sich bald. Da vernahm sie plötzlich,
+was in der Tiefe sprach.
+</p>
+
+<p>
+Niemand wußte bis dahin, wofür sie eine
+Strafe für sich herabgefleht hatte, kein
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+Mensch ahnte etwas von den drei qualvollen
+Jahren und von dem vierten Jahr
+ihrer Buße. Nicht einmal dem Priester in der
+Beichte hatte sie etwas verraten: sie sprach es
+in Gedanken unter dem Epitrachelion, wenn
+der Priester über ihr gebeugt die Vergebung
+las. Sie konnte sich nicht entschließen, ihm
+etwas zu sagen: es hätte ihm vielleicht nicht
+genügt zu erfahren, was sie getan; er hätte
+sie jederzeit über die Personen ausfragen können,
+die mit ihr verkehrt hatten. Vielleicht
+hätte er auch angesichts ihres Entsetzens, ihrer
+Scham und ihrer Qual, um ihr einen
+weltlichen Trost zu verschaffen, zu erfahren
+gewünscht, wie sich alles zugetragen hatte,
+und dann gar, über die Umstände unterrichtet,
+jene Personen verurteilt und sie
+selbst von aller Sünde freigesprochen! Sie
+aber beschuldigte niemand als sich selbst,
+ihr eigenes blendendes und betäubendes
+Wesen. Außerdem hätte der Geistliche
+jene Menschen auch denunzieren können.
+Jetzt aber wollte sie es dem Menschen offenbaren,
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+der sie liebte. Sie mußte <em>alles</em>
+sagen – so sprach es in ihrem Innern
+– sie mußte diesem Menschen alles sagen.
+</p>
+
+<p>
+Und sie erzählte ihm alles, rückhaltlos. Er
+hörte milde zu und weinte; – er liebte sie.
+Ohne daß er im Innern glaubte, daß es
+sich nie wiederholen würde, daß die Geschehnisse
+dieser drei Jahre nicht wiederkehren
+könnten, wollte er es doch glauben, denn
+er liebte sie.
+</p>
+
+<p>
+Ihr ganzes weiteres Leben widmete Jenja
+ausschließlich ihren Kindern. Gleich im ersten
+Jahr ihres neuen Lebens war es, als wäre
+sie plötzlich alt geworden, aber es war nicht
+Alter, sondern jenes Entsetzen, jene Scham
+und Qual, die jetzt auf ihrem Gesicht, wie
+einst die Trauer, sichtbar wurden und es alt
+machten. Und ihre Augen, die oft wie aufgescheucht
+waren und die Hände stets wie im
+Gebet gefaltet, als flehten sie, sie zu schonen
+und nicht anzurühren, – dies blieb ihr eigen
+bis an ihr Lebensende. Im Sarg lag sie mit
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+dem Kreuz auf der Stirn: unter der Stirnbinde
+war es jetzt deutlich zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin war damals zehn Jahre alt, aber
+er konnte sich noch genau an dieses Kreuz erinnern,
+an das auf der wachsgelben Stirn
+unter der weißen Binde sichtbare Kreuz. Und
+auch jetzt auf der Fahrt nach Moskau dachte
+er daran, und die Erinnerung an das Kreuz
+der Mutter war in ihm irgendwie fest und unlösbar
+mit seinem eigenen goldnen Taufkreuz
+verbunden, das ihm vor Weihnachten abhanden
+gekommen war.
+</p>
+
+<p>
+Und Trauer überflutete ihn.
+</p>
+
+<p class="tb">
+* * *
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Marakulin reiste nach Moskau auf den dringenden
+Ruf Plotnikows:
+</p>
+
+<p>
+Pawel Plotnikow war mit Marakulin zur
+Schule gegangen, war aber um zwei Klassen
+jünger. Als Marakulin ihn zum erstenmal
+sah, gefiel er ihm sehr: es war ein gesunder
+Knabe, von einer wie Milch und Blut zarten
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+Haut, so daß man Lust bekam, ihn zu streicheln
+und mit ihm zu scherzen, um ihn lachen
+zu machen. Im ersten Schuljahr hatte Pawel
+Plotnikow oft Halsschmerzen, und das
+weiße Tuch um den Hals machte ihn noch
+liebenswerter. Marakulin sprach und scherzte
+oft überaus freundlich mit ihm, Plotnikow
+aber zeigte eine gewisse Scheu. Erst im nächsten
+Jahr wurden sie durch einen Zufall einander
+näher gebracht: Marakulin sang im
+Chor mit, und auch Plotnikow wurde in den
+Chor aufgenommen, ebenfalls für die Altstimme.
+Bei den Gesangproben stand Plotnikow
+neben Marakulin, und allmählich
+verlor er seine Scheu vor ihm und schloß
+sich jetzt enger an Marakulin an, welcher
+für ihn alles tat, was er nur konnte: er löste
+schwierige Aufgaben, machte die Uebersetzungen
+für ihn. Diese rührende und zärtliche
+Freundschaft dauerte ein Jahr. Darauf war
+Plotnikow nach den Sommerferien auf einmal
+so erwachsen, und es war nichts mehr in
+ihm von dem Jung-Katzen- oder Hundeartigen,
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+das Marakulin so gereizt hatte, ihn
+wie ein kleines Tier zu streicheln. Marakulin
+gab sich nun weniger mit ihm ab, unterhielt
+sich nicht so freundlich mit ihm wie früher,
+fuhr aber im übrigen fort, alles für ihn zu
+tun, was er nur konnte. Denn Plotnikow
+wandte sich oft an ihn, wie an einen ältern,
+der alles weiß, was er selbst niemals wissen
+könnte.
+</p>
+
+<p>
+Plotnikow kam in der Schule nicht vorwärts.
+In der fünften Klasse blieb er sitzen
+und wurde aus der Schule genommen. Er
+war der einzige Sohn seiner Eltern, dazu der
+jüngste einer ganzen Reihe von Schwestern,
+und wurde fürs Geschäft gebraucht. Das
+Plotnikowsche Geschäft war in der ganzen
+Taganka<a class="fnote" href="#footnote-8" id="fnote-8">[8]</a>, ja, in ganz Rußland bekannt. Zu
+jener Zeit war Plotnikow bereits so dick und
+groß geworden, daß man bei seinem Anblick
+sich schwer den kleinen Buben Pascha mit
+dem weißen Tuch vorstellen konnte, jenen
+wie kuhwarme Milch frischen Pascha, den
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+man gern streicheln mochte, um ihn lächeln
+zu machen. Man hätte wohl annehmen sollen,
+daß jetzt jede Beziehung zwischen den
+beiden Knaben aufhören müßte, aber dem
+war nicht so. Plotnikow kam manchmal zu
+Marakulin, um sich ein Buch zu holen: er
+bat stets um irgendein Buch zum Lesen, und
+so schüchtern, als hätte er Angst. Marakulin
+gab ihm dann ein Buch, worauf er sich längere
+Zeit nicht sehen ließ. Dann konnte er
+wieder ganz unerwartet erscheinen, meist zu
+einer unpassenden Stunde, am frühen Morgen,
+und oft in so erregtem Zustand, daß es
+den Eindruck machte, er hätte, nachdem er
+am vorherigen Abend in einem Bierlokal der
+Taganka angefangen, die Nacht bis zum
+Morgen im Restaurant „Ssaratow“ und
+bei Jar durchgekneipt, sich morgens in einer
+Fünfkopeken-Badeanstalt gewaschen und
+wäre von da aus direkt zu Marakulin gekommen,
+– es fehlte nur der Birkenbesen. Es
+war in der Tat auch so. Schüchtern gab er
+das Buch zurück, brachte ebenso schüchtern
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+vor, daß er es nicht habe bewältigen können
+und ein einfacheres haben möchte. Marakulin
+gab ihm ein einfacheres Buch, und
+Plotnikow verschwand wieder für längere
+Zeit.
+</p>
+
+<p>
+In den letzten Schulklassen gab es damals
+eine zusammengelaufene Bande, die ungefähr
+das gleiche miteinander verband, was Marakulin
+späterhin mit Glotow verbunden
+hatte. Es waren einige Tollköpfe mit einem
+Gefolge von Nachahmern und sonst Burschen,
+die sich austoben wollten und aus denen
+später die tüchtigsten Geschäftsleute und die
+unbedeutendsten Kommis wurden. Mancher
+von ihnen ergab sich nachher dem Trunk
+und endete auf der Ssiworotka. Die Mitglieder
+dieser Bande waren Stammgäste in
+einem Bierlokal an der Taganka, auf den
+Moskauer Boulevards, an den Sonntagen
+im Sommer auch in Kuskowo, denn die
+Bewohner der Taganka und der Rogoschskaja
+ziehen im Sommer nach Kuskowo hinaus.
+Zu dieser Bande gehörte auch Marakulin.
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+Zuweilen schloß sich ihr auch Plotnikow
+an.
+</p>
+
+<p>
+Plotnikow, der bis zur Besinnungslosigkeit
+trank, ließ sich einmal in einem sehr leichten
+Anzug – noch leichter angezogene werden
+auf die Wache gebracht – auf dem Taganskij-Platz
+in einen Kampf mit Pferden
+ein. Wüst und Beschwichtigungen unzugänglich,
+betrunken bis zum äußersten, konnte
+er die tollsten Sachen anstellen, ganz wahllos,
+wie es ihm gerade einfiel, und ließ sich
+dabei von niemand und von nichts stören.
+Das war bekannt. Nur für Marakulin
+machte er eine Ausnahme. In den äußersten
+Fällen konnte einzig Marakulin den wilden,
+unantastbaren Plotnikow beschwichtigen
+und sogar zur Einsicht bringen.
+</p>
+
+<p>
+Pawel Plotnikow glich in der Unerschütterlichkeit
+und unbeschränkten Willkür, zum eignen
+Spaß die tollsten Streiche auszuführen,
+ganz seinem Vater Wassilij Pawlowitsch.
+Wassilij Pawlowitsch Plotnikow aber war
+in dieser Beziehung der erste auf der Taganka,
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+und seine „Tätigkeit“ wirkte ansteckend: er
+hatte nicht wenig Nachahmer. Nur daß
+Wassilij Pawlowitsch, der keine einzige, geschweige
+denn fünf Klassen absolviert hatte,
+im Gegensatz zu seinem Sohn niemals wüst
+wurde und auf den Plätzen weder mit Menschen
+noch mit Pferden sich in Kämpfe einließ.
+Er war still und sanft; Branntwein kam
+nie über seine Lippen. Noch in den letzten Jahren
+seines Lebens, als Wassilij Pawlowitsch
+schon alt war, seine Erfindungsgabe ihn verlassen
+hatte und er selbst sich wohl bewußt
+war, nicht mehr recht auf der Höhe zu sein,
+kam er auf den Gedanken, zum Zeitvertreib
+die Schutzleute zum Trunk zu verführen –
+er wollte die ganze Polizei buchstäblich kopfstehen
+machen. Und er führte diese Absicht
+mit der größten Meisterschaft aus, sein Ziel
+mit allen Mitteln verfolgend: konnte er es
+selbst nicht tun, so mußten es seine Leute auf
+Befehl ausführen. Als Lockmittel diente ein
+Wagen, ein ganz gewöhnlicher alter Wagen,
+an dem nichts Besonderes war, nicht einmal
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+ein Wappen; denn den Bewohnern der Taganka
+kommen Wappen ihrem Stande nach
+nicht zu. Am Morgen setzte sich also Wassilij
+Pawlowitsch ans Fenster und fing einen
+Schutzmann ab, der um diese Zeit zum Polizeirevier
+zu gehen pflegte. Der Schutzmann
+wurde dann ins Haus gerufen, irgendeiner
+Angelegenheit wegen, die es natürlich gar
+nicht gab, denn man hütete sich sonst mit der
+Polizei zu tun zu haben, aber eine Kleinigkeit,
+die zum Vorwand dienen konnte, gab
+es doch immer. Dabei schlug Wassilij Pawlowitsch
+dem Schutzmann vor, sich den Wagen
+anzusehen, und sein Vorschlag klang mehr
+wie eine Bitte. Der geschmeichelte Schutzmann
+folgte ihm in den Schuppen, wo schon
+alles für den Spaß notwendige vorbereitet
+war. Der Schutzmann wurde erst herausgelassen,
+wenn er sternhagelvoll nicht mehr
+auf den Beinen stehen konnte. Am nächsten
+Tag wiederholte sich die Geschichte und allmählich
+kam es so weit, daß der Schutzmann
+alle Würde beiseite ließ und am Morgen
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+von selbst in den Schuppen kam, um sich den
+Wagen anzusehen. Natürlich wurde er bald
+aus dem Dienst entlassen, an seine Stelle
+trat ein andrer, und mit diesem begann die
+Wagengeschichte von neuem. Der Ruhm
+Wassilij Pawlowitschs ließ den Fischhändler
+Barabochin nicht schlafen, und seinem Vorbilde
+nacheifernd verführte er die Popen
+zum Trunk. Als Lockmittel diente ihm ein
+ganz gewöhnlicher Fischbehälter; nicht etwa,
+daß sich darin irgendwelche ausgefallenen
+fabelhaften ausländischen Fische mit schwer
+auszusprechenden Namen befunden hätten,
+sondern es war ein Behälter mit ganz gewöhnlichen
+Sterleten ... Der Wagen sowohl
+wie der Fischbehälter arbeiteten ziemlich
+lange Zeit mit unerhörtem Erfolg, bis
+ihre Inhaber des Spaßes überdrüssig wurden.
+So war Wassilij Pawlowitsch beschaffen,
+und er ließ in seinem Sohne Pawel einen
+Erben zurück, der seiner würdig war. Zusammen
+mit dem Wagen hatte Plotnikow von
+seinem Vater auch sonst noch allerlei Einfälle
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+zum Zeitvertreib geerbt und hatte dieses
+Pfund nicht vergraben, sondern weiter damit
+gewuchert. Es mochte ihm was immer
+einfallen, so beruhigte er sich nicht, bis er es
+ausgeführt hatte; es fiel ihm aber manches ein,
+wovor einem Angst werden konnte. Aber nie
+hätte er sich etwas erlaubt, das geeignet gewesen
+wäre, Marakulin zu verletzen – Marakulin
+war eben eine Ausnahme. Und auch
+das wußten alle.
+</p>
+
+<p>
+Dreimal hatte Plotnikow Marakulin seine
+warme, freundschaftliche Teilnahme bewiesen:
+einmal, indem er ihn beschützte, das
+zweitemal, indem er ihn einrichtete, und das
+dritte, indem er ihn befreite. Das Beschützen
+bestand darin, daß Plotnikow Marakulin
+von Strakunow befreite, indem er Strakunow
+vor allem Volk und unter Begleitung
+guter Lehren tüchtig verprügelte. Auf der
+Taganka trieb sich damals nämlich ein gewisser
+Ssaschka Strakunow herum, ein
+Durchschlüpfer: der Teufel mochte wissen,
+wovon er lebte, er war eben nicht wählerisch.
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+Es gelang ihm, sich in die Bande, die sich
+in Kuskowo herumtrieb, einzuschleichen und
+Marakulin zu gefallen. Gott weiß wodurch,
+denn Marakulin selbst hätte nicht sagen können,
+was ihn an Strakunow so sehr anzog.
+Er stammte wohl von Zigeunern ab und
+schnitt beständig Grimassen, sonst war an
+ihm nichts Hervorragendes. Dieser Bursche
+plünderte Marakulin förmlich aus, und alles
+Geld, das dieser durch Stundengeben verdiente,
+machte er sich zur Beute. So ging es
+einen Monat lang. Als Plotnikow dies erfuhr,
+zögerte er nicht lange und beschützte
+Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+Ferner: gleich nach Absolvierung der Schule,
+fast unmittelbar nach dem Examen, kaum
+daß er eine Woche die Freiheit genossen
+hatte, trat Marakulin bereits in das Bureau
+an der Kusnetzkajabrücke ein – und das war
+Plotnikows Werk.
+</p>
+
+<p>
+Die Sommerabende wurden damals auf den
+Boulevards verbracht. Einmal lernte Marakulin
+bei der Donnerstagsmusik in Tschistije-Prudy
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+ein Mädchen namens Polja kennen.
+Polja, die erst in der Dämmerung auf dem
+Boulevard zu erscheinen pflegte, wohnte auf
+der Rogoschka, in der Bahnhofstraße. In
+Tschistije-Prudy war sie als Polja bekannt,
+aber Dunajew, der Marakulin mit ihr bekanntgemacht
+hatte, nannte sie Dunja, auch
+von Poljanskij wurde sie so genannt. Dunajew
+und Poljanskij waren seine Schulkollegen,
+und da sie beide ebenfalls auf der
+Taganka wohnten, gehörten sie mit zu der
+Bande. Bald wurde Polja auch für Marakulin
+zur Dunja. Diese nähere Bekanntschaft
+kam nicht zustande, weil Marakulin sie so
+sehr ersehnt hatte, nein, der Grund war ein
+ganz anderer – purer Blödsinn. Zu Ostern
+nämlich hatte Marakulin Poljanskij besucht
+und war in einem gewöhnlichen Gespräch
+über die Schulkameraden – es war kurz vor
+den Schlußprüfungen – mit Poljanskij in
+einen Streit über Dunajew geraten. „Du
+bist in Dunajew einfach verliebt,“ bemerkte
+Poljanskij eigentümlich lächelnd, „er sieht
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+wie ein junges Mädchen aus, deshalb nimmst
+du ihn so in Schutz.“ Marakulin wurde ganz
+rot und sehr verlegen, weil Poljanskij so lächelte
+und weil er selbst sich rot werden fühlte:
+sollte er in der Tat Dunajew deshalb verteidigt
+haben, weil dieser einem jungen Mädchen
+glich? – Damit fing es an. Dieser wie
+ein junges Mädchen aussehende Dunajew,
+der auf den Boulevards zu Hause war,
+bot Marakulin an, – sei es als Zeichen seines
+kameradschaftlichen Dankes, oder „überhaupt
+so“ – in solchen Angelegenheiten spielt
+dieses „überhaupt so“ eine wichtige Rolle –
+ihn mit Polja bekanntzumachen. Marakulin,
+der Poljanskijs Worte und vor allem die Art,
+wie er gelächelt hatte, nicht vergessen konnte,
+stürzte sich auf diese Bekanntschaft: jetzt würde
+Poljanskij nicht mehr so lächeln. Ein richtiger
+Knabenunsinn wurde so zum Anlaß!
+An einem der Donnerstagabende in Tschistije-Prudy
+kam die Bekanntschaft zustande. Marakulin
+gefiel dem Mädchen auf den ersten
+Blick. Gleich in den ersten Tagen, nachdem
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+sie ihn kennen gelernt hatte, sprach sie es vor
+Dunajew und Poljanskij ganz geradezu aus.
+Und als sie einmal nachts im Bahnhofgäßchen
+Marakulin aus ihrem Zimmer hinunterbegleitete,
+lief sie flink die Treppe voraus, um
+die Tür aufzuschließen, versperrte Marakulin
+den Weg, umarmte ihn fest – ihre Arme
+wurden dabei plötzlich ganz kindlich-zart –
+und steckte ihm ein Tuch, in dem die Anfangsbuchstaben
+seines Namens in Kreuzstich eingestickt
+waren, ein seidenes, duftendes Tüchlein,
+in die Tasche. Es duftete aber nicht nach
+dem Parfüm, das sie sonst brauchte, wenn
+sie in der Dämmerung auf den Boulevard
+ging, sondern nach einem anderen. Seit jener
+Nacht aber trieb es ihn immer mehr von ihr
+fort, und je mehr sich Dunja an ihn hing,
+desto mehr entfernte es ihn von ihr. Gegen
+Ende des Sommers wurde ihm ihre Betulichkeit
+und ihr Auflauern ganz unerträglich: er
+konnte sich nirgends mehr vor ihr verstecken.
+Sie hatte sich vom Boulevardleben zurückgezogen,
+putzte sich nur für ihn, parfümierte
+<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
+sich für ihn mit jenem anderen Parfüm. Dies
+war für sie ein Opfer: denn es ist für eine,
+die von der Straße lebt, ganz unmöglich,
+Geld für Putz auszugeben, wenn sie nichts
+verdient. Und sie hätte auch jetzt noch, so wie
+sie war, vorwärts kommen können, wenn sie
+gewollt hätte: es war etwas Ungewöhnliches
+an ihr. Ihre Boulevardfreundinnen
+behaupteten es, auch Dunajew und Poljanskij
+waren dieser Meinung. Auch Marakulin
+wußte es – ihre Arme waren damals in der
+Nacht plötzlich so kindlich-zart geworden –
+doch was sollte er tun? Ihr Tuch, das er nie
+aus der Tasche nahm und das er gewiß vergessen
+hätte, wenn er es nicht immerzu hätte
+fühlen müssen, dieses Tuch mit seinen in
+Kreuzstich gestickten Anfangsbuchstaben, das
+kleine seidne Tüchlein, zog ihn wie etwas
+Schweres hinunter, als wäre es aus Blei und
+nicht aus Seide, und es blieb ihm nichts
+übrig, als entweder es zu verbrennen oder in
+den Moskaufluß zu werfen. Er warf es in die
+Moskau. – Es war Ende August, an einem
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+der letzten Kuskowschen Feste: die Bewohner
+der Taganka und der Rogoschskaja waren im
+Begriff heimzukehren, – es war der letzte
+Sonntagabend, kalt und klar gestirnt. Das
+Theater war bereits aus und der Bahnhof
+voller Menschen. Auf dem Perron spazierte
+Dunja. Da trat Marakulin auf sie zu und
+überschüttete sie mit der ganzen in ihm aufgesammelten,
+lange zurückgehaltenen und jetzt
+plötzlich aufkochenden Wut, ohne eine Erwiderung
+abzuwarten, ohne ihr nur Zeit zum
+Erwidern zu lassen. Auf einmal brach er ab
+und ließ sie stehen. Er glaubte jetzt alles ausgerichtet
+zu haben: jetzt war er sie los, war
+er mit ihr fertig. Und mehr wollte er ja nicht!
+Zu Dunja gesellte sich darauf Poljanskij und
+ging mit ihr auf dem Perron auf und ab.
+Als sie an Marakulin vorbeikamen, flüsterte
+Poljanskij ihm etwas zu, aber so leise, daß er
+die Worte nicht verstehen konnte, nur das
+Lächeln bemerkte er, das gleiche Lächeln, wie
+damals zu Ostern. Als dann Marakulin die
+beiden von ferne – am anderen Ende des
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+Perrons – wieder erblickte, empfand er einen
+brennenden Vorwurf. Je näher sie kamen,
+desto brennender wurde der Vorwurf und die
+Scham in ihm. Und als sie wieder ganz nah
+an ihm vorüberging – er stand ganz allein
+und für sich – und er sie von Angesicht zu Angesicht
+sah – da konnte er dies brennende Gefühl
+des Vorwurfs und der Scham nicht
+mehr ertragen: er warf sich ihr zu Füßen und
+verneigte sich tief bis zur Erde. Da geschah
+lautlos offenbar etwas Unheimliches: denn
+die Menge stob plötzlich nach allen Richtungen
+auseinander. In dem Moment nämlich,
+da sich Marakulin verneigte, fuhr der
+Zug ein, der Bahnhof erdröhnte, der Wind
+pfiff, – und als er sich erhob, sah er, daß
+ein Polizist, vielleicht war es auch ein Polizeileutnant,
+Dunja beim Arm fortschleppte.
+Marakulin begann zu zittern, begriff nichts,
+und einzig das scharfe Pfeifen des Windes
+in den Ohren, versetzte er dem Polizeileutnant
+einen Schlag. Es war aber so, daß der Reviervorsteher
+Dunja gar nicht arretieren wollte,
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+vielmehr konnte er sie gerade noch zurückreißen,
+bevor der Zug sie erfaßte und zermalmt
+hätte. Dies erfuhr Marakulin aber, als es
+schon zu spät war. Am nächsten Abend erschien
+Plotnikow plötzlich im Polizeirevier
+auf der Taganka, wohin Marakulin aus
+Kuskowo gebracht worden war, und teilte
+ihm schüchtern mit: man würde ihn morgen
+früh freilassen. In der Tat wurde Marakulin
+am nächsten Morgen ohne weitere Folgen
+entlassen. So hatte ihn Plotnikow damals
+aus dem Gefängnis befreit. Das war auch
+Marakulins letztes Zusammentreffen mit ihm
+gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Alle diese Moskauer Erlebnisse stiegen bis
+ins kleinste in seiner Erinnerung auf und
+ließen Marakulin die ganze Nacht nicht
+schlafen. Erst ganz nah vor Moskau schlummerte
+er ein und hatte einen seltsamen
+Traum.
+</p>
+
+<p>
+Er träumte, Pawel Plotnikow trete zu ihm
+und spreche schüchtern:
+</p>
+
+<p>
+– Das beste, rationellste und psychologischste
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+für dein Leben wäre, dir den Kopf
+abzuschneiden.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin aber antwortete:
+</p>
+
+<p>
+– Wie soll ich dann ohne Kopf leben, es
+ist ja schrecklich ohne Kopf!
+</p>
+
+<p>
+– Was ist aber zu machen! – erwiderte
+Plotnikow und redete ihm zu: es würde gar
+nicht weh tun und ihm höchstens seltsam und
+sonderbar vorkommen. Und obwohl er ihm
+auf seine Art schüchtern zuredete, so ließ er
+doch keinen Widerspruch gelten.
+</p>
+
+<p>
+– Nun, so schneide ab! – willigte Marakulin
+ein.
+</p>
+
+<p>
+Da nahm Plotnikow ein Rasiermesser und
+machte sich ans Abschneiden. Es tat wirklich
+nicht weh, und bald hing der Kopf nur
+noch wie an einem Faden nach hinten.
+</p>
+
+<p>
+– Noch eine kleine entscheidende Bewegung
+und der Kopf ist abgeschnitten –
+sagte Plotnikow und arbeitete mit dem Rasiermesser.
+</p>
+
+<p>
+Und der Kopf fällt zu Boden.
+</p>
+
+<p>
+Aber auch ohne Kopf sieht Marakulin alles:
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+er sieht, wie der Kopf herunterfällt, auf dem
+Fußboden rollt und verschwindet, und gleichzeitig
+schießt aus dem Hals das Blut in einem
+großen Strahl in die Höhe bis zur Decke –
+dickes, kirschrotes Blut. Der ganze Boden
+ist überflutet, und auch er ist ganz mit Blut
+bedeckt. Dann wird die kirschrote Blutfontäne
+schwächer, immer schwächer, und bald
+spritzt das Blut nicht mehr, es versiegt, und
+nur ein kleines Bächlein rinnt über die Weste
+zu Boden. Marakulin tritt zum Spiegel:
+seltsam und sonderbar kommt er sich ohne
+Kopf vor, – es ragt nur noch der blutige
+Hals.
+</p>
+
+<p>
+– Wie soll ich nun ohne Kopf leben? –
+Er spuckte aus und erwachte.
+</p>
+
+<p>
+Der Traum war ahnungsvoll: seltsam und
+sonderbar war auch, was dann geschah.
+</p>
+
+<p>
+Bei Plotnikow wurde Marakulin schon erwartet.
+Der alte Arbeiter Fomitsch führte
+ihn gleich zu seinem Herrn ins Arbeitszimmer.
+Das Zimmer war in zwei Hälften geteilt.
+In der einen Abteilung befanden sich
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+Kopien nach Nesterowschen Heiligenbildern,
+in der anderen zwei Käfige mit Affen. Zwischen
+dem heiligen Rußland und den Affen
+saß Plotnikow vom Delirium des Säufers
+übermannt. Er war ganz mit Honig beschmiert
+und von der quälenden Trauer eines
+Einsiedlers umdüstert. Auf dem Tisch standen
+geleerte Flaschen herum, ebenso unter dem heiligen
+Rußland und vor dem Affenkäfig.
+</p>
+
+<p>
+Er habe keinen Kopf mehr, klagte Plotnikow,
+sein Mund sei ihm im Rücken, die Augen in
+den Schultern. In den Weihnachtstagen
+habe er sich auf den Honig gestürzt und ihn
+samt den Waben verzehrt. Er habe zuviel
+davon gegessen und infolgedessen hätten
+sich Bienen in ihm eingenistet, ein ganzer
+Bienenstock. Jetzt sei er ein Bienenstock und
+fürchte sich sehr, – Alle seien ja auf das Süße
+so erpicht – er fürchte, daß man alle seine
+Bienen umbringen, den Bienenstock zerstören
+und ihn auffressen würde! Im Sommer
+aber, sobald die erste Fliege auftauchen werde,
+wolle er sich mit der Ausbeutung der Fliege als
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+einer motorischen Kraft befassen. Er werde
+ganz Rußland in Abteilungen einteilen, mit je
+einem Fliegenstatthalter in jeder Provinz. Die
+Statthalter, mit der Vollmacht von Generalgouverneuren
+ausgerüstet, werden die Fliegenlese
+überwachen und sie in automatischer
+Packung in ganz besonders gepanzerten Automobilen
+von allen Ecken Rußlands gradewegs
+nach Moskau, nach der Taganka befördern.
+Die russische Fliege werde den
+Dampf und die Elektrizität besiegen, Rußland
+werde England und Amerika zu Staub
+zermalmen. Er habe keinen Kopf, sein Mund
+sei im Rücken, die Augen in den Schultern.
+Er sei ein Bienenstock. Die russische Sprache
+verstehe er nicht und könne auch nicht Russisch
+sprechen.
+</p>
+
+<p>
+– Ich brauche deinen Elephanten nicht! –
+schrie Plotnikow, indem er Marakulin mit
+seinen betrunkenen Augen von oben bis unten
+hochmütig ansah, und schimpfte in so
+echt russischen Wendungen, ließ solche Blasen
+steigen, daß ihm vor der Klangfülle und
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+Kernigkeit der Muttersprache die Augen aus
+den Höhlen traten.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland
+und den Affen und begriff nichts: weder
+das von dem sonderbaren russischen Fliegenmotor,
+noch vom Bienenstock und Elephanten,
+und es war ihm seltsam und sonderbar
+zumute. Sein Schweigen aber begann
+Plotnikow offenbar zu reizen. Er war nicht
+mehr in dem reuig-traurigen Zustand eines
+Einsiedlers, sondern er schnaubte.
+</p>
+
+<p>
+Die russische Sprache verstehe er nicht und
+Russisch könne er nicht sprechen. Mit Hilfe
+der arktischen Flotte werde Rußland, nachdem
+es Europa zermalmt, über Lappland
+zum Pol ziehen und nicht bloß den Pol erobern,
+wo die Fische mit angebratenen
+Schwänzen leben, sondern alles, was sich
+hinter dem Pol befindet, den unbekannten
+Wohnsitz von Gog und Magog – und dieses
+unbekannte Gog und Magog werde Landia
+genannt werden, das heißt: das Land.
+Von dort aus, von dieser hinterpolaren Landia
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+aus, werde Rußland, das heißt er, Pawel
+Plotnikow, die unentgeltliche, allrussische
+Fliegenkraft als Motor benutzend, die Erdkugel
+automatisch regieren und sie nach Gutdünken
+bald rechts, bald links rotieren lassen,
+sie bald aufhalten und bald wieder in Bewegung
+setzen.
+</p>
+
+<p>
+– Du Schuft! – rief Plotnikow plötzlich,
+– deine Elephanten sind zerdrückt, ich sage
+dir, ich kaufe keine zerdrückten Elephanten!
+</p>
+
+<p>
+Er ergriff eine Flasche vom Tisch, erhob sich,
+rot, zerzaust, mit Honig beschmiert, den
+Mund wie einen Rachen weit aufgesperrt
+und holte zielend mit der Flasche aus.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin stand zwischen dem heiligen Rußland
+und den Affen. Er begriff nichts, weder
+das von der arktischen Flotte, noch von
+Gog und Magog, noch von der Landia und
+vom Rotierenlassen der Erdkugel nach Belieben,
+– und es war ihm seltsam und sonderbar
+zumute.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich aber glitt die Flasche fast schüchtern
+<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
+zu Boden, und ein rasender tierischer Schrei,
+erschütternder als jeder Hilferuf, ertönte so
+gewaltig, daß die Wände fast barsten, das
+heilige Rußland zu wanken begann und die
+Affen in ihren Käfigen zurückscheuten. Es
+stöhnte in den Winkeln des Raumes und
+dröhnte durchs ganze Haus:
+</p>
+
+<p>
+Plotnikow, der sich in seiner bösen Trinkerperiode
+befand, ohne Kopf, mit dem Mund
+auf dem Rücken und den Augen in den Schultern,
+Plotnikow, der Bienenstock, der kein
+Wort Russisch verstand und nicht Russisch
+sprach – hatte Marakulin plötzlich erkannt.
+</p>
+
+<p>
+– Petruscha, Schuft aller Schufte! –
+schrie er. Er blieb stecken, drehte den Kopf
+wie einen Rüssel, stampfte vor Marakulin hin
+und her und spreizte die behaarten Hände
+wie Fangarme; dabei rüttelte und schüttelte
+es ihn, wie ein arktisches Panzerschiff:
+– Petruschka, du Schuft! –
+</p>
+
+<p>
+Er wankte zum Sofa, schlug mit seinem bepanzerten,
+Gog und Magog ähnlichen urtümlichen
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+Plotnikowschen Körper auf den
+Boden zwischen dem heiligen Rußland und
+den Affen hin und begann wie ein Bienenstock
+zu dröhnen.
+</p>
+
+<p>
+Zwei junge Männer, die an der Tür Wache
+hielten, faßten Marakulin unter die Arme
+und trugen ihn wie eine kostbare Truhe aus
+dem Arbeitszimmer in den Salon. Ihm entgegen
+kam auf einen Stock gestützt eine magere
+alte Frau, die Mutter Plotnikows, Eudokia
+Andrejewna in eigener Person.
+</p>
+
+<p>
+– Du hast ihn gesund gemacht! – Die Alte
+konnte vor Erregung kaum sprechen, und
+nachdem sie auf altrussische Art ein großes
+Kreuz geschlagen, ließ sie den Stock fallen
+und verneigte sich vor Marakulin tief bis zur
+Erde. Einige dunkelgekleidete alte Frauen
+stürzten aus den Ecken hinzu, um ihr zu helfen,
+aber sie wollte nicht aufstehen. Erst Marakulin
+gelang es, die Alte zu beruhigen.
+</p>
+
+<p>
+Achtundvierzig Stunden schlief Plotnikow,
+wie ein Bienenstock dröhnend. Es herrschte
+eine Stille, als wäre außer ihm, außer dem
+<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
+Bienenstock keine lebendige Seele im Hause.
+Diese ganzen zwei Tage ließ man Marakulin
+nicht aus dem Hause: er wurde gepflegt,
+gefüttert, aber seine Tür wurde verschlossen
+gehalten.
+</p>
+
+<p>
+Man unterhielt sich über den unseligen Pascha<a class="fnote" href="#footnote-9" id="fnote-9">[9]</a>,
+über sein Unglück: er habe sich mit
+Honig beschmiert und seitdem aufgehört, die
+Menschen zu erkennen, selbst seine Mutter
+hielt er für einen gehörnten Elephanten, für
+ein zerdrücktes Tier, und habe Fomitsch befohlen,
+sie zu erschießen. Er habe dann in
+seinem unglückseligen Delirium jammervoll
+nach Marakulin gerufen, so jammervoll,
+wie eine Katze, der man die Jungen entrissen.
+</p>
+
+<p>
+– Da erinnerte ich mich – erzählte Eudokia
+Andrejewna, – daß Pascha, als er anfing,
+sich ans Geschäft zu gewöhnen, oftmals
+ein Buch mitbrachte. Bei Petruscha,
+bei Peter Alexejewitsch war er, hieß es, und
+habe das Glück mitgebracht. Er glaubt an
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+dich von Kindheit an. Und so dachte ich: der
+einzige Retter vor seiner grausamen Krankheit
+und vor seinem Unglück kannst du nur
+ihm sein. Wir baten den Priester von Woskressenje<a class="fnote" href="#footnote-10" id="fnote-10">[10]</a>,
+den Vater Ssemjon, ihn mit
+Weihwasser zu besprengen, er ließ ihn aber
+nicht an sich heran und nannte ihn ein zerdrücktes
+Tier. Dann wollten wir ihn nach
+Chapilowka zum Bruder Iwanuschka bringen,
+er wollte aber nichts hören. Dem Arzt
+Nikolai Fjodrowitsch sei es gedankt. Er hat
+uns auf den Gedanken gebracht, dich kommen
+zu lassen. Du, Lieber, hast ihn geheilt! –
+und die Alte bekreuzigte sich auf altrussische
+Art mit einem großen Kreuz und verneigte
+sich tief.
+</p>
+
+<p>
+– Durch die Einwirkung des Unreinen,
+– wie eine grimmige Bestie! – flüsterten
+die dunklen Alten in den Ecken.
+</p>
+
+<p>
+Und Eudokia Andrejewna schlug Kreuze und
+verneigte sich tief.
+</p>
+
+<p>
+Am dritten Tag erwachte Plotnikow, fuhr,
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+als wäre nichts vorgefallen, in die Stadt und
+kehrte erst am Abend wohlbehalten wieder
+heim. Am Abend schleifte er Marakulin mit
+sich ins Wirtshaus zu Lawrow.
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen wieder wie einst im linken Saal in
+einer Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat.
+Plotnikow kramte Erinnerungen
+aus: Erinnerungen an die Schule, an die
+Lehrer, an Tschistije-Prudy und Kuskowo.
+Er erinnerte sich sogar an eine besondre Lawrowsche
+Suppe, die Marakulin damals so
+gern gegessen haben sollte. Der Musikautomat
+machte traurig: doch nicht daß man Lust bekam,
+das Vergangene zurückzurufen – die
+Vergangenheit lag ja hier vor einem wie auf
+der flachen Hand – sondern es war unverständlich,
+wozu es einmal gewesen war, es sei
+denn dazu, daß man sich einmal daran erinnerte.
+Und in die geheimsten Winkel seines
+Lebens hineinschauend, erkannte Marakulin,
+daß es sich eigentlich in nichts verändert hatte,
+daß er damals bei der besondren Lawrowschen
+Suppe dasselbe gedacht und gefühlt
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+hatte wie jetzt, nur unklar und nicht ausgesprochen,
+mit einem flüchtigen, zufälligen
+Aufflackern von Klarheit. Uebrigens, verändern
+sich denn die Menschen überhaupt? –
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen wie einst im linken Saal in einer
+Ecke, und wie einst spielte der Musikautomat.
+</p>
+
+<p>
+– Mit deinem Arkadij Pawlowitsch –
+sagte Plotnikow, – mit dem Reviervorsteher,
+– du hast ihn damals sehr zu Unrecht
+gekränkt, Petruscha – habe ich da ... –
+Plotnikow zeigte in die Richtung der Separés
+und schlug sich seufzend auf die Tasche,
+– Fünfhundert Rubel verlangte er
+für den Vergleich, und alles wegen deiner
+Fenja ...
+</p>
+
+<p>
+– Dunja – verbesserte Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+– Dunja, Fenja, einerlei, – komm mit zu
+Arkadij Pawlowitsch, Freund, er wird sich
+sehr freuen! Er hat, weißt du, für den Moskauer
+Aufstand ein Kreuz bekommen, wirklich,
+und ist auf die Twerskaja versetzt worden
+– er wird sich sehr freuen! Und weißt du
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+was noch, Petruscha – Plotnikow neigte
+sich zu ihm und sprach ganz leise – ich glaube
+an dich, wie an den lieben Gott, und wenn
+in den Geschäften etwas nicht glatt geht, so
+brauche ich nur an dich zu denken, deinen
+Namen laut auszusprechen, und sieh, alles
+geht nach Wunsch. Ich denke darum, wenn
+mein Ende einst naht und ich sterben muß,
+dann werde ich dich rufen, du wirst kommen
+und meinen Tod aufhalten. Ich werde wie
+eine grindige Katze miauen, du aber wirst
+mich wieder zum Menschen machen. So
+denke ich von dir, Petruscha!
+</p>
+
+<p>
+Sie saßen wie einst im linken Saal, und wie
+einst spielte der Musikautomat.
+</p>
+
+<p>
+Doch sonderbar: während Plotnikow sich an
+alles von früher her erinnerte, selbst an die besondre
+Lawrowsche Suppe, die Marakulin
+gern gegessen haben sollte, und während er
+seinen Glauben an ihn bekannte, war er gar
+nicht neugierig und fragte auch nicht mit
+einem Wort, wie es Marakulin jetzt gehe;
+und noch sonderbarer war dies, daß Plotnikow,
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+ohne die Augen von Marakulin abzuwenden,
+einen ganz anderen zu sehen schien,
+nicht Marakulin, sondern Gott weiß wen!
+Vielleicht sah er in der Tat in ihm jemand,
+den man nicht nach seinen Angelegenheiten
+ausfragen kann. Man fragt doch die Iwerskaja
+Mutter Gottes<a class="fnote" href="#footnote-11" id="fnote-11">[11]</a> nicht nach ihren Geschäften!
+– Und es war Marakulin sonderbar
+und seltsam zumute.
+</p>
+
+<p>
+Noch einen Tag blieb Marakulin bei Plotnikow.
+Plotnikow führte ihn nach der Iljinka
+in den Speicher, dann in das Twersche Polizeirevier
+zu Arkadij Pawlowitsch; er war zu
+Plotnikows großem Bedauern nicht anwesend.
+Abends brachte er Marakulin zur Bahn.
+Und beim Abschied wiederholte er, daß er an
+ihn wie an den lieben Gott glaube, und wenn
+er einst im Sterben ihn erblicken werde, so
+werde er sich vom Krankenlager erheben,
+wie eine grindige Katze miauen und sich wieder
+in einen Menschen verwandeln.
+</p>
+
+<p>
+Erst nachts unterwegs fragte sich Marakulin
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+plötzlich, ob er seinen Aufenthalt in Moskau
+nicht geträumt hätte.
+</p>
+
+<p>
+Das Alles war so sonderbar und seltsam: daß
+Plotnikow an ihn wie an den lieben Gott
+glaubte, daß er sich nach der Iljinka in den
+Speicher schleifen ließ, ja sogar zum Reviervorsteher
+Arkadij Pawlowitsch, – aber nach
+Kalitnikowo auf den Friedhof zu gehen, hatte
+er vergessen. Und er hätte doch unbedingt
+hingehen müssen, einen Augenblick am Grabe
+seiner Eltern verweilen, es nur ansehen, – nur
+ansehen und Abschied nehmen!
+</p>
+
+<p>
+Und ein Gefühl von Gram überflutete ihn.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-7">
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+Sechstes Kapitel
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">en</span> ganzen Tag von Morgen bis zum
+Abend lief Wera Nikolajewna herum,
+um zu massieren, die Abende verbrachte sie
+über ihren Lehrbüchern: sie bereitete sich zum
+Abiturientenexamen vor, weil sie um jeden
+Preis in das medizinische Institut eintreten
+wollte. Wera Nikolajewna wurde von Anna
+Stepanowna unterrichtet, deren Angelegenheiten
+im Lednjowschen Mustergymnasium
+übrigens nicht zum besten standen.
+</p>
+
+<p>
+Die Vorsteherin Lednjowa zahlte ihr vorläufig
+mit Aussicht auf die geheimnisvollen
+Equipierungsgelder den Gehalt aus eigener
+Tasche, und sie begleitete diesen üppigen Vorschuß
+jedesmal mit ihren beliebten Erörterungen
+über gute Taten, über den Verfall der
+Moral überhaupt und über ihre eigene Opferwilligkeit
+– man denke: in ihrem eignen
+Gymnasium gab sie den Unterricht umsonst!
+–
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+Nach Anna Stepanownas Erzählungen
+war in diesem Gymnasium die Hölle los.
+Es herrschte ein musterhafter Wirrwarr in
+dem musterhaften Gymnasium. Nicht weil
+da etwa lauter ungezogene Kinder beisammen
+gewesen wären, nicht an ihrer Ausgelassenheit
+lag es, sondern weil man die
+Schülerinnen als Einnahmequellen warm
+halten mußte, und diese Behandlung von den
+Kindern ganz richtig eingeschätzt wurde.
+Natürlich wurden nie Verweise erteilt, und
+die Noten mußten so ausfallen, daß die Eltern
+nicht auf den Gedanken kommen sollten,
+ihre Töchter in eine andre Schule zu geben.
+Die Lednjowa gab selbst Unterricht und liebte
+es auch, den Stunden andrer beizuwohnen
+und durch allerlei Fragen ihre unbezahlten
+Lehrer zu kontrollieren. Es wurde überhaupt
+nach keinem Programm unterrichtet, auch
+nicht nach den Lehrbüchern, die das Unterrichtsministerium
+begutachtet und bestimmt.
+So zum Beispiel waren in der großen französischen
+Revolution nicht etwa Robespierre
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+und Marat die Führer, wie man gewöhnlich
+lehrt – was bedeutet auch so ein Robespierre
+oder Marat! – der Hauptführer war
+Hugo Capet, der für sein Verbrechen gegen
+König Louis zugrunde ging.
+</p>
+
+<p>
+Der musterhafte Wirrwarr im musterhaften
+Gymnasium wurde durch eine musterhafte
+Enge und Kälte vervollständigt. Es herrschte
+darin eine echte Januarkälte. Die Oefen wurden
+niemals geheizt, und zwar nicht nur nicht
+in den Klassenzimmern – denn so verlangt
+es das letzte Wort der Hygiene –, sondern
+auch nicht im Lehrerzimmer. Es ist wahr,
+daß die Kinder nicht sehr darunter litten: sie
+tanzten, sprangen, tobten herum, und das
+Gymnasium war ein wahres Sodom an
+Lärm. Für die Lehrer war es weniger bequem,
+daran teilzunehmen: leise kann man nicht
+Lärm machen und laut schickt es sich nicht.
+Auf alle Vorstellungen hatte die Lednjowa
+nur eine Antwort:
+</p>
+
+<p>
+– Was fällt Ihnen ein? Sie sollten sich erst
+das Karrassewsche Gymnasium, oder das
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+Spaßesche ansehen, dort ist es wirklich
+kalt!
+</p>
+
+<p>
+Diese Antwort der Lednjowa versetzte Anna
+Stepanowna aus Petersburg in ihr Purchowez
+zurück und erinnerte sie an den Inspektor
+der Volksschulen, an den berühmten
+Obraßzow.
+</p>
+
+<p>
+Dieser berühmte Mann aber war nicht mehr
+und nicht minder als der leibliche Bruder der
+Vorsteherin Lednjowa.
+</p>
+
+<p>
+Rakow, der Historiker, sprach mit großem Respekt
+von ihm. Nach Rakow, wäre Obraßzows
+Name, hätte dieser in der „antiken Geschichte“
+gelebt, unbedingt unter den berühmten
+Aussprüchen im Tempel zu Delphi
+eingegraben worden, und sein Kopf hätte
+den Giebel des athenischen Parthenon geschmückt.
+Und Rakow, der Historiker, irrte
+sich nie.
+</p>
+
+<p>
+Als einmal ein Lehrer sich bei Obraßzow
+beklagte, daß <a id="corr-11"></a>es in der Schule naß und kalt
+sei, nur sechs Grad, da lautete Obraßzows,
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+einer Lednjowa würdige Antwort folgendermaßen:
+</p>
+
+<p>
+– Ich bitte Sie, sechs Grad, das ist ja doch
+ein wahrer Segen. Im Pokidoschenschen
+Gouvernement aber, da kam ich einmal, als
+ich noch Inspektor dort war, in eine Schule:
+die Kinder saßen in Schafpelzen, der Lehrer
+im Pelz und in Gummischuhen. Ich sitze ein
+Weilchen da, bin ganz durchfroren. Ich will
+eine Notiz über meinen Besuch machen, doch
+die Tinte ist eingefroren. Der Lehrer blies in
+das Tintenfaß, blies und wärmte es, es nützte
+aber nichts, und ich mußte ohne Notiz abreisen.
+Eine solche Kälte war da! Bei Ihnen
+aber ist ein wahrer Segen! – Und als ein
+andrer Lehrer sich einmal über die Enge in
+der Schule beklagte, da blieb ihm Obraßzow
+auch die Antwort nicht schuldig:
+</p>
+
+<p>
+– Ich bitte Sie – rief er, – Sie haben
+keine Ahnung von wirklicher Enge. Im Pokidoschenschen
+Gouvernement, da kam ich einmal,
+als ich dort noch Inspektor war, in eine
+Pfarrschule: es war auch zugleich das Armenhaus.
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+Im selben Zimmer die Betten der
+Armenhäuslerinnen, eine Gans schnattert in
+einem Korb auf den Eiern, ein Kalb blökt, und
+gleich daneben die Kinderchen auf fünf Bänken,
+– kein Platz, um auch nur einen Schritt
+zu machen, und die Luft so, daß mir der Atem
+verging. So eng ist es manchmal, hier aber ist
+ein wahrer Segen! – Dem Lehrer aber, der
+von einer Masse Frösche meldete, die sogar
+unter die Bettdecke krochen, gab Obraßzow
+einen wahrhaft delphischen Verweis, der es
+gebieterisch verlangt, Purchowez oder Pokidosch
+in Rakows Geschichte des Altertums
+aufzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+– Es kann hier von einer Masse gar nicht
+die Rede sein – rief Obraßzow – ein Dutzend
+höchstens hüpft da herum, gleich kommen
+Sie und nennen das eine Masse! Sie
+haben eben nie eine Masse gesehen! Im Pokidoschenschen
+Gouvernement, da kam ich einmal,
+als ich noch Inspektor dort war, in eine
+Schule, da wimmelte es an der Decke buchstäblich
+von Schwaben. Wenn man die
+<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
+Tür zuschlug, da regneten sie nur so herunter!
+Das nenne ich eine Masse. Als
+ich nach Hause kam und mich auszukleiden
+begann, da wimmelten die Schwaben
+nur so auf mir herum. Meine Frau bekam
+Angst und stieß mich sofort in den
+Frost hinaus, und ich mußte mich draußen
+ausziehen. Aber bei Ihnen hier ist ja ein
+wahrer Segen!
+</p>
+
+<p>
+Ja, Rakow der Historiker hatte recht, wie
+immer.
+</p>
+
+<p>
+Doch wenn man den Namen des berühmten
+Purchowezschen Inspektors unter den berühmten
+Aussprüchen im Tempel von Delphi
+hätte eingraben müssen, so müßte man
+die Vorsteherin Lednjowa, welche die große
+Kunst besaß, keinen Heller aus ihrer eigenen
+Tasche auszugeben und die nicht nur ihre
+ausgehungerten Lehrer, sondern sogar das
+Ministerium naszuführen verstand, – noch
+großartiger ehren!
+</p>
+
+<p>
+Der Winter ging zur Neige. Zugleich mit
+dem Schnee schmolz der große schwarze
+<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
+Berg auf dem belgischen Hof zusammen.
+Der Frühling kam, Ostern kam.
+</p>
+
+<p>
+Freudlos wurde das Osterfest empfangen, so
+wie das Weihnachtsfest freudlos vergangen
+war. Wassilij Alexandrowitsch der Clown
+hatte das Krankenhaus verlassen. Seine Ferse
+war geheilt, dennoch war seine Kunst unwiderruflich
+verloren. An der Ferse war etwas
+nicht richtig, er hatte gleichsam keine
+Ferse mehr: er konnte nur bis zur Ecke der
+Gorochowaja gehen, bis zum Zeitungsausträger
+und zurück, nicht weiter. Wera Nikolajewna
+riet der Arzt, statt das Abiturientenexamen
+zu machen, keine Zeit zu verlieren und
+nach Abas-Tuman<a class="fnote" href="#footnote-12" id="fnote-12">[12]</a> zu reisen: an ihrer Lunge
+war etwas sehr nicht in Ordnung – es war
+etwas wie ein Geräusch oder ein Zischen.
+Anna Stepanowna fiel bei der musterhaften
+Lednjowschen Ordnung einfach um vor
+Müdigkeit – und lächelte. Sie lächelte stets
+ihr krankes, erschreckendes Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+Zu Ostern ereignete sich auf dem Burkowschen
+<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
+Hof alles, was jahraus, jahrein an den
+hohen Feiertagen sich zu ereignen pflegte, seitdem
+das Haus an der Fontanka stand: Unfälle,
+Begebenheiten, Skandale, Schlägereien,
+Prügeleien, Hilferufe, Polizeiwache –
+doch alles in sehr gesteigertem Maße und
+viel lauter als gewöhnlich.
+</p>
+
+<p>
+Bei der Hebamme Lebedjowa ereignete sich
+wieder ein Diebstahl, diesmal aber wurde ihr
+kein Pelzmantel gestohlen, sondern zweiunddreißig
+Rubel, die sie sich für einen neuen Pelz
+zusammengespart hatte. Das Geld lag in
+einem Strumpf in einer geschlossenen Kommode;
+der Strumpf fand sich, doch das Geld
+war spurlos verschwunden, als wäre es im
+Ofen verbrannt worden. Man beschuldigte
+wieder den Portier Nikanor, er hätte nicht
+genügend aufgepaßt, doch wie sollte er aufpassen:
+den ganzen Tag ist er auf den Beinen
+und bei Nacht das Geklingel, und so
+das ganze Jahr hindurch! Natürlich war es
+ein schlauer Dieb, einer von den Hausgenossen
+– aber es war nichts zu machen. Der
+<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
+Bäcker Jarigin aus der Burkowschen Bäckerei
+legte sich, nachdem er den ganzen ersten
+Feiertag gesoffen hatte, abends auf ein Brett
+schlafen, das über dem Backtrog lag. In der
+Nacht hatte er sich wohl ungeschickt umgedreht
+und fiel in den Teig. Im Laufe der
+Nacht hat es ihn eingesaugt, und als man
+es am Morgen gewahr wurde, da war es
+zu spät, nur die Beine ragten noch aus dem
+Teig. Ein guter Bäcker war der Jarigin!
+Stanislaus der Kontorist und Kasimir der
+Monteur wollten sich amüsieren und machten
+zum Spaß Jerkin den Paßaufseher betrunken.
+Jerkin aber, der sein Neujahrsgelübde, nicht
+zu trinken, das er dem Bruder im Hafen abgelegt,
+bis nun streng befolgt hatte, wurde
+infolge der strengen Enthaltsamkeit nach
+einem Glas Pfefferbranntwein toll und begann
+zu raufen. Das geschah am hellichten
+Tage im Hof, während in den „Winkeln“ die
+Mädchen in den schwarzen Kopftüchern und
+die Nonnen, die Almosensammlerinnen in
+Schaftstiefeln, für Gorbatschow „Christ ist
+<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
+auferstanden“ sangen. Kasimir entkam, Stanislaus
+aber fiel herein: Jerkin nahm ihn
+auf die Arme, warf ihn zu Boden, preßte
+ihn, drückte ihn mit dem Knie und biß ihm
+die Nase ab. Der rote Hund des Gouverneurs,
+der gerade auf dem Hofe war, fraß
+Stanislaus’ Nase auf. Burkow selbst, der
+ehemalige Gouverneur, der Selbstvertilger,
+vergaß am ersten Ostertag, als er aus einer
+vornehmen Gesellschaft nach Hause fuhr, ein
+Osterei im Wagen, und als er am anderen
+Morgen den Verlust bemerkte, meldete er es der
+Polizei und forderte die Feststellung des Kutschers,
+der sich dies offenbar außergewöhnliche
+Ei angeeignet hatte; – was man in
+allen Petersburger Zeitungen am dritten Tag
+lesen konnte. Ebenfalls am dritten Tag verurteilten
+die Kinder im Hof, Kriegsrecht spielend,
+Wanjuschka, den Sohn des Portiers
+Nikanor zur Todesstrafe durch den Strang
+und vollzogen das Urteil: sie schleppten den
+Knaben in die Wagenremise und hingen ihn
+vermittelst einer Pferdeleine auf. Kaum, daß
+<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
+man ihn wieder ins Leben rufen konnte: es
+war ein schwächlicher Bub. Er war schon
+ganz blau und wäre beinahe erstickt. Schließlich
+beging das Ehepaar Oschurkow ganz
+unerwartet Selbstmord. Niemand im Hof
+konnte begreifen, weshalb sie es getan hatten.
+Sie hatten ja eine Wohnung von zehn Zimmern,
+alle zehn Zimmer voll von Nippes,
+und ein Aquarium mit Goldfischchen. „Es
+war eine feine Gesellschaft!“ wiederholten
+die Dienstmädchen einstimmig, jene Köchinnen
+und Hausmädchen, die wegen eben dieser
+Nippes nie lange bei Oschurkows aushalten
+konnten.
+</p>
+
+<p>
+Kurz nach Ostern, in der Thomaswoche, kam
+einmal Sergej Alexandrowitsch, der mit dem
+Theater einen Vertrag über eine Gastspielreise
+ins Ausland geschlossen hatte, zu Marakulin
+zum Tee. Es kamen auch Wera Nikolajewna
+und Anna Stepanowna, und auch Wassilij
+Alexandrowitsch der Clown, auf ein Stöckchen
+gestützt. Es war die Rede von der Damaskinschen
+Gastspielreise ins Ausland; Sergej
+<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
+Alexandrowitsch sah in ihr fast so etwas
+wie Rußlands Rettung. Er meinte: Rußland,
+das unter all den Rakows, Lestschows, Obraßzows,
+Lednjowas, Burkows, Gorbatschows
+und Kabakows erstickte, dieses Rußland
+werde sich zum erstenmal mit seiner Kunst
+der Stadt der großen Männer, dem Herzen
+Europas – Paris, zeigen und es besiegen.
+</p>
+
+<p>
+– In der Tat, – rief Sergej Alexandrowitsch,
+indem er sich wie auf dem Theater reckte,
+– laßt uns doch alle hinfahren! Alle müssen
+wir ins Ausland, wenn auch nur für einen
+Monat, für eine Woche, gleichviel, nur um
+einen Blick zu tun, und um uns von dieser
+ganzen Burkowerei zu erholen. Auch du,
+Wassilij, auch dich schleppen wir mit! Und
+auch Sie, Wera Nikolajewna, denken Sie
+nicht mehr an Ihr Abas-Tuman!
+</p>
+
+<p>
+– Wo nehmen wir das Geld zur Reise?
+fragte Anna Stepanowna und lächelte.
+</p>
+
+<p>
+– Wie? wieso Geld?
+</p>
+
+<p>
+– Wie kommen wir ins Ausland? – bemerkte
+Wera Nikolajewna.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
+– Du hast dich verstiegen, Bruder, mit deinem
+Paris, meine ich!
+</p>
+
+<p>
+– Ich werde das Geld schaffen – rief Marakulin,
+der sich plötzlich an Plotnikow erinnerte,
+– ich werde uns tausend Rubel verschaffen! –
+Marakulin sagte es so fest und überzeugt, daß
+es alle mit Glauben erfüllte, und man sprach
+nicht mehr vom Gelde.
+</p>
+
+<p>
+So wurde der Beschluß gefaßt: Alle reisen
+ins Ausland, nach der Stadt der großen
+Männer, ins Herz Europas – nach Paris.
+Sie bekamen ganz heiße Köpfe und schmiedeten
+allerlei Pläne. Die Einzelheiten dieser
+Pläne wurden mit solcher Begeisterung und
+mit solchem Glauben ausgemalt, als wäre
+in der Tat Rußlands Rettung, – ihre Rettung
+mit dieser Reise verbunden, und sie
+brauchten bloß die Grenze zu überschreiten,
+damit die Rettung sich vollziehe.
+</p>
+
+<p>
+Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren
+Platz auf Erden finden, ihre Seele wird
+sich aufrichten, und sie wird anders lächeln
+können. Dort, in Paris wird Wera Nikolajewna
+<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
+sich erholen und ihr Abiturientenexamen
+machen. Dort, in Paris wird Wassilij
+Alexandrowitsch wieder das Trapez besteigen
+und seine Künste zeigen können. Dort,
+in Paris wird, während Sergej Alexandrowitsch
+tanzend das Herz Europas besiegt,
+auch Marakulin seine verlorene Freude wiederfinden.
+</p>
+
+<p>
+Man müßte Werotschka finden – dachte
+Marakulin plötzlich, und er sagte: wir müssen
+auch Werotschka mitnehmen, damit sie
+dort in Paris zu sich kommt. Entweder sie
+wird dort eine große Schauspielerin und
+rächt sich so an Anissim Wakujew, oder noch
+besser: mag dort Ruhe über sie kommen und
+der Friede Gottes, daß die Rache in ihr still
+wird, und sie verzeiht ihm.
+</p>
+
+<p>
+Als er dies sagte, waren alle einverstanden,
+daß man auch Werotschka mitnehmen müsse.
+– Ich bin Werotschka begegnet – erzählte
+Wera Nikolajewna, – Sie waren damals in
+Moskau. Ich gehe einmal abends durch die
+Gorochowaja nach Hause, da kommt sie mir
+<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
+entgegengelaufen. Es war kalt, der Sturm
+pfiff, und sie lief in einem Sommerjäckchen
+herum, ein weißes Tuch um den Kopf. „Werotschka!“
+rufe ich. Sie blieb stehen, sah mich
+an, aber so sonderbar. Sie zitterte am ganzen
+Leibe. „Werotschka,“ sage ich, „kommen Sie
+Tee trinken, kommen Sie zu uns Tee trinken!“
+Sie aber richtet ihr Kopftuch, zittert am ganzen
+Leibe und schüttelt den Kopf. Es war
+auf der Ssemjonowschen Brücke, – eine
+furchtbare Kälte, der Sturm pfiff ...
+</p>
+
+<p>
+Noch am selben Abend wurde der Brief an
+Plotnikow geschrieben, und am nächsten
+Morgen eingeschrieben nach Moskau abgeschickt.
+Marakulin glaubte so fest, daß das
+Geld kommen würde, er glaubte so fest an
+die tausend Rubel von Plotnikow, wie Plotnikow
+selbst an Marakulin glaubte.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen begab sich Adonja Iwoilowna
+auf ihre Pilgerfahrt. Sie zog nach Jerusalem,
+wo der Weihrauch nie verduftet und wo die
+Kerzen brennen, die nie verlöschen. Dort wird
+sie im Jordanfluß baden und sich mit Wermut
+<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
+abtrocknen, damit all ihr Gram wie
+Tannenrinde von ihr abfalle, all ihr Kummer
+und ihre Tränen. Dann wird sie Paraschas
+Schiffe verstehen, und die Erde am Grabe
+ihres Mannes auf dem Smolenskischen
+Kirchhof wird nicht mehr abbröckeln.
+</p>
+
+<p>
+An den Abenden war Akumowna frei und
+legte Karten. Sie zeigten für jeden eine große
+Veränderung an und einen Weg, und für
+Marakulin außerdem noch Gras und Tannen,
+wie damals vor seiner Reise nach Moskau,
+nur daß die Tannen jetzt nicht mehr
+am Rande, sondern ganz nahe bei ihm lagen.
+Bei Wera Nikolajewna lagen sie am
+Rande.
+</p>
+
+<p>
+– Ein fröhlicher Weg! – flüsterte Akumowna.
+</p>
+
+<p>
+– Wir fahren nach Paris, Akumowna, ins
+Herz Europas!
+</p>
+
+<p>
+– Wollen wir nicht auch Akumowna mitnehmen?
+Ist Akumowna einverstanden, mit
+uns nach Paris zu gehen? – fragte Sergej
+Alexandrowitsch zwinkernd.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
+– Gewiß. Ich komme mit. Neun Jahre
+habe ich keine Luft geatmet. Da werde ich
+aufatmen.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna ließ sich nicht lange bitten, denn
+sie wäre bereit gewesen, Sergej Alexandrowitsch
+nicht nur nach Paris, sondern sogar
+bis ans Ende der Welt zu Fuß zu folgen.
+</p>
+
+<p>
+– Ausgezeichnet! Wir lassen also die Sklavin
+Kusjmowna hier, um die Wohnung zu
+hüten, und adieu Rußland! Man muß alles
+von sich abschütteln! – Und vor Ueberschwang
+der Gefühle und Hoffnungen auf
+den Erfolg Rußlands, oder auf seinen eigenen
+Sieg im Herzen Europas, begann Sergej
+Alexandrowitsch mit den Füßen zu flattern,
+wie ein Hahn mit den Flügeln.
+</p>
+
+<p>
+– Man soll dann schon auch Weruschka
+mitnehmen. Die wird hier zugrunde gehen,
+die Unverschämte! – sprach Akumowna, an
+ihre Wera denkend, die auf dem Burkowschen
+Hof längst zugrunde gegangen war.
+</p>
+
+<p>
+– Auch deine Weruschka nehmen wir mit,
+Alle werden wir im Auslande sein!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
+Akumowna legte liebevoll Karten für Sergej
+Alexandrowitsch.
+</p>
+
+<p>
+– Unser Priester in Turij-Rog – erinnerte
+sich Akumowna plötzlich, – er war ein guter
+Mann, ein großer Büßer, der Vater Arsenij!
+Vor seinem Tode erhob er sich und fragte:
+„Sind die Pferde bereit?“ – „Was für Pferde,
+ehrwürdiger Vater?“ – „Ich habe ja
+eben ein Paar getraut, man ladet mich zur
+Hochzeit ins Ausland!“ sagte er und starb.
+</p>
+
+<p>
+– Ein Pope stirbt wie ein Pope! – sagte
+Sergej Alexandrowitsch lächelnd und verfolgte
+weiter die Karten.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin aber fühlte plötzlich, wie es in
+seinem Innern zuckte, als würde etwas in
+ihm brechen, doch die Hoffnung rüttelte und
+richtete ihn wieder auf. Alle seine Hoffnungen
+waren jetzt auf Plotnikow gerichtet, und
+er konnte an nichts andres denken. Die Hoffnungen
+waren Mächte.
+</p>
+
+<p>
+Der Mai kam. Auf dem belgischen Hof erhoben
+sich die weißen Zelte, Ziegelsteine und
+Sand wurden angefahren, und die Instandsetzung
+<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
+des Hauses begann. Abends erklang
+schluchzend die Balalaika, – von dieser armseligen
+nichtrussischen Habe gab es viel auf
+dem Burkowschen Hof – und aus den Fenstern
+reckten sich die während des Winters
+zerzausten, ausgehungerten Köpfe, in der
+Hoffnung, sich in der Maisonne etwas zu
+erwärmen.
+</p>
+
+<p>
+Von Plotnikow aber kam noch immer keine
+Antwort. In Marakulins Herz schlich sich
+eine unheimliche Unruhe; er fürchtete, es
+sich selbst zu gestehen und sprach zu niemand
+davon. Die Antwort wird kommen, sie muß
+kommen! Sie müssen und sie werden im Ausland
+sein, in der Stadt der großen Männer,
+im Herzen Europas, in Paris!
+</p>
+
+<p>
+Dort, in Paris wird Anna Stepanowna ihren
+Platz auf Erden finden, ihre Seele wird
+sich aufrichten, und sie wird anders lächeln
+können; dort, in Paris wird Wera Nikolajewna
+sich erholen und ihr Abiturientenexamen
+machen; dort in Paris wird Wassilij Alexandrowitsch
+wieder das Trapez besteigen und
+<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
+seine Künste zeigen, und dort in Paris wird
+auch Marakulin, während Sergej Alexandrowitsch
+im Tanz das Herz Europas besiegen
+wird, seine verlorene Freude wiederfinden. Er
+wird Werotschka finden, und in Paris wird
+Werotschka eine große Schauspielerin werden,
+Gottes Friede wird über sie kommen.
+Dort, in Paris wird von Akumowna, die als
+rollender Stein bis nach Paris gelangt sein
+wird, der väterliche Fluch weichen, sie wird
+Luft atmen, die sie neun Jahre nicht geatmet
+hat, und sie wird es nicht mehr nötig haben,
+bis zum Kaiser vorzudringen, oder Aufguß
+von Pferdemist zu trinken. Dort, in Paris
+wird ihre Wera nicht zugrunde gehen, die
+auf dem Burkowschen Hof schon längst zugrunde
+gegangen war.
+</p>
+
+<p>
+Der Glaube besiegte jeden Zweifel, zerstreute
+durch seine Kraft und Festigkeit jedwede Unruhe.
+Marakulin glaubte an die Plotnikowschen
+Tausend, wie Plotnikow an ihn selbst.
+Eine Woche nur blieb noch bis zu Sergej
+Alexandrowitschs Abreise ins Ausland. Es
+<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
+wurde beschlossen, daß er mit seinem Theater
+vorausfahren und von dort, aus Paris,
+schreiben sollte. Inzwischen wird das Geld
+angekommen sein, und dann wird fast der
+ganze Burkowsche Hof von der Fontanka
+geradeaus nach Paris aufbrechen.
+</p>
+
+<p>
+Doch diese Woche, voll von Unruhe, Erwartung
+und Schwanken zwischen Glaube und
+Zweifel, zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit,
+bestimmte von selbst alles auf ihre
+Weise.
+</p>
+
+<p>
+Im Gymnasium bei Anna Stepanowna
+waren die Prüfungen vorüber, und offenbar
+waren jetzt endlich die geheimnisvollen Equipierungs-,
+Wohnungs- oder Reisegelder –
+jeder nannte sie anders – angekommen. Und
+da diese Gelder dort nur einmal ausgezahlt
+wurden, wurde Anna Stepanowna natürlich
+von der Lednjowa gekündigt. Für Anna
+Stepanowna, meinte die Vorsteherin, sei es
+zu schwer am Gymnasium, sie sei auch nicht
+ganz ohne Tadel, sie trage zum Beispiel eine
+halsfreie Bluse, das schicke sich nicht; auch
+<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
+lächle sie so eigentümlich, – dieses Lächeln
+mache Seine Ehrwürden, den Religionslehrer
+Aristowulow verwirrt, das schicke sich
+auch nicht; man könnte ja sagen: im Lednjowschen
+Mustergymnasium werde Seine Hochwürden
+durch eine Lehrerin verdorben, und
+das wäre schon ganz fatal! – Mit einem
+Wort: wenn der Mensch die Absicht hat, zu
+irgendeinem ihm notwendig erscheinenden
+Zwecke einen anderen zu beschmutzen, so gibt
+er sich Mühe, – dazu ist er ja ein Mensch.
+Selbstverständlich ertranken die halsfreie
+Bluse und der Priester Aristowulow, der von
+Anna Stepanowna verdorben wurde, in den
+beliebten Betrachtungen der Lednjowa über
+gute Taten überhaupt, über den Verfall der
+Moral und über die Sittenverderbnis, über
+die junge Sache, die man fördern und über die
+Opfer, die man ihr bringen müsse: sie, die
+Lednjowa selbst, gebe in ihrem eigenen Gymnasium
+Unterricht umsonst, außerdem ernähre
+sie zwanzig Lehrer! Ganz Petersburg kenne
+sie sehr gut, sie, die Vorsteherin Lednjowa,
+<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
+und die Generalin Cholmogorowa selbst sei
+ihre Freundin.
+</p>
+
+<p>
+So einfach war das Ende bei Anna Stepanowna,
+sehr einfach. Und sie ging lächelnd
+– mit jenem Lächeln, das in der Seele weh
+tat – ihren Weg, der sie von Leschtschow
+zu der Lednjowa führte, und von der Lednjowa
+zur Petrowa, zu irgendeiner Seelenschwester
+der Lednjowa führen wird, bis
+sie endlich aufhören wird zu lächeln.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kam die so lange, so ungeduldig, so
+viel erwartete Antwort von Plotnikow: Plotnikow
+ließ Marakulin durch die Bank fünfundzwanzig
+Rubel anweisen. So reiste denn
+Sergej Alexandrowitsch allein mit dem Theater
+ins Ausland, nach Paris, um mit der russischen
+Kunst das Herz Europas zu besiegen.
+Vor der Abreise mietete er eine Sommerwohnung
+in Finnland und überredete Wera Nikolajewna
+und Anna Stepanowna zusammen
+mit Wassilij Alexandrowitsch, der noch
+immer sorgsamer Pflege bedurfte, und damit
+er sich ohne Ferse und mit seinem Stöckchen
+<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
+nicht zu sehr langweilte, hinauszuziehen. Mit
+der Sklavin Kusjmowna an der Spitze zogen
+sie also statt nach Paris nach Tur-Kilja: Wera
+Nikolajewna, Anna Stepanowna und Wassilij
+Alexandrowitsch, der Clown. Nur Marakulin
+und Akumowna blieben zurück, um auf
+dem Burkowschen Hof zu übersommern.
+</p>
+
+<p>
+– Ich werde zum Kaiser gehen: die Hände
+so, wie im Sterben, und werde alles sagen.
+Ich werde zum Kaiser gehen, nackt, splitternackt;
+die Hände so, wie im Sterben, und
+werde ihm alles erzählen.
+</p>
+
+<p>
+Aber Marakulin erwiderte Akumowna nichts
+mehr, nicht einmal mit ihren eigenen Worten,
+die ihr Wahlspruch, ihr Sterbegebet – die
+Sühne und der Lohn für alle Taten waren:
+Man darf niemand beschuldigen! – Alles
+war in ihm still und taub geworden.
+</p>
+
+<p class="tb">
+* * *
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Der eine muß verraten, um durch den Verrat
+seine Seele aufzuschließen und in der Welt er
+selbst zu sein, der andere muß töten, um durch
+<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
+den Mord seine Seele zu finden und wenigstens
+als er selbst zu sterben. Marakulin aber
+mußte offenbar eine Quittung ausfertigen –
+aber nicht an die Person, der sie zukam –, um
+seine Seele zu erschließen und in der Welt
+nicht ein beliebiger Marakulin zu sein, sondern
+als dieser Peter Alexejewitsch Marakulin,
+der er war, sehen, hören und fühlen.
+</p>
+
+<p>
+Aber er ertrug es nicht, dieses Leben für nichts:
+nur sehen, nur hören, nur fühlen, und flehte
+um Ruhe. Da erfand er die Generalin – die
+unsterbliche, sünden- und schmerzenlose Laus,
+erdachte er ihr königliches Recht, in der Hoffnung,
+dadurch seine verlorene große Freude
+wiederzugewinnen. Schon begannen auf seinem
+glatten, geraden, hoffnungslosen Weg,
+wo der letzte Schatten, die letzte Spur der
+Hoffnung sich verlor, jene leisen und wie die
+Raupen haftenden, bösen, dunklen Mächte
+der herannahenden Verzweiflung zu arbeiten,
+das feste Mark und die Wurzel seines Lebens
+anzunagen und ihn vom Leben abzulösen.
+</p>
+
+<p>
+Vom Morgen bis zum Abend lief Marakulin
+<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
+in Petersburg herum, jagte von einem Ende
+zum anderen, von Schlagbaum zu Schlagbaum,
+von Viertel zu Viertel, – er lief herum
+wie eine Maus in der Falle. In seiner Tasche
+lag der neue Plotnikowsche Schein, die fünfundzwanzig
+Rubel, wie einst Dunjas neues seidenes
+Taschentuch mit den in Kreuzstich eingestickten
+Anfangsbuchstaben seines Namens,
+und er vergaß den Schein wie er einst Dunjas
+seidenes parfümiertes Tuch vergessen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Und dennoch, welch zähes Leben steckt doch
+im Menschen! Hin- und hergeworfen, geschlagen
+läuft er wie ein geschlachteter Hahn
+auch ohne Kopf herum, als wollte er auch
+ohne Kopf nach Körnern suchen, und bläht
+sich noch auf! Marakulin fand nämlich eine
+Beschäftigung, er fand etwas, um sich Luft
+zu machen; er machte eine Entdeckung, die in
+ihrer Tragweite dem betrunkenen Plotnikowschen
+Projekt, die Fliege als Motor auszubeuten,
+wahrlich in nichts nachstand:
+</p>
+
+<p>
+Man braucht bloß auf die Straße hinauszugehen,
+um ganz unabhängig vom eigenen
+<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
+Willen unter die Herrschaft eines besonderen
+Gesetzes der Straße zu geraten, und deine
+Art aufzutreten und deine Haltung hängt nicht
+mehr von dir ab, sondern von der Welle oder
+vom Strom, in den du geraten bist. Gerätst
+du in die eine Welle, dann ist dir so, als
+machten sich alle über dich lustig, als schnitten
+dir alle Grimassen, die Frauen kichern,
+die Männer schieben ihre Lippen vor und
+spitzen sie wie zum Pfeifen. Da kommt eine
+andre Welle herangerollt, und das Bild ist
+plötzlich verändert: die Männer haben bestialische,
+düstre, drohende Gesichter, man begegnet
+selten einer Frau, und wenn eine vorübergeht,
+so ist sie ganz allein; sie geht und
+lacht, sieht niemand, als wäre sie blind, und
+lacht zu sich selbst. Wieder eine neue breite
+Welle: – lauter Frauen – und es ist einem,
+als gäbe es keine böseren Augen, kein böseres
+Lächeln; sie betrachten einander, sie stechen
+mit den Augen und lächeln, als wollten sie
+mit ihrem Lächeln einander verbrühen, die
+bösen Weiber. Da rollt noch eine Welle heran:
+<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
+Menschen, gewöhnliche Menschen, – sie
+gehen dicht zusammen gedrängt und sind munter.
+Aber man sieht keine Kinder unter ihnen,
+nur ausgemergelte, verkrüppelte Zwerge mit
+schlaff wie Peitschen herabhängenden Armen
+und riesengroßen, nach vorn gebeugten Köpfen.
+Und so noch viele verschiedene Wellen.
+Es gibt auch zurückflutende Wellen. Gerätst
+du da hinein, so treibt es dich vom großen
+Strom ab, und alles jagt an einem vorbei:
+alte Männer, Kinder, alte Frauen, Straßenbahnwagen
+und Automobile.
+</p>
+
+<p>
+Als Marakulin diese Entdeckung gemacht
+hatte, stürzte er sich auf sie mit der gleichen
+Hartnäckigkeit, wie einst über den Bericht an
+den Direktor. Er war ja jetzt eigentlich wie
+tot, man hatte ihn ja bereits begraben. Er erinnerte
+sich an die Worte, die der Kassierer
+Alexander Iwanowitsch Glotow damals
+im Theater zu ihm gesprochen hatte: „Und
+wir haben dich schon längst begraben, weißt
+du, Petruscha!“ Ja, seit langem hatte man
+ihn begraben, und er konnte wie ein Toter,
+<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
+wie eine Leiche, wie einer aus dem Jenseits
+leicht, unauffällig und unparteiisch die Diesseitigen,
+die Lebenden beobachten. Und jetzt
+wollte er seine Entdeckung überprüfen.
+</p>
+
+<p>
+Doch wozu sie prüfen, was für einen Sinn
+das haben sollte, wer diese Entdeckung
+brauchte, welchem Toten, welcher Leiche,
+welchem Gespenst aus dem Jenseits, oder
+welchem Lebenden zum Spaß oder zu Nutzen
+sie dienen sollte? – das fragte er sich
+nicht, das ging ihn nichts an; – in ihm war
+alles stumm und taub geworden – es war
+eben zwecklos und nichts mehr als das Sichaufblähen
+des geköpften Hahns.
+</p>
+
+<p>
+Doch auch darin irrte er sich. Er hatte keine
+Zeit mehr zum Prüfen.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachts, als er auf dem Newsky ging,
+traf Marakulin Werotschka. Es war so: an
+dem Wartturm des Magistrates wurde Razzia
+gemacht, und wie immer in solchen Fällen,
+liefen auf dem Newsky etwa hundert sinnlos
+herausgeputzte Weiber herum, die sich
+auf die Passanten stürzten und sie anflehten,
+<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
+sie ein kleines Stückchen zu begleiten. Unter
+diesen Weibern fiel ihm eine auf, die ebenso
+besinnungslos wie die anderen, vom Bürgersteig
+auf den Damm und vom Damm auf den
+Bürgersteig sprang. Sie war ganz schwarz
+gekleidet. Als sie am Schutzmann glücklich
+vorüber war, lief sie zur Anitschkowschen
+Brücke. In dieser einsamen Dunklen – alles
+war schwarz an ihr: das Kleid, der Hut,
+die Handschuhe – erkannte er Werotschka.
+Da erinnerte er sich an den neuen Plotnikowschen
+Fünfundzwanzigrubelschein, befühlte
+ihn in der Tasche – er war jetzt kein
+Bettler mehr – und stürzte ihr nach. Aber an
+der Anitschkowschen Brücke mischte sich Werotschka
+unter die Menge und verschwand
+ihm aus den Augen.
+</p>
+
+<p>
+– Werotschka! – rief er, indem er sich
+bald nach der Fontanka und bald nach dem
+Newsky umsah, – Werotschka! – und etwas
+Schwarzes, Kaltes wand sich wie eine
+Schlange um sein Herz.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen war das erste, was in
+<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
+ihm als Gedanke und Entschluß erwachte,
+der feste Vorsatz, schon am frühen Abend auf
+den Newsky zu gehen und Werotschka aufzulauern.
+Den ganzen Tag blieb er zu Hause.
+Es war Donnerstag vor Pfingsten, und Akumowna
+hatte heute vor, besonders ausgiebig
+Karten zu legen: nach ihr war das ein günstiger
+Tag zum Wahrsagen, auch Träume
+in dieser Nacht geträumt, sollten die Wahrheit
+künden.
+</p>
+
+<p>
+Auf den Burkowschen Hof kamen wandernde
+Musikanten: eine Harmonika und ein Tamburin.
+</p>
+
+<p>
+Die Harmonika spielte ein Handwerker, wohl
+irgendein Schlosser oder Wasserleitungsarbeiter,
+ein großgewachsener dunkler Mann,
+das Tamburin schlug ein kleines Mädchen
+in einer Matrosenbluse und Matrosenmütze;
+sie war etwa zwölf Jahre alt, man konnte es
+genau nicht feststellen. Das kleine Mädchen
+hatte nur ein Bein. Sie stützte sich auf einen
+Stock und hielt das Tamburin auf dem gebogenen
+Knie.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
+Das kleine Mädchen sang zur Harmonika.
+</p>
+
+<p>
+Sie sang ein Lied, wie es in Fabriken gesungen
+wird, mit fremden Versen durcheinandergemengt,
+wie: „Ich werde auf den Grund
+des Meeres tauchen, ich werde fliehen zu den
+Wolken hinan,“ sie sang aus Zigeunerliedern
+von Troikas und von feurigen Augen und
+gefühlvollen Tränlein. Plötzlich brach auch
+eine uralte Weise durch. Sie sprach rein und
+deutlich aus, so daß man jedes Wort verstehen
+konnte. Aber nicht am Wort lag es.
+Mit einem vollen tiefen Alt sang das kleine
+Mädchen und schlug das Tamburin dazu.
+Von der Weite der Steppe und der Unermeßlichkeit
+des Meeres war das Lied getränkt.
+Und das Tamburin schlug, wie das Herz
+schlägt.
+</p>
+
+<p>
+Die Musikanten wurden von den Kindern
+umringt; sie ließen ihre wilden Spiele und ihre
+wilden Arbeiten, sie standen still herum und
+wandten kein Auge ab von dem einbeinigen
+kleinen Mädchen, wie einst von der Katze
+Murka, die sich vor Schmerz auf den Steinen
+<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
+gewälzt hatte. Und das Mädchen sang.
+Der Perser, der Masseur aus der Badeanstalt
+– er hielt sich stets in der Nähe der Kinder
+auf – der schwarze Perser hockte sich ebenfalls
+hin und rollte seine Augäpfel. Und das
+Mädchen sang. Mit einem vollen tiefen Alt
+sang das kleine Mädchen und schlug das
+Tamburin im Takt zu. Von der Weite der
+Steppe und der Unermeßlichkeit des Meeres
+war das Lied getränkt. Und das Tamburin
+schlug, wie das Herz schlägt.
+</p>
+
+<p>
+Die Kinder rückten immer näher zu dem einbeinigen
+Mädchen, als wollten sie es nicht
+von sich lassen. Nun verdeckten sie es ganz,
+so daß man es nicht mehr sehen konnte,
+und es schien, es singe die Erde und die
+Steppe, das Meer – die Weite und Unermeßlichkeit,
+das Herz der Erde. Und man
+fürchtete, daß das Lied bald zu Ende sein
+und das Mädchen zu singen aufhören und
+fortgehen würde. Man wollte nicht, daß sie
+fortgehe.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Gesang war zu Ende. Es spielte
+<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
+nur noch die Harmonika allein. Das kleine
+Mädchen humpelte, auf den Stock gestützt,
+über den Kies und schien sich mit dem hingehaltenen
+Tamburin im Hof zu drehen und
+sah ohne Lächeln mit ihrem offenen, reinen
+Gesicht nach oben zu den Fenstern hinauf,
+wie die Katze Murka zu den Fenstern hinaufgesehen
+hatte, als sie sich vor Schmerz
+auf den Steinen wälzte.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna begann so seltsam kindlich und
+bitter zu weinen, sicher weil sie an ihren
+Fluch: „Wie ein rollender Stein um die
+weite Welt“ dachte.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin stürzte auf die Straße und holte
+die Musikanten, die schon vor dem Tor waren,
+ein.
+</p>
+
+<p>
+– Wie heißt du, kleines Mädchen? – fragte
+er, ihre Hand berührend.
+</p>
+
+<p>
+– Marja – antwortete das Mädchen, indem
+sie, ohne zu lächeln, ihm ihr offenes, reines
+Gesicht zuwandte.
+</p>
+
+<p>
+Auch der Harmonikaspieler blieb stehen, zog
+<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
+seine Mütze. Es war wohl der Vater. Er war
+von dunkler Farbe und rauh.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin nahm Plotnikows neuen zerknüllten
+Schein, steckte ihn dem kleinen Mädchen
+in die Hand und ging fort, ohne sich umzusehen.
+Und als wollte es ihn einholen, so
+strömte das breite Lied. Von der Weite der
+Steppe und von der Unermeßlichkeit des
+Meeres war das Lied getränkt. Und das
+Tamburin schlug, wie das Herz schlägt.
+</p>
+
+<p>
+Er ging seinen glatten, geraden Weg nach
+dem Newsky. Schon sank die Nacht herab.
+Dort auf dem Newsky wollte er auf Werotschka
+warten. Die ganze Nacht wird er
+auf sie lauern. Und er wird sich nicht irren.
+Es war ja eine weiße Nacht – die weiße
+Nacht trügt nicht.
+</p>
+
+<p>
+Die weiße Nacht trügt nicht: ein Mädchen
+ganz in Schwarz stieß ihn an und lief, das
+Kleid raffend, in der Richtung der Anitschkowbrücke.
+Alles an ihr war dunkel, das
+Kleid, der Hut, die Handschuhe – er erkannte
+Werotschka und stürzte ihr nach.
+<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
+Aber an der Anitschkowbrücke mischte sich
+Werotschka unter andere Frauen – sie war
+nicht allein in Schwarz.
+</p>
+
+<p>
+– Werotschka, Werotschka! – rief er, jeder
+Dunklen in die Augen schauend. Es waren
+aber ihrer nicht zwei, nicht drei, es waren
+ihrer eine ganze Menge. Und alle wichen ihm
+aus, sammelten sich und schlichen wieder an
+ihn heran, leise und unmerklich, dunkel und
+still. Und etwas Dunkles und Kaltes umwand
+wie eine Schlange sein Herz.
+</p>
+
+<p>
+Und nachts, in der Donnerstagnacht vor
+Pfingsten, träumte Marakulin, als säße er am
+Tisch beim Samowar in einem großen vollgestellten
+Zimmer, und alles war hingeworfen
+und zerstreut, wie nach einer Vorbereitung
+zur Reise, und lauter unbekannte Menschen
+waren im Zimmer, alle so müde und niedergeschlagen.
+Und neben ihm saß – er wurde
+es mit Ekel gewahr – eine stülpnasige Frau
+mit großen Zähnen und nackt, und mit ihr noch
+jemand in dunklen Kleidern. Sie beugten sich
+über dem Gerümpel und ordneten die Lumpen.
+<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
+Verdrossen nahm er ein Glas und zielte
+nach dem leeren, nackten Schädel.
+</p>
+
+<p>
+Sie aber, die stülpnasige Nackte mit den großen
+Zähnen, erhob sich und wandte sich zur
+Tür.
+</p>
+
+<p>
+– Am Sabbat – sie klapperte mit den Zähnen
+und lachte – vergiß nicht, Akumowna
+ein Pfund zu geben – sie klapperte mit den
+Zähnen und lachte, – und die Mutter wird
+in Weiß sein – sie lachte und zeigte ihre großen
+Zähne.
+</p>
+
+<p>
+– Was für ein Pfund? Graupen etwa? –
+begann er erbittert zu streiten, als stritte er um
+sein letztes Recht, sich keinem Termin, keinem
+Sabbat zu fügen – ach was, red’ keine
+Dummheiten! oder ein Pfund Sterling, ja?
+</p>
+
+<p>
+– Am Sabbat – lachte die stülpnasige
+Nackte mit den großen Zähnen, und schon
+klapperte sie, ohne sich umzusehen, die Steintreppe
+hinunter auf den Hof.
+</p>
+
+<p>
+Im Hof aber – es war ja Burkows Hof –
+strömten alle Einwohner aus allen Wohnungen,
+<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
+aus dem Seitenflügel und aus den
+Gorbatschowschen Winkeln zusammen: alle
+sieben Hausmeister – der erste Hausmeister
+Michail Pawlowitsch und Antonina Ignatjewna,
+seine Gemahlin, der Paßaufseher
+Jerkin, Stanislaus der Kontorist mit der
+abgebissenen Nase, und Kasimir der Monteur,
+der Portier Nikanor und Wanjuschka,
+Nikanors Bub, den die kleinen Kinder zum
+Tode durch den Strang verurteilt hatten,
+und die kleinen Kinder, die ihn verurteilt
+hatten, und der Perser, der Masseur aus der
+Badeanstalt, und das kleine Mädchen, das
+einst Murka Milch gebracht hatte, und die
+Schuster, Bäcker, Bademeister, Friseure,
+Schneiderinnen, Weißnäherinnen, eine
+Schwester aus dem Obuchowschen Krankenhaus,
+Kondukteure, Maschinisten, Kürschner,
+Schirmmacher, Bürstenmacher, Wasserleitungsschlosser,
+Setzer und allerlei Mechaniker
+und elektrische Arbeiter mir ihren Familien,
+allerlei „Fräulein“ von der Gorochowaja
+und vom Sagorodny-Prospekt, Nähmädchen,
+<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
+Mädchen aus der Teestube, und
+elegante junge Leute aus den Badeanstalten,
+die die Petersburger Damen auf Wunsch
+bedienen, und die Alte, die an der Badeanstalt
+Sonnenblumensamen und allerlei Kram feilbietet,
+stellungslose Köchinnen, Maler, Tischler,
+fliegende Händler – mit einem Wort:
+der ganze Burkowsche Hof – ganz Petersburg.
+</p>
+
+<p>
+Und alle sehen nach oben zum Fenster hinauf,
+wie Murka hinaufgesehen hatte, als sie vor
+Schmerz sich auf den Steinen wälzte, wie
+die wandernde Sängerin hinaufgesehen, als
+sie sich im Hof auf ihrem einen Bein herumdrehte,
+mit dem Tamburin in der Hand.
+</p>
+
+<p>
+– Was hat sie gesagt? – fragt jemand Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+Und Marakulin steht am Fenster, wie der
+Starez Kabakow, der durch Gebete die
+Stimme des Himmels befragt, – so steht er
+vor dem Volk.
+</p>
+
+<p>
+– Einer von uns wird sterben! – sagt Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
+Und zur Antwort flüstert der ganze Burkowsche
+Hof in Todesbangen:
+</p>
+
+<p>
+– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s, Herr?
+</p>
+
+<p>
+Und hoch oben, viel höher als die vier belgischen
+Ziegelschlote mit den Blitzableitern,
+schweben wie grüne Vögel grüne Aeroplane
+und verdecken mit ihren riesengroßen grünen
+Flügeln den Himmel.
+</p>
+
+<p>
+– Bin ich’s, Herr? – Bin ich’s Herr? – flüstert
+der Burkowsche Hof in Todesbangen.
+</p>
+
+<p>
+Und schon geht Marakulin nach Hause, nach
+der Fontanka, und seltsam! er hört, wie man
+in der Auferstehungskirche auf der Taganka<a class="fnote" href="#footnote-13" id="fnote-13">[13]</a>
+zur Abendmesse läutet. Er geht nicht den herrschaftlichen
+Eingang hinauf, sondern durch
+die Küche. Er macht die Tür auf, und in der
+Küche sitzt am Herd eine Frau, Akumowna
+ähnlich, und doch nicht Akumowna, ganz in
+Weiß. Er erinnert sich an die Worte der
+Stülpnasigen, Nackten, mit den großen Zähnen:
+„Die Mutter wird ganz in Weiß sein“,
+und stürzt ins Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
+Auch dieses Zimmer ist vollgestellt, und Sachen
+sind da verstreut und hingeworfen, wie
+nach einer Vorbereitung zur Reise, nur sind
+die Unbekannten nicht mehr da, keine Seele ist
+im Zimmer, nur seine Mutter sitzt, seine Mutter
+allein, mit dem Kreuz auf der Stirn.
+</p>
+
+<p>
+– Sie ist schon gekommen, sie sitzt hier –
+sagt die Mutter. Sie spricht von jener, die in
+der Küche vor dem Herd ganz in Weiß sitzt,
+und beginnt zu weinen.
+</p>
+
+<p>
+Voll Verzweiflung und Todesbangen erwachte
+Marakulin. Es war Freitag. Und
+von dem düsteren Gedanken getroffen, daß
+seine Frist der Samstag sei, daß nur ein Tag
+ihm geblieben sei, wurde er eisstarr. Er wollte
+es nicht glauben und glaubte es doch, und
+weil er glaubte, verurteilte er sich selbst zum
+Tode.
+</p>
+
+<p>
+Der Mensch wird geboren und ist bereits
+verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt,
+und dennoch lebt man, verurteilt und das Todesurteil
+vergessend, weil man die Stunde
+nicht kennt. Aber wenn einem der Tag gesagt
+<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
+wird, wenn die Zeit abgemessen, die Frist bestimmt
+und der Sabbat verkündigt ist – das
+geht über die Kraft, die Gott dem Menschen
+verliehen, dem Menschen, den er mit dem Leben
+beschenkt, zum Tode verurteilt und dem
+er die Todesstunde verheimlicht hat.
+</p>
+
+<p>
+Als Marakulin an die Wahrheit seines Traumes
+glauben mußte, da fühlte er, daß er es
+nicht aushalten würde, den Sabbat abzuwarten,
+und seit dem Morgen in Verzweiflung,
+in Todesbangen durch die Straßen
+schweifend, harrte er der Nacht. Er wollte
+nur eins noch: Werotschka sehen, ihr alles
+erzählen und von ihr Abschied nehmen.
+</p>
+
+<p>
+Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen
+Weg, wo der letzte Schatten und die
+letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten
+jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen,
+dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung
+die letzten Fasern seiner einst so
+festen Lebenswurzel.
+</p>
+
+<p>
+Es ward ihm schwer, sich vom Leben loszureißen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
+Vielleicht aber war der Traum nur ein Traum,
+und in Wirklichkeit würde etwas anderes
+kommen? Warum mußte er dem Traum glauben?
+War das nicht töricht? Wer weiß, wohin
+das führt! Es pflegt ja auch sonst so zu
+sein! Vor dem Tode träumt man nicht nur
+etwas Belangloses: daß man einen Stiefel
+verliert, oder sonst einen Gegenstand, oder
+daß man im Begriff ist, ins Ausland zu
+reisen ...
+</p>
+
+<p>
+Da erinnerte sich Marakulin an die geplante
+Auslandsreise, an seinen paradiesischen
+Traum von Paris, und fuhr auf.
+</p>
+
+<p>
+Er stand an einem Bretterzaun, der ganz mit
+Anzeigen bedeckt war, und konnte nicht erkennen,
+in welcher Straße er sich befand.
+Ueber den Bäumen ragte die Turmspitze des
+Ingenieurschlosses, als er aber längs des
+Zaunes und, wie ihm schien, geradeaus in der
+Richtung der Turmspitze sich in Bewegung
+setzte, verschwand sie plötzlich. Er wagte
+nicht weiterzugeben, als harrte eben dort
+seiner sein Sabbat, seine letzte Frist, seine
+<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
+Stunde. Er kehrte um und hatte die Spitze
+wieder vor sich. Er schritt also tapfer längs
+des Zaunes in die entgegengesetzte Richtung,
+die Spitze blieb lange vor seinen Augen, verschwand
+aber dann ebenso wie das erstemal
+ganz plötzlich. Und er wagte nicht weiterzugehen,
+als harrte eben dort seiner sein Sabbat,
+seine letzte Frist, seine Stunde. Und so ging
+er am Zaun entlang, hin und zurück, die Spitze
+des Ingenieurschlosses immer im Auge, bis
+zu einer Grenze, die er sich selbst bestimmte,
+voll Verzweiflung und Todesbangen.
+</p>
+
+<p>
+Es war das Ungemach, das ihn so führte,
+das Unglück jagte ihn von Straße zu Straße,
+von Gäßchen zu Gäßchen, blendete ihm die
+Augen und verwirrte ihn; es war sein Schicksal,
+dem man sich nicht widersetzen und nicht
+entrinnen kann.
+</p>
+
+<p>
+Das tödliche Bangen und die Last der Verzweiflung
+erschöpften ihn endlich. Die letzte
+Frist, die Stunde waren vergessen, sein Kopf
+sank herab, und die noch gehorchenden Beine
+brachten ihn auf den Weg. Er ging durch
+<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
+die Ingeniernaja und wollte gerade die
+Straße zum Michailowschen Palast überschreiten.
+</p>
+
+<p>
+Da klammerte sich ein altes, zerlumptes, zusammengeschrumpftes,
+triefäugiges Weiblein
+fest an seine Hand, damit er ihm über die
+Straße helfe. Und obwohl es so klein war –
+nichts als ein Häuflein Knochen – so erschien
+es ihm, wie es mit seinen knöchernen Fingern
+so fest an ihm hing, als hätte es überhaupt
+keine Beine, so schwer, daß er mit Mühe
+die Schienen erreichte. Und während er die
+Schienen überschritt, wurde die Alte noch
+schwerer, und es war ein Wunder, daß er
+nicht unter den Wagen geriet: der sausende,
+ununterbrochen klingelnde Wagen flog so
+hart an ihm vorbei, daß ihm ganz heiß
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin ließ die Alte stehen und begann
+zu laufen. Abwechselnd flammendheiß und
+eiskalt lief er in der Richtung des Narva-Tores.
+Er floh vor der knöchernen Alten, er
+floh vor seiner letzten Frist, und gerade auf das
+<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
+Narva-Tor zu, unter den Bogen: dort war
+keine knöcherne Alte und wird nie eine sein,
+dort wird er seine letzte Frist, seine Stunde,
+seinen Sabbat vergessen.
+</p>
+
+<p>
+Aber als er die Gorochowaja erreichte, ging
+er nicht die Ssadowaja entlang, sondern bog
+in die Fontanka ein.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Fontanka, im Seitengäßchen, in der
+Nähe des Burkowschen Hauses, wurde ein
+junges Mädchen – offenbar eine Revolutionärin
+– von der Polizei verfolgt. Die
+Schutzleute hatten das Gäßchen umzingelt
+und man konnte nicht passieren. Marakulin
+blieb stehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Jagd dauerte ziemlich lange, endlich
+wurde das Mädchen von einigen Männern
+in Zivil, Spitzeln offenbar, dicht umringt und
+zu einer Droschke geführt. Die Revolutionärin
+erinnerte ihn durch etwas an die Wandersängerin
+von gestern, an das kleine Mädchen.
+Vielleicht erinnerte ihn an Maria ihr offenes,
+reines Gesicht, das aber frisch und rosig war.
+Sie war schlank. Die Haarnadeln waren ihr
+<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
+herausgefallen, der Strohhut saß schief und
+das volle blonde Haar war aufgelöst. Der
+Reviervorsteher setzte sich zu ihr in den Wagen
+und man führte sie ab.
+</p>
+
+<p>
+„Maria Alexandrowna,“ – dachte Marakulin,
+„so ist Maria Alexandrowna, die sich
+selbst zum Opfer auserkor, und bereit ist, noch
+einmal für die Menschheit zu sterben!“ Er
+ging weiter, am Burkowschen Hof vorbei,
+die Fontanka entlang.
+</p>
+
+<p>
+An der Ismailowschen Brücke, drei Schritte
+von der Bierwirtschaft, holte er eine Dame
+ein. Sie war nicht mehr jung und schon ganz
+grau, aber kräftig und gesund, ging sie im
+gleichmäßigen Schritt, als spazierte sie nur
+der Motion wegen. Als aber Marakulin sie
+überholen wollte, beugte sie sich etwas vor
+und begann ganz unsinnig zu laufen. In diesem
+Augenblick knallte aus dem Wirtshaus
+ein Schuß und ein zweiter, Hilferufe ertönten
+– und auf dem Bürgersteig lag mit durchschossenem
+Rücken, das Gesicht an die Steine
+gepreßt, die Dame – die gesunde, kräftige,
+<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
+alte Frau, und neben ihr, noch rauchend, der
+versengte Klappstuhl.
+</p>
+
+<p>
+„Da hast du die Unsterbliche!“ dachte Marakulin,
+als er in der Ermordeten seine unglückselige
+Generalin erkannte, dieses auserwählte
+Gefäß, die Laus, die er mit dem königlichen
+Recht beschenkt hatte, in jener grausamen
+Burkowschen Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Nun war ihr das königliche Recht vom blinden
+Zufall geraubt, und auch der Klappstuhl
+hatte ihr nicht geholfen.
+</p>
+
+<p>
+Von der Fontanka und den Seitengäßchen
+strömte eine Menschenmenge herbei. Alle
+starrten mit Neugierde, mit Schrecken und
+mit jener besonderen Schadenfreude, mit der
+lebendige Augen in tote blicken, in das Gesicht
+der Toten. Sie aber, die Unsterbliche,
+Sündenlose, Kummerlose, lag da unbeweglich,
+mit ihrem durchbohrten Rücken, hilflos,
+leblos, unselig.
+</p>
+
+<p>
+– Das ist eine von unseren Burkowschen,
+die Generalin Cholmogorowa! – erklärte
+<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
+Marakulin dem herbeigeeilten Schutzmann.
+</p>
+
+<p>
+Man trug die Generalin fort. Der weiße
+Schleier auf ihrem Hut war aufgegangen
+und schleifte flatternd nach wie Spinnweb.
+Marakulin schritt der Menge voraus, hinter
+dem Klappstuhl.
+</p>
+
+<p>
+Und wieder ging er an seiner Wohnung vorbei
+in die Gorochowaja, und von da weiter
+bis zum Admiralitätspalast und wiederholte
+immer wieder vor sich ganz stumpf: „Da hast
+du die Unsterbliche! Da hast du Unsterblichkeit!“
+</p>
+
+<p>
+Im Alexandergarten setzte er sich erst auf eine
+Bank, plötzlich aber sprang er wie gestochen
+auf und ging weiter. Vor dem Denkmal Peters
+des Großen blieb er stehen.
+</p>
+
+<p>
+– Peter Alexejewitsch – sagte er, zum Denkmal
+gewandt, – Eure kaiserliche Majestät!
+Das russische Volk trinkt Aufguß von Pferdemist
+und gewinnt das Herz Europas für anderthalb
+Rubel mit Gurken. Mehr habe ich
+nicht zu sagen! – Er zog den Hut, grüßte
+<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
+und ging weiter, den Englischen Kai entlang,
+über die Nikolaibrücke auf die Wassiljewskiinsel.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem kleinen Boulevard zwischen der Siebenten
+und der Sechsten Linie, hinter dem
+Ssredny-Prospekt versperrte ihm eine Menschenansammlung
+den Weg. Die Menge
+stand schweigsam, ohne ein Wort zu sprechen,
+und es war ungewöhnlich still. Unter
+einem Baum saß eine alte Frau, ihr von
+schweren weißen Flechten umwickelter Kopf
+zitterte. Sie sah starr vor sich hin. Nicht
+Tränen, sondern Blut floß ihr die Wangen
+herab, in stillen Bächlein aus den demütig
+stillen Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat umsonst gewartet“, dachte Marakulin,
+„sie hat es nicht erlebt. Sie hat das
+gottgefällige Werk nicht vollbracht, sie hat
+ihr Glück niemand überliefert, die Unglückselige!“
+– Und er verspürte plötzlich einen
+schrecklichen Durst, als hätten ihn diese stillen,
+blutigen Tränen versengt.
+</p>
+
+<p>
+Nicht weit vom Kleinen Prospekt auf der
+<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
+Siebenten Linie befand sich neben einem großen
+Gebäude in einem kleinen einstöckigen
+Häuschen eine Schankwirtschaft. Marakulin
+fand noch ein letztes vergessenes Zehnkopekenstück
+in der Tasche und ging hinein:
+der Durst quälte ihn unerträglich.
+</p>
+
+<p>
+Er setzte sich an ein schmutziges, nasses Tischchen,
+mit dem Gesicht zum Fenster und nahm
+ganz mechanisch eine Zeitung zur Hand, nicht
+um zu lesen.
+</p>
+
+<p>
+– Einen Hungrigen kann man satt machen,
+einen Armen kann man reich machen – er
+vernahm eine bekannte Stimme und bekannte
+Worte, – aber sobald du verliebt bist und
+dein Gegenstand erweist dir keine Gegenseitigkeit,
+da kannst du meinetwegen platzen, es
+gibt keine Hilfe!
+</p>
+
+<p>
+„An Murkas Tage war es, der unruhige alte
+Gwosdjow, der sagte es!“ erinnerte sich Marakulin,
+legte die Zeitung weg und trank das
+lauwarme Bier.
+</p>
+
+<p>
+– Sie scherzen immer, Alexander Iwanowitsch,
+– – ich habe neulich eine Maus
+<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
+aufgegessen, Alexander Iwanowitsch, – auf
+dem Hof des Athosklosters – für fünf Rubel.
+Ich habe mit der heiligen Brüderschaft
+gewettet. „Ißt du die Maus auf, Gwosdjow,“
+sagten sie, „dann ist der Fünfer dein,
+wenn nicht, mußt du uns bezahlen!“ Schön.
+Sie fingen gleich ein Mäuslein, im Klosterhof
+gibt es viele. Es war eine graue, junge.
+Ich zog dem Mäuslein die Haut ab, röstete
+es an den Seiten ein wenig an, wegen des
+Wohlgeschmacks, zerschnitt es in Scheibchen,
+salzte es, sprach den Segen und aß es
+auf. Und aß das Mäuslein auf. Ich nahm
+die fünf Rubel und wollte mich vor Lachen
+ausschütten. Ich sagte: „Und ihr seid mir
+noch Athonische, hehe ... fünf Rubel für
+ein junges Mäuslein; ich hab’ ja bei Prokopij
+dem Gerechten so eine Ratte und dazu
+ohne Salz für einen Rubel gegessen!“ Wenn
+man sich nur durchfrettet, Alexander Iwanowitsch!
+</p>
+
+<p>
+Und als Antwort auf Gwosdjows Worte
+erklang eine gerührte Stimme:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
+– Euretwegen geh’ ich zugrunde, ihr lieben
+Aeuglein!
+</p>
+
+<p>
+– Ich selbst bin auch auf Weiber lecker,
+Alexander Iwanowitsch!
+</p>
+
+<p>
+Gleich darauf fiel etwas schwer auf den klebrigen
+Boden, begann zu strampeln und bitter
+zu weinen, so bitter, wie nur Kinder weinen,
+so bitter, wie Akumowna weinte, als sie
+durch Marjas Gesang an alle ihre Erlebnisse
+erinnert wurde.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem er das laue Bier, das seinen Durst
+noch gesteigert, ausgetrunken hatte, ging Marakulin
+hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Er ging seinen glatten geraden Weg auf den
+Newsky. Die Nacht sank bereits herab. Dort
+auf dem Newsky wollte er auf Werotschka
+warten. Dort wollte er ihr die ganze Nacht
+auflauern. Er wird sie sehen, ihr alles erzählen,
+von ihr Abschied nehmen. Und er wird
+sich nicht irren. Es ist ja eine weiße Nacht –
+die weiße Nacht trügt nicht.
+</p>
+
+<p>
+Die weiße Nacht trügt nicht: Werotschka
+erschien auch bald. Er erkannte sie an ihrem
+<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
+schwarzen Kleide. Aber er erstarrte vor Entsetzen:
+alle Frauen waren ausnahmslos in
+Schwarz – alles an ihnen war schwarz, die
+Kleider, die Hüte, die Handschuhe. Sie wichen
+nicht mehr aus, sie gingen sicher und
+stolz am Polizisten in der weißen Sommeruniform
+vorbei, sie umsegelten den Polizisten
+in Weiß wie in einem altertümlichen feierlichen
+Tanz, von der Snamenje-Kirche zur
+Admiralität und von der Admiralität zur
+Snamenje-Kirche.
+</p>
+
+<p>
+– Werotschka – rief er, – Werotschka! –
+Er sah einer jeden in die Augen, ohne eine auszulassen,
+und etwas Kaltes und Dunkles ringelte
+sich wie eine Schlange um sein Herz.
+Es war die Verzweiflung, die sich um sein
+Herz ringelte.
+</p>
+
+<p>
+Schon schritt der Tod auf verschlungenen
+Seitenpfaden seiner Schwelle zu.
+</p>
+
+<p>
+Die ganze Nacht streifte er herum, voll Verzweiflung
+und Todesbangen, sah jeder Frau
+in die Augen, ohne auch nur eine zu übersehen,
+blieb zuweilen auf der Anitschkowbrücke
+<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
+stehen und ließ sie Alle an sich vorbeipassieren.
+Sie umsegelten ihn, wie den Schutzmann in
+Weiß, sie schritten sicher und stolz, wie in
+einem altertümlichen feierlichen Tanz von
+der Snamenje-Kirche bis zur Admiralität,
+und von der Admiralität bis zur Snamenje-Kirche.
+</p>
+
+<p>
+Und als die Sonne aufging und all die schwarzen
+Gestalten irgendwo verschwanden und
+keine einzige mehr blieb – niemand war
+mehr auf dem Newsky außer den Schutzleuten
+in Weiß – da wandte sich Marakulin
+durch die Litejnaja zum finnländischen
+Bahnhof.
+</p>
+
+<p>
+Er beschloß ganz plötzlich, – vielmehr es
+beschloß in ihm von selbst – nach Tur-Kila
+in die Sommerfrische zu Wassilij Iwanowitsch
+zu fahren, zu Wera Nikolajewna und
+Anna Stepanowna. Sie haben ihm ja schon
+oft geholfen, sie werden ihm auch jetzt helfen,
+sie werden ihm Milch geben, – er hat Hunger
+– er ist ja nur zwölf Jahre alt! – sie
+werden ihm Milch geben ...
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
+Es war der Sonnabend vor Pfingsten und
+auf der Litejnaja wurden die Pfingstbäumchen
+angefahren: lockige grüne Wagen zogen
+durch die Straße, voll von grünen jungen
+Birken.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem finnländischen Bahnhof verkehrten
+noch keine Züge. Er mußte warten, aber
+er wollte nicht auf dem Bahnhof warten.
+Marakulin ging erst über die Schwellen der
+Schienen, aber nachdem er ein Weilchen
+gegangen war, verließ er die Schienen, setzte
+sich an den Rand eines Grabens und schlief
+ein. Er schlief so fest, wie Plotnikow die zwei
+Tage nach jenem schlimmen Delirium-Anfall
+geschlafen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Als er erwachte, war es Abend, der Sonnabend
+ging zur Neige. Und wieder jäh von
+dem düsteren Gedanken getroffen, daß sein
+Ende der Sabbat sei, wurde er eiskalt. Er
+wollte an seinen Traum nicht glauben und
+glaubte doch, und indem er glaubte, verurteilte
+er sich selbst zum Tode.
+</p>
+
+<p>
+Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits
+<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
+verurteilt; Alle sind von Geburt an verurteilt,
+und dennoch lebt man, verurteilt und das
+Todesurteil vergessend, weil man die Stunde
+nicht kennt. Aber wenn der Tag einem gesagt
+wird, wenn die Zeit abgemessen, die letzte
+Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt
+ist, – das geht über die Kraft, die Gott dem
+Menschen verliehen, dem Menschen, den er
+mit dem Leben beschenkt, zum Tode verurteilt,
+dem er aber die Todesstunde verheimlicht
+hat.
+</p>
+
+<p>
+Der Sabbat war gekommen, der Sabbat
+ging zur Neige, seine letzte Frist, seine letzte
+Stunde nahte.
+</p>
+
+<p>
+Und auf seinem glatten, geraden, hoffnungslosen
+Weg, wo der letzte Schatten und die
+letzte Spur der Hoffnung sich verlor, zernagten
+jene leisen, wie Raupen haftenden, bösen,
+dunklen Mächte der herangenahten Verzweiflung
+die letzten Fasern seiner einst so
+festen Lebenswurzel.
+</p>
+
+<p>
+Es war ihm schwer, sich vom Leben loszureißen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
+Oder vielleicht war der Traum nur ein
+Traum und in Wirklichkeit würde etwas
+anderes kommen? Warum mußte er dem
+Traum glauben? War das nicht töricht?
+Wer weiß, wohin das führte?
+</p>
+
+<p>
+Warum hatte er bloß Akumowna diesen
+düsteren Traum nicht erzählt, Akumowna
+konnte ihn vielleicht deuten, sie, die Göttliche
+wüßte zu sagen, ob er wahr sei oder
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin stürzte erregt zur Trambahn und
+stieg in einen Wagen. Da erinnerte er sich,
+daß er sein letztes Zehnkopekenstück in der
+Wirtschaft ausgegeben und sprang ab und
+lief zu Fuß nach der Fontanka, die Elektrische
+fast überholend.
+</p>
+
+<p>
+Er erreichte die Fontanka und das Burkowsche
+Haus, aber es wurde ihm nicht leicht, in
+die Wohnung zu gelangen. Es schien ihm,
+als hätte er mindestens eine halbe Stunde
+geklingelt, aber niemand öffnete und keine
+Stimme ließ sich vernehmen. Er hörte zu
+klingeln auf und begann an die Tür zu klopfen,
+<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
+aber auch auf das Klopfen erwiderte niemand.
+Es blieb still in der Wohnung, nur
+der Wind pfiff durch die Türspalte, – offenbar
+standen die Ofenklappen auf – der
+Wind pfiff unheimlich.
+</p>
+
+<p>
+Noch einmal klingelte Marakulin, klopfte
+noch einmal, wartete und ging dann in die
+Portierloge. Aber auch Nikanor war nicht
+da. Er war in irgendeinen Kramladen gegangen;
+Wanjuschka aber, Nikanors Sohn,
+wußte nur zu sagen: er habe Akumowna am
+Morgen gesehen, seitdem sei er nicht mehr bei
+ihr oben gewesen; Akumowna sei zu Hause.
+Dabei lachte er über irgend etwas.
+</p>
+
+<p>
+Wenn sie aber zu Hause war, warum hörte
+sie nicht das Klopfen und öffnete die Tür
+nicht? Er hatte ja mindestens eine halbe Stunde
+geklingelt und nicht weniger lange geklopft.
+– War die Alte etwa tot?
+</p>
+
+<p>
+Er ging in das Seitengäßchen, trat ins Haustor
+und stieg die Hintertreppe hinauf. Aber
+seltsam: – während er hinaufstieg, glaubte
+er plötzlich in der Auferstehungskirche auf der
+<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
+Taganka<a class="fnote" href="#footnote-14" id="fnote-14">[14]</a> zur Abendmesse läuten zu hören,
+und sein Herz begann voll Unruhe rasch zu
+pochen.
+</p>
+
+<p>
+Die Tür in die Küche war nicht verschlossen.
+Akumowna saß am Herd, ihr Kopf war mit
+einem weißen Tuch umwickelt – mit einem
+weißen Tuch. Er erinnerte sich an die nächtlichen
+Worte aus seinem Traum in der Donnerstagnacht:
+„Die Mutter wird in Weiß
+sein.“ Vor Akumowna lagen auf einem Tellerchen
+zwei Eier, das dritte aß sie grade.
+„Das Pfund!“ flog es Marakulin durch den
+Sinn, „– das ist das Pfund!“
+</p>
+
+<p>
+Akumowna lächelte nicht, und ihre Augen
+waren fremd und hervorquellend. Nicht Akumowna
+saß am Herd, nein, nur eine, die Akumowna
+ähnlich sah. Und Entsetzen übermannte
+Marakulin.
+</p>
+
+<p>
+– Guter, gnädiger Herr! – Akumowna erhob
+sich plötzlich von ihrem Platz und sprach
+die Worte mit einer heiseren, betrunkenen
+<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
+Stimme, die der Stimme Akumownas nur
+von ferne glich.
+</p>
+
+<p>
+Marakulins Kräfte waren zu Ende, er klammerte
+sich an den Türpfosten und begann zu
+stöhnen.
+</p>
+
+<p>
+– Lieber gnädiger Herr, Gott behüte Sie,
+gnädiger Herr, Peter Alexejewitsch! Gleich
+bereite ich den Samowar, im Augenblick! –
+Jetzt wurde sie auf ihre gewöhnliche Art geschäftig,
+legte das Ei fort, ergriff den blanken
+Samowar und begann mit dem Blechrohr
+zu klappern.
+</p>
+
+<p>
+Marakulin ließ sich auf Akumownas Bank
+nieder, konnte aber nichts sagen; die Kehle
+war ihm zugeschnürt und seine Lippen bebten.
+</p>
+
+<p>
+– Lieber gnädiger Herr, – Akumowna
+machte sich mit dem Samowar zu schaffen,
+– mit mir ist was passiert, ich wäre fast gestorben,
+aber Gott hat sich meiner erbarmt!
+</p>
+
+<p>
+In der Tat, mit Akumowna hatte sich etwas
+ereignet, und wie sie dabei heil geblieben,
+war das reinste Wunder – Gott hatte sich
+<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
+ihrer erbarmt. Darum hatte sie weder das
+Klingeln noch das Klopfen gehört. Ja, es
+sei noch ein Glück, daß sie Marakulin überhaupt
+erkennen konnte und noch so viel Stimme
+hatte, um ein Wort hervorzubringen. Die
+Eier aber esse sie, um wieder zu Stimme zu
+kommen, und wenn auch heiser, so doch sprechen
+zu können und nicht wie eine Kuh zu
+muhen; – man könne auch das noch erleben.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna war nämlich am Morgen auf
+den Boden hinaufgestiegen. Sie wollte die
+Wäsche, die dort hing, abnehmen, um sie
+noch vor der Abendmesse zu Pfingsten fertig
+zu plätten. Aber irgend jemand hatte sich
+wohl den Spaß gemacht, sie dort einzuschließen.
+Sie hatte zu schreien begonnen und schrie
+wohl ziemlich lange, aber niemand hörte sie.
+Es war ja kein Mensch in den Wohnungen,
+da sich alle in der Sommerfrische befanden,
+und keine Köchin, kein Hausmädchen hatte
+etwas auf dem Boden zu tun. Akumowna
+wußte, daß es nutzlos war, rief aber doch.
+<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
+Was sollte sie wohl anderes tun? Und wie
+sollte sie nicht schreien? Sollte sie auf dem
+Boden bleiben – wie lange? bis zum Herbst?
+bis die Leute aus der Sommerfrische zurückkehren
+würden? oder bis sich jener ihrer erbarmt,
+der sie eingeschlossen hatte? konnte man
+sich darauf verlassen? Man konnte sie ja inzwischen
+vergessen haben! Konnte man es
+wissen? Und auf dem Boden bleiben konnte
+sie doch auf keinen Fall! Sie war schon ganz
+heiser vom Schreien. Und so kroch sie im
+Dunkeln herum, um das vernagelte Fenster
+zu finden: sie hatte sich erinnert, daß da ganz
+unten am Dach ein Fenster war. Sie tappte
+um sich herum und fand schließlich eine
+Spalte, fand das mit Brettern vernagelte
+Fenster. Sie krallte sich in ein Brett, um es
+abzureißen, aber es saß zu fest, und wie sehr
+sie sich anstrengte, gelang es ihr nicht, die
+Oeffnung zu erweitern. Die Spalte aber war
+so klein, daß kaum eine Maus hätte durchschlüpfen
+können. Sie hing sich daran mit
+aller Kraft, riß mit beiden Händen – endlich
+<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
+gab es nach. Gott sei Dank, freies Licht! Sie
+bekreuzigte sich und stieg auf das Dach hinaus.
+In der Verwirrung aber wandte sie sich
+nach der herrschaftlichen Seite, nach den
+Kasernen zu. Sie kroch auf allen Vieren, aus
+Angst, auszurutschen, und schrie. So kam sie
+bis zum Schornstein, richtete sich am Schornstein
+auf, zog die Stiefel aus und warf sie
+auf die Straße. Die Kinder aber fingen die
+Stiefel auf und trugen sie davon. Sie stand
+barfuß, hielt sich am Schornstein fest und
+schrie. Und da sie dachte, daß niemand ihr
+bloßes Geschrei beachten würde, so schrie
+sie: der gnädige Herr sei nach Hause gekommen,
+klingle und sie könne nicht öffnen.
+Auf der Fontanka aber ist es so laut, die
+Dampfpfeifen, die Automobilhupen übertönen
+jedes Geschrei. Da sie barfuß nicht mehr
+auszugleiten fürchtete, entfernte sie sich
+vom Schornstein, ging auf dem Dach hin
+und her und schrie immer wieder: der gnädige
+Herr sei nach Hause gekommen, klingle
+und sie könne nicht öffnen. Auf dem Nachbardach
+<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
+arbeiteten Maler, die hörten es.
+„Was schreist du, Frauchen,“ riefen sie,
+„spring zu uns herüber,“ und lachten. Wie
+aber sollte sie hinübergelangen, wenn sie ihr
+keine Leiter reichten – sie hatten alle ihre
+Leitern selbst nötig – sie war doch keine
+Katze! Aber der erste Schreck war nun vorüber,
+und nachdem sie erst eine menschliche
+Stimme vernommen, erholte sie sich etwas
+und kam auf den Gedanken, auf die andre
+Seite hinüberzugehen, auf die Rückseite des
+Hauses, um dort an der Regenrinne entlang
+in den Hof hinunterzugleiten. Denn sich
+an der Rinne hinaufzuziehen, meinte Akumowna,
+sei schwer, die Hände könnten ohnmächtig
+werden, aber hinabzugleiten sei
+leicht: wenn das Rohr nur nicht aus den Händen
+entweicht, glitt man bequem hinab. In
+dieser Erwägung begab sie sich auf die Rückseite
+des Hauses und geradeaus zur Wasserrinne;
+– sie war nicht schwindlig. Schon
+hatte sie mit beiden Händen die Bekrönung
+erfaßt und die Füße herabgelassen, um die
+<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
+Rinne zu umklammern, da schrie Nikanor
+von unten: „Halt, Frauchen, kriech nicht, ich
+werde dir aufmachen!“ und lachte. Sie
+mußte nun über das ganze Dach zurück und
+sich durch das Fenster auf den Boden hinunterlassen.
+</p>
+
+<p>
+– Sechs Stunden habe ich mich so gequält,
+lieber gnädiger Herr, bin beinahe gestorben,
+aber Gott hat mich gerettet, hat sich meiner
+erbarmt! – schloß Akumowna.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen begann das Wasser im Samowar
+zu sieden, der rote Jurawljowsche Sänger
+schnaubte und schickte sich zu seinem
+Abendgesang an. Marakulin, der sich während
+der Erzählung Akumownas etwas erholt
+hatte, ging in sein Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht war es möglich, daß sein düsterer
+Traum sich gar nicht auf ihn, sondern auf
+Akumowna bezog? – Oder sollte es doch
+nicht möglich sein, da man nicht für andre
+träumt? – Warum sollte man aber nicht
+auch für andre träumen können!
+</p>
+
+<p>
+Aber der Tag war noch nicht zu Ende, die
+<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
+Nacht kam, es kamen die letzten Stunden;
+es nahte die Stunde, da es galt, Rede und
+Antwort zu stehen, Rechenschaft zu geben
+und zu fordern.
+</p>
+
+<p>
+Akumowna brachte den Samowar, aß in
+der Küche ihre Eier, um ihre Stimme zu heilen,
+und kam wieder zu Marakulin herein,
+nach ihrer Gewohnheit mit den Karten in
+der Hand. Marakulin aber lehnte ab: er
+wolle keine Karten gelegt haben, er wolle
+ihr lieber seinen Traum erzählen, nur möge
+sie ihm die reine Wahrheit darüber sagen.
+</p>
+
+<p>
+Und er erzählte ihr ausführlich seinen düsteren
+Traum, alles genau hintereinander – er
+erinnerte sich ganz deutlich an jede Einzelheit.
+Er erzählte von der Stülpnasigen, Nackten,
+mit den großen Zähnen, und wie sie ihm eine
+Frist gesetzt hatte: den Sabbat, und von der
+Mutter mit dem Kreuz auf der Stirn, und
+wie die Mutter geweint hatte.
+</p>
+
+<p>
+– Was bedeutet dieser Traum, Akumowna?
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
+Akumowna schwieg, lächelte und sah eigentümlich
+idiotisch zur Seite.
+</p>
+
+<p>
+Und plötzlich wieder von dem schwarzen
+Gedanken getroffen, daß seine Frist der Sabbat
+sei, wurde Marakulin eiskalt.
+</p>
+
+<p>
+– Also ist alles wahr – dachte er, – denn
+warum schweigt Akumowna? – Also ist alles
+wahr, und in einigen Minuten würde seine
+Frist vollendet sein, seine Stunde schlagen,
+sein Ende?
+</p>
+
+<p>
+Der Mensch kommt zur Welt und ist bereits
+verurteilt; Alle sind von Geburt an
+verurteilt, und dennoch lebt man, verurteilt
+und das Todesurteil vergessend, weil man
+die Stunde nicht kennt. Aber wenn der Tag
+einem gesagt wird, wenn die Zeit abgemessen,
+die letzte Frist bestimmt und der Sabbat verkündigt
+ist, – das geht über die Kraft, die
+Gott dem Menschen verliehen, dem Menschen,
+den er mit dem Leben beschenkt, zum
+Tode verurteilt, dem er aber die Todesstunde
+verheimlicht hat.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
+– Akumowna, ist es wahr, oder nicht
+wahr?
+</p>
+
+<p>
+– Ich bin ein unwissender Mensch, ich weiß
+nichts – erwiderte Akumowna, lächelte und
+sah eigentümlich idiotisch zur Seite.
+</p>
+
+<p>
+Da schnarrte die Uhr in der Küche und begann
+langsam zu schlagen, einen Schlag nach
+dem andern. Es schlug Zwölf. Der Sabbat
+war zu Ende, und der Sonntag begann.
+</p>
+
+<p>
+– Akumowna, hat es Zwölf geschlagen? –
+fragte Marakulin unsicher.
+</p>
+
+<p>
+– Zwölf, gnädiger Herr, Schlag Zwölf!
+</p>
+
+<p>
+– Es ist also schon Sonntag?
+</p>
+
+<p>
+– Ja, Sonntag, der heilige Sonntag, gnädiger
+Herr. Schlafen Sie wohl, Gott sei mit
+Ihnen! – Akumowna ließ den singenden
+Jurawljowschen Samowar stehen und ging
+in die Küche schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Doch Marakulin konnte nicht schlafen. Er
+wartete ab, bis Akumowna ruhig wurde,
+deckte den Samowar zu, dann nahm er ein
+Kissen, legte es aufs Fensterbrett, wie es die
+Burkowschen Mieter, die in Petersburg übersommern,
+<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
+machen, und lehnte sich hinaus.
+Nein, er wollte nicht schlafen, die ganze
+Nacht nicht: der Sabbat war zu Ende, der
+Sonntag hatte begonnen!
+</p>
+
+<p>
+Es war leer ringsum, kein Mensch im Hof,
+kein Mensch in den Fenstern, nur er allein.
+Und plötzlich erblickte er auf dem Kehricht-
+und Ziegelhaufen, längs der Kästen und
+Stände, von der Müllgrube bis zum Abgußloch
+und weiter bis zu den Remisen, überall
+junge grüne Birken stehen. Der ganze Burkowsche
+Hof war mit Birken bedeckt, und die
+jungen Blättchen leuchteten so grün. Er
+fühlte, wie seine verlorene große Freude in
+ihm emporstieg und ihn überströmte: wie ein
+Quell schoß ihm unter dem Herzen diese große
+heiße Freude hervor – und wuchs, füllte
+das Herz und überflutete heiß die ganze Brust.
+Er sah nichts anderes mehr als diese Birken,
+und unter den Birken wandelte, selbst wie
+eine junge Birke schlank, seine Weruschka –
+Werotschka – Wera. Ihre Hände schienen
+mit den Blättern verwoben, und sie wandelte
+<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
+von Blättchen zu Blättchen nach der Remise
+zu, so leicht, als schwebte sie in der Luft, und
+es war, als wenn die Erde unter ihr verschwände.
+Da schwang sein Herz sich auf,
+überwallend, es riß ihn in die Höhe, er streckte
+die Arme aus – und das Gleichgewicht verlierend,
+stürzte Marakulin mitsamt dem Kissen
+in die Tiefe.
+</p>
+
+<p>
+Und im Sturze hörte er, wie durch ein
+Rohr aus einem tiefen Brunnenschacht, eine
+Stimme rufen:
+</p>
+
+<p>
+– Die Zeiten sind reif, die Sündenschale ist
+voll, die Strafe naht! – Ah, so steht es mit
+uns! Lieg du nun da. – Wieder einer weniger.
+– Du stehst nicht mehr auf – Dreckkopf!
+</p>
+
+<p>
+Marakulin lag mit zerschmettertem Schädel
+in einer Blutlache auf den Steinen des Burkowschen
+Hofes.
+</p>
+
+<p class="printer">
+Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="footnotes" id="part-8">
+Fußnoten
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Ein großes Petersburger Kloster.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Eine Industriestadt in Großrußland.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Klon bedeutet auf russisch etwa, die Neigung sich zu beugen.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Wundertätige Mönche, Heilige.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> Vom Weißen Meer.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-6" id="footnote-6">[6]</a> Berühmtes Moskauer Muttergottesbild.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-7" id="footnote-7">[7]</a> Populäres Physik-Lehrbuch.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-8" id="footnote-8">[8]</a> Ein Stadtviertel in Moskau.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-9" id="footnote-9">[9]</a> Diminutiv von Pawel.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-10" id="footnote-10">[10]</a> Kirche an der Taganka in Moskau.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-11" id="footnote-11">[11]</a> Ein berühmtes Muttergottesbild in Moskau.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-12" id="footnote-12">[12]</a> Ort in der Krim.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-13" id="footnote-13">[13]</a> In Moskau.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-14" id="footnote-14">[14]</a> In Moskau.
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+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
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+<p>
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+</p>
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+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
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+<ul>
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+<li>
+... Geschenk, und <span class="underline">er schenkte er</span> ihr dagegen hundert ...<br>
+... Geschenk, und <a href="#corr-5"><span class="underline">er schenkte</span></a> ihr dagegen hundert ...<br>
+</li>
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+<li>
+... <span class="underline">den</span> Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...<br>
+... <a href="#corr-9"><span class="underline">dem</span></a> Kalitnikowschen Kirchhof befanden sich ...<br>
+</li>
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+<li>
+... beklagte, daß in der Schule naß und kalt ...<br>
+... beklagte, daß <a href="#corr-11"><span class="underline">es</span></a> in der Schule naß und kalt ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
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+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75679 ***</div>
+</body>
+</html>
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diff --git a/75679-h/images/cover.jpg b/75679-h/images/cover.jpg
new file mode 100644
index 0000000..1555a6c
--- /dev/null
+++ b/75679-h/images/cover.jpg
Binary files differ